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Eafpar Bayfer Die Trägheit des Herzen⸗

Roman

FokohWoffermann

Sechſte Auflage

Beutfche Oerlage Qt uftalt Stuttgart ud? ipzig

le Rechte, insbefondere Das der Aeberſedung, vorbehalten

Published May 6tn, 1908. Privilege of copyright in the United States reserved under the act approved March 3, 1905 by Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart

Drud der Deutſchen Berlags-Anftalt in Stuttgart Papier von der Papierfabrit Salach in Salach, Württemberg

GRRDO Girt+

Es iſt noch dieſelbe Sonne,

die derſelben Erde lacht;

aus demſelben Schleim und Blute find Gott, Mann und Kind gemacht. Nichts geblieben, nicht? geſchwunden, alles jung und alles alt,

Tod und Leben find verbunden,

zum Symbol wird die Geftalt.

Erfter Teil

Der fremde Züngling

In den erften Sommertagen des Jahres 1828 liefen in Nürnberg jonderbare Gerüchte über einen Menſchen, der im Veſtnerturm auf der Burg in Gewahrfam gehalten wurde und der ſowohl der Behörde wie den ihn beobachtenden Privatperfonen täglich mehr zu ftaunen gab.

€3 war ein Jüngling von ungefähr fiebzehn Jahren. Niemand mußte, woher er kam. Er jelbft vermochte feine Auskunft darüber zu er- teilen, denn er war der Sprache nicht mlächtiger als ein zweijähriges Kind; nur mwenige Worte konnte er deutlich ausfprechen, und dieje wieder- holte ex immer wieder mit lallender Zunge, bald

lagend, bald freudig, als wenn kein Sinn da- binterftedte und fie nur _unverftandene Zeichen feiner Angft oder feiner Luft wären. Auch fein Gang & dem eines Kindes, das gerade die erſten Schritte erlernt hat: nicht mit der Ferje be- rührte er zuerft den Boden, fondern trat fchwer- fällig und vorfichtig mit dem ganzen Fuße auf,

Die Nürnberger find ein neugieriges Volt. Jeden Tag wanderten Hunderte den Burgberg hinauf und erflommen die zweiundneungig Stufen des finftern alten Turmes, um den Fremdling zu fehen. In die Halbverdunkelte Kammer zu treten, wo der Gefangene weilte, war unterfagt, und jo erblieten ihre Ddichtgedrängten Scharen von der Schwelle aus das munderliche Menjchen- weſen, da3 in der entfernteften Ecke de3 Raumes kauerie und meift mit einem Kleinen weißen Holz- pferbchen fpielte, das e3 zufällig bei den Ri des Wärters geleben und das man ihm, gerührt von dem unbeholfenen Stammeln feines Ver⸗

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langens, gejchenft hatte. Seine Augen fchienen ist nicht erfaffen zu können; er hatte offen» bar Furcht vor der Bewegung feines eignen Körpers, und wenn er feine Hände zum Taften exhob, war e8, als ob ihm die Luft dabei einen rãtſelhaften Widerftand entgegenfebte,

Welch ein arm! et es Ding, fagten die Leute; viele waren der Anftcht, daß man eine neue Spezies entdeckt habe, eine Art Höhlenmenfch etwa, unb unter den berichteten Seltjamfeiten war nicht die geringfte die, daß der Knabe An andre Nahrung als Waffer und Brot mit Abfcheu zu

er und nad wurden die einzelnen Um⸗ ftände, unter denen der Fremdling aufgetaucht war, allgemein befannt, Am Pfingfimontag gegen die fünfte Nachmittagsftunde war er plötzlich auf dem Unfchlittplag, unweit vom neuen Tor, ge ftanden, hatte eine Weile verftört um fi Weine ge ſchaut und war dann dem zufällig des kommenden Schufter Weilmann geradezu in die Arme getaumelt. Seine bebenden ‚Singer wiefen einen Brief mit Adreſſe des Rittmeiſters Weſſenig vor, und nun andre Perſonen Fra —3 ;pte man ihn mit ziemlicher Mühe bis zum Haus des Rittmeiſters. Dort fiel er erſchoͤpft auf die etufen, und durch die zerriſſenen ——

Rittmeiſter iam erſt um die Dämmerungs» ftunde heim, und feine Frau erzählte ihm, daß in m ungexter a fe gl Suede, E

treu im zug! ü fie ihm den Brief, ne fter, na Keen das Siegel er] hosen, mit größter ° Terunterun = einige Male durchlas; es war ein Schriftftü

ebenfo humoriſtiſch in einigen Punkten wie in andern von graufamer Deutlichkeit. Der Ritt- meifter begab 19 in den Stall und ließ den Fremdling aufwerten, was mit vieler Anftrengung uftande gebracht wurde. Die militärifch gemefjenen

gen des Offiziers wurden von dem Knaben nicht oder nur mit finnlofen Lauten beantwortet, und Herr von Zeefjeri entjchied fich Eurzerhand, den, mufer auf ie Boligeimachtfiabe bringen zu laſſen.

Auch diefes Unternehmen war mit Schwierig. teiten verfnüpft, denn der Fremdling konnte faum mehr gehen; Slutfpuen bezeichneten jeinen Weg, wie ein ftörrifches Kalb mußte er Durch Die Straßen gegogen werden, und die von den. Feiertags- ausflügen heimkehrenden Bürger hatten ihren Spas an der Sache. „Was gibt’3 denn?“ fragten die, welche den ungewohnten Tumult nur aus der Ferne beobachteten. „Ei, fie führen einen be- teuntenen Bauern,“ Tautete der Beſcheid.

Auf der Wachtſtube bemühte fich der Aktuar umfonft, mit dem Häftling ein Verhör anzuftellen; ex lallte immer wieder diefelben halb blödfinnigen Worte vor fih Hin, und Schimpfen und Drohen nußte nichts. Als einer der Soldaten Licht an- zündete, geſchah etwas Sonberbares. Der Knabe machte mit dem Oberkörper tangbärenhaft hüpfende

Bewegungen und griff mit den Händen in bie.

Kerzenflamme; aber al3 er dann die Brandwunde verjpürte, fing er fo zu weinen an, daß es allen duch Mark und Bein ging.

lich hatte der Atuar den Einfall, ihm ein Stück Papier und einen Bleiftift vorzuhalten, danach griff der wunderliche Menſch und malte mit End großen Buchftaben langſam den Namen

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Caſpar Haufer. Hierauf wankte er in eine Ede, brach förmlich zufammen und fiel in tiefen Schlaf. il Caſpar Haufer fo wurde der Fremd» fing von nun ab genannt bei feiner Ankunft in der Stadt bäuriſch gelleidet war, nämlich mit einem Fra, von dem die Schöße abgefchnitten waren, einem roten Slips und großen Schaft- ftiefeln, glaubte man zuerft, es mit einem Bauern- john aus der Gegend zu tun zu haben, ber auf Tegendeine Weiſe vernachläffigt oder in der Ent widlung verfümmert war. Der erfte, der biefer Meinung entſchieden widerſprach, war der Ge fängnismärter auf dem Turm. „So fteht fein Bauer aus,“ ſagte er und deutete auf dad mwal- Iende, bellbraune Haar feines Häftlinge, das etwas nicht ausdruckbar Unberührtes hatte umd länzend war wie da Fell von Tieren, die in infernis zu leben gewohnt find. „Und diefe feinen weißen Händchen und diefe fammetweiche Haut und die dünnen Schläfen und bie deut⸗ uͤchen blauen Adern zu beiden Seiten des Haljes, wahrhaftig, er Teict eher einem adligen Fräu⸗ lein als einem Bauern.“

„Nicht übel bemerkt," meinte Der Stabtgericts: arzt, der in feinem zu Protokoll gegebenen Gut- achten neben dieſen Merkmalen die befondere Bildung der Knie und die hornhautloſen Fuß: fohlen des Gefangenen hervorhob. „So viel tft Har," hieß es am Schluß, „Daß man e3 hier mit einem Menfchen zu tun hat, der nicht von feinesgleichen ahnt, nicht ißt, wicht trinkt, nicht fühlt, nicht fprict wie andre, der nichts von gelten, nichts von morgen weiß, die Beit nicht

egreift, I] felber nicht ſpürt.“

Die hohe Polizeibehörde ließ ſich durch ein

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ſolches Urteil nicht aus dem vorgefegten Gang der Unterfuchung lenken; es beitand der Verdacht, vb der Stabtgerichtsarzgt durch feinen Freund, mnaftalprofefjor Daumer, beeinflußt und Mr u bie jen Ueberſchwenglichleiten verführt morben ei Der Gefängniswärter Hill wurde beauftragt, Fremdling mi insgeheim zu belauern. Er fpäl te oft durch da das oerbongene Loch in der Türe, wenn fich der Knabe allein wähnen mußte; „aber es war immer derſelbe traurige Ernſt in den bald jen und beflommenen, bald wie durch den inblick eines unfichtbaren Furchtgebildes ver- zerrten und zerriffenen Zügen. Es war auch vergeblich, nacht, wenn er lieg, an fein Lager zu Ichlei In, hinzuknien, auf den Atem zu Horde und zu warten, ob er verräterifche Worte aus dem Innern So d die Lippen trug; Leute, die Ueble3 im Schild führen, pflegen "nämlich aus dem zu reden, auch ſchlafen fie eher bei Tag als bei Nacht, wo fie ihren Gedanken und Entwürfen nachhängen, aber diefen umfing der Schlummer, fobald die Sonne fant, und er er⸗ machte, wenn fich ber erfte Morgenftrahl durch die verfchloffenen Läden zwängte. Es konnte Argwohn werten, daß er jedesmal zufammenzudte, wenn bie Tür feines Gefängnifjes geöffnet wurde; 4 a nicht die Aal

„Unfre en auf dem Rathaus werden noch viel Papier befchmieren müffen, wenn fie auf dem Weg mweiterlommen wollen,“ fagte der gute Am eines Morgen? e8 war der britte Tag

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Saft Caſpar Hauſers zu Profeffor Daumer, der den ling befuchen Ball „ich kenne gewiß alle Schliche des Lumpenvolls, aber wenn der Burfche ein Simulante ift, will ich mid bin, en laſſen.“

ill fperrte auf, und —A Daumer trat in die Kammer, Wie roöonlich erſchrak der Gefangene, aber al3 der Ankömmling einmal im Raum war, ſchien ihn Cafpar Haufer nicht mehr u ewahren und fchaute, Beyaubert im dumpfen

Nichtwifien, ftill vor fich nieder.

Da geichah e3, als Hill den Fenfterladen ge öffnet hatte, daß_ber Knabe, vielleicht wie nie unor in feinem Leben, den geieieten Blick er⸗

ob, ihn von der ſchweigen en, gleichmäßigen

rcht wegkehrte, die das Innere feiner Bru eherbergen mochte, und ihn durchs Fenſter hinaus: fürzeifen ließ in das bejonnte freie, mo Ziegel- dad an Pre] ſich Meil und glühenbeot auf einem tergrund von bläulich bämmernden Wiefen Sn äldern malte. Er ftredte feine Hanı aueh Bebereafihung und und Ft Staunen verzog feine Lippen, 3; geiff er mit dem Arm in das funkelnde —X als ob er das bunte Durcheinander draußen mit den Fingern anfaſſen wolle, und als er ſich überzeugt hatte, daß es nichts war, etwas Fernes, Trügerifches, Ungreifbares, da verfinfterte fich fein Geficht, und er wandte fih unmillig und enttäufcht ab.

Am jelben Nachmittag kam der Vürgermeifter - Binder in Daumer Wohnung und teilte im ef eines Geſprächs über den Findling mit,

die Herren vom Stadtmagiftrat eher finde h und ungläubig als —e lend gegen dieſen geftimmt feien.

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„Ungläubig?" entgegnete Daumer verwundert, „in Telder Beziehung ngläubige" „Nun ja, man nimmt an, daß der Burſche fin Gautelfpiel mit uns treibt," verfeßte der üre en fie ben Ropf, an aumer fehüttelte den Kopf. „Welcher Menfch von Verftand oder Geſchicklichleit wird ſich aus zumee Heuchelei dazu berbeilafjen, von Brot und aſſer zu leben, und alles, was dem Gaumen behagt, mit Efel von fich weiſen?“ fragte er. „Um welches Vorteils willen ?“

„Gleichwiel,“ antwortete Binder unſchluſſig; „es ſcheint eine verwickelte Gefchichte. Da nie mand jagen noch vermuten Tann, worauf das Spiel hinaus will, ift Vorficht um fo mehr ger boten, als man durch leichtfinnige Gutgläubis Bit ve „gerechten Hohn der Urteilsfähigen heraus- ordert." .

Ba Bu] N „Das Mingt ja beinahe, als ob nur bie Zweifler und Neinfager urteilsfähig heißen könn⸗ ten," bemerkte Daumer ftirnrungelnd. „Von der Gilde haben wir leider genug."

Der Bürgermeifter zudte die Achſeln und blickte den jungen Lehrer mit jener milden Ironie an, melde die Waffe der Erfahrenen gegenüber den Enthuftaftifchen tjt. „Wir haben eine neuerliche Unterfuchung duch den Gerichtsarzt befchlofien,“ fuhr er fort. „Der Magiftratsrat Behold, der at m Aucher Fin Si, ni —— jollen dieſer Unterſuchung kommiſſari ei⸗ wohnen. Der aufzunehmende Alt wird dann, zu⸗ jammen mit den bereits vorhandenen polizeilichen

rotokollen, der Kreisregierung überſchickt.“

„Ich verſtehe: Akten, Akten,“ fagte Daumer fpöttiich lächelnd.

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Der Bürgermeifter legte ihm die Hand_auf die Schulter und ermiderte gutmütig:_ „Seien Sie nicht fo überlegen, Verehrter; unfre Welt Da an

23 rmer doch wahrlich nicht die weni Schuld. Uebrigens,“ er griff in die Rockbruſt und brachte ein Sufemmengefalteten Stüd Papier zum Vorſchein, „als mie ied der Kommiſſion werben Sie gebeten, Einblick in ein michtiges Dokument zu nehmen. Es ift der Brief, den unfer Gefangener beim Rittmeifter Weflenig ab» gegeben hat. Lefen Sie."

Das mit keiner Namensunterfhrift verfehene Schreiben lautete: „Ich ſchicke Ihnen hier einen Burſchen, Herr Nittmeijter, der möchte feinem König getreu dienen und will unter die Soldaten. Der Bunde ift mir elegt worden im Jahre 1815, in einer Winternact, lag er an meiner Tür.

ab’ felber Kinder, bin arm, Tann mich felber

m durchbringen, er ift ein Findling, und feine Mutter hab’ ich nicht erfragen können. Hab’ ihn nie einen Schritt aus dem Haus gelafien, fein Menſch weiß von ihm, er weiß nicht, wie mein gu beißt, und den Ort weiß er auch nicht.

ie dürfen im ſchon fragen, er kann es aber mist jagen, enn mit der Sprache ift es noch schlecht bei ihm beftellt. Wenn er Eltern hätte, wie er feine hat, wär’ mas Tüchtiges aus ihm gemoorhen, Sie brauchen ihm nur etwas zu zeigen, a kann er es gleich. Mitten in der Nacht unbe ich ihn fortgeführt, und er —* kein Geld bei ſich, und wenn Sie ihn nicht behalten wollen, müſſen Sie ihn erfchlagen und in den Rauchfang

Güngen.” Daumer gelefen hatte, gab er dem Bürger- 15

meifter das Schriftftüc zurück und ging mit ernfter Miene auf Se ab.

„Nun, was halten Sie davon?" forjchte Binder; „einige unfrer Herren find der Anficht, de Unbelannte jelbjt Tönne den Brief gefchrieben

jaben."

Daumer hielt mit einem Rud in feiner Wan⸗ derung inne, flug die Hände zufammen und rief: „Ach, du himmlische Gnade!"

„Dazu ift natürlich gar fein Grund vor- handen,“ beeilte fo ber Bürgermeifter hinzu⸗ zufügen. „Daß _bei der. Abfafjung des Schreibens eine zwedvolle Tücke gemwaltet hat, daß es dazu beftimmt ift, Nachforfchungen zu erſchweren und irrezuführen, ift offenbar. Es ift eine ſchnöde Kaltherzigkeit im Ton, die mir von Anfang an den Verdacht erregt hat, daß der Jüngling das unfchuldige Opfer eines Verbrechens ift."

‚Cine mutige Meinung, in welcher der Bürger- meifter ducch einen Vorgang ſehr beftärft wurde, der & ereignete kurz nachdem die Herren von der Kommiffion am folgenden Morgen das Ge- füngnis Caſpar Haufers Detreten hatten. Während

er Wärter damit beichäftigt war, den Knaben

zu entkleiden, ließ fich drunten in einer Gaffe am Qurgberg eine Bauernmufif hören und Ei mit Hingendem Spiel an der Mauer vorüber. Da lief ein grauenhaft anzufchauendes Zittern über den Körper Haufers, fein Geficht, ja fogar feine Hände bededten ſich mit Schweiß, feine Augen verdrehten fich, alle Fibern lauſchten dem en entgegen, dann ftieß er einen tierifchen Schrei aus, ſtürzie zu Boden und blieb zudend und ſchluchzend Tiegen.

Die Männer erbleichten und fahen einander 16

ratlos an. Nach einer Weile näherte ſich Daumer dem Unglüdlichen, legte die Hand auf fein Ha f und ſprach ein paar tröftende Worte. Dies wii beruhigend auf den Jungling, und er murde ftille; ziöt tsdeſtoweniger jchien der ungeheure Eindrud e3 gehörten Schals feinen Leib von innen und von außen verwundet zu haben. Tage lang nachher zeigte fein Weſen noch die Spuren der empfundenen Erſchütterung; er lag fiebernd auf dem Strohſack, und feine Haut war zitronen- gelb. Zeilnahmsvollen Fragen gegenüber mar ex allerdings herzlich bewegt, und er fuchte nach Worten, um feine Erkenntlichkeit zu bemeifen, wobei fein font jo klarer Blick ſich in dunkler Pein trübte; befonders für ben Daumer, der zwei⸗ bis dreimal täglich zu ihm kam, Tegte er eine zärtliche Dankbarkeit, ſchweigend oder ftammelnd, dar.

Bei einem diefer Befuche war Daumer mit dem Knaben ganz allein, und das zum erftenmal; der Wärter hatte auf feine Bitte das untere Tor abgeſperrt. Cr faß dicht neben dem Gefangenen, er Gebete, fragte, forjchte, alles mit einem ver« eb⸗ lichen Aufwand von Innigleit, Geduld und Zum Schluß bejchräntte er fih darauf, dad Tum und Lafjen des Junglings vol Spannung zu beobachten. Basic ie Cafpar Haufer eine verworrenen Taute auß: er etwas zu for- dern und fpähte fuchend herum. Daumer erriet bald und reichte ihm den gefüllten Wafferkrug, den Hill auf die Ofenbanf geftellt hatte. Caſpar nahm den Krug, ſetzie ihn an die Lippen und trank. Er trank in langen Schlüden, mit befeligter Gelöftheit und einem begeifterten Aufleuchten der Augen, wie wenn er für den kurzen Zeitraum

Waffermann, Caſpar Haufer 2 17

des Genuſſes vergefjen hätte, daß das dämoniſch Unbelannte auf allen Seiten ihn bedrängte.

Daumer geriet in eine ſeltſame Aufregung. Als er nach Haufe kam, durchmaß er länger als eine halbe Stunde mit großen Schritten jein Studierzimmer. Gegen acht Uhr pochte es an der Tür, feine Schweſter trat ein und rief ihn zum Abendefien. „Was glaubft du, Anna,” rief ex ihr Iebhaft und mit beziehungsvollem Ton zu, „zweimal zwei ift vier, wie?"

„Es ſcheint jo," erwiderte das junge Mäd- hen, verwundert lachend, „alle Leute behaupten es. Haft bu denn entdeckt, daß e3 anders ift? Das fähe dir ähnlich, du Aufwiegler.“

„Nicht gerade das hab’ ich entdeckt, aber doch etwas der Art," fagte Daumer heiter und legte den Arm um die Schulter der Schweiter. „Sch will einmal unfre braven Philifter tanzen lafjen! Ja, tanzen follen fie mir und ftaunen.“

„Betrifft e8 etwa ger den Findling? Haft du was mit ihm vor? Sei nur auf der Hut, Friedrich, und laß dich nicht in Scherereien ein, man ift dir ohnedies nicht grün.“

„Geroiß,“ gab er, raſch verftimmt, zur Ant⸗ wort, „das Einmaleins könnte Schaden leiden."

„Nun, weiß man noc gar nichts über den Sonderling?" fragte bei Tiſch Daumers Mutter, eine fanfte alte Dame.

Daumer fchüttelte den Kopf. „Vorläufig kann man nur ahnen, bald wird man wifjen,“ ent- gegnete er mit ſiarr nach oben gerichtetem Blick.

Am folgenden Tag brachte die „Morgenpoft“ einen Artikel, der die Ueberjchrift trug: Wer ift Caſpar Haufer? Zenngleich auf diejen Appell feiner ber Lefer eine Antwort zu erteilen ver- 18

mochte, wurde der Zudrang der Neugierigen fo toß, daß das Bürgermeijteramt ſich genötigt is die Befuchsftunden durch eine ſtrenge Vor- chrift zu regein. Bisweilen ftanden die Leute Kopf an Kopf vor der offenen Tür des Gefäng- nifjes, und in allen Gefichtern war bie Frage zu leſen: Was ift es mit ihm? Was ift es für ein

tenfch, der die Worte nicht verfteht und den noch fprechen Tann, die Dinge nicht erkennt und dennoch jehen Tann, der zu lachen vermag, kaum daß ſein Weinen zu Ende, der arglos fepeint und geheimnisvoll ift und hinter defjen unfchuldig leuch⸗ tenden Augen vielleicht Uebeltat und Schande verborgen find?

Sicherlich jpürte der Gefangene, fpürte es ſchmerzlich, was die Lüftern auf ihn gerichteten Blicke begehrten, und der Wunfch, ihnen zu will- fahren, erzeugte möglichermeife die erſte erhellende Dämmerung, welche ihm felbft die Vergangenheit langſam begreiflich machte, jo daß er in beun- ruhigter Bruft nach dem Geweſenen taftete, ein, Geweſenes erſt fühlte und die Gegenwart damit verband, im tiefiten jchaudernd an der Zeit mefjen lernte, was fie verändernd mit ihm getan, und was er fah, mit dem verglich, was er ehe—

- dem gefehen. Er begriff das Fordernde der Frage und ward des Mittels inne, die verlangen: den Mienen zu befriedigen.

Mit durftigen Sinnen fuchte er das Wort. Sein flehentlicher Blick grub es heraus aus dem fprechenden Mund der Menfchen.

Hier war Daumer in feinem Element. Was Teinem andern, dem Arzt nicht, dem Wärter nicht, dem Bürgermeifter nicht, den Protofollanten erſt recht nicht gelingen wollte, daS vermochte nad)

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und nad; feine Behutfamkeit und zmedvolle Ger duld. Die Perfon des Findlings beichäftigte ihn aber auch dermaßen, daß er feiner Studien und privaten Obliegenheiten, ja beinahe feines öffent- lichen Amtes darüber vergaß, und er erjchien fich wie ein Mann, den das Scidjal vor das ihm allein beftimmte Erlebnis geftelt bat, wodurch fein ganzes Leben und Denken eine glücliche Be: ftätigung erfährt. Unter feinen Notizen über Caſpar Haujer lautete eine der erſten wie folgt: „Diefe in einer fremden Welt hilflos ſchwankende Geftalt, dieſer fchlafumfangene Blick, diefe angft- verhaltene Gebärde, diefe über einem etwas ver⸗ kümmerten Untergeficht edel thronende Stirn, auf welcher Frieden und Reinheit ftrahlen: es find für mic) Zeugen von unbefiegbarer Deutkraft. Wenn fich die Vermutungen bemwahrheiten, mit denen fie mich erfüllen, wenn ich die Wurzeln diejes Dafeins aufgraben und feine Zweige zum Bluhen bringen kann, dann will ich der |tumpf- gewordenen Belt den Spiegelunbeflecten Menfchen- tums entgegenhalten, und man wird fehen, daß es gültige Bemeife gibt für die Exiftenz der Seele, die von allen Gößendienern der Zeit mit elender Leidenfchaft geleugnet wird.” Es war ein fgrierigee Weg, den der eifer- volle Pädagoge ging. , mo er zu beginnen jatte, war die menfliche Sprache ein mwejenlofes ing, Wort um Wort mußte erft feinem Sinn angeheftet, Erinnerung erft erweckt, Urſache und olge in ihrer Verkettung erſt entjchleiert werden. wiſchen einer Frage und der nächften lagen selten des Begreifens, ein Ja, ein Nein, oft ilflos hingeworfen, galt noch nichts, mo jeder jegriff erſt aus der Suntelheit eritand und die 20

Verftändigung von Vokabel zu Volabel ſtockte. Und doch fehien ein Licht wie aus weit entfernter Vergangenheit den Geiſt des Junglings viel raſcher zu beflügeln, als felbft der hoffnungsjelige Daumer zu erwarten gewagt hatte. Es war erftaunlich, mit welcher Leichtigkeit und Kraft er einmal Gefagtes fefthielt und wie er aus dem Chaos un= lebendiger Laute das für ihn Lebendige und Bedeutungsvolle bildvoll hervorzauberte, jo daß e3 Daumer zumute war, als hebe er bloß Schleier von den Augen feines Schüglings, als fpiele er die Rolle des Laufcher3 bei den langſam hervor: quellenden Erinnerungen. Er hielt den Körper, indes der Geift des Knaben zurückkehrte in den Bezirk, von mo er am, und eine Kunde brachte, dergleichen Fein Ohr je vernommen.

Bericht Caſpar Haufers, von Daumer aufgezeichnet

Soweit Cafpar fich entfinnen konnte, war er immer in einem dunfeln Raum geweſen, niemals ander3wo, immer in demjelben Raum. Niemals den Menfchen gefehen, niemals feinen Schritt ge hört, niemals feine Stimme, keinen Laut eines Vogels, fein Gejchrei eines Tieres, nicht den Strahl der Sonne erblict, nicht den Schimmer des Mondes. Nichts vernommen als fich felbft, und doc) nicht3 von fich felber wifjend, der Ein- famteit nicht inne werdend.

Das Gemach muß von geringer Breite ge- wefen fein, denn er glaubte, einmal mit aus

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geftveten Armen zwei gegenüber liegende Wände erührt zu haben. Wordem aber jchien es un- ermeßlich groß; angefettet an ein Strohlager, ohne die Feſſel zu fehen, hatte Caſpar niemals den Fleck Erde verlaffen, auf dem er traumlos fchlief, traumlos wachte. Dämmerung und Finjternis waren unterfchieden, fo mußte er alſo um Tag und Nacht; er kannte ihre Namen nicht, allein er fah die Schwärze, wenn er einmal in der Nacht erwachte und die Mauern entjchwunden

waren.

Er hatte fein Maß für die Zeit. Ex konnte nicht fagen, warn die unergründliche Einfamteit begonnen hatte, er dachte zu feiner Stunde daran, fie einmal enden könne. Er fpürte keinerlei Verwandlung an feinem Leibe, er wünfchte nicht, daß etwas anders fein folle, als es war, es ſchreckte ihn kein Ungefähr, nichts Künftiges lockte ihn, nichts nergangenes hatte Worte, ftumm lief die regelvolle Uhr des kaum empfundenen Lebens, frumm war fein Inneres wie die Luft, die ihn umgab.

Wenn er am Morgen ermachte, fand ex frifches Brot neben dem Lager und den Wafferkrug ges füllt. Bisweilen ſchmeckte das Waſſer anders als ſonſt; wenn er getrunken hatte, verlor er ſeine Munterkeit und ein. Nach dem Auf⸗ wachen mußte er dann das Krüglein ſehr oft in die Hand nehmen, ex hielt es lange an den Mund, doch floß fein Wafjer mehr heraus; er ftellte es immer wieder hin und wartete, ob nicht bald Waffer komme, weil er nicht wußte, daß es ge- bracht wurde; hatte er doch feinen Begriff, daß außer ihm noch jemand fein könne. An ſolchen Tagen fand er reines Stroh auf feinem Bette,

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ein frifches Hemd am Körper, die Nägel be fchnitten, die Haare fürzer, die Haut gereinigt. AU das war im Schlaf geicheben, ohne daß er es gemerkt, und fein Nachdenken darüber umflorte feinen Geift.

Ganz allein war Cafpar Haufer nicht; er befaß einen Kameraden. Er hatte ein weißes FR aus Holz, ein namenloſes, regungs⸗ loſes Ding und gleichwohl etwas, in dem jein eigne8 Dajein Ih dunfel fpiegelte. Da er die lebendige Geftalt in ihm ante, bielt er e8 für feinesgleichen, und in den matten Glanz jeiner ünftlichen Augenperlen war alles Licht der äußeren Welt gebannt. Er fpielte nicht mit ihm, nicht einmal lautlofe Zwieſprach hielt er mit ihm, und obwohl es auf einem Brettchen mit Rädern ftand, dachte er nie daran, es hin und her zu. fchieben. Aber wenn er fein Brot aß, reichte er ihm jeden Biſſen hin, bevor er ihn jelbft zum Mund führte, und bevor er einfchlief, ftreichelte er e8 mit lieb⸗ koſender Hand.

Das war fein einziges Tun in vielen Tagen, langen Jahren.

Da gejchah es einft während der Beit bes Wachen, daß fich Die Mauer auftat, und von draußen ber, aus dem Niegefehenen, erjchien eine ungeheure Geſtalt, ein Auiegeiehener, der erſte Andre, der das MWörtchen Du ſprach und den Cafpar deshalb den Du nannte. Die Dede des Raumes ruhte auf feinen Schultern, etwas un- verftändlich Leichte und Veränderliches war in der Bewegung feiner Glieder, ein Lärm war um ihn, der das Ohr füllte, Laut um Laut floß raſch von feinen Lippen, zu atemlofem Hören zwang das Leuchten jeiner Augen, und an feinen Klei—

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dm hing das Draußen als ein betäubender

eruch.

Bon den vielen Worten, die aus dem Munde des Du kamen, verftand Cafpar zunächſt feines, aber durch tieferregte8 Aufmerken begriff er all- mählich, daß der Ungeheure ihn fortbringen wolle, daß das Ding, das feine Einfamfeit geteilt, den Namen Roß trug, daß er andre Rofje erhalten werde und daß er lernen folle.

Lernen," jagte der Du immer wieder, „lernen, lernen." Und wie um flarzuı , was das ER ftellte er einen Schemel mit vier runden

üßen vor ihn hin, legte ein Blatt Papier darauf, chrieb zweimal den Namen Cafpar Haufer uni irte beim Nachjchreiben Caſpars Hand. Dies gefiel Caſpar, weil es ſchwarz und weiß ausfah.

Darauf legte der Du ein Buch auf den Schemel und ſprach, auf die winzigen Zeichen deutend, die Worte vor. iſpar Tonnte fie alle wieberholen, ohne irgend den Sinn erfaßt zu haben. Auch andre Worte und gewiſſe Redensarten plapperte er nach), die ihm der Mann vorfagte, zum Bei- fpiel: „Ich möcht' ein folcher Reiter werden wie mein Vater."

Der Du fchien zufrieden; jedenfall um ihn zu belohnen, zeigte er ihm, daß man das Holzpferd uf dem Boden bin und her rollen könne, und damit vergnügte fich Cafpar, als er am andern Morgen erwachte. Er jchob das Rößlein vor feinem Lager auf und ab, wobei ein Geräufch entftand, das den Ohren wehe tat; deshalb ließ ex es wieder und begann dafür mit dem Pferd u reden, indem er die unverftändlichen Laute aus

em Munde de Du nachahmte. Es war eine wunderliche Luft für ihn, fich felbft zu hören, er- E23

bob die Arme und füllte den Raum mit feinem freudigen Gelall.

Seinen Kerkermeiſter mochte dies verdrießen und beuntuhigen, er wollte ihn zum Schweigen bringen: auf einmal fah Caſpar einen Stab über feine Schulter ſauſen und jpürte zugleich einen jo heftigen Schmerz auf dem Arm, daß er vor Schrecken nach vorne fiel. Mitten in ber Angft machte er die erftaunliche Wahrnehmung, daß er nicht mehr ans Lager angebunden war. Cine Beitlang verhielt er ſich ganz ftille, dann ver- juchte er, vorwärts zu rutjchen, aber ihm graute, als er mit feinen bloßen Füßen die kalte Erde berührte. Mit Mühe erreichte er fein Lager und verſank fofort in Schlaf.

€3 wurde dreimal Nacht und Tag, ehe der Du wiederkam und verſuchte, ob Caſpar noch birge Namen ſchreiben und die Worte aus dem

uch leſen konnte. Er verbarg nicht de Ver⸗ wunderung, als der Knabe dies mühelos ver- mochte. wies auf ‚Dinge rings im Raum und nannte ihre Namen; er redete langfam, Aug’ in Aug’ mit Cafpar, und hielt ihn dabei an der Schulter feit; durch feine Blicke, feine Gebärden, das Verzerren feiner Züge hindurch ahnte Caſpar, was er fagte, und ihm jchauderte, während feine ftotternde Zunge dem Mann gehorfam war.

In der folgenden Nacht wurde er aus dem Schlaf gerüttelt. Lange und mit Qual fpürte er es und konnte doch nicht ganz erwachen. Als er endlich die Augen aufjchlug, war die Mauer

öffnet, und ein purpurroter Schein floß in den aum. Der Du war über ihn gebeugt und

ſprach leiſe, vielleicht um Caſpars Furcht zu ftillen. Er richtete ihn empor und bekleidete ihn 26

mit Hofen, mit einem Kittel und mit Stiefeln, dann ftellte er ihn auf die Füße, lehnte ihn gegen die Wand und kehrte fi mit dem Rüden gegen Im. Er umfaßte feine Beine, bob ihn auf,

afpar umfchlang mit den Armen feinen Hals, und nun ging es hinauf, einen hohen Berg hinauf, jo ſchien es Caſpar; in Wirklichkeit war es wahrjcheinlich die Treppe des unterivdifchen Ver⸗ lieſes. Inntteten dröhnte der Atem des Mannes, etwas Kühles und Feuchtes ſchlug Caſpar ins Geſicht, ſetzte ſich in ſeinen Haaren ft die ſich von jelbjt zu bewegen anfingen, und Elammerte fi an feine Haut.

Plötzlich wich die Schwärze, fie raufchte auf den Boden nieder; alles wurde weit, weich und blieb doch dunkel; in der Tiefe, in der Ferne wuchteten fremde große Dinge; von oben brach ein blauer Strahl und verlor fich wieder, das Schlüpfrig-Feuchte blähte die Falten der leider, durchdringende Gerüche wogten umher, Cafpar begann zu meinen und fchlief auf dem Rüden des Mannes ein.

Beim Erwachen lag er auf dem Boden, das Geficht zur Erde gekehrt, und von unten ftrömte Kälte in den Leib. Der Du richtete ihn auf. Die Luft brannte fonderbar, und ein unerträglich heller Schein flierte vor den Augen. Der Du machte ihm begreiflich, daß er gehen lernen müffe; ex zeigte ihm, wie er gehen folle, ex hielt ihn von hinten unter den Armen und ftieß feinen Kopf gegen die Bruft, ihm jo befehlend, daß er auf den Boden jehen folle. Caſpar gehorste wan⸗ kend und zitternd, die Luft und der Schein brannten ihm die Augenlider, die Gerüche machten ihn ſchwindeln, die Sinne vergingen.

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Er jchlief wieder; wie lange, das mußte er nicht. Auch wußte er nicht, wie oft er zu gehen probiert hatte, als es wieder dunkel wurde. Vielleicht glaubte er, es fei Nacht geworben, während fie fih nur in einem Wald befanden. Den Weg gewahrte er nicht, er konnte nicht fagen, ob e3 aufwärts oder abwärts ging. Ob Bäume ober Wiejen oder Häufer da waren, wußte er nicht. Bisweilen fchien ihm alles ringsum in rote Glut getaucht, aber wenn das Weiche, Dunkle tam, bdehnten fi Luft und Erde bläulih und grün. Ob Menfchen vorübergingen, konnte er nicht jagen, er gemahrte nicht den Himmel, er jah nicht einmal das Geficht des Mannes. Einmal fiel Waffer von der Höhe; er dachte, der Du chütte ihn mit Waffer an, und beklagte ſich, doch jener entgegnete, er jhütte ihn nicht an, er deutete in die Luft und rief: „Regen! Regen!"

Wie lange er fo unterwegs geweſen, wußte er nicht. Ihm dünkte, jedesmal wenn er fich, erichöpft vom Gehen, zur Ruhe niedergelegt, ſei ein Tag vergangen. Furcht zog ihn hin und bemeifterte feine Müdigkeit, fie jpannte feine Ges Iente und riß fein Haupt nach oben, indes Die Augen unaufhörlich zur Tiefe ftarrten. Der Du gab ihm dasjelbe Brot zu efjen, das er im Kerker genoffen, und ließ ihn Waffer aus einer Flafche teinfen. Caſpars Geföäpfung und feine Anal, wenn der Wind durch die Büſche faufte, oder wenn ein Tier fchrie, oder wenn das Gras um feine Füße Elivrte, fuchte er durch das Verfprechen Ichöner Pferdchen zu befiegen, und als Caſpar endlich längere Beit allein gehen konnte, fagte er, nun feien fie bald da. Er wies mit dem Arm in die Ferne und fagte: „Große Stadt."

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Caſpar ſah nichts, taumelnd tappte er vorwärts; nach einer Weile hielt ihn der Du bei den Armen zum Zeichen, hy ex ftehenbleiben folle, gab ihm einen Brief und jagte, den Mund nahe an Caſpars Ohr: „Laß dich weilen, wo der Brief Hingehört."

Bi machte noch ein paar Schritte, und als er jich dann umfah, war der Du verjchwunden. Er fpürte plöglich Steine unter den Füßen, er taftete nach allen Seiten, um ſich zu halten, er fah Steinmauern, die im Sonnenlicht feurig lohten, aber Entjegen packte ihn erſt, als er Menjchen gewahrte, erſt einen, dann zwei, dann viele. Grauenhaft nah famen fie heran, umftanden ihn, fehrien ihm zu, einer ergeiff ihn und ſchleppte ihn vorwärts, alles vingsumher war Lärm und Getöſe; er begehrte zu fchlafen, fie verftanden ihn nicht; er ſprach von feinem Vater, von den Roffen, fie lachten und verftanden ihn nicht; er jammerte über feine wunden Füße, fie verfianden es nicht; ex jchlief im Stall des Rittmeifters, dann kamen wieder andre Geftalten, um, kaum daß fie fich geeigt, mit unbegreiflicher Haft wieder zu fliehen,

i ft war ſchwer und kaum zu atmen, die ewaltigen Dinge, als welche ihm die Häufer er- Aeenene drängten fih an ihn an, umd auf ber Wachtſtube erjchredten ihn die wilden Mienen und Gebärden der Leute fo, daß er zu Tränen feine Zuflucht nahm.

Wiederum fchlief er lange, und danach wurde ex auf den Turm gebraht. Der Mann, der ihn die große Stiege binaufführte, ſprach mit ftarter Stimme und öffnete eine Tür, die einen befonderen Hal von ſich gab. Kaum hatte er fo auf dem Strohſack niedergelaffen, fo begann

ie Turmuhr zu jchlagen, worüber Caſpar 28 .

in unermeßliches Erſtaunen geriet. Er laufchte angeftrengt, aber nach und nach hörte er nichts mehr, feine Aufmerkfamkeit verlor fih und er fehlte nur das Brennen feiner Füße. In den

fugen hatte er feine Schmerzen, da es dunkel war. Er ſetzte fi) auf und wollte nach dem Krüglein Langen, um feinen Durft zu ftillen. Er ſah fein Waffer und fein Brot, anftatt deflen jah er. einen Boden, der ganz anders befchaffen war als dort, wo er früher geweſen. Nun wollte er nad feinem Pferdchen greifen und mit ihm fpielen, es war aber keines & umd er fagte: „Ich möcht’ ein folder Reiter werden wie mein Vater."

Das follte heißen: Wo ift das Waſſer Hin und das Brot und das Pferdchen?

Er bemerkte den Strohſack, auf dem er lag, betrachtete ihn mit Verwunderung und mußte nicht, was es fei; mit dem Finger darauf Elopfend, vernahm er dasſelbe Geräufch wie von dem Stroh, das fonft fein Lager geweſen. Died erfüllte ihn mit Beruhigung, % daß er wieder einfchlief und erſt mitten in der Nacht vom oftmals wieder

holten Ton der Glode erwachte. Er lang, und als der Schall verklungen war, ſah er den Dfen, der eine grüne Farbe hatte und einen Glanz von fid gab (denn Caſpar vermochte felbft in tiefer Sutter 3 die Farben zu unterjcheiden). Er blickte fehr angefpannt hinüber und murmelte wieder: „ch möcht’ ein jolcher Reiter werden wie mein Vater.“

Das jollte heißen: Was ift denn dieſes und wo bin ich denn? Auch drüdte er damit fein Verlangen nad) dem glänzenden Ding aus.

In der Frühe öffnete der Wärter Sie Fenſter⸗ en das belle Tageslicht tat Caſpars Augen

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wehe; er fing zu weinen an und fagte: „Hin« weiſen, mo der Brief hingehört," und damit wollte erfagen: Warum tun mir die Augen weh? Tu e3 weg, wa3 mich brennt, gib mir das Pferdehen zurück und plag mid) nicht jo. Denn er ſprach im Geifte mit dem Du, von dem er glaubte, daß er Abhilfe ſchaffen könnte. Er hörte die Uhr wieder jhlagen, das nahm ihm die Hälfte der Schmerzen, und indes er horchte, fam ein Dann und ftellte allerhand Fragen, aber Caſpar gab Teine Antwort, weil feine Aufmerkſamkeit auf den verhallenden Klang gerichtet war. Der Mann faßte ihn am Kinn, hob feinen Kopf in die Höhe und redete mit jtarfer Stimme. Jetzt hörte Cafpar zu und fagte all feine gelernten Worte her, aber der Mann verftand ihn nicht. Er ließ feinen Kopf los, feßte fich neben Gafpar und fragte immerfort; al3 nun die Uhr wieder tönte, fagte Caſpar: „Ich möcht’ eim folder Reiter werden wie mein Vater.“

Das follte bedeuten: Gib mir das Ding, dad jo ſchön Klingt.

Der Mann verftand ihn nicht und redete weiter, da fing Gafpar an zu weinen und fagte: „Roß geben,“ womit er den Mann bat, er möge ihn nicht fo quälen. .

Er faß dann lange Zeit allein. Aus weiter Ferne Hang ein Trompetenjchall aus der Kaifer- ftallung, und als ein andrer Mann eintrat, fagte Cafpar die Redensart mit dem Brief; das follte heißen: Weißt du nicht, was das ift? Der Mann brachte. den Zafierteug und ließ Caſpar trinken, danach ward es ihm leicht zumute und er jagte: „Möcht' ein folher Reiter werden mie mein Vater." Das bedeutete: Jetzt darfſt du nicht mehr

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fortgehen, Wafler. Bald erflang wieder die Trompete und Caſpar laufchte freudig; er dachte, wenn fein Pferdchen käme, würde er ihm er- zählen, was er gehört.

An diefem Tag aber begann ſchon die Peini⸗ ung, die er von den vielen Menfchen auszus ſtehen hatte.

Eine hohe amtliche Perfon wird Zeuge eines Schattenfpiels

Natürlich hatte es wochenlang gedauert, bis Profefjor Daumer einen fo vollftändigen Einblick in die Vergangenheit de3 Süngtings gewonnen hatte. Dies alles ans Licht zu bringen, kündbar, greifbar, hatte Aehnlichkeit gehabt mit der Arbeit eines Brunnengräberd. Was anfangs ein Fieber traum gefchienen, befaß nun die Züge de3 Lebens. Daumer verfehlte nicht, der Behörde den Sachverhalt in einer gewiſſenhaften Niederfchrift vorzulegen. Die Folge davon war, daß fich der Magifteat entjchloß, die Bahn förmlicher Verhöre zu verlaffen und in eine vertrautere Beziehung u dem Unglüclichen zu treten. Die auffälligen jefonderheiten feines Weſens follten noch einmal überprüft werden, hieß es in einer der gericht» lichen Noten, deshalb wurden Aerzte, Gelehrte, Polizeibeamte, fcharffinnige Zuriften, kurz un göhtige Perjonen, die an feinem Schickſal freien inteil nahmen, zu ihm auf den Turm geſchickt. Es war ein endlofes Schnüffeln und Debattieren, Areeijein und Staunen, doc die verſchiedenen rklärungen liefen alle auf eins hinaus, und die 31

bloße Kraft des Augenfcheins mußte den Daumer- ſchen Bericht beftätigen.

Wenige Tage fpäter, gegen Anfang Juli, ver- öffentlichte der Vürgermeifter einen Aufruf, der im ganzen Land Verwunderung und Beunruhigung erregte. Bunächft wurde darin das Erſcheinen Caſpar Hauſers geicibert, und nachdem die eigne Erzählung des Jünglings mit tunlichiter Ausführlichleit wiedergegeben war, bejchrieb der Verfafjer diefen felbft. Er ſprach von der alle Umgebung bezaubernden Sanftmut und Güte des Knaben, in der er anfangs immer nur mit Tränen und nun, im Gefühl der Erlöfung, mit Innig- keit feine3 Unterdrückers gebenfe; von feiner u renden Ergebenheit an diejenigen, die häufig mit ihm umgingen, von feiner unbedingten Willfaͤhrig⸗ keit zum Guten, die mit der Ahnung deſſen ver- bunden fei, was böfe ift, ferner von feiner außer- ordentlichen Lernbegierde.

„Alle diefe Umftände,“ fuhr der beredfame Erlaß fort, „geben in demfelben Maß, in dem fe die Erinnerungen de3 Jünglings befräftigen,

ie. Ueberzeugung, daß er mit herrlichen Anlagen de3 Geiftes und des Herzens außgeftattet ift, und berechtigen zu dem Verdacht, daß fich an feine Kerkergefangenſchaft ein ſchweres Verbrechen Inüpft, wodurch er jeiner Eltern, feiner Freiheit, feines Vermögens, vielleicht fogar der Vorzüge hoher Geburt, in jedem Fall aber der ſchönſten Freuden der Kindheit und höchften Güter des Lebens ver- luſng gerooeben iſt.“

ine kühne und fotgenfhmer: Vermutung, die eher dem mitleidigen Gemüt und dem roman- tifchen Geift als der behördlichen Vorficht eines hohen Bürgermeifteramtes zur Ehre gereichte! 32

„Bubem beweiſen mancherlei Anzeichen," hieß es weiter, „daß das Verbrechen zu einer Zeit verübt worden, wo ber Jüngling der Sprache ſchon einmal mächtig geweſen und der Grund zu einer edeln Erziehung gelegt war, die gleich einem Stern in finfterer Nacht aus feinem Weſen hervor⸗ leuchtet. Es ergeht daher an die Zuftize, Polizeiz, Zivil- und Militärbehörden und an jedermann, der ein menjchliches Herz im Bufen trägt, die dringende Aufforderung, alle, auch die unbebeu- tendften Spuren. und Verdachtögründe befanntzus geben. Und nicht etwa deswegen, um Gajpar Haufer zu entfernen, denn die Gemeinde, die ihn in ihren Schoß aufgenommen, liebt ihn, betrachtet ihn als ein von der Vorfehung ihr zugeführtes Pfand der Liebe, das fie ohne gültigen Beweis der Anfprüche andrer nicht abtreten wird, fondern nur, um die Uebeltat zu entdecken und den Böſe— wicht famt feinen Gehilfen der gerechten Sühne auszuliefern.“

Wahrfcheinlich wurden von den Urhebern große Hoffnungen an das Manifeit geknüpft, aber die Sache nahm einen ganz unerwarteten Berlauf und bereitete den Nürnberger pe mancherlei Verlegenheiten. Zunächſt lief eine Menge unfinniger und verleumberifcher Bezich— tigungen ein, durch welche eine Reihe von adligen Familien und von intimen Vorgängen in arijto- kratiſchen Kreifen dem Gerede ausgefegt wurden: Kindesmord, Kindesraub, Kindesunterfchiebung waren nach Anficht des gemeinen Bolts Ber- brechen, welche die vornehmen Leute täglich und zum Vergnügen begehen.

Schlimmer war es, daß die magiftratiiche Belanntinahung dem Appellhof des Rezatkreiſes

Waffermann, Gafpar Haufer 8 33

auf nichtamtlichem Weg zu Händen kam. Irgend⸗ ein grimmiger Hofrat am felben Gerichtshof erließ allfogleich ein gepfeffertes Schreiben an die Kreis zegierung in Ansbach, worin erftlich die Publikation de3 Nürnberger ‚ofgermeiftere als vorſchrifts⸗ widrig, zweitens als abenteuerlich bezeichnet wurde, worin drittens der lebhafte Tadel darüber aus- gebrüdt war, daß durch das verfrühte Preisgeben wichtiger Umftände eine Kriminalunterfuhung wenn auch nicht vereitelt, jo doch ſehr erſchwert worden fei. Der ergeimmte Hofrat erfuchte da- her die Regierung, den Magiftrat zu frenge er vet zu ziehen und zu echter. die

ehandelnden Polizeiakten unverzüglich, ee zu fenden jeien.

Die Regierung ließ ſich das nicht zweimal fagen. Sie fendete ein Reſtript an den Stadt kommiſſaͤr von Nürnberg und äußerte ſich dahin, daß die erzählte Lebensbeſchreibung des Find⸗ Fr jo_viele grobe Unmwahrfcheinlichteiten ent»

te, daß der Gedanke an eine ärgerliche Täufchung Kir Armen üte fei. Gleichzeitig wurden die noch vorhandenen Eremplare des Snteligergblattes" und des „Sriebens- und Kriegöfuriers", in welchen Zeitungen der Aufruf erfchienen war, befchlag- nahmt. Dies wurde dem Appellhof orbnungs- gemäß mitgeteilt und die oe Set daran ges

üpft, ob die ftrafrechtliche erfolgung des Häftlings einzuleiten ſei oder nich

Den Magiftratsherren nen ein heilloſer Schreden in die Glieder. Schleunigft ließen fie die Atenfafzikel zufammenpaden und fehicten fie mit Eilpoft nad) Ansbad hinüber. Vielleicht mähnten fie, daß nun alles gut ſei, aber der grimme Hofrat dortjelbft erhob alsbald wieder

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feine Stimme. „Die Verhöre mit dem Häftling und die Zeugniffe über ihn find aftenmäßig nicht einwandfrei," zeterte er; „es find keineswegs alle PVerfonen, die zuerft mit ihm in Berührung ge- treten find, polizeilich vernommen worden; ferner gäe der PBrofefjor Daumer, um ber öffentlichen

jefanntmachung des Magiſtrats eine rechtliche Baſis zu geben, feine Gejpräche mit dem Find- ling zu den Akten legen follen.“

Die Regierung, um ein übriges zu tun, warnte den Magiftrat vor einfeitigem Verfahren. Darauf erwiderte der Magiftrat in einem Anfall_von Trotz und Enträftung: ja, aber in den Maf- regeln, wie ihr fie verlangt, liegt Gefahr, die Entdeckung zu hemmen, welche Anklage die vor jejeste Behörde mit zorniger Energie zurückwies. Bat eure Verjäumniffe nach, diktierte fie, proto- golliert Verhöre, ſchickt Akten, Akten, nichts als

Mit innerer Wut hatte der Profeſſor Daumer diefe Vor; zgänge verfolgt. Er bezeichnete das Treiben ber Ansbacher Behörde als widermärtige Feder⸗ fuchferei und hatte allen Exnftes die Abficht, feinem Unmut in einer geharniſchten Epiftel an die Re gierung Luft zu machen. Mit Mühe hielten be- fonnene Freunde ihn davon zurüd, „Aber es muß doch etwas gejchehen!” warf er ihnen voll Empörung entgegen, „man ift ja auf dem beiten Weg, einen Juftizmorb zu begehen, und foll ich dazu die Hände in den Schoß legen?"

„Das ratfamfte wäre,“ Ontıortete der Frei- herr von Tucher, der bei diefem Auftritt anweſend man, 1 perſoͤnlich an den Staatsrat Feuerbach

a hieße alſo, nach Ansbach reifen ?“ 3

„Gewiß."

„Aber nehmen Sie denn an, daß er, ae KVräfident des apellgeri cht8, von den Maßnahm: feiner untergebenen Beamten nicht ſchon unter: 2 richtet ift und fie etwa gar mißbillige?"

„Gleichviel, ich verfpreche mir etwas von einer mündlichen Auseinanderfegung; ich kenne Heren von Feuerbadh, er ift der Ießte, der einer gerechten Sache ie, fin Ohr verichließt."

Die Reife wurde beichlofien. Daumer und

Herr von Tucher befanden fih am andern Tag ſchon in Ansbach. Unglüdlicherweife war, der Präfident Feuerbach gerade auf einer Inſpeltions⸗ reife durch den Bezirk, ſollte erſt am fünften Tag zurüdtommen, und die beiden Herren, fofern fie das vorgefeßte Biel erreichen wollten, mußten ihren Aufenthalt in der Kreishauptitadt über Gebühr verlängern.

Mittlerweile Hatte der Findling eine gar böfe Zeit. Sein Turmgefängnis wurde das Biel_aller Aubiggänger und Neugierlinge der ganzen Stadt.

Man lief hin wie zu der Ausftellung einer unter- haltfamen Rarität, denn der magiftratiiche Eilaß hatte ihn zu einem Öffentlichen Gegenftand ge- macht. Seine bisherigen Beſchützer waren ein wenig zurüdhaltenber geworden, denn man wußte ja nit, wie die Geidichte enden würde und ob nicht ein hochweiſes Appellgericht ihn zum ges wöhnlichen Schwindler ftempeln würde. Der Turm»

* wörter durfte ber allgemeinen Volksbeluſtigung

nicht fteuern, der Vürgermeifter ſelbſt hatte die früheren Sefehle aufgehoben, weil es zweckmäßig Klin, daß möglichft viele Leute den Fremdling

hen. Oft erbarmte ihn der mehrloje Snabe, De ſchmeichelte es anderſeits feiner Eitelkeit,

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Herr über ein ſolches Wunderding zu fein, auch fpazierte nebenbei mancher Grofchen in den Beutel. Brad) der Morgen an und Caſpar Haufer erhob fi) vom a, feltfam müde, mit den Augen das Licht meidend er traurig ſtumm in der Ecke, während gi den Strohſack aufe fchüttelte und Waffer und Brot brachte, dann erſchienen ſchon die erften Beſucher, die beruf» mäßigen Frühauffteher: Straßenkehrer, Dienft- mãgde, Bäckergefellen, Handwerker, die zur Arbeit Eur ei auch Knaben, die auf dem Weg zur chule ergötzlichen Abſtecher machten, einige höchſt unbürgerlihe Erſcheinungen, zer- lumpte Herren, die die Nacht im Stabtgraben oder in einer Scheune verbracht hatten.

Mit dem Verlauf de3 Tages wurde die Ge ſellſchaft vornehmer; es kamen ganze Familien, der Herr Rendant mit Weib und Kind, der Herr Major a. D., der Schneidermeijter Bügelfleiß, Graf Rotftrumpf mit_feinen Damen, Herr von Uebel und Herr von Strübel, die ihre Morgen- promenade zum Zweck einer Befihtigung des kurioſen Untier3 unterbrachen.

Es war ein heiteres Treiben; man konverfierte, wifperte, lachte, fpottete und taufchte Meinungen aus. Wan war freigebig und brachte dem Jüng- ling allerlei Gefchente, die er anjah wie ein Hund, der noch nicht apportieren gelernt hat, den fertgem jeworfenen Spazierftod feines Herrn an- fieht. Man legte Eßwaren vor ihn bin, um feinen Appetit zu reizen; fo fchleppte zum Beis ſpiel die Ranzleirätin Bahnlos einmal eine ganze Schinkenkeule herauf, die allerdings am andern Tag verfchwunden war wohin, das wußte nie- mand; doch zog man bebdeutfame Schlüffe daraus.

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Vor allem hieß e8: zeigt und das Wunder, das angepriefene Wunder! Aber da der ſchweigſame, fanftherzige Knabe nicht von alledem tat, was te in ihrer Lüfternen Erwartung fich eingebilbet, 0 begannen fie entweder zu jchimpfen als ob fie Eintrittsgeld bezahlt hätten und darum betrogen worden wären oder ftellten die er—⸗ ftaunlichften Torheiten an. Indem fie ihn fort- während mit Fragen quälten, woher er komme, wie er heiße, wie alt er fei und ähnliches, kamen fie ſich ſowohl witzig wie überlegen vor. Sein flehentliches Kopfichütteln, fein ungereimtes Nein oder Ja, das wie aus Kindermund froh-bereit- willig und furchtfam zugleich klang, fein Geftotter, fein gläubines Lauſchen, alles das erregte ihr Behagen. Einige brachten ihr Gefiht ganz nah an feines und waren höchft vergnügt, wenn er vor ihren Starrblicken ſichtlich bis ins Innerſte erſchräk. Sie befühlten ſeine Haare, feine Hände, feine Füße, zwangen ihn, durchs Zimmer zu pazieren, zeigten ihm Bilder, die er erklären follte, und taten zärtlich mit ihm, während fie einander liſtig zuzwinkerten.

Aber die Harmloſigleit ſolcher Verſuche ward den unternehmenderen Geiſtern bald überdrüſſig. Man wollte ſich doch überzeugen, ob es ſeine Richtigkeit damit hatte, daß der Gefangene jede Nahrung außer Brot und Waſſer verichmähe. Man hielt ihm Fleifh und Wurft, Honig oder Butter, Milch oder Wein vor die Nafe und amüfierte fich Löftlich, wenn der Knabe vor Ekel förmlich außer fich geriet. „Ei, der Komödiant,“ Elan WA —TF —T— als bei Wr —* iffen verachte! Hat ſich wahrſcheinlich mal in eines großen Herrn Küche überfreſſen!“

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Einen Hauptipaß ER als einmal zwei junge Meifter der Goldichlägerinnung Schnaps berbeibrachten und fich verabredeten, dem Haufer das Getränt mit Gewalt aufzunötigen. Der eine hielt ihn, der andre wollte ihm das volle Glas zwifchen die Lippen fchütten. Doch konnten fie ihren Plan nicht ausführen, weil ihr Opfer durch den bloßen Geruch, der aus dem Gefäß ftrömte, das Bewußtſein verloren hatte. Sie waren einigermaßen verdußt und mußten mit dem Ohn- mächtigen nicht8 anzufangen; zum Glüd_ fahen fie ihn atmen und hatten weiter feine Furcht. „Glaubt ihm doch feine Kniffe nicht,“ meinte ein ftugerhaft gefleinetss Vürfchlein, das bisher ge langmeilt dabeigeftanden, „ih will ihn fehon wieder munter kriegen.“ Sprach's, zog lächelnd die goldene Schnupftabaksdoſe und ftedte eine volle Prife unter die Nafe des vermeintlichen Simulanten, deſſen Geficht fogleich von heftigen Zudungen bewegt wurde, worüber alle drei in Gelächter ausbrachen. As dann der Wärter kam und fie derb zur Rede ftellte, zogen ſie ſchimpfend ab und räumten den Plan einem gravitätifchen älteren Herrn, der den langſam zum Leben zurüdtehrenden Caſpar von vorn und von hinten bejchnüffelte, den Finger an die Stirn legte, ſich räufperte, den Kopf fchüttelte, erſt - franzöfifh, dann ſpaniſch, dann englifh auf den Süngling einvedete, mit dem Wärter tufchelte, kurz von Wichtigkeit barft. Caſpar jedoh jah ihn immer nur an und fagte in jämmerlichem Ton: „Heimmeifen.“ „Warum fpielft du nicht mit dem Rößlein?“ fragte, als die wichtige Perfon gegangen war, der Wärter. Man verjtändigte fe mit Cafpar 39

noch immer mehr durch Geften als durch Worte, und er jelbft las, mas Worte ihm nicht mit- teilen Tonnten, von den Augen und den Händen der Menfchen ab.

Er blickte auch Hill lange an und fagte: „Heimweiſen.“

„Heimweiſen?“ antwortete der Wärter, halb verdrießlich, halb mitleidig. „Wohin denn heim? Wo bift du denn daheim, du Unglüdswurm? In dem unterirdifchen Zoch vielleicht? Nennft du das daheim?"

„Der Du foll kommen," fagte Caſpar klar, langſam und hell.

„Der wird ſich hüten,“ verſetzte Hill, bär- beißig lachend.

„Der Du kommt, bald kommt," beharrte Cafpar, und er ſchaute mit einem Ausdrud feierlicher Inbrunft gegen den abendlichen Himmel, als fei er überzeugt, daß der Du durch die Lüfte ſchreiten könne. Dann erhob er fich in feiner mühevollen Weife, nahm fein Spielpferdchen und verjuchte e3 zu tragen, denn bies allein wollte er von den Gegenftänden, die er geſchenkt erhalten, mitnehmen, wenn der Du fäme, fonft nichts,

Hill’begrifffein Vorhaben. „Nein, Cafpar, ſagte ex, „jest mußt du ſchon in dieſer Welt bleiben. Daß fie dir nicht gefallen mag, verſteh' ich wohl. Mir gefält fie auch nicht, aber dableiben mußt du.“

Caſpar, wenngleich er den Worten nicht ganz folgen Tonnte, erfaßte doch den unabänderlichen Beſchluß, den fie enthielten. Ex begann an allen Gliedern zu beben, laut weinend warf er fich zu Boden, aber auch fpäter, als es dem beftürzten Hill gelungen war, ihn zu tröſten, ſchien es, wie wenn er vor Kummer fein Herz verhauche. Die 40

Traurigkeit feines Gemüts überflutete das kind» hafte Geficht wie ein dunkler Schleier, und am Dlorgen waren feine Lider durch die während de3 Schlummers vergofjenen Tränen verklebt.

Er wollte zum erjtenmal nicht mehr mit dem Pferdchen fpielen, fondern kauerte ftundenlang ohne Regung auf einem Fleck. Bei jedem Krachen der Treppe fchüitelte e8 ihn, und er fchauderte, wenn fi wieder und wieder ein neues Geficht über der Schwelle zeigte. Zitternd fah er die Menfchen an, der Geruch ihres Atemd war gm eine Bein und unerträglih, wenn fie ihn bes rührten. Am meiften Furcht hatte er vor ihren Händen. Zuerſt jah er immer die Hände an, merkte fich ihre verjchiedene Geftalt und Farbe, und ehe er fie an feiner Haut fpürte, erſchrak ex ſchon, denn fie erjchienen ihm wie felbftändige Geſchöpfe, kriechende, klebrige, gefährliche Tiere, deren Tun von einem Augenblick zum andern gar nicht abzufchägen war.

Nur Daumers Hand, die einzige, deren Ber zübeungangenehmmar, mar verfhmsunden, Barum? dachte Cafpar, warum war dies alles? Warum das feltfame Getöfe von früh bis jpät? Woher Tamen die fremden Geftalten, warum fo viele, und warum war ihr Mund umd ihr Auge böfe?

Das frifche Waſſer ſchmeckte ihm nicht mehr, auch hungerte ihn nicht mehr nach dem gewürzten Brot. In feiner Erſchöpfung dunkte ihm mitten am Tage, e3 ſei Nacht geworden, und das Heiß-

leißende, -funfelnde, von dem man ihm gejagt, es der Schein der Sonne fei, wurde vor feinen müden Augen zu purpurnem Dunft. Es beängftigte ihn das Geräufch des Windes, denn er verwechjelte es mit den Stimmen der Menfchen.

al

Er fehnte fih in die Einfamleit feines Kerkers zurück; heimmeifen mar fein einziger Gedanke.

war ein Sonntag. Spätnachmittags waren Daumer und Herr von Tucher aus Ans- bach wieder angelangt, und in ihrer Begleitun befand ſich der Staatsrat von Feuerbach, der ji entſchloſſen hatte, den Findling felbft zu befuchen und womöglich Klarheit in das unfruchtbare Hin- undher von Akten und Erläffen zu bringen. Nachdem er im Gafthof zum Lamm Quartier gemietet hatte, ließ fich der Präfident von den eiden Herren fogleich zur Burg und auf den Turm führen. Es hatte fchon neun Uhr ges ſchlagen, als fie dort anlamen. Groß war ihre Ueberraſchung, als fie da8 Zimmer Gafpars leer fanden; die Frau des Wärter8 erklärte verlegen, ihr Mann ſei mit Cafpar ins Wirtshaus zum Krokodil gegangen, Der Rittmeifter von Wefjenig habe nämlich einigen feiner von auswärts zu- gereiften Freunde den Findling zu zeigen ges wunſcht, habe heraufgeſchickt und befohlen, daß man Caſpar bringe.

Daumer war erbleicht und fehaute, Schlimmes ahnend, finfter zu Boden; Herr von Tucher ver: mochte feinen Unmillen kaum zu bemeiftern, und über die bartlofen Lippen des Präfidenten Bujöte ein halb mofantes, halb verächtliches Lächeln; feine gebietende Haltung erinnerte an einen dur: Pflichtverfäumnifje vielfach beleidigten Fürſten, als er ſich mit der fchroffen Aufforderung zu feinen Begleitern wandte: „Führen Sie mid zu diefem Wirtshaus!"

Die Dunkelheit war eingebrochen, über dem Dach des Nathaufes ftand fahlleuchtend der Mond. Schweigend fhritten die. drei Männer _

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den Berg hinab, und kaum waren fie, das wink⸗ lige Gaſſengewirr verlaffend, auf den Wein- markt getreten, als Daumer ftehenblieb und mit erregter Stimme flüfterte: „Da ift er.”

In der Tat fahen fie Cafpar, der gleich einem zu Tod Erkrankten am Arme Hills aus dem Tor des Krofodilwirtshaufes wankte. Der Präſident und Herr von Tucher blieben ebenfalls ftehen, und fie bemerkten jest, daß der Jüngling plöglich innehielt, guritfigauberte und, ein maß- lofe8 Staunen in den vor Angſt weit aufgeriffenen Augen, zu Boden ftarrte. Die drei Männer näherten ſich eilig, um zu erfahren, was es fei. Sie fahen nichts weiter als die Mondfchatten des Jünglings und feines Vegleiter3 auf dem Pflafter.

Caſpar wagte nicht mehr fich zu regen, weil er jede Bewegung feines Körper nachgeahmt ſah von dem unbegreiflichen Ding. Seine Lippen waren wie zum Schrei geöffnet, feine Zangen ſchneeweiß und die Knie fchlotterten ihm. es dog), als ob alles Grauenhafte und Geheim-

nisvolle einer Welt, in die ein Ungefähr ihn ge fchleudert, ſich zu dem feltfam zudenden Gebild am Boden verdichtet habe.

Daumer, Herr von Tucher und der Wärter bemühten ſich um ihn, der Präfident ftand wortlos daneben. Als er emporblicte, bemerkte Daumer, der ihn heimlich und geſpannt beobachtete, in feinem fieengen Geficht eine unverftellte Erfchütterung.

3 fehlte nicht viel, jo wäre Hill, den der Zorn des Präfidenten am erjten traf, noch am jelben Abend aus feinem Amt gejagt worden; nur die mutige Fürjprache de3 Heren von Tucher rettete ihn und lenkte das Gemitter auf ſchuldigere Perſonen ab, denn die Vernachläffigung, die der

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Gefangene erlitten, war allzu offenbar. Seiner ungeftümen Art gemäß fuchte der Präfident ſo⸗ leich den Bürgermeifter Binder auf, dem er die eftigften Vorwürfe machte. Herr Binder Eonnte nicht umhin, dem Präfidenten Eleinmütig beizu⸗ pflichten; die Entfchiedenheit, mit der er den Gegenſtand behandelt fah, übte tiefen Eindrud auf ihn, und er mußte einen Taum wieder gut- zumachenden Fehler vor fich ſelber eingeftehen. Von feiner Seite war nur Lauheit im Spiel gewejen, die Scherereien mit ber Regierung hatten ihn verdrofjen, jet auf einmal, da der mächtige Mann feine Stimme für den Findling erhob, wurde er fich feiner Bereitwilligleit bewußt, alles Fördernswerie für Cafpar Hauſer zu tun, und ex erflärte ſich ohne weiteres einverftanden, als ‚Herr von Seuerbad) verlangte, der Knabe müffe jeiner bisherigen Lage entriffen werden. „Er ol in eine geordnete Pflege kommen,“ fagte der räfident, btofeflor Daumer bat fich freimilli exboten, ihn zu fih ins Haus zu nehmen, umi ich wünfche nicht, daß diefer Schritt im geringften

verzögert werde.”

Binder verbeugte fih. „IH werde morgen mit dem früheften die nötigen Anftalten treffen,” antwortete er.

„Nicht, bevor ich felbft mit dem Knaben ge fprochen," verfegte der Präfident haftig; „ich werde um zehn Uhr auf dem Turm fein und bitte, daß man mic eine Stunde lang mit dem Gefangenen allein laſſe.“

Auch Daumer war ziemlich erregt heimgefommen. Raum daß er, nad tagelanger Abweſenheit, Mutter und Schwefter ordentlich begrüßte. „Die Herrichaften müffen artig gewütet haben,“ grollte 4

er, indem er unaufhörlich durch das ‚Zimmer wanderte, „der Knabe ift ja ganz verſtört. Das jeiß” ich menschlich fein, das Heiß’ ich Einficht jaben! Barbaren find fie, Schlächter find fie! Und unter ſolchem Volk zu leben bin ich gesmungen!

„Barum fagft du es ihnen nicht felbjt?“ bemerkte Anna Daumer troden. „Hinter deinen vier Wänden zu fchimpfen fruchtet wenig.“

„Sag mal, Friedrich," wandte fih nun die alte Dame an ihren Sohn, „bit du denn wirt lich, feft davon überzeugt, daß du dein Herz nicht wieder einmal an einen Gößen wegwirkft?"

„Aus deiner Frage erfennt man, daß du ihn noch immer nicht gejehen haſt,“ antwortete Daumer fat mitleidig.

„Da3 wohl; e8 war mir ein zu groß Gerenne."

„Afo. Wenn man von ihm fpricht, kann man nicht übertreiben, weil die Sprache zu ärm-

lich iſt, um fein Wefen auszudrüden. Es ift wie eine uralte Legende, dies Emportauchen eines märchenhaften Geſchöpfs aus dem dunfeln Nirgend- wo; die reine Stimme der Natur tönt uns plöß- lich entgegen, ein Mythos wird zum Ereignis. Seine Seele gleicht einem koſtbaren Edelſtein, den noch keine habgierige Hand betaftet hat; ich aber will danad) greifen, mich rechtfertigt ein erhabener Zweck. Oder bin ich nicht würdig? Glaubt ihr, daß ich nicht würdig bin dazu?“

„Du ſchwärmſt,“ fagte Anna nad einem langen Stiliſchweigen faſt ureilig,

Daumer zudte lächelnd die Achfeln. Dann trat er an den Tiſch und fagte in einem Ton, deſſen Sanftheit gleichwohl einen gefürchteten Widerftand im voraus zu bekämpfen fchien: „Caſpar wird morgen in unfer Haus ziehen; ich

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babe Erzellenz Feuerbach darum angegangen und er bat meiner Bitte willfahrt. Br hoffe, ap du nichts dawider einzumenden haft, Mutter, un

daß du mir glaubft, wenn ich verfichere, es ift eine Sache von großer Bedeutung für mich. Ich bin höchft wichtigen Entdeckungen auf der Spur.”

Mutter und Tochter fahen erſchrocken ein- ander an und fchmwiegen.

Am nächften Morgen um zehn fanden ſich Daumer, der Bürgermeifter, der Stadtkommiſſär, der Gerichtöarzt und einige andre Perfonen im Burghof vor dem Gefängnisturm ein und mar- teten dritthalb Stunden auf ben Präfidenten, der bei dem Findling oben war. Daumer, der Ge- fpräche mit andern vermeiden wollte, ftand faft ununterbrochen an der Umfafjungsmauer und blickte auf das malerifche Gafjen- und Dächer gewirr der Stadt hinunter.

AS der Präfident endlich unter den Warten- den erfchien, drängten fich alle mit Eifer heran, um die Meinung de3 berühmten und gefürchteten Mannes zu hören. Doch das Geficht Feuerbach zeigte einen jo düfteren Exnft, daß niemand ihn mit einer Anrede zu beläftigen wagte; fein macht- volles Auge blickte brennend nad) innen, die Lippen waren gleichjam aufeinander geballt, auf der Stirn lag eine von Nachdenken zitternde ſenkrechte alte. Das Schweigen wurde vom Vürgermeifter mit der Frage unterbrochen, ob Erzellenz nicht geruhen wolle, das Mittagefjen in feinem Haus zu nehmen. Feuerbach dankte; dringende Gejchäfte nötigten ihn zu fofortiger Rückkehr nach Ansbach, ent gegnete er. Darauf wandte er fich an Daumer, veichte ihm die Hand umd fagte: „Sorgen Sie fogleich für die Weberfieblung des Haufer; der 46

arme Menfch braucht dringend Ruhe und Pflege. Sie werden bald von mir hören. Gott befohlen, meine Herren!"

Damit entfernte er ſich in rafchen, Heinen, ftampfenden Schritten, eilte den Sig! hinab und derſchwand alsbald gegen die Sebalderficche, Die Zurüchleibenden machten etwas enttäufchte Mienen. Da fie alle überzeugt waren, daß der Scharffinn dieſes Mannes ohne Grenzen ſei und daß fein andres als fein Auge das Dunkel durchdringen tönne, welches über Untat und Verbrechen brütete, waren fie verjtimmt über eine Schweigfamleit, die ihnen beabjichtigt und planvoll erfchien.

Am Abend befand ſich Caſpar in der Woh- nung Daumers.

Der Spiegel fpricht

Das Daumerfhe Haus lag neben dem jo- genannten Annengärtlein auf der Inſel Schütt; es mar ein altes Gebäude mit vielen Winkeln und halbfinftern Kammern, doch erhielt Cafpar ein ziemlich geräumiged und mohleingerichtetes Zimmer gegen den Fluß hinaus.

Er mußte fogleich zu Bett gebracht werden. Es zeigten fich jest mit einem Schlag Die Folgen ber jüngftdurchlebten Zeit. Er war wieder ohne Sprache, ja bisweilen wie ohne Gefühl des Lebens. Auf den ungewohnten Kiffen warf ex fich fiebernd herum. Wie jammervoll, ihn bei jedem Knacken der Dielen erſchaudern zu jehen; auch das Ge räufch des Regens an den Fenjtern verfegte ihn in aufgewühlte Bangnis. Er hörte die Schritte, die auf dem weiten Plab vor dem Haus ver-

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allten, er vernahm mit Unruhe die metallenen läge aus einer fernen Schmiede, jeder Stimmen- lärm brachte auf feiner ten mt ein Zeichen des Schmerzes hervor; und von ment zu Moment vertaufchten fine Büge den Ausdrud der Erſchöpfung mit dem gepeinigter Badjamteit,

Drei Tage lang wich Daumer kaum von feinem Bett. Diefe Opferkraft und Hingebung erregte die Bewunderung der Seinen. „Er muß mir leben,“ fagte er. Und Caſpar fing an zu leben. Vom dritten Tag ab Defferte A fein Zuftand ftetig und ſchnell. Als er am Morgen erwachte, lag ein befinnendes Lächeln auf feinen Lippen. Daumer triumphierte

„Du tuft ja, als ob du ſelbſt dem Kerker entronnen wärft,“ meinte feine Schmeiter, die nicht umbin konnte, an feiner Freude teilzunehmen.

„Ja, und ich habe eine Welt zum Gefchent erhalten," antwortete er lebhaft; „fieh ihm nur an! Es it ein Menfchenfrühling."

Am andern Tag durfte Cafpar das Bett ver- laſſen. Daumer führte ihn in den Garten. Da- mit das grelle Tageslicht feinen Augen nicht ſchade, band er ihm einen grünen Papierſchirm um die Stirn. Späterhin wurden die Dämmerungszeit ober die Stunden bewölften Himmels für dieſe Ausgänge Dorgeangen.

waren ja Reifen, und nicht geichah, was nicht zum Ereignis wurde. Welche Mühe, ihn fehen, ihn das Gefehene nennen zu lehren, mußte erft zu den Dingen Vertrauen gewinnen, und ehe nicht ihre Wirklichteit ihm felbjtverftänd- lich ward, machte ihn ihre unvermutete Nähe bes ftürzt. Als er endlich die Höhe des Himmels 48

unb auf ber Exde die Entfernung von Weg zu Weg begriff, wurde fein Gang ein wenig leichter und fein Schritt mutiger. Alles lag am Mut, alles lag daran, den it zu Träftigen.

Das ift die Luft, Caſpar; du kannſt fie nicht greifen, aber d ift da; wenn fie fich bemegt, wird fie zum Wind, du brauchit den Wind nicht zu fürchten. Was hinter der Nacht Liegt, Hi geftern; was über der nächſten Nacht liegt, iſt morgen. Von geftern bis morgen vergeht Zeit, vergehen Stunden, Stunden find geteilte Zeit. Dies ift ein Baum, dies ift ein Strauch, hier Gras, hier Steine, dort Sand, da find Blätter, da Blüten, da Früchte...

Aus dem dumpfen Hören heraus erwuchs das Wort. Die Form wurde einleuchtenb durch das Anvergeßliche Wort. Caſpar ſchmeckt das Wort auf der Zunge, er fpürt e8 bitter oder füß, e3 fättigt ihn oder läßt ihn unzufrieden. Auch hatten viele Worte Gefichter; oder fie tönten wie Glodenfchläge aus der Dunkelheit; oder fie ftan« den wie Flammen in einem Nebel,

Es war ein langer Weg vom Ding bis zum Wort. Das Wort lief davon, man mußte nach laufen, und hatte man es endlich erwifcht, fo war es eigentlich gar nicht3 und machte einen traurig. Gleichwohl führte derfelbe Weg auch zu den Menſchen; ja, es war, als ob die Menfchen hinter einem Gitter von Worten ftünden, das ihre Züge fremd und fehrecflich machte; wenn man aber das Gitter zerriß oder dahinter kam, waren fie ſchön.

Hatte es am Morgen neu geklungen, zu fagen: die Blume, am Mittag war es ſchon vertraut, am Abend war es ſchon alt. „Dies Herz, Dies Hirn, zur Fruchtbarkeit aufbewahrt durch lange

Baffermann, Gafpar Haufer 4 40

Zeiten, treibt wie vertrocneter und endlich be— feuchteter Humus Sprößlinge, Blüten und Früchte in einer Nacht," notierte der eißige Daumer; „was dem matten Blick der Gewohnheit unwahrnehm- bar geworden, erjcheint diefem Auge friſch wie aus Gottes Hand. Und mo die Welt verſchloſſen ift und ihre Geheimnifje beginnen, da fteht er noch feltfam drängend und fragt fein zuverfichtliches Warum. Nach jedem Schall und jedem Schein tappt dies zweifelnde, erſiaunte, hungrige, ehr⸗ furchtsloſe Warum.“

Es iſt nicht zu leugnen, Daumer war oft erſchreckt durch das eignen Ungenügens. Sei t das noch Iehren? grübelte er, heißt das

Gärtner jein, wenn das wilde Wachstum fh dem ileger entwinbet, da3 maßlos wuchernde Getriebe feine Grenze a het? Wie jol das enden? Zweifellos bin ich * einem ungewöhnlichen Phänomen auf der Spur und meine teuern Zeit⸗ SL en werden ſich berbeilafjen müfjen, ein wenig —* zu glauben. ch immer war es die liebſte Vorſtellung Parse] einft beimtehren zu u dürfen; „erſt lernen, dann heim,“ fagte er mit dem Ausdrud unbefieg- barer Entjchiedenheit. „Aber du bift ja zu Haufe, bier bei uns bift du zu Haufe,“ wandte Daumer ein. Aber Caſpar fchüttelte den Kopf.

Bisweilen ftand er am Zaun und fah in den Nachbargarten siniber, wo Kinder fpielten, deren Wefen er mit komiſchem Befremden ftudierte.

„So Heine Menfchen,” fagte er zu Daumer, ber ihn einmal dabei überrafchte, „jo eine Menſchen.“ Seine Stimme Hang traurig und höchft verwundert.

Daumer unterdrücte ein Lächeln und wäh— rend fie zufammen in? Haus gingen, fuchte er 50 .

ihm klarzumachen, daß jeder Menfch einmal fo Hein geweſen, auch Gafpar jelbft. Caſpar wollte daS durchaus nicht zugeben. „O nein, o nein,“ rief er aus, „Caſpar nicht, Cafpar immer jo gewefen wie jet, Cafpar nie jo kurze Arme und Beine gehabt, o nein!“

Dennoch jei dem jo, verficherte Daumer; nicht allein, daß er Hein geweſen, fonbern er wachſe ja noch täglich, verändere fich täglich, fei_beute ein ganz andrer als der Haufer auf dem Turm, und nad vielen Jahren werde er alt werden, feine Haare würden weiß fein, die Haut voller Runzeln.

Da wurde Caſpar blaß vor Furcht; er fing an zu ſchluchzen und ſtotterte, das ſei nicht mög- lich, er wolle es nicht, Daumer möge machen, dh es nicht gefchehe.

Daumer flüfterte jeiner Schweiter etwas zu, diefe ging in den Garten und brachte nach kurzer Weile eine Roſenknoſpe, eine aufgeblühte und eine verwelfte Roſe mit herauf. Caſpar ftredte die Hand nach der vollblühenden aus, wandte fich aber gleich mit Efel ab, denn jo ſehr er die tote Farbe vor allen andern liebte, der heftige Geruh der Blume war ihm unangenehm. A ihm Daumer den Unterfchied der Lebensalter an Knofpe und Blüte erflären wollte, fagte Caſpar: „Das haft du doch felbft gemacht, es ift ja tot, & hat feine Augen und feine Beine.”

„SH Hab’ es nicht gemacht," entgegnete Daumer, „es ift lebendig, es ift gemachjen; alles Lebendige ift_gewachjen.”

„Mes Lebendige geraden, wiederholte Caſpar faft atemlos, indem er nach jedem Wort paufierte. Hier drohte Verwirrung. Auch bie

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Bäume im Garten feienglebendig, fagte man ihm, und er getraute fich nicht, den Bäumen zu nahen, das Rauſchen ihrer Kronen machte ihn beftürzt. Er fuhr fort zu zweifeln und fragte, wer die vielen Blätter ausgefchnitten habe und warum? warum fo viele? Auch fie feien gewachſen, wurde geantwortet.

Aber mitten auf dem Rafen ftand eine alte Sandfteinftatue, die follte tot fein, troßdem fie ausjah wie ein Menſch. Caſpar konnte jtunden- lang die Blicke nicht davon wenden, Verwunde⸗ rung machte ihn ftumm. „Warum hat e3 denn ein Geficht ?" fragte er endlich, „warum it es jo weiß und fo Fomusig? Warum fteht es immer und wird nicht müde?"

Als feine Furcht befiegt war, ging er heran und wagte die Figur zu betaften, denn ohne zu taften, glaubte er nicht dem, was er ſah. Er hatte den heftigen Wunfch, das Ding auseinander nehmen zu dürfen, um zu wiſſen, was innen war. Wie viel war überall innen, wie viel ftectte überall dahinter! i

Es fiel ein Apfel vom Zweig und rollte ein Stück des abjchüffigen Weges entlang. Daumer hob ihn auf, und Gafpar fragte, ob der Apfel möübe ſei, weil er fo fchnell gelaufen. Mit Grauen wandte er fich ab, als Daumer ein Mefjer nahm und die Frucht entzweifchnitt. Da warb ein Wurm fihtbar und Frümmte feinen dünnen Leib gegen das Licht. -

„Er war bi8 jegt im Finftern gefangen wie du im Kerker,“ fagte Daumer.

Das Wort machte Cafpar nachdenklich; es machte ihn nachdenklich und mißtrauifch. Wie viele8 war da im Kerfer, wovon er nicht wußte! 52

Alles Innen war ein Kerker. Und in wunder- licher Verworrenheit Inüpfte ſich an dieſen Ge- danken die Erinnerung an den Schlag, den er damals erhalten, nachdem ihn der Du gelehrt, wie man das Pferdchen frei bewegen könne. In allen fremden Dingen Iauerte ber Sag, in allen unbefannten wohnte Gefahr. Eine gewiſſe ſtrah⸗ lende Heiterkeit, die allmählich Caſpars Weſen entftrömte und die das Entzüden feiner Ums gebung bildete, war daher ftet3 an jene er- wartungsvolle, ahnungsvolle Bangigfeit gebunden. Nach regneriſchen Stunden mit Daumer aus dem Tor tretend, gewahrte Caſpar einen Regen⸗ bogen am Himmel. Er war ſiarr vor Freude. Wer das gemacht habe, ftammelte er endlich. Die Sonne. Wie, die Sonne? Die Sonne fei doch Fein Menſch. Die natürlichen Erflärungen ließen Daumer im Stich, er mußte fich auf beruſen. „Gott iſt der Schöpfer der belebten und unbelebten Natur," ſagte er. Cafpar ſchwieg. Der Name Gottes Hang ihm feltfam düſter. Das Bild, das er dazu ph, gs dem Du, fah aus wie der Du, als ie Dede des Gefängnifjes auf feinen Schultern ruhte, war unheimlich verborgen mie der Du, als er den Schlag geführt, weil Gafpar zu laut geſprochen. Wie geheimnisvoll war alles, was zwiſchen Morgen und Abend geſchahl Das Regen und Raunen der Welt, das Fliegen des Waſſers im Fluß, das Ziehen luftig-dunkler Gegenftände hoch in der Luft, die man Wolfen nannte, das Vor» übergehen und Nichtwiederfommen undeutbarer Ereigniffe, und vor allem das Flüchten der Men- ſchen, ihre fehmerzlichen Gebärden, ihr lautes 53

Reden, ihr fonderbares Gelächter. Wie viel war da zu erfahren und zu lernen!

Es ſchnürte Daumer das Herz zufammen, wenn er den üngling in tiefem Nachdenken ſah. Caſpar fehien dann wie erfroren, er hodte zu- fammengefauert da, feine Hände waren geballt und er hörte und fpürte nicht mehr, was um ihn vorging.

Ja, es war zu folchen Zeiten eine vollftän- dige Dunkelheit um Cafpar, und nur, wenn er lange genug verſunken war, hüpfte aus der ze etwas wie ein Feuerfunken, und in der Bruſt begann eine undeutlih murmelnde Stimme zu beein Wenn der Funken wieder verloſch, tat

ie äußere Welt wieder fund, aber eine went Unzufriedenheit hatte ſich Caſpars emãchtigt.

„Wir müſſen einmal mit ihm hinaus aufs Land,“ ſagte Anna Daumer eines Tages, als der Bruder mit ihr darüber geſprochen. „Er braugt Berftreuung.“

n braucht Zerftreuung," gab Daumer lächelnd zu, „er ift zu gefammelt, daS ganze Welt- al laſtet noch auf feinem Gemüt."

a es jein erjter Spasiergang fein wird, wäre e8 gut, die Sache möglichft ſtill zu unter nehmen, ſonſt find wieder alle Neugierigen bei der Hand," meinte die alte Frau Daumer. „Sie ſchwatzen ohnehin genug über ihn und über u:

Daumer nidte. Er wünfchte nur, daß Hear von Tucher mit von ber Partie fei.

Am erften Feiertag im September fand der Ausflug ftatt. Es war ſchon fünf Uhr nach⸗ mittags, als fie vom Haus aufbrahen, und da fie auf Gafpars langfame Gangart Rüdficht nehmen

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mußten, gelangten fie erſt fpät ins Freie. Die begegnenden Leute blieben ftehen, um der Gejell- m nachzuſchauen, und oft hörte man bie ſtaunenden oder ſpöttiſchen Worte: „Das ift ja der Caſpar Haufer! Ei, der Findling! Wie fein er's treibt, wie nobel!" Denn Cafpar trug ein neue3 blaues Frädlein, ein modifches Gilet, feine Beine taten in meißfeidenen Strümpfen und die Schuhe hatten filberne Schnallen.

Er ging zwischen den beiden Frauen und hatte ſorgſam acht auf den Weg, der nicht mehr wie ehedem vor feinen Bliden auf» und abwärts ſchwankte. Die Männer (eritten in gemeffener Entfernung binterdrein. Plößlich erhob Daumer den rechten Arm nach vorn, und gleich darauf blieb Cafpar ftehen und ſah fich fragend um.

Erfreut und in Iiebevollem Ton rief ihm Daumer zu, weiterzugeben. Nach ein paar Hundert Schritten hob er wieder den Arm, und abermals blieb Caſpar ftehen und blidte fih um.

„Was ift das? Was bedeutet das?“ fragte Herr von Tucher erftaunt.

„Darüber gibt es feine Erklärung,“ antwortete Daumer voll ftillen Triumphes. „Wenn Sie wollen, Tann ich Ihnen noch viel Merkwürdigeres zeigen."

„Hexerei wird doch wohl kaum im Spiele meinte Herr von Tucher ein bißchen ironiſch.

„Hexerei? Nein. Aber wie ſagt Hamlet: Es gibt mehr Dinge zwiſchen Himmel und Erde —“

„Alſo ſind Sie ſchon an den Grenzen der Schulweisheit angelangt?" unterbrach Herr von Tucher noch. immer mit Jronie. „Ich für meinen Teil ſchlage mich zu den Skeptifern. Wir werden ja ſehen.“

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are werden jehen,“ wiederholte Daumer lich. Nach oftmaligem kurzem Raften warb am Rand einer Wiefe Halt gemacht, und alle ließen fih im Gras nieder. Caſpar fchlief ſogleich ein; Anna breitete ein Tuch über fein Geficht und padte fodann einige mitgebrachte Eßwaren aus einem Körbchen. Schweigend begannen alle vier zu efjen. Ein natürliches Schweigen war e3 nicht: der lieblich vergehende Tag, das fommer- liche Blühen forderten der zu heiteren Gejprächen auf, aber um den Schläfer lag ein eigner Bann, jeder fpürte die Gegenwart des Yünglings jebt ftärfer al8 vorher, und es hatte bei einigen gleich gültigen Nebensarten fein Bewenden, die leifer langen als felbft die Atemzüge des Schlummern- den. Weit und breit war fein Menfch zu fehen, da man abfichtlich einen felten begangenen Weg gewählt hatte.

Die Sonne war am Sinken, als Caſpar er- wachte und, fich aufrichtend, die Freunde der Neihe nach dankbar und etwas befchämt anblickte. „Sieh nur hinüber, Caſpar, fieh den roten Feuer- ball,“ ſagte Daumer; „haft du die Sonne ſchon einmal fo groß gejehen ?"

Caſpar fhaute hin. Es war ein ſchöner An- blick: Die purpurne Scheibe rollte herab, als zer- gänitte fie die Erde am Rand des Himmels; ein

teer von Scharlachglut ftrömte ihr nach, die Lüfte waren entzündet, blutiges Geäder bezeich- nete einen Wald und rofige Schatten baufchten langſam über die Ebene. Nur noch wenige Mi- nuten, und ſchon zuckte die Dämmerung durch den fanften Rarmin des Nebels, in den die Ferne getaucht war, einen Augenblic lang bebte das Ge—

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lände, umb geänteiftllene Strahlenbündel ſchoſſen über den Weften, der verfunfenen Sonne nad.

Ein geifterhaftes Lächeln glitt über die Züge der beiden Männer und ber zwei Frauen, ald fe Cafpar mit einer Gebärde ftummer Angft binüber-

reifen jahen gegen den Horigont. Daumer näherte

I ihm und ergriff feine Hand, die eißfalt ges worden war. Caſpars Geficht wandte ſich er- zitternd ihm zu, voller Fragen, voller Zucht, und endlich bewegten fich die Lippen und er murmelte ſchüchiern: „Wo geht fie hin, die Sonne? Geht fie ganz fort?"

Daumer vermochte nicht gleich zu antworten. So mag Adam vor feiner erſten Nacht im Para- dies gezittert haben, dachte er, und es geſchah nicht ohne Schauder, nicht ohne feltfame Ungewiß- beit, daß er den Jüngling tröftete, ihn der Wieder: kunft der Sonne verficherte.

„Iſt dort Gott?" fragte Caſpar hauchend, „it die Sonne Gott?"

Daumer deutete mit dem Arm weit ringsum und erwiderte: „Alles ift Gott."

Indeſſen mochte ein jolches Diktum pantheifti- ſcher PHilofophie für die Auffafjungsgabe des

ünglings ein wenig zu verwidelt fein. Er jchüttelte ungläubig den Kopf, dann fagte er mit dem Ausdruck dumpf⸗ abgöttiſcher Verehrung: „Caſpar liebt die Sonne.“

[uf dem Heimmeg war er ganz fhumm; auch die übrigen, ſelbſt die immer wohlgelaunte Anna, waren in einer wunderlich gedrüdten Stimmung, als wären fie nie zuvor durch einen fpätfommer- lichen Abend gemwandert, oder als fühlten fie den Auftritt voraus, der ihnen das Beifammenfein dieſer Stunden unvergeplich machen follte.

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Kurz vor dem Stadttor nämlich blieb Anna ftehen und deutete mit einem Zuruf an alle in da3 herrlich geftiente Firmament. Auch Cafpar blickte hinauf, er erftaunte maßlos. Kleine, jähe, wirre Laute eines Teidenfchaftlichen Entzückens Tamen aus feinem Mund. „Sterne, Sterne," ftammelte ex, das gehörte Wort von Annas Lippen taubend. Er preßte die Hände gegen die Bruft, und ein umbefchreibtich feliges Lächeln verfchönte feine Züge. Er konnte fich nicht fattfehen; immer wieder fehrte er zum Anfchauen des Glanzes zurüd, und aus feinen feufzerartig abgebrochenen Worten war vernehmbar, daß er die Sterngruppen und die ausgezeichnet hellen Sterne bemerkte. Er fragte mit einem Ton des Außerfichjeins, mer

ie vielen ſchönen Lichter da hinaufbringe, an- zünde und wieder verlöfche.

Daumer antwortete ihm, daß fie beftändig leuchteten, jedoch nicht immer gefehen würben; da fragte er, wer fie zuerſt hinaufgeſetzt, daß fie immerfort brennten.

Ploͤtzlich fiel er in tiefe Grübelei. Ex blieb eine Weile mit gejenktem Kopf ftehen und fah und hörte nichts. ALS er wieder zu fich kam, hatte fich feine Freude in Schwermut verwandelt, ex ließ fich auf den Raſen nieder und brad) in Tanges, nicht zu ftillendes Weinen aus.

Es war weit über neun Uhr, als fie endlich nad} —* gelangten. Während Caſpar mit den Frauen

jinaufging, nahm Herr von Tucher am Garten» tor von Daumer Abſchied. „Was mag in ihm vor⸗

egangen fein?“ meinteer. Und da Daumer ſchwieg, m r er finnend fort: „Wielleicht fpürt er ſchon die Unmiederbringlicheit der Jahre; vielleicht zeigt ihm die Vergangenheit ſchon ihre wahre Geftalt.“ 58

„Ohne Bweifel war es ihm ein Schmerz, das beglängte Gewölbe zu ſchauen,“ antwortete Daumer; „nie zuvor hat er den Blick zum nächtlichen Himmel erheben können. Ihm zeigt die Natur kein freund⸗ liches Antlitz, und von ihrer fogenannten Güte hat er wenig erfahren.“

Eine Beitlang ſchwiegen fie, dann fagte Daumer: „Sch habe für morgen nachmittag einige Freunde und Bekannte zu mir gebeten. Es handelt fich um eine Reihe von böchft intereffanten Erfahrungen und Beobahtungen, die ich an Caſpar gemacht habe. Ich würde mich freuen, wenn Sie babei fein wollten.”

Herr von Tucher verfprach zu kommen. Zu feiner Verwunderung ward er, als er am andern Tag etwas verjpätet erfchien, in eine vollſtändig verfinfterte Kammer geführt. Die Produktion hatte ſchon begonnen. Von irgendeinem Winkel her vernahm man Cafpars eintönige Stimme leſend. „Es ift eine Seite aus der Bibel, die der Herr Stadtbibliothefar aufgefchlagen hat," flüfterte Daumer Herrn von Tucher zu. Die Dunkelheit war 3 groß, daß die Zuhörer einander nicht gewahren onnten, trotzdem las Caſpar unbeirrt, als ob ſeine Augen ſelbſt eine Quelle des Lichtes ſeien.

Man war erſtaunt. Man wurde es noch mehr, als Caſpar in der gleichen Dunkelheit die Farben berfiichener Gegenftände unterfcheiden Tonnte, die bald der eine, bald der andre von den Anmefen- den um jeden Verdacht einer Verabredung oder Vorbereitung auszufchließen ihm auf eine Entfernung von fünf oder ſechs Schritten vorhielt.

Ich will jeßt die Weinprobe machen," jagte Daumer und öffnete die Läden. Gaipat preßte die Hände vor die Augen und brauchte lange Zeit,

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bis er das Licht ertragen konnte. Jemand brachte Wein im umbunchfi en Glas, und Caſpar roch e3 nicht nur fogleich, jondern e3 zeigten ſich auch die Merkmale einer leichten Trunfenheit: feine Blicke flimmerten, A Mund verzog fi ſchief. Konnte das mit rechten Dingen Zugehen War folche Empfindlichkeit Denkbar oder möglih? Man wiederholte den Verſuch zweimal, dreimal, und fiehe, die Wirkung verftärkte fi. Beim vierten- mal wurde draußen Wafler ind Glas gegofien, und nun fagte Gafpat, er fpüre nichts.

Doc viel wunderbarer war zu beobachten, wie er ſich gegen Metalle verhielt. Ein Herr ver⸗ ftedte, während Caſpar das Zimmer verlaffen hatte, ein Stück Kupferblech. Caſpar ward herein- gerufen, und alle verfolgten mit Spannung, wie er zu dem Verſteck förmlich hingezogen wurde ; es jah aus, wie wenn ein Hund ein Stück Fit erſchnuppert. Er fand e8, man Hatfchte Beifall, man achtete nicht darauf, daß er blaß war und mit kühlem Schweiß bededt. Nur Here von Tucher bemerkte es und mißbilligte das Treiben.

Es hatte natürlich nicht bei dieſem einen Mal fein Bewenden. Die Sache redete fich fchnell herum, und das Haus wurde zum Mufeum. Alles, was Namen und Anfehen in der Stadt hatte, lief herzu, und Cafpar mußte immer bereit fein, immer tun, was man von ihm haben wollte. Wenn er müde war, durfte er jchlafen, aber wenn ex ſchlief, unterfuchten fie die Feſtigkeit feines Schlafes, und Daumer ſchwamm in Glüd, wenn der Herr Medizinalrat Rehbein behauptete, eine derartige Verfteinerung des Schlummer8 habe er nie für möglich gehalten.

Selbſt gewiſffe Erankhafte Zuftände feines 60

Körper3 gaben Daumer Anlaß zur Vorführun— oder mwenigftend zum Studium. Er fuchte duch hypnotiſche Berührungen und mesmeriſtiſche Strei« Hungen Einfluß zu nehmen, denn er war ein glühender Verfechter jener damals nagelneuen Theo⸗ rien, die mit der Seele des Mengen hantierten wie ein Alchimiſt mit dem wohlbekannten Inhalt einer Retorie. Oder wenn auch dies nichts half, wandte er Heilmittel von einer befonderen Kategorie an, erprobte die Wirkungen von Arnifa und Ako— nitum und Nur vomica; immer befliffen, immer erfüllt von einer Miffton, immer mit dem Notizen⸗ zettel in der Hand, immer in rührender Obforge. Was für feriöfe Spiele! Welch ein Eifer, zu bemeifen, zu deuten, das Sonnenllare dunkel zu machen, das Einfache zu verwirten! Das Pu- blitum gab fich rebliche Mühe im Glauben, nad) allen Windrichtungen wurden die anfcheinenden Zaubereien auspoſaunt nicht zum Vorteil unfer3 Caſpar, keineswegs zu feinem Heil, wie fich bald berausftellen follte —, aber leider gibt es überall verwerfliche Kreaturen, die. noch zweifeln würden und wenn man ihnen die Skepſis überm Eſſen⸗ feuer ausräuchern würde. Vielleicht wollten fie jedesmal etwas Neues vorgefegt bekommen, ſchraub⸗ ten ihre Erwartungen zu hoch und fanden, daß der Wundermann nur in feinen eingelernten Paradeftückhen exzellierte, in denen er allerdings, jo drüdten fie ſich aus, etwas von der Fertigkeit eines dreſſierten Aeffchens an den Tag legte. Mit einem Wort, da Programm wurde ein wenig einförmig, höchſtens Neulinge Tonnten ihm noch Geſchmack abgewinnen. Die andern erblicten in Daumer etwas wie einen Zirkusdireltor oder einen Literaten, der feine Freunde mit der beftändig

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wiederholten Borlefung eines mittelmäßigen Poems langweilt, während über Gafpar ſich zu amüfteren fie immerhin noch genug Gelegenheit fanden.

Oder war e3 nicht amüjant, wenn er zum Beiſpiel einen hohen Offizier tadelte, daß fein Rockkragen beftäubt war, wenn er mit dem Finger das Haupt eines ehrwürdigen Kammerdireltors berührte und mitleidig-verwundert fagte: „Weiße

aare, weiße Haare?" Wenn er während der

inweſenheit einer vornehmen Standesperfon nur darauf achtete, wie diefe den Stock zwifchen den Fingern baumeln ließ, und es auch fo machen wollte, wenn er feinen Efel gegen den ſchwarzen Bart des Magiftratsrats Behold äußerte ober fich weigerte, einer Dame die Hand zu füfjen, indem ex jagte, man müſſe ja nicht hineinbeißen ?

Durch ſolche Heine Zwiſchenfälle hielten fie fi für belohnt. Wenn man lachen konnte, war alles gut. Hingegen Daumer ärgerte ſich dar- über und fuchte ihm die Pflichten der Höflichkeit Segreitich zu maden. „Du vergißt ftet3, die Anlömmlinge zu begrüßen,“ fagte Daumer. In der Tat blickte Cafpar, in ein Buch oder Spiel verſenkt, erft empor, wenn man ihn anrief, bis⸗ weilen, wenn er ein befanntes.oder liebgewordenes Geſicht ſah, mit einem berüdend fchelmifchen Lächeln, und fing dann ohne Einleitung an zu fragen und zu plaudern. Mochten noch % wich. tige Perſonen gegegen fein, er verließ nie feinen Platz, ohne alle Dinge, mit denen er beichäftigt geweſen, forgfältig in Ordnung zu bringen un mit einem kleinen Befen den Tiſch von Papier- ſchnitzeln oder Brotkrumen zu reinigen. Man mußte warten, bis er fertig war.

Er war ohne Schüchternheit. Alle Menſchen 62

ſchienen ihm gut, faſt alle hielt er für ſchön. Er fand es jelbjtoerftändlih, wenn ſich irgendein Herr vor ihn hinftellte und ihm aus einem bereit- gehaltenen Zettel endlos viele Namen oder endlos viele Zahlen vorlas. Sein Gedächtnis ließ ihn nicht im Stich, er konnte in der gleichen Reihen- folge Namen für Namen, Zahl Ar Bahl, und waren e3 hundert, wiederholen. Am Erſtaunen der Leute merkte er wohl, daß er Staunenswertes geleiftet, aber kein Schimmer von Eitelfeit zog über fein Geficht, nur ein wenig traurig wurde es, wenn immer dasfelbe kam, wenn fie nie zu» frieden jchienen.

Er konnte es nicht verftehen, daß ihnen mwunberbar war, was ihm jo natürlich war. Aber was ihm wunderbar war, darum kümmerte fich teiner. Ex vermochte es Sc u jagen, e8 wur zelte im verborgenften Gel in Es war eine kaum gejpürte Frage, am Morgen, beim Er— wachen etwa, ein hajtiges, ftummes, verzmeifeltes Suden, wofür es feine Bezeichnung gab. Es lag weit zurüd; es war mit ihm verknüpft und ex befaß es doch nicht. Es war etwas mit ihm vorgegangen, irgendwo, irgendwann, und er mußt es nicht. Er taftete an ſich herum, er fand fich jelber kaum. fagte ‚Safpar‘ zu fi jelbft, aber das dort in der Ferne hörte nicht auf diefen Namen, So band fich die Erwartung an ein Neußeres; wenn die Uhr im andern Bimmer tönte, welch fonderbare Erwartung von Schlag zu Schlag! Als ob eine Mauer Pr aufs löfen, zu Luft vergehen müßte. Die eben ver- gangene Nacht war voll ungreifbarer Dorgänge gemefen, Hatte es am Fenſter gepocht?. Nein,

ar jemand dageweſen, hatte gejprochen, ge— 63

rufen, gedroht? Nein. Es war etwas gejchehen, doch Cafpar hatte nichts damit zu tun.

Unergründliche Sorge. Man mußte lernen, vielleicht wurde es dann Far. Lernen, wie alles beftand, lernen, was in der Nacht verborgen war, wenn man nicht lebte und dennoch ſpürte, das Unbelannte lernen, erhafchen, was fo fern, wiſſen, was fo dunkel war, die Menjchen fragen lernen. Sein Eifer bei den Büchern murde glühend. Er begann Ungebuld zu zeigen, wenn er von den fremden Beſuchern fich immer wieder empfindlich geftört fand, denn jetzt kamen bie Leute ſchon von auswärts, weil allentyalben im Land über Caſpar ‚Saufer geredet und geörieben wurde. Auch Daumer Tonnte ſich der Anfprüche, die an ihn geftellt wurden, faum erwehren. Er war oft mißgelaunt und matt, und e8 gab Stunden, wo ex bereute, Caſpar der Welt preisgegeben zu haben.

Es gab Stunden, wo er, allein mit dem Jüngling, fich feiner befferen Würde erinnerte und diejem jeltiam Leibeigenen, Seeleneigenen ſich tiefer anſchloß, als der anfängliche Zweck gewollt. Es gab eine Stunde, mo Daumer_eines paradieſiſchen Bildes gewahr wurde: Cajpar im Garten, auf der Bank fiend, ein Bud in der Hand; Schwalben ziehen ihre Zickzackreife um ihn, Tauben picken vor feinen Füßen, ein Schmetterling ruht auf feiner Schulter, die Haus- Tage fchnurrt an feinem Arm. In ihm ift bie Menſchheit frei von Sünde, fagte fih Daumer bei diefem Anblid, und was wäre fonft zu leiften, als einen ſolchen Zuftand zu erhalten? Was wäre hier noch zu enträtjeln, was zu verkünden?

Eines andern Tages erhob ſich im Nachbar- garten großer Lärm. Ein bifjiger Hund hatte 64

feine Kette zerriffen und rafte, Schaum vor dem Maul, in wilden Sprüngen umher, überrannte ein Kind, fchlug einem Knecht, der ihn. verfolgte, die Zähne ins Fleifh und ftürzte gm en Zaun des Daumerfchen Gartens. Cine Latte krachte unter dem Anprall, das Tier fchlüpfte berüber und richtete die blutunterlaufenen Augen wild auf die kleine Geſellſchaft, die unter . Linde faß: Daumer jelbit, deſfen Mutter, der Bürgermeifter Binder und Cafpar. Alle ftanden ängftlich auf, Binder erhob den Stod, das Tier madhte einige Sätze, blieb aber auf einmal ftehen, fchnupperte, trabte auf Caſpar zu, ber bleich und ftille ſaß, wedelte mit dem Schweif und leckte die herabhängende Hand des Jünglings. Mit einem lodernden ungewiſſen Blick ſah e3 ihn an, voll Ergebenheit faft, eine Zärtlichkeit erwartend, und e3 war, als erbitte e8 Verzeihung. Denjelben ungemwifjen und ergebenen Ausdrud hatte auch Gabber im Auge; ihn jammerte der Hund, er mußte nicht warum.

Man erzählte fih, daß Daumer nach diefem Auftritt gemeint habe.

Zwei Tage fpäter, an einem regnerifchen DOftoberabend, war es, daß ſich Daumer mit feiner Mutter und Cafpar im Wohnzimmer be- fand. Anna war zu einer Unterhaltung in bie Reunion gegangen, die alte Dame ſaß jtridend im Lehnſtuhl am offenen Fenſter, denn troß der vorgerückten Jahreszeit war die Luft warm und voll des feuchten Geruch verwelfender Pflanzen. Da wurde an die Türe geflopft, und der Glafer- meifter brachte einen großen Wandfpiegel, den die Magd in der vergangenen Woche zerbrochen hatte. Frau Daumer hieß ihn den Spiegel gegen

BWaffermann, Gafpar Haufer 5 65

die Mauer lehnen, das tat der Mann und ent- fernte fich wieder.

Kaum, war er draußen, fo fragte Daumer verwundert, warum fie den Spiegel nicht gleich an jeinen Blah habe hängen lafjen, man hätte dann doch bie Arbeit für morgen erfpart. Die alte Dame erwiderte mit verlegenem Lächeln, am Abend dürfe man feinen Spiegel aufhängen, das bedeute Unheil. Daumer bejaß nicht genug Su mor für derlei halbernfte Grillen; er machte Mutter Vorwürfe wegen ihres Aberglaubeng, fie widerſprach, und da geriet er in Zorn, das heißt er fprac mit feiner janfteften Stimme zwiſchen die geiölofienen Zähne hindurch.

par, der e8 nicht fehen konnte, wenn Daumers Geficht unfreundlich wurde, Iegte den Arm um deſſen Schulter und fuchte ihn mit Eindliher Schmeichelei zu begütigen. Daumer ſchlug die Auge en nieder, ſchwieg eine Weile und jagte dann, völlig beichämt: „Geh hin zur Mutter, Caſpar, und ſag ihr, daß ich im Unrecht bin,“

Caſpar nicte; ohne recht zu überlegen, trat er

vor sie Frau hin und fagte: se bin im Unrecht.”

Da lachte Daumer. „Nicht du, Cafpar! Ich!" tief er und deutete auf jeine Bruft. enn Caſpar im Unrecht iſt, darf er ſagen: ich —— e zu die: du, aber du fagft doch zu dir: ich. Verſtanden?“

Caſpars Augen wurden groß und nachdenf- lich, Das Wörthen Ich durchrann ihn plögfich ein fremdartig ſchmeckender Trank. Es nahten

ch ihm viele Hunderte von Geftalten, e3 nahte

hd eine ganze Stadt voll Menjchen, Männer,

tauen und Kinder, es nahten fi Fir die Tiere auf dem Boden, die Vögel in der die Blumen, die Bolten, die Steme, ja die Sonne jelbft, und 66

alle miteinander fagten zu ihm: Du. Er aber antwortete mit zaghafter Stimme: Ich.

Er faßte fich mit flachen Händen an die Bruft und ließ die Hände heruntergleiten bis über die Hüften: fein Leib, eine Wand zwifchen Innen und Außen, eine Mauer zwifchen Ich und Dul

In demfelben Augenblick tauchte aus dem Spies & dem gegenüber er ſtand, fein eignes Bild empor.

i, dachte er ein wenig beftürzt, wer ift das?

Natürlich war er ſchon oft an Spiegeln vor- beigegangen, aber fein von ben’ vielen Dingen der vielgefichtigen Welt geblendeter Blick war mitvorbeigegangen, ohne zu meilen, ohne zu denken, und er hatte fi) daran gewöhnt wie an den Schatten auf der Erde. Ein Ungefähr, das ihn nicht hemmte, konnte nicht zum Erlebnis werden.

Jeizt war fein Auge reif für diefe Viſion. Er ſah hin. „Caſpar,“ Tifpelte er. Das Drinnen antwortete: Ich. Da waren Cafpars Mund und Wangen und die braunen Haare, die über Stirn und Ohren gefräufelt waren. Nähertretend, ſchaute er in fpielerifchezweifelnder Neugier hinter den Spiegel gegen die Mauer; dort war nichts, Dann jtellte er fich wieder davor, und nun ſchien ihm, al8 ob hinter feinem Bild im Spiegel fich das Licht zerteile und als ob ein langer, Tanger Pfad nad) rückwärts lief, und dort, in der weiten Ferne ftand noch ein Gafpar, noch ein Ich, das hatte zugeſchloſſene Augen und fah aus, als wiſſe es etwas, mas der Caſpar hier im Zimmer nicht wußte.

Daumer, gewohnt, daS Betragen des Jüng- lings zu beobachten, lauerte gejpannt herüber. Da ein feltfames Geräuſch; es ſurrte etwas in der Luft und fiel neben dem Tiſch zu Boden. Es war ein Stüd Papier, das von draußen

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bereingeflogen war. Frau Daumer hob e8 auf; es mar wie ein Brief zufammengefaltet. Un: ſchlüſſig drehte fie e8 zwilchen den Fingern und reichte es dem Sohn.

Der riß es auf und las folgende, mit großer Schrift geichriebene Worte: „ES wird gewarnt das Haus und wird gewarnt der Herr und wird gewarnt der Fremde." .

Frau Daumer hatte ſich erhoben und las mit; ein Fröfteln lief über ihre Schultern. Daumer jedoch, indes er fchweigend auf den Zettel ftarrte, hatte das Gefühl, als fei vor feinen Füßen ein Schwert, die Spie nach oben, aus der Erde gemachien.

Cafpar hatte von dem Vorgang nicht das mindefte wahrgenommen. Er verließ den Platz vor dem Spiegel und ging wie geiſtesabweſend an ben beiden vorüber zum Fenfter. Dort ftand er befinnend, beugte fich bejinnend vor, immer weiter, völlig felbftvergeffen, ganz vom Willen des Suchens erfült, bi8 die Bruft auf dem lag und ſeine Stirn in die Nacht hinaus tauchte.

Caſpar träumt

Am andern Morgen übergab Daumer das unheimliche Papier der Polizeibehörde. Es wur: den Nachforſchungen angeftellt, die aber natürlich

uchtlos blieben. Der Vorfall wurde auch amt» ich an das Appellationsgericht gemeldet, und nach einiger Zeit fchrieb der Regierungsrat Her- mann, der mit dem Baron Tucher befreundet war, an biefen einen Privatbrief, in welchem er unter anderm die Meinung vertrat, man folle 68

nicht —8 den Hauſer ſcharf zu bewachen und auszuforſchen, denn es ſei wohl möglich, daß er durch eine tiefeingepflanzte Furcht gezwungen ſei, manches ihm befannte Verhältnis zu ver- ſchweigen.

Herr von Tucher ſuchte Daumer auf und las dieſe Stelle vor. Daumer konnte ein ſpöt⸗

e8 Lächeln nicht unterdrüdten. bin mir Bir I bewußt, daß ein Myſterium, von Menſchen hand gewoben, hinter allem dem liegt, was mit Caſpar zuſammenhängt,“ ſagte er mit leiſem

idermillen, „ganz abgejehen davon, daß mir audı der Präfident a] unlängft darüber ſchrieben hat, und zwar in höchft eigentümlichen die auf etwas Beſonderes ſchließen laſſen. Aber was heißt das: ihn ausforfchen, ihn bewadhen? Hat man darin nicht ſchon 1% Aeußerfte verjucht? Aerztlich E Boriht und menſch⸗ liches Gefühl befehlen mi jet ohnehin ir äußerfte Behutfamkeit gegen ihn. wage es ja kaum, ihn, —F der einfachen Koſt zu ent⸗ wöhnen und i u ernähren, wie es durch die veränderte —F lage bedingt iſt.“

„Warum wagen Sie das nis fragte Herr von Tucher ziemlich erftaunt. „Wir find Doch übereingelommen, ihn endlich zum Genuß von Fleifh oder wenigftens von andern gelochten Speifen zu bringen?“

Daumer zögerte mit der Antwort. „Milch reis und warme Suppe verträgt er ſchon ganz gut," fagte er dann, „aber zur Fleiſchkoſt will ich ihm nicht ermuntern.“

„Warum nicht?“

Ich fürchte Kräfte zu zerftören, die vielleicht gerade an die Reinheit des Blutes gebunden find.*

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„Kräfte zeritören? Was für Kräfte vermöchten ihn und uns für die Gefundheit des Leibes und die Friſche feines Gemuts zu entjchädigen? Wäre es nicht vielmehr ratfam, ihn von der Richtung des Außerordentlichen abzulenken, die ihm früher oder fpäter Berhängnisnoll werben muß? Iſt e8 gut, einen andern Maßftab an ihn zu legen als e3 einer natürlichen Erziehung entjpricht? Was wollen Sie überhaupt, was haben Sie mit ihm vor? Caſpar ift ein Kind, das dürfen wir nicht vergeffen." ,

„Er ift ein Mirakel,“ entgegnete Daumer baftig und ergeiffen; dann, in einem halb be- (ehrenden, halb bitteren Ton, der für einen Welt- mann wie Tucher verlegend klingen mußte, fuhr er fort: „Leider leben wir in einer Zeit, in der man mit jedem Hinweis uf Unerforfchliches den plumpen Alltagsverftand beleidigt. Sonft müßte jeder an diefem Menfchen fehen und fpüren, daß wir rings von geheimnisvollen Mächten der Natur umgeben find, in denen unfer ganzes Wefen ruht.”

‚Here von Tucher ſchwieg eine Zeitlang; fein Geficht Hatte den Ausdruck abmehrenden Stolzes, als er ſagte: „Es ift befier, eine Wirklichkeit völlig zu ergreifen und ihr völlig genugzutun, als mit fruchtlofem Enthufiasmus im Nebel des Ueberfinnlichen zu irren.”

„Rechtfertigt mich denn die Wirklichkeit noch nicht, auf die ich mich berufen Tann?" verſetzte Daumer, defien Stimme leifer und ſchmeichelnder wurde, je mehr das Geſpräch ihn erhitzte. „Muß ih Sie an Einzelheiten erinnern? Sind nicht Luft, Erde und Wafjer für diefen Menfchen noch von Dämonen bevölkert, mit denen er in leben⸗ diger Beziehung fteht?"

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Baron Tuchers Gefiht wurde düfter. Ich fehe in allem dem nur die Folgen einer verderb⸗ lichen Ueberreiztheit,“ ſagte er kurz und fcharf. „Das find die Quellen nicht, aus denen Leben

eboren wird, in ſolchen Formen Tann fich feine

‚auchbarfeit bewähren!"

Daumer duckte den Kopf, und in feinen Augen lag Ungebuld und Verachtung, doch ant⸗ wortete er im Ton nachgiebiger Freundlichkeit: „Wer weiß, Baron. Die Quellen de3 Lebens find unergründlich. Meine Hoffnungen wagen fi) weit hinauf und ich erwarte Dinge von unferm

Caſpar, die Ihr Urteil ficherlich verändern werden. Aus diefem Stoff werden Genien gemacht."

„Dan tut einem Menfchen ſtets unrecht, wenn man Erwartungen an jeine Zukunft knüpft,“ fagte Herr von Tucher mit trübem Lächeln.

„Mag fein, mag fein, ich aber halte mid) an die Zukunft. Mich Tümmert nicht, was hinter ihm Tiegt, und was id) von feiner Vergangenheit weiß, ſoll mie nur dienen, ihn davon zu löfen. Das ift ja das hoffnungsvoll Wunderbare: daß man hier einmal ein Wefen ohne Vergangenheit bat, die ungebundene, unverpflichtete Kreatur vom erften Schöpfungstag, ganz Seele, ganz Inftinkt, ausgerüftet mit herrlichen Möglichkeiten, noch nicht verführt von der Schlange der Erkenntnis, ein Beuge für das Walten der geheimnisvollen Kräfte, deren Erforſchung die Aufgabe kommender Jahrhunderte ift. Mag fein, daß ich mic täufche, dann aber würde ich mich in der Menjch- heit getäufcht haben und meine Ideale für Lügen erflären milſſen.“

„Der Himmel bewahre Sie davor," ant- wortete Herr von Tucher und nahm eilig Abfchied.

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Noch am felben Tag wurde Daumer durch feine Mutter aufmerkfam gemacht, daß Caſpars a nicht mehr fo ruhig fei wie fonft. Als Caſpar am andern Morgen ziemlich unerfrifcht zum Frühftüd kam, fragte ihn Daumer, ob er ſchlecht gejchlafen habe.

Schledt geihlafen nicht," erwiderte Gafpar, „aber ich bin einmal aufgewacht und da war mir angft."

„Wovor hatteft du denn Angſt?“ forjchte Daumer.

„Bor dem Finſtern,“ entgegnete Cafpar, und bedächtig fügte er hinzu: „In Nacht fiht das Finftere auf der Lampe und brüllt.“

Den nãchſten Morgen kam er halbangefleidet aus feinem Schlafgemah in das Zimmer Dau- mers und erzählte beftürzt, es fei ein Mann bei ihm geweſen. Zuerſt erſchrak Daumer, dann wurde ihm klar, daß Caſpar geträumt habe. Er fragte, was für ein Mann es denn geweſen fei, und Cafpar antwortete, e3 fei ein grober höner Mann gemefen mit einem weißen Mantel. Ob der Mann mit ihm gefprochen? Caſpar ver- neinte; gefprochen habe er nicht, er habe einen Kranz getragen, den babe er auf den Tiſch ge legt, und als Caſpar danach gegriffen, habe der Kranz zu leuchten angefangen.

„Du haft geträumt," ſagte Daumer.

Cafpar wollte wiſſen, was daß heiße. „Wenn auch dein Körper ruht," erklärte Daumer, „jo wacht doch deine Seele, und was du am Tag erlebt ober empfunden, daraus macht fie im Schlummer ein Bild. Diejes Bild nennt man Traum."

Nun verlangte Cafpar zu wiſſen, mas das fei, die Seele. Daumer fagte: „Die Seele gibt

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deinem Körper das Leben. Leib und Seele find einander vermifcht. Jedes von beiden ift, was es ift, aber fie find fo untrennbar gemifcht wie affer und Wein, wenn man fie zufammengießt." ‚Wie Wafler und Wein?" fragte €} ar mißbilligend. „Damit verderbt man aber Das Waffer.” jaumer lachte und meinte, das fei nur ein Gleichnis geweſen. In der Folge nahm er wahr, daß e3 mit Gafpard Träumen eigen beichaffen war. Sonft find Träume an ein Zufällige ge Inüpft, fagte ex fich, fpielen gefeglos mit Ahnung, Wunſch und Furt, bei ihm ähneln fie dem erumtaften eines Menfchen, der fich im finfteren ald verirrt hat und den Weg fucht; ba ift etwas nicht in Ordnung, ich muß der Sache auf den Grund gehen.

Das aufelene war, daß gemifje Bilder ſich allmählich) zu einem einzigen Traum ſam⸗ melten, der von Nacht zu Nacht vollftändiger und Frremgale wurde und mit immer größerer Deutlichkeit regelmäßig wiederkehrte. Im Anfang konnte Gafpar nur abgeben davon erzählen, fo ftüchaft wie die Bilder fich ihm geigten, dann eine3 Tages, wie der Maler den Vorhang von einem vollendeten Gemälde zieht, vermochte er feinem Pflegeheren eine ausführliche Beſchreibung zu geben.

Er Hatte über feine Gewohnheit Lange ge ſchlafen, deshalb ging Daumer in fein Zimmer, und faum mar er and Bett getreten, fo ſchlug Caſpar die Augen auf. Sein Geſicht glühte, der Blick ruhte —* im Innern, war aber voll und käftig und der Mund war zu fprechen ungeduldig. Mit langſamer, ergriffener Stimme erzählte er.

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Er ift in einem großen Haus gemefen und bat gejchlafen. Eine Frau ift gefommen und hat ihn aufgewedt. Er bemerkt, daß das Bett fo ein ift, daß er nicht begreift, wie er darin Platz gehabt. Die Frau Hleidet ihn an und führt ihn in einen Saal, mo ringsum Spiegel mit goldenem Rande hängen. Hinter gläfernen Wänden bligen Silberjchüffeln und auf einem weißen Tiſch ftehen feine Eleine, zierlich bemalte BVorzellantäßchen. Er will bleiben und fchauen, die Kran zieht ihn weiter. Da ift ein Saal, wo viele Bücher find, und von der Mitte der ges bogenen Dede hängt ein ungeheurer Kronleuchter herab. Cafpar will die Bücher betrachten, da verlöfchen langfam die Flammen de3 Leuchters eine nad der andern und die Frau zieht ihn weiter. Sie führt ihn durch einen langen Flur und eine gewaltige Treppe hinab, fie fchreiten im Afnnern de3 Haufes den Wandelgang entlang. Er fieht Bilder an den Wänden, Männer im Helm und Frauen mit goldenem Schmud. Er ſchaut durch die Mauerbogen der Halle in den er, dort plätfchert ein Springbrunnen; die

äule des Waſſers ift unten lbermeiß und oben von der Sonne rot. Sie kommen zu einer zweiten Treppe, deren Stufen wie goldene Wolfen aufwärts fteigen. Es fteht ein eiferner Mann daneben, er hat ein Schwert in der Rechten, doch fein Geficht ift ſchwarz, nein, er hat überhaupt fein Geſicht. Cajpar fürchtet fich vor ihm, will nicht vorbeigehen, da beugt fich die Frau und flüftert ihm etiwa8 ins Ohr. Er geht vorbei, er geht zu einer ungebeusen Tür und die Frau pocht an. Es wird nicht aufgemacht. Sie ruft und niemand hört. Sie will Öffnen, die Tür iſt 74

zugeſchloſſen. Es fcheint Caſpar, daß fich etwas ® —* hinter der Tür ereignet, er ſelbſt beginnt zu rufen, doch in dieſem enblick erwacht er.

