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DAS FORUM

HERAUSGEBER: WILHELM HERZOG

4. Jahrgang II. Band April September 1920

GUSTAV KIEPENHEUER VERLAG POTSDAM-BERLIN

KRAUS REPRINT Nendeln/Liechtenstein 1977

DAS

FORUM

HERAUSGEBER: WILHELM HERZOG

4. J a h rgang II. Band April—September 1920

GUSTAV KIEPENHEUER VERLAG POTSDAM-BERLIN

KRAUS REPRINT Nendeln/Liechtenstein 1977

Gedruckt nach einem Original der Bayerischen Staatsbibliothek München

Printed in Germany Lessingdruckerei Wiesbaden

INHALTS-VERZEICHNIS

Afril 1920 Seite

Wilhelm Herzog: Von Leipzig nach Moskau / Klarheit

um jeden Preise 481 Die Antwort Moskaus .......: 2222er. 485 Heinrich Vogeler: Über die kommunistische Schule. 504 Romain Rolland: Meinem besten Freunde Shakespeare 509 Hans Siemsen: Potsdam oder Döberitz? .......... 517 Erich Mühsam: Gustav Landauer. 528 Douglas Goldring: Briefe aus der Verbannung {Schluf) 533 Ludwig Rosenberger: Karl Liebknecht 548

Mai 1920

Romain Rolland zum Bolschewismus ............ 561 Das Anklagematerial der Entente und das Leipziger

Reichsgericht 562 J. P. Marat: Von der Notwendigkeit. den Volksgeist zu

bilden, um die Freiheit zu sichern ......... 567 Hans Paasche: Protest eines Menschen 573 Fidelis: Gustav Landauers Kulturprogramm ........ 577 Hans Kohn: Peter Kropotkin .. .. . 22: 22222 0.. 599 Individualität und Gesellschaft 614 Franz Schulz: Gustav Noske Heinrich Mann ..... 621 Die revolutionäre Bewegung in Spanien .......... 623 Victor Segalen: Paul Gauguins Todeskampf ........ 627

Eingelaufene Schriften 640

Juni 1920 Seite

Gustave Courbet: An die deutschen Künstler 641 G. Demartial: Patriotismus und Gerechtigkeit 645 Maxim Gorki: Die Internationale der Intellektuellen .. 649 Wahrheit über Sowjetrußland / Das Bibliothekswesen 651

Die Menschewiki . . 2 2 22 ee eurer ern 653 Franz Schulz: Kunst, Bürger, Staat .......... . 655 Heinrich Vogeler: Über die kommunistische Schule. l 660 Fritz Schwarz: Jean Jaurès ss 8 665 Hans Janowitz: Unter Lucifers Funn 701

Juli 1920

Franz Schulz: Abrechnung 711 Lenin: Thesen über die nationale und koloniale Frage.. 718 Lenin und Trotzki: Zwei Reden. 726 Beschlüsse des IX. Kongresses der Kommunistischen Partei

Rußlandsı242,852 ]ð]ð 749 Kropotkin: Politische Rechte und ihre Bodenan für die

Arbeiterklasse . . 756 Willy Haas: Der Journali sse 764 Anatole France: Gespräch über die Intelligenz... .... 775 Morbus Berolinensis . . . 22 2 22 s. 779 Der Fall Jacobsohn-Hilferding .....:: 2222220. 782

August 1920

Wilhelm Herzog: Russisches Notizbuch .......... 791 Die Wut des Hilfergedinges .......... . 866

Seßtember 1920 Wilhelm Herzog: Russisches Notizbuch .......... 871 Romain Rolland: Das Leben Tols tos 912 Maxim Gorki: Rußland und die Weltliteratu t 937

ALPHABETISCHES REGISTER

Seite Courbet. Gust ao 641 ne u. u a as ah 643 Kdl eee da aora Ne a at ee ee er 577 Francos, Anatole. 2 2 Een 773 Goldring. Doutl os. a 533 Gorki. Maxim . . ... o EEE . . . 649, 937 Hass: Wily 4,8 ²˙ů 2.00% Bone en a ee er le 764 Herzog. Wilbelm . . . . . Da ee w a sai 791. 866. 871 Janowitz, Hane . 701 ( ĩðV / ¾ ee a en 599 Kropotkin .. i!! ̃²˙ —üUU UU. ² ]ꝝ?it ae a 756 Lasis er a m ˖ͤ·¹.̃⁊ ee er ee e ae la ia 718, 726 Mint P ee ee ee el 567 Mühsem, Erich . n 528 Paasche, Hans . . . . . e . . 575 Nollaad. Romein . nnn 509. 561. KAA 912 Rosenberger. Ludi 548 Schulz, Frans 621. 655 Schwars, Frits . 2:22 Core 665 Segalen, Victoe eee w 627 Siemsen, Ha 517 /// ae e R BE 726

DAS FORUM

4. Jahr Abril 1920 Heft 7 (Agen: A. 10 Mai 1920)

VON LEIPZIG NACH MOSKAU KLARHEIT UM JEDEN PREIS!

VON WILHELM HERZOG

Auf dem Leipziger Kongreß der Unabhängigen Sozialdemokratischen Parteı Deutschlands fiel eine Entscheidung, deren weltpolitische Bedeutung neben der parteipolitischen nicht zu verkennen war.

Mit 227 Stimmen gegen 54, die sich für die noch weitergehende Stoeckersche Resolution d. h. für den sofortigen Anschluß an Moskau aussprachen, wurde die folgende von der Parteileitung vorgelegte Resolution angenommen:

Der Parteitag erklärt als eine der wichtigsten Aufgaben der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands die Zusammenfassung des gesamten revolutionären Proletariats in einer tatkräftigen, revolutionären sozialistischen Internationale.

Erste Voraussetzung einer aktionsfähigen -Internationale ist u.. c<ksichtslose Führung des proletarischen Klassenkampfes unter Ablehnung jeder Politik, die lediglich Reformen innerhalb des kapitalistischen Klassenstaates erstrebt.

Der Parteitag beschließt daher die Absage an die sogenannte zweite Inter- nationale, womit für die U. S. P. jede Beteiligung an der für Genf geplanten Konferenz ausgeschlossen wird.

Die U.S.P.D. ist mit der dritten Internationale darin einverstanden, durch die Diktatur des Proletariats auf. Grund des Rätesystems den Sozialismus zu verwirklichen. Es muß eine aktionsfähige proletarische Internationale geschaffen werden durch Zusammenschluß unserer Partei mit der dritten Internationale und den sozialrevolutionären Parteien der anderen Länder.

Deshalb beauftragt der Parteitag das Zentralkomitee, auf Grund des Aktions- programms der Partei mit allen diesen Parteien sofort in Verhandlungen zu treten, um diesen Zusammenschluß herbeizuführen und so mit der dritten Internationale eine aktionsfähige geschlossene proletarische Internationale zu

482 | | Wilhelm Herzog

ermöglichen, die in dem Befreiungskampfe der Arbeiterklasse aus den Fesseln des internationalen Kapitals eine entscheidende Waffe für die Weltrevolution sein wird. |

Sollten die Parteien der anderen Länder nicht gewillt. sein, mit uns in die Moskauer Internationale einzutreten, so ist der Anschluß von der Deutschen

Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei allein vorzunehmen.

Fünf Monate sind vergangen. Das Zentralkomitee hat, wie es versichert, ent- sprechend seinem Auftrage „mit den sozialrevolutionären Parteien der anderen Länder” verhandelt. Der Zusammenschluß unserer Partei mit der dritten Inter- nationale und den sozialrevolutionären Parteien der anderen Länder ist jedoch bisher nicht gelungen. Woran liegt das? Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Mos- kaus angeblich rigorose Bedingungen. Kapp-Putsch. Seine Abwehr. Reichs- tagswahlen. Vorbereitung dazu. Unmöglichkeit, direkt mit Moskau zu verkehren. Das sind die. Einwände, die angeführt werden.

Sind sie stichhaltig? Seien wir gerecht. Für die, die auf Grund ihrer Über- zeugung nur widerstrebend die 3. Internationale bejahen können, muß es Hinder- nisse über Hindernisse sachlicher und persönlicher Art auf dem Wege nach Moskau geben. Darum legte Crispien von seinem Standpunkte aus mit Recht den Akzent auf das Wort Verhandlungen mit der 3. Internationale, die zum Anschluß führen sollten. Und er fühlte sich durch den Zusatzantrag, der gestellt, angenommen und als letzter Satz in die Resolution aufgenommen wurde, bedroht, er fühlte, wie sein Wille durch einen anderen Willen, dem der Parteitag aber zustimmte, durchkreuzt wurde. Dieser Zusatz, wonach die U.S.P.D. den Anschluß an die dritte Inter- nationale allein vorzunehmen habe, falls die Parteien der anderen Länder nicht ge- willt seien, mit uns in die Moskauer Internationale einzutreten, wurde als peinlich, als störend empfunden. Darum nannte ihn Crispien „vollkommen überflüssig” und fügte sofort hinzu: „Dieser Antrag ändert nicht das geringde an dem: Sinne der Resolution der Parteileitung und der Kontrollkommission. Er ändert nichts daran, daß Verhandlungen mit Moskau unter Zugrundelegung unseres Aktionspro- gramms vor einem Zusammenschluß vorgenommen werden müssen. Wenn andere Parteien nicht gleich mit uns gehen, dann schließen wir uns ohne sie mit Moskau zusammen, wenn wir mit ihnen über Programm und Taktik einig geworden sind“. Ein Satz mit zwei getrennten. wenns hat genügend Konditionelles. Und niemand kann dem *geschickt für seine Taktik operierenden Führer vorwerfen, als habe er etwa seine Absicht verdeckt. Er blieb dabei: Verhandlungen müßten stattfinden. Auch nach Annahme des Zusatzantrages. Da dieser Auslegung niemand wider-

Von Leipzig nach Moskau 483

sprach, kann Crispien sie als unwidersprochenen Willen des Parteitages auffassen und danach fordern zu handeln. Obwohl zweifellos eine große Anzahl der Delegierten mit der Annahme des Zusatzantrages den Anschluß ohne Verhandlungen vollzogen wissen wollte.

Was jedoch ist in den fünf Monaten geschehen? Eine Anfrage ist nach Moskau gerichtet worden. Auf diese Anfrage ist eine Antwort erfolgt. Vor fünf Wochen traf sie ein. Bis heute wurde sie nicht veröffentlicht. Wenigstens nicht vom Zentral- komitee. Inzwischen ließ sie das Westeuropäische Sekretariat der dritten Inter- inationale als Broschüre erscheinen. Dieses Dokument, von: Sinowjew unterzeichnet, ist in jeder Hinsicht von großer Tragweite und so wichtig, daß ich es den Lesern des Forum zu vermitteln für notwendig halte.

Von vornherein ıst zu sagen: Diese klare und eindeutige Spracne der Kussen tut wohl. Gleichviel, wie wir im Einzelnen zu den Äußerungen des Exekutiv- Komitees stehen mögen, ob wir ihnen grundsätzlich zustimmen (und jeder Revolutionir muß das) oder als zu hart ablehnen, es ist eine Freude, so hell, so leuchtend, so einfach die Dinge beim Namen genannt zu sehen. Und können wir der Kritik widersprechen? Können wir sie für ungerecht erklären?

Der Beschluß von Leipzig am 5. Dezember 1919 blieb: Beschluß. Aus dem Bekenntnis zur 3. Internationale wurde nicht Tat.

Viele kleinbürgerliche Vorurteile hinderten schon in Leipzig den Anschluß ohne Vorbehalt. Und diese kleinbürgerliche Politik ist es, von der sich die U. S. P. D. freimachen muß, will sie entsprechend dem von den Massen geäußerten Willen als gleichberechtigtes und ebenbürtiges Mitglied ın die 3. Internationale aufgenommen werden. Kein Mensch denkt an Unterwerfung. So wenig wie von einem auf- rechten Menschen verlangt man von einer selbstbewußten revolutionären Partei, daß sie sich unter ein fremdes Joch beuge. Darum handelt es sich nicht.

Das Por zur 3. Internationale ist offen. Warum treten wir nicht ein? Warum die langwierigen Priliminarien? Unser Aktionsprogramm ist klar und eindeutig. Es deckt sich mit allen Forderungen der 3. Internationale. Wesentlichster Grundsatz: Diktatur des Proletariats, auf Grund des Rätesystems

Auf dem ersten Kongreß der Kommunistischen Internationale in Moskau (März 1919) waren bereits 36 Parteien vertreten.. Zahlreiche andere haben sich nach März 1919 der 3. Internationale angeschlossen, so die Italienische Sozialistische Partei. die Norwegische Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die Polnische Kommunistische Partei, die Amerikanische Sozialistische Partei; die Britische Sozialistische Partei die Spanische Sozialistische Partei, die Arbeiterpartei Schottlands.

Nur wir hinken hinterher. Warum? Trotz dem Beschluß von Leipzig. Wer er nicht eindeutig genug? Scheut das vom Parteitag beauftragte Zentralkomitee vor

484 Wilhelm Herzog /Von Leipzig nach Moskau

der Ausführung seines Auftrages zurück, weil fünf oder sechs oder acht anti- bolschewistische Offiziere in der Partei Sabotage treiben und durch ihre „demo- kratische“ Tätigkeit den Weg nach Moskau sperren wollen ?

Jeder Einwand fällt angesichts der schönen Schlußworte des Moskauer Mani- festes. Nichte von Hochmut oder Herrschaftsgelüste einer Partei finden wir in diesem Dokument. Es spricht nur hart und unsentimental aus, was ist. Und darüber hinaus, was sein könnte, was werden kann. Die Pioniere der Weltrevolution maßen sich innerhalb der 3. Internationale keine diktstorischen Befugnisse an. Sie be- kennen im Gegenteil ausdrücklich: „Wir sind durchaus bereit, die dritte Inter- nationale zu erweitern, die Erfahrung der proletarischen Bewegung in allen Ländern in Betracht zu ziehen, das Programm der dritten Internationale auf Grund der Theorie des Marxismus und der Erfahrung des revolutionären Kampfes in der ganzen Welt zu korrigieren und zu ergänzen“. |

Man sieht: sie halten sich nicht für unfehlbar. Was sie allerdings nicht wollen, ist: unwürdige Vermischung. Sie wollen rein bleiben. Nicht um der Personen, sondern um der Sache willen. Die 3. Internationale liefe Gefahr, verwässert zu werden, nähme sie kritiklos alle unsicheren Kantonisten und selbst -die Feinde von gestern ohne weiteres auf. Reinigung tut not. | Dis 3. Internationale kann nur schlagkräftig bleiben, kann nur die große histo- rische Aufgabe, die ihr gestellt ist, erfüllen, wenn sie sich ihren weltrevolutionären Charakter nicht um das Geringste verfälschen läßt, wenn sie von vornherein jede Nachgiebigkeit als korrumpierend ablehnt, wenn sie -sich ihres Wertes, ihres : Singu- larität, ihrer Macht, ihres unbeirrbaren Willens, rücksichtslos das Alte zu‘ zer- stören, das Neue aufzubauen. ` bewußt bleibt.

Es wird ihr bald schwerer sein, Elemente abzustoßen als zu gewinnen. Und deshalb muß is klug und vorsichtig zugleich sein und handeln, um den Feind, der sie von außen her berennt nicht in ihrer eigenen Mitte groß werden zu schen. |

Angesichts des neuaufflammenden Krieges der Weltreaktion gegen Sowjetrußland, angesichts der verbrecherischen Konspirationen der Mannerheims und aller kontre- revolutionären Kräfte Europas, muß es doppelte Pflicht jedes revolutionären Sozia- listen sein, dem Bekenntnis zur 3. Internationale jetzt die Tat folgen zu lassen. Die aufgeklärten Arbeiter Deutschlands wollen keine Politik, die schwankt, wackelt, zögert, aufschiebt. Sie wollen eine klare, zielsichere Politik, die entscheidet, vorgeht, Wort Tat werden laßt, die revolutionär handelt, die revolutionär wırkt.

Die Antwort Moskaus _ 485

DIE ANTWORT MOSKAUS

An alle Arbeiter Deutschlands, an die Reichszentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands und an den Partei- vorstand der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Anläflieh des Beschlusses des Leipziger 88 der Unabhängigen Sozial- demoßretischen Partei Deutschlands über die Kommunistische Internationale.

Der letzte Kongreß der U.S. P. D. falte den Beschluß, aich an die Kommunistische Internationale und „andere sozial- revolutionäre Organisationen”. mit dem Vorschlage zu wenden, sch zu einer gemeinsamen internationalen Organisation zu vereinigen. Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Inter- nationale hält es für seine Pflicht, diese Frage vor das Forum aller revolutionären Arbeiter zu bringen. Das Exekutiv- komitee nimmt an, dał nur eine offene Erörterung dieser Frage vor den breiten Arbeitermassen aller wirklich revolu- tionãren Elemente der internationalen Armee des Proletariats möglich ist und nicht eine hinter den Kulissen abgeschlossene Vereinbarung. Die folgenden Ausführungen sind somit di e Antwort auf den Brief Cris pie ns vom 15. Dezember 1919, der dem Exekutivkomitee der Dritten Internationale zugestellt und in der „Freiheit“ vom 2. Januar 1920 abgedruckt wurde.

L Die der US. N. angshorenden Arbeiter und ihre Führer | in der Revolution.

Die Kommunistische Internationale ist sich | dessen bewußt, daß die Arbeiter, die der U.S.P. angehören; ganz anders gestimmt sind, als der. rechte Flügel ihrer Führer. Dies ist der Ausgangspunkt unserer Beurteilung der Lage in. der

486 S O Die Antwort Moskaus U.S.P. Die Kommunistische Internationale betrachtet den Leipziger Beschluß der U.S.P. als einen Umschwung in der politischen Richtung der Partei, der sich unter dem Drucke desjenigen Teiles der Arbeiterschaft Deutschlands vollzogen hat, der in dieser Partei organisiert ist. Dieser Teil der Arbeiterklasse stellt sich auf Grund der ganzen Erfahrung der Revolution immer mehr und mehr auf den Standpunkt der proletarıschen Diktatur und des Massen- kampfes um diese Diktatur unter der gemeinsamen Fahne der Kommunistischen Internationale. Dieses verhindern ın hohem Grade die opportunistischen rechten Parteielemente, die geneigt sind, alles Mögliche mit Worten anzuerkennen, die aber die tatsächliche Entwicklung der Revolution auf jede Weise hemmen. Diese opportunistischen Zentrumsleute haben während des imperialistischen Krieges das Proletariat von allen Massenaktionen zurückgehalten, haben die verräterische Linie der Verteidigung des bürgerlichen Vaterlandes unter- stützt, haben die Notwendigkeit einer illegalen Organisation verneint und schreckten vor dem Gedanken an den Bürger- krieg zurück. Am Beginn der Revolution sind sie mis den offenen Verrätern der Arbeiterklasse den Scheide- männern ın eine gemeinsame Regierung eingetreten, haben die schändliche Ausweisung der Berliner Botschaft des Proletariats Ruflands sanktioniert und haben die Politik des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetmacht unterstützt. Diese rechten Führer der Unabhängigen haben seit Beginn der deutschen Revolution die Entente- Orien- tierung gepredigt und sich mit allen Kräften dem Bunde Deutschlands mit Sowjetrullland widersetzt. Die rechten Führer der »Unabhängigene haben unter Deutschlands Pro- letariern systematisch kleinbürgerliche Illusionen über das Wesen des »Wilsonismus« gesät. Die rechten Führer der »Unabhängigens haben Wilson gepriesen und ihn als Ver- teidiger eines gerechten Friedens, als Vertreter der Demo-

Die Antwort Moskaus 487 kratiee usw. hingestellt. Dank der Taktik dieser rechten Führer blieb die Staatsmaschine des Wilhelminischen Kaiser- reiches. das sich nur mit der republikanischen Flagge ver- büllte. vollständig unberührt. In entscheidenden Augenblicken Januar 1919) des Kampfes mit den Henkern der Arbeiter- klasse Noske u. Co. schlugen die rechten Führer der »Unabhängigen« eine »versöhnende« Richtung unehrlicher Makler ein. schwächten den revolutionären Willen der Arbeiter. zerfetzten die Einigkeit des Proletariats im Kampfe und förderten dadurch seine Niederlage.

Erst verneinten sie die Diktatur der Räte überhaupt und standen vollständig auf dem Standpunkt der bürger- lichen Demokratie. Dann fingen sie an, ein Gemisch aus den Räten und der konstituierenden Versammlung zu propagieren (der Plan Hilferdings). Bis jetzt schwanken sie zwischen diesem und jenem, wenn es sich um die Tat handelt. Ihre literarischen Vertreter (Kautsky), die sıch ın ein und demselben Verlage mit den bürgerlichen Pazifizisten. »Demokratene und aufrichtigen Dienern der Börse und der Bank treffen, finden keine bessere Beschäftigung, als den schmutzigen Klatsch der russischen und anderen Gegen- revolutionäre über die russische Revolution zu verbreiten. Eine derartige, alles übertreffende “sinnlose und unehrliche Verleumdung. wie die angebliche »Sozialisierung der Frauen- in Rußland, die von den Generalen ‚und Spionen der Entente erfunden ist, findet im Buche Kautskys Platz. Das letzte Werk dieses Schriftstellers, »Terrorismus und Kommu- nısmuse, erscheint ın demselben Verlag wie das Sammelwerk gefälschter. in Amerika erfundener Dokumente über die Bestechung · der Bolschewiki durch den deutschen Generalstab.

Diese Beispiele genügen. um, die wahre Physiognomie einer Reihe der rechten Führer der U. S. P. zu kenn- zeichnen. Die zu dieser Partei gehörenden Arbeiter müssen verstehen, daß die Arbeiterpartei. ohne den vollständigen

488 S Die Antwort Moskau: Bruch mit solchen rechten Führern zu vollziehen. die Entwicklung der proletarischen Revolution nieht erleichtern kann. Es ist jetzt vollständig klar, daß die Revolution in Deutschland einen solchen qualvollen Verlauf nimmt. weil es den Scheidemännern gelungen ist. das Volk zu entwaffnen. weil der Ausbruch der Revolution nicht zur Verbindung Deutschlands mit Sowjetrußland führte, weil der alte Machtapparat in Gang geblieben ist. Ein ungeheurer Teil der Schuld und der Verantwortung dafür fällt auf die rechten Führer der U.S.P. Um die Linie gerade zu biegen. müssen die Fehler verstanden und korrigiert werden. Diese Parteilinie gerade zu biegen. wenn auch über den Kopf einiger Führer hinweg. darın vor allem besteht die Aufgabe der zur Partei der Unabhängigen gehörenden Arbeiter.

II. Die Haußtfehler der US. P. und der »Zentrums-

Parteien · überhaupt

Die Ideologie der Führer der U.S. P. ist keine spezifisch deutsche Erscheinung. Auf demselben Standpunkt stehen die Longuetisten in Frankreich, die I. L. P. in England. die A. S. P. in Amerika und andre. Ihre Eigentümlichkeit ist das beständige Schwanken zwischen dem offenen Sozialverrat vom Typus Noske und der Linie des revolutionären Pro- letariats, d. h. dem Kommunismus. Diese Fehler fassen wir in folgenden Punkten zusammen:

1. Die Diktatur bedeutet den Sturz der Bourgeoisie durch eine Klasse, das Proletariat, und zwar durch seine revolutionäre Avantgarde. Es heift in Wirklichkeit. den Gesichtspunkt der Diktatur des Proletariats zu verlassen und tatsächlich auf den Standpunkt der bürgerlichen Demokratie überzugehen. wenn man verlangt: daß die Avantgarde sich erst die Mehrheit des Volkes durch Wahlen in die bürgerlichen Parlamente, in bürgerliche Konstituanten usw. erwerben müsse, d. h. durch Abstimmen bei Vorhanden-

Die Antwort Moskaus 02 __489

sein von Lohnsklaverei, bei Vorhandensein von Aus- beutern, unter deren Joch, bei Vorhandensein von Privat- eigentum an Produktionsmitteln.

So S handeln die Führer der rechten Unabhängigen und der französischen Longuetisten. Diese Parteien wiederholen die Phrasen der bürgerlichen Demokraten über die Mehrheit des »Volkes (das von der Bourgeoisie betrogen und vom Kapital niedergehalten wird) und stehen objektiv noch auf der Seite der Bourgeoisie.

2. Die Diktatur des Proletariats bedeutet die Erkenntnis der Notwendigkeit, den Widerstand der Ausbeuter mit Gewalt zu brechen, bedeutet die Bereitschaft, das Vermögen, die Entschlossenheit, dıes zu tun. Die Bourgeoisie. sogar die republikanischste und demokratischste (z. B. in Deutsch- land. in der Schweiz. in Amerika) greift systematisch zu Pogromen, zur Lynchjustiz, zu Morden, zu militärischen Gewalttaten. zum Terror gegen die Kommunisten und ın Wirklichkeit gegen alle revolutionären Schritte des Prole- tariats. Unter diesen Bedingungen auf die Anwendung von Gewalt. auf den Terror zu verzichten, heißt, sich in einen weinerlichen Kleinbürger verwandeln, heißt, reaktionäre kleinbürgerliche Illusionen über den sozialen Frieden säen. heiß. konkret gesprochen = Angst vor dem Haudegen der Offiziere haben.

Denn der verbrecherischste und reaktionärste imperiali- stische Krieg von 1914—1918 hat in allen Ländern, in allen. sogar in den demokratischsten Republiken, Zehntausende der reaktionärsten Offiziere erzogen und in den Vordergrund . der Politik gestellt. die den Terror verbreiten und ihn zum besten der Bourgeoisie, zum besten des Kapitals gegen das Proletariat verwirklichen. Die Reden einiger Führer der Unabhängigen auf dem Leipziger. Kongreß über die Frage der „moralischen Unzulässigkeit des Terrors seitens der Arbeiter ın Bezug auf die weilgardistischen Henker des

490 FE Die Antwort Moskaus Proletariats beweisen, daß diese Führer durch und durch mit kleinbürgerlichen Ansichten durchtränkt sind.

Das Verhalten zum Terror. das die rechten Führer der deutschen Unabhängigen und der französischen Longuetisten in Parlamentsreden. Zeitungsartikeln. in der Agitation und Propaganda offenbaren, ist daher ein vollständiges Lossagen von dem Wesen der Diktatur des Proletariats. ein tatsäch- licher Ubergang zur Position der kleinbürgerlichen Demo- kratie, ist die Demoralisierung des revolutionären Bewußtseins der Arbeiter. |

3. Dasselbe bezieht sich auf den Bürgerkrieg. Nach dem imperialistischen Kriege. angesichts der reaktionären Generäle und Offiziere. die den Terror gegen das Proletariat anwenden. angesichts der Tatsache, daß schon neue impe- rialistische Kriege dureh die gegenwärtige Politik aller bürgerlichen Staaten vorbereitet werden, und nicht nur bewußt vorbereitet werden. sondern mit objektiver Unver- meidlichkeit aus ıhrer ganzen Politik folgen unter diesen Bedingungen. bei dieser Situation den Bürgerkrieg gegen die Ausbeuter beklagen, ihn verurteilen. ihn fürchten heißt in Wirklichkeit, zum Reaktionär werden. Das heift, sich vor dem Sieg der Arbeiter, der Zehntausende Opfer kosten kann, fürchten, und ganz sicher ein neues imperia- listisches Blutbad zulassen, das gestern Millionen Opfer kostete und morgen ebensoviel Opfer kosten wird. Das heißt, den reaktionären und gewaltigen Gepflogenheiten und Absichten und der Vorbereitung der bürgerlichen Generale und der bürgerlichen Offiziere tatsächlichen Vorschub leisten.

Derartig reaktionär ist in der Tat die süßliche, klein- bürgerliche, sentimentale Position der rechten Führer der deutschen Unabhängigen, wie auch der französischen Longuetisten in der Frage des Bürgerkrieges. Man schließt dıe Augen angesichts der weißen Garde, ihrer Vorbereitung und Schaffung durch die Bourgeoisie und wendet sich

Die Antwort Moskaus 491

———

heuchlerisch, parasitisch (oder feige) ab von der Bildung einer Roten Garde. einer Roten Armee der Proletarier die fahig wäre, den Widerstand der Ausbeuter zu unter- drücken.

4. Die Diktatur des Proletarıats and die Rätemacht bedeuten die klare Erkenntnis der Notwendigkeit, den bür- gerlichen (wenn auch republikanısch-demokratischen) Staats- apparat, die Gerichte. die Bürokratie. die zivile wie die militärische usw. zu zerbrechen, in Stücke zu schlagen. Die rechten Führer der deutschen Unabhängigen und der französischen Longuetisten zeigen weder Erkenntnis dieser Wahrheit, noch alltägliche Agitation in dieser Richtung. Viel schlimmer: sie führen die ganze Agitation in entgegen- gesetztem Geiste.

5. Jede Revolution bedeutet, zum Unterschied von der Reform, eine Krisis und zwar eine an und für sich überaus tiefe politische und ökonomische, unabhängig von der durch den Krieg hervorgerufenen Krisi. Die Aufgabe der revolutionären Partei des Proletariats ist es, den Arbeitern und Bauern klar zu legen, daß man den Mut haben muß, dieser Krisis tapfer zu begegnen und ın den revolutionären Maßnahmen die Kraftquelle zu ihrer Überwindung zu finden. Nur durch Überwindung dieser größten Krisen durch revolutionären Enthusiasmus, durch revolutionäre Energie, durch revolutionäre Bereitschaft zu den schwersten Opfern kann das Proletariat die Aus- beuter besiegen und die Menschheit endgültig vom Kriege. vom Joch des Kapitals. von der Lohnsklaverei befreien,

Einen andern Ausweg gibt es nicht; denn das reformistische Verhalten zum Kapitalismus hat gestern das imperialistische Schlachten von Millionen Menschen und Krisen ohne Ende erzeugt und wird sie unausbleiblich

morgen erzeugen. Diesen Grundgedanken, ohne den die

Diktatur des Proletariats eine leere Phrase ist. verstehen 2

492 | Die Antwort Moskaus

die Unabhängigen und die Longuetisten nicht. offenbaren ihn in ihrer Propaganda und Agitation nicht und machen ihn den Massen nicht klar.

Im Gegenteil sie schüchtern das Proletariat auf alle mögliche Art und Weise ein durch Hinweis auf die Schwierigkeiten. die die proletarische Revolution nach sich zieht. Objektiv ist jedoch die Wiedergeburt der Wirtschaft nur auf Grund der proletarischen Diktatur denkbar: denn auf kapitalistischer Basis ist möglich nur eine beständige und immer tiefer gehende Auflösung. Durch ihre kleinbürgerliche Feigheit ziehen die Führer der U.S. P. den ohnehin qualvollen Prozeß nur in die Länge und vergrößern dadurch die Leiden des Proletariats.

6. Das Sowjetsystem ist die Zerstörung der bürgerlichen Lüge, der Freiheit, die Presse zu bestechen, die Freiheit der Reichen und Kapitalisten Zeitungen zu kaufen, Hunderte von Zeitungen aufzukaufen und dadurch die sogenannte öffentliche Meinung zu fälschen. die man Presse- freiheit“ nennt. a

Diese Wahrheit erkennen die deutschen Unabhängigen wie ihre ausländischen Kollegen nicht; sie handeln nicht nach ihr. sie agitieren nicht täglich für die revolutionäre - Vernichtung jener Uhnterjochung der Presse durch das Kapital, die die bürgerliche Demokratie fälschlicherweise Preßfreiheit nennt. Da sie eine solche Agitation unterlassen, erkennen die Unabhängigen nur durch Lippenbekenntnis die ` Sowjetmacht an; in Wirklichkeit sind sie von dem Vorurteil der bürgerlichen Demokratie vollständig beherrscht.

Die Expropriation der Druckereien und Papıervorräte diese Hauptsache verstehen sie nicht zu erklären; denn sie begreifen eie selbst nicht. Dasselbe bezieht sich auf die Versammlungsfreiheit diese Freiheit ist eine Lüge. solange die Reichen die besten Gebäude besitzen oder öffentliche Gebäude kaufen auf die Bewaffnung des

Die Antwort Moskaus | 493

Volkes, die Gewissensfreihet die Freiheit des Kapitals, ganze Kirchenorganisationen zwecks Betäubung der Massen mit religiösem Opium zu kaufen und zu bestechen und auf alle übrigen bürgerlich-demokratischen Freiheiten.

7. Die Diktatur des Proletariats bedeutet das Vermögen, die Bereitschaft und die Entschlossenheit, die ganze Masse der Werktätigen und Ausgebeuteten durch revolutionäre Maßnahmen, durch Expropriation der Ausbeuter auf ıhre Seite, auf die Seite der revolutionären Avantgarde des Proletariats, zu ziehen. Diese sind in der täglichen Agitation der deutschen Unabhängigen (z. B. in der Freiheit) nicht zu finden. Auch bei den Longuetisten snd sie nicht zu finden. Im besonderen ist diese Agitation unter den ländlichen Proletariern notwendig. unter den Kleinbauern (Bauern, die keine Lohnarbeit aus- beuten. Bauern. die wenig oder gar kein Getreide verkaufen). Diesen Schichten der Bevölkerung mul täglich. einfach, populär, auf die konkreteste Weise klar gemacht werden. daß das Proletariat nach der Eroberung der Staatsmacht unverzüglich auf Kosten der expropriierten Groß- grundbesitzer ihre Lage verbessern, sie vom Joch der Großgrundbesitzer befreien, ihnen als einer Klasse große Güter geben, eie von den Schulden befreien wird, usw. Dasselbe mul der städtischen nichtproletarischen oder nicht ganz proletarischen werktätigen Masse erklärt werden. Eine solche Agitation wird von den Unabhängigen nicht geführt.

8. Die Diktatur des Proletariats bedeutet und setzt die klare Erkenntnis der Wahrheit voraus, dał das Proletariat kraft seiner objektiven ökonomischen Lage in jeder kapita- listischen Gesellschaft die Interessen der ganzen Masse der Werktätigen und Ausgebeuteten, aller Halbproletarier, (d. h. der von teilweisem Verkauf ihrer Arbeitskraft Lebenden). aller Kleinbauern und dergleichen richtig vertritt.

494 Die Antwort Moskaus

Diese Schichten der Bevölkerung folgen den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien (darunter auch den sozialistischen Parteien der II. Internationale) nicht kraft ihrer freien Willens- äußerungen, wie die kleinbürgerliche Demokratie annimmt, sondern kraft des direkten Betruges durch die Bourgeoisie, kraft ihrer Unterjochung durch das Kapital, kraft des Selbst- betrugs der kleinbürgerlichen Führer.

Diese Schichten der Bevölkerung (die Halbproletarier und Kleinbauern) wırd und kann das Proletarıat nur nach seinem Siege, nur nach der Eroberung der Staatsmacht auf seine Seite ziehen, d. h. nachdem es dıe Bourgeoisie gestürzt. dadurch alle diese Werktätigen vom Joch des Kapitals befreit und ihnen ın der Praxis gezeigt hat, welchen Nutzen (Befreiung von den Ausbeutern) die proletarische Staats- macht gewährt.

Diesen Gedanken, der die Grundlage und die wesentliche Idee der Diktatur des Proletariats ausmacht, verstehen die deutschen Unabhängigen und die Longuetisten nicht, tragen ihn nıcht ın die Massen. propagieren ıhn nıcht täglıch.

9. Die Unabhängigen (der rechte Flügel) und die Longuetisten betreiben keine Agitation im Heere (Eintritt ins Heer zum Zwecke der Vorbereitung seines Uberganges auf die Seite der Arbeiter gegen die Bourgeoisie). Sie schaffen keine Organisationen zu diesem Zwecke.

Sie antworten nicht auf die Gewalttaten der Bourgeoisie auf deren endlose Ubertretungen der „Gesetzlichkeit” (wie während des imperialistischen Krieges so auch nach dessen Beendigung) durch systematische Propaganda illegaler Organisationen und Schaffung derselben.

Ohne Verbindung von legaler Arbeit mit illegaler, von legalen Organisationen und illegalen, kann von einer wirklich revolutionären Partei des Proletariats weder in Deutschland noch in Schweden, noch in England, noch in Frankreich noch in Amerika die Rede sein.

Die Antwort Moskaus 41595

10. Die Grundfrage der sozialistischen Revolution. die Expropriation der Ausbeuter. stellen die rechten Führer unter die Benennung Sozialisierung? und stellen sie reformistisch und nicht revolutionär. Das Wort » Sozialisierung » vertuscht die Notwendigkeit der Konfiskation, die durch das unerträgliche Joch der imperialistischen Schulden und der Verarmung der Arbeiter hervorgehoben wird, vertuscht den Widerstand der Ausbeuter und die Notwendigkeit revolutionärer Maßnahmen des Proletariats zu seiner Unter- drũckung. Diese Fragestellung erzeugt notwendigerweise reformistische Illusionen. die der Diktatur des Proletariats durchaus nicht entsprechen.

11. Die Kommunistische Internationale hält es nicht nur für ungerecht. sondern auch prinzipiell für unzulässig. dal die U.S. P. Deutschlands, die tatsächlich die Grundideen der deutschen Spartakisten übernimmt. wobei sie sich diese Ideen zu langsam, zu inkonsequent und unvollständig aneignet. in den. Beschlüssen ihres Kongresses kein Wort über die Vereinigung mit der kommunistischen Partei Deutschlands (mit dem Spartakusbund) sagt. Die Einheit des revolutionären Proletariats erfordert solche Verbindung. Man kann jedoch die Diktatur des Proletariats und die Sewjetmacht in Wirk- lichkeit nicht anerkennen, ohne tatsächliche, ernste, gewissen- bafte Schritte dazu zu unternehmen, daß die Avantgarde des Proletarıats des gegebenen Landes, die durch langen und schweren Kampf (wie gegen die Opportunisten. so auch gegen die Syndikalisten und die angeblich linken Halbanarchisten) ihre Fähigkeit, die Arbeiterklasse zu einer solchen Diktatur zu führen, bewiesen hat, von allen bewußten Arbeitern unterstützt, ihre Autorität gefestigt, ihre errungene Tradition sorgfältig behütet und entwickelt werde. Der Spartakusbund in Deutschland, der von solchen Führern. wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, gegründet worden ist, ist gerade ein solcher, der die inter-

496 9 Die Antwort Moskau nationale Bedeutung einer Avantgarde erhalten hat, und der Versuch ihn zu umgehen. wie dies die Unabhängigen in Deutschland tun, ist unmöglich.

Das hängt zusammen mit der Tatsache, daß die Führer der U.S.P. Deutschlands wissentlich nicht die Meinung der Arbeitermassen dieser Partei ausdrücken, da sie viel mehr rechts stehen als diese. Mit diesem Übel, das dem Proletariat in der Epoche von 1889—1919 unerhörte Leiden verursacht hat, kann man sich nicht aussöhnen: denn dieses Übel wird durch das Auseinandergehen von Wort und Tat verhüllt.

Auf solche Weise ist die ganze Propaganda. die ganze Agitation. die ganze Organisation der rechten Un- "abhängigen und der Longuetisten im großen und ganzen eıne mehr kleinbürgerlich-demokratische als eine revolutionär- proletarische. sie ist pazifistisch und nicht sozıalrevolutionär.

Infolgedessen erfolgt die » Anerkennung« der Diktatur des Proletariats und der Sowjetmacht nur in Worten.

III. Die U.S. P. und die Internationale.

Dieselbe kleinbürgerliche feige Politik betreiben die rechten Führer der U.S.P auch ın Bezug auf dıe Frage der internationalen Vereinigung des Proletariats.

1. Die rechten Unabhängigen und die Longuetisten ver- stehen und entwickeln ın den Massen nıcht das Bewußtsein der Fäulnis und Verderblichkeit jenes Reformismus, der tatsächlich in der Zweiten Internationale vorherrschte und sie zugrunde gerichtet hat, sondern sie verdunkeln dieses Bewußtsein. verhüllen die Krankheit, anstat sie auf- zudecken. Die Frage des Zusammenbruches der Zweiten Internationale, eine Frage von größter welthistorischer Be- deutung, die Ursachen. dieses Zusammenbruches, die Haupt- | fehler und die Verbrechen der Zweiten Internationale, ihre Rolle in der Eigenschaft eines Hilfskontors bei dem »Völkerbundee alle diese Fragen wurden von der U.S. P.

Die Antwort Moskaus 497

gar nicht aufgeworfen. Dadurch verhüllt sie diese Ver- brechen und verdunkelt das Klassenbewußtsein der prole- tarıschen Massen.

2. Die rechten Unabhängigen und die Longuetisten ver- stehen nicht und klären die Massen nicht darüber auf, daß die imperialistischen Mehrgewinne der vorgeschriftenen Länder diesen- erlaubten (und gegenwärtig R erlauben). die Oberschichten des Proletariats zu bestechen. ihnen Brocken der Mehrgewinne (den sie aus den Kolonien und der finanziellen Ausbeutung der schwachen Länder ziehen) zu- werfen. eine privilegierte Schicht geschulter Arbeiter zu schaffen usw.

Ohne Enthüllung dieses Übels, ohne Kampf nicht nur gegen die Aristokratie der Trade- Unions. sondern auch gegen alle Äußerungen des Kleinbürgertums der Zünfte der Arbeiter- arıstokratie, der Privilegien der Oberschicht der Arbeiter. ohne schonungslose Vertreibung der Vertreter dieses Geistes aus der revolutionären Partei, ohne Appellation an die Unter- schichten, an die immer breiteren Massen, an die wirkliche Mehrheit der Ausgebeuteten. kann von einer Diktatur des Proletariats keine Rede sein.

3. Die Unlust oder das Unvermögen. mit den vom Imperialismus angesteckten Oberschichten der Arbeiter zu brechen, offenbart sich bei den rechten Unabhängigen und den Longuetisten ebenfalls darin, daß sie nicht für die direkte und bedingungslose Unterstützung aller Aufstände und revolutionären Bewegungen der Kolonsalvölker agitieren.

Unter diesen Bedingungen wird die Verurteilung der Kolonialpolitik und des Imperialismus zur Heuchelei oder zum einfachen Seufzer eines stumpfsinnigen Kleinbürgers.

4. Während sie aus der Zweiten Internationale austreten und sie in Worten verurteilen (z. B. Crispien in seiner Schrift) strecken die Unabhängigen einem Friedrich Adler, dem Mitglied der österreichischen Partei der Herren Noske und Scheidemann

498 WDie Antwort Moskaus die Hand hin. Die Unabhängigen dulden in ihrer Mitte Literaten. dıe alle Grundbegriffe der Diktatur des Proletarıats verneinen (Kautsky u. Cie.).

Die Unabhängigen haben an der Berner und der Damin gelben Konferenz teilgenommen. Die Unabhängigen haben auch nach dem Leipziger Kongreß ihr Zentralorgan Freiheit · in den Händen des Erz-Rechten Hilferding. eines Anhängers der gelben Zweiten Internationale gelassen. Dieses Auseinander- gehen von Wort und Tat charakterisiert die ganze Politik der Führer der Partei der Unabhängigen in Deutschland. der Longuetisten in Frankreich. Eben die Führer teilen die Vor- urteile der kleinbürgerlichen Demokratie und der reformistisch demoralisierten Oberschichten des Proletariats. entgegen den revolutionären Sympathien der Arbeitermassen, die zum Sowjetsystem neigen.

5. Während dıe Führer der U.S.P. unter dem Druck der Arbeitermassen mit der Kommunistischen Internationale ın Verhandlungen treten, wenden sie sich gleichzeitig an die Parteien der Zweiten Internationale (darunter an die weiße Mannerheimsche Sozialdemokratie Finnlands); diese Parteien nennen sie sozialrevolutionär, und sie schlagen det. Kom- munistischen Internationale vor, sich mit diesen Parteien zu vereinigen.

Dieser hilf lose Versuch. noch eine vierte, eine Bastard- internationale zu gründen. ohne klares Programm. ohne feste Taktik. ohne Aussicht auf eine Zukunft. ohne Perspektiven ist dem Untergange geweiht. Er beweist aber, daß die rechten Führer der Unabhängigen den Beschluß des Leip- ziger Kongresses ihrer eigenen Partei sabotieren und an eine aufrichtige Vereinigung mit der Avantgarde des ringenden internationalen Proletariats nicht denken.

Im Zusammenhang mit allem Vorhergehenden erklärt das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale:

a) Die Kommunistische Internationale stellt gegenwärtig

Die Antwort Moskaus 499

—ßß.

die größte Kraft vor. die schon die wichtigsten wirklich revolutionären Elemente der internationalen proletarischen Bewegung vereint hat.

An dem ersten konstituerenden Kongreß der Kommu- nistischen Internationale in Moskau (März 1919) nahmen folgende Parteien und Organisationen teil:

. Kommunistische Partei Deutschlands.

Kommunistische Partei Ruflands.

Kommunistische Partei Deutsch-Oesterreichs. Kommunistische Partei Ungarns.

Linke der schwedischen Sozialdemokratischen Partei. Sc zialdemokratische Partei Norwegens. Sozialdemokratische Partei (Opposition) der Schweız. Amerikanische I. L. P.

. Revolutionäre Balkanföderation (Bulgarische -Tesen- jaki.) und Kommunistische Partei Rumäniens.

10. Kommunistische Partei Polens.

11. Kommunistische Partei Finnlands.

12. Kommunistische Partei der Ukraine.

13. Kommunistische Partei Leflands.

14. Kommunistische Partei Litauens und Weißrußlands. 15. Kommunistische Partei Armeniens.

16. Kommunistische Partei Estlands.

17. Kommunistische: Partei der deutschen Kolonien in

Rußland.

18. Kommunistische Parteı Englands.

19. Vereinigte Gruppe der Ostvölker Ruflands.

20. Zimmerwalder französische Linke.

21. Tschechische Kommunistische . Gruppe.

22. Bulgarische Kommunistische Gruppe.

23. Südslavische Kommunistische Gruppe.

24. Englische Kommunistische Gruppe.

25. Französische Kommunistische Gruppe.

26. Amerikanische Liga der sozialistischen Propaganda.

O Ne

500 .__ Die Antwort Moskaus C Gruppe 28. Sozialdemokratische Partei Hollands. 29. Turkestaner Sektion des Zentralbüros der Ostvölker. 30. Türkische Sektion des Zentralbüros der Ostvölker.

31. Georgische goa 8 = 8 32. Aserbeidja nische. si ii 8 33. Persische a

34. Sozialistische Abaoe ld 35. Zimmerwalder Kommission.

36. Arbeiterverband Koreas.

In den zehn Monaten, die seit dem konstituierenden Kongreß vergangen sind, sind folgende Berichte über die Solidarisierung mit der Kommunistischen Internationale ein- gelaufen. (W ir bemerken, daß unten angeführte Angaben sehr unvollständig sind: in Wirklichkeit sind der Driſten Inter- nationale viel mehr Parteien und Organisationen beigetreten.)

Am 19. März 1919 wurde der Beschluß des Komitees der Italienischen Sozialistischen Partei über den Beitritt zur Kommunistischen Internationale gefaßt,

Am 8. Aprıl 1919 wurde der Beschluß des Kongresses der Norwegischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei über den Beitriſt zur Kommunistischen Internationale gefaßt.

Am 10. Mai 1919 erhielten wir die Mitteilung von dem Beitritt des Schwedischen Sozialdemokratischen Jugendver- bandes zur Dritten Internationale.

Am 14 Junı 1919 wurde der Beschluß des linken Flügels der Schwedischen Sozialdemokratischen Partei über den Beitritt zur Dri@en Internationale gefaßt.

Am 22. Juni 1919 erhielten wir die Mitteilung des Beschlusses des Kongresses der Bulgarischen Sozial- demokratischen Partei der Tessnjaki über ihren Beitritt.

Am 20.Junı 1919 erhielten wir die Miſteilung des Beschlusses des Zentralkomitees der Polnischen Kommunistischen Partei über den vollzogenen Beitritt zur Driſten Internatianale.

Die Antwort Moskaus 301

Im Juli 1919 beschloß der Kongreß der Schweize- rischen Sozialdemokratischen Partei, der Dritten Internationale beizutreten. Bei dem Referendum sprach sich dafür nur die Minderheit, aber eine sehr bedeutende, aus.

Im August 1919 faßte der Kongreß der Sozialisten der Vereinigten Staaten „den Beschluß, der Kommunistigchen Internationale beizutreten. In Amerika bestehen gegenwärtig zwei Kommunistische Parteien. Beide gehören der Driften Internationale an.

Ebenfalls im August 1919 haben wir die Mitteilung von dem Beitritt der Kommunistischen Partei Ostgaliziens zur Dritten Internationale erhalten.

Im September 1919 liefen Nachrichten über die Vereinigung der Sozialistischen Partei Elsaß-Lothringens mit der Kommunistischen Internationale ein. Dieselben Nachrichten erhielten wır ın diesem Monat von der Ukrainischen Föderation der sozialistischen Parteien ın Amerika und über eine Reihe finnischer Arbeiterorganisationen.

Im Oktober 1919 bestätigte der Kongreß der Italienischen Sozialistischen Partei in Bologna mit ungeheurer Mehrheit den Beitri& zur Kommunistischen Internationale.

Am 23. Oktober 1919 lief der Bericht ein über den Beschluß der Britischen Sozialistischen Partei. der Dritten Internationale beizutreten. |

Am 20. November 1919 lief die Nachricht ein über den Beitriſt der Böhmischen. der Lothringer und der Mexi- kanischen Sozialistischen Parteien zur Dritten Internationale. In demselben Monat erhielten wir die Miſteilung. daß in einer der europäischen Städte eın Internationaler Kongreß der Arbeiter- jugend staſtfand. an dem die Delegierten von 220000 Mit- gliedern der Parteı teilgenommen haben, und der einstimmig beschloß, der Kommunistischen Internationale beizutreten .

Im Dezember 1919 wurden auf dem Kongreß der Spanischen Sozialisten für die Drifte Internationale 12500

502 Die Antwort Moskaus

Stimmen. gegen dieselbe 14 000 Stimmen abgegeben. Auf dem Skandinavischen Arbeiterkongreß (D ezem- ber 1919) waren 268 Delegierte von 300000 Arbeitern anwesend. Die Kommunistischen Resolutionen wurden ein- stimmig angenommen.

Im Januar 1920 erhielten wır den Bericht über den Beitritt der Arbeiterpartei Schottlands zur Kommu- nistischen Internationale.

Diese Aufzählung genügt. um zu sehen daß in den Reihen der Kommunistischen Internationale schon jetzt die ganze Avantgarde des kämpfenden internationalen Proletariats vereinigt ist. Die Arbeiterparteien, die aufrichtig für die Diktatur des Proletariats und die Rätemacht kämpfen wollen. können und müssen eich mit dem Kern vereinigen, den die Dritte Kommunistische Internationale darstellt.

b) Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Inter- nationale ist der Meinung, daß es im Interesse des Erfolges des internationalen proletarischen Kampfes nicht zulässig sei, unter irgend einem Vorwande, und wo es auch sei, noch eine neue Zwischen-Vereinigung der Arbeiter zu schaffen, die in Wirklichkeit keinesfalls revolutionär sein kann. Die Zer- splitterung der Kräfte des Proletariats würde nur im Interesse des Kapitals und seiner Diener, der gewesenen Sozialisten, liegen.

e) Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale hält es für äußerst wünschenswert, mit den Parteien. die sich zum endgültigen Bruch mit der Zweiten Internationale bereit erklären. in Verhandlungen zu treten. Zu diesem Zwecke fordert das Exekutivkomitee die Vertreter dieser Parteien auf. nach Rußland zu kommen, wo das Vollzugsorgan der Kommunistischen Internationale seinen Aufenthalt hat. Wie groß. auch die technischen Schwierigkeiten beim Passieren der Grenzen sind, so ist doch die Reise der Delegierten der angeführten Parteien, wie die Erfahrung gezeigt hat, möglich.

Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale ist

Die Antwort Moskaus 303 sich dessen bewußt. daß infolge der Kompliziertheit der Beziehungen und der spezifischen Eigentümlichkeiten in der Entwicklung der Revolution mit diesen Eigentümlichkeiten streng gerechnet werden muß. Wır sınd durchaus bereit, die Dritte Internationale zu er- weitern. die Erfahrung der proletarischen Bewegung in allen Ländern ın Betracht zu ziehen, das Programm der Dritten Inter- nationale auf Grund der Theorie des Marxismus und der Erfahrung des revolutionären Kampfes ın der ganzen Welt zu korrigieren und zu ergänzen. Wir lehnen aber entschieden jede Mitarbeiterschaft mit den rechten Führern der Unabhängigen und der Longuetisten ab. die dıe Bewegung zurück ın den Sumpf der gelben Zweiten Internationale ziehen.

Indem das Exekutivkomitee den Beschluß des Leipziger Kon- gresses ın dem Teile. der von dem Bruch mit der Zweiten Inter- nationale spricht, begrüßt und die Delegation der U. S. P. zu Verhand- lungen auffordert. drückt es die feste Ueberzeu gung aus. daſ durch die revolutionäre Erkenntnisfähigkeit der proletarischen Massen die Reihen der Führer der U.S. P. gesäubert werden. die Partei zur Vereinigung mit der Kommunistischen Partei Deutschlands gebracht wird und schließlich sich ihre besten Elemente unter dem gemeinsamen Banner der Kommunistischen Internationale organisieren werden.

Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale schlagt den aufgeklärten Arbeitern Deutschlands vor, diese Antwort in öffentlichen proletarischen Versammlungen zu erörtern und genaue und klare An: worten auf die berührten Fragen von den Führern der U.S. P. zu verlangen.

Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale sen- det dem heldenhaften Proletariat Deutschlands brüderliche Grüße!

Moskau, den 5. Februar 1920.

Das Exe kutiv- Komitee

der Kommunistischen Internationale.

Vorsitzender: G. Sinowjew.

504

Heinrich Vogeler

ÜBER DIE KOMMUNISTISCHE SCHULE VON HEINRICH VOGELER -WORPSWEDE

I. |

Die Wichtigkeit der Produktivität, die höchste Wertung der Arbeit erfüllt die sogenannten Geistigen immer noch mit einem panischen Schrecken. Schulprobleme über Schul- probleme entstehen, um mit allen Mitteln den Einfluß der Wirtschaft auf das Geistige zu verhindern, Das ıst eine sehr natürliche Notwehr, hat sıch. doch unser ganzes geistigen Leben, unsere sogenannte Kultur völlig abhängig gemacht von der Diktatur des Geldes. Wenn wir an die Wissenschaft denken, an dıe Technik, so gab es gar keine freie Wissen- schaft mehr, alles war käuflich. Die Stellung der Mediziner im Kriege ist ein so dunkles Kapitel. wie wir es für alle die als Mannschaften im Felde waren, wohl nicht zu be- leuchten brauchen. Die Abhängigkeit der Irrenärzte von der kapitalistischen Diktatur, von der Diktatur der Heeresver- waltung hat so groteske Musterbeispiele gezeitigt. daß unter den Vertretern dieser Berufe heute die schlimmsten Gegen- revolutionäre sitzen. die eine ungeheure Angst vor der Ab- rechnung des Schicksals haben; ebenso die Vertreter der christlichen Kirchen, die in den Knien vor dem goldenen Kalbe das Christentum verrieten. Das Bedürfnis nach der 5 Arbeitsschule ist gerade daraus entstanden. unser geisti ges Leben frei zu machen von dem Einfluß des knechtenden Mammons, unser Wirtschaftsleben aber so mit dem Geist des Sozualıs- mus, mit dem Geist der Menschlichkeit, der gegenseitigen Hilfe zu durchdringen, daß das Wirtschaftsleben das stärkste Ausdrucksmittel unseres geistigen Zustandes ist. Das müs- sen wir auch ımmer wieder den dreigliedrigen Sozialisten zurufen: keine Trennung von Geistesleben, Wirtschaftsleben. Politik und Rechtsleben sondern Einheit der Gestaltung unseres Lebens, jede Tat Ausdruck unserer bejahenden Menschlichkeit!

