HX64087182 QP34 .F44 1 882 Compendium der Physi RECAP 6iP:5H F^H ^9^1- College of Ißffpsitianö anti ^urgeonä l^ibrarp COLUMBIA UNIVERSITY THE LIBRARIES HEALTH SCIENCES LIBRARY Digitized by the Internet Archive in 2010 with funding from Columbia University Libraries http://www.archive.org/details/compendiumderphyOOfick COMPENDIUM DER PHYSIOLOGIE DES MENSCHEN VON D^ ADOLF FICK O. Ö. PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT IN WÜRZBURG. NEBST EINER DARSTELLUNG ENTWICKLUNGSGESCHK HTE DR PHILIPP STOHR PKOSECTOK UND PRIVATDOCENT AN DER UNIVERSITÄT IN WÜRZBURG. drittp: umuearbeitete aufläge. MIT 71 HOLZ.SCHNITTEN. WIEN, 1882. W 1 L II K LM ]] U A U M Ü LLEK K. K. HOF- UN» liNIVKHSITAI,SItUr;imÄNI)I,ER. ??2 DER HOCHSCHULE WÜRZBURG DARGEBRACHT ZUR JUBELFEIER IHRES DREIHUNDERTJÄHßIGEN BESTEHENS. VORWORT. Uie Torliegeude dritte Auflage meines Compendiiinis der Physio- logie ist nicht, wie es die zweite war, ein völlig neues Buch, sie ist vielmehr hlos eine neue Bearbeitung der zweiten. Die Veränderungen bestehen indessen nicht ausschliesslich in der Einfügung neu entdeckter Thatsacheu, ich habe vielmehr ganze Abschnitte vollständig umge- arbeitet. Massgebend war mir dal}ei das schon im Vorwort zur zweiten Auflage ausgesprochene Bestreben, „in möglichst deductiver dogma- tischer Darstellungsweise ein Bild vom leiblichen Leben des Menschen zu geben''. INHALT. Seite Einleitung 1 I. Theil. Die animalen Thätigkeiten. 1. Abschnitt. Physiologie des Muskelgewebes. 1. Capitel. Ruhender und erregter Zustand des Muskels H 2. Capitel. Die Reize des Muskels 19 3. Capitel. Die sogenannte Zuckung des Muskels 23 4. Capitel. Chemischer Process und Wärmeentwicklung im Muskel . . 27 Anhang. Ueber einige andere contractile Gebilde 35 2. Abschnitt. Verwendung der Muskelarbeit. 1. Capitel. Von den Knochenverbindungen 37 I. Allgemeines 37 II. Symphysen 39 III. Gelenke 41 2. Capitel. Wirkung der Muskelspannung auf verbundene Knochen . . 52 3. Capitel. Einige besondere Bevvegungsmechanismen 55 I. Stehen und Gehen 56 II. Stimme und Sprache . 66 3. Abschnitt. Physiologie des Nervengewebes. 1. Capitel. Allgemeine Betrachtungen 81 2. Capitel. Die Reize der Nervenfaser 83 3. Capitel. Der Elektroto'ius der Nervenfaser 86 4. Capitel. Leitung der Erregung in der Nervenfaser 89 5. Capitel. Vergleichung der sensiblen mit der motorischen Nervenfaser 94 6. Capitel. Chemi.sclier Process in der Nervenfaser 95 7. Capitel. Ganglienzelle 97 Anhang. Ueber die elektromotorischen Eigenschaften des Muskel- und Nervengewebes 100 4. Abschnitt. Physiologie des Nervensystems. 1. Capitel. Allgemeine Betrachtungen über das Nervensystem .... 106 2. Capitel. Vom Rückenmark 110 3. Capitel. Vom Hirn 118 VIII Inhalt. Seite 5. Abschnitt. Physiologie der Sinne. Einleitende Betrachtungen 130 1. Capitel. Tastsinn und Gemeingefühl 135 I. Allgemeines 135 IL Drueksinn 137 III. Temperatursinn 139 IV. Ortssinn 141 V. Gemeingefühl 144 2. Capitel. Geschmackssinn 145 8. Capitel. Geruchssinn 148 4. Capitel. Gehörssinn 151 5. Capitel. Gesichtssinn 165 I. Allgemeines 165 II. Anatomische Voraussetzungen 166 III. Dioptrische Regeln 168 IV Das schematische Auge 170 V. Accommodation des Auges . . .' 178 VI. Der normale Astigmatismus 190 VII. Kleine Unregelmässigkeiten der brechenden Medien .... 193 VIII. Lichtempfindung 197 IX. Zeitlicher Verlauf der Netzhauterregung 204 X. Das Sehen 207 XL Schutzorgane des Auges 221 II. Theil. Die vegetativen Thätigkeiten. 6. Abschnitt. Die Säfte und ihre Bewegung. 1. Capitel. Das Blut 223 I. Allgemeines 228 IL Die rothen Blutkörperchen 224 III. Die farblosen Blutkörperchen 226 IV. Das Blutplasma 228 V. Quantitative Zusammensetzung des Blutes ........ 230 VI. Gase des Blutes 231 VII. Chemische Processe im Blute 234 2. Capitel. Lymphe 235 3. Capitel. Bewegung des Blutes 238 I. Anatomische Einleitung 238 IL Beschreibung der Blutbewegung 240 III. Theorie eines Kreislaufes im Allgemeinen 244 IV. Anwendung der allgemeinen Grundsätze auf den Blutkreislauf . 246 V. Die Pulswelle im arteriellen System ..." 249 VI. Venenklappen 254 4. Capitel. Lymphbewegung 254 5. Capitel. Abhängigkeit der Säftebewegung vom Nervensystem . . . 256 Inhalt. IX 7. Abschnitt. Athmimg. g^j^^ 1. Capitel. Gasaustausch des Blutes mit der Lungenluft .271 2. Capitel. Mechanismus der Athembewegungen 273 3. Capitel. Innervation der Athmungsorgane 288 8. Abschnitt. Secretionen. 1. Capitel. Allgemeines 300 2. Capitel. Secretionen der Verdauungssäfte 303 I. Speicheldrüsen 303 11. Magendrüsen 3O7 III. Pankreas 308 IV. Leber 309 V. Milz 318 VI. Darmdrüsen 319 3. Capitel. Secretionen an die äussere Körperoberfiäche . jk 320 I. Schweissdrüsen 320 IL Hauttalgdrüsen 322 in. Milchdrüsen 323 IV. Thränendrüsen 325 V. Niere 326 VI. Absonderung der Keimstoife 334 1. Männlicher Keimstoff 334 2. Weiblicher Keimstoif 337 9. Abschnitt. Blutneubildung. 1. Capitel. Kahrungsmittel 340 2. Capitel. Verdauung 345 3. Capitel. Eesorption 357 10. Abschnitt. Der Stoffwechsel und seine Effecte im Ganzen. 1. Capitel. Uebersicht der Einnahmen und Ausgaben 361 2. Capitel. Thierische Wärme 368 Anhang. Charakteristik der wichtigsten im Texte vorkommenden organischen Verbindungen 379 Entwickelungsgesehichte 389 EINLEITUNG. Die Physiologie im weiteren Sinne des Wortes oder die „Biologie" ist die Wissenschaft vom Leben. Man versteht nuter Leben den Inbegriff der den sogenannten Organismen eigen thümlichen Bewegungserschei- nungen. Jeder Organismus ist ein vollständig begrenzter Naturkörper, wel- cher einen Cj^lus von Formveränderuugeu durchläuft. Von kleineu sich innerhalb enger Grenzen haltenden Abweichungen abgesehen, ist dieser Cyklus derselbe für eine mehr oder weniger grosse Anzahl von solchen Naturkörpern — für die sämmtlichen Individuen derselben „Species" oder „Art". Es ist für den Begriff des Organismus wesentlich, dass der Cyklus seiner Formveränderungen beginnt mit einer sehr einfachen und sehr wenig Raum einnehmenden Form, dem sogenannten „Keim". In allen bis jetzt gut beobachteten Fällen ist dies kleine einfach gebaute Körperchen ein losgetrennter Theil eines anderen Organismus, und der ans dem Keim sich entwickelnde neue Organismus durchläuft — sofern seine Entwickelung nicht gestört wird — denselben Cyklus von Formeu, welchen jener durchlaufen hat, wovon eben sein Keim ein losgetrennter Theil war. In den meisten Fällen ist der organische Keim nicht blos Theil von einem Organismus, sondern er entsteht erst durch das Zu- sammentreten losgetrennter Theile zweiter Organismen — durch soge- nannte „geschlechtliche Zeugung" — und der aus dem Keim sich ent- wickelnde neue Organismus durchläuft dann denselben Cyklus von Formveränderungen, welchen der eine oder der andere der zum Keime beitragenden Organismen durchlaufen hat. Für die meisten organischen Arten haben übrigens diese beiden Formencyklen — der männliche und weibliche — grosse Aehnlichkeit. Ob es auch organische Keime geben könne, die nicht Theilproducte von anderen schon bestehenden Organismen sind, ist eine noch offene Frage. Es ist die Frage nacli der sogenannten „gmerutio aequivoca". Fick, Physiologie. 3. Aufl. ^ i Einleitung. Mit diesem Ausdruck bezeichnet man nämlich den noch uie bestimmt beobachteten, a])er von vielen Physiologen hypothetisch als möglich ange- nommenen Vorgang, bei welchem der Keim eines Organismus in einer homogenen Masse sich abgrenzte, ohne dass ein anderer Organismus vor- handen zu sein brauchte, von dem er sich als Theü ablöste. Eine Ent- scheidung dieser Frage soll hier nicht versucht werden; das kann aber wenigstens gesagt werden, dass ganz sicher die Keime aller einigermassen verwickelt gebauten Organismen niemals durch generatio aequivoca entstehen. Es ist ferner dem Begriffe des Organismus wesentlich, dass der be- stimmte gesetzmässige Cyklus von Formänderungen, welchen er durch- läuft, ein Ende hat, — das Tod genannt wird. Nach diesem Ende gehen die einzelnen materiellen Theilchen, welche bis dahin den Organismus bildeten, ihre Wege, die nicht mehr nach dem Gesetz der betreffenden Art, sondern durch zufällige äussere Einwirkungen bald so bald anders bestimmt werden. Es wurde vorhin die allgemein bekannte Erfahrung ausgesprochen, dass ein neu entwickelter Organismus denselben Cyklus von Formen durchläuft, welchen der durchlaufen hat, von welchem der Keim ein Theil war, dass mit einem Worte der Tochterorganismus dem mütterlichen — der erzeugte dem erzeugenden gleicht. Bekanntlich und selbstverständ- lich gilt dies aber nicht mit mathematischer Strenge, wie denn überhaupt keine zwei Formen in der Natur vollkommen identisch sind. Beachtet man die überall möglichen kleinen Abweichungen des erzeugten Organismus vom erzeugenden, so entsteht die Frage: müssen sich vermöge eines wahr- haften Naturgesetzes diese Abänderungen, die oft gar nicht so klein sind, nothwendig innerhalb gewisser Grenzen halten? Mit anderen Worten: können diese Abänderungen nur um einen mittlem Zustand schwanken, so dass nach einer noch so grossen Eeihe von Generationen die Abkömm- linge eines Organismus dem Stammvater sehr ähnlich sehen — mit ihm „von einer Art" sind? Oder kann es sich vielleicht ereignen, dass in einer Eeihe von Generationen die Abänderungen alle in einer Eichtung statt- finden, so dass der Abkömmling zuletzt seinem Stammvater ganz unähn- lich wird ? Soweit bestimmte historische Ueberlieferung reicht, hat man nur ein Schwanken der Abweichungen in nicht gar weiten Grenzen um den mittlem Typus der Art beobachtet. Gleichwohl hat man guten Grund, anzunehmen, dass die zweite Alternative das Eichtige trifft, dass in einer stetigen Kette von Zeugungen von einem Organismus ganz andersartige abstammen können. Bei einer allmählichen Abänderung der Arten spielt höchst wahrscheinlich die sogenannte natürliche Züchtung die be- deutendste Eolle. Das heisst, es haben besonders diejenigen Individuen Einleitung. 3 einer Art Aussicht, sich im Kampfe ums Dasein zu hehaupteu und Nach- kommenschaft zu hinterlassen, welche zufälligerweise mit nützlichen Abänderungen behaftet sind. Da nun zufällige kleine Abänderungen er- fahrungsgemäss eine grosse Neigung haben sich zu vererben, so werden eben durch den Kampf ums Dasein im Laufe der aufeinanderfolgenden Generationen die nützlichen Abänderungen gesteigert werden. Es ist hier nicht der Ort, dieses Princip weiter zu erörtern, das heutzutage der Zoologie und Botanik neue Gestalt zu geben im Begriffe ist. Nur das mag noch hervorgehoben werden, dass aus ihm die sonst geheimnissvolle Zweckmässigkeit der organischen Formen verständlich wird. Dass jeder Organismus beim Durchlaufen seines specifischenFormen- cyklus klein anfängt und später grösser wird, dass ferner, im Allgemeinen wenigstens, aus einem Organismus durch Ablösung von Keimen eine unbegrenzte Anzahl von gleichartigen Organismen wird, deren Gesammt- masse die Masse des ursprünglichen Keimes ins Unbegrenzte übertrifft, lässt eine fernere ganz allgemeine Grundeigenschaft der Organismen er- kennen. Sie müssen nämlich offenbar die Fähigkeit haben, fremde Stoffe sich einzuverleiben und derart anzueignen, dass sie specifische Bestand- theile des Organismus werden. Hierbei werden im Allgemeinen chemische Umsetzungen unentbehrlich sein, da der Organismus niemals alle die- jenigen Stoffe, welche zu seinem Aufbau gehören, genau als solche in der Umgebung vorfindet. In den vorstehenden Erörterungen dürfte eine vollständige logische Umgrenzung des Gebietes der Organismen enthalten sein. Es zerfallen nun bekanntlich die sämmtlichen in dieses Gebiet ge- hörigen Naturkörper in zwei grosse Gruppen: die Thiere und Pflanzen. Eine Abgrenzung zwischen ihnen ist ohne tiefeingehende Untersuchung nicht möglich und selbst dann nicht in aller Strenge, vielleicht ist sogar eine scharfe Grenze in der Natur nicht gegeben. Diese Abgrenzung braucht übrigens hier auch gar nicht versucht zu werden, denn die Physiologie im engeren Sinne des Wortes, insbesondere wenn sie, wie hier, wesent- lich als Hilfswissenschaft der Medicin behandelt werden soll, hat es nur mit einem einzigen Organismus, nämlich mit dem des Menschen zu thun. Allerdings ist die Physiologie des Menschen, da sich der menschliche Körper nur in sehr lieschränkter Weise dem Experiment darbietet, darauf angewiesen, als Untersuchungsobject vielfach andere Thiere zu verwenden. Aber man wählt dazu doch nur nahe verwandte, den sogenannten höheren Thierclassen angehörige Geschöpfe aus, die wenigstens in den jeweilig betrachteten Beziehungen sich dem menschlichen Körper ähnlich ver- halten, um eben die gefundenen Sätze mit grosser Wahrscheinlichkeit auf den Menschen anwenden zu können. Einleitunff. An allen den höheren Thierclassen angehörigen Organismen und am menschlichen insbesondere bemerkt man leicht, dass bei dem Ablauf des specifischen Cyklus von Formänderungen eine Form, die sogenannte „erwachsene", sich verhältnissmässig lange in annäherDd beharrlichem Zustande erhält. Die Lebenserscheinungen, welche der menschliche Körper in diesem Beharrungsziistande zeigt, sind es nun, welche den eigentlichen Gegenstand der speciellen Physiologie des Menschen bilden. Sie nimmt nur gelegentlich auf vorhergehende und nachfolgende Zustände Eücksicht. Den Cyklus von Formänderungen, welchen der menschliche Körper von der Entstehung seines Keimes bis zu seiner vollen Ausbildung im er- wachsenen Zustande durchläuft, beschreibt eine besondere Disciplin, die sogenannte Entwickelungsgeschichte. Die specielle Physiologie nimmt den erwachsenen Menschen als gegeben an. Der oberflächlichste Blick auf ein erwachsenes Thier aus den höheren Classen zeigt, dass es aus Theilen zusammengesetzt ist, die sich durch chemische und physikalische Beschaffenheit von einander unterscheiden, worüber die descriptive Anatomie näheren Aufschluss giebt. Nimmt man nun aus dem Thierkörper ein Stück heraus, das dem blossen Auge keine Zusammensetzung mehr aus verschiedenen Theilen verräth, z. B. einen Tropfen Blut oder ein Stückchen Hirn, und untersucht es unter dem Mikroskop genauer, so zeigt sich, dass es doch keine homogene Masse ist. Es zeigt sich zusammengesetzt aus gleichartigen Formelementen, deren jedes selbst noch eine mehr oder weniger verwickelte Structur auf- weist. Diese Formelemente sind bald Röhrchen, bald Fäserchen verschie- dener Gestalt und Länge, bald Bläschen, bald blosse Klümpchen einer schleimigen Substanz von verschiedener Form und Grösse. Zieht man die Entwickelungsgeschichte zu Eathe, so ergiebt sich die überaus merk- würdige Thatsache, dass alle Gewebselemente eines Thierkörpers nur Modi- ficationen ursprünglich gleichartiger Individualitäten sind, welche man „Zellen" genannt hat, ja noch mehr, dass sie ausnahmslos alle Abkömm- linge eines einzigen solchen Individuums der Keim- oder Eizelle sind. Leider ist es der Physiologie noch nicht möglich, von diesem fundamen- talen Begriffe der Zelle eine ausreichende Definition zu geben. So viel lässt sich indessen sagen, dass auf die einzelne Zelle alle diejenigen Aus- sagen passen, welche weiter oben als wesentliche Merkmale des Orga- nismus überhaupt hingestellt wurden. In der That, eine Zelle ist eine ab- gegrenzte Stoffmenge, welche einen typischen Cyklus vonFormänderungen durchläuft; sie vermag aus der Umgebung Stoffe zu assimiliren und zu ihrer Vergrösserung zu verwenden, und es können sich Theile von ihr ab- trennen und ihrerseits zu ähnlichen Gebilden auswachsen. Der Name Zelle beruht auf einem als solchen längst erkannten Irrthum. Man glaubte Einleitung. 5 nämlich früher, dass jeder Zelle wesentlich die Form eines Bläschens zu- komme, bei dem eine feste Hülle von einem flüssigen Inhalt müsse zu unterscheiden sein. Mau weiss jetzt, dass die meisten Zellen — vielleicht alle in einem gewissen Stadium ihrer Entwickelung — nichts Anderes sind als Klümpchen einer besonderen schleimigen Snbstanz, worin meist noch eine Stelle, der sogenannte Kern, unter dem Mikroskope sich auszeichnet. Offenbar ist weniger die Form als der Stoff für die Zelle charakteristisch. Es kann sogar ein und dieselbe Zelle im Verlaufe weniger Minuten sehr verschiedene Formen annehmen, sie kann bald kugelförmig, bald spindel- förmig, bald sternförmig erscheinen. Alle Zellen aber des Thier- sowohl als des Pflanzenreiches zeigen in ihrer chemischen Natur eine bedeutende Aehnlichkeit. In allen nämlich finden sich eiweissartige Stoffe und Salze, wahrscheinlich in allen auch noch Fette und Kohlehydrate. Das Gemenge dieser Stoffe, welches überall den wesentlichen Bestand der Zellen aus- macht, wird „Protoplasma" genannt. Man hat freilich noch lange nicht Protoplasma, wenn man die aufgezählten Stoffe in dem richtigen Ver- hältnisse zusammenmengt. Wahrscheinlich sind diese Stoffe im Proto- plasma in einer Art chemischer Verbindung, welche sich bei ihrer künst- lichen Vermengung eben nicht ohne Weiteres bildet. An die chemische Natur des Protoplasmas scheinen die Eigenschaf- ten geknüpft, welche weiter oben als wesentliche Eigenschaften aller Or- ganismen im Ganzen und soeben als die wesentlichen Eigenschaften der Zellen hingestellt wurden. Eben das Protoplasma scheint vermöge seiner Natur im Stande zu sein, geeignete Stoffe aus dem umgebenden Medium sich zu assimiliren, sie selbst in Protoplasma zu verwandeln, wobei die Masse wachsen kann. Die geeigneten Stoffe findet eine ganz für sich lebende Zelle, wie etwa ein Infusorium, in allgemein verbreiteten Flüssig- keiten. Eine Zelle, welche Theil eines verwickelten Organismus ist, findet diese Stoffe in den Flüssigkeiten, welche die Gewebe dieses Organismus durchtränken. Ebenso scheint es an der chemischen Natur des Protoplasma zu liegen, dass ein abgegrenztes Klümpchen davon, wenn es durch Assimi- lation bis zu einer gewissen Grösse angewachsen ist, die Neigung hat sich zu theilen, welche beiden Theile dann wieder wachsen und sich theilen u. s. f. Manche Histiologen wollen bei der Fortpflanzung der Zellen dem sogenannten Kern, d. h. einer vom Protoplasma verschiedenen Stoffmenge die eigentlich Anstoss gebende Wirkung zuschreiben. Andere Autoren wollen dagegen direct beobachtet haben, dass Protoplasmaklümpchoii sich fortpflanzen, welche überall keinen Kern enthalten. Ganz unbestritten beruht auf der Natur des Protoplasma eine Fähig- keit der Zellen und Organismen im Ganzen, welche namentlich im Leben b Einleitung. der Thiere eine ganz hervorragende KoUe spielt. Ein Protoplasmaklümp- clien kann nämlich unter Umständen, namentlich von gewissen äusseren Einwirkungen, sogenannten Keizeu, getroffen, verhältnissmässig rasch verlaufende Formänderungen erleiden, und dahei äussere Hindernisse, welche sich diesen Eormänderungen entgegenstellen, möglicherweise üher- winden. Die Zelle kann also vermöge dieser Eigenschaft „mechanische Arbeit leisten". Wenn die Zellen für diesen Zweck besonders günstig gebaut und so gelagert sind, dass ihrer viele in einem Sinne arbeiten, so können jene erstaunlichen mechanischen Leistungen erzielt werden, welche wir unsere eigenen Muskeln verrichten sehen. Unter den Zellen, welche den thierischenLeib zusammensetzen, haben viele auffallende Aehnlichkeit mit Protoplasmaklümpchen oder Zellen, welche wir als ganz selbstständige thierische Individuen in natürlichen Ge- wässern leben sehen. Es drängt sich uns daher eine Anschauungsweise von selbst auf, wonach der Leib eines höheren Thieres anzusehen ist gleichsam als eine Individualität höherer Ordnung, welche aus einer grossen Anzahl von eigentlichen Individuen zusammengesetzt ist in ähnlicher Weise, wie etwa eine Colonie von niederen Thieren, z. B. ein Polypenstock oder selbst ein Ameisenhaufen und Bienenschwarm. Es kann nicht als gegründeter Ein- wand hiergegen gelten, dass die Zellen eines Thier- oder Menschenleibes nicht ausserhalb desselben eine unbeschränkte Zeit fortleben können. Das Leben jeder thierischen Individualität ist an gewisse Bedingungen ge- knüpft, und zu den Lebensbedingungen der Zellen der höheren Thiere ge- hört es eben, dass sie mit gleichartigen Nachbarn in Wechselverkehr stehen. Ganz ebenso kann ja auch eine Ameise oder eine Biene vom Stocke getrennt nicht unbegrenzt weiter leben. So wie diese aber wenigstens eine Zeitlang isolirt fortleben kann, so können auch die meisten Gewebsele- mente der höheren Thiere vom Gesammtorganismus getrennt unter ge- eigneten Bedingungen noch eine Zeit lang die Erscheinungen zeigen und die specifischen Verrichtungen fortsetzen, welche ihnen im Zusammen- hange des Thierleibes zukommen. Gerade hierauf allein beruht zum grossen Theile die Möglichkeit der experimentellen Erforschung des Lebens. Bei allen Thieren von einigermassen verwickeltem Bau sind gewisse von den sie zusammensetzenden Zellen durch fadenförmige Ausläufer in Verbindung, so dass das Protoplasma aller dieser Zellen eine stetig zu- sammenhängende Masse bildet. Diese Einrichtung hat eine sehr be- merkenswerthe Folge. Das Protoplasma scheint nämlich ganz allgemein die Eigenschaft zu haben, dass sich in ihm gewisse chemische Vorgänge, die au einem Orte durch äussere Anlässe — Keize — angeregt sind, fortpflanzen können, soweit der stetige Zusammenhang der Masse Einleitung. 7 reicht. Ein Bild von dieser wichtigen Eigenschaft des Protoplasmas kann man sich au einer Masse von explosiver Suhstanz, etwa von Schiesspiüver, machen. Da schreitet auch der an einer Stelle angeregte Verhrenuungs- process durch die ganze Masse rasch fort. Man sieht jetzt leicht ein, wenn in einem Thierleibe ein durch seine ganze Ausdehnung erstrecktes System von Zellen mit stetig zusammenhängendem Protoplasma vorhanden ist, so kann ein an einem Ende des Thierleihes ausgeübter Impuls, der hier jenen eigenthümlichen Vorgang in einer Zelle erregt, an einer entfernten Stelle am andern Ende des Thierlei])es eine Wirkung auslösen, indem sich eben jener Vorgang durch die stetig zusammenhängenden Zellen dorthin fortpflanzt. Die zuletzt ausgelöste Wirkung kann insljesondere in einer mechanischen Arbeit bestehen, die, wie vorhin erwähnt, von manchen Zellen geleistet werden kann. Sie kann z. B. darin bestehen, dass der ganze Thierleib durch besonders hierzu geeignete Organe vom Platze ge- schafft wird — dem reizenden Impulse entflieht. Man sieht, dass die in Eede stehende Einrichtung von fundamen- taler Wichtigkeit ist, dass auf ihr das zweckmässige Benehmen des Thier- leibes äusseren Einflüssen gegenüljer beruht. Vermuthlich ist das Vor- handensein eines solchen zusammenhängenden Systems von Zellen wohl das eigentlich Wesentliche der thierischen Organisation im Gegen- satze zur pflanzlichen. Beide Keiche bestehen aus Individualitäten — Zellen — welche in ihrem Wesen übereinstimmen. Bei den Pflanzen sind dieselben meist durch Einkapselung von einander isolirt und können also nur mittelbar auf einander einwirken, indem sie ihre Zersetzungsproducte durch Vermittelung von Diffusionsströmen austauschen. Bei den Thieren dagegen bildet ein Theil der Zellen eben jenes stetig zusammenhängende System, in welchem die einzelnen einander ihre inneren Zustände durch directe Fortpflanzung mittheilen können. Das System zusammenhängender Zellen ist das, was man Ijei den höheren Thieren das Nervensystem mit seinen Annexen nennt. Nach dem, was vorstehend von der Zusammensetzung des höheren Thierleibes aus ursprünglich gleichartigen Elementarorganismen — aus Zellen — gesagt ist, wäre der eigentlich logische Gang einer Darstellung der Physiologie dieser: Es wäre zimächst die allgemeine Natur der Zelle zu entwickeln und dann zu erörtern, welche Modificationen diese Natur unter besonderen Lebensbedingungen erleidet. Dadurch würden sich ganz von selbst die Functionen der verschiedenen Gewebtheile, die ja eben sämmtlich modificirte Zellen sind, ergeben und ihr Zusammenwirken zum Leben des Gesammtorganismus würde ohne Weiteres verständlich sein. Diesen Weg können wir aber nicht in Wirklichkeit betreten. Dazu ist die Lehre von der Zelle im Allgemeinen noch viel zu wenig erforscht. 8 Einleitung. Die heutige Physiologie muss sich darauf beschränken, am ganzen Thiere oder au einzelnen seiner Organe meist ganz im Groben Beobachtungen und Experimente anzustellen, um die Gesetze zu finden, nach welchen sich die im Grossen resultirenden Lebenserscheinungen richten. In diesem Sinne soll auch hier die Physiologie dargestellt werden. Eintheilung und Anordnung des Stoffes bleibt in gewissem Maasse der Willkür überlassen. Bei der unübersehbaren Verwickelung der Lebenserscheinungen und dem allseitigen Ineinandergreifen der Verrich- tungen der verschiedenen Körpertheile ist es nämlich ganz unmöglich, den Missstand zu vermeiden, dass erst später zu Begründendes einstweilen als bekannt vorausgesetzt werden muss, man mag anfangen, mit welchem Theile man will. Es kann deswegen überhaupt keine Eintheilung des Stoffes ganz streng durchgeführt werden. Um gleichwohl einen bestimmten Plan in unsere Darstellung zu bringen, woUen wir uns von folgender naturgemässen Betrachtung leiten lassen. Wenn wir ein höheres Thier oder einen Menschen ansehen, so fäUt keine Lebensäusserung so sehr in die Augen als die sogenannten willkürlichen Bewegungen seiner Gliedmassen und seines Leibes über- haupt. Wenn man ihre Entstehung genau untersucht, so wird man bald gewahr, dass dazu das sogenannte „Muskelgewebe" dient. Seine Eigen- schaften und Verrichtungen sollen den ersten Gegenstand unserer Unter- suchung bilden. Dabei zeigt sich denn, dass die Bewegung der Muskeln im lebenden Körper regelmässig nur dann erfolgt, wenn in den mit den Muskeln ver- knüpften ISTervenfasern ein gewisser molekularer Bewegungsvorgang statt- findet. Die Untersuchung der Muskelthätigkeit weist uns daher naturge- mäss hin auf die Untersuchung der Nervenfaser. Wenn wir alsdann weiter fragen, wie die Nervenfasern in jenen Zustand kommen, in welchem sie Kräfte auslösend auf die Muskeln wirken, so zeigt sich, dass dies im lebenden Thierkörper geschieht durch Einwirkung der Nerven centra, von welchen jene Nervenfasern entspringen. Wir werden somit auf die Untersuchung der Nervencentra geführt. Die molekulare Bewegung, welche, von den Nervencentren durch die „motorischen" Nervenfasern auf die Muskeln fortgepflanzt, hier die Kräfte auslöst, entsteht nun auch in den Nervencentren in der Hegel nicht von selbst. Sie wird vielmehr hineingetragen durch eine besondere Gattung von Nervenfasern, welche an ihrem peripherischen Ende mit eigenthümlichen Apparaten verknüpft sind, in welchen äussere Ein- wii'kungen jenen geheimnissvollen molekularen Bewegungsvorgang auslösen, der sich längs der Nervenfaser fortpflanzt. Diese Endapparate Einleitung. £7 der „sensiblen" Nerven kann man Sinnesorgane im weiteren Sinne des Wortes nennen. Die soeben anfgezälüten Erscheinungen Inlden eine stetig zusam- menhängende Kette, welche der Zeitfolge nach regelmässig mit einer sen- siblen Erregung durch äusseren Keiz anhebt und in einer auf die Aus- senwelt wieder einwirkenden Muskelarbeit endet. Dazwischen liegt eine mehr oder weniger verwickelte Uebertragung des Vorganges im Nerven- centrum. Da diese sämmtlichen Thätigkeiten sich in jenem System von stetig zusammenhängenden Zellen abspielen, welche wir oben als den eigentlich unterscheidenden Charakterzug der thierischen Organisation erkannt haben, so bezeichnet man dieselben als die „animalen" Thätig- keiten und stellt ihnen unter dem Namen der „vegetativen" eine zweite Gruppe von Thätigkeiten des Thierleibes gegenüber. Ihre Stellung im Organismus kann folgende Betrachtung vorläufig bezeichnen. Bei der Untersuchung der animalen Verrichtungen zeigt sich, dass ihre Möglichkeit geknüpft ist an Verbrennung von Bestandtheilen des Nerven- und Muskelgewebes. Bei der Muskelarbeit ist dies auch ohne eingehende Untersuchung sofort ersichtlich, da die enormen Leistungen derselben ganz offenbar nur durch chemische Verwandtschaftskräfte her- vorgebracht werden können — wie etwa die Leistungen einer Dampf- maschine oder eines elektrischen Motors. Soll nun trotzdem das Nerven- und Muskelgewebe — wie es wirklich der FaU ist — zu immer neuen und wieder neuen Leistungen befähigt sein, so muss es Veranstaltungen geben, vermöge deren die Producte der Verbrennung fortgeschafft werden und Ersatz des Verbrannten herbeigeschafft wird. Diese Veranstaltungen sind die sogenannten vegetativen Organe, mit denen das Nerven- und Muskelsystem im Körper des Menschen und der höheren Thiere ver- knüpft ist. Zunächst besorgt das die Nerven- und Muskelorgane durchspülende Blut die Anschaffung von Ersatz und Fortschaffung des Verbrauchten. Die Untersuchung des Blutes und seiner Bewegung wird also füglich den ersten Abschnitt des zweiten Theiles der Physiologie — der Physiologie der vegetativen Thätigkeiten — bilden. Soll aber der Gesammtorganismus längere Zeit in einem Beharrungszustande erhalten werden, so reicht natürlich der im Blute einmal vorhandene Vorrath von Ersatzstoffen nicht aus und andererseits würde darin eine störende Anliäiifimg der Zer- setzungsproducte stattfinden. Es müssen also diese nach Massgabe ihrer Entstehung beständig aus dem Blute, resp. aus dem ganzen Organismus ausgeschieden werden. Die Lehre von diesen „Ausscheidungen" bildet demgemäss einen zweiten Abschnitt in der Physiologie der vegetativen Thätigkeiten. 10 Einleitung, Ebenso muss iimgekehrt der Vorrath des Blutes an Ersatzstoffen beständig nach Massgabe des Verbrauches von aussen her ergänzt werden. Um diesen Vorgang dreht sich dann der letzte Abschnitt der Physiologie, welcher von der Aufnahme der Nahrung, von ihrer Verar- beitung im Verdauungsapparate und von der Aufnahme der verarbeiteten Stoffe ins Blut, mit einem Worte von der „Blutueubildung" handelt. Der hier vorgezeichnete Plan wird in der folgenden Darstellung nur in seinen grossen Umrissen eingehalten werden können. Im Einzelnen wird es nicht zu vermeiden sein, vielfach davon abzuweichen. I. Theil. Die animalen Thätigkeiten. I. Absclinitt. Physiologie des MuslielgeAvebes. 1. Oapitel, Euhender und erregter Zustand des Muskels. Das Muskelgewehe, auf dessen Eigenschaften die Fähigkeit des thierischen Organismus beruht, mechanische Wirkungen auf seine Um- gebung auszuüben, besteht aus faserigen Elementen, welche im Allge- meinen, parallel nebeneinander gelagert, zu Bündeln angeordnet sind. Schon der Anblick mit blossem Auge lässt zwei Arten von Muskelge- webe unterscheiden. Die eine Art, aus welcher die Skeletmuskeln und das Herz bestehen, zeichnet sich durch ziemlich intensiv rothe Farbe aus. Die aus diesem Gewelje gebildeten Massen sind das, was man im gemei- nen Leben „Fleisch" im engeren Sinne des Wortes nennt. Die andere Art des Muskelgewebes, welche nirgends in so compacten Massen auftritt wie die erste, zeigt eine blassere Farbe. Sie bildet besonders in den Gefässen und im Darmkanale eine Schicht der Wandung und kommt sonst noch in kleinen Mengen zwischen verschiedene Gewebe des Körpers einge- streut vor. Die mikroskopische Untersuchung lässt an den Muskelfasern der ersten Art eine sehr regelmässige Querstreifung erkennen, die den Fasern der andern Art fehlt. Man pflegt daher von „quergestreiften" und „glatten" Muskelfasern zu sprechen. Die physiologischen Leistungen tre- ten an der ersteren weit augenfälliger hervor; es sind daher diese genauer gekannt und sie sind zunächst ausschliesslich hier zu betrachten. Jede quergestreifte Muskelfaser ist eigentlich ein Schlauch, dessen Inhalt von festweichem Aggregatzustande eine gewisse Modification der in der Einleitung als „Protoplasma" bezeichneten Substanz ist. Wie die Querstreifung zeigt, ist der Inhalt nicht ganz gleichartig, es scheinen viel- mehr in eine homogene Grundsubstanz reihenweise geordnete Theilchen von etwas anderer Beschaffenheit in sehr regelmässiger Anordnung ein- gelagert zu sein. Die äusserst dünne Wandung des Schlauches besteht aus einem andern, nicht näher bekannten Stoffe; wahrscheinlich ähnlich dem Bindegewebe aus leimgebender Substanz. 12 Beschaifenheit der Muskelfaser. ' Die chemische Untersuchimg einer von fremden Gewehselementen möglichst gesäuberten Muskehnasse ergiebt etwa folgende Zusammen- setzung in abgerundeten Zahlen: Wasser. 80 Eiweisskörper 16 Fette 1 Kohlehydrat 1 Kreatin u. dgl 0,5 Salze 1,5 Von Kohlehydraten enthält der Muskel vorzugsweise den unter dem Namen „Glykogen" bekannten Körper, welcher uns später als Bestandtheil der Leber wieder begegnen wird. Neben dem Kreatin enthält der Muskel noch spurweise andere ähnliche stickstoffhaltige Spaltungsproducte des Eiweisses, die sämmtlich in grösserer Menge im Harn vorkommen. Die einzelne Faser mit durchgängig zusammenhängendem Proto- plasma geht nur bei ganz kurzen Muskeln von einem Ende desselben zum andern ununterbrochen durch. Bei längeren Muskeln sind stets mehrere Fasern der Länge nach zusammengefügt zu einem von einem Ende zum andern reichenden Faden, da die Länge einer einzelnen Muskelfaser'höch- stens einige Centimeter beträgt. Mechanisch betrachtet stellt ein Muskelfaserbündel einen überaus biegsamen Strang von höchst vollkommener, aber sehr kleiner Elasticität vor, d. h. wenn er über seine natürliche Länge gedehnt war, so nimmt er diese nach Wegfall der dehnenden Kräfte ziemlich genau wieder an, und es genügen schon sehr geringe Kräfte, um eine beträchtliche Dehnung herbei- zuführen. Um in dieser Beziehung die Muskelsubstanz mit anderen ela- stischen Körpern vergleichen zu können, mögen einige Zahlenangaben dienen. Ein Muskelbündel vom Frosche von ID™"" Querschnitt wird um Vi 00 seiner Länge schon durch die Kraft von nicht ganz 3^^" ausgedehnt, während zur Dehnung eines Stahldrahtes von gleichem Querschnitte um denselben Bruchtheil seiner Länge mehr als 170.000^^' erforderlich sind. Es ist bezüglich der Elasticität des ruhenden Muskels ferner noch sehr bemerkenswerth, dass dieselbe mit wachsender Dehnung zunimmt, d. h. dass die Dehnung um denselben Betrag desto mehr Kraft erfordert, je mehr der Muskel bereits gedehnt ist. Die wesentKchste physiologische Eigenschaft der Muskelsubstanz, auf welcher ihr Gebrauch zu mechanischen Wirkungen beruht, ist die „Keizbarkeit". Sie besteht darin, dass auf sehr verschiedene äussere Ver- anlassungen hin, welche man eben Keize nennt, in der Muskelsubstanz ein Process, der sogenannte Erregungsprocess stattfindet, welcher den mechanischen Zustand derselben ändert. Erregung der Muskelfaser. 1 3 Diese Zustandsänderung giebt sich zunächst dadurch zu erkeimeu, dass die Spannung des Muskels wächst. Man kann sich an seinem eigenen Körper leicht hiervon ülierzeugen. Lehnt man die Hand hei gebogen ge- haltenem Arme an ein unbewegliches Hinderniss leicht an, so fühlt man sogleich den Druck zu einer bedeutenden Höhe steigen, sowie man eine Anstrengung macht, den Arm zu strecken. Dies ist offenbar die Folge ver- grösserter Spannung der in den erregten Zustand übergegangenen Streck- muskeln, welche eben die Hand an das Hinderniss anpresst. Der ange- spannte Muskel wird also durch den Uebergang in den erregten Zustand gleichsam verwandelt in einen elastischen Strang, der über seine natür- liche Länge ausgedehnt ist und folglich strebt, sich zusammenzuziehen. In der That zieht sich denn auch der Muskel, wenn die Gegenkräfte kleiner sind als seine gesteigerte Spannung, zusammen, wobei natürlich die Spannung mehr und mehr abnimmt, wie bei jedem gedehnt gewesenen und sich zusammenziehenden elastischen Strange. Bei einer gewissen Ver- kürzung hört selbstverständlich — denn die Verkürzung muss ja ihre Grenze haben — die Spannung ganz auf. Die Länge, welche alsdann der Muskel erreicht hat, nennt man die „natürliche Länge des erregten Mus- kels". Sie ist bei kräftigen Muskeln etwas kleiner als die Hälfte der natür- lichen ungedehnten Länge des ruhenden Muskels. Man sieht hiernach, dass die Muskelsubstanz beim Uebergang aus dem ruhenden in den erregten Zustand mechanische Wirkungen in ihrer Umgebung ausüben kann. Ist nämlich das eine Ende des Muskels abso- lut fest, das andere Ende mit einem beweglichen Körper, z. B. einem Knochen verknüpft, so wird dieser durch die Verkürzung in Bewegung ge- setzt und es können dabei entgegenwirkende Kräfte, z. B. die Schwere, überwunden werden, oder es können, wenn blos die Trägkeit der Masse entgegenwirkt, mehr oder weniger bedeutende Geschwindigkeiten erzielt werden. Man weiss aus der täglichen Erfahrung, dass man mit seinen eigenen Muskeln fast jeden Augenblick auf diese Weise mechanische Effecte hervorbringt. Um eine deutlichere Vorstellung von der Art und dem möglichen Betrage der Effecte der Muskelzusammenziehung zu geljen, mag ein wirk- liches Beispiel von einem Froschmuskel in Zahlen vorgeführt werden. Vor Allem ist daran zu erinnern, dass mechanische Effecte von Kräften zu messen sind durch das Product der Kraft mit der Wegstrecke, durch welche sie gewirkt hat, welches Product in der Kunstsprache der Me- chanik „Arbeit" genannt wird. Die Einheit dieser Grössenart ist das „Grammmillimeter", im Folgenden wird sie durch das Zeichen «"""> oben an der Zahl angedeutet. Um nun von der möglichen Arbeits- leistung bei einer Muskelzusammenziehung Kenntniss zu ("rlialicn, muss 14 Arbeit des Muskels. man das Gesetz kenneu, nach welchem die Länge von der Spannung ab- hängt. Es stellt sich am anschaulichsten graphisch dar iu Form der so- genannten Dehnungscurve, einer Curve, deren (wagrechte) Abscisse die Spannung (in Grammen), deren (senkrechte) Ordinate die Länge (in Milli- metern) angiebt. Es sei nun ahcdefg (Fig. 1) die Dehnungscurve des ruhenden Muskels, dessen natürliche Länge (o a) = 40™™ angenommen ist, und dessen Länge für eine Spannung von 30 s"" also nach der Zeichnung 57mm ggjj^ würde. Dann ist der dreieckige Flächenraum mit einer krummen Seite a li gfe dch a das Maass für die Arbeit, welche es kostet, den Faden Fig. 1. 0 S iO IS 20 2S- 30 S 7 i'O 'fj j:o jr 60 Äs ro -rs so ss go gs i Y \ Nr N X X s. m \ \, u w a. '^ -^ 1 \ l c, \ ^^ d, V ^**w , 1 ■^ 1 « i M ^ , i ^ -J auf die Spannung von 30s'', resp. auf die Länge von 57 """ zu dehnen, und für die Arbeit, welche der Faden bei seiner Abspannung auch wieder leistet. Um dies besser einzusehen, substituire man für einen Augenblick der Dehnungscurve als Annäherung die geknickte treppenförmige Linie ah, h c, c d, d e, ef,f g, g. Dies heisst annehmen : um 5™™ (a b,) dehnt sich der Faden ohne Arbeit, dann dehnt er sich um weitere 4™™ {b c,) mit 5sr Spannung, also indem 5?^ durch 4™™ herabsinken (wenn wir uns die Spannung geradezu durch angehängte Gewichte bewirkt denken), was eine Arbeit von 4 X 5 = 20e™™ ist. Um weitere 3™™ (c d,) dehnt er sich, wenn der spannenden Last ös^ zugelegt werden. lO^^' sinken also durch 3™"^ herab, was eine Arbeit von 3 X 10 == 30s™m ausmacht. Zu- lage von weiteren ö""" brächte eine Dehnung von 2,5"™ {d e,) zuwege. Arbeit bei Entpannung des ruhenden Muslicls. lö Also Säuken Ib^' durch 2,5""°, damit geleistete Arljeit: 2,5 X 15 = 37,5?^"'" u. s. w. Mau sieht, uuter unserer allerdings nur angenähert richtigen Voraussetzung bemisst sich die bei der Anspannung des Fadens aufge- ■wandte Arbeit durch die Summe der rechteckigen Flächenstreifen, deren in der Linie a h zu messenden Breiten die Wegstrecken, deren der Ab- scissenaxe parallel zu messende Längen die durch diese Wegstrecken wirkenden Kräfte bedeuten. In dem gewählten Beispiele wäre die Arbeit somit numerisch 4 X 5 -f- 3 X 10 + 2,5 X 15 + 1,5 X 20 + 1 X 25 = 20 + 30 + 37,5 4- 30 -f- 25 = 142,5g™". Dass unter der ange- näherten Voraussetzung dasselbe Maass von Arbeit durch die elastischen Kräfte wieder geleistet wird bei Abspannung des Fadens, ist klar, denn der Faden könnte 25^'^ um 1"™ {g,f) heben; würden nun 5sr vom Faden getrennt, so höbe er die übrigbleibenden 20?'' um 1,5""" (/, e). Würden wieder 5^^ getrennt, so würden die übrigen 15 gehoben auf 2,5™™ (e, d) u. s. w. Denkt man sich die Treppenstufen immer kleiner, so nähert man sich immer mehr dem wahren Sachverhalt, die Summe der rechteckigen Treppenstufen, welche das Maass der Arbeit bildet, geht aber dadurch über in den vorhin erwähnten dreieckigen Flächenraum a h g von etwa 1908™™. Die Arbeit, welche ein gespannter elastischer Faden so bei seiner Abspannung leistet, kann sehr verschiedene Effecte haben. 1. Kann der Effect ein der Arbeit äquivalenter Hub schwerer Körper sein, so dass z. B. unter den Voraussetzungen von vorhin ein Hub von 190^™™ be- werkstelligt würde. Dies geschieht ganz sicher dann, wenn man die äusseren Umstände so einrichtet, wie vorhin angenommen wurde, d. h. wenn man die Abspannung des Fadens nach und nach vornimmt, derart, dass in jedem Augenblick die Spannung des Fadens nur ein unmerklich klein wenig grösser ist als die noch daran hängende Last. 2. Kann eine der Arbeit äquivalente lebendige Kraft in einer mit dem Ende des Fadens verbundenen Masse erzeugt werden. Dies kann z. B. unter folgenden Um- ständen geschehen. Der Faden sei wagrecht ausgespannt, ans Ende sei eine Masse angeknüpft, die sich auf einer widerstandslosen Bahn bewegen kann. Man denke sich diese Masse anfangs festgehalten und plötzlich dem Zuge des Fadens überlassen. Die Spannkräfte desselben werden als- dann die Masse auf dem Wege, den sie nach dem angeknüpften Ende des Fadens hin durchläuft, beschleunigen und nach den allgemeinen Grundsätzen der Dynamik schliesslich eine Geschwindigkeit in der Masse hervorbringen, welche der aufgewandten Arbeit entspricht. Der Masse von lOfe"' könnte auf diese Weise in unserem Beispiele eine Geschwindig- keit von etwas über 60<=™ per Secunde beigebracht werden durch die 1 6 Arteit des erregten Muskels. Arbeit des sich zusammenziehenden Fadens (die Geschwindigkeit näm- lich, welche beim Fallen durch 19™™ erlangt wird). Wenn man übrigens einen solchen Versuch wirklich anstellt, so er- langt die Masse nicht ganz die berechnete Geschwindigkeit, weil ein Theil der Arbeit dazu verbraucht wird, die Widerstände im Faden selbst bei der raschen Zusammenziehung zu überwinden. Für diesen Theil der Ar- beit wird dann selbstverständlich ein äquivalentes Wärmequantum ent- wickelt. Lässt man den Faden ganz frei sich entspannen, ohne dass eine Gegenkraft oder eine träge Masse am freien Ende angeknüpft ist, dann wird die ganze Arbeit zur Ueberwindung der Widerstände verwandt und in Wärme verwandelt. Der Muskel, dessen Dehnungscurve im ruhenden Zustande a..d..g ist, habe im erregten Zustande die natürliche Länge o K^ 14,5™™ (Fig. 1) und seine Dehnungscurve in diesem Zustande sei K J; es bedürfe also einer Spannung von 97 s^" und einer Arbeit von etwa 3621^™™ (gemessen durch Flächenraum K J h), um den erregten Muskel auf die Länge von 57''™ zu bringen. Dieselbe Arbeit leistet er auch wieder, wenn man ihm gestattet, sich auf die Länge von 14,5™™ zusammenzuziehen. Beides lässt sich genau nach dem Schema der vorigen Betrachtung einsehen. Es sei der gedachte Muskel im ruhenden Zustande auf die Länge von 57™™ gedehnt, was — wie gezeigt — einen Aufwand an Arbeit von 190?™™ erfordert. Nun werde er in den erregten Zustand versetzt, und nachdem dies vollständig geschehen ist, gestatte man ihm sich zusammenzuziehen; dann leistet er, wie gezeigt wurde, eine Arbeit von 3621?™™, also 3431?™™ mehr, als auf die Anspannung im ruhenden Zu- stande verwandt ist. Er zieht sich eben mit viel grösserer Spannung (im Anfang z. B. mit der Spannung 97?^') zusammen, als mit welcher er ge- dehnt ist (letztere war ja in Maximo 30?'), und überdies ist noch die vom Muskelende bei der Zusammenziehung zurückgelegte Wegstrecke {K h) grösser als die bei der Dehnung in Ruhezustande zurückgelegte {a h). Sofern die berechnete Differenz von 3431?™™ als mechanische Arbeit, z. B. als Hub einer Last erscheint, muss also im Muskel mecha- nische Arbeit entstanden sein aus einer andern Form der Kraft, und dies ist der eigentliche Zweck des Muskels im thierischenHaus- halt. Diesen Theil der Muskelarbeit kann man daher passend „Nutz- effect" nennen. Er ist zu bemessen nach dem Flächeuraum K a g Im der Figur 1. Die andere Form der Kraft, aus welcher der Nutzeffect des Muskels entsteht, ist unzweifelhaft chemische Spannkraft. Die ganze Arbeit der Zusammenziehung des erregten Muskels kann nur dann als Hub einer Last zum Vorschein gebracht werden, wenn man den Muskel von der Anfangsspannung an (im vorliegenden Verscliiedene Arten der Arbeitsleistung. 17 Beispiel 97^') allmählich entlastet, so dass in jedem Augenblick die Spannung nur eben die Last übertrifft. Der Versuch kann folgendermassen angestellt werden: Der Muskel wird im Euhezustand gedehnt zu einer gewissen Länge (o h Fig. 1); nun wird die Last (97«') angehängt, welche voraussichtlich seiner Spannung im tetanisirten Zustande bei derselben Länge entspricht. Diese Last muss natürlich vorläufig unterstützt werden, weil sie ihn im Ruhezustände viel weiter dehnen würde. Jetzt wird der Muskel erregt. Er kann natürlich erst dann anfangen sich zu contrahireu, wenn der erregte Zustand vollständig entwickelt ist, weil erst dann die Spannung bei der betreffenden Länge die angehängte Last aufwiegt, resp. ein wenig überwiegt. Durch eine geeignete Hebelvorrichtung muss dann dafür gesorgt sein, dass die Last im Aufsteigen für den Muskel leichter wird nach Massgabe seiner Verkürzung. Im lebenden Menschen scheinen vermöge der Gelenkseinrichtungen manche Muskelgruppen bei den wichtigsten Bewegungen nach diesem vortheilhaftesten Principe zu arbeiten. Verknüpft man mit dem ruhenden Muskel eine träge Masse und überlässt dieselbe, nachdem die Erregung vollständig entwickelt ist, den elastischen Kräften zur Bewegung, so wird nie die ganze Arbeit in leben- dige Kraft, resp. Wurf des Gewichtes mit der entsprechenden Geschwin- digkeit verwandelt. Ein namhafter Bruchtheil der (durch den Flächen- raum KJh gemessenen) Arbeit wird dabei stets in Wärme verwandelt und kommt also den Zwecken des Subjectes nicht zu Gute. Viel weniger arbeitet der Muskel, wenn man ihn erregt unter den Umständen, unter welchen es gewöhnlich bei physiologischen Ver- suchen geschieht. Man hängt nämlich meist ein Gewicht an den ruhen- den Muskel und reizt ihn. Da der erregte Zustand allmählich entsteht, so kommen jetzt die grössten Spannkräfte, welche bei den vorher beschrie- benen Vorgängen zu Anfang wirken, gar nicht zu Stande, denn ehe noch der Muskel sich in den elastischen Faden verwandelt hat, dessen natür- liche Länge (um beim obigen Beispiel zu bleiben) o K und dessen Span- nung bei der factisch vorhandenen Länge o ä, daher 97si' ]jeträgt, ist die angehäugte Last (von 30 s') schon gestiegen, der Muskel hat sich schon verkürzt. Sie fängt nämlich hier sofort an zu steigen, sowie der erregte Zustand anfängt sich zu bilden, da sie mit der Spannung des Muskels im Ruhezustand im Gleichgewicht war. Im Anfang der Entwickelung des erregten Zustandes ist aber selbstverständlich die Spannung des Muskels für die Länge o h noch nicht 97^' (wie auf der Höhe der Er- regung), sondern sie ist erst ganz wenig über SO«'". Wenn wir die 30 s"" Spannung nicht durch die Schwere einer trägen Masse hervorbringen, sondern durch Spannung einer Feder, und von der Fick, Physiologie. 3. Aufl. 2 18 Verschiedene Arten der Arbeitsleistung. Trägheit der mit dem Muskel verknüpften Massen ganz abstraliiren, und wenn wir ferner annehmen, dass die Gegenkraft der Feder auch während der Zusammenziehung des Muskels constant = 30 bleibt (diese Bedin- gungen lassen sich annähernd experimentell herstellen), dann können wir auch wieder die Arbeit, die der Muskel beim Erregen leistet, zum voraus berechnen, wofern wir die Dehnungscurve des erregten Muskels kennen. Unter den gemachten Voraussetzungen wird sich nämlich offenbar der Muskel so zusammenziehen, dass seine Spannung fortwährend == 30 bleibt, er wird sich aber so weit zusammenziehen, dass er schliesslich die Länge hat, welche dem vollständig erregten Muskel für die Spannung von 30 si" zukommt. In unserm Beispiel also die Länge o m. Es misst also jetzt das Eechteck mn gh (m « = 30 ; m h = 23, also m n X m h) = 690 s^'™™ die Arbeit. Sind mit dem Muskelende träge Massen verbunden, dann können allerdings grössere Spannungen als die ursprünglich am ruhenden Muskel angebrachte zur Wirksamkeit kommen, denn es bleibt alsdann das Muskel- ende zurück und der Muskel hat also noch eine beträchtliche factische Länge in den späteren Stadien der Entwickelung des Erregungszustandes, wo seine natürliche Länge schon beinahe auf die Grösse o Z" reducirt ist. Daher ist er dann um einen grossen Bruchtheil seiner natürlichen Länge gedehnt und übt auf die mit ihm verbundenen trägen Massen eine grosse beschleunigende Kraft aus. Die geleistete Arbeit ist alsdann grösser als das Eechteck mngh; wie gross? das hängt von den besonderen Um- ständen des Versuchs ab. Es ist leicht zu sehen, dass der Muskel beim Uebergang in den er- regten Zustand die frei an ihm hängende Masse um so mehr beschleu- nigen und mithin senkrecht um so höher aufwerfen wird, je rascher er aus dem ruhenden in den erregten Zustand übergeht. Daher kommt es, dass der Muskel bei höheren Temperaturen (Froschmuskel bis zu 30 und einigen Graden) unter sonst gleichen Umständen mehr Arbeit leistet, obgleich die Dehnungscurve nicht wesentlich anders zu verlaufen scheint. Die praktische Brauchbarkeit der Muskelsubstanz zu immer von Neuem wiederholter Arbeitsleistung beruht neben der geschilderten Er- regbarkeit auf einer zweiten Eigenschaft, vermöge deren der durch die Erregung gesetzte veränderte Zustand sehr bald von selbst wieder auf- hört, sowie die Erregungsursache aufgehört hat zu wirken. So dehnt sich der noch so kräftig zusammengezogen gewesene Muskel unter ganz ge- ringer Spannung wieder zu seiner ursprünglichen Länge aus, und ist bereit, von Neuem gereizt, durch eine abermalige Zusammenziehung einen mechanischen Effect hervorzubringen. Reizung des Muskels durch die Nerven. 19 Das Volum des Muskels bleibt bei seiner Zusaininenzieliung fast ganz ungeäudert. Man hat nur eine ganz ininime Verkleinerung desselben, also eine minime Vergrösserung des specifisclien Gewichtes bemerkt. Es muss demnach die Dicke des Muskels nahezu in demselben Maasse zu- nehmen, in welchem seine Länge abnimmt. 2, Capitel. Die Keize des Muskels, Wie schon (S. 12) bemerkt wurde, kann der Uebergang des Muskels aus dem ruhenden in den erregten Zustand durch verschiedene Einwir- kungen veranlasst w^erden, welche wir als Eeize bezeichnen. So lange der Muskel als Theil des lebenden Organismus functionirt, ist der Nervenreiz die regelmässige Veranlassung zu seiner Zusammenziehung. Es ist näm- lich jede Muskelfaser des Körpers an einer Stelle — und wahrscheinlich nur an einer — mit einem Eudzweig einer Nervenfaser verknüpft. Die Art dieser Verknüpfung hat mau sich so vorzustellen, dass der feine Proto- plasmafadeu des Nervenfaserzweiges, der sogenannte Axencylinder, in das Protoplasma der Muskelfaser ganz stetig übergeht. Das Muskelproto- plasma und das Nervenprotoplasma sind ja wahrscheinlich auch nur wenig unterschiedene Modificationen derselben Substanz. Der Uebergang ist vermittelt durch ein Bindeglied, die sogenannte Endplatte des Ner- ven, welches wohl aus einer dritten Modification des Protoplasma gebil- det ist. Die Hülle der Nervenfaser, das „Neurilemm", geht in die Hülle der Muskelfaser, das „Sarkolemm", vollkommen stetig über; beide Hüllen sind vermuthlich auch aus ganz gleichem Stoffe gebildet, welcher an der Function der Gewebselemente keinen thätigen Antheil nimmt. In den Nervenfasern vermag sich nun ein später noch näher zu er- örternder Process fortzupflanzen, der wie der analoge in der Muskelfaser „Erregungsprocess" genannt wird. Sowie dieser Process in einer moto- rischen Nervenfaser bis zu dem mit dem Muskelschlauchinhalt verknüpf- ten Ende gekommen ist, beginnt in diesem gleichfalls der schon beschrie- bene, mit der Contraction einhergehende Erregungsprocess der Muskel- faser. Die Erregung der Nervenfaser kann an jedem Punkte derselben auf Grund gewisser äusserer Einwirkungen der sogenannten Nervenreize ent- stehen, wie später noch ausführlich zu entwickeln ist. Im regelmässigen Lebensverlaufe geht aber der Erregungsvorgaug der motorischen Nerven- faser stets von ihrem andern, im Hirn oder Ktickenmarke eingepflanzten Ende aus. Es scheint, dass die normale I]rrogung der centralen Enden der motorischen Nerven stets ein aus einer Keilie von einzelnen ]injtulse,n 2-x- 20 Tetanus. bestehender Act ist. Darauf deutet die eigenthümliche Natur der vom Nervensystem veranlassten Zusammenziehung des Muskels, der sogenannten „willkürlichen Zusammenziehung". Sie hat nämlich nicht den Charakter eines neuenruhigen Gleichgewichtszustandes, sondern eines oscillatorischen, in dem beständig kleine Schwankungen der Spannung erfolgen. Hierauf deutet schon die allgemein bekannte Erscheinung, dass ein sehr lange Zeit in grosser Spannung willkürlich erhaltener Muskel das Glied, auf welches er wirkt, sichtbar erzittern macht. Aber wo auch kein Zittern sichtbar wird, hört man bei Auscultation gespannter Muskelmassen mit unmittelbar auf- gelegtem Ohre oder mit dem Stethoskope einen Ton von nahezu 40 Schwin- gungen in der Secunde. Man hat aber Grund anzunehmen, dass der gehörte Ton der erste Oberton ist und im Muskel in Wirklichkeit nur 18 — 20 Schwin- gungen per Secunde erfolgen, dass also eben so viele Impulse in der Se- cunde in der Eegel vom centralen Nervensystem zum Muskel ausgesandt werden. In neuerer Zeit sind übrigens gegen die Lehre vom Muskeltone nicht ganz ungegründete Zweifel erhoben, so dass dieselbe vorläufig nur als eine sehr wahrscheinliche Hypothese zu betrachten ist. Den oscillatorischen Contractionszustand des Muskels, in weichem er durch immer von Neuem wiederholte Eeizanstösse erhalten wird, pflegt man als „Tetanus" zu bezeichnen. Es mag hier ausdrücklich bemerkt werden, dass wir bei der zuerst gegebenen Beschreibung des Erregungs- zustandes und der dabei zu beobachtenden mechanischen Wirkungen diese oscillatorische Art desselben, den „Tetanus", im Auge gehabt haben. Der Erregungsprocess kann im Muskel auch unmittelbar, ohne dass seine Nerven im Spiele sind, zu Stande gebracht werden. Der sichere Be- weis für diesen in früherer Zeit viel bestrittenen Satz kann dadurch ge- führt werden, dass man einen Muskel von seinen Nerven vollständig trennt und ihn dann noch durch gewisse Eeize zur Zusammenziehung ^bringt. Die vollkommene Trennung kann natürlich nicht mit dem anatomischen Messer bewerkstelligt werden, da sich die zwischen den Muskelfasern und in dieselben eindringenden Nervenelemente nicht wegschneiden lassen, ohne dass die Muskelfasern selbst verletzt werden. Es gelingt aber, einen nervenfreien Muskel herzustellen, wenn man beim lebenden Thiere einen motorischen Nervenstamm durchschneidet und das Thier noch längere Zeit am Leben erhält. Wie die liistiologische Untersuchung ausweist, de- generirt dann der peripherische Stumpf der Nerven vollständig und man hat nach einiger Zeit einen von functionsfähigen Nervenelementen und Endplatten vollkommen freien Muskel, der immer noch erregbar ist. Das erst in neuerer Zeit bekannt gewordene, „Curare" genannte amerikanische Pfeilgift giebt uns ein Mittel, in wenigen Minuten voll- kommen entnervte Muskelu herzustellen. Wird nämlich dies Gift in die Elektrische Reizung der Muskelfaser. 21 Säftemasse eines Thieres gebracht, so werden die Zwischenglieder zwischen Nerven nnd Mnskelfaser. die Endplatten, functionsunfähig, aber die Muskeln, die nun nicht mehr vom Nerven aus gereizt werden können, zeigen noch directe Erregbarkeit. Unter den directen äusseren Einwirkungen, welche den Muskel in den Erregungszustand versetzen, unter den sogeuanuteu „Muskelreizen" ist der bemerkenswertheste der elektrische. Durch gewisse elektrische Einwirkungen nämlich gelingt es, den Muskel in gerade so ausgiebige und andauernde Zusammenziehung zu versetzen, wie wir sie bei dem natür- lichen Gebrauche der Muskeln unter der Herrschaft des Nerveusystemes beobachten. Um diesen Erfolg zu erzielen, muss der elektrische Strom die Muskelfaser in regelmässigem Wechsel durchfahren und wieder aufhören, und zwar mtissen etwa 16— 20 solcher Stromstösse in der Secunde erfolgen, wenn eine anscheinend constaute ausgiebige Zusammenziehung, ein „Te- tanus" erfolgen soll. Es mag hier bemerkt sein, dass eben nur durch periodisch wiederholte Impulse ein der willkürlichen Zusammenziehung ähnlicher Contractionszustand im Muskel hervorgerufen werden kann, und dies ist wohl der beste Beweis für die obige Behauptung, dass auch die natürliche Erregung der Muskeln vom Nervensystem aus in periodisch wiederholten Impulsen besteht. Um eine Keihe von elektrischen Stromstössen durch irgend einen Leiter zu senden, kann man sehr zweckmässig denselben in den Kreis der secundären Rolle eines Inductionsapparates einschalten und dann den Strom in der primären Eolle in regelmässiger Aufeinanderfolge schliessen und öffnen. Dass bei diesem Verfahren die einzelnen momentanen Strom- stösse den Muskel abwechselnd in entgegengesetzter Richtung durchlaufen, hat, abgesehen von gewissen, hier nicht zu besprechenden feineren Beson- derheiten, keinen Einfluss auf die Entstehung des Tetanus. Der Inductions- apparat l>ildet somit das l)este Mittel, den Muskel zu tetanisiren. Schon wenn die Schläge einen sehr massigen Stärkegrad haben, l:>ringt man das Maximum der möglichen Verkürzung um etwas mehr als die Hälfte der ursprünglichen Länge hervor. Bei geringerer Stärke der Schläge fällt die Verkürzung des Muskels natürlich auch geringer aus. Sendet man einen elektrischen Strom von längere Zeit dauernder con- stanten Stärke durch einen Muskel, so geräth der Muskel ebenfalls in einen andauernd veränderten Zustand, den man auch als Erregungszustand be- zeichnen kann, da er auch mit Verkürzung einhergeht. Es ist aber kein oscillatorischer Zustand und kein Tetanus. Die Contraction unter dem Einflüsse des constanten Stromes erreicht auch wohl kaum jemals den Be- trag wie beim Tetanus, und besonders kann sie nie so lange constant auf gleicher Höhe erhalten werden, sondern lässt, selbst wenii der dckliische 22 WärmestaiTe. Chemische Eeizung. Strom sehr stark ist, immer 1»ald nach. Im Momente des Hereinbrechens des Stromes in den Muskel erfolgt regelmässig eine die dauernde bedeu- tend übertreffende momentane Verkürzung, und sehr häufig zuckt der durchströmte Muskel auch beim Aufhören des Stromes noch einmal, ehe er wieder zur ursprünglichen Ruhe zurückkehrt. Es erweisen sich somit die Aendernngen der Stromstärke im Muskel, insbesondere ihr Austeigen vom Werthe Xull beim Beginne und ihr Zurücksinken zum Werthe Null beim Aufhören, als besonders wirksame Momente. Dadurch wird begreiflich, dass eine Reihe von Stromstösseu, wobei die Stromstärke fortwährend schwankt, eine besondere energische Erregung andauernd unterhalten kann — eben den schon beschriebenen „tetanischen" Zustand. Ein sehr bemerkenswerther Umstand an der elektrischen Reizung ist der, dass die reizende Einwirkung selbst das Muskelgewebe in keiner Weise verletzt, und dass daher die elektrische Reizung beliebig oft mit Erfolg wiederholt werden kann. Freilich nimmt der Erfolg an einem aus dem lebenden Thiere herausgenommenen Muskel bei öfterer Wiederholung der Reizung allmählich ab, aber nur weil der Erregungszustand selbst, wie weiter unten ausführlicher zu betrachten ist, die Muskelsubstanz verändert. Von den anderen reizenden Einflüssen steht in dieser Bezie- hung den elektrischen noch am nächsten die Wärme. Wenigstens kann man hei kalten Froschmuskeln beobachten, dass sie durch Erwärmung um 10 — 20", wenn die erreichte Temperatur unter 40" liegt, in eine ähn- liehe andauernde Zusammenziehung geratheu wie beim Durchfliessen eines constanten Stromes, und dass dieser Vorgang mehrere Male wieder- holt werden kann, ohne dass irgend ein Theil des Muskels getödtet wird. Erwärmt man dagegen einen Froschmuskel auf etwas über 40^ oder einen Warmblütermnskel auf etwa 45", so tritt eine energische und ebenso aus- giebige Zusammenziehuug ein wie beim heftigsten Tetanus, nun bleibt aber der Muskel verkürzt und kommt nie wieder zu seinem ursprünglichen Zustande zurück; er ist todt. und zwar im Zustande der sogenannten Wärmestarre. Ausser der Elektricität und Wärme kann die Muskelfaser noch er- regt werden durch chemische und mechanische Angriffe. Von chemischen Reagentien wirkt am sichersten reizend auf die Muskelfaser das Ammo- niak, dessen Berührung schon in sehr geringer Menge eine andauernde, aber jedesfaUs nicht tetanische Zusammenziehuug hervorbringt. Sie hört allmählich wieder auf. wie es scheint mit Verflüchtigung des Ammo- niaks, und kauu mehrere Male nacheinander am selben Muskel hervor- gebracht werden. Andere Reagentien als Säuren, Alkalien und Mineral- salze wirken nur unsicher. Zuckung des Muskels. 23 Mechanische Aiigrilfe sclieineii nur dann eine Erregung hervorzu- hringeu, wenn ein Theil des Muskelgewebes dadurch zerstört wird. So bringt jede Zerquetschung eines Endes den Muslcel zu einer rasch vor- übergehenden Zusammenziehung, die allerdings in eine danernde und als tetanisch zu bezeichnende verwandelt werden kann, wenn man rasch nacheinander immer neue Punkte der Zerquetschung unterwirft. Natür- lich wird auf diese Weise sehr rasch der ganze Muskel zerstört. Die zu- weilen aufgestellte Behauptung, dass auch rasche, jedoch nicht zerstörend wirkende Dehnung reizend auf den Muskel wirke, ist entschieden nicht richtiof. 3. Capitel. Die sogenannte Zuckung des Muskels. Wenn ein einmaliger momentaner Keizanstoss , sei es durch Vermittlung des Nerven, sei es direct, den Muskel trifft, so entsteht in ihm ein nur kurz dauernder Erregungsvorgang, den man eine Zuckung nennt. Dieser Vorgang, der im normalen Lebensverlaufe wohl nur am Herzen vorkommt, ist gleichwohl sehr vielfach experimentell studirt worden und hat auch in der That grosses Interesse, weil bei ihm manche Grundeigen- schaften der Muskelsubstanz in der einfachsten Form zur Anschauung kommen. Um die Zuckung genauer zu studiren, muss sie durch einen elektrischen Schlag ausgelöst werden, der entweder auf den Muskel un- mittelbar oder auf seine Nerven wirkt, denn nur bei dieser Keizungsart kann man das Quantum des Keizes fein aljstnfen, den Augenblick des- selben genau bestimmen und den Versuch am selben Muskel viele Male wiederholen. Den zeitlichen Verlauf der Zuckung kann man durch gra- phische Darstellung der Muskelverkürzung anschaulich darstellen, wozu die sogenannten „myographischen" Vorrichtungen dienen. Siebe stehen in einem um eine wagrechte Axe drehbaren Hebel, an welchem aufwärts die Spannkraft des Muskels, abwärts ein Gewicht angreift; in der Verlänge- rung des Hebels ist eine Zeichenspitze angel^racht, welche an einem rasch gedrehten Cylinder oder einer vorübergeführten Platte eine Spur ihrer Bewegung in Form einer Curve hinterlässt, deren Abscissen der verlaufen- den Zeit, deren Ordinaten der Höhe des Zeichenstiftes und somit der Ver- kürzung des Muskels in jedem Augenblicke entsprechen. Will man ein- fach ein Bild vom Gange der Verkürzung bei fortwährend gleichbleiben- der Spannung haben, so muss man dafür sorgen, dass möglichst wenig Masse in rasche Bewegung kommt, die vermöge der erlangten Geschwin- digkeit über die Gleichgewichtslage hinausgeschleudert würde. Man muss 24 Graphische Darstellung der Zuckung. ZU diesem Zwecke den Hebel möglichst leicht herstellen und den Mnskel an einem grossen, das Gewicht an einem ganz kleinen Hebelarm angreifen lassen. Diese Anord- nung ist in der leicht verständlichen Zeich- nung Fig. 2 schema- tisch dargestellt, Lässt man an einer solchen Vorrichtung einen Muskel zucken, so erhält man eine Curve von der Gestalt der Fig. 3. r ist der Punkt der Tafel, vor welchem der Zeichen- stift stand in dem Au- genblicke, wo der elek- trische Schlag den Muskel traf. Erst eine merkliche Zeit später, während die Zeichentafel den Weg von r bis zum Ansteigen der Curve zurückgelegt yi„ 3 hat, beginnt, wie man ^ sieht, die Zusammen- Ziehung. Dieser Zeit- raum — das Stadium der latenten Reizung ge- nannt — beträgt etwa 0,05". Die Zusammen- ziehung, durch die Er- hebung der Curve über die Wagrechte r s repräsentirt, erfolgt, wie die nahezu gerade Form des Anf angstheiles zeigt, der Zeit ziemlich proportional, dann mit abnehmen- der Geschwindigkeit, bis sie bei g in Wiederausdehnung übergeht. Bei s hat der Muskel seine ursprüngliche Länge fast wieder erreicht. Dieser ganze Vorgang dauert, wie der an der wagrechten Linie angebrachte Zeit- massstab von Hundertelsecunden sehen lässt, ungefähr '/,o Secunde, wo von etwa die Hälfte auf die Zusammenziehung, die Hälfte auf die Wieder- ausdehnung geht. Eine minime Spur von Zusammenziehung bleibt aber in der Regel nach einer Zuckung noch eine längere Zeit zurück. Beim Froschmuskel und wahrscheinlich beim Warmblütermuskel ebenso ist die Dauer der Zuckung abhängig von der Temperatur. Durch Abkühlung kann sie weit über '/lo Secunde ausgedehnt und durch Erwärmung weit unter 7,o Secunde herabgemindert werden. Suramirung der Zuckungen. 25 Es ist von vornherein zu erwarten, dass die Höhe des Gipfels einer Zuckungscurve über der Grundlinie oder der Betrag der Verkürzung des Mnskels von der Intensität des Eeizanstosses, also bei elektrischer Rei- zung von der Stärke des elektrischen Schlages abhängig ist. Bei experi- menteller Prüfung zeigt sich indessen, dass dies nur in sehr beschränktem Maasse der Fall ist. In der That, lässt man zunächst sehr schwache und dann immer stärkere Schläge einwirken, so erhält man zuerst gar keine Zuckung, dann von einem gewissen sehr kleinen Werthe der Schlagstärke an kleine, eben merkliche Zuckungen, die mit der Schlagstärke an Höhe wachsen; aber schon sehr bald ist ein Maximum erreicht, über welches hinaus die Zuckung nun nicht mehr wächst, wenn man auch die Stärke des Schlages noch mehrere hundert Male grösser macht. Dieses Verhalten der Muskelfaser ist um so räthselhafter , als mit dem Maximum der Zuckung keineswegs etwa die Verkürzung erreicht ist, welcher die Faser vermöge ihres mechanischen Baues überhaupt fähig ist. Im Gegentheil beträgt die Verkürzung bei der maximalen Zuckung in der Regel nicht mehr als etwa V5 der Faserlänge, während sich dieselbe im Tetanus und bei der Wärmestarre um nahezu Y- ihrer Länge verkürzen kann. Zu diesem im Mechanismus der Faser begründeten Maximum der Verkürzung kann dieselbe durch einen einzelnen momentanen Reizanstoss überall nicht gebracht werden, mag derselbe so gewaltig sein, wie er will. Bei einem Muskel nämlich beim Froschherzen hat man trotz der sorgfältigsten Abstufung der Reizstärke untermaximale Zuckungen noch nicht hervorbringen können. Es zuckt auf einen Reizanstoss entweder gar nicht oder maximal. Lässt man auf einen Muskel, während eine Zuckung im Gange ist, einen zweiten elektrischen Schlag wirken, so zieht er sich mehr zusammen als bei einer einzelnen maximalen Zuckung; lässt man dann einen dritten Schlag wirken, so geht die Zusammenziehung noch weiter u. s. f., so je- doch, dass jeder folgende Reizanstoss weniger zur Zusammenziehung hin- zufügt als der vorhergehende und dass, wenn die Reihe von Schlägen fort- gesetzt wird, bald eine Grenze der Zusammenziehung erreicht wird. Folgen die Schläge langsam aufeinander, so sieht man bei graphischer Darstel- lung zwischen je zwei Schlägen den Zeichenstift wieder etwas sinken, folgen sie aber schnell aufeinander, etwa 20-30 in jeder Secunde; so kommt es zu jener ausgiebigen dauernden, anscheinend gleichmässigen Zusammenziehung des Muskels, die schon früher als Tetanus beschrie- ben ist. Derselbe erscheint somit nunmehr als das Ergebniss der Summi- rung von einzelnen Zuckungen. In der Regel wird, wie wir sahen, die Muskelerregung von der Nervenfaser aus verursacht, welche nur an (Miicni Tunkte, wo sie mit der 26 Fortpflanzung der Erregung in der Muskelfaser. Muskelfaser in Verbindung tritt, auf dieselbe erregend wirken kann. Da aber auch bei dieser Erregungsweise die ganze Muskelfaser in den Er- regungszustand übergebt, so muss dies Gebilde neben der Eeizbarkeit noch die Fähigkeit besitzen, den an irgend einer Stelle in ihm entstan- denen Erregungszustand fortzupflanzen. Diese Fortpflanzung geschieht keineswegs etwa mit blitzähnlicher, sondern mit sehr massiger Geschwin- digkeit, welche mit ziemlicher Genauigkeit beim Ablaufe einer durch elektrischen Keizanstoss ausgelösten Zuckung bestimmt werden kann. Um von vorneherein sicher zu sein, dass die Muskelfasern nicht an allen Stellen gleichzeitig gereizt werden, beschränkt man den elektrischen Schlag auf eine kleine Strecke am einen Ende eines möglichst langfase- rigen Muskels. Der Sartorius des Frosches ist hierzu sehr geeignet. Liegt der Muskel wagrecht auf einer festen Unterlage, so kann man seine mit der Verkürzung einhergehende Verdickung an verschiedenen Stellen sichtbar machen, indem man an diesen Stellen leichte Hebelchen auf ihn auflegt, die mit der Verdickung der betreffenden Stellen sich erheben müssen, und wenn die Auflagerungsstelle dem Drehpunkt nahe, die freie Spitze des Hebels von diesem Punkte weit entfernt liegt, so zeigt letztere durch ihre Erhebung die Verdickung in sehr vergrössertem Masstabe an. Lässt man auf diese Weise zwei Hebelspitzen ihre Erhebungen an "eine rasch vorübergeführte Zeichenfläche anschreiben, so kann man bemerken, dass sich der der gereizten Stelle näher aufliegende Hebel früher erhebt als der von ihr entfernter aufliegende. Kennt man die Entfernung der Auflagerungsstellen und die Geschwindigkeit der Zeichenfläche, so kann man aus einem solchen Versuche die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Erregungsprocesses in der Muskelfaser berechnen. An ausgeschnitteneu Froschmuskeln hat sich auf diese Weise der Werth der Fortpflanzungs- geschwindigkeit zu etwa 3™ per Secunde ergeben. An ausgeschnittenen Warmblütermuskeln sind Werthe bis zu 6™ per Secunde beobachtet, und da diese Grösse beim ausgeschnittenen Muskel rasch abnimmt, lässt sich vermuthen, dass im lebenden Thiere dieselbe wohl noch etwas grösser ist. Beobachtungen über gewisse später zu erörternde elektrische Erscheinungen am Muskel des lebenden Menschen deuten darauf, dass hier die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung vielleicht bis 13™ per Secunde betragen kann. Obwohl diese Werthe Grössen von viel niedrigerer Ordnung sind als die Fortpflanzungsgeschwindigkeiten physikalischer Agentien, als Schall und Licht in homogenen Medien, so sind sie doch gross genug um die An- nahme zu rechtfertigen, dass selbst bei einer rasch verlaufenden Zuckung in jedem Augenblicke alle Theile der Faser in nahezu gleichem Zustande der Contractiou sind. Die einzelne Muskelfaser ist nämlich höchstens ö*^"* Chemische I'rocesse im Muskel. 27 lang und jede Phase des Erregungszustandes wird also schon nach 0,016" über die ganze Faser verbreitet sein, selbst wenn sie am Ende ent- standen ist. Die Versuche über die bei der Zuckung längs der Faser fortschrei- tende Verdickung haben noch das bemerkenswerthe Resultat ergeben, dass, auch wenn ein elektrischer Strom die ganze Länge der Muskelfaser durchmesst, der Erregungszustand keineswegs au allen Punkten derselben gleichzeitig entsteht, vielmehr ist beim Hereinbrechen des Stromes in die Faser blos seine Austrittsstelle, Kathode, Sitz der Reizung, von wo aus sich dann die Erregung fortpflanzt. Beim Aufhören des Stromes, sofern dasselbe überall reizeud wirkt, ist die Eintrittsstelle, Anode, der Ort des Reizes. Bei einem momentanen Stromstoss ist, wie beim Hereinbrechen eines dauernden Stromes, die Reizung auf die Kathode beschränkt. 4. Capitel. Chemischer Process und Wärmeentwickelung im Muskel. Schon aus Betrachtungen allgemeinster Art lässt sich der Schluss ziehen, dass bei der Erregung des Muskels chemische Processe in dem- selben verlaufen müssen, und zwar solche, bei welchen von chemischen Verwandtschaftskräften positive Arbeit geleistet wird, d. h. bei welchen im Grossen und Ganzen einander anziehende Atome dieser Anziehung Folge geben. In der That hat sich ja gezeigt, dass ein Muskel bei jeder Zuckung oder Tetanisirung eine Veränderung an den ihn umgebenden Körpern hervorbringen kann, z. B. Massen in Bewegung setzen oder Lasten heben, d, h. Kräfte überwinden. Wenn nun, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat, der Muskel nach Ablauf des Actes ganz genau das- selbe Ding wäre wie vorher, so hätten wir in dem Muskelacte eine Wirkung ohne Ursache vor uns. Veränderungen der gedachten Art, wie Erhebung von Lasten oder Bewegungserzeugung, können überall nu-ht stattfinden, ohne dass eine Veränderung der entgegengesetzten Art, wie Annäherung einander anziehender Körper oder Verzögerung von Bewe- gung, geschieht. So inuss z. B. an einem über eine Rolle geschlungenen Faden das eine Gewicht sinken, wenn das andere steigen soll, und um einen Mühlstein in Bewegung zu setzen, wird der Wasserstrom, der an das Rad anprallt, verzög(!rt. Es müssen also auch im Muskel irgendwelche anziehende Kräfte positiv gewirkt haben, um die Wirkung auf äussere Körper möglich zu machen. Selbstverständlich kann man nur an che- mische Anziehungskräfte denken. Es muss also der Muskel, nachdem er 28 Ermüdung des Muskels. eine Zuckung oder einen Tetanus vollführt hat, in seiner chemischen Constitution doch nicht mehr genau dasselbe sein wie vorher. Die soeben aus den allgemeinsten Principien der Mechanik gezo- gene Folgerung wird wesentlich gestützt durch alltäglich anzustellende Beobachtungen am eigenen Körper. Wenn man nämlich eine Muskel- gruppe wiederholt zu energischen Leistungen gebraucht hat, so merkt man leicht, dass dieselbe nicht mehr genau dasselbe Ding ist wie zu An- fang, denn sie folgt einem neuen Willensimpulse nicht mehr mit derselben Energie, sie ist, wie man sich auszudrücken pflegt, „ermüdet". Im leben- den Körper würde es zwar nicht einmal geradezu wunderbar sein, wenn der Muskel unmittelbar nach der Leistung wieder ganz das ursprüng- liche Ding wäre, da die nach allgemeinen Grundsätzen zu fordernde che- mische Veränderung durch den Wechselverkehr mit dem den Muskel durchspülenden Blute rückgängig gemacht sein könnte. Die zu fordernde ursächliche Veränderung würde damit einen Schritt weiter verlegt sein und als eine Veränderung der Blutmasse erscheinen. Bei gewissen während des ganzen Lebens in massiger Thätigkeit begriffenen Muskelgruppen, wie z. B. den Athemmuskeln und dem Herzen, ist dies in der That der Fall. Die fühlbare Ermüdung sehr angestrengt arbeitender Muskeln überzeugt uns aber eben ganz unmittelbar von der in der Thätigkeit stattfindenden chemischen Aenderung derselben. Noch auffälliger muss sich natürlich bei einem dem Wechselver- kehr mit dem Blute entzogenen isolirten Muskel diese als „Ermüdung" bezeichnete chemische Aenderung zeigen. In der That gewahrt man an einem solchen bei einer Keihenfolge wiederholter, namentlich tetanischer Keizungen, dass er auf die späteren nicht mehr so energisch antwortet als auf die ersten. Die Verkürzung wird allmählich immer kleiner und bleibt zuletzt ganz aus. Es ist sehr bemerkenswerth, dass diese allmähliche Verminderung der Leistungsfähigkeit eines isolirten Muskels in erster Linie nicht auf Eechnung der Erschöpfung des zum chemischen Processe bereitliegen- den Materiales beruhen kann. Ein Muskel nämlich, bei dem durch Er- müdung die Zuckungshöhe schon sehr beträchtlich abgenommen hat, kann noch sehr viele Zuckungen von diesem kleinen Betrage ausführen. Es muss also in ihm sicher noch weit mehr Material zu dem chemischen Process vorräthig sein, als bei einer noch so energischen Zuckung ver- braucht wird. Die Unfähigkeit des ermüdeten Muskels zu Contractionen von der ursprünglichen Ausgiebigkeit beruht offenbar darin, dass die von den früheren Erregungen herrührenden Zersetzungsproducte ein Hinder- niss für die Zusamraenziehung bilden. Dies wird dadurch noch wahr- scheinlicher, dass ein stark ermüdeter Muskel sich wieder einigermassen Erholung des ermüdeten Muskels. 29 erholt und zu stärkeren Zuckungen wieder befähigt wird, wenn man seine Blutgefässe mit indifferenten Flüssigkeiten ausspült. Eine solche ist übrigens keineswegs etwa reines (destillirtes) Wasser. Dies macht die Muskelfaser quellen und tödtet sie. Hingegen verhält sich eine Kochsalz- lösung von 0,6% ganz unschädlich, weil ihre Concentration etwa derjenigen der natürlichen Tränkungsflüssigkeit des Muskelgewebes entspricht und daher keine störenden Diffusionen verursacht. Besonders günstig wirkt Durchspülung des Muskels mit solcher Kochsalzlösung, wenn derselben Sauerstoffhämoglobin beigemengt ist, vielleicht weil dadurch die stören- den Zersetzungsproducte weiter oxydirt und in leichter ausspülbare Verbindungen verwandelt werden. Auch durch blosses Ausruhen kann sich ein ausgeschnittener ermüdeter Muskel etwas wieder erholen. Lässt man nämlich einen solchen durch regelmässig wiederholte Keizanstösse eine lange Reihe von Zuckungen machen, so nimmt ihre Höhe allmählich sehr regelmässig ab. Wenn man dann aber eine längere Euhepause ein- treten lässt, so sind die nächstfolgenden Zuckungen wieder etwas höher. Vielleicht kann eben ein Theil der störenden Zersetzungsproducte schon ohne Ausspülung aus der Muskelfaser in die Gewebslücken austreten. Hier liegen vielleicht die Anfänge zur Lösung des Eäthsels, wie es kommt, dass der chemische Process der Erregung, der wohl am ersten einer Fermentation verglichen werden dürfte, einmal durch einen momen- tanen Reizanstoss in Gang gesetzt, nicht bis zur Erschöpfung des vor- räthigen Materials fortschreitet, sondern sehr bald stillsteht. Es sind eben wahrscheinlich die Producte des Processes selbst, die das Fortdauern desselben verhindern. Nun müssen freilich Veranstaltungen gegel)en sein, vermöge deren auch ohne Hülfe des Blutkreislaufes die den Erregungs- process hemmenden Stoffe aus dem Wege geräumt oder wieder unschäd- lich gemacht werden, so lange sie noch nicht gar zu massenhaft gebildet sind. Denn nachdem die Erregung erloschen ist, kann sie auch in einem ausgeschnittenen Muskel diircli einen neuen Reiz doch wieder hervor- gerufen werden. Vielleicht geschieht die Beseitigung der hemmenden Zersetzungsproducte hauptsächlich durch fernere Verbrennung derselben, wie soeben schon angedeutet wurde. Eine andere Erfahrung des alltäglichen Lebens, die gleichfalls auf chemische Processe im thätigen Muskel deutet, besteht darin, dass Anstren- gung grösserer Muskelgruppen, z. B. einfach das Ersteigen einer Treppe, sofort das Athmungsbedürfniss steigert. Wenn dies, wie doch zu vermuthen, eine zweckmässige Einrichtung ist. so muss man daraus schliessen, dass die Muskelarbeit dasjenige Zersetzungsproduct liefert, welches durch die Athmung aus dem Körper entfernt wird — dies ist aber die Kohlen- säure. Diese bei Betrachtung des Gesammtorganismus sich aufdrängende oO Brennrnaterial des Muskels. Vermiithimg ist durch Versuche am eiuzeluen Muskel bestätigt worden. Einerseits hat man beobachtet, dass das aus einem Warmblütermuslsel ausströmende venöse Blut mehr Kohlensäure führt, wenn der Muskel er- regt, als wenn er in Kühe ist. Andererseits ist auch an ausgeschnittenen Froschmuskeln Kohlensäurebildung bei der Erregung mit Sicherheit nachgewiesen. Neben der Entstehung von Kohlensäure ist die Entstehung von Milchsäure bei der Muskelerregung nachgewiesen. Diese ertheilt einem lange gereizt gewesenen Muskel eine deutlich saure Reaction, welche dem geruhten Muskel nicht eigen ist, dessen Saft eher etwas alkalisch reagirt. Die bei der Muskelerregung nachgewiesene Bildung von Kohlen- säure ist ein Process solcher Art, wie ihn die allgemeinen mechanischen Betrachtungen forderten, d. h. bei welchem mächtige chemische Anzie- hungskräfte positive Arbeit leisten, denn die Kohlensäure ist ja die- jenige Verbindung der einander stark anziehenden Kohlenstoff- und Sauer- stoffatome, wo sie am innigsten verbunden sind. Die Bildung von Kohlen- säure, aus was für anderen Verbindungen sie auch entstehen mag, ist also eine Veränderung, welche als ursächliches Aequivalent für die durch den Muskel an anderen Körpern hervorgebrachten Veränderungen, als Hub von Lasten, Bewegung von Massen etc., dienen kann. Das Material znr Bildung von Kohlensäure und Milchsäure im Muskel geben nicht etwa, wie auf den ersten Blick zu erwarten wäre, die in ihm am reichlichsten vertretenenEiweisskörper her, sondern die jederzeit nur in sehr kleinen Mengen vorhandenen stickstofffreien Körper, insbesondere wohl die Kohlehydrate. Da die Bildung von Kohlensäure füglich ein Verbren- nungsprocess im allgemeineren Sinne des Wortes genannt werden darf, so kann der eben ausgesprochene Satz auch so ausgedrückt werden: der Muskel ist eine wesentlich aus eiweissartigen Körpern aufgebaute Ma- schine, in welcher als Kraft erzeugendes Brennmaterial stickstofffreie Ver- bindungen verbrennen — ähnlich wie eine Locomotive eine aus Eisen ge- baute Maschine ist, in welcher die jederzeit nur in geringer Menge darin befindliche Kohle als krafterzeugendes Brennmaterial wirkt. Der Beweis für diesen Satz lässt sich auf Erscheinungen am Gesammtorganismus gründen. Man hat nämlich beobachtet, dass noch so grosse Arbeits- leistung desselben die Menge der Zersetzungsproducte von Eiweisskörpern durchaus nicht steigert, in hohem der Arbeitsleistung ganz entsprechen- dem Maasse dagegen die Menge der Zersetzungsproducte stickstofffreier Verbindungen, und insbesondere der Kohlensäure. Zur vollen Sicherheit ist der Beweis durch Versuche folgender Art gebracht. Ein Mensch leistet während einer gewissen Zeit mit seinen Muskeln einen sehr grossen gemesseneu Betrag von Arbeit, und aus seineu Harnbestandtheilen ist Natnr des choniisclien Processes im Muskel. 31 ermittelt, wie viel Eiweiss wäbrcnd dieser Zeit in seinem Körper verbrannt ist. Aus der Verbrenuungswärme der Eiweissmeuge kann man die Ar- beit berechnen, welche die chemischen Verwandtschaftskräfte dabei leisten. Da sich nun diese Arbeit bedeutend kleiner fand als die von dem menschlichen Körper wirklich geleistete mechanische Arbeit, so kann diese nicht durch die Yerlirenuung der Eiweisskörper, sondern muss durch Verbrennung anderer (stickstotffreier) Verbindungen verursacht sein. Die Entstehung von Kohlensänre und Milchsäure geschieht im Muskel nicht in der Weise, dass sich bis dahin ganz frei gewesener Sauerstoff mit dem Kohlenstoffe der Kohlehydrate oder anderer kohlenstoffhaltiger Körper verbindet. Vielmehr ist der in der Kohlensäure und Milchsäure des erregten Muskels enthaltene Sauerstoff jedesfalls schon vorher in ir- gend einer lockeren Verbindung gewesen, denn der leistungsfähige isolirte Muskel enthält keinen freien Sauerstoff und bedarf auch keines solchen in seiner Umgebung. Er kann erregt werden und Kohlensäure bilden in Bäumen, welche gar keinen freien Sauerstoff enthalten, sogar z. ß. im Vacuum. Der Kohlensäure und Milchsäure bildende Process ist also nicht eine Verbrennung im ■ällereigentlichsten Sinne des Wortes, sondern der Zerfall eines complicirteren Moleküles (etwa wie in der Gährnng), wobei der darin enthaltene Sauerstoff mit dem Kohlenstoffe in die innigste Ver- bindung tritt. Der so zerfallende Stoff entsteht wahrscheinlich aus Kohle- hydraten oder Fetten, die oben schon als das vermuthliche Brennmaterial bezeichnet wurden. Doch ist er selbst wohl eine complicirtere chemische Verbindung, in welche noch locker gebundener Sauerstoff irgendwie ein- geht. Der Muskel entzieht nämlich dem durchströmenden Blute freien Sauerstoff, und namentlich thut er dies in ruhendem Zustande, in welchem das Material zu den im Erregungsprocesse stattfindenden Zersetzungen aufgebaut werden muss. Die Kohlensäure und andere Producte liefernden Zersetzungspro- cesse stehen übrigens im Muskel auch während der Ruhe nicht ganz still. Darauf deuten manche am Gesammtorganismus beobachtete, später in anderem Zusammenhange zu erörternde Erscheinungen; ganz direct aber ist es bewiesen durch die Thatsache, dass das aus einem Muskel abfliessende venöse Blut, auch wenn dieser in Ruhe ist, mehr Kohlensäure führt als das zufiiessende arterielle, jedoch ist der Unterschied bei Weitem kleiner als während des Erregungszustandes. Bei jedem chemischen Processe, bei welchem überwiegend chemische Anziehungskräfte zur Wirkung kommen, „positive Arbeit leisten" — und solcher Art sind ja eben die Processe im erregten Muskel — muss diese Wirkung entweder in Erzeugung von Bewegung oder in UelnM-wiiidung 32 Wänneljildung im Muskel. entgegenwirkender Kräfte bestehen. Eine solche Wirkung besteht nun bei den chemischen Processen des Muskels eben in den mechanischen Leistungen desselben. Es ist aber kaum denkbar, dass die Wirkung von molekularen chemischen Anziehungskräften ausschliesslich in Bewegung ganzer Massen bestehen sollte; immer wird ein mehr oder weniger grosser Theil derselben in der Form jener ungeordneten Molekularbewegung zum Vorschein kommen, welche wir Wärme nennen. Dies ist ja auch bei der Dampfmaschine, Gaskraftmaschine und bei den elektrodynamischen Ma- schinen der Fall. Ebenso ist auch beim Muskel zu erwarten, dass neben der mechanischen Leistung Wärme entwickelt wird. Hierauf deutet nun in der That schon die allgemein bekannte, am eigenen Körper zu beobach- tende Erscheinung, dass durch energische Anstrengung der Muskulatur das Bedürfniss nach Wärmeabgabe, also die Wärmeerzeugung gesteigert wird. Man hat aber auch an ganz isolirten Muskeln, namentlich an Kalt- blütern, die Wärmeentwickelung durch Beobachtung einer dabei eintreten- den Temperaturerhöhung direct nachgewiesen. Versuche der letzterwähnten Art haben, namentlich quantitativ an- gestellt, ein sehr grosses Interesse aus folgendem Grunde. Wenn man den Muskelact so verlaufen lässt, dass schliesslich alTd zeitweise ausgeübten mechanischen Effecte unter Vermittelung von-.Widterständen des Muskels selbst wieder rückgängig gemacht sind, so f^ann der ganze Effect der chemischen Arbeit in nichts Anderem als in Erzeugung von Wärme im Muskel bestehen. Die dazu nöthigen Veranstaltungen sind einfach die, welche ohnehin bei den meisten künstlichen Zuckungsversuchen schon getroffen zu werden pflegen. Der Muskel hebt oder wirft bei der Zuckung oder Tetanisiruug ein an ihm befestigtes Gewicht in die Höhe und dies fällt nach Beendigung des Actes wieder herunter und erschüttert den Muskel dabei mit der ganzen Wucht des Falles aus der Höhe, auf welche es gestiegen war. Die nun im Muskel theils un- mittelbar, theils mittelbar durch die Erschütterung oder Zerrung ent- wickelte Wärme, als einziger Effect der chemischen Arbeit, ist also ge- radezu ein Maass für den Betrag dieser Arbeit, d. h. ein Maass für den Betrag der Zersetzung oder Verbrennung. Durch geeignete thermoelektrische Vorrichtungen gelingt es nun wirklich, von der bei einem so geleiteten Muskelacte entstandenen Wärme- menge wenigstens annähernd eine Vorstellung zu gewinnen, und durch Vergleichung derselben unter verschiedenen Umständen haben sich höchst bemerkenswerthe Resultate herausgestellt. Vor Allem ist der höchst überraschende und für die Natur der Muskelsubstanz fundamentale Satz auf diese Weise bewiesen, dass der Betrag des durch einen Reizan- stoss von bestimmter Stärke ausgelösten chemischenUmsatzes Verhältniss von Wärme und Arbeit im Muskel. 