Seltfam, dachte Daumer, da find Dinge, bie ex nie zuvor gejehen haben kann, wie den gerüfteten Mann ohne Geficht. Seltfam! Und fein Worte: fuchen, feine Hilflofen Umfchreibungen bei ſolcher Klarheit des Geſchauten. Seltfam.

„Wer war die Frau?" fragte Cafpar.

„E3 war eine Traumfrau," entgegnete Daus mer heſchwichtigend.

„Und die Bücher und der Springbrunnen und die Tür?" drängte Caſpar. „Waren's Traum bücher, war's eine Traumtür? Warum ift fie nicht aufgemacht worden, die Traumtür ?"

Daumer jeufzte und vergaß zu antworten. Was befam da Gewalt über feinen Caſpar, fein Seelenpräparat? Sehr an Welt und Stoff ge bunden war diefer Traum.

Caſpar Heidete fih langſam an. Plötzlich erhob er den Kopf und fragte, ob alle Menjchen eine Mutter hätten? Und als Daumer bejahte, ob alle Menjchen einen Vater hätten. Auch dies mußte bejaht werden.

„Wo ift dein Vater?“ fragte Cafpar.

„Geftorben,“ antwortete Daumer.

Geſtorben?“ flüfterte Caſpar nad. Ein Hauch des Schredens lief über feine Sipr. Er grübelte. Dann begann er wieder: „Aber mo it mein Vater?“

Daumer ſchwieg.

„Iſt e3 der, bei dem ich gewejen? Der Du?" drängte Cafpar.

„Ich weiß es nicht,“ antwortete Daumer und fühlte fich ungefchiett und ohne Weberlegenheit.

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„Warum nicht? Du weißt doch alles? Und hab’ ich auch eine Mutter?"

„Sicherlich.“

„Wo ift fie denn? Warum kommt fie nicht?"

„Vielleicht ift fie gleichfalls geftorben.“

„So? Können denn die Mütter auch ſterben?“

„Ach, Caſpar!“ rief Daumer ſchmerzlich.

„Geftorben ift meine Mutter nicht,” fagte Caſpar mit wunderlicher Entſchiedenheit. Plöß- lich flammte e3 über fein Geficht und er fagte bewegt: „Vielleicht war meine Mutter hinter der Tür?"

„Hinter welcher Tür, Caſpar?“

„Dort! im Traum...”

„Im Traum? Das ift doch nichts Wirk: liches," belehrte Daumer zaghaft.

„Aber du Haft doc gejagt, die Seele ift wirklich und macht den Traum —? Ja, fie war hinter der Tür, ich weiß e8; das nächte Mal will ich fie aufmachen.“

Daumer hoffte, das Traumweſen wurde fich verlieren, doch dem war nicht jo. Dieſer eine Traum, Caſpar nannte ihn den Traum vom großen Haus, wuchs immer weiter, umſchlang und krönte ſich mit allerlei Blüten- und Ranken⸗ werk gleich einer zauberhaften Pflanze. Immer wieber ſchritt Caſpar einen Weg entlang und immer wieder endete der Weg vor der hohen Türe, die nicht geöffnet wurde. Cinmal zitterte die Erde von Tritten, die innen waren, die Türe ſchien fih zu baufchen wie ein Gewand, durch einen Spalt über der Schwelle brach Flammen- geloder, da erwachte er, und die nicht zu ver- gefenbe Traumnot ſchlich durch die Stunden des

ages mit. 76

Die Geftalten wechfelten. Manchmal kam ftatt der Frau ein Mann und führte ihn duch die Bogenhalle. Und wie fie die Treppe binaufs gehen wollten, kam ein andrer Mann und reichte ihm mit ftrengem Bli etwas Gleißendes, das lang und ſchmal war und das, als Caſpar es fafjen wollte, in feiner Hand zerfloß wie Sonnen- ſtrahlen. Er trat nahe an die Geftalt heran, aud fie ward zu Luft, doch ſprach fie lauiſchal⸗ Iend ein Wort, welches Caſpar nicht zu deuten verftand.

Daran hingen fich wieder befondere kleine Träume, Träume von unbekannten Worten, die er im Wachen nie gehört umd deren er, wenn der Traum vorüber war, vergebens habhaft zu werden fuchte. Sie hatten meift einen janften Klang, bezogen fich aber, jo fühlte er, nie auf ihn jelbft, fondern auf das, was hinter der ver- ſchloſſenen Türe vor ſich eing

Traumboten waren es Vögeln des Meeres gleich, die in beſtändiger Wiederkehr Gegenſtände eines halbverſunkenen Schiffes an die ferne Küſte tragen.

In einer Nacht lag Daumer fchlaflos und hörte in Caſpars Zimmer ein dauerndes Geräufch. Er erhob fih, fhlüpfte in den Schlafrod und

ing hinüber. Gafpar jaß im Hemde am Tifch, Date ein Blatt Papier vor fih, einen Bleiftift in der Hand und ſchien gejchrieben zu haben. Ein matter Mondfchein ſchwamm im Zimmer. DVerwundert fragte Daumer, was er treibe. Caſpar richtete den bis zur Trunkenheit vertieften Blick auf ihn und antwortete leife: „Sch war im großen Haus; die Frau hat mich bi zum Springbrunnen im Hof geführt. Sie hat mich zu einem Fenfter

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hinaufſchauen laſſen; droben ift der Mann im Mantel geftanden, ehr ſchön anzufchauen, und bat etwas gejagt. Danach bin ich aufgewacht und hab’3 geſchrieben.“

Daumer machte Licht, nahm das Blatt, las, warf es wieber bin, ergriff beide Hände Caſpars und rief halb bejtürzt, halb erzürnt: „Aber Cafpar, das ift ja ganz unverftändliches Zeug!"

Caſpar ftarrte auf das Papier, buchftabierte murmelnd und fagte: „Im Traum hab’ ich's verſtanden.“

Unter den ſinnloſen Zeichen, die wie aus einer ſelbſterdachten Sprache waren, ſtand am Ende das Wort: Dukatus. Caſpar deutete auf das Wort und flüſterte: „Davon bin ich aufgewacht, weil es jo jchön geflungen hat."

Daumer fand fich verpflichtet, den Bürger- meifter von den Beunruhigungen Caſpars, wie er es nannte, in Kenntnis zu eben. Was er befürchtet Hatte, geſchah. Herr Binder legte der Sache eine große Wichtigkeit bei. „Zunächft ift es geboten, dem Präfidenten Feuerbach einen möglichft ausführlichen Bericht zu geben, denn aus dieſen Träumen können ficherlich ganz bejtimmte Schlüffe gezogen werben,” jagte er. „Dann mache ih Ihnen den Vorfchlag, mit Gafpar einmal in die Burg binaufzugehen."

die Burg? Warum das?“

„&3 ift fo eine Idee von mir. Da er immer von einem Schloffe träumt, wird ihn der Anblick eine wirklichen Schloſſes vielleicht aufrütteln und uns bejtimmtere Anhaltspunkte geben.“

„3a, glauben Sie denn an eine reale Bedeutung diefer Träume?“

„Ganz unbedingt. Ich bin davon überzeugt, 78

daß er bis zu feinem dritten oder vierten Lebens⸗ jahr in_einer derartigen Umgebung gelebt hat und daß mit dem neuen Erwachen zum Leben und zum Gelbftbewußtfein die Erinnerungen an die frühere Eriftenz auf dem Weg der Träume Form und Inhalt gewinnen."

„Eine ir nabeliegende, ſehr nüchterne Er⸗ klärung,“ bemerkte Daumer gallig. „Alfo der Hintergrund diefes Schickſals wäre nichts meiter als eine gewöhnliche Räubergeſchichte.“

„Eine Räubergefchichte? Mir recht, wenn Sie es jo nennen. Ich verftehe nicht, weshalb Sie fi dagegen wehren. Sol der Jüngling aus dem Mond heruntergefallen fein? Wollen Sie irdiſche Verhältniffe für ihn nicht gelten lafjen?“

„D gewiß, gewiß!" Daumer feufzte. Dann fuhr er fort: „Ich fchmeichelte mir mit andern Hoffnungen. Das Grübeln und Verlangen nad rückwärts ift eben das, was ich Cafpar erſparen wollte. Gerade das Freie, Freiſchwebende, Schick⸗ fallofe war es ja, was mich jo ftarf an ihm ergriffen hat. Außerordentliche Umftände haben diefen Menfchen mit Gaben bedacht, wie fein andrer Sterblicher fich ihrer rühmen kann; und das fol nun alles verfümmern, abgelenkt werden in das Gleis von Erlebniſſen, die ja an fi tragiſch genug fein mögen, aber doch nicht? Uns gemeined an IR haben."

„Ich verftehe, Sie wollen den maftifgen Nimbus nicht zerftören," verjegte der Bürger- meifter mit etwas pedantifcher Geringſchätzung. „Aber wir haben größere Pflichten gegen den Mitmenſchen al3 gegen das Unikum Gafpar Haufer. Laſſen Sie ſich das ernftlich gejagt fein, Lieber Profeſſor. Es erſcheinen heutzutage keine Engel

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u und wo Unrecht gefchehen ift, muß Sühne

ein.“

Daumer zudte die Achjeln. „Glauben Sie denn, daß Sie damit etwas zum Heile Caſpars tun?" fragte er mit einem Ton von Fanatismus, der dem Bürgermeifter lächerlich erſchien. „Nur Erdenfchwere und Erdenſchmutz heften Sie ihm an, on jetzt erhebt fi ja ein Gezänke um ihn, daß mir mein Anteil an feiner Sache ver- bittert wird. Es werden böſe Gefchichten zu- tage kommen."

„Das follen fie; wenn fie nur zutage fom-

men," erwiderte Binder lebhaft. „Im übrigen tue jeder, was feines Amtes."

Am nächften Vormittag ftellte fich der Bürger- meifter in Daumers Wohnung ein und fie gingen mit Caſpar zur Burg hinauf. Herr Binder läutete an der Pförtnerwohnung; der Pförtner kam mit einem großen Schlüffelbund und geleitete fie hinüber.

ALS fie vor dem mächtigen zmweiflügeligen Tor ftanden, war es, al ob fich Caſpars Geficht plöglich entjchleiere. Er reckte fih auf, fein Ober leib bog ſich nach vorn und er ftammelte: „So eine Tür, genau fo eine Tür.“

„Was meinft du, Cafpar, was fünoebt dir vor?" fragte der Bürgermeifter Tiebevol

Caſpar antwortete nicht. Mit geſenktem Auge und nachtwandlerifcher Langfamkeit ſchritt er duch die Halle. Die beiden Männer ließen ihn voran-

eben. Immer nad) ein paar Schritten blieb er * und ſann. Seine Erſchütterung wuchs zu⸗ ehends, als er die breite Steintreppe hinaufſtieg. Oben blickte er ſich ſeufzend um; ſein Geſicht war bleich, die Schultern zuckten. Daumer hatte Mit- so

Teid mit ihm und wollte ihn feiner Hingenommenheit entreißen, doch wie er zu fprechen begann, ſah ihn Caſpar mit einem fernweilenden Blid an, Kifpelte: „Dulatus, Dukatus“ und lauſchte dabei, als wolle er dem Wort einen heimlichen Sinn abhorchen. Er gewahrte die lange Reihe der Burggrafen- bildniſſe an den Wänden, er ſchaute durch bie Flucht der offenen Säle, er ftand in der Galerie und fchloß die Augen, und endlich, auf eine leiſe Frage de3 Vürgermeifter8, wandte er fih um und fagte mit erftikter Stimme, es jei ihm fo, als habe er einmal ein ſolches Haus gehabt, und er wiffe nicht, was er davon denken folle, Der Bürgermeifter ſah Daumer ſchweigend an. Nachmittags fuchten fie Heren von Tucher auf und entwarfen in Gemeinſchaft mit ihm den Bericht an den Präfidenten Feuerbach. Das ausführliche Schreiben wurde noch felbigen Tags zur Poſt gegeben. Sonderbarermeife erfolgte Darauf weder ein Beſcheid noch überhaupt ein Zeichen, daß der Präfident das Schriftſtück erhalten habe. Der Brief mußte verloren gegangen oder geftohlen worden fein. Baron Tucher ließ unter ber Sum und auf privatem Weg bei Herrn von uerbach anfragen, und man erfuhr wirklich, daß diefer von nichts wife Unruhe und Beftürzung bemächtigte fich der drei Herren, „Sollte da ein unfichtbarer Arm im Spiel fein wie bei jenem ‚Zettel, den man mir ins Fenſter geworfen date" ‚meinte Daumer ängftlich. Nachforſchungen bei der Poſt hatten kein Ergebnis, und jo ward der Bericht zum zmweitenmal abgefaßt und durch einen ficheren Boten dem Präfidenten perfönlic eingehändigt. Feuerbach erwiderte in feiner kategoriſchen Art, daß er die Sache im Auge behalten wolle

Baffermann, Gafpar Haufer 6 8

und ſich aus naheliegenden Gründen einer fchrift- lichen Meinungsäußerung enthalte. „Ich ent- nehme aus dem Geſundheitsatteſt des Amtsarztes, worin bei einem fonjt befriedigenden Befund von Safpars bleicher Gefichtsfarbe die Rede ift, daß es dem jungen Menjchen an regelmäßiger Be- jung in freier Luft fehlt,“ fchrieb er; „hier ift Abhilfe dringend nötig. Man laſſe ihn reiten. Es ift mir der Stallmeifter von Rumpler dortfelbft empfohlen worden. Haufer ſoll dreimal wöchentlich eine Reitftunde bei ihm nehmen, die Koften fol der Stabtlommiffär auf Rechnung ſetzen.“ Vielleicht waren es die Träume, die Caſpar blaß machten. Fast jede Nacht befand er fich in dem großen Haus. Die gemölbten Hallen waren von filbernem Licht durchflutet. Er ftand vor der geiitefienen Tür und wartete, wartete... dlich eines Nachts, die Dämmernden Räume des großen Haufes dehnten fich ſchweigend und leer, tauchte vom unterften Gang ber eine ſchwe— bende Geſtalt auf. Cafpar dachte zuerſt, es fei der Mann im weißen Mantel; aber als die Ge ftalt näherfam, gemahrte er, daß es eine Frau mar. Weiße Schleier umhüllten fie und flogen bei den Schultern durch den Hauch eines unhör- baren Windes empor. Gafpar blieb wie feft- ewurzelt Ken; fein Herz tat ihm wehe, ala Bitte eine Fauft danach) gegriffen und es gepadtt, denn das Antlitz der Frau zeigte einen folchen Ausdrud des Kummerd, wie er ihn noch an feinem Menjchen bemerkt. Je näher fie kam, je furchtbarer jchnärte fein Herz ſich zufammen; ernſt ſchritt fie vorbei; ihre Lippen nannten feinen Namen, es war nicht der Name Cafpar, und doch wußte er, daß es fein Name war oder daß

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ihm allein der Name galt. Sie hörte nicht auf, denfelben Namen zu nennen, und als fie wieder in weiter Ferne war und die Schleier wie weiße Flügel um ihre Schultern flatterten, hörte er immer noch den Namen; da wußte er, daß die Frau feine Mutter war.

Er wachte auf, in Tränen gebadet; und als Daumer fam, ftürzte er ihm entgegen und rief: „Ich hab’ fie gefehen, ich habe meine Mutter geiehen, fie war es, fie hat mit mic geſprochen!“

Daumer jebte 8 an den Tiih und ftüßte den Kopf in die Hand. „Sieh mal, Caſpar,“ fagte er nach einer Weile, „du darfjt dich folchen Wahngebilden nicht gläubig hingeben. Es be» drüdt mich aufrichtig und Toon lange. Es ift, wie wenn jemand in einem Blumengarten luſt⸗ wandeln darf und, ftatt freudigem Genuß fich zu überlafjen, die Wurzeln ausgräbt und die Erde durchhöhlt. Verfteh mich wohl, Caſpar; ich will nicht, daß du auf das Recht verzichteft, alles zu erfahren, was auf beine Vergangenheit Bezug bat und auf das Verbrechen, das an dir verübt wurde. Aber bebente doch, daß Männer von reicher Erfahrung, wie der Herr Präfident und Here Binder, daft am Werke find. Du, Cafpar, ſollteſt vorwärts ſchauen, dem Lichte leben und nicht der Dunkelheit; im Lichte ruht dein Dafein, dort ift das Gluck. Jeder Menſch von Vernunft Tann, was er will; tu mie die Liebe und wende dich ab von den Träumen. Nicht umfonft heißt es ja: Träume find Schäume.“

Cafpar war beftürzt. Der Gedanke, daß in feinen Träumen keine Wahrheit fein folle, wurde ihm zum erjtenmal entgegengehalten, aber zum erftenmal war die eigne Gemwißheit von einer

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Sade feſter als die Meinung feines Lehrers. Das zu empfinden, bereitete Ihm feine Genug« tuung, fondern Bedauern.

Religion, Homöopathie, Beſuch von allen Seiten

So war e3 Dezember geworden und eines Morgens fiel der erjte nee des verjpäteten Winters,

Caſpar wurde nicht müde, dem lautlofen en der Flocken zuzufchauen; ex hielt fie

ir kleine beflügelte Tierchen, bis er die Hand zum Fenfter hinausftredte und fie auf der warmen Haut zerrannen. Garten und Straße, Dächer und Simfe glißerten, und durch das Flockengewuͤhl kroch Tichter Nebeldampf wie Hauch aus einem atmenden Mund.

„Was fest du dazu, Caſpar?“ rief Frau Daumer. „Erinnerft bu dich, daß du mir nicht glauben wollteft, als ich dir einmal vom Winter erzählte? Siehft du, wie alles weiß tft?"

Caſpar nickte, ohne einen Blick von draußen zu wenden. „Weiß ift alt,“ murmelte er, „weiß ft alt und kalt.“

„Um elf Uhr haft du Neitftunde, Caſpar, vergiß es nicht," mahnte Daumer, der in feine Schule gin,

Eine Überflüffige Sorge; das vergaß Cafpar

nicht, allzulieb war ihm ſchon das Reiten geworden feit der kurzen Zeit, wo er damit begonnen.

Er liebte Pferde, war ihm doch ihre Geftalt gar jehr vertraut. Es kam vor, daß abendliche 3

Schatten als ſchwarze Roſſe vorüberftärmten, erit am feurigen Rand bes Himmels Halt machten und ihn mit zurückſchauendem Blick aufforderten, fie in die unbefannte Ferne zu geleiten. Auch im Wind fauften Roffe, auch die Wolfen waren Roffe, in den Rbptömen der Mufit hörte er das taftbemeffene Traben ihrer Hufe, und wenn er in „gendticher Stimmung an etwas Edles und Volllommenes dachte, fh ex zuerſt das Bild eines ſtolzen Roſſes.

Beim Reitunterricht hatte er von Anfang an eine Gewandtheit gezeigt, die das größte Er- faunen bes Stallmeifter8 erregt hatte. „Wie der

urfche fißt, wie er den Zügel Hält, wie er das Tier verſteht. das muß man fich anſchauen,“ fagte ‚Here von Rumpler; „ich will hundert Jahre in der Hölle braten, wenn das mit rechten Dingen zugeht.“ Und alle, bie etwas von der Sache ver- fanden, vedeten ähnlich.

€i, wie jelig war Cafpar beim Trab und Galopp! Dies Ziehen und Fliehen, dies leichte Getragenfein, hinaus und vorwärts, dies fanfte Auf und Ab, das Lebendigfein auf Lebendigem!

Wenn nur nicht die Leute fo läſtig geweſen wären. Beim erjten Ausritt mit dem Stallmeifter wurden fie von einem ganzen Pöbelhaufen ver- folgt und ſelbſt gefeste Bürger blieben ftehen und lachten erbittert vor fih bin. „Der ver- ſteht's,“ Höhnten fie, „der hat fich ein Bett ge- macht, jo muß man's anfangen, damit einem warm wird."

Auch heute war ſolch ein unbequemes Auf- jehen. Der Himmel hatte is jelärt und die Sonne fchien, als fie duch die Engelhardts ale titten. Eine Rotte von Knaben zog hinter ihnen

° &

drein und rechts und links wurden die Fenſter aufgerifjen. Der Stallmeifter gab feinem Tier die Sporen und trieb Caſpars ‚Pferd mit der Beitjche an. „Man kommt ſich ja, parbleu, wie ein Birkusreiter vor," rief er zormig.

Sie fprengten bis zum Jakobstor. „He! Holla!" rief da eine Stimme, und aus einer Seitengaſſe fam, ebenfalls zu Pferde, Herr von W eng auf fie zu. Numpler begrüßte den Offizier und der Rittmeifter gejellte fih an Ca- ſpars Geite,

et lieber Haufer, prächtig!" rief er mit übertriebener Verwunderung, „wir reiten ja’ wie ein Indianerhäuptling. Und das alles bat man erſt bei den braven Nürnbergern gelernt? Nicht zu glauben.“

Caſpar hörte nicht den verfänglichen Unterton der Rede; er blickte den Rittmeifter dankbar und geichmeighelt an.

„Aber dent dir, Hauſer, was ich heute be kominen habe,“ fuhr, der Rittmeifter fort, den es judte, mit Caſpar einen 4 zu haben. „Sch hab’ etwas befommen, was dich höchlichit angeht."

Caſpar machte ein fragendes Geſicht. Viel⸗ leicht war e8 der ebel-ruhige Ausdruck jeiner Züge, der ben Rittmeifter zögern ließ. „a, ich hab’ etwas bekommen,“ wiederholte er dann eigenjinnig, „ein Brieflein hab’ ich bekommen." Er hatte den ein- fältigen Ton, den bie Erwachſenen annehmen, wenn fie mit Kindern herzen, und der lauernde Blick in feinen Augen bejagte etwa: wollen mal fehen, ob er Angft riegt.

„Ein Brieflein?“ Mgegnete Gafpar, „was ſteht denn drinnen ?"

„Ja,“ rief der Rittmeifter und lachte knallend, 86

„das möchteft du wohl wiſſen? Wichtige Sachen jtehen drin, wichtige Sachen!"

„Von wen ift es denn?" fragte Cafpar, dem das Herz erwartungsvoll zu pochen anfing.

Herr von Wefjenig zeigte feine Zähne und ſtellte fich vor Vergnügen in die Steigbilgel „Nun rate mal," fagte er, „wir wollen mal fehen, ob du raten kannſt. Won wen kann das Brief- Iein fein?" Er zwinkerte Herrn von Rumpler Ten nis zu, indes Cafpar den Kopf jentte.

Es quoll auf einmal Traumluft um Caſpars Sinne und eine Hoffnung liebkoſte ihn, die den kargen Tag verleugnete. Aus ihren Schleiern erhob ſich die Zummervolle Traumfrau und ſchwebte ſtill vor den drei Roſſen dahin. Jäh blidte er empor und fagte mit zögernden Lippen: „Sit vielleicht von meiner Mutter der Brief?"

Der Rittmeifter runzelte ein wenig die Stirn, als ob es ihm bedenklich fchiene, den Schabernad zu weit zu treiben, doch entäußerte er fich ſchnell der ernften Regung, klopfte Cafpar auf die Schulter und rief: „Erraten, Teufelsterl! Er— taten! Mehr ſag' ich aber nicht, Freundchen, ſonſt könnt’ es mir übel befommen.“ Und mit dem lebten Wort feste ex fich fefter in den Sattel und fprengte davon.

Eine Viertelftunde fpäter kam Caſpar atem- 108 nad) Haufe. Daumers ſaßen ſchon bei Tifch, fie jhauten dem Ankömmling gejpannt entgegen und Anna erhob ſich unwillkürlich, als Cafpar mit ſchweißbedeckter Stirne neben den Sefjel ihres Bruder trat und mit | gebrochener Stimme hervor- jubelte: „Der Herr Nittmeilter hat einen Brief befommen von meiner Mutter!"

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Daumer ſchůttelte erflaunt den Kopf. Ex _ver- fuchte Saba Bene, zu madıen, daß ein Miß⸗ verftändnis oder eine Täufchung obmalten müfje; Mutter und Schwefter unterftügten ihn darin nad) Kräften. Es war umfonft. Caſpar faltete flehentlich die Hände und bat, Daumer möge mit ihm zu Herrn von Wefjenig gehen. Deſſen weis ge FO Dumer en hiehe en, doch als Eafpars

ana wi ui. fih bereit, allein von Weſſenig zu air Er FR Teller leer, nahm Hut und Mantel

Caſpar lief zum Fenſter und ſah im Fer

Er wol le ſich nicht zu aid begeben, ehe Daumer wieder da war. Cr zerfnüllte das Tafchentuch in der Hand, raſch atmend ſtarrte er gegen den Ms und date: Wenn ich dich liebhaben ol, Sonne, mad), daß e3 wahr if. So wurde es ein Uhr und Daumer kam zurüd. Er hatte den Nittmeifter zur Rebe geftellt und eine heftige Auseinanderfegung mit i jehabt. Herr von Weffenig hatte die Sache zuerft humoriftiich ge— nommen, damit lief er aber bei Daumer übel ab, dem ohnehin das hämifche Gerede, das ihm täg- lich zugetragen wurde, Verdruß genug erregte. Erſt gejtern hatte man ihm erzählt, auf einer Afjemblee bei_ der Magiftratsrätin Behold habe fih ein angejehener Ariftofrat über ihn Iuftig gemacht als über den Meifter fomnambuler und magnetifcher Geheimkunft, der Caſpar Haufer feier- lich den Zaubermantel unter bie Füße breite, aber ftatt in den Wether zu entfchweben, wie jedermann erwarte, bleibe der gute Gafpar gemächlich ſitzen und lafje fi ausfüttern.

Solches nagte an Daumer und er hatte es dem Nittmeifter ins Geficht gejagt, daß ihn das 83

ſcheele Geſchwätz ber nichtätuenden eleganten Welt gleichgültig laſſe. „Bin ich auch eher auf Hilfe und Zuftimmung al auf Verteidigung und Ab- wehr gefaßt geweſen, fo weiß ich doch genau, daß das erftarrte Herz von Ihnen und Ihres⸗ leichen nicht um einen Pulsfchlag gefühlvoller lagen wird," rief er aus, „Das aber kann ich fordern, daß man den Jüngling, der unter meinem Schu und dem des Herrn Staatsrats wenigſtens mit böswilligen Scherzen ver⸗ ont.“

Sprach s und ging. Einen Freund ließ er nicht zurüd, .

Zu Haufe ankommend und Caſpars ftummes Drängen wahrnehmend, jagte er mit mühfamer Milde: „Er hat dich zum Narren gehabt, Ca- fpar. Es ift natürlich fein Wort wahr. Solchen Leuten mußt du auch nicht glauben.“

„D!" machte Cafpar voll Schmerz. Dann war er ftill.

Erft als Daumer ſich nad der Mittagsraft zum Aufbruch anfchiette, entriß fich Caſpar feinem Schweigen und fagte in mattem und verändertem Ton: „Der Herr Rittmeifter hat alſo nicht die Wahrheit gejagt?"

„Nein, er hat gelogen," verſetzte Daumer kurz.

„Das ift ſchlecht von ihm, fehr fchlecht,“ fagte

par.

Erſtaunlich fchien ihm zunächſt die Tatſache des Lügens, erftaunlicher noch, daß ſich ein fo großer Herr ihm gegenüber der Lüge fchuld: gemadht. Warum hat er das mit dem Bri gelost, grübelte er, und ftundenlang war er damit ejchäftigt, fich des Nittmeifters Worte immer wieder von neuem vorzufagen und fich das Ge:

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ficht zurückzurufen, in welhem, von ihm nicht gewußt, die Lüge wohnte,

Es war da etwas nicht in Ordnung. en und fann und fam zu feinem Ende. m auf andre Gedanken zu bringen, Klug er Rechenfibel auf und ging an fein Tagespenſum. Als auch dies nichts half, nahm er die Glas- barmonila, die ihm eine Dame aus Bamberg

geſchenkt, und übte fich eine halbe Stunde lang A den fimpeln Melodien, die er darauf zu fpielen exlernt hatte.

Plötzlich erhob er fi und trat vor den Spiegel. Starr blickte er jein eignes Gefiht an: - er wollte jehen, ob Züge darin fei. Troß ber Beklommenheit, die er dabei empfand, reiste es ihn, einmal ſelber zu Lügen, nur um zu prüfen, wie nachher fein Geficht ausfehen würde. Aengft- Lich ſchauie er ſich um, blickte dann wieder in den Spiegel und fagte leis: „E3 ſchneit. ei Er hielt das für eine Lüge, weil ja die Sonne

ien.

Nichts hatte fich in feinem Geſicht verändert: man konnte alſo lügen, ohne daß es jemand be- merfte. Er hatte geglaubt, die Sonne würde fich ver- finftecn oder verftedten, aber fie ſchien ruhig weiter.

Am Abend fam Daumer mit einem neuen Aerger nach Haufe. Von der Mutter gefragt, was e3 denn ſchon wieber gebe, 30g er ein Kleines Zeitungsblättchen aus der Tajche und warf es auf den Tiih. Es war ber „Ratholifche Wochen- ſchatz“; auf der erften Seite ftand eine Epiftel über Cafpar Haufer, die mit den fettgedruckten Settern begann: Warum läßt man den Nürn-

erger Gindling nicht der Segnungen der Religion ei jaftig werden? j

„Sa, warum läßt man denn nicht?" fpottete Anna.

„Und das wagt man in einer proteftantifchen Stadt," fagte Daumer mit finfterem Geſicht. „Wenn diefe Herren nur müßten, was für eine unmäßige Furcht der Jüngling vor ihren Geift- chen bat. Während er noch auf dem Turm mar, find eines Tages vier zu gleicher Zeit bei ihm erjchienen. Glaubt ihr vielleicht, fie hätten zu feinem Herzen gerebet oder feine Andacht zu mweden geſucht? Weit gefehlt. Sie ſchwatzten vom Zorn Gottes und von der Vergeltung der Sünden, und als er immer furtfamer dreinfah, fingen fie an zu wettern und zu drohen, als ob

er arme Menſch am nächiten Tag zum Galgen jeführt werden follte. Zufällig kam ich dazu und

jedes fie höflich auf, ihre Bemühungen einzus ſtellen.“

Da Caſpar ins Zimmer trat, wurde das Ge— ſpräch abgebrochen.

Aber der Appell des „Katholiſchen Wochen⸗

ſchatzes“ verhallte nicht ungehört. „Mit der Religion iſt nicht zu ſpaßen,“ ſagten die Herren auf dem Magiftrat, und einer drückte fogar den: Zweifel aus, ob ber Yüngling überhaupt vetauft fei. Darüber ward eine Weile hin und er debattiert, doch ließ man die Frage ſchließlich fallen und die Taufe ward als jelbftverjtändlich angenommen, da man ja unter Chriften in einem riftlichen Lande lebe und der Jüngling auf feinen Fall aus der Tatarei fommen fönne.

Nicht jo leicht war die Entſcheidung über die Tatholifche oder evangelifche Konfeffion. Obgleich die Pfaffen in der Stadt wenig Macht bejaßen, mußte man doch die obdachloſe Seele dem Hungrigen Rachen Roms entreißen, amderfeits

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war man zu zagbaft fie Br rauhes Zugreifen, weil e3 möglich war, daß eine sinftußeeiche Perſon über furz oder lang ein Anrecht andrer Art geltend machen konnte.

Der Bürgermeifter wandte fi) an Daumer und verlangte, Caſpar folle einen Religionslehrer erhalten, man überlafje es Daumer, einen ver- trauenswürbigen Mann zu beftimmen. „Wie wäre e8 mit dem Kandidaten Regulein?“ meinte Binder.

„Sch habe nichtS Dagegen,“ erwiderte Daumer gleichgültig. Der Kandidat wohnte im Daumerfchen Haus zu ebener Erde und genoß den Ruf eines tofiden, und fleißigen Mannes,

Wenn ich ſelbſt auch nicht kirchlich fromm bin,“ ſagte der Bürgermeiſter, „jo iſt mir och die modifche Freigeifterei von Herzen zumider, und ic wünfchte nicht, daß unfer Cafpar in ein ohrfurchtsloſes Weltwefen gerät. Auch in Ihrer Abſicht Tann das nicht liegen.“

Aha, ein Stich, dad” Daumer ftillergeimmt, man eleibigt, verdächtigt mich ſchon wieder, ich bin niemand bequem, fehr ehrenwert, ihr Herren, fehr ehrenwert. Laut antwortete er: Gewiß nicht. Ich habe es auch nicht fehlen laſſen, im meiner Art auf ihn zu wirken. Und meine Art mag fein, wie fie will, fie ift nicht ſchlechter als jede andre. Leider haben mir allechand Unberufene beftändig hineingepfufcht. So war e3 mir in ber exften Zeit mit großer Mühe gelungen, den ftarren Eigenfinn feines Schauens zu, brechen und ihm einen Begriff von dem allmäctigen Trieb des Wachstums in der Natur zu geben. Kommt da ein Frauenzimmer an, während Gafpar vor einem Blumentopf ſitzt und mit feinem unfchuldigen 2

Staunen die über Nacht aufgefproßten Schößlinge betrachtet. Nun, Gafpar, fragt fie ein! ing,

wer bat denn das wachjen afen? Es ij ſelbſt gewachſen, erwidert er ſtoiz. Aber, afpar. ruft jene, es muß doch jemand fein, der e3 hat wachlen lafjen? Er würdigte fie feiner Antwort mehr, aber die wohlwollende Dame ds! bin nnd erzählte überall, Cafpar werde zum Atheilten ge- macht. Da hat man eben einen ſchweren Stand“ „&3 handelt fih do am Ende nur darum, ihm das Gefühl einer höheren Verpflichtung ein-

suimpfen, ſagte Binder.

ie hat er, die hat er, aber fein Verftand anerkennt eben in jeinen Forderungen feine Grenzen und will durchaus oefeieigt fein,“ fuhr Daumer leidenſchaftlich fort. „Geftern abend befuchten ihn zwei proteftantifche Geiftliche, der eine aus Fürth, der andre aus Farnbach, der eine dick, der andre mager, alle beide eifrig wie eine Pauluffe. Sie machten mir erft allerlei Elogen, ich lafje fie zu Caſpar hinein, und ehe man brei zählen fann, fangen fie eine Disputation mit ihm an. Ach, es war komiſch, es war höchſt tomifh. Es kam die Rede auf die Erfchaffung der Welt, und der Dicke aus Fürth fagte, Gott Habe die Welt aus dem Nichts geſchaffen. Und als nun Gafpar wiſſen wollte, wie das zu: jegangen, ſtibitzten fie ihm bie Erklärung vor #2 Nafe weg, indem fie alle zwei händefuchtelnd auf ihn einredeten wie auf einen Heiden, der bei feinem Götzen ſchwört. Endlich beruhigten fie ih, und da fagte mein guter Caſpar zutulic, wenn er etwas machen wolle, müffe er doch etwas haben, woraus er e8 mache, fie möchten ihm doc) fagen, wie daS bei Gott möglich fei. Da 3

ſchwiegen fe eine Weile, flüfterten untereinander, und endlich antwortete der Magere, bei Gott jet alles möglich, weil er nicht ein Menſch jei, fon- dern ein Geift. Da lächelte mich Gafpar an, denn er dachte, fie wollten fich über ihn Iuftig machen, und er ftellte ſich, als glaube er ihnen, was die befte Manier war, um fie loszuwerden.“

Der Vürgermeifter jchüttelte mißbilligend den Kopf. Daumers Sarkasmus gefiel ihm ganz und gar nicht. „ES gibt auch) eine gedachtere Anficht von Gott als die, die fich jo mühelos verfpotten läßt,“ wandte er ruhig ein.

„Eine _gedachtere Anficht? Ohne Zweifel. Vergeſſen Sie nur nicht, daß die der gemeinen dur und durch widerfpricht. Und wenn ich fie ihm beizubringen fuche, ſetze ich mich Vorwürfen und Mißfennungen aus. Nächſtes Jahr foll er in die öffentliche Schule gehen, für einen Men- ſchen von wenigſtens achtzehn Jahren ohnedies eine Schwierigkeit, da würden nun meine Lehren wieder zunichte gemacht und die Folge ift Kon- fufion. Schon jetzt fange ich an feig zu werden und fpeife ihm mit bequemen Antworten ab. Neulih konnie er eingetretener Augenfchwäche halber nicht arbeiten, und er fragte mic, ob er von Gott etwas erbitten dürfe und ob er es dann erhalten werde. Ich fagte, zu bitten fei ihm geftattet, doch müſſe er es der Weisheit Gottes anheimftellen, ob er die Bitte gemähren wolle oder nicht. Er entgegmele, er wolle die Genefung feiner Augen erbitten und damider tönne ja Gott nicht? einzuwenden haben, denn er gebrauche die Augen, um feine Zeit nicht in unnügen Gefprächen und Spielereien vergeuden zu müffen. Ich fagte darauf, Gott habe bis-

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weilen unerforſchliche Gründe, etwas zu verfagen, wovon wir glaubten, daß es heilfam wäre, er wolle ung oft durch Leiden prüfen, in Geduld und Ergebung üben. Da ließ er traurig den Kopf hängen. Gewiß dachte er, ich fei auch nicht befjer als die Frommen, deren Gründe er nur für Ausreden nimmt."

„Was ift jedoch zu tun?" fragte der Bürger meijter mit forgenvoller Stirn. „Auf dem Weg des Zweifelns und Leugnens muß die Fähigkeit zum Guten verfümmern."

„Zweifeln und Leugnen ift es wohl kaum,“ verfeßte Daumer unmillig. „Gott ift fein Be wohner de3 Himmels, er hauft nur in unfrer Bruft. Der reiche Geift birgt ihn im umfafjen- den Gefühl, der arme wird durch die Not des Lebens feiner gewahr und nennt es Glauben; er könnte e8 auch Angft nennen. In Schönheit und Freude geſtaltet jich der wahre Gott, im Schaffen. Was Sie Zweifel und Leugnen heißen, ift das aufrichtige Zagen der ihrer felbft noch ungewiffen Seele. Dan gebe der Pflanze jo viel Sonne, wie fie braucht, und fie befigt einen Gott."

„Das iſt Philoſophie,“ erwiderte Binder, „und zudem Philoſophie, die einem Alltags— menfchen wie mir frivol Elingen muß. “jeder Bauer hat für feine Ernte mit Sturm und Un- wetter zu rechnen, und nur ein überheblicher Menſch Tann ſich einfallen laſſen, von felber etwa zu gelten. Doc) genug davon. Waren Sie eigentlich mit Caſpar ſchon einmal in der Kirche?“

„Nein, ich habe das bis jest vermieden."

„Morgen ift Sonntag. Haben Sie etwas Dagegen einzumenden, wenn ich ihn zum Gottes» dienft in die Frauenkirche mitnehme?"

»

„Nicht im geringften.“

„Gut, werde ihn um neun Uhr abholen."

Wenn fih Here Binder eine fonderliche Wirkung von diefem Verſuch verfprochen hatte, fo wurde er darin jehr enttäufcht. Als Cafpar die Kirche betreten hatte und die erhobene Stimme des Predigers vernahm, fragte er, warum der Mann ſchimpfe. Die Kruzifige erregten feinen tiefften Schauber, weil er die angenagelten Ehriftusbilder für gemarterte lebendige Menfchen hielt. Beſtändig fehaute er, beftändig verwunderte er fih, das Spiel der Orgel und der Gejang des Chors betäubten fein empfindliche Ohr der⸗ maßen, daß er die Harmonie der Klänge gar nicht fpütte, und zum Schluß brachte ihn die Ausdünftung der Menfchenmenge einer Ohnmacht nahe.

Der Bürgermeifter jah wohl feinen Fehlgriff ein, doch ließ er nicht ab, auf einen regelmäßigen Beſuch der Kirche zu dringen, obwohl ri Caſpar jedesmal hartnäckig dagegen ſträubte. Wenn der Kandidat Regulein Herrn Binder feine Not klagte, ermwiderte diefer: „Nur Geduld, die Ge- wohnheit wird ihn fehon zur Andacht nötigen.“ Ich glaube nicht," verfeßte der Kandidat darauf mutlos, „gebärdet er ſich doch, als ob er fein Leben lafjen follte, wenn ich ihn zum Kirchgang auffordere." „Macht nichts, es ift Ihr Bes ruf, feinen Widerftand zu brechen," lautete der

cheid.

Der gute, hilfloſe Kandidat Regulein! Ein junges Männlein, das nie jung geweſen war und deſſen Gottesgelehrtentum von ſo dünner Beſchaffenheit war wie feine Beine. Er zitterte insgeheim vor den Unterrichtäftunden, die er Caſpar erteilen mußte, und fooft ihn eine Frage %

in Verlegenheit ſetzte, was gar nicht felten ge ſchah, verſchob er die Auskunft auf das nächte Mal, wobei er fi) vornahm, in gewiſſen Büchern nachzufchlagen, um nicht gegen die Theologie zu verfehlen. Cajpar wartete treuherzig, aber in der folgenden Stunde fam nichts oder wenig. Der Kandidat, der im ftillen hoffte, fein Schüler habe vergeffen, erſchrak und wich aus. Das half nicht; der unbarmherzige Frager trieb ihn aus einer Verſchanzung in die andre, bis daS verzweifelte Argument aufgeftellt werden mußte, es ſei unrecht, über dunkle Gegenftände des Glaubens zu forfchen.

Caſpar Tief zu Daumer und beflagte fich bitter, daß er feine Auffchlüffe erhalte. Daumer fragte, was er zu wifjen begehrt habe. Ex hatte u wiffen verlangt, warum Gott nicht mehr wie in früheren Zeiten zu den Menjchen herablomme, um fie über fo vieles, was verborgen fei, zu belehren. „Ya fieh mal, Caſpar,“ jagte Daumer, „es gibt Geheimniffe in der Welt, die fich eben beim beften Willen nicht verftehen lafien. Da muß man Pertrauen ‚haben, daß Gott eines Tages unfer Herz darüber erleuchtet. Wir alle wifjen ja auch nicht, woher du fommft und wer du bift, und trogdem wir von der Ge⸗ rechtigleit und Allwiſſenheil Gottes, daß er ung eine3 Tages darüber Aufſchluß gewährt.”

„Aber Gott hat doch nicht? damit zu tun, daß ich im Kerker war," erwiderte Caſpar fanft, „das haben doch die Menfchen getan.“ Und ratlos ſetzte er hinzu: „So iſt's eben. Das eine Mal jagt der Kandidat, Gott laſſe den Menfchen ihren freien Willen, das andre Mal fagt er, Gott ſirafe fie für ihre böfen Handlungen. Da werd’ ich ganz zum Narren.”

Baffermann, Gafpar Haufer 7 97

Diefe Unterhaltung fand an einem ftürmifchen Nachmittag Ende März ſtatt und Daumer geriet durch fie in eine fo trübe Stimmung, daß er eine angefangene fchriftliche Arbeit nicht zu be endigen vermochte. Man raubt ihn mir, man bricht ihn mir zu Stüden, dachte er. Voll Traurigkeit nahm er ein dickes gi zur Hand, das feine Aufzeichnungen über Caſpar enthielt, und blätterte drin herum. Er ſchrak zufammen, als feine Schwefter ziemlich haftig eintrat, noch mit Pelzlappe und Umhang, wie fie von der Straße kam. Ihr Geficht verriet Aufregung, und fie wandte fich mit der ſchnell hervorgeftoßenen Frage an Daumer: „Weißt du ſchon, was man in der Stabt fpricht?"

Nun?"

„Man erzählt fih, Caſpar Haufer ſei von fürftlicher Abkunft, ein beifeitegefchaffter Prinz.“

Daumer lachte gezwungen. „Das fehlte noch,“ entgegnele er abſchätzig. „Was denn noch alles!"

„Du glaubft nicht daran? Das hab’ ich mir gleich gedacht. Aber woher mögen folche Ge- rüchte ftammen? Irgend etwas muß doch das She müßt muß Diner fein. So 1

„Gar nichts muß dahinter fein. Sie ſchwatzen eben. Laß fie ſchwatzen.“

Eine halbe Stunde fpäter erhielt Daumer den ven des Archivdireltor Wurm aus And» bach. ar dies ein kleiner, etwas verwach⸗ ſener Mann, der nie lächelte; es hieß von ihm, daß er jehr befreundet mit Herrn von Feuerbach und die rechte Hand des Negierungspräfidenten Mieg fei. Don erfterem beftellte er Grüße an Daumer und fagte, der Staatsrat werde in aller

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nädjfter Zeit nah Nürnberg kommen, er be Bahn ſich angelegentlich mit der Sache Cafpar aufers.

Nach einem kurzen, wenig belangvollen Hin- und Herreden set der Yrkhiobirefior plöglich in die Rocktaſche, brachte ein kleines brofchiertes Buch zum Vorfchein und reichte es wortlos Daumer. Diefer nahm e8 und las den Titel: „Gafpar Haufer, nicht unmahrfcheinlich ein Bes teüger. Vom Polizeirat Merker in Berlin.”

Daumer bejah das Büchlein mit feindjeligen Augen und fagte matt: „Das ift deutlich. Was will der Mann? Was ficht ihn an?"

„Es ift ein gehäffiges Pamphlet, tritt aber höchſt plaufibel au erwiberte der Archivdireltor. „E3 find da mit Fleiß und Geſchick alle Ver- dachtsgründe, die jchon längft in mißtrauifchen Gemütern ſpulen, gegen den Findlin zufammen- girogen. Der Verfaſſer prüft alle Angaben

ſpars auf ihre Verdächtigkeit hin, hy gibt er Beifpiele aus der Vergangenheit, wo ähnliche Lügenkfünfte, wie er ſich ausdrückt, zu verjpäteter Enthüllung gelangt find. Sie, lieber Profeflor, und Ihre biefigen Freunde Tommen dabei nicht zum beften weg.“

„Natürlich; Tann ich mir denken,“ murmelte Daumer, und mit der flachen Hand auf das ſchlagend, rief er aus: „Nicht unwahrſcheinlit ein Betrüger! Da gt fo ein mit allen Hunden gehetzter Herr in Berlin und wagt es, wagt es —! Himmeljchreiend! Man follte ihm diefen nicht unwahrfcheinlichen Betrüger vorführen, man follte ihn zwingen, dem Engelsblick ftandzuhalten, ac, ſchändlich! Der einzige Troft dabei ift, daß doch niemand das Zeug lejen wird."

oo

„Sie irren ſich,“ verfegte der Archivdireltor ruhig, „das Heft findet reißenden Abſätz.“

„Nun gut, ich werde es leſen,“ ſagte Dau— mer, „ich werde damit zum Redaktor Pfiſterle von ber ‚Morgenpoft‘ gehen, ber iſt ber richtige ea um dem famojen Polizeirat Widerpart zu halten.“

Der Archivdireftor maß den aufgeregten Dau⸗ mer mit einem gleichgültig-fchnellen Blick. „Ich möchte eine ſolche Maßregel nicht ohne weiters gutheißen,“ bemerkte ex diplomatijch; „ich glaube auh im Sinn de Herrn von Feuerbadh zu jprechen, wenn ich Ihnen davon abrate. Wozu a8 Beitungsgefchreibe? Was foll es nützen? Man muß Bandeln, in aller Vorſicht und Stille handeln, das iſt e8."

„In aller Vorſicht und Stille? Was wollen Sie damit jagen?" fragte Daumer ängftlich und argwöhniſch.

Der Archivdirektor zuckte die Achſeln und ſchaute zu Boden. Dann erhob er fich, ſagte, er wolle am folgenden Nachmittag wiederfommen, um Caſpar zu fehen, und reichte Daumer die Hand. Als er ſchon auf der Treppe war, eilte ihm Daumer nad und fragte, ob es ihn nicht ftöre, wenn er morgen fremde Leute hier im Haufe treffe, es hätten fich einige Herrichaften zu Be— ſuch angefagt. Der Archivdireftor verneinte,

Es gehörte zu den Charaftereigentümlichkeiten Daumers, daß er fich in einmal gefafte Ideen bis zur offenfichtlichen Schädlichkeit verrannte. Treo der Abmahnung bes bejonnenen Heren Wurm begab er fich, faum daß er das Buch des Berliner PolizeiratS gelefen hatte, mas weniger denn eine Stunde Zeit brauchte, voll Erbitterung

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in die Redaktion der ‚Morgenpoft‘. Der Redak⸗ tor Pfifterle war ein hitziges Blut; wie ber Geier aufs Aas ftürzte er fich auf dieſe Gelegen- heit, feine immer in Vorrat vorhandene Wut und Galle loszulaſſen. Er mwollte Material haben, und Daumer beftellte ihn für den Mittag des folgenden Tages zu fi in die Wohnung.

Am Abend berichte eine fonderbar ſchwüle Luft im Daumerfchen Haus. Während des Nacht- eſſens wurde wenig geredet, und Gafpar, der von all dem, was rings um ihn vorging, nicht im mindeften etwas ahnte, war verwundert über manchen prüfenden Blick ober über das büftere Schweigen auf eine herzliche Frage. Er hatte die Gewohnheit, vor dem Schlafengehen noch ein Buch zur Hand zu nehmen und zu lejen; das tat er auch heute, und es geſchah nun, dab fein Blick, al er das Buch aufgemacht, auf eine bes ftimmte Stelle fiel, die ihn veranlaßte, entzüct in die Hände zu fchlagen und in feiner herzlichen Art zu lachen. Daumer fragte, was e3 gebe; Cafpar deutete mit dem Finger auf das Blatt und rief: „Sehen Sie nur, Herr Profeſſor!“ Seit einiger Zeit hatte er aufgehört, Daumer zu duzen, und zwar ganz von felbft und eigentüm- licherweiſe faſt an demielben Tag, an welchem er zum erften Male Fleiſch genofjen und danach frank geworden war.

Daumer blidte ind Buch. Die von Cafpar aufgegriffenen Worte lauteten: „Die Sonne bringt es an ben Tag.“

„Was gibt’3 dabei zu ftaunen?" fragte Anna, die über die Schulter des Bruders gleichfalls in das Buch fchaute.

„Wie ſchön, wie ſchön!“ rief Caſpar aus.

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„Die Sonne bringt es an den Tag. Das ift wunderſchön.“

Die drei andern ſchauten einander voll ſelt⸗ famer Gefühle in die Augen.

„Meberhaupt ift es ſchön, wenn man fo lieft: die Sonne!" fuhr Caſpar fort. „Die Sonne! Das hallt jo."

Als er gute Nacht gemwünfcht hatte, fagte Frau Daumer: „Man muß ihn doch lieb haben. Es wird einem ordentlich; wohl, wenn man ihn in feiner artigen Gefchäftigleit beobachtet. Wie ein Tierchen webt er für fich hin, niemals lang» weilt er fih, nie fällt er durch Launen zur Laft.”

Wie verabredet, kam Pfifterle am nächiten Tag kurz nach Tiſch, blieb jedoch über Gebühr lange figen und verftand nicht die ungeduldigen Andeutungen Daumers, der ihn gern vor dem Eintreffen der erwarteten Gäfte losgeworden wäre. Als diefe um drei Uhr erfchienen, jaß er noch immer auf feinem le und blieb auch da. Wahricheinlich Hatte es feine Neugierde gereizt, daß ihm Daumer den Namen einer der drei Perſonen mitgeteilt hatte; es mar dies ein da⸗ mals vielgelefener Schriftiteller aus dem Norden de3 Reichs. Die andern beiden waren eine hol- fteinifche Baronin und ein Leipziger Profefjor, der auf einer Romreiſe begriffen war; ein Unter nehmen, welches zu jener Zeit, wenigſtens in Nürnberg, einem Mann den Nimbus eines Fühnen Forſchers verlieh.

Daumer empfing bie Herrichaften ſehr liebens⸗ würdig, und nachdem er Caſpar herbeigeholt hatte, zündete er troß der frühen Stunde die

ampe an, benn ber Nebel lag dicht wie graue Wolle vor den Fenftern. Der Leipziger Profeſſor

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309 Caſpar in eine'Unterhaltung, aber er ſprach mit ihm wie von Turmeshöhe herunter. Auch ließ er feinen Blick von ihm, und die gelblichen Augen Hinter den kreisrunden Brillengläfern fchimmerten bisweilen boshaft. Währenddem famen noch Here von Tucher und der Archiv Direktor, Tießen fich den Fremden vorftellen und nahmen auf dem Sofa Platz.

„In deinem Kerker war es alfo immer dunkel ?“ gast der Romfahrer und ftrich Iangjam feinen

art.

Gafpar antwortete geduldig: „Dunkel, fehr duntel.”

Der Schriftfteller Iachte, worauf ihm der Profefjor vielfagend mit dem Kopf zunidte.

„Haben Sie den Unſinn gehört, der hier in der Stadt über feine fürfliche Abkunft geredet wird?" ließ ſich jegt die holfteinifche Baronin hören, deren Stimme wie aus einem Keller— loch kam.

Der Profeffor nickte wieder und fagte: „In der Tat, es werden hier ftarfe Zumutungen an die Leichtgläubigteit des Publikums geftellt."

Eine Zeitlang ſchwiegen alle, wie von einem Schuß erſchreckt. Endlich entgegnete Daumer mit —5 timme und mit der Höflichkeit eines hlechten Komödianten: „Was veranlaft Sie, meine Ehre zu beichimpfen ?"

„Was mich veranlaßt?“ praffelte der chole- riſche Herr auf. „Dieſe Gaufelfuhr veranlaßt mich dazu. Der Umftand, daß man ein ganzes Land ſtrupellos mit einem albernen Märchen füttert. Muß denn der gute Deutſche immer wieder da8 Opfer von Abenteurern A la Caglioftro werden? Es ift eine Schmach.“

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‚Herr von Tucher hatte fich erhoben und blickte dem Aufgeregten mit fo unverhohlener Gering- fchägung ins Geficht, daß dieſer plöglich ſchwieg.

„Wir find natürlich überzeugt," miſchie ſich der Schriftfteller, ein klapperdürrer Herr mit kahlem Schädel, vermittelnd ein, „daß Sie, Herr Daumer, im beften Glauben handeln. Sie find Opfer, wie wir alle."

Jetzt konnte fich Pfifterle, den die Wut förm- lich aufgefchwellt Hatte, nicht länger halten. Mit geballten Fäuften fprang er vom Stuhl empor und fehrie: „Ja, zum Teufel, warum follen wir uns denn das gefallen laſſen? Da kommen fie her, niemand hat fie gerufen, kommen her, um dagemwefen zu fein und mitreden zu können, haben von Anfang an alles beffer gewußt, und wenn fie blind wie die Maulwürfe find, werfen ſie fi noch ſtolz in die Bruft und rufen: Wir jehen nichts, aljo ift nichts da. Warum foll denn das ein Unfinn fein, geehrte Dame, was man von feiner Abftammung erzählt? Warum denn, bitte? Reugnen Sie etwa, daß hinter den Mauern, wo unfre Großen wohnen, ſich Dinge ereignen, die das Tageslicht = jcheuen haben? Daß dort die Verträge des Bluts für nichts geachtet und Menjchenrechte mit Füßen getreten werben, wenn der Vorteil eines Einzelnen es erheifcht? Soll ich mit Tatfachen dienen? Sie können es nicht leugnen. Bei uns wenigſtens find bie paar Dugend_ Männer noch nicht vergeffen, die ihre mutige Freiheitsfahne durch das Land getragen und mit brennenden Fadeln in die Lügendämme⸗ rung der Paläfte geleuchtet haben.“

„Genug, genug!" unterbrach der Profeffor den ' tabiaten Zeitungsmann. „Mäßigen Sie fich, Herr!" 104

„Ein Demagoge!" fagte die Baronin und ftand mit erfchrodenen Augen auf. Der Archivdirektor heftete einen vorwurfsvollen und kühlen Blick auf Daumer, der den Kopf gefenft und die Lippen eigenfinnig gefchloffen hatte. Als er emporfchaute, blieb fein Auge mit gerührtem Ausdrud auf Caſpar ruhen, der frei und arglos daftand, den lächelnden Haren Bli von einem zum andern gleiten ließ, nicht als ob von ihm gefprochen würde und er daran teilhätte, ſondern als ob das bewegte Spiel der Mienen und Gebärden lediglich feine Schauluft ermede. In der Tat verjtand er faum, wovon die Rede war.

Der Leipziger Profefjor hatte feinen Hut er⸗ geiffen und wandte ſich noch einmal, an Pfifterle vorüberfprechend, gran Daumer, „Was ift denn bemiefen von den Mutmaßungen törichter Köpfe?“ fragte er gellend. „Nichts ift bewieſen. Feſt fteht nur, daß aus irgendeinem gottverlafjenen Dorf in den fränkischen Wäldern fich ein Bauern- tölpel in die Stadt verirrt, daß er nicht ordent- lich fprechen kann, daß ihm alle Werke der Kultur unbefannt find, das Neue neu, das Fremde fremd erfcheint. Und darüber geraten einige Turzfichtige, fonft ganz mwadere Männer außer fih und nehmen die plumpen Auffchneidereien des geriebenen Landftreicher8 für bare Münze, Wunderliche Verfchrobenheit!” s

„Ganz wie der Polizeirat Merker,“ Tonnte fich der Archivdirektor nicht enthalten zu bemerken. Auch Pfifterle wollte dawiderreden, wurde aber durch eine energiſche Kopfbewegung des Herrn von Tuer zum Schweigen gebracht.

Plötzlich wurde von der Frrape draußen das Rollen einer Kutſche hörbar. Direktor Wurm ging

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zum Fenfter, und nachdem der Wagen vor dem 8 gehalten hatte, fagte er: „Der Staatsrat mm."

„Wie?" entgegnete Daumer raſch. „Herr von Feuerbach?" , „sa, Herr von Feuerbach.” in feiner Benommenheit verfäumte Daumer die Pflicht des Hausherrn, und als er fih_auf- taffte, um den Präfidenten zu empfangen, ftanb diejer ſchon auf der Schwelle Wit feinem Im- peratorenblick überflog er die Gefichter aller An- wefenden, und als er den Archivdirektor gemahrte, fagte er lebhaft: „Gut, daß ich Sie treffe, Lieber Wurm, ich habe etwas mit Ihnen zu ſprechen.“ Er terug die einfache Kleidung eines Privat- mannes, und außer einem Eleinen Ordenskreuz neben dem Halsaufichlag des Rockes war keinerlei Schmuck an ihm zu Teen, Die außerordentlich ſtolze Haltung des gedrungenen, maffigen Kör— pers und das fteif Aufrechte, foldatifch Gebietende feines ftet3 etwas zurüdgemworfenen Hauptes er- weckten ehrfurchtsvolle Scheu; fein Geficht, auf den erften Anblic dem eines verdrieplichen alten Fuhrmanns ähnlih, wurde durch die dunfel- güühenben Augen, in denen die Unraft geiftiger eidenfchaften lag, und durch die feſtgeſchloſſenen, tühngebogenen Lippen geabelt. Er machte nicht den Eindrud eines Mannes, der viel Zeit hat. Troß der Würde, die ihm jein Amt verlieh und die er nicht verringerte, jatte fein Auftreten etwas Heftiges, und in der et, wie er die im Zimmer Verſammelten be- rüßte, war Förmlichkeit und Strenge enthalten. 3 wirkte darum erſchreckend auf alle, als ihm Eafpar ungezwungen entgegentrat und ihm von

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ſelbſt die Hand hinftredte, die Feuerbach auch if ja fogar eine Zeitlang in der feinen ehielt.

Cafpar war es wunderlich wohl gemorden, feit der Präfident eingetreten war. Ex hatte oft an ihn gedacht, feit er mit ihm auf dem Ge— fängnisturm gejprochen hatte, und feit dem erften Händedrud. liebte er beſonders die Hand des Präfidenten, eine warme, harte, trockene Hand, die fi) mwohlverfchloß beim Gruß, als ob fie laubmwürdige Verfprechungen gäbe, und bie eigne Sant ruhte dabei fo ficher in ihr wie der müde

irper abends im Bett.

Daumer geleitete den Präfidenten und ben Direktor Wurm in fein Studierzimmer und kehrte dann zurüd, Die fremden Gäfte ſchickten N an zu gehen, fie hatten durch die Dazwiſchenkunft Feuerbachs etwas von ihrer überlegenen Haltung verloren. Cafpar wollte der Dame in den Mantel Helfen, doch fie machte eine abmwehrende Gefte und folgte eilig ihren Begleitern. Herr von Tucher und Pfifterle entfernten fich ebenfalls.

Cafpar nahm ein Schreibheft aus der Lade und ſetzie fich zur Lampe, um feine Iateinifche Arbeit anzufertigen, da kamen der Präfident und Direktor Wurm wieder ins Zimmer. Kar ging auf Cafpar zu, legte die Hand auf fein Haar, bog den Kopf des Fünglings leicht zurüd, jo daß ber Lampenſchein voll in Caſpars Geficht fiel, be trachtete ſeltſam lange und mit bohrender Aufs merkſamkeit das feinem Blick ftillhaltende Antlitz und murmelte endlich, gegen Wurm gewendet, tief atmend: „Reine Taͤuſchung. Es find die felben Züge.“

Der Arhiobirettor nickte ſtumm.

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„Das und die Träume... zwei wichtige Indizien," fagte der Präfident mit dem gleichen Ton von Vertieftheit. Er fchritt zum enter, die Hände auf dem Rüden, und’ fah eine Weile hinaus. Darauf wandte er fih zu Daumer und

te unvermittelt, wie es mit Caſpars Er- nährung ſtehe.

Daumer erwiderte, er habe in letzter gi versucht, ihn an Zleifchkoft zu gewöhnen. „Zus erſt hat ex fich ſehr gewehrt, auch hat es den Anfchein nicht, als ob die veränderte Diät ihm jr zuträglich fei. Es ift Kon zu befürchten,

fie feine inneren Kräfte weſentlich ver mindert. Er wird zujehends ftumpfer.”

Feuerbach zog die Stirn empor und deutete

egen Caſpar. Vaumer verjtand den Wink und ——z8 Caſpar auf, zu den Frauen hinüberzu—⸗ jehen. Er wartete nicht ab, bis der Jüngling

3 Zimmer verlaffen hatte, ſondern fuhr mit beffommenem Eifer fort: „An demſelben Tag, 100 Cafpar zum erftenmal Fleifch genoß, fchnappte der Hund uͤnſers Nachbars, der ihm bis dahin höchſt zugetan war, nach ihm und bellte ihn wütend an. Das war mir eine wunderbare Lehre."

Der Präfident entgegnete finfter: „Dem mag fein, wie ihm wolle. Aber ich mißbillige die zahl- lofen Erperimente, die Sie mit dem jungen Menfchen vornehmen. Wozu das alles? Wozu magnetifche und andre Kuren? Man berichtet mir, daß Sie gegen gewiſſe krankhafte Zuftände bomdopathifche Seitmitte anwenden. Wozu? Das muß einen jo zarten Organismus aufreiben. Die Jugend ift e3, die die Krankheiten heilt.“

„Ich bin erftaunt, daß Eure Erzellenz da— gegen etwas einzuwenden haben,“ verſetzte Dau⸗ 108

mer Talt und demütig. „Der menfchliche Körper wird oft von vorübergehenden Leiden befallen, denen auf homöopathiihem Weg am beften bei- zukommen iſt. ſt vorigen Montag hat, wie ich beftimmt verfichern Tann, eine Kleine Dofis Siligen Wunder gewirkt. Kennen Eure Erzellenz nicht den ſchönen, alten Sprud:

Ein kluger Arzt, der nimmt da feine Hilfe her, von wo ber

Zöft Salafucht auf durch Salz, Ibſcht öft Salzfucht auf durch Salz, uer aus buch Flammen. hr Kinder der Natur, ihr zieht Rachen aufammen,

‚Macht weniges aus viel und wirtet viel Durch wenig.”,

Feuerbach mußte unmillfürlic lächeln. „Mag fein, mag fein," polterte er, „aber damit it nichts bewieſen, und wenn auch, fo trifft e8 die Sache nicht."

„Meine Sache fteht auch nicht darauf."

„Um fo beffer. Vergefjen Sie nicht, daß hier ein Recht durchzufegen ift, das Recht eines Lebens. Iſt e8 nötig, deutlicher zu fein? Ich glaube Taum. Gar bald, ich hoffe es, wird das Dunkel fi lüften, das über den rätjelhaften Menfchen

ebreitet ift, und der Dank, den ich und andre hnen ſchon jest jhulden, lieber Daumer, wird nicht durch ein Mißvergnügen geichmälert fein, Hr ſich Ay Ihre vielleicht ſchädlichen Irrtümer eften muß.”

Das Klang feierlich.

Man kanzelt mic) ab wie einen Schulbuben, dachte Daumer erbittert, als der Präfident und Direktor Wurm fich verabfchiedet hatten; was ift mir doch in den Kopf gefahren, daß ich die Sache des heimatloſen Findlings zu meiner eignen machen mußte? Wär’ ich nur bei meinem Leiften geblieben, in meiner Einjamteit.

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Es geht mich wenig an, was fie da über jein Schickſal fabeln, fuhr er in feinen verdroffenen Ueberlegungen fort; allerdings, der Ton des BVräfidenten läßt auf etwas Ungemwöhnliches ſchließen; das feltfame Gerede über Caſpars Her- funft, follte es wirklich einen Pau haben? Gleich- viel, was wäre das mir? Ob eine Bauern, ob eines Fürften Sohn, was würde es bejagen? Freilih, wenn fo ein hoher Herr einem in den Weg läuft, gibt man ſich als beflifjenen Diener; verbriefter Adel und erlauchte Abftammung for dern nun einmal den Reſpekt des Bürgers. Doc ein andre ift das Leben und ein andre die ee; ein andres, den Mächtigen zu willfahren, weil es zwecklos ift, ihnen zu trohen, und ein andres, ihrer zu vergeffen, eingefchlofjen und ge- feit in der goldenen Wohnung der Philofophie. Bwifcheninne führt die Grenze, die den Menjchen aus Staub von dem Menfchen aus Geift trennt. Sollte ih in meinem Optimismus zu weit ge— gangen fein, wenn ich in Gafpar den Menfchen aus Geift ſah? Noch fteht es zu bezweifeln.

Ein Gedanfengang, der nicht frei von ahnungs⸗ voller Betrübnis war.

Daumer ftellt die Metaphyſik auf die Probe .

Der Präfident blieb länger als eine Woche in der Stadt. Während diejer Zeit kam er ent- weder ind Daumerjhe Haus, um Gafpar zu fprechen, oder er ließ den Jüngling zu fih in den Gafthof rufen. Feuerbach liebte nicht Zeugen 110

feines Zuſammenſeins mit Gafpar. Seit er an einem ber erften Tage mit ihm durch die Straßen gegangen war g3 der früh gealterte, doc) mächtig anzufchauende Mann neben dem zarten, ein wenig gebückt gehenden jungen Menſchen allentyalben Auffehen erregt hatte) und an einer Edle, an der die beiden vorüber mußten, ein Kerl wie aus der Erde gewachjen plöglich neben ihnen hergefchlichen mar, verzichtete der Präfident darauf, ſich mit feinem Schügling öffentlich zu zeigen.

Seine Gefpräche mit Caſpar, jo geſchickt fie auch eine Beziehungslofigkeit bisweilen vortäufchen mochten, verfolgten natürlich einen ganz be ftimmten Zweck. Cafpar, der davon wenig merkte, teilte fich feinem hohen Gönner ohne Befangen- heit mit, und durch fein unfchuldiges Geplauder wurde Feuerbachs Herz oft jonderbar bewegt, fo daß er, dem Wort und Sprache in Fülle ge geben waren, fich nicht felten zum Schweigen ver- urteilt fand: Ya, er verlor an Sicherheit; „Caſpars Blick gleicht dem Glanz eines morgend» lich reinen Himmels, bevor die Sonne aufgeht,“ ſchrieb er an eine altvertraute Freundin, „und manchmal ift mir unter diefem Blick zumute, als hielte der raſend dahinftürmende Schiefalswagen um erften Male ftill; die ganze Vergangenheit Yet auf, erlittene Wilke und der Trug des Rechts, die Kränkungen des Neides und manche Tat, deren Früchte gen und efel am Wege liegen. Dazu kommt, dafs ich in betreff feiner unbekannten Herkunft auf einer Spur bin, die mich, ich fürchte ſehr, an den Rand eines verberblichen Abgrunds Fahrt, wo es gilt, ſich den Göttern zu vertrauen,

enn Menſchen werben dort keinem Geſetz mehr untertan fein." 11

Am lebten Tag der Anweſenheit Feuerbachs ige fih Cafpar eine Stunde vor Abend zum usgehen an, da der Präfident ihn zu fich bes ftellt hatte. Er trat ins Wohnzimmer, um zu jagen, daß er gehe, und fand Anna Daumer allein. Sie jap am Fenſter und las gerade das Büch- lein des Polizeirats Merker. Kaum daß Cafpar die Tür geöffnet, verſteckte fie das Heft raſch und erſchreckt unter der Schürze. „Was leſen Sie denn da und warum verbergen Sie e8 denn?“ fragte Caſpar lächelnd.

Anna errötete und ftotterte etwas. Darauf ſchaute fie mit feuchten Augen empor und fagte: „Ah, Cafpar, die Menfchen find doch gar zu ſchlecht.“

Er entgegnete nichts, ſondern lächelte noch immer. Das erſchien Anna auffallend, aber Cafpar dachte ſich meiter gar nichts dabei. Es war eine jeiner Seltfamkeiten, daß er fich nie entſchließen konnte, eine Frauensperjon ganz ernft zu nehmen; Frauenzimmer fönnen nichts als dafigen und ein wenig nähen oder ftriden, pflegte er zu fagen; fie eſſen und trinken unauf« hörlich und alles durcheinander und deswegen find fie immer frank; auf andre Weiber jchmähen fie und wenn fie dann mit ihnen beifammen find, tun e ſchön und lieb. Als er einmal in ſoicher Weife redete, beklagte fich Frau Daumer, doc er antwortete ihr: „Sie find fein Frauenzimmer, Sie find eine Mutter." Auch ereignete es ſich einft, daß er bei einem Barabenıg von Geil tänzern einem zu Pferd figenden Mädchen, deifen bunter Bug und Reitkunft feine Aufmerkſamkeit erwedt hatte, ein ‚paar Straßen weit folgte; darüber ärgerte er ſich nachher gewaltig, und er 112

meinte, nunffei ihm doch auch einmal gejchehen, was bei andern, wie er höre, zumeilen ber Fall fei, er fei einem Weibe nachgelaufen.

Er fagte, daß er zum Nachteffen wieder zu Haufe fein werde, aber Anna erwiderte, daß ſei wohl zu fpät, ihr Bruder habe davon gefprochen, daß er den Abend mit Cafpar bei ber Magiftrats- rätin Behold verbringen wollte; die Rätin habe ſchon einige Male darum gebeten, fie fei eine einflußreiche Perſon, und wenn Daumer fic nicht eine Feindin an ihr machen wolle, müffe er der Einladung folgen.

„Der Ser: Präfident geht vor," fagte Caſpar verdroffen und ging.

Es war mildes Wetter, der Schnee war längit verfchmunden, weiße Wolken zogen über die fo giebligen Dächer hin. Als Cafpar in das Zimmer trat, das der Präfident bewohnte, ſaß dieſer am Schreibtifch und blickte mit zurückgelehntem Körper düfter finnend ins Leere. Erſt nad) einer Weile wandte er jich zu Cafpar und redete ihn, aus feinem dunfeln Nachdenken heraus, ohne Be— geüßung an. „Ich kehre morgen nad, Ansbach zuruͤck, Cafpar, wie Sie ja willen," begann er und verdeckte die Augen mit der Hand; „Sie werden mich einige Wochen, ja vielleicht monate- lang nicht jehen. Ich möchte hie und da von Ihnen Nachricht haben, von Ihnen ſelbſt, will Sie aber nicht auffordern, mir regelmäßi Schreiben, damit Ihnen nicht eine ungern erfüllte Pflicht daraus erwachſe. Nun dachte ich mir, "Ihnen eine Gelegenheit zur Mitteilung zu geben, bei der Sie mehr auf fich felbft als an andre gewieſen find. Sie follen nicht zur Rechenſchaft befohlen fein, aber was Sie einem Freund oder

Baffermann, Caſpar Haufer 8 118

jagen wir Ihrer Mutter vertrauen würden, follen Sie hier bewahren.”

Damit reichte er Cafpar ein in blauen Pappen⸗ deckel gebundenes Schreibheft. Caſpar ergriff. es mechanisch und las auf einem weißen heraförmigen Schildchen: Tagebuch Stundenbuch für Caſpar Hauſer. Er ſchlug es auf und gewahrte, auf der erſten Seite eingeklebt, das Bild Feuerbachs und darunter, von der. Hand des Präfidenten gefchrieben, die Worte: Wer die Stunde liebt, der liebt Gott; der Lafterhafte entflieht fich ſelbſt.

Caſpar ſchaute den Präfidenten mit großen Augen ängftlih an. Er wiederholte & fi im ftillen, mit fichtbarer Bewegung der Li , die gefchriebenen Worte und dann, was der Präfident zu ihm gejagt; alles verfloß im Nebel und, des feierlichen Tones halber, in eine Ahnung von

X.

Es pochte an der Tür und auf das Herein des Präfidenten brachte ein Eilbote einen Brief. Raum hatte Feuerbach, ohne das Schreiben zu öffnen, einen Blick auf das Siegel geworfen, als er die Handglode läutete und dem eintretenden Diener den Befehl gab, es folle ſogleich angefpannt werden. „Ich muß noch diefen Abend reifen," fagte er zu Gafpar.

In unbeftimmten Laufchen und Warten blieb Caſpar ftehen. Der Poftillon im Hof knallte mit der Peitſche. Ein Hauch der Ferne ummehte Caſpar, ex fpürte plößlich etwas von der Größe der Welt, und die Wollen am Himmel ſchienen Arme her- unterzuſtrecken, um ihn emporzuheben. Als ihm der Präfident die Hand zum Abfchied reichte, bat er fchmeichelnd, mit verlangendem Lächeln: „Möcht' aud mitfahren."

114

„Wie, Cafpar!" rief der Präfident in ges fpielter Weberrafhung, und plößlich wieder das frühere Du der Anrede wählend, „willft du denn fort von den Nürnbergern? Haft du denn ver- sehen, was du deinem gütigen Pflegevater ſchuldig

ft? Was würde Here Daumer fagen, wenn du ihn fo undankbar zeriepeft und viele andre wackere Männer, die ſich deiner angenommen haben? Es erftaunt mich, Caſpar. Bift du denn nicht gern hier?"

Caſpar ſchwieg und fenkte die Augen. Hier ift immer dasfelbe, dachte er. Er fehnte ſich fort; ex dachte, einmal könne man fortgehen, man könnte in der Nacht das Tor öffnen und könnte gehen, ohne den Weg zu wiſſen. Vielleicht Täme dann einer, um zu fragen: wohin, Gafpar? Und er führte ihn zu einem Schloß, vor dem viel Volks verfammelt ift; drinnen ruft eine Stimme Caſpars Namen, die Seute machen Platz und viele Arme deuten auf da8 Tor, dem er zufchreitet.

„Sprich!“ mahnte dev Präfivent barſch.

„Ste find alle gut mit mir," flüfterte Caſpar mit zudenden Lippen.

„Nun aljo!"

Es ift nur —"

"Was? Was ift —? Heraus mit ber Sprache!“

Caſpar ſchlug langſam die Augen auf, machte mit dem Arm eine weite Gefte, als wolle ex den ganzen Erdkreis in das Wort einbeziehen und jagte: „Die Mutter."

Feuerbach wandte ſich weg, ging zum Fenfter und blieb ſchweigend jtehen.

Eine Viertelftunde fpäter jhritt Cafpar durch die engen Gafjen beim Rathaus und kam als-

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bald auf den menfchenverlafjenen Egydienplatz. Es war fchon_ dunkel geworben, vor der Kirche brannte eine Dellaterne, und während er nad) lints abbog, wo das niedere Buſchwerk einer Gartenanlage den Platz gegen die gaufergaffe ſchloß, gewahrte er einen ruhig ſtehenden Mann, der gebeugten Kopfes nach tom herſah. Cafpar ging ein wenig langjamer, plötzlich ſah er, daß der Mann den Arm erhob und mit dem Finger winkte.

Gafpars Herz Hopfte Iaut. Irgend etwas zwang ihn, der jtummen Aufforderung des Un- befannten zu folgen. Der Mann fuhr fort, mit dem Finger zu winken, und wie hingezogen tat Caſpar ein paar Schritte auf ihn zu. Da ging der Mann tiefer in das Gehölz, hörte aber nicht auf zu winken. Caſpar konnte fein Geficht nicht jehen, das unter dem weit in die Stirn gedrüdten Hut verſteckt war.

Er folgte dem Menſchen, obwohl alle Fibern ſeines Leibes widerſtrebten, mit Grauen fühlte er fich Schritt um Schritt gezogen, feine Augen waren aufgerifjen, Staunen und Schreden lagen in feinem Geliht, und die Hände hielt er mit gefpreizten Fingern von fich geftredt.

Schon war er dem Unbelannten fo nahe, daß er deſſen gelbe Zähne zwiſchen den Lippen ſchimmern ſah, und wer weiß, was gejchehen wäre, wenn fich nicht in diefem Augenblid auf der andern Seite des Gebüfches ein Trupp be trunfener junger Leute hätte hören lafjen; der fremde Mann ftieß einen gurrenden Laut aus, büctte fich vafch und war unter dem Schub des Laubwerks im Nu verſchwunden.

Auch Cafpar kehrte um und rannte gegen die Kirche; er Tief geradesweg3 mitten in die Schar 116

der Lärmmacher hinein, die ihn aufzuhalten fuchten, und fo vermifchte fich ein Schreden mit dem andern. Nur mit Mühe riß er fich los, einige folgten ihm jchreiend, er verboppelte feine Eile, der Hut fiel ihm vom Kopf, er ließ ihn liegen, rannte, fo ſchnell er fonnte, durch die Judengaſſe und weiter und gu exft wieder langjamer, als er ſich auf der Brüde zur Infel Schütt befand.

Daumer war ſchon unruhig geworden und wartete vor dem Haustor. Betroffen hörte er Caſpars haftigen und unklaren Bericht an, und nach einiger Ueberlegung meinte er, er glaube nicht recht an das Abenteuer; „da hat dir wohl deine allweil erregte Phantafie einen törichten Streich gefpielt,“ fagte er ungewöhnlich ftreng. „Nein, es ift wirklich wahr," beteuerte Cafpar. Dann klagte er, daß er den Hut verloren habe, und fchließlich zeigte er, auf einmal ganz heiter geworden, das Heft, das ihm der Präfident ge ſchenkt und daS erwährend der ganzen Beit frampf- haft in der Hand feitgehalten hatte.

Berftreut befah e3 Daumer. „Hat dir Anna nicht gejagt, daß wir zur Magiftratsrätin gehen ?“ fragte er mißgelaunt. „Es iſt höchſte Zeit; mach flink und zieh dir den Sonntagsrod an.“

Caſpar fchaute ihn mit fchrägem Blid von unten an und ging zögernd ins Haus. Daumer, der fchon im Goefellichaftsfleid war, wandelte zweimal bis zum Pegnigufer und wieder zurüd; eine halbe Stunde verfloß und Caſpars langes Ausbleiben machte ihn endlich ungeduldig. Er eilte die Stiege hinan und betrat Caſpars Zim— mer, wo eine Kerze brannte. Zu feinem Aerger nahm er wahr, daß Cafpar angefleivet auf dem Bette lag und jchlief. Er rüttelte ihn an der

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Schulter, ließ aber plötzlich ab, durchmaß ein paar- mal das Bimmer, ohne feines Mibmuts Herr zu werden, dann ftieß er zornig hervor: „Ach was, fol die Neugier der guten Leute um ihren Schmaus betrogen werden!"

Durch den finftern Flur ſchritt er ins Gemach der Schweiter, die vor dem Klavier jaß und fpielte, Er Tegte ihr den Fall vor und Anna gab ihm ohne weiteres recht, daß er Cafpar zu Haufe laffe. „Dann muß jemand zur Rätin und unfer Ausbleiben entjchuldigen,“ fagte Daumer in einem Ton, al3 ob das Verſäumnis fonft fchlecht aus- nr legt werben könne und er Unannehmlichkeiten

u befürchten habe. Anna erwiberte, die Magd * nicht da, und nach einigem Beſinnen erklärte ſie 1) bereit, den Gang felbft zu tun.

Als fie fort war, Pte fi) Daumer zu den Büchern, rüdte die Sampe zurecht und lad. Doch er hatte ein fchlechtes Gewiſſen und fuhr bei jedem Laut zufammen. Nach einer geraumen Weile hörte er Schritte; Anna trat hinter feinen

Stuhl und ſagte Yaftig, die Magijtratscätin fei.

mitgelommen, um Caſpar zu holen. Daumer fprang auf; „Daß heiße ich den Spaß zu weit etrieben,“ murmelte er entrüftet. Anna legte ihm die Sand auf den Mund, denn ſchon ftand die Rätin in der Türe; reich gefchmückt, im Geiden- mantel, ein Toftbares Spihentuch um den Kopf.

Sie war eine nicht mehr ganz junge, aber ſehr ftattliche Frau, „ungemäßnti groß gewachſen, mit ungewöhnlich Hleinem Kopf. In ihrem Be- tragen vermifchte ſich das Modiſch-Franzöſiſche und das Nürnbergerifch- Provinzliche auf eine nicht immer gan einwandfreie Weije, und mo jenes zur Geltung fommen follte, gudte dieſes 118

wie der Zipfel eines fchlechtverborgenen Armeleut- gewands unter einer brofatenen Tunika hervor.

Sie raufchte auf Daumer zu, majeftätifch wie eine ſchaumige Woge, und ber gute Dann, nieber- gejchmettert von jo viel Glanz, vergaß feinen Groll und führte die bargereichte Hand der Dame an feine Lippen. „Muß ich jelbit Sie an Ihr Verſprechen erinnern?" rief fie mit einer fonoren, Träftigen Stimme. „Was foll’3 bedeuten, Pro- ſeſſor? Was ift vorgefalen? Weshalb die Ab- jage? Sie jehen, ich verlaffe meine Gäfte, um ein Wort einzulöfen, das Ihnen zu brechen jo leicht wird. Keine Ausflucht, lieber Daumer, Caſpar muß mit, wo ift ev?"

„Er ſchläft,“ erwiderte Daumer zaghaft.

„Nom de Dieu! Er ſchläft! Daß dich das Mäusle beißt! So wird man ihn halt wecken. Marſch, marjch, voran!"

Daumer hatte nicht den Mut, zu widerfprechen, dies zupackende Gebaren beraubte ihn der gegen- ftändlihen Gründe Er nahm die Lampe und jchritt voraus. Anna, die zurüchlieb, räufperte ſich empört, dies beirrte aber Frau Behold feines- Ze als Antwort zuckte fie nur verächtlich die

ein.

Daumer ſtand ſo verſonnen an Caſpars Lager, daß er die Lampe wegzuſtellen vergaß. er Tat mochte es ſchwerlich etwas Schöneres zu fehen geben als den Engelsfrieden und die rofenhafte Heiterkeit, Die au dem Geficht des Schläfers leuchteten. Frau Behold fatug unmilltürlich die en zufammen, und darin lag Wahrheit und

e

„Beftehen Sie noch darauf, ihn zu medten ?" fragte Daumer richterlih. „Der Schlaf ift heilig. 119

Die feligen, Geifter werden fliehen, fobald unfre Hand ihn berührt.“

Frau Behold klappte die Lider auf und zu, als wolle fie das bißchen Rührung davonjagen, wie man liegen mit einem Wedel vertreibt. „Schön fpottete ſie, und ihre Stimme Ira wie das Nädchen einer Spindel. „Aber

ich beftehe auf meinem Schein. Ich will dem Yuben was dafür fchenken, und was die feligen Geiſter betrifft, die kommen wieder, zum Schlafen gibt's Nächte genug.”

Während Daumer den Schlafenden bei den Schultern emporhob und durch zärtliches Zureden mehr ſich ſelbſt als Caſpar zu beichwichtigen fchien, zeigte fich in dem Heinen Geſicht der Frau Behold eine wunder! liche Erregung. Sie blinzelte mit den Augen, ihre Unterlippe wurde ſchlaff und entblößte eine fehmale, feite Zahnreihe wie bei einem Nagetier. „Pauvre diable,* murmelte fie, „armes Herzle," und erfaßte Caſpars Hand.

Davon erwachte Caſpar völlig, befreite die Hand mit einem Ruck umd fehüttelte fich. Sein teunken-müder Blick fragte, was man mit ihm vorhabe, Daumer erflärte e3, fchenkte Waſſer in ein Gla3 und gs es ihm zu trinken, nahm den Sonntagsrod‘, der ſchon bereitlag, und hielt ihn zum Anziehen bin.

Caſpar heftete den verdunfelten Blick auf Frau Fam und fagte trogig: „Sch will nicht zu der

au.“

„Wie, Caſpar?“ rief Daumer erftaunt und verlegt. Zum erftenmal vernahm er dies „ich will nicht", zum erjtenmal ftand Caſpars Wille gegen ihn auf. Cafpar war felber erſchrocken, jein Blick war ſchon wieder gefügig, als Daumer 120

mit ernfbaftem Ton fortfuhr: „Ich aber will es. Ich will aud, daß du die Dame um Verzeihung bitteft. Es gebt nicht an, daß du eine Laune über dich Herr werden täßt. Wenn wir und der Nuüdfichten gegen die Menſchen entbinden würden, ſtunden wir alle ſo hilflos da wie du am erſten Tag.

pie niedergefchlagenen Augen tat Cafpar, was ihm befohlen worden. Frau Behold nahm den ganzen Auftritt nicht ſchwer. Sie tätfchelte Caſpars Wange und fand den Profeffor Daumer ziemlich komiſch.

Eine halbe Stunde fpäter waren fie in den feftlich erleuchteten Zimmern der Rätin. Caſpar, von Menſchen umdrängt, mußte die gewöhnliche Zlut der Fragen über fich ergehen lafjen. Frau Behold wich nicht von feiner Seite, fie lachte beinahe zu allem, was er fagte, und er wurde allmählich verwirrt und unruhig, empfand Angjt vor den Worten; es fchien ihm gefährlih, zu fprechen, e3 war, al3 ob alle Worte zweifach vor- handen wären, einmal offenbar, da8 andre Mal verhüllt, und fo wie die Worte hatten auch die Menfchen etwas Zwiefaches, und unwillkürlich ſuchten feine Blicke in ein und derjelben Perfon die zweite, die lauernd Hinterherging und ver- führerifch mit dem Finger winkte.

Es war ihm unverftändlid, was fie von ihm wollten, ihre Kleidung, ihre Gebärden, ihr Niden, ihr Lächeln, ihr VBeifammenfein, alles war ihm unverftändlich, und auch er felbft, er felbft fing an, fich unverftändlich zu werden.

Indeſſen verlebte Daumer eine böfe Stunde, Frau Behold, die ftolz darauf war, ihr Haus zum Sammelort vornehmer Fremden zu machen,

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hatte heute einen Heren zu Gaſt, der, wie man fich erzählte, unter faljchem Namen reifte, da er in wichtiger diplomatifcher Mifftion nad) einer Nefidenz im Often des Landes unterwegs jei. Man raunte ſich auch zu, daß der hohe Fremde großes Intereſſe an dem Findling Haufer nehme und daß er vielen einflußreichen Perfonen gegen- über fich abfällig und tadelnd über die unfinnigen Gerüchte geäußert habe, die Caſpars Herkunft zum Gegenftand hatten. Und man muß geftehen, daß die einflußreichen Perfonen fich dem Gewicht einer ſolchen Meinung nicht verfchloffen, aber das Treiben de3 vornehmen Herrn gab auch Anlaß zu mancherlei Verdacht, und der Redakteur Pfifterle, Querulant wie immer, behauptete fogar, der diplomatifche Herr fei nach feiner Anficht nichts andre al3 ein verfappter Spion.

Wie dem auch war, von all diefen Neuig- keiten hatte Daumer in feiner Weltverlorenheit nichts erfahren. Der Fremde gefellte ſich nach kurzer Weile zu ihm, und fie kamen ins Geſpräch, wobei es jener leicht anzuftellen wußte, daß fie fi von den übrigen Gäften abfonderten. Dau- mer, eingeſchüchtert durch die Manieren, die delis Tate Zmanglofigfeit des hohen Herrn, defien Rod- bruft voller Orden hing, mußte zuerjt faum etwas zu jagen, antwortete bloß wie ein Schüler mit nein und ja. Allmählich gab er fic freier und erzählte feinem Zuhörer vieles von Caſpar, kam auf defjen furchtfames Wefen zu fprechen und ſchilderie wie zur Erläuterung das Benehmen des Yünglings‘, als er heute abend, vor einem ein jebildeten, ohne Bmeifel eingebildeten, Verfolger üchtend nach Haufe gefommen mar.

Der Fremde hörte aufmerkfam zu. „Vielleicht 122

bat er _fich aber gar nicht getäufcht," entgegnete er vorfichtigen Tons, „ed mag na Da mancherlei in der Verborgenheit abfpielen. Meines Wiſſens haben ja aud Sie, lieber Profefjor, vor längerer ‚Zeit eine Art von Warnung erhalten. Sie dürfen fih daher nicht wundern, wenn aus gemifjen Drohungen Ernft wird.“

Daumer ftußte, doch der Fremde fuhr mit Hiebenswürdiger Offenheit, fcheinbar harmlos plaudernd, fort: „Sie follten fih an den Ge danken gewöhnen, daß da Mächte im Spiel find, die vor nicht zurückſchrecken, um ihre Maßregeln mit Nachdruck durchzuführen. Das unruhige Ge muntel wird vielleicht als ftörend empfunden, vielleicht hat man etwas auf dem Kerbholz und möchte die Deffentlichkeit vermeiden. Vorläufig mag es der Gewalt, die da im Hintergrund ift, darum zu tun fein, die Dinge möglichft in Ver— borgenheit abzumachen, aber fie könnte wohl auch offenes Spiel treiben, fie könnte der Polizei und den Gerichten mit Gemütsruhe die Hände binden. Einftweilen begnügt man ſich aber, die Fäden binter den Kuliffen zu ziehen."

Bon neuem ſtutzte Daumer; die Worte feines Gegenüber fchienen einen genauen Bezug zu haben; doch der Fremde ließ ihm feine Zeit zu Überlegen, er fuhr mit heller Stimme, faft vertraulichen Tone fort: „Ich glaube vor allem, daß man die Verbreitung all des hirnlofen Geſchwätzes durch das bequeme und naheliegende Mittel der Druckſchrift fürchtet und ahnden wird. Man demaskiert ſich dort oben ungern, noch weniger will man von andern demasfiert werden, man liebt es nicht auf den Markt zu treten, noch feine privaten Angelegenheiten da ausgeboten zu ſehen;

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das ift begreiflich. Der Staatsbürger hat Frei⸗ heiten genug; in feinem Bereich mag er fich tum- meln, nach oben joll ex fich gebunden finden.”

Was war das? Daumer meinte zu verftehen, worauf es hinauswollte; er bejchloß, dem dunkeln Befehl zu gehorchen; war doch dem Zwang ſchon feine eigne Freiwilligkeit zuvorgefommen.

„Ich möchte mir eine Frage erlauben, ver- ehrter Profefjor," begann der Fremde wieder; „Sind Sie wirklich überzeugt, daß der hergelaufene Rnabe, an dem ich auf meine Art, ich will es nicht Teugnen, ein gewiſſes äußeres Intereſſe nehme, die ununterbrochene Aufmerkſamkeit ernſt⸗ after Männer verdient und rechtfertigt? Lohnt e3 fich denn, die ganze Welt mit feiner zweifel⸗ haften Sache zu beichäftigen? Was bleibt für die großen Angelegenheiten ber Nation, der Wiſſenſchaft, der Kunft, der Religion, de3 Lebens überhaupt, wenn ein Mann wie Sie die beften Geifteskräfte an ein empfindfames Naturfpiel ver⸗ ſchwendet? ManrühmtdieaußergemöhnlichenGaben des Findlings. Ich bemühe mich umfonft, folche Gaben zu entdeden; ich bin kühn genug, zu be haupten, Mr ich damit nur an Ihre eigne Un- gewißheit rühre. Laſſen wir noch ein wenig Beit vergehen und wir werden über diefen Punkt eine betrübende Sicherheit gewinnen. innerhalb der menfchlichen Gefellichaft gibt es Hunderttaufende von Weſen, die, mit ebenfogroßen oder noch größeren Eigenfchaften geboren, gleichwohl einem ungleich elenderen Los verfallen find. Die wahr⸗ hafte Tugend müßte fich auch für fie entflammen, denn in der “dee darf dem Erbarmen mit der menfchlichen Not feine Grenze gefegt fein. Aber wo endete der Mann, der fein Herz nach allen 124

Seiten hin zerriffe und in Fetzen austeilte? Er ftünde leer da an dem Tage, wo ein würdiger Gegenstand ein würdiges Opfer von ihm forderte. Denken Sie fih von Caſpars Lebensalter ein Dusend Jahre hinweg und das vermeintliche Wunder ift enthüllt bi8 auf den Grund und hat Ihnen nichts mehr zu geben als die beſchämeude Selbftverftändlichleit einer natürlichen Tatſache. Beftenfall3 bleibt ein Kuriofum, mit welhem man ein Tifchgefpräh würzen kann. Ein Kuriofum und das bißchen Geheimnis, das allen unreifen Köpfen jo aufregend dünft." iderjpruch und Abwehr malten fich in Dau- mers Zügen; fein umherſchweifender Blick fuchtenach Caſpar, aber alles, was er zu jagen wußte, war: „Nicht durch Worte kann die Seele für ſich zeugen." Der Fremde lächelte bitter. „Die Seele! die Seele!" erwiderte er ſpöttiſch. „Sie kann nicht durch Worte zeugen, denn fie ift nur ein Wort wie jedes andre. Das Auge ſchaut, der Finger fpürt, jedes Härchen lebt auf eigne Weife, das Blut durchſpritzt die Adern, jeder Sinn macht den Raum lebendig, den Tod fühlbar, was ziert ihr euch da und wollt ein Bejonderes haben und ſprecht von Geele, als ſei die Seele wie ein Schmudjtüd, das eine eitle Frau im Käftchen verſchließt und gelegentlich an ihren Buſen fteckt, um beim Ball damit zu glänzen! Jeder ift im allgemeinen ausgeteilt und jein Zuſchuß von Kräften ift Fein Privileg, fondern nur eine Hoff- nung Oder dürfte der Adler die Seele für ſich in Befchlag nehmen, weil er beffer zu fliegen vermag al3 die Gans? Die Seele! Ihr Herren beleidigt den Schöpfer damit, ob ihr fie leugnet oder ob ihr Bücher jchreibt, um fie zu beweiſen.“

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Es entftand ein Schweigen. Er fpricht wie ein Satan, dachte Daumer, und als er fich an- ſchickte zu antworten, kam ihm der Fremde mit höftiher Eindringlichkeit zuvor. „Ich weiß, Sie ſieben Caſpar,“ jagte er mit veränderter Stimme, ernft und herzlih, „Sie lieben ihn brüderlich, und nicht Mitleid nährt diefen Trieb, fondern die ſchöne Begierde, die ſtets den Gott in der Bruft des andern fucht und nur im Ebenbild fich ſelbſt erkennen will. Aber Sie möchten eine Ausrede haben für Ihre Liebe, das ift es. Muß ich Ihnen jagen, daß es feine tieferen Wunden gibt als die Enttäufchungen aus ſolchem Zwiefpalt?

rate Ihnen, fliehen Sie den Anblid und die Geſellſchaft deffen, der Ihnen nicht3 mehr zu bieten hat al3 Enttäufhung."

„Alſo find wir denn zu ſchwach, dem Er- Tebnis gegenüber jo zu bleiben wie wir zu fein glaubten, indem wir es erfehnten!“ rief Daumer verzweifelt.

Der Fremde verzog fein faltig-altes Geficht zu einer Grimaffe des Bedauerns. Eine leichte Gebärbe verriet, daß das Geſpräch für ihn er- ſchöpft fei, und fie mifchten ſich wieder unter die übrigen Gäfte. Daumer, völlig aus der Faffung gebracht, wünfchte nichts weiter, al3 den lärmen- den Kreis zu verlafien. Er fuchte Caſpar und bemerkte ihn, blaß und ſchweigſain, mitten unter hillernden Noben und grauen und braunen

räden; Frau Behold ſaß auf einem niedrig en chemel faft zu feinen Füßen, und ihr Seit ſah hart und düfter aus,

Der Abfchied war umftändlich. Als fie auf den vereinfamten Gaſſen jchweigend ein Stüd Wegs zurückgelegt hatten, ſchlang Daumer den 126

Arm; um Cafpars- Schulter und fagte: „Ach, Cafpar, Cafpar!" Es klang wie eine Beſchwörung.

par, den es nad) elehrung dürftete umi defien Herz zum Meberfließen voll von Fragen war, feufzte auf und lächelte feinem Lehrer in wigdererwachtem Vertrauen zu. Sei e8 num, daß Blick und Lächeln Daumer an einer Stelle feines Innern trafen, mo er fich unficher und ſchuldig fühlte, fei es, daß die Nacht, die Einſamkeit, die quälenden Zweifel, das wunderliche Geſpräch, das er eben geführt, feinen Geift zu übertriebener Inbrunft tgänbeten, ex blieb ftehen, umarmte Caſpar noch fefter und rief mit emporgemanbten Augen: „Menſch, o Menſch!“

Das Wort ging Caſpar duch Mark und

. Ihm war, als eröffne fich aim auf ein⸗ mal, was dies zu bedeuten habe: Menſch! Er ſah ein Gefchöpf, tief unten verftrictt und an- jefettet, von tief unten hinaufſchauend, kenb ſich Kan fremd dem andern, dem es das Wort Menſch zuſchrie und der ihm nichts antworten fonnte als eben Biefen. inhaltsvollen Auf: Men!

Sein Ohr hielt den Klang feit, der durch die Ergriffenheit Daumers etwas Weihevolles für ihn befommen hatte. Am andern Mor; en nahm er jein Tagebuch zur Hand, und erfte Eintragung, die er darin machte, waren die drei Worte: Menfch, o Menſch für jeden andern natürlich eine finnlofe Hieroglgphe, für ihn aber ein deutung3voller Hinweis, ein ent- ſchleiertes Geheimnis beinahe, ein Wahl und Zauberfpruch zur Abmendung von Gefahren. Es entiprady feinem Tindifchen Weſen, daß er von derjelben Stunde ab das Tagebuch als eine Art von Heiligtum betrachtete, welches nur in

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Zeiten der Andacht und Sammlung zugänglich war, und in einer jener fehnfüchtigen und angſt⸗ voll traurigen Stimmungen, die ihn häufig be fielen, faßte er den fonderbaren und folgen» ſchweren Entfhluß, daß fein andrer Menfch außer jeiner Mutter jemals Einblict in diejes Heft er- langen, jemals leſen jollte, was er darin aufs ſchreiben würde. Solche Vorſätze ftarrfinnig zu halten, dazu war er durchaus imftande.

ALS wenige Tage nachher die Pringeffinnen von Kurland in Daumerd Haus kamen, die mit Feuerbach befreundet waren und große Teilnahme für Cafpar hegten, kam zufälligerweife die Rede auf das Gefchent, daS der Präſident feinem Schüß- ling gemacht, und da Daumer erzählte, es bes fände ſich in dem Büchlein ein fehr gutes Stahl- ftichporträt des Präfidenten, wünfchten die Damen das Heft gern zu fehen. Zu aller Erſtaunen weigerte ſich Gafpar, e3 zu zeigen. Daumer warf ihm erſchrocken jeine Unhöflichkeit vor, aber er blieb hartnäckig. Die Damen beftanden nicht weiter darauf, ja fie lenkten ſogar die Unterhaltung taktvoll in eine andre Richtung, aber als fie fort- gegangen waren, nahm Daumer den üngling ins Gebet und fragte ihn nach dem Grund feiner Weigerung. Cafpar ſchwieg. „Und würdeſt du auch mir, wenn ich es verlangte, das Heftchen vorenthalten?" fragte Daumer. Caſpar jah ihn geoß an und antwortete treuherzig: „Sie werden es gewiß nicht verlangen, bitte ſchön!“

Daumer war ehr betroffen und entfernte

ſich ſtill. Gegen Abend kam Ser: von Tucher, bat Daumer um eine Unterredung unter vier Augen, und als fie allein waren, jagte er ohne weitere

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Einleitung: „Ich muß Sie leider davon in Kennt- nis fegen, daß ich unfern Caſpar zweimal beim Zügen ertappt habe."

Daumer ſchiug ftumm die Hände zufammen. Das fehlte nur noch, dachte er.

Beim Lügen! Zweimal beim Lügen ertappt! €i du gütiger Himmel, wie war das zugegangen !

Die Sache verhielt fa fo: Am Sonntag fei er mit dem Bürgermeifter in Caſpars Zimmer jetreten, erzählte Herr von Tucher, und habe den füngling erjucht, ihn in feine Pehwung zu bes gleiten. Da habe Caſpar, der bei den Büchern gefefien, erwidert, er dürfe nicht, Daumer habe ihm verboten, das Haus zu verlafien. Dem Bürgermeifter fei da3 gleich bedenklich erſchienen, beſonders da ihn Gafpar kaum anzufehen gerast, er babe fih unauffällig bei Daumer erkundigt, wie diefer ſich wohl erinnern werde, und feinen Verdacht beftätigt gefunden. Am andern Tag jeien beide, Herr Binder und Herr von Tucher, während Daumer vom Haufe fortgemefen, zu Cafpar gefommen und hätten ihm feine Unmwahr- heit vorgehalten. Unter Erglühen und Erblafjen habe ex fein Vergehen zugeftanden, habe aber, wie ein gejcheuchter Safe in die Enge getrieben und ben erjten beiten Ausweg ergreifend, alberner- weiſe eine Gefchichte erfunden von einer Dame, die bei ihm gemejen umd die ihm ein Gejchent verfprochen, weshalb er auf fie gewartet habe.

„Auf unfer mehr beftürztes als ſtrenges Bu: reden befannte er fich auch diefer Unmahrheit ſchuldig.“ fuhr Herr von Tucher mit unerfchütter- lihem Ernſt fort. „Er gab zu, daß er nur in Ruhe Habe ftudieren wollen und daß ihm fein andıe8 Mittel eingefallen jei, um die läftigen

Baffermann, Gafpar Haufer 9 129

Störungen abzumenden. Inſtändig flehte er uns an, Ihnen nichts von feinem Fehltritt zu erzählen, er wolle e8 nie wieder tun. Sch hab’ mir’3 aber überlegt und bin zu dem Schluß gelangt, daß es beſſer ift, wenn Sie alles wiſſen. Es ift viel» leicht noch Zeit, um das böfe Lafter mit Erfolg zu befämpfen. Man kann ihm ja nicht ins Herz hauen, doch ich glaube noch immer an die Un— verdorbenheit ſeines Gemüts, wenngleich ich über⸗ zeugt bin, daß uns nur die äußerfte Wachjamteit und umerbittliche Maßnahmen vor gröberen Ent- täufhungen bewahren können."

Daumer ſah vollfommen vernichtet aus. „Und das von einem Menfchen, auf deſſen heiliges Wahrheitsgefühl ich ide geſchworen hätte,“ murmelte er, „Wenn Sie e3 nicht wären, der mir da8 erzählt, ich würde lachen. Noch vor einer Stunde hätte ich jeden für einen Schurken erachtet, der mir gejagt hätte, Cafpar fei einer Lüge fähig."

„Auch mir ift es nahgegangen,” verſetzte Herr von Tuer. „Aber wir müfjen Geduld haben. Sehen Sie zu, halten Sie die Augen offen, warten Sie auf den nächiten gegründeten Anlaß, dann greifen Sie ein, und zwar mit mwuchtiger Hand."

Eine Lüge; nein, zmei Lügen auf einmal! Der arme Daumer, er müßte fich feinen Rat. Er ging hin und überlegte. Herr von Tucher nimmt den ganzen Vorgang zu ſchwer, fagte er ſich; Herr von Tucher ift eine fehr gerechte Natur, aber ohne Bmeifel ein Mann mit vielen Vor— urteilen, die ihn dazu verführen, eine Lüge mit allen —— Zeichen der Uebeltat auszu- ftatten; Herr von Tucher kennt das tägliche Leben

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nicht, das unfereinen unterfcheiben lehrt zwifchen dem, mas fchlecht ift und was der Andrang ges bieterifcher Umftände auch dem Redlichſten ent- preßt. Aber was geht mich Herr von Tucher an, hier handelt e8 ſich um Caſpar. ch glaubte einft, von ihm fordern zu dürfen, was feiner fonft von feinem fordern darf. War es eine Ver— blendung, eine Anmaßung von mir? Wir wollen fehen; ich muß jegt herausbekommen, ob er fchon zu den Gewöhnlichen gehört oder ob fein Wille noch einer unhörbar rufenden Stimme zu ge horchen fähig ift. Hat fich fein Ohr jedem Geifter- hauch und {hal ſchon verſchloſſen, dann ift feine Züge eine Lüge wie jede andre, ann ich aber noch überfinnliche Kräfte des Verftehens in ihm weden, dann will ich die Philifter verachten, die immer gleich mit dem Bafel erjcheinen.

Es bedurfte einer fchlaflofen Nacht, um dem fonderbaren Plan Daumers, der eine Art Gotted- urteil in ſich fehließen follte, auf die Beine zu helfen. Die Weigerung Cafpars, fein Tagebuch) zu zeigen, gab den Anſtoß. Ich will ihn bewegen, mir aus eignem Trieb das Heft zu bringen, kalkulierte Daumer; ich will etwas wie eine metaphufifche Kommunikation zwifchen mir und ihm herſiellen; ich werde ihn, ohne ein Wort zu fprechen, mit meinem geiftigen Verlangen zu erfüllen teachten und werde eine Stunde feitjegen, innerhalb deren das nur Gewünfchte zu geichehen hat. Kann er folgen, fo ift alles gut; wenn nicht, dann ade, Wunderglaube, dann hat diefer bered⸗ fame Materialift recht gehabt, mir die Seele weg- zudisputieren.

Am Morgen, fo gegen neun Uhr, kam Anna zu ihrem Bruder und fagte, Cafpar gefalle ihr

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heute ganz unb gar nicht; ex fei ſchon um fünf aufgeftanden und es fei eine Unruhe in ihm, Die fie noch nie wahrgenommen; beim Frühſtück habe ex fortwährend ängftlih um fich herumgefchaut und feinen Biffen gegefjen.

Daumer lächelte. Sollte ex jett ſchon fpüren, was ich mit ihm vorhabe? dachte er, und feine Stimmung wurde mild und zuverfichtlich.

Ein ſchicklicher Vorwand, die Frauen aus dem Haus zu jchaffen, fand ſich ungezwungen;

au Daumer mußte ohnehin auf den Markt, inna wurde überredet, einige Befuche zu machen. Um elf Uhr machte fich Cafpar an feine Schul- arbeiten, Daumer ging ins Nebenzimmer, ließ aber die Tür offen. Er feste ſich, das Geficht gegen Caſpars Platz gerichtet, ein wenig hinter er Schwelle auf ein Stühlchen, und es giang ihm alsbald, mit erjtaunlicher Energie all feine

jebanfen auf das eine Ziel zu richten, auf dem einen Punkt zu fammeln. Im Haus war e8 jehr ftill, fein Laut ftörte daS wunderliche Beginnen.

Bleih und geipannt faß er aljo und be obachtete, daß Calpar häufig aufftand und zum Fenfter trat. Einmal öffnete er das Fenfter, das andre Mal ſchloß er es wieder. Dann begab er ſich zur Tür und fchien zu überlegen, ob er hinausgehen folle. Sein Auge war ohne Stetig- feit und fein Mund eigentümlich gramvoll ver- sogen, Aha, es rumort in ihm, frohlodte Daumer, und immer, wenn Caſpar ſich dem Schränfchen näherte, in dem das blaue Heft wahrjcheinlic lag, * unglückliche Magier vor Erwartung

erzklopfen.

Wie weit war Caſpar davon entfernt, auch nur zu ahnen, was in Daumer vorging! zu 132

ahnen, daß in diefer Stunde fein Geichid und Weſen vor ein Tribunal geftellt wurde!

Es war ihm ungeheuer bang heute. Es war ihm fo bang, daß er ein paarmal die ganz bes flimmte Vorftellung hatte, e8 würde ihm etwas

limmes zuftoßen. Ya, er hatte das unab» weisbare Gefühl, daß einer unterwegs fei, ber ihm etwas zuleide tun werde. Erſtickend lag die Luft im Raum, die Wolfen am Himmel blieben lauernd ftehen; wenn durch die Baumkronen vor dem Fenſter eine Schwalbe ſtrich, fah es aus, ala ob eine ſchwarze Hand pfeiljchnell aufs und niedertauche; das Deckengebälk bog fich niedriger, Fr Er Getäfel der Wand knackte es un-

jeimlich.

Cajpar ertrug e8 nicht mehr. Sein Blid ftach, eine fühlfchaurige Angft floß ihm durch die

jaare, die Bruft wurde eng, es trieb ihn hinaus, inaus ... Plöglich verließ er mit fliehenden Gebärden das Bimmer. Ruhig blieb Daumer joe und ftierte vor fi) hin wie einer, der aus dem Raufch erwacht. Worüber, ie Friſt war verftrichen. Er ſchämte fich ſowohl feiner Niederlage als auch feines vermeffenen Unter- fangens, denn er war ja ein gejcheiter Kopf und hatte Selbjtbefinnung genug, um bie fpielerifche Willkür defien, was er gewollt, ernüchtert zu empfinden. .

Trotzdem ergriff ihn eine finftere Gleichgültig⸗ feit. Der Hoffnungen zu gedenken, die ſich noch vor kurzem an den Namen Gafpar gefnüpft, ver» urfachte ihm einen fchalen Gejchmad auf der Zunge. Er faßte den unerjhütterlichen Vorſatz, fein Lesen wie ehedem dem Beruf, der Einfamfeit und den Studienzumidmen und die Kräfte des Geiftes

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nur dort zu opfern, wo im Frieden der Erkenntnis und des Forſchens jede Gabe fichtbar bezahlt wird.

Eine vermummte Perfon tritt auf

Caſpar war in den Garten gegangen. Er Tief über den feuchten Boden bis zum Zaun und ſchaute gegen den Fluß hinüber. Ein bleifarbener Dunft umtleidete die QTürmchen und ‚ineinander gejhobenen Dächer der Stadt, nur das bunte Dach der Lorenzerkicche glänzte hell, doch glich alles zufammen mehr einem Spiegelbild im Waffer als einer greifbaren Wirflichteit.

Cafpar fröftelte, und es war doch warm. Er wandte fi wieder gegen da8 Haus. Al er das Pförtchen geöffnet hatte, machte ihn der Teer daliegende Flur betroffen. Ein breiter Streifen Sonne, der über die Steinftiejen fam und zitternd die weißen Stufen der Wendeltreppe hinauflief, verftärkte den Eindruck der Verlafjenheit. Hinter einer Tür des Flurs, aus der Wohnung des Kandidaten Regulein, tönten Geigenklänge; ber Kandidat übte. Den einen Fuß ſchon auf der Treppe, blieb Cafpar ftehen und Laufchte.

Da! Da war es! Da kam er! Ein Schatten erft, dann_eine Geftalt, dann eine Stimme. Was fagte die Stimme, die tiefe Stimme?

Eine tiefe Stimme ſprach hinter ihm die Worte: „Cafpar, du mußt ſterben.“

Sterben? dachte Caſpar erftaunt, und feine Arme wurden fteif wie Hölzer.

\ jah einen Mann vor fich ftehen, der ein ſeidig⸗ſchwarzes, Ianghängendes, vom Zugwind 134

ein wenig geblähtes Tuch vor dem hatte. Er hatte braune Schuhe, braune Strümpfe und einen braunen Anzug. Ueber feinen Händen trug er Handſchuhe, und in feiner Rechten funfelte etwas Metallenes, funfelte fchnell und erloſch. Er flug Cafpar damit. Während Cafpar den gelähmten Bli nach oben zwang, fpürte er einen donnernden Schmerz im Hirn.

Auf einmal hörte der Kandidat Regulein auf, die Geige zu fpielen. Es erſchallten Schritte, die wieder verklangen, doch mochte der Bermummte ſtutzig geworden fein und die Furcht ihm ver- hindern, zum ‚zweitenmal auszuholen. Als Cafpar die Augen auftat, über die von der Mitte ber Stirn herunter eine brennende Näffe floß, war der Mann verſchwunden.

Ei, hätte er nur nicht Handſchuhe gehabt, unter taufend Händen wollte ich feine Hand er= kennen, dachte Cafpar, indem er zur Seite tor- felte. Un der Schmalfeite des Flurs fand er feinen Halt; er probierte die Stiege Himmen, aber ber Sonnenftreifen erfchien wie ein bindernder Strom Feuers. Er glitt nieder, umflammerte die Steinfäule und blieb eine halbe Minute lautlos figen, bis ihn die Angft padte, der Vermummte könne wieder zurückkommen. Mit aller Kraft hielt er das fliehende Bewußtſein noch feft, richtete fih auf, taumelte vorwärts und taftete ſich an der Wand entlang, als fuche er ein Loch, um fich zu, verfrjechen.

Als er bei der Kellertveppe war, gab die nur angelehnte Tür dem Druc feiner Hand nad, fo daß er faft hinuntergeftürzt wäre, Raum ſehend und ohne zu überlegen tappte er fo ſchnell wie möglich die finfteren Stufen hinunter, denn ſchon

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glaubte er den Vermummten hinter. fih. Als er im Keller war, fpriste Waffer von feinen Schritten auf; es war Regenwaſſer, das bei fchlechtem Wetter hier unten Pfüsen bildete. Endlich fand er einen trockenen Winkel; während er fich niederließ und fih, voller Furcht und Grauen, förmlich zu= fammentollte, hörte er noch von den Turmuhren zwölf ſchlagen, danach jah und fühlte er nichts mehr.

Um viertel eins kamen die Daumerfchen Frauen zurück. Anna, die im Flur vorangin: gewahrte die große Blutlache vor der Stiege un ſrie auf. Gleichzeitig kam der Kandidat Regu⸗ ein aus feiner Wohnung und meinte: „Na, was ift denn das für eine Beſcherung!“ Die alte Frau, die an nichts Schlimmes dachte, äußerte fi, wahrſcheinlich habe jemand Nafenbluten ges habt. Anna jedoch, mehr und mehr voll Ahnung, wies auf die blutigen Fingerabdrüde hin, die an der Mauer bis zur Kellertür ſichtbar waren. Sie frag hinauf, ihr erfter Gedanke war Caſpar, te fuchte ihn in allen Zimmern und ſagte zum Bruder: „Du, da unten ift alles voll Blut.“ Daumer erhob fich mit einem beflommenen Aus- ruf vom Schreibtifch und eilte hinaus.

Inzwiſchen war der Kandidat der Blutſpur bis in den Keller gefolgt. Mit heiferer Stimme chrie er von unten nach Licht und fügte gellend

inzu: „Da unten ift er, da liegt ber Haufer! Hilfe, Hilfe, ſchnell!“ "

Alle drei Daumers ftürzten in den Keller, Anna kam Teuchend wieder zurück, um die Kerze zu holen, die andern verfuchten, den verfauerten Körper Cafpars aufzurichten, und dann trugen fie ihn felbdritt hinauf. „Zum Arzt, zum Arzt!" kreiſchte Frau Daumer der entgegenrennenden 186

Anna zu, die das Licht ausblies, zu Boden warf und davonfprang.

As Cajpar endlich oben auf dem Bett lag, wuſchen fie das geftocdte Blut von feinem Ge— fiht, und es fam eine nicht unbedeutende Wunde inmitten der Stirn zum Lenghen Daumer lief mit gerungenen Händen im Zimmer auf und ab und ftöhnte fortwährend: „Das muß mir pafs fieren! Das muß in meinem Haus paffieren! Ich hab's ja gleich gefagt, ich hab’3 immer gewußt!"

Der Pla vor dem Haus war ſchon voller Menſchen, als Anna mit dem Arzt zurückkam. Im Flur ftanden einige Magiftrat3- und Polizeir leute. Ein wenig fpäter erſchien auch der Ge— richtsarzt; beide Doktoren verficherten, daß die Wunde ungefährlich fei, ob aber das Gemüt des Jünglings nicht eine bedenkliche Erſchütterung erlitten habe, ließen fie dahingeftellt.

Ein amtliches Protokoll konnte nicht auf

enommen werden, Caſpar war immer nur kurze

Seit bei Befinnung; er ftammelte dann ein paar Worte, die allerdings das, was mit ihm gefchehen war, wie unter Blißesleuchten erkennbar machten, ſprach von dem Vermummten, von feinen glän- zenden Stiefeln und gelben Handſchuhen, fiel aber danach in heftige Wahn- und Fieberdelirien. Bei der Befichtigung der Lofalität wurde der Weg entdedt, auf dem der Unbefannte ins Haus gedrungen war: unter der Stiege befand fich näm- lich gegen den Baumannfchen Garten ein eines Türchen, deſſen Vorlegejhloß zeriprengt war.

Die Vernehmung Daumers war fruchtloß, er ftand kaum Rede. Gegen Abend kam Herr von Tucher und teilte mit, daß man einen Eilboten an den Präfidenten Feuerbach abgefertigt habe.

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Das VBürgermeifteramt hatte fogleih um— faffende Nachforfchungen veranftaltet. An allen aupt- und NMebentoren der Stadt wurde die 1 zu erhöhter Aufmerkſamkeit verpflichtet; die Wirtshäufer und Herbergen, wo Leute ges meinen Schlags ſich aufzuhalten pflegten, wurden forsfättig durchſucht, auch wurden die Gen- jarmerie und die benachbarten Landgemeinden zu tätiger Vigilanz aufgefordert. An die Amtstafel des Rathauſes wurde eine öffentliche Belannt- machung angefchlagen, und zwei Aftuare und die halbe Polizeimannfchaft wurden mit der DVer- folgung des Frevlers betraut.

Die Untat gefhah an einem Montag; eine zu leitende Gerichtsverhandlung hinderte uͤnglück⸗ licherweife den Präfidenten, foort nad Nürnberg zu kommen, erſt am Donnerstag traf er mit Extrapoft in der Stadt ein und begab fich un- verzüglih auf Rathaus. Er ließ ſich vom Magijtratsvorjtand über die polizeilichen Maß- regeln und deren Ergebniffe Bericht erſtatten, zeigte fich aber mit allem fo unzufrieden und ges riet über eine Reihe von Mißgriffen in folchen Born, daß die ganze Beamtenjchaft den Kopf verlor. Ueber die vom Aktuar ihm vorgelegten Protokolle und Zeugenausfagen machte er jar- Taftifche Bemerkungen; da war eine Hallwächters⸗ frau, melde am Schießgraben beim Hauptipital einen wohlgefleideten Herrn geieben hatte, der fih in einer Feuerkufe die Hände wuſch; da war ein Debftnerweib, die in Sankt Johannis einem Fremden begegnet war, welcher fich bei ihr er- Tundigt hatte, wer am Tiergärtner Tor Erami- nator fei und ob man, ohne angehalten zu werden, in die Stadt gelangen könne; da waren

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verbächtige Handwerksburſchen und unterftandaloje Strolche verhaftet worden; da hatte man zwei Kerle beobachtet, den einen im hellen Schalt, den andern im dunfeln Frad, die auf der Fleifch- brüde zufammengetommen waren und einander ‚Zeichen gegeben hatten.

„Bu fpät, zu fpät," knirſchte der Präfident. „Warum hat man nicht die Namenslifte der zus und abgereiften Fremden in den Gafthöfen Ton teolliert ?" fuhr er den zitternden Altuar an.

„Die Spuren laufen nach vielen Richtungen," bemerkte fchüchtern der —B—

„Gewiß, die Unfähigkeit hat viele Wege," antwortete der Präfident beißend, und mit Bes deutung ‚fügte er hinzu: „Hören Sie, Mann Gottes! Der Webeltäter, auf den wir da fahn- den, wäſcht feine Hände nicht auf offener Straße, er läßt fich mit feinem Debftnerweib in Gefpräche ein und braucht feinen Eraminator zu fürchten. Zu niedrig habt ihr gegriffen, viel zu niedrig."

Er nahm einen Schreiber mit, um den Lokal⸗ augenfchein im Daumerfchen Haus nochmals ſelbſt vorzunehmen. Der Magiftratsrat Behold be» gleitete ihn und ward ihm durch mannigfaches Reden läftig; unter anderm äußerte Behold, er babe gehört, Profefjor Daumer wolle Cajpar richt länger behalten, und machte ſich erbötig, dem Jüngling in feinem Haus Obdach zu ge währen. Feuerbach hielt dies für leeres Ge- ſchwätz und entlebigte fich des Mannes, indem er ihn mit einem Auftcag zu Heren von Tucher ſchickte.

Aber als er dann mit Daumer fprach, erregte deſſen Zerfahrenheit fein Befremden. Um ihn nicht nod) mehr zu verwirren, legte Feuerbach das DVerhör mit ihm fo an, daß e3 mehr einer

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freundfchaftlichen Unterhaltung glich. Daumer erinnerte ſich der geheimnisvollen Begegnung, die Caſpar vor der Egydienkicche gehabt hatte, und rücte damit heraus.

„Und davon erfährt man jebt exit?“ braufte der Präfident auf. „Und hatte die Sache feine unmittelbaren Folgen? Haben Sie nachher nichts Verdãchtiges beobachtet?"

„Nein,“ ftotterte. Daumer, in Furcht geſetzt dur) den ftählern durchdringenden Blick des Präfidenten. „Das heißt, eines fällt mir noch ein: ich traf am felben Abend bei Frau Behold einen Herrn, der ſich mir gegenüber in ganz feltfamen Andeutungen oder Warnungen gefiel, wie man e3 auffafjen foll, weiß ich nicht.”

„Was war der Mann? Wie hieß er?"

„Man fagte, es fei ein zugereifter Diplomat, des Namens entfinne ich mich nicht. Oder doc), jawohl: Herr von Schlotheim-Lavancourt; er fol ſich aber unter falſchem Namen bier aufgehalten haben.” -

„Wie jah er aus?"

„Did, groß, ein wenig podennarbig, ein hoher Fünfziger.”

„Schildern Sie mir das Geſpräch mit ihm."

Daumer u fo gut er es vermochte, den Inhalt der Unterredung. Feuerbach verjant in langes Nachdenken, dann jchrieb er einige Notizen in Fin Taſchenbuch. „Lafjen Sie uns zu Caſpar gehen," jagte er, ſich erhebend.

Cafpars Stirn mar noch verbunden; das Gefiht war beinahe jo weiß wie das Tuch; auch das Lächeln, womit er den Präfidenten empfing, war geihem weiß. Er hatte bereit8 drei oder vier Verhöre überftanden; ſchon beim erften hatte er alles Erzählenswerte erzählt; das hielt den 140

guten Amtsſchimmel nicht ab, ımmer wieder von neuem anzutraben, man fragte die Kreuz und Quer, um das Opfer auf einem Widerſpruch zu erwiſchen mit Widerſprüchen kann man arbeiten, wenn einer jedesmal dasſelbe ſagt, wird die Ge ſchichte ausſichtslos. Der Präfident unterließ das Fragen; er fand einen veränderten Denon in Cafpar; es war etwas Bellommenes an ihm, fein Blick war weniger frei, nicht mebt fo tiefftrahlend und feltfam ahnung3los, näher an die Dinge gefettet.

Während die Frauen fi) über Caſpars Be- finden befriedigt äußerten, fam auch der Arzt und beftätigte gern, daß von irgendwelcher Ge- fahr feine Rede mehr fein Tönne In einem Ton, der mehr Befehl als Wunſch enthielt, fagte der Präfident, er hoffe, daß in diefen Tagen fremde Befucher ohne Ausnahme abgewieſen würden. Daumer erwiderte, das verftehe fi von felbft, erſt diefen Morgen habe er einem betreßten Lakaien abfchlägigen Beſcheid geben laſſen.

„&3 war der Diener eines vornehmen Eng- länders, der_im Gafthof zum Adler wohnte fügte Frau Daumer hinzu; „er war übrigens nach einer Stunde noch einmal da, um ſich aus- zu erkundigen, wie es Caſpar ginge.“

Es klopfte an die Tür, Herr von Tucher trat ein, begrüßte ben Präfidenten und machte nad) kurzer Weile eine überrafchende Mitteilung: der⸗ ſelbe Engländer, ein anfcheinend fehr veicher Graf oder Lord, habe dem Bürgermeiſter einen Beſuch abgefattet und ihm Hundert Dufaten überreicht als Belohnung für denjenigen, dem es gelingen würde, den Urheber des an Caſpar verübten Ueberfalls zu entdecken.