Über die kommunistische Schule 505

In der Arheitsschule müssen wir die Umwelt des Kindes so gestalten. daß in ihm immer wieder das Schöpferische geweckt wird, denn dem schöpferischen Menschen geht es nie um Besitz, ihm ist die Tat. das Werk Lebenszweck, Erfüllung.

Wir beginnen unsere Schule mit dem Nichts an materiellen Gütern aber mit den seelischen Erkenntnissen und Erfahrungen der schwersten Leidenszeit. Die nächsten Sorgen sind die wirtschaftlichen und so verankern wir die Schule in den Bedürfnissen unserer Arbeitsgemeinschaft. im Betriebe der Schule, der Gemeinde, des Dorfes, der Stadt selber. Die innige Verbindung allen Wissens mit dem. lebendigen Leben ist die Grundlage der Arbeitsschule.

Die unabhängige Schulgemeinde ist nun ein wiırschaft- lich arbeitendes Teilstück der Dorf- oder der Stadtkommune. Ein Beispiel: Die Schule umfaßt neben einer intensiven Ge- müsewirtschaft (die möglichst das beste an moderner Tecknik dem Lernenden bietet) alle jenen Handwerksstätten. die für den Dorf betrieb notwendig sind. Die Gemüsewirtschaft würde die Ergänzung für den Körner- und Kartoffelbau der um- gebenen Gemeinde werden, den Bauer von der Kleinwirt- schaft entlasten und automatisch zu immer zusammengefaßterer Wirtschaft treiben, Der technische Autbau ist nun wieder Lehrmittel: die Land- und Höhenvermessungen, die z. B, für eine sachgemäße Berieselung oder künstliche Beregnung notwendige Unterlagen gäben, wären die praktischen Mathe- matıkaufgaben der Lernenden. Keine Maschine würde ein- gestellt. sie sei denn gleichzeitig in allen ihren Funktionen und Beziehungen zum produktiven Leben von Schülern und Lehrenden erkannt. Die Schule sucht also ın allen prak- tischen und in allen geistigen Dingen einen innigen Zu- sammenhang mit dem Leben zu gewinnen: sie ist in steter Wandlung. steter Vertiefung begriffen. In Dorf- und Stadtgemeinden. in denen die Gründung einer freien wirt- schaftlich selbständigen Schulgemeinde schwierig ist. wandert

506 = Heinrich Vogeler

..-- ane

die Schule auf die Straße, in den Betrieb. Vielleicht steht vor dem Hause schon ein Gemüsekarren: die Lerntätigkeit beginnt: sie führt von hieraus einen Teil der Lernenden in die Küche, andere hinaus in den Gemüsegarten. wieder andere bringt sie an die ländlichen oder städtischen Ver- teilungsstellen. Die Küche bringt die Lernenden zur Buch- führung. zum Schreiben. zum Rechnen: die Verteilungs- stellen bringen die Lernenden vielleicht an die Stellen. wo sie Not und Elend kennen lernen. Ueberall muß der Lernende tätig. helfend eingreifen, so findet er bald einen Platz, wo er seiner individuellen Anlage nach die eigene Ausbildung verfolgt. Ein anderer Lernender ergreift vielleicht draußen den Spaten oder er erkennt die Notwendigkeit der An- wendung moderner Chemie. moderner Maschinentechnik. Wasser- versorgung. künstlicher und natürlicher Wärmeleitung für das Wachstum der Feldfrucht.

Das Gemeinschaftsleben der Arbeitsschule mul in seiner ganzen Organisation ein Beispiel sein für Alt und Jung. hier wird die Räteordnung in ihrer reinsten Form bewahrt: der Rat, der gewählte Richtende. Ratende. Ausrichtende des Willens, der Sehnsucht der arbeitenden Menschen nach gestaltender Kraft. nach einem freien individuellen Arbeits- leben. Immer wieder: Die wirtschaftlichen Notstände unseres leidenden Volkes werden uns rücksichtslos die notwendigen Lehrbeispiele sein; sie werden die Lernenden bis ins Innerste der Dorf- und Stadtbetriebe treiben, aber auch an die Quellen aller Seelennöte. Ueberall gilt es ın die Tiefe zu gehen. das Leid der Menschheit zu erfassen und den Weg zur freudigen Tat zu finden: das ist die Aufgabe der neuen Lebensschule der klassenlosen Menschen.

Das Kinowesen, das heute den ganzen Verfall der bürger- lichen Kultur zeigt, die Aeußerlichkeiten des bürgerlichen Lust- lebens, das Leben der Parasiten, der Hotel- und Kaffee- hausgrößen, das Leben der Dirnen und der Verbrecher; die sentimentalen Schauspielerfilme werden dem Film der Arbeit

Über die kommunistische Schule i 507

Platz machen. Das Kino führt uns dann in das Arbeits- leben eines norddeutschen Islandfischers, zeigt uns den Kampf mit der malerischen Meeresnatur, zeigt uns die Technik der Erhaltung und Zubereitung der Ware, weiter vielleicht den Bau der Schiffe; oder der Fılm bringt uns auf eine elektrische Farm der A. E. G. zeigt uns die Bearbeitung des Landes mit den kleinsten genialsten Maschinen für eine intensive Bodenbewirtschaftung bis zu den umfassendsten elektrischen Kraftanlagen. es zeigt uns die Schüler. einer derartigen Farm bei ihrer Arbeit und die Einreihung eines derartigen Schulbetriebes in die Versorgung der Kommunen. Diese Schulfilme reisen weiter in die Kommunen anderer Völker. in die Ukraine, an die Wolga, um den Boden zu bereiten für den Austausch der Produkte und der Maschinen: für die Zuführung von technischen Schülern aus diesen Län- dern. die unsere Technik für die dortige Landwirtschaft dienstbar machen. Ueberall gilt es durch wechselseitige Hilfe und Aufklärung die Arbeitswelt zu gesteigerter Pro- duktivität und zum friedlichen kommunistischen Austausch zu bringen. Das Kino kann somit ein Lehrmittel für die Erweckung der produktiven Kräfte der Völker werden. Ganz automatisch würde es zu immer gesteigerterer Organi- sation der Produktion und Konsumtion führen: es würde Rußland. das Land der Rohstoffe mit unserer Industrie verbinden und somit über den gemeinwirtschaftlichen Aus- tausch von Kräften und Produkten den Zusammenbruch un- sererer Industrie vermeiden helfen.

In der Schule machen die politischen Landkarten den geologischen, den klimatischen Platz, wır sehen Bevölkerungs- karten und ın diesem Zusammenhang Karten für die Verteilung der Güter: dann für den Konsum und für die Verkehrsmittel, die verschiedene Art a Waren- Verteilung. Bearbeitung und Verwertung.

„Alle diese Liehrmiftel der Arbeitsschule neu zu gestalten

508 Heinrich Vogeler / Über die kommunistische Schule |

wird die Aufgabe der Lehrenden sein. Nur. wenn wir uns immer wieder den Schulbetrieb als eine selber produktive Werkstätte denken. ist dieser Weg gangbar; erst dann können wir, wie in Rufland an Stelle eines Lehrers acht setzen. Das Kräftebedürfnis der kommunistischen Ordnung wird nun durch das organische Zusammenwachsen mif den Lern- und Lehrkräften und dem nun entstehenden Unterricht. der aus diesem Bedürfnis gerichtet wird. ergänzt. Eine große Freizügigkeit der Kräfte würde die Folge sein; bis jeder den besten Boden für die Entwickelung seiner stärksten individuellen Kraft gefunden hat. Die Unentgeltlichkeit der Schulen und Hochschulen bedingen die natürliche Nutzung jeder Veranlagung für die Gemeinschaft der Arbeitenden. Wanderlehrer. Organisatoren werden von den proletarischen Hochschulen über das Land wandern, unterstützt von der proletarischen Gesellschaft mit den besten Verkehrsmitteln und technisch-optischen Einrichtungen für Kino und anderen Lehrmitteln. Ä Die neue Kunst sehen wir auch ganz organisch aus den handwerklichen Werkstätten entstehen. Sie wird aus dem Bedürfnis der Masse und dem natürlichen Schaffens- drang der einzelnen Kräfte wachsen. Ist das so entstehende Künstlertum nicht völlig aus dem Bedürfnis des Volkes geboren. so ist auch die Existenz des Künstlers hinfällig. das Handwerk wird ihn wieder aufnehmen und sehr bald wird er, falls er eine echte schöpferische Künstler- natur ist. mit neugestalteten Werken aus ihrem Scholle hervorgehen. Für den Künstler. der eine Sonderstellung einnehmen will, für den bürgerlicher Individualisten. ist kein Platz: unter dem Deckmantel des Anarchismus wird er versuchen sein Scheinleben zu rechtfertigen: für para- eitäre Erscheinungen ist jedoch kein Raum und bald werden die äußeren Verhältnisse ihn selber zum Absterben

bringen.

Romain Rolland / Meinem besten Freunde Shakespeare 509

MEINEM BESTEN FREUNDE SHAKESPEARE VON ROMAIN ROLLAND

Wenig Freunde, wenig Bücher bestehen die Prüfung der Tage. die wir erleben. Die wir am meisten liebten. werden zu Verrätern. man erkennt sie nicht mehr. Sie waren die Genossen köstlicher Stunden. Der Wirbel raubt sie, wie Pflanzen, die ein Windstoß aus dem Boden fegt. Es bleibt nur der Geist in den tiefen Wurzeln. Vielen von niederer Art würde man im gewöhnlichen Leben keine Beachtung schenken. Und bedeutende Geister ın geringer Zahl ragen wie Türme aus einer Ebene empor und erscheinen über soviel Ruinen umso größer. Ihn finde ich wieder, der alle Träume meines Lebens seit den Tagen der Kindheit beherrscht. die alte Eiche Shakespeare. Nicht einer ihrer Äste ist geborsten, kein Zweig verwelkt und der Sturm, der heute die Welt durchbraust. macht diese große Leier des Lebens machtvoll erklingen.

Seine Musik läßt die Forderungen der Gegenwart nicht vergessen. Horcht man ihr, so wird man überrascht durch die Stimme unserer Zeit, die aus diesem brausenden Meer immer wieder emporschlägt, durch Gedanken, die der ge- naue Ausdruck unserer Urteile über die Ereignisse sind. die uns bestürmen. Über Krieg und Frieden, über die politische Handlungsweise des XVI. und des XX. J ahr- hunderts, über den Geist der Bestrebungen und Ränke der Staaten, über die Verdrängung der edelsten Instinkte, des Fleldenmutes und des Opfersinns, durch verstellte Selbst- sucht, über die gofteslästerliche Verbindung hassender Leidenschaft mit Worten des Evangeliums, über die Teilnahme von Kirchen und Göftern an den Schlächtereien

nun... Romain Rolland

der Völker. über feierliche Verträge. die nur »Fetzen Papiere sind, über das Wesen der Völker und Heere. die sich miteinander messen, ıch habe es unternommen, eine Reihe von Gedanken Shakespeares zusammenzustellen. die, würden sie ohne Namen veröffentlicht, Gefahr liefen, die Empfindlichkeit der Zensur unserer freiheitlichen Epoche zu wecken, unserer Epoche, die noch kitzliger ist. als die der Königin Elisabeth. So wahr ist es daß. allen Um- stürzen der Welt zum Trotz alles doch immer gleich bleibt. und daß des Menschen Seele. wenn er neue Mittel zu herrschen und zu töten gefunden hat. nicht gewandelt ist.

Allein der besondere Vorteil der Lektüre Shakespeares ist. daß man hier die seltenste und zur heutigen Stunde notwendigste Tugend findet: die Gabe universellen Mit- gefühls. durchdringender Menschlichkeit, die bewirkt. daß man die Seelen der anderen wie seine eigene sieht. Sicher- lich, der Glaube, die Größe, die Steigerung des Lebens und all seiner Eigenschaften, all das fehlt nicht unserer Epoche, und das ist es was sie der englischen oder italienischen Renaissance ähnlich macht. mit dem Unterschied, daß jene Zeit den Vorzug von Persönlichkeiten ohne Mal im Guten und Bösen hat. die die Menge beherrschen und die heute fehlen. Heute ist die Größe verstreut, sie ist sozu- sagen mehr kollektiv als ındıvıduell: und in dem mensch- lichen Ozean erhebt sich kaum eine Woge über die anderen. Der wesentliche Unterschied allerdings liegt anderswo: es ist, daß diesem epischen Schauspiele der Zuschauer fehlt. Kein Auge falt das Durcheinander des Sturms. Kein Herz begreift die Ängste, die Wut. die Leidenschaften, die den sich drängenden Wogen. den berstenden Seglern. den Schiff- brüchen gegenüberstehn, über denen der Schlund des ent- fesselten Meeres sich wieder schließt. Jeder bleibt in seinen Mauern und bei den Seinen. Deswegen empfindet man Erleieh- terung und Befreiung. wenn man einen Band Shakespeare öffnet. Es

Meinem besten Freunde Shakespeare 511

ist, als würde mifen in dumpfer Nacht. in abgeschlossener Kammer der Wind das Fenster aufstoßen und den Hauch der Erde hereinströmen lassen.

Die große brüderliche Seele! Sie trägt alle Freude und alles Leid der Welt. Nicht nur widmet sie sich mit Begeisterung der Jugend, der Liebe. der lodernden Süßig- keit lenzlicher Leidenschaft: Julia und Miranda. Perdita. Jmogene . .. Nicht nur ist sie nicht wie jene Freunde, die in Stunden des Jammers sich drücken mit dem Wort des alten Herrn Lafeu, daß »ein ungewöhnlicher Schmerz Feind der Lebenden« sei) sie bleibt auch treu und anhänglich an ihrer Seite, um die Last ihrer Irrtümer, ihres Unglücks und ihrer Verbrechen zu teilen. Nachdem er Desdemonas „Tod beweint hat. bleiben ihm Tränen für ihren noch viel mehr beklagenswerten Mörder. Den Elendesten fühlt sie sich am nächsten und versag sich auch nicht den Schlechtesten: sie sind Menschen wie wir: sie haben Augen. Sinne. Gefühle. Leidenschaften wie wir. sie bluten wie wir. sie lachen und weinen wie wir. me sterben wie wir.“) Und.“ sagt Bruder Laurentius, sunter allem. was auf Erden wächst, ist nichts so schlecht, daß es nicht einen Keim des Guten ent- hielte: es ist nichts so gut, daß es. dem gewohnten Brauch entzogen, nicht schlecht werden könnte.)

Shakespeares Geist und Herz vereinen sich in dem gleichen Bedürfnis. die Seelen zu durchdringen. Sein Ge- rechtigkeitssinn wird durch die Sinne der Liebe ergänzt. Im „Kaufmann von Venedig - sprechen Shylok und Antonio miteinander über die Gründe des Hasses, den der Jude gegen den christlichen Kaufmann hegt. Mühelos versetzt er sich in das Herz jedes Menschen; er lebt noch einmal

1) „Eads gut, alles gute I.

2)

. ann von Venedig III. 3) „Romeo und Julia.. II.

512 Romain Rolland

sein Denken, seine Erscheinung und seine kleine Welt: niemals sieht er ihn von außen. Und wenn er immer wieder mit Vorliebe den Schatz seiner reichen Sympathie gewissen seiner Helden schenkt, den Kindern seiner schönsten oder stärksten Träume, so ist er wie ein guter Vater: in der Stunde der Prüfung werden ihm die am wenigsten liebens- werten gleich Feuer. Der ehrgeizige Wolsey, der Heuchler. der Kriecher, wächst, kaum in Ungnade gefallen, zu antiker, Größe empor; mit einem Mal sieht er das Unheil seiner Wünsche und in den Trümmern seines Glanzes »ist er noch niemals so glücklich gewesen. Seine Augen öffnen sich, das Unglück hat ihn geheilt: und dieser harte Egoist tröstet seinen weinenden Freund und läßt ıhm als Testament seines ränkereichen Lebens dies heiligste der Worte: »Liebe . die Herzen, die dich hassen) Der Tyrann Leontes ım Zusammenbruch seines Glücks, das er durch seine ver- brecherische und grimmige Tollheit selbst vernichtet hat. wird im nu heilig, sogar für Pauline, die ihn mit den blutigsten Wahrheiten peinigt.”) Der Tod, der vor den Leichnamen des Brutus und des Cassıus, des Antonius und Coriolan auch ihre unerbittlichsten Feinde sich neigen macht, verwandelt Cleopatra ın ıhren letzten Augenblicken und verleiht sogar dem bösen Edmond in König Leare einen Adel. Es ist wunderbar zu sehen, wie angesichts des Un- glücks und des Todes das große Herz des Dichters Stolz. Rache, Selbstsucht aufgibt. um in seinem un- geheuren Mitleid alle Leidenden zu umarmen Feinde, Nebenbuhler. was tut es? Brüder im Schmerz. Eines der ergreifendsten Beispiele dieser Menschlichkeit ist es, wie Romeo, der gekommen ist, an Juliens Leiche zu trauern, seinen Rivalen Paris. der ihn reizt. gegen den eigenen Willen tötet und dann in Julens Gruft an ihre Seite befet:

3) » Heinrich VIII... III. N) „Wintermärchen. III.

Meinem besten Freunde Shakespeare 513

»Reich mir deine Hand, du, dessen Name so wie meiner ins traurige Buch der Feindschaft geschrieben ist!. Und wie Hamlet mit grausamen Worten seine ver- brecherische Mutter peinigt, leiht Shakespeare, unfähig die Eerogaag ecne Helle dorch a Milad 26: bessnftigen: das Hamlet niemals fühlte. dieses Mitleid dem Geiste des ermordeten Könige, der mit Worten rührender Güte der nıedergeschmefterten Frau zu Hilfe kommt: »Entsetzen liegt auf deiner Mutter: tritt zwischen sie und ihrer Seel im Kampf. In Schwachen wirkt die Einbildung am stärksten«, spricht mit ihr Hamlet.) Dieses weite Mitleid ist eine Brücke über dem Graben. der Individuen und Klassen trennt. Es nähert einander die Hände der Reichen und Armen. der Herren und Knechte. Obzwar Shakespeare in der Politik sich wohl eher zu den Arıstokraten rechnet. die die Menge verachten, (es gibt keine blutigere Satıre auf eine Volkserhebung als den Bauernaufstand in „Heinrich VL« und Coriolan ist ein Prototyp von Nietzsches »Übermenschen) hat sein Herz für die Niedrigen zartestes Mitgefühl, und dieses Gefühl leiht er ihnen häufig. Nach so vielen gewandten Reden der großen Männer Roms auf dem Capitol, wer allein weint an dem Leichnam des ermordeten Caesar? Ein unbekannter Sklave, ein Diener des Octavius, der dem Antonius eine Botschaft überbracht hat und der beim Anblick des getöteten Helden miften in seiner Rede überwältigt. vom Schmerz ınnehält: »... O! Caesar! ... « und schluchzend abgeht.?) Wer wagt es, Gloester zu ver- teidigen, den Regane und Cornwales foltern? Ein Diener des Cornwales, der das Schwert gegen seinen Herrn zieht und andere Diener heben den blinden Greis auf und waschen sein blutiges Antlitz. Hamlet ist vor dem feigen Haß des me durch ‚die Liebe des Volks geschützt, dessen

514 Romaın Rolland

Idol er ist). jenes Volks, das klarer chend als der schwache Heinrich VI. dem rechtmäßigen Grafen Humphrey selbst im Unglück treu bleibt und das auf die Kunde von seiner Ermordung sich erhebt, die Tore des Schlosses zertrümmert und den Mörder Suffolk zur Flucht zwingt. Der alte Adam macht sich zum Genossen des Mißgeschicks seines jungen Herrn Orlando. und der Herr wieder trägt ihn auf seinen Schultern, sucht ihm Nahrung, weigert sich vor ihm zu essen.) Der Proconsul Antonius ruft am Abend vor der Entscheidungsschlacht seine Diener und spricht zu ihnen wie ein Bruder, er wünsche, ihnen ebenso- gut dienen zu können, wie sie ihm gedient haben: und die Milde seiner Worte entringt ihnen Tränen.) Soll man noch Timons gedenken, des Unglücklichen. den seine Freunde verrieten. seine Diener aber nicht. die. vom Schicksal zer- streut. in Timon vereint bleiben?.) Im König Lear aber hat dieses göttliche Mitgefühl seine tiefsten Klänge. Der alte Tyrann. rasend von Hochmut und Selbstsucht. beginnt unter den ersten Schlägen des Schicksals, das Leid der anderen zu fühlen. In dem Gewitter, das die Einöde ‘durchrast, fühlt er Mitleid mit dem schlo@ernden Narren: ‘und allmählich entdeckt er das große Unglück:

Nr armen Nackten, wo ihr immer seid, die ihr des tück- schen Wetters Schläge duldet, wie soll eu'r schirmlos Haupt, hungernder Leib, der Lumpen off ne Blöf euch Schutz verleihen vor Stürmen so wie der? O, daran dacht ich zu wenig sonst! Nimm Arzenei, o Pomp! Gib, freis dich, fühl einmal, was Armut fühlt, daß du hinschüttst für sie dein Überflüssiges, und rettest die Gerechtigkeit des Himmels! 5) I

Diese innige Menschlichkeit, die wie eine Welle Shakespeares Werk durchrollt, ist es vielleicht, was es von

1) Hamlet. IV.

2) „Wie es euch gefillte, IL

) „Antonius und Cleopatrae, IV. ) Timon v. Athene, IV

8) König Leare, III.

Meinem besten Freunde Shakespeare 515

den übrigen Dramen seiner Zeit unterscheidet. Sie ist sein Zeichen, sie ist ihm Bedürfnis: er kann sie nicht lassen. Selbst an den Menschen, denen sie am wenigsten entspricht, schafft er ihr einen Platz. Am Herzen des harten Coriolan, dieses eisengepanzerten Mannes, der durch Hochmut und Blut schreitet, blüht die sanfte Virgilia). Und aus der stoischen Portia, Tochter Catos, hat er die menschliche, schwache, weibliche, fiebernde Portia gemacht, die, von Angst verzehrt. den Ausgang der Verschwörung erwartet.) Ebenso wie Montaigne ist auch Shakespeare kein Gläubiger des Stoizismus, dieser ist ihm eine Rüstung, die das wahre Herz verbirgt. Und welch rührende Innigkeit. wenn die Rüstung birst und die Liebe emporsprießt wie in der wunderbaren Szene des Zusammentreffens der beiden, Brutus und Cassıus, die der Höhepunkt des Stücks ist. Das Herz ist so geschwellt von der Innigkeit, die es erfüllt. dal man die Tränen zum Rollen bereit fühlt, allein eine Scham hält sie zurück und verleiht der Erregung höchste Schönheit. Den Helden der Freundschaft, den rätselhaften Antonio, den reichen Mann, glücklich ın den Augen der Welt, doch gequält von seltsamer Traurigkeit, der mır ın der Liebe zu seinem Freunde zu leben scheint, schen wir das Geheimnis dieses liebenden und leidenden Herzens preis- geben in der Abschiedsszene. wo er. die Augen voller Tränen, mit abgewendetem Antlitz die Hand Bassanio ent- gegenstreckt und ihn schweigend umarmt.) Das Schwei- gen ist noch rührender, wenn der kleine Mamillius nicht mehr ift, nicht mehr schläft, dahinsiecht und stirbt aus Scham über seine Mutter.)

Auch jenseits der Menschen erstreckt sich dieses Mit- leid auf die Natur. Der vertriebene Herzog in -Wie es

1) Coriolan I.

2) „Julius Cäsar«, IL

2) „Kaufmann v. Venedig. II. $) »Ein Wintermärchen«, II.

516 Romain Rolland / Meinem besten Freunde Shakespeare

euch gefällt, hört die Stimme der Bäume, liest das Buch der Bäche, erforscht den Sinn der Steine. Und Jacques der Melancholiker, weint über einen Hirsch, der im Sterben liegt.

« * *

So schließt das Genie des Dichters die Glieder der Kette. die alle Wesen miteinander vereinigt. Und nichts regt sich in einem von ihnen, das sich nicht über alle verbreitet: denn alles ist uns gemeinsam und uns selbst finden wir auf jeder Seite dieser Tragikomödie der Welt wieder.

Allein nur wenn wir an aller Freude und allem Leid teilnehmen. nur wenn wir jeder Seele beistehn. ihr Kreuz zu tragen, steht man uns bei, das unsere zu tragen. sSehn wir den Größern tragen unsern Schmerz, kaum rührt das eigne Leid noch unser Herz. Wer einsam duldet, fühk die tiefste Dein, fern jeder Lust trägt er den Schmerz allein. Doch. kann das Herz viel Leiden überwinden, wenn sich zur Qual und Not Genossen hnden. .) Auch dis Rachsucht erlischt. Das Schauspiel des Unrechts reizt nicht zu dem Wunsche. es durch ein ähnliches Unrecht zu er- setzen. Und das letzte Wort, der Gesang, der über den letzten Akkorden dieser Symphonie schwebt, ıst der des strahlenden Geistes, Ariels, der Prospero verkündet:

‚Das Verzeihn steht über der Rache. .«?) Übersetzt von Frans Schule

1) „König Lear«, III. 3) „Sturm. V.

Hans Siemsen / Potsdam oder Döberitz? 517

POTSDAM ODER DÖBERITZ? VON HANS SIEMSEN

Geschrieben im August 1918

Gewidmet: Sr. Ex. dem General Freiherrn v. Ludendorft. sowie dem Reichswehrminister a. D. Gustav Noske

Ich glaube es war Bernhard Shaw, der als erster den Begriff . Potsdam in die Kriegsdebaften warf. Er sagte, dal man den Geist von Potsdam in Deutschland und in den Deutschen zerstören müsse und dal man den Geist von Weimar leben lassen und loben sollte. Er meinte mit »Pots- dam alles Schlechte des preußischen Geistes und vor allem den preußischen Militarismus zu treffen.

Shaw ist ein kluger Mann. Aber ich glaube nicht, dal er jemals in Potsdam gewesen ist. Ich kenne Potsdam. Ich war ein paarmal dort. Einmal des Nachts, als der Mond schien, einmal bei Regen, einmal im Winter und einmal im Sommer, als es so heiß war, daß man nicht wagte, aus dem Schaften heraus über einen Platz zu gehen. Und einmal früh am Morgen nach einer in Berlin durchtanzten Nacht.

Da lag um die Brücken ein leichter Nebel, in den leeren Straßen hallte der Schritt. Die vergoldete Kuppel des Palazzo Barberina schimmerte stolz und bescheiden im ersten Licht. Die Wände des kleinen Stadtpalastes, die Treppe, die flachen Säulen haften die Farben, die am Himmel verloschen: rosa und gelb. Von dem Turm der Garnisonkirche klang das ziſterige Glockenspiel über die Häuser hinweg, in denen man schlief. »Üb immer Treu und Redlichkeit«. Zifterig. etwas verstimmt und zu langsam.

Das Pflaster ist holperig. wie in Versailles. Ich habe noch

5148 . „Hans Siemen nie zwei Städte gesehen, deren Pflaster sich so ähnlich ist, wie das von Versailles und das von Potsdam. Jeder Stein hat einen Extrabuckel. Und auf den Plätzen. über die kein Mensch mehr geht. wächst zwischen den Steinen ein wenig Gras. I Sanssouci ist nur ein Pavillon. Aber, weil er auf einem Hügel liegt, weil diesen Hügel hinan eine große Treppe führt. weil Alleen und Wege zu ihm hinzielen. sieht er königlich aus, wie ein richtiges Schloß. Durch die Fenster sieht man in kalte Zimmer, die alle zu ebener Erde liegen. Weißer Stuck und vergoldeter Stuck, ein paar Bilder und goldene Rahmen. glänzender Parkettfuſboden. wenig Möbel an den Wänden, wie solche Schlösser auszuschen pflegen. Über Garten und Park hinweg sieht man den Wald, den See, ein Segel darauf und wieder den Wald. Alles ist einfach und ziemlich bescheiden, wenn man es mit anderen Schlössern vergleicht, aber doch königlich, ein ländliches Königtum.

Nur auf der steinernen Ballustrade liegt ein alberner Löwe aus Marmor. Den hat Kaiser Wilhelm II dort hın- legen lassen. Abscheulich gewöhnlich und dumm liegt er da mit, der aufdringlichen Würde eines fetten Generals. Ein feines Denkmal. Für wen? Für den, der es setzte.

Zehn Schrifte davon liegen flach im Rasen, ganz grün von Moos, ein paar große Steine. Kaum kann man noch die Inschriften lesen: »Biche« und »Phöbe« und »Adamant«. Unter diesen Tafeln liegen die Windhunde, mit denen der große König spielte. Er liebte die Menschen nicht. Er hafte auch wenig Grund dazu. Und sie haften wenig Grund, ihn zu lieben. Er hae sich selbst und ihnen das Leben schwer gemacht. Seit dem Tage. an dem sein Freund, ein junger Offizier. vor seinen Augen hingerichtet wurde, seit jenem dunkelsten Tag seines Lebens, hatte er viel Elend und Unrecht erlebt, erliften und selbst getan. Kriege gesehen und selbst geführt, alles Unrecht und alle Gemeinheit des Lebens und der

Potsdam oder Döberi t: č 519 Politik selbst erlitten und selbst getan. An jenem Tag an dem sein Vater. der König. seinen einzigen Freund, den einzigen Menschen vielleicht, den er in seinem ganzen langen Leben wirklich liebte, vor seinen Augen hinrichten ließ, als niemand ihm half, als er so allein und verlassen und viel- leicht roher und tiefer verwundet war. als Christus in Gethsemane, da hatte es wohl zwei Möglichkeiten für ihn gegeben: sich selbst zu töten oder weiter zu leben. Er lebte weiter. Aber wie? Das Herz voll Hal und Verachtung und Ekel Und er hat in seinem ganzen langen Leben wenig gesehen und wenig erlebt und wohl auch selber wenig ge- tan, was diesen Haß und diesen Ekel hätte mildern und beruhigen können. Er liebte niemanden und nichts. Er sah von allen Dingen den dunklen Ursprung und in allen Menschen die schmutzigen Gründe. Erst als er alt geworden war und müde, fand er wieder ein paar Dinge, denen. er freundlicher zusehen mochte, die er vielleicht ein wenig liebte: Ein paar schlanke Windhunde, ein paar schlanke Pagen. Ihn, diese Windhunde und diese Pagen. stellt man sich vor. wenn man von der Terrasse herab die Alleen ent- lang nach Potsdam sieht.

So ist Potsdam. so ist Sanssouci. Und an der einen Seite der Stadt fließt zwischen den Häusern und zwischen Alleen ein kleiner spießbürgerlicher Kanal, als wäre man ın Holland und nicht in Preußen.

Ich weiß sehr wohl, daß es in Potsdam auch Kasernen gibt und Exerzierplätze. Aber wo in Deutschland gibt es die nicht? Potsdam hat hinter seinen Kasernen Alleen, Schlösser, den See und die Erinnerung. Befehle werden gebrüllt. wie überall in Deutschland. Aber in Potsdam klingt von Stunde zu Stunde über das Gebrüll der Kasernenhöfe, verweht und zifterig, aber doch da, das leise Glockenspiel der alten Kirche.

Potsdam ist nicht das Symbol des preußischen Militaris-

520 Hans Siemsen

e nn —— un.

mus. So groß so zart, so achtenswert sind dessen Traditionen nicht. Potsdam hat wıe jede menschliche Sache gute und schlechte Traditionen. Der preufische Militarismus ist keine menschliche Angelegenheit. er hat nur schlechte Traditionen. Er hat vor allem eins: Brutalität und immer wieder vor allem andern: Brutalität. Er hat Offiziere und Unteroffiziere, er hat Säbel und Helme und bunte Uniformen, er hat den Befehl und das Gebrüll, er hat das Exerzierreglement, den Fahneneid und den Parademarsch. Er hat die schlechte Löhnung und die Rangordnung, er hat die goldenen Litzen und die Militärmusik, . mit Gott, für König und Vaterland.. die Kniebeuge, die Soldatenmifhandlungen und die Kanonen von Krupp. Aber all das, der Befehl, der Gehorsam und das berühmte Pflichtbewußtsein, all das sind ja nur ver- schiedene Namen und verschiedene Uniformen für seine eine und einzige Eigenschaft, für seine unmenschliche. viehische. völlig geistlose Brutalität. die den Menschen erniedrigt und erniedrigen will.

Potsdam als Symbol dafür ist viel zu schade, viel zu menschlich. Es gibt Symbole die. besser passen. Kennen Sie Döberitz? Das liegt zu gehen ein paar Stunden von Pots- dam. Es ist ein Truppenübungsplatz, angefüllt mit Rekruten- depots.

Ich besuche in Döberitz einen Freund. Er ist achtzehn Jahre alt, von der Schule aus Soldat geworden und jetzt für acht Wochen in Döberitz. Er heift Henry . und liebt die Bilder von Henry Rousseau. Er malt selbst kleine Bilder: Huldigungen an das Leben, Huldigungen an den guten Menschen. Unter alle seine Bilder könnte man das Wort von Werfel schreiben: »Mein einziger Wunsch ist, Dir, o Mensch, verwandt zu sein.«

Er ıst hübsch, mit blonden Locken, achtzehn Jahre ist er alt und sein Herz ist voll von Liebe, wie die Herzen Achtzehnjähriger sind. Jetzt steht er stramm und geht in

Potsdam oder Döberitz 521

grader Haltung an seinem Feldwebel vorbei. . Auf! »Hin- legen!. Und er wirft sich auf die Erde, springt wieder auf. wirft sich hin. springt auf. Und dann machen zwanzig junge Leute, die alle ebenso jung und nicht viel anders sind als er. Kniebeuge, solange der Unteroffizier befiehlt. bis sie weiß ım Gesicht werden und ihre Augen nichts mehr sehen. Aber der Unteroffizier befiehlt nicht nur, der brüllt sie an und geht auf den, der am schwächsten ist, der ziftert, schwankt und beinahe hinfällt. auf den Jüngsten langsam zu und lacht ihm ins Gesicht. sagt ganz dicht zwei Zentimeter vor seinem Gesicht: » Wollen Sie nicht Mama rufen? Was? Nehmen Sie die Knochen zusammen, wenn ich mit Ihnen rede!» Der Junge, den er anschreit, zittert und aus seinen geängsteten Augen rollen langsam große Tränen.

Ist das Döberitz?

Nein. Das ist der preußische Militarismus in jeder Stadt und auf jedem Kasernenhof. Döberitz ıst noch schlimmer als das. |

Als ich ankomme mit der Bahn von Berlin, ist Sonn- tag nachmittag. Kein Dienst. Die Jungens haben frei. Was heißt frei? Sie dürfen nicht fort. Sie dürfen das Lager nicht verlassen. Da liegt Berlin sie dürfen nicht bin. Da liegen Wälder und Dörfer sie dürfen nicht hin. Sie sind eingezäunt,. wie wilde Tiere. Und auf den Straßen stehen Posten mit geladenen Gewehren. Zwei oder drei Züge kommen von Berlin, zwei oder drei Züge fahren ab mit Offizieren, die Urlaub haben, und anderen Menschen. Da stehen die jungen Rekruten, hunderte, hinter dem Bahn- hofszaun und sehen den Zügen nach. Wie wilde Tiere, nein wie verprügelte Tiere hinter den Stangen eines Käfigs.

Da steht mein Freund, der junge Maler, eingesperrt und verlassen. Ein fremder wilder Vogel mit gebrochenen Flügeln, tedem Tierquäler ausgeliefert. Er tut mir so leid, daß ich am liebsten ihn gleich in die Arme nähme und zärtlich

52. „Hans Siemen gegen ihn wäre, wie man unter Männern nicht sein darf. Da ich nicht zärtlich sein darf. bin ich nur höflich. Aber wie kalt ist Höflichkeit. wenn man zärtlich sein möchte. So bin ich den ganzen Nachmittag über viel kühler als ich sein will. Am Abend, als ich allein in der Bahn sitze. tut es mir leid. Aber da ist es zu spät.

Wir gehen durch Döberitz. Wir sprechen nicht vom Militär. Wir wissen beide genug davon. Wir wissen beide. was es heilt. stramm zu stehen. Diese Haltung: Die Hände an der Hosennaht. die Hacken aneinander gepreſt. den Kopf krampfhaft geradeaus gereckt. das ist die raffinierteste. brutalste Erfindung des Militarismus. Es gibt keine Haltung. die unnatürlicher wäre, sie macht zum willenlosen Sklaven. zum wehrlosen Opfer. sie erniedrigt vor dem Herrn. der vor einem steht. sich bewegen kann. wie er will. tun kann. was er will. sagen kann, was er will. und dir, dem Wehrlosen. Regungslosen, dem Gefesselten ins Gesicht brüllt: »Nehmen Sie die Hacken zusammen. wenn ich mit Ihnen rede!« Diese Haltung. eines jeden Menschen unwürdig. ist das Symbol des Militarismus. In ihr verkörpern sich restlos Brutalität und Sklaverei.

Döberitz liegt ın Brandenburg. Eine schöne Landschaft ist das nicht. Immerhin gibt es Felder dort, etwas Kiefern- wald, etwas Wasser. Hecken. Gebüsche und Wege zwischen den Hecken. Eine arme, rührend armselige Landschaft. Die Brutalität des Militarısmus aber hat aus dieser Landschaft die Hölle gemacht. Felder? Nein! Exerzierplätze Ein Wald? Nein! Schiefstand hinter Schießstand, Ein Weg? Nein! Ein verbotener Weg. Alle Wege sind verboten. Überall Schilder und Tafeln: »Verboten, Verboten! »Es ist verboten.. Nicht für Ma nnechaften!« »Streng untereagt! . Der Lagerkommandant! „Nur für Offiziere!« Stacheldraht. Zäune, Mauern und Tafeln. Es ist verboten zu leben. Nur stramm stehen darf man. Überall stehen Schilderhäuser. Überall stehen Posten mit ihren Gewebren. Überall gehen Patrouillen. die aufpassen.

Potsdam oder Döberitz_ __ -523

ob alle stramm stehen, ob alle die Hände vorschriftsmäßig an die Mütze legen. |

Die ganze Gegend ist eingezäunt und innerhalb dieses Zauns gibt es nichts, was nicht dem Militär unterstände, nicht eine Stelle. auf der die geringste Freiheit erlaubt wäre, nicht eine Stelle. auf der nicht Befehle gebrüllt und geschrien würden. Diese Landschaft besteht aus Stachel- draht. Es gibt Baracken, verbotene Wege, Mauern, Kasernen. Kasernenhöfe, Exerzierplätze, Staub und vertrocknete Kiefern und an jeder vertrockneten Kiefer ein Schild auf dem irgend etwas verboten wird. Es gibt ein paar Häuser, ın denen man Militärmützen, Halsbinden, Knöpfe kaufen kann, Post- karten, Briefpapier. Schuhputzmittel. Es gibt drei oder vier Restaurants mit schmutzigen Tischen. Bier und schlechtem Schnaps. Und alle müssen, wenn ein Unteroffizier eintritt. aufspringen und stramm stehen. Es gibt ein Karussell und eine Schieſbude. Es ist Sonntag und die Rekruten dürfen ihr Leben genießen. Sie stehen um das Karussell herum. Das ist bunt und mit Fahnen und Spiegeln behangen. Zwei Mädchen kassieren. alt und geschminkt. mit denselben Farben gemalt. von denen das Karussell rosa und rot ist. Sie haben goldene Ringe, schlechte Zähne und verschiedene Krankheiten. Man sieht das von weitem. Das sind die beiden Frauen. die die Militärbehörde erlaubt. Die beiden einzigen erlaubten Frauen in Döberitz. Dreihundert junge Rekruten stehen um sie herum. Die Drehorgel spielt. Aber erst kommen die Herren Unteroffiziere. Der Boden um das Karussell ist fest- getreten. Das Gras geknickt und niedergewalzt. Es wird dunkel. Das Karussell steht still.

Gibt es noch Tiere in dieser Landschaft? Vögel. die fliegen können? Gibt es noch etwas unkontrolliertes. was dem Militär nicht untersteht? Es gibt vor allen Dingen Stacheldraht. Stacheldraht ist um jeden Baum, neben jedem et vor jedem Feld. Stacheldraht begleitet vom Morgen

524 Hans Siemsen

bis zum Abend den jungen Rekruten. Stacheldraht führt ibn auf den rechten Weg. Stacheldraht und Befehle halten die Ordnung aufrecht. Stacheldraht und Befehle regieren die Welt.

- Gibt es einen Gott? So ist er Unteroffizier und steht stramm vor seinem Feldwebel. Der Himmel über Döberitz stürzt nicht ein.

Hielte die Welt einen Moment den Atem an und horchte nach den Kasernenhöfen und Exerzierplätzen, deren es ın jeder Stadt und in jedem Lande gibt, so würde der Lärm der geschrienen und gebrüllten Befehle, wie der Schrei eines dummen und blutgierigen Tieres in alle Ohren und Herzen gellen. Aber sähe die ganze Welt einen Moment nach Döberitz, so würde sie erstarren. vor Entsetzen. Aus dieser erstarrten Stacheldrahtwüste, aus dieser Welt des Reglements steigt kaum noch ein Schrei, unter Befehlen erstickt selbst der Befehl, die Wüste schweigt. Döberitz das ist die Hölle, das letzte, das unmenschlichste, was Menschen aus der Erde und aus sıch selber machen können.

Steht am jüngsten Gericht der Kaiser oder ein General und Kriegsminister oder ein Kriegs- und Militärphilosoph vor Goftes Thron und beginnt in seiner Uniform mit seinen Orden auf der Brust von der Größe Preußens zu reden, von Arbeit und Kampf. von Pflichtbewußtsein, Pflichter- füllung. Unterordnung und Gehorsam, sagt er: - Ertüchtigung . und »Selbstlos dienen - dann wird einer von den kleinen Rekruten vortreten und nur das eine Wort: »Döberitz« sagen, ganz leise, aber ohne Scheu und nicht mehr die Hände an der Hosennaht.

Und dann wird nicht nur General und Kaiser, nicht nur der Kriegsphilosoph, dann wird ganz Preußen, dann wird die ganze Geschichte, mit all ihren Schlachten und Siegen, dann werden alle großen Männer, die sich des Militärs be- dienten, dann werden alle Länder, die sich des Militärs be-

Potsdam oder Döberitz ne 525 dienten, dann wird alle Größe und alle Arbeit und aller Stolz und aller Ruhm, der sich nur irgendwie auf Krieg und Militär aufbaut, dann wırd das alles zusammenbrechen und hinunterrasen wie in einen Abgrund. Dann werden alle großen Helden und Politiker und Generäle taumeln und in die Knie knicken vor dem kleinen Rekruten und seinen Brüdern. Dann wird die Erde wanken und der Himmel zittern und Gott selbst wird schweigen und aufhören, Urteile zu sprechen.

Denn nicht der Krieg ist das letzte Verbrechen, nicht der Krieg ist die scheußlichste Sünde, nicht der Krieg ist die tiefste Erniedrigung des Menschen. die äußerste Gemein- heit ist das Militär. Der Krieg ist das Verbrechen, das alle anderen Verbrechen enthält: Mord, Raub, Mißhandlung, Lüge, Verrat, jedes Verbrechen, jede Gemeinheit, jede Bestialität und jedes Laster. Aber der Krieg ist, so grausam, entsetzlich, gemein er auch ist, irgendwie groß in seinen Lastern. die aus Leidenschaften stammen. Das Militär ist niemals groß. Nicht einmal im Laster. Und ohne jede Leidenschaft. Das Militär ist nichts als die Vorbereitung des Krieges. Hier wırd nicht gemordet, hier wird der Mord gelehrt und geübt. Hier wird das Laster schematisiert. Hier wird die Brutalität zum System. Hier wird der Gemeinheit eın Reglement gegeben.

Hier wird das Verbrechen auf Flaschen gezogen. Hier erst erhält die Grausamkeit, hier erhält die Brutalität ıhre höchst mögliche Vollendung. Hier wird der Krieg der Leidenschaft entkleidet und über bleibt das reine systematische Verbrechen, die Verrohung des Menschen, die Vergewaltigung der Welt nach dem System, nach dem Stundenplan, Mord und Vergewaltigung gelehrt, geübt und vorgeführt von diplomierten Mördern und Leichenschändern, von kleinen, gemeinen, staatlich besoldeten und dekorierten Verbrechern. Um wieviel ekelhafter als ein Lust- und Raubmörder. der

526 _________________ Hans Siemsen aus Begierde oder ausH abgier mordet, um wieviel ekelhafter ist ein Unteroffizier, ein Leutnant, der einen wehrlosen jungen Rekruten solange Kniebeuge machen läßt, bis er umfällt. Wieviel grausamer, wieviel gemeiner als Mord und Totschlag ist die Folter. Wieviel gemeiner als der Mörder ist der Folterknecht.

Nicht jeder Leutnant quält seine Leute? Schreit nicht jeder Leutnant jeden Tag: »Nehmen Sie die Knochen zusammen!« Verlangt nicht jeder Vorgesetzte die stramme Haltung:. die Hände an der Hosennaht, die Hacken zusammengeprelt, den Kopf geradeaus gereckt? Das ist die systematische Ent- würdigung, Erniedrigung. Versklavung des Menschen. Damit fängt die Folter an. Übergriffe Einzelner? O nein! Schlimmer als der Folterknecht ist der Richter, der dabei zusieht, Schlimmer als der Unteroffizier ist der General. Schlimmer als der schlimmste Menschenschänder unter Generälen und Unteroffizieren ist das menschenschänderische Sys tem des Militarismus.

Nicht die Soldatenmifhandlung, nicht der Uberęriff. das einfache Exerzierreglement, der einfache, alltägliche Befehl, das Strammstehen und das »Stillgestanden« das ist der Beginn der Unmenschlichkeit, das ist der Beginn der Ver- gewaltigung und der Versklavung. damit beginnt die Herr- schaft der Brutalität, damit beginnt die brutale Gewalt. die Ungerechtigkeit. das Verbrechen. Damit. beginnt der Mord, der systematische Mord am Menschen und an der Menschlichkeit.

Der Krieg ıst so schrecklich wie ein Verbrechen, wie ein Laster, ein Schmerz, ein Leiden nur sein kann. Seine Grausamkeit ist nicht zu überbieten. Aber seine Ge- meınheit wird überboten. Er ist die Hölle. Aber Döberitz das ist mehr als die Hölle.

Ich weil, es gibt viele Truppenübungsplätze. Wir kennen alle welche. Sie heißen Munster. Warthelager. Sennelager. Bitsch. Wir kennen sie. Wir wissen Bescheid.

Potsdam oder Döberitz i 6827

Und wenn noch ein Schweiſhund der nationalistischen Meute, wenn noch ein Kriegsprophet und -prediger, wenn noch irgend jemand je es wagen sollte, uns den Krieg zu preisen und das Militär zu loben, den Militarismus in irgend- einer Weise zu verteidigen dann wollen wir ihn nicht niederbrüllen, dann wollen wir keine langen Reden halten, dann wollen wir ihn nur ganz ruhig ansehen und dies eine Wort sagen: »Döberitz«.

Und wenn er dann noch weiter stammelt. wenn er dann noch irgend ein Wort wagt. dann: die Faust ihm in die Fresse!

Sanftmut ist gut. Allen gegenüber wollen wir sanft und bescheiden und demütig sein. Aber wer einen Säbel trägt und den Säbel verehrt, wer befiehlt und den Befehl be- wundert, dem gegenüber keine Sanftmut und keine Ge- duld und keine Schonung!

Unsere Zeit kommt. Nehmt euch in Acht! Wir haben nichts vergessen.

4 « a

Ich schrieb dies im August 1918. Aber ich habe mich damals geirrt. Unsere Zeit ist nicht gekommen. Drei Monate epäter brach zwar die Revolution aus. Wenigstens stand es in den Zeitungen. Aber geändert hat sich nichts. Sie hatten nicht nötig sich in Acht zu nehmen. die Herren Offiziere und Generäle, die Propheten und Prediger des Militarismus. Sie leben alle noch, von Ludendorff bis Marloh. Es geht ihnen gut, den Herren Mördern. Karl Liebknecht ist tot. Aber Ludendorff lebt.

Und der Name Döberitz ist inzwischen bekannt geworden. Von Döberitz auz zog die Offiziersregierung Kapp und Lüttwitz in Berlin ein. Döberitz war das Hauptquartier der brotlos gewordenen Massenmörder, die sich nach Arbeit umsehen wollten. Der neuen Regierung der jungen Republik

Deutschland aber hat das so gut gefallen, daß sie eine neue

528 Erich Mühsam

Brigade bilden will, in diese Brigade sollen nur »wirklich republikanisch gesinnte Noskesoldaten aufgenommen werden. Und welchen Namen soll diese Brigade erhalten? Brigade Döberitz. |

Das ist kein Scherz. Das ist Tatsache. Die neue Re- gierung also kennt ihr Militär. Sie hat ihm den richtigen

Namen jegeben.

GUSTAV LANDAUER

GEDENKBLATT ZU SEINEM 50. GEBURTSTAG: 7. APRIL 1920 VON ERICH MÜHSAM (Gefängnis Ansbach)

Die äußeren Umstände, unter denen diese Zeilen geschrieben werden, lassen die allein würdige Form, Gustav Landauer zu ehren, nicht zu: die der glutvollen Werbung für die von ihm erstrebte Neubildung der menschlichen Gesellschaft, für Sozialismus, anarchische Gerechtigkeit und ihre Bedingung, Revolution. Da mir in meiner Zelle auch alles literarische Material fehlt, an Hand dessen ich ihr selbst von reinem Menschentum, von Völkerfreiheit, von innerem und äußerem Aufruhr sprechen lassen könnte, mag der Leser sich mit den einfachen Gedenkworten zu- frieden geben, die der Überlebende dem Toten, der Freund dem Freunde, der Schüler dem Lehrer, der Rebell dem Kampfgenossen aus verehrendem und dank- erfülltem Herzen zu widmen hat.

Die Daten seiner Entwicklung, seines Werdens und Wirkens, seines Wandels von der Geburt an bis zu seiner scheußlichen Ermordung im Stadelheimer Bluthof werden an dem Tage, an dem Gustav Laudauer sein fünfzigstes Lebensjahr abge- schlossen hätte, in sovielen Artikeln und Nekrologen aufgezählt werden, daß diese Sätze nicht mit seinem curriculum vitae beschwert zu werden brauchen. Aber er käme zu kurz, wollte man die Abschätzung seiner Lebensarbeit ganz den Wohl- meinenden überlassen, die, aus seinen Schriften wissender geworden, oder auch durch den persönlichen Umgang mit ihm bereichert, die Pflicht fühlen, die hoch- ragende Bedeutung des Mannes vor geistig bewegten Bürgern oder gar mißtrauischen Zeitungslesern ins Licht zu stellen, seinen „, Idealismus zu preisen, um aus ihm seine schroffe Abkehr vom Staatstum, seine kämpferische Haltung gegen Traditionen und Normen abzuleiten und womöglich zu entschuldigen.

Nur aus der umgekehrten Betrachtung ist Landauers Persönlichkeit RE zu werden. Sein Grundcharakter war wahrhaftig nicht der eines Schwarmgeistes, eines Weltfremdlings oder Gottessüchtigen, wie ihn sich der wohlwollend lächelnde

Gustav Landauer 529

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Philister vorstellen mag, der sein praktiscnes k. inmaleins gelernt hat und dem überall zwölf auf ein Dutzend gehen. Nicht nahebringen will ich das Bild des toten Freundes dem Geschmeiß der satten Gemüter, die sich freie Geister dünken, weil sie die hungernden, nie gesättigten Seelen, die sehnsüchtigen Herzen, da sie selber doch ohne Herz sind, interessant finden, die bereit sınd alles zu verzeihen, weil sie nichts verstehen; sondern entfernen will ich es von ihnen, es ihrem befleckenden Blick entziehen, die Feindschaft, den untilgbaren Gegensatz aufzeigen, der Landauers Geist ewig trennt von dem bürgerlichen Idealismus seiner literarischen Begreiner, die ihre gelockten Häupter über die Glatzen der Geschäftsrealisten erheben möchten, aber mit den Hintern stets an deren Kontorsesseln kleben bleiben.

Ein Idealist! Natürlich war Landauer das, wie jeder, dem eine sittliche Idee, Wegweiser des Lebens ist. Aber der Begriff muß gesäubert werden von dem Schleim in den ihn die Anbiederungssucht ideeloser Jammerkerle gehüllt hat, die mit tonenden Worten hausieren und den reinen Glockenklang einer schallenden. Menschenstimme in dem dürftigen Geklingel ihrer humanitären Salbaderei verkommen zu lassen suchen. Ich habe keinen Satz zur Hand, in dem Gustav Landauer selbst sich gegen die Gemeinschaft mit idealistischen Phrasenraßlern gewehrt hätte. Aber ich weiß, daB er mehr als einen geschrieben und in Gesprächen hundertmal bekannt hat. was der unerbittlichste Rebell aller Zeiten, Michael Bakunin, dem auch. er mit Leidenschaft anhing, so ausgedrückt hat:. „Doch muß mit jenem Idealismus auf- geräumt werden, der es verhinderte, daß man nach Gebühr handle: er muß durch grausame, kalte, rücksichtslose Konsequenz ersetzt werden.“ Wir dürten Landauer einen Idealisten nennen, wir, die sein Ideal kennen und teilen und als ein Ideal tstfrohen Zukunftswillens pflegen, nicht die, die selbst- und weltzufriedenen Schön- teistern mit himmelnden Augen Sympathie für den Außenstehenden anschwätzen wollen.

Gustav Landauer war Revolutionär: nichts anderes: nichts außerdem. Revolutionär aber "heißt Umstürzer, Zerstörer und Neuschaffer, Aus seiner revolutionären Natur erklärt sich alles, was er dachte, wollte und schuf. Sie war ihm Antrieb und Mittel seines Werks, nur sie. Sie stellte den Gott in seinem Herzen auf, nur sie. Sie leitete sein Tun und sein Schicksal, nur sie.

