Google

Über dieses Buch

Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.

Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun Öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.

Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin- nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.

Nutzungsrichtlinien

Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.

Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:

+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.

+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen unter Umständen helfen.

+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.

+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.

Über Google Buchsuche

Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen.

Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|http: //books.google.comldurchsuchen.

Bibliothek der Anterhaltung &

EB: -B= 5 FH: SH: SE 4 «

3 ene

ib

r , , IHR

HL ul

lll

VON

SAMMLUNG

Anion Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart, Berlin, Leipzig.

[E. Marlitts Romane u. Novellen Illuſtrierte Geſamt⸗Ausgabe

10 Bände in feiner Leinwand⸗Truhe 40 Mark. Jeder Band einzeln zum Preiſe von 4 Mark gebunden. Vollſtändig in 75 Lieferungen zum Preiſe von je 40 Pfennig.

Inhalt der Bände:

Bd. 1. Das Geheimnis d. alten Bd. 6. Die Frau mit den Kar⸗

Mamſell. Iluſtr. v. C. Koch. funkelſteinen. Illuſtriert von C. Zopf.

2. Das Heideprinzeßchen. 7. Die zweite Frau. Illuſtr. v. Erdmann Wagner. N A $ Zid. 3. Reichsgräfin Giſela. 8. Goldelſe. Illuſtriert von J. Kleinmichel. 8 125 W. Claudius. 9. Das ulenhaus. 4. Im Schillingebof e

Illuſtriert von W. Claudius. 10. Thüringer Erzählungen.

5. Im Haufe des Kom: | (Enthaltend: Amtmanns Magd. Die zwölf

5 Apoſtel. Der Blaubart. Schulmeiſters merzienrates. Illuſtriert von Marie.) Illuſtriert von M. Fla s har, H. Schlitt.

E. Herger und A. Mandlick. Illuſtr. Katalog übe

Romane, Novellen, Jugend: ſchriften uſw. von * daft in Stuttgart koſtenfrei.

Pr»

2. ——

in der „OSibllothek der Unterhaltun 100 des Wiffens” ge inf 2 Inf erate ſachgemäßer dee in 1 Schichten der 1. N een daue Wirkungskraft. 1 der Inſertionspreiſe, insbeſondere der per für Vorzugsfeiten, wende man ſich an die Anzeigengeihäftsitelle der „Bibliothek Unterhaltung und des

Wiſſens“ in Berlin S 61, Blücherſtraße 31. 4999999999990 %%% %%% %%% 99999009499

Millionen 3

gebrauchen zu ihrem eigenen Wohle

Heiserkeit, Katarrh, Verschleimung,

Rachen-Katgyrh, Krampf- u. Keuchhusten

Kuiser’s Anst-Laramelon an un. Tann“

MR not. begl. Zeugnisse von Ärzten und Pri- h vaten liefern den besten Beweis für die | sichere Wirkung u. allgemeine Beliebtheit.

Kein ähnliches Präparat vermag solche | Erfolge aufzuweisen.

Paket 25 Pfg., Dose 50 Pfg., in Österreich Paket T ⁰⁹ 20 u. 40 Heller, Dose 60 Heller zu haben in den,: au. 4 Apotheken, Drogerien und besseren Kolonial- warenhandlungen. Wo die millionenfach be- währten Kaiser's Brust-Caramellen nicht käuf- | lich sind, wende man sich zur Angabe der nächsten Verkaufsstelle direkt an die Fabriken

in Deutschland Fr. Kaiser, Waiblingen-Stuttgart, < in Österreich-Ungarn Fr. Kaiser, Bregenz-Vorarlberg, 72 1 in der Schweiz F. Aaiser, St. Margrethen (sc 6e. Eines

Elektrischer Haarzerstörer!

Etwas Sensationelles bringt das medizinische Waren-

hass Dr. Ballowitz & Co., Berlin W. 57, Abt. Hy. B. I. Lästige

Haare mit der Wurzel kann man jetzt selbst beseitigen, indem SH;

er man den Apparat durch Kpopfdruck in Funktion setzt. Durch konzentrierten galv Strom trocknet die Wurzel ein, das Haar fällt sofort aus und ein Wieder- wachsen ist unmöglich. Hierfür bürgt die Firma und verpflichtet sich andernfalls das Geld

zurückzuzahlen. (Keine Elektrolyse.) Der Preis ist M. 5. 50 und M. 8.— gebrauchsfertig (per

Nachnahme). Einzige Methode, um Haare für immer zu beseitigen.

Über 300000 im Gebrauche] Über 4000 Stück im Gebrauch.

Haarfärbekamm Schinfkinde

(ges. gesch.

Marke Ges. gesch. Neuheit! „Hoffera“) Gegen Schlaflosigkeit färbt graues und Magenbeschwer- oder rotes den. Der Schlaf wird Haar echt fest, traumlos und er- blo braun quickend, der Kopf klar. Völlig un- . rr. Schädlich. Jahrelang brauchbar. Aerzt- Völlig 5 Jahrelang brauch- lich begatachtet. Stück M. 3.— bar. Diskrete Zusend. i. Brief. St. M. 3.— Rudolf Hoffers, Apotheker, Kosmetisch. Babor Null. hoflers, Berlin 75, Koppenstr.9. Berlin 75, Koppenstr. 9,

A SER 8

Solche

Nasenfehler ——

und ähnliche können Sie mit dem orthopädischen Nasen former „Zello“ verbessern. Modell 20 über- trifft an Vollkommenheit alles und ist soeben er- schienen. Besondere Vorzüge: 7 Leder- schwamm e let sich daher dem anatomischen Bau der Nase genau an, so daß die beeinflußten Nasenknorpel in kurzer Zeit normal eformt sind. (Angenehmes Tragen.) 7fache erstellbarkeit, daher für alle Nasenfehler ge- eignet (Knochenfehler nicht). Einfachste Handhabung. Jll. Beschreibung umsonst. Bisher 100000 „Zello“ versandt. Preis M. M. 7,— und M. 10,— mit Anleitung und, Arztlichem Rat. Spezialist L. M. Baginski, Berlin Wm. 127, Winterfelatstraße 34.

Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart, Berlin, Leipzig.

Erbes Wörterbuch der deutſchen Rechtſchreibung. 4 01 j 100000 Wörter. Amtlich Preis 1 Mark 60 Pf.

t * I! ö

Zu der Humoreske „Die beiden Schachſpieler“ von W. Bahr.

13)

(S.

lzeichnung von Emil Klein.

rigina

O

Sg und des Wiſſens

Mit Originalbeiträgen von hervorragenden Schrift- ſtellern und Gelehrten ſowie zahlreichen Illuſtrationen

Jahrgang 11916 *

Zehnter Band

Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft Stuttgart Berlin - Leipzig - Wien

Amerikan. Copyright 1916 by Union Deutſche Verlage geſellſchaft in Stuttgart Druck der Unlen Deütſche Verlags geſell ſchaft in Stuttgart

nme

, eg

SnhaltssBerzeichnis

Die beiden Schachſpieler Humoreske aus der guten alten Zeit. Von W. Bahr. Mit Bildern von Emil Klein 5 Das höchſte Ziel Roman von Reinhold Ortmann (Fortſetzung) 21

Was ſoll aus unſeren mn. werden? Von S. Amiris . . 91

Aus der Glowalei

Von Erich Sieghardt. Mit 12 Bildern 99 Der Tod auf der Fahrt

Von Th. L. Seemann N 115

Majeſtaͤts beleidigungen unter ae und deutſchen Herrſchern

Selle

Von Hermann Landolt . 139 Tierleben im Kriege | Von Franz Wichm nn 146

Vom guten, grauen Dichter Von Max Adler. Mit einem Bilde Walt

Whitmannn s 3153 Morgen um dieſe Zeit Von Heinz Welten ... . . 160 Der Weltkrieg. nnn Rn Mit 10 Bildern 170

Der Mord in der Staats: und Hauepoliit Eine hiſtoriſche Skizze von J. M. Berger 191

Mannigfaltiges Die Japaner im Urteil der Voͤlkerkunde . 205 Eine Jugendbekanntſchaftftt 2 2 207

RUMARRUNDIRFORRENORARREROITOGGGAIDBABRBEBRBSERABUSBAAAUFAREREDSAINLALAAHELSLEBAHRTRREATUNGENAANRTFERRRSRERNOAAASTLARTARDEDSSRIHRRRERNG

ui eee eee eee eee une eee eee ene 11780 lt: 1u:lt 1170785611 6u8u8ꝛt 07718 78tul tut. 1581.

EIn

Seite

Staatsgeheimniſſe und drahtloſe Telegra phie. 207

Kaiſerin Maria Thereſia und die Zenſur 212

Schauſpieler als „unehrliche“ Leute. Mit Bild 212

Dem Feind keine Fahne „„ 416

Schlagfertig ; 217

Zur Belagerung der Feſtung Longwy. Mit Bild 218

Italiens mögliches Geſchick 222

Des Kriegers Teſtamern t.. 224

Die Hunde und Katzen von Neuenburg . 227

Der Hofprediger Maria Thereſiass .. 227 Wie ermittelt man die genaue Lage eines Ge:

ſchoſſes im menſchlichen Koͤrper. Mit 3 Bildern 228 Engliſches Flegelweſen und u

geftern wie heute 235

Baut Sonnenblumen . 238

Raſch und gruͤndlich 240

Deutſch⸗amerikaniſcher Humor.. . 240

*

ieee eee eee een

eee, ieee eee itim:

\

+

17

eee een munmmummmümunmuummunummmmmmnnuimmunmunununmmunmmunmmmunmmummmemenmneuneennnenuneunnunnnun

Die beiden Schachſpieler

Humoreske aus der guten alten Zeit Von W. Bahr

Nit Bildern von Emil Klein

das Leben nur hoͤchſt unvollkommen und 4 manche nicht ſo beſchaffen iſt, wie es ſein

ſollte, weiß ein jeder, und es iſt weiter kein Streit daruͤber. Doch wer wiſſen will, woher die Un⸗ vollkommenheit und die vielen Übel ſtammen, bekommt gar viele Antworten, aber keiner weiß genau, welche die richtige iſt. |

Freilich, wer den Herrn Aktuarius Joſeph Hinter: muͤller danach fragte, erhielt ſtracks den runden, klaren Beſcheid: „Alles Ungluͤck und alle Bosheit in der Welt ſtammen vom Weibe“, und dabei legte Herr Aktuarius Hintermuͤller ſein ſaures Junggeſellengeſicht in ſo ſtrenge Falten, daß keiner ſo leicht den Mut fand, mit ihm daruͤber zu ſtreiten.

Nur noch einer war im Ort, der dem Herrn Aktua⸗ rius aus voller Seele zuſtimmte und wohl gar noch aͤrger uͤber alles loszog, was Schuͤrzen trug das war der Herr Rendant Lorenz Koͤhnemann. Der er⸗ klaͤrte, ſeinetwegen haͤtte unſer Herrgott die Eva nicht zu ſchaffen brauchen, und der alte Koͤnig Pharao haͤtte beſſer getan, nicht die Buben ins Waſſer zu werfen, ſondern die Maͤdchen.

Ohne Frage wer ſo ſpricht, hat Schlimmes erlebt. Dem hat einmal eine Maid ein boͤſes Herzweh angetan, das er ſein Lebzeit nicht verwinden kann.

Es war zur Zeit, als der Herr Aktuarius Joſeph Hintermuͤller noch Diaͤtar mit recht ſchmalem Anfangs⸗ gehalt war, und der Herr Rendant Lorenz Koͤhnemann ſeine Laufbahn als Schreiber beim ſtaͤdtiſchen Rentamt begann. Die beiden hielten gute Freundſchaft, die ſich

>

6üͥ Die beiden Schachſpieler

durch ihre beiderſeitige Leidenſchaft fuͤr das Schachſpiel noch inniger geſtaltete. An jedem Abend ſpazierten ſie hinaus nach dem Wirtshaus „Zur ſchoͤnen Ausſicht“, wo ſie, im Sommer im Garten, im Winter im trau⸗ lichen Hinterſtuͤbchen, Pfeife rauchend und das Bierglas neben ſich, ſchweigend und verſunken vor dem Schach⸗ brett ſaßen.

In der „Schoͤnen Ausſicht“ gab es aber noch etwas anderes Schoͤnes zu ſehen als Fluren und Waͤlder und ferne Bergkuppen, naͤmlich ein bildhuͤbſches Wirts⸗ töchterlein, das Annemarie hieß und den Gaͤſten an: mutig die Kruͤge zu reichen verſtand.

Wenn nun jemand behauptet haͤtte, daß die beiden jungen Herren nur wegen der huͤbſchen Annemarie hinaufgeſtiegen ſeien, dem haͤtten ſie's abgeleugnet und waͤren ihm wohl gar grob gekommen; denn ein echter Schachſpieler kennt nur eine Leidenſchaft und laͤßt ſich auch durch das niedlichſte Geſicht nicht ablenken. Oder taten ſie nur ſo? Joſeph Hintermuͤller buͤrſtete ſeit einiger Zeit ſein Haar ſorgfaͤltiger und tat ſogar etwas wohlriechendes Ol hinein, und Lorenz Koͤhnemann legte die Monatsuͤberſchuͤſſe ſeines Gehalts in farbigen Rieſen⸗ ſchlipſen an; am letzten Erſten verſtieg er ſich ſogar bis zu einer goldenen Ziernadel. |

Und dann taten fie noch etwas anderes, das hoͤchſt auffaͤllig war.

Wenn die Uhr zwoͤlf ſchlug, ging Joſeph Hintermuͤller, waͤhrend ſein Freund noch arbeitete, ganz allein hinauf zur „Schoͤnen Ausſicht“, ſaß dort allein und ließ ſich von Annemarie bedienen. Und jedesmal nahm er ſich vor, dem Maͤdchen etwas Schoͤnes und Artiges zu ſagen und durch Liebenswuͤrdigkeit und Anſtand ihre Gunſt zu erringen. Aber er war ein ſchuͤchterner Herr und

Von W. Bahr 7

—— —-— . ——-T =

verftand es gar nicht, einer jungen Maid das Herz warm zu machen. Wenn er Annemarie ins Auge ſah

5 5 En | 34 nd J 2 2233

und ihre Naͤhe ſpuͤrte, dann zerfloſſen ihm die aus— wendig gelernten Anſprachen und zarten Werbungen, und er konnte keine andere Rede hervorbringen als etwa:

8 Die beiden Schachſpieler „Wir kriegen morgen Regen“ oder „Heuer wird's ein gut Weinjahr geben“.

Selbſt das hellhoͤrigſte Maͤdchen haͤtte aus ſolch trockenen und hausbackenen Redensarten nicht ent: nehmen koͤnnen, daß ein gluͤhender Verehrer ihr etwas Liebes ſagen wollte. So ahnte die huͤbſche Annemarie nicht, welch ein Feuer in dem Herzen des Herrn Joſeph Hintermuͤller brannte. Der aber ging trotzdem beſeligt nach Hauſe und baute ein Zukunftsſchloß nach dem anderen.

Gegen zwei Uhr aber, wenn Joſeph Hintermuͤllers Arbeitszeit wieder begann, trabte Herr Lorenz Koͤhne⸗ mann, ledig aller Pflicht, zum Tor hinaus. Und faſt auf demſelben Fleck, wo noch vor kurzem der lleine Diaͤtar geſeſſen hatte, ſaß jetzt der lange Schreiber, und keine Bewegung des flinken Maͤdchens entging ihm. Ein wenig beſſer verſtand er zwar die Kunſt des Um⸗ gangs mit dem weiblichen Geſchlecht, aber uͤber ein paar harmlos⸗neckiſche Redensarten kam auch er nicht hinaus. Annemarie, die es ſchon gewohnt war, von den Gaͤſten Spaͤße und Artigkeiten zu hoͤren, dachte ſich dabei nichts. Sie ahnte nicht im entfernteſten, daß ihr Bild auch die Seele des Herrn Lorenz Koͤhnemann in Beſitz genommen hatte und daß der lange Schreiber wie im Traum nach Hauſe wandelte, die Stunde aus⸗ malend, da er dieſe liebliche Blume ſein eigen nennen werde. Annemarie war freundlich, nett und zuvor⸗ kommend gegen beide, und beide ſchloſſen aus ihrer Freundlichkeit das Vorhandenſein zarter Gegenliebe.

Saßen ſie ſich dann am Abend beim Schach gegen⸗ über, dann taten ſie ſo, als fähen fie die ſchlanke Annemarie gar nicht, und jeder huͤtete ſich davor, den anderen etwa einen Einblick in ſeine Herzensverfaſſung tun zu laſſen.

Von W. Bahr | 9

Und doch konnten ihnen ihre Heimlichkeiten nicht lange verborgen bleiben. Auf Umwegen erfuhr Lorenz Koͤhnemann von den Morgenſpaziergaͤngen Joſeph Hintermuͤllers, und dieſer wußte ebenfalls bald, wohin ſein Freund und Partner des Nachmittags ſeine Schritte lenkte. In gewohnter Weiſe erledigten ſie eines Abends ihre Schachpartie und verabredeten einen Spaziergang auf den naͤchſten Morgen.

Es war ein Sonntag. Schweigend ſchritten ſie tal⸗ aufwaͤrts, bis dahin, wo die ſchroffen Zacken aufragen und die Abgruͤnde jaͤh ins Tal ſchießen. Dort oben in der Einſamkeit hielten ſie die notwendige Ausſprache.

„Sie lieben ſie alſo?“ fragte Joſeph Hintermuͤller.

„Ich liebe ſie,“ bekraͤftigte Lorenz ö mit beteuernder Handbewegung.

„Aber nicht ſo wie ich!“ rief der kleine Diätar, die Augen verdrehend.

„Weit mehr noch!“ gab der lange Schreiber zur Antwort. „Ich liebe ſie wie ſonſt nichts in der Welt!“ | Schweigend, innerlich aber mehr, als fie gewoͤhnt

waren, erregt, gingen ſie weiter. Was ſollte nun wer⸗ den? Jeder fuͤhlte das Unabwendbare des Schickſals.

„Einer von uns muß verzichten,“ ſagte Lorenz Koͤhne⸗ mann endlich dumpf.

„Sicherlich und zwar Sie! Denn ich habe un⸗ truͤgliche Beweiſe —“

„Beweiſe wovon?“

„Von Annemaries Gegenliebe.“

„Das iſt nicht wahr! Mir allein haben ihre Augen deutlich geſagt —“

Mit ergrimmten Mienen ſtanden ſie einander gegen⸗ uͤber. Es ſchien, als wolle ſich der lange Koͤhnemann auf den viel ſchwaͤcheren und kleineren Freund ſtuͤrzen.

10 Die beiden Schachſpieler

Er tat auch einen Schritt vorwaͤrts aber zu ſeinem Verderben. An einer ſchluͤpfrigen Stelle ausgleitend, ſtuͤrzte er und waͤre unfehlbar in den tiefen Abgrund gefallen, wenn er nicht im letzten Augenblick den Zweig eines uͤberhangenden Baumes ergriffen haͤtte, an dem er nun zappelnd zwiſchen Himmel und Erde ſchwebte.

„Hilfe!“ ſchrie er, zu Tode erſchrocken. „Helfen Sie mir doch, Hintermuͤller!“

Der tat einen Schritt vorwaͤrts und ſtreckte die Arme aus. Doch ploͤtzlich ließ er fie wieder ſinken.

„Aber ſo helfen Sie doch! Der Aſt kann mich ja nicht lange mehr tragen. Hoͤren Sie nicht, wie er knackt?“

Der lleine Diaͤtar ruͤhrte ſich nicht. „Wollen Sie entſagen, Köhnemann? Wollen Sie alle Ihre ver: meintlichen Rechte an mich abtreten? Nur unter dieſer Bedingung werde ich Sie retten.“

„Nein nie!“

Der Aſt bog ſich und knackte bedenklicher. 8

„Wollen Sie verzichten?“ fragte Hintermuͤller noch einmal.

Dem Schreiber brach der kalte Schweiß aus. Er ſah ſich ſchon zerſchmettert im Abgrund liegen.

„Ja ja!“ kreiſchte er. „Helfen Sie mir nur!“

„Ihr feierliches Wort darauf?“

„Mein Wort!“

Mit Hintermuͤllers Hilfe wurde er nun aus ſeiner gefaͤhrlichen Lage befreit. An allen Gliedern zitternd, ſtand er wieder auf dem Boden. Hintermuͤller mußte ihn am Arm faſſen und hinunterfuͤhren.

„Wiſſen Sie, was Sie find, Herr Joſeph Hinter: muͤller?“ ſagte Koͤhnemann, als ſie im Tal anlangten. „Sie ſind ein Schuft!“

Von W. Bahr 11

5 5 5 4 x . 5 * x - + _ u - 5 * 7 5 2 wi > - F Fr 2 9 1 2 1 4 u “I . * _ 8 * 5 2 \ # _ —_ 5 4 . * . nr . . ns = —— a 2 0 * * 3 5 « % 5 u. = N 2 5 * 2 \ . SL Z 3 0 . . u 4 « - 8

Ba n

* So \ R 5% a‘ N % ir 9

Der Diaͤtar zuckte die Achſeln. „Sie haben ver— zichtet.“ x

Seinen Retter keines Wortes weiter wuͤrdigend, ſchritt der Lange voran. Aus war es mit der Freund— ſchaft. Mit dem Elenden ſprach er nie wieder. Nie—

1 a

6E

Digitized by (+ OO | E * J O

*

12 Die beiden Schachſpieler

mals mehr ſetzte er ſich ihm gegenuͤber ans Schachbrett. Voll Verachtung ſpie er in die voruͤberbrauſenden Waſſer des Waldbachs, der durch reichliche Regenguͤſſe zu einem reißenden Strom angeſchwollen war.

An ihm fuͤhrte der Weg entlang bis zu einer Saͤg⸗ muͤhle, deren Raͤdergeſtampf ſchon zu hoͤren war.

Hinter ihm ſprang der kleine Hintermuͤller. Das Unſchoͤne ſeiner Tat war ihm noch nicht zum Bewußtſein gekommen, er ſchwelgte nur in dem Gedanken, daß Annemarie nun ihm gehoͤren wuͤrde, ihm ganz allein. Warum ging er nicht gemeſſen und ſittſam wie ſonſt, ſondern bewegte die Beine nach dem ſtuͤrmiſchen Takt ſeines Herzens?

Und das war ſein Ungluͤck.

Koͤhnemann hoͤrte auf einmal hinter ſich einen lauten Schrei, und als er ſich umwandte, ſah er den kleinen Hintermuͤller ſchon im Waſſer zappeln und mit den Fluten ringen.

„Hilfe!“ ſchrie der Diaͤtar aus Leibeskraͤften, bis ihm ein Waſſerſchwall in den offenen Mund geriet, ſo daß er verzweifelt ſchluckte und pruſtete. Mit den Haͤnden hatte er einen Buſch erfaßt, der aus dem ſteilen Ufer hervorragte, aber der ſchwache Halt drohte im naͤchſten Augenblick ſein Lager zu verlaſſen, und dann

„So helfen Sie doch, Koͤhnemann das Wehr, das Wehr! Ich kann ja nicht ſchwimmen —“

Koͤhnemann war auf das Hilfegeſchrei herbeigeeilt, machte aber keine Bewegungen zum Beiſtand. Die Ver⸗ haͤltniſſe hatten ſich ſehr ſchnell umgekehrt, jetzt war er der Triumphierende.

„Ziehen Sie mich doch heraus, Köhnemann!“ wim⸗ merte der Kleine in ſeiner Not. „Ich muß ja ſonſt elend ertrinken. Hilfe!“

Von W. Bahr 13

„Wollen Sie verzichten?“ fragte der Lange mit diaboliſchem Blick. „Wie du mir, ſo ich dir, ſagt das Sprichwort. Wenn Sie —“ |

„Ja, ja, ich will alles tun, was Sie wuͤnſchen.“

„Ihr Wort darauf, daß Sie allen Ihren Anſpruͤchen auf Annemarie entſagen?“

„Mein Wort verlaſſen Sie ſich drauf!“

Mit Mühe ſchaffte ihn Koͤhnemann aufs Trockene. Der kleine Schreiber war naß wie eine Katze und ſchuͤttelte ſich wie ein Hund“). 8

„O o —” ſagte er zunaͤchſt nur mit einem Blick auf die gurgelnden Waſſer, und ſeine Zaͤhne klapperten mehr vor Angſt als vor Froſt.

In der Muͤhle fand der Durchnaͤßte freundliche Auf⸗ nahme. Man trocknete ihm ſeine Kleider und verſorgte ihn mit Speiſe und Trank. Erſt ſpaͤt am Nachmittag traten die beiden den Heimweg an.

Zunaͤchſt befeſtigten ſie ihre Freundſchaft, die am Morgen einen argen Riß bekommen hatte, von neuem.

Der kleine Diaͤtar war demuͤtig und zerknirſcht. „Vergeben Sie mir, lieber Koͤhnemann, was ich Ihnen angetan habe. Ich war nicht recht bei Sinnen, ich handelte in blinder Leidenſchaft. Ich begreife jetzt ſelber nicht, daß ich ſo niedrig handeln konnte. Und Sie Sie haben mir trotzdem das Leben gerettet!“ Er breitete ſeine Arme aus.

Koͤhnemann war geruͤhrt und ging ebenfalls in ſich. „Meine Schuld iſt ebenſo groß, lieber Hintermuͤller. Auch mich hatte der Teufel in ſeinen Klauen, als Sie wie ein Fiſch im Waſſer zappelten. Da vergaß ich mich und erhafchte auf krummen Wegen meinen Vor⸗

*) Siehe das Titelbild.

14 Die beiden Schachfpieler

teil. Das war ſchlecht von mir. Und Sie Braver hatten mich doch erſt kurz vorher aus der ſchrecklichen Lage befreit!“

Sie ſanken ſich in die Arme und druͤckten fi ch ans Herz.

„Ich halte dafuͤr,“ meinte der lange Schreiber, „daß der ausgeſprochene Verzicht unguͤltig iſt, denn ein er⸗ zwungenes Verſprechen hat keine Rechtskraft.“

„Es ruht auch kein Segen auf ſolchem binterliſtigen Gewinn,“ fuͤgte der Diaͤtar hinzu. „Machen wir einen Strich durch das Geſchehene, und ſuchen wir die dunkle Stunde zu vergeſſen.“

„Sie ſoll unſere Freundſchaft nicht truͤben,“ ſagte Koͤhnemann warm.

„Aber wir ſind leider noch immer auf demſelben Fleck. Sie haben mir geſagt, daß Sie Annemarie ebenſo feurig lieben wie ich.“

„Das tue ich. Sie werden begreifen, daß ich Ihnen nicht ohne weiteres weichen kann —“

„Laſſen Sie uns auch dieſe Angelegenheit in Friede und Freundſchaft erledigen.“

„Ich wuͤßte nur nicht, wie!“

„Durch einen Wettſtreit 8

„Ah Sie meinen —“

„Wir ſind ungefaͤhr glace ſtarke Schachſ pieler, lieber Koͤhnemann. Sie ſind mir vielleicht im Endſpiel uͤber⸗ legen, ich erkenne das neidlos an. Dafuͤr habe ich aber in der Springerfuͤhrung groͤßeres Geſchick.“

„Ich verſtehe, Sie wollen es auf einen Schach⸗ kampf ankommen laſſen. Nun wohl, ich bin bereit.“

„Wer die erſte Partie gewinnt, ſei Sieger!“

„Er habe allein das Recht, ſich um Annemarie zu bewerben. Der andere aber laſſe ihm ohne Groll und Neid den Vortritt. Sind Sie einverſtanden?“

Von W. Bahr 15

Sie reichten ſich die Haͤnde. „Einverſtanden. Heute abend noch wird der Kampf ausgefochten!“

Es wollte Abend werden. Die Schwuͤle des Tages hatte am Himmel dunkle Gewitterwolken zuſammen⸗ gezogen. Obgleich das Unwetter noch nicht loszu⸗ brechen drohte, zogen es die beiden Kaͤmpen doch vor, anſtatt unter den Baͤumen im gemuͤtlichen Hinter⸗ ſtuͤbchen den Wettkampf auszutragen.

Als ſie eintraten, begegnete ihnen Annemarie. Sie war heute ſo huͤbſch angezogen, als wiſſe ſie um die Ehre, die ihrer Perſon zuteil werde. Bis zu den Haar⸗ wurzeln erroͤtend, ſchritt der kleine Diaͤtar nur ſtumm gruͤßend an ihr voruͤber, waͤhrend Herr Lorenz Koͤhne⸗ mann ſie mit zierlichen Worten anredete und ihr ſogar die Hand reichte.

Ahnungslos ſtellte die Schoͤne ihnen den Schach— tiſch zurecht, reichte jedem die Pfeife und fuͤllte die Kruͤge. Dann ſchloß ſie laͤchelnd hinter ſich die Tuͤr.

„Was fuͤr komiſche Menſchen!“ dachte ſie. Andere junge Leute ſetzten ſich zu ihr und lachten und ſcherzten mit ihr dieſe aber hatten ja wohl einzig und allein nur Wohlgefallen an den wunderlich geſchnitzten Fi⸗ guren. Stundenlang konnten ſie ſtumm und bruͤtend davorſitzen, ſie wichen und wankten nicht, ſelbſt wenn die Welt unterging.

Draußen aber tuͤrmten ſich die Wolken ſo wild und unheimlich, als bereite ſich die Natur wirklich zu Unter: gang und Zerſtoͤrung. Unter Donner und Blitz be: gannen die beiden Maͤnner ihre Partie.

Das Schickſal hatte dem langen Koͤhnemann den Angriff beſchieden. Von Zeit zu Zeit hob er den Finger, um eine ſeiner Figuren auf den Feldern weiterzuſchieben.

16 Die beiden Schachſ pieler

Seine Zuͤge waren unbewegt, waͤhrend hinter ſeiner hohen Stirn ſich die Gedanken durcheinander ſchoben.

Wacker hielt ihm der kleine Schreiber ſtand. Vor⸗ ſichtig ſich deckend und jeden kleinen Vorteil benutzend, war er gegen alle Ausfaͤlle ſeines Gegners auf der

Von W. Bahr 17

Hut. So gelang es dem anderen nicht, in die Stellung des Verteidigers Breſche zu ſchlagen, keiner kam zum entſcheidenden Zug. Ihre Wangen brannten, ihre Koͤpfe ſchmerzten und die Stube war erfuͤllt vom blauen Pfeifenqualm. Sie zuckten nicht zuſammen, wenn die grellen Blitze niederfuhren und die Donner rollten, ſie hoͤrten nicht den praſſelnden Regen, der gegen die Scheiben ſchoß. Verbiſſen ſpielten ſie weiter.

Endlich ſtanden ſie auf. Das Spiel war unent⸗ ſchieden geblieben.

„Remis!“ ſagten beide zu gleicher Zeit.

„Noch einmal!“ fuͤgten ſie ſofort hinzu. „Die naͤchſte Partie muß die Entſcheidung bringen.“

Sie ſtopften ſich neue Pfeifen, ſetzten ſich und ver⸗ teilten die Figuren. Dazu ließen ſie ſich die Kruͤge friſch auffuͤllen, der kleine Diaͤtar ſchon zum viertenmal. Vielleicht erwartete er von der Anregung des Getraͤnks eine maͤchtige Foͤrderung der Taͤtigkeit ſeiner Gehirn⸗ zellen. | Fräulein Annemarie trat ein, die Kruͤge in der Hand.

Mein Vater laͤßt die Herren bitten, ein wenig zu uns ins Wohnzimmer zu kommen. Wir feiern naͤmlich heute —“

„Schoͤnen Dank, Fraͤulein Annemarie,“ ſagte Koͤhne⸗ mann mit einem feurigen Blick, „aber wir muͤſſen Ihnen leider einen Korb geben. Wir ſind mit einer ſehr wichtigen Partie beſchaͤftigt. Erlauben Sie, daß wir auf Ihr Wohl trinken?“

Beide taten ihr Beſcheid, und Hintermuͤller, der jetzt mehr Mut hatte, legte ſogar ſeine Hand auf die Stelle, wo ihm das Herz ſchlug. |

Dann aber wandten fie fich fofort dem Spiele zu, und diesmal hatte Joſeph Hintermuͤller den Vorzug.

1916. X. 2

18 Die beiben Schachipieler

Kühn ging er zum Angriff vor und trieb nen Gegner ſchon nach kurzer Zeit durch meiſterhaften Aufmarſch ſeiner Figuren dermaßen in die Enge, daß ihm der Sieg ſicher ſchien.

Befriedigt lehnte er ſich in ſeinen Stuhl zuruͤck und ſchaute auf Koͤhnemann. Der ſaß unerſchuͤtterlich. Keine Muskel ſeines Geſichts verriet, in welcher Klemme er ſich befand.

Der kleine Diaͤtar wurde e und pfiff ver⸗ gnuͤgt vor ſich hin.

„Noch iſt es nicht aller Tage Abend!“ beſchwichtigte ihn Koͤhnemann.

Dann gruͤbelten ſie wieder und zogen abwechſelnd.

Ploͤtzlich machte Hintermuͤller einen verhaͤngnisvollen Fehlzug, der ihn eine Figur koſtete. Mit Schrecken bemerkte er es, und ſein Antlitz wurde auf einmal ganz entmutigt.

„Gardez!“ ſagte Koͤhnemann ruhig und griff die weiße Dame an.

Vor den Augen des Diaͤtars wurde es dunkel. Nun war er allem Anſchein nach verloren wenn Koͤhnemann richtig weiterſpielte, mußte er die Partie gewinnen.

Und richtig, Koͤhnemann kreiſte den Kleinen ein, draͤngte ihn zum ſchmaͤhlichen Ruͤckzug

Da geſchah etwas ganz Unerwartetes.

War es boͤswillige Abſicht oder Unvorſichtigkeit, der kleine Hintermuͤller ſtieß mit dem Fuß ſo heftig an den ohnehin nicht ſehr feſten Schachtiſch, daß im naͤchſten Augenblick ſaͤmtliche Figuren durcheinander kollerten und zum Teil auf dem Fußboden umherrollten. Jaͤh war das Spiel unterbrochen. |

Koͤhnemann ſprang auf und packte den Schreiber am Kragen.

„Das haben Sie aus Bosheit getan!“ ſchrie er.

Von W. Bahr 19

ur

2 ee

rr enge

„Auf fo hinterliſtige Weise wollen Sie mich um die Fruͤchte meines Sieges bringen!“

„Das iſt eine gemeine Verleumdung! Ein Verſehen war es!“

„Nein, es war Abſicht! Ich hatte den Sieg ſchon in der Taſche!“ i

20 Die beiden Schachſ pieler

Hoho! Die Partie war noch lange en 0 5 Im naͤchſten Augenblick gab es eine wuͤſte Szene. Sie, die beim Spiel noch nie in Zwiſt geraten waren, gingen vom Wortwechſel in Taͤtlichkeiten uͤber. ö Hintermuͤller lag am Boden und der lange Koͤhne— mann kniete auf ihm.

„Und ich habe doch gewonnen! 1 rief er einmal uͤbers andere. „Geſteh, daß ich Sieger geblieben bin!“ Der Laͤrm drang durch das ganze Wirtshaus. Die Tuͤr oͤffnete ſich, und darin ſtand der Wirt mit einigen Gaͤſten und Annemarie, die voll Schreck und Ver⸗

wunderung nach den Streitenden ſah.

„Mein Gott, was geht hier vor?“ 6

Man riß die beiden auseinander. Mit zerzauſtem Haar und zerknuͤllter Waͤſche ſtanden ſie da.

„Aber Herr Hintermuͤller!“ |

„Beſter Herr Köhnemann! Wären Sie doch unferer Einladung gefolgt und zu uns hinuͤbergekommen! Wir feiern naͤmlich Annemaries Verlobung mit —“

Die Worte wirkten wie ein Donnerſchlag, unter dem die beiden ploͤtzlich ernuͤchterten Streithaͤhne zuſammen⸗ knickten.

Sie ſchlichen nach Hauſe, nachdem ſie muͤhſelig ihren Gluͤckwunſch geſtammelt hatten. Der Mond, der nach dem Austoben des Gewitters wieder blank und freund: lich vom Himmel herableuchtete, beſchien ihre jammer⸗ vollen Geſtalten. |

Ihre Freundſchaft kitteten ſie bald wieder zuſammen, und der neue Bund war noch feſter als der alte. Von nun ab duzten ſie ſich und hatten vor einander keine Geheimniſſe mehr.

9 9

Das höchſte Ziel

Roman von Reinhold Ortmann (Fortfegung) Ä

o laſſen Sie fih an meiner Verſicherung ges Oba entgegnete Volcker auf Fraͤulein Suter⸗

lands Einwand, „daß ich niemals daran ge: dacht habe und niemals daran denken werde, Ihrem Herrn Vater zu nahe zu treten. Die gegenſaͤtzlichen Auffaſſungen, von denen Sie zu ſprechen ſcheinen, haben mit meinem perſoͤnlichen Verhaͤltnis zu Herrn Suter⸗ land, wie ich hoffe, nichts zu tun.“

„Ihm aber gehen ſie doch ſo nahe. Koͤnnen Sie denn gar nicht ein bißchen nachgeben?“ |

„Auf Koften meiner Überzeugung und meines Pflicht: gefuͤhls? Nein, Fraͤulein Suterland. Und bei beſſerer Kenntnis der Sachlage wuͤrden Sie es wohl auch nicht von mir erwarten.“

„Ich wußte es ja, Sie ſind wie alle Maͤnner. Aber gerade von Ihnen haͤtte ich doch mehr Hochherzigkeit erhofft. Ich habe ſo viel, ſo unendlich viel von Ihnen gehalten. Und ich war eingebildet genug, Sie fuͤr meinen Freund zu halten.“

| „Wenn ich mich dieſes Vertrauens auf andere Weiſe wuͤrdig zeigen koͤnnte —“

Heftig ſchuͤttelte ſie den Kopf. „Nein, nein, das ſind ja nur Phraſen. Wollen Sie mir etwas Liebes erweiſen, ſo muͤſſen Sie meine Bitte erfuͤllen. Ich wuͤrde Ihnen ja ſo dankbar ſein ſo ſehr dankbar —“

Ganz leiſe hatte ſie die letzten Worte geſprochen und mit ſchamhaft geſenktem Haupte. Es war eine Ver— heißung darin, die Volcker unmoͤglich mißverſtehen konnte. Und dieſe Verheißung bewirkte, daß er ſich erhob.

„Ich bedaure aufrichtig, Fraͤulein Suterland aber auf ſolche Art kann ich mir Ihren Dank leider nicht

22 Das hoͤchſte Ziel verdienen. Und Sie duͤrfen mir nicht zuͤrnen, wenn ich dies fuͤr mich ſehr peinliche Geſpraͤch lieber beendet ſaͤhe.

Es iſt doch ganz zwecklos und ganz unmoͤglich, daß wir uns hier uͤber geſchaͤftliche Angelegenheiten des Hauſes Steinsdorff unterhalten.“

Ein merkwuͤrdiger Zufall fuͤgte, daß gerade in dieſem Augenblick Herr Suterland eintrat. Er warf ſeiner Tochter einen Blick zu, fuͤr den es ihr ohne Zweifel nicht an der richtigen Deutung fehlte, und ſchuͤttelte ſeinem Gaſt mit gut geſpielter Unbefangenheit die Hand. „Es iſt huͤbſch von Ihnen, daß Sie ſo puͤnktlich waren, lieber Doktor. Ah, die ſchoͤnen Blumen! Nun laſſen Sie uns fuͤr ein paar Stunden das Kriegsbeil begraben und recht gemuͤtlich Geburtstag feiern ja?“

Mit der Gemuͤtlichkeit dieſer Geburtstagsfeier war es freilich nicht weit her. Fraͤulein Erneſtine ſaß in der Haltung einer geknickten Lilie am Tiſche, ſprach nur mit leiſer Stimme und weigerte ſich nach dem Eſſen be⸗ harrlich, etwas vorguf pielen. Ihr Vater ſchien zwar bei beſter Laune, erzaͤhlte mit krampfhafter Luſtigkeit die älteften Anekdoten und wurde nicht müde, feinem jungen Gaſte zuzutrinken. Aber Volcker empfand ſehr deutlich, wie wenig echt die Freundlichkeit war, und er verlebte inmitten dieſer Menſchen, von denen er ſich niemals weiter entfernt gefühlt hatte, einen der peinlichſten Abende ſeines Lebens. So fruͤh, als die Gebote der Schicklichkeit es nur immer geſtatteten, brach er auf, und niemand noͤtigte ihn zu laͤngerem Verweilen.

Zwei Tage nachher, fruͤher als er erwartet worden war, kehrte Klemens Steinsdorff von ſeiner Reiſe zuruͤck. Der Prokuriſt beeilte ſich, ihm unter vier Augen uͤber den Stand der Vorarbeiten fuͤr die Zeitſchrift einen langen Bericht zu erſtatten. Und eine Viertelſtunde

Roman von Reinhold Ortmann 23 ſpaͤter wurde Volcker in das Arbeitszimmer des Kom— merzienrats beſchieden. Seine Unterredung mit dem Chef waͤhrte noch erheblich laͤnger als die des Herrn Suterland, und ſie endete damit, daß Klemens Steins— dorff ſich mit ihm in das Kontor des Prokuriſten begab.

„Ich habe Sie ſchon vorhin nicht im Zweifel daruͤber gelaſſen, Herr Suterland, daß ich mich mit Ihren Ideen und Vorſchlaͤgen nicht einverſtanden erklaͤren kann,“ ſagte er mit ruhiger Freundlichkeit, „wenn ich auch durch— aus nicht verkenne, daß ſie den beſten und waͤrmſten ge— ſchaͤftlichen Abſichten entſprangen. Da ich mich aber entſchloſſen habe, Herrn Doktor Volcker die ſelbſtaͤndige Leitung der Zeitſchrift zu uͤbertragen, iſt es ganz natuͤr⸗ lich, daß feine Anſichten für die Geſtaltung des Unter: nehmens maßgebend ſein muͤſſen. Sie haben wohl die Guͤte, ſich danach zu richten.“

„Ganz wie der Herr Kommerzienrat es wuͤnſchen,“ erwiderte der Prokuriſt in der unterwuͤrfigen Art, die ſeinen Verkehr mit Klemens Steinsdorff kennzeichnete. In dem Blick aber, den er Reinhard Volcker zuſandte, blinkte es wie von unverſoͤhnlichem Haß.

Die Hoffnungen, die Jens Larſſen auf den „Teufels— walzer“ geſetzt hatte, waren nicht getaͤuſcht worden. Wo er mit ſeiner ſchoͤnen jungen Frau in dem an kraſſen Wirkungen uͤberreichen Einakter auftrat, ſpielte er vor überfüllten Haͤuſern und erntete ungemeſſenen Beifall. Da das Stuͤck nur auf Varietébuͤhnen zur Darſtellung kam, hatte die ernſthafte Kritik keine Veranlaſſung, ſich mit ſeinem dichteriſchen Wert oder Unwert zu befaſſen, und das Publikum ſchien an den tollen Unmoͤglichkeiten der phantaſtiſchen Handlung keinen Anſtoß zu nehmen. Larſſen ſpielte einen verkannten genialiſchen Muſiker

24 Ä Das hoͤchſte Ziel

und Komponiſten, der ſich mit ſeinem ungluͤcklichen jungen Weibe in einer elenden Dachkammer dem Hungertode gegenuͤberſieht. Schon durch ſeine geiſter⸗ hafte Maske und ſeine unheimlich rollenden Augen, in denen bereits die Flammen des beginnenden Wahn⸗ ſinns aufzuͤngelten, machte er großen Eindruck auf emp⸗ findſame Gemuͤter. Und uͤberall im Zuſchauerraum ſchimmerte es weiß von eifrig gebrauchten Taſchen⸗ tuͤchern, wenn er, mit leeren Haͤnden von einem letzten Bettelgang heimgekehrt, in krampfhaft erzwungener Froͤhlichkeit die todkranke Genoſſin ſeines Jammers uͤber den fuͤrchterlichen Ernſt ihrer Lage zu taͤuſchen verſuchte. Statt des ſtaͤrkenden Weines und der lindern⸗ den Arznei, auf die ſie gehofft, hat der große Virtuoſe und Tondichter zur Aufrichtung ihrer ermattenden Lebensgeiſter ja nur noch ſeine ſchauſpieleriſchen Kuͤnſte in Bereitſchaft. In den glaͤnzendſten Farben malt er ſeiner kleinen, ſchon halb verklaͤrten Angelika eine herr⸗ liche Zukunft, die vielleicht in der naͤchſten Stunde, gewiß aber am naͤchſten Morgen ihren Anfang nehmen wird. Es gelingt ihm in der Tat, ſie trotz Hunger, Krankheit und Erſchoͤpfung allgemach in einen Rauſch von Liebe und Hoffnung zu verſetzen. Er ſingt ihr zur Laute eines der ſchmelzenden Lieder, durch die er einſt ihr Herz ge— wonnen, und erweckt damit alle ſuͤßen Erinnerungen an entſchwundene Seligkeiten. Zuletzt ereignet ſich ſogar das Wunder, daß die ſterbende Angelika ſich in ihrem ſchleierleichten Gewande von dem aus einem alten Strohſack beſtehenden Ruhebett erhebt, um mit dem Ge: liebten noch einmal jenen ſinnberuͤckenden Tanz aufzu— führen, der in fernen, beſſeren Tagen ihr liebſter Zeit: vertreib geweſen. Waͤhrend ſie mit aͤtheriſcher Leichtig— keit dahinſchwebt, aller Erdenſchwere ſchon beinahe

Roman von Reinhold Ortmann 25

ledig, w wird das Lächeln des unſeligen Dufifanten immer verzerrter, das Rollen feiner Augen immer fuͤrchter⸗ licher. Das Publikum aber haͤlt den Atem an: denn niemand iſt daruͤber im Zweifel, daß dieſe leidenſchaftliche Tanzerei bei gaͤnzlich entleertem Magen der jungen Patientin notwendig ſchlecht bekommen muͤſſe. Und richtig: als die Balletteinlage bis zum Hoͤhepunkt bacchantiſcher Raſerei gelangt iſt, greift die Armſte mit einem Wehelaut nach ihrem allzu liebeheißen Herzchen und ſinkt maleriſch auf den alten Strohſack zuruͤck. Aber der allgemein vermutete Herzſchlag iſt noch nicht erfolgt. Angelika vermag ſogar zu laͤcheln und ihrem verkannten Tonſetzer die ruͤhrende Bitte um ein Violinſolo zuzu⸗ fluͤſtern, das ihr ganz beſonders lieb iſt. Und da der Kuͤnſtler gluͤcklicherweiſe ſeine Geige noch nicht verſetzt hat, kann er ihrem beſcheidenen Wunſche willfahren. Waͤhrend der erſten, uͤberirdiſch ſchoͤnen Toͤne erliſcht die herabgebrannte Kerze, die angeblich bisher die einzige Beleuchtung der Szene darſtellte, und die Dachkammer bleibt für eine Weile in Finſternis gehuͤllt. Geſpenſtiſch klingen aus dem Dunkel die ſchmeichelnden Liebes⸗ ſeufzer der Violine, und die Ergriffenheit des Publikums aͤußert ſich ſo lebhaft, als waͤre im Zuſchauerraum ploͤtz⸗ lich eine Schnupfenepidemie ausgebrochen. Da alles Raͤuſpern und Schneuzen iſt wie mit einem Zauber— ſchlage verſtummt ergießt ſich in breitem, blaͤulichem Strom magiſches Mondlicht durch das Dachfenſter auf das aͤrmliche Lager und entſchleiert ein Bild von be— toͤrender Lieblichkeit. Angelikas Leben iſt natuͤrlich zu— gleich mit dem heruntergebrannten Lichtſtuͤmpfchen er— loſchen; aber ihre irdiſche Hülle bietet ſich den entzuͤckten Zuſchauern in einer Schoͤnheit, die an allen Ecken und Enden ſtatt der Taſchentuͤcher die Opernglaͤſer in Be—

loͤſten Haares umfloſſen, durch die leichte Gewandung nur unvollkommen verhuͤllt, in der anmutigſten Stellung und der vorteilhafteſten Beleuchtung, laͤßt es die wunder— volle Geſtalt der ſchoͤnen Toten durchaus begreiflich erſcheinen, daß bei ihrem Anblick der wackelige Verſtand des Muſikanten vollends aus den Fugen geht und daß. dem Auditorium der Genuß einer mit allen Virtuofen: kniffen geſpielten Wahnſinnſzene beſchieden iſt. Nach: dem der bedauernswerte Witwer ſich eine Zeitlang hoͤchſt verzweifelt gebaͤrdet hat, kommt er auf Grund end: guͤltig ausgebrochenen Wahnwitzes zu dem Schluß, daß ſeine kleine Angelika nicht tot ſei, ſondern nur ſchlafe. Und da ſeine Verſuche, ſie mit Kuͤſſen zu wecken, nicht das gewuͤnſchte Ergebnis haben, greift er abermals zur Violine. Was er ſpielt, hat die Rhythmen eines Walzers; aber es iſt von ſo daͤmoniſcher Glut, daß alle Hoͤrer ſofort wiſſen, es koͤnne ſich bei dieſem Muſikſtuͤck nur um den durch den Titel des Dramas verſprochenen „Teufelswalzer“ handeln. Waͤhrend der ihn beleuch— tende Mondenſchein immer geiſterhaft blauer und ſein Mielienſpiel immer grauſiger wird, naͤhert ſich der Spielende langſam dem Strohſack, auf den ſein Teuerſtes gebettet iſt. Und dann fuͤr die zur Unertraͤglichkeit geſteigerte Spannung des Publikums gerade im rechten Augenblick laͤßt ein ſchriller Mißton alle Nerven: ſyſteme erzittern. Man hoͤrt, wie alle vier Saiten der Violine auf einmal zerſpringen, und ſieht den ungluͤck— lichen Geiger tot uͤber der Leiche ſeines Weibes zu— ſammenbrechen. |

Das war Jens Larſſens „Sketch“, der ihn und feine Frau innerhalb weniger Monate beruͤhmt gemacht hatte. Nun waͤre es nur natuͤrlich geweſen, wenn Marga

Roman von Reinhold Ortmann 27

Larſſen ſich vollkommen gluͤcklich gefuͤhlt haͤtte. Aber danach ſah ſie nicht aus, wenigſtens nicht an dieſem Morgen, als ſie vor dem Spiegel in ihrem Schlaf— zimmer ſaß und ſich eigenhaͤndig friſierte. Es ſah hier huͤbſch und wohnlich aus, ein Heim im eigentlichen Sinne des Wortes aber war es noch immer nicht, ſondern nur eine auf etliche Monate gemietete, fertig eingerichtete Wohnung mit fremder Leute Sachen und nach fremder Leute Geſchmack. Die Veraͤnderung gegen fruͤher war im Grunde gering, das kam Margarete Larſſen jedesmal von neuem zum Bewußtſein, wenn ſie ſchlechter Laune war. Sie hoͤrte draußen die Glocke anſchlagen und hob lauſchend den Kopf.

Mit einem froͤhlichen: „Guten Morgen, Herzens⸗ ſchatz!“ öffnete Jens Larſſen die Tür. Er war im Ge: ſellſchaftsanzug; aber der ſchlaff gewordene Kragen und die zerknitterte Hemdbruſt ließen im Verein mit ſeinem uͤbernaͤchtigen Ausſehen vermuten, daß er ihn nicht erſt ſeit dieſem Morgen auf dem Leibe hatte. Marga wuͤr⸗ digte den zaͤrtlichen Gruß keiner Erwiderung und ver⸗ goͤnnte dem Eintretenden keinen Blick. Als er ſich ihr trotzdem naͤherte und ſie zu kuͤſſen verſuchte, drehte ſie unwillig den Kopf ab.

„Geh weg! Du bringſt ja eine ganze Wolke von

Weindunſt und Tabakgeruch mit herein.“ | „Was fuͤr ein feines Näschen du doch haft,” er: widerte er lachend. „Und wie niedlich es iſt, wenn ſich's ſo kraus zieht. Ja, es war wieder mal eine etwas laͤngliche Sitzung. Aber du brauchſt nicht zu ſchmollen. Es iſt hoͤchſt ehrbar zugegangen.“

„Was kuͤmmert das mich! Du weißt ja, was ich dir geſagt habe.“

Jens Larſſen hatte ſich muͤde in einen Stuhl fallen

28 Das hoͤchſte Ziel

laſſen. Er ſpielte noch immer den Gutgelaunten; aber der Seitenblick, mit dem er zu ſeinem ſchoͤnen Weibe hinuͤberſchielte, war ſchon gar nicht mehr zaͤrtlich. „Mein liebes Kind, du redeſt ſo unendlich viel, daß ich mir beim beſten Willen nicht alles merken kann.“ 1

„Dann will ich dir's wiederholen. Ich habe dir geſagt, daß auch ich meine eigenen Wege gehen werde, wenn du dein Betragen nicht aͤnderſt. Die letzte Nacht war ſeit acht Tagen ſchon die dritte, in der du nicht nach Haus gekommen biſt. Und jetzt habe ich es ſatt.“

„Du haſt keinen Grund, eiferſuͤchtig zu ſein. Ich gebe dir mein Wort, daß ich nur in Herrengeſellſchaft war.“

„Das heißt: du haſt die ganze Nacht geſpielt.“

„Na wenn ſchon! Das geht dich nichts an.“

Nun fuhr ſie auf ihrem Stuhl herum, und ihre Augen blitzten ihn zornig an. „So? Es geht mich nichts an, wenn du das Geld zum Fenſter hinauswirfſt, das ich verdienen muß?“

„Du? Mach dich doch nicht lächerlich, Kleine! Wuͤrdeſt du nicht heute fuͤr einen Hungerlohn in irgend— einem Tingeltangel das Tanzbeinchen ſchwingen muͤſſen, wenn ich nicht die Großmut gehabt haͤtte, dich zu mir heraufzuziehen?“

„Ah, das iſt unerhoͤrt. Verſuche es doch mit einer andern! Das Publikum wuͤrde ſich uͤber deine Gri— maſſen einfach luſtig machen, wenn ich nicht das Stuͤck herausriſſe.“

Sie mußte ihn an einer verwundbaren Stelle ge: troffen haben, denn auch er machte jetzt ein wuͤtendes Geſicht. „Zwanzig fuͤr eine kann ich haben, und Schoͤnere als dich. Solche Puppenphyſiognomien laufen zu Hunderten in der Welt herum. Und unge—

Roman von Reinhold Ortmann 29 ſchickter als du koͤnnte ſich eine andere auch nicht an— ſtellen. Übrigens, da wir gerade vom Geldhinaus⸗ werfen reden: die Firma Koſterlitz hat bei mir angefragt, ob ich mit der Beſtellung zweier Kleider einverſtanden waͤre und fuͤr die Bezahlung einſtaͤnde. Natuͤrlich werde ich antworten, daß es mir nicht im Traum einfaͤllt. Wenn du jede Woche ein neues Kleid haben mußt, ſo ſieh auch gefaͤlligſt zu, woher du das Geld dazu nimmſt.“

Marga ſprang auf und ſtand mit geballten Fäusten mitten im Zimmer. „Das iſt ſchaͤndlich iſt geradezu erbaͤrmlich! Soll ich in abgetragenen Faͤhnchen ein: hergehen wie eine arme Choriſtin, nur weil du alles fuͤr dein wuͤſtes Leben verbrauchſt?“

„Wie ich lebe, iſt ganz und gar meine eigene Sache. Außerdem muͤßte ich mindeſtens die zehnfache Einnahme haben, wenn ich alle deine verſchwenderiſchen Launen erfuͤllen wollte. Die beiden Kleider mußt du dir unbe⸗ dingt aus dem Kopf ſchlagen. Ich weiß ohnehin nicht, wie ich mich bis zum naͤchſten Gagetag durchſchwindeln ſoll. Der gute Rodenſtock faͤngt auch an, ungemuͤtlich zu werden. Und im Jeu habe ich neuerdings ein ganz ſchauderhaftes Pech.“

„Es iſt weit mit dir gekommen, daß du mir das alles ſo ruhig ins Geſicht ſagen kannſt. Wir verdienen in jedem Monat ſoundſoviele Tauſende. Und du biſt in den Händen von Wucherern, während ich mir nicht ein= mal ein armſeliges Kleidchen machen laſſen darf. Haͤtte ich doch auf Onkel Julius gehoͤrt! Er war der einzige Menſch, der es jemals gut mit mir gemeint hat. Und er wußte, was von dir zu halten iſt.“

„Ja daran iſt nun leider nichts mehr zu aͤndern. Ein jeder muß eben verbraucht werden, wie er iſt. Ich

30 Das höchfte Ziel

nn.

haͤtte am Ende auch was Geſcheiteres tun koͤnnen, als dich N heiraten.”

„Dann koͤnnen wir uns ja ſcheiden laſſen. Ich bin ohne weiteres damit einverſtanden.“

„Ah, das iſt eine ganz neue Tonart. Haſt du viel— leicht fchon etwas anderes in Bereitſchaft?“

Marga zuckte die Achſeln und warf mit laͤſſiger Handbewegung ihr prachtvolles Haar in den Nacken zuruͤck. „Wohl moͤglich! Auf deine wie ſagteſt du doch? „Großmut bin ich a Gluͤck noch nicht an⸗ gewieſen. 5

In die ſchlaffen Zuͤge des Schauſpielers kam die Spannung auflodernden Zornes. „Von wem war der große Blumenkorb am en Abend?“ fuhr er ſie barſch an.

Marga aber zeigte ihm jetzt eine affektiert gleich⸗ guͤltige Miene. „Ich weiß nicht.“

„Das iſt gelogen. Ich habe geſehen, daß ein Brief darin ſteckte.“

„So? Dann iſt er wahrſcheinlich noch darin. Du kannſt ja nachſehen. Der Korb ſteht im Salon.“

„Da koͤnnt' ich lange ſuchen. Aber ich habe einen ganz beſtimmten Verdacht.“

„Wirklich? Wie eigenartig!“

„Ich wette, er war von dem Menſchen, der geſtern ſchon zum drittenmal hintereinander in der Fremden⸗ loge ſaß. Du kennſt ihn natuͤrlich?“

„Ich habe keine Ahnung, wen du meinſt.“ |

„Verſtell dich nicht! Ich habe ſehr gut bemerkt, wie du mit ihm kokettiert haft. Und mir iſt, als ob ich ihn auch kennen muͤßte. Ich weiß nur nicht gleich, wo ich das Raubvogelgeſicht hinbringen ſoll. Du willſt mir alſo wirklich ſeinen Namen nicht nennen?“

Roman von Reinhold Ortmann 31

„Ich bin doch kein Auskunftsbuͤro. Du kannſt dir ja einen Detektiv mieten.“

„Nun, der Burſche ſoll mir nur mal zwiſchen die Finger kommen! Denn davon, daß etwas dahinter ſteckt, bin ich jetzt feſt uͤberzeugt. Wenn du ein reines Gewiſſen haͤtteſt, wuͤrdeſt du mir nicht ſo ſchnippiſche Antworten geben.“

„Meine Antworten ſind immer noch viel liebens— wuͤrdiger, als deine Fragen es verdienen. Waͤre mir der Herr aber in der Tat nicht ganz unbekannt, was kuͤmmerte es dich? Jeder von uns wird eben von nun an tun, was ihm gefaͤllt.“

„Oho! Da haͤtte ich wohl auch noch ein Woͤrtchen mitzureden. Und ich rate dir im guten: mach keine Geſchichten. Auch nicht zum Spaß. Ich bin kein Onkel Julius, den man mit heimlichen Stelldicheinen in Konditoreien und dergleichen hinters Licht fuͤhren kann.“

„Es ſieht dir ähnlich, daß du mir jetzt einen Vor: wurf machſt aus dem, was ich fuͤr dich getan habe. Aber es iſt nicht der Muͤhe wert, mit dir zu ſtreiten. Und es waͤre mir lieb, wenn ich mich jetzt ungeſtoͤrt fertig machen koͤnnte.“

„Meinetwegen. Ich lege mich im Wohnzimmer aufs Sofa, um wenigſtens ein paar Stunden der ver— ſumpften Nacht wieder hereinzubringen. Aber vergiß nicht, mich rechtzeitig zu wecken. Um zwoͤlf habe ich eine Verabredung bei dem Agenten.“

Zehn Minuten ſpaͤter Jens Larſſen lag bereits in tiefem Schlaf ſtand Margarete am Fernſprecher; ſie hatte ſich mit dem Hotel „Fuͤrſtenhof“ verbinden und Doktor Greſſer bitten laſſen. Nach einer ſehr kleinen Weile ſchon drang die wohlbekannte tiefe Stimme an

nn ur reer rer

32 Das hoͤchſte Ziel ihr Ohr: „Vielguten Tag, Schoͤnſte der Frauen! Es iſt doch ſonſt niemand im Hoͤrbereich?“

„Nein. Aber warum wollen Sie denn das wiſſen? Haben Sie mir ein Geheimnis anzuvertrauen?“

„Nein. Daß ich naͤrriſch in Sie verliebt bin, iſt ja fuͤr Sie kein Geheimnis mehr.“

„Da alles in mich verliebt iſt, warum ſollten gerade Sie eine Ausnahme machen? Aber, Scherz beiſeite, wegen Ihres Blumenkorbes, fuͤr den ich Ihnen uͤbrigens beſtens danke, hatte ich eben eine große Eiferſuchtsſzene.“

„Mit wem? Doch nicht mit Jens Larſſen?“

„Mit wem ſonſt? Er iſt doch der einzige, der ein Recht dazu hat. Denken Sie nur: obwohl Sie ihm in der Fremdenloge aufgefallen ſind, hat er Sie nicht erkannt.“

„Vermutlich, weil ich mich ſeit unſerem letzten Zu: ſammenſein bei dem famoſen Liebesmahl ſo gewaltig verjuͤngt habe. Oder fanden Sie das vielleicht nicht?“

„Nein verjuͤngt haben Sie ſich nicht. Aber das iſt bei einem Manne auch nicht noͤtig.“

„Nicht nötig? Wozu?“

„Um den Frauen zu gefallen. Den anderen Frauen, meine ich; denn von mir iſt ſelbſtverſtaͤndlich nicht die Rede. Ihr Brief war uͤbrigens eine große Keckheit, Herr Doktor! Eigentlich duͤrfte ich daraufhin gar nicht mehr mit Ihnen reden.“

„Und weil Sie das eigentlich nicht duͤrften, haben Sie mich angerufen. Ich kuͤſſe Ihnen dafuͤr Ihre zehn reizenden Fingerchen. Und die Antwort auf meine briefliche Anfrage? Wo und wann darf ich Sie ſehen?“

„Wenn ich mich darauf verlaſſen darf, daß Sie ſehr artig ſind —“

„Es iſt geſchworen in der Hoffnung natuͤrlich, daß

Roman von Reinhold Ortmann 33

Sie nike in nicht zu ferner Zeit meines Geluͤbdes ent⸗ binden werden.“

„Niemals. Und ich werde Ihnen ſehr boͤſe ſein, wenn Sie mir durch Ihr Benehmen zeigen, daß Sie mich fuͤr leichtfertig halten. Ihre Achtung will ich und Ihre Freundſchaft; denn ich brauche notwendig einen echten, wahren Freund. Darf ich Vertrauen zu Ihnen haben?“

Ja.“

Das kurze Wort klang anders aus dem Apparat als ſeine bisherigen Reden. Ein Laͤcheln huſchte kurz uͤber Margaretens Geſicht. „Dann moͤgen Sie mich um zwoͤlf Uhr beſuchen, vorausgeſetzt, daß die Zeit Ihnen genehm iſt.“

„Es gibt keine, die mir nicht genehm waͤre, wenn es ſich darum handelt, Ihnen zu dienen. Und Sie wiſſen ja auch, daß ich ein Muͤßiggaͤnger bin. Punkt zwoͤlf Uhr alſo!“

„Sagen wir lieber: eine Viertelſtunde ſpaͤter. Mein Mann hat um zwoͤlf eine Verabredung bei ſeinem Theateragenten. Und bei unſerem erſten Wiederſehen wenigſtens braucht er nicht notwendig zugegen zu ſein nicht wahr?“

„Nein, eine ſolche Notwendigkeit vermag auch ich nicht zu erkennen.“

„Schaͤmen Sie ſich! Auf bald alſo! Schluß!“

„Sie wollten meine Anſicht hoͤren, Herr Suterland, darum mußte ich wohl aufrichtig ſein. Aber die Ent⸗ ſcheidung liegt ſelbſtverſtaͤndlich bei Ihnen. N 5 „Weil ich dem Namen nach noch immer die Prokura habe, meinen Sie. Aber ich werde mich huͤten, in Ab⸗ weſenheit des Chefs etwas zu tun, was nicht Ihren

1916. X. 3

34 Das bochſte Ziel |

Beifall he hat, we Doktor. Daß der En re rat fich nachher auf Ihren Standpunkt ſtellen würde, iſt doch außer Frage. Sie allein ſind es ja, der hier regiert.“ Der kleine alte Herr hatte ſich nicht bemuͤht, die Gereizt⸗ heit zu verbergen, der ſeine Worte entfloſſen. Das Zittern ſeiner Haͤnde machte die Papiere kniſtern, die er zwiſchen den Fingern hielt, und ſeine Geſichtsmuskeln zuckten nervoͤs.