Ein erftauntes Schweigen. entftand, welches

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der Präfident mit der Frage unterbrach, ob man wiſſe, weshalb fich der Fremde in der Stadt aufhalte. Herr von QTucher verneint. „Man weiß nur, daß er vorgeftern abends angelommen iſt,“ antwortete er; „ein Rad feines Wagens ſoll in der Nähe von Burgfarenbach gebrochen fein, und er wartet bier, bi8 der Schaden ausgebejjert iſt.“ Der Präfident zog die Brauen zufammen, Argwohn umbüfterte feinen Blick; fo wird der Jagdhund ftugig, wenn fich abſeits von verwirren- den Fährten eine neue Spur zeigt. „Wie nennt fih der Mann?" Feet ex ſcheinbar gleichgültig.

„Der Name ift mir entfallen,“ entgegnete Baron Tucher, „doch foll e8 in der Tat ein hoher Herr jein, Bürgermeifter Binder preift feine Leutſeligkeit in allen Tönen.“

„Hohe Herren gelten ſchon für leutfelig, wenn fie einem auf den Fuß treten und ſich nachher freundlich entjchuldigen," Tieß fi, Anna, die an Caſpars Bett jaß, nafeweis vernehmen. Daumer warf ihr einen ftrafenden Blick zu, doch der Präſi⸗

dent brach in eine ſchmetternde Lache aus, die auf alle anſteckend wirkte; noch minutenlang Ticherte er vor fich hin und zwinferte vergnügt mit den Augen.

Bloß Cafpar nahm an dem heiteren Zwiſchen⸗ fpiel keinen Zeil, fein Blick war nachdenklich ins Freie gerichtet, er wünfchte jenen Mann zu jehen, der aus weiter Ferne kam und fo viel Geld her» gs damit der gefunden werde, der ihn gefchlagen.

us weiter Ferne! Das war es; nur aus weiter Ferne konnte kommen, wonach Caſpar Verlangen trug, vom Meere her, von unbefannten Ländern ber. Auch der Präfident fam aus der. Ferne, aber doch nicht von fo weit, daß feine Stirn gefärbt war von fremdem Schein, daß ein füßer 142

Wind an feinen Kleidern hing oder daß feine Augen wie die Sterne waren, ohne Vorwurf, ohne das ewige Fragen. Der aus der Ferne kam, im filbernen Kleid vielleicht und mit vielen Roſſen, der brauchte nicht zu fragen, er wußte alles von jelbft, die andern aber, alle die Nahen, die immer da waren, immer hereingingen und immer wieder fort, fie ſahen niemal® aus, als ob fie von fehäumenden Roffen geftiegen wären, ihr Atem war dumpf wie Kellerluft, ihre Hand müde wie feines Neiterd Hand; ihr Antlig war vermummt, nicht ſchwarz vermummt wie das Ge- ſicht defjen, der ihn gejchlagen und der ihm fo nah gemefen wie feiner jonft, fondern undeutlich vermummt; darum redeten fie mit unreiner Stimme und in verftellten Tönen, und darum war es auch, daß Gafpar fich jetzt verftellen mußte und nicht mehr imftande war, ihnen feſt ins Auge zu ſehen und alles zu jagen, was er hätte jagen können. Er fand e3 heimlicher und trauriger zu ſchweigen als zu reden, befonders wenn fie darauf warteten, daß er reden folle; ja, er liebte es, ein wenig traurig zu fein, viele Träume und Gedanken zu - verbergen und fie zu dem Glauben zu bringen,

daß fie ihm doch nicht nahfommen Tönnten. Daumer war zu jehr mit fich jelbft befchäftigt und zu bebrücdt von ber bevorjtehenden Aus- führung eines unabänderlichen Entſchluſſes, um darauf zu achten, ob Caſpar ihm noch in der- jelben Tindlich offenen Weife entgegenfomme wie jonft. Erſt Herr von Tucher war es, der auf jewifje Sonderbarkeiten in Caſpars Betragen Einwies, und er ließ auc) gegen den Präfidenten einige Andeutungen darüber fallen, als fie zu- jammen aus dem Daumerfchen Haus gingen. 145.

Der Präfident zucte die Achſeln und ſchwieg. bat den Baron, ihn nach dem Gafthof zum Adler zu begleiten; dort erfundigten fie ſich, ob der englifche Herr zu Saufe fei, erfuhren jedoch, daß Seine Herrlichteit Lord Stanhope, fo drüdte fi der Kellner aus, vor einer fnappen Stunde abgereift war. Der Präfident war unangenehm überrafcht und fragte, ob man wiſſe, welche Richtung der Wagen genommen habe; da3 wiſſe man nicht genau, ward geantwortet, doch da er das Jakobs⸗ tor _paffiert, jei zu vermuten, daß er die Richtung nad} Süden, etwa nad München, eingefchlagen habe. „Zu fpät, überall zu jpät,“ murmelte der Präſident. „Ich hätte gern gewußt," wandte er fih an Herrn von Tucher, „was Seine keit bewogen hat, ſo viel Dukaten aufs Rathaus zu tragen.“ Das Geſicht Feuerbachs war dermaßen zerarbeitet von Gedanken und Sorgen, von der An- frengung einer beftändigen Wachjamkeit wie von der Glut eines zehrenden Temperaments, daß es dem eines Kranken oder eines Vejefjenen glich. Und fo war e3 feit Monaten. Die ihm unter- fetten Beamten fürchteten feine Gegenwart; ie geringfte Pflichtverlegung, ja, der geringfte Widerfpruch brachte ihn zur Raferei, und waren die Ausbrüche feines Zornes jchon von jeher furchtbar geweſen, fo zitterten fie jet um fo mehr davor, al3 der unbedeutendjte Anlaß einen folhen Sturm heraufbeſchwören konnte. Dann gellte feine Stimme durch die Hallen und Korri- dore des Appellgerichts, die Bauern auf dem Markt unten blieben ftehen und fagten bedauernd: „Die Erzellenz hat das Grimmen,“ und vom Regierungsrat bis zum legten Schreibersmann jaß alles blaß und artig auf den Stühlen. 14

Vielleicht hätten fie williger dies Joch ge tragen, wenn fie gewußt hätten, welche Bein da- durch dem Urheber ſelbſt bereitet ward, wie jehr ex, befiegt durch jein eignes Wüten, Scham und Neue litt, jo daß. er bisweilen, wie um durch irgendeine Handlung fich loszufaufen, dem erft- beften Bettler auf der Gafje eine Silbermünze hinwarf. Sie ahnten freilich nicht, daß die trüben Nebel diefer Laune ein bewegtes Widerfpiel von Pflicht und Ehre bargen und daß hier ein Genius am Werk war, um inmitten fcheinbarer Unraft und Friedlofigkeit ein Wunderwerk der Kombination zu ſchaffen und mit wahrem Seherblid eine Hölle von Verworfenheit und Mifjetat zu durchdringen.

Mit Zaubrerhand war e8 ihm gelungen, aus den dunkeln Fäden, die das Schickſal Caſpar Haufer8 an eine unbefannte Vergangenheit ban- den, ein Gewebe zu knüpfen, auf welchem jäh- ling wie in Brandlettern flammte, was duch die Fügung der Umftände und die Zeit ſelbſt mit Finfternis bedeckt war.

Voll Schreden ftand er vor feiner Schöpfung, denn der Boden jeiner Exiſtenz wankte unter ihm. Es gab für ihn feinen Bmeifel mehr. Aber durfte er es wagen, mit der fürchterlichen Wahrheit auf den Plan zu treten und die Rück ſicht hintanzufegen, die ihm duch fein Amt und das Dertrauen feines Königs auferlegt war? Schien e8 nicht befjer, das Gefchäft des Spions in Heimlichfeit weiter zu betreiben, um den ränle- vollen Gemalten, tückiſch mie fie jelbft, erſt bei ge- legener Stunde in den Rüden zu fallen? & war nicht3 zu gewinnen, nicht einmal Dank, aber alles war zu verlieren.

D Dual, dachte er oft in fehlaflofen Näch-

Baffermann, Caſpar Haufer 10 145

ten, fonderbare Qual, dem rechtlofen Treiben als beftellter Wächter und mit untätiger Hand äufehen zu müſſen, groß und Heine Sünde am ungenügenden Geſetz zu mefjen, die Feder auf den Buchftaben [u fpießen, indes das Leben feine Bahn läuft und Form auf Form gebiert, zer- ftört, niemal® Herr der Taten zu en immer Spürhund der Täter und nie zu wiſſen, was zu verhüten fei, was zu befördern!

Er wäre nicht der gewefen, der er war, wenn er nicht einen Weg zwiſchen Deffentlichfeit und feigem Verſchweigen gefunden hätte, ber feiner Selbftahtung Genüge tat. Er richtete ein aus- führfiches Memorial an den König, worin er mit bedächtiger Gliederung aller Merkmale den Fall darlegte, frei und kühn vom Anfang bis zum Ende; ein Hammerſchlag jeder Satz.

Das Schriftftüd begann mit der Auseinander- fesung, jr Caſpar Haufer fein uneheliches, fon- ern ein eheliches Kind fein müſſe.

Wäre er eim umeheliches Kind, hieß e3, fo wären leichtere, weniger graufame und weniger gefäßelihe Mittel angewendet worden, um feine

bitammung zu verheimlichen, als die ungeheure Tat der viele Jahre lang fortgefeßten Gefangen» haltung und endlichen Ausſetzung. Je vornehmer eine3 der Eltern war, deſto mühelofer konnte das Kind entfernt werden, und noch weniger Urfache zu fo bedeutenden und verräterifchen Anftalten hätten Leute geringen Standes und geringen Ver- mögen gehabt; das Brot und Wafjer, melces Caſpar im verborgenen verzehren mußte, hätte man ihm auch vor aller Welt reichen dürfen. Denkt man ſich Caſpar als uneheliches Kind hoher oder niedriger, reicher oder armer Eltern, in

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keinem Fall fteht das Mittel im Verhältnis zum Zwed. Und wer übernimmt grundlos die Laft eines jo ſchweren Verbrechens, zumal wenn er dabei die angftvolle Plage hat, e8 für unabſehbare Zeit Tag für Tag wieder und wieber verüben zu müſſen? Aus alledem geht hervor, fo fuhr der unerbitt- liche Ankläger fort, daß ſehr mächtige und fee reiche Perſonen an dem Verbrechen beteiligt find, welche über gemeine Hinderniffe unſchwer hinweg⸗ ſchreiten, welche durch Furcht, außerordentliche Vorteile und glänzende Hoffnungen willige Werk - zeuge in Bewegung fegen, Zungen feſſeln und goldene Schlöfler vor mehr als einen Mund legen Eönnen. Ließe e3 ſich fonft erklären, daß die Ausfegung Cafpars in einer Stadt wie Nürn- berg am hellen Tage erfolgen und der Täter fpurlos verfhwinden Tonnte; daß durch alle ſeit vielen Monaten mit unermüdlichem Eifer be teiebenen Nachforjchungen fein rechtlich geltend zu machender Umftand entdeckt werben Tonnte, der auf einen beftimmten Ort ober einen beftimmten Menſchen führte, daß sent hohe Belohnungen Teine einzige befriedigende Anzeige veranlaßten? Deshalb muß Cajpar eine Perfon fein, mit deren Leben oder Tod weittragende Intereſſen verfettet find, folgerte Feuerbach. Nicht Rache und nicht Haß konnten Motive zur Einkerferung geweien fein, ſondern er wurde bejeitigt, um andern Vorteile zuzumenden und zu fichern, die ihm allein gebührten. Er mußte verfchwinden, damit andre ihn beerben, damit andre fich in der Erbſchaft behaupten fonnten. Er muß von hoher Geburt fein, dafür jprechen merkwürdige Träume, die er gehabt und die fonft nichts find als wiebererwachte Erinnerungen aus früher Jugend, 147

dafür jprechen der ganze Verlauf feiner Gefangen» {haft und die daraus fich ergebenden Schlüffe; er wurde freilich im Kerker gehalten und ſpärlich ernährt, aber man hat Beiſpiele von Menfchen, die nicht in böswilliger, fondern in wohltätiger Abficht eingekerkert wurden, nicht um fie zu ver- derben, fondern um fie gegen diejenigen zu fchügen, - die ihnen nach dem Leben getrachtet. Vielleicht auch, daß durch fein bloßes Dafein ein Drud ausgeübt werden jollte auf jemand, der mit zauderndem Gemiffen an der Unternehmung teil- gehabt und doch nicht wagen durfte, Einfprud; zu erheben. Es wurde Sorgfalt und Milde an Cafpar geübt; warum? Warum hat ihn der Geheimnisvolle nicht getötet? Warum nicht einen Tropfen Opium mehr in das Waffer getan, das ihn bisweilen betäuben follte? Das Verließ für den Lebendigen wurde ein doppelt ficheres für den Toten.

Wenn nun in irgendeiner hohen, oder nur vornehmen, ober nur angefehenen Familie in Ca- ſpars Perfon ein Kind verfchwunden wäre, ohne daß man über deſſen Tod oder Leben und wie es hinweggefommen, etwas in Erfahrung brachte, jo müßte doc längft öffentlich befannt fein, in welcher Familie dies Unglück vorgefallen. Da aber feit Jahren und unerachtet Caſpars Schid- ſal ein weitbeſprochenes Ereignis geworden, nicht das mindefte davon verlautet hat, jo ift Cafpar unter den Geftorbenen zu fuchen, a8 will beißen: ein Kind wurde für tot ausgegeben und wird noch jegt dafür gehalten, welches in Wirk— lichteit am Leben ft, und zwar in der Perfon Caſpars; das will heißen, ein Kind, in deſſen Perſon der nächfte Erbe oder der ganze Mannes» ftamm feiner Familie erlöfchen follte, wurde bei— 148

feitegefehafft, um nie wieder zu ericheinen; es wurde diejem Kind, das vielleicht gerade Frank gelegen, ein andres, totes oder fterbendes Kind unterfchoben, dieſes als tot ausgeftellt und bes geben und fo Caſpar in die Totenlifte gebracht. jar der Arzt im Spiel, hatte er Befehl, das ‚Kind zu morden, fand er jedoch in feinem Herzen oder im feiner Klugheit Gründe, den Auftrag Scheinbar zu vollziehen und das Kind zu retten, jo konnte der fromme Betrug leichterdings vollzogen werden. Hier handelte jeder auf höhere Weiſung, aber wo war dergebietende Mund? Wo der mächtige Geift, der ein folches Gewicht von Verantwortung für ewige Zeiten zu agen unternahm? Wo das Haus, in welchem das Unerhörte geichah?

An diefer Stelle des Berichts ftocte die Hand des Präfidenten, tagelang, wochenlang. Nicht aus Schwäche noch aus Wankelmut, fondern mit dem fchmerglichen Zagen eines Feldherrn, der des Unheils und Berderbens ficher ift, wie immer die Schlacht auch enden möge. Die Krone von einem Fürftenhaupt zu reißen und mit Fingern auf das befleckte Diadem deuten, hieß das nicht, die Maje- ftät auch des eignen Königs beleidigen, geheiligte Meberlieferungen mit Füßen treten, die unmündigen Völker zum Widerpart ftacheln? Doch wie nie zu= vor empfand er die engenbe Bemalt des Wortes und wie Wahrheit aus Wahrheit fließt und drängt.

Er nannte das Haus mit Namen. Er wies nach, daß das alte Geſchlecht jählings, in aufs fallender Weife und gegen jede menichliche Ver— mutung im Mannesftamm erlofchen fei, um einem aus morganatifcher Ehe entjprofjenen Nebenzweig Platz zu machen. Nicht etwa in einer finderlofen, jondern in einer mit Kindern wohlgeſegneten Ehe

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hatte fich dies Ausfterben ereignet, und nur die Söhne farben, die Töchter aber Iebten meiter. So wurde die Mutter zur mwahrhaften Niobe, doch traf Apollos tötendes Gefchoß ohne Unter- ſchied Söhne und Töchter, bier aber ging der Würgengel an den Töchtern vorüber und erſchlug die Söhne. Und nicht bloß auffallend, fondern , einem Wunder ähnlich, daß der Würgengel ſchon an der Wiege der Knaben ftand und fie heraus- git mitten aus der Reihe blühender Schweftern.

ie wäre e8 erflärbar, fragte Feuerbach, daß eine Mutter demfelben Vater drei gefunde Töchter jebiert und als Söhne lauter Sterblinge? Darin üt fein Zufall, behauptete er furchtlos, jondern Syftem, oder man muß glauben, die Vorſehung got habe einmal in den gewöhnlichen Lauf der

atur eingegriffen und Außerordentliches getan, um einen politijchen Streich auszuführen. Nicht lange nach dem Erfcheinen Caſpars hat fich in Nürnberg das Gerücht verbreitet, Caſpar jei ein für tot ausgegebener Prinz jenes Gejchlechts, und immer wieder redeten die dunkeln Stimmen, fogar von einer angeblichen le! einung wurde, wie öffentliche Blätter erzählten, die Be- hauptung gewagt, daß die gegenwärtigen Re— genten den Thron durch Ufurpation befäßen und daß noch ein echter Prinz am Leben fei. Gerüchte find freilich nur Gerüchte; aber fie fließen oft aus guten Quellen; fie haben, wo es geheime Verbrechen gibt, häufig ihre Entftehung darin, daß ein Mitichuldiger geplaudert, oder mit feinem Vertrauen zu freigebig geweſen, oder eine Un- vorfichtigfeit begangen, oder jein Gewiſſen er- leichteren wollte, oder feine getäufchten Hoffnungen zu rächen fich vorgefeßt, oder im ftillen die Ent- 150

deckung der Wahrheit herbeizuführen gefucht, ohne die Rolle des Verräters fpielen zu müffen.

Der Präfident nannte nicht bloß die Dynaftie mit Namen und das Land, das ihr erbeigen war, er nannte auch den Fürften, deſſen plößlicher Tod vor mehr al3 einem Jahrzehnt Argwohn erregt hatte, er nannte die Fürftin, die, von hoch— erlauchter Abkunft, in ſelbſterwählter Einſamkeit ein unfaßbares Geſchick betrauerte; er nannte diejenigen, die ſo über Leichen hinweg zum Thron

eſchriften, und neben dem Bild eines ſchwachen, och ehrgeizigen Mannes tauchte die Geftalt eines Weibes auf, voll von dämonifchem Weſen, der vegierende Wille über dem graufen Gejchehen.

Es war etwas von der Bitterfeit eignen Erlebens in den unummundenen Hinweiſen de3 Präfidenten. Denn er kannte die höfijche Welt, in der Tüde und Hinterlift in eine Wolle von Aeohigeriihen gebettet find und wo die Niedertracht ihre Opfer mit heuch⸗ lerifchen Gnaden betäubt; er hatte ihre Luft ge- atmet, er hatte von ihren Tifchen geipeift, von ihrem Gift genoffen, den beften Teil jeines Lebens und feiner Kräfte in ihrem Dienft vergeudet und war für die reinfte Hingebung mit Schmach und Verfolgung belohnt worden; er kannte ihre Rrea- turen und Helferähelfer, ev kannte fie, denen die Geſchichte nicht3 bedeutet al3 eine Stammbaum» chronik, Religion eine Priefterlitanei, Philofophie einen fluchmwärdigen Jakobinismus, Politit einen Blindekuhreigen mit Noten und Protofollen, der Staatshaushalt ein Nechenerempel ohne Probe, Menichenrechte ein Pfänderfpiel, der Monarch ein Schild ihrer eignen Größe, das Vaterland ein Pacht⸗ gut und Freiheit das fträfliche Vermeſſen aber- witziger Toren. Die unerfeglichen Jahre jhrien Hinter

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feinen Worten hervor, erlittene Zurückſetzung und ein verfinfterter Geiſt. Er wollte feiner jelbft nicht gedenken, doch die Worte entjchleierten feinen Gram, wenn auch nicht für das Auge des Königs, der nur zu leſen brauchte, was ge- ſchrieben ftand. ‘Die Schrift ward unter Anwendung pein- licher Vorficht abgeſandt, damit fie in feine andern ände als in die de3 Regenten gerate, und ber rräſident wartete von Woche zu Woche vergeb- lich auf Erwiderung, auf einen Befcheid, auf irgendein Zeichen. Da kam die Kunde von dem ordanfall auf Caſpar. Feuerbach reifte nach Nürnberg; feine eignen Maßnahmen hatten fo wenig Erfolg wie die der Polizei. Am zehnten Tag jeines Aufenthalts erhielt er ein Schreiben aus der königlichen Privatlanzlei, worin mit ge bührendem Dank von feinen Mitteilungen Notiz genommen und mit Anerkennung des nicht genug zu beftaunenden Scharffinns in der Entwirrung verwicelter Verhältniffe gedacht war, das aber in allen wefentlichen Punkten eine ſpröde Burüd- haltung zeigte; man werde prüfen; man merde überlegen; man müfje abwarten; gemichtige Rück⸗ ſichten feien zu beachten; leicht erflärliche Be— Siehungen legten unbequeme Pflichten auf; die atur des Unglaublichen felbjt veranlafje eher zur Verwunderung, zur Betürzung als zu un- befonnenem Eingreifen; doc, verfpreche man, ja man verfpreche; vor allem werde Schweigen emp⸗ fohlen, unbedingtes Schweigen; bei Verluft aller Gnade dürfe feine derartige Kunde als authentifch durch den Mund eines hohen Staatsbeamten nad) außen dringen: man erwarte über den Punkt Verftändigung und Unterwerfung.

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Die Wirkung dieſes geheimen Erlafjes, mit welchem man ihm zugleich Ypmeicheite und drohte, der einer freundlich dargereichten Hand glich, worin der gefchliffene Dolch bligte, war um fo heftiger, al3 der Inhalt längft geahnt und ge- fürchtet war. Feuerbach fhäumte. Er zertrat das Gendfchreiben mit den Füßen; er rannte mit teuchender Bruft, die Fäufte gegen die Schläfen gedrüdt, eine ganze Weile im Zimmer auf und ab, dann ftürzte er aufs Bett, daS Saufen feiner Pulſe beängftigte ihn und er erlöfte fich ſchließlich in einem lauten, langen Gelächter voll Wut und Zorn.

Dann blieb er Hunbenlang liegen und fonnte nichts andres denken als das einzige Wort: Schweigen, Schweigen, Schweigen.

An demfelben Nachmittag war der Bürger meifter Binder mehrmald im Gafthof geweſen und hatte den Präfidenten zu fprechen gewünſcht. Der Kellner war ftet3 mit dem Befcheid zurücgelom- men, fein Pochen fei vergeblich, der Herr Staats⸗ rat jcheine zu fehlafen oder wünſche nicht geftört zu werben. Gegen Abend kam Binder wieder und wurde endlich vorgelaffen. Er fand den Präſidenten in ein Aftenheft vertieft, und feine Sntiehufbigung wurde mit der verlegend kurzen Bitte ermidert, er möge zur Sache kommen.

Der Bürgermeifter trat betroffen einen Schritt zurüd und fagte ftolz, er wifje nicht, wodurch er ich das Mißfallen Seiner Exzellenz zugezogen

aben könne, doch wie dem auch jei, er müffe eine derartige Behandlung zurüctweifen. Da er- hob fich Feuerbach und entgegnete: „Ums Himmels willen, Mann, laffen Sie das! Wer auf einem Scheiterhaufen fchmort, hat einigen Grund, wenn er die Negeln der Höflichkeit vergißt!"

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Binder ſenlte ben Kopf und fchwieg verwundert. Dann erklärte ev den Zweck feines Beſuchs. Daß Daumer die Abficht habe, Caſpar aus feinem Haus zu entfernen, jei dem Präfidenten wahrfcheinlich befannt. Da nun der Jüngling fomweit hergeftellt fei, habe fi) Daumer entichloffen, damit nicht Bingumarten, fondern ihn baldmöglichft zu den

jeholdiichen zu bringen, die Cafpar mit Freuden aufnehmen wollten. Alles dies ſei genügend bes fprochen und man wünſche nur, den Präfidenten zu unterrichten, und bitte um feine Gutheißung.

„Sa, ich weiß, daß Daumer die Gedichte jatt hat,“ antwortete Feuerbach verdrießlih. „Ich made ihm feinen Vorwurf daraus. Niemand bat Luft, fein Haus au einer umlauerten Mord- ftätte werden zu lafjen, obwohl dagegen Maßs regeln ergriffen werden können, werden müſſen. Bon heute ab foll Cafpar unter genauer polizei» licher Ueberwachung ftehen; die Stadt haftet mir für ihn. Doch warum hat Daumer folche Eile? Und marum gibt man Cafpar in die Familie Behold, warum nicht zu Herrn von Tucher oder zu Ihnen?"

„Herr von Tucher ift während der nächiten Monate berufshalber gezwungen, feinen Äuf— enthalt in Augsburg zu nehmen, und ich —“ der Vürgermeifter zögerte, und fein Geficht wurde vorübergehend bleich, „mas mich betrifft, mein Haus ift fein Ort des Friedens."

Raſch ſchaute der Präfident empor; ſodann ging er hin und reichte Binder ftumm die Rechte. „Und mas ift e3 mit diefen Beholds? Was find es für Leute?“ fragte er ablenfend.

„D, es find gute Leute,“ verjeßte der Bürger- meifter etwas unficher. „Der Mann jedenfalls; ift ein geachteter Kaufherr.. Die Frau... dar 154

über find die Meinungen geteilt. Sie gibt viel auf Pug und dergleichen, verſchwendet viel Geld. Böfes kann man ihr nicht nachſagen. Da es für Cafpar, wie wir ja verabredet, von Vorteil it, wenn er jetzt die öffentliche Säule befucht, genügt fchließlich die bloße Veauffichtigung in einem Kreis anftändiger Menſchen.“

„Daben die Leute Kinder?"

„Ein dreizehnjähriges Mädchen.” Der Bürger meifter, dem es wie aller Welt mohlbefannt war, daß Frau Behold diefe Tochter ſchlecht behanbelte, wollte noch etwas hinzufügen, um fein Gemiffen zu beruhigen, doch da wurden Daumer und der Magiftratsrat Behold gemeldet. Der Präfident tieß bitten. Alsbald zeigte ſich das freundlich

infende Geficht bes Rats; der feierliche ſchwarze Ainnbart ftand in einem Fomifchen Gegenfatz zu dem ſchon ergräuten Ropfhanr, das in feuchten Strähnen pomabeduftend über die Stirn hing.

Unter beftändigen Verbeugungen trat er auf Feuerbach zu, der ihn nur eines flüchtigen Grußes würdigte und fich Togteich an Daumer wandte, Diefer wagte kaum dem forfchenden Auge des PVräfidenten zu begegnen, und hr Frage, ob man Caſpar die innere und äußere Anftrengung eines fo durchgreifenden Wechſels fehon zumuten dürfe, beantwortete er durch verlegenes Schweigen. Als

Ir Here Behold ins Geſpräch mifchte und ver- fiherte, Caſpar folle in feinem Haus wie ein leiblicher Sohn betrachtet werden, unterbrach ihn der Bürgermeifter mit den faft wiberrmill hervor- gepreßten Worten, darauf halte er nichts, wie man an Cafpar felbft ehe, gebe e8 ja Eltern, die ihre leiblichen Kinder verfümmern ließen. Der Nat machte ein verlegenes Geficht, rieb feine

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ausgemergelten Finger an der Stuhlfante und ftotterte, er könne nicht3 weiter jagen, was an ihm läge, wolle er tun.

Der Präfident, ftußig geworden durd die BesishungSvollen Reden, jah die beiden Männer abmechjelnd an. Darauf trat er dicht vor Daumer bin, legte die Hand auf defien Schulter und fragte ernft: „Muß e3 denn fein?"

Daumer feufzte und entgegnete bewegt: „Exr- zellenz, wie hart mein Entihluß mich ankommt, das weiß nur Gott.”

„Gott mag es wifjen,“ verfeßte der Präfident geollend, und feine unterjeßte feilte Geftalt ſchien plößlich drohend zu machen, „aber wird er es darum ſchon billigen? Wenn man Stein und Stahl zujammenfdlägt, gibt es Funken; wehe aber, wenn bloß Schmuß und Krümel vom Stein fliegen. Da ift feine Dauer und feine Tüchtig- keit der Natur."

Er kanzelt mich ſchon wieder ab, dachte Daumer, und die Röte des Unmillens ftieg i ins Geſicht. „Ich habe getan, was in meinen Kräften ftand," ſagte er haftig und mit Troß. „Ich verſchließe Caſpar nicht mein Haus. Und mein Herz fchon ganz und gar nicht. Aber erſtens kann ich feine Gewähr für feine Sicher- heit mehr leiften, und ich glaube, niemand Tann es. Wie ift es möglih, Säemann zu fein auf einem Acer, unter dem ein verberbliches Feuer glofet und jeden Samen verbrennt? Und dann, was mehr ift, ich bin enttäufcht, ich geftehe es, ich bin enttäufcht. Nie will ich vergefjen, mas mir Caſpar geweſen ift, wer könnte ihn auch vergefjen! Aber das Wunder ift vorüber, die Zeit hat es aufgefreſſen.“

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„Vorüber, ja vorüber," murmelte Feuerbach düfter, „da8 Wort mußte fallen. Die Augen werden ſtumpf vom Schauen ins Licht. Die Söhne werben verftoßen, wenn fie unfrer Liebe ein Uebermaß abnötigen. Aber der Bettler Friegt feine Bettelſuppe. Meine gejchäßten Herren,” fuhr er laut und förmlich fort, „tun Sie, wie Ihnen beliebt; in jedem Fall, deſſen jeien Sie eingebent, bleiben Sie mir für das Wohl Caſpars verantwortlich."

Als Daumer auf der Straße war, ärgerte er ſich noch immer über den Ton und die Worte des Präfidenten. Doch zugleich Tonnte er fi feine Selsftungufeiebenbeit nicht verhehlen. In einer der verödeten Straßen nahe der Burg bes gegnete er dem Nittmeifter Weſſenig. Daumer war froh, eine Ansprache zu haben, und begleitete den Mann bis zur Reiterkaſerne. Bon Anfan, an lenkte der Rittmeiſter die Unterhaltung auf Cafpar, und Daumer bemerkte nicht oder wollte nicht bemerken, daß die Geſprächigleit des Ritt- meifters einen hohnvollen Beigeſchmack Hatte.

„Eine geheimnisvolle Sa das mit dem Vermummten," meinte Herr von Bellen ig, plöß- lich deutlicher werdend. „Sollte e8 Leute geben, die daran ernftlich glauben? Am hellichten Tag dringt ein Kerl, ein Kerl mit Handſchuhen, bitte, Kt t in ein bewohntes Haus, hängt ſich einen

chleier übers Geficht und zieht ein Beil aus der Oder ſollie er das Beil vorher offen über die Straße getragen haben? Mit Hand- ſchuhen, wie? Beim heiligen Tonmafius, das tft eine gewaltige Räuberhijtorie!"

Da Daumer nicht? antwortete, fuhr der Ritt- meifter eifrig fort: „Nehmen mir einmal an, ber

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jamofe Vermummte hat die Abficht gehabt, den

urfchen zu töten. Warum dann die unbedeutende Wunde? Er brauchte ja nur ein Bipchen kräf⸗ tiger zuzuſchlagen und alles war aus, der Mund, der ihn verraten mußte, war ſtumm. Man muß rein glauben, der behandſchuhie Mörder hat fein Opfer einftweilen nur ein bißchen kitzeln wollen. Wahrhaftig, eine kitzlige Gejchichte. Alle meine Belannten, parole d’honneur, lieber Profeſſor, find empört über die Leichtgläubigkeit, die I von jo albernem Spuk zum beften halten läßt."

Daumer bielt es für unter feiner Würde, Zorn ober Entrüftung zu zeigen. Er ftellte ſich, als hätte er nicht übel Luft, dem Nittmeifter beis zuftimmen, und fragte gelebrig, wie man fich aber den ganzen Vorgang zu benten habe. Herr von Wefjenig zuckte —2 die Achſeln; er mochte heftiges Aufbrauſen und ſcharfe Zurechtweiſung erwartet haben, und weil dies nicht eintraf, legte ex fein verhalten-feindfeliges Weſen ab, war jedoch vorfichtig genug, fih nur in allgemeinen Ber- mutungen zu äußern. „Dielleicht ift der gute Haufer betrunken geweſen und auf der Treppe gefallen und hat dann die Mordsgefchichte aus- geheckt, um fich interefjamt zu machen. Das wäre ja noch harmlos, ndre ſehen bei weitem ſchwärzer; man traut dem Halunken fchon zu, daß er feine Wohltäter durch einen feingefäbelten Streich hinters Licht geführt hat.”

Seht vermochte Daumer nicht mehr an fich zu halten. Er blieb ftehen, wehrte mit beiden Händen ab, als drängen die Reden feines Be— gleiter3 wie giftige Fliegen auf ihn ein, und ftürzte ohne Wort noch Gruß davon.

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Das ift alfo die Welt, das find ihre Stim- men, dachte er beitürzt; daS zu denken, ift möge lich, es auszusprechen, fteht jedem Mund frei! Und diefer Abgrund von Unfinn und Bosheit fol dich verjchlingen, armer Cafpar! Wenn du auch nicht der Himmelszeuge bift, den ich wähnte, über ihnen jchmebft du doch wie der Adler über Kobolds⸗ gezücht. Freilich, fie werden dir die Flügel brechen; vergebens wird die Schuldlofigkeit aus deinem Innern ftrahlen, fie werden es nicht ſehen; vergebend wirft du vor ihnen weinen und ver- gebens lächeln, du wirft ihre gab faffen und vor Kälte jchaudern, du wirft fie anbliden, und fie werden ftumm fein, angftvoll fucht dein Geift die Wege zu ihnen und Verrat führt dich auf den verderblichiten von allen... .

Man ift Prophet und hat ein mitleidiges Ge- müt; man fennt die Menfchen, man weiß, daß das Feuer brennt, daß die Nadel fticht, und daß der Hafe, wenn er angefchofjen wird, ins Gras fällt und ftirbt; man fennt die Folgen deſſen, was man tut, nicht wahr, Here Daumer? Aber ift dies etwa ein Grund, den Gefchehnifjen, wie einem Feind, der da8 Schwert erhoben hat, in die Arme zu fallen und den Schlag abzuwenden ? Nein, es ift fein Grund. Oder ift e8 nur Grund, ein kleines Entſchlüßchen rüdgängig zu machen? Nein, es ift kein Grund. Darin haben die Idealiſten und Seelenforfcher nicht3 voraus vor Dieben und Wucherern.

Man geht nach Haufe, philofophierend geht man nad) Haufe, legt ſich jchlafen, und am näch— ften Morgen fieht die Welt weit annehmbarer aus als am geftrigen, veichlich verftimmten Abend.

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Das Amfelherz

Vierundzwanzig Stunden fpäter hält eine Kutſche vor dem Daumerfchen Haus, und Frau Behold felber kommt, um Cafpar zu holen. Wirklich, Frau Behold hat fich’3 etwas koſien Iaffen, eine ſchwarzlackierte Kutjche mit zwei Pferden und einen Dann mit goldenen Knöpfen auf dem Bod.

Cafpar wird von Daumer und den beiden Feruen zum Tor geleitet, auch der Kandidat

legulein verläßt feine Junggeſellenklauſe. Anna kann ſich der Tränen nicht erwehren, Daumer blickt finfter vor fich hin, Frau Behold gibt dem Nutfcher ein Zeichen, die Roſſe jchnauben, die Näder rollen und die Zurücbleibenden ſchauen er in die Dunkelheit, die das Gefährt ver- lingt.

Das war der Abſchied, und Caſpar war's, als gehe es weit fort. Aber es ging nur von einem Haus auf der Schütt zu einem Haus am Markt. Es war dies ein ſchmales, hohes Haus, welches fo eingepreßt fland zwifchen zwei andern, daß e8 ausjah, als fehle ihm die Luft zum Atmen. Es hatte einen gezinnten Giebel, fteil- abhängend wie die Schultern eines verhungerten Kanzliſten, die Fenfter hatten nichts Freifchauen- des, jondern etwas Blinzelndes, das Tor war feltfam verſteckt und innen wand fich eine dunkle Treppe in vielen Biegungen, gleichjam in vielen Ausreden durch die Stockwerke; die alten Treppen knarrten und ftöhnten bei jedem Schritt, und wenn die Türen geöffnet wurden, floß nur ein dämmeriges Licht aus den Stuben.

Cafpar wohnte in einem Gemach gegen den vieredigen Hof; vor den Fenftern lief eine Holz» 160

alerie mit verfchnörkeltem Geländer, auf jeder Eite waren grünverhangene Glastüren, und unten jtand ein eiferner Brunnen, aus dem fein Waſſer floß.

Das Wunderliche lag darin, daß draußen der Markt war, wo viele Menfchen laut redeten, wo die Händler ihre Heinen Läden und Verkaufszelte

jatten, wo von morgens bis abends Frauen eilfchten, Kinder kreiſchten, Roſſe mieherten, das Geflügel gaderte, und daß man bloß das Tor Hinter fich zu fchließen brauchte und e3 wurde fo ftill, als ob man in die Erde hineingeftiegen jei.

Dies machte Cafpar im Anfang och, Es glich einem Verſteckenſpiel, er fand es Iuftig, ſich zu verfteden, und gelegentlich ſah er es darauf ab, ein andres Geficht zu zeigen, als ihm zu Sinn war, oder andre Dinge zu jagen, als man von ihm erwartete. An einem der erften Tage verlor Frau Behold ein filbernes Kettchen; Cafpar bes hauptete, es im Vorplatz geſehen zu haben, ob- wohl er es keineswegs gejehen hatte.

Es wurde ihm verboten, ohne Erlaubnis das Haus zu verlafien. Er fragte, wer es verboten habe, da wurde ihm geantwortet, Frau Behold habe e3 verboten, und als er fih an Frau Be Hold wandte, fagte fie, der Magiftratsrat habe e3 verboten, und als er fi) an den Magiftrats- rat wandte, fagte der, der Präfident habe es verboten. Dermaßen war alles verzwict und verfteckt in diefem

Einmal wollte Frau Behold in ſein Zimmer gehen; fie fand es derſperrt, er hatte von innen zugeriegelt. „Was fperrft du dich denn ein am hellichten Tag?" fragte fie und jchnüffelte auf dem Tiih herum, wo feine Bücher und Schul

Baffermann, Gafpar Haufer 11 161

arbeiten lagen. „Fürchteſt du dich vielleicht?“ pe fie zungengeläufig fort. „Bei mir braucht u dich nicht zu fürchten, bei mir gibt es feine vermummten Spigbuben.“ Cr gab zu, daß er ſich fürchte, und daS fchmeichelte Frau Behold, fie nahm eine geimmige Beichügermiene an und lächelte herausfordernd.

Jeden Vormittag, wenn er von der Schule kam ex befuchte jest zwei Stunden täglich die dritte Klafje des Gymnafiums —, erfundigte fich Frau Behold, wie es ihm gegangen fei. Salcdıe iſt's gegangen,“ entgegnete er dann trübfelig, und in der Tat, er hatte wenig Freude davon. Die Lehrer klagten, daß feine Gegenwart die andern Schüler der Aufmerkfamfeit beraube; der Umftand, daß auf der Gaſſe ſtets ein Polizei⸗ diener hinter ihm herging und daß die Polizei Tag und Nacht das Haus bewachte, in dem er wohnte, dünkte die Knaben aufregend fonderbar, und fie beläftigten ihn mit den albernften Fragen. Seine Schweigjamfeit wurde natürlich ganz faljch

jedeutet, und wenn er von felbft unbefangen das

ort am fie richtete, wichen fie entweder fcheu zurücd oder höhnten ihn, denn er war in ihren Augen nichts weiter als ein großer dummer Teufel, der, faft doppelt fo alt als fie, noch in den Anfangsgründen der Wifjenfchaft ſteckte. Es kam häufig vor, daß er während des Unterrichts aufftand und eine feiner Eindifchen Fragen ftellte; da brach dann die ganze Klafje in Gelächter aus, und der Lehrer lachte mit. Einmal, während eines gewaltigen Sturmminds, der draußen heulte, verließ er feinen Platz und flüchtete in die Ofen- ede; da kannte das Vergnügen der andern feine Grenze, und als ihn der dicke Lehrer hervorzog 162

und zu den Bänken jchob, begleiteten fie den Vorgang mit einer wahren Katzenmuſik.

(m eigentümlichften war es aber anzufehen, wenn er auf dem Nachhaufeweg mitten unter der Knabenſchar ging, jtill, verſchloſſen und forgenvoll _ unter den Lärmenden und Unbe— fümmerten, männlich unter den Halbwüchslingen und ihm zur Seite beftändig der Wächter des Geſetzes.

Sehr häufig ſprach Daumer vor, um bei den Kollegen Auskunft über Caſpar einzuholen. „Ach,“ hieß es da, „er hat freilich den beiten Willen, aber leider nur einen mittelmäßigen Kopf. Er ermeift fih anftellig, aber es bleibt nicht viel haften. Wir können ihn nicht tadeln, aber zu loben ift auch nichts."

Daumer war gekränkt. Ihr könnt nicht tadeln, ihr Herren, ei, und tadelt doch, dachte er; Tadel ift leicht, befonder8 wenn er den Tadler lobt, wie e3 fein Merkmal ift. Er wandte fih, an den Magiftratsrat und fuchte ihm eine Lobpreifung auf Cajpar förmlich abzuliften, aber Herr Behold war fein Freund von offenen Mei- nungen. Er war ein einjchichtig Iebender Menſch, der feine Tage in einem düftern Kontor am Zwinger verbrachte, und wer von ihm etwas haben wollte, erhielt gewöhnlich die Antwort: „Da müffen Sie ſich an meine Frau menden."

Daumer glich faft feinem unglüdfichen Lieb⸗ haber darin, wie er jest achtſam und befümmert den Wegen feines früheren Pfleglings folgte, wobei er aber gern vermied, Caſpar zu jehen und zu fprechen. Mit großem Mißtrauen verfolgte ex insgeheim das Tun und Treiben der Frau Behold, und er zerbrach fich den Kopf darüber,

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weshalb diefe fo gierig getrachtet hatte, den Jüng- ling in ihre Nähe zu befommen. „Was willft du,* meinte Anna, die ebenfoviel gefunden Menfchen- verstand bejaß wie ihr Bruder phantaftiichen Peſſimismus, „es ift ja ganz Klar, fie braucht eine Spielpuppe, eine Unterhaltung für ihren Salon." ö

„Eine Spielpuppe? Sie hat doch ein Kind, und fie vernachläffigt ſogar dieſes Kind, wie man hört."

„Freilich; aber daran iſt nichts Merkwür— diges, ein Kind zu haben wie alle andern Leute; es muß etwas fein, wovon man redet, was Inter⸗ eſſantes muß es fein; man kann dabei die große Dame fpielen und lieſt bie und da den eignen Namen in der Zeitung. Auch gilt man nebenher für eine Wohltäterin, der Herr Gemahl kann einen hohen Orden befommen, und mas die Hauptfache ift, man vertreibt fich die Langeweile. Die Berfon tenn’ ich, als ob ich's jelber wäre. Der Caſpar tut mir leid."

Frau Behold mar immer unterwegs und eigentlich nur zu Haufe, wenn fie Gäfte hatte. Sie mußte immer Menfchen jehen, fie liebte mohtgefteibee, uigelaunte Menjchen, Männer mit Titeln und Frenen von Rang, liebte Fefte, Schmud und prächtige Gewänder. Man hätte fie eine joviale Natur nennen dürfen, wenn der Ehrgeiz fie nicht fo unruhig gemacht hätte; fie wäre bisweilen behäbig, ja gemütlich erjchienen ohne eine gewiſſe zielloje Neugierde, von der fie bis ins Innerſte, bis in den Schlaf der Nächte behaftet war. Sie hatte eine Unmafje fran- zöſiſcher Romane verfchlungen und war dadurd) empfindfam und abenteuerluftig geworden, und das gute Teil Phlegma, das ihrem Temperament 164

beigemifht war, machte diefe Eigenfchaften nur um fo bintergründiger. Wer fie jo nahm, wie fie fi) gab, war im voraus betrogen.

Was Cafpar betrifft, fo ſah fie ihn zu- nächſt bloß humoriftiih und am meiften dann, wenn er ernjt und nachdenklich) war. „Nein, was ex heute wieder. Romijches gejagt hat," war ihre beftändige Phrafe. Es hatte oft den An- ſchein, als habe fie einen Heinen Hofnarren in Dienft genommen. „Alfo, mein liebes Mond- tälbchen, fprich,“ forderte fie ihn vor den Gäften auf. Wenn fie ihn gar eifrig befliffen jah, Iatei- nische Vokabeln auswendig zu lernen, lachte fie aus vollem Hals. „Wie gelehrt, wie gelehrt!" rief fie und fuhr ihm mit der Hand mwüft duch das Lodenhaar. „Laß es fein, laß es fein,“ tröftete fie ihn, wenn er über die Schwierigkeit einer Rechnung klagte, „bringft’3 ja doc zu nichts, ift genau fo, wie wenn ich ſeiltanzen wollte."

Indes erregte er auf andre Weile bald eine munderliche Neugierde in ihr. Eines Morgens tam fie dazu, als er in der Küche ftand und Zeuge war, wie der Metzgerburſche das rohe und noch blutige Fleifch aus dem Korb nahm und auf die Anrichte legte. Eine unendliche Wehmut malte ſich in Caſpars Zügen, er wich zurüd, zitterte und war feines Lautes fähig, dann floh er mit bedrängten Schritten. Frau Behold war betroffen und mollte ihrer Rührung nicht nach- geben. Was ift das? dachte fie; er verftellt fich wohl; was ift ihm das Blut der Tiere?

Um ihm gefällig zu fein, tat fie mehr, als ihre Bequemlichkeit ihr ſonſt verftattet hätte, Trogdem fehien er fich nicht wohl im Haus zu fühlen. „Sapperment, was ift dir übers Leber-

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lein geg fuhr ſie ihn an, wenn ſie ein trauriges Geſicht an ihm bemerkte. „Wenn du nicht Tuftig bift, führ' ich dich in die Schlachtbant und du mußt zufchauen, wie man den Kälbern den Hals abſchneidet,“ drohte fie ihm einmal und wollte ſich ausfchütten vor Lachen über die Miene des Entſetzens, die er darüber zeigte.

Nein, Cafpar fühlte fich keineswegs wohl. Frau Behold war !m ganz und gar unverftänd- lich, ihr Blick, ihre Rede, A Gehaben, alles das ftieß ihm aufs äußerfte ab. Es Loftete ihn nicht wenig Kunft und Nachdenken, um feinen Wider willen nicht merfen zu laffen, gleichwohl war er Tran und elend, wenn er nur eine Stunde mit Frau Behold verbracht hatte. Es fehlte ihm dann jegliche Arbeitsluft, und die Schule zu bes fuchen, die ihm ohnehin verhaßt war, unterließ ex ganz. Die Lehrer befchwerten fich beim Ma- giftrat; Herr von Tucher, der jet wieder in der Stadt weilte und der vom Gericht zu Caſpars Vormund ernannt worden war, ftellte ihn zur Nede. Caſpar wollte nicht mit der Sprache her- aus, ein Betragen, das Herr von Tucher als Verftocktheit auffaßte und das ihm zu ſchlimmen Defücchtungen nlaß bot.

Und da war noch eines, was Cafpar zu denfen gab. Manchmal begegnete ihm auf der Stiege ober im Flur oder in einem entlegenen Zimmer Frau Beholds Tochter, ein Mädchen, halb erwachſen und bleich von Geſicht. Ihre Augen waren feindjelig auf ihn gerichtet. Wenn er fie anreden wollte, Tief fie davon. Einmal ſchaute er von der Galerie in den Hof und ſah fie am Brunnen ftehen, hinter deſſen eifernem Rohr ein Brett mweggefchoben war, jo daß der 166

Blick in die Tiefe offen lag. Das Mädchen ftand unbeweglic und ftarrte mindeftens eine Viertel- ftunde ae bie in das ſchwarze Loch, Cafpar ver- ließ leiſe die Galerie und fchlich hinunter; er betrat no kaum den Hof, fo flüchtete das Dit en mit böfem Geficht an ihm vorüber.

afpar ihr zaudernd folgte, begegnete ihm Pe da Rat, und Cafpar erzählte voll Eifer, was er mitangeihaut Herr Behold zog die Stirn kraus und fagte bejchwichtigend: „Ja, ja, gewiß; das Kind ift nicht gefund. Kümmer’ Er fg nicht darum, Cafpar, fümmer’ Er fich nicht arum.“

Gafpar tümmerte fi) aber doch darum. Er fragte die Mägde, was mit dem Kind ſei, und eine von tönen. erwiberte biffig: „Sie Eriegt nichts zu eſſen, der Findling frißt ihr alles weg!" | eilte er fpornjtreich8 zu Frau Behold, wieberholte ihr die Worte der Magd und fragte, ob das wahr jei. Frau Behold befam einen Wutanfal und jagte die Magd auf der Stelle davon. Als jedoch Caſpar fie auch dann noch in feiner ungeſchickten und alttlugen Weiſe er- mahnte, daß fie mehr auf ihre Tochter achten möge al3 auf ihn und daß er fonft fortgehen Fang: ſchnitt fie ihm das Wort ab und verwies ihm den Vorwitz. „Wie willſt du denn fort gehen?“ fuhr fie auf. „Wohin denn? Wo bift du denn daheim, wenn man fragen darf?"

Es entftand jest in Frau Behold die Mei- nung, daß Gafpar in ihre Tochter verliebt ſei. Sie legte es darauf an, ihn über den Punkt aus- zuholen. Auf ihre Fragen antwortete er jedoch, fo blöde, daß fie fich beinahe ihres Verdachts gefhämt hätte. „Grand Dieu,“ fagte fie laut

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vor fich hin, „mir fcheint, der Einfaltspinfel weiß nicht einmal, was Liebe ift!" Ja, noch mehr, fie jpürte, daß er fich nicht einmal im entfern- teften einen Gedanken darüber machte. Das war der guten Dame doc überaus jeltfam, ihr, deren Begierden und Gelüfte immer im trüben Gemwäffer halb Here halb fchlüpfriger Leidenfchaften plätfcherten, jo tugendhaft fie auch vor ihren Mitbürgern fich halten mußte.

Er ift doch aus Fleifh und Blut, Falkulierte fie, und wenn ſchon der närrifche Daumer in allen Tönen von feiner Engelsunſchuld ſchwärmt, als ermachjener Menſch meiß man, was der Hahn mit den Hühnern treibt. Er heuchelt, er hält mich zum beften; warte, Kerl, ich will dir den Gaumen troden machen.

Auf dem Markt, zur Rechten vor dem Be— oldſchen Haus, ftand der fogenannte jchöne rrunnen, ein Meiſterwerk mittelalterlich-nürn-

berger Kunft. Seit grauen Beiten erzählte man den Kindern, daß der Storch die Neugeborenen aus der Tiefe des Brunnens hole. Frau Behold fragte Caſpar, ob er davon vernommen habe, und als er verneinte, fah fie ihn mit ſchlauem Augenzwinfern an und mollte willen, ob er daran glaube. „Sch ſeh' nur nicht, wo der’ Storch da hinunterfliegen kann," antwortete er harmlos, „es ift ja alles mit Gittern vermacht.“

Frau Behold jtaunte. „Ei du Tropf!“ rief fie aus, „ſchau mich einmal aufrichtig an!"

haute fie an. Da. mußte fie die Augen ſenken. Und plöglih erhob fie fich, eilte zur Kredenz, riß eine Lade auf, ſchenkte fich ein Glas Wein vol und trank es auf einen Bug leer. Sodann ging fie ans Fenfter, faltete die Hände 168 .

und murmelte mit einem Ausdrud von Stumpf finn: „Jeſus Chriftus, bewahre mich vor Sünde und führe mich nicht in Verſuchung.“

Es bedarf kaum der Erwähnung, daß fie ſonſt eine höchft aufgeflärte Dame war, die fih das ganze Jahr nick in ber Kirche fehen ließ.

Es war ſchon Mitte Auguft und große Hite herrfchte. An einem Sonntag veranitaltete ber Vürgermeifter ein Waldfeft im Schmaufenbuf; Cafpar war am Morgen mit dem Stallmeifter Rumpler und einigen jungen Leuten bis Buch geritten und war jo müde, daß er nad) Tiſch in jeinem Zimmer einjchlief. Frau Behold weckte ihn ſelbſt und hieß ihn fich anfleiden, da der Wagen warte, der fie zum Feſtplatz bringen ſollte. Auf Cafpars Frage, ob noch wer mit- ehe, ermiderte fie, zwei Knaben führen mit inaus, die Söhne des Generals Hartung. Da jagte Cafpar enttäufcht, er münfchte, daß Frau Behold tr Tochter mitgehen lafje, denn die werde ſich grämen, wenn fie zu Haufe bleiben müſſe. Frau Behold ftußte und wollte zornig wer: den, nahm fich aber zufammen. Sie beugte fich vor, ergriff mit der Hand einen Bündel Roden auf Caſpars Kopf und fagte boshaft: „Ich jchneide dir die Haare ab, wenn du wieder davon anfängſt.“

par entwand fich ihr. „Nicht jo nahe,“ flehte er mit aufgeriffenen Augen, „und nicht ſchneiden, bitte!“

„Hab' ich dich!" drohte Frau Behold, ge gwungen ſcherzend. „Hab’ ich dich, furchtiames Menjchlein? Noch ein Widerpart, und ich komme mit der Schere!“

Während der Fahrt blieb Cafpar ſchweigſam. Die beiden Knaben, die vierzehn und fünfzehn

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Jahre alt waren, nedten ihn und juchten etwas aus ihm herauszuloden, da fie ftet3 mie über eine Art Wundertier über ki prechen gehört hatten. Nach Schuljungengewohnheit fingen fte an, prahleriſche Reden zu führen, als ob es feine gelehrteren und fhneffinnigeren Menjchen gäbe. Weit auf der Sannfteape raußen der eine, er höre ſchon die Muſik aus dem Wald, da ent- gegnete Caſpar, ärgerlich über das Weſen, das die beiden von ſich machten, das wundre ihn, er höre nichts, da en ſehe er auf einer hohen Stange fern über Bäumen eine Heine Fahne. „D die Fahne,“ meinten den geringjhägig, „die fehen wir jchon lang!“ Auch hierüber wunderte ſich Caſpar, denn er hatte fie erft im Augenblick wahrgenommen, ein ſchmales Streifchen, das nur im Wehen des Windes fichtbar war.

„Gut,“ fagte er, „wenn fie wieder weht, will ih euch fragen, ob ihr e8 bemerkt." Ex wartete eine Weile und ftellte dann, während die Fahne ruhig war, bie inreführende Frage: „Alfo, weht fie jegt oder nicht?"

„Sie weht!" antworteten die Knaben wie aus einem Mund, doch Caſpar verjegte ruhig: „Ich fehe daraus, daß ihr nichts jeht.“

Oho!“ tiefen j jene, „dann lügſt du!“

"So jagt mir doch," fuhr Caſpar unbeküm- mert fort, „was für eine Farbe fie hat."

Die Knaben ſchwiegen und guckten, dann riet der eine ziemlich Heinlaut: „rot," der andre, etwas fühner: „blau.“ Caſpar ſchüttelte den Kopf und wiederholte: „Ich fehe, daß ihr nichts It weiß und grün ift fie.”

Daran mar 1 wer zu mäleln, eine Viertel⸗ ftunde jpäter fonnten fich alle von der Wahrheit 170

überzeugen. Aber die Knaben blickten Caſpar vol Haß ins Geficht; fie hätten gern vor Frau Behold geglänzt, die die ganze Unterhaltung wortlos mitangehört Hatte.

Caſpars Gegenwart beim Zelt 30g, mie immer, eine Anzahl. Safer herbei, darunter waren einige Belannte, junge Leute, die ſich feiner annehmen zu follen glaubten und ihn Frau Behold uner- achtet ihres Widerſpruchs entriffen. Es war anfangs nur eine Heine Gefellfehaft, die fich aber

aligemach vergrößerte und, indem einer ben

mdern anfeuerte, lauter Tolpeiten beging. Sie warfen Tiſche und Bänke um, ſchreckten bie Mädchen, kauften die Krämerbuden leer, verübten ein müftes Gefchrei und ftellten fich "dabei an, ala ob Caſpar ihr Gebieter fei und fie kom— mandiere. Das Treiben murde immer aus: gelafjener; als e3 Abend geworden war, riffen fie die Lampions von den Säumen und zwangen ein paar Muftkanten, ihnen vorauszuziehen, um den Tumult mit ihren Trompeten zu begleiten. Zwei junge Kaufleute hoben Cafpar auf ihre Schultern, und er, dem ſchon Hören und Sehen verging, wünſchte fich weit weg und auerte mit dem unglüclichften Geficht von der Welt auf feinem lebendigen Sitz.

Unter Gelang und Gelächter kam die ent- feffelte Schar vor die Eftrade, wo der Tanz be- gonnen hatte; ; per fonnte fie nicht weiter, die angejammelte Menge verjperrte den a kr rückwärts und feitwärts. Plötzlich ra par

janz nahe die beiden Knaben, die in Fr

Kutſche mitgefahren waren; ſie landen af

der Treppe zum Tanzpodium und trugen einen

langen Baumzmweig mit einem meißen Pappen- 171

dedel an der Spitze, worauf in großen Lettern die Worte gemalt waren: „Hier ift zu fehen Seine Majeftät Cafperle, König von Schwindel heim.“ Gie hielten die Tafel jo, daß die Auf» Phrift Caſpar zugefehrt war, auch alle Umfiehen- en gewahrten fie alsbald, und es erhob ſich ein ſchallendes Gelächter. Die Trompeter gaben einen Tuſch, und der Zug fette fich wieder, am Wirts« haus vorbei, gegen den illuminierten Wald in Bewegung.

Caſpar rief, man ſolle ihn herunterlaſſen, aber niemand achtete darauf. Nun zog er mit der einen Hand am Ohr des einen, mit der andern an den Haaren des zweiten ſeiner „Au, was zwickſt du mich!“ ſchrie dieſer und der andre: „Au, mich zebelt er!" Wütend traten fie beifeite, wodurch Caſpar herunterglitt. Die beiden Geiloträger ftanden vor ihm und grinften höh⸗ niſch. „Wir haben auch ein Fähnlein für fagte der ältere, „fieh mal zu, ob e3 weht.“ jelben Augenblick ſchraken fie zufammen, denn eine gebieterifche Stimme fchrie Dröhnend ihren Namen. Es war der Vater der beiden, der General, der” mit einigen andern Herren und mit Frau Behold in geringer Entfernung an einem abſeits ftehen- den Tiſch ſaß. Diefe alle erhoben fich, denn am Himmel waren ſchwere Wolfen aufgezogen, und man hörte fchon den Donner grollen.

Frau Behold empfing Caſpar mit den Worten: „Du machit ja ſchöne Streiche, ſchämſt dich nicht? Alons! Wir fahren heim." Mit überlautem Wefen verabjchiedete fie fich von den Herren und eilte zum Ausgang des Feſtplatzes, wo fie mit treifchender Stimme ihren Kutfcher rief. „Seb dich!" herrſchte fie Caſpar an, als fie den Wagen 172

erreicht hatten. Sie felbft ftieg zum Kutjcher auf den Bock, ergriff die Zügel, und nun degamn ein tolles Fahren, erſt duch den Wald, dann die ſtaubſchäumende Chauffee entlang. Sie trieb die Tiere an, daß fie nur jo hüpften und von jedem Niejelftein, den ihr Huf traf, Funken Iprigten. Kein Stern war zu jehen, die Land- ſchaft breitete fich büfter Hin, häufig zudten Blitze auf und der Donner rollte näher.

In wenig mehr denn einer halben Stunde waren fie in der Stadt, und als die Pferde am Marktplatz hielten, dampfte der Schweiß von ' ihren Flanken. Frau Behold jperrte das Hauss tor auf und ließ Caſpar vorangehen. Er taftete fich in der Dunkelheit bis zu feiner Zimmertür, doc) die Frau ergriff ihn am Arm, 308 ihn weiter und trat mit ihm in den fogenannten grünen Salon, einen großen Raum, wo die Fenfter geichloffen waren und eine muffige Luft herrſchte. Frau Behold zündete eine Kerze an, warf Hut und Mantille auf das Sofa und feßte fih in einen Lederfeflel. Sie fummte leiſe vor fich hin, plötzlich umterbuach fie fich und fagte in derfelben fingenden Weife: „Komm einmal her zu mir, du unfchuldiger Sünder.“

Caſpar gehorchte.

„Knie nieder!" gebot die Frau.

86, ernd Iniete er auf den Boden und jah Frau Behold ängftlich an.

Wie am Nachmittag näherte fie wieder ihr Geficht dem feinen. Ihr ſchmales, Tanges Kinn zitterte ein wenig, und ihre dugen lachten ſonder⸗ bar. „Was ſträubſt du dich denn jo?" gurrte fie, da er den Kopf zurückbäumte. „Ma foi, er fträubt fih, der Füngling! Haft wohl no: fein lebendiges Fleifch gerochen? He, du Gtrid,

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wer's glaubt! Was Teufel, Erg dich am Ende? Hab’ ich dir nicht die beften Biſſen auf- tragen laffen? Hab’ ich Dir nicht geftern erft eine ſchoͤne Amſel geſchenkt? Ich hab’ ein gutes Herz, Cafpar, da horch, wie's jchlägt, wie's tidt.. ."

Mit großer Kraft zog fie feinen Kopf gegen ihre Bruft. Er dachte, fie wolle ihm ein Abe tun, und fchrie, da drüdte fie die Lippen auf feinen Mund. hm wurde eisfalt vor Grauen, jein Körper ſank zufammen, wie wenn die Knochen aus den Gelenken gelöft wären, und als Frau Behold diefer jähen Erſchlaffung inne ward, er ſchrak fie und fprang auf. Ihr Haar hatte fich gelodert, und ein dider Zopf lag mie eine Schlange auf der Schulter. Caſpar hockte auf dem Boden, krampfhaft umflammerte feine Linke die Rücklehne. Frau Behold beugte fich noch einmal zu ihm und ſchnupperte ſeltſam, denn fie liebte den Geruch feines Leibes, der fie an Honig erinnerte. Aber kaum fpürte Caſpar ihre aber malige Nähe, als er emportaumelte und ans andre Ende des Zimmers floh. Die Seite gegen die Tür gefchmiegt, den Kopf vorgebudt, die Arme halb ausgeftrectt, jo blieb er ftehen.

Die ferne Ahnung von etwas Ungeheuerm dämmerte in ihm auf. Kein jemals gehörtes Wort gab einen Hinmeis, doch er ahnte es, wie man auf eine Feuersbrunft, die hinter den Bergen wũtet, aus der Nöte des Himmels fchließt. Schändlic war ihm zumut, insgeheim fühlte er ſich an, ob er denn auch feine Kleider am Körper trüge, und dann fehaute er auf feine Hände nieder, ob fie nicht voll Schmuß feien. Er ſchämte fich, er ſchämte fi, vor den Wänden, vor dem Seffel, vor der brennenden Kerze ſchämte er fich; 174

ex wünfchte, die Tür möchte von felber fich öffnen, damit er unhörbar Derfhminben Tonne,

Es war wiedasentfegliche Aufleuchten von Augen, als ein roſiger Blisftrahl ins Zimmer fuhr; der Donner folgte wie ein enormer Schrei. Cafpar drückte die Schultern zufammen und fing an zu zittern.

Mittlerweile ging Frau Behold mit wahren Mannesſchritten auf und ab, lachte ein paarmal kurz vor fi) hin, plöglich ergriff fie die Kerze und trat auf Cajpar zu. „Du Nas, du ver- dorbenes, was haft du denn geglaubt,“ fagte fie exbittert, „glaubft du vielleicht, mir liegt etwas an dir? Ja, einen alten Stiefel! Mac, daß du mweiterfommft, und unterfteh dich nicht, darüber zu fprechen, ſonſt mafjafrier’ ich dich!"

Sie lachte dabei, als folle e8 im Grunde doc nur Scherz fein, aber Cafpar erjchien fie über- groB ihr ſchwarzer Schatten erfüllte den ganzen

aum, außer ſich vor Furcht, rannte er hinaus, die Frau hinter ihm her, er, die Treppe hinab zum Tor, rüttelte an der Klinke; es war zus eſperrt. Er hörte draußen den Regen aufs flafter praffeln, zugleich vernahm er haftig trip- pelnde Schritte, ein Schlüfjel drehte ſich im Schloß und der Magiftratsrat erſchien auf der Schwelle. Die unaufhörlichen Blitze beleuchteten Caſpars fchlotternde Geftalt und das Donnergefchmetter verſchlang die Fragen de3 beftürzten Mannes.

Oben an der Stiege ftand Frau Behold, der nahe Kerzenſchein durchfurchte ihr Geficht mit ver- wildernden Lichtern, und ihre Stimme übertönte den Donner, als fie ihrem Manne zufchrie: „Ex hat ſich betunfen, der Kerl! Auf dem Schmaufenbut haben fie ihn betrunfen gemacht! Laß Er fich heute

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Au nicht mehr bfiden! Mari, ins Bett mit ihm!“

Der Magiftratsrat ſchloß das Tor und Happte den triefenden Parapluie zu. „Nun, nun... aber, aber," machte er, „lo ſchlimm wird's doch nicht gleich fein.“

Frau Behold antwortete nicht. Sie ſchlug eine Tür zu, dann war e3 ftill und finfter. „Komm Er nur mit, Caſpar,“ fagte der Rat,

„wie wollen mal Licht anzünden und nachiehen, was e3 denn da gibt. Reich Er mir den Arm, 0." Er geleitete Cafpar in deſſen Zimmer, machte Licht und murmelte fortwährend Kleine, bejchmwich- tigende Sätzchen vor ſich hin. Dann beroch er Caſpars Atem, um zu fehen, ob er wirklich ge- trunten babe, jchüttelte den Kopf und meinte verwundert: „Nicht dergleichen. Die Rätin ift da ficherlich im Irrtum. Aber mad) Er fich nichts draus, Gafpar, empfehl Er Seine Sache dem Herrn, und es wird wohl enden. Gute Nacht!"

Als Cafpar allein war, irrte fein ſcheues Auge von Blis zu Blitz. Bei jedem Aufflammen hatte er unter den Lidern Schmerzen wie von Nadelftihen, bei jedem Donnerfchlag war ihm, als ob alles in feinem Leibe locker ſei. Hände und Füße waren ihm eißfalt. Er magte fi nicht ins Bett zu begeben, fondern blieb wie an— gewurzelt ftehen, wo er ſtand. Er erinnerte fich

mit Grauen des erſten Gemitterd, das er im Turm auf der Burg erlebt hatte. Er war in einen Mauerwinkel gekrochen, und die Frau des Wärters war gekommen, ihn zu tröften. Sie fagte: „Man darf nicht hinausgehen, e3 ift ein großer Mann draußen, der zankt." Immer wenn e8 don- nerte, bückte ex ſich ganz zur Erde, und die Frau

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fagte: „Hab feine Angft, Cafpar, ich bleib’ bei dir."

Auch jest war es ihm, als jei ein großer Mann draußen, der zankte. Aber es mar niemand da, um ihn zu teöften. Die Amfel, die in einem Käfig beim Fenſter geduct auf dem Holzftäbchen hodte, ließ bisweilen piepfende Eleine Laute hören. Er hätte fie ſchon längit Peigelaffen, weil ihn das Tier er barmte, doch fürchtete er Frau Ir A Zorn.

Als das Gewitter im Wegziehen war, ent- ledigte er fich fchnell der Kleider, kroch ins Bett und deckte ſich bis zur Stirn hinauf zu, um das Blitzen nicht jehen zu müffen. In der Eile vergaß ex fogar, die Türe abzuriegeln, und diefer Um— ken hatte ein gar jonderbares Gefchehnis zur

'olge.

m Morgen beim Aufwachen fpürte er einen durchdringenden Geruch. Ja, e8 roch nach Blut im Zimmer. Schaudernd blicte er fih um, und das erfte, wa er fah, war, daß der Vogelbauer am Fenſier leer war. Cafpar fuchte nad) dem Tierchen und gewahrte, daß die Amfel auf dem Tiſch lag, tot, mit ausgebreiteten Flügeln, in einem Blutgerinnfel. Und daneben, auf einem weißen Teller, lag das blutige Heine Herz.

Was mochte dies bedeuten? Cajpar verzog das Gef, und fein Mund zuckte wie bei einem Kind, bevor e3 weint, Er kleidete ſich an, um in die Küche zu gehen und die Leute zu fragen, doch als er das Zimmer verließ, erſchrak er, denn Frau Behold ftand im Flur neben der Tür. Sie hatte einen Kehrbefen in der Hand und ſah unordentlich aus. Caſpar Be in ihr fahles Ge- fiht, er ſah fie lange an, falt fo matt und bemegt, mie er den toten Vogel angejehen.

Baffermann, Caſpar Haufer 12 177

Botſchaft aus der Ferne

Es war aber von da an nicht mehr auszu- halten mit Frau Behold. Wahrjcheinlich bereitete fi in diefer Zeit ſchon der furchtbare Gemüts- uftand vor, der fpäterhin ihr Schickſal ver- Vängnisvoll 5 beſchloß. Jedermann fcheute fich, mit ihr zu tun zu haben. Kaum hatte fie fich irgendwo bingefegt, jo ſprang fie auch ſchon wieder auf, um fünf Uhr früh war ſie ſchon munter, lärmte in den Zimmern und auf den Stiegen und Hlopfte Cafpar aus dem Schlaf, wobei fie ein jolches Gepolter an feiner Tür machte, daß er mit wehem Kopfe erwachte und den ganzen Tag zu feiner Arbeit fähig war. Bei Tiſch follte er nicht veden, und menn er einmal Beiberfprud hielt, drohte fie, ihn beim Gefinde in der Küche eſſen zu laſſen. Kam ein Fremder und Caſpar wurde gerufen, fo erging, fie fr in biffigen Wendungen. „3 bin neugierig, ob Sie aus dem Stockfiſch etwas nen fagte fie etwa; „man hat Ihnen icherlich weisgemacht, daß Sie ein Unikum von Klugheit an ihm finden werden. Ueberzeugen Sie ſich doch; jehen Gie zu, ob die arme Seele ein vernünftiges Wort hergibt." Solches machte den Gaſt, wer er auch war, verlegen, und Caſpar fand da und wußte nicht, wohin ex ſchauen follte.

Wie früher mußten Menjchen her, um die Räume des Haufes zu füllen, Gelächter follte über die morjchen Siegen hallen und kniſternde Schleppen den Staub der Jahrzehnte abfegen. Aber die Tage waren von den Mächten fo ver- ſchieden wie der Ballfaal, wenn die Lichter bren- nen und dann, wenn die Leute gegangen find, der Pförtner die Kerzen auslöfcht und Mäufe

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über bie befleckten Teppiche huſchen. In einem ſolchen Daſein wächſt Schuld wie das Unkraut auf nichtgepflägtem Ader. Große Schuld kann reinigen in Buße ober Leiden; bie Heinen Ver⸗ fäumniffe und unnennbaren Miffetaten, die an vielen Stunden vieler Tage hängen, zermürben die Seele und frefien das Mark des Lebens auf.

Jedenfalls war Frau Behold eine jehr mo- ralifche Natur, weil fie dem Menfchen nicht ver zeihen fonnte, der ihre Tugend ind Wanfen ge- bracht hatte, wenngleich nur für eine fchwüle Gewitterftunde. Aber lag e8 bloß daran? War ihr nicht vielmehr die ganze Welt auf den Kopf gefelt duch das unerwartete Bild der Unſchuld,

Kr ihr der Zi ni et Min folche umgedrehte Welt war ihr nicht erträglich, um darin zu leben. Es war ein Raub an ihr gefchehen und fie verlangte nach Rache.

Den Freunden Caſpars blieb der veränderte Zuftand im Haufe Behold nicht verborgen. Bürgermeifter Binder war der erfte, der mit Nachdruck erklärte, Cafpar dürfe nicht Tänger dort verbleiben. Daumer unterftüßte diefe Mei- nung lebhaft, und der Redakteur Pfifterle, hitzig und unbequem wie immer, befchimpfte in feiner Zeitung den Magiſtratsrat und äußerte den Ver- dacht, man würd ‚e den Findling unfchädlich zu maden und die Stimmen mit Gewalt zum Schweigen zu bringen, welche die Antechte feiner geheimnisvollen Geburt durchjegen wollten. „Da lebt er, ber ee Knabe, dem ein unficht- bares Diadem auf der Stirn glänzt, wie ein einfames Tier, das fi nur mit ein paar fchüch- ternen Sprüngen ans Licht getraut und, während & über den Acer hüpft, poffierlich mit Schwanz

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und Ohren wadelt, um feine Feinde zu ergößen, dabei aber ängftlich nach allen Seiten fpist, um bald wieder ins erſte beite Loch zu kriechen.“

So der aufgeregte Schreibersmann. Danach entſchloſſen fi die Stabtväter nach mancherlei Beratungen, wie vordem einen Erziehungs⸗ und KRoftbeittag aus der Gemeindelafje. auszufegen, und weil niemand fo wie Herr von Tucher ge- eignet ſchien, dem Elternlojen ein Obdach zu bieten, legte man ihm die Sache bemeglichermeife ans Herz, appellierte an feine Großmut und an die ausgejelänete Stellung feiner Familie, deren Name allein genügen würde, den Jüngling vor gemeinen Berfolgungen zu fchüßen.

Herr von Tucher hatte jedoch Bedenken. Das plögliche Gegeter gegen die Beholbichen verbroß ihn. „Grft jeid ihr froh gemefen, für den jungen Menſchen einen Unterfchlupf zu finden, und auf einmal wird hohes Rammergericht geipielt,“ fügte ex; „Toll ich annehmen, daß es mir beſſer er-

bt? ch will nicht Gefahr Iaufen, daß mein rivatleben von oben bis unten bejchnüffelt wird, ich will nicht jedem müßigen Hahn erlauben, fein Kilerili in meinen Frieden zu krähen.“

Auch, die Familie, befonderd feine Mutter, erhob Einſpruch und warnte ihn, fi in Aben⸗ teuer zu begeben. Es hieß fogar, die alte Freir frau babe dem Sohn einen unangenehmen Aufs tritt bereitet und ihm gejagt, wenn er den Saufer zu fi) nehmen wolle, möge er nur deſſen Unter- halt aus Gemeindefoften beftreiten, fie gebe feinen Grafen dafür ber.

er Herr von Tucher war ein Pflichtmenich. Er fand, daß es feine Pflicht fei, Cajpar auf zunehmen. Da er in ihm fchon einen halb Ver- 180

lorenen ſah, ftellte er ſich vor, daß er damit einen unglüclich Irrenden wieder auf die ges bahnten Wege des Lebens führen könne. Der au Cafpar ermangelt vielleicht nur einer männ- ich-träftigen Hand, ſege er ſich; die Faſeleien von Uebernatur und Ausnahmsweſen, das be— ftändige Beitarrt: und Bewundertwerden, alles das war ihm verberblich; Einfachheit, Ordnung, überlegte Strenge, kurz, die Prinzipien einer gefunden Zucht werden ihm heilfam fein. Pro- Gere don Luder atte ih, af von Tucher Hatte ſich alfo Hier eine Aufgabe geftellt, und da8 war das mi te. Er erklärte: Ir bin bereit, den Findling zu betreuen, Inüpfe jedoch die Bedingung daran, daß man mid) in allen Dingen gewähren und daß niemand, wer es auch fei, fich einfallen läßt, mich in meinen Plänen zu beeinträchtigen oder in irgendwelcher Abficht zwifchen mich und Gafpar zu treten." Natürlich wurde das zugefagt und verfprochen. Raum hatte Frau Behold gehört, was fich Hinter ihrem Rücken abfpielte, fo bejchloß fie, den eigniffen zunorzutommen. Sie wartete eine Nahmittagsftunde ab, während welcher Caſpar nicht zu Haufe war, ließ alles, was fein Eigen- tum war, leider, Wäiche, Bücher und jonftige Gegenftände, in_eine Kiſte werfen und dieje ohne Dedel auf die Straße ftellen. Dann fperrte fie felber da8 Tor zu und lehnte ſich befrieigt lächelnd zum Erkerfenſter des erſten Stockwerks heraus, um auf Caſpars Ruckkehr zu harren und die Verbluffung des angeſammelten Volkes zu genießen. Cafpar kam bald; er wurde von feinem Leib⸗ poliziften über das Vorgefallene belehrt, und ins 181

des der Mann von Amts wegen aufs Rathaus trollte, um Meldung zu erftatten, lehnte fich Caſpar gegen feine Kifte und ſchaute bin und wieder verwundert zu Frau Behold hinauf. Es dauerte gute zwei Stunden, bi8 man ſich auf dem Rathaus entfchieden hatte, was zu tun fei, und Herr von Tucher benachrichtigt worden war. Währenddem fing e8 an zu regnen, und hätte nicht ein gutmütiges Marktweib einen Hopfenſack berbeigebracht, mit dem fie die Kifte bededte, fo wäre Caſpars ganzes Hab und Gut durchnäßt worden. nd zeigte ſich der Polizift wieder in Begleitung eine Qucherfchen Bebienten; fie brachten ein Handwägelchen mit und fchleppten die Kifte hinauf. Nun ging's fort, und ein ein⸗ fältig ſchwatzender Saufen Menſchen folgte bis in die Hirfchelgaffe and Tucherhaus.

Es begann nun wieder ein ganz neues Leben für Cafpar. Vor allem hörte der Beſuch der Schule auf und anftatt deſſen fam zweimal täg- lich ein junger Lehrer ind Haus, ein Stubiofus namens? Schmidt. Sodann wurde jedem un- berufenen Fremden die Tür verriegelt. Ferner wurde das Reiten nicht mehr geftattet. nDerlei Uebungen find für Ariſtokraten und reiche Leute, nicht aber für einen Menfchen, der zu bürger- lichem Brotverdienft erzogen werden muß und fiherlich einft darauf angemiefen fein wird, fich mit feiner Hände Arbeit durchzuſchlagen,“ fagte Herr von Tucher.

Daraus war erfichtlich, daß er den Redereien von vornehmer Abjtammung, die im Lauf der Zeit keineswegs verjtummt waren, nicht die min- defte Bedeutung zumaf. „Die gegebenen DVer- hältniſſe find ſchwierig genug,“ erwiderte Herr 182

von Tucher, wenn man ihn nur auf eine Mög« lichteit diefer Art hinwies; „ich bin durchaus nicht gefonnen, einem folhen Phantom, und mehr ift es nicht, meine Grundfäge zu opfern."

Here von Tucher war ein Mann, der uner- fhütterlich an feine Grundfäge glaubte. Grund» jäße zu haben, war für u das erſte Element des Lebens, nad ihnen zu handeln, ein felbftver- ſucee Gebot. Es gehörte zu dieſen Grund⸗ lägen, daß er von Anfang an eine Entfernun— zwiſchen ſich und Caſpar ſchuf, die den Reſpekt ficherte. Vertrauliche Beziehungen waren ohne hin feine Sache nicht; Gefühle zu zeigen, war ihm verhaßt; die aufrechte Haltung, der gemefjene Gang, der fühle Blick, die Tadellofigkeit in Klei- dung und Manieren fennzeichneten auch ganz und gar fein Inneres.

Strenge erjchien ihm wichtig; er zeigte Caſpar ein ſtrenges Geficht. Die_oberite Marime war: ſich nicht rühren laffen. Daneben war e3 billig,

ir erfüllte Pflicht Anerkennung zu gewähren. ie Stunden vom Morgen bis zum Abend waren aufs genauefte eingeteilt. Am Vormittag der Unterricht, dann ein Spaziergang unter Aufficht des Diener3 oder Poliziften, am Nachmittag be ſchäftigte ſich Caſpar allein. Neben feiner Stube mar eine feine Kammer als Werkſtätte ein- gerichtet, und wenn er die Aufgaben beendigt jatte, verfertigte er allerlei Tifchler- und Papp⸗ arbeiten, wozu er viel Geſchick bewies. Auch an Uhren und deren derleaung und Zufammenfegung fand er Freude. Sein Betragen befriedigte Herrn von Tucher volllommen. Er konnte nicht umhin, den eifernen Fleiß des Jünglings und feinen hartnäckigen Lern- und Bildungseifer zu bewun⸗ 188

dern. Es gab nicht Widerfpruch noch Auf lehnung, niemal® tat Cafpar weniger, al3 von ihm gefordert wurde. Ganz Har, man hat mich falſch berichtet, dachte Herr von Tucher, die Leute, die bisher um ihn waren, haben ihn nicht zu behandeln gewußt, zum erjtenmal erfährt er den Segen einer folgerechten Leitung.

Die Grundfäge triumphierten.

Das häufige und lange Alleinfein war Cafpar zuerft angenehm, aber im Verlauf der Zeit wurde ihm doch fühlbar, daß dem ein Zwang obmaltete, und er hörte auf, die Gelegenheiten zu fliehen, die ihm Zerſtreuung und Unterhaltung ver- fprachen. Wenn auf der fonft jo öden Hirfchel- alle Lärm entftand, riß er das Fenfter auf und ehnte erwartungsvoll über den Sims, bis es wieder ftille war. Es brauchten nur zwei alte Weiber ſchwatzend ftehenzubleiben, gleich mar unfer Caſpar auf dem Poften und laufchte. Er mußte genau, um welche Zeit die Bäderjungen am Morgen vom Webersplab herfamen, und er- gößte fich an ihrem Pfeifen. Sobald der Poftillon am Laufertor fein Horn blies, unterbrach er die Arbeit und feine Augen glänzten. So machte ihn auch jedes Geräufch aus dem Innern des weitläufigen Haufes ftugig, und nicht felten lief ex zur Tür, öffnete den Spalt und horchte aufs geregt, wenn er eine Stimme vernommen hatte, die unbefannt klang. Die Dienflleute wurden darauf aufmerffam; fie fagten, er fei ein Türen- borcher und lege e8 darauf an, fie dem Baron zu verklatfchen.

Bor dem Haufe jelber empfand Cafpar eine unbeftimmte Hochachtung; er jchritt faft auf Zehen über die Korridore, etwa mie man in der Gegen⸗ 184

wart eine3 vornehmen Herrn leife Ipricht. In ſtolzer Zugefchloffenheit thronte der Bau abjeits vom Getriebe, und mer Einlaß heifchte, mußte fih von einem Iangbärtigen Pförtner befichtigen und befragen Iaffen. Die Mauern waren fo ge: waltig in die Erde gebohrt, Faſſade, Dach und Sieb jo majefi fätiie gefügt und verwachſen, als hätten altverbriefte Rechte mehr als die Kunft des Baumeiſters ihnen zu folchem Anfehen ver- bolfen. Der Turm im Hof mit der Wendeltreppe feffelte Cafpar3 Auge gern am Abend, wenn die feinnerfehnörtelten Formen, ducchglüht von bläulihem Dunft, ſich ineinanderwirfend zu be leben fchienen.

Bisweilen gewahrte er binter_ einem ver» ſperrten Zenfter einen eisgrauen Scheitel über einem pergamentenen Geſicht. Es war die alte ne ie fich fonft ihm niemals zeigte. Man

Iagte ihm, daß fie von ſchwacher Sefunbheit fei ängftlih das Zimmer büte. Dies Fremd jein Wand an Wand erregte fein Nachdenken. Allmählich wurde es ihm klar, daß er unter lauter fremden Menfchen herumging und von der Mitleidsfchüffel fpeifte Einer nahm ihn und nährte ihn; da kam ein Wagen, und er murde geholt, Ein andres Haus; eines Tages wirft man fein Zeug auf die Gafje: wieder mo- andershin.

Wie Ins 8 das zu? Andre lebten ftändig an ihrer Stelle, Tannten ihr Bett von Kindheit an, keiner durfte fie losreißen, fie hatten Rechte, Das war e3, fie Hatten angeftammte und gewaltige Nechte. Es gab Arme, die um Geld dienten, die zu den Füßen derer lagen, welche man als reich bezeichnete, ſelbſt die jtanden irgendwo feſt

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auf der Erde, hielten irgend etwas feſt in den jänden, fie verrichteten eine Arbeit, man bezahlte fie für die Arbeit und fie Eonnten hingehen und ch ihre Brot kaufen. Der eine machte Röcke, er zweite Schuhe, der dritte baute Säufer, der vierte war Soldat, und fo war einer dem andern Schutz und Hilfe und befam einer vom andern Speife und Trank. Warum konnte man fie nicht wegreißen von der Stelle, wo fie hauften?

Darum war e3, ja, darum war's: weil fie eines Vater? und einer Mutter Sohn waren. Das hielt einen jeden. Vater und Mutter trugen _ jeden zur Gemeinfchaft der Menjchen und zeigten ſomit allen andern an, woher er gekommen ſei und mas er fein wollte,

Das war es, Cafpar wußte nicht, woher er gelommen fei; aus irgendeinem unentdedbaren

rund war er, er ganz allein vaterlos, mutter- los. Und er mußte es herausbringen, warum. Er mußte zu erfahren fuchen, wer und wo fein Bater und feine Mutter waren, und vor allem mußte er hingehen und fich feinen Plab erobern, von dem man ihn nicht vertreiben Tonnte.

An einem Winterabend betrat Herr von Tucher Cafpar3 Zimmer und fand ihn tief in ſich gelehrt. Zwei⸗ oder dreimal möchentlich prsgte ‚Herr von Tucher nach beendetem Tage merk feinen Bögling zu befuchen, um I ein wenig mit ihm zu unterhalten. Es lag Dies im Schema de3 Erziehungsplanes, Das Prinzip verlangte aber von Herrn von Tucher, daß er eine würdevolle Unnahbarfeit bemwahre; das Prinzip zwang ihn, auf die Freuden eines natür- lichen Verkehr zu verzichten. Und wenn es ihm auch manchmal ſchwer wurde, folche Ueberwindung

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zu üben, fei e8 durch ein eignes Bedürfnis, ſich mitzuteilen, ober weil_ein jtumm forſchender Blick Caſpars an fein Herz faßte, es gab kein Schwanten, das Prinzip, mig wie ein Vitzli⸗ pußli, verftattete nicht, daß man die Grenze der Zurückhaltung mehr als nüßlich überfchreite.

Wie er aber Caſpar fo gewahrte, verborgenem Sinnen bingegeben, ergriff ihn der Anblid doch und feine Stimme nahm wider Willen einen

milderen Klang an, als er den Jüngling um die Urfache feines Nachdentens beftagte.

Caſpar überlegte, ob er fich auffchließen dürfe. Wie bei jeber Gemütsbewegung war die linke Seite feines Gefichtes konvulſiviſch durchzuckt. Dann ftrich er mit einer ihm eignen unnachahm- lich Tieblichen Gefte die Haare von ber einen Wange gegen dad Ohr zuräd und fragte mit einem Ton aus innerjter Bruft: „Was fol ich denn eigentlich werden ?"

Ba von Tucher beruhigten dieſe Worte jo-

leich. Er machte eine Miene, als wolle er jagen: ie Rechnung ftimmt. Darüber Kar er auch ſchon nachgel ach, erwiderte er; Safpar möge ihm doch jagen, wozu er am meiften ft bat. PR Gafyar ſchwieg und ſchaute unentſchloſſen vor

Wie wäre es mit ber Gärtnerei?" fuhr Herr von Tucher wohlmollend fort. „Oder wie wäre e3, wenn du Tifchler würbeft ober Buch⸗ binder? Deine Papparbeiten find ganz vortreff- lich, und du könnteſt das Buchbindergewerbe in kurzer Zeit erlernen."

„Dürft’ ich dann alle Bücher leſen, die ich einbinden fol?" fragte Caſpar verjonnen, der fo gedudt ſaß, daß fein Kinn die Tifchplatte berührte,

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‚Herr von Tucher runzelte die Stirn. „Das bieße eben den Beruf vernachläffigen,” ant- mortete er.

„Ich könnte ja auch Uhrmacher werden," fagte Caſpar; er hatte in dieſem Augenblic eine ziemlich überfpannte Vorftellung von einem Uhr- macher; er jah einen Mann, der im Innern hoher Türme fteht und den Gloden zu läuten befiehlt, der goldene Rüden | ineinander fügt und duch einen Bauberfprud die Beit unfichtbar macht und in ein winziges Gehäufe bannt. Ueber⸗ haupt mit folchen Namen war es ſchwer; nicht fein Wollen lag dahinter, fondern ein unbegreifs lich verwickeltes Bild des ganzen Lebens. Herr von Tucher, voll Argwohn, als wurzle in dem Gehaben Caſpars doc fein wahrer Exnft, erhob fih und fagte kalt, er werde fi die Sache überlegen.

Um nächſten Abend wurde Cafpar in Herrn von Tucher8 Bimmer gerufen. „Ich bin nun mit auf unſer geſtriges geſrac zu fol⸗ gendem Entſchluß gelangt," fagte der Baron; „du bleibft das Frühjahr us den Sommer über noch in meinem Baus. Wenn du fleißig bift, kann deine Ausbildung in den Elementarfächern bis zum September beendet fein, deſſen verfichert mic) aud Herr Schmidt. Damit nun der Ta, ein ununterbrochene8 Ganzes für dich wird, follit du des Mittags nicht mehr mit mir effen, ſon⸗ ve alle Mahtpeiten auf deinem Zimmer ein- nehmen. Ich werde bald mit einem anftändigen Buchbindermeiſter drehen; wir wiffen dann, woran wir find. Biſt du’ ‚ufrieben, Gafpar? Der haft du andre Wünfche? Nur frifch heraus mit der Sprache, du kannſt noch immer wählen.“

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Ein flüchtiger Schauer lief Cafpar über den Rücken. Er ſchüttelte ſich ein wenig, ſetzte ſich nieder und ſchwieg. Herr von Tucher wollte ihn nicht weiter bebrängen, er wollte ihm Zeit laſſen. Eine Weile ging ex hin und her, dann nahm er vor dem Flügel Platz und fpielte einen Iangjamen Sonatenjat. Es gejchah dies nicht aus er Laune; am Dienstag und Freitag von fe is ſieben Uhr abends ſpielte Herr von Tucher Klavier, und da der Kuckuck der Schwarzwälder uhr foeben ſechs gefrächzt hatte, wäre eine Ver- fäumnis fehr gegen die Regel gemejen.

Es war eine ziemlich ſchwermütige Melodie, Für Caſpar war dergleichen eine Qual; fo gern er Märiche, Walzer und Iuftige Lieder hörte die Anna Daumer, die kann fpielen, ja te er immer —, ſo unbehaglich war ihm bei eigen Tönen. MS Herr von Tucher den Schlußakkord bes Stückes angefchlagen hatte, fich auf dem Dreh⸗ ſeſſel umkehrte und Salpar fragend anfchaute, dachte ex, ex folle de äußern, wie es ihm gefalle, und er jagte: „Das ift nichts. Traurig Tann ich von alleine fein, dazu brauch’ ich feine Muſik.“

ert von Tucher zog erjtaunt die rauen in die Höhe. „Was mabeft du dir an?" entgegnete er ruhig. „Ich habe kein mufikalifches Urteil von dir verlangt, und ich habe nicht den Ehrgeiz, deinen Geſchmack in diefer Hinficht zu veredeln. Im übrigen geh auf dein Zimmer.“

Caſpar war es ganz lieb, daß er nicht mehr mit dem Baron zu efjen brauchte. Das fteife Beieinanderſitzen erfchien ihm jedesmal unfinnig und läſtig. Vieles entzückte ihn an dieſem Manne, beſonders feine Ruhe und fein fachtes Sprechen, das überaus Reinliche feines Körpers,

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die porzellanweißen Zähne und vor allem die tofigen gewölbten Nägel ber langen Hände. Er Tannte viele Leute mit blafjen Nägeln und miß- traute ihnen; blaffe Nägel ermecten ihm die Dorfeltung des Neides und der Graufamteit.

och immer hatte Caſpar das Gefühl, als ob Here von Tucher auf irgenbmoefehe Art ſchlechte Nachrichten über ihn erhielte und fich davon be- tören lajje; es war ihm manchmal, als müffe er ihm äurufen: e8 ift ja alles nicht wahr! Aber was? Was follte nicht wahr fein? Das mußte Cafpar nicht zu fagen.

In feiner Einfamkeit war ihm zumute, als feien die Menfchen feiner überdräffig und gingen damit um, fich feiner zu entledigen. Er war voller Ahnungen, voller Unruhe. In Nächten, wo der Mond am Himmel ftand, verlöfchte er die Lampe früher als ſonſt, fegte fich ans Fenfter und verfolgte unverwandt die Bahn des Geſtirns. An Vollmondtagen ward er häufig unmohl, e3 . feor ihn am ganzen Leibe, erſt der Anblic des Mondes felbft nahm den Drud von feiner Bruft. Er mußte, von welchem Dach oder zwifchen welchen Giebeln bie helle Scheibe emporfteigen müffe, bob fie wie mit Händen aus der Tiefe des Himmels heraus, und wenn Wolfen da waren, zitterte er davor, daß fie den Mond be- rühren Fönnten, weil er glaubte, das fteahlende Licht müffe befleckt werden.

Sein Ohr ſchien in biefer Zeit manchmal den Lauten einer Geifterwelt zu lauſchen. Eines Morgens erhob er ſich während des Unterrichts

löslich, ging um Fenfter und beugte fich weit inaus, ge chmidt, der Studiojus, ließ ihn gewähren, als es aber zu lange dauerte, rief er 190

ihn zurüd,. Caſpar richtete fich auf und ſchloß das Fenſter, fein Geficht war jo bleich, daß der Studioſus beforgt fragte, was ihm jei.

„Mir war, wie wenn jemand käme," verſetzte Cafpar.

„Wie wenn jemand käme? Wer denn?“

„Sa, wie wenn mich jemand unten gerufen

*

e.

Der Studiofus fand dies wunderlich. Er dachte eine Weile nach und hätte gern eine Frage geftellt. Es war da neuerdings in ber Stadt viel von einer feltfamen Gefchichte die Rede, die Cafpar ul, oder auf ihn gedeutet wurbe und die in allen Journalen, auch draußen im Reich, des langen und breiten durchgehechelt wurde. Aber weil Herr von Tucher dem Studioſus aufs Er verboten hatte, mit Cafpar jemals über —J— a zu fprechen, nahm er fi zufammen und ſchwieg.

Nun Hatte Cafpar jeit Monaten die Ge- wohnheit, alle Zeitungsblätter, die ihm in die Hand kamen und die er fich zum Teil heimlich zu verichaffen wußte denn Herr von Tucher fürchtete von diefer Seite her Beeinfluffungen mit gutem Grund —, aufs genauefte durchzu- leſen. Hin und wieder geſchah es, daß er irgend⸗ eine Nachricht, eine Mitteilung über NEN elbſt entdeckte, und obgleich ex noch nie etwas Wejent- liches gefunden hatte, befam er jedesmal $ Hopfen, fobald er nur feinen Namen - gebru ſah. Sur Zeit nad jenem Heinen Zwiegeſpräch mit dem Lehrer fpielte ihm ber Zufall eine ſchon mehrere Tage alte Nummer der „Morgenpojt“ in die Hände, und beim Lefen fand er folgende eigentümliche Erzählung:

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Vor mehr als zehn Jahren hatte ein Fifcher bei Breiſach eine ſchwimmende Flaſche aus dem Rheinftrom- gezogen, und dieſe Flaſche enthielt einen Bettel, auf welchem gejchtieben ftand: „Im einem unterirdiichen Kerfer bin ich begraben. Nicht weiß der von meinem Kerker, der auf meinem Thron fist. Graufam bin ich bewacht. Keiner Tennt mich, feiner vermißt mic, feiner rettet mich, feiner nennt mid." Dann kam ein halb unlejerliher und verftellter Name, von dem alle deutlichen Buchitaben auch im Namen Cafpar Haufer enthalten waren.

Alles das war damals ſchon von einigen Zei⸗ tungen gemeldet worden, war aber bei dem Mangel jeglichen Anhaltspunttes natürlich wieder in Ver- geffenheit geraten. Da hatte vor vier Wochen etwa irgendein ungenannter Schnüffler den Vor— fall aus einem alten Jahrgang der ‚Magdeburger Zeitung‘ neuerdings ans Licht gebracht. Andre Sournale bemächtigten I der Angelegenheit, die nah und nad viel Staub aufmwirbelte. Auf einmal wurde nachgewieſen, daß feinerzeit ein Piariftenmönd von einer gemiffen Negierung bezichtigt wurde, die Flafche in den Rhein ge worfen zu haben. Es ftellte fich ferner heraus, daß derjelbe Mönch plötzlich verſchwunden und eines ſchönen Tages im Elſaß, in einem Wald der Vogeſen, ermordet aufgefunden worden war. Den Täter hatte man nie entdeckt.

„Wenn auf diefe Spur hin das fterium, das über dem Findling ſchwebt, nicht endlich ge- lüftet wird,“ rief der Querulant in der ‚Morgen- poft‘, nachdem er die Gefchichte alfo ausführlich berichtet hatte, „dann gebe ich feinen Pfifferling für unfre ganze Juſtizpflege!“

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Cafpar las und las. Zwei Stunden ver- brachte er damit, die wunderliche Hiſtoria immer wieder von vorn anzufangen und beinahe jedes einzelne Wort zu überlegen. Dabei überrafchte ihn der Studioſus; er vergemwifjerte fi, daß es eben diefelbe Affäre fei, von der er neulich nicht fprechen gewollt, und fagte Haftig: „Ci, was treiben Sie da, Gafpar? Was jagen Sie übrigens dazu? Die meiften Leute halten es für Quark, trotzdem es ein unmiberlegliches Faktum ift, daß die Sache damals in der ‚Magdeburger Zeitung‘ geftanden hat. Was jagen Sie dazu, Hauer?"

Cafpar hörte faum; als der Mann feine Frage wiederholte, erhob er das Geficht, ſchlug den feuchten Blict zum Himmel empor und fagte leife: „Ich hab’ e8 nicht gejchrieben, was da vom Kerker fteht."

„Vom Kerker und vom Throne," fügte der Studiofus mit fonderbarem und begierigem Lächeln hinzu. „Daß Sie es nicht gejchrieben haben, glaub’ ich ſchon, Sie haben ja das Schreiben erſt bei uns gelernt."

„Aber wer kann e3 gefchrieben haben?"

„Wer? Das ift eben die Frage. Vielleicht einer, der helfen wollte; ein verborgener Freund vielleicht."

„Vom Kerker und vom Throne," lallte Caſpar mit willenloſen Mund. Er begab Bin in die Dfenede, kauerte fich auf einem Schemel zufammen und verſank in tiefe Grübelei. Weder Auf noch Mahnung noch Befehl vermochten ihn zu weden, und der Studiofus, der ſich ſchuldig fühlte, blieb, um fein Auffehen zu machen, die Stunde über figen und entfernte fih dann ſtill.

Am felben Abend war eine Afjemblee im

Baffermann, Gafpar Haufer 18 193

Tucherfchen Haus, alle Freunde der Familie waren geladen, und eine halbe Stunde lang dauerte das Wagengerafjel vor dem Haus. ALS die erſten Tanzweiſen vom Saal heraufihallten, begab fich Gajpar in den Korridor und horchte. €r hatte nicht mehr Zutritt zu folchen Feſten.

Während er noch ftand, ans Geländer ge- preßt, den Kopf vorgebeugt, und er fich jo recht verjtoßen vorkam, berührte eine Hand feine Schulter. Es war der Lakai, der ihm auf filberner Platte einige Sup feiten brachte. Caſpar air telte den Kopf un ir te: „Süßes mag ich nicht," worauf der Diener ihn mürriſch mit den Blicken maß und ſich zu gehen anfchicte,

Da kamen Schritte von der zweiten Treppe ber, die unbeleuchtet war, und unverſehens ftand die alte Freifrau in graufeidenem Kleid und fei- dener Haarfchärpe vor den beiden; indem fie ihre blauen Augen ftreng in die des Jünglings bohrte, fagte fie jtolz und befremdet: „Süßes mag er nicht? Warum mag er denn Süßes nicht?"

Sie kam von unten; Caſpar roch deutlich den Menfchendunft an ihren Gewändern. Es war ihre Art, fich früh zurückzuziehen. Bevor fie zur Ruhe ging, pflegte fie täglich durch dag

janze Haus zu wandern, um nachzufehen, ob fein er jei und fein Dieb fich eingejchlichen habe.

Vor ihren rauh klingenden Worten duckte Caſpar den Kopf. Es ift anzunehmen, daß feine Phantafie ungewöhnlich erregt war. Plötzlich ſpürte ex eine lähmende Furcht. Schwärze ſtieg um ſeine Augen, es war ihm, als habe er die Stimme des Vermummten gehört, und den Arm ausſtreckend, ſchrie er bittend: „Nicht ſchlagen, nicht fchlagen!"

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Die alte Dame, die e8 fo fchlimm eben nicht gemeint hatte, blicte verwundert und erfchroden auf, Indes hatte Caſpars lauter Schrei die Aufmerkjamfeit einiger Gäfte erregt, die im uns teren Flur auf und ab fpazierten. Sie wandten fih an Heren von Tucher, und dieſer ging die Treppe empor, gerolgt von einigen Herren. Unter der Gefellichaft im Saal’ verbreitete ſich das Ge rücht, es jei etwas paffiert, und da Caſpars Aufenthalt im Buße, natürlich befannt mar, dachten alle an ein Ereignis wie das bei Daumer vorgefallene. Es entitand ein Schweigen, bie

Tanzmufif verftummte, viele drängten hinaus, befonder die jungen Damen waren erregt, und . eine Anzahl von ihnen ftieg die Treppe empor und blieb ſchauend ftehen.

‚Herr von Tucher, der. dies alles aufs pein⸗ lichſte empfand, wie ihm denn jedes unnüge Auf⸗ jehen ein Greuel war, ſchickte fih an, Caſpar zur Rebe zu ftellen, wurbe aber durch das vers fteinerte Bild des Jünglings abgeſchreckt, auch ihn die beſtürzte Haltung feiner Mutter

rung, ging etwas Ungeheures in Cafpar vor. Ihm war, als habe er, was jett geſchah, ſchon einmal erlebt. Wie mit einer Sturzwelle riß es ihn zurüd, und die Zeit fchien ihren Atem ans

zubalten. Da mar die alte Frau, fürftlich ger chmückt und ma, aeftätii anzufehen; mie, glich je nicht einem Bei, das einft in ein Gemach gefommen, wo auch er geweſen war, und hatte Ihe Gegenwart nicht alle andern exftarren laſſen? Lag —*— jemand auf dem Bett und vergrub den Kopf in die Kiffen? Da mar der Diener, der eine filberne Platte in Händen hielt; war das 195

nicht alt? Stand nicht auch damals einer da, der Geſchenle brachte oder Süßes oder Koftbares? Da waren feierlich gefleidete Männer, die auf einen Befehl zu harren ſchienen, darauf warteten, daß_einer Täme, +] feftlicher angetan als fie keit, vor dem fie fic) verneigen mußten? Und ieſe ſchlanken weißen Mädchen in weißen Schleiern, deren Blicke tief und bang mwaren? Und hier oben die Dämmerung, die ſich über zahllofe Marmorftufen hinab ins Licht verlor? Cafpar hätte jauchzen mögen, denn er erſchien ſich fremd umd zugleich von allen angebetet; fie jenften das Haupt, fie erfannten den Herrn in ihm; ja, er ahnte, was er war und von wo er tam, er fpürte, was jenes Wort vom Kerker und vom Throne zu bedeuten hatte; ein geifterhaftes Lächeln umjpielte feine Lippen.

‚Herr von Tucher bereitete dem unangenehmen Auftritt ein möglichft ftilleg Ende. Er führte Gatpar in fein Zimmer, gebot ihm, ſich zu Bett u begeben, wartete, bis er lag, verlöjchte dann Kst das Licht und fagte beim Hinausgehen in ſcharfem Ton, er werde ihn am andern Morgen wegen feiner ungehörigen Aufführung zur Rechen- ſchaft ziehen. .

Darum feherte ſich Cafpar wenig. Es wurde auch nicht viel aus der gedrohten Abrechnung. Herr von Tucher jah ein, daß den Grundfäßen eigentlich nichts zuleide gefchehen war. Sein Koch verriet ihm im hohlen Ton der Prophezeiung, Caſpar fei mondfüchtig und werde ficherlich ein- mal auf3 Dad; fteigen und herunterftürzen. Herr von Tucher konnte den Mond nicht abfchaffen; da der Jüngling krankhaften Zuftänden unter- worfen ſchien, durfte man ihn für gewiſſe Fehl- 196

teitte nicht verantwortlich machen. Ob Caſpar Tischler oder Buchbinder werden folle, war noch immer unentfchieden. Es mußte hierzu die Mei nung be3 Präfidenten Feuerbach eingeholt werden. Ser: von Tucher nahm fich vor, im April nach Ans⸗ ach zu fahren und mit dem Präfidenten zu fprechen.

Cafpar aber war voller Erwartung. Ex wartete auf einen, der kommen mußte, auf einen, der irgendwo unter den Menſchen ging und den Weg zu ihm fuchte, und fo feit war der Glaube an diefen Kommenben, daß er jeden Morgen dachte: Heute, und jeden Abend: morgen. Er lebte in einem bejtändigen innerlichen Spähen, und feine ahnungsvolle Freude glich einem Traum. Aber wie der Pfau feinen Schweif niederfchlägt, wenn er feine häßlichen Füße gewahrt, jo machte feine eigne Stimme, fein eigner Schritt ihn fehon wieder gaghaft, um wie viel mehr erſt der An- blick von Menjchen, die täglich feine Erwartung enttäufchen mußten.

in ganzes Treiben in diefer Zeit mar

aufiergervößnlih, und_die aufmerkſam horchende Spannung gegen ein Leeres bin hatte etwas von Wahnwig. Freilich, zufammengehalten mit dem Verlauf der Ereigniffe bot fie ein andres Geficht und hätte einem Mann wie Daumer abjonder- lichen Stoff für feine Ideen geliefert.

Es Tauerte viel Heimliches und Feindfeliges auf Caſpars Wegen, und e3 überlief ihn kalt, wenn im Nebel ein Tropfen von einer Dachrinne pt Angftvorftellungen begleiteten ihn Bis in en Schlaf, und weil er oftmal3 erwachte und die Finfternis ihn quälte, bat er, daß man neben N ett ein Dellämpchen brennen laſſe. Dies geſchah.

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Einftmald in einer Nacht fpürte er, noch rar ein eigentümli Ziehen im Ge ſicht, als ob ihn von oben her ein kühler Atem fteeife. Jählings richtete er fich auf, blickte über Bett und Wand und gemahrte eine große Spinne, die an einem Faden in der Nähe feines Kopfes ding. Entſetzt fprang er aus dem Bett, und unfähig, ſich zu regen, beobachtete er, wie das Tier Fr aufs Kifjen niederließ und über das weiße innen Troch, einen gligernden Faden hinter ſich herſchleppend.

Caſpars ganzer Leib war wie mit einer neuen, ſchaudernden falten Haut bedeckt. Ex preßte die Hände zufammen und flüfterte angftvoll und jeltfam ſchmeichelnd: „Spinne! Was. fpinnft du, Spinne?"

Die Spinne ducte den gelblichen Leib.

„Was fpinnft du, Spinne?" wiederholte er

lehend.

Das Tier überklomm den Bettpfoſten und gewann die Mauer. ‚Was ſchickſt du dich denn fo, Spinne?" hauchte Cafpar. „Warum fo eilig? Sudjft du was? tw’ dir nichts ...“

ie Spinne war ſchon oben an der Dede, Caſpar feste ſich auf den Stuhl, wo die Kleider hingen. „Spinne, Spinne!" fagte er tonlos vor ih hin. Es ſchlug vier Uhr draußen und er jatte ſich noch immer nicht ins Bett, zurüd- etraut. Dann, ehe er fich hinlegte, wiſchte er iffen und Wand eifrig mit dem Tafchentuch ab.

Er trug von der unbefleidet verwachten Stunde eine Erkältung davon, die ihn mehrere Tage ans Lager feffelte. Er wurde Bau, des Warten war er fehon mühe. Obwohl ihm ſchließlich nichts mehr fehlte, hatte er Teine Luft, 198

das Zimmer zu verlaffen. von Tucher nahm feinen Zuſtand für ein Zwiſchenſpiel; als er ſich jedoch überzeugte, Di ſowohl vorſaͤhi je Gleichgültigleit wie He gütiger Zuſpruch fruchtlos blieben und daß da eine unverftellte feelenvolle Betrübnis waltete, ward er bejorgt.

Nun geſchah es an einem biefer Tage, daß ein —— Bote im Haus vorſtellig wurde, der zu Cafpar geführt zu werden verlangte, um ihm einen Brief auszuhänbigen. Herr von Tucher Dermeigerte die Erlaubnis dazu. Nach einigem Bedenken überließ ihm ber Mann das Schreiben und entfernte ſich mwieber. Bu von Tucher hielt fih für —5— den Brief zu öffnen. Er war von rätfelhafter Fa} Jung; noch vätfelhafter da⸗ Buch, daß ihm ein Diamantring beilag,

den Cafpar Damit ale 8 Geſchenk befam. Herr von Zuch er war une g, —E er tun ſolle. Brief Ring dem Gericht oder dem Präſidenten Feuerbach auszuliefern, erſchien ihm das rat- ſamſte. Doch widerſprach es immerhin ſeinem Rechtsgefühl. ine flüchtige Stimmung von Weichheit gegenüber Cafpar ließ ihn den Vorſatz völlig Dergeffen; ex hoffte, den Jüngling aus feiner Niedergefchlagenheit aufzurätteln, und dieſen Zweck erreichte er volllommen. Ex brachte Brief und Ring herbei.

Caſpar las: „Du, der du das Anrecht zu fein, was viele leugnen, vertrau dem Freun der in der Ferne für dich wirft. Bald wird er vor die ftehen, bald dich umarmen. Nimm -einftweilen den Ring als Beichen feiner Treue und bete für fein Wohlergehen, wie er für das deine zu Gott fleht."

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Als Cafpar dies gelefen hatte, drückte er das Geficht gegen den Arm und weinte ſtill für fich bin. Here von Tucher ſaß am Tiih und ließ den ſchönen Stein des Rings nachdenklich im Sonnenlicht fpielen.

Der englifche Graf

In den Nachmittagsftunden eines der lebten Apriltage rollte ein vornehmer Reifemagen vor die Einfahrt des Hotel3 zum wilden Mann, und alsbald verließ ein hochgewachſener Herr den Schlag und begrüßte Teutjelig den herbeiftirgen- den Wirt, der eines ſolchen Gaftes nicht gewärtig war, ba in feinem Haufe faft nur Kaufleute und Handlungsrerfende verkehrten. Der Fremde for- derte die beiten Zimmer, und ohne ſich nad) dem Preis zu erkundigen, fchritt er durch das Spalier von Gaffern in das meitbogige Tor. Diener und Kutjcher trugen die Koffer, den Nachtſack und fonftige Reifegegenftände in die Halle. Der Antömmling verlangte von felbjt das Fremden⸗ buch, und bald konnie jeder ehrfürchtig-fhaudernd die mit Riefenfchrift gefchriebenen Worte leſen: „Henry Lord Stanhope, Earl of Chefterfield, Pair von England."

Das Ereignis machte ſolches Auffehen in der Gegend, daß noch fpät abends Leute auf der Gaſſe ftanden und zu den hellen Fenftern empor- ſtarrten, hinter denen der erlauchte Herr Iogierte. Am nächften Morgen gab der Lord in der Woh— nung de3 Bürgermeiſters ſowie bei einigen Nota- bilitäten der Stadt feine Karte ab, und ſchon 200

wenige Stunden darauf erhielt er in feinem Quartier die Gegenbefuche, vor allem denjenigen ö Binders, der fich der früheren Anweſenheit des Lords natürlich wohl erinnerte.

In der ziemlich Iangen Unterredung mit dem Bürgermeifter geftand Graf Stanhope ohne Um— chweife, deß wie jenes erſte Mal ſo auch heute ie Perſon des Caſpar Hauſer den Grund ſeines Aufenthaltes in der Stadt bilde. Er hege für den Findling die größte Teilnahme, fagte er und ließ durchblicken, daß er etwas Entjcheidendes für ihn zu unternehmen gefonnen ſei.

Der Bürgermeifter ermiderte, er verftatte Seiner Herrlichkeit, ſoweit es die Vorfchriften erlaubten, freien Spielraum.

„Was für Vorfchriften?” fragte der Lord raſch.

Binder verjeßte, Herr von Tucher fei Kurator des Findlings habe weitgehende Rechte und werde der Einmiſchung eines Fremden nicht freundlich gegenüberftehen; außerdem könne man ohne Wiflen de3 Staatsrats Feuerbach feine Veränderung befürworten, die das Leben Cafpar Hauſers betreffe.

Der Lord machte ein befümmertes Geficht. „Da werde ich einen ſchweren Stand haben,” bemerkte er. Hierauf erkunbigte ex fi), ob man wegen des Ueberfalls im Daumerf Haufe irgend Anhaltspunkte gewonnen habe und ob die jeinerzeit von ihm ausgeſetzte Prämie feinen Emp- fänger habe finden können. Dies mußte Binder verneinen; er entgegnete, die jo großmätig zur Verfügung geftellte Summe liege unangetaftet auf dem Rathaus und Seine Lordichaft könne fie zu Oeliebiger Stunde zurücerhalten, da doch jede Entdedungsausficht nunmehr geſchwunden jei.

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san en zuge gt —* —* ließlich mit der ung geſellſchaftli— Pflichten. Zu Mittag, zum Tee und zu rg mar er eingelaben oder gab fleine, aber exzellente Mahlzeiten in feinem Hotel, wozu er eigens einen franzöfifhen Koch in Dienft nahm. Wenn e8 feine geheime Abſicht war, fich auf diefe Weife Freunde und Bewunderer zu verfchaffen, jo blieb ihm darin nichts zu wünjchen übrig, Wenn er den Zweck verfolgte, all die guten Leute und ihre Gefinnungen kennen zu lernen, fo fiel ihm das nicht ſonderlich ſchwer; man gab fich rückhaltlos, man fühlte fich geehrt durch feine Gegenwart, man _beftaunte jeine geringften Handlungen.

Jeder Anlaß war ihm recht, um das Geſpräch auf Caſpar Haufer zu lenken; er wollte miflen, immer Neues willen, ſchwelgte in den rührenden Einzelheiten, die man zu berichten wußte, fand es aber dabei doc nicht notwendig eine Unter- lafjung, die allerdings auffallend gefunden wurde —, den Profeflor Daumer zu bejuchen,- fondern begnügte fi) damit, den Gefängnis- wärter Hi zu fih kommen zu lafjen und ihn auszufragen.

Hi, von diefer Auszeichnung etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, fehilderte % beweglich, daß e3 von einem unter Verbrechern ergrauten Mann wunderbar zu hören war, jene hold verlorene Weben und ergreifende Darnieberfinten Caſpars während feines Aufenthalts im Turm; zum Schluß vief er, glühend vor Eifer, er, was an ihm Tiege, er werde die Unfchuld des Sünglings bezeugen, und wenn Gott jelber da8 Gegenteil behaupte, ar Stanhope war fichtbar er- ſchüttert; er lächelte, fagte, Hier fei ja nicht von 202

die Rede, und entließ den Mann fürſtlich ohnt.

Nun endlich entſchloß er ſich, Herrn von Tucher und damit auch Caſpar ſelbſt gegenüber zutreten. Wenn man ihn verwundert gefragt hatte, weshalb er dies jo lang verzögere, hatte ex erwibert, er bedürfe dazu feiner ganzen Samm« lung und Seelenfraft, denn vor dem Augenblid, wo er Gafpar zum erftenmal fehen werde, fei ihm bange, freudig bang wie einem Kind vor dem Weihnachtabend.

‚Herr von Tucher befand fich in feinem Arbeits: zimmer, al8 man ihm die Karte de Engländers brachte. Es verfteht & von jelbft, daß er von der Anmefenheit Stanhopes in der Stadt Kenntnis hatte und von deſſen Umtrieben unter- richtet war. Da er in jedem Fall einen Friedens» fire in ihm ſah, war er nicht zugunften des Mannes voreingenommen.

Nah allen ®ı Hreibungen hatte er in dem Fremden eine liebenswürdige und geminnende Erſcheinung zu finden erwartet; gleihwohl war ex überrafcht, ais er den vornehmen Gaft auf Id zufchreiten fah, und im Nu ſchwand feine

urch das ; görenfogen und trübe Vorgefühle ent- ftandene Abneigung.

Es war allerdings etwas Gefährliches um den Mann, das fpürte Herr von Tucher auf den erſten Blick, doch ebenfojehr Iag ein beftrickender Neiz von Weltlichleit und geiftreicher Anmut über feiner Berfon. Da feine Saltın ſtolz war, erſchien die Bartheit der ſchlanken Geftalt nicht weibiſch; die Züge, durchaus engliſch markant, waren edel_gejchnitten und ließen die fahle Fär- bung der Haut vergefien; das wechſelnde Feuer

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der durchfichtigen Augen erinnerte bald an die fanfte Gazelle, bald an die Ruhe des Tigers, kurz, Herr von Tucher wurde in einen Zuftand angenehmer Spannung und Erregung verjeßt, der duch das fchnell in Fluß gebrachte Gefpräch nicht im mindeſten betrogen wurde.

Die bloßen Fragen des Lord nach Caſpars Teiblicher und geiftiger Verfafjung befundeten ſchon einen Menfchen von hoher Einficht und Kenntnis des Lebens, und was er jagte, eroberte die Buftimmung des Hörers mühelos.

Auf die Beweggründe de3 Hierfeins kam er von felbft zu fprechen. Was er vorbrachte, lang unbeftimmt genug; er mar augenfcheinlich ein Meifter in der Kunft, feine wahren Abfichten zu verjchleiern, aber fein Argwohn konnte Herrn von Tucher beifallen. Der Name Stanhope gab ausreichende Bürgfchaft. Was. konnte einen Lord Stanhope verhindern, deutlich zu fein? War es nicht Feingefühl und angeftammter Takt, fo war & eine Verjchwiegenheit, bie zugleich das Ge löbnis enthielt, zur gebotenen Stunde alles ſchick- lich offenbar zu machen. Herr von Tucher fand II dadurch eher verpflichtet als enttäufcht; ohne ie ausgefprochene Bitte des Lords abzuwarten, fragte er höflich, ob e8 ihm genehm jei, Caſpar u fehen. Indem er die Verficherung der Dant-

arkeit feines Gaftes lächelnd abwehrte, läutete ex und gab Auftrag, daß man den Züngling hole.

Es entftand nun eine Stille; Herr von Tucher verblieb in unmillffirlichem Laufchen an der Tür, und der Lord faß mit übergefchlagenen Beinen, den Kopf in die behandſchuhie Linke geſtützt, das Gefiht dem offenen Fenfter zugekehrt. Es war ein fonniger Sonntagnacdhmittag ; der Himmel lag 204

blauftrahlend über dem fächrigen Gejchiebe der roten Dächer, zwitjchernde Schwalben ſchoſſen längs der grauen Häuferfronten hin. Als Caſpar in das Zimmer trat, veränderte Stanhope lang- jam die Richtung feines Blickes, und ohne jenen eigentlich anzufehen, ſchien er doch das ae Bild des Menfchen in ſich feitzufetten. Noch während Cafpar, dur ein paar rafche Worte des Heren von Tucher über die Perfon des illuſtern Mannes belehrt, auf den Grafen zuging, erhob fich diefer und ſagte mit überrajchender Erregung und fichtlich tiefberähtt: „Caſpar! Alfo endlich! Gefegnete Stunde!" Dann ftredte ex die Arme nach ihm aus, und wie zu einem Tor, das ihm nach, jehnfuchtSnollem Harren aufgetan worden, begab fih Caſpar in diefe_geöffneten Arme, ein heller, ſcharfer, Fühler Strahl der Freude durchfuhr ihn von oben bis unten, und ex vermochte weder zu fprechen noch ſich zu vegen. as war er, der aus weiter Ferne am. Von ihm der Ring, von ihm die Botjchaft. Schon oben, al8 er die Kalefche vor dem Haus ſtillhalten ß ört, war eine Erftarrung von Caſpars Gliedern gefallen, und als der Diener ihn vief, war es, als ob ein Morgenjchein das Haus durchglühe. Als er die Schwelle des Bim- mer3 erreicht hatte, ſah Caſpar nur ihn, den Fremden, Fremdvertrauten, und wie wenn ihm bisher die Hälfte feines Herzens gefehlt hätte, fühlte er fi auf einmal ganz geworden, rund und neu: mit gebadetem Auge ſah er fich ſelbſt, zwedvoll erſchaffen. Mild an ihre Glode ſchlug die Uhr und das Licht des Nachmittags war wie Honig und füß zu ſchmecken. 205

Auf den Lord übte die wunderbare Ergriffen-

heit Caſpars anfcheinend große Wirkung. Für ie Dauer mehrerer Sekunden war jein Gelicht heftig bewegt und die Augen trübten ſich wie in peinvollem Erftaunen. war ohne Zweifel verwirrt, die allzeit dienftbare Phrafe verfagte fi ihm, und bei der erften zärtlichen Anrede ang die fonft ſeidenweiche Stimme rauf. Mit der Hand ftreichelte er Caſpars Haare, gesbte die Wange des Junglings gegen feinen Bufen, und ein verlorener Bli traf den ſtumm abjeit3 fiebenben Heren von Tucher, der mit Berwun-

rung die ungewöhnliche Szene beobachtete. Stanbape bat ihn dann, weil das Verhüllte des Borgangs zu irgendeiner Klärung drängte, oh er Caſpar für einige Stunden mit fich nehmen dürfe, ein Anfuchen, dem Herr von Tucher nicht widerſtehen Tonnte.

Bald darauf ſaß Caſpar an der Seite des Lords im Wagen; der Polizift mußte natürlich mit und faß Eintenauf, Während das Gefährt zum Tor hinaus gegen die Marfeldgärten rollte, entſpann ſich langſam ein Geſpräch.

Caſpar klagte, zum erſtenmal durfte er klagen. Doch war er ſchon verſöhnt mit dem Augenblick, wo geſchehenes Unrecht als ſolches erkannt und verſtanden wurde. Vie Welt ſchien ſchlecht bis auf dieſen Tag, jetzt tat ſich ihr Himmel auf und es zeigte ſich ein waltender Arm.

Doch nicht ſo ſehr um das Nahgeſchehene handelte ſich's: bier war einer, der wiſſen mußte! Cafpar fragte. Kühn und leidenſchaft⸗ in fragte er: wer bin ic}? wer war ih? was fo 18 wo ift mein Vater? wo meine Mutter? Und die Antwort des Grafen? Verlegenheit.

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Eine Umarmung. „Geduld, Caſpar; bis morgen nur Geduld: das läßt ſich nicht in einem Atem- a abtun, allzuviel ift zu Tagen. Erzähl mir lieber: wie haft du gelebt? Erzähl von deinen Träumen. Dan jagt mir, du habeft wunderbare Träume. ° Erzähl!"

Caſpar ließ nicht lange bitten. Die weſens⸗ vollen Gebilde machten den Laufcher ftugig, er umfchloß Caſpar feiter und verbarg fo fein Ge— nit vor ihm; bei der gejchilderten Erſcheinung

er Mutter fuhr er wie vor Schreck zufammen, und abermals juchte er abzulenken, wollte Einzel- heiten über das Leben Caſpars im Daumerfchen, im Beholdfchen Haufe willen; der Gegenjtan war gefahrlos. Stanhope fand fich ergößt durch Caſpars urfprüngliche und bezeichnende Aus: drucksweiſe, die komiſche Anwendung von Sprich: mwörtern und Nürnberger Redensarten. Auf dem Rückweg fragte er, wo Caſpar den Ring habe, den er ihm gefchidt. „Hab’ mich nicht grau, ihn an den Singer zu tum," antwortete Cafpar.

„Warum denn nicht?"

„Weiß nicht warum."

„War er dir nicht ſchön genug?"

„D nein; umgekehrt wird ein Schuh draus, Viel zu fehön war er mir. Hab’ immer Herz Hopfen gehabt, wenn ich ihn angeſehen.“

„Aber jest wirft du ihn tragen?“

., da, jegt will ich ihn tragen, Jetzt weiß ich, er gehört wirklich mir."

Der Wagen hielt vor dem Tor, Stanhope nahm zärtlichen Abſchied von Cafpar und beftellte ihn für den nächiten Vormittag in den Gaft- hof. „Auf Wiederfehen, Liebling!" rief er ihm noch zu.

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Gafpar ftand beflommen. Jetzt kroch die Zeit wieder träge. Jeder Schritt ind Haus war ein ſchmerzliches Sichentfernen aus dem Kreis des herrlichen Mannes; mas jeßt die Hand, der Blick berührte, war alt, war tot.

Schon um zehn Uhr morgens war er im „Wilden Mann“. Der Unterrichtsftunde war er einfach entlaufen; hätte ihn jemand abzuhalten verjuht, er wäre an einem Strict vom Fenfter heruntergeflettert.