Freilich war sein devolutionäres Wirken nicht begrenzt im Kampt gegen staat- liche Satzungen und gesellschaftliche Systeme.. Es erstreckte sich, auf, alle, Kate- gorien des Lebens, machte nicht halt vor wissenschaftlichen Methoden, vor künst- lerischen Konventionen; und moralischen Doktrinen. Sein profundes ‚Wissen er- laubte es ihm, mit der Kritik seines revolutionären Geistes in viele ‚Gebiete des menschlichen Denkens hinabzusteigen und sie als Wüsten der Cedankenlosigkeit und verwilderter Überkommenheiten zu entschleiern. Es ist aber eine Verfälschung seines Lebenswerkes,..wenn die einzelne Erkenntnis, die aus diesem seinem Ab- tasten der Weltprobleme der Philosophie oder der Aesthetik, der* Literaturgeschichte oder der Soziologie. neue Fährten . zeigte, ale Verteidigung seines Wertes vor dem besitzbangen Bourgeois bemüht wird. Dem kann nicht eindringlich genug gesagt werden, daß Landsuer kein Bourgeois. war, sondern sein ausgeprägtes Gegenteil: ein Neuerer, der als Voraussetzung aller kulturellen Umwälzung die soziale erstrebte

530 Erich Mühsam

Ihr, der sozialen Revolution, hatte er sich verschworen von Jugend an, und sein Walten als Neuerer in den Bezirken der Sittlichkeit und der Kultur klomm aus dem Willen, den Geist vorzubereiten für die Tat, im Volk Niveau zu schaffen für die Empfängnis des selbst erkämpiten Sieges.

Noch einmal: wer Gustav Landauer im härenen Gewande zeichnet mit dem friedseligen Schmachtblick des Versöhners, der fälscht sein Bild. Nur wer ihn als Kämpfer sieht, als rücksichts- und furchtlosen Kämpfer, gefällig zwar und milde und von gütiger Heiterkeit im täglichen Umgang, aber unduldsam, hart und eigen- willig bis zum Hochmut überall, wo es um Entscheidendes ging, de: sieht ihn wie er war. Es ist nicht wahr, daß er aus lauter Liebe zusammengesetzt war. Wie irgendeiner hat er den Haß gekannt, den Haß gegen das Unrecht, gegen die Aus- beutung, gegen den gewalttätigen Staat, gegen die Idee der Brutalität und gegen ihre Träger. Jawohl, auch die Personen hat er gehaßt, alle, die sich dem Werk der Volksbefreiung entgegenstemmten aus Eigennutz oder Gedankenfaulheit, aus Dummheit oder Eitelkeit. Man vergleicht Landauer oft mit Tolstoi. Mit Recht gewiß. Denn was Tolstoi einmal in seinem Tagebuch als das „, einzig Not- wendige bezeichnet: „die Lösung sittlicher Fragen und ihre Anwendung im Leben“, das war auch ihm Richtung und Ziel alles Denkens und Schaffens. „Tolstoianer“ in dem Sinne, wie ethische Schmalztropfer die Gattung verstehen, war Landauer nicht, Tolstoi selber übrigens ebensowenig. Auch der kannte den Haß und die Inbrunst der Verachtung, und auch ıhm war die Liebe nicht das stets bereite Handwerkszeug in allen Lebenslagen, sondern der glühende Ursprung und das leuchtende Ziel des menschlichen Seins.

Landauer war Revolutionär von Natur wegen. Er gehörte nıcht zu den Buch- stabenschnüfflern, denen die Erwägungen des Hirns langsam und auf Widerruf die Zweckmäßigkeit des Umsturzes beweisen. Seine ursprüngliche Einstellung zu allen Dingen und Werten war voraussetzungslos, darum skeptisch, darum zur Ablehnung geneigt und kämpferisch. Nichts galt ihm die noch so exakte Wissenschaft, also die Erkenntnis anderer, deren Autorität beweiskräftig sein sollte. Noch nie ist das Ergebnis einer Forschung ungestürzt geblieben und alle Wahrheit hat nur Bestand bis sie einer neuen weichen muß. „Wahr ist, daß nichts wirklich ist“ hat Landauer einmal geschrieben, ich glaube, in „Skepsis und Mystik“, diesem merkwürdigen, götzenzertrümmernden Buch, in dem „im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, die letzte Autorität, die Vernunft selber, als Produkt der Sprache, des unzuläng- lichen Verständigungsmittels der Menschen, und mithin die Logik als nichts be- weisend verworfen und an ihrer Statt die „Mystik“, das Urwissen, das unmittel- bare, intuitive Erkennen als einzig positiver Wert aufgestellt wird. Das Wissen um die Wahrheit ist primär, der vernünftige Beweis, das sprachliche Erfassen nach- träglıch.

Mit dieser Erkenntnis kommt nun Landauer nicht wie Mauthner zur „fröhlichen Resignation”, sondern zum Extrem, zum entschlossenen Angriff gegen das Be- stehende, als falsch, schlecht und brüchig Erwiesene, zum Angriff gegen die Autorität schlechthin. Er entwurzelt die Autorität aller herrschenden Normen, von der Sprache angefangen dabei ıst seine Sprache von einer gedrungenen Wucht sondergleichen bis zu Artikeln, Gesetzen und Fesseln des sozialen Lebens der Menschen.‘ Aus seinem

Gustav Landauer 531

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antiautoritären Wesen entspringt sein Wissen um dic Freiheit, daraus sein Wille zur Befreiung und aus diesem Willen sein innerstes Bündnis mit der geknechteten Klasse des Volks, mit dem Proletariat, seine revolutionäre Entflammtheit für das

Recht.

Was ist Recht? Das, was das Gewissen verlangt. Die Beobachtung aes Unrechts leitet das Gewissen zum Recht. Der Name des sozialen Unrechts ıst Kapitalismus, d. h. Ausbeutung, Zwang, Entrechtung des Volkes zugunsten einer Klasse.

Landauer wußte diese Begriffe identisch mit Zentralismus und Staat. „Der Staat”, sagt er in seinem herrlichen „Aufruf zum Sozialismus“, „sitzt nie im Innern der Einzelnen, er ist nie zur Individualeigenschaft geworden, nie Freiwilligkeit ge- wesen. Er setzt den Zentralismus der Botmäßigkeit und Disziplin an die Stelle des Zentrums, das die Welt des Geistes regiert“. Gerechtigkeit des sozialen Lebens kann es nur geben bei Selbständigkeit, Freiwilligkeit und gesellschaftlicher Gleich- heit, also im Sozialismus. Von ihm sagt Landauer: „Sozialismus ist Umkehr; Sozialismus ist Neubeginn, Sozialismus ist Wiederanschluß an die Natur, Wieder- erfüllung mit Geist, Wiedergewinnung der Beziehung“.

Es ist klar, daß bei diesen aus antiautoritärem Drängen gewonnenen Einsichı. Landauers Sozialismus auf anarchistischem Boden fußte, daß ihm jeder Staatssozialis- mus genau so zuwider sein mußte, wie der Staat selbst und daß er seinen Plan zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft nicht an Marxens zentralistisches Programm, sondern an die Ideen des Anarchisten Proudhon anschloß, ohne sich in allem mit diesem System zu identifizieren. Um . System war es ja Landauer überhaupt nirgends und niemals zu tun, und so begnügte er sich auch in der Werbung nicht mit schulmäßigem Empfehlen einer sozialistischen Doktrin, sondern verlangte die Tat, den Beginn mit dem Sozialismus selbst. Durch Aufbau soziali - stischer Pioniersiedlungen wollte er den Staat von innen heraus unterminieren, das Neue schaffen, um das Alte daran verderben zu lassen. Dies war der Sinn seines „Sozialistischen Bundes“, den er 1909 begründete, und dem er in seiner Zeitschrift „Der Sozialist” das eindringliche Organ schuf.

Der Weltkrieg, der ihn nicht schwach fand in seinen Überzeugungen, griff vernichtend ein in seine friedliche Revolutionsarbeit. Und dann kam die Revolution. Sie riß den Mann, dessen Element der Kampf war, der als junger Student schon in ständigem Konflikt mit allen Staatsgewalten und Parteipäpsten gestanden und viele Monate in Gefängnissen gelebt hatte, mit seiner ganzen Person mitten in die Bewegung der Massen, machte ihn dank seiner quellenden Beredsamkeit zu einem ihrer Führer.

Der von Rußland herübergeschnellte Rätegedanke fand in Landauer einen glühenden .Propagandisten. Er zeigte ihm die Möglichkeit einer freien Formung des gesellschaftlichen Aufbaues bei der Verwirklichung des Sozialismus. Ich will bier nicht verschweigen, daß in dieser Zeit, in der wir dauernd miteinander und nebeneinander am Werk der Befreiung arbeiteten, bei aller Freundschaft, die nicht einen Augenblick lang getrübt war, eine gewisse Gegensätzlichkeit in der Erfassung der Situation zwischen ihm und mir bemerkbar wurde. Landauer sah mit dem Zusammenbruch des alten Staates und der Labilität des neuen Zustandes schon die Möglichkeit gegeben, sofort mit. dem Aufbau, mit der Verwirklichung vor allem.

532 Erich Mühsam: Gustav Landauer

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des agrarischen Sozialismus zu beginnen und inzwischen der eben gewordenen bayerischen Republik unter Eisners Leitung soviel Unterstützung zu leihen, wie sie zur Förderung dieser proudhonistischen Pläne brauchte. Der ungestüme Drang, das Gebäude, wie er es sich dachte, hinzustellen, ehe neue Erschütterungen den Bau verhindern könnten, erklärt seine Nachgiebigkeit gegen Eisners Politik. Mir lag der destruktive Teil der Revolution, den ich noch zu leisten sah, näher, und ich kann den Gegensatz zwischen uns nicht besser klar machen, als ich es in einem der letzten Gespräche mit ihm tat. „Ich erkenne jetzt deutlich die innere Ver- schiedenheit zwischen Proudhon und Bakunin an uns beiden. Dich führt die Re- volution immer stärker zu Proudhon hin, mich zu Bakunin. Landauer gab mir recht.

Der Gedenktag macht alles wieder lebendig ın mir. Denn der 7. April war nicht nur Landauers Geburtstag. Er war vor einem Jahre auch der Tag. an dem in München die Räterepublik proklamiert wurde, der Tag. den wir beide in tragischer Verkennung seiner Bedeutung als den Beginn der neuen Epoche begrüßten und der doch zum Unheil und für den großen, reinen Kämpfer, dem dieser Gruß gilt, zum Verderben wurde Der Zeitpunkt war. nicht richtig erfaßt. So konnte Verrat sich einnisten und unendliches Leid stiften, wo unermeßlicher Segen hätte entstehen sollen.

Boshafte Verleumdung hat behauptet, Landauer habe die Ausrufung der Räte- republik eitler Selbstsucht wegen auf seinen Geburtstag „geschoben. Ich will dieser elenden Legende, die nur glauben kann, wer diesen Mann nie gekannt. und nie begriffen hat, ein für allemal den Hals abdrehen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Ausrufung sollte am Morgen des 5. April erfolgen. In der Nacht- sitzung vom 4. auf 5. im Kriegsministerium verlangten plötzlich die Mehrheits- sozialdemokraten durch den Mund desselben ‚Mannes, der dann an der Spitze der Gegenrevolution stand, einen Aufschub von 48 Stunden, um die Provinz noch im Sinne der neuen Wendung zu bearbeiten. Landauer und ich waren diejenigen, die am heftigsten gegen diese Verzögerung geeifert - haben. Sein Geburtstag . wurde gegen seinen Wunsch und erregt geäußerten Willen zum Tage der Proklamation bestimmt.

Der weitere Verlauf ist bekannt. Die Empfindungen, uie mich beim Gedanken an sein Ende erfassen, seien verschwiegen. Ich habe das Meinige getan, wenn ich die Gestalt dieses Menschen und Kämpfers den Vertraulichkeiten betulicher Bourgeois-Idealisten entzogen und Gustav Landauer als den gezeigt habe, der er war und vor der Geschichte bleiben wird: als Mann des Volkes und der soziali- stischen Revolution.

Douglas Goldring / Briefe aus der Verbannung 533

BRIEFE AUS DER VERBANNUNG

VON DOUGLAS GOLDRING

Aus dem englischen Manuskript übertragen von HERMYNIA ZUR MÜHLEN S. die vorangehenden Brisfe in Forum IV.-4, 5 und 6

24. London, im April 1919

Bisweilen ist es eine große Erleichterung, die Sprach- weise unserer brüllenden altersschwachen. Generäle und anderer apoplektischer Patrioten nachzuahmen, doch ist es für Leute meiner Überzeugung nicht sebr klug. sich diese Erleichterung zu gönnen. Wenn General Prahlhans und Hauptmann Großmaul schallend verkünden: »Snowden müßte an die Wand gestellt und erschossen werden«, oder er- klären, Herr Ramsay Mac Donald sollte im Interesse des W ohles der Allgemeinheit unbedingt ermordet werden, so “finden diese Gefühle den universellen Beifall der Mit- junker, das heißt, jener Klasse. aus der- die Regierung ihre Beamten bezieht. Wenn 1 eine einfache Pro- letarierin. wie die arme Frau Wheeldon; . ihre Meinung über... Lloyd George auszusprechen Wagt. 60 erhält sie sofort den Besuch »Alec -Gordons (berüchtigter Detektiv und Agent provocateur). Was die Meinungsäußerungen an- betrifft, .so gilt ein Gesetz für die Herren und ein -anderes

Mir persönlich miſffällt es. beherrscht zu werden, und ich will Ihnen gegenüber meine Meinung frei heraussagen. Mır behagen die Leute nicht. die unsere ausländische Politik kontrollieren. und ebenso wenig behagen mir unsere Diplomaten. am allerwenigsten aber deren Agenten und Vertraute. Mir mißfällt diese diplomatische öffentliche Diplomatie, bei welcher sich vier miftelmäßige Diplomaten, von

534 Douglas Goldring

denen drei allgemeines Miftrauen genießen, das Recht anmaßen, über das Leben und Schicksal der ganzen Welt zu verfügen. Das Proletarıat Europas wırd, dank der Feigheit. Unmenschlichkeit. dem Mangel der Vision dieser Herren und dem von ihnen sanktionierten Mißbrauch der Freiheit der Meere wenigstens noch zehn Jahre lang Not und Elend erdulden müssen. Es geht nun einmal nicht anders: wollen die »großen Viere die unbeschränkte Herrschaft übernehmen und das Publikum von den Be- ratungen fern halten. so müssen sie auch die volle Ver- antwortung tragen. Gestatten sie den »hohen Militär- und Marineautoritäten . Hunderttausende von armen Leuten dem Hungertod preiszugeben. dann sind letzten Endes sıe die Schuldigen. Alle anderen. die Cecil Harmswortbs und Robert Cecils können ihre Verantwortung auf andere ab- wälzen; die vier >»demokratischene Kaiser vermögen dies nicht zu tun. Sie sind unselige Menschen, dıe der Gebete aller Christen bedürfen, denn lange werden sie ihren Bluff nicht mehr aufrecht zu erhalten vermögen.

Nebenbei bemerkt, ein Satiriker, wenn wir einen häften, könnte die Welt mit der Darstellung der »Großen Viere zum Lachen reizen. Als Glanznummer in einem Cabareſt wären sie prächtig. Während der Professor in Amtstracht vorträgt, zieht der »schlüpferige Davye die Hemdärmel aufgerollt. damit jeder sch, daß kein Betrug möglich sei. Kaninchen aus dem Raum und Gold- stücke aus dem eigenen Haar. Signor Orlando hingegen wirft, unzufrieden mit dem Empfang seiner Claque. die Noten hin und verläßt eilends die Bühne. Monsieur Clemenceau läßt sich durch diesen Zwischenfall nicht stören. Er sitzt gelassen beim Eingang. die Hand in der Kasse (Die große Friedensvorstellung hat bereits einen beträcht- lichen Teil der Schulden seines Landes bezahlt. Wenn es noch lange so weiter geht —9

Briefe aus der Verbannung 535

Doch bin ich von der britischen Diplomatie ab- geschweift. Während sich die »Großen Viere damit be- schäftigen. meinen armen kleinen sieben Monate alten Sohn. ohne meine oder seine Einwilligung, zu einem Dienst- pflichtigen der Klasse 1938 zu machen, überbieten sich ihre Knechte in Schurkereien. Leider fehlt der Diplomatie. wie allen Gesellschaften mit beschränkter Haftung. ein Körper. dem man Fufßtrifte versetzen könnte. Sie ist anonym. Wir kennen weder Namen noch Adressen der Herren, die sich mit Angelegenheiten, wie es zum Beispiel die schmutzige Lockhart -Verschwörung ist. befassen; ihre Photographien kommen nicht in die Zeitung. Und dennoch müssen wir mit ihnen abrechnen; denn sie sind ganz ge- meine Schurken, diese Herren, niederträchtige, feige Schurken. die sıch hinter der Anonymität verkriechen und im Ge- heimen für die Interessen der Hochfinanz arbeiten. staf für die Interessen des Volkes, dessen Diener zu sein sie vorgeben. Sie handeln im Namen unseres Landes, sie zerren unseren Namen durch den Schmutz, sie überschüften uns mit Schmach und Schande und wir wissen nıcht eınmal, wer sıe sınd!

Wer (außer Herrn Leslie Urquhart) hat bei der Koltschack-Intrigue die Hand im Spiel? Welcher nieder- trächtige Schurke trägt Schuld an der Verschwörung gegen die ungarische Revolution? Freilich die- Bolschewiki. in Ungarn haben 37 000 arme Kinder mit Badegelegen- heiten versehen. um Krankheiten abzuwehren. haben die Spitäler nationalisiert. das Schulsystem neu organisiert, damıt die neue Generation im Hal gegen den Militarismus heranwachse! Pfui! Wir wissen. daß die Rumänen ohne jede Herausforderung oder Entschuldigung. auf Befehl der Entente. angegriffen haben. Wir wissen, daß ihnen die britische Regierung dureh Munition und Bargeld wertvolle Dienstes geleistet hat. Während zwei Millionen Menschen

536 Douglas Goldring

aus Mangel an Maschinen und Transportgelegenheiten ver- hungern. werden in Rumänien Maschinen und Transport- gelegenheiten angehäuft, um diesen gottlosen Krieg zu unter- stützen. Wir begehen dieses Verbrechen per prokura. Während die britische Regierung General Smuts in einer anständigen Mission nach Ungarn schickt. autorisiert sie zur gleichen Zeit Rumänien. die Arbeit des Generals zu nichte zu machen. Die Rumänen begannen mit der Entführung eines unglückseligen alten Ehepaars von einem Bauernhof (Bela Kuns Eltern) und der einer harmlosen Dame des Mitelstandes (Bela Kuns unverheiratete Schwester). Reuter bemerkt hierzu ironisch: -die ungarische Presse glaubt, diese Vorfälle werden eine allgemeine Empörung hervorrufen. Arme, naive ungarische Presse!

Unser Verhalten gegenüber Ungarn wie auch unser Verhalten Ruſeland. Irland. Ceylon. Persien sowie anderen Ländern und Völkern gegenüber ist niederträchtig. un- vernünftig und ehrlos. Es gab eine Zeit. da der englische Gentleman ein so feines Ehrgefühl besaß, dal er, um mit ehrlosen Dingen in keinerlei Verbindung zu stehen, seine Stelle aufgab. Diese Zeit scheint längst vorüber zu sein. Sogar ehrbare Mitglieder der Regierung. wie Lord Robert Cecil und Herr Harmsworth, bleiben auf ihren Posten trotz folgender offizieller Erklärung:

»Oberst Cuninghame läßt, nach einer Rücksprache mit Paris, der ungarischen Regierung kundtun, die Entente sei bereit einen Waffenstillstand zu schließen und sofort dem Vordringen ihrer Truppen Einhalt zu gebieten, wenn die Sowjet-Regierung abdankt. wenn ein aus allen bür- gerlichen Parteien Ungarns bestehendes Kabınett gebildet wird und alle Beschlüsse der Sowjet-Regierung aufgehoben werden. Unter diesen Bedingungen ist die Entente bereit. mit der ungarischen Regierung ın Verhandlungen einzutreten.

Briefe aus der Verbannung . 537

Ach, ihr armen, kleinen ungarischen Proletarierkinder ! Ihr sollt keine warmen Bäder mehr haben, ihr müßt ver- laust, rachitisch und hungrig bleiben. So will es die Entente! Deine Profitler. ungarisches Volk. sollen sich wieder schwer auf deinen leeren Bauch setzen. unsere Profitler haben beschlossen, sie zu reften. Doch verzage nicht. es wird ihnen nicht gelingen! Ein einfaches Produkt

der Erde wird sie bezwingen die Kohle.

25. London, im Aprıl 1919

Nachdem ich in der Nummer des »Hansard- vom 15. April Lord Robert Cecils Reden über die Hungers- not und über das Chaos in Zentral-Europa beides hauptsächlich durch Aufrechterhaltung der Blockade ver- schuldet und Herrn Cecil Harmsworths schwache Verteidigung der Blockade nach dem 11. November als ein Instrument des Druckes gelesen habe. muß ich zu- geben. als Psychologe völlig verwirrt zu sein. Lord Robert Cecils Rede ist voll Menschlichkeit und christlichen Gefühls. sie beweist, daß er jede Einzelheit des Martyriums von Europa genau kenne. Als -Blockade- Minister- vor der Unterzeichnung des Waffenstillstandes weil er selbst- verständlich, wie weit die britische Marine für eine Lage verantwortlich ist. die die ganze Welt mit Unheil bedroht. einem Unheil. daß schier noch entsetzlicher ist. als der Krieg selbst. Die Blockade hat weit mehr arme Zivilisten. Frauen. Kinder und alte Leute in Deutschland getötet. als die britische Armee während des ganzen Krieges ver- loren hat. Lord Robert gibt offen zu, die Blockade müsse sofort aufgehoben werden, sobald dies keine - Gefahr. mehr bedeute. (Herr Hoover jedoch, der wohl wußte, um was es sich handle, erklärte im November 1918, es sei gefährlich, die Blockade auch nur einen Tag länger auf-

538 Douglas Goldring

recht zu erhalten!) Aus Lord Roberts Reden geht hervor. daß er die Blockade eben so verabscheue, wie ich es tue. Die Schuld an der Aufrechterhaltung wird von ihm, sowie von Herrn Cecil Harmsworth »hohen Militär- und Marine- autoritãten · zugeschoben. Weshalb werden die Namen dieser schul- digen Autoritäten nicht erwähnt? Wie kommt es, daß diese beiden Herren wenn sie Ehrenmänner sind nicht von ihren Ämtern zurücktraten, als die hohen Militär- und Marineautoritäten diesen abscheulichen Beschluß gefaßt haben? Ihr weiteres Verweilen im Amte macht sie zu Mitschuldigen an einem Verbrechen. das nicht bloß das halbe Europa foltert. sondern auch den Handel und unseren internationalen Ruf ruiniert. Patriotismus, Rücksicht auf persönliche Ehre, gewöhnlichste Menschlichkeit müßten Lord Robert und Herrn Cecil Harmsworth zum Rücktritt be- wogen haben. Weshalb zögerten sie? Ich kann es nicht begreifen! Arme Menschen, welche Qualen der Ver- zweiflung und Reue müssen sie empfinden! Kein Wunder. dall sie unruhig werden, wenn im Parlament das schreckliche Wort »Blockade« ausgesprochen wird. Zweifellos sehen sie ım Traum die grinsenden Schädel unzähliger gemordeter Mütter. hören das Stöhnen und Achzen der Sterbenden. die wilden Racheschreie. die aus Millionen verzweifelter Kehlen dringen. Ich beneide sie nicht um ihre Hölle, denn es lag in ihrer Macht. ansta die Schuld auf anonyme Soldaten und Matrosen abzuwälzen. die korrupte Luft Westminsters zu verlassen. dem Volke die Wahrheit

zu sagen und das Volk entscheiden zu lassen

Wir verlangen die Namen der »Autoritätene zu er- fahren! Sind es Foch, Haig. Franchet d’Esperey? Wenn ja. so wird das einfache Volk ihnen etwas zu sagen haben. Wer aber auch ımmer es war, der dieses Hunger- werkzeug anzuwenden beschloß, um Deutschland zu zwingen, einen lebendigen Leib zerstückeln und seine Eingeweide

Briefe aus der Verbannung 6539

ausreiſen zu lassen, nie darf vergessen werden. daß die britische Marine diese Arbeit verrichtet hat. Die fröhlichen »Jack Tarse sind die wahren Mörder. Wahrscheinlich ahnt von Tausenden nicht einer, wozu er sıch hergibt: er murrt eın wenig und tut seine Arbeit weiter! Ich jedoch prophezeie, daß die hohen Militär- und Marineautoritäten«, wenn endlich das Gewissen der Entente- Völker erwacht, auf geheimnisvolle Weise verschwunden sein werden. Man wird uns mitteilen, die »Blockade kam eben sos, »jemand hat einen Fehler gemachte es war ein »Mißverständnis.. Und dann werden der ganze Tadel und dıe ganze Schmach auf die britische Marine fallen. Schon heute ist die Uniform des britischen Marineoffiziers in den Augen eines großen Teils der europäischen Völkerfamilie das Kennzeichen des Mörders. Ist einmal die Wahrheit überall bekannt. so wird lange Zeit das Tragen dieser Uniform in allen großen Städten der Welt eine gefähr- liche Sache sein.

Es hat keinen Sinn Beschönigungen zu suchen: nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes und der Waffen- streckung der deutschen Flotte konnte für die Aufrecht- erhaltung der Blockade nicht einmal die britische Heuchelei eine Entschuldigung finden . . Leute, die noch eine gewisse Achtung vor Großbritannien haften. nahmen als gewiß an, daß sie nach dem 11. November wenigstens teilweise aufgehoben würde. Doch geschah dies nicht; im Gegenteil. sie wurde noch verschärft. Heute. nach mehr als fünf Monaten, besteht sie noch immer. Als Greueltat ist sie jetzt. nach dem Waffenstillstand. noch ärger als während des Krieges. Seit Anfang dieses Jahres wurden Hekatomben feindlicher · Kinder geopfert. Feindlicher Kinder! Lieber Heiland. wie oft bist du in diesen letzten schwarzen Monaten gekreuzigt worden stets mit der Einwilligung des . Hauptorganes deiner englischen Kirche, der »Church

540 Douglas Goldring Times.. Die Folgen der Blockade sind derart entsetzlich, daß die englischen Tommys in Cöln General Plumer zwangen, bei der Friedenskonterenz gegen die Fortsetzung des Hungerkrieges zu protestieren. Er sandte den Brief ab und wurde versetzt. Die Leiden in einem einzigen Land sind so furchtbar, daß 14 britische Offiziere. die vom Kriegs ministerium betraut worden waren, die ökono- mischen Bedingungen in Deutschland zu studieren, als ehrliche Männer nur einen Rat wuſſten: die Auf hebung der Blockade. Weshalb ist dieser Rat nicht befolgt worden?

Ist es denn gar so ruhmvoll, die Frauen des Feindes. wenn sich dieser bereits ergeben und die Waffen ab- geliefert hat. auszuhungern? Ich kann dies nicht ruhmvoll finden und es freut mich. daß auch Lord Robert Cecil meiner Meinung ist. ö

Ich glaube nicht. daß Herrn Harmsworths Ansichten letzten Endes von denen seiner Vorgänger im Amte ver- schieden sind. Ich will noch einmal auf seine Rede ım Parlament zurückkommen. Nachdem er zugegeben hatte. daß er »augenblicklich für das britische Interesse an der Blockade verantwortlich sei, bemerkte er, wenn die Zeit käme und sie könne bald kommen da die hohen Militär- und Marineautoritäten die Blockade als Werkzeug des Druckes nicht mehr benötigen, so wäre er. dies könne er dem Parlament versichern. herzlich froh. der Sache ein Ende zu machen. Das will ıch .ıhm gerne glauben! Aber bedenken Sie den tieferen Sinn dieser Worte. Hundert- tausende von Kindern werden gemordet, Seuchen, Pest, Chaos wüten durch ganz Europa auf das Gehe:il shoher Militär- und Marineautoritäten«, die seinen Druck ausüben wollene. Weshalb einen Druck ausüben? Sollen wır etwa glauben, sie wünschen einen ewigen Kriegs- zustand herbeizuführen. damit die Militär- und Marine- Mandarine nicht ihre Stellen verlieren und in den Hinter-

Briefe aus der Verbannung | 541

grund geschoben werden? Und wer sind denn diese Autoritäten? Die Namen bitte! Sie mögen hervortreten. und vor ganz Europa die Verantwortung auf sich nehmen, Herr Harmsworth hat sie einer Sache beschuldigt, die in den Augen von Millionen Männern und Frauen als un- geheuerliches Verbrechen gilt. Sie mögen vortreten, den empörten Völkern vor die Augen treten und sich nicht hinter irgend einen Strohmann von Unterstaatssekretär ver- bergen. Der arme Soldat, der, krank und unterernährt. auf dem Schlachtfeld Furcht zeigt, wird als Feigling er- schossen. Moralische Feigheit darf die schuldigen hohen Militär- und Marineautoritäten und die Politiker, die ihnen Verbrechen zu begehen halfen, nicht vor der gerechten Strafe bewahren!

26. London, im Mai 1919

Die Zeit rückt näher, da die genauen Friedensbe- dingungen eines Friedens, der so lange Zeit in Ge- heimnis und Nacht ausgebrütet ward einer erschöpften Welt. die sie gar nicht mehr zu hören wünscht, mit- geteilt werden sollen. Wir wissen heute bereits genug, um zu erkennen, dał Wilson der Phrasenmacher, der Erzheuchler, die vierzehn Punkte mit denen er Freund und Feind auf gleiche Weise betrogen. über Bord geworfen hat. Wir wissen, daß er sich des Vertrauens, das die Völker ın ıhrer Verzweiflung auf ıhn gesetzt haben, unwert erwiesen hat.

Dennoch dürfen wir nicht verzagen. Clemenceau, Orlando, Pichon, Pertinax u. Co. arbeiten durch ihre wahnwitzige Bosheit und Habgier uns in die Hände. Durch ihren gewalttätigen Versuch, das Proletariat nicht nur in den feindlichen Ländern, sondern auch im eigenen

Lande zu zermalmen sichern die »großen Viere den

542 Douglas Goldring

Völkern den Endsieg. Große Teile Europas haben sich bereits dem Bolschewismus zugewandt, und dies ist das Resultat der reaktionären Entente- Beschlüsse. Der phan- tastische Feldzug gegen die revolutionäre Regierung Rul- lands hat stärker als irgendetwas anderes es zu tun vermöchte Sympathien für Lenin und Achtung vor seinen Leistungen erweckt. Ebenso rächt sich die Ver- wendung der britischen Marine als Aushungerungs werkzeug gegen feindliche Frauen und Rinder an ihnen selbst. Der Hal, den gie geschaffen und an dem sie sich fast fünf Jahre lang gemästet haben (ein Haß, der die halbe Welt mit dem Blut ihrer Opfer überschwemmte), wird heute in einer Flut des Mitgefühls ertränkt. Unsere Herzen können sich trotz aller Härte nicht mehr verschließen. Erbarmen und Mitleid sind wieder unter uns erschienen und durch die Greueltaten Northeliffes und der hohen Militär- und M/arineautoritäten- zu neuem Leben erweckt.

Die vier Diktatoren, die auszogen, um den Bolschewismus zu erdrosseln. haben die Welt mit einer Schnelligkeit und einem Erfolg bolschewisiert, wie dies nicht einmal die be- gabtesten russischen Propagandisten zu erträumen wagten. Trotzkı sprach die lauterste Wahrheit. da er sagte: »unsere Sache hat keine mächtigeren, beredteren Verfechter als Clemenceau, Orlando. Wilson und Lloyd George.

Wenn ich recht überlege. so erschüttern mich die Pläne der französischen Finanziers. das deutsche Proletariat bis ans Ende dieses Jahrhunderts zu versklaven. gar nicht besonders. Das Aushungern Deutschlands und Österreichs unser einziges Miftel. eine große Nation zu knechten kann nur aufrecht erhalten werden, wenn sowohl das Gewissen als auch die Vernunft der Welt tot sind. Sogar England beginnt aus dem Siegesrausch zu erwachen.

Amerika wird merklich unruhig. und die Völker der neu-

Briefe aus der Verbannung 543

tralen Länder verurteilen fast einstimmig unsere Bedingungen. Sogar der geduldige, langmütige Osten ist durch den selbst- mörderischen Wahnsinn unserer »Geschäftspolitikers auf- gerüttelt worden und erwartet, während diese Herren tasten und gestikulieren. stumm die entscheidende Stunde.

Im Sommer 1916 behauptete ich meinen Freunden gegenüber Deutschland besäße die Quelle der Lebenskraft: damals vermeinte ich, die Führerschaft der weißen Rasse müsse endgültig in die Hände des deutschen Volkes über- gehen. Heute hat sich dieser mein Glaube noch mehr verstärkt. Durch Leiden geläutert und veredelt wird sıch das deutsche Volk erheben und die Menschheitsfamilie dem Morgenrot einer neuen Zeit entgegenführen.

Ja. die Politik der »sgrolen Vier. ist eine zum Tode verurteilte: endlich ist der Sieg jener Ideen. die die ein- fachen Völker beherrschen. gesichert. Wir sind bei der schaurigsten Stunde des langen Weltenmartyriums angelangt. bald wird sich die Morgenröte in ihrer ganzen Herrlich- keit zeigen. Wenn dieser gesegnete Augenblick anbricht. mögen dann wir. das englische Volk, den Mut haben, ihn mit demütigem Herzen und ungeblendeten Augen zu be- grüßen! Harrt aus. deutsche Genossen. nur noch eine Stunde harrt aus!

27. London, im Mai 1919 Die nunmehr veröffentlichten Friedensbedingungen ent- halten wenig Überraschungen. Vielleicht sind sie noch etwas gemeiner und lächerlicher, als man erwartet hafte, und Wilson hat sich, wenn möglich, noch etwas mehr diskreditiert. Vielleicht hat dieses unmenschliche Verhalten auch seine gute Seite es beweist die Kluft, die ın allen Ländern die Völker von ihren Herrschern trennt. Die Überlebenden jener. die sich 1914 freiwillig gemeldet haften, ım guten

544 Douglas Goldring Glauben, der Krieg sei ein Krieg für Wahrheit, Gerechtig- keit, Ideale. ein heiliger Krieg. müssen sich nun eingestehen. wie grausam sie getäuscht worden sind. Andrerseits finden in den Friedensbedingungen die Pazifisten der ganzen Welt ihre Rechtfertigung. |

Häufig sind in unseren Zeitungen die kurzen Spalten die bedeutsamsten: ich fand heute im »Star« folgende Nachricht: - Professor Litzmann von der Universität Bonn wurde vom britischen Kriegsgericht zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. weil er unterlassen hafte. einen der britischen Presseabteilung zugeteilten Offizier zu grüfen.« Auf der einen Seite las ich die Vorbereitungen. durch die die Alliierten ihre ruinierten. hungernden. hilf losen Gegner zwingen wollen. ihr eigenes und ihrer Kinder Todesurteil zu unterschreiben. Selbstverständlich soll unter der Ägide Lord Robert Cecıls die Blockade verschärft werden. Diesmal soll Deutschland tatsächlich sverhungern«. Marschall Foch hafte gestern eine Unterredung mit dem Dreierrat und erhielt unbegrenzte Vollmacht. Präsident Wilson soll zu ıhm gesagt haben: „Ergreifen Sie alle nötigen militärischen Maßnahmen, falls die Hunnen nicht unterzeichnen wollen.

Ich hoffe, diese Nachricht beruht auf Lüge. Wenn Wilson zu der Politik Northeliffes und Herrn Botomlyes auch deren Sprache noch angenommen hat, so ist dies der letzte Strohhalm. Was aber soll man angesıchts der von ihm gutgeheißenen Friedensbedingungen denken? Paris! Parıs! Diese Stadt ıst der Seuchenherd der Welt: sogar Wilson wurde von seiner verpesteten Atmosphäre angesteckt!

Es ıst keine Übertreibung. wenn man behauptet, daß Wilsons moralischer Zusammenbruch unzählige Leute in Verzweiflung versetzt hat. Jene Frauen und Männer, die sch noch einen Funken Menschlichkeit bewahrt haften, deuchte in den letzten Monaten Wilson die einzige

Briefe aus der Verbannung 545

Hoffnung. Heute erweist es sich, daß er nur der Phrasen fähig sei. und selbst seine Phrasen haben an Schwung eingebüſft. Soll mit seinen guten Vorsätzen Europas Pfad zur Hölle gepflastert sein?

Der Ausblick nach allen Seiten ist hoffnungslos düster. Die Vorbereitungen für den schmachvollen Krieg gegen Rufland werden fortgesetzt, man versteift sich darauf, einen militärischen Triumph zu erzielen, und will einem niedrigen Ehrgeiz Tausende von Leben opfern.

Wir senden Regimenter mit Tanks nach Irland, mit Maschinengewehren, Panzerwagen, aufgesteckten Bajoneſten um drei politische Gefangene zu fassen. In Indien, in Ägypten, ın Ceylon U

Während ich schreibe, scheint hell die Sonne, und von meinem Fenster aus sehe ich frische, blaßgrüne Bläfer. auf denen die Sonnenstrahlen zarte Muster zeichnen. Wie hatte ein derartiger Anblick vor fünf Jahren unser Herz erfreut! Heute jedoch scheinen wir von all dieser Schönheit abgeschniften zu sein, an ihr kein Anteil mehr zu haben. Es ist. als ob uns die Mutter Erde, empört über ihre Menschenkinder. enterbt hätte.

Wenn ich in früheren Zeiten an Sommertagen einen ländlichen Pfad entlang geschriſten war, so hafe ich mich als einen Teil dessen gefühlt, was meine Augen sahen der Wolken, Hecken und Wiesen, der Bäume, des Sonnen- scheins und der frischen Winde. Heute ist alles anders geworden. Ich fühle mich als Eindringling. weil ich dem Menschengeschlecht angehöre. Die Natur hat ihrer alte Freundschaft mit uns gebrochen und hält uns von sich fern. Die Sonne hat ihre Güte verloren, die Sterne halten sich abseits und flüstern uns keine Geheimnisse mehr zu, der zynische Mond verhöhnt uns aus seiner Höhe. Dank unserem Materialismus will die Welt der Materie von

uns nichts mehr wissen.

340c0%nũ = Douglas Goldring

P der Satz klingt abgebraucht und banal Ist es möglich. daß die menschliche Rasse durch die Abscheulichkeit des Krieges und des Friedens sein Opfer eitel gemacht hat? Wir ind seinen Lehren untreu geworden. haben ihn durch unsere Blindheit und Undankbarkeit zum weiten Mal gekreuzigt und was ist das Ergebnis?

Nur wenn Wir ihm von neuem Treue geloben. können

die westlichen Völker aus diesem Unheil Rettung finden. nur wenn jeder von uns Christus als unsichtbaren König in einem Herzen trägt. dürfen wır wieder hoffen.

Sie müssen mir diesen Gefühlsausbrurh verzeihen. Ich bin nicht Christ und war (außer bei meiner ER scit fünfzehn Jahren in keiner Kirche.

Was ich vorhin sagte. hat die Geistlichkeit seit Jahr- hunderten tagaus. tagein gepredigt. Wie aber in aller Welt vermag die anglikanische Geistlichkeit die Treue Christus gegenüber mit ihrer Unterstützung des Krieges zu ver einigen, mit ıhrer Bewunderung für Northeliffes Zeitungen, der völligen Gleichgültigkeit den Leiden ihrer Feinde gegenüber. ihrer freudigen Zustimmung zu eınem grau- samen. unchristlichen Frieden? Bedenken Sıe das Verhalten der anglikanischen Bischöfe und Priester während des Krieges! Bedenken Sıe ihr Verhalten seit Unterzeichnung des Waffenstillstandes! Unser Land besitzt viel schöne Kirchen und Kathedralen, in wie viele derselben ver- mochte der Geist Christi einzudringen? Wie viele Geist-

Briefe aus der Verbannung 547

o uno. a

liche haben ihre Stimme gegen das Aushungern deutscher Frauen und Kinder erhoben? Wie viele Bischöfe haben ihre Gemeinden gelehrt, sie müßten das deutsche Volk leben, wie ihr eigenes? Wie vielen Geistlichen ist es klar, daß die Lehren Christi nicht bloß schöne Worte für den Sonntagsgebrauch sind. sondern daß sie die Quintessenz politischer Weisheit enthalten? Wollten doch die Poli- tiker bisweilen die christliche Philosophie in J esu Worten studieren! Es sind weniger Worte als ın den konfusen Abhandlungen der großen Vier-, aber die Menschheit kann trotzdem nur durch das Studium der Lehren Christi den Weg zum ewigen Heile finden. Zwei Alternativen stehen vor der Menschheit dies hat das Grauen der letzten vier Jahre zur Genüge bewiesen: wir können den Weg weiterschreiten, den uns unsere Herrscher weisen und der zum Selbstmord der weißen Rasse. zur Ver- dammnis führt, oder aber wir können durch eine gewaltige geistige Wiedergeburt die Beschlüsse unserer Herren um- stoßen, ihren Hal durch Liebe, ihren Rache- und Hab- gier-Frieden durch den Frieden des guten Willens ersetzen. Die westliche Welt muß wählen zwischen dem Christ und dem Antichrist, von dieser Wahl hängt die ganze Zukunft der weilen Rasse ab. Ende

548 u _ Ludwig Rosenberger

o am ne re men à—— mern a. =

KARL LIEBKNECHT UND SEINE BRIEFE VON LUDWIG ROSENBERGER

„Wir sind und bleiben ur,

trotz alledem.“ Karl Liebknecht, Briefe aus dem Zuchlheus.

I.

Es gibt zwei Arten von politischen Führern.

Der eine ist der Führer des politischen Alltags, der typische Führer der Lohnbewegung und ihrer Abarten, der geistlose Trabant der durch die ökonomischen Verhältnisse bedingten Wechsel und Wandel der materiellen Bewegung. Es ist der Typ des Alltagsmenschen aus der Masse der Alltagsmenschen, des Durchschnifts der Volksversammlungs- schreier, die er überragt in seiner Anpassungsfähigkeit an die profithaschende Menge, deren Teil er in all ihren Eigenschaften ist. Er ist nicht Führer, nicht überragende Persönlichkeit. er ist der Geführte, der gehorsam der Masse nachlaufende, hündisch der Masse schmeichelnde, effekt- haschende. beifallshungrige. politisch führerseinwollende Mensch.

Dieser Führertyp ist Blut und Fleisch vom Fleisch und Blut der politischen Alltagsmenschen, des politisierenden Spießbürgers. Er ist ihr Führer. Doch er ist nicht der Führer, sondern der Leithammel seiner Masse. Denn Führer sein heißt Träger seiner Idee, des politischen Willens zu sein.

Politik ist Idee. Idee aber ist Geist. der Geist vom Werden des Neuen. Der politische Mensch soll der Aktive.

der Kämpfer seiner politischen Idee sein, seiner Idee, die

Karl Liebknecht und seine Briefe | 549

nicht verknüpft sein soll mit seinem traditionellen oder gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnis. (Denn es gibt eigentlich keine Idee des Proletariats, sondern nur eine Idee des Kommunismus).

So sind einerseits Glaube und Ethik, die Maxime poli- tischen Handelns, ebensowenig zu trennen wie andrerseits der wirkliche Führer von seinem Leben und von seiner politischen Tat.

Der Pseudoführer ist geistlos, denn er erlebt keine poli- tische Idee, er kennt nur den politischen Erfolg und die damit beifallsklatschende Menge. Seine Politik ist nicht Geist, sie ist Geschäft. Ideal und Geschäft sind aber die am wenigsten zu vereinbarenden Dinge der Welt.

Der wirkliche Führer aber ıst nicht zu trennen von seiner Idee, er lebt die Idee, die Idee sein Leben: Sein Geist ist der Geist der Idee, sein Leben die Prophetie des Geistes.

Der wirkliche Führer sieht in seinem politischen Ideal das Ideal seines Lebens, ın seinem Leben die politische Tat. Er sieht in seinem politischen Ideal die alleinige Treibkraft seines Handelns: er ist seiner politischen Idee allein ver- antwortlich, dann erst seiner Gefolgschaft, seiner Kampf- gemeinschaft, denen, die mit ihm Träger und Kämpfer seiner und ihrer Idee sind.

Der politische Führer ist Diener seines Geistes, Diener der politischen Idee, aber nicht Diener einer in- differenten Masse. Er ist verbunden mit ihr, als ihr Führer, solange die Masse Träger seines Geistes und damit des Geistes der Idee ist. Aber er hat zu befolgen allein die Stimme seines Geistes, die Idee, deren oberster Träger er ist. Verläßt die Masse den mit ihrem Führer gemeinsamen Geist, so hat der Führer aufgehört. Führer der Masse im Gegen wärtigen zu sein: er bleibt der führerische

550 Ludwig Rosenberger

Mensch, der oberste und treueste Kämpfer für seine Idee: auch wenn die Masse die Bahn der Idee treulos verläßt.

In allen übrigen Kampflagen des Lebens aber bleibt Führer und Masse innig miteinander verbunden. als Geist seines Geistes, als die Träger seiner Idee; die auf Leben und Tod verbundene Gemeinschaft der Tat. der Idee.

Des Führers Vorbild soll sein des Größten der Zeiten, das Symbol des Lebens für die Idee und für die. Tat: er lebte in seinem Leben der Tat.

Sein Leben wird zum Symbol der Tat und sein Menschtum zum Symbol der Idee.

So lebt in des echten Führers Leben das Leben der Idee. Es gilt für ihn und soll für jeden gelten: keine Zwischenräume zwischen dem Ideal der Wirklichkeit und Freiheit. Kämpfer der Idee zu sein. halt: die Idee leben.

II. Karl Liebknecht ist Armierungssoldat, er. der führerische Mensch. Er ist der Gegenpol seines nun auch auf einem

anderen Feld gebliebenen Reichstagskollegen, des Kriegs- freiwilligen Ludwig Frank. Der Kriegsfreiwillige Frank war von der Identität von Persönlichkeit und politischem Handeln überzeugt, er zog die persönliche Konsequenz daraus. Er fel für diese seine Überzeugung. Karl Liebknecht kämpfte von Anfang gegen diesen Krieg. Die bürgerliche Gesellschaft lynchte ihn dafür zuerst moralisch (Zuchthaus- urteil), dann auch körperlich. Den Geist konnte sie nicht töten.

Der Führer Karl Liebknecht war der große Kämpfer seiner Idee. der Idee des Kommunismus. Er der Mensch seiner Menschen. war verbunden mit ihr und der Seele der Massen. mit der er fühlt, innigst liebt und kämpft. Liebknecht war Feldzugssoldat. ihr Leiden sein Leiden. Von der großen Schlichtheit der Menschenseele war er ein Stück.

Karl Liebknecht und seine Briefe 551

Da draußen begann sein großes Leiden, sein Golgatha, da begannen die Kreuzwegstationen bis er auf der Spitze seines Berges ans Kreuz geschlagen wurde

Dem: echten Führer ist das Fühlen der Masse niemals fremd. Er ist verbunden mit ihr: die Seele des Führers verbindet sich mit der aus Tiefsten nach Erlösung sich sehnenden Seele der Masse. Er erlebt das große Leid mit. das große Leid des Krieges.

So sind seine Feldpostbriefe schlichte Erzählungen, ein Stück der Sozialpsyche der Zeit. Welch enorm geistige Anstrengung war es für den Menschen Karl Liebknecht. den Krieg. der ihm als so großes Unrecht erschien, zu überwinden!

Das simple und doch menschlich so Große. die Seele des Soldaten des Menschen spricht zu uns: es ist die Sozialpsyche dieser Epoche. Das Simpelste der Simplizitäten des Lebens wird zum Märchen. Die aller selbstverständ- lichsten Dinge der Welt kommen in diesen Briefen vor: die Bestätigung der Liebesgaben, der Tube mit dem Gelee und den mittelstarken Zigarren. ö

In diesen Briefen lernen wir den Menschen Karl Liebknecht kennen: das Stück seines Wesens. Für ihn ist seine politische Idee nicht das Kluge-Kaltberechende, sie ist sein Leben. Er lebt in ihr. er umfalt. er umfaßt alles. seine „Frau, seine Kinder. seine Natur, die ganze Welt. Er ist der politische Führer. der diese Welt so ganz aus vollem Herzen liebt. den Kosmos und das Kleinste. Der wahrhaft große Mensch umgeht wohl die Nichtigkeiten des Lebens. die Bosheiten und Gemeinheiten der Kleinen, Schmutzigen, aber nicht das Schöne, Intime. Beschauliche. Er sieht im kleinsten Schönen den Spiegel des Alls der allumfassenden Liebe und Güte. Es ist Liebknecht der Kinderfreund, der da in seinem ganzen Wesen vor uns tritt. Er kennt die Psyche seiner Mitmenschen gut, er ver-

552 O Ludwig Rosenberger steht die Psyche der Kleinen. Wie wundervoll die lebendigen Plaudereien mit seinen Kindern. Er plaudert mit ihnen über alles. Es ist so fein, von ihm diese Intimitäten zu hören. Er findet die Kraft, trotzdem das Erleben so schwer auf seiner Seele lastet, über das alles zu reden. Er. teilt die kleinste Freude mit, er umfaßt das ganze lebendige Leben mit seinen unzähligen kleinsten Freuden. Denn so erzählt er vom Feld: »daf ich Schillerfalken. Gabelschwanzraupen, Mondvogel, braune Bären u. v. a. sah und viele Störche. habe ich schon geschrieben

Er sieht die Natur, er liebt sie, er bewundert sie, die ihn in ihrer ganzen heiligen Größe erfüllt:. . . die Natur ist ein schimmerndes Feenschloß die Worte versagen vor der Zartheit und Größe. Stets bin ich schwach und erlebe alles mit ausgebreiteten Armen. Die Sterne, den weißen Mond. und er wird rot an einer kleinen Stelle. ein goldner Kranz legt sich um die Blüte: er wird heller, rosa gelblich, weit am Rand über den Wäldern, wo war das erste Rot? In den Furchen, an den Abhängen, auf den schrägen breiten Giebeln und Dächern der schneebe- deckten Hüften. leuchtets im Widerschein heimlich opal der harte Schnee knirscht unter meinen Füßen. Alles glitzert auf der Himmel erhellt sich in seiner ganzen Wölbung der Mond will drin vergehen, wie ein lichter Dampf in der Luft. Es blitzt und strahlt und blendet sie hat den Königsthron bestiegen unter großem - Vortritt. heute und fast alle die Tage. Diese großen Herrlichkeiten: Warum kannst Du sie, können die Kinder sie nicht ge- genießen! Wie ich Euch um Euren Regenherbst bedaure..

Es sind Briefe. Briefe geben das Persönlichste wieder. Sie sind wie die Graphik direkt aus der Hand des Künstlers selbst. ohne Malstaffelei, ohne Kom- position, ohne Intellektualismus. Briefe sind die besten Rekonstruktionen des Seelischen.

Karl Liebknecht und seine Briefe on 553

Das stärkste Innenleben spricht aus ihnen.

Der herrliche Brief an seinen Sohn (vom 26. 9. 15.) muß hier wegen seiner psychologischen Feinheit teilweise wenigstens wiedergegeben werden: »es streichen mir so viele Erinnerungen aus meiner Jugend durch den Kopf, Erinnerungen grad aus Deinem Alter, in dem Geist und die Gefühle knospen ... Ich bläfterte eben im Ploetz (Geschichte) und warf einen Blick in die bunte Fülle der Menschheitsge- schichte, und bei alledem wehten mir aus jeder Seite die Stimmungen entgegen, in denen ich sie einstens las und mit einer träumerischen Phantasie in mich einsog. Getrocknete Blumen mit ihren leicht verwirrenden Duft.

... Hab Vertrauen zu mir und zu Sonja. Nichts vor uns verheimlichen, nichts tun, was Du zu bekennen scheutest. Wir verstehen alles ich habe alle Irrwege des mensch- lichen Herzens durchwandert, durchtastet durchkrochen. Nichts könnte Dir beikommen, was ich nicht verstünde und Dir nicht verzeihen könnte und würde, wenn ich Dein Streben sehe, Dich durchzuarbeiten, hinaufzusteigen auf die Höhen zur Sonne, in die unendliche Herrlichkeit der Welt. Deine Brust soll_hoch aufatmen und ich will Dich schen, wie Du die Arme weit ausbreitest, ihr, der Welt ent- gegen. Das will ich sehen, darauf warte ich. Öffne Dein Herz laſ alles hineinfluten und Dich beseligen. Und laf Dich leiten vom Vertrauen zu mir, von der Liebe zu uns allen und zu den Menschen. Dann fällt alle Arbeit leicht: dann ist sie nicht Mühsal, sondern Glück und Ent-

zücken«.

Politisches enthalten die Briefe wenig: aber diese Stellen sind voll des Prägnanten. So besonders der Brief vom 21. 9. 15. an seine Kinder: »Es ist heute ein wilder Tag hier und ein sehr böser Abend. Ein russischer Vorstoß aus Riga hat uns überrascht. Wir heben jetzt neue Stellungen

554 Ludwig Rosenberger

aus in vorderster Linie. Es ist kühl. Über mir kracht

es toll auf uns ist die Hölle losgelassen. Ich werde nicht schießen —.. III.

Karl Liebknecht rief am Potsdamer Platz: . Nieder mit dem Krieg l. Er wurde verhaftet. Er selbst schreibt darüber in seinem ersten Brief aus der militärischen Arrestanstalt: Festnahme wegen Nichtbefolgung eines Dienstbefehles in Ideal - konkurrenz mit einigen andern (begangen durch ein paar Rufe) .

Die Briefe aus der Untersuchungshaft und aus dem Zuchthaus sind Briefe seines Lebens. Briefe eines Menschen. der von stärksten seelischen Stürmen umwogen aufrecht bleibt: Der Mann, der Führer. -Was ist denn mit dem Gifter was will es bedeuten was kann es uns an- haben! So wenig wie die Anstaltskleidung, so wenig wie die Haarschur .. : Wir sind und bleiben wir, trotz alledem«. (Brief aus dem Zuchthaus Luckau v. 10. 1. 07). Er leidet, doch er ist fröhlich dabei und liebt die Welt so stark und tröstet. er der Leidende die andern. Er. der stets gebende Mensch gibt alles, sein Wesen, sein Leben.

In höchster Not aber sucht er Schutz und findet ihn in der Welt des Dichters Der Dichter ist Prophet seines Lebens, seiner Idee. Es ist die Welt seines Ideals. wofür er kämpfte. wofür er starb. Diese Welt ward ihm zur Verheifung, er lebte sein Leben in ihr, er löst sich auf im allesumfassenden Reich der Schönheit und der Liebe. Es war sein Leben, sein Ideal das in seinen Worten zum Ausdruck kam: »müssen denn die Menschen so sein, können sie denn nicht in Liebe mit- einander leben?. Einmal sah ich ein Bild, das diesen hohen Ausdruck versinnbildlichte: auf einem Hügel spielen, Kinder, unten die Fabrikstadt, der breite Himmel: war aus- gefüllt mit einer geistigen Gestalt. Karl Liebknecht: Können

Karl Liebknecht und seine Briefe 2355

denn die Menschen nicht so sein, wie diese Kinder da?