33 sehr verschieden ausfällt je nach den äusseren Umständen, unter welchen sich der gereizte Muskel zusammenzieht. Je grössere Widerstände sich der Zusammenziehung des Muskels entgegen- stellen, sei es in Form zu bewegender Masse, sei es in Form spannender Gegenkräfte, desto mehr Wärme wird bei der Zuckung frei, desto mehr Brennstoff wird also verbraucht. Man hat hierin eine überaus zweck- mässige Einrichtung der Muskelsubstanz vor Augen. Sie zeigt sich als eine Maschinerie, welche, ohne dass eine Verstärkung des äusseren An- triebes — Keizes — nöthig wäre, ganz von selbst gegen grössere Hinder- nisse mehr Mittel aufbietet, um sie zu überwinden. Die freilich noch nicht ganz genau bestimmten absoluten Werthe der bei Muskelzuckungen entwickelten Wärmemengen sind, wie zu er- warten ist, nicht sehr bedeutend. Bei einer möglichst energischen Zuckung von lei' unermüdeter Froschmuskelsubstanz gegen grossen Widerstand wird etwa eine Wärmemenge gebildet, welche ausreicht, um die Tempe- ratur von 3°'?'' Wasser von 0" auf 1^' zu erhöhen. Zur Erzeugung dieser Wärmemenge würde die Verbrennung von etwa 0,0008 s'" Kohlehydrat oder von 0,0003sr Fett erforderlich sein. Man sieht also, wie ausserordentlich kleine Mengen von Brennmaterial ausreichen, um eine energische Zuckung hervorzubringen, und mau wird es nicht mehr räthselhaft finden, dass die geringen Vorräthe von stickstofffreien Verbindungen, welche in einem ausgeschnittenen Muskel vorhanden sind, doch genügen, um noch viele energische Zuckungen möglich zu machen. In weniger energischen Zuckungen wird noch viel weniger Brennmaterial aufgebraucht. Jene Wärmemenge, durch welche die Temperatur von S^^i- Wasser von 0" auf 1'^ erhöht werden kann, stellt eine Summe von Bewegungs- energie dar, welche nach dem bekannten Werthe des mechanischen Wärme- äquivalentes (=425) durch die Arbeit von 12758"""" hervorgebracht werden kann. So gross muss also etwa die Arbeit der chemischen Anzie- hungskräfte zwischen Sauerstoffatomen einer-, Kohlenstoff- und Wasser- stoffatomen andererseits sein, welche bei einer kräftigen Zuckung in is"" Muskelsubstanz geleistet wird. Bei einer solchen Zuckung kann nun mög- licherweise ein äusserer mechanischer Effect hervorgebracht sein, welcher einer Arbeit von mehr als 300 &""•", also etwa einem Viertel der von den mechanischen Kräften geleisteten Arbeit entspricht. Es kann mit anderen Worten bei der Muskelzusammenziehung unter günstigen Umständen reichlich der vierte Theil der Arbeit chemischer Kräfte für äussere me- chanische Wirkungen verwendet werden, und wenn diese wirklich bleibend ausgeübt werden, kommt natürlich ein entsprechend geringerer Betrag von Wärme im Muskel zum Vorschein. Da die Hervorbringung der mechani- schen Wirkung und nicht die Bildung von Wärme der eigentliche Zweck F ick, Physiologie. 3. Aufl. 3 34 WärmebilduDg tei Tetanus. der chemischen Processe im Muskel ist, so wii'd man die Organisation dieser Substanz für um so zweckmässiger halten müssen, ein je grösserer Bruchtheil der chemischen Arbeit für jenen Zweck verwendet werden kann. Der Werth, welchen wh- dafür soeben gefunden haben und der ein Viertel öfters noch etwas übertrifft, erscheint sehi- gross, wenn wii- künst- liche Vorrichtungen zum Vergleich heranziehen, in welchen dm'ch die Arbeit chemischer Kräfte mechanische Wii-kungen hervorgebracht werden. Bei construirten Dampfmaschinen z. B. kann nicht einmal ein Zehntel der Arljeit chemischer Kräfte für die mechanische Wirkung verwendet werden. Es zeigt sich somit die Muskelsubstanz — wie nicht anders zu erwarten war — in ökonomischer Ausnutzung des Brennmateriales jenen künstlichen Vorrichtungen bei Weitem überlegen. Die Vorstellung von der Natur des Tetanus, welche weiter oben entwickelt wurde, lässt voraussehen, dass wähi-end der ganzen Dauer eines solchen ein analoger, mit Wärmeentwickeluaig verknüpfter chemi- scher Process im Muskel statt hat wie im Acte der Verkürzung, obwohl eine weitere mechanische Arbeit nicht mehr geleistet wird. Der thermo- metrische Versuch bestätigt diese Voraussicht, lässt aber zugleich sehen, dass der Process nicht so intensiv ist wie bei der Zusammenziehnng, denn es wii-d in einer bestimmten Zeit, z. B. in zwei Secunden, in einem Muskel weniger Wärme entwickelt, wenn er während dieser Zeit in an- dauerndem Tetanus erhalten wird, als wenn er wähi-end derselben mehi'ere Male sich zusammenzieht und wieder ausdehnt. Ueberlässt man einen dem Blutkreislaufe entzogenen Muskel sich selbst, so verliert er nach und nach seine Erregbarkeit, er stirbt. Das sichtbare Zeichen des eingetretenen Todes ist die Starre, bedingt dm-ch die Gerinnung des Inhaltes des Sarkolemmschlauches, der während des Lebens zum Theil wenigstens flüssig ist. Der starr gewordene Muskel ist trübe und brüchig. Verursacht wii-d diese Gerinnung dm'ch dieselben oder wenigstens ganz analoge, aber sehr langsam verlaufende chemische Processe, wie sie bei der Erregung vor sich gehen, daher der erstarrte Muskel auch sauer reagirt. Es deutet hierauf ferner die Thatsache, dass häufige Erregung den Eintritt der Starre beschleunigt. Ebenso beschleunigt hohe Tem- peratur, wie alle chemischen Processe, so auch den Eintritt der Muskel- starre. Bei gewissen Temperaturen tritt sie im Laufe von einigen Secun- den ein. (Siehe S. 22.) Auch entwickelt sich bei Todesstarre Wärme. Unter den Bedingungen, unter welchen sich gemeiniglich mensch- liche Leichname befinden, tritt die Todesstarre meist einige (5 — 6) Stunden nach dem letzten Athemzuge ein. Flimmerbewegung. 3^ Anhang. lieber einige andere contractile Gebilde. Die glatten Muskelfasern stimmen, soweit man sie untersucht hat. in allen wesentlichen physiologischen Eigenschaften mit den quer- gestreiften überein. nur dass der Erregungsprocess darin bedeutend lang- samer verläuft. Die Protoplasmaklümpchen, z. B. die weissen Blutkörperchen, sieht man mannigfaltige Bewegungen ausführen, ohne nachweisliche äussere Ursache. Sie strecken Fortsätze aus und ziehen sie wieder zurück. Sie verändern auch ihren Ort durch Vermittelung solcher Gestaltände- rungen. Lässt man die Reize, welche den Muskel zur Zusammenziehung bringen (elektrische Schläge, gewisse Temperaturen etc.), auf ein Proto- plasmaklümpchen einwirken, so strebt es der Kugelgestalt zu, zieht namentlich alle Ausläufer zurück. Bei höheren Temperaturen (einige und AO") erstarrt das Protoplasma ganz wie der Muskel. Auch der natürliche Tod des Protoplasma ist durch den Eintritt der Starre bezeichnet. Im Protoplasma von frei lebenden Infusorien hat man sehr regelmässige rhythmische Zusammenziehungen einzelner Partien beobachtet, deren Häufigkeit mit steigender Temperatur bis zu einem gewissen Punkte zu- nimmt, so dass einem gewissen Temperaturgrade eine ganz bestimmte, für die ganze Species gültige Anzahl von Contractionen in der Zeitein- heit zukommt. Die Flimmercilien auf gewissen Epithelien und an anderen Orten sind in fortwährendem Oscilliren begriffen. Es scheint, dass die Cilie auf der einen Seite aus Protoplasma, auf der andern aus einer rein physika- lisch-elastischen Substanz besteht. Contrahirt sich das Protoplasma, so biegt sich die Cilie nach der einen Seite, und lässt die Contraction nach, so geht sie zurück nach der andern. Es mögen bei den Flimmercilien des Frosches etwa 12 solche Schwingungen auf die Secunde gehen. Der Schwung nach der Seite des contractilen Protoplasma geschieht nicht so schnell wie der rein elastische Rückschwung, daher nach der Seite des letzteren an einer mit Flimmercilien besetzten Schleimhautfläche gele- gene leichte Körperchen bewegt werden, so lange die sämmtlichen Cilien derselben in Uebereinstimmung schwingen. Es ist erstaunlich, welche Kräfte diese kleinen Motoren ausüben können. Legt man auf einen auf- wärts gekehrten Froschgaumen ein kleines Holzplättchen, so wandert es mit einer Geschwindigkeit, welche oft 1""° per Secunde erreicht, nach dem Schlundende zu. Es kann dabei sogar noch ein Gewicht heben, das man durch einen Faden daran knüpft. 36 Flimmerbewegung. Die Thätigkeit der Fliinmercilien bedarf freies Sauerstoffes; wenn dieser fehlt, hört sie bald auf. Ebenso hört die Bewegung auf, wenn die Eeaction der umspülenden Flüssigkeit stark sauer oder stark alkalisch ist. Wenn die Cilien durch Säure zur Kühe gebracht sind, können sie durch Alkali wieder in Bewegung gesetzt werden. Ebenso können sie durch Säuren wieder angeregt werden, wenn sie durch Alkali zum Still- stand gekommen waren. Die contractile Substanz der Flimmercilien erstarrt von selbst beim natürlichen Absterben, sie kann auch durch ungefähr dieselben Tempera- turen wie der Muskel momentan zur Starre gebracht werden. 2. Albsclinitt. Verweil (luiig der Muskelarbeit. 1. Capitel. Von den Knochenverbindungen, I. Allgemeiues. Wir haben nunmehr zu untersuchen, in welcher Weise im Ein- zelnen die durch das vorige Capitel erwiesene Arbeitsfähigkeit der Muskelfasern nutzbar gemacht wird, d. h. dem thierischen Subjecte die Möglichkeit verschafft, verändernd in die mechanischen Vorgänge der Aussenwelt einzugreifen. Es kommen also hier nur diejenigen Mus- keln zur Sprache, welche unmittelbar durch cerebrospinale Nerven- fasern erregt werden, denn nur sie gehorchen dem Wiliensimpnls und können allein den bewnssten Zwecken des Subjectes dienen. Die durch sie hervorgebrachten Bewegungen nennt man daher auch willkürliche Be- wegungen oder animale. Sämmtliche hierhergehörige Muskeln bestehen aus quergestreiften Fasern. Wir schliessen daher die aus glatten Fasern be- stehenden Muskeln von der jetzigen Untersuchung ganz aus. Sie sind vom Syrapathicus abhängig, daher dem Willen nicht direct unterworfen (viel- leicht mit Ausnahme der Iris), und finden zum grossen Theil obendrein in der vegetativen Sphäre ihre Verwendung, bei deren Behandlung ihre Leistungen zu besprechen sein werden. Die Leistungen anderer glatter Muskelfasern gehören in die Lehre von den Sinneswerkzeugen. Es ist aus der Anatomie bekannt, dass allemal viele quergestreifte Muskelfasern parallel nebeneinanderliegend durch Bindegewebe zu Bün- deln vereinigt sind, dass mehrere solcher Bündel, die nicht immer parallel und gleich lang sind, sich zu einer höheren, anatomisch gesonderten Einheit gruppiren, die man in der Anatomie einen Muskel nennt. Jede Faser läuft an beiden Enden in einen Fortsatz aus, der wesentlich aus blossem Bindegewebe besteht und dessen Länge von mikroskopischer Kleinheit bis zu vielen Centimetern wechseln kann. In der Kegel sind die zu einem Muskel gehörigen Fortsätze fester mit einander verbunden als die Muskelfasern selbst und ihr Inbegriff bildet dann die Sehne. Ver- mittelst dieser Fortsätze ist jeder Muskel an seinen ))eiden Enden mit ihm 38 Mechanische Eigenschaften der Knochen. fremden Theilen verbunden, welche seine active Ziisammenzieliung einander nähert. Indem dies geschieht, den Kräften zum Trotz, welche die Theile in ihrer Entfennmg zu erhalten streben (wäre es auch nur die Trägheit ihrer Masse), leistet der Muskel Arbeit. Weitaus die meisten der willkürlichen Muskeln sind in dieser Art mit beiden Enden an Knochen angeknüpft, die ihrerseits wieder an irgend einer Stelle derge- stalt verbunden sind, dass sie nicht jede beliebige, sondern nur gewisse gegenseitige Bewegungen ausführen können. Das System der sämmt- lichen verbundenen Knochen — das Skelet — ist also die Maschine, mit deren Hilfe die Muskelkräfte vorzugsweise auf die Aussenwelt einwirken. Vom Material des Skeletes können uns an dieser Stelle nur die me- chanischen Eigenschaften interessiren, die es geschickt machen, eben zur Uebertragung von Kräften zu dienen. Von den mechanischen Eigenschaf- ten eines Knochens im Ganzen kann man sich nicht leicht eine bestimmte Vorstellung machen, da er nicht eine durchaus homogene Masse darstellt. Bekanntlich sind die Knochen entweder Köhren von eigentlicher Knochen- masse, im Innern mit einer fettreichen Pulpa angefüllt, oder ein schwam- miges Aggregat von feinen Blättern jener Substanz, das nur an der Ober- fläche einen dünnen zusammenhängenden Ueberzug hat. So viel lässt sich jedoch von ein^m Knochen im Ganzen sagen, dass er im mechanischen Sinne ein starrer Körper ist, d. h. dass seine Form durch keine Kraft verändert werden kann, wenigstens wirken im Verlaufe des normalen Lebens keine Kräfte auf ihn ein, die hinreichend stark wären, um seine Form zu verändern. Gerade auf diese Voraussetzung gründet sich die ganze Muskelmechanik; man kann sie auch so aussprechen: die Mus- keln verändern durch ihre Kräfte nicht die Form des Knochens, auf den sie wirken, sondern bewegen ihn als unveränderliche Einheit. Eine Ausnahme von diesem Satze dürften allerdings die Kippen machen, und in der That besitzt die Knochenmasse in so dünnen Platten, wie die Kippen sind, einige Nachgiebigkeit gegen Kräfte von der Stärke massiger Muskelzüge. Sie besitzt dabei eine sehr vollkommene Elasticität, d. h. nimmt ihre ursprüngliche Gestalt vollkommen wieder an, sowie die formverändernde Kraft aufhört zu wirken. Die mechanischen Eigen- schaften, namentlich die absolute Festigkeit, sind übrigens für die Kno- chensubstanz keineswegs constant, sondern sehr veränderlich mit dem Verhältniss der organischen und unorganischen Bestandtheile, das selbst bekanntlich mit dem Alter und anderen Einflüssen bedeutend variirt. So z. B. riss ein Prisma von in™" Querschnitt aus der Substanz der Fibula eines 30jährigen Mannes erst bei einer Belastung von 15,03 '^s'", ein gleiches aus demselben Knochen eines 74jährigen Mannes riss bei 4,33''g^ Belastung. Arten der Knochenverbindnng. 39 Die beiden wichtigsten Fragen, die man sich bei jeder Knochenver- bindung vorzulegen hat, sind nach dem „Bewegungsmodus" und nach dem „Bewegungsumfang". Unter dem Bewegungsmodus verstehen wir- die geometrischen Bedingungen, welchen die Art der Verbindung alle in dem verbundenen Systeme möglichen Bewegungen unterwirft. Z. B. könnte die Verbindung so sein, dass alle möglichen Lagen des beweglich gedachten Knochens bei Feststellung des andern durch Drehung um eine feste Axe müssen hervorgebracht werden können. Die besondere Einrich- tung der Verbindung kann dann der Bewegung innerhalb des einmal ge- gebenen Bewegungsmodus noch bestimmte Grenzen stecken, so dass von den nach den geometrischen Bedingungen wohl möglichen Stellungen des beweglich gedachten Knochens nicht alle in Wirklichkeit von dem- selben eingenommen werden können. So könnte z. B. in dem obigen Bei- spiel nur ein Theil der ganzen Drehung (durch einen gewissen Winkel gemessen) wirklich ausführbar sein. II. Symphyseu. Am menschlichen Skelette kommen zwei derartige beweghche Ver- biudungsweisen vor — durch „Symphyse" oder Synchondrose und durch „Gelenke". Wir setzen hier die anatomische Bildung der Sym- physen als bekannt voraus und erinnern nur dann, dass nicht alle anato- misch zu den Symphysen zählenden Verbindungen zu den beweglichen gehören, indem zuweilen die durch sie verbundenen Knochen unter dem Einflüsse von Kräften, wie sie im Verlaufe des normalen Lebens vorkom- men, nicht merklich ihre gegenseitige Lage verändern. Dahin gehören z. B. die Symphysen zwischen den Beckenknochen, die wir deshalb von unseren Betrachtungen ausschliessen. Auf Bewegung berechnet sind im menschlichen Körper eigentlich nur die Wirbelsymphysen. Das Folgende kann daher gleich speciell auf diese bezogen werden. Die Symphysen- beweglichkeit ist dadurch ausgezeichnet, dass die durch sie verbundenen Knochen eine bestimmte Stellung stabiles Gleichgewichtes be- sitzen, in die sie sofort zurückkehren, sobald die Kraft aufhört zu wirken, welche sie aus derselben entfernte. Es ist die Stellung, bei welcher der verbindende elastische Körper — der Symphysenknorpel — seine natür- liche Gleichgewichtsfigur hat. Ein bestimmter Bewegungsmodus kann den Symphysen eigentlich nicht zugeschrieben werden. Für die Gestaltsveränderungen eines elastischen Körpers — und solche geben ja die Möglichkeit der Symphysenl^ewegung — bestehen keine bestimmten geometrischen Bedingungen. Eine Zwischen- wirbelscheibe kann — um nur ausgezeichnete Fälle hervorzuheben — zusammengedrückt, ausgedehnt, gebogen und torquirt werden. Von zwei 40 Bewegungsraodus der Sympliysen. verbundenen Wirbelkörpern kann also der eine, wenn der andere fest gedacht wird, in jeder beliebigen Kichtnng bewegt und gedreht werden. Auf die Symphysenbewegung kann man den Begriff eines bestimmten Modus erst anwenden, wenn man gleich auf die Kräfte Rücksicht nimmt, welche die Bewegungen hervorbringen. In der That fällt bekanntlich die Gestaltveränderung eines elastischen Körpers sehr verschieden aus unter dem Einflüsse derselben Kraft, je nach der Richtung, in welcher dieselbe wirkt. Denken wir uns z, B. einen Fischbeinstab in verticaler Lage an seinem oberen Ende befestigt ; lassen wir jetzt an seinem unteren Ende die Kraft von P^^' senkrecht abwärts ziehen, so wird er eine kaum wahr- nehmbare Gestalt Veränderung (Verlängerung) erleiden. Lassen wir an demselben Ende desselben Stabes l'^^'" wagrecht seitwärts ziehen, so wird eine höchst auffallende Gestaltveränderung (Biegung) erfolgen. Verwen- den wir die Kraft von l^^i- in irgend einer VV^eise, um den Stab zu tor- quiren, so wird auch die Gestaltveränderung gegen die Biegung unbe- deutend sein. Denken wir uns den Stab von Faserknorpel statt von Fisch- bein, seinen Querschnitt dem eines W^irbelkörpers gleich, seine Länge aber reducirt auf wenige Millimeter, so haben wir einen Z wischen wirbel- knorpel vor uns. Es wird aus dem in Erinnernng Gebrachten deutlich sein, dass bei zwei durch einen solchen Knorpel verbundenen Wirbeln kaum von einer andern Bewegung wird die Rede sein können als von der, welche der Biegung und allenfalls einer kleinen Torsion des Faser- knorpels entspricht. Wir können also, mit Berücksichtigung der Ki'äfte, der Wirbelsäule den Bewegungsmodus zuschreiben, dass sie im Ganzen wie ein elastischer Stab allseitig biegsam und einer unbedeutenden Tor- sion fähig ist, dass aber ihre Gleichgewichtsfigur jene aus der Anatomie bekannte schlangenförmige Krümmung ist. Bei der Biegung, die jedes- falls weitaus die ausgiebigste Bewegung ist, wird man annehmen dürfen, dass ein Theil des Zwischenknorpels gedehnt und ein Theil desselben zusammengedrückt wird, welche beide Theile durch eine neutrale Fläche getrennt sind, die weder Dehnung noch Zusammendrückung erleidet. Der Umfang der als überhaupt möglich erkannten Bewegungen wird gegeben durch die Grenzen der vollkommenen Elasticität der Zwi- schenwirbelknorpel. Sowie diese überschritten sind, also die Bewegung eine bleibende Gestaltveräuderung hinterliesse, wäre der Apparat ver- letzt und die Bewegung wäre also nicht mehr Gegenstand der Physiologie. Versuche über die Beweglichkeit der Wirbelsäule haben sie als in ver- schiedenen Gegenden sehr verschieden herausgestellt. In der Halsgegend ergiebt sich eine allseitige Biegsamkeit und eine merkliche Drehbarkeit. In der Brustgegend bringt dieselbe biegende oder torquirende Kraft eine weit kleinere Gestaltveränderung hervor. Die Biegsamkeit nach vorn und Beweglichkeit der verschiedenen Abschnitte der Wirbelsäule. 41 nach hinten ohne bleibende Verletzung fehl sogar ganz. In der Lenden- wirbelsäure ist wieder die Biegsamkeit nach allen Seiten, namentlich aber nach rechts und links, viel grösser, dagegen fehlt hier die Torquirbarkeit. Diese Versuchsresultate sind theilweise sofort erklärlich aus den Abmes- sungen der Zwischenknorpel in der drei Abtheilungen der Wirbelsäule, Es ist nämlich offenbar die Biegsamkeit sowohl als die Torquirbarkeit an einer bestimmten Verbindungsstelle um so grösser, je grösser die Höhe, und um so kleiner, je grösser der Querschnitt des Zwischenknorpels ist. Man sieht nun ohne Kechnung, dass in der Hals- und Lendengegend die begünstigenden Einflüsse, hier Höhe, dort Kleinheit des Quer- schnitts, überwiegend sind im Verhältniss zur Brustgegend, wo die Zwischenknorpel eine gegen ihren bedeutenden Querschnitt nur geringe Höhe besitzen, was die Biegsamkeit sehr einschränken muss, namentlich die Biegsamkeit nach hinten und nach vorn, da gerade die Ausdehnung von hinten nach vorn wegen der meist herzförmigen Gestalt des Quer- schnittes der Brustwirbelkörper hier vorherrschend ist. Das vollkommene Fehlen der Torquirbarkeit in der Lendengegend wird übrigens erst verständlich, wenn man ausser der Verbindung der Wirbelkörper noch das Ineinandergreifen der Bögen mit ihren schiefen Fortsätzen berücksichtigt. Ebenso erklärt sich die absolute Unmöglich- keit, die Brustwirbelsäule nach vorn und nach hinten zu biegen, erst voll- ständig aus der besonderen Lage der Gelenkfortsätze, die ja in der That bei einer Biegung nach hinten abbrechen müssten, da sie in der Gleich- gewichtslage schon aufeinander liegen, bei einer Biegung nach vorn aus- einander klaffen würden, was durch die kurzen straffen Bänder derselben verhindert wird, III. Gelenke. Die Gelenkverbindung ist vor Allem dadurch ausgezeichnet, dass sie den verbundenen Knochen nicht eine bestinmite stabile Gleichgewichtslage anweist. Es giebt bei einem Gelenke immer eine un- zählige Menge stetig auf einander folgender Lagen, in einem gewissen kleineren oder grösseren Spielraum begriffen, in denen jeder der beweg- lich gedachten Knochen im indifferenten Gleichgewicht ist. Die geringste Kraft, wofern sie nur die Widerstände überwinden kann, reicht hin, ihn aus der einen in eine andere überzuführen, und es werden nicht durch die Lageveränderung selbst, wie bei der Symphyse, Kräfte wachgerufen, welche den Ijeweglichen Knochen in seine alte Lage zurückzuführen streben. Es versteht sich wohl von selbst, dass wir dabei von der Schwere abstrahiren müssen, die ja eine der Gelenkeinriclitung fremde Kraft ist, und die allerdings einem beweglichen Knochen allemal eine bestimmte 4:2 Grundgesetz der Gelenkbewegung. Gleichgewichtslage anweist, wenn alle anderen äusseren Kräfte zu wirken aufgehört haben. Wollten wir also den obigen Satz wirklich zur An- schauung bringen, so müssten wir die durch das Gelenk verbundenen Knochen etwa in eine Flüssigkeit bringen, welche dasselbe specifische Gewicht hat wie ihre Masse, wodurch der Einfluss der Schwere vernich- tet wäre. Die Möglichkeit dieses Charakters der Gelenkverbindung ergiebt sich leicht aus der allgemeinsten anatomischen Beschaffenheit, die auch gleich noch einige allgemeine Sätze über Bewegungsmodus und Umfang der Gelenke erschliessen lässt. Das Wesen eines Gelenkes besteht be- kanntlich darin, dass die zu verbindenden Knochen überknorpelte und glatte Oberflächenstücke besitzen. Mit ihnen betheiligen sie sich an der Begrenzung eines im üebrigen von einer aus Bindegewebe gebildeten Membran vollständig geschlossenen Hohlraumes (Gelenkhöhle, Gelenk- kapsel). Die Membran (Kapselmembran, Synovialmembran) muss also an die Känder der beiden glatten Flächen — Gelenkflächen — rings herum angewachsen sein — schlauchartig vom einen Knochen zum andern über- springen, etwa wie der gefaltete Lederschlauch eines Blasebalges von dem einen viereckigen Brette zum andern überspringt. Der Binnenraum der Gelenkhöhle ist mit einer incompressiblen (etwas zähen) Flüssigkeit, der Synovia, gefüllt. Er kann also seine Grösse nicht ändern, ohne dass die Einrichtung bleibend verletzt wird. Dieser eine Satz ist die Grundlage der ganzen Gelenkmechanik, denn er enthält die wesentliche geometrische Bedingung für den Bewegungsmodus und Umfang aller Gelenke: Zwei durch ein Gelenk verbundene Knochen können nur die und (von Hilfs- einrichtungen abgesehen) alle die Stellungen gegen einander einnehmen, bei welchen der Binnenraum der Gelenkhöhle unverändert dieselbe. Grösse hat, und müssen wir, um den Umfang noch näher zu bestimmen, hinzufügen, bei welchen kein Theil der Kapselmembran über die Grenze seiner vollkommenen Elasticität hinaus gedehnt ist. Wir könnten also jetzt die sämmtlichen möglichen Stellungen eines Gelenkes von vornher- ein bestimmen, wenn wir alle Abmessungen der Gelenkhöhle und der Kapselmembran in einer Lage kennten. Es würde sich dabei gewiss her- ausstellen, dass niemals die wirklichen Bewegungen den so berechneten Umfang völlig ausfüllten, weil allemal Hilfsapparate (Ugamenta accessoria) demselben engere Grenzen stecken. Die Lösung des Problems in dieser Allgemeinheit übersteigt nun freilich die Grenzen der Geometrie. Glücklicher Weise ist sie aber auch nicht nothwendig, da es sich durch eine besondere anatomische Be- schaffenheit der meisten und gerade der wichtigsten Gelenke in einer be- sonderen Form stellt, die seine Lösung bedeutend vereinfacht. Der Binnen- Verschiedene Arten der Gelenke. 43 räum der Gelenkhöhle ist bei den meisten Gelenken ausserordentlich klein, so dass man ihn in erster Annäherung geradezu der Null gleich- setzen kann. Dies setzt voraus, dass die Gelenkflächen der beiden Knochen in Congruenz aufeinander liegen — es muss also die eine der Abdruck der andern oder eines Theiles der andern sein — und dass die innere Oberfläche des Kapselmembranschlauches ebenfalls überall durch Fal- tung entweder mit den Knochen oder mit sich selbst in Berührung ist. Der obige allgemeine Grundsatz bestimmt sich für diese Art von Ge- lenken dahin: Es sind nur solche und alle solche Stellungen der bei- den Knochen möglieh, bei welchen der Binnenraum der Gelenkhöhle der Null gleich ist. Nach der soeben gemachten Bemerkung lässt sich dieser Satz auch so aussprechen: Es sind nur die und alle die Stellungen der beiden Knochen möglich, bei welchen die Gelenkflächen mit end- lich grossen Stücken in vollständiger Deckung befindlich sind. Der Bewegungsmodus begreift also alle diejenigen Bewegungen in sich, bei denen die Gelenkflächen in Deckung aufeinander schleifen, er ist demnach mit der Gestalt dieser Gelenkflächen selbst gegeben. Die Anforderung, dass die Fläche auf ihrem Ebenbilde oder Ab- druck schleifen könne, die wir, wie gezeigt wurde, an eine Gelenkfläche von der besonderen zunächst untersuchten Art, wir wollen sie „Schleif- gelenke" nennen, stellen müssen, schränkt nun die Auswahl bedeutend ein. Die Geometrie zeigt, dass es überhaupt nur zwei Gattungen von Flächen giebt, welche in verschiedenen stetig aufeinanderfolgen- den Lagen mit ihrem ruhend gedachten Ebenbilde in Congruenz sind, die — mit anderen Worten — auf ihrem Abdrucke schleifen können. Diese beiden Gattungen sind die Schraubenflächen und die Eotations- flächen. Die allgemeine Deflnition einer Schraubenfläche ist nicht mit wenigen Worten zu geben, doch ist die Vorstellung einzelner solcher Flächen (gewöhnliche Schrauben) Jedermann so geläufig, dass wir der Definition füglich entl^ehren können. Eine Schraubenfläche schleift dann auf ihrem ruhenden Abdrucke, wenn sie sich um eine (in jedem bestimm- ten Falle bestimmte) im absoluten Eaume feste Gerade dreht und zu- gleich jeder ihrer Punkte eine zu jener Geraden parallele Verschiebung erfährt, deren Grösse zu der Grösse der gleichzeitigen Drehung in einem beständigen (für jeden bestimmten Fall bestimmten) Verhältnisse steht. Die Schraubenfläche heisst nach dem Sprachgebrauche des bürgerlichen Lebens rechts gewunden, wenn sie — gezwungen, auf ihrem Abdrucke zu schleifen — mit einer durch Supination der rechten Hand hervorgel)rach- ten Drehung eine Fortschreitung verbindet in der Ilichtung vom Ellenbogen zu der sie drehenden Hand. Verbindet sich diese Fortschreitnng mit der umgekehrten Drehung, so heisst die Schraubenfläche eine linksgewundene. 44 Drehgelenk. Arthrodie. Eotationsflächen sind die Oberflächen aller auf der Drehbank er- zeugten Körper; umgekehrt muss sich jede Rotationsfläche auf der Dreh- bank erzeugen lassen. Eine Rotationsfläche schleift auf ihrem ruhend ge- dachten Abdrucke nur dann, wenn ihre Bewegung in einer einfachen Dre- hung um eine gewisse, im absoluten Räume festliegende Gerade als Axe geschieht. Diese Axe ist zugleich die geometrische Axe der Fläche, jede zu ihr senkrechte Ebene trifft die Fläche in einem Kreise, dessen Mittel- punkt in jener Axe gelegen ist. Hiernach hätten wir nur zwei mögliche Arten von Schleifgelenken: Schraubengelenke und Drehgelenke. Sind die aufeinander schleifenden Flächen Stücke von einer und derselben Schraubenfläche, so haben wir ein „Schraubengelenk" — natürlich sieht man beim einen Knochen auf die convexe Seite der Fläche (wie bei einer Schraubenspindel), beim andern Knochen auf die concave Seite (wie bei einem Stücke von einer Schraubenmutter). — Der Bewegungsmodus ist alsdann der, dass, wenn man den einen Knochen fest denkt; der andere nur eine aus Drehung und Fortschreitung zusam- mengesetzte Bewegung ausführen kann. Sind die beiden Gelenkflächen Stücke einer Rotationsfläche, so haben wir ein „Drehgelenk" oder einen „Ginglymus", denn der Bewegungsmodus ist jetzt eine einfache Dre- hung des beweglich gedachten Knochens um eine im absoluten Räume feste Gerade als Axe. Andere Bewegungsmodi sind für Schleifgelenke in aller geome- trischen Strenge nicht denkbar; unter den Rotationsflächen hat je- doch eine bestimmte so ausgezeichnete geometrische Eigenschaften, dass sie, zur Bildung eines Gelenkes verwendet, demselben einen ebenfalls aus- gezeichneten Charakter verleiht, der uns nöthigt, noch eine dritte Art von Schleifgelenken zu statuiren: „Arthrodieen" oder freie Gelenke. Die ausgezeichnete Fläche, von der hier noch besonders die Rede sein muss, ist die Kugel. Sie bleibt mit ihrem ruhend gedachten Ebenbilde in Deckung, nicht nur wenn man sie um eine ganz bestimmte Gerade als Axe dreht, wie jede beliebige Rotationsfläche, sondern allemal, wenn man sie um eine irgendwie gerichtete Gerade als Axe dreht, nur muss diese durch einen bestimmten Punkt, den Mittelpunkt, gehen. Ist also die eine Gelenkfläche ein convexer Kugelabschnitt, die andere der concave Abdruck desselben oder eines Theiles davon, so können wir, wenn wir den einen Knochen im absoluten Räume fest denken, den an- dern drehen um jede gerade Linie, die durch den Mittelpunkt der Kugel geht, von der beide Gelenkflächen Abschnitte sind. Mit anderen Worten, wir können dem beweglich gedachten Knochen jede Stellung geben, welche nur die Bedingung erfüllt, dass ein einziger mit ihm in unveränderlicher räumlicher Beziehung stehender Punkt, der Mittelpunkt Bewegungsmodiis der Artbroilie. 4-Ö der Geleiikkiigel, seinen Ort im alj.soluten Räume beibehält. Beim Dreh- gelenk musste dagegen eine gerade Linie ihren Ort im absoluten Eaume beibehalten. Unter allen jenen Stellungen, deren das arthrodische Gelenk fähig ist, kann man jede beliebige Reihe von stetig aufeinanderfolgen- den zusammenfassen und allemal hat man eine mögliche Bewegungs- bahn des beweglich gedachten Knochens. Ein Punkt desselben beschreibt also nicht nothwendig bei allen arthrodischen Bewegungen immer Stücke einer und derselben Curve, wie es geschieht bei den Bewegungen in einem Schraubengelenke oder Drehgelenke, wo im einen Falle die vor- geschriebene bestimmte Bahnlinie für jenen Punkt eine bestimmte Schrau- benlinie, im andern Falle ein bestimmter Kreis ist. Ein bestimmter Punkt eines arthrodisch beweglichen Knochens kann vielmehr längs jeder beliebigen Curve fortschreiten, welche sich auf einer Kugel verzeichnen lässt, deren Halbmesser die Entfernung des gedachten Punktes vom Mittelpunkte des Gelenkes ist. Es hat grosse Schwierigkeit, sich von der Bewegungsmöglichkeit eines arthrodisch verbundenen Knochens — Drehung eines Körpers um einen Punkt nennt man sie im Allgemeinen — eine deutliche und doch allgemeine Vorstellung zu machen. Es haben sich deshalb schon viele Geometer bemüht, diese durch verschiedene Betrachtungsweisen zu er- leichtern. Ein Eingehen auf diese Bestrebungen würde an diesem Orte zu weit führen ; wir beschränken uns darauf, diejenige Betrachtungsweise von den arthrodischen Bewegungen zu geben, wie sie stillschweigend oder ausgesprochen in der Regel den anatomischen Erörterungen und Be- nennungsweisen zu Grunde liegt. Der relativ beweglichere arthrodisch verbundene Knochen ist in der Regel ohnehin röhrenförmig langgestreckt, denken wir uns daher eine bestimmte gerade Linie in demselben, die durch den Mittelpunkt des Gelenkes geht und die längste Dimension des- selben darstellt; sie mag die Axe des Knochens heissen. Denken wir uns nun den andern Knochen im absoluten Räume fest, so kann 1. die soeben definirte Axe alle Lagen einnehmen, welche auf den festen Mittelpunkt zielen und von einer (je nach dem Bewegungsumfang verschiedenen) kegelartigen Fläche umhüllt sind; diese Lagen bilden das, was man in der Geometrie ein Strahlenbündel nennt ; 2. kann sich dann der Knochen um die Axe herum immer noch um einen mehr oder weniger grossen Winkel drehen, welche Lage man auch der Axe gegeben hat. Von den drei möglichen Arten der genauen Schleifgelenke können wir die erste, das Schraubengelenk, ganz von den weiteren Betrach- tungen ausschliessen. Es ist allerdings in neuerer Zeit über allen Zweifel nachgewiesen, dass die Flächen der Astragalusrolle und des Ellenbogen- gelenkes, vielleicht auch des Gelenkes zwischen Atlas und Epistropheus, 46 Sattelgelenke. Eigelenke. Schraubenflächeii sind, jedoch sind in allen Fällen die Verschiebungen längs der Axe hei einer vollen Umdrehung — die Höhen der Schrauhen- gänge — so klein gegen die Abmessungen der bewegten Knochen, dass die Bewegung in erster Annäherung sehr wohl für eine reine Drehung gelten kann, und die Flächen selbst gleichen Umdrehungsüächen so sehr, dass man sie lange Zeit allgemein dafür angesehen hat. Wir hätten es also nur mit Drehgelenken und dem ausgezeichneten Falle der arthrodi- schen Gelenke zu thun. Neben den bis jetzt betrachteten kommt im menschlichen Körper noch eine ganze Reihe von Schleifgelenkeu vor, welche ihren Bewegungs- modus kleinen Abweichungen von der vollen geometrischen Strenge verdanken. Mit dem Grade von Genauigkeit nämlich, mit wel- chem im menschlichen Körper überhaupt selbst die besten Dreh- und Arthrodiekugelflächen wirklich aufeinander schleifen, können es auch noch gewisse andere Flächenstücke bei anderen Bewegungsmodis, Zwei solche Flächenarten sind — so weit bis jetzt die Untersuchungen reichen — im menschlichen Körper zur Bildung von Schleifgelenken wirklich ver- wendet: sattelförmige und eiförmige Flächen. Man kann sich leicht ohne Calcul überzeugen, dass es sattelförmige Flächen geben muss, welche, um zwei einander senkrecht überkreuzende Linien gedreht, auf ihrem ruhend gedachten Abdrucke sehr annähernd schleifen. Diese beiden Linien — wir wollen sie Axen nennen — liegen, wie man leicht sieht, auf entgegengesetzten Seiten der Fläche. Man sieht ferner leicht, dass das Schleifen, wenigstens innerhalb eines gewissen Umfanges, auch dann noch sehr vollkommen ist, wenn man von den gedachten beiden Drehungen endliche oder unendlich kleine Elemente in beliebiger Eeihen- folge zu einer Gesammtbewegung vereinigt, nur muss man dabei beach- ten, dass die eine Axe, welche ursprünglich auf der dem beweglich ge- dachten Knochen angehörigen Seite der Gelenkfläche gelegen war, mit diesem fortrückt, also ein Element der Drehung um sie nicht immer um dieselbe Linie im absoluten Räume geschieht, sondern immer um eine Linie, welche zu dem beweglich gedachten Knochen eine beständige Lage hat. Vergegenwärtigt man sich den ganzen Complex von Lagen, welchen etwa ein Röhrenknochen (z. B. der Metacarpusknochen des Daumens) einnehmen kann, der durch ein solches Gelenk mit einem andern im Räume festgedachten (dem os multangulum majus) verbunden ist, so be- greift man leicht, wie eine solche Verbindungsweise mit einer Arthrodie verwechselt werden konnte. In der That hat der Bewegungsmodus mit dem arthrodischen im äussern Ansehen grosse Aehnlichkeit. Gleichwohl lässt sich in dem beweglichen Knochen keine einzige Gerade angeben, Beiührungsgelenke. 47 die in allen für sie möglichen Lagen auf einen Punkt zielt — deren Lagen ein Strahleubündel bilden. Noch weniger kann für eine bestimmte Lage einer solchen Linie nun noch eine Drehung um sie als Axe, wie bei der Arthrodie. stattfinden. Einen ganz ähnlichen Bewegungsmodus bietet ein Gelenk dar, dessen Flächen aus einer eiförmigen Fläche geschnitten sind. Eine ganze geschlossene eiförmige Fläche kann zwar nur dann in ihrem Abdruck schleifen, wenn sie um ihre längste Axe dreht. Ein kleines (etwa oval be- grenztes Stück) davon, geschnitten in der Nähe zu beiden Seiten des grössten kreisförmigen Umfanges, schleift aber auch dann sehr annähernd an seinem Abdruck, wenn man es um eine gewisse Gerade dreht, welche jene erstgedachte Axe senkrecht überkreuzt (ohne sie jedoch zu schnei- den). Solche begrenzte Stücke können also auch wieder zur Bildung von Gelenken (erstes Handgelenk, Gelenk zwischen Atlas und Hinterhaupt- bein) benutzt werden. Jede Bewegung in einem solchen muss zusammen- gesetzt sein aus Elementen, von denen jedes entweder eine Drehung um die eine oder eine Drehung um die andere Axe ist. Der Unterschied vom Bewegungsmodus des Sattelgelenkes beruht darauf, dass hier die beiden Axen auf derselben Seite der Gelenkflächen liegen, während sie dort auf entgegengesetzten lagen. Ausser den Schleifgelenken giebt es nun noch andere, bei denen die Gelenkflächen niemals mit endlich ausgedehnten Stücken in vollständiger oder angenäherter Congruenz sind, wo sie sich vielmehr nur in einem Punkte oder längs einer Linie berühren. Man könnte sie passender Weise Berührungsgelenke nennen. Für ein Vorbild der ganzen Gattung kann das Kniegelenk gelten. Wir wollen es daher Ijesonders im Auge behalten. Obgleich bei einer solchen Vereinigung die Gelenkflächen weit auseinan- der klaflTen, ist doch in der Kegel wieder der eigentliche Binnenraum der Gelenkhöhle so gut wie Null , indem nämlich die Synovialmembrau faltenartig in den klaffenden Raum hineinragt. Die in den Synovialfalten eingeschlossenen Massen müssen den nöthigen Grad von Weichheit be- sitzen, um sich den Formveränderungen des übrig bleibenden Raumes zwischen den Gelenkflächen anzubequemen. Beim Kniegelenk sind die erforderlichen biegsamen Massen theils die fihro-carlilagines semilunares, theils die Fettpolster in den Ugamentis alariis und anderen Synovialfalten. Obwohl nun auch hier der allgemeine Grundsatz der Gelenkmechanik von der Constanz des Gelenkhöhlenraumes in aller Strenge gültig bleibt, so ergiebt sich daraus, wie man leicht sieht, an sich noch kein hinlänglich bestimmter Bewegungsmodus. Dieser wird bei solchen Gelenken erst durch Nebeneinrichtungen eingeführt — in der Regel durch die ligamenta 4:0 Zwischenknorpel in Gelenken. accessoria, die also hier eine wesentliche Bedeutimg für den ganzen Mechanismus gewinnen, während er bei den Schleifgelenken schon durch die blosse Form der Geleukflächen vollständig gegeben ist. So würden z. B. im Kniegelenk gar mannigfache Bewegungen ausführbar sein, ohne dass sich der Binnenraum der Gelenkhöhle änderte. Aus der Gestalt der Gelenkflächen an sich Hesse sich gar kein einschränkender Schluss ziehen. Die bestimmte Anordnung der Ugamenta lateralia und cruciata nöfhigt erst das Femur, jene bestimmte Bewegung anzunehmen, bei welcher seine Condylen auf den Tibiaflächen rollen und schleifen, umgekehrt wie ein halbgehemmtes Wagenrad, und zwar so, dass der äussere Condylus mehr rollt, der innere mehr schleift. Diese Bänder bewirken es erst, dass jenes Kutschen der Oberschenkelcondylen auf den Tibiaflächen, wobei eine Drehung um die Längsrichtung dieses letzteren Knochens statthat, nur in halbgebogener Lage möglich ist. Mit einem Worte, der ganze Be- wegungsmodus des Kniegelenkes wird allein durch die Bänder bestimmt lind könnte aus der Gestalt der Gelenkflächen an sich nicht gefolgert werden, da ja die Flächen wie die der Oberschenkelcondylen noch bei manchen anderen (im Kniegelenk nicht möglichen) Bewegungen mit den Tibiaflächen in der punktuellen Berührung bleiben könnten, die überhaupt hier möglich ist. Wir haben noch eine Gruppe von Gelenken zu besprechen, wie das Kiefergelenk, jdas Brustschlüsselbeingelenk und andere, die sich ebenfalls eines sehr bestimmten Mechanismus erfreuen, ohne dass derselbe durch Drehung aufeinander passender Flächen bestimmt ist. In den beiden an- geführten Beispielen wird die Sache noch durch die Zwischenknorpel verwickelter, welche die Höhle in zwei vollständig getrennte Räume thei- len. Vielleicht bildet der Zwischenknorpel mit dem einen und mit dem andern Knochen ein wirkliches Schi elf gelenk. Allerdings würden bei der Biegsamkeit des Knorpels für ein solches Schleifgelenk nicht mehr nothwendig Umdrehungsflächen zu fordern sein (und solche sind in der That an den beispielsweise angeführten Gelenken entschieden nicht vorhanden), indem die Deckung in einer folgenden Lage vermittelst einer Formveränderung der einen Fläche — eben der am Knorpel — zu er- zielen wäre. Freilich müsste dann immer die Form Veränderung der Be- dingung genügen, dass sich die andere Fläche des Knorpels dem andern Knochen ebenfalls genau anschliessen könnte. Diese Bedingung ist es vielleicht gerade, die den Bewegungsmodus bestimmt. Beim gegenwär- tigen Stande unserer Kenntnisse lässt sich nichts Allgemeines über die hier in Rede stehenden Gelenke aussagen, und wir müssen es der spe- ciellen Anatomie überlassen, in den einzelnen Fällen die Bewegungen nach der Erfahrung darzustellen. Amphiarthrosen. Bewegungsumfang der Gelenke. 49 Es giebt noch eine grosse Anzahl von Gelenken am menschlichen Körper, welche in keine der bisher aufgezählten Gruppen passen — man denke nur an die Gelenke zwischen Handwurzel und Mittelhaudknochen n. s. w. Man spricht gewöhnlich diesen Gelenken einen eigentlichen Be- wegungsmodus ganz ab und nimmt an, dass die einzigen Bewegungen derselben in einem unbestimmten Wackeln bestehen (das üljrigens allen anderen Gelenken neben ihrem eigentlichen Bewegungsmodus als Unvoll- kommenheit auch, anhaftet). Man nennt daher diese Gelenke auch Wackel- gelenke oder Amphiarthrosen. Mit Vertiefung der Forschung verliert je- doch die so charakterisirte Gruppe immer mehr an Umfang, indem immer neue früher zu den „Amphiarthrosen" gezählte Gelenke als Gelenke mit bestimmtem Bewegungsmodus erkannt werden. Der Bewegungsumfang eines Gelenkes wird am passendsten durch Winkelgrössen dargestellt. Zwar haben wir gesehen, dass nicht immer die Gelenkbewegungen reine Drehungen — sei es um eine feste gerade Linie, sei es um einen festen Punkt — im strengsten Wortsinne sind. Gleichwohl übertrifft in der Kegel eine Abmessung des im Gelenke be- weglichen Knochens alle Abmessungen des an der Gelenkbildung un- mittelbar betheiligten Stückes so sehr, dass für den äusseren Anblick in der Regel jede Gelenkbewegung als Drehung erscheint, indem das am Gelenke betheiligte Stück des Knochens als Ganzes doch jedenfalls keine namhafte Orts Veränderung erleidet. Näher ist es nun folgende Winkel- grösse, welche im einzelnen Falle den Bewegungsumfang misst. Man wähle «in dem beweglich gedachten Knochen eine gerade Linie, sodass sie bei der ganzen fraglichen Bewegung in einer Ebene bleibt. Man führe nun die Bewegung nach beiden Seiten hin aus, so weit es die Einrichtung des Gelenkes erlaubt, und messe den Winkel, welchen die beiden äusser- sten Lagen der gewählten Linie einschliessen. Dieser Winkel misst den Umfang der Bewegung. Eine solche Linie ist Ijei allen Gelenken mit be- stimmter Bewegungsbahn immer wenigstens annähernd zu finden. Bei einem einfachen Ginglymus hat jedes Perpendikel auf die Drehaxe oder sonst jede Gerade, die in irgend einer zur Drehaxe senkrechten Ebene be- griffen ist, die gewünschte Eigenschaft. Man würde nach dieser Definition beispielsweise von einem normalen Ellenbogengelenk sagen, es habe einen Bewegungsumfang von etwa 140", Bei Gelenken ohne bestimmte Bewegungsbahn (Arthrodieen, Sattel- gelenken u. s. w.) ist die erschöpfende Darstellung des Bewegungsum- fanges nicht so einfach. Man ist bei solchen gezwungen, alle möglichen Stellungen nach einem willkürlichen Principe in einzelne Bewegungs- bahnen zu ordnen und für jede den Bewegungsumfang in der obigen Weise anzugeben. Nehmen wir beispielsweise eine Arthrodie — etwa das Fick, Physiologie, 3. Aufl. 4 50 Bestimmung des Bewegungsumfanges bei der Arthrodie. Hüftgelenk — vor, so können wir in folgender Art eine Vorstellung von seinem Bewegungsumfänge gewinnen. Wir gehen von einer gewissen Lage, etwa der senkrecht herabhängenden des Schenkels aus. Wir legen eine wagrechte Ebene durch den Drehpunkt und ziehen in derselben die unendlich vielen möglichen Geraden durch den Drehpunkt. Eine dieser Linien nach der andern sehen wir nun als Drehaxe an und bestimmen für jede den möglichen Drehungswinkel, d. h. den „Umfang der Dre- hung um diese bestimmte Axe". Damit wäre aber noch immer nicht der Begriff des ganzen Bewegungsumfanges dieses Gelenkes erschöpft; in der That gehört es ja zum Wesen der Arthrodie, dass in jeder Lage, die der Oberschenkel durch Drehung um eine jener erstgedachten Axen an- genommen hat, noch eine (je nach Umständen grössere oder geringere) Drehung um seine eigene Längsrichtung vorgenommen werden kann. Es müsste also für jede Stellung, welche bei jener ersten Untersuchung (der wagrechten Axen) die Längsrichtung einnimmt, noch der Winkel ange- geben werden, um welchen der Schenkel um sie (die für den Augenblick fest gedacht wird) als Axe gedreht werden kann. Natürlich wird man sich in der Wirklichkeit füglich mit einigen wenigen Angaben begnügen. So sagt man, um bei dem Hüftgelenke zu bleiben, zur Charakteristik seines Bewegungsumfanges: die Drehung in der Elexionsebene (d. h. um die von rechts nach links gehende wagrechte Axe) hat einen Umfang von etwa 100 Graden. In allen Stellungen, die bei dieser Bewegung vorkommen, kann der Schenkel noch mit einem Ausschlag von mehr als einem rech- ten Winkel um seine Längsrichtung gedreht werden, doch ist diese Dre- hung bei den der Extensionsgrenze näheren Stellungen mehr nach aus- wärts, bei den flectirten Stellungen mehr nach einwärts beschränkt. Aehnliche Angaben über den Umfang der Ab- und Adduction (Drehung um die von vorn nach hinten gerichtete wagrechte Axe) vervollständigen das Bild, nebst Angaben über den Umfang der Drehung um einige schräge wagrechte Axen. Diese letzteren Drehungen denkt man sich zuweilen ent- standen durch successive Drehung um die Flexions- und Abductionsaxe. In ähnlicher Weise wäre der Bewegungsumfang eines Sattelgelenkes und eines Gelenkes mit ovalen Flächen zu bestimmen, nur fiele die An- gabe der Drehungsweite um die eigene Längsrichtung des beweglich ge- dachten Knochens in jeder Stellung weg, weil eine solche Drehung bei diesen Gelenken nicht vorkommt. Die Beschränkung des Bewegungsumfanges oder die „Hemmung" kann eine absolute oder eine relative sein. Die erstere besteht darin, dass man bei Führung des beweglichen Knochens in der (oder in einer) ver- möge des Bewegungsmodus möglichen Bahn mit einem Theile desselben (in den meisten FäUen mit dem Eande der Gelenkfläche) an einen Punkt Absolute und relative Hemmung der Gelenke. . Öl des festgedachten Knochens anstösst, so dass eine weitere Bewegung nur eine Drehung um diesen nun fest angestemmten Berührungspunkt sein könnte. Da aber eine solche durch den Bew^egungsmodus des Gelenkes ausgeschlossen ist, so ist mit dem gedachten Punkte die absolute Grenze des Bewegungsumfanges erreicht, denn keine Kraft vermag den beweglichen Knochen weiter zu führen, wofern sie nicht überhaupt den Zusammenhang des Gelenkes aufhebt — es verrenkt — was dann nicht mehr Gegenstand der physiologischen Betrachtung ist. Ein vorzüg- liches Beispiel eines Gelenkes, welchem diese Art der Hemmung allein eigen ist, giebt das Ellenbogengelenk ab. Denken wir den Oljeram fest im Räume, so kann man bekanntlich selbst mit der geringsten Kraft die Ulna bis zu den beiden Punkten führen, wo sich der processus coronoideus in der fossa anterior major und wo sich andererseits das Olekranon in dem Sinus maximus anstemmt, d. h. bis zur äussersten Grenze der Flexion und der Extension, und zwar sind diese Grenzen absolut, denn eine Steige- rung der Kraft führt die Ulna, deren Hemmung ganz plötzlich geschah, nicht um eine Spur weiter. Ganz anders tritt die relative Hemmung durch allmähliche An- spannung von Bändern auf. Das Wesen des Vorganges ist aus der Ana- tomie im Allgemeinen bekannt, wo man schon durch die Benennung vieler Bänder als Hemmungsbänder häufig daran erinnert wird. Man weiss also, dass bei vielen Gelenken einzelne Stellen der ohnehin stets vorhandenen Kapsel besonders stark entwickelt sind, oder dass besondere fibröse Massen zwischen den verbundenen Knochen überspringen. Diese heissen Hemmungsbänder, wenn sie so angelegt sind, dass im Verlaufe einer normalen Bewegung der Ansatz sich vom Ursprung immer weiter entfernt. In diesem Falle nämlich wächst die elastische Spannung des Bandes mit der Länge und wirkt also mit immer grösserer Kraft der Fortsetzung der gedachten Bewegung entgegen. Diese hört folglich in dem Momente auf, wo die elastische Spannung der bewegenden Kraft gleich geworden ist. Lässt man jetzt in demselben Sinne eine grössere Kraft einwirken, so geht die Bewegung über die zuerst gefundene Grenze hinaus, denn das hemmende Band muss noch mehr verlängert werden, damit seine Spannung der neuen Kraft Gleichgewicht halte. Somit ist also in diesem Falle der Bewegungsumfang von der Intensität der be- wegenden Kraft abhängig, um so grösser, je grösser dieselbe ist. Ein augenfälliges Beispiel für diese relative Hemmung liefert die Bewe- gung der Finger gegen die Metacarpusknochen; man beuge z. B. den Zeigefinger mit möglichster Anstrengung seiner eigenen Muskeln, dann wird die Spannung der Lateralbänder, die mit zunehmender Beugung wächst, der beugenden Kraft Gleichgewicht halten, wenn die erste Phalanx 52 Relative Hemmnng. llnskel-vrirkung auf die Gelenke. mit dem Mittelhaiidknöclieu etwa einen rechten Winkel bildet. Mmmt man jetzt die Kraft des andern Armes zu Hilfe, indem man den ge- bogenen ringer mit der andern Hand fasst und darauf drückt, so kann man die Beugung um reicMicli 10^ weiter treiben, weil in der erstge- da eilten Stellung die Spannung der Seitenbänder der vermehrten biegenden Kraft nicht mehr Gleichgewicht hält. Um in solchen FäUen doch ein von den Kräften unabhängiges Maass des Bewegungsumfanges . zu haben, wäre es zweckmässig, die- jenigen Stellungen als Grenzen desselben anzusehen, bei welchen die be- treffenden Hemmungsbänder bis an die Grenze ihrer vollkommenen Ela- sticität gedehnt sind, denn eine weitere Fortsetzung der Bewegung würde das Gelenk eben nicht in unverletztem Zustande zurücklassen, da die über jene Grenze hinaus gedehnt gewesenen Bänder ihre natürliche Länge nicht wieder vollst'ändig annehmen. Eine Bewegung über die Grenzen des so definirten Emfanges hinaus würde das Gelenk ..verrenken", aber doch in anderer Art als ein absolut gehemmtes Gelenk. Je entfernter die Befestigungspunkte eines Hemmungsbandes von den E ändern der Gelenkfläche sind, desto grösser ist im Allgemeinen der Spieh-aum. den es der seine Spannung vermehrenden Bewegung lässt, denn desto grösser ist seine natürliche Länge und folghch desto kleiner bei gleichen Verschiebungen seine auf jene bezogene Dehnung, von der die elastische Spannung allein abhängt. 2, Capitel, Wirkung der MTiskelspannnng auf verbundene Knochen. Bekanntlich sind die meisten Muskeln mit ihren beiden Enden an zwei Knochen befestigt, welche in der einen oder andern der beschriebenen Arten mittelbar oder unmittelbar bewegKch verbunden sind. Geht ein solcher Muskel aus dem ruhenden in den erregten Zustand über, so wird in der Eegel der Fall eintreten, dass seine natürEche Länge im Tetanus kleiner ist als die gerade statthabende Entfernung seiner Endpunkte von einander. Jede seiner Fasern wii'd also in ihrer Eichtung einen Zug ausüben. Welche Wirkungen diese Züge unter den dm'ch die Gelenke gesetzten Bedingungen hervorbringen können, lehrt die specielle Muskel- mechanik, von der übrigens hier in derselben Weise wie von der Gelenk- geometrie nur die allgemeinsten Grundsätze zu geben sind. Die hiehergehörigen Aufgaben haben es natürlich gar nicht mehr zu thun mit den inneren Vorgängen der Muskelsubstanz. Sie sehen die Zugkräfte der einzelnen Fasern als etwas Gegebenes an. Wenn es sich Problem der Muskelstatik. 53 nicht blos um ein ganz unsicheres und ungefähres Eathen handeln soll, so wird man auf die Lösung der allgemeinsten Probleme der Muskel- mechanik für jetzt verzichten müssen. Man wird es nämlich aufgeben müssen, den durch gewisse Muskelthätigkeiten hervorzubringenden raess- bar grossen Bewegungen zu folgen, weil dabei die Lage und die Länge der Muskeln und folglich die Richtung und Grösse der ins Spiel kommen- den Kräfte fortwährend in viel zu verwickelter Weise verändert wird. Man wird es zunächst versuchen, sich Rechenschaft zu geben von dem einzelnen (unendlich kleinen) Bewegungselement, welches in einer be- stimmten Lage des zu untersuchenden Gelenkes den Anfang machen würde, wenn man sich die darauf wirkenden Muskeln mit gewissen Kräf- ten ziehend denkt. Man kann diese Frage auch so ausdrücken: wie gross müsste eine einzige Zugkraft sein? und wie müsste sie angebracht sein? damit sie den gedachten Muskelzügen Gleichgewicht hielte. Kennten wir nämlich diese, so kennten wir wirklich das Anfangselement der Bewe- gung, denn es wäre dasjenige, was eine ihr entgegengesetzt gerichtete gleichgrosse Kraft allein wirksam gedacht, im ersten Augenblicke hervor- bringen würde. Das von dieser letzteren Kraft, welche der allein vorhan- den gedachten Gleichgewicht haltenden gleich und entgegengesetzt ist, am Gelenk hervorgebrachte Drehungs- Bestreben oder -Moment heisst das „resultirende Moment" der gegebenen Kräfte. Im folgenden Augenblicke können wir aber das Zusammenwirken der gedachten Muskelzüge nicht mehr durch jene eine Kraft darstellen, denn sie haben sich im Allgemeinen alle durch das erste Bewegungselement selbst geändert. Das soeben ausgesprochene Problem lässt sich in jedem einzelnen Falle, wenn alle nöthigen Data bekannt sind, durch Anwendung der ersten Elemente der Statik lösen. Es handelt sich nämlich offenbar nur um die Reduction eines Systems von Kräften (die Zugkräfte aller einzelnen Muskelfasern), angebracht an einem starren Körper, dessen Bewegungen bestimmten geometrischen (durch das Gelenk gegebenen) Bedingungen unterworfen sind. Bekanntlich lässt sich jedes System von Kräften, die auf einen frei beweglichen starren Körper wirken, zurückführen auf zwei Kräfte, die nicht in einer Ebene liegen. Ist hingegen der starre Körper, auf den die Kräfte wirken, noch besondern geometrischen Bedingungen unterworfen, so lassen sich die sämmtlichen Kräfte in der Regel auf eine einzige Kraft oder „Resultante" zurückführen. So ist es wenigstens allemal bei den zwei wichtigsten Arten der (üelenkbewegung, der Axen- drehung (Ginglyinus) und der Drehung um einen Punkt (Arthrodie), die uns hier statt einer allgemeineren Betrachtung im Besondern noch einen Augenblick beschäftigen mögen. 54 Resultirendes Moment am Dretgelenk und an der Arthrodie. Bei dem Ginglymusgelenk kann von vornherein nur von einer Drehung um eine bestimmte feste Axe in dem einen oder dem andern Sinne die Rede sein, wodurch die Ermittelung der Muskelwirkungen bei einem solchen höchst einfach wird. Wir haben nämlich nur die sämmt- lichen Drehungsbestrebungen (Momente) in dem einen und in dem andern Sinne zu addiren und die kleinere dieser beiden Summen von der grösse- ren zu subtrahiren, der Eest ist das wirklich vorhandene oder resultirende Drehungsbestreben, in dem Sinne der grösseren Summe wirksam. Das Drehungsbestreben, welches eine Muskelfaser in einem gegebenen Zu- stande hervorbringt — ihr Moment — in Beziehung zu der Axe des Ginglymus findet sich aber bekanntlich leicht. Zerlegt man nämlich erst- lich die als bekannt vorauszusetzende Kraft (Spannung) der Faser nach der Eegel des Parallelogrammes der Kräfte in eine zur Axe parallele Componente und in eine andere, welche in einer zur Axe senkrechten Ebene begriffen ist, so ist klar, dass die erstere zur Drehung nicht mit- wirken kann, sondern eine Verschiebung des einen Knochens am andern längs der Axe hervorzubringen strebt, welche Verschiebung aber durch die Einrichtung des Gelenkes verhindert wird, oder mit andern Worten, diese Componente wird im Gleichgewicht gehalten durch Widerstände. Die zweite Componente ist zu multiplicii'en mit ihrem kürzesten Abstand von der Axe, d. h. mit dem Perpendikel, das von einem Punkte der Axe auf ihre Eichtung gefällt werden kann ; das Product misst alsdann das gesuchte Moment. Für den Fall arthrodischer Beweglichkeit ist die Frage nach dem Erfolge mehrerer zusammenwirkender Zugkräfte nicht ganz so einfach zu beantworten, weil auch die Eichtung des resultirenden Drehungsbestre- bens noch nicht von vornherein bestimmt ist. Eine einzelne Zugkraft, au dem beweglichen Knochen angebracht, würde natürlich ein Drehungs- bestreben zur Folge haben um eine Axe, die im Drehpunkt senkrecht steht zu der Ebene, welche diesen Punkt und die Eichtung der Kraft ent- hält. Fällt man vom Drehpunkt auf die Eichtung der Kraft ein Loth und multiplicirt das Maass seiner Länge mit dem Maasse der Kraft, so hat man auch die „Grösse" des Momentes. So kann also im gegebenen Falle für jede Muskelfaser Axe und Grösse des Momentes gefunden werden. Das gleichzeitige Vorhandensein aller dieser so bestimmten Momente hat_ nun denselben Erfolg, als ob nur ein einziges Moment vorhanden wäre, welches nach einem bekannten Satze der Statik so gefunden wird: Man trägt den Grössen der einzelnen Momente proportionale Längen auf ihren respectiven Axen überall vom Drehpunkt anfangend ab und findet für die sämmtlichen in einem Punkt zusammenlaufenden, begrenzten geraden Linien die Eesultirende gerade so, als stellten sie Kräfte vor, d. h. nach Moments der Muskeln an der Arthiodie. 55 der Regel des Parallelogrammes. Die Richtung der so bestimmten Linie ist die Richtung der Axe und die Grösse derselben misst die Grösse des Drehungsstrebens, welche das Zusammenwii-keu der gedachten Kräfte um diese Axe hervorbringt. *) Es begreift sich leicht, dass man in der Zusammensetzung der Mo- mente jede beliebige Reihenfolge einhalten kann. So darf man auch zu- nächst die Momente der einzelnen Fasern jedes Muskels für sich zusammen- setzen zu resultirenden Momenten der einzelnen Muskeln (im anatomischen Sinne). Die Lage der Axe eines solchen resultirenden Momentes hängt blos ab von der Lage des Muskels zum Gelenk, nicht von der Grösse der Spannung des Muskels. Hierauf beruht die functionelle Benennung der auf eine Arthrodie wirkenden Muskeln. Fällt nämlich die Momentaxe eines Muskels in die Nähe einer der sechs Axen, welche besonders be- zeichnet werden, so nennt man den Muskel so, als ob er eine Drehung um diese Axe selbst hervorbrächte. Beispielsweise fällt die Axe, um welche der m. jjsoas allein wirkend das Bein aus der gerade herabhängen- den Lage herausdrehen würde, ziemlich nahe an die Flexionsaxe, d. h. die Linie, welche vom Drehpunkt wagrecht gerade nach auswärts geht, daher bezeichnet man den m. psoas als einen flexoi^ femoris. In der That wird er in der gedachten Lage des Schenkels eine der reinen Flexion sehr ähnliche Bewegung hervorbringen, bei der wenigstens, z. B. sicher wie bei der Flexion, das Knieende des Schenkels nach vorn aufsteigt. Indem man solche Namen für die Muskeln gebraucht, kann man sich nicht lebhaft genug vergegenwärtigen, dass die ihnen zu Grunde liegende Vorstellung nur auf eine bestimmte, willkürlich gewählte Anfangsstellung passt. Die Namen der gedachten Art bezeichnen also durchaus nicht eine bleibende Eigenschaft der Muskeln, sondern nur eine einzelne Beziehung, in der sie sich in einer bestimmten Lage des Gliedes befinden, und auch in diesem Sinne ist die Bezeichnung nur sehr ungefähr. 3. Oapitel. Einige besondere Bewegungsmechanismen. Die specielle Durchführung der Lehren des vorigen Capitels an den einzelnen Gliedern des menschlichen Leibes, oder wo diese noch nicht möglich sein sollte, die empirische Beschreibung einzelner Gelenkbewe- *) In diesen wenigen Sätzen ist alles das vollständig enthalten, was zu- weilen etwas schwerfällig und nicht immer hinlänglich bestimmt mit Hilfe von Anschauungen, die der speciellen Lehre vom Hebel entlehnt sind (als die Länge des Hebelarms, Angriffswinkel etc.), vorgetragen wird. 50 stehen se, wie mechanischen Druck oder elektrischen Schlag, in den Erregungszu- stand gebracht werden kann. Hierüber kann natürlich nur das Experiment entscheiden. Es liegt folgende sehr merkwürdige thatsächliche Angabe vor, welche auf die in Rede stehende Frage eine sehr unerwartete Ant- wort zu geben scheint. Wenn man einen Froschnerven durch massige 92 Bedeutung der Markscheide. Quetschungen stellenweise misshandelt, ohne ihn vom lebenden Thiere zu trennen, so hahen die misshandelten Strecken zunächst sowohl die Eeizbarkeit als die Leitungsfähigkeit eingehüsst. Nach längerer Zeit stellt sich die Leitung wieder her, so dass das Thier die vom gequetschten Nerven abhängigen Muskeln zu seinen willkürlichen Bewegungen wieder gebrauchen kann. Die misshandelten Strecken sind auch wieder mecha- nisch reizbar, nicht aber elektrisch. Die mikroskopische Untersuchung dieser Strecken ergiebt eine Eegeneration des Axencylinders, nicht aber der Markscheide. Will man diese Beobachtungen, obgleich sie noch nicht oft wiederholt sind, für massgebend gelten lassen, so hätte man anzu- nehmen, dass die mechanische Eeizbarkeit eine Eigenschaft des Axen- cylinders und vielleicht von der Leitungsfähigkeit untrennbar, dass da- gegen die elektrische Eeizbarkeit an das Vorhandensein unversehrtes Nervenmarkes geknüpft wäre. Wenn auch wirklich die elektrische Eeizbarkeit eine Function des Markes wäre, so kann sie nicht wohl seine wesentliche Function während des Lebens sein, wo die elektrische Eeizung nur ganz ausnahmsweise vor- kommt. Eine Vermuthung über die eigentliche Bedeutung der Mark- scheide im normalen Lebensverlaufe legt die teleologische Betrachtung der Sache nahe. Mit Markscheide sind ausschliesslich lange Nerven- fasern versehen, sowohl innerhalb des Centralorganes (die Fasern der Stränge), als ausserhalb desselben, während die ganz kurzen Verbin- dungen der Ganglienzellen nackte Axencylinder sind. Die Markscheide wird also eine Bedeutung für die Leitung auf weite Strecken haben, etwa dazu beitragen, dass eine schwache Erregung bei so weiter Leitung nicht so leicht erlischt. Man könnte sich vorstellen, dass im Mark ein gleichsam explosiver Stoif vorhanden wäre, der sich allemal an der Stelle entzündet, wo die im Axencylinder fortschreitende Erregungswelle ankommt, und dass dann die entstehende Energie als neuer Eeiz auf die nächst an- grenzende Stelle des Axencylinders wirkt, um die Erregungswelle zu ver- stärken, respective gleich stark zu erhalten. Diese Vermuthung kann freilich nicht bewiesen werden. Es spricht aber zu ihren Gunsten die merkwürdige Thatsache, dass factisch in den langen motorischen Fasern der peripherischen Nerven (beim Frosche wenigstens) die Erregungswelle durch die Leitung nicht etwa an Energie verliert, sondern vielmehr lawinenartig anschwillt. Man erhält nämlich meist eine stärkere Zuckung, wenn man einen elektrischen Schlag auf eine vom Muskel weit entfernte Stelle des Nerven wirken lässt, als wenn genau derselbe Schlag eine dem Muskel ganz benachbarte Stelle trifft. Man hat sich vielfach bemüht, dieser Thatsache andere Erklärungen zu geben, aber eine unbefangene Würdigung des ganzen vorliegenden ziemlich umfangreichen Versuchs- Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung im Nerven. 93 materiales lässt doch kaum an dem lawinenartigen Anschwellen der Er- regung im Verlaufe der Nervenfaser einen Zweifel aufkommen. Vom teleolo- gischen Gesichtspunkte aus erscheint diese Eigenschaft der Nervenfaser von vornherein sehr annehmbar, denn sie macht die einmal anatomisch nicht vermeidbaren langen Fasern aus blossen Leitern zu activen Helfern des Centralorganes, welches nur kleine Austösse auszusenden hat, die auf dem Wege von selbst zu grösserer Energie anwachsen. Ebenso werden die sensiblen Organe um so empfindlicher, wenn eine äusserst minime Er- regung an der Peripherie genügt, um lawinenartig angeschwollen im Centrum zur Auslösung einer Empfindung hinlänglich stark anzulangen. Eine Fundamentalgrösse der Nervenphysiologie ist die Geschwindig- keit, mit welcher sich der Erregungszustand in der motorischen Nerven- faser fortpfianzt. Es gilt zum Zwecke Bestimmung dieser Grösse die Zeit zu messen, welche verstreicht von dem Augenblicke, .wo eine bestimmte Stelle des Nerven von einem Keize getroffen wird, bis zu dem Augen- blicke, wo der Muskel anfängt, seinen Zustand zu ändern. Einmalige Messung dieses Zeitraumes genügt aber für die Bestimmung der Fort- pflanzungsgeschwindigkeit noch nicht, denn es geht nicht der ganze Zeit- raum auf Fortpflanzung der Erregung, sondern ein Theil desselben wird zur Entstehung der Erregung im Nerven und zur Vorbereitung des Muskels verbraucht, das sogenannte Stadium der latenten Reizung. (Siehe S. 24.) Es muss also die Messung des fraglichen Zeitraumes am selbeuNerveu zweimal gemacht werden und es müssen die übrigen Umstände für beide Messungen identisch sein; nur muss das eine Mal die gereizte Stelle des Nerven weiter vom Muskel entfernt sein als das andere Mal, dann wird jenes Mal der fragliche Zeitraum um soviel länger ausfallen, als Zeit nöthig ist zur Fortpflanzung durch die Nervenstrecke, welche zwischen den beiden Angriffspunkten des Reizes liegt; wenn man also die Länge der- selben ausserdem noch kennt, so lässt sieh die Fortpflanzungsgeschwin- digkeit berechnen. Die Messung der kleinen Zeiträume, auf die es ankommt, wird am einfachsten graphisch ausgeführt. Ein nur senkrecht auf und ab beweg- licher Zeichenstift lehnt an einem berussten Glascylinder, der sich um eine senkrechte Axe mit genau bekannter Geschwindigkeit dreht. In Ruhe zieht also der Stift einen Kreis auf dem Cylinder, der auf dem ab- gewickelten Cylindermantel eine wagrechte Gerade darstellt, und jedes Millimeter in dieser Geraden entspricht einem bestimmten Bruchtheil einer Secunde. Der Zeichenstift ist nun mit dem Muskel in geeigneter Verbindung (siehe Fig. 2, S. 24), so dass er im Augenblicke steigt, wo der Muskel sich zu contrahiren beginnt. Dieser Augenblick ist also in der Zeichnung bemerkbar, indem hier die Linie aus der geraden 94 Fortpflanzungsgeschwinaigkeit der Erregung im Nerven. Kichtuug nach ol3en abbiegt. Man richtet es mm so ein, dass in einem ganz bestimmten Augenblicke, wo der Zeichenstift einem genau be- kannten Punkte des Cylinders gegenübersteht, der Eeiz (Inductions- schlag) den Nerven trifft. Das gerade Stück der gezeichneten Linie zwischen diesem. Punkte und dem Punkte, wo die Curve anfängt auf- wärts abzubiegen, misst die Zeit vom Augenblick der Keizung bis zum Beginne der Zuckung. Macht man also zwei Versuche derart räch nach- einander und lässt den Eeiz zwei verschiedene Punkte des Nerven treffen, so misst die Differenz der zwei geraden Stücke der gezeichneten Linien die Fortpflanzuugszeit durch das Nervenstück zwischen den beiden Keiz- stellen. Dividirt man die Länge dieses Nervenstückes durch die gefundene Fortpflanzungszeit, so hat man die Fortpflanzungsgeschwindigkeit. Statt auf einen rotirenden Cylin'der, zeichnet man neuerdings häufig auf eine an einem grossen Pendel befestigte Platte. Im motorischen Froschnerven beträgt die Fortpflanzungsgeschwin- digkeit der Erregung etwa 26 — 27™ in der Secunde. Abkühlung des Nerven auf nahezu Null Grad verkleinert die Fortpflanzungsgeschwindig- keit beträchtlich. Im elektrotonisirten Nerven ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit kleiner als im natürlichen. In den motorischen Nerven des Menschen (Zweige des nervus. medianus) ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit bestimmt zu durch- schnittlich 33™ per Secunde, eine Zahl, die von der für den motorischen Frosehnerven giltigen nicht weit abliegt. Die stärkeren Erregungsan-; stösse scheinen sich etwas schneller fortzupflanzen als die schwächeren. Es ist bemerkenswerth, dass in gewissen Nervensträngen niederer Thiere die Erregung sehr viel langsamer fortschreitet. Sie legt z. B. in den Nervensträngen der Teichmuschel nur wenige Centimeter in der Secunde zurück. Diese Thatsache ist besonders deswegen von einigem Interesse, weil manche Erscheinungen die Vermuthung nahelegen, dass in gewissen Nervenfasern höherer Thiere, z. B. in den sympathischen Ge- flechten, auch die Fortpflanzungsgeschwindigkeit kleiner ist. 5. CapiteL Vergleicliung der sensiblen mit der motorischen Nervenfaser. Wie schon in den einleitenden Betrachtungen dieses Abschnittes bemerkt wurde, verhalten sich die zur centripetalen Leitung bestimmten Nerven den bisher in erster Linie der Untersuchung unterworfenen moto- rischen wesentlich ganz gleich, indessen hat man doch bei Versuchen. Vergleichung der sensiblen und raotorischen Nervenfaser. 95 an ceDtripetalen Nerven manche Erscheinung hemerkt, welche den Ver- suchen au motorischen zu widersprechen scheinen. Namentlich scheinen sich die beiden Nervenarten constanten elektrischen Strömen gegenül)er wesentlich verschieden zu verhalten. Man kann leicht am eigenen Körper feststellen, das die sensiblen Nerven andauernd in Erregung sind, so lange ein elektrischer Strom eine Strecke derselben durchfliesst. denn ebenso lange hat man eine deutliche Empfindung, welche sich bei einigermassen starkem Strome sogar zu heftigem Schmerze steigert. Dagegen sahen wir den Muskel in Euhe verharren, während ein Strom in constanter Stärke eine Strecke seines Nerven durchfliesst. Nun ist al^er die Knhe des Muskels noch kein Beweis für die absolute Euhe seiner motorischen Nerven. Um den Muskel in andauernder Zusammenziehung (Tetanus) zu erhalten, bedarf es vielmehr, wahrscheinlich einer besonderen, wohl perio- disch schwankenden Erregung im Nerven, und eine solche kommt durch den constanten Strom eben in der Kegel nicht zu Stande. In manchen Fällen (siehe S. 85) hält allerdings der constante Strom, der durch den motorischen Nerven fliesst, auch den Muskel in dauernder Contraction. Auch die Erwärmung auf etwa 45" bringt am sensiblen Nerven regel- mässig entschieden Erregung hervor, während, wie wir sahen, Erwärmung des motorischen Nerven auf den gleichen Grad, den Muskel meistens in Ruhe lässt. Aber auch hier liegt die Annahme nahe, dass der motorische Nerv in denselben Zustand versetzt wird wie der sensible, und dass nur der Muskel nicht im Stande ist, diesen Zustand seinerseits mit Zusammeu- ziehung zu beantworten. Es zwingt uns also keine Thatsache zur Annahme einer wesent- lichen Verschiedenheit der centripetalen und centrifugalen Nervenfasern. 6. Capitel. Chemischer Process in der Nervenfaser. Es kann von vornherein nicht bezweifelt werden, dass in der leben- den Nervenfaser fortwährend chemische Processe verlaufen. Schon die weiter unten zu erörternde elektromotorische Wirksamkeit dieses Ge- bildes liefert dafür den unumstösslichen Beweis, denn in einem soge- nannten Elektrolyten oder Leiter zweiter Classe — und zu dieser Classe von Körpern gehören die Bestandtheile der Nervenfaser — kann ohne chemische Umsetzungen ein elektrischer Strom nicht fliessen. Ein anderer Umstand, welcher chemische Processe in der Nervenfaser wahrscheinlich macht, besteht in der Thatsache, dass Nerven, welche von ihrem Central- organ getrennt sind, nach einiger Zeit degeneriren. Nach der Analogie der Muskelfaser, mit welcher die Nervenfaser in so vielen Beziehungen 96 Chemische Processe in der Nervenfaser. Übereinstimmt, darf man vermuthen, dass die chemischen Processe in der Nervenfaser auch hauptsächlich in Verbrennung stickstofffreier Ver- bindungen bestehen, deren massenhaftestes Product Kohlensäure ist, und dass die chemischen Processe im erregten Zustande zu grösserer Inten- sität angefacht werden. Die Producte der chemischen Processe des Nerven sind übrigens bis auf den heutigen Tag noch nicht mit voller Sicherheit nachgewiesen. Zwar wollen einige Forscher beobachtet haben, dass ein stark gereizt ge- wesener Nervenstamm deutlich sauer reagirt. Andere Forscher dagegen bestreiten entweder die Thatsache selbst oder geben ihr eine andere Deutung. Auch fehlt es nicht an Angaben, dass die Temperatur nervöser Organe im Erregungszustande steigt, aber auch diese Angaben sind be- stritten, so dass auch eine Wärmeentwicklung bei der Erregung keines- wegs sicher bewiesen ist. Diese negativen oder mindestens sehr zweifelhaften Ergebnisse des Suchens nach sichtbaren Spuren chemischer Processe beweisen, dass diese Processe in der Nervenfaser ausserordentlich wenig intensiv sind, dass ihre Intensität insbesondere ungeheuer weit hinter der Intensität der chemischen Processe im Muskel zurücksteht. Es deutet hierauf schon der aus der Anatomie bekannte Umstand, dass die Nervenstämme ausser- ordentlich spärlich mit Blutgefässen versorgt sind, im schroffen Gegen- satz gegen die Muskeln, welche überall von einem reichlichen Capillar- netz durchzogen sind. Hieraus geht hervor, dass die Nervenstämme einen verschwindend kleinen Stoffwechsel haben. Für grosse Stabilität des chemischen Gefüges der Nervenfaser und Trägheit ihrer chemischen Processe spricht ferner auch die Thatsache, dass — wie es scheint — kein Gift auf die eigentlichen Nervenfasern wirkt. Zwar Liegen einige gegentheilige Angaben vor, dieselben sind aber sämmtlich mangelhaft begründet. Vor Allem aber ist es eine meist wenig beachtete physiologische Thatsache, welche beweist, dass selbst bei intensivster Erregung die chemischen Processe in der Nervenfaser von verschwindend kleinem Betrag sind. Diese Thatsache besteht in der fast vollkommenen ün- ermüdlichkeit der Nervenfaser. In welchem Grade diese Eigenschaft den Nervenfasern zukommt, erfährt Mancher an sich selbst, wenn er Tage lang die rasendsten Schmerzen auszuhalten hat. Aber auch über die ünermüdlichkeit motorischer Nerven muss man staunen, wenn man an ihnen eigens darauf hin experimentirt. Selbstverständlich muss man bei solchen Versuchen die Bedingungen so setzen, dass der Muskel, welcher als Keagens auf die Erregung des betreffenden Nerven dient, von der Ermüdung ausgeschlossen ist, oder sich immer leicht wieder erholen Ganglienzelle. QY kann. Man miiss zu diesem Ende an einem Thiere, etwa einem Frosch, experimentiren, das soweit unversehrt ist, dass der Muskel noch vom Blut in normaler Weise durchströmt ist. Wenn man alsdann den zuge- hörigen Nerveustamm vom Centrum abtrennt und aus dem Thierkörper herauslegt, so kann natürlich nicht von einem Ersatz seiner Stoffe die Bede sein. Gleichwohl kann man diesen Nerven mit colossalen elek- trischen Reizen zehn Minuten lang misshandeln, und sofort zuckt der Muskel doch wieder auf die schwächsten Eeize des Nerven, welche an- fänglich Zuckung hervorriefen. AUesfalls bemerkt man eine Minderung der Erregbarkeit in der dem Reize selbst ausgesetzt gewesenen Nerven- strecke. 7. Oapitel. Ganglienzelle. Das zweite Element des Nervengewebes ist die sogenannte Gan- glienzelle, auch wohl geradezu Nervenzelle genannt. Sie ist ein Proto- plasmaklümpchen mit Kern und Kernkörperchen, von demselben gehen stets mindestens zwei Protoplasmafäden aus, welche sie mit andern Elementen des Nervensystems, Fasern oder Zellen in Verbindung setzen. Diese Behauptung ist eine Forderung der Physiologie, wenn es auch der histiologischen Forschung noch nicht gelungen ist, an allen Nervenzellen zwei Ausläufer nachzuweisen, und die Histiologie daher noch von „uni- polaren'' und „apolaren" Ganglienzellen, d. h. von Nervenzellen mit nur einem Ausläufer und solchen ohne Ausläufer spricht. Eine unipolare Nervenzelle wäre eine Sackgasse, d. h. ein peripherisches Endorgan, keine Ganglienzelle im engeren Sinne des Wortes. Eiue apolare Nervenzelle vollends könnte gar nicht als Theil des Nervensystems betrachtet werden. Da nämlich die Fortpflanzung der Erregung durchaus nur im stetig zu- sammenhängenden Protoplasma stattfinden kann, so könnte eiue isolirte Zelle Erregung weder empfangen, noch auf andere Elemente übertragen, sie wäre ein selbstständiges Thierindividuum, das parasiteuartig im Ner- vensystem ein Sonderleben führte. Leider ist es uns unmöglich, ü))er die Eigenschaften und Thätig- keiten der Ganglienzellen in ähnlicher AVeise zu experimentiren. wie wir es an den Nervenfasern konnten. Man kann nämlich nie Agentien, deren Einwirkung geprüft werden sollte, auf die Ganglienzellen ausschliesslich wirken lassen, da neben solchen überall auch faserige Elemente liegen, Man hat daher nur indirect aus den Erscheinungen am Nervensystem in seinem Zusammenhange einige allgemeine Sätze über die Ganglienzelle folgern können. Fick, Physiologie, a. Aufl. ' 98 EiBseJtlgfi Iieitrmg in der Ganglienzelle. 1. Das Protoplasma der Ganglieazelle ist eines besonderen Zu- standes fäMg. der mit dem Erregungszustände der Xerrenfaser vöUig einerlei oder ihra wenigstens sehr ätnlich ist. den wir daher füglich mit demselben Namen belegen können. 2. Höchst wahrscheinlich kommt der Ganglienzelle auch die Eigen- schaft der Keizbarkeit zu, d. h. ihr Protoplasma kann in den Erregungs- znstand versetzt werden dnrch directe Einwirkung äusserer, dem Nerven- system fremder Agentien, die als Beize zu bezeichnen wären. Ob alle Eeize der Nervenfaser anch Reize für die Nervenzelle sein können, ist zweifelhaft. Es verdient noch hervorgehoben zu werden, dass im Verlaufe des normalen Lebens die Ganglienzelle wohl mir ausnahmsweise der An- griffspnnkt von äusseren Pieizen sein wird. 3. Der EiTegungsznstand kann von anderen Elementen her auf dem Wege der Protoplasmafaden, die von ihr ausgehen, in die Ganglienzelle hineingetragen werden nnd ebenso kann sich die Erregung aus einer Ganglienzelle auf eben solchen Wegen zu anderen Elementen des Systems fortpflanzen. Die Ganglienzelle kann somit als Leiter der Erregung func- tioniren nnd sie ist in dieser Beziehung vermöge ihres mehrseitigen Zu- sammenhanges der Ort, wo die Erregung von einer Nervenfaser auf eine andere übertragen werden kann. 4 An den Einpflanzungsstellen der Ausläufer in die Ganglienzellen scheinen häufig — wenn ein gröblich mechanisches Bild erlaubt ist — klappenartige Vorrichtungen zu bestehen, welche dem EiTegungsstrom nur in einer Eichtung den Durchtritt verstatten. Es sei beispielsweise Z (Fig. 8) ein Ganglienzellkörper und a, h, c seien die Einpflanzungsstellen dreier Ausläufer. Es komme nun vor, dass bei a Erregung in der Eichtung des Pfeiles in der Zelle eintritt, dann darf man annehmen, dass nie Erregung von Z bei a nach der Faser A hin aus- treten kann. Wenn sich umgekehrt Erregung von Z ans nach der Faser C entladen kann, so muss man sich bei c eine Einrichtung vorstellen, welche ver- hindert, dass sich die Erregung von C nach Z fort- pflanzt. Die Ganglienzelle würde also, sofern sie über- all als 'L^M^T functionirt, nur einseitig leiten können von A nach C und vielleicht auch noch von B nach C. wofern wir uns die Stelle h wie a eingerichtet denken wollen, nie aber unigekehrt von C nach A oder B. Die Wahrscheinlichkeit dieses merkwürdigen Satzes ergiebt sich aus folgender Betrachtung. Noch so heftige Erregung vieler Nervenbahnen, z. B. der aus dpm liückenmark austretenden motorischen Nerven, bringt nie eine merkliche Wirkung im centralen Nervensystem hervor. Da AonderuDff der KiTcgung in der Ganglienzelle. 99 al)er die motorischen Nervenbahnen seihst nachgewiesenermassen auch centripetal leiten, so muss der Mangel einer Wirkung im Cen- trum darauf beruhen, dass an der Einpflanzungsstelle der Faser in die Ganghenzelle jeder Erregung der Eintritt verwehrt ist. Von den mehr oder weniger zahlreichen Ausläufern einer Ganglien- zelle werden daher gewisse der Zuleitung und gewisse andere der Ableitung bestimmt sein, man wird sie mit anderen Worten in centripetale und centrifugale eintheilen können. 5. Wenn auf dem Wege einer zuleitenden Faser ein Erregungsstrom zu einer Ganglienzelle gelangt, so überträgt sich derselbe im Allgemeinen nicht unterschiedslos auf alle ableitenden Fasern derselben, es kann viel- mehr je nach dem jeweiligen Zustand der Zelle (willkürlich) der eine oder der andere Ableitungsweg begünstigt werden; wahrscheinlich hat hierauf unter Anderem auch der Umstand Einfluss, ob die Zelle zugleich auch noch auf anderen ihrer Zuleitungsbahnen Erregung erhält oder kurz zuvor erhalten hat. 6. Der von der Ganglienzelle ausgehende Erregungsstrom kann sich vom zugehenden sowohl bezüglich der Gesammtstärke, als bezüglich der zeitlichen Vertheilung wesentlich unterscheiden. Die Zelle kann zum zugehenden Erregungsstrom aus eigenen Mitteln etwas zusetzen, so dass der abgehende stärker ist. Sie kann auch umgekehrt vom zugehenden etwas gleichsam aljsorljiren, so dass der abgehende schwächer ist. Diese Schwächung kann sich bis zu völliger Unterdrückung steigern. Die Frage, ob der entgegengesetzte Fall auch möglich ist, d. h. ob ein ab- gehender Erregungsstrom von der Zelle ausgehen kann, ohne dass irgend welche Erregung zufliesst, ist offenbar einerlei mit der oben schon berührten Frage, ob die Ganglienzellen im Verlaufe des normalen Lebens durch fremde Reize etwa von Seiten des Blutes erregt werden können. Was die Aenderung der zeitlichen Vertheilung des Erregungs- stromes angeht, so ist Ijesonders der ganz unzweifelhaft häufig vor- kommende Fall bemerkenswerth, dass ein ununterbrochener Erregungs- strom der Zelle zugeht und dass der abgehende Erregungsstrom aus einzelnen gesonderten Entladungen besteht. Der Erregungsstrom gleicht hier einem Flüssigkeitsstrom, der von der Ganglienzelle gleichsam auf- gestaut und in periodische Güsse verwandelt wird. Diese Fähigkeit der Ganglienzelle bezeichnet man als die der Hemmung und es ist besonders merkwürdig, dass dieselbe bei manchen Ganglienzellen durch Erregung, welche ihnen von besonderen Fasern zugetragen wird, verstärkt werden kann. Denken wir uns z. B. Z in Fig. 8 wäre eine hemmende Zelle und ein durch die Faser A ihr zugehender Erregungsstrom würde demzufolge IJ^QQ Hemmxmgsfasern. Chemismus der Ganglienzelle. in periodische Entladungen auf dem Wege C verwandelt. Jetzt ist es möglich, dass Erregung, -die durch B zu Z kommt, weit entfernt den abgehenden Erregungsstrom zu unterstützen, vielmehr die Hemmung verstärkt, so dass die Entladungen nach C hin seltener werden, oder ganz aufhören, solange die Erregung von B her dauert. Nervenfasern, welche in der eben gedachten Beziehung zu hemmenden Ganglienzellen stehen, nennt man hemmungsverstärkende oder schlechtweg Hemmnngs- fasern. In den Ganglienzellen sind die chemischen Processe namentlich während des Erregungszustandes jedesfalls äussert lebhaft, darauf deutet schon die enorm reichliche Speisung aller Anhäufungen von Ganglien- zellen mit arteriellem Blute, besonders aber die sehr rasche Ermüdung und vollständige Einstellung der Function, sowie nur kurze Zeit die Zufuhr von arteriellem Blute abgeschnitten ist. Wahrscheinlich ist die Lebhaftigkeit des chemischen Processes in den Ganglienzellen noch grösser als in der Muskelfaser. Anhang. lieber die elektromotorischen Eigeiiscliaften des Muskel- und XervengeAvebes. Schon am Ende des vorigen Jahrhunderts hat man Spuren eletro- motorischer Wirkungen am Muskelgewebe entdeckt. Sie wurden alsbald Ge- genstand besonders eifriger Erforschung, weil man Grund zu der Annahme zu haben glaubte, dass die elektrischen Kräfte vielleicht im Muskel die eigentlichen Triebkräfte seien. Obgleich nun seit jener Zeit ein unge- heures Material von Thatsachen über die elektromotorischen Eigen- schaften der Muskelfaser und die später entdeckten sehr ähnlichen Eigen- schaften der Nervenfaser aufgehäuft ist, hat sich doch die Erwartung noch nicht realisirt, in ihnen den Schlüssel zur Function dieser Gewebs- elemente zu finden. Die elektromotorischen Erscheinungen an Muskel und Nerv stehen immer noch als räthselhafte, anscheinend zufällige Begleiter neben den eigentlichen Lebenserscheinungen, Gleichwohl muss auch eine noch so kurz gefasste Darstellung der Physiologie wenigstens die wichtigsten dieser elektromotorischen Eigenschaften berühren, da auch heute noch nicht die Hoffnung aufzugeben ist, dass über kurz oder lang von dieser Seite her das hellste Licht auf die Function von Nerv und Muskel fallen wird. Der festest begründete Satz in der Lehre von der elektromotorischen Wirksamkeit der Muskel- und Nerverfaser ist folgfender. Wenn man ein Muskel- und Nervenstrom. 101 aus parallelen Fasern gebildetes Muskel- oder Nervenbündel durch zwei Endquerschnitte begrenzt, so verhält sich jeder Punkt der natürlichen Oberfläche elektropositiv gegen jeden Punkt des einen oder des andern Endquerschnittes . d. h. wenn man das eine Ende eines elektrischen Leiters an einen Punkt der natürlichen Oberfläche, das andere an einen Punkt des einen oder des andern künstlichen Querschnittes anlegt, so fliesst durch den Leiter ein Strom vom ersteren Punkte zum letzteren. Zwischen einem so durch zwei künstliche Querschnitte begrenzten Nerven- und Muskelcylinder besteht in Bezug auf diese elektromotorische Wirksamkeit nach aussen lediglich ein quantitativer Unterschied. Die von einem Nervencylinder ausgesandten Ströme sind so schwach, dass sie nur an den allerempfindlichsten, in den angelegten Leiterltogen eingeschalteten galvanometrischen Vorrichtungen sichtbar gemacht werden können. Am Muskel lassen sich die Ströme weit leichter nachweisen, ja es bedarf dazu nicht einmal einer galvanometrischen Vorrichtung. Man kann den Muskel ström durch seine reizende Wirkung auf einen moto- rischen Nerven nachweisen. Wenn mau einen frischen querdurchschnit- tenen Muskel hinlegt und lässt darauf das freie Ende des Nerven eines andern Nervmuskelpräparates so fallen, dass derselbe mit einer Strecke die natürliche Oberfläche, mit einer andern, den Querschnitt des ersten Muskels berührt, zo zucken die Muskeln des Präparates, weil der Strom des ersten Muskels sich plötzlich in die berührende Strecke des Nerven ergiesst. Bei gehöriger Keizbarkeit des Präparates zucken seine Mus- keln, auch wenn der Nerv vom ersten Muskel wieder abgehoben wird. Die Zuckung beim Auflegen wäre nach der obigen Bezeichnungsweise (siehe S. 84) als Schliessungs-, die beim Abheben als Oeifnungszuckung zu bezeichnen. Der zierlichste Versuch zum Nachweis des Muskelstromes besteht wohl darin, dass man einen Muskel durch seinen eigenen Strom zur Zuckung bringt. Er kann folgendermassen angestellt werden. Man hängt einen möglichst frischen Froschsartorius an seiner Knieendsehne auf und bringt am Beckenende einen glatten Querschnitt an. Diesem nähert man nun die Oberfläche einer gutleitenden Flüssigkeit, z. B. halbprocentige Salzsäurelösung von unten her. Sowie die Oberfläche das Muskelende berührt zuckt der Muskel. Es Ijildet nämlich jetzt die Flüssigkeit einen leitenden Bogen zwischen Querschnitt und den nächst angrenzenden Theilen der natürlichen Oberfläche und der durch diesen Leiter ergossene Strom hat seine Ergänzung zum Kingstrom in den unteren Enden der Faser selbst, welche bei gehöriger Reizbarkeit dadurch in den Erregungs- zustand gerathen. Dieser schöne Versuch wurde anfangs irrthümlich als ein Beispiel chemischer Heizung der Muskelfaser gedeutet. 102 Negative Schwankung des Muskel- und Nervenstromes. Am ganz unversehrten Nerven nnd Muskel zeigen sich im ruhenden Zustand entweder gar keine oder wenigstens nur minime, nicht regel- mässige Spuren elektromotorischer Wirksamkeit. Es hat daher am meisten für sich, anzunehmen, dass die beschriehenen elektromotorischen Gegensätze erst durch die Verletzung des Nerven oder Muskels hervor- gerufen werden. Indessen wird auch die entgegenstehende Ansicht, dass schon im unversehrten Nerven und Muskel elektromotorisch entgegen- gesetzte Massen in regelmässiger Anordnung vorhanden seien, von vielen Autoren verfochten. Eine ganz definitive Entscheidung dieses gerade neuer- dings sehr lebhaft geführten Streites ist noch nicht möglich und passt eine Abwägung der für und wider beigebrachten Gründe nicht in den Eahmen dieser kurzen Darstellung. Das Hauptinteresse der elektromotorischen Erscheinungen am Nerv und Muskel beruht nun darauf, dass eine verhältnissmässig negative elektrische Spannung einem Nerven- oder Muskelabschnitte auch durch den Erregungsprocess beigebracht wird, was auf verschiedene Arten be- wiesen werden kann. Am deutlichsten zeigt es sich bei der sogenannten „negativen Schwankung" des Muskel- und Nervenstromes. Man versteht hierunter folgende Erscheinung. Es sei ein Muskel- oder Nervencylinder durch künstliche Querschnitte begrenzt und ein ableitender Bogen sei mit dem einen Ende an einen Punkt der natürlichen Oberfläche, mit dem andern Ende an einen Punkt des einen Querschnittes angelegt. Ein in diesen Leiter eingeschaltetes Galvanometer wird eine bleibende Ab- lenkung zeigen, entsprechend dem constanten Muskel- oder Nerven- strom, welcher im Bogen von der natürlichen Oberfläche zum (negativen) künstlichen Querschnitte fliesst. Wird jetzt der Nerv an einem von den Ableitungsstellen weit entfernten Punkte, resp. der Muskel von seinem noch enthaltenen Nerven aus etwa durch eine Reihe von Inductions- schlägen tetanisirt, so zeigt das Galvanometer eine bedeutende Abnahme des Stromes — eine „negative Schwankung" desselben. — Nach Auf- hören der Reizung stellt sich unter günstigem Umstände die ursprüng- liche Stromstärke wieder ein. Der Erregungszustand gleicht also die elektrische Spannung zwischen natürlicher Muskel- resp. Nervenober- fläche und Querschnitt mehr oder weniger vollständig aus, und zwar nicht durch Positivwerden des Querschnittes, sondern dadurch, dass die un- versehrte Substanz auch negativ wird. Dies lässt sich entscheiden durch besondere Versuche, in denen die beiden Enden des ableitenden Bogens an unversehrten Stellen des Nerven oder Muskels angelegt sind, so dass im Ruhezustande kein Strom vorhanden ist. Bringt man es jetzt dahin, dass der Kreis nur in solchen M'omenten geschlossen ist, wo die Erregungs- welle gerade unter dem einen Leiterende angelangt ist, die Anlegungsstelle Secundärer Tetanus und secundäre Zuckung. 