Der Lord kam ihm in der oberen Halle ent- gegen, küßte ihn vor vielen Bufchauern auf die Stirn und führte ihn ins Empfangszimmer, wo auf einem Tiſchlein Geſchenke für Cafpar lagen: eine goldene Uhr, goldene Hemdfnöpfe, filberne SHubfnallen und feine weiße Wäfche. Cafpar traute feinen Augen nicht, der Ueberſchwang des Dantes verjperrte ihm die Kehle, er wußte nichts andres, als immer nur die freigebige Hand des Spenders in der feinen feftzuhalten.

Der Lord nahm den ftillen Anſturm mit ge rührtem Schweigen auf. Aber nachdem fie ein paarmal Arm in Arm durch die Mitte des Raumes gewandelt waren und Cafpar noch immer ‘mit fichtbarer Anftrengung nach Be feiner Erkennilichkeit rang, ermahnte ihn Stanhope janft, er möge doch jeden Dank unterlaffen. „Diefe Dinge find ja nur geringfügige Merkmale meiner Liebe zu dir,“ fagte er; „Das Wirkliche, das Große, was ich für dich tun will, bleibt der Zukunft vorbehalten. Inzwiſchen bleibe du fo, wie du bift, mein Cafpar, denn fo bift du mir eben recht; nicht geräufchvoll in Worten, aber zuverläffig in deinem Herzen. BZuverläffig und treu ſollſt du mir bleiben, ein Sohn, ein Kamerad, ein Freund.” 208

Caſpar feufzte. Das war zu viel des Glücks. Nie hätte er geglaubt, daß ein Menfchenmund fo fprechen könne. Bur Beteuerung war er ohn- mädtig, nur fein Auge gab Kunde in einem ſchwärmeriſchen Blick.

Stanhope öffnete eine Tür und geleitete den Jungling zu einer Heinen Frühſtückstafel, die im Nebenzimmer bloß für fe beide gedeckt war. Sie nahmen Plab, der Lord füllte Wein in die Gläfer und lächelte fonderbar, als Caſpar erklärte, er trinke niemal® Wein. „Wie wird es dann wer- den, Cafpar, wenn wir zufammen in die Länder de3 Südens reifen? Auf allen Hügeln glüht dort der Wein und die Luft ift voll davon. Was ſchauſt du mid fo an? Glaubft du mir nicht?“

Wirklich? Werden wir wirklich zufammen reifen?" fragte Caſpar jubelnd.

„Gewiß werden wir das. Denkjt du denn, daß ich mich von dir trennen will? Oder denkſt du, daß ich dich in diefer Stadt laffe, wo dir fo viel Uebles widerfahren ift?"

„Alfo fort? Wirklich fort? Fort in die weite Ferne!“ vief Caſpar, preßte wie außer ſich beide Hände vor den Mund und zog in freudigem Krampf die Schultern bis an die Ohren. „Was wird aber Herr von Tucher dazu jagen? Und der Herr Bürgermeifter? Und der Herr Präftdent?" fügte er hinzu, vor lauter Haft plappernd, wäh: rend fich in feinem Geficht die ganze Betrübnis malte, die er bei der Vorflellung empfand, jene Männer Tönnten die Pläne des Grafen miß- billigen oder zunichte machen.

„Sie werden es gefchehen laffen, fie werden feine Gewalt mehr über dich Haben, dein Weg führt dich über fie empor," antwortete Stanhope

Baffermann, Gafpar Haufer 14 209

snft und fah Cafpar zugleich mit einem ſcharfen, ja durchbohrenden Blick an.

Cafpar erbleichte, von einem grenzenlofen Gefühl überwältigt. Während in feiner Bruft Wunſch und Zweifel, dunkel umfchlungen, alle Kräfte der Seele an ſich sogen, erhob ſich vor Kan Geifte Yeuchtender als je das Bild der

rau aus dem Traumfchloß. Mit einer ergreifen- den Gebärde des Flehend wandte er fih zu Stanhope und fragte: „Herr Graf, werden Sie mich zu meiner Mutter bringen?"

Stanhope legte Meſſer und Gabel beifeite und ftüßte den Kopf in die Hand. „Hier liegen fuehthare Geheimniſſe, Caſpar,“ flüfterte er

umpf. „Ich werde reden und ich muß reden, aber du mußt ſchweigen, feinem andern Menfchen darfft du vertrauen als mir. Deine Hand, Caſpar dein Gelöbnis! Hergensmenfch ! Ungtüct lich⸗Glücklicher, ja, ich will dich zu deiner Mutter bringen, die Vorfehung hat mich ermwählt, dir zu helfen!“

Cafpar ſank hin, die Beine trugen ihn nicht mehr, fein Kopf fiel auf die Knie des Grafen. Die Luftadern pochten um ihn, ein Schluchzen Töfte die ungeheure Spannung feiner Bruft. „Wie foll ich denn zu dir reden?" fragte er mit der Kühnheit eines Trunfenen, denn die Formeln, in denen man fonft zu Menfchen fpricht, erjchienen ihm fremd, fte taten feiner dankbaren Liebe nicht genug.

Der Lord bob ihn jachte empor und fagte zärtlich: „Recht jo, das traute Du fol zwiſchen und herrſchen; du follft mich Heinrich nennen, als ob ich dein Bruder wäre."

In fo inniger Nähe erblickte fie der ein- tretende Bebiente, der den Bürgermeifter und den 210

Regierungstommiffär anmeldete. Durch die ger öffnete Tür forderte der Lord die Wartenden ins Zimmer. Es fah aus, als wünſche er, daß die beiden Zeugen feiner Liebfofungen gegen Caſpar würden. Er tat, als könne er fich nicht von ihm trennen; da die Befucher nach ehrfürch⸗ tigem Gruß Pla genommen, fehritt er, noch leife plaudernd und ihn bei der Schulter um- ſchlungen haltend, mit Cafpar auf und ab, fo- dann begleitete er ihn zur Stiege, eilte zurück, ging ans Fenfter, beugte fich hinaus, ſah Caſpar Hi und winkte ihm mit dem Tafchentuch. Die Verwunderung feiner Gäfte wohl bemerfend, mäßigte er fich troßdem nicht, im Gegenteil, er gebärdete ſich wie ein Derliebter, der jeine Emp- findungen ohne Scheu _preisgibt. Die Gefchente des Lords wurden einige Stun- den nachher ins Tucherfche Haus gebracht. Herrn . von Tucers Erftaunen beim Anblid der wert vollen Gaben war groß. „Ich werde dieſe Gegenftände an mich nehmen und aufbewahren,” äußerte er zu Caſpar nach einigem Nachdenken; „es fteht einem zukünftigen Buchbinderlehrling nicht an, derlei auffallenden Luxus zu treiben.” Da hätte man Cajpar jehen follen! „O nein,” rief er aus, „das gehört mir! Das ift mein, und ich will's haben, das darf mir feiner nehmen!" Seine Haltung war geradezu drohend, und fein Blick funtelte, u3 Herrn von Tuchers Zügen wich alle Farbe. Ohne eine Silbe zu erwidern, verließ er das Zimmer. Alſo ein Undankbarer, dachte er bitter, ein Undanfbarer! Einer, der eis die Gelegenheit nutzt und den einen Wohltaͤter verleugnet, wenn ber andre beſſer zahlt! Die Grundfäge hörten auf zu triumphieren. au

Sie machten ein zerfnirfchtes Geficht und hüllten fih in Sad und Ace. *

Nachgiebigkeit wäre in diefem Fall eine un- würdige Schwäche, deren ich mich fhämen müßte, fagte fich Herr von Tucher. Aber was tun? Soll ich Gewalt anwenden? Gewalt ift un— moralifeh. Er wandte fi) an Lord Stanhope und trug ihm die Sache vor. Der Graf hörte ihn freundlih an, er gab ſich Mühe, die Ver— gehung Gafpars als eine kindiſche Maßlofigkeit zu verteidigen, und verſprach, ihn dahin zu bringen, daß er dem Bormund die Gefchente freiwillig überreiche.

Here von Tucher war von der Liebenswürdig- keit des Lords bezaubert und verließ ihn im befter Zuverficht. Auf den verheißenen Gehor- ſam Caſpars wartete er aber vergeblich. Kein Zweifel, die Mühe des Lords war ohne Erfolg geblieben; fein Zweifel, Caſpar verftand es, den gätigen Mann zu befchwagen. Kein Zweifel,

iefer Burſche war mit allen Salben glemirt ein Charakter voll Heimlichkeit und Lift. Biel zu ſtolz, um einen Dritten zum Mitwifier feiner niebderfchmetternden Srfahrungen zu machen, be gnügte ſich Herr von Zucher vorläufig, den Er⸗ eigniffen ruhig zuzuſehen, wenn auch mit dem Verdruß eines Mannes, der ſich Bintergangen jasıt Daß Cafpar fich nicht ein einziges Mal erwogen fand, über die Art feiner Beziehung zu dem Lord, über den Gegenftand ihrer Gefpräche ich zu äußern, verlegte ihn tief; einen folchen

angel an zutraulicher Mitteilfamfeit hätte er zum allerwenigften erwartet.

In der eriten Zeit hatte fich der Lord darauf befehräntt, Gafpar im Tucherfchen Haus zu bes _ fuchen oder ihn Höchftens nach förmlich erbetener 212

Erlaubnis des Barons zu einer Spazierfahrt ab⸗ zuholen. Allmählich änderte fi) das, und er beftellte den Jüngling an fremde Orte, mo Cafpar3 unvermeidliche Leibwache fih fünfzig Schritte entfernt halten mußte. Herr von Tucher führte beim Bürgermeiſter Beſchwerde; er bes hauptete, der Lord handle damit feiner ausdrüd- lich gegebenen Zufage entgegen. Aber was fonnte err Binder tun? Durfte er den vornehmen errn zur Rede ftellen? Er wagte einmal eine ſchüchterne Andeutung. Der Lord beruhigte ihn mit einem Scherz; um nicht für wortbrüdig zu elten, war e8 leicht, den Verſtoß auf Caſpars nbefonnenheit zu jchieben.

So fah man die beiden auffallenden Geftalten häufig am Abend durch die Gaffen wandeln. Arm in Arm; im eifrigen Gefpräc, achteten fie der Blicke nicht, die fie verfolgten. Meift gingen fie über den Stadtgraben und dann auf die

urg; hier durfte fih Gafpar wehmütiger Er- innerung überlafjen; der düftere Turm barg die größten Schreckniſſe feines Lebens, und wenn er auf die Stadt niederfchaute, wo zwinkernde Lichter aus vielen Fenftern das dunkelverſchlungene Gaffengewirr belebten, vernahm er mit ganz an- dern Gefühlen die Stundentöne der Glode; jebt band und einte die Zeit ihre Schläge und zerriß fie nicht mehr zu Paufen des Grauens.

Der Lord wurde nicht müde zu erzählen. Er erzählte von feinen Reifen. Er verſtand es, Dinge und Begebenheiten mit einfachen Worten zu malen. Caſpar erfuhr von den Alpen und daß dort Berge mit ewigem Schnee feien und ückliche Täler, wo freie Menfchen lebten. Er fa Italien das Wort war ſchon ein Rauſch —,

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geſchmückte Kirchen, enorme Paläfte, Gärten mit wunderbaren Statuen, voller Rofen, Lorbeer und Orangen, einen märchenhaft blauen Himmel und die fchönften Frauen. Er fah das Meer und Schiffe mit blanfen Segeln auf der Flut. Seine Sehnfucht wurde fo 83 ß er manchmal Ba lachen mußte. Einmal wirklich dort fein ürfen in den Ländern der Sonne und der un« befannten Früchte, dort fein dürfen, und das bald, folche Hoffnung machte das Herz ftillftehen. Es war eine Freude, die weh tat.

An einem regnerifchen Abend befanden fie fih im Hotel. Der Lord öffnete eine Truhe und zeigte einige3 von den Schäßen, die er auf feinen Reifen gejammelt. Da waren feltene Münzen und Steine; Kupferftiche, Statuetten, Gemmen, Kameen, Perlen und altertümliches Gefchmeibe; ein geweihter Rofenkranz aus dem Heiligen Land; ein filberner Becher mit kunſtvoll gravierten Figuren; eine Bibel mit den herrlichiten Initialen und Malereien, ein Damaszenerdold mit gol- denem Griff, der Siegefring eines PBapftes, ein indiſcher Mantel aus Seide, beſtickt mit Sternen; ein pompejanifches Lämpchen und altfranzöfiiche RVorzellanväschen und vieles andre, alles jeltfam, alles fremdartig, alles be jinem Duft von weiter Welt und ob Sc)

Das en Sh ih Dam n urfürften von Mainz bekommen," fagte der Lord etwa, „und dies ift ein Gefchent de3 Herzogs von Savoyen; dieſe ſchöne Miniature habe ich bei einem Händler in Barcelona gekauft, und dies Tonfigüicchen jtammt aus Syrafus, Da ift ein Talisman, den hat mir Scheit Abderrahman verehrt, und diefe orientalifchen Stoffe hat mir meine Bafe aus 214

Syrien geſchickt; fie ift eine wunderliche Perſon, zieht mit Arabern und Beduinen durch die Wüfte, ſchläft in Zelten und treibt Alchimie und Aſtrologie.“

Welche Laute, welche Fernen! Mit offenbarer Luft ſchürte der Graf das Feuer des Verlangens in Caſpar. Vielleicht nahm er es mit feinen Verheigungen ernft. Vielleicht bereitete es ihm bloß eine Wonne, Wunſch und Lüfte aufzus peitfchen. Vielleicht war es nur ein Spiel der Rede. Bielleicht aber das furchtbare Dergnügen, dem Bogel im Bauer, im nie zu öÖffnenden, jo lange vom Flug durch den goldnen Aether zu erzählen, bis endlich der jubelnde Freiheitsgefang durch feine Kehle bricht.

Wie er ſprach, wie er die Worte befaß! Zwiſchen den Lippen und den weißen Zähnen fpielte das Lächeln wie ein Liftiges Tierchen. Er war nicht gleichmäßig heiter. Was war das? Oft 309 Finfternis über fein Geficht. Bisweilen pflegte er aufzuftehen und wie ein Zaufcher an die Tür zu treten. Seine Lieblofungen waren nicht felten vol Schwermut, dann jaß er wieder Famzeigenb da, und fein fuchender Blick glitt

üfter an dem Süngling vorüber. Da faßte Cafpar einmal Mut und fragte: „Biſt du denn eigentlich, gieis, Heinrich ?"

„Glücklich, Caſpar? O nein. Glüdlich, was fprichft du da? Haft du fchon von Ahasver ge hört, dem ewigen Juben, dem ewigen Wanderer? Er gilt als der unglüdlichite aller Menſchen. Ah, ich möchte mein Leben vor dir aufblättern, denn auf feinen dunfeln Seiten liegt der Gram. Aber ich darf nicht, ich ann nicht. Später vielleicht, wenn dein eigne3 Geſchick fich entjchieden Hat, wenn du mit mir in meine Heimat gehſt ...“

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„Sit denn das möglich, wird denn das fein?"

Es jhüttelte den Lord plötzlich; es war, als werfe er einen Mantel ab oder wolle ſich einem unſichtbaren Druck entziehen. Eine krampfhafte Lebendigkeit ergriff ihn, er begann von Caſpars künftiger Größe zu fprechen, doch wie ſtets nur in Geheimnisvolen Wendungen und mit der feier- lichen Ermahnung zur Verjchwiegenheit. Ja, er ſprach von Caſpars Reich, von feinen Untertanen, und das zum erjtenmal, wie einem Zwang ge- horchend, jelber ſchaudernd, felbft zitternd, immer von neuem das Gelöbnis des Schweigens be- tonend, Singerifien von einem Phantom und alle Gefahr vergeſſend. „Ich will Dich führen; ich will deine —* zermalmen, du bift taufendmal mehr wert als jeder einzelne von ihnen. Wir gehen zuerft nach dem Süden, um fie irreguführen, dann fliehen wir zu mir nad Haufe, jchaffen uns einen Hinterhalt, von wo die Verfolger zu treffen find, mo man Kräfte fammeln kann für den entjcheidenden Schlag."

Wieder zur Tür; wieder laufchen; nachjehen, ob fein Horcher verftectt fei. Dann, ängſilich ablentend, fchilderte der er feine Heimat, den Frieden eines englifchen Landfiges, die herrenhafte Unabhängigkeit auf es em, Gebiet; die tiefen Wälder und Haren Flüffe, die balfamifche Luft, das behagliche Weilen überall, Frühling, Herbſt und Winter, eingefchloffen in einem Ring unfchuldiger Genüffe.

ſolchen Bildern lag etwas von der Weh-

mut reuigen Gewiſſens und dem Schmerz eines ayf immer DVerftoßenen. Zum andern Teil aber enthielten fie viel von der modiſchen Empfind- jamfeit, die auch das verhärtetfte Gemilt unter 216

Umftänden davon fehwärmen ließ, feine felbft- eichaffene Unraft am Bufen der Natur zu be änftigen. Und dann ſprach er doc von jeinem Leben. Er wußte fih als einen Mann darzu- ftellen, der, vielbeneidet, mit Ehren und Aemtern und greifbaren Önetsgitern beladen, gleichwohl das Opfer feinblicher Mächte ift. Das Schickſal trat in romantischer Verkleidung auf und jagte den Sohn eines verfluchten Gejchlechts unftet von Land zu Land. Vater und Mutter tot, ehe malige Freunde gegen den edeln Sproß des Su es verſchworen und er, ein Mann von fünfzig Jahren, ohne Heim und Weib und Find, Ahasver!

Derlei EntHüllungen öffneten wie nichts fonft Caſpars Herz der Freundichaft. Denn da war enblich einer, der ſich gab, fich öffnete, die Ver- mummung abmarf. Es war bitterfüße Luft, die angebetete Geftalt den Sodel verlaſſen zu jehen, auf dem fie für alle übrigen thronte,

Was ihn betrifft, er bot in diefer Zeit das Schaufpiel eines ruhenden Menfchen; außen und innen ruhend, gelöft von hemmender Feffel, Blick und Gebaͤrde gelöft, bie Geftalt aufgerichtet, die Stirn wie entjchleiert, die Lippen gejchwellt von einem beftändigen Lächeln.

Er wurde feiner Jugend inne. Er dehnte fih aus, e8 war ihm, als jei er ein Baum und jeine Hände wie Zweige voller Blüten. Ihm fchien, als ftröme fein Blut einen Wohlgeruch aus; die Luft ſchrie nach ihm, das Land ſchrie nach ihm, alles war voll von ihm, alles nannte feinen Namen.

Er pflegte manchmal laut mit fich felbft zu reden, und wenn er dabei überrafcht wurbe, lachte

217

er. Die Leute, die mit ihm in Berührung famen, waren bezaubert; fie fanden fein Ende, die über alles Tiebliche Erſcheinung zu preiſen, in der Kind und Jungling zu rührendem Verein gediehen waren. Es gab junge Frauen, die ihm zärtliche Briefchen fchrieben, und Herr von Tucher wurde vielfah mit Bitten beläftigt, ihn von einem Maler Eonterfeien zu laffen. Das üble Gerede gegen ihn war auf einmal wie verblafen. Keiner wollte je etwas Schlechtes eſagt haben, die eingefleifchten Widerfacher duckten ih, die ganze Stadt warf fich plößlich zu feinem jeſchützer auf. Es hieß mit immer fühnerer Deutlichkeit, man müfje ihn gegen die Machen- haften des englifchen Grafen in Schuß nehmen. Eines Tages mußte Stanhope zu feiner größten Beſtürzung wahrnehmen, daß er von allen Seiten peinlich überwacht und behorcht war. Er mußte ſich entfchließen zu handeln.

Die geheimnisvolle Miffion und was ihrer Ausführung im Wege fteht

Schon lange hieß es an allen Wirtshaus- tiichen, der Lord wolle Caſpar Haufer an Na em Statt annehmen. In der Tat ftellte Stanhope Mitte Juni den förmlichen Antrag an den Ma— giftrat, ihm den Jüngling zu überlaffen, er wünfche für feine Zukunft zu jorgen. Der Ma- giftrat ließ durch den Bürgermeiſter erwidern: zum erften, daß ein folches Erſuchen in pleno vorgetragen werden müffe; zum zweiten, daß der 218

Lord vor allem den Nachweis eines hinlänglichen Vermögens erbringen müffe, damit die Stadt eine fichere Gewähr für das Wohlergehen ihres Pfleglings habe.

Slanhope nahm den Befcheid ſehr ungnädig auf. Er ging zum Bürgermeifter, zeigte ihm feine Orden, die Peplaubigum en fremder Höfe, jogar vertrauliche SL hoher Fürftlichkeiten; Here Binder, bei aller Ehrfurcht vor Seiner Lord» ſchaft, bedauerte, den einftimmigen Beſchluß des Kollegium nicht rückgängig machen zu können.

Der Graf war unvorfichtig genug, in einer Geſellſchaft, wo er zu Gaft geladen war, jeine Geringſchätung gegen das pedantifch-überhebliche Vürgerpad zu äußern. Dies wurde ruchbar, und obgleich er I beeilte, in einem Brief an ben Magiftratsvorftand fein Benehmen zu entſchul⸗ digen und es al3 einen duch Weinlaune verur- ſachten Ausbruch verzeihlichen Aergers hinzus ftellen, machte die Sache doch böfes Blut. Der Argwohn war einmal geweckt. Man wollte wien, daß er in feinem Hotel häufig Perſön⸗ Tichleiten von zmeifelhaftem Ausfehen empfange, mit denen er Hinter verfchloffenen Türen lange Derhandlungen führte. Wie kommt e8 überhaupt, fragte man fi, daß der angeblich fo reiche und oornehme Dann fein Quartier in einem Gaft- haus zweiten Ranges nimmt? Fürchtet er am Ende, von feinen eignen Landsleuten gejehen zu werden, wenn er wie fie im „Adler” oder im „Bayriſchen Hof“ wohnt? Dies ſchien plaufibel, wenn man einer unverfolgbaren Nachricht trauen durfte, die irgendwer eines Tages verbreitete und nach welcher der Lord ehedem ala Traftätchenverfäufer im Dienft der Jefuiten in Sachſen herumgezogen fei.

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Stanhope beeilte ſich zu reifen. Er ftattete dem Bürgermeiſter in feiner Kanzlei einen Ab- ſchiedsbeſuch ab und ſprach von dringlichen Ge- ſchäften, die ihn megberiefen; bei feiner Rückkunft werde er den geforderten Vermögensnachweis vor⸗ legen. Bugteid deponierte er fünfhundert Gulden in guten Scheinen, welche Summe ausichließlich ii die kleinen Wünfche und Bedürfniffe feines

iebling® zu verwenden fei. Der Vürgermeifter wandte ein, daß eigentlich Herr von Tucher die Verwaltung biejes Geldes übernehmen müſſe, doch der Lord fchüttelte den Kopf und meinte, in Heren von Tuchers Verfahren liege zu viel vorgefaßte Strenge, er handle nad) einem er- dachten Ideal von Tugend, eine fo zarte Lebens- Pflanze könne nur in liebevollfter Nachficht aufs gezogen werden. „Seien mir doch eingebent, daß das Schickſal eine alte Schuld an Gafpar abzutragen hat und daß es engherzig ift, immer- fort hemmen und befchneiden zu wollen, wo die Natur jelbft gegen den Willen der Menfchen ein fo herrliches Gebilde erzeugt hat.”

Der Ernſt diefer Worte wie auch das hoheits⸗ volle Weſen des Lords machten großen Eindrud auf den Bürgermeijter. Er fprach nochmals fein Bedauern darüber aus, daß die Abfichten des Grafen nicht jogleich verwirklicht werden konnten, und verficherte, daß die Stadt es fich ftet3 zur Ehre rechnen würde, einen folchen Gaſt in ihren Mauern zu beherbergen.

Don bier begab ſich Stanhope unvermeilt zu Heren von Tucher. Man jagte ihm, der Baron jei mit einigen Bekannten auf die Jagd geritten, auch Cafpar fei ausgegangen, müfle aber in Bälde zurückkehren, er möge zu warten geruhen. 220

Ungebuldig fehritt er in dem großen Salon auf und ab. Er nahm die Brieftafche heraus, zählte Geld, notierte mit dem Bleiftift Ziffern auf ein Blatt, wobei er mit den Zähnen knirſchte und der feine weiße Hals fa langfamı dunkelrot färbte wie bei einem Trinker. Er jtampfte aufden Boden,

. das Gefiht war förmlich aufgerifien, der Blick gligerte. „Gottverdammte Beftien,“ murmelte er, an auf den ſchmalen Lippen lag eine wilde Ver- achtung.

Da war nicht? mehr von der Gemeſſenheit und Würde des Edelmannd, DO, Herr Graf, muß der Vorhang des öffentlichen Theaters nur für eine Viertelftunde ‘fallen, damit der Schau- pieler, überbrüffig der qutgelernten Rolle, fein geſchminktes Anilitz zu furchtbarer Wahrheit ver- ändere? Schade, daß fein Spiegel in dem Raum angebracht war, vielleicht hätte er den Lord zur Befmmung gebraht und zur Behutſamkeit er- mahnt, denn e3 brauchte ja nur jchnell eine Tür aufzugehen, und da8 Stück begann von neuem. Aber zeugte diefer Umftand nicht zugunften des Grafen? Wäre mehr Beherrſchung nicht ein Beweis von größerer Kunft gemejen? Der echte Komödiant tragiert fein Spiel auch leeren Räumen vor und macht jelbjt die Wände zu Zufchauern. In diefer Bruft aber waren noch Stimmen des Verrats, in ihrer Tiefe war noch Sturm, ihr dumpfes Höhlengetier hatte noch Augen, die vom Strahl der Wandelbarkeit getroffen wurden.

Es ſcheint, daß der Lord ein chlechter Rechner war, denn die aufgeftellten Zahlen wollten nicht das notwendige Ergebnis liefern, fo daß er immer wieder von neuem begann und mit gerungelter Stirn einzelne Poſten auf ihre Richtigleit prüfte.

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„Für Popularitätszwede entichieden zu wenig,” jagte er mürriſch, eine Aeußerung, deren Un- bedachtfamfeit dadurch gemildert war, daß ſie in engliſcher Sprache getan wurde, Dann noch ein fonderbaresg Wort, unheimlich anzuhören, nicht wie aus einem geiftreichen Schaufpiel, ſondern wie aus einem Räuberdrama: „Wenn der Graue ſich wieder bliden läßt, will ich ihn in den Schwanz fneifen; feine’Beute ift wahrhaftig groß genug. Kronen find feine Marktware, er mag ehrlicher im Zeilen fein.“

Bellagenswerter Lord! Auch die Einfam- feit hat ihre Laute. Durch eine fchlechtver- ſchloſſene Fenfteripalte zwängt fi) der Wind, und e8 gleicht einer Stimme, oder das Holz der jahrhundertalten Möbel zieht fich zufammen, und es klingt wie ein Schuß ober wie ein Miniaturgemwitter. Zudem war Graf Stan hope abergläubiih; das Rieſeln der Kalkkörner hinter den Tapeten erinnerte ihn an den Tod; wenn er mit dem Iinfen Fuß ein Zimmer betrat, wurde ihm übel und ängftlih. Dies war hier geſchehen; er nahm fich zufammen und fehmieg, um fo mehr al3 er vom Flur herauf Caſpars helle Stimme hörte; er begab fich wieder in feine Rolle, die Augen gewannen ihren geelenbaften Glanz zurüd, er holte einen Band Roufjeaufcher Schriften aus dem Bücherregal in der Ede, ſehte fih in den Lehnftuhl und begann mit finniger Miene zu leſen.

Und doch, als Caſpar eintrat, als das freude verflärte Antlit aus dem Dämmer tauchte, da zitterte empfundener Schmerz über die Züge des Lords und eine plögliche Verzagtheit raubte ihm die Sprache. Ja, er wurde verwirrt, er lenkte 222

den Blick abjeits, und Bil als Caſpar, dur das fremdere Weſen betroffen, ihn leiſe anrief, brach er das Schweigen; e3 Tag nahe, die bevor- ftehende Neife als Grund der Verftimmung an⸗ zuführen, aber der Zuftand inneren Zurückbebens und jähen Wankelmutes in ſolchen Augenbliden war dem Lord nicht unbekannt, Fe Pi ſich heute ftärker als fonft fühlbar machte. Ihm war dann, als ob der Anblick des Fünglings den vorgefeßten Willen lähme, als ob mühfam aufgebaute Pläne zufammenbräcen, wie von einem Orkan gefaßt, jo daß er das Werk wieder von vorn beginnen Tonnte, wenn er allein war und fid erholt hatte; er glich dann der Pene- Iope, die, was fie tagsüber kunſtvoll gejponnen,

bei Nacht wieder in feine Fäden trennte. Caſpars wehmütige Klage bei der unerwar- teten Kunde wurde nicht Belhmigti t durch den Hinweis, daß fein eignes Wohl ice Trennung erforderlich made, auch nicht durch die Ver— fiherung Stanhopes, daß er jobald als möglich, vielleicht ſchon nad) Verlauf eines Monats, zus rüdtehren werde. Caſpar fchüttelte den Kopf und fagte mit erfticter Stimme, die Welt fei gar u groß; er umklammerte den Freund und bat Venen, mitgenommen zu werden, der Graf ſolie den Diener entlafen, er, Cajpar, wolle dienen, er brauche fein Bett, auch feinen Lohn, er wolle wieder von Brot und Waſſer leben. „Ah, tu e8, Heinrich!" rief er unter Tränen. „Was fol ich denn ohne dich hier anfangen?" Der Lord ftand auf und befreite fich fanft aus den Armen des Jünglings. Der Teoft, den er ſpenden durfte, vettete ihn vor fich ſelbſt und verlieh feinen Worten größeres Gewicht. „Daß 223

du fo Heinmütig bift, Caſpar, beweiſt ein Kleines Vertrauen zu mir," fagte er, „mie fannft du nur glauben, daß Gott, der uns endlich vereinigt hat, und num wieder voneinander reißen wird? Das bieße feine Weisheit und Güte verdächtigen. Die Welt ift ein Bau von hoher Harmonie, und der Menſch findet fich zum Menfchen durch ein aus- ermwähltes Geſetz; halte du deine Beftimmung feſt, fo tragen did) Raum und Zeit ans Ziel, und ob ih eine Stunde lang oder wochenlang von dir fort bin, gilt gleichviel vor der Gemwißheit der Erfüllung. Wartet doch mancher bis zum Tod auf den Erisfer und wird nicht ungeduldig. Auch mußt du dich beherrjchen lernen, Cafpar; Fürſten⸗ föhne weinen nicht."

€3 war mittlerweile dunkel geworden; der Lord führte Cafpar zum offenen Fenſter und ſprach bewegt: Blick auf zum Himmel, Cafpar, jchau, mie die Sterne durch das Firmament breden! In diefem ie wollen wir uns erkennen.”

Mit Befriedigung bemerkte Stanhope, daß Caſpar nachdenklich wurde und, feierlich geftimmt, ſich der _zügellofen Derzweiflung ſchämte, die feinen Zwang des Wechſels anerkennen, feine Zukunft gegen die beglüdte Gegenwart in Kauf nehmen Es war, als ſpüre Caſpar die höhere Notwendigkeit, welche die Schichſale fteigert und heimlich ineinander ſtickt; vielleicht erwachte fein verwundert umherſchauendes Auge in diefer Stunde zum Begreifen und der Damm, der den Strom der Sehnfucht hemmte, wurde eine Kraft der Seele; die befiegte Leidenfchaft adelt den Jüngling zum Mann. Fürftenföhne weinen nicht; ein ftarke8 Wort; der leife Windhauch, der die Vorhänge baufchte, flüfterte es nad).

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Der Lord ſchaute auf die Uhr und erklärte, daß er Eile habe, er wolle der Hite wegen die Naht duch fahren. Bor dem Wagen unten nahm er Abjchied; Stanhope reichte Cafpar einen Heinen mit Goldftücen gefüllten Beutel; er gebot ihm, damit nach feinem Belieben zu fchalten und feiner Einrede Gehör zu leihen.

Diefe unbedachte oder vielleicht ſchlau berech⸗ nete Weifung verjchuldete ein ernſtes Zerwürfnis zwifchen Gajpar und feinem Vormund. Herr von Tucher erfuhr von dem abermaligen Gejchent des Grafen und verlangte, daß ihm das Geld abliefere. Caſpar weigerte ſich wiederum, Herr von Tucher befiand jedoch mit feiner ganzen Autorität darauf, und er würde Gewalt an- ‚gewendet haben, wenn nicht Caſpar, eingeſchüchtert duch Drohungen wie durch das Gefahr der Ab» mefenheit jeines mächtigen Freundes, Hein bei— gegeben hätte. Doch verhartte er in dumpfer

uflegnung, und dies brachte Herrn von Tucher außer fich. „Ich werde dich aus dem Haus ſtoßen,“ Tief ex, nicht mehr fähig, fich zu beberefchen, „ich werde deine Schande der Welt offenbaren; man ſoll dich endlich Kennen lernen, du Schlad!"

Caſpar, betrübt und erregt, glaubte in feiner Weiſe ebenfalls drohen zu follen. „Ach, wenn da8 der Graf wüßte, der würde Augen machen!" fagte er erbittert und mit naiver Bedeutſamkeit, als ob e3 in der Macht des Grafen läge, jedes Unrecht zu fühnen.

„Der Graf? Auch gegen ihn machſt du dich ja des Undanks ſchuldig,“ verſetzte Herr von Tuer. „Wie oft hat er mir verfichert, er habe dich zur Folgfamkeit und Treue ermahnt, habe dich Himmelhoch gebeten, deinen Wohltätern feinen

Waffermann, Gafpar Haufer 16 225

Anlaß zur Klage zu geben. Du aber mißachteſt fein Gebot und bift feiner großmütigen Liebe ganz und gar unwürdig.“

Caſpar erftaunte. Won folhen Ratjchlägen des Grafen wußte er nichts, eher vom Gegenteil; ex beftritt daher, daf der Lord dergleichen gejagt babe. Da ſchalt ihn Here von Tucher mit ver- Ächtlicher Ruhe einen Lugner, woraus erfichtlich ift, daß das jo weiſe aufgerichtete Erziehungsfgften

ch nicht einmal für feinen Schöpfer als tragfähig genug erwies, um Ausbrüche empörter Leidenjchaft und vermwundeten Selbftgefühls hintanzuhalten.

Die Grundfäge waren endgültig in die Flucht gelchlagen. Herr von Tucher war de3 unerquid- lichen Kampfes müde; obwohl entichlofjen, Cafpar nicht länger zu behalten, verjchob er die Aus- führung ſeines Vorſatzes bis zur Rückkehr des Grafen. Um nicht durch Caſpars Anblict der be- ftändigen Pein der Enttäufchung ausgefeßt zu fein, Kiste er der Einladung eines Vetters und begab

ich für den Reſt des Sommers auf ein Landgut in der Nähe von Hersbruck, wo feine Mutter ſchon feit drei Monaten weilte. Da es Ferienzeit war und der Lehrer ohnedies nicht ins Haus am, brauchte er für den Unterricht Caſpars keine Mafnahmen zu treffen; er empfahl ihm fleißiges Eigenftudium, trug Sorge für feine täglichen Be— dürfnifje, ließ ihm vier Silbertaler an Tafchen- gm zurüct und ging nach faltem Abſchied, die ufficht über ihn der Polizei und einem alten Diener de3 Haujes überlaffend. . Cafpar zählte die Tage und ducchftrich jeden vergangenen mit roter Kreide auf dem Kalender. Das Iautlofe Haus, die verödete Gaffe, in der die Sonne brütete, ließen ihm das Alleinfein

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ftetig fühlbar werden. Gejellichaft hatte er feine, Fremde, die noch immer kamen, zahl⸗ reicher noch, ſeit die paſſionierte Teilnahme eines Lord Cheſierfield den Findling wie mit einem Nimbus umgab, wurden nicht zugelafien, die früheren Belannten aufzufuchen hatte er feine Luft.

Am Abend nahm er manchmal fein Tagebuch zur Hand und fchrieb; da war ihm dann ber Freund näher, es glich einer Unterhaltung mit ihm durch die trennende Ferne. Ohne da8 Ge loͤbnis des Stillſchweigens über das, was Stan- hope ihm anvertraut, zu vergefien, wurde doch auf ſolche Weile das Papier zum Mitwifjer der myfteriöfen Andeutungen. Aber aus feiner Art, ie zu fafjen, erhellte klar, daß er fich im min-

eften nicht dabei zurechtfinden konnie. Es war

ein Märchen. Er verjtand nicht den Bau der Debmungen, nicht das labyrinthiich verſchlungene Gefüge der menfchlichen Gefellihaft. Noch war da3 Schloß mit feinen weiten Hallen ein Traum: da wehten die Schauer unbelannter Sterne. Nur heimzugehen war fein Wunſch, dies Wort hatte Sinn und Kraft. Wehe, wenn er zum Begreifen erwachte; erſt wenn die Finfternis entwichen, Tann der verierte Wanderer ermefjen, wie weit er von feinem Ziel verfhlagen worden.

Anfaı E September erhielt Cafpar die erſte kurze Naı Ei vom Grafen, die auch defjen be- vorftehende Rückkehr meldete. Seine Freude war groß, doch war ihr ein ahnender (Schmerz zus

jemifcht, als könne es zwifchen ihm umd dem und nicht mehr werden wie vordem, als hätte die Zeit fein Antlitz verwandelt. Bei jedem Wagenrollen, jedem Läuten am Tor dehnte ſich fein Herz bis zum Springen. Als der Erwar-

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tete endlich erſchien, war Caſpar feines Lautes mächtig; er taumelte nur fo und griff um fich, mie wenn er an der Wahrheit der Erfcheinung zweifle. Der Lorb veränderte Haltung und Miene; es jah aus, als verfchiebe er ein vnor- Side ver Andersfein für fpäter, daS Lauern feiner lide ank in der —* Regung, in die der ihn ſtets verſeizte, der einzige Menſch vielleicht, dem er Macht über fein Inneres zu⸗ jeitehen mußte und deſſen Geſchick er zugleich Bier ſich berfchleifte wie der Jäger das er- eutete Wi

Er fand Caſpar ſchlecht ausſehend und fragte ihn, ob er genug zu eſſen gehabt habe. Der

jericht über die mit Herrn von Tucher vor- gefallenen Streitigkeiten entlodte ihm nur Sar⸗ asmen, doch fehlen er nicht weiter mißgelaunt

darüber. „Haft du denn bisweilen an mich ge» dacht, Cafpar?" erkundigte er fih, und Caſpar antwortete mit dem Blicd eines treuen Hundes: „Viel, immer." Dann fügte ex Hinzu: „Ich habe jogar an dich gefchrieben, Heinrich.”

„An mich geji eben" wieberholte der Lord aaa oent Su wußteſt doch meinen Aufenthalt nicht!“

Cafpar drückte die Hände zufammen und Tähelte, „In mein Bud hab’ ich’8 gejchriel

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Stanhope brach das Geſpräch ab, nahm fich aber vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Er war wieder im „Wilden Mann“ ab- geftiegen, doch Iebte ex anders als vorher. Zu jeder zeit bejtellte er Champagner und teure Weine und trieb den größten Aufwand, als fei & ihm darum zu tun, Reichtum zu zeigen. Er brachte feine eigne Equipage mit, deren Räder vergoldet waren, während am Schlag Wappen und Adelskrone prangten. Als Dienerjchaft hatte er einen Jäger und zwei Kämmerlinge, und dieſe heei Betreten erregten das Staunen der Nürn- erger. U

Er fäumte nicht, fein Anfuchen um die Ueber- lafjung Cafpar Haufer8 zu erneuern. Zum Beleg feines . günftigen Vermögensſtandes mies er, Ieinbaz nur nebenbei, auf die Kreditbriefe hin, ie ex feit feiner Rückkunft beim Marktvorfteher Simon Merkel deponiert hatte. Es lag darin eine Gebärde von Prahlerei, als feien jo gering- fügige Summen faum der Rede wert; in ber Tat aber waren die Affreditive, von deutjchen Wechielhäufern aus Frankfurt und Karlsruhe

ausgeftelt, von riefiger Höhe. er Magiſtrat jah ſich jedes ftichhaltigen Einwands gegen die Wünjche des Lords beraubt. Im der Verfammlung der Stadtväter wurde die Frage aufgeworfen: ja warum? Was will er eigentlich mit dem Haufer? Darauf las Bürger meifter Binder mit bejonderem Nachdruck eine Stelle aus der Zujchrift des Grafen vor, worin es hieß: „Der Unterzeichnete fühlt um jo mehr den Beruf, ſich des unglüdlichen Findlings an» zunehmen, als er bei langem Umgang mit ihm die jelbft einem Vaterherzen mohltuende ‚Erfahrung 229

t hat, wie fehr ihm dies Eindliche Gemit Ih fi er Anhänglichkeit und Dankbarkeit ex. geben iſt.“

„Fragen wir aljo den Haufer felber," hieß es, muß wiffen, ob er PN bat, Yen (A zu

folgen.”

Caſpar wurde vor Gericht zitiert. In tiefer gemegum erklärte er, er ſei überzeugt, daß ber dr K den innigften Anteil an feinem Schie-

jal nehme, erflärte, mit dem Grafen g zu wollen, wohin ihn bieſer auch führen mwı

Trotz alledem verzögerte ſich bie förmtic Bewilligung des Magiftratd durch eine exit ſcheinhafter und ungreifbarer Umftände, de aber ie und ich IR ehe ZBiberfkand erwuchſen, bis fie ließlich in einer einzelnen Stimme Gehör verfchafften, welcher niemand zu

widerftehen may Wider ühermähige Eifer de3 Lords, fi der Perſon Caſpars zu verfihern, rührte den irdiſch murrenden Argwohn immer wieder Sein pomphaftes Auftreten mißfiel dem Birger, der einer beheben Lebensführung, auch bei

Großen, mehr Vertrauen entgegenbrachte als einer Verſchwendungsſucht, die nur die fchlechten Inftinkte des Pöbels nährte. Es erbitterte, wenn der Graf in jeiner Prunlklaroſſe daherfuhr, mit Abſicht die belebteſten Platze wählte und nach rechts und links Kupfermünzen ins Volk ſtreute, das ſich dann, jeder Würde bat, vor dem in nachläſſiger Leutjeligteit thronenden Fremdling im Kot mälzte.

Man ſprach davon, daß Ar vom Markt:

vorfteher Merkel auf die Kreditbriefe hin hohe Summen entlehnt habe. Merkel, wenngleich er gefichert jchien, wurde zur Vorficht ermahnt; es 230

Tief das Gerücht, der Lord dürfe die Papiere gar nicht angreifen oder doch nur bis zu einer vorgejchriebenen Grenze.

Mittlerweile war Herr von Tucher vom Land zurücgefehtt. Die Entwiclung der Dinge war ihm befannt; er wollte für feinen Teil ein klares Ende herbeiführen. Er richtete an den Lord einen ziemlich weitläufigen Brief, in welchem ex ihn fchließlich vor die Wahl ftellte: entweder den Züngling ganz zu fi zu nehmen und ihn, ben Baron, damit feiner Verantwortlichkeitspflicht zu entheben, oder einen jährlichen Beitrag auszuſetzen, welcher es ermögliche, Caſpar einem verftändigen und gebildeten nn vollftändig zu übergeben; in lesterem Falle müfje Seine Herrlichkeit aller- dings bie Güte haben, jedem Verkehr mit Caſpar ſchriftlich wie mündlich für die Dauer mehrerer Jahre zu entfagen; er jeinerfeit3 wurde fich dafür gern verbinden, dem Lord regelmäßigen Bericht über Cafpard Tun und Treiben abauftatten,

In der fonftigen Fafjung des Schreibens herrſchte jedoch die geboten Devotion vor. „Mit dem wärmften Dank habe ich, hochzunerehrender Herr, die zahllofen Beweiſe des Wohlmolleng anzuerfennen, mit denen Sie mich feit den wenigen Wochen Ihres Hierfeins überſchüttet haben,“ hieß es unter anderm; „aus dem Grund meiner Seele habe ich die ungeheuchelte Verehrung an den Tag zu legen, zu welcher mich Ihre Herzend- güte und Ihr feltener Edelmut zwingen. Aus diefer Gefinnung entfpringt mir auch die Pflicht de3 Vertrauens, zu der Sie mich jo oft aufs gefordert haben, und fo trete ich vor Ihnen, edler Mann, geraden und offenen Sinnes auf mit der Buverficht, daß Sie meinen Worten ein

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geneigte Ohr ſchenken werben. Caſpar ift nicht der, für den Sie ihn zu halten ſcheinen. Wie konnten Sie auch diefes wunderliche Zwitterding Tennen lernen, da ihn ja im Umgang mit Ihnen, dem er alles verdankt und von dem er alle er- wartet, was fein Sinn begehrt, auch alles dazu einlud, im beiten Licht zu leuchten. Herr Graf! Sie haben ihm eine Freundfchaft bez igt, wie man fie nur einem Gleichgeftellten fchentt. Bei der unbegrenzten Eitelkeit, mit welcher die Natur neben fo reichen Gaben, feine Seele verunftaltet hat und die von einjältigen Menfchen hier noch grobgegogen wurde, haben Sie unfchuldigermeife ein Gift in fein am fich ſchon krankes Weſen ge- mifcht, das fein Seelenarzt, auch nicht der ge fchidtefte, wird jemals wieder daraus entfernen können. Ich bin von nicht? weiter entfernt, als

men damit einen Vorwurf zu machen, ich bitte Sie inftändig, auch nicht einen folchen finden zu wollen. Sie find außer Schuld. Aber feftftellen muß ich, daß mährend ber ganzen Zeit, bie Caſpar in meinem Haufe weilte, fein Anlaß war, mit ihm unzufrieden zu fein, während er feit Ihrem Aufenthalt. dahier, ich fage es mit bluten- dem Herzen und mit der Baghaftigkeit, die mir Liebe und Ehrfurcht gegen Sie, vortrefflicher Mann, gebieten, wie umgewandelt und verkehrt ift.“

Eine ſolche Sprache mußte auch dem ver- wöhnteften Ohr fchmeicheln. Nichtsdeftomeniger ab fg Lord Stanhope den Anfchein, durch den rief des Freiheren herausgefordert und verletzt worden zu fein, ſprach auch überall in Geſellſchaft davon. In einer Eingabe an das FKreisgericht in Ansbach, die ſich als notwendig erwiefen und worin er feine Bereitwilligfeit anzeigte, nicht nur 232

während feines Lebens für Cajpar Haufer zu forgen, ſondern auch deſſen Erhaltung für den Tall feines Todes zu fichern, erwähnte er, di zwiſchen ihm und Heren von Tucher Verhältnifje eingetreten feien, die ihm für jest und Künftig jeden Verkehr unmöglich machten; es fei deshall von Aictigeit, daß Caſpar tunlichjt bald in eine andre Umgebung verfeßt werde.

Hofrat Hofmann in Ansbach beeilte fich, Herrn von Tucher von der verhüllten Anklage des Lords zu unterrichten. Herr von Tucher war außer fich. Er teilte der Behörde feinen an Stanhope gerichteten Brief wörtlich mit, fehilderte nod einmal und in büfteren Farben den unheil- vollen Einfluß des Grafen auf Caſpars Charakter und erſuchte um fchleunige Decharge von einer Vormundichaft, die ihm, wie er ſich ausdrüdte, Sorgen, Plagen und Laften und zulegt noch Un- dank und Verargung jeines vedlichen Willens zugezogen habe. Da das Ansbacher Amt ein Gutachten über die Perfon des Lords gewünſcht, ſchrieb er zurüd, er habe den Herrn Grafen als einen feltenen Mann von ausgezeichneten Eigen- haften fennen gelernt. Das Gerücht bezeichne ihn als ſehr vermöglich, er jelbft behaupte, eine jährliche Rente von zwanzigtaufend Pfund Ster- ling, alfo dreimaldunderttaufend Gulden, zu ge nießen, melches Einkommen ihn übrigens als Earl und erblichen Pair von Großbritannien noch keineswegs unter die reichen Edelleute feines Landes ſetze. „Borausgefebt, daß die Hochlöbliche Kuratelbehörde genügende Sicherheit erlangt,“ ſchloß ex fein mächtig langes Schreiben, „auch ſolche, die über gemifle bedenkliche Konjunkturen in England Aufihluß gibt, habe ich als Vor—

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mund gegen die Adoption Caſpar Haufers durch Lord Stanhope, ſonderlich in finanzieller Hinficht, nichts einzuwenden."

Ein umftändlihes Verfahren, ein endlofer Inſtanzenweg. Stanhope zappelte jhon vor Uns geduld und But, Doh ſchienen ungeachtet des gfaäftigen Klatſches und der widerftreitenden

einungen alle Hinderniffe befeitigt, und er job Ic Sem von Anfang an mit Inmgiemer Zänigteit eit

ten Ziele nahe, als plötzlich alles wieder

tet wurde. Der Präfident Feuerbach legte nämlih fein Veto ein en die Entfernung Caſpars aus Nürnberg. chickte einen Privat- boten an den Vürgermeifter Binder und ließ ihn wiffen, daß er foeben von feiner Badekur in Karlsbad zurücgefommen und was im Werke fei als volltommene Neuigfeit vernehme. En unter- ſagte jede —F idung, bevor er den ihm ver⸗ worren und verdächtig erſcheinenden Fall g

und die ausjuführenden Schritte gutgeheißen abe.

Der Bürgermeifter fand fich verbu Lord fogleich von der neuen Wendung der one in Kenntnis zu fegen. Stanhope empfing und las das Briefchen Binders in feinem Hotel gerade während man ihn raſierte. Er ftieß den Vader beifeite, fprang auf und rannte, noch mit dem Seifenſchaum auf feiner ange, heftig erregt durch daS Zimmer. Es dauerte geraume Zeit, bis er fich feiner Toilettenpflicht wieder erinnerte; er zerriß den Zettel, den ihm Binder geidjidt, in hundert Stüde und ſaß dann unter dem Rafiermefjer mit einem Geficht jo voll Haß und Galle, daß die Hand des erſchrockenen Barbiers zu zittern begann und er fich nad vollendeter Arbeit eilig aus dem Staube machte.

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Zu fpät bedachte der Graf, daß er ſich ver- & en habe; aber wie empfindlich mußte der lag fein, der ihn getroffen, wenn dadurch die eherne Ruhe und Zurädhaltung eines fo vom

Zweck Umpanzerten erfchüttert werben konnte! Mit fliehender Hand jchrieb er einige Zeilen, ſchloß und fiegelte den Brief, ließ den Jäger Tommen, gebot ihm, ein Pferd zu fatteln, und trug ihm auf, die Botfchaft vor Ablauf von hunbvierzig Stunden an Ort und Stelle zu

bringen, koſt' es, was es wolle.

er Mann entfernte fi fümoeigenb. & Tannte feinen Herrn. Er wußte, daß fein Herr fih nicht mit Späßen beſchäftigte, Liebeshändeln und Heinen Intrigen. Er kannte dieſes Geficht

an Seiner Lordichaft, diefe Spannung eines grä lichen Entweber- Oder, dieſe Miene eines an- ſtrengten Wettläufers, dieſe krampfhafte Seflıng 3 Hafardfpielers. Man te dergleichen Ritte ſchon oft unternommen bei Tag wie bei Nacht; man mußte eine verſchwiegene Zunge haben, um die unbehaglichen Zutaten ſolcher Obliegenheiten vor einer wißbegierigen Welt bergen zu können, denn es hatte nicht felten den Anjchein, als ob man der Mittler Tichtfcheuer Gefchäfte ſei. Eile war jtet3 geboten; man kam auch ſtets zurecht, doch jenes „Roft’ e8, was es wolle" war ein bißchen aufſchneideriſch man erhielt micht immer feinen Lohn, man mußte oft wochenlang warten und heimlich nach den Boden hajchen, die von der geäflihen Tafel abgetragen wurden; Seine Herrlichkeit war eben nicht bei Kaſſa, man er- wartete Gelder aus England oder aus Frankreich ober man wurde fogar um Geld zu irgendeinem vornehmen Herrn geſchickt, und es war auffallend, 235

daß dem gräflichen Verlangen häufig nicht eben dienfteifrig Begegnet wurde, der vornehme Herr ließ in feiner Sprache eher etwas von Gering- jhäsung als von Ehrfurcht gegen die Perfon

Lords merken.

Woran hing das alles? Wohin liefen die Fäden, die diejes über den Pöbel erhobene Schick- fal an die gemeine Notdurft Enüpften? Der edle Abkömmling eines edeln Gejchlechts, feine Tage in einer erbärmlichen Spelunte friftend, einer der ftolgejten Namen eines ſtolzen Reiches abhängig von der ſchmierigen Freundlichkeit eines Gajtwirts, verdammt, feines Lebens Mark und Kern mit eignen Füßen in den Schlamm zu treten, das ftrenge Gedächtnis unantajtbarer Ahnen preis- zugeben, wofür? Woran hing das alles?

Jede gegenwärtige Stunde mar eine Ruine der Vergangenheit, jeder Tag die Trümmerftätte eines goldenen Ehemals; ehemals, da der Name Stanhope in den Hauptitädten Europas noch jene Rolle gejpielt, die feinem Träger felbft nur noch wie eine Sage erfchien, als der jugendliche Lord das Entzücden der Salons von Paris und Wien gemefen mar, als er reich geweſen und den

eichtum benußt hatte, um jeine maßlofe Jugend damit zu fättigen und der Welt feiner Standes» genofien das Schauſpiel einer Verſchwendung ohnegleichen zu geben. Seine Feſte und Gaſi— mähler waren berühmt geweſen. Er war von Land zu Land gereiſt mit einem Hofſtaat von Köchen, Sekretären, Kammerdienern, Handwerkern und Spaßmachern. Er hatte bei einer Pergola in Madrid für fünfundzwanzigtaufend Livres Blumen an die Frauen verteilen laſſen. Er hatte während des Wiener Kongrefjes die Könige und

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Fürſten bemirtet, Wettrennen veranjtaltet, die allein ein Vermögen verfchlangen, und Oratorien -und Opern für eigne Rechnung aufführen laſſen. Seine luxuriöſen Saunen hielten die Gefellichaft in Atem; er beſchenkte feine Freunde mit Villen und Landgütern und feine Freundinnen mit Perlenketten. Er war jahrelang der Timon des Kontinent? geweſen, um den ſich eine Armee von geilen Schmarogern drängte, die alle ihr Profitchen an ihm machten und ihre außfchweifenden Ges füfte bei ihm befriedigten. Seine Gutherzigkeit und Freigebigleit war ſprichwörtlich gemorden, feine Art, mit immer gefüllten Händen Gold um fich her zu ſtreuen, achtlos, ob e8 in die Goffe oder auf die Teppiche fiel, glich dem Wahnfinn oder einer tollen Probe auf die menfchliche Sabgier. Dann das Ende: Fallifjement und Selbſt⸗ mord eines Bankiers befehleunigten den unauf- haltfamen Zuſammenbruch. Es war an einem Abend im Palais Bourbon, man hatte hoch ge- fpielt, Stanhope verlor viele Taujende, um jo bezaubernder wirkte fein unbefangenes Geplauder, da3 Feuer und die Anmut feines Geiftes. Der Gefandte, Lord Saftterengb, trat zu ihm. und machte ihm eine haftige Mitteilung. Man ſah ihn erblaffen, ein Lächeln von eigner Schwermut gefror auf den feinen Zügen, andern Tags reifte er. Er glaubte in der Heimat das zurüd- gezogene Leben eines Landedelmannes führen zu innen, dies mißlang. Die Güter waren über- ſchuldei, von allen Seiten drängten Gläubiger, außerdem graute ihm vor der Einfamteit, haßte ex die menjchenlofe Natur. Er floh. Der Glanz vergangener Zeiten mußte Fegen borgen für ein Dajein, das allmählich) von innen ausgehöhlt 237

wurde duch die Angft um das nadte Brot. Es war ſtill um ihn geworben; feine Wanderzüge waren eine Jagd nach den früheren Freunden und Genoffen, aber auf einmal gab es feinen mehr, der nicht alles vorher gemußt hätte und aus ficherer Schanze heraus Verdammnis predi In einem römifchen Hotel nahm er, verzwe erihöpft, aller Hoffnung bar, Strychnin Um junge Sigilianerin pflegte und rettete ihn. Das Gift, das feinen Körper verlafien Hatte, fchien von feiner Seele Beſitz zu ergreifen. Er rang mit dem Dämon, der ihn niedergeftoßen; er wurde wild und alt; feine ans Erhabene ftrei- fende —I erleichterte ihm, die Schwächen ſeiner Umgebung zu benutzen. Er Phi fih in den Dienft hoher Herren und ſtudierte die ke en Moyfterien ihrer Vor— —* und ihrer Hintertreppen. wurde iſſär des Papftes und bezahlter Agent Metter- nice. Bald war fein Name sehen aus der Lifte der Untadeligen und jenen Abenteurern zugezählt, die an den Grenzbezirken der Gefell- ſchaft eine gefürchtete Korſarenrolle jpielen. Die außerordentlichen Talente, die er beſaß, machten ihm feine arufgabe Kamenz. der unabläffige Zwang zu handeln, die Bielfäl tigkeit der Beziehun; en erftiten die Stimmen des Gewiſſens und Empfindung dunkler Schmach. Oben geächtet und bei aller Nüglichfeit gemieden, war er in den Niederungen noch immer der erlauchte Mann; er wurde ein geübter und Seelen⸗ fänger; was dem Druck des Unglucks entſprungen mar, wurde Metier; das unwi ———— ſanfte Lächeln: Metier; die edeln Manieren, das ritter liche Betragen, die gewinnende Konverfation, die

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treffliche Bildung: alles Metier; jedes Zucken der Wimpern, jede Verbeugung war Geichäft; alles hatte Folgen, alles Urfache, ein nase ſiges Wort konnte das Mißlingen einer Atujgabe edeuten und doch, wie entbehrungsvoll war ein folches Dafein, wie jämmerlich der Lohn! Und wie ging es bei alldem langſam bergab, ins Kleine hinein, als ob die Kette, an der er z0g, von felber und ohne daß fie fich lockerte, Glied um Glied abſetzte, um ihn in den Abgrund zu zerren.

Eines Tages hieß die Kriegsloſung Caſpar jaufer. Der Auftrag war deutlich, feine Duelle lar, die Umftände finfter wie nicht8 zuvor. Man

fagte: Du bift der rechte Mann, das Unter

men iſt fchwer, aber Einträglich, es fcheint von geringer jedeutung, doch Ungeheures jteht auf dem Spiel. Die Verhandlungen wurden nicht von Geſicht zu Geficht geführt, alles war hinter Vorhängen verjteckt, jeder Mittler trug das Wort eine namenlojen bieterd. Das Ger penfterteeiben reiste die Phantafte, der Abgrund

egarın zu leuchten. Das Ausipinnen des Plans

hatte etwas von Wolluft; der jeltene Vogel mußte meifterlich bejchlichen werden.

Sa, der Auftrag war deutlich, er hatte Hand und Fuß. Du haft den Findling aus dem Be— reich zu entfernen, in welchem er anfängt für uns gefährlich zu werden, lautete die Weifung; nimm ihn zu dir, nimm ihn mit in ein Land, wo nie mand von ihm weiß; laß ihn verſchwinden, ſtürze ihn ins Meer oder wirf ihn in eine Schlucht oder miete das Mefjer eines Bravo oder laß ihn unbeilbar krank werden, wenn du dich auf Quackſalberei verftehft, aber verrichte daS Werk gründlich, fonft ift ung nicht gedient. Unfers Dankes

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bijt du ven rt; wir notieren unjern Dan mit der und der Summe bei Srael Blauftein in &. Was war zu überlegen? Alle Not Tonnte zu Ende jein. Jedes Bo machte ſchon mit- ſchuldig; den untätigen Wiffer zu befeitigen war Bi jene ein Zwang. Es gab feine Wahl. Der jeginn des Unternehmens lag weit zuräd; ſchon damals, mo man den Mordgejellen in Daumers Haus geſchickt, Hatte Stanhope Befehl, einzu- greifen, falls der Anfchlag, an dem er felber unbeteiligt war, ie gelingen follte. Die Roheit und Vermorfenbei er angewandten Mittel ſchreckten ihn, Geleiigten feinen guten Geſchmack, rüttelten fein beſſeres Wefen auf. Er floh, er verbarg ſich. Das Elend und drohender Hunger lockten ihn wieder ins Garn, und fo machte er fi auf „aus weiter Ferne", um fein Opfer zu betören. Doch wie fonderbar war ſchon das erfte Ber garen und Zufammenfein! Welch eine Stimme! Welch ein Auge! Was erjchütterte den Der- derber und riß ihn hin? Er wurde betört, er! Diefer Vogel verjtand auch zu fingen, das hatte der Nebefnüpfer nicht bedacht. Auf einmal fah er fich geliebt. Nicht wie Frauen lieben, das hatte er erfahren, das kann gewürdigt und auch vergefien werben, es liegt im Fluß der Dinge begründet, Zufall und Trieb haben een An- daran; au nicht wie Männer lieben oder Eltern oder Geſchwiſter oder wie ein Kind liebt; Geſetz und Aneignung, Not und Wille binden die Kreatur an ihresgleichen; doch im tiefften Grund ruht Wetteifer, Kampf und Feindichaft. Dies aber war ander, ungeahnt und wunderfam rührte die Schönheit einer Seele an das ummauerte Herz. 240

Es gibt eine Sage, die von einem Land et- zählt, wo nicht Tau noch Regen fiel, daher ent ftand Trodenheit und Wafjermangel, weil nur ein einziger Brunnen war, ber Waſſer erſt in großer Tiefe enthielt; wie nun die Leute zu ver- ſchmachten anfingen, da kam ein Jüngling zu dem Brunnen, der die Zither fpielte und feinem Inſtrument jo füße Melodien entlockte, daß das Waffer bis zur Mündung des Brunnens herauf- ftieg und im Ueberfluß dahinſtrömte.

So wie dem Brunnen erging e3 dem Lord, wenn der Jüngling Caſpar bei ihm weilte und die füßen Melodien feines Weſens fpielte. Sein Geiſt ftieg aus der Tiefe, ein jammernder Blick flog rückwärts, Scham entzündete das bebende Gemüt, Teicht fchien e8 daS Uebel ungefchehen zu machen, er fand fich jelbft wieder, e3 ſtrahlte ihm aus diefem Antliß das Bild der eignen noch unbeflecten Jugend entgegen, und fo, wie er hätte fein können, wenn das Schickſal nicht fein Edelſtes zermalmt hätte, jo ſah er fich genommen,

eglaubt und verherrlicht. Und jo wahr, fo reich, 0 grundlos ſchenkend, daß der verruchtefte Geig- als und Böſewicht feine Truhe nach Koftbar- eiten durchwühlt hätte, nur um fich der Dual der Verfhuldung zu entledigen.

Aber er gab nichts. Er konnte fich nicht felber geben, denn feine Perſon war zum voraus verfehrieben, fein Leben mar von denen bezahlt, denen er diente, bezahlt fein Tag und feine Nacht, bezahlt feine Reue, fein Unfrieden, fein ſchlechtes Gewiſſen. Er führte eine Tat im Schilde, die jede Salte feines Gefichts mit Lüge bemalte, aber bisweilen dachte er in Wirklichkeit daran, mit Caſpar zu fliehen. Doch wohin? Wo gab es

Baffermann, Gafpar Baufer 16 241

eine Ruheſtatt für den Geächteten eines Erdteils? Ad, wenn er die ftillen Stunden mit Gafpar verbrachte und dieſes Antlitz ihm zugeneigt war, in dem der reine Glanz des Menfchen wohnte, da fühlte er, daß auch er noch ein Menſch war, und er konnte in umermeßlicher Wehmut vor fich bintrauern. Dann vergaß er Zweck und Sen- dung und rächte ſich an jenen, deren fchuldiges Opfer er war, indem er hinwarf, was er von ihren Geheimnifien wußte, und doppelten Verrat b ing Er erfüllte Caſpar mit Erwartungen auf acht und Größe, das war feine Gegengabe, das Geſchenk des Geizhalſes. Ein Glüd, daß der Zauber an Kraft verlor, wenn er von dem Süngling entfernt war und er nicht mehr jenen fragenden Blick auf fich laſten fühlte, bei bem ihm zumute war, als jei ein Gejandter Gottes neben ihn hingeſtellt. Inmitten der finftern Ueberlegung und im erfolg der furchtbaren Pläne jchrieb er gleichwohl kurze leidenfchaftliche Briefhen an den Umgarnten, wie dies: „In der erften Woche, da ich dich kennen lernte, 3 ih mic, deinen Vaſall; ſollieſt du je für eine Frau dasjelbe fühlen, was du fir mich empfindeft, fo bin ich verloren." Oder: „Wenn du einmal Kälte an mir bemerfft, fo fchreibe es nicht einer Herzlofigkeit zu, jondern nimm e3 für den Aus- drud jenes Schmerzes, den ich bis ans Grab in mic verchließen muß; meine Ver: es iſt ein Kirchhof, als ich dich fand, hatte ich Gott

ſchon halb verloren, du mwarft der Glöckner, der

mir die Emigfeit einläutete." Es waren Wen-

dungen im Gejgmad der Beit, beeinflußt durch

Modepoeten, aber fie befundeten doch die Ratlofig-

keit eines bis ins Innerſte verworrenen Gemüts.

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So hin- und hergeriffen, hemmte er felbft den Gang feiner Unternefmung. Ex ließ gejchehen, was geſchah, und unterlag dem Anprall der Er— eignifje, denn fie waren mächtiger als feine Ent ſchlüffe. Er wußte, daß er fein ſchändliches Werk enden würde und enden müſſe, aber er zauderte, und dies Zaudern gab ihm Zeit, fein Geſchick zu beflagen. Er verfuchte fich eine Ausrede vor dem Himmel zu fchaffen, indem er betete, und vor dem Richter in fich jelbft, indem er aus feinem Dafein ein Fatum machte. Den an Genuß und Wohlleben hängenden Geift bejchwichtigte er duch den Sophismus, daß die Notwendigleit ſtärker ſei als Liebe und Erbarmen, und das klare

ild des Endes eskamotierte er hinweg mit einem billigen: es wird ge jo ſchlimm nicht werben! ide jen wurde auch nad) der haftigen Ab⸗ jendung des jers die Unficherheit feiner Lage immer größer, die Koften des AufenthaltS wuchſen beftändig, die Kreditbriefe nußten wenig, fie waren einftweilen nur ein Aushängeihild, die Ber drängnis zwang ihn zu Taten, und er faßte den Entſchluß, nach Ansbach zu reifen und mit dem Peäfdenten Feuerbach perjönlich zu unterhandeln, in einem Samdtag zu Ende November gebot er, eilends den Reiſewagen injtand zu ſetzen, und ſchickte eine Nachricht ind Tucherſche Haus, daß Caſpar fogleich zu ihm Tommen möge. Er aber begab fich, nachdem er Auftrag erteilt, Caſpar bis zu feiner Wiederkehr zurüdzuhalten, auf einem Weg, wo er dem Gerufenen nicht zu begegnen fürchten mußte, felbft dorthin, Ließ ſich in Cajpars Zimmer führen, ‚gab vor, auf ihn warten zu wollen, und als er allein war, durch ftöberte er in gehegter Eile alle Schubläden, 243

Bücher und Hefte des Jünglings, um einen vor Wochen von ihm felbjt an Cajpar gefchriebenen Brief zu finden, in welchem ihm höchſt unbedachte, auf die Zukunft Caſpars bezügliche Bemerkungen entjchlüpft waren und den er um jeden Preis aus der Welt jchaffen wollte, denn ſchon hatte man ihn gewarnt, fehon hatten die Finfteren hinter dem Vorhang gedroht.

Sein Suchen war vergeblich.

Da öffnete ſich auf einmal die Tür, und Herr von Tucher ftand auf der Schwelle. In jeinem ängftlichen: Eifer hatte der Lord die nahenden Shhritte überhört. Herr von Tucher jah mächtig groß aus, da fein Scheitel den oberen Pfoften der Türe berührte; in feiner Haltung lag ein ſchmerzliches Erftaunen, und nad} einem langen Schweigen fagte ex mit heiferer Stimme: „Herr Graf! Das find doch nicht etwa die Gejchäfte eines Spions?"

Stanhope zudtezufammen. „Einen Anwurf ſol⸗ her Art erlauben Sie mir wohl mit Schweigen zu übergehen," enigegnete ex mit gelafjenem Hochmut.

„Aber was joll das,“ fuhr Herr von Tucher fort, „wie foll ich den Augenjchein deuten? Mir ahnt, Herr Graf, eine innere Stimme verrät e3 mir, Br bier nicht alles auf geraden Wegen vor fi geht."

Der Lord geriet in Verwirrung; er preßte die eine Hand an die Stirn, und mit flehendem Ton fagte er: „Sch bedarf mehr des Mitleid und der Nachjficht, als Sie denken, Baron." Er 309 das Tafchentuh aus der Brufttafche, drückte e3 vor die Augen und begann plößlich zu weinen, wirkliche, 'unverftellte Tränen. Here von Tucher war ſprachlos. Seine erfte Regung war ein düfterer Argwohn und der Verdacht, daß alle trüben und

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verftetten Rebereien über Caſpars Schickſal eines ernftlichen Grundes doch nicht entbehren mochten. M Stanhope, wer n% Fon in Ba Tan anne vorging, faßte fi nell und ſagte: „Mebmen Sie fich eines ſchwankenden Herzens Ih tappe im Dunkeln. Ja, e8 will in Bars gebracht fein, ich. zweifle an Cafpar! ch vermag ihn nicht loszuſprechen von gemiffen Un; aufrichtigleiten und heuchlerifchen Künften .

„Auch Sie alfo!" Tonnte ſich Herr von Fer

nicht en, auszurufen. ich fahnde nach Beweiſen.“

ie eneie, fuchen Sie in Schubladen und Schränken, Herr Graf?"

„Es handelt ſich um geheime Aufzeichnungen, die er mir vorenthielt."

„Wie? Geheime Aufzeichnungen? Davon ift mir nicht das mindefte bekannt.“

„Sie find nichtsdeftomeniger vorhanden.“ Vielleicht meinen Sie am Ende das Tage buch), da3 er vom Präfidenten erhalten hat?"

Stanhope griff diefen Gedanken, der ihn aus der Mai, Situation halbwegs rettete, mit Ver- gmägen auf. „Sa, gerade diefes, ohne Frage

sjelbe,“ beteuerte er raſch, indem er fich zu- glei gewiſſer verräterifcher Andeutungen Caſpars arüber entjann.

„Ich weiß nicht, wo er e8 aufbewahrt,“ fagte Herr von Tucher; „ih, würde auch Anftand nehmen, es Ihnen in feiner Abweſenheit auszu- liefern. Im übrigen weiß ich zufällig, daß er vor einiger Zeit aus bdemfelben Tagebuch das Bildnis des Präfidenten, das fich auf der erften Seite befand, herausgefchnitten und das Ihre, Herr Graf, an deſſen Stelle gefett hat.” Damit

245 .

langte Herr von Tucher nad) einer Mappe, die auf dem Schreibpult lag, zog ein darin befind- liches Blatt hervor und reichte es Stanhope. Es war Feuerbadh Porträt. °

Der Lord fah eine Weile darauf nieder, und beim Anfchauen diejer jupiterhaften Züge beſchlich ihn eine niegefannte Furcht. „Das ift alfo der be- rühmte Mann,“ murmelte er; „ich bin im Begriff, ihn aufzufuchen, ich erwarte viel von feiner unbejteh- lichen Einſicht.“ Doch alles, was er plante, der Weg dorthin, der Zwang, dem furchtbaren Blick diejer Augen ftandhalten zu follen, verſetzte ihn in eine Befangenheit, deren er nicht Herr werben konnte,

„Erzellenz Feuerbach wird zweifellos entzückt fein, Ihre Bekanntſchaft zu machen,” fagte Baron Tucher Höflih, und da Stanhope fich anfchicte zu gehen, bat er ihn, dem Präſidenten feine vers ehrungsvollen Grüße zu übermitteln.

Zwei Stunden fpäter faufte der Wagen des Lords auf der Reichsſtraße dahin. Es war ein arger Sturm, in Wellen und Spiralen krümmte ſich der Staub empor, der Lord fauerte, in Tücher eingehüllt, in der Edle des Gefährts und wandte feinen Blick von der herbftlich-trübfeligen Land- ſchaft. Doch fein krankhaft Teuchtendes Auge fah weder Felder noch Wälder, fondern fchien die Ebene nad) verborgenen Gefahren zu durchipähen. Das Auge eines Befefjenen oder eines Flücht- lings. Als kurz vor dem Städtchen Heilsbronn das Gebudel eines Leiermanns hörbar wurde, drückte er die Hände gegen die Ohren, wandte fich ab und ftöhnte feine zur Einſamkeit verdammte Qual in das jeidene Ruhekiſſen des Wagens. Danach faß er wieder aufrecht, hart und kalt wie Stahl, ein Herenlächeln um bie dünnen Lippen. 246

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Geſpräch zwifchen einem, der masfiert bleibt, und einem, der fich enthüllt

Es regnete in Strömen, al3 die Kalefche des Lords am fpäten Abend über den Ansbacher Schloßplatz donnerte. Dazu ſcheuten die Pferde plöglich vor einem über den Weg trottenden Hund, und der elſäſſiſche Kutfcher fluchte in jeinem greulichen Dialekt jo laut, daß fich hinter

en dunkeln Senfterquadraten ein paar meiße Bipfelmügen zeigten. Die Zimmer im Gafthof zum Stern waren vorausgemietet, der Wirt tän- zelte mit einem Parapluie vor3 Tor und begrüßte den Fremdling mit unzähligen tiefen Komplimenten und Krabfüßen.

Stanhope ſchritt an ihm vorüber zur Treppe, da trat ihm ein Herr in der Uniform eines Gendarmerieoffiziers entgegen, fehr eilfertig, mit regentriefendem Mantel und ftellte fih ihm als Polizeileutnant Hickel vor, der die Ehre gehabt babe, Seiner Lordſchaft vor einigen Wochen beim Nittmeifter Wefjenig in Nürnberg flüchtig, „leider allzu flüchtig“, begegnet zu fein. Er nehme fich die Freiheit, dem Herrn Grafen feine Dienfte in_der unbetannten Stadt anzubieten, und bitte um Ver⸗ gebung für die einem Ueberfall ähnliche Störung, aber es fei zu vermuten, daß Seine richt wenig Beit und vielerlei Geſchäfte habe, darum wolle ex nicht verfäumen, in erfter Stunde nachzufragen.

Stanhope ſchaute den Mann verwundert und ziemlich von oben herab an. Er fah ein frifches, volles Geficht mit eigentümlich kecken und dabei zärtlich ergebenen Augen. Unwillkürlich zurüd- tretend, hatte Stanhope das Gefühl, daß hier 248

einer feine ganze Perfon als Werkzeug antrug, gleichviel zu welchen Zwecken; nichts Neues war ihm der begehrlich ftreberiiche Glanz jolcher Blicke, ſchon glaubte er feinen Mann in» und auswendig zu fennen. Aber moher mußte der Dienftbeflifjene davon? Wer hatte ihn auf die Fährte gebracht? Eine feine Nafe war ihm jedenfalls zuzutvauen. Der Lord dankte ihm kurz und erbat fi für eine beftimmte Stunde feinen Beſuch, worauf der Polizeileutnant militäriſch grüßte und ebenfo eilig, wie er gelommen war, wieder in den Regen hinausrannte.

Stanhope bewohnte den ganzen erften Stock und ließ fogleich in allen Zimmern Kerzen aufs ftellen, da ihm unbeleuchtete Räume verhaßt maren; während der Rammerbiener ben Tee bes reitete, nahm er ein in Saffian gebundenes An- dachtsbüchlein aus der und begann darin zu leſen. Oder wenigſtens hatte es den Anſchein, als leſe er, in Wirklichkeit dachte er hundert zerſtreute Gebanfen, die Ruhe des Tleinen Landftäbtchens war ihm unheimlicher als Kirch⸗ bofsftille. Nach dem Imbiß ließ er den Wirt rufen, befragte ihn über die und jenes, über die Verhältniffe im Ort, über den anfäffigen Adel “und die Beamtenfchaft. Der Wirt zeigte fich den neuen Läuften gründlich überlegen. Er hatte noch die felige Marfgrafenzeit erlebt, und mit - dem Tag, wo Höfling und Hofdame aus ihren ziervollen Rokofopaläftchen die Flucht vor dem heranfaufenden Kriegsiturm iffen hatten, war es aus mit dem Glanz der Welt; ein ftinkendes Rattenneft war fie geworden, ein Aktentrödelmarkt mit dem hochtrabenden Namen Appellationsfenat, eine Tintenhöhle, ein Paragraphenloch.

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Damals, ach, damals! Wie verftand man zu ſchäkern, wie heiter war das Treiben, man fpielte, man parlierte, man tanzte und der dide Mann fing vor den Augen bed Lords an, einige gravi⸗ tätijche Menuettpofen und Pas de deur zu illuftrieren, wozu er eine_verjchollene Melodie teällerte und mit zwei Fingern jeder Hand ſchelmiſch die Rodichöße hob.

Der Lord blieb volltommen ernfthaft. Er fragte auch beiläufig, ob Herr von Feuerbach in der Stabt fei, doch bei diefen Worten zog der Die ein fäuerliches Geficht. „Die Erzellenz?" grollte er. „Ya, die ift da. Wohler wäre uns, fie wär’ nicht da. Wie ein brummiger Kater lauert fie und auf und faucht und an, wenn wir ein bibchen pfeifen. Er kümmert fi um alles, ob die Straßen gefehrt find, ob die Milch vermäffert ift; überall iſt er hinterher, aber Galanterie hat ex feine im Leib. Nur eines verfteht er gründlich, er ift ein ſcharfer Effer, und halten zu Gnaden, ‚Herr Graf, wenn Sie mit ihm zu tun haben, müfjen Sie alles Toben, was auf feinen Tiſch kommt.“

Stanhope entließ den Schwäßer huldvoll, dann bezeichnete er dem Diener bie Kleider, die für morgen inftand zu ſetzen feien, und begab fih , zur Ruhe. Am andern Morgen erhob er ſich ſpät, ſchickte den Lakaien in die Wohnung Feuer- bachs und ließ um eine Unterredung bitten. Der Mann kam mit der Botfchaft zurüd, der Herr Staatsrat könne heute und wohl auch in den nächſten Tagen nicht empfangen, er erfuche Seine Lordſchaft, ihm das Anliegen ſchriftlich mitzus teilen. Stanhope war wütend. Er begriff, daß ex ſich überftürzt Habe, und fuhr fogleih zum Hofrat Hofmann, der ihm empfohlen war.

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Indeſſen hatte fich die Kunde von feiner An- wejenheit verbreitet, und nach weiteren vierund⸗ zwanzig Stunden war fchon ein Sagenkranz um feine Perſon geflochten. Ein halb Dutzend mit Goldguineen gefüllte Säde feien auf dem Reife wagen de3 Fremdlings aufgefchnallt gemefen, hieß es, und er wolle das Markgrafenſchloß ſamt dem Hofgarten kaufen, er führe ein Bett mit Schwanen⸗ daunen mit fich und gefticte Wäsche, er ſei ein Vetter de3 Königs von England und Cafpar Haufer fein leiblicher Sohn. Stanhope, kühl bis in die Nieren, fah ſich als Mittelpunkt klein— ftädtifchen Schwatzes und war e3 zufrieden.

Der Hofrat hatte ihm feine Erklärung über das Verhalten des Präfidenten zu geben vermocht. Um die dienftlichen Schritte zu beraten, fuchten fie den Archipdirektor Wurm auf, der bei Feuer⸗ bach großes Vertrauen genoß. Stanhope ſpürte, daß man nur mit feheuer Vorficht an die Sache ging; die amt3fälfigen Herren konnten fich feines freien Berhältnifjes zu einem Manne rühmen, deffen Hand wie Eifenlaft auf ihnen ruhte.

- Am Abend folgte Stanhope der Einladung in einen Familienkreis. Als er hier die Nede auf den Präfidenten brachte, wurde eine Reihe von Anekdoten erzählt, die teils lächerlich, teils

bigzarr Hangen, oder man berichtete, wie um den Mangel an Liebe und echtem Sichbeſcheiden durch Umftände zu verdedfen, welche da3 Mitleid bherausforderten, von dem Unglück, welches Feuer- bad) an zweien feiner Söhne erlebe, von einer zerrütteten Ehe, von der menfchenhaffenden Ein- famkeit, in welcher der Alte haufte, und in der man doch wieder etwas wie eine dunkle Ver— ſchuldung fehen wollte. „Ex ift ein Fanatiker,“ 21

ließ ſich ein kahlköpfiger Kanzleivorftand ver- nehmen, „er würde, wie Horatius, feine eignen Kinder dem Henkersknecht ausliefern.“

„Er vergibt niemals einem Feind," fagte ein andrer klagend, „und dies bemeift feine chriftliche Gefinnung.”

„Das alles wäre nicht jo fchlimm, wenn er nicht in jedem Menfchen eine Art von Uebeltäter jehen würde," meinte die Dame des Haufes, „und bei jeder Harmlofigfeit ge das ganze Strafgefeb aufmarjchieren Tieße, Neulich gin ich um die Dämmerung mit meiner Tochter aut der Triedorfer Straße fpazieren, und wir waren unbedadhtfam genug, ein paar Nepfel von den Bäumen zu pflüden ; auf einmal fteht die Exzellenz vor uns, jchwingt den Stod in der Luft und ſchreit mit einer, fürchterlich krähenden Stimme: Oho, meine Gnädige, das ift Diebitahl am Ge- meindegut! Nun bitt’ ich einen Menfchen, Dieb- ftahl! Was foll_ denn das heißen?“

„Du mußt aber auch jagen, Mama," fügte die Tochter hinzu, „daß er babei ganz pfiffig

efhmungelt hat und fi) kaum das Lachen ver- beißen konnte, als wir, vor Schrecken zitternd, die Aepfel in den Graben warfen."

Der bloße Name des Mannes glich einem Steinblod im Strom, vor dem das Saffer ftaut und aufprallt. Stanhope machte fein Hehl aus feiner Bewunderung für den Präfidenten. Er zitierte Stellen aus feinen Schriften, ſchien felbft die trodenften juriftiichen Abhandlungen zu Fennen und prie3 bie von Feuerbach Bungee Ab- ſchaffung der Folter als eine Tat, die über die Jahrhunderte leuchten würde. Es war ein Mittel zu blenden, wie irgendein andres.

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Auf allen Gafjen, in allen Salons gab es alsbald nur einen einzigen © *— und das war Lord Stanhope. Lord Stanhope, der eld und die Zuflucht der umfchulkig Derjolgten, ord Stanhope, der Gipfel der Eleganz, Lord Stanhope, der Freigeift, Lord Stanhope, der Siebting des Glüds und der Mode, Lord Stans bope, er Melancholifche, und Lord Stanhope, er Strengreligiöfe. So viel Tage, jo viel Ge ſichter; heute ift Lord Stanhope Talt, morgen ift ex leidenihaftlich; zeigt er fich hier heiter und ungebunden, dort wird er Sieffinnig und würde⸗ vol fein; Gelehrſamkeit und leichte Tändelei, die Stimme des Gemüts und fittliche Forderung: es fommt nur auf das Negifter an, das ber geſchickte Orgelſpieler braucht. Wie intereffant I Aberglauben, wenn er in einem Birkel bei

au von Smhefi feine Furcht vor Gefpenftern be fennt und jchildert, daß er dabei geweſen, wie ein Landsmann in den Krater des Bejun zur Hölle gefahren fei; wie entzückend die Ironie, mit der ex bei andrer Gelegenheit gottlofe Gebichte von Byron zu vezitieren verfteht.

Die Elemente mifchen fi), man weiß nicht wie. Es ift eine Luft, die Welle zu Schaum zu fchlagen und den Kleinen provinzlihen Sumpf im vergoldeten Kahn zu durchfahren. -

Am fünften Tag kam der Jäger zurüd. Er brachte erweiterte Vollmachten; Befehle, denen Stanhope durch feine Reife nach Ansbach zum Teil zuvorgelommen war, aus benen als bes merkenswert etwa3 wie Furcht vor den Maß- nahmen Feuerbachs auffiel. Es murde ihm ges boten, fi dem Präfidenten in jedem Fall zu fügen, da Widerftand Verdacht erweckt hätte;

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das Aeußerſte zu verfuchen, aber fich zu fügen und neue Minen zu graben, wenn die alten wirkungslo8 geworden. Von einem gefährlichen Dokument war die Rede, das einftweilen beifeite- gebracht oder unfchädlich gemacht werden müffe, von deſſen Inhalt aber jedenfalls Abſchrift zu nehmen ſei.

Das überreichte Schreiben follte im Beifein de3 Jägers zerrifjen und verbrannt werden. Dies geihah. Vor allem brachte der Burſche Geld, herrliches bares Geld. Stanhope atmete auf.

Am nächiten Abend Iud er einige der vor- nehmften Familien der Stadt zu einem gefelligen Beifammenfein in die Räume des Kafinog. Man raunte fich zu, daß er die Speifen nach befon- deren Rezepten habe bereiten lafjen und die Mufikpiecen mit dem Kapellmeifter felbft durch- probiert habe. Bor Beginn des Tanzes erhielt jede Dame ein ebenfo finniges wie koſtbares An« gebinde: ein Kleines Schildchen von Gold, auf welchem in emaillierter Schrift die Devife ftand: „Dieu et le cour.“ Danach nahm der Lord jein Glas und forderte die Anweſenden auf, mit ihm das Wohl eines Menſchen auszubringen, der ihm ſo teuer fei, daß er den Namen vor fo vielen Ohren gar nicht auszufprechen mage, müßten doch alle, wen er meine: jenes wunder- bare Geſchöpf, vom Schickſal wie auf eine Warte der Zeit hingeftellt: Dieu et le cour, die gelte ihm, dem Mutterlofen, deſſen die Mütter gedenken möchten, welche Kinder geboren, und die Jung- frauen, die fi der Liebe weihten.

Man war gerührt; man war außerordentlich gerührt. Ein paar weiße Tafchentücher flatterten in fanften Händen, und eine ergriffene Baß⸗ 254

ftimme murrte: „Seltener Mann." Der feltene

ann, als ob ex feine eigne Bewegung nicht ander3 meiftern Tönne, begab’ ſich auf den an- ftoßenden Balkon und fchaute finnend auf das Bolt, das teils in ehrfürchtig flüfternden Gruppen ftand, teils in der Dunkelheit auf und ab pro- menierte. Viele auch hatten fi, der Muſik laufend, an die gegenüberliegende Mauer ge- drängt, und eine ganze Reihe von Gefichtern länzte fahl in dem aus den Fenftern flutenden ichtichein.

Da gewahrte Stanhope den Uniformierten, der ſich ihm bei feiner Ankunft in der Stadt präfentiert. Ex hatte ihn feitdem völlig aus dem Gedächtnis verloren, der Mann war zur felt- gesten Stunde im Hotel geweſen, doch hatte

tanhope die Verabredung nicht gehalten, und jener hatte nur die Karte zurüctgelaffen. Seht ftand er wenige Schritte entfernt unter einem Laternenpfahl, und fein Geficht, ſchien auf fallend böje.

Ein Unbehagen überlief den Lord. Er ver- beugte fich höflich nach der Richtung, wo der Regungslofe fand. Darauf hatte der nur ge- wartet; er trat näher, und dicht am Balkon ftehend, war fein Geficht etwa in Brufthöhe des Grafen.

„Polizeileutnant Hickel, wenn ich nicht irre," jagte Stanhope und reichte ihm die Hand; „ich jatte das Unglück, Ihren Beſuch zu verfäumen, ich bitte mich zu entjchuldigen."

Der Polizeileutnant fteahlte vor Ergebenheit und heftete den Blick andächtig auf den redenden Mund des Grafen. „Schade, verſetzte er, „ich hätte fonft gewiß den Vorzug, den heutigen Abend

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in Mylords Gefellfchaft zu verbeingen. Man rechnet meine Wenigkeit bier gleichfalls zu den oberen Zehntaufend, haha!“

Stanhope rückte kaum merklich den Kopf. Was für ein unangenehmer Gefelle, dachte er.

„Waren Eure Herrlichkeit jchon beim Stants- tat Feuerbach?" fuhr der Polizeileutnant fort. „Ich meine heute. Die Erzellenz war nämlich big jeßt ſtarrköpfig, wollte mit Eurer Herrlichkeit nur fehriftlich unterhandeln. Es ift mir endlich gelungen, den eigenfinnigen Mann andern Sinnes zu machen.“

AU da3 wurde in der biederften Weife vor« ebracht; doch Stanhope zeigte ein befremdetes eficht. „Wie das?" fragte er ftodend.

„Nun ja, ich kann bei dem guten Präftdenten manches durchfegen, woran andre ſich umfonft die Zähne ausbeißen,“ erwiderte Hickel, ebenfalls mit dem_ heiterften und gefälligiten Ausdruck. „Sole Hitzköpfe find um den Finger zu wideln, wenn man fie zu nehmen verfteht. a, das ift luſtig: um den Finger gewickelte Hitzköpfe, haha!"

Stanhope blieb eiſig. Er empfand einen an Ekel grenzenden Widerwillen. Der Polizeileut- nant ließ fi) nicht beirren. „Mylord follten keinesfalls Tange überlegen," fagte er. „Wenn auch die Angelegenheit jetzt nicht gerade fonderlich drängt, fo treffen Sie doch den Staatsrat in einem Zuftand von Unentihtoffenbeit, dünkt mich, der auszunugen iſt. Und was das bedrohliche Dokument anbelangt..." Er hielt inne und machte eine Paufe.

Stanhope fühlte, daß er bis in den Hals exbleichte. „Das Dokument? Bon welchem Doku ment prechen Sie?" murmelte er haftig.

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„Sie werden mich vollftändig verftehen, Herr Graf, wenn Sie mir eine halbe Stunde Gehör ſchenken wollen,“ antwortete Hidel mit einer Untermwürfigfeit, die fich beinahe wie Spott aus- nahm. „Was wir uns zu jagen haben, ift nicht unwichtig, muß aber keineswegs noch heute gefagt Ich ſtehe zu jeder beliebigen Zeit zur

gung." .

Seiner Unruhe trogend, glaubte Stanhope Gleichgültigkeit zeigen zu ſollen. Obwohl ein Stichwort gefallen war, da3 er nicht überhören durfte, verjchanzte er fich Hinter einer vornehmen Unnahbarkeit. „Ich werde mich ficherlich an Sie wenden, wenn ich Ihrer bedarf, Herr Polizei» leutnant," fagte er kurz und wandte fich ftirn- ET" A auf die Sven,

ickel biß fich auf die Lippen, fehaute mit einiger Verblüffung dem Grafen nach, der durch die offene Saaltür verſchwunden war, und ging dann leife pfeifend über die Straße. Plößli— drehte er ſich um, verbeugte ſich höhniſch und fagte mit gefchraubter Verbindlichkeit, wie wenn Stanhope noch vor ihm ftünde: „Der Herr Graf find im Sertum; auch bei dero Gnaden wird mit Waſſer gekocht."

Als Stanhope wieder unter feine Gäfte ges treten war, 30g er den Generalfommiffär von Stichaner ins Geſpräch. Im Verlauf der Unter- haltung äußerte er, er habe ſich entichloffen, dem Präfidenten morgen feinen Beſuch zu machen; wenn Feuerbach auch dann bei feinem wunder⸗ lichen Starrfinn verbleibe, werde er es als vor- fäßlichen Affront auffaffen und abreifen.

Er fagte das mit fo lauter Stimme, daß einige danebenftehende Herren und Damen es

Baffermann, Gafpar Haufer 17 257

gm mußten; unter biefen befand fih auch

au von mög, die mit Feuerbach jehr be

feeunbet war. An fie hatte fich der Lord offen- ar wenden wollen. Frau von Imhoff war auf- merkſam geworden, fie blickte herüber und fagte etwas verwundert: „Wenn ich mich nicht täufche, Mylord, jo hat Erzellenz ja Ihnen einen Beſuch abgeftattet. Ich traf ihn fpät nachmittags in feinem Garten, al3 er eben im Begriff war, zum ‚Stern‘ zu gehen. Sie waren wohl nicht zu Haufe?“

B Ich verließ mein Hotel um acht Uhr,“ ant- wortete Stanhope.

Eine Stunde fpäter ſchickten fich viele zum Aufbruh an. Der Lord erbot fi, Frau von Imboff, deren Gatte verreift war, in feinem Wagen nach Haufe zu bringen. Da fte der Weg vorüberführte, ließ Stanhope beim „Stern" halten und erkundigte Ir ob in feiner Abmwefenheit jemand vorgefprochen habe. In der Tat hatte Feuerbach feine Karte abgegeben.

Am andern Vormittag um elf Uhr hielt die geäfihe Karoſſe in der Heiligenkreuggaffe vor em Tor des Feuerbachſchen Gartens. Mit ariftofratifch gebundenen Schritten, die gertenhaft biegfame Geftalt unnahahmlich geſtreckt, näherte fih Stanhope dem Iandhausähnlichen Gebäude, indem er gun die Mitte der kahlen Baumallee einhielt. Sein Anzug befundete peinliche Sorg- falt; in dem Knopfloch des braunen Gehrods glühte ein rotes Ordensbändchen, die Krawatte war durch eine Diamantjchließe gehalten und mie ein geiftiger Schmuck umfpielte ein müdes Lächeln die glattrafierten Lippen. Als er ungefähr zwei Drittel des Wegs zurückgelegt hatte, hörte er 258

eine brüllende Stimme aus dem Haus, zugleich rannte eine Kate vor ihm fiber den Kies. Ein 55 je3 Omen, dachte er, verfärbte fich, blieb ftehen ſchaute unwillkürlich zurüd. Es war fo "neblig, daß er feinen Wagen nicht mehr jah.

Er 309 die Glode am Tor und wartete ge vaume Weile, ohne daß geöffnet wurde. Indes dauerte das Gefchrei drinnen fort, e8 war eine Männerftimme in Tönen wilder Wut. Stanhope drückte endlich auf die Klinke, fand den Eingan, unverfperrt und betrat den Flur. Er ſah niemani und trug Bedenken, weiterzugeben. Plötzlich wurde eine Tür aufgeriffen, ein Frauenzimmer ftürgte heraus, anjcheinend eine Magd, und binter- her eine gedrungene Geftalt mit en Schädel, in welcher Stanhope fofort den Präfi- denten erkannte, Doch erfchrat er dermaßen vor dem zornverzerrten Geficht, den gefträubten Haaren und ‚der ducchdringenden Stimme, daß er wie angemwurzelt ftehen blieb.

Was hatte I ereignet? War ein Unheil paffiert? Ein Verbrechen zu Tag jefommen ? Nichts von alledem, Bloß ein ftintender Qualm 30g durch den Korribor, weil ein Topf mit Milch in der Küche übergelaufen war. Die Frauens- perfon hatte fich beim Wafjerholen verſchwatzt, und da war es benn ein gar würdelofer Anblick, den alten Berferker zu fehen, mie er mit den Armen fuchtelte und bei jeder jammernden Wider: rede der Gefcholtenen von neuem rafte, die Zähne fletfchte, mit den Füßen ftampfte und ſich vor Bosheit überfchrie.

Ein komisches Männlein, dachte Stanhope voll Verachtung; und vor biejem Heinen Provinz: tyrannen und Polizeiphiliſter habe ich gebebt!

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Sich vornehm räufpernd, fchritt er die drei Stufen empor, die ihn noch von dem Lächerlichen Kriegsſchauplatz trennten, da wandte fich Feuer- bach blißfchnell um. Der Lord vernieigte fich tief, nannte feinen Namen und bat nachjichtig lächelnd um Entſchuldigung, wenn er ftöre.

Schnelle Nöte überflog das Geficht Feuer- bachs. Er warf einen feiner jähen, fait ftechen- den Blicke auf den Grafen, dann zudte es um Nafe und Mund, und auf einmal brach er in ein Gelächter aus, in welchem Beſchämung, Selbftironie und irgendeine gemütliche Verficherung lag, kurz, es hatte einen befreienden, wohltuenden und überlegenen Klang.

Mit einer Handbewegung forderte er den Gaft zum Eintreten auf; fie famen in ein großes mohlerhaltenes Zimmer, das bis in jeden Winkel von auferordentlicher Alkurateſſe zeugte. Feuer⸗ bad; begann ſogleich über fein bisheriges Ver— halten gegen den Lord zu fprechen, und ohne Gründe anzuführen, fagte er, die Notwendigkeit, die ihn beftimmt, fei Härter als die geſellſchaft⸗ liche ke Doch habe er eingefehen, daß er einen Mann von jolchem Rang und Anſehen nicht verlegen könne, zumal ihm fchägenswerte Freunde fo viel Anziehendes berichtet hätten, deshalb habe ex Seine Lordſchaft geftern aufgefuct.

Stanhope verbeugte ſich abermals, bebauerte, daß er Seiner Erzellenz nicht habe aufwarten können, und fügte befcheiden hinzu, ex muſſe diefe Stunde zu den höchften feines Lebens rechnen, vergönne fie ihm doch die Bekanntſchaft eines Mannes, defjen Ruf und Ruhm einzig und über die Grenzen der Sprache wie der Nation hinaus- gedrungen fei.

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Bon neuem der jähe, feharfe Blick des Präfi- denten, ein fehamhaft fatirifches Schmunzeln in dem verwitterten Geficht und dahinter, fait rüh- rend, ein Strahl naiver Dankbarkeit und Freude. Der Lord ſeinerſeits ftellte vollendet einen Mann der großen Welt dar, der vielleicht zum erſten⸗ mal _befangen ift.

Sie nahmen Platz, der Präfident durch die Gewohnheit de3 Berufs mit dem Rüden gegen das Fenſter, um feinen Gaſt im Licht zu haben. Er fagte, eine der Urfachen, weshalb er ihn zu fprechen verlange, fei ein geftern eingetroffener Brief des Herrn von Tucher, worin ıhm diefer nahelege, Caſpar zu ſich ind Haus zu nehmen. Diefe plögliche Sinnesänderung ſei ihm um fo merkwürdiger erſchienen, als er ja wifle, daß Herr von Tucher den Abfichten des Grafen ge- neigt gemejen; er habe den Faden verloren, die ganze Gefchichte jei ihm verſchwommen geworden, er habe nun jehen und hören wollen.

Im Tone größten Befremdens erwiderte Stanhope, er könne fich das Vorgehen Herrn von Tuchers durchaus nicht erklären. „Man braucht den Menjchen nur den Rüden zu ehren und fie verwandeln ihr Geficht," fagte er gering chatig „Das iſt nun fo," verſetzte der Präſident teoden. „Ich will übrigens Ihre Erwartung nicht hinhalten, Here Graf. Wie ich ſchon dem Bürgermeiſter Binder mitteilte, kann e3 auf feinen Tal gefchehen, daß Ihnen Caſpar überlaffen werde. Ein folches Anfinnen muß ich gänzlich und ohne Bedenken abweiſen.“

Stanhope ſchwieg. Ein ſchlaffer Unmillen malte ſich in ſeinen Bügen, Er blickte unabläffig

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auf die Füße des Präfidenten, und als ob ihn dad Sprechen Ueberwindung koſte, fagte er end» lich: „Laſſen Sie mich nen, Erzellenz, vor Augen führen, daß Caſpars Lage in Nürnberg unhaltbar ift. Aufs fonderbarfte angefeindet und von feinem unter allen, die fich feine Schüßer nennen, verftanden; mit dem Drud einer Dankes⸗ ſchuld beladen, die das Schickſal ſelbſt für ihn . aufgenommen bat und die er niemals wird be- zahlen können, da ihm ja fonjt jeder Tag und jedes Erlebnis zu einer mucherifchen Binfenabgabe würde und er, ein junger, ein Wachjender, der ex ift, fein Dafein für fich verzehren muß, ift er waffenlos ausgeſetzt. Zudem will die Stadt, wie mir ausdrüdlich verfichert wurde, nur noch bis zum nächſten Sommer für ihn jorgen und ihn dann einem Handwerfgmeifter in die Lehre geben. Das, Erzellenz, dünkt mich ſchade.“ (Hier erhob der Lord feine Stimme ein wenig, und fein Ges pi mit den niebergefchlagenen Augen erhielt en Ausdruck verbiffenen Hochmuts.) „Es dünft mich fehade, die feltene Blume in einen von aller Welt zerftampften Rafen fegen zu laſſen.“

Der eäfbent hatte aufmerkfam zugehört. „Gewiß, das alles ift mir bekannt,“ antwortete er. „Eine fellene Blume, gewiß. War doch fein erſtes Auftreten derart, daß man einen durch ein Wunder auf die Erde verlorenen Dürger eines andern Planeten zu ſehen vermeinte, oder jenen Menſchen des Plato, der, im Unterirdiſchen auf⸗ gewachſen, erſt im Alter der Reife auf die Ober: welt und zum Licht des Himmels geitiegen ift.“

Stanhope nicte. „Meine Hinneigung zu ihm, die dem allgemeinen Urteil übertrieben erjchienen iſt, entftand mit dem erſten Hörenfagen über feine 262

Perfon; fie findet auch in der Gefchichte meines Geſchlechts etwas wie. eine ataviftiiche Necht- fertigung," fuhr er in fühlem Plauberton fort. „Einer meiner Ahnen wurde unter Crommell jeächtet und floh in ein Grabgewölbe. Die eigne ochter hielt ihn verborgen und nährte ihn, bis die Flucht gelang, kümmerlih mit erftohlenen Broden. Seitdem weht vielleicht ein menig Grabesluft um die Nachgeborenen. ch bin der Letzte meine® Stammes, ich bin kinderlos. Nur noch ein Traum oder, wenn Sie wollen, eine fire Idee bindet mich and Leben.“

Feuerbach warf den Kopf zurüd. Die Linie feines Mundes zudte in die Länge wie ein Bogen,

effen Sehne zerriffen iſt. Plötzlich Tag Größe in feiner Gebärde. „Eine innere Verantwortung hindert mich, Ihnen zu willfahren, Herr Graf,” jagte er. „Hier fteht fo Ungeheures auf dem Spiel, daß jeder Gnadenbemeis und jedes Liebes» opfer daneben gar nicht mehr in Frage kommt. Hier iſt den in Abgründen Fauernden Dämonen des Verbrechens ein Recht zu entreißen und dem bangen Auge der Mitwelt, wenn nicht als Trophäe, fo doch als Beweis dafür entgegenzuhalten, daß es auch dort eine Vergeltung gibt, wo Untaten mit dem Purpurmantel bedeckt werden.“

Der Lord nickte wieder doch ganz mechanisch, Denn innerlich erftarrte er. Es wurde ihm ſchwül vor der elementaren Gewalt, die aus der Bruft diefes Mannes zu ihm redete, und die felbft das Pathos verzehrte, das ihm anfangs unbehaglich war und ihn ironisch gejtimmt hatte. Er fühlte, daß gegen dieſen Willen zu kämpfen, der fich wie Unwetter verfündigte, ein Being Mühen fein würde, und wenn es ein Beſchluß über ihm

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mar, durch den er in das Labyrinth lichtſcheuer Verrichtungen mehr geglitten als geichritten war, fo fand er fich jet ratlos und ohnmächtig darin, und es wurde ihm auf einmal wichtig, einen Anſchein von Ehre und Tugend aus dem Chaos

jeine3 Innern w vetten. Er beugte fi) vor und

agte ſanft: Und iſt das Recht, das Sie jenen entreißen wollen, die Leiden deſſen wert, dem es zukommt ?

„Ja! Auch dann, wenn er daran verbluten müßte!“

„Und wenn er verblutet, ohne daß Sie Ihr ‚Biel erreichen?“

„Dann wird aus feinem Grab die Sühne wachen."

Ich ermahne Sie zur Vorficht, Exzellenz, um Shretwillen,” flüfterte Stanhope, indem fein Blick langſam von den Fenftern zur Tür wanderte.

Feuerbach ſah überrafht aus. Es war etwas Verräterifches in diefer Wendung, in irgendeinem Sinn verräterifch. Aber die blauen Augen des Lords ftrahlten durchfichtig wie Saphire, und eine frauenhafte Trauer lag in der Neigung des {malen Hauptes. Der —2 In ich bingegogen zu dem Manne, und unwillkürlich nahmen feine Worte einen milden, ja_faft lieb⸗ reichen Klang an, al3 er fagte: „Auch Sie? Auch Sie fprechen von Borfiht? Meine Sprache ſcheint Ihnen fühn; fie ift es. Ich bin es fatt, auf einem Schiff zu dienen, das durch. die Ver- blendung feiner Offiziere in den jchmählichen Untergang rennt. Aber ich könnte mir denken, daß e8 einem Bürger des freien England un— begreiflich ift, wenn ein Menfch mie ich feine Ruhe und die Sicherheit der Exiſtenz aufgeben 264 .

muß, um das Gewiſſen des Staats für die primitioften Forderungen der Gejellichaft wach⸗ zurütteln. Es ift überfläffig, mich zur Vorficht zu mahnen, Mylord. Ich würde alles das auch demjenigen ins Ohr fehreien, der fih mir als Denunziant befennte. ch fürchte nichts, weil ich nichts zu hoffen habe.“

Stanhope Tieß einige Sekunden verftreichen, bevor er verjonnen antwortete: „Mein Unkenruf wird Sie weniger verwundern, wenn ich Ihnen

eftehe, daß ich nicht uneingemeiht in die Ver- jälmifje bin, auf die Sie hindeuten. Ich bin nicht daS Werkzeug des Zufalls. Ich bin nicht ohne äußeren Antrieb zu dem Findling gekommen. Es ift eine Frau, es ift die unglüdlichfte aller Frauen, al3 deren Sendboten ich, mich betrachte."

Der Präfident fprang empor, al3 ob ein Blitz im Zimmer gezünbet hätte. „Here Graf!" tief er außer fi. „Sie wiſſen alſo —“

„Ich weiß," verjeßte Stanhope ruhig. Nach- dem er mit düfterer Miene beobachtet hatte, wie der Präfident krampfhaft die Stuhllehne gepackt hielt, jo daß die Arme fichtbar zitterten, und wie das große Geficht fich verfaltete und bewegte, fuhr er mit monotoner Stimme und einem matten, felt- ſam füßlichen Lächeln fort: „Sie werden mich fragen: Wozu die Ummege? Was wollen Sie mit dem Knaben? Ich antworte Ihnen: Ich will ihn in Sicherheit bringen, ich will ihn in ein andres Land bringen, ich will ihn verbergen, ich will ihn der Waffe entziehen, die fortwährend gegen ihn gezückt ift. Kann man Elarer fein? Wollen Sie noch mehr? Erzellenz, ich habe Kenntnis von Dingen, die mein Blut gefrieren laſſen, jelbft wenn ich nacht3 erwache und in der

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Paufe zwiſchen Schlaf und Schlaf daran bente, wie man an ein Fieberbild denkt. Erſparen Sie mir die Ausführlichkeit. Rückſichten, bindender als Schwüre, machen meine Zunge lahm. Auch Sie Ieinen ja, e3 ift mir vätfelhaft, auf welche Weife, Einblick gewonnen zu haben in dieſen rauenhaften Schlund von Schande, Mord und Sammer: fo darf ich Ihnen wohl ja en, daß ich, der den Königen und Herren der Erde ehr genau und fehr nah ins Geficht geſchaut niemal3 ein Antlig jah, dem Geburt und ent einen gleich hohen Adel und der Schmerz eine ergreifendere Macht verliehen haben als dem jener Frau. Ich warb ihr Sklave mit dem Augenblic, wo das Bild ihrer tragifchen Erfcheinung zum erſtenmal mein Gemüt belud. Es wurde meine Lebensidee, die ihr vom Schicjal zu effgten Wunden in ihrem Dienft zu mildern. Ich will ſchweigen darüber, wie ich Gewißheit über den Zuftand der gemarterten und am Rand des Todes hinfiechenden Seele gewann und mie fich mir von denen, die ein Sahrgehnte hindurch fort- gefponnenes Gewebe von Leiden um dad un- beihüßte Daſein der Unglücklichen flochten, lang⸗ ſam Stirn um Stirn entſchleierte. Das Haupt der Meduſe Tann nicht gräßlicher ſein. Genug damit, daß ich meine wahre Natur unterdrüden und mid, harmlos geben mußte; ich mußte Lügen, fchmeicheln, fchleihen und Ränke durch Raͤnke ſchlagen, ich habe mich verkleidet und täufchungs- volle Aufgaben übernommen. Dabei fraß mir der Zorn am Mark und ich fragte mich, wie es möglich fei, eiterguleben mit folcher Wiſſenſchaft in der Bruft. Aber das ift es ja eben: man lebt weiter. Man it, man trinkt, man fchläft, 266

man gebt zu feinem Schneider, man promeniert, man läßt fich Die Haare feheren, und Tag reiht ich an Tag, als ob nichts gefchehen wäre. Und genau fo tt es mit jenen, von welchen man glaubt, daß das böfe Gewiſſen ihre Sinne ver- wüſten und ihre Adern verdorren müſſe, fie eflen, trinken, jchlafen, Tachen, amüfieren fich, und ihre Taten rinnen von ihnen ab wie Waffer von einem Dad.“

Sehr wahr! Das ift es, fo ift es!" rief Feuerbach Teidenfchaftlich bewegt. Er eilte ein paarmal duch das Zimmer, dann blieb er vor Stanhope ftehen und fragte ftreng: „Und weiß die Frau von allem —? Weiß fie von ihm? her ift ihr befannt? Was erwartet, was hofft fie 2"

„Aus perjönlicher Erfahrung kann ich Darüber nicht8 melden,“ entgegnete der Lord mit derfelben traurigen und matten Stimme wie bisher. „Vor furzem wurde bei der Gräfin Bodmer erzählt, fie babe laut aufgeweint, als man den Namen Caſpar Haufer vor ihr genannt. Mag fein, ganz glaubwürdig ift es nicht. Hingegen ift mir ein andrer Vorfall befannt, der auf eine faft überfinnliche Beigun ſchließen läßt. Eines Mittags vor zwei Fahren befand ſich die Fürſtin allein in der Schloßfapelle und verrichtete ihr Gebet. Nachdem fie geendet und fich erheben wollte, fah fie plöglich über dem Altar das Bild eine fhönen Jünglings, deffen Geficht einen un- endlichen Kummer ausbrüdte Sie rief den Namen ihres Sohnes, Stephan hieß er, der Erſt⸗ geborene, dann fiel fie in Ohnmacht. Später erzählte fie die Vifion einer vertrauten Dame, und diefe, die Caſpar felbft in Nürnberg gejehen

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hatte, war von der Aehnlichkeit tief berührt. Und das Wunderbare ift, daß die Erſcheinung ſich am jelben Tag und zur felben Stunde gezeigt wo der Mordanfall im Hauſe Daumers ſtattfand. So viel ift kiar, daß ſich auf beiden Seiten ein geheimnißvolles Zuſammenſtreben offen- bart, Ferner ift e8 Har, Exzellenz, daß jedes Zaubern Gefahr bedeutet und ein leichtfertiges Vergeuden günftiger Gelegenheit. Ich rufe Ihnen das in ernfter Not entgegen. Es könnte fommen, daß unfre Verfäumnifle vor einen Richterſtuhl gefordert werden, wo feine Reue das Gefchehene ausgleicht." er Lord erhob fich und trat zum Fenfter. Seine Augenlider waren gerötet, fein Bück ber⸗ dunkelt. en verriet er agent wen belog er? Seine Auftraggeber? en Yüngling, den er an fich gefettet? Den Präfidenten? Sich jelbft? wußte es nicht. Er war erfchüttert von feinen eignen Worten, denn fie erjchienen ihm wahr. ie fonderbar, alles das erjchien ihm wahr, als ob er der Retter wirklich fei. Er liebte ſich in_diefen Minuten und hätfchelte fein gen Eine Finſternis des Vergeſſens kam über ihn, und fofern er Müdigkeit und Ekel zu er fennen gab, galten fie nur dem mefenlofen Schemen, das an feiner Stelle geſeſſen, an feiner Statt geredet und gehandelt hatte. Er löſchte zwanzig Jahre Vergangenheit von der Tafel feines Gedächtniffes hinweg und ftand da reingewafchen durch eine Halluzination von Güte und Mitleid. Feuerbach hatte fich vor feinen Schreibtifch niedergelaffen. Den Kopf in die Hand geftüßt, ſchaute er finnend in die Luft. „Wir FR die Diener unfrer Taten, Mylord," begann er nad) 268 .

langem Schweigen, und die fonft polternde oder fchrille Stimme hatte einen janften und en Klang, „Bor dem fchlimmen Endezittern, jieße jede Schlacht aufgeben, bevor fie geichlagen. Offenheit gegen Offenheit, Herr Graf! Bedenken Site, ich ftehe hier auf einem verlorenen Poften des Landes. Mein Leben war für eine andre Bahn beftimmt, einft glaubte ich es menigftens, als in der Verborgenheit einer Kreisftadt bes ſchloſſen zu werden. Ich habe meinem König Dienfte geleiftet, die gewürdigt worden find und die vielleicht dazu beigetragen haben, feinem Namen das ftolze Attribut des Gerechten zu ver⸗ leihen. Noch größere wollte ich leiften, fein Volk erhöhen, die Krone zu einem Symbol der Menfch- Tichteit machen. Died jcheiterle. ch ward zurüd- geitoßen. Freilich, man hat mich belohnt, aber nicht ander3 als wie Domeſtiken belohnt werden."

Er hielt inne, rieb das Kinn mit dem Hand» rücken und Inirichte mit den Zähnen. Dann fuhr er fort: „Bon früher Jugend an habe ih mich dem Gefeß geweiht. Ich habe den Buchs ftaben verachtet, um den Sinn zu veredeln. Der Menſch war mir wichtiger als der Paragraph. Mein Streben war darauf gerichtet, die Regel zu finden, die Trieb von nerantmortung feibet Ich habe das Lafter ftudiert wie ein Botaniker die Pflanze. Der Verbrecher war mir ein Gegen⸗ ftand der Obforge; in feinem erkrankten Gemüt wog ich ab, was von jeinen Sünden auf die Verirrungen des Staates und der Gejellichaft entfiel. Ich bin bei den Meiftern des Rechts und bei den großen Apofteln der Humanität in die Lehre gegangen, ich wollte das Zeitalter der überlebten Barbarei entreißen und Pfade zur

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Zukunft bauen. Ueberflüffig zu beteuern. Meine Schriften, meine Bücher, meine Erläſſe, meine ganze Vergangenheit, das heißt eine Kette ruhe lofer Tage und arbeitSvoller Nächte, find Zeugen. Ich lebte nie für mich, ich lebte faum für meine Familie; ich habe die Vergnügungen der Gefellig- teit, der Freundfchaft, der Liebe entbehrt; ich zog feinen Gewinn aus eroberter Gunft; fein Erfolg ſchenkte mir Raſt oder nachweisbares Gut, ich war arm, ich blieb arm, geduldet von oben, be- geifert von unten, mißbraucht von den Starken, überliftet von den Schwachen. Meine Gegner waren mächtiger, ihre Anfichten waren bequemer, ihre Mittel gewiſſenlos; fie waren viele, ich einer. Ich bin verfolgt worden wie ein räudiger Hund; Basquillanten und Verleumder befubelten meine gute *3 mit Schmutz. Es war eine Zeit, da konnte ich nicht durch die Straßen der Reſidenz ehen, ohne die gröblichiten Injulten des Pöbels

icchten zu müffen. ALS ich, durch wiberwärtige

trigen und Ainfeindungen ezwungen, mein Profefjorenamt in Landshut aufgeben mußte, als man den ftudentifchen Janhagel gegen mich in Raferei verſetzt hatte und ich nach meiner Heimat floh, Weib und Kind im Stich laſſend, da trach-⸗ teten mir bezahlte Schergen nach dem Leben. Es war der große Krieg, alle Ordnung war zer rüttet; von der öfterreichifchen Partei wurde ausgeiprengt, daß ich mit der franzöfifchen Partei im Bündnis ftehe, die dem Kaifer Napoleon zur Errichtung eines olzidentaliſchen Kaiſerreichs den Weg bahnen und die fouveränen Fürften ſtürzen wolle, die Franzofen verdächtigten umgekehrt meine Beziehungen zu Oefterreih. Es gab einen Mann, einen Imte und Berufsgenofien, einen 270

Gelehrten, berühmt und angefehen o, ein feiger Poltron, die Zeit wird feinen Namen an einen der Schandpfähle des Jahrhunderts Heften! —, der ſich nicht entblöbete, mich öffentlich ala Spion zu bezeichnen, und mein Proteftantentum zum Vorwand nahm, den König gegen mich miß- trauiſch zu machen. Ich erlag nicht. Die Widrig- teiten hatten ein Ende, mein Fürft nahm mich wieder, in Gnaden auf, freilich nur in Gnaden. Ein neuer Herr beftieg den Thron, ich blieb in Gnaden. Heute bin ich ein alter Mann, ſitze hier in der Gtille, immer in Gnaden. Auch meine Feinde find befänftigt oder fie ftellen fich fo, auch fie find in Gnaden. Aber was es be- deutet, eine aufs Große und Allgemeine gerigtete Exiftenz vernichtet zu jehen, bevor noch die lehte geier des Geiftes, ber fie trug und nährte, ihre raft verzehrt hat, das empfinden nicht jene, das

weiß nur ich." Feuerbach ftand auf und atmete tief. Hierauf gift er zur Schnupftabatsdofe, nahm eine Priſe, ann wandte er Stanhope voll das Geficht zu, und unter den barjchen Brauen bligte ein rührend- ängftlicher und dantharer Blick hervor, während er jagte: „Herr Graf, ich bin mir nicht ganz klar darüber, was mich bewegt, jp zu Ihnen zu ſprechen. Es erftaunt mich felbft. Sie find der erſte, der zu hören befommt, was fo verzweifelt den Klagen eines Zurücgefeßten ähnelt und doc nur die Erklärung für eine unabänderliche Not- wendigkeit bieten fol. Es ift mir in der An— gelegenbeit Caſpars nicht3 an dem Befonderen es Falles gelegen, und nicht da8 Bejondere der Perſon ift e8, was meinen Beſchluß ſtärkt. An mich tritt der härtefte Zwang heran, der einen arı

Mann von grauen Haaren treffen Tann, und nötigt mich zu der Frage an das Schickſal: ob denn alles Geopferte und Gewirlte umfonft ge- wejen, ob e3 mir und den Gleichjtrebenden keine andre Frucht gi gegiigt hat ala Ohnmacht hier und Gleichgültigkeit dort. Sch muß die Probe machen, muß e3 durchführen, fomme, was da wolle; wiffen, ob ich in Wind geredet und auf Sand gejhrieben habe; ich muß wiſſen, ob die Verfprehungen, mit denen man bie Bitterkeit meines Exils verfüßt hat, nur wohlfeile Lockſpeiſe waren; ih muß und will wiffen, ob man es ernft meint mit mir und meiner Sache. Ich habe Bemeife, Graf, e3 liegen furchtbare Indizien vor; ich kann dreinfchlagen, ich habe den Donner» feil und Tann das Wetter machen, alles ift von mir figiert und in einem befonberen Dokument dargeftellt; man weiß es, man wird es nicht zum Aeußerften treiben, denn zum Aeußerſten bin ich entfchloffen, um das toftbare Gut zu wahren, zu dem ich vor Gott und den Menfchen al3 Hüter beftellt bin. Immerhin, ich werde warten, große Dinge, brauchen viel Geduld. Aber Cafpar darf mir nicht entfernt werden. Er ift die lebendige Waffe und der lebendige Zeuge, deren ich bedarf, und zwar in ſtets erreichharer Nähe. Verlöre ih ihn, fo wäre das Fundament meines legten Werts dahin, ich ſpür' es wohl, es iſt das lebte, und jeder Anfpruch auf Gehör würde weſenlos Und Sie, edler Mann, was verlören Sie? Wollen Sie eine Tat der Barmherzigkeit oder der Liebe verrichten und der Gerechtigkeit nicht jebenten? Das hieße Gold wegwerfen, um äderling zu erhalten.“ Stanhopes Gefiht war nad) und nad) fo fahl 272

eworden, als flöffe fein Blut mehr unter der

aut. Er hatte ſich niedergeſetzt, fich geduckt, wie wenn er fich verfriechen wollte; ein paarmal waren Blicke aus feinen Augen gebrochen wie wilde Tiere, die ihren Käfig zerfrümmert haben, dann rief er fie wieder zurüd, faugte fie in fs inein, bielt den Atem an, neftelte mit den ingern am Settchen des Lorgnons, und als ber Präfident am Ende war, richtete er fich mit einer leidenfchaftlichen Bewegung auf. Er hatte Mühe, ſich zu finden, er hatte Worte zu finden, in beftigem Wechfel zuckte es um feinen nd, mie wenn er laden oder einen körperlichen Schmerz verbeißen wollte, und als er die Hand des Präfidenten ergriff, wurde ihm eislalt; ber Doppelgänger ftand an feiner Seite, dieſer Schattenleib de3 Gelebten, VBegangenen, Ber fäumten, und zifchelte ihm das Wort des Verrats ins Ohr, aber feine Augen waren feucht, als er jagte: „Sch verftehe. Alles, was ich zu ant- worten vermag, ift: nehmen Sie we als Freund, Kg betrachten Sie mic, als een Helfer. Ihr Vertrauen ift mir wie ein Wink von oben. Doc welche Bürgichaft Haben Sie? Welche Ge währ, daß Sie hr Herz nicht einem Unmwür- digen eröffnet haben, der nur beffer zu heucheln verfteht als alle andern? ch hätte Caſpar ent führen können, ich könnte e8 noch —“

„Wenn dies Antlis lügt, Mylord, mit dem Sie hier vor mir ftehen, dann will ich es meinet⸗ wegen für ein Hirngefpinft erklären, Wahrheit auf Erden zu fuchen,” unterbrach ihn Feuerbach lebhaft. „Entführen, Gafpar entführen?“ fuhr

utmütig lachend fort. „Sie ſcherzen; ich möchte dad jedem Manne mwiderraten, der noch

BWarfermann, Gafpar Haufer 18 273

Wert darauf legt, im Sonnenfchein ſpazierenzu⸗ gehen."

Stanhope verfant eine Weile in 1 eagun loſes Grübeln, dann fragte er haſtig: „WW nn ae geſch en? Schnelle Handeln ift —— Wohin mit gu

Er joll hierher nach Ansbach," verfegte Beuibag Tategorifch. terher? Zu Ihnen ?“

u mir, nein. Das iſt leider unmöglich, aus" vielen Gründen unmöj glich. Ich, muß viel allein fein, ich habe viel zu arbeiten, ich bin viel auf Reifen, meine Gefundheit ift erfchüttert, mein Charakter eignet fich_fchlecht zu der Rolle, die ich dabei übernehmen müßte, und außerdem verbietet es die Sache, ein allzu perfönliches Band zu Inüpfen.“

Stanhope atmete auf. „Wohin aljo mit ihm?“ beharrte er.

„Ich werde nach einer Familie Umfrage halten, ha er Erg lege pm geitig ra fitt-

e Unterftügung et," te ent. Ei heute will ich mit ra von Imhoff fprechen und ihren Rat einholen, fie kennt die hieſigen Leute, Seien Sie deſſen ver jert, My— lord, daß ich über den gingling, ma werde mie über mein eignes Kind. Die Nürnberger Schwabenftreiche find zu Ende. Daß ich Ihrem Verkehr mit Cajpar keinerlei. Schranken ſetze, bedarf nicht der Erwähnung. Herr Graf, pH Haus ift‘ das Ihre. Glauben Sie mir, auch unter der Hülle des Beamten und Richters ji lägt ein für Freundfchaft empfängliches Herz. wird in diefem Land der enges nicht vers wöhnt durch den Umgang mit Männern.”

Nachdem fie noch üchtig über die an Herrn 274

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anzuftellen. Im Gafthof angelangt, ſchloß er fi) ein und machte eine halbe Stunde lang Fecht- Übungen mit dem Florett.

Er unterbrach fi erft, als er von draußen eine Stimme vernahm, die mit dem Kammerdiener unterhandelte, der Auftrag hatte, niemand vorzu⸗ Iaffen. Stanhope lauſchte; er erkannte Di Stimme, nicte gleichgültig, und mit dem Degen noch in ber Hand Öffnete er. Es war Hidel, der auch fofort eintrat und den ihn fhweigend betrachtenden Gra fen etwas verlegen begrüßte,

Nach feinem Begehr gefragt, räufperte er fich und ftotterte ein paar unzujammenhängende Flos⸗ teln, aus denen hervorging, daß er um den Beſuch Stanhopes bei Feuerbad) mußte. Sein Benehmen verriet troß einer unangenehm wirfen- den Kriecherei eine nicht zu faflende freche Ver— traulichkeit.

Stanhope verwandte feinen Blick von dem aufgeregten Mann in der kleidſamen Uniform.

„Was hatte es eigentlich zu Bebeuten, vo Sie mir F einer Zuſammenkunft mit dem Herrn * enten Ihre Hilfe anboten ?" er froſt

Der Herr Graf haben ſich F er meine Hill y gefallen laſſen,“ ermiderte Hicel, Er ob der Staatsrat ohne mich zu haben ges we wäre, er verfteht es, fich zu verfchanzen. Der Here Graf geruhen das nicht anzuerkennen. Je nun," fügte er achjelgudtend Hinzu, „große Herren haben ihre Launen.“

„Wie fommen Sie denn überhaupt dazu, fich zum Zwifchenträger anzubieten?"