Diese Briefe sind der Ausdruck des Wesens des Menschen, des Dichters Karl Liebknecht. Sie umfassen alles, jede seiner Handlungen, jede Stelle des Briefes atmet seinen Geist, seine Idee. Es gibt für ıhn keinen Zwiespalt: der Mensch erlebt sein Leben. das Leben des Werk- und Feiertags mit der gleichen Größe und Würde. Er sieht im Kampf das Ideal, das Ideal in allen Lagen des Lebens. Er trennt nichts, er verbindet alles: er lebt den Kampf. indem er lebt!

Der Welt der Dichtung lebte er und sie in ıhm. So Homer, Goethe, Shakespeare, die großen Franzosen, und be- sonders die Russen Mathäus-Passion, er ist erfüllt von ihnen. Er verbindet und wird durch sıe verbunden. Er steht so hoch über dem Zwang seiner Verhältnisse. Ihr Geist schwebt über ihm. Der Dichter Liebknecht lebt.

Dieser Geist verleiht das große Gefühl, die erhabene Ruhe seines Herzens und köstlich ist seine trotzige Fröhlich- keit. sein nie versagender, ihn in allen Lagen begleitender Humor. Sein erster Brief nach. Verkündung des Zucht-

hausurteils an seine Frau: » . . . Sei philosophisch! Was sind vier Jahre! Kopf hoch und das Wichtigste wird zur Bagatelle sub specie aeternitatis nicht nur des Gesamt- sondern auch des Einzellebens . Dann (Brief

vom 6. 12. 16.): »Jetzt sitzt du wohl allein in Steglitz. wie ich Lehrterstraße 59 III. Aber ich habe Goethe vor mir und Du? »Drum frisch nur aufs Neue bedenke Dich nicht Denn, wer sich die Rosen, die blühenden, bricht Den kitzeln führwahr nur die Dornen. So heute wie gestern, es flimmert der Stern Nur halte von hängenden Köpfen Dich fern

Und lebe Dir immer von vor nen.

——ů —— mn m nn

556 _ Ludwig Rosenberger

Wenn ich auch keine »charmante« Person bin, das gilt auch Dir. Trotz allem und allen. Wie kann man mit Goethe und der Kunst und tausend anderen Bücher-Freunden nur kopfhängerisch sein?

Die vielen Aussprüche Karl Liebknechts über Dichter und Denker verdienen größte Beachtung. Sıe legen Zeugnis davon ab, daß die Welt des wahren Politikers keine abgeschlossene ist, für ıhn ist eben die Politik das Leben, die Welt des Dichters die seine. |

„Das wundervollste Werk auf dem Gebiete des Ora- toriums. (Die Noten hafte ich im Militärarrest),. Nicht ganz leicht zu verstehen Kontrapunkt und Fuge. Gleich der erste Satz: achtstimmiger Chor nebst Cantus firmus —: durchblickt man das Zaubergewebe, ist man ganz berauscht vor Seligkeit. Nichts Süßeres, Zarteres. Rührenderes und in den Volksszenen nicht Grofartigeres kennt die Musik. So schreibt Karl Liebknecht am 18. 3. 17. aus dem Zuchthaus zu Luckau über die Mathäus-Passion.

Ähnliche Ausführungen macht er über die deutschen Minnesänger, die Romantiker. über Homer, über moderne Literatur, Werke großer Franzosen u. a.

Nochmals von seinem alliebenden Verhältnis zur Natur. In den dumpfen Kerkermauern, nach seiner Tütenklebarbeit schreibt er das. Welche Größe und Herrlichkeit mensch- licher Seele! Stellen über dieses Verhältnis zur Natur, zu seiner Frau und den Kindern offenbaren das wahrste Wesen einer Menschenseele. Wer die Natur so sieht und liebt. wer zu seinen liebsten Menschen diese Worte findet, ist nicht nur groß, er ist gut! Erst daraus ergibt sich alles, die Synthese seines Wesens. Welche Offenbarung innerlichsten Lebens. .. Und was redest Du von »Leiden.? Woran ich - leide , das weißt Du besser. . Was soll

mir das Geschwätz in einem französischen Roman, was

Karl Liebknecht und seine Briefe 557

überhaupt das Gerede anderer Leute! Das Gurren der wilden Taube, das zu uns dringt, das ist etwas! Kennst Du diesen merkwürdigsten aller Waldtöne, dieses klagend- sehnsüchtige Guuur-gu-gu-guurr: das die Weite unter seinen Bann zwingt trotz Pirol und Amsel und Drossel und trotz des munteren Laubsängers. der mich im Bund mit dem Buchfinken aus nächster Nähe beglückt, während die Kling-Klirr-Schmalzmeisen, die Zizirdä-Goldammern und die Schwalben sich ferner halten. . Zuweilen kommt auch ein kleiner Freund durch mein Gesichtsfeld gehuscht einen Augenblick und wenn ich mich ganz dicht ans Gifter drücke, seh ich ein paar Zweige. . . In den Isarwäldern und -büschen muł es doch von Vögeln wımmeln, auch von wilden Tauben. Liebste, achte auf sie. ihr Ruf wird ein Erlebnis für Dich werden!!

Du schreibst nichts von der Farbe des Isarwassers, die mich so berückte. Ist sie Dir nicht nan)

Die geistvolle politische Polemik ist zahlreich. Sie zeugt von seiner Prophetie. Das politisch Aktuelle bezieht sich meist auf die russische Revolution:

März 1918: »wie weht so scharf der Märzenwind. Es riecht nach 1871 Paris und 1848/49 allerwärts und 1917 in Rußland, wo es jetzt wörtlich gilt: »Que veut cette horde d'esclaves, de traitres, de rois conjurés, das mir heute durch Mark und Bein summt und brennt

Nicht des sub specie aeternitatis bedarfs hier. . . wirf einen Blick in die Geschichte und Du wirst wunderbar gestärkt sein. Die Zwischenspiele dieser Tage werden Dich nicht mehr verwirren, alles Gedröhn nicht betäuben. Wie klein und erbärmlich. ja scheint mir auch lächerlich, sind die Menschen, gerade die, die sich am größten dünken. Zwischenspiele. Zwischenspiele . . (denk an Napoleons Dutzend-Republiken, seine Staatenfabrk . . Und nichts ist sicherer Episode, als was den Stempel plumper Oppo-

558 _ Ludwig Rosenberger

sition gegen die Naturgesetze trägt) ... Episode Episode Episode Kartenhaus Kartenhaus Kartenhaus Eintags- fliegen Eintagsfliegen Eintagsfliegen . .

Karl Liebknecht wandelte in der Welt des Lebens, in der Welt

der Dichtung: und er wurde zum Dichter, zum Dichter des Lebens:

Sturm, mein Geselle,

Du rufst mich!

Noch kann ich nicht,

Noch bin ich gekettet !

Ja. auch ich bin Sturm, Teil von Dir;

Und der Tag kommt wieder, Da ich Ketten breche.

Da ich wiederum brause, Brause durch die Weiten, Stürme um die Erde, Stürme durch die Länder. Stürme in die Menschen, Menschenhirn und -Herzen, Sturmwind, wie du!« (Frühjahr 1917)

IV.

Die tiefernst-heitere Stimmung einer Menschenseele, das böchste Lied der Liebe und der Inbrunst, das größte Leid in der Menschenbrust in strahlende Liebe ausgelöst. der Bann hellster Sehnsucht nach Erlösung herzzersprengendem Schrei, das Tragen des Schwersten, das Erleiden des Unerträglichen und doch andere aufzuheitern versuchend, die Milde und höchste Stärke, das höchst revolutionäre Gefühl, gebannt in die enge Kammer, der glühendste Drang nach menschen- erlösender Tat und doch verurteilt zum Untätigen und dennoch fröhlich das ist die heilige Erlöserstimmung, die mich beim Durchlesen des Werkes: . Gesammelte Briefe

Karl Liebknechts . (Verlag der »Aktion« Berlin) umgibt.

B.arl Liebknecht und seine Briefe 559

Es sind die Briefe aus dem Felde, aus der Untersuchungs- haft, aus dem Zuchthaus. Das Lied des Leidens und der ewigen Sehnsucht: tiefster Innerlichkeit und doch stärkster Kampfentschlossenheit. Es ist das gelebte Leben seiner Idee. Große Menschen ragen über die Erbärmlichkeit der Alltagswelt hinaus: sie stehen darüber. Die Welt des Leides wird für sie zur Welt des über die Machthaber Lichelnden: alles Analytische verschwindet, alles wird zur Synthese. zum stillen Lächeln des abgeklärten Kämpfers. den die Gemeinheiten der Geistlosen nicht mehr von seinem unabänderlichen Entschluß abzubringen vermag.

Propheten wandeln auf den Höhen der Menschheit. Sie erschauen die Tiefen der Menschen, sie steigen hinab, so wıe Indras Tochter selbst. um die Welt dort kennen zu lernen, im Alltag, im Schmutz:

»Auf Schwingen schwebend über dieser Erde.

Tauchst Du zuweilen in den Staub hernieder

Um ihn.zu streifen, nicht darin zu haften!.« (Strindberg, Traumspiel),

»Kunst erfordert ein gauzes Leben, größte Kunst erfordert sogar Verzicht auf das Leben der große Künstler ist der Märtyrer seiner Kunst... . Unser klassisches Zeit- alter flüchtete aus dem Reich der unmöglichen Politik in das Reich des Schönen. Dal Freiheit nur im Reich des Schönen gedeihen könne und nicht in der Welt, war ein Dogma, ein Dogma verzweifelter Resignation. In der heutigen Zeit scheint es mir, als ob diese Flucht in das Reich des Schönen nicht -mehr notwendig sein sollte, daß die Kunst nicht mehr ein Asyl für Verzweifelte am Leben sein soll. sondern daß das Leben selbst ein Kunstwerk sein müßte. und der Staat das höchste Kunstwerk.« (Kurt Eisner in einer Rede im provisorischen bayrischen Nationalrat am 3. I. 19.)

Die Realisierung der Dichtung im Leben wäre die Er- füllung der Dichtung in der Politik.

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Hiriog

Derfflisteretr. 4 Berlia W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam- Berlin / Druck der E. Gundlach A.-G., Bielefeld

DIE GEMEINSCHAFT |

HERAUSGEGEBEN VON LUDWIG RUBINER

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In diesem |

Buch sind Zeugnisse l

von Menschen gesammelt, die |

in der Änderung der Welt ihr Lebensziel | $| sahen. Hier sind Verzweifelte; gütige Skeptiker; | Frondeure die alle in ihrer Gesellschaft allein | standen, sich gegen ihre Gesellschaflen wandten und ı schließlich ihre Rebellion in andere Richtungen leiten | mußten, als es die der direkten Aktion sind; die Schöpfer unserer kritischen‘ Einstellung. Da sind die Revolutionäre des Geistes, die den Bewußlseinszustand der Welt umbrachen; seelische Vorbereiter der Wirk- lichkeitskrise unserer Tage; die Dichter, Maler, Musiker; die Schöpfer neuer Gefühlsgebilde. Endlich die sozialen Revolutionäre, die Denker der Volks-

bewegung ‚Gestalter und Historiker der Massenaktionen, |

die Sprecher des Proletariats: Die Schöpfer der neuen | sozialistischen Weltkultur, die aus dem langen

Ablaufe der Weltrevolution hervorgehen wird, und die | so jenseits der bürgerlichen Welt unserer Tage

steht, wie die heutige bürgerliche Welt

. *

selbst dureh die Völkerwanderung von der Antike ge- schieden ist.

GUT GEBUNDEN 10 MARK

GUSTAV KIEPENHEUER

| | | | KARTONIERT 7 MARK VERLAG / POTSDAM-BERLIN

DAS FORUM

4. Jahr Mai 1920 Heft 8

(Abgeschlossen am 6. Juni 1920)

ROMAIN ROLLAND ZUM BOLSCHEWISMUS

Politiken . die Stockholmer linkssozialistische Zeitung. veröffentlicht einen Brief Romain Rollands vom 30. April, die Berichtigung eines Interviews, das in einem Stock- holmer bürgerlichen Blaſte mib verständlich wiedergegeben wurde. Nach einigen Worten über die schwedische Arbeiterbewegung formuliert Rolland seine Ansicht über den russischen Bolsche wi. mus und seinen Glauben an ibn.

Ich bewundere die mächtige organisatorische und neu- schaffende Energie in den Räten Rublands, die um einige geniale Männer geschart stehen.

In dieser Woche noch schrieb ich ın einer französischen Zeitung »Das Hirn der Welt der Arbeit hat seinen Sitz in Moskau.. Ich fügte hinzu, dal, meiner Meinung nach, allein eine bolschewistische Revolution über- haupt Aussicht auf Gelingen habe. Sowohl aus ökonomischen als auch moralischen Ursachen. Ich will hier nur eine einzige andeuten. Unabhängig von allen marxistischen Ar- gumenten. die zum Vorschreiten der Revolution führen, gibt es in Rußland eine moralische Ursache, die die reinen Marxisten vielleicht wenig beachten, der ich aber einen unermellichen Wert beimesse. nämlich den sozusagen religiösen Charakter, den mystischen Enthusiasmus, der einen Teil der russischen Arbeiterklasse durchglüht.

Diese Männer glauben.

Wenn sie nicht dächten, daß ihre Aufopferung der ganzen Welt hülfe und diente, würden sie sich nicht seit zwei Jahren mit dieser erhabenen Selbstverleugnung opfern. Dieses mystisch revolutionäre Gefühl, dieser

562 Das Anklagematerıal der Entente

Glaube hat bisher nur allzusehr den westeuropäischen Völkern gefehlt und insbesondere dem französischen Volke, dessen Enthusiasmus seit 150 Jahren ın den vielen fehl- geschlagenen oder verratenen Revolutionen ausgebrannt ist. Allzu oft wird die revolutionäre Agitation beschränkt auf eine korporative Bewegung für Lohnerhöhungen: nichts Großes aber, noch Beständiges kann durchgeführt werden ohne einen starken Hauch der Liebe für das gemeine Wohl, ohne die Leidenschaft des Opfers für die Zukunft der Menschheit.

Aber es ist durchaus möglich, ja. sogar wahrscheinlich, daß die Völker sich wandela und sich erheben werden unter der Einwirkung der mannigfaltıgen Herausforderungen und der Prüfungen, die die Arbeiterbevölkerung von Seiten der triumphierenden Reaktion sich jetzt gefallen lassen muß,

DAS ANKLAGEMATERIAL DER ENTENTE UND DAS LEIPZIGER REICHSGERICHT

Die schnoddrige Gewissenlosigkeit unserer großen Presse zeigt sich deutlicher denn je in dem , was sie über die Bestrafung der Kriegsverbrecher schreibt und dem, was sie verschweigt. Die Gänsefüßchen mit denen das „Berliner Tageblatt“ das Wort „Kriegsverbrecher garniert, sind der wahrste Seelenausdruck dieser Journalistik. Was Wahrheit! Was Gerechtigkeiti Man grühelt nicht viel und be- friedigt also mit geringer Kraftanstrengung den Abonnenten, den Inserenten und den Verleger. Was diese Presse, die gerne und kritiklos den nach bewährter Me- thode gekürzten Auszug des W. T. B. abdruckte, hier wie immer schon mißachtete, nämlich Klarheit. Anständigkeit und Klugheit. all dies macht die Veröflent- lichung des Materials wenigstens in einer deutschen Revue wünschenswert. Der Vorwurf, man mache gemeinsame Sache mit dem Feinde, dieser Vorwurf erscheint übergus lächerlich angesichts der notwendigen Erkenntnis, daß die gefährlichsten Feinde des deutschen Volkes nicht die anklagenden Imperialisten der Entente, sondem die angeklagten Mörder, Banditen und Epauletten-Übermenschen sind. Schon diese ersten Fünfundvierzig bieten dem Leipziger Reichsgericht Gelegenheit ın Fülle, seinen guten Willen zu beweisen.

und das Leipziger Reichsgericht 563

l. Patzig (Hel mul), Oberleutnant zur See, Kommandant des Untersee- »ootea U 86. Angriff und Torpedierung folgender Schiffe mit unerhörter Brutalität und Unmenschlichkeit ohne vorherige Benachrichtigung:

Das norwegische Schiff Eglantine (20. Juni 1819) (20 Minuten langes Bombardement). Das englische Lazarettschiff Llandovery Castle (27. Juni 1918).

2. Neumann (Karl), Oberleutnant zur See, Kommandant des Untersce- bootes UC 67. Angriff und Torpedierung des englischen Lazarettschiffes Dover Castle (26. Mai 1917) mit unerhorter Brutalität und Unmenschlich- keit ohne vorherige Benachrichtigung.

3. Werner (Wilhelm), Kapıtänleutnant!, Kommandant des Unterseebootes U 55. Angriff und Torpedierung folgender Schiffe mit unerhörter Brutalitat und Unmenschlichkeit ohne vorhenge Benachrichtigung:

Das englische Schiff Clearfield (Oktober 19i6).

Das englische Schilf Artist (27 Januar 1917).

Das englische Fischerboot Trevone (31. Januar 1917).

Das englische Schiff Torrington (8. Apru 1917), (während die Rettungs- boote eines anderen torpedierten Schiffes zur Hilfe kamen).

Das englische Lazarettschiff Rewa (4. Januar 1918).

Das englische Lazaretischilff Guildford Castle (19. März 1918).

4. Mille, Hauptmann, Landsturm 5/1 Gelsenkirchen, Kommandeur des Lagers Flavy-le. Martel (Weihnechten 1917 bis November 1918). Er ist neben anderen Personen verantwortlich dafür, daß die Gefangenen an der Westfront zurückgehalten und hinter der Front, zuweilen sogar in der Feuerlinie, zur Arbeit gezwungen wurden. Sie waren den schlimmsten Crausamkeiten ausgesetzt, an denen einige von ihnen starben.

Die Gefangenen wurden zu Arbeiten gezwungen, die zur militärischen Unterstützung der Deutschen dienten. Sie mußten bis zur völligen Er- schöpfung arbeiten. Wohnung. Cesundheitspflege und Nahrung waren un- genügend und unsauber. Die Gefangenen wurden mit der Faust und mit dem Bajonett geschlagen und mit Fußtritten traktiert. Wenn zie nicht mehr imstande waren zu arbeiten, wurden sie in deutsche Lager gebracht oder sie starben an den Folgen der Mißhandlungen, die sie erlitten hatten

5, Heinze (oder Heimann), Unteroffizier. Er hat die Gefangenen des Lagers Herne im Jahre 1916 mißhandelt (Zeche Friedrich der Große, K 3/2 A. K. Distrikt VII). Er ermutigte die Wachposten und Zavilarbeiter zu Grausamkeiten. Übermäßige Arbeit. bis zu sechzehn Stunden täglich. Die Kranken, die zu schwach zur Arbeit waren, schlug er oder lied sie schlagen.

6. Triak, Unteroffizier. Er hat im Jahre 1918 die Gefangenen des Lagers Pommersdorf mißhandelt (Fabrik chemischer Produkte, A. K. Distrikt II.) Brutalitäten aller Art; ungenügende Nahrung.

7. Neumann, Soldat. Dasselbe.

8. Stenger, General, Kommandeur der 58. Brigade (112. und 142. Inf.-Reg.) XIV. A. K. Zwei Befehle vom 26. August 1914, die Gefangenen nieder- zumachen und die Verwundeten zu töten.

a) „Von heute ab werden keine Gelangenen mehr gemacht. Alle Ge- fangenen. cb verwundet oder nicht, sind zu erschießen."

b) „Alle Getangenen sind zu töten: ebenso bewaffnete und unbewaffnete Verwundete und diejenigen, die in großen ge- schlossenen Einheiten gefangen genommen werden.. Hinter uns darf kein

lebender Feind zurückbleiben.“

9. Lesl, Leutnant, des 112. Inf.-Reg. „Der Kapitän Migat, der verwundet war und um den Hals einen blutigen Verband trug, wurde in der Gegend `

564 Das Anklagematerial der Entente

des Bahnhofs Hesse von einer Abteilung des 3. Bataillons des 112. Re- giments, das der Leutnant Laule kommandierte, gefangen genommen.

Man zwang den Kapıtän, an der Spitze des Haufens zu marschieren und er wurde durch Schüsse ın den Rücken getötet.”

107 Schroeder, Hauptmann des 112. Int.-Reg. „Der Befehl Stengers, keine Gefangenen zu machen und die Verwundeten mit dem Bajonett uder mit dem Gewehr zu töten, wurde uns von Hauptmann Schroeder überbracht.”

Il. Miller, Kommandant des 112. Inf.-Reg. und

12. Curia oder Crusiu, Hauptmann des 112. Inf.-Reg. „, Sogleich nach der Mitteilung, die durch den Kommandanten Müller und durch den Haupt- mann Curtius beide vom 112. Inf.-Reg. gemacht wurde, wurden mehrere französische Verwundete durch Gewehrschüsse getötet.

13. Mayer aus Badenweiler, Hauptmann des 112. Inf.-Reg. . Ende August 1914 gab uns der Hauptmann Mayer aus Badenweiler eines Morgens den Befehl, der von der Brigade ausging, keine Gelahgenen mehr zu machen und die Verwundeten zu töten. Er befahl sogar einem von uns, sich hın- zulegen, um einen verwundeten Feind darzustellen und zeigte uns, wie man es machen müsse, um ihn mit dem Bajonett zu töten.“

(Zeugenaussagen von deutschen Kriegsgefangenen).

14. Oven (van), General, ehemaliger Gouverneur von Metz. Verbrechen von Nomeny, Jarny, Jaulny und von Saint-Julien-de-Metz (Meurthe-et-Moselle) Hinrichtungen von Zivilisten, Brandstiftungen, Plünderungen.

„Das Dort Jarny wurde mit Fackeln und Petroleum niedergebrannt. Die Deutschen plünderten die Wohnhäuser und die Kirche. Ungefähr dreißig Zivilisten wurden erschossen, unter ihnen zahlreiche Italiener, der Bürgermeister und der Pfarrer.

Die Bewohner, die aus ihren brennenden Häusern flüchteten, wurden verfolgt und erschossen.

Der kleine füntjährıge Berard wurde in den Armen seiner Mutter getötet. Die Soldaten entrissen ıhr die Leiche und warfen sie auf die Straße.

M. Perignon, seine Frau und sein sechszehnjähriger Sohn wurden hin- gerichtet. Der Forsthüter Plessis wurde an einen Baum gebunden und in Gegenwart seiner Frau erschossen.

M. Aufiero erlitt dasselbe Schicksal.

Ein deutscher Offizier sagte zu der anwesenden Frau des Unglück- lichen: ‚Sieh, wie man deinen Mann erschießt!"

-Am 20. August 1914 marschierten die Bayern in Jarny ein. Sie waren in Hose und Hemd. Sie drangen in die Häuser ein, vergewaltigten die Frauen und die Mädchen und milshandelten diejenigen die Widerstand leisteten. Ich sah ein vierzehnjähriges Mädchen, dem die Hände an den Tisch festgebunden waren. Ein Bayer vergewaltigte sie, indem er sie von hinten anfıel. Ich sah weiter eine Frau, deren linke Brust vollkommen abgeschnitten war. Dann sah ich noch eine Frau, der man die Beine spreizte. Diese Frau war schwanger. Ein Soldat hielt eine brennende Kerze in der Hand und ließ das geschmolzene Wachs auf den Geschlechts- teil der Ungluücklichen tropfen.

(Aus der Aussage eines Deutschen.)

„In Saint-Julien- de-Metz drang die deutsche Polizei nach Verhängung des Belagerungszustandes in das Haus von M. Labrosse ein, dessen fran- zosenfreundliche Gesinnung man kannte, dem es aber selbst gelungen war, ‚zu enttliehen. Die Deutschen ergriffen die Schwestern von M. Labrosse, warfen sie ins Gefängnis und drohten ıhnen mit der Erschießung. Zwei Tage lang plünderten sie das Haus planmäßig aus und zerschlugen mit der Axt alles, was man nicht mitnehmen konnte. Schließlich kam auf

und das Leipziger Reichsgericht 565

Befehl des Gouverneurs von Metz eine Kompagnie und sprengte das Haus in die Luft. Es wurde vom Keller bis zum Giebel zerstört.“ (August 1914).

15. Kaysır (vanu), Major des 65. Inf.-Reg. Er soll früher dem 28. Inf.-Reg. in Koblenz angehört haben. Verbrechen von Pabny-sur-Moselle. Er- mordung von 18 Personen in Jarny-Conflans, unter ihnen der Pfarrer, der Bürgermeister, dessen Sohn und ein Lehrer. Ermordung eines Arztes bei Pont-à-Mousson, nachdem man ihm sein Automobil abgenommen hatte. August 1914.

16. Micheleohn (Oskar),. Arzt. Direktor des Lazarett der VII. Armee in Effry, dann in Trelon und in Dizy-le-Gros (Aisne). Er wird beschuldigt, durch verbrecherische Handlungen den Tod vieler Kranker’ herbeigefuhrt zu haben. Unterschlagung von 5 Gewalttaten. Ausführungen des Doktor P. l

Der Doktor Michelsohn, ein offensichtlicher Leuteschinder, hat die allgemeine ärztliche Ehre und alle Gesetze der Menschlichkeit verlctzt. Anstatt sich zu bemühen, zu heilen und die Lage der Kranken seines Lazaretts zu verbessern, hat er wissentlich, absıchtlich und plan- mäßig den Tod der Kranken herbeigeführt:

J. Indem er sie in unbewohnbaren Häusern unterbrachte.

2. Indem er ihnen nicht die Pflege zukommen ließ, die sie zu beanspruchen hatten.

3. Indem er mich hinderte, sie zu pflegen.

4. Indem er das notwendige Material zur Pflege verweigerte.

5. Indem er ihnen mangelhafte, ungenügende und sogar für sie gefährliche Nahrung geben ließ. Von den 700 Toten, die in Effry zurückgelassen wurden, hätten wenigstens 650 gerettet werden können wenn Doktor Michelsohn es gewollt hätte Ich füge hinzu, daß Doktor Michelsohn sich folgender Verbrechen

schuldig gemacht hat:

l. Er hat die Kranken brutalisiertt und sie brutalisieren lassen

2. Er hat sie der Lebensmittel beraubt, einerseits direkt persön- lich, andererseits durch Befehle und Anweisungen, die er seinen Unter- gebenen gab.

3. Er hat Fehlgeburten herbeigeführt, die den Tod der Frau zur ro hatten und zur Tötung des Fötus beitrugen.

Er unterschlug für seinen eigenen Gebrauch die Lebensmittel,

die 55 die Kranken bestimmt waren. (1917.)

17. Kruia, Kommandant des Lagers Kassel und

18. Yack, General-Gouverneur von Kassel. Sie haben Maßnahmen ge troffen, die zur Ausbreitung einer Typhusepidemie führten.

Während der Typhusepidemie ım Jahre 1915 erklärte General Kruska: „Ich führe Krieg auf meine Art“. Er traf alle Maßnahmen, die notwendig waren um die Epidemie so weit als nur möglich auszubreiten.

Mehr als 2000 Gefangene starben.

Alle hygienischen Maßnahmen wurden absichtlich vernachläßigt.

Die infizierten Russen wurden unter die anderen Cetangenen ge- mischt.

Desinfektion wurde unterlassen.

Die Kranken blieben ohne Pflege in den ungeheizten Baracken ihrer Kameraden.

Es gab Fälle von Wahnsinn und Selbstmord unter den fürchterlichsten

Verhältnissen. (1915 Lager Kassel.)

19. Arnauld de In Perriere, Leutnant, Kommandant des Unterseebootes U 35.

Grausamkeiten bei der Torpedierung der Schiffe: Siena (4. August 1916),

566 Das Anklagematerial der Entente und das Reichsgericht

20.

21.

22. 23.

24.

24a.

34.

35.

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39.

Doris und Lilla (13. Oktober 1917). Torpedierung der Schiffe: Citta die Messina, Teti, Emilio G., Generale Ameglıo, usw.

Schall, General, Kommandant des Lagers Langensalza. Herrschaft uner-

hörtester Grausamkeit während |% Monaten.

Koch (Joseph), Hauptmann der 8. Kompagnie Langensalza. Verantwort- lich fur die Ermordung der Kriegsgefangenen in Langensalza (27. No- vember 1918).

Krause, Unteroffizier, Lager Langensalza. Teilnahme an der Ermordung der Kriegsgefangenen in Langensalza (27. Noveinber 1913).

Carmer, Kommandant, Etappenkommandantur 107, S. Daniele del Friuli. Willkürliche Requisitionen, schlechte Behandlung der Zivilisten, syste- matische Plünderungen.

Bülow fran), Kommandierender General der II. Armee (1914). Plünderungen und Ermordungen in den Ardennen und in Seilles (August 1914), Räubereien in Jodoigne (August 1914).

Below (von), Kommandierender General der 5. Brigade, 3. Inf.-

Div. der kaiserlichen Garde. Grausamkeiten in den Ardennen und in Namur (August 1914).

. Langermann (Freiherr ron), Generalmajor, Kommandeur der Brigade

des I. und 2. Int.-Reg. Crausamkeiten in den Ardennen (August 1914).

. Ernst von Sachsen (Prinz), Grausamkeiten in den Ardennen und in Namur

(August 1914).

. Jung, Major. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914). . Wabnitz, Hauptmann. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914).

Slein metz, Leutnant der 3. Komp. 28. Pionierbat. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914).

. Bronsart von Srhellendorf, Major des Carde-Schütz-Bat., Garnison in Groß-

lichterfelde. Crausemkeiten in den Ardennen (August 1914).

. Brunon (oder Bunau) Oberlt., 1. Carde-Bat. Lr mor du ng von 30

Zivilisten in den Ardennen (August 1914).

. Ramdohr (Max) Agent der geheimen Polizei in Grammont, Leipzig»

Kleinbahnstr. Mıißhandlung gefangenen Kinder in Grammont (Dezember 1917).

. Zahn (Ernst) Agent der geheimen Polizei in Grammont. Er wohnte Breite

straße oder Kasser-Josephstraße in Leipzig. Schlechte Behandlung der Gefangenen in Crommont. | Danzig (oder Denzin oder Dentz:in), Feldwebel oder Leutnant. Komman- dant des Lagers Sedan (France). Planmäßige schlechte Behandlung der Gefangenen und Deportierten. Engel, Leutnant, Kommandınt des Lagers Sedan. Planmäßige Gewalt- taten und Grausamkeiten gegen die Deportierten.

Holz, Sergeant, Stellvertreter des Lt. oder Feldwebels Dentzin im Gefängnis des Lagers Sedan. Auch als Sergenant des Strafgefängnisses A. B. n 2. bekannt. Mißhandlung der Deportierten und der Gefangenen in der Festung Sedan.

Albrecht, Gefreiter im Lager der Deportierten in Sedan. Mißhandlung der Deportierten im Lager Sedan.

Bigodsky, Offizier im Lager Sedan. Ermordung eines Gefangenen.

Preutier, Major Kommandant des II. Bat. des 155. Reg. Ermordungen, Plünderungen, Brandstiftungen (Kalısz 1914).

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566 Das Anklagematerial der Entente und das Reichsgericht

20. 21.

22. 23.

24.

24a.

34.

35.

37.

39.

Doris und Lilla (13. Oktober 1917). Torpedierung der Schiffe: Citta die Messina, Teti, Emilio C., Generale Ameglıo, usw.

Scha /s, General, Kommandant des Lagers Langensalza. Herrschaft uner- hörtester Grausamkeit während Monaten.

Koch (Joseph), Hauptmann der 8. Kompagnıe e Verantwort- lich für die Ermordung der Kriegsgefangenen in Langensalza (27. No- vember 1918).

Krause, Unteroffizier, Lager Langensalza. Teilnahme an der Ermordung der Kriegsgefangenen in Langensalza (27. November 19139).

Carmer, Kommandant, Etappenkommandantur 107, S. Daniele del Friuli. Willkürliche Requisitionen, schlechte Behandlung der Zivilisten, syste- matische Plünderungen.

Bülow (ron), Kommandierender General der II. Armee (1914). Plünderungen und Ermordungen in den Ardennen und in Seilles (August 1914), Räubereien in Jodoigne (August 1914).

Below (von), Kommandierender General der 5. Brigade, 3. Inf.- Div. der kaiserlichen Garde. Grausamkeiten in den Ardennen und in Namur (August 1914). |

Langermann (Freiherr von), Generalmajor, Kommandeur der Brigade des J. und 2. Inf.-Reg. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914).

Ernst von Sachsen (Prinz), Grausamkeiten in den Ardennen und in Namur (August 1914).

. Jung, Major. Crausamkeiten in den Ardennen (August 1914). . Wabnilz, Hauptmann. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914). . Steinmels, Leutnant der 3. Komp. 28. Pionierbat. Grausamkeiten in den

Ardennen (August 1914).

Bronsart von Schellendorf, Major des Garde-Schütz-Bat.. Garnison in Groß- lıchterlelde.e. Grausamkeiten in den Ardennen (August 1914).

. Brunns (oder Bunau) Oberlt., l. Carde-Bat. Ermordu ng von 30

Zivilisten in den Ardennen (August 1914).

. Ramdohr (Max) Agent der geheimen Polizei in Grammont, Leipzig»

Kleinbahnstr. Mißhandlung gefangenen Kinder in Grammont (Dezember 1917).

. Zahn (Ernst) Agent der geheimen Polizei in Grammont. Er wohnte Breite-

straße oder Kaiser-Josephstraße in Leipzig. Schlechte Behandlung der Gefangenen ın Grommont.

Danzig (oder Denzin oder Dentzin), Feldwebel oder Leutnant, Komman- dant des Lagers Sedan (France). Planmäßige schlechte Behandlung der Gefangenen und Deportierten.

Engel, Leutnant, Kommandınt des Lagers Sedan. Planmäßige Gewalt- taten und Grausamkeiten gegen die Deportierten.

Holz, Sergeant, Stellvertreter des Lt. oder Feldwebels Dentzin ım Gefängnis des Lagers Sedan. Auch als Sergenant des Strafgefängnisses A. B. n 2. bekannt. Mißhandlung der Deportierten und der Gefangenen in der Festung Sedan.

Albrecht, Gefreiter im Lager der Deportierten in Sedan. Mißhandlung der Deportierten im Lager Sedan.

Bigodsky, Offizier im Lager Sedan. Ermordung eines Gefangenen.

Preusker, Major Kommandant des II. Bat. des 155. Reg. Ermordungen, Plünderungen, Brandstiftungen (Kalısz 1914).

J. P. Marat: Von der Notwendigkeit. den Volksgeist 567

40. Kirchbach (von), General. Ermordungen. Plünderungen. Brandschatzungen (Kalisz 1914).

41. Seydlitz (von), Oberst. Brandstiftungen, Plünderungen und Freiheitsbe- raubungen (Gebiet von Kalısz).

42. Hauff. Kommandant der 26. württembergischen kanau Oion, Durch seine Befehle sind 35 rumänische Gefangene, die man auf dem Friedhof in Esisheim bei Muhlhausen begrub, an Hunger, Kälte und den Folgen der schlechten Behandlung gestorben.

Die Anzeige wurde der rumänischen Regierung durch die Bürgermeister von Esısheem und Mühlhausen gemacht.

43. Limburg, Major, Kommandant des Gefangenenlagers von Breesen (Mecklen- burg). Schlechte Behandlungen und Mißhandlung der gefangenen rumä- nischen Otfiziere. Verschiedene Zeugenaussagen.

44. Noering, Leutnant, Adjudant des Kommandanten des Gefangenenlagers Breesen (Mecklenburg). Schlechte Behandlung der Gefangenen, Mißhand- lung der rumänischen Offiziere durch Schläge. Verschiedene Aussagen

von Offizieren. 45. Ronder, Chef der deutschen Militärpolizei in Rajanj (Serbien). Er ist schuldig des Mordes an Milena Lioubissavlievitsch in der Umgegend von Rajanj.

VON DER NOTWENDIGKEIT, DEN VOLKSGEIST ZU BILDEN, UM DIE FREIHEIT ZU SICHERN

VON J. P. MARAT

(8. November 1790)

Es gibt einen grundlegenden Satz, von dem jeder Ver- teidiger der Nation ausgehen mul und der es ihm verwehren mul. je am Gemeinwesen zu verzweifeln, der lautet: daß das Volk als Ganzes sich nıemals verkauft, so verderbt auch die Nation sein mag: denn wer könnte es kaufen oder auch nur daran gehen wollen? da man sıch nur bemüht, es an die Kefe zu legen. um es auszuplündern und als Spielball zu benutzen ? Auf diesen unerschüfterlichen Grund- satz hat sich der Volksfreund vom Anfang der Revolution an gestützt, und dieser ewig wahre Grundsatz hat ihn dazu gebracht, beim Anblick der unbesieglichen Hindernisse, die sich der Begründung des Reichs der Gerechtigkeit und

568 J. P. Marat: Von der Notwendigkeit Freiheit entgegenzustellen schienen, beim Anblick der vielen Laster einer Nation, die eben die Ketten losgeworden. war, beim Anblick ihrer blöden Achtung vor ihren alten Herren. beim Anblick ihrer wütenden Erpichtheit auf die Standesunterschiede, die sie so weit von der glück- lichen Gleichheit, der Grundlage jeder freien Regierung, entfernen muĝ, beim Anblick der krassen Unwissenheit. die ihr nicht gestattet. die plumpsten Schlingen. die man ihr legt. zu entdecken, beim Anblick dieser Haufen von Höflingssklaven, dieser wimmelnden Legionen von Königs- trabanten, dieser Horden von Helfershelfern des alten Regiments, dieser Spitzbubenbanden, die am Weiter- bestehen der Milbräuche, von denen sie leben. interessiert sind, dieser Schwärme verzagter Bürger. die die Freiheit von sich stoßen, weil sie bange sind. die Erschütterungen. die mit ihrem Sieg verbunden sein müssen, könnten ihr Behagen stören, bei all diesem furchtbaren Anblick nicht zu verzweifeln. Da indessen diese Haufen, diese Horden, diese Banden, diese Schwärme von Feinden der Revolution immer nur ein ganz geringer Teil des Volkes sind, reißt es sıe, sowie es in Massen aufschäumt, wie ein Strom mit sich fort, oder vielmehr, es fegt wie ein brausender Sturm über sie dahin und sprengt sie auseinander.

Damit das Volk in den Genul seiner Rechte kommen wolle. muß es sie kennen: es gilt also, es zu unterrichten: damit es nicht in den Schlingen, die man ihm legt, ge- fangen werde, muß es sie bemerken: es gilt also, es aufzuklären. Es folgt daraus, daß dem Volk kein größeres Unheil zustoßen könnte, als wenn es sich blind auf seine Führer verliele und im Arm der Feinde ein- schliefe, die es in den Abgrund reißen wollen. Es ımmer ın Bewegung halten, dafür sorgen. daß alle Köpfe immer in Gärung sind. bis die Regierung auf wahrhaft gerechte Gesetze gegründet ist, das also ist das große

den Volksgeist zu bilden 569

Ziel, das alle seine Fürsprecher sich vornehmen müssen.“) So ist die Freiheit der Presse der große Hebel. das einzige Bollwerk der bürgerlichen und politischen Freiheit. Dem Licht der Philosophie verdanken wir die Revolution; der hellen Einsicht der patriotischen Schriftsteller werden wir ihren Sieg verdanken. Solange die Freiheit der Presse unangetastet ist, sind wir des Siegs gewil. Sie uns nehmen zu wollen. wäre der ruchloseste aller Anschläge. Wenn also die Nationalversammlung sich soweit vergäße, daß sie den Versuch machte, diese Freiheit anzutasten, dürfte man keinen Augenblick schwanken, sich gegen sie zu erheben und sie für ihren Verrat zu züchtigen; aber mit welcher Stirn könnte sie wagen, die Preſifreiheit einzuschränken. wo sie täglich zuläft, dał ihre verderbten Mitglieder in ihrem Schol die Gegenrevolution, die Empörung gegen die Erklärung der Menschenrechte, und die Wiedereinführung der Sklaverei predigen?

Wenn ein Volk eben seine Keften zerbrochen hat ist es darum nicht frei; der Despotismus ist wohl ver- nichtet. aber der Despot ist noch da: es ist aber sehr selten, um nicht zu sagen unerhört, dal er nicht an der Spitze des Staates bleibt und daß seine Helfershelfer nicht große Vorteile behalten. So setzt sich denn das neue Regiment fast ausschließlich aus den Mitgliedern des alten zusammen, sodal, wenn die Regierung einen

) Anmerkung Marats: Dies ist, nebenbei gesagt, ein kleiner Wink für die chrenwerten Schriftsteller. die zu wenig in der Politik bewandert sind, als daß sie die Fallstricke des Kabinetts entwirren könnten. Die meisten beeifern sich täppisch. ihm in all seinen Plänen beizustehen. indem sie bald einen Aufstand und bald die Rückkehr der Ruhe ankündigen. Das größte Unglück, das uns treffen könnte, wäre, was die Minister die Wiederherstellung der Ruhe in Armee und Flotte nennen: Frankreich wärs seit langem wahrhaftig ruhig. wenn der Geist aller Soldaten und Schiffsmannschaften so gesteigert wäre, daß die Offiziere fürchten müßten. in Stücke gerissen zu werden. wenn sie es unternähmen. sich auf Machenschaften für die Wiederherstellung des Despotismus einzulassen oder die Befehle der Willkür auszuführen. Tatsache ist, daß alle Unruhen ın Armee und Flotte das Werk des Kabinetts waren.

570 J. P. Marat: Von der Notwendigkeit

umfassenden Umsturz erleidet und das Volk Vertreter bekommt, der Fürst, der auf nichts andres sinnt als die absolute Macht wieder zu erlangen, bald daran arbeitet sie zu korrumpieren, worin er nur zu oft Erfolg hat.

Das Volk ist ein schlechter Kenner der Dinge: es sieht sie selten, wie sie sind, noch seltener umfaßt es sie in ihrer Gesamtheit und fast nie zieht es die Folgen der Ereignisse in Betracht: das kommt daher, daß es ihm an Aufklärung fehlt. Sowie es irgend einen Vorteil er- langt, irgend einen Sıeg davonträgt, überschätzt es seine Kräfte, sieht die Hindernisse nicht mehr. besingt seinen Triumph, wiegt sich ın trügerischen Illusionen; und das kann nicht anders sein, da der Dünkel das Kind der Eigenliebe und der Unwissenheit ist. Damit das Volk nicht wieder unters Joch komme, ist nötig, daß es immer auf der Hut vor seinen Führern und immer imstande sei, sie nach ihren Werken zu beurteilen. Aber die Freiheit ist erst dann völlig gesichert, wenn der öffentliche ` Geist gebildet ist: d. h. wenn das Volk seine Rechte und seine Pflichten kennt, wenn es seinen Begriff von den Menschen und den Leidenschaften hat, die sie antreiben wenn es die rechte Auffassung über die Agenten der Autorität hat, wenn es ihre Pläne durchschaut und die Schlingen wahrnimmt, die sie ihm legen: die Nation dahın zu bringen, muß die Aufgabe der Publizisten sein.

Das Volk lernt nur durch sein Unglück, und immer bewegt es sich in Extremen. Mißftraut es den Ministern, so verläßt es sich blind auf seine Vertreter und hebt sie wie Göfter zu den Wolken: aber gerade diese knechtische Hingebung ist die ergiebige Quelle ihrer An- schläge: sie müßten ziftern, wenn das Volk sie mit arg- wöhnischen Augen überwachen wollte: sie wagen alles gegen es, wenn sie sehen, wie es ihnen in dumpfer Ergebenheit

Weihrauch streut. Ich habe fürwahr das Unmögliche

den Volksgeist zu bılden 12115771 getan. damit es von Anfang an den richtigen Begriff von seinen unwürdigen Vertretern in der Nationalver- sammlung bekäme: und durch das Predigen und das Auf- decken ihrer schwarzen Pläne, ihrer Perfidieen. ihrer Verrätereien hat es endlich die Augen geöffnet: die fromme Verehrung, die es ihnen weihte. hat sich in Verachtung gewandelt. und es wird nicht an mir liegen. wenn sie mit Schimpf und Schande bedeckt nach Hause gehen. Es ist also geboten, dem Volk die großen Wahr- heiten in den Geist zu prägen: einzig diejenigen Ver- treter des Volkes, die ihren Ruhm darin suchen, es glücklich zu machen. können ihm treu sein. und ihre Zahl ist sehr klein: die andern aber treiben mit seinen Rechten und Interessen Handel, sowie sie es ungestraft können: daraus folgt. daß es unausgesetzt die Augen offen haben und sie wie Schelme beobachten muß, daß es ihnen nie schmeicheln darf und das Ende ihrer Tätigkeit abwarten mul. ehe es über sie ein Urteil fällt und ihnen den rechten Lohn der Achtung oder Gering- schätzung spendet, den sie verdient haben.

Wenn der öffentliche Geist sich gebildet hat, wird das Volk merken, daß sein Glück von der Wahl seiner Vertreter abhängt, und es wird mit Abscheu all die Gerichts- und Polizeibeamten, all die Sachwalter. Kom- missäre, Advokaten. Akademiker. Talarträger. Finanzer. Exadligen und Hoöflinge. mit einem Wort. all die Helfers- helfer des alten Regiments von den Wahlen ausschlielen und wird seine Wahl nur auf aufgeklärte und redliche Bürger fallen lassen: es wird die lasterhaften Gesetze, die die Freiheit bedrohen. widerrufen und an ihre Stelle weise setzen. die die Freiheit vor den Anschlägen der Bedienten der Gewalt sichern, und es wird sich konstitutionelle Miftel verschaffen, um solche, die ihre Pflichten nicht redlich erfüllen, abzuberufen.

und solche zu strafen, die Untreue begangen haben. 7

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Nur durch Schlechtigkeiten gelangen die Bedienten der Gewalt dazu, das Volk zum Aufruhr zu bringen, es die Notwendigkeit fühlen zu lassen, ihnen die Möglichkeit zu nehmen, es zu schädigen. Dank dem Geist der Ver- blendung und des Wahnwitzes, der im Kabine herrscht neigt eich der Despotismus zu seinem Ende. Man möchte meinen, die Minister häfen den hirnverbrannten Plan gefaßt. in eigener Person den Thron zu stürzen: sie lassen schlechte Dekrete beschließen: sie widersetzen sich den guten oder verzögern ihre Sanktion: sie ver- schleudern die öffentlichen Gelder: sie fahren fort, das Korn und das Geld aufzukaufen, das Volk auszuhungern und ins Elend zu bringen. Verhaftbriefe zu erlassen die Provinzen zur Erhebung, die Truppen zur Empörung: die unterdrückte Menge zum Aufstand zu bringen: ihre schwarzen Anschläge, ihre Zefelungen, ihre Ver- schwörungen. ihre Verrätereien nehmen kein Ende: sie umgehen die Gesetze. setzen sich über die Verfassung weg und scheinen fürwahr der Nation zu trotzen. Um so besser. sie setzen ihren Freveln vollends die Spitze auf: bald wird die Nation die Augen öffnen und wird in der Gewißfheit, daß es unmöglich ist, di: Lakaien des Fürsten zu bessern, endlich den weisen Entschluß fassen, sie zu vernichten. Ah! wozu dient heute der Fürst anders, als sich der Gesundung des Reiches und dem Glück seiner Einwohner in den Weg zu stellen? Für den Vorurteilslosen ist der König der Franzosen weniger als das fünfte Rad an einem Wagen, weil er nichts anderes kann, als den Gang der politischen Maschine durch- einander bringen. Möchten alle patriotischen Schriftsteller daran gehen, der Nation zum Bewußtsein zu bringen, dal es das beste Mittel ist. ihre Ruhe, ihre Freiheit und ihr Glück zu sichern, Wenn sie ohne die Krone fertig wird. Werden wir denn nie aufhören, alte Kinder zu sein?

Hans Paasche: Protest eines Menschen 573

PROTEST EINES MENSCHEN VON HANS PAASCHE

Aufgewachsen in einer Welt, gegen die leidenschaft- lich zu protestieren er, ein Erkennender. sich verpflichtet fühlte. wurde er um seines Protestes willen ermordet. In Hans Paasche hat die Reaktion einen der besten und ehrlichsten Männer Deutschlands getroffen. Diese Zeilen, geschrieben eret vor wenigen Monaten. sind ein Aufschrei des Entsetzens und des Nichtverstehens. Nun ist denselben Mächten der Mordseligkeit und des indifferenten Oppor- tunismue, die ihn entsetzten und die er nicht verstehen konnte, er selbst zum Opf r gefallen. Das ist die tiefe Tragik dieses Lebens und eines Todes. der wer zweifelt auch nur eine Stunde wiederum keine Ver-

geltung finden wird.

Diese meine Worte des Protestes sollen hinausgehen aus den Grenzen Deutschlands zu Menschen aller Völker. Wo immer denkende, fühlende Menschen jetzt leben. sollen sie aufhorchen und emen Schimmer von Hoffnung in ihren Herzen spüren, dal die edlen Kräfte der Mensch- heit doch nicht zuschanden werden. Die Sprache eines großen Volkes kann nıcht nur der Lüge, dem Haß und der Unterdrückung dienen, sie kann nicht nur von Feig- lingen und Bequemen benutzt werden; mit ihr, mit ihren kostbaren Worten mul protestiert werden gegen die finsteren Mächte, die das deutsche Volk regieren. Wir sind am Ende. Das Leben ist nicht mehr wert. gemeinsam mit anderen gelebt zu werden wenn Recht das ist, was seit Monaten in Deutschland als Recht gesprochen wird und wenn niemand. der irgendwie dazu berufen ist. wagt, dagegen Einspruch zu erheben. Die deutschen Rechtsge- lehrten protestieren nicht. Vor aller Welt und für alle Zeit ist es nun erwiesen, daß Gelehrsamkeit allein den

574 on Hans Paasche Menschen nichts geben kann, was das Dasein erleichtert, es muß Mut und Verantwortung hinzukommen. Wenn es auf deutschen Universitäten Rechtsgelehrte gäbe, die einen Anspruch darauf machten, den hohen Gedanken des Rechts zu hüten, sie häfen protestiert gegen die amtliche Ver- höhnung des Rechts. wie sie von allen Stellen. von Ministern. Offizieren. Staatsanwälten und Richtern seit Monaten ungestraft betrieben wird. Man kann sich unter Mord. Betrug. Fälschung. Meineid. Diebstahl. Bestechlich- keit nichts Schlechtes mehr vorstellen. seitdem diese Dinge von amtlichen Personen. von Ministern. Offizieren. Parteiorganen und Staatsanwälten begangen werden. ohne daß irgend einer dieser Mächtigen bestraft wird. Wenn also unter all den Männern und Frauen der Wissenschaft sich keine Gruppe findet. die die Ehre der deutschen Wissenschaft wahrt und gegen die Macht im eigenen Lande protestiert. so übernehme irgend ein Einzelner diesen Protest. Mit seinem Gefühl für die Heiligkeit vorurteils- losen und rücksichtslosen Denkens muß er wohl dazu be- rufen sein, die deutsche Wissenschaft vor der Menschheit zu vertreten, |

Und er spreche aus, was Millionen heute empfinden: Wenn die Männer, die den Krieg verantwortet, die ihn herbeigeführt. geführt. verlängert haben. wenn ferner im besonderen Fall die Verantwortlichen für die grauen- haften Verbrechen der Berliner Märztage nicht in Ge- fängnisse gesperrt werden, dann ist es Zeit. mit der Institution der Gelängnisse und Zuchthäuser ganz Schluß zu machen und den Begriff des Staatsrechts ganz abzu- schaffen. Denn ım Vergleich mit den großen Verbrechern, die das deutsche Volk verschont. ja. denen es huldigt. sind die Elenden, die in Gefängnissen festgehalten werden. unschuldig. Fast alle Häftlinge von heute sind Opfer des Kriegsverbrechens -und der Rest sind Kranke. Das

Protest eines Menschen 575

Recht zu strafen und zu richten hat auf- gehört.

Seit mehr als fünf Jahren wird der Mord als eine gute Tat belohnt, wenn er auf Befehl begangen wird an Menschen, die für Menschenrecht kämpfen, für den Frieden und den Gedanken der Liebe. Seit dem November 1918 auch dann, wenn nur die Presse der besitzenden Klasse auf einen Menschen zeigt: »Spartakist«. Jede feine Differen- zierung des Urteils hat aufgehört in einem Volke. das Zu- und Abneigung. lallend, verteilt nur auf zwei Begriffe: Hindenburg und Spartakus. Für den ersten ist Lohn und Ehre da. Für den zweiten Strafe und Schande. wie immer auch die Taten des einen und des anderen beschaffen seien.

So will es das gestörte Rechtsgefühl des großen deutschen Volkes.

Wo eind die Unbeirrten. die Unbestechlichen. deren Schild noch blank ist in solcher Zeit und die das Gewissen des deutschen Volkes sein können vor der Welt? Gibt es ın Deutschland noch Einzelne, noch viele Einzelne, die in dem siftlichen Sumpf, den die Kriegsverbrecher ge- schaffen haben, aufrecht stehen können? Dann ergeht an sie der Ruf. ebenso einzeln zu protestieren gegen die Schande der heutigen J ustiz.

Die Prozesse. die vor aller Öffentlichkeit geiührt werden, können nur den einen Sinn haben: jedem der denken kann, zu zeigen, daß dort, wo Recht ge- spro chen werden soll, heute nichts anders als das größ te Unrecht hervorgebracht wird. Als Abschreckung kann Strafe keinen Sınn mehr haben. seitdem vorsätzlicher Mord ganz ungestraft bleibt und vollends Anstiſtung zum Mord; zum vielfachen. wie im Falle Reinhard. zum viel- tausendfachen. wie im Falle Helfferich und Gen. Als Sühne ist Strafe undenkbar. weil die Prozesse zeigen. daß es nicht möglich ist. ein Gericht zu bilden, das ein

576 Hans Paasche: Protest eines Menschen

gewissenhafter Mensch anerkennen könnte. Die einzig menschen- mögliche Stellung zum »Verbrecher« hat Kurt Eisner eingenommen, der, als ein Aftentat auf. ihn gemacht wurde, in Bezug auf den Täter sagte: »Laft ihn laufen!. So bin auch ich ja einverstanden, daß man die größten Ver- brecher laufen läßt, dıe ganze Völker zerschlagen haben, nur sollen dann nicht die kleinen, ganz kleinen Verbrecher oder gar die Unschuldigen. die zu tausenden in Gefängnissen leiden. anders behandelt werden. Solange die vor den Augen Aller geführten Prozesse und Untersuchungen zeigen, dal kein Mensch Richter oder Zeuge sein kann gegen einen anderen, weil keiner frei ist von eigener Schuld, von dem Vorurteil seiner Klasse, seiner Zeit, solange ist keine Gewähr, daß in den vielen Gerichtsverhandlungen, ın denen Menschen um Freiheit und Leben gebracht werden, ohne daß sich. die Öffentlichkeit darum kümmert, unfehlbare Richter, einwandfreie Zeugen wirken. Das Unrecht aber, das im Namen des Gesetzes täglich begangen wird in all den lebensfeindlichen. freudlosen Gerichtszimmern Preußens, ıst um vieles gefährlicher als das ın Freiheit begangene, weil es in völliger Sicherheit an Wehrlosen geschieht, mit dem Bewußtsein der Selbstgerechtigkeit. der sittlichen Empörung und des Hasses. ja mit dem Augen- aufschlag zu Gott. Es verdirbt die Richter schon durch die Atmosphäre von Feigheit. in der es entsteht und durch den ständigen Anblick der bezahlten Existenzen. die sich berufsmäßig an Menschenehre und -Freiheit ver- greifen müssen.