Reinhard Volcker, der ihm gegenuͤber am Schreib⸗ tiſch lehnte, zog wie in aufſteigendem Unmut die Brauen zuſammen; aber der Ton ſeiner Rede blieb durchaus ruhig und artig. „Ich verſtehe nicht recht, wie Sie zu ſolcher Auffaſſung kommen. Und ich bedaure es auf- richtig. Sie werden mir kaum den Vorwurf machen koͤnnen, daß ich mich jemals in Ihr Machtgebiet einge⸗ draͤngt oder Ihre Anordnungen geſtoͤrt haͤtte.“

„Gewiß, gewiß Sie ſind immer die Liebens⸗ wuͤrdigkeit ſelbſt geweſen. Aber Sie duͤrfen nicht er⸗ warten, Herr Doktor, daß ich mich dadurch uͤber die wahre Sachlage taͤuſchen laſſe. Es iſt ein ſehr ſchmerz⸗ liches Gefuͤhl, wenn man ſich nach dreißigjaͤhriger Taͤtigkeit als uͤberfluͤſſig beiſeite geſchoben ſieht.“

„Was ſoll ich Ihnen darauf antworten? Es kaͤme mir ſehr toͤricht vor, wenn ich Ihnen erſt noch ausdruͤcklich verſichern wollte, daß ich niemals den Wunſch gehabt habe, Sie beiſeite zu ſchieben.“

„Sie haben ja auch nicht noͤtig, ſich vor mir zu recht⸗ fertigen. Daß Sie darauf bedacht ſind, in die Hoͤhe zu kommen, kann Ihnen niemand verargen.“

„Darauf habe ich nichts zu erwidern. Warum aber, wenn Sie einen Grund zur Klage haben, wenden Sie ſich mit Ihrer Beſchwerde nicht an die einzig zuſtaͤndige Stelle, naͤmlich an den Herrn Kommerzienrat ſelbſt?“

Roman von Reinhold Ortmann 35

„Ich moͤchte es nicht zur Kuͤndigung kommen laſſen nach dreißig Jahren treuer, rechtſchaffener Arbeit. Nein, dann gehe ich ſchon lieber aus eigenem Entſchluß. Die Alten muͤſſen den Jungen das Feld raͤumen, das iſt ja wohl ſo der Lauf der Welt.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, haſtete er aus dem Zimmer.

Mit einem Seufzer wandte ſich der Zuruͤckgebliebene nach dem Hintergrund des Gemaches, wo Marianne Langerhans ruhig wartend ſtand. Sie war ſchon dage⸗ weſen, als der Prokuriſt eintrat. Und in der Annahme, daß es fich um eine gleichguͤltige geſchaͤftliche Beſprechung zwiſchen den beiden Herren handeln ſolle, war fie ges blieben. Nun, da ſie Volckers Blick begegnete, ſagte ſie mit einem Achſel zucken: „Sie muͤſſen es tragen, Rein⸗ hard! Das ſind Widerwaͤrtigkeiten, die keinem erſpart bleiben.“

„Aber ſolche Szenen wiederholen ſich ſeit der Abreiſe des Kommerzienrats beinahe taͤglich. Und wenn ich mich noch ſchuldig wuͤßte! Aber in Wahrheit hat der alte Herr bei dem Chef keinen waͤrmeren Fuͤrſprecher als mich.“

„Sie gelten ihm als Widerſacher, weil Sie ihm die feindliche Jugend verkoͤrpern und weil Sie Klemens Steinsdorffs Vertrauen genießen. Das verzeiht er Ihnen nicht. Und darum wuͤrde er Ihnen unbedenklich das Schlimmſte antun, wenn er die Moͤglichkeit dazu hätte.”

„Oh, fo weit geht feine Abneigung doch wohl nicht. Und er tut mir leid. Ich habe ſeinem ehrwuͤrdigen Alter vielleicht in der Tat nicht immer gebuͤhrend Rechnung getragen; ich werde kuͤnftig feine Empfind⸗ lichkeit noch vorſichtiger ſchonen als bisher. Aber nun zu unſeren Briefen, liebe Marianne! Ein Gluͤck, daß es wenigſtens zwiſchen uns keine Meinungsverſchieden⸗

36 Das hoͤchſte Ziel

heiten gibt. Die wuͤrden mir jedenfalls naͤher gehen als die grundloſen Einbildungen des Herrn Suter⸗ land.“

„Da iſt ein großer unterschied. Ich bin doch nur

Ihre Untergebene.“ W Wollen Sie etwa auch in der Tonart anfangen?“ fragte er lachend. „Ich würde mich als Ihr Vorge— ſetzter gar nicht ſehr behaglich fuͤhlen; denn in geſchaͤft⸗ lichen Dingen ſind Sie neunmal geſcheiter als ich.“

„Dieſen ſchoͤnen Wahn will ich Ihnen nicht zer⸗ ſtoͤren,“ ſagte auch ſie mit einem Laͤcheln. Sie hatte in dieſen vier Jahren gelernt, heiter und unbefangen zu laͤcheln, und auch in anderen Äußerlichkeiten war allgemach eine recht vorteilhafte Veraͤnderung mit ihr vorgegangen. Ihre Geſtalt hatte ſich gerundet; ihre Wangen waren nicht mehr ſo ſchmal und hager wie zur Zeit ihrer erſten Begegnung mit Volcker. Wenn ein Schimmer von Froͤhlichkeit uͤber ihr Geſicht ging, konnte man ſie wohl huͤbſch nennen. Aber ſolche Augenblicke kamen freilich nicht allzuoft. Und noch Bu ſchien ſie aͤlter, als ſie war.

Das galt, wenngleich in anderem Sinne, auch fuͤr Reinhard Volcker. Hatte er mit vierundzwanzig faſt wie ein Zwanzigjaͤhriger ausgeſehen, ſo machte er jetzt trotz der Kuͤrze der dazwiſchenliegenden Zeitſpanne durchaus den Eindruck eines gereiften Mannes. Eine ruhige Selbſtſicherheit, die doch nichts von Hochmut und Überhebung hatte, offenbarte fich in feiner Haltung wie in feiner Redeweiſe; aus feinen Augen aber . Geſundheit und ſtrotzende Lebenskraft.

Eine Viertelſtunde uͤber die feſtgeſetzte Büͤrozeit hinaus waͤhrte ſeine Beſprechung mit Marianne. Dann trennten ſie ſich mit der freundlichen Erklaͤrung Volckers,

„Roman von Reinhold Ortmann 37

daß er ſich fuͤr den . Sonntagnachmittag zum Tee anſage. i

Der junge Redakteur lenkte ſeine Schritte zur Woh⸗ nung des Oberleutnants v. Heldringen. Der hatte ihn heute nicht erwartet und war deſto augenfaͤlliger erfreut uͤber ſein Erſcheinen. Bei raſch herbeigeſchafftem Bier und einer guten Zigarre machten ſich's die Freunde in dem behaglichen Junggeſellenzimmer bequem.

„Haſt du Nachrichten von meinem Onkel?“ fragte Heldringen im Lauf der Unterhaltung, und Volcker nickte. 5 „Darum auptſächlich bin ich hier. Der Kommer⸗ zienrat ſchreibt, daß er wahrſcheinlich ſchon an einem der naͤchſten Tage eintrifft. Und ich bin ſehr froh daruͤber. Denn wenn auch die Maſchine weiterlaͤuft, ohne ihn fehlt's doch an allen Ecken und Enden.“

„Da redet aus einem gewiſſen jungen Manne wieder mal die falſche Beſcheidenheit. Um das zu glauben, muͤßte ich nicht erſt vor etlichen Wochen von dem alten Herrn dein Lob in wahren Hymnentoͤnen gehoͤrt haben. Wenn man ſich auf ſein Urteil verlaſſen darf, biſt du ein Genie als Buchhaͤndler, Redakteur, Schriftſteller, Po⸗ litiker und ich weiß nicht, was ſonſt noch. Manchmal begreife ich es gar nicht, daß du mich armen, unwiſſenden Leutnant uͤberhaupt noch deines Umgangs wuͤrdigſt.“

„Gut, daß man dich nicht immer ernſt zu nehmen braucht, mein teurer Heldringen! Aber du haſt noch nicht alles gehoͤrt, was ich dir Erfreuliches mitzuteilen habe. Und es iſt etwas dabei, was dir ein ganz beſonderes Vergnuͤgen bereiten wird.“ |

„Iſt es möglich: die Damen kommen auch mit? Die Tante und Traute? Schon jetzt?“

„Ja. Der Herr Kommerzienrat ſchreibt, ſeine Gattin

38 Das höchfte Ziel

nn

koͤnne die Trennung von ihrem Heim nicht laͤnger er⸗ tragen. Und da die Arzte fie für vollkommen herge⸗ ſtellt erklaͤrt haben, wolle ſie mit der Ruͤckkehr nicht bis zum Sommer warten.“

„Sehr begreiflich, nachdem ſie faſt volle zwei Jahre im Suͤden und in allerlei langweiligen Baͤdern aus⸗ halten mußte. Aber du haſt recht: etwas Vergnuͤglicheres haͤtteſt du mir wahrhaftig nicht erzaͤhlen koͤnnen.“

Volcker laͤchelte ſchalkhaft. „Ich wußte ja, mit wie gluͤhender Verehrung du an deiner Frau Tante haͤngſt.“

„Tu' ich auch aber eigentlich dachte ich zunaͤchſt an jemand andern. Ich glaube, du kennſt ſie noch gar nicht.“

„Wen? Fraͤulein Traute Steinsdorff? Doch! Ich hatte bereits das Vergnügen.”

„Sooo?“ machte der Oberleutnant ungläubig. „Wann ſollte denn das geweſen ſein? Es waren doch im verfloſſenen Oktober ſchon vier Jahre, daß ſie nach Lauſanne in die Dreſſuranſtalt gekommen iſt. Und von da iſt ſie mit ihrer Mutter geradeswegs nach dem Suͤden gegangen. Wenn ich nicht in den letzten Sommern nach dem Manöver mit den Damen zuſammengetroffen waͤre, wuͤrde ich wahrſcheinlich ſelber nur noch eine ganz nebelhafte Erinnerung an mein kleines Baͤschen haben.“

„Trotz alledem ruͤhme ich mich, die junge Dame ſchon geſehen zu haben. Das war damals, als ſie um den Tiſch herumlief und feierlich erklaͤrte, daß ſie ſich niemals von einem Leutnant kuͤſſen ließe, wenigſtens nicht unter vier Augen.“

Heldringen uͤberlegte. „Ach ja, jetzt glaube ich mich zu beſinnen. Aber daß du dieſer unbeholfene junge Menſch geweſen biſt, der uns damals belauſchte das iſt mir in der Tat ganz neu. Wahrſcheinlich hatte ich

Roman von Reinhold Ortmann 39

dich nur fluͤchtig angeſehen. Übrigens wenn du fie zu kennen glaubſt, weil ſie als vierzehnjaͤhriges Back⸗ fiſchchen mal an dir vorbeigehuſcht iſt, ſo biſt du gewaltig auf dem Holzweg.“

„Daß ſich junge Maͤdchen zwiſchen vierzehn und achtzehn meiſt zu ihrem Vorteil veraͤndern, iſt eine alte naturgeſchichtliche Erfahrung.“

„Aber als Erklaͤrung fuͤr den vorliegenden Fall nicht ganz erſchoͤpfend. Na, du wirſt ja ſelbſt ſehen. Und ich wette, daß du bei ihrem Anblick an alles andere eher denkſt als an Naturgeſchichte oder aͤhnlichen Unſinn. Warte mal: im Bilde wenigſtens kann ich ſie dir auf der Stelle vorfuͤhren.“

Er zog ein Fach ſeines Schreibtiſches auf, das ganz mit Photographien zumeiſt weiblicher Weſen gefuͤllt war, und ſtreute die Bilder uͤber den Tiſch. Dabei ſchob ſich eines dicht an Volckers Bierglas, fo daß er kaum ver⸗ meiden konnte, es anzuſehen. Und wie geiſtesabweſend ſtarrte er nach dem erſten fluͤchtigen Blick darauf hin. War das nur eine wunderbare Ahnlichkeit oder war es Reta Martiny ſelbſt? Konnte es dieſe Augen, dieſen Mund, dieſes Laͤcheln noch einmal geben? Zoͤgernd drehte er das Bild naͤher zu ſich heran, und jetzt gab es keine Möglichkeit eines Irrtums mehr. Sie ſelbſt und doch nicht mehr dieſelbe! Mit aller unbewußten Holdſeligkeit, aller ruͤhrenden Anmut und ahnungsloſen Reinheit eines Kindes trug er ihr Bild in der Seele. Dies ſchoͤne, laͤchelnde Weib mit den wiſſenden Augen mochte beſtrickend, verfuͤhreriſch ſein; doch von dem unbeſchreib⸗ lichen Zauber, den er einſt bei ihrem Anblick empfunden, ſprach aus dieſem Bilde nichts mehr zu Reinhard Volckers Herzen.

„Der Himmel weiß, an welchem allerbeſten und

„u

40 Das hoͤchſte Ziel ER

allerficherften Ort ich Trautes Bild nun wieder ver⸗ wahrt habe,“ ſagte Heldringen, nachdem er bis auf den Boden der Schublade gelangt war. „Im Augenblick kann ich es jedenfalls nicht finden.” c „Bemuͤhe dich nicht, Liebſter, da ich ja binnen kurzem den Vorzug haben werde, das Original ſelbſt zu ſehen. Aber ſage mir doch: wer iſt dieſe Dame?“ „Die? Erkennſt du ſie nicht? Es iſt die ſchoͤne Marga Larſſen, fuͤr die waͤhrend eines Winters es koͤnnen auch zweie geweſen ſein die ganze Welt ge⸗ ſchwaͤrmt hat. Haft du denn den „Teufelswalzer nicht geſehen?“ „Nein. Und du mußt dich da in einem Irrtum bes

finden. Eine Marga Larſſen kann das unmöglich fein.”

„Nicht? Und wer waͤre es ſonſt?“

„Ein junges Maͤdchen, das ich vor etwas mehr als vier Jahren auf der Buͤhne eines hieſigen Varietés als Taͤnzerin geſehen habe.“

„Kann ſchon ſtimmen. Es hieß, daß fie eine ſchlechte Artiſtin geweſen ſei, bevor ſie als Schauſpielerin entdeckt wurde.“

„Aber der Name? Jene junge Dame hieß Reta Martiny.“

„Nun, und was weiter? Reta war vermutlich eine ebenſo ſchauderhafte Verunzierung des ſchoͤnen Vor⸗ namens Margarete, als Marga eine Verſtuͤmmelung davon iſt. Und Larſſen iſt oder war eben der Name ihres Gatten.“ Ä

„Ihres Gatten? Sie iſt verheiratet?“

„Gewiß. Wenn ich nicht ſehr irre, ſogar ſchon zum zweitenmal.“

„uUnmoͤglich!“ fuhr es Volcker halb gegen feinen Willen heraus. „Es iſt ganz unmoͤglich, Heldringen.“

Roman von Reinhold Ortmann 41

„du biſt ein wunderlicher Heiliger. Weshalb, in aller Welt, ſollte es denn ſo ganz unmoͤglich ſein? Ich fuͤr meine Perſon kann nichts Verwunderliches dabei finden; denn ich glaube, es iſt ein mindeſtens ebenſo großes Vergnuͤgen, von der Dame geſchieden zu werden, als es eine Wonne ſein muß, ſie zu heiraten.“ „Geſchieden ſagſt du? Das heißt: es handelt ſich dabei um eine bloße Vermutung, nicht wahr?“ „Dabeigeweſen bin ich allerdings nicht, als die Scheidung ausgeſprochen wurde. Erzaͤhlt aber hat man mir's beſtimmt. Und ich halte es auch fuͤr hoͤchſt wahr⸗ ſcheinlich. Denn es ſoll ja eine Liebesheirat geweſen ſein. Der Herr Larſſen war naͤmlich derſelbe Schau⸗ ſpieler, mit dem fie den ſchauerlichen ‚Zeufelswalzer‘ mimte. Ein ſogenannter ſchoͤner Mann und ein ver⸗ zweifelt widerwaͤrtiger Kerl.‘ Volcker fragte nicht weiter, aber er blieb fuͤr den Reſt des Abends ein ungewoͤhnlich ſchweigſamer und zer⸗ ſtreuter Geſellſchafter. Als er den Heimweg antrat, ſtand er unter dem Druck einer ſchmerzlichen Enttaͤu⸗ ſchung, vor allem uͤber die Tiefe und Stetigkeit ſeines eigenen Empfindungslebens. Wie oft in dieſen langen vier Jahren hatte er ſich die Moͤglichkeit einer Wieder⸗ begegnung mit Reta ausgemalt! Und wie leuchtend waren jedesmal die Farben dieſes Bildes geweſen! Und nun? War dies denn nicht auch ein Wiederfinden ge⸗ weſen? Warum hatte ſich beim Anblick ihres Bildes das wonnige Erſchauern nicht eingeſtellt, das ſonſt ein bloßes Erinnern noch immer hatte durch ſeinen Koͤrper rieſeln laſſen? Warum ſpuͤrte er eine ſo ſeltſame Kaͤlte und Leere in ſeinem Herzen? Die Vorſtellung, daß ſie ſich einem anderen zu eigen gegeben, daß ſie jetzt vielleicht ſchon einem dritten gehoͤrte dieſe Vorſtellung konnte

42 gie

es doch nicht fein, die das bewirkte. Denn er hatte fie laͤngſt verloren gegeben und war doch ſicher geweſen, ſie noch immer zu lieben. Nun aber hatte er dieſe Sicherheit nicht mehr. Seine Seele war voll Traurigkeit wie nach einem großen Verluſt. Aber es war eine ſtille, ſanfte Traurigkeit ohne alle brennende Schaͤrfe.

Waͤhrend der beiden erſten Jahre ſeiner Taͤtigkeit im Hauſe Steins dorff war Reinhard Volcker mit der Gattin des Kommerzienrats nur ſelten und fluͤchtig in per⸗ ſoͤnliche Beruͤhrung gekommen. Denn abgeſehen davon, daß engere Beziehungen zwiſchen ihm und dem allge⸗ waltigen Chef der Firma damals noch nicht beſtanden hatten, war wegen der zunehmenden Kraͤnklichkeit der Frau Hedwig Steinsdorff der geſellige Verkehr des Ehe⸗ paares waͤhrend jener beiden Jahre auf einen Kreis von wenigen Freunden beſchraͤnkt geblieben.

Das war nun ganz anders geworden. Doktor Reinhard Volcker ſtand auf einem hohen und verant⸗ wortlichen Poſten. Er galt allgemein als die „rechte Hand“ des Kommerzienrats und wurde von ihm trotz des Altersunterſchiedes mehr als Freund denn als Untergebener behandelt. Es war alſo unausbleiblich, daß ſich daraus fuͤr Reinhard auch ein naͤheres geſell⸗ ſchaftliches Verhaͤltnis zu den Damen des Hauſes ergab.

Frau Hedwig war von ihrer langwierigen und nicht unbedenklichen Krankheit vollſtaͤndig geneſen. Sie ſah viel huͤbſcher und jugendlicher aus als vor vier Jahren und ſchien durchaus gewillt, ihre ſchoͤnen Empfangs⸗ raͤume wieder zu jener Staͤtte einer frohen und anregen⸗ den Geſelligkeit zu machen, die ſie in vergangenen Zeiten geweſen waren. Dazu kam, daß die nahezu neunzehn⸗ jährige Tochter nach Sitte und Herkommen nunmehr

gnuͤgungen erheben durfte, die ihrer lebensfrohen Jugend angemeſſen waren. Und es zeigte ſich ſehr bald, daß gerade ihre Perſon ein ſehr anziehungskraͤftiger Magnet namentlich fuͤr die juͤngeren Herren des Steins dorffſchen Umgangskreiſes geworden war.

Es konnte nicht wohl anders ſein; denn der zierliche Backfiſch von ehedem war als eine ausnehmend huͤbſche und reizvolle junge Dame zuruͤckgekehrt. Ihre ſchmaͤch⸗ tige Mutter um beinahe Haupteslaͤnge uͤberragend, war Traute waͤhrend dieſer Entwicklungszeit dem Vater noch um vieles ähnlicher geworden. Mit der Überfeßung ſeiner maͤnnlichen Schoͤnheit in das weiblich Anmutige hatte die Natur in Wahrheit ein kleines Meiſterſtuͤck zuſtande gebracht. Als Reinhard Volcker ihr bei der erſten förmlic en Vorſtellung gegenuͤberſtand, fand er von ſeinem Erinnerungsbilde eigentlich nichts mehr wieder als die glaͤnzenden braunen Augen, die ihn einſt mit einem Blick voll Verwirrung und Unmut angeſtarrt hatten. Sie waren ihm gut im Gedaͤchtnis geblieben, und er konnte darum jetzt kaum uͤberraſcht ſein von ihrer ausdrucksvollen Schoͤnheit. Aber der Blick, den ſie ihm vergoͤnnten, war freilich von einer ganz anderen Art; er war kuͤhl und gleichguͤltig, ja, wie ihm ſcheinen wollte, faſt hochmuͤtig ablehnend, wie die ganze Art ihres Benehmens. Gewiß war ſie gleich ihrer Mutter von vollkommenſter Hoͤflichkeit gegen den neuen Be⸗ kannten, den der Kommerzienrat mit einigen ſehr herz⸗ lichen und fuͤr Volcker hoͤchſt ſchmeichelhaften Worten ſeinen Damen gebracht hatte. Aber hinter dieſer Höflichkeit barg ſich doch eine Gemeſſenheit und Kälte, die Volcker deutlich genug empfand, um dadurch von vornherein auch ſein eigenes Verhalten beſtimmen zu

wollen zu rechnen habe, das fein verehrter Chef ihm fo unzweideutig entgegenbrachte. Und um nichts in der Welt haͤtte er verſucht, ſich aufzudraͤngen, wo man eine Annaͤherung offenbar nicht wuͤnſchte.

Er verhehlte ſich nicht, daß ihn dieſe verſchleierte Ablehnung ſchmerzte. Namentlich, ſoweit er ſie in dem Benehmen des jungen Maͤdchens wahrzunehmen glaubte; denn es war ſicherlich etwas ſehr Schoͤnes und Koͤſtliches, Traute Steinsdorffs Freundſchaft zu beſitzen. Auch ohne die begeiſterten Außerungen Heldringens wäre er zu dieſer Überzeugung gelangt, nachdem er ihr bei größeren geſellſchaftlichen Veranſtaltungen im Steinsdorffſchen Hauſe einige Male begegnet war. Ihre Liebenswuͤrdigkeit hatte nichts Anerzogenes und Gemachtes. In der Heiterkeit wie im Ernſt, immer offenbarte ſich in ihrem Weſen eine ſchoͤne Herzens waͤrme, die mit einem Laͤcheln oder mit einem Wort zu gewinnen wußte. Im leichten Geſpraͤch, wie in tiefer ſchuͤrfender Unterhaltung, immer gab ſie ſich ohne jede Poſe und ohne jede Gefallſucht; ſie ſuchte nicht zu erheucheln, was ſie nicht beſaß, ſuchte nicht kluͤger zu erſcheinen, als ſie war, und nicht gefuͤhlſeliger, als es ihrer bluͤhenden koͤrperlichen und ſeeliſchen Geſundheit entſprach. Von den beiden Fehlern, die in Volckers Augen einem Men⸗ ſchen am meiſten ſchadeten, von Oberflaͤchlichkeit und Unaufrichtigkeit, war ſie jedenfalls vollſtaͤndig frei. Er waͤre gluͤcklich geweſen, ihr freundſchaftliches Ver⸗ trauen zu gewinnen. Die unſichtbare Schranke aber, die ſie gleich in der erſten Stunde mit offenkundiger Abſichtlichkeit zwiſchen ſich und ihm aufgerichtet, hatte ihm von vornherein jede Hoffnung darauf genommen.

So ſtellte er denn ſein Benehmen auf ſtrengſte ge⸗

Roman von Reinhold Ortmann 45

ſellſchaftliche Form und wuͤrdevolle Beſcheidenheit ein. Weil es ihm laͤcherlich erſchienen waͤre, wenn er etwa haͤtte den Gekraͤnkten ſpielen wollen, leiſtete er den Ein⸗ ladungen Folge, die jedesmal auch an ihn ergingen, wenn ſich die gaſtlichen Pforten des Steinsdorffſchen Hauſes zu einer groͤßeren geſelligen Veranſtaltung oͤffneten. Aber er vermied es beinahe aͤngſtlich, ſich in den engeren Kreis zu draͤngen, der das gefeierte Haus⸗ töchterchen umgab. Und wo er dem Geſpraͤch mit ihr nicht ausweichen konnte, ging auch er uͤber die Grenzen einer wohl abgemeſſenen Artigkeit niemals hinaus.

Nach einer Erklaͤrung ihres Verhaltens ſuchte er nicht. Sie ſchien ihm hinlaͤnglich gegeben durch die Tatſache, daß er doch am Ende nur ein bezahlter Ange⸗ ſtellter ihres Vaters war, und daß ihre Mutter ſie offen⸗ bar in der Anſchauung erzogen hatte, es koͤnne unter ſolchen Umſtaͤnden von einer geſellſchaftlichen Gleichbe⸗ rechtigung nicht die Rede ſein.

Der Kommerzienrat hatte von der ablehnenden Stellungnahme der Damen ſeinem erklaͤrten Schuͤtzling gegenuͤber bisher offenbar nichts bemerkt. Er ſprach von ſeiner Tochter hie und da zu Volcker, wie wenn er ſicher waͤre, daß die allerbeſten Beziehungen zwiſchen ihnen beſtaͤnden. Aber ſein raſtlos taͤtiger Geiſt war immer viel zu ſehr mit weittragenden geſchaͤftlichen und menſchenfreundlichen Plaͤnen beſchaͤftigt, als daß er ſo nebenſaͤchlichen perſoͤnlichen Dingen haͤtte eine beſondere Beachtung ſchenken ſollen. |

Volcker hätte blind fein muͤſſen, um nicht zu ſehen, daß Traute ein Gegenſtand eifrigſten Werbens fuͤr mehr als einen der im Hauſe verkehrenden jungen Herren geworden war. Er fand das ebenſo natuͤrlich um ihrer beſtechenden perſoͤnlichen Vorzuͤge wie um des großen

46 Das hoͤchſte Ziel

Reichtums willen, der ihr als dem einzigen Kinde ihrer Eltern dereinſt zufallen mußte. Jedenfalls war in dieſer Hinſicht die Entſcheidung bereits gefallen. Daraus, wie ſterblich er in ſeine ſchoͤne Baſe verliebt war, machte Bruno v. Heldringen dem Freunde gegenuͤber ja kaum noch ein Hehl, wenn er auch ſelbſtverſtaͤndlich zu wohl⸗ erzogen und zu taktvoll war, es in buͤrren Worten auszuſprechen. Und die Art, in der Traute mit ihrem Vetter verkehrte, ließ nach Volckers Überzeugung eben⸗ falls nur eine einzige Deutung zu. Es herrſchte zwi⸗ ſchen ihnen jener uͤbermuͤtige, neckiſch vertrauliche Ton, der von einem Liebesgetaͤndel kaum noch zu unter⸗ ſcheiden iſt. Wo immer es in nicht geradezu auffaͤlliger Weiſe geſchehen konnte, gab ſie mit ihren kleinen, harm⸗ loſen Gunſtbeweiſen ihm vor allen anderen den Vorzug, und mit der Offenheit, die all ihren Handlungen eigen war, bekundete ſie das Vergnuͤgen, das ſeine Geſellſchaft und ſeine luſtige Unterhaltungsgabe ihr bereiteten.

Daß ſie mit ihm beinahe taͤglich ohne jede andere Begleitung ſpazieren reiten durfte, war wohl ein Zeichen, daß auch ihre Eltern ſich mit dem Gedanken an eine innigere Verbindung der beiden jungen Leute bereits vertraut gemacht hatten. Die Frau Kommerzien⸗ rat zumal legte eine große Zaͤrtlichkeit fuͤr den huͤbſchen Neffen an den Tag, die ſie gewiß zur erfolgreichen Fuͤr⸗ ſprecherin machte, ſelbſt dann, wenn etwa Klemens Steinsdorff wegen der nahen Blutsverwandtſchaft oder aus irgendwelchen anderen Gruͤnden Bedenken hegen ſollte.

Ob er den Freund um ſein Gluͤck beneidete ob er es ihm vielleicht gar mißgoͤnnte? Reinhard Volcker wuͤrde ſich ſelbſt auf das haͤrteſte getadelt haben, wenn

Roman von Reinhold Ortmann 47

———

er ſich jemals auf einer derartigen Empfindung haͤtte ertappen muͤſſen. Und darum war es wohl gut, daß er ſich nicht Rechenſchaft gab uͤber die wahre Natur des ſeltſam ſtechenden und nagenden Schmerzes, den er verſpuͤrte, wenn er inmitten einer heiter und feſtlich ge⸗ ſtimmten Geſellſchaft die beiden beobachtete. Er ſchalt ſich wegen dieſer toͤrichten Regung, aber er brachte ſie einzig auf die Rechnung des Bedauerns uͤber ſeine eigene unverſchuldete Zuruͤckſetzung und uͤber die ſichere Aus⸗ ſicht, mit dem Augenblick ſeiner Verheiratung auch den ihm teuer gewordenen Freund fuͤr immer zu verlieren. | Nun waren ſchon zehn Wochen ſeit der Heimkehr der Damen vergangen. Die Hochflut der winterlichen Vergnuͤgungen war verebbt, und die letzten Apriltage brachten ein ſo herrliches Fruͤhlingswetter, daß ſich in jedes Großſtaͤdters Herz die Sehnſucht nach einer Flucht aus der druͤckenden Enge des unfruchtbaren ſteinernen Haͤuſermeeres zu regen begann. An einem dieſer Tage war es, als der Kommerzienrat am Ende einer geſchaͤftlichen Beſprechung zu Reinhard Volcker ſagte: „Nun habe ich noch etwas Neues fuͤr Sie, lieber Doktor eine kleine Überraſchung, und hoffentlich keine unangenehme. Haben Sie Luſt, meine Damen auf ungefaͤhr eine Woche nach Reimsbach zu begleiten?“ Die erſte Empfindung Volckers war die einer leb⸗ haften Beſtuͤrzung. So gerne er in dem lieblichen ſchleſiſchen Dorfe weilte, in deſſen Gemarkung die große Steinsdorffſche Papierfabrik und die ihr angegliederte Arbeiterkolonie gelegen waren, die Vorſtellung, mit den beiden Damen, denen ſeine Geſellſchaft ohne Zweifel ſehr wenig willkommen war, dorthin zu gehen, verur⸗ ſachte ihm ein mit ſtarker Bangigkeit gemiſchtes Unbe⸗

48 Das hoͤchſte Ziel

hagen. Aber er durfte natuͤrlich nicht nein ſagen, und er fand darum keine andere Antwort als ein verlegenes: „Wenn der Herr Kommerzienrat es ſo wuͤnſchen —“

„Ja. Es gibt da einiges Geſchaͤftliche mit dem Di⸗ rektor zu ordnen, und ich moͤchte, daß Sie auch in der Kolonie wieder mal nach dem Rechten ſehen. Die Leute fuͤhren ja im großen und ganzen ein recht eintraͤchtiges Leben, aber da ſie eben auch nur Menſchen ſind, geht es doch nicht ganz ohne kleine Reibungen und Mißhellig⸗ keiten ab, denen man beizeiten ein Ende machen ſollte. Außerdem werden Sie ja wahrſcheinlich Verlangen tragen, ſich das fertige Kinderheim anzuſehen, das im eigentlichſten Sinne des Wortes Ihr Werk iſt und das nun ſchon ſeit etlichen Wochen ſeiner Beſtimmung dient. Die naͤchſte Monatsnummer unſerer Zeitſchrift liegt vollſtaͤndig druckfertig vor, und Sie koͤnnen darum gerade jetzt hier ſehr gut abkommen. Nach der großen Arbeitslaſt des Winters, die Ihnen namentlich durch meine Vertretung aufgebuͤrdet worden iſt, wird Ihnen die kleine Ausſpannung hoffentlich gut bekommen.“

„Was das betrifft, Herr Kommerzienrat ich fuͤhle mich durchaus nicht erholungsbeduͤrftig; die Arbeitslaſt war nicht allzu ſchwer, und Ihre Vertretung hat ja in der Hauptſache Herr Suterland beſorgt.“

Klemens Steins dorff machte eine bezeichnende Hand⸗ bewegung. „Daruͤber wollen wir uns doch nichts vor⸗ machen, lieber junger Freund! Haͤtte ich mich allein auf den guten Suterland verlaſſen muͤſſen, ſo waͤre ich gewiß nicht mitten im Winter ſo leichten Herzens ſechs Wochen lang fortgeblieben. Der alte Herr hat den allerbeſten Willen; aber er bleibt mir nachgerade denn doch allzuweit hinter den Anforderungen der Zeit zuruͤck. Man ſoll von niemand fordern, was er

Roman von Reinhold Ortmann 49

it t leiſtn kann, und ich glaube, daß der Augenblick gekommen iſt, wo er ſich nach einem arbeitsreichen Leben die wohlverdiente Ruhe goͤnnen ſollte.“

Volcker erſchrak. „Sie haben doch nicht die Abſicht, Herr Kommerzienrat, ihm ſeine Stellung zu kuͤndigen?“

„Ich gedenke allerdings, ſeinen Poſten fuͤr einen anderen freizumachen,“ erwiderte Steinsdorff laͤchelnd. „Aber ſelbſtverſtaͤndlich nicht durch eine Kuͤndigung in der gewöhnlichen Form; das hätte Suterland um mich und mein Haus gewiß nicht verdient. Er ſoll unter Fortbezug ſeines vollen Gehalts in den Ruheſtand treten. Das iſt doch wohl etwas anderes.“

„Ohne daß er ſelbſt einen Wunſch nach dieſer Ver⸗ aͤnderung kundgegeben haͤtte? Ich fuͤrchte, daß er das als eine bittere Kraͤnkung empfaͤnde; denn er fuͤhlt ſich noch vollkommen ruͤſtig. Und ich erinnere mich in der Tat nicht, daß er bisher jemals durch Alter oder Krank⸗ heit in ſeiner Taͤtigkeit behindert worden waͤre.“

„Man kann in voller koͤrperlicher Ruͤſtigkeit am

Schreibtiſch ſitzen und doch bedenkliche Beweiſe von bee

ginnender Altersſchwaͤche geben. Ich habe die weiteſt⸗ gehenden Ruͤckſichten auf einen langjährigen treuen Mit⸗ arbeiter zu nehmen; aber die Ziele meines Hauſes duͤrfen nicht darunter leiden. Warum ſehen Sie ſo niederge⸗ ſchlagen aus, lieber Doktor? Gerade Sie muͤſſen den neuerungs feindlichen Eigenſinn des alten Herrn oft genug als ein laͤſtiges Hindernis empfunden haben.“

„Aber es ließ ſich ſchließlich doch immer mit ihm aus⸗ kommen. Ich mache kein Hehl daraus, Herr Kommer⸗ zienrat, daß ich es aus Billigkeitsgruͤnden tief bedauern wuͤrde, wenn Ihr Entſchluß wirklich ſchon ganz unwider⸗ ruflich wäre,”

„Er iſt nz ſagte Steinsdorff i in jener

1916. X. 4

50 Das hoͤchſte Ziel |

bei aller freundlichen Ruhe doch fo beſtimmten Art, mit der er jeden weiteren Widerſpruch abzuſchneiden pflegte. „Ich glaube die achtungswerten Beweggruͤnde zu ver⸗ ſtehen, die Sie zum Fuͤrſprecher des Herrn Suterland machen. Aber Sie muͤſſen mir ſchon erlauben, meinen wohlbedachten Vorteil hoͤher zu ſtellen als Ihre perſoͤn⸗ lichen Empfindungen. Und nun laſſen Sie uns auf unſeren Gegenſtand zuruͤckkommen: meine Frau fuͤhlt ſich nach den geſellſchaftlichen Anſtrengungen der beiden letzten Monate etwas ermuͤdet und moͤchte das praͤchtige Fruͤhlingswetter benuͤtzen, um in der Reimsbacher Villa von ihnen auszuruhen. Meine Tochter aber brennt vor Verlangen, die Kolonie kennen zu lernen, fuͤr deren

Werden und Wachſen ſie fruͤher bei ihrem kindlichen Alter ja noch kein Verſtaͤndnis haben konnte. Und ich meine, ſie koͤnnte dabei keinen beſſeren Fuͤhrer und Er⸗ klaͤrer haben als Sie.“

„Ich ſtehe ſelbſtverſtaͤndlich zur Verfuͤgung. Aber ich darf doch wohl das Einverſtaͤndnis der Damen mit den Anordnungen des Herrn Kommerzienrats voraus⸗ feßen.”

* Steinsdorffs große, durchdringende Augen ſahen ihn verwundert an. „Zweifeln Sie etwa an dieſem Ein⸗ verſtaͤndnis? Was ſollten ſie denn dagegen einzuwenden haben? Es iſt uͤbrigens alles beſprochen und abge⸗ macht.“? *

Damit war Volcker jede Moͤglichkeit genommen, ein weiteres Bedenken zu aͤußern, und er verbeugte ſich in ſchweigender Zuſtimmung, als ihn der Kommerzienrat erſuchte, ſich auf eine Abreiſe am Morgen des uͤbernaͤchſten Tages vorzubereiten. Am naͤmlichen Abend empfing er den Beſuch Heldringens. Der Oberleutnant ſchien etwas verdrießlich, wenn auch bemuͤht, ſeine Verſtim⸗

Roman von Reinhold Ortmann 51

mung hinter allerlei Scherzen zu verbergen. Und nach⸗ dem er erſichtlich eine Zeitlang auf eine Mitteilung des anderen gewartet hatte, platzte er ploͤtzlich heraus: „Und von deinem Rieſengluͤck ſagſt du kein Wort, du Duckmaͤuſer? Bei allen alten Goͤttern, Menſch, wenn ich in deiner Haut ſteckte, ich wuͤßte mich vor Ver⸗ gnuͤgen gar nicht zu laſſen.“ |

„Denkſt du dabei an die mir anbefohlene Reife nach Reimsbach, Bruno?“

„An was ſonſt ſollte ich denken? Aber ‚anbefohlene Reiſe klingt reichlich undankbar, mein Lieber! Daß mein Onkel die Abſicht gehabt hat, dir damit eine Freude zu machen, liegt doch auf der Hand.“

„Ich. habe es auch in dieſem Sinne aufgefaßt und weiß die Freundlichkeit des Herrn Kommerzienrats nach ihrem ganzen Werte zu wuͤrdigen. Es iſt nicht Undankbarkeit, wenn ich das Vergnuͤgen trotzdem neidlos jedem anderen goͤnnte.“

„Ja, warum denn nur? Du mußt verteufelt an⸗ ſpruchsvoll ſein, Doktor, wenn dir nicht einmal dieſe Reiſegeſellſchaft genügt.”

„Daß es nicht ſo gemeint iſt, brauche ich dir nicht erſt zu ſagen. Aber ich fuͤrchte, daß die Damen mich nur ſehr ungern als Begleiter annehmen.“

Heldringen machte ein ernſtes Geſicht. Und es war bezeichnend genug, daß er, anſtatt zu widerſprechen, eine kleine Weile ſtumm vor ſich hin ſah. Endlich ſagte er: „Um ganz ehrlich zu ſein, Volcker, wie es ſich unter guten Freunden geziemt ein bißchen was Wahres koͤnnte ſchon in dieſer Befuͤrchtung ſtecken. Wenigſtens was meine kleine Baſe betrifft. Aber du darfſt um des Himmels willen nicht verraten, daß ich dir eine ſolche Andeutung gemacht habe. Sie hat ja ſelber den

52 Das hoͤchſte Ziel

Wunſch, ihren Vater nichts davon merken zu laſſen, daß fie —“

„Daß ſie eine ſtarke Abneigung gegen mich emp⸗ ſindet. Sprich es nur getroſt aus. Ich haͤtte ja blind ſein muͤſſen, um es nicht zu bemerken.“

„Na, ganz ſo arg iſt es wohl nicht. Aber ſie muß wohl gegen dich eiwas haben. Ahnſt du nicht, was es ſein koͤnnte, Liebſter?“

„Ich bin in ihren Augen ein aufdringlicher Ange⸗ ſtellter oder etwas dergleichen. Das verſtehe ich ganz gut.“

„Nein, nein keine Ungerechtigkeiten! Traute iſt nicht aus dem Holze geſchnitzt, auf dem Duͤnkel und Überhebung wachſen. Sie hat ſich ja gegen mich mit keiner Silbe daruͤber ausgeſprochen; aber ich glaube doch eine Spur gefunden zu haben, mit deren Hilfe man auf den Urſprung ihrer Voreingenommenheit kommen koͤnnte. Haſt du mal was mit dem alten Suterland gehabt, Doktor?“

„Nein. Es iſt möglich, daß er mir nicht ſehr wohlge⸗ ſinnt iſt; aber ich habe ihm keinen Anlaß dazu gegeben.“

„Na, ich will mich nicht in deine geſchaͤftlichen Ange⸗ legenheiten einmiſchen. Wenn du ſagſt, daß du ihm nichts getan haſt, wird es wohl ſtimmen; aber er ſcheint dir in der Tat nicht ſehr wohlgeſinnt zu ſein. Und ſeine Tochter hat waͤhrend der letzten Jahre in einem ſtaͤndigen Briefwechſel mit Traute geſtanden.“

„Ah! EL

„Jetzt geht dir eine Bogenlampe auf wie? Aber Verſchwiegenheit, wenn ich bitten darf; ich will nicht als Kaffeeſchweſter daſtehen. Fraͤulein Suterland iſt Trautes erſte Klavierlehrerin geweſen und hat wahr⸗ ſcheinlich ihre guten Gruͤnde gehabt, die dadurch ge⸗

2. Roman von Reinhold Ortmann 33 RETTET EEE ——— 7˖§ꝙ——ðð7.. —.,.r... m ———̃—.—.—

ſchaffenen Beziehungen nicht wieder einſchlafen zu laſſen. Gewiſſe Andeutungen meiner Couſine laſſen mich ver⸗ muten, daß in den Briefen der aͤltlichen Jungfrau zu⸗ weilen auch von dir die Rede geweſen iſt. Und es iſt nicht ausgeſchloſſen, daß ſie bei dem Beſuch, den Traute ihr nach der Heimkehr gemacht hat, in ihren Mitteilungen uͤber dich noch etwas ausfuͤhrlicher geworden iſt. Es iſt ja bloß eine Annahme, und ich kann mich taͤuſchen. Aber es ſollte mich freuen, wenn ich dir damit einen Fingerzeig gegeben haͤtte, in welche Richtung deine Be⸗ muͤhungen gehen muͤſſen.“

„Ich bin dir ſehr dankbar, Bruno; aber ich weiß nicht, um was ich mich bemuͤhen ſollte.“

„Darum, dich bei Traute in das richtige Licht zu ſetzen. Ich habe es ja ſchon verſucht, als mir ihr ſonder⸗ bares Verhalten gegen dich auffiel. Aber fie hat ſich auf keine Eroͤrterung eingelaſſen, und man kann einen Menſchen doch nicht verteidigen, wenn man nicht weiß, weſſen er angeklagt iſt.“

„Du meinſt es gut, Heldringen, aber du verkennſt meine Lage. Es iſt mir gewiß ſehr ſchmerzlich, das Wohlwollen des Fraͤulein Steinsdorff nicht zu beſitzen, aber ich muß mich damit abfinden, und ich ſehe nicht die geringſte Veranlaſſung, mich um etwas zu bemuͤhen, das zu gewaͤhren oder zu verweigern durchaus im Be⸗ lieben der jungen Dame ſteht.“

„Meine Verbeugung vor deinem Mannesſtolz! Daß ich ihn nicht recht verſtehe, aͤndert nichts an meiner Be⸗ wunderung. Und wenn ich ein kraſſer Selbſtſuͤchtler waͤre, muͤßte ich mich ſogar daruͤber freuen.“

„Freuen? Weshalb?“

„Weil ich dich nach dieſer Erklaͤrung nicht mehr ſo

gluͤhend um den Vorzug der Reimsbacher Reiſe zu be⸗

54 ö Das höchfte Ziel

neiden brauche. Unter uns, Doktor: wenn es ſich um einen anderen gehandelt haͤtte als gerade um dich, waͤre mir die Sache keineswegs ganz gleichguͤltig geweſen. Aber daß man dir unbeſorgt auch das allerſchoͤnſte junge Maͤdchen anvertrauen darf, weiß ich ja laͤngſt.“

„Iſt das nun eine Schmeichelei oder das Gegenteil, Heldringen?“

„Das kommt auf den Standpunkt an, den man zu der großen Frage, Mann und Weib‘ einnimmt. Deine Unempfindlichkeit gegen das ſchoͤne Geſchlecht iſt gewiß eine Tugend aber eine beklagenswerte. Und du ſollteſt dich ernſtlich bemuͤhen, ſie abzuſtreifen.“

„Woher nimmſt du eigentlich die Überzeugung von meiner Unempfindlichkeit? Haͤltſt du es fuͤr ganz undenkbar, daß auch ich ein Maͤdchen lieben koͤnnte?“

„Bis zu dem Beweiſe des Gegenteils, allerdings. Ich kenne dich doch nun ſchon eine huͤbſche Zeit und habe mir das Vergnuͤgen gemacht, dich zu beobachten, ſo oft in meinem Beiſein die Verſuchung an dich herangetreten iſt. Aber ich habe dich noch niemals ſchwach geſehen.“

„Es war wohl kein großes Verdienſt dabei, denn ich habe von den erwaͤhnten Verſuchungen gar nichts be⸗ merkt. Aber haſt du nicht ſchon an dir ſelbſt die Er⸗ fahrung gemacht, daß man durch eine große und tiefe Liebe gewappnet ſein kann gegen jede Verfuͤhrung?“

„Ja gewiß! Sintemalen ich mich zurzeit in dieſer gluͤcklichen Lage befinde. Aber daß dies die Urſache deiner Unnahbarkeit ſein koͤnnte, iſt mir bis jetzt, offen geſtanden, nie in den Sinn gekommen. Du haſt dein Herzensgeheimnis eben mit einem gar zu undurch⸗ dringlichen Schleier umgeben. Aber mein Gluͤckwunſch kommt ja, wie ich annehme, noch zur rechten Zeit.“

„Du irrſt. Tür einen Gluͤckwunſch ift kein Anlaß

Roman von Reinhold Ortmann 55

. a . ͤ ——

gegeben; meine Liebe gehoͤrt einer fernen Vergangenheit an. Sie war nichts als ein Juͤnglingstraum, der laͤngſt zerronnen iſt. Ein Traum, und nach deiner Auffaſſung wahrſcheinlich eine große Torheit.“

„Das ſind ja hoͤchſt ſeltſame Geſtaͤndniſſe, Doktor! Iſt es ſehr unbeſcheiden, nach Einzelheiten zu fragen?“

„Es iſt nichts zu verheimlichen, und im Grunde auch nichts zu erzaͤhlen. Ich war ein lebensfremder junger Menſch, als mir der Zufall ein weibliches Weſen in den Weg führte, das für mich die Verkoͤrperung aller Hold: ſeligkeit, Anmut und maͤdchenhaften Reinheit war. Sie war die erſte, die ich geliebt habe, und ſie iſt die einzige geblieben.“

„Bis heute. Aber was iſt denn aus dieſer erſten Liebe geworden? Hat ſie vielleicht ein uͤbles Ende genommen?“ |

„So kann man es kaum nennen. Das junge Maͤd⸗ chen iſt eben meinem Geſichtskreiſe wieder entſchwunden, und ſie iſt, wie ich vor kurzem zufaͤllig erfuhr, ſpaͤter die Frau eines anderen geworden.“ 8

„Das nennſt du kein uͤbles Ende? Hoͤre, Doktor: in Liebesſachen biſt du, wie es ſcheint, von einer geradezu ruͤhrenden Beſcheidenheit. Vorausgeſetzt, daß ſie von dir nicht den Laufpaß bekam, hat ſie dir doch mit ihrer Verheiratung ſchlankweg die Treue gebrochen.“

„Nein z denn fie war zu nichts verpflichtet. Du ſtellſt dir die Dinge offenbar anders vor, als ſie waren. Das Maͤdchen war blutjung, eben ſechzehn geworden, und ſie war eine Kuͤnſtlerin.“

„Schauſpielerin?“

„Nicht eigentlich. Sie trat auf der Buͤhne eines Varietés als Taͤnzerin auf, und ich bin ihr nur dreimal begegnet. Bei unſerem letzten kurzen Zuſammentreffen

56 Das boͤchſte Ziel

kam es allerdings zu einer Erklaͤrung oder zu etwas, das fuͤr mich gleichbedeutend mit einer Erklaͤrung war. Aber ich konnte in meiner damaligen Lebenslage nicht daran denken, ſie durch ein Verloͤbnis oder auch nur durch ein Verſprechen an mich zu binden. Das ſchrieb ich ihr pflichtgemaͤß nach jenem letzten Zuſammentreffen.“

„Und daraufhin hat ſie nichts mehr von ſich hoͤren

laſſen?“ „Nein.“

Nachdenklich blickte Heldringen den Rauchwoͤlkchen ſeiner Zigarette nach. Dann ſagte er: „Daß du zur Zeit dieſes erſten Liebesromans reichlich lebensfremd geweſen ſein mußt, leuchtet mir nach dem geſchilderten Verlauf der Handlung vollſtaͤndig ein. Allein den Gluͤckwunſch nehme ich nicht zuruͤck. Nun ſchon gar nicht. Es haͤtte ja ein ſchreckliches Mißgeſchick aus der Geſchichte ent⸗ ſtehen koͤnnen.“

„Ein Mißgeſchick? Ich weiß nicht, was du dir dar⸗ unter denkſt.“

„Na, ſtell dir das doch gefaͤlligſt vor: du und Marga Larſſen! Ich danke.“

Unwillkuͤrlich hatte Volcker den Kopf zur Seite gewendet. „Wie kommſt du auf den Namen, Bruno?“ fragte er unſicher. | „Menſch, ich müßte ja ein Kuͤcken mit Eierſchalen ſein, wenn ich das nicht erfaßt haͤtte. Dein Benehmen beim Anblick ihres Bildes war doch ſehr verdaͤchtig, und ſchon damals kam mir die alte Bekanntſchaft mit der ſchoͤnen Marga nicht ganz geheuer vor. Alſo das war deine erſte und einzige Liebe, die große Leidenſchaft deines Lebens, die nun, wie du meinſt, keine andere mehr aufkommen laͤßt!“

„Ich habe dir's nicht erzaͤhlt, damit du dich daruͤber

Roman von Reinhold Ortmann 57

luſtig machſt, Heldringen! Dafuͤr iſt mir's naͤmlich noch immer zu ernſt.“

„Obwohl die goͤttliche Marga inzwiſchen bereits ihren zweiten Mann genommen hat? Wie ich hoͤre, einen reichen Fuͤnfziger, der fie gehörig unter der Fuchtel haͤlt und ſie ſogar gezwungen hat, der hehren Kunſt zu entſagen.“

„Was geht das mich an? Ich habe nicht die Marga Larſſen geliebt, wie ſie heute ſein mag, ſondern die Reta Martiny, die ich kannte.“

„Und die wahrſcheinlich im Grunde ihres Herzens nicht um ein Haar beſſer war. Hoͤchſtens etwas uner⸗ fahrener und ungeſchickter. Aber ich mache mich nicht über dich luſtig. Faͤllt mir gar nicht ein. Dazu hab' ich dich viel zu lieb. Heute mehr denn je. Ich freue mich bloß, daß es ſo gut fuͤr dich ausgegangen iſt; denn es waͤre eine Suͤnde und eine Schande geweſen, wenn du um ſo etwas haͤtteſt dein Leben verplempern muͤſſen. Jetzt hat es ja hoffentlich keine Gefahr mehr. Oder vielleicht doch?“

„Sagteſt du nicht eben erſt, daß ſie wieder verhei⸗ ratet iſt?“

„Allerdings. Ein Hindernis, dem ich keine uͤber⸗ große Bedeutung beimeſſen wuͤrde, wenigſtens bei einer Dame von dem Rufe dieſer Schauſpielerin. Was mich beruhigt, iſt die Tatſache, daß du dich augenſcheinlich waͤhrend der ganzen vier Jahre nicht viel darum ge⸗ kuͤmmert haſt, was inzwiſchen aus ihr geworden ſei. All⸗ zu heiß iſt das Verlangen nach ihr alſo wohl nicht mehr geweſen. f Ä

„Ich habe mich ſelbſtverſtaͤndlich bemüht, etwas über Reta Martinys weitere Schickſale zu erfahren, freilich ganz umſonſt. Vielleicht wegen der Anderung ihres

58 LESE

2 . —— . 8

Namens, vielleicht auch, weil ich es zu ungeſchickt ange⸗ ſtellt hatte.“

„Und nun, da es keine beſonderen Schwierigkeiten haben wuͤrde, ihren Aufenthalt feſtzuſtellen?“

„Nun hat dieſe Feſtſtellung fuͤr mich natuͤrlich jeden Anreiz verloren.“

„Dem Himmel ſei Dank! Und doch moͤchte ich von ganzem Herzen wuͤnſchen, daß dich nicht etwa irgendein niedertraͤchtiger Zufall unverſehens mit ihr zuſammen⸗ fuͤhrt. Fuͤr Leute von deiner Art, die ihre Gefuͤhle jahrelang kalt zu ſtellen wiſſen, hat das immer ſein Bedenkliches.“ |

Mit einem Heinen Lächeln, das von ruhigſter Zu⸗ verſicht ſprach, ſchuͤttelte Reinhard Volcker den Kopf. Die Wirkung ihres Bildes hatte ihm ja die Gewißheit gebracht, daß die koͤſtlichen Traͤume ſeiner erſten Liebe fuͤr immer zerſtoͤrt und zerſtoben waren.

In verlangſamter Fahrt rollte der Zug der ſchleſiſchen Gebirgsbahn durch den wunderſchoͤnen Fruͤhlingstag ſeinem nicht mehr fernen Ziele entgegen. Reinhard Volcker fuhr in demſelben Durchgangswagen, den auch die Frau Kommerzienrat Steinsdorff und ihre Tochter beſtiegen hatten; aber er hatte es ſo einzurichten gewußt, daß ſie ſeine Naͤhe nicht als Belaͤſtigung empfinden konnten. Er ſaß in einem Raucherabteil zweiter Klaſſe, waͤhrend die Damen fuͤr ſich und die mitfahrende Zofe ein Abteil der erſten belegt hatten. Dem Kommerzienrat war bei der Verabſchiedung dieſe Anordnung entgangen. Mutter und Tochter aber ſchienen damit durchaus ein⸗ verſtanden, denn ſie hatten Volckers Frage, ob er ihnen auf der Reiſe irgendwie zu Dienſten ſein koͤnne, mit einem hoͤflichen Dankes wort abgelehnt und ihn nicht

Roman von Reinhold Ortmann 59

eingeladen, bei ihnen Platz zu nehmen. Waͤhrend der erſten Stunden hatte keine von ihnen das Abteil ver⸗ laſſen; als aber Volcker von ſeinem Fenſterplatz aus jetzt zufällig einen Blick durch die in den Verbindungs⸗ gang fuͤhrende offene Klapptuͤr warf, ſah er, daß Traute an einem Fenſter dieſes Ganges ſtand und mit ſicht⸗ lichem Anteil in die Landſchaft hinausblickte.

Er konnte ſie beobachten, ohne daß ſie es bemerkte. Und er widerſtand der Verſuchung nicht. Denn trotz ihres einfachen Reiſekleides erſchien ſie ihm huͤbſcher denn je. Vielleicht war es eine Folge der eigenartigen Be⸗ leuchtung, daß ihm ihr Profil heute noch feiner, der Umriß ihrer hochgewachſenen Geſtalt noch reizvoller erſchien als ſonſt. Die ſchmale Hand, die leicht auf der Schutzſtange vor dem Fenſter ruhte, waͤre ihm in ihrer vornehmen Schoͤnheit allein ſchon der hoͤchſten Bewun⸗ derung wuͤrdig erſchienen.

Einer der Schaffner kam den Gang herauf, und Traute wandte ſich an ihn mit einer Frage nach den Namen einiger Berggipfel. Aber der Mann erklaͤrte, daß er die Strecke erſt ſeit einigen Tagen befahre und darum leider keine Auskunft geben koͤnne. Volcker, der jedes Wort der kurzen Unterhaltung gehoͤrt hatte, ſtand nach kurzem Zoͤgern auf und trat auf den Gang hir aus.

„Wenn Sie mir geſtatten wollen, Ihnen zu dienen, Fraͤulein Steinsdorff ich bin mit der Gegend einiger⸗ maßen vertraut. Wir werden ſogleich den ſchoͤnſten Teil der Strecke durchfahren.“

Sie hatte ihm den Kopf auf ſeine Anrede hin nur halb zugewendet, und wenn ihre Erwiderung auch nicht geradezu unfreundlich war, ſo klang es doch recht kuͤhl, da ſie ſagte: „Sie ſind ſehr liebenswuͤrdig, Herr Doktor,

60 Ran,

.

aber Sie haͤtten ſich nicht in Ihrer Reiſebequemlichkeit ſtoͤren laſſen ſollen. Es iſt ja im Grunde nicht ſehr wichtig, ob ich die Namen kenne.“

Er ging uͤber die Bemerkung hinweg, als habe ſie nichts Verletzendes fuͤr ihn gehabt, und begann mit ſeinen Erklaͤrungen. Seine Vertrautheit mit dem lieblichen Waldenburger Berglande ermoͤglichte es ihm, ihr alle Hoͤhen und alle Ortſchaften zu bezeichnen, an denen ſie voruͤberkamen. Und er begnügte ſich nicht mit einer trockenen Aufzaͤhlung von Namen, ſondern ſchmuͤckte ſeine Erlaͤuterungen mit allerlei charakteriſtiſchen Be⸗ merkungen und Hinweiſen.

Lange Zeit hoͤrte ſie ihm ſchweigend zu; endlich aber mußte ſie doch wohl die Verpflichtung fuͤhlen, ihm zum Dank fuͤr ſein Bemuͤhen irgend etwas Artiges zu ſagen. „Ihre Ortskenntnis iſt erſtaunlich, Herr Doktor! Wahr⸗ ſcheinlich ſind Sie hier zu Hauſe.“

„Nicht in dem Sinne, mein gnaͤdiges Fraͤulein, daß Schleſien mein Geburtsland waͤre. Aber ſeitdem ich in den letzten Jahren durch die Guͤte Ihres Herrn Vaters wiederholt Wochen oder ſogar Monate hier zubringen durfte, iſt mir der ſchoͤne Erdenfleck faſt ſo teuer geworden wie meine wirkliche Heimat. Das Herz geht mir jedes⸗ mal auf, wenn die Kette des Rieſengebirges mich aus der Ferne gruͤßt.“

„Sie ſind wahrſcheinlich noch nicht viel oder weit gereiſt!

„Nein. Wenn ich auch immerhin einige der meiſt⸗ geprieſenen Naturſchoͤnheiten des ſuͤdlichen Deutſchlands und der Schweiz habe kennen lernen dürfen.”