‚„Bwilchenträger? Der Herr Graf legen meiner unjchuldigen Zuvorfommenheit ein zu großes Gewicht bei."

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hoff zum Tee erfcheinen und fragte den Polizei⸗ leutnant, ob er ein Stück Wegs mitfahre, Sb wohl aus der —* der Wunſch einer Ablehnung Hang m m Hickel, dem es darum zu tun mar,

em Lord öffentlich gefehen zu werden, das Anerbieten dankbar an.

Die Straßen waren jetzt etwas belebter als am Mittag; die alten Beamten und PVenfioniften machten um diefe Stunde ihren täglichen Spagter- gang über die Promenade. Viele blieben ftehen En gegen das Innere der hocherlauchten

m paſſierte es, daß an einer Straßenecke der Mann auf dem Bod wieder einmal fein welſches Gefchrei ertönen ließ; es fand nämlich mitten auf dem Fahrdamm ein träumerifch wollen⸗ wãrts guckender Herr, der von dem Herannahen der gräflichen Karofje keine Notiz zu nehmen Fra öchft erſchrocken er beiſeite, als der Elſaſſer zu fluchen be och nicht fehnell genug, nicht jeine Teider duch, den Kot

eſchmutzt wurden, der von den Hufen der Pferde und den Rädern aufſpritzte.

Hickel bog den Kopf zum Fenſter hinaus und geiente, denn der Vefubelte ftand mit einem ver- usten und unglücklichen N hielt die Arme vom Fe und jah fih die Beſcherung an.

Wer ift der ungeſchickte Mann?" erkundigte I Stanhope, | die Schadenfreude des Polizei⸗ leutnants verdroß.

„Das? Das hi der Lehrer Duandt, Mylord." Eigner Zufall; eine halbe Stunde ſpäter wurde ei Frau von Imhoff derfelbe Name ge- nannt. Der Präfident und feine Freundin waren nad) langen Beratungen übereingefommen,

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drei hohe Fenfter gewährten Ausficht gegen den Garten. Der Raum war wohnlich geihmüdt, aud bier alles von der größten Nettigleit. In einer Art von vertiefter Niſche Bing ein gutes Delbild Napoleon Bonapartes im Krönungsornat; Stanhope betrachtete es mit vorgeblichem Intereſſe; in Aeitligteit prüfte er aufmerkſam das Weſen und Gehaben des Lehrers.

Quandt war mittelgroß und hager; über der hohen Stirn waren tabaksgelbe Haare mit Hilfe von Pomade ganz lächerlich glatt zurückgefämmt. Die Augen biiekten ſchüchtern, faft betrübt, und blinzelten bisweilen, die Hakennaſe ſtach ein wenig

ahlerifch in die Luft, der Mund, verſteckt unter jemütigen und zerbiffenen Schnurrbarttoppeln, hatte einen fäuerlichen Bug, der die Berufs: gewohnheit vielen Nörgelns verriet.

Der Lord war nicht unzufrieden mit dem Ergebnis feiner Beobachtung; er fragte den Präfidenten, ob die Verhandlungen aum ge⸗ wünſchten Ziel geführt hätten, und als dieſer be- jahte, wandte er fi an Quandt, reichte ihm ſtumm dankend bie ect und fagte, er werde ihm am Nachmittag feinen Beſuch abftatten. Sehr benommen von folcher Huld, verbeugte fich der Lehrer abermalß tief, machte fein Kompliment gegen den Präfidenten und ging.

Auch Stanhope entfernte fich bald, da Feuer- bach zu einer Gerichtsfigung mußte. Im Hotel angefommen, verbrachte er zwei Stunden mit dem Schreiben eines Briefes, und als er fertig war, ſchickte er den Jäger damit ab. Um halb zwei ftellte fi), wie verabredet, der Polizeileutnant FR IM aßen zufammen und gingen hernach zu

möt,

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Das Häuschen des Lehrers, das am Kronacher Bud beim oberen Tor lag, war auf den Glanz hergerichtet; Frau Quandt, eine frifche, gelttiee junge Frau, mit dem roftfarbigen Seidenkleid wie zu einer Hochzeit angetan, ftand knickſend am Eingang, in der guten Stube war der Tifch mit Ronditorkuchen beladen, und das feine Porzellan- Ki blinkte einfadend auf dem fchneemeißen

ud.

Der Lord war gegen die Lehrerin von väter: licher Freundlichkeit; a fie guter Hoffnung war, wünſchie er Glüd, ein Haͤndedruck bekräftigte feine zarte Teilnahme; er fragte, ob es das erjte- mal fei; das junge Weib murbde purpurrot, ſchüttelte den Kopf und jagte, fie habe ſchon einen dreijährigen Knaben. Als der Kaffee auf- getragen war, gab ihr Quandt einen Wink, fie sing ſtill hinaus und die drei Männer blieben allein.

Stanhope ſagte, noch könne er ſich nicht in den Gedanken einer Trennung von Caſpar finden, aber er ſei enchantiert von dieſer friedlichen und geordneten Häuslichleit und es beruhige ihn un—⸗ gemein, ſeinen Liebling hier untergebracht zu wiſſen. So dürfe man denn endlich hoffen, daß der Unglückliche, an dem ſchon jo viele Pfufcher- hände ——— und der dabei an Leib und Seele Schaden erlitten, einen vettenden Port er- reicht habe.

Quandt legte beteuernd die Hand auf die Bruft.

„Ja,“ —* ſich Hickel ein, indem er den letzten Biſſen Kuchen hinunterſchluckte und Schnurr⸗ bart und Lippen mit dem Handrücken abwiſchte, „das wohl; und e8 muß nun einmal Licht werden um dieſes Kind der Dunkelheit."

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Der Lord runzelte die Brauen, ein Zeichen des Unmillens, das Hidel nicht entging; er lächelte Teer vor fich Hin, nahm aber eine drohende Miene an.

„Leider ift ja Anlaß zum Argmohn vor- handen,” fuhr Stanhope fort, und feine Stimme war tonlos und falt; „wohin man fi auch wendet und wie man e3 auch betrachtet, überall Argwohn und mei, Da iſt e3 fein Wunder, wenn die urjprüngliche Nei ung von Bitterfeit durchtränkt iſt. WIN ich mich gleich dem Tieben- den Gefühl hingeben, fo melden fich doch immer wieder Stimmen, deren Urteil oder Gewicht ge verbächtigen finnlo8 wäre, und der ſchlummernde Zunte des Mißtrauens Löfcht nicht aus."

„Nun alfo,” ließ fich Hickel wieder vernehmen, „jo hab’ ich doch recht! Man muß reinen Tiich machen. Man muß ben binterliftigen Burſchen endlich Mores lehren. Man muß ihm die Mucken aus dem Kopf jagen.“

Stanhope erblaßte; über Hickel hinwegblickend, fagte er hneibenb: „Herr Polizeifeutnant, ich muß mich gegen einen folhen Ton verwahren. Was immer auch gegen den Jüngling zeugen mag, fo ift er doch nur als die mißleitete Kreatur eines unbefannten Frevlers zu betrachten.”

Hickel fenkte den Kopf, und von neuem irrte das leere Lächeln über jein Geſicht. „Verzeihen Eure Lordichaft," enigegnete er haftig und ziem- lich erichtoden, „aber das ift die Meinung der ganzen Welt, zumindeft des aufgeflärten und vernünftigen Publitums. Erſt gejtern war ich Zeuge, wie der Ritter von Lang und der lareer en ſich über den Findling und die Dumm»

eit der Nürnberger geäußert haben. Das hätten 282

der Herr Graf nur hören follen. Wir wiſſen ja dahier auch, es ift von Gerichts wegen befannt jervorden, was der Herr von Tucher über den ndant und die moralifche Verderbtheit des Findlings an Eure Lordichaft gefchrieben hat. Zeigen Sie doch Herrn Quandt den Brief des Baron und er wird fich überzeugen, daß ich nur gejagt habe, was jeder anftändige und vor- urteilsloſe Mann darüber denkt." Und Hidel beftete auf den Grafen einen befremdet⸗forſchen⸗ den Blick.

„Dem ift nicht ganz fo," verfeßte Stanhope abweifend und nippte mechaniſch von ber Kaffee⸗ tafje. „Herr von Tucher ſpricht in feinem Brief nur von einigen übeln Gewohnheiten Cafpars. Au babe Augen; ein liebendes Herz ift nie mals blind; verjteht es —S ſo iſt

‚ihm doch die Gabe der Ahnung eigen. übrigen wollen wir unferm mwürbigen Gaftgeber nicht vorgreifen. An ihm wird es fein, zu richten. Was krumm gewachſen ift, kann er grade biegen, und wenn er mir die häßlichen Gleken von meinem Kleinod nimmt, will ich's ihm fürftlich danten.“

Hickel verzog das Geficht und ſchwieg. Quandt hatte mit gejpannter Aufmerkjamkeit das Geſpräch verfolgt. Wozu der Wortftreit? dachte er; als ob es nicht die Teichtefte Sache von der Welt wäre, zu erkennen, ob einer ein Spigbube ift. Man muß die Augen offen halten, das HE alles; der Gute ift gut, er Böſe ijt bös, wo liegt da die Schwierigkeit? Ein Uebel auszurotten, wenn es ſich nicht zu tief eingefreffen hat, ift nur eine Frage der Zatkraft und Umficht. Aber mir fcheint, mix fcheint, meditierte der Xehrer in feinem

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ſtillen Sinne weiter, da find noch ganz andre Dinge verborgen, die Herren reden nicht von der

Und d Bamit traf er wohl das Richtige, wie fich bald ermeifen follte. Er entwidelte dem höflich guhörenben 1 Lord feine Anfchauungen über Moral, über den Verkehr mit Menfchen, den Umgang mit Schülern, die Notwendigleit der Aufmun- terung, den Wert der Zenfur; alles ein wenig umftändlih und verflaufuliert, aber einfach, ftaunenswert einfach; nur die egrgenvolle Miene ab einen Anſchein von Schwierigteit und Philo-

ſophie. Der Lord nickte ein paarmal mit dem Ba, während Hickel entjchiedene Zeichen von

ingeduld von ſich gab. Dann beim

Stanhoꝛ Ba von der Frau vera

ihm zu: a Sie a nicht ins ‚Bastshorn es

geſchichte nimmt in abjonderlich Her. & leiſten ihm einen gewaltigen Dienſt, wenn Sie den Schwindler entlarven.“

Das war das Merkwort und der Anſchlag. Es barg den Kern des Komplotts. Nun, Caſpar, ſollſt du in ein kleines Städichen gehen und in ein Meines Haus, ſollſt in jenheit leben, und die Wände der Welt follen Yr verengen,

wieder zum Kerker werden. Gewalt hat

er Lift verbrüdert; der Richter wird richten, he er —— und nicht wiſſen, mas er fühlt. Niedrig ſollſt du werden, damit die Freunde ſich in Feinde verwandeln und deine Einfamteit leichtere Beute des Verfolger fei. Das Blut foll gegen

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zu treiben. Er fpricht, denft und träumt von nicht8 anderm als von der bevorftehenden Reife, und wenn Dinen, Mylord, noch ein Geringes an dem Wohl des unglüdlichen Sünglings gelegen ift, fo vermag ich feinen ftärferen Appell an Ihre Güte zu erheben als den, ein fo drängendes und fruchtlofes Hinweben in möglichfter Bälde zu bes enden. Sie find der einzige Menfch auf Erden, defien Wort und Name no Gewicht in feinen Ohren hat, und fein grenzenloſes Vertrauen gegen Sie muß auch das Herz desjenigen bewegen, der fonft durch die Launen, die Unverläßlichteit und Biitterhaftigfeit des rätjelvollen Weſens eines ehemals intenfiven Attachements für ihn beraubt wurde.

Daumer an den Präfidenten Feuerbadh:

Eure Erzellenz haben mir die Ehre erwiefen, mich um Auskunft über Cafpar Sale nuns mehrige Verfaſſung zu erſuchen. Ich muß_ge: ftehen, daß mich dies einigermaßen in Der- legenheit gejeßt hat. Ich habe mich in ben Ießten anderthalb Jahren wohl gehütet, dem fo jorgfältig Abgefchlofjenen nahezutreten, weil ja ierzulande jeder ängftlic bedacht ift, fein kleinſtes Privileg vor fremdem Einfpruch zu wahren, und fo wird ein Intereſſe, das die Menjchheit angeht und jeben freien Geift in Mitleidenfchaft ziehen muß, unverjehens zur Angelegenheit einer Partei. Eure Exzellenz möge diefe Infinuation entſchul⸗ digen, fte möge lediglich für meine unerlofchene Teilnahme an dem Los bed Findlings zeugen, das feinen Freunden heute weniger als je Anlaß zu Abertribenen Hoffnum en gibt. Die vertrauend- volle Zuſchrift Eurer ‚ellenz hat meine Be— 286

denklichkeit befiegt, ich habe Gafpar letzter Tage im Zucherfchen Haus aufgefucht, er ift auch, zum erſtenmal feit langer Beit, bei mir geweſen, und ich gebe Ihnen hier einige Mitteilungen über ihn, die, wiewohl allgemeiner Natur, doch das Be fondere feiner gegenwärtigen Lage erhellen. Caſpar ift ein hochaufgefchoffener junger Mann geworden, der jet gut und gern den Eindruck eines etwa Smeiundgrangigjähel en macht. Träte er, der nun dem gelitteten Menſchen von Lebens- art zugerechnet werden muß, unerfannt in eine Gefellichaft, fo würde er doch als eine befremd- liche Erſcheinung auffallen; fein Gang hat etwas von dem Furchtſam⸗ Zaudernden und Vorfichtigen einer Rabe; feine Züge find weder männlich noch £indlich, weder jung noch alt: fie find alt und jung zugleich, befonder8 auf der Stirn verraten einige leicht geaogene Furchen feltfam ein vor» eitiges Altern. uf feiner Lippe fproßt heller Beartflaum, dies ſcheint ihn oft Sejongen zu machen, will auch nicht zu der janften Mädchenhaftigteit des Geficht3 und den noch immer bis zur Schulter hängenden braunen Haarloden ftimmen. Seine Freundlichkeit ift herzgewinnend, fein Exnft be⸗ dächtig, über beiden ſchwebt ftet3 ein Hauch von Melandolie. Sein Benehmen ift altklug, hat abex eine vornehme, ganz ungezwungene Gravität. Tölpelhaft und ſchwerfällig find bloß noch manche feiner Gebärden, auch feine Sprache ift hart und te Worte find ihm nicht immer bereit. Er liebt es, mit wichtiger Miene und in anmaßendem Ton Dinge zu jagen, die bei jedem andern läp⸗ piſch Hängen, aus feinem Mund jedoch fich ein ſchnierzlich⸗ mitleidiges Lächeln erzwingen; jo ift es höchft poſſierlich wenn er von feinen Zufunfts- 287

plänen ſpricht, von der Art, wie er ſich einrichten wolle, wenn er was Rechtes gelernt, und wie er es mit feiner Frau halten wolle. Eine Frau betrachtet er als notwendigen Hausrat, als etwas wie eine Obermagd, die man behält, folange fe e taugt, und fortſchickt, wenn fie die Suppe verfi ober bie Hemden nicht ordentlich flidkt.

Sein immer fi ‚gleichbleibenbes ftiltes Gemüt ähnelt einem fpiegelglatten See in ber Ruhe einer Mondſcheinnacht. iſt unfähig zu geleibigen, ex kann feinem Tier weh tun, er ijt barmherzig gen den Wurm, den er zu zertreten fürchtet.

liebt den Menfchen; jedes Menfchengeficht wird ihm zum Götterantlig,, und er fucht den ganzen Himmel darin. Nichts Außerorbentliches it mehr an ihm als das Außerordentliche feines Schickſals. Ein reifer Jüngling, der keine Kind» beit bejefien, die erjte Jugend verloren, er weiß nicht wie, ohne Vaterland, ohne Heimat, ohne Eltern, ohne Verwandte, ohne ne aan ohne Freunde, gleichfam das einzige Geſchöpf feiner Gattung, erinnert ihn jeder end jeine Einſamkeit mitten im Gemwühl der ihn ums drängenden Welt, an feine Ohnmadt, an feine Abhängigkeit von der Gunft und Ungunft der Menfchen. Und fo ift eigentlich all fein Tun nur Notwehr; Notwehr feine Gabe zu beobachten, Notwehr "ber um! ſichtige © aufbtie womit er jebe Beſonderheit und Schwäche des andern erfaßt, Notwehr die Klugheit, womit er feine Wünfche ‚anbringt und den guten Willen feiner Gönner fih dienftbar zu machen weiß.

Ja, Eure jellenz, er ift ohne Freunde, Denn wir, die wohlwollen, ihn vor ber gröbften Bedrängnis des Lebens bewahren, wir 288

find doch nur Zufchauer vor dem Ungeheuern - feiner Exiſtenz. Und jener vielberedete Mann, Graf Stanhope, darf er in Wahrheit Caſpars Freund genannt werden? Was dürfen wir lauben? Wo findet der begründete Zweifel tillung? Mir ahnt Schredfliches, wenn ich der Erwartungen de3 Jünglings in bezug auf den Grafen denke, der ein Heiliger, ein Obnegleichen fein müßte, wenn ſich alle Verſprechungen erfüllen würden, die mit feinem Auftreten für Gafpar verbunden waren. Und erfüllen fie fich nicht, erfüllt fich nur ein Hundertſtel von ihnen nicht, jo prophezeie ich ein böje8 Ende. Denn ein jolches Herz, aus der Tiefe emporgehoben zum Leben der Welt, aus äußerſtem Frieden den aus: ſchweifendſten Lockungen erjchloffen, will alles, fordert das ganze Maß de3 Glüd oder muß, nur um ein weniges betrogen, einer ungemefjenen Devaftation anheimfallen.

Ich geitehe, daß mein ſchwarzſichtiges Tempera- ment mehr al3 das immer unverhohlener werdende Gerede der Hiefigen mir die Kühnheit zu folchen Erwägungen gibt; wie dürfte fich auch mein Miß- trauen an einem fo hochgeftellten Mann vermefjen. Aber man fpricht feit heute davon, daß Cajpar nah Ansbah in Pflege kommen folle. Frau Behold, die alte Feindin Caſpars, trägt das Gerücht in der Stadt herum und verfündet über- all mit Schadenfreude, daß aus ber englifchen Neife und aus den Luftichlöffern des Sraren nicht? gemorden fei. Wie mir meine Schweſter erzählt, habe die Magiftratsrätin indirekte Nach- richt von der Lehrerin Quandt erhalten; beide Frauen find Jugendfreundinnen und in demfelben Haus mitfammen aufgewachſen. Gott verhüte,

Waffermann, Gafpar Haufer 19 289

"daß Gafpar von diefem Geſchwätz etwas erfährt.

wäre Eurer Erzellenz jehr zu Dank ver pflichtet, wenn Sie mir darüber genaue Auskunft berichten ließen, damit ich dem ungereimten Ge— Mathe jo entgegentreten Tann, wie es für das Wohl unfers Schüslings wünſchbar ift.

Feuerbady an Heren von Tucher:

Dem Verlangen Euer Hochgeboren wie der eingetretenen Notwendigkeit Rechmun tragend, teile ich Ihnen Hierdurch mit, da| & Ihres Amtes als Vormund Caſpar Hauſers von heute ab enthoben ſind. Eine gleichzeitige Urkunde des Kreis und Stadtgerichtes wird Spnen dies in amtlicher Form befanntgeben, wie auch weiter hin die Verfügung, daß Caſpar dem Grafen Stanhope zu überlaffen ſei; freilich einftweilen nur der Form nach, denn biß die jchmierigen und verwidelten Verhältniffe eine Aenderung erlauben werden, fol Caſpar in der Familie des Lehrers Quandt Aufnahme finden; Lord Stanhope bat während diefer Zeit für feine zweckmäßige Er⸗ siehung und Verpflegung zu forgen, ich jelbft werde in Abmefenheit des Pflegevater über das Wohl des Jünglings wachen. Am fiebenten des Monats wird der Öendarmerieoberleutnant Hictel bei Jhnen eintreffen, ein energifcher Beamter, der duch Regierungsdelret zum pepialkurater für die Heberfiedlung Cafpar3 nad; Ansbach beftellt iſt. Seine Lordihaft, Graf Stanhope, hat fich in letzter Stunde entichloffen, einer Handlung, die in den Augen des Publikums einen durchaus amtlichen Charakter tragen ſoll, fernzubleiben, und diefer Vorſatz hat meine volle Bilfigung. Ich fehe keine Schwierigkeit darin, Gafpar von 290

der veränderten Lage der Dinge zu unterrichten, und halte die Beforgniffe wegen diejes Punktes für übertrieben. Ich jelbft werde diefer Tage eine längft vorbereitete Reiſe nach der Hauptftadt antreten, ich hoffe bei biefer Gelegenheit eine günftige Wendung in den Lebensumftänden Caſpars endgültig herbeizuführen.

Baron Tuer an den Präfidenten Feuerbach: Eurer Erzellenz die untertänige Nachricht, daß der plößliche Tod meines Oheims mich zwingt, die Stadt zu verlaffen_und nad) Augsburg zu zeifen. Ich babe die Obforge für den noch in meinem geufe weilenden Caſpar Herrn Bürger- meifter Binder und Herrn Profeſſor Daumer übergeben und e3 ihnen anbeimgefiett, Caſpar ier zu belaſſen oder für die reſtliche Friſt feines ufenthaltes in der Stadt zu ſich zu nehmen, Eine Mitteilung über das Bevorjtehende oder auch nur eine Andeutung ift von meiner Geite aus gegen den Jüngling noch nicht erfolgt, und ich muß ohne Hehl befennen, daß mich eine ges wiſſe unbejiegbare Furcht davon abhält. Caſpar glaubt noch jteif und feſt daran, Bap er mit jeinem erlauchten Beſchützer nach England oder Stalien reifen ſoll, ihm erjcheint eine, wenn auch nur zeitweife Entfernung von dem Grafen als eine Sache der Unmöglichkeit, und derjenige, der ihm eine folche Kunde überbringt, müßte eine göttliche Ueberredungskunſt befigen, um ihn mit den neuen Umftänden zu verjöhnen. Meinem unmaßgeblichen Erachten nad ift e8 ein Fehler, den Knaben wiederum in enge Verhältniffe zu bringen, die ihn niemal® werben befriedigen, feinen Durft nach Leben und Betätigung nicht 291

werben ftillen können. Der Hang feiner Ideen bat eine verhängnisvolle Anmaßung gewonnen, er ift dem Kreis frieblicher Buͤrgerlichkeit ent wachen, fein Lerneifer in ben vergangenen Monaten war gleih Null, alle feine Gedanken, fein ganzes Streben ift auf den Lord gerich- tet, und wenn nun Graf Stanhope von ihm gehen wird, dann bin ich ficher, daß er einen unglüdlihen Gefellen, ein unnützes und be dauernswertes, aus jedem fozialen Bufammen- hang gelöftes Glied der menfchlichen Gefell- {haft zurädlafien wird. Wenn es der eigent- liche Wefenszug der Fürftenkinder wäre, daß fie dem privaten Leben untauglih und hilflos gegen- überftehen, dann allerdings wäre Gafpar ein Aus- erwählter unter den Prinzen. Vielleicht aber ſchmiedet ihn das Schickſal noch, und es wird ein Mann aus ihm, der eine Krone zu erwerben vermag, wenn es auch eben feine Fürſtenkrone iſt. Für mid ift die Epifode Caſpar Haufer nunmehr abgejchloffen, und was auch immer ich an Enttäufchung und Bitterfeit daraus gewonnen habe, fie hat mir einen Einblid in Menſchenwahn und Menjcengefchäfte gegeben, den ich für mein ferneres Leben nicht mifjen möchte. So muß eben jeder auf feine Weiſe bezahlen.

Daumer an den Präfidenten Feuerbach:

Ich fühle mich verpflichtet, Eurer Erzellenz von den Ereigniffen der legten Tage eine wahr- heitögetreue Darftellung zu machen, infomweit eben Wahrheit auf zwei Augen ruht.. Vielleicht klingt viele8 von dem, was ich zu berichten habe, jo ungewöhnlich, daß ich mich fragen muß, ob ein Mann, der den übeln Auf eines nicht ganz 292 .

nüchternen Kopfes genießt, die geeignete ‚Perfon Eh ſolche Aa en en Gas Ir Mr ge Einfiht Eurer lenz ‚babe ich no: am wenigften zu fürchten; wenn ich fachlich bin, wird bie Sache ſich felber bean und meiner Hand bleibt nur die Aufgabe, die Reihenfolge der Begebniffe feftzuhalten, mas freilich nicht immer ganz leicht fein mag,

Vor vier Tagen bejuchte mich Herr von Tucher und teilte mir mit, daß er wegen eines Todes» falles verreifen mäffe, Schon vorher hatte er mich wie auch Heren Binder gebeten, die Aufficht über Cafpar zu führen fo lange, als der Jüng⸗ ling nod in Nürnberg bleiben müfle. Da mir dies befremdlich erfchienen war, ließ von Tucher durchblicken, die an höherer Stelle beliebte Umgehung feiner Perfon mache ihm ein folches

andeln zum Gebot. Er meinte das Schreiben jellenz, durch welches ich, Halb wider Willen, bewogen wurde, Caſpar sufnfuen und mich neuerdings mit ihm zu befchäfti Dies hatte der von Tucher fehr übel au nommen. gab mir feine Mühe, den ftolzen Mann andern Sinnes zu machen, auch vermute ich zu feiner Ehre, daß dies Betragen noch eine ernftere, menſchliche Regung habe, denn als ich ihn fragte, ob er Cafparn ſchon eine Andeutung über die zu erwartende Ankunft des Polizeileutnants Sidel gemacht, wich er aus und gta mete haftig, er wolle dies mir überlafjen, der ich doch di ge winnenberen Burebens fähig jei und bei Gafpar mehr Vertrauen genieße. Am Nachmittag beſchloß ih, zu Cafpar zu gehen. Als ich in fein Zimmer trat, las er die Hriftliche Andacht des Tages, Er Shaute heiter 293

von dem Buch empor, blickte in mein Geficht und, Seltfameres ift nicht zu denken, im Nu überzogen fi) feine Wangen mit leichenfahler Bläſſe. Es war mir ſchwul um die Bruft, ich ſetzte mich auf einen Stuhl und ſchwieg ängflic. Ganz und gm vergaß ich die übernommene Rolle, ich fühlte loß mit ihm, ich ſah, daß er alles, was ich ihm zu jagen hatte und weswegen ich gefommen war, von meinen Augen abgelefen hatte, die unbemußte

rcht mußte wohl in feinem Innern gejchlummert jaben, anders Tann ich e3 auf natürlichem Weg nicht erklären, ich fühlte, wie plößlich die Wurzeln feines Herzens aufgeriffen wurden. Er erhob fich, er ſchwankte, ich wollte ihn halten, er gewahrte mic) faum, er jchien völlig betäubt. Ich folgte ihm bis zum Bett, er warf fich darauf hin, Frümmte den Körper und fing in einer ſolchen Weife zu weinen an, daß mir das Mark in den Anochen

or.

Noch war nichts gefchehen, es konnte noch alles gut werben; fo bildete ich mir ein und ließ e3 an tröftlichen Worten nicht fehlen. Das Weinen dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Dann erhob er fih, jhlih in den Winkel, fauerte hin und bedeckte das mit den Händen. Sch redete unabläffig in ihn Hinein, ich weiß nicht mehr, was ich alle8 vorbrachte. Gegen ſechs Uhr abends verließ ich ihn, und obgleich er bis dahin noch nicht einmal den Mund aufgetan, dachte ich mir, er werbe mit der Gefchichte ſchon fertig werben. Ich empfahl dem Diener, fich bisweilen nad Cajpar umzufehen, und im ftilen nahm ich mir vor, nad ein paar Stunden wieberzulommen, aber e3 war unausführbar, meine Berufsarbeit nahm mich bis in die Nacht in Anſpruch. Als 294

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einmal über die verbunfelte Seele heraufzu- bejchwören; was mic entſchuldigt, ift, MN) felber ja kaum mit Klarheit wußte, was im war, und daß mich die zermalmende Wirkung von etwas vollftändig Unausgefprochenem, deren Zeuge war, mehr lähmte und erfchütterte al3 das iffen darum. Doch will ich Eure Erzellenz nicht durch Betrachtungen verwirren und hübſch in der Ordnung bleiben.

Ich hatte Ghon zuviel Zeit verloren, ich mußte fort. Nach vieler Mühe war e3 mir ge» lungen, Caſpar zu überreden, daß er fi ein biß nieberlege, auch hatte er mir verſprochen, mittags bei uns zu eflen; das war mehr als ich erwarten durfte, ich ging alſo berubigter meinen Geſchäften nach, war um Halb eins wie gemöhn- lich zu Haufe, wir warteten einige Beit, aber wer nicht kommt, ift Caſpar. Ich vermutete, er fei eingefchlafen, denn daß er die Nacht über nicht ein Auge geichlofien, hatte ich ihm angefehen, und ohne böfe Gedanken ging ich um zwei Uhr wieder ins Gymnaſium mit dem Vorſatz, beim Vachhauſeweg in der Hirſchelgaſſe nachzuſchauen. Das tat ich auch, es war halb fünf und dämmerte ſchon ftart, als ich am Tucherhaus war, aber wie wurde mir, al3 mir der Pförtner mitteilte, Caſpar babe ſchon um zwölf Uhr das Haus verlafien und angegeben, er ‚gebe zu mir. Ich war wie vor den Kopf gefchlagen; neben aller Verant⸗ wortlichkeit durfte ich auch die begründetite Sorge für den armen Menfchen hegen; ich lief in meine Wohnung, da hatte fich fein Gafpar bliden laſſen, ich ſchickte die Schwefter zum Bitegermeilter, die alte Mutter fogar machte fich auf die Beine, um bei einigen Bekannten nachzufragen; während» 296

Antli verriet nichts als einen unbeweglichen, gar nicht einmal fchmerzlichen, fondern ftarren, faſt ftupiden Ernſt. Meine Mutter fuhr fort, in ihn zu dringen, er folle doch jagen, wo er herfomme und wo er geweſen ſei. Da fah er uns alle der Neihe nach an, jchüttelte den Kopf und faltete bittend die Hände.

Wir beredeten und nun, daß Caſpar in un⸗ ſerm Haufe bleiben und da übernachten folle; wir hatten, um das Auffehen wegen Caſpars Verſchwinden gleich wieder zu erftiden, die Magd zum Bürgermeifter gefchiett, auch zu den andern Leuten, die wir ſchon inkommodiert hatten, und meine Mutter ging in die Küche, um fürs Abend- efien zu forgen, da erſchien der Tucherfche Diener, erfundigte ji), ob Caſpar bei ung fei, und als wir die bejahten, fagte er, ex folle gleich nach Haufe, der WBolizeileutnant Hidel aus Ans- bad) wäre da und Caſpar müfje noch am Abend mit ihm abfahren. Eine folhe Botichaft kam mir nicht weiter unerwartet, nur daß die Sache gar fo eilig fein folle, verſetzte mic, einigermaßen in Wallung, und ich war unüberlegt genug, dem Menſchen eine fcharfe Antwort zu geben; wenn ich mich recht erinnere, fo fagte ich, der Herr BVolizeileutnant möge fich doch gedulden, es fei ja nicht ein Sad Kartoffeln zu erpedieren, den man bolterdiepolter auflade. Meine Erregung muß jedem verftändlich erjcheinen, der das Vor— hergegangene in gerechte Erwägung zieht, es Tamen mir aber doc Bedenken an, ich ärgerte mich nachher über meine Unbejonnenheit und ver anlaßte den Kandidaten Regulein, daß er ins Tucherfche Haus gehe, um mit dem Herrn aus Ansbach zu ſprechen und ihm tunlichſt aufzu= 298

klären. Das wäre jomeit ganz gut gemefen, nur paffierte dabei die Yatalität, daß der Kandidat, der etwa rebfeliger Natur ift und der froh war, den Fremden mit irgend etwas unterhalten zu Tonnen, dem Heren Polizeileutnant die Gefchichte von dem Verſchwinden Caſpars brühwarm hinter- brachte, woraus fich denn fpäter der peinlichite Auftritt ergab.

Es war ſchon fieben, als das Efjen auf den Tiſch gefegt wurde, der Kandidat war noch nicht zurüd, wir nahmen alle Pla und waren nun wieder einmal, wie in früheren Zeiten, mit Caſpar ganz unter und. Aber wie anders waren die Zeiten, wie anders Caſpar! Ich mußte mic den Menjchen beftändig amjehen, wie er mit niebergefchlagenen Augen daſaß und Luftlos in der Grüße löffelte. Seine Blicke waren jest un- ruhig und bisweilen überlief ein Schauber feine Haut. Lange konnte ich mich folchen tungen nicht überlaſſen, denn gegen viertel acht wurde mit ſonderbarer Heftigfeit an der Haus- glocte gerifjen, Anna lief hinunter, um zu öffnen, und alsbald erjchien ein Offizier in Gendarmen- uniform, und bevor er noch feinen Namen nannte, wußte ich natürlich, wer e8 war. Cafpar war bei dem grellen Glodenlärm ſtark zujammen- gefahren. Hinzufügen muß ich noch, daß die vorher erwähnte Auseinanderfegung mit dem Diener jowie das Gefpräch mit dem Kandidaten im Flur vor der Treppe ftattgefunden umd Caſpar nichts davon gehört hatte; er erhob fich jegt und fchaute mit einem langen Blick gegen die Türe, und als er des Herrn Sofigeifeutnants anfichtig geworden, wurden feine Wangen wieder genau jo tödlich fahl wie tags zuvor, da ich in

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fein Zimmer gelommen war. Ich kann mir, wenn ich die Tatfachen im Zufammenhang gegen« einander halte, feine andre Erklärung denken, als daß Cafpar alles das, was fih nun feit vierundzwanzig Stunden abfpielte, von innen aus erriet, fozufagen durch ein inneres Geſicht, und daß er der äußeren Beftätigung durch die Er— eigniſſe gar nicht mehr —— denn es gab ſich eine Verſunkenheit an ihm kund, die ich nur mit der ſchrecklichen Ruhe eines Schlafwandlers ver⸗ gleichen kann. Ich ſelbſt war nachgerade fo be⸗ nommen, daß ich, wie ich fürchte, Herrn Hickel mit einer unfreundlich wirkenden Kälte empfing. Glücklicherweife fchien diefer Leine Notiz davon zu nehmen, und nachdem er fich gegen meine Damen verbeugt, wandte er ſich an Caſpar und fagte mit einem Ton der Ueberrafchung, der freis lich nicht ganz aufrichtig Hang: „Das ift alfo der Haufer! ft ja ein ganz ausgemachfener Menjch, mit dem wird fich ja reden lafjen!" Cafpar ſchaute den Mann groß an, und zwar mit einem finfter prüfenden Blick, in dem durchaus nichts Wehleidiges ober Jämmerliches war. Es ent ftand nun ein alljeitiges Schweigen; ich über- legte mir, wie ich es anftellen könnte, damit Ca- par die Nacht über noch in meinem Haufe bleiben önne, denn in feinem Buftand ihn einem Frem- den zu überlafjen erjchien mir unratfam. Ich erflärte mich Herrn Hickel mit offenen Worten, er hörte mich ruhig an, fagte aber dann, er habe gemefjenen Auftrag, Cajpar gleich mitzunehmen, es fei feine Zeit zu verlieren, die Sachen müßten noch gepadt werden und der Wagen Rebe ſchon bereit. Meine Schweſter Anna, unbändig wie fie ift, vief mir zu, ich folle mich darum nicht 300

kümmern, zugleich trat fie, wie um ihn zu ſchützen, an Caſpars Seite. Herr Hickel lächelte und fagte, wenn uns fo viel an einem Auffchub gelegen ſei

aus, al3 es die ärgſte weftrhtung malen konnte. Beſonders die letzten Worte des Leutnants hatten mich wie auch meine Angehörigen mit Schrecken erfüllt. Was ſollten wir von der Zukunft Caſpars denken, was von feinem Glüc erhoffen, wenn Drohungen von fo brutaler Art unverhüllt auftreten durften? Das Herz war mir fehwer geworden. * Doch war zu grübeln nicht die Zeit. Ich beſchloß, zum Bürgermeifter zu gehen und mich mit ihm zu beraten. Anna hatte auf dem Sofa ein Lager bereitet, fie —* Caſpar hin, er ſank nieder, und kaum ruhte ſein Kopf auf dem Kiſſen, fo ſchlief er auch ſchon. Indes ich mich zum Fortgehen anſchickte, läutete es, und Herr Binder tam jelbft. Ich verftändigte ihn in Eile von dem VBorgefallenen, er war höchlichſt befremdet von dem Auftreten des Ansbacher Herrn, und da er e3 für tunlich hielt, mit diefem felbft zu ſprechen, forderte er mich auf, ihn zu begleiten. Wir überliegen Caſpar der Obhut ber Frauen und gingen in die Hirfchelgaffe. Es hatten fich trog der Abendftunde eine Menge Menfchen Kg nr Fer der ae Zozuage he dem Tucherjchen Haus eingefunden, die, ich wei nicht durch welche Umftände, von der bevor- ftehenden Abreife Caſpars unterrichtet waren und eis | laut, teil murrend ihre Mißbilligung aus-

en.

AL wir die Tür von Cafpar3 Zimmer ges öffnet Hatten, bot fi uns ein fonderbarer An- blick. Die Kommodeihubladen und Schränte waren vollftändig ausgeräumt; Wäſche, Kleider, Bücher, Papier, Spielwaren, alles lag wäft auf dem Boden und auf Stühlen, und Herr Hidel kommandierte den Diener, der damit begonnen 302

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zu nehmen. Herr Hicel verfeßte, das fei uns möglich, er habe ftriften Befehl und müffe auf feiner Anordnung beftehen. ir waren ratlos,

Der Polizeileutnant hatte Bi auf den Tiſch⸗ rand gejest und blickte und Schweigende ſpöttiſch⸗ erwartungsvoll an. Da vernahmen wir Schritte, und als wir und ummandten, die Türe ftand offen, jahen wir Caſpar und hinter ihm meine Schweſter. Anna_flüfterte mir zu, Cafpar fei kurz nad) unferm Fortgehen erwacht, er habe er- ärt, mit dem fremden Mann gehen zu wollen, und fich durch feinen Einwand zurüchalten laſſen; jo habe fie ihn denn begleitet.

Caſpar ſchaute ſich forſchend um, dann fagte ex, zu Herrn Hickel gewandt: „Nehmen Sie mich nur mit, Herr Offizier. Ich weiß fchon, wohin Sie mich bringen wollen, ich fürcht' mich nicht.“ Es war in diefen Worten, jo wenig Bejonderes fie enthielten, ein wunderbarer Antrieb und das, was man Haltung nennt, und ich kann nicht ver eg daß ich durch fie aufß tieffte bewegt wurde.

hätte viel darum gegeben, wenn ich Cafpar jest eine Stunde lang für mich allein hätte haben Tönnen. Der Herr Polizeileutnant verbarg feine Freude über die unvermutete Wandlung nicht und antwortete lachend: „Na, fürchten, Saufer! Warum nicht gar! Es geht ja nicht nad Sir birien!" Er näherte fih nun dem Jüngling, legte beide Hände auf deſſen Schulter und fragte: Seht feien Sie einmal ganz offen, Sauer, und ‚lagen Sie mir ohne Umſchweife, wo Sie den Nachmittag über gefteckt Haben?“ Cafpar ſchwieg und bejann 5% ann entgegnete er bumpf: „Das Tann ich Ihnen nicht fagen." „Ja wie denn, was denn, was foll das heißen, heraus

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mit der Sprache!" rief der Leutnant, und Caſpar darauf: „Ich hab' was eu „a, was i eg." „Bum

jeinen fei. Die Zunächftitehenden ftießen drohende Neden aus, Herr Hidel forderte vom Bürger- meifter, daß er die Wache aufziehen laſſen folle, doch eine ſolche Maßregel erklärte diefer für über- flüſſig, und in der Tat genügte fein bloßes Er— ſcheinen, um die Ruhe wiederherzuftellen.

As Caſpar zum Wagenfchlag trat, rannte alles zuhauf, jeder wollte ihn noch einmal jehen. Die Fenſter der gegenüberliegenden Häufer waren erleuchtet und Frauen winkten mit Tüchern herab. Die Kiften und Vachen waren aufgebunden, der

Baffermann, Gafpar Haufer 20 305

Kutſcher fchnalzte, die Pferde zogen an und fort war er.

Hebergeugt, daß Eure Erzellenz zu den wenigen aufrichtigen Öönnern bes Sünglings gehören, fühlte ich mich im Innerſten gedrängt, Ihnen über dieſe Vorfälle genauen Vericht zu erftatten. Nur einige Stunden find feit den erzählten Begebenheiten verflofien, e3 ift weit über Mitternacht, die Feder will meiner Hand entfinten, aber ich durfte feine Feift verftreichen lafjen, um nicht felber zum Falſcher meiner Erinnerung zu werden. Wo die Verleumdbung jo unermüdlih am Werk ift, foll auch der utgefinnte eine Nachtwache mic heuen, wenn er zu fürchten bat, daß ihn der bloße Schlaf nur um eine Linie von der Deutlich teit feines Erleben betrügen könnte. Vielleicht

inden Eure Exgellenz, daß ich die Dinge: faljch eute oder in ihrer Wichtigkeit überſchätze. Mag fein, ich habe jedoch meine Pflicht erfüllt und bin mir feiner Verjäumnis bewußt. Sch trage ſchwere Sorge um Caſpar, ohne daß ich ganz zu jagen ver⸗ möchte weshalb, aber ich bin nun einmal als Geifter- und Gefpenfterjeher auf die Welt gekommen, und Fe Auge fieht den Schatten früher als das icht.

Nicht vergeſſen will ich zum Schluß die Er- mwähnung, daß mir Here von Tucher bei feinem Iegten die hundert Goldgulden übergab, die Caſpar vom Herrn Grafen Stanhope geſchenkt erhalten. Ich werde die Summe mit nächſter fahrender Poft an Eure Erzellenz überfchiden.

Frau Behold an Frau Quandt:

Werte Frau, excusez, daß ich mich jchriftlich an Sie wende, was Gie ertraordinaire finden 306 .

werden, da ich Ihnen doch im ganzen fremd bin, obwohl Sie in meiner Eltern Haufe Ihre Jugend verlebten. Mit großem Etonnement vernehme ih, daß der Caſpar Haufer nunmehr in Ihrem Sem weilen wird, und ich fühle mich gedrungen, ‚nen zum Belehr etwelches über den Sonder- ling zu eröffnen. Sie wiſſen body‘, daß der SHaufer das Wunderfind von Nürnberg war. ob und Verhätfchelei hätten bei einem Haar den Rnaben zum Narren gemacht, es ift eben ein tolles Volk dahier. In ſolchem verderbten Zu- ftand haben wir ihn aus reinem driftlihem it⸗ leid und, ich ſchwöre, ohne jede Nebenabſicht zu und genommen. Bei aller Tollheit haben die andern doch vor dem vermummten Kerl mit dem Beil Angft gehabt, wir aber fürchteten nichts, und der Haufer wurde bei ung mie ein Kind geliebt und eftimieret. Uebel ift ung das gelohnt worden; feine Erfenntlichkeit vom Haufer, und noch dazu die böfe Nachrede feines Anhangs. Wieviel ärgerliche Stunden, wieviel Verbruß er und ducch feine entjebliche Lügenhaftigteit be= reitet hat, davon find alle Mäuler ftumm. Nach- ber freilich hat er alleweil Befjerung gelobet und ward mit feifcher Liebe an unjer Herz gefchloffen, aber fruchten tat es nichts, der Lügengeift war nicht zu bannen, immer tiefer verjan er in diefes abjcheuliche Laſter. Iſt viel Gerede geweſen von feinem keuſchen Sinn und feiner Innocence in allem Dahergehörigen. Auch Hierüber kann ich ein Wörtlein melden, denn ich hab’3 mit meinen eignen Augen gefehen, wie er fi) meiner damals dreigehnjährigen Tochter, heute ift fie in der Schweiz in Penfion, unziemlih und unmiß- verjtehlich näherte. Nachher zur Rede geitellt, 807

wollt’ er's nicht wahr haben, und aus Rache hat er mir die arme Amfel umgebrungen, die ich ihm donationieret. Gebe Gott, daß Sie nicht Ähnliche Erfahrungen an ihm machen; er ſteckt voller Eitelkeit, meine Liebe, voller Eitels teit, und wenn er ben Gutmäütigen agieret, ift der Schalf dahinter verborgen, und fo man ihm den Willen bricht, ift es mit feiner Katzenfreund⸗ lichkeit am Ende. Wieviel wir auch durch fein deteftable8 Betragen zu dulden hatten, Undank und Galomnie, aus unfern Lippen ift eine Klage gefahren, denn warum, man hätt’ ihm auch dann die Wahrheit nicht mehr glauben können, und ein Betrüger ift er nicht, nur ein armer Teufel, ein fehr armer Teufel. Ihnen und dem Herrn Gemahl glaube ich Hingegen einen Gefallen zu erweifen, wenn ich die Dede Lüpfe, unter ber er feinen Unfug treibet; der gegen ihn fo gütig ge finnte Graf Gtanhope wird gewiß bald zu der ſchmerzlichen Entd un elangen, daß er eine Schlange an feinem fen nähret. Wäre der Here Graf nur zu mir gelommen, dieſes aber hat der Pfiffikus Haufer hintertrieben, und aus guten Gründen. Seien Sie nur recht wachjam, ute Frau; er hatte alleweil Heimlichkeiten, bald $, bald dort verſteckt er was in einem Winkel, das läßt auf nichts Gutes fchließen. Und nun bitte ich Sie oder den Herrn Gemahl, mir in einiger Zeit Nachricht zu geben, wie fih Ihr Bögling produzieret und was Sie von ihm halten, denn ohneracht alles Gejchehenen nimmt er doch ein Plägchen in meinem Herzen ein, und ich wünſche nur, daß er tätig an feiner Selbft- befferung arbeite, ehe er in die große Welt entrieret, wo er viel mehr Kraft und Be

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ftändigfeit vonnöten haben wird als in unfrer tleinen.

Von mir ſelbſt iſt nicht viel Gutes zu ſagen, ich bin krank; der eine Doktor meint, es ift ein Geſchwũr auf der Milz, der andre nennt's eine Maladie du cœur. die große Teuerung der Zebensmittel ift auch nicht angetan, einem die Laune zu verbeffern, Gott fer Lob gehen die Mannsgefhäfte im allgemeinen gut.

Bericht Hickels über den vollführten Auftrag der Ueberſiedlung Cafpar Haufers: traf am 7. ds. vorjchriftsgemäß in Nürn- berg ein, verfügte mich fogleih in die Wohnung des Freiherrn von Tucher, fand aber den Ku- randen nicht zu Auer und erfuhr zu meiner Ver- wunderung, daß er fich den ganzen Nachmittag über aufſichtslos und unbefannt wo herumgetrieben babe, was doch gegen die Vorjchrift ift, und daß ex ſich zurzeit beim Profeſſor Daumer aufhalte, wahrfcheinlich in der Abficht, die Reife zu ver- zögern und dabei die Unterftügung feiner Freunde zu finden. Denn als ich bei Herrn Daumer vor- ſprach, wurden zu bejagtem Zwed alle möglichen Ausreden verfucht, au gefiel ſich der fu felbft in einigen leicht Durchfchaubaren Schnurr- pfeifereien, was mich aber nicht hinderte, auf der mir erteilten Weifung zu beharren. Eine ftrenge Inquiſition nach feinem Verbleib während des Nachmittags blieb fruchtlos, der Burfche gab die albernften Antworten von der Welt. Mein ent ſchiedenes Auftreten hatte die Wirkung, daß von einer Verzögerung nicht weiter gefprochen wurde, um neun Uhr war der Wagen zur Stelle, es war großer Zulauf in ben Gaffen, die Leute, 309

vermutlich insgeheim aufgehegt, gebärbeten ſich einigermaßen tevoltant, wurden aber durch meine Drohung, daß ich bie Wache aufziehen laſſen würde, önell eingefchüchtert. Dem Kutfcher ge- bot ich Eile, und nach einer Viertelftunde wir das MWeichbifd der Stadt verlaſſen. Wäh- rend, der ganzen drei Stunden bis zum Dorfe Großhaslach fieß mein Kurand nicht eine Silbe verlauten, fondern ftarrte ununterbrochen in die Dunkelheit hinaus; gewiß mag es ihm gar trüb- felig zumute geweſen fein, da er nun doc er- Tennen mußte, daß e3 mit feinen großen Hirn- geipinften atthäi am letzten war. ch hatte en Gergeanten nad, Großhaslach beftellt, und derweil die Pferde gefüttert und getränkt wurden, verfügten wir und % die Poſtſtube. Haufer legte ſich dafelbft atjogteich auf die Ofenbant und ent ſchlief. onnte aber des Verdachts nicht ledig werden, daß er ſich nur ſchlafend ſtellte, um mich und den Sergeanten ficher zu machen und unfer Gejpräch zu belaufchen. a diefem Argwohn beträftigte mic) auch das jedesmalige Blmyeln feiner Lider, wenn ich in nicht gerade ſchmeichelhaften Ausdrüden feiner Perſon er- wähnte. Um der Sache auf den Grund zu gehen und zugleich herauszubringen, was e3 mit dem allerwärt3 verbreiteten Märchen von feinem ſtei⸗ nernen Schlummer für eine Bewandtnis habe, nahm ich meine Zuflucht zu einer kleinen Lift. Nach einer Weile gab ic nämlich dem Sergeanten einen Wink, und wir erhoben uns leife, ald ob wir gehen wollten, und fiehe da, kaum hatte ich die Turklinke gefaßt, fo {chnellte mein Haufer wie von der Zarantel geftochen empor, tat ein wenig wirr und verftört und folgte uns, die wir

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uns faum das Lachen verbeißen konnten. Im Wagen fragte mich Haufer plößlich, ob der Herr noch in Ansbach weile; ich bejahte, fügte . aber Bing, daß Seine Lordichaft diefer Tage gen Frankreich fahren werde, worauf Haufer einen tiefen Seufzer ausſtieß; er Iehnte fich in die Ecke zurüd, fchloß die Augen und fchlief nun wirklich ein, wie ich aus feinen tiefen Atemzügen ent- nehmen konnte. Die Weiterfahrt verlief ohne bemerkenswerte Vorfälle, e8 war ein Viertel nach drei, als wir bei Schneetreiben vor dem Stern- gafthof anlangten; ich hatte diesmal harte Mühe, den Haufer aus dem Schlaf zu bringen, und erft als ich ihn energiſch anichrie, entfchloß er fich, aus der Kutfche zu fteigen. Da nur der Tor- wart zugegen war und ich den Herrn Grafen nicht weden laſſen wollte, brachten wir den jungen Menſchen in eine Kammer unterm Dach; ich be- fahl ihm, fich zu Bette zu begeben, fperrte der größeren Sicherheit halber die Tür von außen zu und hieß meinen Sergeanten, bis zum Anbruch des Tages auf Wache zu bleiben. Soll ich nun um Sätuffe über die Perſon und das Betragen e3 Kuranden ein Urteil abgeben, jo muß ich befennen, daß mir der Junge Mann wenig Syms pathie oder Mitgefühl abnötigte. Sein_ver- ſchloſſenes, trotziges und Hinterhältiges Weſen läßt auf einen, wenn auch nicht verdorbenen, fo doch amgefaulten und widrigen Charakter ſchließen. Von wunderbaren Eigenfchaften hab’ ich an ihm nicht8 beobachtet, als eine in der Tat wunderbare Begabung zur Schaufpielerei, was noch milde ausgebrüdt ift. ch fürchte, man wird hieſigenorts manche Enttäufhung an ihm

erleben. 311

Binder an Beuerbath: Um des ferneren allem überflüffigen Gerede und Vermuten vorzubeugen, das in derſelben Sache ſchon an Eure Exzellenz gelangt fein mag, diene die Nachricht, daß ich bereits genügenden Aufſchluß habe über den rätjelhaften, vier bis fünf Stunden andauernden Verbleib Caſpar auſers am Iehten Nachmittag feines Aufent- alt? in Hiefiger Stadt. Freilich, diefer Auf- ſchluß ift im Grunde keiner, denn fo wenig der Jüngling fich ſelbſt hatte erflären wollen, fo wenig erklären die mir bekannt gewordenen Einzelheiten feine ganze Handlungsweiſe.

Ich will mich kurz faſſen. Am Morgen u Caſpars Abreife kam der Ba Hi zu mir und berichtete, der Haufer ſei geftern mittag nach eins bei ihm auf dem Turm er- ſchienen und Habe gebeten, ihm-die Kammer zu zeigen, worin er einſt gefangen gemwefen. Bus u ig war an jenem Tag fein Säflin auf dem

uginsland, und er, Su, babe nach einigem verwunderten Fragen und Forfchen Gafpar ein- treten laffen. Nachdem er eine Weile grübelnd dageftanden, begab er fich im diejelbe Ede, wo Fr em fein Strohlager gemwejen, hodte auf den

oden und brütete ftumm vor fich hin. Dem Hill war das befremdlich, und da alle Verfuche, den Yüngling feiner Lethargie zu entreißen, nichts fruchteten, te er in feine Wohnung zurück und machte feiner Ehefrau von dem Vorfall Mitteilung. Sie überlegten gerade, was zu tun fei, da kam Caſpar von —— die Stufen herunter und trat in das Zimmerchen, das ihm ebenfalls von früher wohlbekannt war, das er jedoch mit bohrend nachdenklichen Blicken durchmufterte, ge— 312

nau wie er oben in der Zelle getan. Hill und ein Weib dachten nicht anders al3 der arme enich habe den Verftand eingebüßt. Die Frau näherte ſich ihm, ftellte einige Fragen, erhielt aber feine Antwort. Da fiel fein jchweifendes Auge, auf die beiden Kinder des Wärters, die auf einem Tritt beim Fenfter mitfammen fpielten, und plößlich lächelte er gar wunderlich, ſchlich fich heran und ſetzte fih am Rand des über den joden erhöhten Tritt3 nieder.

HiN tat das Vernünftigfte, was er tun konnte, er ließ ihn gemäheen und wartete ab, mas daraus werden würde. Nachdem ſich Cafpar alſo nieder- gelafjen, begann er die zwei Kinder auf eine Weiſe anzuftarren, als ob er nie im Leben Kinder

eſehen hätte; er beugte fich vorwärts, er ftudierte fi ihre Finger, ihre Lippen, feine heiß- hungrigen Blicke verfchlangen jede ihrer Gebärden; der Frau wurde dabei angſt und bang, mit Mühe hielt Hill fie ab, dazwiſchenzufahren, denn er fürchtete nichts. „Kenn’ ich doch Haufers janfte Seele," fo drüdte er fich mir gegenüber aus. Auf einmal fprang Cafpar auf, ftrecte die Arme in die Luft, ftöhnte, ftarrte vor fich hin, als jehe er einen Geift, dann kehrte ex fich um und rannte mit erftaunlicher Geſchwindigkeit zur Tür und die Treppe hinunter auf den Platz. gu folgte ihm unverzüglich, denn er ſchloß mit echt, daß Caſpar in einer bedenklichen Ver— fafjung fei und daß man ihn fo nicht fich jelber überlafjen dürfe, As er den Burgberg herunter gegen die FUN lief, gewahrte er ihn noch recht» zeilig und Tonnte ihn im Auge behalten. par eilte num durch mehrere Gaffen, und zwar ganz unfinnig die kreuz und quer, danach 313

über die Glacis und nad) St. Johannis hinüber. Hill folgte in einer Entfernung von fünfzig oder Es Ellen und hatte auf jede Bewegung Caſpars u acht. Trotzdem es den Anſchein ielloſen Gehens hatte, war doch ber Schritt des Fünglings fo beichleunigt, ge ungeduldig, als wolle er ein vor ihm fliehendes Etwas erhafchen. Es ging nun dur die Mühlgaffe, am Ende dieſer Gaſſe breitet ſich das flache Feld aus und die Straße verwandelt ſich in einen Wieſenweg, ber läng$ der Mauer des Johanniskirchhoſs gu Pegnitz und zum Wald hinunterführt. An Kirchhofsmauer, die fe niedrig ift, daß auch ein mittelgroßer Menſch leicht über jie hinwegbliden Tann, blieb Safpar jählings ftehen, riß den Hut vom Kopf und preßte die Hand gegen bie Stirn. Es wird Eurer Eyzellenz bekannt jein, eine wie ungeheure Wirkung fehon früher einmal bei der Annäherung an den Gräberort an ihm wahr: genommen 9 orben it. Er ſchien zu zittern, er - atmete mit offenem Mund, feine Züge drückten Grauen aus, die Hautfarbe wurde bleifahl, er I aus, al fönne er ſich nicht losreißen, plöb- aber ftürzte er fo fchnell weiter, daß fein Beobachter Mühe hatte, ihm nah zu bleiben, auch dachte Hil, Gafpar müfle ins Waſſer ftärzen, da er am Flußufer in ein wildes Torkeln geriet. Glüdlicherweife wandte er ſich gegen den Haben Forft und an alsbald zwifchen den Stämmen. Hill hatte Angft, daß er ihm ent- tommen lönnte; er bemerkte einige Arbeiter, die an einer Erdgrube Sand ſchaufelten, und forderte fie auf, ihm zu helfen; drei oder vier gefellten ga zu ihm, und fie drangen verteilt ins Gehölz; och Hill jelbft war es, der Caſpar nach langem

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Suchen und al8 er ſchon höchlichſt beforgt wurde, zuerſt wieder erblidte. Er ſah ihn kniend am ß einer mächtigen Tanne, er fah, wie er die nde aufhob, und hörte ihn mit einer leiden- Beſug flehenden Stimme rufen: „O Baum! du Baum!“ Nichts weiter als diefe Worte, und mit folchem Gefühl, wie man ein Gebet fpricht, wenn der Geift in höchiter Bedrängnis it. Hill fagte aus, er habe es nicht über ſich ebracht, ihn anzurufen, überhaupt hat der ein fache Mann bei all diefen Vorgängen ein Bart gefühl und eine Menfchlichfeit bemwiefen, um deretwillen ich ihm meine Anerkennung nicht ver⸗ fagen kann. Die Arbeiter, die er mitgenommen, riefen ihm, er gab ein Zeichen, fie Tamen herbei; Caſpar hatte Fr indes erfchroden aufgerichtet, blickte die Leute der Reihe nach an, und es jchien, als erkenne er Hill nicht. Diefer dankte den Männern und bedeutete ihnen, daß er fie nicht mehr brauche. Don ihm untergefaßt, Tieß fich Caſpar ohne Widerftand aus dem Forft heraus- führen; im Gegenfah zu feinem bisherigen Wefen zeigte er nun eine volltommene Gelafjenheit. Hill fragte ihn, wohin er denn gehen wolle, und nad} einigem Zögern antwortete Gafpar, er müfje zum Mittagefien zu Herren Daumer. Da lachte Hill und erinnerte ihn, daß Mittag längft vorbei jei; als fie vor der Stadtmauer ankamen, begann es ſchon zu dämmern. Caſpar ging jetzt außer orbentlih langſam, und trogdem Hill um vier Uhr auf der Poigeinnaghe hätte fein follen, be» gleitete er ihn noch zu Profeſſor Daumers Haus und wich erſt von der Stelle, als ſich das Tor hinter feinem Schüßling gefchloffen hatte, Dies, Erzellenz, die getreue Wiedergabe deſſen, . 315

wa3 der Mann berichtet bat. Ich habe feine Erzählung, deren Glaubwürdigkeit zu bezweifeln tein Anlaß vorliegt, protofollieren lafjen. Aus den Begebniſſen jelbit weiß ich, wie gelant, nichts zu machen, auch ift es nicht an mir, den Schlüffen Eurer Erzellenz vorzugreifen. Geftern habe ich mid) von Hill zu der Stelle führen laſſen, wo Cafpar Eniend gefunden wurde, denn ich dachte mit, daß da vielleicht etwas Beſonderes jei. Es ift, ungemöhnlich bei folcher Stadtnähe, ein friedensvoller Ort; der Wald ift dicht beitanden, lautlofe Einfamteit fordert zu befchaulicher Stim« mung auf. Hill erkannte den Platz mit Sicher- heit wieder und deigte zum Beweis auf Fuß- abdrüce und zermühltes Moos. Sonft habe ich nicht3 Bemerkenswertes wahrgenommen.

Der Bolizeifoldat, der durch feine Nachläffig- keit in Caſpars Bewachung all diefes verjchuldet bat, wurde der verdienten Strafe zugeführt.

Lord Stanhope an den Grauen:

Ich weile noch immer in dem meltentlegenen Net, obwohl ich. zu Weihnachten in Paris fein wollte. Ich fehne mich nach freier Ronverfation, nach Mastenbällen, nach ber italienifchen Oper, nad einem Spaziergang. auf den Boulevards. Hier find aller Augen auf mich gerichtet, jeder will teilhaben an mir; von einer gemifjen Hof» ratsfamilie, die nicht in den beften Verhältniſſen lebt, wird erzählt, fie habe eine goldene Stehuhr, ein vortreffliches Erbſtück, verfeßt, um eine Soiree zu Ehren des Lord3 geben zu können. Man verdächtigt eine Dame, rau von Imhoff ur- alter Patrizieradel! —, der näheren Beziehung zu mir, vielleicht nur deswegen, weil die Arme 316

in einer unglücklichen Ehe lebt, an der ſich der Klatſch feit Fahren mäftet. Scherzhafter Unfinn. Die Dame ift, leider, ein makelloſer Menſch. Das übrige Volk ift faum der Rede wert. Die guten Deutjchen find fervil bis zum Erbrechen. Der behäbige KRanzleidireftor, der mit einer ſtklaviſch tiefen Reverenz ben Hut vor mir zieht, würde mir mit Vergnügen die Stiefel pugen, wenn ich's ihm. befähle. Nichts hindert mich, hier eine Art ligula zu fpielen.

dur Sade. Ein äußerer Grund meines Ver— weilens hier ift nicht mehr vorhanden. Der bis⸗ lang vorgefchriebene Teil meiner Aufgabe ift er- Ir Was verlangt man noch von mir? Weſſen lt man mich noch weiterhin für fähig? Hat Euer Hochgeboren oder dero Gebietende noch in- time Wünjche, fo wäre e3 geraten, fie in Bälde vernehmen zu laffen, denn der ergebenft Unter zeichnete ift fatt. Die Mahlzeit füllt ihn bis zum

Hal, er muß jest ans Verdauen denken. gehe mit der Abficht um, in Nom Prälat zu werden oder mich hinter Kloſtermauern einzu= fperren, vorher muß ich noch das nötige Schwer- eld für den Ablaß beifammen haben; wenn der apft kein Einfehen hat, Fehr’ ich in den Schoß der puritanifhen Kirche zurüd, fo bin ich wenig. ftend der Sorge und des Efel3 enthoben, mir den Bart wachen laffen zu müffen. Auch in meinem Land gibt es Masten und jedenfalls ein würdigeres Koftim. Iſt der Minifter 9. in S., der Penfionift, von allen Vorgängen Berftänbigt und bat man Ahn jegen eberfälle gefichert? An welcher Bantjtelle fann ich meinen nächften Zins⸗ groſchen beheben? Dreißig Silberlinge; mit welcher Zahl darf ich die Summe multiplizieren ? 317

Denn auf Multiplikation ift num einmal_mein

Leben Herr von F. iſt vor einigen Tagen

nach München abgereiſt; dies zur Notiz. Das bewußte Dokument ift, wie ein ranziges Stück Zleifch, von einem gemwiflenhaften Raben in Aus- fiht genommen, vorläufig aber noch unzugänglich. Wie hoch normiert man den Preis und, follten im Sriegsfalle fühnere Maßregeln geboten fein, was billigt man demjenigen zu, der die Hölle um einen neuen Untertanen reicher machen will? ch muß die wiffen, gegenwärtig ftellen aud bie eringſten Diener- des Satans ihre Anfprüche. Denn Herr von F. fo weit fommt, mit der Königin zu verhandeln, wie er beabfichtigt, muß ein geeigneter Nepräjentant gefunden werben, um das angefachte Feuer zu löſchen; freilich wird dann das ranzige Stück Fleifch anfangen zu ftinfen. Dabei fällt mir ein penetranter in dem letzten Schreiben von Eurer Hochgeboren ein; wie lautet er doc) ‚ges: „Sie beginnen, mein lieber Graf, zu viel Wert auf das Ver- ruchte und DVerfluchte zu legen, fobald e8 nur einen Anſchein von Zweckmäßigkeit und Behendig- teit hat.” Ich nehme diefen Worten die Schminte und leſe: es ijt unglaublih, was Sie für ein

. Spigbube find. Kennen Sie die hübſche Replik des alten Fürften M., als ihn der amerikanifche Gefandte ins Geficht hinein einen Betrüger nannte? „Mein Lieber, Teurer,” erwiderte der Fürft mit feinem fanfteften Lächeln, „daß Sie doch in Ihren Ausdrüden niemals maßhalten konnen!“ Ya, halten wir Maß, wenn aud) nicht im Tun, p doch im Reben. ozu Sottifen? Ein Schurke wird geboren fo gut wie ein Edelmann. Wer ſich anmaßt, in den Lauf eines fremden Schick⸗ 318

ſals zu pfufchen, ift ein Philifter oder ein Dumm kopf, wenn nicht beides. Wer kennt mich? Wer will mich richten oder formen? Verrät mich nicht jeder ‚Atemzug? Verwandte Sterne haben über Ihrer -und meiner Wiege geleuchtet. Sie find ein getreuer Diener. Das ift eine munderfchöne Ausrede. Werfen Gie ab, was Sie bindet, fliehen Sie in eine Einöde, auf da8 Meer, in die Wüfte, zum Pol, auf einen andern Planeten, u ra Net unb erproben Sie, ob Sie ſich noch

Glanz de3 Himmel und am Schein der Sonne zu freuen vermögen, und menn das ber Fall ift, wollen wir über das Thema weiter ver- handeln. Schlagen wir uns in bie Nacht wie Wölfe und fammeln wir Mut, denn das Opfer könnte mwehrhaft werden.

Unfer Schutzbefohlener bereitet mir neueſtens mancherlei Sorge, und i u muß geftehen, daß er es ift, der mich in dieſer gottverlaffenen Gegend noch immer feithält. Allerdings ohne daß er davon weiß, aber er ift mir in jeder Hinſicht verdächtig geworden, und ich komme mir bisweilen wie ein tauber Muſikant vor, der auf einer verftopften Flöte fpielen muß. Aber nicht nur dies hält We fonbern auch mod) ein andres, womit ich jeboch IH find- famfeiten abholdes Ohr nicht Brühe will. Auf jeden Fall, und dies nun im Ernit, entlaffen Sie mich) aus der Arena. ch bin betäubt, ich bin müde, meine Nerven gehorchen nicht mehr, ih werde alt, ich fange an, den Geſchmack an Treib- jagden zu verlieren; es erregt meinen Wider⸗ willen, wenn ber geängfige aje dem Siffitten der Hunde von ſelbſt in die Zähne rennt, i zu fehr Schöngeift, um dies noch ergösli zu

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den, und ich könnte kaum , Ba a en a —— FA

eiberfette fchlage, die der verfolgten Kreatur zur Flucht verh Au Dann aber könnte ſich eine merfwürdige Metamorphofe begeben, der Haſe tönnte zum Löwen und zurüdtehren und Fr ee te ibn en © in ihre inter! chleit ten Sie nichts: dies find —ãA—— und art Gewiſſens.

meiner ſelbſt. Das aa befiehlt. une Lüfte find die Schergen der Seele. Nur der Dieb, der eine PBhilofo; im Leibe Paar ge ehängt zu werden. Er meiner Jugẽ

übrig, wenn ich mir den Rnaben auf iccios Bild in Venedig betrachtete, jett bliebe ich ungerührt, wenn man das Kind von der Mutterbruft rifje und feinen Schädel am Ninnftein zerſchmetterte. Das macht die Philo- fophie. Wenn fie fich beifer bezahlte, wäre ich vielleicht fröhlicher. Bei diefer Gelegenheit muß ich Ihnen einen amüfanten Traum erzählen, de

ich neulich hatte, eine wahre Gorgo von Traum. Wir beide, ich und Sie, feilichten um eine gewiſſe Ware; plöglich unterbrachen Sie mid) mit den Worten: „Nehmen Sie, was ich Ihnen biete, denn wenn Sie jet erwachen, befommen Sie gar nichts." Fe fand dies Argument göttlich und fo wenig zu widerlegen, daß ich in der Tat, mit Angſtſchweiß bededt, erwachte.

Genug, übergenug. Mein Jäger überbringt Ihnen diefen Brief, der durch feinen Mangel an Inhalt Ihren Verdruß erregen wird. Das bei- Tiegende Afzept, um deſſen Signierung ich_bitte, dürfte Sie noch weniger verföhnen. Dem Lehrer 320

habe ich ein Halbjahr im voraus bezahlt. Er ift ein brauchbarer Mann, unbeftechlih wie Brutus und lenkbar wie ein frommes Pferd. Wie alle Deutfchen hat er Prinzipien, die fein Selbftvertrauen hervorbringen. Gott befohlen, die Nacht will ihren Schlaf.

Anbetung der Sonne

Am Morgen nad) Caſpars Ankunft blieb der Lord länger als gerösnlie in feinen Zimmern. Auch dann vermied er es noch, Cafpar rufen zu lafjen, und machte erft die tägliche Promenade, AB er zurückkam, ging Cafpar vor dem Salon auf und ab; die Bewegung Stanhopes, als wolle er ihn umarmen, ſchien Gafpar zu überfehen; er blickte fteif zu Boden. Sie traten ins Zimmer, der Lord Anttebigte fich feines ſchneebedeckten Pelz. mantel3 und ftellte möglichft unbefangen Fragen: wie es Gafpar ergangen, wie der Abjchied, wie die Reife geweſen und mehr dergleichen. Caſpar antwortete bereitwillig, wenn auch ohne Ausführ- lichkeit, war freundlich und keineswegs bebrüdt ober vorwurfsvoll. Dies gab Stanhope zu denten, und e3 bedurfte einer gewiſſen Anftrengung von kun Seite, um die fonderbar fühle Unterhaltung jortzufegen. Er konnte fogar einen leifen nicht unterdrücken, wenn er Caſpar anſah, der ihn mit feinen weinfarbigen Augen fortwährend fremd betrachtete. Es war eine Exlöfung, al der Bolizeileutnant - gemeldet wurde. Stanhope empfing ihn im Neben- zimmer; fie fprachen dort über eine halbe Stunde

BWaffermann, Gafpar Haufer 21 321

leife miteinander. Nachdem der Graf hinaus- gegangen war, trat Gafpar zum Schreibtifch, freine den Diamantring von feinem Finger und te ihm mit bedächtiger Gebärde auf einen an- en in englijcher Sprache gejchriebenen dann fehritt er zum Fenfter und blidte in

das m en.

Stanhope Ham allein zurüd. Er fragte, ob Caſpar wiffe, wo er untergebracht werden folle. Caſpar bejahte.

„Es it am beften, mir gehen mal gleich zu den Lehrergleuten hin, um bein Lünftiges Auartier in Augenfchein zu nehmen,“ fagte der Lord,

Caſpar nickte und wiederholte: „Ja, es ift am beften."

„Der Weg ift nicht zii, meinte Stanhope, „wir können zu Fuß gehen; wenn du es aber a t und die ubringlichteit der Menſchen

uft, die zu erwarten ift, kann ich den Wagen len.“

„Nein,“ erwiderte Caſpar freundlich, „ich gehe lieber; die Leute werden ſich ſchon tröſten, wenn ſie fen, Fr ich aud) une Beinen ſpaziere.“

Da Stanhopes Blick auf ben Ring. Erftaunt —* er ie in bie Hand, fah Cafpar on, jah den Ring an, überlegte mit zuſammen⸗ gezogenen Brauen, lächelte Anıstig und wild, dann legte er den Ring jemeigenb, in eine Lade, die er verfeloß, Als ob nichts geſchehen wäre, 308 ER den Mantel an und fagte: 5 bin bereit,“

Auffehen in den Gaffen war erträi ag; es Pte fih alles in Ruhe ab, das Volk hier war gutmätig und fcheu.

Ueber dem Tor des Quandtſchen Haufes war ein Kranz aus Immergrün aufgehängt, in deſſen 322

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dem fehließenden Ring des Himmels ftrömt Welt auf Welt hervor.

Es war nicht mehr an dem.

Unten im Wohnzimmer bunfteten die_frifch-

iefegten Dielen noch von Feuchtigkeit. Duandt Pike dem Lord die ih gften Punkte feines Bros gen ammö auseinander. Bisweilen ſchaute er Cajpar

bei an, und fein Blick war dann durchdringend wie bei einem Schüßen, der das Biel fixiert, ehe er die Flinte anlegt.

Stanhope ja; u“ er ſchätze fich sth, A Caſpar endlich Ausfü Lauf eine gerraete © dung habe, alles bisheri, en u nur Tilktr und Un-

jefähr gemefen. der Herr Staatsrat nicht

® feft darauf beftanden hätte, daß Cafpar in Ansbach bleibe dies follte offenbar eine Er- Härung gegen den ftill zuhörenden Jüngling fein —, wären fie ohne Smile heute ſchon in England oder doch auf dem Weg dahin. „Da ich ihn aber in fo guten Händen weiß," For ex hinzu, „bin ich er froh; man ſieht daraus, daß aud) ein unerwünfchter Bwang oft die erjprieß- lichften Folgen hat.”

Seine Worte waren troden; es war, als rede fein Hut ober fein Stod. Das Kompliment, das fie enthielten, war ſchal, oft gebraucht wie Spül- waffer. Aber für Quandt waren fie eine Herzens» erquietung. x belebte fich zufehends und ee eifrig, e8 fei am_geratenften, wenn Cafpar noch heute einziehe. Stanhope ſchaute Ca} Br, fra; feagenb an; diefer fenkte den Kopf, worauf ir zu einem nachfichtigen Lächeln wollen nichts überftürzen,“ ſagte er. Ich' laſſe morgen I das Gepäd herſchaffen, heute joll er noch bei mir bleiben."

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€3 war dunkel geworden, als beide das Haus verließen. Quandt begleitete fie bis auf die Straße. Zurückkehrend ſchloß er ganz leife und

. langfam die Tür, wie er immer zu tun pflegte, dann ftellte er fi in die Mitte des Zimmers, legte beide Hände flach gegen die Bruſt und . ſchüttelte mindeſtens eine Viertelminute lang in lautlofem Erftaunen den Kopf.

„Warum fchüttelft du denn fo den Kopf?" fragte Frau Quandt.

„Ich begreife nicht, ich begreife nicht,“ ant- mortete der Lehrer befümmert und ſchlich herum, al fuche er etwas auf dem Boden.

„Was begreifft du denn wieder nicht?" fragte die Frau verdrießlich.

Quandt zog einen Stuhl herbei, feste fich neben feine Gattin und fchaute fie aus feinen blafjen Augen feft an, bevor er fortfuhr: get du vielleicht etwas Wunderbare an dem Men⸗ fchen bemerkt? Sprich dich nur aus, liebe Jette, haft du etwas, irgend etwas Außergemöhnliches bemerft, irgend etwas, das ihn von einem andern Menſchen unterfcheidet 2"

Frau Quandt lachte. „Ich habe nur bemerkt, dab ex nicht beſonders höflich war und daß er feidene Strümpfe trägt wie ein Marquis," ent gegnete fie Teichthin.

„Ja, nicht wahr? nicht beſonders höflich, wie? und feidene Strümpfe, ganz recht," ſagie Quandt mit fonderbarer Haft, als ſei er einer Entdeckung auf der Spur. „Na, die feidenen Strümpfe werden wir ihm ſchon abgemöhnen und das Modeweſtchen auch); dergleichen ſchickt fih nicht für unſer einfaches Haus. Aber ich frage dich: verftehft du die Menfchen? verftehft

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du die Welt? Davon hört man nun feit Jahren als von einem noch nie dagemefenen Wunder reden! Dafür erhiten fich geiftreiche Männer, Männer von Geihmad, von Welt, von Kennt niffen; ift es zu faſſen? Gibt es denn feinen, der mit feinen eignen, ihm von Gott eingefehten Augen jehen kann? Iſt es zu faſſen?“

Mittlerweile waren Caſpar und der Lord zum Gaſthof zurüdgefehrt. Stanhope war nicht gerade roſig geftimmt. Die Schweigjamteit feines Be

leiter3 exbofte ihn; es war ihm, als werde * einem Vorhang eine Piſtole gegen ihn gerichtet.

Er war unruhig, fühlte Bi) in bie Enge ge- trieben. Es gibt einen Punkt, wo die Schiefjale fih wie auf einem feymalen Pfad zwifchen Ab- geünden begegnen und mo es zum Austrag kommen muß. Da ftellen ſich Worte umgerufen ein; bie Dämonen erheben ſich aus dem Schlummer.

Stanhope fchellte dem Diener, ließ die Lichter anzünden und Holz ins Kaminfeuer legen. Gleich darauf wurde ber Hofrat Hofmann gemeldet; der Lord fagte, er jei nicht zu fprechen, gab auch Befehl, niemand mehr vorzulaffen. Er machte fi unter feinen apieren zu ſchaffen und fragte Safpar: „Wie haben dir die Lehreräleute. gefallen?"

Caſpar wußte nicht recht, wie, und gab eine unbeftimmte Antwort. In Wahrheit wußte er überhaupt gar nicht mehr, wie Herr Quandt oder deſſen Frau oder das Haus ausfahen. Er er- innerte fih bloß, daß Frau Quandt ihren Kaffee aus der Untertaffe getrunken und den Zucker dazu abgebifjen hatte, was ihm fehr albern erfchienen war,

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rastic tehrte ſich Stanhope um und fragte mit der Miene eines Menfchen, der die Geduld verliert: „Alfo, was ift es mit dem Ring? Was wollteft du damit jagen?"

Cafpar antwortete nicht; in traurigem Trotz ſchaute er ins Leere. Stanhope näherte fich ihm, tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Schulter und ogte ſcharf: „Sprich; wehe bir!"

Mir iſt ſchon weh genug,“ entgegnete Caſpar eintönig, und fein Blick glitt von der Geftalt des Grafen wie von etwas Sahlipfeigem hinweg auf die dunkelrote Tapete, auf welcher das Kamin⸗ feuer Schatten malte,

Was hätte er jagen follen? War doch fein Gefühl faft ungemindert gegen den, der ihm Weg gewieſen, der zum erftenmal wie ein Menſch zu ihm geredet. Sollte er von ber furchtbaren Nacht im Tucherfchen Saus erzählen, wo er ges feffen, die Fäufte in der Bruft, daS Herz zerrieben, einfam und der Welt beraubt? Wie er an gefangen hatte zu fuchen, zu fuchen, wie er die ‚Zeit aufgegraben, gleichwie man im Garten Erde aufgräbt, wie es Tag geworden und er enteilt war, wie er Kinder gefehen, den Fluß gefehen, an einem Baume gefniet, alle wie nie zuvor, alle8 anders, er Perbit verwandelt, mit neuen Augen, von Unmiffenheit exlöft... Unmöglich, folches mitzuteilen; dafür gab es keine Worte,

Er fuhr fort, ins Leere zu ftarren, indes Stanhops, die Hände auf dem Rüden, auf und ab wanderte und widermillig, haftig, ſtoßweiſe zu reden begann. „Willft du mic) etwa anklagen ? Soll ich mich rechtfertigen? Goddam, ich habe I dich gefämpft wie für mein eigen Fleiſch und

Tut, Vermögen und Ehre zum Pfand gejebt, 827

feine Demütigung geſcheut, mich unter Pöbelvolk und Pedanten herumgeichlagen, was denn noch? Wer das Unmögliche von mir verlangt, ift mir nicht mwohlgefinnt. Noch ift nicht aller Tage Abend, das Garn ift noch nicht abgemwidelt, ich ftelle noch immer meinen Mann, aber ih muß mir verbitten, daß du mich wie den Ausfteller eines Schuld hein beim Buchſtaben packſt und meine ſchoͤne illigkeit unter moraliſchen Druck ſetzeſt. Wenn du von mir forderſt, anſtatt das Gewährte dankbar zu erkennen, dann find wir geichiedene Leute.“

Was er doch alles fpricht, dachte Caſpar, der kaum zu folgen vermochte,

Der nächite Gedanke Stanhopes war, Caſpar habe vielleicht eine geheime Verbindung und von daher Lehre und Ermunterung empfangen, denn er ſah wohl, und mit Angſt nahm er e3 wahr, daß er nicht mehr das willenloſe Gefchöpf von ehebem vor fich hatte. Aber auf feine rauh zu⸗ fahrende Frage machte Cafpar ein jo verwundertes Geſicht, daß er den Argwohn fogleich fallen ließ. Caſpar Iegte die Hände das zufammen und fagte nun in feiner um Deutlichkeit bemühten Weife, er habe Stanhope nicht Fränfen wollen, aud mit dem ing nicht; es fei nur etwas ge- ſchehen, was die —X betreffe; man habe ihm immer Geſchichten erzählt, Geſchichten von ihm ſelbſt, er habe zugehört und doch mist ordent⸗ lich verſtanden. Es ſei wie 7 dem pie = hen gewefen, mit dem er in feinem redet und gejpielt und das doch nichts Aebendics gemwefen fei. „Aber jetzt,“ fügte ex ſtockend hinzu, „iegt ift das "Solgpferbihen lebendig gemorden.“

Stanhope warf den Kopf zurüd. „Wie? 328

was denn?“ vief er fchnell und furchtfam, „Iprich deutlich." Er nahm die Lorgnette und fchaute Caſpar ftirnrungelnd durch die Gläfer an, eine Gebärde, die Hochmut ausdrücken follte, aber im Grunde nur DVerlegenheit war.

„3a, das Hohpferbien ift lebendig geworden," wiederholte Gafpar bedeutungsvoll.

Ohne Zweifel glaubte er mit diefem find- lichen Sinnbild alle dargelegt zu haben, was ihm das entfchleierte Antlitz der Vergangenheit verraten hatte. Er mochte die Gemalten ahnen, die fein Schickſal ‚gem! hatten, und jedenfalls begriff er das Wirfliche, das ſchwer von Gründen Wirkliche feiner langen Gefangenfchaft, die ihn, außerhalb der hai bis über das Jünglings⸗ alter hinaus zum Zuftand eines Halbtiers ver- urteilt hatte. Es mochte ihm Mar geworden fein, daß es fich dabei um eine Sache handelte, der in den Augen der Menjchen ein hoher, ja der höchfte Wert zulam; daß fein Anrecht auf biefe Sache ungefchmälert fortbeftand und daß, wenn er nur hinginge, um zu zeigen, daß er Iebe, um zu jagen, daß er wifje, aller Widerftand und Will- für zu Ende fei und er befigen durfte, weſſen er freventlich beraubt.

Das war ed etwa, aber es war noch mehr. Und es fügte fi, daß der Lord felbft, in Angſt

iv für feine Auftraggeber, für die Zukunft, it das gene Gebäude, an dem er mitgezimmert und von dem er, wenn es zufammenbrach, vielleicht mit zerfchmetterten Gliedern in eine bobenloje Tiefe ftürzen mußte, daß er ſelbſt das Wort fand und ausfprach, welches dies andre, Größere, Un- fagbare für. Caſpar zauberhaft und ſchrecklich er⸗

leuchtete. 829

Beinahe fühlte ſich Stanhope befiegt, und er hatte nur. noch wenig Luft, gegen eine Macht zu kämpfen, die gleichfam aus dem Nichts entftanden war und wie der Jfrid aus Salomons Wunder- flafhe den ganzen Himmel verfinfterte. Ich war zu großmütig, dachte er; ich war zu lau; Wankel⸗ mut_trägt die eigne Haut zu Markt; läßt man die Träumer aufmachen, & greifen fie nach den Bügeln und pr die Rofje ſcheu; das füße Zeug ſchmeckt nicht länger, nun gilt e8 Salz in den Brei zu tun.

Er ſetzte fih an den Tiſch, Cafpar gegenüber, und indem er beim Sprechen faum die Zähne voneinander entfernte und fortwährend düfter und blicklos lächelte, fagte er: „Ich glaube dich zu verftehen. Man kann e8 bir nicht verübeln, daß du Schlüffe aus meinen, wie ich befennen muß, ein wenig unvorfichtigen Erzählungen gezogen haft. Ich werde in dieſem Augenblide ſogar noch weiter gehen und dir an Deutlichleit nichts zu mwünfchen übriglaffen. Ich will bein Iebendig

jervordened aufzäumen, und wenn u dann Luſt haft, kannſt du es meinetmoegen reiten. Ich babe dich nicht getäufcht: du bift durch deine Abkunft den mär Hgften unter den Furſten ebenbürtig, bu bift das Opfer der ſcheuß⸗ lichften Kabale, die Satans Bosheit je erſonnen bat; hätteſt du keine andre Inſtanz zu fürchten als die der Tugend und des moraliſchen Rechts, dann jäßeft du nicht hier, und ich wäre nicht ge- zwungen, dich fo zu warnen, wie ich es jeht tue. Denn merk auf. So gegründet deine Anfprüche, deine Hoffnungen find, jo verderblich müfjen fie die werden, ſobald fie dich nur den: erften Schritt zum vorgefaßten Ziele lenken. Die erfte Hand- 330

lung, das erfte Wort befiegelt unabänderlich deinen Tod. Du wirft vernichtet fein, eh du noch den Finger ausgeſtreckt haft, um zu nehmen, was dir gebührt. Vielleicht kommt eine Stunde, morgen oder in einem Monat oder in einem Jahr, wo du an der Aufrichtigfeit deſſen, mas ich dir ſage, zweifeln fönnteft; nun, fo beſchwöre ich dich: glaube mir! Laß deine Lippen fetenfag ver⸗ nietet ſein. Fürchte die Luft und den Schlaf, daß ſie dich nicht verraten. Möglich, daß einſt der zug kommt, an dem du fein darfit, was du bift, aber bis dahin halte til, wenn dir dein Leben lieb ift, und laß dein Holgpferdchen hübſch im Stall."

Langſam hatte ſich Cafpar erhoben. Ein über- pemoalfiger Schrecken donnerte, vielgeftaltig wie ie Blöde eines Felsfturzes, um ihn her. Um feine Gedanken anderswo hinzulenten, betrachtete ex mit einer an Wahnfinn grenzenden Aufmerf- famteit die lebloſen Gegenftände: Tiih, Schrank und Stühle, den Leuchter, die Gipsfiguren am Kamin, den Trummgebogenen Schürhafen. War ihm dien er neu oder kin ee Keines- wegs. Es hatte, wie giftige Luft, fehon lange um ihn ber gebrütet. dir ein andres das bloße Ahnen und Spüren und ein andre das zer- malmende Wiffen.

Auch Stanhope war ns er trat nahe vor Caſpar hin und fuhr mit eigentümlich näfelnder Stimme fort: „Es hilft nichts; im diejem Zeichen Bift du eben geboren; in dieſem Zeichen hat dich deine Mutter geboren. Das ift das Blut. Es richtet dich und rechtfertigt dich; es ift dein Führer und dein Verführer.“

Und nad) einer Weile: „Laß uns nun jchlafen

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geben, es ift fpät. Morgen früh wollen wir in ie Kirche und beten. Wielleicht ſchickt uns Gott eine Erleuchtung.”

Caſpar fchien nicht zu hören. Blut! das war dad Wort. Das war die Kraft, die alle Poren feines Weſens durchdrang. Schrie nicht jein Blut aus ihm, und von fernher wurde der Schrei erwidert? Blut trug aller Sefgeinungen Grund, verborgen, wie es war, in Adern, im Geftein, in Blättern und im Licht. Liebte er fi nicht in feinem Blut, fpürte er nicht die eigne Seele wie einen Spiegel aus Blut, in dem er ſich ruhend beſchauen konnte? Wieviel Menfchen in der Welt, jo nahe beieinander, fo reich be— wegt, fo fremd und ftumm, und alle durch einen Strom von Blut wandelnd, und fein Blut doch befonder3 taufchend, ein befonderes Ding, in ein- ſamem Bette fließend, voll von Geheimniffen, un- befannter Schickſale voll!

Auch ala er den Blick wieder gegen den Grafen tehrte, war es, als wandle der Durch Blut, eine Vorſtellung, die freilich durch die ſcharlachfarbene Tapete begünftigt, wenn nicht erzeugt wurde. Wenn man die Kerzen verlöfcht, dachte Cafpar, wird alles tot fein, das Blut und die Worte, er und ih; ich will nicht fchlafen diefe Nacht, nicht fterben. Ja, Cafpar hätte, was fein Mund ge- redet, gern wieder in fich hineingeſchluckt, in jenen Kerker des Leibes gefperrt; der Schweigen hieß. Gehorfam fein, unmiffend fein, unglüdlich fein, Schande und Schimpf ertragen, die Stimme des Blutes erftiden, nur nicht fterben müſſen, nur leben, leben, leben. Ei, man wird fich fürchten, man wird feig fein wie eine Maus, man wird Türen und Senfter verriegeln, man wird die

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Träume vergefjen, den Freund vergeffen, man wird fich Elein machen, man wird das ‚Bolgpferbehen vergraben, aber man wird leben, leben, leben...

Der Lord wünſchte, daß Cafpar nicht in

feiner Manfarbe, fondern hier unten nächtige. Er befahl dem Aufwärter, ein Bett a dem Sofa zu richten. Indes Caſpar g9 entkleibete, ging er hinaus, kam jedoch nad) einiger Zeit wieder, überzeugte fich, daß der Jüngling ruhig lag, und Bay die Lichter. Die Verbindungs- tür zu feinem Zimmer ließ ex. offen ftehen. -

Ungeachtet feines Vorſatzes fchlief Cafpar

bald ein und nahm fein aufgewühltes Gemüt in den Schlummer hinüber. Er mochte vier bis fünf Stunden geſchlafen haben, als fich fein bleiernes Daliegen in ein ruheloſes Herumwälzen ver- wandelte. Plöglich erwachte ev mit einem tiefen Seufzer und ftarrte brennenden Auges in die - Finfternis. An den Fenſterſcheiben war ein Kribbeln und Taften, daS von den anprallenden Schneefloden herrührte und dem leiſen Pochen einer Hand ähnlich war. Aus dem Nebenraum hörte er die gleichmäßigen Atemzüge des fchlafen- den Stanhope; höchſt befremdlih klang dies Atmen des andern Menfchen in der Nacht, wie ein drohendes Geflüfter: hüte dich, hüte Dich.

Ex ertrug es nicht mehr im Bett. Es war,

als fei ihm der Körper mit taufend Fäden um— ſchnürt, und als er aufftand, geſchah es nur, weil er ſich vergemifjern wollte, ob er ſich noch frei bewegen könne. Er jchlug die Wolldecke um die Schultern und trat barfüßig ans Feniter.

Das ganze große AU war angefüllt mit den eſprochenen Worten, die wie rote Beeren in der untelheit hingen. Ueberall Gefahr; bloß zu

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denten, war ſchon Gefahr; jeder Anhauch aus fremdem Deane Gefahr.

Er fing an zu zittern. Die Knie faßen loſer in den Gelenken, es war ihm fo leicht und ſchwer augleich; fein Nachdenken hatte eine andre, nähere Folge, auch alle Gegenftände waren näher, und das Ganze der Erde und des Himmels, Wollen, Wind und Nacht Hatten etwas eingebüßt, etwas unbegreiflich Flüchtiges und Wandelbares. Alles iſt nun fo mwunderlih wahr. Caſpar hält die

cherben eines koſtbaren Gefäßes in der Hand, und feine Phantafte will nicht einmal die jchöne Form, wie fie geweſen, zurücfgeftalten.

Unten auf der Gaſſe geht lautlos der Nacht-

wächter. Der zuckende Eden feiner Laterne ver-

oldet den Schnee. Cafpar folgt ihm mit den

ſlicken, denn es ift, als ob der Mann in irgend» einem unerklärlichen Zufammenhang mit feinem Schickſal ftehe. Sie wandeln miteinander über ein verjchneites Feld, jener fragt Gafpar, ob ihn friere, und wirft ihm einen Teil feines Mantels um die Schultern, fo daß fie beide unter ber- jeiben Hülle aim. Auf einmal gewahrt Caſpar, es fein Männergejicht ift, das fich fo mild erbarmend zu ihm Tehrt, fondern das fchöne, traurige Geficht einer rau. Es enthalten dieje Trauer und diefe Schönheit etwas Redendes, und. daß fie zufammen unter demfelben Mantel wandern, hat den allertiefften Sinn, etwas, das mit Qual und Freuden eines ift und vom An- fang der Dinge ftammt.

Da tönte das ungeheure Wort des Grafen neufhallend in die Nacht: „In diefem Zeichen bat dich deine Mutter geboren.”

Dich) geboren! Welcher Laut! Was war 334

darin beſchloſſen! Gaipar legte beide Hände vor Genät; ihm fchmwindelte.

a hörte er ein Geräuſch von Schritten. Ja drehte er ſich um, es war ein Emportauchen aus finfterer Flut; der Graf ftand im Schlafrod vor ihm. Wahrſcheinlich hatte Cafpars nächt- liches Wachfein ihn aufgeweckt, er hatte einen leifen Schlummer.

„Was treibt du?" fragte Stanhope mürriſch.

Cafpar machte einen Schritt auf ihn zu und fagte dringlih, atemlos, drohend und flehenb: „Sühr mich zu ihr, deinrich Einmal laß mich die Mutter fehen, nur einmal, nur jehen; nicht jetzt, fpäter vielleicht. Einmal, nur einmal! Nur eben! Nur einmal!"

Stanhope wich zurück. Diefer Auffchrei hatte etwas Ueberirdiſches. „Gebuld," murmelte er, „Geduld."

„Geduld? Wie lange noh? Hab’ ſchon lange Gent erfpre

" verfpreche dir —“

„Qu verſprichſt e8, aber wie foll ich glauben 9“

„Segen wir die Feift eines Jahres feſt.“

"Ein Jahr ift lang.

„gang und kurz. in kleines, kurzes Jahr nd dann —“

„Dann ?"

„Dann will ich wiederfommen —“

„Und mich holen?"

„Dich holen."

„Gelobjt du das?" Caſpar heftete einen fuchenden und mie ein mattes Flämmchen er- Löfchenden Blick auf den Grafen. Da der Wider- ſchein des Schnee die Nacht erhellte, Tonnte jeder des andern Züge deutlich unterfcheiden.

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„Ich gelob’ es.“

Du gelobſt es, aber wie kann ich's wiſſen 2"

Stanhope geriet in eine ſonderbare Be— drängnis; Dies & jenüberftehen zu folder Stunde, die immer herrifcher, ftürmifcher werdenden Fra- gen des Jünglings wirkten wie Gefpenfterichauer auf feine Einbildungskraft. „Reiß mich aus deinem Herzen aus, wenn es nicht geſchieht,“ murmelte er dumpf; er mußte in diefem Augen- Blict Tebhaft bes Mannes gebenfen, der vom Teufel Iebendigen Leibes in den feuerfpeienden DVefun gefchleudert wurde,

Und Cafpar darauf: „Was Tann mir das nügen? Sag mir den Namen, fag mir ihren Namen, ſag mir meinen Namen."

„Nein! niemals! niemals! Aber glaube mir nur. Es wacht ein Gott über dir, Caſpar. Es kann dir nichts verfagt fein, denn du haft die Kauffumme für das One zum voraus entrichtet, die wir andern täglich in Heiner Münze bezahlen müffen. Und bezahlt muß werben, alles muß bezahlt werden, das ift der Sinn des Lebens."

„Du verſprichſt aljo, in einem Jahr wieder dazufein ?"

In einem Jahr."

Caſpar bohrte die Finger in Stanhopes Hand und richtete einen tiefen, jeltfam feelenhaften, feltfam ſtolzen Bli auf den Lord, der jeiner- ſeits die Augen ſenkte, während fein Geficht ftein- alt ausſah. WS er in fein Zimmer zurüdging, begann er plößlich leiſe plappernd das Vaterunfer zu beten.

Erſt gegen Morgen entichlief er wieder. Als er fi) mittags erhob, war Caſpar längft auf; er ſaß am Fenfter und ſchien die Eishlumen zu ftudieren. 336

Um ein Uhr verließ er mit ihm daS Hotel. Arm in Arm, ein Schaugepränge für die Ein- wohnerſchaft, fpazierten fie über den hochliegen- den Schnee durch das Herrieder Tor zum Markt. Dort war eine go erfammlung von Bauern und Händlern. Bor dem Portal der Gumbertus- tirche blieb Stanhope ftehen und forderte Gafpar auf, mit hineinzugehen. Caſpar zögerte, folgte jedoch dem Scale in den hohen, ſchmuckloſen, von Ichwarzem Gebält, überdachten Raum.

Mit raſchen Schritten eilte Stanhope zum Altar, warf ſich mit den Knien auf die jteinernen Stufen, beugte die Stirn herab und verblieb fo in volllommener Unbeweglichkeit.

Caſpar, peinlich berührt, ſchaute fich unwill- türlih um, ob niemand Zeuge diefer demütigen Handlung fei. Aber die Kirche war leer. Warum Trüppelt er ſich fo zufammen, dachte er verftimmt, Gott kann doch nicht im Boden drinnen fein. Allmählich ward ihm bange; das Schweigen des tiefigen Raumes ftrömte bi3 in feine Bruft. Und wie er nun in die Höhe blickte, ſah er oben, durch ein geöffnetes Bogenfenfter, wie die Sonne mit Macht die winterlichen Nebel zu gemältigen ſuchte. Da rötete fich fein bläßliches Seht zu hüchterner Freude und das Schweigen in feiner

ruft wandelte ſich zu einer hinaufziehenden Ver⸗ Ehrung.

„O Sonne," fagte er halblaut und mit ein- fältiger Inbrunft, „mach doch, daß alles nicht fo ft, wie es ift. Mach e3 doch anders, Sonne. Du weißt ja, wie e3 ift; bu meißt ja, wer ich bin. Scheine nur, Sonne, daß meine Augen dich immer fehen können, immer wollen dich meine Augen ſehen.“

Baffermann, Gafpar Haufer 28 837

Indem er fo ſprach, flutete eine.goldene Licht» welle bis auf die kreidig weißen liefen, und Caſpar, ſehr zufrieden, meinte, die Sonne hätte ihm damit auf ihre Weife eine Antwort erteilt.

Man erfährt einiges über Herrn Quandt fowie über eine vorläufig noch unge— nannte Dame

Die Weberfiedlung Caſpars ins Lehrerhaus fand ohne Zwifchenfälle ftatt.

„Nun wohlan denn,“ ke Quandt während der eriten gemeinfamen Mahlzeit, als die Suppen- ſchüſſel aufgetragen wurde, „jest beginnt für Sie ein neues Leben, Haufer. Hoffentlich ift es ein Leben der Gottesfurcht und des Fleißes. Wenn wir uns lobensmwert betätigen und in unfern Ge⸗ danken nicht den Schöpfer aller Dinge vergeſſen, wird unfer irdifches Bemühen ftets von Erfolg gekrönt fein.“

Nah Tiſch mußte Quandt zur Schule, und als er um vier Uhr zurückkam, erfundigte er ſich befliffen, was Caſpar die Zeit über getrieben

be. Seine Frau konnte ihm nur ungenügenden

jejcheid geben, und er tabelte fie deshalb. „Wir müffen aufpaffen, liebe Jette,” fagte er, „wir müfſen die Augen offen halten.“

In der Tat, Ouandt paßte auf. Wie ein emfiger Buchhalter legte er in feinem Innern ein Konto an, um alle Worte und Handlungen feines Pflegebefohlenen zu verzeichnen. Bei diejer umfichtigen Geichäftsführung jtellte es fich bald heraus, daß Soll und Haben einander nicht bie. 338

Wage hielten, daß die Schuldfeite nach und nach ber denklich überlaftet wurde. Das betrübte den Lehrer aufrichtig; jedoch gab es ein geheimes Winkelchen in feiner Bruft, worin er fich Defjen freute.

Es war nämlich mit diefem Manne derart beſchaffen, daß er in einer merkwürdigen Zwei⸗ heit eriftierte. Der eine Teil war die öffentliche Berfon, der Bürger, der Steuerzahler, der Kol⸗ lege, das Familienhaupt, der Patriot; der andre Zeil war fozufagen der Quandt an fi. Jener war ein Hero8 der Tugend, eine wahre Mufter- jammlung von Tugenden; diefer lag verftedtt in einer ftillen Ede und belauerte die liebe Gottes» welt. Die öffentliche Perfon, der Bürger, der Patriot nahm herzlichen Anteil an den allge meinen Angelegenheiten, moßingegen der Quandt an fi} vergnügt die Hände rieb, wenn irgendwo irgendwas pafjierte: jei es nun ein unerwarteter Todesfall oder nur ein Beinbruch oder die Kalt⸗ ftellung eines verdienten Beamten oder ein Dieb- ftahl bei einer Vereinskaſſa oder ein Radſchaden an der Poſtkutſche oder eine Heine Feuersbrunſt beim reichen Bauern Soundfo oder die ffandalöje Heirat der Gräfin Ypfilon mit ihrem Gtalls burſchen. So unverbrühlich der Steuerzahler, das Familienhaupt, der Kollege feinen Pflichten nachkam, der Quandt an fich hatte etwas von einem Revolutionär und war immer auf dem Poſten, um der Weltregierung auf die Finger zu ‘hauen, und ſtets beforgt, daß feinem mehr Ehre

eſchah, als er nach genauer Bilanz über feine serdienfte und Mängel, feine Vorzüge und Lafter

füglich beanfpruchen durfte. er Öffentliche Quandt fehien zufrieden mit feinem Los, der ges heime fand fich allerorten und zu jeder Zeit 339

aurüdgefeßt, beleidigt, vor den Kopf geftoßen und in feinen vornehmften Rechten gekränki.

Nun follte man denken, mit zwei jo vers ſchieden gefinnten Koftgängern unter einem Dach jet ſchwer zu wirtfchaften. Nichtsdeitomeniger kamen die beiden Quandts trefflich nebeneinander aus. Freilich, der Neid ift ein boshaftes Tier; er bucchlöcherte manchmal die Scheidewand zwi⸗ ſchen den zwei Seelen, und wie oft der ftärkfte Damm nicht genügt, um eine verheerende Weber- ſchwemmung zu verhindern, fo brach eben diejer Neid bisweilen ein in die reinlichen, fruchtbaren und wohlbeftellten Gefilde des Gottes» und Menfchen- freunde8 Quandt.

Und was gab e3 doch nicht alles in der Welt, worüber das tüdifche Untier ſich gefräßig her⸗ machen fonnte! Da hatte einer einen Orden be- tommen, der das ganze Leben lang hinterm Ofen hodte und Maulaffen feilhielt; dort hatte ein andrer zehntaufend Taler geerbt, der ſchon ohne⸗ hin die Woche zweimal Pafteten und Mofel- wein trank; da wurde ein Name lobend in der Zeitung erwähnt, ohne daß man xfoejchen Tonnte, ob ihm eine folche Auszeichnung von Rechtswegen zukam, dort hatte ein Ichweißnichtwer eine Ent- dedung gemacht, auf die man, hätte man fich zu: fällig mit dem Gegenſtand bejchäftigt, leichterdings aud hätte verfallen können. Warum denn der? Warum nicht ich? murrte dann der heimlich aufs rührerifche Quandt. Es war ein beftändiger und unfichtbarer Zmeilampf mit dem Schickſal unter der Barole: Warum der andre, warum nicht ich?

Vielleicht Iitt der gute Quandt unter feiner Abftammung; fein Vater war Paftor gemejen, mütterlicherjeitd kam er von Bauern ber. Er 340

befaß viel vom Bauern und vom Paftor: fein ſehr irdifches Streben war rundherum mit Theo- logie behangen. Dabei war der Bauer dem Paſtor beftändig im Wege, denn wo hätte man je gehört, daß ein auf Religion und Friebfertig- teit ee Gemüt —— eg und ehrgeizig geweſen wäre? Die Wahrhei liebte Quandt über alles; er fagte es, er be teuerte es und es war auch fo. Nichts war ihm offenbar genug; nirgends ftimmte die Rechnung; überall hatten die Menfchen eine faljche Addition gemacht oder den Kafus verwechielt. Ex fagte und beteuerte, daß er niemals in feinem Leben gelogen hatte. Ein bewundernswerter Fall; und wirklich ftand es feſt und war nachzuweiſen, daß er mit dem einzigen Bufenfreund, den er je befeffen, einem Schulamt3fandidaten in Tauber- bifchofsheim, deshalb für immer gebrochen hatte, weil er ihm auf eine Lüge gefommen war.

Wie ratlos mußte nun Caſpar einer fo ernften Wachfamteit, einer folchen Vereinigung von fel- tenen und vorbildlichen Eigenfchaften, wie fie der beffere Teil des Lehrers bot, gegenüberitehen. Wir, der Lefer und ich, haben darin leichtes Spiel, uns Tann man nicht betrügen, uns find die Kleiderfalten offen und die Haut über dem Be ift uns durchfichtig; wir weilen auf einer

Öheren Warte, wir find Seher und Humoriften; wir verfolgen Heren Quandt, wenn er in einen Krämerladen tritt, mit höflicher Gemeffenheit ein halbes Pfund Käfe verlangt und dabei mit unruhig · eifrigen Augen die Einkäufe feiner Neben- menfchen, gleichviel ob e3 Köchinnen oder Generale find, in feinem Innern notiert; wir hören ihn, wenn er mit dem Oberinfpeftor Kakelberg ſpricht

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und fi) mit Schmerz über die zunehmende Ver- lotterung der Schuljugend beklagt; wir jehen ihn jeden Sonntagmorgen gebürftet, friſiert, gewaſchen zum Gottesdienft eilen und mit Beſcheidenheit fein Gebetbüchlein aufichlagen; wir wien, daß er reſpeltvoll gegen Hobere und unnachſichtig jegen Seringere ft, denn fein Pflichtbemußt- Ei nach beiden Seiten unterliegt feinem Zweifel. Aber wir wifjen auch, daß er jeden Abend vor dem Schlafengehen im Nachthemd auf der Kante feines Beites fist und fi mit düfterer Miene erinnert, Hr ihn der Regierungsrat Hermann heute ziem⸗ lich nachläffig gegrüßt hat; mit Bedauern nehmen wir von der Tatjache Kenntnis, daß er feine Schüler, jelbftverftändlih nur die faulen und ftörrifchen, mit einem ſorgſam getrodneten ſpa⸗ nifchen Rohrſtock empfindlich zu züchtigen pflegt, und leider dürfen wir nicht verhehlen, daß er feine gutmütige Frau nicht immer fo zart und rüdfichtsvoll behandelt, wie e8 vor Fremden ge ſchieht, die nach ihren Beobachtungen ohne weis tere3 der Anficht find, daß diefe Ehe als das Teuchtende Beifpiel eines guten Einvernehmens zwifchen Gatten zu betrachten ſei.

So war für Gafpar, der den Vorteil unfrer Alrifjenheit und Allgegenwart natürlich nicht genießt, Herr Quandt eine zwar dunkle und unfrobe, aber durchaus imponierende Geftalt. Ein bißchen Alpdruck fpürte er jedesmal, wenn Quandt in wunderlich forfchendem Ton und mit unabgewandtem Blic zu ihm ſprach. Er fühlte

ch anfangs bedrüct in diejer gar engen Häuslich⸗ feit, in der man feft nicht einmal mit feinen Ges danken allein fein fonnte, und der einzige Troft war, daß der Graf, der ſchon anfangs Dezember 32

hatte reifen wollen, noch immer in der Stadt war. Stanhope behauptete zwar, auf wichtige Briefe warten zu müſſen, in Wirklichkeit harrte er jedoch der Rückkehr des Präfidenten Feuerbach, da ihn das Beginnen des Mannes, der Grund feines Fernſeins beunruhigte wie den Wanderer ein brohendes Gemitter.

Auch Cafpar hielt ihn, und das im eigner Weife. Er pflegte den ZJüngling_jeden Nach mittag für eine ober anderthalb Stunden zum Spenge jehen ed fie gingen dann ger wöl en Weg zum Schloßberg hinauf und gegen das Bernadotter Tal, das in jchöner Ab- geichiedenheit wie eine Vorhalle zu den finfter umfchließenden und weitgedehnten Wäldern lag. Gafpar empfand einen ſehr wohltuenden Einfluß von der Bewegung in der falten, meift. froft- klaren Luft.

Ihre eipräde Al ebten ftet3 von einem un- verbindend perfönlichen Punkt aus ins Allge- meine, wo das zu Sagende gefahrlos wurde und doch das Lehrhafte wie das Erzählende nicht den Reiz einer anmutenden Vertraulichkeit entbehrte. Es ſchien dem ein Uebereinfommen zugrunde zu liegen, ein Friedensſchluß vor einer dumpf

fühlten Wandlung, welche die vergangene Schön- det ihres Verhältniffes vollends zeritören mußte. So gingen ſie dahin, anzuſehen wie Freunde, in einer ihrem Schickſalskreis fremden Region aufrichtig einander ergeben, den Unterfchied der Sabre und der Erfahrung ausgleichend durch ein williges Schenken von ber einen und ein aiht minder williges Empfangen von der andern

er Lord fand ſich duch diefe Form eines 313

Verkehrs lebhaft angezogen, ja im wahrften Sinn ergriffen. Durfte er fich doch auch einmal wieder unbefangen fühlen, ohne Joch, von feiner Peitſche zu ausbedungenem Ziel gezwungen; in fich felber ruhend, betrachtſam und nicht ohne Wehmut übers ſchauend, wie das Leben in feiner Bruft gehauft und was e3 dem zwecklos fpielenden Geift übrig gelaſſen, der ja das eigentliche Element ift, in welchem der Menſch den Menichen erkennt. Cr ging über die Tiefen feines Dafeins hin wie über eine gebrechliche Brücke, die der leichtefte Wind- hauch in den Abgrund ftürzen kann.

Am liebften redete er über Menfchenlos und Menſchendinge: erzählte, wie der begonnen, wie jener geendet, was diefen ins Unheil geſtürzt und jenem zu Anfehen verholfen; wie er einen im Glück gewahrt, an der Tafel des Königs ſchwel⸗ gr, und wie felbiger zwei Jahre fpäter in einer

chlammer elend Erepiert war. Ungleich ging & zu auf Exden; in ſchwer erflimmbarer Höhe blühten die Blumen; nichts ficher, nichts von Beitand, nirgends Verlag. Gemiffe Regeln durften nicht unbeachtet bleiben, nach welchen das Wirken des einzelnen fich zu fügen hatte. Stan- hope erwähnte das Buch des Lord Chefterfield, eines Vorfahrs und weitläufigen Verwandten, der_in berühmten Briefen an feinen Sohn gar treffliche Marimen gegeben hatte; ganze Seiten daraus mußte er aus dem Gedächtnis herzu- jagen. Derjelbe Chefterfield Habe, um den Ahnen- ſtolz des Adels zu verfpotten, in feinem Schloß zwei Bilder aufhängen lafjen, einen nadten Dann und ein nadtes Weib, und darunter gefchrieben: Adam Stanhope, Eva Stanhope.

Der Graf gab feiner Ueberraſchung darüber

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oft draftifchen Ausdrud, einen wie klugen Kopf er in Gajpar bei aller Einfalt und Schweigſam⸗ keit entdeckte: immer zutreffend im Widerpart, durchaus weltlich geftimmt, in Frage und Ant wort aus erfter Hand, das Gegenfäßliche mühe: 108 erfaffend und phantafievoll verfnüpfend.

Die Wandlung kam bald. Ein unbedeuten- der Anlaß führte fie herbei.

Eines Tages, während der Rückkehr nach der Stadt, ſprach fi Stanhope darüber aus, wie fruchtbar es für die innere Haltung eines Men- ſchen fei, wenn er feine Selesnifte nicht Teicht» finnig vorüberfließen laffe, fondern fie moraliſch zu nügen fuche, indem er durch fchriftliche oder mündliche Mütteilung den Stoff feines Nach—

denkens bereichere. Cafpar fragte, wie er das

meine; ftatt der Antwort ftellte der Graf, den

diefer Umftand längft beunrubigte, die lauernde

heſrage, ob ſpar 106 ein Tagebuch re.

Caſpar bejahte,

„Und willft du mir nicht gelegentlich daraus vorlejen?"

Caſpar erſchrak, überlegte und antwortete zögernd, ja, er wolle es tun.

„So nehmen wir die gute Stunde wahr und machen ung gleich daran," fagte Stanhope. „Ich wünſche nur einen ungefähren Einblid zu er- und bin neugierig, wie du jo etwas an⸗ packſt.“

Zu Hauſe angelangt, begleitete der Lord Caſpar auf deſſen Zimmer und nahm, der Er—⸗ füllung des Verſprechens gemwärtig, auf dem Ranapee Pla. Im Ofen praffelte uer; draußen herrſchte ſeit dem Mittag ſtarker Tau⸗

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wind; es dämmerte ſchon, die Hügel waren violett umfchleiert.

Caſpar race fih unter feinen Büchern zu Pöaften, doch Minute auf Minute verging, ohne

er fich im geringften anſchickte zu tun, was Stanhope erwartete.

„Nun, Caſpar,“ meldete ſich endlich) un- geduldig der Graf, „ich bin bereit."

Da gab ſich Caſpar einen Ruck und fagte, ex könne nicht.

Stanhope fah ihn groß an; Caſpar fchlug die Augen nieder. Das Tagebuch ei unter vielen andern Sachen verftedt, und es ſei unbequem, e3 zu erreichen, murmelte er ſtockend.

„So fo," verjete der Lord und lachte faft lautlos durch die Nafe. „Wie flint du in Aus- flüchten bift, Caſpar; ich hätte nicht geglaubt, ® vos jo fine in... Ausflüchten bift. Ei, ieh doch !"

In diefem Moment Hlopfte und fcharrte e3 an der Tür, der Lord rief und die Geftalt Quandts ſchob ſich langſam ins Zimmer. Cr tat erſtaunt, den Herrn Grafen hier zu finden, und fragte, ob Seiner Lordichaft eine Kleine Er- friſchung gefällig fei. Der Lord dankte ſtumm und beftete den Blick fortgefet auf Cafpar.

Duandt merkte glei), daß da was auf der Pfanne brobelte. & erhunbigte fih, ob Seine Herrlichkeit Anlaß habe, mit dem Haufer unzu⸗ frieden zu fein. Stanhope entgegnete, er habe allerdings einigen Grund, fich zu ärgern, und in kurzen Worten teilte ec dem Lehrer mit, worum es fich handle. Hierauf, zu Cafpar gewandt, fagte er laut und markiert: „Wenn es von vorn: herein nicht in deiner Abficht Tag, mir von deinen 346

Intimitäten Kenntnis zu geben, jo hätteft du es re rende

pr ereut haft, fo durfteft du es fchi lich wieder zurücdnehmen. Aber ftatt deſſen zu einer folhen“ eine berebte Heine Pauſe „Ausflucht zu geeifen, das jcheint mir deiner und nicht würdig."

Er erhob ſich und verließ das Zimmer. Quandt folgte ihm. Unten im Flur blieb Stan- Hope ftehen und fragte den Lehrer kurz angebun- den, ob er fich in der verfloffenen Beit ſchon ein Urteil über die Fähiı teten und den guten Willen Caſpars gebildet habe.

„Eben wollte ich Eure Lordichaft ergebenft erjuchen, mir zur Beſprechung ieſes eine Viertelſtunde Gehör zu ſchenken,“ erwiderte Quandt. Er nahm das Dellämpchen vom Nagel und befomplimentierte den Lord in fein Studio. Ide ſich Stanhope in den Lederſtuhl ſetzte,

Bein auf Bein kreuzte und gelangweilt in die Luft ſtarrte, ramſchte Quandt ſeine Notizblätter zuſammen und ſagte, er habe den Hauſer gleich vom erſten Tag an tüchtig vorgenommen, ihm diktiert, ihn leſen und rechnen fen, die deutſche und Tateinifche Grammatik al egelzagt alles aus dem Gröbften und nur des Weber! Tick halber.

„Und das Ergebnis?" fragte Stanhope, wobei die Langweile feine Nafenflügel auseinander dehnte. f ans Ergebnis? Leider ziemlich troftlos, feider!"

Es mußte ein Schmerz Herrn Quandt fein, denn in diefem „leider“ Id ein tiefgefühlter Ton. Es mußte ein Schmerz für ihn jein, daß Caſpars Handichrift fo viel zu wünfchen übrig» ließ. „Er hat nicht? Freies und Bügiges in

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feiner Hand, und mit der Orthographie fteht er auf gejpanntem Fuß," fagte er. Es mußte ein Schmerz Erd Quandt fein, wenn ein Menjch den Dativ nicht in allen Fällen vom Akkuſativ unter- fügiden konnte. „Bon der funktionellen Bedeutung es Konjunktivs hat er nicht die geringfte Vor— ftellung,," fagte Quandt und fuhr fort: „Im fprachlichen Ausdruck fcheint er nicht ungemwandt, * bier ragt er fogar über feine fonftige Bildungs: fufe hinaus, und er kennt die Säße und ihre

jerbindungen fo weit, daß er den Punkt, das Kolon, da3 Anführungs-, Frage und Ausrufungs- zeichen genau und das fogar von Sprachforſchern io Berfihieben in Anwendung gebrachte Semitolon manchmal richtig zu fegen weiß.“

Immerhin ein Lichtjtrahl. Hingegen bie Arithmetit, o weh! Er beherrjcht die vier Grund- rechnungen in gleichbenannten Zahlen noch nicht mit Sicherheit. „Eine Null wird für ihn bald da, bald dort zum unüberwindlichen Hindernis," fagte Quandt. Die Lehre von den Brüchen, vom Kettenſatz, von den einfachen und zufammen- gejeßten Broportionen: ein boffnungstofes Duntel. Erſtaunlicherweiſe arbeitet er jedoch in diefen Dingen am vwilligften,“ fagte Quandt.

„Die erklären Sie ſich das?" erfunbigte fich der Lord mit der Neugierde eines Verfchlafenen, den man an den Füßen kitzelt.

„Ich erkläre mir das fo: Jedes Erempel ftellt ſich als ein für fich beftehendes Ganzes dar. Ein ſolches zu gejtalten, dazu hat er immer Luft und Verlangen, und es macht ihm Spaß, wenn er es vollendet fieht. Was ihn aber Lange beichäftigt, erregt fein Mißbehagen und Tann ihn fogar zu allerlei unwahren Entfchuldigungen veranlaffen. 348

Daher zeigt er fich auch verdrießlich bis zum Zorn, wenn er ein leichtes Erempel falſch ge- rechnet bat und den Fehler der Oberflächlichteit nicht finden kann.“

Weiter, weiter: Gefchichte, Geographie, Malen, Zeichnen... Was die Gefchichte betreffe, fo habe Quandt noch niemal® und bei feinem Menſchen eine ähnliche Seihgütigeit gefunden, ſowohl gegen vaterlänbijche Begebenheiten wie gegen welt⸗ Fakta, gegen Monarchen, Staats- männer, Schlachten, Ummälzungen, Helden und Entdecker. „Nur die Anekdote feſſelt ihn, ein Gefehichtlein, damit Tann man ihn ködern.“ Traurig! Und die Geographie? „Auf der Erd⸗ kugel fühlt er fich keineswegs zu Haufe," fagte Quandt. „Auch ift er oft zerftreut; er merkt nicht auf. Die nürnbergiiche Schwärmerei über fein wunderbares Gedächtnis ift mir ein Rätſel, ein unfagbares Rätſel, Mylord."

Mylord hatte genug. Vom Malen und Zeichnen wollte Mylord nichts mehr wiſſen; er unter- brach den Lehrer, der Proben zeigen wollte, und warf ein, daß ihm die Ausbildung in dieſen Nebenfär zwar wunſchenswert ericheine, daß er aber fein großes Gemwicht darauf lege.

„Wünfchenswert, jawohl,“ verſetzte Quandt, „und das Wünfchenswerte ſollte doch gepflegt werden. Der Geiſt eines Menſchen iſt wie ein Zuchtgarten, in welchem das Schöne und das Nüsliche nebeneinander gedeihen dürfen. Ich glaube, der mächtigfte Anjporn für den Hauſer üt feine Eitelteit. Wenn man es verfteht, feine

itelfeit zu befriedigen, Tann man ihn zu allem haben. Noch eine Frage, Mylord, haben Sie befondere Wünfche wegen de3 Religiongunter-

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richts? Ich. babe fehon mit Herrn Pfarrer Fuhr⸗ mann gefptochen, der ſich erboten hat, zweimal wöchentlich Cajpar eine Stunde zu geben. Die Bibel babe ich ſelbſt mit ihm durchzunehmen begonnen."

Stanhope hatte nicht? damwider; er wollte aufbrechen, aber mit verlegenem Stottern brachte Quandt jest das Quartiergeld auf3 Tapet, feine Frau liege ihm über die zunehmende Teuerung am Hals. Der Lord, ganz Seigneur, bewilligte turzerhand einen Zufchuß; e3 wurde vereinbart, daß Gafpar einen Mittagstifch für zwölf und einen Abendtifch für acht Kreuzer erhalten folle.

Um den übeln Eindrud dieſer Erörterung zu verwifchen, die ihn beſchämte und demiltigte, äußerte Quandt den Wunſch, Seiner Lordfchaft nad) deren Abreife periodijchen Bericht über die Fortſchritte Caſpars zu fenden. Stanhope, ſchon völlig ergeben, ftellte dies feinem Belieben ans heim. „E3 wäre ratſam,“ fchlug Quandt vor, „Haufers Briefe an Eure Herrlichkeit zugleich als Stilübungen zu betrachten. Ich könnte, ohne natürlich am Gedanken etwas zu verändern, die

auptfehler Forrigieren und mit roter Tinte eine enfur darunter Noreißen. So hätten Sie immer ein Bild feiner derzeitigen Fähigkeiten.“

Stanhope fand diejen Gedanken unvergleich- lich. Sie traten nun in den Flur, Quandt trug wieder das Dellämpchen voran. Auf einmal prallte er zurüc umd hielt daS Lämpchen hoch. Am Stiegengeländer ftand eine dunkle Geftalt. Es war Caſpar.

Aha, der hat gehorcht, fuhr es Quandt durch den Kopf. Er drehte ſich um und ſah den Lord beziehungsvoll an.

Caſpar trat auf Stanhope zu und bat ihn 350

mit bemegter Stimme, noch einmal auf fein Bimmer zu fommen. Der Graf antwortete kalt, er habe wenig Zeit, Caſpar möge fein Anliegen hier vorbringen. Caſpar fchüttelte den Kopf; der Lord dachte, Caſpar habe fich eines Beſſern be- fonnen, er ftellte fich, als ob es ihn Ueberwindung tote, dem Wunſch zu willfahren, dann ging er mit einen, wie gezählten Schritten die Stiege hinan. Quandt folgte unaufgefordert und blieb im Zimmer oben al3 ftumme Perfon neben der Tür _ftehen.

Caſpar fagte, er wolle dem Lord das Tage buch gerne zeigen, aber dieſer möge ihm ver- fprechen, nicht3 darin zu leſen.

Der Lord verjchräntte die Arme über der Bruft. Dies wurde ihm denn doch zu bunt. Aber er antwortete mit der Ruhe einer vollendeten Selbſtbeherrſchung: „Du Eannft mir wohl glauben, daß ich ohne deine Einwilligung nicht im deine Privatangelegenheiten dringen werde.“

Cafpar öffnete die Schublade des Kommode täftchens und hob den Bipfel eines Seidentüch⸗ leins, unter welchem das blaue Heft lag. Der Graf näherte fich und blickte in wortloſer Ber fremdung bald auf das Heft, bald auf Cafpar. „Was für eine kindiſche Zeremonie!" ftieß er finfter heraus, „Ich hatte nicht die geringfte Be— gierhe geäußert, deinen papierenen Schatz zu ſehen.

oviel ich weiß, wollteft Du mir daraus vorlejen; mit Flunkereien bitte ich mich zu verſchonen.“

Auch, Quandt war num herangelommen, und mit zmweifelnden Bliden maß er das myjteriöje Heft. Cafpar fehaute währenddem, auch indes der Lord das Zimmer fehweigend verließ, mit einem chinefifch-jchiefen, fchiefzbefinnenden Blick

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vor fich hin, einem Blick der Verfunkenheit und Senfeitigkeit, wie ihn manche Köpfe auf jehr alten Bildern haben. j

„Wenn ich meine unmaßgeblihe Meinung äußern darf," fagte Quandt, der den Grafen zum Tor begleitete, „jo muß ich geftehen, ich glaube nicht an diefes Tagebuh. Ich glaube nicht, daß ein Charakter wie der des Haufer von ſich ſelbſt aus den Antrieb findet, ein Tagebuch zu führen. Ich kann mir nicht helfen, Miylord, aber ich glaube nicht daran."

„Ja, denken Sie denn, daß er uns da bloß leeres Papier gezeigt hat?" verſetzte Stanhope fchroff.

„Das nicht, aber... ."

„Was aljo?" .