Aus all dieser Erkenntnis heraus protestiere ich gegen die Indolenz der Verantwortlichen Deutschlands, der Ge- lehrten. der wegen ihres Studiums mit Autorität bedachten. die sich jetzt zu keiner Tat aufraffen. Iæh protestiere ferner dagegen. dal das Bestreben. Menschen der Strafe zu entziehen, nur bei den Vertretern der Macht geduldet

Fidelis: Gustav Landauers Kulturprogramm 577

wird und nicht bei den Wehrlosen, Unterdrückten. Armen. An rechter Stelle nehme ich den Ruf auf, der in letzter Zeit so oft aus unberufenem Munde gehört wurde: »Heraus mit den Gefangenen« ım eigenen Lande! Weg mit den Strafbegriffen des Mittelalters! Wie sie auf die Besitzenden und Bevorrechteten nicht mehr an- gewandt werden, so sollen sie auch das „gemeine Voll. nicht mehr treffen. Glaubt man aber die Allgemeinheit schützen zu müssen: Gemeingefährlich können nur die Mächtigen sein. Die gilt es zu bewachen.

GUSTAV LANDAUERS KULTUR- PROGRAMM

Herausgegeben von FIDELIS

November 1918. Die deutsche Front bricht zusammen. Das deutsche Volk erhebt sich. Freiheitskrieg? Geistiges Zentrum ıst Bayerns Hauptstadt. Kurt Eisner, eben von den Massen aus dem Gefängnis geholt, leitet hier die Bewegung, Eisner, der mehr als Politiker ist, der alles verstehende. nach Schönheit strebende Künstler. Ihm zu helfen, eilt Gustav Landauer aus Düsseldorf nach München und schafft hier gemeinsam mit Eisner die Grundlagen für eine neue Ordnung. Er hafte die Revo- lution vorausgesehen, aber nicht geglaubt, daß sie so käme.

Wie man in Berlin Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an der Teilnahme am Rätekongrel hinderte. so suchte man auch in München dem - land- fremden Gustav Landauer das Recht auf Mit-

578 - ia,

schaffung neuer Zustände zu wehren. Vergebens. Um Landauer sammeln sich die, die auf kein Dogma schwören.

Eisners Ermordung ım Februar 1919. Gustav Landauer sprach dem Freunde schmerzliche Abschieds- worte. In dem Chaos, das jetzt in Bayern entstand, jetzt, nachdem der von den Massen geliebte Führer, der Hasser aller Gewaltmiſtel von der Kugel des Grafen Arco getötet worden war, war Landauer prädestiniert zu seinem Nachfolger.

Von Augsburg. hier zuerst klar geformt, drang der Massenwille, eine Räterepublik zu schaffen, nach München. Die beiden sozialdemokratischen Parteien traten dafür ein. Auch Gustav Landauer. Vergebens warnte ein lichter Prophet Leviné. warnten die Kommunisten. Am ersten Aprilmontag morgens um 6 Uhr rief Landauer im Wiſtelsbacher Palast die Räterepublik aus. Am letzten Tage derselben Woche noch wurde sie gestürzt. Am gleichen Abend übernahmen die Kommunisten auf Wunsch der revolutionären Arbeiterschaft die Regierung. An der Spitze stand ein Viermänner- kollegium. Führend war Levin é. Landauer hats die Herrschaft des Geistes gekündet. J etzt wurde eine rote Armee aufgestellt.

Gustav Landauer erklärte sich zur Mitarbeit bereit. In dem Münchener Mitteilungsblatt vom 16. April (dem amtlichen Organ der neuen Regierung. der einzigen damals erscheinenden Zeitung) schrieb er:

„Durch das tatkräftıge Eingreifen des Proletariats in München ist die Räterepublik vor dem frechen Putschversuch der Gegenrevolution gerettet worden. Die Umgestaltung. die sich anschloß, erkenne ich an und begrüße ich. Der alte Zentralrat existiert nicht mehr; dem Aktionsausschuſ stelle ich meine Kraft, wo immer man mich brauchen kann, zur Verfügung.

Gustav Landauer.

Gustav Landauers Kulturprogramm 579

Aber zwischen Landauer und Leviné lag Un- überbrückbares. Jeder verkörperte eine andere Welt: Landauer. der gütige Weltverbesserer. der Prophet: nach freiwilliger Hingabe rufend. Gemeinschaft des Geistes fordernd. der Marx den Antimar x entgegensetzte ; Levin é. der starre große Dogmatiker, der nach Marx- schen ehernen, ökonomisch-materialistischen Thesen die For- derungen der Zeit erfaßte und wie die Zukunft zeigte richtig erkannte. Einig im Ziel. war gemeinsames Wirken unmöglich. Jeder mußte seinen Weg des Leidens gehen.

Von Februar an trat ich Landauer persönlich nahe. Zur Zeit der Lein é schen Räterepublik suchte ich zu vermitteln. ich, der Kommunist und Verehrer Landauers. Erst nach heißem Bemühen erlangte ich die Einwilligung, mit Landauer eın Programm für die Neu- ordnung des Kulturwesens auszuarbeiten. Täglich berieten wir zusammen. Über das Prinzipielle waren wir einig, in den Einzelheiten gaben wir einander nach. Das von uns aufgestellte Programm (Teil 1) legte ich Leviné vor. Dazu gab ich Erläuterungen (wenig verändert in Teil 2), wobei es dahingestellt bleiben muß, ob Landauer immer mit meiner Auffassung einverstanden gewesen wäre. Leviné lehnte das Programm ab, da es ihm zu sehr im ‚herge- brachten, bürgerlichen zu haften schien, und nicht prinzipiell neue Richtlinien gab. Ich habe in Teil 2 des öfteren auf Sowjetrußland hingewiesen. um das unberechtigte dieser Kritik zu zeigen. Mir scheint, die Gegensätzlichkeit der Naturen Landauer und Leviné erklärt die Ablehnung des Programmes, nicht sein Inhalt.

Es wurden also keine Schrite zur Realisierung des Planes unternommen. Auch die politische Konstellation, die brutale Gewalt von außen, häfte es gehindert. Wenn ich

580 Fidelis

unser Programm doch der Öffentlichkeit unterbreite, so geschieht es nicht nur weil es Landauers letzte Arbeit ist, sondern auch weil ihm ein historisches Interesse nicht abgesprochen werden kann, und weil es auch heute noch praktischen Wert hat, vielleicht nur zum Vergleich mit dem, was im sozialistischen Deutschland geschieht.

Die Freunde Landauers werden hier das nötige über die Presse vermissen, zumal er selbst die Presse als wichtig ansah. Sie wurde zu jener Zeit vom Propagandabüro ver- waltet und kam daher zunächst für eine Neuordnung nicht in Frage. Wie sich im übrigen Landauer die Neugestaltung der Presse dachte, das zeigen die Nummern der »Münchener Neusten Nachrichten-, die während der Landauerschen Re- gierung erschienen. und für die er die Verantwortung trägt. Selbstverständlich liegt da erst der Beginn einer Reform vor, nicht die Erfüllung. Seine Absicht, alles was er in diesen acht Tagen geschrieben hafte. zu sammeln,

wırd vielleicht später von seinen Freunden erfüllt.

Wenn in den Ausführungen nur weniges über die Akademien steht, so erklärt sich dies ebenfalls daraus, daß diese Frage als weniger aktuell nıcht gleich besprochen wurde. Man halte daran fest. daß dies ein Arbeits- programm ıst, daß sofort die praktische Realı- sierung einsetzen sollte.

Den Stürmern, den Erneuerern des geistigen Deutsch- lands wird vieles von dem. was hier steht. banal vor- kommen, zumal gemessen an Landauers früheren Arbeiten. Von ıhm erwartet man Grundlegendes, Neues, Metaphysisches. Darum handelt es sich hier aber gar nicht. Hier wird die Idee materialisiert. also gleichsam heruntergezogen. Hier soll gezeigt werden, was ım Aprıl 1919 unter den gegebenen wirtschaftlich-politischen Zuständen in Bayern hätte ge-

leistet werden können. Der Kulturminister hat eine andere

Gustav Landauers Kulturprogramm 581

Aufgabe als der freie Schriftsteller, als der oppositionelle Politiker. Je größer sein Gedankenwurf ist, um so größer erscheinen seine (temporären) Konzessionen bei der praktischen Durchführung. Dieses tragische Schicksal teilt Landauer mit allen Führern, die zur Macht gelangen. Engels schreibt über Thomas Münzer (im deutschen Bauernkrieg): Es ist das schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, ın einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ıst für die Herrschaft der Klasse, die er ver- tritt und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann, hängt nicht von seinem Willen ab, sondern von der Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen getrieben ıst, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen Existenzbedingungen. der Produktions- und Verkehrsver- hältnisse. auf dem der jedesmalige Entwicklungsgrad der Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, -was seine Partei von ihm verlangt, hängt wieder nicht von ihm ab, aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassen- kampfs und seiner Bedingungen: er ist gebunden .an seine bisherigen Doktrinen und Forderungen. . Er findet sich so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: was er tun kann. widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten. seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner Partei: und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er ist mit einem Wort gezwungen. nicht seine Partei. seine Klasse. sondern die Klasse zu vertreten. für deren Herr- schaft die Bewegung gerade reif ist.

Dies erklärt unser Programm. Und nur so darf es betrachtet und gewertet werden.

580 Fidelis

unser Programm doch der Öffentlichkeit unterbreite, so geschieht es nicht nur weil es Landauers letzte Arbeit ist. sondern auch weil ihm ein historisches Interesse nicht abgesprochen werden kann, und weıl es auch heute noch praktischen Wert hat, vielleicht nur zum Vergleich mit dem, was ım sozialistischen Deutschland geschieht.

Die Freunde Landauers werden hier das nötige über die Presse vermissen, zumal er selbst die Presse als wichtig ansah. Sıe wurde zu jener Zeit vom Propagandabüro ver- waltet und kam daher zunächst für eine Neuordnung nicht in Frage. Wie sich im übrigen Landauer die Neugestaltung der Presse dachte, das zeigen die Nummern der »Münchener Neusten Nachrichten-, die während der Landauerschen Re- gierung erschienen, und für die er die Verantwortung trägt. Selbstverständlich liegt da erst der Beginn einer Reform vor, nicht die Erfüllung. Seine Absicht, alles was er in diesen acht Tagen geschrieben hafte, zu sammeln,

wird vielleicht später von seinen Freunden erfüllt.

Wenn in den Ausführungen nur weniges über die Akademien steht, so erklärt sich dies ebenfalls daraus, daß diese Frage als weniger aktuell nicht gleich besprochen wurde. Man halte daran fest, daß dies ein Arbeits- programm ist, dal sofort die praktische Reali- sierung einsetzen sollte.

Den Stürmern, den Erneuerern des geistigen Deutsch- lands wird vieles von dem, was hier steht, banal vor- kommen, zumal gemessen an Landauers früheren Arbeiten. Von ihm erwartet man Grundlegendes, Neues, Metaphysisches. Darum handelt es sich hier aber gar nicht. Hier wird die Idee materialisiert. also gleichsam heruntergezogen. Hier soll gezeigt werden, was ım Aprıl 1919 unter den gegebenen wirtschaftlich-politischen Zuständen in Bayern hätte ge-

leistet werden können. Der Kulturminister hat eine andere

Gustav Landauers Kulturprogramm 581

Aufgabe als der freie Schriftsteller, als der oppositionelle Politiker. Je größer sein Gedankenwurf ist, um so größer erscheinen seine (temporären) Konzessionen bei der praktischen Durchführung. Dieses tragische Schicksal teilt Landauer mit allen Führern, die zur Macht gelangen. Engels schreibt über Thomas Münzer (im deutschen Bauernkrieg): »Es ist das schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er ver- tritt und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann. hängt nicht von seinem Willen ab. sondern von der Höhe. auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen getrieben ist. und von dem Entwicklungsgrad der materiellen Existenzbedingungen, der Produktions- und Verkehrsver- hältnisse. auf dem der jedesmalige Entwicklungsgrad der Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, Was seine Partei von ihm verlangt. hängt wieder nicht von ihm ab. aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassen- kampfs und seiner Bedingungen: er ist gebunden an seine bisherigen Doktrinen und Forderungen. . . Er findet sich so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma; was er tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten. seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner Partei: und was er tun soll. ist nicht durchzuführen. Er ist mit einem Wort gezwungen. nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herr- schaft die Bewegung gerade reif ist.

Dies erklärt unser Programm. Und nur so darf es betrachtet und gewertet werden.

580 Fidelis

unser Programm doch der Öffentlichkeit unterbreite, so geschieht es nicht nur weil es Landauers letzte Arbeit ist, sondern auch weil ihm ein historisches Interesse nicht abgesprochen werden kann. und weil es auch heute noch praktischen Wert hat, vielleicht nur zum Vergleich mit dem, was im sozialistischen Deutschland geschieht.

Die Freunde Landauers werden hier das nötige über die Presse vermissen. zumal er selbst die Presse als wichtig ansah. Sie wurde zu jener Zeit vom Propagandabüro ver- waltet und kam daher zunächst für eine Neuordnung nicht in Frage. Wie sich im übrigen Landauer die Neugestaltung der Presse dachte, das zeigen die Nummern der »Münchener Neusten Nachrichten-. die während der Landauerschen Re- gierung erschienen, und für die er die Verantwortung trägt. Selbstverständlich liegt da erst der Beginn emer Reform vor, nicht die Erfüllung. Seine Absicht, alles was er ın diesen acht Tagen . geschrieben hafte, zu sammeln,

wird vielleicht spater von seinen Freunden erfüllt.

Wenn ın den Ausführungen nur weniges über die Akademien steht, so erklärt sich dies ebenfalls daraus, dal diese Frage als weniger aktuell nıcht gleich besprochen wurde. Man halte daran fest, daß dies ein Arbeits- programm ist, daß sofort die praktische Realı- sierung einsetzen sollte.

Den Stürmern, den Erneuerern des geistigen Deutsch- lands wird vieles von dem, was hier steht, banal vor- kommen, zumal gemessen an Landauers früheren Arbeiten. Von ıhm erwartet man Grundlegendes, Neues, Metaphysisches. Darum handelt es sich hier aber gar nicht. Hier wird die Idee materialisiert. also gleichsam heruntergezogen. Hier soll gezeigt werden, was ım Aprıl 1919 unter den gegebenen wirtschaftlich-politischen Zuständen in Bayern häfte ge- leistet werden können. Der Kulturminister hat eine andere

Gustav Landauers Kulturprogramm 581

Aufgabe als der freie Schriftsteller, als der oppositionelle Politiker. Je größer sein Gedankenwurf ist, um so größer erscheinen seine (temporären) Konzessionen bei der praktischen Durchführung. Dieses tragische Schicksal teilt Landauer mit allen Führern, die zur Macht gelangen. Engels schreibt über Thomas Münzer (im deutschen Bauernkrieg): Es ist das schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er ver- tritt und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann, hängt nicht von seinem Willen ab, sondern von der Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen getrieben ist, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen Existenzbedingungen, der Produktions- und Verkehrsver- hältnısse, auf dem der jedesmalige Entwieklungsgrad der Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, was seine Partei von ihm verlangt. hängt wieder nicht von ihm ab, aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassen- kampfs und seiner Bedingungen: er ist gebunden an seine bisherigen Doktrinen und Forderungen. . . Er findet sich so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: Was er tun kann. widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten. seinen Prinzipien und den unmiftelbaren Interessen seiner Partei: und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er ist mit einem Wort gezwungen, nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herr- schaft die Bewegung gerade reif ist.“

Dies erklärt unser Programm. Und nur so darf es betrachtet und gewertet werden.

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unser Programm doch der Öffentlichkeit unterbreite, so geschieht es nicht nur weil es Landauers letzte Arbeit ist, sondern auch weil ihm ein historisches Interesse nicht abgesprochen werden kann, und weıl es auch heute noch praktischen Wert hat, vielleicht nur zum Vergleich mit dem. was im sozialistischen Deutschland geschieht.

Die Freunde Landauers werden hier das nötige über die Presse vermissen, zumal er selbst die Presse als wichtig ansah. Sie wurde zu jener Zeit vom Propagandabüro ver- waltet und kam daher zunächst für eine Neuordnung nicht in Frage. Wie sich im übrigen Landauer die Neugestaltung der Presse dachte, das zeigen die Nummern der »Münchener Neusten Nachrichten-, die während der Landauerschen Re- gierung erschienen, und für die er die Verantwortung trägt. Selbstverständlich liegt da erst der Beginn einer Reform vor, nıcht die Erfüllung. Seine Absicht, alles was er in diesen acht Tagen . geschrieben hafte, zu sammeln,

wird vielleicht später von seinen Freunden erfüllt.

Wenn in den Ausführungen nur weniges über die Akademien steht, so erklärt sich dies ebenfalls daraus, daß diese Frage als weniger aktuell nicht gleich besprochen wurde. Man halte daran fest, daß dies ein Arbeits- programm ist, daß sofort die praktische Realı- sierung einsetzen sollte.

Den Stürmern, den Erneuerern des geistigen Deutsch- lands wird vieles von dem, was hier steht, banal vor- kommen, zumal gemessen an Landauers früheren Arbeiten. Von ıhm erwartet man Grundlegendes, Neues, Metaphysisches. Darum handelt es sich hier aber gar nicht. Hier wird die Idee materialisiert. also gleichsam heruntergezogen. Hier soll gezeigt werden, was ım Aprıl 1919 unter den gegebenen wirtschaftlich-politischen Zuständen in Bayern häfte ge- leistet werden können. Der Kulturminister hat eine andere

Gustav Landauers Kulturprogramm 581

Aufgabe als der freie Schriftsteller, als der oppositionelle Politiker. Je größer sein Gedankenwurf ist, um so größer erscheinen seine (temporären) Konzessionen beı der praktischen Durchführung. Dieses tragische Schicksal teilt Landauer mit allen Führern, die zur Macht gelangen. En ge ls schreibt über Thomas Münzer (im deutschen Bauernkrieg): »Es ist das schlimmste, was dem Führer einer extremen Parteı widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er ver- tritt und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann. hängt nicht von seinem Willen ab. sondern von der Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen getrieben ıst, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen Existenzbedingungen. der Produktions- und Verkehrsver- hältnisse. auf dem der jedesmalige Entwicklungsgrad der Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, was seine Partei von ihm verlangt. hängt wieder nicht von ihm ab. aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassen- kampfs und seiner Bedingungen: er ıst gebunden an seine bisherigen Doktrinen und Forderungen. . . Er findet sich so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: was er tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten, seinen Prinzipien und den unmiftelbaren Interessen seiner Partei; und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er ist mit einem Wort gezwungen, nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herr- schaft die Bewegung gerade reif ist.

Dies erklärt unser Programm. Und nur so darf es betrachtet und gewertet werden.

O Fidelis

Das Programm A. Staat und Kirche.

1. Sofortige völlige Trennung.

2. Die Kirche bleibt einstweilen im Besitze ihres Vermögens.

Die Kirchen sind im Prinzip Eigentum der politischen Gemeinde. l

Die charitativen Einrichtungen bleiben ihrem Zweck erhalten.

5. Prozessionen werden wie sonstige Umzüge be-

handelt. B. Kunst. 1. Architektur: Die neue Ara der Menschheits-

geschichte hat in den Monumenten und öffent- lichen Gebäuden, die von jetzt ab errichtet werden. ihren Ausdruck zu finden. (Gustav Landauer). Staatsaufträge. Malerei und Plastik sind in die Architektur einzugliedern. |

2. Malerei und Plastik. Neugründung von Museen. Staatsankäufe. Staatsgebäude für Ausstellungen. Wanderausstellungen.

3. Theater.

ö a) National- Theater. Freier Eintritt. Kontrolle des Spielplans und der Spielart durch eine Akademie.

b) Privat- Theater. Korporativer Charakter. Große Macht des gewählten Leiters. C. Schule.

1. Einheitsschule. 7.— 13. Lebensjahr. Betonung von Zeichnen und Turnen. Fakultative Auswahl der Fächer. Keine Schulbank. Neue Lehrbücher. Privat-

Q

R

Gustav Landauers Kulturprogramm 583

schulen gestaftet, wenn sie dasselbe Minimum geben wie die Staatsschule. .

2. Nach der Einheitsschule entweder praktische Betätigung mit Fortbildungsschule, oder

3. Lebensgemeinschaft vom 13.— 15. Jahre (Schüler Lehre Meister). Oder

4. Mittelschule. .

5. Hochschule. Streichung der theologischen und juristischen Fakultät mit Ausnahme der Geschichte und Philosophie. Abtrennung einer medizinischen Hochschule, einer philologischen und einer physikalisch- chemisch-naturwissenschaftlichen. Höchste Fakultät ist die philosophische.

Erläuterungen zum Programm

Am klarsten liegen die Forderungen in bezug auf Trennung von Staat und Kirche. Handelt es sich doch hier um ein aus der Tradition des liberalen Programmes über- nommenes Verlangen, das bereits in manchem bürgerlichen Staat durchgeführt ist. Die geistliche Schulaufsicht. im 2. Jahr der - Revolution - noch in Preuſen- Deutschland ein Streitobjekt. war sogar schon in den Schulen des Philantropismus (in der 2. Halfte des 18. Jahrhunderts) abgeschafft.

Der Kampf gegen die offizielle Kirchenreligion ent- springt der Erkennung. daß dieser Kult der heutigen Gesell- schaft nicht mehr entspricht. sowohl in seinen Formen, als auch in seiner Ethik. Dieser Geist ist ein Ungeist: hat weder Beziehungen zur Wahrheit noch zum Leben. Wenn etwas beweisbar falsch ist, so sind es diese Vor- stellungen allesamt. Man kann sich aber wohl vorstellen. daſ eine Gemeinde im Landauerschen Sinne nicht nur einen den Menschen genehmen, sondern ihnen sogar notwendigen Kult findet, wie es die Mysterien in Griechenland waren

und die christlichen Religionsformen in den ersten J ahrhunderten.

584 Fidelis

Sicher ist es aber, dał aus der heutigen Kirchenreligion dieser Kult nicht entstehen kann. Der heutige Staat hat also kein Interesse mehr, die Trennung hintanzuhalten. Man darf dabei aber nicht übersehen, dal jede scharf vor- genommene Trennung auch Gefahr für den Staat in sich birgt. Wird der Religonsunterricht von der Schule ver- wiesen. 80 werden die Eltern ihren Kindern von der Kirchen- gemeinde den Unterricht geben lassen. d. h. die Kinder er- halten einen Unterricht, auf den der Staat dann keinen Einfluß mehr ausübt. Diese Gefahr ist sicherlich nicht zu unter- schätzen. Sie kann und mu durch den Moral- und Ge- schichtsunterricht, sowie durch eine selbständiges Denken er- zielende Erziehung bekämpft werden. Es schadet gar nıchts, wenn schon das Kınd Probleme sieht und zu zweifeln lernt.

Ein Verbot des Religionsunterrichtes der heutigen Staats- kirche kommt wohl praktisch noch nicht in Frage. Wohl aber muß der Staat bereits die Kirche als schädlich be- kämpfen. Die heutige Ausübung der kirchlichen Religion ist Opium. das das Volk vergiftete und vergiftet« (Bucharın). Die Entziehungskur dieses Narkotikums kann aber nicht plötzlich geschehen. sondern, nur ansteigend.

Ein Zeichen für das tiefe Niveau der bisher erreichten Entwicklungsstufe ist, daß das Volk, auch das arbeitende Volk. noch die heutige Kirche braucht. Die Verfassung jedes Staates muß neben den großen Zielen, auch die Realität der soziologischen Struktur betrachten und die Konsequenzen daraus ziehen, auch wenn sie unbequem sind. Hieraus er- gibt eich, daß man heute der Kirche noch nicht alle Mittel nehmen kann, da sich. die Proletarier gegen eine Regierung. die dies anordnet, erheben würden. Man muß daher die Kirche einstweilen ım Besitze ıhres Vermögens lassen. Man kann sie nıcht, wie es ın Rufland geschehen ist, nationalisieren, weil eben das deutsche Volk anders ist als das russische. Ein Zuschuß von Staats wegen kommt natürlich in keiner

Gustav Landauers Kulturprogramm 585

Form mehr in Betracht. auch nicht für die armen Gemeinden. Da der Staat aber die Notwendigkeit der Kirche noch anerkennt. so wird er dafür sorgen, daß die reichen Ge- meinden die armen ausreichend unterstützen. Landauer wäre sogar damit einverstanden, daß der Staat in der Über- gangszeit hier vermiftelnd und helfend eingriffe. In dem- selben Maße wie die politische Aufklärung vor sich geht und wie sich das Proletariat von der Kirche abwendet, in demselben Maße wird man auch zur Enteignung der Kirche schreiten. Gerade hier möchte ich die oben zitierte Ansicht Engels angewendet wissen.

Die Benutzung der Kirche für weltliche Zwecke durch die Geistlichkeit, die sich bei jedem Wahlkampf zeigt und l die z2. B. bei der Wahl zur Nationalversammlung von dem Erzbischof von Breslau ausdrücklich befohlen wurde. hat die Konsequenz. daß auch die nicht der Kirche Ange- börigen die Kirchengebäude benutzen dürfen. Vor allem kommen sie für die Weihefeste neuer Kultgemeinden in Frage. So hatte Eisner geplant. Erntedankfeste der Bauern in den großen Kirchen Münchens abhalten zu lassen. f Wenn auch die Kirchen im Prinzip Eigentum der politischen Gemeinden . sind. so sind sie doch der kirchlichen Gemeinde zur Verfügung gestellt. und diese haben daher für den Unterhalt der Gebäude und Kunstschätze zu sorgen. Wie nötig es aber ist. ausdrücklich das Prinzip des Eigen- tums der politischen und nicht der kirchlichen Gemeinden an den Kirchen zu betonen. zeigten viele unliebsame Vor- gange in Bayern während der Revolution. Übrigens nımmt ja auch der bürgerliche Staat heute schon dies Recht für sch in Anspruch.

Die charıtatıven Einrichtungen sollen ihrem Zeelie er- halten bleiben. Nur mul die Art der Aufsicht geändert werden: pädagogisch-ärztliche Richtlinien, nicht kirchliche

müssen leitend sein.

586 Fidelis

Prozessionen werden in Zukunft wie andere öffentliche

Umzüge behandelt.

»Die neue Ära der Menschengeschichte hat in den Monumenten und öffentlichen Gebäuden, die von jetzt ab errichtet werden, ihren Ausdruck zu finden« Dieser Satz Landauers zeigt die neue Einstellung zur Kunst. Nach der Häckelschen Monistenbündlerei kommt wieder ein religiöses Zeitalter, beschleunigt durch Krieg und Revolution. Die Menschen streben wieder nach Verinnerlichung. und die Künstler gehen voran. Nicht mehr suchen sie die Natur in ihrer jeweiligen Form festzuhalten. sondern gläubig durchdringen sie das Einzelne, um dahinter das All zu finden. So erweitert sich ihr Ich zum All. Ihre Gesinnung braucht noch nicht gläubig zu sein. Aber diese Erscheinungen setzen »einen gewissen Transzendentalismus der seelischen Grundverfassung« (Ha rtlaub) voraus oder wie Franz Marc sagt: »Die Mystık erwachte in den Seelen (nämlich der Künstler) und mit ihr uralte Elemente der Kunst. Expressionistisch heift man die neue Kunst. Raphael nahm eine Geliebte als »Modelle zu einer Madonna. Der Künstler der Jetztzeit braucht kein Modell Durch irgend ein Bild in der Natur angeregt, durchdringt er es verstandesmälig, und sein Bild bringt. ihm selbst unbewuft, die Madonna in ihrer Allgültigkeit. Ein zweites Beispiel: das prachtvolle Pferd des Colleoni oder eime Tier- figur eines sımpressionistischen« Bildhauers wie Gaul. Sie haften beide am äußerlichen. Man möchte das Pferd des Colleoni besteigen. man möchte die Tierfigur von Gaul streicheln. Ganz anders die eines Expressionisten, etwa eine solche von Marc. In seinen Pferden ist das »Ur-Pferd enthalten. Das ist nicht mehr ein beliebiges Pferd, sondern es ist schlechtweg das Pferd.

Diese Beispiele mögen genügen. Sie genügen auch, um

Gustav Landauers Kulturprogramm 587

das Wesentliche klar zu erkennen. Jene haften am Figürlichen, diese kommen zum »communen«, zum »allgemein- gültigen . In jedem Punkt, in jeder Linie, in jeder Fläche und eben so in jeder Farbe drückt sich das Ringen des neuen Künstlers aus. Das Figürliche kann dabei. wie bei Kandinsky ganz schwinden. Nach geistig-religiöser Ver- innerlichung strebt die Künstlerschaft und mit ihr die Masse, die nıchtsafte, nıcht-bourgeoismäfige Masse.

In der neuen Kunst dürfen wır wohl die ersten schwachen Versuche sehen, der neuen religiösen Gemüts- bewegung eine neue Form zu geben. Daß die Kunst immer die Formulierung der Gemütsbewegung, sei es Einzelner. sei es von Gruppen, Klassen, Nationen usw. war, ist selbstver- ständlich. Die neue Kunst wird eine Proletarierkunst sein. Wie das Proletariat nach Wissen und Schönheit strebt. so tut es auch seine Kunst. Sıe ist nur zu verstehen aus der gesamten proletarischen Kultur, von der Lunatschars ki schreibt: Wie sozialistische Produktion das Ergebnis der kapitalistischen Produktion ıst, sie jedoch modifiziert und hebt, so ist auch die ganze sozialistische Kultur ein neuer, noch in der Blütenpracht der Schwere und der Süße der ver- heißenden Früchte ein noch nie dagewesener Zweig vom großen Baume der allgemeinmenschlichen Kultur.« »Die Kultur des kämpfenden Proletariats ist eine scharf abgesonderte Klassenkultur, die auf Kampf aufgebaut ist, eine ihrem Typus nach romantische Kultur, in der der sich intensiv abzeichnende Inhalt die Form überholt. weil die Zeit fehlt. um sich genügend um die bestimmende und die vollkommene Form für diesen stürmischen und tragischen Inhalt zu kümmern.

Doch kehren wir nach dieser Abschweifung zu der praktischen Ausführung des Programmes zurück. Wenn der oben stehende Satz Landauers Wahrheit werden soll, so werden die Rechte des Einzelnen weiter beschränkt. Nicht

mehr hat der einzelne Hausbesitzer, die einzelne Gemeinde f

588 Fidelis

das Recht, das Stadtbild nach ihrem Gutdünken zu bilden. Durch Staatsaufträge und Ausschreibungen von Konkurrenzen wird die Bebauung von jetzt ab nach einheitlichen künstle- rischen Gesichtspunkten geregelt. Vorbildlich sollen die Staats- gebäude sein, sowohl in ihren Einrichtungen, als auch in ihrer Architektonik.

Bei dem Worte »Staatsauftrage überläuft dem Sensitiven des wilhelminischen Zeitalters ein kalter Schauer. Er denkt an den Berliner Dom. er denkt an Ihne. So ist es natür- lich nicht gemeint. Weder ein Einzelner. noch ein Ministerium. noch gar die Zeitungen sollen das Werturteil fallen. Die Künstlerschaften bilden ihren Rat, aus dem sich dann eine höchste Instanz herauskristallisiert. eine Akademie. die ge- meinsam mit den Vertretern des schaffenden Volkes die Richtlinien niederlegen.

Malerei und Plastik sind. wenigstens teilweise, der Architektur einzugliedern. Die Freskomalerei kann ja sinngemäf gar nicht ein eigenes Dasein führen. Ähnliches gilt auch von der- Plastik. Man denke an jene gotischen Kirchen, bei denen die Plastik organisch mit dem Bau verbunden ist und nicht ein zufälliges Ornament bildet.

Diese Eingliederung der Malerei und Plastik ist nicht nur in die offiziellen Gebäude möglich, sondern allgemein durchführbar. Das Museum hat ja immer etwas Fremdes. Magazinhaftes. Es ıst nıcht Leben. Es ıst wohl denkbar, daß die Künstler einer neuen Zeit, sich unterordnend, weniger selbständig, weniger losgelöst von der Architektur schaffen. Für die anderen Künstler wird der Staat Museen ein- richten. Er wird ıhnen Gebäude zwecks Ausstellungen zur Verfügung stellen. Vor allen Dingen sei für Wander- ausstellungen gesorgt, damit auch das Land die neuen Be- wegungen kennen lernt. Nicht nur Theater, sondern ‚auch Bilder und Plastiken lebender Künstler sollen in das kleinste Städtchen kommen, um zur Verinnerlichung der Bevölkerung

Gustav Landauers Kulturprogramm 589

beizutragen. damit die Kunst wieder wie früher Not- wendigkeit wird. Stat der Heimatstümelei soll wieder Volkskunst entstehen.

Die größte Förderung erhalten die Künstler aber durch Einrichtung von Lehranstalten. Nicht im Sinne der bis- herigen Kunstakademien soll hier gelehrt und gelernt werden: sondern es werde den Arbeitern hier Gelegenheit geboten, nach ihrem Willen sich in ihren Mufßestunden zu be- schäftigen. Wir glaubten, daß der Künstler nur Nutzen hat, wenn er auch produktiv zu schaffen hat, daß man ihn aber später, wenn seine Kunst mehr als Spielerei ist, gewisse Be- freiungen von der Arbeit zugestehen darf. Also auch der Künstler wird der allgemeinen Produktionsgenossenschaft eingegliedert.

Noch ein paar Worte über das Theater. Wir dachten uns das Nationaltheater als eine Musterbühne sowohl in bezug auf seine Spielart. als auch in bezug auf seinen Spielplan. Überwacht wird beides durch eine höchste Akademie für geistige Angelegenheiten, deren Zusammen- setzung wır ım einzelnen noch nicht besprachen. Ich dachte sie mir etwa ähnlıch wıe den oben geschilderten Künstlerrat. Die Akademie häfe natürlich keine wirt- schaftlichen Interessen wahrzunehmen.

Die Theater sollen ın künstlerischer Hinsicht korpora- tiven Charakter tragen, wenn auch ıhr selbstgewählter Leiter über große Machtbefugnisse verfügt. Daß sie wirtschaftlich kommunisiert würden, sei nur erwähnt, um Mifverständ- nisse auszuschließen.

In bezug auf die Literatur kann der Staat durch Verbreitung guter Schriften, durch Unterdrückung der Schundliteratur (hierher würde ich alle Kriegsbücher rechnen) erzieherisch wirken. Bibliotheken können mit ver- hältnısmäßig kleinen Summen überall eingerichtet werden. selbst im kleinsten Dörfchen. Gerade hierin ist Sowjet-

Rufland vorbildlich, und man kann die dort geschaffenen Zustände ohne weiteres nach Deutschland übertragen.

Auch Sowjet-Rufland hat Museen für moderne Kunst eingerichtet und Künstlerschaften errichtet. Ein Kollegium junger radıkaler Künstler hat sich gebildet, Kunstgewerbe- abteilungen sind den Kunstwerkstäften angeschlossen. Eine Kunst-Aufbau-Abteilung errichtet Museen und hält künst- lerische Wettbewerbe ab.

So wichtig auch alle Bestrebungen sind, die die jetzige Generation betreffen. so treten sie doch weit zurück gegen- über al dem. was der Erziehung der Jugend dient. Sie in den neuen Ideen aufwachsen zu lassen, sie in einem neuen Idealismus zu erziehen, sie vom bürgerlichen Materialismus zu entfernen. wird immer die Hauptaufgabe einer Übergangs- epoche sein.

„Non scholae. sed vitae discımus.« Daran krankt die Schule. Die Pädagogen, die nach diesem Prinzip erziehen, wissen, was das Leben fordert: Anpassungsfähigkeit, Unter- würfigkeit. Verkümmerung des Ichs. ein in den Dienst der herrschenden Klasse Treten. Die Schule ist. das bedeutet jener alte, oft mißverstandene Satz. Klasseninstrument. Das Kind wird zum Untertan erzogen. gleich ob im wilhelminischen Alter oder in einer Zeit. in der das Kultusministerium in Preußen einem Hänisch. in Bayern einem Hoffmann an- vertraut ist. Daher die Schule, gleich ob Hoch-. Mittel- oder Volksschule. immer versagt, zumal in jeder großen Bewegung. etwa in dem »sgroßen« Krieg. Die denkenden Soldaten sind die schlechtesten, die denkenden Bürger die unfolgsamsten. Die »nationalee Erziehung bekämpfen wir. Diesem früheren Ideal (damals gerechtfertigt) setzen wir ein neues entgegen, die Menschheit. Für die Gesamtheit soll das Kind erzogen werden. »Die Verfassung mul

Gustav Landauers Kulturprogramm 591

nämlich ferner also eingerichtet sein, daß der Einzelne für das Ganze nicht bloß unterlassen müssen, sondern dal er für dasselbe auch tun und handelnd leisten könne. Außer der geistigen Entwicklung im Lernen finden ın diesem Gemeinwesen der Zöglinge auch noch körperliche Übungen, und die mechanischen, aber hier zum Ideal veredelten Arbeiten des Ackerbaus. und die von mancherlei Hand- werken sta. Es sei Grundregel der Verfassung. daß jedem. der in irgend einem dieser Zweige sich hervortut, zugemutet werde. die anderen darin unterrichten zu helfen und mancherlei Aufsichten und Verantwortlichkeiten zu über- nehmen: jedem. der irgendeine Verbesserung findet. oder die von einem Lehrer vorgeschlagene zuerst und am klarsten begreift. dieselbe mit eigener Mühe auszuführen. ohne daß er doch darum von seinen ohne dies sich verstehenden per- sönlichen . Aufgaben des Lernens und Arbeitens losgesprochen sei; dal jeder dieser Anmutung freiwillig genüge, und nicht aus Zwang, in dem es dem Nichtwoilenden auch frei steht, sie abzulehnen: daß er dafür keine Belohnung zu erwarten habe, ındes ın dieser Verfassung alle in Be- ziehung auf Arbeit und Genul ganz gleich gesetzt sind, nicht einmal Lob, indem es die herrschende Denkart ist. in der Gemeinde, daß daran jeder eben seine Schuldigkeit tue, sondern daß er. allein genieße die Freude an seinem Tun und Wirken für das Ganze und an dem Gelingen desselben, falls ihm dies zuteil wird. In dieser Verfassung wird sonach aus erworbener größerer Geschicklichkeit und aus der hierauf verwendeten Mühe nur neue Mühe folgen. Diese Sätze sind nicht etwa von einem weltfremden kommunistischen Idealisten, sondern von dem Verfasser der »Reden an die deutsche Natione, von Fichte.

Eine solche Erziehung bedeutet in erster Linie Hebung der Ethik. Alles andere tritt dagegen zurück, auch die Weckung des Intellekts. Wieder kann man Lunatscharskı

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nur beistimmen: » . . . daß sogar die beste geistige Bildung nur in unbedeutender Weise auf den Willen einen Ein- flub hat. wenn daneben die Organisation des Gefühllebens nicht vor sich geht.

Wenn also auch die Bildung zurücktritt. so wird man doch andererseits die Bildungsmöglichkeit als allgemein und obligatorisch erklären. Man wird also die Schule ebenso wenig wie die Kirche den Besitzenden oder anderen Privilegierten ausliefern.

Die Schule ist ein Klasseninstrument. Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Wirtschaftsära liegt nach dem bekannten Wort von Marx die Diktatur des Proletariats. Aber das Ideal ist die Aufhebung der Klassen. d. h. die Zertrümmerung des Staates. Die erste Realisierung wird in den Schulen erfolgen. da naturgemäß nur eine ım neuen Geist erzogene Generation dieses Ziel erreichen kann. Man wird also zunächst die verschiedenen Klassen-Schulen aufheben, die in einem Preußen des Dreiklassenwahlsystems ein würdiges Dasein führten, heute aber, selbst nach der Nieder- lage der Revolution, nicht mehr existieren sollten. Die Arbeitseinheitsschule. übrigens keine Erfindung der Jetztzeit. ist selbstverständliche Forderung. Man wird niemanden aus- schließen. auch nicht wenn er aus einer dem Proletariat feindlichen Klasse kommt. Wohl aber wird man jeden zu hindern suchen, ein Feind des Proletarıats zu werden. Dieses Ziel ist nicht durch die Einheitsschule an sıch zu erreichen, sondern nur durch die Einheitsschule im sozialistischen Staat.

Uns interessierte damals nicht die Erziehung der kleinsten Kinder. Wir beschäftigten uns nur mit der der älteren, vom 7. Lebensjahr an. In diesem Alter sollen die Kinder auf die Einheitsschule kommen, wo ihre manuelle und intellektuelle Ausbildung gleichmäßig gefördert werde. Die Ausbildung im Handwerkmäfigen ist zu betonen. Material-

Gustav Landauers Kulturprogramm 593

kunde ıst eins der wichtigsten Fächer. Eine ıhrer Wichtigkeit entsprechende Rolle spielt sie allerdings erst später. Der Zeichen- und Handwerksunterricht wird stärker betont als bisher. Die reiferen Kinder sollen sich die einfacheren Gebrauchsgegen- stände selbst herstellen. Hygienische Körperpflege. fremd allem Militärischen. darf nicht vernachlassigt werden. Aber darüber hinaus muß von der jungen Generation der Sinn des Leibes. seine Schönheit, sein Rhythmus wiedergefunden werden. Dionysos sei das Wahrzeichen der Schule.

Häusliche Schulaufgaben sind eine Prämie für die Faulheit der Lehrer. Sie sind in jedem Unterrichtsfach zu entbehren, auch beim Erlernen fremder Sprachen.

Was die Frage anbelangt, in welchen Fächern die Kinder zu unterrichten sind, so ıst zunächst einmal jeder festliegende Stundenplan verpönt. Im allgemeinen bleibe die Auswahl den Kindern selbst überlassen. Abgesehen vom Grundrechnen. vom Schreiben und Lesen in der Mufter- sprache, sowie vom Moralunterricht kann die denkbar größte Fakultas herrschen. Im geeigneten Moment, wenn das Interesse des Kindes erweckt ist. wenn es selbst den Wunsch äußert, hat die Belehrung einzusetzen. Und sie hat nur 30 lange zu dauern. wie es das Kind verlangt. Die psychologischen Erkenntnismethoden der Fähigkeiten des einzelnen, von Münsterberg, Stern, Liebmann u. a. .ausgearbeitet, eind beratend dabei heranzuziehen.

Hat sich eine Anzahl Kinder für ein Fach entschieden, so werden sie durch den Lehrer in drei Gruppen einge- teilt: Begabte. Durchschniſtsbegabte. Minderbegabte (Mann- beimer System). Jede Gruppe erhält Unterricht für sich. Diese Einteilung hat den Vorteil. daß jederzeit ein Rüberwechseln der Kinder möglich ist, was bei einer Ein- teilung nach der Gesamtfähigkeit nur schwer oder gar nicht möglich ist.

Sehr hübsch hat Landauer die Vereinigung von Schul-

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kind und Schulbank als siamesische Zwillinge gekennzeichnet. Damit ist unsere Stellung zu diesem antiquierten Möbel gekennzeichnet. Die Kinder sollen sich auch während des Unterrichts frei und ungezwungen bewegen. Es schadet gar- nichts. wenn sie sich einmal eine Zeitlang nicht am Unter- richt beteiligen. sich anders beschäftigen. Uberflüssig ist es wohl ausdrücklich zu sagen, daß in unserem System für den Rohrstock, für den im Jahre 1919 (!) Gothas Lehrer demonstrierten, kein Platz ist. In Bayerns Verordnungen ist genau festgelegt, wie lang er sein darf und wie dick. Herr Hoffmann, selbst Lehrer. hafte bis zu Landauers Ein- zug in das Kultusministerium ım April 1919 noch keine Zeit gehabt, diese Verordnung außer Kraft zu setzen. Schwer zu lösen ist die Frage. welche Bücher man den Kindern in die Hand geben soll. Ich sehe dabei ab von den Geschichtsbüchern, die ad usum delphini. ad gloriam der Hohenzollern. Wittelsbacher. Wettiner usf. geschrieben sind. In einem sonst garnicht üblen pädagogischen Schrittchen las ich neulich: Die Kinder sollen erfahren, -wie der alte deutsche Staat entstand. wie er am Individualismus der deutschen Stämme zugrunde ging: sie sollen erfahren, wie Fürst und Volk in Arbeit. Opferwilligkeit und Pflicht- treue den Organismus schufen, den wir in den Einzel- staaten. den wir im Reich vor uns schen. Diese Ver- drehungen von gemeinsamer Arbeit. Opferwilligkeit (vielleicht denkt der Autor an Wilhelms berühmtes Wort vom August 1914: große Opfer erwarte ich von euch!) und Pflichttreue wurden schon bisher gelehrt. In der Schule wird Kult mit großen Männern und ihren »staatserhaltenden« Ideen bis heute getrieben, und Marx hat für sie überhaupt nicht gelebt. Statt des Männerkultes sind die geschichtlichen Bewegungen ın ıhren allgemeinen soziologischen Zusammen- hängen darzustellen, wie es Marx, Ferrero. Mehring tun.

Aber in den anderen Fächern liegen die Dinge nicht

Gustav Landauers Kulturprogramm 595

besser. Leonhard Frank machte mich einmal darauf auf- merksam, daß keines unserer Märchenbücher als Lesebuch in Frage käme. Ueberall treffen wir auf eine Anschauungs- und Ideenwelt. die wir bekämpfen. Überall finden wir Standesunterschiede und Grausamkeiten. Da ist die Rede vom Bettler und von der reichen Prinzessin, da vom ab- gehackten Finger.

Eine schwierige Frage betrifft ferner die Privatschulen, worauf schon oben beim Religionsunterricht hinge wiesen ist. Es fragt sich, ob man neben den Staatsschulen auch Privat- institute zulassen soll. nachdem das Prinzip des Unterrichts nur in Staatsschulen doch schon einmal durchbrochen iet. Auch wäre dadurch die Regelung der Klosterschule eine relativ einfache. Gustav Landauer. seinem Föderalismus und Individualismus entsprechend, trat dafür ein. während ich mich nicht entschlieſen konnte. ihm diese Konzession zu machen. da es mir gefährlich erscheint, das Prinzip der Einheitsschule gleich bei der Gründung zu durchlöchern. Auch scheint mir keine Notwendigkeit für Privatschulen vorzuliegen, da ja bei An- nahme unsers Programmes ein jedes Kind selbst die Fächer des Unterrichts wählt.

Selbstverständlich muß das alte Autoritätsverhältnis in den Schulen aufhören. Freundschaft trete an die Stelle der Autorität. indem die Lehrer die älteren, erfahrenen Freunde der Schüler werden.

Nachdem die Kinder die Einheitsschule durchgemacht haben. tritt an sie die Frage. welchen Weg sie nun weiter çehen wollen. Dabei bringt es das System des kommunistischen Staates mit sich, daß diese Entscheidung nichts Unumstöß- liches, Endgiltiges ist, daß auch der Erwachsene, leichter als bisher, die Möglichkeit hat, aus einem praktischen Beruf ın einen theoretischen überzuwechseln. Lin Teil der Schüler, diejenigen, die für das praktische Leben veranlagt sind, können sich gleich einem praktischen Beruf zuwenden, d. h. sie

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treten in die Lehre und besuchen daneben eine Fort- bildungsschule.

Die Mehrzahl der Kinder geht in die „Lebensge- meinschafte über, die sich aus den Schülern vom 13. 15. Lebensjahr. aus Lehrern. die den theoretischen Unterricht erteilen. und aus Meistern zusammensetzen. Diese über- wachen die handwerkliche Ausbildung. Der theoretische Unterricht findet im Anschluß an die praktischen Arbeiten sta, was übrigens auch bisher schon in vielen Arbeits- schulen der Fall ist. Stoff kunde m weitesten Sinne des Wortes nimmt einen Hauptteil des Unterrichts ein.

Nach vollendetem 15. Lebensjahr wenden die meisten Kinder sich einem praktischen Beruf zu. Ein Teil geht auf die Mittelschule über. die vorwiegend theoretischen Unterricht bietet und für die Universität vorbereitet. Hier treffen sie auf die Kinder. die bereits von der Einheitschule direkt hierher gegangen sind, weil sie vorwiegend geistige Interessen haften.

Die Hochschulen bedürfen einer EE Reform. Am leichtesten ist diese in der theologischen und juridischen Fakultät vorzunehmen. Abgeschen von Religion und Rechts- geschichte. sowie von der Rechtsphilosophie kann man nämlich diese beiden Fakultäten einfach aufheben. Die Heranziehung des geistlichen Nachwuchses ist Aufgabe der Kirchengemeinde und nicht die des Staates.

Ebenso ist die juridische Fakultät entbehrlich. In Bayern hafte die Eisnersche Regierung seinerzeit Volksgerichte ein- gesetzt, d. h. Gerichte, deren Richter von den Arbeiter- und Soldaten-Räten ernannt wurden. Hier konnte ein jeder. auch Nicht- Jurist. die Verteidigung des Angeklagten führen. Selbstverständlich setzt die Durchführung dieses Punktes unseres Programmes voraus, daß die bürgerliche Wirtschafts- ordnung in die kommunistische übergeführt würde. eine An- nahme, die seinerzeit erlaubt war. Es sei noch darauf hin-

Gustav Landauers Kulturprogramm 597

gewiesen. daß nicht einzusehen ist, warum in Strafsachen, wobei es sich evtl. um das Leben des Angeklagten handelt. Laieurichter befugt sein sollen. Recht zu sprechen, nicht aber in Zivilklagen. wo es sich nur um materielle Dinge bandelt.

Von den übrigen Fakultäten i Universität wird man analog den heutigen technischen Hochschulen die abtrennen, die nicht der reinen, sondern der angewandten Wissen- schaft dienen; die medizinische Hochschule, die natur- wissenschaftliche und die philologische, (zur: Heranbildung der Lehrer). |

Die Universität wird also in Zukunft nur eine Fakultät haben, die philosophische, dieses Wort im weitesten Sinne gebraucht, also unter Inbegriff von Nationalökonomie, Ge- schichte usw. Dieser Plan knüpft an Forderungen von Fichte | an, und auch Gedanken Kants werden dadurch verwirklicht.

Dieses Programm kann natürlich nicht von heute auf morgen realisiert werden. Aber es kann wenigstens die Richtungen festlegen. Notwendig ist nur, daß die Universität, “die ein Klasseninstrument ist, in der Übergangsepoche zum kommunistischen Staat den Interessen des Proletariats dient. Deshalb müssen in den politisch-nationalökonomischen Fächern die bisherigen reaktionären Lehrer verabschiedet werden. In anderen Fächern wird es dagegen nicht gleich möglich sein, neue Lehrer zu finden, die ın ıhrem Denken und Fühlen der sozialistischen Zeit mehr entsprechen.

Dal es an den Universitäten keine Rangeinteilung der Lehrer mehr gibt, sondern nur noch Dozenten mit gleichen Rechten und Pflichten, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Durch Berufung bisheriger Privatgelehrter (auch von Autodidakten ohne akademische Bildung) kanu schnell für eine Erneuerung des Lehrkörpers gesorgt werden. Selbst- verständlich haben die Studenten ein Mitbestimmungsrecht über die Zulassung zur Dozentur.

598 Fidelis: Gustav Landauers Kulturprogramm

Die Frage, wer zur Universität zugelassen werden soll, ist von Sowjet-Rußland dahin beantwortet worden: ein jeder. Von dem Gedanken ausgehend, daß es dem Ungeeigneten dort schon zu langweilig sein wird. Dieser Standpunkt scheint mir nicht richtig zu sein. Die Universität soll eine gute Vorbildung verlangen, die der Staat jederzeit einem jeden zu übermiftela bereit sein mul. Unter den heutigen Studenten wırd man genau so wıe unter den heutigen Gymnasiasten eine scharfe Auslese zu treffen haben. Ferner wird man befähigte Proletarier für die Fachhochschulen vor- bereiten. und erst wenn eine größere Zahl Proletarier die nötige Vorbildung erlangt hat, sollen die Fachhochschulen ihre Vorlesungen aufnehmen. Die Kollegs für Kunst. Nationalökonomie, Geschichte usw. nehmen eine besondere Stellung ein. da man hier den Vortrag leicht so einrichten kann, das ein jeder ihm folgen. kann.

Für die Auslese befähigter Proletarier-Schulkinder waren in München die Kommissionen bereits zusammengesetzt, ebenso für die Ausmerzung unbelähigter Gymnasiasten.

Auf die Zusammensetzung der Akademien für Kunst, Musik. Geisteswissenschaften möchte ich nicht näher ein- gehen, da wir uns darüber nur kurz unterhielten und noch nicht zur Au stellung eines Programmes gekommen waren,

In Räterußland sind die Kulturfragen wie folgt ge- regelt: in den kleinsten Dörfern sind Schulen gegründet. An den Schulen bestehen Erziehungsräte: aus Vertretern von Lehrern, Schülern und deren Eltern. Die Universität steht einem jeden offen. Übrigens kennt auch Rußland eine

Akademie, die Sozialistische Hochsch ule, die der

französischen Akademie ähnlich zu sein scheint.

Zum Schluß möchte ich noch einmal auf das in der Einleitung Gesagte hinweisen: ein praktisch durchführbares

Hans Kohn: Peter Kropotkın 599

Programm wollten wir ausarbeiten. nicht der Organisation des Geistes neue Wege weisen. In wenigen Tagen mußten wir uns über die Grundfragen einigen. Wir taten es, indem ein jeder seine Bedenken auch bei nicht Unwich- tigem zurückstellte. Mir erscheint es fast als das größte an Landauer, daß er, der an der Spitze stets marschierte. hier um die Fragen praktisch vorwärts zu bringen, zu Kompromissen bereit war, daß aus dem Dränger ein

Mahner geworden war.