103 des andern Endes aber noch nicht erreicht hat, so zeigt sich im Bogen ein Strom von der unerregten zur erregten Stelle, diese ist also gegen ihren natürlichen Zustand elektrisch negativ geworden. Diese letzteren Versuche, welche zu den subtilsten der ganzen Physiologie gehören, er- fordern eine Menge von künstlichen Veranstaltungen und Vorsichtsmass- regeln, welche hier selbstverständlich nicht zu erörtern sind. Die zuerst beschriebene und leicht zu beobachtende negative Schwan- kung des Muskel- und Nervenstromes beim Tetanus ist natürlich wie dieser selbst kein eigentlicher Ruhezustand, sondern es wird die elek- trische Spannung der unversehrten Muskel- oder Nervenstelle, an welcher das eine Ende des ableitenden Bogens anliegt, entsprechend den perio- dischen Erregungsanstösseu periodisch mehr negativ und wieder positiv; da aber das verhältnissmässig träge Galvanometer diesen Schwankungen nicht folgen kann, so zeigt es durch die Verkleinerung der Ablenkung nur an, dass im Ganzen während der Dauer des Tetanus weniger positive Spannung an der unversehrten Ableitungsstelle zur Wirkung kommt. Die früher (siehe S. 85) beschriebeneu Eigenschaften eines reiz- baren Nervmuskelpräparates bieten ein Mittel, diese Schwankungen direct nachzuweisen. An einem querdurchschuittenen Muskel, der noch mit seinem Nerven versehen ist, lege man nämlich den Nerv eines zweiten Nervmuskelpräparates so an, dass er sowohl die natürliche Oberfläche als den Querschnitt berührt, so dass sich also ein Zweig des Muskelstromes durch ihn ergiesst. Tetanisirt mau jetzt den ersten Muskel von seinem Nerven aus, so verfällt der Muskel des zweiten Präparates ebenfalls in — den sogenannten „secuudären" — Tetanus, zum Beweise, dass sein Nerv nicht von einem verminderten constanten, sondern von einem Strome durchflössen ist, dessen Intensität auf- und abschwankt. Solchen secuu- dären Tetanus hat man auch erhalten, wenn der primäre Muskel durch seinen Nerven noch mit dem Rückenmarke im Zusammenhange und sein Tetanus nicht durch künstliche Reizung des motorischen Nerven hervor- gerufen war, sondern durch Hautreizung des Thieres, das zuvor durch Strychnin schwach vergiftet war. Wird der primäre Muskel blos durch einen Schlag zu einer Zuckung gereizt, so erfolgt im zweiten Muskel auch nur eine Zuckung — die so- genannte „secundäre" Zuckung — natürlich weil jetzt nur für einen Moment die unversehrte Substanz des primären Muskels negativ wird. Um secundäre Zuckung, resp. secuudären Tetanus hervorzurufen, bedarf es übrigens keines künstlichen Querschnittes am primären Muskel. Der secundäre Nerv kann einem ganz unversehrten primären Muskel be- liebig angelegt werden, immer erfolgt bei seiner Reizung Zuckung, resp. Tetanus im secuudären Muskel, Es ist dies ja auch ganz begreiflich, wenn J^Q^. Elektrotomis des Nerven. man bedenkt, dass die Fortpflanzung der Erregnngswelle in den Fasern des primären Muskels Zeit iDraucht, es also immer gewisse Augenblicke geben wird, in denen der secundäre Nerv erregte und unerregte Punkte berührt, also von einem Strome durchflössen wird, und andere Augen- blicke, in denen alle Berührungspunkte entweder unerregt oder erregt sind, in denen also kein erheblicher Strom vorhanden ist. Als primärer Muskel kann auch ein lebendes Herz, am besten ein blossgelegtes Kaninchenherz dienen. Legt man auf ein solches ganz beliebig den Nerven eines gut reizbaren Froschpräparates, so sieht man seine Muskeln bei jedem natürlichen Schlage des ersteren zucken — bei- läufig gesagt, wohl die eleganteste Demonstration auf dem ganzen Ge- biete der Lehre von den elektromotorischen Eigenschaften der Gewebe. Der Nervenstrom ist zu schwach, um von einem Nerven aus secun- däre Zuckung oder secundären Tetanus zu erregen. Am Nerven kommt aber noch eine andere elektromotorische Erscheinung vor, welche am Muskel nicht nachzu- ^ig- 9- weisen ist. '^ ^ Wenn nämlich eine \B Strecke a h (Fig. 9) eines Nerven von einem elektri- schen Strome durchflössen '^^ wird, so erleidet das elek- trische Verhalten des Ner- ven eine wesentliche Aenderung, die man als „Elektrotonus" bezeichnet. Es addirt sich zu der vorhandenen elektromotorischen Kraft eine neue, die „elektrotonische". Diese treibt durch einen irgendwo angelegten ableitenden Bogen einen Strom, dessen Kichtung, im betreffenden Nerven- stücke ergänzt, dieselbe ist wie die des fremden Stromes, der den Elek- trotonus hervorruft. Wenn also dieser (siehe Fig. 9) von a nach b fliesst, so wird in einem bei c d oder bei ef angelegten Bogen der elektrotonische Strom die Eichtung des Pfeiles haben, denn die Ergänzung des Stromes würde in üebereinstimmung mit der Richtung a h von c nach d und von e nach/ gehen. Stellt man den Versuch nach dem Schema der Fig. 9 wirklich an, so wird der elektrotonische Strom ziemlich ungetrübt zur Erscheinung kommen, weil die natürliche elektromotorische Wirksamkeit des Nerven zwischen nahe benachbarten Punkten des Längsschnittes, wie c und d einerseits, e und / andererseits, fast Null ist. Wie sich die Strecke ah — die „intrapolare" Strecke — des Nerven elektromotorisch verhält, kann man natürlich nicht untersuchen, weil in einen hier angelegten Bogen zu mächtige Zweige des elektrotonisirenden Stromes sich ergiessen würden. Elektromotorische Kraft des Elektrotonus. 105 Die elektrotonische Wirksamkeit des Nerven ist am grössten in der Nähe der Elektroden des fremden Stromes und nimmt nach beiden Seiten ab, je weiter mau sich mit dem al)leitenden Bogen von jenen Elektroden entfernt. An derselben Stelle wächst die elektrotonische Wirksamkeit mit der Stärke des fremden Stromes, jedoch nur bis zu einer gewissen Grenze. Die elektrotonische Kraft ist unter günstigen Bedingungen viel grösser als die nach aussen wirksame natürliche elektromotorische Kraft des Nerven. Unter günstigen Bedingungen ist z. B. im ableitenden Bogen beobachtet eine elektrotonische Kraft halb so gross wie die elektromoto- rische Kraft einer Daniell'schen Kette. 4. Abschnitt. Physiologie des Nervensystems. 1. Capitel. Allgemeine Betrachtungen über das Nervensystem. Ein Gebilde, welches aus Nervenfasern und Ganglienzellen derart zusammengesetzt ist, dass jedes seiner Elemente mit jedem anderen, sei es auch auf weitem Umwege, stetig zusammenhängt, nennen wir ein „Nervensystem". Es entsteht vor allen andern die Erage: besitzt der Säugethierkörper und der menschliche Körper insbesondere ein Nerven- system oder mehrere, d. h. hängen ausnahmslos alle Nervenzellen und Nervenfasern des ganzen Körpers stetig zusammen oder zerfallen vielleicht die sämmtlichen Nervenelemente des Körpers in mehrere Gruppen derart, dass zwar die sämmtlichen Elemente jeder Gruppe unter sich zusammenhängen, dass aber die Elemente der einen Gruppe mit den Elementen der andern in keinerlei stetigem Zusammenhange stünden? In diesem letzteren Falle würden wir sagen müssen: der mensch- liche Körper besitze mehrere von einander unabhängige Nervensysteme, denn in diesem Falle würde sich von einem Elemente der einen Gruppe der Erregungsprocess niemals zu einem Elemente der andern fortpflanzen können. Anatomisch kann diese Frage nicht entschieden werden, und auch zur physiologischen definitiven Entscheidung fehlen uns heute noch ge- nügende Thatsachen. Es ist aber in hohem Grade wahrscheinlich, dass ein durchgängiger stetiger Zusammenhang aller nervösen Elemente besteht, und dass wir daher berechtigt sind von einem Nervensystem des menschlichen Körpers zu sprechen. Wenigstens ist so viel sicher, dass bis jetzt noch keine Thatsache uns zwingt, mehrere von einander ganz unabhängige Nervensysteme anzunehmen. Der Bauplan des ganzen Nervensystems kann etwa durch die Fig. 10 anschaulich gemacht werden. Jedes faserige Element ist ent- weder ein Verbindungsweg zwischen zwei Zellen oder es ist nur am einen Ende mit einer Zelle verknüpft, an einem andern Ende dagegen mit einem dem Nervensystem fremden Gebilde. Die faserigen Elemente der ersten Bauplan des Nervensystemes. 107 Art können wir füglich „centrale Fasern" nennen, die Fasern der zweiten Art „peripherische", sofern sie mit einem Ende aus dem Nervensystem heraustreten. Die fremden Gebilde, mit denen die Enden der peripherischen Nervenfasern verknüpft sind, zerfallen in zwei Gruppen. Die eine Gruppe bilden die Eeizaufnahmestellen, d. h. Veranstaltungen, mittelst deren äussere physische Agentien das Nervenende erregen können. Im Schema Fig. 10 sind bei Si »2 *3 solche Apparate durch Fig. 10. schwalbenschwanzfÖrmigeGestalten mit Pfeilspitzen nach innen symbo- lisch angedeutet. Die Bezeichnung der hier einwirkenden Agentien als „äussere" ist vom Standpunkt des Nervensystems zu verstehen, für welchen z. B. auch der Blutdruck oder die chemische Beschaffenheit des Blutes ein „Aeusseres" ist. Weitaus die meisten Eeizaufnahme- stellen oder sensiblen Punkte werden aber regelmässig von Agentien er- regt, welche auch vom Standpunkt des Gesammtkörpers aus als „äus- sere" zu bezeichnen sind, als z. B. von Wärme, Druck fremder Körper, Schwingungen der Luft, Aether- strahlungen. Die zweite Gruppe von fremden Gebilden, mit denen die peripherischen Nervenfasern verknüpft sind, umfasst die Apparate, in welchen auf Anlass der Nervenerregung physikalische Kräfte ausgelöst werden, so dass eine Wirksamkeit nach aussen eintritt. Im Schema sollen die Bändchen bei wij m^ m^ solche Apparate andeuten. Mit ihrer Gestalt und querstreifigen Zeichnung soll erinnert werden an das zahl- reichste und wichtigste Element dieser Gruppe, die quergestreifte Muskel- faser. Es gehören aber zu derselben noch manche andere Elemente, z. B. die Drüsenzellen und die elektrischen Apparate einiger Fische. Die peripherischen Nervenfasern zerfallen somit in zwei Gattungen. In den Fasern der einen Gattung, welche mit reizaufnehmenden Apparaten ver- knüpft sind, findet regelmässig nur eine centripetale Leitung statt, man kann sie daher centripetale oder „sensible" im weiteren Sinne des Wortes nennen. In den Fasern der andern Gattung, die mit Muskelfasern oder anderen nach aussen wirksamen Apparaten verknüpft sind, wird regelmässig die Erregung nur centrifugal geleitet. Man kann sie al-s cen- trifugale oder „motorische" im weitern Sinne bezeichnen. 108 Mannigfaltigkeit dei- Leitungen im Nervensystem. Im Grossen und Ganzen gilt von der räumliclien Anordnung des Nervensystems der Sängethiere Folgendes. Die Ganglienzellen nebst ihren centralen Verbindungsfasern sind in eine compacte Masse zusammenge- fasst, die wir das Cerebrospinalorgau oder Hirn und Rückenmark nennen. Von hier aus gehen die peripherischen Nervenfasern, in einzelne mehr oder weniger lange Stämme geordnet, zu den Reizaufnahmestellen einer- seits und zu den Muskeln, Drüsen etc. andererseits. Diese Anordnung ist jedoch keineswegs ganz durchgreifend. Es sind immer noch zahl- reiche Ganglienzellen in den Organen zerstreut in weiter Entfernung von Hirn und Rückenmark, so dass von den langen Fasern der aus Hirn und Rückenmark tretenden Nervenstämme gar manche als „centrale" von Zelle zu Zelle gehende Faser anzusprechen sind. So sind z. B. im nervus vagus sieher viele Fasern central, welche die Verknüpfung zwischen Ganglienzellen des Hirns und solchen des Herzens herstellen, und im nervus splancJimcus sind ebenfalls als central zu bezeichnende Fasern, welche Ganglienzellen des Darmkanales mit solchen des Rückenmarkes verbinden. So kommt es, dass andererseits wahrscheinlich viele peri- pherische Nervenfasern von mikroskopischer Kürze sind. Z. B. die moto- rischen Fasern der Darmmuskulatur gehen wahrscheinlich aus von Gan- glienzellen, die dicht neben den Muskeln liegen, und ihr Verlauf wird sich nach Bruchtheilen eines Millimeters bemessen. Der ganze Lebeusprocess des Nervensystems setzt sich nun aus Acten folgender Art zusammen. Durch einen äusseren Reizanstoss ent- steht an einem sensiblen Punkte der Erregungsvorgang, er pflanzt sich längs der daselbst beginnenden sensiblen Faser nach dem Centrum fort, kann hier, je nach der Disposition der Ganglienzellen, sehr verschiedene Wege einschlagen und kommt endlich auf der Bahn dieser oder jener centrifugalen Faser zu einem Arbeitsapparate, wo er zu einer äusseren Wirkung führt. Es ist dabei besonders noch das zu beachten, dass von einem bestimmten sensiblen Punkte zu einer bestimmten Muskelfaser in der Regel sehr viele verschiedene Wege durch das Nervensystem führen. So z. B. kann in unserem Schema die bei s.^ entstandene Erregung nach m^ gelangen auf dem Wege z^ z-^ Zg 2^2 oder auf dem Wege % z^ z^ z^ z^j oder auf dem Wege z^ z-i z^ z^ 0,2 u. s. w. Nur hierdurch wird es erklär- bar, dass oft bei umfangreichen pathologischen Zerstörungen im Nerven- system keine Leitung unterbrochen erscheint. Es ist hier der Ort, noch den physiologischen Standpunkt in der Betrachtung des Nervensystems von anderen Standpunkten scharf abzu- grenzen, was keineswegs immer mit völliger Klarheit geschieht. Für die Physiologie als Wissenschaft der äusseren sinnlichen Erfahrung ist ein fremdes Nervensystem durchaus nur ein Object der äusseren sinnlichen Abgrenzung des physiologischen Standpunktes. 109 Wahrnehmung, d. h. Aggregat materieller Theilchen. und die Bewegungen, welche darin vorgehen, sind für diesen Standpunkt durchaus nur mecha- nische Probleme. Was dieser Erscheinung als eigentliche Wesenheit an sich zu Grunde liegt, darüber sagt die Naturwissenschaft überall nichts aus. Die naturwissenschaftliche Betrachtung eines Nervensystems, resp. eines ganzen Thieres als mechanisches Problem schliesst aber ferner nicht aus, dasselbe von einem ganz andern Standpunkte aus zu unter- suchen und, z. B. vom ästhetischen, darin ein Element einer schönen oder hässlichen Zusammenstellung oder vom ethischen Standpunkte aus ein Kechtssubject zu finden. Besonders ist dies hervorzuhel^en: das Ding, welches unserer sinnlichen AVahrnehmung als fremdes Nervensystem, d. h. als ein Aggregat von Eiweisstheilchen und anderen Stofftheilchen in dieser oder jener räumlichen Anordnung und insofern als Mechanismus erscheint, das kann möglicherweise ihm selbst in innerer Anschauung als empfindendes und wollendes Subject erscheinen. Dies ist sogar voll- ständig sicher, aber nicht aus empirischen naturwissenschaftlichen Gründen, da Empfindung und Wollen eines andern Subjectes nie Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung ist, die sich überall nur auf Bewegung der Materie im Kaume bezieht. Die Gewissheit, dass ausser uns irgendwo ein empfindendes und ein wollendes Subject ist, gründet sich stets nur auf einen Analogieschluss, in welchen die der Naturwissen- schaft fremde Erwägung eingeht, dass uns das eigene Ich einerseits in der Innern Anschauung als empfindendes und wollendes Wesen, anderer- seits in der äusseren Anschauung als Theil der mechanisch aufeinander wirkenden Körperwelt gegeben ist. Der Physiologie als einer Wissenschaft der materiellen Natur sind die Begriffe Empfinden und Wollen mit allen ihren Modificationen, streng genommen, fremd, sie hat es nur zu thun mit mechanisch verur- sachten Beweguugsvorgängen. Gleichwohl ist es bei der Darstellung der Physiologie des Nervensystems für den Ausdruck eine grosse Erleichte- rung, wenn man sich zuweilen gleichsam auf den subjectiveii Standpunkt des untersuchten Nervensystems selbst stellt und sich erlaubt, davon zu sprechen, dass unter diesen oder jenen Umständen das Subject eine so oder so beschaffene Empfindung hat, dass es diese oder jene Bewegung ausführen „will". Man inuss sich dabei nur immer klar bcwusst sein, dass man für den Augenblick den eigentlich naturwissenschaftlichen Standpunkt verlässt. So werden wir denn auch bei den nachfolgenden Erörterungen von dieser Freiheit Gebrauch machen. Ganz besonders wird dies in der Physiologie der Sinne geschehen müssen. Bei diesem Theile der Wissenschaft liegt gerade in einer subjectiven Betrachtungsweise das Hauptinteresse, denn wir beschäftigen uns mit ihm gei-ade hauptsächlich. 1 10 Eüotenmark. um uns über die Verursachung unserer eigenen Empfindungen und ihrer Modificationen klar zu. werden, viel weniger mit der Absicht, zu erfahren, wie in einem fremden Nervensystem die Erregungen von den einzelnen Fasern der Siunesnerven aufgenommen und im Centrum weitergeleitet werden. 2. Capitel, Vom Rückenmark. Das Rückenmark ist zunächst der Sammelplatz des weitaus grössten Theiles aller „peripherischen" Nervenfasern. Von ihm gehen einer- seits die meisten „motorischen" Nervenfasern aus und es münden andererseits die meisten „sensiblen" Nervenfasern in das Rücken- mark ein. Alle in Muskelfasern endenden motorischen Nervenfasern ver- lassen das Rückenmark in den vorderen Wurzeln; alle von der sen- siblen Peripherie ausgehenden Nervenfasern treten zum Rückenmark in den hinteren Wurzeln. Dieser anatomische Lehrsatz ist unter dem Namen des BelFschen Gesetzes bekannt. Die Anzahl der sensiblen ist bedeutend grösser als die der motorischen Fasern. Peripherische Endpunkte sensibler Nervenfasern sind aber nicht blos in der äusseren Haut zu suchen, sondern auch tief im Innern des Körpers finden sich solche in den Scheiden der Nervenstämme und der Nervenorgaue, namentlich auch in den Hüllen des Rückenmarkes. Von diesen sensiblen Nervenfasern gehen manche, für welche dies der ana- tomisch kürzeste Weg ist, aus der hinteren Wurzel zunächst umbiegend in die vordere, in welcher sie nach der Rückenmarksoberfläche zurück- laufen, um hier ihr peripherisches Ende zu finden. Solchen Fasern verdanken die vorderen Rückenmarkswurzeln — wenigstens beim Hunde — die sogenannte „rückläufige Empfind- lichkeit". Reizt man eine vordere Wurzel durch Kneifen, so giebt nämlich das Thier oft deutliche Schmerzenszeichen. Dass aber dieser Schmerz nicht etwa bedingt ist durch sensible Fasern, welche in den vor- deren Wurzeln selbst das Rückenmark verlassen, geht daraus hervor, dass Reizung einer vom Rückenmark abgetrennten vorderen Wurzel auch Schmerz bewirkt, wenn sie nur mit der hinteren Wurzel noch in unver- sehrtem Zusammenhang steht. Dagegen ruft Reiz der vorderen Wm'zel, die ihrerseits mit dem Rückenmark im Zusammenhange steht, keinen Schmerz mehr hervor, so wie die zugehörige hintere Wurzel vom Rückenmark getrennt ist. Die Erregungen, welche durch die hinteren Wurzeln ins Rücken- mark gelangen, können in demselben auf die motorischen Wurzeln über- Reflex und ihre Hemmung. 111 tragen werden; man nennt diese Ersclieinung im Allgemeinen Reflex und die so ausgelösten Bewegungen „Reflexbewegungen". Es kann möglicherweise von jeder sensiblen Faser die Erregung im Rückenmark auf jede motorische übertragen werden. Dieser Satz ist leicht zu be- weisen au einem mit Str3'Chnin vergifteten Frosche, dem juan das Rücken- mark vom Hirn getrennt hat. Ein Reiz, der irgend eine im Rückenmark mündende sensible Nervenfaser triift, löst hier tetauische Zusammen- ziehungen sämmtlicher Skeletmuskeln aus. Wenn der Satz, dass der Er- regungsvorgang nie von einem nervösen Elemente auf ein davon ge- trenntes Nervenelement ülierspringen, dass vielmehr Erregungsleitung nur in der Continuität von Nervenelementen stattfinden könne, allgemein giltig ist, dann beweist die Allgemeinheit der Strychninkrämpfe zugleich einen anatomischen Sachverhalt, dass nämlich schon im Rückenmark jede sensible Faser mit jeder motorischen in continuirlicher Verbindung steht. Nach dem heutigen Stande der Anatomie müssen wir uns diesen stetigen Zusammenhang durch die Zellen der grauen Sulistanz vermittelt denken. Im normalen Zustande des Thieres, sei es ein Säugethier, sei es ein Frosch, dessen Hirn vom Rückenmark getrennt ist. kommt Reflex in der Regel nur durch eine einigermassen andauernde Reizung zu Stande. Ein einzelner elektrischer Schlag bewirkt meist keineuRefiex. Die Fortpflanzung der Erregung beschränkt sich im normalen Rückenmarke gewöhnlich nur auf einzelne Gruppen von motorischen Fasern; es entsteht eben in der Regel eine geordnete Bewegung, die beim Frosche wenigstens gemeinig- lich zu dem Erfolge, den Reiz von der Peripherie zu entfernen, geeignet erscheint. Im normalen Zustande müssen also auf vielen von den Wegen, welche vermöge der anatomischen Bedingungen der Reiz wohl be- treten könnte, besondere Hemmnisse liegen, welche das Strychnin wegräumt. Dass überhaupt hemmende Apparate für die Uebertragung der sen- siblen Eindrücke auf die motorischen Fasern im Rückenmarke vorhanden sind, kann experimentell erwiesen werden. Man nehme einem Frosche die Grosshirnhemisphären weg, er reagirt alsdann auf Hautreize mit regel- mässigen Reflexen, wie ein ganz geköpfter Frosch. Er zieht z. B. die senkrecht herabhängende Pfote regelmässig in die Höhe, wenn man sie in ganz verdünnte Schwefelsäure eintaucht; und zwar für eine bestimmte Verdünnung nach Verlauf einer ziemlich constanten Anzahl von Secun- den, z. B. nach 5 — 7 Secunden. Wenn man jetzt in den lobi optici des Hirns einen Reiz anbringt, sei es durch einen blossen Schnitt oder durch Auflegen eines kleinen Kochsalzstückchens auf die Schnittfläche, dann hebt der Frosch die Pfote viel später oder gar nicht aus der ghuchen Schwefelsäuremischung. Dass diese Verzögerung der K'eficxii (bircb Heizung 112 Schema der Keflexljahnen. Eiff. 11. der lobt optici auf Hemmung im Kückenmark und nicht etwa auf Läh- mung der Eeflexmechanismeu beruht, lässt sich experimentell darthun. Durchschneidet man nämlich hernach das Kückenmark in der Höhe des calamus scriptorius und trennt somit die lohi optici von demselben, so zeigt sich wieder die ursprüngliche Promptheit zu Keflexen, oft eine noch grössere. Wahrscheinlich treten auch mit den sensiblen Nervenfasern zu- sammen noch andere Hemmungsfasern in das Kückeumark ein, die aber durch die gewöhnlichen schwächeren Hautreize nicht erregt werden. Hierauf deutet die merkwürdige Thatsache, dass bei starker elektrischer Keizung der sensiblen Hautnerven st am mchen meist nicht die bekannten ausgebreiteten und geordneten Keflexbewegungen zu Staude kommen, wie bei mechanischer oder chemischer Keizung der Haut selbst, sondern nur tetanische Zusammenziehuugen einzelner Muskeln, und zwar solcher, deren motorische Nervenfasern gerade aus dem Theile des Kücken- markes entspringen, wo das gereizte sensible Stämmchen einmündet. Die dem Keflexmechanismus zu Grunde liegenden anatomischen Zusammenhänge im Kückenmarke kann man sich etwa nach dem Schema der Fig. 11 geordnet vorstellen. Die drei querovalen Kinge sollen, wie mau leicht erkennt, drei Kückenmarksquer- schnitte in perspektivischer Ansicht von oben bedeuten, in welche Nerveu- wurzeln eintreten. Durch die buchtige Linie ist der Querschnitt durch die graue Substanz im Innern abgegrenzt von dem Querschnitt der an der Ober- fläche liegenden weissen Stränge. In die graue Substanz sind — natürlich ganz nach Willkür — Ganglienzellen mit Ausläufern als schwarze Punkte ein- gezeichnet. Zwischen ihnen sind eben- falls im Bereiche der grauen Substanz mannigfaltige Zusammenhänge durch feine wagrechte und senkrecht ver- laufende Linien angedeutet, welche die blassen Fasern der grauen Substanz vorstellen sollen. Ohne Zweifel hängen nun aber auch Zellen eines Marktheiles mit weit entlegenen Zellen direct zu- sammen, denn es betheiligen sich an demselben Keflexe oft Muskelgruppen, die aus weit von einander abstehenden Marktheilen ihre Nerven beziehen. Die verschiedenen Reflexbalinen. 113 Diese directen Znsammenliänge weiter auseinanderliegender Zellen werden ohne Zweifel durch markhaltige Fasern der Rüekenmarkstränge, insbe- sondere wahrscheinlich der Vorder- und Hinterstränge, vermittelt. Um diesen Sachverhalt im Schema zu veranschaulichen, sind von zwei Zellen des untersten Querschnittes aus dicke Striche im Bereiche der Vorder- und Hinterstränge aufwärts gezogen {b und c), und mau hat sich vorzu- stellen, dass diese weiter oben irgendwo wieder in die graue Substanz einbiegen und hier mit entlegenen Zellen des Markes in Verbindung treten. Die dicke schwarze Linie bei a soll eine eintretende sensible, die bei d eine austretende motorische Nervenfaser darstellen. Es ist nun in diesem Schema anschaulich, wie eine bei a eintretende Erregung sehr mannigfache Bahnen einschlagen kann. Von der Zelle näm- lich, in welche a zunächst eintritt, gehen zwei Ausläufer aus. Von diesen hält sich die eine im untern Querschnitt der grauen Substanz und führt nur noch durch zwei Zellen hindurch zu der Zelle, von welcher die motorische Faser d entspringt. Wir hätten so einen sehr kurzen uud darum wohl sehr leicht zugänglichen Reflexbogen von der sensiblen Faser zu den auf gleicher Höhe und auf derselben Seite entspringenden motorischen Fasern. In der That werden auch die Muskeln am leichtesten reflectorisch erregt, welche ihre Nerven von derselben Seite und auf gleicher Höhe beziehen wie die gereizte sensible Stelle. Von den Zellen des untersten Querschnittes gehen aber auch Fasern nach weiter oben (und wohl auch nach tiefer unten) gelegenen Zellen, von denen wieder Fäden nach den aus dem zweiten Querschnitte auf derselben Seite entspringenden motorischen Fasern zu denken sind. Sie sind, um die Figur nicht zu überladen, nicht gezeichnet. Ebenso sieht man Fäden auf die andere Seite der grauen Substanz gehen, die hier mit aus- tretenden motorischen Nervenfasern zusammenhängen können. Auf solchen Wegen ist Reflex von einer sensilden Stelle auf Muskeln der andern Körper- hälfte möglich. Diese Reflexe kommen aber nicht so leicht zu Stande, es be- darf dazu energischerer Reize, was dem längeren Wege undderVermittelung durch eine grössere Zahl von Zellen entspricht. Endlich kann die Erregung von a aus durch den zur Strangfaser h gehenden Ausläufer der ersten Zelle auch wohl direct auf weiter entlegene Zellen des Markes und auf dort ent- springende motorische Fasern übertragen werden. Andererseits sieht man, wie zu der motorischen Faser d ausser von a her noch auf zahlreichen anderen Wegen Erregung zufliessen kann, theils durch die als dünne Linien gezeichneten Verltindungsfasern benach- barter Zellen, theils durch die markhaltige dick gezeichnete Faser c von weit entlegenen Zellen des Markes her. Der von d al »hängige Muskel kann sich also an sehr verschiedenen Reflexen ]}etheiligen, nicht blos an dem durch die sensible Faser a ausgelösten. Fick, Pliysiologic. .3. Aufl. 8 W4: Leitungsbalmen zum Hirn. Wie weit sich bei Reiziiug einer bestimmten sensiblen Fasergruppe die Erregung in dem beschriebenen Zellennetze ausbreitet, und welche Muskelgruppen sich daher an dem Keflexe betheiligen, hängt natürlich nicht allein von der Stärke des Keizes ab, sondern auch von den zeit- weiligen Zuständen der zu durchlaufenden Zellen. Auf diese Zustände haben aber alle gleichzeitig oder vorher auf anderen Wegen zu diesen Zellen fortgepflanzten Erregungen wesentlichen Einfiuss. Sie können in einzelnen Zellen die Hemmungen verstärken oder vermindern. Es ist da- her nur in ganz beschränktem Maasse vorherzusagen, welche Bewegung bei einem decapitirten Thiere auf eine bestimmte Keizung erfolgen wird. Die Zeit, welche beim Keflex vom Anfange des Keizes bis zum Anfange der Bewegung verstreicht, ist sehr verschieden, sie kann mehrere ganze Secunden betragen. Man sieht daran, dass die Fortpflanzung der E-r- regung in den Ganglienzellen stets viel langsamer ist als in den Nerven- fasern. Numerische Angaben haben kein grosses Interesse, da wir es eben nicht mit einer constanten Grösse zu thun haben. Neben den Bahnen, welche zur Verknüpfung verschiedener Zellen des Eückenmarkes selbst dienen, liegen in diesem Organe sicher auch Bahnen, die ziemlich direct die eintretenden sensiblen Nervenfasern mit den Hirntheilen verknüpfen, welche die materiellen Substrate der klar be- wussten Empfindung sind, und Bahnen, welche von den Sitzen der be- wussteu Willensimpulse ziemlich direct zu den motorischen Nervenfasern führen. Es wäre nicht zu verstehen, wie die Reizung einer beschränkten Hautstelle zu einer genau localisirten Empfindung führte, wenn die Er- regung nur durch das labyrinthische Zellennetz des Markes zum Hirn auf- steigen könnte, und ebenso würde die Herrschaft der Willkür über ein- zelne Muskeln unter jener Annahme nicht begreiflich sein. Diese directen Verbindungsfasern, welche ohne Unterbrechung durch Ganglienzellen ins Hirn aufsteigen, werden wir natürlich in den weissen Strängen zu suchen haben, und man wird auch erwarten dürfen, dass sie von den langen ßeflexbahnen im Ganzen abgesondert verlaufen. Wenn man sich fragt, welche Stränge die zum Hirn gehenden Bahnen und welche andererseits die langen Reflexbahnen muthmasslich enthalten, so kann schon eine gröblich anatomische Betrachtung einen Fingerzeig geben. Ein Eücken- markstrang, welcher vorwiegend directe Bahnen zum Hirn führt, muss offenbar von unten nach oben an Dicke zunehmen, denn mit jedem neuen Eintritt peripherischer Nervenwurzeln wird ein solcher Strang neue Elemente aufnehmen, ohne dass er Elemente je verlieren kann, da sie ja alle bis ins Hirn laufen sollen. Ein Strang dagegen, welcher vorzugsweise Reflexbahnen führt, braucht nicht stetig von unten nach oben dicker zu werden, da ja in jeder Höhe ebenso viele oder noch mehr Elemente wieder Leitung in den Seitenstiängcn. 115 in Zellen des Markes enden können, als er neu aufnimmt. Vergleicht mau unter diesem Gesichtspunkte die verschiedenen weissen Stränge des Markes, so ergieht sich, dass die Seitenstränge ganz entschieden von unten nach oben stetig dicker werden. Die Vorder- und Hinterstränge dagegen zeigen keine solche unterbrochene Verdickung von unten nach oben, sie nehmen von unten gerechnet anfangs au Dicke rasch zu, dann im Brust- theil sogar wieder ab, um im Halstheile zum zweiten Male anzuschwellen. Es ist demnach von vornherein sehr wahrscheinlich, dass in den Seiten- strängeu vorzugsweise die directen Bahnen zum Hirn, in den Vorder- und Hintersträngen vorzugsweise intramedullare Eeflexbahnen verlaufen. Da die motorischen Nerven alle vorn aus dem Marke entspringen, die sensiblen hinten in dasselbe eingehen, ist die Vermuthung sehr begründet, dass die Fasern der Vorderstränge bestimmt sind, von entfernten Markstellen Er- regung zu den motorischen Wurzeln hinzuführen, und dass die Fasern der Hinterstränge durch die sensiblen Wurzeln eingetretene Erregungen zu entfernten Markstellen weiter leiten. Der aus den anatomischen Verhältnissen der menschlichen Rücken- markstränge gefolgerte Satz, dass die Seitenstränge vorzugsweise die directen Bahnen zum Hirn enthalten, ist für das Brustmark des Kaninchens und Hundes direct experimentell erwiesen. Es hat sich nämlich gezeigt, dass Durchschueidung des ganzen Markes bis auf die Seitenstränge, also der Vorderstränge, Hinterstränge und der graueu Substanz, keinen Theil des Thieres, der unterhallj des Schnittes seine Nerven bezieht, der Em- pfindlichkeit beraubt oder der Willkür entzieht. Werden dagegen die Seitenstränge allein durchschnitten ohne Verletzung der grauen Suljstauz und der Vorder- und Hinterstränge, so bringt Reizung der hinteren Theile des Thieres wohl noch Reflexe hervor, a1)er keine Erscheinung mehr, die ein bewnsstes Empfinden verräth. und es sind die Muskeln der hinteren Theile der Willkür nicht mehr unterworfen. Durch partielle Zerschneidung der Seitenstränge hat man versucht, Aufschlnss zu erhalten ül)er die Anordnung der verschiedenen directen Bahnen nach dem Hirn in diesen Strängen, und es lassen sich hierüber für das Brustmark des Kaninchens und Hundes wenigstens einige all- gemeine Sätze aufstclhiu. Wird der rechte Seitenstrang durchschnitten, so ist weder die rechte noch die linke hintere Körperhälfte der Empfin- dung Ijeraubt, Es verlaufen also im linken Seitenstrange Bahnen zum Hirn sowohl von den sensiblen Stellen der linken als der rechten Kör])erhälfte und umgekehrt. Kbenso sind nach Durchschneidung des rechten Seiten- stranges sowohl rechterseits als linkerseits die Muskeln des hinteren Körpertheiles noch der Willkür unterworfen. Es gehen also im linken Seitenstrange motorische Babneu vom Hiiu zu beiden Körpcrliälften. Im 116 Verkni'ipfung aller sensiblen Nerven mit Zellen des Markes. Ganzen scheint bei den motorischen Antriehen die gleichseitige Leitnng vorzuheiTSchen, hei der sensiblen Leitnng sind dagegen die gekreuzten Bahnen mindestens ebenso reichlich vorhanden. Es scheint hier der üebertritt der gekreuzten Bahnen in die andere Markhälfte sehr nahe an dem Eintritt der sensiblen Bahn ins Mark stattzufinden. Innerhalb jedes Seitenstranges scheinen motorische und sensible Bahnen überall ziem- lich gleichmässig gemischt zu sein, so dass jeder Bruchtheil vom Quer- schnitte eines Seitenstranges sowohl sensible als motorische Bahnen enthält. Diese Sätze sind, wie gesagt, aus den Ergebnissen von Versuchen an Kaninchen und Hunden geschlossen, doch ist wohl anzunehmen, dass so durchgreifende anatomische Einrichtungen allen Säugethieren gemeinsam sind, und dass jene allgemeinen Sätze auch für das menschliche Eücken- mark Geltung haben. Bezüglich der directen Leitung von den sensiblen Nerven zum Hirn und vom Hirn zu den motorischen Nerven ist noch die Frage aufzuwerfen, ob nicht die ihr dienenden Bahnen sämmtlich oder theilweise einfach Fortsetzungen der sensiblen und motorischen peri- pherischen Fasern sind, welche das Eückenmark blos passiren, ohne durch Ganglienzellen unterbrochen zu sein. Es ist von manchen ana- tomischen Autoren in der That behauptet worden, dass wenigstens ein Theil der sensiblen Wurzelfasern gar nicht eigentlich in die graue Substanz eintritt, sondern gleich in die Stränge abbiegt und hier zum Hirn aufsteigt. Bei der grossen Schwierigkeit aber, die Zusammenhänge derEückenmarks- elemente darzustellen, wird man negativen Befunden einstweilen kein grösseres Gewicht beilegen können als den Wahrscheinlichkeiten, welche sich auf allgemeine physiologische Betrachtungen gründen. So dürfen wir denn wohl bis auf Weiteres annehmen, dass alle Fasern der hinteren sowohl als der vorderen Wurzeln dicht bei ihrer Eintrittsstelle mit einer Ganglienzelle der grauen Substanz in Verbindung treten, durch deren verschiedene Ausläufer dann die weiteren Verknüpfungen hergestellt sind. Man hätte alsdann ferner anzunehmen, dass von dieser^ ersten Zelle allemal ein Ausläufer zu einer Seitenstrangfaser würde, um die directe Verbindung mit dem Hirn herzustellen (diese Verknüpfung ist in dem Schema des Eeflexmechanismus Fig. 11 nicht aufgenommen), und dass die anderen Ausläufer in den Eeflexmechanismus des Eückenmarkes übergiengen. Diese Vorstellung macht die Hypothese entbehrlich, dass von jedem sensiblen Hantpunkte verschiedene peripherische Fasern ausgehen, von denen eine zur Auslösung der Eeflexe, die andere zur Verursachung einer bewussten Empfindung diente. Erregung derselben peripherischen Faser kann vielmehr Eeflex und bewusste Empfindung verursachen, je nach dem jeweiligen Zustande der verschiedenen Leitungsbahneu und der Inten- sität und Dauer der Erregung, Coordinationscentra im Marke. 117 Was bei den Eeflexbewegungeii schon in ihrer blossen Beschreibnng ausgedrückt war, das gilt jedeslalls anch bei den vom Hirn durch das Kückenmark hindurch angeregten willkürlichen Bewegungen, dass näm- lich meistens ein auf dem Wege einer oder einiger wenigen Fasern ins Zellenuetz des Markes gelangender Impuls sich hier mehr oder weniger ausbreitet und auf ganze Gruppen motorischer Nervenfasern übertragen wird, so dass ein einfacher Impuls genügen kann, um eine planmässig geordnete Folge von Bewegungen ganzer Muskelgruppen auszulösen. Ein System von Ganglienzellen, welches so durch einen, sei es vom Hirn, sei es von der sensiblen Peripherie kommenden Impuls angeregt, zahl- reiche Bewegungsantriebe aussendet, nennt man ein „Coordinations- centrum", und solche sind ohne Zweifel im Rückenmark zahlreich vor- handen. Man darf sich übrigens diese Coordinationscentra nicht als anato- misch ein für allemal ganz scharf begrenzte Systeme vorstellen. Es können sich vielmehr bei dem überaus mannigfaltigen Zusammenhange zwischen den Zellen des Centralorganes sogar im Verlaufe des individuellen Lebens gewisse Zellen, die vielleicht weit auseinander liegen, zu einem solchen System zusammenordnen. Je öfter nämlich verschiedene Zellen zusammen erregt werden, desto leichter gelingt später ihre gleichzeitige Erregung. Es können neue Coordinationscentra sozusagen eingeübt werden. Natür- lich sind die anatomisch enger zusammenhängenden Zellengruppen von vornherein besonders leicht gleichzeitig durch einen Impuls zu erregen. So wird man sich etwa zu denken haben, dass die Zellen, welche die Streckmuskeln (resp. Beugemuskeln) einer Extremität beherrschen, im Marke besonders eng verknüpft sind, so dass sie leicht durch einen Impuls erregt werden. Vor Allem wird dies gelten von den Zellen, welche ver- schiedene motorische Fasern desselben Muskels entsenden. Es gilt aber keineswegs von allen diesen Fasern, vielmehr bezieht in der Regel jeder einzelne Muskel, z. B. der (jastrocnemius, motorische Fasern durch ver- schiedene Wurzeln aus verschiedenen Gegenden des Markes. Dies ist offenbar eine höchst zweckmässige Einrichtung, denn es wird dadurch der eine Muskel im Centrum der Nachbar verschiedener anderer und l)efähigt, sich an verschiedenen Coordinationen zu betheiligen. Bei dieser Einrich- tung drängt sich noch die Frage auf, ob jede Faser des Muskels aus jeder Quelle Innervation bezieht, oder ob jede Muskelfaser nur von einer Quelle innervirt wird. Ist das Erstere der Fall, so muss der unverkürzt erhaltene Muskel in die gleiche Spannung geratlKMi, mag nur eine Nervenwurzel, die ihm Fasern giebt, oder mögen sie alle gereizt werden. Die andere An- nahme verlangt eine grössere Spannung bei Reizung der sämmtlichen Wurzeln als bei Reizung nur einer. Der Versuch hat für die letztere An- nahme unzweideutig entschieden. X18 Stenson's Versuch. Am Rückenmarke des Kaninchens lässt sich die weiter ohen (siehe S. 100) aufgestellte Behauptimg üher die Lebhaftigkeit der chemischen Processe in den Ganglienzellen durch einen sehr einfachen und lehr- reichen Versuch beweisen, der unter dem Namen des „Stenson'scheu" Versuches bekannt ist. Der untere Theil des Kaninchenrückenmarkes be- zieht nämlich sein arterielles Blut von Aortenästen, welche unterhalb des Zwerchfelles entspringen. Wenn man also die Aorta bei ihrem Durch- tritte durch das Zwerchfell zusammendrückt, was ohne alle Verletzung des Thieres durch die Banchdecken geschehen kann, so ist dem hinteren Theile des Markes die Blutztifuhr abgeschnitten. Führt man diese Com- pression wirklich aus, so sind schon nach weniger als einer Minute die hinteren Extremitäten der Willkür entzogen und unempfindlich, so dass selbst starke Reizung der sensiblen Nervenstämme keine Schmerzempfin- dimg hervorruft. Dass diese Vernichtung der Empfindlichkeit nur auf die Unterbrechung der Leitung im Eückenmarke bezogen werden kann, ist selbstverständlich. Die Unmöglichkeit willkürlicher Bewegung aber könnte man dahin deuten, dass die Muskeln der hinteren Gliedmassen, denen ja die Aortencompression auch die Blutzufnhr abschneidet, ihrer Reizbar- keit beraubt würden. Diese Erklärung, welche in früherer Zeit dem Ver- suche in der That gegeben wurde, ist aber durch die einfache Thatsache widerlegt, dass die Muskeln auf directe Reizung und auf Reizung ihrer Nervenstämme noch kräftig reagiren. Um die Muskeln unerregbar zu machen — zu ersticken — bedarf es einer viel länger andauernden Ent- ziehung der Blutzufuhr. Da andererseits Nervenfasern noch länger die Blntzufuhr entbehren können, so kann der Erfolg nur auf der Lähmung der Ganglienzellen des Markes beruhen. Es liegt daher im „Stenson'scheu" Ver- such gleichzeitig noch einer der besten Beweise für den ebenfalls weiter oben schon als wahrscheinlich hingestellten Satz, dass keine Nervenfaser, weder sensible noch motorische, das Rückenmark blos passirt, sondern dass sie alle hier zunächst in Zellen einmünden, von denen die weitere Leitung ausgeht. In den vorderen Wurzeln der Rückenmarksnerven sind nicht blos die zu den Skeletmuskeln gehenden motorischen Nervenfasern im engeren Sinne des Wortes, sondern auch centrifugale Fasern, die sich zu den Blut- gefässen begeben. Ihre Zusammenhänge mit den Elementen des Rücken- markes, die im Ganzen wahrscheinlich denen der motorischen Nerven- fasern analog sein dürften, sollen erst später in- der Lehre von der Gefässinnervation betrachtet werden. 3. CapiteL Vom Hirn. Das Hirn — wie es anatomisch nur die Fortsetzung des Rücken- markes darstellt — unterscheidet sich auch in seinen Functionen nicht Analogie zwischen Hirn und Rückenmark. J J^C) wesentlich von demselben. Es wiederholt sich im Hirn immer nnr wieder derselbe Process, der schon im Kückenmarke vorkommt, dass der Er- regungszustand unter Vermittelung der Ganglienzellen von einer Nerven- faser auf die andere üliertragen wird. Kommt Erregung von verschiedenen Seiten in dieselbe Ganglienzelle, so können noch besondere Erschei- nungen auftreten, worunter namentlich die Erscheinung der Hemmung einer Erregung durch eine andere bemerkenswerth ist, welche uns eben- falls schon im Rückenmark begegnete. Der einzige Unterschied zwischen dem Hirn und Rückenmark ))e- steht darin, dass die Bahnen und ihre Zusammenhänge, auf welchen die Erregung geleitet werden und eine der andern begegnen kann, dort noch unendlich viel mannigfaltiger sind als hier. Von der ungeheuren Ver- wickelung der Leitungsbahnen im Hirn bekommt man eine Vorstellung, wenn man bedenkt, dass nach einer gewiss nicht übertriebenen Schätzung allein in der Grosshirnrinde des Menschen über 612,000,000 Ganglien- zellen liegen. Die meisten Erregungen, welche von der Peripherie zum Hirn kommen, haben zuvor das Rückenmark durchsetzt und ebenso durchsetzen dasselbe die meisten Erregungen, welche vom Hirn zu den Muskelnerven gehen. Es werden dabei die vorhin beschriebenen Bahnen der Längsleitung im Rückenmarke benutzt. Einige von der Peripherie zuleitende Nervenbahnen treten aber auch ohne Vermittelung des Rücken- markes direct ins Hirn ein, namentlich die vier höheren Sinnesnerven: der Geruchs-, Gesichts-, Gehörs- und Geschmacksnerv. Gerade dieser Umstand dürfte es wohl sein, welcher den durch das Hirn vermittelten Reflexen ihren eigenthümlichen Charakter giebt, wegen dessen man sie als sogenannte willkürliche Bewegungen von den allgemein sogenannten Reflexen des Rückenmarkes unterscheidet. Die Reflexe, welche vom Rückenmark allein abhängen, beziehen sich immer auf Objecte, Avelche mit der Haut in Berührung stehen, weil sie eben nur durch Reizung der sensiblen Hantnerven verursacht sein können. Die vom Hirn ausgehenden Reflexbewegungen sind dagegen viel verwickelter und beziehen sich oft auf weit entfernte Objecte, von welchen eben die höheren Sinne er- regt werden können. Daher rührt es, dass die Ursachen dieser letzteren Art von Reflexen eines beobachteten thierischen Individuums nicht so auf der Hand liegen und den Eindruck spontaner Bewegungen machen. Von der Anordnung der Leitungsbahnen im Hirn, von den Orten ihrer Verknüpfung, wo Reflex und Hemmung des Reflexes stattflndeii, haljen wir im Einzelnen nur sehr wenig Kenntniss. Es giebt auch last immer viele Bahnen zur Verbindung derselben Organe, und es können sich diese Bahnen oft vertreten. Etwas Aehnliches war schon bei der grauen Substanz des Rückenmarkes zu sehen, im Hirn zeigt sich dies in 120 Coordinationscentra im Hirn. Fiff. 12. noch höherem Maasse. Daher kommt es, dass mancher Hirntheil krank- haft entarten kann, ohne dass irgend eine Function darunter leidet. Offen- bar vermitteln alsdann vicarirend andere Theile die Leitungen, welche eigentlich durch den entarteten Theil vermittelt werden sollten. Manche Hirntheile sind freilich unersetzlich. Man kann sich diesen Vorgang nicht besser anschaulich machen als durch die Analogie mit dem Telegraphennetze eines Landes, dessen Drähte den Leitungsbahnen, dessen Stationen den Ganglienzellen zu ver- gleichen sind. Wäre z. B. die directe Linie zwischen A und B unter- brochen so würde der Telegraphist in Ä bald merken, dass bei der ge- wohnten Art, seine Befehle nach B zu senden, denselben nicht mehr Folge geleistet würde. Nun würde er den Befehl vielleicht über C oder über D zusenden und sich allmählich daran gewöhnen. Ja es könnten sogar an einer dieser Zwischenstationen die Drähte unmittelbar verknüpft werden, so dass ein Umtelegraphiren gar nicht mehr erforderlich wäre. Das würde der allmählichen Einübung einer neuen Leitnngsbahn entsprechen, die ebenso prompt vermittelte wie die ursprüng- liche directe. Das nebenstehende Schema Fig. 12 kann dazu dienen, von dieser Mannigfaltigkeit der Leistungen des Nervensystems eine Vorstel- lung zu geben. B ist eine Ganglienzellen- gruppe des Hirns, von welcher Leitungs- bahnen zu einer Anzahl motorischer Nerven- fasern a a 6 ß c Y führen, die vielleicht weit auseinander liegen. Man denke etwa an die verschiedeneu Nerven (phrenicus^ intercostales etc.), deren Erregung zu einem tiefen Athem- zuge gehört. Dann wird, sowie in die Gruppe B ein starker Erregungsanstoss irgendwie eindringt, ein bestimmter Complex von Be- wegungen ausgelöst werden, man wird also eine solche Gruppe ein „Coordinations- centrum" (siehe S. 117) nennen, und man muss sich denken, dass solcher Centra un- zählige im Hirn vorhanden sind. Der Er- regungsanstoss kann aber in die Gruppe B auf verschiedene Art eintreten. Einmal nämlich durch eine mit B direct verknüpfte sensible Nervenfaser o B, Geschieht dies, dann erscheint der in Kede stehende Bewegungscomplex als eine Eeflexbewegung (was bei einer Inspiration z. B. der Fall ist, wenn die Brust mit kaltem Wasser Bauplan des Hirns. 121 besprengt wird). Dann kann aber der Anstoss nach B kommen durch Verbindungsfasern mit dem Centrum der Willkür A. Wenn dies ge- schieht, so erscheint der Beweguugscomplex als „willkürlich" ausge- führt. Man kann nun aber bekanntlich die Muskeln, welche an dem Be- wegungscomplex betheiligt sind, auch einzeln willkürlich Ijewegeu. Dazu ist erforderlich, dass vom Centrum der Willkür auch directe Bahnen mit Umgehung von B zu den motorischen Fasern a h c führen. Eine solche ist im Schema in der Verbindungslinie Ä a angedeutet. Endlich kann jeder der Muskeln auch einzeln reflectorisch erregt werden, ohne Ver- mittelung des Hirns; das geschieht auf Wegen, die wir schon im Rücken- mark kennen gelernt haben ; ein solcher ist im Schema angedeutet in der sensiblen Faser s, die mit der motorischen Faser a a in der grauen Sub- stanz des Markes zusammenhängt. Wenn man sich dies Schema unzählige Male wiederholt denkt mit allen möglichen Combinationen der verschiedenen motorischen Nerven, und alle diese Schemata ineinander verflochten denkt, dann hat man eine ungefähre Idee vom Bauplane des Nervencentralorgaues. Es ist noch die merkwürdige und nicht erklärbare Thatsache her- vorzuheben, dass auch im Hirn, wie es schon vom Rückeumarke er- wähnt wurde, Coordinationscentra höherer Ordnung im Verlaufe des in- dividuellen Lebens durch üebung geschaffen werden können. Wenn man nämlich eine Reihe von Bewegungen sehr häufig willkürlich aus- führt, dann läuft dieselbe hernach auf einen einzigen Anstoss ab, ohne dass die späteren Glieder der Reihe noch besonderer Intentionen bedürften. Vielleicht kann es sogar dahin gebracht werden, dass dieser Anstoss gar nicht mehr vom Sitze des bewussten Willens auszugehen braucht, sondern von sensiblen Nerven direct den Zellengruppen zugeführt werden kann, die den Bewegungen vorstehen. Man denke z. B. an einen fertigen Ciavier- spieler; hier erfolgt das Anschlagen einer gewissen Taste, wie es scheint, reflectorisch auf einen gewissen Gesichtseindruck ohne Dazwischenkunft der Ueberlegung. Wir wollen nun die einzelnen Theile des Hirns durchgehen und die unzweideutigstenErgebnisse der anatomischen und experimentellen Unter- suchung der in ihnen stattfindenden Verknüpfungen aufzählen. In dem an das Rückenmark zunächst anschliessenden Hirntheile, dem sogenannten verlängerten Marke, befinden sich grössere Anhäufungen von Zellen, in welchen jedesfalls ein grosser Theil der langen Leitungsbahnen der Seiten- stränge des Rückenmarkes ihr Ende findet. Ganz sicher gilt dies von den- jenigen langen Leitungsbahnen, welche in directer Beziehung zur Rumpf- wand-, Hals-, Brust- und Bauchmuskulatur stehen, denn es ist eine un- zweifelhafte Thatsache, dass das Coordinationscentrura der am Athmungs- \22 Verlängertes Mark. MitteDiirn. process betheiligten Bewegungen im verlängerten Marke zu finden ist. Seine Functionen im Einzelnen sind erst später in der Lehre von der Athmung zu behandeln, nur das mag gleich hier erwähnt werden, dass es diese Lage des Athemcentrums begreiflich macht, wie gewisse sensible Nerven, die ins verlängerte Mark selbst eintreten, Trigeminus und Vagus besonders in den Mechanismus der Athmung eingreifen. Die Muskulatur der Zunge, der Lippen, des Schlundes und theilweise des Halses beziehen ihre motorischen Nerven iliypoglossus, facialis glossopliaryngeus) aus dem verlängerten Marke, und dem entsprechend enthält dieser Hirntheil Centra ihrer coordinirten Bewegungen, Schlingen, Erbrechen und, nach der Annahme mancher Autoreu, auch die der Lautarticulation. Das verlängerte Mark enthält ausserdem die Centralstellen für die Einwir- kung auf das Herz und die Gefässe, wovon in der Lehre vom Blutkreis- laufe zu handeln sein wird. Ein Theil der laugen Leitungsbahnen des Eückenmarkes scheint das verlängerte einfach zu passiren, ohne hier in Ganglienzellen einzu- münden. Sie endigen dann wohl in den Zellenanhäufungen des Mittel- hirns, ziehen vielleicht sogar zum Theil in den Hirnstielen bis in die Hemisphären. Im Mittelhirn dürften besonders diejenigen Bahnen endigen, welche auf die Bewegungen der Extremitäten Bezug haben. Es ist nämlich durch zahlreiche physiologische Experimente ausser Zweifel gesetzt, dass die Coordiuationsceutra der Extremitätenbewegungen und insbesondere der Locomotion im Mittelhirn liegen. Es ist z. B. eine der am längsten be- kannten, gut begründeten experimentellen Thatsachen der Hirnphysiologie, dass gewisse Verletzungen der Hirnstiele und Sehhügel eigenthümliche Störungen der Locomotion, die sogenannten ßeitbahnbewegungen zur Folge haben. Wahrscheinlich haben sie ihren Grund darin, dass das Thier nicht mehr alle Empfindungen hat, welche ihm die Vorstellung von der geraden Lage seines Körpers verschaffen, und es deshalb immer von Neuem veranlasst ist, dieselbe aufzusuchen. Es gibt aber noch zahlreiche andere experimentelle und pathologische Thatsachen, welche darauf deuten, dass die Coordinationscentra der Extremitätenbewegungen im Mittelhirn, namentlich in den Vierhügeln zu finden sind. Es ist sehr bemerkenswerth, dass in diese Gegend des Hirns auch der Sehnerv eingepflanzt ist. Die von ihm gelieferten Empfindungen sind es ja gerade, nach denen sich die coordinirten Bewegungen der Extremi- täten hauptsächlich richten, und es ist darum begreiflich, dass der Sehnerv mit den Coordinationscentren derselben am unmittell)arsten zu- sammenhängen muss. Andererseits gehen dann wieder von diesen Hirn- theilen unmittelbar diejenigen motorischen Nerven {oculomotorius etc.) aus, Mittelhirn and Kleinhirn. 123 deren Wirkung auf den Sehact den unmittelbarsten Bezug hat, wie die Bewegungen des Augapfels, der Iris und die Accommodation. In den Mechanismus der Gliedmassenbewegungen greifen zweitens aber auch die sensiblen Eindrücke von der Haut ein. Diese werden dem Mittelhirn natürlich zugeleitet durch die Kückenmarkstränge, in welchen andererseits auch die motorischen Fasern liegen, durch welche die Impulse vom Mittelhirn zu den motorischen Nerven gehen. Endlich haben auch die durch deiuiery^sacws^fc^sgeleiteten Eindrücke auf die Bewegungen der (JliedmassenEinÜussnndmuss also auch dieser Nerv mit den Centren des Mittelhirns in Verbindung stehen. Die Anatomie hat zwar die Fasern dieses Nerven bis ins verlängerte Mark verfolgt und ist daher der Zusammenhang vielleicht nur ein mittelbarer. Das Eingreifen der Eindrücke auf den acusticus in den Mechanismus der Mittelhirncentren ist aber gleichwohl ein sehr bedeutender. Einerseits sieht man ja jedes Thier und jeden Menschen unwillkürlich auf Gehörseindruck mit Loco- motionen reagiren, andererseits sind aber von ganz besonderer Bedeutung gewisse Eindrücke, welche durch die in den Bogengängen und im Vorhofe endenden Fasern des nervus acusticus geleitet werden, und welche nach der heutigen Anschauungsweise weder durch Schallschwingungen verur- sacht werden, noch als Schallempfindungen zum Bewusstsein kommen. Den Reiz für die Endapparate dieser Fasern sollen vielmehr die Bewegungen des Kopfes bilden und ihre Erregungen sollen eben nur bestimmt sein, in den betreffenden Coordinationscentren dergestalt einzugreifen, dass die nöthigen Bewegungen ausgeführt werden, um das Gleichgewicht zu er- halten. So viel ist gewiss, dass, wenn der Bogengangapparat verletzt ist, das Thier nicht mehr im Stande ist, seinen Kopf und Körper für jeden Zweck in die richtige Lage zu bringen. Wenn im Vorstehenden das Mittel- hirn als Coordinationscentruin der Gliedmassenbewegungen charakterisirt ist, so soll natürlich nicht damit ausgesprochen sein, dass es über die Kumpfmuskulatur gar keine Macht habe. Dies kann schon (hirmii nicht sein, weil an jeder Locomotion und kräftigen Gliedmassenliewegung auch die Kumpfmuskulatur sich betheiligen muss. Das Kleinhirn scheint wesentlich Hilfsapparat für das Mittelhirn zu sein, mit dem es durch seine Stiele ja auch im ausgiebigsten Zusammen- hange steht. Auch das Kleinhirn dient der Coordination der grossen Be- wegungen, die hauptsächlich mittelst der Gliedmassen ausgeführt werden. Insbesondere scheint es die correctiven Bewegungen zur Erhaltung des Gleichgewichtes auszulösen. (jleichsam die höchste Instanz im Nervensystem, zu welcher die Bot- schaften von sensiblen Organen gelangen, und von welcher die Be- fehle zu Bewegungsorgauen ausgehen, bilden die Zellenanhäufungen der X24: Grosshirnhemisphären. Grosshirnhemisphären. Dies spricht sich schon im anatomischen Baue aus, indem wir sahen, wie von der Peripherie die Bahnen zur grauen Substanz des Kückenmarkes gehen, von da zu den Zellen des verlängerten Markes, Kleinhirns und Mittelhirns, vom verlängerten Marke und Kleinhirn zum Mittelhirn ; von hier endlich gehen die letzten Bahnen zu den Grosshirnhemi- sphären mit Einschluss der Basalganglien (Sehhügel und Streifenhügel). Diese aus den anatomischen Verhältnissen gefolgerte Bedeutung der Hemisphärialgebilde des Grosshirns zeigt sich nun auch in ihrer physio- logischen Function aufs Deuthchste. Es kann nämlich kein Zweifel sein, dass die Erregimgen in den Elementen dieser Gebilde die objective Er- scheinungsweise dessen sind, was dem Subjecte selbst als üeberlegung und klar bewusster Willensact erscheint, oder dass, wie man es vielleicht nicht so ganz passend auszudrücken pflegt, die Hemisphärialgebilde die Organe der Intelligenz sind. Der Beweis für diesen Satz liegt darin, dass ein Thier, das der Hemisphären beraubt ist, zwar noch alle Functionen verrichten, auch auf äussere Eeize grosse planmässigeBewegungscomplexe ausführen kann, sich aber in einem schlafähulicheu Zustande befindet und keine Handlungen aus eigenem Antriebe ausführt. Ein solches Thier reagirt z. B. noch auf Lichteindrücke in verschiedener Weise, aber es sieht nicht mehr im eigentlichen Sinne des Wortes, d. h. es bildet sich auf Grund der Lichteindrücke keine Vorstellungen mehr von den Objecten, die es zu selbstständigem Handeln denselben gegenüber veranlassten. Es kann z. B. vor dem reichlichsten Futter verhungern. Die neneren eifrigen experimentellen Forschungen auf dem Gebiete der Hirnphysiologie haben einen sehr wichtigen Fundamentalsatz über die Function der Grosshirnrinde unzweifelhaft festgestellt, dass nämlich hier die Beziehungen zu den einzelnen Theilen der sensiblen und motorischen Körperperipherie genau localisirt sind. Mit anderen Worten : soll von einem an einer bestimmten Hautstelle gefühlten oder mit einer bestimmten Netz- hautstelle gesehenen Objecte eine klar bewusste Vorstellung entstehen, so muss die entstandene Erregung nothwendig in eine ganz bestimmte Stelle der Grosshirnrinde eindringen und eine gegenseitige Vertretung kann hier nicht stattfinden. Ebenso muss andererseits die Erregung von einer ganz bestimmten Stelle der Grosshirnrinde ausgegangen und zu einem bestimmten Muskel geleitet sein, wenn die Bewegung dem Bewusstsein als diese ganz bestimmt gewollte Bewegung erscheinen soll. Im Allge- meinen ist in dieser Weise die rechte Körperhälfte in der linken Hemi- sphäre und umgekehrt repräsentirt. Nur bei den Netzhäuten ist dies nicht ganz durchgängig der Fall. Die Repräsentation der sensiblen Eindrücke geschieht in den hinteren Theilen der Grosshirnrinde. Man hat hier bei Hunden und anderen Säuge- Sensible und motorische Centra der Hemisphären. 125 thieren, z. B. Affen, deren Hirn dem meuschliclien sehr ähnlich ist, schon ziemlich genan die Gebiete al)gegrenzt, wo die Gesichtseindrücke, die Ge- hörseindrücke und die Gefühlseindrücke zum Bewusstsein kommen. Das Gesichtscentrum ist am genauesten untersucht und liegt hoch oben etwas hinter der Mitte der Grosshirnhemisphäre. Zerstörung dieser Gegend der Kinde beiderseits hat Vernichtung des eigentlichen Sehvermögens zur un- ausbleiblichen Folge und theilweise Zerstörung bedingt bestimmte Defecte im Sehfelde. Das Gehörcentrum liegt etwas tiefer unten und ein wenig weiter vorne. Das Gefühlscentrum ist noch nicht so bestimmt umschrieben. Es wird von einigen Forschern an die innere, der Hirnsichel zugewandte Seite der Hemisphäre gesetzt. Die motorischen Centra liegen vor diesen sensiblen Centren an der Hiruoberfläche. Reizung ganz bestimmter Stellen dieser Gegend bringt ganz bestimmte Bewegungen hervor. Es ist bereits ein ziemlich umfang- reiches Material gut übereinstimmender Versuche über die Bewegungen zusammengebracht, welche auf Reizung bestimmter Stellen der Hirnober- fläche des Hundes, des Affen, des Kaninchens etc. erfolgen und die sich oft mitgrössterPräcision auf einzelne Muskeln beschränken. Eine Aufzählung dieser Einzelnheiten würde indessen in den Rahmen einer kurzen Dar- stellung der Physiologie um so weniger passen, als die an anderen Säuge- thieren gewonnenen Erfahrungen dieser Art auf den Menschen nicht ohne- weiters übertragen werden können. Besondere Erwähnung verdient noch eine Stelle der motorischen Partie der Grosshirnrinde unten und vorne neben der Sylvischen Grube. Hire Reizung beim Affen bringt Bewegungen der Zunge und des Mundes hervor, und zwar auf beiden Seiten. Zahlreiche übereinstimmende patho- logische Erfahrungen haben dargethan, dass krankhafte Entartung der entsprechenden Stelle beim Menschen Verlust der Sprache (Aphasie) zur Folge hat. Elektrische Reizung der vorhin als sensibel bezeichneten Regionen des Hirns haben übrigens auch oft Bewegungen zur Folge, diese haben dann aber ganz ersichtlich den Charakter von Bewegungen, wie sie auf Vorstellungen im betreffenden Sinnesgebiete zu erfolgen pflegen. So bringt eine Reizung im Gel)iete des Gehörcentrums oft Spitzen der Ohren hervor. Manche Autoren geben den auf Reizung der vorderen Hemisphären- theile erfolgenden Bewegungen eine ähnliche Deutung und erklären somit, entgegen der hier vertretenen Anschauungsweise, auch jene Hemisphären- theile für wesentlich sensorisch. Die allervorderste Partie derGrosshirnrinde scheint weder sensorische, noch motorische Function zu besitzen. Hire elektrische Reizung bringt keine Bewegungen hervor nnd ilne Zerstörung beraubt ein Thier weder 126 Schema des Nei-vensystemes. Piff. 13. der bewussten Empfindung, noch der willkürlichen Bewegung. Ueberliaupt ist ein Thier, dem Theile der vorderen Stirngegend des Grosshirns ge- nommen sind, in seinem Benehmen kaum zu unterscheiden von einem un- verletzten. Man vermuthet deshalb in dieser Gegend des Grosshirns die Centralstellen für die bewusste überlegte Hemmung von Bewegungen, welche sonst durch Keflex von den sen- siblen auf die motorischen Centra einge- leitet worden wären. Die vorstehend besprochenen Ver- knüpfungen sind, soweit dies in einem nicht allzu überladenen Schema möglich ist, durch die Fig. 13 übersichtlich dar- gestellt. Die schattirten Flächenstücke sollen die Hauptanhäufungen der Zellen bedeuten, wo Eeflexe von sensiblen auf motorische Bahnen und Coordinationen verschiedener motorischer Antriebe statt- finden. Durch ihre Gestalt erinnern sie schon einigermassen an die Gestalt der betreffenden anatomischen Theile. Sie bilden vier einander und der äusseren (sensiblen und motorischen) Peripherie übergeordnete Instanzen. Die erste ist die graue Substanz des Kückenmarkes (RM), die zweite die des verlängerten Markes {V 31), die allerdings von der ersten nicht scharf abgegrenzt ist. Die dritte Instanz ist die graue Substanz des Mittel- und Kleinhirns (lieiilf und KH in der Figur). Endlich die vierte Instanz ist zusammengesetzt aus den grauen Massen der Basalganglieu (Cor-p. striata et tlialami opt.) und der Grosshirnrinde. Letztere könnte man allesfalls auch als eine fünfte den Basalganglieu noch überordnen, je- doch ist hierauf in der vorhergehenden Erörterung nicht näher einge- treten. Die Verknüpfungen, in der Figur durch Linien dargestellt, können nun füglich in drei Gattungen eingetheilt werden, nämlich erstens „Com- missuren'-, welche die rechte und linke Hälfte derselben Eeflexinstanz mit einander verknüpfen. Ihr Vorhandensein bedingt das Zusammen- wirken der beiden Körperhälften. In der Figur sind sie natürlich durch wagrechte Querlinien zwischen symmetrischen Stellen dargestellt. Die zweite Art der Verknüpfung sind die „Associationssysteme", welche Schema des Nervensystemes. 127 Hemisphären 14. verschiedene Stellen derselben granen Masse auf einer Seite verbinden. Diese Bahnen dienen also der Coordination grösserer Bewegungscomplexe auf derselben Eörperseite. In der Figur sind nur zwei Beispiele ausdrücklich dargestellt: in den Bogenlinien zwischen verschiedenen Punkten der Gross- hirnrinde einerseits und in den Geraden, welche aus einer Stelle der grauen Substanz des Rückenmarks auftauchen, um in eine andere weiter oben wieder einzugehen und so die oben (S. 113) vertretene Auffassung von den Vorder- und Hintersträugen zur Anschauung liringen. Die dritte Gattung der Verknüpf ung Ijilden die sogenannten „Projections- systeme", welche von einer Instanz zur andern führen. Das erste Projections- system ist der Inbegriff aller periphe- rischen, sensiblen und motorischen Ner- ven. Sie gehen bekanntlich meist in die graue Substanz des Rückenmarkes (wie beip A^angedeutetist), einzelne freilich, wie z. B. der (bei tr in der Figur ange- deutete) nervus trigeminus, unmittelbar zu einer höheren Instanz ; der Sehnerv {opt. Fig. 13) tritt noch höher oben ins Mittelhirn ein. Ein zweites Projec- tionssystem führt von den Zellen des Rückenmarkes zu denen des verlänger- ten Marks. Ks ist in der Figur durch eine Linie auf jeder Seite vertreten, die sowohl aufwärts als abwärts leitende Bahnen darstellt. Ein drittes Projec- tionssystem führt vom Rückenmark zum Mittelhirn (violleicht zum Theil sogar direct zum Grosshirn). Es ist ebenfalls durch zwei Linien in der Figur vertreten, welche sich kreuzen. Ein viertes Projectionssystem, durch drei Linien jederseits in der Figur vertreten, führt vom verlängerten Marke zum Mittel- und Kleinhirn. Das letzte Projectionssystem endlich, durch drei resp. vier Linien jederseits vertreten, führt vom Mittel- und Kleinhirn zum Grosshirn. Zur Krgänzung der Figur 13 mag die noch mehr schematisch ge- haltene Figur 14 dienen, welche in der Disposition an das Profil, wie jene an die Frontalansicht des Nervensystems erinnert. Hier treten daher die Zellenanhäufungen, welche der Aufnahme sensibler Eindrücke dienen, als Kückenraaik 128 Automatie. schraffirte Einge getrennt auf von den als leere Einge dargestellten Zellen- anMufuugen, welche die motorischen Antriebe aussenden. Als leerer Eing ist auch der vorderste frontale Abschnitt der Grosshirnrinde dar- gestellt, welcher weiter oben als Sitz der Ueberlegung resp. Hemmung reflectorischer Antriebe bezeichnet wurde. Die Leitungsbahnen sind als Striche dargestellt und mit Pfeilspitzen versehen, welche den Sinn der in ihnen stattfindenden Leitung andeuten. Die ins Freie ausgehenden Striche sind natürlich die peripherischen Nerven, welche ins Eückenmark, ver- längerte Mark und Mittelhirn eingehen. In der ganzen bisherigen Darstellung der Vorgänge im Nerven- system wurde als Eegel vorausgesetzt, dass der Erregungsprocess an den Enden peripherischer Nerven durch äussere Eeize verursacht wird, und dass also der schliessliche Erfolg in einem nach aussen wirkenden Organe, wenn ein solcher überall zu Stande kommt, als Eeflex im weiteren Sinne des Wortes zu bezeichnen ist. Es gibt aber ganz entschieden auch Fälle, in denen Bewegungen vom Nervensysteme ausgelöst werden, ohne einen eigentlichen äusseren Eeiz; zu ihnen gehört z. B. die Athembeweguug. Man pflegt solche Bewegungen „automatische" zu nennen. Man darf sich aber durch diese Bezeichnung nicht zu dem Irrthume verführen lassen, als wäre hier die Erregung in den betreffenden Nervencentren ohne Eeiz von selbst entstanden, dies hiesse ja eine Wirkung ohne Ursache an- nehmen. Der einzige Unterschied der automatischen von den Eeflex- bewegungen besteht darin, dass bei jenen der Eeiz direct auf die Ganglien- zellen im Centrum selbst einwirkt. Bei der Athembeweguug z. B. ist, wie wir später genauer sehen werden, der Eeiz auch seiner Natur nach bekannt und besteht in einer gewissen Beschaffenheit des das Centralorgan durch- fliessenden Blutes. Es wäre übrigens recht gut möglich, dass auch dieser Unterschied der automatischen von den Eeflexbewegungeu uur ein schein- barer wäre. Man brauchte nämlich nur die keineswegs so ganz unwahr- scheinliche Annahme zu machen, dass die der automatischen Bewegung vorstehenden Nervenzellen besondere, natürlich mikroskopisch kleine Fort- sätze hätten, auf deren Enden ein Blutbestandtheil oder sonst etwas reizend einwirkte. Da fast immer dem centralen Nervensystem auf dem Wege der sensiblen Nerven Erregung zuströmt, resp., wie wir soeben sahen, in ihm selbst entsteht, und da die zahllosen Verknüpfungen diese Erregung all- seitig darin verbreiten, so wird mau vermuthen können, dass in der ganzen Zellenmasse des Nervensystems nie ganz vollständige Euhe herrscht, sondern beständig ein wenn auch stellenweise und zeitweise minimer Grad von Er- regung besteht. Man nennt aber eine solche ununterbrochen andauernde Erregung eine „tonische" oder kurz „Tonus". Man wird demnach, so lange Tonus im Nervensystem. 129 das Leben dauert, im ganzen Nervensystem einen gewissen Tonus an- nehmen dürfen. In manchen Theilen des Nervensystems, z. B. in denen, von welchen das Blutgefässsystem abhängt, ist er in der Regel so stark, dass ein fortwährender Abfluss von Erregung auf den motorischen Bahnen in solchem Maasse stattfindet, dass auch die davon al)hängigen Muskeln in einem dauernden Erregungs- oder Contractionszustande begriffen sind. In anderen Theilen des Centralorganes ist der Tonus allerdings zu schwach, um diesen sichtbaren Effect hervorzu1)ringen. Er erstreckt sich aber doch in die motorischen Fasern hinein, welche in einem solchen miuimen, zur Muskelzusammenziehung selbst noch nicht führenden Erregungszustande wenigstens leichter in den Grad von Erregung versetzt werden können, welcher eine Muskelzusammenziehung auslöst. Dies zeigt sich in einer sehr merkwürdigen Erscheinung am Froschrückenmarke, Die aus dem- selben hervorgehenden motorischen Nervenwurzeln sind nämlich sofort weniger leicht reizljar, wenn man die hinteren sensiblen Nerveuwurzeln durchschneidet, als vorher. Offenbar führen diese letzteren, auch wenn die Haut nicht gerade besonders starken Einwirkungen ausgesetzt ist, den Zellen des Markes beständig etwas Erregung zu, welche sich auf die motorischen Fasern fortpflanzt, so dass nun ein geringerer Reiz genügt, um sie bis zu dem auf den Muskel wirksamen Grad der Erregung zu bringen, als wenn durch Abtrennung der sensiblen Wurzeln jene Quelle schwacher Erregung abgeschnitten ist. Fick, I'hysiologie. 3. Aufl. 5. Abschnitt. Physiologie der Sinne. Einleitende Betrachtungen. Es ist ein wichtiges Problem der Physiologie, zu imtersuchen, wie die Erregungen, deren mögliche Leitungen durch das Nervensystem hin- durch im vorigen Abschnitte zergliedert wurden, an den peripherischen Enden der sensiblen Nerven durch äussere Einflüsse im Verlaufe des normalen Lebens entstehen. In diesem Abschnitte soll zunächst eine be- stimmte Gattung sensibler Nervenfasern in Betracht gezogen werden, die eine ganz besondere Stellung im Organismus einnehmen. Sie sind erstens dadurch ausgezeichnet^ dass ihre peripherischen Enden in ganz besonderer Weise bestimmten Einflüssen ausgesetzt sind, welche nicht blos für das Nervensystem, sondern für den Gesammtkörper als äussere zu be- zeichnen sind. Offenbar giebt es im Gegensatze hierzu zahlreiche andere centripetaUeitende peripherische Nervenfasern, deren Enden regelmässig von Keizen im Innern des Körpers getroffen werden ; diese, wie z. B. die Lungenäste des n. vagus, sind nicht Gegenstand des gegenwärtigen Ab- schnittes. Die den äusseren Reizen blossgestellten Endapparate der hier zu betrachtenden Nerven haben sämmtlich eine solche Beschaffenheit, dass eine geradezu märchenhaft geringe Arbeit genügt, um das Nervenende in den Erregungszustand zu versetzen. (Man denke an die alle Vorstellung übersteigende Kleinheit der Schwingungen des Labyrinthwassers, welche den n. acusticus reizen.) Die eigentliche Nervensubstanz ist nicht so labil, dass sie unmittelbar durch so geringfügige Anstösse erregt werden könnte; wir müssen daher annehmen, dass in den fraglichen Eudapparaten Stoffe von überaus labilem molekularen Gefüge vorhanden sind, in denen ■^- wie in den explosiven Verbindungen — durch die leisesten Anstösse chemische Kräfte ausgelöst werden, deren — im Verhältniss zum Anstoss — bedeutende Arbeit als Eeiz auf das eigentliche Nervenende wirkt. Ein Organ, in welchem solche überaus reizbare Endapparate sensibler Nerven zusammengeordnet und äusseren Reizen blossgesteUt sind, nennt man ein „Sinnes Werkzeug" und die zugehörigen sensiblen Nerven „Sinnesnerven". Quantität und Qualität der Empfindung. 131 Die Siiinesnerven sind im Centralorgan im Allgemeinen nicht direct verknüpft mit den Zellengrnppen, von welchen aus die wesentlichen Functionen der vegetativen Sphäre, wie Blutkreislauf, Athmung, Secretiou beherrscht werden. Die durch die Sinne dem Centralorgane zugeleiteten Erregungen greifen daher nicht direct in das Spiel dieser Function ein. Dahingegen pflanzen sich die Sinneserregungen regelmässig fort in die Gegenden des Centralorgan es, von wo aus die grossen planmässigen Be- wegungscomplexe der Sceletmuskulatur beherrscht werden. Das heisst, vom Standpunkte der inneren Anschauung gesprochen, die durch Reizung der Sinnesnerven bedingten „Empfindungen" liefern dem Bewusst- sein das Material zu den „Vorstellungen" von äusseren Objecten, nach welchen wir unser Benehmen diesen gegenüljer einrichten. Das Hauptinteresse einer Untersuchung der Sinneseindrücke liegt somit nicht in ihrer Eigenschaft als Factoren im stofflichen Haushalte des Thier- leibes, sondern in ihrer Bedeutung als Quelle für den Inhalt des Bewusst- seins. Aus diesem und aus anderen Gründen pflegt man sich daher bei Darstellung der Sinnesphysiologie stets in erster Linie auf den Stand- punkt der inneren Anschauung zu stellen. Wenn wir von diesem Standpunkte aus unsere eigenen verschie- denen „Empfindungen" vergleichen, so werden wir bald gewahr, dass sich dieselben nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ von einander unterscheiden können. Die Empfindung von einer bestimmten Qualität (z. B. eine bestimmte Farbe) kann eine stetige Scala von Quan- titäten durchlaufen vom Unmerklichen = 0 an bis zu einem nicht angeb- baren, wenn auch wohl nicht unendlich hohen Werthe der Intensität. Es Ijedarf kaum der Erwähnung, dass diese Verschiedenheit der Empfin- dungsstärke der Verschiedenheit der Stärke des chemischen Processes im Nerven entspricht, welcher von aussen betrachtet das ist, was sich der inneren Anschauung als Empfindung darstellt. Achten wir ausschliesslich auf die qualitativen Unterschiede der Empfindungen, so treten aus der ungeheuren Mannigfaltigkeit zunächst sehr bestimmt vier deutlich gesonderte Qualitätenkreise hervor, nämlich der Lichtempfindung, der Schallempfindung, der Geruchsempfindung und der Geschmacksempfindung. Die beiden letzteren sind zwar nicht so scharf umschrieljen als die beiden ersteren, aljer bei einiger Uebung im Achten auf den eigentlichen Empfindungsinlialt wird Jeder doch leicht entscheiden können, ob eine gegebene Empfindung dem Kreise der Ge- ruchs- oder Geschmacksejnpfindungen angehört oder keinem von beiden. Ks bestehen innerhalb jedes dieser Kreise zwar immer noch qualitative Unterschiede, doch sind diese von ganz anderer Ordnung als die Unter- schiede zwischen Em])fiii(bingen verschiedener Kreise, und wir sind dalier \S2 Specifische Energie. Adäquater Reiz. berechtigt, wegen ihres gemeinsamen Charakters alle Lichtempfindungen als qualitativ gleichartig zu fassen, ebenso alle Schallempfindungen, alle Geruchs- und alle Geschmacksemi)finduugen. Die Art des Empfindens auf einem dieser Sinnengebiete nennt man die „specifische Energie" desselben. Vor Allem muss hervorgehoben werden, dass die specifische Energie eines Sinnes entschieden nicht in directem ursachlichen Zusammenhange steht mit dem äusseren Agens, welches diesen Sinn erregt, oder mit anderen Worten, dass keineswegs etwa der Charakter des Empfindens der Art der Heizung entspringt. Am leichtesten kann man sich beim Gesichtssinne von der Eichtigkeit dieser Behauptung überzeugen. Es gelingt nämlich leicht, den Sehnerven auf andere als die gewöhnliche Art, z. B. mechanisch — durch Druck auf das Auge — oder elektrisch zu reizen, und man hat alsdann Empfin- dungen von derselben Qualität, als wenn der Eeiz wie gewöhnlich in das Auge fortgepflanzte Aetheroscillationen gewesen wären, d. h. Licht- empfindungen. Umgekehrt hat die Empfindung gar keine Aehnlichkeit mit einer Lichtempfinduug, wenn Aetheroscillationen andere sensible Nerven, z. B. die Hautnerven erregen. Die Art des Eeizes, welcher einen Sinnesnerven vermöge der be- sonderen Einrichtungen an der Peripherie im Verlaufe des normalen Lebens gewöhnlich erregt, nennt man den adäquaten Eeiz dieses Sinnes. Wir können somit jenen wichtigen Satz so aussprechen: Die specifische Energie eines Sinnes ist nicht bedingt durch seinen adäquaten Eeiz, viel- mehr reagirt der Sinn mit seiner specifischen Energie auf jeden beliebigen Eeiz, der tiberhaupt seine Nerven zu erregen vermag. Ebensowenig kann man daran denken, die verschiedenen specifischen Energien der Sinne etwa zu erklären durch Verschiedenheiten im Wesen der molekularen Bewegungen. Es spricht zu viel dafür, dass der Nerven- process in allen nervösen Elementen wesentlich dieselbe Art der mole- kularen Bewegung ist. Ueberdies würde es zu gar nichts führen, wollte man auch hypothetisch annehmen, dass der molekulare Vorgang der Er- regung im n. opticus sich anders gestalte als im w. acusticus etc., denn der Unterschied zwischen zwei Formen von Molekularbewegung hätte doch gar nichts Analoges mit dem Unterschiede von zwei Empfiuduugsquah- täten. Wir müssen eben die specifischen Energien der Sinne hinnehmen als Urphänomene der inneren Anschauung, welche ebensowenig einer Erklärung fähig sind wie die Thatsache des Bewusstseins überhaupt. Neben die vier bis jetzt namentlich aufgeführten Sinne stellt sich noch ein fünfter sehr weit verbreiteter, der Tast- oder Gefühlssinn, wel- cher manches Eigenthümliche darbietet. Das Organ dieses Sinnes bilden die Enden der sämmtlichen sensiblen Nerven der äusseren, mit Epidermis Tastsinn und Gemeingefühl. 133 bekleideten Haut und der zu Tage liegenden Schleimhautpartien. Die regelmässigen Reize dieses Sinnes sind wie die der vier übrigen vollständig äussere und es sind auch die Endapparate des Tastsinnes von jener extremen Erregbarkeit. Dahingegen haben die Empfindungen im Bereiche des Tastsinnes nicht einen so hervorstechend besonderen Charakter wie die Licht-, Schall-. Geruchs- und Geschmacksempfindungen. Man kann sie eher als Empfindungen überhaupt bezeichnen, d. h. als das Bewusst- sein des Erleiden s einer Einwirkung. In den meisten Fällen verknüpft sich allerdings, wie bei den anderen Sinnen, mit der Empfindung die Vor- stellung von etwas Aeusserem als der Ursache jener Einwirkung, aber diesem Aeusseren wird im Bewusstsein eben nicht sofort eine besondere Qualität beigelegt, wie bei den übrigen Sinnen z. B. die Farbe, bestimmte Klanghöhe u. s. f. Eine zweite P]igenthümlichkeit der Empfindungen, die wir durch Reizung der Hautnervenenden erhalten, besteht darin, dass sie sich oft mit leidenschaftlichen Seelenzuständen verknüpfen, welche wir mit den Worten Schmerz und Lust bezeichnen. Den Inbegriff dieser Art von p]mpfindungen, zu denen noch die Em- pfindungen des Schauders, des Kitzels und dergleichen gehören, nennt man das „Gem eingeführt Diese Bezeichnung deutet schon darauf hin, dass die fraglichen Empfindungen nicht mit einer so genauen Vorstellung einer Oertlichkeit verknüpft sind. Für den rein physiologischen Standpunkt der Betrachtung, welcher den Erregungsprocess lediglich als materiellen Vorgang in gewissen anatomischen Elementen ins Auge fasst, besteht ganz offenbar der Unterschied der Gemeingefühle von den gleichgiltigen oder eigentlichen Tastempfindungen darin, dass bei diesen der Erregungs- process vorwiegend in diejenigen Bezirke der Grosshirnrinde eindringt, welche im vorigen Abschnitte als die Substrate der eigentlich klar be- wussten p]mpfindungen Ijezeiehnet sind, und dass bei den Gemeinge- fühlen die Ih'regung sich in andere Partien der grauen Substanz des Centralorganes verbreitet, von welchen aus leicht unwillkürliche Reflexe erregt werden. In der That macht sich ja bei jeder Gemeingefühls- empfindung, sei sie Schmerz, Lust, Schauder, Kitzel, eine Neigung zu Re- flexen bemerklich, die nur durch gewaltsame Anstrengung des Willens überwunden werden kann. Es kann also kein Zweifel sein, dass die Ge- meingefühle auf anderen Bahnen geleitet werden als die gleichgiltigen Tastempfindungen, und es entsteht die Frage, ob schon von der Peripherie an die Bahnen verschieden sind oder ob sie sich erst im Centralorgane trennen. Die erstere Annahme ist zwar von manchen Autoren vertreten, sie entbehrt aber jedes Anhaltes in den anatomischen Verhältnissen und ist daher, da uns keine physiologische Thatsache zu ihr nöthigt, entschieden 134 Verschiedene Bahnen für Tastsinn und Gemeingefühl. zurückzuweisen. Ganz ungezwungen lässt sich dagegen die zweite Au- nalime anknüpfen an die Vorstellungen, welche wir uns vom Bau des Centralorganes machen mussten. Von der ersten Gangiienzelle des Markes, in welche irgend eine sensible Faser einmündet, gehen ja sicher verschie- dene Wege weiter ins Ceutralorgan hinein. Einer davon wird mit wenig Unterbrechungen durch Ganglienzellen und folglich mit wenig Wider- stand zum Sitze des bewussten Vorstellens führen, andere gehen durch die graue Substanz des Eückenmarkes und verlängerten Markes zu Orten, von wo aus leicht coordinirte Eeflexe angeregt werden. Jener erste Weg dient der gieiehgiltigen Tastempfindung, die letzteren dienen den Gemein- gefühlen und namentlich den Schmerzempfindungen. Diese Annahme stimmt zu der bekannten Erfahrung, dass in der Eegel schwache Eeizung der peripherischen Nerven blos gleichgiltige Tastempfindung hervorruft, sehr intensive Eeizung dagegen neben derselben Schmerz, denn es ist be- greiflich, dass auf den vielfach durch Zellen unterbrochenen Bahnen der grauen Substanz sich nur sehr intensive Erregungen weit verbreiten können. Auch die seltsame, in krankhaften Zuständen bisweilen beobach- tete Erscheinung der „Analgesie" verträgt sich ganz gut mit unserer An- schauungsweise. Sie besteht bekanntlich darin, dass ein Mensch bei der heftigsten Eeizung einer Hautstelle durch Pressen, Quetschen oder der- gleichen wohl eine Tastempfindung hat, aber keinen Schmerz. Es können in einem solchen Falle die Bahnen in der grauen Snbstanz unterbrochen sein, während die Bahn zum Sitze der Vorstellungen noch leitungsfähig ist. Schwerer verständlich sind die anderen Gemeingefühle, wie Wollustem- pfindung, Schauder, Kitzel, die nicht wie der Schmerz durch äusserst intensive Eeizung sensibler Nerven erregt werden, und die doch auch auf Weiterverbreitung der Erregung in den grauen Massen des Nervensystems beruhen müssen. Bei den Wollustempfindungen, die durch Eeizung der Nerven des Sexualapparates entstehen, kann man etwa daran denken, dass von den ersten Centralstellen gerade dieser Nerven besonders wenig Widerstand bietende Bahnen in bestimmte Theile der grauen Substanz führen, die den Sitz der in Eede stehenden Gemeingefühle bilden, so dass schon bei massiger Eeizung dieser Nerven neben der gieiehgiltigen Tast- empfindung das Gemeingefühl zu Stande kommt. Unzweifelhaft kann übrigens durch noch intensivere Eeizung der Nerven des Geschlechts- apparates auch Schmerz entstehen, und es bleibt daher noch die sehr merkwürdige Frage, ob ein bestimmter Theil der Erregungsscala der be- treffenden Nerven den Wollustempfindungen zugehört und ob sie z. B. auch durch elektrische Erregung der Nervenstämme in diesem bestimmten Grade hervorgerufen werden könnte. Dass bestimmte Nervenstämme mit den Centren der Gemeingefühle in besonders leicht zugänglicher Vater'suhe Korperchen und Tastkörperohcn. 135 Verbindung stehen, gilt übrigens auch beim Schmerze. So bringt z, B. schon äusserst geringe Reizung der Hornhautnerven Schmerz hervor und zwingt zu lieflexen. Bei der Entstehung des Schaudergefühles mit Neigung zu Eeflex durch Abkühlung einer Hautfläche ist vielleicht die Ausbreitung der Er- regung in der grauen Suijstanz trotz geringer Intensität Ijedingt durch das gleichzeitige Wirken zahlreicher sensibler Nerven, denn das Schauder- gefühl kommt immer nur durch Al)kühlen eines ziemlich ausgedehnten Hautstückes zu Stande, und zwar muss es, beiläufig gesagt, ein Stück der Rumpfhaut, nicht der Extremitätenhaut sein. Vollständig räthsel- haft scheint noch das Gemeingefühl des Kitzels. 1. Capitel, Tastsinn und Gemeingefühl, I. Allgemeines. Dem Tastsinn dienen erstens die sämmtlichen sensiblen Fasern der Rückenmarksnerven und zweitens die sensiblen Fasern des ii. trigeminus- ob man gewisse Fasern des n. glossopharyngeus und gewisse Fasern des n. vagus, namentlich dessen ramus auricularis und laryngeus superior zu den eigentlichen Tastnerven zu zählen hat, ist nicht entschieden. Die Endigungsweise dieser sämmtlichen Nervenfasern in der Haut und in oberflächlichen Schleimhautpartien ist nicht gleichartig. Mau kann vier Arten ihrer Endigung unterscheiden. Erstens endet eine verhältniss- mässig wohl nicht sehr grosse Anzahl sensibler Nervenfasern in den so- genannten Vater 'sehen Körperchen, die sich zerstreut im ünterhautzell- gewebe und noch tiefer im Innern des Körpers finden. Das Vater'sche Körperchen besteht aus einem kleinen Säckchen, in welches der Axen- cylinder der betreffenden Nervenfaser eintritt, nachdem sie kurz vorher ihre Markscheide verloren hat. Der Axencylinder scheint in dem Säck- chen blind, öfters mit einer knopfförmigen Anschwellung zu endigen. Der übrige Inhalt des Säckchens scheint flüssig zu sein und dasselbe unter einigem Drucke auszufüllen. Um das Säckchen legen sich zwiebelschalen- artig noch zahlreiche Hüllen. Das ganze Gebilde wird dadurch so gross, dass es meist noch mit blossem Auge gut sichtbar ist. Eine zweite Art von Endapparaten besteht aus ähnlichen prall gefüllten Säckchen ohne weitere Hüllen, welche unmittelbar unter dem Epithel liegen. In der eigentlichen Haut liegen sie an den Spitzen von Cutispapillen. Sie finden sich aber auch unter dem Epithel sensibler Schleimhauiflächen. Auch in diese Säckchen tritt der nackte Axencylinder ein und endet blind öfters in mehrere Zweige gespalten oder nach einigen Spiralwindungen an der X36 Druck- und Temperaturgefülile. Wand herum. Diese subepithelialen Endapparate nennt man Tastkör- perchen und Endkolben. Drittens enthält jede Haarwurzel ein sensibles Nervenende, sein Bau ist indessen noch nicht ganz aufgeklärt. Viertens endlich steigen sensible Nervenelemente zwischen den Zellen der Epi- dermis und des Epithels der sensiblen Schleimhautpartien gegen die freie Oberfläche auf und scheinen sie an manchen Stellen, z. B, in der Cornea, wirklich zu erreichen. In welcher Weise diese Elemente endigen, ist nicht bekannt. Jede sensible Hautnervenfaser zerfällt, ehe sie in einer der beschrie- benen Arten endigt, in mehrere Aeste, so dass jeder Primitivfaser mehrere Endapparate zukommen, die über ein mehr oder weniger grosses Haut- stück vertheilt sind. Die Aeste verschiedener Fasern durchflechten sich dabei derart, dass, wenn man ein Hautstück abgrenzt, welches alle Enden einer Faser enthält, darin regelmässig auch noch Enden anderer Fasern zu treffen sind. Den adäquaten Reiz des Tastsinnes bilden bekanntlich einerseits Temperaturänderungen, andererseits Druck (resp. Zug). Dass diese beiden Agentien die beschriebenen Nervenenden erreichen können, ist ohne Weiteres begreiflich, jedoch werden zu einer Einwirkung auf die tiefer in der Cutis und im Unterhautbindegewebe gelegenen Nervenenden nur stärkere Druckgrade im Stande sein. Auch werden diese Nervenenden nur in Aus- nahmefällen Temperaturänderungen ausgesetzt sein. Je nachdem die Haut durch Druck oder durch Temperaturänderung gereizt wurde, hat die Empfindung einen anscheinend wesentlich ver- schiedenen Charakter. Wir haben in einem Falle ein Druck- oder Be- rührungsgefühl, im anderen ein Wärme- oder Kältegefühl. Doch ist diese Verschiedenheit sicher nicht bedingt durch verschiedene specifische Ener- gien verschiedener Nervenfasern. Er ist vielmehr in folgender Weise zu erklären. Wenn wir auf irgendwelche Art eine nervenreiche Hautpartie reizen, so werden stets zahlreiche Nervenfasern erregt. Das entstehende Gefühl ist also ein Complex von vielen Empfindungselementen, die im Allgemeinen verschiedene Grade der Stärke besitzen werden. Es ist nun wohl denkbar, dass vermöge der anatomischen Anordnung der Nerven- enden der Charakter der Gruppirung dieser verschieden starken Empfin- dungselemente verschieden ausfallen muss, je nachdem der Reiz durch Druck, durch Wärme oder durch Kälte ausgeübt wurde. Durch die über- aus häufige Wiederholung kann dieser verschiedene Charakter der Gruppi- rung den Anschein einer qualitativen Verschiedenheit des Empfindens ge- winnen. Wenn diese Erklärung auch nicht im Einzelnen durchgeführt werden kann, so wird sie doch fast gewiss durch folgende einfache That- sache. Wenn man an einer nervenarmen Hautgegend, z. B. am Rücken, Drucksinn. 