„se nun, man muß der Sache nachgehen, man muß fi damit bejchäftigen, man muß jehen, was dahinter ſteckt.“

Stanhope zuckte die Achſeln und ging. Er hatte gehofft, aus den Aufzeichnungen des Jüng⸗ lings mancherlei über fich felbft zu hören; dies lodte; er mußte, daß er dort auf einem hohen Poſtament ftand und daß er vergöttert worden war; es ift di vergöttert zu werden, wie wenig Aehnlichleit man auch mit einem Gott haben und wenngleich das Götterbild vom Sodel erkürgt war, um jeine Trümmer mußte noch eine reizende Romantik blühen. Dies lodte. An das DVerräterifche des Büchleins dachte er nicht, wollte er nicht denken, damit mochten fich die Schergen abfinden.

Trogdem begab er ſich am nächſten Mittag ins Lehrerhaus, trat in Caſpars Zimmer und orberte kurz und ftreng von dem Jungling die

blieferung der Briefe, die er ihm während ihrer 352

Trennung nad) Nürnberg gefchrieben. Caſpar gehorchte ohne zu fragen. Die Briefe, e8 waren nur drei, darunter ber gefährliche, geſchwätzige, den der Graf zu fürchten hatte, lagen in einer befonderen Mappe in einer Hülle von Goldpapier. Stanhope zählte fie nach, ſieckte fie in die Bruft- taſche und jagte dann etwas milderen Tons: „Du holſt mich heute abend um acht Uhr vom Hotel ab. Wir find aufs Schlößchen zu Frau von Imhoff geladen. Zieh dich gut an."

Caſpar nidte.

Stanhope ſchritt zur Tür. Die Klinke in der Hand, drehte er fs noch einmal um: „Morgen reife ih." Im der Krümmung feines Muni Tag Ueberbruß und Grauen. Ihm graute plöß- lich vor diefer Stadt und vor ihren Menichen, ihm graute vor etwas, das er wie eine hölliiche Unholdfrage über fich in der Luft hängen fah und dem er durch die Gefchwindigfeit feiner Pferde zu entrinnen hoffte. Den Präfidenten zu erwarten hatte er aufgegeben, denn Feuerbach hatte feinem Stellvertreter gejchrieben, er fäme erſt nach Neujahr.

„Morgen jchon?" flüfterte Caſpar betrübt; und nach einer Pauſe fügte er ſcheu Hinzu: „Was abgemacht ift, das gilt aber?"

„Was abgemadt ift, daS bleibt beſtehen.“

Die Einladung der Imhoffs_ war zugleich eine Abfchiedsfeier für den Grafen. Es waren gebeten: der Regierungspräfident Mieg, der Hofrat Hofe mann, der Direktor Wurm, Generaltommiffär von Stihaner mit Frau und Töchtern und einige andre Herrfchaften; alle famen in großer Gala. Man war jehr gejpannt auf Caſpars erſtes Er- ſcheinen in der hiefigen Gefellfchaft.

Balfermann, Gafpar Haufer 28 353

Sein Auftreten enttäufchte nicht. Wie fetierte man ihn, bemühte man ſich um ihn; man fagte ihm Komplimente, die lächerlichiten Komplimente, lobte feine einen Obren und ſchmalen Hände, fand, dab ihm die Narbe auf der Stirn, die vom Sc on des Vermummten bi rte, inter- effant zu Geficht ftehe, beftaunte fein Reden und fein Schweigen und mähnte damit den Lord zu entzücten, der fich jedoch über eine gemefjene Höf- lichkeit hinaus nicht verpflichtete und dem über ſchwenglichen Weſen der Damen feinen verbind- lichiten Sarkasmus entgegenfebte.

Nachdem die Tafel aufgehoben war, erfchien der Rämmerling des Lords und brachte ein Paket, welches in ungefähr einem Dutzend Eremplaren das in Kupfer geitochene Portät Stanhopes enthielt, worauf er in Pairstracht mit der Grafenfrone dargeftellt war. Er verteilte die Bilder an „die lieben Ansbacher Freunde”, wie er mit bezaubern- dem Lächeln fagte.

Das Runftwert erfuhr die Iautefte Bewunde⸗ rung, ſowohl in bezug auf die Aehnlichleit wie auf die Ausführung; als jeder feinen Dank ge zollt, kam das Gejpräch auf Bilder überhaupt, und es entitand eine Meinungsverjchiedenheit darüber, ob man aus den Zügen eines Porträts auf die Charaktereigenfchaften der betreffenden Perſon ſchließen Tönne. Der Hofrat Hofmann, als der negative Geift, der er überhaupt war, befiritt e8 mit großer Lebhaftigkeit und mit Aufe wand von vielen Gründen; er jagte, jedes Bildnis gebe ſchließlich doch nur eine Eſſenz der beiten oder einichmeichelndften oder am offenſten fich darbietenden Eigenfchaften, e8 komme dem Maler oder Stecher nur darauf an, einen bejonberen,

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feinem Kunftwefen verwandten Zug bis zur vor- gejegten Wirkung zu übertreiben, jo daß von der wahren Art des betreffenden Menjchen kaum noch etwas übrigbleibe. Dem murde heftig widerfprochen; das bänge ja vor allem von dem Genie de3 Künftler8 ab, wurde erwidert, und Lord Stanhope, der die Aeußerungen des Hof rats bei diefem Anlaß als einen Mangel an Delitatefje empfinden mußte, ereiferte fich fehr gegen feine fonftige Gepflogenheit und behauptete, ex jeinerfeit3 getraue fich aus jedem Bildnis, wen es auch darftelle und von weſſen Hand auch immer e3 gefertigt fei, die ſeeliſche Beſchaffenheit ber abgebildeten Perſon zu erraten.

Bei diefen Worten lächelte die Hausfrau bes deutungsvoll. Sie verfchwand in einem Neben- raum und kehrte alabald mit einem goldgerahmten ovalen Delbild zurüd, das fie, noch immer lächelnd, in Kurzer Entfernung von dem Grafen aufrecht auf den Tiſchrand ſtellte. Die Gäſte drängten fich Herzu, und faft von allen Lippen erfholl ein Ausruf der Bewunderung.

Es mar ein äußerft lebendig und natürlich gemaltes Bild, welches eine junge Frau _von ver

lüffender Schönheit barjtellte: ein Geficht weiß wie Aabafter und überhaucht von zartem Rofen- rot; Hare und ebenmäßige Büge, einen Blick, dem offenbar die Kurzjichtigfeit etwas Poe⸗ tifches und Schüchternes gab, und im ganzen Fr Fhyſtognorüe ein himmliſches Leuchten von

„Nun, Mylord?“ fragte Frau von Imhoff

ſchelmiſch. Stanhope nahm eine neunmalweiſe Miene an und ließ ſich vernehmen: „Wahrlich, in dieſem 865

Geſchöpf verbindet ſich orientalifche Weichheit mit andalufifcher Grazie.“

Frau von Imhoff nickte, ald ob fie das Ge- fagte vortrefflich fände. „Schön, Mylord," meinte fie, „wir wollen etwas über den Charakter der Dame wiſſen.“

„D, man will mic, attrappieren!" verfeßte Stanhope heiter. „Nun gut. Ich denke, es ift das eine Frau, welche jede Art von Leiden oder Ungemach mit außerordentlicher Langmut zu er- tragen verfteht. Sie ift Kg fie ift gottes- für tig, fie liebt den idylliichen Frieden des Zandlebens, ihre Neigungen gehören den ſchönen Künſten —"

Frau von Imhoff konnte nicht mehr an IN halten und hrach in beluftigtes Lachen aus. bin ficher, Graf, daß Sie nur, um mich zu neden, eine jo faljhe Deutung unternommen haben," fagte fie.

Der Hofrat machte ein molantes Geſicht, Stanhope errötete. „Wenn ich mich blamiert habe, fo belehren Sie mich eines Befjern, gnädige Frau,“ antwortete er galant.

„Am das zu können, müßte ich Ihre Geduld Tänger als le in Anfpruch nehmen," fagte Frau von Imhoff plöglich ernit. „Sch müßte Ihnen von dem ungewöhnlichen Schickſal diejer Frau erzählen, die meine befte Freumdin ift, und ich würde Gefahr laufen, die gute Stimmung zu zerftören, in der Sie fich alle befinden."

Aber man wollte fich nicht damit zufrieden geben, und Frau von Imhoff mußte jchließlich

em allgemeinen Drängen willfahren.

„Meine Freundin kam als Mädchen von acht» zehn Jahren an den Hof einer mittelbeutichen 356

Reſidenz,“ begann fie mit einer veizenden Be— fangenpeit. „Sie war vater- und mutterlo8 und in ihrer Eriftenz ganz auf ihren Bruder an- gewieſen. Diefer Bruder, ich will ihn der Kürze wegen ben Freiheren nennen, galt troß feiner Jugend, er war nur um zehn ‚re älter denn feine ſchöne Schweiter, für einen Dann von her vorragenden Talenten; der Fürft, obwohl ſchwaͤchlich und ausfchweifend, wußte feine Fähigkeiten voll- auf zu würdigen, gab eine der höchiten Stellen de3 Landes unter jeine Verwaltung und über- häufte ihn mit Ehren und Ausgeidmuingen, Do nahm der Freiherr an den Vergnügungen des Hofes nur infofern teil, al3 er die Schwefter in die Salons und Gefellfchaften des Adels ein- führte, und er hatte auch die Genugtuung, daß fe nicht nur durch ihre Schönheit, jondern auch uch Geift, Anmut und ein felten befeuertes Naturell der Mittelpunkt jedes Kreiſes wurde, in dem fie fich fehen ließ.

„Eines Tages nun wurde das ruhige Zu- fammenleben der beiden Menfchen auf eine furcht- bare Weiſe zerſtört. Faſt zufällig machte der Freiherr die Entdedung, daß in der Finanz verwaltung des Landes ganz ungeheuerliche Unter- fchleife ftattgefunden Hatten, es handelte fih um viele Hunderttaufende von Talern, und daß der Fürft jelbft, in Bedrängnis geraten durch eine arge Mätrefjen- und a bei diefen zum Nachteil des Volles ausgeführten Manipulationen beteiligt war. Der Freiherr mußte fich feinen Nat. Er vertraute fich der Schweſter an. Diefe fagte ihm: Hier gibt es fein Schwanken, geh zum Fürften und mac ihn ohne Rückhalt auf die Schwere eines folchen Ver-

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brechens aufmerkſam. Es gefchah. Der Fürft geriet in Zorn, wies dem jungen Mann die Tür und deutete ihm an, daß er feinen Abjchied zu nehmen habe. Als der Freiherr feiner Schwefter von dem unerwarteten Ausgang feines Unter nehmen Mitteilung machte, drängte fie ihn, die Geſchichte vor die verfammelten Landftände zu bringen. Auch dazu erklärte ſich der Freiherr bereit, eröffnete fich aber vorher noch einem feiner Freunde, der den Entſchluß zu billigen fchien. Derfelbe Freund jchrieb ihm am nächſien Abend ein Briefchen, worin er ihn dringlichft aufforderte, einer wichtigen Beſprechung halber fogleih in ein nahe der Stadt gelegenes Luſthaus zu kommen. Ohne Zögern folgte der Freiherr dem Auf, ließ, trotzdem es ſchon fpät und die Nacht finfter war, fein Pferd fatteln und ritt davon.

„Seit diefer Stunde wurde er nicht mehr geſehen. Einige Leute wollten gegen Mitternacht in der Nähe jenes Luſthauſes Schüſſe gehört haben, aber wie dem auch fein mochte, der Frei- herr war verſchwunden, und was mit ihm ges ſchehen war, blieb ein unerflärtes Rätſel. Den Schmerz der Schweiter Tann man ſich denten. Doch vom erften Tag an verſchmähte fie e3, diefem Schmerz fich hinzugeben, und entfaltete eine erjtaunliche Tätigkeit. Da fie nach und nad den Tod de3 Bruders glauben mußte, ſetzte fie alles daran, um wenigftens feinen Leichnam aus» findig zu machen. Sie nahm Arbeiter auf, die in der Umgebung des Lufthaufes wochenlang die Erde aufgraben mußten, mit Güte, mit Lift, mit Drohungen beſchwor fie den angeblichen Freund des Bruderd, zu reden, wenn er etwas wiſſe; «3 war umfonft, er behauptete, nichts zu wiſſen. 368

Niemand wollte etwas wiſſen. Sie warf fi dem Fürften zu Füßen, der fie huldvoll anhörte und, anſcheinend jelbft ergriffen, alles zu tun verfprach, um der Sache auf die Spur zu kommen. €3 war umfonft. Einige Zuge darauf erkrankte fie, ohne Zweifel durch Gift; der Verfuch wieder- holte fi. Plötzlich aber ftarb der Fürft an einem Schlagfluß. Ihres Bleibens an_jenem ſchrecklichen war nun nicht mehr. Sie be gann zu reifen und fuchte an allen einen und großen Höfen Deutfchlands, fpäter ſogar in Lon- don und Paris Minifter, Monarchen und Männer der Oeffentlichkeit zu gewinnen, um Sühne oder wenigſtens Aufklärung zu erlangen. Stellen Sie fich das Leben vor,“ fuhr Frau Imhoff fort, „das meine Freundin auf ſolche Weife länger al3 drei Jahre führte, immer unterwegs, immer in Haft, mit beftändigen Widerwärtigfeiten fämpfend. Ein großer Teil ihres Vermögens ging nad) und nad durch ihre fruchtlofen Anftrengungen ver- loren. AB fie nun endlich einjehen mußte, daß fie nichts erreichen würde, daß die Ver— brüderung der Schlehten und Gleichgültigen zu mächtig ift, entjagte fie mit derfelben Ent- ſchloſſenheit, die fie bisher an den Tag gelegt, allen weiteren Verfuchen, zog in eine Heine Uni— verfitätsftadt und warf fich mit einem wunder baren Eifer auf das Studium der Politik, der Jurisprudenz und der Nationalöfonomie. Nicht als ob fie jich damit gegen die Welt verfchloß, ganz im Gegenteil. Sie hatte ihre private Sache mit einer öffentlichen vertaufcht. Ihre glühende Seele, für den Gedanken der Dörferfreibeit und der Menfchenrechte entflammt, fuchte Betätigung. Bor zwei Jahren heiratete fie einen unbedeuten-

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den und keineswegs geliebten Mann; es geſchah deshalb, weil fich der Mann, dem fie fich ſchon gemeigert hatte, .aus Leidenfchaft zu ihr im Bade ie Adern geöffnet hatte; er wurde gerettet und fie nahm ihn. Doch wurde die Ehe ſchon nach wenigen Monaten in friedlihem Einverftänbnis elöft, der Mann ift nach) Amerifa gegangen und Farmer geworden. Meine Freundin fing aber- mals ihr merkwürdiges Wanderleben an; ich habe Briefe von ihr bald aus Rußland, bald aus Wien, bald aus Athen; feit einigen Monaten weilt fie in Ungarn. Ueberall unterfucht fie die Lage der Bauern und die Not des arbeitenden Volkes, nicht etwa nur oberflächlich und empfind- ſam, jondern mit fachlicher Gründlichkeit; ihr profundes Wiſſen und ihre Kenntnis der Geſetze, PVerfaffungen und öffentlichen Einrichtungen hat ſchon mandem gelehrten Herrn Bewunderung abgezwungen. Ste ift heute fünfundzwanzig Jahre alt und fieht ſaſt immer noch fo aus wie auf diefem Bild, dus vor ſechs Jahren gemalt wurde. Nach alledem werden Sie mir wohl (auben, Mylord, daß bei ihr von orientalijcher

jeichheit und fanfter Leidensdemut nicht wohl die Rede fein kann. Sanft ift fie, ja fie iſt janft, aber ganz anders, wie man ſich daS gewöhnlich vorftellt. Ihre Sanftmut hat etwas Freudiges und Tätiges, denn es ift in ihr ein kühner Geift und ein erhabenes Vertrauen zu allem, mas menfchlich if. Immer ift ihr die Gegenwart das Höchſie.“

Ein lautloſes Schweigen bezeugte der Er— zählerin die tiefe Wirkung, die ſie hervorgerufen. Und iſt es denn nicht prächtig, iſt es nicht prächtig⸗ſpannend und angenehm-grufelig, ſich 860

dergleichen im mohldurchheizten, hellerleuchteten Zimmer vorerzählen zu laffen? Der Mann am Kamin reibt fich gemütlich die Hände, wenn es draußen ftürmt und wettert. Dem Mann am Kamin verurfacht es ein füßpridelndes Behagen, wenn er fich vorftellt, daß draußen einige Leute ohne Ueberzieher und Handſchuhe herumfpazieren. Er, der Dann am Kamin, iſt jogar imftande, mit folchen Unglüclichen auf das lebhaftefte zu ſympathiſieren.

Caſpar war, als Frau von Imhoff zu

fprechen angefangen, etwas außerhalb des Zu- börerkreifes gejefjen, dann hatte er fi langſam echoben, war näher gekommen, bis er an ihrer Seite ftand, und hatte wie verzaubert auf ihren redenden Mund geblidt, Jetzt, da fie fertig war, lachte er plötzlich. Die Züge kamen in Bewegung und erhielten etwas unendlic, Anziehendes,' Fran von Imhoff geftand fpäter, daß ihr ein folder Ausdruck Tindlicher Freude noch nirgends vor jefommen jei; ja, es glich dem Lachen eines leinen Kindes, nur daß ſich eine höhere und reinere Kraft des Bewußtſeins darin zu erkennen gab und die Empfindung feines Innern mit den ftärkften Farben malte. Die Umfigenden waren neugierig, was er jagen würde, und beugten fich vor, doch er ftellte nur die zaghafte Frage: „Wie heißt denn die Frau?"

Frau von Imhoff legte den Arm um feine Schulter und antwortete, gütig lächelnd, das zu verraten ftehe ihr jegt nicht zu, fpäter vielleicht werde er es erfahren, auch an ihm nehme fie herzlichen Anteil,

Er blieb. nachdenklich. Auch als die Gefellig- keit wieder geräufchvoller wurde und das jüngite

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Fräulein von Stihaner am Klavier Lieder fang, behielt er feinen fchiefsbefinnenden Blick. Sonder: bar wurde fein Gefühl durch das jo beweglich geſchilderte Schickſal jener Unbelannten nach außen getrieben, und wie durch den Wink eines unficht- aren Geiftes öffnete fih zum erftenmal fein Herz den Leiden eined andern Ichs, einer fremden PR Es fann doch nicht jo mit den Frauen beichaffen fein, wie ich's mir immer eingebildet babe, dachte er.

Das gab ihm zu denken. An irgendeinem Punkt erzitterte auf einmal der Bau der Welt, und ein zmwiefaches Antlitz zeigten die Kreaturen: das eine wohlvertraut und nicht geliebt, das zweite unfaßbar wie Schatten, fern wie der Mond, ver- fchwiftert beinahe dem der nie gefehenen Mutter.

Auf der VBrüde zwiſchen Abend und Abend reitet daS Leben; was es heute ſchenkt, wird morgen Beſitz. Ohne dieſe Stunde hätte ein Er⸗ eignis der folgenden Nacht, bei dem er nur der flüchtige und faum bemerkte Zeuge war, nicht fo gemaltig in fein Inneres gewuchtet, daß er tage sn danach ſich in der ſchmerzlichſten Verwirrung

and,

Joſeph und feine Brüder

Als Abſchiedsgabe erhielt Cafpar vom Lord zwei Paar Schuhe, eine Schachtel mit Brüffeler Spitzen und ſechs Meter feinen Stoff zu einem Anzug. Nachdem er ſchon den ganzen Vor— mittag mit ihm verbracht, fam Stanhope nad) Tiſch ins Quandtſche Haus, um Caſpar Lebewohl 362

zu fagen. Um halb vier fuhr der Wagen vor. Caſpar geleitete den Grafen. auf die Gaſſe. Er war bleich bis in die Augen; dreimal umarmte er den Scheidenden und biß die Zähne zufammen, um nicht aufchreien zu müflen, war e3 doch ein Stüd feines innigften Seins, das ſich graufam von ihm trennte für immer, das fühlte er wohl, ob er den fo teuer gewordenen Mann wiederfah oder nicht. Mit ihm nahm er Abfchied von ber Unſchuld feligften Vertrauens und von der Süßigkeit ſchöner Wünfche und Täufchungen.

Auch der Lord war zu Tränen gerührt. Es entſprach feiner reizbaren Natur, fich bei folchen Anläffen einer mwohltätigen Gemütserjchütterung zu überlafjen. Sein letztes Wort Hang wie ein Schuß vor Selbftvorwürfen; als wolle er geſchwind noch ins Schickſalsrad greifen und die Speichen zurüddrehen; die Kutſche war ſchon im Fahren, da rief er Quandt und dem Polizeileutnant Hidel, die beide am Tor ftanden, mit feierlich era Brauen zu: „Bewahrt mir meinen

ohn!“

Quandt drückte die Hände beteuernd gegen jeine Bruft. Das Gefährt rollte gegen die Krails- heimer Straße.

Fünf Minuten fpäter erfchienen Herr von Imboff und der Hofrat Hofmann; fie mußten zu ihrem Leidweſen erfahren, daß fie die Zeit verpaßt hatten. Um Caſpar feiner Traurigkeit zu entreißen, re fie ihn zu einem Spazier- gang in den Hofgarten auf, ein Vorfchlag, dem der Lehrer eifrig zuftimmte. Hickel bat, ſich an- ſchließen zu dürfen.

Raum waren die vier Perſonen um die nächfte Ede gebogen, als Quandt raſch ins Haus zurüd-

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eilte und feiner Frau einen Wink gab, die ihm, ohne zu fragen, weil da8 Unternehmen verab- redet war, in den oberen Flur folgte, wo fie ſich bei der Treppe als Schildwache aufitellte. Quandt feinerfeits machte fih nun daran, das Tagebuch u fuchen. Er hatte fich zu dem Ende ein zweites —* Schlüffel anfertigen laſſen und konnte da⸗ mit die Kommode und den Schrank öffnen. In der Kommodeſchublade fand er nichts, das blaue & war nicht mehr darin. Aber auch den

rank durchſtöberte er vergeblich, die Kleider, die Tifchlade, die Bücher, daS Kanapee; vergeblich kroch er in jeden Winkel, e8 war nichts zu finden.

Erſchöpft trocknete er fi den Schweiß von der Stirn und rief feiner Frau durch die offene Tür zu: „Siehft du, Jette, was 1“) Immer fage: der Kerl hat's fauftdie hinter den Ohren."

„Da ja, er ift faljch wie Bohnenſtroh,“ er- widerte die Frau, „und lauter Scherereien macht ex einem." Sie fehimpfte bloß ihrem Mann zu Gefallen, denn im Grund hatte fie den Jünglin, gern, weil noch _nie ein Menſch fich jo Hoflich und nett gegen fie betragen hatte.

Quandt blieb für den Reſt des Tages ver- ftimmt wie einer, der um ein edles Wert be— trogen wurde. Und mar es nicht jo? War es nicht feine Miſſion auf diefer Erde, die Lüge von der Wahrheit zu jcheiden und als rechter Herzensalchimiſt den ‚Diitmenfcjen die unvermiſch⸗ ten Elemente aufzuzeigen ? durfte nicht ruhig zufehen und nicht Nachficht üben, wo der Atem der Lüge wehte.

Von folchen Empfindungen bewegt, hielt er am jelben Abend feiner Gattin eine längere Rebe, 364

worin er fich folgendermaßen ausſprach: „Sieh mal, Jette, ift dir nicht fein gerades und aufs rechtes Sigen bei Tiſch ſchon aufgefallen? Kann man annehmen, daß fo ein Menſch jahrzehnter lang in einem unterivdifchen Loch vegetiert hat? Kann man die glauben, wenn man feine fünf Sinne ordentlich beieinander hat? Won feiner gerühmten Kindlichkeit und Unſchuld Tann ich, offen geftanden, nichts entdecken. Er ift gutmätig, ja; gutmütig mag er fein, aber was beweift das?

nd wie er vor den reichen und vornehmen Leuten ſcharwenzelt und liebedienert als der ausgemachte Duchmäufer, der er ift! Da bat deine Freundin, die Frau Behold, den Nagel auf den Kopf ge troffen. Sieh mal, oft, wenn ich unverjehens in fein Zimmer trete, es liegt mir natürlich daran, ihn zu überrafchen, aber da hockt er dir manche mal in der Ede es ift fonderlich anzuschauen. Ich weiß nicht, ift ex jo geiftesabmejend oder ftellt ex fi nur fo, aber wenn er mich dann bemerkt, verändert ſich fein Geficht bligfchnell zu der beuchlerifchen Grimaſſe von Freundlichkeit, die einen leider entwaffnet. Einmal hab’ ich ihn fogar am hellichten Tag bei Beruntergelaflenen Rouleaus ‚gefunden, Was Tann das bedeuten ? Es ſteckt eben was dahinter.”

„Was fol denn dahinter ſtecken?“ fragte die Lehrerin.

Quandt zudte die Achſeln und feufzte. „Das mag Gott wiffen,“ fagte er. „Bei alledem mag ich ihn leiden," ſchloß er mit verforgtem Stirn⸗ runzeln; „ich mag ihn gut leiden, er ift ein auf⸗

jeweckter und trätabler Burſche. Man muß aber jehen, was dahinter ſteckt. Es ift etwas Unheim- liches um den Menjchen."

865

Die Lehrerin, die fich für Die Nacht frifierte, war des Schwatzens müde. Ihr hübſches Geficht jatte den Ausdrud eines dummen, ſchläfrigen ogels, und ihre auffallend nah beieinander rg Augen blinzelten matt ins Kerzenlicht. löslich Tieß fie den Kamm ruhen und fagte: „Hoch mal, Quandt."

Quandt blieb ftehen und laufchte. Caſpars Zimmer lag über dem ehelichen Schlafgemadh, und fie vernahmen nun in der eingetretenen Stille die unaufhörlich auf und ab gehenden Schritte ihres rätfelhaften Hausgenofjen.

„Was mag er treiben?" meinte die Frau verwundert,

„Ja, was mag er treiben,“ wiederholte Quandt und ftarrte finfter zur Dede. „Ich weiß nicht, mir wurde immer gejagt, daß er mit den Hübner fchlafen geht; is merke nicht3 davon.

m fiehft du's, da foll man fich auskennen. Jedenfalls wollen wir ihm das Spazierengehen bei Nacht abgewöhnen." Quandt öffnete leiſe die Tür und ſchlich auf Pantoffeln vorfihtig hinaus. Vorfichtig jchlich er die Treppe empor, und al® er vor Caſpars Tür angelangt war, verfuchte er durchs Schlüffelloch zu fpähen, aber da er nichts fehen fonnte, legte er in derjelben gebücten Stellung das Ohr and Schloß. a, da wandelte er herum, der Unerforfchliche, wan⸗ delte herum und ſchmiedete feine dunfeln Pläne.

Quandt drückte die Klinke, die Tür war vers fperrt. Da erhob er feine Stimme und forderte energiih Ruhe. Sogleih ward es drinnen mäuschenftill.

Als nun der Lehrer wieder zu feiner Frau kam, fand fich, daß mit unerwarteter Plötzlichkeit

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deren ſchwere Stunde angebrochen war. Schon lag fie ftöhnend_auf dem Bett und verlangte nad) er Hebamme. Duandt wollte die Magd jchiden; die Frau fagte: „Nein, das geht nicht, geh du felber, die Perſon ift blöde und wird den Weg verfehlen.“ Wohl oder übel mußte ſich Duandt dazu entichließen, jo unbequem auch die Sendung war, denn erſtlich hatte er fich aufs Bett gefreut, zweitens fürchtete er fich ein wenig vor dem Gang durch die finftern Gaffen, war doch erſt zu Pfingften hinter der Karlskirche ein Rechnungs⸗ alzeſſiſt überfallen und halb ehe jen: worden.

Verdroſſen haftete er in die Kleider; hierauf holte er die Magd aus ben Federn und befahl ihr, eine befreundete Nachbarin zu rufen, die ſich im Notfall zur Sitfeleitung erboten hatte, dann fehlurfte er wieder herein, durchkramte die Truhe: nad) jeinen Piftolen, wobei er das Nähtifchlein ummarf, was ihn wieder derart in Verzweiflung fette, daß er mit den Händen feinen Kopf padte und fein unfeliges 203 verwünfchte. Die Frau, der das Elend ſchon den Sinn verrüdte, ent— nahm ihrem Zuftand den Mut, ihm allerlei fonft feig zurüdtgehaltene Aufeichtigteiten zuutäleubern, welche ihn im bejondern und das Mannsvolk im. allgemeinen trafen. Das hatte die befte Wirkung, und nachdem er fein Meines Söhnchen, das neben- an fchlief und von dem Tumult erwacht war, a Magdlammer getragen hatte, trolite er fich endlich.

Caſpar, im Begriff ſich nieberzulegen, ver- nahm auf einmal mit Schaudern die ſchmerzens⸗ volle Stimme der Frau unten. Immer furcht⸗ barer wurden die Laute, immer greller drangen fie herauf. Dann war e3 wieder eine Beitlang . 367

ftille, dann knarrte die Haustüre, Schritte gingen, Schritte famen, und nun begann das Schreien viel ärger. Caſpar dachte, ein großes Unglück fei paſſiert; fein erfter Trieb war, ſich zu retten. Er lief zur Tür, fperrte auf und eilte die Stiege hinab. Die Wohnzimmertüre war offen, über- heizte Luft quoll ihm entgegen. Die Magd und die Nachbarin ftanden gefchäftig am Bett der Frau Duandt; diefe fchrie nad) ihrem Mann, ſchrie zu Gott und bäumte ſich auf.

Ad, was ſah Cafpar da! Wie ward ihm doch zumute! Ein Köpflein fah er, einen weißen fleinen Rumpf, ein ganzes winziges Menfchlein, emporgehoben mit Händen, die nicht Heiner waren als es felbft! Alle Glieder zitterten an Cafpar, er wandte fih um, und ohne daß ihn jemand erblickt, floh er die Stiege hinauf, ſank auf dem oberſten Treppenabfaß atemlos hin und blieb figen.

Wieder ging die Haustür, Quandt erichien mit der Wehfrau, doch ſchon ftürzte ihm die Nach- barin jubelnd entgegen: „Ein Töchterlein, Herr Lehrer!"

„Ei, fieh da!" vief Quandt mit einer Stimme, fo ftolz, als hätte er dabei etwas Nennenswertes geleiftet.

Biepfendes Geplärr beftätigte die Anmwejen- heit der neuen Weltbürgerin. Nach einer Weile am trällernd die Map. und Caſpar jah, daß fie eine Schüffel voll Blut trug.

Es mochte in allem nicht mehr denn eine Stunde verflofjen fein, als Cafpar ſich endlich erhob und in feine Kammer taumelte. Wie betrunfen entfleidete er ſich, wühlte fich in die Betten und vergrub das Geficht.

Er konnte nichts dawider tun: aus der Nacht 368

erhob fich gleich einer purpurnen Scheibe die Schüſſel voll Blut.

Er konnte nichts andres fehen als dies: aus einem blutigen Schlund krochen junge Wefen und wurden Menfchen genannt. Nadend und winzig, einfam und hilflos und unter dem Jammer der Mutter krochen fie wehevoll aus einem Kerker ohnegleichen, wurden geboren, ja, geboren, ſowie die Mutter ihn geboren.

Das ift e8 alfo, dachte Caſpar. Er fpürte das Band, begriff den Zufammenhang, fühlte feine Wurzeln tief in der blutenden Erde, alles ftarre Leben regte fich, das Geheimnis war entjchleiert, die Bedeutung offenbar.

Doch Mitleid und Grauen, Sehnfucht und Furcht waren nun eines, Leben und Sterben zu einem Namen verfchmiedet. Ex wollte nicht ein- fülofen und fchlief ein, aber je näher der Schlummer am, eine je qualvollere Todesangjt umfing ihn, fo daß er fich nur widerſtrebend ergab: ein banger Heiner Tod im Leben.

Da er am Morgen über die gewohnte Stunde ausblieb, verwunderte fi Duandt, ging hinauf und pochte an der Tür. Obgleich er das Zimmer vom Abend her verfperrt wußte, drüdte er auf die Klinke, fand jedoch zu feinem Erſtaunen die Tür unverfchloffen. An Caſpars Bett tretend, rüttelte er ihn und fagte ärgerlich: „Nun, Haufer, Sie fangen ja an, ein Siebenfchläfer zu werben. Was him denn?"

Caſpar ſetzte fih auf, und der Lehrer jah, daß das KRopffifien ganz naß mar; er deutete hin und fragte, was das fei. Caſpar befann fich ein wenig und antwortete, es ſei vom Weinen, er habe im Schlaf gemeint.

Baffermann, Gafpar Haufer 24 369

Was, geweint? dachte Quandt ——— warum geweint? wieſo weiß er es denn jo ſchnei wenn er im Schlaf geweint hat? und warum hat er fo lange gewartet, bis ich mich entſchloſſen, ihn zu holen inter ſteckt eine inte, entſchied Quandt,

er will mich milde ftimmen. Forfchend ſchaute er fih um, und fein Blick fiel auf das Wafjer- gies, da3 auf dem Nachttifchlein ftand. Er nahm a8 Glas und hob es prüfend empor, es war ya leer. „Haben Sie Waffer getrunfen, Hauſer?“

agte er duͤſter.

Caſpar fah ihn-verftändniglos an. Der Blick de3 Lehrers, von dem Glas auf das Kiffen gleitend, befam einen vorwurfsvollen Ausdrud. „Sollten Sie nicht aus Verſehen das Wafler verfchüttet haben?“ fragte er weiter; „ich fage: aus DVerfehen und meine durchaus nichts Fr red, Sie können freimütig mit mir reden,

aufer."

Caſpar fchüttelte langſam den Kopf; er ver⸗ ftand nicht, was der Mann wollte.

Verſtockt, verftoct, dachte Quandt und gab das Verhör auf. Als Cafpar zum Unterricht ind Wohnzimmer kam, teilte ihm Quandt in geziemen- der Würde mit, daß ihm eine Tochter geſchenkt worden fei.

Wieſo gejchenkt?“ fragte Cafpar naiv.

Quandt runzelte die Stirn. Die Gleichgültig- feit, mit welcher der Jüngling ein ſolches Er— eignis aufnahm, verdroß ihn ſehr. Seine Haltung war kalt und förmlich, als er jagte: „Wir be- innen wie gewöhnlich mit der Bibelftunde. Leſen & Ihr Penſum vor."

Es war die Gefhichte Joſephs.

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Da ift ein alter Mann, der viele Söhne hat, aber den jüngften unter ihnen am meiſten liebt und ihm einen bunten Rod gibt, um ihn aus⸗ zuzeichnen. Deswegen haffen ihn nun Die Brüder und wollen nicht mehr freundlich mit ihm reden. Und Yofeph erzählt ihnen einen Traum von ben Garben. „Siehe, wir banden Garben auf dem Felde", erzählt er, „da ftand meine Garbe auf und blieb ftehen und fiehe, eure Garben waren vings- um und beugten ſich vor meiner Garbe.“ Da antworten die Brüder: „Willſt du denn König werben über und? willft du herrfchen über ung?" Und fie haſſen ihn noch mehr wegen feiner Träume. Aber Joſeph ift fehr arglos, er feheint den Grund ihrer Abneigung nicht zu ahnen, er erzählt ihnen al8bald einen zweiten Traum, näms lich wie die Sonne, der Mond und elf Sterne fih vor ihm beugten. Ein Traum von leichter Deutbarkeit, denn elf ift die Zahl der Brüder. Sogar der Vater ſchili ihn wegen diefes Traumes. „Was denkſt du, Joſeph,“ ſpricht er vorwurfsvoll, „jo ich und deine Mutter und deine Brüder, jollen wir kommen, uns vor dir zu beugen?" Und bald darauf gehen die Brüder, die alle Hirten Br aufs Feld, um die Schafe zu meiden, und

joſeph wird von feinem Vater zu ihnen gejandt. Und wie die Brüder ihn von ferne fehen, Sprechen fie zueinander: „Seht, da kommt der Träumer." Und fie befchließen ihn zu erwürgen, fie wollen ihn in_eine Grube werfen und vorgeben, ein wildes Tier habe ihn verzehrt; „dann werden wir ja ſehen, was aus feinen Träumen wird," fagen fie hohnvoll. Da ift aber einer unter den Brüdern, der Exrbarmen hat, und er warnt die andern. Er rät ihnen, den Jüngling in die Grube zu werfen, 871

ihm jedoch nicht zu töten. Und fo geichieht es auch; fie ziehen ihm den Rod aus, den bunten Rock, den er trägt, und werfen den Knaben in die Grube, und als die vollbracht ift, erſcheint ein Zug von Kaufleuten aus fernem Land, und die Brüder einigen fich jest, den Joſeph zu ver- taufen, und fie verkaufen ihn um Geld. Dann nehmen fie Joſephs Kleid, tauchen es in das Blut eines geiglachteten Tieres und fprechen zum Vater: „Das blutige Kleid haben wir gefen en, fieh doch, ob e8 nicht deines jüngften Sohnes Kleid iſt.“ Der Alte zerreißt I Gewand und ruft aus: „Trauernd will ich hinunterfahren zu meinem Sohn in die Unterwelt."

Als Cafpar fo weit gefommen war, vi te ihm die Stimme. Er ftand auf, legte das Buch beifeite, und feine Bruft ward von Seufzern nur fo geſchüttelt. Die Hand vor den Mund geprefit, erſtickte er mit großer Anftrengung das herauf⸗ quellende Schluchzen.

Quandt ſtutzie. Er beobachtete den Jungling ſcharf. Er hatte dabei den ſchrägen Bück einer an den Pfahl gebundenen Ziege. „Hören Sie mal, Haufer," jagte er endlih. „Sie werden mir doc) nicht weismachen wollen, daß Sie von diefer fimpeln Gefchichte fo ergriffen find, die Ihnen noch dazu mwohlbefannt fein muß; meines Wiffens haben Sie ja diefen Teil des Alten Teftament3 ſchon beim Profeffor Daumer durchs genommen. Da muß Ihnen doch auch gegen- märtig fein, daß es dem Joſeph noch recht glück ich ergangen it, denn er war ein reiner und guter enſch. Ich bitte, ſparen Sie ſich alfo ie Mühe. Wenn Sie pflichtgetreu, aufrichtig und folgſam ſind, werden Sie bei mir zehnmal 372 -

beffer fahren als durch die ungeitige Schauftellung von fo weit bergeholten Affelten. Ich glaube Ihnen Ihre Tränen einfach nicht; ich denke Ihnen das heute ſchon einmal deutlich genug bewieſen zu haben. Damit erzielen Sie bei- mir nur das Gegenteil von dem, was Sie beabfichtigen mögen, ih bin nämlich kein Freund von Gerühlsnus. brüchen, im allgemeinen nicht, und bei fo un- gegrändetem Anlaß ſchon gar nicht. Es iſt nach gerade Zeit für Sie, ſich an den Ernſt des Lebens zu gewöhnen. Und weil wir nun ſchon jo offen miteinander reden, möchte ich Sie dringend warnen, alle Leute, mit denen Sie zu tun haben, für dumm, zu halten; das ift eine Verblendung von Ihnen, welche die nachteifigiten Folgen haben wird. Ich bin Ihnen wohlgefinnt, Haufer, ich meine es wahrhaft gut mit Ihnen, vielleicht haben Sie keinen befjern Freund als mich, was Gie Fe erſt einfehen werden, wenn es zu fpät ein wird. Aber hüten Sie fich, mich hinter3 Licht du führen! Und nun fahren wir fort. Ich will iefen Zwiſchenfall al3 nicht geichehen betrachten.“

Verlauf diefer eindrucsvollen Predigt" war die Stimme des Lehrer3 weich und gütig geworden, und es hatte beinahe den Anfchein, al wolle er nun Cafpar nehmen und an fein Herz drüden. Aber Cafpar ſtand mit albernem Gefiht, in welchem ein Lächeln hilflos zuckte, vor ihm da. Was ift denn. das? dachte er, was will der Mann?

Es war ihm, auch bei fpäterem Nachdenken, ganz und gar nicht verjtändlich, worauf die Worte de3 Lehrer hinzielten, und er kam u der An- It, daß Quandt der rätjelhaftefte Menſch ſei,

em er je begegnet. 373

Schloß Faltenhaus

Der Präfident traf erjt am Dreilönigstag, nah faft vierwöchiger Abweſenheit, wieder in der Stadt ein. Die ihm naheftehenden Per ſonen wollten eine bedeutende Veränderung feines Weſens an ihm bemerken; er erjchien wortkarg und finfter, und fein Anteil an den Amtsgeſchäften hatte bisweilen etwas von Lauheit.

Es fiel auf, daß er mehrere Tage verftreichen Tieß, ehe er ſich nach Caſpar erkundigte. Als ihn der Hofrat Hofmann während des gemein- ſamen Nachhaufewegs unbefangen fragte, ob er den Jüngling ſchon gefehen habe, gab Feuerbach Teine Antwort. Tags darauf erfchien der Polizei⸗ leutnant bei ihm. Hickel ftellte fich um die Sicher- heit de3 Hauſer bejorgt und meinte, man folle für eine Ueberwachung forgen; der Präfident ging auf die Sache nicht weiter ein und jagte bloß, er werde fich’8 überlegen. Am jelben Nachmittag ließ er den Lehrer rufen und ftellte ihn über Befinden und Betragen feines Zöglings zur Rede. Quandt fagte die und fagte das; es war nicht ſchwarz noch weiß; zum Schluß zog er einen Brief aus der Tafche, e8 war das Schreiben der Magiftratsrätin Behold, welches dem Präfidenten zu überreichen ex fich entſchloſſen hatte,

Feuerbach überlas das Schriftſtück, und eine Wolfe von Mißmut Tagerte ſich auf feine Stirn. „Sie müfjen auf derlei Zeug fein Geroicht legen, lieber Quandt,” fagte er barſch, „wo kämen wir denn bin, wenn wir auf das Gewäſch jeder folchen Närrin hören wollten? Sie haben fich nicht mit der Vergangenheit des Haufer zu be= ſchaͤftigen, das ift nicht Ihres Amts; ich habe 874

Sie dazu bejtellt, einen tüchtigen Menschen aus ihm zu maden, wenn Sie in der Hinficht zu Hagen haben, bin ich ganz Ohr, mit andern Dingen verfchonen Sie mich."

läßt fich denken, daß eine fo grobe Ab» fertigung die Empfindlichkeit des Lehrers tief ver- leßte, ging exbittert heim, und obwohl ihm der Präfident den Auftrag gegeben hatte, Caſpar am Sonntag früh zu ihm zu ſchicken, teilte er dies dem Singing exit zwei Tage fpäter, am Samstag abend, mit.

Als Cafpar zur beftimmten Stunde ins Feuerbachſche Haus kam, mußte er im Flur ziem- lich lange warten, dann erjchien erſt Henriette, die Tohker des Präfidenten, und führte ihn ins Wohnzimmer. „Ich weiß nicht, ob der Vater Sie heute empfangen wird," jagte fie und er- zählte dann, in der vergangenen Nacht ſei ein Einbruch in das Arbeitszimmer des Präfidenten verübt worden; die unbelannten Täter hätten alle Papiere auf dem Schreibtifch durchwühlt und mit Nachſchlüſſeln die Laden geöffnet; es fei anzunehmen, daß die Verbrecher irgend beftimmte Briefe oder Handichriften hätten an fich bringen wollen, denn es fei nichts geraubt worden, aud) die gewünfchte Beute hätten fie nicht machen tönnen, da der Vater feine wichtigen Papiere gut verwahrt habe; nur die erbrochenen Fenſter und eine gewaltige Unorbnung habe von ihrem Treiben Zeugnis gegeben.

Das Fräulein Mit während diefes Berichts in männlicher-Weije auf und ab, die Arme über der Bruft verfchräntt, Groll und Zorn in Stimme und Miene. Eie fagte, der DBater fei natürlich außer fich über den Vorfall; währenddeſſen öffnete

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fi) die Tür und der Präfident trat in Begleitung eines ſchlanken, etwa dreißigjährigen genaen Mannes auf die Schwelle. „Aha, da ift Caſpar geuier, Anſelm,“ fagte der Präfident. Der

(ngeredete ftußte und bliette Caſpar gedantenvoll und zerftreut ins Geficht. Caſpar war betroffen von der außergewöhnlichen Schönheit diefes Men- hen; wie er ſpäter erfuhr, war es der zweit- ältefte Sohn Feuerbachs, der, verfolgt von einem widrigen Geſchick, für einige Tage ins Eltern- haus geflüchtet war, um Nat und Hilfe feines Vaters in Anfpruch zu nehmen. Cafpar liebte ſchöne Gefihter, zumal wenn fie fo voll Geift und Schwermut waren, bei Männern ganz be> fonder8; aber e8 war dies nur eine kurze Er—⸗ ſcheinung, er fah ihn nicht wieder.

Der Präfident ließ Eafpar ins Stantsgemach

treten und kam erft nach einer Weile. Sofort fiel Caſpars Blick auf das Napoleonbildnis an ‘der Wand. Wie wunderlich es war: ſolche Aehn- licheit im Ausdruck der ſtolz- abweiſenden Maje- ftät und der finfteren Trauer um die anmutig

jeſchwungenen Lippen mit jenem Mann, den er geſehen! Dazu noch der prunkvolle Ornat, Krone, Halsſchmuck und Purpurmantel. Caſpar war bewegt; eine höhere Welt tat ſich ihm auf; am liebſten wäre er hingegangen, um, was an dem Bild geftalthaft fchien, mit Händen zu pacten und, mas ihn fo hoheiisvoll daraus anrebete, in laute Zwieſprach zu verwandeln. Unwillkürlich reckte er fi auf, als zwinge ihn die Fönigliche Figur zur Nachahmung; er machte ein paar Schritte hin und her und war freudig erſchrocken bei der Wahrnehmung, daß die Augen des Bildes ihn mit dunkler Glut verfolgten.

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Alſo befchäftigt fand ihn der Präſident und blieb überrafcht neben der Tür ftehen. Mochte & Zufall genannt werden oder war es eine der unergrünblichen Verkettungen, in denen dies nicht jewöhnliche Schickſal ſich offenbarte, Feuerbach in dem zauberartigen Gegenüberſtehen von ild und Jüngling etwas wie ein Ordal, eine Beglaubigung von oben. War doch Caſpars Mutter (feine Mutter, ja, ſofern der ganze Bau der furchtbaren Annahmen und halben Gewiß- beiten im Licht der Wirklichkeit nur irgend beſtehen Tonnte) durch verwandtfchaftliche Bande an jenen Heros gelnüpft.

„Wiſſen Sie denn auch, wer das ift, Caſpar?“ fragte Feuerbach mit lauter Stimme,

Caſpar fchüttelte den Kopf.

„So will ich's Ihnen jagen. Das ift ein Mann, der die Menfchheit davon überzeugt hat, daß ein großer Wille alles vermag. Haben Sie denn nos nie was vom Kaiſer Napoleon gehört? Ich kannte ihn, Caſpar, ich habe ihn geleben, ich habe mit ihm ygejprochen, ich war Mittels- mann zwifchen ihm und unferm König Mar. Es war eine große Zeit und nicht mehr viel ift von ihr übrig."

Mit mehmitig-finnendem Blick wandte fi Feuerbach ab, Er fpürte die Laft der Jahre; lange genug hatte er gegen ihre Pranken gewehrt; faſt mit ſtreifte ſein Auge den immer noch ſchweigend daſtehenden Jüngling, als erwarte er von ihm das Richterwort, das ſeine nicht mehr zu verbergende Ohnmacht der Welt preisgeben mußte. Das zuletzt Erfahrene, dort bei den Mächtigen Erlittene überflutete fein Herz mit Scham; eine Flamme des Ingrimms und

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des Hafles gegen alles, was Menfchen hieß, Ioderte plöglidy in ihm auf, zähneknirſchend rannte er ein halbdutzendmal zwiſchen den Fenſtern und der Tür hin und her, und erft der Anblic des vor Furcht erbleichten Caſpar gab ihm die Be finnung einigermaßen zurüd, und er ftellte bie mürrifhe Frage, ob Gafpar bei Quandt genug zu eflen befomme.

Caſz öer iſt nicht zu Magen," antwortete

par.

Den zweideutigen Ton, in welchem er dies vorbrachte, ſchien Feuerbach zu überhören. „Und mas ijt e3 mit dem Lord?" fragte er weiter mit einem ftarr-Deohenden Blick, "Eaben Sie ſchon Nachricht von ihm? Haben Sie felbft ihm ſchon geſchrieben ?"

„Einmal jede Woche fehreib’ ich ihm," fagte

ſpar.

„Wo befindet er ſich?“

„Er will jest nach Spanien."

„Nach Spanien; jojo; nach Spanien. Das iſt r weit, mein Beſter.“

„Ja, das fol weit fein.“

Diefe einfilbige Unterhaltung wurde durch einen spöligeibeamten unterbrochen, der eine fchrift- liche Meldung wegen des nächtlichen Einbruchs brachte. Cajpar verabichiedete fich.

„Wo bleiben Sie denn fo lang?" empfing ihn Quandt ärgerlich.

„Ich war beim Präfidenten, das wiſſen Sie doch," verjeßte Gafpar. .

„Schön; aber es verrät wenig Lebensart, daß Sie einen Beſuch nicht zu kürzen verftehen, wenn man zu Haus mit dem Abendefjen auf Sie wartet." ö

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Das Efjen war nämlich eine wichtige An- gelegenheit bei Quandts. Der Lehrer fehte fich immer mit einer gewiſſen Rührung zu Tiſch, und fein prüfender Blick ſchien alle Teilnehmer der Mahlzeit auf den Grad ihrer Andacht zu era minieren. Wenn Frau Quandt verfündigte, was man de3 Guten zu erwarten habe, begleitete der Lehrer ihre Aufzählungen entweder mit einem Kopfnicken oder bedenklichem Runzeln der Stirne. Schmedte Am ein Geriht, fo muhs feine gute Laune, fand es nicht feinen Beifall, jo er jeden Bifjen mit einem Ausdruck mweltüberlegener Ironie. Für manches hatte er eine befondere Vorliebe, wie zum Beſpiel für ſaure Gurken oder angewärmten Kartoffeljalat, und er unterließ es dann felten, während er fich delektierte, die Ein- fachheit feiner Bebürfnifje hervorzuheben. Die Lehrerin verſtand trefflich zu kochen, und wenn ihr eine Leibipeife des Mannes gelungen war, blieb fie für fein Lob nicht unempfänglich, ob- ſchon e3 bisweilen in eine zu gelehrte Form ge leidet war; jo pflegte Quandt im Scherz zu fagen, wenn er fie nicht genommen hätte, wäre ſicherlich der felige Trimalchio wieder auferftanden, um fie zu heiraten. Nach dem Abendefjen kam die gemättiche Stunde mit Pantoffeln, Schlafrod,

ehnftuhl und Zeitungslefen. Ins Wirtshaus ging Quandt faft nie, einmal wegen der Koſten un! dann, weil er feine Anfprache fand. Er zog die bequeme Ofenecke vor.

Aber feit Caſpar im Haus weilte, war diefe idylliſche Abendjtimmung ohne rechten Reiz. Quandt war gequält und wußte mandmal faum die Urfache. Stellen wir uns einen Hund vor, einen Eugen, nervigen, wachjamen Hund. Stellen

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wir uns vor, daß diefer Hund bei feinem Schnup⸗ ern in dem anvertrauten Revier irgendwo einen Braten Gift erwifcht hat und daß er nun, das verderbliche Feuer in feinem Leib, unbewußt das Dunkel fucht, alle feuchten Winkel lechzend durch taft, den Schatten verfolgt, die Fliege beknurrt,

[e8 um fi und über fi) nur auf das eine tolle Drängen bezieht und die ganze Welt für vergiftet hält, während es bloß jeine armen Ge därme find, jo hätten wir ein anfchauliches Bild von dem Zuſtand des bedauernswerten Mannes. Sein Dämon fehmiebete ihn feft an den Jüng- ling; es wurde ihm vor allen Dingen wichtig, „dahinterzukommen“; er hätte ein paar feines Lebens hergegeben, wenn er dadurch gefchwind zu der Kenntnis gelangt wäre, was „dahinterftedte”.

Um acht Uhr kam der Polizeileutnant zu Be- ſuch; er war ſchlecht gelaunt, denn er hatte letzte Nacht im Rafino fünfundjechzig Gulden beim dbaras verloren und war das Geld noch ſchuldig.

en Cafpar zeigte er fich auffallend freundlich; er fragte ihn aus, was er mit dem Präfidenten efprochen, nahm aber ben getreuen Bericht des

ünglings, als zu belanglos, mit Mißtrauen auf.

„Ja, unfer guter Freund ift recht zurüd- haltend,“ beffagte ſich Quandt; „ich wußte gar nichts von dem Einbruch beim Präftdenten, und mit Müh und Not, daß er überhaupt davon erzählt hat. Wiffen Sie Näheres, Herr Polizei- leutnant? Hat man fchon Spuren?"

Hickel erwiberte gierämätig, man babe bei Pe einen verdächtigen Landftreiher aufs gegriffen.

„Was doc alles vorgeht!" vief Quandt; „welche Frechheit gehört dazu, das Oberhaupt 380

der Behörde zum Opfer eines ſolchen Anfchlags zu machen!" Insgeheim aber räfonierte er: recht fo; das wird den Unantajtbarkeitswahn der Erzellenz ein bißchen erfchüttern; vecht fo; auch von den Spigbuben können die großen Herren mitunter eine nüßliche Lehre empfangen.

„Es follte mich fehr wundern," fagte Hidel mit vornehm gejchloffenen Lippen eine Fineffe, die er dem Lord Stanhope abgegudt —, „wenn diefe Gefchichte nicht wieder irgendwie mit unferm Haufer zufammenhinge."

Quandt machte große Augen, dann ſchaute er ſchräg auf Gafpar, deſſen erſchrockener Blick dem ſeinen entglitt. J

„Ih habe Gründe zu einer ſolchen Vermutung,“ fuhr Hidel fort und ftarrte die blankgeſcheuerlen Nägel feiner roten Bauernhände an; diefe Hände flößten sn ſtets einen namenlofen Widermillen ein; „ich habe Gründe und werde vielleicht feiner- zeit damit herausrüden. Der Staatsrat felber iſt geſcheit genug, um zu wiffen, was die Glocke geſchlagen hat. Aber er will's nicht Wort haben, es ift ihm nicht geheuer dabei zumut.“

„Nicht geheuer zumut? a3 Sie jagen!" verſetzte Quandt, und ein angenehmes Gruſeln lief ihm über den Rücken. Äuch die Lehrerin hörte mit dem Strümpfeſtopfen auf und ſah neu— gierig von einem zum andern.

„Ja ja,“ fuhr Hidel fort und lächelte den Lehrer mit feinen gelbblinfenden Zähnen an, Sie haben ihm dort unten in München gehörig eingeheizt, und er trägt den Kopf bei weitem nicht mehr fo zuverfichtlih. Meinen Sie nicht auch, Haufer?" fragte er und ſah bald Quandt, bald deffen Frau ſtrahlend an.

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„Ich meine, es ift nicht in der Ordnung, ' daß Sie fo vom Herrn Staatsrat fprechen,” antwortete Caſpar kühn.

Hickel verfärbte fih und biß ſich auf die Lippen. „Sieh mal an, fieh mal an,“ fagte er büfter. „Haben Sie das gehört, Herr Lehrer? Schon untt die Kröte, es wird Frühjahr.”

„Eine höchft unpaffende Bemerkung, Saufen, ließ ſich Quandt zürnend vernehmen. „Sie find dem Herrn Polizeileutnant Ehrfurcht und Be— Bee ſchuldig fo wie mir. Gegen den Baron

mhoff oder den Generallommifjär würden Sie ii jo etwas nicht unterftehen, des bin ich ficher.

ind ein doppelt Geficht, ein faljch Geficht, heißt es. Ich werde das dem Grafen ſchreiben.“

„Schauffieren Sie ſich nicht, Here Lehrer,” unterbrach ihn Hicel, „es lohnt fich nicht, mar muß e3 feinem Unverjtand zugut balten. Im übrigen hab’ ich geftern einen Brief vom Grafen befommen;" er griff in die Rockbruſt und zog ein zufammengefaltetes Papier heraus. „Sie möchten mohl gerne wiſſen, was er fchreibt, Haufer? Na, gar fo fchmeichelhaft ei es eben nicht für Sie. Der gute Graf macht ſich Sorgen wie immer und empfiehlt uns rückſichtsloſe Strenge, falls Sie nicht parieren.”

Caſpar machte ein ungläubiges Gefiht. „Das hat er gefchrieben?" fragte er jtocfend.

Hickel nickte.

„Er bat ſich auch damals zu ſehr geärgert über die Heimlichtuerei mit dem Tagebuch," jagte Quandt. -

„Da8 werd’ ich ihm alles erklären, wenn er wiederkommt,“ verjegte Cafpar.

Hickel rieb den Rüden an der Ofenede und lachte. „Wenn er wiederfommt! Wenn! Wer

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weiß aber, ob er wiederkommt? Mir deucht, er bat nicht allzu große Luft dazu. Glauben Sie denn, Sie Kindstopf, fo ein Mann hat nichts Beſſeres zu tun, al feine Zeit dahier zu verfigen ?"

„Er fommt wieder, Herr Polizeileutnant,” fagte Cafpar mit triumphierendem Lächeln.

„Do, oho!“ riet Bidet „das klingt ja aller- dings verläßlich. ober weiß man denn das jo genau?"

„Weil er es verjprochen hat," entgegnete Caſpar mit treuherziger Offenheit. „Ex hat heilig verjprochen, in einem Jahr wieder da zu fein. Am achten Dezember hat er's verfprochen, find Fer noch zehn Monate und fechzehn Tage bis ahin."

Hickel ſah Quandt an, Quandt ſah feine Frau an, und alle drei brachen in Gelächter aus. „Im Rechnen fcheint er ſich ja geübt zu haben,“ meinte Hickel teoden. Dann legte er Gafpar die Hand auf den Kopf und fragte: „Wer hat Ihm denn die herrlichen Locken abgejchnitten?"

Quandt erwiderte, Caſpar habe es jelbft ge- münjcht, nachdem er ihm vorgeftellt, daß e3 fir einen erwachfenen Menſchen nicht ſchicklich fei, mit fo einem Haarwald herumzulaufen. „Sie können jest fchlafen gehen, Haufer,“ ſagte er hierauf.

Caſpar reichte jedem die Hand und ging. Als er draußen war, öffnete Quandt leiſe die Tür und lauſchte. „Sehen Sie, Herr Polizei- leutnant,“ flüfterte ev Hickel befümmert zu, „wenn er weiß oder annimmt, daß man ihn hört, fteigt er ganz langfam und bedächtig die Stiege hinan, wenn er fi) aber unbeachtet glaubt, da fann er wie ein Hafe fpringen, gleich über drei Stufen auf einmal, Iſt's nicht jo, Frau?"

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das Wort verwundere. wird aber doch die ‚Bayrifhe Deputiertenlammer in jedem an- ftändigen Haufe gelefen, nicht wahr? Außerdem at er Tag für Tag Gelegenheit Bun das latt auf unferm Tiſch zu fehen, und der Name konnte ihm unmöglidy neu fein. Ich frage aljo, ob er denn nicht wiſſe, was das jei, eine Depu- tiertenfammer. Darauf fagt er mir mit feinem unfehuldigften Geficht: das [4 wohl ein Zimmer, mo man Leute einfperre. m bitt' ich Sie um alles in der Welt, das geht doch über den grünen Klee. Es muß fchon ein Engel vom Himmel bherunterfommen, damit ich ſolche Ungereimtheiten auf Treu und Glauben hinnehmen fol, und felbit dann getrau’ ich mich noch zu bezweifeln, ob e8 auch ein richtiger Engel ift und fein nachgemachter." „Was wollen Sie," antwortete der Polizei» Ieutnant, „es ift alles Schwindel, alles ift Schwindel." Und indem er fih auf den ge 384 :

ai Beinen hin und her wiegte, loderte in jeinen Augen ein unbeftimmter, träger Haß. Alles Schwindel; ein Urteil, das fich nicht etwa bloß auf die vorgetragene Anekdote bezo; jondern auf das ganze, ihm bis zum Ekel gleich gültige Treiben der Menfchen, jofern es nicht mit Fine Rbohlbehagen verknüpft war. Moch⸗ tem fie fich einander die Köpfe abhaden, mochten fie über Himmel und Hölle, um König und Land fteeiten, mochten fie ihre Häufer bauen, ihre Kinder zeugen, mochten fie morden, ftehlen, ein- brechen, fhänden und Beträgen oder fich ehrlich rackern und edle Taten vollbringen, ihm war letzten Endes alles Schwindel, ausgenommen der Freibrief für ein ee Dafein, den ihm die Gefellfchaft nach feiner Anficht ſchuldig war.

Der Ritter von Lang, der an Hickel wegen ſeines einfthmeichelnden Weſens allen hatte, pflegte gern zu erzählen, wie Hickel einſt mit jeinem, des Ritters, Sohn, einem jungen Doktor der Philofophie, über die Landftraße gegangen und wie der junge Mann, gegen das ausgeftiente Firmament deutend, angefangen babe, von ben zahliofen Welten dort oben zu reden; da habe Hickel mit feinem mofanteften Gefiht erwidert: „Sa, glauben Sie denn im Ernſt, Doktor, daß dieje hübfchen Lichterchen etwas andres find als eben Lichterchen ?"

Das war nicht etwa bloß Unbilbung, fondern nur der Ausdrud jener Weberlegenheit, die in dem Worte gipfelte: alles Schwindel,

Man mußte in der ganzen Stadt, daß Hickel über feine Verhältnifje lebte. Es war fein Ideal, für einen Ravalier zu gelten, feine Leidenſchaft, elegant zu fein, auch bejaß er die feinfte Nafe

Waffermann, Gafpar Haufer 26 385

für die Echtheit und Legitimität aller damit zu= jammenhängenden Dinge. Als vor einiger Zeit feine Aufnahme in den vornehmen Beamtenklub fteittig gewefen war, hatte man lange gezögert, denn er war feinesmwegs beliebt und außerdem war er von niedriger Ablunft, feine Eltern waren arme Kätnersleute in Dombühl; ſchließlich hatte er feinen Wunſch mit Hilfe einiger erjchlichener Familiengeheimniffe durchgeſetzt, mit denen er den betreffenden Perjönlichkeiten bange zu machen verftand. Der Hofrat Hofmann, fein früherer Vorgefegter, gab dem vorherrfchenden Gefühl gegen ihn bezeichnenden Ausdrud, indem er ver- f jerte: „Er decouvriert fich nicht; dieſer Hickel ecouvriert ſich nicht." In der Tat hatte es ftet8 den Anfchein, als ob der Polizeileutnant mit etwas Gefährlichem im Hinterhalt bleibe. Ausgezeichnet verftand er es, fich mit dem Vräfidenten zu ftellen. Er durfte I er⸗ lauben, dem ſonſt fo Unnahbaren gewiſſe Wahr- heiten zu fagen, bie liebenswürdig oder forgenvott Hangen, im Grunde aber nicht waren als ver- zuckerte Bosheiten. Er beſaß eine nicht zu leug⸗ nende Geſchicklichkeit im Erzählen amüſanter Sitöchen und mancherlei einlaufenden Stadt: itſches. Dies ergößte Feuerbach und ftimmte ‚ihn für vieles andre nachſichtig. „Rätſelhaft,“ fagten die Leute, „mas der Staatsrat an dem idel für einen Narren gefreſſen hat." Jeden⸗ als fand der Polizeileutnant ſtets williges Ge bör bei Feuerbah, und mit Schlauheit ließ er 5 Baftr gern gefallen, daß der Präfident in jeiner bärbeißigen Manier an ihm herum erzog, Kan leichtjinnigen Wandel tadelte und feine ſchlechten Inſtinkte mit erſtaunlichem Scharfblick 386

fozufagen in den Wurzeln entblößte. Iſt es nicht wahrfcheinlich, daß gerade dies den fir denten verführte und verſtrickte? Indem er jo klar die Leerheit und Düfterkeit dieſer Seele durchſchaute, Hatte er fich vielleicht ſchon zu ver- traut gemacht mit ihr, um fie von fich ftoßen zu können.

Hickel wußte den Präfidenten nach und nad) zu überreden, daß man Safpat nicht jo frei wie bisher herumgehen lafjen dürfe, und e3 wurde als Wächter ein alter Veteran beftellt, der einen Stelzfuß hatte und einarmig war. Diejer Wackere faßte feine neue Obliegenheit ſehr gemifjenhaft auf und folgte Caſpar auf Schritt und Tritt zum Gelächter der Gafjenjugend. Der Polizei Teutnant hatte richtig fpefuliert, wenn die jo für- forglich ausſehende Mafregel dazu dienen follte, die Bewegungsfreiheit des Yünglings möglichit zu hemmen. Es gab Beſchwerden über Ber ſchwerden, bald von Quandt, bald von Caſpar, bald von dem Invaliden, den Cafpar nicht felten überfiftete, indem er ſich heimlich davonſtahl.

Er Elagte dem Pfarrer Fuhrmann, bei dem ex Religionsunterricht empfing, feine Not; diefer ihm en Greis ermahnte ihn zur Geduld. „Was fol es nutzen, geduldig zu fein!“ rief Caſpar trogig, „wird ja doch immer fchlechter!”

„Was es nutzen fol?" verjegte der Pfarrer mild. „Was nubt e8 Gott, daß er unferm un- finnigen Treiben zufchaut! Durch Geduld führt ex und zum Guten. Geduld bringt Roſen.“

Dennoch wandte fih Pfarrer Fuhrmann an den Präfidenten, und dieſer verfprach Abhilfe, ohne jedoch vorläufig etwas zu umternehmen. Die jährliche Infpektionsreife durch den Bezirk

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entfernte ihn für drei Wochen aus der Giabt; als er zurücgefehrt war, ließ er eines

den Polizeileutnant auf fein Arbeitszimmer „Hören & mal, Hicel," vedete er ihn an, „Sie find doch in der Bieigen Gegend ziemlich gut befannt? Schön. n Sie mal etwas über das ——e— gehört ?"

„Gewiß, Green antwortete Hickel. „Das

alkenhaus ift ein uraltes markgräf-

des aeeisth im 2 Triesdorfer Wald,“ Stimmt, Das Objekt interefftert mich ſchon feit einiger Zeit. Ich habe Machtorfchungen ein-

jegogen und habe folgendes erfahren. Das Falten- u8 bat bis vor ungefähr vier Jahren als Fo gedient, und zwar hat der letzte Forſter jahrzehntelang mutterſeelenallein dort ge⸗ lebt. Der Mann hat nie mit irgendeinem Men- {chen verkehrt, ift nie in einem Wirtshaus gefehen worden und bat feine Einkäufe in den umliegenden Dörfern felbit beforgt. Eines Tages ift er plöß- lich verjchwunden geweſen, und ein verabfchiebeter Gendarm jol ihn im Schwäbifchen als Beſitzer ober Verwalter eines Gutshofs wiedergeſehen haben. ch bin auch diefer Spur nachgegangen, und es bat fich herausgeftellt, nicht nur, daß es damit feine Richtigkeit hat, fondern auch, daß der Mann im Oftober 1830 de3 Nachts in feinem

Bett ermordet worden ift.“

„Davon ift mir nichts befannt. Ich weiß nur, daß das Falkenhaus verödet und unbemwohnt g "und daß im Volt allerlei geipenfterhaftes

ns, über die unheimliche Einſiedelei erzählt wird,

* Riciten Sie jedenfalls Ihr Augenmerk dar auf," jagte der Präfident; „am beten, Sie

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jenden einen ortöfundigen Mann Hin, der forg- fältige Exhebungen einziehen fol."

„Bu Befehl, Erzellenz. Darf ich fragen, um melden Fall e3 fi) dabei handelt?"

„Es handelt fih um Gafpar Haufer und feine Gefangenschaft."

!o GBickel räufperte ſich und machte eine Verben ung, ©ott weiß warum.

glaube mit Veftimmtheit annehmen zu dürfen, daß das Falkenhaus die Stätte feiner genufomen Kerkerhaft ift. Es war mir ſchon feit en erften Erzählungen Cafpars über die Art feine Wanderung mit dem Unbelannten zweifel- 08, daß der Ort in Franken felbft, nicht v4 weit von Nürnberg oder Ansbach zu ungen lei PH haben mich die Spuren zum Fall haus führt.“

„Wahrfcheinlich brauchen Eure Exzellenz diefes Indizium u der Schrift über den Haufer,” bes merkte Hickel ſchmeichelnd.

„So iſt es.“

„Und fol die Veröffentlichung des Werks noch in diefem Jahr vor fich gehen? Exzellenz verzeihen meine Neugier, aber ich bin ja herzlich intere fiert bei der Sache.”

e fragen mich zu viel, Hickel. Laffen Sie das." Da ift ein Vriefchen für den Hofrat Hof- Erg N gen Sie es draußen zur Beförderung.

mit dem Hofrat und Cajpar morgen 3 Falkenhaus fahren. Benachrichtigen Sie den Haufer, daß er fich bereithält, srmähnen Sie aber_beifeibe nicht8 von dem Zweck der Fahrt."

Zur feftgejegten Stunde fand ſich Caſpar ein und ſah fich alsbald zu feiner Verwunderung in der bequemen Kaleſche gegenüber dem Präfidenten

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und dem Hofrat figen. In felten unterbrochenem Schweigen ging es durch die fonnige Frühlings- landſchaft.

Sie langten an. Ein Gang durch daS ver- Iafjene Waldhaus und die eingehende Prüfung jeiner Lofalitäten brachte nicht den ggerinaften Aufſchluß. War ein unterirdiſcher Raum zu jenem fürchterlichen Gebrauch vorhanden gemefen, jo hatte der einjtige Bewohner ihn perl ver⸗ ſchüttet, und bie Zeit hatte alle Merkmale un— fichtbar werden lafjen.

Da entdeckte das ſcharf umherfuchende Auge des Präfidenten im Freien neben dem rechten Trakt des Gebäudes eine fonderbar geftaltete Erdgrube. Die Anzeichen Liegen darauf jchließen, daß fich vordem ein Holzſchuppen oder dergleichen darüber erhoben hatte, denn Eingum lagen noch vermorjchte Bretter und Ballen und riffige

indeln. Es führten fieben in den Sand ge ſchlagene und fehon verfallene Stufen hinab, und unten war die feltfam geglättete Erde von gelb- lihem Moos bededt.

Feuerbach verfärbte fich, als er biefes fah. Nah langem Verſunkenſein ftieg er hinunter, betaftete einige Stellen der Wände, bückte ſich in einer Ede auf den Boden, alles dies finfter und wortlos. Als er wieder herauffam, fah er Cafpar durchdringend an. Der aber ftand ruhig da und ließ den ummifjenden Blick in die Tiefen des Forftes ſchweiſen. Ahnt er nichts? dachte Er ahnt er nicht, worauf em Fuß tritt? Wedt ihn fein Hauch ber angenheit? Sprechen die Bäume nicht zu ihm? Verrät ihm die Luft nichts? Und da es nicht fo fheint, darf ich mich unterfangen, mit einem Ja 390

oder Nein! die fchauerliche Ungemißheit zu ent- ſcheiden

Der Wagen hielt an der Heerſtraße draußen. Beim Rückweg duch den Wald blieb Caſpar, den plößlich eine umbefiegbare Schwermut über- fallen hatte, die ihn zu langſamem Gehen zwang, ein großes Stüd hinter den beiden Männern.

er Hofrat Hofmann benußte die Gelegenheit, um dem Präfidenten feine vernunftgemäßen Zweifel mitzuteilen. „Ich möchte nur eines wiſſen,“ fagte er mit veriniffenem Geficht, „ich möchte wiljen, warum man den Menfchen, wenn ex wirklich fo lange in Gefangenschaft gejchmachtet hatte, auf einmal freiließ, und nicht nur das, jondern mitten in eine große Stadt gebracht hat, wo er das ungeheuerjte Auffehen erregen, alſo notwendigermweife feine Peiniger verraten mußte. Eine ſolche Logik will mir nicht einleuchten."

„Mein Gott, dafür laſſen ſich mancherlei Er- klärungen denken,“ erwiderte der Präfident ruhig; „entweder man war feiner überdrüſſig grade; ihn länger zu beherbergen war mit Schwierig- keit, ja mit Gefahr verknüpft; fein Kerkermeiſter Tonnte den Auftrag erhalten haben, ihn zu töten, eßte jedoch im eimer begreiflichen Regung des

barmens oder der Anhänglichteit ober ber Furt den Entihluß, ihn auf andre Art ver- ſchwinden zu laflen, und wo konnte das mit mehr Ausfiht auf Erfolg geiheen als gerade in einer großen Stadt? Man dachte ſich die Sache jo: der Rittmeifter Wefjenig, dem mit- gardenen Schreiben folgend, ſteckt ihn unter die

oldaten; dort gibt e8 der Analphabeten und Halbidioten die Menge, dort wird er nicht weiter auffallen, vermeinte der Berbrecher in einem

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Optimismus, der freilich nur von feiner eignen Unbildung zeugt. As aber die Dinge en gana andern Weg nahmen‘, bekam er’3 mit der

ingſt, teilte ſich, mußte fich denen mitteilen, welche die Fäden von Anfang an in der Hand hielten, und diefe mußten aujehen, wie fie den furchtbarſten Zeugen ihrer Schuld wieder un- ſchädlich machen konnten, der nun, geſchützt von einer Welt, ihnen als Auferftandener gegenübertrat."

„Seht fein, ſehr fein,“ murmelte der Hafen beifällig, ohne merken zu laſſen, daß er keines⸗ wegs überzeugt war.

Spät nachmittags kamen fie in die Stadt zurüd, Caſpar trennte fih von den Herren und ging heimwärts. Auf dem Promenadeweg be- gegnete er Frau von Imhoff. Sie begrüßte ihn 8 Fa warum er ſich jo lange nicht bei ihr jehen Tafje.

„Hab' feine Zeit, hab’ viel zu arbeiten,“ ant» woriete Caſpar, doch ‚mit fo verlegenem Geficht, daß die Huge Dame merkte, dies fönne nicht der wahre Grund fein. Sie unterließ es aber, ihn auszuforfchen, und fragte ablentend, ob er fi auch des hlings vecht erfreue.

Caſpar ſchaute in die Luft und in die Kronen der Ulmen, al3 habe er den Frühling bis jetzt überfehen, und jchüttelte den Kopf. Gern hätte er vieles gejagt, das Herz war ihm voll, über- voll, doch auf der Zunge lag es wie ein Stein, und er hatte nicht das Gefühl, daß diefe Frau, fo freundlich ſie ſich aud gab, miete für ihn aufgelegt ſei. Was kann es nuben? dachte er.

„SH habe Ihnen einen Gruß zu beftellen,“ fagte fie dann beim Abfchied und nachdem fie ihn für den Sonntag zu Tiſch gebeten hatte; 392

„erinnern Sie ſich noch der Gefchichte meiner Freundin, die ich am Abend, als Lord Stanhope bei ung war, erzählt habe? Die läßt Sie grüßen. Und ein Gruß bedeutet bei ihr viel."

„Wie heißt die Frau?" fragte Cafpar, genau wie damals, nur nicht lächelnd und froh, fondern

7 Imhoff lachte; dieſe Wihbegi au von off ‚lachte; dieſe jier nach einem Namen erjchien ihr komiſch. Kanna⸗

wurf heißt fie, Clara von Kannawurf,“ ante wortete fie gutmütig.

Ganz hübfch, daß fie mich grüßen läßt, dachte Caſpar, während er jeinen Weg fortjegte, aber was fann es nutzen? Was fol’3 mir nugen?

Quandt begibt fich auf ein heikles Gebiet

Kaum war Cafpar zu Haus in die Wohn- ftube getreten, fo merkte er, daß etwas Beſon⸗ deres los fein mußte. Duandt ſaß am Tiſch und Torrigierte mit finfterer Miene die Schüler- hefte, die Lehrerin den Säugling auf den Knien und erwiderte, dem Beifpiel Ge, Mannes folgend, feinen Abendgruß nicht, Die Lampe war noch nicht angezündet, ein fcharlachner Abendhimmel flammte durch die Fenfter, und als ſeinen aufgehängt, ging er wieder hinaus in den Dort fi fpielte ba 8 vierjährige vn des res mit Schufiern, Caſpar feste fich daneben auf die Steinbank; nach einer Weile erichien Quandt, und kaum hatte er die beiden beieinander gefehen, als er bineilte, das

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Kind bei der Hand ergriff und es raſch wie von einem mit anſteckender Krankheit Behafteten

wegführte.

Caſpar folgte alsbald dem Lehrer ins Haus. Doch Quandt war nicht im Zimmer, und er traf die Frau: allein. „Was gibt es denn bei ung, Frau Lehrerin?" fragte er.

„Na, wiſſen Sie denn nicht?" verjeßte die Frau befangen. „Haben Sie denn nichts davon

ehört, daß fich die Magiftratsrätin Behold zum Sehlter heruntergeſtürzt hat? Es fteht in der Nürnberger Beitung heut.”

MR flüfterte Cafpar aufgeregt.

„a; vom Dachboden ihres Haufes hat fie fih in den Hof geftürzt und den Kopf zer- fchmettert. Die ganze legte Zeit her foll fie ſich wie eine Verrüdte aufgeführt haben.“

Gafpar wußte nicht8 zu fagen; feine Augen erweiterten fich, und er feufzte.

„Es ſcheint Ihnen ja nicht beſonders nahe zugehen, Haufer,” ließ fich plöglich die Stimme Quandts vernehmen, der leiſe hereingetreten war, als er die beiden jprechen gehört hatte.

Caſpar wandte fih um und fagte traurig: „Sie war ein ſchlechtes Weib, Herr Lehrer.”

Quandt ftellte fich dicht vor ihn hin und rief fchneidend: „Unfeliger, der du dich nicht ent blödeft, das Andenken einer Toten zu bejubeln! Das fol Ihnen unvergefjen bleiben! Nun haben Sie Ihre ſchwarze Seele enthält! Pfui, pfui, jage ich, und abermals pfui! Gehen Sie mir aus

en Augen! Fällt e8 Ihnen denn nicht aufs Herz, daß die Hingegangene am Ende vielleicht durch Sie, durch den Kummer über den erlittenen Undank zu einer folchen Tat getrieben wurde? 394

Ahnen Sie das nicht? Freilich, ein Selbſtſucht ling wie Sie ſchert fi wenig um bie Leiden andrer Menfchen, ihm ift nur das eigne Wohl- ergehen wichtig."

„Mann, Dann, berubige dich doch,“ mifchte fi) die Lehrerin ein mit einem ſcheuen Blick auf Cafpar, der ajchfahl geworden war und mit völlig gefchloffenen Augen daſtand, während er die Fingerfpigen feiner Hände gegeneinander _ gelegt hatte.

„Du haft recht, Frau," erwiderte Quandt, „ich vergeude meine Entrüftung an taube Ohren. Was kann an einem Menfchen noch zu befiern fein, der felbft dem Tob gegenüber nicht ein bißchen Andacht und Demut aufbringt? Da ift Hopfen und Malz verloren."

Caſpar in fein Zimmer kam, glängte noch die legte Glut des Sonnenuntergangs über den Hügeln. Er ſetzte ſich ans Fenfter, nahm einen der Blumentöpfe zur Hand und fchaute darauf nieder, Die Stengel in den Hyazinthen- kelchen fehüttelten fich, und ihm war, als vernehme . er ferne Geläute. Er münfchte fi) das An- efiht einer Blume, um feinen Blid eines

enſchenauges erwidern zu müffen. Ober er mwünfchte wenigftens fi im Schoß einer Blume bergen zu können, folange bis das Jahr vorüber war, von deſſen Wende er fo vieles hoffte. Dort könnte man ftille fein und warten.

In den nächften Tagen wurde der Magiftrats- rätin feine Erwähnung getan, Quandt vermied es forgfältig, den Namen der Frau Behold zu nennen. Um fo mehr war er überrafcht, als Cafpar felbft davon anfing; am Samstag beim Mittagefien fagte er plößlich, es gereue ihn, mas

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er über die Tote gejagt, er jehe ein, daß es un- recht fei, eine Verſtorbene anguttagen.

Quandt horchte Hoch auf. Aha, dachte er, fein Gemiffen vegt fih! Aber er entgegnete nichts, fondern verzog nur das Geficht, als wolle er jagen: Laſſen wir das, ich weiß mein Teil. Doch ftach ihn die Galle, und während fie alle drei ſchweigend die Suppe löffelten, konnte er

ich nicht enthalten zu jagen: „Sie müßten ſich och eigentlich bi8 in den Fußboden hinein ſchämen, Haufer, wenn Sie an Ihr Benehmen gegen die unfchuldige Tochter der Magiftratsrätin denken.“

Bier“ verfeßte Caſpar verwundert. „Was hab’ ich denn getan?“

„Ei, wollen Sie auch jest nod das Lämmchen fpielen ?“ antwortete der Lehrer abſchätzig. „Gott- lob hab’ ich alles fchriftlich und eigenhändig von der Seligen, da hilft kein Leugnen ·

Caſpar ftaunte unruhig vor fih hin. Er fragte wieder, da ging Quandt zum Sekretär,

olte aus einer Schublade den Brief der Frau jehold hervor und las, neben Caſpar ftehend, mit dumpfer Stimme vor: „Iſt viel Gerede ge- weſen von feinem keuſchen Sinn und feiner Innocence in allem Dahergehörigen. Auch hier über Tann ich ein Wörtlein melden, denn ich hab's mit meinen eignen Augen gejehen, wie er jich meiner damals dreizehnjährigen Tochter... . ungziemlih und unmißverftehlich näherte.“

Caſpar begriff allmählich. Langſam legte er Löffel und Brot beifeite, und der Biffen blieb ihm im Munde fteden. Seine Augen wurden gm dunkel, er erhob fich, rief mit jammernder

stimme: „Ach, diefe Menjchen, diefe Menſchen!“ und ftürzte hinaus. 896

Das Ehepaar ſah einander an. Die Lehrerin fegte die Hand breit auf das Tifhtuc und ſagte nahdrüdlih: „Nein, Quandt, ich kann's nicht

lauben. Da muß fich die felige Rätin geirrt Baben. Er weiß doch nicht mal, was eine Frau iſt.“

Auch Quandt war gerührt. „Das eben fteht dahin, das wäre zu bemeilen,“ meinte er kopf⸗ ſchüttelnd. „Du bift Teichtgläubig, meine Gute. Sch erinnere dich nur daran, daß er bei der Ge— burt unfer® Mädchens zu meiner Befremdung wie ein gereifter Mann über die Sache jprach. Es war mir das gleich enorm verdächtig. Immer⸗ bin gebe ich zu, daß Frau Behold in dem Brief zu weit gegangen fein mag und daß ich mich infolgedefjen zu einer Uebereilung habe hinreißen Iajjen. Aber ich muß dahinterfommen, wie weit, feine Wiffenfchaft in dem Punkte geht, denn an jein Kindergemüt, das weißt du, glaub’ ich num einmal nicht."

„Du mußt ihn wieder verföhnen, Quandt, es war zu arg, das da," fagte die Lehrerin.

Quandt machte eine bedenkliche Miene. „Ver⸗ Töhnen? Ja, gut; ih will's gern tun. Aber er ift dann immer fo lieb und anjchmiegfam, daß man ihm ſchwer widerſtehen kann, und dadurch wird das objektive Urteil getrübt. Ich werde morgen einmal mit dem Pfarrer Fuhrmann über das Thema fprechen."

Gefagt, getan. Doch leider zeigte Quandt bei dieſem Anlaß die Umftändlichkeit einer alten Jungfer und umfchrieb das, was er jagen wollte, mit blühenden Redefiguren, als ob zwifchen Mann und Weib nur Beziehungen ätherifcher Art wären, die zumeilen unglücklicherweiſe in

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den Staub gezogen und befleckt würden durch beleidigende, aber nicht auszurottende Zwiſchenfälle

Der geiftliche Herr mußte lächeln. ach einigem. verwunderten Nachdenken antwortete er, er habe an Hauſers Charakter nach diefer Rich- tung etwas Anftößiges nicht im geringften beob⸗ achtet, Saipar ſcheine ihm in allem, was das Verhältnis der Gefchlechter betreffe, noch ein voll- ftändiges Kind, Zum Beweis defien erzählte er dem Behrer, daß Cafpar vor ungefähr einem Monat beim Lefen einer Bibelftelle, die ihm auf- gefallen war und die er ihm fo gut e8 ging er- klärt, mit fchönem Zaubern von einer gewiſſen wiederkehrenden Beunruhigung gefprochen habe, einem Buftande, der ihn ficherlich ſchon oft be drängt und für deſſen Deutung er nirgends eine vertrauende Anjprache gefunden. Der alte Mann verficherte, daß ihm die Art und Weife, wie Caſpar dies vorgebradht, umvergelih fein werde, es habe wie ein ahnungslojer Vorwurf gegen die Natur geffungen, die etwas mit ihm anftellte, wogegen ex fich nicht wehren könne.

Quandt ließ fi fein Wort entgehen. Er je das mit ganz andern Augen an. Ex erblicte arin die Merkmale einer verderbten Phantafie. Doch äußerte er von feiner Anficht gegen den Pfarrheren nichts, jondern begab fich in ftillem Vorbedacht nach Haufe, Tegte N emfig auf die Lauer und paßte die Gelegenheit ab.

Am Tag darauf follte Caſpar bei Imhoffs effen, er kam aber wieder zurüd, denn die Baronin war frank und lag zu Bett. Beim Abendtifch Tam das Geſpräch darauf, und da Quandt fein Bedauern ausdrücte, fagte Cafpar: „Ad, die wird vielleicht nie mehr ganz geſund.“

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Was reden Sie da, Haufer,” fiel die Lehrerin ein, „fo eine junge Frau, fo reich und jo ſchön.“

„Ach,“ entgegnete Caſpar wehmütig, „Reichs tum und Schönheit tun’3 nicht. Die hat fich ſchon zu ſehr hinuntergegrämt.“

„3a, hat fie denn ihren Kummer am Ende Ihnen anvertraut?“ forſchte Quandt ungläubig.

Caſpar beantwortete die Frage nicht und hub wie zu ſich felbft vedend fort: „Nichts fehlt ihr auf der Welt, nur der Mann ift nicht wie er ein follte, hat andre lieber. Warum? Er ift och ſonſt jo gefcheit! Aber wenn fich die Frau , auch zu Tod betrübt, deshalb wird es nicht befjer. Und die Leute Hinterbringen ihr alles; ich hab’ ihr gejagt, das find feine Freunde, die Ihnen eug erzählen, wahre Freunde find das nicht."

„Hm,“ machte Duandt und fehaute eigentüm- lich Tächelnd auf feinen Teller. Ex befiegte fein

jamgefühl und fragte mit gezwungener Leich- tigleit, ob denn Herr von Sm in neuerer Zeit feiner Frau wieder Anlaß zur Sorge gegeben babe, feines Wifjens habe doch erjt im März eine Verſöhnung ftatigefunden.

„3a, freilich hat er Anlaß gegeben," verſetzte Caſpar unbefangen, „es ift ja wieder ein Kind von ihm da."

Quandt erjhrat. Da haben wir's, dachte er. Und fo hart es ihn auch ankam, er beichloß, Cafpar gleih auf den Zahn zu fühlen. Er wechfelte mit feiner Frau einen Blic des Ein» verftändnifjes und bat fie, fie folle nad den Kindern fchauen. Als nun die Frau das Zimmer verlafjen hatte, wandte fich der Lehrer, blaß und aufgeregt durch die Schwierigkeit feines Vor—⸗

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habens, an Caſpar und fragte ihn unvermittelt, ob er ſchon einmal mit einem Frauenzimmer etwas gehabt habe, e3 lägen verfchiedene Mut- mafungen vor, und Cafpar möge offen wie mit einem Bater zu ihm reden.

Diefe Worte en Gafpar dankbar; er fah in ihnen ein Zeichen von Teilnahme, obgleich ex ihren Sinn und Zweck nicht verftand, fondern bloß das trübe Element, aus dem fie fliegen, furchtſam ahnte,

Er überlegte. „Mit einem Frauenzimmer? Ja ri ven, fe

„Meine Frage ift do« ich, Haufer; ftellen Sie fich nicht fo kindiſch.“

„3a, ich verſteh' ſchon,“ fagte Caſpar eilig, um die gute Laune des Lehrer nicht zu ver- ſcherzen; „und da ift auch was geweſen.“

„Na, nur heraus damit! Nur Mut!"

Und harmlos begann Caſpar zu erzählen: „So vor ungefähr ſechs Wochen hab’ ich meinen Sonntagsanzug zur Putzerin in bie Ugensgaffe getragen. Sie wiſſen doch, Herr Lehrer, es ift das kleine Haus neben dem Bäder. Wie ich hingekommen bin, war der Laden verfperrt, da bin ich hinauf in die Wohnung gegangen und hab’ an die Tür gelfopft. Da hat’ mir ein junges Mädle aufgemacht und war im Nachtleid, weiter hat fie nichts am Leib gehabt, die ganze Bruft hat man jehen können, es war fcheuf ie Sie hat mir die Sachen abgenommen und hat gefagt, fie wollt’ es der Putzerin ausrichten. war immer noch vor der Tür. Komm nur herein, jagt fie Da bin ich hinein und frage, was fie will, Da Hat fie angefangen vor mir herumzutänzeln, bat gelacht und fonderliches Zeug 400

erebet, hat mich gefragt, ob ich ihr Bräutigam Fein will, und zuleßt —“ er zögerte Lächelnd.

„Bulest? Was zulegt?" fragte Quandt, ine dem er den Kopf meit —*8

Da bob’ ich: ihr geſagt, dazu ſoll ſte fich einen an⸗ dern wůnſ chen ich verſteh· mich nicht aufs Schmatzen.“

„Und weiter?"

„Weiter? Weiter war nichts. Ich bin dann fortgegangen und fie hat mir vom Fenſter aus nachgeſchaut.“

„Wie konnten Sie denn das bemerken ?“

"Weil ich mich umgedreht hab’."

„Sofo. Umgedreht. Wie heißt die Perſon?“

„Das weiß ich nicht.“

„Das wifjen Sie niht? Hm. Und... ein zweites Mal waren Sie nicht dort?"

Caſpar verneinte,

„Schöne Geſchichten,“ murmelte Quandt und echob fih mit einem Blid zum Himmel.

Er fpürte vorfihtig nad. erfuhr, daß bei jener Pusmacherin wirklich ein Frauenzimmer zweifelhafter Gattung zur Miete wohne. Der Erzählung Cafpars noch näher auf den Grund zu gehen hinderte ihn die licht auf feinen Ruf hatte er doch ohnehin den Eindruck gewonnen, daß der Jüngling an der ganzen Begebenheit jo unſchuldig nicht fin. konnte, als ex fich anftellte; denn, jo argumentierte er, zu einem derartig niebrigen Benehmen mie dem jenes weiblichen Geſchöpfs kann nur ein Menſch Anlaß geben, dem eine gemifje mocakifeie Ungulängfichtet auf der Stirn gejchrieben fteht.

Baffermann, Gafpar Gaufer 20 401

Ja, wenn er nicht lügen würde, dann wäre alles ander3, dachte Quandt; aber er lügt, er lügt, und das ift das Fürchterlihe. Hat er mir nicht erzählt, die Herzogin von Kurland habe ihm ein Dutzend geſtickter Tafchentücher gejchenkt ? Kein Wort wahr. Hat er nicht behauptet, er kenne den Minifterialvat von Spieß und habe im Schloßtheater mit ihm gejprochen? Lüge. Hat ex nicht dem Muſikus Schüler weisgemacht, er habe die Idyllen von Gegner gelefen, und als ich ihn danach fragte, wußte er fein Wort darüber zu jeom, wußte nicht einmal, was eine Idylle ift? Gibt er nicht immer vor, dringende Bejorgungen vn haben, einmal für den Präfidenten, daS andre Mal für den Hofrat, und fpäter zeigt es fich, daß er bloß herumgebummelt ift, um einen neuen Schlips fpazierenzutragen? Steht das nicht alles feft, oder bin ich felbft jo dumm und fo ungerecht, daß ich diefen Dingen eine Bedeutung zumeffe, die niemand fonft darin finden kann?

Quandt wandte ſich an den Pfarrer Fuhr- mann und legte ihm Punkt für Punkt die ver- dammensmerten Vergehungen vor.

„Sehen Sie denn nicht, Tieber Quandt," fagte darauf der Pfarrer, „daß das lauter arm Iiige, Heine Süglein find, Taum daß fie_den

men verdienen? Es ift das mehr ein si liebmachenwollen oder eine durch ihre Ohnmacht bemitleidenswerte Anftrengung, Feſſeln abzus fteeifen, oder gar nur das harmloſe Vergnügen an einem Wort, an einer Redensart. Vielleicht fpiett er nur mit feiner Zunge, wie er andre

ade damit fpielen fieht, nur eben viel un- geſchickter.“

„So?“ ereiferte ſich Quandt, „dann will ich

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Ihnen, ‚Borhrolchen, eine Geſchichte erzählen, die den ſirikten Beweis des Gegenteils erbringt. Hören Sie zu. Vorige Woche unſre Magd des Morgens ſeinen Leuchter mit RM Handhabe; fie zeigt es meiner Frau, meine Frau macht mich darauf aufmerfjam, und ich Eonftatiere, daß der Henkel nicht abgebrochen, jondern ab» geſchmolzen ift; das Rohr war bis ganz hinunter von der Hite des Lichtes fchwarzgebrannt und von außen vötlichhlau überflammt, in der Schale konnte man deutlich jehen, wie hoch das zerflofjene Unfchlitt gereicht und wie es an mehreren Stellen abgeichabt mar; von der ganzen Kerze, die Haufer den Abend zuvor erhalten, war feine Spur mehr da. Nun müffen Sie wiſſen, daß ich ihm ftreng verboten hatte, bei Kerzenlicht zu Iejen ober zu arbeiten; trogdem wollte ich ihn fehonen und ließ ihn nur duch meine Frau verwarnen. Aber da leugnet er plöglich alles ab, verfichert, daß er die Kerze weder wiſſentlich habe verbrennen laſſen, noch dabei eingejchlafen fei und erfühnt fi am Ende zu der Vehauptung, e3 fei gar nicht fein Leuchter, fondern der der Magd, denn beide fähen gleich aus. Was fagen Sie dazu?“

Der Pfarrer zuckie die Achjeln. „Wir dürfen doch nicht vergeffen, daß er troß allem ein Wejen von bejonderer Sefehaffenbeit Fr erwiderte er nachdenlich. „Ich habe mich jelbft davon über- zeugt. ch beige eine Heine Elektrifiermafchine, mit der ich manchmal ein bißchen erperimentiere. Neulich nahm ich das Ding vor, während Caſpar dabei war, ließ die Funken fpringen und Iud bie Leidener Flafhe. Da wird mir der arme Menſch bleich und zuſehends bleicher, fängt zu zittern an, ſpreizt die Finger ſtarr von. fih und fein Körper

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zuckt wie ein Hecht, den man auf den Sand wirft. Ich war ſehr erſchrocken und räumte das Zeug beifeite, worauf er wieder in feinen gewöhnlichen Zuftand zurüdkehrte. Doch ſchmerzte ihn Kopf noch ta; Klang 1 nachher, wie er mir geftand wenn er im Bette lag, hatte er kalten Shweh, und die Dinge, die er anfühlte, ftachen ihn wie mit winzigen Nadeln. VBezeichnenderweife fagte ex, beim Gemitter fei ihm jedesmal ähnlih, da tißle ihn und brenne ihn das Blut, daß er immerfort fchreien möchte.“

„Und daran glauben Sie?" rief Quanbt, die Hände zufammenjchlagend.

„Ja, warum denn nicht?"

„Nun, wenn Sie daran glauben, befinde ich mic) allerdings in einem großen Nachteil gegen den Menfchen, das muß ich zugeben," kat Quandt. „Das muß ich zugeben," wiederholte er befümmert.

So ift e8 immer, dachte der Lehrer auf dem Nachhauſeweg; erſt wird entfchuldigt und be ſchönigt, und wenn man feine triftigen Gründe Dorbringt, werben die Achſeln gezudt, und man tifcht einem Hiftöcchen auf, die nicht geftogen und geflogen find, und von denen ſich in Jota bes weiſen läßt. Was für ein Satan ſteckt dod in dem Burfchen, daß er überall Neigung und Teil- nahme zu erwecken verfteht, wo er fich auch zeigen mag! Daß fein Menich feine Lafter jehen will und ganz fremde Leute, darauf verjeflen, ihn kennen zu lernen, das windigſte Entzüden äußern und ihn verhätfcheln, als ob Te verzaubert wären, Pr ob er ihnen ein Liebestränfchen eingegeben

ätte!

Das erbitterte Duandt. Er fagte fih: nehmen 404

wir an, ich träte unter unbefannte Menfchen und jäbe vor, der Heilige Geift oder fein Apoftel zu Fin oder fpielte mich als Wundertäter auf, und es fiele dem oder jenem bei, ein wirkliches Wunder zu verlangen, und ich müßte zugeben, e3 fei die blante Spiegelfechterei, was würde da paſſieren? Man würde mich ind Narrenhaus ſtecken oder mit Prügeln traktieren; ja, da8 würde man, wenn ich auch noch fo ein Engelögefiht aufſetzte, das würde man, und mit Recht; nicht aber würde man mich mit Gefchenten überhäufen und mid anhimmeln und meine jhönen Augen und weißen Hände bewundern und mir Haare zum Andenken abfchneiden, wie ich das, Gott ſei's geklagt, von einer verblendeten Menfchheit hier erleben muß.

Aus einem Serbitgeipeäch folder Art geht klar hervor, wieviel Kopfzerbrechen und welche ernſte Seelenlämpfe dem Lehrer aus dem Umgang mit feinem Zögling erwuchfen.

Und was war früher mit ihm? grübelte Quandt. Wo kommt er eigentlich her? Dahinter müßte doch zu Tommen fein. Wie hat er Ko das alles zurechtgelegt, womit er die Dunkel⸗ männer betört? ‘a, das ift eben das Geheimnis, jagen die Dunkelmänner. Geheimnis? Es gibt ‚ein Geheimnis; ich verwerfe das Geheimnis. Die Welt von oben bis unten ift ein Mares Gebilde, und wo die Sonne fcheint, verfteden ſich bie Eulen. Gäbe mir nur der Herrgott einen Wink, wie ich dieſer diabolifchen DVerjtellungskunft zu Leibe gehen Fönnte! Man müßte einmal ernftlich äufehen, wie e8 mit dem Tagebuch beichaffen ift und was dahinterſteckt. Das Tagebuch ſcheint zu eriftieren, es feheint damit feine Richtigkeit zu haben, abgefehen von allem Geflunker; vielleicht

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ift es eine Art Veichtgelegenheit für ihn; man muß dahinterfommen.

Die Begebenheiten halfen Quandt, raſcher da⸗ hinterzufommen, als er gehofft.

Eine Stimme ruft

Eines Nachmittags im Hochſommer erſchien Hickel und reichte Gafpat einen an ihn, den olizeileutnant, gerichteten, aber im Grunde für fpar beftimmten Brief des Grafen Stanhope, in welchem diefer dem Jüngling klipp und ar befahl, da8 Tagebudy an Hickel auszuliefern.

Caſpar überlas das Schreiben dreimal, ehe er endlich Worte fand; er weigerte ſich zu gehorchen.

„Sa, mein Beſter,“ fagte Hidel, „wenn es nicht gutwillig geht, muß ich leider Gewalt ans wenden.“

Caſpar befann fich, dann fagte er mit trüber Stimme, der einzige, dem er das Tagebuch geben könne, fei der Präfident, und dem wolle er es morgen bringen, wenn man darauf bejtehe.

„Gut,“ entgegnete der Polizeileutnant, „ich werde Sie morgen früh abholen, und dann gehen wir mit dem Heft zum Präſidenten.“

ickel wollte Zeit gewinnen. Er hatte natürs lich feine Luft, das Tagebuch in die Hände Feuer- bach3 fommen zu laſſen, gerade dies zu verhindern, hatte er Auftrag, und er überlegte, was zu tun gi; Was Cafpar betrifft, fo ftahl er fich gegen ittag aus dem Haus und lief in die Wohnung des Präfidenten, um fich zu befchweren. Feuers bad) war im Senat; Caſpar vertraute feine Sorge 406

der Tochter an, und diefe verſprach dem Vater Bericht zu geben.

Nachmittags Täutete e8 bei Quandts, und der Präſident trat ins Zimmer. Mittlerweile hatte Caſpar, um auch dieſem fonft verehrten Dann den gehüteten Schaf nicht außfiefern zu müffen, fich eine Ausrede erdadht, und als der Präfident im Beifein Quandts nad dem Tagebuch fragte und ob e3 wahr fei, daß er e3 nicht zeigen wolle, fagte er jchnell, er habe e8 verbrannt,

Da gab e3 dem Lehrer einen Ruck, und er Tonnte fich eines zornigen Ausrufs nicht enthalten.

„Wann haben Sie e3 verbrannt?" fragte Feuerbach ruhig. .

Heute."

„Und warum?"

„Damit ich's nicht hergeben muß.“

„Warum wollen Sie e8 nicht hergeben ?"

Caſpar ſchwieg und ftarrte zu Boden.

„Das ift eine Lüge, er hat es nicht verbrannt, Exzellenz,“ zeterte Quandt, bebend vor Xerger. „Und wenn er überhaupt ein Tagebuch geführt hat, jo muß e3 ſchon länger beifeitegebradht fein. Don Weihnachten an hab’ ich e8 überall gefucht, in jedem Winkel feines Zimmers hab’ ich Um— ſchau gehalten, und nie, niemal® war eine Spur davon zu finden." .

Der Präfident ſchaute Quandt aus großen Augen ftumm und verwundert an; e3 war ein Blick, der etwas Mattes und Gramvolles hatte. „Wo war denn das Tagebuch) aufbewahrt, Eafpar?" fuhr er dann zu fragen fort.

Gafpar antwortete zaubernd, er habe es bald da, bald dort verſteckt; bald unter den Büchern, bald im Schrank, zuleßt an einem Nagel hinter

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der Schreiblommobe. Quandt ſchüttelte dabei un- aufhörlich den Kopf und lächelte böfe. „Haben Sie denn den Nagel ſelbſt eingefchlagen?" in- quirierte er.

u

"Mer bat Ihnen die Erlaubnis dazu er- teilt 2“

„Gehen Sie jett, Caſpar,“ ſchnitt der Präft- dent das Zwiegeipräch gebieterifch ab. „Sch ber greife nicht," wandte er fich, als Gafpar draußen war, an den Lehrer, „weshalb Lord Stanhope plöglich fo großes Gewicht auf das Tagebuch legt; wahrſcheinlich überjchägt er die ohne Zweifel harmloſen Schreibereien. Mit Güte und Ueber- redung wäre man übrigens beſſer gefahren als durch einen kategoriſchen Befehl."

„Güte, Weberredung ?" verſetzte Quandt händes ringend. „Da haben Euer Exzellenz einen fchlechten Begriff von diefem Menfchen. Durch Güte ent- fefielt man nur feine Selbſtſucht, und jeder Ver- ſuch, ihn zu überreden, vergrößert feine Bock— beinigfeit. Ja, er dünkt fich fchon etwas, ſtellt I] auf die Hinterfüße, hält Widerpart und ift ähig, mir eine Antwort zu geben, daß ich da- ftehe wie vor den Mund gejchlagen. Euer Exzellenz mögen verzeihen, aber ich bin der Meinung, daß ſogar Sie durch Güte und Ueberredung nichts mehr bei ihm ausrichten können.“

„Na, na,“ machte Feuerbach, fchritt zum Senfter und fah düfter in die regentriefenden Zweige des Birnbaums, der an der Hofmauer wuchs.

„Ich getraue mich auch, Euer Exzellenz auf das allerbeftimmtefte zu verfichern, daß er das - Tagebuch nicht verbrannt hat," ſchloß Duandt mit beſchwörender Stimme,

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Der Präfident antwortete nichts. Wie wider- wärtig war e3 ihm, all den Heinen Hader aus⸗ tragen zu follen, den fie ihm da herbeifchleppten. Ihn dürftete nach Frieden. Das eine Werk noch, vollendet mußte es werden, dann Friede.

Kaum war Feuerbach gegangen, fo eilte Quandt in Caſpars Zimmer, rückte die Schreiblommode von der Wand und fah nach, ob dort ein Nagel ftede. In der Tat war ein Nagel ins Holz ge- ſchlagen Quandt rief die Magd herauf. „Hat der Haufer in letzter Zeit den Hammer gehabt und haben Sie ihn Hopfen gehört?" fragte er. Die Magd bejahte; er habe vorige Woche Hammer und Nägel aus der Küche geholt, und fie habe ihn klop ehört.

Plöglich hatte Quandt eine Erleuchtung. Wir find ja im Sommer, dachte er, und wenn er das Heft wirflich verbrannt hat, muß die Aſche noch im Ofen zu finden fein. Er ging zum Ofen, kniete nieder, öffnete da8 Türchen und feheuerte mit gierigen Händen alles, was von verbrannten und verfohlten Reſten in dem Loch war, heraus auf den Boden.

Es kam viel Papierafche zum Vorfchein. Quandt gab acht, daß die größeren Stüde nicht zerbrachen, da man auf Ale eine Schrift noch leſen Tann. Sorgſam ſchob er die Trümmer auseinander. Er fürchtete das eine oder das andre mit dem Finger anzugreifen und blies es mit dem Atem feines Mundes zur Seite; wenn e3 bejchrieben war, verfuchte er die Worte zu lefen, fand aber feinen Zufammenhang.

Da näherten ſich Schritte und Gafpar trat ein, nicht wenig erftaunt über die Lage, in der ex den Lehrer ſah, deſſen Hände und Geficht von

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Ruß geſchwärzt waren, indes ihm ber Schweiß von den ‚Hauren troff.

Quandt ließ ſich nicht ſtören. „So viel Aſche kann doch unmöglich von dem einen Tagebuch herruhren,“ fagte er.

„Ich hab’ auch alte Briefe und Schriften da- mit verbrannt," erwiderte Caſpar.

Die kühlſachliche Antwort trieb Quandt die Zornröte ins Gefiht; er jtand haft ig auf, murmelte etwas durch die Zähne und verließ das Zimmer, die Tür hinter fi zudonnernd. „Sie fommen mir heut abend nicht mit auf bie ‚Neffouree‘," fchrie er auf der Stiege.

In der „Reſſource“ war ein Gartenfeft, das der Schüßenverein veranftaltete. Quandt hatte eigentlich Teine Luft, Hinzugehen, dergleichen koſtete immer Geld. Aber die Frau wollte auch einmal ein Amiüfement haben, war des verdrießlichen Zuhauſehockens fatt. Sie hatte ſich ſchon vor acht Tagen ein Kattunkleid für diefen Zweck ges macht, und fo mußte denn der Lehrer fich fügen und, wie er fich ausdrückte, der Unvernunft feinen Bol entrichten, zumal das Wetter gegen Abend ſchön geworben war.

Caſpar blieb, bis die Dunkelheit anbrach, am offenen Fenfter figen und genoß der Stille. Dann machte er Licht, und ein Lächeln umfpielte feine Lippen, al3 er zur Wand ging, den Stahljtich über dem Kanapee herunternahm, die hinter dem Bild befeitigte Holztafel Ioslöfte und nun das fo verborgene Tagebuch hervorzog. Er fette fich damit zum Tiſch, blätterte nachdenklich in dem Heft herum und überlas einige Stellen.

Hier war ein Lebensalter, eine Menſchwerdung zufammengepreßt in den Verlauf von nicht mehr

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als vier Jahren, mit unheimlicher Geſchwindigkeit Sech an Epoche drängend. Was es an mangel⸗ usgefprochenem, Gefchildertem enthielt, die unſchuldigen Ergüffe erfter Freuden und Schmerzen, das erfte bange Welterkennen, Inabenhafte Philo- fophie und troiges Hadern mit ahnungsvoll ala feindlich empfundenen Mächten irdifcher und über- tedifcher Natur, alles da3 hätte die auf dieſe Beute verfefjenen Jäger bitter enttäufcht. Aber e8 war nicht für jene, e3 war für die Mutter, ihr war es zugelobt ein für allemal, und mit der ihm eignen Wunderlichleit war Caſpar der Gedanke anz unfaßlich, daß ein andre Auge je auf diefen lättern ruhen ſollte. Es mag auch fein, daß ihm das Heft nach und nach in der Einbildung zu feinem einzigen wirklichen Befi geworden war; das einzige Ding, das ihm völlig zugehörte und fein gganaes Vertrauen bejaß.

(uf einer der erften Seiten ftand: „Neulich hab’ ich aus Gartenkrefje meinen Namen geſäet, iſt vecht ſchön gewachſen und hat mir große Freude gemacht. Iſt einer in den Garten hereingefommen, bat Birnen geftohlen, der hat mir meinen Namen zertreten, da hab’ ic) geweint. Herr Daumer hat gejagt, ich foll ihn wieder machen, hab’ ich ihn wieder gemacht, am andern Morgen haben ihn Katzen zertreten.“

Es folgten in demſelben unbeholfenen Stil einige Verſuche, feine Kerkerhaft zu beſchreiben, etwa jo: „Die Geſchichte von Caſpar Hauſer; ich will e3 ſelbſt erzählen, wie hart e8 mir ergangen. Zwar da, wo ich eingejperrt war in bem Gefängnis, iſt es mir recht gut vorgefommen, weil ich von der Welt nichts gemußt und feinen Menfchen niemals gefehen habe."

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In diefem Ton es es weiter; fpäterhin tamen einige zum Schönrebnerifchen ftrebende Stellen, und eine begann mit dem Sat: „Welcher Erwachſene gedächte nicht mit trauriger Rührung an meine unverdiente Einfperrung, in ber ich meine blühendfte Lebenszeit zugebracht habe, und wo jo manche Jugend in goldenen Vergnügungen lebte, da war meine Natur noch gar nicht er- wedet."

Träume, Hoffnungen, Sehnfuchtsbilder, Be⸗ richte über Heine Ausflüge, über Unterhaltungen mit Fremden; bier und da ein beherzigenswertes Wort, in einem Buch gefunden oder aus einem Wuft fonft inhaltlofer Geſpräche geffaubt; al» mählih Sätze, an denen etwas mie perfönlicher Schliff hervortrat und eine merkwürdige verhüllte Düjterfeit des Stils. Unmittelbar war nie ein Kummer, ein Urteil, eine Meinung ausgedrüdt; ex hatte es eben, wie Quandt diefe Eigenfchaft formulierte, hinter den Ohren. Bon einem be deutungsvollen Tag ftand oft nur das Datum vermerkt und daneben ein Sternen; manches Ereigniffes war nur in fcheuen Umfcreibungen gedacht; auch Lakonismen waren Bielem Geift nicht fremd; jo hieß es von dem Mordanfall in Daumerd Haufe kurz: „Der Erntemonat wäre bald mein Sterbemonat worden.”

Kleine Vorfälle des täglichen Lebens: „Gejtern hat mich eine Biene geftochen, das Fräulein von Stihaner hat mir die Wunde ausgefaugt, fie fagte, wen die Biene fticht, ber Int luck.“ Oder: „Geſtern war eine Feuersbrunſt, über Dautenwinden hat der Wald gebrannt, ich bin die halbe Nacht am Fenſter geſeſſen und hab’ gedacht, die Welt geht unter.”

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Sinnliche Empfindlichkeiten kamen zu lapidarem Ausdrud: „Herr Quandt riecht nach alter Luft, die Lehrerin nach Wolle, der Hofrat nad Papier, der Präfident nach Tabak, BVolizeileutnant nad; Del, der Herr Pfarrer nach Kleiderſchrank. Faſt alle Menfchen riechen fchlecht, nur der Graf bat wie ein Leib gerochen, an dem nichts ift als guter Odem.“

Dem Grafen war mande Seite gewidmet; bier wurde der Ton poetifch und nicht felten drängend in der Art eines Gebets. Stanhope und die Sonne wurden zu Bildern von ver- wandter Kraft. Seit dem Äbſchied aus Nürnberg hatte das aufgehört, der Name des Lord wurde nicht mehr erwähnt, nur das Gelöbnis vom achten Dezember war aufgejchrieben.

Aus den legten Tagen ſtammte eine Beich- nung, welche über die Hälfte einer Seite füllte: die Ümriſſe eines männlichen Kopfes, mit aufs fallend geſchickter Hand feftgehalten. Es war ein fremdartiges Geficht, feinem irdiſchen ähnlich, eher dem einer Statue, doch wie aus einer ſchauer— lichen Viſion gerifjen, von jchmerzlicher Unbewegt- heit. Darunter war gefchrieben:

- D großer Menſch. was tueft bu mir an? Du folgeft mir, und meine Spur ift blind, Unb fo du mic, eriehauft, bin id) verranbelt. Dem Kerter ift entflohn das arme Kind, Der Mantel feplt und Krone aud) und Schwert, Und ohne Reiter läuft das weiße Pferd.

Die Zeichnung war in der Nacht gefertigt worden; aus einem Traum auffahrend, hatte Cafpar das Geficht vor fich gefehen; er war aus dem Bett gefprungen und hatte es beim Mond- licht gezeichnet. Die Verje hatte er am Morgen beim Erwachen fertig auf den Lippen gefunden.

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Ihrem Sinn hatte er nicht weiter nachgegrübelt, exit jest wurbe er ftußig und flüfterte die Worte mehrere Male vor fich hin.

Mittlerweile war es fpät geworden, Caſpar wollte gerade vom Tiſch auffteben. da hörte er das Haustor Inarren, raſche Schritte näherten ſich, es klopfte an die Tür, und Duandts Stimme befahl zu Öffnen. Erſchrocken blies Caſpar das Licht aus. Im Finftern taftete er fich zum Sofa, brachte das Tagebuch wieder in jein ſtech, und während Quandt immer ftärker pochte, gelang es ihm, das Bild an den Nagel zu hängen.

Quandt hatte nämlih, vom Spitalmeg fom- mend, ſchon aus der Ferne in Caſpars Zimmer Licht bemerkt. Er padte feine Frau am Arm und rief: „Sieh mal, Frau, fieh mal!"

„Was gibt's denn ſchon wieder?" murrte die Frau, die voll Aerger darüber war, daß Quandt ihr mit feiner übeln Laune den ganzen Abend verdorben hatte.

„Jetzt haft du doch den Beweis, daß er bei der Kerze ſitzt,“ fagte Quandt.

Das Haus hatte durch ein Gartenpförtchen auch einen Zugang von der Rückſeite. Quandt wählte den, und als er mit ber Frau im Hof fand, fiel ihm ein, ob er nicht zuerft den Jüng⸗ ing auf irgendwelche Art belaufchen und jehen Tönne, was er treibe. Der Birnbaum an der Mauer war wie gefchaffen dazu. Quandt war ge- ſchickt und Fräftig, ohne Mühe erklomm er die Mauer und dann einen breiten Ajt, von wo er Caſpars Zimmer überfhauen konnte. Was er ſah, genügte. Nach) kurzer Weile kam er aufgeregt herab, raunte feiner Frau zu: „Ich hab’ Im erwiſcht, Jette,“ und ſtuͤrzte ins Haus und die Stiege empor. 414

Da ſich auf fein Klopfen drinnen nichts rührte, eriet er in Wut, Er fing an, mit den Fäuften, Fodann mit den Abfägen an die Tür zu trommeln, und als auch dies nichts half, befcloß der _bes klagenswerte Mann in feiner Raferei, ein Beil zu holen und die Türe einzufchlagen. Vorher lief er noch gefchwind in den Hof zurück und jah, daß e3 in Caſpars Zimmer indeſſen finfter ge⸗ worden war, ein Umftand, der feinen Zorn nur noch fteigerte.

Von dem Lärm waren die Kinder und die Magd aufgewacht; die Lehrerin trat Quandt jammernd entgegen, als er mit der Holzhade aus

er Küche rannte, Er ftieß fie weg, ſchäumte: „Ich will's ihm ſchon zeigen,“ und ſtürzte wieder hinauf.

Nach dem erſten Schlag mit dem Beil öffnete ſich die Tür, und Caſpar trat im Hemd auf die Schwelle. Der Anblid der ruhigen Geftalt hatte etwas fo Unerwartetes und Exnüchterndes für den Lehrer, daß er förmlich zufammenklappte, nicht zu fagen und zu tun wußte und nur fonder- bar mit den Zähnen knirſchte. „Machen Sie Licht," murmelte ev nach einem langen Gtill- Köreigen, Do ſchon kam die Frau mit einem

icht, leiſe Heulend, die Stiege herauf. Caſpar erblickte das Beil im gefenkten Arm des Lehrers und fing an, heftig zu zittern. Bei diefem Zeichen von Furcht verlor Quandt vollends die Haltung. Er ſchämte ſich, und tief auffeufzend fagte er: „Haufer, Sie bereiten mir großen Kummer." Da- mit drehte er fich um und ging langſam hinunter.

Caſpar jchlief erft ein, al3 der Tag dämmerte. Beim hftück, vor der gewohnten Unterrichts- ftunde, erfuhr er, daß Quandt ſchon ausgegangen

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up fein Sie auf Ihrem Zimmer, Haufer. Ber Bolizeileutnant will mit Ihnen fprechen.“

Caſpar legte fi oben aufs Kanapee. Es war ein heißer Augufttag, Gewitterwolfen lagerten am Himmel, am offenen Fenſter flogen Schwalben ängftlich zwitf vorüber, die ſchwũl erhißte Sutt furrte und fang im engen Gemad). ch müde von der Nacht, entſchlummerte Caſpar als⸗ bald, und erft ein heftiges Nütteln an feiner Schulter weckte ihn. Hidel und der Lehrer ftanden neben ihm, er feste ſich auf, rieb die Augen und ſah die beiden Männer fchweigend an. Hidel Inöpfte mit einer amtlichen Gebärde feinen Uniform- tod zu und fagte: „Ich fordere Sie hiermit auf, Haufer, mir Ihr Tagebuch abzuliefern.”

Caſpar erhob fich tiefatmend und antwortete mit einer mehr von innerem Zwang al Mut ein- gegebenen Feſtigkeit: „Herr Polizeileutnant, ich werde Ihnen mein Tagebuch nicht geben.“

Quandt flug die Bände zufammen und rief Hogenb: „HBaufer! Haujer! Sie treiben Ihre un Tindliche Widerfeglichleit zu weit."

Cafpar ſchaute fich verzweifelt um und erwiderte zudenden Mundes: „Sa, bin ich denn ein Eigen- tum von einem andern? Bin ich denn wie ein Tier? Was wollen Sie denn noch? ch hab’ ja ſchon Keher daß ich das Buch verbrannt habe!"

„Wollen Sie etwa leugnen, Haufer, daß Sie heute nacht bei der Kerze gejchrieben haben?" fragte Quandt dringlich. „Briefe Haben Sie doch nicht zu fchreiben gehabt und mit den Exerzitien waren Sie fertig."

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Caſpar fämisg, Er wußte nicht ein noch aus. „Ein. guter Menſch hat überhaupt die Ein- fit" in Ian Tagebuch nicht zu ſcheuen,“ fuhr Quandt fort, „im Gegenteil, fie muß ihm er⸗ wunſcht fein, da doch feine Unbeicholtenheit da- mit bezeugt wird. Sie am allerwenigften, lieber ben haben Grund, ein geheimes Tagebuch zu en."

je lange werben Sie und noch warten

a rag Hickel mit Höflicher Kälte,

ill ich doch lieber jterben, als daß ih das "es "ushalten fol!" rief Caſpar und bo) den Arm, um fein Gefiht darin zu verbergen.

„Nun, nun,“ fagte Duandt beunruhigt, „wir meinen e3 ja gut mit Ihnen, auch der Herr Polizeileutnant will nur Ihr Beſtes.“

„Freilich,“ beftätigte Hidel trocken; „übrigens kann ich Ihnen kom, daß das Sterben zurzeit nicht der befte Einfall von Ihnen wäre. Da Tönnte man unter Umftänden auf Jhrem Grab» ftein lefen: Hier Liegt der Betrüger Cafpar Haufer.“

„Ganz abgefehen davon, daß fi in einem ſolchen Sab eine höchſt verwerfliche Gefinnung ausdrüdt," fügte Quandt tadelnd Hinzu, „eine feige und unfittliche Geſinnung.“

„Es liegt mir am Leben nichts, wenn man mich immer mit folchen Geſchichten plagt und mir nicht glaubt," entgegnete Caſpar bedrüdt; „ich hab’ ja früher auch nicht gelebt und hab’ lange nicht gewußt, baß ich Iebe.”

ikel ging indes an der Wand entlang und klopfte mit den Knöcheln mie fpielend an einige Stellen der Mauer; plöglich dien ſich ſeine Auf⸗ merkſamleit gegen bas Bild über dem Sofa zu richten. Er nahm es lächelnd herab, betrachtete

BWaffermann, Caſpar Haufer 27 417

es nad, allen Seiten und Happte jchließlich die Scharniere auf, um bie Holztafel zu entfernen.

Gafpar wurde jchlohweiß und bebte wie Eipenlaub.

Aber al3 nun Hidel das blaue Heft ſchmun⸗ elnd in feiner Hand hielt, ging eine ſeitſame

erwandlung mit Gafpar vor. Es jah aus, als wachſe er ꝓlötzlich und merbe um Kopfeslänge großen Mit zwei Schritten ſtand er Dicht vor em Polizeileutnant, Sein Geficht war förmlich aufgeriffen. In feiner Miene war etwas Er» habenes. Sein Blick glühte von einer leiden⸗ Schaftlichen und gebieterifchen Kraft. Hidel, in dem dumpfen Gefühl, ald werde er zermalmt oder zertreten, wich Tangfam und fafziniert gegen bie Tür zurüd. Der kalte Schweiß brach aus feiner Haut, als ihm Cafpar folgte, Schritt für Schritt, den Arm außftredte, das Heft mit einem Aud aus feinen umklammernden Fingern 30g, es mitten durchriß, die beiden Hälften noch einmal und noch einmal zerriß, bis alles in Feßen auf dem Boden lag.

Wer weiß, mas noch gefchehen wäre, wenn die Dazwifchenkunft einer vierten Perſon in diefem Augenblid nicht die Situation verändert hätte. Es war der Pfarrer Fuhrmann, der im Vorüber-

jehen Cafpar hatte befuchen wollen, um ihn zu

Ka en, weshalb er heute vom Unterricht forte geblieben war. Al er eintrat, mußte fih ihm eine Ahnung des Gefchehenen aufbrängen; er bfictte ftumm von einem zum andern. Quandt, der dem ganzen Vorgang mit entjeten Augen zugeſchaut/ gewann nur mühſam feine Faflung und fagte in verlegenem Ton: „Was haben Sie denn da für ein Gefchnißel gemacht, Hauſer?“ 418

Hickel wanderte mit ein paar großen Schritten durchs Zimmer, dann grüßte er den Pfarrer militärifh und ging mit Faltem und finfterem Gefiht. Unter der Tür drehte er ſich um, deutete auf den Papierhaufen und machte eine befehlende Kopfbewegung gegen Duandt. Dieſer begriff. Er bückte fih, um die Schnigel zufammenzufharren. Aber Cajpar durchſchaute feine Abficht; ex ftellte fih mit den Füßen darauf und fagte: „Das Tommt ins Feuer, Herr Lehrer."

Er kniete nieder, vaffte daS Papier mit zwei

änden auf, trug e3 zum Dfen, öffnete mit dem

6 das Türchen und warf alles hinein. Darauf ſchlug er Feuer, und eine Minute fpäter brannte es lichterloh. . Der Pfarrer Fuhrmann war bloß ſchweigen⸗ der Zeuge des Auftritts, Hickel mar gegangen, und der Lehrer, beftändig hüftelnd, ſchritt mit der Gleichmäßigteit eines Wachpoſtens vor dem Dfen auf und ab, indes Cafpar kauernd zufchaute, bis das legte Fünfchen verglommen war; dann nahm er den Schürhaken und zerjchlug die Aſchen⸗ reſie zu Staub.

Der Pfarrer hatte nachher. eine Unterredung mit Cafpar, welche troß dem herabgeftimmten Gemütszuftande des jungen Menjchen und einer ſchier krankhaften Unluft zu fprechen doc zu mandherlei Eröffnungen führte, die den geiftlichen Heren bewogen, ſich wegen des Vorgefallenen an den Präfidenten Feuerbach. zu wenden.

„Es ift eigen mit dem Lehrer Quandt,” fagte er im Verlauf feiner Mitteilungen zu Feuerbach; „ein ſonſt jo vortrefflicher Mann, und in allem, was den Haufer betrifft, wie verhert. Die Ruhe des Haufer macht ihn fribblig, feine Sanftheit

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rauh, feine Schweigjamteit redfelig, feine Melan- holie fpöttifch, feine Heiterkeit und ſeine mgefepnetiteit gibt ihm die durchtriebenften Liften 3 allem, wa3 der Hauſer tut und jagt,

füließt er im fülen dns Gegen, fogar das aus diefem Mund fcheint ihm eine

Züge. Ich glaube, er möchte ihm am fiehften

Be und kg wenn er e3 ſchon kennt; verdächtig, wenn er e ſchläft, und verbächtis wenn er früh auffteht; er das Theater liebt und die Muſik nicht Hiebt, verbächtig; daß er es hinunterſchluckt, wenn man ihm zankt, Hingegen die Streitigkeiten zwifchen andern, zum Beifpiel awi hen Quandt und feiner Frau, immer ſchlichten

: verdächtig. Alles ift verdächtig. Wie fol das enden!"