PETER KROPOTKIN VON HANS KOHN (PRAG)

Drei Schwestern lieben einen Mann; die eine von ihnen ist seine Gattin. die zweite eine reife Schönheit. die drifte ein halbwüchsiges Mädchen, kaum zum Weibe gereift. Der Mann, ein kalter, phrasenreicher Held, liebt eigentlich keine, möchte aber alle drei haben. Aus diesem Stoffe hätte ein Franzose ein Lustspiel gemacht, halb Ehestands komödie. halb Gesellschaftssatire; der Russe macht ein Drama daraus, das Drama des russischen Lebens. Wie ein quälender Traum liegt es auf uns: Menschen, die leiden und andere leiden machen, Verbrecher und Narren, ein Leben, das einem Hause gleicht, in dem es uns wie in einem Grabe dünkt: und in diesem gespenstischen Hause gehen die Menschen umher und suchen einen Ausweg, gehen, und wissen nicht wohin, sehnen sich und wissen nicht wonach, und auf ihrem einsamen Antlitz liegt die fürchterliche Angst vor all dem Grauenhaften um sie herum, vor der Gefahr, die in ihnen selbst lauert. Die süße Ruhe des Todes ist das einzige, das ihnen als Ziel und Wegweiser leuchtet, aber

598 Fidelis: Gustav Landauers Kulturprogramm

Die Frage, wer zur Universität zugelassen werden soll, ist von Sowjet-Rufland dahin beantwortet worden: ein jeder. Von dem Gedanken ausgehend, daß es dem Ungeeigneten dort schon zu langweilig sein wird. Dieser Standpunkt scheint mir nicht richtig zu sein. Die Universität soll eine gute Vorbildung verlangen, die der Staat jederzeit einem jeden zu übermiſteln bereit sein mul. Unter den heutigen Studenten wird man genau 80 wie unter den heutigen Gymnasiasten eine scharfe Auslese zu treffen haben. Ferner wird man befähigte Proletarier für die Fachhochschulen vor- bereiten. und erst wenn eine größere Zahl Proletarier die nötige Vorbildung erlangt hat, sollen die Fachhochschulen ihre Vorlesungen aufnehmen. Die Kollegs für Kunst, Nationalökonomie. Geschichte usw. nehmen eine besondere Stellung ein da man hier den Vortrag leicht so einrichten kann, das ein jeder ihm folgen. kann.

Für dıe Auslese befähigter Proletanier-Schulkinder waren in München die Kommissionen bereits zusammengesetzt, ebenso für die Ausmerzung unbe[ähigter Gymnasiasten.

Auf die Zusammensetzung der Akademien für Kunst, Musik. Geistes wissenschaften möchte ich nicht näher ein- gehen. da wir uns darüber nur kurz unterhielten und noch nicht zur Au stellung eines Programmes gekommen waren.

In Räterußland sind die Kulturfragen wie folgt ge- regelt: in den kleinstea Dörfern sind Schulen gegründet. An den Schulen bestehen Erziehungsräte: aus Vertretern von Lehrern, Schülern uad deren Eltern. Die Universität steht einem jeden offen. Übrigens kennt auch Rußland eine Akademie, die Sozialistische Hochschule. die der

französischen Akademie ähnlich zu sein scheint.

Zum Schluß möchte ich noch einmal auf das in der Einleitung Gesagte hinweisen: ein praktısch durchführbares

Hans Kohn: Peter Kropotkin 599

i Programm wollten wir ausarbeiten, nicht der Organisation des Geistes neue Wege weisen. In wenigen Tagen mußten wir uns über die Grundfragen einigen. Wir taten es, indem ein jeder seine Bedenken auch bei nicht Unwich- tigem zurückstellte. Mir erscheint es fast als das größte an Landauer. daß er, der an der Spitze stets marschierte. hier um die Fragen praktisch vorwärts zu bringen, zu Kompromissen bereit war, dal aus dem Dränger ein

Mahner geworden War.

PETER KROPOTKIN VON HANS KOHN (PRAG)

Drei Schwestern lieben einen Mann; die eine von ihnen ist seine Gattin. die zweite eine reife Schönheit. die drifte ein halbwüchsiges Mädchen, kaum zum Weibe gereift. Der Mann, ein kalter, phrasenreicher Held. liebt eigentlich keine, möchte aber alle drei haben. Aus diesem Stoffe hätte ein Franzose ein Lustspiel gemacht, halb Ehestandskomödie, halb Gesellschaftssatire; der Russe macht ein Drama daraus, das Drama des russischen Lebens. Wie ein quälender Traum liegt es auf uns: Menschen, die leiden und andere leiden machen, Verbrecher und Narren, ein Leben, das einem Hause gleicht, in dem es uns wie in einem Grabe dünkt: und in diesem gespenstischen Hause gehen die Menschen umher und suchen einen Ausweg, gehen, und wissen nicht wohin, sehnen sich und wissen nicht wonach, und auf ihrem einsamen Antlitz liegt die fürchterliche Angst vor all dem Grauenhaften um sie herum, vor der Gefahr. die in ihnen selbst lauert. Die süße Ruhe des Todes ist das einzige, das ihnen als Ziel und Wegweiser leuchtet, aber

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ihr Mut reicht nicht bis dorthin. Ein Grauen liegt über allem, das Grauen eines uralten Weıibes, das das Symbol des Lebens ist, geheimnisvoll und unenträtselbar, voll dunkler unergründbarer Abgründe, in denen ungeahnte Verbrechen lautlos lauern mit der Heimtücke einer Spinne, die ihrer Opfer geduldig wartet, alles wissend und nie helfend. kalt wie der Tod uad alles ertötend. Und dennoch das Leben. Ein Leben, das gelebt wird in greller Verzweiflung. am Rande von Wahnsinn und Verbrechen, das einen zerbricht oder aus dem uns der Mut zu Übermenschlichem erwächst: das Leben der russischen Intelligenz. Aber aus diesem Grauen und Chaos ringt sich von unten her ein Lied manchmal durch und flaftert wie ein Fetzen über den dunklen Abgründen. Entsinnt ihr euch des Studenten Onu- frij, enteinnt ihr euch, wie aus unsäglichem Schmutz, aus Trunkenheit und Verkommenheit, unter Huren und Ver- zweifelnden über aller Tragik des schluchzenden Lebens sich das Lied des russischen Volkes entringt. das Lied von Liebe und Brüderlichkeit. von Gleichheit und Menschlichkeit. das Lied von allem Göftlichen, das über dem Drama un- seres Lebens wie ein versöhnendes Lächeln erglänzt.e O du unglückliches. in Schmutz und Trunksucht. in Unwissenheit und Unsiftlichkeir verkommendes, o du göttliches. liebens- wertes, großes russisches Volk: o du. über das die Klugen und die feinen Herren lachen, o du, aus dem der Trost der Menschheit kommt! Und aus dem Dornengestrüpp deines Lebens. das wie eın Vampyr dich verzehrt, aus deiner Verworfenheit und deiner Verzweiflung blühen immer wieder wie ein Wunder Rosen der Hoffnung auf, Meilensteine der Liebe. Wegweiser der Menschheit: Wladimir Solovjeff, Leo Tolstoi, Peter Kropotkin.......

Von diesen dreien hat Kropotkin das weiteste Leben geführt, Solovjeff. der mystische Prediger der russischen Liebe, führte ein stilles Leben, fernab von den Wogen, die

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die Stürme im brandenden Meere des jungen Ruflands schlugen. Tolstoi siedelte sich nach tollenden Jahren der Jugend in Jafnaja Polja an, wo er durch fünfzig Jahre der Welt sein Evangelium predigte. Kropotkin aber trieb sein revolutionäres Elut in viele Länder und wenn sein Einfluß sich auch bei weitem nicht mit dem Tolstois messen kann, ist er, der in den Sprachen Europas sprach und schrieb, von allen dreien doch der am meisten Europa Zugekehrte. An die Stelle des weiten, mystischen Gefühlsdunkels, an die Stelle des feuchten warmen Duftes der russischen Mufter Erde. die so unverkennbar in Solovjeff und Tolstoi leben, setzt Kropotkin die verstandeshelle Klarheit der Natur- wissenschaften und die Gedanken, die im Rauche der Fabrik- städte entstehen. Aber sein Leben wıe das so mancher west- wärts gewandter russischer Revolutionäre war von einer länder- und schicksalumspannenden Weite. Peter Kropotkin wurde 1842 als Spro eines der ältesten russischen Fürsten- häuser geboren. Das Herren- und. Erobererblut Ruriks flol in seinen Adern, seine Kindheit verbrachte er auf den Gütern der Familie. wo auf den emnfindsamen Knaben die Schaftenseiten der Leibeigenschaft tiefen Eindruck machten. Seine Erziehung genoß er ım Pagenkorps am Zarenhofe, von wo er mit zwanzig Jahren als Offizier zu den Amur- Kosaken ausgemustert wurde. Als Adjutant des General- gouverneurs von Transbaikalien bereist er das Amurgebiet und die Mandschurei: das Studium dieser fernen Länder weckt in ihm eine Vorliebe für die Geographie und die vielen eigenartigen. noch wenig durchforschten Verhältnisse schärfen seine Beobachtungsgabe. Er quiftiert den Dienst und widmet sich an der Petrograder Universität dem Studium der Geographie, Geologie. Mathematik, dann durchforscht er im Auftrag der russischen geographischen Gesellschaft den geologischen Bau Finnlands und Lapplands, macht wichtige Entdeckungen für die Geschichte der Eiszeit in Rußland

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und schafft sich einen angesehenen Namen im Kreise der Fachgelehrten. 1872 reist Kropotkin nach Westeuropa. lernt dort die internationale Arbeiterassoziation kennen und gerät unter den Einfluß Michael Bakunins, der ebenfalls aus an- gesehener und reicher russischer Familie stammte und der Vater des russischen Anarchismus und der romantischste unter der älteren Generation der russischen Verschwörer geworden war. Nun beteiligt sich Kropotkin an der Geheim- organisation Ischaikowskis. die sich die revolutionäre Vor- bildung der Massen als Vorbedingung der endgültigen Re- volution zum Ziele setzt: er wird verhaftet und entflieht aus dem Spital der Peter- und Paul-Festung. Seit 1876 ın Westeuropa wird er ein tätiges und führendes Mitglied der anarchistischen Gruppe. Er wird aus der Schweiz aus gewiesen und wegen seiner Beteiligung am zweiten anar- chistischen Kongreß zu Genf in Frankreich zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt; 1886 begnadigt. lebte er seither in England. wo er di? anarchistische Bewegung leitete und Studien zur Soziologie und Geschichte veröffentlichte. Dieses bewunderungswürdige Leben eines russischen Arıstokraten aus jener Zeit, da die schöpferischen Kräfte des russischen Volkes sich in seinem Adel verkörperten, schloß mit einem Mifklang. Oder war es der natürliche Kreis, in den dieses Leben gebannt war? Waren im Greise die Erinnerungen ferner Jünglingsjahre und die Tradition seines Blutes mächtiger als all das. was der Mann sich errungen hafte und wodurch er zu einem der freiesten Geister Europas geworden war? Der Kriegspsychose waren jüngere erlegen als der Fünfund- siebzigjährige, aber mit der Greisen eigenen Beharrlichkeit blieb Kropotkin auch nachdem das. wofür er sein Leben lang gearbeitet hafte, die russische Revolution. Wirklichkeit geworden war und ihm nach 4liährigem Exil die Heimkehr ermöglichte, bei der Losung des »Krieges bis zum siegreichen Ende». Sah er nicht. daß dieser Krieg. wer immer ihn ge-

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winnen möge, nur zu einer Stärkung alles dessen führen müsse. was er sein Leben bekämpft hafte: der verlogenen Phrase ale Fundament unserer Handlungen und der Staats- gewalt mit all ihren Ungerechtigkeiten, ihren Vergewaltigungen . und ihrem Militarismus? Die Zeit, die in ihrem blutigen und aller Menschenwürde hohnsprechendem Lärmen so vielen die Augen öffnete, die vorher nicht haften sehen wollen oder deren Aufmerksamkeit auf andere Sphären des Lebens gerichtet war, schloß diesem Greise die Augen. Aber vorher hate er Worte gesprochen, die gehört zu werden verdienen. »Kropotkin ist ein sehr sympathischer Mensch, aber kein starker Denker .. urteilt Masaryk über ihn. und wie mir scheint mit Recht. Und mich dünkt, als könne man dieses Urteil auch über Solovjeff und Tolstoi sprechen.

Starke Denker sind unter den Russen noch keine er- standen, sie alle bedeuten mehr durch den Rhythmus ihres Lebens, durch ihr Weltgefühl als durch die exakte Einzel- arbeit ihrer gedanklichen Schlüsse.

Die geistige Entwicklung des modernen Europa, die im 18. Jahrhundert beginnt, steht unter dem Zeichen des Humanismus. Die philosophische Entwicklung des 18. Jahr- hunderts gipfelt in Kants Lehre von der unantastbaren Majestät der Menschenwürde. in seinem Imperativ. den Mitmenschen immer nur als Selbstzweck. als Eigenwert. nie als bloßes Mifſtel anzusehen, und in Rousseaus Evangelium von der ursprünglichen Güte der Menschennatur und ihrem Rechte auf Freiheit. Diese Lehren schufen eine völlig neue Lage des Bewußtseinslebens der Menschheit: ein nie ge- kanntes Gefühl der eigenen Stärke und der persönlichen Würde begann die Massen zu durchfluten. Doch die äußeren Verhältnisse entsprachen nicht der innerlich er- rungenen neuen Freiheit. Staaten, die nicht, wie Rousseau es meinte und wie Kant es viel richtiger als Endziel auf- gestellt hatte. aus einem freien Vertrage entstanden waren.

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604 Hans Kohn

sondern aus der Vergewaltigung friedlicher Bevölkerungen durch mächtige Räuber, drückten mit ihren, die über- kommenen Macht- und Besitzverhältnisse schützenden Gesetzen auf die Persönlichkeiten und Völker, denen die tiefen Mängel und Uneerechtigkeiten des herrschenden Systeme klar geworden waren. Daher beginnt mit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine ununterbrochene Reihe von Ver-uchen, diese Fesseln zu sprengen, von Revolutionen. Immer wenn der soziale Bau der Gesellschaft und die durch äußeren Zwang aufrechterhaltenen Verhältnisse der geistigen Ent- wickelung der Intelligenz und den ökonomischen Bedürfnissen der Masse nicht mehr entsprechen und ihren einst für frühere Zeiten lebendigen Sinn einbüßen, beginnen sie wie schwere Fesseln auf den Menschen zu ruhen, die mit ihrem Körper schon für sie Erstorbenes und Erkaltetes tragen müssen: während in ihrem Geiste schon ein neues Welten- bild flammendes Leben gewonnen hat. Je größer aber der Widerstand veraltet-erstarrter Ordnungen von aulen ist, zu desto stärkerer Glut entbrennt die innere Flamme. Die niemals aussetzende, in den gewöhnlichen Zeitläuften aber langsame und allmähliche Umbildung des Bewufßtseinslebens der Menschen und damit all ıhrer Vorstellungen von dem, was sein soll. welche langsame Umbildung Evolution genannt wird macht nun einer fieberhaft schnell vor sich gehenden und immer weitere Gebiete erfassenden Änderung des Bewußtseinslebens Platz welche schnelle Umbildung Kropotkin Revolution nennt. die in ihrem Wesen nur durch das Tempo und die Intensität von der Evolution verschieden ist, wobei beide Teilstrecken des natürlichen Prozesses der Entwickelung darstellen. Während aber in der Zeit der allmählichen Evolution. wenn die statisch-starren Kräfte stärker sind als die dynamisch-treibenden, der Mensch sich dem äußeren Drucke des Seienden ruhig fügt. das Bestehende achtet und nur schwach in ihm die Stimme

Peter Kropotkin | 605

des Gewissens ertönt. die ihm sta der seienden Welt eine moralische Welt weist. wie sie sein sollte. wird in den revolutionären Zeiten der Imperativ des Seinsollenden, das moralische Muß, träge Sicherheit und bequeme Ruhe für die Errichtung einer Welt, die unseren Idealvorstellungen entspricht, dahinzugeben, übermächtig. In den statischen Zeiten beherrscht uns das. was ist. in den dynamischen das. was sein soll. Das, was in ruhigen Zeiten die Sturmkünder und Zukunftsahner, die Propheten, Philosophen und Künstler, die das Gewissen der Menschheit repräsentieren, gedanklich und im Rhythmus ıhrer Worte und Bilder ge- schaffen haben, versucht nun im Stürmen der Massen in das Reich der Wirklichkeit zu treten. Jeder einzelne erhebt sich nun zu der Majestät und Würde, die Kant dem Menschen zugeteilt hat: vom moralischen Imperativ getrieben, gesetzgebendes Mitglied der Gesellschaft freier Menschen zu sein. Darum sind diese Zeiten der rasenden Entwickelung, die die Menschen weiterführen als ganze Jahrhunderte vorher, so bewunderungswürdig und ruhmreich. Die Menschheit ist niemals so schön wie in diesen Zeiten. Sie opfert alles, was ihr sonst das Höchste ist: gefahrlosen Wohlstand und bequeme Miftelmäßigkeite und in unendlichen Qualen und Leiden, unter Tränen und Wehen gebiert sie eine neue Menschheit, eine neue Etappe auf unserem langen und dornenreichen Wege der Entwicklung. Schmerzensreich und nie in Ruhe ist die Zeit der Revolution, gesegnet und glücklich sind die, die sie leben dürfen, sie ist uns die Gewähr des göftlichen Funkens ım Menschen, mag er noch so sehr verschüttet sein.

Am Beginn dieser Zeit der Revolution, die manche für die endgiltige und letzte halten, steht die große französische Revolution. Der verehrungswürdige Greis ın Königsberg. der in seinem ruhigen, eng beschränkten Leben doch der geistige Vater der Weite seiner und der kommenden Zeiten geworden

606 1m Hans Kohn ist und zu dem die suchende Weisheit immer wieder zurück- kehren wird, wie zu einem Jungbad, hat sie in Ehrfurcht begrüßt: »die Revolution eines geistreichen Volkes. die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern. sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein. daß ein wohldenkender Mensch, wenn er sie zum zweiten Male unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschliefen würde, diese Revolution, sag: ich, findet in den Gemütern aller Zuschauer eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt, die also keine andere als eine moralische Anlage ım Menschen- geschlecht zur Ursache haben kann Ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergift sich nicht mehr, weıl es eine Anlage und ein Vermögen -ın der menschlichen Natur zum Bessern aufgedeckt hat, desgleichen kein Politiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge heraus- geklügelt häfte.«e Das vorläufige Ende dieser Zeit der Revolution in unseren Tagen bildet die große russische Revolution, die für so viele der Zeitgenossen ein Prüf- und Scheidestein und für so viele der Beginn einer Umwandlung ihres inneren Lebens geworden ist. In der Zwischenzeit in all den kleinen Versuchen. den Weg der neuen Menschheit zu bahnen, unter denen vor allem der enthusiastische Auf- schwung der Pariser Kommune von 1871 zu nennen ist, lebten immer Revolutionäre. Bewahrer des Geistes, Hüter der Flamme. Unter ihnen einer der würdigsten war Peter Kropotkin.

Die Worte, die er gesprochen hat, nannte er »paroles d'un revolte-, Worte eines zur Empörung Getriebenen. Und sind nicht alle Worte, die heute ein Mensch in Wahrheit aus der Tiefe seiner Seele spricht, paroles d'un revolté.? Wohin wir um uns blicken, sehen wir, wenn wir den

Mut zur Aufrichtigkeit haben, Lüge und Unrecht und Ge-

Peter Kropotkin | 607

walt. Vielleicht ist der Goftesglaube vieler Menschen keine Lüge, aber die Kirche nimmt diesen frei aus dem Herzen strömenden Glauben und zwingt ihn in Reden und ver- gewaltigt ihn in Schematismen und macht ihn zur Lüge. Vielleicht ist der Organisationstrieb der Menschen in fest- gefügtere Gruppen keine Lüge, aber der Staat nimmt diese, vom Geiste getragene Lust der Menschen aneinander und an ihrem Zusammensein und milbraucht sie zu seinen, den Menschen fremden Zwecken und vergewaltigt sie, und die Gemeinschaft, die die Menschen sich geträumt haben als Vollendung und Höherentwicklung ihres Seins, als Gebilde ihres Geistes wird zu einer furchtbaren, ungeistigen Maschine, die die Menschen zermalmt. Vielleicht ist die schaffende Lust der formenden Hand des Arbeiters keine Lüge, aber die soziale Ordnung nimmt sie in die Klauen ihrer Gesetze, mechanisiert sie und zerstört die Lust und der Arbeiter wird der Sklave seiner Arbeit, deren Gewinn ihm fremde Hände entreißfen. Freude und Freiheit verschwinden, die schöpferische Stimme des Herzens schweigt und staft dessen herrscht Unlust und Gewalt, das träge Herz lebt auf- schwunglos der Gewohnheit der Konvention. Eigensüchtige Verbrechen verbinden sich mit heuchlerischen Phrasen, die s Wächter der Ordnung, d. h. der das hergebrachte Un- recht schützenden Gesetze, greifen zur letzten Waffe: sie nehmen die Forderungen der Neuerer als ıhre eigenen auf. reden von Freiheit und Brüderlichkeit. von Wahrheit und Gerechtigkeit und meinen ihre Freiheit und ihre Wahr- heit damit: das Heiligste der Menschheit ist geschändet und ertrinkt im Phrasengeschwätz der Tagespresse da stößt Kropotkin seinen Aufschrei aus, den Aufschrei des zur Empörung Getriebenen.

Kropotkin sieht, was alle Ehrlichen sehen: daß der Grund alles Übels die Lüge ist. zu der die Menschen

gezwungen. werden. Zu der Lüge zwingen sie Staat und

608 Hans Kohn

Kirche, die von ihnen behütete Gesellschaftsordnung und alle ihre kleinen Abbilder. Der Mensch wird gezwungen, wider seine innere Überzeugung zu handeln und am liebsten möchte man ihm jede Überzeugung rauben (das konsequent bis zu Ende denken ist noch in allen Staaten der Welt als Verbrechen angesehen worden) und ıhn zur willenlosen Maschine machen. Staat heift Zwang. Gewalt, Vergewaltigung, damit aber Lüge und Unrecht. Da ıst es gleich. ob dieser Staat sich eine Despotie oder eine parlamentarısche Demo- kratie nennt, das ist verbrämendes Flifterwerk, immer ist es eine Herrschaft Weniger über ıhre Mitmenschen. Wo Herrschaft ist. da ist Gleichheit und Brüderlichkeit eine Phrase, da stellt sich Zwang und Lüge ein. Das Ziel heißt: an-archia: Herrschaftslosigkeit.e. Nur das ist wahre Freiheit.

Was Kropotkin fordert, ist die Vernichtung aller »arche«. Die große, endgiltige Revolution, deren Kommen er all sein Leben vorhergesagt hat, wırd nicht bloß eine politische sein, die an die Stelle der einen Staatsform eine andere setzt, wobei sich nichts Wesentliches ändert, sondern eine soziale, die den gesamten Aufbau unseres gesellschaftlichen Lebens von Grund auf umgestaltet. -Die Lust des Zerstörens ist eine schaffende Luste hat Kropotkins Lehrer Bakunin gesagt. Und wenn sie weinen über die. Vernichtung alles dessen, was sie Ordnung nennen: ist denn das Ordnung. ist denn dies Chaos mit seinen ewigen Kriegen. mit seinen Ver- brechern und seinen Verhungernden, wo Millionen, für die der Hunger .gestillt und die Schwindsucht vertilgt werden konnte, ausgegeben werden, damit ein Mensch den anderen töte. mehr als eine Ordnung, für die, die ihren Vorteil daraus ziehen und die furchtbarste Ungerechtigkeit für alle andern? Und wenn sie schreien. daß bei Aufhebung der Gewalt und der Gesetze die Verbrechen immer mehr wachsen werden, wissen sie denn nicht, was jeder Kriminalist weil, daß trotz aller Gesetze die Zahl der Verbrechen immer

Peter Kropotkin 609

unheimlicher wächst, daß, je mehr Gesetze man ersinnt, desto weniger man dem Verbrechen beikommen kann, daß die Zuchthäuser die Menschen nicht bessern. sondern zu Verbrechern erziehen? Weiß man nicht, daß über fünf Sechstel aller »Verbrechen« Verbrechen gegen die Staats- gewalt und gegen die Heiligkeit des Eigentumsbegriffes sind und mit dem Schwinden von Staat und Eigentum auch alle jene Verbrechen verschwinden werden, gegen die subtilste Gesetzestechnik machtlos ist? Der Staat, und alles was er schützt, mul verschwinden, dann erst kann die neue Menschheit

kommen. Die Lust des Zerstörens ist eine schaffende Luste. Was aber soll geschaffen werden? ...... Und Kropotkin

träumt: Er sieht eine neue Menschheit, keine Obrigkeit ist mehr da, die die Menschheit zur Lüge und zum Unrecht zwingt. das Eigentum, dieser Diebstahl einzelner Starker an dem Gute der Allgemeinheit, der durch Gesetze mit fürchter- lichen Strafandrohungen geschützt wird, besteht nicht mehr. Die Menschen sind in Wahrheit frei von allen Fesseln des Staats und der Wirtschaft, um der lauteren Stimme ihres inneren Gewissens zu folgen. Nach freier Wahl und von ihrer Sympathie geführt, schließen sie sich zu Bünden zu- sammen. die auf Verträgen beruhen und die sich wieder für bestimmte Zwecke zu höheren Einheiten, Föderationen, zusammenschließen. Die Verbände eint kein Zwang, sondern die Gemeinsamkeit der Idee. Es gibt keine Herren und keine Gesetze, alle sind gleich und sind Brüder. Das Gute, das ın jedem Menschen wohnt, kann sich nun frei ent- falten; die Menschen sind keine wilden Bestien und das Leben beherrscht nicht nur der wütende Kampf ums Dasein, sondern in der ganzen Natur herrscht gegenseitige Hilfs- bereitschaft und Solidarität. Das. was einst durch Gewalt und Konvention die Menschheit getrennt hat, wird weichen: ein Band der Liebe und Güte umfängt alle Menschen, eine

6l0 ? Hans Kohn neue Sittlichkeit. eine Religion der vernünftigen Ethik beseelt sie. Sie regeln ihr Leben selbst: jeder arbeitet, und jeder arbeitet mit Lust und erhöhter Intensität in wenigen Stunden für die Allgemeinheit nützliche Güter. Die freie Zeit benützt er zur Pflege des Körpers, zur Bildung des Geistes, widmet sie Wissenschaft und Kunst. Die Unfreudigkeit und die atemlose Angst des modernen Lebens verschwinden. Ge- wohnheit und Konvention zwingen einen nicht mehr zur Pose, zur inneren Leere und Langweile, denen man nur durch Narkotika oder durch den Selbstmord entrinnt. Alles Komplizierte wird einfach, alles Quälende verschwindet. Freude, wahre Freude, nicht durch Rauschmiftel herbei- geführte Lust. herrscht unter den Menschen. Der Mensch ist nicht mehr der Natur entfremdet. ein gemeinsames Band umschlingt sie alle. Kein Neid herrscht, keine Habsucht, keine Gier. Alles gehört allen: jeder steuert nach seinen Kräften und Fähigkeiten durch seine Arbeit bei und jeder nimmt nach seinen Bedürfnissen. Keiner rechnet und zählt und wägt: stał der blinden Göftin mit dem Schwert und den Wagschalen herrscht die Liebe. In einem gemeinsamen brüderlichen Aufschwung werden die besten menschlichen Kräfte frei: nicht eine stumpfe Durchschniftlichkeit wird in dieser Gemeinschaft herrschen, sondern höchste Intensität der Leistung, freudiges Schaffen, eine Höherentwicklung der ganzen Gaftung zu dem geistigen Aristokraten Guyaus, zu | dem ins Humane gewandten Übermenschen Nietzsches. Ist das nicht das höchste Idealbild des Humanismus, sein wahrer Erbe in unserer Zeit. das Goftesreich auf Erden: eine Ge- meinschaft freier, autonomer Persönlichkeiten, brüderlich geeint in Hilfsbereitschaft und Liebe, ein Leben der Freude und Arbeit lebend?

Wahrlich. ein Ziel, vor dem uns Ehrfurcht gebührt.

Und der Weg dorthin: Kropotkin nennt als solchen die Revolution. Revolution ist aber selbst Gewalt, Mord, Un-

Peter Kropotkin 611

recht! Wie kann aus Gewalt und Mord die freie Liebes- gemeinschaft entstehen? Kropotkin wünscht die Revolution möglichst unblutig: zu diesem Zwecke muß sie richtig vor- bereitet“ sein. Diese Vorbereitung kann keine zentralisierte Partei führen, sondern freie, vorbildlich wirkende Gruppen, die die Menschen die neue Ethik lehren und sie aus ıhrem trägen Schlafe rufen: Je weiter und. vollkommener es diesen Gruppen gelingt, den neuen Geist zu wecken. desto un- blutiger. schöner, besser wird der Übergang aus der Ge- sellschaftsordnung der Gewalt ın d.e der Freiheit sein. Wir sehen, daß die Vorstellungen der von den Marxisten sutopistisch« genannten Sozialisten wie Proudhon oder Fourrier hier wieder aufleben. |

Ich glaube, das Wesentliche an Kropotkins Gedanken richtig wiedergegeben zu haben. Freilich nicht immer mit seinen Worten. Denn er hält seinen Anarchismus für eine exakte Wissenschaft. die mit den Methoden der Natur- wisseaschaft gehandhabt werden kann. Er ist wie die älteren russischen Revolutionäre ein Schüler Feuerbachs und seines antimetaphysischen und antireligiösen Positivismus. er hat den Einfluß Comtes erfahren und hat den größten Teil seines Lebens im Lande Mills und Benthams gelebt. All das machte ihn zum Feinde aller Metaphysik und aller Religion; dabei hat er nicht gesehen, daß sein Anarchismus im Grunde auch nur Metaphysik und Religion ist, und daß die neue Ethik nur dann die Menschen mit solcher Gewalt ergreifen wird. um die ganze Gesellschaftsordnung und Lebensführung um- zugestalten. wenn sie mit religiöser Glut auftrift. - Nicht blof, wenn man eine Goftheit verehrt. ist man religiös, ‚sondern auch dann, wenn man alle Kräfte des Geistes. alle Willensergebung, alle Gluten des Fanatismus dem Dienste einer Ursache oder eines Wesens weiht, welches zum Ziel und Führer der Gedanken und Handlungen wirde sagt Gustav le Bon und noch richtiger Lecky: - Religion ist

612 Hans Kohn

uneigennützige Begeisterung. welche große Gesamtheiten von Menschen zur Erstrebung eines Ideals vereinte, und sich als die Quelle heroischer Tugenden erwies. Ohne eine solche Religion. die als Idealbild der Zukunft die ganzen Massen in gemeinsamem Aufschwung vereint, wird es nie zu einer möglichst unblutigen. Revolution kommen. Und es bleibt eine schwere Frage, auf die Kropotkin nie mit dem ge- nügenden Ernst eingeht: kann das Reich Goftes auf Erden, kann die endgiltige, absolute Zeit auf einer Gewalttat sich aufbauen?

Kropotkins Wissenschaftlichkeit, sein Europäismus, der aber nie so weit geht, um wirklich wissenschaftlich zu werden, macht, daß er uns weniger ist als Tolstoi, der sich auch nicht vor der Autorität wissenschaftlichen Europäismus beugt. sondern sie als unwesentlich ablehnt. Kropotkin hat das niemals vermocht. Er hat die Fundierung seines Anarchis- mus statt auf allmenschlich breiter Grundlage im Klassen- kampf des Proletariats gesehen, stand dabei aber der wissen- schaftlichen Tiefe und der trotz allem Anfechtbaren so bewundernswerten Gedankenarbeit Marx verständnislos ge- genüber. Kropotkins negative Kritik des Staates und aller Zwangsgenossenschaft ist in ihrer strengen logischen Konse- quenz unwiderlegbar, aber sie ist nicht neu. Sein Zukunfts- bild beruht auf einer Voraussetzung: nur wenn die mensch- liche Natur in ihrem Kerne gut ist, eröffnen sich ihr Mög- lichkeiten. Aber das ist die Voraussetzung alles Humanismus daß der Mensch den Goftesfunken in sich trägt in unver- lierbarer Würde, dal er aus freier Anstrengung das Goftes- reich auf Erden schaffen könne. Ist der Mensch tatsächlich nur ein Wolf, dem der Raubtierinstinkt unauslöschbar ein- haftet, dann sind ihm auch alle Möglichkeiten versperrt Und wenn der Mensch nicht aus freier Überlegung und Einsicht handeln kann, sondern nur der Spielball dunkler unheimlicher Mächte ist, auch dann sind ikm alle Möglich-

Peter Kropotkin 613

keiten versperrt. Das sind die Grundvoraussetzungen des Kropotkin schen Zukunftsbildes: Humanismus und Rationalis- mus: im einzelnen aber ist Kropotkins Zukunftsbild primitiv in seiner Gestalt und naiv in seiner Ausführung. Man merkt ihm den russischen Aristokraten. der zum narodnik geworden ist, ebenso an wie Tolstoi: das primitive Leben des Muschik, das diese Männer in ihrer Jugend umgeben hat, ist ihnen Vorbild geblieben. Freilich war Tolstoi bier konsequenter: primitiver Kommunismus ist nur bei einer ge- wissen Askese denkbar, während Kropotkin selbst den Luxus beibehalten zu können glaubt.

Trotz alledem: Kropotkins Worte sind ein Trost für uns: der Trost, dał in dieser Welt der Gemeinheit und des Wahnsinns. die so viele der Ehrlichsten und Besten zum Selbstmord getrieben hat, die Sehnsucht nach Reinheit noch nicht erloschen ist, und daß diese Sehnsucht die Stärke läuternder Flammen erreichen kann, ın deren flackernder Glut alte Welten zertrümmert und neue geboren werden. Trotz alledem: aus Kropotkin stammeln, naiv oft und un- wirklich, rhetorisch manchmal und phrasenreich, Bruchstücke des größten und schönsten Traumes, den die Menschheit seit drei Jahrtausenden träumt, des Traumes eines Reiches der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, in den mit brausenden Akkorden als Verheißung der Freude und als Überwindung der steten Todesangst der Menschheit in dieser Welt der Beethoven sche Jubelruf dringt:

Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt! Ein Reich von Brüdern, in Freiheit und Freude! Ein Traum?

i a Aber ımmer wieder werden Menschen erstehen und alles für die Verwirklichung dieses Traumes hingeben EEE Und ist er nicht dessen wert, mehr denn alle

Träume, die die Menschheit geträumt hat? ......

Das russische Volk neigt in seiner Lebensgestaltung zum

614 Individualität und Gesellschaft

primitiven Anachismus. Von auß:n aus aber will maa ihm fremde Form aufzwängen: sei es die Form normanischer Wikinger, sei es die tatarıscher Despoten. oder der seit Peter nie aufhörende des europäischen Staatsabsolutismus oder der jetzt anscheinend beginnende Prozeß der kapitalis- tischen Bourgeoisieform. Aber Rutland wehrt sich: seine Sektierer und Mystiker, seine Verbannten und Emigrierten, alle. die die fremde Form als für sich gefährlich erkannt hat. waren Stimmen der Verheilung in dem Mifklang des russischen Lebens. Die Kleinen und Miftlerea der Intelligenz kamen oft zur Verzweiflung, aber die großen Leuchten Rul- lands schürten die Hoffnung auf die eigenen tielen Kräfte des Volkes. Seit dem Aufschwung der großen Revolution tappen diese tiefen Kräfte des Volkes nach einem Wege. Sie werden: ihn finden. Und auch der übrigen Menschheit, die anders ist als die russische, wird dieser Weg ein neuer Ansporn sein.

INDIVIDUALITÄT UND GESELLSCHAFT

Dieser Aufsatz ist ein Kapitel aus dem im Inter- nationalen Verlag. Zürich anonym erscheinenden Werke,

‚Über proletarische Erhike«. Der Verfasser

it ein russischer Revolutionär. der bereits die

Revolution von 1909 mitgemacht hat und nun am Auf- bau Sowjetrußlands mitarbeitet.

Die Ansichten, die in der heutigen Gesellschaft über die Individualität herrschen, die zu unserer Zeit noch übliche Autfassung des Individuums, sind der Ausdruck der bürger- lichen Denkweise, und sie kommen aus der bürgerlichen Ideologie, |

Die bürgerlichen Klassen, die am Produktionsprozeß | nıcht teilnehmen und die den Schaffensprozeß der Waren nicht

Individualität und Gesellschaft D 615

miterleben, sondern alles im fertigen Zustande bekommen, haben die Tendenz, ihr Augenmerk auf bereits fertige Formen zu fixieren.. Die »Forme ist für die bürgerliche Ein- stellung das eigentlich Wesentliche, sie ist ihr Götze. Diesen Stempel drückt der Mentalität der bürgerlichen Klassen ihre ökonomische Lage auf, ihre passive Anteil- nahme am Produktionsprozeß.

Psychologisch vollzieht sich das folgendermaßen: ‚Der Bourgeois macht in seiner Psyche die Willensmomente im Produktionsprozeß nicht durch. Die Schaffung der Waren geht ihn nur rein äußerlich an: er ist allein an den Resultaten interessiert. Das materialistische eigennützige Interesse lenkt seine Aufmerksamkeit von allen Qualen der schöpferischen Tätigkeit der Arbeit ab. Dem Bourgeois sind die Qualen unverständlich; ihm ist auch der Sinn für die schöpferische Handlung fremd er kennt einzig und allein ihre kristallisierten Formen.

Zugleich äußern sich die Tendenzen der Bourgeoisie als die einer mit ihrer Lage zufriedenen Klasse in ihrem Festhalten am Bestehenden. in dem Bestreben, die sozialen und politischen Verhältnisse beizubehalten. Dies wiederum ist der Grund der statischen Denkweise der Bourgeoisie. Der Bourgeois denkt nicht dynamisch sondern statisch.

Die Folge davon war. daß in der bürgerlichen Ideologie sich eine statische Auffassung des Individualismus. des Organismus sowohl wie der menschlichen Psyche gebildet hat. In der Vorstellung der Bourgeoisie ist der Mensch etwas Abgesondertes, etwas von der Gesellschaft Losgelöstes, und zwar etwas organısch wie psychisch Abgetrenntes. Der Mensch sei etwas Starres, sei eine Wesenheit. Diese kristallisierte, versteinerte Vorstellung vom Menschen wird von der bürgerlichen Ideologie auch auf die lebendige Persönlichkeit übertragen. und so verwischt diese ihre

Veränderlichkeit, ihre Beweglichkeit. ihre Elastizität und

616 Individualität und Gesellschaft

ihren Zusammenhang mit der Gemeinschaft. Und diese Ideologie des Bürgertums wirkt ansteckend auch auf die anderen Klassen. Im Gegensatz zu einer derartigen Auf- fassung sagen wir: eine organische oder psychologische Individualität. so wie sie die bürgerliche Vorstellung fat, gibt es überhaupt nicht.

Das Individuum ist ein bürgerliches Götzenbild. In Wirklichkeit vermag unser Bewußtsein den menschlichen Organismus nicht zu individualisieren und ihn von dem gesellschaftlichen Organismus zu trennen. Der individuelle Organismus ist nur ein rein synthetischer Moment im allgemeinen organischen Prozeß. Die Momente der Zeugung. der Geburt. des Säugens und Erziehens sind lauter Momente des gesellschaftlichen Schaffens. Momente eines allgemeinen ele meatarisch- organischen Prozesses. Uad wenn wir vom Menschen sagen: Ein Individuum so sagen wir das im bedingtem Sinne. in dem Sinn, daß ein bestimmtes Moment in dem allgemein elementar- organischen Prozeß gekennzeichnet werden soll. Wir können die Psyche der Persönlichkeit nicht unabhängig von der Psyche der Gesellschaft. der Klasse oder Gruppe individualisieren. Das lebendige Band. das die Persönlichkeit unzertreunbar mit der Gesellschaft verkeftet, wird für uns in diesem Fall noch begreitlicher, noch anschaulicher, noch einfacher. Nicht nur unsere Begriffe, sondern auch unsere Ge:ühle und Wünsche müssen als Begriffe und Wünsche der Klasse oder Gruppe angeschaut werden. Die Persönlichkeit wird geboren und entwickelt sich ın einem sozusagen gesattigten. psychischen Milieu, und da ist keine Möglichkeit zu sagen wo Mein und wo -Nicht- mein“ ist.

Aber zugleich tragt fast jedes Individuum ein schöpferisches Prinzip. jene eigentliche psychische Synthese, infolge deren die Tätigkeit des betreffenden Individuums sich von der Tätigkeit aller anderen unterscheidet. Dieser schöpferisch-

Individualität und Gesellschaft 617

eigentümliche Kern des Individuums ist bei den einen be- sonders scharf und voll ausgedrückt. und das sind die produktiven Persönlichkeiten; bei den anderen, bei der Majorität. bei dem sogenannten amorphen Typus ist er dagegen fast nicht wahrzunehmen . . . Es ist die schöpferische Persönlichkeit, oder das Schöpferische in der Persönlichkeit, das in das allgemeine soziale Leben jene gewisse individuelle Eigenheit. die wir eben Individualität nennen. hineinträgt. Die gewöhnliche Persönlichkeit ist keine Individualität: ihre Psyche und ihre Tätigkeit zerstreuen sich immer wieder in der Gesellschaft. im sozialen Organismus: allein das schöpferische Element in der Psyche der Persönlichkeit er- scheint als ein individuelles. sich nicht zerstreuendes Element, als ein Element, das dem sozialen Leben den Stempel auf- drückt und in das Leben etwas Neues. Eigenstarkes. Un- zerstõrbares bringt.

Die bürgerliche Vorstellung von der Individualität ist also unrichtig: die bürgerliche Individualität ist zerstörbar. Individuell ist in Wahrheit dasjenige. was feststehend. ewig ist. Und als das erscheint im organischen Sinne das all- gemeine Leben. das Leben der Menschheit: im psychologischen Sinne werden individuell die objektivierten produktiven Momente der psychischen Tätigkeit. Wir schen also, daß die Individualität geboren wird und nicht stirbt. Sie ist ewig. In jedem einzelnen Menschen überlebt die psychische Individualität ihren Organismus.

Schon in der Entwicklungsgeschichte des organischen Lebens und des Lebens der Menschheit sehen wir, daß das Leben in einem ununterbrochenen Kampf mit den anorganischen elementaren Gewalten bestanden hat. Blicken wir tiefer in die Gesellschaft selber, so schen wir auch hier einen unerbittlichen angespannten Kampf der Mensch- heit mit den Elementargewalten, aber nicht mehr in anor- ganischer Form, sondern in organischer. Gegenwärtig befindet

618 Individualität und Gesellschaft sich der gesellschaftliche Organismus sowie die Mehrzahl der einzelnen Persönlichkeiten noch vollkommen in der Macht der organischen Elementargewalt. Und hier wird deutlich: der Freiheitsdrang,. das Bestreben, seines Elementes Herr zu werden, bildet den inneren Sınn der Gesamtgeschichte der ganzen gesellschaftlichen und persönlichen Entwicklung. Das Sterben der einzelnen Organismen ist nichts anderes, als die Herrschaft der organischen Elementargewalt über das Bewußtsein der Persönlichkeit, das Erstreben nach individueller, organischer Unsterblichkeit.

Dem Menschen ist. wie jedem Lebewesen, der Tod zuwider; gegen ihn wehrt er sich mit all seinen Kräften. Und je kultivierter. je lebensfähiger die Persönlichkeit ist, umso heftiger kämpft sie gegen die Elementargewalt an umso stärker ist ihr Wunsch nach ewigem Leben. Man sehe, wie verhältnismäßig gleichmütig der Chinese seinen Kopf aufs Schafoſt legt und mit welchem krampf haften l Schluchzen wir unseren Verwandten und Freunden das letzte Geleit geben. Ist uns denn Greisentum und Schwäche nicht zuwider: haben wir denn nicht einen Drang nach ewig jungem und starkem Leben? . . . Das alles ist da: es ist der heimliche Gedanke alles Lebendigen! Aber erst dann. wenn die gesellschaitliche Organisation die Elementar- gewalt meistern wird erst dann wird es möglich sein, auch der Unsterblichkeit Herr zu werden. Noch aber wird die Menge des Lebens von der anorganischen Elementargewalt zerstreut und absorbiert.

Der Triumph des Lebens, der Triumph des mensch- lichen Bewußtseins über die organische Gewalt findet sich in der allerengsten Abhängigkeit von der Gewalt des Menschen über die anorganische Elementargewalt: und vielleicht hängt die letztere noch stärker von der ersteren ab: je höher der gesells:haftliche Organismus. umso größer

Individualität und Gesellschaft _ 619

die Macht des Menschen über die Natur. In dem Menschen liegt das unbewußte Streben nach der Entwicklung der gesellschaft- lichen Organisation; das ist sein mo- ralischer Trieb, sein Lebensdrang. Der Mensch ahnt unklar und dunkel, daß die Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Organisation zum schöpferischen Zu- stand des Bewußtseins und der Erweiterung seiner Macht führen wird. Der Mensch ahnt ganz instinktiv, daß man das Leben nur durch die gesellschaftliche Organisation erhält, die zugleich mit ihrer Vervollkommnung immer mehr organisch die Elementargewalt beherrschen und mit der Zeit sie ganz besiegen wird. Die Menschheit wird in ihrer Entwicklung die einzelnen Organismen unsterblich machen, sie wird das Mittel finden gegen die zerstörenden Wirkungen der Elementargewalt.

Gewiß, dieses Auf hören der Lebensenergie wird zu einem Höchstmaß der Lebensentwicklung führen. Wir können uns nicht einmal auch nur vorstellen, wie mächtig der Mensch der Zukunft werden kann, wie groß seine Gewalt über die Natur sein wird. Er wird der Herr der Welt werden und sein, Geschlecht im weiten Weltraume verbreiten. er wird das Planetensystem beherrschen. Die Menschen werden unsterblich sein. Der gesellschaftlich Organismus differenziert sich; davon wird es ım Zusammenhang mit dem einen sgesellschaftlichen Organismus. viele Individualorganismen geben. Die psychische Individualität wird von der organischen Individualität un- trennbar sein. Zugleich wird. aber bei dieser organischen Differenzierung die organische und psychische Integration erhalten bleiben und sich noch mehr entwickeln. Das gesellschaftliche Zusammenarbeiten wird seine äußerste Grenze erreichen

Alle 17 5 über den Untergang der Erde oder

620 Individualıtät und Gesellschaft

den Untergang des Menschengeschlechts sind nur zu un- begründete Hypothesen und Utopien des Pessimismus. Sie sind -deshalb unbegründet. weil sie in ihren Schluſ- folgerungen die elementarsten Tatsachen außer acht lassen. Sie betrachten den Untergang des Lebens vom Standpunkt der heutigen Lebensbedingungen. vom Standpunkt der jetzigen Lebensanpass ung. Aber das Leben ist doch dehn- bar. Darin eben besteht gerade das Leben. dadurch ent- wickelt es sich, daß es alle zerstörenden Elementarkrätte beherrscht und seine zerstörende Kraft auf seinen Triumph und seine eigene Entwicklung richtet. Und das, was viel- leicht, wie es uns scheint, gegenwärtig das Leben bedroht, wird vom Leben zu seiner Weiterentwieklung genutzt werden. Der Mensch strebt nach individueller Un- sterblichkeit. und er wird unsterblich sein. Jetzt ist das erst noch eine Hypothese, ein schöner Wahn. Mag es eine Hypothese sein, antwortea wir dem Skeptiker! Aber jede Wissenschaft hat ja ihre Hypothese, und treibt, auf sie gestützt, das Leben vorwärts. Aber wir halten diesen Gedanken nicht allein für eine Hypothese der Ethik. Bestand denn das Leben nicht darin, daß der Mensch selbst das verwirklichen mußte. wovon er nicht einmal träumte, woran er nicht einmal dachte? Und umso wahrscheinlicher ist es, daß er dasjenige erreichen wird, wonach er sich sein langes, müh- ecliges Leben hindurch sehnt. wonach ihn sein ganzes Wesen, sein Selbsterhaltungstrieb drängt. Der menschliche Wille, der menschliche Gedanke hat die Fähigkeit, sich zu verwirklichen. Die menschliche Schöpferkraft hat keine Grenzen

Wir, die wir um ein gesellschaftliches Ideal kämpfen, kämpfen letzten Endes um die menschliche Individualität, kämpfen

um individuelle Unsterblichkeit. Wir

Franz Schulz: Gustav Noske Heinrich Mann 621.

Marxisten kämpfen um die Ind vidualität. während wir für gesellschaftliche, für allgemein menschliche Interessen kämpfen. Wir wissen wohl, daß man zum Triumph der Persönlichkeit. zu einem Sieg des Bewußtseins über die Elementarge walten erst durch die Gemeinschaft und durch kollektive Arbeit kommen kann. Die Bourgeoisie will etwas anderes. Sie zerstört die Gemeinschaft. Indem sie für ihre Individualität - kämpft, kämpft sie gegen die Gesellschaft. Für das Bewußtsein der Gemein- schaft ist jene Elementargewalt, die be- kämft werden muß, die Bourgeoisie.

GUSTAV NOSKE HEINRICH MANN VON FRANZ SCHULZ

Zwischen diesen beiden liegt eine Welt: das Deutschtum mit allen moralischen und ästhetischen Wesenheiten und Möglichkeiten. Wohl ın Folge seiner vielfältigen und komplizierten Rassenmischung birgt das deutsche Volk ähnlich dem jüdischen alle Gegensätze menschlicher Besinnung und unmenschlichen Widersinns in sich. Datür sind die zwei Männer, der unkultivierteste aller Minister und der kulti- vierteste aller deutschen Literaten, Beweis, ihre Namen Symbol. Die Bedeutung beider Erscheinungen ist nur in Superlativen zu formulieren; (gleichgültig, wie man literarisch und politisch das Werk Dieses und jenes werten mag).

Ich sagte: Besinnung und Widersinn. Heinrich Mann ist die Besinnung des Deutschen. In ihm setzt das Bewußtwerden ein, da3 an der Vernunft fürchterlich gesündigt worden ist. Das Buch „Macht und Mensch““) ist ein glühendes Manifest der Vernunft. Er, ihr leidenschaftlicher Anwalt, bekämpft die deutsche (und nur deutsche) Ansicht, Vernunft sei sekundär, primär chaotisch-dionysisches Weltgefühl oder goethisch-abgeklärte Sauverenität. Er stellt die erste Forderung der Vernunft: daß der Geist herrsche und daß die Geistigen herrschen wollen.

„Denn der Typus des geistigen Menschen muß der herrschende werden in einem Volk, das jetzt noch empor will Das Genie muß sich für den Bruder des letzten Reporters halten, damit Presse und öffentliche Meinung, als populärste Erscheinungen des Geistes, über Nutzen und Stoff zu stehen kommen, Idee und Höhe erlangen.

) Kurt Wolff Verlag.

622 Franz Schulz: Gustav Noske Heinrich Mann

Der Fauste und Autoritätsmensch muß der Feind sein. Ein Intellektueller, der sich an die Herrenkaste heranmacht, begeht Verrat am Geist. Denn der Geist ist nichts Erhaltendes und gibt kein Vorrecht. Er zersetzt, er ist gleichmacherisch; und über die Trümmer von hundert Zwingburgen drängt er den letzten Erfüllungen der Wahrheit und der Gerechtigkeit entgegen, ihrer Vollendung, und sei es die des Todes.”

„Sie haben es leicht gehabt, die Literaten Frankreichs, von Rousseau bis Zola: sie alle haben das Glück gekannt, sich nicht stumm und oline Arme zu fühlen, von einem Volk, dem der Geist nicht nur überirdisches und belangloses Spiel ist, auf eine Tribüne erhoben zu werden, ihr Wort die Dinge bewegen, den Geist in Welt und Tat verwandelt zu sehen . . In Deutschland hätten sie es schwerer. Sie hätten mit einem Volk zu tun, das Leben will, nichts weiter wie. Niemand hat gesehn. daß hier, wo so viel gedacht ward, die Kraft der Nation je gesammelt worden wäre. um Erkenntnisse zur Tat zu machen.“ So klagte Heinrich Mann im Jahre 1910 und pries den Franzosen von 17%, dessen Tat über die Jahr- hunderte voraus den märchenhaften Schein. warf, der sie nun weniger trostlos macht . . Daß Heinrich Mann jetzt, da eine deutsche Revolution keine Erkenntnis zu keiner Tat gemacht, sondern Unkenntnis und Unfähigkeit gegen die Tat ge- stellt hat, daß er nun weniger verzweifelt als vor zehn Jahren, möchte uns, die wir nur ein Abseits des Geistes in die Kloake des deutsch-mehrheitlichen Anti- geistes verwandelt sehn, mehr Hoffnung geben als sonst etwas.

Heinrich Mann erwartet das Heil von Westen, die politische Elementarität des Ostens ist ihm ein Graus. Er verkennt leider die große russische Revolution und überschätzt cbenso wie Förster die parlamentarische Anständigkeit Englands, eine schöne Allüre gut erzogener Menschen. Er erwartet schließliche Besinnung einer deutschen Mehrheit, die weder heut noch murgen einer Besinnung fähig ıst, weil nur die Besten, die Leidenschaftlichen und Empörten, weil nur eine kleine Schar von Rebellen gegen das Chaos bürgerlicher Ordnung die Jauche der Lügen und Frechheiten wırksam zu vermeiden weiß, mit der dieses arme Volk seit eh und je berieselt und regiert wird. Doch gerade, daß der Menschen-Ziselator der „Kleinen Stadt“, der Pamphletist der ., Untertan“, der Kleinstes nicht über- sieht und Hassenswertes so sehr haßt, daß einer der besten Europäer noch zu hoffen vermag, diesem Voike werde Besinnung die Gewalt ersparen, ein solch leiden- schaftlicher Optimismus muß uns, die wir bedauern ıhn nicht teilen zu können, freuen und stärken. l

Der besonnene, kulturbesonnene Mensch ruft sein Volk. Er ruft es jetzt noch und sehnsüchtiger denn je. Trotz allem und trotzdem es einen Noske gibt. Das ist die Tragik des Deutschen, daß Noske ein existierender Typus, Heinrich Mann zwar ein polares Symbol, doch ein Einzelner ist. Daß es Tausende, vielleicht Millionen, daß es Massen gibt, die wenn auch seine Taten bisweilen verur-

Die revolutionäre Bewegung in Spanien 623

teilend einen persönlichsten Instinkt für Noske haben und nur Einzelne, der Masse Fremde, die Heinrich Mann lieben. Daß jede der beschämenden Reden Noskes, (in deren keiner das Wort „Dreck fehlt), günstigen, verstehenden Wider- hall findet, während die Essais und Reden Heinrich Manns gerade gefallen. Daß man den Geist hierzulande als Luxusobiekt, als Schußhündchen, als gangbaren Exportartikel und günstiges Reklameobjekt bestenfalls ansieht und ihm eine Real- politik entgegenstellt, vor der jedes kultivierte Volk einen Lachkrampf oder Übel- heiten bekäme. Daß man einen Literaten zum Pressechef nur macht, wern er sich neuorientiert und feierlich den Geist abschwört und deß man auf Literaten, die Geist und Politik, Vernunft und Realpolitik vereinen, die ganze ekle Meute, der Presse hetzt. solange bis ein patriotischer Cretin sie in den Rücken schießt. Eisner, Landauer, Liebknecht, Rosa Luxemburg sind die Opfer und Kronzeugen der furchtbarsten Tragik eines geistfeindlichen Volkes und Noske ist ihr Sach- beweis. In keinem andern Lande ist der Geistige Paria wie hier, wo Geist nicht nur stasts-, sondern auch volksfeindlich ist und in keinem andern Lande, in dem ein Heinrich Mann lebte, würde der Untertan Noske auch nur einen Tag geduldet werden. So sehr ich Heinrich Mann ais Künstler schätze, seine wahre Be- deutung sehe ich nicht in der Literatur, noch viel weniger in seiner Politik der idealistischen Linie: ich sehe sie darin, daß er, heute einer der ganz wenigen Ein- zelnen, einst der beste Repräsentant einer Typus sein wird, von dem wird es kommen dem Deutschen. das Heil kommen und der den Typus Noske be- siegen wird. Und seı es durch Mittel, .die Heinrich Mann verdamnit. Daß man Noske bis jetzt geduldet hat, zeigt wie weit noch der Weg vom Deutschen zum Europäer ist und daß cs einen Heinrich Mann gibt, verpflichtet uns, diesen Weg, so. furchtbar schwer er ist, zu betreten.