137 einen Eeiz auf eine sehr kleine Stelle beschränkt, so kann man nicht unterscheiden, ob der Eeiz durch leise Berührung oder durch Wärme- einstrahlung ausgeübt wurde. Bei der Nerveuarmuth der Gegend werden nämlich hier dem Bewusstsein nur wenige Empfindungselemente geliefert, die keine Gruppe von bestimmtem Charakter bilden können. Auf Narben fehlen die Temperaturgefühle und die durch ganz leise Berührung bedingten Empfindungen, während stärkere Druckgrade ebenso wie anderwärts empfunden werden. Der Grund ist wohl darin zu suchen, dass die Temperaturschwankungen und schwächsten Druckgrade nur die intraepithelialeu und subepithelialen Nervenenden reizen können, welche im Narbeugewebe fehlen. Höhere Druckgrade dagegen können tiefer ge- legene Nervenenden reizen, die auch unter einer Narbe noch vorhanden sein werden. In dem unter dem Namen der Analgesie bekannten Krank- heitszustande, wo kein Schmerz empfunden wird, soll regelmässig die Wärme- und Kälteempfiudung fehlen. II. Drucksiuu. Von den Fragen in Betreff der Reizung der Haut durch Druck ins- besondere drängt sich zunächst die auf: welches der kleinste Druckwerth sei, der genügt, um eine merkliche Reizung hervorzubringen. Hierüber angestellte Versuche haben erge])en (was zum voraus zu erwarten war), dass an Hautstellen mit dicker Epidermis mehr Druck erforderlich ist, um eine Empfindung zu veranlassen, als an Stellen mit dünner Oberhaut. Au manchen Stellen der letzten Art, z. B. an der Stirn, genügt der geringe Druck von 2'"«'' auf eine Grundfläche von 9n™™ zur Erregung einer deut- lichen Empfindung. Um einzusehen, wie erstaunlich dieses Ergebniss ist, muss man bedenken, dass doch nicht die blosse Gegenwart, sondern die mechanische Arljeit des Gewichtes die Erregungsursache sein kann. Das heisst, das drückende Gewicht kann nur wirken sofern es einsinkt — einen Eindruck macht. Wie gering aber wird die Compression der Haut bei einer Last von 2'"s'" auf On™"' Grundfläche sein? An der Volarseite der Finger, mit bedeutend dickerer Epidermis- schicht, müssen 15 und mehr Milligramm auf On™"" Grundfläche aufge- legt werden, auf die Nägel an Händen und Füssen gar ein ganzes Gramm, um eine deutliche Empfindung zu veranlassen. Sehr bedeutend wird der Drucksinn verfeinert durch die kurzen Härchen, welche sich auf dem grössten Theile der Haut finden, offenbar weil sie den ganzen Druck eines kleinen Gewichtes auf einen Punkt concentriren. Am rasirten Daumen- rücken brachten z. B. in einem Falle erst 35"'s^" auf OD'""" Grundfläche drückend eine Empfindung hervor, während auf dersel])en Stelle unrasirt schon 2™«' empfunden werden. 138 Vergleiclmng verschiedener Druckwerthe. Manche Beobaclitiiugen des täglichen Lehens sprechen dafür, dass die Ümckempfindung nur da stattfindet, wo gedrückte und nicht gedrückte Stellen der Haut aneinander grenzen. Man tauche z. B. einen Finger in Quecksilber von solcher Temperatur, dass es sich weder warm noch kalt anfühlt, dann hat man an den tief eingetauchten Stellen, wo sicher mehr als 5si' auf OD"'™ Grundfläche drücken, keine Empfindung, sondern nur an dem ringförmigen Hautstück, welches in der freien Oberfläche liegt. Jeden Augenblick kann mau folgenden Versuch anstellen : Man stecke einen Finger in den Mund, schliesse die Lippen luftdicht um denselben und erhöhe den Luftdruck in der Mundhöhle; man wird dabei keine Empfindung haben, die der bei Druck eines festen Körpers irgendwie zu vergleichen wäre. Sehr gering muss offenbar die Trägheit der dem Drucksinne dienen- den Nervenapparate sein, denn man kann gegen 640 Stösse in einer Se- cunde gesondert empfinden, die von den Zähnen eines rasch gedrehten Zahnrades gegen einen Finger ausgeübt werden. Erst wenn die Zahl der Stösse noch grösser ist, verschwimmen die Eindrücke in einander, so dass der Band des Bades glatt erscheint. Damit zwischen zwei nacheinander auf die Haut gesetzten Gewichten ein Unterschied bemerkbar sei, ist nicht etwa stets dieselbe Differenz der Gewichte erforderlieh. Vielmehr unterscheidet man kleine Gewichte schon bei einer kleineren Differenz als grosse. Genaue Beobachtungen haben ergeben, dass die Differenz immer ungefähr denselben Bruchtheil des einen Gewichtes ausmachen muss, um einen merklichen Unterschied der Druckempfiudungen zu bedingen. Dieser Satz ist unter dem Namen des Weber'schen Gesetzes bekannt. Man kann diesen Satz auch so aus- sprechen : Wenn zwei Druckgrössen durch den Tastsinn unterschieden werden sollen, so muss nicht ihre Differenz immer denselben Werth haben, sondern ihr Verhältniss, und zwar giebt man als durchschnittlichen Werth dieses Verhältnisses an: 29 : 30, d. h. ein normalsinniger Mensch kann bei gehöriger Aufmerksamkeit unterscheiden 29 von 30 Gramm oder 58 von 60 Gramm u. s. w. Wenn man Gewichte vergleicht, indem man sie nicht auf ein unter- stütztes, sondern auf ein frei schwebendes Glied drücken lässt, so dass ihrer Schwere durch Muskelspannung Gleichgewicht gehalten wird, dass man die Last mit den Muskeln sozusagen wägt, dann ist das Unterschei- dungsvermögen für grosse Gewichte bedeutend feiner. Für kleine Gewichte ist dagegen das Unterscheidungsvermögen scheinbar weniger fein als bei Auflegen auf eine unterstützte Hautfläche, was leicht begreiflich ist, wenn man bedenkt, dass man beim Aequilibriren Muskelgcfühl. 139 mit den Muskeln einen Tlieil dos Gewichtes vom Gliode selbst gleichsam mitträgt. Zur Erläuterung mögen die Erfahrungen einer bestimmten Ver- suchsreihe hier Platz finden, bei der die zu beurtheilenden Gewichte in ein Tuch gelegt werden, dessen Zipfel in der geschlossenen Hand gehalten wurden, so dass der Druck auf die Haut gar nicht als Maassstab der Be- urtheilung mit benutzt werden konnte. Die erste Spalte der Tabelle giebt das Hauptgewicht, die zweite die Zulage, welche dazu gemacht werden musste, um einen Unterschied merklich zu machen. Die dritte Spalte giebt das Verhältniss des Zusatzgewiehtes zum Hauptgewichte. Der Nenner dieses Bruches ist als Maass für die Feinheit der Unterscheidung zu betrachten. Hauptgewicht Eben merklicher Zusatz Verhältniss 250 12 1 : 21 500 13 1 : 38 750 13 1 : 58 1000 15 1 : 67 1250 16 1 : 78 1500 17 1 : 88 1750 19 1 : 92 2000 20 1 : 100 2250 22 1 : 102 2500 ...... 22 1 : 114 2750 28 1 : 98 Es ist klar, dass bei dieser Art, Gewichte zu unterscheiden, das Tastgefühl der Haut gar keine Kolle spielt, da die Gewichte gar nicht auf die Haut drücken. Man hat vielmehr hier ein Bewusstsein von dem Spannungsgrade der Muskeln, welche dem Gewichte Gleichgewicht halten, und es ist vielfach die Frage discutirt, ob dieses Bewusstsein ein un- mittelbares ist von der (Jrösse des zu den Muskeln ausgesendeten Bewe- gungsimpulses, oder ob es vermittelt wird durch sensible Nerven, welche in den Muskeln und ihren Umhüllungen peripherisch enden. Diese Enden müssten durch die Spannung selbst gereizt werden, und zwar um so stärker, je höher der Spannungsgrad wäre. Die Muskeln haben zwar sen- sible Nerven, aber es spricht nichts dafür, dass sie durch unbedeutende Spannungen schon merklich erregt würden. Es ist daher kaum zu be- zweifeln, dass die Beurtlieilung der Muskelspannung auf dem unmittel- )>aren Bewusstsein von der Intensität des ausgesandten Bewegungsim- pulses beruht. IIL Temperatursinn. Temperaturgefühle werden nicht etwa veranlasst durch die Bewegung, welche wir Wärme nennen, als solche, sondern nur durch Aenderung der ]^40 Verscliieclene Ursaclien der Teraperaturgefühle. Hauttemperatiir, und zwar entsteht das Wärmegefühl beim Steigen, das Kältegefühl beim Sinken der Hauttemperatur. Man kann daher bei hoher und niedriger Hauttemperatur sowohl Wärme- als Kältegefühle haben, und sie können ebenso bei jeder Hauttemperatur fehlen. Die unbehag- lichen Gemeingefühle des Frierens und Erhitztseins kommen vielleicht bei CO US taut er sehr tiefer und sehr hoher Hauttemperatur zu Stande und sind wahrscheinlich physiologisch anders bedingt als die eigentlichen Wärme- und Kälteempfindungen, von denen sie sich, auch subjectiv wesentlich unterscheiden. In der Kegel geht ein stationärer Wärmestrom von innen nach aussen durch unsere Hautoberfläche, was eine constante Temperatur der- selben und folglich Abwesenheit aller Temperaturgefühle bedingt. Steige- rung der Hauttemperatur und damit Wärmegefühl kann an einer bestimm- ten Hautstelle verursacht werden entweder dadurch, dass der Wärmezufluss von innen vermehrt, oder dadurch, dass der Wärmeabfluss nach aussen behindert wird. Das Erstere findet namentlich bei Steigerung des Blut- zuflusses zu einer Hautstelle statt. Daher istErröthen eines Körpertheiles, z. B. des Gesichtes — wie Jedermann weiss — mit einem Wärmegefühl verknüpft. Hemmung des Wärmeabflusses kann verursacht werden durch Steigerung der Temperatur des umgebenden Mediums, durch Berührung der Hautstelle mit anderen Medien von kleinerer W^ärmecapacität oder ge- ringerer Leitungsfähigkeit oder durch Aufhören sonstiger Wärmeabfluss- bedingungen, wie z. B. der Bewegung des umgebenden Mediums. Ebenso kann Abkühlung der Haut bedingt sein einerseits durch Minderung des Wärmezuflusses von innen, daher das Erbleichen einer Hautstelle regelmässig mit Kältegefühl verbunden ist, andererseits durch Begünstigung des Wärmeabflusses, die durch entgegengesetzte Einflüsse geschieht, wie die Behinderung. Die bei Weitem häufigste unter den so- eben aufgezählten Ursachen eines Wärme- oder Kältegefühles ist Be- rührung mit einem Körper, der vermöge seiner physikalischen Beschaffen- heit entweder den Wärmeabfluss hemmt oder ihn begünstigt. Natürlich wird das Wärme- oder Kältegefühl um so intensiver sein, je mehr der Wärmeabfluss behindert oder gefördert wird und je rascher daher die Temperatur der Haut steigt oder sinkt. Da nun ceteris parihus hierfür die Temperatur des berührenden Körpers massgebend ist, so haben wir im Tastsinne gewissermassen ein Thermometer, mittels dessen wir be- urtheilen können, welcher von zwei Körpern, die wir nach einander be- rühren, wärmer, welcher kälter ist. Zwar ist dies ürtheil bekanntlieh häufig falsch, weil eben ausser der Temperatur auch noch andere Um- stände in die Wärmeableitung eingreifen. So halten wir z. B. ein kaltes Metallstück für kälter als ein gleich kaltes Holzstück, weil die Berührung Uutcrsclieiduug der Tomperatureu. 141 mit erstei-em wegen der besseren Leitnng desselben den Wärmeabfluss bedentend mehr fördert als die Berührung mit letzterem. Wenn aber die beiden berührenden Körper gleichartig sind und sich eben nur durch ihre Temperatur unterscheiden, dann ist das Urtheil nach dem Gefühl im All- gemeinen richtig. Wenn wir z. B. denselben Finger nacheinander in Wasser von verschiedener Temperatur eintauchen, so können wir durch den Tastsinn richtig unterscheiden, welches Wasser wärmer, welches kälter ist, und zwar ist dieses Unterscheidungsvermögen ein ausser- ordentlich feines: wenn es sich um Temperaturen zwischen 12,5 und 25^' handelt, da braucht der Temperaturunterschied nur wenige Hundertel Grade zu betragen, um merkbar zu sein. Geht man zu höheren Tempera- turen, so nimmt die Feinheit der Unterscheidung rasch ab, noch rascher, wenn man zu niedrigeren Temperaturen unter 12,5 o herabgeht. Auf die Intensität der Temperaturgefühle scheint auch die Grösse der gereizten Hautfläche von Einfluss zu sein ; so kam einem Beobachter 36,90 warmes Wasser, in welches er eine ganze Hand eintauchte, wärmer vor als 40 ö warmes, in welches er nur einen Finger tauchte. Die grösste Empfindlichkeit für Temperaturreize hat Wange, Augen- lid, äusserer Gehörgang und besonders die Zungenspitze; geringe Em- pfindlichkeit zeigt die Nasenschleimhaut. IV. Ortssinn. Die Empfindung, welche der Erregung einer sensiblen Hautnerveu- faser entspricht, ist im Allgemeinen verknüpft mit der Vorstellung eines bestimmten Ortes, au welchen der Verstand die Ursache dieser Empfin- dung versetzt. Da die Empfindung zu Stande kommt am centralen Ende der Nervenfaser und da der Vorgang an diesem centralen Ende offenbar wesentlich immer derselbe ist, die Erregung der Nervenfaser mag stattge- funden haben, wo sie wolle — irgendwo in ihrem Verlauf oder am peripherischen Ende — so muss die Vorstellung des Ortes dieselbe sein, wo auch immer der Keiz die Nervenfaser getroffen hat. Da nun im Verlaufe des normalen Lebens weitaus am häufigsten die peripherischen Enden der sensiblen Fasern die Angriffspunkte der Keize sind, so ver- legen wir dahin auch stets die Ursache der Emplindungen. Darauf be- ruhen die bekannten Täuschungen. So z. B. wenn durch einen Stoss am Ellbogen die Fasern des n. ulnarU gereizt werden, glau])en wir Nadel- stiche in der Kleinfingergegend zu fühlen, wo diese Fasern ihr peri- pherisches Ende finden. Auf eine philosophische Deduction der Bauin- anschauung selljst, die von diesen Thatsachen allerdings ausgehen muss, kann hier nicht eingetreten werden. 142 Methoden der Prüfung des Ortssinnes. Es ist von vornherein klar, dass die Vorstellung des Ortes bei Eeiziing von nervenreichen Hautstellen schärfer bestimmt sein kann als bei Keizung von nervenarmen. In der That, wenn ich in einer nerven- reichen Hautgegend zwei Punkte nacheinander reize, so werde ich zwei ver- schiedene Nervenfasern erregen, während bei Keizung ebensoweit von ein- ander abstehender Punkte einer nervenarmen Hautgegeud vielleicht immer noch dieselbe Nervenfaser erregt wird. Im ersten Falle hat also das Bewusst- sein die Möglichkeit der Unterscheidung, im zweiten vielleicht nicht. Der Versuch bestätigt dies. So z. B. konnte bei successiver Be- rührung zweier 4,3™™ von einander entfernter Punkte des Handrückens schon die Verschiedenheit des Ortes wahrgenommen werden, während an dem nervenärmeren Rücken des Oberarmes hierzu eine Entfernung von 10,8™" zwischen den successiv berührten Punkten erforderlich war. Eine andere Verfahrungsweise zur Prüfung der Feinheit des Orts- sinnes besteht darin, dass man zwei Punkte der Haut einer Person gleichzeitig berührt und durch wiederholte Versuche ermittelt, wie weit sie von einander abstehen müssen, um als zwei räumlich getrennte wahrgenommen zu werden. Man kommt hierbei auf viel grössere Distanzen als bei der vorigen Versuchsweise. Bei derselben Person, von welcher die vorhin aufgeführten Zahlen gelten, mussten gleichzeitig aufgesetzte Zirkelspitzen am Handrücken 20,7™™, am Rücken des Oberarms 39,7™™ auseinanderstehen, um als deutlich getrennt wahrgenommen zu werden. Dies ist leicht zu begreifen, wenn man das weiter oben beschriebene anatomische Verhalten der Gefühlsnervenenden bedenkt. Jede Nerven- faser versieht einen ganzen Bezirk der Haut mit empfindlichen Punkten, ein solcher heisse ein Empfindungskreis. Bei gleichzeitigem Auf- setzen zweier Zirkelspitzen ist nun klar, dass nur wenn mindestens ein solcher dazwischen Platz hat, wenn also in der Reihe der Nerven- fasern mindestens eine ganz unerregt bleibt, das Bewusstsein Veran- lassung hat, die Empfindungen als zwei getrennte^ nicht in stetigem Zusammenhang befindliche aufzufassen. Es folgt aber hieraus nicht noth- wendig, dass zwei successive Reize an verschiedenen Stellen desselben Empfindungskreises die Vorstellung genau derselben Oertlichkeit hervor- rufen. In der That, wegen der Verflechtung der Endzweige der Nerven- fasern greifen ihre Empfindungskreise ineinander und es liegen z. B. in dem zu einer Nervenfaser B gehörigen Empfindungskreise auch Enden, die zur links benachbarten Faser A, und solche, die zur rechts benach- barten Faser C gehören. Wenn also zuerst ein Punkt links im Empfin- dungskreise B gereizt wird, so werden die Fasern B und A erregt werden, wenn hernach ein mehr rechts gelegener Punkt gereizt wird, so werden die Fasern B und C erregt. Dadurch ist die Möglichkeit einer Unter- Feinheit des Ortssinnes an verschiedenen Hautstellen. 143 Scheidung gegeben. Werden aber die beiden Pnnkte gleichzeitig gereizt, so werden ^4^ ^uud C erregt, es ist mithin keine Lücke in derEeihe der erregten Nervenfasern und keine Veranlassung zur getrennten Wahrnehmung. Nachstehende Tabelle giebt die kleinste Entfernung zweier gleich- zeitig aufgesetzter Zirkelspitzen, wenn sie noch als getrennt wahrge- nommen werden sollen, für eine grosse Anzahl verschiedener Hautstellen, die erste Spalte bei einem Erwachseneu, die zweite Spalte bei einem Knaben von 12 Jahren. Knahe von Erwachsener 12 Jahren Zungenspitze 1,1'""^ 1,1"""^) Volarseite des letzten Fingergliedes .... 2,3 1,7 Rother Lippentheil 4,5 3,9 Volarseite des zweiten Fingergliedes .... 4,5 3,9 Dorsalseite des dritten Fingergliedes .... 6,8 4,5 Mittellinie des Zungenrückens 27'""i von der Spitze 9,0 6,8 Plantarseite des letzten Grosszehengliedes . . 11,3 6,8 Eücken des zweiten Fingergliedes 11,3 9,0 Unterer Theil der Stirn 22,6 18,0 Hinterer Theil der Ferse 22,6 20,3 Rücken der Hand . 31,6 22,6 Unterarm und Unterschenkel 40,6 36,1 Fussrücken in der Nähe der Zehen 40,6 36,1 Brustbein 45,1 33,8 Rückgrat, Nacken unter dem Hinterhaupt . . 54,1 36,1 Rückgrat, Mitte des Rückens 67,7 31,6—40,6 Mitte des Oberarmes und Oberschenkels . . . 67,7 31,6—40,6 Man hat endlich noch ganz directe Versuche angestellt über die Be- stimmtheit der Ortsvorstellung, welche sich mit einer Tastempfindung ver- knüpft. Eine Person wird irgendwo mit einem in Kohlenpulver getauchten Stäbchen berührt, so dass der berührte Punkt kenntlich bleibt; sie hat dann ohne Hilfe der Augen anzugeben, wo sie berührt wurde. Natürlich wird sie da- bei stets einen Fehler begehen. Bei häufiger Wiederholung stellt sich für jede Hautgegend ein bestimmterDurchschnittswerth dieses Fehlers heraus, und zwar ein um so grösserer, je nerveuärmer die Gegend der Haut ist. In nachstehender Tabelle ist eine Anzahl solcher Werthe des durchschnittlichen Fehlers verzeichnet. *j Es hat natürlich eigentlich keinen Sinn, bei den Werthon einer Grösse, welche gar nicht so genau gemessen wurden kann, Bruchtheile eines Millimeters anzugeben. Es rechtfertigt sich dies hier nur dadurch, dass die Originalangaben in Parisi-r Linien gemacht waren und auf Millimctfr umgerechnet sind. ]^44 Schmerz durch Wärme und Kälte. Mitte der Vorderseite des Oberschenkels 15,8«^ Mitte der Volarseite des Vorderarmes 8,6 Mitte des Handrückens 6,5 Mitte der Hohlhand 4,3 Volarseite der Fingerspitzen 1,1 Stirn 6,3 Kinn 5,4 Lippen 1,1 V. (xemeingefülil. Nachstehend sind noch einige das Gemeingefühl betreffende Sätze zusammengestellt, welche auf exacten Ermittelungen beruhen: Die Temperatur, his zu welcher die Haut erhitzt werden muss, damit Schmerz entstehe, beträgt etwa 48 " C. und ist somit dieselbe, welche die Nervensubstanz in ihren Functionen beeinträchtigt. Weniger bestimmt lässt sich die untere Temperaturgrenze ermitteln, bei der Schmerz auftritt, doch scheint eine Temperatur von etwa -{- 12 o C. hin- länglich niedrig zu sein, um bei langer Einwirkung auf grosse Haut- flä^hen Kälteschmerz zu erregen. Tauchen wir eine Hand in massig heisses Wasser von etwa 50 "^ C. ein, so ist im ersten Augenblick die Empfindung eine eigentliche Tem- peraturempfindung ohne Schmerz, aber sehr intensiv. Hierauf nimmt sie etwas ab, dann aber wieder zu, um sich bis zum Schmerze zu steigern. Bedeutenden Einfluss hat die Grösse der erwärmten Hautpartie, So kann mau in 48 *> warmes Wasser einen einzelnen Finger lange Zeit eingetaucht halten, ohne Schmerz zu empfinden. Taucht mau eine ganze Hand hinein, so hat man sehr bald unerträglichen Schmerz. Aehnlich geht es mit kaltem Wasser von etwa 4-9"- Bei geringen Graden des Schmerzes kann neben demselben noch die eigentliche Temperaturempfindung bestehen und es ist in solchen Fällen möglich, Schmerz durch Wärme von Schmerz durch Kälte zu unterscheiden. Man wird sich vorstellen. müssen, dass dabei andere centrale Nervenbahnen zur Vermittelung des Temperaturgefühles dienen als die schmerzhaft afficirten. Von manchen Autoren wird der Lehrsatz aufgestellt, dass Erregung irgend welcher sensiblen Nerven in ihrem Verlaufe stets nur Schmerz- empfindungen und niemals gleichgiltige Tastempfindungen zur Folge habe. Dieser Satz ist aber entschieden irrig, wie man sich durch elek- trische Erregung irgend eines oberflächlich gelegeneu gemischten Nerven- stammes, z. B. des n. ulnaris am Ellbogen, überzeugen kann. Wählt man den Reiz sehr schwach, so entsteht ein sicher nicht schmerzhaftes, Geschraacksnerven und ihre Reizbarkeit. 145 wenn auch eigentliümlich fremdartiges prickelndes Gefühl iu der Peri- pherie der Nerven. Das Fremdartige des Gefühles hat oifenLar seinen Grund darin, dass die Nervenelemente gewöhnlich in ganz anderer Gruppi- rungsweise zur Erregung kommen, nämlich in derjenigen, iu welcher ihre Enden in der Haut neheneinauder liegen. 2. Oapitel. Gescliiriacksinn. Mit der specifisehen Energie des Geschmackes sind begabt erstens Fasern des n. glossopharyngeus, deren peripherische Enden auf dem hinteren Dritttheil des Zungenrückens (in der Gegend der papiUae circumvallatae) auf den arcus (jlossopalatini und auf einem schmalen Streif des weichen Gaumens dicht hinter dem harten Gaumen liegen; zweitens Fasern der cJiorda tympani, welche dem n. Ungualis trigemini sich anschliessend zu Ende gehen iu einem schmalen Streif der Schleimhaut am Zuugenrande beiderseits bis zur Spitze. Diese Fasern gehören übrigens auch dem glosso- pharyngeus au. Sie nehmen, von der Peripherie zum Centrum verfolgt, folgenden Weg: chorda tympani, facialis ganglion geniculi ramus communi- cans facialis cum plexu tympanico, glossopliaryngetis. Einige andere Ge- schmacksnervenfasern des vorderen Zungentheiles scheinen noch einen andern Weg zum Hirn zu nehmen, nämhch durch lingualis, ganglion otiecunifpetrosus superficialis minor, Jacobsons Anastomose, glossopliaryngeus. Nur die bezeichneten Theile der Mundschleimhaut sind Sitz des Ge- schmacksinnes. Alle anderen sensiblen Nerven der Mundschleimhaut, namentlich der lingualis trigemini^ sind reine Tastnerven. Ueber die Endigungsweise der Geschmacksnerven ist noch nichts Sicheres bekannt, was zu physiologischen Erklärungszwecken brauchbar wäre; nur so viel lässt sich vermuthen, dass peripherische Endapparate (Geschmacksknospen etc.) bis an die Epitheloberfläche der Schleimhaut vortreten und hier den Reizen unmittelbar blossgestellt sind. Reizbar sind diese Endapparate nur durch Elektricität und durch chemische Einwirkung. Die elektrische Reizbarkeit ist vielleicht auch nur eine beschränkte, denn mau kann eigentlich nur den saureu Geschmack durch elektrische Reizung der Geschmacksnervenenden hervorbringen. Er zeigt sich jedesmal, wenn ein elektrischer Strom an einer der oben bezeich- neten Stellen der Mundsehleimhaut eintritt. Wenn die Austritts- stelle des elektrischen Stromes in den Bereich der schmeckenden Theile der Mundschleimhaut fällt, so hat man nur ein brennendes Gefühl, das offenbar nur von der Erregung der dort endenden Tastnerven herrührt. Fick, Physiologie 3. Aufl. 10 146 Qualitäten der Gescliraac'kserapfindnng:. lu ihrem Verlaufe sind ohne Zweifel die Geschmacksnervenfasern, wie andere sensible Nervenfasern, durch jeden Nervenreiz erregbar. Von der cliorda tympani ist dies durch zahlreiche Beobachtungen erwiesen, die häufig bei Gelegenheit therapeutischer Eingriffe in die Paukenhöhle gemacht werden. Mechanische oder elektrische Keizung der Chorda da- selbst ist stets von der Empfindung eines sauren Geschmackes an Eand und Spitze der Zunge begleitet. Der Stamm des Glossopharyngeus ist bei seiner tiefen Lage nicht leicht Eeizungen zugänglich. Den eigentlich adäquaten Reiz des Geschmacksinnes bildet die che- mische Einwirkung gewisser Stoffe, die in wässeriger Lösung mit den Nervenenden in Berührung kommen. Wie Jeder täglich erfährt, kommen je nach der Natur des wirkenden Körpers qualitativ verschiedene Empfin- dungen zu Staude, doch ist der Qualitätenkreis der eigentlichen Geschmacks- empfindungen nicht sehr reich. Er dürfte sich beschränken auf die vier Qualitäten, welche wir im gemeinen Leben mit den Worten süss, sauer, salzig und bitter bezeichnen. Alle anderen im gemeinen Leben oft als Geschmäcke bezeichneten Empfindungsqualitäten sind entweder Zu- sammensetzungen aus einigen der vier genannten, oder sie gehören gar nicht dem Gebiete des Geschmacksinnes an. Da es sich aber bei den vier genannten Grundqualitäten ganz offenbar um wirklich qualitative Unter- schiede handelt, so müssen wir nothwendig annehmen, dass sie auf ver- schiedene Nervenelemente vertheilt sind, denn die Empfindungen, welche der Erregung eines und des selben Nervenelementes entsprechen, können sich nur durch ihre Intensität, nicht durch ihre Qualität unterscheiden. Wir müssen also annehmen, dass es süss schmeckende Easern giebt, d. h. Nervenfasern, welche, wie auch immer erregt, stets mit der Empfindung süss reagiren, dass es ebenso sauer schmeckende, salzig schmeckende und endlich bitter schmeckende Fasern giebt. Um zu erklären, dass manche Körper süss, andere sauer, noch andere bitter schmecken, muss man dann weiter die an sich sehr wohl denkbare Annahme machen, dass die Endapparate der verschiedenen Fasergattungen eine verschiedene Beschaffenheit besitzen, so dass die einen vorzugsweise durch diese, die anderen vorzugsweise durch jene Gattung von Körpern erregt werden können. Die verschiedenen Fasergattungen der Geschmacksnerveu scheinen theilweise ganz gröblich von einander gesondert. Namentlich scheinen die Enden der bitter schmeckenden Fasern hauptsächlich auf dem hintern Theile der Zunge zu liegen, denn vorzugsweise dort rufen die geeigneten Körper den bittern Geschmack hervor. Gestützt wird diese Hypothese von den verschiedeneu Fasergattungen auch noch durch die Thatsache, dass manche Körper je nach Umständen verschiedene Geschmacksqualitäten Geschmaclc oines Körpers abhängig von seiner chemischpn Natur. 147 erregen. So z. B. zeigt Schwefelsäure in nicht allzuverdünnter Lösung an der Zungenspitze nelien dem sauren auch den süssen Geschmack, was sich im Sinne der Hypothese leicht so deutet, dass diese Säure l)ei einiger Concentration nehen den sauer schmeckenden Fasern auch noch die süss schmeckenden erregt. Wenn auch von einer theoretischen Einsicht, warum der eine Körper diese, der andere jene Geschmacksnerven vorzugsweise reizt, noch keine Rede sein kann, so sind doch einige Thatsachen sehr augenfällig, welche zu dieser Frage Bezug haben. Es giel)t nämlich gewisse chemisch zusammengehörige Gruppen von Körpern, welche auch vom Geschmack- sinn zusammengestellt werden. So z. B. gehören alle sauer schmeckenden Körper derjenigen Classe von Verljindungen an, welche die Chemie als Säurehydrate bezeichnet, d. h., welche ein oder mehrere Wasserstoflf- atome enthalten, die sich gern durch elektropositive Atome oder Atom- gruppen vertreten lassen. Sehr wahrscheinlich liegt gerade in dieser Eigen- schaft der Grund dafür, dass diese Körper die Enden der sauer schmeckenden Fasern erregen. Freilich sind nicht alle von der Chemie zu den Säure- hydraten gezählten Körper auch sauer schmeckende. Süss schmecken vorzugsweise die von der heutigen chemischen Nomenclatur als mehratomige Alkohole bezeichneten Körper, z. B. Glykol, Glycerin , Traulienzucker etc. Indessen giel)t es auch andere süss schmeckende Stofte, z. B. essigsaures Bleioxyd. Der salzige Geschmack kommt fast nur den leicht löslichen Neutral- salzen der Alkalien zu. Auffallend bitter schmecken neben manchen Ver- bindungen von unbekannter Constitution namentlich die sogenannten Alkaloide — Ammoniake, in denen die Wasserstoftatome durch mehr oder weniger complicirte Radicale vertreten sind. Sehr verschieden sind die kleinsten Mengen verschiedener schmeck- barer Stoffe, welche eben genügen, um die betreffenden Faserenden des Geschmacksnerven zu reizen. So z. B. schmeckt Rohrzucker schon gar nicht mehr in P/()igf^r Lösung, während Aloeextract in 900,000facher Verdünnung bei aufmerksamer Vorgleichung mit reinem Wasser ge- schmeckt werden kann und bei 12,500facher Verdünnung einen intensiv l)ittern Geschmack hat. Andere Körper stehen zwischen diesen Extremen, z. B. schmeckt Schwefelsäure bei 100,0()Üfacher Verdünnung noch e))en merklich saJier. Von Kochsalz bedarf es einer viel concentrirteren Lösung, mindestens 1 auf 42G Theile Wasser, und selbst davon müssen grössere Mengen in den Mnnd genommen werden, um elieu iiH'rkliehen salzigen Geschmack zu geben. Die Erregung der Geschmacksnerveii wird sehr Itegünstigt durch Reibung der Zunge am Gauujen. Wahrscheiiilicli läiilf dies darfiiifhinans, 1 0* 148 Verknüpfung des Geschraaclies mit andern Empfindungen. dass dadurch die schmeckbaren Stoffe mit den Nervenenden mehr in Be- rührung kommen. Yerhältnissmässig selten wird der Geschmacksinn allein erregt. Sehr viele Stoffe nämlich, welche die Geschmacksnervenenden reizen, erregen zugleich noch andere Sinnesnerven. Bekanntlich enden in der Mund- schleimhaut neben und zwischen den Geschmacksnerven zahlreiche Tast- nervenfasern, welche chemischen Keizen auch biossgestellt sind, und viele Stoffe erregen sie daher mit den Geschmacksnerven gleichzeitig. Im ge- meinen Leben bezeichnet man nun den ganzen Complex von Empfindungen, welcher durch die chemisch-mechanische Einwirkung eines Körpers auf die Zungenschleimliaut hervorgerufen wird, als „Geschmack" ; so spricht man z. B. von einem stechend sauren Geschmack bei der Einwirkung von stärkeren Säuren. In der Wissenschaft müssen wir hier trennen den sauren Geschmack von dem stechenden Gefühl, das durch die gleichzeitige Erregung der Tastnerven bedingt ist. Man bezeichnet sogar oft als Ge- schmack Empfindungen, die ganz reine Tastempfindungen sind, z. B. die brennende Empfindung, welche der Pfeffer oder das Capsicum hervorruft. Ebenso häufig verknüpfen sich Geruchsempfindungen mit dem Ge- schmacke und verschmelzen mit ihm zu einem Complex, welcher im Sprachgebrauche des gewöhnlichen Lebens ebenfalls als Geschmack be- zeichnet wird. So spricht man vom Geschmacke der Zwiebel, man kann sich aber leicht überzeugen, dass der Geschmack der Zwiebel einfach der süsse ist, wenn man Zwiebelsaft bei geschlossener Nase auf die Zunge bringt. Die bekannte ganz eigenthümliche, fälschlich als Geschmack der Zwiebel bezeichnete Empfindung taucht erst auf, wenn man die Nase öffnet und so den von der Zwiebel entwickelten Gasen Durchtritt ver- stattet. Ebenso ist es mit allen anderen sogenannten aromatischen Ge- schmäcken, sie sind lediglich Gerüche. 3. Capitel. Geruchsinn. Mit der specifischen Energie des Geruchs sind die nervi olfactorü, — d2is par jyrimum der Gehirnnerven — begabt. Ihre Fasern endigen in der sogenannten regio olfactoria der Nasenschleimhaut, nämlich auf der oberen Partie der Nasenscheidewand der oberen Muschel und den obersten Theilen der mittleren Muschel. Diese Gegend der Nasenschleimhaut trägt bekanntlich ein zartes, nicht flimmerndes Cylinderepithel. Zwischen seinen Cylindern sind die stäbchenartigen Enden der Eiechnervenfasern aufgestellt. Jedes solche Stäbchen trägt Anhängsel, die über die Epithel- oberfläche hervorragen. Bei manchen Thieren (z. B. beim Frosche) sind Zuführung der Keize zu den Riechneiveiienden. 149 diese Anhängsel lange haarförmige Gebilde. Mit. den Fasern des Olfacto- rius sind die stäbchenförmigen Gebilde durch Ganglienzellen verknüpft, die dicht unter dem Epithel liegen und Eiechzellen genannt werden. Der adäquate Reiz für den Geruchsuerven ist chemische Einwirkung luftförmiger Stoffe. Durch unzweideutige Versuche ist nachgewiesen, dass sonst riechbare Stoffe im flüssigen Aggregatzustande die Geruchs- nervenendeu nicht erregen. Ob eine Erregung dieser Nervenenden durch mechanischen, chemischen und elektrischen Reiz stattfinden könne, ist nicht ausgemacht. Zugeführt werden die reizenden Körper den Geruchsnerven haupt- sächlich durch den Einathmungsstrom. Der Ausathmungsstrom wird von der regio olfactoria abgelenkt durch den Keilbeinkörper, an dessen unterer Fläche er nach vorn aufsteigt und dessen vordere Fläche die re,gio olfactoria von hinten her verdeckt. In der That verursacht der Ausathmungsstrom selten merkliche Geruchsempfindungen, seilest wenn er mit riechbaren Stoften stark beladen ist. Vom Einathmungsluftstrom können übrigens in der Regel nur die- jenigen Theile in die regio olfactoria gelangen, welche ganz vorn durch die Nasenlöcher eingedrungen sind. Es zieht sich nämlich an der Seiten- wand der Nasenhöhle längs des Nasenrückens und dicht hinter demselben ein Wulst aufwärts, der dann umbiegend in die mittlere Muschel über- geht. Diese Einrichtung lenkt alle Luft, die nicht ganz vorn ins Nasen- loch eindringt, von der regio olfactoria ab in den mittleren und unteren Nasengang. Man kann sich leicht durch den Versuch überzeugen, dass wirklich nur die an der Spitze ins Nasenloch eintretenden Theile des Ein- athmungsstromes regelmässig Geruchsempfindungen veranlassen. Man bringe nämlich unter die Nasenlöcher einen riechenden Körper und ziehe die Luft ein, während man die vorderen Theile der Nasenlöcher mit den Fingerspitzen verlegt, so wird man wenig oder gar nichts vom Geruch wahrnehmen, der sofort stark hervortritt, sowie man die vorderen Theile der Nasenlöcher wieder offen lässt. Vermöge eines noch nicht näher erforschten Mechanismus muss durch den Schlingact bei offener Nase von den in der Mundrachenhöhle befindlichen Gasen ein Theil in die regio olfactoria gedrängt werden. Es ist nämlich eine bekannte Thatsache, dass wir die von den Nahrungs- mitteln ausgesandten riechbaren Ausdünstungen gerade beim Schlingen derselben am deutlichsten riechen. Hierauf beruht die schon oben (siehe S. 148) erwähnte Verknüpfung von Geschmacks- und Geruchsempfin- dungen. Sehr merkwürdig ist die Thatsache, dass Geruchsempfindung in einiger Intensität nur stattfindet, so lange die Luft in der Nasenhöhle 250 Qualität der Geruclisempfindungen. in Bewegung ist. Man kann sicli hiervon jeden Augenblick überzeugen, wenn man sich in einer mit stark riechenden Stoffen geschwängerten Atmosphäre befindet. Während der Einathmung ist die Geruchsempfin- dung lebhaft, mit dem Aufhören des Athemzuges ist sie meist wie ab- geschnitten. Von Ermüdung des Geruchsnervenapparates kann diese Er- scheinung nicht herrühren, denn mit Beginn eines neuen Athemzuges ist die Empfindung sofort in ihrer ursprünglichen Stärke wieder da. Da die Naseuschleimhaut ausser den .Geruchsnervenenden noch zahlreiche Gefühlsnervenenden besitzt, so sind die Geruchsempfinduugen — wie die Geschmacksempfindungen — sehr häufig mit Tastempfin- dungen verknüpft, nämlich allemal dann, wenn in der Athmungsluft Stoffe enthalten sind, welche sowohl die Gefühlsnervenenden als die Ge- ruchsnervenenden zu erregen vermögen. Dies gilt namentlich von Stoffen mit energischen Verwandtschaftskräften, wie z. B. von starken flüchtigen Säuren und Basen. Nur solche Stoffe nämlich wirken reizend auf die Ge- fühlsuervenendeu der. Nasenschleimhaut. Im gemeinen Leben pflegt man in solchen Fällen den ganzen Empfindungscomplex als „Geruch" zu be- zeichnen. Bei einiger Gewöhnung an Selbstbeobachtung gelingt es aber leicht, die „stechende"' oder „prickelnde" Gefühlsempfindung von der eigentlichen Geruchsempfindung zu trennen. Welche chemische Eigenschaften ein gasförmiger Körper besitzen müsse, um auf die Geruchsnervenenden als Reiz wirken zu können, ist völlig unbekannt. Viele riechbare Gase sollen sich durch ein bedeutendes Wärmealjsorptionsvermögen auszeichnen. Verschiedene riechbare Stoffe bringen bekanntlich qualitativ ver- schiedene Empfindungen hervor; man denke z. B. an den Geruch des Moschus, des Alkohols, des Schwefelwasserstoffes etc. An solchen unter- einander unvergleichbaren Qualitäten ist der Geruchsinu ausserordent- lich viel reicher als der Geschmacksinn. Eine psychologisch merkwürdige Eigenschaft des Geruchsinnes besteht darin, dass kaum jemals eine Em- pfindung im Bereiche dieses Sinnes dem Individuum ganz gieichgiltig ist, vielmehr sind die Geruchsempfinduugen stets entweder mit Wohlge- fallen oder mit Widerwillen verknüpft. In vielleicht nicht ganz so hohem Grade kommt bekanntlich auch dem Geschmacksinue diese Eigenheit zu, während auf dem Gebiete der anderen Sinne unzählige Empfindungen den Willen nicht afficiren. Die Intensität einer Geruchsempfinduug hängt ceteris paribus davon ab, welche Menge des riechbaren Stoffes in der Zeiteinheit mit der regio olfactoria der Nasenschleimhaut in Berührung kommt. Die kleinste Menge, welche genügt, eine merkliche Empfindung zu erregen, ist für verschie- dene riechbare Körper sehr verschieden und für viele ganz erstaunlich Der adäquate Reiz des Gehörsinnes. lOl gering. Der merkwürdigste Körper in dieser Beziehung ist der Moschus. Es ist durch Versuche erwiesen, dass weniger als '/^oo ,„ eines Milli- gramms jedesfalls ausreicht, um die (leruchsnervenenden zu erregen. Vom Brom ist Vtio»'"^'' hinreichend, um (ieruchsemplindung zu erregen, und eine Luftmasse, die '^oodoo üiies Volumens Bromdampf enthält, riecht noch deutlich, dagegen riecht eine Luftmasse, die nur V25(ioo(io Bromdampf enthält, nicht mehr. Ammoniak ist schon in 33000facher Verdünnung nicht mehr zu riechen. 4. Capitel, Gehörsinn, Mit der specifischen Energie der Schallemptindung ist das par VIII der Hirnnerven (n. acusticus) begabt. Dieser Nerv findet, wie die Ana- tomie lehrt, nach kurzem Verlaufe sein Ende in einigen Hohlräumen des Felsenbeines, dem sogenannten Labyrinth des Ohres. Hier sind die Enden der Nervenfasern mit sehr merkwürdigen Bildungen verknüpft, die weiter unten beschrieljeu werden sollen, wo von ihrer muthmasslichen physio- logischen Jjedeutung die Bede sein wird. Die Hohlräume des Labyrinthes sind mit Flüssigkeit erfüllt, in welche die Nervenenden mit jenem Au- hangsgebilde eingetaucht sind. Den adäquaten Beiz für die Gehörnervenenden bilden schwingende Bewegungen der Anhangsgebilde, in welche dieselben regelmässig durch äussere Anstösse versetzt werden. In weniger häufigen Fällen können sich solche Anstösse direct von schwingenden festen Körpern auf die Kopfknocheu fortpflanzen, wie z. B. wenn man eine tönende Stimmgabel an die Zähne oder auf den Schädel drückt. Dass sich in solchen Fällen die Schwingungen genau in ihrem ursprünglichen Rhythmus den frag- lichen Anhangsgebilden des Gehörnerven mittheileu, ist ohne Weiters selbstverständlich, da jene Anhangsgeliilde an den Schädelknocheu be- festigt sind. In weitaus den meisten und für den Gel)rauch dos Gehör- sinnes wichtigsten Fällen handelt es sich aber darum, die Anhangsge- bilde des Gehörnerven durch Luftschwingungen in Bewegung zu setzen. Diese pflanzen si(;h ja natürlich auch durch Haut und Knochen des Kopfes zu jenen Anhangsgebilden des Hörnerven fort, aber in der zum Hören er- forderlichen Stärke nur dann, wenn die Schwingungen selbst sehr stark sind. Sollen dagegfm sehr schwache Lnftschwingungen noch mit Sicher- heit auf die Hörnervenenden wirken, so reicht die Fortpflanzung durch den Kopf nicht aus und es bedarf daher besonderer Uebertragungs- apparate. Die Untersuchung ihrer Wirkungsweise ist die erste Aufgabe der Physiologie des Gehörsinnes. J52 Paukenfell. PiuiVenhöhle. Tuba Eustachii. Vom Grunde der Ohrmuschel geht ein aus der täglichen Anschauung allgemein bekannter, einige Centimeter langer Kanal einwärts — der so- genannte meatus auditorius externus. In der Tiefe ist er geschlossen durch eine Membran —7 das sogenannte Paukenfell — welches den Ge- hörgang trennt von einem andern, mit Luft gefüllten Hohlraum, welcher im Innern des Felsenbeines eingeschlossen ist. Dieser als „Paukenhöhle" bezeichnete Kaum steht durch einen engen Kanal — die tuha Eustachii — mit dem Eachenraum in Verbindung. Daher kann sich die Spannung der Luft in der Paukenhöhle stets ausgleichen mit der Spännung der äusseren Atmosphäre, Bekanntlich gerathen Membranen sehr leicht selbst in Schwin- gungen, wenn die Luft schwingt, in welcher sie ausgespannt sind. In der That muss ja die Membran jedesmal eingedrückt werden, wenn die an- grenzende Luftschicht in Folge ihres Schwingungszustandes dichter wird, und sie muss herausgewölbt werden, wenn die Luftschicht dünner wird. Es ist also ersichtlich, dass auch das Paukenfell in Schwingungen gerathen muss, wenn wellenartig sich verbreitende Luftoscillationen, so- genannte „Schallschwingungen", sich zum Ohre fortpflanzen. Die Schwin- gungen des Paukeufelles müssen um so energischer sein, als sich der äussere Gehörgang in der Ohrmuschel ein wenig trichterförmig erweitert und mithin mehr Schallstrahlen auf das Paukenfell concentrirt werden, als auf dasselbe fallen würden, wenn es ihnen unmittelbar ausgesetzt wäre. Die mechanische Betrachtung in üebereinstimmung mit dem Ver- suche zeigt, dass im Allgemeinen eine Membran ceteris paribus um so weniger stark in Mitschwingungen geräth, je stärker sie gespannt ist. Wenn daher das Paukenfell allzustark gespannt ist, so wird die Ueber- tragung der Luftschwinguugen auf dasselbe und somit das feine Hören, dessen unerlässliche Bedingung diese Uebertragung ist, beeinträchtigt. Eine solche allzu starke Spannung des Paukenfelles tritt oft auf folgende Art ein. Wenn durch Schleimhautwulstung die tuha Eustachii verstopft ist, so ist die Communication der Luft in der Paukenhöhle mit der äusseren Luft abgeschnitten. Die Paukenhöhlenluft wird von den Blutgefässen theilweise absorbirt, der Druck in der Paukenhöhle sinkt und das Pauken- fell wird einwärts gedrückt und damit stärker gespannt. Dies ist die Er- klärung der so häufigen Harthörigkeit bei Katarrhen der Piachenhöhlen- schleimhaut. Den geschilderten Zustand kann man auch willkürlieh her- vorrufen, wenn man bei gesperrten Nasenlöchern eine Schlingbewegung ausführt. Dabei wird nämlich die Luft in der Eachenhöhle verdünnt und mithin die Paukenhöhle gleichsam ausgepumpt. Tritt nun nach Beendi- gung der Schlingbewegung in der Eachenhöhle wieder der atmosphärische Druck ein, so wird die spaltförmige Eachenmündung der tuba Eustachii Paukenfell. Gehörknöchelchen. 153 gleichsam veiitilaitig geschlossen und es erhält sich so die Luftverdiin- nung in der Paukenhöhle und eine dadurch Ijedingte deutliche Schwer- hörigkeit. In der Eegel weicht diese dem normalen Zustande, sowie man abermals, und nun Lei otfenen Nasenlöchern, eine Schlingbewegung a*us- führt. Der Mechanismus dieser Bewegung führt nämlich vermöge der ßefestiguugsweise der Ganmenmusknlatur eine Eröffnung der Rachen- müudung der tuba Eustacldi herbei. Das Paukenfell ist übrigens nicht eine einfach in einer Ebene aus- gesi)annte Membran, vielmehr ist, wie aus der Anatomie bekannt, das Paukenfell gegen die Paukenhöhle trichterförmig eingezogen. Diese Form hat eine grosse Wichtigkeit für die Function. Es lässt sich nämlich theoretisch sowohl als experimentell zeigen, dass eine so gestaltete Mem- bran Schwingungen von jedem beliebigen Tempo und Rhythmus gleich gut annimmt, während eine ebene Memljran diejenigen Schwingungen besonders begünstigt, deren Tempo mit dem Tempo ihrer Eigenschwin- gungen übereinstimmt. Ferner hat die trichterförmige Gestalt zur Folge, dass ihre Spitze zwar kleinere Excursionen als unter sonst gleichen Um- ständen die Mitte einer ebenen Membran macht, dass aber diese kleineren Excursionen mit grösserer Kraft ausgeführt werden. In der Paukenhöhle liegt das System der drei Gehörknöchelchen, Hammer, Ambos, Steigbügel, so geordnet, wie in der Fig. 15 ange- deutet ist, welche einen der Antlitz- fläche parallelen Schnitt durch das Gehörorgan sche- matisch darstellt. Hammer und Am- bos bilden vermöge ihrer Befestigung an der Wand der Paukenhöhle an- näherndein System, Üer Antlitzfiächc paralleler schematischer üurchhchnitt durch das Gehör- organ. — Lufträume: weiss gelassen. — WassergcfüUtc Käume: wagrecht welches drehljar ist schrafßrt. — Knochenschnitt gefleckt. — o. s. Bogengang. — !•. Vorhof. — f. o. Ovales Fenster. — /. r. Rundes Fenster, —sc. r. Vorhofstreppe. um eine Axe, die — ■•«c. ^ Paukentreppc der Schnecke. — l. «p. Spiralblatt. — n. a. Öe- hörnerv. — xt. Steigbügel. — i. Ainbos. — c. m. Haninierkopf. — m. m. Ziemlich wagrecht Hammerstiel. — a. Axe des Hammers. - I. e. Kustachische Röhre. - m. t. Paukenfell. — m. a. e. Aeusseror (iehörgang. von vorn nach hin- ten tangential am oberen Rande des Paukenfelles hinläuft. Diese Drehungs- axe schneidet daher die El)ene der Zeichnung senkrecht im Punkte a. Ganz absolut fest ist zwar der Ambos nicht mit dem 1 lammer vcrliiindeu, sondern durch ein Gelenk, aber bei den Drehbewegungen um die ebengeuannte Axe X54 Meclianismus des Paukenapparates. wird wahrscheinlich die Beweglichkeit des Gelenkes nicht sehr in Anspruch genommen. Vollkommen ist der Mechanismus des Gelenkes noch nicht auf- geklärt. So viel ist indessen sicher, wenn die Spitze des Hammerstieles in der* durch den Pfeil bei m m (Fig. 15) angedeuteten Bahn hin- und her- geht, so muss, vermöge der Verbindung zwischen Hammer und Ambos, die Spitze des langen Ambosfortsatzes eine ähnliche Bewegung ausführen in einer Bahn, die ebenfalls durch einen in den Steigbügel eingezeich- neten Pfeil angedeutet ist. Nur sind die Excursionen dieser letzteren Be- wegungen — einerseits wegen der geringeren Entfernung des Punktes von der Drehuugsaxe, andererseits vielleicht aber auch vermöge der Ge- lenkseinrichtung — kleiner als die Excursionen der Hammerstielspitze. Der Hammerstiel ist gleichsam als ein Eadius in das Paukenfell eingewebt, so dass die Spitze des Hammerstieles die Mitte des Pauken- feiles einnimmt. Wenn daher das letztere unter dem Einflüsse von Luft- schwingungen abwechselnd tiefer und weniger tief eingedrückt wird, so kann der Hammer diese Bewegung vermöge seiner Drehbarkeit um die oben bezeichnete Axe mitmachen, ohne sie im Mindesten zu beschränken. Es wird mithin die beschriebene Einrichtung gerade geeignet sein, die Schwingungen des Paukenfelles in verkleinertem Maassstabe auf die Spitze des langen Ambosfortsatzes zu übertragen. An dieser letzteren ist aber in der aus Fig. 15 ersichtlichen Weise der Steigbügel befestigt. Dieses Knöchelchen wird also, wenn die Aml30sspitze in ihrer Ebene hin- und hergeht, fast in seiner eigenen Ebene parallel mit sich selbst hin- und hergeschoben werden. Die Fussplatte des Steigbügels ist nun mittelst eines membranösen Saumes in eine Oeffnung des Labyrinthes, das so- genannte ovale Fenster eingefügt. Er wird hier spritzenstempelartig ab- wechselnd tiefer eingedrückt und herausgezogen , wenn er durch die schwingende Ambosspitze hin- und hergezogen wird. Dabei wird natür- lich das Labyrinthwasser in Schwingungen gerathen, indem es beim Ein- treiben des Steigbügels vom ovalen Fenster verdrängt wird und beim xiusziehen desselben wieder dahin zurückströmt. Diese Bewegungen des Labyrinthwassers wären jedoch nicht möglich, wenn nicht noch eine andere Stelle der Labyrinthwand nachgiebig wäre. Diese Stelle ist das mit einer Membran geschlossene runde Fenster (/ r Fig. 15). Dahin weicht das Labyrinthwasser aus, wenn es durch Eindrängen des Steig- bügels vom ovalen Fenster zurückgedrängt wird. Dies ist nicht eine blosse theoretische Folgerung aus den anatomischen Anordnungen. Man hat vielmehr direct beobachtet, dass die Membran des runden Fensters sich gegen die Paukenhöhle vorwölbt, sowie das Paukeufell und folgeweise Hammerstiel, Ambosspitze und Steigbügel einwärts ge- drückt werden. üebertragung von Scbwinguiifjori ;iuf die /ii.mina sj>iralt». lOO Der Weg vom ovalen Feuster zum niiideu Fenster geht dnrcli ditn Tbeil des Labyrinthes, welcher wegen seiner Gestalt als Schnecke be- zeichnet wird. In diesem Theile wird deshalb auch das Wasser wohl vorzugsweise durch die Schallschwingungen erschüttert. In Fig. 15 ' ist bei sc. V. und sc. t. der Schneckeukanal angedeutet, jedoch muss man ihn sich in Wirklichkeit in 21/2 Windungen spiralig aufgewunden denken. Man sieht, wie dieser Kanal durch eine Scheidewand {l. sp. Fig. 13) in zwei Abtheilungen (die scala vestibuU und scala tympani) gebracht ist, die aber an der Kuppe mit einander communiciren. Der Weg vom ovalen Fenster geht also zunächst in der scala vestibidi zur Kuppe der Schnecke und von da durch die scala tympani zum runden Fenster. Doch Ijraucht die Verschieljung des Schneckenwassers vom ovalen zum runden Fenster nicht durchaus dieser Bahn zu folgen, denn die Scheidewand ist der Breite nach zur Hälfte Ijiegsam (lamina spiralis memhranacea) , wenn also der Druck vom ovalen Fenster her wächst, so wird Raum geschafft durch Niederdrücken dieser Scheidewand nach der scala tympani, aus welcher das verdrängte Wasser nach dem runden Fenster hin entweicht — und vice versa. Man sieht also, dass Schwingungen des Steigbügels die lamina spiralis in entsprechende Schwingungen versetzen können. Das Gesammtergebniss der vorstehenden Betrachtungen ist somit dieses: Wenn die Luft vor dem Ohre durch Oscillationen eines elastischen Körpers in sogenannte Schallschwingungen versetzt wird, so geräth das Paukenfell in genau entsprechende Schwingungen und diese tibertragen sich durch Vermittelung der Gehörknöchelchen und des Labyrinthwassers mit genauer Beibehaltung ihres Rhythmus, jedoch in verkleinertem Maass- stabe, auf die lamina spiralis memhranacea der Schnecke. Da auf dieser die Enden eines grossen Theiles der Gehörnervenfasern ausgebreitet sind, so ist ersichtlich , wie diese durch Luftschwinguugeu erregt werden können, und dass mithin Schallwellen der Luft eine Gehörsempfindung veranlassen können. In den Paukenapparat greifen zwei willkürliche Muskelchen ein, die Sehne des einen springt quer dur(5h die Paukenhöhle und setzt sich an den Hammerstiel. Die Zusammenziehung dieses Muskels wird also den Hammerstiel nach innen ziehen und somit das Paukeufell stärker spannen. Die Bedeutung dieses Muskels, des sogenannten tensor tijmpajii, könnte darin hestehim, dass er bei allzustarken Luftschwingungen, die Beweg- lichkeit des Paukenfelles verminderte, doch ist dies noch nicht ganz sicher festgestellt. Es wird angegeben, dass bei Thieren (Hunden und Katzen) der tensor tympani bei jeder starken Reizung des n. acusticus eine rellectorisclie Zuckung ausführt, nicht aber in Tetanus geräth. Noch weit weniger kann man sich Rechenschaft geben von der Bedeutung des 256 Geräusche und Klänge von verschiedener „Höhe". musculus stapedius, dessen Sehne von hinten her am Köpfchen des Steigbügels angreift. Mit der Erkenntniss, dass durch Schallschwingungen der Luft die Enden des Gehörnerven erschüttert und mithin erregt werden können, ist die Aufgabe der Physiologie des Gehörsinnes erst zum Theil gelöst. Es gilt vielmehr noch zu erklären, wie durch verschiedene Arten von Schallwellen verschiedene Arten von Gehörsempfindungen hervorgebracht werden. Eine Unterscheidung der Gehörsempfindung ist leicht zu ver- stehen. Es ist nämlich ohne Weiteres klar, dass die Unterschiede der Intensität der Gehörsempfindungen mit den Unterschieden der Am- plitude der erregenden Luftoscillatiouen in ursächlichem Zusammenhange stehen. Denn je grösser die erregenden Luftschwingungen sind, um so energischer werden auch die zuletzt den Nervenenden mitgetheilten Be- wegungen sein, um so höher also auch der Erregungsgrad derselben und dieser ist massgebend für die Intensität der Empfindung. Ausser den Unterschieden der Intensität kommen aber auf dem Gebiete der Gehörsempfiudungen verschiedenartige qualitative Unter- schiede vor, deren Erklärung nicht so auf der Hand liegt. Vor Allem er- giebt die oberflächlichste Selbstbeobachtung, dass die Gehörsempfin- dungen in zwei grosse Classen zerfallen: die „Geräusche" und die „Klänge". Schon subjectiv machen die Geräusche mehr den Eindruck des Unregelmässigen, und es zeigt sich auch leicht, dass in der That eine Geräuschempfindung unregelmässigen Luftschwingungen ihre Entstehung verdankt, während eine Klangempfindung allemal dann zu Stande kommt, wenn die erregenden Luftbewegungen genau periodisch wiederkehrende regelmässige Bewegungen sind. Da das genau Kegelmässige selbstverständlich der Untersuchung geringere Schwierigkeiten bietet, so soll zunächst nur die Klangempfin- dung Gegenstand der Betrachtung sein. Jedem mit gesundem Gehör- organ begabten Menschen ist unmittelbar anschaulich, dass die Klangem- pfindungen unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten qualitativ verglichen werden können. Der erste ist nach der Ausdrucksweise der Wissenschaft wie des gemeinen Lebens der Gesichtspunkt der „Höhe". So sagt man z. B. der Klang einer kurzen Pfeife ist „höher" als der, welchen eine lange hören lässt. Man kann unter diesem Gesichtspunkte alle möglichen Klänge in eine stetige Stufenfolge einordnen, so dass der nachfolgende immer höher ist, als der in der gewählten Anordnung vorangehende. Man wird aber bald bemerken, dass es mehrere Klänge geben kann, welche in der fraglichen Anordnung auf dieselbe Stufe zu stellen sind — das heisst unter dem Gesichtspunkt der Höhe nicht zu unterscheiden sind — welche aber dennoch unter einem andern Gesichtspunkte einen wesentüchen Prinfip der Resonanz. 107 qualitativen Unterschied zeigen, der sich in Worten nicht Ijeschreiben, sondern nur unmittelbar anschauen lässt. Wenn man z. B. eine Geigen- saite einmal mit dem Finger zupft, das andere Mal mit dem Bosren streicht, so lässt sie beide Male einen Klang von derselben Höhe hören, aber diese beiden Klänge sind doch, wenn sie auch mit derselben Intensität er- klingen, sehr verschieden von einander. Man nennt diesen Unterschied den des „Timbres" oder der „Klangfarbe". Achten wir zunächst nur auf den Unterschied der Höhe, so ist durch bekannte Versuche leicht zu Ijeweisen, dass er entspricht dem Unterschiede der Häufigkeit der regelmässigen Schwingungen, durch welche die Klangempfindungen hervorgerufen sind. Je häufiger die Schwingungen der Luft sind, desto höher ist die dadurch be- dingte Klangempfindung. Nach den früher festgestellten Principien ist es nicht denkbar, dass durch Erregung ein und derselben Nervenfaser qualitativ verschiedene Empfindungen entstehen, vielmehr müssen wir annehmen, dass, wo zwei Empfindungen sich wirklich qualitativ unterscheiden, mindestens zwei verschiedene Nervenfasern Ijetheiligt sind. Eine Hypothese, welche die Höhenunterschiede begreiflich machen soll, muss also erklären, wie es möglich wäre, zu denken, dass je nach der Häufigkeit der Luftschwin- gungen verschiedene Fasern des n. acusticus gereizt werden. Nun wurde oben gezeigt, dass Luftschwingungeu, ihre Anzahl in der Zeitein- heit mag sein, welche sie wolle, stets durch die Bewegungen des Steig- bügels das Labyrinthwasser, resp. die Nervenenden daselbst erregen. Es gilt also, denkbar zu machen, dass je nach der Anzahl der Stösse des Steigltügels in der Zeiteinheit das Labyrinthwasser bald hier bald dort in die stärkste Bewegung geräth, d. h. bald die hier, bald die dort liegenden Nervenenden am heftigsten erregt werden. Etwas derart ist nun sehr leicht denkbar, wenn wir das Princip der „Resonanz" zu Hilfe nehmen. Bekanntlich versteht mau unter Resonanz folgende Erscheinung. Man stelle sich einen elastischen Körper vor, welcher, aus seiner Gleichgewichtslage gebracht und dann sich selbst überlassen, in tönende Schwingungen geräth, denen natürlich eine ganz bestimmte Frequenz zukommt, z. B. eine über einen Resonanzboden ge- spannte Saite oder eine auf einem Resonanzkasten stehende Stimmgabel. Erregt man jetzt in der Nähe dieses Körpers durch einen beliebigen andern tönenden Körper Luftschwingungen, so geräth der erstere allemal dann in lebhafte Mitschwingungen, wf'iin die Häufigkeit der erregenden Luftschwingungen übereinstimmt mit der Häufigkeit derer, welche er selbst ausführen kann. Wenn dagegen die Zahl der erregenden Schwin- gungen in der Secunde eine bedeutend abweichende ist, dann bleibt der ]^58 Die lamina spiralis als Resonanzapparat. fragliclie Körper, von gewissen Ausnahmefällen abgesehen, in Enhe. Die erregenden Schwingungen brauchen übrigens dem elastischen Körper nicht nothwendig durch die Luft, sie können ihm auch durch ein anderes Medium zugeführt werden. Stellen wir uns jetzt ein System solcher elastischer Körper vor, deren Schwingungszahlen eine Reihe mit kleinen Unterschieden bilden. Es sei z. B. die Zahl der Schwingungen, welche der erste angestossen und sich selbst überlassen ausführen würde = 100, die entsprechende Zahl für den zweiten 110, für den dritten 120 u. s. w. bis zu mehreren Tausenden. Wenn jetzt in der Nähe dieses Systems irgend ein Klang er- klingt, so wird immer mindestens einer der Körper in Schwingungen ge- rathen, nämlich der, dessen Schwingungszahl am nächsten mit der Schwiu- gungszahl des erregenden Klanges übereinstimmt. Von der Eichtigkeit dieses Satzes kann man sich am Ciavier leicht überzeugen, dessen Saiten ja annähernd ein System von elastischen Körpern der beschriebenen Art darstellen. Setzt man auf den Eesonanzboden eines Clavieres, dessen Dämpfer aufgehoben sind, den Stiel einer angeschlagenen Stimmgabel, so werden sofort diejenigen Saiten in Schwingungen gerathen, deren Schwingungszahl mit derjenigen der Stimmgabel genau oder nahezu übereinstimmt — die auf denselben Ton abgestimmt sind — während die sämmtlichen übrigen Saiten in Euhe Ijleiben. Dass Schwingungen von verschiedener Frequenz einen qualitativ ver- schiedenen Eindruck machen, würde somit leicht erklärbar sein, wenn wir annehmen dürften, dass im Labyrinth eine dem Saiteusystem eines Clavieres analoge Einrichtung vorhanden wäre, d. h. ein System von elastischen Körpern, deren Schwingungszahlen eine Eeihe mit kleinen Sprüngen — womöglich gar eine stetige Eeihe — bildeten; und wenn wir ferner annehmen dürften, dass mit jedem dieser Körper ein besonderes Nervenfaserende in solcher Verbindung stände, dass es erregt würde, wenn dieser Körper in Schwingungen geräth. Zu einer solchen Annahme bietet aber in der That die Anatomie einige Anhaltspunkte. Denkt man sich nämlich den Schneckenkanal gerade ausgestreckt, so würde die lamina spiralis memhranacea einen Bandstreif darstellen, der an Breite von der Kuppel nach dem runden Fenster hin, stetig abnimmt. Ein solcher Mem- branstreif verhält sich al)er bezüglich des Mitschwingens ganz wie das Saitensystem eines Clavieres, wenn in ihm die Spannung der Quere nach vorherrscht. Bei der lamina spiralis memhranacea scheint dies Letztere wirklich stattzufinden. Es steht also nichts der Annahme im Wege, dass, je nachdem der Steigbügel so oder so viel Male in der Secunde hin- und hergeht, diese oder jene Gegend der lamina spiralis besonders stark in Bewegung kommt. Im Besonderen müssten wir annehmen, dass bei Die Untersclieiilnng der Klangfaibc. 159 weniger häufigen Schwingungen eine der Kuppel l)enaehbarte breitere (den langen Saiten entsprechende) Partie der lamina sidralis schwingt, bei häufigeren Scliwingungen des Steigbügels eine mehr nach dem runden Fenster hin gelegene. Auf der lamina spiralis memhranacea sind nun die Nervenenden in regelmässiger Reihe nebeneinander gelagert, und wenn nur eine Stelle dieser Memliran stark schwingt, wird auch nur eine Gruppe von Nerven- fasern erregt. Es wird also nach den vorstehenden Auseinandersetzungen für jede bestimmte Schwingungszahl eine besondere Gruppe von Nerven- fasern erregt werden, und es ist dadurch erklärlich, dass jeder besonderen Schwingungszahl eine besondere Qualität (Höhe) der Klangerapfindung entspricht. Namentlich wäre anzunehmen, je näher eine Nervenfaser der Kuppel der Schnecke endigt, desto tiefer wäre die Klangempfindung, welche ihrer Erregung entspricht. Die Schwingungszahl der tiefstgestimmteu Fasern der lamina spiralis (in der Kuppel der Schnecke) muss — wofern überall die vorliegende Hypothese richtig ist — etwa 30 in der Secunde lietragen, die Schwin- gungszahl der höchstgestimmten Fasern (Ijei der fenestra rolunda) etwa 16,000 in der Secunde. Zwischen diesen Grenzen muss nämlich die Zahl der Luftschwingungen eingeschlossen sein, wenn sie eine bestimmte Klaugwahrnehmuug veranlassen sollen. Der Paukenapparat kann un- zweifelhaft noch langsamere und raschere Schwingungen auf das Laby- rinthwasser übertragen, und dass sie keine bestimmte Klangwahrnehmung veranlassen, muss daher rühren, dass keine für sie abgestimmten Theile des Resonanzapparates vorhanden sind, vermöge deren sie eine besondere Gruppe von Nervenfasern vorwiegend erregten. Die in Rede stehende Hypothese hat den Vorzug, dass durch sie zu- gleich auch die Unterscheidung des „Timbres" oder der „Klangfarbe" erklärlich wird. Schon per exchisionem ist zu T)eweisen, dass dei* Unterschied des Timbres zweier Klänge von gleicher Höhe entsprechen muss dem Unter- schiede in der Art des Hin- und Hergehens der schwingenden Theilchen innerhalb einer Periode, denn dies ist der einzige Unterschied, der noch denkbar ist, zwischen zwei schwingenden Bewegungen, die Ijezüglich ihrer Häufigkeit und Intensität übereinstimmen. So können z. B. bei zwei schwingenden Bewegungen die Theilchen zwischen denselben äusser- sten Lagen hundertmal in der Secunde hin- und hergehen, alier bei der einen gehen sie gleichmässig hin und her, bei der andern gehen sie langsam hin und schnell zurück, oder ))ei der zweiten gehen sie vielleicht mit mdircrfüi A1)sätzen hin und zunick. Man sieht, dass hier noch eine unendliche Mannigfaltigkeit in dem, was man die „Form" der Schwingung 1 ßO Zerlegung einer Schwingung in pendelartige Componenten. nennt, bei gleicher Freqnenz denkbar ist. Ihr entspricht also die unend- liche Mannigfaltigkeit der Klangfarbe bei gleicher Höhe. Unter den unendlich vielen möglichen Schwingungsformen ist be- sonders hervorzuheben die des „pendelartigen" Hin- und Hergeheus — so genannt, weil in dieser Form sich jeder Punkt eines Pendels bei kleinen Excursionen bewegt. Wenn in einem Schallwellenzuge die Lufttheilchen in irgend einer andern Form oscilliren, so kann man nach einem wich- tigen Satze der Mechanik die Bewegung zerlegen in eine Anzahl pendel- artiger Schwingungen, deren Schwingungszahlen die Vielfachen der ge- gebenen Schwingungszahl sind — das Einfache mit eingerechnet. Mit anderen Worten : Es lässt sich stets ein System von Schwingungsursachen denken, deren jede für sich eine einfache pendelartige Schwingung her- vorbringen würde, die zusammenwirkend der Luft denjenigen Schwin- gungszustand von complicirterer Form beibringen würden, welcher in Wirklichkeit besteht. Ein concretes Beispiel wird die Sache deutlicher machen. Man schlage eine Ciaviersaite, welche auf die Note c gestimmt ist, d. h. 128 Schwingungen in der Secunde vollführt, in ein Siebentel ihrer Länge mit dem Hammer derart an, dass der Hammer etwa '/eoo Secunde mit der Saite in Berührung bleibt, dann lässt sich mathematisch zeigen und experimentell nachweisen, dass die ziemlich complicirte Schwingungs- form, in welche die Theilchen der Saite gerathen und mithin die Luft- theilchen versetzen, auch folgendermassen hervorgebracht werden könnte. Mau müsste sechs Ursachen zusammenwirkend denken, deren jede ein- fach pendelartige Schwingungen erregt, und zwar die V^ 1 X 128 in P mit der Amplitude 100 „ 2- 2 X 128 „ „ „ „ „ 249 „ 3- 3 X 128 „ „ „ „ „ 242,0 „ 4- 4 X 128 „ „ „ „ „ 118,9 „ 5- 5 X 128 „ „ „ „ . „ 26,1 „ 6- 6 X 128 „ „ „ „ „ 1,3 Man pflegt dies auch so auszudrücken: Die Schwingungsform der in gedachter Weise angeregten Ciaviersaite lässt sich zerlegen in sechs Componenten von den respectiven Intensitäten und Noten c c g c e g 100 249 242,9 118,9 26,1 1,3 Liesse man also sechs Stimmgabeln, die auf die bezeichneten Noten ge- stimmt sind, nebeneinander schwingen mit Intensitäten, wie sie den unter- geschriebenen Zahlen entsprechen, so würde ein entferntes Lufttheilchen in denselben Sohwingungszustand gerathen, in welchen es die Ciaviersaite Zasammensetzung der Klangcmpfindung aus einfachen Tönen. 161 versetzt. In anderen Fällen lässt sich das Problem der Zerlegung nicht in so bestimmten Zahlen lösen, aber immer ist die Lösung principiell möglich. Diese Darstellung complicirterer Schwingungsformen durch Zer- legung in pendelartige Componenten, deren Schwingungszahlen die Viel- fachen der gegebenen Schwingungszahl sind, erscheint zwar zunächst als eine blosse mathematische Fictiou, aber bei der Eesonanz gewinnt sie eine physikalische Bedeutung. Ein des Mitschwingens fähiger Körper geräth nämlich nicht blos dann in Mitschwingungen, wenn die Zahl der erregen- den Oscillationen mit der Zahl seiner Eigenschwingungen seilest genau oder nahezu übereinkommt (siehe S. 157), sondern auch dann, wenn unter den Componenten der erregenden Oscillationsbewegung eine in genügender Stärke vorhanden ist, deren Schwingnngs- zahl der Zahl der Eigenschwingungen des fraglichen Körpers sehr nahe liegt. Die Schwingungen der vorhin gedachten Ciaviersaite würden also z. B. nicht blos eine auf c gestimmte Stimmgabel zur Resonanz anregen, sondern noch mehr eine auf c, g oder c abgestimmte, weniger eine auf e^ gestimmte und kaum merklich eine auf g gestimmte. An einem Ciavier kann man sich leicht von der Richtigkeit dieses Satzes überzeugen. Man singe z. B. gegen den Resonanzlioden eines Clavieres bei aufgehobenen Dämpfern kräftig den Vocal a auf die Note c, dann wird nicht nur die auf c, sondern auch die auf e g c etc. ge- stimmten Saiten erklingen. In der Schwingungsform, die durch die menschliche Stimme erzeugt wird, sind nämlich alle diese Componenten stark vertreten. Wenden wir den vorstehend erläuterten Satz an auf den dem Ciavier analogen hypothetischen Apparat in der Schnecke. Wenn eine oscillato- rische Bewegung der Luft von anderer als einfach pendelartiger Form zum Ohre fortgepflanzt wird, dann wird nicht nur eine Abtheilung der lamina spiralis in Schwingungen versetzt werden, sondern alle diejenigen Abtheilungen, deren Stimmung den einfach pendelartigen Componenten der gegebenen Bewegung entspricht. Es werden mithin mehrere geson- derte Gruppen von Nervenfasern erregt werden. Es ist demnach eine nothwendige Folgerung aus unserer Hypothese: eine Klangempfinduiig von irgend welchem Timbre, wie sie durch irgend eine bestinunte oscillatorische Bewegung von nicht pendelartiger Form hervorgerufen wird, ist nicht eine einfache Empfindung, sondern ein System von Empfindungen solcher Art, wie sie bei Erregung einer kleinen (iruppe stetig nebeneinanderliegender Nervenfasern durch ein- fach pendelartige Schwingungen zu Stande kommt. Wenn wir auf eine solche einfachere Empfnubiiig die BcziMchiiung „Tonempfindung" oder Kick, )'liy»iologio 'S. Aud. 1 1 ^ß2 Verwandtscliaft der Klänge. Ton einscliränken, dann können wir die Folgernng so ausdrücken: Eine Klangempfindnng oder ein Klang ist im Allgemeinen zusam- mengesetzt aus einer mehr oder weniger grossen Anzahl von Tonempfindungen, und zwar entsprechen die Partialtöne eines Klanges genau den Componenten, in welche sich die schwingende Bewegung zer- legen lässt, welche die Klangempfindnng veranlasst. Diese merkwürdige Consequenz aus unserer Hypothese ist nun that- sächlieh richtig. Schon im vorigen Jahrhundert hatten Musiker verein- zelte Wahrnehmungen derart gemacht. Heutzutage aber kann an der ganz allgemeinen Eichtigkeit gar kein Zweifel mehr loleiben, nachdem viele ausgezeichnete Beobachter ihre Aufmerksamkeit auf den Punkt ge- richtet haben. Es muss nunmehr von dem eingenommenen Staudpunkte aus vielmehr merkwürdig erscheinen, wie die zusammengesetzte Natur der Klangempfindungen sich so lange der wissenschaftlichen Forschung hat verbergen können. Doch wird dies begreiflich, wenn wir bedenken, wie der Mensch von Kindheit an seine Sinne eigens darauf erzieht, von dem unmittelbaren Empfindungsinhalt sofort zu Vorstellungen von äusseren Objecten und Vorgängen überzugehen, zu deren Erkenntniss uns ja eben die Sinne dienen sollen. So kommt es dahin, dass eine bestimmte Gruppe von Empfindungen, die, durch eine gemeinsame Ursache bedingt, sehr häufig vereint auftreten, vom Bewusstsein als Zeichen für jene gemein- same einheitliche Ursache und damit selbst als Einheit genommen wird. Beispiele der Art sind uns auf dem Gel)iete anderer Sinne schon vorge- kommen. Man denke z. B. an die Empfindung, welche ein Schluck rothes Weines hervorruft. Es ist eine höchst zusammengesetzte Gruppe von Em- pfindungen, die dem Gefühlssinn, dem Geschmackssinn und dem Ge- ruchssinn angehören. Da man sie aber häufig zusammen gehabt hat, fasst man sie als eine untrennbare Einheit und bezeichnet sie als den „Ge- schmack rothes Weines". So nimmt man eine gewisse Gruppe von gleichzeitigen Tonempfindungen für eine untrennbare Einheit von be- stimmter Beschaffenheit und bezeichnet sie als „Geigenklang", eine andere als „Flöteuklang", weil man die eine Gruppe von Empfindungen beim Streichen einer Geigensaite, die andere Gruppe beim Anblasen einer Flöte unzählige Male gehabt hat. Unsere Hypothese empfiehlt sich ferner noch dadurch, dass sie ein altes Käthsel aufs einfachste erklärt, nämlich die Verwandtschaft der Klänge. Es ist eine schon vor Alters gemachte Beobachtung, dass zu irgend einem gegebenen Klange gewisse andere, die in der Höhenscala in endlichem beträchtlichen Abstände liegen, eine auffällige Verwandt- schaft zeigen. Vor Allem ist es derjenige Klang, der durch eine doppelte Anzahl von Schwingungen hervorgebracht wird, und welchen man in der Geräusche. 1 ß3 Kunstsprache der Musik die Octave des gegebeneu nennt. Man hat in früheren Zeiten oft al)enteuerliche und mystische Erklärungen für diese Thatsache gesucht. In unserer Theorie versteht sie sich ganz von seihst. Die Empfindungsgruppe, welche der Octave entspricht, enthält nämlich jedesmal eine Anzahl der Elemente, welche in der Gruppe des andern Klanges vorkommen. Ein Klang von der Note c muss sich z. B. stets aus Partialtönen zusammensetzen, die den Tonstufen c c g c ^ g c^ etc. entsprechen, nur die Tntensitätsverhältnisse der Componenten sind je nach dem Timbre verschieden ; ein Klang, der eine Octave höher liegt, kann nur Componenten enthalten von den Tonstufen c c g c^ etc., die sämmtlich unter dem Componenten des ersteren ebenfalls enthalten sind, die Verwandtschaft ist also eine wirkliche Uebereinstimmung einzelner Theile. Aehnliches, wenn auch in geringerem Maasse, gilt von der Quint und anderen harmonischen Intervallen. Noch eine grosse Anzahl von weniger wichtigen Erscheinungen finden in der Hypothese eines Resonanzapparates in der Schnecke die überraschendste Erklärung. Sie erhält dadurch einen hohen Grad von "Wahrscheinlichkeit, obwohl sie sich durch directe Versuche mit den Hilfsmitteln der heutigen Wissenschaft nicht beweisen lässt. Die Erklärung der Entstehung und Beschaffenheit der Geräusch- empfindungen hat jetzt auch keine Schwierigkeiten mehr. In der That, denke man sich eine unregelmässige Luftbewegung, so wird dadurch in raschem Wechsel bald diese, bald jene Gegend der lamina spiralis in leb- haftere Bewegung gerathcn, je nachdem die ganze uuregelmässige Folge von Bewegungen sich zusammensetzt aus kurz dauernden Gruppen bald häufigerer bald weniger häufiger, Schwingungen. Bis zu einem ge- wissen Grade wird ohnehin stets auch die ganze lamina spiralis in Be- wegung gerathen, namentlich wenn die Stösse sehr heftig sind. Dem entsprechend müssen wir erwarten, dass die Gehörwahrnehmung bei un- regelmässigen Luftschwingungen bestehen muss aus rasch wechselnden momentanen Tonempfindungen verschiedenster Höhe, deren Aufeinander- folge und Zusammensein einen verworrenen Eindruck machen muss, wie dies bei den Geräuschempfindungen wirklich der Fall ist. Einem geübten Gehörorgan gelingt es oft, aus Geräuschen einzelne Empfindungselemente von Ijestimmtem Tonwerthe auszuscheiden. Alle Haupterscheinungen des Hörens wurden in den vorstehenden Erörterungen zurückgeführt auf die Leistungen des Schneckennerven und seiner Anhangsgebilde, ohne dass es nöthig war, die übrigen nervösen Geliilde des Ohrlabyrinthes zu Hilfe zu nehmen. Vergegenwärtigt man sich die Räumlichkeiten des Labyrinthes, so stellen sich die Bogengänge 154 Dei- Bog;engangapparat. und der angreuzeude Theil des Vorliofes als eine Sackgasse dar, und ist es nicht recht begreiflich, wie die Nerven dieser Theile afficirt werden sollten durch den Bewegungsvorgang, welcher durch das Eintreiben des Steigbügels und das Ausweichen der Wassermasse nach dem runden Fenster gebildet wird. Es liegt daher die Vermuthung nicht so gar fern, dass die Nerven des Vorhofs und der Bogengänge gar nicht dem eigent- lichen Hören dienen. Eine Stütze findet diese Vermuthung in sehr merkwürdigen, von ver- schiedenen Forschern mit gleichem Erfolge wiederholten Versuchen, welche lehren, dass Zerstörung der Bogengänge des Ohres bei Thieren nicht etwa Verlust des Gehöres zur Folge hat, sondern eine eigenthüm- liche Störung der Bewegungen des Kopfes und des ganzen Körpers. Auf Grund dieser Versuche ist die Hypothese aufgestellt, die Bogen- gänge mit ihren Nerven stellten ein besonderes Sinnesorgan dar, welches die Bestimmung hätte, das Individuum von der Stellung seines Kopfes zu unterrichten und das nur zufällig mit dem Gehörorgan örtlich ver- bunden wäre. Im Allgemeinen wird die Ursache der Gehörsempfindungen nach aussen versetzt, jedoch nur wenn das Paukenfell mitschwingt. Ist dies durch Anfüllung des Gehörganges mit Wasser am Schwingen verhindert, so verlegt man den SchaU ins Innere des Kopfes. Der Grund dieser Er- , seheinung ist räthselhaft. Ins Innere des Kopfes wird der Schall keineswegs etwa stets dann verlegt, wenn die Zuleitung der Bewegung durch die Kopfknochen ver- mittelt wird. Wenn man z. B. eine Schnur zwischen den Zähnen hält und bei verstopften Ohren ein an der Schnur hängendes Metallstück (einen silbernen Löffel) an einen harten Körper anstossen lässt, so hat man den Eindruck von entferntem Glockengeläute. Bei diesem von Kin- dern oft ausgeführten Versuche können sich eben die Paukenfelle an der Bewegung betheiligen. Die Beurtheilung der Eichtung, woher das. Gehörorgan afficirt wird, ist sehr unvollkommen. Einigermassen unterstützt wird das Urtheil dar- über durch die Betheiligung beider Ohren, denn man stellt sich stets — und meist mit Recht ^ vor, dass der Schall von der Seite kommt, auf welcher das stärker afficirte Ohr liegt. Auf das Urtheil darüber, ob der Schall von vorn oder von hinten kommt, scheint die Ohrmuschel Ein- fluss zu haben. Dafür spricht folgender merkwürdige Versuch. Wenn man die Ohrmuschel mit den Daumen hinten andrückt und aus den üljrigen Fingern vor der natürlichen gleichsam eine künstliche Ohr- muschel bildet, so täuscht man sich ziemlich regelmässig darüber, ob die Schallquelle vorn oder hinten liegt. Verschiedene Reize der Sehnerven. 165 Die Entfernung der Schallquelle beurtheilen wir nur nach der Intensität der Empfindung, daher beurtheilen wir sie auch stets falsch, wenn wir eine falsche Vorstellung von der wirklichen Intensität des Schalles zu Grunde lesfen. 5. Capitel. Gesichtssinn. I. Allgemeines. Die specifische Energie, womit der Gesichtsnerv auf jede Erregung reagirt, ist die Lichtempfindung. Ihr quantitatives Mehr oder Weniger bezeichnet man bekanntlich mit den Worten „hell" und „dunkel", ihre verschiedenen nicht definirbaren Qualitäten mit den Namen der Farben. Vielleicht ist der Sehnerv im Stande, auf alle bekannten Keizarten mit seiner specifischen Energie zu antworten. Erfahruugsmässig steht es für einige fest. Wir wissen zunächst, dass innere Zustände des Ceutral- organes oder des Gesichtsnerven und seiner Ausbreitung zu (subjectiven) Lichtwahrnehmungen führen. Wir können dabei natürlich nicht bestimmt sagen, ob die Erregung auf mechanischem, chemischem oder anderem Wege geschah. Ferner bringt mechanische Keizung von aussen Lichtwahrnehmuug zuwege. Man drücke z. B. mit einer stumpfen Spitze bei geschlossenen Augenlidern auf den Augapfel, möglichst weit von der Hornhaut entfernt, und man hat sofort einen hellen Fleck im Sehfelde. Elektrische P]rregung von aussen hat ebenfalls Lichtwahr- nehmung zur Folge, wovon man sich überzeugt, wenn man die Elektroden irgend welches Stromkreises so anlegt, dass voraussichtlich einige Strom- fäden die Netzhaut durchsetzen. Chemische und thermische Keizung haben bisher noch zu keinem entscheidenden Eesultate geführt. Der eigentlich adäquate Keiz für den Gesichtsnerven sind die Aether- oscillationen, auf die man daher die Namen des Lichtes und der Farben geradezu übertragen hat. Die Fähigkeit, das in der Physik mit dem Namen Licht bezeichnete Agens — eben jene Aetheroscillationen — zu empfinden, ist aber noch nicht die Fähigkeit zu „sehen". Sie besteht vielmehr darin, mit Hilfe der Empfindungen, welche die von der Oberfläche der Körper ausge- sandten Lichtstrahlen erregen, sich eine Vorstellung von der Form und Lage dieser Körper zu machen. Hierzu ist offenbar erforderlich, dass jeder Punkt der Oberfläche eines zu sehenden Körpers eine von allen übrigen unterscheidbare Empfindung verursacht. Dies kann aber nur dann statt- finden, wenn die von einem Punkte der zu sehenden Körper ausgesandten 166 Anatomie des Auges. Strahlen nur ein bestimmtes Nervenelemeut treffen und erregen. Soll also das Auge ein zum Sehen brauchbares Werkzeug sein, so muss es eine mosaikartige Ausbreitung von Nervenelementen enthalten und da- vor muss ein dioptrischer Apparat liegen, welcher auf dieser Ausbreitung von den zu sehenden Körpern ein „optisches Bild" entwirft, d. h. welcher die von den Punkten jener Körper ausgesandten Strahlenbündel auf Punkten der Nervenausbreitung zur Wiedervereinigung bringt. Das Auge ent- spricht nun in der That diesen Anforderungen, soweit es möglich ist. Einerseits nämlich bildet die Stäbchen- und Zapfenschicht der Netzhaut ein Mosaik von nebeneinander gestellten Nervenelementen und anderer- seits bilden die davorgelegenen durchsichtigen Medien einen „collectiven dioptrischen Apparat", II. Inatomisclie Voraussetzungen. Um die Wirkung des letzteren zu verstehen, müssen wir uns an die wichtigsten anatomischen Verhältnisse des Augapfels erinnern, was mit Hilfe der Fig. 16 geschehen kann, die einen waagrechten Querschnitt Fig. 16. durch ein menschliches Auge in dreimaliger Vergrösserung schematisch darstellt. Die ümhülluug des Augapfels ist aus drei im Allgemeinen dicht aneinander gelagerten, aber nur an bestimmten, später zu erwähnenden Uvea und Retina. 107 Stellen verwacliseneu Schichten zusammengesetzt. Die äusserste Schicht bildet die harte Haut des Auges, deren vorderer, etwas stärker ge- wölbter Abschnitt. Cornea oder Hornhaut genannt, durchsichtig ist. Der weitaus grössere hintere Abschnitt, zum Theil auch noch beim lebenden Auge in der Augenlidspalte sichtbar, ist weiss und wird tanica sclerotica genannt. Die zweite Schichte ist die sogeuannte tunica uvea. Sie ist sehr reich an Gefässen und namentlich auf ihrer inneren Seite stark schwarz pigmentirt. Ihr vorderer, Iris genannter Abschnitt liegt der Hornhaut nicht unmittelbar an. Er hat in der Mitte ein rundes Loch, die Pupille. Dasselbe kann durch Zusammenziehung der es umkreisen- den glatten Muskelfasern verengert werden. Man nennt daher diesen Kingmuskel sphinctei- pupillae. Andere Muskelfasern können die Pupille erweitern. Nach einigen Autoren sind dies einfach die Muskelfasern der Blutgefässe, nach anderen besondere, radial verlaufende glatte Muskel- fasern, deren Inbegriff dann als „dilatator pupillae" bezeichnet wird. An der ganzen Sclerotica liegt die Uvea dicht an und dieser Theil derselben wird Chorioidea genannt. Der vordere Theil derselben ist verdickt (wie die Fig. 16 sehen lässt) und es treten hier noch etwa 80 faltenartige Vor- sprünge auf der Innern Seite hervor, die vorn am dicksten sind und in meridiaualer Richtung gegen den Aequator des Auges flach auslaufen. Da, wo die Iris in die Chorioidea übergeht, ist die Uvea mit der harten Augeuhaut verwachsen auf einer ringförmigen Zone, welche in der harten Haut durch den üebergang der Sclerotia in die Cornea bezeichnet ist. An dieser Verwachsungsstelle entspringen glatte Muskelfasern, welche in meridianalen Richtungen in die Chorioidea einstrahlen und den soge- nannten tensor cliorioideae bilden. Die dritte Schicht der Augeuumhüllung, welche der inneren Seite der Uvea dicht anliegt, tunica retina genannt, enthält die Ausbreitung des Sehnerven. Es ist dies eine sehr zarte Membran, in der vorderen Augenhälfte nur durch eine einfache structurlose Lamelle vertreten, da die nervösen Elemente blos bis in die Aequatorialgegend rücken. Der von den beschriebenen Hüllen umgeliene Hohlraum ist zum grössten Theil ausgefüllt durch den sogenannten Glaskörper, eine durch- sichtige Masse von gallertartiger Consistenz. Der vordere Abschnitt des Augapfels zwischen Hornhaut und Iris enthält eine vollständige Flüssig- keit, die sogenannte „wässerige Feuchtigkeit" (humor aqueiis). Zwischen ihr und dem Glaskörper, unmittelbar hinter der Iris, ist ein dritter durch- sichtiger Körper, die „Krystalllinse" eingeschoben. Man erkennt auf dem Dun-hschnitt Fig. 16 seine linsenförmige Gestalt, d. h. seine Begrenzung durcji zwei Kugelabschnitte. Die Linse besteht aus concentrischen Schichten und ist von wachsartiger Consistenz. Die Schichten der Linse ^gg Hoinocentrische Strahlenbündel. haben nicht alle gleichen Brechungsindex, derselbe nimmt vielmehr Ton der Oberfläche nach dem Kern etwas zu. Der dioptrische Apparat des Auges stellt sich hiernach dar als ein centrirtes System von drei sphärischen Treunungsflächen zwischen vier brechenden Medien: Luft, wässeriger Feuchtigkeit, Liusensubstanz und Glaskörper. Man kann nämlich ohne merkliche Uugenauigkeit annehmen, dass die wässerige Feuchtigkeit bis an die vordere Hornhautfläche heran- reicht und durch sie unmittelbar von Luft getrennt ist, auch kann man von der Linsenschichtung aljsehen, wenn man den Brechungsindex der Linsensubstanz noch etwas grösser annimmt als den ihres Kernes. Man hat, diese Vereinfachungen vorausgesetzt, in der That nur noch drei Treunungsflächen zu betrachten, an welchen Strahlenbrechung statt- findet, nämlich die vordere Horuhautfläche zwischen Luft und humor aqueus, die vordere Linsenfläche zwischen dieser und Linsensubstanz und die hintere Liusenfläche zwischen Linsensubstanz und Glaskörper. Die Mittelpunkte der drei Kugeln, von welchen diese drei Flächen Abschnitte sind, liegen sehr annähernd auf einer geraden Linie der „Axe des Auges", so dass wir berechtigt sind, den dioptrischen Apparat des Auges ein centrirtes System sphärischer Trennungsflächen zu nennen. III. Dioptrisclie Regeln. Der optische Effect eines solchen Systems besteht nun bekannt- lich darin, dass es von jedem in einiger Entfernung gelegenen Punkte ein optisches Bild liefert. Noch allgemeiner lässt sich dieser Lehrsatz so ausdrücken: Pflanzt sich ein Strahlenbündel durch das System fort, welches im ersten Medium ein „homocentrisches" ist, so ist es in jedem Medium, insbesondere auch im letzten, ein homocentrisches. Unter einem solchen versteht man aber ein Bündel, dessen sämmtliche Strahlen- richtungen sich in einem Punkte schneiden, welcher das Centrum des- selljen genannt wird. Man nennt das Centrum des einfallenden Bündels (welches gemeiniglich ein reeller leuchtender Punkt ist) den „Object- punkt" und das Centrum des entsprechenden Bündels im letzten Medium den „Bildpunkt". Der Bildpunkt wird reell genannt, weun die Strahlen im letzten Medium auf denselben zugehen, so dass er als reell beleuchteter Punkt auf einem daselbst angebrachten Schirm dargestellt werden kann. Ist der Bildpunkt nur der geometrische Durchschnittspunkt der über die letzte Trennungsfläche hinaus rückwärts verlängerten Strahlenrichtungen, so heisst er ein „virtueller". Wenn ein centrirtes System sphärischer Treunungsflächen von einem unendlich entfernten leuchtenden Punkte ein reelles Bild macht, d. h. also ein parallelstrahliges einfallendes Bündel in ein convergent- Brennebenen nnd Hauptebenon. 109 strahliges verwandelt, so nennt man es ein „collectives''. Ein solches ist der dioptrische Apparat des Auges. In einem collectiven System lässt sieh natürlich eine Fläche angeben, in welcher die Bildpnnkte aller unend- lich entfernten leuchtenden Punkte liegen. Sie reducirt sich auf eine zur Axe senkrechte Ebene, wenn man blos Punkte betrachtet, welche nicht weit seitwärts von der Axe liegen. Mau nennt diese Ebene die „zweite Hauptbrenuebene" des Systems. Divergentstrahlige einfallende Bündel werden natürlich noch nicht in Punkten der zweiteu Hauptbrennebene, sondern erst weiter hinten zur Vereiniguug kommen, und zwar um so weiter hinten, je stärker die Strahlen des einfallenden Bündels divergiren. Mit anderen Worten: die Bildpunkte von endlich entfernten Objectpunkten liegen hinter der zweiten Breuueljene, und zwar um so weiter nach hinten, je näher der Objectpunkt an der ersten Trennungsfläche liegt. Wenn der Objectpuukt in eine gewisse Nähe heranrückt, wird der Bildpunkt in unendliche Ferne hiuausrücken, d. h. das von dem Objectpuukte ausgesandte Strahlen- bündel wird durch die Brechungen in eiu parallelstrahliges verwandelt. Diejenige zur Axe senkrechte Ebene, in welcher Objectpuukte liegen müssen, damit ihre Bildpuukte in unendlicher Ferne liegen, nennt man die „erste Hauptbrennel)ene" des Systems. Selbstverständlich l)esteht für jedes bestimmte brechende System eine ganz allgemeine gesetzliche Beziehung zwischen der Entfernung des Objectpunktes und des Bildpunktes von gewissen willkürlich anzunehmen- den festen Ebenen. Auf den einfachsten Ausdruck lässt sich diese Be- ziehung bringen, wenn man die Objectabstände (q) von der ersten und die Bildabstände (cf) von der zweiten Hauptbrennel)ene an rechnet. Es gilt alsdann allgemein die Gleichung q.(f — c, wo c eine für das System charak- teristische constaute Grösse ist, oder o* = , d. h. die Entfernung des q Bildes hinter der zweiten Brennebene ist dem reciproken Werthe der Entfernung des Objectes vor der ersten Hauptbrennebene proportional. Noch geläufiger ist eine andere Form der fraglichen Beziehung, welche gilt, wenn man nicht von den Brennebenen, sondern von den so- genannten „Haupteljenen" Object- und Bildabstände missf. Ihre Lage muss natürlich im concreten Falle durch Rechnung aus den üaten des Systems l)estimmt werden. Bezeichnet mau alsdann den Abstand des Objectes von der ersten Hauptebene durch ;>, den Abstand des Bildes von der zweiten Hauptebene durch//*, so gilt allgenicin die (jbjicliiiiig * -f- •..(..= 1, in welcher / und /* die sogenannten Haupt brennweiten des Systems be- deuten, nämlich/ ist der eiu- für allemal bestimmte Abstand der ersten 170 Riclitungsstrahl. Brennebene von der ersten und/'-' der Abstand der zweiten Hauptbrenn- ebene von der zweiten Hanptebeue. Um zu jedem beliebigen Objectpunkt den entspreclienden Bildpunkt vollständig zu bestimmen, genügt die Beziehung zwischen den Abständen in der einen oder der andern Form noch nicht. Sie bestimmt eben nur eine zur Axe senkrechte Ebene in gewisser Entfernung von der zweiten Hauptebene (resp. Brennebene), in Avelcher der Bildpunkt liegen muss. Wo er in dieser Ebene liegt, kann erst angegeben werden, wenn man einen weiteren Satz aus der Dioptrik zu Hilfe nimmt, der so lautet: In der Axe jedes centrirten Systems sphärischer Trennungsflächen lassen sich zwei Punkte, die sogenannten Knotenpunkte, angeben, so dass einem auf den ersten Knotenpunkt zielenden einfallenden Strahl im letzten Medium ein gebrochener Strahl entspricht, dessen Kichtung der des einfallenden Strahles parallel ist und durch den zweiten Knotenpunkt geht. Dieser Satz giebt für jeden Objectpunkt sogleich eine Gerade, auf welcher der Bildpunkt liegen muss. Zieht man nämlich durch den Objectpunkt eine Gerade zum ersten Knotenpunkt — „Kichtungsstrahl des Object- punktes" — und zu ihm eine Parallele durch den zweiten Knotenpunkt, so liegt auf ihm der Bildpunkt — man kann diese Linie daher passend als den Kichtungsstrahl des Bildpuuktes bezeichnen. Hat man zuvor aus der Gleichung zwischen Object und Bildabstand die Bildebene schon ge- funden, so giebt ihr Durchschnittspuukt mit dem Kichtungsstrahl die Lage des Bildpunktes vollständig. Die vorstehend in Erinnerung gebrachten Lehrsätze aus der physi- kalischen Dioptrik gelten — das muss noch ausdrücklich hervorgehoben werden — nur unter der Voraussetzung, dass die sämmtlichen in Be- tracht gezogenen Strahlen alle Flächen des Systems unter sehr kleinen Einfallswinkeln, also nahezu senkrecht durchsetzen. Die Constrnction des Bildes nach diesen Sätzen führt also nur dann zu einem annähernd rich- tigen Kesultate, wenn der Objectpunkt nicht weit seitwärts von der Axe des Systems liegt. Für sehr schräg einfallende Strahlenbündel verlieren nicht nur die eingeführten Regeln ihre Geltung, sondern sie kommen überhaupt nicht zur Vereinigung in einem Bildpunkte. IV. Das schematische Auge. Die erste Hauptaufgabe der physiologischen Dioptrik reducirt sich jetzt darauf, für das Auge die Lage der Hauptebenen der Brennebenen und der Knotenpunkte zu bestimmen, denn sowie sie bekannt sind, kann man zu jedem Objectpunkte den Bildpuukt linden. Freilich zunächst nur für solche Objectpunkte, die nahe um die Axe des Auges herumliegen und daher ihre Strahlenbündel nahezu senkrecht ins Ausre senden. Diese Cardiniilpunkto des scheniatischen Auges. 