Aber, wie man fo bezeichnend jagt, ein Wort ab das andre, und zum Schluß kam nichts eraus.

Der Präfident, merkwürdig zerſtreut, verfpradh, den Polizeileutnant zur Rede zu ftellen. Er ließ

Hickel rufen und fchrie ihn gleich beim Eintritt an, daß dem Verdutzten Hören und Gehen ver- Leider diente die Schimpferei der Sache ei: als der Zorn verdampft war, trug Hickeis ü {egene Ruhe und berechnete Schmiegjamleit den Sieg davon. Es kam nichts heraus. blieb alles beim alten. Nur daß der Polizei⸗ leutnant, in feiner Eitelkeit tief gefräntt, Doppelt ftil und kalt feiner Wege ging. 420

„Die Bemühung, dem Haufer eine annehm- liche Eriftenz zu verichaffen, muß man wohl als gejcheitert betrachten,“ ſagte Feuerbach eines Tages zu feiner Tochter. „Der Merſch leidet in feiner jesigen Umgebung, und die Art, wie man ihn behandelt, ſcheint gegen alle Vernunft und Billigkeit.“

„Mag jein; aber kann man es ändern?" verfegte Henriette achjelzudend.

„Mich beruhigt nur die Zuverficht, daß ja eine Entjheidung ohnehin fallen muß, wenn die Bei a erjchienen ift,“ fagte der Präfident vor ſich hin.

I ſchadet es auch dem jungen Menfchen, wenn die Wogen des Lebens über jeinem Kopf aufammenjchlagen ?" fuhr Henriette fort. „Vielleicht Iernt er ſchwimmen dabei. Es ift an Ihnen, Vater, feinen Präzeptor zu machen.

„Vielleicht lernt er ſchwimmen dabei. Vor— trefflich ausgedrückt, meine Tochter. Dereinft mag er dann der überjtandenen Prüfungen dankbar

jedenken. Ein Gekrönter, der eine ſolche Schickſals- Ahle erfahren hat, von der tiefften Tiefe_zur böchften Höhe geftiegen ift ei, das gäbe Hoff- nungen! Fehlte es den Großen der Erde nicht an Lebensfenntnis, fo wäre ihnen das Volt mehr und etwas andres als eine Melkkuh. Lafjen wir alfo den Stahl glühen, damit er hart werde. Sind heute Korrekturen gekommen?“ enriette verneinte und ging feufzend hinaus, 3 gibt eine innere Stimme, die beredfamer ift als die Weisheit der Sentenzen. Feuerbach erfuhr die Gewalt diefer Stimme ftet3 auf3 neue, wenn er ſich Gafpar gegenüberbefand. Es war ihm nicht gegeben, fich um den Appell einer höheren 421

Inftanz, al3 es Vernunft und Erfahrung find, berumzulügen. Den Freimut ber DBerantwortlih” Teit, den er vor dem eignen Herzen empfand, hatte das Alter nicht abgeftumpft, fondern ges läutert; er mußte fich befennen, daß das, was ihn quälte, ganz einfach das fchlechte Gewiffen war.

Welch ein Dilemma für einen folchen Mann! Auf der einen Seite die bis zur Selbtverleug- nung getriebene Erfüllung der dee, auf der andern das vorwurfsvolle Auge deffen, dem die Idee galt und dem er ſich nicht ergeben konnte und durfte aus Furcht vor dem allzu be= teiligten Gefühl, aus Furcht vor der Trübung des Urteils, aus Furcht, daß der Engel der Ge- rechtigkeit feiner vorgeſetzten Bahn entfliehen würde, wenn Neigung, Rüdficht und herzliche Annähe- rung ins Spiel Tämen.

So wie an die nächften Freunde jchicte der Präſident in diefen Tagen die Aushängebogen feiner Cafpar-Haufer-Schrift auch an Stanhope, der fich zurzeit in Nom aufhiell. Der Graf dankte oder antwortete mit feinem Wort.

Eines ſchlimmeren Zeichens bedurfte Feuerbach nicht. Wie hatte Doch das große Wort gelautet, das er einft in lebendiger Stunde zu jenem Mann gejprochen? „Wenn diejes Antlitz trügt, Mylord, mit dem Sie hier vor mir ftehen, dann..."

a, dann! Was dann? Kindliche Anmaßung! Würde die Welt untergehen, weil ein Feuerbach fich getäufht? Wie vielfältig ift der Menfch, wie viele Gefichter find ihm eigen, wie viele Worte findet er um eine3 erbärmlichen Vorteils willen! Für den Biſſen Brot ift jeder Bettler joon ein Fürſt der Worte, und mas Staats- arofien, was Pairfchaft, mas anmutige Ma- 422

nieren umd überredendes Gefühl, wenn dem allen nur das Wort die Schminte ift, das eine ausjägige Haut verfhönt? Dazu aiſo Herzen gsralienent, im Dunkel der Seelen gewählt, mit ichterfunft und »patho8 Tat und Untat auf ihr menſchlich Maß geprüft, damit ein aufgeſchmückter Schelm aus England kam, um damit ein far- donifches Spiel zu treiben und alles lächelnd ins Abfurde zu führen. - " Den alten Mann ekelte. Aber die Bor- Ken von der Macht und den Hilfsmitteln der inde, mit denen er fich in ungleichen Kampf eingelafjen, wurde allmählich ungeheuer, und wenn aud fein Vorhaben nicht die geringfte Beein— trächtigung erfuhr und er nicht für die Dauer eines Angenbtics ins Schmwanten geriet, nahm doch eine verbüfternde Unruhe von ihm Beſitz. Seit jenem nächtlichen Einbruch, deſſen Anjtifter aller. aufgerandten Mühe zum Trotz unentdeckt jeblieben waren, entbehrte er des dauernden lafs. Er erhob ſich bisweilen aus dem Bett, wanderte mit dem Licht durch die Zimmer, über Treppen und Flur, rüttelte an den Fenſtern, probierte die Zeftigkeit der Schlöffer und erſchrak nicht felten vor feinem eignen Schatten. Es war jür feine Kinder ein erjchütterndes Schaufpiel, diefen Mann der Leidenſchaft und des eingefleifch- ten Mutes in dergleichen Geſpenſterweſen verftrict zu fehen. Einſtmals am frühen Morgen fand man an der äußeren Seite des Haustor3 fol- gende mit Kreide angefchriebenen Verſe: Unfelm, Ritter von Feuerbach! 2öfh '3 Feuer unter deinem Dad! 2a den falichen Freund nimmer ein!

30 den Degen und Hau bısin, onft wirb’8 um Did) gefchehen fein.

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An einem Abend zu Ende Oktober kam Quandt und begehrte den Präfidenten zu fprechen. Feuer⸗ bach ließ ihn eintreten und beobachtete ſofort in feinem Benehmen etwas Verlegenes und Be— ftürztes, doch ac der Lehrer nicht die gemöhn- liche Umftändlichteit, fondern rückte ſchnell mit feinem Anliegen heraus. Cr berichtete, Caſpar habe vorgeftern einen Brief des Grafen erhalten und feitdem habe er fich ganz verändert; ob Seine Exzellenz nicht eine Stunde erübrigen könne, um mit dem Menjchen zu reden, er felbft bringe fein Wort aus ihm heraus.

Der Präfident fragte, worin die Veränderung beftehe.

„Es ift, als wäre er taubftumm geworden,“ verfeßte Quandt. „Bei Tiſch läßt er die Speifen unberührt, beim Unterricht ift er äußerft unauf- merffam, ja geiſtesabweſend, die Aufgaben macht er nicht mehr, auf Fragen antwortet er nicht, pöteist herum wie ein Todfranfer und ftarrt in

ie ih Geftern nachts hab’ ich und meine Frau ihn belaufcht und wir haben zugehört, wie er erit eine ganze Weile vor fich hingewimmert, dann auf einmal hat er einen gräßlichen Schrei en

Wiſſen Sie vielleicht, ma in dem Brief des Grafen geftanden hat?" forfchte der Präfident.

„O ja, das weiß ich wohl," entgegnete der Lehrer harmlos; „es ift meine Gepflogenheit, alle Briefe, die er erhält, vorher zu öffnen.“

Feuerbach blickte jäh empor und fah den Lehrer mit finfterer Neugier an. „Nun, und?" fragte er.

„Sch könnte den Inhalt des Schreibens durchaus nicht mit einer folhen Wirkung zu— ſammenreimen,“ erwiderte Quandt bebächtig. 424

Der Präfident ftampfte ungeduldig mit dem Fuß. „Gut, gut," rief er barſch, „aber mas ftand denn drin, da Sie es doch einmal wiſſen ?“

Quandt erſchrak. „Es ftand drin, der Graf tönne in diefem Jahr nicht mehr nach Ansbach fommen, unerwartete Zwijchenfälle nötigten ihn, diefen Plan ins Unbeftimmte zu verfchieben. Nun ift mir freilich bekannt, daß Haufer mit der Her- kunft des Lords ſtark gerechnet hat, er ſprach fogar immer von einem feſten Termin und hielt es für einen Frevel, wenn man ihm das aus» reden wollte; er fchien es geradezu für eine Pflicht des Grafen zu erachten, denn in feinem kindiſchen Kopf glaubt er noch fir daran, daß ihn der Graf mit nach England auf feine Schlöffer nehmen werbe, und er ahnt gar nicht, daß ber Herr Graf ſchon längſt fein Herz von ihm ab» gewandt hat —"

„Woher wifien Sie das, Mann?" braufte der Präfident auf und erhob fich mit ſolchem Ungeftüm, daß der Stuhl hinter ihm umftürzte,

„Eure Exzellenz verzeihen,” ftotterte Quandt furdhtfam, „aber das ift doc) ſonnenklar.“ Er ging hin, ftellte den Stuhl mit einer höflichen Grimaffe wieder auf und während der Präfident mit feinen fteifen, Turzen Schritten auf und ab wanderte, jagte er fchlichtern: „Trotz allem ift mir die Wirkung diefer in den urbanfien Formen gehaltenen Abfage unerflärlih und bejorgnis- erregend; es muß da etwas dahinter ſtecken, und Eure Erzellenz find vielleicht imftande, e3 heraus⸗ zubringen.“

„Ich werde der Sache nachgehen," ſchnitt Feuerbach das Geſpräch kurz ab. Quandt machte feinen Bücling und entfernte fih. Er ging nicht

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heimmärts, fondern wandte fich gegen die Her- rieder Vorjtadt, da er feine Frau vom Haus ihrer Mutter abholen wollte. Es war ein befiger Sturm, Blätter und Zweige wirbelten durch die auf, Quandts Mantelumdang flatterte hochauf, und mit beiden Händen mußte er die Ränder feines Schlapphut3 fefthalten.

Kurz nad) dem Lehrer hatte Caſpar heimlich das Haus verlaffen, eigentlich ohne Ziel. ex auf der Straße war, fiel ihm ein, ob er nicht zu Frau von Imhoff gehen tönne, und uns - geachtet der Dunkelheit und des böfen Wetters, und obgleich das Imhoffſchlößchen -eine Viertelftunde vor der Stadt gelegen war, entſchloß er fich dazu. Aber als er angelangt war, als er am Gittertor in und zu den erleuchteten Fenftern binaufs Haute, ſchwand ihm alle Luft und er fürchtete ſich vor den hellen Zimmern, Sah er fich boch ſchon droben; hörte er doch ſchon die Worte, die ihm nichtS waren und nicht? galten, er fannte fie alle, er hätte fie auswendig an der Schwelle berfagen können. Ja, er kannte num die Worte der Menfchen, er erfuhr nichts Neues durch fie, fie fielen in das unermeliche Meer feiner Traurig» feit wie Heine trübe Tropfen, deren Auffchall die Tiefe verfchlang. .

Ein Schatten glitt an den Fenftern vorbei, ein andrer folgte. So meilten fie in ihren Wohnungen, ftil und emfig zündeten ihre Lichter an und wußten nicht, wer draußen jtand am Tor.

Mitten im Win gebraufe vernahm Caſpar Töne wie von einem Saiteninftrument, das unter den Wolken aufgehängt war. Es befand ſich näm— lich auf dem Dach des Schlößchens eine Aeols- harfe, Caſpar wußte dies nicht und hielt e8 für 426

eine geifterhafte Muſik. Als er den Rückweg antrat, flugen immer von Beit zu Zeit bie orgelnden Akkorde an fein Ohr.

Er wünfchte noch nicht heimzugehen; der gleiche dumpfe Drang, der ihn vor das Schlößchen der Imhoffs getrieben hatte, führte ihn noch zum Bad des Generallommifjärs, dann zum Haus des Regierungspräjidenten, dann zum Feuerbach- ſchen Haus und jchließlich vor ein Gebäude, das unbewohnt war und das mit feinen verfchloffenen Läden, feinen bemoften Simfen und feinem hoch— bogigen Tor, über welchem ein Auge in den Stein und darüber die Worte gemeißelt waren: „Zum Auge Gottes", ſchon lang vorher feine Wiß- begier aufgewedt hatte. Zur Markgrafenzeit follte ein Goldmacher darin gewohnt haben.

Es war ihm zumute, wie wenn er in all diefen Häufern zu Gaft gemefen fei, wie wenn er unfichtbar unter ihren Bewohnern oder in ihren leeren Räumen herumgegangen fei und als ob er dabei eine merkwürdige Kenntnis von dem vergangenen und gegenmärtigen Leben ihrer Men⸗ ſchen gewonnen hätte.

Ziemlich müde und dabei tief erregt Tangte er im Lehrerhaus an. Quandt und feine Frau waren noch nicht daheim, die Kinder fchliefen, die Magd war nicht zu jehen, es herrſchte eine große Stille, nur der Wind umheulte die Mauern, und das Flurlämpchen fladerte wie vor Furcht. Da, während Cajpar zur Treppe fchritt, vernahm er eine Ianggezogene feine Stimme, ähnlich dem Birpen der Sommergrille, und die Stimme rief:

„Stephan!“

Er blieb befremdet ftehen und fah fih um. Da alles ruhig war, glaubte er fich getäufcht zu

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haben, glaubte, es fei eine Stimme draußen auf Straße gewefen. Aber kaum hatte er drei Schritte getan, fo erichallte die Stimme neuer- dings, nur unvergleichlich lauter, anjcheinend aus dichterer Nähe:

„Stephan!“

&3 war etwas ‚unendlich Ergreifendes in dem Ton; es Hang, wie wenn einer, der zu ertrinfen fürchtet, aus dem Wafler ruft. Unverkennbar mar e3 eine männliche Stimme, die nun zum drittenmal wie von Schluchzen erftict ausrief:

„Stephan !"

Kein Zweifel, der Auf galt ihm, ihm, Cafpar. Er trete die Arme aus und fragte: „Wo? Wo bift du? Wo bift du?“

Da fah er oben über der Tür, körperlos ſchwebend, ein fahlleuchtendes Gefiht. Es war das Gefiht Stanhopes, mit aufgerifjenen Augen und aufgerifjenem Mund, wie in äußerjtem

een verzerrt, häßlich, ſchier unfenntlich

* lich

Caſpar verharrte angewurzelt an feinem Platz, feine Glieder, ja feine Augen waren wie ver- fteinert. Als er zum zmweitenmal hinblidte, war das Antlig verjhmunden, auch die Stimme ließ fich nicht mehr vernehmen. Flur und Stiege er- leuchtet, alle Türen zu, fein Menſch zu jehen, fein Laut zu hören.

Es wird eine Reife beſchloſſen

Eines Nachmittags im Dezember ſahen er- ftaunte Nachbarn den Lehrer Quandt wie be 428

fefien aus feinem Haus und gegen die Neuftadt ftürmen, wo die Wohnung des Polizeileutnants lag. Er trat ins Zimmer des Leutnants, und ohne fich Zeit zu gönnen, feinen Hut vom Kopf zu nehmen, griff er in die Rocktaſche und hielt Hidel wortlos ein dünnes Drudheft entgegen.

Es war die vor kurzem erfhienene Cafpar- Saufer-Brofchtre Feuerbachs. Quandt hatte das

üchlein erſt heute in die Hände befommen und es in einem Bug durchgelefen.

Hickel nahm das Heft, befah e8 rundum und fagte gelaffen: „Na, und? Was jol’3? Meinen

- Sie, daß das eine Neuigkeit für mich ift? Sie echauffieren ſich doc nicht etwa? Der Alte fchreibt, weil das fein Geſchäft ift. Eher können Sie einer Henne das Eierlegen abgesöhnen als einem geborenen Federfuchier das Schreiben."

Quandt atmete tief auf. „Schreiben, ſchön; ich laſſe ja vieles gelten," antwortete er, „aber das geht denn doch zu weit. Erlauben Sie —" er padte das Heft, ſchlug das Titelblatt auf und las vor: „Cafpar Haufer oder Beiſpiel eines Verbrechens am Seelenleben de3 Menjchen. Das Mlingt ja nad) etwas.“ fagte er bitter; „es ftreut den Leuten von vornherein Sand in die Augen. Aber das Ganze ift ein Roman, und nicht ein- mal einer von der beften Sorte."

Ex blätterte und deutete mit dem Finger auf eine Stelle, die er gleichfalls höhnijch betont vorlag: „Caſpar Haufer, das rare Eremplar der Gattung Menſch —! Lieber Herr Polizeileut- nant, da bin ich mit meiner Weisheit zu Ende. Das kommt mir fo vor, al3 ob man den notorifch fchlechteften meiner Schüler vor verfammeltem Volt als einen großen Gelehrten erklärte. Rares

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Eremplar! In dem Punkt weiß ich beſſer Be⸗ ſcheid, halten zu Gnaden, Erzellenz; da könnte ich einem verehrlichen Publifo ganz anders die

ugen Öffnen. Rares Eremplar, gewiß! Aber man muß nur aud) das Alphabet von vorne und nicht von hinten leſen. Das ijt aljo der große Kriminalift, der beitaunte Alleswiffer! So fra der Ruhm aus, wenn man ihn aus der Nähe betrachtet! Und nun erft das ganze dynaftifche Hintertreppenmärchen! Es wäre ja zum Lachen, wenn es nicht jo traurig wäre. Herrgott, ift da3 eine Zeit, i das eine Welt!"

Der_Polizeileutnant hörte mit kaum merk» fichem Lächeln den Ausbruch des Lehrers an. AL Quandt zu Ende war, fagte er gleichmütig: „Was wollen Sie? Als getreue Diener find mir nun einmal dazu verurteilt, die dummen Streiche unfrer Herrichaft mitanzufehen. Uebri gens Tann ich Sie in einer Hinficht beruhigen. Der Präfivent hat felber feine rechte Freude an dem Büchlein. Er klagt über Gedächtnisfehler, die ihm dabei paffiert find, und daß es ihn mehr Mühe gekoftet hat, die Gefchichte zu Papier zu bringen, denn ein ganzes Corpus juris, Und jest muß er's erleben, daß man ihm draußen im Neich hart zufeßt. Es geht die Rede, daß die Bundestommiffton zu Frankfurt die Schrift fon- fiszieren wird."

„Recht fo," rief Ouandt. „Auch die Fürften follten etwas dagegen unternehmen.“

„Das laſſen Sie nur die Sache der Fürften fein,“ verfeßte Hickel, deſſen Geficht plöslich böfe und forgenvoll wurde. „Pot Kreuz, lieber Quandt, Sie ereifern ſich ja da, als ob's Ihnen an den Kragen ginge. Ich möchte nur gar zu gern 430

wiffen, ob Sie auch fo viel Mut zeigen würden, wenn die Exzellenz dahier im Zimmer wäre."

Quandt ſchaute fich mißtrauifh um. Dann zuckte er die Achjeln und erwiderte: „Sie belieben zu ſcherzen, Herr. Polizeileutnant. Schlimm ges nug, daß man mit feiner wahren Meinung bin- term Berg halten muß. Wir haben alle ver- gefien, wie ein Mann den Kopf tragen foll. Kuſchen, das haben wir gelernt, das verjtehen A von Grumd aus. Aber ich will nicht mehr uſchen.“

„pſt!“ unterbrach ihn Hickel unwirſch; „laſſen wir das; es ſchmeckt nach Demagogentum. Sagen Sie mir lieber: Hat der Haufer Kenntnis von der Brofchüre?"

„Nicht daß ich wüßte," entgegnete Quandt. „Aber es wird nicht zu vermeiden fein, daß er davon erfährt, gibt es doch Unverftändige genug, die fih_ein Vergnügen daraus machen werden. Haben Sie, Herr Polizeileutnant, nicht auch von der Schrift eines gewiſſen Garnier gehört?“

Bei der Nennung dieſes Namens zudte Hickel zufammen und fah den Lehrer finfter an. Es dauerte eine ganze Weile, bevor er fich zu einer Antwort entſchloß. „Garnier? a, das ift ein landesflüchtiges Subjekt. In_feinem Pamphlet bringt er diefelben finnlofen Dinge vor mie der Staatsrat, bloß noch verbrämt mit dem windigiten Hofklatſch. Das Machwerk ift nicht der Rede wert."

Wie fol ich mich aber verhalten, wenn der Haufer irgendwie in den Beſitz eines diefer Pro- dukte kommt?" fragte Quandt.

Hickel fpazierte mit feinen langen Schritten herum und nagte mit den Zähnen nervös an der

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Unterlippe. „Zreffen Sie Vorſorge,“ erwiderte ex kalt. „Laffen Sie ihn nicht aus den Augen. Mid kümmert das übrigens gar nicht; ift mir völlig egal. Man wird den jungen Mann ſchon karwanzen.“

Quandt ſeufzte. „Herr Polizeileutnant,“ ſagte er bedrüct, „ich kann Ihnen nicht ſchildern, wie mir iſt. Meine halbe Seligfeit gäb’ ich drum, wenn e3 mir vergönnt wäre, den Menjchen zu einem offenen Gejtändnis zu bringen."

„Man wird’3 Ihnen billiger machen," ver- feste Hickel düfter.

„Wiflen Ste denn das Neueſte?“ fuhr Quandt fort. „Der Präfident will den Haufer als Schreiber beim Appellgericht beichäftigen. Morgen fol er ſchon anfangen.“

„Und was wird der Graf dazu ſagen?“

„Man bat es ihm fchreiben wollen; weiß aber nicht, wo er fich aufhält. Es ift feit vier Wochen nur ein einziger Brief von ihm gekommen, und den bat der Haufer nicht einmal angefehen. Meines Erachtens muß er fich über die Maß— regel freuen. Für ein Metier im engeren Sinn ift der Haufer doch nicht zu brauchen, er hat leider den Verkehr mit den gebildeten und höheren Ständen zu lange genofjen, als daß es ihn nicht rebellifch machen müßte, wenn er ihn plößlich mit der Umgebung in einer Werkftätte vertaufchen müßte. Anderfeit3 ift er auch zu einem Beruf ungeeignet, der eine tiefere Ausbildung erfordert, denn zu einem ernfthaften Studium fehlt ihm Sinn und Ausdauer. Der Staatsrat hat dem- nad) die befte Löfung getroffen, die auch mich von einem Teil meiner DVerantwortlichkeit ent laftet. Bei der Schreiberei kann ſich der Haufer 432

nicht nur zu einem Beamten de3 niederen Dienftes, fondern bei einigem Fleiß fogar für eine Stelle beim Regiftratur- oder Rechnungsweſen ausbilden."

Hickel hörte der weitläufigen Auseinander- ſetzung faum zu. Sie gingen nun zufammen fort; vor der Hofapothefe verabfchiedete fich Hickel, um fih, wie er fagte, ein Piülverchen gegen Schlaflofigkeit verfchreiben zu Laffen.

Auf dem Nachhaufeweg wurde Quandt vom Hofrat Hofmann ehr freundlich gegrüßt, eine Tatſache, die hinreichend mar, feine mürriſche Stimmung ungemein aufzubeitern. Beim Mittag- effen, es gab Kalbsbruft und Ochjenmaulfalat, wurde er og: Iuftig und trieb allerlei Scherze mit feiner Gattin. Aber wie es bei jeriöfen Naturen der Fall zu fein pflegt, geriet feine Auf- geräumtheit ziemlich ins Plumpe. Unter anderm nahm er das Mefier und fuchtelte der Lehrerin lachend damit vor der Nafe herum. Da erblafte Caſpar, ftand auf und fagte: „Um Gottes willen, Here Lehrer, legen Sie doch das Mefjer weg, ich kann's nicht ſehen.“

Quandt, gleich wieder verdrießlich, brummte: „Na, hören Sie mal, Hauſer, ein ſolches Be— tragen ſchmeckt ſtark nach Affektation.“

„Sie find ein ſchöner Tappel,“ ſagte die Lehrerin, „ein Mann muß mutig fein. Was wollen Sie denn tun, mwenn’3 mal Krieg gibt? Da beißt es mit Anjtand ſterben.“

„Sterben? Nein, da jag’ ich Dank, fterben mag ich nicht," erwiderte Cafpar haftig.

„Und doch haben Sie fi) damals vor dem Volizeileutnant in einer höchſt widerwärtigen Weile über denfelben Punkt geäußert," ließ ſich Quandt vernehmen.

Baffermann, Gafpar Haufer 28 433

„Nein, jo feig,“ fuhr die Lehrerin fort, „mit dem Kadetten Hugenpoet von ben ‚Dragonern haben Sie ſich legten Sommer ja auch einmal fo feig, Benommen,

„Was ift denn das für eine Gefchichte?" er- kundigte fi Quandt, „davon weiß ich gar nichts."

„Er war doc mit dem Kadeiten oft bei- fammen; der hat dem Haufer immerzu vor

eſchwärmt, er joll Soldat werden, in ein paar

Sahren braͤcht' er es leicht zum Offizier. Wär’ ja nicht fo übel, die Kabetten haben e8 gut und kommen fchnell vorwärts. Unfer Hauſer war auch begeiftert von der Idee, aber auf einmal mar die Freundſchaft aus."

„Ei, und aus welchem Grund?"

„Das war fo. An einem Abend im Sep- tember ift er mit dem Kadetten am Nezatufer fpazieren gegangen, und fie find zu einer Stelle gefommen, wo viele Knaben und Burfchen fich gebabet haben, denn es war furchtbar warm an dem Tag. Der Kadett jagt, das wollen wir auch machen, zieht fich aus und will den Haufer über- reden, gleichfal8 zu baden. Der war aber zu Tod erichroden von dem Vorjchlag und fagt, ins Waffer geht er nicht. Das hören die andern, fteigen heraus, ftellen ſich um ihn herum, ver- fpotten ihn und wollen ihn mit Gewalt ins Waſſer bringen. Da reißt er fich los, eh’ man fs verfieht, ift er in feiner Höllenangjt über

ie Felder Davongelaufen, und die nadigten Kerle

höhnen Hinter ihm ber. Dem Kabetten war's zu bunt, und ex fieht ihm nicht mehr an ſeitdem. Iſt's wahr, Haufer, oder nicht?"

Caſpar nicte. Der Lehrer ſchüttelte fich vor Sachen.

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Ein paar Tage fpäter kamen Frau von Im⸗ hoff und das Fräulein von Stichaner, um Caſpar zu befuchen. Die Lehrerin, ftolz auf die vor- nehmen Gäfte, wich nicht vom Fleck. Der Unter- haltung zuliebe und weil ihr nichts Geſcheiteres einfiel, erzählte fie im Beiſein Caſpars abermals die Geichichte mit dem Kadetten und dem ver- weigerten Bad, doch hatte fie nicht benfelben Erfolg wie vor ihrem Ehegemahl. Die beiden Damen hörten | ſchweigend zu.

„So Feigheit ift eatlich nicht ſchön,“ bemerkte das Fräulein von Stichaner dann auf der Straße gegen Frau von Imhoff.

„Man kann es nicht gut Feigheit nennen,“ antwortete diefe; „er Tiehe das Leben zu ſehr, das iſt es. Er liebt das Leben wie ein Toller, wie ein Tier liebt er es, wie ein Geizhals ſein Gold. Er hat mir ſelbſt gitanden, daß er jedes⸗ mal vor dem Einſchlafen Angft Hat, jein Schlaf könne fich ihm unbewußt in Tod verwandeln, und er betet, Gott möge ihn doch ganz gewiß am andern Morgen aufwachen laſſen. Nein, es iſt nicht Feigheit; es iſt vielleicht die Ahnung einer großen Gefahr, aud der Trieb, viel Verfäumtes nachzuholen. Man muß ihn nur manchmal fehen, wie er fich freuen kann, und über das Allergeringfte, woran jeder andre fumpf vorübergeht. Seine Freude Hat etwas Groß- artiges, etwas Erdentrücktes, jo wie feine Furcht und feine Traurigkeit etwas Schauerliches haben."

u Haufe wurde Frau von Imhoff durch einen Brief ihrer Freundin, der Frau von Kanna- wurf, überrafcht, doppelt angenehm überrafcht, da Frau von Kannamurf, fie weilte gegenwärtig in Wien, fchrieb, fie wolle im März nach Ans—

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bach kommen. In dem Brief war überdies viel von Cafpar die Rede. „ch habe in den letzten Tagen die Feuerbachſche Schrift gelefen,” hieß es unter anderm, „und muß dir geftehen, daß mich noch niemal3 ein Buch dermaßen im Innerſten auf gemähtt hat. Ich kann feitdem nichts andres denken, und es flieht mich der Schlaf. Weil Caſpar Haufer jelbft von diefer Schrift? Uni wie ftellt er fich dazu? Was äußert er darüber ?"

Frau von Imhoff verfäumte es, über den Punkt Beſcheid zugeben; e3 fiel ja auch ſchwer, Caſpar zu befragen. Hat er das Buch nicht gelejen, jo ift e8 peinlich und fonderbar, ihn darüber in Unmifjenheit zu fehen, dachte fie; noch peinlicher und fonderbarer, wenn er es gelejen bat; peinlich und jonderbar fein Aufenthalt hier, fein Ropiftenamt auf dem Gericht, fein ganzes Treiben; und mie ift es möglich, eine Ausſprache herbeizuführen? “Jedes offene Wort kann unheil- voll werden.

Trogdem unternahm es Frau von Imhoff, Cafpar vorfichtig auszuholen, ob er überhaupt von der Sache wifje oder davon reden gehört. Und er wußte davon. Nicht im entfernteften aber hegte er den Wunſch, ſich Klarheit zu ver- ſchaffen. Erſtens aus Furcht; die Furcht ließ ihn vor jedem Schritt zurüctbeben, der auf eine Veränderung feiner Lage zielte, feine Gedanken von der krampfhaft umflammerten Gegenwart ablenken Eonnte; und dann, weil er wahrjcheinlich annahm, es handle fich bei der Schrift des Präfi- denten auch nur um das bodenloje Gerede, das ex in- und auswendig wußte und von dem ihm, mie ex zu fagen pflegte, bloß Kopf- und Herz weh und ein dummes Nachſchauen blieb. Er 436

hatte dergleichen oft genug erfahren, und aus lauter Ueberdruß daran war er am Ende jo un- neugierig geworden, daß eine einzige Andeutung, während eine Gefprächs etwa, hinreichte, um feinem Geficht den Ausdrud fchalfter Langweile zu geben.

Wie er chlielich doch dazu gelangte, das für ihn und um feinetwillen gefchaffene Werk Tennen zu lernen, das hatte eine eigentümliche Be— wandtnis.

Es war an einem unfreundlichen Vormittag im März, da verbreitete ſich plötzlich im Appell-

erichtsgebäude und bald darauf in der ganzen die Nachricht, der Präſident ſei im großen Gerichtsſaal während. einer Verhandlung, die er leitete, ohnmädhtig vom Stuhl gejtürzt. Alle Beamten liefen fofort aus ihren Zimmern und ftanden alsbald auf den Treppen und Korridoren. Auch Cafpar Hatte feinen Arbeitstiſch verlaffen und gefellte fich zu den übrigen. Er ſchlich aber abfichtlich wieder davon, um nicht Zeuge fein zu müffen, wie man den Präfidenten von oben heruntertrug.

As er fih in das Zimmer zurücbegab, in welchem er an allen Vormittagen von acht bis zwölf Uhr fchrieb, und zwar nur in Geſellſchaft eines alten Kanzliften, eines gemifjen Dillmann, war biejer fein Amtsgefährte noch nicht wieder da. Caſpar, fehr traurig und erjchroden, ftellte fih zum Fenſter und malte, ſchmerzlich verfonnen, wie er war, mit dem Finger den Namen Feuer- bach in die beichweißte Scheibe.

Indes trat Dillmann -ein und ging hände— ringend auf feinen Pla zu.

Bis auf diefen Tag hatte der alte Kanzlift, und Gafpar befand ſich nun über neun Wochen

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auf dem Amt, noch nicht ein Dutzend überflüffiger Worte mit dem neuen Kollegen gewechielt; er hatte ſich im mindeften nicht um ihn gekümmert und eine grämliche Gleichgültigteit gegen ihn zur Schau getragen. Im Verlauf der sreibig Sahre, während welcher er Alten, Erläffe, Verordnungen und Urteile Topierte, hatte er es zu einer befon- deren Gefchiclichkeit im Schlafen gebracht, und es war komiſch zu fehen, wenn er, den Federkiel aufs Papier gefpießt, leiſe fchnarchend feine Siefta hielt und ſogleich die Hand fchreibend weiterbewegte, wenn fi) draußen der Schritt eines Vorgeſetzten vernehmen ließ, da er die Gangart jedes einzelnen Heren genau ftudiert und fozufagen im Kopf hatte,

Um fo verwunderter war Gafpar, als Dill: mann auf ihn zufchritt und mit zitternder Stimme fagte: „Der unvergleichlihe Mann! Wenn ihm nur nichts zuftößt! Wenn ihm nur nicht? Menfch- liches paffiert!”

Caſpar drehte fich um, entgegnete aber nichts.

„Na, Haufer, und für Sie wäre es gar ein unerjeßlicher Verluſt,“ fuhr der Alte jeltfam teifend und zänkiſch fort; „wo gibt’3 denn in diefer Iummerigen Welt einen Menfchen, der fich fo für einen andern Menjchen einfest? Sollte mich nicht erftaunen, wenn das ein fchlimmes Ende nähme. Ja, es wird ein fchlimmes Ende nehmen, ein ſchlimmes Ende."

Cafpar hörte ſchweigend zu; feine Augen blinzelten.

„So ein Mann!" rief Dillmann aus. „Ih bab’, ſeit ich bier fie, fchon fieben Präfidenten und zweiundzwanzig Regierungsräte zum Grab geleitet, Hauſer, aber fo einer war nicht dabei. 438

Ein Titan, Haufer, ein Titan! Die Sterne könnt’ ex vom Himmel reißen um der Gerechtigkeit willen. Man muß ihn nur betrachten; haben Sie ihn mal

jenau betrachtet? Der Budel über der Nafe!

8 deutet, wie man jagt, auf eine genialifi Konzeption; diefe Jupiterftion! Und das Buch, Haufer, das er für Sie gefchrieben hat! Das it ein Buch! Ein wahrer Scheiterhaufen iſt's! Die Zähne muß man zufammenbeißen und die Fäufte ballen, wenn man's lieſt.“

Cafpar machte ein märrifes Gefiht. „IH hab's nicht gelejen,“ fagte er kurz.

Dem alten Kanzliften gab e3 einen Ruck. Er riß den Mund auf und fchnappte. „Nicht jelefen? * ftotterte er. „Sie nicht gelefen? Ja wie ift denn das möglich? Da foll mich doch aid der Teufel holen!“ Eilig trippelte er zu einem Tiſch, ſchob eine Lade auf, fuchte herum und brachte das Büchlein zum Vorfchein. Er reichte es Cafpar hin, ſtieß es ihm förmlich in die Hand und knurrte: „Lefen, lejen! Sapper- Iot, leſen!“

Cafpar machte es beinahe wie Hicel dem Lehrer Quandt gegenüber. Er drehte das Buch um und um umd zeigte eine unfchläffige Miene. Dann erſt ſchlug er es auf und las, fichtlich er- bleichend, den Titel. Immerhin genügte auch dies noch nicht, um ihn meugierig oder um- geduldig werden zu lafien. Er ſteckie daS Buch a —F aſche und fagte troden: „Bu Haufe will ich's leſen.

Schlag zwölf Uhr verließ er, wie gewöhnlich, das Amt, feste ſich zu Haufe, als obnichis ge— ſchehen wäre, zu Tiſch und hörte ftill den Ge— jprächen zu, die fich ausfchlieglich um das dem J 439

Präfidenten widerfahrene Unglüd drehten. „Am legten Sonntag nor dem Kirchgang,“ plauderte die Lehrerin, „da hab’ ich den Staatsrat gefehen, ggeabe wie ihm vier Totenweiber begegnet find.

er Staatsrat ift ganz erſchrocken geweſen, ift ftehengeblieben und hat ihnen nachgeſchaut. Ich hab’ mir gleich gedacht, das kann nichts Gutes bebeuten.“

„Wenn ihr Frauenzimmer nur nicht alleweil euch anmaßen wolltet, dem Herrgott in die Karten zu gaffen,“ verfeßte Duandt unwirſch. „Da predigt man und predigt das liebe lange Jahr, glaubt mwunder3 wie auf den Höhen der Auf-

ärung zu wandeln und fchließlich ſpuckt einem die eigne Sirrjeaft am fräftigften in die Suppe."

Caſpar belachte diefe Worte, was ihm von der Lehrerin einen giftigen Blick eintrug.

Er begab fih dann in fein Zimmer.

Um zwei Uhr follte er zum Unterricht kommen, erft von vier Uhr an brauchte er im Amt zu fein. Als zehn Minuten über die Zeit vergangen waren, trat Quandt in den Hausflur und rief. Es erfolgte feine Antwort. Er ging hinauf und überzeugte fi, daß Gafpar nicht da war. Sein Unwillen verwandelte ſich in Schreden, als er bei feiner fpionierenden Umfchau die Feuerbachſche Schrift auf Caſpars Tiſch Liegen ſah.

„Alſo doch,“ murmelte ex bitter.

Er nahm das Buch an fich, fuchte unten feine Frau und fagte mit tonlofer Stimme: „Sette, ih habe da eine furchtbare Entdeckung gemacht. Der Haufer hat die Schrift des Staatsrat auf feinem Zimmer gehabt. O die gemiffenlofen Fr Wer doch das wieder eingefädelt

t!“

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Die Lehrerin zeigte wenig DVerftändnis für den Borfall. „Laß ihn gehen,“ oder „fag’3 ihm doch," oder „gib’3 ihm nur orbentlih,“ war meift alles, was ſie zu entgegnen wußte, wenn Quandt ungehaltn über Caſpar war.

„Wann ift denn der Haufer fort?" erfundigte fi) Quandt bei der Magd. Diefe wußte von nichts. Da trat Cafpar jelber ind Zimmer und entſchuldigte fich höflich.

„Wo waren Sie denn?“ forfchte der Lehrer.

„Ih bin zu Feuerbachs gegangen und wollte fragen, wie es dem Staatsrat geht."

Duandt ende feinen Verdruß hinunter und begnügte fih, Caſpars Fortgehen als Eigen- maͤchtigkeit zu tadeln. Als er mit dem Jüngling allein war, wandelte er eine Weile ratlos auf und ab. Endlich begann er: „Ich war vorhin auf Ihrer Kammer, Haufer. Ich habe bei dieſer Gelegenheit einen Fund gemacht, der mich, gelinde ausgedrüct, ſehr mit Bedenken erfüllt. Ich will mid nun über die Schrift des Herrn Staaisrats nicht weiter außlaffen, obwohl alle vernünftigen Menſchen darüber einer Meinung find; ich Halte mich nicht für befugt, Ihnen gegenüber einen fo verdienftollen Mann herunterzujegen. Auch will ich nicht weiter unterfuchen, wer Ihnen das Buch in die Hand gefpielt hat, da ich mich dabei doch nur der Gefahr ausfegen würde, von Ihnen an— gelogen zu werden. Aber mein Bedenken Bat es erregt, daß Sie fogar bei einem folchen Anlaß heimlich verfahren zu müſſen glauben. Warum tommen Sie nicht, wie ſich's gehört, zu mir und fprechen fi aus? Denken & denn, daß ich Sie des Vergnügens beraubt hätte, eine hübſche Fabel zu Iefen, die ein ehemals großer und bes

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rühmter, doch nun franfer und geiftesmüder Mann verfaßt hat? Weiß ich denn nicht auch, wie Ihnen in Ihrem Innern zumute fein muß, wenn man ein ſolches Märchen in Ihre Ver- angenheit hineinfpinnt? Cine Vergangenheit, die Iren wahrlich beffer befannt ift al3 dem armen Staatsrat? Aber warum denn um Gottes willen die ewige Verſteckenſpielerei? Hab’ ich das um Sie verdient? Bin ich nicht wie ein Vater zu Ihnen gemejen? Sie leben in meinem Haus, Sie efjen an meinem Tiih, Sie genießen mein Vertrauen, Sie nehmen teil an unferm Wohl und Wehe, Tann Sie denn nichts in der Welt bewegen, Sie heimlicher Menſch, einmal offen und rückhaltlos zu fein?"

O mwunderfam! Dem Lehrer ftanden die Augen voller Tränen. . Er zog die Schrift des Präfidenten aus der Taſche, ging zum Tiſch und Iegte das Büchlein mit Affekt vor Caſpar hin.

Cafpar blidte den Lehrer an, als ob dieſer in einer weiten Entfernung ſtehe. Es war etwas Stiered in feinem Blick und eine volllommene Abwefenheit der Gedanken. Auf der Stirn: lag es wie geifterhaftes Gewölk, die Lippen waren geöffnet und zuckten.

Wie böfe er ausfieht, dachte Duandt und fing an, fich zu ängftigen. „Sprechen Sie doch!" ſchrie er heifer.

Caſpar jchüttelte Iangjam den Kopf. „Man muß Gebuli haben," fagte er wie im Traum. „Es wird fich was ereignen, Lehrer, pafjen Sie nur auf. Es wird fid) bald was ereignen, lauben Sie mir." Unwillkürlich ſtreckte er die

and nach dem Lehrer aus. 442

Quandt kehrte ſich angewidert ab. „Ders ſchonen Sie mich mit Ihren Redensarten," jagte er kalt. „Sie find ein abfcheulicher Komödiant.“

Damit war das Gefpräch beendet und Duandt verließ das Zimmer,

Durch den Archivdireftor Wurm erfuhr Quandt, daß Cafpar allerdings zu Mittag im Feuerbach⸗ chen Haus gemefen war, daß er aber nicht bloß nad) dem Befinden des Präfidenten gefragt, fon- dern auch mit auffallender Dringlichkeit den Staatsrat zu ſprechen verlangt habe. Natürlich habe man ihm durchaus nicht willfahren können. Er war noch) eine halbe Stunde lang unbeweg- lich am Tor ftehengeblieben, und bevor er fich entfernt, war er um das ganze Haus herum- gegangen und hatte zu den Fenftern hinaufgejchaut, wobei fein Gejicht ander3 als je, wild und ver- ftört, ausgejehen.

Nun kam er aber den nächften Tag wieder, und ebenfo am dritten und vierten Tag, jedesmal mit demfelben dringenden Begehren, und jedesmal wurde er abgewiejen. Der Peifident bebürfe der Ruhe, wurde ihm gefagt; fein Zuftand, der an- fangs zu Veforgniffen Grund gegeben, beffere fich jedoch ftetig.

Direktor Warm erzählte endlich dem Präfi- denten davon. Feuerbach befahl, daß man Caſpar zu ihm führen folle, wenn er das nächte Mal käme, und beitand troß dem Ab- reden Henriette auf feinem Willen. Es ver- ging aber die ganze Woche, ehe fi Cajpar wieder ſehen ließ.

Eines Nachmittags, ſchon ziemlich jpät, er- ſchien er und wurde von Henriette, nicht eben freundlich empfangen, in das Zimmer ihres

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Vater geleitet. Der Präfident ſaß im Lehn- ſtuhl und hatte einen Heinen Berg von Akten vor ſich aufgeſchichtet. Ex ſah ſehr gealtert aus, weiße Bartitoppeln umftanden Kinn und Wangen, fein Auge blickte ruhig, hatte aber einen ängit- lichen Schimmer, wie bei einem, dem der äußerft geffchtete Tod näher geweſen ift als er benten will, .

„Nun, was wünfchen Sie von mir, Haufer?" wandte er ſich an Cafpar, der neben der Tür ftehengeblieben war.

Caſpar trat heran, ftolperte vor dem Schemel, fiel plößlich auf die Knie und beugte in pagen- bafter Demut das Haupt. Auch feine Arme ſanken jchlaff herunter, und er verharrte mit ergebener und düfterer Miene in derſelben Stellung. .

Feuerbach verfärbte fih. Er padte Caſpar bei den Haaren und bog den Kopf zurüd, aber die Augen Caſpars blieben geſchloſſen. „Was gibt’8, junger Mann?" vief der Präfident hart.

Jetzt erhob Caſpar den fprechenden Blick. a hab’ es gelefen,“ fagte er.

er Präfident ballte die Lippen aufeinander, und feine Augen verſchwanden unter den Brauen. Ein langes Schweigen trat ein.

„Stehen Sie auf herrſchte endlich der Präfi- dent Caſpar an. Dieſer gehorchte.

Feuerbach padte ihn beim Handgelent und fagte halb drohend, halb beſchwörend: „Nicht mucjen, Haufer, nicht muckſen! Stille halten! Stille fein! Abwarten! Iſt vorläufig nichts weiter zu tun.“

Caſpars Geficht, ftumm erregt wie daS eines Fiebernden, wurde ftarrer.

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„Es graut Jhnen, jawohl,“ fuhr der Präft- dent fort, „auch mir graut, und dabei muß es fein Bewenden haben. Unjerm Arm find nicht alle Fernen und Höhen erreichbar. Wir haben nit Joſuas Schlachttrompeten und Oberons Horn. Die hochgewaltigen Koloſſe find mit Flegeln bewehrt und dreichen fo hageldicht, di Si en Schlag und Schlag fich unzerknit fein Lichtſtrahl zwängen Tann. Geduld, Haufer, und nicht mucen, nicht muckſen. Zu verjprechen ift nichts; eine Hoffnung bleibt noch, aber dazu drauch’ ich Gefundheit. Genug für jetzt!“

Er machte eine verabjchiedende Gefte.

Cafpar jah den alten Mann zum erftenmal ar und ruhig an. Der fefte Blick mwunderte den geifdenten. Ei der Zaufend, dachte er, der Burjche hat Blut in ſich und fein Zucker⸗ waſſer. Schon im Fortgehen begriffen, drehte ſich Caſpar noch einmal um und fagte: „Erzellenz, ich hätte eine große Bitte.“

„Eine Bitte? Heraus damit!"

Es ift mic fo läftig, daß ich bei jedem Aus- gehen immer auf den Invaliden warten foll. Er ommt oft jo fpät, daß es De nicht mehr ums Zegaehen lohnt. 8 Appellgericht kann ich doch alleine gehen und zu meinen Belannten auch.“

Hm," machte Feuerbah, „will's überlegen, werd’ es richten."

ALS Cafpar das Zimmer verließ, huſchte eine weibliche Geftalt längs des Korridors davon, einer ertappten Lauſcherin geid, Es war Hen- riette, die, in bejtändiger Angjt um den Vater, nichts fo ſehr fürchtete wie die Gefahr, die aus deſſen Teidenfchaftlichem Anteil an dem Schick-

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jal Caſpars drohte. Es mag dafür ein Brief Zeugnis geben, den fieran ihren in der Pfalz wohnenden Bruder Anfelm fchrieb und der die unheilfchwere Luft, die in der Um— gebung des Präjidenten laftete, mit jeder Beile jpüren ließ,

„Der Zuftand unfer Vaters,“ fo begann das Schreiben, „hat fi, Gott jei Dank, zum Beſſern gewandt. Er vermag ſchon, auf einen Stock geſtützt, durchs Zimmer zu gehen und hat auch wieder Freude an einem guten Braten, wenngleich fein Appetit nicht mehr der frühere ift und er hin und wieder über Magenfchmerzen tagt. Was aber feine Stimmung im allgemeinen anbelangt, fo ift fie fchlechter denn je, und zwar hängt dies vornehmlih mit der unglüceligen Cafpar-Haufer-Schrift zufammen. Du weißt, welch viefiges Aufjehen die -Brofchüre im ganzen Land hervorgerufen hat. Tauſende von Stimmen haben fich dafür und damider erhoben, aber es ſcheint, daß das Damider allmählich die Oberhand be Balten hat. Die gelefeniten Zeitungen brachten

xtifel, die einander auffallend ähnlich waren und worin das Werk als Produft eines überfpannten Kopfes höhniſch abgetan wurde. Nachdem zwei Auflagen in rafcher Folge verkauft waren, weigerte der Verleger plöglich unter allerlei Ausflüchten den Drud, und als man ſich an zwei andre wandte, kamen ebenfalls Abjagen. Daß dahinter die tückiſcheſten Umtriebe ftecden, famt und fonders aus ein und derjelben Quelle, kann man fich nicht verhehlen, und ich möchte mir die Lippen mund beißen, wenn ich daran denke, in was für Zus ftänden wir zu leben gezwungen find, daß ſelbſt ein Mann wie unfer Vater für eine Sache, die

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fo, wie fie ift, zum Himmel fchreit, fein williges Ohr findet, von tätiger Hilfe ganz zu ſchweigen. Wahrhaftig, die Menfchen Ti träge, ftumpfe, dumme Tiere, fonft wäre mehr Empörung in der Welt. Nun magft du dir aber erft unfern Vater vorftellen: feine bittere Derftimmung, feinen Schmerz, feine Verachtung, und alles zurüd- gehalten, in feiner Bruſt zugefchloffen. Was mußte er fühlen, da fogar aus dem nächſten Freundeskreis fein Zeichen des Beifalls, des Dantes, der Liebe mehr zu ihm flog! Gewiſſe hochgeftellte BVerfonen hielten mit ihrem Aerger nicht zurüd, und bier, in dem abjcheulichen Krähmintel, hatte man ohnehin wenig Aufhebend von der ganzen Geſchichte gemacht, begreiflichermeife, denn Chriftus mag Rom erobern, zu Serufalem ift er nur ein fehäbiger Rabbi. Ich bin in großer Sorge für _unfern Vater. ch kenne ihn erg, um zu wiſſen, daß feine jetzige äußerlice uhe nur den inneren Sturm verbirgt. Manchmal fist ex ftundenlang und ftarrt auf eine einzige Stelle an der Wand, und wenn man ihn dann ftört, ſchaut er einen mit großen Augen an und lacht lautlos und weh. Neulich fagte er ganz plötzlich und mit finfterer Miene zu mir: das Rechte fei, wenn aus folder Urfache heraus wie in früheren Zeiten der ganze Mann fich ftelle, mit Haut und dag müſſe man ſich opfern und dürfe ſich nicht inter einem Wall bedruckten Papiers verſchanzen. Er wälzt Pläne in ſeinem Hirn, die Nachricht, daß im Badiſchen eine Revolution ausgebrochen it, hat ihn mächtig angegriffen, und in der Tat fcheint diefe Kataftrophe mit der Cafpar-Haufer- Sache in innigem Zufammenhange zu ftehen. Er glaubt in einem verabfchiedeten und irgend-

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wo am Main lebenden Minifter einen der Seuptanftifter der an dem Findling begangenen reuel vermuten zu dürfen, und kaum will mir der Sa in die Feder! er hat die Ab- den Mann aufzuſuchen, ihn zu einem Ge— ändni3 zu zwingen. Der Polizeileutnant Hicdel, der unheimliche Gefelle, dem ich nicht über den Weg traue, fommt num faft täglich ins Haus und hat lange Konferenzen mit Vater, und foviel ich bis jetzt den Andeutungen des Vaters entnommen habe, fol ihn Hickel in einigen Wochen auf die Reife begleiten. Könnt’ ich doch das, nur das verhindern! wird um diefer umfeligen Gefchichte willen den legten Frieden feines Alters hingeben und er wird nicht ausrichten, nichts, nichts und wäre er ein Sejeins an Beredfamteit, ein Simſon an Kraft ein Maflabäus an Mut. Ad, wir Feuer- bachs find ein gezeichnete Gefchlecht! Das Kains⸗ mal der jelofigkeit bedeckt unſre Stirnen. Sinnlos wirtjchaften wir mit unfern Kräften und unfern Vermögen, und wenn die Weberbleibjel noch gerade bis zur Kirchhofsmauer reichen, ift es ſchon ein Glück. Es ift uns nicht gegeben, einen harmlofen Spaziergang zu machen, wir müffen immer gleich ein Biel haben, wir können nicht atmen, ohne eines wichtigen Zweckes zu ge denken, und in der Erwartung des nächſten Tages entgleitet uns jede holde Gegenwart. So ift ex, fo bift du, fo bin ich, fo find mir alle. Ich babe noch nie an einer Roſe gerochen, ohne darüber zu trauern, daß fie morgen vermelkt fein wird, noch nie ein ſchönes Beitelkind erblickt, ohne über die Ungleichheit der Loſe zu ſpintiſieren. Leb wohl, Bruder, der Himmel mache meine ſchlimmen Ahnungen unwirklich.“ 448

So der Brief. Das darin zum Ausdrud gebrachte Mißtrauen gegen den Polizeileutnant wuchs fchließlich dermaßen, daß Henriette alle möglichen Anftrengungen machte, um den Vater mit Hickel zu entzweien. Es fruchtete nichts, aber Hicel roch Lunte und zeigte in feinem Bes nehmen gegen die Tochter des Präfidenten als- bald eine unduchdringliche, füßliche Liebens- würdigfeit. AL ihn Quandt auffuchte und fir lebhaft darüber beklagte, daß der Präſident fir von Haufer habe —— laſſen und deſſen unbewachtes und unbehindertes Herumlaufen in der Stadt bemilligt habe, fagte Hickel, das paſſe ihm nicht, er werde dem Staatsrat fchon den Kopf zurechtjegen.

Er ließ fich bei Feuerbach melden und trug ihm feine Bedenken gegen die unerwünfchte Maß- regel vor. „Eure Erzellenz dürften nicht über- legt haben, welche Verantwortung Sie mir damit aufbürden,” fagte er. „Wenn ich feine Kontrolle habe, wo der Menfch feine Zeit hinbringt, wie fol ih dann für feine Sicherheit Garantie bieten?"

„Larifari," knurrte Feuerbach; „ich kann einen erwachjenen Menfchen nicht einfperren, damit Sie Ihre Nachmittagsitunden mit Gemütsruhe im Kaſino verfigen können.“

Hickel beftete einen böfen Blick auf feine Hände, antwortete aber mit einer nicht übel ge fpielten Treuberzigleit; „Ich bin mir ja eines Laſters bervußt, das Eure an jo ftreng verurteilen. Immerhin, ein Plätschen muß der Menſch doch haben, wo er fich wärmen fann, fonderlich wenn er ein Hageftolz ift. Wenn Sie in meiner Haut ftedten, Enpellng, und ih in

Ballermann, Cafpar Haufer 20 49

der Ihren, würde ich milder über einen geplagten . Beamten denten.“ rs

uerbach lachte. „Was ift Ihnen denn über die Leber gekrochen?“ fragte er gutmütig. „Haben Sie Liebeskummer?" Er hielt den Polizeileutnant für einen großen Suitier.

„In diefem Punkt, Exzellenz, bin ich leider zu bartgefotten,“ entgegnete Hickel, „obgleich ein Anlaß dafür vorhanden wäre; feit einigen Tagen hat unfre Stadt die Ehre, eine ganz ausgezeich- nete Schönheit zu beherbergen."

„So?“ fragte der Präfident neugierig. „Er- zählen Sie mal.“ Er hatte, nicht zu leugnen, eine Meine naive Schwäche für die Frauen.

„Die Dame ift bei Frau von Imhoff zu Beſuch —" .

Jawohl, richtig, die Baronin ſprach davon,” unterbrach Feuerbach.

„Sie wohnte zuerſt im ‚Stern‘," fuhr Hickel fort, „ich ging ein paarmal vorüber und fah fie

edankenvoll am Fenſter weilen, den Blick zum Simmel aufgefchlagen wie eine Heilige; ich blieb dann immer ftehen und ſchaute hinauf, aber kaum daß fie mich bemerkte, trat fie erſchrocken zurüd.“

„Na, das laſſ' ich mir gefallen, das heißt gut beobachten,“ nedte der Präfident, „es ift alſo ſchon eine Art Einverftändnis_gefchaffen.”

„Leider nein, Erzellenz; offen geftanden, für galante Abenteuer ift die Zeit zu ernſt.“

„Das follt’ ich meinen,“ bejtätigte Feuerbach, und das Lächeln erlojch auf feinen Zügen. Er erhob fich und ſagte energifh: „Aber fie ift auch reif, die Zeit. Ich gedenke am 28. April auf zubrechen. Sie nehmen vorher Dispens vom Amt und ftellen fih mir zur Verfügung.“

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Hickel verbeugte fih. Er fehaute den Präfi- denten ermartungsvoll an, und diefer verftand den Blick. „Ach jo,“ ſagte er. „Ich muß Ihnen allerdings zugeben, daß es fein Untunliches hat, den Haufer Ri felbft zu überlaffen. Anderjeits ift es nicht billig, ihm die Welt vor der Nafe zuzuriegeln. Davon mag er genug haben. Durch Einbuße an feiwiliger Betätigung wird ein zum Leben gemandter Wille ebenjo empfindlich getroffen wie durch Ketten und Handfefjel." Er konnte nicht einig mit ſich werden; mie immer dem Volizeileutnant gegenüber fand er fih in feinen Entſchlüſſen beengt; es war ein Anprall von Kraft, Jugend, Kälte und Gemifjenlofigkeit, dem er dabei unterlag.

„Aber Eure Erzellenz kennen doch die Ge fahren —“ wandte Side ein.

„Solange ich in diefer Stadt die Augen offen abe, wird niemand wagen, ihm ein Haar zu ümmen, befjen ſeien Sie ganz gewiß." Hickel hob die Brauen hoch und betrachtete

wieder die geftrecften Finger feiner Hand. „Und wenn er uns eine3 Tages über alle Berge rennt?“ Be er finfter. „Dem ift manches zuzutrauen.

ſchlage vor, daß man ihn wenigftens de Abends und auf Spaziergängen überwachen läßt. Bei Veforgungen in der Stadt mag er im Not» fall allein bleiben, Dem alten Invaliden können mir den Laufpaß geben, und ich will ſtatt deffen meinen Burfchen abrichten. Er foll ſich vaalıch um fünf Uhr nachmittags im Lehrerhaus melden.

‚Das wäre eine Löſung,“ fagte Feuerbach. „It der Mann verläplic?" u Treu wie Gold."

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t iſt ein Bäckersſohn aus dem

—2 jei es fo." ickel ſchon unter der Tür war, rief il der Bi ident noch einmal zurüd und hörte ihm wegen ber bevorftehenden gemeinjamen Reife unbedingtes Stillſchweigen ein. Hickel verſetzte, einer ſolchen Mahnung bebürfe es nicht.

Ich könnte die Reife keinesfalls allein unter- nehmen,“ fagte der Präfident, „ich braude die Hilfe eines umfichtigen Mannes. Die Gelegenheit muß forgfältig ausgekundſchaftet werden. Vorſicht & geboten. Vergeſſen Sie niemals, daß ich

Ihnen in diefer Sache einen großen Berveis von Vertrauen gebe.“ Er fchaute den Polizeileutnant durchbohrend

Hidel nicte mechaniſch. Ueber Feuerbachs Then ſenkte ſich plötlich eine Wolke ahnungs⸗ voller Sorge. „Gehen Sie,“ befahl er kurz.

Die Reife wird angetreten

Am felben Abend fuchte Hickel den Lehrer auf und teilte ihm mit, daß der Soldat Schild- fnecht von nun an den "Saufer überwachen werde. Cafpar war nicht daheim, und auf die Frage nad ihm antwortete Quandt, er fei ins Theater.

„Schon wieder ins Theater!" rief Hickel.

„Das dritte Mal feit vierzehn Tagen, wenn ich zeit gi. J Er hat eine große Vorliebe dafür gefaßt,“ .

erwiberte Quandt; „beinahe fein ganzes Taſchen geld verwendet er dazu, um Billette zu Laufen."

„Mit dem Tafchengeld wird es, nebenbei bemerkt, nächftens hapern,“ fagte der Polizei⸗ leutnant, „der Graf hat mir diesmal nur die Bäte des vereinbarten Monatswechſels geſchickt.

ffenbar wird ihm die Sache zu Eoftfi a

Stanhope hatte von Anfang an die für Caſpar zu verwendenden Gelder an Hickel geſandt.

„KRoftipielig? Dem Lord? Einem Pair der Krone Großbritannien? Diefe Lappalie koſt⸗ ſpielig Quandt riß vor Erſtaunen die Augen auf.

„Das erzählen Sie nur keinem andern, ſonſt denkt man, Sie machen ſich luſtig über den Grafen,“ fagte die Lehrerin. Neugierig prüfend ſchaute fie den Polizetleutnant an. Vieſer aal- glatte und gejchniegelte Mann war ihr ſtets merk: würdig und reizvoll erfchienen. Ex brachte das bißchen Phantafie, das fie hatte, in Bewegung.

„Kann nicht helfen,“ ſchloß Hickel unwirſch das Geſpräch, „es iſt ſo. Der Poſtzettel liegi bei mir zur Einſicht vor. Der Graf wird ſchon wiſſen, was er tut.“

Als Caſpar nach Hauſe kam, fragte ihn Quandt, wie er ſich unterhalten habe. „Gar nicht, e8 war foviel von Liebe in dem Stüd,“ antwortete er ärgerlich. „Ich kann das Zeu; nun einmal nicht ausftehen. Da ſchwätzen fie uni jammern, daß einem ganz dumm wird, und was ift das Ende? Es mwird geheiratet. Da will ich lieber mein Geld einem Bettler ſchenken.“

„Vorhin war der Herr Polizeileutnant bier und bat uns eröffnet, daß der Graf Ihre Bezüge erheblich gemindert hat," fagte Quandt. „Sie werben atto alle Ausgaben überhaupt beichränten

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und den Theaterbefuch, fürchte ich, ganz aufgeben müfjen."

Caſpar feste ſich zum Tiih, fein Abend- brot und fagte lange nichts. „Schade,“ Tieß er ſich endlich vernehmen, „übernächite Woche ift der ‚Don Carlos‘ von Schiller. Das foll ein herr⸗ liches Stüd fein, das möcht’ ich noch ſehen.“

„Wer hat Ihnen denn mitgeteilt, daß es ein herrliches Stüd ift?“ fragte Quandt mit der nach⸗ fihtig überlegenen Miene des Fachmannes.

„Ich hab’ Frau von Imhoff und Frau von Kannawurf im Theater getroffen,” erflärte Caſpar, „beide haben es gejagt."

Die Lehrerin hob den Kopf: „Frau von Rannawurf? Wer ift denn das nun wieder?"

„Eine Freundin von der Imhoff,“ erwiderte Caſpar.

Quandt beſprach ſich mit ſeiner Frau noch bis Mitternacht darüber, wie man ſich in die vom Grafen getroffene Veränderung zu ſchicken habe. Es wurde vereinbart, daf Gaipar von jest ab den Mittagstifch für zehn und den Abendtiich für acht Kreuzer haben ſolle. „Wenn das jo ift, wie der Polizeileutnant jagt, muß ich in jedem Fall draufzahlen,“ meinte die Lehrerin.

„Wir dürfen nicht vergefien, daß der Haufer im Effen und Trinken ie beifpiellos mäßig iſt,“ verfegte Quandt, deſſen Redlichkeit fich gegen eine unrechtmäßige Beſchränkung fträubte.

„Macht nichts," beharrte die Frau, „ich muß doch immer um fo viel mehr / in der Küche haben, pe ein Hungriger fatt wird. Das Frieg’ ich nicht

geſchenkt.“

im andern Nachmittag brachte Hickel das Monatsgeld. Er und Quandt traten gerade in 454

den Flur, als Cafpar, zum Ausgehen fertig, aus feinem Zimmer herunterfam. Vom Lehrer gefragt, wohin er gehe, antwortete er verlegen, ex wolle zum Uhrmacher, feine Uhr fei nicht in Ordnung, und er müffe fie richten lafjen. Quandt verlangte die Uhr zu jehen, Caſpar reichte fie ihm, der Lehrer hielt fie ang Ohr, bellopfte das Gehäufe, probierte, ob fie aufzuziehen fei, und fagte ſchließlich: „Der Uhr fehlt ja nicht das mindeſte.“

Cafpar errötete und fagte nun, er habe fih bloß feinen Namen auf den el geavieren laſſen wollen; doch er hätte ein viel gejchickterer Heuchler gi müffen, um feinen Worten den Stempel der

usflucht zu nehmen. Duandt und Hickel fahen

einander an. „Wenn Sie einen Funken Ehrgefühl

im Leib haben, fo geftehen Sie jetzt offen, wohin Sie gehen wollten,“ fagte Quandt ernit.

par befann ſich und erwiderte zögernd, et

babe die Abficht gehabt, in die Orangerie zu gehen.

‚an die Orangerie? Warum? Bu welchem

„Der Blumen wegen. Es find dort im Früh- jahr immer jo ſchöne Blumen."

Hickel räufperte fich bedeutſam. Er blickte Laſpar ſcharf an und fagte ironisch: „Ein Poet. Unter Blumen laß mich feufzen...“ Dann nahm ex feine militärifche Miene an und erklärte bündig, er habe den Präſidenten beftimmt, die unbedacht gewährte Erlaubnis zu freiem Aus- gehen wieder zu faffieren. Täglich um fünf Uhr werde fein Burjche antreten, und in deſſen Gejell- {haft möge Gajpar tun, was ihm _beliebe.

Caſpar blickte ftill auf die Gaſſe hinaus, wo die Frühlingsfonne lag. „Es fcheint —“ murmelte ex, ſtockte aber und ſah ergeben vor fich Hin.

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Zw

„Was fcheint?" fragte der Lehrer. „Nur heraus damit. Halbgefagtes verbrennt die Zunge.“ Caſpar richtete die Augen forjhend auf ihn. „Es ſcheint,“ beendete er den Sat, „daß beim ga ten doch recht behält, wer zulegt kommt.“ 13 er der Wirkung diefer bitteren Worte inne ward, hätte er fie gern wieder ungeſprochen jemacht. Der Lehrer jchüttelte entſetzt den Kopf, Site pfiff leife durch Die gefpigten Lippen. Dann nahm er jein Notizbuch, das zwifchen zwei Knöpfen feines Rockes ftat, und fchrieb etwas auf. Caſpar beobachtete ihm mit fcheuen Blicken, es fladerte wie ein Blitz über jene Stirn.

„Da werde ich den Staatsrat von diefer ungiemlichen Bemerkung unterrichten,“ fagte Hickel in amtlihem Ton.

AS der Poligeileutnant gegangen war, bat Caſpar den Lehrer, er möge ihn doch ausnahma« weife heute fortlafjen, weil jo fchönes Wetter ſei. „Es tut mir leid,” entgegnete Quandt, „ich muß nad meiner Inſtruktion handeln."

Der Burſche Hickels erfchien erjt gegen halb ſechs. Caſpar begab fich mit ihm auf den Weg nad dem Hofgarten, aber als fie hinfamen, war die Orangerie Akon geſchloſſen. Schildfnecht ſchlug vor, am Onolzbach entlang ſpazierenzugehen; Caſpar fchüttelte den Kopf. Ex ftellte fih an eines der offenen Fenſter des Gewächshauſes und blickte hinein,

„Suchen Sie wen?" fragte Schildfnecht.

„Sa, eine Frau wollte mich hier treffen,“ erwiderte Caſpar. „Macht nichts, gehen wir wieder heim.“

Sie Tehrten um; als fie auf den Schloßplas gelangten, ſah Caſpar Frau von Kannawurf, die 456

in der Mitte des Platzes ftand und einer großen Menge von Spaten Brofamen hinftreute. Cafpar blieb außerhalb der Sperlingsverfammlung ftehen; er fhaute zu und vergaß ganz zu grüßen. Die Fütterung war bald beendet, Frau von Kanna⸗ wurf fette den Hut wieder auf, den fie am Band über den Arm gehängt hatte, und jagte, fie fei anderthalb Stunden lang im Gewächshaus gemefen.

„Ich bin kein freier Menſch, kann nicht halten, was ich verſpreche,“ antwortete Cafpar.

Sie gingen die Promenade hinunter, dann links gegen die Vorftadtgärten. Schildfnecht marjchierte Hinterdrein ; der rotbackige Heine Menſch in der grünen Uniform fah drollig aus, Der größte von_ den breien war überhaupt Gafpar, enn auch Frau von Kannamurf hatte eine Find» liche Geitalt.

Nachdem fie lange Zeit ſchweigend neben- einander her gewandert waren, fagte die junge Frau: „Ich bin eigentlich Ihretwegen in diefe Stadt gefommen, Hauſer.“ Die ein wenig fingende Stimme hatte einen fremden Afzent, und während fie fprach, pflegte fie hie und da mit den Lidern zu blinzeln, wie Leute tun, die ermüdete Augen haben.

„Ja, und was wollen Sie von mir?" ver jeßte Caſpar mehr unbeholfen als fchroff. „Das haben Sie mir ſchon geftern im Theater gefagt, daß Sie meinetwegen gefommen find.“

„Das ift Ihnen nichts Neues, denken Sie. Aber ich will nichts von Ihnen haben, im Gegen- teil. Es ift ſehr ſchwer, im Gehen darüber zu reden. Sehen wir uns dort oben ins Gras."

Sie ftiegen den Abhang des Nußbaumberges hinan und ließen ſich vor - einer Hede auf den Rafen nieder. Ihnen gegenüber ſank die. Sonne

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die Waldfuppen der Kdroäbifhen Berge. En fu nn bin, Frau von Kannawin Ellbogen aufs Gras und fah in die vio- ira ar Schildfnecht, als verftehe er, dafs feine Gegenwart nicht ermünfcht fei, date ſich weit unterhalb auf einen umgeftürzten Baum gejebt. befie ein Heines Gut in der Schweiz,“ begann Frau von Kannamurf, „ich habe e8 vor zei Jahren gefauft, um mir in einem freien einen Zufluchts- und Ruheplatz zu ſchaffen. Ich made Ihnen den Vorſchlag, mit mir dort⸗ hin zu reifen. Sie können dort ganz nach Ihrem Wunſch leben, ohne Zeeſtzuns und ohne Gefahr. Nicht einmal ich ſelbſt werde Sie ſtören, ich kann nirgends bleiben, es treibt mich immer woanders bin. Das Haus liegt vollftändig ein- jam zmifchen hohen Bergen im Tal und an einem See. Hua Großartigeres läßt fich denken als der Anblic des ewigen Schnees, wenn man dort im Garten unter den Apfelbäumen ſitzt. Da es viel Schwierigkeiten und viel Zeit koſten würde, wenn ich es durchſetzen wollte, Sie vor aller Welt binzubringen, bin ich dafir, daß Sie mit mir fliehen. Sie brauchen nur ja zu jagen und alles tft bereit.”

Sie hatte Cafpar jest das Geficht voll zu- gewandt, und diejer Tehrte den etwas geblendeten Blick von dem roten Sonnenball weg und ſchaute fe an. Er hätte von Holz fein mäffen, um

iefem wunderſchönen Antlitz gegenüber unempfind- us zu bleiben, und ganz von jelbft, und als ob

ihr gar nicht zugehört hätte, fielen die ver- un erten Worte von feinen Lippen: „Sie find aber ſehr ſchön.“

Frau von Kannawurf errötete. Es gelang ihr 458

nicht, hinter ihrem fpöttifchen Lächeln ein ſchmerz⸗ liches Gefühl zu verbergen. Ihr Mund, der etwas Kindlih- Süßes hatte, zucte beftändig, wenn fie ſchwieg. Caſpar geriet in Verwirrung unter ihrem erftaunten Blick und ſah wieder in die Sonne.

„Sie antworten mir nicht?" fragte Frau von Kannawurf leife und enttäufcht.

Caſpar fehüttelte den Kopf. „Es ift unmög- ich zu tun, was Sie von mir wollen," fagte er.

„Unmöglih? warum?" Frau von Kanna⸗ wurf richtete ſich jäh auf.

Gafder Ar ih dort nicht hingehöre,“ ſagte par jeft.

Das junge Weib ſah ihn an. Ihr Geficht hatte den Ausdrud eines aufmerkfamen Kindes und wurde nad) und nad) fo blaß wie der Himmel über ihnen. „Wollen Sie ſich denn opfern?" fragte fie ftarr.

„Weil ich dorthin muß, wo ich Hingehöre,“ fuhr Gafpar unbeirrt fort und blicte immer noch gegen die Stelle, wo die Sonne jest verſchwunden war.

Ihn zu meinem Plan zu befehren, ift ver- geblih, dachte Frau von Kannamurf ſogleich; grober Gott, wie wahr, wie einfach alles vor ihm tegt: ja nein, ſchön häßlich; er betrachtet die Dinge nur von oben. Und mie fein Geftcht gerseniche Güte mit einer naiven und zärtlichen

vaurigfeit vereint; man ift benommen und er- ftaunt, wenn man ihn anfchaut.

„Was aber wollen Sie tun?" fragte fie N ———

„Ich weiß es noch nicht,” entgegnete er wie im Traum und verfolgte mit den Augen eine Wolle, welche die Geftalt eines laufenden Hundes hatte.

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Alfo was man mir berichtet hat, ift falſch; er fürchtet ſich ja gar nicht, dachte das junge Weib. Sie erhob fih und ging ungeftüm voraus, den Hügel hinunter an it vorbei, der zu fchlafen ſchien. Man muß ihn jchüßen, dachte fie weiter, er ift imftande und rennt in fein

erderben; was er tun wird, weiß er nicht, natürlich, er iſt wahrfcheinlich nicht fähig, einen Plan zu machen, aber er wird handeln, er trägt eine Tat-mit fich herum und wird vor nichts mehr zurücichredten; es ift nicht ſchwer, ihn zu erraten, obwohl er ausfieht wie das Schweigen jelbit.

Sie blieb ftehen und wartete auf Cafpar. „Ei, Sie können ordentlich Laufen,” fagte ex. be— wundernd, alg er wieder an ihrer Seite war.

„Die friiche Luft macht mich ein bißchen wild," antwortete fie und holte tief Atem.

Frau von Kannawurf und Gafpar durch den Torbogen des Herrieder Turmes gingen, ben fie plößlich neben einem leeren Schilder- jäuschen den Polizeileutnant. Und beide blieben unmillfürlich ftehen, denn der Anbli hatte etwas Erſchreckendes. Hickel Iehnte nämlich mit der Schulter gegen das Häuschen und fah aus wie zur Bildjäule erftarrt. Trotz der Duntel- heit konnte man wahrnehmen, daß fein Geficht afchfahl war, und es lag über feinen Zügen eine bleierne Düfterfeit. Hinter ihm ftand fein Hund, eine große graue Dogge; das Tier war genau fo regungslos wie fein Herr und blickte unverwandt an ihm empor.

Caſpar zog grüßend den Hut; Sie bemerkte es nicht. Frau von Kannawurf ſah noch einmal zurüd und flüfterte fröſtelnd: „Wie furchtbar! Was für ein Mann! Was mag ihn peinigen!“ 460

War e3 denkbar, daß der Polizeileutnant, etwa durch neue Spielverlufte in vergmeiffung gebracht, Il jo weit vergefien konnte, daß er, wennfchon

uch die Dunkelheit und einen Mauerwinkel ge- Thüst, auf offener Gaffe das Schaufpiel eines vom Krampf Befallenen darbot? Das iſt den Spielern fonft nicht eigen; fie überfchlafen ihren Unglücdsraufh und geben ſich faltblütig dem tüdifchen Zufall von neuem in die Hände. Aber Spieler pflegen ſtrupellos zu fein; ſetzen fie nicht Geld auf Karten, fo joe fie auf Seelen, und dabei Tann e3 ſich wohl ereignen, daß ihnen der Teufel eine gräßliche Schuldverfchreibung vorhält, die fie mit ihrem Blut unterzeichnen müffen.

18 Hidel am Nachmittag nach Haufe ger tommen war, trat ihm vor der Tür feiner Woh- nung ein unbefannter Mann entgegen, übergab ihm ein verfiegeltes Schreiben und verſchwand wieder, ohne gejprochen zu haben. Der erfahrene Blick des Volizeileutnant3 Tonnte nicht im um- Haren darüber bleiben, daß der Menſch falſches San: und falichen Bart getragen hatte. Der

rief, den Hicel fogleich öffnete, war ciffriert; feine Entzifferung tojtete, trogdem der Schlüffel befannt war, den Reſt des Nachmittags. Der Inhalt des Schreibens bezog ſich auf die mit dem Bräfidenten gemeinfchaftlich anzutretende Reife. las, las und las wieder. Er hatte ſchon eim erſten Male verſtanden, aber er las, um nicht denken zu müffen. B

Punkt fieben Uhr erhob er fi vom Schreib- tiich und ging zehn Minuten lang pfeifend im Zimmer auf und ab. Sodann öffnete er ein Glasſchränkchen, nahm eine Flafche mit Whisky heraus, die er vom Grafen Stanhope gefchenkt

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erhalten hatte, füllte ein nettes filbernes Becher⸗ hen damit und trank es in einem Zuge leer, Hierauf griff er zur Vürfte, veinigte den Rod, danach hing er den Säbel um und um halb ai verließ er mit dem Hund feine Wohnung. ſchien gutgelaunt, denn er pfiff und fummte noch immer vor fih hin und hier und da mit den Fingern. Doc unter dem Bogen des Her- rieder Turmes blieb er auf einmal ftehen und ſah angelegentlich zur Erde nieder. Ein durchfahren Handwagen ftieß ihn an der Hüfte an, deshalb

ing er ein paar Schritte weiter bis zum Schilders Dane um die Ede. Dort gewahrte ihn das heim- kehrende Paar.

Es würde einen ungenügenden Einblick in den Charakter des Polizeileutnants beweifen, wenn man annehmen wollte, daß diefe Sinnesverbunt. lung länger peut babe, als gemeinhin eine vor⸗ übergehende Blutleere im Kopf dauert. Um acht Uhr jaß er ſchon mit einigen Kollegen beim Fiſch⸗ effen in der „Goldenen Gabel“ und um neun Uhr war er im Rafino; follte diefe genaue Stunden» angabe etwas Verdrießliches haben, jo fei hinzu» ® gt, daß er in der Zeit von neun bis vier

r überhaupt feinen Glockenſchlag mehr, ſondern nur noch das eintönige Kniftern der Spiellarten vernahm. Er gewann. Auf dem Heimmeg durch) die grauende Frühe paffierte dann das Auffällige, daß er vor dem Sterngafthof in der Mitte der Straße Halt machte, den Säbel an das Bein quebte und einen langen, faugenden Blick gegen

asjelbe Fenfter hinaufſchickte, hinter dem ex einft die ſchöne Fremde gejehen hatte,

Am Morgen föef er lange, und als der Burfche mit dem Rapport kam, hörte er kaum

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zu. Schildknecht war verpflichtet, jeden Morgen Bericht zu erftatten, wo er den Nachmittag oder Abend vorher mit Cafpar geweſen. Faft jedesmal hieß es von nun ab: wir haben die Frau von Kanna wurf abgeholt, oder: die Frau von Kannawurf ift ung Degegnet und wir find fpagierengegangen, oder bei Hegenmwetter: wir find im Imhoffſchen Garten in der Laube geſeſſen. Diejes „Wir" aber in Schildknechts Mund einen ſehr be heidenen Klang; er ſprach von Caſpar ftet8 mit achtungsvoller Zurückhaltung. Da er die Wahr- nehmung machte, daß fein Herr die Berichte über das regelmäßige Veifammenfein der beiden mit Unruhe aufnahm, wußte er in feinen Ton etwas wie eine Verficherung von Sarmlofigteit zu legen, fügte zum Beiſpiel hinzu: „fie haben viel über a8 Wetter geſprochen,“ oder: „fie haben ſich über gebildete Sachen unterhalten." Solche Einzel» heiten erfand er, denn in Wirklichkeit hielt er ſich jedesmal in einer taftoollen Entfernung hinter

en beiden. Hickel begann demjungen Menfchen zu mißtrauen. Eines Abends erwiſchte er ihn, wie er in einem Winkel der Küche hodte, eine Kerze vor Ds und mit dem Zeigefinger buchftabierend über ie Beilen eines Buches glitt. Als er fich geiiet fand, war er wie entgeiftert, feine roten Baden hatten die Farbe verloren. Hickel nahm das Buch, und fein Geficht wurde finfter wie die Nacht, als er ſah, daß es die Feuerbachſche Schrift war. „Woher hat Er das?“ fchrie er Schildfnecht an. Der Burjche erwiderte, er habe e8 auf dem Bücher⸗ ſchrank des Herrn Leutnant gefunden. „Das ift eine wiberrechtliche Aneignung, ich werde Ihn davonjagen und difziplinieren laſſen, wenn fo 468

etwas nochmal vorkommt, merk' Er ſich das!" donnerte Hidel.

Wahrjcheinlich hätte die erſtbeſte Seeräuber-

efhichte die Neugier des Tölpels ebenfo gereizt,

kr ſich Hickel ſpäter und erklärte fein Auf⸗ braufen für eine Unbeſonnenheit. Gleichwohl witterte er Gefahr, der Burſche war nicht nad feinem Sinn, und er bejchloß, ſich „gene zu ent ledigen. Ein Anlaß ergab fich bald.

Als Schildfnecht tags darauf Gafpar abholte, merkte er, daß diefer verftimmt war. Er fuchte ihn aufzuheitern, indem er ein paar luſtige Schnurren aus dem Kafernenleben vorbrachte. Cafpar ging auf die eg ein, er fragte den zutraulichen Menjchen nach feiner Heimat, nad feinen Eltern, und Schildfnecht bemühte fich, auch davon möglichſt gutgelaunt zu erzählen, ob- ſchon es ein trauriges Kapitel für ifn war. Er hatte eine Stiefmutter gehabt, der Vater hatte ihn in früher Jugend unter fremde Leute gegeben, faum war er von Haufe fort, jo hatte ein Lieb- baber der Frau den Vater im Raufhandel er- fo en. Gebt jaß der Liebhaber famt der Frau

uchthaus, und die Brüder hatten das Vers mögen durchgebracht.

Schildknecht wagte zu fragen, weshalb Caſpar Heute feine Freundin nicht treffe.

„Sie geht ins Theater," antwortete Gafpar.

Warum denn er nicht gehe, fragte Schildfnecht weiter.

Er habe fein Geld.

„Kein Geld ? Wieviel braucht man denn dazu?"

„Sechs Grofchen.“

„Soviel hab’ ich grad’ bei mir,“ meinte Schildknecht, „ich leih's Ihnen.“

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Caſpar nahm das Anerbieten mit Vergnügen an. €s. wurde nämlich der „Don Carlos" sgeben, auf den er fi ſchon lange gefreut

das Stüd gersgte mit Ausnahme de3 verrücten Brauengimmers, das den Prinzen verführen will, Entzücten. Und mie ward ihm, als der —8* zum König ſprach: Sie haben umfonft Den harten Kampf mit der Natur gerungen, Umfonft ein großes Königlicje Leben Kun —— ingeopfert, er Menfe) ift mehr, als Sie von ihm gehalten. ıngen Schlummer® Bande tirb er brechen 33 FR erfordern fein geheiligt Recht.

Er erhob fi von feinem Pla, ftarrte gierig, mit funkelnden Augen auf die Bühne und enthielt fih nur mit Mühe eines lauten Ausrufs. Zum Glüd wurde die Störung in der berrichenden Dunkelheit nicht meiter beachtet; fein Nachbar, ein böfer alter Ranzleivat, zerrte ihn grob auf den Sitz zurüd,

Das Ausbleiben über den Abend hatte zunächft ein Verhör dur, den Lehrer zur Folge. .

eftand, im Schloßtheater geweſen zu fein. „UBor der haben Sie Geld?" fragte Quandt. Cafpar erwiberte, er habe das Billett gefchenkt bekommen. „Yon wem?" Gebankenlos, noch ganz gefangen von der Dichtung, nannte Caſpar irgendeinen Namen. Duandt erkundigte fih am andern Tag, erfuhr felbftverftändlic, Sa ihn Caſpar belogen hatte, und ftellte ihn zur Rede. In die Enge gerieben, befannte Cajpar die Wahrheit, und uandt machte dem Polizeileutnant Mitteilung.

Um fünf Uhr nachmittags ertönte im Hof vor Caſpars Fenfter der wohlbefannte Pfiff, zwei

Baffermann, Gafpar Haufer 30 465

melodiſche Zriolen, mit denen ildknecht

erhaupt wenn ich frei bin, dahier in den Hof kommen und meinen Pfiff pfeifen. Vielleicht brauchen Sie mich mal. Warum nicht, kann ja möglich, fein.“

Es lag in den Worten eine über alle Maßen tiefe Herzlichkeit. Caſpar richtete den aufmerk- famen Buͤck in SchildfnechtS freundlich Tächelndes Geficht und erwiderte langſam und bedächtig: „Es kann möglich fein, das ift wahr."

„Zopp! Abgemacht!" rief Schildfnecht.

Sie gingen durch den Flur nad der Straße. Vor dem Tor ftand ein Amtsdiener, und da er Caſpars anfichtig wurde, fagte er, er habe ihn

ucht, der Herr Staatsrat ſchicke ihn her, Caſpar Bi fe gleich Hinfommen. Cafpar fragte, was es gäbe. „Der Herr Staatsrat reift um ſechs Uhr mit dem Herrn Polizeileutnant ab und will noch mit Ihnen fprechen," antwortete der Mann.

Caſpar machte fi auf den Weg. Ein paar hundert Schritte vom Lehrerhaus entfernt konnte er nicht weiter. Ein Ziegelmagen war vor dem Einfahren in ein Tor mit gebrochener Radachſe umgeftürzt und verfperrte die Gaſſe. Caſpar 466

martete eine Weile, kehrte dann um und mußte nun durch die Würzburger Straße und über die Felder. Infolgedeſſen kam er zu fpät. Als er vor dem Feuerbachichen Garten anlangte, war der Präfident fchon weggefahren. Henriette und der Hofrat Hofmann ftanden am Gartentor und nahmen Caſpars triftige Entfchuldigung fmeigend auf. Henriette hatte verweinte Augen. Sie blidte lange die Gafje hinunter, mo der Wagen ver- ſchwunden war, dann drehte fie fih wortlos um und fchritt gegen das Haus.

Schildknecht

Der Mai brachte viel Regen. Wenn das Wetter es irgend erlaubte, wanderten Caſpar und Frau von Kannewurf anze Nachmittage lang durch die Umgegend. Galpar vernadhläffigte plöß- lich fein Amt. Auf Vorhaltungen entgegnete er: „Ich bin der dummen Schreiberei überdrüſſig.“ Was ihm von den maßgebenden Perfonen höch- lichſt verübelt wurde.

Der von Hickel neuaufgenommene und für die Dauer feiner Abmefenheit ftreng untermiefene Burfche ward ges zu Anfang fo läftig, daß ich Frau von Kannawurf beim Hofrat Hofmann

arüber befchwerte. Weniger aus Einficht als um der fhönen Frau gefällig zu fein, geftattete der Hofrat, daß Cafpar feine Spaziergänge mit ihr allein unternehme. oe entführen Sie mir den Haufer nicht," fagte er mit feinem fis⸗ Kalifch-fchlauen Lächeln zu der Sprachlofen. un aber machte wieder Quandt Schwierig. 467

keiten. „Ich beftehe auf meiner Inſtruktion,“ war fein eilerne® Sprüchlein. Eines Morgens erſchien daher Frau von Kannawurf in der Studier- ftube des Lehrers und ftellte ihn kühn zur Rede, Quandt konnte ihr nicht ins Geſicht fehen; er war vollfommen verdattert und wurde abwechſelnd rot und blaf. „Ich bin ganz zu Ihren Dienften, Madame," fagte er mit dem Ausdrud eines Menfchen, der ſich auf der Folter zu allem ent- fchließt, was man von ihm haben will.

Frau von Kannawurf ſchaute fich mit gelafjener Neugier im Zimmer um. „Wie verhalten Ste fih eigentlich innerlich zu Caſpar?“ fragte fie auf einmal. „Lieben Sie ihn?"

Quandt feufzte. „Ich wollte, ich könnte ihn jo lieben, wie feine achtungswerten Freunde

lauben, daß er e8 verdient," antwortete er meifter- aft verfchnörkelt.

Frau von Kannawurf erhob fih. „Wie fol ich daS verſtehen ?“ brach fie leidenſchaftlich aus, „ie kann man ihn nicht lieben, ihn nicht auf Händen tragen?" Ihr Geficht glühte, fie trat dicht vor den erſchrockenen Lehrer hin und jah ihn drohend und traurig an.

Doch fie befänftigte fich ſchnell und ſprach nun von andern Dingen, um den ihr erftaunlichen Mann befjer kennen zu lernen. Ihr war jeder Menſch ein Wunder und fat alles, was Menjchen taten, etwas Wunderbare. Deshalb erreichte fie felten ein vorgefegtes Ziel. Sie vergaß fi) und überjchritt die Grenze, die ein oberflächlicher Ver⸗ kehr bedingt.

Quandt ärgerte fich nachher gründlich über feine nachgiebige Haltung. Was mag denn da wieder dahinter fteden? grübelte er. So oft bie

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Heinen Briefchen von Frau von Kannawurf an Cafpar kamen, öffnete er und las fie, ehe er fie dem Sengling gab. Er brachte nichts heraus; der Inhalt war zu unverfänglih. Wahrſchein⸗ lich verjtändigen fie fi in irgendeiner Geheim- fprache, dachte Quandt und ftellte gemiffe wieder⸗ Tehrende Phrafen zufammen in der Hoffnung, damit den Schlüfjel zu finden. Cafpar wehrte ſich gegen diefe Eingriffe, worauf Quandt ihm mit ungewöhnlicher Beredfamfeit das Recht der Grzieher auf die Rorrefpondenz ihrer Pfleglinge ies.

Schließlich bat Caſpar ſeine Freundin, ihm nicht mehr zu ſchreiben. So unverfänglich wie die Briefe hätte der Lehrer auch, wenn er uns fihtbar die beiden hätte belaufchen fönnen, ihre Gefpräche gefunden. Es kam vor, daß fie ftunden- lang ohne zu reden nebeneinander her gingen. „Sit es nicht ſchön im Wald?“ fragte dann die junge Frau mit dem innigften Klang ihrer füßen Stimme und einem Kleinen, vogelhaft zwitſchernden Lachen. Ober fie pflücte eine Blume vom Wieſenrain und fragte: „It das nicht ſchön?“

„Es ift ſchön,“ antwortete Cafpar.

„So _teoden, fo ernſthaft?“

„Daß e3 fchön ift, weiß ich noch nicht gar lange,“ bemerkte Caſpar tief, „das Schöne fommt

zuletzt.“

machte der Frühling diesmal glücklich. Mit jedem Atemzug fühlte er ſich eigentümlich bevorzugt. Wahrhaf 8 daß e3 ſchön war, hatte ex bis jet noch nie bedacht. Die feiende Welt ſchlang fi) wie ein Kranz um ihn. Solang die Sonne am blauen Himmel ftand, leuchteten feine Augen in verwundertem Glüd. Er ift wie ein

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Kind, das man nach langer Krankheit zum erſten⸗ mal in den Garten führt, fagte fih Frau von Kannawurf. Ihr gütiges Her; ph höher _bei dem Gedanken, daß fie Diefeicht nicht ohne Ein- fluß auf diefe Stimmung war. Bismweilen wand fie junges Waldlaub um feinen Hut, und dann jah er ftolz aus. Aber er war doch immer in ſich gekehrt und immer fo- verhalten, als ringe er mit einem großen Entiehluß.

Eines Tages kamen fie überein, daß er fie einfach Clara und fie ihn Cafpar nennen ſolle. Sie amüfierte fich über die ee Ge fegtheit, mit der er ſeinerſeits diefen Vertrag ein- hielt. Er beluftigte fie überhaupt oft, befonders wenn er ihr fleine Moralpredigten hielt oder etwas, was er frauenzimmerlich nannte, geärgert tadelte. Er gemahnte fie auch, nicht gar fo viel herumzulaufen und ihre Gefundheit zu fchonen. Nun ſah e3 ja manchmal wirklich aus, als habe fie die Abficht, fich zu ermüden und zu erjchöpfen. Eine ihrer Leidenſchaften beftand darin, auf Zürme zu fteigen; auf dem Turm der Johanniskirche wohnte ein alter Glöcner, ein weiſer Mann in feiner Art, durch lange Einfamkeit beſchaulich und janft geworden; fie Pheute nicht bie Anftvengung der vielen hundert Stufen und lief oft zweimal täglich zu dem Alten hinauf, plauderte mit ihm wie mit einem Freund oder lehnte über die eiferne Brüftung der ſchmalen Galerie und ſchaute über das Land in die Fernen. Der Glöckner hatte fie auch jo ins Herz gejchloffen, daß er zu gemiffen Abendſtunden nah der Richtung des ſchlößchens verabredete Zeichen mit feiner La- terne gab.

Jeden Tag machte fie neue Neifepläne, denn 470

Kane ſich nicht in der Heinen Stadt. Caſpar te, warum fie denn fo fortdränge, aber darüber mußte fie im Grund feinen Aufihluß zu geben. „I darf nicht wurzeln,“ agte fie, „ich werde en ), wenn ich zufrieden bin,

au

Sie doch gar nicht. Allein wie im Kerker, das ift e8 eben, nur nicht mehr drunten, fondern droben —“ Sie konnte nicht meiterreden, er legte die eine Hand auf ihren Mund und die andre auf den feinen. Dabei glänzten feine Augen beinahe vol Haß. Plöglich dachte er mit einer Art freubiger Beſturzung: ob meine Mutter jo ähnlich iſt wie diefe da ? hatte ein durftiges

a7ı

und brennendes Gefühl auf den Lippen, und es war vo A in ee monot ihn n, miberte Pr 9 er mit wunderlichem Tnilen ya, jernte

mutigfte aller Menfchen, dachte Pr e nicht einmal, wieviel Mut er beſitzt; was mi doc fo fehr, wenn ich mit ihm rede oder ſchweige? Warum 2 mic) fo, wenn ich ihn ſich feibft überlafjen Den ging ärts und brauchte zu einem Weg von wenig ge als taufend Schritten über eine Dei Stunde. Im Weiten Ieuchteten Blitze ae ie fen Bett begeb Caſpar hatte zeitig zu Bett begeben. Es mochte ungefähr vier Uhr morgens fein, da würde er durch einen lauten Auf aufgewedt. Es war auf der Straße außerhalb des Hofs, und die Stimme rief: „Quandt! Quandt!” Caſpar, noch im Halbſchlaf, glaubte die Stimme ae zu erkennen. Es wurde irgendwo ein ter geöffnet, der von der Straße jagte etwas, har) Caſpar nicht verſtehen konnte, ball Hernach ing eine Tür im Haus. Es blieb dann eine jeile ruhig. Caſpar legte ſich auf die Seite, um weiterzufchlafen, da pochte es an feine Zimmer- tür. „Was gibt's?“ fragte Gafpar. „Machen Sie auf, Haufer!“ antwortete Quandts Stimme. Cafpar fprang aus dem Bett und fchob den Riegel zurüd, Quandt, vollftändig angefleidet,

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trat auf die Schwelle. Sein Geficht fah im Morgengrauen grünlich fahl aus

„Der Präfident ift tot," ja te er.

In einem f&windeinden jefühl ſetzte fich Caſpar auf den Bettrand.

„SH bin im Begriff biraugshen, wenn Sie ſich anfchließen wollen, machen Sie raſch,“ fuhr Quandt murmelnd fort.

Gafpar ſchlüpfte in die Kleider; er war wie

Fr Minuten darauf ſchritt er neben Quandt auf dem Weg zur Heiligenkreuzgaſſe. Im Garten vor dem Feuerbachſchen Haus ftanden Leute, die halb verſchlafen, Halb beftürzt ausſahen. Ein Bäcerjunge ſaß auf der Treppe und heulte in feine weiße Söhlize hinein. „Glauben Sie, daß man mad, oben darf?“ fragte Quandt den Schreiber Dillmann, der mit ingrimmigem Geficht und tief in die Stirn gebrüctem Hut auf und

ab gi

St; Leiche ift ja noch gar nicht in der Stadt, " fagte ein alter Artilleriehauptmann, an deſſen Schnurrbart fleine Regentropfen hingen.

„Das. weiß ich,“ entgegnete Quandt, und er folgte etwas beflommen Gajpar, der ins Haus eingetreten war. Im unteren Stock ftanden alle Türen offen. In ber Küche faßen zwei Mägde vor einem Haufen Holz, das zu Scheiten gefchlagen war. Gie ſchienen angftvoll zu Horchen. Caſpar und Quandt vernahmen eine durchdringende Stimme, die fih näherte. Sie fahen alsbald eine meibliche Geftalt mit hochgehobenen Armen durch eines der Zimmer laufen. Sie fchrie vor ſich bin wie raſend.

„Die Unglücliche,” fagte Quandt verjtört.

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—— * ——

fie haben ihn mir vergiftet, ihn

mar rot. Sie ftürmte in ein andres Fl da3 loſe Nachtgewand flatterte hinter ihr, und immer gellender ſchallte ihr —S Sie haben ihn vergiftet! vergiftet! ver; u

Caſpar hatte keinen Ruhepunkt für ſein e das Napolgonbild, dem er gegen überftand. Es kam ihm vor, als müfje der ge- malte Kaifer ſchon müde fein von der unab- läffigen majeftätifchen Drehung, die fein Hals machte.

Laſſen Sie uns gehen, ‚Haufer,“ fagte Quandt, „es ift zuviel des Jammers.

Im Flur ſtand der Regierungspräfident Mieg im Geipräch mit Hidel. Der berichtete alle Einzelheiten der Kataſtro— opbe. Ochſenfurt am Main habe Seine Crzellenz in Unmohlfein geflagt und_fei zu Bett gegangen; in der Nacht habe er gefebert, der gerujene rat habe ihm zur Ader gelafjen und habe behaupte, die Seantheit ſei bebeutungslos. Am Morgen darauf fei plöglic) das Ende eingetreten.

„Und welcher —A— ſchrieb der Arzt ſeinen Tod zu?“ erkundigte Herr von Mieg und verbeugte ſich Pe da Frau von Imhoff und Frau von Kannamurf an feine Seite traten. Frau von Imhoff weinte,

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Hickel zudte die Achfeln. „Er glaubte an Selhmäge,! erwiberte er.

ingeachtet des frühen Morgens war fchon die ganze Stadt auf den Beinen. Ueber dem

Sch des Appellgerichts wehten zwei ſchwarze

nen.

Gafpar blieb den Tag über in feinem Zimmer. Niemand ftörte ihn. Er lag auf dem Sofa, die gände unterm Kopf, und ftarrte in bie Luft.

pät nachmittags befam er Hunger und ging in die Wohnftube. Duandt war nicht da, Die Lehrerin fagte: „Um vier Uhr ift die Leiche an- gefommen; Sie jollten eigentlich hingehen, Haufer, und ihn nochmal fehen, bevor er begraben wird.” a var würgte an einem Stüd Brot und nickte. „Sehen Sie, wie recht ich damals hatte mit den Totenmweibern,“ fuhr die Lehrerin geſchwätzig fort, „aber die Männer denen immer, alles geht jo, wie ſie's ausrechnen."

Der Flur des Feuerbachſchen Haufes war angefült von Menſchen. Caſpar drüdte fich in einen Winkel und ftand eine Weile unbeachtet. Er zitterte an allen Gliedern. Der eigentümliche Geruch, der im Haufe herrfchte, benahm ihm die Sinne. Da fpürte er ſich bei der Hand gepackt. Auffchauend, erkannte er Frau von Imhof. Sie gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie führte ihn in ein großes Zimmer, in defjen Mitte der Tote aufgebahrt war. Drei Söhne Feuerbach faßen zu Häupten des Vaters, Henriette lag regungslos über die Leiche Hingeworfen. Am Fenſter ftanden der Hofrat Hofmann und der Archivdirektor Wurm. Sonft war niemand im Zimmer.

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Das Geficht des Toten war gelb mie eine itrone. Um die Winkel des fcharfen, verbifienen tundes hatten ſich geche Mustfelfnoten gebildet.

Das fchiefergraue Kopfhaar glich einem kurz⸗

geichorenen Tierfell. Es war nichts mehr von röße in diefen Zügen, nur zähneknirſchender

Schmerz und eine unmenfchliche, eifige Angft.

Caſpar hatte noch nie einen Toten gejehen. Sein Geficht befam einen qualvoll- wißbegierigen Ausdrud, die Augäpfel drehten fich in die Winkel, und mit allen zehn Fingern umkrampfte er Kinn und Mund. Sein ganzes Herz löſte ſich in Tränen auf.

Henriette Feuerbach erhob den Kopf von der Bahre, und als fie den Züngling jah, verzerrten fich ihre Züge gräßlich. „Deinetwegen hat er fterben müfjen!" fchrie fie mit einer Stimme, vor der alle erbebten. .

Cafpar öffnete die Lippen. Weit nach vorn

jebeugt, ftarrte er das halbwahnfinnige Weib an. Frmeimat klopfte er ſich mit der Hand gegen bie Bruſt er jchien zu lachen —, plöblich gab er einen dumpfen Laut von ſich und ftürzte ohn- mächtig zu Boden. .

Ale waren erſtarrt. Die Söhne des. Präfi- denten waren aufgeftanden und fchauten befümmert auf den am Boden liegenden Jüngling. Direktor Wurm eilte, als er 6 gefeht hatte, zur Tür, wahrſcheinlich um einen Arzt zu rufen. Der be- Im Hofrat hielt ihn zurück und meinte, man olle fein unnötiges Aufjehen machen. Frau von Imhoff kniete neben Caſpar und befeuchtete feine Schläfe mit ihrem Riechwaſſer. Ex kam langſam zu fi), doch dauerte es eine Viertelftunde, bis er fich erheben und gehen konnte, Frau von Imhoff 476

begleitete ihn hinaus. Damit fie fich nicht durch die Menge der Befucher im Korridor zu drängen brauchten, führte fie ihn über eine Hintertreppe in den Garten und anerbot fih, ihn nad, Haus zu bringen. „Nein," ſagte er unnatürlich leife, „ich will allein gehen.“ Er ftedtte feine Naſe in die Luft und fehnüffelte unbewußt. Sein Puls ing jo ſchnell, daß die Adern am Hals förmlich en,

gen.

Er entwand fich dem Tiebreichen Zufpruch der jungen $rau und ging mit trägen Schritten gegen die Hauptallee de3 Gartens. Vor dem Portal ftieß er auf den Poligeileutnant. „Nun, Haufer!" redete ihn Hickel an.

Caſpar blieb ftehen.

„Zur Trauer haben Sie gegründeten Anlaß," fagte Hickel mit unheilvoller Betonung, „denn wer wird eines Feuerbach gewichtiges Fürwort erſetzen ?

Caſpar antwortete nichts und ſchaute gleich ſam durch den Polizeileutnant hindurch, als ob er aus Glas wäre.

„Guten Abend,“ ertönte da eine glodenhelle Stimme, die Caſpar wunderfam berührte. Frau von Rannawurf trat an feine Seite. Hidels Gefiht wurde um eine Schattierung bleicher. „Gnädigite Frau,” fagte er mit einer Galanterie, die ſich krampfhaft ausnahm, „darf ich die Ge legenheit benußen, Ihnen meine ungemefjene Ver- ehrung zu Füßen zu legen?"

Frau‘von Kannamurf trat unmwillkürlich einen Schritt zurück und fah erjchroden aus.

Der Polizeileutnant hatte die Miene eines Menſchen, der ſich in ein tiefes Waſſer ftürzt. Er beugte fich nieder, und ehe Frau von Kanna- wurf es hindern Tonnte, padte er ihre Hand und

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drückte einen Ruß darauf, und zwar mit den nadten Zähnen; als er fich aufrichtete, waren feine Lippen noch getrennt. Ohne eine Gilbe weiter zu fprechen, eilte er davon.

Mit weiten Augen blicte ihm Frau von Kannawurf nah. „Grauenhaft ift mir der Menſch,“ flüfterte fie. Cafpar blieb völlig teil- nahmlos. Frau von Kannamwurf begleitete ihn ſchweigend nach Haufe.

Als er in feinem Zimmer war, befamen feine Augen einen geifterhaften Glanz und flammten in der Dämmerung wie zwei Glühmwürmer. Er ftellte fih in die Mitte de3 Raumes, und vom Kopf bis zu den Füßen zitternd, fagte er in be» ſchwörendem Ton folgendes:

Kenn’ ich dich, jo nenn’ ich dich. Biſt du die Mutter, jo höre mich. Ich geh’ zu dir. ch muß zu dir. Einen Boien ſchick ich dir. Bift du die Mutter, fo frag’ ich dich: warum das lange Warten? Keine Furcht hab’ ich mehr, und die Not ift groß. Cafpar Haufer heißen fie mi, aber du nennt mich anders. Zu dir muß ‚ich gehn ins Schloß. Der Bote ift treu, Gott wird ihn führen und die Sonne ihm leuchten. Sprich zu ihm, gib mir Kunde durch ihn.“

Plötzlich ergriff ihn eine fonderbare Ruhe. Er jegte ſich an den Tiſch, nahm einen Bogen gapier und fchrieb, ohne daß ihn die Dunkelheit Hinderte, dieſelben Worte nieder. Darauf faltete er ben Bogen zufammen, und da er kein Wachs befaß, zündete er die Kerze an, ließ das Unfchlitt aufs Papier träufeln und drüdte das Giegel darauf, das ein Pferd vorftellte mit der Legende: Stolz, doch janft.

Es verging eine halbe Stunde; er faß regungs⸗ 478

los da und lächelte mit gefchlofienen Augen. Bisweilen ſchien es, als bete er, denn feine Lippen Demegten ſich ſuchend Er dachte an Schild⸗ knecht. Er wünſchte ihn herbei mit aller Kraft feiner Seele. J

Und als ob dieſem Wünfchen die Macht innegewohnt hätte, Wirklichkeit zu erzeugen, ſchallie auf einmal vom Hof herauf der mwohllautende Triolenpfiff. Cafpar ging zum Fenfter und öffnete; es war Schildfnecht. „Ich komm' hin- unter,” rief ihm Caſpar zu.

Unten angelangt, Bade er Schilöfnecht beim Rockärmel und zog ihn durch das Pförtchen auf die einfame Gafje. Dort forderte er ihn ftumm auf, ihm weiter zu folgen. Bisweilen hielt er zögernd inne und fpähte umher. Sie kamen beim Häus des Zolleinnehmers vorüber und auf einen Wiejenplan. Auf dem Rain ftand ein Bauernmagen. Cafpar ſetzie ſich auf die Deichfel und sn childfnecht neben fih. Er näherte feinen Nund dem Ohr des Soldaten und fagte: deg brauch' ich Sie.“

Schildknecht nickte. „Es gebt um alles," fuhr Caſpar fort.

Sit! knecht nice,

„Da iſt ein Brief," fagte Cafpar, „ben ſoll meine Mutter bekommen.“

Schildfnecht nickte wieder, diesmal voll An- dacht. „Weiß „son,“ antwortete er, „die Fürftin Stephanie

„Woher wifjen Sie’3?" hauchte Caſpar betroffen.

„Hab’8 geleſen. Hab's in dem Buch vom Staatsrat gelejen."

„Und weißt auch, wo du Hingehen mußt, Schildknecht 2"

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Weiß es. Iſt ja unfer Land." „Und it ihr den Brief geben ?"

"Und KZ beſt bei deiner Seligkeit, du ihr (eiber den Brief gibft? muß“ Sing ehſt? In die Kirche, wenn ſie dort iſt? —— een fie auf der PR führt?“

mölt fein Schwören nötig. Ih tu's, und wenn’3 Knollen regnet.“

„Wenn ich's tun wollte, Schilöfnecht, ich käm' nicht bis ins nächfte Dorf. Sie würden mic le und einſperren.

rg it du's anftellen ?"

" Bauernkleider anziehen, bei Tag im Wald ſchlafen bei Nacht laufen.“

„Und wo den Brief verftedten ?"

„Unter der Sohle, im Strumpf."

„Und warn kaunſt du fort?"

„Wann's beliebt. Morgen, heute, gleich, wenn’3 beliebt. ft zwar Fahnenflucht, macht aber nichts."

„Wenn’s gelingt, u es nichts. Haft du Geld?"

„Nicht einen Taler. t aber nichts."

„Nein. Geld ift ae rauchſt viel Geld. Geh mit mir, ich hole Geld."

Caſpar fprang empor und ſchritt in der Richtung des Fmhoffichlößchens voran. Am Tor gebot Cafpar dem Soldaten zu warten. Er ging hinein und fagte zum Pförtner, er müſſe Frau von Kannawurf jprechen. Es mar etwas in feinem Ausfehen, was dem alten Hausmeifter Beine machte. Frau von Kannamurf kam ihm alsbald entgegen. Sie führte ihn über eine Stiege 480

in einen Meinen Saal, ber nicht erleuchtet war. Ein wandhoher Spiegel gligerte im Mondfchein. Der Bförtner machte Licht und entfernte fich zögernd.

„Fragen Sie mich nichts,“ ſagte Caſpar mit fliegendem Atem zu der Freundin, die keines Wortes mächtig war, „ich brauche zehn Dukaten. Geben Sie mir zehn Dukaten.“

Sie blickte ihn ängftlich an. „Warten Sie," antwortete fie leife und ging hinaus.

Es dünfte Caſpar eine Emigteit, bis fie wiederkam. Er ftand am Fenſter und ftrich bes ftändig mit der einen Hand über feine Wange, Still, wie fie gegangen, kehrte Frau von Kanna- wurf zurüd und reichte ihm eine Kleine Rolle. Er nahm ihre Hand und ftammelte etwas. Ihr Geficht zucte über und über, ihre Augen ſchwam⸗— men wie im Nebel. Verſtand fie ihn? Sie mußte wohl ahnen; doc fie fragte nicht. Ein teübes Lächeln irrte um ihre Lippen, al fie Cafpar hinausbegleitete. Sie war ergreifend ſchoͤn in dieſem Augenblid.

Schildknecht lehnte am Mauerpfeiler des Tors und gudte ernfthaft in den Mond. Sie gingen zufammen ftadtwärtd; nad ein paar hundert Schritten blieb Caſpar ftehen und gab Scild- knecht den Brief und die Geldrolle. Schildfnecht fagte feine Silbe. Ex blies ein wenig die Baden auf und ſah harmlos aus.

Vor dem Kronacher Buck meinte Schildfnecht, e3 ſei befjer, wenn man fie nicht mehr beieinander fähe. Ein Händedrud, und fie jhieden. Dann drehte fich Schildfnecht noch einmal um und rief anfcheinend geöbtig: „Auf Wiederjehen!"

Cafpar blieb noch lange wie verhert an dem»

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felben Fleck ftehen. Er hatte Luft, fich ins Gras zu werfen und die Arme in die Erde zu wühlen, für die er plöglich Dankbarkeit empfand.

Spät kam er heim, blieb aber glüsklichermeife ungefragt, denn Quandt war einer wichtigen Belpredu ung halber zum Hofrat Hofmann be fohlen. Er brachte eine Neuigkeit mit. „Höre nur, Jette," fagte er, „der Staatsrat hat fich während der letzten Tage, die er mit dem Polizei⸗ leutnant beifammen war, von ber Sade des

auſer gänzlich Iosgefagt. Er ſoll jogar mit bem lan umgegangen In die Denkſchrift für den auſer öffentlich al einen Sertum zu erklären." „Wer hat’3 gejagt?" fragte die Rehrerin.

„Der Polizeileutnant; e3 heißt auch allgemein fo. Der Hofrat ift derjelben Anficht.”

„Es heißt aber auch, daß der Staatsrat ver- si worden ift."

(ch was, dummes Ge fuhr Quandt auf." ‚hl dich nur, du dergleichen ver⸗ lauten läßt. Der Wale eutnant bat gedroht, daß er die Berbreiter von fo gefährlichen Nedensarten verhaften laſſen und unerbittlich u Bra ziehen werde. Was macht der

aufer?

Ich glaube, er ift ſchon ſchlafen gegangen. Nachmittags war er bei mir in der Küche und beffagte ſich über die vielen Fliegen in feinem Zimmer. fe a HER er jebt feine Sorgen? Das

t ihm ähnlic

„sa. Ich jagte ‚ihm, er foll fie doch hinaus» jagen. Das tw ich ja, antwortete er, aber dann kommen immer gleich zwanzig wieder herein.”

„Bwanzig?" ſagte Quandt mißbilligend. 482

„Wiefo zwanzig? Das ift doch nur eine wills Türliche Zahl?" m begab fich zur Ruhe. Am Tage von Feuerbachs Begräbnis trafen Daumer und Herr von Tucher aus Nürnberg

ein und ftiegen im „Stern“ ab. Daumer fuchte

alsbald Caſpar auf. Cafpar war gun feinen erſten Beſchützer frei und offen, und doch hatte Daumer den quälenden Eindrud, als fehe und höre ihn Cafpar gar nicht. Er fand ihn blaß, größer geworden, ſchweigſam wie ftet8 und von einer wunderlichen Heiterkeit; ja, ganz zugefchloffen, ganz eingefponnen in diefe Heiterkeit, die, ſeltſam wirkend, dunkle Schatten um ihn warf.

In einem Brief an feine Schwefter fchrieb Daumer unter anderm: „ch müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, es mache mir Freude, den Züngling zu fehen. Nein, es ift mir fchmerzlich, ihn zu fehen, und fragſt du mic) nad) dem Grund, jo muß ich wie ein dummer Schüler antworten: Ich weiß nicht. Uebrigens lebt er hier ganz in Frieden und wird wohl, trübjelig zu melden, all feine Tage hindurch als ein obſturer Gerichts- ſchreiber oder dergleichen figurieren."

Während Herr von Tucher am felben Nach- mittag wieder abreifle, und zwar ohne fih um Cafpar zu kümmern, blieb Daumer noch drei Tage in der Stadt, da er Gejchäfte bei der Re—

ierung hatte. Beim Begräbnis des Präfidenten A er Cafpar nicht; er erfuhr fpäter, daß Frau von Imhoff feine Anweſenheit zu verhindern ge- wußt hatte. Er machte bald die kränkende Ent⸗ deckung, daß Cafpar ihm geflifientlich auswich. Eine inde vor feiner Abreife fprach er mit dem Lehrer Quandi darüber.

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wor

„Kann ein Mann von Ihrer Einficht um eine Erllärung dieſes Betragens verlegen fein?" fagte Auanbt erftaunt. „ES ift doch ganz Mar, daß

t jet, wo er eine immer größer werbende Slerepiltigteit um fi entfiehe fieht und die Folgen davon täglich empfinden muß, daß er jest durch den Anblick feiner Nürnberger Freunde in Berlegenheit gerät und fie nad Kräften zu meiden fucht. Denn dort ftand er ja in floribus und glaubte wunder was für Rofinen in feinem Kuchen ſteckten. Wir aber, verehrter Herr Pro- feffor, find ihm dicht auf der Spur; es wird nicht mehr Lange dauern und Sie werden mert⸗ würdige Nachrichten hören."

Quandt fah befümmert aus, und feine Worte klangen fanatiih. Ob danach Daumer gerade mit —A Bruſt die Fahrt zum heimat⸗

ezirk angetreten habe, fteht zu bezweifeln. Bi hätte er wie in jener ftillen Nacht, als er ſpar im Geift und leibhaftig an fich gedrüdt, klagend über die fommerlichen Felder gerufen: Menſch, 0 Menſch! Aber dabei hatte es fein Bewenden nicht. Ein zwangvolles Grübeln be» mädhtigte fich des verwirrten Mannes; in feinem Hirn gährte es wie fchlechtes Gewiffen, und Ian fam, den Entjchluß zur Tat und Sühne end, zur viel zu fpäten Tat und Sühne, entftand. eine erſte Ahnung der Wahrheit.

Ein unterbrochenes Spiel

Im Verlauf der folgenden Wochen gab in den Salons und Bürgerftuben der Stabt 484

allerlei fonderliche Dinge zu munkeln. Ohne daß das Gerede beftimmte Formen annahm, wollte man doc) in dem plößlichen Tod des Präfidenten Feuerbad auch weiterhin nichts fehen als die Frucht einer myfteriöfen Verſchwörung. Eine weifbare Aeußerung fiel natürlich nicht; die lüfterer nahmen fi in acht. Sehr insgeheim raunten fie fich zu, auch Lord ram ſei an diefer Verſchwörung beteiligt, und nach und nad) tauchte das beftimmte Gerücht auf, der Lord gehe damit um, ‚einen Kriminalprozeß gegen Sahhar Haufer anzuftengen, und habe fich zu dem Ende ſchon der Hilfe eines bedeutenden Rechtögelehrten verfichert. Auf einmal bekannte fich fein Menſch mehr zu dem früheren Enthufiasmus für den Grafen, das großartige Andenken, das er hinter- lafjen, war verwifcht, und in einigen maß- jebenden Familien, mo er der Abgott gemejen, {mus man bereit3 mit ängftlicher VBorficht feinen

amen aus,

Cafpars Freunde wurden beforgt. Frau von Imhoff fuchte eines Tages den Polizeileutnant auf und erfundigte fi, was von dem Gemuntel zu halten fei. it fühlem Bedauern erwiderte Fe daß die öffentliche Meinung in diefem

unft nicht fehlgehe. „Das Blatt hat fich eben ewendet,“ jagte er; „Seine Lordſchaft ſieht in

par Haufer jet nur einen gewöhnlichen Schwindler.“

Darauf verließ Frau von Imhoff den Polizei⸗

Ieutnant, ohne ein Wort zu entgegnen und ohne ruß.

& die fanften Seelen, höhnte Hickel für fich,

das Graufen faßt fie an.

Hickel hatte eine neue Wohnung auf der

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Ge gemietet und lebte wie ein großer . Woher mag er die Mittel haben? fragten die Leute. Er hat Glück am Kartentiich, fagten einige; andre behaupteten im Gegenteil, daß er fortwährend große Summen verliere.

Auch damit war der Gefprächsftoff nicht er- ſchöpft. Eine andre Seltfamkeit: Im Sommer war aus der Infanteriefaferne ein Soldat auf unaufgeflärte Zeile verſchwunden. Zu andrer Zeit wäre ein folches Ereignis vielleicht unbe achtet geblieben. est befteten ſich auch daran

lei Fabeleien. Es wurde gejagt, jener Sol dat, der den Haufer beauffichtigt, habe von ge- wiſſen Geheimniffen Kenntnis erhalten und jei beijeitegefchafft worden. Man wurde furchtfam; man verſchloß bei Nacht forgfältig die Haus- türen. Es war nicht mehr geheuer in der guten, ftillen Stadt. Wer fremden Namens war, wurde beargmwöhnt.

elbft Frau von Kannamurf erfuhr folchen Argwohn, mwenngleih um fie etwas Unantaft- bares war, das den verleumderifchen Worten die Kraft raubte. Dennoch) fiel e8 auf, daß fie fich des Umgangs mit ihresgleichen entzog und fich anftatt defien häufig unter Menſchen der niederiten Volksklaſſe herumtrieb. Sie verbrachte viele Stunden in geiftlofem Geipräh mit YBauern- weibern und Arbeiterfrauen, ftieg zu ihrem Türmer hinauf ober gefellte ſich zu den Kindern, bie von der Schule heimkehrten. Da gefchah es denn oft, daß fie zum maßlofen Staunen der begegnenden Bürger einen lärmenden Schwarm von Knaben und Mädchen um fich verfammelt hatte und in ihrer Mitte lächelnd durch die Gaſſen 309.

Wahrjcheinlich ift fie eine Demagogin, hieß 486

e3. Gefinnungstüchtige Eltern verboten ihren Sprößlingen, fih an den flandalöfen Aufzügen zu beteiligen. Nein Zweifel, auch die Behörde fand da8 Treiben anftößig, denn einmal am Abend hatte man beobachtet, daß der Polizei- leutnant vor dem Imhoffſchlößchen Poften faßte; zwei Stunden lang war er in der Dunkelheit unbemweglich unter_einem Baum geftanden.

Es ift wahr, Frau von Kannawurf war eine auffallende Perſon und benahm fich auffallend. Aber ihre kurioſen ‚Banblungen hatten einen An- ſchein von Leichtigkeit, ja Läffigkeit. Sie hatte eine Art von Lächeln, in welchem fich felbftver-

effene Hingebung an irgendein Gedachtes, Ge—

Fahttes mit der Verzweiflung über bie eigne Un- zulänglichkeit aufs vührendfte mifchten. Sie lebte an allem und in allem, ftarb mit jedem Seufzer gleihfam dahin, flog mit jeder Freude in eine entrückte Region.

Eines Abends im Auguft trat fie ins Zimmer ihrer Freundin, warf % wie atemlo8 vom Laufen auf das Sofa und war lange nicht zu fprechen fähig. j .

„Was haft du nur wieder getrieben, Clara?" fagte Frau von Imhoff vorwurfsvoll; „das heißt nicht leben, das heißt fich verbrennen.”

„Es hilft nichts," murmelte das junge Weib erſchlafft, „ich muß reiſen.“

Frau von Imhoff ſchüttelte liebenswürdig tadelnd den Kopf. Dieſe Worte hatte ſie ſeit drei Monaten des öfteren vernommen. „Bi8 zu unſerm Familienfeſt wirft du doch noch bleiben, Clara," erwiderte jie herzlich.

Wieviel Willenskraft gehört doch manchmal dazu, einen Entſchluß nicht auszuführen, jagte

487

Clara von Kannamurf zu fich jelbft; und nad einer Paufe de3 Schweigens wandte fte das Ge ficht der Freundin entgegen und fragte: „Warum, Bettine, kannſt du Caſpar nicht zu dir ins Haus nehmen? Er fol und darf nicht länger beim Lehrer Quandt bleiben, Dieſes Haus zu betreten ift mir unmöglich. Seine Lage ift ſchauderhaft, Bettine. Wozu jage ich dir das! Du weißt es, ihr wißt e3 ja alle; ihr bedauert «8 alle, aber feiner rührt nur den Finger. Keiner, feiner hat den Mut zu tun, was er getan zu haben wünfcht, wenn das gefchehen ift, was er im ftillen fürchtet."

Frau von Imhoff blickte betreten auf ihre Handarbeit. „Ich bin nicht glücklich und nicht unglücklich genug, um mit Aufopferung de3 eignen einem fremden Schiefal mich hinzugeben,“ ver- ſetzte ſie endlich.

Clara ftüßte den Kopf in die Hand. „Ihr left ein ſchönes Buch, ihr feht ein ergreifendes Theaterſtück und ſeid erfchättert von dieſen nur eingebildeten Leiden," fuhr fie bewegt und ein- deinglich fort. „Ein trauriges Lied kann dir Tränen entloden, Bettine; erinnere dich nur, wie du weinteſt, al3 Fräulein von Stichaner neulich den ‚Wanderer‘ von Schubert fang. Bei den Worten: Dort, wo du nicht bift, fh das Glüd, haft du gemeint, Du fonnteft eine Nacht lang nicht fehlafen, als man uns erzählte, drüben im Weinberge habe eine Mutter ihr eignes Kind verhungern laffen. Warum ift e8 immer nur das Unmirkliche oder das Ferne, woran ihr eure Zeitnahme verfchwendet? Warum immer nur

dem Wort, dem Klang, dem Bild glauben und nicht dem lebendigen Menfchen, deffen Not band, greiflich ift? verfteh’ es nicht, verſteh' es 488

nicht, das quält mich, daran, ja daran ver- brenn’ ich."

Das leiſe, melodijche Stimmchen verging in einem Hauden. Frau von Imhoff jtüßte den Kopf in die Hand und fchwieg lange. Dann erhob fie fich, feste fich neben Clara, ftreichelte die Stirn der Freundin und fagte: „Sprich mal mit um Er foll zu und kommen. Ich will es durcesen.

lara umſchlang fie mit beiden Armen und küßte fie danfbar. Aber nicht mit freiem Herzen hatte Frau von Imhoff diefen Entſchluß gefaßt, und fie atmete jeltfam etlei auf, ihr at d fie atmete feltfam erleichtert auf, als m andern Tag Frau von Kannamurf die Eröffnung machte, Caſpar habe fich unbegreiflicherweife hart- nädig gegen den Vorſchlag gefträubt, das Haus des Lehrer zu verlafjen. Zuerſt habe er feinen Grund für feine Weigerung nennen wollen, als er aber Claras Betrübnis wahrgenommen, habe er gejagt: „Dort hat man mich hingebracht, und dort will ich bleiben. Ich will nicht, daß es beißt, beim Lehrer Quandt hat er's nicht gut enug gehabt, da haben ihn aus Mitleid die Smupens genommen. Ich hab’ ja mein Brot und mein Bett, mehr brauch” ich nicht, und das Bett tft das Allerbefte, was ich auf der Welt kennen gelernt habe, alles andre ift ſchlecht.“

Da fruchtete Feine Einrede mehr. „Schließ- Lich könnt ihr ja mit mir anftellen, was ihr wollt," fügte er Hinzu, „aber daß ich freimillig Dingehen fol, das wird nicht gefchehen. Wozu auch? Lang kann's nimmer dauern.”