DIE REVOLUTIONÄRE BEWEGUNG IN SPANIEN VON EINEM SPANISCHEN SOZIALISTEN DER Ill. INTERNATIONALE

ın keinem anderen Lande Europas: macht das Proletariat einen so großen Teil der Bevölkerung aus, wie in Spanien. Praktisch gesprochen gibt es hier keine Mittel- klasse. Trotz der industriellen Rückständigkeit des Landes herrscht die schärfste wirtschaftliche Ausbeutung: sie hat jedoch keine neue privilegierte. Kaste geschaffen. wie in anderen Ländern die Bourgeoisie. Der spanische Adel ist einfach in den Besitz neuer Macht gekommen, er hat langsam und auf natürlichem Wege eine neue Position in der Gesellschaft erlangt: er hat sich seine alte Herrschaft in neuer Form gesichert und sich vollkommen mit dem Kapitalismus identifiziert.

624 Die revolutionäre Bewegung in Spanien

Der spanische Kapitalismus wird durch den Adel repräsentiert und die übrige Bevölkerung bildet das Proletariat.

Einer der bedeutendsten Umstände in der Entwicklung des soanischen Kapı-

talısmus ist die Tatsache, daß die Industrie, die Spanien besitzt, fast durchweg Großindustrie ist. ., Trust“ und Vereinigungen, die vorschnell aus dem Boden hervorwuchsen, sind in allen Industriezweigen zu finden. Naturlich hat diese Tatsache ihren Einfluß auf die Arbeiterschaft nicht verfehlt, sie hat d'e Entwickelung des Klassenkampfes verschärft und beschleunigt. Sie erklärt die vielen scharfen politischen und wirtschaftlichen Streiks. Sie erklärt, warum die syndikalistischen Arbeiter Barcelonas, der einzigen großen modernen Industriestadt Spaniens, immer die Notwendigkeit einer neuen Gesellschaftsordnung vor Augen gehabt haben, sich niemals mit dem Gedanken der reformistischen Ce- werkschaften befaßt, sich niemals Täuschungen hingegeben haben über Lohn- erhöhungen und Verkürzung der Arbeitszeit. Es ist möglich und notwendig, die Taktik der Sy idikalisten Barcelonas zu bekämpfen, aber es würde ein großer Fehler sein, wenn man nicht die Hoffnungen anerkennen würde, die ihr revolutionärer Geist zu erfüllen verspricht. |

Aber Spanien ist in der Hauptsache ein Land des Ackerbaus. Ohne die Wich- tigkeit des revolutionären Geistes ın Barcelona, Madrid, Valencia, Sevilla, Zaragoza aus dem Auge zu verlieren, müssen wir erkennen, daß der wirkliche Schlüssel zu den spanischen Verhältnissen bei der Bauernschaft zu finden ist. Das Ackerbauland in Spanien ist ausschließlich in große Farmen eingeteilt, die sich in den Händen von verhältnismäßig wenigen Familien befinden und durch Aufseher der Besitzer bewirtschaftet werden.. Die Bauern die die tatsächliche Arbeit auf den Farmen deisten haben absolut keinen. Anteil am Lande. Sie sind wandernde Arbeiter, sie gehen von einer Farm zur anderen, je nach ihrer Arbeitsfähigkeit und wie es ihnen gelingt, zur Erntezeit Arbeit zu. bekommen. Sie sind arm, furchtbar arm. Sie besitzen nichts außer den Lumpen, die sie am Leibe tragen. Und sie sind außerordentlich klassenbewußt sie müssen es sein.. Neben den Arbeitern von Barcelona bilden sie die große Mitgliedschaft der „Cunfederacion Nacional del Trabajo” und die revolutionärsten Elemente der sozialistischen Partei kamen meistens aus ıhren Reihen.

Der Typ des kleinen unabhängigen Farmers, der das Rückgrat des Konservativis- mus in Frankreich bildet und der half, der roten ungarischen und bayrischen Re- publik den Todesstoß zu versetzen, existiert in Spanien nicht. Wenn die Revolution kommt, werden die Bauern den größten Anteil an ihr haben. Sie werden mit den Arbeitern aus Barcelona und Madrid die revolutionäre Vorhut bilden.

Obgleich die sozialistische Partei eine große Gefolgschaft unter den Bauern hat, gehört deren Mehrheit doch der anarcho-syndikalistischen „Confederacion Nacional del Trabajo“ an. Diese Organisation hat in ihren Reihen die revolutionärsten und klassenbewußtesten- Arbeiter Spaniens, Ihre günstige Entwickelung begann im Jahre 1917—18, als sie eine Reihe erfolgreicher Streiks unternahm und ihre Mitglieder- zahl in kurzer Teit bedeutend stieg. Ich glaube sagen zu können, daß sie jetzt an 400000 Mitglieder hat.

Trotzdem sich die C. N. T. auf ihrem letzten Kongreß offiziell als anarchistisch.

Die revolutionäre Bewegung in Spanien 625

erklärt hat, sind ihre einzelnen Mitglieder nicht anarchistisch und wissen nicht im geringsten, was Anarchismus ist. Sie sind der klassenbewußteste Teil der spanischen Arbeiterschaft und gehören der C.N.T. an, weil sie lieber mit den anarchistischen Terroristen Barcelonas Bomben werfen würden, als Phrasen dreschen mit den „so- ꝛialistischen Reformisten Madrids. Jedenfalls ist die beste Erklärung für das Wachsen der syndikalistischen Organisation der hoffnungslose bourgeoise Reformismus der sozialistischen Partei, der den revolutionären Arbeiten nur noch den Weg zu den Syndikalisten übrig ließ.

Unter der straffen Führung von Pablo Iglesias entwickelte sich die So- zialistische Partei zu einem würdigen Mitglied der viel beklagten Zweiten Inter- nationale. Zehn Jahre lang arbeitete die Partei in engster Fühlung mit der Re- publikanischen Partei, die Kandidaten zum Parlament wurden auf einer gemeinsamen Liste aufgestellt. (Diese Zusammenarbeit hat die Sozialistische Partei erst vor kurzem aufgegeben und zwar nur unter dem starken Druck ihrer Mitglieder). Die gewählten Vertreter der Sozialistischen Partei in öffentlichen Ämtern verbrachten ihre Zeit damit, Arbeiterversicherungsgesetze, Minimallöhne, Stufenlöhne usw. zu beantragen. Die Parteizeitungen beschäftigten sich mit der Verdrehung des Marxis- mus und dem Kampfe gegen die revolutionären Tendenzen der Massen. Das offizielle Organ „El Socialista" wird jetzt von Antonio Fabra Rivas ge- leitet, einem Ignoranten, der einen Ruf wegen internationaler Kenntnisse besitzt, weil er ein Freund Renaudels ist und früher einmal im „Vorwärts“ gearbeitet hat. Auf dem letzten Korigreß der Partei (Dezember 1919) war er einer der stand- haftesten Verteidiger der Zweiten Internationale. |

Beim Ausbruch des Krieges im Jahre 1914 erklärten sich alle Führer der So- rialistischen Partei Pablo Iglesias, Tulian, Besteiro, Francisco Largo, Caballero. Andres Saborit, Antonio Fabra Rivas usw. bedingungslos für die Entente. Die Mehrheit unter ihnen forderte sogar Spaniens Teilnahme am Kriege „zum Schutze der Demokratie“. Über Zimmerwald und Kienthal wurde gelächelt. Es war offen- bar, daß die Partei jegliche Tendenz verloren hatte, die sie von einem rein bürger- lichen Unternehmen unterscheiden würde.

Auf ihrem Kongreß im Dezember stimmte die Sozialistische Partei für das Verbleiben in der zweiten Internationale (14000 gegen 13 000 Stimmen). Von den 42 000 Mitgliedern der Partei waren jedoch nur 28 000 vertreten und es ist wahrscheinlich, daß dieser Beschluß nicht dem Willen der Massen in der Partei entspricht. Er entspricht dem Willen der Führer mit Ausnahme von ein paar Scharlatanen wie Mariano Careia, Cortes und Manuel Nunes de Arenas, die für den Anschluß an die dritte Internationale eintraten und zu gleicher Zeit zu den schlimmsten politischen Opportunisten gehören. Die Führer haben die Kontrolle über die Parteipresse und über die ganze Parteiorganisation. Sie werden diese Kon- trolle auch dann nicht verlieren, wenn ein Referendum der Partei sich für die dritte Internationale erklären sollte, was wahrscheinlich sehr bald der Fall sein wird. Sie werden weiter die Führung der Partei in der Hand behalten und weiter eine bürgerliche contre-revulutionäre Organisation bleiben wollen.

Die revolutionären Massen können innerhalb der Parteibürokratie weder jetzt noch im Augenblick der Krisis zur Aktion schreiten. Wenn sich ihnen Gelegen-

626 Die revolutionäre Bewegung in Spanien

heit böte, so würden die Führer der sozialistischen Partei genau so handeln, wie Ebert, Scheidemann und Noske es getan haben. Sie sind die schlimmsten Feinde des Proletariats und die Parteiorganisation ist nur für Zwecke geschaffen, wie die deutschen Mehrheitssozialisten sie gehabt haben.

Angesichts der akuten wirtschaftlichen Verhältnisse und des revolutionären Geistes der Arbeiterschaft einerseits und des Verrats der Sozialistischen Partei anderer- seits war es nur natürlich, daß eine Kommunistische Partei, eine Partei der Kom- munistischen Internationale ins Leben gerufen wurde.

Die Spanische Kommunistische Partei (. Partido Comunista Espanol‘) übergab am 15. April 1920 ihr Manifest der Öffentlichkeit. Es wurde von der Föderation der Sozialistischen Jugend herausgegeben, die gemeinsam mit der revo- lutionären Gewerkschaften Asturiens und der Gruppen der Sozialistischen Partei der Provinzen Taen und Salamanca ihre Organisation zur spanischen Kommu- nistischen Partcı erklärte. Dies fand sofortigen Widerhall in den Massen, besonders in Madrid und Andalusien: und heute einen Monat nach ihrer Gründung”) hat die Partei bereits eine Mitgliedschaft von mehr als 15 000 Personen. Sie tritt für revolutionkren Sozialismus iin Gegensatz zum Reformismus ein. Sie ist eine Partei des Marxismus in Prinzip und Praxis. Sie erkennt den revolutionären Charakter unserer Zeit und die Notwendigkeit, den Kapitalismus mit allen Mitteln zu bekämpfen. Sie lehnt die Teilnahme am Parlament nicht ab, betrachtet es jedoch nur als eine Tribüne zur revolutionären Propaganda. Sie sieht ım Parlament einen Teil des bürgerlichen Staates, der nicht reformiert, sondern zerstört werden muß. Ihre Stellung ist die aller Parteien der Kommunistischen Internationale: Die soziale Revolution wird kommen als das Ergebnis der Massenaktion, die sich zu einem offenen revolutionären Kampfe auswachsen wird. Die arbeitende Klasse wird die Macht erobern und die Diktatur des Proletariats errichten mit Räten als Organen der Regierung.

Das Organ der Spanischen Kommunistischen Partei „El Comunista“ richtet scharfe Angrit/e gegen die Sozialistische Partei und bezeichnet sie els reformistisch und contre-resolutionär. Das Zentralkommitee der Partei ist zusammengesetzt aus jungen Genossen, wie Roman Merino Gracia, Rito Estrban, Juan An- drode und Tibureio Pico, die alle lange zu den revolutionärsten Elementen der spanischen Bewegung gehören.

Das Komite hat vor kurzem einen Brief vom Amsterdamer Bureau der dritten Internationale erhalten, der ihm zur Gründung der neuen Partei Glück wünscht.

Was die spanische Arbeiterschaft mehr als alles andere nötig hat, ist politische Schulung. Die Kommunistische Partei gibt spanische Übersetzungen der Werke von Marx, Engels und Lenin heraus, ebenfalls Broschüren von Sinoview, Trotzky, Radek, Bucharin usw. Weiter hat die Partei einen Plan in Vorbereitung der Organi- sation von Sowjets in Spanien. Das Rätesystem und das ganze kommunistische Programm findet Anwendung auf die besonderen spanischen Verhältnisse. Wenn die Revolution kommen wird, dann wird die Kommunistische Partei an ihrer Spitze stehen und der Sieg wird mit ihr sein.

) Der Aufsatz ist noch im Mai geschrieben

Victor Segalen: Paul Gauguins Todeskampf 627

PAUL GAUGUINS TODESKAMPF VON VICTOR SEGALEN

Gauguins Briefen an seinen Freund Daniel de Monfreid, die im Verlage Gustav Kiepenheuer erscheinen, geht eine biographische Einleitung von Victor Segalen voraus, der

die folgenden Seiten entnommen sind.

Paul Gauguins Todeskampf in seiner dreifachen Maori- zeit. erster Aufenthalt auf N Tahiti. zweiter Aufenthalt. erster und letzter Aufenthalt auf den Marquesas-Inseln hat das Vollkommene, das ein Menschenleben erhebt: das | unaufhörlich gefährdete und unaufhörlich wieder hergestellte Gleichgewicht zwischen zerstörenden und schöpferischen Kräften; zwischen der Fruchtbarkeit des täglichen Brotes und der unwägbaren Nahrung: zwischen der Voraussicht und der Lust: zwischen Handwerk. Arbeit und Werk. Seit seiner Ankunft auf diesen Iuseln oder zwölf Jahre. bevor er stirbt. denkt Gauguin an den Tod. nicht an einen eingebildeten. an seinen eigenen. Sein Leben in diesen zwölf letzten Jahren ist ein ergreifendes Schauspiel. dessen Ende schön und unabwendbar ist: der erwartete. bisweilen ersehnte. bisweilen dringend erbetene. zum Festmahl des Selbstmordes geladene Tod kommt nicht dann ist er plötzlich da. Dieses Schicksalhafte des Todeskampfes gibt dem ganzen Drama Farben und Wappen.

Agonıe bedeutet Kampf. Gauguin war an Haerz und Körper ein schöner Athlet. Deswegen wurde das doppelte Spiel, der begonnene Kampf durchgeführt trotz Umkehr, Ekel und Erholung. Aus den gut betrachteten Werken

Gauguins muß eine schöne Lehre erstehen, aber auch aus

seinen in allen Silben gewogenen Briefen. Von Anfang an das

628 Victor Segalen

Gespenst des Unglücks und, schlimmer noch, des Pechs. Kleinliche Schwierigkeiten häufen sich; dann Kombinationen und Berechnungen, darin die ganze Geschicklichkeit des ehemaligen Bankbeamten verschwunden zu sein scheint denn der dürfte doch nur auf z»gängigee Werte bauen. Seine Bilder aber, zu seimen Lebzeiten wenigstens sind nicht >gängig.. Er plant einen »Liebhaberverein« der ihm zweihundert Frank pro Monat sichern sollte. Der Plan mißlingt. Die Liebhaber haben sich seither schon öfter Vorwürfe machen müssen: das Geschäft wäre gut, seit zehn Jahren schon! !

Diese Rechnereien, diese Spekulationen. dieses stets mit Defizit arbeitende und vor dem Ausgleich doch noch sieghaft saldıerte Kontokorrent, all das geht durch alle Briefe hindurch wie durch Rımbauds Briefe, für das Jahrhundert schreckliche Briefe, die enttäuschen und an- klagen, ewiger Schimpf für den Zeitgenossen, der den Seher nicht anhören wollte. Dreihundert Seiten lang klagt Rımbaud darüber, seinen Lebensunterhalt nicht verdienen zu können; dann bringt er endlich eın kleines Vermögen zusammen, vierzigtausend Francs in Gold: da es in der Somali wüste keine Bank gibt, trägt er es in einem Segel- tuchgürtel stets um seinen Leib. was ihm schließlich eine Magenkrankheit zuzieht . Dieselben Finger, dıe das strunkene Schiff. ins Reine geschrieben haben, schreiben zehn Jahre später: -Ich habe ein Edelsteingeschäft vor, womit ich viel Geld zu verdienen hoffe.«

>»Rimbaud?: sagte 1905 der ehrenwerte Herr Rhigas, Händler für alles in Djibuti, in dessen Diensten Rimbaud gestanden hafe, zu mir, »Rımbaud? · ein tüchtiger Kerl, o. ein erstaunlicher Kerl! Ein guter Rechner, und dabei dachte er noch nicht genug ans Geschäft. Und dann konnte er einen plötzlich lachen machen, lachen, sage

ich Ihnen!" Das hat Afrika von Rimbaud behalten.

Paul Gauguins Todeskampf 629

Die Erinnerung an Gauguin ist rein von solchen MiL- verständnissen. Niemand auf Tahiti oder auf den Marquesas hat es sich einfallen lassen, Gauguin Mach seinen Eigen- schaften als »Beamtere. zu beurteilen. Und doch mußte Gauguin, der eines Tages Plakate an die Gare du Nord geklebt hate wie Rimbaud einen Zirkus in Holland und auf Batavia herumführte eines schönen Tages eine Stellung erbitten, einen Platz an einem Tisch vor einem Papier. als Zeichner bei den ‚Öffentlichen Arbeiten . auf Tahiti! Diesen Amtsstempel wird man also am Kopf mancher seiner Briefe lesen: es sind nicht die schlechtesten. Denn, im Gegensatz zu Rimbaud. verleugnete Gauguin sich niemals bis zu seinem Ende beanspruchte er sein Recht zur. Ehre seines malerischen Könnens leben zu dürfen, dieser Schimpf blieb ihm' erspart: der Zeichner Gauguin, der für sechs Francs den Tag zeichnete, ist niemals ernstlich in Betracht gezogen worden.

Ebensowenig wie seine »künstlerische Sendunge, mit der Ary Renan, ihn betraut hae in der Meinung, ihm damit die Ankunft auf den Inseln zu erleichtern. Niemand in der Kolonie wollte sich zum Narren halten lassen, am wenigsten der Gouverneur, der nur einen Spion in ihm sah. Seit seinen ersten Antipodenschriſten stieß Gauguin so auf dieselben Erfahrungen und auf die gleichen Leute. die er fliehen wollte. Die Kleinheit des Landes. die den Beamten einschränkte, führte zur Kleinheit der Gedanken. So daß Gauguin. kaum in der Hauptstadt des französischen Ozeaniens angelangt. schleunigst an neuen Auf bruch dachte. Aber diese ersten Tage gestatteten ihm trotz lächerlicher Aufmachung ein Ereignis zu sehen, dessen beklagenswerte Größe vielleicht er allein zu fassen vermochte, denn, kaum angelangt, war er schon eingeweiht: man feierte das Leichenbegängnis Pomares V., des letzten wirklichen Königs von Tahiti. Es gab keine Menschenopfer, um diesen

630 Victor Segalen

mächtigen Tod, und den Heimgang des Geistes eines Geschlechtsvaters zu den sanften Inseln zu ehren, darauf den Lebendigen alles unfühlbar bleibt. Man brachte ıhn in den reformierten Himmel. Mit dem König verschwand die letzte Beute für unsere Republik, der letzte Raub an dem, was eme Dynastie über eın Volk w war, em Zustand, eine Sitte. Gauguin fühlte das zutiefst.

Er reist in die Gebiete, zur lachenden Krone der Insel, die keine Ähnlichkeit hat mit Papeete, der Haupt- stadt, die Hafenplatz und Markt zugleich ist. Er bleibt in Mataiea. baut dort sein erstes Haus, und zwei Jahre lang .. . aber diesen ersten Aufenthalt auf Tahiti be- schreibt der Maler selbst eingehend in gewissen Kapiteln, »Der Erzähler spricht. des Buches: Noa Noa.

Rückkehr nach Frankreich. Verkaufsausstellung (1893). Es wurde fürchterlich. Sehr gelegen stirbt ein Onkel väterlicherseits. und eine kleine Erbschaft macht alles gut. Gauguin ist für einige Zeit frei und reist wieder ins Finistère; er wird zum doppelten Verräter an Tahiti. denn er nimmt als Gefährtin. die auf seinem Lager den Exotismus darstellen soll. eine javanische Mulaſtin aus Paris mit. Hier liegt die Schuld, die Sünde, er verleugnet die sanfte Maorifrau um dieser Kolonialhündın willen! Er geht mit ihr nach Pont-Aven. wo ihre Hautfarbe betrunkenen Matrosen mißfällt. Streit: Drohungen; Hand- gemenge: ein Eingeborener bricht Gauguin das Bein. bis zum Ende seiner Tage leidet er unter der schlechten Heilung dieses Beines. Er wird wieder vernünftig vom langen Nachdenken, und wieder steigt in ihm die Sehn- sucht auf, fortzureisen. um -für immer in Ozeanien zu leben.

Und wieder ist er auf diesen Inseln, darauf man nicht zweimal auflebt. ohne vielleicht im zweiten Leben zu sterben.

Tahiti empfängt ihn als den wiedergefundenen Freund.

Paul Gauguins Todeskampf 631

dem man den ersten Willkommensgruß sagt: »Komm. komm her, ıß mit uns!. Das war die tägliche Frage. Gauguin schreibt: »Das Leben wird billiger sein. e, und zum driften Male bemerkt er, daß seine Rechnung falsch ist. Sechs Jahre lang bleibt er dort, dann macht er sich segelfertig für jenes weniger eingeteilte und weniger ver- waltete Land. wie er glaubte, für den Archipel der Marquesas-Inseln, vierhundert Meilen nordöstlich von Tahiti: und er nimmt die größte in Besitz, die »Dominica« der ersten Entdecker, Hiva-Oa. die »Große Klippe - der Maori.

Eine schöne Begeisterung packt ihn wieder. Dort unten erweist sich die Frau weniger von Scham berührt: ein wenig freier, ein wenig schöner, ein wenig nackter. Keine Stadt auf der »(sroßen Klippe«. Als Gauguin dort landet, ahnt er, daß er dort sterben würde; er bietet diesem Lande den vergänglichen Humus seines Körpers, und deswegen baut er sein Haus stärker als alle andern. Er schmückte. es als den Zufluchtsort, dessen Linien alle sanft werden, wenn kein Aufbruch und keine Änderungen mehr zu er- warten sind. Voller Wohlgefallen beschreibt er dieses Haus in seinen Briefen, und mit Wollust bewohnt er es. Er nennt es: Haus des Freuens.

Und als er dann fast zum Gleichgewicht zwischen diesen hassenswert ungleichen großen Kräften kommt: zwischen seinen Geldmifteln. der Entfernung. dem Kauf. der zu liefernden Größe, und dem wunderbaren Schauspiel, das auf dem Grunde seiner Vision nur er alleın be- trachtet. da packt ihn plötzlich die Furcht, dort zu sterben. Der Ton seiner Briefe ändert sich. Keine prak- tischen Mafregeln, keine Abrechnungen, kein Vorschuß und kein Rückstand. Er verschlingt seine Tage, um zu malen: seine schlaflosen Nächte, um eine Sammlung »fürchterlicher Dinges zu schreiben. Das Maorı-Schauspiel hat er aufge- richtet und überliefert. Übersäftigt von dem, was er für

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mächtigen Tod. und den Heimgang des Geistes eines Geschlechtsvaters zu den sanften Inseln zu ehren, darauf den Lebendigen alles unfühlbar bleibt. Man brachte ihn in den reformierten Himmel. Mit dem König verschwand die letzte Beute für unsere Republik, der letzte Raub an dem, was eine Dynastıe über ein Volk war, en Zustand, eine Sitte. Gauguin fühlte das zutiefst.

Er reist in die Gebiete, zur lachenden Krone der Insel, die keine Ähnlichkeit hat mit Papeete, der Haupt- stadt, dıe Hafenplatz und Markt zugleich ist. Er bleibt in Mataiea. baut dort sein erstes Haus. und zwei Jahre lang .. . aber diesen ersten Aufenthalt auf Tahiti be- schreibt der Maler selbst eingehend in gewissen Kapiteln, Der Erzähler spricht«, des Buches: Noa-Noa.

Rückkehr nach Frankreich. Verkaufsausstellung (1893). Es wurde fürchterlich. Sehr gelegen stirbt ein Onkel väterlicherseits. und eine kleine Erbschaft macht alles gut. Gauguin ist für einige Zeit frei und reist wieder ins Finistère; er wird zum doppelten Verräter an Tahiti denn er nimmt als Gefährtin, die auf seinem Lager den Exotismus darstellen soll. eine javanische Mulaftın aus Parıs mit. Hier liegt die Schuld, die Sünde, er verleugnet die sanfte Maorifrau um dieser Kolonialhündin willen! Er geht mit ihr nach Pont-Aven. wo ihre Hautfarbe betrunkenen Matrosen miſ fällt. Streit: Drohungen: Hand- gemenge: ein Eingeborener bricht Gauguin das Bein, bis zum Ende seiner Tage leidet er unter der schlechten Heilung dieses Beines. Er wird wieder vernünftig vom langen Nachdenken, und wieder steigt in ihm die Sehn- sucht auf, fortzureisen. um -für immer in Ozeanien zu leben«.

Und wieder ist er auf diesen Inseln, darauf man nicht zweimal auflebt, ohne vielleicht im zweiten Leben zu sterben.

Tahiti empfängt ihn als den wiedergefundenen Freund,

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dem man den ersten Willkommensgruß sagt: »Komm. komm her, il mit uns!. Das war die tägliche Frage. Gauguin schreibt: »Das Leben wird billiger sein. e, und zum driften Male bemerkt er, daß seine Rechnung falsch ist. Sechs Jahre lang bleibt er dort, dann macht er sich segelfertig für jenes weniger eingeteilte und weniger ver- waltete Land, wie er glaubte, für den Archipel der Marquesas-Inseln, vierhundert Meilen nordöstlich von Tahiti: und er nimmt die größte in Besitz, die »Dominica« der ersten Entdecker, Hiva-Oa, die »Große Klippe« der Maorı.

Eine schöne Begeisterung packt ıhn wieder. Dort unten erweist sich die Frau weniger von Scham berührt: ein wenig freier, ein wenig schöner, ein wenig nackter. Keine Stadt auf der - Großen Klippe«. Als Gauguin dort landet, ahnt er, daß er dort sterben würde; er bietet diesem Lande den vergänglichen Humus seines Körpers, und deswegen baut er sein Haus stärker als alle andern. Er schmückte. es als den Zufluchtsort, dessen Linien alle sanft werden, wenn kein Auf bruch und keine Änderungen mehr zu er- warten sind. Voller Wohlgefallen beschreibt er dieses Haus in seinen Briefen. und mit Wollust bewohnt er es. Er nennt es: Haus des Freuens.

Und als er dann fast zum Gleichgewicht zwischen diesen hassenswert ungleichen großen Kräften kommt: zwischen seinen Geldmitteln. der Entfernung, dem Kauf, der zu liefernden Größe, und dem wunderbaren Schauspiel. das auf dem Grunde seiner Vision nur er allein be- trachtet. da packt ihn plötzlich die Furcht, dort zu sterben. Der Ton seiner Briefe ändert sich. Keine prak- tischen Mafregeln, keine Abrechnungen, kein Vorschuſ und kein Rückstand. Er verschlingt seine Tage. um zu malen: seine schlaflosen Nächte, um eine Sammlung »fürchterlicher Dinge« zu schreiben. Das Maori-Schauspiel hat er aufge- richtet und überliefert. Ubersättigt von dem. was er für

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endgültig gehalten hafte. rafft Gauguin sich zusammen, und er bemüht sich in den letzten Monaten, zu entfliehen. Er will nach Frankreich zurückkehren, im Vorbeigehen nur, um sich nach Spanien zu flüchten; er kann nicht glauben, daß man von den Spanierinnen, deren -mit Schweineschmalz zusammengeklebten Haare- man gemalt hat. »nichts anderes haben könne . . . Zugleich mit seinem Verzicht auf das Maori-Land der Verzicht auf seine Kunst: das Einge- ständnıs, das tiefer geht als Selbstmord: -Ich will nicht mehr malen. . Die Malerei erhält mich nicht mehr am Leben . . . Es ist keine menschliche Gotteslästerung. wenn man diese Worte neben die Schmerzensworte eines andern Menschen stellt: Mein Vater, laß diesen Kelch an mir vorübergehen« Es ist kein Zufall, dał Paul Gauguin schmerzlich sich selbst gemalt hat, von vorn, müde, ın fallenden Linien wie die Schultern, in einem schmutzig blauen Gewande. vor einem dunkelerdigen Hinter- grunde. mit dieser Inschrift: Nahe an Golgatha.

Aber im Augenblick. da er sich selbst verlassen, da er sich selbst aufgeben wollte. indem er das Maoriland verlief, um als irgendwer irgendwo zu leben, als er »dort sterben« sollte. da findet Gauguin in Daniel de Monfreid den starken Führer, der ihn aufrichtet und auf den rechten Weg weist. und ihm vor der Nase diese klein- liche Hoffnung, diese Hintertür schließt: die Rückkehr. Zu leicht nimmt man die Freundschaft an als die Leib- eigenschaft gegenseitiger Wohltaten oder den Kompromiß gewisser, von vornherein gemeinsamer Gedanken. Eine weniger vorausgesehene, ungewöhnlichere, schwerere, härtere Freundespflicht ist es: den Freund um jeden Preis bis zum Ende seiner Bestimmung entgegenzuführen. sei es zum Tode. Georges Daniel de Monfreid hat nicht versagt.

In einem scharfsichtigen und prophetischen Brief erklärt und beweist Monfreid Gauguin, daß er nach Frankreich

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nicht zurückkehren kann. nicht zurückkehren darf. Diese. die hingebendste Seite ist von unerbiftlicher Entschlossenheit:

sEs ist zu befürchten,s schreibt Daniel, »daß Ihre Rückkehr eine Arbeit, eine Entwicklung stören würde, die sich in der öffentlichen Meinung mit Ihnen vollzieht: Sie sind jener legendäre Künstler, der tief in Ozeanien seine überraschenden. unnachahmlichen Werke entwirft. Werke, die für einen großen Menschen bestimmend eind. der sozusagen von der Welt verschwunden ıst. Ihre Feinde, (und sie haben ziemlich viele, wie alle, die die Migel- mäßigen hindern), sagen nichts, wagen nicht gegen Sie zu kämpfen, denken nicht einmal daran: Sie sind ja so weit! Sie dürfen nicht zurückkommen! Sie dürfen ihnen nicht den Knochen aus den Zähnen reißen .. . Sie genießen die Unantastbarkeit der großen Toten. . . In der Kunst- geschichte sind Sie vorbei

Verge blich widerspricht der sterbende Verbannte hart- nackig diesem Blick ins J enseits, er verspricht, seine Rück- kehr nach Paris würde nur vorübergehend sein... Er würde unverzüglich nach Spanien weiterreisen. (und diese extrem westliche Halbinsel. die er aus der Ferne seiner Maori-Insel ersehen, klingt wieder auf als ein neuer Gegensatz. eine andere Welt. als die alte Welt). Dann hört sein Widerspruch auf, er verläßt die »Große Klippe« nicht. Und doch hälfte er Geld gehabt, um abzu- reisen häfte diese Abreise Gauguin alles was folgt erspart, und das hat ihn sicherer als alle Anfeindungen, mit denen man ihn überschüftete, getötet: er starb am 8. Mai 1903. | |

* «

Zweifellos war Gauguin krank. Man hat erklärt, er habe den Aussatz, die Elephantiasis, die Syphilis. Das letzte stimmt, darf aber nicht dem Lande zugeschrieben werden: es war eine richtige Pariser Seuche. Zweifellos

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war auch das Herz schwach: das aber hafte flüssigere Hindernisse als das Blut überwunden: Zweifel und Ver- lassenheit. Dazu kam noch der schmerzhafte, aber unge- fährliche Ausschlag an den Beinen; und der alte aus der Bretagne stammende Beinbruch, der ihm bis zum Schluß zu schaffen machte. Aber Gauguin starb nicht aus allen diesen Gründen, sondern, da er dort sterben mußte, wurde das Opfertier durch eıne unterschlagene Entscheidung auf Golgatha geopfert. Seine Rechtsstreitigkeiten töteten Gauguin.

Er hafe für die Maori Partei ergriffen. Der Kampf hörte nie auf und wird sich fortsetzen bis zum Ende dieses schon toten Klumpen, der Unfruchtbarkeit ist. Mestizentum oder Zivilisation. Besonders auf den Marquesas- Inseln war dieser Kampf herbe. verschlagen und listig. der Kampf zwischen den schönen bekehrten Kannibalen und den importierten Gendarmen. Keine Festmahle mit Menschen- oder Göfterfleischh wohl aber Saufereien mit gegorenem Fruchtsaft, auf die der Eingeborene ein Recht geltend machte. So gab es Orgien im Gebirge, dann Ertappung auf frischer Tat.. Protokoll und Verhandlung! Gauguin nahm Partei für den Eingeborenen und legte sich auf die Lauer. ganz wie der Gendarm. der im Gebirge den Weinbrenner belauschte. Er überraschte die Gefälligkeit eines Aufsehers der Nachbarinseln. der seine Pflichten als Zollbeamter vernachlässigte: ein amerikanischer sclipper« brachte, ohne das französische Gesetz zu achten, konser- viertes Fleisch an Land und nahm stag dessen frische Frauen an Bord, verkaufte das eine und das andere und trieb auf diese Weise ungehindert Freibeuterei.

Die Tatsache steht geschichtlich fest. Aber alles ver- urteilte den Ankläger. Dieses an das andere Ende der Welt gebrachte europäische. republikanische Gleichgewicht hat manchmal diese Kehrseiten wie Geiseln. Die angeklagte Justiz bedeckte ihre Scham mit Papieren und Beschlüssen.

Paul Gauguins Todeskampf i 635

In großer Unbewufßtheit, aus Gewohnheit oder handwerks- mäßig. erließ ein Herr . . n Richter von Beruf, das Urteil, das an seiner Stelle und in seinem Amt jeder, durch das gleiche Budget bezahlte Beamte hafte fällen müssen: der (sendarm war unschuldig.

Also mußte Gauguin verurteilt werden. Und er wurde es: zu tausend Francs Strafe und drei Monaten Gefängnis wegen »Klageführung gegen einen Soldaten der Gendarmerie.

Die Revision des Prozesses liegt auf der Hand. erklärte Jean de Rotonchamps in der schon erwähnten Biographie. Sie wird melancholisch und kalt wie eine Leichenschau sein. Gauguin hafte sofort Berufung eingelegt. Zweifellos häfte er (aber weil man das bestimmt), beim Obergericht sein Recht bekommen. Dazu mußte er seine Reise nach Papeete und auch einen Anwalt bezahlen. Vor jeder Justiz. vor jeder noch tiefer sitzenden Rache aber haften Erschöpfung und Verzweiflung Gauguin getötet, der an alledem gestorben ist.

* X «

Ich habe Gauguin zu seinen Lebzeiten nicht gekannt: und doch waren wır zu gleicher Zeit ın Polynesien. Aber zwischen Gauguin und mir lagen über vierhundert See- meilen: keine direkte Verbindung: kein Echo über die Weiten · auf Tahiti. Einer sagte mir: „Gauguin? Ein Narr. Der malt rosa Pferde!“ Ein anderer, ein Kaufmann: »Es geht ihm schon besser mit seinen Geschäften. er beginnt jetzt zu verkaufen. Es gibt immer noch Dumm-

köpfe. Ein Beamter: »Gauguin macht uns viel Scherereien.« Eine fromme Person: -Alle Tage verneigt er sich vor

einem Götzenbilde aus Terrakotta, und man behauptet, daß er die Sonne anbete.« Wir waren in den ersten Monaten des Jahres 1903. Im Juni oder Juli erst teilte man mir

mit: »Ah, Gauguin ist gestorben. Ich mule noch ti

636 Victor Segalen

warten, bevor ich zu den Marquesas hinüber konnte, und dann mußte ich unter ihnen die suchen, die er erwählt hafe. Sein Haus stand aufrecht, das er fast nur mit seinen Händen erbaut hafte. Es hafte gut stand gehalten unter dem großen Atem der Zyklone, aber es war leer durch die amt- lichen Pfändungen. ausgeleert wie eine Kokosnuß durch Erdwürmer. Es war ein marquesanisches, etwas besser und etwas höher gebautes Haus als die andern mit dem großen, von Pandanusbläftern eingeschnürten Dach. Keine Spur. es sei denn welche vom Hinaustragen. Dort oben, über der Oberschwelle der Tür stand der Wahlspruch Haus des Freuens, so voll in der Substantivform des Verbums, so hell, daß es sich nicht ziemt, ihn als Wappen einem anderen Hause zu geben in sem eig:nes Herz als Wahlspruch sollte man ihn tun. Und rechts und links große, geschnitzte. farbenüberriebene Füllungen. Seid ver- liebt. und ihr werdet glücklich seine und man sah zwei dumpfe verhüllte Gestalten fernerhin zur Liebe fliehen; eine andere Gestalt verkrampft in einem Sprung aus Furcht oder aus Schrecken oder aus Lust. Die zweite Füllung lehrte: Seid geheimnisvoll. und Ihr werdet glücklich seins, und an dere Visionen durchdrangen das Holz vie Larven, strömten auf die andere Seite des Raumes, zu jenem Lande jenseits alles Schlechten. alles Guten. jenserts alles sichtbaren Daseins.

Gegenüber, nur wenige Schriſte entfernt, eine andere Wohnstätte. winzig klein. ein kleiner Kiosk, aber er be- herbergt einen Gof. Dort stand eine Statuette aus Ton, sie war trotz des Daches vom täglichen Brennen so rissig. so zerbrechlich, daß ich es nicht wagte, sie mitzunehmen und auf dem Meer dem Schlingern auszusetzen: ich wollte nicht die Entweihung begehen. sie eines Tages zusammen- kleben oder ihre Brocken auf bewahren zu müssen; des-

wegen erschien es mir als heilige Pflicht. sie an ihrem

Paul Gauguings Todeskampf | 637

Platz verfallen zu lassen unter denselben Gezeiten der Tage. die ihren Schöpfer haften sterben sehen.

Man zögerte, ihr einen Namen zu geben. Man konnte sie annähernd, wie ich es damals tat.“) beschreiben: Ein Buddha, der in Maoriland zur Welt gekommen ist. Das ist nicht wahr. Unter dem Mantel, der eine schwere, fettleibige. schwammige Form hafte. war dieses Gsötzenbild sehr lehrreich. Es ist die massige Verwirklichung des göft- lichen Aufstiegs. des Auftauchens des Schöpfers. wie er vielleicht in Gauguin grollte. Der Schädel ist hoch und beherrscht das Gesicht, so daß Nasenrücken und Nacken- fal besser als beim Griechischen! ın die Linie eines Kreises passen. Der ganze Kopf ist eine Spitze. ein Trieb. ein Höcker. Die Schultern fliehen; der Rücken ist ganz gerade, die Hände sind ungestalt. unnütz. ruhen auf den Knien, das verkümmerte Sitzteil sitzt auf flacher Ebene. Vom Scheitel bis zu den Zehen fällt eine einzige Bewegung. ein einziger geballter. kaum gestalteter Wille. als stiege dieses Wesen aus dem Bauche der Materie. Nicht der vergangene, gegenwärtige oder erwartete Goft der andere, der immanente, der Artgenius. der belebend. Lavakruste emporhebt, Fleisch oder Häutchen, sein Gedanke über seinen Kopf wie ein Helm, zur Maske geworden sein Antlitz, darauf noch Ursaft klebt: irgendwie ein schmutziger und gewaltiger Fötus-Gofe.

Diese Tonstatue, die einen Fuß hoch war, war viel- leicht der wilde Genius Gauguins. Auf Tahiti sagte man, er verbeuge sich vor. ihr. Das klingt nicht wahrscheinlich. Aber wäre die Reise einst zu machen, um sie zu holen und zu retten. ich unternähme diese Reise und holte

sie zurück.

Dann versuchte ich im Distrikt von Atuona Bescheid

) Gauguin in seinem Schmuck. (Gauguin dans son dernier decor. Mereure de France, Juin 1904).

638 Victor Segalen

zu bekommen. Ich mußte mit Leuten über Gauguins Tod sprechen wie über einen Zwischenfall in der Lokalpolitik. Drei Zeugen waren da: der Gendarm, der Missionar, der Eingeborene. `

Der Gendarm. stark in seinem Recht und stolz auf das gefällte Urteil erklärte Gauguin zu seinen Lebzeiten für einen Unruhestifter. Aber der tote Gauguin war nicht zu fürchten. Der Gendarm wurde ihm nachträglich gerecht. indem er den Eingeborenen sagte, daß die von der Mission als sobligatorisch« bezeichnete Schule es nicht war. Nach Gauguins Tode mußte man, da kein Testament vorhanden war, ein Verzeichnis aufstellen. Der Gendarm machte das Verzeichnis und eme »Aufstellung der Räume des Hauses Gauguin. So lernte ich genau die Aufstellung der ver- schiedenen »Verkaufsnummerne des Mobiliars kennen: Pe- troleumkocher, Harmonium, Schreiner werkzeug. obszõne und andere · Schnitzereien. die den Pfaffen von Bischof dar- stellten.

Der Missionar kam da unten in zwei deutlich unter- schiedenen Sorten vor. Und man mul wirklich bewundern, daß die Maori dabei an einen einzigen Gott zu glauben vermögen! Die eine Sorte nennt sich römısch-katholısch, trägt lange schwarze Gewänder, nimmt keine Frauen und vernachlässigt sıch in der Pflege des Körpers (was der Maori niemals vernachlässigt); sie lehrt »allgemeinee Wahr- heiten, aber in deplazierter lokaler Anwendung. Die andere, evangelistische. bringt aus Europa ihre eigene Frau mit. zieht europäische Kleidung mit getrennten Beinen an und wäscht sich. Ihre Maorıreden bieten dieselben Wahrheiten in etwa verschiedenen Worten. Die Reden sind viel länger und werden deswegen aufmerksamer angehört.

Gauguin war seit seiner Ankunft der Zwangsgast der katholischen Geistlichkeit. »Alles Lands, schreibt er. sgehört hier der Mission.“

Paul Gauguins Todeskampf 639

Vielleicht hatte er über den Besitzer zu klagen, oder er rächte sich im voraus mit der Schärfe seiner Schere auf einem unschuldigen Baumstumpf. und er machte das Porträt des Bischofs mit den Zügen Messire Satans. Und unter den Haupthandlungen dieses Schutzherrn der sieben Sünden erläuterte er die Wollust. die er auf ein anderes Holz schnitzte, in der Gestalt Therese Die gleiche Freiheit hätte sich im Mittelalter der kleinste Maurer- lehrling herausgenommen. Aber wir haben nicht mehr die Zeiten der Kathedralen. Das bewies ihm der Bischof schon wenige Stunden nach seinem Tode

Die andere Sorte von Missionaren war für Gauguin weniger feindlich, menschlicher. Mit dem Pastor Vernić tauschte er höfliche Briefe. darin die gute Erziehung

wenigstens Zusammenstöße verhinderte.

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog.

Derfflingeretr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam- Berlin / Druck E.Gundlach A.-G., Bielefeld

Eingelaufene Schriften

EINGELAUFENE SCHRIFTEN

FERDINAND LASSALLE: Gesammelte Reden und Schriften. Herausgegeben von Eduard Bernstein.

Paul Cassirer Verlag, Berlin 1919. WEGE ZUM SOZIALISMUS, eine neue Schriftenreihe. Herausgegeben von Otto

Jensen.

Paul Cassirer Verlag, Berlin.

HENRI BARBUSSE: La Lueur dans l Abime, Ce que veut la Groupe Clarté. Editions Clarté, Paris 192).

AUGUST STRINDBERGS BÜHNENWERKE. Deutsch von Heinrich Goebel. Oesterheld & Co. Verlag. Berlin.

FRANK WEDEKIND: Nachlaß, Bd. I. Georg Müller Verlag, München.

FRED. A. DEMMLER: Immortal Youth. Mc. Grath-Snerill Preß, Boston 1919.

FREIHERR V. ECKARDSTEIN: Lebenserinnerungen und politische Denkwürdig- keiten.

Verlag Paul List, Leipzig 1919. GEORG KAISER: Der gerettete Alkibiades. Stück in 3 Teilen.

UPTON SINCLAIR: Jimmie Higgins. Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam-Berlin.

O. NIPPOLD: Deutschland und das Völkerrecht: l. Die Grundsätze der deutschen Kriegführung: 2. Die Verletzung der Neutralität Luxemburgs und Belgiens. Verlag Art. Institut Orell Füßli. Zürich 1920.

FELIX EMMEL: Der Tod des Abendlandes. Gegen Oswald Spengiers skeptische Philosophie. Verlag Hans Robert Engelmann, Berlin 1919.

DAS FORUM

4. Jahr Juni 1920 Heft 9

(Abgeschlossen am 6. Juli 1920)

AN DIE DEUTSCHEN KÜNSTLER! VON GUSTAVE COURBET

Parıs, 1870

Ich habe im Geiste zweiundzwanzig Jahre mit Euch gelebt, und Ihr habt mir Sympathie und Achtung abgenötigt. Ich habe Euch als zähe Arbeiter, als umsichtige und energische Männer kennen gelernt, als Feinde der Zentrali- sation und der Unterdrückung des Denkens. Als wir uns in Frankfurt und in München trafen, stellte ich die Ge- meinsamkeit unserer Bestrebungen fest. Ihr verlangtet ebenso wie ich nicht nur Freiheit für die Kunst, sondern ebenso die Freiheit für die Völker. In Eurer Mite fühlte ich mich wie zu Hause bei meinen Brüdern: wir stießen auf Frankreich und auf die Einsetzung der europäischen Repu- blik mit den Gläsern an: noch in München schwurt Ihr im vorigen Jahre die fürchterlichsten Eide. keine preußischen Vasallen zu werden.

Heute dient Ihr alle in den Rotten und Regimentern Bismarcks: vorn an der Mütze tragt Ihr eine Nummer und Ihr habt gelernt, militärisch zu grüßen.

Ihr, von deren Ehrlichkeit und Redlichkeit man über- triebene Vorstellungen hatte. Ihr, die Verächter der Phi- listerinteressen, die Er wählten des Geistes, Ihr führt Euch heute wie Räuber auf, die scham- los bei Nacht herankommen. um im 2 ngesicht der Welt Paris zu plündern. |

Jawohl, entwerfet Symbole der Mensch- beit auf Eurer Leinwand. bringt täglich

422 Gustave Courbet Hymnen. auf die Brüderlichkeit zur Welt. zerfließt in Wasser und Reimen! Bismarck und Wilhelm sind dabei, die verschimmelte Kopfbedeckung Karls des Großen mit Fetzen blutigen Menschenfleisches zu flicken.

Gestern habt Ihr Deutschland verteidigt und gerettet: heute bleibt Ihr noch in Reih und Glied und dienet in einem Krieg. der ruchloser ist als die verworfensten Kriege des Feudalismus und schmiedet Keften für Deutschland.

Ah! Ihr seid nicht einmal mehr die Bastarde der alten Leibeigenen Frankens; die, Eure Väter. brachten manchmal ihre Kaiser zum Ziftern: sie hörten auf die Stimmen Luthers und Johann Huf und richteten sich auf und warfen die Throne, die auf ihrem Rücken errichtet waren, zu Boden. Ihr, Euer Wilhelm winkt nur mit dem Finger. und Ihr liegt vor Eurem preußischen Cäsaren auf dem Bauch, vor dem Cousin unseres französischen Talmi-Cäsaren.

Bis zum 4. September brauchten sich die Männer des Fortschritts nicht um die widerlichen Streitigkeiten der Souveräne zu kümmern. ihre Prätorianer schniften sich willig zur Genugtuung Europas gegenseitig die Hälse ab: ja, Ihr habt uns sogar bis zur Schlacht von Sedan einen Dienst erwiesen, denn alles Üble, das Ihr uns angetan habt und noch weiter antun könnt, kann nie so groß sein wie die Summe des Ubels, das uns das Weiterbestehen des Kaiserreichs gekostet häfte und die Summe der Wohl- tat. die Ihr uns dadurch erwieset, daß Ihr es umge- schmissen habt.

Aber, nachdem Eure Rechnung mit dem Bonaparte ge- regelt ist. was habt Ihr mit der Republik zu schaffen? Ihr wollt der Revolution in die Zügel fallen? Arme

Narren! Ihr legt Euch selbst die Schlinge um den Hals. | Hört gut zu, zu Euch spricht ein Mann aus der Franche- Comté, ein französischer Amerikaner, und ich sage Euch

An die deutschen Künstler! 643

\

gerade heraus: Ihr seid Schlimmeres als Abtrünnige, wenn Ihr fortfahrt als Eroberer aufzutreten, Ihr seid Toren und Tröpfe. Häuft Soldaten über Soldaten, Kanonen über Hau- bitzen, Kartätschen über Mörser, die Revolution hat keine Furcht vor Euch.

Die Republik, die für solche Schlachten kein Verständ- nis hat. die keine anderen Hilfskräfte hat als den Willen ihres Volkes, die Republik wird nicht besiegt werden, mein Wort darauf. Plündert, brennt, tötet: das höchste, was Euch gelingt, ist, daß Ihr aus Frankreich ein Märtyrervolk macht. Dann habt Ihr einen Fetisch an die Stelle eines anderen Fetischs gesetzt: den Mythus einer vergöfterten Nation an die Stelle der Fabel eines Goftmenschen: weiter nichts.

Fassen wir zusammen:

Deutsche aller Stämme, Ihr, die Ihr die Geopferten seid, die Soldaten des Preußen, der sich schont. Ihr Bayern. Wöürftemberger, Badenser, Sieger über uns bis zum 4. September, ich will Euch sagen, was jetzt Eure Aufgabe ist.

Man sagt Euch nach, Ihr wäret an harte Arbeit und bescheidenes Leben gewöhnt: um so besser: in Frankreich ist die Armut der Bestallungsbrief der Ehre: nur die Reichen sind in der Lage zu stehlen: wir können uns also mit- einander verständigen. Ihr habt Eure Reliquien, Eure alten Heiligtümer mit Euch geführt: ganze Wagen voll Eurer Ahnen, der Cimbern und Teutonen und den berühmten Karren der Hermannschlacht. Wie es recht und billig ist, wollt Ihr sie nicht leer über den Rhein zurückfahren.

Ihr verlangt eine Entschädigung: schön. Ihr, sollt sie haben. Ladet auf Eure Wagen die Steine der Festungsmauern von Toul und Straßburg, wir treten sie Euch ab: Ihr könnt sie in Eurer Heimat als Heldenandenken mit Vorteil ver- klopfen. Tut noch Besseres: wenn ihr vorüberkommt auf Eurem Heimzug, macht auch Eure eigenen Festungen dem Erdboden gleich; wenn Euer Herz Euch danach steht,

644 = Gustave Courbet / An die deutschen Künstler!

werden wir Euch hilfreiche Hand reichen: dann werden wir zusammen: diese blutigen Marksteine umstürzen, die die Grenzen bezeichneten und Gruppen von Völkern auseinander- rissen, die demselben Blute entstammen.

Wenn die Grenzen verschwunden sind, braucht man, um sie zu schützen, keine Festungen mehr. Keine Festungen mehr, keine Heere fortan. Keine Heere mehr! Die Mörder allein werden töten: wır wollen es wenigstens hoffen.

Legt Ihr Wert auf Eure Nationalität? Wenn Ihr erst frei seid, wird man Euch helfen, wenn Ihr es begehrt. Und nur in diesem Fall sollt Ihr Elsaß und Lothringen als Pfänder unseres Bundes als neutrale und freie Länder er- klären dürfen, in die sich alle flüchten können, denen der nationale Chauvinismus ein Greuel ist und die sich ein Leben ohne politische Fesseln wünschen und in diesen ge- marterten und ans Kreuz geschlagenen Provinzen wollen wir Euch wieder die Hand schüfteln und mit Euch anstoßen: auf die Vereinigten Staaten von Europa.

Ich grüße Euch brüderlich.

Da fällt mir was ein.

Hört einmal: Eure Kruppkanonen könnt ihr uns hier- lassen, wir wollen sie mit unsern zusammen einschmelzen. Die letzte Kanone wollen wir, mit dem Maul gen Himmel und mit einer phrygischen Mütze auf dem Kopf. auf einen Sockel stellen, der auf drei Kanonenkugeln ruhen soll und dieses Kolossalmonument, das wir zusammen auf dem Vendömeplatz errichten wollen. soll unsere Denksäule sein, für Euch und für uns, die Säule der Völker. die Säule der beiden für immer verbündeten Länder Deutschland und Frankreich. l

Die Göttin unserer Freiheit wird, wie ehemals Venus den Kriegsgot Mars gekrönt hat. an den Geschützzapfen, die sie wie Arme an den Seiten trägt, Gewinde von Trauben, Ähren und Hopfenblüten aufhängen.

G. Demartial / Patriotismus und Gerechtigkeit 645

PATRIOTISMUS UND GERECHTIGKEIT VON G. DEMARTIAL

Im Verlage der »Clarte« ist eine mutige Schrift von Demartial erschienen. Ein Kapitel sei hier wiedergegeben, das beseelt ist von dem Wabrheitsfimmel , der den Scheidemännern aller Länder zuwider ist, weil er die Interessen der Völker höber achtet, als die der krieg- schuldigen Cliquen und dessen Bestreben sie Vaterlands- verrat zu nennen wagen, weil er ihre Bequemlichkeit zu stören droht.

Bei der Jahresversammlung der British Academy am 30. Juni 1915 stellte Lord Bryce fest, daß in allen Staaten der Entschlu zum Kriege von einer ganz kleinen Zahl von Personen gefaßt worden ist. Wenn man immer für das eigene Land eintreten wollte. mülte dementsprechend jedes Volk diese Personen schützen und bestätigen, dal sie recht gehabt haben, selbst wenn sie im Unrecht waren. Anderer- seits hat M. Balfour. Minister des Äußern in England, uns ver- sichert, daß der Krieg -der Kampf des Himmels gegen die Hölle gewesen sei. Daraus folgt, daß, wenn die Herren Sasonow. Grey und auch Viviani, der nicht daran glaubt, den Himmel vorstellten, die Herren Berchtold und Bethmann Hollweg für die Hölle standen. So kann es kommen, daß, wenn jemand mit geschlossenen Augen sein Vaterland verteidigt, er die Hölle ver- teidigt. f |

Es ist wohl wahr, daß man während des ganzen Krieges das deutsche Volk aufforderte, seine Regierung für den Krieg verantwortlich zu machen; es wurde ihm sogar. der Friede nur unter dieser Bedingung angeboten. Man hat. die Deutschen, die sich schuldig bekannten, mit Lob bedeckt: am 26. September 1919 begrüßte M. Renaudel in der Kammer den «heldenmütigen Verfasser des J'accuse». Aber

646 u aa G Demartial was wird dann aus der Regel, daß man immer für sein Land eintreten sollte? Diese Regel würde also für den Gegner nicht gelten: von ihm fordert man, daß er sein Unrecht erkenne. Und wenn er zu alledem noch der Besiegte ist. kann er in die Zwangslage kommen, Unrecht zu bekennen, selbst wenn er Recht hat. während der Sieger Recht behaupten darf. selbst wenn er Unrecht hat!