171 Strahlenbündel sind aber für den Sehact von ganz besonderer Wichtig- keit, da ein genanes Sehen nur stattfindet mit den dem liintereu Pole un- mittelbar benach]jarten Theilen der Netzhaut. Um die Lage der Brenn- und Hauptebenen, sowie der Knotenpunkte berechnen zu können, muss man natürlich die Werthe aller der Grössen kennen, welche auf die Strahlenbrechung Einfluss haben, also die Bre- chungsindices der Medien, die Halbmesser der Flächen und die Ent- fernungen derselben, resp. ihrer Scheitel von einander. Von diesen Grössen sind die letzteren directer Messung am lebenden Auge zugänglich, be- züglich der Brechuugsindices ist man dagegen angewiesen auf Bestim- mungen an den Augen von Leichen. Es empfiehlt sich daher, der Be- trachtung nicht ein System von Messungen an einem bestimmten lebenden Auge zu Grunde zu legen, das eben doch immer lückenhaft Idiebe, sondern ein System von Werthen in abgerundeten Zahlen zu wählen, welche sich im Bereiche der normalen individuellen Schwankungen finden. Ein solches unter dem Xamen des „schematischen" Auges schon seit längerer Zeit allen weiteren physiologisch-optischen Entwickelungen zu Grunde ge- legtes System von Werthen ist das folgende: Brechungsindex der Luft 1 Brechungsindex des humor aqueus ~77^ Brechungsindex der Linsensubstanz ^■. ° 11 103 Brechungsindex des Glaskörpers -^n- Krümmungshalbmesser der Hornhaut S*"™ Krümmungshalltmesser der vorderen Linsenfläche 10 Krümmungshalbmesser der hinteren Linseufläche 6 Entfernung des vorderen Linsenscheitels vom Hornhautscheitel . 3,6 Entfernung des hinteren vom vorderen Linsenscheitel .... 3,6 Diese Werthe liegen auch der Fig. 16 zu Grunde. Durch ziemlich verwickelte Kechnungsoperationen, die deshalb hier nicht dargestellt werden können, ergiebt sich nun die Lage der Cardinal- ebenen und Punkte. Ihre Entfernungen vom Hornhautscheitel giebt die nachfolgende Tabelle. Die Entfernung der ersten Brennebene ist mit einem Minuszeichen versehen, um anzudeuten, dass dieselbe vor dem Hornhautscheitel liegt. forste Brenneljene — 12,92" Erste Hauptebene + 1,94 Zweite Hauptebene -f- 2,36 Inim mm 172 Eedncirtes Auge. Erster Knotenpunkt + 6,96 Zweiter Knotenpunkt 4-7,37 Zweite Brennebene +22,23 Der in der Formel mit / bezeichnete und erste Brennweite genannte Abstand der ersten Brennebene von der ersten Hauptebene ist also = 12,92 + 1,94 = 14,86 und die zweite Brennweite (/* in der Formel) oder der Abstand der zweiten Brennebene von der zweiten Hauptebene ist = 22,23 — 2,36 = 19,87. Ein Blick auf die gefundenen Zahlen lässt sehen, dass die beiden Hauptebenen und die beiden Knotenpunkte im Auge so nahe zusammen- fallen, dass man sie für die weiteren damit auszuführenden Kechnungen und Constructioneu ohne merkliche Ungeuauigkeit in eine Hauptebene und einen Knotenpunkt verschmelzen kann. D. h. man kann die Object- und die Bildabstände (j) und jj* in der Formel S. 169) von ein und der- selben zur Axe senkrechten Ebene ausmessen, welche etwa 2,15™'" hinter dem Hornhautscheitel liegt; und jedem einfallenden Strahl, der auf einen etwa 7, IT'"™ hinter dem Hornhautscheitel gelegenen Punkt der Axe zielt, entspricht im Glaskörper seine eigene Verlängerung als gebrochener Strahl, oder im Auge fällt der Eichtuugsstrahl des Bildpunktes mit dem Eichtungsstrahl des Objectpunktes merklich zusammen. Den aus der Verschmelzung der beiden Knotenpunkte hervorgehenden Punkt der Axe nennt man daher den „Kreuzungspunkt der Kichtungsstrahlen", Dass im Auge die beiden Hauptebenen und ebenso die beiden Knoten- punkte fast zusammenfallen zeigt, dass der ganze optische Apparat fast genau dieselbe Wirkung hervorbringt, welche eine einzige kugelförmige Trennungsfläche hervorbringen würde, deren Scheitel 2,15™™ und deren Mittelpunkt 7,17™™ hinter der Hornhaut liegt, deren Radius also gleich 5,02™™ anzunehmen wäre und welche unmittelbar die Luft vom Glaskörper trennte. Dieser einfachere optische Apparat, das sogenannte „reducirte Ange", ist dem wirklichen brechenden Apparate des Auges optisch aeqnivalent, d. h. bringt von denselben Objectpunkten die Bildpunkte an denselben Orten zu Stande, wenigstens sofern man nur Objectpunkte in Betracht zieht, welche nicht weit seitwärts von der Axe liegen. Die gewöhnlichen Dimensionen eines menschlichen Augapfels lassen es nun ganz im. Bereiche der Möglichkeit erscheinen, dass die Polarzone der Netzhaut mit der hinteren Brennebene zusammenfällt. In der That ist ja der Abstand des hinteren Scheitels der äusseren Scleroticafläche vom Hornhautscheitel beim normalen Auge durchschnittlich etwa 24™™ entfernt, und wenn man also für die Dicke der Sclerotica und Chorioidea 1,77™™ abzieht, so fällt die Polarzone — der gelbe Fleck — der Netzhaut Emmetropie. ITo 22.23™'" hinter den Hornhantsclieitel, in welcher Entfernung von dem- selben anch die hintere Brennebene des schematischen Auges liegt. Diese x\nnahme liegt der Zeichnung Fig. 16 S. 166 zu Grunde, in welcher Fimd F'^ die Üurchschnittspunkte der Hauptbrennel)ene mit der Axe, D deu Kreuzungspuukt der Kichtungsstrahlen und E den Durchschnitts- punkt der verschmolzenen Hauptebene mit der Axe l)edeutet. Der punktirte Kreisbogen deutet die einzige Trennungsfläche an, welche dem ganzen dioptrischen Apparate annäherud äquivalent sein würde. Das Zusammenfallen der Polarzone der Netzhaut mit der hinteren Brennebene sieht man als die eigentlich normale Beschaffenheit des Auges an und nennt ein Auge, bei dem es statthat, ein „emmetropi- sches". Da die hintere Brennebene der geometrische Ort für die Bild- punkte unendlich entfernter Objectpunkte ist, so fallen im emme- tropischeu Auge die Bildpunkte in die Retina. Es mag indessen hier noch einmal ausdrücklich daran erinnert werden, dass dies nur für ein kleines den Pol umgebendes Stück — etwa den gelben Fleck — der Netzhaut gilt, da ja einigermassen schräg einfallende Strahlenljündel eben gar nicht mehr den entwickelten dioptrischen Regeln unterworfen sind. Man kann die Eigenschaft des emmetropischen Auges auch so folgendermassen ausdrücken: Jedes Bündel paralleler Strahlen kommt in einem Punkte der Netzhaut zur Vereinigung oder jeder Punkt der Netz- haut wird ausschliesslich lieleuchtet von Strahlen, die alle von einem einzigen unendlich fernen leuchtenden Punkte ausgegangen sind. Dass jeder Punkt der Netzhaut nur von einem äusseren Punkte Licht em- pfängt, ist aber offenbar die erste Bedingung für ein deutliches Sehen und man sagt deshalb, das emmetropische Auge ist für parallelstrahlige Bündel eingerichtet. Einem solchen Auge steht physikalischerseits nichts im Wege, unendlich ferne Objecte von geringer Ausdehnung gegen ihren Abstand, z. B. den Mond, deutlich zu sehen. Freilich gehört zum deut- lichen Sehen auch noch, dass gewisse anatomische und physiologische Bedingungen vom Sehnerven erfüllt seien — wir werden davon weiter unten zu sprechen haben — aber dass die hier in Rede stehende physi- kalische Bedingung erfüllt sein müsse, dass das optische Bild des deut- lich zu sehenden Objectes mit der Netzhaut, d. h. mit der Nerveuperi- pherie, zusammenfalle, ist schon jetzt klar. In der That, fiele es nicht mit der Netzhaut zusammen, so würde jedes von einem OI)jectpunkte ausgehende Strahlenljündel einen grösseren oder kleineren Kreis — einen Zerstreuungskreis — beleuchten und die zu zwei sehr benachbarten Ob- jectpunktcn gehörigen Kreise würden offenliar ein gemeinschaftliches OberHächenstück liaben , das von Ijeiden Licht erhielte. Nelimen wir nun beispielsweise an. der einn Punkt siuidetc rothes, der andere 174 Zerstreunngskreise. blaues Licht aus, so würde das gememsehaftlich beiden Zerstreuungs- kreisen angehörige Stück der Nervenperipherie die aus Eoth und Blau zusammengesetzte Mischfarbe percipiren, obgleich im Objecte kein Punkt wäre, dessen Licht dieser Mischfarbe entspricht. Das Auge würde uns also in diesem Falle, möchte seine Nervenperipherie beschaffen sein wie sie wollte, nicht von der optischen Beschaffenheit der beiden Punkte genau unterrichten können, was doch zum deutlichen Sehen verlangt wird. Kücken wir das Object aus der unendlichen Ferne näher an das emmetropische Auge heran, so rückt das Bild aus der hinteren Brenn- ebene heraus weiter nach hinten. Es verlässt also das Bild auch die Netz- haut und es tritt der soeben gedachte Fall ein, statt eines beleuchteten Punktes entspricht auf derselben jetzt jedem leuchtenden Punkte des Objects ein beleuchteter Zerstreuungskreis. Folgen die leuchtenden Punkte des Objectes stetig aufeinander, so greifen die Zerstreuungskreise ineinander und man hat auf der Netzhaut eine Lichtprojection, die kein scharfes Abbild des Objects ist, worin vielmehr allmählich sehattirte üebergänge den scharfen Grenzen zwischen verschieden leuchten- den Theilen des Objects entsprechen. Stellt man sich die Sache quantitativ vor, so wird man bemerken;, dass das Bild nur sehr wenig, noch nicht um die ganze Dicke der Netz- haut, hinter ihre Vorderfläche getreten ist, wenn man das Object aus un- endlicher Ferne sehr bedeutend, etwa bis auf 10™, dem Auge genähert hat. Erlaubt man sich die dabei stattfindende äusserst kleine Be- wegung des Bildes geradezu gleich Null zu setzen, wozu man um so mehr Recht hat, als ein mathematisch scharfes Bild so wie so nicht existirt, so kann man von dem emmetropischen Auge sagen, es sei auf alle Entfernungen eingerichtet, welche grösser als 10™ sind. Es werden also gleich scharfe Bilder auf der Netzhaut von allen leuchtenden Punkten entstehen, welche weiter als 10™ von ihm entfernt sind, so als lägen sie alle in einer unendlich fernen Ebene und sendeten wirklich parallelstrah- lige Lichtbündel ins Auge — nur die eine Grundbedingung müssen alle diese Punkte erfüllen, dass ihre Richtuugsstrahlen sehr kleine Winkel mit der Axe einschliessen. In dem fraglichen Falle befindet sich nun nahezu ein normales Auge in seinem Ruhezustande. Es sieht bekannt- lich beispielsweise den Rand des Mondes und des Berges, hinter welchem er aufgeht, mit gleicher Schärfe. Lässt man hingegen einen Objectpunkt oder ein kleines zusammen- gesetztes, zur Axe senkrechtes ebenes Object beträchtlich näher als 10™ an das Auge heranrücken, so geht das Bild allmählich so weit hinter die mit der Netzhaut zusammenfallende hintere Brennebene, dass die Zer- streuungskreise auf derselben eine bemerkbare ündeutlichkeit verur- Scheiners Versuch. 175 Sachen. Dass diese wesentlich der Grösse der Zerstreu ungskreise propor- tional gesetzt werden darf, ist leicht zu zeigen. Man sieht unmittelbar ein. dass ein o-rösserer Zerstrenungskreis in mehr henachharte Zer- streuungskreise iil)ergreift, -als ein kleinerer. Dass al)er der Durchmesser Fiff. 17. des Zerstreuungskreises wächst, je weiter das Bild von der Netzhaut ent- fernt ist, je näher also in unserem Falle der Objectpunkt am Ange liegt, mag ein Blick auf Fig. 17 deutlieh machen. Wäre a das Bild von a, so würde das von a ausgehende Strahlenhündel auf der Netzhaut einen Zer- streuungskreis vom Durchmesser h c erleuchten. Läge dagegen das Bild eines andern Punktes (d) in d'. so würde der Zerstrenungskreis offenbar den grösseren Durchmesser e/ haben. Man sieht gleichzeitig aus dieser Figur, dass die Zerstreuungskreise ceteris paribus um so kleiner ausfallen müssen, je enger die Pupille ist. Würde doch z. B. eine nur wenig engere Pupille sofort von dem zu a gehörigen Strahlenljündel die äussersten Eandstrahleu (welche die Netzhantpunkte b und c in der Figur erleuchten) abschneiden, also den Durchmesser des Zerstreuungskreises verkleinern. Man übersieht endlich sofort, dass der Zerstreuungskreis sich zu- rückzieht auf einige discrete beleuchtete Punkte, wenn man von dem einfallenden Strahlenbündel nur einzelne gesonderte Partien ins Auge kommen lässt. Setzt man z. B. den undurchsichtigen Schirm s der nur bei m und n zwei sehr feine Löcher hat, dicht vor das Auge, so würden nur die Strahlen a vi und a n von a aus ins Auge gelangen können und nur die beiden Punkte der Netzhaut beleuchten, wo ihre letzten Wege (die sich in der Figur verfolgen lassen) die Netzhaut treifen. Wird also eine vollständige Perception der Lichtprojection vorausgesetzt und fällt ausser von a kein Licht ins Auge, so glaubt man in unserra Falle zwei leuchtende Punkte wahrzunehmen. Der soeben beschriebene Versuch ist unter dem Namen des „Scheiner'schen Versuches" be- kannt. Es bedarf keines Beweises, dass die beiden beleuchteten Punkte auf der Netzhaut ceteris paribus um so weiter von einander rücken, je näher man den leuchtenden Punkt ans Auge bringt. Wie man bei gegebener Pupillenweite und gcgeliener Lage des P>ildes den Durchmesser des Zerstreuungskreises numerisch berechnet, J76 Zerstrcmmgski-eis abhängig von der Lage des Objectpunktes . soll hier nicht ausgeführt werden, doch mag eine kleine Tafel Platz finden, welche seine Werthe giebt, die im schematischen Auge mit 4™™ weiter Pupille zu verschiedenen Ohjectabständen gehören. Die Zahlen der ersten Spalte geben an, wie weit vor der ersten Brennebene der Objectpunkt liegt, sie ist daher der Seite 169 eingeführten Bezeichnungsweise gemäss überschrieben p—f. Die Zahlen der zweiten Spalte geben an, wie weit der entsprechende Bildpunkt hinter der zweiten Brennebene liegt (p^'—f^). Die Zahlen der dritten Spalte geben den Durchmesser des Zerstreuungskreises d auf der fortwährend in der zweiten Brennebene verbleibenden Eetina. Bei der Berechnung dieser Grösse ist von einer kleinen Correction wegen der Ablenkung der Strahlen in der Linse abgesehen worden. Die Einheit ist das Millimeter. v-f p*— /* d CSD 0 0 10000 0,029 0,006 5000 0,059 0,013 2500 0,118 0,025 1250 0,236 0,050 625 0,472 0,099 312 0,946 0.193 156 1,893 0,369 78 3,786 0,675 39 7,571 1,000 19 15,541 1,819 0 oo 4,000 Die Emmetropie ist nur ein einziger Fall unter unzähligen mög- lichen, in denen die zweite Brennebene vor oder hinter der Ketina liegt. Augen, bei denen die zweite Brennebene vor der Eetina liegt, heissen „myopische", und Augen, bei denen die zweite Brennebene hinter der Retina liegt, ,jhypermetropische". Ein myopisches Auge wird demnach sehr ferne Objecto nicht deutlich sehen, da deren Bilder in die Brenn- ebene fallen, welche der Definition gemäss vor der Retina liegen soll. Dagegen wird es irgend eine endliche Entfernung geben, in welche das myopische Auge deutlich sieht, denn wenn wir das Object aus unend- licher Ferne an das Auge heranrücken lassen, so bewegt sich das Bild von der zweiten Brennebene nach hinten, und es wird also für eine ge- wisse Lage des Objectes die hinter der Brennebene angenommene Retina erreichen. Je myopischer das Auge ist, d. h. je weiter die Retina hinter der Brennebene liegt, um so kleiner wird die Ferne sein, in welcher die deutlich gesehenen Objecte liegen. Eins dividirt durch die Sehweite ist Schräge Strahlenbündel. 177 also eine Grösse, die passender Weise als Maass der Myopie verwendet werden kann. Da es gar keinen reellen Oljjectpunkt giebt, dessen Bild vor der zweiten Brennebene entsteht, so kann ein hypermetropisches Auge gar kein reelles Object deutlich sehen, weder in endlicher noch in unend- licher Ferne. Ein Strahlenbündel, das auf einem Punkte der vor der zweiten Brennebene liegenden Ketina eines hypermetropischen Auges zur Vereinigung kommen soll, muss schon convergent in das Auge fallen. Es muss einem „virtuellen" Objectpunkte entsprechen. Um die von den Punkten weit abstehender Objecte ausgehenden, annähernd parallel- strahligen Bündel in solche convergentstrahlige zu verwandeln, muss das hypermetropische Auge eine Couvexlinse vor sich setzen. Je hypermetro- pischer ein Auge ist, einer um so stärkeren Couvexlinse bedarf es, um ferne Gegenstände deutlich zu sehen. Als Maass der Hypermetropie eines Auges kann also füglich dienen der reciproke Werth der Brennweite einer Couvexlinse, die das Auge braucht, um ferne Gegenstände deutlich zu sehen. Es wurde wiederholt hervorgehoben, dass die bis jetzt entwickelten Sätze nur Geltung haben für Strahleuijündel, welche die brechenden Flächen nahezu senkrecht passiren. Gerade diese sind nun zwar für den Sehact die weitaus wichtigsten, da nur eine ganz kleine polare Zone der Netzhaut, welche die Vereinigungspunkte dieser Bündel aufninunt, die zum eigentlich genauen Sehen erforderliche Organisation Ijesitzt; aber es fallen doch auch von weit seitlich gelegenen Oltjectpunkten stets Strahlen- Ijündel sehr schräg ins Auge und geben zu Lichtempfindungen Veran- lassung. Wir müssen also auch diese [berücksichtigen. Die physikalische Dioptrik lehrt, dass ein sehr schräg durch ein ceutrirtes System von sphärischen Trennungsflächeu gehendes Strahlenbündel nicht genau homoeentrisch bleibt, d. h. nicht in einen Bildpunkt vereinigt wird. Es findet aber doch, wenn das Strahlenbündel einen verhältuissmässig kleinen Querschnitt hat, an zwei Stellen eine ziemlich enge Concentration auf kleine Strichelchen statt, ähnlich wie wir es später bei der Brechung au einer nicht drehrunden Fläche sehen werden, von denen namentlich das hintere als ein Analogon eines Bildpunktes betrachtet werden kann. Die Bedingung, dass die von Objectpunkten zum Hintergrunde des Auges ge- langenden Strahlenbündel einen verhältuissmässig kleinen Querschnitt haben, ist immer erfüllt, da dieser Querschnitt durch die regelmässig ziemlich enge Pupille begrenzt ist. Es wird also im Auge von einem weit seitwärts gelegenen Objectpunkte zwar kein eigentlich punktuelles, aber doch ein ganz kleines strichförmiges Bild zu Stande kommen. Wenn man nun die Lage dieser uneigentlichen Bilder für weit seitlich gelegene, Fick, Physiologie. 3. Aufl. 1- 1^8 Accoimuotliition. iiiiendlicli ferne Punkte im schematischen Auge berechnet, so ergiebt sich, dass sie alle in einer krummen Fläche liegen, welche sehr genau mit der gekrümmten Netzhautfläche zusammenfällt. Es ist also auch für diese seitlichen Bilder die Gestaltung des Auges möglichst zweckmässig. Besonders bemerkenswerth ist noch, dass jene einzige Trennungsfläche, welche bezüglich der nahezu senkrecht einfallenden Strahlenbündel, wie wir sahen, den ganzen brechenden Apparat würde ersetzen können, für die seitlich gelegenen Objecte dies nicht zu thun im Stande wäre. Sie würde sehr schräg einfallende parallelstrahlige Bündel schon weit vor der Netzhaut concentriren. Die Eigenschaft, vermöge welcher auch von weit seitlich gelegenen Objecten noch nahezu scharfe Bilder auf der Netzhaut entstehen, nennt man die „Periskopie" des Auges. Für diese Eigenschaft ist also die Zusammensetzung des brechenden Apparates aus mehreren Trennungsflächen von grosser Bedeutung. Erhöht wird ohne Zweifel die Periscopie noch durch den geschichteten Bau der Linse. V. Accommodation des Auges. Wenn ein Auge die Fähigkeit haben soll, wenigstens zu ver- schiedenen Zeiten weit entfernte und dicht vor ihm gelegene Objecte deutlich zu sehen, so muss es Seinen dioptrischen Apparat verändern können. Man nennt diese Fähigkeit das „Anpassungsvermögen" oder „ Ac com m 0 da tions vermögen". Dass dem wirklichen normalen Auge diese Fähigkeit zukommt, bemerkt mau sehr leicht. Sieht man z. B. einen sehr fernen Gegenstand deutlich und beachtet gleichzeitig eine nur wenige Centimeter vom Auge entfernte Nadelspitze, so erscheint dieselbe verwaschen. Macht man nun eine willkürliche Anstrengung, die sich nicht beschreiben, aber leicht erfahren lässt, so erscheint die Nadelspitze deutlich und die entfernten Gegenstände verwaschen. Auch mit Hilfe des Scheiner 'sehen Versuches kann man sich von dem Vorhandensein des Aecommodationsvermögens überzeugen. Hatte man in demselben anfäng- lich ein Doppelbild von einem nahegelegenen leuchtenden Punkte, so weicht es einem einfachen, sobald das Auge sich für die Entfernung des leuchtenden Punktes einrichtet, denn nun treffen die beiden durch die Löcher des Schirmes gehenden Strahlen denselben Punkt der Netzhaut, den eben alle übrigen Strahlen, die vom leuchtenden Punkte ins Auge fallen könnten, ebenfalls treffen würden, weil er der wirkliche Ort des Bildes ist. Mit einem Diaphragma vor dem Auge gelingt zwar nicht Jedem die willkürliche Einrichtung für beliebige Entfernungen so leicht wie sonst, indessen erlaugt man doch mit einiger üebung sehr bald diese Fertigkeit. Accommodation. 179 Bei künstlichen optischen Werkzeugen, wo ein deutliclies optisches Bild auf einer Tafel aufgefangen werden soll, bewerkstelligt man die An- passung an verschiedene Objectabstände l)ekanntlich dadurch, dass man diese Tafel geradezu in der Ebene des Bildes aufstellt, ohne den dioptri- schen Apparat, der das Bild liefert, selbst zu verändern. So macht es z. B. der Photograph mit seiner Camera ohscura. Es lässt sich jedoch von vorn- herein kaum annehmen, dass dies beim Auge auch der Fall sein sollte. Sieht man z. B. die obige Tabelle genauer an, so zeigt sich, dass man die Netzhaut um beinahe 2""" nach hinten verschieben müsste, wenn sie das von dem unverändert gebliebenen dioptrischen Apparate gelieferte Bild eines etwa 15*^'" abstehenden Punktes auffangen sollte. Bei der gi'ossen Spannung der äusseren Augenhüllen würde eine solche Ver- längerung des ganzen Bulbus eine kaum zu lösende Aufgabe für die schwachen Muskelkräfte sein, die hier überhaupt ins Spiel treten können. Ueberdies würde eine Verlängerung des Bulbus von hinten nach vorn doch nicht ohne Veränderung der durchsichtigen Trennungsflächen von Statten gehen können. Es wird in der That im Auge die Accommodation nach einem ganz andern Principe bewerkstelligt; die bildauffangende Tafel, die Netzhaut, bleibt an Ort und Stelle, aber die optischen Constanten, insbesondere die Halbmesser der Trennungsflächen ändern sich, damit ändert sich die Lage der optischen Cardinalpunkte, und es ist begreiflich, dass diese gerade so können zu liegen kommen, dass im neuen Systeme das Bild eines in irgend welcher bestimmten Entfernung gelegenen Objectes genau dahin fällt, wohin im alten Systeme das Bild eines unendlich fernen Gegenstandes fiel. An sich wäre eine Accommodation nach zwei verschiedenen Rich- tungen hin denkbar: eine für divergentere Strahlenbündel (oder ge- ringere Ferne) und eine für weniger divergente Strahlenljündel (oder grössere Ferne) als wofür das Auge in seiner ursprünglichen Gestalt im Ruhezustände eingestellt war. In Wirklichkeit kommt die zweite Art der Accommodation als active Thätigkeit nicht vor, das Auge ist vielmehr im Ruhezustände auf möglichst grosse Ferne accommodirt. Legen wir unser schematisches und emmetropisches Auge immer noch der Betrachtung zu Grunde, so handelt es sich also darum zu er- reichen, dass bei einer neuen veränderten Gestalt desselben der Con- vergenzpunkt eines von einem nahe gelegenen leuchtenden Punkte aus divergent einfallenden Strahlenbündels in die Ebene zu liegen komme, in welcher bei der ersten Gestalt die Vereinigungspunkte parallel- strah liger einfallender Strahlenbündel lagen. Diese letzteren müssen also jetzt, da jedesfalls parallele Strahlen von dem gleichen Systeme ]^30 Aenderung der Brennweiten des Auges. früher zur Vereinigung gebracht werden als divergente, in dem ver- änderten Systeme vor der Netzhaut liegen. Parallelstrahlige Bündel werden aber, wie wir wissen, jederzeit in der zweiten Brennebene des Systems vereinigt. Es muss also die zur Accommodation für die Nähe führende Veränderung derart sein, dass die hintere Brennebene weiter nach vorn zu liegen kommt. Aus Gründen, die nur in mathematischer Form einfach dargestellt werden können, ist nicht zu erwarten, dass die fraglichen Veränderungen die Hauptebenen in gleichem Maassstabe nach vorn rückten. Es wird also die hintere Brennebene — das dürfen wir sicher voraussetzen — der zweiten Hauptebene im veränderten System näher liegen als im ursprünglichen. Nach einem Satze der Dioptrik ver- hält sich nun zum letztgedachten Abstände oder zur zweiten Brennweite die erste Brennweite, d. h. der Aljstand zwischen der ersten Brenn- und ersten Hauptebene, wie der Brechungsindex des ersten Mittels zum Brechungsindex des letzten. Sie erleidet also jederzeit, wenn nur die beiden Brechuugsindices dieselben bleiben, eine proportionale Verände- rung. Wir können uns also nunmehr kurz ausdrücken : die Veränderungen zum Behufe einer Accommodation für die Nähe werden jedesfalls von der Art sein, dass das veränderte System kürzere Brennweiten hat als das alte. Es ist klar, dass eine solche Veränderung erzielt werden könnte durch Vergrösserung der Brechuugsindices , durch Verkleinerung der Halbmesser der Trennungsflächen und durch Annäherung derselben an die vorderste, weil dann jeder einzelne Strahl bei jeder Brechung stärker abgelenkt würde. Dass in Wirklichkeit durch eine Vergrösserung der Brechuugsindices die Accommodation bewirkt würde, ist nicht wohl anzunehmen. Zu einer etwaigen Verdichtung der brechenden Massen in dem erforderlichen Grade sieht man durchaus keine Veranstaltungen. Man ist also darauf hingewiesen, in einer Veränderung der Krümmung und Stellung der Trennungsflächeu die Mittel zur Verkürzung der Brenn- weiten zu suchen. Von den Trennungsflächen ist aber wiederum eine gleich auszuschliessen. Die Hornhaut nämlich verändert ihre Krümmung bei der Accommodation entschieden nicht um eine Spur, wie sich aus Versuchen ergeben hat, wo dieselbe beim Fern- und Nahesehen sehr genau gemessen wurde. Es bleibt somit von vornherein nichts An- deres übrig, als in der Linse den eigentlichen Accommodationsapparat zu sehen. Die Veränderungen, welche die Linsenflächen bei der Einrichtung des Auges für die Nähe erleiden, lassen sich in der Wirklichkeit be- obachten und sogar quantitativ ziemlich genau bestimmen. Es dienen hierzu die Bilder eines leuchtenden Gegenstandes, welche den Licht- Reflexbildchen der Linsenfläclien. 181 reflexioüen au der vorderen und hinteren Linseufläche ihre Entstehung verdanken — die Sans on 'scheu oder Purkinje'schen Bildchen. Sie sind für dasselbe Object zwar weit weniger hell als das durch Reflexion au der vorderen Hornhauttläche erzeugte Bild, aber immerhin sichtbar und messbar. Wie aus der gemessenen Grösse und Lage der Bilder die Krümmung der betreffenden Flächen und die Lage ihrer Scheitel mit Hilfe einiger anderer, ebenfalls messbarer Grössen berechnet wird, kann hier nicht entwickelt werden, doch wird man auch ohne Rechnung über- zeugt sein, dass die Bilder unter sonst gleichen Umständen um so kleiner sein müssen, je stärker die Flächen gekrümmt sind. Von den fraglichen Bildchen und sogar vom Sinne ihrer Veränderungen bei der Einrichtung für die Nähe kann mau sieh übrigens ohne messende Vorrichtungen eine Auschauuug verschaffen. Man stelle in einem recht finsteren Zimmer in einer Entfernung von etwa 0,5"^ vor dem zu beobachtenden Auge, ein wenig seitwärts von seiner Sehaxe und in gleicher Höhe mit ihm, eine stark leuchtende Kerzeuflamme auf; das Auge des Beobachters stellt sich nun in eben der Höhe auf die andere Seite der Sehaxe des beobachteten Auges und sieht in die Pupille des letzteren aus bequemer Entfernung in einer Richtung, welche mit der Sehaxe des beobachteten Auges ungefähr denselben Winkel (am besten etwa von 15 — 20^) bildet, wie die Verbin- dungslinie des letzteren mit der Flamme. Der Beobachter sieht dann zu- nächst nach der Seite der Flamme im beobachteten Auge das allgemein bekannte kleine aufrechte Bildchen, das dem Hornhautreflex sein Dasein verdaukt (es braucht nicht nothwendig im Bereiche der Pupille zu liegen). Bei einiger Aufmerksamkeit, uud namentlich mit Hilfe einiger prüfenden kleinen Bewegungen mit dem Kopfe nach rechts uud links, findet er dann aber noch zwei mattere Lichtscheine — stets im Bereiche der Pupille; der eine (zunächst dem Hornhautreflex) stellt ein etwas grösseres auf- rechtes, jedoch sehr verwaschenes mattes Bildchen der Flamme dar. Der andere ist ein etwas helleres verkehrtes Bildchen derselben, das aber dem Hornhautrefiex doch lange nicht ^ ' an Helligkeit gleich kommt. p]s ist noch kleiner als dieser. In Fig. IH bedeutfit der schwarze Kreis die Pu- pille des beobachteten Auges. Die drei Flammenbildchen sind darin gezeichnet, wie inan sie etwa sehen würde, wenn die Kerze vom Standpunkte des Beobachte- ten aus rechts, der Ueobachtfr links stände. Das Bild- „ /i r chen über a ist der lloiiijiaiidt'llex, das über A rührt von der vorderen, das überc von der hinteren Lins stellt eine merkwürdige mathematische Beziehung fest zwischen dem Gesetz des Anklingens und dem Ge- setz des Abklingens der Lichtempfindung. Da indessen die Entwicke- lung nicht ohne Anwendung des Calculs möglich ist, so muss sie hier unterbleiben. Das verhältnissmässig ziemlich langsame Entstehen — „Anklingen" — das noch langsamere Vergehen — „Abklingen" — der Lichtempfin- dung, sowie die bedeutende Ermüdbarkeit haben ihren Sitz jedesfalls nur in den eigenthümlichen Anhangsapparaten der Sehnerven, in welchen die Bestrahlung chemische Processe auslöst. Denn die eigentliche Nerven- faser hat keine Eigenschaften, welche derartige Erscheinungen erklären Hessen. Sie ermüdet fast gar nicht (siehe S. 96), die Erregung entsteht in ihr merklich gleichzeitig mit dem Beize und dauert nur eine kaum messbare Zeit nach Aufhören des Keizes. Schon aus dem täglichen Leben bekannt sind die Intensitätsände- rungen der Lichtempfindung durch den sogenannten Contrast. Eine helle Fläche erscheint nämlich da, wo sie an eine dunkle grenzt, heller, und die dunkle erscheint an der Grenze noch dunkler als sonst. Dies be- ruht jedesfalls nicht, wie man wohl behauptet hat, auf einer Täuschung des ürtheils, wie man etwa einen mittelgrossen Menschen neben einem kleinen für gross und neben einem grossen für klein hält. Es handelt sich vielmehr ganz entschieden um Modificationen der Erregbarkeit einer Netz- hautpartie durch die I]rregung in der Nachbarschaft. Der Netzhauttheil, welcher das Bild der hellen Fläche aufnimmt, ist da, wo er an den nur sehwach erregten Theil grenzt, erregbarer und empfindet also stärker, und dieser letztere Theil der Netzhaut ist da, wo er an den stark erregten Theil grenzt, weniger erregbar und empfindet also schwächer, d. h. hier an der Grenze erscheint die dunkle Fläche noch dunkler. Die mannig- fachen anatomischen Zusammenhänge der Netzhautelemente unterein- ander lassen solche physiologische Wirkungen benachbarter Theile auf- einander ganz wohl begreiflich erscheinen. X. Das Sehen. Der Gesichtssinn kann jederzeit so viele qualitativ und quantitativ von einander unterscheidbare Lichtempfindungen vermitteln, als die per- cipirende Netzhautschicht vollständig von einander unabhängige Elemente besitzt. Jedesfalls ist jeder „Zapfen" der äussersten Netzhautschicht ein selbstständiges empfindendes Element. Von den „Stäbchen" dagegen 208 Empfindungskreise der Netzhaut. scheint nicht jedes einzelne einer gesonderten Empfindung fähig zu sein. Vielmehr scheint die einen Zapfen umgebende Gruppe von Stäbchen mit jenem zusammen eine physiologische Einheit zu bilden, so dass im Be- wusstsein nicht unterschieden werden kann, welches von den Elementen der Gruppe erregt ist, oder ob mehrere derselben zugleich erregt sind. Bekanntlich besteht die äusserste Schicht der Eetina in einem kleinen, dem Hornhautscheitel diametral gegenüberliegenden Theile von etwa 2™°i Durchmesser, dem sogenannten „ge Iben Fleck", aus lauter sehr dünnen Zapfen, während man in den mehr seitlich gelegenen Theilen die Zapfen um so spärlicher zwischen den Stäbchen vertheilt findet, je weiter man sich vom gelben Fleck entfernt. Im gelben Fleck werden daher viel mehr unterscheidbare Lichtempfindungen im Bereiche einer Flächenein- heit Platz finden als auf den Seitentheilen der Netzhaut. Man kann füg- lich jeden Theil der Netzhaut, der eine von anderen unterscheidbare Em- pfindung vermittelt, d. h. jeden Zapfen, resp. jeden Zapfen mit der umgebenden Stäbchengruppe einen „Empfindungskreis" nennen. Vermöge der oben vorgetragenen Sätze über den Gang der Licht- strahlen durch das Auge wird bei gehöriger Accommodation des brechen- den Apparates jeder Punkt des Objectes nur einen Punkt der Netzhaut bestrahlen. Wenn zwei von verschiedenen Punkten des Objectes ausge- gangene Strahlenbündel zwei Punkte im selben Empfindungskreise der Netzhaut treffen, so werden sie zur Erregung einer und derselben Licht- empfindung beitragen, wenn sie aber verschiedene Empfindungskreise treffen, werden sie unterscheidbare Empfindungen veranlassen. Man wird daher bei richtiger Einstellung des Auges in den Lichtempfindungen ge- nügendes Material besitzen, so viele Theile der vor den Augen gelegenen Gegenstände bezüglich der Intensität und Qualität (Farbe) der von ihnen ausgesandten Strahlen zu unterscheiden, als die Netzhaut Empfindungs- kreise enthält. Man weiss ferner, dass im richtig accommodirten Auge der Aus- gangspunkt eines Strahlenbündels, welches einen bestimmten Punkt der Netzhaut erleuchtet, in der geraden Linie liegen muss, welche den ge- dachten Netzhautpunkt mit dem Kreuzungspunkt der Kichtungsstrahlen verbindet — oder kurz auf dem zu dem Netzhautpunkt gehörigen Kich- tungsstrahl. (Siehe S. 170.) Hierin liegt principiell die Möglichkeit, mit jeder selbstständig ins Bewusstsein tretenden Lichtempfindung die Vorstellung einer bestimmten Kichtung zu verknüpfen, in welcher die physikalische Ursache derselben zu suchen ist. Diese Fähigkeit, die Ur- sache einer elementaren Lichtempfindung in der richtigen Kichtung vor- zustellen, wird ohne Zweifel durch Vergleichung der Lichtempfindungen mit anderen Empfindungen und mit dem Bewusstsein von Bewegungs- Projection der Lichtempfindiingen narli aussen. 209 antrieben, welche zu den Empfindungen führen, mit einem Worte durch „Erfahrung" gewonnen. Man braucht aber nicht nothwendig anzunehmen, dass diese Erfahrungen alle im individuellen Leben gemacht werden müssten. Sie können vielmehr auch von den Eltern auf die Kinder vererbt werden. Mag dem nun sein, wie ihm wolle, beim erwachsenen Menschen ist die Verknüpfung jeder bestimmten Lichtempfindung mit der zugehörigen Richtungslinie im Bewusstsein in hohem Grade entwickelt. Wir können daher, sowie wir ein Auge öffnen, nach jedem in dasselbe hineinscheinen- den Objectpuukte richtig unsere Hand bewegen, und wir haben eine deut- liche Vorstellung davon, wie die Kichtungen zu den Oljjectpunkten ne1)en- einander liegen. Diese Entstehung einer Vorstellung von den räumlichen Beziehungen verschiedener Objecte auf Grund der von ihnen verursach- ten Lichtempfinduugen ist das „Sehen". Nach den vorstehenden Erörte- rungen hat die sonst oft aufgeworfene Frage keinen Sinn mehr, wie es komme, dass man trotz des verkehrten Netzhautbildes aufrecht sehe. Man hat eben die Erfahrung gemacht, dass die von den oberen Netzhaut- theileu gelieferten Lichtempfindungen verursacht werden durch unten gelegene Objecte u. s. w. Die eingeübte Verknüpfung jeder Lichtempfin- dung mit der Vorstellung eines äusseren leuchtenden Objectes in be- stimmter Eichtung ist so fest, dass die Erregung einer Netzhautpartie gar nicht als innerer Zustand, als Empfindung zum Bewusstsein kommt, sondern eben als Vorstellung eines äusseren Objectes. Auf solche beziehen wir daher auch Erregungen, die gar nicht durch Strahlungen hervor- gerufen sind. So „schwebt ein heller Kreis auf der Nasenseite vor dem Auge", wenn man auf der Schläfenseite den Augapfel drückt. So spricht man von Flimmern vor den Augen, wenn aus inneren Ursachen rasch wechselnde Erregungen in der Netzhaut statthaben. Den Winkel zwischen den beiden zu zwei Objectpunkten, resp. ihren Netzhautbildern gezogenen Richtungsstrahlen nennt man den „Ge- sichtswinkel", unter welchem die Distanz der beiden Punkte erscheint. Die Genauigkeit des Sehens werden wir — ceteris parihus, namentlich immer richtige Accommodation vorausgesetzt — um so grösser zu nennen haben, je kleiner der Gesichtswinkel des Abstandes zweier Punkte sein darf, ohne dass die Wahrnehmung derselben als zweier gesonderten Punkte aufhört. Die Genauigkeit des Sehens ist für ein und dasselbe Auge in den verschiedenen Theilen des Gesichtsfeldes sehr verschieden. Fallen die Bilder der Punkte auf den sogenannten gelben Fleck, so genügt eine unter einem Gesichtswinkel von 60" bis 70" erscheinende Entfernung zweier Punkte, um sie, unter sonst günstigen Bedingungen, als getrennt wahrzunehmen. Fallen dagegen die JJilder der beiden Punkte nur etwa Fick, Physiologie. 3. Aofl. 14 210 Fixation. Blinder Fleck. 5™™ seitwärts von der Netzhaiitinitte, so muss der Gesichtswinkel ihres Abstandes beinahe 6" betragen, wenn sie getrennt gesehen werden sollen. Diese enorme Abnahme der Genauigkeit des Sehens von der Netz- hautstelle nach den Seitentheilen entspricht ganz dem bekannten Baue der Netzhaut. Man kann ja zwei Punkte nur dann als getrennt wahr- nehmen, wenn zwischen ihren Bildern mindestens ein ganzer Empfin- dungskreis Platz hat, der unerregt bleibt oder mit andersartiger Erregung erfüllt ist. Die Empfinduugskreise sind aber, wie oben (siehe S. 208) schon gezeigt wurde, in der Netzhautmitte sehr- viel kleiner als in den Seitentheilen derselben. Diese Thatsachen rechtfertigen die obige Bemerkung (siehe S. 177), dass für den Sehact die der Axe nahezu parallel einfallenden Strahlen- bündel vorzugsweise wichtig sind. In der That stellen wir stets das Auge so, dass die Bilder der Objecte, welchen wir besondere Aufmerksamkeit schenken, auf den gelben Fleck fallen. Man kann sogar ganz genau will- kürlich das Bild eines bestimmten Punktes auf die Mitte des gelben Fleckes, auf die sogenannte Netzhautgrube (fovea centralis retinae) fallen lassen. Man nennt alsdann diesen Punkt den „fixirten" Punkt und den im Auge festen Eichtungsstrahl zur fovea centralis die Fixation s- richtung, die Sehaxe oder Gesiehtslinie. Diese Linie fällt bei den meisten Augen nicht ganz genau mit der Symmetrieaxe des Augapfels zusammen. Ihr vorderes Ende weicht meist nasenwärts von der Symmetrieaxe ab. Das genaue Sehen mit dem gelben Fleck nennt man auch das „directe" Sehen, das mit den Seitentheilen der Retina das „indirecte". Um sich eine Vorstellung davon zu machen, wie ausserordentlich ungenau das indirecte Sehen ist, mache man folgenden Versuch: Man lege ein bedrucktes Blatt vor sich in die bequemste Sehweite, halte davor einen Schirm, auf dem ein Punkt zum Fixiren bezeichnet ist, ziehe nun den Schirm weg und schiebe ihn sofort wieder vor, so dass für einen Augenblick, während dessen die Fixationsrichtung sich nicht verändern kann, das bedruckte Blatt sichtbar wird. Man wird auf diese Weise höchstens 3 — 5 Buchstaben lesen können, d. h. nur innerhalb eines ganz kleinen Raumes um die Fixationsrichtung herum werden die Formen der Objecte genau erkannt. Ein ziemlich grosses Stück der Netzhaut, nämlich die Eintrittsstelle des Sehnerven, entbehrt gänzlich der Elemente, welche wir oben als die lichtempfindenden erkannt haben. Demgemäss können auch wirklich von dieser Stelle keine Lichtempfindungen geliefert werden, und ein Objeet, dessen Bild auf dieses Stück Netzhaut fällt, muss ungesehen bleiben. Da die Eintrittsstelle des Sehnerven oder der blinde Fleck nasenwärts vom gelben Fleck liegt, so muss der ungesehene Raum nach aussen vom Beweglichkeit des Angapfels. 211 Fixationspiinkt liegen. Der Richtiiiigsstralil zur Mitte der Eintrittsstelle des Sehnerven liegt mit der Fixationsrichtnng etwa in demselben wag- recliten Meridianschnitt des Auges (siehe Fig. 16) und bildet damit einen Winkel von etwa 15". Die Durchmesser des blinden Fleckes umspannen am Kreuzungspunkte der Richtungsstrahlen einen Gesichtswinkel von mehr als 6". Der ungesehene Raum ist daher so gross, dass der ganze Kopf eines wenige Schritte entfernten Menschen darin Platz hat, 4 ß und wenn man aus vierfachem Abstände der Strecke AB den Buch- staben A mit dem rechten Ange (bei geschlossenem linken) fixirt, so ver- schwindet B vollständig, und A, wenn man B mit dem linken fixirt. Dieser Ausdehnung des ungesehenen Raumes entspricht die Grösse des Sehnerven, dessen Durchmesser ungefähr 2™™ beträgt, also am Kreuzungspunkt der Richtungstrahlen einen Winkel von etwa 7 " umspannt. Der ungesehene Raum bildet übrigens keineswegs eine Lücke im ge- sehenen Räume. Er wird ausgefüllt mit Vorstellungen von Objecteu, welche ähnliche Lichtempfindungen hervorbringen würden wie die nächst anliegenden wirklich gesehenen Gegenstände, wofern er nicht durch Licht- empfindungen des andern Anges erfüllt wird. Bei den Erfahrungen, durch welche wir lernen, mit jeder elemen- taren Liehtempfindung die Vorstellung von einer bestimmten Richtung zu verknüpfen, spielen die Bewegungen des Angapfels selbst die wich- tigste Rolle. Schon aus diesem Grunde verdienten sie eingehende Be- trachtung. Man weiss aus der Anatomie, dass der Angapfel im Fettpolster der Augenhöhle durch lockere, leicht verschiebbare Biudegewebsschichten so befestigt ist, dass er leicht nach allen Seiten gedreht werden kann um einen bestimmten Punkt, den man den „Drehpunkt" genannt hat. Die unendliche Mannigfaltigkeit der Lagen, welche vermöge dieser Be- weglichkeit der Augapfel annehmen kann, lässt sich so eintheilen: Es kann erstens die Sehaxe innerhalb eines gewissen kegelförmigen Raumes alle möglichen Richtungen haben. PjS kann aber zweitens für jede be- stimmte Richtung der Sehaxe durch Drehung u m dieselbe der Augapfel noch in unendlich viele verschiedene Stellungen kommen. Der Muskelapparat würde ausreichen, diese dreifach unendliche Mannigfaltigkeit von Stel- lungen zu realisiren. Merkwürdiger Weise ist das den Bewegungsapparat beherrschende Nervensystem nicht im Stande, die Muskeln in allen er- forderlichen Verhältnissen zu erregen , um alle mechanisch möglichen Stellungen des Augapfels wirklich hervorzubringen. Man kann nämlich dem Auge nur so viele verschiedene Stellungen geben, als die Gesichtslinie 14* 212 Definition der Augenstellungen. innerhalb des den Bewegungsumfang bezeichnenden kegelförmigen Kanmes verschiedene Eichtungen annehmen kann; ist der Gesichtsliuie eine bestimmte Eichtuug gegeben, so ist damit factisch auch über die. ganze Orientirung des Augapfels um die Gesichtslinie als Axe ein- deutig verfügt, wenigstens wenn es sich um Sehen mit nur einem Auge handelt. um jede beliebige Augenstellung unzweideutig bezeichnen zu können, muss mau vor allen Dingen eine ursprüngliche Stellung, die „Primär- stellung" annehmen, aufweiche sich jede andere beziehen lässt. Welche bestimmte Stellung zu diesem Zwecke am besten taugt, kann erst her- nach angegeben werden. Um nun jede beliebige Augenstellung auf eine Primärstellung zu beziehen, genügen natürlich drei Winkelgrössen (von denen zwei die Lage der Gesichtslinie feststellen und eine die Orientirung des Augapfels um diese Lage). Man kann iu sehr verschiedener Art drei solche Coordinatenwinkel definiren, aber die zweckmässigste ist die fol- gende: „Blick ebene" heisst die Ebene, welche durch die Verbindungs- linie der Drehpunkte beider Augen und durch die jeweilige Lage der Gesichtslinie des betrachteten Auges bestimmt wird ; man kann alsdann einen ersten Coordinatenwinkel den Hebungswinkel (h) nennen, welcher die Neigung der Blickebene gegen die Primärlage dieser Ebene misst. Ein positiver Werth dieses Winkels bedeutet eine Erhebung der Blick- ebene über, ein negativer Werth eine Senkung desselben unter ihre ursprüngliche Lage. Ein zweiter Winkel, der Wendungswinkel (w), giebt an, um wie viel die Gesichtslinie von der Medianlinie in der Blickebene abweicht. Ein positiver Werth von lo bedeute Abweichung des vorderen Theils nach links, ein negativer Werth nach rechts. Durch die Winkel h und 10 ist demnach die Lage der Gesichtslinie auf eine bestimmte Primär- lage unzweideutig bezogen. Soll nun aber noch bestimmt werden, wie um diese Lage der Gesichtslinie der Augapfel orientirt ist, so muss noch ein dritter Winkel gegeben sein. Um ihn zu definiren, muss noch ein be- stimmter Meridianschnitt des Auges festgelegt werden. Es sei derjenige, welcher in der gewählten Ausgangsstellung mit der Blickebene zusammen- fiel. Er heisse der Netzhauthorizont; er enthält ganz bestimmte Netzhaut- elemente. Der dritte Coordinatenwinkel sei nun derjenige, welchen der Netzhauthorizont bei der jeweiligen Augenstellung mit der Blick- ebene macht. Dieser Winkel heisst der Raddrehungswinkel (r), weil bei einer Veränderung dieses Winkels allein einem Beobachter die Iris wie ein Rad gedreht erscheinen würde. Ein positiver Werth von r soll bedeuten, dass die Raddrehung im Sinne des Zeigers einer von dem Auge angesehenen Uhr vor sich geht, und ein negativer Werth eine umgekehrte. Gesetz der Augeustelinngen. 213 Der oben ausgesprochene Satz, dass mit der Lage der Gesichtslinie die Allgenstellung schon vollständig bestimmt sei . kann also jetzt dahin ausgedrückt werden, dass, wenn die zwei Winkel h und lo (welche die Lage der Gesichtslinie Ijestimraen) gegeben sind, der Winkel r mitge- geben ist oder dass r eine Function von h und w ist. Die Abhängigkeit des Winkels r von h und ic gestaltet sich aber sehr einfach, wenn zum Coordinatenanfang eine gewisse Primärlage gewählt wird. Für die meisten Augen ist diese sozusagen natürliche Primäiiage die Eichtung der Gesichtslinie wagrecht nach vorn bei normaler aufrechter Kopfhaltung, für viele, namentlich kurzsichtige AugeU;, ist eine etwas abwärts gerade nach vorn gehende Kichtung die natürliche Primärstellung. Werden die Winkel h, ic und r auf diese natürliche Primärstellung bezogen, so gilt der Satz, dass r einerlei Vorzeichen hat mit dem Producte von h und IC, und dass r Null ist, wenn das Prodiict von h und w Null ist. D. h. also, wenn die Blicklinie nach rechts erhoben oder nach links ge- senkt wird, so neigt sich die linke Seite des Netzhauthorizontes unter die Blickebene, wird dagegen die Blicklinie nach links erhoben oder nach rechts gesenkt, so neigt sich die rechte Seite des Netzhauthori- zontes unter die Blickebene. Bei blosser Wendung des Blickes nach rechts oder nach links, sowie bei blosser Hebung oder Senkung des Blickes aus der Primärstellung bleibt der Netzhauthorizont in der Blick- ebene. Auch die quantitative Abhängigkeit des Winkels r von h und iv kann man ohne Formel durch folgenden Satz ausdrücken: Für jede Lage der Blicklinie ist die Orientirung des Auges so, als ob es aus der Primärstellung in die neue gekommen wäre durch einfache Drehung um einen Durchmesser seines Aequators in der Primärlage als Axe. Dieser Satz gilt übrigens für grosse Stellungsänderungen des Auges nur an- näherungsweise. Der Muskelapparat, welcher dem Auge die nach dem vorstehen- den Gesetze möglichen Stellungen ertheilt, besteht bekanntlich aus sechs Muskeln. Ihre Zugrichtungen sind in Fig. 29 (siehe S. 214) im Grund- riss dargestellt. Durch punktirte Linien mit entsprechender Bezeichnung sind die Axen angedeutet, um welche die Muskeln, jeder alleinwirkend gedacht, das Auge drehen würden. Nur die Axen des r. externus und r. internus konnten nicht angegeben werden, da sie im Mittelpunkt senkrecht zur Ebene der Zeichnung stehen. Man .sieht, dass die Mus- keln paarweise fast genau Antagonisten sind, nämlich der r. externus und internus, der r. superior und inferior^ der obUqiuis superior und inferior. Fig. 30 (siehe S. 2L5) giebt eine Anschauung, welche Bahnen der Fixatioüspunkt auf einer zur Primärlage der Fixationsrichtung senkrechten 214 Die Augenmuskeln. ^siip. inf- Ebene beschreiben würde, wenn sich die sechs Muskeln, jeder allein,. Contrahirten. Der Drehpunkt ist in der durch die nebengezeichnete Linie dd gegebenen Entfernung Fig. 29. senkrecht über dem Mittel- punkt der Eigur zu denken. Die stärkeren Striche an den Enden der Bahnen deuten an, welcher Linie Bild bei der betreffenden Lage des Auges auf den Netzhauthori- zont fallen würde. Die Zah- len an den Linien bedeuten, um wie viele Winkelgrade das Auge durch den be- treffenden Muskel gedreht wäre, wenn der Fixations- punkt den Punkt bei der Zahl erreicht hat. Die Anschauung der Eig. 30 ergiebt unmittelbar, dass zu einer senkrechten Erhebung der Blickrichtung der r. siqoerior und der oh- r.ext. rsup. r.int. j. • x • r.inf. Liquus inferior zusammen- wirken müssen, und zu einer senkrechten Senkung der r. inferior und ohliquus superior. Diese beiden Paare von Muskeln verhalten sich nun dem Nervensystem gegenüber wie je ein Muskel. Es ist unmöglich, den r. superior allein zu erregen, stets üiesst gleichzeitig in den ohliquus inferior ein Erregungsstrom von ge- eigneter Stärke, um mit der Contraction des r. superior zusammen eine Erhebung des Auges zu bewerkstelligen. Entsprechendes gilt vom r. ijiferior und ohliquus superior. Der Augapfel besitzt also in gewissem Sinne nur vier Muskeln mit selbstständiger Innervation, nämlich: 1, einen Heber (r. superior mit ohliqious inferior) ; 2. einen Senker (r. inferior mit ohliquus superior); 3. einen Auswärtswender (r. externus); 4, einen Einwärtswender (r. internus). Will man das Auge schräg naseuwärts erheben, so muss man daher einen Willensimpuls zum Einwärtswender (r. internus) einer- seits und zum Heber (r. superior mit ohliquus inferior) andererseits senden. Diese beiden Impulse sind vollständig von einander unabhängig und können in jedem beliebigen Verhältnisse zu einander stehen, so dass jede beliebige schräge Richtung der Bewegung möglich ist. Der Impuls Wirkung der einzelnen Augenmuskeln. 215 zum Heber aber, der in seinem Ursprünge einheitlich ist, vertheilt sich innerhalb des Centralorganes in zwei Zweige, wovon der eine zum r. m- . Fisr. 30. r.txt. 50 ■ I ■ perior, der andere zum ohliquus inferior geleitet wird, und die Intensität dieser beiden Zweige steht immer in demselben Verhältnisse, mag der Gesammtstrom stark oder schwach sein. Von den Grenzen, innerhalb deren der Gesichtslinie jede beliebige Kichtung ertheilt werden kann, giebt die für ein bestimmtes Augenpaar entworfene Fig. 31 (siehe S. 216) eine Anschauung. Man denke sich das Auge der Ebene der Zeichnung senkrecht gegenüber, so dass der Punkt a in der Primärstellung der fixirte ist, und zwar in einem durch die Linie a c gemessenen Abstände. *) Das linke Auge kann alsdann alle Punkte der Ringlinie L, das rechte alle in der Einglinie R einge- schlossenen Punkte fixiren.. Man kann den eingeschlossenen Flächen- raum passend als das Blickfeld bezeichnen. Die schraffirten Theile deuten das Hineinragen der Nase an. Man sieht, dass sich von der Primärlage *) Bei wirklichen Beobachtungen muss man natürlich den Abstand und die Zeichnung im gleichen Verhältnisse vergrössern. 216 Die monocularen Blickfelder. aus das Blickfeld am weitesten nach unten und aussen erstreckt. Denkt man sich die Ebene so weit entfernt, dass dagegen der Abstand beider Augen von einander verschwindet ^^' und die Zeichnung in entsprechen- dem Maasse vergrössert, so ist der von beiden Einglinien umschlos- sene Kaum das beiden Augen bei Parallelstellungen gemeinsame Blickfeld. Das Sehen mit einem Auge giebt, wie oben gezeigt wurde, eine sehr genaue Vorstellung von der Richtung, in welcher sich jeder gesehene Punkt befindet ; wo er sich aber auf dieser Richtung befindet, darüber kann uns das einmalige Sehen mit einem Auge nicht belehren. Zwar, wenn nur schon sonst bekannte Gegenstände ge- sehen werden, so sind wir auch mit einem Auge im Stande, ihre Ent- fernung ziemlich richtig zu schätzen, denn sie geben ein um so grösseres Netzhautbild, je näher sie sind. Sowie aber der Gegenstand völlig im- bekannt ist oder für einen andern gehalten wird, sind wir den grössten Irrthümern ausgesetzt. So begegnet es oft, dass wir einen hoch in der Luft schwebenden Raubvogel für eine ganz nahe fliegende Mücke halten, die eben ein gerade so grosses Netzhautbild liefern würde. Für nahe gelegene Objecte hat ein einzelnes Auge allenfalls einen Anhalts- punkt für die Schätzung der Entfernung in der Anstrengung des Ac- commodationsapparates, der erforderlich ist, um es deutlich zu sehen. Besondere Versuche haben indessen dargethan, dass die hierauf gegrün- dete Schätzung der Entfernung sehr unvollkommen ist. Wenn man jetzt dieselben Gegenstände mit demselben Auge von einer andern Stelle aus betrachtet, dann wird man für jeden gesehenen Punkt eine neue Richtung finden, auf welcher er liegen muss. Dadurch ist aber der Ort dieses Punktes als Durchschnittspunkt zweier Geraden im Räume vollständig gegeben. Somit ist die Möglichkeit ersichtlich, die Entfernung der Gegenstände mit einem Auge durch successive Betrachtung von verschiedenen Standpunkten zu erkennen. Im con- creten Falle macht sich dies freilich nicht durch Ausmessung der Stand- linie und geometrische Construction der einzelnen Richtungsstrahlen. Es ist aber doch principiell derselbe Vorgang, wenn man von einem weiter rechts gelegenen Standpunkte einen Punkt h rechts von einem Punkte a Identische Netzhantstellen. 217 sieht, der von einem weiter links gelegenen Standpunkte links von dem- selben erschien und man nun nrtheilt: der Punkt h muss weiter entfernt liegen als der Punkt a. Genau das, was die successive Betrachtung der Gegenstände von verschiedenen Standpunkten mit demselben Auge bietet, das leistet in unendlich viel vollkommenerer Weise die gleichzeitige Betrachtung mit beiden Augen, die ja in der That verschiedene Standpunkte einnehmen. Dass beim Sehen mit beiden Augen die Gegenstände nicht doppelt erscheinen, obgleich doch jeder Punkt zwei Lichtempfindungen verur- sacht, hat ebensowenig etwas Auffallendes, wie dass wir einen Gegen- stand nicht doppelt vor uns zu haben glauben, wenn wir ihn mit beiden Händen betasten. Es erklärt sich eben aus der schon mehrfach hervor- gehobenen Thatsache, dass wir uns der unmittelbaren Empfindungen, wo sie nicht schmerzhaft sind, kaum als solcher bewusst werden, sie vielmehr sogleich als Material zur Bildung von Vorstellungen verwenden. Da trifft es sich nun fast regelmässig, dass die Vorstellung, welche sich aus den Empfindungen des Imken Auges aufbaut, dieselbe ist wie die aus den Empfindungen des rechten aufgebaute, wenigstens werden beide Vorstellungen stets in den selben Kaum hineinconstruirt, selbst in den Fällen, wo sie ihrer Beschaffenheit nach nicht zusammen- stimmen. Genau an denselben Ort im Kaume versetzt man stets die Ur- sache der beiden Empfindungen, welche den Erregungen der beiden Netz- hautgruben entsprechen. Es ist dies der binocular fixirte Punkt oder binoculare Blickpunkt. Gehen wir nun von den Netzhautmittelpunkten in beiden Augen auf dem Netzhauthorizont gleich viel nach rechts, so kommen wir. zu Punkten, die ihre Empfindungen in gleichweit nach links von der Fixationsrichtung abweichenden Eichtungen nach aussen pro- jiciren, vermöge der Erfahrungen, die schon am einzelneu Auge gemacht werden können. Gehen wir dann von diesen Punkten auf der Netzhaut gleichweit nach ölten, so kommen wir zu Punkten, die ihre Empfindung in gleichweit nach unten von den vorigen abweichenden Richtungen pro- jiciren. Ebenso können wir nach links, nach links und oben, nach rechts und unten etc. von den Netzhautgruben gleichweit gehen, immer kommen wir zu Punktpaaren, welche sich entsprechen bezüglich der Abweichung ihrer Projectionsrichtungen von den Fixationsrichtungen der beiden Augen. Solche Punktpaare nennt man „identische Stellen". Wenn nun die einzelnen Punkte eines Gegenstandes ihre Bilder auf lauter identische Stellen der beiden Netzhäute entwerfen, dann werden alle diese Punkte ohneweiters als einfache erkannt. Dies ist der Fall bei Betrachtung sehr entfernter Objecte mit parallel gerichteten Blicklinien. 218 Binoculare Tiefemvahruehmung. In diesem Falle ist dann aber auch die Untersclieidnng der überall sehr grossen Entfernungen mit beiden Augen nicht vollkommener als mit einem. Anders wird die Sache, wenn die beiden Sehaxen auf einem näher gelegenen Punkte unter einem merklichen Winkel convergiren. Sei z. B, A in Fig. 32 der fixirte Punkt, der seine beiden Bilder auf den Netz- hautgruben Fl des linken und Fr des rechten Auges entwirft. B sei ein zweiter Punkt des Gegen- ^^' Standes und seine beiden Bilder h[ und b^ mögen an ihrer Beschaffenheit (Farbe und Helligkeit und stetigem Zusammenhang mit anderen Bildern) als Bilder dessel- ben Punktes leicht kennt- lich sein. Da das Bild im rechten Auge weiter links von der Netzhautgrube liegt als im linken Auge, so er- scheint (siehe S. 217) der Punkt vom Standpunkt des rechten Auges weiter rechts vom fixirten Punkte als vom Standpunkte des linken. Daraus kann (natürlich ganz instinctiv) der Schluss ge- zogen werden, dass der wirk- liche Ort des Punktes b nicht nur weiter rechts, sondern auch weiter ent- fernt ist als der Ort von a. Aehnliche Schlüsse liegen der ganzen Construction eines binocular ge- sehenen, nach den drei ^Abmessungen des Raumes ausgedehnten Gegen.- standes zu Grunde. Es giebt übrigens auch bei convergenten Sehaxen stets gewisse Punkte des Raumes, welche ihre Bilder auf identische Stellen beider Netz- häute werfen. Ihr Inbegriff — - „Horopter" genannt — bildet eine zu- sammenhängende Linie, die sich nach beiden Seiten ins Unendliche er- streckt und in der Gegend des fixirten Punktes im Allgemeinen von merklich doppelter Krümmung ist. Eine nähere Betrachtung dieses geometrischen Gebildes ist nicht von grossem Interesse. Coordination der Augenmuskeln. 219 Das Urtheil über die Kichtuug und Entfernung, in welcher der hino- cular fixirte Punkt Fliegt, gründet sich hauptsächlich auf das Bewusstsein von der Innervation der Muskeln, die zur bestimmten Fixation geführt hat. Gehen wir von einer bestimmten Lage des fixirten Punktes aus, etwa von der, in welcher er sich befindet, wenn beide Augen die Primär- stellung einnehmen. Für ein normales Augenpaar würde dies die Lage in unendlicher Entfernung im Horizont gradaus nach vorn sein, denn die Primärstellung solcher Augen entspricht (siehe S. 213) der Kichtuug der Sehaxe gradaus nach vorn. Beide Sehaxen zielen dann also auf einen unendlich fernen Punkt — sind parallel. An einen belieljigen andern Ort kann der binocular fixirte Punkt, der „Blickpunkt", gebracht werden durch drei Acte, nämlich erstens durch Hebung (resp. Senkung), zweitens durch Kechtswenduug (resp. Linkswendung), drittens durch Annäherung. Es lässt sich nun zeigen, dass zu jeder wirklichen Verlegung des Blick- punktes drei von einander unabhängige und einfache Willensimpulse ge- hören, welche diesen drei Acten entsprechen. Es wurde oben schon bei der Lehre von den Bewegungen eines Auges gezeigt, dass dem Willen gegenüber die sechs Muskeln eigentlich nur vier selbstständige darstellen, nämlich einen Heber der Sehaxe, bestehend aus r. superior und ohliquus inferior, die nicht getrennt von einander erregt werden können, einen Senker, bestehend aus r. inferior und ohliquus superior, einen Auswärts- wender, r. externus, und einen Einwärtswender, r. internus. Man kann sich sehr leicht am eigenen sowie an fremden Augen überzeugen, dass der Heber des einen Auges niemals gesondert erregt werden kann, sondern stets mit dem Heber des andern Auges zusammen und in gleichem Maasse. Die recü superiores und obliqui inferiores beider Augen zusammen bilden also dem Willen gegenüber gleichsam einen einzigen Muskel, den Heber des binocularen Blickpunktes. Oder mit anderen Worten, man muss sich im Centralorgan eine Ganglienzellengruppe denken, welche einen vom Sitze des Willens zu ihr geschickten einfachen Erregungsstrom mit me- chanischer Nothwendigkeit im richtigen Verhältniss auf die recti superiores und obliqui inferiores so vertheilt, dass beide Blickrichtungen um gleich viel gehoben werden. Eine zweite Ganglienzellengruppe muss man sich aus demselben Grunde denken, welche in ganz derselben Beziehung steht zu den mm. recü Inf eriores und ohliqui superiores ; diese Zellengruppe steht der Senkung des binocularen Blickpunktes vor. Ebenso muss man sich eine dritte denken, die den r. externus des rechten und den r. internus des linken Auges gleich stark und gemeinsam erregt auf einen einheitlichen Willensimpuls, welcher Kechtswendung des Blickes zum Ziele hat. Endlich muss man sich eine Zellengruppe denken, welche den r. externus des linken und den r. internus des rechten Auges gemeinsam beherrscht; 220 Cooi-dination der Augenmuskeln. ZU ihr miiss der Willensimpuls gehen, wenn eine Links Wendung des Blickes bezweckt wird. Denn man kann eben nie den r. extemus des einen Auges contrahiren, ohne dass der internus des andern sich zusammenzieht. Neben diesen vieren muss man sich nun aber noch zwei andere Coordina- tionscentra denken, die den Blickpunkt annähern oder entfernen. Die Aunäherung des binocularen Blickpunktes bei gleichbleibender Eichtung wird offenbar bewerkstelligt durch stärkere Convergenz der Sehaxen; denn Annäherung des Blickpunktes heisst eben, dass sich die Sehaxen näher am Auge schneiden. Hiezu führt natürlich eine gleichzeitige Contraction der beiden recti intemi, sie müssen also durch das eine der beiden zuletzt gedachten Coordinationscentra innervirt werden. Ebenso muss das andere die beiden recti externi regieren, denn ein Willensimpuls, welcher Ent- fernung des binocularen Blickpunktes bezweckt, muss die Convergenz der Sehaxe vermindern, was durch gleichzeitige Contraction der beiden recti externi geschieht. Hiernach ordnen sieh die zwölf Muskeln beider Augen in sechs Gruppen: 1. Heber des Blickpunktes : recti superiores und obliqui inferiores beider Augen ; 2. Senker des Blickpunktes ; recti inferiores und obliqui superiores beider Augen ; 3. Eechtswender des Blickpunktes : r. extemus des rechten und r. internus des linken Auges ; 4. Linkswender des Blickpunktes : r. extemus des linken und r. internus des rechten Auges ; 5. Annäherer des Blickpunktes: die beiden rectiintemi; 6. Entferner des Blickpunktes: die beiden recti externi. Da jede dieser Gruppen ihr besonderes Coordina- tionscentrum hat und regelmässig nur vermittelst dieser der Wille auf die Augenmuskeln wirkt, so zieht sich stets nur eine oder mehrere dieser Gruppen zusammen. Dass jeder r. extemus und jeder r. internus in zwei Gruppen vorkommt, hat nichts Auffallendes. Bei der grossen Ver- wickelung der Bahnen im Centralorgan kann ein Muskelnerv recht wohl von verschiedenen Centralstellen aus Erregungsströme erhalten (siehe S. 117). So gut wie z. B. der rectus abdominis sowohl von dem Centrum des Nieseus wie von dem Centrum des Hustens aus erregt werden kann, ebenso gut kann auch z. B. der r. internus des linken Auges sowohl vom Centrum der Rechtswendung wie vom Centrum der Annäherung des Blick- punktes Erregung empfangen. Die vorstehende Lehre war, was die Heber und Senker des Blickes betrifft, von Alters her bekannt. Was die anderen Gruppen betrifft, leuchtet sie weniger ein, und es ist gut, einige Thatsachen beizubringen, welche sie ausser Zweifel stellen. Man nehme an, die Sehaxen seien parallel gerichtet auf einen gradaus vor uns liegenden sehr fernen Punkt. Nun sei in der Gesichtslinie des rechten Auges nahe vor demselben ein sicht- barer Punkt und man gehe zur Fixation desselben über. Dazu ist keine Doppelinnervation dos r. externus und internus. 221 Lageänderimg des rechten Auges erforderlich und es brauchte lediglich der r. internus des linken Auges inuervirt zu werden. Das ist aber nach unseren Sätzen unmöglich, denn er kann nur entweder mit dem externus des rechten Auges (als Rechtswender) oder mit dem internus des rechten Auges (als Näherer) innervirt werden. Da in unserem Falle aber die Ge- sichtslinie des rechten Auges ihre Richtung behalten soll, so darf weder sein r. externus noch sein r. internus allein mit dem r. internus des linken Auges zusammenwirken. Wir müssen vielmehr annehmen, dass sowohl vom Centrum der Rechtswendung als vom Centrum der Näherung des Blickpunktes Erregung ausgeht, damit sich dieContractionen des r. internus und externus am rechten Auge Gleichgewicht halten. Dies geschieht nun in der That. Man bemerkt nämlich bei dem beschriel)enen üeber- gang von der Fixation eines unendlich fernen Punktes zur Fixation eines nahe vor dem rechten Auge gelegenen an diesem stets ein leichtes Zucken, was eine Thätigkeit seiner Muskeln andeutet. Besonders deutlich aber verräth sich diese Thätigkeit dadurch, dass, wenn man den Versuch bei geschlossenem linken Auge anstellt, das ganze Sehfeld eine kleine Schein- bewegung nach rechts erleidet. Im Sinne unserer Lehren ist die Zusammenwirkung des r. internus des linken mit dem r. internus und externus des rechten Auges bei dem gedachten Vorgange noch auf andere Weise erklärlich. Die Richtungen der verschiedeneu Lagen des binocularen Blickpunktes müssen von einem Punkte aus gerechnet werden, und zwar ist dies normaler Weise der Mittel- punkt zwischen beiden Augen. Gehen wir nun von einem unendlich weit gerade vor jenem Mittelpunkte gelegenen Blickpunkt über zu einem Blick- punkte nahe und gerade vor dem rechten Auge, so muss erstens die bino- culare Blickrichtung etwas nach rechts gewendet werden, daher Contrac- tion des r. externus des rechten und des internus des linken Auges, und zweitens muss der Blickpunkt genähert werden: also Contraction der beiden recti interni. Die Effecte der Contractionen des r. externus und in- ternus des rechten Auges heben sich dabei gegenseitig auf. XI. Schutzorgane des Auges. Der frei zu Tage liegende Abschnitt der Oberfläche des Augapfels kann zeitweise auch noch bedeckt und mithin vor schädlichen äusseren Einwirkungen geschützt werden durch das Schliessen der Augenlider. Dies sind bekanntlich zwei von oben und unten her vortretende Haut- falten, durch dünne Knorpelplatten ein wenig gesteift. Ein in weiten Ringen die Lichtspalte umgebender Ringmuskel schiebt sie zum Schlüsse zusammen. Dieser Muskel wird vom n. facialis beherrscht. Die Erregung kann einmal rein willkürlich geschehen, dann aber auch reflectorisch. 222 Ableitung der Thränen. und zwar sowohl vom heftig erregten — geblendeten — n. opticus, als auch von den in der Oberfläche des Angapfels und den Lidrändern ver- breiteten sensiblen Fasern des n. trigeminus her. Letzteres geschieht schon bei der leisesten Berührung. Die Oeffnung der Lidspalte scheint hauptsächlich bewirkt zu werden durch die Zusammenziehung der Muskelbündel, welche dicht an der Lid- spalte hinlaufen und, sich in den m. sacci lacrymalis fortsetzend, hinter dem Thränensacke ihren einen festen Punkt haben. Der andere feste Punkt liegt am äusseren Augenhöhlenrande, und da beide Punkte hinter dem Mittelpunkte der Hornhautkrümmung liegen, so muss die Anspannung diese Faserbündel über die Hornhaut zurückstreifen, d. h. eben die Lid- spalte öffnen. Unterstützt wird dieser Vorgang noch durch die Hebung des oberen Augenlides, für welche ein eigener in der Augenhöhle von hinten nach vorn gehender Muskel, der levator palpehrae superioris, bestimmt ist. Er wird von einem Aste des n. oculomotorius beherrscht. Die freie Oberfläche des Augapfels wird durch die beständig darüber hinfliessende Thränenflüssigkeit feucht und rein erhalten. Durch die fettige Secretion der Meibom'schen Drüsen wird der Augenlidrand ein- gefettet und dadurch das IJeberfliessen der Thränenflüssigkeit verhütet, so lange nicht diese Flüssigkeit im üebermaasse secernirt wird, wie beim Weinen. Li der Kegel wird die Thränenflüssigkeit vom Auge nach, der Nase weiter befördert durch den aus der Anatomie bekannten canalis nasolacrymalis. Dieser beginnt im inneren Augenwinkel mit einer Er- weiterung, dem sogenannten Thränensack. In ihn münden die Thränen- röhrchen ein, welche mit ganz feinen Löchelchen an den Augenlidrändern beginnen. Dieser Apparat stellt ein kleines Pumpwerk dar, das durch die oben erwähnten Muskeln in Bewegung gesetzt wird, welche denSchluss und die Oeffnung der Lidspalte bewerkstelligen. Beim Schlüsse des Lides nämlich wird das innere Augenlidband von den auf dem Augapfel ihren Stützpunkt findenden Fasern des Kreismuskels aus seiner Nische hervor- gezogen. Dabei wird der Thränensack erweitert und er saugt sich von den Thränenpunkten her voll Flüssigkeit. Bei Wiederöffnung der Augen- lider wird, wie oben schon erwähnt wurde, durch die Zusammenziehung des m. sacci lacrymalis das innere Lidband wieder nach hinten gezogen und so der Thränensack ausgepresst; er kann sich aber nur nach der Nase entleeren, da die Zusammenziehung der dicht am Lidrande verlaufenden Muskelfasern die zwischen ihnen verlaufenden Thränenröhrchen com- primirt. IL Theil. Die vegetativen Thätigkeiten. 6. Abschnitt. Die Säfte und ihre Bewegung. 1. Capitel. Das Blut, I. Allgemeines. Das Blut ist seiner Bestimmung nach der Vermittler des Stoffwech- sels, denn es nimmt einerseits die assimilirten Nahrungsstoffe zunächst auf, um sie an die Orte zu führen, wo sie gebraucht werden, und es nimmt anderseits die in den Organen verbrauchten Stoffe wieder auf, um sie an die Stätten der Ausscheidung zu bringen. Für sich betrachtet, ist das Blut ein Gewebe von Zellen mit flüssiger Tntercellularsubstauz, welche Plasma genannt wird. Die Histiologie lehrt uns zwei Arten von Zellen im Blute kennen: die rothen und die farblosen. In einem Kubikmillimeter Blut sind beim Menschen mehr als 4,000.000 rothe Blutzellen enthalten, weisse nur etwa 8000 — 10.000, jedoch sind diese Verhältnisse nicht blos bedeutenden individuellen Schwankungen unterworfen, sondern sie ändern sich auch bei demselben Individuum je nach den Zuständen des Körpers bedeutend. Dem Gewichte nach macht die Intercellularflüssigkeit wohl stets mehr als die Hälfte des ganzen Blutes aus. Normale Mittelwerthe lassen sich noch nicht geben, am allerwenigsten für das menschliche Blut. Zu einiger Orientirung mag eine Analyse von Pferdeblut dienen, wo sich fand 637 per mille Plasma und 363 per mille Zellen, Die Zellen sind specifisch schwerer als das Plasma, und zwar scheinen die rothen noch schwerer als die weissen zu sein. Meist sinken übrigens die Zellen im Plasma so langsam, dass sich l)is zur Gerinjiung noch keine klare Plasmaschicht an der Oberfläche gebildet hat. Den rothen Zellen verdankt das Blut seine tiefrothe Farbe und seine Undurchsichtigkeit. Auf diese beiden Eigenschaften des Blutes hat daher Gestalt und Beschaffenheit der Blutkörperchen Einfluss, wenn auch der Farbstoff selbst unverändert bleibt. Setzt man z. 1}. Wasser zum 224 Blutkörperclien. Blute, so erscheint es im aiiffalleiideu Lichte dunkler, aber es ist weniger undurchsichtig. Offenbar rührt dies her vom nachweislichen Aufquellen der rotheu Blutzellen. In diesem Zustande reflectiren dieselben weniger Licht, weil weniger Krümmungen und Knickungen an den Oberflächen vorkommen und weil wohl auch der Brechuugsindex der gequollenen Blut- körperchen weniger von dem des Plasma differirt. Umgekehrt wird das Blut im auffallenden Lichte heller, dafür aber noch undurchsichtiger, wenn man coucentrirte Salzlösungen, z. B. Kochsalzlösung zusetzt. Dadurch nämlich schrumpfen die Blutkörperchen, es gibt also noch mehr Facetten an denselben, welche einer diffusen Keflexion des Lichtes günstig und dem Durchlassen desselben ungünstig sind. Die Gesammtmenge des im menschlichen Körper enthaltenen Blutes wii'd in verschiedenen Zeiten erheblich verschieden sein; man sehätzt sie durchschnittlich zu etwa Vi 3 des ganzen Körpergewichts. Die beste Me- thode, die gesammte Blutmeuge zu bestimmen, besteht darin, dass man einen wässerigen Auszug der ganzen Leiche so lauge verdünnt, bis seine Farbe der einer bekannten Verdünnung des Blutes gleichkommt. Kennt man die Gesammtmenge des Auszuges, so kann man die darin enthaltene Blutmenge (welche eben die ganze Blutmenge der Leiche ist) berechnen, sowie man die Voraussetzung zulässt, dass die Farbe eines wässrigen Aus- zuges der Leiche lediglich von seinem Gehalt au Blutfarbstoff abhängt. II. Die lothen Blutkörperchen. Die rothen Blutkörperchen des Menschen gleichen biconcaven Linsen. Der Durchmesser schwankt zwischen 0,0064 und 0,0086°^"^, die Kanddicke beträgt durchschnittlich etwa 0,0019. Der Aggregatzustand des ganzen Gebildes ist offenbar fast flüssig, so dass die rotheu Blutkörperchen am ersten suspendirten Tröpfchen oder Gallertklümpchenzu vergleichen sind. Man sieht dies, wenn man das Blut in den kleinsten Gefässen wäh- rend des Lebens beobachtet, was an manchen Stellen auch bei einigen Säugethieren möglich ist. Man sieht hier, wie sich die Blutscheibchen in beliebige Gestalten drängen lassen. Beim Frosche hat man die rothen Blutkörperchen auch die natürlichen Poren der Gefässwand durchwandern sehen, wobei sie stellenweise zu einem feinsten Fädchen ausgezogen sind. Diese Thatsache verträgt sich nicht wohl mit einem andern als dem nahezu flüssigen Aggregatzustande. Zwei nähere Bestandtheile setzen das rothe Blutkörperchen zu- sammen, das sogenannte „Stroma" und das „Hämoglobin"; letzteres bedingt die Farbe. Das Hämoglobin ist im Plasma oder Serum ganz leicht löslich, dennoch aber wird es von demselben nur unter ganz besonderen Umständen den Blutkörperchen entzogen, ohne dass, wie es scheint. Oxyh.ämoglotin. 225 weder das Hämoglobin, noch das Stroma eine eigentlich chemische Um- setzung erleidet. So z. B. lassen die Blutkörperchen ihr Hämoglobin fahren, wenn man das Blut wiederholt gefrieren und wieder aufthaueu lässt, ebenso wenn man eine Keihe von elektrischen Schlägen hoher Spannung durch das Blut gehen lässt. Das Blut verwandelt sich durch diese Behandlung in eine klare Lösung des Hämoglobins und ist als- dann in weniger dicken Schichten vollständig durchsichtig, „lackfarben- artig". Aehnlich wirkt Entziehung des locker gebundenen Sauerstoffs (wovon weiter unten die Kede sein wird), ferner Verdünnung des Blutes mit Wasser, Zusatz von gallensauren Salzen, Schütteln mit Aether, Chloroform, Alkohol oder Schwefelkohlenstoff". Die letztgenannten Zu- sätze zum Blute lösen das Stroma nach und nach auf, daher ihre Wir- kung nicht so räthselhaft ist. Das Hämoglobin krystallisirt, wenn es von den Körperchen getrennt ist, aus der Lösung im Serum leicht aus, wenn man dieselbe concentrirt oder abkühlt. Das Hämogloliin geht mit dem Sauerstoff leicht eine lockere Ver- bindung ein — Oxyhämoglobin genannt. Sie entsteht schon beim Schütteln der Hämoglobinlösung mit gewöhnlichem Sauerstoff". Sie lässt aber ihren locker gebundenen Sauerstoff ebenso leicht wieder fahren; schon an das Vacuum giebt sie denselben ab, noch rascher an reducirende Substanzen, z. B. Schwefelammonium, Eisenoxydulsalze und metallisches Eisen. Dass ül)rigens das Oxyhämoglobin eine wirkliche chemische Ver- bindung des Sauerstofi'es mit dem Hämoglobin ist, darauf deutet schon das optische Verhalten. In optischer Beziehung zeichnet sich nämlich das reducirte Hämoglobin durch einen Absorptionsstreif im gelben Theile des Spectrums aus. Schüttelt man die Lösung mit Sauerstoff, so zerfällt der Absorptionsstreif in zwei, deren einer der Linie D (Natriumliuie), der andere der Linie E des Sonnenspectrums näher rückt, der Kaum dagegen, der dem Absorptionsstreif des reducirten Hämoglobins entspricht, ist beim Oxyhämoglobin hell. Auch ist es ziemlich sicher, dass die lockere Ver- bindung des Hämoglobins mit Sauerstoff zu Oxyhämoglobin nach einem festen Aequivalentverhältnisse stattfindet. Sehr genau ist dasselbe freilich noch nicht ermittelt, doch dürfte nach annähernd übereinstimmenden Ver- suchen verschiedener Forscher anzunehmen sein, dass sich mit Is'' Hämo- globin etwa 0,0024 g'' Sauerstoff zu Oxyhämoglobin verbinden. Hiernach wäre das Molekulargewicht des Hämoglobins etwa gleich 13.000 zu setzen, was bei der enorm verwickelten Zusammensetzung dieses Körpers nichts Ph'staunliches hat. Eine ähnliche Ver))indung wie mit dem Sauerstoff" geht das Hämo- globin ein mit Kohlenoxyd und mit Cyanwasserstoff". Diese beiden Stoö'e verdrängen den Sauerstoff" vom Oxyhämoglobin und lassen sich ihrerseits F ick, Physiologie. 3. Aufl. lö 926 ^^^ weissen Blutkörperclien. durch Sauerstoff nicht verdrängen. Vielleicht beruht auf diesem Umstand die giftige Wirkung der beiden Verbindungen. Das Hämoglobin ist eine noch complicirtere chemische Verbindung als Eiweiss, denn dies findet sich unter den Spaltungsproducteu des Hämo- globins nebeu einem stark eisenhaltigen Farbstoff, dem sogenannten Hämatin. Namentlich bei Behandlung des Hämoglobins mit Säuren tritt diese Spaltung ein, aber auch beim blossen Stehen in massiger Tempe- ratur. Es bilden sich dabei ausserdem noch freie Säuren aus dem Hämo- globin. Aus 100 Theilen Hämoglobin entstehen bei dieser Spaltung etwa 4 Theile Hämatin und nahezu 96 Theile Eiweiss. Das Stroma der rothen Blutkörperchen ist eine quellungsfähige, in Aether und Chloroform lösliche Substanz von höchst verwickelter Zu- sammensetzung. Neben einem eiweissartigen Körper kommt darin die unter dem Namen des Lecithin bekannte phosphorhaltige Verbindung vor. Im Blute ist in dem Stroma Quellungswasser vorhanden, und dies enthält wahrscheinlich Salze gelöst. Man findet namentlich Kali und Phosphor- säure in der Asche der Blutzellen. Ausserdem sind im Stroma der Blut- körperchen Spuren von Seifen, Fetten und Cholestearin. Die rothen Blutzellen gehören sicher zu den Körperbestandtheilen, welche am reichsten an festen Stoffen sind. Wenn auch keine bestimmte Normalzahl augegeben werden kann, so wird man doch annehmen dürfen, dass durchschnittlich mehr als '/4 des Gewichtes der Blutkörperchen auf den festen Kückstand und weniger als 3/4 auf das Wasser kommt. III. Die farblosen Blutkörperchen. Die farblosen oder weissen Blutkörperchen sind nackte Zellen von ganz ähnlicher Beschaffenheit, wie solche an vielen anderen Orten gefunden werden, z. B. im Bindegewebe, in der Lymphe, im Eiter. Da in jeder Zeiteinheit mit der Lymphe der grossen lymphatischen Stämme eine mehr oder weniger grosse Anzahl von „Lymphkörperchen" ins venöse Blut eingeführt wird, so hat man schon seit langer Zeit die weissen Blut- körperehen für eingewanderte Lymphkörperchen gehalten. Die weissen Blutkörperchen bestehen aus einer Protoplasmamasse, die um einen deutlich sichtbaren Kern gelagert ist. In Kugelform hat ein weisses Blutkörperchen einen Durchmesser von etwa 0,01°^"^. Es kann aber auch sehr verschiedene andere Formen annehmen, denn sein Protoplasma bewegt sich ziemlich lebhaft. Um dies im Blute von Säuge- thieren gut zu sehen, muss man dasselbe bei Körpertemperatur auf dem heizbaren Objecttisch mikroskopisch beobachten. Wie andere lebendige Protoplasmaklümpcheu nehmen die weissen Blutzellen gern feine Körnchen, z. B. Farbstoffkörnchen, in sich auf. Manche Pathologen sehen daher die Auswanderunf^ der weissen Blutkörperchen. 221 weissen Blutzelleu als die Hauptträger der Mikroorganismen (Bakterien) an, in welchen man die Keime der ansteckenden Krankheiten erkennen zu dürfen glaubt. Vielleicht hängt die Fähigkeit, kleine Körperchen in sich auf- zunehmen, zusammen mit der Klehrigkeit, welche Eigenschaft die weissen Blutkörperchen in hohem Grade besitzen. Sie hängen sich vermöge der- selben gern an die Wand der Blutgefässe an und wälzen sich langsam derselben entlang. Nur wenn der Blutstrom sehr schnell ist, reisst er sie ganz mit fort. Ist ein weisses Blutkörperchen einmal au der Wand eines Capillar- gefässes festgeklebt, so wird es bei dem nahezu flüssigen Aggregat- zustande seines Leibes leicht durch die feinen Poren der Gefässwand durchgedrückt. Ob dabei die active Beweglichkeit des Protoplasma eine Rolle spielt, ist noch nicht zu entscheiden. Die weissen Blutkörperchen wandern viel häufiger durch die Wände aus den Capillargefässen als die rothen. Insbesondere beobachtet man diese Auswanderungen weisser Blutkörperchen massenhaft in entzündeten Geweben. Vielleicht sind alle Eiterzellen ausgewanderte weisse Blutzellen oder Abkömmlinge von solchen. Begünstigende Momente für das Aus- wandern der Blutkörperchen scheinen einerseits hoher Druck im Gefäss und Langsamkeit des Stromes. Beide Momente sind in der Entzündung nach der Annahme der meisten Pathologen wirksam. Die ausgewanderten Blutkörperchen befinden sich bei der bekannten Disposition der Lymphräume wohl meist in solchen, d. h. in den Gewebe- lücken, von denen aus offene Wege zu den Lymphgefässen führen. Das ausgewanderte weisse Blutkörperehen ist ein Lymphkörperchen und kann also durch den ductus thoracicus wieder in das Blut zurückkommen. Es ist jedoch damit noch nicht gesagt, dass alle Lymphkörperchen, welche an der Einmündungssteile der Lymphgefässe ins Blut ergossen werden, früher aus demselljen ausgewanderte weisse Blutkörperchen seien. Es bleibt vielmehr auch jetzt, nachdem das Auswandern der weissen Blut- körperchen bekannt geworden ist, immer noch die Annahme sehr wahr- scheinlich, dass die Lymphkörperchen zum grössten Theil in den Lymph- drüsen als Brut der daselbst sitzenden Zellen entstehen, im Blute zu rothen Körperchen umgestaltet werden und als solche zu Grunde gehen. Die Umwandlung der weissen Blutkörperchen in rothe scheint haupt- sächlich im sogenannten rothen Knochenmarke und in der Milz stattzu- finden. An diesen beiden Orten bewegt sich das Blut unter sehr eigen- thüralichen Bedingungen. Die arteriellen Capillargefässe gehen nämlich nicht unmittell»ar in die venösen über, sondern ergiessen sich in weite, seeartige *Iläume, aus denen sie durch siebartige Zellennetze in die sehr weiten venösen Capillaren hinübersickern. Diese colossale Erweiterung 15* 990 Gerinming des Blutes. des Strombettes bedingt ein sehr langsames Strömen, gleichsam ein Stagnii-en des Blntes unter Verhältnissen, die von denen in den gewöhn- lichen Gefässen wesentlich abweichen. Es ist daher begreiflich, dass hier besondere Processe platzgreifen können. Das Protoplasma der weissen Blutkörperchen wird nun eben hier zum Theil in Hämoglobin verwandelt, stösst den Kern nebst einem Beste unveränderten Protoplasmas aus und wird so zu einem rothen Blutkörperchen. Die ausgestossenen Kerne scheinen sich in der Flüssigkeit aufzulösen. IV. Das Blutplasma. Die Blutflüssigkeit oder das sogenannte „Blutplasma" ist vor Allem ausgezeichnet durch die merkwürdige Eigenschaft der Gerinnbarkeit. Be- kanntlich verwandelt sich jede aus dem Thierkörper herausgelassene Blutmenge alsbald in einen festen Körper von gallertartiger Beschaffen- heit. Dass diese spontane Gerinnung zunächst dem Plasma zukommt, sieht man daran, dass das Plasma, auch wenn es von Blutkörperchen frei ist, diese Erscheinung zeigt. Bei manchen Blutarten (namentlich beim Pferdeblut) senken sich nämlich die Blutkörperchen schon vor der Ge- rinnung so weit, dass eine klare Plasmaschicht obenauf steht, und diese gerinnt ebenso wie das Gesammtblut. Die Gerinnung des Säugethier- und Menschenblutes erfolgt in der Eegel in den ersten zehn Minuten nach x^ustritt aus dem lebenden Körper. Arterielles Blut gerinnt etwas früher als venöses. Durch sofortiges Ab- kühlen auf 0" wird die Gerinnung verzögert (vielleicht in infinitum), ebenso durch Erhitzen auf mehr als 55 o. Durch Warmhalten und Er- wärmen bis höchstens 50" wird die Gerinnung beschleunigt, desgleichen durch Zusatz von Wasser. Zusatz von Alkalien, namentlich von Ammo- niak, von Alkalisalzen (z. B. schwefelsaurem Natron, Peptonen), von schwachen Säuren, insbesondere von Kohlensäure (die man gasförmig durchleitet), hindert die Gerinnung oder verzögert sie wenigstens. Schlägt man das Blut, so tritt die Gerinnung etwas schneller ein, aber es gesteht nicht das ganze Blut zu einer Galerte, sondern der Stoff, dessen Festwerden die Gerinnung bedingt — das Fibrin — scheidet sich in Flocken und Klümpchen aus, die sich an die Kuthen anhängen, womit das Blut geschlagen wurde. Nimmt man diese Fibrinflocken her- aus, so hat man das sogenannte „defibrinirte Blut". Die Flüssigkeit, in welcher hier die Körper chen suspendirt sind (Plasma mini;s Fibrin), nennt man Serum ; man kann es leicht klar abheben, wenn man die Körperchen sich senken lässt. Wenn das Blut ruhend in Masse geronnen ist, so zieht sich die Galerte nach einiger Zeit zusammen und presst aus sich eine klare, fast Serum. 229 wasserhelle Flüssigkeit aus, diese ist offenbar wiederum niclits Anderes als Serum, d. h. Plasma mimis Fibrin. Das Fibrin ist ein eiweissartiger Körper. Es bildet sich wahrschein- lich erst während der Gerinnung durch Einwirkung eines fermentartigen Körpers auf einen der eiweissartigen Bestandtheile des Blutplasmas, ähn- lich wie das Milchcasei'n durch gewisse Fermente in die geronnene Modi- .fication verwandelt wird. Das Blutgerinnungsferment soll aus zerfalleneu weissen Blutkörperchen entstehen. Das Absterben und Zerfallen von solchen wäre hiernach eine Vorbediugnng für die Gerinnung. In der That soll das defibrinirte Blut stets weniger weisse Körperchen enthalten als das lebende Blut. Nach einer viel verbreiteten Hypothese tragen übrigens zur Fibrinbildung zwei verschiedene eiweissartige Bestandtheile des Blut- plasmas unter Einwirkung des Fermentes bei. Dass die Blutgerinnung eine gährungsartige Erscheinung ist, wird auch durch die Thatsache wahr- scheinlich, dass bei ihr Wärme frei wird. Das circulirende Blut wird vor der Gerinnung geschützt durch seinen Stoffaustausch mit den anderen Geweben. Offenbar beseitigt dieser eine der Gerinnungsursachen — welche, wissen wir noch nicht — fort- während in demselben Maasse, in welchem sie durch die inneren Processe des Blutes gebildet ^wird. In dem aus dem lebenden Körper heraus- crenommenen Blute verlaufen diese Processe noch fort und bilden die Ge- rinnungsursache; sie kann aber nun nicht mehr durch den Stottaustausch mit anderen Geweben beseitigt werden und tritt daher in Wirksamkeit. Das Serum ist eine klare, schwach alkalisch reagirende wässrige Lösung einer Anzahl verschiedener Stoffe. Darunter stehen bezüglich der Menge obenan die eiweissartigen Körper. Eine vom Hühnereiweiss kaum zu unterscheidende Verbindung macht im Menschenblute 5— 670 des Serums aus. Ihm verdankt das Serum die Eigenschaft, in der Hitze zu gerinnen, besonders nachdem es neutralisirt ist. Spuren weise kommen noch andere Modificationen des Eiweisses im Blutserum vor, nämlich erstens das sogenannte Paraglobulin — es fällt beim Durchleiteu von Kohlen- säure aus — und zweitens Natronalbuminat, das durch Neutralisation mit stärkeren Säuren, z. B. Essigsäure, fällbar ist; drittens Peptone, deren Eigenschaften in der Lehre von der Verdauung näher beschrieben werden, Fette enthält das Blutserum in sehr wechselnder Menge. Nach fettreichen Mahlzeiten ist das Serum von suspendirten Fettkügelcheu milchig getrübt. Auch fettsaure Alkalien — sogenannte Seifen — sind stets in nachweisbaren Spuren im Serum vorhanden, sowie ferner das den Fetten in manchen Beziehungen ähnliche (Jholestearin. Die stickstoft"haltigen krystallisirbaren Stoffe, welche im Harn vor- kommen, sind fast sämmtlich auch im Blutserum nachgewiesen: Kreatin, 230 Asche des Serums. Kreatinin, Harnsäure, Harnstoff, Hippiirsäure etc., ferner noch Zucker und Milchsäure. Die genannten organischen Verbindungen sind jedoch sämmtlich in quantitativ nicht allgemein angehbaren, sehr kleinen Mengen vorhanden. Endlich enthält das Serum mehrere mineralische Stoffe, vorwiegend Kochsalz. Man hat beispielsweise durch Untersuchung einer Serumasche gefunden in 100 Gewichtstheilen Serum : 0,036 Gewichtstheile Chlorkalium, 0,554 „ Chlornatrium, 0,028 „ schwefelsaures Kali, 0,032 „ phosphorsaures Natron, 0,030 „ phosphorsauren Kalk, 0,022 „ phosphorsaure Magnesia, 0,093 „ freies Natron. V. (Quantitative Zusammensetzung des Blutes. Die quantitative Zusammensetzung des Gesammtblutes aus den sämmtlichen aufgezählten Bestandtheilen ist ohne Zweifel selbst bei einem Individuum beträchtlichen Schwankungen unterworfen. Es lässt sich hierüber aber nichts Allgemeines aussagen. Selbst im einzelnen Falle lässt sich die quantitative Bestimmung der einzelnen Bestandtheile nur sehr unvollkommen ausführen, besonders die der Blutkörperchen, weil die letzteren durch kein Hilfsmittel in unverändertem Zustande vom Plasma oder Serum getrennt werden können. Um indirect die Gesammtmenge des Plasmas und somit der Kör- perchen berechnen zu können, müsste man einen Stoff kennen, der aus- schliesslich im Plasma, nicht in den Körperehen vorkommt. Wenn man alsdann einerseits den Gehalt des Plasmas an diesem Stoffe ermittelt und andererseits den Gehalt des Gesammtblutes an demselben, so ist offenbar die letztere Zahl, durch die erstere dividirt, die Menge Plasma, welche in der Gewichtseinheit Blut enthalten ist. Hat man erst diese ge- funden, so kann man die einzelnen Stoffe, die im Gesammtblute und im Plasma oder Serum quantitativ bestimmt sind, auf diese beiden Bestand- theile durch Kechnung vertheilen. Man hat als einen solchen dem Plasma allein angehörigen Stoff bis jetzt nur das Fibrin ansehen zu dürfen ge- glaubt. Diese Methode kann also nur da angewendet werden, wo es ge- lingt, vor der Gerinnung körperchenfreies Plasma zur Bestimmung seines Gehaltes an Fibrin zu erhalten. Sie ist daher bis jetzt nur auf Pferdeblut angewandt worden, dessen Körperchen sich so rasch senken, dass vor der Gerinnung eine klare Plasmaschicht abgehoben werden kann. Quantitative Blutanalyse. 