„Und trotzdem koͤnnen dieſe beſcheidenen Reize ſo ſtark auf Sie wirken? Der Schwarzwald, das bayeriſche Gebirge oder die Alpen ſind ſie nicht unvergleichlich

Roman von Reinhold Ortmann 61

viel ſchoͤner als das anſpruchsloſe ſchleſiſche Berg: land?“

„Das haͤngt wohl allein vom Geſchmack oder beſſer von der Stimmung des Beſchauers ab. Es geht uns eben mit einer Landſchaft wie mit einem Kunſtwerk. Die Großartigkeit iſt in dem einen Fall ebenſowenig das Entſcheidende fuͤr die Wirkung, wie etwa das Maß des aufgewendeten Talents in dem anderen. Ich bin voll⸗ ſtaͤndig kalt geblieben inmitten der Hochgebirgswelt der Berner Alpen und innerlich unbewegt vor manchem hochgeprieſenen, unſterblichen Meiſterwerk der Malerei oder der Plaſtik. Auch Ihnen iſt es ja ſicherlich ſchon geſchehen, Fraͤulein Steinsdorff, daß ein kleines, un⸗ ſcheinbares Bildchen, eine ſchlichte Melodie oder eine ſtille, liebliche Landſchaft unmittelbarer und inniger zu Ihrem Herzen geſprochen hat als ein praͤchtiges Gemaͤlde, ein genialiſches Muſikwerk oder eine hoch⸗ romantiſche Naturſzenerie.“

„Vielleicht. Die augenblickliche Stimmung mag da in der Tat das Entſcheidende ſein. Aber ich kann es im allgemeinen nicht als ein guͤnſtiges Zeugnis fuͤr den Geſchmack und den geiſtigen Wert eines Menſchen anſehen, wenn nur das Kleine, Unbedeutende, leicht zu Erfaſſende bei ihm auf eine verſtaͤndnisvolle Stimmung ſtoͤßt.“

Volcker nahm auch dieſen durch nichts herausge⸗ forderten Hieb ohne Gegenwehr hin. Das Laͤcheln, das fluͤchtig um ſeine Mundwinkel ſpielte, hatte nichts Boshaftes, und ruhig ſprach er weiter: „Was mich an das niederſchleſiſche Bergland feſſelt und mich immer wieder zu ihm hinzieht, ſind uͤbrigens nicht allein ſeine waldigen Hoͤhen und ſeine anmutigen, quellenreichen Taͤler, ſondern es ſind auch und vielleicht vor allem

62 Das hoͤchſte Ziel

anderen die Menſchen, die in dieſen Taͤlern wohnen. Es iſt ein Schlag, wie ich gewinnender noch keinen ge⸗ funden habe.“

„Die Bauern meinen Sie?“

„Nicht die Dorfbewohner allein. Auch bei den Handwerkern und Geſchaͤftsleuten der kleinen Staͤdte, in die mich von Reimsbach aus ſehr oft mein Weg ge⸗ fuͤhrt hat, ſowie bei den einheimiſchen Arbeitern der Fabrik bin ich faſt durchweg demſelben liebenswuͤrdigen Volkscharakter begegnet.“

„Sie ſind, wie es ſcheint, ein ſehr guter Beobachter, Herr Doktor, und ein ſehr wohlwollender Beurteiler,“ ſagte Traute mit einem fuͤhlbaren Unterton von Spott. „Und worin beſtehen dieſe liebenswuͤrdigen Eigenſchaften, die Sie den Leuten nachſagen?“

„In ihrer Warmherzigkeit und einer daraus ent⸗ ſpringenden natuͤrlichen Heiterkeit des Gemuͤts. Zum guten Teil auch in einer geiſtigen Beweglichkeit, die ſie zu ihrem Vorteil von vielen anderen Landbewohnern unterſcheidet. Vor allem aber in ihrer Geradheit, Ehr⸗ lichkeit und Offenheit, die es mir immer zu einer auf⸗ richtigen Freude gemacht haben, mit ihnen zu ver⸗ kehren.“ f

Zum erſtenmal hatte Traute ihm ihr Geſicht voll zugekehrt, und er war aufs aͤußerſte uͤberraſcht von dem ſtrengen, faſt zornigen Blick, mit dem ſie ihn anſah. „Sie haben recht, Herr Doktor, ſich zum Lobredner Ihrer ſchleſiſchen Freunde zu machen; denn Offenheit und Ehrlichkeit ſind Tugenden, die man gar nicht hoch genug einſchaͤtzen kann. Beſonders deshalb, weil man ſie ſo ſelten antrifft. Am ſeltenſten vielleicht gerade bei denen, die ihr ſelbſtſuͤchtiges Strebertum hinter beſtechender Liebenswuͤrdigkeit und erheucheltem Freimut zu ver⸗

Roman von Reinhold Ortmann 63

ſtecken wiſſen. Ich danke Ihnen fuͤr Ihre Freundlichkeit. Es war mir eine ſehr lehrreiche halbe Stunde.“

Sie neigte den Kopf und trat in ihr Wagenabteil zuruͤck. Reinhard Volcker aber, als er wieder in ſeiner Ecke ſaß, zermarterte ſein Gehirn vergebens mit der Frage, was ihm nun eigentlich die Feindſchaft dieſes ſchoͤnen, klugen und fuͤr alle anderen ſo guͤtigen Maͤd⸗ chens zugezogen haben koͤnne. Denn daß es ſich hier um eine wirklich feindſelige Geſinnung handle, war ihm jetzt außer allem Zweifel. Nicht nur die harten, ſcharfen Worte, die ihre ſchneidende Spitze ſo unzweideutig gegen ihn richteten, hatten es ihm bewieſen, ſondern auch der unmutige Ausdruck ihrer Zuͤge und vor allem der Ton ihrer letzten Rede. Dafuͤr fehlte ihm jede Erklaͤrung. Was auch immer der alte Suterland oder ſeine Tochter ihm nachgeſagt haben mochten, eine ſo tiefgehende Ab⸗ neigung, ein ſo zorniges Beduͤrfnis nach ſchroffſter Ab⸗ wehr konnte es unmoͤglich rechtfertigen. Er war ſich keines Unrechts, nicht einmal des kleinſten geſellſchaft⸗ lichen Verſtoßes bewußt. Dieſe vollkommene Reinheit ſeines Gewiſſens haͤtte in jedem anderen Fall hingereicht, ihn leichten Herzens uͤber das Unerklaͤrliche in dem Be⸗ nehmen eines ihm widrig geſinnten Menſchen hinweg⸗ gehen zu laſſen. Hier aber wurde es ihm ſo leicht wahrlich nicht. Nicht beleidigt fuͤhlte er ſich, ſondern ſchmerzlich verletzt. Er haͤtte viel, ſehr viel darum gegeben, Traute Steinsdorffs unverhohlene Abneigung in eine Empfindung freundlicher Natur verwandeln zu koͤnnen. Denn die alte Wahrheit, daß Abneigungen auf Gegenſeitigkeit zu beruhen pflegen, hier traf ſie gewiß nicht zu. Sie hatte fuͤr ihn nichts von ihrer Schoͤnheit, ihrer Anmut und all ihren liebenswerten Eigenſchaften verloren dadurch, daß ſie ihn hochmuͤtig

64 Das hoͤchſte Ziel

und abſtoßend behandelt hatte, ihn allein unter allen anderen Menſchen. Aber es war ihm zumute, als haͤtte man etwas ſehr Schoͤnes und Liebes aus ſeinem Leben hinweggenommen.

Denn daß dies kurze Geſpraͤch von entſcheidender Bedeutung fuͤr alle Zukunft war, ſtand als eine un⸗ umſtoͤßliche Gewißheit in ihm feſt. Fuͤr was immer Traute Steinsdorff ihn halten mochte, als einen Zu⸗ dringlichen ſollte ſie ihn ebenſowenig anſehen duͤrfen wie als einen Sklaven, der in knechtiſcher Demut um die Huld ſeiner ungnaͤdigen Herrin wirbt. Er wollte darauf bedacht ſein, ihr kuͤnftig noch ſorglicher auszu⸗ weichen; das war alles, was er tun konnte, wenn er nicht an ſeiner Selbſtachtung Schaden leiden wollte. Und er brauchte wohl nicht daran zu zweifeln, daß ſie es ihm leicht machen wuͤrde, ſeinen Vorſatz durch⸗ zufuͤhren.

Das kleine Reimsbacher Stationsgebaͤude war um ein gutes Stuͤck von dem langgeſtreckten, in ein ziemlich enges Bergtal eingebetteten Dorfe entfernt. Die durch ein Nebengeleiſe mit dem Bahnnetz verbundene große Papierfabrik lag mit der dazu gehoͤrigen Arbeiteran⸗ ſiedlung außerhalb des Dorfes in einem noch ſchmaleren, ſtark anſteigenden Seitental, waͤhrend ſich die Steins⸗ dorffſche Villa, von ſchoͤn gepflegten Parkanlagen um⸗ geben, weiß ſchimmernd auf der halben Hoͤhe eines ſanft geneigten Berghanges erhob. Hier hatte der Kom⸗ merzienrat in fruͤheren Jahren mit Vorliebe die karg be⸗ meſſenen Ferienwochen verlebt. Seitdem er aber ge⸗ noͤtigt war, eines nicht ganz zu mißachtenden Leidens wegen alljaͤhrlich eine Badekur zu gebrauchen, kam er nur noch ſelten zu kurzem Aufenthalt nach Reimsbach. Trotzbem war die Villa jederzeit zur Aufnahme der

Roman von Reinhold Ortmann 65

Familie bereit, und ſie haͤtte mit ihrer großen Zahl von Zimmern auch Raum genug fuͤr eine die beiden Damen in keiner Weiſe belaͤſtigende Unterbringung Volckers geboten.

Aber Reinhard hatte den Kommerzienrat gebeten, die freundlich angebotene Gaſtfreundſchaft ablehnen zu duͤrfen. Er wollte auch diesmal in dem ſauberen, gut gehaltenen Dorfwirtshauſe, dem ſogenannten Kretſcham, Quartier nehmen. Er waͤre dort der Fabrik um vieles naͤher und in der Verfuͤgung uͤber ſeine Zeit weniger behindert. Eine Erklaͤrung, die Klemens Steinsdorff ohne weiteres gelten ließ, da auch ihm die perſoͤnliche Freiheit allezeit hoͤher geſtanden hatte als geſellſchaftliche Ruͤckſichten.

So kam es, daß außer dem Landauer aus der Villa auch der Einſpaͤnner des Dorfwirts hinter dem Stations⸗ gebaͤude hielt, um den Koffer des erwarteten Gaſtes zu befoͤrdern. Als die Damen die Stufen hinabſtiegen, gruͤßte ſie Volcker mit ſtummer Verbeugung. Die Frau Kommerzienrat blieb ſtehen und reichte ihm die Hand.

„Ich rechne ſelbſtverſtaͤndlich darauf, Sie bei mir zu ſehen, Herr Doktor! Morgen werde ich ja vermutlich noch recht muͤde ſein von der Reiſe. Aber wenn Sie ſich an einem der folgenden Tage in die Villa hinauf bemuͤhen wollten, wuͤrde ich mich ſehr daruͤber freuen.“

„Gnaͤdige Frau haben ganz uͤber mich zu befehlen,“ erwiderte er foͤrmlich. „Da ich die ausdruͤckliche Weiſung habe, mich den Damen zur Verfuͤgung zu ſtellen, bin ich jederzeit Ihres Rufes gewaͤrtig.“

„Oh, von Befehlen oder Weiſungen kann ſelbſtver⸗ ſtaͤndlich nicht die Rede fein. Und ich weiß ja auch, wie koſtbar Ihre Zeit iſt, Herr Doktor. Wenn Sie uns hie und da ein Viertelſtuͤndchen ſchenken wollen, ſo iſt das

1916. X. 5

66 Das hoͤchſte Ziel

vielleicht ſchon mehr, als ich Ihnen eigentlich zumuten darf. Auch wir haben dieſe kleine Reife ja nur gemacht, um uns in Zuruͤckgezogenheit und Stille auszuruhen. Auf Wiederſehen alſo!“

Der ſchon geſtern zur Erledigung der letzten Vor⸗ bereitungen vorausgeſchickte Diener uͤberhob Volcker der Notwendigkeit, Frau Steinsdorff und ihrer Tochter beim Beſteigen des Wagens behilflich zu ſein. Er blickte auch dem davonrollenden Gefaͤhrt nicht nach, ſondern ſchlug, ohne den Einſpaͤnner zu benuͤtzen, den in die entgegen⸗ geſetzte Richtung fuͤhrenden kuͤrzeren Fußweg nach dem Dorfe ein.

Als Mutter und Tochter ſich eine Stunde ſpaͤter auf der Terraſſe der Villa gegenuͤberſaßen, fragte die Frau Kommerzienrat leichthin: „Du haſt dich ja, wie ich ſah, heute auf dem Gange des Eiſenbahnwagens mit dem Doktor Volcker unterhalten. Natuͤrlich hatte er ſich dir aufgedraͤngt.“

„Ich weiß nicht, ob ich es ſo nennen darf, Mama. Der Schaffner hatte mir auf einige Fragen die Antwort ſchuldig bleiben muͤſſen. Das hatte der Herr Doktor wohl gehoͤrt, und er erbot ſich, mir die gewuͤnſchten Auskuͤnfte zu geben.“

„Nun ja, was iſt das anderes als Aufdringlichkeit. Es war ein recht ungluͤcklicher Gedanke von deinem Vater, uns dieſe Begleitung aufzuzwingen.“

„Ich fuͤrchte nicht, daß wir darunter leiden werden. Du haſt ja geſehen, wie gemeſſen ſich Herr Volcker vorhin an der Station von uns verabſchiedete. Etwas zu ge⸗ meſſen vielleicht fuͤr die Vertrauensſtellung, die ihm Papa doch nun einmal angewieſen hat.“

„Und die hoffentlich keine unerſchuͤtterliche ſein wird. Vorlaͤufig darf man ja kein Wort gegen ihn ſagen. Aber

Roman von Reinhold Ortmann 67

es waͤre das erſte Mal, daß einer meiner Wuͤnſche dauernd unberuͤckſichtigt bliebe.

Ein paar Sekunden lang blickte Traute ſchweigend in die abendliche Landſchaft hinaus. Dann ſagte ſie etwas unſicher: „Haſt du noch nicht daran gedacht, Mama, daß wir ihn doch moͤglicherweiſe falſch beurteilen?“

„Wen? Den Herrn Doktor Volcker? O nein, mein Kind! Er iſt der vollkommenſte Typus des geſchickten und ſkrupelloſen Strebers. Die Art, wie er den armen Suterland nach jahrelangen Raͤnken nun gluͤcklich ganz aus dem Wege geraͤumt hat, iſt doch wahrlich der beſte Beweis.“ |

„Vorausgeſetzt, daß alles richtig iſt, was Fräulein Suterland geſchrieben und erzaͤhlt hat.“

„Haſt du eine Veranlaſſung, daran zu zweifeln?“

Traute zuckte mit den Achſeln. „Es iſt immerhin nur die eine Seite, die wir da gehoͤrt haben. Die Suterlands ſind verbittert, und Verbitterung macht leicht ungerecht.“

„Sehr merkwuͤrdig, daß du dich mit einem Male gedraͤngt fuͤhlſt, den Herrn Doktor in Schutz zu nehmen. Iſt das vielleicht eine Folge eurer heutigen Unter⸗ haltung?“ a

„Wir haben nur von ganz gleichguͤltigen Dingen geſprochen. Daruͤber aber bin ich mir allerdings klar geworden, daß er entweder ein Meiſter in der Kunſt der Verſtellung oder ein Opfer unbegruͤndeter Anklagen iſt. Und warum ſollte das zweite nicht ebenſowohl moͤglich ſein, wie das erſte?“

„Weil die Tatſachen gegen ihn ſprechen, mein Kind! Er war ein ganz gewoͤhnlicher Revolverjournaliſt, als dein Vater ſich durch ein paar ſchoͤnredneriſche Phraſen fuͤr ihn einnehmen ließ. Nur weil es ſich dabei zufaͤllig

68 Das hoͤchſte Ziel |

um einen ee handelte, der nun einmal fein Stecken pferd tft.”

„Ein Revolverjournaliſt? Iſt das ſo gewiß?“

„Suterland hat die Beweiſe dafuͤr in den Haͤnden. Volcker war in der Redaktion einer Zeitung, deren Her⸗ ausgeber ſpaͤter wegen Betruͤgerei und Erpreſſung zu ſchwerer Strafe verurteilt worden iſt. Der Artikel, der dem Papa ſo gut gefiel, hatte ja auch in dieſer Zeitung geſtanden.“

„Das beweiſt doch noch nicht, daß er einen Anteil an den Betruͤgereien und Erpreſſungen des anderen gehabt hat. Offen geſtanden, Mama, wenn wir auf die Suterlandſchen Anſchuldigungen hin den Doktor Volcker ohne weiteres aller möglichen Schlechtigkeiten fähig glauben uͤben wir damit nicht an Papas Menſchen⸗ kenntnis und an ſeinen Handlungen eine Kritik, die uns eigentlich nicht zukommt? Iſt er nicht viel zu klug und viel zu gerecht, um einem Unwuͤrdigen ſo großes Vertrauen zu ſchenken? Und außerdem: Bruno iſt doch ſein vertrauter Freund.“ N

„Bruno mit ſeinem goldenen Herzen iſt ein Kind an Leichtglaͤubigkeit und Vertrauensſeligkeit. Und ſeine Freundſ chaft wuͤrde ein ſehr raſches Ende nehmen, wenn er eine Ahnung von den letzten Zielen des Herrn Doktor Volcker Hätte,” |

Die Wangen des jungen Mädchens hatten ſich ploͤtz⸗ lich hoͤher gefaͤrbt. „Ach, das iſt doch wohl nur eine halt⸗ loſe Vermutung, Mama! Eine Einbildung des Fraͤu⸗ lein Suterland. Ich habe mich ja gerade dadurch ſo ſehr gegen Herrn Volcker einnehmen laſſen. Aber ich glaube nicht mehr daran; ſein ganzes Benehmen f pricht doch dagegen.“

„Weil er zu ſchlau iſt, um ſeine Karten vor der geit

Roman von Reinhold Ortmann 69

aufzudecken. Im Grunde iſt es auch nur natuͤrlich, daß ſeine Wuͤnſche ſich bis zu dieſem Letzten und Hoͤchſten erheben, nachdem er beinahe muͤhelos alles andere erreicht hat. Er iſt der Vertraute deines Vaters in allen wichtigen geſchaͤftlichen Dingen, er wird in wenig Wochen der Nachfolger des armen Suterland ſein; bleibt alſo nur noch uͤbrig, daß er dereinſt auch Papas Nachfolger werde. Bei Leuten ſeines Schlages kommt der Appetit mit dem Eſſen. Und ihrem dreiſten Selbſt⸗ vertrauen ſcheint einfach nichts unerreichbar.“

„Nein, ich glaube nicht daran,“ wiederholte Traute. „Es waͤre zu unſinnig. Er muͤßte nicht nur, wie du ſagſt, ein Streber, ſondern auch ein Dummkopf ſein, wenn er ſich mit ſolchen Abſichten truͤge. Und ein Dummkopf iſt er doch gewiß nicht. Außerdem —“

„Nun? Außerdem —?“

„Außerdem kannte er mich doch noch gar nicht, als nach Fraͤulein Suterlands Meinung der abenteuerliche Plan in ihm gereift ſein ſoll.“

„Als wenn das ein Hindernis geweſen waͤre! Deine Perſon ſpielt in ſeinen Berechnungen doch keine andere Rolle als die eines Mittels zum Zweck. Er ſagt ſich, daß er nur als der Schwiegerſohn des Kommerzienrats Steinsdorff dermaleinſt Chef des Hauſes werden koͤnnte. Und das iſt ausſchlaggebend fuͤr ſeine Plaͤne.“

„Es waͤre empoͤrend, wenn du recht haͤtteſt. Und ich wuͤrde Aber ich traue es ihm nicht zu; bis jetzt hat er ſich noch nicht im allergeringſten bemuͤht, mir au gefallen.” =

„Die Waͤrme deiner Verteidigung ſcheint zu 0 daß er gerade damit den richtigen Weg eingeſchlagen hat.“ VAh, das war nicht huͤbſch, Mama! Ich wehre mich doch nur dagegen, einen Menſchen zu verdammen, dem

70 Das hoͤchſte Ziel man keine Gelegenheit zu ſeiner Rechtfertigung ge⸗ geben hat.“

„Traͤgſt du dich vielleicht mit der Abſicht, ihm eine ſolche Gelegenheit zu verſchaffen? Ich bin uͤberzeugt, daß er nichts lebhafter wuͤnſcht als gerade das. Verſtehſt du denn nicht, daß ſein anſcheinend mehr als zuruͤck⸗ haltendes Benehmen weiter nichts als eine Heraus⸗ forderung iſt?“ |

„Eine Herausforderung? Nein, das verſtehe ich allerdings nicht.“

„Er hofft, dich damit fruͤher oder ſpaͤter zu einer Frage zu zwingen, was dieſe ſeltſame Zuruͤckhaltung bedeute. Und wenn er es auf ſolche Art erſt einmal zu der erſehnten Ausſprache gebracht hat, rechnet er auf die Macht ſeiner Beredſamkeit und auf ſeine ſon⸗ ſtigen ſchauſpieleriſchen Talente. Nebenher hat er wohl auch noch andere Gruͤnde, nicht mit der Tuͤr ins Haus zu fallen. Es wird ihm augenſcheinlich nicht ganz leicht, mit dem Fraͤulein Langerhans ins reine zu kommen. Und ſo lange er ſie nicht abgeſchuͤttelt hat, muß er natuͤrlich fuͤrchten, ſie koͤnnte ihm einen Strich durch die Rechnung machen.“

Mit einer raſchen Bewegung hatte Traute den Kopf erhoben. „Fraͤulein Langerhans? Wer iſt denn das nun wieder, Mama?“

„Ein junges Maͤdchen aus der Zeit ſeiner unruͤhm⸗ lichen Anfaͤnge. Als Papa ihn in ſeinen Dienſt nahm, hat er ſie als Anhaͤngſel mit ins Kontor gebracht. Und er hat ſie nach und nach in eine bevorzugte Stellung emporzuſchieben gewußt. Aus der Vertraulichkeit ihrer Beziehungen machen die beiden kein Geheimnis.“

„Wie Herr Suterland ſagt nicht wahr?“ Die Frage klang ſo ſcharf und ſo veraͤchtlich, daß

Roman von Reinhold Ortmann 71 Frau Hedwig uͤberraſcht aufblickte. „Und wenn er es ſagte? Er iſt doch kein Luͤgner.“

Traute war aufgeſtanden und mit einigen raſchen Schritten an die Bruͤſtung der Terraſſe getreten. Jetzt brannten ihre Wangen in hoher Glut.

„Was weiß ich, ob er ein Luͤgner iſt oder nicht! Und was kuͤmmert mich im Grunde das alles! Ob Herr Dok⸗ tor Volcker ein Ehrenmann iſt oder ein gewiſſenloſer Streber, wie ihr es ohne alle Beweiſe mit ſolcher Be⸗ ſtimmtheit behauptet fuͤr mich iſt es doch ſchließlich ganz bedeutungslos. Und nun, wenn es dir recht iſt, liebe Mama, wollen wir nicht weiter von ihm und von ſeinen Widerſachern reden.“

Um die Villa zu verlaſſen, dazu fuͤhlte ſich Frau Hedwig Steinsdorff am naͤchſten Tage in der Tat zu ab⸗ geſpannt, zumal eine fuͤr die fruͤhe Jahreszeit faſt unnatuͤrliche Schwuͤle uͤber dem Reimsbacher Tale lag. Traute aber zeigte lebhaftes Verlangen, die Arbeiter⸗ kolonie und namentlich den neu eingerichteten Kinder⸗ hort zu beſuchen. Nach einigem Widerſtreben, denn ſie fand es nicht ganz ſchicklich, daß es ohne Begleitung geſchah, hatte die Frau Kommerzienrat zugeſtimmt.

Die von ihrem Vater ſchon vor einer Reihe von Jahren geſchaffene Siedlung war Traute ja nicht mehr fremd. Ehe die Fabrik in ſeinen Beſitz uͤberging und damit zu⸗ gleich eine bedeutende Vergroͤßerung erfuhr, hatten die Arbeiter und Arbeiterinnen teils in Reimsbach, teils in anderen naheliegenden Doͤrfern gewohnt, und zwar zumeiſt unter wenig erfreulichen wirtſchaftlichen und geſundheitlichen Verhaͤltniſſen. Die Kinderſterblichkeit war erſchreckend hoch geweſen, und die Moral der Unver⸗ heirateten hatte viel zu wuͤnſchen uͤbrig gelaſſen.

172 Das hoͤchſte Ziel

Da hatte Klemens Steinsdorff zum allgemeinen Erſtaunen mit dem Bau von Arbeiterwohnungen begonnen, wie ſie von den hier Beſchaͤftigten bisher noch keiner kennen gelernt hatte. Nicht Kaſernen oder Ba⸗ racken, ſondern freundliche kleine Einzelhaͤuſer ent⸗ ſtanden, die auch der Abwechſlung in der Bauform wie des aͤußeren Schmuckes nicht entbehrten und deren jedes ſein Blumengaͤrtchen wie ſein anſehnliches Stuͤck Ge⸗ muͤſeland hatte. Jedes war fuͤr zwei Familien einge⸗ richtet, und es war darauf Bedacht genommen, daß jede Wohnung ihren eigenen Zugang und ihre eigenen Nebenraͤume hatte. Dieſe Haͤuschen bot Steinsdorff ſeinen Arbeitern zur Miete an, und zwar zu einem Zins, der weit zuruͤckblieb hinter dem, was die Leute bisher fuͤr ihre weſentlich ſchlechtere Unterkunft hatten auf⸗ wenden muͤſſen. Das Bedeutſamſte an ſeiner Schoͤp⸗ fung aber war, daß jeder Mieter nach einer beſtimmten Reihe von Jahren ohne weitere Zahlung der Eigen⸗ tuͤmer der von ihm bewohnten Haushaͤlfte und des dazu gehoͤrigen Landes wurde. Nach Überwindung des anfaͤnglichen Mißtrauens ſtieg um der einleuch⸗ tenden und offenkundigen Vorteile willen ſchon nach wenig Monaten die Zahl der Bewerber ſo, daß es in den erſten Jahren ſchwer wurde, alle Anſpruͤche zu be⸗ friedigen. Die Siedlung wuchs in kurzer Zeit zu einer kleinen Ortſchaft, die mehr einer freundlichen Villen⸗ ſiedlung als einem Arbeiterdorfe glich. Der Bau eines eigenen Elektrizitaͤtswerks zog im Verein mit ver: ſchiedenen weiteren Vergroͤßerungen der Fabrik immer neue Bewohner heran. Die Geldaufwendungen des Kommerzienrats fuͤr dieſe ſeine Lieblingsſchoͤpfung hatten im Lauf der Jahre eine ſehr betraͤchtliche Hoͤhe erreicht; der von den Inſaſſen unter der Form eines

Roman von Reinhold Ortmann 73

Mietszinſes nach und nach gezahlte Kaufpreis deckte nur einen Teil der wirklichen Baukoſten, ganz abgeſehen davon, daß alle gemeinnuͤtzigen Einrichtungen der Kolonie von Klemens Steinsdorff vollſtaͤndig aus eigenen Mitteln geſchaffen worden waren. Aber er fuͤhlte ſich fuͤr dieſe Opfer reich belohnt durch einen jede Erwartung uͤbertreffenden Erfolg ſeines menſchen⸗ freundlichen Verſuchs. Es war ihm dadurch nicht nur ein feſter Stamm treuer, williger und zuverlaͤſſiger Arbeitskraͤfte herangewachſen, ſondern er hatte auch die Freude zu ſehen, daß die Nachkommenſchaft in den meiſt ſehr kinderreichen Familien praͤchtig gedieh, daß die Leute wirtſchaftlich vorwaͤrts kamen und daß es kaum noch einen Trunkſuͤchtigen oder Liederlichen unter ihnen gab. Die durch die billige und verlockende Wohngelegenheit geſchaffene Erleichterung der Eheſchließungen ließ auch die ehedem Unſteten fruͤhzeitig Geſchmack am Familien⸗ leben gewinnen und machte die Wanderluſtigen zu ſeßhaften, zufriedenen Familienvaͤtern.

Traute war erſtaunt uͤber den gewaltigen Zuwachs, den die Kolonie ſeit ihrem letzten, nun ſchon um ſechs Jahre zuruͤckliegenden Beſuch erfahren hatte, und es machte ihr Freude, in dem freundlichen, ſauberen Schul⸗ hauſe noch den ſelben Lehrer anzutreffen, zu dem ſie ſchon als kleines Mädel in den beiten Beziehungen ge: ſtanden hatte. Er erkannte ſie freilich nicht gleich wieder und geriet der ſchoͤnen, vornehmen Dame gegenuͤber in einige Verlegenheit, uͤber die ihm Traute mit ge⸗ winnender Liebenswuͤrdigkeit weghalf. Und da der Vormittagsunterricht zu Ende war, ſtellte er ſich ihr mit Vergnuͤgen als Fuͤhrer durch den neu erbauten Kinder⸗ hort zur Verfuͤgung.

„Wir haben in den letzten Jahren zuviel kleinen

74 Das hoͤchſte Ziel Nachwuchs bekommen, fuͤr den auch geſorgt werden mußte,“ ſagte er. „Aber ohne den Herrn Doktor Volcker waͤre mein Herzenswunſch wohl freilich nicht ſo bald und gewiß nicht auf ſo ſchoͤne Art in Erfuͤllung gegangen.“ Der Stolz uͤber die ſeiner Obhut unterſtellte neue Schoͤp⸗ fung, in der außer einer Pflegeſchweſter noch eine frei: willige junge Helferin taͤtig war, leuchtete ihm aus den Augen, waͤhrend er Traute durch die einzelnen Raͤume geleitete und ihr die muſterguͤltigen Einrichtungen er⸗ klaͤrte. „Und das alles, was Sie hier ſehen, Fraͤulein Steinsdorff, iſt recht eigentlich das Werk dieſes ausge⸗ zeichneten Mannes. Daß er von unſeren Muͤttern hier beinahe vergoͤttert wird, iſt wahrhaftig nicht zu ver⸗ wundern.“ |

„Sie ſprechen von Herrn Doktor Volcker? Aber er handelte doch wohl nur im Auftrage meines Vaters?“

„Gewiß, gewiß! Und wir wiſſen ſehr wohl, wie große Dankbarkeit wir dem Herrn Kommerzienrat ſchuldig ſind. Aber es iſt keine Verſuͤndigung an dieſer Dankespflicht, wenn ich dem Herrn Doktor das Haupt⸗ verdienſt zuſchreibe. Um etwas wie dies Kinderheim zu ſchaffen, um es ſo zu ſchaffen, wie es jetzt daſteht dazu gehoͤrt nicht bloß Geld, dazu gehoͤrt vor allem Liebe, echte, wahre Menſchenliebe. Und wer den Herrn Doktor kennen gelernt hat ſo wie ich damals, als wir wochenlang bis in die tiefe Nacht hinein den Plan in all ſeinen Einzelheiten durchdachten, der weiß, ein wie warmes, liebevolles Herz der junge Mann in der Bruſt traͤgt. Ich ſtehe nun ſeit faſt fuͤnfundzwanzig Jahren im Dienſt der Jugenderziehung und darf mir wohl nach⸗ rühmen, ein Freund der Kinder zu fein. Aber der Doktor Volcker hat mich mehr als einmal beſchaͤmt. Wenn es wahr iſt, daß man einen Menſchen nach dem beurteilen

Roman von Reinhold Ortmann 75

kann, was er für die Armen und für die hilfloſen Kleinen empfindet, dann iſt er einer von den allerbeſten. Aber Sie kennen ihn ja auch; da brauche ich ihn wohl nicht zu ruͤhmen.“ |

„Ich hoͤrte trotzdem gerne etwas Näheres über über Ihre gemeinſame Arbeit. Sie ſagen, daß der Plan von Herrn Doktor Volcker herruͤhrt?“

„Von ihm ganz allein. Er kam eines Tages zu mir und entwickelte mir ſeine Gedanken. Ich trug verwandte Plaͤne ſchon lange mit mir herum; aber ich haͤtte nie den Mut gehabt, dem Herrn Kommerzienrat damit zu kommen. Ihr Herr Vater hat ja ſchon ſo viel fuͤr die Kolonie getan. Und als ich einmal bei ſeinem Hierſein eine kleine Andeutung wagte, wies er ſie ziemlich kurz zuruͤck. Das ſagte ich auch dem Herrn Doktor; aber er meinte, ſo leicht duͤrfe man ſich nicht abſchrecken laſſen. Und er ließ ſich nicht abſchrecken, das muß wahr ſein. Auf eigene Hand ließ er die Koſtenanſchlaͤge machen und reiſte herum, nach geeigneten Vorbildern zu ſuchen. Aber das Beſte ſchoͤpfte er dann doch nicht aus den Vorbildern, ſondern aus ſeiner eigenen mitfuͤhlenden Seele. Wenn ich meinte, daß wir nun ſchon alles erwogen und jedem Beduͤrfnis Rechnung getragen haͤtten, dann kam ihm immer noch ein neuer fruchtbringender Gedanke. ‚Nicht bloß ein geſundes, ſondern auch ein frohes Geſchlecht wollen wir heranzuziehen ſuchen, lieber Herr Moͤllmann, ſagte er einmal, als ich meinte, daß es faſt zu viel des Guten ſei, was er fuͤr die kleinen Schuͤtzlinge des Kinder⸗ horts tun wolle. ‚Und dazu gehört vor allem eine gluͤckliche Kindheit. Wer nicht von Herzen froͤhlich ſein kann, der bleibt zeitlebens ein armer Teufel, auch wenn er bis an den Hals in Gold ſteckt. Darum ſollen unſere Kleinen hier das Lachen lernen und die ſonnige Heiterkeit.

76 Das Höchfte Ziel

Was dem Zweck dienen kann, das iſt wohl angewendet, wenn's auch auf den erſten Blick uͤberfluͤſſig ſcheinen mag.“

„So ſagte er das, der Herr Doktor Volcker?“

„Ja, und noch manches andere, wegen deſſen man ihn lieb gewinnen mußte. Und er ließ es nicht bei den guten Worten, ſondern hinter jedem kam auch die ent⸗ ſprechende Tat. Ich weiß nicht, wie leicht oder wie ſchwer es ihm geworden iſt, die Zuſtimmung Ihres Herrn Vaters zu ſeinem koſtſpieligen Plan zu erlangen. Aber es war mir, als ob ich ſein ſtrahlendes Geſicht leibhaftig vor mir ſaͤhe, an dem Tage, wo ich ſeine Depeſche erhielt: „Hurra, Moͤllmann! Unſer Kinder⸗ heim iſt bewilligt.“ Mit einem ſolchen Goͤnner arbeitet ſich's gut, Fräulein Steinsdorff! Der Himmel möge ihn der Reimsbacher Kolonie noch recht lange erhalten.“

Traute war ſehr ernſt, als ſie ſich von dem in echte Begeiſterung hineingeratenen Lehrer verabſ chiedete. Und auf dem Ruͤckweg zur Villa hatte fie eine Begegnung, die ſie noch nachdenklicher zu ſtimmen ſchien.

In dem Vorgaͤrtchen eines der kleinen Arbeiter⸗ haͤuſer ſtand Doktor Reinhard Volcker als Mittelpunkt einer Gruppe, die wie eine lebendige Illuſtration ausſah zu dem, was ſie eben gehoͤrt hatte. Eine ganze Schar von Kindern hatte ſich um ihn verſammelt, und das Durch⸗ einander heller, froͤhlicher Stimmchen, das ihn um⸗ zwitſcherte, gab Kunde von dem vertraulichen Ver⸗ haͤltnis zwiſchen ihm und dem jungen Volk. Am Tuͤrpfoſten lehnte eine Frau, die laͤchelnd zu ihm auf⸗ blickte, waͤhrend ſie ſich mit ihm unterhielt. Auf jedem Arm trug er ein Kind, deren eines die Arme zaͤrtlich um ſeinen Hals geſchlungen hatte, waͤhrend das andere luſtig kraͤhend ſeinen Schnurrbart zauſte.

u

Roman von Reinhold Ortmann 27 Wie hatte doch der Lehrer geſagt? Wenn man einen Menſchen nach dem beurteilen kann, was er fuͤr die Armen und hilfloſen Kleinen empfindet, dann iſt er der allerbeſten einer. Und er ſollte doch nach der Über: zeugung ihrer Mutter nichts anderes ſein als ein kalter, herzloſer Ichmenſch ein innerlich brutaler Streber, der laͤchelnd über die vernichteten Hoffnungen anderer hinwegſchritt, um ſeine Ziele zu erreichen!

Er kehrte ihr den Ruͤcken zu und ſah ſie nicht. Auch als ſie hart an dem Gartengitter voruͤberſchritt, war er von der liebevollen Zudringlichkeit der kleinen Quaͤl⸗ geiſter zu ſehr in Anſpruch genommen, als daß er ſie haͤtte bemerken ſollen. Und Traute war deſſen froh. Raſcheren Ganges ſetzte ſie ihren Weg fort, und atmete erleichtert auf, als ſie ſich außer dem Bereich ſeiner Augen wußte; mit dieſer Fuͤlle von Ungewißheit und peinigen⸗ dem Zweifel im Herzen haͤtte ſie ihm nicht gegenuͤber⸗ ſtehen moͤgen. Er waͤre augenblicklich zu ſehr im Vorteil geweſen, und ſie wollte ſich nicht uͤberrumpeln laſſen. Es war ja vielleicht doch alles nur geſchickte und wohl⸗ berechnete Schauſpielerei.

Dies eine Mal war ſie ihm ausgewichen. Etliche Stunden ſpaͤter hatte ſie nicht mehr die Moͤglichkeit oder vielleicht auch nicht mehr den Willen, ſich ſeiner An⸗ ſprache zu entziehen.

Auf dem Waldwege, der hinter dem parkartigen Garten der Villa berganſtieg, traf ſie in vorgeruͤckter Nachmittagsſtunde unverſehens mit ihm zuſammen. Sie hatte um der druͤckenden Hitze willen ein ſommerlich leichtes, helles Kleid angelegt und trug den Hut in der Hand. Trotz ihrer lichten Erſcheinung aber war er ihrer wohl zu ſpaͤt anſichtig geworden, als daß er ſich noch ſeitwaͤrts haͤtte zwiſchen die Staͤmme druͤcken koͤnnen,

i

28 Das hoͤchſte Ziel

um ihr die unerwuͤnſchte Begegnung zu erſparen. Mit hoͤflichem Gruße zog er den Hut und trat ein wenig beiſeite, um ſie voruͤber zu laſſen, wenn ſie es ſo wollte. Aber Traute blieb ſtehen.

„Guten Tag, Herr Doktor! Bin ich hier auf dem richtigen Wege zum Gipfel des Ziegenruͤckens?“

„Auf dem richtigen wohl, gnaͤdiges Fraͤulein, doch nicht auf dem huͤbſcheſten und kuͤrzeſten. Der iſt in ſeinem erſten Teil freilich nicht ganz leicht zu finden.“

„Ich moͤchte es doch verſuchen. Koͤnnen Sie mich

nicht ein wenig zurechtweiſen?“

„Das duͤrfte ſchwer ſein und Sie nicht hinlaͤnglich vor einem Fehlgehen ſchuͤtzen. Aber wenn Sie mir ge⸗ ſtatten wollen, Sie bis zu dem Punkte zu fuͤhren, wo ein Irrtum nicht mehr moͤglich iſt

„Es waͤre ſehr freundlich. Ich beſorge nur, daß ich Sie damit vielleicht von etwas Wichtigerem abhalte.“

„Meine Pflichten ſind fuͤr heute erledigt, Fraͤulein Steinsdorff. Ich habe nichts mehr zu verſaͤumen.“

„Dann mache ich von Ihrer Liebenswuͤrdigkeit gern Gebrauch. Ich glaube mich aus fruͤherer Zeit zu er⸗ innern, daß die Ausſicht von der Hoͤhe des Ziegenruͤckens die lohnendſte in der naͤheren Umgebung iſt.“

„Ja. Nur weiß ich nicht, ob es ratſam iſt, den Auf⸗ ſtieg gerade heute zu machen. Sie brauchen mindeſtens noch drei Viertelſtunden bis zum Gipfel. Und wir werden vielleicht ein Gewitter haben, bevor Sie droben ſind.“

„Aber der Himmel iſt ja ganz blau. Außerdem habe ich keine Gewitterangſt. Meinem Waſchkleidchen koͤnnte ſelbſt ein Wolkenbruch keinen großen Schaden zu⸗ fügen.”

„Wenn Sie es alfo darauf ankommen laſſen wollen.

Roman von Reinhold Ortmann 79

Aber ich habe Sie gewarnt. Ein Gewitter im Bergwald iſt zuweilen eine recht ernſte Sache.“

Sie ſchuͤttelte nur den Kopf, und ſo gingen ſie Seite an Seite weiter. Es waͤhrte lange, bis ein Geſpraͤch zwiſchen ihnen in Fluß kam. Aus Befangenheit viel⸗ leicht, oder vielleicht auch in einer Art von trotziger Kampf: bereitſchaft hatte Traute es ihm uͤberlaſſen wollen, den Stoff der Unterhaltung zu waͤhlen. Wenn ihm wirklich, wie ihre Mutter glaubte, daran gelegen war, eine ſeinen Zwecken guͤnſtige Ausſprache herbei zu fuͤhren, ſo mochte er immerhin die jetzt gebotene Noͤglichkeit benutzen. Sie hatte ſeit dem heutigen Vormittag, oder eigentlich ſchon ſeit der geſtrigen Unterhaltung in der Eiſenbahn, ein brennendes Verlangen, ſich Klarheit uͤber den wahren Charakter dieſes Mannes zu verſchaffen, deſſen innerſtes Weſen ſo ganz verſchieden ſein ſollte von dem aͤußeren Anſchein ſeiner Perſoͤnlichkeit. Und ſie war bereit, ihn geduldig anzuhoͤren, wenn dies das einzige Mittel war, zu ſolcher Klarheit zu gelangen.

Aber es ſchien, daß er in dieſem Alleinſein noch immer nicht die rechte Gelegenheit ſah, ſeinen Zwecken näher zu kommen; denn er begnügte ſich damit, fie auf die eigenartigen Formen einiger zwiſchen die Hochwald⸗ ſtaͤmme geſtreuten Felsbrocken aufmerkſam zu machen. Und zuweilen vergingen Minuten, ohne daß er uͤberhaupt ein Wort geſprochen haͤtte. Da faßte ſie tapferen Herzens den Entſchluß, ihn auf die Probe zu ſtellen; denn eine Fortdauer des bisherigen peinlichen Verhaͤltniſſes ſchien ihr unertraͤglich. Sie begann von ihrem Beſuch in dem Kinderheim zu ſprechen und von den Verdienſten, die er ſich nach der Darſtellung des Lehrers darum erworben haben ſollte. Hatte er den Wunſch, ſich ihr gegenuͤber in ein guͤnſtiges Licht zu ſetzen, ſo war es ihm damit leicht

genug gemacht. Sie horchte geſpannt, um vielleicht einen Ton falſcher, berechneter Beſcheidenheit aus ſeiner Antwort heraus zu hoͤren. Aber er lehnte das Lob mit der kuͤhlen Bemerkung ab, daß er lediglich der Hand⸗ langer ihres Vaters geweſen ſei und daß es nichts Verdienſtliches habe, mit muͤhelos greifbaren, fremden Mitteln Gutes zu ſtiften.

„Außerdem unterſchaͤtzt der wackere Moͤllmann den Wert der eigenen Mitarbeit bedeutend, wenn er von der meinigen Aufhebens macht. Die wertvolleren An: regungen kamen in der Hauptſache von ihm. Und es konnte nicht anders ſein: denn mir fehlt auf dem Gebiete der Jugendfuͤrſorge ja noch jede praktiſche Erfahrung.“

„Sie waren Journaliſt, ehe Sie in das Haus meines Vaters eintraten nicht wahr?“

„Ja. Vorausgeſetzt, daß eine zweitaͤgige Taͤtigkeit in einer Zeitungsredaktion mir das Recht gab, mich einen Journaliſten zu nennen.“

Traute hatte eine Empfindung, als waͤre ihr etwas Haͤßliches und Bedruͤckendes vom Herzen genommen worden. Aber ſie gab ſich noch nicht zufrieden. „Die Taͤtigkeit hatte Ihnen alſo nicht zugeſagt? Vielleicht war es keine gute Zeitung.“ |

„Nein. Auf den Namen einer guten Zeitung konnte ſie wohl kaum Anſpruch nehmen. Aber mein Austritt war nicht ganz freiwillig. Ich wurde wegen Unbrauch⸗ barkeit entlaſſen.“

„Ah! Unbrauchbar? Sie, der Sie nach meines Vaters Verſicherung ſeine neue Zeitſchrift innerhalb eines einzigen Jahres zu Bluͤte und Anſehen gebracht haben? Das iſt nicht Ihr Ernſt.“

„Ich tauge doch wohl nicht zu allem, Fraͤulein Steinsdorff. Aber haben Sie wirklich noch immer die

Roman von Reinhold Ortmann 81

Abſicht, bis zum Gipfel hinauf zu eigen? Wenn wir auch hier im Walde nichts von dem drohenden Gewitter wahrnehmen koͤnnen, ſo zeigt mir doch die veraͤnderte Beleuchtung und die ganze Stimmung der Natur, daß ein Unwetter heraufſteigt. Vielleicht ſogar ein recht ſchweres, denn gerade die Fruͤhlingsgewitter ſind hier im Berglande oft von großer Stärke.” |

„Ich fürchte mich nicht,“ wiederholte fie, obwohl ſie ſelber das Toͤrichte und Kindiſche empfand, das in der Mißachtung ſeiner wohlgemeinten Warnung lag. „Aber ich will nicht, daß Sie ſich meinetwegen der Gefahr des Naßwerdens ausſetzen, Herr Doktor. Ich glaube, von hier aus kann ich den Weg nicht mehr verfehlen.“

„Wohl kaum. Aber Sie werden ſich trotzdem meine Geſellſchaft gefallen laſſen muͤſſen; ich koͤnnte es weder vor Ihren Eltern noch vor meinem eigenen Gewiſſen verantworten, wenn ich Sie jetzt allein ließe.“

Wie er es ausſprach, hatte dies Anerbieten ſeines Schutzes viel eher einen herriſchen als einen ritterlich liebenswuͤrdigen Klang. Traute fuͤhlte ſich dadurch gereizt. Als ſie ihm ihr Geſicht zukehrte, war eine kleine Falte zwiſchen ihren Brauen. „Glauben Sie, daß ein Gewitter mir weniger gefaͤhrlich werden koͤnnte, wenn Sie —“

Den Reſt ihrer Frage verſchlang das betaͤubende Rollen eines Donnerſchlages, der ſo jaͤh und unerwartet die tiefe Waldesſtille unterbrach, daß Traute erſchrocken zuſammenfuhr. Und beinahe gleichzeitig ſtrich brauſend der erſte Windſtoß des einſetzenden Gewitterſturmes durch die Wipfel.

„Mein Gott daß es ſo ploͤtzlich kommen koͤnnte, haͤtte ich allerdings nicht fuͤr moͤglich gehalten. Ja, laſſen Sie uns umkehren, Herr Doktor!“

1916. X. | 6

82 | Das boͤchſte Ziel .

„Wir wollen den kuͤrzeſten Richtweg einf 1 denn wir muͤſſen eilen, aus dem Walde herauszukommen. Geſtatten Sie, daß ich vorangehe, Fraͤulein Steinsdorff!“

Er betrat einen fuͤr ſeine Begleiterin kaum erkenn⸗ baren Pirſchpfad, der ſich in vielfachen Windungen zwiſchen den Staͤmmen hinzog. Und nach wenig Minuten ſchon hatte Traute die Gewißheit, daß ſie jetzt allerdings ganz auf ſeinen Schutz und ſeine Fuͤhrung angewieſen ſei, denn ſie haͤtte ohne ihn ratlos und weglos in dieſer Baumwirrnis umherirren muͤſſen. Eine nie gekannte Beklemmung ſchnuͤrte ihr die Bruſt zuſammen. So wie es jetzt heranzog, hatte ſie ſich ein Gewitter im Bergwalde doch nicht vorgeſtellt. Daß der Himmel ſich mit unheimlicher Schnelligkeit verfinſterte, ſchien ihr natuͤrlich. Aber es war nicht das allein, was dieſe plögliche beaͤngſtigende Dunkelheit verurſachte. Wie ein dichter ſchwarzer Nebel waͤlzte es ſich zwiſchen den Tannen gegen ſie her.

„Was iſt das?“ fragte ſie zaghaft. „Wir ſind ja mit einem Male wie in Nacht gehuͤllt.“

„Wir werden ſogleich mitten in einer Wolke ſein. Aber das braucht Sie nicht zu erſchrecken. Nur meinen Arm ſollten Sie annehmen, gnaͤdiges Fraͤulein! Sie werden dann doch vielleicht etwas ſicherer gehen.“

Sie wollte ablehnen; aber da ſtand um ſie her ploͤtz⸗ lich alles in ſchwefelblauen Flammen, und ein Knattern wie aus tauſend Feuerſchluͤnden ging uͤber ſie hin. Faſt ohne zu wiſſen, was ſie tat, griff ſie mit angſtvollem Aufſchrei nach Volckers Arm. „Wie graͤßlich! Nein, hier kommen wir ſicherlich nicht lebendig heraus.“

„Ich hoffe doch,“ ſagte er ruhig. „Es iſt nur eine kleine Nervenprobe. Von einer wirklichen Gefahr kann kaum die Rede fein.“

Roman von Reinhold Ortmann 83

Aber wenn es auch nicht Blitz und Donner waren, die ſolche Gefahr in ſich bargen, uͤber ihren Haͤuptern ſchwebte ſie trotzdem. Ein Sturmwind von orkanartiger Heftigkeit durchtobte jetzt den verdunkelten Forſt und wählte ſchonungslos alles, was ſchwach und morſch war, zu feinem Opfer. Knirſchend zerſplitterte da und dort wie mit klaͤglichem Wehelaut ein Stamm; krachend ſtuͤrzten abgebrochene Aſte und ganze Baumkronen zu Boden. Und nun war es, als ob alle Schleuſen des Himmels ſich auf einmal geoͤffnet haͤtten. Ein mit haſelnußgroßen Hagelſtuͤcken gemiſchter Platzregen rauſchte hernieder, und mit ihm kam eine ſo empfind⸗ liche, un vermittelte Abkuͤhlung, daß Volcker das froͤſtelnde Erſchauern der weichen Maͤdchengeſtalt fuͤhlte, die ſich in der Angſt ihres Herzens dicht an ſeine Seite geſchmiegt hatte.

„Einen Augenblick bitte Fräulein Steinsdorff,“ ſagte er und befreite ſeinen Arm, um mit einem Ruck ſeinen Rock abzuſtreifen und ihn um ihre Schultern zu legen.

„Nicht doch, Herr Doktor,“ wollte Traute abwehren. Aber er kuͤmmerte ſich nicht um ihren Widerſpruch.

„Sie wuͤrden ſich ja in Ihrem leichten Kleide auf den Tod erkaͤlten. Hier gibt es keinen ſchuͤtzenden Unter⸗ ſtand, dem wir uns ohne Blitzgefahr anvertrauen duͤrften. Und der Weg, den wir zuruͤcklegen muͤſſen, iſt noch ziemlich lang. So das wird Sie wenigſtens vor dem gaͤnzlichen Durchnaͤßtwerden bewahren.“

Ohne daß ſie ſich weiter dagegen ſtraͤubte, ſchlug er den Kragen des loſe um ihren ſchlanken Koͤrper haͤngenden Kleidungsſtuͤckes in die Hoͤhe und ſchloß einige der Knoͤpfe. Zitternd wie ein hilfloſes Kind ließ fie es ge⸗ ſchehen, und wie ein Kind vertraute ſie ſich ſeiner weiteren

84 Das höchſte Ziel

Führung an. Von der Pracht des 6 Natur⸗ ſchauſpiels wurde ſie nichts gewahr. Sie empfand nur ſeine Schrecken. Und ſie fuͤhlte ſich tief bedruͤckt durch das Bewußtſein, mit ihrem Eigenſinn eine Lage verſchuldet zu haben, in der ſie ſich uͤber alle Maßen klaͤglich vor⸗ kam. Denn ſie, die von Haus aus gar nicht furchtſam war und als Kind gerade wegen ihrer Waghalſigkeit manchen ernſten Tadel hatte hinnehmen muͤſſen, ſie konnte jetzt mit aller Kraft ihres Willens die Angſt nicht bannen, die ſie bei jedem auflodernden Blitz zuſammen⸗ fahren und ſich unter jedem Donnerrollen ducken ließ, als ſauſten verderbenbringende Geſchoſſe uͤber ſie hin.

Sie ſprachen nicht mehr, ſchon deshalb nicht, weil doch jedes dritte Wort von dem Krachen und Praſſeln und Rauſchen um ſie her uͤbertoͤnt worden waͤre. In dieſer Stimmung wußten ſie einander wohl auch nichts zu ſagen. Von Zeit zu Zeit nur warf Traute einen ſcheuen Blick auf das Geſicht ihres Begleiters. Und der beinahe heitere Ausdruck dieſes edlen, jungen Maͤnner⸗ geſichts mit dem frei und feſt in den Aufruhr der Ele⸗ mente gerichteten Blick und dem leicht geoͤffneten Munde, der in tiefen Zuͤgen den Odem des Sturmes zu trinken ſchien, gewaͤhrte ihr ungleich mehr Beruhigung, als ſie aus irgendwelchem troͤſtlichen Zuſpruch haͤtte ſchoͤpfen koͤnnen.

Wie ſie ſo neben ihm dahinging, immer die Staͤrke ſeines Armes und den Gleichmut ſeiner Seele fuͤhlend, wurde es in ihr zur Gewißheit, daß dieſem Manne eine Regung der Furcht uͤberhaupt etwas voͤllig Fremdes war, daß er jeder großen und ernſten Gefahr dieſelbe ruhige Unerſchrockenheit entgegenſetzen wuͤrde, mit der er 4 dem laͤrmenden Spiel der entfeſſelten Naturkraͤfte zuſah).

Roman von Reinhold Ortmann 85 * Und allgemach ſtroͤmte es, allem Bangen und Beben zum Trotz, aus dieſer Gewißheit wie etwas wunderſam Koͤſtliches und Begluͤckendes in ihre Seele. Sie hatte keinen Namen fuͤr das, was ſich in ihr regte, und ſie dachte auch nicht daruͤber nach. Aber ſie gab ſich ihm willig hin, mit einer gewiſſen demuͤtigen Dankbarkeit, wie man aus der Hand eines Wohltaͤters das noch verhuͤllte Geſchenk entgegennimmt, deſſen Beſchaffenheit man nicht kennt und in dem man doch mit untruͤglichem Ahnungsvermoͤgen etwas ſehr Schoͤnes, Koſtbares und Herrliches erraͤt.

In der Naͤhe des Waldrandes hatten ſie den Haupt⸗ weg wieder erreicht. Und ſie waren nur noch um ein Geringes von der Villa entfernt, als ihnen der Diener und der Pfoͤrtner des Hauſes entgegenkamen, mit Tuͤchern und Decken ausgeruͤſtet wie zu einer Rettungs⸗ Expedition.

„Ach, gnaͤdiges Fraͤulein Gott ſei gedankt, daß wir Sie finden. Die gnaͤdige Frau iſt ſchon ganz auf⸗ geloͤſt vor Angſt.“

Der Mann machte ein ſo laͤgliches Geſicht, und ſeine Stimme klang ſo jammervoll, daß ſeine unfreiwillig komiſche Erſcheinung mit einem Schlage den geheimnis⸗ vollen Zauber zerriß, der das junge Maͤdchen waͤhrend der letzten, in Schweigen verlebten Viertelſtunde mehr und mehr umſponnen hatte.

„Aber, Rudolf, wie ſehen Sie denn aus?“ rief ſie lachend. „Und ſoll ich vielleicht in alle dieſe Tuͤcher ein⸗ gewickelt werden?“

„Gnaͤdige Frau meinten, wir ſollten alles mitnehmen, was zur Hand waͤre. Es iſt ja auch ein ſo fuͤrchterliches Wetter.“

Eine der Decken nahm Volcker dem Diener ab,

86 Das hoͤchſte Ziel

entfaltete ſie und ſagte: „Wenn Sie ſich jetzt meines Rocks wieder entledigen wollen, Fräulein Steinsdorff —“

Raſch neſtelte ſie die Knoͤpfe auf und reichte ihm das voͤllig durchnaͤßte Kleidungsſtuͤck. Er warf es zuſammen⸗ gelegt uͤber die Schulter und huͤllte ſie in die Decke.

„Vielen Dank, Herr Doktor! Und ich bitte, ſeien

Sie mir nicht boͤs, weil ich Ihnen ſo viel Unbequemlich⸗ keit verurſacht habe. Natuͤrlich muͤſſen Sie jetzt mit⸗ kommen in die Villa, um ſich einigermaßen zu trocknen.“ „das duͤrfte in meiner gegenwaͤrtigen Verfaſſung nicht wohl tunlich ſein,“ erwiderte er laͤchelnd. „Wenn Sie mir geſtatten wollen, mich hier zu verabſchieden, kann ich bei einem Abſtieg quer durch den Wald ſehr bald unten im Dorfe ſein.“

Traute dachte daran, daß ihre Mutter ihm moͤglicher⸗ weiſe einen unfreundlichen Empfang bereiten koͤnnte. Die Hemdaͤrmel klebten ihm an den Armen, und er mußte bis auf die Haut naß ſein. Man haͤtte ihn in einen Anzug des Dieners ſtecken muͤſſen, wenn man ihm in der Villa die Moͤglichkeit gewaͤhren wollte, ſich umzu⸗ kleiden. Und das war eine Vorſtellung, gegen die ſich irgend etwas in ihr auflehnte. So redete ſie ihm nicht weiter zu; aber als er ſich zum Abſchied foͤrmlich ver⸗ beugen wollte, reichte ſie ihm die Hand. „Wir ſehen Sie doch morgen?“

„Ich hatte allerdings die Abſicht, mich nach den Befehlen der Frau Kommerzienrat zu erkundigen.“ „Auf bald alfo, Herr Doktor! Ich hoffe, das kleine Abenteuer wird Ihnen nicht ſchaden.“

Er haͤtte wohl den leichten Druck der kleinen Hand verſpuͤren muͤſſen. Aber es war jedenfalls ſicher, daß er ihn nicht erwiderte. Als Traute noch einmal den

Roman von Reinhold Ortmann 87

Kopf drehte, war er bereits zwiſchen den Staͤmmen verſchwunden. N

Frau Hedwig Steinsdorffs empfindliche Nerven wurden an dieſem Abend auf eine harte Probe geſtellt. Und die Nacht, die ihm folgte, war faſt noch ſchlimmer. Wohl ſchien ſich der Aufruhr in der Natur fuͤr eine Weile zu beſaͤnftigen; aber es war, als haͤtten die Elemente nur neue Kraͤfte ſammeln wollen zu noch wilderem Kampf. Der Pfoͤrtner, der ſchon ſeit manchem Jahr hier in den ſchleſiſchen Bergen ſaß, erklaͤrte, er haͤtte aͤhnliches noch nie erlebt.

Das Firmament ſtand unaufhoͤrlich in blauem Feuer, und die Donnerſchlaͤge krachten, knatterten und ſchmetterten faſt ohne Pauſe uͤber das Brauſen des Sturmes und das Rauſchen der ununterbrochen nieder⸗ ſtroͤmenden Regenguͤſſe hinweg.

Die Frau Kommerzienrat weinte wie ein Kind und erſchoͤpfte ſich in Selbſtvorwuͤrfen wegen der ungluͤck⸗ lichen Fruͤhlingsreiſe. Wenn ihr ſchon die vorhin aus⸗ geſtandene Angſt um Traute den Erholungsaufenthalt gruͤndlich verleidet hatte, ſo wurde ihr Wunſch, ſchleunigſt wieder abzureiſen, im Verlauf dieſer Schreckensnacht zum feſten Entſchluß. Sie ließ ſich nicht bewegen, zu Bett zu gehen, weil ſie ſicher war, daß ein Blitzſtrahl die Villa in Brand ſetzen wuͤrde. Und als man um Mitternacht zu all den anderen unheimlichen Geraͤuſchen auch noch das Gelaͤut der Reimsbacher Kirchenglocke hoͤren konnte, war ſie uͤberzeugt, die Fabrik, deren Gebaͤude von der Villa aus nicht ſichtbar waren, ſtaͤnde bereits in hellen Flam⸗ men. Sie ließ wieder den Pfoͤrtner kommen, um ihn zu fragen, was das Sturmlaͤuten zu bedeuten habe. Aber der Mann erklaͤrte, um Feuerlaͤrm handle ſich's dabei nicht.

.

—— nn

88 Das hoͤchſte Ziel

„Es wird Hochwaſſergefahr im Anzuge ſein,“ meinte er, „was bei ſolchem Wolkenbruch jetzt, wo die Gebirgs⸗ baͤche ohnehin ſtark angeſchwollen ſind, wahrlich kein Wunder waͤre. Aber fuͤr die Fabrik und auch fuͤr die Kolonie iſt dabei nichts zu fuͤrchten. Die liegen zu hoch. Nur im unteren Teil des Reimsbacher Tals koͤnnte es moͤglicherweiſe ſchlimm ausſehen. Die Gemeinde hat die Bachverbauung wegen der Koſten von Jahr zu Jahr hinausgeſchoben, weil da unten nur ein paar armſelige Haͤuschen ſtehen. Und es iſt ja auch bis jetzt immer gnaͤdig abgegangen. Aber daß fruͤher oder ſpaͤter ein Ungluͤck geſchehen würde, haben. die Sachverſtaͤndigen, die vor zwei Jahren da waren, mit aller Beſtimmtheit vorausgeſagt.“

Frau Hedwig war nur halb beruhigt. Um das Schickſal der armſeligen Haͤuschen und ihrer Bewohner zwar machte fie ſich keine uͤbergroße Sorge; aber fie hatte von einer Hochwaſſerkataſtrophe die fuͤrchterlichſten Vor⸗ ſtellungen und ſah ſich trotz der vollkommen geſicherten Hoͤhenlage der Villa im Geiſte bereits als eine rettungs⸗ los verlorene Schiffbruͤchige auf den wilden Fluten treiben.

Unter ſolchen Umſtaͤnden waͤre Traute wohl auch dann nicht dazu gekommen, ihr von dem Ritterdienſt des Doktor Volcker zu ſprechen, wenn ſie ein Verlangen danach getragen haͤtte. Aber ſie behielt das kleine Er⸗ lebnis lieber fuͤr ſich, obwohl oder vielleicht gerade weil es ihre Gedanken unausgeſetzt beſchaͤftigte. Nach den Erfahrungen, die ſie waͤhrend der beiden letzten Jahre mit den raſch voruͤbergehenden Erregungszuſtaͤnden ihrer Mutter gemacht hatte, nahm ſie deren Angſte und Wehklagen nicht allzu tragiſch. Und ſie ſelber war jetzt ganz ohne Furcht. All das ungeſtuͤme Toſen und Toben

Roman von Reinhold Ortmann 89

da 122 konnte die ſeltſame Froͤhlichkeit 1105 ver⸗ ſcheuchen, die von jenem gemeinſamen Abſtieg durch den blitzumzuckten Wald in ihrer Seele zuruͤckgeblieben war. Es wandelte ſie vielmehr ein tolles Verlangen an, das Fenſter aufzureißen und in lautem Jubelgeſang ihre Stimme mit dem Konzert der ſchauerlich herrlichen Sturmnacht zu vereinen.

Gegen Morgen verzog ſich das Gewitter; nur der Regen ſtroͤmte mit kaum verminderter Heftigkeit weiter. Nun erſt ließ ſich die Frau Kommerzienrat von ihrer Zofe entkleiden, und auch die ermuͤdete Traute lag bald in feſtem, ruhigem Schlummer. Es war zehn Uhr vormittags, als ſie durch einen klagenden Zuruf ihrer Mutter geweckt wurde. Frau Hedwig ſtellte die wenig glaubhafte Behauptung auf, daß ſie keine Minute ge⸗ ſchlafen habe, daß ſie von den fuͤrchterlichſten Kopf⸗ ſchmerzen gepeinigt ſei und daß ſie unter allen Um⸗ ſtaͤnden noch heute abreiſen muͤſſe.

„Aber das Wetter wird ſich ja wieder beſſern, Mama,“ ſagte Traute. „Wegen eines Gewitters ergreift man doch nicht die Flucht, zumal, nachdem es gluͤcklich vor⸗ uͤber iſt. Der Papa wuͤrde uns ſchoͤn auslachen, wenn wir ihm das als Grund unſerer vorzeitigen Heimkehr eingeſtehen müßten.”

„Dein Vater hat nicht die Gewohnheit, mich auszu⸗ lachen,“ verwies ihr Frau Hedwig gekraͤnkt die reſpekt⸗ loſe Rede. „Und ich bleibe auf keinen Fall. Rudolf ſoll gleich ins Dorf hinunter, um den Doktor Volcker von meinem Entſchluß zu benachrichtigen. Da er nun einmal als unſer ſogenannter Beſchuͤtzer mitgekommen iſt, kann er ſich wenigſtens jetzt nuͤtzlich machen, indem er das fuͤr unſere Abreiſe Notwendige erledigt.“

„Wie du willſt, Mama. Ich werde mich ſogleich

90 Das hoͤchſte Ziel

en und werde dann den Herrn 2 Doktor ae bitten laſſen.“

Viel Schneller als fonft war fie heute fertig, und dann ftand fie lange in ungeduldiger Erwartung unten im Gartenzimmer am Fenſter, weil es ihr ſchien, als ob ſich die Ruͤckkehr des nach Reimsbach geſchickten Dieners ganz ungebuͤhrlich verzoͤgere. Endlich tauchte ſeine unter dem Regenſchirm gemaͤchlich dahinſchreitende Geſtalt in der Ferne auf. Aber ſein Erſcheinen bedeutete eine große Enttaͤuſchung fuͤr die Harrende; denn er kam allein. Daß Volcker dem an ihn ergangenen Rufe nicht ſogleich Folge leiſtete, erſchien ihr als eine Unhoͤf⸗ lichkeit, wegen deren ſie ihm zuͤrnte. Daß ſie ſich darauf gefreut hatte, ihn wiederzuſehen und ihn in Abweſenheit ihrer Mutter empfangen zu duͤrfen, geſtand ſie ſich natuͤrlich nicht ein. Unmutig wandte ſie ſich dem ein⸗ tretenden Diener zu.