So war ihm denn das Wort entjchläpft. War deshalb der tiefe Glanz in feinen Augen? Blickte er deshalb mit ſtummer Spannung die

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Straßen entlang, wenn er morgens zum Appell gericht ging? War’3 deswegen, daß er funden- ang am Senfte lehnte und binüberfpähte gegen die Chaufjee? Daß er gierig aufhorchte, wenn er irgendwo zwei Menjchen leiſe miteinander “eben ſah? Daß er ah dabei fein mußte, venn der Poftwagen anlam, und daß er dem Sriefboten ausfragte, ob er nichts für ihn habe?

Dem rätjelhaften Wefen tat die Zeit feinen Thbruh. Es lag Frau von Kannamurf daran, hn einer Gebundenheit zu entreißen, die ihn einem nnigen Verhältnis w umgebenden Welt ent- iehen und jede frohe Betätigung zwangvoll machen außte. Sie ker immer auf aibfendung, und mes Familienfeſt, von dem ihre Freundin Bettine eiprochen, gab Gelegenheit, damit Cafpar wieder inmal aus fich heraus und einer anteilvollen Belt gegenübertrete.

Die Feier wurde.von Herrn von Imhoff zu Ehren der Goldenen Hochzeit feiner Eltern ver- nſtaltet und follte am zwölften September ftatt- inden. Der junge Doktor Lang, ein Freund des dauſes, hatte zu der Gelegenheit ein ſinnreiches Jühnenfpiel in Berfen verfaßt, welches von einigen damen und Herren der Gejellfchaft ausgeführt verden ſollte. Bei den Proben, die im oberen 5aal des Schlofjes abgehalten wurden, zeigte 8 ſich, daß einer der jungen Leute, der die Rolle ines jtummen Schäfer darjtellte, feines plumpen zenehmens halber unfähig war, den Part zu ewünſchter Wirkung zu bringen. Da hatte Frau on Rannamurf, die jelbjt mitjpielte, den Einfall, iefe Ei Kafpar zu übertragen. Die Anregung

ifall.

Caſpar willigte ein. Da er eine Perfon vor %

zuftellen hatte, die nicht? zu fprechen brauchte, glaubte er fich der Aufgabe Teichterdings gewachſen, die feiner alten Neigung für das Theater entgegen- kam. Er ging fleißig zu den Proben, und wenn⸗ gleich das phrajenhafte Wefen des Stüds nicht eben fein Gefallen erwedtte, fo erfreute er fich doch an der wechjelvollen Bewegung innerhalb eines abgemefjenen Vorgangs.

Das harmlofe Spiel hatte einen berechneten und für das Publikum unschwer durchſchaubaren Bezug auf ein ſchon weit zurüdliegendes Er— eignis in der Familie der Imhoffs. Einer der Brüder des Barons hatte fich zu Anfang der wanziger Jahre an burfchenfchaftlichen Umtrieben eteiligt und war, von dem feierlichen Bannfluch des Vater3 und nebenbei von den politifchen Bes hörden verfolgt, nad) Amerika entflohen. Nach erlafjener Amneftie war er zurüdgefehrt, hatte vor dem YFamilienhaupt alle freiheitlichen Ideen abgeſchworen, und von da ab hatte ihm die väterliche Gnade wieder geleuchtet.

Diefe etwas philifteöje Begebenheit Hatte den Bauspoeten zu feiner Dichtung begeiftert. Ein

önig gibt einem ihm befuchenden Freund und Waffengenoffen ein Gaftmahl. Ein zweiter Poly- frates, brüftet er ſich bei diefem Anlaß mit feiner Macht, dem Frieden feiner Länder, den Tugenden feiner Untertanen. Die Höflinge an der Tafel beftärken ihn voll fchmeichlerischen Eifers in feinem Glüdsmahn, nur der Gaftfreund wagt das kühne Wort, daß er auf dem Purpur des He 3 doch einen Mabkel bemerke. Der Köni fühlt fich geteoffen und läßt jenen hart an, u weiß er zu verhindern, daß der Freund weiter- fpreche, da feine Gemahlin Zeichen eines großen

. 491

Seelenjchmerges von fich gibt. Unterdeſſen ziehen im Burghof Schnitter und Schnitterinnen mit Lachen und munteren Zwiegefprächen auf, und Mufit begleitet die Gemtefeir, Plötzlich entfteht sin Stillihmweigen; die Geigen, die Aufe, das elächter verftummen, und auf die Frage des znigs wird mitgeteilt, der ſchwarze Schäfer, r ſich ſchon feit Menfchengedenken nicht im nd babe fehen laſſen, fei unter daS Volk ge- sten. Der Gaftfreund begehrt zu wiſſen, was r eine Bewandinis e3 mit diefem Schäfer habe, id man antwortet ihm, der Wunderbare befite ? Gabe, durch feinen bloßen Anblict bei jedem tenfchen die Erinnerung an deſſen ftärkjte Schuld achzurufen, Schuldloje aber den Gegenjtand nggehegter Sehnfucht fchauen zu laſſen. Zur sftätigung deſſen hört man auch aus der Mitte 5 Volkes Weinen und allerlei Elagende er König befiehlt, daß fich der Fremdling en me, doch die Königin, unterftüßt von ben 3 Gaftfreunds und der Höflinge, fleht den Ge- ahl an, ihn heraufkommen zu lafjen. Der König gt fich, und alsbald betritt der ftumme Schäfer : Szene. Er ſchaut den König an; der ver- ut jein Gefiht; er ſchaut die Königin an, und eſe, dunkel seen, ergeht fich in einem län- ven Selbſtgeſpräch, aus welchem deutlich wird, ß ihr erftgeborener Sohn wegen einer un- fonnen angeftifteten Verſchwörung vom Vater eftoßen wurde und feitdem verfchollen ift. Mit ‚Sgebreiteten Armen, unwiderſtehlich gezogen, ht fie auf den Schäfer zu, und fiehe, es ift rt reuig zurückgefehrte Prinz. Man erkennt, an umarmt ihn, das Eis des königlichen Her- 13 ſchmilzt, und alles Löft fich in Wonne auf. 2

Caſpar benahm ſich nicht ungeſchickt. Im Lauf der Vorbereitungen fand er von ſich ſelbſt aus einen heftigen Antrieb zu der Rolle und fühlte ſich fo hinein, als ob fein alltägliches Leben von ihm abgelöft wäre. Aehnlich verhielt es fich mit Frau von Kannamurf, die die Königin machte; auch fie gab ſich ihrer Aufgabe mit einem Ernſt hin, der das Spielhafte des Vorgangs undien- lich vertiefte und daher die Rollen ihrer Partner ſchattenhaft werden ließ. So webten die beiden gleihfam in einer eignen Welt für ſich.

3 mar ein fehr warmer Septembertag, als gegen ſechs Uhr abends bie geladenen Säle er⸗ ſchienen, im ganzen etwa fünfzig Perſonen, die Frauen in großer Pracht, unmäßig aufgedonnert, die Männer in Fräden und gefticten Uniformen. Das Podium fir die Komödie nahm die Schmal- wand des Saales völlig ein, Kuliſſen und Requi⸗ fiten, auch eine Anzahl Statiften waren vom Diveltor des Schloßtheaters zur Verfügung ge- ftellt worden. Die Tafel befand fih in einem Nebenfaal; dort hatte fich auch die Mufitfapelle eingefunden, denn nad) dem Eſſen follte getanzt werden.

Um fieben Uhr ertönte ein Glockenzeichen, alles begab ſich auf die Plätze. Der Vorhang rollte auf, und der König begann feine überheb- liche Tirade. Der Gaftfreund, vom Verfaſſer felbjt gemimt, hielt reſpektvollen Widerpart, dann kam das beitere Broifchenfpiel auf dem Hof, und das Folgende nahm feinen ruhigen Fortgang. Nun trat Caſpar auf. Das ſchwarze Gewand kleidete ihn_teefflich und hob die Bläſſe feines Gefichts. Sein Erſcheinen auf der Bühne hatte

, eine unmittelbare Wirkung. Das Huften und

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Näufpern hörte auf; ZTotenftille entftand. Wie er den König und die Königin anblidte, wie er auf fie zufchritt und traumhaft lächelte, das war ergreifend. Einige fahen ihn fogar zittern und beobachteten, daß fich feine Finger wie im Krampf in die Hand fehlofien. Nun der Monofog der Königin; auch dies Hang anders, als Schaufpieler ſonſt fich geben, fie tritt an den Jüngling heran, fie legt die Arme um feinen Hals...

diefem Augenblid eilte ein Mann aus dem Hintergrund de3 Saales bis vor die Rampe und rief ein gellendes: „Halt!” Die Spieler auf der Szene fuhren erfchroden zufammen, die Zur ſchauer erhoben fi, und eine allgemeine Unruhe entftand. „Wer ift da8? Wer wagt das? Was gibt’3?" wurde Durcheinander gerufen; man drängte nad, vorn, die Frauen fehrien ängitid, Stühle wurden umgemworfen, und nur mit Mühe gelang es dem Hausheren, eine gefährliche Panik zu ver-

ten.

Indes ftand der Urheber der Verwirrung noch immer unbemweglich vor dem Podium. Es war Hidel. Bleich und feindfelig jtierte er auf die Szene und fchien nicht zu gemahren außer Cafpar und Frau von Kannawurf, die, an« einander gedrängt, furchtfam in den verdunfelten Saal fchauten. Der erſte, der fih an Hickel wandte, war der junge Doktor Lang. In feinem gantafiete ſtüm des „Gaftfreundes” trat er an den

and der Ejtrade und fragte wütend nach dem einer fo unverantwortlichen Handlungs« weiſe.

Der Polizeileutnant holte tief Atem und ſagte laut mit einer gläſernen Stimme: „Ich muß die hochgeehrte Verſammlung taufendmal um Ent 494

ſchuldigung bitten, und da ich felbft zu den hier Geladenen gehöre, wird meine Verficherung viel: leicht Glauben finden, daß mir ein folcher Schritt nicht leicht geworden ift. Aber ich Tann nicht dulden, daß der are ein frivole3 Amiüfement zu einer Stunde fortjegt, wo ich die Nachricht von einem fchredlichen Unglüd_ erfahren babe, das ihn wie feinen andern trifft und für fein een Leben von folgenjchwerer Bedeutung ein wird."

Finſtere, neugierige und unmillige Augen blietten auf den SBolizeileutnant. Der Doltor Lang entgegnete zornig: „Unfinn! Eine Teufelei ift e8, weiter nichts. Was auch immer vorgefallen it, jo kann weder ich noch irgend jemand von den Anmejenden Ihnen das Necht zu einer fo groben Eigenmãchtigkeit zugeftehen. Iſt es ſchlimm, was Sie zu melden haben, ſo war um ſo mehr Grund zu warten, unſer Spiel war ja am Ende. * an Wahnfinn, ein Mißbrauch der Gaft-

em *

„Jawohl, der Doktor hat recht," riefen einige Stimmen.

Hickel ſenkte den Kopf und legte die Hand vor die Stirn.

„Darf ich wiffen, worum e3 fich handelt?" trat nun Here von Imhoff dazwiſchen.

Hickel raffte fi empor und ermiderte dumpf: „Graf Stanhope hat feinem Leben freiwillig ein Ende gemacht.

Es entftand eine lange Stille. Faft alle blickten auf Caſpar, der gegen eine Soffitte lehnte und langjam die

U loß. jat ſich een fragte Herr von

495

„Nein," antwortete Hidel, „er hat ſich er-

hängt."

Hafcgetnde Laute des Schreckens ließen fich vernehmen. Herr von Imhoff biß ſich auf die „Weib man Näheres?" fuhr er fort zu

agen.

„Nein. Das heißt, ich habe nur eine all- gemein gehaltene Nachricht von feinem Jäger.

war bei einem Freund, dem Grafen von Bel- gabe, an der normannijhen Küfte zu Beſuch.

m Morgen des vierten September fand man ihn im Turmzimmer des Schlofjes an einer Seidenfchnur hängend als Leiche."

Herr von Imhoff ſah zu Boden. Als er wieder aufblicte, firierte er den Polizeileutnant fremd und fagte: „Es tut uns allen von Herzen leid. Ich glaube, daß niemand in diefem Saal ift, der dem unglüdlichen Mann nit ein lebendiges Andenken bewahren wird. Nichts: deftomeniger, Herr Zeutnant, bleiben Sie mir Ihres jonderbaren Vorgehens halber Rechenſchaft ſchuldig.“

Zae verbeugte ſich ſtumm.

ie Hausfrau und mit ihr einige andre Damen waren bemüht, die Gäſte zu beruhigen, aber während die Diener die Kerzen des großen Kronleuchters anzündeten, meldete man rau von Imhoff, daß ihre Schwiegermutter, die Jubilarin, infolge der außgeftandenen Aufregung unmohl jeworden fei und ſich auf ihr Zimmer begeben abe. Sie folgte fogleich nah. Dies war ein Signal zu allgemeinem Aufbruch. Der Regierung» präfident und der Generaltommiffär mit ihren Frauen verließen zuerft den Saal, und ſchließlich blieben nur ein paar intime Freunde des Barons 496

um diefen verfammelt und nahmen in gebrücter Stimmung an der weitläufigen Tafel Platz.

„Ich hab’ e8 immer geahnt, daß uns der gute Lord noch einmal eine grimmige Ueber raſchung bereiten würde," fagte Herr von Imhoff.

„Was wird aber nun mit dem armen Haufer geſchehen ?“ meinte einer aus der Gejellichaft.

Man ſprach allerlei Vermutungen darüber aus; die Unterhaltung fam in Fluß, und wie oft ein unglüdliche8 Ereignis dazu dient, die Phan- tafie der entfernt Beteiligten mohltätig anzuregen, fo aud hier. Man gab fi bis über Mitter- nacht lebhaften Geſpraͤchen hin.

Caſpar date fih, während des raſchen Auf- bruchs der Gäfte in dem Keinen Ankleidezimmer für die Schaufpieler verſteckt. Die jungen Leute entieigten I} eilfertig ihres Koftüms und ver⸗ ſchwanden. Nach einer Weile kam ein Diener, um die Lichter auszulöfchen, und diefer entdeckte Cafpar. Als Cafpar gegen die Treppe zu ging, hörte er Schritte hinter fich, und Frau von Kannas wurf trat an feine Seite. Sie fragte ihn, ob er nad Haufe wolle, und er bejahte. „EB regnet," ker fie unten beim Tor und ftrectte die Hand

inaus. Sie wartete ein wenig, um den Regen

vorübergehen zu Iafjen, aber es wurde ein heftiger Guß daraus, und dad Waſſer Enatterte lärmend auf die Bäume und den ausgedörrten Boden. Ein kaltfeuchter Luftſtrom ſchlug ihnen entgegen, und Frau von Kannawurf forderte Cafpar auf, mit ihr ind Zimmer zu gehen, es könne allzu» lang dauern. Er folgte ftill.

Oben machte fie Licht, dann ftand_fie und fah verjonnen in die Flamme. Ihre Schultern bebten fröftlich. Cafpar hatte fi auf das Sofa

Wafjermann, Caſpar Haufer 32 497

eſetzt. Allgemach fpürte er eine jo große Müdig- ker daß me örmlich hintüberzog, un er mußte ſich auf den Rüden legen. Da trat Clara zu ihm und ergriff feine Hand, die er ihr jedoch haftig wieder entriß. Er machte die Augen zu, und einen Moment lang war fein Geſicht voll- tommen leblos. Frau von Kannawurf ftieß einen matten Angſtruf aus u fiel neben ihm auf die Knie. Dann rief fie ihre Ke ofe und bat um Wafler; fie ſchenkte ein Glas voll und reichte es ihm zu temten. Ex trank ein paar Schlüde. „Was ift dir, Caſpar?“ flüfterte fie, und zum erflenmal Duz te fie J lächelte dankbar. ‚Du bift De eine weiter,“ ® 4 und berührte mit den ‚Fingern über ihn gebeugten a Sort Schweſter Hatte in feinem Mund einen eignen Klang; es tönte wie ein nie zuvor gefprochenes ort,

Clara ſchmiegte fi) an feine Seite; ihr war, als müßte fie ihn wärmen, er aber rückte ängft- lich fort, da wollte fie fich wieder erheben, doch betaftete er mit der Hand ihren Arm und ſah fie an mit einem bittenden Ausdrud von Schmerz und Liebe. „Clara,“ fagte er, und fie glaubte vergeben zu ‚follen oder zu einem andern Leben

grmachen zu "miüffen, denn die en liche Art, wie er diefen Namen ausſprach, hatte etwas Ueberivbifch ches.

Es kam nun fo, daß Stunde auf Stunde verging und fie immer nebeneinander lagen, ftumm, ftumm, regungslos und über und über sitternd beide. Sie ſireckte die Hand nad ihm aus, und der Atem feines Mundes floß im die al gleich dem ihren.

AUS es von der Schloßuhr zwölf hab ſchauerte Clara zuſammen. Sie ſich ſagte mit tiefer Beteuerung vor ſich Al „Nie, nie, nie, nie.” Dann fchritt fie zum Fenſter und öffnete ‘8. Der Negen hatte längft aufgehört, das Firmament war Har, der ganze Sternen- Simmel lag funfelnd vor ihr da. Ihre volle ruft drängte den unbelannten Welten ent —T denn von dieſer, auf der ſie lebte, war ſie ſatt.

Sie ſagte zu Caſpar, er könne die Nacht im Schloß verbleiben, aber er entgegnete, das wolle er nicht. Sie ging dann hinaus, um zu fehen, ob Frau von Imhoff noch wach ſei. Sie jchritt am Speifefaal vorbei, wo die Herren noch beim Wein My und laut vedeten. Die Baronin hatte fich gleichfalls and nicht zur Ruhe begeben. Clara teile Fl mit, daß Cafpar bis jeßt bei ihr gegen fei. Frau von Imhoff nidte, ſah aber

ie Freundin eiwas verlegen und verwundert an. „Ih werde morgen fen meinen Koffer paden und reifen," fagte Clara leife und mit einem Aus» druck unmiderruflicher Beftimmtheit, der ihr bis⸗ weilen eigen war und ihre Tindlichen Züge felt- ſam hart und leidend machte. Frau von off erhob fich überrafcht und trat nahe an bie Freumdin heran. fielen ſie einander in die Arme, und Clara ſch luchzte.

ß verſtanden ſich; es war nicht nötig zu ſprechen.

As ſich Clara losriß, ſagte fie, fie werde Caſpar noch in die Stadt begleiten. „Das Fannft du unmöglich tun," wandte Frau von Imhoff ein, „oder ich werde dir wenigſtens ben Diener mitgeben.“

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„Bitte, nicht," antwortete Clara lächelnd, „du weißt doch, daß ich feine Furcht habe. Es bes irrt mich auch, wenn man meinethalben ängftlich iſt. Die Nacht tut mir gut, und ich freue mich auf den einfamen Rückweg."

Eine Viertelftunde fpäter wanderte fie mit Cafpar über die noch feuchte Straße gegen bie Stadt. Sie redeten auch jest nichts, und vor dem Lehrerhaus reichten fie einander die Hände. „est gehſt du mwahrjcheinlih fort von mir, Clara,” jagte da plöhlich Cafpar und fchaute fie mit einem verfchleierten Blick an.

Sie war ebenfo erjtaunt mie bemegt über diefe Worte, die ein tiefes DVorgefühl verrieten. Wie ſchön find feine Augen, dachte fie, fie find hellbraun wie die eines Rehs; gleicht er Doch auch fonft einem Reh, das traurigeverwundert im dunkeln Wald fteht.

Ja, ich gehe," erwiderte fie endlich.

„Und warum denn? Bei dir war mir wohl.“

Ich komme wieder," verficherte fie mit einer gezwungenen Herzlichkeit, hinter der ein Auffchrei erftarb. „Ich fomme wieder. Wir werden uns ſchreiben. Zu Weihnachten komm’ ich wieder.“

„Sch komme wieder; das hab’ ich ſchon ein- mal gehört," jagte Caſpar bitter. „Bis Weih- nachten ift lang. Und fchreiben tu’ ich nicht. Was hat man vom Schreiben, ift ja doch nur Papier. Geh nur, leb wohl.”

„Es kann nicht anders fein,“ fläfterte Clara, und ihr Blick fuchte die Sterne. „Sieh, Cafpar, dort oben ift das Ewige. Wir wollen es nicht vergeffen wie alle andern. Wir wollen nichts vergejjen. Ach, vergefien, vergeffen, darin liegt alle Bosheit der Welt. Uns gehören die Sterne, 500

Gafpar, und wenn du binauffchauft, bin ich ei dir."

Cafpar fehüttelte den Kopf. „Leb wohl,” fagte er matt.

Im Erdgefchoß wurde ein Fenſter geöffnet, und das mit einer Bettmütze gefrönte Haupt des Lehrers wurde fihtbar, um gleich darauf wieder u verfchwinden. Es war eine jchmeigende

ahnung.

ch will Bettine bitten, daß fie ihn tägli befucht, überlegte Clara, während fie allein dur die öben Gaſſen ging; ic} bring’ ihm Unheil, wenn ich bleibe, ein Abgrund gähnt mir enige en, wie ex fürchterlicher nicht zu denken ift. weiter ! Wie war mir doch, als er mich Schwefter nannte! Die himmlische Seligkeit pochte mir an die Bruſt. So hätt’ ich einen verlorenen Bruder gefunden, und mehr noch; .aber, gerechter Gott, mehr darf es nicht fein. Ihn anzutaften! Seinen Schlummer ftören! O verbrecherifche Lippen, denen ein Ruß nichts bedeutet! Häit' ich's getan, ih müßte feine Mörberin heißen, was Tann ich Befjeres tun als fliehen? Ein guter Genius wird ihn hüten; vermeffen, wollt’ ich durch meine arm⸗ jelige Gegenwart ihn behütet glauben; ein fo edles Ding kann nicht zugrunde gehen, meil ſich zwei Augen von ihm menden.

Diefe wirre und aufgeregte Gebantenfolge entfchleiert ein rettungslos verſtricktes Gemüt, das in feiner Schwärmerei den Euefätu eines Opfers faßt, verzagt, geblendet Dur, en Anblid von fo viel Schickſal und in feiner Betrübnis irregehend an den Kreuzwegen der Liebe.

Den Blick beftändig zum Himmel gerichtet, und zwar auf das ſchöne Sternbild des Wagens,

das wie ein erftarrter Zadenblig im Dunkelblauen ſchwamm, bemerkte Clara nicht, daß am Portal des Schloffes eine Geftalt lehnte. Sie prallte erſt zurüd, als ihre die mächtige Perfon den Weg verftellte. O Gott, der ©rauenvolle, dachte fie.

Hickel, denn diefer war es, verneigte fich gegen die beftürzie Frau. Bergebung, Madame,

ergebung," murmelte er. „Und nicht nur für diefen Ueberfall, auch für das andre. Gie find zu ſchön, Madame. Wenn Sie die Gnade hätten, zu erwägen, daß Ihre fublime Schönheit mit meinem Kopf umfpringt wie ein mutwilliger Knabe mit feinem Kreifel, wenn Sie in Betracht. ziehen wollten, daß es ſelbſt beim Komödieſpiel einen Punkt gibt, wo die verrüct gewordene Phantafie den Gegenftand ihrer Binfee befudelt und das Bildliche eiferfüchtig für ein Wirkliches hält, jo würden Sie vielleicht Ihren zerfnirfchten Diener durch ein tröftliches Wort beglücken."

Ales dies Hang einfältig, formlos, geziert, höhniſch und verzweifelt. Er jchien die Worte zmifchen den Zähnen zu zerquetfchen, und man onnte ihm anjehen, daß er fih nur mit An- ftrengung fteif und ruhig hielt.

Cara trat einen Schritt zurüd, verjchränfte die Arme, drücte fie feft gegen die Bruft und fagte befehlend: „Lafien Sie mich vorbei!"

„Madame, von Ihrem Mund hängt zur Stunde mandes ab," fuhr Hickel fort und hob den Arm mit der ftarren Bewegung einer Wachs⸗ figur. „Ich bin nie ein Bettler geweſen. Hier fteh’ ich und bettle. Derleugnen Sie nicht Ihr Geficht, das einen Engel glauben läßt!"

Er trat zur Seite, wortlos ging Clara an 6502

ihm vorüber. Sie läutete, und der Pförtner, der auf fie gewartet, öffnete ſogleich. AS fie drinnen war, ſpuͤrte fie eine entfeßliche Uebelleit. In ihrem Hirn war etwas wie gerrfien. Auf der Treppe ftodtte fie; ihr war, al3 müffe fie umkehren und den furchtbaren Mann noch einmal anreden.

Als Cafpar am nächſten Nachmittag zu Im— hoffs kam, wurde ihm mitgeteilt, dab Seas von Kannawurf ſchon abgereift fei. Er bat Frau von Imhoff, fie möchte ihm Claras Bild zeigen, das er feit dem erſten Gejellfchaftsabend, dem er im Schlofje beigemohnt, nicht mehr gejehen. Die Baronin führte ihn in ein Erkergemach, wo das Porträt zwiſchen zwei Ahnenbildnifjen an ber Wand hing.

Er ſetzte fih davor und betrachtete es lange mit ftummer Aufmerkſamkeit. Als er ging, ver« ſprach Frau von Imhoff, ihm eine Feknung von dem Bild anfertigen zu laffen. Ex war jo zerſtreut, daß er nicht einmal dankte,

Quandt unternimmt den legten Sturm auf das Geheimnis

Obmohl eine Zeitlang von einer Strafvers fegung Hidel3 die Rede war, verlautete darüber nichts Näheres, und die Sache ſchien allmählich in Pergeffenheit zu geraten. Ohne Bmeifel waren da allerlei verborgene Einflüfje im Spiel, die den Polizeileutnant ficherftellten. „Dem Dann ift nicht beizuklommen,“ fagten die Eingeweihten; „ex ift zu gefährlich und weiß zuviel.“ Freilich war Hidel brauchbar im Dienft und von feinen

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Untergebenen äußerft gefürchtet. Dabei wurde fein Lebenswandel immer undurchdringlicher; außer im Kaſino und im Amt fprach er mit feinem Menſchen. Auf der Polizeiwache ſaß er halbe Nächte, aber nur deswegen, um feine Leute zu Drangfalieren.

ar Duandt hatte ihn fürchten gelernt. Eines mittags im Oktober, der Lehrer ſaß mit feiner Frau und Caſpar beim Kaffee, trat plöglich jähelrafjelnd Hickel ins Zimmer, ſchritt ohne Gruß auf Cafpar zu und fragte berrifch: „Sagen Sie mal, Haufer, wiffen Sie vielleicht etwas über den Verbleib des Soldaten Schildfnecht ?""

Cafpar wurde afchfahl. Der Polizeileutnant fizierte ihn mit gligernden Augen und donnerte, ungeduldig über das lange Schweigen: „Wiffen Sie etwa3 oder wifjen Sie nicht3? Reden Gie, Menſch, oder, fo wahr mir Gott helfe, ich laſſe Sie auf der Stelle ins Gefängnis bringen!"

Caſpar erhob fi. Ein Knopf feiner Joppe verwidelte ſich in die Franſen des Tiſchluchs, und während er zurüdwich, fiel die Kaffeefanne um und das ſchwarze Gebräu ergoß ſich über das Linnen.

Die Lehrerin tat einen Schrei; Quandt aber machte ein ärgerliches Geficht, denn das groß- fpurige Auftreten de3 KPolizeileutnants verdroß ihn, auch war es ihm um fo vermunderlicher, als Hickel gerade Cafpar gegenüber ſich feit Monaten einer fteifen und finfteren Zurücthaltung befliffen hatte. „Was fol er denn mit dem Deferteur zu fehaffen haben?” fagte er unwillig.

„Das laffen Sie nur meine Sorge fein!“ braufte Hickel auf.

„Dbo, Here Bolizeileutnant, in meinem Haufe 504

bitte ich mir ein höflicheres Benehmen aus," verſetzte Quandt.

„Ach was! Sie ſind ein Schwachmatikus, Herr Lehrer. Was nicht auf Ihrem Miſt wächſt, das äftimieren Sie nicht. Ueberhaupt, was iſt's denn? Zwei Jahre find’3 her, feit der Menſch bei Ihnen wohnt, und wir find genau fo Hug wie zuvor. Wenn da3 Ihre ganze Kunft war, dann laſſen Sie ſich nur heimgeigen.”

Der Hieb ſaß. Quandt verbiß feinen Groll und ſchwieg.

„Aber es hat ein Ende jeßt," fuhr Hidel fort; „ich werde mit dem Hofrat reden, und der Haufer kommt zu mir in die Pflege.”

„Damit werden Sie mir bloß einen Gefallen erweifen,“ erwiderte Quandt und verließ hoch⸗ aufgerichtet daS Zimmer,

Die Lehrerin blieb mit geſenkten Augen fiten. Hickel marjchierte haſtig auf und ab und trodnete mit dem Aermel feine Stirn. „Wie mir nur it, wie mir nur iſt,“ murmelte er faft verftört. Dann wandte er ſich wieder ſchimpfend an Cafpar. „Unglücjeliger, verdammt Unglüdeliger! Was für ein Teufel Dat Sie geritten! pen," fügte er leife hinzu und ftellte ſich neben Caſpar, „der Burſche ift verhaftet und wird ausgeliefert. Kommt auf die Plaffenburg, der Kerl.“

„Das ift nicht wahr," ſagte Caſpar, ebenfalls leife, gebehnt umd etwas fingend. Cr lächelte, dann lachte er, ja, er lachte, wobei fein Geficht ſtark erbleichte.

Hickel wurde ſtutzig. Er kaute an feiner Lippe und ſah düſter ins Leere. Plöglich griff er nach feiner Kappe, und mit einem böfen, eiligen Blick auf Caſpar entfernte er fich.

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Quandt war nicht gefonnen, den Schimpf, den ihm der Polizeileutnant angetan, auf fi figen zu laſſen. Er bejchwerte fich beim Hofrat Hofmann, doch diefer ſchien nicht ſehr bereit, ſich einzumifchen. Der Lehrer nahm die Gelegen- beit wahr, noch eine andre Sache zum Austrag zu bringen.

Seit Feuerbachs Tod hatte der Hofrat die Oberaufficht über Cafpard Pflege. Auf eine Hilfe wie die vom Grafen Stanhope war nicht mehr zu rechnen, man hatte den Bürgermeifter Ender3 und die Gemeinde um Unterftüßung an- ggangen, aber ein Beſchluß war noch in der

chwebe. Einftweilen erhielt Cafpar vom Gericht eine Heine Lohnerhöhung für feine Schreiberei; das Geld lieferte er pünktlich dem Lehrer ab. Die beſchränkten Verhältniffe erlaubten ihm nicht die geringfte Freiheit in feinen Ausgaben. Ans fangs Dftober war er konfirmiert worden, und mit Sehnfucht erwartete er das fogenannte Tag- geld, das ihm von der Stadt ehe ausgeſetzt war. Ungehalten über die Verfchleppung, wandte er fih an den Pfarrer Fuhrmann; dieſer riet ihm, er folle den Lehrer erfuchen, aufs Ge meindeamt zu gehen, um die Auszahlung zu bes Be ich wicht, Hert Gofrat, ic

„So etwas tu’ ich nicht, ofrat, i mache nicht den Bittfteller, m en erlaubt das nicht,” fagte Quandt.

Der Hofrat zuckte die Achſeln. „Geben Sie ihm doch die paar Taler einjtweilen aus Ihrer Tafche," fagte er, „man wird's Ihnen gewiß "Sm Sinfit auf den Baufer gist es m

Pi inficht auf den Haufer gibt es feine Gewißheiten,“ verjegte Quandt; „ich habe ohnes 506

Hin Auslagen genug und weiß nicht, ob ich noch lange fo zufehen Tann."

Der Hofrat überlegte. „Er bat doch wohl- habende und reiche ‚Seeunde, „“ ſagte er dann,

„die können doch helfen.

„Ad du lieber Gott, " feufzte der Lehrer, „denen ift er viel zu —** als daß ſie an ſeine kleine Notdurft denken."

pr" Fi a morgen zu nen eh un "den auſer fragen, wozu er denn eigentlic

Geld braucht," ſchloß der Hofrat

a3 räch.

Des Abends Fam Caſpar noch fpät in Quandts Zimmer und flehte ihn mit aufgehobenen Händen an, ihn doc) nicht aus dem Haus zu geben, er wolle ja alles tun, was man von ihm verlange; „nur nicht zum SPolizeileutnant, alles, nur das nicht ſagte er.

er Kehren berubigte ihn nad Kräften und haste davon tönne vorläufig feine Rede fein, der BVolizeileutnant habe ihn bloß jchreden mollen. „Nein,“ antwortete Caſpar, „auch der Offiziant Maier bat heute auf dem Gericht davon ges ſprochen.“

„Nun, Hauſer, jetzt gekten Sie fi aber mie"ein Heiner Knabe un! d doch ſchließlich ein erwachſener Mann,“ ge Quandt tabelnd, „Ich Tann das nicht ganz ernft nehmen, Sie lieben es zu übertreiben und fih kindiſch zu ftellen. A olizeileutnant würde Ihnen auch nicht den Kopf abbeißen, wennjchon ich zugebe, daß er bisweilen etwa3 derbe Manieren hat. Aber Sie find ja jest auch ein Chrift in des Wortes voller Bedeutung, und ohne Zweifel haben Sie den Spruch ſchon gehört: Tue deinen

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zur

Feinden Gute, damit du feurige Kohlen auf dem Haupt Sammelft,

Caſpar nicte. „Cs fteht ein Gefäglein dar⸗ über in Dittmard ‚Weigenförnern‘, " erwiderte er.

„Ganz vecht; wie haben es ja zufammen duchgenommen," fuhr Quandt lebhaft fort.

„Wifjen Sie was! Damit Sie das ſchöne Merk— wort genau im Gedächtnis behalten, ſchlage ih Ihnen vor, mir Ihre eignen Gebanten darüber niederzufchreiben. Ich will es meinetwegen als ein Penjum für fich betrachten und Sie können den ganzen morgigen Nachmittag dazu ver wenden.”

Cafpar ſchien einverftanben.

Der Hofrat kam nicht, wie er verfprochen, am nächften, ſondern erſt am zweitfolgenden Tag. AS er ins Zimmer trat, tebete der Lehrer gerade mit zornigen Gebärden auf Cafpar ein. he die Frage des Hofrats, was Caſpar verbrochen habe, fagte Quandt: „IH muß mic) do« gu zu viel mit ihm berumärgern. ſtellte ich ihm ein Thema für den deutfchen Aufſatz, er verjprach mir, e3 auszuarbeiten, und er hatte ben ganzen

geftrigen Zerua dazu Zeit. Soeben verlang' 5 nun fein Fr und bier, überzeugen Sie ſich ſeibſt, in ofrat, auch nicht eine Zeile hat er eg rieben. Eine ſolche Trägheit iſt himmel⸗

reichte dem Hofrat das aufgeſchlagene get: oben auf einer Seiie ftand der Titel des ufjages: Tue deinen Feinden Gutes, damit du feurige Kohlen auf ihrem Haupt fammelit; danach kam aber nichts und die Seite war leer. „Warum haben Sie’3 denn nicht gemacht ?“ fragte der Hofrat fühl. 508

Caſpar antwortete: „Ich kann nicht.”

„Das müſſen Sie können!" rief Quandt. „Vorgejtern haben Sie mir ja erzählt, daß ber Gegenftand in Ihrem behandelt ift, eine Gedankenfolge zu finden, hätte Ihnen alſo nicht Knete Tonnen, wenn Sie dort angefnüpft

ten.“

„Probieren Sie's doch einmal, Haufer,“ fiel der Hofrat befänftigend ein. „Schreiben Sie meinetwegen nur ein paar Säte nieder. ch werde mich mit dem Herrn Lehrer ins Neben» zimmer begeben, und wenn wir zurückkommen, ſollen Sie uns irgend etwas vorzeigen und ben Beweis liefern, daß Sie mwenigftens den guten Willen haben.“

Quandt nidte und ging mit dem Hofrat hinaus. Als fie im Wohnzimmer waren, übergab der Hofrat dem Lehrer zwei Golddukaten und fagte, die feien von Frau von Amboft, der er Caſpars Verlegenheit geſchildert habe; die gütige Dame babe fi nos hoch entfchuldigt, daß es aur fo wenig jei, aber fie habe über das Geld feine freie Verfügung. „Uebrigens war der Haufer geftern bei mir," fuhr der Hofrat fort, „und zwar kam er, um mic) zu bitten, ich möchte es doch verhindern, daß er dem Polizeileutnant in Pie jegeben werde.“ ,

f och des Teufels; er beläftigt alle Leute mit feinen kindiſchen Miſeren,“ Magte Quandt, „auch mich Hat er ſchon darum ans gegangen!

„Vor dem Hidel fcheint er ja eine Heiden- angft zu haben.“

„Sa, der Polizeileutnant ift eben ſehr ftreng mit ihm.”

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„Ich fagte ihm, daß von meiner Seite eine folche Abficht nicht vorliege, und er möge nur feine Pflicht tun, dann werde ihm niemand zu nahe treten.”

„Sehe wahr."

„Wir redeien noch über feine Geldfalamität, und da wollte er nicht mit der Farbe heraus. Ich verſprach, ihm zu feinem Geburtstag fünf Taler zu fchenten, und fragte ihn, warn er Ges burtstag habe. Darauf antwortete er traurig, das mie ex nicht, und ich muß geftehen, e8 war da etwaß in feinem Weſen, was mich rührte. Aber ſonſt ſchien er mir doch gar zu fehmeichlerifch, und fein ndlich Geblinzel und Getue mißfiel mir."

„Leider, leider, fchmeichlerifch ift er, da haben Sie recht, Herr Hofrat; beſonders wo er feine Pläne durchjegen will."

Nah diefem Meinungsaustaufch kehrten fie wieder zu Cafpar zurüd. Er ſaß am Tiih, den Kopf in die Hand geſtützt. „Na, was haben Sie fertiggebracht ?" rief der Hofrat jovial. Er nahm

as , ſtutzte, da er nur einen einzigen Satz gejchrieben fand, und las vor: „Wenn fie dir ebles_an deinem Körper zugefügt haben, tue ihnen Gutes dafür." „Das iſt alles, Hauſer?“

„Sonderbar,“ murmelte Quandt.

Der Hofrat ftellte fich vor Cafpar hin, drehte den Kopf gegen die Schulter und begann uns vermittelt: „Sagen Sie mal, Haufer, wen haben Sie denn eigentlich von allen Menfchen, die Sie bisher fennen gelernt haben, am meiften lieb»

jewonnen?" ein Geficht jah HEHE aus; er

hate von feinem Amt al Gerichtsfunttionär die tanier behalten, auch das Harmloſe mit einem

Ausdrud von fäuerlihem Spott zu äußern.

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„Stehen Sie doc auf, wenn der Herr Hofs rat mit Ihnen fpricht," flüfterte & Caſpar zu.

Caſpar ſtand auf. Cr blidte ratlos vor ſich in. witterte eine Falle hinter der Frage.

dachte plöglich: Wahrfcheinlich ift der Lehrer darum fo böfe, daß ich den Aufſatz nicht gemacht: habe, weil er glaubt, ich halte ihn für meinen Feind. Er ſchaute zu Duandt hinüber und fagte Bee: „Den Herrn Lehrer hab’ ih am liebſten.“

Der Hofrat wechſelte mit Quandt einen Blick I Einverſtãndniſſes und räuſperte ſich bes

ut

jam.

a, ein Beſtechungsverſuch, dachte Quandt und war ſtolz darauf, nicht im mindeften von der Antwort erbaut zu fein.

Caſpars Leben wurde nun immer einförmiger und zurüdgezogener. Er hatte niemand, mit dem er eine vertrauliche Unterhaltung führen konnte. Frau von Kannamwurf ließ auch nichts von fi hören, und daS wurmte ihn denn doch, trodem ex behauptet hatte, an Briefen jei ihm nichts gelegen. Wo war fie überhaupt? Lebte fie noch? & mochte oft nicht ausgehen, alle Wege waren ihm verhaßt, jede Verrihtung fand ihn lau. Zus dem war das Wetter immer fchlecht, der November brachte gewaltige Stürme, und jo ſaß er in der

eien Zeit auf feinem Zimmer, glitt mit den licken über die Hügelvänder oder ftreifte bang den Himmel und finnierte unabläffig. Ex wartete, wartete. Einmal ging er insgeheim in die Kaferne und erfundigte ſich vorfichtig, ob man dort etwas über Schildfnecht wiſſe. in konnte ihm feine Auskunft geben. Das nährte die verfladternde 5

offnungsflamme, aber in den darauffolgenden

ven fühlte er fich krank und wollte fich des Morgens kaum zum Verlaſſen des Bettes ent- jöte en. Es kamen noch manchmal Fremde zu

eſuch; er verhielt fich ftörrifch und einfilbig. Wenn er aufgefordert wurde, in Gejellichaft zu gehe, fagte er bitter: „Was foll mir das üben?" Als er eines Abends über den Schloßplag ging und an der mächtigen Faſſade mit den Yobene immer geſchloſſenen Fenftern emporjah, glaubte er in ben leergedachten Sälen übergroße Geftalten wahrzunehmen, die ihn feind- fein, beobachteten. Sie jchienen alle in urpur gekleidet, mit golbenen Ketten um den Hals. Ein grenzenlos ermattender Sch drückte ihn nieder, und er war nahe daran, fo) auf das Pflafter zu werfen und zu heulen gleich einem Hund.

- Er fühlte fih jo falt, fo trüb. einer‘ Nacht träumte er, er fähe auf einem grünen Steinblod eine goldene Schale und darauf lagen fünf feltfam qualmende Herzen, doch nicht in natürlicher Form, ſondern fo wie Lebküchner die Herzen baden; er ftand davor und fagte laut: Das ift meines Vaters Herz, das ift meiner Mutter Herz, das ift meines Bruders Herz, das ift meiner Schwefter Herz, das ift mein eignes Ben. Sein eignes Tag oben und hatte zwei febendige, traurige Augen.

Nicht felten hatte er das beitimmte Gefühl von der fernen Wirkung einer überaus teuern Perfon. Die Perſon handelte, ſprach und litt für ihn, aber eine Welt lag dagmildhen, und mas auch immer fie unternahm, konnte die Weite zwiſchen ihm und ihr nicht verringern. Er fpürte unheimliche Vorgänge fo deutlich, da er oft da» 512

en

ftand und lauſchte wie auf ein Geſpräch hinter. einer dünnen Wand. Und er faltete die Hände unterm Kinn und lächelte ängftlich.

Blind hätte der Lehrer fein müffen, wenn er von alledem nichts bemerkt hätte. Seine Beob- achtungen jammelte er ſozuſagen unter einem Titel, und- diefer Titel lautete: Der Kampf mit dem fchlechten Gewiſſen. „Sch habe fein Wohl- wollen mehr für den Menfchen," erflärte Quandt, „ich habe fein Wohlwollen mehr für ihn, feit ich gefehen habe, wie gleichgültig ihn die Kataſtrophe mit dem Lord gelafjen hat. War mir felbjt doch zumut, als hätte ich einen Bruder verloren, und er wollte ſich nicht, einmal zu einer den Schein wahrenden Trauer verftellen. Ex hat ein Herz von, Stein und eine ganz pöbelhafte- Undant-

arkeit.“

Wir ſehen den Lehrer gleichſam hinter einer Hecke, wir ſehen ihn lauern, wir ſehen, wie er mannigfaltige Nachrichten über Caſpar aus

iheren Jahren zuſaminenträgt, Falten und Um» jtände, die er mit dem Spürfinn eines Unter- uchungsrichter8 aufftöbert, deutet, beleuchtet und ſtill zum Zweck bereithält. Wir jehen ihn in Haß entbrennen gegen den emig Verſtockten, immer Verſchloſſenen, und wir können nicht um⸗ bin, ihn einem Menfchen ähnlich zu finden, den ein Irrlicht fo Iange geneckt und gelockt hat, bis er endlih in eine Art von tafender Trunkenheit gerät. i

Zu Anfang Dezember, es war an einem Donnerstag, abends nach Tiſch, fragte Quandt Caſpar, ob er feine Ueberjegung für morgen fchon fertig habe. Caſpar erwiderte in ernſter Stim⸗ mung, doch mit unaufrichtiger Freundlichkeit, wie

Waſſer mann, Gafpar Haufer 38 518

es Quandt vorlam, ja, er ſei damit fertig. Quandt nahm das Buch, zeigte ihm, wie groß die Auf- gabe fei, und fragte noch einmal, ob er denn wirklich jo weit überfeßt habe.

Caſpar bejahte. „Ich bin fogar noh um einen Abfat weitergefommen," fagte er.

Quandt glaubte es nicht; e8 war ihm un= wahrſcheinlich; die Aufgabe enthielt ein paar Fälle, mit denen Caſpar nicht allein hätte fertig werden können und bei denen er feine Hilfe unbedingt hätte in Anſpruch nehmen müſſen. Indes fand er es für gut, im Beifein feiner Frau nichts weiter zu bemerken, fondern ihn ungeftört auf fein Zimmer gehen zu laſſen.

Ungefähr Kant Minuten fpäter ergriff Quandt das Iateinijche Eiementarbuch und folgte Caſpar. Caſpar hatte die Tur ſchon zugeriegelt, und be= vor er öffnete, fragte ex, ob der Lehrer noch etwad wünſche. „Machen Sie auf!" befahl Quandt kurz. ALS er drinnen war, las er ihm einige willkuͤrlich herausgerifjene Sätze vor und erſuchte ihn zu jagen, wie er es überjeßt habe. Cafpar ſchwieg eine Weile, dann entgegnete er, ex habe bloß präpariert, er wolle erſt jett über- jegen. Quandt blickte ihn ruhig an, fagte aus» —e— „So,“ wünſchte gute Nacht und ent— ernte ſich.

Drunten erzählte er den Sachverhalt ſeiner Frau, und fie famen überein, daß dahinter ein bübifcher Trotz ftecle, weiter nichts. Am andern Morgen berichtete er auch dem Hofrat darüber, diefer ſchrieb ein kurzes Briefchen an Cafpar und

‚ab es dem Lehrer mit. Caſpar las das Schreiben in Quandt3 Gegenwart, und als er zu Ende war, reichte er e8 dem Lehrer, fichtlich verjtimmt. 514

In dem Brief warnte ihn der Hofrat ſchonend vor Eigenfhaften, denen nur gemeine Naturen, fih Be bie —— IR zer pi eg „unſerm Haufer leider nicht zu fein ſcheinen“. ee jelben Abend, wiederum nad) dem Nacht» mahl, brachte Duandt eines der Bebungeh fe Caſpars zum Vorſchein und fagte: „Aus dieſem

t ift ein Blatt herausgefchnitten, Haufer. Sie wiſſen doch, daß ich Ihnen das ſchon zahllofe Male verboten habe.”

„Ich hatte in das Blatt einen Flecken ges macht, und den mollte ich nicht in der Schrift haben,“ verſetzte Caſpar.

Statt aller Antwort forderte Quandt den Jungling auf, mit ihm in fein Studierzimmer zu kommen. Seiner Frau fagte er, fie möge die Kerze anzünden, ergriff die Lampe und fchritt voran. andern Zimmer angelangt, ſchloß ex forgfältig beide Türen, hieß Cafpar Platz nehmen und begann: „Sie werden mir doch wohl nicht zumuten, daß ich Ihre Ausrede für bare Münze nehme?"

„Was für eine Ausrede?“ fragte Caſpar matt.

„Nun, das mit dem Flecken. Ich glaube nicht an diefen Flecken.“

„Warum wollen Sie e8 denn nicht glauben?“

„Sie kennen doch das Sprihwort: Wer ein mal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er, aud) die Wahrheit fpricht. Sie, lieber Fremd, lügen öfter als einmal.“

„Ich lüge nicht,“ erwiderte Caſpar ebenfo matt und tonlos.

„Das getrauen Sie ſich mir ins Geficht zu behaupten?"

Rx weiß nicht, daß ich Lüge."

515

„O, ſchelmiſcher Rabulift!" rief Quandt bitter. „Wenn ich Ihre häufigen Unmahrheiten nicht jedesmal berede, jo beftimmt mich dazu die nach und nad) gewonnene Einficht, daß ich Sie von dem Uebel doch nicht heilen kann. Wozu alfo fol ich mich vergeblich grämen? Sie find ger wohnt, fo lange nein zu jagen, bis man Sie der- maßen überführt hat, daß Sie nicht mehr nein jegen tönnen, und dann fprechen Sie dennoch

n Ja."

„Soll ich ja jagen, wenn nein ift? Beweiſen Sie mir, daß ich gelogen habe." Caſpar jah den Lehrer mit einem jener Bfice an, die biefer als tückifch zu bezeichnen pflegte.

„Ach, wie ſchmerzt es mich, Sie mir gegenüber jo zu fehen,“ verſetzte Quandt. „Ich

in um Beweiſe nicht verlegen und habe jo viele,

daß ich. gar nicht Fr wo ih ſoll. Erinnern Sie ſich nicht an die Geſchichte mit dem Leuchter? Sie behaupteten, die Handhabe ſei abgebrochen, und es ift doch unmiderleglich nachgeriefen, daß fie abgeſchmolzen war?“

„Es war fo, wie ich gejagt habe.“

„Damit laſſe ich mich nicht abfpeifen. Sie Lönnen übrigens verfichert fein, u} ich mir den Vorfall mit allem Fleiß notiert habe, nämlich ſchriftlich, um nötigenfalls vollſtändige Rechen⸗ ſchaft über Sie geben zu können.“

Caſpar machte. ein ſehr betroffenes Geſicht; er ſchwieg.

„Und weiter, betrachten wir einen Fall ingften Datums," fuhr Quandt fort;. „es. war Doc einerlei, ob Sie vorgeftern mit der Ueberſetzung fertig waren oder ob Sie fie erft im Zimmer machen wollten. Da Sie tagsüber bejchäftigt waren, 516

jo konnten und durften Sie die Arbeit abends machen. Warum fagten Sie, Sie jeien fertig, wäh⸗ rend Sie nicht daS geringfte daran getan hatten?“

„Ich habe gemeint, Sie fragen, ob ich präs pariert hätte,”

„Lächerlich. Sie hatten neulich jchon die Frech- heit, meine Worte einfach zu verdrehen. Ich habe deutlich efragt: Haben Sie Ihre Ueberjegung ge- mat? Meine Frau war zugegen und ift Zeuge.“

„Wenn Sie es gejagt haben, habe ich’8 eben anders verſtanden.“

„Die gewohnten Ausflüchte. Sie hatten ja nicht einmal präpariert. Das können Sie jemand aufbinven, der Sie nicht fo genmu kennt wie ich. Ich wünſchte, ich hätte Sie nie kennen gelernt; am Ende kommt man dur Sie noch um den Auf eines redlichen Mannes. Aber Sie werden durchſchaut, nicht nur von mir, fondern auch von andern. Es gibt nur noch wenig Familien, bei denen Sie für liebenswürdig und aufrichti gelten; die meiften jehen ein, daß Sie eine tägliche Einbildung und einen niedrigen Hochmut bejigen, daß Sie gleichgültig und anmaßend gan weniger Vornehme find, fobald Sie bei

ornehmeren Zutritt finden. Und was Ihre Verlogenheit betrifft, ? bin ich erbötig, Ihnen in jedem einzelnen Fall auf den Kopf zuzufagen, ob Sie bei der Wahrheit geblieben find, was in und außer Jhrem Horizont liegt, was Ihre Auf- merkjamteit fefjeln kann und mas nicht. Ich jebe Sen ein artiges mpelchen aus der esten Zeit. Es war beim Mittagstisch die Rede vom Regierungsrat Fliegen. Meine Frau meinte, es fei dem guten alten Mann unangenehm, daß er nicht bei den Seinen in Worms fein könne 517

Ich bemerkte hierauf, daß der Regierungsrat eine oße Verwandtſchaft im Aheinkreis und jo und N viele Enkel habe. Darauf fagten Sie: Elf Entel hat er, e8 wurde beim Generalfommiffär davon gefprochen. Ich antwortete, daß ich von neunzehn Enteln gehört, Sie verficherten aber, es jeien elf. 36 wußte dem nun allerdings nicht entgegenzufegen, aber das wußte ich bes ftimmt, di & die Zahl nur in der Geſchwindig⸗ keit aufgegriffen Batten, um uns zu imponieren, um den Namen des Generaltommiffärs in den Mund nehmen zu können und und zu zeigen, daß Sie mit den PVerhältniffen der Perfonen vertraut feien, die jenes Haus befuchten. Hand aufs Herz: ift’3 nicht jo?" ri ——— an * Tafel von elf Enkeln geſprochen. Ganz gewiß." „Das glaube ie nicht.

‚Bo ſchämen Sie fich, Saufer, in einem fo ernften Augenblick auf der Züge zu beharren. Dazu gehört ein hoher Grad von Erbärmlichkeit, um nicht zu jagen Nichtswürdigleit. An der Sache ſelbſt ijt ja wenig gelegen, aber Ihre fortgejeßte dreifte Behauptung läßt tief bliden. Sie zeigt, daß Sie nie einen Fehler auf eigne Rechnung nehmen, daß Sie nie eine Schwäche äugeftehen wollen und es dabei aufs Aeußerfte ankommen laffen. In der erften freien Stunde werde ich den Regierungsrat ſelbſt fragen, wie viele Enkel er hat. Sind es wirklich elf, fo werbe ich Ihnen gehörige Genugtuung geben, im andern Fall will ich Sie in einer Weife befchämen, daß Sie an mich denken follen.“ Caſpar ſenkte ergeben den Kopf. 518

„Aber das Eigentliche, was ich Ihnen vorzu⸗ Halten habe, kommt noch, lieber Freund,“ bes gann Quandt nad; einer Paufe, während welcher man den Sturmwind gegen die Fenfter donnern und im Kamin wimmern hörte. „Es ift jebt endlich an der Zeit, daß Sie einem Mann wie mir, der an Ihrem Schickſal ungeheuchelten An- teil nimmt, reinen Wein einfchenten. Sie fcheinen immer noch der Meinung, die ganze Welt ftehe Ihrem Märchen von ber geheimnisvollen Ein» ferferung oder gar von der hohen Abkunft gläubig g jenüber. Sie befinden fich in einem Fand en Irrtum, lieber Haufer. Anfangs, ich gebe e3 zu, hat man ſich damit al3 einem ätfelhaften Beorgang befhäftigt, aber nad und nad find doc alle vernünftigen Menfchen zu der Einficht gelangt, daß fie das Opfer lafien Sie mic die Eigenſchaft nicht nennen, deren Opfer fie jerworden waren. Ich kann mir wohl denfen, aufer, daß Sie den Anſchlag urſprünglich nicht jo weit treiben wollten. Im vorigen Winter, als die Schrift des Präfidenten erſchienen war, da zeigten Ste fich felbit erichroden von den Folgen IHrer Tat, und Sie erinnerten mid an ein Kino, das ein bißchen mit dem Feuer gejpielt bat und unverjehens das ganze Haus in Flammen fieht. Sie fürdteten, den Futterplatz zu ver- lieren, den Sie fi) durch Ihre fett ver⸗ ſchafft Hatten, Sie mußten gerade da eine Ent- dedung umd die mohlverdiente Strafe fürchten, wo Ihre verblendeten Freunde das Glüd für Sie fahen. Prüfen Sie ſich doch in Ihrem Innern, ob ich nicht recht habe." Cafpar ſah dem Lehrer mit einem Ieblofen Blick ins Auge. 519

" „Schön; ih will Sie nicht zur Antwort zwingen,“ fuhr Quandt mit büfterer Befriedigung fort. „Es iſt nun wieder ſtill um Sie geworben, Haufer. Eigentümlich ſtill ıft e8 geworden. Man will ſich nicht mehr recht um Sie fümmern. So ftill war es auch damals um Sie geworden, be= vor der angebliche Mordanfall im Haufe des Profefjor3 Daumer fich ereignet hat. Kein Menich unter all den vielen Taufenden, welche die Stadt Nürnberg bewohnen, hat zur Eritifchen Beit oder päter eine Perjon beobachtet, die auch nur im entfernteften im Bufammenhang mit einer folchen Greueltat gedacht werden konnte. Ihre Freunde

laubten troßdem an den vermummten Unhold, 1 wie fie an den phantaftifchen Kerkermeifter glaubten, der Sie das Lejen und Schreiben ge- lehrt haben fol. Nichtebeftomeniger at Sie der Profeſſor Daumer alsbald vor die Tür geſetzt. Er wird wohl gewußt Haben, warum. Und heute fteht Ihre Sache fo, daß Sie fich entfchließen müffen. Ihre mãchtigſten Gönner, der Staates rat, der Lord Stanhope, die Frau Behold, haben daS Zeitliche verlaffen. Erkennen Sie darin nicht einen Wink des Emmen! Es hat ja num feinen Zweck mehr für Sie, die Fiktion aufrechtzuerhalten. Sie find doch jetzt ein Mann, Sie wollen doch ein nübliches Glied der menſchlichen Geſellſchaft werden. Sprechen Sie zu mir, Haufer, eröffnen Sie fih! Sprechen Sie mit Ihrem wahren Mund, aus wahrem Herzen!"

„Sa, was foll ich denn Besen?! fragte Caspar dumpf und langfam, indes feine Geftalt verfiel wie die eines Greiſes und auch in feinem Geficht lauter greifenhafte Falten entſtanden.

Der Lehrer trat zu ihm und ergriff feine 520

Iehmere ſteinkalte Hand. „Die Wahrheit follen Sie ſprechen !“ rief er beichwörend. „Ach, Haufer, es ift ja ein Sammer, Sie anzufchauen, wie das (dt Serien gefpenfterhaft aus jedem Ihrer lugt. Ihr Gemüt iſt bedruckt. Aufl

ve eaualte Bruft, Haufer! Laffen Sie end einmal bie Sonne Simeinfcheinen! u, Mut, Ver:

Kunft, die Bates men die

der. hieß, bei dem geweſen. gr werben mich doch nicht für fo naar halten, daß ich glaube, Sie müßten das nicht. Ohne Zweifel mar es doch hr Vater oder Ihr Oheim ober ein Bruder oder ein Gpielgenofie, gleichviel. Haufer! Stellen Sie fi vor, Sie befänden fih vor Gottes Angefiht. Und Gott wiirde fragen: Woher kommſt du? Wo ift deine Heimat, der Ort, wo du geboren bift? Wer hat dir einen falfchen Namen angedichtet und wie heißt du mit dem Namen, den du in der Wiege empfangen

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haft? Wer bat dich unterrichtet und angelernt, die Menfchen zu täufhen? Was würden Sie in Ihrer Seelennot antworten, was antworten, wenn der erhabene Gott Sie zur Rechtfertigung aufforderte, zur Sühnung des verübten Trugs?"

Caſpar ftarrte den Lehrer atemlos an. Das Blut ſiockte ihm. Die ganze Welt verfehrte fich

m. .

„Was würden Sie antworten?" wiederholte Quandt mit einem Ton zwiſchen Angft und Hoffnung; ihm ſchien es, als ſei er nahe daran, die verfchlofjene Pforte zu fprengen.

Caſpar ftand ſchwerfällig auf und ſagte mit zuckendem nd: „Ich würde antworten: Du bift gen Gott, wenn du folches von mir ver- angft. *

Quandt prallte zurück und ſchlug die Hände zufammen. „Läſterer!“ fchrie er mit durch dringender Stimme. Dann ſtreckte er den rechten Arm aus und rief: „Hebe dich weg, du Unzucht, du verfluchter Lügengeiſt! Hinaus mit dir, Ine famer! Beſudle meine Luft nicht Länger!“

Caſpar kehrte ſich um, und während er nad) der Türklinke taftete, krächzte Hinter ihm die Wanduhr zehn Schläge in das Sturmgebrobel.

Seufzend, ſchlaflos wälzte fih Duandt die ganze Nacht auf den Kiffen. Seine Heftigkeit, mochte ihn gereuen, denn im Lauf des folgenden Tages fuchte er ſich Gafpar wieder zu nähern. Aber Cafpar blieb kalt und in I gekehrt. Abends brachte Duandt das Geſpraͤch auf den Regierungsrat Fließen; er fagte, daß er ſich er- kundigt "abe, und rief Caſpar ſcherzend zu: „Achtzehn Enkel, Haufer, achtzehn find es! Na, jehen Sie, daß ich recht gehabt habe ?“

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Caſpar ſchwieg. „Aber Snufers Sie eſſen ja gar nichtS mehr," fagte die Sehrerin beforgt. habe keinen Appetit,“ ermwiderte Gafpar; „kaum daß ich angefangen habe zu efjen, bin ich auch ſchon fatt."

m Mittwoch, dem elften Dezember, kam Quandt verfpätet und ſehr —F zu Tiſch. Er hatte auf dem Heimweg von der Schule einen heftigen Auftritt mit einem Eng: gehabt, der in der bergigen Pfarrgafie fein Pferd zu- {handen gefchlagen hatte, weil es den chwer⸗ beladenen Wagen nicht zum —A inauf⸗ ziehen konnte. Quandt hatte dem rohen Kumpan Dorftellungen gemacht und einige hinzufommende liegen zu Sum der —ã—— Quãlerei

ngerufen. Dafür war der Fuhrknecht mit er-

Hobenem Veitfchenftiel auf ihn losgegangen und —* ihn angebrüllt, er el fih zum Teufel fcheren und fi nicht um Sachen fümmern, die ihm nicht angingen. „Gott ſei Dank ift mir der Name des Kerls befannt, und ich werde dem BVolizeileutnant darüber Meldung erftatten,“ ſchloß Quandt. Er wurde nicht müde zu befehreiben, wie der armfelige Klepper vor dem Gefährt immer wieber vergeblich an den Strängen gezerrt habe und wie das ſchwarze Blut unter feinen Rippen bervorgequollen fei. „Der Spitzbube,“ grollte er, nich werde es ihm zeigen, ein Tier fo zu rackern.“

Nachher, als Caſpar weggegangen war, fragte ihn feine Frau, ob es ihm denn nicht aufgefallen fei, daß Cafpar gar fein Wort über die Gelhigte fallen_gelafien habe.

„Ja, er mar ganz ftumm, es ift mir aufs gefallen, * beftätigte Quandt,

528

Eine halbe Stunde darauf ging er in Caſpars Bimmer und bat ihn, die Anzeige egen den Fuhrknecht, die er verfaßt hatte, in de Wohnung Hickels abzugeben. Um drei Uhr tehrte Caſpar mit der Nachricht zuräd, der BVoligeileutnant habe einen mehrtägigen Urlaub genommen und jei verreift.

Aenigma sui temporis

Es geihah am übernächften Tage, einem Freis tag, als Caſpar kurz nach zwölf das Gerichts- gebäude verlafjen wollte, daß er im Korridor dor der unteren Treppe von einem fremden Herrn angefprochen wurde, einem anfcheinend fehr vor- nehmen Mann, der groß und ſchlank war, einen ſchwarzen Baden- und Kinnbart trug, und der ihm aufforderte, ihm wenige Minuten Gehör zu ichenten.

Caſpar ftugte, denn in der Stimme des Mannes war etwas fehr Dringliches und etwas ſehr Achtungsvolles.

Sie gingen ein paar Schritte ſeitwärts von der Treppe, wo niemand vorüberfommen konnte. Der Fremde lächelte ermutigend, al3 er Caſpars ſcheues Weſen bemerkte, und begann ſogleich in

erjelben dringlichen und achtungsvollen Weiſe: „Sie find Caſpar Haufer? Bis heute find Sie e3 gewejen. Morgen werben Sie diejen Namen abſtreifen. Wie mich ſchon der erſie Blick in Ihr Geficht belehrt umd erjchüttert hat! Prinz, mein Brinz! Erlauben Sie mir, Ihnen die Hand zu küſſen.“

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- Er bückte ſich raſch und küßte ehrfurchtsvoll Caſpars Hand.

Caspar hatte keine Worte. Er ſah aus wie einer, dem plöglich das Herz ftilljteht.

„Sch komme vom Hof, ich komme ala Ab—

jefandter Ihrer Mutter, ich komme, Sie zu holen,“

r der Fremde fort, nicht weniger haftig, nicht weniger vejpelterfüllt. „Sch vermute, daß Sie feit langem darauf vorbereitet find. Doch müffen wir ar der Hut fein. Wir haben große Hinder- niffe zu fcheuen, Sie müffen mit mir entfliehen.

es ift bereit. Die Frage ift nur, ob Sie willens find, fich ohne Rüchalt mir anzuvertrauen, und ob ih auf Ihre umbedingte Verſchwiegenheit zechnen darf?“

Wie follte Caſpar imftande fein, darauf zu antworten? Er fchaute in das Geficht des Mannes, das ihm in jeder Veziehung außer-

öhnlich, ja märchenhaft erſchien, und mit Aupider Aufmertfamfeit haftete jein Blick auf den zahllofen Kleinen Blatternarben, die auf der Nafe und den Wangen des Fremden fihtbar waren.

„Ihr Schweigen ift für mich beredt,“ fagte der Fremde mit einer jchnellen Verbeugung. „Der Plan ift der: Sie finden ſich morgen nachmittag um vier Uhr im Hofgarten ein, und zwar neben der Lindenallee, wenn man vom Freibergichen Haus kommt. Man wird Sie von dort zu einem bereitftehenden Wagen führen. Die einbrechende Dunkelheit wird unfre Flucht begünftigen. Kommen Sie ohne Mantel, fo wie Sie find; Sie werden firnbeögemäße Kleider finden. Bei der erfien

aftftattion an der Grenze, die wir in drei Stunden erreichen können, werden Sie fich um— Heiden. Ich bin Ihnen unbelannt. Sie follen

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ſich dem Unbekannten nicht auf Treu und Glauben übergeben. Bevor Sie in den Wagen fteigen, werde ich Ihnen ein Zeichen behändigen, an dem Sie unzweifelhaft erkennen werden, daB ich zu meinem Auftrag von Ihrer Mutter bevoll= mädhtigt bin."

Caſpar rührte fich nicht. Nur fein ganzer Körper ſchwankte ein wenig, als wäre er erſtarrt und der Wind drohe ihn umzublafen.

„Darf ich dies alles als abgemacht anfehen ?“ fragte der Fremde. .

Er mußte die Frage wiederholen. Da nidte Caſpar ernithaft, ſchwer, und auf einmal war ihm die Kehle wie verbrannt.

„Werden Sie fi zur beftimmten Stunde am beftimmten Plage einfinden, mein Prinz?"

Mein ‚Being! Cafpar wurde leichenblaß. Er ſchaute wieder die Blatternarben mit verzehrender Aufmerkfamfeit an. Dann nickte er. abermals, mit einer Bewegung, die den Schein von Kälte oder von Verjchlafenheit hatte.

Fremde lüpfie mit demutsvoller Höflich- keit ben Hut; hierauf ging er und verſchwand in der Richtung gegen die Schwanengaffe.

Während des ganzen Auftritte, der etwa acht bis zehn Minuten gedauert hatte, war alfo nicht ein einzige8 Wort aus Caſpars Lippen ges kommen.

War es Freude, die Caſpar empfand? War Freude ſo beſchaffen, daß einen dabei fror bis ins Mark? Daß beftändig Schauder über den Rücken liefen wie kaltes Waller?

Er machte immer nur ein halb Dugend Schritte und hielt dann inne, weil er glaubte, der Erd⸗ boden finfe unter feinen Füßen. Menfchen, geht 526

mir aus bem Weg, dachte er; weh mich nicht an, Schnee; Wind, fei nicht jo wild. Er ber trachtete feine Hand und berührte mit der Spitze feines Fingers ſtarr nachdenklich die Stelle, auf die der Fremde ihn geküßt.

Warum arbeiten die ‚gehuftergefellen noch, es iſt ja Mittagszeit, grübelte er, als er im Vorbei⸗ ehen in einen Laden blictte. Unaufhörlich rannen RR Schauber über den Naden herab.

Es war ſchön, zu willen, daß mit jedem Schritt, mit jedem Blit, mit jedem Gedanken Zeit verging. Denn darum handelte es ſich jetzt ganz allein: daß die Zeit verging.

Als er nach Haufe fam, fagte er zur Magd, ex wolle nichts efjen, und fperrte fich in feinem Zimmer ein. Er ftellte fih ans genen, und während ihm die Tränen über die fagte er: „Dufatus ift gelommen.“

Seine Gedanken hatten etwas von einem nächtlichen Flug wilder Vögel, Bis heute war ich Caſpar fer, dachte er, von morgen an bin ich der andre; und was bin ich Ba Geitern war ic) noch ein Schreiberlein, und morgen werd’ ich vielleicht einen blauen Mantel tragen, mit goldenen Borten verziert; auch einen Degen foll mir Dufatus bringen, lang und ſchmal und aufs echt wie ein Binjenhalm. Aber ift denn alles wahr, kann e3 denn fein? Freilich kann es fein, weil es doch fein muß.

Erſt als e3 völlig finfter war, zündete Caſpar das Licht an. Die Vehrerin ſchickte herauf und Tieß fragen, ob er nichts zu fich nehmen wolle. Er bat um ein Stüd Brot und ein Glas Milch. Dies wurde gebracht. Sodann fing er an, feine Laden außzuräumen; einen ganzen Stoß von

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acken liefen,

Toplan und Briefen warf er ins Feuer, die reibhefte und Bücher ordnete er mit peinlicher Sorgfalt. Er öffnete eine Truhe und zog unter mancherlei Kram das Holzpferbchen hervor, das ex noch von der Gefangenjchaft auf dem Veftner- turm ber beſaß. Er betrachtete e8 lange; es war weiß ladiert, mit ſchwarzen Fleden, und hatte weit, der bis auf das Brettchen fiel. 5 Röblem, dachte er, haft mich manches Sabre begleitet, was wird num aus dir? Ich wi wiederkommen und dich holen, umd einen —* Stall werd' ich dir bauen. Damit ſtellte er das sen See behutfam auf ein Ecktiſchchen neben

faglich wundernehmen, daß ein Gemüt

wie Ges feine, jo mit Ahnung begabt, fo mit Sefahrun Hy vielerlei Art gefüllt, vom erjten

jenblid der vermeintlichen Wandlung feines

ickſals in eine dermaßen blinde @läubigteit daß auch nicht ein Funke des Mißtrauens,

er Furcht oder nur des zweifelnden Staunens * N im erglomm. Ein Vorgang, fo weit außer halb de3 gebundenen Wirklichen, fo abenteuertich h en For, fo. zierdelos und fimpel,

ein Schüler, ein Kind, ein Verrücter batan nee genommen hätte, und ex, dem fo viele Menfchengefichter unvermummt oder durch Schuld entmummt gegenübergetreten waren, er, dem die Welt nichts andre3 war, als was der Schwalbe, die vom Süden kommt, das durch Bubenhände zerſtörte Net, ex exgeiff mit unerfchütterlicher Zuverficht die unbekannie Hand, die ſich aus unbefanntem Dunfel ihm entgegenjtredte, die ftarre, Talte, ftumme Hand.

Aber bei ihm war feine andre Hoffnung mehr. 528

Ober es war überhaupt von Hoffnung keine Rebe. Hier, war, das felbftverftändlich Endliche, das jenfeitig Sichere, das Ungefragte, dem un Wort der menſchlichen Sprache, ja nicht einmal ein Gebante, eine Vorftellung, eine Viſion mehr nahe- kommen konnte und das fich · ſo vorbeftimmt voll» sieht wie der Aufgang der Sonne, wenn es Tag wird. O ihr miüdgetriebenen Glieder, ihr Ketten an ben Öliedern, ihr trägen Minuten, ihr ſchweigen⸗ den Stunden! Noch prafjelt der Kalt in der Mauer, noch bellt von fern ein Hund, noch bläft der Sturm den Schnee ans Fenfter, noch kniſtert das Licht auf der Kerze, und alles dies ift voll Bos⸗ beit, weil e3 jo beftändig ſcheint, jo Tangiam gerget

Um neun Uhr begab er ſich zur Ruhe. ſchlief feſt, fpäter der Nacht hörte er ale Viertelſtundenſchläge von den Kirchen. Bisweilen richtete er ſich auf und ſchaute beflommen in die Finſternis. Dann fam ein Traum, in dem Schlaf und Wachen unmerflich ineinander flofjen. Ihm träumte nämlich, er ftehe vor dem Spiegel, und er dachte: Wie fonderbar, ich habe ein fo be- ftimmtes Gefühl von der Glätte des Spiegel» glafes, und doch träume ich nur. Er erwachte oder glaubte zu erwachen, verließ das Bett ober glaubte es zu tun, machte fi im Zimmer zu Ichaffen, Tegte fich wieder hin, ſchlief ein, erwachte abermals und grübelte: Sollte ih das mit dem Spiegel nur geträumt haben? Jetzt trat er vor den Spiegel hin, gemahrte fein umfchattetes Bild, fand etwas Fremdes daran, wovoͤr ihm graute, und bededte den Spiegel mit einem Tuch, das blau war und goldene Borten hatte. ALS er fich nun hingelegt hatte und nad) einer Weile wirklich erwachte, da erfannte er, daß alles nur ein

BWaffermann, Gafpar Haufer 34 529

Traum gemwejen war, denn der Spiegel war leineswegs verhängt.

Es war eine Nacht.

Des Morgens ging er wie gewöhnlich aufs Gericht. Er verrichtete ſeine Schreibarbeit wie mit verſchleierten Augen. Um elf Uhr klappte er das Tintenfaß zu, räumte auch hier alles faͤuber⸗ lich zuſammen und entfernte Biun

Quandt war wegen einer erkonferenz über Mittag vom Haufe fort. Caſpar ſaß mit der Frau allein bei Tiſch. Sie ſprach beftändig vom Wetter. „Der Sturm hat den Schlot auf unferm Dach) umgeriffen," erzählte fie, „und der Schneider Wüft von nebenan ift durch die herunterfallenden Ziegel ae en erſchlagen worden."

„nafpar blickte ſchweigend hinaus: er konnte

jenüberliegende Gebäude ſehen;

und nee untermiſcht wirbelten durch die verdunkelte Gaſſe.

Caſpar nur die Suppe; als das Fleiſch tam, ſtand er auf und ging in fein Zimmer,

Punkt drei Uhr Fam er wieder herunter, nur mit jeinem alten braunen Rock bekleidet und ohne Mantel.

„Wo wollen Sie denn hin, Hauſer?“ rief ihn die amt von der Küche au an.

muß beim Generalkommiſſär etwas PR u entgegnete ex zubig „Ohne Mantel? Bei der Kälte?" fragte die Frau erftaunt und trat auf die Schwelle.

Er ſah zeätreut an ſich herab, dann fagte er: „Adieu, Frau Lehrerin,“ und ging.

Bevor er die ‚gaustte ſchloß, warf er noch einen Abjchiedsblid in den Flur, auf das ge ſchweifte Geländer der Treppe, auf den alten

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braunen Schrank mit den Meffingfchnallen, der zwifchen Küchen- und Wohnzimmertür ftand, auf das Rehrichtfaß in der Ede, das mit Kartoffel- ſchalen, Käferinden, Knochen, Holzipänen und Glasſplittern angefült war, und auf die Kate, die ftetS heimlich und genäfchig hier herumfchlich. Treo des blighaft ſchnellen Anſchauens dieſer Dinge ſchien es Cafpar, al3 ob er fie nie deut licher und nie jo abjonderlich gefehen hätte.

AS die Klinke eingefehnappt war, ließ der ſchier unerträgliche Drud, der feine Bruft ver- ſchnürte, ein wenig nad), und feine Lippen ver- zogen fich zu einem fchalen Lächeln,

Dem Lehrer werd’ ich fchreiben, dachte er; ober nein, befjer ift e3, jelber zu fommen; wenn der Winter vorbei ift, werd’ ich kommen und mit dem Wagen vors Haus fahren; ich werd' e3 einrichten, daß es Nachmittag fein wird, da ift er daheim. Wenn er vors Tor tritt, werd’ ich ihm nicht die Hand reichen, ich will mich ftellen, als ob ich ein andrer wäre, in meinen ſchönen Kleidern wird er mich ja nicht erkennen, Er wird einen tiefen Bückling machen: „Wollen Euer Gnaden gnädigft eintreten?“ wird er ſprechen. Wenn wir im Zimmer find, ſtell' ich mich vor ihn hin und frage: „Erkennen Sie mich nun?" Er wird auf die Anie fallen, aber ich reiche ihm die Hand und fage: „Sehen Sie jeßt ein, daß Sie mir unrecht getan haben?“ Er wird es einjehen. „Ei,“ fag’ ich, „zeigen Sie mir doch mal Ihre Kinder und ſchicken Sie nad dem RVolizeileutnant." Den Kindern werd’ ich Gejchente bringen, und wenn dann der Polizeileutnant kommt, zu dem merd’ ich nicht reden, den werd’ ich nur anschauen, nur anſchauen ...

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Bon der Gumbertusficche ſchlug es halb vier. Es war noch viel zu früh. Auf dem unteren Markt ging Cafpar rings an den Häufern herum. Vor dem Sfarchaus blieb er eine Weile finnend ftehen. Infolge feiner inneren Hitze fpürte er die Kälte kaum. Er jah nur wenige Leute, die, wie vom Wind gepeitfcht, ſchnell vorüberhufchten.

As er ſich von der Hofapothele rechts gegen den Schloßdurchlaß wandte, ſchlug es dreiviertel. Da rief jemand; er blickte empor, der Fremde von gejtern ftand neben ihm. Er trug einen Mantel mit mehreren Kragen und darüber noch einen Pelztragen. Er verbeugte ſich und jagte ein paar höfliche Worte. Caſpar verftand ihn nicht, denn der Wind war gerade fo heftig, daß man hätte en müffen, um einander zu hören. Daher machte der Fremde bloß eine Gebärde, durch die er Caſpar bat, mit ihm gehen zu dürfen. Offenbar war er jelbjt eben im Seguift geweſen, den Ort des Stelldicheins aufzuſuchen.

Bis zum Hofgarten waren es nur noch wenige Schritte. Der Fremde öffnete das Türchen und fieß Cafpar den Vortritt. Caſpar ging voran, als ob es fo fein mäffe. Eine Miſchung von einfältiger Ergebenheit und ruhigem Stolz zeigte ſich in feinem Geficht, um mit jonderbarer Raſch— heit einem Ausdrud des Grauens Plaß zu machen, denn der Augenblick war zu ſtark, er konnte feine Wucht nicht ertragen. In dem Zeitraum, den er brauchte, um von dem Pförtchen über den dichtbefchneiten Orangerieplag zu den Bäumen der erften Allee zu gehen, durchlebte er in feinem Innern eine Reihe gänzlich unzufammenhängender Szenen aus ferner Vergangenheit, eine Er— ſcheinung, die von Seelenforjchern auf biejelbe 532

Wurzel zurüctgeführt werben Tann wie etwa bie, ein von einem Turm Fallender während der Zeit des Sturzes fein ganzes Dafein an fich vorübergleiten jieht. Er erblidte zum Beifpiel die Amfel, die mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Tiſch lag; dann fah er mit ungemeiner Deutlichleit den Waſſerkrug, aus dem er in feinem Kerker getrunken; dann ah ex eine ſchöne goldene Kette, die ihm der Lord aus feinen Schäßen ge- zeigt, womit die angenehme Empfindung ver- bunden war, die ihm Stanhopes weiße, feine San erregte; ferner fah er fich im Saal ber

ienberger Burg, wohin Daumer ihn geführt, und feine Auge weilte auf der fanften Linie einer gotifchen Fenſterwölbung mit einem Ent- zücken, das er damals ficherlich nicht verſpürt hatte.

Sie kamen zum Kreuzweg, da eilte der Fremde voraus und gab mit erhobenem Arm irgendein Zeichen. Gahpar gewahrte hinter dem Gebüfch noch zwei andre Perfonen, deren Ge— fichter durch die aufgeftellten Mantelkragen völlig verhüllt waren.

Wer find diefe?" fragte er und zauberte, weil er annahm, Hier ſei der verabredete Platz.

Mit den Blicken fuchte er den Wagen. Das Schneegeftöber erlaubte jedoch nicht weiter als zehn Ellen zu fehen. .

„Wo ift der Wagen?“ fragte er. Da ber Fremde auf beide Fragen nicht antwortete, ſchaute er ratlos gegen die zwei hinter dem Gebüfch. Diefe näherten fich oder es ſchien wenigſtens fo. Sie riefen dem Vlatternarbigen etwas zu, exit der eine, dann ber andre. Darauf entfernten fie ſich wieder und ftanden dann auf der andern Seite des Wegs.

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Der Fremde drehte fih um, geiff in die Tafche feines Mantel3, brachte ein lilafarbenes Beutelchen zum Vorjchein und fagte mit heiferer Stimme: „Oeffnen Sie es; Sie werden darin das Zeichen finden, das ung Ihre Mutter übergab.“

Cafpar nahm das Beutelchen entgegen. Während er fih bemühte, die Schnur zu ent- Inüpfen, durch die es zugebunden war, hob der Fremde einen langen, bligenden Gegenſtand in der Fauft und jchnellte mit dem Arm gegen Caſpars Bruft.

Was ift das? dachte Caſpar beftärzt. Er fühlte etwas Eiskaltes tief in fein Fleifch glitſchen. Ad Gott, das ſticht ja, dachte er und wankte dabei. Den Beutel ließ er fallen.

O ungeheuer, ungeheurer Schreden! Er geiff nad einem der Baumftämmchen und ver- ſuchte zu fchreien, aber es ging nicht. Auf.einmal brach er in die Knie. Bor feinen Augen wurde es ſchwarz. Er wollte den Fremden bitten, daß er ihm helfe, doch die Füße des Mannes, die er noch eine Sekunde zuvor gefehen, waren ver- ſchwunden. Die Schwärze vor den Augen wich wieder; er ſah fih um; niemand war mehr da; us die beiden hinter dem Gebüfch waren nicht mehr da.

Er kroch nun auf allen vieren ein wenig am Gebüfch entlang und ſenkte den Kopf herunter, um fein Geficht vor dem nafjen Schneejtaub zu ſchützen, den ihm der Wind entgegenjprigte. Ex machte ein paar Bewegungen mit dem Körper, als ſuche er in der Erde eine Höhlung zum Hineinſchlüpfen, konnte dann nicht weiter und blieb figen. Ihm ſchien, als viefle etwas im Innern feines Leibes. Es fror ihn jest erbärmlich.

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Möcht’ fehen, was in dem Beutel ift, dachte er, mährend feine Zähne Happerten. O uns Ehe su Schreden, der ihn abbielt, no jener

telle zu blicken, mo der Fremde geftanden.

Wenn id nur ein Wort wüßte, durch das mir leichter würde, dachte er, wie einer, ber fich durch Bauberformein zu fügen wähnt. Und er fagte zweimal: „Dufatus"

Welches Wunder, plöglich ward ihm leicht. Er glaubte aufftehen und nach Haufe gehen zu können. Er erhob fih. Er jah, daß er gehen konnte. Nachdem er einige taumelnde Schritte gemacht, fing er an zu laufen. Ihm war, als ob fein Körper ahne Schwere fei, ihm war, als fliege er. Er lief, lief, lief. Bis zum Tor des Gartens; über den Schloßplat; über den Markt an der Ricche vorbei; bis yum um Kronacher Bud, Hr ef den Flur des Quandtſchen Haufes; lief, lief, Tief.

In Schweiß, jebabet, ſtürzte er in ben Flur.

. Weiter ging's nicht mehr; keuchend lehnte er fich an die Wand. Die Magb gewahrte ihn zuerft. Ueber fein Ausfehen entjebt, gab fie einen gellen- den Schrei von fi. Da kam Quandt aus der Stube; feine Frau folgte ihm.

Cafpar ſtarrte ihnen entgegen, ſprach aber nichts, jondeen deutete bloß auf feine Bruft.

uns ift gefchehen?“ fragte Quandt rauh

Zharen ogtechen ftammelte Caſpar. Und Quandt? Wir fehen ihn fehmungeln. Nichts andres: wir km, ihn ſchmunzeln. Und wenn Jahrhunderte, feierlich in Purpur angetan wie Gottes Engel, auf uns zutreten und uns beſchwören, die Tatjachen nicht zu verzerren, fo 585

und

ift nichts andres zu erwidern, als daß Quandt fhmungelte, feltfam ſchmunzelte. „Wo find Sie denn geftochen, mein Lieber?" fragte er gebehnt.

Wieder deutete Caſpar auf feine Bruft. .

Quandt Inöpfte ihm Rod, Weite und Hemd auf, um die Wunde anzufcauen, Richtig, da mar ein Stich, nicht größer als eine Aber nicht die geringe Spur von Blut war zu bemerken. Eine Wunde ohne Blut, das gibt es nicht; das ift wie eine Behauptung ohne Beweiß.

„Alfo geftochen,“ ſagte Quandt. „So lafjen Sie und fofort umkehren und zeigen Sie mir den Play im Hofgarten, wo das paifiert fein fol,“ fügte ex energisch hinzu. „Was haben Ste denn zu diefer Stunde und bei folchem Wetter im Hofgarten zu tun gehabt? Marſch, kommen Sie! Die Sache muß unverzüglich aufgeklärt werden.“

Caſpar widerſprach nicht. Er jchleppte ſich au des Lehrer Seite wieder auf die Galle. Quandt A. ihn unter, wie ein Krüppel jchlich Caſpar dahin.

Nach langem Schweigen fagte Duandt in ver- biffenem Ton: „Diesmal haben Sie Ihren dümm⸗ ften Streich gemacht, Haufer. Diesmal wird es feinen fo guten Ausgang nehmen wie beim Pro- feſſor Daumer, das kann ich Ihnen ſchriftlich

afvar blieb ftehen, warf einen jchnellen Blick gen und ſagte: „Gott wiſſen.“

„Machen, Sie nur keine Faren,“ zeterte Quandt, „ich weiß, was ich weiß. Wenn Sie ſich auch noch ſo ſehr auf Gott berufen, damit haben Sie bei mir fein Glück, denn Sie find 530

ein gottlofer Menſch von Grund auf. Ich kann onen nur raten, fpielen Sie nicht länger die Stumme von Portici umd geftehen Sie lieber gleich. Ein wenig bange magen wollen Sie ung, die Leute wollen Sie durcheinander heben. Ge: ftohen? Wer foll Sie denn geftochen haben? Vielleicht um Ihnen Ihre jämmerlihen paar Moneten aus der Tajche zu ziehen? So ein Unfinn! Gehen Sie ‚nicht jo langſam, Haufer, meine Zeit ift knapp.“ „Den Beutel will ich holen,“ ftammelte Safpar leiſe.

Was denn für einen Beutel?“

„Der Mann mir gegeben.“

„as für ein Mann ?*

‚Der mich geftochen." "Aber nen, Haufer, es ift ja himmel- Kl ilden "Sie In denn ein, daß ich an iejen Mann nur im entfernteften glaul ? & wie an den fchmarzen Peter. Bilden Sie Fr enn ein, daß ich über den wahren Täter einen Augenblick im Zweifel bin? Geftehen Sie's doch! Geftehen Sie, daß Sie Al jelber an bißchen geſtochen haben. Ich will über bie Sache noch einmal fehweigen, ich will Gnade für Recht ergehen laſſen.“

Cafpar meinte.

Dicht vor dem Hofgarten brach er plötzlich äufammen. Quandt mar verwirtt. Es kamen einige Männer des Weges, diefe bat er, daß fie den Züngling nad) Haufe führen möchten, er jelbit wolle zur Polizei. Die Männer mußten erſt ge⸗ raume Weile warten, bis ſich Caſpar ein wenig erholt hatte; auch dann hielt es ſchwer, ihn zum Gehen zu bewegen.

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Es wurde fpäter von den Aerzten als eine Unbegreiffichfeit bezeichnet, daß Caſpar mit der furchtbaren Deiesung in der Bruft imftande jerwejen war, den Weg vom Hofgarten. zum

hrerhaus, hernach vom Lehrerhaus zum Schloß- platz und endlih vom Schloßplat wieder nach Haufe zurüdzulegen, das erftemal laufend, das zweitemal am Arme Quandts, da3 drittemal von den Männern halb gezogen, im ganzen über ſechzehnhundert Schritte.

As Quandt den Weg nach dem Rathaus einfchlug, war es finfter geworden. Der bienjt- tuende Offiziant erflärte, daß ohne fpeziellen Auftrag des Bürgermeifters, der im Babe jei, die Anzeige nicht protofolliert werden dürfe. Der Lehrer ſchwatzte noch eine Weile mit ihm, dann begab er fi unmillig und verdrofien in die eine Viertelftunde vor der Stadt gelegene Rlein- ſchrottſche Badewirtſchaft, wo ber Dürgermeifter im Kreis feiner Vertrauten beim Bier faß. Quandt trug den Fall vor. Man jtaunte, zweifelte,

lädierte, bejtieg den Amtsfchimmel und geftattete ierauf die förmliche Proiokollaufnahme. Um ſechs Uhr wurde das interefjante Alienprodukt ei Zaternen- und Kerzenjchein dem Stadtgericht zur weiteren Unterſuchung übergeben.

Quandt kehrte nach Haufe zurüd. Auf der Gaſſe vor feiner Wohnung fand er viele Menjchen, und zwar waren e3 Perjonen jeglichen Standes, die dem Unmetter zum Trotz gekommen maren und in einem Schweigen verharrten, das den Lehrer ſtutzig machte. Er ging fogleih in das Bimmer Caſpars, der zu Bett gebracht worben war. Der Doktor Horlacher mar zugegen. Er hatte die Wunde ſchon unterfucht,

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„Wie ſteht's?“ fragte Quandt.

Der Doktor antwortete, e3 ſei fein Grund zu ernfter Beſorgnis vorhanden,

„Das dacht’ ich mir," verfegte Quandt.

Jetzt erichien der Hofrat. Hofmann. Ein Volizeifoldat hatte ihm unten den Tilafarbenen Beutel übergeben, der an der Unglüdsftätte ge- funden worden war.

„Kennen Sie diefen Beutel?" fragte der Hofrat.

Mit fieberglänzenden Augen blidte Caſpar auf den Beutel, den der Hofrat öffnete. Es lag ein Zettel darin, der, fo fchien es zunächit, mit Hieroglyphen bedeckt war.

Die Lehrerin, die dabeijtand, fchüttelte den Kopf. Sie zog ihren Mann beifeite und fagte zu ihm: „Es 4 doch eigen; genau ſo legt der

auſer immer feine Briefe zuſammen, wie das sapier im Beutel zufammengefaltet war.”

Quandt nidte und trat an die Seite des Hofrats, der den Zettel erft prüfend betrachtete "und dann einen Handſpiegel verlangte. cken ift wohl Spiegelichrift," ſagte Quandt ächelnd. da," erwiderte der Hofrat; „eine ſonderbare

Er ftellte Schrift und Spiegel einander gegen- über und las vor: „Safpar Haufer wird Euch genau erzählen können, wie ich ausfehe und wer ich bin. Dem Haufer die Mühe zu Sparen, denn er könnte ſchweigen müffen, will ich aber jelber jagen, woher ich komme. Ich komme von der bayriſchen Grenze am Fluß. Ich will Euch fogar meinen Namen verraten: M.L. O.“

„Das Mingt ja geradezu höhnifch,“ fagte der Hofrat nad} einem verwunderten Schweigen.

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Quandt nidte erbittert vor ſich hin.

Als Caſpar die vorgelefenen Worte ver- nommen hatte, fiel fein Kopf ſchwer in das Kiffen und eine grenzenlofe Verzweiflung malte fich in feinen Zügen. Es ſchloß ſich fein Mund mit einem Ausdrud, al wolle er von nun an nie mehr reden. Und daß er hätte reden können, womit diefer M. L. O. offenbar, nicht gerechnet hatte, empfanb er bis in das Fieber hinein als eine Art ſchmerzlichen Triumphes.

Quandt, den Zettel, den ihm ber Hofrat ge= jeben, zwifchen den Händen, wanderte aufgeregt in und her. „Das find fchöne Streiche,” rief

er aus, „Ichöne Streiche! Sie halten das Mitleid Ihres Jahrhunderts zum beften, Haufer. Sie ver- dienen eine Tracht Prügel, das verdienen Sie."

Der Hofrat runzelte die Stirn. „Gemadh, Herr Lehrer; laſſen Sie das doch!" fagte er mit ungewöhnlich ernftem Ton. Bevor er fich ver- abichiedete, verſprach er, am nächften Morgen den Kreisphyſikus zu ſchicken, woraus erfichtlih war, daß auch er an keine unmittelbare Gefahr dachte.

Indes kam der Kreisphyfifus, von Frau von Imhoff dazu bewogen, noch am ſelben Abend. Es war der Medizinalcat Doktor Albert. Er unterfuchte Caſpar mit großer Sorgfalt; als er fertig war, machte er ein bedenkliches Geficht. Quandt, feltfam gereizt dadurch, fagte faft heraus- fordernd: „Es fließt ja gar fein Blut aus der

Senftei das d [die mög- hr af Herz und empfahl die mög. 540

Quandt griff ſich an die Stirn. „Wie," fagte er zu jeiner Frau, „ſollte ſich der Burſche in feinem Leichtfinn doch ernftlichen Schaden zu- gefügt haben?"

gie Lehrerin ſchwieg.

„Ich bezweifle es, ich muß es bezweifeln,” fuhr Quandt fort. „Sie doch felbft, der fonft jo wehleidige Wienſch klagt ja mit keiner Silbe über Schmerzen.“

„Ex antwortet auch nichts, wenn man ihn fragt, fügte die Frau hinzu.

Um neun Uhr fing Caſpar an zu delitieren. —* war eniſchloſſen, an das Delirium nicht

lauben. Als Cajpar aus dem Bett fpri en

Sole, ſchrie er ihn an: „Machen Sie nicht fo wiberlichen Umftände, Haufer! Gehen Sie Khteunig in u Bett zurück.“

Pfarıze Fuhrmann trat gerade in das Simmerv hörte dies. „Aber Ouandt! Quandt!" ſagte er entfegt. „Ein wenig Milde, Quandt, im Namen unfrer Religion.”

„D," verfegte Quandt kopfſchüttelnd, „Milde iſt hier fchlecht angebracht. In Nürnberg, wo er doch auch fo eine vermorfene Komödie auf

jeführt ‚hat, gebärdete er fich genau fo, und ich habe mir fagen lafjen müſſen, daß er dabei von zwei Männern ift gehalten worden, Was mid) bes teifft, ich laſſe mir fo ein Schaufpiel nicht bieten.“

Frau von Imhoff hatte eine Pflegerin vom Krankenhaus geſchickt, die über Nacht an Caſpars Lager wachte. Er ſchlummerte zwei bis drei Stunden.

Schon früh am Morgen erjchien eine Gerichts» fommiffton. Cafpar war bei klarem Bemußtfein. Vom Unterfuhungsrichter aufgefordert, erzählte

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Brunnen in den Hofgarten beftellt.

„gu welchem Zweck beftellt ?"

„Das weiß ich nicht."

„Er hat darüber gar nichts gejagt?"

„Doch; er hat gejagt, man Fönnte die Ton- arten des Brunnens bejichtigen."

„Und daraufhin find Sie ihm ſchon gefolgt? Wie jah er aus?"

Caſpar gab eine kurze, abgerifen elallte Beſchreibung und der Art, wie ihn ‚ende gejtochen. Sonft war nichts aus ihm heraus- zubringen. \

ev, ein fremder Ei babe ihn zum arteſiſchen

€3 wurde nach Zeugen gefahndet. Es ftellten fih Zeugen. Zu fpät für die Verfolgung des Täter. Schon die erfte Anzeige war, durch die Mitfhuld Quandts, unverantwortlich verzögert worden. Als man die am Ort des Verbrechens befindlichen Blutfpuren unterfuchen wollte, ergab es fih, daß inzwifchen fchon zuviele Menſchen dageweſen waren und den Schnee zertreten hatten. Aus einem fo wichtigen Umftand Nuten zu ziehen mußte alſo von vornherein verzichtet werden.

Zeugen fanden fi genug. Die Zirkelwirtin in der Rofengaffe befundete, gegen zwei Uhr fei ein Mann in ihr Haus gekommen, den fie nie zuvor gejehen, und habe gefragt, wann eine Retour nad Nördlingen gehe. Der Mann war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt geweſen, von mittlerer Größe, bräunlicher Hautfarbe und mit Blatter- narben im Geficht.

Er habe einen blauen Mantel mit Pelzkragen,

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einen runden ſchwarzen Hut, grüne Pantalons und Stiefel mit gelben Schraubiporen getragen. In der Hand hielt er eine Neitgerte. Er habe nur fünf Minuten geweilt unb ganz mwenig ge- m en; auffallend ſei es geweſen, daß er nicht jagen gewollt, wo er logierle.

So beichrieb auch der Afjefjor Donner einen Mann, den er um drei Uhr im Hofgarten neben der Lindenallee gejehen, und zwar in Gefellichaft von zwei andern Männern, die der Affefjor je: doch nicht betrachtet hatte.

Ein Spiegelarbeiter namens Leich ging ein paar Minuten vor vier Uhr von feiner Wohnun; auf dem neuen Weg durch die Poftftraße auf die Promenade und von da über den Schloß- platz. Er ſah vom Schloß ber zwei Männer über die Gafje fchreiten und, die Reitbahn zur Linken laſſend, zum Hofgarten gehen. Er erkannte in, dem einen von ihnen Cafpar Haufer. Als die beiden zum Laternenpfahl am Et der Reitbahn Tamen, wandte fih Caſpar Haufer um und blidte den Schloßplag hinauf, fo daß ihn der Be— obachter noch einmal und genau hatte fehen Tönnen. Bei den Schranken blieb der Fremde keben, um Haufer mit böflicher Gebärde den

ortritt zu lafjen. Der Arbeiter dachte für fich: wie doch die Herren bei folhem Sturm und Schnee fpazierengehen mögen.

„Drei Viertelftunden fpäter,“ erzählte der Mann, „als ich von einer Beſorgung beim Büttner Pfaffenberger zurückkam, ftanden auf dem Schloßplatz viele Leute, die jammerten und fagten, der. Haufer ſei im Hof Igarten exftochen worden.“

Und weiter. Ein Gärtnergehilfe, der in ber Orangerie befchäftigt ift, hört gegen vier Uhr

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Stimmen. Er blidt zum Fenſter Hinaus und ieht einen Mann im Mantel vorüberlaufen. Der ann läuft einen guten Trab. Die Stimmen find etwa einen Büchſenſchuß weit vom Drangerie- Ya entfernt pewdien, nicht fo weit, wie das ſche Dentmal tft. Es waren Wweierlei Stimmen, eine Baß⸗ und eine helle Stimme.

Neben der Weidenmühle wohnt eine Näherin. Ihr Fenſter geht auf den Hofgarten; fie fieht bis in die zwei gegen den hölzernen Tempel zu führenden Allen. Bei beginnender Dämmerung jerwahrt fie den Mann im Mantel; er tritt aus dem neuen Gittertor gm fteigt am Abhang der Nezatwiefe hinab. Er ftußt, als er vor dem hochgeſchwollenen Waffer fteht. Ex kehrt um und wendet fich gegen die Stäffelhen an der Mühle, geht über den Steg auf der Eiberftraße und verfchwindet. Die Frau hat von feinem Geficht nur einen fchräglaufenden ſchwarzen Bart wahr- nehmen können.

Es meldet fich auch der Schreiber Dillmann u einer Ausfage. Die unverbrüchliche Gewohn⸗ beit de3 alten Kanzliften ift e8, jeden Nachmittag, wie das Wetter auch befchaffen it, zwei Stunden lang im Hofgarten zu promenieren. Er bat Caſpar und den Fremden gefehen. Ex verfichert aber, nicht vorangegangen ſei Cafpar bem den, fondern hintennach fei er gegangen. it ihm efolgt, wie das Lamm dem enger ur zur

chlachtbank folgt," ſagt er.

Zu ſpät. Zu ſpät der Eifer. Zu ſpät die erlaffenen Stedbriefe und Streifzüge der Gen- darmerie. Es konnte nicht mehr fruchten, daß man fogar den Rezatitrom aus feinem Bett leitete, um vielleicht da8 Mordinftrument zu entdeden, 54

das der Unbefannte bei feiner Flucht von fich geworfen haben mochte. Was lag an diefem Dolch?

Was lag an den Zeugen? Was lag an den Verhören? Was lag an den Indizien, womit eine haumfefige Juſtiz ihre Anfebigtet prableeiich verbrämte? Es wurde gejagt, daß die Nach: forfhungen planlos und kopflos betrieben wurden. &3 wurde gejagt, eine geheimnisvolle Hand fei im Spiel, deren Machenfchaften darin gipfelten, die wahren Spuren allmähli und mit Abficht u vermischen und die Aufmerkſamkeit der Be— örde ivrezuleiten. Wer es jagt, konnte natür- lich nicht erkundet werden, Denn die öffentliche Meinung, ein Ding, ebenfo feig wie umgeeifbar, oralelt nur aus ficheren Hinterhalten. Und fie ſchwieg gar bald file hier, wo Verleumdung, Bosheit, Lüge, Dummheit und Heuchelei ſchönes Menſchenbild wie zwiſchen Mühlrädern zermalmten, bis daß nichts mehr übrigblieb als ein ärmliches Märchen, wovon ſich das Volt diefer Gegenden an rauhen Winterabenden vor dem Ofen unterhält.

Am Sonntag nachmittag traf Quandt den

jungen Feuerbach, den Bhilofophen, auf der Straße. „Wie geht’3 dem Haufer?” fragte der den ver.

„Ei, er ift ganz außer Gefahr; dank’ der Nachfrage, Herr Doktor," antwortete Duandt gchämänig; „Die Gelbfucht ift eingetreten, aber as fol ja die gemöhnliche Folge einer heftigen Erregung fein. Ich bin Abergeugt, dag er in ein paar Tagen das Bett wird verlafjen können.“

Baffermann, Gafpar Haufer 35 545

Sie fprachen noch eine Weile von andern Dingen, berg um Si) von der neuerdings zwiſchen rth geplanten Dampfichienen- Prag ein Unternehmen, gegen das Quandt eine janze Kanonade von Pl ſis auffahren Lie, dann Derabfiiebete er e ich von dem ftillen jungen Mann mit der Dankbarkeit eines beklatfchten Redners und eilte, Seftänbig vor fih —e nach Haufe. Er war in einer höchſt auserfiche lichen Stimmung, einer Stimmung, in bereit ift, feinen ärgiten Feinden ac to pr eihen zu laſſen. Warum, das mochten die ötter wiſſen. War der jchöne Tag daran ſchuld? Man darf nicht vergefien, daß in Quandt 33 eine Art von Poet ſteckte; oder war es die Nähe des Weihnachtsfeſtes, das jedem guten Chriſtenmenſchen gleichſam eine Erneuerung feiner Seele verjpriht? Oder war e8 am Ende ber Umftand, daß gegenwärtig fo viele vornehme und ausgezeichnete Gelonen fe fein. beſcheidenes Heim aufjuchten und daß er inmitten dieſes bejcheidenen Heims eine Stellung von ungeahnter Wichtigkeit innehatte? Genug, wie dem auch fein mochte, er war mit ſich zufrieden, ii ftammte jein Lächeln aus der lauterften Duelle. Vor feiner Wohnung traf er auf den gpoligei leutnant. „Ab, vom Urlaub zurüd?" bi er ihn mit gedankenlofer Freundlichkeit, Gfei darauf fagte er fh: mit dem habe ich ja no ein Hühnchen zu en. idel drüdte die Augen zufammen und ſah aus, als ob er lachen wollte. Sie gingen miteinander hinauf. Cafpar ſaß mit nacktem Oberleib im Bette, gegen anfgetüumte Kiffen gelehnt, ſtarr wie eine 546

Figur aus Lehm, das Geficht grau wie Vims⸗ jtein, die Haut des Rörpes graben weiß wie eine Magnefiumflamme. edizinalrat hatte fo- eben den Verband abgenommen und wuſch die Wunde. Außerdem war noch ein Kommiljtons- altuar zugegen. Diefer hatte am Tiſch Platz genommen; ein Protofollformular lag bei ihm, auf dem die lafonifchen Worte ftanden: „Der Damnifitat verbleibt bei feinen bisherigen De pofitionen.“ Ueber einen eingefangenen Straßen» räuber hätte man fich nicht beffer und nieblicher _ ausdrücen können.

Raum hatte Caſpar den eintretenden Hidel geroabrt, als er den wie einen gebrochenen Blumen» elch feitwärts gefenkten Kopf aufrichtete und mit weitgeöffneten Augen, in denen ein ganz un» fäglicher Schreden lag, dem Ankömmling ins Geficht ftarrte.

Ohne zu Iren, erhob Hickel drohend den Zeigefinger. Diefe Gebärde ſchien den Schreden Caſpars aufs äußerfte zu treiben; er faltete die

ände und murmelte ächzend: „Nicht nahe ommen! Ich Hab’ ja doch nicht jelber getan.”

„Aber Haufer! Was fällt Ihnen denn ein!" tief Hickel mit einer Luftigfeit, die man etwa im Wirtshaus zur Schau trägt, und feine gelben Zähne blinkten zwiſchen den vollen Lippen; „ich hab’ Ihnen ja mur gedroht, weil Sie ohne Er- laubnis in den Hofgarten gegangen find. Wollen Sie das vielleicht auch leugnen ?"

„Keine Auseinanberjegungen, wenn ich bitten darf," mahnte der Medizinalrat unwillig. Er hatte den Verband erneuert, zog nun den Lehrer eifeite und fagte leife und ermft: „Ich kann

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Ihnen nicht verhehlen, daß Haufer wahrſcheinlich die Nacht nicht überleben A

Dffenen Mundes ftierte Quandt den Arzt an. Seine Knie wurden weich wie Butter. „Wie? Was?" hauchte er, „iſt's möglich?" Er fchaute alle Anweſenden ber Reihe Bun kangfam an, wobei jein Geficht dem eines Menfchen glich, der fich joeben behaglich zum Eſſen ken wollte und dem plötzlich Schüfjel, Teller, Mefjer und Gabel, ja ber ganze Tiſch weggezaubert wird.

„Kommen Sie mit mir, Herr Lehrer,“ fagte mit heiferer Stimme Hickel, der am Ofen ſtand und mit finnlofer Gefchäftigfeit feine Hände an den Kacheln vieb.

Quandt nickte und fehritt mechanifch voraus.

„Iſt's möglich!" murmelte er wieder, als er a der Stiege ftand. „Iſt's möglich!" Hilfe uchend blickte er den Polizeileutnant an. „Ach,“

ihr er elegifch fort, „wir Haben doch unfer redlich Teil getan. An treuer Fürforge haben wirs wahrlig, nicht fehlen laſſen.“

„Laffen Sie doch die Flaufen, Quandt,“ ant- mwortete der Polizeileutnant grob. „Sagen Sie mir lieber, was hat denn der Haufer alles ge- tedet in feinem Wahn?"

„Unfinn, lauter Unfinn,“ verſetzte Quandt bekümmert.

„Achtung, Herr Lehrer, da ſehen Sie mal rief Hickel, indem er ſich über das

eländer beugte.

„Was denn?“ gab Quandt erſchrocken zurück, „ich ſehe nichts."

„Ste jehen nicht8? Pob Kübel, ich auch nicht. Es fcheint, wir fehen beide nichts." Ex lachte munderlich, richtete fich wieder kerzengerade auf 548

und hüftelte trocken. Dann ging er, indes Quandt ihm nicht wenig betroffen nachguckte.

Wohin fol e8 auch kommen mit der Welt, wenn Leute wie Hickel unter die Gefpenfterjeher geraten? Auf ihren robuften Schultern ruhen die Fundamente der Ordnung, des Gehorfams und aller ftaatlich anerfannten Tugenden. Mag & auch in diefem befonderen Fall & beichaffen

eweſen fein, daß die Ausgeburt rühmensmwerter Intertaneneigenfchaften dennoch einer Negung böfen Gewiſſens anheimfiel, nun, dann muß er- Härt werden, daß diejes böfe Gewiffen mit einem martialifchen Ausfehen gefegnet war, daß es zu allen Mahlzeiten einen beneidenswerten Appetit entwidelte und daß es das fanftejte en für einen unvergleichlich gefunden Schlaf war, der duch feine Feuerglode und fein Tedeum hätte geftört werben können.

Zimmer Caſpars hatte der Kommiffions« aktuar neuerdings ein Verhör begonnen. Gafpar follte jagen, ob noch ein Dritter zugegen geweſen jei, während er im Appellgericht mit dem fremden _ Mann gejprochen.

Caſpar antwortete matt, er habe niemand bemerkt, nur vor dem Tor feien Leute geweſen. „Arme Leute pafjen mir immer dort auf," fagte er, „zum Beifpiel eine gewiſſe Feigelein, der hab’ ich manchmal einen Kreuzer gegeben, auch. die Tuchmacherswitwe Weigel."

Der Altuar wollte weiterfragen, doch Caſpar lifpelte: „Müde recht müde.“

„Wie ift Ihnen, Hauſer?“ erfundigte ſich die

ärterin.

„Müde,“ wiederholte er; „werd' jest bald weggehen von diefer Laftermelt."

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Eine Weile jhrie und redete er für fich Hin, hernach wurde er wieder ganz ſtille.

Er ſah ein Licht, das langſam erloſch. Er vernahm Töne, die aus dem Innern feines Ohrs zu dringen ſchienen; e8 lang, wie wenn man mit einem Hammer auf eine Metallglode haut. Er erblickt eine weite, einfame, dämmernde Ebene. Eine menſchliche Geftalt rennt ſchnell darüber hin. O Gott, es ift Schilöfnecht. as läufit du fo, Schildknecht? ruft er ihm zu. Hab’ Eile, große Eile, antwortet jener. Auf einmal_jchrumpft Schildknecht zuſammen, bis er eine Spinne ift, die an einem glühenden Faden zum Aſt eines tiefengroßen Baumes emporklimmt. Tränen des Grauens wie Regen aus Gafpar Augen.

Er fah ein ſeltſames Gebäude; es glich einer Toloffalen Kuppel; es hatte fein Tor, feine Tür, fein Fenſter. Aber Cafpar konnte fliegen, flog hinauf und ſchaute durch eine kreisrunde Deff- nung in das innere, dad von himmelblauer Luft erfüllt war. Auf himmelblauen Marmorfliefen ftand eine Frau. Vor diefe trat ein Menich, faum deutlicher zu jehen als ein Schatten, und er teilte ihr mit, daß Cafpar geftorben fei. Die Frau hob die Arme und fchrie vor Schmerz, daß die Wölbung erzitterte. Da klaffte der Boden auseinander und es fam ein langer Zug von Menichen, die alle weinten. Und Galpar ſah, daß ihre Herzen zitterten und zuckten wie lebendige Fiſche in der Hand des Fiſchers. Und einer trat heraus, der gerüftet war und ein Schwert trug, der ſprach ungeheure Worte, aus denen fich das ganze Geheimnis enthüllte. Und alle, die zuhörten, preßten die Hände gegen die Ohren, jchloffen die Augen und ftürzten vor Kummer zu Boden. 550

Dann war alles verwandelt. Cafpar fpürte fs vol von wunderbaren Kräften. Ex jpürte ie Metalle in der Exde, von tief unten zogen fie ihn an, und die Steine fpürte er, die Adern von Erz hatten. Dazwiſchen ruhte vielfältiger Samen, und er brach auf, und die Würzlein füofien und bebend hoben fich die Gräfer. Aus em Boden fprangen Quellen hoch empor wie Fontänen und auf Yen Spitzen leuchtete die will- ommene Sonne. Und inmitten des Weltalls ftand ein Baum mit weitem Gipfel und unzähligen Veräftelungen; rote Beeren wuchſen aus den Queigen, und auf der Krone oben bilbeten die eeren die Form eines Herzens. Innen im Stamm floß Blut, und wo die Rinde Keaen war,

ſickerten fhroägticheote Tropfen hindurch. Mitten in diefem Wogen verzweiflungsvoller Bilder und krankhafter Entzüdungen war es Cafpar, als ob ihn jemand in einen Raum trüge, wo feine Luft zum Atmen mehr war. Da half kein Sträuben und Sihbäumen, es trug ihn hin und ein kühler Wind wehte über fein Haar, feine Finger krümmten ſich, als fuche er fich irgendwo zu halten. Es war eine namenlofe Erſchoͤpfung, von welcher der vergebliche Kamp begleitet war. Auf der Straße fuhr der Nürnberger Poſt⸗ wagen vorbei, und der Poſtillon blies ins Horn. Es Tamen bis zum Abend viele Leute, um nad Kar Befinden zu fragen. Frau von

Imhoff blieb lange an feinem Bett figen. Um acht Uhr ſchickte die Pflegerin zum Pfarrer uhrmann, der mit größter Schneli, keit eintraf. legte Caſpar die Hand auf die Stirn. Mit angftvoll grchen Augen ſchaute fih Cafpar um; feine Schultern zitterten. Er machte mit dem 551

igefinger auf dem Deckbett Bewegungen, als mol m e —X Das dauerte jedoch nicht

iange haben mir einmal geſagt, lieber Hauſer, daß Sie auf Gott vertrauen und mit ſeiner Sende jeden Kampf kämpfen wollen," fagte der

Weiß es nicht," flüfterte Caſpar. „Haben Sie denn heute ſchon zu Gott & betet und ihn um feinen Beiltand angerufen?“ Caſpar nicte. „And wie ift Ihnen barauf, gemwejen? Haben Sie ſich nicht geftärkt gefühlt?" hr: [par ſchwieg. sollen Sie nicht wieder beten?“ re; vergehen mir gleich die Gedanken." Und nach einer Weile fagte er wie ie fich, fekfem leiernd: „Das ermüdete Haupt ittet um Aube.”

„So will ich ein Gebet fpreden,“ fuhr der Pfarrer ‚fort, „beten Sie im ftillen mit. Vater, nicht mein —"

„Sondern dein Wille geſchehe,“ vollendete Caſpar hauchend.

„Wer bat jo gebetet?"

„Der Heiland."

„Und wann?“

"Bor feinem Sterben." Bei diefem Wort fteäubte fich fein Körper empor und über fein Sen t ging ein höchſt qualvolles Buden. Er

knirſchte mit den Zähnen und fehrie breimal gellend: „Wo bin ich denn?"

„Aber, Haufer, in Ihrem Bett find Gie," berubigte ihn Quandt. „Es kommt ja bei Kranken öfter vor, daß fie fich an einem andern Ort zu 662

befinden wähnen," wandte er ſich erflärend an den Pfarrer Fuhrmann.

„Geben Sie ihm zu trinken,“ fagte dieſer.

ze Lehrerin Grade ein Glas files Waſſer.

Als Caſpar getrunken hatte, wiſchte Ir Quandt den kalten Schweiß von der Stirn. felber bebte an allen Gliedern. Er beu— je Mi über den Jüngling und fragte dringend, beihmörend: „Haufer! Haufer! Haben Si mi mic mehr zu jagen? Sehen Sie mich einmal fo

t aufrichtig an, Haufer! Haben Sie mir

ichts 18 mehr zu beichten 2"

Da padte Cam in böcfer Herzensnot die Hand des Lehrers. „Ad Gott, ach Gott, fo al kratzen müffen mit ‚Shimpf und Schande!" ſtieß er jamı

Das waren ſeine Testen Worte. Ex tel nie ſich ein menig auf die rechte Seite und drehte das Gefiht zur and. Jedes Glied feines Körpers ſtarb einzeln ab.

Zwei Tage fpäter wurde er begraben. Es war nachmittag und der Himmel von molten- lofer Bläue. Die ganze Stadt war in Bewegung. Ein berühmter Beitgenoffe, der Gafpar Haufer das Kind von Europa nennt, erh It, es ſei zu der Stunde Mond und Sonne u eher Zeit am Firmament 1 geftanben, jener im Often, diefe im Weiten, und beide Geftirne hätten im jelben fahlen Glanz geleuchtet.

Etwa anderthalb Wochen fpäter, drei Tage nad Weihnachten, es war Abend und Quandt und feine Frau wollten ſich eben zu Bett bes geben, erſchallten ſtarke Schläge gegen das Haus-

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tor. Sehr erfchroden, zögerte Quandt eine Weile; erſt als fich die Schläge wiederholten, nahm er das Licht und ging, um zu öffnen.

Draußen fand Frau von Kannawurf. Führen Sie mid in Caſpars Zimmer,” fagte e zum Lehrer.

Jetzt noh? In der Nacht?" wagte diefer nzuwenden.

„Jetzt, in der Nacht," beharrte die Frau.

Ihr Weſen ſchüchterte Quandt bergeftalt ein,

er ſtumm zur Seite trat, fie vorangehen

und mit dem Licht folgte.

In Cafpars Zimmer erinnerte wenig an den erftorbenen. Es war alles umgeftellt und rräumt. Nur das Holzpferdchen fand noch if dem Ecktiſch neben dem Fenſter.

„Laffen Sie mich allein," gebot Frau von annamurf. Quandt ftellte den Leuchter bin, tfernte ſich ſchweigend und wartete in Gemein- joft mit feiner rau unten an der Stiege.

ift ſehr gutmätig von mir, daß ich mir jo

was in meinem Haufe gefallen lafje," murrte er.

Mit verſchränkten Armen ſchriti Clara von amnamurf im Zimmer auf und ab. Ihr Blick 1 auf den Tiſch, wo eine Abfchrift des Sektions- :otofolles lag; es ging daraus hervor, daß man ıh dem To * Sehens a bat eines erzens ganz ducchftochen gefunden hatte. Clara ıhm da8 Papier mit beiden Händen und zer- itterte es in ihren Sale

Was fruchtet aller Schmerz und Reue? Man am nicht die Gemwefenen aus Luft gurüdgeftalten; an kann der Erde nicht ihre Beute abfordern. vänen beruhigen; aber dieſe Trauernde_hatte ine Tränen mehr; für fie waren feine Sterne

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mehr, fein Glanz de Himmels; für fie wuchs tein Gras mehr, duftete feine Blume mehr, ihr ſchmeckte der Tag nicht mehr und die Nacht nicht . mehr, für fie Hatte ch alles Menfchentreiben, ja jelbjt das Schaf der Elemente in eine einzige düftere Wolfe von nie wieder gutzumachen- der Schuld zufammengeballt.

Es mochte eine halbe Stunde verflofjen fein, als Clara wieber herablam. Sie blieb_ganz dicht vor dem Lehrer ftehen, und während fie ihn mit meitaufgeiälngenen Augen anſah, fagte fie bebend und kalt: „Mörder.

Dies war für Quandt etwa fo, wie wenn man ihm einen Schwefelbrand unter die Nafe galten hätte. Es läßt fich denken, der wadere

ann war volltommen ahnungslos; im Schlaf- tod, geſticktem Hausfäppchen und mit Schlapp- ſchuhen an den Füßen wartet er, daß ber un- gebetene Gaft fein Haus wieder verlaffe, und da fällt ein Wort, wie e8 nicht einmal ein böfer Traum erzeugen fann.

„Das Weib ift wahnfinnig! Ich werde fie zur Rechenſchaft ziehen," tobte er noch im Bette.

Clara wohnte bei Imhoffs. Sie fand die Freundin noch auf. Frau von Imhoff fagte ihr, daß man morgen auf den Kirchhof gehen wolle, weil das Kreuz auf Caſpar Hauſers Grab er- richtet werde. Frau von Imhoff empfand Claras Schweigfamteit wie einen Alpdrud und erzählte, erzählte. Vieles von Cafpar, viele8 von denen, die um ihn waren. Quandt wolle ein Buch ſchreiben, worin er haarklein nachzumeilen ge» denke, daß Gafpar ein Betrüger geweſen; daß Bidel den Dienjt quittiert habe und aus Ans-

ach wegziehe, wohin, wiſſe niemand, daß alle 565

Bemühungen, dem furchtbaren Verbrechen auf den Grund zu kommen, vergeblich geweſen ſeien Clara blieb wie aus Stein. Als fie fich für die Nacht trennten, fagte fie leiſe und mit unheimlicher Sanftmut: „Auch du bift feine Mörderin." Frau von Imhoff prallte zurück. Doc Clara fuhr ebenfo leiſe und janft fort: „Weißt du es denn nicht? willft du's nicht wiſſen? Verſteckſt du dich vor der Wahrheit wie Kain vor Gottes Ruf? Weißt du denn nicht, wer er war? Glaubft du denn, daß die Welt immer und ewig darüber ſchweigen wird, fo wie fie jeßt ſchweigt? Ex wird auferftehen, Bettine, er wird uns zur Rechenfchaft fordern und unfre Namen mit Schmach bededen; er wird das Gewiſſen der Nachgebornen vergiften, er wird fo mächtig im Tode fein, als er ohnmächtig im Leben war. Die Sonne bringt es an den Tag." Darauf verließ Clara das Zimmer ruhig wie ei anbern I fe ſech nom Hauf im andern Morgen ging fie vom Haufe im Sie befuchte ihren auf der Jo⸗ janniskicche, ſaß lange oben auf der Steinbank in ber fehmalen Galerie und blickte weit über die winterliche Ebene. Sie ſah aber nicht Schnee, fie ab nur vergoffenes Blut. Sie ſah nicht das Land, fie ſah nur ein durchftochenes Herz. Dann ſchlug fie den Weg nach dem Kirchhof ein. Der Totengräber führte fie zum Grab. Eben kamen zwei Arbeiter und lehnten ein höl- zernes Kreuz gegen den Stamm einer Trauerweide. Nach wenigen Minuten erſchien der Pfarrer Fuhrmann. Er erkannte Clara und grüßte fie ernft und höflich. Sie, ohne I" danfen, ſchaute an ihm vorüber, ihr Blick ftreifte den mit gfemmusigem Schnee bedestten Grabhügel und die Arbeiter, die 556

jest das Kreuz zu Häupten des Grabes einrammten. Auf einem großen, herzförmigen Schild, das in- mitten de3 Grabkreuzes befeftigt war, fanden in weißen Lettern die Worte:

HIC JACET CASPA A

Sie las es, ſchlug die Hände vor Geficht und brach in ein gellend wehes Gelächter aus. Jählings wurde fie aber wieder ganz ftill. Sie drehte fich gegen den Pfarrer um und rief ihm zu: „Mörder !"

In diefem Augenblick kamen vom Hauptpfad ber einige Leute, die der Zeremonie der Kreuz- aufftellung hatten beimohnen wollen: Herr und Frau von Imhoff, Herr von Stichaner, Medizinal- rat Albert, der Hofrat Sofmann, Quandt und feine Frau. Sie fahen den Pfarrer bleih und aufgeregt, und der Eindrud eines jeden war, daß etwas Schlimmes vor fi gehe. Frau von Imhoff, voller Ahnung, eilte auf ihre Freun- din zu und umfblang fie mit den Armen. Aber mit verwilderten Gebärden machte ſich Clara 1o8, ftürgte der Gruppe der Nahenden entgegen und fchrie mit durchdringender Stimme: „Mörder feid ihr! Mörder! Mörder! Mörder!"

Nun rannte fie an ihnen vorbei, auf die Straße hinaus, wo fich alsbald viele Menfchen

je verfammelten, und fchrie, fchrie! Endlich wurde fie von einigen Männern umtingt und am Weiterlaufen verhindert.

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Quandt hatte wieder einmal recht behalten. Sie war wahnfinnig geworden. Noch am felben Tag wurde fie in eine Anftalt gebracht. Mit der Zeit verging die Raſerei, aber ihr Geiſt blieb umnachtet.

Sehr zu Herzen war der Auftritt am Grabe dem Pfarrer Fuhrmann gegangen. Er wollte fich nicht zufrieden geben, wenn man ihm vorhielt, daß es doch eine Irre geweſen, die fo gehandelt. Noch vor feinem kurz darauf erfolgten Ableben fagte er zu Frau von Imhoff, die ihm befuchte: ich freut die Welt nicht mehr. Warum klagie fie mich an? Mich, gerade mi? Ich hab’ ihn ja liebgehabt, den Hauſer.“

‚Die Unglüdliche," erwiderte Frau von Imboff Teife, „an Liebe allein hatte fie nicht genug."

„SH trage feine Schuld," fuhr der alte Mann fort. „Oder doch nicht mehr, als dem

blichen Leib überhaupt zukommt. Schuldig find alle, die wir da mandeln. Aus Schuld eimt Leben, fonjt hätte unfer Stammvater im Paradies nicht fündigen dürfen. Auch unfern bingefchiedenen Freund Tann ich nicht freifprechen. Was hat es ihm gefrommt, das Träumen über feine Herkunft ® Verrat von allen Lippen quiltt, flieht der Tüchtige_in den Kreis frucht- barer Neigungen. Aber Schmwärmer hören nur ſich ſelbſt. Unſchuldig, meine Vefte, unſchuldig iſt nur Gott. Er gnade meiner Seele und der des edeln Caſpar Hauſer.“

Ende,

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