231 Auf Grund einer nacli dieser Methode ausgeführten Analyse kann man sich mit einiger Abrundung der Originalzahlen und Zuziehung mög- lichst wahrscheinlicher Annahmen über die nicht direct bestimmten Ver- hältnisse von der Zusammensetzung des Pferdeblutes etwa folgende Vor- stellung machen: (Wasser 200 Zellen 328) l Hämoglobin 116 (feste Stoffe 128 ( Andere organische Stoffe 10 l«»Theile) )g,l^^ ^ 2 Blut ent- ^^"«^ ' 'Wasser 604 Fibrin 7 , Plasma 672 ( l Albumin 52 feste Stoffe 68 ( ■' -i'oW o I Andere organische Stoffe 6 Kali- und Natronsalze . 4 Kalk- und Magnesiasalze 1 Diese Tabelle wird auch für das Menschenblut ein zwar nicht ganz getreues aber doch annähernd richtiges Bild geben. VI. Gase des Blutes. Bringt man Blut ins Vacuum, so entweichen daraus gewisse Mengen Sauerstoff, Kohlensäure und Stickstoff. Im Durchschnitt geben 100^'="' Blut aus der Carotis des Hundes, wenn man die Gasvolumina misst, bei 0^ und 1" Quecksilberdruck etwa 14'^'^"' Sauerstoff, 29'^'="' Kohlensäure, 1,4^^=- Stickstoff. Das wäre in Gewicht ausgedrückt etwa 0,026 g^' 0, 0,075 &'' CO2 und 0,002 s'" N. Man sieht also, dass der Gehalt an diesen auspumpbaren Gasen dem Gewichte nach noch nicht Vio% «n-eicht, aber sie sind gleich- wohl physiologisch von grösster Wichtigkeit, wenigstens der Sauerstoff und die Kohlensäure. Ohne diesen Gehalt des Blutes an auspumpbarem Sauerstoff' insbesondere kann das Leben eines Säugethieres kaum einige Minuten fortdauern. Der ins Vacuum entweichende Stickstoff" ist offenbar einfach absorbirt im Blute enthalten, das ja bei der Circulation in den Lungen beständig mit der stickstoffhaltigen Atmosphäre in Berührung kommt und ähnlich wie Wasser, das mit Luft in Berührung steht, eine kleine Menge Stickstoff" aufnimmt. Dieser absorbirte Stickstoff" 232 Auspumpbare Gase des Blutes- spielt keine Rolle bei den Processen im Blnte und verdient keine weitere Beachtung. Von dem aus dem Blnte auspumpbaren Sauerstoff ist ein kleiner Theil sicher auch als einfach absorbirtes Gas in der Flüssigkeit verbreitet, der überwiegend grösste Theil desselben ist aber ohne Zweifel chemisch an das Hämoglobin gebunden und bildet damit die schon früher als „Oxyhämoglobin" geschilderte Verbindung. Man darf sich übrigens nicht etwa vorstellen, dass diese Verbindung durch die Berührung des Blutes mit dem Vacuum auf geheimnissvolle Weise zerlegt wird. Die Zerlegung der Verbindung geschieht vielmehr durch die in allen Körpern beständig vorhandene Molekularbewegung, welche wir Wärme nennen. Die neuere Chemie bezeichnet solche Vorgänge bekanntlich als „Dis- sociation". Das Vacuum thut bei der Abscheidung des Sauerstoffes aus dem Blute nichts Anderes, als dass es die dissociirten Sauerstoffmoleküle sofort aus dem Bereiche der Hämoglobinnioleküle fortschafft, so dass keine Wiedervereinigungen stattfinden können, welche, wenn eine Sauer- stoffatmosphäre von gehöriger Dichtigkeit über dem Blute steht, eben so häufig sind wie die Dissociationen. Im Ganzen erscheint alsdann der Ge- halt an Oxyhämoglobin als ein beständiger. Für diese Auffassung spricht besonders die Thatsache, dass die Abscheidung des Sauerstoffes durch Er- höhung der Temperatur sehr beschleunigt wird. Natürlich darf diese nicht über etwa 40 ^ hinausgetrieben werden, weil sonst tiefer greifende Zer- setzungen im Blute eintreten. Die auspumpbare Kohlensäure ist im Blute an Alkalien gebunden — wahrscheinlich grösstentheils an Natron, da dieses Alkali in so grosser Menge vorhanden ist, dass es der ganzen Blutflüssigkeit eine nicht ganz schwache alkalische Reaction ertheilt. Dass die Abscheidung der sämmt- lichen Kohlensäure wie die des Sauerstoffes vom Hämoglobin als blosse Dissociation aufzufassen sei, ist nicht wahrscheinlich. Die chemische An- ziehung zwischen Kohlensäure und Natron ist, wenn auch nicht sehr, doch wohl immerhin so stark, dass bei den niedrigen Temperaturen, welche hier in Betracht kommen, die Dissociationen von Molekülen der Verbindung schwerlich sehr häufige sein werden. Eine eigentlich ehemische Rolle kann aber auch bei der Austreibung der Kohlensäure die Anwesen- heit des Vacuums nicht spielen. Sie kann vielmehr auch hier nur iu der Weise begünstigend wirken, dass sie das Produet anderweitiger zersetzen- der Kräfte sofort aus dem Wege schafft und mithin die Wiedervereinigung der frei gewordenen Kohlensäure mit zurückbleibenden freien Natron- molekülen unmöglich macht. Zur Zerlegung des kohlensauen Natrons im Blute wirken wahrscheinlich neben der Wärmebewegung noch gewisse nicht näher bekannte fixe Säuren, welche sich fortwährend im Blute neu Mengen der Blutgase. 233 bilden. Der Beweis für diese Bildung liegt in der Thatsache, dass die Al- kalescenz einer aus der Ader genommenen Blutmeuge fortwährend ab- nimmt, freilich nicht ganz bis Null. Die vollständige Austreibung der Kohlensäure ins Vacuum ist noch immer eine sehr räthselhafte Erschei- nung. Besonders merkwürdig ist die Thatsache, dass ins Vacuum bei rascher Auspumpung nicht nur die ganze Kohlensäure des Blutes ent- weicht, sondern sogar noch Kohlensäure von einfach kohlensaurem Natron, das man dem Blute eigens zugesetzt hat. Die bei Austreibung der Kohlensäure vermuthlich mitwirkenden Säuren werden ohne Zweifel hauptsächlich in den Blutkörperchen ge- bildet, denn nur aus dem Gesammtblute kann man alle Kohlensäure durch einfaches Auspumpen abscheiden, nicht aus körperchenfreiem Serum. Es spielt ferner dabei der Sauerstoff des Oxyhämoglobins eine Rolle, denn das Austreiben der Kohlensäure gelingt um so besser, je sauerstoffreicher das Blut ist. Soll dagegen aus reinem Serum alle Kohlensäure ausgetrieben werden, so muss eine stärkere Säure zuge- setzt werden. In der Volumeinheit Serum ist stets etwas mehr Kohlensäure ent- halten als in der Volumeinheit Gesammtblut. Doch ist der Unterschied keineswegs so gross, dass man die ganze Kohlensäure ausschliesslich dem Serum oder Plasma zuschreiben könnte. So sind beispielsweise einmal gefunden in 100 Theilen Blut . . . 30,50 Volumina Kohlensäure, 100 Theilen Serum . . 31,95 Volumina Kohlensäure, gemessen bei 1"' Hg-Druck und 0" Temperatur. Sollte der Kohlensäure- gehalt des Blutes ausschliesslich im Serum vorhanden sein, so hätte man, wie leicht zu berechnen ist, im vorliegenden Beispiel anzunehmen, dass das Blut zu 95"/,, aus Serum bestehe und nur ö'Vd Körperchen ent- hielte, was offenbar ungereimt ist; man muss also aus den angegebenen Zahlen, denen noch viele ähnliche an die Seite gestellt werden könnten, folgern, dass ein guter Theil der Kohlensäure des Blutes in den Kör- perchen steckt. Das arterielle Blut ist reicher an Sauerstoff, das venöse reicher an Kohlensäure. In der folgenden kleinen Tabelle sind Zahlen zusammen- gestellt, welche sich auf Hundeblut beziehen und als Mittel aus mehreren Bestimmungen berechnet sind. N 0 CO2 Arteriell .... 2,0 14,G 30,0 Venös 1,5 9,0 34,4 234 Unterschied zwischen venösem und arteriellem Blute. Die Zahlen Ibedeuten, wie die entsprechenden oben, die Volumina der betreffenden Gase gemessen bei 0« und l'^ Druck, welche aus 100 Volumeneinheiten der bezeichneten Blutart ins Vacuum entweichen. Bekanntlich unterscheiden sich die beiden Blutarten sehr augen- fällig durch ihre Farbe. Das einer Arterie des lebenden Körpers ent- nommene Blut sieht hell kirschroth aus, während das aus einer Vene iliessende eine dunkel braunrothe Farbe zeigt. Nachweislich ist dieser Farbenunterschied lediglich durch den verschiedenen Sauerstoffgehalt bedingt, doch kann er schwerlich allein dadurch erklärt werden, dass im venösen Blute ein Theil des Hämoglobingehaltes reducirt ist, während im arteriellen Blute das Hämoglobin in der ßegel fast ganz als Oxyhämo- globin enthalten ist. Die beiden Hämoglobinmodificationen zeigen näm- lich in klarer Lösung der beiden Blutarten keineswegs genau entsprechende Farbenunterschiede. Es scheint vielmehr, dass die Blutkörperchen im Granzen durch Eeduction ihres Hämoglobingehaltes andere optische Eigen- schaften annehmen, vermöge deren sie weniger Licht zurückstrahlen, und dass aus diesem Grunde das venöse Blut so viel dunkler erscheint. Diese zu vermuthende Aenderung in der Beschaffenheit der Blutkörperchen kann aber nicht eine Gestaltsänderung sein, ähnlich der welche sie bei Ver- dünnung des Blutes erleiden, denn wie wir (S. 223) sahen, macht Ver- dünnung zwar auch das Blut im auffallenden Lichte dunkler, dafür aber durchsichtiger, während das venöse Blut sowohl im auffallenden Lichte dunkler, als auch weniger durchsichtig ist als das arterielle. VII. Cliemische Processe im Blute. Mehrere der bereits besprochenen Thatsachen deuten darauf hin, dass im Blute fortwährend chemische Processe verlaufen. Bei ihnen wird namentlich der leicht gebundene Sauerstoff des Oxyhämogiobins in festere Verbindungen übergeführt. Dem entsprechend sieht man in der That hellrothes Blut sich allmälig verdunkeln, indem nach Massgabe derUeber- führung in festere Verbindungen das Oxyhämogiobin reducirt wird. Es dauert jedoch selbst bei einer Temperatur von 40" immer mehrere Stunden, bis diese Verdunkelung, d. h. theilweise Eeduction des Hämoglobins ein- tritt. Ganz anders gestaltet sich die Sache beim circulirenden Blute. Dies wird in den wenigen Secundeu, während es die Körpercapillaren durch- strömt, aus helkothem in dunkelrothes verändert, d. h. in wenigen Secundeu wird ein namhafter Bruchtheil seines Hämoglobingehaltes reducirt, wie die soeben angeführten Unterschiede zwischen dem Sauerstoffgehalte des Arterien- und Venenblutes ausweisen. Man könnte daher wohl daran denken, dass man es hier gar nicht mit chemischen Processen innerhalb des Blutes zu thun hat, dass vielmehr die durchströmten Gewebe den Eeduction des Oxyhämoglobins. 235 Sauerstoff aus dem Blute herausziehen und dass er in ihnen erst in feste Verbindungen übergeführt wird. Zum Theil ist dies wohl auch wirk- lich der Fall. Man kann aber auch noch eine andere Annahme machen, um den scheinbaren AYiderspruch zu lösen. Beim Durchströmen der Ca- pillaren könnten nämlich aus den Geweben leicht oxydirbare Stoffe ins Blut übertreten, die in demselben auf Kosten des Hämoglobinsauerstoffes sofort verbrennen. Dieser letztere wäre bei normaler Zufuhr durch Ath- mung immer in solchem üeberschuss vorhanden zu denken, dass von jenen leicht verbrennlichen Stoffen selbst im venösen Blute keine nachweisbaren Spuren zurückbleiben. Man könnte dann in der That nicht erwarten, dass venöses Blut durch Schütteln mit Sauerstoff vollständig oxydirt, beim Stehen in der gehörigen Wärme sogleich wieder dunkel wird. Wenn es wieder dunkeln soll, dann müssen sich eben in ihm selbst erst allmählich reducirende d. h. leicht verbrennliche Stoffe bilden, da die Zu- fuhr von solchen aus den Geweben für Blut ausserhalb des Körpers fehlt. Die Bildung einer hinreichenden Menge solcher reducirenden Substanzen im Blute selbst erfordert nun aber offenbar längere Zeit. Wenn diese Annahme über die Ursache der raschen Blutveränderung in den Körpercapillaren richtig ist, dann darf man allenfalls im Blute er- stickter Thiere noch einen Vorrath jener leicht verbrennlichen reducirenden Stoffe erwarten, da dies nach Aufzehrung des vorhandenen Sauerstoffes noch die Gewebe passirt hat. Dies scheint in der That der Fall zu sein, wenigstens hat man bemerkt, dass Erstickuugsblut, durch Schütteln mit Sauerstoff wieder hellroth gemacht, rasch dunkelt, und wenn man eine gemessene Menge Sauerstoffes von Erstickungsblut absorbiren lässt, so findet man beim Auspumpen nach kurzer Zeit nicht mehr diese ganze Menge vor. Es muss also ein Theil derselben rasch zur Oxydation vorräthiger, leicht verbrennlicher Substanzen verwendet sein. Besonders im Erstickungsbhite von thätigen Muskeln und von der Niere lassen derartige Versuche ver- hältnissmässig viel von jenen reducirenden Stoffen vermuthen, wenig da- gegen im Blute der Leber. Was für Stoffe bei diesen Versuchen und in den Capillaren des Körpers den freien Sauerstoff des Oxyhämoglobins binden, hat man bis jetzt noch nicht ermitteln können. 2. Capitel. Lymphe. Die Lymphe ist eine mit dem Blute in engster Beziehung stehende Flüssigkeit. Wie schon die Anatomie zeigt, ergiesst sich die Lymphe, sofern sie sich ül^erhaupt Ijewegt, fortwälircuid durch den ductus fhoraclcus und truncuH lyriqjhaticus dextev in die grossen Körpervenen, da eine Bewegung in entgegengesetztem Sinne wegen der ebenfalls aus der Anatomie 236 Die Lymphe als Bluttranssudat. bekannten Klappen der Lympligefässe unmöglich ist. Sowie hiernacli einer- seits jede Lymphmenge über kurz oder lang zu einem Blutbestandtheil werden muss, so muss dieselbe auch vorher einmal Blutbestandtheil gewesen sein, denn man wird sich schwerlich eine stetige Zuflussquelle für die Lymphräume denken können, wenn diese nicht im Blute gesucht wird. Da nun aus dem Blutgefässsystem keine offenen Wege in die Lymphräume führen, so ist sicher die Lymphe wesentlich diejenige Flüssigkeit, welche unter dem Einflüsse des Druckes die dünnen Wände der feinen Blutgefässe durchsickert. Sie ist mit einem Worte ein Filtrat aus dem Blnte. Sie wird demnach im Grossen und Ganzen nur Blut- bestandtheile enthalten. Allerdings ist es denkbar, dass von diesen Be- standtheilen Manches an die Gewebselemente angesetzt und dafür Anderes von diesen aufgenommen wird. Diese Auffassung wird durch die Untersuchung der Lymphe, soweit eine solche bis jetzt hat ausgeführt werden können, nur bestätigt. In dem Filtrate können wir natürlich nicht alle Blutbestandtheile in demselben quantitativen Verhältnisse erwarten, wie sie im Blute vorkommen. Vor Allem ist klar, dass Blutkörperchen in der Lymphe in der Kegel nicht vorkommen werden. Zwar sind die Wände der Capillaren nicht absolut undurchgängig für Blutkörperchen, aber solche Durch tritte werden unter den normalen Verhältnissen doch nur selten stattflnden. Wie weiter oben erwähnt (siehe S. 227), gehen weisse Blutkörperchen leichter durch die Wände der Capillaren als rothe. Dem entsprechend stellt denn nun auch der Inhalt der Lymphräume, wo noch reines Blutfiltrat zu erwarten ist, im Allgemeinen eine klare Flüssigkeit dar, in welcher nur sehr spär- liche, von weissen Blutkörpern nicht unterscheidbare Zellen schwimmen. Die Flüssigkeit selbst ist wasserreicher als das Blutplasma, und unter den gelösten Stoffen sind die mineralischen und sogenannten Extractiv- stoffe in etwa gleicher Menge vorhanden wie im Blutplasma, die eiweiss- artigen Stoße dagegen in geringerer. Dies entspricht der bekannten Er- fahrung, dass, wenn eine Lösung eiweissartiger Stoffe durch thierische Membranen filtrirt, das Filtrat ärmer an ihnen ist als die angewandte Lösung, dagegen hat das Filtrat von Salzlösungen in der Kegel die gleiche Concentration. Die Salze der Lymphe sind auch qualitativ dieselben wie die Salze des Blutes. Ehe das Bluttranssudat in die grösseren Lymphstämme gelangt, hat es die sogenannten „Lymphdrüsen" zu durchsetzen. Hier sickert es, wie die Histiologie lehrt, durch Zellenklumpen — und zwar offenbar sehr langsam — hindurch. Dabei kann es sehr wohl beträchtliche Verände- rungen seiner Beschaffenheit erleiden. Namentlich werden von den Zellen der Lymphdrüsen vielleicht viele abgeschwemmt und mengen sich dem Znsammensetzung iler Lymphe. 237 Lymplistrom bei. lu ihnen hätte mau dann, sofern sie alsbald ins Blut gelangen, junge farblose Blutkörperchen, und es wären die Lymphdrüsen als Brutstätten von solchen zu betrachten, welche für den Abgang durch Zerstörung von Blutkörperchen Ersatz schaffen. Unter den eiweissartigen Bestandtheilen der Lymphe, wie wir sie aus den grossen Stämmen des Lymphsystems gewinnen, ist einer dem Fibrin des Blutplasmas identisch. Er veranlasst in der aus dem Gefässe gelassenen Lymphe eine spontane Gerinnung. Sie tritt jedoch meist nicht so voll- ständig und schnell wie im Blute ein. Ganz gleiche Zusammensetzung hat die Lymphe weder an allen Orten des Lymphsystems noch an demselben Orte zu allen Zeiten. Einer- seits werden die verschiedenen Filtrationsbedingungen schon in verschie- denen Organen ein ursprünglich nicht ganz gleiches Bluttranssudat liefern. Dieses kann ferner durch die verschiedenen Zersetzuugsproducte der Organe in verschiedener Weise modificirt werden. Den wichtigsten Ein- tluss auf die Zusammensetzung der Lymphe im ductus thoracicus übt die BeimengungderDarmlymphe,welchewährendderVerdauungsperiodejedes- falls viele Bestandtheile der Nahrungsmittel führt. Eines derselben, das Fett, macht sich sogar schon dem blossen Auge bemerklich. Wenn nämlich fett- reiche Nahrung in den Darmkanal eingeführt ist, so ist der Inhalt der Darm- lymphgefässe — der sogenannten „Chylusgefässe" — und des cZmc^ms^äo- 7-aciCMs von zahlreichen aufgeschwemmtenFettkügelchenrailchweissgefärbt. Eine Idee, wie die Lymphe der grossen Stämme etwa einmal zu- sammengesetzt sein kann, geljen die folgenden tabellarisch zusammen- gestellten Kesultate einer Analyse. 1000 Theile Lymphe schieden sich in 44,83 Theile Coagulum und 955,17 Theile Serum. 1000 Theile 1000 Theile Serum Coagulum enthielten enthielten Wasser 958,61 907,32 Festen Rückstand . . . . . 42,39 92,68 1000 1000 Fibrin — 48,66 AllHimin (32,02 1 Fette und Seifen . ! . ^. C^?^ 1,23 34,36 Andere organische Körper 1,78 | Salze 7,36 6,07 42,39 89,09 238 Disposition des Gefässsysteras. 3, Capitel. Bewegung des Blutes. I. Anatomische Einleitung. Aus der Seite 223 definirteu Bedeutung des Blutes im thierischen Haushalte leuchtet sofort die Notliwendigkeit seiner fortwährenden Be- wegung ein. Sofern es nämlich einerseits die vorläufige Lagerstätte des neu aufgenommenen Ernährungsmaterials ist, muss offenbar dafür ge- sorgt sein, dass dieses an die Stellen gelangt, wo es gebraucht wh-d, d. h. in die fuuctiouirendeu Organe. Sofern das Blut andererseits die Zer- setzungsproducte verbrauchter Organbestandtheile aufnimmt, muss dafür gesorgt sein, dass dieselben schliesslich an die Stellen kommen, wo sie aus dem Körper ausgeschieden werden. Beiden Aufgaben genügt die Bewegung des Blutes. Wie die Anatomie lehrt, ist das Blut enthalten in einem Kanal- system, welches, abgesehen von den Einmündungssteilen der grossen Lymphstämme, vollständig geschlossen ist. Fig. 33 stellt ein Schema Fig. 33. desselben dar. *) Um die Anordnungen dieses Systems zu überblicken, gehen wir vom linken Herzventrikel aus. Von hier führt zunächst ein einziger Kanal, die „Aorta" weiter. Derselbe giebt schon gleich an seinem Anfange zwei kleine Kanäle für das Herz selbst ab und verzweigt sich dann in seinem weiteren Verlaufe in immer zahl- reichere Aeste. Diese Aeste, „Arterien" genannt, verbreiten sich in allen Theilen des Körpers; jeder derselben zerfällt selbst wieder in kleinere und zahlreichere Zweige. Die letzten so entstehenden Zweige sind von mikroskopischer Feinheit, so dass höch- stens ein Blutkörperchen in ihrer Lichtung Platz hat — die sogenannten Haarge- fässe oder Capillaren, Sie durchziehen in verschiedener Dichtheit und Anordnung die verschiedenen Organe. Geht man den Capillaren- entlang weiter, so sammeln sich dieselben wieder zu " allmählich immer grösser und seltener werdenden Stämmchen, den „Venen", ganz der Ver- zweigung der Arterien in der umgekehrten Kichtung entsprechend. Auch *) Der Biunenraum des rechten Herzens und der damit zusammenhängen- den Gefässe ist schattirt, der des linken mit Zubehör weiss gelassen. Verzweigung der Blutgefässe. 239 schliesseu sich im Allgemeinen die grösseren Venenstämmchen den ent- sprechenden Arterien in ihrem Verlaufe an. Zuletzt sammeln sich die Venen in zwei grosse Hauptstämme, die Cava superior und Inferior, welche sich in den rechten Herzvorhof ergiessen. Verfolgen wir die Con- tinuität des Kanalsystems weiter, so gelangen wir aus dem rechten Herz- vorhof in den rechten Ventrikel, welcher, obgleich angrenzend, im er- wachsenen Menschen keinerlei unmittelbare Communication mit dem linken Ventrikel hat. Aus dem rechten Ventrikel führt vielmehr nur ein Weg heraus, ein grosser Kanal, „arteria pulmonalis" genannt, der sich, in zwei Aeste gespalten, zur rechten und linken Lunge begie]>t, um sich hier in immer kleinere und zahlreichere Aeste zu verzweigen. Auch hier kommen wir schliesslich zu feinsten Capillaren, welche die lufthaltigen Lungenbläschen umspinnen. Bei weiterer Verfolgung ihres Zusammen- hanges sieht man sie ähnlich wie die Körpercapillaren zu immer grösseren Stämmchen zusammentreten. Diese, die sogenannten „Lungenvenen", sammeln sich schliesslich zu einigen grossen Kanälen, welche in den linken Herzvorhof einmünden ; von da können wir direct in den linken Herzventrikel eintreten und sind zum Ausgangspunkte zurückgekommen, erkennen somit das Kanalsystem, in welchem sich das Blut bewegt, als ein ringförmig in sich zurücklaufendes. An einigen Stellen, nämlich in den Herzräumen und am Anfange der Aorta und Lungenai'terie, ist die ganze Bahn auf einen Querschnitt zusammengedrängt, an anderen Stellen ist die Bahn verzweigt, am meisten im Bereiche der Capillaren. Bei den Verzweigungen der Arterien gilt im Allgemeinen das Ge- setz, dass die Summe der Querschnitte der beiden Zweige grösser ist als der Querschnitt des Stammes, der Querschnitt jedes Zweiges allein aber kleiner. Der Gesammtquerschnitt der ganzen Blutbahu wird also vom Aortenanfange bis zu den Capillaren hin immer weiter. Umgekehrt nimmt dann wieder der Gesammtquerschnitt im venösen System ab, indem durch den Zusammenfluss je zweier Venen stets ein Stamm entsteht, dessen Querschnitt zwar grösser ist als der jeder Wurzel einzeln, aber kleiner als die Summe der Querschnitte beider Wurzelvenen. Analoges gilt bei der Verzweigung der Lungenarterie und der Wiedervereinigung der Lungenvenen. Die Wände der Blutgefässe zeichnen sich vor Allem aus durch eine enorme Dehnbarkeit und sehr vollkommene Elasticität. Sie gleichen in dieser Beziehung etwa Kautschukröhren. Diese physikalische Beschaffen- heit verdanken die Arterienwände ihrer histiologischen Zusammensetzung. Sie bestehen aus elastischem Gewel>e mit zahh'oichen glatten Muskel- fasern, Avelche letztere in ringförmiger Anordnung das Ijunien des Ge- lasses umgeben. Vermöge der unter dem Einflüsse des Nervensystems 240 Kreisende Bewegung des Blutes. stehenden Contractilität dieser Fasern kann die Lichtung desselben Ge- fässes bei gleicher Spannnng sehr verschiedene Grösse haben. Die Wände der mittelgrossen nnd kleineren Arterien sind fast ganz ans Muskelfasern gebildet. Ausserdem betheiligt sich das Bindegewebe am Aufbau der Gefässwaud, namentlich ihrer äussersten Schichten. Die Wände der Venen sind bedeutend dünner als die der entsprechenden Arterien. Die innerste Schicht aller Gefässwände besteht aus einem ein- fachen Lager äusserst plattgedrückter Zellen, die mit zackigen Bändern genau aneinandergefügt sind. Bei den eigentlichen Capillaren ist dies die einzige Schicht der Gefässwaud. IL Besclireibimg- der Blutbewegung". Die Bewegung des Blutes in dem soeben beschriebenen, ringförmig in sich zurückkehrenden Kanalsystem ist eine „kreisende". Sie erfolgt in dem Sinne, in welchem wir vorhin das System durchlaufen haben, und hält sich im Allgemeinen stationär, d. h. in gleichen Zeiten strömen gleiche Blutmengen durch einen bestimmten Querschnitt des Systems. L'gend ein Bluttheilchen, welches wir zu irgend einer Zeit im linken Herzventrikel ins Auge fassen, geht von da in die Aorta, kommt in irgend einen ihrer Aeste, von da in einen feineren Arterienzweig, ferner in ein Capillar- gefäss, von da sodann in ein Venenwürzelchen, in einen grösseren Venen- stamm, in die obere oder untere Hohlvene (je nachdem es in einen oberen oder unteren Ast der Aorta gegangen war), dann in den rechten Vorhof, von da in den rechten Ventrikel, von da in die Lungenarterie, in ein Capillargefäss der Lunge, in eine Lungenvenenwurzel, in einen Lungen- venenstamm, den linken Vorhof, und endlich wieder in den linken Ven- trikel zurück. Nun beginnt es von Neuem den Kreislauf, wobei es natür- lich nicht wieder dasselbe Organ des Körpers zu durchsetzen braucht. Dass dies wirklich der allgemeine Gang der Blutbewegung ist, lehrt die Anschauung des Laufes der Blutkörperchen überall, wo derselbe directer mikroskopischer Beobachtung zugänglich ist, z. B. an der Schwimmhaut und am Mesenterium des Frosches und an anderen durch- sichtigen, Blutgefässe führenden Theilen von Wirbelthieren. Man sieht hier immer in den Capillaren das Blut von den Arterien zu den Venen strömen, was bei dem durchgängigen Zusammenhange und der ring- förmigen Anordnung des ganzen Systems alles übrige oben Ausgesagte nothwendig folgern lässt. Bei der directen Beobachtung der Blutbewegung in den feinsten Gefässen hat man noch folgende bemerkenswerthe Einzelheiten festge- stellt. In ein und demselben Gefäss ist die Geschwindigkeit meist längere Zeit hindurch merklich constant. Sie ist am kleinsten in den eigentlichen Geschwindigkeit des Blutstromes. Treibende Kraft. 241 Capillareii, und um so grösser, je grösser das Gefäss, sei es ein arterielles oder ein venöses. Dieser Satz lässt sich auch a priori aus der oben be- schriebenen Gestalt des Gefässsystems folgern. Es muss ja bei stationärem Strome durch ein Stämmchen in der Zeiteinheit dieselbe Blutmenge strömen wie durch seine sämmtlichen Zweige, und da die Summe der Querschnitte dieser letzteren grösser ist als der Querschnitt des Stämmchens, so muss das Blut im Stämmchen, d. h. im grösseren Ge- fässe, rascher strömen als in den Zweigen. In den Blutgefässchen, wo mehrere Blutkörperchen nebeneinander Platz haben, bemerkt man einen centralen Flüssigkeitsfaden, welcher rascher strömt und die rothen Blut- körperchen führt, umgeben von einer klaren Wandschicht. In dieser sieht man einzelne weisse Blutkörperchen langsam an der Wand hinrollen. Dass die Wandschicht langsamer gehen muss als der centrale Flüssig- keitsfaden, ist zwar leicht verständlich wegen der Eeibung, warum aber die rothen Blutkörperchen alle in der Mitte schwimmen, ist mechanisch noch nicht erklärt. Dieser constante Flüssigkeitsstrom durch die Capillaren von den Arterien zu den Venen kann natürlich nicht von selbst immer weiter gehen, etwa durch einmaligen Anstoss in Gang gesetzt. Ein solcher würde bald durch den Widerstand der Eeibung zur Kühe gebracht. Soll er beständig im Gange bleiben, so muss fortwährend eine treibende Kraft wirken, die den Flüssigkeitstheilchen immer so viel Geschwindigkeit wieder beibringt, als sie durch die Eeibung verlieren. Die treibende Kraft für die Flüssigkeiten ist im Allgemeinen der „Druck", und zwar wird bekanntlich jedes flüssige Theilchen getrieben von da, wo der Druck höher ist, dahin, wo der Druck niedriger ist. Hiernach muss, so lange der normale Blutstrom durch die Capillaren im Gange bleiben soll, stets der Druck in den Arterien höher sein als in den Venen. Das soeben ausgesprochene Grundgesetz ist leicht durch den Versuch zu beweisen. Den in einer eingeschlossenen Flüssigkeitsmasse herrschen- den Druck bringt man am bequemsten zur Anschauung, wenn man in eine Oeffhung der umschliessenden Wand ein Eohr dicht einfügt, dessen Lichtung mit dem Innern communicirt; dem Eohr giebt man eine an- fangs wagrechte, dann abwärts und endlich aufwärts gebogene Gestalt, füllt die nach unten convexe Ümbiegung mit Quecksilber und lässt den schliesslich aufsteigenden Schenkel oben offen. Uebertrifft nun der Druck der Flüssigkeit den Atmosphärendruck auf die im offenen Schenkel be- findliche Quecksilberoberfläche, so wird das Quecksilber daselbst in die Höhe steigen. Der Ueberschuss des Flüssigkeitsdruckes über den Atmo- sphärendriick wird alsdann gemessen durch die Niveaudifl'erenz des Fick, Physiologie. 3. Aufl. 16 242 Druckunterschied zwischen Arterien und Venen. Quecksilbers in den beiden Schenkeln des U-förmigen Eohrtheiles, von kleineu zuweilen nöthigen Correctionen abgesehen. Eine solche Vorrich- tung wird bekanntlich ein „Quecksilber manometer" genannt. Durch gewisse Kunstgriffe ist es nun leicht, ein solches Manometer mit dem Innern einer Arterie und ein anderes mit dem Innern der entsprechenden Vene zu verbinden. Dabei füllt man das wagrechte Verbindungsstück und den Anfang des absteigenden Schenkels bis zur Quecksilberoberfläche mit einer Flüssigkeit, die, wenn sie sich an der Grenze mit dem Blute mischt, einigermassen die Gerinnung verhütet oder verzögert. Gewöhn- lieh nimmt man zu diesem Versuche Lösung von kohlensaurem Natron. Führt man den beschriebenen Versuch wirklich aus, so findet man in der That in der Arterie einen bedeutend höhereu Druck als in der Vene. Wenn in den nachfolgenden Entwickelungen von Blutdruck schlechthin die Eede ist, so soll immer der Ueberschuss über den Atmo- sphärendruck gemeint sein. Nach dem geltend gemachten hydrodynamischen Grundsatz muss nicht nur im Allgemeinen in den Arterien der Druck höher sein als in den Venen, sondern er muss auch in den Arterien stammen höher sein als in ihren Zweigen, und am höchsten in der Aorta, denn das Blut strömt ja von dieser in die grösseren Stämme, von da in die Aeste und Zweige etc. Andererseits muss der Druck in den Venenwürzelchen höher sein als in den Stämmchen und da wieder höher als in den grösseren Stämmen, am niedrigsten muss er schliesslich in den grossen Hohlvenen sein. Diese Sätze werden durchgängig durch manometrische Versuche bestätigt, soweit für solche überhaupt verschiedene Stellen des Gefässsystems zugänglich sind. Man bemerkt dabei aber noch folgende Einzelheiten. In einer Vene ist der Blutdruck fast vollkommen coustant, abgesehen von meist ganz unbedeutenden Schwankungen, welche der Athmung parallel gehen. Ebenso ist der Druck annähernd constant in einer kleinen Arterie. Grössere perio- dische Schwankungen, welche später noch ausführlich zu behandeln sind, erleidet der Druck in den grossen Arterien. Hier kann man dann aber einen Mittelwerth angeben, um welchen herum die Schwankungen statt- finden und welcher als treibende Kraft gelten kann. In den verschiedenen Gegenden des arteriellen Systems zeigt sich der mittlere Druck nicht sehr verschieden. Er ist in den kleinsten, einem Manometer noch zugänglichen arteriellen Gefässen wohl kaum um Vio niedriger als der mittlere Druck in der Aorta. Diese Thatsache beweist einfach, dass die Flüssigkeit beim Durchströmen der arteriellen Blutbahnen keinen sehr grossenWiderstand er- leidet und deshalb durch dieselben schon von einer sehr mässigeuDruckdif- ferenz mit der erforderlichen Geschwindigkeit getrieben werden kann. Dies ist auch leicht begreiflich, wenn man bedenkt, dass die arterielle Strombahu „Gefälle" in verschiedenen Alischnitte des Gefässsystcras. 243 bei ihrer Verzweigung im Ganzen immer weiter und weiter wird, was der Bewegung sehr förderlich sein muss. Misst man den mittleren Druck in den Arterien bei demselben Thiere zu verschiedenen Zeiten, so kann man sehr verschiedene Werthe finden, ohne dass eine Abweichung von der Norm anzunehmen wäre. Er kann manchmal unter Einflüssen, die später zu untersuchen sind, im Laufe von einer Minute bedeutende Aenderungen erleiden. Die Werthe des arteriellen Druckes grosser und kleiner Säugethiere unterscheiden sich durchaus nicht etwa der Körpergrösse entsprechend. FAn normaler Durch- schnittswerth kann nach dem Gesagten für den Blutdruck in den Arterien nicht gegeben werden. Man kann etwa sagen, dass bei allen Säugethieren und wahrscheinlich also auch beim Menschen der Werth des Ueber- schusses des arteriellen Blutdruckes über den Atmosphärendruck schwankt zwischen den Grenzen von 100 und 200 Millimeter Quecksilber, von aussergewöhnlich hohen und aussergewöhnlich niedrigen Ausnahme- fällen abgesehen. Der Druck in den eigentlichen Capillaren ist wahrscheinlich zu jeder Zeit dem arteriellen Blutdruck annähernd gleich, doch kann, da er directer Beobachtung unzugänglich ist, nichts ganz Positives darüber aus- gesagt werden. Wie der Strom in den Arterien zu den Capillaren durch die bestän- dige Erweiterung des Gesammtstrombettes gefördert wird und daher nur geringe treibende Kräfte erheischt, so wird umgekehrt der Strom von den Capillaren zu den grossen Venen wesentlich erschwert durch die fort- währende Verengerung des Gesammtstrombettes. Wir dürfen daher an- nehmen, dass gerade hier, in den venösen Capillaren und kleinen Venen, der grösste Theil der treibenden Kräfte zur Verwendung kommt. Mit anderen Worten, wir dürfen in den kleinen Venen die rapideste Druck- abnahme, das stärkste „Gefälle" stromabwärts annehmen. Auch noch in den grösseren Venen muss der Widerstand sehr merklich sein, da auch hier immer noch das Gesammtstrombett bei jedem Zusammenflusse zweier Zweige verengert wird. Dem entsprechend hat man auch wirklich im Venensystem viel bedeutendere Druckdifferenzen wahrgenommen als im arteriellen. Schon längst ist z. B. bekannt, dass in den oberflächlichen Venen des Vorderarms beim Menschen der Druck noch so hoch über dem Atmosphärendruck steht, dass aus einer Oefl:"nung das Blut im Strome hervorquillt. Dagegen ist in den grossen Hauptstämmen des venösen Systems in der Halsgegend der Druck schon so niedrig, dass er vom Atmosphärendruck oft ül)ertroffen wird; daher kommt aus der Oeffnung eines solchen Venenstamnies meist gar kein Blut, sondern es dringt Luft in dieselbe ein — ein Umstand, welcher, beiläufig gesagt, Verwundungen 16* 24:4 . Theorie eines Kreislaufes. dieser Venen überaus gefährlich macht. Bei Thieren hat man Druck- werthe in Venen auch direct manometrisch bestimmt und den vorstehen- den Erörterungen entsprechend namhafte Differenzen gefunden. So fand sich bei einem Schaf der Druck in der vena hracUalis 4,1^^™ Queck- silber und in einem Zweig derselben 9™™, in der vena cruralis 11,4™™ über dem Atmosphärendruck, in der vena anonyma sinistra ein klein wenig unter dem Atmosphäreudruck. In dem Arteriensystem ist zwischen Aortendruck und dem Druck in der Cruralis kaum ein nennens- werther Unterschied. Aehnlich wie die Arterien zu den Venen verhalten sich die Lungen- arterien zu den Lungenvenen. In den grossen Lungenvenen wird wohl der Druck auch an numerischem Werthe dem in den grossen Körpervenen gleichen. In den grossen Lungenarterienstämmen ist der mittlere Werth des schwankenden Druckes nur etwa 40™™ Quecksilber, also bedeutend niedriger als in der Aorta. III. Theorie eines Kreislaufes im Allgemeinen. Die experimentell festgestellte Druckabnahme von den Arterien nach den kleinen Venen und von da nach den grossen Venenstämmen er- klärt vollkommen den beständigen Strom des Blutes von den Arterien zu den Venen. Das Blut bewegt sich aber in seiner Eingbahn kreisend und geht also factisch aus den Venen — freilich auf Umwegen — nach den Arterien zurück. Hier scheint ein unlösbarer Widerspruch mit dem Grundgesetze der Hydrodynamik vorzuliegen. In der That führen wir die Vorstellung eines in sich zurücklaufenden Flüssigkeitsstromes auf ihr ein- fachstes Schema zurück. Der kreisförmige King in Yig. 34 sei die Bahn, welche von der Flüssigkeit im Sinne des Pfeiles kreisend durchlaufen werden soll, so dass dieselbe also unten herum aus dem xibschnitte a nach dem Abschnitte v geht, dann muss nothwendig der Druck in a höher sein als in v. Der Voraussetzung gemäss soll aber die Flüssigkeit kreisen, d. h. oben herum wieder aus v nach a gehen. Dies würde nothwendig erfordern, dass der Druck in v höher wäre als in a, denn Flüssigkeit geht eben einmal nicht anders als vom höheren zum niederen Drucke. Oder mit anderen Worten : Gehen wir von einem beliebigen Punkte x aus in der Richtung des Pfeiles — stromabwärts — so müssen wir zu Punkten immer niedrigeres Druckes kommen und beim Weitergeheu Nothwendigkeit eines Pumpwerkes. 245 stromaufwärts zu Punkten immer höheres Druckes. Da aber in einer Eingbahn der Weg aufwärts und der Weg abwärts nothwendig ein- mal zu demselben Punkte führen muss, so muss es einen Punkt geben, wo das hydrodynamische Gesetz einen niedrigeren Druck fordert als in x^ weil der Punkt stromabwärts von x liegt, aber auch einen höheren als in X, weil der Punkt auch stromaufwärts von x liegt. Der Widerspruch ist also in Wirklichkeit da, indessen, wie man leicht sehen wird, nur dann, wenn man verlangt, dass der Strom in allen Theilen des Ringes stetig mit constanter Geschwindigkeit gehen soll, in welchem Falle auch überall der Druck unveränderlich sein würde; ein solcher überall con- stanter Ringstrom ist auch absolut nicht herzustellen. Geben wir diese Forderung auf, dann lässt sich der Widerspruch heben. Wir können uns nämlich irgendwo in dem Ringe, z. B. bei H, eine Stelle denken, wo der Druck vermöge der Einwirkung äusserer Kräfte wechseln kann. Hier kann dann in der That der Druck niedriger sein als bei x zu einer Zeit und höher als in x zu einer andern Zeit. Stellen wir uns dies noch genauer vor. Es sei der ersten Voraussetzung gemäss bei a der Drnck stets höher als bei v^ und in einem gewissen x^ugenblick sei der Druck in iJ noch niedriger als in v, dann kann jetzt die Flüssigkeit von v nach K strömen. In einem folgenden Augenblicke sei in H der Drnck noch höher als in a, dann kann jetzt die Flüssigkeit von ZZ' nach a strömen. Der Röhrenabschnitt i^mit wechselndem Drucke kann also aus v schöpfen und nach a entleeren und somit den Kreis- lauf ergänzen. Die blosse Möglichkeit, bei J?den Druck zu verändern, genügt aber doch noch nicht allein. Es muss offenbar ausserdem noch dafür gesorgt sein, dass zu der Zeit, wo der Druck bei H seinen tiefen Stand hat, Flüssigkeit nur von v und keine von a her einströmen kann, und dass umgekehrt, während bei ^der hohe Druck herrscht, die Flüssig- keit von R nicht nach v zurückweichen kann, sondern nur nach a hin. Derartige Einrichtungen, welche ohne neue Kräfte selbstthätig wirken, besitzt die Technik bekanntlich in sogenannten „Klappen" oder „Ven- tilen". Der gedachte Röhrenabschuitt H mit variablem Drucke muss also an beiden Grenzen mit Klappen versehen sein; die an der Grenze nach v muss sich schliessen, wenn in H der Druck höher als in v steht, und die Klappe an der Grenze nach a muss sich schliessen, wenn der Druck in a höher als in R ist. Eine Einrichtung wie die soeben beschriebene macht, wie gezeigt wurde, einen Flüssigkeitskreislauf möglich, aber in ihm ist die Strom- stärke nicht überall constant. In manchen Theilen der Bahn, z. B. unten zwischen a und v, kann sie zwar unter Umständen merklich constant sein, aber im besonders eingerichteten Abschnitt //und in seiner Nachbarschaft 246 Einrichtung der Herzkammern. ist der Strom notliwendig von variabler Geschwindigkeit. Dicht an den Klappen ist namentlich die Stromstärke allemal Null, so lange die Klappe geschlossen ist, und aus H wird die Flüssigkeit nach a nur stoss- weise übergetrieben. IV. Anwendung der allgemeinen Grundsätze auf den Bluthreislauf. Selbstverständlich kann ein Flüssigkeitskreislauf auch bestehen, wenn in seiner ringförmigen Bahn mehrere solche Stellen wie die eben be- schriebene— wirkönnensiePumpwerke nennen — vorhanden sind. Der Blutkreislauf der beiden höchsten Wirbelthierclassen ist in der That durch zwei Pumpwerke hergestellt; nämlich durch den rechten und den linken Herzventrikel. Diese beiden Abschnitte der Eingbahn genügen allen den Anforderungen, welche für eine solche Stelle wie 7? im obigen Schema ge- folgert wurden. Erstens ist jede Herzkammer beiderseits abgegrenzt durch Klappen, deren Einrichtung aus der xinatomie bekannt ist. (Sie sind in dem Schema Fig. 33 an gehöriger Stelle angedeutet.) Die Atrioventricular- Idappe des rechten Herzens lässt nur Blut aus dem rechten Vorhof, also mittelbar aus den grossen Körpervenen, in den Ventrikel eintreten, und die Klappe an der Wurzel der Lungenarterie lässt nur Blut aus dem Ventrikel nach dieser Arterie strömen, keines von der Arterie zurück zum Ventrikel. Ebenso gestattet die Atrioventricularklappe des linken Herzens die An- füllung des Ventrikels nur von Seite der Lungenvenen und seine Ent- leerung nur nach der Aorta. Zweitens macht der muskulöse Bau der Herzkammerwände die periodische Aenderung des Druckes in der erforderlichen Weise möglich. Die Muskelfaser ist, wie in einem anderen Abschnitte (S. 13) gezeigt wurde, ein Glebilde, welches durch innere Veränderungen plötzlich seine natürliche Länge ändern und welches also plötzlich einen mitunter sehr hohen Spannungsgrad annehmen kann, wenn die ursprüngliche Länge während der „Erregung" durch äussere Umstände erhalten bleibt. Der Herzventrikel ist von Muskelfasern in verschiedenen Kichtungen ring- förmig umgeben. Denken wir uns die Fasern des rechten Ventrikels im erschlafften Zustande, dann wird der Binnenraum desselben von den Venen her trotz des ausserordentlich geringen daselbst herrschenden Druckes leicht gefüllt werden können, während wegen der Klappen aus der Lungenarterie trotz des in ihr beständig hohen Druckes kein Tropfen Blutes in den Ventrikel eindringen kann. Nun gerathen die Fasern der Kammerwand in den Erregungszustand. Ihre Länge ist im ersten Augen- blick, da alle Ringe durch das eingeschlossene Blutvolum ausgedehnt er- haltenwerden, noch die alte, mithin beträchtlich grösser als die natürliche Länge der erregten Fasern. Es wird sich also in ihnen eine beträchtliche Drnckschwanknngen in den Hcrzventrikeln. 247 Spannung entwickeln, vermöge deren sie auf das eingeschlossene Blut einen vorher gar nicht vorhanden gewesenen Druck ausüben. Sofort schliesst sich durch diesen Druck selbst die Atrioventricularklappe, und da er factisch den hohen Druck der Lungenarterie erreicht und über- trifft, so öffnen sich die Semilunarklappen nnd es wird Blut aus der Kammer in die Lungenarterie eingepresst. Blieben die Muskelfasern der Kammer jetzt im contrahirten Zustande, so könnte sich die Kammer nicht wieder von den Venen her füllen ; nun aber verlängern sich die Fasern wieder und das beschriebene Spiel beginnt von Neuem. Ganz ähnlich geht es in der buken Herzkammer zu, welche aus den Lungenvenen, wo der Druck beständig sehr niedrig ist, Blut im erschlafften Zustande schöpft und es dann im erregten Zustande in die Aorta treibt, wo der Druck immer hoch ist. Durch besondere Kunstgriffe kann man bei grossen Thieren die beiden Herzkammern manometrischen Vorrichtungen zugänglich machen. In den rechten Ventrikel kann man sie von den grossen Halsvenen ein- bringen, in den linken von der arteria carotis aus. Wenn man dann die Höhe des Manometerstandes an einer gleichmässig vorübergeführten Fläche sich selbst registriren lässt, so erhält man eine graphische Dar- stellung der Druckschwankungen im Ventrikel. Eine solche aus dem Fi^. 35. rechten Ventrikel des Pferdes sieht etwa aus wie Fig. 35. Diese Curve zeigt im Allgemeinen, was mau nach den vorstehenden Erörterungen er- warten konnte. Im. Augenblicke, wo die Contraction beginnt (bei a, , a,, ag);, steigt der Druck sehr plötzlich hoch auf und bleibt auf nahezu derselben Höhe, so lange die Contraction dauert; dann sinkt der Druck ebenso plötzlich auf seinen tiefsten Werth herab in dem Augenblicke, wo die Kammerwandwieder erschlafft (siehe bi,b2,b3). Hieraufsteigt derDruck ein kleinwenig, offenbar entsprechend der Anfüllung des erschlafften Ventrikels, bis zum Augenblicke, wo die neue Contraction beginnt. Ganz ähnlich sieht eine Curve aus, welche die Druckschwankungen im linken Ventrikel darstellt. Die niedrigsten Werthe, welche der Druck bei der Erschlaffung an- nimmt, sind für beide Ventrikel wohl etwa gleich und halten sich wie in den grossen Venenstämmen um einige Millimeter Quecksilber unter dem Atmo- sphärendruck. Der höchste Druckwerth im linken Ventrikel muss ungefähr dem arteriellen Blutdrucke entsprechen und beträgt, wie auch wirkliche 248 Herzstoss. Herztöne. Beobachtungen gelehrt haben, zwischen 100 und 200 '"'"Quecksilber mehr als der Atmosphärendruck. Im rechten Ventrikel sind die Druckmaxima viel niedriger, allerhöchstens etwa 60 "^^ über dem Atmosphärendruck. Vermöge der anatomischen Anordnungen der Muskelfasern und der nervösen Einrichtungen ziehen sich beide Kammern stets gleichzeitig zu- sammen. Hieraus folgt sofort nothwendig, dass der rechte Ventrikel mit jeder Zusammenziehung oder „Systole" ebensoviel Blut in die Lungen- arterie presst als der linke in die Aorta ; denn wenn z. B. der linke mit jedem Schlage mehr auspresste als der rechte, so würde alsbald alles Blut im Aortensystem angehäuft sein und umgekehrt. Aus Gründen, welche später erhellen werden, kann man die Blutmenge, die ein Herzventrikel des Menschen mit jeder Systole liefert, zu etwa 76^*=™ schätzen. Die Contraction der Ventrikel macht sich beim lebenden Menschen in der Kegel deutlich bemerkbar durch ein leichtes Hervordrängen der Brustwand zwischen der fünften und sechsten Kippe, etwa drei Pinger breit links vom Brustbein, wo die Herzspitze an der Brustwand anliegt. Diese Erscheinung, „Herzstoss" genannt, rührt wahrscheinlich daher, dass das Herz beim Hochdruck in seinem Innern der Kugelform zustrebt. Setzt man auf die Stelle des Herzstosses einen kleinen Trichter luftdicht auf und verbindet seinen Inuenraum durch einen Schlauch mit einer kleinen Trommel, über welche eine dünne Kautschukmembran gespannt ist, so muss diese die Bewegungen des Brustwandtheiles offenbar genau nach- machen. Diese Bewegungen kann man dann durch ein aufgesetztes leichtes Hebelchen vergrössern, und indem man das Ende des langen Hebelarmes an eine vorübergeführte Fläche zeichnen lässt, erhält man eine graphische Darstellung des Herzstosses, daher man auch die Vorrichtung als „Kar- diograph" bezeichnet hat. Eine so gezeichnete Herzstosscurve des Menschen (Fig. 36) gleicht in ihrer Form auffallend der Druckcurve im Herzventrikel des Pferdes, wie ^' eine Vergleichung mit Fig. 35 sofort sehen lässt. Ferner verräth sich die Systole am unverletzten Thier und Men- schen durch einen Ton, der in der ganzen Herzgegend vom aufgelegten Ohre deutlich gehört wird. Die Entstehung dieses sogenannten ersten „Herztones", dessen Modificationen für die Pathologie grosse Wichtigkeit haben, ist noch immer nicht streng mechanisch erklärt. Bei der Erschlaffung der Herzkammern, bei der so- genannten Diastole, wird gleichfalls ein Ton gehört, von kürzerer Dauer und höher in der Scala liegend, welcher sehr wahrscheinlich durch die plötzliche Anspannung der Semilunarklappen bedingt ist. Funktion der Voihöfe. 249 Im Herzen liegen bekanntlich vor den Kammern noch grosse Hohl- räume, deren Wände gleichfalls mit quergestreiften Muskelfasern aus- gerüstet sind, die sogenannten „Vorhöfe", so dass die grossen Körper- venenstämme zunächst in den rechten Vorhof und die Lungenveuenstämme zunächst in den linken Vorhof einmünden. Aus den vorhergehenden Ab- leitungen ist klar, dass die Ausrüstung der Vorhöfe mit Muskeln kein ab- solutes Erforderniss für den Blutkreislauf ist, gleichwohl haben sie eine wichtige Bedeutung. Wenn die Venenstämme direct in die Kammer ein- mündeten, dann würde offenbar bei der Systole der Kammer und dem dadurch bewirkten Klappenschluss eine plötzliche Stauung in den Venen- stämmen erfolgen und bei der Wiedererschlaffung würde das aufgestaute Blut plötzlich aus den Venenstämmen in den Ventrikel hineinstürzen. Es würden auf diese Art beträchtliche Druckschwankungen in das venöse System hinein sich fortpflanzen. Diese zu beseitigen, ist die Aufgabe der Contractilität der Vorhöfe. In dem Augenblicke nämlich, wo sich die Atrioventricularklappen schliessen, erschlaffen die Muskeln des Vorhofes und der Druck auf das darin enthaltene Blut kann daher derselbe bleiben, obgleich die Vorhöfe durch das nachströmende Blut aus den Venen be- trächtlich ausgedehnt werden. Hernach, wenn sich die Atrioventricular- klappen öffnen, ziehen sich die Vorhofs wände activ zusammen und drücken also nachrückend auf das Blut der Vorhöfe trotz der Entleerung mit gleicher Kraft wie die schlaffen Wände bei gefüllten Vorhöfen. Auf diese Art ist es möglich, den Druck in den grossen Stämmen der venösen Systeme vollkommen constant zu erhalten. So zeigt er sich aber in der That, von kleinen, durch die Athmung bedingten Schwankungen ab- gesehen, bei directer manometrischer Bestimmung. Von der Zeit, welche vom Beginn einer Systole bis zum Beginn der nächsten verstreicht, geht etwa ein Viertel auf die Systole der Vorhöfe, dann die Hälfte auf die Zusammenziehung der Kammern, und während des letzten Viertels sind alle Muskeln des Herzens erschlafft. Dies bildet die sogenannte Pause. Verlangsamung der Schlagfolge des Herzens wird wesentlich durch Verlängerung der Pause bedingt. V. Die Polswelle im arteiiellen System. Es wurde oben gezeigt, dass mit der Systole der linken Kammer ein bestimmtes Blutvolum ziemlich plötzlich in die Aorta eingepresst wird. Dem wird natürlich eine Drucksteigerung entsprechen, die sich rasch wellenartig im ganzen arteriellen Systeme fortpflanzen muss. Die Fort- pflanzungsgeschwindigkeit dieser Welle, der sogenannten „Pulswelle", hängt von verschiedenen Umständen ab, in erster Linie von der Elasticität der Wände, dann aber auch vom Drucke; sie wird deshalb wohl in den 250 Fortpflanzung der Pulswelle. grösseren Arterien grösser sein als in den kleineren, doch ist dies am lebenden Thiere noch nicht nachgewiesen. Directer Bestimmung am Menschen ist aber die durchschnittliche Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Pulswelle zugänglich auf dem ganzen Wege vom Herzen bis zu einer peripherischen Arterie, an welcher der Puls zu fühlen ist. Man braucht nur die Zeit zu bestimmen vom Augenblicke des Herzstosses bis zu dem Augenblicke, wo der Puls an der betreffenden Arterie, z. B. der radialis, ge- fühlt wird und durch diese Zeit die direct gemessene Wegstrecke zu divi- diren. So hat man gefunden, dass sich im Arteriensystem des Armes die Pulswelle mit nahezu 5,8'" Geschwindigkeit per Secunde fortpflanzt, im Arteriensystem des Beines mit etwas grösserer, etwa 6,4™ per Secunde. Beim Kinde, dessen Arterien dehnbarer, d. h. weniger elastisch sind, schreitet die Pulswelle laugsamer fort mit etwa 4™ per Secunde in der Eichtung nach dem Arm und etwa 5™ per Secunde nach dem Bein. Ein- flüsse, welche den Blutdruck herabsetzen, z. B. Narcotica, mindern auch merklich die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Pulswelle. Es ist gut, zu bemerken, dass das Fortschreiten der Pulswelle nicht zu verwechseln ist mit dem Fortschreiten der Bluttheilchen selbst. Keineswegs kommen die mit einer Systole aus dem linken Ventrikel ausgeworfenen Bluttheilchen in dem Augenblicke in entfernten Arterienästen an, in welchem sich' hier die Drucksteigerung bemerklich macht, diese rührt vielmehr nur daher, dass die in der Aorta eingepressten Bluttheilchen die nächsten verdrängen und diese die folgenden u. s. w. Während der folgenden Herzdiastole wird sich der ins arterielle System durch die Systole eingepresste Blutüberschuss allmählich durch die Capillaren nach den Venen verlaufen und der Druck im arteriellen System wird wieder sinken, bis er beim Beginne der nächsten Systole wieder gesteigert wird. Im arteriellen Systeme und besonders in seinen grossen Stämmen wird also der Druck fortwährend schwanken. In der Aorta wird der Druck, so lange die sehr weite Communi- cation mit dem linken Herzventrikel überhaupt offen ist, d. h. also während der Systole, nicht merklich niedriger sein können als in dem letzteren selbst. Dahingegen ist zur Zeit der Diastole der Druck in der Aorta beträchtlich höher als im linken Herzventrikel. Während er nämlich in diesem nothwendig unter den sehr geringen Druck in den Lungen venen herabsinkt, muss er in der Aorta immer noch ziemlich hoch bleiben, und so kann auch noch während der Diastole beständig Blut aus den Arterien nach den Venen hinströmen. Figur 37 (S. 251) giebt ein Bild von den Druckschwankungen in der Aorta in ihrem Verhältniss zu den Druck- schwankungen im Ventrikel, wie es durch eine selbstregistrirende mano- metrische Vorrichtung direct entworfen ist. Bis zu dem durch den Punkt a Aortendnuk und Ilorzkammerdruck. 251 repräsentirten Augenblicke befand sich die manometrische Vorrichtung in Verinndung mit dem Hohlraum des Herzventrikels und zeigte plötzliche Schwankungen zwischen sehr hohen und sehr niedrigen Werthen des Druckes. In dem Augenblicke a wurde sie in die Aorta zurückgezogen, und nun bleiben zwar die Gipfel der Schwankungen genau die alten, die Thäler sinken aber weder so plötzlich noch so tief, weil das Sinken eben nicht durch eine plötzliche Aenderung der Wandbeschaffenheit wie beim Ventrikel bedingt ist, sondern durch das allmähliche Verlaufen des Blut- überschusses. Die punktirte Linie unter den zwei letzten Schwankungen zeigt, was die manometrische Vorrichtung verzeichnet hätte, wenn sie Fig. 37. mit dem Herzventrikel in Verbindung geblieben wäre. Es mag hier im Vorübergehen erwähnt sein, dass zur graphischen Kegistrirung so rascher Druckschwankungen wie die im Herzventrikel und den Arterienstämmen, ein Quecksilbermanometer kein geeignetes Mittel abgiebt, da bei einem solchen beträchtliche Massen in rasche Bewegung kommen würden, und dass dann vermöge der Trägheit dieser Massen die Einzelheiten im zeit- lichen Verlaufe der Druckschwankung verwischt würden. Die physio- logische Technik gebietet indessen über eine Reihe anderer Hilfsmittel, welche von diesem Uebelstande frei sind. Der Betrag der periodischen Druckschwankungen in der Aorta lässt sich nicht im Allgemeinen angeben, auch nicht etwa in Bruchtheilen des höchsten Druckwerthes. Dieser Betrag hängt vielmehr von einer Reihe variabler Umstände ab. Er ist namentlich um so grösser, je seltener der Herzschlag ist, denn um so mehr Blut hat während der Diastole Zeit, sich nach den Venen zu verlaufen. Er ist ferner um so grösser, je weniger das ganze Arteriensystem schon gefüllt ist, denn um so mehr wird die neu eingepresste Blutmenge den Füllungsgrad ändern. Er muss ferner von den jeweiligen Zuständen der Arterienwände abhängen, welche durch die Zu- stände der Arterienmuskulatur bedingt sind. Man hat früher den Betrag der Druckschwankungen in den grossen Arterien oft unterschätzt, ohne Zweifel kann er unter Umständen reichlieh die Hälfte des mittleren Druckes aus- machen. 252 Form der Piilswelle. Dikrotisinus. Die Driickschwankiing ist bis in kleine, vielleicht 0,5'""' Durch- messer haltende Arterienzweige noch merklich, hier aber allerdings nicht mehr so bedeutend wie in den grossen Arterien. Wenn die Druck- schwankungen in der Aorta recht gross sind, kann der Minimumwerth des Aortendruckes tiefer sein als der Mittelwerth des Druckes in den kleinen Arterien, so dass es dann Augenblicke geben kann, in welchen der Druck in der Aorta niedriger ist als in ihren Zweigen. An oberflächlich gelegenen Arterien kann die Schwankung des Druckes und die selbstverständlich damit Hand in Hand gehende Schwankung der Weite auch beim lebenden Menschen deutlich wahrgenommen werden, sowohl durch das Gesicht als durch das Gefühl. Legt mau z. B. den Finger auf die art. radialis eines Menschen, so fühlt man bekanntlich regelmässig periodisch leichte Stösse, den sogenannten „Puls". Ihre Zahl entspricht genau der Zahl der Herzschläge, welche für die Diagnostik so wichtige Grösse auf diese Art am bequemsten ermittelt wird. Bei einiger üebung kann man aber verschiedene Pulsarten nicht blos ihrer Häufigkeit nach unterscheiden, sondern auch ihrem Charakter nach, oder nach der Art, wie der Druck ansteigt und absinkt. Von Alters her unterscheidet daher die Pathologie die Pulse nicht nur nach ihrer Frequenz, sondern auch nach anderen Eigenschaften, die sich auf den zeitlichen Verlauf der Druckschwankung innerhalb einer Pulsperiode beziehen. Viel feiner als mit dem blossen zufühlenden Finger lässt sich der zeitliche Verlauf der Druckschwankung in den Arterien des lebenden Menschen ermitteln durch ein mittelst einer starken Feder angedrücktes Hebelchen, dessen langer Arm seine Bewegungen an einer vorübergeführten Platte anschreibt. Eine derartige Vorrichtung, „Sphygmograph" genannt, ist ein un- schätzbares diagnostisches Hilfsmittel für den Arzt, denn der zeitliche Verlauf der Druckschwankung in den Arterien kann wichtige Aufschlüsse über den jeweiligen Zustand des Gefässsystems geben, wie in der Patho- logie gezeigt wird. Die von einem normalen Pulse sphygmographisch -^^^JVj\-^-~JXj%JVJVjV/-v geschriebene Ciirve muss etwa so aussehen wie in Fig. 38, d. h. in Worten, der Druck steigt rasch an und sinkt dann allmählich in der Weise ab, dass Im Verlaufe des Absinkens noch eine kleine Erhebung statt hat. Diese merkwürdige Erscheinung nennt man „Dikrotismus". Eine genügende mechanische Erklärung dafür ist noch nicht gegeben; in pathologischen Zuständen kann sie einen so hohen Grad erreichen, dass sie auch mit dem fühlenden Finger schon zu bemerken ist. Während die Pulswelle irgend einen Ort der Arterie durchläuft, er- leidet nicht blos der Druck, sondern auch die Geschwindigkeit des Bedeutung der Dehnbarkeit der Arterienwände. 253 Strömens eine Aenderung; sie ist grösser, so lange der Druck im Wachsen, und kleiner, so lange er im Sinken begriffen ist. In den ganz grossen Arterienstämmen ist sogar oifenbar die Blutgeschwindigkeit zeitweise ganz gleich Null. Insbesondere kann kein Zweifel darüljer sein, dass in der Nähe der Aortenklappen, so lange diese geschlossen sind, vollständige Ruhe herrschen muss. Sehr wahrscheinlich ist in den grossen Arterien- stämmen die Bewegung sogar ein wenig rückläufig, kurz ehe die neue Herzsystole ein neues Blutquantum einpresst. Eine solche rückläufige Bewegung hat iiher zur Voraussetzung, dass der Druck in der Aorta niedriger ist als in ihren Zweigen, was eben, wie wir schon sahen, in ge- wissen Momenten der Fall zu sein scheint. In den Theilen der Blutbahn, wo — wie in den kleinsten Arterien, Capillaren und in den Venen — der Blutstrom in constanter Stärke ohne periodische Beschleunigungen und Verzögerungen verläuft, hat die Elasti- cität der Wände keine directe mechanische Bedeutung, denn ein con- stanter Strom, der überall auch constanten Druck zur Voraussetzung hat, kann von denselben Kräften mit gleicher Stärke offenbar in einem starren Rohre getrieben werden wie in einem elastischen Rohre von denselben Dimensionen. Die Dehnbarkeit und Elasticität der Wände gewinnt hier offenbar erst eine Bedeutung für den Fall, dass durch Aenderung der Kräfte oder sonstige Umstände ein neuer stationärer Zustand mit anderen, aber wieder constanten Druckwerthen hergestellt wird. Da werden eben die gedachten Gefässprovinzen sich ausdehnen oder zusammenziehen, je nachdem der Druck darin steigt oder sinkt. Ganz anders ist es in den Stämmen des arteriellen Systems, wo ein stossweisses Einströmen vom Herzen her statt hat. Hier erleichtert selbst für den Fall der stationären Bewegung die Dehnbarkeit und Elasticität der Wände dem Herzen die Arbeit, denn wie aus den vorstehenden Erörterungen zu ei-sehen ist, findet die plötzlich eingepresste Blutmenge in den erweiterten grossen Arterien einstweilen Platz und braucht nicht sogleich die ganze Masse wie in einem starren Rohre verschoben zu werden. Man kann den Nutzen der elastischen Dehnbarkeit durch einen sehr einfachen und lehrreichen Versuch zeigen. Lässt man nämlich unter ganz gleichen Ver- hältnissen dieselben Druckkräfte stossweise wirken auf ein dehnbar- elastisches und ein starres Rohr, in welchem sonst ganz gleiche Wider- stände vorhanden sind, so fliesst durch das dehnbare Rohr in der Zeiteinheit bedeutend mehr Flüssigkeit als durch das starrwandige. Hier- aus erklärt sich, dass durch Verkalkung der grossen Arterienstämme, welche eine häufige Erscheinung des höheren Alters ist, der Blutkreis- lauf sehr beeinträchtigt wird. 254 Venenklappen. Lymplistroin. VI. Veiienklappen. Eine Einrichtung, welche zwar für den Blutstrom nicht an sich nothwendig ist, welche aber manche zufällige Störungen durch äussere Umstände beschränkt, sind die Klappen in den meisten Venenstämmen, deren Einrichtung und Vorkommen aus der Anatomie bekannt ist. Sie lassen nur in der normalen Richtung ein Fliessen zu. Wenn also durch einen zufälligen äusseren Anlass — Verdickung der benachbarten Muskeln u. dgl. — ein Druck auf einen Venenabschnitt ausgeübt wird, so kann das verdrängte Blut nur in der normalen Richtung entweichen, während es ohne die Klappen zum Theil nach dem capillären Quellgebiete der be- treffenden Vene verdrängt werden würde, was offenbar leicht störende UeberfüUungen veranlassen könnte. In den Arterienästen ist für eine solche Anordnung kein Bedürfniss, weil hier das Blut von innen einen höheren Druck ausübt und daher nicht so leicht zu verdrängen ist. 4. Capitel. Lymphbewegung. Trotz des vollständigen Abschlusses des Gefässsystems bleibt die kreisende Bewegung des Blutes doch nicht vollkommen auf dessen Binnen- raum beschränkt. Bei der Dünnheit der Wände der kleinsten^Gefässe und bei dem hohen Drucke, welcher durchschnittlich hier herrscht, muss be- ständig ein merklicher — ■ wenn auch vielleicht nicht sehr grosser — Bruchtheil der Flüssigkeit nach aussen durchsickern. Soll hierdurch das Blutgefässsystem nicht allmählich immer leerer werden, so muss die aus- getretene Flüssigkeit immer wieder in das Blutgefässsystem zurückgeführt werden. Dies geschieht in der That durch den „Lymph ström". Jedes aus einem Capillargefäss ausfiltrirte Flüssigkeitstheilchen be- findet sich, sofern es nicht durch Imbibition in die Substanz eines Ge- webselemeutes selbst aufgenommen ist, in einer Lücke zwischen den Gewebselementen. Diese Lücken bilden meist auf grosse Strecken zu- sammenhängende Systeme von mehr oder weniger regelmässiger An- ordnung, welche in verschiedenen Organen verschieden ist. Namentlich das überall zwischen den anderen Gewebselementen verbreitete Binde- gewebe scheint bestimmte Strassen zu führen, auf welchen sich das Bluttraussudat bewegen kann. Der Binnenraum der Gewebslückensysteme hängt in allen Organen stetig zusammen mit dem Binnenraum der vom Organ entspringenden Lymphgefässe. Wie im Einzelnen die Lymph- gefässe entspringen aus den Lückensystemen, das sich räumlich klar vor- zustellen, dürfte die geübteste geometrische Einbildungski-aft übersteigen; dass dem aber wirklich so ist, das kann man leicht beweisen. Wenn man Treibende Kräfte des Lymphstiomes. 2ö5 nämlich eine Cauüle irgendwo aufs Gerathewohl in ein Gewebe einsticht und unter den geeigneten Vorsichtsmassregeln eine leicht fliessende In- jectionsmasse einspritzt, die übrigens feine feste Theilchen enthalten darf, so gelangt die Masse allemal schliesslich in die Lymphgefässe. Hier- durch ist bewiesen, dass von jeder Gewebslücke aus ein flüssiges oder festes Theilchen in ein Lymphgefäss gelangen kann, ohne irgend eine Scheidewand zu durchbrechen. Man könnte also auch sagen, jede Gewebs- lücke bildet einen Theil des Lymphgefässsystems. Hierauf beruht auch die jetzt so beliebte subcutane Application von Arzneistoffen. Man sticht nämlich eine spitze Canüle aufs Gerathewohl ins Unterhautzellgewebe und kann sicher sein, dass durch dieselbe eingespritzte Arzneistotte auf den Lymphwegen ins Blut gelangen. Einen besonders bemerkenswerthen Fall von Gewebslücken bilden die serösen Höhlen, auch diese sind somit gleichsam seeartig ausgebreitete Theile des Lymphsystems. Bezüglich der Bauchhöhle kann man dies leicht zeigen. Wenn man auf ein mit der concaven Seite aufwärts gehaltenes Kaniuchenzwerchfell Lösung von Berliner Blau aufgiesst und das Zwerch- fell durch künstliche Athmung einige Zeit auf- und abbewegt, so fällen sich alsbald die Lymphstämme desselben vollkommen mit der blauen Lösung. Die Lymphgefässe der verschiedenen Organe sammeln sich bekannt- lich schliesslich im ductus thoracicus und dem truncus lympliaticus dexter^ welche beide in die venae cmonymae (jugulares oder subdaviae) einmünden. Hier ist, wie wir früher sahen, der Flüssigkeitsdruck im Linern sehr niedrig, und es ist also verhältnissmässig leicht, Flüssigkeit an dieser Stelle einzuführen. Als treibende Kraft für die Lymphe auf ihrem ganzen Wege, der besonders durch die Lymphdrüsen sehr widerstandsreich ist, wirkt offenbar wesenthch der Druck des inmierfort in die Gewebslücken nach- rückenden Bluttraussudates, also in letzter Instanz der Blutdruck in den (Japillaren, welcher das Transsudat heraustreibt. Unterstützend mitwirken mag eine öfters beobachtete rhythmische Contraction der grösseren Lymph- stämme. Diese kann nämlich stets nur die Lymphe in normaler Kichtung treiben, da eine rückläufige Bewegung der Lymphe durch Klappen ver- hindert wird, mit welchen die Lymphgefässe noch reichlicher ausgerüstet sind wie die Venen. Wenn diese Annahmen richtig sind, so wäre zu er- warten, dass Steigerung des arteriellen Blutdruckes die Lymphmenge vermehren müsste. Dies scheint aber gar nicht oder nur sehr wenig der Fall zu sein, wenn man den Druck durch Einwirkungen auf die Arterie seihst steigert. Vielleicht liegt dies daran, dass in allen solchen Fällen der Druck in denCapillaren, auf den es hei der Lymphbildung allein an- kommt, wenig oder gar nicht gesteigert wird. Ganz sicher kann man 256 Gesammtstärke des Lymplistromes. dagegen den Druck in den Capillaren steigern durch Absperrung der Venen, denn hier muss er ja, wenn das Bhit vollkommen stillsteht, den arteriellen Druck ganz erreichen. Sperrung der Venen steigert nun in der That die Lymphbildung bedeutend, was der soeben ausgesprochenen Vermuthung über die Unwirksamkeit der Drucksteigerung in den Arterien erhöhte Wahrscheinlichkeit giebt. Nach Verschluss der Venen wird die Lymph- ausschwitzung oft so reichlich, dass die Gewebelücken von Flüssigkeit sichtlich strotzen — ein sogenanntes Oedem entsteht. Sehr begünstigt wird diese Oedembildung, wenn die Gefässnerven des Theiles durchschnitten sind, dessen Venen comprimirt werden. Offenbar macht die der Nerven- durchschneidung folgende Erschlaffung die Gefässwände durchgängiger. Man hat ferner beobachtet, dass active und passive Bewegung den Lymph- strora in den Extremitäten bedeutend steigert. Möglicherweise sind auch hierbei partielle venöse Stockungen von wesentlichem Einflüsse, besonders aber wohl auch die Förderung des Abflusses der Flüssigkeit aus den Ge- webslücken in die Lymphgefässe. Insofern die Lymphe aus den Capillargefässen des Aortensystemes herstammt und in die grossen Körpervenenstämme wieder einkehrt, kann man den ganzen Lymphstrom füglich ansehen als eine Abzweigung des grossen oder Körperkreislaufs, welcher dem Venenstrom parallel geht und sich schliesslich wieder mit ihm vereinigt. Wie mächtig dieser Zweig sein mag, im Verhältniss zum Hauptstrom, davon können wir uns nur auf Grund von hypothetischen Annahmen eine Vorstellung machen. Bei "Thieren hat man nämlich öfters versucht, die Gesammtmeuge von Lymphe zu bestimmen, welche der ductus thoracicus in einer Zeiteinheit liefert. Will man von derartigen Bestimmungen aus nach Verhältniss des Körper- gewichtes auf den Menschen schliessen, so dürfte man bei ihm in der Minute 18 s^' Lymphe annehmen. Wenn wir andererseits annehmen (siehe S. 248), dass jede Systole des linken Herzventrikels 76^1' Blut liefert, so hätten wir bei 70 Systolen in der Minute 5320 s'' Blut durch den Quer- schnitt des Gefässsystems, davon sind 18 s^' der 295ste Theil. Das Messe also, unter den gemachten, freilich keineswegs feststehenden Annahmen, wäre zu schliessen, dass von dem nach den Capillaren strömenden Blute der 295ste Theil die Wände durchsickert und als Lymphe den Weg fortsetzt. 5. Capitel. Abhängigkeit der Säftebewegung vom Nervensystem. Aus den mechanischen Betrachtungen des vorigen Abschnittes geht hervor: So lange als das Herz in gleicherweise fortarbeitet und in den Zuständen der Gefässwände keinerlei Aenderung eintritt, erhält sich die Verschiedene stationäre Zustände des Kreislaufes. 257 Blutbeweguug in einem vollständig beharrlichen Gange; das heisst mit anderen Worten : so lange strömt dnrch einen irgendwo ge- griffenen Gefässquerschnitt in jeder Zeiteinheit dieselbe Blutmenge, und so lange bleibt der Druck in jedem Punkte constant, resp. schwankt er genau periodisch zwischen denselben Grenzwerthen. Die Einrichtungen des Gefässsystems machen es aber möglich, dass die Grössen, welche die Beschaffenheit des beharrlichen Zustandes bedingen, sehr verschiedene Werthe annehmen können. Sowie dies geschieht, wird offenbar ein neuer Zustand platzgreifen, der dann auch wiederum beharrlich wird, wenn die neuen Werthe der massgebenden Grössen constant bleiben. Wenn bei- spielsweise die Häufigkeit des Herzschlages zunimmt, ohne dass sich sonst etwas ändert, wenn namentlich auch die mit jeder Systole ausgeworfene Blutmenge dieselbe bleibt, dann wird bei den ersten häufigeren Systolen offenbar die Anfüllung der arteriellen Systeme zunehmen, weil mehr Blut in der Zeiteinheit eingetrieben wird, als bei der bisher stattgehabten Stromstärke durch die Capillaren entweichen kann ; aus demselben Grunde wird offenbar die Anfüllung der venösen Systeme abnehmen. Damit geht aber Hand in Hand eine Steigerung der Druckdifferenz zwischen Arterien und Venen, und diese bedingt wieder eine Beschleunigung des Stromes durch die Capillaren. Sowie also die erhöhte Häufigkeit des Herzschlages einige Zeit gedauert hat, wird der Strom durch die Capillaren in dem Maasse gesteigert sein, dass er wieder ebenso viel Blut von den Arterien zu den Venen fördert, als das rascher schlagende Herz in der Zeiteinheit von den Venen in die Arterien einpumpt. Von da ab wird dei- Kreislauf in seinem neuen Zustande beharrlich sein. Dem neuen Zustande ent- spricht aber ausser einer grösseren Gesammtstromstärke auch ein grösserer mittlerer Druck in den Arterien, Andererseits kann sich die Beschaffenheit der Blutbahnen vermöge der in ihren Wänden enthaltenen Muskelfasern bedeutend ändern, sowohl aller auf einmal als auch einzelner; an blossgelegten Arterien von Thieren kann man oft bemerken, dass sie sich bis zum Verschwinden der Lichtung zusammenziehen, selbst wenn ihr Durchmesser vorher vielleicht nahezu 1""° betrug. Ziehen sich nun z. B. alle oder wenigstens sehr viele Blut- gefässe des ganzen Körpers zusammen, so muss offenbar die Stärke des Gesammtblutstromes nach den Venen hin bedeutend vermindert werden, da die verengten Bahnen mehr Widerstand leisten. Schöpft nun aber der linke Herzventrikel immer noch jede Secunde gleich viel Blut und pumpt es in das arterielle System, so wird hier eine immer grössere An- füllung stattfinden. Damit aber steigt hier der Druck und folglich die treibende Kraft. Es kann so nach einer Keihe von Herzschlägen dahin kommen, dass trotz des vermehrten Widerstandes die Gesammtstromstärke Fick, Physiologie. 3. Aufl. 17 258 Anpassung des Kreislaufes an die Bedürfnisse. wieder dieselbe wird wie frülier. In diesem neuen stationären Zustande hätte aber das Herz mehr Arbeit in der Zeiteinheit zu leisten, indem es dieselbe Blutmenge gegen einen höheren Druck bewegte. Natürlich ist es aber auch denkbar, dass die Zusammenziehung der Gefässe die Folge einer Minderung der in jeder Systole vom Herzen ausgeworfenen Blut- menge und damit eine Verkleinerung der Gesammtstärke des Blutstromes zur Folge hat. Ziehen sich blos die kleinen Gefässe einzelner Gegenden zusammen, so wird hier im Besonderen der Blutstrom verlangsamt, während vielleicht die Gesammtstärke, in der Aorta gemessen, dieselbe bleibt. Wir erkennen die Möglichkeit zu einer unübersehbaren Mannig- faltigkeit von Zuständen des Kreislaufes, die im Verlaufe des Lebens wirklich fortwährend mit einander wechseln. Hiervon überzeugt schon die oberflächlichste Selbstbeobachtung. Insbesondere die Blutfülle der Haut sieht man oft wechseln zwischen lebhafter Eöthe und vollständiger Blässe. Das Herz fühlt man bald mit äusserster Heftigkeit arbeiten, bald schlägt es unmerklich schwach und langsam. Dieser Wechsel in derVer- theilung der Gesammtstärke des Blutstromes muss — wenn überall die Thierspecies lebensfähig sein soll — den jeweiligen Bedürfnissen sich zweckmässig anpassen. Da das Blut der Träger sowohl des Ernährungs- materiales als auch des zu allen Verrichtungen der Organe nothwendigen Sauerstoffes ist, so muss dafür gesorgt sein, dass das Blut stets die Or- gane am reichlichsten durchströmt, welche gerade zur Zeit am lebhaftesten functioniren, und wenn an die Leistungen des Körpers im Ganzen stärkere Ansprüche gemacht werden, so muss sich die Stärke des Blutstromes im Ganzen steigern. Eine Grösse hält sich aber bei allen wechselnden Zu- ständen des Kreislaufes annähernd constant, das ist der Druck in den grossen Venenstämmen und Herzvorhöfen. Er bleibt immer, in Queck- silberhöhe gemessen, einige Millimeter unter dem Atmosphärendruck, mag der Druck in den grossen Arterien 100 oder 250™"^ betragen. Diese Con- stanz ist leicht zu verstehen. Bei der grossen Geräumigkeit der Venen- stämme und der Schlaffheit ihrer Wände kann Veränderung der Füllung keine grosse Druckänderung bedingen. Die Einrichtung, vermöge deren der Blutkreislauf den jeweiligen Be- dürfnissen angepasst wird, besteht in einem überaus verwickelten Nerven- system, welches mit allen übrigen nervösen Apparaten und dadurch mit allen Organen in den mannigfaltigsten Beziehungen steht, und welches direct die Muskulatur des Herzens und der Gefässwände beherrscht. Die motorischen Nerven der Herzmuskulatur entspringen aus Ganglienzellen, welche im Herzen selbst liegen, und auch die Keize, welche durch Vermittelung dieser Ganglienzellen auf die motorischen Nerven und schliesslich auf die Muskelfasern übertragen werden, ent- Heiznervensystem. 259 stehen ohne Zweifel im Herzen selbst, denn das Herz schlägt, aus dem Körper herausgeschnitten, noch in seinem regelmässigen Khythmus fort. Bei Säugethiereu hört dies allerdings schon nach wenigen Minuten auf, aber offenbar nur ans dem Grunde, weil die Reizbarkeit der Muskeln und Nerven des Herzens sehr bald erlischt, wenn es aus dem Körper herausgenommen ist. Das harmonische Zusammenwirken der ganzen Muskulatur und die genaue Aufeinanderfolge der Vorhofs- und Kammer- systole muss durch die besondere anatomische Einrichtung des Herznerven- systems bedingt sein. Wie das zugeht, ist aber noch nicht ermittelt. Zum Theil ist wahrscheinlich das Zusammenwirken aller Herzmuskelfasern darin begründet, dass sie durch Anastomosen stetig zusammenhängen, dass die ganze Muskulatur der Ventrikel gleichsam nnr eine einzige Muskel- faser darstellt, in welcher selbst sich die Erregung überall hin fortpflanzen kann. BeimFroschherzen wenigstens ist dies experimentell bewiesen. Worin eigentlich der Reiz für das Herznervensystem besteht, ist völlig unbekannt. Die Periodi cität der Erregung ist wahrscheinlich nicht dadurch bedingt, dass der Herzreiz selbst nur in regelmässigen Intervallen periodisch ein- wirkt. Vielmehr ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Reiz, sei er nun welcher er wolle, stetig auf die Ganglien des Herzens einströmt, dass aber hier Hemmungsvorrichtuugen (siehe S. 99) vorhanden sind, welche den Reizstrom gleichsam aufstauen, so dass er sich in einzelnen Schlägen entladen muss, ähnlich wie durch eine Leydener Flasche, deren Knopf eine mit der äusseren Belegung verbundene Kugel gegenübersteht, ein ihrer inneren Belegung zugeführter Elektricitätszufluss in einzelne Ent- ladungen vertheiltwird, welche regelmässig periodisch wie die Herzschläge erfolgen, so lange der Elektricitätszufluss constant bleibt. Ein noch ge- läufigeres Beispiel für die Veränderung eines stetigen Stromes durch Hemmung in einzelne Entladungen hat man in dem Aufsteigen einzelner, regelmässig periodisch aufeinander folgender Blasen, wenn man einen Gasstrom durch ein Rohr in eine Wassermasse treten lässt. Diese seit längerer Zeit in die Nervenphysiologie eingebürgerten Gleichnisse zur Er- läuterung der periodischen Functionen sind indessen insofern durchaus nicht zutreffend, als bei einem nervösen Hemmungsapparate keineswegs die Summe der abströmenden Erregung der Summe der zuströmenden gleich zu sein braucht. Nach einem schon in der Nervenphysiologie wahrscheinlich ge- machten Satze dürfen wir wohl die Vermuthung aufstellen, dass im Herzen ausserhalb der eigentlichen Ganglienzellen Reizaufiiahmsorgane vorhanden sind, die, zunächst von dem uns unbekannten Herzreize getroffen, in Er- regung gerathen, und dass von ihnen durch Leitungsbahnon von vielleicht mikroskopischer Kleinheit die Erregung in die Ganglienzellen einströmt. 17* 2Q0 Zum Herzen gehende Cerebrospinalnerven. Ein solcher Apparat, wie ihn nach dieser Auffassung das Herz mit seinem eigenen Nervensystem darstellt, wird um so häufigere Entladungen geben, je mehr Eeiz in der Zeiteinheit zur Wirkung kommt einerseits und je schwächer die hemmenden Verrichtungen sind andererseits und vice versa. Diese beiden Momente scheinen beim Herzen für sich genommen ziemlich unabhängig zu sein von den hydrodynamischen Bedingungen. Wenn man nämlich bei Thieren alle Nervenstränge durchschneidet, welche den Zusammenhang zwischen den Herznerven und anderen Nerven- centren vermitteln, so schlägt das Herz mit annähernd gleicher Frequenz, mag der Druck im Innern der Ventrikel hoch oder niedrig sein; nur eine unbedeutende Zunahme der Frequenz des Herzschlages hat man in solchen Fällen beim Kaninchen öfters bemerkt, wenn durch Zuklemmen grosser Arterienbahnen der Druck gesteigert wird, jedoch ging auch dies nur bis zu einem gewissen Grade. Das ganz ausgeschnittene Froschherz schlägt mit vollkommen gleicher Frequenz bei jedem beliebigen Druckwerthe. Dagegen hat beim letzteren Steigerung der Temperatur einen sehr deut- lich beschleunigenden Einfluss wahrscheinlich dadurch, dass die Keizbar- keit seiner nervösen Apparate gesteigert wird. Es ist nicht unwahrschein- lich, dass etwas Aehnliches vom Säugethierherzen gilt, doch ist es hier noch nicht direct nachgewiesen. Auf die Arbeit des Herzens hat der Druck, gegen welchen es arbeitet, einen ähnlichen Einfluss wie die Belastung auf die Arbeit eines beliebigen Muskels unter gleichen Bedingungen ; sie steigt nämlich mit wachsendem Druck bis zu einem gewissen Werthe, um darüber hinaus wieder abzunehmen. Gemessen wird die Arbeit des Herzens während einer gegebenen Zeit durch das Product des während derselben ausgeworfenen Blutvolums mit dem Druck, unter welchem es ausgeworfen wurde. In die Nervengeflechte des Herzens treten von aussen her verschiedene Nervenstämmchen ein, die sehr wahrscheinlich alle ihren eigentlichen Ur- sprung im verlängerten Marke nehmen. Einige derselben treten daraus hervor als Vagusfasern, resp. als Fasern des accessorius^ die sich im Ver- laufe dem Vagus anschliessen, um dessen Herzäste zu bilden; andere verlaufen zunächst im Eückenmarke abwärts, treten aus diesem am Halse aus und gehen zunächst zum sympathischen Grenzstrange über, von welchem sie sich an verschiedenen Stellen als sogenannte rami cardiaci des Sympathicus abzweigen. Die Keize, welche auf einigen dieser letzteren zum Herzen gelangen, summiren sich einfach zu den im Herzen selbst entstehenden normalen Eeizen und werden nach den obigen Sätzen ein- fach die Thätigkeit des Herzens beschleunigen. Starke Erregungen dieser Nerven können eine namhafte Steigerung der Häufigkeit des Herzschlages zuwege bringen. Von wo aus diese Nerven im unversehrten Körper in Hemmungsäste des Vagus. 261 der Regel erregt werden, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich können sie unter Anderem erregt werden von höher gelegenen Centralstellen des Hirns aus, denn durch Gemüthsbewegungen kann bekanntlich der Herz- schlag beschleunigt oder verstärkt werden. Freilich kann diese Thatsache auch anders gedeutet werden, wie sich weiter unten zeigen wird. Aeusserst merkwürdig ist die Beziehung der Vagusäste, welche be- stimmt sind, Erregungen vom verlängerten Marke ins Herz zu tragen. Werden sie gereizt, so wird der Herzschlag verzögert, „gehemmt". Nach der herrschenden Anschauungsweise, welchediehemmenden Vorrichtungen in den Ganglienzellen sieht, müsste mau annehmen, dass diese Fasern des Vagus mit den Ganglienzellen des Herzens verknüpft sind und auf ihre Zustände einwirken. Anatomisch ist übrigens dieser Zusammenhang nicht nachgewiesen. Bei manchen Thieren, namentlich bei Hunden, kann man durch starke Reizung der nervi vagi das Herz zu lange andauerndem Stillstande bringen. Es gelingt sogar zuweilen, auf diesem Wege das Thier zu tödten. Bei anderen Thieren, z. B. bei Kaninchen und Fröschen, gelingt es meist nicht durch Vagusreiz, sehr lang andauernden Herz- stillstand zu bewirken. Die bei erregtem Herzvagus seltener gewordenen Herzschläge scheinen meist energischer als die häufigeren bei ungereiztem, wenigstens ist die Blut welle allemal höher. Dies hat man wohl dahin gedeutet, dass eben durch die stärkere Spannung der Hemmungen das ganze ihnen zugeführte Reizquantum gleichsam aufgestaut würde und mithin immer noch un- vermindert in selteneren und darum stärkeren Entladungen zur Wirksam- keit käme. Dies dürfte aber doch nur in beschränktem Maasse richtig sein. Gewiss wird immer ein Theil der normalen Herzreize durch den Vagusreiz gänzlich ausgelöscht, namentlich dann, wenn dieser Reiz stark und dauernd ist. Dass die Blutwelle bei einem durch Vagusreiz ver- zögerten Herzschlage stets bedeutend ausgiebiger erscheint, hat wesentlich in mechanischen Nebenumständen seinen Grund. In den längereu Pausen nämlich hat der Ventrikel Zeit, sich anzufüllen, und umgekehrt hat das arterielle System Zeit, sich mehr zu entleeren, so dass der nun eingepresste Herzinhalt den vorhandenen Inhalt der Arterien um einen grösseren Bruchtheil vermehrt, was eine beträchtliche Druckschwankung ergeben muss. Dass die Herzäste des Vagus auch beim Menschen solche Hemmungs- fasern enthalten, ist nicht blosser Analogieschluss. Bei manchen Indivi- duen gelingt es durch Andrücken des Vagus an die Halswirbelsäule, diesen Nervenstamm mechanisch zu reizen, und dann schlägt das Herz langsamer. Bei den meisten Säugethieren — wahrscheinlich auch beim Menschen — sind die in Rede stehenden Herzäste des Vagus im normalen Zustande 262 Natürliclie Beize des Vaguscentrum. in einer andauernden gelinden, in einer sogenannten „tonischen" Er- regung, welche ihnen an der ürsprungsquelle im Hirn beigebracht wird ; der Beweis hiefür liegt in der Thatsache, dass Durchschneidung beider Vagi am Halse, wodurch diese Erregung in den peripherischen Theilen beseitigt werden muss, den Herzschlag beschleunigt. Bei Hunden ist diese Erscheinung sehr auffallend, weniger bei Kaninchen. Bei letzteren scheint demnach der Tonus der Hemmungsfasern nicht so stark zu sein. Im lebenden Thiere und Menschen kann der Tonus möglicherweise auch durch Ein- flüsse von anderen Theilen des Nervensystems herabgesetzt werden, welche mit den Centralstellen der Henimungsfasern des Vagus in Ver- bindung stehen. Auf diese Art könnte also auch, wie oben angedeutet wurde, die Beschleunigung des Herzschlages durch gewisse Gemüths- bewegungen erklärt werden. Die Erregung der Hemmungsnerven des Vagus im Hirn kann auf sehr verschiedene Arten geschehen. Erstens können von anderen Gegenden des Cerebrospinalorganes Erregungen auf die IJrsprungsstellen der Herz- fasern des Vagus übertragen werden. Insbesondere kann von jeder sen-, siblenEaser aus reflectorisch eine Erregung jener Fasern stattfinden, daher starke Reizung irgend eines sensiblen Nerven den Puls verzögern kann — freilich tritt dieser Erfolg nicht immer ein, was indessen bei den sehr verwickelten Leitungen im Rückenmark und Hirn nicht auffallend ist. Besonders regelmässig werden die Erregungen gewisser aus den Einge- weiden stammenden centripetalen Nerven auf die Vaguscentra reflectirt. Vor Allem gehört hierher der sogen2iiintQ ,,nerviis depressor^'^ selbst ein Aestchen des Vagus, der zum Herzen geht. Er trägt aber nicht wie die Hemmungsfasern centrifugal Erregungen vom Hirn zu den Herzganglien, sondern er hat im Herzen reizaufnehmende Enden. Wenn diese gereizt werden, so reflectirt sich die zum Hirn getragene Erregung auf die Hemraungsfasern des Vagus und verzögert den Herzschlag. Auch in den Baucheingeweiden scheinen ähnliche Nervenfasern zu endigen. Wenigstens kann man bei Fröschen den Herzschlag verzögern, wenn man die Bauch- eingeweide durch Klopfen mechanisch reizt. Auch von den tiefer im Innern gelegenen Hirntheilen her können die Vaguscentra erregt werden, denn wir sehen bei leidenschaftlichen Seelenzuständen, z. B. bei Schreck oder Angst, oft den Puls verzögert. Solchen Seelenzuständen aber müssen doch wohl Erregungen in gewissen Hirnregionen entsprechen. Die Vaguscentra können auch au Ort und Stelle durch das in ihnen strömende Blut erregt werden, und zwar in zweierlei Art. Einmal nämlich bildet der Druck des Blutes ein reizendes Moment ; daher schlägt das Herz um so laugsamer, je höher der arterielle Blutdruck im Hirn steigt. Reizung des Vagus durcli Venösität des Blutes. 