„Nun? Haben Sie Herrn Doktor Volcker ange⸗ troffen? Und was hat er Ihnen geſagt?“

„Gnaͤdiges Fraͤulein, der Herr Doktor laͤßt ſich ent⸗ ſchuldigen. Er kann zu ſeinem großen Bedauern heute

nicht ausgehen.” (Jortſetzung folgt.)

2 *

Was

ſoll aus unſeren Töchtern werden? | Bon ©. Amiris

och ſtehen uns all jene umwaͤlzenden Geſchehniſſe feit a Kriegsbeginn zu nahe, als daß ſich in allen Faͤllen ihre

Wirkſamkeit klar in allen Folgen uͤberſehen oder ſicher vorausbeſtimmen ließe. In den erſten Monaten war man zu glauben geneigt, die Zeit vor und nach dem Kriege in ein ſtreng⸗ geſchiedenes Geſtern und Morgen ſcheiden zu koͤnnen. Alles nach ihr Kommende ſah man in übertriebener Hoffnungsſtim⸗ mung. Die harten Tatſachen haben bald alle bloße Glaͤubigkeit und Schwaͤrmerei zurechtgewieſen. Die Notwendigkeit, beſonnen umzulernen, Vergangenes ſcharf zu prüfen, auf Wert: und Uns wert ſtreng zu unterfuchen, ſteht auf unzähligen Gebieten als ernfte Forderung vor uns. Die augenblickliche Zwangslage hat Unerwartetes gezeitigt; aber nicht alles wird ſich als dauern⸗ der Zuſtand erweiſen, was durch die Not der Stunde zu einer Ausnahmeſtellung gelangen konnte. Spaͤter wird ſich nicht weniges davon im ſozialen Ringen wieder zuruͤckbilden, wenn tuͤchtige, vorher erprobte Kraͤfte wieder frei ſein werden.

Seit dem Kriege zeigt auch das, was wir Frauenbewegung nennen, ein veraͤndertes, neues Geſicht. Die Schwierigkeiten der Berufswahl der Frauen ſind nur ſcheinbar leichter geworden, vor allem aber haben ſich die Ausſichten, im Kreiſe der Familie wirken zu duͤrfen, innerhalb der natuͤrlichſten Grenzen des Frauenlebens ſozial geborgen zu ſein, bedeutend verringert. Damit iſt die große Frage der Frauenverſorgung aus eigener Kraft, auf lange Zeiten hinaus, noch bedenklicher geworden als vor dem Jahre 1914. Bei wachſendem Angebot wird die Ausleſe alles ſchlecht Vorbereiteten und wirklich Untuͤchtigen natur⸗ notwendig noch haͤrter werden als in allen Jahren vorher. Nichts iſt verderblicher und fuͤr den einzelnen wie die Gemeinſchaft folgenſchwerer an Enttaͤuſchungen als Schoͤnfaͤrberei. Was Voͤlkern daraus fuͤr Unheil erwachſen muß, erleben wir an unſeren Gegnern. a Mangelnde Ausbildung muß ſich im Leben zu irgendeiner

»

Stunde der Prüfung rächen. Es iſt ein tiefes Wort, das beſagt: „jede uͤberſprungene Bildungsſtufe iſt unverzeihlich“. Der Zufall und alles Halbe muß fuͤr die Zukunft in der Frauenbildung von Grund aus zu uͤberwinden geſucht werden, denn nur dem Tuͤchtigen bleibt die Welt nicht ſtumm. Im Dezember ſchrieb Helene Lange in der „Frankfurter Zeitung“ hoͤchſt Beachtens⸗ wertes. Sie ſagt: „Der Krieg rief die Frauentuͤchtigkeit in zwei Formen auf: in der beruflichen Kriegsvertretung des Mannes und auf dem geweiteten Feld eigenſter Frauenarbeit. Er zeigte klipp und klar: die Frauen des halben Koͤnnens ſind in dieſer Zeit eine ſchwere wirtſchaftliche Laſt. Auch von der Frau wurde auf eigenſten Gebieten Hoͤheres verlangt als ſonſt, auch ihr Wirken wurde nach Wert und Unwert in ſchaͤrfere, ruͤckſichtsloſere Be⸗ leuchtung geruͤckt ... Das große Kriegsurteil uͤber die Frauen: bildung iſt ein Verdammungsurteil über alle Halbheiten.“

Wohlverſtanden, iſt dies nicht als Verurteilung deſſen, was die Frau als ſolche angeht, gemeint; nur die Art und Weiſe der bisherigen Frauenausbildung iſt darunter zu verſtehen. Von der Unzulaͤnglichkeit der Bildungsmoͤglichkeiten iſt die Rede, nicht davon, was die Frau bei angemeſſener Erziehung, inner⸗ halb der Grenzen ihrer naturbedingten Anlagen, imſtande ſein wuͤrde zu leiſten. „Halbheit,“ ſagt Helene Lange, „iſt immer noch das Kennzeichen der Frauenbildung. Der Ausweg aus der vielbeſprochenen Schwierigkeit des doppelten Lebensziels: Beruf oder Haͤuslichkeit iſt bisher fuͤr die Maͤdchen des Volkes wie für jene der höheren Bildungsſtufen ein ‚Sowohl⸗als⸗ auch‘ von ſehr zweifelhaften Erfolgen geweſen.“ Hier kommt das ſchlichte Wort zu ſeinem Recht: „Niemand vermag zwei Herren zu dienen“. Ernſtliche Ausbildung fuͤr alle moͤglichen Fälle iſt ein Gebot der Notwendigkeit.

Die Heranziehung weiblicher Arbeitskraͤfte, unter dem Druck der augenblicklichen Verhaͤltniſſe erfolgt, wird nach dem Ende des Krieges nicht mehr im vollen Umfang beſtehen. Im ſozialen Ausgleich der Kraͤfte werden Tauſende von Moͤglichkeiten ſich fuͤr die Frau wieder verlieren, vor allem aber in jenen Berufs⸗ zweigen, wo ihre Verwendung doch nur nach dem Gebot der

Von S. Amiris 93

Not erfolgt war. So erhebt ſich abermals die zielbewußte Vernunft und fordert, fuͤr alle moͤglichen Faͤlle jetzt ſchon die zureichendſten Formen der Ausbildung anzuſtreben. Von bleibender Dauer werden ſich fuͤr die Beſtrebungen der Frauen⸗ bewegung einzelne Beſchluͤſſe und Verfuͤgungen erweiſen, die unmittelbar durch die Kriegslage verurſacht wurden. So hofft man auf Umgeſtaltungen der Frauenſchule, ja man ſpricht ent⸗ ſchiedener als vor 1914 uͤber ein „ſtaatsbuͤrgerliches Dienſtjahr der Frau“, das die „ſtaatsbuͤrgerliche Tuͤchtigkeit aus der eigenſten Frauenaufgabe in Haus und Familie heraus entwickelt und zu den ſozialen Aufgaben hinfuͤhrt, die im neuen Deutſchland von den Frauen im ſtaͤrkſten Maße uͤbernommen werden muͤſſen“. Doch davon iſt vieles, wenn nicht alles bisher Geforderte, noch weit von jeder Verwirklichung.

Am 20. Oktober 1915 erſchien in Berlin ein Erlaß des Mini⸗ ſteriums fuͤr Handel und Gewerbe, der die Wege der Ausbildung der Handelslehrerin nebſt einer Prüfungsordnung bekanntgab. Er beweiſt: „daß man fuͤr kaufmaͤnniſche Fortbildungs⸗ und Handelsſchulen keine Lehrkraͤfte wuͤnſcht, die auch Unterricht in Handels faͤchern erteilen, ſondern daß der Beruf der Handels⸗ lehrerin wie der des Handelslehrers einfelbftändiger und wichtiger iſt“. Der Erlaß erkennt neben den ſechs bis jetzt in Berlin, Frankfurt a. M., Koͤln, Leipzig, Mannheim und Muͤnchen be⸗ ſtehenden Handelshochſchulen auch das Seminar der Viktoria⸗ Fortbildungs⸗ und Fachſchule und das der Frau Eliſe Brewitz in Berlin als Ausbildungsſtaͤtten an, mit dem Recht einer ſtaat⸗ lichen Abſchlußpruͤfung. Die Prüfung erfolgt nur nach ord⸗ nungsgemaͤßem Beſuch, aber die Lehrbefaͤhigung iſt durch die Pruͤfung noch nicht erlangt. Gefordert wird noch die Aus⸗ uͤbung einer praktiſchen Taͤtigkeit und die Leiſtung eines Probe⸗ jahres in einer vom Miniſter als geeignet bezeichneten Anſtalt. Der Seminarbeſuch waͤhrt drei Halbjahre; nach dem zweiten Semeſter hat die Schuͤlerin ſich zu entſchließen, ob ſie den Reſt ihrer Ausbildung in den Klaſſen fuͤr Lehrerinnen an Konto⸗ riſtinnenſchulen oder in denjenigen fuͤr Lehrerinnen an Ver⸗ kaͤuferinnenſchulen erhalten will. Klaſſen der erſten Art be⸗

94 Was ſoll aus unferen Töchtern werden?

ſtehen an beiden Seminaren, waͤhrend Lehrerinnen fuͤr Ver⸗ kaͤuferinnenſchulen nur in der Viktoria⸗Fortbildungsſchule aus⸗ gebildet werden koͤnnen. Nach dem miniſteriellen Erlaß ſind fuͤnf Gruppen zum Eintritt in das Seminar berechtigt: die Lyzeal⸗ abſolventin, die Sprachlehrerin, die Abſolventinnen eines Gym⸗ naſiums, Realgymnaſiums, Oberlyzeums, einer Oberrealſchule, die Volksſchullehrerin und die hoͤhere Lehrerin. Die ver⸗ ſchiedenen Eintrittsbedingungen ſind genau feſtgeſetzt. „Sowohl bei Ablegung des für die drei erſten Gruppen unerläßlichen Lehrprobejahres als auch bei Abſolvierung der praktiſchen Tätigkeit, die für alle fünf Gruppen vorgeſchrieben iſt, ſollte das Gewicht auf moͤglichſte Vielſeitigkeit gelegt werden. Es empfiehlt ſich, nacheinander in zwei oder mehrere Betriebe einzutreten und vornehmlich Verkaufs⸗, Import⸗ und Exporthaͤuſer, Speditions⸗ und Bankfirmen in Betracht zu ziehen. Die ſo geſammelten mannigfachen Erfahrungen ſind fuͤr die ſpaͤtere Lehrtaͤtigkeit außerordentlich erſprießlich,“ ſagt Kaͤthe Behrend. Sie deutet auf das Verhältnis der im Handel tätigen Angeſtellten, das fich nach dem Geſchlecht laut Volkszaͤhlung von 1907 ſchon wie eins zu drei erweiſt. Bis zum 1. Mai 1915 gab es 573 kauf⸗ maͤnniſche Knabenfortbildungsſchulen mit unmittelbarem Zwang, fuͤr Maͤdchen dagegen nur 135 derartige Anſtalten. „Den neuen Vorſchriften fuͤr Ausbildung und Pruͤfung der Handelslehre⸗ rinnen kann mit Sicherheit entnommen werden, daß man dieſem Mangel auf geeignete Weiſe abzuhelfen gedenkt und daß ſich auch ſo ein Weg eroͤffnet, den die arbeitende Frau nach dem Kriege mit Ausſicht auf Erfolg einſchlagen kann.“ Beſonders nach Ein⸗ fuͤhrung der Pflichtfortbildungsſchulen wird die gepruͤfte Lehrerin geſucht werden. Nach einem Bericht von Doktor Lilly Hauff verlangt die Geſamtausbildung der Handelsſchul⸗ lehrerin 2 / Jahre für die wiſſenſchaftliche und 5 Jahre fuͤr die Sprachlehrerin. Die Oberlyzealabſolventin muß Jahre, die Lyzealabſolventin 6 Jahre auf dieſe Ausbildung ver: wenden. Das Mindeſtalter beim Beginn der Ausbildung iſt auf 16 Jahre feſtgeſetzt, ſo daß die Vollendung der Ausbildung

durchſchnittlich im Alter von etwa 23 Jahren zu erreichen iſt,

Von S. Amiris 95

wobei zu beruͤckſichtigen iſt, daß die angehende Handelsſchul⸗ lehrerin mit der laͤngſten Vorbereitungsdauer von 61/, Jahren innerhalb dieſer Zeit ſchon als bezahlte Arbeitskraft imſtande war, einen Teil ihres Unterhalts ſelbſt aufzubringen. Sehr junge Bewerberinnen ſind beſonders darauf hinzuweiſen, nicht zu fruͤh in das Seminar einzutreten, ſondern erſt in einer laͤngeren kaufmaͤnniſchen Stellung die noͤtige praktiſche Erfahrung und Sicherheit in der Behandlung der kaufmaͤnniſchen Arbeit zu erwerben.

Die Jahreszunahme ſtudierender Frauen betrug im Sommer 1915 auf den 22 Univerſitaͤten des Reiches 445; es wurden im Sommer 1915 4575 eingeſchrieben, gegen 4130 im Vorjahre und 2500 vor fuͤnf Jahren. Die Jahreszunahme bewegt ſich noch immer in aufſteigender Linie, da die Abiturientinnen der preußiſchen Oberlyzeen jetzt auch ohne vorherige praktiſche Lehr⸗ taͤtigkeit das Studium des hoͤheren Lehramts beginnen koͤnnen, feit ſich das Kultusminiſterium Ende 1915 dafuͤr erklaͤrte. Ein entſprechendes Zeugnis erteilt den Schülerinnen der Seminar: klaſſen der Oberlyzeen, die ſich ausreichende Fertigkeit im Unter⸗ richten angeeignet haben, die Lehrbefaͤhigung fuͤr Lyzeen, Maͤdchenſchulen und Mittelſchulen einſchließlich derjenigen fuͤr Volksſchulen, jedoch mit der Beſtimmung, daß die Inhaberin ſich bis nach Beendigung des Krieges der Volks ſchule zur Ver: fuͤgung ſtellen muß und erſt nach Erfuͤllung dieſer Pflicht auch zur Beſchaͤftigung an Lyzeen und hoͤheren Maͤdchenſchulen zu⸗ gelaſſen werden kann.

Andere miniſterielle Erlaſſe, wie fuͤr Sachſen, wieſen die Gewerbeinſpektoren an, die Vorſchriften, welche in Friedens⸗ zeiten fuͤr die Einſtellung weiblicher Arbeitskraͤfte zu gewiſſen Beſchaͤftigungen und fuͤr beſtimmte Betriebe beſtanden, zu „mildern“. Man hofft dort behoͤrdlicherſeits, daß der Ausgleich zwiſchen Maͤnner⸗ und Frauenarbeit ſich nach dem Kriege e Haͤrten“ vollziehen wird.

So hat auch das Kuratorium des Internationalen Inſtituts für das Hotelbildungsweſen in Duͤſſeldorf beſtimmt, daß Frauen zu denſelben Bedingungen zum Studium und Abſchlußexamen

96 | Was ſoll aus unſeren Töchtern werben?

zugelaſſen werden, wie fie für die Männer beſtanden. Verlangt wird, falls kein Schulreifezeugnis Maturitaͤt nachgewieſen werden kann, der Nachweis des erreichten 18. Lebensjahres und das Reifezeugnis eines Lyzeums nebſt zweijaͤhriger Lehrzeit im Hotelgewerbe. An Stelle des einen Jahres der Lehrzeit kann bei Frauen der einjaͤhrige Beſuch einer oͤffentlichen Handels⸗ oder Haushaltungsſchule treten. Die Frau wird ſich als Buͤroleiterin, zur Leitung des Empfanges, als Kaſſiererin, Buchhalterin und Korreſpondentin eignen. Ein weites Feld findet ſie als Leiterin von Sanatorien, Kurhaͤuſern, Familienpenſionen, Feriengaſt⸗ haͤuſern, alſo in Stellungen, die vorzuͤgliche wirtſchaftliche und techniſche Vorbildung vorausſetzen. Auch hier eroͤffnen ſich durch den Beſchluß der Hotelakademie neue und vielfache Moͤglich⸗ keiten des Frauenerwerbs.

Vor dem Krieg war die freiwillige Hilfstaͤtigkeit der Frau gegenuͤber der im Dienſtverhaͤltnis bezahlten Arbeitsleiſtung weitaus uͤberwiegend; es liegt in der Natur der Dinge, daß ſich dieſe Lage ſeit Auguſt 1914 nicht weſentlich verſchoben hat. Doch haben ſich auch fuͤr die bezahlte Berufstaͤtigkeit der Frau im Gemeindedienſt einſchneidende, wenn auch nicht dauernde Ande⸗ rungen herausgebildet. Daruͤber berichtete zu Anfang des Jahres Jenny Apolant auf Grund einer Umfrage, die an 45 Groß⸗ ſtaͤdte und 579 Verwaltungen von Stadt⸗ und Landgemeinden erging. Durch Vergleichung aͤhnlicher Erhebungen aus den Jah⸗ ren 1910 und 1913 ergab ſich ein „uͤberraſchend ſchnelles An⸗ wachſen der weiblichen Hilfskraͤfte, die Eroͤffnung neuer Arbeits⸗ gebiete und eine Vertiefung des Arbeitsinhaltes durch ſtarke Zunahme der mit organiſatoriſchen W verbundenen Amter“.

In der Waiſenpflege ergibt ſich fuͤr ehrenamtliche Pflege die hohe Zahl von 7224 Stellen, bei 2623 Pflegerinnen fuͤr freiwillige Armenpflege, eine Zunahme von 56 Prozent waͤhrend der letzten fuͤnf Jahre. Im gleichen Zeitraum ſtieg die Zahl beſoldeter Frauen in der Armen⸗, Waiſen⸗, Saͤuglings⸗ und Jugendpflege von 325 auf 609, alſo um 87 Prozent. Geradezu unentbehrlich erſcheint gruͤndlichſte Schulung auf drei den Frauen

Von S. Amiris 97

erſt ſeit einigen Jahren erſchloſſenen Arbeitsgebieten: der Schulz, Polizei⸗ und Wohnungspflege. Die Zahl bezahlter Schul⸗ ſchweſtern und Pflegerinnen der deutſchen Großſtaͤdte iſt ſeit 1910 von 4 auf 65 geſtiegen. Auch hier wird nach dem Kriege zufalls⸗ maͤßige Arbeit gegen beſoldete in hoͤherem Maße zu erwarten ſein; gleichfalls fuͤr die Taͤtigkeit der Polizeiaſſiſtentinnen, deren Geſamtzahl zurzeit noch gering iſt, die ſich aber trotzdem in 36 Großſtaͤdten ſeit fuͤnf Jahren um 140 Prozent erhoͤhte. Noch im Jahre 1910 gab es in keiner deutſchen Großſtadt Woh⸗ nungspflegerinnen; fuͤr 1913 waren es 7, und ſeit 1915 ſind 64 beſoldete Pflegerinnen in theoretiſcher und organiſatoriſcher Weiſe taͤtig. Auch bei anderen ſtaͤdtiſchen Verwaltungskoͤrper⸗ ſchaften erfolgte eine Zunahme beſoldeter Arbeitskraͤfte; ſo iſt fuͤr die verſchiedenen Abteilungen der Schulverwaltungen ein Aufſtieg von 104 auf 334 alſo um 221 Prozent zu verzeich⸗ nen, in der Armen⸗, Waiſen und Geſundheitspflege wuchſen die Zahlen von 58 auf 253 gleich 336 Prozent.

Die Hausfrauen hat der Krieg plotzlich vor neue ſchwierige Aufgaben geſtellt, und hier hat ſich deutlich die Unzu⸗ laͤnglichkeit der Ausbildung erwieſen, die das junge Mädchen auf dieſem Gebiete bisher zumeiſt in wenigen Wochen oder Mo⸗ naten ſich in einer Koch⸗ oder Haushaltungsſchule oder zu Hauſe unter Anleitung der Mutter erwarb; ſie beſtand im allgemeinen nur im Erlernen der Handgriffe und notwendigen Verrichtungen. Allmaͤhlich mochten dieſe Frauen fruͤher ſich zurechtfinden. Nun aber kamen die reichsgeſetzlichen Beſtimmungen und die For⸗ derung, bei Einſchraͤnkung der Auswahl und geſteigerten Preiſen fuͤr eine zweckentſprechende Ernaͤhrung der Familie zu ſorgen. Da verſagten viele von den nach bisherigen Begriffen „guten“ Hausfrauen. Es fehlte ihnen an Kenntniſſen, an der Faͤhigkeit, das unbedingt Notwendige und das Nuͤtzliche von dem daruͤber hinausreichenden Angenehmen klar zu unterſcheiden, an einem uͤberſchauenden Erkennen alſo ihres ureigenſten Arbeitsgebietes. Aber ſchon vor dem Kriege gab es da und dort Schulen, die eine vertieftere Ausbildung in der Hauswirtſchaft vermittelten, ſo zum Beiſpiel die Anſtalten des Vereins fuͤr wirtſchaftliche

1916. X. 7

98 Was ſoll aus unferen Töchtern werden? Frauenſchulen auf dem Lande. Und auch der Ausbildung tuͤchtiger Hauswirtſchaftslehrerinnen in entſprechenden Semi⸗ naren mit abſchließender Pruͤfung hatte ſich erhoͤhte Aufmerk⸗ ſamkeit zugewendet.

Die Zukunft wird mehr Maͤdchen als bisher vor die Not⸗ wendigkeit eigenen Lebenserwerbs ſtellen, aber auch mehr vor die Notwendigkeit, durch einen Beruf ihrem Leben Inhalt und Befriedigung zu ſchaffen. Der Frau muß der Beruf vielfach Erſatz bieten für das, was der Mann neben der Berufstätigkeit beſitzen kann, das Gluͤck der eigenen Familie. „Das Suchen nach einer Arbeit, die die Maͤdchen zur Erfuͤllung aller in ihnen ruhenden Moͤglichkeiten fuͤhrt, iſt,“ wie Alice Salomon im Dezember 1915 im „Tag“ ausfuͤhrte, „in dieſer Zeit nicht nur ein Recht, ſondern eine Pflicht der Jugend, und zwar keineswegs nur unter individuellen, ſondern unter ſozialen und volkswirt⸗ ſchaftlichen Geſichtspunkten. Denn wenn die Volks wirtſchaft nicht durch die ungeheuren Luͤcken, die der Krieg geſchlagen hat, in ihrer Entwicklung gehemmt werden, wenn die Leiſtungs⸗ faͤhigkeit des deutſchen Volkes in wirtſchaftlicher und geiſtiger Beziehung auf ihrer bisherigen Hoͤhe erhalten bleiben ſoll, dann muͤſſen auch die Frauen weit mehr als bisher Qualitaͤtsarbeit leiſten.“

Aus der Glowakei Von Erich Sieghardt

Mit 12 Bildern

as iſt die Heimat jener kunterbunt gekleideten D bears, die wir in Wien an ſchoͤnen

Tagen in oͤffentlichen Gaͤrten langſam ihre Rollwaͤgelchen vor ſich herſchieben ſehen. Das auf— fallendſte an ihnen ſind die zahlloſen, weiten, kurzen Roͤcke, die ſich beim Gehen in maleriſchen Wellen um die in hohen Roͤhrenſtiefeln ſteckenden Beine bewegen. Alle Regenbogenfarben findet man an der Tracht dieſer Slowakinnen vereinigt; je bunter, deſto beſſer.

Und doch wird von dieſer ſeltſamen Kleidung, die wir mit laͤchelnder Bewunderung betrachten, ganz falſch geſchloſſen auf die Heimat jener Jungfrauen, die Slowakei, die durchaus nicht nur ſo ſonderbar bunt iſt, wie ſie nach der Tracht ihrer Toͤchter und der Meinung Ununterrichteter eigentlich ſein muͤßte.

Die Slowakei iſt ein ſagenhaftes Land. Die wenigſten wiſſen uͤberhaupt, wo ſie es zu ſuchen haben. „Dort hinten irgendwo,“ ſagen ſie mit einer unbeſtimmten Handbewegung nach dem fernen Oſten. Die Slowakei iſt aber ein ganz beſtimmter, ſehr ſchoͤner, gebirgiger Landſtrich; naͤmlich Oberungarn. Sie dehnt ſich vom Zipſer Komitat öftlich bis etwa zum Latorczatal, nörd: lich begrenzt von Galizien, ſuͤdlich vom flachen Inner: ungarn. Als das Zentrum der Slowakei kann das Komitat Saros gelten.

Da ziehen ſanfte Huͤgelketten, die ſich gegen Norden zu immer ſtattlicheren Bergen erhoͤhen, weite Felder wechſeln mit dichten, uralten Hochwaͤldern; da fehlt es nicht an engen Taͤlern, durch die ſich ſchaͤumende Baͤche den Weg bahnen. In den Luͤften kreiſen Falken und Geier, und wer Gluͤck hat, bekommt auch einmal

Aus der Slowakei

Adler zu ſehen. In den Waͤldern jagt man das

Wildſchwein und ſtattliches Rotwild. Im Winter be⸗

einen

4

G a a BA A SEK 5 EZ Al a uud 1 523 5 ae de A ED 22% m ff eee 2

- —— mn

—— b dq —— b —s—n—f-’——— bK MMB QB VOVVœdœOœQοV! . e —— „eee

0 0

0

0 %% % , % % O,,“ eee eee eee

Jahre alte Kirche in Eperjes.

Die ſechshundert

1.

0

Abb gegnet man noch zahlreichen Fuͤchſen, die oft dreiſt und

furchtlos am Wege ſitzen.

ier kein

die h

Ein reiches, fruchtbares Land, voller Schoͤnheit, Allzuvielen,

verſchont bisher von den

Von Erich Sieghardt 101

Hotel, wenig Eiſenbahnen und keine markierten Wege

faͤnden. | Wenn ſo von der Slowakei geredet wird, wer denkt

dabei an die geſchichtliche Vergangenheit dieſes Landes,

EE

7 EI 7 s DER PT 1

eee 1 Er a FE a ae Lars r

er TE nu

Abb. 2. Häufer in Eperjes. Ungarische Renaiſſance.

an wichtige und allbekannte Ereigniſſe, die ſich hier abſpielten.

Jede Muſikkapelle ſpielt heute den Rakoczymarſch; aber daß die Rakoczys hier ihre Burgen hatten, Herren waren in der Slowakei, das weiß kaum jemand. Wenn man von Eperjes oder, wie es flowakiſch heißt, von Preſov, auf der Weſtſtraße nach Leutſchau, ins Tatra— gebiet faͤhrt, ſo ſieht man gleich auf einem ſteilen Huͤgel

102 Aus der Slowakei

die Reſte einer gewaltigen Burganlage; das iſt Sarosvar, die Rakoczyburg. Noch ſteht in Nagyſaros das Kaſtell, wo Rakoczy II., der große Rebell, im Jahre 1701 ge: fangen wurde. Und wenn man von Eperjes nach Kapi

. a‘

Abb. 3. Das altdeutfche Rathaus in Bartfeld.

faͤhrt, ſo ragt dort zur Linken ein jaͤh aufſteigender Hügel empor, deſſen Gipfel ebenfalls eine Rakoczy— burg kroͤnt. Und bei Iboro, dem aus den Karpathen— kaͤmpfen jetzt ſo beruͤhmten Ort, der gegenwaͤrtig nur noch ein zerſchoſſener Truͤmmerhaufen iſt, ſteht oder ſtand ebenfalls ein Kaſtell, das Rakoczy I. gehörte. Außer dieſen ſind noch eine Reihe von Bauten hinter—

| Von Erich Sieghardt 103

blieben, die das Entzuͤcken jedes Kunſtfreundes bilden muͤſſen. Um ſie zu ſehen, genuͤgt es, nach Eperjes und Bartfeld zu gehen, wie dieſe, jetzt Baͤrtfa genannte Stadt urſpruͤnglich hieß. Wie die meiſten ungariſchen

Abb. 4. Kirche aus dem 14. Jahrhundert in Bartfeld.

Provinzſtaͤdte iſt Eperjes ein langgedehnter Straßenort; was es aus den Reihen anderer ſolcher Staͤdte heraus— hebt, iſt die große Zahl uralter Haͤuſer, die noch jetzt, verunſtaltet durch moderne Firmenſchilde, in der Haupt— ſtraße ſtehen. Die Neuzeit draͤngt ſich um ſie und zwiſchen ſie mit geſchmackloſen Zinsbauten; nur um

104 Aus der Slowakei

die ſechshundert Jahre alte Kirche ſtehen ſie noch luͤcken⸗ los, wie in treuer Wacht (Abb. 1).

Da iſt das berühmte Rakoczyhaus, in dem Rakoczy !. 1633 den Eperjeſer Frieden mit Wien ſchloß, in dem Rakoczy II. reſidierte, und links und rechts davon eine Reihe aͤhnlicher Haͤuſer, koͤſtliche Typen oberungariſcher Renaiſſance, altersgrau und verwittert (Abb. 2). Und zwiſchen ihnen, maͤchtig aufragend, die gotiſche Kirche, ein Überreft jener Zeit, da hier noch deutſche Kultur: traͤger am Werk waren.

Vollends wehmuͤtig wird dieſe Erinnerung an ver⸗ gangene Zeit, wenn man Bartfeld beſucht. Die ganze „Stadt“ iſt heute nur noch ein nicht allzu rein liches, lang: weiliges Dorf. Bis man den Hauptplatz betritt. Aber da ſteht man gebannt und glaubt zu traͤumen. Iſt man in Alt⸗Nuͤrnberg? Mitten auf dem akazienumſaͤumten Platz ſteht ein altdeutſches Rathaus mit ſpitzem Giebel; am Firſt der „eiſerne Rathausmann“ (Abb. 3). Und uͤber dem kunſtreichen Eingang findet man die Inſchrift: Jacobus Hueber 1641. Im Innern dieſes jetzt zum Muſeum gewandelten Rathauſes findet man die aller⸗ koͤſtlichſten Altertuͤmer: Werke der Kunſtſchloſſerei, alte Waffen und Fahnen; Werkzeuge des peinlichen Gerichts, wundervolle Schnitzereien, allerlei Hausrat, Meßbuͤcher, alte Landkarten, Bilder und Stiche, Erinnerungen an Bartfelds Geſchichte. Was muͤſſen doch dieſe alten Bartfelder Buͤrger fuͤr Prachtkerle geweſen ſein, daß ſie ſich in fernem, fremden Land ſolch ein ſtolzes Rat⸗ haus bauten, den Mittelpunkt ihrer bluͤhenden deutſchen Kolonie.

Und neben dem Rathaus die Egydiuskirche aus dem 14. Jahrhundert! (Abb. 4). Wer da einmal hinein: geraͤt, den bannen die Fluͤgelaltaͤre mit ihrem Schnitz⸗

Von Erich Sieghardt 105

werk und ihren zahlloſen alten Bildern ſtundenlang feſt. Man kann ſich nicht ſattſehen an den unſchaͤtz— baren Denkmaͤlern deutſcher Art und Kunſt, die da im weltfernen Bartfeld vergeſſen ſchlummern, ſelten nur von verſtaͤndigen Kennern beſucht und bewundert, Wie habe ich zur Zeit der Ruſſenherrſchaft im Komitat Saros um Bartfelds Rathaus und Kirche gezittert! Die Eindringlinge ſind abgezogen, ohne Schaden an—

Abb. 5. Straße in einem Dorfe der Slowakei.

gerichtet zu haben. Es laͤßt ſich ſchon leichter ertragen, daß die Rakoczykirche bei Iboro zerſchoſſen wurde. Jetzt iſt es wieder friedlich ſtill in der Slowakei. Die kleinen Doͤrfer mit ihren weißen, blauen, gruͤnen Haͤuschen, die mich monatelang beherbergten, werden nun bald ihre militaͤriſchen Gaͤſte verloren haben, die nordwaͤrts gezogen ſind, den fliehenden Ruſſen nach. Wenn man von den Dorfitraßen abſieht, die bei Regenwetter abgrundtief ſind, ſo machen dieſe kleinen Doͤrfer durchwegs einen guten Eindruck (Abb. 5). Meiſt

106__ Aus der Slowakei

ſind die e Häufer mit Stroh gedeckt; rings um die Haus⸗ mauer laͤuft ein erhoͤhter Gang, damit man auch bei ſchlechtem Wetter vor die Tuͤr treten kann, ohne im Schlamm zu verſinken (Abb. 6). So uralt und verfallen nun auch dieſe Haͤuſer von außen meiſt ausſehen, ſo rein⸗

lich find. fie faſt ſtets im Innern. Durch die Haustuͤr

I

Abb. 6. Außeres eines Hauſes in einem flowakiſchen Dorfe.

gelangt man in die Kuͤche, deren rieſiger Herd ſehr oft noch nach guter alter Art den Rauch des offenen Feuers durch das Dach abziehen laͤßt, ſo daß man in der Kuͤche eigentlich in einer großen Raͤucherkammer ſteht. Von da kommt man in ein Zimmer, deſſen Waͤnde mit einer Unzahl von ſeltſam kindlichen Heiligenbildern und bunt— bemalten Tellern behaͤngt ſind. Oft kann man in einer Stube vierzig bis ſechzig ſolcher Teller zaͤhlen. Und

. —— TL—Uü1⁴——ſ —— —g—

Von Erich Sieghardt 107

noch etwas entdeckt der fremde Beſucher in dieſen Stuben: Spinnrocken und ganz alte, einfache Hand— webſtuͤhle. Dieſe Spinnrocken ſind mit Zinkblech gar zierlich eingelegt. Und ganz wie das „Heimgarten“ in den Alpen, iſt's auch in der Slowakei uͤblich, daß ſich

Abb. 7. Zimmer mit Wiege und Spinnrocken.

die Frauen und Maͤdchen abends einmal in dem, einmal in jenem Haus zum Spinnen zuſammenſetzen. Es iſt ein Vergnuͤgen, den flinken Haͤnden zuzuſehen, wie ſie mit geſchickten Bewegungen den Faden drehen und auf der Spindel aufrollen (Abb. 7 und 7a).

Man ſpinnt hier ſehr feinen „Bindfaden“; anders kann man es nicht nennen. Er wird dann ſentweder verkauft oder in den Webſtuhl eingeſpannt. Dieſer iſt

108 Aus der Slowakei

ein ſchwerfällig ges, plumpes Ding mit Pedalen und loſen Schiffchen, die man mit der Hand zwiſchen den Faͤden des Aufzuges hin und her wirft.

Ganz grobe Hausleinwand wird auf dieſen Stuͤhlen gewoben. Allenthalben ſieht man fie dann bei Sonnen: ſchein in langen Streifen zur Bleiche am Bach liegen.

Abb. 7 a. Elomakiſche Sea ind o Mädchen beim e

Dieſe Hausinduſtrie iſt allgemein in der Slowakei ver⸗

breitet.

Nie wird man in einem Slowakendorf auch Zigeuner wohnen ſehen. Abſeits ſtehen ein paar winzige, voll— kommen zerfallene, unſagbar ſchmutzige und verwahr— loſte Huͤtten, von denen man uͤberhaupt nicht begreift, daß ſie noch ſtehen koͤnnen das ſind die Zigeuner— dorfer (Abb. 8). Nackte Kinder treiben ſich davor herum, halbwuͤchſige Burſchen und Maͤdel, braun wie Schoko— lade, mit ein paar Fetzen und Lumpen „bekleidet“.

Von Erich Sieghardt 109

Peg nn gm mb nen nn

lungern zigarettenrauchend vor der Tuͤr. Kaum zeigt ſich ein Fremder, ſo ſtuͤrzt ihm die ſchmutzige Horde ent— gegen. „Kraizar, kraizar,“ iſt das einzige verſtaͤndliche Wort, das man aus ihrem Geſchrei heraushoͤrt. Sie betteln um einen Kreuzer. Manchmal holt auch einer

————

| |

enden |

Abb. 8. Zigeunerbehauſung abſeits von Slowakendoͤr fern.

der Burſchen die Fiedel und ſpielt dir den Rakoczymarſch oder einen Tſchardas. Aber da ergreift man ſchleunigſt die Flucht, denn dieſe grundfalſchen, kreiſchenden Toͤne haͤlt niemand aus. So ſeltſam es auch iſt: ſpielen koͤnnen alle dieſe Zigeuner nicht, auch wenn ſie ſich zu Banden zuſammentun. Zigeuner die nicht geigen koͤnnen!

Es gibt zwei Klaſſen von Zigeunern in der Slowakei: die einen ſpielen bloß, die anderen verſuchen es mit der Arbeit, freilich mit einer abſonderlichen Art von

110 Aus der Slowakei

. —— —— 5

Arbeit. Finden ſie etwa ein verendetes Pferd, ſo haͤuten ſie es ab und verkaufen die Haut, den Kadaver eſſen ſie. Und was ſolcherlei Geſchaͤfte mehr ſind.

Man muß an einem hohen Sonn- oder Feiertag vor der Dorfkirche ſtehen, wenn man die ganze Kleiderpracht der Slowakinnen bewundern will. Ich hatte das Gluͤck, mich während der Oſtertage in einem großen Slowaken⸗ dorf aufhalten zu koͤnnen. Da kamen ſie am Oſter⸗ morgen zur Kirche, wie wandelnde Glocken, in weiten ſchweren Samtroͤcken, bordeauxrot, grün, blau, braun. In bunten, aͤrmelloſen Jacken, reich mit Goldfaͤden und farbiger Seide beſtickt, darunter das ſchneeweiße Hemd mit den kurzen, hochgebauſchten Armeln. Die Maͤdchen tragen kein Kopftuch (Abb. 9). Sie haben den duͤnnen Zopf mit handbreiten, buntfarbigen Bändern durch⸗ flochten, ſo daß der geſamte Schmuck nun faſt bis zur Erde reicht. Viele Maͤdchen ſind wirklich ſchoͤn zu nennen mit ihren klaren, regelmaͤßigen Zuͤgen. Die Maͤnner⸗ tracht iſt hoͤchſt einfach, Sommer und Winter faſt gleich: weiße Jacken, weiße enge ungariſche Hoſen. Im Winter kommt dazu noch ein weiter weißer Mantel, der ſtets nur umgehaͤngt getragen wird, oder ein langhaariger Zottelpelz (Abb. 10). So kommen fie in kleinen Gruppen zur Kirche gewandelt, vor der ſich ein praͤchtiges, farben: leuchtendes Treiben entwickelt, trotz aller Buntheit doch wunderbar in ſich abgetoͤnt.

An den Abend des Oſterſonntags, wo ich nach der Auferſtehungsfeier vor der griechiſch-katholiſchen Kirche ein beſonders huͤbſches Bild ſah, denke ich immer mit Freude: die Maͤdchen verließen die Kirche, faßten ſich bei den Haͤnden und bildeten ſo lange Reihen uͤber die ganze Straßenbreite. Und während fie, ein eigentuͤm— liches Lied ſingend, deſſen lebhafter Takt auf einen

Von Erich Sieghardt _111

nenn nn ==

70800 Inhalt ſchließen ließ, die Derfſtraße hin⸗ abzogen, alle in ihren buntfarbigen Kleidern, ſchluͤpf— ten andere Reihen, die ihnen entgegen oder nach- gelaufen kamen, zwiſchen den Reihen der Maͤdchen

" a

eee eee 0000006000000 9 90000000 eee e

1 5 1 x

. 4 5 1 * a |

* > 5 rg u |

.

2 u - * |

* 5 *

2 #, er

N ga Sn: 5 BEIN *

Abb. 9. Slowakiſche Dorfjugend auf dem Heimweg vom Kirchgang.

unter den hochgehaltenen Haͤnden durch in mannig— faltiger Verſchlingung, ſo daß ein hoͤchſt anmutiger Reigentanz entſtand, der ſich allmaͤhlich in der Ferne verlor.

Wenn man längere Zeit in der Slowakei wandert, ſo fallen bald in vielen Doͤrfern zahlreiche Ruinen von Bauernhaͤuſern auf. Der Dachſtuhl iſt ganz ein—

112 Aus der Slowakei

geſtuͤrzt, die Fenſter ſind ohne Scheiben, die Mauern

oft geborſten. Fraͤgt man nach der Urſache des Ver⸗

falles, ſo erfaͤhrt man, daß das Haͤuſer von Ausge⸗

wanderten ſeien. Manchmal kann man in einem Dorf

zehn und mehr ſolcher Ruinen zaͤhlen. Ihre Beſitzer I 5

use 10. Die e Mäntel der ſlowakiſchen Ba uern.

ſind ſeit Jahr und Tag in Amerika; das Anweſen ver— faͤllt. Vielleicht kommt der Bauer eines Tages als reicher Mann heim, vielleicht iſt er ſchon laͤngſt drüben verdorben und geſtorben.

Wer dieſe Verhaͤltniſſe kennt, wird ſich nicht wundern, wenn er von einem aͤlteren Bauern, mit dem er ſich durchaus nicht verſtaͤndigen kann, plotzlich gefragt wird: „Do you speak english?“ Zuerſt iſt man ganz verdutzt, dann antwortet man engliſch, froh, mit den Leuten

Von Erich Sieghardt 113

. nn —_ nn mn eg eg

—— —e—

reden zu koͤnnen. Aber es iſt doch ein ganz toller Ge: danke, tief in der Slowakei mit den Bauern ſich engliſch zu unterhalten.

Im allgemeinen ſind die Slowaken gutmuͤtige Leute, wenn ſie ſich auch ſichtlich uͤber die Einquartierung

|

da Jahre alte Holzkirche in 0 Stil.

unſerer Truppen wenig freuten. Ihren Vorteil wiſſen ſie gruͤndlich zu wahren, jeder Strohhalm, den einer „geſtohlen“, jeder Halm auf dem Felde, den ein vorbei⸗ fahrender Trainwagen geſtreift, muß mit teurem Gelde entſchaͤdigt werden. Nur den jungen Maͤdeln behagen die militaͤriſchen Gaͤſte mehr, als den Muͤttern lieb iſt. Nach Feierabend ſieht man ſie dann lachend und ſchaͤkernd nen , die barfuͤßigen 1 choͤnen 1916. X.

harmonika wird Tſchardas getanzt oder ein ſlowakiſcher Nationaltanz, bis es ganz dunkel wird und die letzten muſizierenden Gruppen ſich verlieren.

Das ſind ein paar Bilder aus der Slowakei, in der die Ruſſen ſo lange bange Wochen hauſten, bis fie der große Fiſchzug unſerer Heerfuͤhrer wegfing mit einem einzigen vernichtenden Schlag.

/ /

Der Tod auf der Fahrt | Von Th. L. Seemann

ch freue mich wirklich recht auf unſere Reife,

Jus mal 'was anderes. Nicht das ruheloſe Herz .

a Jumbeßen von einem Ort zum naͤchſten; ich habe ein erquickliches Ausruhen ſehr noͤtig.“

Mein Beſucher, der Apotheker Hans Ehrhardt, der mir in der Abenddaͤmmerung auf dem Sofa gegenuͤber⸗ ſaß, reckte die flache Bruſt heraus; ſeit den fuͤnf Minuten, die er bei mir weilte, zuͤndete er die zweite Zigarette an. Huſtend ſtieß er den blauen, ſuͤßlichen Rauchſtrom aus. |

„Sie ſollten nicht fo ſtark rauchen, lieber Ehrhardt,“ ſagte ich. „Sie ſind ſowieſo kein Rieſe.“

„Nein, leider nicht. Ich habe es ja neulich ſchon geſtreift, bis zu meinem zwanzigſten Jahr bin ich immer kraͤnklich geweſen, aber rauchen muß ich. Das gibt mir Dampf.“ Er lachte vergnuͤgt, ſah auf die Pakete, die neben ihm auf dem Sofa lagen, ſtreichelte liebkoſend eine lange Pappſchachtel und ſagte: „Genuͤgenden Vorrat fuͤr unſere Sommerfriſche auf oͤſterreichiſchem Boden habe ich ſchon eingekauft. Verſteuern muß ich ihn frei⸗ lich in Bregenz. Aber das tut nichts.“

„Haben Sie ſich bei Ihrer Braut verabſchiedet?“ fragte ich, ablenkend.

„Nein, noch nicht. Ich bin auf dem Weg zu ihr. Da ich aber an Ihrem Haus vorbeiging, mußte ich erſt zu Ihnen heraufſpringen. Herta iſt von meiner Ab: ſicht, gruͤndlich auszuſpannen, begluͤckt. Sie iſt wirklich ein liebes, kluges Maͤdchen. Wenn ſie mir nicht zuredete, haͤtte ich mich Ihnen vielleicht gar nicht angeſchloſſen. Aber es iſt gut, daß Sie mich erinnern; zu ſpaͤt darf ich nicht kommen.“ Er ſtand auf, ſtuͤlpte den grauen

116 Der Tod auf der Fahrt

Filzhut auf den ſchmalen Kopf, hob feine drei Pakete auf und ſchob ein dickes, olivgruͤnes Buch in die Rocktaſche.

„Reiſelektuͤre?“ fragte ich.

„Nein, es iſt ein Werk uͤber Okkultismus: Das Reich des Überſinnlichen.“

„Ehrhardt,“ ſagte ich ärgerlich, „Sie find ein zu aber: glaͤubiſches Huhn. Mit Muͤhe und Not habe ich Sie dem ſpiritiſtiſchen Zirkel abwendig gemacht, und nun verſenken Sie ſich in dieſes myſtiſche Kauderwelſch. Sie ſind unverbeſſerlich.“

„Aber es iſt viel Wahres daran,“ entgegnete er ein⸗ dringlich. In feinen ſchwarzen Augen glomm ver: haltenes Feuer. „Mit dem kalten Verſtand laͤßt ſich nicht alles erklaͤren.“

„Der Aberglaube iſt des Wunders lee Kind,“ zitierte ich ſcherzend.

„Ja, ja,“ wehrte er erregt ab. Haſtig brannte er die dritte Zigarette an. „Alſo morgen fruͤh neun Uhr fuͤnfundzwanzig. Hoͤchſte Eile! Meine Herta wartet. Servus!“ Er ſtuͤrmte zur Tuͤr.

Egg im Bregenzer Wald hatten wir uns zur Sommer⸗ friſche gewaͤhlt. Außer Ehrhardt und mir nahm Bankier Kopf noch an der Reiſe teil. Als wir uns am anderen Morgen auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof trafen, war Ehrhardt niedergeſchlagen und zerſtreut. Das war nichts Neues. Seit ſeiner Verlobung ſchien er zeit⸗ weilig aufgeraͤumter, ſeine ſchwerbluͤtige Gemuͤtsver⸗ anlagung aber verdunkelte den aufflackernden Frohſinn ſtets von neuem. An jenem Morgen achtete ich auf ſeine truͤbe Verſtimmung abſichtlich nicht. Auf der Fahrt von Stuttgart nach Friedrichshafen ſchien er verduͤſterter als bei der Begruͤßung auf dem Bahnhof. Kopf ſuchte ihn durch einige ſeiner uͤblichen Witzeleien aus der Ver⸗

Von Th. L. Seemann 117

ſunkenheit aufzuruͤtteln, aber er ſchien das Geſpoͤtt gar nicht zu hoͤren. Der Zug durchfuhr das liebliche Gelaͤnde hinter Eßlingen: bunt bluͤhende Wieſen, gruͤne Waldhuͤgel, rotbraune Weinberge, graue Kirchturm⸗ vierecke, Dorfidyllen, von buſchigen Obſtbaͤumen um⸗ ſaͤumt, einladende weiße Gaſtwirtſchaften, trauliche Arbeiterhaͤuſer, betriebfame, vielſcheibige Fabrikgebaͤude, manchmal ſauberen Villen aͤhnelnd, zuweilen mit feu⸗ rigen Geranien auf den Fenſterſimſen.

„Stopp mit der Grillenfaͤngerei, Freund Hans. Dazu iſt es wirklich zu ſchoͤn draußen,“ ſagte ich.

Ehrhardt raffte ſich auf. Die Lieblichkeit der Land⸗ ſchaft uͤberſonnte ſeinen Truͤbſinn. Er fing an zu plau⸗ dern und ſchmunzelte mitunter ſogar bei Kopfs ſpaßigen Bemerkungen. Das lachende Tal von Geislingen tat ſich auf. Laubige Bergbuckel flogen ſeitlich voruͤber; blaͤulich umhuͤllte Durchbruͤche oͤffneten ſich, graſige Baumgaͤrten, vertraͤumtes Gebuͤſch, uͤppige Wieſen⸗ ſprengel ſchraͤgten ſich in die Senke hinab. In ihr draͤngte ſich mit verwitterten, roten, ſchieferblinkenden Daͤchern enggaſſig die alte Hohenſtaufenſtadt.

„Ehrhardt, wie wird es um dieſe Zeit uͤbers Jahr ſein?“ ſagte ich. „Da werden Sie die Hochzeitsreiſe mit Herta machen. Wird Ihnen bei dem Gedanken nicht ganz wunderbar zumute?“

Er reckte die Bruſt heraus. Seine ſchwarzen Augen gluͤhten ſeltſam in innerer Glut; ſein gelbliches Geſicht uͤberflutete roſiger Schimmer. „Ja,“ rief er beſtimmt, „hier wird unſer gemeinſamer Weg voruͤbergehen, oder uͤberhaupt nicht.“

Er wurde lebhafter. Befremdender Galgenhumor blitzte durch ſeine Worte. Überſtuͤrzt erzählte er von Zukunftsplaͤnen nach der Verheiratung, vom Ankauf

\ 118 Der Tod auf der Fahrt

einer Villa, der Errichtung einer chemiſchen Fabrik und der Ausbeutung einer arzneilichen Erfindung, die ihm eine Million bringen muͤſſe. Dazwiſchen lachte er hohl; gewaltſam, wie mich duͤnkte. Die erzwungene Heiterkeit befremdete mich an ihm.

Wir fuhren mit dem Eilzug, der auf der Strecke von Geislingen nach Ulm nicht anhaͤlt. Wider den Fahrplan kam es hinter Geislingen bei der Station Lonſee zu laͤngerem Aufenthalt. Pfiffe ſchrillten, dann gab es einen Ruck; ein Wagen war angehaͤngt worden. Bisher war unſerer der letzte geweſen. Wir freuten uns von der laͤſtigen Durchſchuͤtterung befreit zu ſein. Kurz nach der Weiterfahrt durchſchritt der Schaffner den Zug.

„Weshalb iſt der Wagen angehaͤngt worden?“ fragte ihn Ehrhardt.

„'s iſch a Leichawaga. Der nach Ulm goht.“

„Ein Leichenwagen?“ Ehrhardts Geſicht bedeckte ſich mit fahler Blaͤſſe. „Hier hinter uns liegt eine Leiche?“

Kopf zerſchnitt ſich einen Apfel. „Alſo der Tod auf der Fahrt,“ ſagte er kauend, „das iſt keine gute Vorbe⸗ deutung. Bei jeder Gebirgstour zu dreien muß einer daran glauben, ſagt man. Ich bin in der Unfallver⸗ ſicherung. Sie, Doktor,“ wandte er ſich an mich, „find als Dichter ja unſterblich. Bleiben alſo nur Sie uͤbrig, Ehrhardt. Oder ſollte Ihre Erfindung, von der Sie vor— hin ſchwaͤrmten, das Kraͤutlein ſein, das gegen den Tod gewachſen iſt?“

Ehrhardt ſah den Bankier mit flackerndem Blick an. Mit beklemmender Geſpanntheit befragte er den Schaff: ner uͤber den Toten. Es ergab ſich, daß unſer toter Fahr⸗ genoſſe ein Chemiker aus Ulm war, der auf einer Fahrt zu ſeiner Verlobten verungluͤckte. Aus irgendeinem

Don Th. L. Seemann 119

Grunde hatte bei einer Biegung der Straße die Steue⸗ rung verſagt und das Auto war den Abhang hinunter: geſauſt, der Fahrer konnte ſich durch einen Sprung noch retten, der Chemiker aber ſtuͤrzte mit dem Kraft⸗ wagen um. Mit eingedruͤckter Bruſt zog man ihn unter dem zerſchellten Gefährt hervor.

Auch mir war die Vorſtellung unbehaglich, daß uns auf dieſer Erholungsreiſe ein Menſch begleitete, der plotzlich dem ſchaffenden Leben entriſſen war. Fluͤchtig beklemmte mich der Gedanke: der Tod folgt uns auf den Ferſen. Ich verſcheuchte die peinigende, un gewiſſe Vorſtellung als bedeutungsloſen Zufall raſch genug. |

Anders Ehrhardt. Auf feine blaffe Stirn traten Schweißperlen. Er ſchlug die hageren Finger vors Geſicht, es ſchien, als ſtoͤhnte er: „Alſo doch!“

Kopf blieb unberuͤhrt. Gleichmuͤtig entkorkte er die halbe Flaſche Lafitte, ließ den Wein in den Zinnbecher gluckſen und ſagte launig: „Sehn Sie, Ehrhardt, das iſt das wahre Lebenselixir.“

Ehrhardts Stimmung heiterte ſich nicht wieder auf. Teilnahmlos ließ er waͤhrend der Dampferfahrt von Friedrichshafen nach Bregenz des gruͤnen Bodenſees Ge— ſtade voruͤbergleiten. Sonnenbeglaͤnzt lagen die feſttaͤg⸗ lich prangenden Staͤdtchen in der ſchimmernden Luft uͤber dem ſtahlblanken Seeſpiegel. Koͤſtliche Gaͤrten mit bluͤhenden Roſenbuͤſchen, leuchtenden Sonnenblumen, tiefblauen Paſſifloren, ſcharlachroten Gladiolen leuch⸗ teten in prunkendem Farbengewirr heruͤber. Hell⸗ gleißende Ziervillen mit japaniſchen Bootshaͤuſern gruͤß⸗ ten wie Zufluchtſtaͤtten gluͤckſeligen Friedens. Lichte Wieſenbreiten, durchſetzt von tiefſchattigen Baumwipfel⸗ runden, flimmerten im blitzenden Sonnenglaſt. Bre⸗

120 Der Tod auf der Fahrt

genz, auf ſchmalem Flachſtrand in den See hinausge⸗ ſchoben, tauchte auf. Der ſchroffe Bergzug dahinter, das Felsgrau mit dunklem Forſt umflort, lag ſchwer und ernſt vor uns. Wir blieben in Bregenz, bis es daͤmmerte. Ehrhardt erſchien allmaͤhlich gefaßter. Dann fuhren wir im Tal der Ache hinauf nach Egg. Rauſchend zwaͤngte ſich der glasgruͤne, ſtuͤrmende Fluß durch tannen⸗ umhegte Steilufer, umklammerte mit rieſelnden Adern wirr aufgehaͤufte Bloͤcke, dehnte giſchtende Waſſer uͤber das verbreiterte Geroͤllbett und wuͤhlte ſich unwillig zwiſchen beengenden Felsquadern in die ausgeſchuͤrfte, uͤberſchaͤumende Flutrinne.

Gegen neun Uhr trafen wir in Egg ein und ſuchten N den buͤrgerlich⸗behaͤbigen Gaſthof zur Poſt auf; nur zwei Zimmer waren noch frei, aber gegenuͤber, in dem dazu gehoͤrigen Bau, konnten wir nach Belieben waͤhlen. Ehrhardt entſchied ſich, dort zu wohnen. Er ſuche die Stille, ſagte er. Lange ſaßen wir noch nach dem Eſſen beiſammen, der Terlaner mundete trefflich; Ehrhardt trank gegen ſeine Gewohnheit raſch und viel. Er wurde geſpraͤchig, redete von Ahnungen und Vorzeichen und ſchrie, mit dem Glaſe anſtoßend, ſchließlich ſei dies alles nichts als leerer Wahn. Kopf ſah ihn halbſeits an, rieb ſich die Naſenſpitze und ſagte mit unverhohlenem Spott: „Ich gebe auf Ahnungen und Vorzeichen viel, ungeheuer viel. Darin bin ich geradezu ſtrengglaͤubig. Genuͤtzt haben ſie mir zwar noch nie, aber auch nicht geſchadet. Alles Überſinnliche erfuͤllt ſich wider Erwarten des geſunden Menſchenverſtandes naͤmlich. Sie, Ehrhardt⸗ chen, ſind als chemiſch gereinigter Naturwiſſenſchaftler unglaͤubig. Sie trumpfen mit Ihrer nuͤchternen Frei⸗ geiſtigkeit auf, aber Sie werden ſehen, die Vergeltung fuͤr dieſen Frevel bleibt nicht aus. Geben Sie acht, auf

Von Th. L. Seemann 121 Sie ſauſt ganz ſicher noch das an dem bewußten Haar haͤngende Schwert des Damokles herab.“

Als wir uns nach elf Uhr trennten, ſchien es, als ſei

Ehrhardt nicht mehr ganz trittfeſt.

.

Heute waren es zwei Jahre, daß wir von Stuttgart abfuhren. Mein Blick ſchweifte vom Schreibtiſch zum Abreißkalender, und das Datum rief die Erinnerung an die Reiſe nach Egg und ihre geheimnisvollen Ereigniſſe in mir wach.

Ich holte mir aus einem Schubfach des Schreib— tiſches die angſtdurchzitterten Aufzeichnungen Ehrhardts aus jenen Reiſetagen, die ich mir als wertvolle Zeug— niſſe ſeeliſcher und geiſtiger Verwirrung ausgebeten hatte. Von neuem vertiefte ich mich in die loſen Blaͤtter. Die erſte Notiz ſtammte vom dreizehnten Juli, fuͤnf Tage nach unſerer Ankunft in Egg. Ich las:

„Ich ertrage es nicht mehr; ich muß mich entlaſten. Warum mußte ich in der Nacht vor unſerer Abfahrt den entſetzlichen Traum haben? Von da an folgte ein be: aͤngſtigendes Vorzeichen dem anderen. Wird mich wirk⸗ lich auf dieſer Fahrt der Tod ereilen? Zu meinen Reiſe⸗ gefaͤhrten kann ich uͤber meine furchtbare Angſt, meine ununterdruͤckbaren Beklemmungen nicht ſprechen. Kopf witzelt oͤde. Karmann wuͤrde meine Ahnungen und Erlebniſſe auf ihre Hinfaͤlligkeit oder Richtigkeit hin zergliedern. Er faͤnde kein Ende, finge ſtets von neuem an; ſtatt mich zu beruhigen, wuͤhlte er mich nur tiefer auf.

Ich muß mich ſchriftlich erleichtern. Oh, der Traum! Herta erſchien mir im weißen Brautkleid. Begluͤckt ſah ſie mich an, ich ſchritt beſeligt auf ſie zu, ſtreckte die Arme nach ihr aus, da wandelte ſich das lichte Braut:

122 Der Tod auf der Fahrt

kleid zu einem ſchwarzen Trauergewand. Der Boden wankte unter mir, ich verlor die Beſinnung und hatte das Gefuͤhl, daß ich in endloſe Tiefen ſtuͤrzte, unrettbar ſtuͤrzte in einen jaͤhen Abgrund.

Auf der Fahrt war ich innerlich ruhiger geworden, da haͤngte man in Lonſee den Leichenwagen an. Jede Faſer in mir bebte und zitterte, als mir der Schaffner den Unfall ſchilderte. Entſetzlich. Ein bluͤhender Mann, mir im Beruf verwandt, faͤhrt frohgeſtimmt zu ſeiner Braut. Ein Stoß, ein Sturz, und er hat ſeinen letzten Atem verhaucht. Eiſiges Grauſen fiel mich an. Ein zweites Vorzeichen! Der Gedanke fraß ſich in mich hinein: der Tod iſt hinter dir auf der Fahrt! Wir waren unterwegs, uns ſorglos in der lockenden Ferne zu vergnuͤgen, und hinter uns lag bleich und tot das Opfer eines grauſamen, ſo unfaßbaren als unerbittlichen Verhaͤngniſſes. Deutlich ſah ich mit offenen eigenen Augen das fahle Geſicht, die ſtarr ausgeſtreckte Geſtalt vor mir. Wie Stöhnen klang das ſtoßweiſe Achzen und ratternde Raſſeln des Leichenwagens in meinen Ohren. Ich verſtand es. Er jagte mir nach der Tod.

Ob mich die verhaltene Seelenqual abſtumpfte? Ich kann es nicht ſagen; aber in Egg loͤſte ſich der Druck. Ich betaͤubte den Reſt meiner Angſt in Wein; ich ſpoͤttelte uͤber den Glauben an Vorzeichen, Ahnungen und Traͤume, faſt ſchien es, als ſei ich frei von aller Furcht und be⸗ klemmenden Gefuͤhlen. Ich muß zu viel getrunken haben, aber ich ſchritt mit trotzigem Bewußtſein, mich

nicht weiter quaͤlen zu wollen, meiner Wohnung zu.

Ein praͤchtiger Anblick ward mir am naͤchſten Morgen vom geoͤffneten Fenſter. Graugruͤne Bergruͤcken, von hellgruͤn leuchtenden Matten und ernſten Waldinſeln beſtreut, mit heimeligen Meierhoͤfen, dehnten ſich unter

Von Th. L. Seemam 123

=

dem blauen Himmelsraum. Feinfedrige Wolken brei- teten geruhig ihre weißen Fittiche. Wohlige, wuͤrzige Luft ſtroͤmte durchs Fenſter. Im huͤgeligen Wieſen⸗ grund ſchliefen, regellos verteilt, die Schindel dachhaͤuſer in vertrauender Geborgenheit, ungeſtoͤrt von dem unruhigen, zornigen Rauſchen der Ache. Die Emp⸗ findung: hier geneſe ich, erfuͤllte mich mit Ruhe.

Der erſte Schritt aber, den ich auf die Straße tat, erſchreckte mich von neuem. An der gruͤnen Haustuͤr grinſte mich ein weißes Schild mit der drohenden Auf- ſchrift an: Doctor medicinae universalis Feuerstein. Warum mußte ich dort wohnen, wo die vom Tod in hundert Formen Verfolgten zagend und hoffend Hilfe ſuchten? War das nicht ein erneutes uͤbles Vorzeichen? Spaͤter erfuhr ich, daß der Arzt des Ortes erſt am Tage vor meiner Ankunft ſein Sprechzimmer hierher verlegt hatte.

Als ich in das Speiſezimmer der ‚Poft‘ hinuͤberkam, ſaßen Karmann und Kopf beim Kaffee. Mein Gedeck lag an der Schmalſeite der Tafel; unmittelbar davor ſtand in einem dunkeln Majolikagefaͤß eine ſchwarz⸗ gruͤne ſchwermuͤtig ſtimmende Araukarie. Nie konnte ich dieſe verkuͤmmerten Zwergbaͤumchen leiden. In ihrer lebloſen Starrheit, den duͤſter-gruͤnen Zweig⸗

wirteln erinnerten fie mich immer an die Grabzypreſſen

auf den Kirchhoͤfen. Warum ſtand der Topf vor mir, warum nicht vor den beiden behaglich ſchluͤrfenden Reiſegefaͤhrten? Sollte auch das eine Mahnung ſein? Wortlos nahm ich das Fruͤhſtuͤck zu mir, faſt widerwillig, ich zwang mich dazu, nur um keine Fragen zu hoͤren, ob es mir nicht gut ſei, ob ich ſchlecht geſchlafen. Es war vereinbart worden, daß jeder ſeinen Tag verbringen konnte, wie es ihm gefiel. Nur zu den Mahlzeiten

124 Der Tod auf der Fahrt

und auch da nur, wenn es anging wollten wir zu: ſammentreffen. Am zweiten Tag erſt wollte ich mir die naͤhere Umgebung Eggs anſehen. Gemaͤchlich ſtieg ich den Weg, der nach Großdorf fuͤhrt, empor. Ziemlich auf der Höhe ſtand auf einem Pfahl ein Schild mit dei Inſchrift: An dieſer Stelle wurden vom Jahre 1400 bis 1807 die Verbrecher hingerichtet. Ich wollte mich um den Eindruck weiter nicht kuͤmmern, aber ich blieb ſtehen und ſtarrte die Buchſtaben an, ſuchte am Boden nach Reſten von Mauerwerk, wie ſie mir aus meinem Heimat⸗ ort erinnerlich waren, denn auch dort ſtand vor den Toren ein ehemaliger Rabenſtein. Geſpraͤche, die ich in meinen Knabenjahren zu hören bekam, fielen mir ein mein Großvater hatte als halbwuͤchſiges Kind noch die letzte oͤffentliche Hinrichtung mit dem Schwert erlebt meine Gedanken kreiſten um Galgen und Rad. Mitten in dieſem herrlichen Naturfrieden ſah ich das Blutgeruͤſt aufragen, ſah, wie der Zug mit dem gefeſſelten Verurteilten ſich unter den Bittgeſaͤngen der Menge heraufbewegte, ſah wie ihn der Nachrichter empfing, und ich ſah Soll ich all das Graͤßliche auch noch in Worte zu faſſen ſuchen und ausmalen, was mich eine gewiß kranke Empfindſamkeit in dieſen Stunden fuͤhlen und denken hieß? Auch hier wirkt ein mir unverſtaͤndlicher Zwang; ich kann nicht anders. Vor mir lag das uͤppige Gras blutrot, Seufzer fliegen aus ihm empor, als de Wind daruͤber ſtrich. Ich gedachte jener harten ver gangenen Zeiten, da fuͤr die Juſtiz das Schwert locker ſaß und den Nacken fuͤr Nichtigkeiten durchſchlug. Waren ſie alle ſchuldig, die hier ihren letzten Atem gepeinigt und gemartert verhauchen gemußt? Traf es nicht in den Tagen des Zauberglaubens, des Hexenwahns und der Folter zahlloſe Unſchuldige?

Von Th. L. Seemann 125

Wie lange ich gruͤbelte, kann ich nicht ſagen. Ein kraͤchzender Rabe weckte mich aus ſchmerzlichem Bruͤten. Gewiß war er ein Nachkomme derer, die vor Jahr⸗ hunderten ſchon auf dieſer Blutſtaͤtte lebten. Sollte dies abermals bedeutungsvoll ſein?

Es begann zu naͤſſeln; dann tropfte es ſtaͤrker, im vollen Regen kam ich im Gaſthaus an.

Bei der Mittagstafel ſtand die widerliche Araukarie wieder vor mir. An den Plaͤtzen der übrigen Tiſchgaͤſte prangten Ramblerroſen in Glaͤſern. Waͤhrend der Mahl⸗ zeit goß es in Stroͤmen, und auch fuͤr die folgenden Tage hielt der Regen an. Die truͤbe Witterung verſtimmte mich nicht, ſie wirkte beruhigend.

Heute morgen machte mich ein liebes Schreiben von Herta ſehr gluͤcklich.“

Der Brief, dem ein feiner Reſedaduft anhaftete, lag noch bei den Aufzeichnungen Ehrhardts. Die Braut bat ihn, nicht alles ſo ſchwer zu nehmen, vor allem nicht auf ſchlechte Traͤume ſo viel zu geben und nicht von jeder Kleinigkeit ſchlimme Folgen zu erwarten, denn auch die vermeintlich geheimnisvollſten Vorzeichen und Ahnungen, von denen er ſo oft geſprochen habe, ließen ſich natuͤrlich genug aufloͤſen. Mit klugen und lieben Worten bat ſie ihn, aus geringfuͤgigen Zufaͤlligkeiten keine tiefere Bedeutung zu ergruͤbeln. Je mehr man daruͤber nachdaͤchte, deſto befangener muͤſſe man werden.

Sr

Die naͤchſten Aufzeichnungen Ehrhardts trugen als Zeitangabe den neunzehnten Juli: „Es regnet unauf— hoͤrlich. Meine heitere Zuverſicht iſt dahin. Von neuem melden ſich unheimliche Zeichen. Karmann und Kopf wollen nicht mehr hier bleiben. Vor drei Tagen war ich im Schwimmbad. Ich fuͤhlte mich außer:

126 Der Tod auf der Fahrt

2 m 1

ordentlich wohl. Als ich nach dem Baden die An— kleidezelle betrat, lag auf dem Boden ein kleines ſilbernes Kreuz aus Papiermaſſe. Wie mochte es dahin kommen? Ich moͤchte beſchwoͤren, daß es noch nicht da lag, als ich mich auszog. Solche Kreuze ſieht man hier auf den Graͤbern.

Umlauert mich doch der Tod?

Um allein zu ſein, ging ich nach dem Bahnhof. Dort traf ich die Leute in Unruhe; man fuͤrchtete ein weiteres Steigen der Ache. Sie iſt ein falſches, heimtuͤckiſches Gewaͤſſer. Wenn ſie noch hoͤher ſtieg, mußte ſie den Bahn⸗ damm uͤberſchwemmen und zerreißen. In der Nacht hatte ſie ein Loch in den Damm gewuͤhlt; man erwartete mit aͤngſtlichen Bedenken den naͤchſten Zug. Als wir nach Egg herauffuhren, war mir das wilde Waſſer ſchon verdaͤchtig erſchienen. Das Bahngleis laͤuft an ihrem rechten Ufer hin; lauernd rauſchte ſie neben uns. Auf der anderen Seite des ſchmalen Gleiſes ſchrofft ſich der Felshang auf. Auffallende Schutzſicherungen gegen Felsrutſche und Steinſchlag wechſeln nacheinander ab. Wenn der Regen lange anhaͤlt, koͤnnten ſich wohl ganze Maſſen des Gebirges loͤſen und den Bahndamm mit einem der Zuͤge unter niederbrechenden Bloͤcken haus⸗ hoch vergraben.

Geſtern glaubte ich eines der mahnenden Vorzeichen beſeitigt zu haben. Vor dem Mittageſſen das Speiſe⸗ zimmer war noch leer gab ich dem Topf mit der duͤſteren Araukarie einen Stoß. Sie fiel vom Tiſch und zerbrach. Ich habe mich entſchuldigt und den Schaden bezahlt. Am Abend erſchrak ich von neuem; vor meinem Platz ſtand in einem Glaſe jene aufdringliche, gelbe Blume, die man Wucherblume oder Ringelblume nennt, in meiner Heimat heißt man ſie Totenblume.

Von Th. L. Seemann 127

Kathrein, das Stubenmaͤdchen, iſt ein niedliches aber naͤrriſches Weſen. Sie brachte mir Raſierwaſſer und erzaͤhlte, daß es im Hauſe nicht geheuer ſei. Zu Zeiten ſaͤhe man ein kleines ſchwarzes, vollbaͤrtiges Ge⸗ ſpenſt, wem es erſchiene, der muͤſſe ſterben. Ich ſpottete ſie aus; ſie blieb aber bei ihrem Glauben.

Der wahre Grund ihrer Geſpenſterfurcht iſt wohl dieſer: es iſt ihre Pflicht, für die Nacht einige Lampen im Treppenflur anzuzuͤnden; ſie vergißt es aber oft. Die laͤßlichſte Ausrede fuͤr ihre Vergeßlichkeit iſt die laͤcherliche Furcht vor dem todverkuͤndenden, ſchwarzen Hauskobold. Das dumme Ding! Ich finde meinen Weg in dem ſtillen Haus ſchließlich auch im Dunkeln. Bis jetzt bin ich dem unheilvollen Wichtelchen mit dem rauhhaarigen Bart nicht begegnet.“

ö

21. Juli.

Geſtern abend ſtand es ſchlimm um mich. Ich nahm mir gegen Schlafloſigkeit Chloralhydrat und gegen die laͤſtigen Nervenſchmerzen, die mich manchmal quaͤlen, Morphiumpulver mit. Ich fuͤhlte, daß ich die Nacht ſchlaflos verbringen wuͤrde, und wollte ein Schlaf— pulver nehmen. Die Einzeldoſen des Chloralhydrats hatte ich in weiße, jene des Morphiumpulvers in rote Papierbeutel geſchuͤttet. Als ich das Chloralhydrat in das Waſſerglas gab, fiel mir das Ausſehen der Pulver: maſſe auf. War das wirklich Chloralhydrat? Ich koſtete; es war Morphium! Haͤtte ich die große Menge eingenommen, ſo waͤre mir das Ende gewiß geweſen.

Ich muß die Beutel verwechſelt haben. Wie das geſchehen konnte, iſt mir unbegreiflich. Ich bin ſonſt ſo e e, bis zur aͤußerſten Peinlichkeit.

Der Tod ſoll mich nicht uͤberliſten.“

128 Der Tod auf der Fahrt

24. Juli. „Es regnet nicht mehr, es gießt wolkenbruchartig ununterbrochen. Meine Reiſegefaͤhrten wollen nach Bregenz zuruͤck und von dort nach Vorarlberg hinauf⸗ fahren. Dort ſollte das Wetter guͤnſtiger ſein.

Vorgeſtern ging ich wieder zum Bahnhof. Die Ache war noch hoͤher angeſchwollen, der erwartete Zug ausgeblieben. War das Ungluͤck ſchon geſchehen? Ein Beamter erzaͤhlte, ein Felsblock ſei knapp vor dem Zug auf die Schienen geſtuͤrzt. Der unaufhörliche Regen weiche die Berghaͤnge auf. Eine Minute fruͤher, und die Felsmaſſe mußte gegen den Zug prallen; eine Ent⸗ gleiſung waͤre ſicher geweſen, und in der angeſchwollenen Ache waͤren alle ertrunken. Das Felsſtuͤck mußte ge⸗ ſprengt werden.

Wenn es weiter regnet, werden Bergſtuͤrze unaus— bleiblich fein. Wir muͤſſen über dieſe Strecke zuruͤck.

Kathrein, das einfaͤltige Maͤdchen, ſchien mit ihrem toͤrichten Aberglauben doch recht zu haben. Bis uͤber elf Uhr war ich mit Kopf und Karmann zuſammen ge⸗ blieben; als ich mein Zimmer aufſuchte, brannte wieder kein Licht auf den Treppenabſaͤtzen. Die Haustlire war offen.

Auf dem Flur vor meinem Zimmer huſchte in der von der Straßenlampe gelblich durchſchimmerten Finſter⸗ nis eine kleine, dunkle Geſtalt auf mich zu. Unwillkuͤrlich hielt ich den Schritt an.

Was war das? Ich mußte an den geſpenſtigen Haus⸗ kobold denken, der jedem, dem er begegnet, den Tod ver⸗ kuͤnden ſoll. Ich wollte ihn abwehren, er taſtete ſich an meinen Beinen empor. Ich griff nach ihm, fuͤhlte einen groben Haarwulſt in den Fingern, ſtieß ihn von mir und ſtuͤrzte zitternd in mein Zimmer. Mit bebender

Von Th. L. Seemann 129

Hand drehte ich den Schluͤſſel zweimal im Schloß. Ich var gluͤcklich, Morphium und Chloral bei mir zu haben, denn die Nacht waͤre mir in endloſen Angſten und quaͤ⸗ lenden Traͤumen vergangen. Am Morgen erwachte ich zerſchlagen und froͤſtelnd. Das Unterlaken war feucht von Nachtſchweiß. |

Als ich zum erſten Fruͤhſtuͤck nach der, Poſt' hinüber: ging, lief mir ein junger, zottiger Koͤter nach. Er bellte, umſprang mich freundlich wedelnd, als ſei ich ihm be: kannt. Der Hausdiener ſagte mir, daß der junge Toͤlpel dem Doktor gehoͤre; der habe ihn geſtern erſt gekauft. Am Abend ſei er davongelaufen und in der Fruͤhe ſei er vom Dachboden herunter gekommen. Dort habe er wohl die Nacht verbracht. Das alſo war mein wirr: baͤrtiger Hauskobold. Ich lachte ſo laut, daß mich der ſchwerfaͤllige Hausburſche verdutzt anſtierte. So ver⸗ fluͤchten ſich Vorbedeutungen zu Laͤcherlichkeiten. Es ſoll mir zur Lehre und Ermutigung dienen.“

N 28. Juli. „Karmann und Kopf reiſten heute ab. Sie fuhren nach Bregenz zuruͤck und wollen von dort nach Innsbruck. Elender koͤnne das Wetter da auch nicht ſein.

Hier rauſcht es unaufhoͤrlich und gleichmaͤßig vom grauumzogenen Himmel, alles trieft. Noch hoͤher als in den letzten Tagen ſchwoll die Ache an. Meine beiden Bekannten wollten mich durchaus uͤberreden, mit ihnen zu kommen. Ich mußte bleiben; zu ſtark war das war⸗ nende Gefuͤhl in mir. Gab ich ihnen nach, ſo waͤre auf dieſer Fahrt das Furchtbare unvermeidlich geweſen. Die Steilhaͤnge neben der Bahn ſind ſtaͤrker noch, als ſchon vor Tagen durchweicht. Bei der leiſeſten Erſchuͤtterung koͤnnen große Teile der Bergmaſſen niederſtuͤrzen. Auch

1916. X. 9

wenn alle unverletzt blieben, mir war es gewiß nicht beſtimmt. Nur ein Steinkeil brauchte durch das Fenſter zu ſchlagen, um mich toͤdlich zu treffen. Schon vor Tagen, als ich von der Zugverſpaͤtung durch den Fels— ſturz hoͤrte, ſchwor ich mir, die Warnung nicht zu ver: geſſen. Nicht nur meinetwegen, mehr noch um Hertas willen gelobte ich mir Vorſicht. Ich mußte es abweiſen, auf der gefaͤhrdeten Strecke nach Bregenz zuruͤckzu⸗ kehren. Ich will den Tod nicht ſelbſt herausfordern. So brauchte ich denn Ausfluͤchte und klagte uͤber Schmerzen an jenem Tage und blieb zuruͤck. Daß wir uns wieder treffen wollten, vielleicht ſchon gegen Ende der Woche, war alles, was ich verſprechen konnte. Wenn die Bahn⸗ ſtrecke ſicherer ſein wird, fahre ich nach Bregenz und von dort nach Feldkirch. Regnet es weiter, ſo will ich uͤber den Loſen bis Dornbirn wandern.

Ich bin gluͤcklich, Karmann und Kopf nicht mehr hier zu ſehen. Ich brauche meine innere Unruhe nicht mehr zu verbergen. In den letzten Tagen des Allein— ſeins fuͤhlte ich mich ruhiger, trotz aller truͤben Ge— danken, denn heute verlebte ich wieder aufregende Stunden. Ich bin in der Badeanſtalt geweſen. Ganz allein. Wer ſollte bei dieſem naßkalten Wetter auch baden. Die Holzbohlen waren durch die Feuchtigkeit ſchluͤpfrig geworden, ich glitt aus, hielt mich aber zum guten Gluͤck noch aufrecht. Wäre ich geſtuͤrzt, ſo mußte ich unfehlbar mit dem Kopf auf die ſcharfe Steinkante, die den großen Schwimmraum umzieht, aufſchlagen. Bewußtlos, betaͤubt, mußte ich ins Waſſer fallen und ertrinken. Ich uͤberzeugte mich, daß kein Menſch in der Naͤhe war, der mich retten konnte. In der Zelle fuͤhlte ich dumpfbrennende Schmerzen an der Stirn, Ich griff nach dem Spiegel.

Von Th. L. Seemann 131

O2

m

Quer über die Stirn zog fich ein ſchmaler, blutroter Strich. Meine Haͤnde zitterten, der Streifen erſchien unter den Augen. Ich bemerkte, daß der Queckſilber⸗ belag abgeſchabt war; die innen rotbeklebte Pappwand des Spiegels ſchimmerte durch das blanke Glas und taͤuſchte das rote Zeichen vor. Das war natuͤrlich genug erklaͤrt. Aber lag nicht trotz allem in der Verkettung der einzelnen Umſtaͤnde abermals eine Vorbedeutung? Warum mußte ich ausgleiten, warum die Vorſtellung auftauchen, daß ich bei einem Fall mit dem Kopf auf: ſchlagen konnte, woher kam der unerklaͤrliche Schmerz auf der Stirn, und warum fuͤhrte mich der Zufall gerade in die Auskleidezelle, wo der beſchaͤdigte Spiegel hing? Zufall? Es gibt keinen Zufall!

Als ich angekleidet war, ſah ich die Spiegel in allen Zellen an; keiner zeigte den an Blut erinnernden roten Riß.“

1. Auguſt.

„Heute ermutigte mich ein zweiter Brief, der von Herta kam; ſie ſchrieb mir ſo lieb und klug, troͤſtete mich uͤber alle duͤſteren Bedenklichkeiten und hoffte, mich bald erholt und leichter geſtimmt wiederzuſehen. Ich wollte ihn dieſen Blaͤttern einfuͤgen, verlor ihn aber durch Un⸗ achtſamkeit noch am gleichen Tage. Auf dem Weg nach Andelsbuch las ich ihn nochmals, ſchob ihn in die Bruſt⸗ taſche, und muß ihn vorbeigeſteckt haben. Als ich den Verluſt bemerkte, kehrte ich um und ſuchte den ganzen Weg ſorgfaͤltig ab. Vergeblich. Es tut nichts, denn ich behielt ja die lieben Zeilen faſt woͤrtlich im Gedaͤchtnis. Herta fuͤhlte aus meinem letzten Briefe meine unſagbar gedruͤckten Zuſtaͤnde heraus, ſonſt haͤtte ſie nicht ſchreiben koͤnnen: Hans im Gluͤck, du ſcheinſt nicht nur im Naſſen

132 Der Tod auf der Fahrt

zu patſchen, ſondern auch Truͤbſal zu fiſchen. Ich ſitze froͤhlich in meinem Stuͤbchen und ſticke eitlen Sonnen⸗ ſchein in die Fenſtervorhaͤnge unſeres kuͤnftigen Heims. Sei du gleichfalls ſonnenfroh, auch wenn es außer dir truͤbe iſt. Aus graueſtem Nebelkummer bricht doch immer wieder die Sonnenfreude.

Das liebe Maͤdchen!“

6. Auguſt.

„Nun bin ich anderthalb Wochen allein. Heute kam eine Karte von meinen Reiſegefaͤhrten. Sie dringen darauf, daß ich endlich nach Feldkirch hinuͤberkomme. Vier Tage wollten ſie noch auf mich warten, kaͤme ich bis dahin nicht, ſo wuͤrden ſie mich wie Karmann, ſeiner Meinung nach, witzig ſchrieb meiner Ver⸗ kommenheit uͤberlaſſen. In Feldkirch ſei alles blau wie der Himmel. Die Plattheit ihrer Spaͤße ſtimmt mich traurig. Niemand verſteht meinen Zuſtand; ich muß alles allein tragen.

Noch immer regnet es hier, zwar nicht mehr ununter⸗ brochen, aber doch noch laͤſtig genug. Trotzdem ſoll es bei meinem Vorſatz bleiben. Ich will von hier gehen, aber die Bregenzerwaldbahn benuͤtze ich nicht. Nie und nimmer. Über die Berge fort will ich nach Dornbirn wandern. Ich bin nun gewarnt genug, um wach— ſam zu ſein.“

9. Auguſt.

„Ich bin gluͤcklich in Feldkirch. Meine Bekannten empfingen mich mit ehrlicher Freude. Kopf wird ſein. Witzeleien nie laſſen.

Unbewußt traf er das Richtige, als er ſagte, er habe kaum gehofft, mich lebend wiederzuſehen. Oder hatten

Von Th. L. Seemann 133

ſich die Maͤchte uͤber mir dieſes loſen Mundes als eines ſcherzenden, aber ernſten Mittlers bedient?

Mich wird niemand uͤberzeugen, daß es nicht doch Kraͤfte gibt, Geiſter, die in unſer Leben einzugreifen ver⸗ moͤgen, wenn uns auch nicht moͤglich iſt, daruͤber jemals klar zu werden. Vielleicht ſage ich beſſer, daß fie einzu: greifen verſuchen. Allmaͤchtig ſind ſie nicht alle. Nach meinem Urteil, wie auch nach meinen Erfahrungen gibt es unbezweifelbar Geiſter, die die Edelſten und Hoͤchſt⸗ ſtrebenden an der Erreichung ihrer Ziele zu hindern trachten. Dafuͤr gaͤbe es Beiſpiele genug. Wie ſollte es ſonſt moͤglich ſein, daß den Beſten und Reinſten ſo viel mißlingt, oft ein ganzes Leben hindurch, indes den Niedrigen und Gemeinen alles ſpielend geraͤt? Es muͤſſen uͤberweltliche Geiſter am Werk ſein, die kleinlich find, haͤmiſch, hinterliſtig, boͤs willig und ſchadenfroh. Warum wohl? Weil die große Mehrzahl der Menſchen, deren geiſtiger Gehalt ſie einſt waren, nicht anders beſchaffen ſind. Die guten Geiſter im Jenſeits? Es ſind die Wenigen, wie die guten Menſchen auf Erden. Warum aber helfen ſie trotzdem den Redlichen nicht? Weil die Guten ihrer Natur nach ſchlaff ſind? Weil ſie uͤber die Kuͤmmerniſſe der Welt hinausgewachſen ſind? Hundertmal mußte ich ihnen grollen! Regt auch ihr euch, wie die boͤſen, ihr guten Geiſter. Das iſt euere Pflicht!

Ich ſchrieb, daß ich gluͤcklich in Feldkirch bin. Nicht grundlos. Von Egg wanderte ich uͤber Schwarzenberg und den Loſen nach Dornbirn und fuhr von dort mit der ſicheren Arlberg bahn nach Feldkirch.

Auch auf dieſem Weg ſtellte mir der Tod nach. Auf dem Hoͤhenweg, an einem grasbewachſenen Rand, wo ſich der Felshang ſteil in den Abgrund ſenkt, machte ich

Der Tod auf der Fahrt

u

kurz halt. Von den blaugruͤnen Waldflanken loͤſten ſich weiße Dampfſchaͤume ab. In wunderbarer Klarheit hoben ſich die gelblichen Felsſchroffen, die dunkelgruͤnen Einbuchtungen und lichten Wieſenflaͤchen voneinander. In graubewoͤlktem Himmel oͤffneten ſich, unbegrenzt tief, blaue Kluͤfte. Eine davon fuͤllte ſich ploͤtzlich mit Sonnenſchein. Breite Strahlenmaſſen glaͤnzten auf, ihr goldiger Schimmer fiel auch auf mich. Der blin⸗ kende Sonnenſtreif erſchien mir als frohe Verheißung. Ich hob die Arme zur Sonne und da ich weiß nicht, ob ich einen Schritt vorwaͤrts tat entſchwand mir der Boden unter den Fuͤßen. Mit einem Ruck warf ich mich zuruͤck. Der Raſenrand des Weges war abgebroͤckelt. Ich hoͤrte den Sand rieſeln, die Erdſchollen unten dumpf aufſchlagen. So waͤre auch ich hinuntergeriſſen worden, unaufhaltſam, unrettbar. Der Tod war mir wieder einmal nahe geweſen.“

15. Auguſt.

„Jetzt ſind es ſechs Tage, daß ich nach Feldkirch kam. Morgen wollen wir weg, um noch einige Tage in Über⸗ kingen zu bleiben.

Anfaͤnglich war ich dagegen. So kurz vor den Toren Stuttgarts waͤre ich eigentlich lieber zu Herta geeilt. Jetzt aber bin ich froh, daß ich nicht auf meinem Kopf beharrte. Ich werde ſo Zeit gewinnen, um mich voͤllig zu beruhigen.“

19. Auguſt.

„Von neuem iſt mir Unheimliches widerfahren. Vor drei Tagen ſtieg ich zum Carinawald hinauf. Ich fuͤhlte mich frohgemut, wie ſeit langem nicht mehr. Auf dem Ruͤckweg ſah ich auf einer Wieſe tiefblaue Glocken⸗

Von Th. L. Seemann 135

blumen leuchten. Sie ſchienen mich foͤrmlich zu rufen. Ich wollte fuͤr Herta einen Strauß pfluͤcken. Als ich mich buͤckte, um einzelne Bluͤten zu ſammeln, wurde mir dunkel vor den Augen, es ward mir, als ſchwebte ich im leeren Raum; zuckender Schmerz haͤmmerte gegen die Schlaͤfe. Ich verlor den Atem, und nur muͤhſam er⸗ holte ich mich.

Ich war mit dem Sträußchen eine halbe Stunde abwaͤrts gewandert. In der brennenden Sonne wurden die Blumen in meiner Hand matt. Da rauſchte irgend⸗ wo eine Quelle. Verwelken ſollt ihr nicht, dachte ich, wie auch meine Hoffnungen es nicht ſollen. Ich wollte das Straͤußchen im ſtrudelnden Waſſer befeuchten, als es mir wieder die Augen ſchwarz umdaͤmmerte; wieder fuͤhlte ich das ſchmerzhafte Pochen in der Stirn. Ge⸗ waltſam unterdruͤckte ich im Weitergehen aͤngſtliche Betrachtungen. In Feldkirch angelangt, war ich be— ruhigt; es konnte ſich diesmal nur um belangloſe Schwaͤcheanfaͤlle handeln.

Und doch ...! Von neuem ſinne ich nach, es zwingt mich dazu, mit einer triebhaften Gewalt, der ich mich nicht entziehen kann. Wie ſoll dies ſeltſame Zuſammen⸗ treffen begreiflich ſein, daß ſich meine Augen zweimal hintereinander verdunkelten, daß ich den Schmerz in einem Augenblick empfand, als ich froh an Herta, ihre Liebe zu mir und an meine naͤchſte Zukunft dachte? —“

21. Auguſt.

„Wir ſind ſeit Tagen in Überkingen. Am Abend werden wir nach Stuttgart zuruͤckfahren. Ich kann die Zeit kaum erwarten. Wir werden die kurze Fahrt im Auto machen. Mich warnte zwar nichts, trotzdem war ich innerlich unfrei; aber ich wollte nicht widerſprechen.

136 Der Tod auf der Fahrt

Geſtern vormittag war allerdings etwas Befrem— dendes geſchehen. Ich erging mich allein vor dem Ort und malte mir das Wiederſehen mit Herta aus. Ich hielt ſie in meinen Armen und beugte mich zum Kuß, da durchzuckte mich wieder der ſtechende Schmerz. Was bedeutete das?

Ich werde die unheimlichen Beklemmungen nicht los. Bin ich dem Tod noch immer nicht entflohen? Bis zu— letzt aber will ich auf der Hut ſein. Oh, meine Herta! Nur wenige Stunden noch, dann bin ich auf der Fahrt zu friedvoller Ruhe, und alles hat ein Ende.“

Ehrhardts Aufzeichnungen ſchloſſen mit dieſen Zeilen. Ich legte die Blaͤtter fort und uͤberdachte nochmal die letzten Stunden der damaligen Reiſe. Nach acht Uhr fuhren wir von Überkingen ab. An dem Wagen, den wir beſtellt hatten, war nicht alles in Ord— nung, ſo daß ſich die Abfahrt gegen unſere Abſicht verzoͤgerte. Es dunkelte, als wir einſtiegen. Ehrhardt beſtand darauf, neben dem Fahrer zu ſitzen. Etwa eine Stunde waren wir unterwegs, als hinter uns mit aufleuchtenden Blitzen und grollendem Donner ein ſchweres Gewitter heraufkam. Der Lenker beſchleu— nigte die Fahrt. Das Gewitter ſchien uns foͤrmlich zu verfolgen. Wir flogen dahin, trotzdem ruͤckte es uns flammend und donnernd näher, Es war ſtockfinſter geworden. So kurz vor Stuttgart war es beſonders verdrießlich, vielleicht bis auf die Haut durchnaͤßt zu werden. Der Fahrer ſteigerte die Geſchwindigkeit; wir ſauſten in rafendem Lauf vorwaͤrts, aber die Straße war gut.

Ploͤtzlich, an einer Kurve, die am Berghang entlang lief, gab es einen Stoß. Das Auto ſchwankte.

Von Th. L. Scemann 137

Ehrhardt ſchrie auf, ſchnellte von ſeinem Sitz, ſprang nach der Straßenboͤſchung hinab und war ver⸗ ſchwunden.

Im gleichen Augenblick bremſte der Fuͤhrer. Wir riefen Ehrhardt beim Namen. Keine Antwort mehr kam zuruͤck.

Der Fuͤhrer nahm die Lampe heraus und leuchtete den Platz ab. Links, auf der Seite, nach der Ehrhardt abgeſprungen war, lag ein alter Steinbruch. Wir ſtiegen den Abhang hinab. Wir fanden ihn roͤchelnd.

„Der Traum, der Traum, der Leichenwagen, Herta, meine Herta!“ fluͤſterte er noch.

Dann war alles zu Ende.

233 22 en

Es klopfte, und einer meiner Bekannten trat ein.

„Nun,“ fragte er, „weilten Sie in einer anderen Welt?“ |

„Ja, ich habe Ehrhardts Aufzeichnungen wieder ein: mal geleſen. Sie kennen ja ihren Inhalt und auch den traurigen Abſchluß der Reiſe. Jetzt glaube ich die Loͤſung dieſes Raͤtſels gefunden zu haben.“

„Nun?“

„Ich glaube, daß der Menſch oft zur Erfuͤllung irgendwelcher Vorzeichen ſelbſt beitraͤgt. Durch fort— geſetztes Gruͤbeln uͤber moͤgliche Bedeutungen geraͤt er immer tiefer in den Bann ſolcher Gedankenkreiſe. Die nichtigſten Vorkommniſſe werden nach vorgefaßten, aberglaͤubiſchen Meinungen als Beweisſtuͤcke ausgelegt. Ahnungen und Vorzeichen muͤſſen ihm ſo als eherne Glieder einer Kette erſcheinen, die ihn unentrinnbar umſtrickt. Jede beſonnene Überlegung, alle geiſtige Widerſtandskraft werden durch entnervende Furcht geſchwaͤcht. Zur gegebenen Stunde unterliegt er ſchließ⸗

138 Der Tod auf der Fahrt

lich nicht der Macht eines vorbeſtimmten Geſchickes, ſondern ſeiner veraͤngſtigten Einbildung und von ihm ſelbſtgeſchaffenen, verwirrenden Zwangsvorſtellungen. Ehrhardt verfiel dem Tod, weil er ihm mit Gewalt entrinnen wollte.“ |

„Das mag richtig fein,” meinte mein Beſuch nach: denklich, „und gewiß liegt es auch in vielen anderen Faͤllen nicht anders.“

Maieftätsdeleidigungen unter römischen und deutſchen Herrſchern

Von Hermann Landolt

| * m alten Orient und in Agypten bildete ſich die Auffaſ⸗ Sue daß der oberſte Regent des Landes göttlicher Natur teilhaftig ſei; der Koͤnig war nach altorientaliſcher Lehre

nicht nur Stellvertreter Gottes auf Erden, er ſtammt geradezu von den Goͤttern ab. Die aͤgyptiſchen Pharaonen nennen ſich Abkoͤmmlinge oder Söhne des Ra, des Sonnengottes. Ihr Stammbaum iſt überirdifcher Natur, fie ſelbſt find durch ſolche Herkunft die eigentlichen „Mittler zwiſchen Himmel und Erde“. Der Kaiſer von China nannte ſich bis in unſere Zeit den „Sohn des Himmels“. Als Alexander der Große Babylon eroberte, mußte er ſich der ſeinen Mazedoniern fremden Auffaſſung des Orients bequemen und ein „Gott“ werden. Ohne der Landes⸗ auffaſſung ſich zu fuͤgen, konnte er im eroberten Lande nicht als Herrſcher gelten. Dieſem Geiſte entſtammen alle Erzaͤhlungen der uͤberirdiſchen Geburt Alexanders, wonach ſeine Mutter von einem Gott oder einem Drachen heimgeſucht worden ſei. Auf Münzen ward Alexander dargeſtellt mit dem Widderhorn uͤberm Ohrge⸗ lock, dem gleichnismaͤßigen Abbild des Gottes Jupiter Ammon. Im alten Rom der republikaniſchen Zeit entfaltete ſich der Begriff der „lex Cornelia majestatis“, ein Geſetz, das ſich gegen alles kehrte, was gegen die roͤmiſche Nation und ihren Beſtand als Staatsweſen feindſelig oder zerſtoͤrend aufzutreten wagte, wie: „Verraͤterei des Heeres, Aufwiegelung des Volkes, uͤble Verwaltung der Republik“, wider alles alſo, was im Widerſpruch mit der „Majeſtaͤt des roͤmiſchen Volkes“ ſtand. Grundſatz dieſes demokratiſchen Begriffes war allerdings, daß nur „Taten ge⸗ ahndet wurden, Worte dagegen unbeſtraft blieben“. Die Volks⸗ tribunen, in denen ſich die „Majeſtaͤt des roͤmiſchen Volkes“ verkoͤrperte, waren nicht perſoͤnlich, wohl aber als Beamte unan⸗ taſtbar, doch in anderem Sinne, als es ſpaͤter die „Heiligkeit und Unverletzlichkeit der Perſon ſeiner Majeſtaͤt des roͤmiſchen Kaiſers“ werden ſollte. Julius Caͤſar gab dem alten Corneliſchen Majeſtaͤtsgeſetz in der „lex Julia majestatis“ eine perſoͤnlich

140 Majeftätsbeleidigungen unter roͤm. u. deutſchen Herrſchern

verſchaͤrfte Wendung; fein Nachfolger Caͤſar Auguſtus baute darauf weiter und ließ Unterſuchungen uͤber Schmaͤhſchriften, die gegen ihn umliefen, anſtellen. Tiberius aber nahm der neuen Rechtsbeſtimmung ihre urſpruͤnglich demokratiſche Bedeutung völlig, indem er fie auf die „Majeſtaͤt des Imperators“ mit der Begruͤndung uͤbertrug, daß: „beſtehende Geſetze angewendet werden müßten”.

Von da ab konnte alles als Verbrechen wider die Perſon des Kaiſers ausgelegt werden: „Schweigen oder Reden, Freude und Trauer, geaͤußerte Befuͤrchtungen wie Zuverſicht, alles war Ver⸗ brechen und zog haͤufig die ſchwerſten Strafen nach ſich.“ Nach dem roͤmiſchen Geſchichtſchreiber Tacitus entſtand damit „ſchweres Unheil und das groͤßte Elend der Zeiten“. Der gleiche Schrift⸗ ſteller ſagt, daß die Gerichte, die uͤber Majeſtaͤtsverbrechen abzu⸗ urteilen haͤtten, oft kaum ihre Arbeit bewaͤltigen konnten. Nach Plinius wimmelte das ganze Reich von lebendigen Lauſchroͤhren, Angebern und Lockvoͤgeln, „den aͤrgſten Schurken unter allem, was auf zwei Beinen geht“. Die „Verbrecher“ wurden mit Verſchickung in ferne Laͤnder, Entziehung des Vermoͤgens oder Hinrichtung beſtraft. ü

In der Naͤhe eines Standbildes des „großen“ Auguſtus durfte man nicht wagen, jemand zu ſchelten oder zu ſchlagen oder ſich zu entkleiden. Es genuͤgte zu einer Anzeige, an unpaſſenden Orten, in gewoͤhnlichen Gaſthaͤuſern oder im oͤffentlichen Bade mit einem Ring am Finger betroffen zu werden, der des Kaiſers Bildnis trug, oder an ſolchen Orten mit einer Muͤnze zu zahlen, der das Geſicht und der Name des Herrſchers oder eines Mit⸗ gliedes ſeiner Sippe aufgepraͤgt war. Einem ſchlechten Schau⸗ ſpieler, dem der Caͤſar Beifall klatſchte, die Auszeichnung zu verſagen, galt ſo gut als Verbrechen, wie ſie im entgegengeſetzten Fall zu wagen. Wie Dio Caſſius berichtet, lebte man „in groͤßter Angſt und Scheu ſelbſt vor ſeiner naͤchſten Umgebung, mied Zuſammenkuͤnfte und Geſpraͤche vor Bekannten nicht weniger als vor Fremden, ja, man ſah ſich ſogar nach ſtummen, lebloſen Dingen, nach der Decke und vor Waͤnden ſcheu um,“ und war nirgends ſicher vor Lauſchern und Angebern.

Von Hermann Landolt 141

Nicht alle roͤmiſchen Kaiſer duldeten oder verlangten ſelber die ſcheinrechtliche Handhabung einer ſolch erniedrigenden Geſetzes⸗ beſtimmung. Auguſtus, Veſpaſian, Titus, Nerva, Trajan, Hadrian, Antonius Pins und Mark Aurel hielten ſich faſt völlig frei davon. Der Geſchichtſchreiber der roͤmiſchen Kaiſer, Sueton, legt Auguſtus die Worte an ſeinen Adoptivſohn Tiberius in den Mund: „Sei nicht aufgebracht daruͤber, daß es Leute gibt, die boͤſe Reden uͤber mich fuͤhren; es iſt genug, wenn wir ſo ſtehen, daß uns niemand Boͤſes antun kann.“ Tiberius handelte ſpaͤter nicht nach ſolcher Weiſung. Veſpaſian verbot die Erhebung von Anklagen wegen „Majeſtaͤtsbeleidigung“ und begnadigte alle unter ſeinen Vorgaͤngern deshalb Ver⸗ urteilten, ja er ließ Angeber ſolcher Dinge Öffentlich aus peitſchen.

Waͤhrend ſich unter ſteigenden orientaliſchen Einfluͤſſen im roͤmiſchen Kaiſertum die „Heiligſprechung“, ja geradezu die „Vergoͤttlichung“ des Herrſchers vollzog, blieb der germaniſchen Rechtsauffaſſung, mit der Goͤtter und Prieſter in dieſem Sinne nichts zu tun hatten, der roͤmiſch⸗rechtliche Begriff der zu be⸗ leidigenden Majeſtaͤt völlig fremd. Der germaniſche König, oberſter Anführer oder Richter, beſaß urſpruͤnglich keine unbe:

dingt perſoͤnliche Gewalt, und auch ſpaͤterhin, als ſich in dem |

germanifchen „Großkoͤnige“ die geſamte Volksgewalt durch ge: ſteigerte Machtfülle verkörperte, blieb das germaniſche Recht immer noch weit davon entfernt, ihm eine „majestas“ im

roͤmiſchen Sinne beizulegen. Die deutſche Kaiſerwuͤrde wird nach Karl des Großen Vorgang allerdings ein „sacrum imperium“ genannt, aber der deutſche Kaiſer im „Heiligen Roͤmiſchen Reiche Deutſcher Nation“ war ſowohl ſtaatsrechtlich wie tatſaͤchlich nichts weniger als ein roͤmiſcher „Imperator“, ein Herrſcher mit unbedingter Gewalt. Er war weder unverletzlich noch un⸗ verantwortlich, denn er unterſtand dem Spruch des Pfalzgrafen— gerichtes, das ihn anklagen und verurteilen konnte. Im oͤſtlichen Byzanz blieben orientaliſche Anſchauungen uͤber das Herrſcher⸗ tum lebendig und bewirkten durch die Aufnahme byzantiniſcher Rechtsauffaſſungen eine Wandlung, die ſich aber niemals im roͤmiſchen Sinne dauernd durchzuſetzen vermochte. Das ger⸗

142 Majeſtaͤtsbeleidigungen unter roͤm. u. deutſchen Herrſchern

maniſche Empfinden bot ihm keine ernſtliche Wachstums⸗ moͤglichkeit, trotz dem 1313 unter Kaiſer Heinrich VII. erlaſſenen Geſetz: „de crimine laesae majestatis“.

Bei germaniſchen Voͤlkern und Fuͤrſten blieb mit der natuͤr⸗ lichen Empfindung auch eine geſunde Rechtsform lebendig. Kaiſer Maximilian trug eine ſehr ſtattliche Hakennaſe im Geſicht. Auf einem Augsburger Reichstag wurde ihm fein Bildnis ge— malt, in Holz geſchnitten, in Kupfer geſtochen, in Metall gegoſſen, in Wachs und Gips geformt, ja aus Pfefferkuchenteig gebacken uͤberreicht. „Hilf Gott,“ rief Max, als er die Fuͤlle der Moͤg⸗ lichkeiten, ſeine Naſe zu formen, ſah, „welch kunſtbefliſſen Volk lebt hier! Wer immer eine große, krumme Naſe machen kann, kommt, mir damit zu dienen.“ Über Spottſchriften auf ihn, die ſein Hofnarr Kunz von der Roſen ihm zur Tafel brachte, aͤußerte er ſich zu dem Kaufherrn Fugger: „Dergleichen Schmach⸗ lieder ſind ſo ſchnell wieder vergeſſen, als ſie aufkommen. Keines dauert fo lang wie das Lied ‚Chrift iſt erſtanden“, das man nun ſchon an fuͤnfzehnhundert Jahre ſingt.“ Ein Hoͤfling ſpottete uͤber die Unternehmungen eines Gelehrten, der fuͤr Maximilian das Alter des Hauſes Oſterreich durch einen Stamm⸗ baum zu erweiſen bemuͤht war, und ſchrieb die Reime auf ein Blatt:

„Da Adam grub und Eva ſpann, Wer war wohl damals Edelmann?“

Der Kaiſer ſetzte mit eigener Hand darunter:

„Ich bin ein Mann wie ein andrer Mann, Nur daß mir Gott die Ehre gann.“

Um die Zeit, als Tilly Magdeburg belagerte, erſchien eine bösartige Spottſchrift auf Johann Georg I. von Sachſen. Man brachte den Verfaſſer, der ſich durch eitle Reden verriet, nach Dresden, wo ihn Georg vor den Staatsrat fuͤhren und das Schriftſtuͤck vorleſen ließ. Als es vorgetragen war, gab der Kurfuͤrſt dem zitternden Menſchen, der ſein Leben verwirkt glaubte, die Gruͤnde ſeiner Handlungsweiſe der Reihe nach bekannt und ſagte: „Nun haſt du gehoͤrt, warum ich ſo und

Von Hermann Landolt 143

nicht anders gehandelt habe, wenn es auch weder dir noch deinesgleichen gefallen mag. Leute wie dich um Rat zu fragen, iſt mir nicht vonnoͤten. In Zukunft ſpare deine Worte, damit dich deine vorwitzige Zunge vor Ungluͤck bewahre.“ Damit gab er den Mann frei.

Ein verabſchiedeter Offizier Friedrichs des Großen, der, ohne Unterſtuͤtzung geblieben, mit ſeiner Familie in groͤßte Not geraten war, ſchrieb eine Schmaͤhſchrift gegen den Koͤnig; ſie war ſo bitter, daß Friedrich, der ſonſt auf ſolche Druckwerke nicht achtete, fuͤnfzig Dukaten Belohnung auf die Entdeckung des Verfaſſers ſetzte. Der Offizier meldete ſich ſelbſt dem Koͤnige und bat um die ausgeſchriebene Summe, um damit ſeine hungernde Familie zu retten. Friedrich fuhr ihn barſch an: „Fort, aus meinen Augen, nach Spandau! Dort ſollt Ihr Euern Lohn haben.“ Dem Beſtuͤrzten wurde ein verſiegeltes Schreiben an den Komman: danten der Feſtung eingehaͤndigt. Zu feiner Überraſchung ver: kuͤndigte man ihm dort den Inhalt der koͤniglichen Schrift: „Ich uͤbergebe das Kommando von Spandau dem Überbringer dieſer Order. Seine Frau und Kinder werden mit den fuͤnfzig Dukaten baldigſt nachkommen.“

Joſeph II., von dem Friedrich der Große ſagte: „Er iſt ein Kaiſer, wie Deutſchland lange keinen gehabt hat,“ kuͤmmerte ſich nicht um die vielen Bosheiten, die man auch uͤber ihn in Umlauf brachte. Seine Miniſter bedraͤngten ihn in einem groͤblichen Falle, wo einer der Ihrigen ſtark mitgenommen war, doch ohne jeden Erfolg. Zuletzt ſagte der Kaiſer: „Man macht es mir nicht beſſer, und ich laſſe mir's gefallen. Iſt der Tadel gerecht, ſo nuͤtze ich ihn; iſt er unbegruͤndet, ſo lache ich daruͤber. Tun Sie das gleiche.“ Einer der Miniſter gab ſich nicht zufrieden und draͤngte weiter in den Monarchen, bis er zu hoͤren bekam: „Wenn Sie glauben, daß der Verfaſſer Sie verleumdet hat, ſo gehen Sie vor die Gerichte; er ſoll nach den Geſetzen, aber nicht anders beſtraft werden. Iſt es aber Wahrheit, was er ſchrieb, dann beſſern Sie ſich.“

Schon 1746 richtete Friedrich der Große an ſeinen Juſtiz⸗ miniſter v. Cocceji ein Schriftſtuͤck, worin die Worte ſtehen:

1

144 Majeſtaͤtsbeleidigungen unter rom. u. deutſchen Herrſchern „Wenn etwa dumme oder unvernuͤnftige Leute ſich uͤber Mein Sujet im Reden vergehen ſollten, will Ich daraus keine Affaire gemachet wiſſen, allermaßen Ich, dergleichen zu reſſentieren, zu weit unter Mich halte, und, wann ſich etwa jemand durch Reden oder Ausdruck uͤber mein Perſonal vergehen moͤchte, ſolches mehr verachtens- als ſtrafenswert finde, daferne es nur nicht ſonſten Dinge find, die den Staat ſelber angehen.“.

An den engliſchen Miniſterreſidenten Earl Mariſhal ſchrieb Friedrich der Große am 23. Oktober 1753: „Ich bin ſo gluͤcklich, lieber Lord, voͤllig gleichguͤltig gegen alle Außerungen in Wort und Schrift uͤber meine Perſon zu ſein. Ja, ich rechne es mir zum Ruhme an, einem armen Schriftſteller zu einem Verdienſt zu helfen, der vielleicht Hungers ſterben muͤßte, wenn er nicht auf mich ſchimpfen koͤnnte. Das Urteil des Publikums habe ich ſtets verachtet, Richtſchnur meiner Handlungen iſt immer nur mein eigenes Gewiſſen geweſen. ... Jeder im öffentlichen Leben ſtehende Mann muß der Kritik, der Satire, ja oft genug der Verleumdung als Zielſcheibe dienen. Jeder, der einen Staat regiert hat, fei.cs als Miniſter, als General oder als König, hat Sticheleien ertragen muͤſſen; es waͤre mir ſehr unangenehm, wenn ich der einzige ſein ſollte, dem dies Schickſal erſpart bliebe. Ich verlange keine Widerlegung des Buches, auch nicht die Beſtrafung des Verfaſſers, ich habe es mit großer Gemuͤtsruhe geleſen und ſogar einigen Freunden mitgeteilt. Ich muͤßte eitler ſein, als ich bin, um mich uͤber derartigen Schmutz zu aͤrgern, mit dem jeder auf der Straße beſchmutzt werden kann, und ich muͤßte ein ſchlechterer Philoſoph fein, als ich bin, wenn ich mich fuͤr voll: kommen und uͤber die Kritik erhaben halten wollte. Ich ver— ſichere Sie, lieber Lord, daß die Schimpfreden des namenloſen Verfaſſers die Heiterkeit meines Lebens auch nicht durch die kleinſte Wolke getruͤbt haben und daß noch zehn aͤhnliche gegen mich gerichtete Schriften herauskommen koͤnnten, ohne meine Denkweiſe und Handlungsart in irgendeiner Beziehung zu veraͤndern.“

Der große Koͤnig, der „einzige Friedrich“, beſaß auch freien Humor genug, um einmal die Anfrage des Berliner Stadtober—

Von Hermann Landolt 145

m nn.

hauptes fein zu beantworten. Man wollte wiſſen, wie ein Buͤrger zu beſtrafen ſei, der Gott, den Koͤnig und den Magiſtrat zu laͤſtern gewagt habe. Friedrich antwortete: „Daß der Arreſtant Gott gelaͤſtert hat, iſt ein Beweis, daß er ihn nicht kennt; daß er mich gelaͤſtert hat, vergebe ich ihm; daß er aber einen edlen Rat gelaͤſtert hat, dafuͤr ſoll er exemplariſch beſtraft werden und auf eine halbe Stunde nach Spandau kommen.“

Im Jahre 1781 ließ der Koͤnig den Kaffee hoch beſteuern. Das Volk war aufgebracht uͤber die Verteuerung ſeines Lieblings⸗ getraͤnkes. Eines Tages ritt der Koͤnig, nur von einem Reit⸗ knecht begleitet, aus und ſah von weitem auf dem Werderſchen Markte das Volk ſich draͤngen. Er ritt darauf zu und fand ein Bild angeſchlagen, das ihn verſpottete, wie er ſelbſt klaͤglich auf einem Schemel hockt, eine Kaffeemuͤhle zwiſchen den Knien haltend, mit der Rechten mahlend, mit der Linken gierig nach heraus fallenden Bohnen greifend. „Haͤngt es doch niedriger, daß die Leute ſich nicht den Hals ausrecken!“ ruft der Alte Fritz. Die Volksmenge jubelt, die Spottfigur wird von der Wand gezerrt und in tauſend Fetzen zerriſſen. Von lauten Hochrufen begleitet, ritt der Koͤnig langſam weiter.

Kein Zufall iſt es, daß unter den roͤmiſchen Kaiſern, die nichts wiſſen wollten von Beleidigung der Majeſtaͤt, Philoſophen waren, allerdings, trotz Mark Aurel, kaum in Wahrheit ſo große darunter, wie der Philoſoph von Sansſouci es geweſen, den ſeine Zeitgenoſſen den „Herrgott von Preußen“ nannten.

*

++

1. X. 10

Tierleben im Kriege Von Franz Wichmann

ruͤllender Schlachtendonner und friedvoll⸗lieb⸗ Bis Vogelgeſang: welche ſchroffen Gegen⸗ ſaͤtze! Sollte man glauben, daß fie nebenein- ander beſtehen koͤnnen? Die Nachtigallen von Solferino , beſtaͤtigen es. Durch Friedrich Theodor Viſcher wiſſen wir von ihnen. Bald nach dem oͤſterreichiſchen Feldzug von 1859 gegen Italien und Frankreich beſuchte der beruͤhmte Aſthetiker die Schlachtfelder der lombardiſchen Ebene. Da wurde ihm wiederholt von den Einwohnern erzaͤhlt, daß die in der Gegend zahlreich niſtenden Nachti⸗ gallen keine Furcht vor den Schrecken des Krieges ge⸗ kannt haͤtten. Je wilder der Kampf in den Schlachten von Montebello, Magenta und Solferino tobte, deſto heller, lauter und inniger habe man ſie ſchlagen gehoͤrt. Die Richtigkeit dieſer Beobachtung hat der Weltkrieg aufs neue beſtaͤtigt. Mehr als man meint, kleben die Voͤgel an der Scholle, nur ſelten und ungern veraͤndern die beſchwingten Wanderer ihren gewohnten Aufent⸗ haltsort, und ihre Heimatliebe hat fie auf den Krieg— ſchauplaͤtzen in Weſt und Oſt vielfach in naͤchſter Naͤhe der Feuerlinien feſtgehalten. Gerade unſere bekannteſten Singvoͤgel zeichneten ſich durch ſolche Unerſchrockenheit aus und haben unſeren wackeren Feldgrauen in der Einfoͤrmigkeit des Stellungskrieges manche Freude be— reitet. | | Neben Amſeln, Droffeln, Finken, Goldammern und den in der Nähe menſchlicher Wohnplaͤtze unvermeid— lichen Spatzen erwieſen ſich Rotkehlchen und Rotſchwaͤnz⸗ chen beſonders zutraulich. In den flandrifchen Schuͤtzen— graͤben waren ſie haͤufige Gaͤſte und ſaßen ſo lange wartend auf der Bruſtwehr, bis ſie ihren Anteil an der Ration der Soldaten erhalten hatten. Zum Danke dafuͤr

Von Franz Wichmann 147

ſangen ſie mit Finken und Droſſeln zwiſchen den Feuer⸗ linien um die Wette, und Hunderte von Lerchen kletter⸗ ten, um mit Geibel zu reden, an ihren bunten Liedern in die von Granaten und Schrapnellkugeln durchſchwirrte Luft, um hoch uͤber dem Jammer des Schlachtfelds ihre jubelnden Weiſen ertoͤnen zu laſſen.

In ſcharfbeſchoſſenen Waͤldern verſtummte wohl der Vogelgeſang, ſolange das Feuer anhielt. Kaum aber ſchwieg es, ſo erſchienen die verſchuͤchtert geweſenen Saͤnger wieder auf den zerſplitterten Aſten und jubilier⸗ ten um ſo lauter. Auch Eulen, Waldkaͤuze, Eichelhaͤher und manche Raubvoͤgel, wie Sperber und Falken, ließen ſich durch kein Schlachtgetöfe vertreiben, und unmittel⸗ bar vor den Artillerieunterſtaͤnden wurden in Acker⸗ furchen Rebhuͤhner beobachtet, die unbekuͤmmert alle Vorbereitungen fuͤr die zu erwartende Nachkommen⸗ ſchaft trafen.

Ebenſo iſt des Menſchen anhaͤnglichſter Freund, die Schwalbe, auch im Felde ihm treu geblieben. Selbſt über die von der Kriegs furie umtoſten Ortſchaften hin: aus hat ſie die Soldaten begleitet. Wo der Mutter⸗ gottesvogel nicht in den Truͤmmern voͤllig zerſtoͤrter Doͤrfer weiterniſtete, da folgte er den Truppen zu ihren improviſierten Huͤtten dicht hinter der Front und baute oft in den vorderſten Artillerieunterſtaͤnden feine hei: meligen Neſter.

Eine Erklaͤrung dieſer auffallenden Erſcheinungen iſt wohl in erſter Linie darin zu ſuchen, daß die Voͤgel gegen fortgeſetzte ſtarke Geraͤuſche ziemlich unempfind⸗ lich ſind. Waͤhrend ein einzelner, wie ein Warnungs⸗ ſignal wirkender Schuß ſie heftig erſchreckt und in die Flucht treibt, gewoͤhnen ſie ſich ſehr bald an ein an⸗ dauerndes Schießen, an das unaufhörliche Donner:

148 Tierleben im Kriege

grollen der Kanonen und die anderen Geraͤuſche des Schlachtenlaͤrms. Auch in Friedenszeiten ſieht man oft Stare und Schwalben ruhig auf Telegraphendraͤhten ſitzen, unter denen ein Zug voruͤberdonnert, und der betaͤubende Laͤrm der Großſtaͤdte hat gluͤcklicherweiſe unſere Singvoͤgel von den Baͤumen und Anlagen nicht zu vertreiben vermocht. In manchen Faͤllen iſt es die Mutterliebe, die den Vogel trotz der Erkenntnis drohender Gefahr jede Furcht uͤberwinden laͤßt. In ſeinen Briefen von der Front im Oſten hat uns Ludwig Ganghofer ein ruͤhrendes Beiſpiel dieſer Art erzaͤhlt. In dem von der ruſſiſchen Artillerie in Brand geſchoſſe⸗ nen Dorfe Bucow ſtand zwiſchen zwei brennenden Haͤuſern eine hoͤlzerne Scheune, deren Strohgiebel ein Storchenneſt trug. Das ſelbſtſuͤchtige Maͤnnchen war davongeflogen, die Stoͤrchin aber blieb pflichtgetreu bei den Eiern im Neſte. Mit lechzender Zunge ſperrte ſie bei der wachſenden Hitze den Schnabel auf und hielt ſich ganz ruhig. Nur einmal bewegte ſie die Beine, drehte ſich langſam und vorſichtig um, damit durch ihren Tritt die Eier nicht beſchaͤdigt wuͤrden, und wandte der Seite, von der die groͤßte Hitze herſtrahlte, gleich . einem Schirme den Rüden mit den aufgeſtraͤubten Federn zu. So harrte ſie unerſchuͤtterlich auf ihrem Poſten aus, bis es Bauern und Soldaten gelungen war, das brennende Dach zu loͤſchen.

Falſch waͤre es jedoch, aus dem bisher Geſchilderten ſchließen zu- wollen, daß der Krieg im allgemeinen keinen ſtoͤrenden Einfluß auf das Tierleben uͤbe. Das iſt nicht einmal bei der geſamten Vogelwelt der Fall. Wahr⸗ ſcheinlich iſt es der Anblick der zahlloſen Menſchen, der ewig bewegten Maſſen, der Mangel an Ruhe, der viele Voͤgel aus Laͤndern, in denen ein Krieg tobt, forttreibt.

Von Franz Wichmann 149

Schon 1870 hat man ſolche Wahrnehmungen gemacht. So vermehrten ſich damals die offenbar aus Frankreich gefluͤchteten Habichte und andere Raubvoͤgel in ganz ungewohnten Maße in den ſuͤdoͤſtlichen Grafſchaften Englands. Ebenſo hat das kriegeriſche Treiben in den Ebenen Flanderns die dortigen zahlreichen Regenpfeifer nach dem mittleren England geſcheucht, wo ihre Zahl auffaͤllig anwuchs. Als durchaus kriegsſcheu haben ſich auch die Sumpf: und Waſſervoͤgel in den fee= und fluß⸗ reichen Gebieten des oͤſtlichen Kriegſchauplatzes erwieſen. Nach allen Himmelsrichtungen verſprengt, haben ſich Wildenten, Bekaſſinen, Wildgaͤnſe und andere Waſſer⸗ voͤgel in Gegenden gezeigt, in denen ſie fruͤher nie zu ſehen waren; ihrem Beiſpiel folgend, raͤumten auch die Wildtauben ihre heimatlichen Waͤlder und wanderten in ihnen bisher ganz unbekannte Gebiete aus. Als Folgeerſcheinung des Weltkriegs war ferner waͤhrend des letzten Sommers ein ſtarker Durchzug und eine immer haͤufigere Niederlaſſung von Buſſarden, Ha⸗ bichten und verwandten Raubvoͤgeln auf deutſchem Boden feſtzuſtellen.

Im Gegenſatz dazu werden andere Vogelarten durch die verſchiedenen Kriegſchauplaͤtze geradezu angelockt. Das gilt namentlich von den Maſſenwanderungen der Kraͤhen und Raben, die heute den großen Bewegungen auf den verſchiedenen Kampfplaͤtzen hartnaͤckig nachfolgen, wie vor einem Jahrhundert den Heereszuͤgen der Na⸗ poleoniſchen Zeit. Waͤhrend ſie ſonſt im Herbſt und Winter aus dem unwirtlichen Rußland in dichten Schwaͤrmen nach Weſten und uͤber Deutſchland bis tief nach Frankreich flogen, haben ſie jetzt ihre gewohnte Reiſe ſchon an der Grenze unterbrochen. Die Mehrzahl von ihnen uͤberwinterte in Maſuren und Polen bei den

150 Tierleben im Kriege

kaͤmpfenden Heeren. Nicht nur die Tierkadaver der Schlachtfelder zogen ſie hier an, ſondern auch die von den Truppen mitgefuͤhrten Vorräte. Die Lagerplaͤtze der Proviantkolonnen mit ihren zahlreichen Abfaͤllen boten Saat⸗ und Rabenkraͤhen reichlich Nahrung und erſparten den ſchwarzen Geſellen die Muͤhe eines weiten Fluges. |

Geradezu verheerend greift der Krieg mit feinen ge⸗ waltſamen Veraͤnderungen in das Leben der vierfuͤßigen

Tiere ein. Beſonders der Wildſtand der betroffenen

Gegenden hat unter den Kriegsverwuͤſtungen arg zu leiden. Schon in fruͤheren Kriegen iſt er in manchen Gegenden oft voͤllig vernichtet worden; ſo bei den Tiroler Freiheitskaͤmpfen von 1809, denen der durch die Salzburger Erzbiſchoͤfe muͤhſam gehegte Alpen⸗ ſteinbock zum Opfer fiel, oder waͤhrend des letzten Buren⸗ krieges, wo das Daum, ein zebraartiges Tigerpferd, bis auf wenige Exemplare ausgerottet wurde.

Von Haſen und Rehen iſt es bekannt, daß ſie ſich uͤberall da, wo der Krieg ſeinen zerſtoͤrenden Fuß hin⸗ ſetzt, ſogleich weit hinter die Schußlinie zuruͤckziehen. Aus den Waͤldern der Ardennen haben ſich die von Panik ergriffenen Wildſchweine bis an die Kuͤſte bei Duͤnkirchen und Calais gefluͤchtet. Den praͤchtigen Kar⸗

pathenhirſchen aber ſtellte die Jagdleidenſchaft der ruſſi⸗

ſchen Offiziere nach. Und ſo wird in den von den Truppen durchzogenen und vom Kampfe beruͤhrten Waͤldern kaum mehr viel Wild uͤbriggeblieben ſein. Sicher vor den Schrecken des Krieges fuͤhlen ſich nur die Hoͤhlenbewohner, wie der Fuchs und das wilde Kaninchen. Den Feldmaͤuſen, die ebenfalls zu dieſer Art von Standhaften gehören, hat der Krieg zu uns

heimlicher Vermehrung verholfen. Abgeſehen davon,

Von Franz Wichmann 151

daß ſe as den abgeernteten Feldern sicli ini finden, hat heute niemand Zeit, ihnen wie fonft nach: zuſtellen, und ihren ſchlimmſten Feinden, den Kraͤhen, iſt die Tafel ſo gut gedeckt, daß ſie gern auf die un⸗ bequeme Maͤuſejagd verzichten. Leider iſt der Krieg aber auch noch fuͤr ein anderes, weit ſchaͤdlicheres Nage⸗ tier, die aus Amerika eingeſchleppte Biſamratte, von Vorteil geweſen. Dieſes Raubzeug, das unſeren ein⸗ heimiſchen Fiſchbeſtand ſtellenweiſe mit Vernichtung be⸗ droht, iſt, gefoͤrdert durch die Schonzeit, die ihm der maͤnnerverbrauchende Krieg angedeihen ließ, ſeit Jahres⸗ friſt bedenklich an Zahl gewachſen und hat ſich neuer— dings von Donau und Elbe her uͤber Oſterreich und Sachſen bereits der Mitte Deutſchlands genaͤhert und bis in den Bayriſchen Wald hinein ausgebreitet.

Wie hier die Fiſchwelt des Binnenlandes unmittel⸗ bar, ſo wird die unſerer Kuͤſtenmeere mittelbar durch den Krieg geſchaͤdigt. Daß die haͤufigen Minenerplo: ſionen den in der Nordſee heimiſchen Hering ſchwer beunruhigen muͤſſen, iſt ebenſo begreiflich, wie die An⸗ nahme, daß er infolgedeſſen die Richtung ſeiner Laich⸗ zuͤge aͤndern wird. Hoffentlich wird der fuͤr unſere Volksernaͤhrung wie fuͤr einen großen Teil der kuͤſten⸗ laͤndiſchen Fiſcherbevoͤlkerung jo uͤberaus wichtige Meeresbewohner von der Kuͤſte, an der er ſonſt zu laichen gewohnt iſt, nicht ganz weggeſcheucht, da dies ein zeitweiliges Ausbleiben ſeiner Zuͤge zur Folge haͤtte. Zum Schluß mag noch jener kleinſten Tierwelt ge⸗ dacht werden, die einen Teil der Menſchheit ſehr gegen den Willen der Betroffenen mit ihrer Gefolg— ſchaft begluͤckt: des Ungeziefers, in deſſen Leben der Krieg ebenfalls eine bedeutſame Rolle ſpielt. Unlieb⸗ ſame Vertreter desſelben find ſchon mehrfach durch krieg—

D n

152 Tierleben im Kriege

—— —— zn nen 2

fuͤhrende Heere in Laͤnder gebracht worden, in denen ſie bisher ganz unbekannt waren. Das charakteriſtiſchſte Beiſpiel dafuͤr bilden die Schaben. Wahrſcheinlich im Orient heimiſch, ſind ſie in fruͤheren Kriegen zu unſeren oͤſtlichen Nachbarn gekommen und wurden in den Frei: heitskriegen mit ihren Heeren nach Deutſchland ver⸗ ſchleppt. Daß wir infolgedeſſen die Kakerlaken „Ruſſen“ getauft haben, hat uͤbrigens der Moskowiter nicht auf ſich ſitzen laſſen wollen; auf Grund der fragwuͤrdigen Behauptung, die Kuͤchenſchaben haͤtten ſeine Truppen aus dem Siebenjaͤhrigen Kriege mit heimgebracht, hat er die Tiere mit dem Namen „Preußen“ belegt. Mag dem ſein, wie ihm wolle: das garſtigſte aller Ungeziefer wird der Ruſſe jedenfalls nicht von ſich abſchuͤtteln koͤnnen; denn bekanntlich hat unſere Heeres verwaltung gegen die Maſſeninvaſion von ruſſiſchen Laͤuſen einen ebenſo erbitterten Krieg eroͤffnen muͤſſen, wie gegen deren unfreiwillige Traͤger ſelbſt.