2l)ö Am leichtesten kann man sich hiervon bei Kaninchen überzeugen, bei denen man leicht durch die unverletzten Bauchdecken hindurch die Bauchaorta zusammendrücken kann. Hierbei steigt, wie sich a priori so- wohl als experimentell leicht beweisen lässt, der Druck in der oberen Körperhälfte. Es wird nun dabei allemal eine sehr bedeutende Minderung der Pulsfrequenz beobachtet; dass diese lediglich durch Erregung des Vagus im Hirn zu Stande kommt, ist dadurch zu Ijeweisen, dass jene Verzögerung des Herzschlages bei Aorteuverschliessung nicht zu Stande kommt nach Durchschneiduug der nervi vagi am Halse. Auf dieser Eigenschaft der Vaguscentra bernht die am Menschen schon längst beobachtete Erscheinung, dass der Puls in aufrechter Körper- stelluug stets etwas häufiger ist als in liegender, denn in der letzteren muss der Blutdruck im Kopfe etwas höher sein als in aufrechter. Auch die Beschaffenheit des Blutes kann in den Vaguscentren einen Reiz abgeben, wenn dieselbe nämlich über den normalen Grad hinaus venös wird. Hierauf beruht die ganz beträchtliche Verzögerung des Herz- schlages beim Ersticken. Die teleologische Bedeutung dieses merkwürdigen Verhaltens des Vaguscentrums zu Blutdruck und Blutbeschaffenheit ist einleuchtend. Dadurch, dass der Blutdruck den Vagus reizt, schützt sich gleichsam das Hirn selbst vor übermässigem Blutdruck, indem es dem den Blutdruck unterhaltenden Herzen einen Zügel anlegt. Dadurch, dass allzu venöse Beschaffenheit des Blutes die Vaguscentra reizt, werden die Kräfte des Herzens bei Erstickungsgefahr geschont. Mau hat in der That bemerkt, dass ein Thier schneller erstickt, nachdem die nervi vagi am Halse durchschnitten sind, als bei unversehrten nervi vagi. In jenem Falle nämlich, wo natürlich das Herz mit unverminderter Häufigkeit weiter schlägt, erschöpft es sich rasch und steht dann stille, womit das Leben unwiederbringlich verloren ist. Dass wir während des Lebens fast immer tonische Erregung in den Hemmungsfasern des Vagus vorfinden, rührt wohl daher, dass von den vorstehend aufgezählten natürlichen Reizen ihres Centrums stets grössere oder geringere Quantitäten wirksam sind. Die motorischen Nerven für die glatten Muskelfasern der Blutge- fässwände haben ihren eigentlichen Ursprung in einer beschränkten Stelle des Hirns, dem sogenannten „Gefässnervencentrum". Bei Kaninchen liegt dasselbe erwiesenermassen ein wenig hinter den Vierhügeln und vor dem calamus scriptorius. Von hier gehen die motorischen Gefässnerven- fasern anfangs im verlängerten Marke und Rückenmarke abwärts und verlassen dasselbe in den vorderen Spinalwurzeln, um sich den rami communicantes des Sympathicus anzuschliessen. Mit den verschiedenen Geflechten des sogenannten Sympathicus gelangen sie dann in die ver- schiedenen Provinzen des Gefässsystems. Li den oberen Partien des 2(34 Gefässnervencentruiii im verlängerten Marke. Halsmarkes wird man daher mit einer geeigneten elektrisclien Eeizung sämmtliche motoriselie Gefässnerven auf einmal erregen können. In der That sieht mau hei Ausführung einer solchen Keizung alle Gefässe des Körpers sich contrahiren und demgemäss den Druck des Blutes in den Arterien ausserordentlich steigen, indem die contrahirten Wände einen stärkeren Druck auf die darin enthaltene Flüssigkeit ausüben. Bei diesem Versuche wird am besten das Thier curarisirt, um die störenden Einflüsse von Muskelbeweguugen auszuschliessen. Selbstverständlich muss alsdann die Athmuug künstlich erhalten werden. Wenn man dabei einzelne Ar- terien genau ins Auge fasst, so bemerkt man, dass sich ganz besonders die Gefässe der Haut und der Baucheingeweide contrahiren, weit weniger die Gefässe der Muskeln. Durch diese wird also bei Eeizung der sämmt- lichen Gefässnerven der Blutstrom eher beschleunigt als verzögert. Wie unentbehrlich für den Organismus es ist, gerade in der Haut und den Baucheingeweiden die Blutfülle zwischen sehr weiten Grenzen verändern zu können^ wird bei Untersuchung der Resorption und der Wärmeregulirung einleuchten. Durchschneidung des Halsmarkes ohne Reizung hat bei allen Säuge- thieren, welche in dieser Richtung untersucht sind, eine ganz bedeutende Minderung des arteriellen Blutdruckes zur Folge, welcher bis auf 20""" Quecksilber heruntergehen kann. Hieraus geht hervor, dass im Verlaufe des normalen Lebens die Gefässmuskulatur in einer dauernden tonischen Zusammenziehung begriffen ist, die durch Erregung von Seiten des Ge- fässnervencentrums hervorgerufen wird, so dass sie eben aufhört, sowie die motorischen Gefässnerven von dieser Erregungsquelle abgetrennt sind. Welcher Einfluss den eigentlichen Reiz für die tonische Erregung des Ge- fässnerveucentrums abgiebt, ist noch nicht mit Sicherheit ermittelt, jedoch kennt man verschiedene Einflüsse, welche daselbst allgemeine Erregung hervorrufen können. Vor Allem ist experimentell erwiesen, dass jede starke (schmerzhafte) Reizung sensibler Hautstellen oder sensibler Nerven- stämme, sowie auch directe Reizung der hinteren Rückenmarksstränge, das Gefässnervencentrum in erhöhten allgemeinen Erregungszustand ver- setzt, was sich eben durch Erhöhung des Blutdruckes bei solchen Reizungen zu erkennen giebt. Ferner ist experimentell erwiesen, dass venöse Be- schaffenheit des im Hirn strömenden Blutes das Gefässnervencentrum in erhöhte Thätigkeit versetzt, denn beim Ersticken eines Thieres steigt ebenfalls der arterielle Blutdruck bedeutend an. Alle diese Reize wirken aber in gewissem, wenn auch geringem Maasse fortwährend im Leben und können also den beständigen Tonus wohl erklären. Im Gefässnervencentrum bestehen auch Hemmungsvorrichtungen, welche sowohl die regelmässigen tonischen, als auch die blos zeitweise Partielle Reizung im Gefässneivencentrum. 265 anlangenden Erregungen von den motorischen Gefässnerven abhalten und damit den Tonus der Gefässmuskulatur herabsetzen können. Diese Hemmungsvorrichtungen stehen in einer sehr merkwürdigen Beziehung zu dem vorhin schon (siehe S. 262) unter dem Namen des „n. depressor" erwähnten Vagusaste. Wird nämlich dieser Nerv, resp. sein centraler Stumpf — wofern er durchschnitten ist — gereizt, so sinkt der Blutdruck selbst dann, wenn durch Aljschueiden auch der anderen Herzäste des Vagus dafür gesorgt ist, dass die reflectorische Verlangsamung der Herz- schläge nicht mehr zu Stande kommt. Diese Wirkung, welcher der Nerv seinen Namen verdankt, kann nur darauf beruhen, dass seine Erregung, zum Hirn aufsteigend hier die Hemmungen im Gefässnervencentrum ver- stärkt und mithin eben den Tonus der Gefässe herabsetzt. Sollte sich er- weisen lassen, dass die peripherischen Enden des n. depressor etwa im Endocardium durch Druck gereizt werden, so hätten wir in diesem Nerven eine sehr zweckmässige Einrichtung, durch welche das Herz sich selbst vor allzu hohem Drucke sichert. Vom Gefässnervencentrum brauchen keineswegs immer alle Theile in gleichem« Grade der Thätigkeit zu sein. Vielmehr stehen ohne Zweifel die einzelnen Theile derselben mit den einzelnen Provinzen des Gefässsystems in gesonderter Verbindung, und es kann zu derselben Zeit die Erregung im einen Theil gross, im andern klein und damit der Tonus in den verschiedenen Gefässprovinzen sehr verschieden sein. Zu einer andern Zeit ist dann vielleicht in den Provinzen der Tonus klein, wo er vorher gross war, und umgekehrt. Davon kann man sich schon ohne Versuche an Thieren am eigenen Körper überzeugen, indem mau nament- lich von der Haut bald diesen, bald jenen Theil mit Blut strotzend ge- füllt, bald leer sieht. Offenbar werden die partiellen Erregungen des Gefässcentrums hauptsächlich durch centripetale peripherische Nerven hereingetragen, welche von den betreffenden Leibesorganen ausgehen; allein es ist hierüber noch nichts Sicheres festgestellt, da man bis jetzt bei Reizung sensibler Nerven stets eine allgemeine Erregung des Ge- fässnervencentrums beobachtet hat (siehe S. 264). Das Erbleichen der Haut oder einzelner Theile derselben bei Gemüthsbewegungen beweist, dass auch von gewissen, allerdings nicht angebbaren Theilen des Hirns, welche eben die Sitze dieser Gemüthsbewegungen sind, Nervenbahnen zum Gefässnervencentrum treten, deren Erregung im letzteren auf be- stimmte motorische Gefässnerven reflectirt wird. Ebenso wie es partielle Erregung giebt, kann auch in jedem Theile des Gefässnervencentrums besonders die Hemmung verstärkt werden, so dass in einzelnen Gelassen für sich der Tonus nachlässt. In dieser Beziehung hat man oft, wenn auch nicht ganz regelmässig, die 266 Künstliche Eeizung der peripheren Gefässnerven. Beobachtimg gemacht, dass Reizung eines sensiblen Nervenstamnaes die Gefässe der Gegend erschlafft, zu welcher er gehört, während die Ge- fässe des Körpers im Allgemeinen, wie schon mehrfach erwähnt, sich zu- sammenziehen. Sehr schön gelingt meistens diese Erscheinung zu zeigen am Kauinchenohr. Bei centripetal geleiteter Eeizung des sensiblen n. auri- cularis nämlich sieht man die Gefässe des Ohres sich strotzend mit Blut füllen. Oft geht der Anfüllung noch ein momentanes Erbleichen voraus. Auch an anderen Stellen des Körpers wurde dieselbe Erscheinung schon be- obachtet. Die Zweckmässigkeit einer solchen Einrichtung, die bei vielen pathologischen Processen wohl eine bedeutende Rolle spielen dürfte, leuchtet ein. Vermehrter Blutzufluss zu dem gereizten Organ kann ja oft die Reizursache, z. B. eine ätzende Substanz, wegschaffen, oder sonst den Heilungsprocess einer Störung ermöglichen und fördern. Auch von höher oben im Hirn gelegenen Centren können ins Gefässnervencentrum Er- regungen gelangen, deren Erfolg eine partielle Hemmung des Tonus im Gefässsystem ist. Ein positiver Beweis für diesen Satz liegt in der all- gemein bekannten Thatsache des partiellen Erröthens in Folge von Ge- müthsbewegungen. Auf künstlichem Wege gelingt es natürlich leicht, in einem ein- zelnen Gefässgebiete den Tonus zu vermehren, wenn man die zu dem- selben gehenden besonderen sympathischen Nervenstämme reizt, etwa auf elektrischem Wege. So kann man z. B. das Kaninchenohr vollständig er- bleichen machen, wenn man den Grenzstrang des Sympathicus am Halse reizt, durch welchen hindurch die Gefässnerven zu den Aesten der Carotis gelangen. Ebenso kann man durch Zerschneidung eines solchen sym- pathischen Stämmchens dem betreffenden Gefässgebiete ausschliesslich die tonischen Erregungen des Gefässnervencentrums entziehen, so dass die Gefässe dieses Gebietes sich ausdehnen und füllen. So sieht man das Kaninchenohr sich lebhaft röthen, wenn man den Halssympathicus durch- schneidet, welcher ihm die motorischen Gefässnerven zuführt. Dieser Nachlass des Tonus in einem Gefässgebiete, dessen sym- pathische Nerven durchschnitten sind, ist aber meist nur eine vorüber- gehende Erscheinung. Oft sieht man schon nach einigen Minuten die Ge- fässe sich wieder zusammenziehen. Daraus ist zu schliessen, dass den Gefässnerven nicht blos im Hirn, sondern auch im peripherischen Verlaufe normale Reize zugeführt werden können. Die Möglichkeit hier- von dürfte wohl dadurch gegeben sein, dass die Gefässnerven nicht ein- fache Nervenfasern sind, welche wie die motorischen Nervenfasern der Skeletmuskeln ununterbrochen vom Cerebrospinalorgan zu ihrer letzten peripherischen Endigung verlaufen. In die Bahnen der Gefässnerven sind vielmehr stellenweise Ganglienzellenhaufen eingestreut. Man kann sich Peripherische Hemmung des Gefässtonus. 267 demgemäss vorstellen, dass jede Gefässnervenfaser an verschiedenen Stellen, ancli an Stellen ihres peripherischen Verlaufes, durch Gang- lienzellen mit anderen Nervenfasern in Verbindung tritt, welche Erregung auf sie übertragen. Tn solchen peripherischen Ganglienzellen können wahrscheinlich auch hemmende Wirkungen ausgetilgt werden. Einen be- sonders merkwürdigen Fall der Art, welcher experimentell genauer unter- sucht ist, bildet die Erection des Penis. Wenn mau beim Hunde gewisse Aeste des plexus sacralis durchschneidet und ihre peripherischen Stümpfe, die noch mit dem Penis zusammenhängen, elektrisch reizt, so tritt die Erection ein, d. h. die corpora cavernosa füllen sich unter hohem Druck mit Blut an. Offenbar kann diese Erscheinung nur folgendermassen ge- deutet werden. Die feinen Verzweigungen der Arterien des Penis befinden sich regelmässig in hochgradiger tonischer Erregung, so dass ihre Lich- tung fast geschlossen ist. Es kann daher nur wenig Blut durch sie hin- durchsickern, und in den sie fortsetzenden venösen Eäumen der corpora cavernosa ist der Blutdruck äusserst niedrig, die Anfüllung gering. Kommt jetzt von den vorhin genannten Nerven Erregung zu den Ganglien der Gefässnerven des Penis, so wird hier eine hemmende Wirkung ausgeübt, welche die tonische Erregung nicht mehr zu den Arterienwänden gelangen lässt. Die Arterien erweitern sich dadurch und das Blut kann sich in mächtigem Strome in die venösen Käume der corpora cavernosa ergiessen, diese unter hohem Drucke füllen und ausdehnen. Aehnliche venöse Ein- richtungen scheinen auch in anderen Organen zu bestehen. Nur kommt es nicht zu so augenfälligen Erscheinungen, weil die besonderen Gefäss- einrichtungen fehlen. Diese relative Selbstständigkeit der Gefässwände, vermöge deren Tonus und Hemmung durch rein locale Ursachen ge- steigert und vermindert werden kann, ist bei manchen Thieren stellen- weise so hoch entwickelt, dass periphere Gefässabschnitte sich ähnlich dem Herzen rhythmisch zusammenziehen und erschlaffen. So zeigen die Venen der Fledermausflughaut regelmässige Pulsationen, und es dauern dieselben auch am abgeschnittenen Flügel noch fort — ja, wenn man einen künstlichen Blutstrom durch die Arterien des abgeschnittenen Flügels leitet, kann man sie zwanzig Stunden lang beobachten. Hier müssen also offenbar die Ursachen wechselnder Erregung und Kühe auf periphere Gewebstheile direct wirken, seien dies nun periphere Nervenapparate oder die Muskelfasern selbst. Wie gesagt, ist diese Einrichtung wahrscheinlich ganz allgemein, nur functionirt sie nicht überall mit gleicher Kegel- mässigkeit. Es ist nach dem Seite 110 ft'. entwickelten Bauplane des Eücken- markes von vornherein sehr unwahrscheinlicli , dass die Gefässnerven von ihrem Centrum im verlängerten Marke an das Rückenmark ganz 2ß3 Reflexe auf Gefässnerven im Rückenmarke. isolirt imd iiüimterbroclieu vou Gauglieuzelleu durchlaufen sollten. Viel- mehr ist nach Analogie mit anderen Bahnen des Eückenmarkes anzu- nehmen, dass auch die Gefässbahnen desselben in ihm in Ganglienzellen enden, aus welchen erst die peripherischen Gefässnerven mittelbar ent- springen und in welchen andererseits sensible oder sonstige Nervenfasern mit ihnen verknüpft sind und reflectorisch auf dieselben wirken können. Längere Zeit hindurch wurde dies gleichwohl in Abrede gestellt auf Grund der oben erwähnten Thatsache, dass Durchschneidung des Halsmarkes sofort dem Tonus und der reflectorischeu Erregbarkeit der Gefässmusku- latur ein Ende macht. Neuere Versuche haben aber dargethan, dass der gewaltige Ein- griff des Durchschneidens die zarten reflectorischeu Apparate des Rücken- markes zeitweise lähmt. Erhält man ein Thier mit durchschnittenem Marke längere Zeit am Leben oder tödtet man das Gefässnervencentrum auf weniger gewaltsame Weise durch partielle Erstickung, so kann man deutlich sehen, dass im Eückenmarke von sensiblen Nerven auf die motorischen Gefässnerven reflectorisch gewirkt werden kann, und zwar treten dabei namentlich auch einseitige und partielle Eeflexe auf. Die Gefässnervenbahnen machen demnach keine Ausnahme von den all- gemeinen anatomischen Eegeln über die Verknüpfung der Eücken- markselemente. Noch ein Gefässnerv verdient 1)esondere Erwähnung, weil er auf den arteriellen Blutdruck im Allgemeinen einen grossen Einfluss hat. Es ist dies der n. splanchnicus. Er führt die sämmtlichen Nerven- fasern, welche die Gefässe der Baucheingeweide beherrschen. Da diese Gefässe ein sehr geräumiges Gebiet darstellen, so kann darin, wenn der Tonus ihrer Wände nachlässt, ein grosser Theil der gesammten Blutmasse Platz finden. Wenn man daher die nervi splanchnici eines Thieres durchschneidet, so sinkt der arterielle Blutdruck beinahe in dem- selben Maasse, wie wenn das Halsmark durchschnitten wird und um- gekehrt steigert Eeizung der nervi splajichnici den arteriellen Blutdruck sehr bedeutend. Die Muskulatur der pulmonalen Gefässe ist vom Nervensystem in weit geringerem Maasse abhängig als die der Körpergefässe. Hals- markdurchschneidung und Reizung bringt in der Lungenarterie nur un- bedeutende Druckschwankungen zu Stande. Man kann diese relative Unabhängigkeit nur zweckmässig finden, da unter normalen Verhält- nissen für den Organismus nie ein Bedürfniss entstehen kann, den Blut- strom auf den einen oder den andern Theil der Lunge zu concentriren, und eine Zusammenziehuug aller Lungeugefässe nur einen störenden Widerstand setzen würde. Schema der Gefässinnervation. 269 Die Figur 39 giebt ein übersichtliches Bild vom ganzen Zusammen- hange der Gefässinnervation, soweit man sich ein solches aus den bis jetzt vorliegenden experimentellen Daten machen kann. Man erkennt den ümriss eines menschlichen Kopfes und Rumpfes, ferner den darin eingezeichneten ümriss des Cerebrospinalorganes, des Herzens und des daran sieh anschliessenden Arterien- systems, dessen Fläche leicht schattirt ist. Im Hirnumfange sind zwei Ganglienzellenhaufen angedeutet, der bei Gc soll das Gefässnervencentrum (siehe S. 263), der bei Hc das Herz- nervencentrum vorstellen. Im Herzumfange ist bei c ein Gan- glienzellenhaufen eingezeich- net, das unmittelbare Cen- trum der Herzbewegung (siehe S. 258 und 259). Die Nerven- fasern sind durch dicke aus- gezogene punktirte und ge- strichelte Linien dargestellt. Die ausgezogenen Linien be- deuten in Muskelfasern endende, also eigentlich motorische Ner- venfasern, 1 1 sind die vom intra- cardialen Centrum ausgehen- den motorischen Herznerven- fasern (siehe S. 258), nnn sind die von Gc ausgehenden mo- torischen Gefässnerven (siehe S. 263). Durch punktirte Linien sind Nervenfasern dargestellt, welche zur Leitung nach Cen- tralorganen hin bestimmt sind und deren Erregung schliesslich eine Hem- mung von Bewegung zur Folge hat. Solche Fasern gehen von höher gelegenen Stellen des Hirns (aundij zu Gc und Hc (siehe S. 262), von einer sensiblen Hautstelle m nach Gc (siehe S. 266), vom Herzen in der Bahn des Vagus zu Gcl^vn. (iepresso7'cZ (siehe S. 262), von^cnach c die Herzhemmungsfasern des Vagus h (siehe S. 261), von den EingeAveiden nach Hc die Ileflexhem- mungsfasern o o (siehe S. 262), Gestrichelte Linien stellen zur Leitung nach den Centren hin bestimmte Fasern dar, deren Erregung schliesslich Anregung 270 Schema der Gefässinnervation. oder Vermehrung von Bewegung bewirkt. Dahin gehören die allerdings nicht näher bekannten Fasern r, welche den hypothetischen normalen Eeiz ins intracardiale Centrum tragen (siehe S. 259) und die von Hc nach c gehen- den Beschleunigungsnerven des Herzens g (siehe S. 260). Ferner gehen gestrichelte Linien von den höheren Centralstellen a und h nach G c (siehe S. 265) und Hc (siehe S. 261), sowie eine von der sensiblen Haut- stelle m nach Gc (siehe S. 264). Die gestrichelten und punkth'ten Linien sind an passenden Stellen mit Pfeilspitzen versehen , um anzudeuten, in welchem Sinne zu leiten sie bestimmt sind. Unter sss ist der Grenzstrang des Sympathicus angedeutet, dem sich verschiedene der gezeichneten Nervenfasern stellenweise anschliessen. 7. Abschnitt. Athmiing. 1. Capitel. Gasaiistausch des Blutes mit der Lungenluft. In eiuem andern Abschnitte haben wir schon gesehen, dass sich das Blut der Venen von dem der Arterien wesentlich unterscheidet (siehe S. 233) durch verschiedenen Gehalt an auspumpbarem vSauerstoff und Kohlensäure und zwar fanden wir in 100 '^'^'^ arteriellen Blutes etwa 14,6''"™ 0 und 30'^'^™ C0.2, in 100'^'='" venösen etwa 9^^"^ 0 und 34,4'^'=™ CO.2, die Gase gemessen bei 1™ Quecksilber Druck und 0'' Temperatur. Das an leicht gebundenem Sauerstoff also verarmte Blut der Venen ist nun nicht im Stande, in demselben oder eiuem andern Organe des Körpers noch einmal zu functioniren, es muss demnach, ehe es abermals in die Blutgefässe des Körpers gelangt, eine Aenderung erleiden, die ihm die arterielle Beschaffenheit wiederum beibringt. Diese Aenderung er- leidet es in der Lunge. In der That geht ja alles Blut, was durch die Körpervenen zum Herzen zurückströmt, vom rechten Ventrikel durch die Lungen zum linken Vorhof, ehe es wiederum vom linken Ventrikel in die Körpergefässe getrieben wird. In der Lunge muss also das Blut Kohlen- säure abgeben und Sauerstoff aufnehmen, und zwar sieht man aus den soeben wiederholten Zahlen, wie viel ungefähr, da ja factisch das venöse Blut wieder in arterielles verwandelt wird. Es müssen nämlich je 100'^'^™ Blut beim Durchgang durch die Lunge etwa 14,6 — 9,0, d. h. 5,6 ''•'™ Sauerstoff aufnehmen und etwa 34,4—30,0, d. h. 4,4'"^™ Kohlensäure verlieren. Die Veränderung, welche das Blut in der Lunge erleidet, ist sonach eine ähnliche, als wenn man venöses Blut mit Luft resp. mit reinem Sauerstoff schüttelt. Thut man nämlich dies, so oxjdirt sich sein Hämo- globin vollständig, das Blut wird hellroth und andererseits geht Kohlen- säure aus dem Blute fort. Diese Aehnli(;hkeit kann nicht auffallen, da ja das Blut beim Durchgänge durch die Lungencapillaren in fast unmittel- bare Berührung mit der in den Lungenbläschen enthaltenen Luft kommt. 272 Wirkungslosigkeit des Lungengewebes beim Gasaustausch. Dies ergiebt sich immittelbar aus den bekannten anatomischen Anord- nungen der Gefässe in der Lunge. Die Capillarverzweignngen der Lungen- arterien liegen nämlich in den Wänden der mit Luft gefüllten Lungen- bläschen, und es scheint sogar das Epithel, welches diese Bläschen übrigens innen auskleidet, an den von Capillaren eingenommenen Stellen zu fehlen oder wenigstens besonders dünn zu sein. Das Blut ist also hier nur durch die ausserordentlich zarte und wohl durchfeuchtete Capillargefässwandung von der Luft geschieden, so dass ein Diflfusionsstrom von Gasen fast keinen Widerstand findet. Wahrscheinlich spielen die Gewebstheile der Lunge selbst beim Athmungsprocesse keinerlei active Kolle. Ihre Anordnung hat eben nur den Zweck, in der soeben angedeuteten Weise das Blut in sehr ausge- dehnte Berührung mit der Luft zu bringen. Man hat nämlich beobachtet, dass Hundeblut von normaler venöser Beschaffenheit an ein abgegrenztes Luftvolum, womit es geschüttelt wird, mindestens ebensoviel Kohlensäure abgeben kann (3 bis 4 %) als an die Luft in den Lungen, wenn es diese durchströmt. Andererseits kann es auch beim Schütteln mit Luft reich- lich ebenso viel Sauerstoff aufnehmen, als es in den Lungen aufnimmt. Bei Versuchen hierüber muss man natürlich sehr darauf achten, dass man das Verhalten gleichartiger Blutmengen vergleicht. Um z. B. zu er- fahren, wie stark das normale venöse Blut die Lungenluft mit Kohlen- säure zu beladen im Stande sei, darf man nicht etwa einem Thiere die Trachea zuschnüren und nach der Erstickung die Lungenluft auf ihren Kohlensäuregehalt prüfen. Dieser kann bis auf 15 "/o steigen. In einem solchen Falle ist aber eben auch ein an Kohlensäure abnorm reiches Blut, nämlich Erstickungsblut, mit der Lungenluft in Berührung gewesen. Auch wenn ein Mensch über eine Minute die Luft in den Lungen gewaltsam zurückhält, nimmt wahrscheinlich das Blut schon eine übertrieben venöse Beschaffenheit an und der Gehalt der später aus- geathmeten Luft an Kohlensäure ist grösser als derjenige, welcher nor- mal venöses Blut der Luft höchstens mittheilen kann. In der That er- reichte in einem derartigen Versuche der Kohlensäuregehalt der 100 Se- cunden zurückgehaltenen Luft 7,5 7o- Den wahren Maximalgehalt an Kohlensäure, welchen das normal venöse Blut der Lungenluft beizu- bringen im Stande ist, kann man nur erfahren, wenn man im Uebrigen den Kespirationsproeess ungehindert gehen lässt, nur einen Theil der Lunge absperrt und die darin enthalten gewesene Luft auf ihren Gehalt an Kohlensäure untersucht. Dieser findet sich alsdann nach mehrere Minuten langer Berührung der Luft mit dem Blute zu etwas über So/o« Beim Menschen, dessen Kespiration weniger lebhaft ist, würde man wahrscheinlich einen grösseren Werth finden, der aber schwerlich ö'Vo Elastizität der Lungen. 273 Übertreffen dürfte. Man sieht also, dass das Lnngengewelje nicht eine be- sondere absondernde oder austreibende Kraft auf die Kohlensäure ausübt. Der Sauerstoffgehalt eines so abgesperrten Theiles der Lungenluft sinkt bis auf 3,6% herunter. Die unter normalen Verhältnissen vom Menschen ausgeathmete Luft enthält meist etwa 4",,, Kohlensäure und nur noch etwa 16"/,j Sauer- stoff. Sie ist also den vorstehenden Angaben zufolge zwar an letzterem Stoffe noch nicht so arm, um nicht noch mehr davon an das Blut ab- geben zu können, aber sie ist an Kohlensäure schon nahezu so reich, dass sie nicht mehr viel aus normal venösem Blute aufnehmen könnte. Sie ist also wenigstens in einer Beziehung nicht mehr tauglich den üm- wandlungsprocess des Blutes ferner zu unterhalten und muss nothwendig durch andere kohlensäurefreie Luft ersetzt werden. Diese Betrachtung zeigt von vornherein, dass bei den Säugethieren ein besonderer Mecha- nismus erforderlich ist, welcher für eine periodische Erneuerung der in den Lungen enthaltenen Luft sorgt. 2. Capitel. Mechanismus der Athembewegungen, Die Lunge stellt mechanisch betrachtet einen äusserst elastischen Sack dar. Er ist freilich in viele Tausende von bläsehenartigen Fächern getheilt. Diese stehen aber alle mit der Trachea und somit auch unter- einander im Zusammenhang. In die Wände der feinsten Bronchien oder Luftröhrenzweige und der Lungenbläschen sind zahlreiche glatte Muskel- fasern eingewebt. Die Lunge kann sich daher auch activ zusammenziehen, wovon man sich durch elektrische Keizung ihres Gewebes überzeugen kann. Sie füllt alle Theile des Brustraumes, welche nicht durch andere Organe, wie z. B. Herz, grosse Gefässe etc., schon eingenommen sind, vollständig aus. Ihre Wand ist aber an die Brustwand nirgends ange- wachsen, vielmehr liegt ihr glatter seröser üeberzug (pleura pulmonalis) leicht beweglich an der glatten serösen Auskleidung der Brustwände (pleura j)arktalis). Diese letzteren sind, wie die Anatomie lehrt, durch Muskeln beweglich, und zwar ist die Möglichkeit gegeben, dass der Kaum- inhalt des Brustkorbes abwechselnd vergrössert und verkleinert werden kann. Die Erweiterung des Raumes geschieht erstens durch Zusammen- ziehung des Zwerchfelles, indem dabei das centrum tendineum desselben herabsteigt und so die Höhe des Binnenraumes der Brust vergrössert wird. Zweitens kann Erweiterung stattfinden durch Erhebung sämmt- licher Kippen. Daljei wird der Durchmesser von vorn nach hinten und von rechts nach links vergrössert. Welche Muskeln in diesem Sinne Kick, Physiologie. 3. Aufl. ^^ 274 Inspirations- und Exspirationsmuskeln. wirken können, lehrt die Anatomie. Bei gewöhnlicher Athmung werden keineswegs alle in Thätigkeit gesetzt, vielmehr wird die Erweiterung des Brustranmes meist nur durch das Zwerchfell und die intercostales externi bewerkstelligt. Es ist ein weit verbreiteter Irrthum, dass beim männlichen Geschlechte die gewöhnliche Einathmung vorwiegend oder ausschliesslich durch Zusammenziehung des Zwerchfelles bewerkstelligt werde. Um ihn zu widerlegen, braucht mau nur die Yergrösserungen, welche die ver- schiedenen Brustdurchmesser beider gewöhnlichen seichtestenEinathmung erleiden, zu messen. Es zeigt sich dabei erstens, dass die Querdurch- messer von rechts nach links mehr vergrössert werden als die Durch- messer von vorn nach hinten, und zweitens dass die Yergrösserungen aller Durchmesserinden verschiedenenHöhenvonuntenan bis zur vierten Rippe hinauf ziemlich gleich sind. Noch weiter oben zwischen den Schultern können die Querdurchmesser und ihre Veränderungen natürlich nicht mehr gemessen werden. Eine solche bis weit hinauf ziemlich gleichmässige Erweiterung des Brustraumes kann aber die Zusammenziehung des Zwerchfelles allein nicht bewirken. Das lässt sich schon aus der ana- tomischen Lage dieses Muskels folgern. Es lässt sich aber auch durch ganz directe Beobachtung beweisen. Bei einiger Uebung in der Be- herrschung seiner Muskeln kann man nämlich leicht das Zwerchfell ganz isolirt contrahiren und zur Einathmung verwenden. Thut man dies, so erweitert sich der Brustraum keineswegs in der soeben als normal be- schriebenen Weise. Es vergrössert sich vielmehr blos der Brustdurch- messer von vorn nach hinten, und zwar in ergiebiger Weise nur ganz unten. Die Qnerdurchmesser werden dagegen selbst unten merklich ver- kleinert. Ausserdem wird bei reiner Zwerchfellinspiration der Bauch be- deutend stärker vorgetrieben als bei der normalen Inspiration. Man wird also behaupten können, dass bei der normalen Einathmung des Menschen das Zwerchfell nur eine untergeordnete Rolle spielt. Zu den allerangestreng- testen Erweiterungen des Brustraumes tragen dann noch andere Muskeln bei, welche vermöge ihrer anatomischen Lagerung die obersten Rippen und dasBrustbein heben, namentlich die mMscwZisca^em und ster«ocZe^(iow^asto^c?e^. Verengerung des Brustraumes können vorzugsweise die Bauch- muskeln bewirken, indem sie einmal die Baucheingeweide und dadurch das Zwerchfell hinaufdräugen, und dann, indem sie das Sternum mit den Rippen herabziehen. Ohne Zweifel haben aber auch die musculi intercostales interni exspiratorische Wirkung. Schon die geometrische Analyse der anatomischen Verhältnisse zeigt, dass bei Senkung der Rippen die Ursprünge und Ansätze der Fasern dieser Muskeln einander genähert werden, dass sie also Antagonisten der intercostales externi sind, so oft dies auch in den letzten hundert Jahren bestritten worden Negativer Druck im Pleuraräume. 275 ist. Neuerlichst will man übrigens auch am Hunde direct Ijeolmchtet haben, dass ein isolirtes Rippenpaar, von dem alle übrigen Muskeln al)präparirt waren, rhythmische Znsammenziehung der intercostales interni in der Phase der Exspiration zeigt. Besser als durch viviseetorische Be- obachtungen dürfte aljer die exspiratorische Wirkung der intercostales inferni bewiesen werden durch eine Erscheinung, die man am eigenen Körper leicht beoliachten kann. Hat man sich nämlich in der willkür- lichen Beherrschung seiner Athemmuskulatur einigermassen geübt, so kann man jeden Augenl)lick eine kräftige active Exspiration hervor- l)ringen ohne die allermindeste Anspannung der Bauchmuskeln. Bei geschlossenen Luftwegen kann man durch eine solche Exspirations- anstrengung einen Druck hervorbringen, welcher den lilos elastischen Druck der gedehnten Lunge ])ei Weitem übersteigt. Wenn aber bei dieser kräftigen activen Senkung der Kippen die Bauchmuskeln ganz un]»e- theiligt sind, so kann sie absolut nur durch die intercostales interni be- wirkt sein, denn irgend einer anderen Brnstmuskelgruppe wird auch von den Gegnern der exspiratorischen Wirkung der Intercostales externi keine solche Wirkung zugeschrieben. Vermöge der sämmtlichen Gelenkverl)indungen der Eippen und ihrer elastischen Bänder kommt dem ganzen Brnstkorlte eine gewisse Gleichgewichtsfigur zu, die er annimmt, wenn alle darauf wirkenden Muskeln ruhen. Wenn die Lunge den Brustkorl) in diesem Znstande aus- füllt, so sind ihre Wände immer noch merklich gedehnt und besitzen mit- hin eine gewisse Spannung, oder hal)en mit anderen Worten noch ein Bestreben, sich von der Brustwand zurückzuziehen, dem sie aber nicht Folge gel)en können, w^eil sonst in der Pleurahöhle ein Vacuum entstehen würde. Man kann also sagen, die elastische Lunge w'ird durch den Druck der Luft in ihrem Lmern an die Brustwand angedrückt. Von dem Vor- handensein dieser Spannung der Lunge auch bei ruhender Thoraxmusku- latur kann man sich noch an der Leiche ül)erzeugeu. Nimmt man näm- lich in einem Intercostalraum die Muskeln weg, so sieht man durch das transparfute Parietallilatt der Pleura die dicht angelegte Lunge durch- schimmern und sieht, wie diese sich sofort zurückzieht, sowie man dasselbe ansticht. Durch das Loch dringt die Luft mit hörbarem Geräusch in den Pleuraraum ein. Wenn man bei diesem Versuche vorher die Trachea durch ein Manometer geschlossen hat, so sieht man dasselbe beim Oeffnen der Pleurahöhle sofort steigen, und man hat in der Höhe, auf welche es steigt, ein Maass für die Spannung der Lunge. Lst das Manometer mit Wasser gefüllt, so kann es auf 40 — 00™'° steigen, was einer Quecksilber- säule von f'twa 'V 5™'" Hölie entspricht. Wenn man umgekehrt die Tiachea in r'omiiinnication mit dt-r vM.mosjthäre lässt und das Mano- 1«* 276 Ausatliraung ohne Muskelarbeit. meter iu die Oeffinmg der Pleura einsetzt, selbstverständlich bevor sich die Lunge zurückgezogen hat, dann sieht man die Flüssigkeit im offenen Schenkel des Manometers um ebensoviel sinken, zum Beweise, dass der Druck im Pleuraräume niedriger ist als der Atmosphärendruck, welcher letztere unter den gedachten Umständen auch im Innern der Lunge herrscht. Wenn nun iu der oben beschriebenen Art der Rauminhalt der Brust vergrössert wird und gleichzeitig der Binnenraum der Lunge durch Stimmritze, Rachenraum und Nase (resp. Mund) mit der Atmosphäre in offener Communication steht, so muss sich die elastische Lunge in ganz gleichem Maasse ausdehnen und Luft von aussen aufnehmen. Die Wände der Lunge müssen, obgleich nicht verklebt mit der Brustwand, dieser genau angelegt bleiben, denn sonst würde ja auch wieder im Pleuraraum ein Vacuum entstehen und die Spannung der Lunge hätte den ganzen Atmosphärendruck zu überwinden, was sie selbst bei den äussersten vor- kommenden Dehnungen nicht entfernt zu thun im Stande ist. Selbstver- ständlich ist während der Inspirationsstellung die Spannung des stark ge- dehnten Lungengewebes noch viel grösser als während der Exspirations- stellung, und es wächst also bei der Inspiration die Differenz zwischen dem Druck der Lungenluft und dem hydrostatischen Druck in den Pleuraräumen. Soll der Einathmungsact in ausgiebiger Weise zu Stande kommen, dann muss sich die Ausdehnung auf die ganze Lunge gleichmässig ver- theilen, was natürlich nur dann möglich ist, wenn dieselbe überall wirk- lich ausdehnbar und ihre Oberfläche an der Brustwand überall vollkommen verschiebbar ist. Pathologische Infiltrationen der Lunge oder Verwach- sungen ihrer Oberfläche mit der Brustwand sind daher der Einathmung sehr hinderlich, indem sie die Ausdehnung aufTheile der Lunge be- schränken. Deren Spannung wächst dann alsbald so weit, dass sie nicht mehr von den Einathmungsmuskeln überwunden werden kann. Sobald die Spannung der Muskeln, welche den Brustkorb ausgedehnt haben, nachlässt, so kann die Ausathmung von selbst erfolgen, ohne dass andere Muskeln angestrengt zu werden brauchten, bis die elastischen Kräfte der Lunge wieder im Gleichgewichte sind mit den Bänderspan- nungen der Rippenverbindungen, die sich selbstverständlich von einem gewissen Punkte an dem weiteren Zusammensinken des Brustkorbes widersetzen. Nach der jetzt herrschenden Ansicht geschieht die ge- wöhnliche Ausathmung blos auf diese Weise. Wenn man sich indessen aufmerksam selbst beobachtet bei willkürlicher Sistirung einer im Gange beflndlichen Ausathmung, so wird man bemerken, dass dieser Act mehr den Eindruck macht, dass man eine Muskelzusammenziehung hemmt, als dass man die Inspiratoren von Neuem zusammenzieht. Wenn dies Einfluss der Athmnnjj auf den Blutkreislauf. 277 keine Täuschung ist, so muss man annehmen, class auch l)eim gewöhn- lichen ruhigen Ausathmen Muskelaction etwa der intercostales interni be- theiligt ist. Werden alsdann noch die oben bezeichneten Muskelkräfte der Bauchpresse zu Hilfe genommen, die den Brnstraum zu verkleinern streben, so kann noch ein ferneres Luftquantum ausgetrieben werden. Auch dieser Vorgang der verstärkten activen f]xspiration hat seine Grenze, und es bleibt dann immer noch eine beträchtliche Luftmenge in den Lungen zurück, die gar nicht ausgetrieben werden kann. Die Exspirationsmuskeln müssen zur Austreiljung der Luft sicher dann angewandt werden, schon ehe die Gleichgewichtsstellung des Brust- korbes überschritten ist, wenn man einen sehr heftigen Ausathmungs- strom — namentlich bei verengter Stimmritze — verlangt, denn in einem solchen Falle muss der Druck der Luft in den Lungen den äusseren Atmosphärendruck bedeutend übersteigen, und einen so bedeutenden Drucküberschuss vermag die Lungenspannung allein nicht hervorzu- bringen; es müssen Muskelkräfte zu Hilfe genommen werden, welche auf den Brustkorb von aussen zusammendrückend wirken. Dies geschieht namentlich bei der Stimmbildung. Die Athembewegungen und die dadurch bewirkten Druckschwan- kuugeu im Brustraume müssen auch auf den Blutkreislauf Einfluss haben, da im Thoraxraum ausserhalb der Lungen die Anfänge und Enden der grossen Blutgefässstämme nebst dem Herzen enthalten sind. Die Saug- wirkung, welche stets, ausser bei gewaltsamer Ausathmung, gegen diese Räume hin statthat, muss unmittelbar dahin wirken, dass der hydro- statische Druck in den genannten, im Brustraum befindlichen Theilen des Gefässsystems gemindert wird. Daher ist durch die fraglichen Ver- hältnisse der Zufluss des Blutes zur Brusthöhle, resp. zum Herzen er- leichtert, der Abfluss von da erschwert. Behielte die in Rede stehende Saugwirkung fortwährend densel])en Werth, so könnte sie, wie man auf den ersten Blick sieht, im Ganzen den Blutkreislauf weder erleichtern, noch erschweren. Wie wir sahen, variirt sie aber periodisch. Sie wächst mit der Einathiuung und nimmt ab mit der Ausathmung. Bei heftiger Ausathmung ändert sie gar ihren Sinn, d. h. bei heftiger Ausathmung kann der Druck der Lungenluft so hoch steigen, dass er selbst nach Ab- zug des entgegenwirkenden Druckes des Lungengewebes den Atmo- sphärendruck noch übertrifft und also die Lunge nicht mehr eine unter dem letzteren stehende Flüssigkeit nach dem Thoraxraum ansaugt. Da nun Klappen, wie bekannt, den Kreislauf nur in der einen Richtung ge- statten, so wäre doch denkbar, dass die Athembewegungen im Ganzen die Arbeit des Blutkreislaufes erleichtern. Man sieht wenigstens, dass die Athembewegungen für sich, wenn das Herz gar nicht arbeitete, den 278 Unterstützung des Bhitliinfes durch die Athmung. Blutkreislauf iu — wenn auch äusserst schwachem — Gang halten würden. Jede Inspn-ation würde den Thoraxraum, d. h. Herz und grosse Stämme,, stärker voll Blut saugen, als hei der Exspiration im Gleich- gewicht bleiben könnte. Der alsdann auszustossende Ueberschuss könnte aber wegen der Klappen nur nach der arteriellen Seite hin entweichen, daher ein Kreislauf stattfinden würde. Fielen die Herzdiastolen mit Ein- athmungen, die Systolen mit Ausathmungen zusammen, dann würde die ganze Arbeit der Athembewegungen, soweit sie überall auf die Blutmasse wirkt, auch deren Kreislauf zu Statten kommen. Nun fallen aber in die Exspirationszeit wohl ebenso viele Herzdiastolen als Systolen, und in die Inspirationszeit ebenso viele Systolen als Diastolen, es könnte also mög- licher Weise der Vortheil der Exspiration für die Systolen durch den rela- tiven Nachtheil für die Diastolen ganz aufgewogen oder gar überwogen werden, ebenso der Vortheil der Inspiration für die Diastolen durch den absoluten Nachtheil derselben für die Systolen. Macht man aber die jedesfalls zulässige Annahme, dass die Perioden der Respiration und der Herzbewegung im Allgemeinen incommensurabel sind, so zeigt die Wahr- scheinlichkeitsrechnung, dass die Wirkung der Coincidenzen die der Inter- ferenzen im Ganzen überwiegen muss. Von der Arbeit der Respi- ration kommt also dem Blutkreislaufe ein Weniges zu Gute. Eine besondere Beziehung der Athembewegungen zu dem Blut- kreislaufe in einzelnen Organen ist ferner nicht zu übersehen. Die In- spirationsbewegung fördert z. B. die Bewegung des Blutes in der Bauch- höhle. Die Inspiration, insofern sie durch Herabziehen des Zwerchfelles bewerkstelligt wird, erhöht den Druck auf den Inhalt der Bauchhöhle, wie sie den Druck im Thoraxraum vermindert, sie muss also geradezu venöses Blut aus dem Bauchraume in den Brustraum schaffen. Dies Ver- hältniss ist um so beachtenswerther, als gerade die Bewegung des Venen- blutes im Bauchraume wegen des Wiederauflöseus der vena portae in ein neues Capillarsystem in der Leber auf ganz besonders grossen Wider- stand stösst. Freilich ist nicht zu verkennen, dass die Druckerhöhung auf den Bauchinhalt bei der Inspiration auch den Eintritt des arteriellen Blutes in denselben um ebenso viel erschwert, als sie den Austritt des venösen erleichtert. Gleichwohl scheint thatsächlich häufige und ausgiebige Inspiration die Circulation in der Bauchhöhle im Ganzen zu fördern. Bei gewaltsamen Exspirationsbestrebungen mittelst der Bauch- muskeln, besonders wenn der Luft der Ausweg aus den Lungen abge- schnitten ist, kann, wie schon gesagt, der Druck im Thoraxraum ausser- halb der Lungen, also besonders auf die grossen Venen bedeutend über den äusseren Luftdruck steigen. Es kann dies so weit gehen, dass der Verschiedene Lnftvolume bei der Athniung. 279 Druck des aus dem Körper nachströmendeii Veueul)lutes uicht mehr hin- reicht, dieses in den Thoraxraum und so in das Herz zu treiben. Man sieht in diesem Falle die Hautveneu (des Gesichtes) beträchtlich schwellen und zuletzt hört der Herzschlag gänzlich auf merkbar zu werden. Einen theoretisch noch unerklärten Einfluss scheint die Athem- bewegung auch auf die Blutbewegung in den Lungengefässen sell)st zu üben. Man hat nämlich bemerkt, dass ein künstlich erhaltener Blutstrom durch die Gefässe einer ausgeschnittenen Thierlunge durch abwechseln- des Aufblasen und Zusammensinken derselben gefördert wird. Andauernde Dehnung dagegen erschwert den künstlichen Bhitstrom. Die gewöhnliche ruhige Kespiration bewegt sich nicht zwischen den durch den Gelenk- und Muskelmechanismus des Thorax gestreckten äussersten Grenzen. Durch Aufgebot aller ausdehnenden Kräfte kann der Thorax noch mehr erweitert, folglich mehr Luft in die Lunge gesaugt werden, als bei einer mittleren Inspiration geschehen ist. Ebenso kann durch Aufbieten aller den Brustkorb zusammendrückenden Kräfte der- selbe mehr verkleinert und folglich mehr Luft ausgestossen werden, als bei einer gewöhnlichen Exspiration geschieht, die, wie bemerkt, haupt- sächlich durch die P]lasticität der Lungen unter Beihilfe der intercostales Interni ohne Mitwirkung der Bauchmuskeln zu Stande kommt. Man hat die verschiedenen hier in Betracht kommenden Luftquanta mit ^beson- deren Namen bezeichnet. „Kück ständige Luft" nennt man die Luft- menge, welche nach Aufgebot aller den Thorax verengenden Kräfte noch in den Lungen bleibt. „Reservelnft" heisst diejenige Menge, welche nach einer gewöhnlichen (durch die Lungenelasticität bewirkten) Exspi- ration durch Muskelanstrengung noch ausgestossen werden kann. Mit „Respirationsluft" schlechtweg wird die Quantität bezeichnet, welche bei einer gewöhnlichen Inspiration aufgenommen und bei einer gewöhn- lichen Exspiration ausgestossen wird. Die Menge, welche nach einer ge- wöhnlichen Inspiration durch besondere aussergewöhnliche Anstren- gung der thoraxerweiternden Kräfte noch aufgenommen werden kann, heisst „Complementärluft". Die Summe der Reserveluft, Athemluft und Coraplementärlnft nennt man die vitale Capacität der Lungen oder des Thorax. Sie ist also gleich dem Unterschiede zwischen dem möglichst grossen und möglichst kleinen Rauminhalt des Thorax. Umstehende Figur 40 stellt den Medianschnitt des Thorax in den vier verschiedenen Stellungen dar, deren Luftgehalte soeben mit besonderen Bezeichnungen benannt wurden. Die Grenze des ganz schwarzen Theiles der Figur be- deutet die Stellung bei möglichst tiefer Exspiration, die innere Grenze des durch einen schmalen weissen Streif von der übrigen Figur getrennten dicken schwarzen Striches ist die Stellung bei gewöhnlicher Exspiration, 280 Vitale Capacität. Fig. 40. also die Stellung, wo das Contractionsbestreben der Lunge mit den wider- stehenden Momenten im Gleichgewicht ist. Der Flächeninhalt des er- wähnten weissen Streifes ist also ein Maass für das, was wir als Reserveluft bezeichnet haben. Die äussere Grenze des schwarzen Striches deutet die gewöhnliche Inspira- tionsstellung an. ImFlächenraume des ganzeu schwarzen Striches haben wir also ein Maass für die „Respira- tion sluft". Die punktirte Linie deutet die Stellung bei möglichst tiefer Inspiration an. Der Zwischenraum zwischen ihr und der zuerst erwähnten Grenze der zu- sammenhängend schwarzen Theile der Figur repräsentirt also die vitale Capacität. Unsere Zeichnung stellt zu- nächst nur die Verhältnisse beim männlichen Geschlechte dar, beim weiblichen weichen sie ein wenig ab. Vor- nehmlich hätte, weun die Zeichnung für dieses gelten sollte, der schwarze Strich, der die gewöhnliche Respira- tionsgrösse darstellt, oben breiter und unten schmäler sei müssen. Beim weiblichen Geschlechte nämlich wird die gewöhnliche Respiration hauptsächlich durch Raum- veränderung in den oberen Partien der Brust bewirkt, beim männlichen in den unteren Partien. Es versteht sich wohl von selbst, dass die in der vorigen Nummer besprochenen Grössen bei verschiedenen Individuen sehr verschiedene Werthe haben. Von ihnen allen ist die als vitale Capacität bezeichnete der sichersten directen Messung am Lebenden zugänglich. Man bestimmt sie, indem man nach einer möglichst tiefen Inspiration in ein leicht bewegliches Gasometer ausathmet, und zwar mit Aufgebot aller exspiratorischen Kräfte. lieber sie liegen daher auch die zahlreichsten Data vor. Man kann daraus schon einige Regeln über den Zusammenhang der Grösse mit einigen anderen ableiten, von denen die wichtigsten folgende sind: Die vitale Capacität ist nahezu proportional dem Producte aus der Länge der Wirbelsäule und dem Umfange des Thorax, über der Brustwarze gemessen. Bei Frauen ist nach der Geburt die vitale Capacität kleiner als während der Schwangerschaft, nach Kothentleerung dagegen erscheint sie regelmässig grösser als vorher. Sie nimmt zu vom 15. bis zum 35. Jahre, nachher wieder ab. Die äussersten Grenzwerthe der vitalen Capacität bei gesunden Erwachseneu dürften etwa 1200 und 5000'^'='° sein. Im Mittel wird sie auf etwa SSOO'^'^" an- gegeben. Das Volum eines gewöhnlichen Athemzuges oder der Respirations- luft ist nicht leicht zu messen, da eine besondere Uebung dazu gehört, Bestimmung der rücketändigen Luft. 281 in eine messende Voirichtnng hinein ganz nngezwungen zn athraen. üebrigens schwankt die Grösse eines Atheniznges natürlich anch sehr beträchtlich bei deniseDien Individnnm je nach dem augenblicklichen Zu- stande. Bei gesunden Männern dürfte der Werth der fraglichen Grösse meist zwischen 500 und 600 '^•='" liegen. — Die Eeserveluft wird zu 1200 — 1800^'^'" im Mittel angegeben. Zwischen denselben Grenzen liegen die normalen AVerthe der Complementärluft. Die rückständige Luft kann am Lebenden nicht direct gemessen werden. Mau hat sie aber indirect dadurch zu bestimmen gesucht, dass mau eine gemessene Menge Wasserstoff einathmete und nach gleich- massiger Vertheilung in der Lungenluft das ausgeathmete Gasgemenge analysirte. Aus dem Maasse, in welchem sich der Wasserstoff mit anderen Gasen verdünnt fand, kann natürlich geschlossen werden, wie gross das Volum dieser anderen Gase gewesen ist. Bestimmungen dieser Art uud directe Messungen an Leichen führen übereinstimmend auf Werthe, welche zwischen 1230 und 1640'^'^^'" liegen. Es giebt noch ein anderes, zweckmässigeres Mittel, die in irgend einer Phase der Athmung in den Lungen vorhandene Luftmenge, also mittelbar anch die rückständige Luft zu bestimmen. Man setzt einen lebenden Menschen unter eine luft- dicht auf den Boden aufgesetzte Glocke von Blech und lässt denselben durch ein mit der äusseren Luft communicirendes Rohr frei athmen, welches die Wand der Glocke luftdicht durchsetzt. Wenn die Versuchs- person das Rohr mit den Lippen umschliesst, müssen die Nasenlöcher geschlossen sein, so dass die Lungenluft nicht mit dem Lufträume der Glocke, sondern nur mit der äussern Luft zusammenhängt. Die Luft der Glocke lässt man nun durch ein zweites, in ihre AVand eingefügtes Rohr mit einem sehr leicht beweglichen Gasometer communiciren, dann wird dies die Volumänderungen der athmenden Versuchsperson genau an- zeigen (die beiläufig gesagt graphisch verzeichnet werden können), denn jedesmal, wenn die Versuchsperson Luft von aussen einzieht, verdrängt der sich erweiternde Brustkorb aus der Glocke genau ebenso viel Luft in das Gasometer und umgekehrt. Wenn jetzt in irgend einer Phase der Athmung das nach aussen führende Rohr geschlossen wird und macht hierauf die Versuchsperson eine Exspirationsanstrengung, so wird sie keine Luft austreiben, sondern nur die in den Lungen enthaltene Luft zusammen- drücken. Der Betrag dieser Zusammendrückung wird sich aber an dem Gasometer messen lassen, da es ja ein der Vohiinverminderung der Ver- suchsperson gleiches Luftvolum in die Glocke entweichen lassen muss. Andererseits kann man den Druck, welchen (li(! Versuchsperson auf ihre Lungenluft ausübt, an einem in das Athemrohr eingefügten Manometer messen, und aus diesen beiden Daten lässt sich berechnen, welches 282 Abhängigkeit der Eohlensäureausscheidung von der Frequenz der Afhemzüge. Luftvolum in dftr Lunge der Versuchsperson enthalten ist. Ist nämlich V das gesuchte Volum der Lungeuluft unter dem Atmosphärendruck D, und ist h die vom Manometer angezeigte Erhöhung des Druckes durch die Exspirationsauötrengung, endlich v die dadurch hervorgebrachte, am Gasometer abgelesene Volumverminderung, so hat man nach dem Mariotte'schen Gesetze die Gleichung V . D = (V — v) (D -\- h) oder V = — ^ — j -. An einer Versuchsperson von bedeutender Körpergrösse nach dieser Methode angestellte Versuche ergaben für die rückständige Luft Werthe von etwa 3000^'='". Den Ergebnissen der anderen Methoden ist hierdurch nicht gerade widersprochen, denn sie beziehen sich vielleicht auf viel kleinere Individuen. Die beschriebene Vorrichtung kann natürlich auch zur Bestimmung der Keserveluft, Eespirationsluft, Compiementär- luft und vitalen Capacität dienen. Sie ist sogar den älteren spirometrischen Vorrichtungen bei Weitem überlegen, da sie gestattet, beliebige Zeit hin- durch bei der unbefangensten Athmung die Volumänderungen graphisch darzustellen. Gemäss den angeführten Daten würden die Lungen eines Erwach- senen von massiger Körpergrösse nach einer gewöhnlichen Exspiration etwa 2500—3400^'^" Luft enthalten, nach einer gewöhnlichen Inspiration aber 3000—3900. Es würde sonach bei jedem Athemzuge nur ungefähr der sechste Theil der Lungenluft erneuert. Nach den vorstehenden theoretischen Ausführungen versteht es sich ganz von selbst, dass bei gleicher Beschaffenheit des Blutes die Kohlensäureausscheidung aus demselben und die Sauerstoffaufnahme in dasselbe gefördert werden muss durch Steigerung des Luftwechsels in den Lungen. Diese letztere kann auf zweierlei Arten bewerkstelligt werden: entweder durch Vervielfachung der Athemzuge in der Zeiteinheit oder durch Vertiefung der einzelnen Athemzuge. Eine deutliche Anschauung davongewähren dieKesultate von Versuchsreihen, in denen auf verschiedene Art jedesmal kurze Zeit hindurch geathmet und die Kohlensäure der Ausathmungsluft bestimmt wurde. Die zunächst folgende kleine Tabelle giebt die Resultate einer solchen Reihe, wo jeder einzelne Athemzug 500 '^'^"^ betrug und ihre Zahl variirt. Zahl d. Athem- CO2-Gehalt der In der Minute In der Minute zuge in einer Minute ausg-eathmeten Luft ausgeathmetes Luftvol.inKcm. ausgehauchtes CO2 Vol. i. Kern. 6 5,7 3000 171 12 4,1 6000 246 24 3,3 12000 396 48 2,9 24000 696 96 2,7 48000 1296 Ahliängigkeit der Kohlensiuircausscheidung von der Tiefe der Athemzüge. 283 Das in Kiibikceiitinieteiii aii.sgedrückte Volum der in 1' ansge- lianchteu Kohlensäure ist gemessen -/u denken bei 0" und 760'"'" Queck- silberdruck. Man sieht hier deutlich, je häufiger in der Minute eine Luft- enieueruug von je 500^''" stattfindet, desto mehr Kohlensäure wird in der Minute ausgeschieden; aher keineswegs wächst die Kohlensäuremenge proportional der Zahl der Athemzüge, weil der Procentgehalt der Aus- athmungsluft um so kleiner wird, je häufiger die Zahl der Athemzüge ist, d. h. je kürzere Zeit der einzelne Athemzug in den Lungen verweilt. Die folgende kleine Tafel giebt die Resultate einer anderen Ver- suchsreihe. Zahl d. Athem- züge ii) einer Minute CO.-Gehalt der ausgeatiiuaeten Luft lu einer Minute ausgeatliniete Lul't in ICcin. In einer Minute ausgeatlimete CO2 in Kern. 12 5,47, 3000 162 12 4,5% 6000 270 12 4,0 Vo 12000 480 12 3,4% 24000 816 Aus der dritten Spalte ergiebt sich, dass die Tiefe des einzelnen Athemzuges Ijeim ersten Versuche 250, heim zweiten 500, beim dritten 1000 und beim vierten 2000 '''^^'" betrug. Die vierte Spalte zeigt, dass um so mehr Kohlensäure entweicht, je tiefer die 12 in der Minute vollführten Athemzüge sind. Die Vergleichung der beiden Taljellen lehrt, dass ein und dasselbe Luftvolum in einer Minute mehr Kohlensäure entführt, wenn es auf wenige tiefere, als wenn es auf viele seichtere Athemzüge vertheilt wird; oder mit anderen AVorten, dass die Vertiefung des Athmens mehr leistet als die Vervielfältigung der Athemzüge in der Zeiteinheit. Dasselbe, was durch diese beiden Versuchsreihen von der Kohlen- säureausscheiduug bewiesen ist, gilt ohne Zweifel auch von der Sauer- stoft'aufnahme, welche im Allgemeinen dem Volum nach gemessen die Kohlensäureausscheidung etwas übertrifft, jedoch nicht in ganz con- stantera Verhältnisse. Die soeben mitgetheilten Werthe der in einer Minute ausgeschie- denen Kohlensäuremengen geben die Möglichkeit, die Stärke des Gesammt- blutstromes bei einem normalen erwachsenen Menschen zu schätzen. Legen wir die Ausscheidung von 270'"='" Kohlensäure (gemessen bei 0" und 760'"'" Druck), wie sie bei ruhigem Athmen mit zwölf Zügen von je fjQQkcm j,j ,]yj. Minute erfolgt, zu Grunde, so können wir fragen: wieviel Kubikcentimeter Blut müssen in der Minute durch die Lunge strömen, um bei ihrer Verwandlung aus dem venösen in den arteriellen Zustand 270 kein Kohlensäure abzugeben. Um dies zu berechnen, müsste man wissen, wieviel Kohlensäure 1, resp. lOO''^"' venöses Blut abgeben, unj 234 stärke des Gesamrafblutstroines. arteriell zu werden. Beim Menschen ist nun freilich noch nicht ermittelt, um wieviel der Gehalt des venösen Blutes an Kohlensäure den des arteriellen übertrifft. Aus zahlreichen Untersuchungen der Gase des Hundeblutes aber wissen wir (siehe S. 233), dass je lOO'^'^™ desselben durchschnittlich etwa 4,4^'«'^ Kohlensäure bei der Verwandlung aus dem venösen in den arteriellen Zustand abgeben, gemessen bei einer Temperatur von 0" und dem Drucke einer Quecksilbersäule von 1"', oder 5,8^«™. gemessen bei C* und 760™'° Druck. Machen wir nun die freilich einigermassen willkür- liche Annahme, dass sich das venöse und arterielle Blut beim Menschen bezüglich ihres Kohlensäuregehaltes um ebenso viel unterscheiden als beim Hunde, so müssen so vielmal 100'^''™ Blut die Lungen durchströmen, als 5,8 in 270 enthalten ist, um bei ihrer Arterialisirung eben 270^«" Kohlen- säure abzugeben, d. h. also in einer Minute. Es ergiebt sich, wenn man die augezeigte Rechnung ausführt, dass in runder Zahl 4600^"=™ Blut in einer Minute oder etwa 76^"=™ Blut in einer Secunde die Lungen also auch irgendwo sonst den Gesammtquerschnitt des Gefässsystems, z. B. den Querschnitt der Aorta, passiren. Nimmt man noch an, dass das Herz in der Minute 70 Systolen ausführt so würde hiernach ein Ventrikel mit jeder 4600 Svstole „^ oder etwa 66 ^'"" Blut auswerfen. •^ 70 Würde eine bestimmte Athmung, welche jede Minute mehr Kohlen- säure ausführt, als sich im Körper bildet, und mehr Sauerstoff zuführt, als zu Verbrennungen verbraucht wird , längere Zeit fortgesetzt, so würde sich die durchschnittliche Beschaffenheit des Blutes ändern. Sein Kohlen- säuregehalt würde ab-, sein Sauerstoffgehalt würde zunehmen — mit einem Worte, das Blut würde im Ganzen „arterieller" werden. Wenn um- gekehrt eine ungenügende Athmung längere Zeit unterhalten würde, so müsste sich die Blutbeschaffeuheit in umgekehrtem Sinne ändern, es müsste „venöser" werden. Daraus ergiebt sich, dass durch Abänderung des Athmens die Blutbeschaffenheit constant erhalten werden kann, und dies geschieht wirklich vermöge eines später zu beschreibenden nervösen Mechanismus. Sobald aus irgend einem Grunde der Verbrauch an Sauer- stoff und die Bildung von Kohlensäure im Körper zunimmt, so steigt die Häufigkeit und Tiefe der Athcmzüge derart, dass wieder in einer Minute ebenso viel Sauerstoff aufgenommen als verbraucht, und ebenso viel Kohlensäure ausgeschieden als gebildet wird, ohne dass eine merkliche Verarmung des Blutes an freiem Sauerstoff und eine Ueberladung mit Kohlensäure eintritt. Die Ursachen, welche den Sauerstoffverbrauch und die Kohlensäure- bildung im Körper steigern, sind in anderen Abschnitten der Physiologie zu behandeln. Nur als Beispiel soll hier diejenige noch kurz erwähnt Abhängigkeit der Kohlensänreausscheidung von Muskelarbeit. 2Sö werden, welche den mächtigsten Eiufluss ausübt, nämlich die Muskel- anstrengnug. Schon die alltägliche Erfahrung lehrt, dass mit jeder Muskel- anstrengung sofort die Zahl und besonders die Tiefe der Athemzüge bedeutend wächst. Hierbei zeigt sich die ausserordentliche Wichtigkeit des weiter oben als normal bezeichneten Verhältnisses, dass die vitale Capacität des Briistraumes die gewöhnliche Tiefe der Athemzüge bei ruhendem Körper bedeutend übertrifft. Es muss eben möglich sein, bei Anstrengung der Muskeln die Athemzüge noch sehr bedeutend zu ver- tiefen, um die grössere Kohlensäuremenge , welche in jeder Zeiteinheit gebildet wird, auch zur Ausscheidung zu bringen. Ohne diese Möglichkeit wird alsbald so viel Kohlensäure im Blute angehäuft, dass dadurch die Function der Organe und besonders der Muskeln bedeutend beeinträchtigt wird. So sehen wir denn in der That, dass Menschen, bei denen die vitale Capacität durch Luugenleiden beeinträchtigt ist, nicht im Stande sind, bedeutende Muskelanstrenguugen zu machen, obwohl für die gewöhnlichen Bedürfnisse ihre Athmung vollkommen genügt. Eine Vorstellung von den beträchtlichen Schwankungen, welche die Kohlensäureausscheidung unter dem Einflüsse der Muskelarbeit erleidet, giebt die nachstehende kleine Tabelle Rechenschaft, worin die Mengen von Kohlensäure verzeichnet sind, welche von ein und derselben Person während einer Minute ausgeathmet werden, wenn sich dieselbe in dem in der ersten Spalte bezeichneten Zustande befand: Schlafend 0,38 g-" Liegend, wachend . . 0,57 Gehend 1,42 Schneller gehend . . 2,03 Steigend 3,83 Man sieht, dass bei angestrengtem Steigen die Kohlensäureaus- scheidung zehnmal so reichlich ist als im Schlafe. Wie viel Kohlensäure ein normal lebender Mensch in einem längeren Zeiträume ausathmet und wieviel Sauerstoff er aufnimmt, wird in einem späteren Abschnitte untersucht werden. Ausser der Kohlensäure verliert unser Körper durch den Athmuugs- process Wasserdampf und Wärme. Abgesehen nämlich von Ausnahme- fällen, die in gemässigten Klimaten kaum vorkommen, ist die ausge- athmete Luft bedeutend wärmer und bedeutend feuchter als die eingeathmete. Die Temperatur der ersteren nämlich schwankt nach directen Bestimmungen nur zwischen etwa 28 und 31'', die Temperatur der umgel)eiid(;n Luft mag sein welche sie will, und es ist bei jener Tempe- ratur die Ausathmungsluft nahezu mit Wasserdampf gesättigt. Hiervon 286 Wasseraussclieidung. giebt schon die alltägliche Erfahrung Zengniss, dass der ausgeathmete Luftstroni stets einen Nebel bildet, wenn die Temperatur der ümgebnng so niedrig ist, dass eine rasche Abkühlung stattfindet. Wie viel Wasser die Athmung dem Körper entzieht, wird hiernach wesentlich davon abhängen, wie viel Wasserdampf die Einathmungsluft schon mitbringt. In den meisten Fällen ist diese Menge nicht beträcht- lich, und mau wird daher erwarten dürfen, dass die Athmung dem Körper namhafte Wassermeugen entführt. Directe Bestimmungen haben ergeben, dass sich diese Mengen in 24^ auf 800— 900 s^' belaufen können. Es ist übrigens sehr wahrscheinlich, dass die Wärme sowohl als der Wasser- dampf nicht ausschliesslich dem Blute der Lungen gefässe entzogen werden. Es nimmt vielmehr ohne Zweifel die Luft schon beim Einathmen in der Nase viel Wärme und Wasser auf; und man darf vermuthen, dass der eigenthümliche Bau der Nasenwände mit ihren Muscheln eigens daranf eingerichtet ist, die Luft beim Einathmen mit einer feuchten und warmen Fläche in ausgedehnte Berührung zu bringen und ihr so schon möglichst viel Wärme und Wasserdampf beizubringen, ehe sie zur Lunge gelaugt. Dadurch rechtfertigt sich auch der häufig gehörte Bath der Aerzte, man solle in kalter Luft nur durch die Nase athmen. Li der That dringt beim Einathmen durch den weit offenen Mund die Luft weit kälter in Kehlkopf und Lungen und reizt die sehr empfindlichen Sehleimhäute daselbst. Ausser dem Sauerstoff wird durch die Kespiration noch etwas aus der Luft aufgenommen, was zwar nicht sehr ins Gewicht fällt und nicht als bedeutungsvoller Posten auf dem Einnahmebudget des organischen Haushaltes zählt, was aber unter Umständen eine grosse Bedeutung zum Schaden desselben erlangen kann, nämlich der in der Luft schwebende Staub. Jeder in ein finsteres Zimmer eindringende Sonnenstrahl lehrt uns, dass in der Luft eines solchen stets unzählige kleine feste Körperchen schweben. Es dringen demnach mit jedem Athemzuge viele derselben in die Luftwege ein. Es lässt sich aber leicht zeigen, dass die ausgeathmete Luft von Staub frei ist. Wenn man nämlich den Ausathmungsluftstrom den Weg eines Sonnenstrahlenbündels im finsteren Zimmer kreuzen lässt, so zeigt sich diese Kreuzuugsstelle vollkommen dunkel, zum Beweise, dass hier keine Staubtheilchen schweben. Bei Anstellung dieses Versuches muss übrigens der Ausathmungsstrom, um Nebelbildung zu vermeiden, durch ein leicht angewärmtes Glasrohr geführt werden. Die in der Ein- athmungsluft enthalten gewesenen Staubtheilchen werden also im Körper zurückgehalten. Höchst wahrscheinlich bleiben sie zum grössten Theile an den Nasen- und Eachenwändeu kleben. Offenbar hat die Flimmer- bewegung an der Oberfläche dieser Wände die Aufgabe, diese Theilchen allmählich nach dem Oesophagus zu führen, denn die Kichtung des Stanbaufnahrae in den Lungen. 287 Stromes, welcher durch die Flimmercilien der Nasen- imd Rachenwand verursacht wird, geht abwärts. Was etwa von Staubtheilchen die Stimm- ritze überschreitet und an den Wänden der Bronchien festklebt, wird durch den hier aufwärts gerichteten Flimmerstroni, soweit dies überall möglich ist, eljeufalls dem Eingange der Speiseröhre zugeführt. Von da wird dann der gesammelte Staul) durch gelegentliche Schlingljewegungen in den Magen geführt. Diese Verrichtung der unscheinbaren Flimmer- cilien der Eespiratiouswege gehört ohne Zweifel zu den allerwichtigsten für die Erhaltung der Gesundheit und des Lebens, denn ohne sie würde die Lunge bald mit Staul) verstopft sein. Unter den in der Luft schweben- den Staubtheilchen sind uachgewiesenermassen zahlreiche organische Keime. Zu ihnen gehören höchst wahrscheinlich alle sogenannten Miasmen und Contagien. Es würde sich hiernach empfehlen, an inficirten Orten durch Filtra von Baumwolle einzuathmen, welche alle Staubtheilchen zurückhalten. Die Lungen sind nicht der einzige Ort, wo das Blut mit der Atmo- sphäre gasförmige Bestandtheile austauschen kann. Die gesammte äussere Körperoberfläche giebt zu diesem Vorgange Gelegenheit. Die p]piderrais und die durchfeuchteten Cutisschichten darunter, welche reichliche Gefässnetze führen, sind für alle hier in Betracht kommenden Gase er- wiesenermasseu durchdringlich. Es ist demnach von vornherein anzu- nehmen, dass auf der ganzen Körperoberfläche Aushauchung von Kohlen- säure statthat, da das Blut jeder Art mehr Kohlensäure gelöst enthält, als es aus einer von diesem Gase merklich freien Atmosphäre aufnehmen würde. Diese Kohlensäureausscheidung ist auch durch Versuche dargethan. Man fand sie 0,016 — 0,031 von der gleichzeitigen Ausscheidung durch die Lungen betragend unter möglichst normalen Verhältnissen. Ueber diesen kleinen Werth wird man sich nicht wundern, wenn man bedenkt, dass die Capillargefässnetze der Lungenidäschen viel dichter sind als die der Haut, und dass sie von der freien Oljerfläche durch viel weniger Widerstand bietende Scheidewände getrennt sind. Es ist ferner a j^riori wahrscheinlich, dass an der ganzen äusseren Körperol)erfläche Sauerstott" absor))irt wird, weil das Blut stets weniger von diesem Gase enthält, als dem Gleichgewichte der chemischen Kräfte entspricht. Experimentell ist jedoch die Alisorption von Sauerstoff' noch nicht so dargetiian, dass aller Zweifel schweigen müsste. Bedeutend können die Wassermengen sein, welche durch die Haut den Körper verlassen. Wie gross sie sind, hängt einerseits von äusseren physikalischen Bedingungen ab, denn esist klar, dass von der Hautoberfläche unter sonst gleicJHMi Umständen nm so mehr Wasser verdunsten wird, je geringer die relative Feuchtigkeit der Atmosphäre ist. Andererseits hängt 288 Innervation der Athmung. die Wasserverdimstung von dem Diirchfeuclitimgsgrade der äusseren Hautscliicht ab. Beim Schwitzen ist dieser zur vollständigen „Nässe" gesteigert. Schwerlich sinkt er jemals bis zur sogenannten Lufttrocken- heit herab, wo alle Verdunstung aufhören würde. Die durch die Haut während 24 '^ entweichende Wassermenge kann unter einigermassen günstigen Umständen sicher 500 bis SOO^i" betragen. Allgemein giltige Normalzahlen lassen sich selbstverständlich nicht geben. Stickstoff und gasförmige stickstoffhaltige Verbindungen werden beim Gasaustauch durch Lungen und Haut in irgend- wie nennenswerther Menge dem Körper weder zugeführt, noch entzogen. 3. Capitel. Innervation der Athmungsorgane. Die sämmtlichen Muskeln, welche den Luftwechsel in den Lungen be- wirken, sowohl die Inspiratoren als die Exspiratoren, gehören bekannt- lich zur quergestreiften Skeletmuskulatur, welche ihre Nerven aus dem Eückenmark bezieht. Diese Nerven, n. phrenicus für das Zwerchfell und nervi intercostales für die gleichnamigen Muskeln und für die Bauch- muskeln etc., treten an sehr verschiedenen Stellen aus dem Kückenmarke hervor. Sie hängen hier wie andere motorische Nerven mit Rückenmarks- zellen und durch deren Vermittelung mit anderen Nervenelementen zu- sammen, so dass sie von vielen Seiten her reflectorisch erregt werden können. Es giebt aber eine ganz beschränkte Stelle des verlängerten Markes am Boden der vierten Hirnhöhle dicht vor dem calamus scriptorius, von wo aus diesen sämmtlichen Nerven ihre Erregung regelmässig zugeht, sofern sie zu geordneten Athembewegungen führt. Diese SteUe, deren Volum sehr klein ist, nennt man den Lebensknoten, weil ihre Zerstörung den Athembewegungen und damit dem Leben sofort ein Ende macht. Die Erregung, welche von diesem Athmungscentrum auf die mo- torischen Nerven des Athemapparates, und zwar beim ruhigen Athmen ausschliesslich auf die der Inspiratoren periodisch übertragen wird, ent- steht durch Reizursachen, welche im Centrum selbst auf die Nerven- elemente wirken, und die normalen Athembewegungen können mithin nicht als Reflexbewegungen bezeichnet werden. Diese Behauptung gründet sich darauf, dass jeder beliebige centripetal leitende Nerv, namentlich auch der in die Lunge gehende Vagus durchschnitten werden darf, ohne dass darum die Athembewegungen stille ständen. Selbst Abtrennung noch so vieler sensibler Nerven auf einmal hat keinen Stillstand der Athmung zur Eolge. Apnoe. 289 Als Fingerzeig zur Beantwortung der Frage, wodurch der Keiz auf das Athmungscentrum ausgeübt wird, kann füglich folgende teleologische Betrachtung dienen. Offenbar sind die verschiedenen Grade der Thätig- keit des Athmungsapparates dazu bestimmt, die mittlere Beschaffenheit des Blutes annähernd constant zu erhalten, und es würde eine diesem Zwecke dienliche Einrichtung sein, wenn die nervösen Centra dieses Ap- parates erregbar wären durch venöse Beschaffenheit des in ihnen circu- lirenden Blutes, derart, dass die Erregung in diesen Centren und mithin die Thätigkeit des Apparates um so lebhafter würde, je venöser das Blut ist. In der That, wenn diese Einrichtung wirklich getroffen wäre, so würde die vermehrte Venosität des Blutes sich selbst beseitigen, da ja vermehrte Thätigkeit des Athmungsapparates mehr Sauerstoff ins Blut und mehr Kohlensäure aus dem Blute schafi't, d.h. die Venosität des Blutes mindert. Die in Rede stehende Vermuthung lässt sich durch einen einfachen Ver- such prüfen. Ist sie richtig, so muss der Reiz im Athmungscentrum ver- mindert — vielleicht ganz beseitigt — werden können, wenn man durch künstliche Veranstaltungen dafür sorgt, dass das Blut möglichst arteriell gehalten wird. Dies kann bei einem Thiere leicht geschehen, wenn man durch Lufteinblasungen mit einem Blasebalg seine Lungenluft recht häufig und ausgiebig erneuert. Stellt man diesen Versuch an, so sieht man in der That die Muskulatur des Athemapparates, nament- lich das blossgelegte Zwerchfell, immer schwächer arbeiten und zuletzt steht dieselbe gänzlich still. Man hat diesen höchst merkwürdigen Zustand „Apnoe" genannt. Er dauert meist noch einige Zeit an, nachdem die künstliche Athmung eingestellt ist — manch- mal über eine Minute — bis die durch das Einblasen natürlich sehr reine Luft der Lungen an Sauerstoff erschöpft ist und das Blut wieder eine hfnlänglich venöse Beschaffenheit angenommen hat, um einen Reiz aus- zuüben. Dieser Versuch allein ist im Stande, die Vermuthung zur vollen Gewissheit zu erheben, dass die Reizursache für das Athmungscentrum in der venösen Blutbesehaff'enheit zu suchen ist, obwohl dabei die starke Reizung des Lungengewebes durch die heftigen Dehnungen l)eim künst- lichen Einljlasen nicht ohne I^influss sind, indem sie hemmend auf die Athmung wirkt. Wenigstens ist für die Nachdauer der Apnoe unerläss- lich, dass die Lunge einigermassen gedehnt bleiljt. Dem beschriebenen Versuch mag noch die alte Erfahrung an die Seite gestellt werden, dass es das Anhalten des Athmens für längere Zeit, z. B. beim Tauchen, wesentlich erleichtert, wenn man unmittelbar zuvor einige recht tiefe Athemzüge rasch nacheinander ausführt ; man macht sich dadurch gleich- sam annähernd „apnoisch". Endlich mag noch daran erinnert werden, dass der erste Athemzug des Neugebornen durch das Venöswerden seines Kick, rhysiologio. 3. Anfl. U 290 Dyspnoe. Blutes nach Unterbrechung des placentaren Blutlaiifes verursacht wird, denn auch innerhalb des Uterus fängt der Fötus an zu inspiriren, sowie die Nabelgefässe zugeklemmt werden. Dem Zustande der Apnoe stellt sich naturgemäss gegenüber ein Zu- stand, bei welchem die Erregung im Athemcentrum über das gewöhnliche Maass hinaus gesteigert ist, und bei welchem sich mithin eine angestrengtere Thätigkeit der Athemmuskulatur zeigt. Diesen Zustand nennt man „Dyspnoe". Entsprechend der nunmehr bewiesenen Vermuthung tritt dieser Zustand auf, sowie durch irgend eine Ursache die Venosität des Blutes das gewöhnliche Maass überschreitet. Unter den mannigfachen Ursachen, welche diese Wirkung hervorbringen können, soll eine zunächst in Betracht gezogen werden, die experimentell leicht herzustellen ist und die nach allen Seiten hin ganz sicher den fraglichen Effect hat. Wenn man eiuThier aus einem mit Kohlensäure statt mit Luft gefüllten Eaume athmen lässt, so kann es keinen Sauerstoff mehr aufnehmen und keine Kohlensäure abgeben. Sein Blut wird folglich in jeder Beziehung venöser. Man sieht alsdann sehr bald das Thier tiefere Athemzüge ausführen. Da nun aber trotzdem das Blut natürlich noch immer venöser wird, so wird die Erregung in seinem Athmungsceutrum immer heftiger. Die Tiefe der Athemzüge wird durch Betheiligung von immer mehr Muskeln bis zum Maximum gesteigert. Später betheiligen sich auch die nicht zum Athemapparate gehörigen Muskeln an der Thätigkeit, bis es zuletzt zu all- gemeinen Krämpfen, den sogenannten Erstickungskrämpfen kommt. Dies kann uns nicht verwundern, da bei den allseitigen Verbindungen im Cerebrospinalorgan ein über alle Maassen gesteigerter Erregungssturm in einem beschränkten Theile — • hier dem Lebensknoten — auf alle mo- torischen Centralstellen überspringen kann oder vielmehr muss. Die Zweck- mässigkeit auch dieser Einrichtung leuchtet ein, da die heftigen Bewe- gungen der Extremitäten wohl oft das Thier aus den Umständen befreien können, welche die Arterialisirung seines Blutes hindern. Dyspnoe bis zu ihrem höchsten Grade, den Erstickungskrämpfen, tritt auch ein, wenn man sämmtliche zum Hirn führende Arterien zu- klemmt. Dabei wird offenbar die Blutbewegung im Hirn still gestellt, und das Blut, in seinen Capillaren einmal venös geworden, kann nicht durch neues, arterielles, ersetzt werden, obwohl die übrige Blutmasse nach wie vor arterialisirt wird. Diese Thatsache ist somit ein weiterer Beweis für den Satz, dass die venöse Beschaffenheit des Blutes nur im Hirn selbst an Ort und Stelle den Keiz für das Athemcentrum bildet. Die venöse Beschaffenheit des Blutes unterscheidet sich von der arteriellen, wie früher gezeigt wurde, in zwei Richtungen, nämlich durch einen geringeren Gehalt an Sauerstoff und durch einen grösseren Gehalt Sanerstoffraangel als Athemreiz. 291 an Kohlensäure. Es entsteht daher die Frage, ob die Athmung gesteigert wird durch Verarmung des Blutes an Sauerstoff oder durch Bereicherung an Kohlensäure, oder durch beides zugleich, oder endlich durch ein noch unbekanntes Etwas im venösen Blute. Auf diese Frage gibt der Versuch eine bestimmte Antwort. Man kann nämlich erstens ein Thier ein sehr kohlensäurereiches Gasgemenge athmen lassen, das aber neben der Kohlensäure auch noch ebenso viel oder mehr Sauerstoff enthält als die atmosphärische Luft; dann steigt der Kohlensäuregehalt des Blutes, ohne dass darum der Sauerstoffgehalt des Blutes der Arterien abnorm gering wird. Es nimmt eine sozusagen nach einer Seite hin venöse Beschaffenheit an, was durch directe Unter- suchung unter solchen Umständen gezogener Blutproben bewiesen ist. Bei einem derartigen Versuche wird nun das Athmen des Thieres in der That etwas angestrengter, namentlich werden die einzelnen Athemzüge tiefer, aberes kommt bei solchen Versuchen nie zueigentlicheu Erstickungs- krämpfen. Man kann zweitens das Thier ein Gas, etwa reinen Stickstoff, athmen lassen, dem weder Kohlensäure noch Sauerstoff Ijeigemengt ist. Dann kann sich das Blut in den Lungen seiner Kohlensäure entledigen, aber es muss alsbald an Sauerstoff verarmen. Dies zeigt in der That die Untersuchung einer dabei genommenen Blutprobe. Unter diesen Be- dingungen wird aber nicht blos die Athmung bedeutend heftiger, sondern es kommt alsbald zu allgemeinen Erstickungskrämpfen. Hieraus ergiebt sich, dass Ueberladung des Blutes mit Kohlensäure zwar einen Keiz für das Athmungscentrum abgiebt, aber einen bei Weitem schwächeren als Verarmung an Sauerstoff". Lisbesondere kann jener heftigste Erregungs- sturm im Athmungscentrum, der in den Erstickungskrämpfen zur Erschei- nung kommt, nur durch Sauerstoffmangel herbeigeführt werden. Es ist schwer zu denken, dass der blosse Mangel eines Stoffes, also etwas rein Negatives, als lieizursache soll wirken können. Es liegt daher nahe, zu vermuthen, dass das eigentlich Reizende jene hypothetischen, leicht oxydablen Körper (siehe S. 235) sein mögen, die sich im Blute an- häufen müssen, wenn kein freier Sauerstoff mehr zu ihrer Verbrennung aufgenommen wird. Wenn auch im Wesentlichen der normale Athemreiz seinen An- griffspunkt in dem Lebensknoten hat und Erregung dieser Stelle zur Aus- lösung von Athembewegungen genügt, so ist doch gut zu bemerken, dass auch die nächsten Centralstellen der motorischen Nerven der Athemmuskula- tur im Rückenmarke durch venöse Beschaffenheit des Blutes reizbar sind. Es können daher bei einem Thiere, dessen verlängertes Mark zerstört ist, noch Zusammenziehungen der Athemmuskeln spontan entstehen. Bei 19* 292 Periodicität der Athmung im Centrum selbst verursacht. jungen Thieren erscheinen sie oft sogar als ziemlich geordnete Athem- bewegungen. Es könnte scheinen, als ob sich die Periodicität der Athembewe- gimgen aus den bisherigen Erörterungen leicht von selbst ergäbe. Man könnte nämlich denken, wenn das Blut einen gewissen Grad derVenosität erreicht, so übt es einen Athemreiz aus, der eine Einathmung zur Folge hat; durch diese selbst würde aber die Venosität des Blutes herabge- mindert, so dass der Reiz im Centrnm aufhört und Euhe der Muskeln ein- tritt, was eine Ausathmung einfach mechanisch herbeiführen könnte (siehe S. 276) ; dann stiege wieder die Venosität des Blutes, bis ein neuer Keiz ausgeübt würde u. s. w. Diese Vorstellung, die schon unfähig ist, den (bei manchen Thieren normalen) Wechsel activer Exspirationen und Inspirationen zu erklären, lässt sich leicht durch positive Thatsachen widerlegen, die zum Theil schon in den vorstehenden Erörterungen ent- halten sind. So war noch soeben die Rede von Versuchen, in denen man ein Thier reine Kohlensäure athmen lässt. Hier kann nicht davon die Rede sein, dass der Athemzug die Venosität des Blutes herabsetzt, viel- mehr muss dieselbe ununterbrochen wachsen, und dennoch bleibt auch hier ein periodischer Wechsel zwischen Zusammenziehung und Ruhe der Inspiratoren bestehen. Ferner hat die gedachte Vorstellung das gegen sich, dass ein einziger Athemzug die Beschaffenheit des Blutes in den Capillaren des Nervensystems doch nicht momentan so erheblich ändert, dass sofort der Reiz beseitigt würde. Die Periodicität der Athembewe- gungen kann also nur in einer Organisation des Nervencentrums selbst bestehen, welche einen stetigen Reizzufluss in periodische Entladungen auf die motorischen Nerven verwandelt. Es müssen mit einem Worte zwischen den reizaufnehmenden Stellen und den Abgangsstellen der mo- torischen Bahnen im Athmungscentrum „Hemmungsvorrichtungen" ein- geschaltet seiu, wie solche schon an verschiedenen Orten im Nerven- system nachgewiesen wurden (siehe S. 99). Die Regulirung des Athmen s hat man sich demnach so zu denken: Das Blut der Arterien und ihrer Capillaren. hat im Verlaufe des normaleji Lebens (d. h. so lange keine Apnoe stattfindet) immer eine mehr oder weniger reizende Beschaffenheit. Es wird also in jedem Zeittheilchen ein gewisses Reizquantum ausgeübt, das wird aber nicht in demselben Mo- mente auf die motorischen Bahnen übertragen, sondern vermöge der Hemmung aufgestaut, bis der Reiz die zum Ueberspringen nöthige Stärke erlangt hat ; dann erfolgt eine Entladung und hierauf Ruhe, bis wieder von Neuem die nöthige Stärke erreicht ist. Bei constanter Hemmung würde hiernach die Häufigkeit der Athemzüge bei gleich bleibender Tiefe in dem Maasse zunehmen, in welchem der Reizzufluss wächst, d. h. Wärmedyspnoe. 293 je venöser das Blut wird. Da dies aber nicht der Fall ist, sondern da alle Ursachen, welche die Venosität des Blutes steigern, weit mehr die Tiefe der Athemzüge als ihre Häufigkeit steigern, so müssen wir annehmen, dass eine vermehrte Venosität des Blutes nicht hlos eine grössere Keiz- menge in der Zeiteinheit im Athmungscentrum setzt, sondern zugleich die Hemmungen stärker anspannt. Man beobachtet ferner, dass bei ge- steigerter Venosität des Blutes, d. h. bei Dyspnoe, den activen Inspirationen auch starke active Exspirationen folgen. Hieraus ist zu schliessen, dass neben dem für gewöhnlich allein thätigen Inspirationscentrum ein Ex- spirationscentrum besteht, welchem nur dann gleichsam ein Ueberschuss von Erregung periodisch zufliesst, wenn eben mehr Athemreiz als gewöhn- Kch im Athmungscentrum ausgeübt wird. Sollte sich die weiter oben ausgesprochene Vermuthung bestätigen, dass auch die ruhige Exspiration — entgegen der jetzt herrschenden Vorstellung — unter Mitwirkung von Muskeln geschieht, so müsste man annehmen, dass abwechselnde Ent- ladungen des Reizes auf ein In- und Exspirationscentrum auch bei massiger Intensität des Athemreizes stattfinden. Wenn man ein Thier künstlich einige Grade über seine Normal- temperatur hinaus erwärmt, so werden die Athemzüge tiefer und in un- geheurem Maasse frequenter, selbst wenn die Beschaffenheit des Blutes in keiner Weise geändert wird, ja sogar, wenn man durch energische künstliche Lnfteinblasungen für Arterialisirung im höchsten Grade sorgt, und es ist bei einem so erwärmten Thiere der Zustand der Apnoe gar nicht mehr zu erzielen. Dass es sich hierbei nicht um eine reflectorische Einwirkung auf das Athemcentrum handelt — etwa von der erhitzten Haut her — kann man leicht durch folgenden Versuch beweisen. Mit Hilfe gewisser Kunstgrifte gelingt es, das in den Kopfschlagadern fliessende Blut allein zu erwärmen. Sowie das geschieht, steigt die Häufigkeit des Athmens gerade so, wie wenn das ganze Thier erhitzt wird. Daraus ist zu schliessen, dass die Steigerung der Temperatur im Athmungscentrum selbst die Erregbarkeit vermehrt nnd zugleich die Hemmungen vermindert, so dass dieselbe in der Zeiteinheit gelieferte Reizmenge stärkere und häufigere Athemzüge verursacht. Der vorstehend geschilderte nervöse Mechanismus würde unter sehr einfachen Bedingimgen genügen, den Athmungsprocess an die Be- dürfnisse des Körpers anzupassen und die Beschaffenheit des Blutes nahezu constant erhalten. Die Bedingungen, unter denen ein höheres Säugethier und der Mensch insbesondere lebt, sind aber so verwickelt, und es greifen so oft plötzliche und gefahrdrohende Umstände in diesen)en ein, dass sich auch diesen der Nervenmechanismus einer so wichtigen Function, wie es das Athmen ist, bis zu einem gewissen Grade muss anpassen können, 294 Einfluss der Willkür auf die Athmung. wenn anders die Species sich erhalten soll. Dies wird ermöglicht durch Einflüsse, welche von unzähligen Stellen des Nervensystems her auf das Athmungscentrum ausgeübt werden können, was bei den unendlich ver- wickelten Verbindungen zwischen den Ganglienzellen des Hirns und Eückenmarkes von vornherein sehr wahrscheinlich ist. Es ist vor Allem leicht zu beweisen, dass von den Theilen des Hirns aus, deren Erregungen, subjectiv angeschaut, bewussteWillensacteheissen, Nervenbahnen zum Athmungscentrum führen, die mit seinen einzelnen Theilen in verschiedenartiger Verknüpfung stehen. Die beweisenden Ver- suche, die Jeder an seinem eigenen Körper jeden Augenblick anstellen kann, sind folgende. Man kann erstens in jedem Augenblicke eine In- spiration willkürlich anfangen, welche Phase der Athmung auch gerade im Gange ist. Das heisst anatomisch und physiologisch gesprochen : von den Organen der bewussten Willkür im Hirn aus müssen Nervenbahnen zum Inspirationscentrum führen und hier so verlmüpft sein, dass eine auf ihnen vorschreitende Erregung an den Hemmuugsapparaten vorüber sofort zu den motorischen Nerven der Einathmungsmuskeln gelangt. Man kann ganz ebenso zweitens in jedem beliebigen Augenblick eine active Exspi- ration willkürlich ausführen. Dies heisst mit anderen Worten: es gehen von den Orgauen der Willkür Nervenbahnen zum Exspirationscentrum und sind daselbst so eingepflanzt, dass die auf ihnen vorschreitende Er- regung ohne Hemmung auf die motorischen Nerven der Exspirations- muskulatur übertragen wird. Man kann drittens jede Inspiration, welche schon im Gange ist oder nach dem eben bestehenden Athemrhythmus gerade anfangen sollte, willkürlich aufhören lassen oder hintanhalten, und zwar geschieht dies, wie die Selbstbeobachtung aufs Unzweideutigste lehrt, nicht etwa durch Spannung der antagonistischen Muskeln, sondern dadurch, dass die üebertraguug des vorhandenen Eeizes auf die Inspira- toren im Nervencentrum selbst gehemmt wird. Diese allbekannte That- sache (welche beiläufig gesagt vielleicht der beste Beweis für Hemmungen im Nervensystem ist, ein besserer als alle Vivisectionen geben können) lehrt uns die Existenz von Nervenbahnen kennen, welche die Organe der Willkür derart mit den Hemmungen der Inspiration verknüpfen, dass Er- regung, welche auf diesen Bahnen ankommt, jene Hemmungen verstärkt. Endlich viertens rauss es Bahnen von den Organen der Willkür zu den Hemmungen der Exspiration geben, denn man kann auch jede beginnende oder im (Jange befindliche active Exspiration willkürlich hemmen. Das Athmungscentrum steht ferner mit der ganzen sensiblen Haut- peripherie in Verbindung. Diese zeigt sich namentlich in der Jedermann bekannten Erscheinung, dass Benetzung eines einigermassen grossen Theiles der Hautoberfiäche (namentlich der unteren Körperhälfte) mit Eitifluss sensibler Nerven auf die Athmung. 295 kaltem Wasser stets eine tiefe Inspiration nnd hierauf folgenden länger dauernden Stillstand der Athembewegungen zur Folge hat. Es müssen also durch Xälte reizbare Nervenfasern von der Haut zum Athmuugs- centrum gehen, deren Erregung sich zunächst reflectorisch auf die In- spiratoren entladet und sodann die Hemmungen verstärkt. Man könnte wohl daran denken, dass die Zweckmässigkeit dieses ganz eigenthtim- lichen Mechanismus beim unerwarteten Fallen des Körpers in Wasser zur Geltung käme, wo der Athemzug, so lange der Kopf noch über der Ober- fläche ist, einen Yorrath von frischer Luft in die Lunge bringt und der folgende Stillstand der Bewegung ein Eindringen von Wasser zu hindern bestimmt ist. Eine mächtige Reflexwirkung auf das Athemcentrum übt Reizung der sensiblen Nerven am Eingange der Athmungswege, nämlich der Nasenäste des n. trigeminus aus. Es ist dies der Vorgang des sogenannten Nieseus, bestehend in einer tiefen Inspiration mit darauffolgender heftiger Exspiration, die durch vorausgehenden Verschluss des Kehlkopfes explosiv gemacht wird. Gleichzeitiger Abschluss der Mundhöhle durch die gegen den Gaumen gedrückte Zungenwurzel lenkt den heftigen Luftstrom in die Nase. Dieser Vorgang hat oifenbar den Zweck, reizende Körper aus der Nase zu entfernen. Bei Kaninchen hat man beobachtet, dass auf Reizung der Nasenschleimhaut durch Ammoniak oder saure Dämpfe die Athmung einfach stillsteht — ebenfalls eine zweckmässige Einrichtung zum Schutz gegen das Einathmen schädlicher Gase. Die im weiteren Verlaute der Luftwege peripherisch endigenden Nervenfasern gelangen bekanntlich alle im Stamme des n. vagus zum Hirn. Es lag daher von vornherein nahe, zu vermuthen, dass dieser Nerv in besonders innigen Beziehungen zum Athmuugscentrum stehe. Man hat auch schon frühzeitig untersucht, ob Durchschneidung oder Reizung des n. vagus von Einfluss auf die Athembewegungen sei. Es ist dal^ei vor Allem die Thatsache festgestellt, dass nach Durchschneidung beider Vagusstämme am Halse das Athmen laugsamer wird. Wenn mau alsdann einen centralen Vagusstumpf reizt, so zeigen sich nicht ganz constante Erscheinungen, was oflenbar daher rührt, dass dieser Nervenstamm ver- schiedene Fasergattungen enthält, deren verschiedene Verknüpfung mit dem Athmuugscentrum ganz verschiedenartige Einflüsse auf dasselbe be- dingt. Da die Fasern des Vagusstammes anatomisch nicht trennbar und daher isolirter Reizung nicht zugänglich sind, so muss man auf indirectem Wege die Beziehungen der Vagusfasern zum Athmungscentrura zu er- schliessen suchen. Mehrere leicht zu beobachtende Thatsachcn können zu solchen Schlüssen verwendet werden. Wenn man einem Thiere in dem Augenblicke, wo gerade eine Einathmung beginnt, die Luftwege ver- 296 Einfluss des n. vagtis auf die Athmung. engert oder gänzlich sperrt, so dauert die mm folgende Zusammenziehimg der Inspiratoren sehr viel länger, als nach dem bis dahin stattgehabten Athmungsrhythmus zu erwarten gewesen wäre. Diese Erscheinung ist sicher in irgend einer Weise von Erregungen abhängig, welche auf der Bahn des Vagus von dem Lungengewebe zum Hirn geleitet werden, denn die Erscheinung bleibt aus, sowie die Jiervi vagi am Halse durchschnitten sind. Man kann sie durch folgende Annahme erklären : Es giebt gewisse Nervenfasern, die vom Lungengewebe im Vagus aufsteigen und mit den Hemmungen der Inspiration derart verknüpft sind, dass ihre Erregung diese Hemmung verstärkt; ihre Erregung kommt aber unter Vermittelung eines uns noch unbekannten Endapparates durch Dehnung der Lunge zu Stande. Nach dieser Annahme nämlich wird ein natürlicher freier Athemzug sich selbst hemmen, noch ehe der ganze vorhandene Athem- reiz entladen ist. Wenn mau aber durch Sperrung der Luftwege die Aus- dehnung der Lunge und mithin die Erregung der in Eede stehenden hypo- thetischen Fasern hindert, dann dauert die Entladung des vorhandenen Athemreizes auf die Inspiratoren, d. h. die Contraction der letzteren länger fort. Die Wahrscheinlichkeit der Existenz dieser Fasern wird noch vermehrt durch folgende Thatsache : wenn man die Luftwege beengt in dem Augenblicke, wo die Inspiration vollendet ist, so dauert die nun folgende Erschlaffung der Inspiratoren (d. h. die Exspirationsphase) länger, als nach dem Khythmus zu erwarten gewesen wäre. In der That, nach unserer Hypothese muss dies so sein, da ja die Beengung der Luftwege die Lunge gedehnt und mithin die gedachten Hemmungsnerven in Er- regung erhält. Diese beiden Erscheinungen vereinigen sich in der be- kannten Beobachtung, dass jede andauernde Einengung der Luftwege den Athmungsrhythmus im Ganzen verlangsamt. Wenn man durch äussere Einflüsse, etwa durch Aussaugen, plötzlich die Lunge eines Thieres collabiren macht, so erfolgt sofort — es mag nach dem gerade bestehenden Khythmus zu erwarten sein, was da wolle — eine Inspiration, jedoch nur, wenn wenigstens ein n. vagus unverletzt und das Thier nicht apnoisch, d. h. wenn überall Athemreiz vorhanden ist. Dies deutet auf die Existenz einer zweiten Nervenfasergruppe, welche vom Lungengewebe im Vagus zur Hemmung der Inspiration im Hirn gehen und damit derart verknüpft sind, dass ihre Erregung diese Hemmung abspannt oder aufhebt, und die durch Collapsus des Lungengewebes gereizt werden. Bei dem soeben beschriebenen Versuche bemerkt man noch, dass, wenn gerade eine active Exspiration im Gange ist, diese sofort aufhört, nicht etwa blos durch die Zusammenziehung der Inspiratoren überwunden wird. Dies macht eine dritte Gattung von Lungenfasern des Vagus wahr- Selbststeueninp; des Liingcnvoliims. 