++

Bom guten, grauen Dichter Bon Mar Adler

Mit einem Bilde Walt Whitrans

ein Krieg des neunzehnten Jahrhunderts hat K. viel Opfer an Gut und Blut gefordert wie der Amerikaniſche Sczeſſionskrieg der ſechziger Jahre. Weder der Napoleoniſche Krieg, noch der Deutſch⸗ Franzoͤſiſche Feldzug von 1870/71 geſtaltete ſich fo ver⸗ luſtreich wie dieſes moͤrderiſche Ringen um die Einheit der nordamerikaniſchen Staaten. Achtmalhundert⸗ tauſend Tote und fuͤnfundzwanzig Milliarden Kriegs⸗ koſten: das war die traurige Bilanz des Buͤrgerkrieges. Aber nicht minder groß als das Opfer, war das erſtrebte Ziel: ein einiges Reich von Ozean zu Ozean aufzurichten, das die Erfuͤllung des politiſchen, kultu⸗ rellen und wirtſchaftlichen Ideals der beſten Amerikaner verbuͤrgte; die inneren Reibungen zu beſeitigen und die geſamte Macht eines gewaltigen Staatsorganismus nach außen zu wenden. Wir wiſſen ſeit der Gruͤndung des Deutſchen Reiches, welch uͤberreiche Fuͤlle von Moͤglichkeiten und Wirklichkeiten hinter dieſen Formeln ſteckt. Auch Walt Whitman, von uns Deutſchen ſeit langem als der groͤßte Lyriker der Neuen Welt geehrt, bekannte ſich fruͤhzeitig zur Einheitsidee. Und da es ihm nicht gegoͤnnt war, fuͤr ſein Ideal in den Reihen der Soldaten zu fechten, ſo wurde er ihr guter Geiſt und Schutzengel. | Wofür kaͤmpft Walt Whitman auf feine Art? Warum trägt er drei Jahre lang das Kreuz der Lazarett: pflegerſchaft nicht als Beamter und Soldat, ſondern, was in dieſem Falle viel ſchwerer wiegt, als Amateur in der vollſten und edelſten Wortbedeutung? Warum nimmt er alle Qualen und Todeszuckungen dieſer armen wunden und ſiechen Burſchen, die er wie ein Vater liebt,

134 Vom guten, grauen Dichter bis in die feinſten Faſern feines uͤberempfindlichen Nervengeflechts auf? Was treibt ihn, das Stoͤhnen der Schmerzgefolterten, das zaghafte Laͤcheln der Geneſenden mitzuerleben, den tauſendfachen Tod in den Hoſpitaͤlern mitzuſterben? Iſt es, weil es um einen Kampf gegen die Sklavenhalter des Suͤdens geht? O nein! Gleich Lincoln, ſeinem an⸗ gebeteten „Kapi⸗ taͤn“, weiß er nur zu wohl, daß man dem Neger, um ihm die buͤrgerlichen Rechte bekoͤmmlich zu machen, auch die Faͤhigkeit ihres richtigen Gebrauchs ſchenken muͤßte; daß „Onkel Toms Huͤtte“ nichts wei⸗ ter als eine pracht⸗ volle, phantaſtiſche Br Kindergeſchichte iſt. i Gaͤrt in ihm der e alte überlieferte Stammeshaß gegen den Suͤden? Wir wiſſen, daß er den Suͤdlaͤnder nicht weniger liebte als den unioniſti⸗ ſchen Nordlaͤnder, den zaͤhen, unerſchrockenen Robert Lee nicht weniger als den lakoniſchen General Grant. („War man auf der einen Seite tapfer? Nun, auf der anderen nicht minder,“ heißt es irgendwo im „Lazarettpfleger“.) Auch der Wirtſchaftskrieg, die angeſtrebte Unterbindung

——

Von Max Adler 155

der ſuͤdlaͤndiſchen Plantagenrente durch den Fon kurrierenden Norden, war nicht ſeine Sorge. Aber er wußte bis in die tiefſte Seele hinein wußte er es! daß jetzt oder nie die Stunde gekommen war, jenes einige, freie Amerika aufzurichten, deſſen Grundpfeiler Liebe, Freiheit und Religion ſein ſollten.

Und fo wandert er tagtäglich, getrieben von dieſer einen allgewaltigen Grundidee der Kameradſchaft und ſelbſtvergeſſenen Menſchenliebe, durch die fuͤnfzig Hoſpitaͤler der Bundeshauptſtadt Waſhington, bis weit hinaus in die laͤndlich gelegenen Krankenſaͤle, von wo man, fern auf den virginiſchen Hügeln, ſchon die feind⸗ lichen Fahnen flattern ſieht. Wohl gab es in den Laza⸗ retten ſehr tuͤchtige, gewiſſenhafte Arzte, Waͤrter und Waͤrterinnen; aber wenn einer der Wunden und Kranken reſtlos erſchloſſene Menſchlichkeit und eine alle Menſchen⸗ kraft uͤberſteigende Zuneigung brauchte, fo hielt er ſich an den „Mann mit dem Engelsgeſicht“, an Kamerad Walt. Mit der Zeit wurde er in den Lazarettſaͤlen unentbehrlich, eine Art Fachautoritaͤt in Liebesdienſten, in individueller Krankenbehandlung. „Ich kann be⸗ zeugen,“ ſchreibt er gelegentlich an den „Brooklyn Eagle“, „daß Freundſchaft buchſtaͤblich ein Fieber ge: heilt hat, und das Heilmittel taͤglich dargebrachter Zaͤrtlichkeit einen Schwerverwundeten.“ Unzaͤhlige Liebesgaben fuͤr ſeine Schuͤtzlinge haben in ſeinem Fell⸗ eiſen, in ſeinen weiten Taſchen, in ſeinem weiten Herzen Platz. Er bringt ihnen Obſt, Suͤßigkeiten und Tabak (obgleich er ſelbſt niemals geraucht hat), ſchenkt ihnen Federn, Briefmarken und Papier, ſetzt fuͤr ſie Briefe an die Angehoͤrigen auf und gibt dieſen wohl auch Nach⸗ richt vom letzten Salut und von den Soldatengraͤbern. Zwiſchendurch aber veranſtaltet er Feſte mit Eiscreme...

156 Vom guten, grauen Dichter

Und während er mit dem Geſicht eines Freuben⸗ ſpenders von Lazarett zu Lazarett eilt, brennt tief in ſeiner Bruſt eine gluͤhende Flamme, ein zehrendes Feuer. In den „Trommelſchlaͤgen“, die Johannes Schlaf, wie vieles andere, pietaͤtvoll ins Deutſche uͤber⸗ tragen hat, erzaͤhlt er, ein gebuͤckter Alter, dem neugie⸗ rigen Jungvolk von ſeiner Lazarettarbeit:

„Bandagen trag' ich, Waſſer und Schwamm.

Stracks, eilig begeb' ich mich zu den Verwundeten,

Wo ſie, vom Schlachtfeld eben eingebracht, am Boden liegen,

Wo ihr unſchaͤtzbares Blut das Gras des Erdbodens rötet

Zu allen und zu jedem einzeln trete ich heran; nicht einen laß ich aus;

Waͤhrend mir der Waͤrter folgt mit einem Kuͤbel oder einem alten Eimer,

Der bald mit Lappen und geronnenem Blut gefüllt ift, geleert wird, um fich abermals zu füllen.

Ich ſchreite und verweile, beuge mich hernieder und behandle die Verwundeten mit kund' ger Hand.

Feſt bin ich zu jedem; Schmerz zu verurſachen iſt hart, doch unvermeidlich. =

Dort wendet einer ſich mir zu und ruft mich an mit ſeinen Blicken armer Burſch! Nie hab' ich dich geſehn,

Doch, mein' ich, koͤnnt' ich es dir in dieſem Augenblick nicht ver⸗ weigern, den Tod fuͤr dich zu leiden, wenn es dich retten koͤnnte ..“

Ende Maͤrz des Jahres 1864, nachdem der uner⸗ bittliche Grant den Oberbefehl erhalten und Whitman erkannt hat, daß es nun auf die Vernichtung Lees und der Konfoͤderierten abgeſehen ſei, ſchreibt er nach Hauſe: „O Mutter, zu denken, daß wir das nun bald wieder hier haben werden, was ich hier nun ſchon ſo oft geſehen habe, die peinvollen Fuhren und Zuͤge und Bootladungen von armen, blutigen, bleichen, verwundeten jungen

Von Max Adler 157

Leuten! ... Ich nehme all die kleinen Anzeichen wahr,

wie die Lazarette vorbereitet werden und ſo weiter. Es iſt ſchrecklich, daran zu denken ... Was fuͤr eine furcht⸗ bare Sache iſt der Krieg! ...“ Und gegen das Ende des Feldzugs berichtet er: „Der große Saal, in dem ich jetzt bin, iſt ausſchließlich fuͤr Sezeſſionsſoldaten beſtimmt. Ein Mann, gegen vierzig Jahre alt, vom Durchfall aus⸗ gemergelt, zog mich an, wie er, die Augen nach oben gedreht, dalag gleich einem Toten. Seine Schwaͤche war ſo uͤberaus groß, daß es eine Minute oder ſo etwas dauerte, bis er in einigermaßen zuſammenhaͤngender Weiſe zu ſprechen vermochte; und doch war er augen ſcheinlich ein Mann von guter Intelligenz und Er⸗ ziehung ... Er hatte eine Mutter, Weib und Kind, die in ihrem Heim am Miſſiſſippi lebten. Es war lange, lange her, daß er fie nicht mehr geſehen hatte ... Der Anblick des Mannes praͤgte ſich mir aufs tiefſte ein. Das Fleiſch war im Geſicht und an den Armen voͤllig ein: gefallen, die Augen in ihren Hoͤhlen geſunken, glaſig, dunkel unterlaufen. Zwei, drei große Traͤnen rannen ihm langſam aus den Augen die Schlaͤfen herab. Ohne Zweifel war er nicht gewohnt, daß man ſo mit ihm ſprach, wie ich mit ihm geſprochen hatte..“

Wie er zum erſten Male ein Schlachtfeld erblickt, ſchreit er verzweifelt auf; und doch hat niemand weder vor ihm noch nach ihm die Wunder und den Glanz des Krieges ſo machtvoll beſungen wie dieſer Friedens⸗ ſtreiter und Kriegsheiland. Derſelbe Dichter, der die Schreckniſſe des Krieges in ſo grellen Farben malt, widmet in ſeinem „Sang der Freuden“ dem Soldaten⸗ leben dieſen begeiſterten Hymnus:

158 Vorm guten, grauen Dichter

8 ——— 8

nn ˙——u—-—̃ sen de

„Oh, noch einmal die Freuden des Soldaten durchleben!

Das Gefuͤhl der Gegenwart eines tapferen Kommandanten und ſeiner Sympathie. f

Seine kaltbluͤtige Ruhe zu gewahren ſich erwärmt zu fühlen von dem Strahl ſeines Laͤchelns.

In die Schlacht zu ruͤcken das Spiel der Hoͤrner zu hoͤren und das Raſſeln der Trommeln!

Das Krachen der Artillerie zu hoͤren! Das Glitzern der Ba⸗ jonette und der Gewehrlaͤufe in der Sonne!

Maͤnner fallen und ſterben zu ſehen ohne Klage! Ä

Den wilden Blutgeſchmack zu ſchmecken fo teuflifch fein zu können ! |

So Über den Tod und die Wunden der Feinde zu triumphieren!“

Muͤßig, nichtig wird ihm alles Friedensgeſchaͤft vor der umſtuͤrzenden, reinigenden Gewalt des gerechten Krieges:

„Schlagt, ſchlagt, Trommeln! Blaſt, Hoͤrner, blaſt!

Was da Verhandlung und was da Beſchwerde!

Achtet nicht der Zagen, auf Klagen nicht und Traͤnen!

Nicht der Bitte des Vaters fuͤr den Sohn!

Überdröhnt des Kindes Stimme und der Mutter Flehen!

Bahn macht fuͤr die Bahren, die Toten ſchuͤtten ſollen fuͤr den Leichenwagen!

So rauh euer Droͤhnen, ſchreckliche Trommeln! Ihr Hoͤrner, ſo hart euer Blaſen!“

Wenn aber der Lobpreiſer des Schlachtfeldtodes in die Zelte der Verwundeten eintritt, dann kommt er als Bote des Lebens. Dann ſtreut er, ein Abgeſandter der ſommerlichen Flur, Blumen uͤber die Betten, ſcherzt mit den Kranken und Verſtuͤmmelten und iſt wie ein Mahner zu den, ach, ſo jaͤh entgleitenden Freuden der Oberwelt. „Komm wieder, Walt! Komm wieder!“ rufen die Burſchen ihm nach, wenn er ſeine Runde be— endigt hat und fuͤr heute Abſchied nimmt.

Von Mar Adler 159

5 er 5 zu gen men ee

Und er kommt wieder. Solange, bis den Fuͤnfund⸗ vierzigjaͤhrigen, vor ſeeliſchen Qualen und materiellen Sorgen fruͤhzeitig Ergrauten den „guten, grauen Dichter“ nennt ihn eine Werbeſchrift ſeines Freundes O'Connor der aufreibende Samariterdienſt aufs Krankenlager wirft, von dem er ſich nie wieder voͤllig losloͤſen ſollte. Er hat dem Vaterland und ſeinen Soͤhnen alles gegeben, was er beſaß, ſeine Geſundheit, ſeine tatfrohe, troſtreiche Seele.

+}

Morgen um dieſe Zeit Von Heinz Welten

er junge Proviſor ſtreifte ein rotes Papier uͤber Mi Arzneiglas und band einen langen weißen

Zettel an den Flaſchenhals. Ein Maͤdchen, das wartend auf der Bank neben der Tuͤr geſeſſen, erhob ſich, zaͤhlte das Geld auf den Tiſch und bot „Guten Abend“. Aufatmend ſchloß der Proviſor die Tuͤr und drehte das Gas ab. Nur eine kleine Flamme, deren Schein auf die Straße fiel, mußte uͤber Nacht brennen. Der junge Mann ging in das Nebenzimmer. Ein Tiſch, auf dem noch Reſte eines beſcheidenen Abendeſſens ſtanden, ein paar Stuͤhle, ein Schrank mit Buͤchern und Arznei⸗ mitteln, fuͤr die in der Apotheke kein Raum war, eine Ruhebank mit einer Decke und zwei Kiſſen bildeten die ganze Einrichtung des ſonſt ſchmuckloſen, weißgetuͤnchten Zimmers.

Der Proviſor ſetzte ſich vor die Reſte ſeines Nacht⸗ mahls. Muͤde und abgeſpannt ſchweiften ſeine Augen durchs Zimmer und hafteten an der Alarmglocke; wie oft ſchon hatte ſie ihn aus dem erſten tiefen Schlaf ge⸗ weckt, der nach langer Tagesarbeit den Muͤden uͤber⸗ fällt, Er dachte an die gluͤcklicheren Berufsgenoſſen der Großſtaͤdte, die oft an einem Tag zweihundert und mehr Rezepte zu erledigen hatten. Um acht Uhr morgens gingen ſie zum Dienſt; von da an hieß es arbeiten, Pillen, Salben, Arzneien und Pulver bereiten, daß man kaum zu ſich ſelber kam, und doch war die Mittags pauſe immer ſo raſch da. Man ging in ein Gaſthaus, blieb zwei Stunden fort und konnte ſich erholen; die Nach— mittagsarbeit waͤhrte bis in die Abendſtunden, bis der Nachtdienſt begann oder bis man ausgehen konnte. An Dienſtabenden freute man ſich auf die freie Zeit, und an freien Abenden ging man in ein Theater, zum Konzert

7

Von Heinz Welten 161

oder wonach einen ſonſt verlangte. Waͤhrend der Dienſt⸗ ſtunden am Tage arbeitete man mit anderen zuſammen, mit denen es ab und zu ein Wort zu plaudern gab. Die Fenſter gingen auf die Straße, auf der das Leben vor⸗ uͤberflutete. Ja, das waͤre ein Daſein geweſen.

In Großſtaͤdten aber war nie Platz fuͤr Emanuel Olhauſen zu finden geweſen er ſtotterte. Wer haͤtte auch ohne Not einen ſtotternden Gehilfen angenommen, einen Menſchen, der nicht imſtande war, mit über: zeugendem Geſchick ein unfehlbares Huͤhneraugenmittel oder die beſten Magentropfen anzupreiſen? Leute wie Olhauſen muͤſſen auf dem Lande oder in Heinen Städten unterzukommen ſuchen, in Orten, die nur eine Apo⸗ theke haben, wo ſie keinen Vergleich zu fuͤrchten brauchen. Solche Stellen, um die ſich nicht viele bemuͤhen, gibt es immer, und die Beſitzer kleiner Apotheken mußten froh ſein, einen Gehilfen zu bekommen.

Olhauſen kleidete ſich aus, ſuchte ſein Lager und ſtarrte land hingeſtreckt zur Decke. Morgen um dieſe Zeit! Eine Nacht und einen Tag noch hatte er in dieſer Frone zu verbringen; dann aber war er frei, frei für zehn wundervolle Tage. Noch vierundzwanzig Stunden, und ſein Urlaub begann. Vom Rathausturm ſchlug die Glocke elf Uhr. Noch achtzehn Stunden Dienſt, dann war er frei. Morgen um dieſe Zeit konnte er von Nuͤrnberg mit dem Schnellzug nach Berlin und von dort vielleicht nach Hamburg weiterfahren. Ein ganzes Jahr lang Entſagung lag hinter ihm; er hatte gehungert und gedarbt, um einmal wieder das Groß: ſtadtleben genießen zu koͤnnen, wie damals, als er ſeine zwei Studienjahre in Berlin verbrachte, die ſchoͤnſte Zeit ſeines Lebens.

Über fuͤnfbundert Mark lagen in feiner Urlaubskaſſe,

1916. X. ö 11

162 Morgen um dieſe Zeit

damit konnte man in zehn Tagen ſchon etwas beginnen. Morgen um dieſe Zeit! Emanuel Olhauſen loͤſcht die Lampe und wuͤhlt ſich tief in die Kiſſen. Schwacher Lichtſchimmer faͤllt durch die Glastuͤr aus der Apotheke, die im Halbdunkel der kleingeſchraubten Gasflamme liegt. Nur das Ticken einer alten großen Standuhr unterbricht die Stille, kein Laut von der Straße dringt bis zu ihm. Vor dem Einſchlafen hoͤrt er ſchwere Schritte uͤber das hol prige Pflaſter. Ob man ihn wecken wird, ob ſie voruͤbergehen. Vielleicht wankt einer der biederen Kleinbuͤrger, der ſich beim Kegeln verſpaͤtet hat, dem heimiſchen Herde zu. Doch die Schritte kommen naͤher und halten vor der Apotheke, die Glocke raſſelt, Emanuel faͤhrt auf und greift nach der Schnur, die das Schlag⸗ werk abſtellt. Er wirft den Schlafrock um, ſchluͤpft in die Hausſchuhe und ſchlurft in die Apotheke. Er ſchraubt das Gas hoch und oͤffnet die kleine Klappe im Tuͤr⸗ laden. |

Auf der Straße halt ein Leiterwagen; ein junger Bauernknecht ſteht vor der Apotheke. Die Medizin fuͤr Muͤller ſolle er holen, das Rezept ſei heute mittag ſchon gebracht worden. Kaum verſucht Olhauſen, ſeinen Zorn zu verbergen. Oft kamen die Leute am Nachmittag in die Apotheke und ſcheuten ſich nicht, ihn nachts zu wecken, wenn ſie genug getrunken und geſpielt hatten und nach Hauſe fuhren.

„Die Medizin fuͤr Muͤller wollen Sie?“ Er blickt flüchtig auf das Brett, auf dem noch verſchiedene Flaſchen und Schachteln ſtehen. Vielleicht wird man ſie alle noch in dieſer Nacht abholen. Zuzutrauen iſt den Menſchen hier alles. Er lieſt die Namen auf den ein⸗ zelnen Glaͤſern und Schachteln; die zweite ſchon gehoͤrt dem Bauern Muͤller. Er verpackt die Schachtel und

Bon Heinz Welten

——

163

verſucht, ſeines Argers Herr zu werden, um ſich die Schlafſtimmung nicht voͤllig zu rauben.

Der Burſche geht gemaͤchlich zu ſeinem Fuhrwerk, und Olhauſen wirft ſich wieder auf ſein Bett. Zwei Uhr hoͤrt er noch ſchlagen. Aber in dieſer Nacht geht ihm kein Verdruß zu nahe: morgen um dieſe Zeit begann ja die Freiheit. | |

Um ſechs Uhr morgens weckt ihn der Burſche, um halb ſieben Uhr bringt das Maͤdchen das Fruͤhſtuͤck; die Laͤden werden geoͤffnet, und das Tagewerk geht ſeinen Gang. Doch heute ſchmeckt der duͤnne Kaffee mit dem ſpaͤrlich beſtrichenen Broͤtchen vortrefflich, es iſt ja der „letzte“ Morgenkaffee.

Gegen acht Uhr kommt der Apotheker herunter, der ihm muͤrriſcher noch wie zu anderen Tagen den Morgen⸗ gruß bietet. Heute iſt er noch weniger guter Laune als ſonſt; er aͤrgert ſich, daß er zehn Tage lang alles allein verſorgen muß, waͤhrend ſein Herr Gehilfe um ſein gutes

Geld vergnuͤgt in der Welt herumfaͤhrt. | | Langſam kriecht die Zeit vorwärts; nach dem Mittag: eſſen aber faͤngt ſie zu laufen an, als ob ſie alles wieder gutmachen wollte, was ſie im Lauf des Jahres an ihm ſuͤndigte. Noch drei, noch zwei Stunden! Und jetzt noch eine halbe Stunde! Faſt konnte man ſchon die Minuten zaͤhlen. Gegen halb ſechs Uhr haͤlt ein Wagen vor der Apotheke. Ein alter Bauer verlangt ein Pulver, das ihm der Tierarzt fuͤr ſein Pferd verſchrieben habe.

„Auf welchen Namen?“ fragt Emanuel Olhauſen.

„Na, fuͤr Klaus Muͤller. Fuͤr wen denn ſonſt? Kennen Sie mich denn nicht?“

Argerlich hoͤrt es der Apotheker im Nebenzimmer. Daß ſein Gehilfe ſich nie die Namen der Leute merken kann! Emanuel Olhauſen ſucht unter den

164 Morgen u um 1 diefe Zeit

een ans und kann die Pulver 110 finden.

„Wann haben Sie denn das Rezept gebracht?“

„Na, geſtern abend. Iſt's denn noch nicht fertig? Das dauert aber lange.“

Der Proviſor lieſt noch einmal die Namen auf den Flaſchen und Schachteln einzeln durch. Er findet nur eine Medizin fuͤr Bertold Muͤller, aber kein Pulver für Müllers Pferd. Ploͤtzlich wird ihm klar, daß er in der Nacht die beiden Rezepte verwechſelte, dem Bauern Bertold Muͤller hatte er die Pulver gegeben, die fuͤr Klaus Muͤllers Pferd beſtimmt waren.

Der Apotheker kommt aus dem Nebenzimmer: „Na, was gibt es denn? Koͤnnen Sie es noch nicht finden?“ Da reißt er ſich zuſammen.

„Doch; es iſt ſchon da.“ Schnell nimmt er einen kleinen Porzellanmoͤrſer, hebt die Handwage vom Regal und miſcht das Pulver noch einmal.

Der Apotheker nimmt ſchweigend das Rezept, um

eine neue Schachtel zu beſchreiben. Er hat begriffen, daß etwas nicht in Ordnung iſt. Als der Bauer draußen iſt, wendet er ſich an ſeinen Gehilfen. „Was war das, Herr Olhauſen?“

„Ich habe die Arzneien verwechſelt. Es waren zwei Rezepte auf den Namen Muͤller da.“

Der Apotheker ſieht ihn an und ſagt kein Wort. Dann ſchaut er in das Buch, in das alle Rezepte eingetragen werden muͤſſen.

„Iſt dies hier das andere?“ Er zeigt auf eine Ein⸗ tragung; Olhauſen folgt ſeinem Finger mit dem Blick.

„Ja, das iſt es. Es war heute nacht.“ Der Apo⸗ theker brauſt auf; kein Lehrling wuͤrde ſo handeln. Es ſei unerhoͤrt, Pferdepulver fuͤr einen Menſchen abzu⸗

Bon Heinz Welten 165 1 Den Tod muͤſſe der davon haben. Ob er wiſſe, was er getan habe? Ein Menſchenleben habe er auf dem Gewiſſen und kaͤme ins Zuchthaus. Die Apotheke habe er geſchaͤndet; an allem ſeien dieſe verdammten Reiſe⸗ gedanken ſchuld, die er allein noch im Kopf habe und nichts anderes ſonſt. Er wuͤrde ja jetzt ſehen, wo die Reiſe hinginge. Das ganze Haus habe er ungluͤcklich gemacht; kein Menſch wuͤrde mehr kommen, wenn es einmal herum ſei, daß der Herr Gehilfe die Leute ver⸗ gifte. Er ſchreit den niedergeſchmetterten Olhauſen an:

„Sie muͤſſen das gutzumachen ſuchen, wenn noch Zeit dazu iſt. Vielleicht hat der Muͤller die Pferdepulver noch nicht genommen. Sofort muͤſſen Sie hingehen und ſehen, ob die Arzneien noch umzutauſchen ſind. Bertold Muͤllers Hof liegt bei Oberkochen. Den Weg kennen Sie ja?“

Olhauſen nickt; er ſteckt die richtige Medizin in die Taſche, nimmt Hut und Stock und macht ſich auf den Weg. Zeit zum Nachdenken bleibt ihm genug; ein Weg von mehr als einer Stunde liegt vor ihm. Wenn er nun zu fpät kommt? Was dann? Was dann kommen wird? Die Verhaftung, die Fahrt ins Kreisgericht, die Unterſuchungshaft, die Gerichtſitzung und zuletzt das Gefaͤngnis. Und dann ging es bergab. Niemand wuͤrde ihn nachher noch nehmen wollen. Dann konnte er hinter dem naͤchſtbeſten Zaun auf ſein Ende warten.

Wenn er zu ſpaͤt Fame, wenn der Bauer ſchon ge: ſtorben war, ginge er in die Apotheke zuruͤck und ſagte dem Herrn nur, daß alles in guter Ordnung ſei. Dann wuͤrde er aus dem Schraͤnkchen Morphium nehmen.

Zerſchlagen und halb nur bei Sinnen kommt Ol⸗ hauſen vor das Gehoͤft. Eine Magd ſagt ihm, daß dem Herrn „nit ganz extra“ ſei, er ſaͤße in der Schlafſtube.

166 Morgen um dieſe Zeit

Gott ſei Dank; der Bauer lebte noch. Bertold Muͤller ſitzt behaglich am Fenſter und lieſt anſcheinend hoͤchſt aufmerkſam im Kreisblatt.

Olhauſen ſchuͤttelt kraͤftig die ihm gebotene Hand; er fuͤhlt ſich ploͤtzlich ſo leicht und wohl, trotzdem die Luft im Zimmer ſeiner Naſe gewaltig zu ſchaffen macht. Langſam, um nicht zu ſtottern, antwortet er auf die Frage, welcher Zufall ihn hergefuͤhrt habe, es ſei nur eine kleine Gefaͤlligkeit, die man ihm nicht wohl ab⸗ ſchlagen wuͤrde. Im Voruͤbergehen habe er in einer Gartenecke Pflanzen geſehen, deren Wurzeln fuͤr ihn von Wert ſeien. Das Zeug ſei fuͤr ihn wertlos, ſagte der Bauer, das koͤnne man gerne ausgraben.

Der Proviſor bedankt ſich. Er wolle nicht laͤnger ſtoͤren. Doch unter der Tuͤr bleibt er ſtehen. „Was ich noch ſagen wollte, Herr Muͤller. Heute nacht hab' ich doch ein Rezept für Sie gemacht. Sind Sie ſelbſt der Patient?“ 2

„Freilich bin ich's. Im Bauch hab' ich's, nicht zu wenig. Sehen Sie mir das nit an?“

„Na, arg krank ſchauen Sie gerad nicht aus. Hat denn die Medizin ſchon was geholfen, Pillen waren es oder „Pulver, nicht?“

„Ja, Pulver ſind's. und großartig haben ſie ge⸗ holfen; faſt ein biſſel zu viel. Achtmal haben ſie heut ſchon gewirkt, und dabei habe ich erſt eins genommen; heute abend ſoll ich noch eins nehmen. Meine Frau hat erſt gemeint, es waͤre was Verkehrtes, weil der Doktor von einer Flaſche geredet hat und fruͤh und abends von einem Eßloͤffel voll. Er wird ſich das halt uͤberlegt haben. Er hat auch vorher ſchon was von Pulvern geſagt gehabt.“

Olhauſens Herz wird immer leichter. „Freut mich, daß die Pulver ſo gut helfen. Zeigen Sie doch mal

Von Heinz Welten 167

—— ——

her. Was iſt denn eigentlich drin?“ Der Bauer holt die Schachtel und lacht vergnuͤgt.

„Ja, ſchauen Sie nur, Herr Proviſor, was Sie da hingeſchrieben haben. Bin ich denn ein Pferd? Ich haͤtt' es gar nicht gemerkt, aber mein Bub hat es geleſen.“

Olhauſens Finger ſchließen ſich feſt um die Schachtel; das mit der Aufſchrift iſt leider wahr.

„Ja. Ihr Bub hat recht. Da hab' ich wahrhaftig hingeſchrieben: fuͤr Muͤllers Pferd. Na, nehmen Sie mir das nicht uͤbel. Wenn man ſo mitten in der Nacht heraus muß, iſt man manchmal ein bißchen verſchlafen und ſchreibt ſo was hin.“

Der Bauer lacht, das brauche keiner großen Ent⸗ ſchuldigung, er habe ſich das gleich nicht anders gedacht.

lhauſen hat nur einen Gedanken, wie er die Pulver vernichten kann. Er ſieht neben dem Waſchtiſch einen Eimer mit Waſſer, tritt ins Zimmer zuruͤck, um dem Bauern die Pulver zu geben, ſtoͤßt an den Eimer, macht eine Bewegung, als ob er ftolperte, und wirft die Schach⸗ tel in das ſchmutzige Waſſer.

Der Bauer ſpringt auf und faßt ihn am Arm, ob er ſich weh getan?

Nein; aber die Pulver ſeien in den Eimer gefallen. Herausholen koͤnne man ſie nicht mehr, ſie ſeien ſehr empfindlich gegen Naͤſſe und laͤngſt verdorben. Dann ſagt er zu dem veraͤrgert dreinſchauenden Bauern, daß er ihm die Pulver wieder machen werde, und koſten ſollten ſie auch nichts; und heute noch ſollte er ſie haben. Vielleicht ſei es aber noch beſſer, wenn er ihm die Medizin mache, die der Doktor eigentlich verſchreiben wollte. Das Rezept kenne er ja, das er in ſolchen Faͤllen immer verſchriebe.

Der Bauer wehrt ab. Er wolle die Pulver haben.

18 * Morgen um dieſe Zeit

Die halfen am beſten. Sein Knecht koͤnne ihn nach FR fahren und die Schachtel zurückbringen. Er öffnet das Fenſter und ruft hinaus nach dem Knecht, er ſolle den kleinen Wagen anſpannen und in die Apotheke fahren.

Olhauſen beruhigt ſich. Warum ſoll er dem Bauern keine Pulver machen? Die Medizin, die er in der Taſche traͤgt, iſt ein Abfuͤhrmittel, das waren ja die Pulver auch, nur viel zu ſtark fuͤr einen Menſchen, ſo daß nur ein Kerl von der Baͤrennatur wie Bertold Muͤller eines ohne ſchlimme Folgen vertragen konnte. Wer weiß, ob die ſchwache Medizin bei dem angeſchlagen haͤtte? Er wird ihm nun ein paar Pulver machen, die auch wirken, wenn auch nicht ſo kraͤftig wie die erſten. Das moͤchte er doch nicht noch einmal verſuchen. „Freilich koͤnnen Sie auch die Pulver bekommen, wenn Sie lieber die haben wollen. Aber“ er uͤberlegt, wie er das, was er nun ſagen muß, am beſten herausbringt „aber wiſſen Sie, dem Doktor wuͤrde ich an Ihrer Stelle nichts davon ſagen, daß ſie fo gut gewirkt haben. Denn wiſſen Sie —“

Der Bauer ſchaut ihn verwundert an: „Na warum denn nit?“

Olhauſen verſucht noch einmal ſeine Kuͤnſte. Ja, wenn der Doktor ſaͤhe, daß feine Verordnungen fo groß: artig wirkten, koͤnne man ihm nicht verdenken, daß auch die Rechnung danach wuͤrde. Das koͤnne man ſich doch vorſtellen.

Der Bauer begreift. Er ſtoßt den Proviſor vertraulich in die Seite und lacht: er ſei ſchon ein ganz Schlauer. Aber er ſei auch nicht zu ſpaͤt aufgeſtanden. Am Abend wollte der Doktor wieder kommen. Aber er habe ihm ſchon in der Fruͤhe, als er gemerkt habe, daß die Pulver ſo gut wirkten, vom Poſthalter durchs Telephon ſagen laſſen, es ſei nicht mehr noͤtig, daß er kaͤme. Nein,

Bon Heinz Welten 169

jo geſcheit ferer allein, daruͤber nicht viel zu ſagen. Die zehn Mark koͤnne man beſſer fuͤr ein paar Huͤhner an⸗ legen oder als Zehrgeld auf die Kirchweih mitnehmen.

Die Pferde ziehen an, der Wagen rollt vom Hofe. Leichteren Herzens als er gekommen, faͤhrt Olhauſen den Weg zuruͤck. Vor einer Stunde dachte er noch an Gefaͤngnis und Selbſtmord. Auf dem Hinwege, da ihm das Herz ſo ſchwer war vor Kummer und ihm die Knie faſt vor Angſt brachen und ihn die Fuͤße kaum mehr tragen wollten, mußte er gehen. Und jetzt, da ihm leicht und froͤhlich zumute iſt, wie ſelten in ſeinem Leben, ſo daß er am liebſten ſpringen und im Galopp die Straße herunterlaufen moͤchte, jetzt muß er ſtillſitzen und fahren.

Der Apotheker wird erſtaunt ſein, wenn er ihn im Fuhrwerk kommen ſieht. Am Nachmittag war er noch grob mit ihm geweſen, hatte Worte gebraucht, die faſt zu weit gingen. Jetzt wuͤrde er ſich wohl anders gegen ihn benehmen, jetzt, wo ihm gelungen war, alles ſo gut ins Geleiſe zu bringen, daß nichts mehr geſchehen konnte. Das wuͤrde er ſchon anerkennen muͤſſen. War doch alles ſo gut abgelaufen, ſo ohne jede Moͤglichkeit, daß ein Ungluͤck noch nachkam. Das mußte wohl wahr ſein, und darauf allein kommt es im Leben an, daß einem das Gluͤck nicht entgegen iſt, daß wußte er, das fuͤhlte er diesmal war das Gluͤck mit ihm geweſen.

Der Pfiff einer Lokomotive gellt durch die Abend— ſtille und gibt ſeinen Gedanken eine andere Richtung. Wenn er ſich jetzt eilt, kann er noch den Nachtzug nach Nuͤrnberg erreichen. Dort ein paar Stunden Aufenthalt, dann der Fruͤhzug nach Berlin morgen um dieſe Zeit geht er ſchon unter den Linden ſpazieren!

*

Der Weltkrieg

Einundzwanzigſtes Kapitel Nit 10 Bildern

evor noch ein weſentlicher Schritt zur Verwirk⸗ Bic der ſeit langem angekuͤndigten feind⸗

lichen Generaloffenſive im Weſten geſchehen war, fuͤhrte die deutſche Heeresleitung einenſtarken Schlag gegen die franzoͤſiſche Stellung bei Verdun. Am 21. Februar begann beiderſeits der Maas ein maͤchtiges Feuer aus zumeiſt ſchweren deutſchen Batterien, dem am naͤchſten Tage ein glaͤnzender, von der Artillerie wirk⸗ ſam unterſtuͤtzter Sturmangriff der Infanterie im oͤſt⸗ lichen Maasgelaͤnde folgte. Die ſeit anderthalb Jahren mit allen Mitteln moderner Befeſtigungskunſt aus⸗ gebaute Stellung zwiſchen Conſenvoye und Azannes wurde in ungeſtuͤmem Anlauf durchbrochen, und ſchon am 23. ſtanden die deutſchen Batterien den Feſtungs⸗ geſchuͤtzen der aͤußerſten Werke von Verdun unmittel⸗ bar gegenuͤber. Zwei Tage ſpaͤter wurde der noͤrdliche Eckpfeiler der Feſtung, das Panzerfort Do u aumont, von brandenburgiſchen Truppen mit ſtuͤrmender Hand genommen; franzoͤſiſche Gegenangriffe ſchlugen fehl. 228 Offiziere und 16 575 Mann an unverwundeten Gefangenen nebſt einer Beute von 78 Geſchuͤtzen (zum Teil ſchweren Kalibers) und 86 Maſchinengewehren waren das Ergebnis der ſiegreichen Schlacht bei Verdun. In weiteren Kampfhandlungen ſtieg die Geſamtbeute bis zum 4. Maͤrz auf etwa 20 000 Gefangene, 115 Ge⸗ ſchuͤtze und 161 Maſchinengewehre. Am 6. März ge: lang es ſodann, die deutſche Front durch die Erſtuͤrmung von Forges auch auf dem weſtlichen Maasufer vorzu: tragen, und der gleiche Tag brachte die Eroberung von Fresnes in der Woevreebene oͤſtlich Verdun; damit war der Feind völlig an den Fuß der Cötes Lorraines heran:

Der Weltkrieg 171

gedruͤckt. Am 10. Maͤrz erfolgte die reſtloſe Sau: berung des Rabenwaldes von den Überbleibſeln der franzoͤſiſchen Truppen, und durch die Wegnahme der

Leere Munitionswagen bringen verwundete Franzoſen aus der Schlachtfront zuruͤck.

1

172 Der Weltkrieg

Höhe „Toter Mann“ war auch das von den Franzoſen noch beſetzte Béthincourt unhaltbar geworden. Vor: uͤbergehend gelang es poſenſchen Reſerveregimentern, in der Panzerfeſte Vaux (an der Oſtfront des Feſtungs⸗ gebiets von Verdun) feſten Fuß zu faſſen.

Insgeſamt ergaben die Kaͤmpfe im Maasabſchnitt bis zum 11. Maͤrz eine Zahl von 26 472 unverwundet Gefangenen und eine Beute von 189 Geſchuͤtzen und 232 Maſchinengewehren. Und dieſe Ziffern erhoͤhten ſich in der Folge noch fortgeſetzt. So wurden am 21. bei der Erſtuͤrmung feindlicher Stellungen nordweſtlich von Avocourt wieder über 2500 Franzoſen unver: wundet gefangengenommen.

Naturgemaͤß verſuchten die franzoͤſiſchen und eng⸗ liſchen Berichte den Erfolg zu verkleinern. Offenherziger gab ſich der militaͤriſche Mitarbeiter der „Times“ in einer Schilderung des deutſchen Trommelfeuers. „Saͤmt⸗ liche Meldungen von der Front,“ hieß es da, „berichten, daß ſogar das ſchreckliche Artilleriefeuer bei der Offen⸗ ſive in der Champagne ein Werfen mit Petarden war im Vergleich zu dem ruͤckſichtsloſen Bombardement, das in dieſer Woche mit donnernder Gewalt von den Maashoͤhen widerhallte. Die berühmten 30,5: und 42⸗em-⸗Kanonen, die von der ruſſiſchen und ſerbiſchen Front zuruͤckgefuͤhrt wurden, vermehrten die Kraft der ſchrecklichen Kanonade, welche die ganze Gegend durch: wuͤhlt und ihr Angeſicht veraͤndert hat. Laufgraͤben und Feldbefeſtigungen wurden in Stuͤcke geriſſen und vernichtet, wobei kleinere Huͤgel und Schluchten ent⸗ ſtanden. Niemals fruͤher wurde eine Schlacht ſo in allen Einzelheiten vorbereitet, niemals eine Armee ſo gewaltig mit Artilleriemitteln fuͤr den Sieg aus⸗ geruͤſtet.“

Der Weltkrieg 173

Eine der neuen ſchweren franzoͤſiſch

Übrigens zeigte die Maßregelung einzelner fran⸗ zoͤſiſcher Generale, die wegen erwieſener Unfaͤhigkeit abgeſetzt wurden, wie man in den leitenden milltaͤriſchen

en Luftbomben.

- Ab. 0."

174 Der Weltkrieg

Kreiſen Frankreichs über den Verluſt der „wertloſen“ Feſtung Douaumont und uͤber die ſonſtigen Vorgaͤnge um Verdun tatſaͤchlich dachte. f

Auch an anderen Stellen der Weſtfront gab es leb⸗ hafte Kaͤmpfe. Am 21. und 22. Februar wurden bei Souchez feindliche Graͤben teils erobert, teils geſprengt, am 25. und 26. Februar heftige engliſche Angriffe bei Armentieres und ſuͤdoͤſtlich von Ypern unter lebhaften Artillerie- und Minenkaͤmpfen abgeſchlagen. Am 27. Februar gelang es, die Franzoſen ſuͤdlich von Ste. Marie⸗à⸗Py, wo fie in die deutſche vorderſte - Stellung eingedrungen waren, wieder hinauszuwerfen, ihnen 1035 Gefangene, 9 Maſchinengewehre und 1 Minenwerfer abzunehmen und ihre Front in einer Ausdehnung von uͤber 1600 Metern zuruͤckzudraͤngen. Kleinere Erfolge hatten die deutſchen Truppen Ende Fe⸗ bruar im Oberelſaß und bei Metz. Verſuche des Feindes, nordweſtlich von Pfirt, bei Oberſept, ſeine alten Stel⸗ lungen wiederzugewinnen, endeten am 3. und ſpaͤter⸗ hin am 11. Maͤrz mit blutigen Verluſten. Gute Fort⸗ ſchritte machten die Deutſchen auch in den Argonnen (nordoͤſtlich von Chalade), in der Champagne (oͤſtlich von Maiſon de Champagne) und auf dem rechten Fluͤgel nordoͤſtlich von Vermelles, wo engliſche Truppen, die in die vorderſten Graͤben eingedrungen waren, mit dem Bajonett zuruͤckgetrieben wurden. Die deutſche Offen⸗ ſive bei Verdun wurde erfolgreich unterſtuͤtzt durch einen Vorſtoß ſaͤchſiſcher Regimenter bei Reims, wo am 10. Maͤrz ſtark ausgebaute franzoͤſiſche Stellungen in den Waldſtuͤcken ſuͤdweſtlich und ſuͤdlich von Ville⸗ au⸗Bois in einer Breite von 1400 Metern und in einer Tiefe von 1000 Metern geſtuͤrmt wurden; 12 Offiziere, 725 Mann, 1 Revolverkanone, 5 Maſchinengewehre

agdvaßogoga zh 200 a Bunyaylenyz Ag an) Bundes uaplnag 10 uoa uagaam gajJaog uophlgtuna) gu eue

1706. Der Weltkrieg

ſowie 13 Minenwerfer blieben in der Hand der Sieger.

Die Luftflotte war inzwiſchen auch nicht untaͤtig. In Flandern wurden am 26. Februar feindliche Truppen— lager mit Erfolg bombardiert. Einen eigenartigen Er: folg hatte am 29. Februar ein von Leutnant der Reſerve Kuͤhl geführtes Flugzeug, das auf der Strecke Be: ſangon—Juſſey einen franzoͤſiſchen Militaͤrtransportzug durch Bombenwurf zum Stehen brachte und ſodann der ausgeſtiegenen Mannſchaft mit ſeinem Maſchinen⸗ gewehr einen Kampf lieferte. In der Nacht zum 6. Maͤrz belegt eine deutſches Luftſchiff die Bahn⸗ anlagen von Bar⸗le⸗Duc mit Bomben.

Außerordentlich lebhaft war die Taͤtigkeit deutſcher Flieger im Bereiche von Verdun, wo ſie feindliche Truppen, Bahnanlagen und Unterkunftsorte wieder⸗ holt mit Bomben belegten und in einer großen Zahl von Luftkaͤmpfen die Oberhand behielten. Wieder⸗ holte Beſchießungen von Metz durch franzoͤſiſche Luft— ſchiffgeſchwader ſo am 8. und in der Nacht zum 18. Maͤrz hatten zwar einige Faͤlle von ſchweren und toͤdlichen Verletzungen unter der Zivilbevoͤlkerung zur Folge, endeten aber ſtets mit empfindlichen Ver⸗ luſten der Angreifer. Eine beſondere Erwaͤhnung ver— dient auch in dieſem Kampfabſchnitt die Taͤtigkeit der beiden Fliegeroffiziere Immelmann und Boͤlke, die bisher ungefaͤhr je ein Dutzend feindlicher Flieger zur Strecke brachten. Zum Teil handelte es ſich dabei um engliſche Flugzeuge, wie denn uͤberhaupt die Eng: laͤnder bei den Luftkaͤmpfen im Februar und März recht ſchlecht abſchnitten. Auch ſtatteten deutſche Waſſerflug⸗ zeuge und Marineluftſchiffe wiederholt ihre gewohnten Beſuche auf engliſchem Boden ab. Ain 1. März wurde

"wg un ie nds 0 ue uhu uus mcc eee 214 bene ag eee ieee ede uazqupibud ug uoa um

N E72

*

12

Digitized by Google

X.

1916.

178 Der Weltkrieg

die engliſche Oſtkuͤſte bombardiert, in der Nacht zum 5. Maͤrz die Stadt Hull am Humber, ein wichtiger Flottenſtuͤtzpunkt mit großen Dockanlagen, erfolgreich beworfen, und am 19. März erfolgte ein wirkungs⸗ voller Fliegerangriff auf die militaͤriſchen Anlagen von Dover, Deal und Ramsgate.

Ein Vergleich der beiderſeitigen Luftkriegverluſte im Februar ergibt neuerdings die unzweifelhafte Überlegen= heit der Deutſchen im Fliegerkampfe. Ihre Verluſte an Flugzeugen an der Weſtfront betrugen in dieſem Monat:

Im Luftkampf . Durch Abſchuß von der Erde Be Damit t 6 Im ae 6 Die Franzoſen und Englaͤnder verloren dagegen: Im Luftkampf 13 Durch Abſchuß von der Erde Durch unfreiwillige Landung innerhalb der deutſchen Linien 2 Im ganzen 20

Dabei ſind jedoch die zahlreichen, hinter den feind— lichen Linien abgeſchoſſenen Flugzeuge nicht mitgezaͤhlt.

Kein Wunder, wenn unter dieſen Umſtaͤnden im engliſchen Parlament lebhaft daruͤber geklagt wurde, daß die Fuͤhrerſchaft in der Luft an Deutſchland uͤber⸗ gegangen ſei. Ein beſonders peinliches Mißgeſchick der engliſchen Abwehrorganiſation brachte bei einer ſolchen Gelegenheit ein Abgeordneter und Hauptmann zur Sprache. „Was ereignete ſich in der Luft?“ fragte er erboſt. „Unſere Flugzeuge ſtiegen auf, als die feind⸗ lichen Flieger ſchon den Blicken entſchwunden waren. Sie ſahen einander fuͤr Feinde an, und es fand ein Luftkampf zwiſchen einem unſerer Waſſerflugzeuge und

u3ganm us uoyuauog z uach 430 Bunda

wowB u>BuvjaB udeblegz ug uog 129% aeun olg

noa

uofosg wog uevqjog ↄꝙ hn

5

2 ERS ES

za

180 Der Weltkrieg

einem unſerer Armeeflieger ſtatt. Doch nicht genug an dem: ſchließlich richteten noch unſere Abwehrgeſchuͤtze ihr Feuer gegen unſere beiden Flugzeuge. Bei dieſen vergeblichen Verſuchen, unſere eigenen Flieger abzu⸗ ſchießen, iſt es aber unſerer Artillerie wenigſtens ge⸗ lungen, den Kirchturm von Valmer ſchwer zu be: ſchaͤdigen und einige unſerer Mannſchaften in den Kaſernen zu treffen. Sind ſolche Vorfaͤlle geeignet, uns Vertrauen in unſere Luftſchiffahrt oder zur Re⸗ gierung einzufloͤßen? ... Eine ſchlechtere Organiſation als die jetzige iſt kaum denkbar.“

Das erfreulichſte Ereignis zur See war in dieſem Zeitabſchnitt die Ruͤckkehr der „Moͤ we“, die unter ihrem Kommandanten, -HKorvettenkapitaͤn Graf zu Dohna⸗Schlodien, nach ihren wunderbaren, erfolg⸗ reichen Kreuzfahrten auf hoher See mit 4 engliſchen Offizieren, 29 engliſchen Matroſen und 166 Mann feindlicher Dampferbeſatzungen als Gefangenen und einer Beute von einer Million Mark in Goldbarren in einem heimiſchen Hafen einlief. 15 feindliche Dampfer mit 58 000 Tonnen Raumgehalt hat das Schiff auf- gebracht und zum Teil verſenkt, zum Teil als Priſen nach neutralen Haͤfen geſandt; es hat ferner an ver⸗ ſchiedenen Stellen der feindlichen Kuͤſte Minen gelegt, denen unter anderen das engliſche Schlachtſchiff „König Eduard VII.“ zum Opfer fiel.

Deutſche U-Boote verſenkten vor Le Havre nebſt einem Minenſucher zwei franzoͤſiſche Hilfskreuzer mit je vier Geſchuͤtzen und in der Themſemuͤndung einen bewaffneten engliſchen Bewachungsdampfer. Im Mittelmeer wurde am 26. Februar der franzoͤſiſche Hilfskreuzer „La Provence“ verſenkt, der mit einem Truppentransport von 1800 Mann nach Saloniki unter⸗

Der Weltkrieg 181

wegs war; nur 698 Mann wurden gerettet. „La Pro: vence“ war naͤchſt der „France“ der groͤßte und ſchnellſte

Hilfskreuzer der franzoͤſiſchen Flotte. Überdies fiel eine große Zahl feindlicher Handelsdampfer deutſchen

Franzoͤſiſche Mine, die in einem Baume über einem deutſchen Schuͤtzengraben

haͤngen blieb und ſo nicht zur Exploſion kam. Aus dem Graben aufgenommen.

182 Der Weltkrieg

U:Booten zum Opfer. Sehr bemerkenswert waren auch die deutſchen Erfolge im Seeminenkrieg. Auf der Hoͤhe von Dover lief der engliſche Poſtdampfer „Maloja“, ein Schiff von 13 000 Tonnen Raumgehalt, auf eine Mine und ging unter. Vor der Themſemuͤndung ereilte den britiſchen Torpedobootszerſtoͤrer „Hind“ das gleiche Schickſal. An der Oſtkuͤſte Englands verſanken der engliſche Zerſtoͤrer „Coquette“, der Hilfskreuzer „Fauvette“ und ein Torpedoboot. Am 20. Maͤrz be⸗ haupteten ſich in einem Seegefecht an der flandriſchen Kuͤſte drei deutſche Torpedoboote ſiegreich gegen fuͤnf engliſche Zerſtoͤrer. Die gleichzeitige Beſchießung der deutſchen Stellungen bei Zeebruͤgge durch ein engliſches Geſchwader und 65 feindliche Flugzeuge wurde durch die deutſchen Abwehrbatterien wirkungsvoll erwidert. Noch ſchwerer als die Schiffsverluſte an ſich be— gannen ſich in England allmählich die wirtſchaft— lichen Folgen der deutſchen Seekriegfuͤhrung bemerk— bar zu machen: eine von Tag zu Tag ſich ſteigernde Frachtraumnot und die den Seeverkehr ge— fährdende Uberfuͤllung der Seehäfen. Der große Fiſchzug der „Moͤwe“ allein hatte fo viel Schiffs: raum vernichtet, daß durch deſſen Benuͤtzung die Lon⸗ doner Bevoͤlkerung einen Monat lang mit Getreide haͤtte verſorgt werden koͤnnen. Und im U-Boot beſitzt Deutſchland eine Waffe, die dieſen wundeſten Punkt Englands am empfindlichſten zu treffen vermag. Der verdienſtvolle Schöpfer der neudeutſchen Flotte, Großadmiral v. Tirpitz, nahm am 16. Maͤrz den Ab⸗ ſchied, ſeinem Nachfolger Admiral v. Capelle eine große, verantwortungsreiche Aufgabe hinterlaſſend. Jedenfalls hat England nichts unverſucht gelaſſen, die Schwierigkeiten, die auch den Neutralen aus der

1

oda Y 0 uv Wei eben- eee Funuprsteng D 20 ene ug biene ur e am 7 1 9%

—— nme

RG |

1:5. Vici e 275

e 7 > 2 A se Sdraussind Plateau i. Doberdo 4 # 3 u An Be

*

Vogelſchaukarte vo

N.5; Gabriele

hoͤrz und Umgebung.

186 Der Weltkrieg

Kriegslage zur See unzweifelhaft erwachſen, fuͤr ſeine Zwecke auszunuͤtzen. Der Untergang zweier großer hollaͤndiſcher Dampfer in der Nordſee, der „Tubantia“ und der „Palembang“, wurde in London ohne weiteres den Deutſchen in die Schuhe geſchoben, obgleich minde⸗ ſtens ebenſoviel Wahrſcheinlichkeit dafuͤr ſprach, daß die beiden hollaͤndiſchen Schiffe von den Englaͤndern torpediert oder durch eine engliſche Mine vernichtet wor⸗ den waren. Portugal, „des Traurigen traurigſter Knecht“, hatte laͤngſt der britiſchen Lockung nachgegeben und am 23. Februar unter Außerachtlaſſung der all⸗ gemeinen Beſtimmungen des Voͤlkerrechts und des mit Deutſchland geſchloſſenen Handelsvertrags 37 in portu⸗ gieſiſchen Haͤfen liegende deutſche Schiffe mit uͤber 270 000 Tonnen Raumgehalt beſchlagnahmt. Da der deutſche Proteſt unberuͤckſichtigt blieb, erklaͤrte die deutſche Regierung am 10. Maͤrz an Portugal den Krieg. =

Mit allen Mitteln wurde auch die braſilianiſche Regierung bearbeitet, dem ſchmachvollen Beiſpiel Portu⸗ gals zu folgen, und die völlig undurchſichtigen Verhaͤlt⸗ niſſe in den Vereinigten Staaten, wo Praͤſi⸗ dent Wilſon im Sinne Englands weder die Landung bewaffneter Handelsdampfer in amerikaniſchen Haͤfen, noch das Reifen amerikaniſcher Bürger auf ſolchen Schiffen verhindern wollte, ließen die Gefahr eines Konflikts lange nicht ausgeſchloſſen erſcheinen.

Gaͤnzlich mißlang dagegen jeglicher Verſuch, die Schweiz, die nach allen Seiten muſterhafte Neu— tralitaͤt wahrte, in den Krieg hineinzuziehen. Der mit einem Freiſpruch beendigte Prozeß gegen die beiden Oberſten, die beſchuldigt waren, Deutſchland durch ein⸗ ſeitige Nachrichtenvermittlung beguͤnſtigt zu haben, be⸗

Der Weltkrieg 187

Oſterreichiſch⸗ungariſcher Soldat mit einem Sauerſtoffa pparat als Schutzmittel gegen die Gaſe der italieniſchen Chlorbomben. reitete der nichtswuͤrdigen welſchen Hetze, die nicht nur das vertrauensvolle Verhaͤltnis zu Deutſchland zu ver⸗ giften ſuchte, ſondern auch die Autoritaͤt der ſchweize⸗

Digitized by 0 08 le

188 Der Weltkrieg

riſchen Militaͤr⸗ und Bundesbehoͤrden bedrohte, ein jaͤhes Ende. | . Gegenuͤber den militärifchen, politiſchen und diplo⸗ matiſchen Vorgaͤngen im Weſten traten die Ereigniſſe auf dem oͤſtlichen Kriegſchauplatz an Be deutung merklich zuruͤck. Ernſthaftere Kampfhand⸗ lungen ſetzten dort erſt Anfang Maͤrz ein. In der Gegend von Illuxt verſuchten die Ruſſen am 4. einen größeren Vorſtoß, führten aber den Angriff nicht durch. In einem kleineren Gefecht bei Alſſewitſchi, nordoͤſtlich von Baranowitſchi, wurden die Ruſſen aus ihren Stel⸗ lungen geworfen. Am 6. Maͤrz griffen oͤſterreichiſch⸗ ungariſche Truppen die Ruſſen bei Karpilowka an und ſetzten ſich in ihren Schanzen feſt. Nordweſtlich von Tarnopol entriſſen ſie dem Gegner einen Graben von 1000 Metern Länge. Ruſſiſche Vorſtoͤße an der beſſarabi⸗ ſchen Front wurden am 12. Maͤrz abgewieſen. Er⸗ bitterte Kaͤmpfe entwickelten ſich am 19. zu beiden Seiten des Naroczſees (an der Front Dryſwjatyſee Poſtawy ſuͤdlich von Duͤnaburg). Der Feind wurde uͤberall unter ungewoͤhnlich ſtarken Verluſten ab⸗ gewieſen; 9270 gefallene Ruſſen lagen vor den deutſchen Stellungen. An der galiziſchen Front am Dnjeſtr mußte der Bruͤckenkopf von Uſzieczko nach ſechs⸗ monatiger tapferer Verteidigung unter dem Drucke einer achtfachen ubermacht am 19. März geräumt werden. Im Kaukaſusgebiet und in Perſien ſetzten die Ruſſen nach dem Fall von Erzerum ihre Vorwaͤrtsbewegung fort. Bitlis und Kermanſchah wurden genommen, und am 19. Maͤrz fiel auch Iſpahan, die ehemalige Hauptſtadt Irans, in die Haͤnde der Ruſſen. Auf dem albaniſchen Kriegſchauplatze hat ſich das Schickſal der in Durazzo eingeſchloſſenen

ug ur app eee

190 Der Weltkrieg

Italiener und ihres Verbündeten Eſſad entſchieden. Am 27. Februar drangen unſere Verbuͤndeten, oͤſter⸗ reichiſch⸗ungariſche und bulgariſche Truppen, in die von den fluͤchtenden Feinden in Brand geſteckte Stadt ein; 34 Geſchuͤtze und 11400 Gewehre fielen ihnen als Siegesbeute zu. Auch an Valona das in der Nacht zum 21. Maͤrz ein heftiges Fliegerbombardement uͤber ſich ergehen laſſen mußte ruͤckte die Einſchließung immer naͤher heran.

In und um Saloniki fuhren die Alliierten fort, ihre Stellungen zu verſtaͤrken und ſich als die Herren im Lande aufzuſpielen. Ein in der Nacht zum 18. Maͤrz ausgefuͤhrter Luftfchiffangriff auf die Ententeflotte bei Kara⸗Burun ſuͤdlich von Saloniki zeigte, daß die

Heeresleitung des Vierverbands die Entwicklung der

dortigen Verhaͤltniſſe ſtets im Auge behielt.

An der italieniſchen Front wurden groͤßere Unternehmungen zunaͤchſt durch die Lawinengefahr ver: hindert. Erſt am 8. Maͤrz ſetzte regere Artillerietaͤtigkeit ein, und die naͤchſten Tage brachten am Tolmeiner und Goͤrzer Bruͤckenkopf, im Abſchnitt von Plava und auf der Hochflaͤche von Doberdo mit ſtarken Kraͤften durchgefuͤhrte italieniſche Angriffe, die aber ſaͤmtlich ſcheiterten. Dagegen entwickelte ſich ſeit dem 17. Maͤrz am Tolmeiner Bruͤckenkopf eine ſchneidige oͤſterreichiſche Offenſive, die mit der Eroberung wichtiger Stellungen, mit der Gefangennahme von 925 Italienern und der Erbeutung von 7 Maſchinengewehren endigte. Auch am Rombon und Nrzli Vrh wurden nicht unerhebliche Erfolge erzielt. Durch ein oͤſterreichiſch-ungariſches Unter: ſeeboot wurde am 18. März vor Durazzo ein franzoͤſi⸗ ſcher Tor pedobootszerſtoͤrer zum Sinken gebracht.

1

. v——

| Der Mord in der Gtaats: und Hauspolitik Eine hiſtoriſche Skizze von J. M. Berger

„Verrat und Mord, ſie hielten ſtets zuſammen Gleich einem Zweigeſpann verſchworener Teuſel.“ Shakeſpeare: Heinrich v.

n Setaſewo wurde der öfterreichifch- ungariſche

Thronfolger von verhetzten Menſchen, mit groͤßter

Wahrſcheinlichkeit auch mit Wiſſen und Willen der ſerbiſchen Regierung, im Juli 1914 ermordet, weil er als Gegner ihrer politiſchen Machtanſpruͤche galt. Vor nicht allzu langer Zeit wurde in Sofia eine Bombe in einen Ballſaal geworfen, um leitende. Perſoͤnlich⸗ keiten, die den ruſſiſchen Plaͤnen im Wege ſtanden, zu beſeitigen. So ſuchte auch England den hoͤchſt unbequem gewordenen Iren Sir Roger Caſement im Auftrag der. britifchen Regierung, die in Stockholm durch den Geſandten Findlay vertreten war, aus dem Weg raͤu⸗ men zu laſſen. Jaurés, der einflußreiche, beſonnene Fuͤhrer der ſozialdemokratiſchen Partei in Frankreich, deſſen abwehrende Stellung von allen Kriegshetzern als ſchweres Hemmnis ihrer Abſichten angeſehen war, fiel durch die Kugel eines beſtellten Moͤrders. Nicht grundlos, wie es ſcheint, hat man auch in dieſem Falle engliſche Haͤnde im Spiel vermutet. Auch in der Tuͤrkei verſuchte die Diplomatie des Dreiverbandes Verſchwoͤrungen anzuzetteln, um durch Beſtechungen alle den Mittelmaͤchten geneigten Miniſter, ſowie deutſche Offiziere zu ermorden und den Kreuzer „Jawus Selim“ (die fruͤhere „Goeben“) in die Luft zu ſprengen, um am Tage vor der franzoͤſiſchen Mobilmachung mit Hilfe der vor den Dardanellen verankerten engliſchen Flotte Konſtantinopel einzunehmen.

192 Der Mord in der Staats: und Hauspolitit

Die Summe, welche die engliſche Regierung dem Diener Roger Caſements bot, war verhältnismäßig gering fuͤr den Dienſt, den ſie von einem Manne er⸗ hoffte, der ſeinem Herrn die Treue hielt. England mußte ſeine Taſche in Indien zum Zweck politiſcher Erfolge weit ſtaͤrker in Anſpruch nehmen als in dieſem Falle und haͤtte vermutlich in gutem Geld bezahlt, was es nicht immer ſo hielt. So belohnte es einen der eingeborenen aͤgyptiſchen Helfer zur Zeit der alexandriniſchen Unruhen der achtziger Jahre mit minderwertigen, zu dieſem Zweck geprägten Gold: ſtuͤcken. N

Fuͤr den erſten Augenblick wirkte es uͤberraſchend, in unſeren Tagen dieſelben Mittel angewendet zu ſehen, um ſich politiſche Vorteile zu ſchaffen, wie ſie ſonſt nur aus ferner Vergangenheit uͤberliefert ſind. Man vergaß dabei nur das eine, daß England und Frank⸗ reich in ihren Kolonien bis in die neueſte Zeit den Zweckmaͤßigkeitsgedanken uͤber das Gewiſſen zu ſtellen gewohnt waren, voran gilt die Auffaſſung, daß im Ringen um die Herrſchaft alle Mittel nicht nur er⸗ laubt, ſondern geboten ſeien.

Es gehoͤrte zu dem politiſchen Irrſinn der ruͤck⸗ ſichtslos ihre Ziele verfolgenden Menſchen der italieni⸗ ſchen Renaiſſance, zu glauben, die „Freiheit“ zu er⸗ ringen durch den Mord der „Tyrannen“. Eine Auf⸗ faſſung, die noch ſo ſpaͤt und unter voͤllig veraͤnderten Verhaͤltniſſen fuͤr die romaniſchen Voͤlker in der fran⸗ zoͤſiſchen Revolution als verhaͤngnisvoller Irrtum wiederkehrte. Dolch und Gift waren im Italien der Renaiſſance gelaͤufige Mittel, um politiſche Gegner aus der Welt zu ſchaffen. Nach Burckhardts gewiegtem Urteil macht das Italien jener Jahrhunderte den Ein⸗

Von J. M. Berger f 193

druck, „als ob auch in gewoͤhnlichen Zeiten die großen Verbrechen haͤufiger geweſen waͤren, als in anderen Laͤndern“. Sicher iſt, daß das „beſoldete, durch dritte Hand geuͤbte, das zum Gewerbe gewordene Morden in Italien große und ſchreckliche Ausdehnung gewonnen hatte“. Ein alter Schriftſteller, Pontano, ſchrieb uͤber das ſuͤdliche Italien, beſonders von Neapel: „Hier iſt nichts billiger zu kaufen als ein Menſchenleben.“ Im uͤbrigen Italien war das bezahlte Verbrechen haͤufiger oder ſeltener, je nachdem zahlungsfaͤhige hochgeſtellte Anſtifter vorhanden waren. Fuͤrſten und Regierungen gaben das ſchlimmſte Beiſpiel: ſie machten ſich gar kein Bedenken daraus, den Mord unter die Mittel ihrer Allmacht zu zaͤhlen. Es bedurfte dazu nicht erſt eines Ceſare Borgia; auch die Sforza, die Aragoneſen, die Republik Venedig, ſpaͤter auch die Werkzeuge Karls V. erlaubten ſich, was „zweckmaͤßig“ ſchien. In den venezianiſchen Archiven fanden ſich Schrift— ſtuͤcke uͤber fuͤnf vom Rat gutgeheißene Antraͤge, den tuͤrkiſchen Sultan zu vergiften, uͤber den dort gehegten Plan, Karl VIII. zu ermorden und uͤber den Auftrag an den Proveditor in Faenza, den Ceſare Borgia toͤten zu laſſen.

Am 9. Juni 1477 wurde vom „Rat der Zehn“ in Venedig der Beſchluß gefaßt: Das Anerbieten, den Sultan Mohammed II. mit Hilfe des Meiſters Valcho, ſeines Leibarztes, zu ermorden, das von Salomoneino und ſeinen Bruͤdern ausgegangen iſt, wird angenommen. Zugleich ſoll dem Salomoncino und ſeinen Bruͤdern kraft der Vollmacht des Rates alles bewilligt werden, was ſie verlangt haben. Die Formel lautete: Wir verpflichten uns, dieſe Verſprechungen zu erfuͤllen, ſo⸗ bald bewiefen fein wird, daß der Tod des Sultans

1913. X. 13

194 Der Mord in der Stauts⸗ und Hauspolitif

durch Meiſter Valcho herbeigefuͤhrt wurde. Salo⸗ moncino hatte ſich die Verleihung eines Bankprivi⸗ legiums vom Rat der Zehn ausgebeten. Der geplante Mord wurde nicht zur Tat. Mohammed II. ſtarb vier Jahre ſpaͤter eines natuͤrlichen Todes. |

In den Abſolutionstaxen war feit 1514 die Er: mordung durch den Gatten, nicht aber jene des Mannes durch die Frau vorgeſehen. Selbſt bei Kroͤnungs⸗ maͤhlern brachten hohe Gaͤſte ihre eigenen Kellermeiſter und Weine mit, vielleicht weil man aus Erfahrung wußte, wie leicht Gifte in den Trank gemiſcht wurden. Dieſe Sitte war in Rom allgemein und: galt nicht als Beleidigung fuͤr den Gaſtgeber.

Die Bravi, gedungene Moͤrder, waren uͤberall zu finden, zu erkaufen. Um 1487 ging alles in Waffen, alle Häufer der Großen waren voller Kriegsknechte, die ſtets zum Morden bereit waren; ; täglich gab es Gewalttaten; bei der Beerdigung eines ermordeten deutſchen Studenten in Venedig ſtellten ſich zwei Kol⸗ legien in Waffen gegeneinander auf. Bisweilen lieferten ſich die Bravi verſchiedener Haͤuſer Schlachten auf offenen Plaͤtzen. Ein Guͤnſtling Innocenz' VIII. wurde am hellen Tag auf der Gaſſe erſtochen, ein anderer Alexanders VI., der abgeſandt war, um zu ſchlichten, erntete offenen Hohn. Unter den Tyrannen, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts nach Macht ſtrebten, kam es zu grauenvollen Taten. In den Schreckensjahren zu Perugia bekaͤmpften ſich die um die Herrſchaft ringenden Haͤuſer bis ans Meſſer. Knie⸗ faͤllig bat Simonetto ſeinen Oheim, den Jeronimo della Penna töten zu duͤrfen. Um die Mitte des Som⸗ mers 1500 reifte bei der Hochzeit des Aſtorre mit der Lavinia Colonna eine gewaltige Verſchwoͤrung. Von

Von J. M. Berger 195

den gedungenen Bravi bekam jeder noch fuͤnfzehn Helfer als Wachen geſtellt; in der Nacht vom 15. Juli wurden die Tuͤren eingerannt und der Mord an Guido, Aſtorre, Simonetto und Gismondo vollzogen. Die Sieger gingen bei den Freunden der Familie herum und wollten ſich empfehlen, fanden indes alles in Traͤnen und mit der Abreiſe auf die Landguͤter be: ſchaͤftigt. Damals wurde der Dom, der das meiſte dieſer Tragoͤdie in ſeiner Naͤhe geſehen, mit Wein ab⸗ gewaſchen und neu geweiht. Nach dieſem Morden, das Gianpaolo zum Herrn Perugias machte, ent— ſtand eine ſagenhafte Vorgeſchichte des Hauſes der Baglionen, dem die Ermordeten entſtammten. Alle Mitglieder der Familie ſollten von jeher eines boͤſen Todes geſtorben ſein, einſt ſiebenundzwanzig mitein⸗ ander. Ihre Haͤuſer ſeien geſchleift und mit den Ziegelſteinen die Straßen gepflaſtert worden. Im Jahre 1506 wurde Gianpaolo Baglione genötigt, Su: lius II. zu huldigen. Der Papſt hatte Perugia über: waͤltigt. Damals, meint Macchiavelli, habe Gianpaolo verſaͤumt, bei der Huldigung ſich durch die Ermordung Julius' II. unſterblich zu machen. Unter Leo X. lockte man Gianpaolo 1520 nach Rom und enthauptete ihn; einer ſeiner Soͤhne, Orazio, der Perugia zeitweiſe unter den gewaltſamſten Umſtaͤnden beſaß, wuͤtete im eigenen Hauſe aufs graͤßlichſte. Ein Oheim und drei Vettern, die ihm hinderlich waren, wurden ermordet, worauf ihm ſein Parteigaͤnger, der Herzog von Urbino, ſagen ließ, es ſei jetzt genug. Sein Bruder Malateſta Baglione beging als florentiniſcher Feldherr Verrat, ſein Sohn Ridolfo machte 1534 ſich, durch Ermordung des Legaten und der Beamten, nochmals fuͤr kurze aber ſchreckliche Zeit zum Herrn von Perugia.

196 Der Mord in der Staats⸗ und Haus politik

Manche dieſer kleineren Herrſcherfamilien dee fich bald zugrunde; Haͤuſer, die ſich um die Wende des 15. Jahrhunderts noch maͤchtig ſahen, lebten, wie die Malateſta, nach drei Jahrzehnten als arme Verbannte.

Um 1533 lebte ein Nachkomme der Fuͤrſten von Pico, der arme Gelehrte Lilio Gregorio Giraldi, bei ſeinem Verwandten Giovan Francesco Pico, der von ſeinem Neffen ermordet wurde. Lilio Giraldi ſelbſt zeichnete auf: „Im Oktober 1533 iſt der ungluͤckliche Fuͤrſt durch naͤchtlichen Mord von ſeinem Bruderſohn des Lebens und der Herrſchaft beraubt worden; ich ſelber bin in tiefem Elend kaum mit dem Leben davon⸗ gekommen.“

Die lateiniſchen und romaniſchen Völker ſind ihrer Art nach ſo beſchaffen, daß ſie, am Außerlichen haftend, die naͤchſtliegenden Erſcheinungen fuͤr die Urſachen zu nehmen gezwungen ſind, die ſie zu befeitigen ſtreben, weil ſie glauben, auf ſolche Weiſe die Freiheit oder das nationale Gluͤck erringen zu koͤnnen. Burck⸗ hardt urteilt uͤber die Italiener der Renaiſſance: „Sie ſahen, wie ſchlechte Arzte zu denken und handeln ge⸗ wohnt ſind, die Hebung der Krankheit in der Beſeitigung ihrer aͤußerlichen Erſcheinungen und glaubten, wenn man die Fuͤrſten ermorde, ſo gebe ſich die Freiheit von ſelber. Oder ſie dachten auch nicht einmal ſo weit und wollten nur dem allgemein verbreiteten Haß Luft machen oder nur eine Rache für Familienungluͤck oder perſoͤnliche Beleidigung uͤben. So wie die Herr⸗ ſchaft eine unbedingte, aller geſetzlichen. Schranken ent⸗ ledigte war, ſo iſt auch das Mittel der Gegner ein un⸗ bedingtes. Schon Boccaccio ſagt es offen: Soll ich den Gewaltherrn Koͤnig oder Fuͤrſt heißen und ihm Treue bewahren als meinem Obern? Nein! Denn er iſt

Von J. M „Berger __197

der Feind d des gemeinen Weſens. un ihn k. kann ich Waffen, Verſchwoͤrung, Spaͤher, Hinterhalt, Liſt ge⸗ brauchen; das iſt ein heiliges notwendiges Werk. Es gibt kein lieblicheres Opfer als Tyrannenblut.. Zu Ende der Renaiſſancezeit ſchreibt Giraldi Cinthio: „Kein angenehmeres Opfertier fuͤr Gott, als ein Tyrann, verrucht wie dieſer war.“ Man ſchreckte vor Mord⸗ anfaͤllen auch in der Kirche nicht zuruͤck. Die Fabria⸗ neſen ermordeten 1435 ihr Tyrannenhaus, die Chiavelli, waͤhrend eines Hochamtes laut Abrede bei den Worten des Kredo: Et incarnatus est. In Mailand wurde Herzog Giovan Maria Visconti 1412 am Eingang der Kirche San Gottardo ermordet und 1476 toͤtete man den Herzog Galeazzo Maria Sforza in der Kirche zu San Stefano. Ludovico Moro entging 1484 den Dolchen der Anhaͤnger der verwitweten Herzogin Bona nur dadurch, daß er die Kirche San Ambrogio durch eine andere Tuͤre betrat, als ſie erwarteten.“

Daß man den politiſchen Mord in jenen Zeiten als ruͤhmenswert erachtete, bezeugt eine Grabſchrift des Campugnani, der als Moͤrder Galeazzo Sforzas fiel. Sie lautet: „Hier liege ich gern, ein ewiges Merk⸗ zeichen den gegenwaͤrtigen und kuͤnftigen Herrſchern, daß fie nichts übles denken noch tun.“ Don den über: lebenden Moͤrdern Galeazzos zeigte Visconti Reue, Oligati blieb trotz aller Tortur dabei, daß ſeine Tat ein Gott wohlgefaͤlliges Opfer geweſen ſei, und ſagte noch, waͤhrend ihm der Henker mit dem Rad die Bruſt einſchlug: „Nimm dich zuſammen, Girolamo! Man wird lange an dich Ba der Tod iſt bitter, der Ruhm ewig.”

Als Lorenzo Medici 1537 den Herzog Aleſſandro umbrachte und fluͤchtete, erſchien eine, wahrſcheinlich

198 Der Mord in der Staats: und Hauspolitik

in ſeinem Auftrag verfaßte Verteidigungsſchrift der Tat, worin er den Tyrannenmord an ſich als das verdienſtlichſte Werk preiſt; fuͤr den Fall, daß Aleſſandro wirklich ein echter Medici und demnach, wenn auch weitlaͤufig, mit ihm verwandt geweſen, vergleicht er ſich ruͤhmend mit Timoleon, dem Athener, dem antiken Brudermoͤrder aus Patriotismus.

Der politiſche Mord wurde in jenen Zeiten unter die ſelbſtverſtaͤndlichen Mittel der Macht gezählt, nie⸗ mand ſcheute davor zuruͤck. Die Borgia legten ſich, nach Burckhardts Worten: „auf heimliche Vernichtung aller derer, die ihnen irgendwie im Wege waren, oder deren Erbſchaft ihnen begehrenswert ſchien“. Der venezianiſche Geſandte Paolo Capello meldet im Jahre 1500: „Jede Nacht findet man in der Stadt vier oder fuͤnf Ermordete, Praͤlaten und andere, ſo daß ganz Rom davor zittert, vom Herzog Ceſare Borgia ermordet zu werden.“ Schon im Jahre 1499 war die Verzweif⸗ lung daruͤber ſo groß und allgemein, daß das Volk die Gardiſten uͤberfiel und umbrachte. Wem aber die Borgia mit offener Gewalt nicht beikamen, der unter: lag ihrem Gift. „Fuͤr diejenigen Faͤlle,“ ſagt Burck⸗ hardt, „in denen einige Vorſicht und Zuruͤckhaltung noͤtig ſchien, wurde jenes ſchneeweiße, angenehm ſchmeckende Pulver gebraucht, welches nicht blitzſchnell, ſondern allmaͤhlich wirkte und ſich unbemerkt jedem Gericht oder Getraͤnk beimiſchen ließ. Vielleicht hatte der tuͤrkiſche Prinz Dſchem davon in einem ſuͤßen Trank mitbekommen, bevor ihn Alexander an Karl VIII. im Jahre 1495 auslieferte. Man glaubte damals allgemein, daß Vater und Sohn ſich damit vergiftet haͤtten, indem ſie von dem fuͤr einen reichen Kardinal, wahrſcheinlich Adrian von Corneto, beſtimmten Kon:

Von J. M. Berger 199 fekt genoſſen.“ Der zeitgenoͤſſiſche Geſchichtſchreiber Onufrio Panvinio nennt die Kardinaͤle Orſini, Ferrari und Michiel unter den durch Gift Geſtorbenen ſowie den Namen des Kardinals Giovanni Borgia, den Ceſare Borgia vergiften ließ. |

„Die Phantaſie der Nation erfüllte ſich allmählich dergeſtalt mit Vorausſetzungen dieſer Todesarten, daß man bei Maͤchtigen kaum mehr an ein natuͤrliches Ende glaubte. Von der Wirkungskraft der Gifte machte man ſich bisweilen fabelhafte Vorſtellungen.“ Schlei⸗ chend wirkende waren gewiß bekannt und wurden benuͤtzt. Es wird eines jener Gifte geweſen ſein, das der Fuͤrſt von Salerno dem Kardinal Aragon mit den Worten reichte: „In wenigen Tagen wirſt du ſterben, weil dein Vater, Koͤnig Ferrante, uns alle zertreten wollte.“ Aber der vergiftete Brief, den Caterina Riario an Alexander VI. ſandte, würde ihn ſchwerlich um: gebracht haben, auch wenn er ihn geleſen haͤtte. Als Alfons der Große von den Arzten gewarnt wurde, ja nicht in dem Livius zu leſen, den ihm Coſimo de Medici uͤberſandte, antwortete er ihnen gewiß mit Recht: „Hoͤret auf, ſo toͤricht zu reden.“ Vollends hätte jenes Gift nur ſympathetiſch wirken koͤnnen, womit der Sekretaͤr Piceininos den Tragſtuhl von Pius II. ein wenig anſtreichen wollte. Wie weit es ſich durchſchnittlich um mineraliſche oder Pflanzen⸗ gifte handelte, laͤßt ſich nicht beſtimmen. Die meiſten jener Gifte, von denen man noch immer in dunklen Wendungen fabelt, daß ſie im Koͤrper nicht nachweis⸗ bar waren, waͤren heute um ſo gewiſſer vom Chemiker zu erweiſen, nur war bei den damaligen alchimiſtiſchen Kenntniſſen eine erfolgreiche Unterſuchung nicht moͤglich, und dies ift der Grund zu allen, noch immer nicht zur Ruhe

200 Der Mord in der Staats- und Hauspolitik

gekommenen Erzählungen uͤber die Giftkoͤche der Re⸗ naiſſance. Vielartig waren die verſchlagenen Kuͤnſte, den Vorſichtigſten die toͤdlichen Stoffe beizubringen. Man vergiftete die ſtark gewuͤrzten Soßen der Braten, miſchte Gift in Brotteig und Konfekt; Brot, das man ſeiner Haͤrte und Unverdaulichkeit wegen zuerſt als Bratenteller benuͤtzte und erſt aß, wenn es von den Bratenſoßen durchtraͤnkt war; man beſtrich die Hemden des dem Tod Geweihten mit langſam toͤdlich wirkenden Salben, welche einen anfänglich ſcheinbar ungefähr: lichen Hautausſchlag hervorriefen, dann aber in ihren Wirkungen den Tod zur Folge hatten. Auf Meſſerklingen wurden auf einer Seite giftige Stoffe aufgetragen, man teilte in unverfaͤnglicher Weiſe Obſt damit und reichte die vergiftete Haͤlfte weiter. Auch Ringe, die an der Innenſeite eine unmerkliche, aber giftgetraͤnkte Spitze hatten, wurden verſchenkt; beim Haͤndedruck kam der toͤdliche Stoff mit dem Blut in Beruͤhrung.

Naͤchſt Italien war Frankreich das Land der poli⸗ tiſchen Morde und Giftmiſchereien. Ludwig XIII. ehrte und liebte den mächtigen Staatsmann Richelieu und erfreute ihn gerne durch Aufmerkſamkeiten. Er ſandte ihm einſt einen Wildſchweinſchinken mit einem Begleitſchreiben, worin er ihm anriet, trotzdem die Gabe vom Koͤnig ſelber kaͤme, vorſichtshalber doch erſt einen anderen davon koſten zu laſſen. Richelieu hatte viele und maͤchtige Feinde, allen voran die Koͤnigin⸗ Mutter Maria aus dem Geſchlechte der Medici, die Tochter, Enkelin, Nichte und Baſe von Mördern, die ſelbſt der verſchiedenſten Giftbereitungen kundig war gleich dem Bruder des Koͤnigs. Beide ſchreckten vor keinem Mittel zuruͤck, um den mächtigen Staatsmann unſchaͤdlich zu machen. Ging doch Maria de Medici

5 Bon J. M. Berger 201

in ie Herrſchſucht ſo weit, ihren eigenen Sohn durch Gift aus dem Wege raͤumen zu wollen, das man ihm durch ein Kliſtier beizubringen ſuchte.

Die Verherrlichung des politiſchen Meuchelmordes blieb in Italien auch in neueſter Zeit im Anſehen. Im Jahre 1858 wurde nach der Hinrichtung des Grafen Orſini, der mit einer Bombe einen Mordverſuch an Napoleon III. veruͤbte, an den Straßenecken Turins ein Sonett angeſchlagen, deſſen Worte lauteten: „Vor⸗ zeitig erſchienener Engel des Gottes der Rache, vor dem Holze deines Schafotts, Orſini, warf ich u nieder wie vor dem Holz des Kreuzes.“

Noch iſt nicht voͤllig vergeſſen, daß man noch in allerjüngfter Zeit den Trieſter Irredentiſten Wilhelm Oberdank, der im Vereine mit anderen im Auguſt 1882 einen Bombenanſchlag auf Kaiſer Franz Joſeph ge⸗ plant hatte, in Italien feierte und dieſes . verherrlichte.

Naͤchſt Italien, Spanien, Frankreich sin den Ländern Mittel: und Suͤdamerikas, deren herrfchende Klaffen faft durchweg dem Romanentum angehören, werden die meiften politiſchen Morde in Rußland ver: uͤbt. In Rußland begann die Mordpolitik ſchon unter der Dynaſtie Rurik. Fuͤrſt Danilowitſch Rurik ließ 1319 im Kampfe um das Großfuͤrſtentum Susdal ſeinen Gegner ermorden, wurde aber ſelbſt von deſſen Sohn Dimitri erſtochen. Den Erben des letzten Herrſchers aus dieſem Stamme, den kleinen Dimitri, brachte Boris Godunow, ſein Schwager, ums Leben und bemaͤchtigte ſich des Thrones. Der falſche Demetrius ſtuͤrzte ihn; aber auch dieſer konnte nur ein Jahr ſeine Herrſchaft behaupten. Danach kamen 1612 die Ro: manows zur Regierung und ſchon nach einem Jahr—

202 Der Mord in der Staats- und Hauspolitik

hundert wurde der erſte Familienmord veruͤbt. Peter der Große ließ ſeinen Sohn Alexej, deſſen Gattin, ihren Bruder und andere Mitſchuldige einer gegen ihn gerichteten Verſchwoͤrung umbringen. Peter III., ein Enkel Peters des Großen, wurde mit Zuſtimmung ſeiner Gattin Katharina II. vom Fuͤrſten Orlow in Schluͤſſelburg erwuͤrgt. Dasſelbe Schickſal, mit Wiſſen und Willen von Gattin und Sohn, erlitt der Zar Paul. Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß man auch Alexander I. vergiftete. Alexander II. ſtarb 1881 durch die Bombe eines Anarchiſten; auch Alexander III. war einer Reihe von Attentaten ausgeſetzt, ganz zu ſchweigen von den an Großfuͤrſten, Miniſtern, Gouverneuren, Generalen und anderen Perſoͤnlichkeiten veruͤbten Morden.

In Serbien machte das Petersburger Beiſpiel bald Schule. So fielen am 10. Juni 1868 im Park Tobſchider in Belgrad Fuͤrſt Michael, und in den Junitagen 1903 das koͤnigliche Ehepaar Alexander und Draga Maſchin unter Moͤrderhaͤnden; auch Koͤnig Milan lebte ſtaͤndig in der Furcht vor moͤrderiſchen Anſchlaͤgen.

Reichlich iſt auch England mit politiſchen Morden belaſtet. Koͤnig Eduard II. wurde im Jahre 1327 von ſeiner Gattin des Thrones beraubt und mit ihrer Zu⸗ ſtimmung auf eine hoͤchſt grauſame Art ums Leben gebracht; vierzig Jahre ſpaͤter wurde ſie ſelbſt auf Befehl ihres Neffen, des Koͤnigs Karl von Ungarn, ermordet, der auch im Jahre 1382 die Koͤnigin Jo⸗ hanna I. von Neapel durch Karl von Durazzo er: wuͤrgen ließ, um dann vier Jahre ſpaͤter in Gegenwart der Koͤnigin Martha und deren Mutter und unter Zuſtimmung beider das gleiche Schickſal zu erleiden. Ungemein reich ſind die Kriege der Roten und Weißen Roſe an Morden aus politiſchen Gründen innerhalb

Von J. M. Berger 203

der eigenen Familien. Der Name Richards III. allein eröffnet den Einblick in eine furchtbare Welt, die uns nicht zuletzt aus Shakeſpeares Dichtungen bekannt iſt. Ob man nicht auch die auf Befehl der Koͤnigin Eliſa⸗ beth erfolgte Hinrichtung der ungluͤcklichen Maria Stuart als politiſchen Mord zu betrachten hat, ſei dahingeſtellt. Selbſt noch in der neueren Geſchichte Englands ſind nicht weniger als vier Attentate auf die Koͤnigin Viktoria bekannt.

Wohl die wenigſten Morde aus politiſchen Gründen . findet man in der deutſchen, wie auch in der ungariſchen Geſchichte. Nur halb politiſcher Natur iſt in neuerer Zeit eigentlich die Ermordung Kotzebues durch Sand geweſen. Wohl erfolgten Attentate auf Staatsober⸗ haͤupter und einflußreiche Staatsmaͤnner, doch kann man dieſe nicht im Sinne dieſer Ausfuͤhrungen als politiſche Morde bezeichnen. |

Nicht unbedingt jedes Attentat, nicht jede Er: mordung eines gekroͤnten Hauptes oder eines viel: vermoͤgenden Staatsmannes iſt ein politiſcher Mord. Viele entſprangen nur unſauberen oder felbftfüchtigen Gründen, mehrere noch find auf Rache zuruͤckzu— fuͤhren. Das Attentat Orſinis auf Napoleon III. iſt anders zu bewerten, als jene von Kullmann und Hoͤdel auf Bismarck und Kaiſer Wilhelm I., wenngleich auch dieſe einen politiſchen Hintergrund haben. In vielen Faͤllen iſt es ſehr ſchwer, eine ſcharfe Grenzlinie zu ziehen.

Wenn die romaniſchen und „lateiniſchen“ Voͤlker und die Slawen bis in die neueſte Zeit durch ihre Raſſenbedingtheit des falſchen Glaubens ſind, durch Beſeitigung perſoͤnlicher Elemente Schaͤden zu beſſern, wo die eigentlichen Urſachen auf viel verwickelteren

204 Der Mord in der Staats: und Hauspolitik

Umſtaͤnden beruhen, fo beweiſt dies nur, daß fie einer: ſeits unfähig find, die Wahrheit der Lage zu erkennen, und anderſeits zu ohnmaͤchtig / ſie mit Vernunftmitteln zu beſſern. Darin liegt auch die weſentlichſte Unter⸗ ſcheidung deutſcher Art gegenuͤber allem andersgearteten Volkstum. Kein ſeiner Sinne voͤllig maͤchtiger Menſch unſerer Raſſe wird glauben, daß mit dem Verſchwinden einer Perſon Wirkungen endigen koͤnnten, die im tiefſten Grunde unperſoͤnlicher Natur find, Die Ver: wechſlung von Urſache und Wirkung, von Sein und Schein iſt das Verhängnis der romaniſch⸗-lateiniſchen Raſſe. Daß England heute glauben kann, die iriſche Frage durch einen Mord zu loͤſen, bezeugt nur, daß es auf eine mittelalterliche Stufe zuruͤckſank. Solche Ruͤckſchritte raͤchen ſich mit Naturnotwendigkeit. Nicht Roger Caſements Tod haͤtte die iriſche Frage geloͤſt, dies kann allein politiſcher Verſtand und vor allem Gerechtigkeit. Ein Begriff allerdings, fuͤr den England heute keinen Sinn, dafuͤr aber um 1 heuchleriſchere Redensarten aufbringt.

Mannigfaltiges

ö Die Japaner im Urteil der Völkerkunde. Vor der

„gelben Gefahr“ haben landeskundige Maͤnner aller Berufe, Miſſionare, Politiker, Beamte, Kaufleute und gelehrte For: ſchungsreiſende ſchon ſeit Jahren gewarnt. Gewoͤhnliche Be⸗ urteilungen nennen den Chineſen und Japaner meiſt in einem Atem als Angehoͤrige der gelben Raſſe und halten ſie fuͤr gleich begabt oder unbegabt. Alle Kenner aber wiſſen daruͤber genug zu ſagen, wie verſchieden dieſe beiden Nationen des Oſtens von⸗ einander ſind. Nach ihrer Meinung ſind die Chineſen den beſten Kaufleuten der Welt gleichzuſetzen; ſie beſitzen die Faͤhigkeit dazu in hohem Maße. Im Wettkampf mit den Chineſen haben nach Freiherrn v. Richthofens Urteil ſelbſt die Angehoͤrigen der ſemitiſchen Stämme und der europäifchen. Nationen nur geringe Erfolge gehabt. Nicht annaͤhernd ſo tuͤchtig und vor allem ſo ſolide wie die chineſiſchen ſind die japaniſchen Kaufleute. Es iſt ſprichwoͤrtlich im Oſten, daß eines Chineſen Wort genuͤgt, waͤh⸗ rend zehn Vertraͤge mit einem Japaner nicht genuͤgende Sicherheit bieten. Allgemein macht man dem Japaner un⸗ lauteren Wettbewerb und Lieferung minderwertiger Waren zum berechtigten Vorwurf.

Durchſchnittlich ſind wir gewoͤhnt, alles um uns durch Ver⸗ gleiche, die uns naheliegen, zu beurteilen, und ſo geſchieht es auch meiſt, daß wir uns nur verblenden laſſen, wenn wir uͤber Japans neueſte „Kulturfortſchritte“ reden. Die Englaͤnder nennen ihren Bundesgenoſſen „Japs“ den Affen Europas; in dieſem Wort liegt Wahrheit, denn es bezieht ſich auf die Faͤhigkeit der bloßen Nachahmung an Stelle ſelbſtſchoͤpferiſcher Eigen⸗ ſchaften, die Europa in langen Jahrhunderten zu dem gemacht haben, was es heute iſt. Vor Jahren ſtellte Oskar Peſchel, der große Reiſende und Voͤlkerforſcher, einen weſentlichen Unter⸗ ſchied zwiſchen den Europaͤern und den Oſtaſiaten feſt, der immer bedacht zu werden verdiente, wenn es ſich um faͤlſchliche Überfchägung, um die Bewunderung der „ſchnellen, erſtaunlichen Fortſchritte“ jener durchaus andersgearteten oͤſtlichen Raſſen handelt. Peſchel ſagt: „Wir find die Zoͤglinge geſchichtlich be: prabener Nationen. Die Chineſen find Autodidakten das

206 Mannigfaltiges

heißt ohne Anweiſung Selbſtbelehrte. Vergleichen wir aber unſeren Entwicklungsgang mit dem ihrigen, ſo werden wir uns bewußt, was ihnen fehlt und worauf unſere Groͤße beruht. Seit unſerem geiſtigen Erwachen, ſeit wir als Mehrer der Kulturſchaͤtze aufgetreten ſind, haben wir unverdroſſen nur nach einem Ding geſucht, von deſſen Daſein Chineſen und Japaner keine Ahnung haben, fuͤr das ſie auch ſchwerlich nur eine Schuͤſſel Reis geben wuͤrden. Dieſes unſichtbare Ding nennen wir Kauſalitaͤt. (Wir wollen in allem die urſaͤchlichen Zuſammenhaͤnge erkennen, die notwendigen Wirkungsarten einer Urſache, die Bedingtheit aller Erſcheinungen durch vorher Dageweſenes feſtſtellen, die Zuſammenhaͤnge als geſetzlich ergruͤnden.) An den Chineſen haben wir eine Menge von Erfindungen bewundert und ſogar von ihnen uns angeeignet, aber wir verdanken ihnen nicht eine einzige Theorie das heißt durch ſtrenge Vernunftbetrachtung ge⸗ wonnene wiſſenſchaftliche Grundlage einer Lehre nicht einen einzigen tieferen Blick in den Zuſammenhang und die naͤchſten Urſachen der Erſcheinungen.“

Bezeichnend äußerte ſich in dieſer Hinſicht ein vornehmer Japaner vor kaum einem Jahrzehnt: „Ich kann eine Lokomotive machen, wenn ich ſie ſehe. Aber ich begreife nicht, wie man eine Lokomotive machen kann, wenn man ſie nicht geſehen hat.“ Als japaniſche „Ingenieure“ zu Beginn des Jahres 1905 in Berlin eine elektriſche Anlage fuͤr Tokio uͤbernahmen, fiel es auf, daß ſie ſich beeiferten, alle Einzelheiten zu zeichnen, zu meſſen und auf das ſorgfaͤltigſte und genaueſte zu kopieren, ohne den Dingen auf den Grund zu gehen und nach dem Wie und Warum zu fragen. Man iſt zu glauben geneigt, daß die Japaner ſchoͤpferiſche Kraft und ſelbſtaͤndiges Erfindertalent bisher darum „noch nicht betaͤtigten, weil ſie zu große Fortſchritte vorfanden und vor allem beſtrebt ſein mußten, dieſe Fortſchritte ſich zu eigen zu machen und zu verarbeiten“. Man beſtaͤtigte ihre Lernbegier und ihre Faͤhigkeit, das Zweckmaͤßigſte und Beſte als Vorbild zu waͤhlen, doch betraf das immer nur die mehr mechaniſchen und techniſchen europaͤiſchen Errungenſchaften, alſo eigentlich trotz allem nur ein aͤußerliches und mehr ziviliſatoriſches als weſentlich kultu⸗

Maunigfaltiges 207

relles Element unſerer Welt. Tiefer hinabzudringen, das Geiſtige des Europaͤers zu erfaſſen, verſagt den oͤſtlichen Völkern ein hauptſaͤchlicher Mangel ihrer Raſſenveranlagung der mangelnde Sinn fuͤr Kauſalitaͤt. H. Ho.

Eine Jugendbekanntſchaft. Der aͤltere Vanderbilt, genannt der Kommodore, der bei ſeinem Tode 1877 ein Ver⸗ moͤgen von hundert Millionen Dollars hinterließ, war ein Kind ganz armer Eltern. Ebenſo arm war ſeine Frau geweſen, die Tochter eines kleinen Schankwirtes.

Als er laͤngſt zu Anſehen und Reichtum gelangt war, ſaß er einmal mit ſeiner Tochter in dem Badeorte Saratoga auf der Terraſſe eines der eleganteſten Hotels, als ein alter Mann vorbeitrippelte und, ſowie er Kornelius Vanderbilt erkannte, mit ausgeſtreckten Haͤnden auf ihn zukam. „Hallo, Kommodore,“ rief er dabei laut, „ſieht man Sie auch einmal wieder? Wie geht's Ihnen denn?“

Die Tochter, die in Samt und Seide gekleidet, dazu reich mit Diamanten geſchmuͤckt war, zog ihre Kleider dichter an ſich, wie wenn fie ſich vor Anſteckung ſchuͤtzen muͤſſe, und verhielt ſich ſo ablehnend wie moͤglich gegen das alte Maͤnnlein. Der Vater aber ſtand ihm Rede und Antwort und unterhielt ſich ganz unbefangen mit ihm. Nach kurzer Zeit entfernte ſich der Alte, und nun machte die junge Dame ihrem Vater ernpinde Vorhaltungen.

„Wie konnteſt du dich ſo wegwerfen und die alte Vogel: ſcheuche auch nur eines Blickes wuͤrdigen hier auf dieſem Sammelplatz der eleganten Welt!“

Er aber meinte ganz gemuͤtlich und durchaus nicht fluͤſternd: „Kind, hab' dich nicht ſo! Er iſt eine alte Jugendbekanntſchaft deiner Eltern. Von deiner Mutter hat er ſein Bier vorgeſetzt bekommen, und hat dobei mitangeſehen, wie ich ihr den Hof machte.“ N C. D.

Staatsgeheimnifje und drahtloſe Telegraphie. Die Einrichtung der drahtlofen Telegraphie bedeutet für ein Kriege ſchiff nichts Geringeres als die Verd can zung des Signalbuches, jener geſchichtlichen und um endlicher, Einrichtung, die in allen

208 Mannigfaltiges

——

Marinen in zwei Formen vorhanden iſt: in einer fuͤr den inter⸗ nationalen Verkehr und in einer zweiten fuͤr den Verkehr der Schiffe einer Flotte untereinander. Das Signalbuch iſt wohl das am ſorgfaͤltigſten verwahrte Regierungseigentum an Bord, und der Kapitän des Schiffes ſelber iſt für den ſtarken Band verantwortlich, der viele Tauſende von Silben, Worten, Satz⸗ teilen und ganzen Saͤtzen enthaͤlt, wie man ſie zur Abfaſſung eines Telegrammes braucht. Jede Silbe, jedes Wort und jeder Satz wird gebildet durch Zuſammenſtellung von Mitlauten, die zu Gruppen von zwei, drei, vier und fuͤnf Buchſtaben vereinigt ſind. Die Gruppen von zwei und drei Buchſtaben gelten wegen der Moͤglichkeit raſchen Gebens und e als „Not⸗ ſignale“.

Will der Kapitaͤn eines Schiffes ſich mit einem anderen Schiffe oder mit einer Signalſtation auf dem Lande in Verbindung ſetzen, ſo ſchreibt er ſein Telegramm in gewoͤhnlicher Schrift nieder und ſchickt es dem Signaloffizier. Der uͤbertraͤgt es nach dem Signalbuche in Gruppen von Mitlauten und uͤbergibt es dem „Signalgaſte“, der die Fahnen hißt, welche die Buch⸗ ſtabengruppen darſtellen. Da nun ein langes Telegramm eine ganze Reihe ſolcher Fahnenhiſſungen erforderlich macht, ſo leuchtet es ein, daß die Weitergabe unter umftaͤnden ſchwierig und zeitraubend iſt.

Das Syſtem des Siguvalbuches hat vor allem den Nachteil, daß ein Exemplar irgendwie einmal in die Hand des Feindes gelangen kann. In unſerer Marine iſt ſeit ihrem Beſtehen noch kein Signalbuch in Feindeshaͤnde gekommen. In der engliſchen Marine warf vor mehreren Jahren ein betrunkener Signalgaſt das Buch uͤber Bord, und erſt nach muͤhſeligem Suchen konnte es von Tauchern wieder aufgefiſcht werden. Waͤre es nicht ge⸗ funden worden, ſo haͤtte das damals in Gebrauch befindliche Signalbuch zuruͤckgezogen und ein anderes dafuͤr eingefuͤhrt werden muͤſſen.

In der franzoͤſiſchen Marine mußte im Laufe des letzten Jahrzehnts das Signalbuch zweimal geaͤndert werden, weil Exemplare davon an andere Maͤchte verkauft worden waren.

Mannigfaltiges 209

Wenn ein Schiff vom Feinde gekapert wird, iſt es eine ganz be⸗ ſondere Sorge, das Buch rechtzeitig uͤber Bord zu bringen. Damit es raſch verſinkt, iſt ſeine Einbanddecke mit Blei beſchlagen, auch iſt der Kaſten, in dem es aufbewahrt wird, ſehr ſchwer und durchloͤchert.

Ein anderer Einwand, den man gegen das Signalbuch geltend macht, iſt der, daß infolge der vielen neu hinzutretenden Namen von Schiffen, Haͤfen, techniſchen Verbeſſerungen des oͤfteren Nachtraͤge herausgegeben werden muͤſſen.

Die Anwendung der drahtloſen Telegraphie macht die Be⸗ nuͤtzung des Signalbuches immer weniger notwendig, da man zur Verſtaͤndigung nicht mehr auf die Flaggenſignale allein ange⸗ wieſen iſt. Sie ermoͤglicht auch eine viel ſchnellere Nachrichten⸗ uͤbermittlung. Die Verſchiedenheit der Laͤnge der elektriſchen Wellen bringt es mit ſich, daß eine Depeſche von einem Appa⸗ rate nur aufgefangen wird, wenn er ganz genau mit dem „Sender“, dem uͤbermittelnden Apparate, abgeſtimmt iſt. Das Telegramm kann alſo hier unmittelbar von der erſten Nieder⸗ ſchrift aus aufgegeben werden, und fuͤr die Geheimhaltung kommen die gleichen Maßnahmen wie bei ſonſtigen Depeſchen in Betracht. Der Vorteil liegt auf der Hand; denn in dem Ge⸗ tuͤmmel und der Aufregung einer Seeſchlacht kann der Verluſt einer einzigen Minute bei der Übermittlung eines Befehles Sieg oder Niederlage bedeuten.

Tritt auch das private Signalbuch in den Marinen aller ziviliſierten Völker wohl immer mehr in den Hintergrund, fo laͤßt ſich das von der Chifferſchrift der Diplomaten keineswegs behaupten. Wichtige Nachrichten, die zwiſchen dem Sitze der Regierung und ihren auswaͤrtigen Vertretern ausgetauſcht werden, muͤſſen vorausſichtlich auch fernerhin in Geheimſchrift geſchrieben werden. Aber ebenſo wie das Überfeßen eines Be: fehls auf dem Schiffe fuͤr den Signaloffizier eine recht zeit⸗ raubende Arbeit iſt, iſt auch das Dechiffrieren eines diplomatiſchen Berichtes ſehr umſtaͤndlich. Das von unſerer Regierung ange⸗ wandte Chiffrierſyſtem iſt fuͤr jeden Uneingeweihten ein Buch mit ſieben Siegeln. Man behauptet jedoch, daß es kein Syſtem

1916. X 14

210 Mannigfaltiges

einer Geheimſchrift gebe, das nicht zu entziffern wäre, Daran iſt etwas Wahres, weil alle Geheimſchriften auf einer aͤhnlichen, ſyſtematiſchen Grundlage beruhen muͤſſen. Man kann aber fuͤr die guten Geheimſchriften dasſelbe gelten laſſen, was ein ehrlicher Geldſchrankfabrikant von ſeinen Erzeugniſſen ſagte: „Ich will nicht behaupten, daß meine Schraͤnke unbedingt ein⸗ bruchſicher ſind; das Offnen eines meiner Schraͤnke erfordert aber ſo viel Zeit, daß der Dieb erwiſcht wuͤrde, ehe er das Geheim⸗ nis des Schloſſes ergruͤndet haͤtte.“

Überdies wird kein vorſichtiger Diplomat regelmaͤßig die⸗ ſelben Chiffern benutzen. Jede Geheimſchrift, in der man Staats⸗ geheimniſſe zu Papier bringt, muß zahlreiche Veränderungen und Umſtellungen geſtatten, damit auch der Schlüffel, wenn er in unbefugte Haͤnde geraͤt, nicht ohne weiteres alle Tuͤren oͤffnet.

Das Entwerfen eines modernen Anforderungen entſprechen⸗ den Chiffrierſyſtems iſt zu einer wahren Wiſſenſchaft geworden, und ein Syſtem von heute aͤhnelt einem vor fuͤnfzig Jahren gebrauchten wie ein Kraftwagen einem alten Bauernfuhrwerk. Die fruͤheren Geheimſchriften waren fuͤr einen Gebildeten oft auf den erſten Blick zu entziffern. Bis zum Krimkriege waren die Chiffern, die die engliſche Regierung anwandte, einfache Um⸗ ſtellungen, das heißt, ein Buchſtabe ſtand in regelmaͤßiger Folge fuͤr den andern; B ſollte beiſpielsweiſe A bedeuten, C ſtand für B, und ſo ging es weiter. Spaͤter gebrauchte das engliſche Aus⸗ waͤrtige Amt Zahlen für gewiſſe Worte, Namen, Städte und Laͤnder. Unter gewiſſen Umſtaͤnden erweiſt ſich ein ſolches Syſtem als recht praktiſch; doch erfordert die Abfaſſung eines Telegramms viel Zeit, und dann muß der Empfaͤnger ſtets den „Schluͤſſel“ bei ſich tragen. Ein vollkommenes Chiffrierſyſtem verlangt aber, daß man den „Schluͤſſel“ im Kopfe und nicht in der Depeſchen⸗ mappe habe.

Waͤhrend des letzten Burenkrieges war zwiſchen zwei Handlungshaͤuſern ein Chiffrierſyſtem in Gebrauch, das auf dem „Gedaͤchtnisſchluͤſſel“ beruhte. Der bekannte „AbC⸗Code“ bildete die Grundlage. Man war uͤbereingekommen, daß der Empfänger des Telegrammes nicht den Satz leſen ſollte, der dem

Mannigfaltiges 211

telegraphierten Codewort gegenüber, ſondern den, der mehrere Worte weiter unten ſtand, und zwar ſo viel Worte weiter, als das Telegramm ſelber Worte zaͤhlte. Waren beiſpielsweiſe die Codeworte „abſolut“, „Kamin“, „Menſchheit“ telegraphiert, ſo ſollte der Empfaͤnger drei Worte von „abſolut“ aus zaͤhlen und fand dann „abſolviert“. Der dieſem Worte gegenuͤberſtehende Satz war der, den der Abſender zum Ausdruck bringen wollte. Dieſes einfache Syſtem bot zwei große Vorteile: einmal konnte man den „Schluͤſſel“ im Kopfe behalten, und es war ausge⸗ ſchloſſen, daß er in die Haͤnde Unbefugter geriet; zweitens aber, war jemand wirklich durch Zufall in den Beſitz des richtigen „Schluͤſſels“ gelangt, ſo konnte er ihm deswegen wenig nuͤtzen, weil ja beim Leſen eines jeden Telegrammes eine andere Wort⸗ zahl abgezaͤhlt wurde. Tauſenderlei Arten gab es, vermittels derer der „Schluͤſſel“ geaͤndert werden konnte, ohne daß das Gedächtnis des Abſenders oder Empfängers zu ſchwer belaſtet wurde. Obwohl mehr als zwanzig dieſer Telegramme von den Buren aufgefangen wurden, hat man doch Grund zu der An⸗ nahme, daß ſie in keinem einzigen Falle entziffert wurden. Trotz aller Phantaſien von Romanſchreibern und Theater⸗ dichtern darf man annehmen, daß ein chiffriertes Telegramm in Friedenszeiten nur hoͤchſt ſelten, wenn uͤberhaupt je, in die Haͤnde einer feindlich geſinnten Macht faͤllt. Durch beſondere Boten Feldjaͤger werden ſie befoͤrdert, und nur durch Gewalttaͤtigkeit koͤnnten ſie aus der wohlverwahrten Depeſchenmappe in die Haͤnde des Diebes gelangen. Telegraphiſche Mitteilungen fremder Regierungen moͤgen vielleicht manchmal aufgefangen werden. Das iſt ja weiter nicht ſchwer. Etwas anderes aber iſt es, zu erkennen, fuͤr wen dieſe Botſchaften beſtimmt ſind; denn diplomatiſche Telegramme von großer Wichtigkeit gehen auf Umwegen und nie unmittelbar an die Perſonen, fuͤr die ſie beſtimmt ſind. So kann es leicht kommen, daß ein Vertreter im Ausland Häufig Mitteilungen von feiner Regierung erhält, ohne daß die Geheimpoliziften, die dieſen Vertreter ftändig beobachten, auch nur von einem einzigen Telegramm an ihn berichten koͤnnen. J. Caſſirer.

212 Mannigfaltiges

Kaiferin Maria Thereſia und die Zenſur. Der feiner: zeit in Wien lebende, mit den franzoͤſiſchen Enzyklopaͤdiſten geiſtig in Verbindung ſtehende Schriftſteller Sonnenfels be⸗ klagte ſich eines Tages bei der ihm ſehr wohlgeſinnten Kaiſerin uͤber die Wiener Zenſurbeamten, die ihm ein Buch „boͤs zu⸗ ſammengeſchmettert“ und ihn ſogar noch zu drei Wochen Ge⸗ faͤngnis verurteilt haͤtten.

Maria Thereſia troͤſtete ihn mit den im gemuͤtlichſten Wiene⸗ riſch herausgeplauderten Worten: „Was iſt's denn halter mit Ihm? Sekkieren's Ihn ſchon wieder? Was hat Er denn aus⸗ gefreſſen, mein lieber Sonnenfels? Hat Er was gegen mich geſchrieben? Ach Gott, wenn's weiter nix wär’! Das verzeih’ ich Ihm gern. Ein rechter Patriot muß nicht alles geduldig hinnehmen, was von oben kommt. Weiß ſchon, wie Er's meint! Oder hat Er was gegen die guten Sitten geſchrieben? Nein, Sonnenfels, ein ſolcher Saumagen iſt Er nicht, das weiß ich! Alſo troͤſt' Er ſich, deswegen ſoll Ihm nichts paſſieren! Aber eins, lieber Sonnenfels, da kann ich nix tun: Wenn Er was gegen die Miniſter geſchrieben hat. Da muß Er ſich ſchon ſelber heraushauen! Hab' Ihn oft genug gewarnt!“

Sonnenfels hatte aber gerade in der letzten Hinſicht ein boͤſes Gewiſſen, und ſo kam er trotz des Wohlwollens ſeiner Herrſcherin auf drei Wochen ins Loch. O. Th. St.

Schauſpieler als „unehrliche“ Leute. Nach alter deutſcher Auffaſſung war es ein tiefer Unterſchied, ob jemand Geſang, Saitenſpiel und Verſeſprechen als freie, das Leben ver⸗ ſchoͤnernde Kuͤnſte übte oder davon lebte. Geſchah es, daß einer aus freiem Herzensdrang, zur Ehre Gottes, des Vaterlandes oder edlen Frauen zuliebe ſich in ſolchen Kuͤnſten hören ließ, er konnte, wie Volker, der fuͤrſtliche Schweſterſohn Kriemhildens im Nibelungenliede, ein Edelmann ſein, ein Bannerherr uͤber Land und Leute. Wer aber mit Singen und Saitenſpiel fuͤr Geld und Gaben zu anderer Ergoͤtzen aufwartete, den konnte man unmöglich achten. Aufgeben der freien Mannes wuͤrde erkannte man in ſolchem Tun, ſolches „Sich⸗zu⸗eigen⸗Geben“ erſchien nach altem Ehrbegriff ſo veraͤchtlich als das Spielen mit

Mannigfaltiges | | 213

dem Ernſt, das Darſtellen unempfundener Geſinnungen und Gefuͤhle, um den Preis von Geld und Geldeswert. Alle, die mit Geſang, Saitenſpiel und Reimeſprechen nach Geld trachteten, nannte man „Spielleute“ kurzweg. Als Grundſatz galt: „Unehrlich ſind Spielleute und alle, die Gut ſtatt Ehre nehmen, ſich fuͤr Geld zu eigen geben.“ Im Grunde ſpricht ſich echt deutſche Anſchauung aus in ſolch unbedingter Unterordnung des Gutes unter Ehre, in der tiefen Verachtung der Preisgabe inner⸗ licher Freiheit und Botmaͤßigkeit, geiſtiger Fremdhoͤrigkeit. Mit Unehrlichkeit war Rechtloſigkeit verbunden. Kein Spielmann konnte Schoͤffe ſein, als Zeuge nicht volle Glaubwuͤrdigkeit beanſpruchen, niemals durch bloßen „Reinigungseid“ wider ihn erhobene Anklage entkraͤften. Nur was Hab und Gut anging, konnte ihm unparteiliches Recht werden. Einem unverdient gekraͤnkten Spielmann konnte man nur die Genugtuung geben, daß man ihm den Schatten ſeines im Sonnenſchein gegen die Wand geſtellten Beleidigers preisgab. Dem Schattenbild an der Mauer konnte er einen Schlag an den Hals geben; damit war ihm zugefuͤgtes Unrecht gebuͤßt, der Schaden getilgt. Dieſer Rechtsauffaſſung liegt der Gedanke zugrunde: wer Gut fuͤr Ehre nimmt, dem iſt Ehre nur ein Schatten, bei Kraͤnkungen mag er ſich alſo an den Schatten halten. Eine der aͤlteſten Reichs⸗ polizeiordnungen verfügt, daß alle „Pfeifer, Spielleute, Singer und Reimeſprecher“ eine leicht erkennbare, beſondere Kleidung tragen ſollten, um ſie von ehrlichen Leuten zu unterſcheiden. Man vermutete, daß die lang wahrnehmbare Vorliebe der Mimen fuͤr auffallenden Aufzug durch die Macht einer alten Gewohnheit lebendig blieb. Späte Reichsgeſetze reden noch mit unverhuͤllter Verachtung uͤber alles leichtfertige Volk, „ſo ſich auf Singen und Reimſprechen leget und darin den geiſtlichen wie den welt⸗ lichen Stand veraͤchtlich antaſtet, naͤmlich alſo, daß ſie bei den Geiſtlichen Übles fingen von denen Weltlichen und bei den Weltlichen Argerliches von denen Geiſtlichen“. Alle dieſe Saͤnger, mit gebuͤhrlicher Ausnahme „derer ſo den Meiſterſang ſingen“, ohne Geld und Gaben zu nehmen, wurden als fahrende Leute zu den unehrlichen Schalksnarren geworfen Vom Makel

214 Mannigfaltiges

feines Gewerbes konnte der mittelalterliche Spielmann ſich nur reinigen, wenn es ihm durch Kunſt und ſittlichen Wandel gelang, im Dienſt der Kirche zu ſtehen; dann war er des „Herrgotts Spielmann“. Darauf zielt die Grabſchrift:

„Hier ligt begraven Peter Quann,

Organiſt to Travemuͤnde.

Gott vergav em fine Stube, Denn he was ſin Spelemann.“

Fuͤr den Schauſpieler gab es keine Möglichkeit, ehrlich zu werden, wie fuͤr die Muſiker, die als Feldtrompeter und Pfeifer durch Kaiſer Ferdinand II. ſeit 1630 ehrlich geſprochen waren, ihr Beruf galt ſeitdem als „frei- ritterliche Kunſt“. Begab ſich aber ein „ehrlicher Trompeter von der Kunſt zu den Komoͤ⸗ dianten, ſo ſoll er der Kunſt“ und damit der Ehrlichkeit im buͤrgerlich⸗geſetzlichen Sinne „gänzlich bera ubet fein“, beſtimmt eine Verordnung vom 10. Juli 1650.

Dieſe Auffaſſungen galten im weſentlichen auch in Frankreich. Am 17. Februar 1673 ſtarb in Paris der große Dichter Moliere, der auch die Hauptrollen ſeiner Stuͤcke ſpielte. Er hauchte ſein Leben in der Rolle des „Eingebildeten Kranken“ auf der Buͤhne aus. Sein Leben war ſo ernſt und edel, daß ſeine Feinde niemals vermochten, den Koͤnig, der ihn 1665 zum Direktor der Schau⸗ ſpielertruppe ernannte, gegen ihn auszuſpielen. Er war auch ſeiner Truppe ein wirklicher Vater. Als man den Schwerkranken abhalten wollte, am letzten Abend zu ſpielen, ſagte er: „Was ſollen die armen Theaterarbeiter anfangen, wenn ich nicht auf: trete? Wie ſollte ich mir verzeihen, wenn ich ſie nur an einem Tag um ihr Brot gebracht hätte.” Nach feinem Tod verweigerte der Erzbiſchof von Paris der Leiche des großen Dichters das Begraͤbnis auf dem Friedhof, weil er ein Komoͤdiant geweſen ſei. Als Ludwig XIV. davon hoͤrte, ließ er den Erzbiſchof rufen und ſuchte, ihn zu beſſerer Geſinnung zu bringen, mußte aber hören, es ſei unmöglich, daß ein unehrlicher Schauſpieler in geweihter Erde ſein Grab faͤnde. Da fragte der Koͤnig, ſcheinbar beruhigt, wie tief die Weihe des Bodens reiche, und er⸗

Mannigfaltiges 215

hielt zur Antwort, daß man mit ſieben Fuß rechne. Tiefer wuͤrden die Gruͤfte und Gräber nicht ausgehoben. Ludwig XIV. befahl, daß man Molieères Grab zwoͤlf Fuß tief, alſo fern genug von der geweihten Erde, machen ſolle und ſetzte ſeinen Willen durch.

In Hamburg verweigerte 1690 die Geiſtlichkeit dem Hans wurſt der Veltheim⸗ ſchen Truppe das Abendmahl und ein kirchliches Begraͤbnis. Der alte Schuͤtze ſagt in ſeiner Ham⸗ burger Theater⸗ geſchichte, daß noch in der letz⸗ ten Haͤlfte des achtzehnten Jahr⸗ hunderts einige wuͤrdige Mitglie⸗ der der beſſeren

%%% 68 6886666888688 8680848108 60066 668680 6000 6 6060086 06

2 7 [ 5 een ,, re a Hichal be Jean Baptiſte Moliöre, 8 geboren 15. Januar 1622, geſtorben

troffen habe; 17. Februar 16 man war noch 1 =

immer ber Meinung: „daß Komoͤdianten in einem Stande lebten, von dem ſehr fraglich ſei, ob er Gott wohlgefalle,“ wie Paſtor Schultz im Jahre 1697 ſchrieb. Friedrich der Große, ſonſt weit entfernt von landlaͤufigen Meinungen, nannte die kunſtvollſte Mimik „Kapriolenſchneiden“. Als er einſt einige Saͤngerinnen verabſchiedete, ſchrieb er ſeinem Fredersdorf: „Es iſt verdeubeltes Cropzeug, ich wollte, daß ſie alle der Deubel holte. Dieſe Ca⸗ naillen bezahlt man doch zum plaisir und nicht um Schererei von ihnen zu haben.“ Bei anderer Gelegenheit ſchreibt er:

216 Mannigfaltiges

„Die Opernleute find ſolche Bagage, daß ich fie tauſendmal muͤde bin. Ich jage ſie zum Deubel, ſolches Luderzeug kriegt man alle Tage wieder. Ich brauche mein Geld lieber vor Ka⸗ nonen und nicht vor ſolche Haſelanten.“

Der große Schauſpieler Friedrich Ludwig Schröter lernte in der Naͤhe von Duͤſſeldorf eine arme Lehrerstochter kennen und begehrte ſie zur Frau; ſie geſtand ihm, daß ſie ihn als Men⸗ ſchen wohl leiden moͤge, aber keinen Mann wolle, der auf oͤffent⸗ lichem Theater Poſſen reiße. Frankreich revolutionierte ſeit 1789 die ſtaatlichen und ſittlichen Zuſtaͤnde; es iſt einer der denk⸗ wuͤrdigſten Streitpunkte der Revolutionszeit, daß man ſich kurz vor ihrem Ende nicht daruͤber klar werden konnte, ob der Schau⸗ ſpieler Anteil an den „allgemeinen Menſchenrechten“ haben duͤrfe. Erſt ſeit dem neunzehnten Jahrhundert begann der Makel zu ſchwinden, und die Anſchauung verlor ſich, daß Gut fuͤr Ehre zu nehmen buͤrgerlich unehrlich mache. St. St.

Dem Feind keine Fahne. Nach der Schlacht bei Roßbach war Friedrich dem Großen, wie er ſelbſt ſagte, nur die Freiheit gegeben, neue Gefahren in Schleſien aufzuſuchen. Nach der Schlacht ſchrieb er an ſeine Schweſter Wilhelmine, die Mark⸗ graͤfin von Bayreuth: „Nach ſo viel Angſt endlich einmal, dem Himmel ſei Dank, ein gluͤckliches Ereignis! Nun wird es in der Welt heißen, daß zwanzigtauſend Preußen fuͤnfzigtauſend Deutſche und Franzoſen geſchlagen haben. Jetzt kann ich mich mit Frieden in mein Grab legen, denn Ruhm und Ehre meines Volkes iſt gerettet. Wir koͤnnen noch ungluͤcklich, aber nicht mehr ehrlos ſein.“ Nur hundert Mann ſeiner Truppen waren bei

Roßbach gefallen. Zwiſchen der Schlacht von Roßbach und

jener, die bei Leuthen folgen ſollte, ſchrieb der Koͤnig ſein Teſta⸗ ment. Am 4. Dezember 1757 hielt er am Vorabend der Leuthener Schlacht die herzergreifende Rede an ſeine Generale und Stabs⸗ offiziere, zu denen er ſagte: „Wir muͤſſen den Feind ſchlagen oder uns alle vor ſeinen Batterien begraben laſſen. So denke ich, ſo werde ich handeln.“ Es ging um Leben und Tod. In jener tiefernſten, entſcheidenden Stunde ſagte der Koͤnig noch: „Iſt einer oder der andere unter Ihnen, der ſich fuͤrchtet, alle Gefahren

Mannigfaltiges 217

mit mir zu teilen, der kann noch heute feinen Abſchied erhalten, ohne von mir den geringſten Vorwurf zu leiden.“ Und Major Billerbeck ſprach die Worte: „Das muͤßte ein infamer Hundsfott ſein: nun waͤre es Zeit.“ Heilige Stille folgte dieſem Ausbruch. Damals erließ der Koͤnig noch die Beſtimmung: „Das Bataillon Infanterie, es treffe, worauf es wolle, das nur zu ſtocken anfaͤngt, verliert Fahnen und Saͤbel, und ich laſſe ihm die Borten von der Montur abſchneiden. Nun leben Sie wohl, meine Herren; in kurzem haben wir den Feind geſchlagen, oder wir ſehen uns nie wieder.“ Die Schlacht bei Leuthen wurde glaͤnzend gewonnen; kein Regiment verlor mit der Fahne feine Ehre. Am 17. Ok: tober 1806 war bei Halle eine preußiſche Fahne nach einem ungluͤcklichen Kampf in Gefahr, den Franzoſen in die Haͤnde zu fallen. Das ganze Regiment v. Treskow, das bei der Papier⸗ muͤhle zunaͤchſt der Saale focht, wurde beinahe aufgerieben, nachdem es ſich mehrere Stunden gegen weit uͤberlegene Macht aufs tapferſte gehalten. Zwei Junker des Regiments, v. Kleiſt aus Pommern und v. Koͤnitz aus Ansbach, ſahen ſich von Fran⸗ zoſen umringt; es war unmoͤglich, die ihnen anvertraute Fahne zu retten. Man rief ihnen zu, ſich mit der Fahne zu ergeben. „Ihr ſollt ſie nicht haben,“ ſchrien die jungen Offiziere, ſtuͤrzten ſich mit dem Regimentsbanner in die reißende Saale und ertranken. Tho. L. Schlagfertig. Friedrich der Große ſah einſt auf der Straße einen Angetrunkenen, in dem er, als er naͤherkam, einen Schreiber aus der Kanzlei eines ſeiner Miniſter erkannte. Zornig daruͤber, einen preußiſchen Beamten in einem ſolchen Zuſtande auf der Straße zu ſehen, trat er an ihn heran und herrſchte ihn an: „Wie heißt Er und wo dient Er?“ Der alſo Angeredete er⸗ widerte uͤbermuͤtig, in ſeiner Trunkenheit den Frager nicht erkennend: „Er heißt die dritte Perſon in der Deklination der perſoͤnlichen Fuͤrwoͤrter und Er dient in der Kanzlei des Mi⸗ niſters Hardenberg.“ Der Koͤnig war außer ſich uͤber dieſe unerwartete Unverſchaͤmtheit und ſprach: „Was, Er will mich deutſche Grammatik lehren und weiß nicht einmal, daß der Eigenname nicht gebeugt wird, ſobald ein Artikel vor ihm fteht?”

218 Mannigfaltiges

Dabei fah er den Witzmacher durchbohrend an. Dieſem fiel es plotzlich wie Schuppen von den Augen, er erkannte den vor ihm Stehenden, im Augenblick wich die Trunkenheit von ihm und, ſich ſtramm aufrichtend, ſagte er mit einer beiſpielloſen Schlagfertigkeit: „Vor Eurer Koͤniglichen Majeſtaͤt muß ſich alles beugen, ob es einen Artikel vor ſich hat oder nicht.“ Dar⸗ uͤber vergaß Friedrich ſeinen Zorn und ſagte laͤchelnd zu dem Suͤnder: „Nun, gehe Er man geraden Weges nach Hauſe und beuge Er hinfuͤro das Glaͤschen nicht zu tief, ſonſt iſt es doch einmal aus mit Ihm.“ A. Sch.