297 scheinlich, welche, gleichfalls durch Collapsiis " des Limgengewebes reiz- bar, die Hemmung der Exspiration verstärken. Man beobachtet viertens, dass jede Aufblähung der Lungen durch äussere Ursachen bei unversehrtem Vagus und nicht apnoischem Thiere eine active Zusammenziehung der Ausathmungsmuskeln bewirkt. Dies kanu erklärt werden durch eine vierte Gattung von Lungenfasern des Vagus, welche, durch Dehnung der Lunge reizbar, die Hemmungen des Exspirationscentrums herabspannen oder aufheben. Man sieht sogleich, dass diese Wirkungen des n. vagus für den normalen Athemrhythmus massgebende Einflüsse sind, dass sie eine „Selbststeuerung" des Lungenvolums bedingen, und dass sie in höchst zweckmässiger Weise Athemreiz aufsparen, resp. anders vertheilen für solche Ausnahmefälle, wo durch mechanische Störungen nicht gleich bei der ersten Entladung des Keizes eine genügende Luftmenge in die Lunge aufgenommen oder daraus verdrängt ist. Unter den Bedingungen des ge- wöhnlichen Athmens scheint im Ganzen der hemmende Einfluss der Vagusfasern auf das Inspirationscentrum im Uebergewichte zu sein. Schaltet man nämlich bei einem Thiere plötzlich die Wirkung des Vagus ganz aus, so gehen meistens die Inspirationen weiter, die Exspirationen weniger weit, oder mit anderen Worten, das Brustvolum schwankt um einen grösseren Mittelwerth als bei unversehrtem Vagus. Die Ausschal- tung der Leitung dieses Nerven geschieht am sichersten durch Erfrieren eines Stückes. Die Durchschneidung wirkt in der Regel zugleich reizend ein, was die Erscheinungen complicirt. Ein Ast des Vagus verlässt den Stamm bekanntlich schon ganz hoch oben am Halse und Ijegiebt sich zur Schleimhaut des Kehlkopfes, der sogenannte ramus laryngeus superior. Er enthält zwei Gattungen von Fasern, die zur Mechanik des Athmens in Beziehung stehen: die einen, deren peripherische Enden oberhalb der Stimmritze liegen, gehen zum Hemmungscentrum der Inspiration, welches durch ihre Erregung stärker gespannt wird. Eine Reizung dieser Fasern sistirt daher sofort die Einathmung. Während des Lebens wird diese Reizung wohl am öftesten eine mechanische sein durch irgend einen oberhalb der Stimmritze die Schleimhaut berührenden fremden Körper. Die merkwürdige Zweckmässig- keit dieser Einrichtung leuchtet sofort ein, denn es wird dadurch der fremde Körper womöglich am weiteren Eindringen in die Luftwege ge- hindert. Ebenso wird es auch mit reizenden Gasarten sein. Die unterhalb der Stimmritze peripherisch endigenden Fasern des laryngeus superior stehen mit dem Exspirationscentruiii in derartiger Verbindung, dass ihre Erregung einfach auf die Ausathimmgsiiiuskeln reflectirt wird. Zu gleicher Zeit werden noch andere Reflexe durch Reizung dieser Nervenfasern mit 298 Schema der Athemnerven. erregt, insbesondere ein knrz dauernder Verschluss der Stimmritze, der die Ausathmung zu einer Explosion macht. Mit einem Worte, die Keizung , der in Eede stehenden Nerven- fasern führt zu einem geordneten Complex von Bewegungen, der unter dem Namen des „Hustens" bekannt ist. Die Pathologie kennt Thatsachen, welche beweisen, dass auch durch gewisse Eeizungen des Lungengewebes Husten entstehen kann. Man muss also annehmen, dass auch unter den Lungenfasern des Vagus solche sind, welche im Centrum ebenso verknüpft sind wie die zuletzt betrachteten Fasern des laryngeus superior. Möglicher Weise spielen hierbei aber auch die vorhin schon besprochenen vier Gattungen der Lungenfasern des Vagus eine Eolle. In Figur 41 ist versucht, eine schematische Darstellung der wichtigsten Nervenverbindungen desEespirationscentrums zu geben. Die Disposition im Ganzen ist wie in Figur 39, und ebenso wie dort be- deuten stark ausgezogene Linien eigentlich motorische Bahnen, ge- strichelte Linien Nervenbahnen, deren Erregung schliesslich auf motorische einfach übertragen wird oder Uebertragung anderer Erregung auf motorischeBahnen erleichtert ; punktirte Linien bedeuten solche Nervenbahnen, deren Erregung Hemmung von Bewe- gungen zum schliesslichen Erfolg hat. Durch hie und da angebrachte Pfeil- spitzen wird der regelmässige Sinn der Fortpflanzung in den betreffenden Nervenbahnen angedeutet. Die netzartige Gruppe Je ist das Centralorgau der Inspiration, Ec das der Exspiration. Die ausgezogene Linie o, unten in zwei Zweige vertheilt, stellt die motorischen Fasern der Inspirationsmuskulatur dar, welche durch das Zwerchfell bei D repräsentirt ist. Ebenso stellt die Liniep die motorischenBahnen vom Exspirationscentrum durch das Eücken- mark zur Exspirationsmuskulatur dar. Letztere ist unter Ä dargestellt (an die Lage des oM, ahdominis internus etwa erinnernd). Die gestrichelte Linie a Schema der Athemnerven. 299 bedeutet die Fasern, welche die willkürliche Anregung einer Inspiration vermitteln. Die puuktirte Linie bei h repräsentirt die Fasern, deren Er- regung bei der willkürlichen Hemmung im Spiel ist. Ebenso sind c und d die Fasern, welche willkürliche Anregung und willkürliche Hemmung der Exspiration vermitteln (siehe S. 294). — / und g sind Eepräsentanten der Nervenfasern, welche die Eeflexe von der sensiljlen Oberhaut auf die Athemmuskuiatur vermitteln, g anregend, / hemmend für Inspiration (siehe S, 295). e und li sind die Hemmungsfasern für Inspiration von der Nasen- und Kehlkopfschleimhaut, i sind die Fasern des laryngeus superiov, welche die Exspiration reflectorisch erregen können (siehe S. 298), — l sind die für das Inspirationscentrum hemmenden Fasern des Vagus, deren Enden durch Dehnung des Lungengewebes gereizt werden, n sind die durch Zusammendrückung des Lungengewebes reizbaren Hemmungs- fasern für das Exspirationscentrum. k sind die ebenfalls durch Zusammen- drückung der Lunge reizbaren Fasern, welche die Erregbarkeit des In- spirationscentrums erhöhen, und endlich repräsentirt m die Vagusfasern, welche, durch Dehnung des Lungengewel)es gereizt, die Erregbarkeit im Exspirationscentrum erhöhen (siehe S. 296 und 297). 8. Albschnitt. Secretionen. 1, OapiteL Allgemeines. Der im vorigen Abschnitt untersnchten Veränderung, welche das Blut beim Strömen durch die Lungencapillaren erleidet, stellt sich die- jenige gegenüber, welcher es beim Durchgange durch die Haargefässe des grossen Kreislaufes unterworfen ist. Während das Blut sich dort aus venösem in arterielles verwandelt, wird es hier aus dem arteriellen Zu- stande wieder in den venösen übergeführt. Es wäre nun die Aufgabe der Physiologie, zu untersuchen, wie diese Aenderung zu Stande kommt und welche weitere Erscheinungen sich daran knüpfen. Das venöse Blut der verschiedenen Organe ist selbstverständlich nicht vollkommen dasselbe, da es eben mit ganz verschieden zusammengesetzten Theilen im Stoff- austausch gewesen ist. Manche dieser Unterschiede sind schon chemisch nachgewiesen. So sahen wir (siehe S. 235), dass Erstickungsblut aus thätigen Muskeln besonders reich an reducirenden Stoffen sei. In allen Provinzen des Gefässsystems führen die Venen nicht mehr die ganze Plüssigkeitsmenge, welche durch die Arterien zugeführt wird, einen Theil derselben hat nämlich der Blutdruck durch die Capillarwände durchgepresst und er bildet die Tränkungsflüssigkeit, welche sich über- all in den Gewebelücken findet. Wir haben schon an einer anderen Stelle (siehe S. 254) gesehen, dass von dieser Tränkungsflüssigkeit der grösste Theil, ohneweiters durch immer neues nachdringendes Filtrat fort- geschoben, auf die Lymphwege gelangt und schliesslich in die Venen zu- rückkehrt. Bei ihrer Anwesenheit in den Gewebelücken vollzieht aber die Tränkungsflüssigkeit oder das Bluttranssudat eine höchst wichtige Func- tion: es vermittelt die „Ernährung der Gewebe". Es spült nämlich das Transsudat einerseits die bei der Function der Gewebebestandtheile unbrauchbar gewordenen Stoffe ohne Zweifel weg, denn sonst würden sich dieselben allmählich in den Geweben selbst anhäufen, was doch nicht der Fall ist. Ein Theil derselben wird allerdings vielleicht sofort durch Bau der Drüsen. 301 Diflfusionsprocesse den Bliitcapillaren überliefert, wohl namentlich jene leicht oxydablen Stoffe, die im Venenblute angenommen werden mussten (siehe S. 235). Andererseits kann nur das Transsudat die Quelle sein, aus welcher die Gewebsei emente neues Material zu ihrem Aufbau, Wachsthum und Ersatz des Verbrauchten schöpfen. Die Ernährung der Gewebe sollte hiernach einen der wichtigsten Abschnitte der Lehre von den vegetativen Functionen bilden. Leider hat aber dieser Abschnitt heutzutage nicht viel mehr als die üebersohrift. Nur was mit dem Mikroskope von dem Aufbau und den Formverände- rungen der Gewebselemente sichtbar ist, hat bis jetzt genauer erforscht werden können und wird hergebrachtermassen in einer abgesonderten Disciplin, der „Gewebelehre", vorgetragen. Das wenige eigentlich Physio- logische, was über die Ernährung bekannt ist, hat schon bei der Func- tion derselben, z. B. in der Lehre von der Muskelzusammenziehung, seine Stelle gefunden. Nur über die „Ernährung" einer Classe von Organen, nämlich der Drüsen, wo dieselbe eine ganz eigenthümliche Kichtung nimmt, haben wir wenigstens einige genauere Kenntnisse, und diese sollen den Inhalt des gegenwärtigen Abschnittes ausmachen. Die besondere Kichtung, welche die Ernährung der Drüsengewebe nimmt, besteht darin, dass ein grosser Theil der von den Elementen dieser Gewebe gelieferten Producte nicht in Lymphe und Blut zurückgenommen, sondern an die freie Oberfläche des Körpers ergossen wird. Man muss dabei zur freien Oberfläche des Körpers auch die innere Fläche des Darm- kanales rechnen. Dies ist übrigens geometrisch gerechtfertigt, denn das Darmlumen ist nur eine Einstülpung der Körperoberfläche, und man kann von jedem Punkte im Innern des Darmrohres auf zwei Wegen durch Mund oder After ins Freie gelangen, ohne eine Scheidewand zu passiren. Dass die Producte der Drüsenelemeute an die Oberfläche des Körpers treten, „secernirt" werden, wie man es ausdrückt, wird be- greiflich, wenn man den Bau der Drüsen in der Entwickelung verfolgt. Sie sind nämlich durchweg Einstülpungen von der freien Oberfläche des Körpers und im Innern ausgekleidet mit Fortsetzungen der die ganze freie Körperoberfläche Ijedeckeuden Zellenschicht, des sogenannten „Epithels". Manche Drüsen sind noch im ausgewachsenen Zustande als solche Einstülpungen leicht zu erkennen, indem sie nur einfache, ganz kurze, Ijlind endende Schläuche darstellen. Bei anderen Drüsen ist die Einstülpung in der verwickeltesten Weise verzweigt und zu einem massigen Organe zusammengeballt, das nur noch durch einen langen engen Kanal — den Ausführungsgang der Drüse — mit der freien Körperoberfläche communicirt. Zwischen den blinden Enden der ganzen Einstülpung sind meist reichliche Blutgefässe verzweigt, welche das 302 Secernirende Kräfte. Material für die Ernährung der in jenen Enden enthaltenen modificirten Epithelzellen, d. h. der Drüsenzellen, liefern. Indem man nur den Anfangs- und Endpunkt des ganzen Herganges ins Auge fasst. kann man die Secretion in einer Drüse auffassen als einen Strom von Flüssigkeit aus dem Blute ins Innere der Drüsenräume, resp. durch den Ausführungsgang an die freie Körperoberfläche, und man kann die Frage vom rein mechanischen Gesichtpunkte aus aufwerfen, welche Kräfte diesen Strom in Gang setzen. Yor Allem ist ohne Zweifel der Blutdruck thätig. der, wie schon früher gezeigt wurde. Flüssigkeit durch die Capillarwände durchtreibt. Diese Flüssigkeit befindet sich dann aber erst in den Lymphräumen. welche die Drüsenräume umgeben. In letztere selbst kann — wo nicht ganz besondere Veranstaltungen gegeben sind — der Blutdruck allein die Flüssigkeit nicht treiben. Denn wenn der Druck des Transsudates hoch stiege, müsste er die mit zartesten Wänden ver- sehenen Drüsenschläuche eher comprimiren. ehe er Flüssigkeit hinein- triebe, da ja das Transsudat regelmässig auf der convexeu Seite der Drüsenschlauchwaud liegt. Ins Innere der Drüseuschläuche hinein kann dagegen Flüssigkeit aus den Lymphräumen durch endosmotische Kräfte angesaugt werden. Freilich wissen wir darüber nicht viel und namentlich in den besonderen FäUen sind uns die Körper unbekannt, welche etwa im Innern der Drüsenschläuche als Centra der Anziehung wirken könnten. Da manche Drüsen auf Nervenerregung fast momentan bedeutende Secretmengen liefern, so müsste man — was keineswegs widersinnig ist — etwa annehmen, dass im Innern der Drüsenräume unter dem Ein- flüsse der Nervenerreguug ganz plötzlich Zersetzungen vor sich gehen, welche Producta von grosser endosmotischer Anziehungskraft zu Wasser liefern. Diese Abhängigkeit vom Nervensystem, welche manche Drüsen den quergestreiften Muskeln geradezu an die Seite stellt, lässt auch an elektrische Kräfte denken, die ja bei der Muskelthätigkeit höchst wahr- scheinlich eine Bolle spielen. Bekanntlich führt der elektrische Strom durch permeable Scheidewände alle leitenden Flüssigkeiten in der Rich- tuug der Bewegung der positiven Elektricität. An der Drüsensehicht der Froschhaut und des Froschdarmes hat man auch wirklich Spuren elektro- motorischer Wirksamkeit nachgewiesen. Die erstere erleidet sogar durch Tetanisiren des Eückenmarkes eine negative Schwankung wie die des Muskels. Manche Forscher wollen jedoch diese elektromotorische Wirk- samkeit auf eigentlich muskulöse Elemente des Gewebes beziehen. Jedes- falls lässt sich noch keine theoretische Vorstellung über das Wesen irgend einer Secretion auf die fragliche Thatsache gründen. Indem wir nunmehr zu den einzelnen Drüsen übergehen, soll der Anfang mit denjenigen gemacht werden, welche ihr Secret in den Speichelsecietion vom Nerveneinfluss abhängig. 303 Darmkaiial ergiessen, das dann hier uocli zu weiteren Verrichtungen dient, die in der Lehre von der Verdauung später zu erörtern sind. Indem wir dem Darmkanal, von der Mundöffnung anfangend, nachgehen, stossen wir zuerst auf die Speicheldrüsen. 2. Gapitel.' Secretion der Verdauungssäfte. I. Speicheldrüsen. Der Mensch und die höheren Säugethierfamilieu besitzen jederseits drei grössere Drüsen, welche ihr Secret in die Mundhöhle ergiessen: Glandula parotis, gl. suhmaxillaris und gl. subungualis. Ihre Lage und die ihrer Ausführungsgänge ist aus der Anatomie ])ekannt. Schon durch leicht anzustellende Beobachtungen am eigenen Körper kann mau sich überzeugen, dass die Thätigkeit dieser Drüsen in ausge- zeichneter Weise vom Nervensystem abhängig ist. Man kann, sozusagen, willkürlich massenhaft Speichel secerniren. Man braucht nur mit Zunge, Lippen und Wangenmuskeln (nicht, wie häufig angegeben wird, mit den Kaumuskeln) Bewegungen zu machen, wie wenn man einen Speisebissen im Munde umwälzte, und bald wird sich der Mund mit der unter dem Namen des Speichels bekannten Flüssigkeit füllen, welche da- bei vorzugsweise aus der gl. parotis zu fliessen scheint. Ferner ist es Jedermann bekannt, dass eine Benetzung der Zunge mit Säure sofort eine reichliche Secretion von Speichel aus der gl. suhmaxillaris zur Folge hat. Ja die lebhafte Vorstellung von saurem Geschmack regt oft schon die Secretion an. Dass es sich hier um Nerveneinfluss handelt, versteht sich von selbst, und dass wir es mit einer wirklichen Absonderung auf Nerveneinfluss zu thun haben, nicht etwa mit dem blossen Auspressen schon vorräthiger Flüssigkeitsmengen, geht daraus hervor, dass die Quellen ziemlich unerschöpflich fliessen ; wenigstens gelingt es leicht, in wenigen Minuten mehr Speichel abzusondern, als das Volum der ganzen Drüsen ausmacht, und dabei nimmt das letztere durchaus nicht merklich ab. Genauer ist der Nerveneinfluss experimentell studirt an der gl. suh- maxillaris des Hundes. Sie bekommt einen Nerven vom ramus Ungualis trigemini, der mit dem Ausführungsgange in die Drüse eintritt, und ausserdem Zweige vom Halssympathicus, welche, den Arterien folgend, zur Drüse gelangen. Bindet man in den Ausführungsgang der Drüse ein Röhrchen ein und macht vorläufig keine weitere Operation, so findet man in der Kegel die Secretion in massigem Gange und sieht von Zeit zu Zeit ein Tröpfchen Flüssigkeit aus dem eingebundenen Köhrchen austreten. Bringt man einen Tropfen Essigsäure in das Maul des Hundes, so wird 304 Wärmeentwickelung bei der Speiohelsecretion. sofort der Speichelstrom colossal vermehrt. Durchschneidet man alsdann den n. Ungualis oherhalb der Stelle, wo der Drüsennerv ahgeht, so steht die Secretion alsbald vollständig still. Sowie mau nun den peripherischen Stumpf des n. Ungualis, resp. den Drüsenast reizt, z. B. durch Inductions- ströme, so fliesst der Speichel wieder reichlich aus dem Röhrchen aus, und wenn der Reiz aufhört, so sinkt auch bald wieder die Absonderung auf Null oder auf einen kaum merklichen Werth. Man kann diesen Ver- such viele Male hintereinander wiederholen in ähnlicher Art, wie man einen Muskel unzählige Male durch Reizung seines Nerven zur Zusammen- ziehung und durch Aussetzen des Reizes wieder zur Erschlaffung bringen kann. Die Analogie des in Rede stehenden Vorganges mit der Zusammen- ziehung des Muskels wird noch durch die Thatsache gesteigert, dass bei Reizung des Drüsenastes vom n. lingurMs eine namhafte Wärmemenge in der Drüse frei wird. Sie ist so beträchtlich, dass dadurch die Tempe- ratur der Drüse um einen ganzen Grad über die des arteriellen Blutes und der umgebenden Gewebe steigen kann. Eine solche Wärmemenge kann natürlich nicht entstehen durch die Arbeit der mechanischen Kräfte, welche die Widerstände überwinden, die sich der Bewegung der Flüssigkeit aus den Blutgefässen in die Drüsenschläuche widersetzen ; sie kann offenbar nur erklärt werden durch Verbrennungsprocesse, welche in den Drüsenelementen unter dem Einflüsse des Nervenreizes geschehen. Es liegt nach dem Vorstehenden folgende Vermuthung nahe: durch die Reizung der Nerven wird in den Drüsenzellen ein chemischer Process angeregt, welcher irgend ein Product liefert, das eine ausserordentlich grosse endosmotische Anziehung zum Wasser hat. Es zieht daher aus den umgebenden Lymphräumen rasch bedeutende Wassermengen ins Innere der Drüsenräume, die mit den darin gelösten Stoffen zum Ausführungs- gange heraus müssen, da kein anderer Ausweg gegeben ist. Man hat so- gar die bestimmtere Vermuthung ausgesprochen, dass der im Speichel vorhandene Schleimstoff dieser endosmotisch Wasser anziehende Körper sei, jedoch ist ein Beweis dafür nicht geliefert. Wenn man das in den Speichelgang eingebundene Röhrchen durch ein Quecksilbermanometer verschliesst und nun den n. Ungualis reizt, so treibt der nachrückende Speichel die Säule des Manometers leicht auf eine Höhe von 200™™ und darüber, auf eine Höhe, welche den etwa gleichzeitig in der art. carotis gemessenen Blutdruck weit übersteigen kann. Erst wenn solche Druckwerthe eingetreten sind, steht die Ab- sonderung trotz fortdauernden Reizes still. Man sieht hieraus, dass sehr grosse Kräfte die Speichelflüssigkeit ins Innere der Drüsenschläuche treiben, und dass es insbesondere der Druck des Blutes nicht sein kann, der diese Wirkung ausübt. SympathicDsspeichel. Paralytische Speichelsecretion. 305 Die längere Zeit gereizt gewesene Drüse zeigt auch unter dem Mikro- skope ein etwas anderes Ansehen als die ausgeruhte. Während nämlich ein grosser Theil der Zellen in der ausgeruhten Drüse sich als glashelle Kugeln darstellen und ein kleinerer Theil mit krümlichem Protoplasma gefüllt er- scheint, herrschen in der gereizt gewesenen Drüse die Zellen der letzteren Art vor. Die Speicheldrüsenfasern des n. Ungualis stammen, wie schon wegen der durchaus eentripetalleitendeuNaturdesTrigeminus wahrscheinlich ist, nicht aus den Wurzeln dieses Nerven, sondern werden ihm erst beigegehen durch die als cliorda tympani Ijekannte Anastomose mit dem zu centrifugaler Leitung bestimmten n. facialis. Dies lässt sich dadurch beweisen, dassEeizung der chorda tympani an Stellen, wo sie noch isolirt ist, Speichelfluss zur Folge hat. Die Secretion der Submaxillardrüse des Hundes kann auch durch Reizung des Sympathicus am Halse angeregt werden, jedoch wird dabei die Secretion nie so massenhaft wie bei Reizung des n. lingualis. Ausser- dem hat der auf Reizung des Sympathicus fliessende Speichel eine andere Beschaffenheit; er ist nämlich durch aufgeschwemmte feste Theilchen trübe und schleimig zähe, während der auf Reizung des Lingualis fliessende ganz klar, dünnflüssig und nur massig fadenziehend ist. Einen hohen Druck von etwa 150"™ Quecksilber kann man übrigens auch durch den unter dem Einflüsse des Sympathicus abgesonderten Speichel in den Speichelgängen erzeugen. Auch Temperaturerhöhung der Drüse findet bei Reizung des Sympathicus statt. Eine seltsame, mit dem Vorstehenden noch nicht in Einklang ge- brachte Thatsache ist die sogenannte paralytische Secretion der SuIj- maxillardrüse, welche einige Stunden nach der Durchschneidung sämmt- licher Drüseunerven auftritt und mehrere Tage l)is zur vollständigen Degeneration der Nerven bis zur Peripherie andauert. Sie liefert be- deutende Mengen eines dünnflüssigen Secretes. Man vermuthet, die paralytische Secretion könne daher rühren, dass in dem nach Nerven- durchschneidung natürlich vollständig stagnirenden Drüsen Inhalte Zer- setzungen platzgrift'en, welche die Drüsenzellen direct reizende Producte lieferten. Eine ähnliche Secretion wird durch Curarevergiftung angeregt. Die beiden Drüsennerven, nämlich der Drüsenast des Lingualis und die Drüsenästchen des n. sympathicus, beherrschen nicht blos die eigent- lich secretorischen P]lemente der Drüse, sondern auch ihre Gefässe. Der Sympathicus liefert für dieselben, wie auch in anderen Gefässprovinzen, die eigentlich motorischen Nerven. Auf Reizung des Sympathicus zi(dien sich die Gefässe der Drüs(! zusammen; der IMulstioni in ihr wird so lang- sam, dass aus einer geöffneten V(!ne nur wenige dunkclscliwarze j{liit- tropfen aussickern. Reizt man dagegen den Lingualisast, so (luillt aus Kick, l'hy«iologi(;. 3. Aufl. -"■' 306 Parotisspeicliel. Sublingualisspeicliel. der geöffneten Vene das Blut mächtig hervor und zeigt ein fast noch arterielles Roth; es hat die Drüse so rasch durchströmt, dass es nicht Zeit hatte, sich in venöses Blut zu verwandeln. Der Lingualisast muss also Nervenfasern enthalten, welche die auf den sympathischen Bahnen zu den Gefässmuskeln strebenden Erregungen hemmen, ähnlich wie die nervi erigentes (siehe S. 267). Weit weniger als die gl. suhmaxillaris ist die gl. parotis bekannt ; nur so viel ist festgestellt, dass auch diese Drüse unter dem Einflüsse eines Facialisastes, des petrosiis superfacialis minor steht. Ein Einfluss des Sympathicus ist noch nicht experimentell erwiesen. Auch die Parotis kann im erregten Zustande erstaunliche Mengen Secret in kurzer Zeit liefern. Beim Schaf hat man z. B. beobachtet, dass die noch nicht 9s'' schwere Dr.iise in je fünf Minuten lieferte 0,4; 0,6; 0,5'*"'^ Secret, während eine 29,75^1' wiegende Niere desselben Thieres auch nur Ojö^'^'" in je fünf Minuten absonderte. Von den Eigenthümlichkeiten der gl. suhlingualis ist gar nichts experimentell ermittelt, doch werden wahrscheinlich ähnliche Gesetze wie für die anderen Speicheldrüsen auch für sie gelten. Das Secret aller Speicheldrüsen ist eine an festen Bestandtheilen sehr arme, meist wasserhelle, schwach alkalisch reagirende Flüssigkeit ; am dünnsten ist das Secret der Parotis, welches wohl meist über 99% Wasser enthält. Der feste Rückstand des Parotidenspeichels besteht zum grössten Theil aus feuerfesten Salzen, und zwar sind es vorzugsweise Chloralkalien und kohlensaurer Kalk. Die kleinen Mengen organischer Stoffe sind nicht genau gekannt, es findet sich darunter höchst wahr- scheinlich ein Ferment, „Ptyalin" genannt, dessen Wirksamkeit in der Verdauungslehre zu erörtern ist. Nicht viel reicher an festen Stoffen ist der durch Erregung der cliorda ^3/mpa?2?! abgesonderte Submaxillarisspeichel; auch er enthält meist kaum 1 'Yd festen Rückstand, der ebenfalls zum grössten Theil aus Salzen besteht. Unter den organischen Bestandtheilen sind Spuren eiweissartiger Körper und Schleimstoff, daher dieser Speichel eine massig faden- ziehende Beschaffenheit besitzt. Ein Ferment enthält dieser Speichel beim Hunde und Kaninchen nicht. Den Submaxillarisspeichel des Menschen wollen einige Forscher fermenthaltig gefunden haben. Der unter dem Einflüsse des Sympathicus abgesonderte Submaxillarisspeichel ist etwas concentrirter, enthält bis zu 3 "/o fester Stoffe und ist stets durch die An- wesenheit von aufgeschwemmten Formbestaudtheilen, den sogenannten Speichelkörperchen, etwas getrübt. Dies sind kleine, nur mikroskopisch sichtbare Gallertklümpchen. Der Sublingualisspeichel ist nicht für sich gesondert untersucht. Magensaftsecretion. 307 II. Mageudrüseu. Die Schleimhaut des Magens besitzt zweierlei Drüsen : die Schleim- drüsen und die Labdrüsen. Letztere finden sich vorzugsweise am Fundus und an der grossen Curvatur, erstere sind über die ganze Schleimhaut zerstreut. Jedes einzelne Drüschen ist ausserordentlich klein, aber bei der ungeheuren Anzahl bilden sie zusammengenommen doch ein ansehn- liches Secretionsorgan, Die Secretionsthätigkeit der Schleimdrüsen ist nicht genauer erforscht, sie scheint mehr oder weniger stetig zu sein und liefert einen spärlichen zähen, alkalisch reagirenden Schleim. Die Labdrüsen stehen ganz entschieden unter der Herrschaft des Nervensystems. Sie secerniren nur auf Reizung, dann al:)er in kurzen Zeiten bedeutende Mengen einer ganz dünnen, klaren, stark sauer rea- girenden Flüssigkeit. Ganz besonders wirksam als Reiz ist Berührung der Schleimhautolterfläche mit alkalisch reagirenden Flüssigkeiten, nament- lich mit Speichel, sowie mit Alkohol. Aber auch mechanische oder elek- trische Erregung der Schleimhautoljerfläche ruft Secretion hervor. Offen- bar handelt es sich bei diesem Vorgang um reflectorische Uebertragung der Erregung sensibler Nervenenden auf die secretorischen Nerven. Auf welchen Bahnen diese Uebertragung geschieht, hat noch nicht ermittelt werden können. Jedesfalls spielen dabei die vom Cerebrospinalorgau zum Magen gehenden Nerven keine Rolle. Vielleicht sind die in der Magenwand selbst liegenden Ganglien die Centralstelleu des Reflexes. Die Reizung der Sehleimhaut vermehrt auch die Blntfülle der Gefässe derselben. Endlich ist auch eine J]rhöhung der Temperatur an der Magen- schleimhaut während der Secretion wahrgenommen. Es scheinen dem- nach hier ähnliche Mechanismen vorhanden zu sein wie in den Speichel- drüsen. Obwohl es Itei der Kleinheit der einzelnen Laltdrüse selbstverständ- lich unmöglich ist, ein Rohr in den Ausftthrungsgang einer solchen einzuführen, kann man doch das Secret derselben, von Hunden wenigstens, aus Magenfisteln ziemlicli rein gewinnen. Wenn man nämlich das Thier einige Zeit hungern lässt, so dass kein Mageninhalt mehr da ist, und nun die Schleimhaut in der einen oder anderen Weise reizt, so ist vor- aussichtlich die aus der Fistel fliesseude Flüssigkeit annähernd reines Labdrüsensecret. Der so gewonnene Magensaft ist eine klare dünne, nicht faden- ziehende Flüssigkeit von stark saurer Reaction. Diese verdankt er der Anwesenheit freier Salzsäure nach der Annahme der meisten Physiologen, welche sich gründet auf die geiuiue Bestimmung seines Chlorgehaltes einerseits und des Gelialtes seiner vVsche an Alkalien andererseits. Oft wiederholt sind solche Bestimmungen übrigens nicht, und es ist daher 20* 308 Magensaft. Pankreas. vielleiclit auch lieute noch erlaubt, das Vorhandensein freier Salzsäure im Magensaft zu bezweifeln, da sie der Physiologie ein schwieriges Problem aufbürdet, nämlich zu erklären, wie die Zellen der Labdrüsen die Salz- säure von den starken Basen, mit welchen sie im Blute verbunden ist, abtrennen. Die Entstehung irgend einer freien organischen Säure durch Oxydation anderer Verbindungen würde nicht auf solche Schwierigkeiten stossen. Diese Annahme wird auch nicht ausgeschlossen durch die That- saehe, dass man aus Magensaft freie Salzsäure abdestilliren kann. Es giebt nämlich organische Säuren, welche bei Siedhitze Chloride zerlegen. Namentlich ist dies von der Milchsäure bekannt. Neben der freien Säure sind im Magensafte noch die Salze des Blutes (in grösster Menge Kochsalz) und eine Keihe nicht näher be- kannter organischer Körper vorhanden, — unter den letzteren zwei Fer- mente, Pepsin und Lab genannt, deren Wirksamkeit in der Verdauungs- lehre zu besprechen ist. Von der quantitativen Zusammensetzung des Magensaftes mag folgende Tabelle eine Vorstellung geben. Speichelfreier Magensaft des Hundes. Mittel aus lOAnalysen. Magensaft des Schafes. Nicht speichel- freier Magen- saft des Menschen. Wasser. . . . 973 986 994 Organische Stoffe 17 4 3 Freie Salzsäure . 3 1 0,2 Chloride . . . 5 7 2,8 Phosphate . . . 2 2 Spuren III. Pankreas. Im Duodenum ergiesst sich in das Darmlumen das Secret zweier grosser Drüsen, der Leber und des Pankreas.. Dies letztere wird wegen seiner äusserlichen Aehnlichkeit mit den Speicheldrüsen auch die „Bauch- speicheldrüse" genannt. Auf den Mechanismus der Secretion scheint sich indessen die Analogie nicht zu erstrecken. Wenigstens hat man bis jetzt vergeblich nach Nerven gesucht, deren Eeizung die Secretion des Pankreas beschleunigt. Der einzige nervöse Einfluss, welcher überall bis jetzt nach- gewiesen ist, besteht darin, dass starke Erregung des centralen Stumpfes eines durchschnittenen n. vagus den Ausfluss des pankreatischen Saftes aus einer am Ausführungsgange angebrachten Fistel aufhören macht, namentlich dann regelmässig, wenn diese Heizung, wie das oft bei Hunden der Fall ist, Erbrechen zur Folge hat. Sonst sieht man aus einer solchen Fistel das Secret ununterbrochen abfliessen. Die Geschwindigkeit dieses Abflusses nimmt in der zweiten Stunde nach reichlicher Nahrungsauf- Pankicassaft. Leber. 309 nähme bedeutend zu, dann ab, dann wieder etwas zu, um in der siebenten Stunde nach der Nahrungsaufnahme ein zweites kleineres Maximum zu erreichen. Durchschneidung aller Drüsenuerven führt zu einer stetigen eopiösen Secretion, welche durch Nahrungsaufnahme nicht mehr erhöht und durch Vagusreizung nicht mehr sistirt wird. Aus der Pankreasfistel eines Hundes können im Laufe einer Stunde über 30^''" Flüssigkeit gewonnen werden zu den Zeiten stärkster Thätig- keit der Drüse. Zu den Zeiten schwächerer Thätigkeit liefert die Drüse nur etwa 3 ''<="' Secret in einer Stunde. An unorganischen Salzen scheint der pankreatische Saft stets ziem- lich gleichviel zu enthalten, nämlich nahezu 1 %. Dagegen variirt der Gehalt an organischen Stoffen beträchtlich; er ist im rasch abgesonderten Safte gering, etwa l"/)? iui langsam abgesonderten kann er auf etwa 4'yo steigen. Der Gehalt des pankreatischen Saftes an festem Rückstand im Ganzen schwankt also etwa zwischen 2 und 5%. Der Eest ist selbst- verständlich Wasser. Die organischen Stoffe des Pankreassecrets ge- hören vorwiegend der Gruppe der eiweissartigen Körper an, daneben sind Fermente vorhanden, deren Wirkungsweise später zu untersuchen sein wird. Unter den unorganischen Salzen ist das Kochsalz bei Weitem die grösste Menge. Vorstehende Thatsachen sind sämmtlich am Hunde beobachtet, doch dürfte sich das Pankreas der anderen Säugethiere und des Menschen insbesondere schwerlich wesentlich anders verhalten. IV. Leber. Das massenhafteste drüsige Organ des ganzen Säugethierkörpers ist die Leber. Schon hiernach ist zu erwarten, dass dies Organ eine hervor- ragende Rolle im thierischen Hanshalte spielt. Dazu kommen noch manche andere augenfällige Umstände, welche auf einen sehr lebhaften chemischen Process in der Leber schliessen lassen. Die Blutgefäss- capillaren sind in der Leber so reichlich wie kaum in irgend einem andern Organ, wodurch der Blutstrom auf ein ungeheures Gesammt- strombett, gleichsam auf eine seeartige Ausbreitung erweitert ist, in welcher offenbar ein sehr langsames Fliessen statthat. Dabei bringen es die Structurverhältnisse mit sich, dass jede einzelne Leberzelle von Blut- capillaren umspült, sozusagen im Blutstrom gebadet ist. Wenn da- bei auch die Drüsenzelle vom Blute durch die Capillarwand getrennt ist, so sind doch diese Wände so überaus zart, dass ein ergiebiger Stoffaus- tausch zwischen den Zellen und dem Blute nicht fehlen kann. Für die Bedeutung der Leber giebt noch der Umstand einen Wink, dass diesem Organe abweichend von allen anderen Organen ein mächtiger 310 Blutveränderung in der Leber. Strom venöses Blutes zugeführt wird. In der That ist die Pfortader, welche der Leber — abgesehen von der verhältnissmässig kleinen Leber- arterie — das Blut zuführt, nichts Anderes als die gemeinsame Vene des ganzen Darmtractus und seiner Anhaugsdrüsen. Das Blut der Pfort- ader wird also voraussichtlich während der Verdauungsperiode stark beladen sein mit Stoffen, welche es aus den eingeführten Nahrungs- mitteln aufgesogen hat. Dies legt die Annahme nahe, dass die Leber unter anderen die Bestimmung hat, die Verdauungsproducte weiteren Um- wandlungen zu unterziehen, bevor sie der arteriellen Blutmasse über- liefert werden. Diese Aufgabe der Leber, die Beschaffenheit des sie durchströmen- den Blutes zu ändern, überragt vielleicht an Wichtigkeit ihre secretorische Thätigkeit. Ihr wenden wir unsere Aufmerksamkeit zunächst zu. Man hat öfters versucht, die Unterschiede zwischen dem in die Leber ein- strömenden Pfortaderblut e und dem aus ihr hervorgehenden Lebervenen- blute ganz direct zu bestimmen. Sicher festgestellt ist ein Unterschied, nämlich; dass im Lebervenenblute verhältnissmässig mehr weisse Blut- körperchen angetroffen werden als im Pfortaderblute. Dies kann ent- weder auf Bildung von weissen Blutkörperchen oder auf Zerstörung von rothen in der Leber beruhen, oder auf beiden Ursachen zugleich. Die erstere dürfte kaum zu begründen sein, dagegen werden alsbald noch andere Thatsachen aufgeführt werden, welche den Untergang von rothen Blutkörperchen in der Leber in hohem Grade wahrscheinlich machen. Ferner ist angegeben, das Lebervenenblut enthalte beträchtliche Mengen von Traubenzucker, während das Pfortaderblut diesen Stoff gar nie enthalte. Diese Angabe hat sich zwar später als nicht allgemein richtig herausgestellt, sie verdient aber doch Erwähnung, weil sie den Ausgangspunkt wichtiger Untersuchungen über eine zweifellos höchst wichtige Function der Leber bildet. In Wahrheit enthält das Lebervenen- blut im ganz normalen Zustande nicht mehr Zucker als jene Spuren, welche sich in allem Blute vorfinden, und gerade in dem der Pfortader reichlicher zu Zeiten, wo die Resorption von Zucker aus dem Darmkaual im Gange ist. Dahingegen findet man in der todten Leber, namentlich wenn sie einige Zeit bei Temperaturen von 30" bis 40" gelegen hat, be- trächtliche Mengen von Zucker. Dieser Zucker ist aber nachweislich erst nach dem Tode des Lebergewebes entstanden. Trägt man nämlich die aus dem eben getödteten Thiere herausgenommene Lebersubstanz in kochendes, etwas angesäuertes W^asser ein und verreibt sie damit, so findet man in der abfiltrirten Flüssigkeit gar keinen oder allerhöchstens kaum nachweisbare Spuren von Zucker. Dafür findet sich in diesem Filtrat Glykogeiilüklung aus Zucker. 311 meistens ein eigeuthümlicher Körper, welcher ihm ein milchig getrübtes Aussehen giebt und welcher durch alle die Ursachen in Traubenzucker verwandelt wird, welche Stärkemehl in Traubenzucker verwandeln. Dieser merkwürdige, für den thierischen Haushalt ohne Zweifel höchst wichtige Körper wird daher „Glykogen" genannt und ist der Gruppe der Kohle- hydrate beizuzählen. Der Gehalt der Lebersubstanz an Glykogen variirt zu verschiedenen Zeiten sehr bedeutend. Bei einem Thiere, welches längere Zeit gehungert hat, ist er gleich Null. Bei einem einige Stunden vorher reichlich ge- fütterten Thiere kann er bis zu 12% betragen. Dieser Umstand lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass wir im Glykogen ein Umwand- lungsproduct irgend eines Nahrungs Stoffes vor uns haben, welcher, in das Blut des Darmes aufgenommen, durch die Pfortader der Leber zugeführt wird. Lässt schon die chemische Aehnlichkeit vermuthen, dass das Glykogen aus dem Traubenzucker entsteht, so wird diese Vermuthung zur Gewissheit durch die Thatsache, dass die Leber besonders dann reich ist an Glykogen, wenn das Thier mit Nahrungsmitteln gefüttert ist, die viel Kohlehydrate enthalten, sei es Zucker selbst oder Stärkemehl, das im Darmkanal in Zucker verwandelt wird. Je des falls entsteht der weitaus grösste Theil des Glykogens aus Zucker. Der zuletzt ausgesprochene Satz lässt sich auch noch durch eine andere Betrachtung wahrscheinlich machen, welche geeignet ist, die hohe Bedeutung des Glykogens im thierischen Haushalte ins rechte Licht zu setzen. Für die Pflanzenfresser und für diejenigen Menschen, welche vor- zugsweise von vegetabilischen Nahrungsmitteln leben, sind bekanntlich die Kohlehydrate — insbesondere Amylum — die wenigstens quantitativ hauptsächlichen Nahrungsstoflfe. Diese Körper können bekanntlich in die Säftemasse nur übergehen, nachdem sie zuvor durch Verdauungsfermeute in Zucker verwandelt sind. Man weiss nun durch directe Versuche, dass Traubenzucker, sowie er in einigermassen erheblicher Menge im Blute vorhanden ist, sofort in den Harn übergeht. Gelangte der in den Darm- kanal als solcher aufgenommene oder daselljst gelnldete Trauljenzucker unverändert in das arterielle Blut, so wären demnach nur zwei Fälle möglich. Kntweder er würde ebenso schnell, als er resorbirt wird, wieder im HaiTi ausgeschieden, ohne durcli seine Verijrennung zur Erzeugung von Kraft und Wärme zu dienen — dies findet factisch nicht statt, da der normale Harn selbst nach reichlicher Aulnalime von Zucken- oder Amylum höclistens Spuren von Zucker enthält — oder der Zucker müsste ebenso rasch, als er resorl)irt wird, auch zu Kohlensäure und Wasser verbrennen. Aber auch diese Annahme ist nicht möglich, wenn man Folgendes ])e- denkt. Nach einer an Zucker und Stärkemehl reichen Mahlzeit können 312 Glj'kogenbildung aus Eiweiss. ganz sicher im Laufe weniger Stunden im -Darmkanal eines Menschen weit über hundert Gramme Zucker resorljirt werden. Sollten diese im Laufe derselben Stunden verbrennen, so würde dadurch eine kaum zu be- wältigende Wärmemenge erzeugt werden, und es wäre kein Brennmaterial mehr vorräthig für die übrigen Stunden des Tages, an welchen vielleicht keine Nahrungsaufnahme mehr stattfindet. Es bleibt demnach kaum ein anderer Ausweg offen als die Annahme: der resorbirte Zucker wird in der Leber, welche er mit dem Pfortaderblute zu passiren hat, zunächst in eine weniger leicht diffusible Form übergeführt, welche ihn vor dem sofortigen Ausscheiden durch die Nieren schützt. Diese Form ist offenbar das Glykogen. Die Leber bildet somit gleichsam das Magazin für einen wichtigen Nahrungsstoff, den sie bei plötzlicher massenhafter Zufuhr in sich aufspeichert, um ihn später je nach Bedürfniss in kleinen Portionen der Blutmasse zu überliefern. Ausser aus Zucker kann aber Glykogen in der Leber auch aus anderen Nahrungsbestandtheilen gebildet werden. Es ist nämlich ganz unzweifel- haft festgestellt, dass auch bei Thieren, welche ausschliesslich mit Eiweiss gefüttert waren, Glykogen in der Leber zu finden ist, allerdings bei Weitem weniger als nach reichlicher Fütterung mit Kohlehydraten, ^^ahr- scheinlich geben in solchen Fällen die sogenannten „Peptone", d. h. die Producte der Einwirkung der Verdauungsfermente auf die eiweissartigen Körper, das Material der Glykogenbereitung ab. Dafür spricht namentlich die Thatsache, dass auch nach Leimfütterung Glykogen in der Leber beobachtet ist, wenn man berücksichtigt, dass die Verdauungsfermente aus Eiweisskörpern und Leim ähnliche, vielleicht identische Peptone bilden. Ferner spricht für unsere Vermuthung der Umstand, dass gerade die als Peptone bezeichneten Umsetzungsproducte des Eiweisses und Leimes leicht diffusibel sind und wohl von den venösen Capillaren absorbirt und der Leber zugeführt werden können. Auch will man neuerdings beob- achtet haben, dass sogar die aus dem Thierkörper herausgenommene Lebersubstanz im Stande sei, aus Peptonen Kohlehydrate zu bilden. Könnte die Leber aus unverändertem Eiweiss Glykogen bilden, so müsste sie diesen Stoff auch während des Hungers reichlich enthalten, da ihr unverändertes Eiweiss im Blutserum beständig zugeführt wird. Die Spaltung von Peptonen, wobei einerseits stickstofffreie Verbindungen, insbesondere das in der Leber aufzuspeichernde Glykogen, andererseits stickstoffhaltige Körper entstehen, ist höchst wahrscheinlich nicht ein blos gelegentlich 'stattfindender Process, sondern einer von dengrossen Factoren des Stoffwechsels, welchem der weitaus grösste Theil des Nah- rungseiweisses anheimfällt. Wir werden nämlich später sehen, dass der Stickstoffgehalt einer Mahlzeit schon einige Stunden nach ihrer Aufnahme Verwendung des Glykogens. 313 fast vollständig diircli die Nieren eiiminirt ist. zu einer Zeit, wo ihre Ver- dauung verniuthlich noch nicht lange vollendet war. Dies deutet darauf, dass der bei Weitem grösste Theil des Nahrungseiweisses gar nicht als solches im thierischen Haushalte zur Verwendung kommt, dass vielmehr von ihm stickstofffreie Verbindungen abgespalten werden, welche als Brennmaterial im Muskel- und Nervensystem dienen, und dass der stick- stoif haltige Best als relativ unnützer Auswurfsstoff rasch aus dem Körper entfernt wird. Diese Spaltung zu bewerkstelligen und das werthvolle Brennmaterial einstweilen zurückzuhalten, wäre dann eben eine der Haupt- verrichtungen der Lel)er. In welcher Form das in der Leljer gebildete Glykogen später der Säftemasse wieder zugeführt wird, ist noch nicht ausgemacht. Möglicher Weise wird das Leberglykogen allmählich wieder in Zucker zurückver- wandelt. Vielleicht wird es aber auch als solches oder in Form weiterer Umsetzuugsproducte durch die Lebervene ausgeführt, um höchst wahr- scheinlich zuletzt in den Muskeln als Brennmaterial zu dienen. Die Annahme, dass das Glykogen auch während des Lebens wieder allmählich in Zucker zurückverwandelt wird, liegt deswegen nahe, weil in der Leber sehr leicht ein Ferment entstehen kann, welches im Stande ist. Glykogen in Zucker zu verwandeln. Ganz sicher entsteht ein solches Ferment im todten Lebergewebe, denn wenn man eine Leber, die nach einer vorläufigen Probe an einem kleinen Stücke glykogenreich und zucker- frei gefunden ist, nur wenige Stunden bei einer Temperatur von 30 — 40" sich selbst überlässt, so findet man mehr Zucker und weniger Glykogen in derselben. Auch im lebenden Körper scheint unter besonderen Umständen das zuckerbildende Ferment in der Leber auftreten und energisch wirken zu können. Hierher gehört namentlich der unter dem Namen des Zucker- stiches oder Diabetesstiches Ijekannte merkwürdige Versuch. Sticht man nämlich einem Kaninchen durch das Hinterhauptbein ins Hirn so, dass der Boden des vierten Ventrikels etwas vor dem „Lebensknoten" (siehe S. 288) verletzt wird, so erscheint in dem Harn des Kaninchens schon nach einer Stunde reichlicher Traubenzucker, welcher nachweislich aus der Leber stammt und nicht wohl etwas Anderes sein kann als durch Fermentwirkung verzuckertes Glykogen. Dies Zuckerharnen dauei-t aber nur etwa 6 bis 7 Stunden. Selbstverständlich niuss hier die Aenderung im Chemismus der Leber durch nervöse Einflüsse vom verletzten Hirn aus bedingt sein 5 wie aber dies zugeht, ist noch im Dunkeln, nur das scheint erwiesen, dass die Einwirkung nicht durch den n. vcifjus vermittelt ist. Das Auftreten des Zuckers im Harn ist beim Menschen oft ein dauernder krankhafter Zustand, der unter dem Namen des diabetes mellitus 314 Diabetes. Gallenfartstoff. in der Pathologie behandelt wird. Es kann kaum einem Zweifel unter- liegen, dass das eigentliche Wesen dieser Krankheit ebenfalls in dem abnormen Auftreten des Zuckerfermentes in der Leber besteht. Yiel- leicbt kommt es bei dieser Krankheit gar nicht zur vorläufigen Yerwandlung des resorbirten Traubenzuckers in Glykogen. Es ist übrigens durch Vergleichung des ausgeschiedenen Zuckers mit den aufgenommenen Kohlehydraten bei Diabetikern mit voller Sicherheit festgestellt, dass auch aus eiweissartigen Körpern Zucker entstehen kann. Diese Thatsache be- stätigt den oben schon ausgesprochenen Satz, dass in der gesunden Leber auch aus eiweissartigen Körpern Glykogen entstehen könne. Mau kann recht wohl annehmen, dass die Eermentwirkung, welche wir bei den angeführten abnormen Erscheinungen ungezügelt verlaufen sehen, im normalen Leben durch unbekannte Bedingungen gehemmt wird, so dass sie nur sehr allmählich geschehen kann und nur so viel Zucker in der Zeiteinheit von der Leber ins Blut liefert, als während derselben, verbrennen kann. Nothwendig ist aber diese Annahme keineswegs, denn es könnte vielleicht in der gesunden Leber das Ferment gar nicht zur Wirksamkeit kommen, sowie z. B. auch das Gerinnung bewirkende Ferment im lebenden Blute absolut nicht wirkt, während es doch sofort seine Wirksamkeit entfaltet, sowie das Blut die Ader verlassen hat. Ob sonst noch Producte der Leberzellen in das Blut zurückkehren, ist zwar höchst wahrscheinlich, aber nicht mit Sicherheit bekannt. Dahingegen kennen wir eine Reihe merkwürdiger Producte derselben, welche alsBestand- theile des Lebersecretes, der Galle, die Leber verlassen, und welche durch ihre Natur noch einiges Licht mehr auf die chemischen Processe in der Leber werfen. In erster Linie gehört dahin der Stoff, dessen Anwesenheit in der Galle dem blossen Auge am meisten auffällt, sofern er ihre Farbe bedingt. Die frische Galle der Fleischfresser und des Menschen zeigt eine orange- gelbe Farbe, , die man nach der Ausdrucksweise des gemeinen Lebens mit dem Worte „braun" bezeichnet, weil eben schon dünne Schichten sehr dunkel erscheinen. Die Galle verdankt diese Farbe einem in ihr ge- lösten Farbstoffe, dem sogenannten „Bilirubin". Das Bilirubin ist eine leicht rein darstellbare chemische Verbindung von der empirischen Formel C,6 H,g N2 O3. In alten Blutextravasaten bildet sich oft nachweislich durch Zersetzung des Hämoglobins ein rostfarbener Körper, „Häma- toidin" genannt, der in allen wesentlichen Eigenschaften mit dem Bili- rubin übereinstimmt. Es kann daher an der Identität dieser beiden Körper kaum ein Zweifel sein. Wenn man diese Identität annimmt, so ist die Fol- gerung nicht mehr von der Hand zu weisen, dass auch in der Leber das Bilirubin als Zersetzungsproduct des Hämoglobins entsteht, eine Fol- gerung, welche zusammentrifft mit der weiter oben ausgesprochenen Gallensiiurcn. 315 Folgerung aus anderen Thatsacheu, dassin der Leber rothe Blutkörperchen zu Grunde gehen. Das Bilirubin geht durch Oxydation und Wasseraufnahme leicht in einige verwandte Farbstoffe über, unter denen ein grüner, „Biliv erdin" genannt, den normalen Farbstoff der Pflanzenfressergalle bildet. Fernere Bestandtheile der Galle, nnzweifelhaft in der Leber selbst entstanden, sind die Gallensäuren. In der Galle der meisten Säugethiere und des Menschen kommen zwei Gallensäuren an Natron gebunden vor: die „Tanrocholsäure" und die „Glykocholsäure"; bei Fleisch- fressern und beim Menschen vorwiegend die erstere, bei Pflanzenfressern vorwiegend die letztere. Beide Gallensäuren sind sogenannte gepaarte Säuren. Unter einer solchen versteht man bekanntlich eine Verbindung mit den Charakteren eines Säurehydrates, deren Molekül mit einem Wassermolekül eine Umsetzung erleiden kann, aus welcher zwei Moleküle hervorgehen, deren jedes wieder die Eigenschaften eines Säurehydrates hat. Die Tanrocholsäure zerfällt bei dieser Keaction in Cholalsäure und Taurin, der letztere Körper ist nach der systematischen chemischen Nomenclatur zu bezeichnen als „Amidoäthyl schwefelsaure". Die Glykocholsäure kann ebenso zerfallen in Cholalsäm-e und Glycin oder GlykocoU — Amido essigsaure. Das Radical der Cholalsäure — eine höchst complicirte Atomgruppe von noch nicht erkannter Structur — kommt also in beiden Galleusäuren vor. Die Cholalsäure besteht blos aus Kohlenstoff, Wasserstoff' und Sauerstoff: Ihre Zusammensetzung drückt sich aus in der Formel C24 ^i^ 0^, welche aber über ihre noch unbekannte Structur nichts aussagt. Die Paarlinge, mit welchen das Radical der Cholalsäure in den Gallensäuren verbunden ist, enthalten, wie schon ihre systematischen Namen sehen lassen, neben Kohlenstoff", Wasserstoff' und Sauerstoff auch Stickstott", das Taurin, überdies noch Schwefel. Für die Erkenntniss des Chemismus der Leberzellen würde es sehr wichtig sein, zu wissen, ob die Tanrocholsäure und die Glykocholsäure als solche entstehen, oder ob die Cholalsäure einerseits für sich entsteht und andererseits das Taurin und Glycin. Die Paarung dieser Körper mit Cholal- säure unter Wasseraustritt wäre dann ein zweiter Act im Processe der Gallensäurenbildung. Dass solche Paarungen im Organismus und wahr- scheinlich gerade in der Leber vorkommen, Ijeweist die Entstehung der Hippursäure im thierischen Organismus. Diese Säure nämlich, die wir in einem andern Abschnitte als einen oft vorkommenden Harnbestandtheil kennen lernen werden, ist eltenfalls eine gepaarte Säure, welche sich unter Wasseraufnahme in Glycin und Benzoesäure spalten kann. Dass diese Säure wirklich durch Paarung ihrer beiden Bestandtheile im Tliier- körper entsteht, beweist die oft l)eobachtete Thatsache, dass nach 3J(j Andere Gallenbestandtheile. Einverleibung von Benzoesäure alsbald eine entsprechende Menge von Hippursäure im Harn erscheint. Auch die Bildung des Glykogens aus Traubenzucker ist ein analoger Process, sofern dabei zwei oder vielleicht noch mehr Moleküle unter Wasseraustritt verknüpft werden. Wenn man sich vorstellt, die Gallensäuren entständen als solche, so kann man sie wegen ihres Stickstoffgehaltes nur als Spaltungsproducte eiweissartiger Körper ansehen. Wenn mau ihre Bestandtheile einzeln ent- stehend denkt, so muss das stickstoffhaltige Glycin und Taurin von eiweiss- artigen Körpern abgeleitet werden. Jedesfallsmuss man also annehmen, dass in der Leber beträchtliche Mengen von eiweissartigen Verbindungen zersetzt werden. Wir haben schon weiter oben (siehe S. 312) die Vermuthung zu be- gründengesucht, dass dies wesentlich die aus der Umwandlung eiweissartiger Nahrungsbestandtheile entstehenden sogenannten „Peptone" sind, welche als leicht diflfusible Körper sicher in grossen Mengen von den Wurzelcapillaren der Pfortader aufgesaugt und so der Leber zugeführt werden. Diese Annahme ist noch besonders ansprechend dadurch, dass sie die beiden Hauptfunctionen der Leber, die Glykogenbildung und die Gallenbereitung, in Zusammenhang bringt. Wir sahen ja, dass Glykogen aus Pepton in der Leber gebildet wird, dabei müssen aber stickstoffhaltige Körper abgespalten werden. Unter diesen sind nun vielleicht eben die beiden Gallensäuren, resp. ihre stickstoff- haltigen Paarlinge. Eine Stütze findet diese Annahme in der schon oft bei Thieren mit Gallenfisteln gemachten Beobachtung, dass reichliche Zufuhr von Eiweissnahrung die Bildung von Gallensäuren steigert. Doch sinkt dieselbe bei gänzlicher Entziehung von Eiweissnahrung nicht auf Null. Das Material zur Bildung von Gallensäuren liefert also wohl zum Theil auch die Zerstörung von Blutkörperchen, die ihren Gang fortgehen dürfte, mögen Peptone vom Darmkauale zugeführt werden oder nicht. Neben den Farbstoffen und eigenthümlichen Säuren enthält die Galle in kleinen Mengen Fette und einen den Fetten im physikalischen Verhalten sehr ähnlichen Körper, der aber seiner chemischen Constitution nach nicht zu den Fetten gezählt werden kann, das sogenannte „Cholesterin". Endlich findet sich in der Galle, welche längere Zeit in der Gallen- blase verweilt hat, noch ein organischer Körper, das Mucin, ziemlich reichhch, welches uns schon als Bestandtheil einiger anderer Drüsen- secrete begegnet ist. Offenbar stammt es nicht aus den eigentlich Galle bereitenden Elementen der Leber, sondern aus kleinen Auhangsdrttschen des Gallenganges und der Gallenblase, welche in ihrem traubigen Bau mit den Schleimdrüschen der Mundschleimhaut und anderer Theile der Schleimhaut des Verdauungskanales übereinstimmen. Ausser den genannten organischen Verbindungen enthält die Galle die Salze des Blutes. Unter ihnen herrscht das Chlornatrium nicht 89,81 . . 82,27 5,65 . . 10,79 3.09 . . 4.73 Zusammensotzung der Galle. 317 iu dem Maasse über die andern, namentlich die phosphorsauren Salze vor, wie das in vielen anderen Secreten der Fall ist. Im Ganzen sind unter den anorganischen Bestandtheilen der Galle die Alkalien im Uebergewicht über die Säuren, daher die Galle alkalisch reagirt. Um eine Vorstellung von der quantitativen Zusammensetzung der Galle ans den aufgezählten Bestandtheilen zu geben, sind in nachstehender Tabelle drei Analysen der aus der Gallenblase ganz frischer Menschenleicheii gewonnenen Flüssigkeit zusammengestellt, die von zwei verschiedenen Forschern ausgeführt sind. Wasser 85,92 . Gallensaures Natron . . 9,14 . Cholesterin 0,26 . Fett .- 0,92 . Schleim und Farbstoff . 2,98 . . 1,45 . . 2,21 Chlornatrium .... 0,20 . Phosphorsaures Natron . 0,25 . Phosphorsaure Erden . 0,28 . . . [■ 0,63 . . 1,08 Schwefelsaurer Kalk . . 0,04 . Eisenoxyd Spur . Aus Fisteln des Ausführungsganges gewonnene Galle zeigt regel- mässig einen geringeren Gehalt an festen Stoffen als die aus der Gallen- blase genommene Flüssigkeit. Die nächstliegende Erklärung dieser That- sache wäre die, dass die Galle bei ihrem Verweilen in der Blase durch Resorption von Wasser eine Eindickung erfährt. An Fisteln des Gallenganges bei Hunden hat man sich überzeugt, dass die Absonderung ununterlirochen stattfindet; ihre Geschwindigkeit erleidet aber beträchtliche Schwankungen, und zwar einige Stunden nach reichlicher Nahrungszufuhr eine bedeutende Steigerung. Dies hängt ohne Zweifel damit zusammen, dass während der Verdauungszeit die Blut- gefässe des Darmkanales der Leber überhaupt mehr Blut zuführen, und dass noch dazu dies Blut wohl stark beladen ist mit den Stoffen, welche zur Verarbeitung in der Leber 1)estimmt sind. Die in den Zwischenzeiten zwischen den Verdauungsperioden langsam abgesonderte Galle fliesst nicht stetig in den Darmkanal ab, sondern wird in dem als Gallenblase bekannten, an den Ausführungsgang seitlich an- gehäugten Behälter gesammelt, um zur Zeit der Dünndarmverdauung in diesen ergossen zu werden. Die Leber vermag nicht wie die Speicheldrüse (siehe S. 304) ihr Secret mit grosser Gewalt hervorzutreiben. Lässt man dem Gallenstrom den Dru('k einer Wassersäule von nur 200""" Höhe entgegenwirken, so steht er nicht nur still, sondern es strömt umgekehrt Wasser in die 318 Function der Milz. Leber ein, das ohne Zweifel in die Blntmasse des Thieres übergeht. Der Mechanismus der G-allensecretion zeigt sich auch hierdurch grundver- schieden von dem der Speichelsecretion, den wir in augenfälliger Weise vom Nerveneinfiuss abhängig fanden. Bei der Gallenabsonderuug, welche ziemlich unabhängig von will- kürlichen oder reflectorischen Erregungen im Nervensystem stetig fort- geht, hat auch die Frage Berechtigung, wie viel Galle durchschnittlich im Laufe eines Tages abgesondert wird. Dahin zielende Bestimmungen sind mehrfach an Hunden mit Gallenblasenfistelu gemacht worden, und man darf nach denselben annehmen, dass bei einem mit Fleisch ordentlich ge- fütterten Hunde für jedes Kilogramm Körpergewicht wohl etwa 20»'' Galle mit etwas unter l^'' festem Rückstand abgesondert werden. Bei weniger reichlicher Nahrung wird weniger Galle abgesondert. Aehuliche Verhält- nisse dürften wohl auch beim Menschen Geltung haben. V. Milz. An die Betrachtung der Leberthätigkeit kann füglich als Anhang die der Milzfunction angeschlossen werden, da sie zu jener in naher Be- ziehung steht. Diese findet darin ihren sichtbaren Ausdruck, dass die uBna Uenalis eine Hauptwurzel der Pfortader bildet. Wir dürfen also ver- muthen, dass die Veränderungen, welche das Blut in der Milz erleidet, die Bestimmung haben, die Verrichtungen der Leber zu begünstigen. Dass in der Milz überhaupt das Blut verändert werde, ist schon aus dem Bau dieses Organes zu vermuthen. Der Blutstrom ist nämlich in dem- selben in noch höherem Maasse als in der Leber auf ein seeartig erweitertes Bett ausgebreitet, so dass er ungemein langsam fliessen muss. Einge- lagert sind in die Blutbahnen der Milz Massen von Zellen, die — wie es scheint — in lebhafter Vegetation begriffen sind. Man kann also das physiologisch Wesentliche am Baue der Milz dahin zusammenfassen: In ihr sickert das Blut langsam zwischen leibhaft vegetirendeu Zellen hindurch. Daher wird es Bestaudtheile zu ihrer Vegetation hergeben und die Producte derselben, resp. die Trümmer zerfallener Zellen, in sich auf- nehmen müssen. Auch ist denkbar, dass das Blut von den Zellenhaufen der Milzpulpa ganze Zellen wegspült, die durch neugebildete ersetzt werden. Dass in der Milz das Blut wirklich bedeutende Veränderungen im Sinne der vorstehenden Betrachtungen erleidet, lehrt die Vergleichung des Milzarterien- und des Milzvenenblutes. Während das erstere, wie das arterielle Blut überall, auf mehr als 1000 rothe nur ein farbloses Blut- körperchen enthält, findet man im Milzvenenblute ein farbloses Körper- chen auf weniger als 100 farbige. Wahrscheinlich rührt diese Aenderung Düniularinsecietion. 319 des Verhältnisses sovvolil von Zerslörnng farbiger Zellen in der Milz her, als anch von der Nenljildnng farbloser, die der Blutstrom mit fortnimmt. Besonders beweisend in dieser Riclitnng ist die unter dem Namen der „Leukämie" bekannte Krankheit. Bei ihr herrschen die farblosen Kör- perchen im Blute dergestalt vor, dass es ein weissliches Ausehen an- nimmt, und die Milz ist enorm vergrössert, oder wenn das Letztere nicht der Fall ist. so zeigen sich die Lymphdrüseu, welche ja el)enfalls als Brut- stätten farbloser Blutkörperchen anzusehen sind, geschwollen. Die rothen Körperchen des Milzvenenblutes zeigen häufig abweichende Formen, welche dahin zu deuten sind, dass man theils eben entstandene oder umgekehrt in der Zerstörung begriffene Gebilde vor sich hat. Endlieh ist das Milzvenenljlut wie der Milzsaft reich an Bestandtheilen, welche, wie Leucin. Harnsäure etc.. als Zersetzungsproducte eiweissartiger Körper angesehen werden müssen. Auch soll das Serum des Milzvenenljlutes von gelöstem Hämoglobin stark röthlich gefärbt sein, was auf Zerstörung rother Blutkörperchen in diesem Organe deutet. Es liefert also der Leber einen Theil des Materiales zur ]3ildung des Bilirubins. Von der Bedeutung der Milz, als einer der Stätten, wo andererseits weisse Blutkörperchen in rothe verwandelt werden, ist oben (siehe S. 227) schon die Rede gewesen. VI. Darnidrüseii. Im ganzen Verlaufe des Dünndarmes ist die Schleimhaut besetzt mit kleinen, etwa 0.5"'"' langen und sehr dünnen schlauchförmigen Drüsen, welche zusanmien ein ansehnliches Secretionsorgan liilden. Um das Secret desselben möglichst rein zu erhalten, muss man ein Dünndarmstück am einen Ende schliessen und das andere P]nde desselben in die Bauchwunde einheilen, während es durch sein Meseuterialstück noch in normaler Ver- bindung mit dem Gefäss- und Nervensystem bleibt. Ausserdem muss die Continuität des Darmkanales durch Zusammenheilen der Enden, zwischen denen das Stück herausgeschnitten ist, wieder hergestellt werden. Wenn die Operationen vollständig gelungen sind, kann das Thier Jahre lang am Lelien ))leiben, und man kann an dem Ijlindsackartigen Darmstück von der Fistelöffnung aus die Thätigkeit der Schleimhaut untersuchen. Man hat an solchen Darmfisteln beoljachtet, dass die schlauchförmigen Drüsen von selbst nicht secerniren, sondern erst, wenn die Schleimhaut mechanisch, chemisch oder elektrisch gereizt wird. Besonders wirksam sind als chemische lieize verdünnte Säuren. Ein etwa 30D'=™ Oberfläche haltendes Darmstück eines Hundes lieferte so gereizt in einer Stunde 4 S'''' Saft. Hiernach wäre man l)erechtigt, anzunehmen, dass der ganze Dünndarm eines Hundes während (uner Verdauungszeit von 5 Stunden etwa 360f'''' Saft liefern könnte. 320 Sohweissabsonderung Der so gewonnene Darmsaft reagirt alkalisch und enthält etwa 2,57o festen Rückstand ; davon ist beilänfig V3 Eiweiss, '/g andere organische Stoffe und Vs feuerfeste Salze, 3, Capitel. Secretionen an die äussere Körperoberfläche. I. Scliweissdrttseii. In den tieferen Schichten des Hautgewebes und stellenweise imünter- hautzellgewebe liegen überall zerstreut die kiiäuelförmigen „Schweiss- drüsen". Ihr Durchmesser beträgt im Mittel 0,3 bis 0,4»"™ an einigen Stellen aber — namentlich in der Achselhöhle — steigt er bis auf mehrere Millimeter. Alle Drüsen zusammen bilden ein ansehnliches Volum, das ohne Zweifel dem Volum einer Niere mindestens gleichkommt. Das Secret der Schweissdrüsen wird in einem die Epidermis durchbohren- den Ausführungsgang an die Hautoberfläche geführt. Es scheint nicht immer dieselbe Flüssigkeit zu sein, welche von den Schweissdrüsen ge- liefert wird. Bald sieht man aus den Oeffuungen der Ausführungsgänge ganz deutlich jene wässerige Flüssigkeit in feinen Tröpfchen hervortreten, welche man auch im gemeinen Leben als Schweiss bezeichnet, bald kann man mit Bestimmtheit Fetttröpfchen an jenen Oeffnungen nachweisen, auch gibt es im äusseren Gehörgange Knäueldrüsen, die sogenannten Ohrenschmalzdrusen, die sonst in ihrem Baue mit den Schweissdrüsen vollkommen übereinstimmen und die entschieden ein fettiges Secret liefern. Als wesentliches Hauptproduct der Schweissdrüsen muss indessen jene wässerige Flüssigkeit angesehen werden, deren Absonderung und Eigen- schaften jetzt genauer zu untersuchen sind. Die absondernde Thätigkeit der Schweissdrüsen ist keine ununter- brochene. Die normalen Bedingungen ihres Zustandekommens sind er- höhte Hauttemperatur und wässerige Beschaffenheit des Blutes. Sind diese in hohem Maasse erfüllt, durch reichliche Aufnahme von Getränken und Erwärmung der flaut auf irgend eine Art, dann kann die Secretion eine ausserordentlich profuse werden. So hat man in 1 '/.2 Stunden über 2000 ''"'' Schweiss von einem Menschen erhalten. Bisweilen kann die Thätigkeit der Schweissdrüsen auch ohne Ver- dünnung des Blutes und Temperatursteigerung angeregt werden. Nament- lich sind es Störungen in der Function des Sympathicus, welche oft locale sogenannte „kalte" Schweisse hervorrufen. Pferde schwitzen sofort ein- seitig an Hals und Kopf, sowie man ihnen den Sympathicus durchschneidet. Diese meist längst bekannten und zum Theil am eigenen Körper leicht zu beobachtenden Thatsachen deuten darauf, dass die secernirenden Schwcisssecretion auf Neivenieiziing'. 321 Zellen der Schweissdrüsen in ähnlicher Weise direct nuter dem Einflüsse des Nervensystems stehen wie die der Speicheldrüsen, Es ist aber in neuester Zeit gelungen, dies ganz direct experimentell zu 1)eweisen. Ein besonders günstiges Object für die entscheidenden Versuche sind die Pfoten junger Katzen. Man sieht an ihrer Plantarseite sofort Schweiss austreten, sowie der n. isch'.adicus gereizt wird. Diese Absonderung auf Nervenreiz kann auch bei unterbundenen Arterien der Pfote eintreten, doch dauert sie dann nur kurze Zeit, offenl)ar weil die Drüsenzellen bald ersticken. Weitere Zergliederung der Erscheinuugen hat ergeben, dass die secretorischen Nervenfasern, welche hier eine durchaus analoge Kolle spielen wie gewisse Fasern der chorda tympani bei der Secretion der ünterkieferspeicheldrüse, dem n. ischtadicus von Seiten des Bauch- sympathicus beigemischt werden. Ihre nächste Centralstelle hal)en sie im unteren Theile des Rückenmarkes, wo sie reflectorisch und automa- tisch erregt werden können. Unter den Reizen, welche an Ort und Stelle zu automatischer Erregung dieser Schweissabsonderungsceutra Anlass geben können, stehen obenan hohe Temperatur und stark venöse Be- schaffenheit des Blutes. Es ist kein Grund vorhanden, anzunehmen, dass sich diese Dinge beim Menschen wesentlich anders verhalten. Die an der Hautoberfläche befindliche Feuchtigkeit röthet meist Lackmuspapier. Diese saure Reaction rührt indessen nur von zersetzten Fetten her, denn das reine Secret der Schweissdrüsen reagirt nachweislich schwach alkalisch. Um den Schweiss zur Untersuchung seiner quantitativen Zusammen- setzung zu gewinnen, kann man verschiedene Wege einschlagen. Man kann ihn mit sehr reinen gewogenen Schwämmen von der schwitzenden Haut abwischen und die Schwämme nachher auswaschen, so dass im Waschwasser die Bestandtheile des Schweisses gefunden werden. Man kann zweitens eine schwitzende Extremität in einen Kautschukbeutel ein- hüllen und den Schweiss in ein daran angehängtes Fläschchen laufen lassen. Endlich kann man einen gauzeu schwitzenden Menschen in einem mit Wasserdampf gesättigten Räume auf eine Metallrinne legen, von welcher der Schweiss alsdann in grosser Menge abläuft. Die Analyse einer auf diese Weise gewonnenen Schweissmenge ist als Beispiel in nachstehender Tabelle verzeichnet. Wasser 995,573 Harnstoff 0,044 Fette 0,013 Andere organische Stoffe , . 1,884 Chlornatrium 2,230 Fick, Physiologie. 3. Aufi. 21 322 Zusammensetzung des Scliweisses. Hauttalg. Chlorkalinm 0,244 Ealisiüphat 0,011 Natron und Erdphospate . . Spur, Hier zeigt sich, der Schweiss als fast reines Wasser mit weniger als 1/2 7o festen Stoffen, von denen die Salze, namentlich Kochsalz, mehr als die Hälfte betragen. In manchen anderen Angaben erseheint der Schweiss reicher an festen Stoffen (bis zu 2^/0 enthaltend), doch beruhen diese auf Untersuchung kleinerer Mengen, wo jeder Fehler, namentlich die Ver- dunstung von Wasser während des Sammeins, von grösserem Einfluss ist. Die Verhältnisse der obigen Tabelle sind daher wahrscheinlich für reichlich abgesonderten Schweiss massgebend. Vom Staudpunkte des Gesammthaushaltes des thierischen Körpers wäre somit die Schweiss- absonderung wesentlich als ein Ausscheiduugsweg von Wasser und allen- falls von Kochsalz anzusehen. Die übrigen Schweissbestandtheile, nament- lich der Harnstoff, dessen Anwesenheit in kleinen Mengen ausser Zweifel ist, können als Posten in der Haushaltsbilanz kaum in Betracht kommen. Das Wasser des Schweisses ist übrigens keineswegs das einzige durch die Haut ausgeschiedene Wasser. Vielmehr geht, wenigstens bei warmer und trockener Luft, sicher auch noch Wasser durch Verdunstung von der Epidermis fort. II. Hauttalgdrüsen. Eine ähnliche Verbreitung wie die Schweissdrüsen haben die soge- nannten Talgdrüsen, kleine birnförmige oder traubenförmige Gebilde, deren grösste Abmessung noch nicht 1™™ erreicht. Die überwiegende Mehrzahl derselben mündet in die Haarbälge aus. Ihr Hohlraum ist ausgekleidet mit Zellen, welche als modificirte Oberhautepithelzellen anzusehen sind und angefüllt mit einer krümlichen Masse, welche zahlreiche Fettpartikelcheu zeigt. Der Mechanismus der Absonderung dieser Drüsen ist hiernach offenbar folgender: Im Grunde der Drüsenbläschen werden fortwährend neue Zellen erzeugt, und nach Massgabe dieser Neuerzeugung verfallen die älteren Zellen einem eigen- thümlichen Processe, welcher zuerst bei pathologischen Vorgängen studirt worden ist, und den man als fettige Degeneration bezeichnet hat. Es treten nämlich im Protoplasma der Zelle zahlreiche kleine Fetttröpfchen auf, und zwar als Zersetzungcproducte von eiweissartigen Bestandtheileu. Während dessen schwindet der Kern, und die ganze Zelle zerfällt zuletzt in eine grossestheils aus Fett bestehende krümliche Masse. Bei den Talg- drüsen wird diese Masse ganz allmälig durch die immer neu entstehende nachrückende aus dem Ausführungsgange hervorgepresst. Sie verbreitet Milchsecretion. 323 sich au der Oberfläche des Haares, hält dasselbe geschmeidig und schützt es vor Durchfeuchtung. Höchst wahrscheiulich geht die Hauttalgaljsonderung während des ganzen Lebens ihren gleichmässigen, sehr langsamen Schritt, ohne dass jemals nervöse Einflüsse darauf ausgeübt werden. III. Milchdrüsen. Der Hautfettabsonderung in einigen wesentlichen Punkten ganz analog geschieht die Milchabsonderung. Auch bei dieser haben wir es mit einer fettigen Degeneration von Drüsenzellen oder wenigstens der ins Lumen der Acini hineinragenden T heile der Drüseuzelleu zu thun, deren Product als Secret zu Tage tritt. Während aber bei den Talgdrüsen die Trümmer der fettig entarteten Zellen das ganze Secret ausmachen, kommt bei der Milch eine grosse Menge von Flüssigkeit hinzu, in welcher die Zelleutrtimmer aufgeschlemmt erscheinen. Dieser Auffassung des Mecha- nismus entspricht das Ausehen der Milch mit blossem Auge sowohl, als unter dem Mikroskope. Sie ist nämlich — wie bekannt — eine wässerige Lösung von verschiedenen Stoffen, in welcher ausserordentlich feine Fett- partikelchen suspendirt sind. Dass diese Fetttröpfchen aus fettig degene- rirten Zellen stammen, ist dadurch zu beweisen, dass man öfters in der Milch noch ganze, mit Fettkügelcheu vollgepfropfte Zellenreste antrifft, die noch nicht zerfallen sind. Diese Gebilde kommen besonders zahlreich vor in dem sogenannten Colostrum, d. h. in der während der letzten Schwaugerschaftstage abgesonderten Milch, man nennt sie daher Colostrum- kugeln. Die Milchflüssigkeit, in welcher die Fettkügelcheu schwimmen, ist übrigens nicht etwa ein blosses Bluttranssudat. Dagegen spricht ihre Zusammensetzung, namentlich ihr geringer Gehalt an Chlornatrium. Sie muss vielmehr auch durch besondere Eigenschaften der Zellen heran- gezogenes und verarljeitetes Material sein. Wenn die verstehende Auffassung vom Mechanismus der Milch- secretion richtig ist, dann muss das Milchfett nicht als solches in die Drüse gelangen, sondern es muss als Zersetzungsproduct eiweissartiger Stoffe entstanden sein. Es spricht hiefür schon der Umstand, dass bei den meisten Thieren, wo man exacte Beol)achtungen hierüber angestellt hat, der Fettreichthum der Milch nicht gesteigert wird durch reichliche Fett- zufuhr, Avohl aber durch reichliche Eiweisszufuhr in der Nahrung. Man hat aber auch ganz direct gezeigt, dass möglicherweise mehr Fett in der Milch ausgeschieden wird, als in der Nahrung aufgenommen wurde. So z. B. wurde einmal eine säugende Hündin 22 Tage lang mit magerem Pferdefleisch gefüttert, und darin waren allerhöchstens SöOs'' Fett ge- wesen ; in der Milch aber hatte die Hündin während dieser 22 Tage aller- 21* 324 Eiweisskörper der Milch. mindestens 486s'" Fett ansgegeljen. Es musste also Milchfett aus eiweiss- artigen Stoffen innerhallj des Körpers entstanden sein. Wenn dies ein- mal feststellt, so ist es am natürlichsten, anzunehmen, dass das Fett der Milch überhaupt erst indenDrüsenzellen selbst aus Eiweisskörpern entsteht. Neben dem Fette enthält die Milch noch einen stickstofffreien Be- standtheil in Lösung, nämlich eine Zuckerart, die eben wegen ihres Vor- kommens in der Milch als Milchzucker bezeichnet wird. Auch dieser Stoff ist sehr wahrscheinlich ein Zersetzungsproduct eiweissartiger Stoffe. Wenigstens steht so viel fest, dass die Zufuhr von Kohlehydraten durch die Nahrung auf den Zuckergehalt der Milch ohne allen Einfluss ist, dass nur reichliche Eiweissnahrung im Stande ist, den Zuckerreichthum der Milch, wie den Fettreichthum derselben zu erhöhen. Ferner enthält die Milch eiweissartige Körper, und zwar zwei Modi- ficationen, erstens nämlich gelöstes, durch Hitze gerinnbares gewöhnliches Eiweiss, das sich von gewöhnlichem Hühnereiweiss und dem Eiweiss des Blutserums nicht merklich unterscheidet. Daneben ist ein anderer Eiweiss- körper in der Milch, den man als Casein bezeichnet hat und der nach einigen Autoren mit dem sogenannten Kalialbuminat ganz identisch ist. Das Casein ist bei der natürlichen alkalischen Eeaction der Milch durch Kochen nicht gerinnbar. Es gerinnt auch bei neutraler und ganz schwach saurer Eeaction noch nicht beim Erhitzen. Dagegen gerinnt es auch schon in der Kälte durch stärkeres Ansäuern. Auf diese Ursache bezieht man auch die bekannte spontane Gerinnung der Milch, indem unter dem Einfliisse von Fermenten ein Theil des Milchzuckers in Milchsäure ver- wandelt wird. Man könnte aber darin wohl auch eine directe Wirkung des Fermentes auf das Casein sehen. Dass nämlich das Milchcasein durch Fermente zum Gerinnen gebracht werden kann, ergibt sich aus der be- kannten Thatsache der Milchgerinnung durch Magensaft, die stattfinden kann, ohne dass hinlängliche Säuremengen zugegen sind, um das Casein chemisch niederzuschlagen. Man findet in der Milch um so mehr durch Hitze gerinnbares Eiweiss, je frischer sie aus der Drüse kommt. Daraus ist zu schliessen, dass ein Theil des Caseins erst nachträglich in der abgesonderten Milch durch Umänderung gewöhnliches Eiweisses entsteht. Von solchem finden sich übrigens in Milch, welche auch nur kurze Zeit ausserhalb der Drüsen ver- weilt hat, stets nur sehr geringe Mengen. Ausser den genannten organischen Verbindungen sind in der Milch noch Salze enthalten. Von der quantitativen Zusammensetzung der Milch mag nachstehende Tabelle eiu Beispiel geben. Neben eine Analyse der Menschenmilch ist noch eine Analyse der Kuhmilch gestellt. Die Ver- Zusammensetzung der Milch. 325 gleichling beider ist von praktischem Interesse für die künstliche Er- nährung der Säuglinge. Menschenmilch Kuhmilch Wasser . 88,908 85,705 Casein . . . . 3,924 4,828 Albumin . . . — 0,575 Fett . . . . 2,666 4,305 Zucker . . . 4,364 5,037 Salze . . . 0,138 0,548 Bemerkenswerth ist die Zusammensetzung der Milchasche. Als Bei- spiel mag folgende Analyse dienen : Kali .... 31,6 Kalk .... 18,8 Chlor .... 19,1 Phosphorsäure . 19,1 Natron . . . 4,2 Magnesia . . 0,9 Eisenoxyd . . 0,1 Schwefelsäure . 2,6 Es fällt vor Allem die ausserordentlich kleine Natronmenge auf. Bei allen eigentlichen Bluttranssudaten besteht wie beim Blutserum selbst mindestens die Hälfte der Salze aus Chlornatrium : auch enthalten sie überall mehr Salze als die Milch. Die Milchsecretion ist keine von den zum normalen Leben wesent- lich gehörigen Functionen, denn erstens findet sie — abgesehen von einigen selten beobachteten Ausnahmefällen — nur beim weiblichen Ge- schlechte statt und dann auch hier nur zu gewissen Zeiten, nämlich nach einer Geburt, einige Monate lang. Ob die Milchsecretion unter nervösem Einflüsse steht, ist noch nicht festgestellt. Manches spricht dafür, z. B., dass die häufige Entleerung der Drüse durch den Säugling anregend auf die Secretion wirkt, doch hat man bei Ziegen nach Durchschneidung aller zur Milchdrüse gehenden Nerven die Secretion unverändert ihren Gang gehen sehen. Die im Laufe von 24'' ausgeschiedene Milch beider Brust- drüsen kann über 1 300 ß' betragen. IV. Tliräneiidrusen. Die Thränenabsonderung steht unter dum nii mittelbarsten Einflüsse der Nerven, in ähnlicher Weise wie die Speichelabsonderung. Die Möglich- 326 Thränenflüssigkeit. keit ist anatomisch ausser Zweifel, da bekanntlich ein verhältnissmässig ansehnlicher Zweig des I. Trigemini in die Drüse verfolgbar ist. Die Behauptung wird aber über allen Zweifel erhoben durch viele alltägliche Erfahrungen. Vor Allem weiss man, dass die Thränensecretion durch leidenschaftliche Seelenzustände so beschleunigt werden kann, dass das gebildete Secret nicht mehr durch den Eesorptionsapparat nach der Nase abgeleitet werden kann, sondern über die Augenlidränder tropfenweise hervortritt. Auch auf reflectorischem Wege kann die Thränenabsonderung beschleunigt werden. Die Eingangsstelleu für Eeize, die auf die Thränen- drüse reflectirt werden können, sind die Oberfläche der Conjunctiva, die innere Nasenfläche und der Sehnerv. Was die chemische Natur der Thränenflüssigkeit betrifft, so steht auch sie der des Speichels sehr nahe. Sie enthält etwa 0,8 — 0,9 "/ü fester Bestandtheile in Wasser gelöst, etwas mehr als die Hälfte davon, nämlich 0,42 — 0,54 o/u des Ganzen, sind feuerbeständige Salze, vorzugsweise Chlor- natrium und geringe Mengen phosphorsaurer Alkalien und Erden. Der ver- brennliche Best der festen Stoffe besteht aus einem nicht näher gekannten eiweissartigen Stoffe nebst Schleim und Spuren von Fett, die wohl von den Epithelien der Ausführungsgänge stammen. Die Ausführungsgänge der Thränendrüse münden bekanntlich in der Conjunctivafalte unter dem oberen Augenlide und ergiessen das Secret an die äussere Fläche des Augapfels, wo es zur Feuchterhaltung desselben dient. Der nicht verdunstete Theil der Flüssigkeit wird durch einen eigenthümlichen, pnmpenartig wirkenden Apparat nach der Nase befördert. Der Mechanismus durch welchen dies geschieht ist schon bei Beschreibung der Schutzorgane des Auges erörtert worden (siehe S. 222). V. Niere. Die wichtigste excrementitielle Secretiou ist die des Harnes durch die Nieren. Der Mechanismus dieser merkwürdigen Absonderung ist zum Theil wenigstens verständlich aus dem Bau des Organes. Der Aus- führungsgang der Drüse, der im sogenannten Nierenbecken sehr erweitert ist, verzweigt sich ins Innere zu feinen Kanälchen, den sogenannten Harn- kanälchen (Fig. 42). Jedes derselben endigt nach mannigfachen weiteren Verzweigungen (ZZ). schlingenförmigen Umbiegungen (SS) und er- weiterten Windungen (WW) im Eindentheil der Niere blind in einem kleinen Bläschen (MM). In jedes solche endständige Bläschen tritt ein feinstes Zweiglein der arteria renalis, ein sogenanntes vas afferens (aa). Die Verzweigungen desselben erfüllen in knäuelförmiger Verwickelung fast die ganze Kapsel und sammeln sich dann wieder zum ausführenden Gefässe, dem sogenannten vas efferens (ee). Man nennt diesen eigen- Bau der Niere. 327 r^" thümlichen Gefässapparat den „Glomerulus". Von Wichtigkeit scheint noch die besondere Anordnung der Gefässe im Glomeruliis ; die Verzwei- gungen des vas afferem liegen nämlich unmittelbar an der Wand der Kapsel, während das vas efferens durch radialen Zusammentiuss aus der Mitte entspringt (siehe Fig. 43). Hierdurch wird es ver- hütet, dass die Anfüllung der Arterien nicht etwa die abführenden Gefässe gegen die Wand der Capsel comprimirt und so das Blut sich selbst den Weg sperrt. Die vasa eßerentia Yeriw eigen sich dann noch weiter und bilden so erst das eigentliche Capillargefässnetz der Niere, welches die vorerwähnten Harnkanälchen umspinnt und aus welchem dieWurzeln der Nieren- vene hervorgehen. Im Glomerus haben wir offenbar einen eigentlichen Filtrirapparat vor uns, wie er in keiner andern Drüse gefunden wird. Hier nämlich ist jedes Flüssigkeitstheil- chen. welches durch den Blutdruck aus den Gefässen ausgepresst wird, schon im Binnenraume des Drüsenganges, da eben dasGefäss in diesen Binneuraum einge- stülpt ist. Bei allen anderen Drüsen ist ein aus den Gefässen ausfiltrirendesTheil- chen zunächst erst in den die Drüsengänge umgebenden Gewebelücken, und es muss noch eine andere Kraft hinzu- kommen, um das flüssige Theilchen in den Drüsengang her- einzuziehen. Hier im Glomerulus der Niere treibt der Blut- druck unmittelbar Flüssigkeit aus dem Gefässinnern in den Drüsengang. Wenn es richtig ist, dass die einfache Filtration bei der Harnsecretion eine wesentliche Kolle spielt, dann muss dieselbe vom Drucke des Blutes abhängig sein. Dies ist wirklich beobachtet worden. Sowie der Blutdruck unter einen gewissen Werth von beiläufig etwa 50""" Quecksilber herabsinkt, steht die Harnal)Sonderiing still. Sie unterscheidet sich hiedurch sehr auffallend von der Speichelabsonderung, die, wofern nur die Nerven im Erregungszustande sind, ohne all!4,0 270,9" 2,75 2,17 19,47 17,35 2,12 920,6 1792.3 2712,9 13,71 7,19 663.10 23,9 18,1 5,0 3197,6 2189,5 275,7 4,92 243,30 248,22 19,47 684,00 1946,20 2630 20 24,0 = 248,3 H 1946,20 Differenz +145,1 +39,8 +22,7 0,00 +82,7 —0,1 Die erste Spalte giebt neben den Benennungen die rohen Gewichte der bezeichneten eingenommenen und ausgegebenen Körper in Grammen. Die unterste, als Differenz bezeichnete Zahl + 145,1 der Spalte giebt den Ueberschuss der Einnahmen über die Ausgaben, welcher als Uebersehuss des schliesslichen Körpergewichtes über das anfängliche Körpergewicht direct beobachtet worden ist. Die zweite Spalte giebt den Wassergehalt der einzelnen Einnahme- und Ausgabeposten, welcher in kleinen Proben derselben Ijestimmt werden kann. Die Differenz der Zahlen der ersten und zweiten Spalte giebt also den Gehalt der betreffenden Körper an festem Kückstaude, nur beim Ausgabeposten „Kespiration" ist diese Differenz die gasförmig ausgeschiedene Kohlensäure. Diese Differenz ist nun, nach Massgabe von Elementaranalysen der einzelnen Körper, auf die folgenden fünf Spalten vertheilt, deren üeberschriften Kohlenstoff (C), Wasserstoff (H), Stickstoff' (N), Sauerstoff (0) und Asche sind. Auf den kleinen Schwefel- und Phosphorgehalt mancher Körper ist nicht besondere Kücksicht genommen. In der zweiten Spalte sind noch umrahmt die Wasserstoff- und Sauerstoffmengen angegelicn, aus welchen das gesammte eingenommene und das gesammte ausgegebene Wasser besteht. Diese Zahlen sind dann in die Elementarspalten H iin;irms 355 Pfortader 310 Pfortaderäste 407 Phosphate des Harns 333 Placenta foetalis 396 — uterina 397 Plasma des Blutes .... 223, 228 Pleura 273 Pleuroperitonealspalte 393 Primärstellung des Augapfels . . 212 Primitivrinne 390 Primitivstreifen 390 Primordialschädel 401 Processus vocalis 71 — stylohyoideus 402 Projectionssysteme 127 Protoplasma 5 Protoplasma der Ganglienzelle . 98 Prüfung des Ortssinnes .... 142 Ptyalin 306 Pulswelle 249 Pumpwerke 246 Pupille 167, 186 Purpur 200 Pylorus 352 Qualitäten der Empfindung . . . 131 Qualitäten des Geruches .... 150 Quecksilbermanometer .... 247 Quellung des Stärkemehls . . . 347 Quere Durchströmung des Nerven 8G R. Kachenhaut 400 Piachenhöhle 405 Kaddrehungswinkel des Auges . . 212 Eauber'sche Deckzellen .... 391 Reaction des Harns 334 Recessus labyrinthi 403 Reflexbewegung 111 Seite Reflexbildchen des Auges . . . 181 Reflexe im Athemcentrum . . . 294 Reflexe vom Hirn 119 Regio olfactoria 149 Regulirung der Wärmeabgabe . . 373 Reibungsgeräusche als Sprachlaute 77 Reitbahnbewegung 122 Reizbarkeit der Ganglienzelle . . 98 Reizbarkeit der Nervenfaser . . 82 Reizbarkeit des Muskels .... 12 Reize derHemmungsfasern desVagus 262 Reize der Nervenfaser 88 Reize der Samenfäden 326 Reize des Muskels 19 Reserveluft 279 Resonanten als Sprachlaute ... 77 Resonanz 157 Resonanz des Mundraehenraumes . 69 Resorption 357 Respirationsluft 279 Resultante der Muskelspannungen 53 Retina 403 Retinalpigment 403 Richtungskörperchen 389 Richtungsstralil 170, 208 Rippen 401 Rohrzucker 379 Rothe Blutkörperchen 224 Rothe Blutkörperchen in der Milz zerstört 319 Rückenfurche 392 Rückenmark HO, 402 Rückenwülste 392 Rückläufige Empfindlichkeit . . 110 Rückständige Luft 279 Rundes Fenster 154 s. SacharificirendeWirkungd. Speichels 347 Salziger Geschmack 146 Same 335 Samenblase 410 Samenfäden 335, 389 Sattelgelenke 46 Sättigung der Farben 199 Säuren des Harns 334 Säuren, organische . . . . . . 380 Saurer Geschmack 146 '27* 420 Begister. Seite Scala tympani 155 — vestibuU 155 Schafwasser 396 Schauder 133 Scheiner's Versuch 175 Schema der Athemnerven . . . 298 Schema der Gefässinnervation . . 269 Schema der Eeflexhahnen imEücken- marke 112 Schema des Blutgefässsystems . . 238 Schema des ganzen Nervensystems 120 126, 127. Sehematisches Auge 170 Schichten der Netzhaut .... 198 Schiefeinfallende Strahlenbündel . 177 Schleifgelenke 43 Schleimdrüsen 404 Schliessungstetanus 85 Schlingen 346 Schmelz 404 Schmelzkeim 404 Schmerzempfindung 133 Schnecke 403 Schraubengelenke 44 Schritt 63 Schrittdauer ........ 64 Schrittlänge 64 Sehutzorgane des Auges .... 221 Schwanzkappe 394 Schwanzscheide des Amnion . . 395 Schweissanalyse 321 Schweissdrüsen 320, 404 Sclera 403 Scrotum 410 Secretion 300 Secundäre Zuckung 103 Secuudärer Tetanus 103 Segmentalbläschen 409 Sehen 207 Sehen, Definition 165 Sehhügel 402 Sehnerv, Einpflanzung im Mittelhirn 122 Seitenplatten 392 Seitenscheiden des Amnion . . . 395 Seitenstränge des Eückenmarkes . 115 Sensible Centra der Hirnrinde . . 125 Sensible Nervenfaser ..... 94 Septum nariuin 401 Seite Septum ventriculorum .... 405 Seröse Hülle 396 Serum des Blutes 228 Sexualtheil der Urniere .... 410 Sinnesnerven 130 Sinneswerkzeug ....... 130 Sinus urogenitalis 404 Sopranstimme 70 Spannknorpel 72 Spanmmg der Stimmbänder ... 67 Spannung des Muskels .... 13 Specifische Energien der Sinne . 132 Speicheldrüsen 303, 404 Speise 345 Spermakern 389 SpMncter pupillae 167 Sphygmograph 252 Sprache 66, 73 Stäbchen der Netzhaut .... 207 Stammzone 392 Stärke 379. Stärke des Lymphstromes . . . 256 Stärkemehl 347 Staub in der Athemluft . . . . 286 Stearinsäure 380 Stehen, aufrechtes 56 Steigbügel 153, 402 Stenson's Versuch ...... 118 Sternum 401 Stimmbänder 66 Stimme 66 Stirnfortsatz- 400 Stoffwechsel 361 Streifenhügel . 402 Stroma der Blutkörperchen . . . 224 Stromschwankung, elektrische, als Nervenreiz 85 Sulphate des Harns 333 Süsser Geschmack 146 Sympathicus 402 Symphysen 39 T. Talgdrüsen 322, 404 Tastkörperchen 136 Tastsinn. 135 Taurocholsäure 315 Temperatur des Körpers .... 372 Register. 421 Seite Temperatursinn 139 Tenorstimme 70 Tetanus des Muskels 20 Tetanus, secundärer 103 Thermische Eeizung der Nervenfaser 84 Thierische Wärme 368 Thränendrüse 325 Thränenleitung zur Nase .... 222 Thränenpumpe 326 Thymus 405 Thyreoidea 405 Timbre der Klänge .... 157, 159 Todesstarre des Muskels .... 33 Tonerzeugung im Kehlkopf ... 66 Tonhöhe der Stimme 67 Tonus im Nervensystem .... 129 Trachea 405 Trägheit des Drucksinnes . . . 138 Trägheit des Netzhautapparates . 206 Traubenzucker 310, 379 Treibende Kraft des Blutstromes . 241 Tripalmitin 381 Trommelfell 403 Truncus arteriosus 406 Truncus li/mphaticus dexter . . 235 Trypsin 353 Tuba Eustachii 152, 403 Tuben 410 Tunica retina 167 — sderotica '. . 167 — Uvea 167 u. Umbilicalveneu 406 Umwandlung der weissen Blutkör- perchen in rothe 227 Undeutlichkeit der Bilder im Auge 174 Unterkieferfortsatz 400 Unterscheidung von Gewichten . 138 Urachus 408 Ureter 409 Urniere 409 Urnierengang 393 Urnierentheil der Urniere . . . 409 Urwirbel 392 Urwirbelplatten 392 Uterus 410 Uterus masculinus 410 Seite V. Vagina 410 Vagusäste zum Herzen . . . . 261 Vusa afferent ia der Nierenglome- ruli 327 Vasa efferentia derNierenglomeruli 327 Vas deferens . .' 410 Vater'sche Körperehen 135 Vegetabilische Nahrungsmittel . . 343 Vegetative Thätigkeiten .... 223 Vena anonyma 408 — azygos 407 — Cava inferior 407 — — superior 408 — hemiazi/yos 407 — mesenterica 406 — subclavia 408 Venae advehentes 407 — cardinales 407 — jugulares 407 — omphalomesentericae .... 398 — revehentes 407 Venen 238 Venenklappen 254 Venenresorption 357 Venöses Blut 233 Ventile 245 Verbrennung im Muskel .... 30 Verdauung 345 Verdickung der Muskelfaser bei der Zuckung 27 Vereinigungshaut, obere .... 401 Vereinigungshaut, untere .... 400 Verengerung des Brustraumes . . 274 Verlängertes Mark 122 Verschlusslaute 77 Vesicula prostatica 410 Vierhügel 122, 402 Virtuelle Bilder 168 Visceralbögen 400 Visceralspalten 400 Vitale Capacität 279 Vocale 74 Vorderdarm 404 Vorderhirn 402 Vorhof des Ohres 123 Vorhofsäckchen 403 422 Kegister. Seite w. Wärmeabgabe 372 Wärme des Thierkörpers 368 Wärmeentwickelung im Muskel . 27 Wärmegefühl 136 Wärmereiz des Muskels .... 22 Wasser als Nahrungsstoiff . . . 340 Wasserausscheidung durch Haut . 287 Wasserausscheidung durch Lunge 286 Wässerige Feuchtigkeit des Auges 167 Weisse Blutkörperchen .... 241 Wendungswinkel des Blickes . . 212 Widerstand der Luft beim Gehen 66 Willkür, bewusste 124 Willkürliche Athembewegung . . 294 Wirbelkörper, knöcherne .... 401 Wirbelkörper, knorplige .... 400 Wirbelsäule, Beweglichkeit . . . 40 Wirbelsäule, häutige 400 WolflF'scher Gang 409 Wolff'scher Körper 409 Wollen 109 Wurzelscheiden 404 Seite z. Zahnbein 404 Zähne .404 Zapfen der Netzhaut . . . . . 207 Zelle • 4 Zerlegung der Klänge 160 Zerstreuungskreise .... 174, 176 Zitterlaute 77 Zona pellucida 389 Zonula Zinnii 188 Zotten des Darmes 358 Züchtung 2 Züchtung des Geschmackes . . . 344 Zuckung des Muskels 23 Zuckung, secundäre 103 Zuckungsgesetz 84 Zunge 404 Zungenbein 402 Zungen des Kehlkopfes .... 66 Zungeninstrumente, musikalische . 68 Zusammensetzung des Blutes . . 280 Zwerchfell 273 Zwischenhirn 402 Zwischenknorpel in Gelenken . . 18 Druck von Adolf Holzhausen. k. k. Hof- und Universitäts-Buchdruoker ^t7,4 /oniD ^ Date Due m^'^^ 0CT2 6 aP3H mt r^M rSV