Zur Belagerung der Feſtung Longwy. Die Übergabe der Feſtung Longwy an den Deutſchen Kronprinzen am 26. Auguſt 1914 weckt die Erinnerung an einen Vorgang, der ſich genau zwei Jahre vorher, am 25. Auguſt 1912, dort abſpielte: Die Ein⸗ weihung des Denkmals zur Erinnerung an die dreimalige Be⸗ lagerung der Feſtung Longwy.

Das Denkmal ſteht im ſtaͤdtiſchen Friedhofe und ehrt das Gedaͤchtnis an fruͤhere Verteidiger der Feſtung waͤhrend der dreimaligen Belagerung in den Jahren 1792, 1815 und 1870. Es iſt ein Werk des Bildhauers Buffiere und ſtellt eine weibliche Idealgeſtalt dar, auf deren Antlitz ſich Willenskraft und Ent⸗ ſchloſſenheit auspraͤgen die Lorraine. In der Linken Hält fie einen Degen, mit der Rechten druͤckt ſie eine Fahne an ihre Bruſt, zu ihren Füßen liegt eine Palme mit dem Spruch „Pro Patria

Der Tag der Einweihung, ein Sonntag, war vom herrlichſten Wetter beguͤnſtigt, reges Leben herrſchte ſchon vom fruͤhen Morgen an in der kleinen franzoͤſiſchen Grenzfeſtung. Die Teilnahme des damaligen Minifterpräfidenten, jetzigen Praͤſidenten der Franzoͤſiſchen Republik, Poincaré, an der Einweihung hob dieſe uͤber den Rahmen einer einfachen patriotiſchen Erinnerungsfeier hinaus, und daß man ſich deſſen durchaus bewußt war, das zeig⸗ ten die Inſchriften der zahlreichen Ehrenpforten, deren eine zum Beiſpiel die Widmung aufwies: „Es lebe Poincaré der große Unterhaͤndler.“ Eine Anſpielung auf die vorangegangenen Beſuche des Praͤſidenten an den Hoͤfen der befreundeten und verbuͤndeten Maͤchte.

Denkmal zur Erinnerung an die dreimalige Belagerung der Feſtung Longwy.

220 Mannigfaltiges

Poincaré war bei ſeinem Eintreffen auf dem Bahnhof Longwy nicht nur von der franzoͤſiſchen Bevoͤlkerung, ſondern auch von Abordnungen aus Belgien und Luxemburg mit großer Warme begruͤßt worden. Unter den Feſtteilnehmern gewahrte man auch den damaligen Kommandeur des 6. Armeekorps. General d' Amade.

Um die Mittagſtunde erfolgte die feierliche Denknials⸗ einweihung. Nachdem ein Longwyer mit dem urfranzoͤſiſchen Namen Beckerich „im Namen des franzoͤſiſchen Gedenkens“ und ein anderer im Namen der Veteranen geſprochen hatte, ergriff der Miniſterpraͤſident das Wort zu der eigentlichen Weihe⸗ rede, deren vieldeutige Ausfuͤhrungen die Verſammelten tief erregte und zu begeiſtertem Beifall hinriß. |

Poincaré erzählte von der bewegten und ruhmreichen Ges ſchichte Longwys und wies darauf hin, daß insbeſondere drei große Ereigniſſe fuͤr wuͤrdig erachtet worden ſeien, der Erinnerung der Nachwelt uͤberliefert zu werden.

Das erſte aus dem großen Revolutions jahre 1792, in dem ganz Europa gegen Frankreich geſtanden habe. Der Miniſter⸗ praͤſident verbreitete ſich zunaͤchſt über die kinnahme von Longwy durch den Herzog von Braunſchweig und die Befreiung der Stadt aus den Haͤnden der Feinde durch die ſiegreiche franzoͤſiſche Armee.

Dann beſprach er die zweite Belagerung der Stadt im Jahre 1815. Wohl wiſſend, welche Zugeſtaͤndniſſe er der Eigen⸗ liebe ſeiner franzoͤſiſchen Zuhoͤrer machen muͤſſe, flocht Poincaré hier einige ruͤhrſame Geſchichten ein von einem jungen Kanonier, Dehaye, der, ohne ſich zu beſinnen, von den Waͤllen aus ſein vaͤterliches Beſitztum draußen vor den Toren in Brand ſchoß, um den Feind dahinter zu vertreiben; von einem alten Veteranen, Sebaſtian Coquerre, Vater von ſieben Kindern, der vom Kirch⸗ turm aus die Bewegungen des Feindes beobachtete, das Artillerie⸗ feuer der Belagerten leitete und nicht von ſeinem Poſten wich, obwohl die Kanonenkugeln zu Hunderten uͤber ihn wegſauſten, die zerſchoſſenen Turmzieraten auf ihn herabregneten und die Bruſtwehr des Rundganges in die Tiefe ſtuͤrzte. Auch der Standhaftigkeit, mit der die Eingeſchloſſenen die Schrecken der

Mannigfaltiges 221

Belagerung ertrugen, zollte der Redner reichliches Lob. Trotz allen Heldenmutes von Soldaten und Buͤrgern habe, ſo fuhr Poincaré fort, am 15. September 1815 die Übergabe der Stadt an die erdruͤckende feindliche Übermacht erfolgen muͤſſen.

Fuͤnfundfuͤnfzig Jahre ſpaͤter ſei Frankreich noch grauſamer vom Gluͤck verlaſſen worden. Am 27. Auguſt 1870 ſchickte der Kronprinz von Preußen, der Longwy belagerte, einen hoͤheren Huſarenoffizier mit der Aufforderung zur Übergabe in die Feſtung. Aber die Antwort des Kommandanten war ein rundes Nein. Die Geſamtzahl der Verteidiger betrug in jenem denk⸗ wuͤrdigen Augenblicke nur 110 Infanteriſten, 69 Artilleriſten, 160 Grenzwaͤchter und eine Anzahl Poliziſten und Forſtbeamte. Ermutigt und unterſtuͤtzt von den Einwohnern uͤberraſchte ein Teil dieſer geringen Beſatzung in der Nacht vom 29. zum 30. Au⸗ guſt die Belagerer durch einen Ausfall und konnte ſich ſogar damit bruͤſten, ihnen einen Verluſt von 60 Toten und 14 Ge⸗ fangenen beigebracht zu haben. Weitere aͤhnliche kuͤhne und erfolgreiche Unternehmungen hielten in den folgenden Wochen die Deutſchen fortwaͤhrend in Atem. Ohne Zweifel die Stadt fuͤr ſtark beſetzt haltend und nicht gewillt, durch einen Sturmangriff viel Leute einzubuͤßen, wozu keine zwingende Notwendigkeit vor⸗ lag, begnuͤgten ſich die Deutſchen damit, ſich in den Doͤrfern der Umgebung feſtzuſetzen.

Inzwiſchen hatten ſich 300 verſprengte Franzoſen, die dem Zuſammenbruche bei Sedan entronnen waren, bis Longwy durchgeſchlagen. Durch ſie und durch weitere Verſtaͤrkung aus der Umgegend erhoͤhte ſich die Zahl der Verteidiger auf etwa 1800 bis 1900 Mann. Die deutſchen Batterien eroͤffneten ploͤtz⸗ lich das Feuer, und waͤhrend mehr als einer Woche fielen Tag und Nacht ohne Unterbrechung gegen 30 000 Geſchoſſe in die Stadt. Bald waren die Geſchuͤtze der Feſtung unbrauchbar gemacht, die Bruſtwehren zerſchoſſen, ganze Haͤuſerreihen nieder⸗ gebrannt; das Hoſpital drohte uͤber den Kranken und Ver⸗ wundeten zuſammenzuſtuͤrzen, Arzte und Pfleger wurden in Ausuͤbung ihres Dienſtes getoͤtet. Die Stadt glich nur noch einem Truͤmmerhaufen. Beſatzung und Buͤrgerſchaft blieben

222 Mannigfaltiges

jedoch bereit, den Kampf fortzuſetzen. Aber mit Ruͤckſicht auf das zuſammengeſchmolzene Haͤuflein der Verteidiger glaubte der Kommandant, Oberſt Maſſaroli, keinen Ausfall mehr wagen zu koͤnnen, und ſo unterzeichnete er am 24. Januar 1871 die

Übergabeerflärung. Die Bürger Longwys aber hatten ihre

Pflicht gegen das Vaterland erfuͤllt bis ans Ende!

Soweit Poincarés! Man ſieht, daß er, um die Empfind⸗ lichkeit ſeiner Landsleute nicht zu verletzen, es mit der hiſtoriſchen Treue ſeines geſchichtlichen Abriſſes nicht allzu genau nahm, in deutſchen wiſſenſchaftlichen Darſtellungen lieſt man es anders. Danach hielt die Feſtung Longwy, die in ihrer hohen Lage und der ſtarken Felſenbefeſtigungen einen bedeutenden Schutz be⸗ ſitzt, die deutſche Beſchießung vom 16. bis zum 25. Januar 1871 aus, nachdem ſie ſeit dem 27. Dezember 1870 vom 4. Ober⸗ ſchleſiſchen Landwehrregiment unter Oberſt v. Krenski einge⸗ ſchloſſen geweſen war. Die Übergabe erfolgte mit einer Beſatzung von 4000 Mann und 200 Geſchuͤtzen. Allerdings waren Kirche, Rathaus und verſchiedene militaͤriſche Gebaͤude nur noch Ruinen, doch hatte die Stadt im allgemeinen wenig gelitten, und man wunderte ſich, daß der Kommandant, der ſich bis zum letzten Mann hatte ſchlagen wollen, die Feſtung ſo fruͤh uͤbergab. Wahrſcheinlich geſchah es, weil die deutſchen Granaten die Kaſe⸗ matten durchſchlagen hatten und man deshalb fuͤr die Pulver⸗ kammern fuͤrchten mußte. Der Einzug der deutſchen Truppen fand am 26. Januar ſtatt.

Das waren die drei Ereigniſſe, deren Gedaͤchtnis das Denkmal auf dem Friedhof zu Longwy lebendig erhalten ſoll. Nun hat die Feſtung wieder einen deutſchen Kronprinzen als Sieger in ihre Mauern einziehen ſehen. Auch daran mag ſpaͤterhin eine neue Inſchrift auf dem alten Denkmal gemahnen, das zwar den tapferen Verteidigern der Stadt gewidmet iſt, aber im Grunde an lauter franzoͤſiſche Niederlagen erinnert, denn die Verteidi⸗ gung der Feſtung endete in jedem der geſchilderten Faͤlle mit der Übergabe an die Deutſchen. Hermann Limbach.

Italiens mögliches Geſchick. Wie England aus feiner planmaͤßigen Verhetzung der europaͤiſchen Maͤchte gewaltige

Mannigfaltiges 223

Vorteile erwuchſen, fo verdankte Italien feine Erhebung nicht erſt in neueſter Zeit nirgends den eigenen ſittlichen Kraͤften. Es iſt groͤßer geworden nur durch die Gunſt der Stunde; unſer großer Kanzler half ihm 1870 zur nationalen Einigung. Zu Moritz Buſch aͤußerte ſich Bismarck: „Die Italiener ſind wie der Rabe am Schlachtfeld, der ſich ſein Futter von andern beſorgen laͤßt. Sie waren 1870 bereit, uns mit anzufallen, wenn man ihnen ein Stuͤck von Tirol gaͤbe. Da ſagte ein ruſſiſcher Diplomat: ‚Die wollen ſchon wieder was haben und haben doch noch keine Schlacht verloren!! Aber es wird mit ihnen noch dahin kommen wie mit Spanien unter Iſa⸗ bella. ... Italien iſt wie die Frau im Märchen vom Fiſcher, der den goldenen Fiſch gefangen hat. Wie hieß ſie doch gleich? Ilſebill die nicht genug kriegen konnte. Die werden ein⸗ mal wieder in ihrem Topfe wohnen muͤſſen. Neapel und der Kirchenſtaat koͤnnen wiederhergeſtellt werden.“ Bismarck ſagte 1888: „Auf Italien iſt kein rechter Verlaß. Die Franzoſen koͤnnen dort doch wieder Boden und Freundſchaft gewinnen, wenn andere Parteien an die Regierung kommen. Sogar die Republik iſt möglich, und Italien kann ſich mit Wiederauf⸗ nahme der irredentiſtiſchen Pläne und Anſpruͤche gegen Oſter⸗ reich kehren.“ Daß Italiens „Emporkommen und Macht⸗ vergrößerung faſt nur auf Treuloſigkeit und Verrat beruhte“, ſind Worte des Geſchichtſchreibers Schloſſer. Artur Schopen⸗ hauer fand als Hauptzug des Nationalcharakters der Italiener „vollkommene Unverſchaͤmtheit“. Er ſchrieb daruͤber: „Dieſe beſteht darin, daß man einesteils ſich fuͤr nichts zu ſchlecht haͤlt, alſo unmaßend und frech iſt; andernteils ſich für nichts zu gut haͤlt, alſo niedertraͤchtig iſt. Wer hingegen Scham hat, iſt fuͤr einige Handlungen zu bloͤde, fuͤr andere zu ſtolz. Der Italiener iſt weder das eine noch das andere, ſondern nach Umſtaͤnden allenfalls furchtſam oder hochfahrend.“ Ahnlich urteilte Napoleon I., als er 1797 aus Italien an Talleyrand ſchrieb: „Sie bilden ſich ein, daß die Freiheit ein weichliches, aber⸗ glaͤubiſches, hans wurſtmaͤßiges und feiges Volk große Dinge verrichten laͤßt. Es iſt aber eine ſehr entnervte, ſehr feige Nation“

224 Mannigfaltiges

Worte, die der Korſe 1806 an den Vizekoͤnig von Italien, Eugen Beauharnais, richtete, ſind zur heutigen Stunde hoͤchſt be⸗ -achtenswert für uns: „Ihr tut unrecht, wenn ihr wähnet, die Italiener ſeien wie die Kinder. Es ſteckt boͤſer Wille in ihnen. Laßt ſie nicht vergeſſen, daß ich Herr bin und tun und laſſen kann, was ich will.... Ihr werdet von ihnen nur ſoweit ge: achtet werden, als ihr von ihnen gefuͤrchtet ſeid, und ſie werden euch nur fuͤrchten, ſofern ſie gewiß ſind, daß ihr treuloſer, tuͤckiſcher Charakter euch bekannt iſt.“ Schon im Januar 1873 nannte Ludwig Windhorſt die Vereinigung Deutſchlands mit Italien den „Uranfang alles Ungluͤcks“. Er ſagte: „Es iſt eine Allianz zwiſchen Fauſt und Mephiſto, und wir in Deutſchland ſpielen die Rolle des Fauſt.“ Wenn unſere Diplomaten ſich unſerer kriegeriſchen Fuͤhrer wuͤrdig erweiſen werden, dann mag es kommen, wie Fuͤrſt Bismarck dachte. Die groͤßenwahnſinnige Ilſebill im Maͤrchen vom Fiſcher und ſeiner Frau wollte Kaiſer werden und Papſt, zuletzt noch wie der liebe Gott, und endigte elend im Pißtopf. Wir wollen nicht wieder erleben, daß Worte wie jene des alten Feldmarſchalls Bluͤcher an den Staatskanzler Fuͤrſten von Hardenberg geſchrieben werden muͤſſen: „Wenn ihr Herren von der Feder doch nur einmal in ein ſcharfes Feuer kaͤmet, damit ihr wuͤßtet, was es heißt, eure Fehler wieder gut⸗ zumachen.“ Fuͤrſt von Bluͤcher ſchrieb damals an den Koͤnig: „Ich bitte alleruntertaͤnigſt, die Diplomaten dahin anzuweiſen, daß ſie nicht wieder das verlieren, was der Soldat mit ſeinem Blute errungen hat.“ St. St.

Des Kriegers Teſtament. Schon vor nunmehr zwei Jahrtauſenden konnte nach dem alten roͤmiſchen Recht der Soldat, der im Felde ſtand, in jeder beliebigen Form ſeinen letzten Willen niederlegen. Dieſes Vorrecht hat ſich bis auf den heutigen Tag fortgeerbt, und zwar gelten derzeit die Be⸗ ſtimmungen des Reichsmilitaͤrgeſetzes vom 2. Mai 1874 mit einigen Ergaͤnzungen. Der Soldat, der aus dem Frieden ſeines Heims heraus in den Kampf geſtellt wird, ſoll ſtets in der Lage ſein, angeſichts des lauernden Todes anzuordnen, was nach ihm werden ſoll. |

Mannigfaltiges | 223

Darum hat der auf dem Schlachtfeld liegende Verwundete, der, von Todesahnung erfuͤllt, noch einmal ſeine ganze Kraft zuſammennimmt und mit einem Bleiſtift auf ein Stuͤck Papier die Worte ſchreibt: „Meine Ehefrau und mein Sohn ſollen je die Haͤlfte meines Nachlaſſes erhalten. Otto Lindner“, ein vollguͤltiges Teſtament errichtet. Die Angabe von Ort und Zeit iſt zur Wirkſamkeit der letztwilligen Verfuͤgung beim Militaͤrteſtament nicht erforderlich. Oft wird ja der Erblaſſer gar nicht wiſſen, wo er ſich befindet, und nicht ſelten wird er ſich in der langen Reihe muͤhſeliger Kaͤmpfe nicht mehr genau entſinnen koͤnnen, an welchem Kalendertage er die Nieder: ſchrift vollzieht. Hat er Ort und Datum dazugeſchrieben, ſe wird er damit allerdings ſtets im Intereſſe der Anerkennung ſeines letzten Willens handeln und manchen Streit uͤber den Beſtand feiner Anordnungen vermeiden. Aber nicht jedem vergoͤnnt es das Geſchick, den letzten Willen draußen im-Felde noch von Anfang bis zu Ende ſelbſt niederzuſchreiben. Mancher vermag wohl ſeinen Namen noch zu ſchreiben, doch erlaubt ſein koͤrperlicher Zuſtand keine weitere ſchriftliche Aufzeichnung. Auch hier bilft das Geſetz. Statt der eigenhaͤndigen Nieder: ſchrift genuͤgt fuͤr das Militaͤrteſtament die eigenhaͤndige Unter⸗ ſchrift des Erblaſſers unter die von fremder Hand zu Papier gebrachten letztwilligen Anordnungen, wenn die ſo abgefaßte Urkunde noch von zwei Zeugen mit unterzeichnet wird, an deren Stelle auch ein Kriegsgerichtsrat, ein Oberkriegsgerichts⸗ rat oder ein Offizier treten koͤnnen. Bei verwundeten oder kranken Militaͤrperſonen duͤrfen die Kriegsgerichtsraͤte oder Offiziere auch durch Militaͤraͤrzte, hoͤhere Lazarettbeamte oder Militaͤrgeiſtliche vertreten werden. Das Geſetz will dadurch, daß es die Mitvollziehung des Teſtaments durch maßgebende dritte Perſonen vorſchreibt, ſichere Garantien dafuͤr ſchaffen, daß dasſelbe auch den wirklichen Willen ſeines Urhebers zum Ausdruck bringt. Die Gefahr liegt ſonſt zu nahe, es moͤchten irrtuͤmliche oder gefaͤlſchte Teſtamente zuſtande kommen. Ort und Zeit der Errichtung brauchen auch bei dieſer Art von mili⸗ taͤriſchen letztwilligen Verfuͤgungen nicht angegeben zu ſein.

1916. X. 15

226 Mannigfaltiges

Schließlich ſorgt das Geſetz auch noch für die Bedauernswerten, die ihre letzten Wuͤnſche nur noch muͤndlich zu aͤußern in der Lage find. Muͤndliche Militaͤrteſtamente find gültig, wenn fie vor einem Kriegsgerichtsrat, einem Oberkriegsgerichtsrat oder einem Offizier unter Zuziehung von zwei Zeugen oder an deren Stelle von einer der vorgenannten Urkundsperſonen unter⸗ zeichnet werden.

Auch ein in Briefen ausgeſprochener letzter Wille hat recht⸗ lich vollen Anſpruch auf Geltung. Das Teſtament im Feld⸗ poſtbrief ſpielt zurzeit ſogar eine betraͤchtliche Rolle. Dieſe Erſcheinung mag ſich aus der vielfach beſtehenden Abneigung der Erblaſſer erklaͤren, fremden Augen und Ohren im Herzen verſchloſſene Wuͤnſche und Gedanken kundzutun. So ein Feld⸗ poſtbriefteſtament gab dem Reichsgericht Anlaß zu einer ſehr bedeutſamen, freilich auch viel befehdeten großzügigen Ent: ſcheidung. Es handelte ſich dabei um die Frage der Guͤltigkeit eines mit bloßem Vornamen unterzeichneten brieflichen letzten Willens. Die Braut eines im Felde gefallenen Vizefeldwebels legte dem Amtsgerichte einen Brief des Verſtorbenen, unter⸗ zeichnet „Dein Fritz“, vor und bat um Erteilung eines Erb: ſcheines. Drei Inſtanzen erklaͤrten die Unterſchrift lediglich mit dem Vornamen fuͤr unzureichend. Erſt unſer oberſter Gerichts⸗ hof verhalf der Braut zur Erfuͤllung ihres Begehrs, indem er im vorliegenden Fall das Teſtament trotz des fehlenden Familien⸗ namens rechtsverbindlich nannte. Nach der reichsgerichtlichen Auffaſſung muß die Unterzeichnung eigenhaͤndiger Erklaͤrungen, die ſich an nahe Angehoͤrige richten, mit dem bloßen Vornamen mindeſtens dann als ausreichend und zulaͤſſig angeſehen werden, wenn fich, aus dem unterſchriebenen Text der Urkunde die Perſon des Ausſtellers für jeden dritten mit Sicherheit ergibt. So aber lag die Sache hier; der Erblaſſer hatte in dem Briefe vor der Unterſchrift ſeine genaue Feldadreſſe mit Familien⸗ namen mitgeteilt.

Das Militaͤrteſtament iſt ein Notteſtament. Es wird ver⸗ faßt mit Ruͤckſicht auf die beſondere Lage. Kehrt der Verfaſſer aus dem Felde zuruͤck, dann werden ſich die Verhaͤltniſſe und

-

Mannigfaltiges 227

Wuͤnſche ſehr oft aͤndern. Deshalb ſoll die Geltungsdauer ſolcher Notteſtamente die Zeit der Bedraͤngnis, in der ſie ent⸗ ſtanden, nicht lange uͤberleben. Sie verlieren ihre Guͤltigkeit mit dem Ablaufe eines Jahres von dem Tage ab, an welchem der Truppenteil, dem der Teſtator zugeteilt war, demobil gemacht wurde, oder von dem Tage ab, von dem an der Teſtator keinem mobilen Truppenteil mehr angehoͤrt. Dr. Hans Lieske.

Die hunde und Katzen von Neuenburg. Als im Jahre 1638 der Herzog Bernhard von Weimar die Stadt Neuenburg be⸗ lagerte, ſtieß er auf heftigen Widerſtand. Die Stadt dachte nicht daran, ſich zu ergeben, was den ſieggewohnten Feldherrn aufs aͤußerſte erbitterte. Schließlich forderte er ein letztes Mal zur Übergabe auf, mußte aber erleben, daß feine ſchweren Drohungen keine Beachtung fanden. Da rief er zornig: „Die Stadt weigert die Übergabe, gut. Ich werde die Stadt erobern, und dann ſoll kein Hund und keine Katze am Leben bleiben.“ Dieſen Ent⸗ ſchluß ließ er ſofort den Neuenburgern mitteilen. Sie ver⸗ doppelten nun ihre Anſtrengungen, und ihr Mut und ihre Unerſchrockenheit noͤtigten ſelbſt dem Herzog die größte Achtung ab. Nach Verlauf einiger Wochen war die Stadt voͤllig aus⸗ gehungert und mußte ſich ergeben. Der Herzog aber meinte zu ſeiner Umgebung: „Ich bereue meinen Schwur, dieſe Helden haben ihn nicht verdient.“ N

Die Sieger ſahen bei ihrem Einzug in die Stadt uͤberall bleiche Geſichter, Menſchen, die noch angeſichts des Todes ihre Wuͤrde wahrten und nicht um ihr Leben bettelten, das ſie un⸗ widerruflich fuͤr verwirkt hielten. Der Herzog aber ließ die Einwohnerſchaft auf dem Marktplatz zuſammenrufen und redete ſie an: „Buͤrger von Neuenburg! Ich bedauere euer Schickſal und ſpreche euch fuͤr euren Heldenmut meine Be⸗ wunderung aus. Meinen Schwur aber muß ich halten und ſo geht denn hin und toͤtet alle Hunde und Katzen, wie ich es ge⸗ ſagt habe. Ihr ſelber aber ſollt leben.“ A. Sch.

Der Hofprediger Maria Thereſias. Durch lange Jahre kamen Leute aller Staͤnde an zwei bis drei Tagen der Woche mit Bitten vor die Kaiſerin Maria Thereſia. Sie klagten der

228 Mannigfaltiges D/ —jçꝙ»—.——ß———— Landesmutter manches ſchreiende Unrecht. Die Hoͤflinge fuͤrchteten die Enthuͤllung eigener Bloͤßen oder ſolche ihrer Ver⸗ wandten und Freunde, nuͤtzten geringe Vorkommniſſe, falſch berichtete oder uͤbertrieben geſchilderte Geſchehniſſe und klagten, daß durch den freien Zutritt das gemeine Volk nur aufdringlich, unbeſcheiden und haͤndelſuͤchtig gemacht werde. Auch ſei das endloſe Anhoͤren des meiſt unerheblichen Geſchwaͤtzes der Ge⸗ ſundheit und Laune der Kaiſerin ſchaͤdlich. So brachten ſie es dahin, daß niemand mehr vorgelaſſen werden durfte. Da ſagte der Hofprediger, dem die wahren Gruͤnde bekannt waren, vor den Ohren der Maria Thereſia: „Wie ſollen Koͤnige und Herren von dem hoͤren, was ihre Voͤlker leiden, wenn undurchdring⸗ liche Mauern ſie von ihnen abſperren? Gott hat die Koͤnige zu Vaͤtern der Armen, Witwen, Waiſen und Unmuͤndigen einge⸗ ſetzt. Die Koͤnige ſollen die Klagen der Elenden hoͤren und ihnen helfen, ſonſt waͤre es beſſer, ſie legten ihre Kronen ab. Vor Gott und der Welt ſind treulos gegen ihr Volk handelnde Maͤchtige nicht im Rechte, ſie zu tragen, wenn ſie ſich hindern laſſen, ihre von Gott auferlegte und geforderte Pflicht zu tun.“

Die Koͤnigin ließ darauf bekannt machen, daß die Tuͤren des Palaſtes wieder allen offen ſtuͤnden. Als die geiſtlichen Oberen den Prediger ſtrafen wollten, verbot es Maria Thereſia mit den Worten: „Er hat vor Gott und mir feine Pflicht erfullt; ich will die meinige nach ſeinen Worten tun. Man laſſe den redlichen Mann ungekraͤnkt.“ Ma. S.

Wie ermittelt man die genaue Lage eines Geſchoſſes im menſchlichen Körper? In den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts tauchten Theorien auf und wurden Verſuchsanordnungen gemacht, um den Nachweis unſichtbarer Lichtſtrahlen zu erbringen. Schon A. Kundt (1838 —1894) erkannte, daß unter gewiſſen Umſtaͤnden Durchlaͤſſigkeit von Metallen für Licht eintreten kann. Hertz (18571894) und v. Lenard beſchaͤftigten ſich auf Grund anderer Arbeiten erneut mit Verſuchen und bemuͤhten ſich, geeignete Metalle zu finden, die den Strahlen Durchlaß erlaubten. Bis um das Jahr 1900 lagen eine große Menge „unbezweifelter Wahrheiten, ſchwanken⸗

Mannigfaltiges 229

der Erklaͤrungsweiſen und ungelöfter Raͤtſel“ auf dieſem dunklen Forſchungsgebiete vor. Im Jahre 1892 war man mit v. Lenards Aluminiumfenſter bekannt geworden, welches an das Ende einer mit verduͤnntem Gaſe gefuͤllten Glasroͤhre geſetzt, den groͤßten Teil der durch Elektrizitaͤt erzeugten Kathodenſtrahlen frei durchgehen ließ. Die wahre Wuͤrdigung dieſer Licht⸗ ſtrahlen wurde in dem Augenblick möglich, da fie aus der Glas⸗ roͤhre, in der ſie durch elektriſche Spannung erzeugt wurden, frei heraustraten. Man durfte um dieſe Zeit hoffen, dieſer Erſcheinung unter neuen Verſuchsanordnungen und Be: dingungen nachzuſpuͤren und damit auch an ihr manche unbe— kannte Eigentuͤmlichkeiten aufdecken zu koͤnnen. Niemand aber mochte an eine ſo voͤllig unerwartete Art der Erfuͤllung dieſer Hoffnung denken, wie ſie dann kommen ſollte. Es erwies ſich, daß die durch ein derartiges „Fenſter“ gegangenen Kathoden— ſtrahlen in ihrem Charakter ſich umgeaͤndert zeigten, in fo: genannte X⸗Strahlen verwandelten. Als gegen Ende 1895 durch Karl Wilhelm Röntgen, geboren 1845, eine „vor: laͤufige Mitteilung“ darüber erſchien, wurde fie mit Staunen und Unglauben wahrgenommen, weil fie den abgetanen Begriff aus der Mitte des Jahrhunderts von unſichtbarem Licht in eigenartiger Weiſe zu neuem Leben zu erwecken ſchien. Statt des Aluminiumverſchluſſes der Glasroͤhre diente bei Roͤntgens Verſuchen zuerſt ſchwarzer Karton, der die außerordentlich ſtark ausgepumpte, luftleer gemachte, dem Durchgange des elektriſchen Funkens ausgeſetzte Roͤhre verhuͤllte. Wurde das Beobachtungs⸗ zimmer verdunkelt und ein Fluoreſzenzſchirm den durch den Karton gegangenen Strahlen in den Weg geſtellt, ſo leuchtete der Schirm auf, ſobald der Strom durch die Roͤhre ging, einerlei welche Seite der Schirmplatte, die mit Paſte beſtrichene oder freie, davon zuerſt getroffen worden war. Stanniolblaͤtter, Holzkloͤtze, dicke Bücher erwieſen ſich als durchgängig für jene Strahlen, denen Röntgen den Namen X-Strahlen, das heißt „Unbekannte“, gab, weil ſie ſich ganz anders als ſonſt eigentliche Lichtſtrahlen offenbarten. Die Fachwelt gab ihnen den Namen Roͤntgenſtrahlen.

230 Mannigfaltiges

Bald beſchaͤftigten ſich eine Reihe Gelehrte mit dieſer neuen Erſcheinung und wenn auch theoretiſch Zuverlaͤſſiges uͤber die Art dieſer Strahlen umſtritten blieb, ihre praktiſche Verwendung wuchs in wenigen Jahren ins Unermeßliche. Bald gelang es, durch eee mit der Photographie, die

neue Entdeckung f fuͤr die innere Medizin und Chirurgie nutz⸗ bar zu machen; die Kriege der naͤchſten Jahre haben ihren Wert fuͤr die Pflege und ope⸗ rative Eingriffe an Verwundeten auf das entſchie⸗ denſte erwieſen, und das fortge⸗ ſetzte Beſtreben, dieſe großen Vor⸗ teile moͤglichſt raſch zu nuͤtzen, fuͤhrte die Ap⸗ parate techniſcher . P | Vervollkomm⸗ Abb. 1. . einer zwanzigjaͤhrigen Perſon. nung entgegen. Heute dienen ſie uͤberall auf den Kriegſchauplaͤtzen unmittelbar hinter der Front. Die erſte Verwendung fanden fie in den Sudanfeldzuͤgen Eng— lands. Im griechiſch⸗tuͤrkiſchen und im ſuͤdafrikaniſchen Feldzug erwarben ſich von deutſcher Seite die Vereine vom Roten Kreuz durch Ausſtattung eines Verwundetenlazaretts mit geeigneten Apparaten beſondere Verdienſte. Abbildung 1 gibt die Auf⸗ nahme der Hand einer zwanzigjaͤhrigen Perſon. In neuerer

Mannigfaltiges 231

Zeit gelang es auch kinematographiſche Serienaufnahmen zu machen, welche in die Taͤtigkeit der inneren Organe uͤber⸗ raſchende Einblicke geſtatteten.

Durch photographiſche Aufnahmen ergeben ſich nun nicht unmittelbar völlig genaue Aufſchluͤſſe über Ort und Lage irgendwelcher in den Koͤrper geratener Fremdſtoffe. Die Er⸗ mittlung der wirklichen Lage eines in den menſchlichen Koͤrper eingedrungenen Geſchoſſes iſt eine weit ſchwierigere Aufgabe als es auf den erſten Blick ſcheint. Die Roͤntgenſtrahlen durch⸗ dringen wohl auch den menſchlichen Koͤrper und erzeugen ein Schattenbild des Fremdkoͤrpers. Über feine Lage iſt damit aber noch kein unbedingter Aufſchluß gegeben. Das einfache Roͤntgenbild vermag nichts uͤber die wirkliche, raͤumliche Lage eines Geſchoſſes in Beziehung auf umliegende Weichteile oder Knochen zu lehren. Durch Fehler, die bei dem rein mecha= niſchen Verfahren der Anfertigung der Bilder unterlaufen, entſtehen Irrtuͤmer, die verhaͤngnisvoll werden muͤßten, wenn man ihnen unbedingt trauen wuͤrde. Ein in der rechten Kopfhaͤlfte ſitzendes Geſchoß koͤnnte man dem koͤrperlichen Bilde nach als in der linken Hälfte gelegen annehmen. Ein Roͤntgenbild vermag dadurch zuſtande zu kommen, daß die von einem Punkt ausgehenden Roͤntgenſtrahlen ein Schatten⸗ bild ſaͤmtlicher auf ihrem Wege in verſchiedener räumlicher Ent: fernung liegenden Koͤrperteile aufzeichnen, und zwar nicht etwa raͤumlich, ſondern in einer einzigen Ebene, derjenigen der photographiſchen Platte. Zwei Koͤrper, die ein beſtimmter Roͤntgenſtrahl auf ſeinem Wege nacheinander trifft, und die um viele Zentimeter innerhalb des Koͤrpers auseinanderliegen, werden auf der photographiſchen Platte ſo mit ihren Schatten uͤbereinanderfallen, daß es ausſieht, als ob ſie in Wirklichkeit nebeneinander laͤgen. Das ſind die Gruͤnde, weshalb aus einem gewöhnlichen Roͤntgenbild unbedingte Schluͤſſe auf die raͤum⸗ liche Lage des Geſchoſſes nicht zu ziehen ſind.

Trotzdem hilft das Roͤntgenverfahren zur Ermittlung en wirklichen Lage, aber nur unter Vorausſetzung befonderer Vor: kehrungen. Statt der einfachen Aufnahme muß eine ſogenannte

s Geſchoſſes.

2

eine

2. Stercoaufnahme

+

Abb

Mannigfaltiges | 2 33

Sterevaufnahme, das heißt eine doppelte Roͤntgenaufnahme gemacht werden, wie ſie Abbildung 2 darſtellt. Dies geſchieht dadurch, daß man zunaͤchſt eine gewoͤhnliche Aufnahme macht, dann jedoch den Patienten und die Platte ruhig an ihrem Platz liegen laͤßt, dafür aber die Roͤntgenroͤhre um einige Zentimeter ſeitlich verſchiebt und darauf nochmals dasſelbe Objekt auf Die, gleiche photographiſche Platte aufnimmt. Man legt nun für dieſe Sterebaufnahme Auf die Oberfläche des Körpers ein Blei: kreuz und ſteckt in einen Schenkel des Bleikreuzes eine Stahl: nadel, die nach der erſten Aufnahme wieder herausgenommen wird, ſo daß dieſe Stahlnadel nur einmal auf der photo— graphiſchen Platte erſcheint. Das Bleikreuz hat in ſeiner Mitte eine Durchlochung; man gibt nun auf der Hautoberflaͤche durch Anaͤtzen mit Hoͤllenſtein den Punkt an, den dieſes Loch im Kreuz zu bezeichnen erlaubt. Auf gleiche Weiſe wird eine Linie auf der Haut gezogen, welche die Richtung angibt, in der die Stahlnadel dort lag.

In der Stereoaufnahme erſcheinen nun alle Schatten wie die Umriſſe der Knochen, der Schatten des Geſchoſſes und des Bleikreuzes doppelt und nur der Schatten, welcher bei der erſten Aufnahme durch die im Bleikreuz ſteckende Stahlnadel hervor: gerufen wurde, iſt einfach zu ſehen. Dieſe Aufnahme reicht nun vollkommen zur räumlichen Lagebeſtimmung des im Körper ſitzenden Geſchoſſes aus. Man benutzt dazu ein zirkelartiges Inſtrument, den Roͤntgentiefenmeſſer, deſſen Spitzen auf die einzelnen Schattenbilder des Geſchoſſes und des Bleikreuzes aufgeſetzt werden, von deſſen Skalen die der jeweiligen Stel: lung der Zirkelſpitzen entſprechenden Zahlen abgeleſen werden. Die Konſtruktion des Tiefenmeſſers beruht auf einer Reihe von mathematiſchen Vorausſetzungen und Berechnungen, die wegen ihrer Schwierigkeit hier nicht wiedergegeben werden koͤnnen. Es genuͤgt zu wiſſen, daß dieſe ein fuͤr allemal ausgefuͤhrten Berechnungen es ermöglichen, auf dem Meßwerkzeug genau ab: zuleſen, wie tief das Geſchoß in den Koͤrper eingedrungen iſt, und wie weit es ſeitlich von dem auf die Koͤrperoberflaͤche aufgelegten Bleikreuz entfernt iſt. Auch die Richtung, in der ſich das Geſchoß

234 Mannigfaltiges

befindet, wird ermittelt durch die Ausmeſſung desjenigen Winkels, den die auf der Sterevaufnahme ſichtbaren weißen Linien mit der Schattenlinie einſchließen.

Wenn die ſorgfaͤltige Ausmeſſung der Sbercdnd e vollendet iſt, werden ihre Ergebniſſe auf den Koͤrper uͤbertragen, wie es Abbildung 3 veranſchaulicht. Der kleine, unter dem Halsanſatz befindliche Punkt weiſt die Stelle nach, an welcher

Abb. 3. Übertragung des Reſultats der tagebeſimmung auf den Patienten.

die Durchbohrung des Bleikreuzes bei der Aufnahme lag. Die nach unten hin ſich daran anſchließende Linie bezeichnet die Lage der Stahlnadel bei der Aufnahme. Durch die gehörige Aus: meſſung der Sterebaufnahme kommt man nun erſt auf eine Linie, wie man ſie in unſerem Bilde nach links oben ſchraͤg ver— laufend erblickt. Die Laͤnge dieſes Richtpunktes wurde ebenfalls durch den Tiefenmeſſer feſtgeſtellt. Nun erſt iſt zu erſehen, wie am Endpunkte der Strecke das Geſchoß in ſeiner wirklichen

Mannigfaltiges 235

Geſtalt ſitzt. Auch die Tiefe, in der ſich das Geſchoß befindet, in dieſem Falle 3,5 Zentimeter, wurde ſo gefunden. Dieſes Ver⸗ fahren ermoͤglicht, daß die operative Entfernung des Geſchoſſes auf Grund genauer Beſtimmung ſeiner Lage vorgenommen werden kann. ö g - Durch überrafchend einfache Nachprüfung ift weiterhin mit Hilfe der Roͤntgenſtrahlen feftzuftellen, ob die Lage des Geſchoſſes auch vollkommen richtig ermittelt wurde. Wenn die Beſtim⸗ mung richtig war, daß ein Geſchoß in der feſtgeſtellten Zahl von Zentimetern ſenkrecht unter dem auf der Haut beſtimmten Punkt lag, ſo muß eine Roͤntgenaufnahme, die mit einem in dieſer Richtung verlaufenden Roͤntgenſtrahl vorgenommen wird, das Geſchoß im Rahmen eines kleinen Bleifenſters, das auf den beſtimmten Punkt gelegt wuͤrde, auf der Platte erſcheinen. Liegen Bleifenſter und Geſchoß ſenkrecht untereinander, ſo bringt ſie der in gleicher Richtung gehende Roͤntgenſtrahl auf eine und dieſelbe Stelle der photographiſchen Platte. Durch dieſe nachpruͤfende Aufnahme faͤllt der Geſchoßſchatten mit der Schattenausſparung des Bleifenſters zuſammen. Damit iſt der Nachweis aller vorherigen, durch Aufnahme und Berechnung gefundenen Ortsangaben beſtimmt erfolgt und der Chirurg kann gewiß fein, keine unangenehmen Überrafchungen zu erleben. Otto Milenius. Engliſches Flegelweſen und Dünkelhaftigkeit geſtern wie heute. Henry Arthur Tilley ließ 1861 ein Werk über „Japan, den Amur und das Stille Weltmeer“ in London erſcheinen. Auf langjaͤhrigen Reiſen fand er vieles an ſeinen „Gentlemen“ tadelnswert und ſchreibt mit großer Offenheit daruͤber, allerdings vom Glauben beſeelt, dadurch auf ihr Betragen zu wirken. Er beſtaͤtigt, die Engländer feien als „Geſamtmenge betrachtet, außerhalb ihrer Inſel nirgends beliebt, weil ſie in allen fuͤnf Erdteilen von abſtoßendem Weſen ſind. Sie ſtellen ſich uͤberall ſouveraͤn hin, verletzen Gefuͤhle und Eigentuͤmlichkeiten anderer Voͤlker, gehen da, wo ſie Macht haben, ohne jede Schonung und Ruͤckſicht vor und haben in ihrem Weſen nichts Gewinnendes. Es ſind Leute, welche in Japan auf den heiligen Berg des Landes

236 Mannigfaltiges

hinauf galoppieren, um dort Tee zu kochen und Zigarren zu qualmen, Menſchen, die den indiſchen Spahis Patronen mit dem Fett von geheiligten Kuͤhen geben und in Japan mit bewußter Roheit die Landesgeſetze uͤbertreten. ... Ich ſah oͤfters, daß Maͤnner, welche die engliſche Sprache redeten, mit beſudelten Stiefeln in japaniſche Zimmer eindrangen und gegen alle Bitten und Vorſtellungen des Hausbeſitzers taub blieben. Ich wuͤnſchte, meine Landsleute möchten nicht vergeſſen, daß es völlig unpaſſend ſei, die Japaner wie indiſche Diener oder chineſiſche Kulis zu behandeln.“

Dieſer Bericht ſtammt aus dem Jahre der Einaͤſcherung des kaiſerlichen Sommerpalaſtes in Peking. Damals ſchrieb die „Overland China Mail“, ein engliſches Blatt: „Es ſteht den Englaͤndern uͤbel an, Gemeinplaͤtze uͤber die Roheit der Vandalen und Muſelmaͤnner, welche die Bibliothek in Alexandria ver⸗ brannten, zu Hauſe zum beſten zu geben. Im Sommerpalaſt befand ſich auch eine ‚Galerie der Quelle der Wiſſenſchaften'“, eine ungeheuer reichhaltige Buͤcherſammlung. Der franzoͤſiſche General proteſtierte gegen die Zerſtoͤrung dieſer aͤußerſt wert⸗ vollen Schaͤtze, aber der engliſche General ließ ſie mit Vor⸗ bedacht vernichten, obgleich er Tauſende von Soldaten zur Hand hatte, welche die Buͤcher retten konnten. Schimpf und Schande dieſer nicht vandaliſchen, nein engliſchen Barbarei, fallen auf Großbritannien allein.“ j

Dieſelbe Zeitung führt Klage: „Das uͤbermuͤtige Benehmen, ja das hoͤchſt unverſchaͤmte Betragen vieler von unſeren Land— und Secoffizieren iſt nicht zu geringem Grade an dem Wider⸗ willen ſchuld, welchen die Orientalen ganz allgemein gegen den engliſchen Charakter hegen.“ Das Blatt laͤßt den Chineſen Gerechtigkeit widerfahren und ſtellt die vornehmen Sitten ihrer Staatsmaͤnner der „hochmuͤtigen Roheit und dem Mangel jeder Erziehung“ entgegen, die Lord Elgins Bruder, der jetzt in Peking reſidierende Geſandte Bruce, in ſo bedauernswerter Weiſe be⸗ tätigt habe. Er allein ſei „durch fein ſtupid⸗hochfahrendes Weſen am dritten Kriege gegen China ſchuld; er habe Flegelei mit ſtaatsmaͤnniſcher Wuͤrde verwechſelt“. Bei anderer Gelegenheit

Mannigfaltiges 237

ſchrieb die gleiche Zeitung: „Wir alle, vom Gouverneur ange: fangen, find gar zu geneigt, die Chineſen als niedrig ſtehende Menſchen, als untergeordnete Weſen zu betrachten. Vor wenigen Monaten hatte ein ſechzigjaͤhriger Mann eine Zeugenausſage zu machen. Man ließ ihn vier volle Stunden ſtehen und bot ihm keinen Stuhl an, trotzdem er ſich vor Mattigkeit oft an die Wand lehnen mußte. Und dies in einem Lande, wo es mehr als irgendwo das natuͤrliche Recht des Alters iſt, achtungsvoll be⸗ handelt zu werden. Einem jungen Englaͤnder, der gleichfalls Zeugnis ablegen ſollte, bot man ſogleich einen Sitz an. Es iſt ein verhaͤngnisvoller Irrtum, zu waͤhnen, daß wir gebildete Chineſen wie Neger behandeln duͤrften.“

Die „Overland China Mail“ hatte gut predigen, was ihre Landsleute nicht zu achten brauchten; denn ſie fuͤhlten ſich, gleichviel ob in Indien oder China, nicht genoͤtigt, im Menſchen ihresgleichen zu achten. Sie glaubten nach Pitts Worten, daß ſie das „Salz der Erde“ ſeien, daß unter „allen Himmeln nichts dem Briten Vergleichbares lebe“. Was ein engliſcher „Ge— lehrter“ im Jahre 1866 wagen konnte, vor einer gelehrten Koͤrperſchaft auszuſprechen, dafuͤr bietet ein Herr L. O. Pike den Beweis. Er ſprach in der Anthropologiſchen Geſellſchaft zu London uͤber die phyſiſchen Charaktereigentuͤmlichkeiten des eng⸗ liſchen Volkes. Der Vortrag erſchien woͤrtlich im „Journal of the Anthropological Society“, im Juli 1866. Er ftellte vier Voͤlker einander vergleichend gegenuͤber: die alten Briten, die alten Griechen, die heutigen Deutſchen und die Englaͤnder. Der Charakter der Englaͤnder gleiche jenem der alten Griechen, belehrte Pike feine Hörer. Das am „Ichärflten hervortretende Gemuͤtsmerkmal“ der Deutſchen ſei das Wunder; ſie ſpraͤchen alle Augenblicke von wunderbar und wunderſam, und dieſe „Liebhaberei am Wunder“ laſſe ſich an den „Eigentuͤmlichkeiten ihrer Sprache, Literatur, Kunſt und Wiſſenſchaft nachweiſen“. Die Englaͤnder haͤtten keinen Hang zum Wunder und Wunder⸗ baren, ſie waͤren ausgezeichnet durch Beſcheidenheit, durch zarte Selbſtachtung und durch den Sinn fuͤr perſoͤnliche Ver⸗ antwortlichkeit. Außerdem beſaͤßen fie vor allem „viel größere

238 | Mannigfaltiges

konſtruktive Fahigkeit“, weil ihre Anlage „Ahnlichkeiten heraus⸗ zufinden“ ſtaͤrker ſei, aber ſie beſaͤßen weniger als die Deutſchen die Kraft im „Herausarbeiten der Einzelheiten“.

Pike fand ſofort eine hoͤchſt derbe Zuruͤckweiſung durch ein Mitglied der Geſellſchaft, Doktor Charnock, der ſeinen Vortrag als eine ungerechtfertigte „Vergoͤtterung“ der Engländer be⸗ zeichnete, der nichts als eine unſinnige, ſeichte Schmaͤhung fuͤr Deutſchland ſei. Er hielt ihm vor, daß er ihm nicht zuzuſtimmen vermoͤge, daß die Englaͤnder durchaus ehrenhaft und beſcheiden waͤren, weil ſie es nur durch gegenteilige Eigenſchaften uͤberall in der Welt jo weit zu bringen verſtaͤnden. Er, Charnock, habe Reiſen durch ganz Europa gemacht und ſich uͤberzeugt, daß die Voͤlker auf dem Feſtlande mindeſtens ſo ehrenhaft und beſcheiden ſeien, als Pike dies allein von Englaͤndern behaupten zu muͤſſen ſich bemuͤßigt ſehe. Pike habe uͤberdies gewaltig viel Ruͤhmens von dem geiſtigen und ſittlichen Charakter der engliſchen Staats⸗ maͤnner gemacht, hoffentlich aber damit nicht die in unſerem Jahrhundert lebenden lobpreiſen wollen. Charnock ſagte woͤrtlich: „Denn, wenn man mich fragen wuͤrde, wie ich den Charakter unſerer Staats maͤnner, ich meine jene der letztverfloſſenen fünfzig Jahre, bezeichnen will, dann faſſe ich alles kurz zuſammen und ſage: Machiavellismus, Mephiſtophelis mus, Jeſuiterei und prophezeie als das Ende das Tollhaus.“ H. Bu.

Baut Sonnenblumen! Wer im vergangenen Sommer mit der Eiſenbahn reiſte, wird verwundert überall in den deut⸗ ſchen Landſchaften an den Bahndaͤmmen, den Ackerraͤndern, den Gaͤrtchen der Bahnwaͤrter, den Schrebergaͤrten die leuchten⸗ den Geſichter der Sonnenblumen bemerkt haben. Nun, ſie taten auch eine Art Kriegsdienſt, denn ihre Kerne lieferten uns Ol fuͤr Kriegszwecke. Wie viele Tauſende von Tonnen Ol kann eine ausgiebig veranſtaltete Sonnenblumenzucht ſtellen! Das haben auch unſere Behoͤrden erkannt und den Ruf in alle Teile Deutſchlands ergehen laſſen: Baut Sonnenblumen! Es iſt

unſere vaterlaͤndiſche Pflicht, dieſem Rufe Folge zu leiſten.

Der Anbau von Sonnenblumen (Helianthus annuus) iſt einfach. Die Ausſaat erfolgt bis in den Mai hinein. Man

—äfà0 ſ———

Mannigfaltiges 239

wird aber immer gut tun, die Pflanzen vortreiben zu laſſen, das heißt man ſaͤt die Kerne in Holzkaͤſten oder großen Blumen⸗ toͤpfen dicht aus, bedeckt ſie mit Erde, befeuchtet und laͤßt ſie im Zimmer aufgehen. Sind ſie etwa fingerlang geworden, dann werden ſie ins Freie an Ort und Stelle, mit einem Abſtand von 60 bis 70 Zentimeter nach allen Seiten, verpflanzt. Man kann die Kerne aber auch ſofort an ihren Standort etwa 2 bis 3 Zentimeter tief auslegen. Die Sonnenblume nimmt mit jedem Standort vorlieb, vorausgeſetzt, daß er ſonnig iſt. Nach dem Volksglauben wendet die Blume ihr leuchtendes Geſicht immer der Sonne zu. Wo ſie geduͤngten Boden hat, gedeiht ſie natuͤrlich uͤppiger, und viele hundert Kerne ſitzen dann in den Scheiben. Man duͤngt den Boden mit Gefluͤgelmiſt oder Kompoſterde oder mit in Waſſer aufgeloͤſtem Blumenduͤnger. Einer weiteren Pflege beduͤrfen ſie nicht. Wenn im Spaͤtſommer die Scheiben ſchwerer werden, ſo bindet man die Staͤmme an Pfaͤhlen an und ſtuͤtzt die Scheiben. Die aͤlteren Blaͤtter koͤnnen entfernt werden und bilden fuͤr Kuͤhe, Ziegen und Schafe ein willkommenes Futter. Geerntet wird der Sonnenblumenſamen, wenn ſich die Kerne braun faͤrben. Man ſchneidet die Scheiben mit etwa 60 Zentimeter langen Stielen ab und haͤngt ſie zur Nachreife unter einem luftigen Schuppen auf. Noch beſſer iſt es, die Pflanzen mit der Wurzel herauszuziehen.

Wer nur einen Hof, eine Veranda, einen Balkon ſein eigen nennt, ſollte die Blumenkaͤſten oder große Blumentoͤpfe mit Sonnenblumen beſetzen. Fuͤr dieſe Zwecke eignet ſich die kleine, gurkenblaͤtterige Sorte (Helianthus cucumeri folius) am beſten. Kleine Gartenſtreifen an kahlen Mauern, an Waͤnden von nach⸗ barlichen Seitengebaͤuden, die Sonne haben, find geeignete Stand: orte. Vor Gehoͤlzgruppen oder Buſchwerk, auch an den Seiten von Lauben kommen ſie ſehr gut fort. Die Raͤnder unſerer Gemuͤſe⸗ beete laſſen ſich ebenfalls mit Sonnenblumen beſetzen; ſie werfen, weil ſie ziemlich hoch werden, keinen Schatten und ſchaden dem Gemuͤſe nicht. Auch auf Rabatten koͤnnen wir ſie zwiſchen die abgebluͤhten Stauden verſetzen, wo ſie bis in den Herbſt hinein ihren leuchtenden Flor entfalten. Weit umfangreicher laͤßt ſich

240 Mannigfaltiges

der Anbau im freien Felde betreiben. Wie viele Raine und Wegraͤnder koͤnnten den Sonnenblumen zum Standort dienen.

Unſere Kinder haben ſich mit lobenswertem Eifer der Sache angenommen und im vorigen Jahre Tauſende von Zentnern der Sonnenblumenkerne abgeliefert. Alle leitenden Perſoͤnlich⸗ keiten des flachen Landes ſeien dabei darauf aufmerkſam ge— macht, daß vielfach auf den Friedhoͤfen Ältere Gräber daliegen, die mittlerweile mit Unkraut bewachſen ſind. Die Grabflaͤchen ſind aber meiſt mit guter Erde beſetzt. Hier ſollte fuͤr die Kinder ein ergiebiges Feld fuͤr den Anbau der Sonnenblumen erſtehen. Die Beſitzer der Graͤber werden gern ihre Erlaubnis dazu geben. Dann erhalten die Graͤber einen leuchtenden und dabei auch nuͤtzlichen Pflanzenſchmuck, und die Kinder werden viel Freude erleben an der Loſung: Baut Sonnenblumen! R. Reichhardt.

* Raſch und gründlich. Aus einer der großen Farmen im Nordweſten Amerikas waren zwei Pferde geſtohlen worden. Die nach K. weiſende Spur ließ, vermuten, daß der Dieb wegen feines großen Vorſprungs von den Reitern der Farm nicht mehr eingeholt werden koͤnne. Man telegraphierte alſo an den Scheriff in K. und bat um Anordnungen zur Feſtnahme des Fluͤchtlings. Zwei Stun⸗ den ſpaͤter traf die Antwort ein: „Pferde hier, Dieb gehangen.“

* Deutſch⸗amerikaniſcher humor. Komiſch, daß die Italiener ſich nicht beſſer hauen fie hauen doch ſonſt ... jeden uͤbers Ohr. Luͤgen haben kurze Beine? Und gehen doch von England aus über die ganze Welt. Die edlen Italiani: der Re Vittorio und der Poeta Gabriele ... der eine ſitzt in der Tinte, der andere in der Kreide. „Mir kann man nichts in die Schuhe ſchieben,“ ſagte der Peter von Serbien, als er barfuß nach Griechenland floh. London meldet: Die Deutſchen haben unſichtbare Überluftfchiffe. Paris meldet: Die Deutſchen haben ſinkbare Unterſeedreadnoughts. Rom meldet: Die Deutſchen haben unſinkbare Überfeedreadnoughts. Nein, was ſind doch dieſe Deutſchen fuͤr Kerle!

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von . Karl Theodor Senger in Stuttgart, in Oſterreich⸗ Ungarn verantwortlich Dr. Ernft Perles in iR

Einige Winke, um widerſtandsfähig und geſund zu bleiben.

Was die Geſundheit für jedes Individuum bedeutet, wie innig alle Lebensaͤußerungen, die Taͤtigkeit, die Freude an der Arbeit, die Leiſtungsfaͤhigkeit, das Wohlbefinden damit zuſammenhängen, erfaͤhrt jeder an ſeinem eigenen Leibe. Es weiß auch jeder, welche Folgen Störungen der koͤrperlichen oder geiſtigen Geſundheit für die Familien haben und daß die Produktivitaͤt und Wehrkraft einer Nation, ſomit auch ihr Wohlſtand, unmittelbar von den Geſundheitsverhaͤltniſſen abhaͤngen. Letztere zu heben, iſt man denn auch in Erkenntnis ihrer großen Bedeutung eifrigſt beſtrebt. Mannigfache hygieniſche Reformen legen Zeugnis ab von dem lebhaften Beduͤrfnis weiter Kreiſe, an dieſen Aufgaben mitzu— arbeiten. Ebenſo iſt es nicht genug zu begruͤßen, daß uns Wiſſen— ſchaft und Erfahrung zahlreiche natuͤrliche Hilfsmittel darbieten, um Krankheiten vorzubeugen, unſere Widerſtandsfaͤhigkeit zu erhoͤhen und unſere Geſundheit zu kraͤftigen. Auf einige dieſer Mittel ſei mit nachfolgenden Zeilen in aller Kuͤrze aufmerkſam gemacht.

Nach den neueſten Forſchungen aͤrztlicher Autoritaͤten ſind die meiſten Krankheiten einem nicht gefunden Magen zuzuſchreiben. Iſt der Magen nicht in Ordnung, ſo kann er auch keine geſunden Saͤfte weitergeben. Bei Magenbeſchwerden, Katarrh, Sodbrennen, ſchlechter Verdauung uſw. find nun mit Wasmuth's Magnd-Präparat beiſpielloſe Reſultate erzielt worden. Es handelt ſich um ein hoch— oxydiertes Magneſiumpraͤparat, das durch feinen Sauerſtoffgehalt eine ſchmerzloſe reinigende Wirkung des Magens und des Darmes und ſomit auch des Blutes bewirkt. Bei Magenleiden und Ver— dauungsbeſchwerden ſollte deshalb ſtets das durchaus unſchaͤdliche Maxyd⸗Praͤparat angewendet werden, zumal es ſchon für M. 1.— zu haben iſt.

Eine ſogenannte Blutreinigungskur ſollte jeder mindeſtens einmal im Jahre vornehmen. Allerdings eine, die wirklichen Er— folg hat. Dieſer Erfolg ſtellt ſich unbedingt ein bei Verwendung des aus der Frangula-Rinde gewonnenen und einen billigen Er— faß der teueren Rhabarberwurzel darſtellenden Wasmuth'ſchen Frangula⸗Tees, da er in ſeltener Weiſe das Blut reinigt und die Verdauung foͤrdert. Beſonders leiſtet er bei Haͤmorrhoidalleiden, Leberleiden, Milzleiden, habitueller Verſtopfung, Waſſerſucht uſw. vorzuͤgliche Dienſte. Er iſt zu dem beſcheidenen Preiſe von 25 Pfennig per Paket zu haben.

Mit dem denkbar beſten Erfolg wird ferner ſeit Jahren bei allen Bruſt⸗ und Lungenleiden der aus der Kndterich-Pflanze ge⸗

wonnene Wasmuth'ſche Knöterich⸗Tee angewandt. Er iſt von hoͤchſter Eräftigender, adſtringierender und blutverbeſſernder Wir⸗ kung und befoͤrdert in vorzuͤglichſter Weiſe den Stoffwechſel. Huſten und Auswurf werden durch ihn vertrieben und durch ſeine hoͤchſt wichtigen Bildungsſtoffe Appetit und Wohlbefinden geſteigert. Auch er iſt zu einem recht geringen Preiſe zu haben. (25 und 50 Pfennig per Paket.)

Bei Huſten, Heiſerkeit, Verſchleimung, Katarrhen, dann aber auch bei Keuchhuſten hat ſich in gleicher Weiſe Wasmuth's Fenchel⸗Honig bewährt, da auch er vermöge feiner Stoffe ſtaͤrkend, blutbildend, blutreinigend, naͤhrend und appetitanregend wirkt. Jede Kur wird durch ſeine Verwendung auf das wertvollſte unter⸗ ftüßt. Jedenfalls haben wir es in ihm mit einem wichtigen Heil⸗ und Naͤhrmittel zu tun, das unter den Heilfaktoren mit die erſte Stelle einnimmt. Wasmuth's Fenchel⸗Honig iſt in Flaſchen zu 60 Pfennig und M. 1.— zu haben. Eine Probeflaſche koſtet 30 Pfennig.

Zum Schluß bleibe nicht unerwaͤhnt, daß uns auch in Was⸗ muth's Pain Killer ein Mittel an die Hand gegeben wurde, das, da es ſchmerz⸗ und krampfſtillend ſowie bazillentoͤtend wirkt, bei Kopfſchmerzen, Leibſchmerzen, Ohren⸗ und Zahnſchmerzen, Magen⸗ verſtimmungen, Rheumatismus, Gicht, Iſchias, Muskel- und Glieder⸗ reißen und ferner bei Brandwunden, Verbruͤhungen, Schnittwunden, Abſchuͤrfungen, Verſtauchungen uſw. Tauſenden raſch und ſicher half. Aeußerlich oder innerlich angewandt, bewirkt Pain Killer eine baldige Linderung und vollſtaͤndige Geneſung. Der Preis der einzelnen Flaſche ſtellt ſich auf 66 Pfennig und M. 1.—.

Im Hinblick auf die mannigfachen Vorzuͤge vorſtehend ge⸗ nannter Präparate iſt es zu verſtehen, daß fie von Tauſenden als wahre Labſale bezeichnet werden. In gleicher Weiſe wird aͤrztlicherſeits in ſtetig ſteigendem Maße beſtaͤtigt, daß mit ihnen die guͤnſtigſten Erfolge erzielt werden koͤnnen. Aus dieſen Gruͤnden halten wir es für unſere Pflicht, die Kenntnis der Wasmuth' chen Praͤparate in immer weitere Kreiſe dringen zu laſſen. Welche guͤnſtige Ruͤckwirkung von ihnen auf die Geſundheit des Einzelnen, auf das Familienleben und endlich auf den nationalen Wohlſtand ausgehen kann, liegt nur zu klar vor Augen. An alle, denen das Volkswohl aufrichtig am Herzen liegt, ſei deshalb die Bitte ge⸗ richtet, für Einfuͤhrung vorſtehender Mittel nach Möglichkeit Sorge zu tragen. 8

Der Ratgeber uͤber den Gebrauch der bewaͤhrten, durch Kaiſerliche Verordnung freigegebenen Arzneimittel »Erfte Hilfe⸗ iſt in den Niederlaſſungen der Firma A. Wasmuth & Co., Hamburg 39 oder von dieſer direkt koſtenlos zu beziehen.

=

ELITTITITTTT

8 4

= 5 A

Büſte

verleiht ſchoͤne v @ liebig regufiert für guten Sitz der ft. Weiß.

net brofhten en

| | Stanford »Benet: NN Br B.

6105 011 3

INN ** 25 12?

STANFORD UNIVERSITY LIBRARIES STANFORD, CALIFORNIA 94305-6004

e

>

*

N Fr m— m mm

et Ss

NSS