Ein anderer Widerspruch: Es kommt immer einmal ein Augenblick, wo die Wahrheit ihr Recht verlangt. Am 27. Juni 1919 erschien in der «Humanités, unter dem ironischen Titel: «Recht geht vor Macht», ein Artikel. der beweisen wollte. welche Narrheit es war, zu glauben, daß dieser Krieg ein Krieg des Rechts gewesen sei. Aber dieser Glaube war von der «Humanité» während des ganzen Krieges gepredigt worden! In diesem Glauben. einzig in diesem Glauben sind so viele Pazifisten und Sozialisten zu Schlachtfeldkupplern geworden. Hat man seine Falsch- heit nicht früher erkennen können? Die Soldaten konnten und durften nicht sprechen. Sie waren das Bleigewicht an der Schleuder. die elenden und zugleich erhabenen Gsladiatoren. Aber wir Nicht-Soldaten, die für ihr Blut verantwortlich sind. die wir verdammt zu werden verdienen, wenn wir den Krieg eine Stunde zu lang haben dauern lassen, wir, die wir behaupten, frei und selbständig zu sein, wie konnten wir uns den Mund verschließen lassen unter dem Vorwand, daß man stets für sein Land eintreten müsse! Das Land sind wir das nicht selbst, wir zu allernächst? Zu sagen, wie M. Maurice Barrès, man müsse stets für das eigene Land sein, wie man stets für die eigene Mufter ist und von seinen Fehlern absehen. heißt dem erschreckendsten Sophismus huldigen: das bedeutet, das Vaterland zu einem Menschenfresser machen, der seine unschuldigen Kinder frift, um ihnen den schlechten Vater zu erhalten.

Wieviel menschlicher war der Ausruf, den M. Clemenceau

Patriotismus und Gerechtigkeit _ 647 während der Dreyfus-Affaire tat: »Wo kein Recht ist. da ist kein Vaterland.. Wenn nun die Regierung einen Krieg führt, dem Recht entgegen. so ist dieses auf der einen* Seite. und die Regierung auf der andern. Um aber zu wissen, ob ein Krieg dem Rechte entspricht, hat das Volk nur ein Miftel, nämlich die Gründe zu prüfen, die die Regierung dafür anführt. Also gebietet das Vater- land. der Regierung entgegen zu sein, die solches Prüfen hindert, wie es deutlich der Fall war bei allen Regierungen, die seit dem Kriege in Frankreich einander gefolgt sind die Regierung Clemenceau mit inbegriffen.

Welche ist. da die Dinge so liegen. die gegenwärtige Aufgabe?

Sich bescheiden. werden vielleicht manche sagen. Die Wahrheit suchen hatte Sinn während des Krieges, solange sie das Gemetzel häfte aufhalten können heute ist es unnütz. Consummatum est. Lassen wir die Vergangenheit ruhen.

Das wäre ein Grundfehler. Zunächst, wie sollen wir annehmen, daß wir nicht den Wunsch häften, die Ver- gangenheit kennen zu lernen. Wie! unsere politische Herr- schaft trägt den ausdrücklichen Namen » Gouvernement d'opinions. Ein jeder Bürger, auch der unbedeutendste, hat das Recht und die Pflicht, die Handlungsweise der Regierung zu be- aufsichtigen. Wenn wir dieses Recht gelten lassen. haben wir unserere Pflicht versäumt, sobald wir von der Re- gierung keine Rechenschaft fordern. Nun wohl: sind wir wirklich die Eigentümer des Staatswagens? Die Regierung ist sein Lenker und dürfte fahren nur wohin wır wollen. Sie hat geglaubt. daß der Krieg ihr das Recht gibt, uns unter den Sitz zu stoßen und uns mit Fuftriften niederzu- halten. Nun, da wir wieder ans Tageslicht gekommen sind, ist es wohl das Nächstliegende, daß wir uns Rechenschaft darüber geben, wo wir uns befinden und wie wir dahin gekommen sind.

648 Ee. Demartial / Patriotismus und Gerechtigkeit

Alle Zensur konnte nicht hindern, daß das französische Volk diesem Kriege einen Namen gab. der ıhm für die Nachwelt erhalten bleibt: »La guerre des Bourreurs de cränes.: das heißt, daß der hauptsächliche Antrieb zum Kriege die mit bis dahin unbekanntem Zynismus und Heuchelei be- triebene grenzenlose Ausbeutung menschlicher Dummheit und Bösartigkeit war. Das Problem, worauf diese Be- mühungen der Täuschung und Stillegung allen kritischen Geistes sich vor allen anderen stützte, war natürlich die Frage der Verantwortlichkeit. Und gerade diese möchte man als für immer erledigt erklären. Ne varietur! Welche Schande! Lassen Sıe uns, im Gegensatz dazu, die Binde, die man über unsere richtenden Augen gelegt hat, herunterreißen! Lassen Sie uns Kapitel für Kapitel. Beweis für Beweis. alle offiziellen und offhiziösen Darstellungen der so weit zurückliegenden unmiftelbaren Ursachen des Krieges einer kritischen aktenmäfigen Prüfung unterziehen: die Erklärungen der Minister, die Beratungen der Parlamente, die Artikel der führenden Presse, die Bücher der Professoren. Lassen wir, einem Rate Descartes folgend, als wahr nur gelten Was uns notwendig so erscheint .. Erkennen wir als erste Regel an, daß es für einen Menschen kein größeres Unglück gibt als seinem Lande unverdient Unrecht geben und wenn wir uns in der schmerzlichen Notwendigkeit befinden, an ıhm einen Punkt aussetzen zu müssen, so tun wir das nicht, ohne vorher alle Beweisstücke hin und hergedreht, alle Ein- wände erhoben und gestört zu haben. Nehmen wir aber als zweite Regel an, daß es kein geringes Unglück ist, jemand zu verurteilen sei er auch ein Feind wegen eines Verbrechens das nicht feststeht, oder das man selbst begangen hat. Ein Wort für hundert: Suchen wir Ge-

rechtigkeit und reden wir Wahrheit. Übersetzt von L. S)

Maxim Gorki / Die Internationale der Intellektuellen 649

DIE INTERNATIONALE DER INTELLEKTUELLEN

Von MAXIM GORKI

Das Folgende ıst die ins Deutsche übertragene Ent- gegnung Gorkis auf das Manifest Romain Rollands, Duhamels und Barbusses, das einen Internationalen Kongreß der Intellektuellen fordert.

Ein Internationaler Kongreß der Intellektuellen soll in Bern tagen. Die Ver- reter der intellektuellen Mitte in England, Deutschland, Frankreich und den anderen Ländern werden unter einem Dach zusammentreffen. Feinde von gestern, Sieger und Besiegte finden sich Aug in Auge.

Auch moralisch Mitschuldige an dem abscheulichsten Verbrechen, dem Kriege 1914—1918, dessen Schrecken durch Offenbarung der tiefen Fäulnis alter Gesell- schaftsordnung schließlich die nationalistischen Vorurteile erschütterten, die die höchstkultivierten Völker Europas zur Barbarei zurückgebracht und das große Blutbad heraufgeführt haben, auch moralisch Mitschuldige an diesem ungeheuren Ver- brechen werden dem Kongreß beiwohnen.

Wenn das wirklich geschieht, wenn diese Menschen auf einer internationalen Konferenz von Vertretern der menschlichen Vernunft erscheinen, so kann das eine unabsehbare Weite der wertvollsten sozialen Konsequenzen zeitigen. Es soll hier nicht die Rede sein von später Reue und sterilen Bekenntnissen, die sicherlich nicht fehlen werden. Der Kongreß wird streng und entschieden die Frage stellen müssen, die von welthafter, menschenhoher Bedeutung ist: die Frage nach den geschichtlichen Grundlagen der Kultur.

Erst wenn diese Frage entschieden ist, können die Intellektuellen sich zu einer entschlossenen Haltung bekennen: an der Spitze der Volksmassen, die die Verwirk- lichung neuer Formen gesellschaftlichen Lebens erstreben, oder als Glieder der Klassen von geringer Intelligenz und großer Habgier, die durch Ausbeutung der physischen Energie der Völker die freie Entwicklung ihrer Geistes- und Verstandes- kräfte hemmen.

Wenn die Intellektuellen sich doch endlich Rechenschaft geben würden von der Rolle, die sie im Dienste des Kapitalismus gespielt haben, mit der ungeheuer wogenden Energie der Völker verschmolzen, wäre das eine Tat von unermeßlichem Folgenreichtum. Die verhältnismäßig unbedeutenden Reserven an intellektuellen Kräften würden dann die prüfenden und ordnenden Fähigkeiten ihrer Vernunft in Einklang bringen mit einer riesenhaften, noch unorganisierten, aber ganz stark lebens- hungrigen Willenskraft. Für die Entwicklung der menschlichen Kultur würde das ein mächtiger Anstoß sein; eine Beschleunigung, deren Ausmaß wir nicht voraus- sehen können.

650 Maxım Gorkı

—— —— .

Kurz und gut: die Intellektuellen der ganzen Welt müssen heute diese ernst- hafte Frage anschneiden: werden sie auf Seiten der Völker sein, die die radikale Umformung der gesamten Lebensart fordern oder auf seiten des Kapitals, für das alte Regime?

Möge die Rolle der russischen Intellektuellen im Laufe der beiden letzten. ereignisschweren Jahre lehrreich sein für die Intellektuellen Westeuropas. Wenn der russische Intellektuelle mehr Seelenkraft und mehr praktischeVoraussichtgehabt hätte, wenn er von den ersten Tagen der bolschewistischen Revolution an in Verbindung gestanden wäre mit jener Gruppe von Menschen, die, aus seinem eigenen Milieu hervorgegangen, kühn genug waren, sich an die Spitze der Arbeitermassen zu stellen und die politische Macht an sich zu reißen in einem durch den Zarısmus und den Krieg zugrunde gerichteten Lande, hätte der Intellektuelle so gehandelt, dann hätten Industrie, Technik und Kultur nıcht so heftig gelitten unter dem Einbruch der entfesselten Leidenschaften; weniger Blut wäre geflossen; nicht so viele Fehler wären begangen worden; die Vemunft wäre Zügel gewesen.

Ich will niemand verurteilen. Ich stelle nur eine unleugbare Tatsache fest: die Zurückhaltung gewisser Intellektuellen von dem Lauf der Revolution hatte zur Folge, daß die Lösung der wichtigsten Lebensfragen gleichgestellt wurde der Bedürfnis- befriedigung einer noch kulturlosen Masse: das sind meiner Meinung nach die russischen Bauern.

Die Klasse der russischen Arbeiter, zahlenmäßig die geringste, hat eine unge- heure Aufgabe vor sich: hundert Millionen Bauern verschiedener Sprache und ver- schiedenen Ursprungs zu erziehen. Diese Masse kann in ihrem Zerstörungswerk eine erstaunliche Kraft entwickeln: kann sie aber mehr schaffen als Sitten, die durchdrungen sind von der Mentalität des kleinen Besitzenden? Die Frage bleibt unbeantwortet. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint die großkapi- talistische, rationell organisierte Industrie dem Handwerker und dem Intellek- tuellen weniger erschreckend als die Sümpfe des kleinen Besitztums, die, fremd und feindselig meist, höheren Kulturinteressen entgegenstehen.

Den russischen Intellektuellen wird das Tragische ihrer Situation immer deut- licher bewußt. Obwohl sie schon vor der Revolution zwischen Hammer (Herrschaft) und Amboß (Volk) gelebt haben, werden die unumgänglichen Mißstände dieser Lage ihnen erst jetzt nur allzu deutlich und nur allzu schmerzlich. Doch ich wiederhole: sie beginnen zu begreifen, daß die Macht den intellektuellen Kräften gehört, denen sie selbst geistig verwandt sind; sie beginnen zu begreifen, daß vor- aussichtlich schon in nächster Zukunft in Rußland die vernünftige Organisation und der extatische Wille verschmelzen werden und daß diese beiden Kräfte geeint Wunder tun können.

Das sind meiner Meinung nach die Gedanken und Fragen, die der Internationale Kongreß der Intellektuellen nicht übergehen kann.

Aus der tiefen Überzeugung von der Wahrhaftigkeit der Vertreter des Intellek- tuellen in Westeuropa, aus dem Glauben en ihre Gewissenhaftiekeit kann ich nicht

Wahrheit über Sowjetrufland 651

daran zweifeln, daß die Frage der Blockade Rußlands auf dem Kongreß zur Debatte stehen wird.

Die Schändlichkeit einer Blockade, die das russische Volk dem Hungertode preis- gibt, die es abschneidet von der Versorgung mit Arzneimitteln usw. noch zu brand- marken, ist unnötig. Aber es ist vielleicht nicht unangebracht, den Mitgliedern des Kongresses in Erinnerung zu rufen, daß in erster Linie die Kinder unter den Folgen der Blockade zu leiden haben, daß aber auch die Intellektuellen, die Ge- lehrten, die geistigen Arbeiter in Bibliotheken und Laboratorien, ungenügend ausgerüstet zum Kampf ums Leben, unbegabt ıhr Brot zu gewinnen, dann unter den zumeist Betroffenen sind.

Durch Hunger Kinder töten, die Zukunft eines Volkes auf diesem Wege zer- stören; durch Hunger seine seit lang angesammelten geistigen Kräfte lähmen ist das das Ziel des aufgeklärten, kultivierten Europa?

Diese Frage zu stellen, wird für den Kongreß der Intellektuellen eine notwendige Aufgabe sein. Und wir warten gespannt darauf, was die Regierungen der Länder Frankreich, England usw. die sich als „Herde der Kultur und Zivilisation” betrachten, antworten werden. (Uebersetzt von L. S.)

WAHRHEIT ÜBER SOWJETRUSSLAND

DAS BIBLIOTHEKSWESEN

In dem offiziellen Organ der Schwedischen Biblistheks- Vereinigung, „Bibliotheksbladet“, findet sich von dem Leiter der „Schwedischen Königlichen Bibliothek“, Arne Holenberg. der folgende Aufsatz, welcher in seinem Material zum Teil neu, wertvoll vor allem durch das Lob ist, das ein Bürgerlicher einer bolschewistischen Methode widmet.

Daß die Kerenski-Regierung den Bestrebungen zur Entwicklung des Büchereiwesens wohlwollend gegenüberstand, darf daraus geschlossen werden, daß ein Kursus darüber vom 26. April bis 24. Mai, 1917 in Moskau abgehalten wurde. Dieser Kursus wies ein recht mannigfaltiges Programm auf: gab eine Übersicht über Literatur- und Bibliothekskunde, über technische Fragen betr. Katalogisierung, Fächereinteilung usw. Doch ist es kaum glaubhaft, daß die schwache provi- sorische Regierung sehr durchgreifende Maßregeln zur Reform der Bibliotheks- angelegenheiten hätte ergreifen können; die Bolschewiki jedoch haben, scheint es, eine großartige Aktivität in dieser Hinsicht entwickelt. Bei der „Abteilung für Volksaufklärung außerhalb der Schule“ des Volksbildungskommissariats wurde eine besondere Bücherei-Abteilung eingerichtet, deren erste Aufgabe es

12

652 Wahrheit über Sowjetrußland

war, eine Zentral-Bibliothek mit Fragekästen bei diesem Kommissariat aufzustellen. Den Grundstock dazu bildete eine Menge veralteter pädagogischer Literatur, eine fast komplette Gesetzessammlung und einige Zeitschriften, darunter die „Zeitschrift des Unterrichtsministeriums”. Diese Bibliothek hatte dem alten Unterrichtamini- sterium gehört, das jährlich 18000 Rbl. zu ihrer Komplettierung zur Verfügung hatte. Nach der Märzrevolution 1917 wurden energische Schritte getan, zuerst von der Kerenskiregierung und später von den Volkskommissaren, um moderne Literatur anzuschaffen, welche in hohem Grad erforderlich war, da unzweifelhaft der jährliche Zuschuß unter der alten Regierung zu „unproduktiven” Zwecken diente.

Die Bibliothek-Abteilung der Bolschewiki begann inzwischen eine schnelle und bedeutend erweiterte Wirksamkeit. Sie wurde überschüttet mit Anfragen und Bitt- schriften von einer Menge Bibliotheken, die ihre Hilfe nachsuchten aus Anlaß ge- wisser Revolutionsmaßnahmen. Nach dem Dekret über die Nationalisierung der Großgüter und die Aufhebung der meisten Standes- und Zunfteinrichtungen waren nämlich unter anderem Eigentum auch eine Menge Bibliotheken registriert worden, und diese standen vor der Gefahr, beraubt oder aufgelöst zu werden. Es wurde nun angeordnet, daß die Bibliothek-Abteilung die Aufsicht über sämtliche (Staats-) Bibliotheken aller Gattungen erhalte. Es wurde ein neues Reglement nach ameri- kanischen Prinzipien ausgearbeitet, wonach ein Rat geschaffen wurde, gewählt aus der Mitte der ständigen Bibliotheksbesucher. Gleichzeitig damit hatte die Bibliothek-Abteilung noch auf andern Gebieten zutun. Um die Plünderung der zahlreichen wertvollen Bibliotheken auf den nationalisierten Gütern zu verhindern. übertrug man die Verantwortung für diese dem lokalen Sowjet. Die Güterbiblio- theken scheinen im allgemeinen ziemlich u n berührt geblieben zu sein, während mehrere andre nationalisierte Buchsammlungen der Bibliothek: Abteilung zur Ver- fügung gestellt wurden, um nach Gelegenheit, an Institution, die Literatur anfor- derten, verteilt zu werden. (Z. B. nach der Einnahme Viborgs in Finnland wurde die ganze Bücherei die der , Kultur- und Bildungskommission der Viborger Festungs- artillerie" gehörte, an den Rat in Uka, Ural, übergeben, der außerdem einen Teil Belletristik von anderwärts bekam.) Eine große und wertvolle Sammlung, Stuworins, mit ca. 35 000 Bänden, wurde zwischen dem russischen Museum (Werke über Kunst). der „Öffentlichen Bibliothek” (ca. 3 aller Bücher) und der „Aufklärungsabteilung‘' des Unterrichtskommissariats geteilt; diese erhielt Lexika und Handbücher. Die Bibl.-Abteilung hatte große Schwierigkeiten, um die Anerkennung ihrer Autorität von allen Seiten zu erzwingen. Bei der Nationalisierung des Besitzes forderten die Behörden in vielen Fällen, daß die Bücher mit dabei bleiben sollten, was zur Folge gehabt hätte, daß sie ohne die mindeste Kontrolle ausgestreut und in jeder- manns Eigentum geraten wären. Deshalb mußten die Volkskommissare ein be- sonderes Dekret zum Schutz der Bücher ausarbeiten. Ob dies den er- wünschten Zweck erreicht, geht aus der zugänglichen Literatur nicht hervor. Man gewinnt eine Vorstellung von der Bedeutung die die führenden Bolschewiki dem Bibliothekswesen beimessen, wenn man einen Blick auf das Budget wirft, das die Abteilung des Volkskommissariats für „Volksaufklärung außerhalb der Schule“ aufgestellt hat. Bei einem Etat für 12 Gouvernements mit zusammen 35 Millionen

Die Menschewiki | 653

wird ein Drittel der ganzen Summe für Bibliotheken und Leere- stuben verwendet und der nächstfolgende Rechnungsposten: „Schulen und Kurse für Erwachsene betrug nur ca. 8,6 Prozent. l

Der unerhörte Bedarf an neuen Büchern, den die erwähnte Entwicklung notwendig machte, sollte zum großen Teil durch eigne Verlagstätigkeit des Staates gedeckt werden. Bereits im Anfang des Jahres 1918 wurde eine Herausgabe der russischen Klassiker beschlossen; denen auch neuere Autoren wie L. Tolstoi und Tschechow zugerechnet werden; weiterhin Geschichts-, sozialpolitische und pädagogische Werke und eine Reihe der bedeutenderen ausländischen schönen Literatur alles in billigen Auflagen. Jedenfalls führte dieser Beschluß im ersten Halbjahr 1919 zu dem beabsichtigten Resultat, eine große Zahl wertvoller Werke war herausgekommen und andre wurden als in Vorbereitung oder im Druck angekündigt. Die angegebenen Preise sind sehr niedrig; aber da man mit Kampf- (Atitations-) Auflagen rechnete, meint man nicht allein die Ausgaben zu decken, sondern vielleicht schließlich noch etwas Überschuß zu erhalten. Hinsichtlich der Grundsätze über die Anschaffung der Bücher usw. mag man erstaunt sein über die Duldsamkeit, die die Bolschewikı beweisen: Schriften, die heftiger Ausfälle gegen die Regierung voll sind, erhalten nicht allein die Möglichkeit gedruckt zu werden, sondern werden sogar in einem offiziellen Regierungsorgan empfohlen, allerdings mit gewissen Vorbehalten. Die Regierenden sehen offenbar diese Art Opposition als ungefährlich an, und legen das Hauptgewicht auf sach!’ he Aufgaben. Doch ist ein Bestreben zu spüren, sich von den bürgerlichen Sachverständigen unabhängig zu machen oder sie unter eine entsprechende Kontrolle zu stellen; dies tritt namentlich hervor bei dem Ausschuß zur Organisation des Bibliothekswesens der nach der Julikonferenz (1919) zustande kam.

DIE MENSCHEWIKI

Die nachfolgende Darstellung ist aus dem Kopenhagener linkssozialistischen Tageblatt , Arbejdet“ entnommen und gibt den Moskauer Bericht eines norwegischen Sozialisten wieder.

Moskau, im April 1920.

a BE d Ich habe nun vier von den leitenden Männern der Menschewikı interviewt; alle diese vier waren grunduneinig in den allermeisten Fragen. Das überraschte mich nicht wenig. Ich hatte nicht geglaubt, daß die Übereinstimmung zwischen den Menschewiki und unserem eigenen Zuhause in dem Grade schlagend sei.

Der erste der Menschewiki, mit dem ich sprach, war der Sekretär des Buch- drucker-Verbandes in Moskau, Buksin, einer der 38 Menschewikivertreter auf dem Gewerksthaftskongreß. Er verbreitete sich in den banalsten Gemeinplätzen über Demokratie“, Bolschewismus sei Staatskapitalismus, nichts anderes und würde von den Bauern vernichtet werden. Die soziale Revolution stehe in Rußland vor

654 Die Menschewikı

—— ——

der Türe, was bisher geschehen sei, hätte mit Revolution nichts zu tun. Buksin war Gegner sowohl des Rätesystems wie der Diktatur des Proletariats.

Während ich noch mit Buksin sprach, kam ein anderer von den 38 zu uns, Stulman. Er war sehr bald uneinig mit Buksin, Stulman war für das Sowjet- System, solange es der Revolution half, war aber gleichzeitig absolut gegen die Diktatur. Die könne in andern Ländern richtig sein, Deutschland, England, Amerika, meinte er passe aber nicht für Rußland, dessen Bevölkerungsmehrzahl Bauern seien. (In Westeuropa sagen die Menschewiki genau das Gegenteil, dachte ich; da sagen sie, daß die Diktatur wohl für Rußland passen möge, aber in Deutschland England, Amerika ginge das nicht.)

Am nächsten Tage hatte ich übrigens ein Zusammentreffen mit den Mensche- wiki in ihrem Hauptquartier. Dort sollte ich autoritativere Aufschlüsse erhalten.

Der Hauptsitz der Menschewiki ist ein Haus an einer der belebtesten Straßen Moskaus, Mjassnizkaja 31. Das ganze Haus gehört den Menschéwiki. Hier sind ihre Klubräume, ihre Versammlungssäle, ihre Sekretariats. Ich ging durch die Stockwerke und sah mich um: alle Türen standen offen. In der dritten Etage trat ich in ein Entré, wo Speisen von einem Tisch aus verteilt wurden. Durch die offene Tür sah ich in einen großen Versammlungsraum hinein, 30—40 Menschen saßen auf Bänken, einer hielt einen Vortrag. Darnach begann eine eifrige Diskussion: Ich blieb stehn und hörte zu. Niemand fragte mich, was ıch da zu tun habe oder wünsche. „Die Menschewiki sind augenscheinlich nicht ängstlich vor. Spionen“ dachte ich. „Es kann also nicht gar so schrecklich um die Rede- und N lungsfreiheit in Sowjet-Rußland stehn.“

Nuw schließlich ergriff ich selber die Initiative und fragte nach dem bekanntesten Menschewistenführer, Martow. Er wurde hereingerufen. Er ist ein freundlicher Mann zwischen 50 und 60. Auch die Bolschewikı rühmen ıhn wegen seines vor- nehmen Charakters: aber er steht der Arbeiterklasse zu fern, um sie ganz verstehen und irgendwelchen Einfluß auf sie gewinnen zu können. Mein Gespräch mit ihm war deshalb nur kurz. Er eilte und überließ mich deshalb dem andern führenden Theoretiker der Menschewiki, Ossip Germanski. l

Zusammen mit Martow und Abramowitsch bildet Germanski die Majorität im Zentralkomitee der Menschewiki (der „Allruss. Sozialdemokratischen Arbeiter- partei“), die Minderheit, welche in scharfer Opposition zu ihr steht, sind Kolo- kolnikow und Jerochowo. Ein dritter führender Oppositionsmann, Po- tresow, ist kürzlich aus der Partei ausgeschieden. Alle diese Menschewikiführer sind ‚Intellektuelle, keiner davon gehört zur Arbeiterklasse. Germanski begann zu sprechen und ich merkte bald, daß er sehr gern sprach. Einige der Anwesenden wollten auch etwas sagen, aber G. ließ sich nicht unterbrechen. Schließlich blieb nur ein junger Mann übrig, er kannte G., deshalb wartete er demütig und bat, mich sprechen zu dürfen, wenn C. fertig sei. „Wir, als Majonität im Zentral- komitee“, erklärte C. „haben prinzipiell nichts gegen die proletarische Diktatur ein- zuwenden. Uneins sind wir mit den Bolschewiki nur in der Auffastung der Dik- tatur. Es ist im Prinzip kein Gegensatz zwischen Demokratie und Diktatur. Wir sind aber gegen die jetzige Diktatur, die eine Minderheitsdiktatur ist. Die Oktober-

Franz Schulz / Kunst, Bürger, Staat 655

revolution war nur eine Teil der Diktatur der Arbeiterklasse. Wir erkennen übrigens die Revolution als eine historische Erscheinung an, wir erkennen deshalb auch das Sowjet-System an. Bereits vor dem Kriege und der Revolution war ja in Wirklichkeit der Parlamentarismus erledigt als Verfassungssystem. Im Verfassungskampf ist im Ganzen kein Unter- schied zwischen den Menscheviki und Bolschewiki hin- sichtlich des Ziels. . Auch: die Bolschewiki wollen ja, wenn die Zeit kommt, zur allgemeinen Wahl übergehen und für uns ist das keine grundsätzliche Frage, ob diese nach einem geographischen System oder nach dem Produktions- system sich vollziehen soll.

KUNST. BÜRGER. STAAT VON FRANZ SCHULZ

L

Es geschah am 23. Mai 1920, mehr als 18 Monate nach dem ersten Tage deutscher Revolution.

Der Reichspräsident Fritz Ebert, müde die Hand noch vom Schreiben einer Depesche, welche die Leibesübungen als wichtig zur Ertüchtigung der Jugend dokumentiert, müde noch vom Anlegen tadelloser Bürgerkleidung. wie sie sich für den Repraesentator Germaniae ziemt, müde noch von all den Regierungsgeschäften und Erfordernissen, als da sind: das Bestätigen von Todesurteilen und das Binden eines solid-eleganten Seidenschlipses. wie gesagt: müde noch von alledem und doch elastisch und sichtlich heiteren Gemüts, eröffnet unser Landesvater die große Kunstausstellung am Lehrter Bahnhof, die zwar nichts zur Ertüchtigung, manches aber zur Bildung des deutschen Volkes beitragen wird. Von sachkundigen Führern empfangen und geleitet besichtigt der Landesvater den rechten konservativen Flügel und freut sich der sonnigen Landschaften, sauber temalten Bildnisse und rosigen Frauenpopos. Dieweil im Ruhrgebiet das bestätigte Todesurteil vollstreckt wird, geht

656 Franz Schulz

der Reichspräsident aus den Händen des Im- in die der Expressionisten über, der ihn mit ehrerbietigem Lächeln und freundlichen Bücklingen vor die Parade junger, radikaler., revolutionärer Kunst führt. Doch der Vielgeprüfte verliert die Fassung nicht und dieweil im Ruhrgebiet irgendwo das Kommando »Feuer« ertönt, sucht er auch der radikalen revolutionären Kunst gerecht zu werden. Immerhin: ver- haltenes Lachen erschüftert die elegante Weste des Landes- vaters und das Gerechtwerden wird ihm offenbar nicht leicht. Der führende Expressionistenführer expliziert devot, als häfte er es mit einem mäcenatischen Bierbrauer zu tun, die Schar der kleinen Expressionisten horcht gespannt Und dieweil im Ruhrgebiet der Körper eines Arbeiters dumpf zu Boden stürzt. wird der jovial lächelnde Landes- vater. um den nun friedlich sowohl Ex- als auch Impressionisten sich drängen. photographiert. II.

Solange Kunstwerke nicht imstande sind, vor den Blicken eines Kaisers oder Reichspräsidenten sich um- und ihm die ` Hinterseite zuzukehren, solange ist es Pflicht aller Künstler, dies bedauerliche Unvermögen ihrer Werke durch krasses Sichtbarmachen eigener Mifachtung zu ersetzen. Und solange ein Mitglied einer Künstlergruppe vor Fritz Ebert, dem Bestätiger von Todesurteilen und sozialistischen Barden der Seeschlacht am Skaggerak, solange auch nur einer aus der Gruppe vor dieser Personifizierung bourgeoiser Indolenz katzbuckelt, solange hat die Künstlervereinigung verdammt wenig Recht, sich radıkal oder gar revolutionär zu nennen, solange unterscheidet sie sich in nichts Wesentlichem von der Gartenlaube- Gilde. —— Bis zum 23. Mai wußte ich nicht, dal dies erst gesagt werden muß, an diesem Tage wurde mit letzter Klarheit die Schande der deutschen Kunst offenbar.

Kunst, Bürger, Staat: F 657

IIL

Wem das Kunstproblem nicht mit den Worten »heiligste Güter. dogmatisiert und also erledigt scheint, der wird das Wesen staatlicher Kunstfürsorge schwer erklären können. Der ökonomisch vernünftige Produktionsstaat hat als solcher sehr wenig Interesse an der Kunst. Sein Ziel ist rationelle Produktion, rationelle Verteilung, rationeller Verbrauch. Kunst ist unrationėlle Produktion (Verschwendung von Arbeit und Material), Verteilung und Verbrauch sind zufällig und wirtschaftlich sinnlos. Der autokratische Un- vernunftstaat wiederum ist höchstens an der Kunst der Siegesalleen interessiert, weil jede andere Kunst den Keim zur Anarchie in sich trägt: Sie erzeugt Skepsis gegen die Tradition und bildet Menschen die, außerhalb des büro- kratischen Betriebes stehend, den Respekt vor dem un- wirschen Schalterbeamten verlieren, dem Wahrzeichen und populärsten Repräsentanten des autokratischen Staates. Die staatliche Kunstpflege, anders nicht erklärbar,. muß demnach als Atavismus erscheinen. rudimentäres Überbleibsel des katholischen Staates, der, auf der Kirche und letzten Endes nur auf ihr basierend, der religiösen Kunst bedurfte. um seine Symbole zu schaffen. Seitdem aber der katholische Staat durch die Reformation und ihre Folgen verneint und zertrümmert, durch den nationalen oder Wirtschaftsstaat abgelöst wurde, —, vollends, seit die Kunst unkirchlich geworden ist. hat die staatliche Kunstfürsprge ihren Sinn verloren. Und das Wunderbare ist, daß der Atavismus als Erscheinung nicht etwa allmählich erlischt, sondern immer stärker wird.

IV. Dieses seltsame Phänomen scheint mir folgendermaßen

begründet: Wir leben im Kulminationspunkt des bürgerlichen Zeitalter. Der Bürger, der gestern noch seine Position sich

658 Franz Schulz

erkämpfen mußte, der heute auf dem Gipfel seiner Macht steht und morgen abstürzen wird, ist kulturbesessen aus leidenschaftlichem Erhaltungstrieb und kluger Berechnung. Noch vor seinem Niedergange, den der Schlaue ja fürchtet, rafft er an Kultur zusammen, wo und wie er sie bekom- men kann: einerseits, um mit dem Verdienst um die »heiligsten Güter · seine Existenzberechtigung zu erweisen. ander- seits, um durch das Bewußtsein dieses Verdienstes die vor- laute Stimme der Minderwertigkeit im eigenen machtlüsternen Hirn schweigen zu machen.

Darum wahrt der Bürger seine »heiligsten Güter., hat seinen Goethe und seinen Ompteda im mehr oder minder entworfenen Bücherschrank. seine Böcklins und seine Pechsteins an der Wand und es kränkt ihn die Verfilmung von Hebbel beinahe ebenso sehr, wie das Steigen der deutschen Valuta, das die Rentabilität des Exportgeschäfts bedroht. Dazu kommt noch, daß deutsche Kultur ihn beste Reklame für deutschen Handel dünkt und Hölderlin geeig- net zum Schriftmacher für Mannesmann und Salamander: (die Expensen für diese Kultur kann der Kaufmann im Regiekonto der Firma buchen).

V.

Je nach dem Grade seines Vermögens und seiner Frei- giebigkeit kommandiert der Bürger den unbekannten billigen oder den berühmten teuren Künstler, nach dem Grade seines Snobismus die akademische oder die radikale Kunst: und er kommandiert sie, wo die dicke Importe nicht mehr genügt, um ihm Haltung und Sicherheit, Stafllichkeit und Ansehn zu geben. Die Staatsmaschine aber, Vasall dieses Bürgers, wenn sie Monarchie, sein Sklave, wenn sie Repu- blib ist. wird zur Kunstförderung kommandiert und seinem Kommando folgend mußte am 23. Mei der Reichspräsident Fritz Ebert nach sorgfältiger Toileſte den Im- und Ex- pressionisten freundliche Gesichter machen.

Kunst Bürger, Staat 659

Mit gütigem Vaterblick konzediert der Bürger dem Künstler, was er sonst keinem verzeiht: sich von ihm zu unterscheiden durch langes Haar und großen Schlips, mit einer Frau zu leben, ohne verheiratet zu sein, laut über Dinge zu sprechen, von denen der Bürger nur flüstert: und während der Künstler diese Freiheiten benutzt, um sich als Genie zu dokumentieren, reibt in einsamer Kammer der Bürger seine Hände vor Vergnügen darüber, daß der Dumme des gelben Flecks sich freut und rühmt, der ihn zum Schwindler, Dupe, Scharlatan des gutsituierten Publi- kums, bestenfalls zum unverständigen Kinde stempelt.

Das eben ist dıe Schande und Tragödıe un- serer Kunst: Der Künstler läßt sich vom Bürger über- tölpeln und glaubt nicht nur, daß er ein Repräsentant des Geistes, sondern auch, daß er ein Repräsentant jener Ge- sellschaft ist, mit der der Geist seit eh und je auf Tod und Leben kämpft.

Der Bürger läßt ihm diesen Glauben, mit dem Vor- behalt, daß er selbst nicht mitglauben muß und die Genug- tuung des gelungenen Gaunerstreichs macht seine Toleranz nie geahnte Dimensionen erreichen. Er gestaftet dem Künstler sogar, Revolutionär zu sein, solange die Revolution auf Kunst und Innenleben sich beschränkt und mit der Politik nichts zu tun hat. Für diesen gefährlichen Fall allerdings sind Rückenschüsse behelmter Lakaien vorgesehn.

Weil aber der Künstler die ihm vom Bürger diktierte und zugewiesene Ausnahmeposition akzeptiert, darum klingen seine Empörungsschreie meist so merkwürdig blechern und sine Worte wie ängstlich bösartiger Dienstbotenklatsch : darum gelangt jene Kunst, die sich stolz revolutionär nennt, nicht über die revolutionäre Geste hinaus: darum bleibt sie esoterisch, Eigentum des gebildeten Bürgers und dringt ın das Haus des Arbeiters ebenso selten wie an sein Herz: darum liegt die tiefe Kluft zwischen den Proletariern und

650 Maxim Gorki

OTSE

Kurz und gut: die Intellektuellen der ganzen Welt müssen heute diese ernst- hafte Frage anschneiden: werden sie auf Seiten der Völker sein, die die radikale Umformung der gesamten Lebensart fordern oder auf seiten des Kapitals, für das alte Regime?

Möge die Rolle der russischen Intellektuellen im Laufe der beiden letzten, ereignisschweren Jahre lehrreich sein für die Intellektuellen Westeuropas. Wenn der russische Intellektuelle mehr Seelenkraft und mehr praktischeVoraussichtgehabt hätte, wenn er von den ersten Tagen der bolschewistischen Revolution an in Verbindung gestanden wäre mit jener Gruppe von Menschen, die, aus seinem eigenen Milieu hervorgegangen, kühn genug waren, sich an die Spitze der Arbeitermassen zu stellen und die politische Macht an sich zu reißen in einem durch den Zarısmus und den Krieg zugrunde gerichteten Lande, hätte der Intellektuelle so gehandelt, dann hätten Industrie, Technik und Kultur nıcht so heftig gelitten unter dem Einbruch der entfesselten Leidenschaften; weniger Blut wäre geflossen; nicht so viele Fehler wären begangen worden; die Vemunft wäre Zügel gewesen.

Ich will niemand verurteilen. Ich stelle nur eine unleugbare Tatsache fest: die Zurückhaltung gewisser Intellektuellen von dem Lauf der Revolution hatte zur Folge. daß die Lösung der wichtigsten Lebensfragen gleichgestellt wurde der Bedürfnis- befriedigung einer noch kulturlosen Masse: das sind meiner Meinung nach die russischen Bauern.

Die Klasse der russischen Arbeiter, zahlenmäßig die geringste, hat eine unge- heure Aufgabe vor sich: hundert Millionen Bauern verschiedener Sprache und ver- schiedenen Ursprungs zu erziehen. Diese Masse kann in ihrem Zerstörungswerk eine erstaunliche Kraft entwickeln: kann sie aber mehr schaffen als Sitten, die durchdrungen sind von der Mentalıtät des kleinen Besitzenden? Die Frage bleibt unbeantwortet. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint die großkapi- talistische, rationell organisierte Industrie dem Handwerker und dem Intellek- tuellen weniger erschreckend als die Sümpfe des kleinen Besitztums, die, fremd und feindselig meist, höheren Kulturinteressen entgegenstehen.

Den russischen Intellektuellen wird das Tragische ihrer Situation immer deut- licher bewußt. Obwohl sie schon vor der Revolution zwischen Hammer (Herrschaft) und Amboß (Volk) gelebt haben, werden die unumgänglichen Mißstände dieser Lage ihnen erst jetzt nur allzu deutlich und nur allzu schmerzlich. Doch ich wiederhole: sie beginnen zu begreifen, daß die Macht den intellektuellen Kräften gehört, denen sie selbst geistig verwandt sind; sie beginnen zu begreifen, daß vor- aussichtlich schon in nächster Zukunft in Rußland die vernünftige Organisation und der extatische Wille verschmelzen werden und daß diese beiden Kräfte geeint Wunder tun können.

Das sind meiner Meinung nach die Gedanken und Fragen, die der Internationale Kongreß der Intellektuellen nicht übergehen kann.

Aus der tiefen Überzeugung von der Wahrhaftigkeit der Vertreter des Intellek- tuellen in Westeuropa, aus dem Glauben an ihre Gewissenhaftiekeit kann ich nicht

Wahrheit über Sowjetrufßland 651

daran zweifeln, daß die Frage der Blockade Rußlands auf dem Kongreß zur Debatte stehen wird.

Die Schändlichkeit einer Blockade, die das russische Volk dem Hungertode preis- gibt, die es abschneidet von der Versorgung mit Arzneimitteln usw. noch zu brand- marken, ist unnötig. Aber es ist vielleicht nicht unangebracht, den Mitgliedern des Kongresses in Erinnerung zu rufen, daß in erster Linie die Kinder unter den Folgen der Blockade zu leiden haben, daß aber auch die Intellektuellen, die Ge- lehrten, die geistigen Arbeiter in Bibliotheken und Laboratorien, ungenügend ausgerüstet zum Kampf ums Leben, unbegabt ihr Brot zu gewinnen, dann unter den zumeist Betroffenen sind.

Durch Hunger Kinder töten, die Zukunft eines Volkes auf diesem Wege zer- stören; durch Hunger seine seit lang angesammelten geistigen Kräfte lähmen ist das das Ziel des aufgeklärten, kultivierten Europa?

Diese Frage zu stellen, wird für den Kongreß der Intellektuellen eine notwendige Aufgabe sein. Und wir warten gespannt darauf, was die Regierungen der Länder Frankreich, England usw. die sich als „Herde der Kultur und Zivilisation“ betrachten, antworten werden. (Uebersetzt von L. S.)

WAHRHEIT ÜBER SOWJETRUSSLAND

DAS BIBLIOTHEKSWESEN

In dem offiziellen Organ der Schwedischen Biblistheks- Vereinigung, „Bibliotheksbladet”, findet sich von dem Leiter der „Schwedischen Königlichen Bibliothek“, Arne Holenberg. der folgende Aufsatz, welcher in seinem Material zum Teil neu, wertvoll vor allem durch das Lob ist, das ein Bürgerlicher einer bolschewistischen Methode widmet.

.. . . Daß die Kerenski-Regierung den Bestrebungen zur Entwicklung des Büchereiwesens wohlwollend gegenüberstand, darf daraus geschlossen werden, daß ein Kursus darüber vom 26. April bis 24. Mai, 1917 in Moskau abgehalten wurde. Dieser Kursus wies ein recht mannigfaltiges Programm auf: gab eine Übersicht über Literatur- und Bibliothekskunde, über technische Fragen betr. Katalogisierung, Fächereinteilung usw. Doch ist es kaum glaubhaft, daß die schwache provi- sorische Regierung sehr durchgreifende Maßregeln zur Reform der Bibliotheks- angelegenheiten hätte ergreifen können; die Bolschewiki jedoch haben, scheint es, eine großartige Aktıvität in dieser Hinsicht entwickelt. Bei der „Abteilung für Volksaufklärung außerhalb der Schule” des Volksbildungskommissariats wurde eine besondere „Bücherei-Abteilung” eingerichtet, deren erste Aufgabe es

12

66 _Meinrich Vogeler den Künstlern, die ihre Mission versäumen: darum ist das meiste unserer Kunst all ihren Qualitäten und revolutio- nären Manifesten zum Trotz nur ein Schmücke-dein- Heim des Snobs: darum wird die große soziale Welle diese Kunst zerstören und über sie hinweggehn und darum wird eine gefährliche Leere entstehen nach dem Untergang der alten Bourgeois- und vor der Geburt einer neuen kommu- nistischen Kultur, Schuld der Künstler, denen Kraft und Mut zu der großen Empörung fehlt.

ÜBER DIE KOMMUNISTISCHE SCHULE VON HEINRICH VOGELER-WORPSWEDE

II.

Der Mensch als Ausdruck schöpferischer Kraft. der Mensch als Gestalter, fähig, die Bedrängnisse des Lebens durch eigene Tat zu erlösen. sich selber zu befreien durch das Werk: das ist der grundlegende Sinn der Schule, zu der das jugendliche Werden der Menschheit mit rücksichts- loser Gewalt treibt. Bildung und Wissen verwendeten wir, um Autoritäten aufzurichten und um das Volk zu dis- ziplinieren. um es im Glauben an andere durch alle Höllen . führen zu können, um das Volk arbeiten, tanzen und sterben lassen zu können für den Besitz, für das goldene Kalb. Die neue Lebensschule will keine Zielbestimmung, sie ist Wandlung zur bejabenden Tat. Unser Wissen wird sterben müssen, so es nur äußere Form, Bildung bedeutet. gleich jedem Besitz, der nicht nutzbar gemacht wird für den Aufbau der Welt des produktiv schaffenden Menschen. Heute ist in Europa der Besitz sowohl von ethischen (kulturellen) als auch von wirtschaftlichen Gütern. eine ideale

Über die kommunistische Schule 3 661

bürgerliche Konstruktion, die lediglich auf intellektuellem Schwindel balanciert. auf Auslandskrediten, die durch jedes neue Ereignis wieder schwinden. auf Schwindelnachrichten über Rußland, die täglich durch Tatsachen überwunden werden, dann auf dem Ausverkauf Deutschlands an Pro- duktionsmiſteln: mit dem Zusammenbrechen dieser Ideologie aus schwindendem Besitz, schwindender Autorität, schwin- dender Disziplin, bricht auch die alte Lernschule zusammen und die alte Hochschule, die beide ein Kaufhaus für Wissen und Bildung geworden waren und nur noch mit Geistes- gütern markteten, die einer vergehenden Welt des Scheins, des Ungeistes, der Ausbeutung der geistig und wirtschaftlich unterlegenen Schwächeren und dem Genielertum. dem Ästhetentum diente.

Die neue Schule dient dem Aufbau der Eınheit: der klassenlosen Gesellschaft; sie kann nie eine Uniform sein, wie sie heute in der Einheitsschule zum Erziehen von willigen Werkzeugen für den Moloch Staat eingerichtet wird, äußere Formen der Gleichmacherei sollen ein be- quemes Regieren bewerkstelligen und äußere Bildung jedem zu tel werden. Für uns ist der stärkste Ausdruck der Individualität eines Menschen und die menschliche Achtung und Hebung der individuellen Kräfte die Basis der geistigen Gemeinschaft unter den Menschen. Nach dem intellektuellen = Schwindel der letzten Jahrzehnte, der es fertig brachte,

Religion, Wissenschaft, Kunst und Schule mit in den Strudel, in den Tanz um das goldene Kalb hinabzuzichen. in das Chaos der Verneinung aller ethischen Werte, be- dürfen wir einer Lebensschule. in der wir jede Ideologie in uns vernichten, die wir nicht in lebendige bejahende Tat umsetzen können. Es handelt sich hier um befreiende schöpferische Tat, um Werk, um Aufbau. Die Schule der vergangenen Zeit bereitete auf das Leben vor, die Arbeits- schule ist das Leben.

662 Heinrich Vogeler

Die neue Schule dient dem Aufbau der parteilosen klassenlosen Gesellschaft, der Einheit: Gemeinwirtschaft, der Einheit: Weltwirtschaft. der Einheit: Kultur der Einheit: Mensch |

Die. innige Verbindung allen Wissens mit den Bedürf- nissen des Lebens ıst die Grundlage unseres Schulwesens. Der Prüfstein, die Analyse für jeden Lehrenden und jeden Lernenden der Arbeitsschule ist lediglich die Tat, das Werk. Die Entscheidung zur Bejahung, zum produktiven Schaffen, zum Werk, zur Liebestat muß „von Beginn des Lebens ım Kinde geweckt werden. Diese Entscheidung ist nur zu er- reichen, wenn man sie immer wieder von den äußeren Dingen, von der Führerschaft. von der Autorität in die Seele des Kindes selbst zurücklegt. ihm immer wieder an Beispielen des Tat-Lebens zeigend, daß nur der Liebende der Entschiedene ist, der jederzeit bereit steht zur brüder- lichen Hilfe, zur Bejahung des Mitmenschen. Lehrende und Lernende seien Beispiel dieser geistigen Erkenntnis. Wie in jeder geistigen Gemeinschaft die Produktivität zeugend von einem zum anderen geht, immer aufbauend für die Einheit. . so müssen wir auch das Verhältnis der Kinder und der Erwachsenen denken. Es muß ein stetes Gleichgewicht, eine Erlösung, eine Reinheit durch die Tat wiederhergestellt werden. Wie häufig wird da das Kind die stärkste Lehr- kraft sein! Liebe, die keine Tat zeugt. ist intellektueller Schwindel. ist jene Krankheitserscheinung, an der unser ganzes Volksleben und unser Verhältnis zu den übrigen Menschen des Weltalls im Weltkriege zusammenbrach. Wer aber die Wahrheit der Liebe. die Liebestat in ihrer ganzen gesetzmäligen Kraft erkennt und sein Leben ihr widmet, gewinnt die größte Erfahrungsmöglichkeit und da- mit die größte Sicherheit in allem Werden der Welt, nur ihm steht die größte Glücksmöglichkeit auf. die schöpferische Go@natur, sich selber ganz zu erfassen, den Weg zum

Über die kommunistische Schule 663

Absoluten zu ahnen. Das aber ist der Sinn des Lebens, das Glücksuchen auf dieser Welt und der Weg zur Un- abhängigkeit. zum Frieden.

Die kommende Zeit wird keine Sentimentalitäten kennen, jedes brach liegende Kapital an Wissen und Besitz wird man nehmen, wenn es im Getriebe des lebendigen Werdens nicht zerbricht, jedes Hamstern von Wissen zu spekulativen Zwecken (Bildung) wird zugrunde gehen und den Besitzenden, den Wissenden mit Resignation belasten und zur Untat treiben.

Es ist die Aufgabe der neuen, der kommenden Schule an keiner Stelle einen intellektuellen Schwindel aufkommen zu lassen. Da ist der erste Weg: Aufhebung jeder Autorität: an ihrer Stelle steht das Beispiel, die schöpferische Tat, die jedem dient. Damit beginnt aber auch schon sofort der Aufbau der neuen Welt der gegenseitigen Hilfe, der Bejahung meines Mitmenschen. Wir verlassen jene Welt der Verneinung, der vom Machtwillen. Ausbeutesucht, Autoritätenwahn konstruierten Ideologie: der Mensch ist schlecht und wenden uns an seine eigentliche, unver- bildete, bejahende Natur, an seinen Schöpferwillen wir kommen zur höchsten Ordnung: [Intellekt und [Instinkt decken sich, die schöpferische Tat ist die Erlösung. ist die Befreiung, die Harmonie mit dem Unendlichen, mit dem Weltwillen: der Mensch reiht sich ein in die große Ge- meinschaft: Natur. Sein Werk ist nicht sein Besitz, sondern die Form, die Auswirkung seines einfachen menschlichen Triebes.

Die Zeit der kapitalistischen Klassengesellschaft ist die Zeit der Herrschaft des Intellektes: alles war zu konstruieren. zu berechnen und zu kaufen: selbst das Verhältnis der Menschen untereinander, wie der Völker untereinander, war eine mathematische Aufgabe, die ihre Faktoren in Bündnis- verträgen, Völkerrechten, bürgerlichen Besitzrechten, Grenz-

664 Heinrich Vogeler / Über die kommunistische Schule

rechten und Handelskontrakten festlegte: ein schwindelhaftes Gebäude des Intellektes, das den natürlichsten Faktor, die menschliche Seele außerhalb aller Berechnung liel.

Nun sind sehr schnell alle diese idealen Konstruktionen zusammengebrochen, doch mit seltsamer Zähigkeit halten die Intellektuellen an allen den idealen Konstruktionen fest, die auf diesem schwankenden Boden wachsen: die bürgerliche Presse sorgt mit ihren Flunkereien für immer neue dem Tode geweihte Stützen, trotzdem schon die nächsten Welt- ereignisse den neuen Schwindel zusammenbrechen lassen. Der heilige Glaube an das Geld ließ selbst die Seelen- kämpfe unseres Volkes. das Ringen der Geistigen. der sozialistisch denkenden Feldgrauen als ein Resultat feind- licher Gelder erscheinen in den Augen jener Gläubiger des Mammons, deren Geldseelen keine andere bewegende Kraft der Welt mehr anerkannten. Blind vertrauend auf alle äußeren Faktoren hielt der deutsche Generalstäbler, jener ausgeprägte Typ versklavter Abhängigkeit von äußerer Form und höherer, menschlicher Autorität die russische Revolution für ein glänzendes Resultat seiner eigenen taktischen Maß- nahmen. Die völlige Verneinung alles seelischen, sein eigener Machtdünkel ließ ihn die Völkerpsyche garnicht erkennen; dies wurde selbsttätig der Untergang eines Systems, das sein ganzes Gebäude ımmer nur auf Konstruktionen des Verstandes errichtete und den Geist vergewaltigte. der immer um bejahenden Ausgleich mit dem All ringt.

Alles das müssen wir erkennen, um immer wieder zu wissen, dal die Herrschaft des Verstandes. ohne Mitwirkung des Herzens den Zusammenbruch aller Menschlichkeit un- bedingt zufolge hat; denn erst die Einheit Intellekt und Instinkt, wenn beide sich ın Erkenntnis und Empfängnis decken und ın bejahender Tat im Werk ausleben, erzeugt in’ uns das Glücksgefühl der Befreiung, den Gleichklang mit den Ewigkeitsgesetzen der Natur.

Fritz Schwarz / Jean Jaurès 665

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JEAN JAURES VON FRITZ SCHWARZ

Geschichte ist Wechselwirkung von Massen und Ideen. In der Persönlichkeit konzentriert sich die Bewußtheit der Zeit, die geistige Ausstrahlung des Menschheitsorganismus. Der Gedanke formt die Materie. der Schoß der Materie bringt den Gedanken zum Licht der Welt. Ohne Illusionen kein Vorwärts!

Und wie im denkenden Individuum Prinzipien, Vor- urteile. Ideen. Anschauungen. Auffassungen. Vorstellungen. Meinungen miteinander im Kampf liegen und durch ihr

erge wicht seine Richtung bestimmen. so werden die führenden Persönlichkeiten wieder zu Komponenten, deren Resultante die Geschichte der Menschheit ausmacht. Keine noch so bedeutende Persönlichkeit aber ist losgelöst. unab- hängig von der Gesellschaft. Im Gegenteil wird sie um so bedeutender erscheinen, um so weiter und tiefer in den Gang des Geschehens eingreifen, je inniger sie sich mit der Materie, der Natur und mit der Gesellschaft ver- bunden fühle. u

Die großen Einsamen stehen unserm Herzen am näch- sten. Die ım All den Klang erlauschten, haben auch unsere heimliche Stimme gehört. Um einzudringen in die Wesenheit einer Epoche, um den Geist der Zeit in sich aufzunehmen, wird der Weg über eine starke, umfassende Persönlichkeit der nächste sein, denn hier offenbart sich am eindeutigsten Trieb | und Charakter der Massen.

Wie aber im Individuum Entscheidendes und Wesent- liches getrennt sein kann, eine hartnäckige Einseitigkeit. eine unselige Leidenschaft zum Ausgang eines Schicksals werden

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mag. so kann auch der Einschlag der Persönlichkeit ine Menschheitsbewußtsein und ihre Triebkraft innerbalb der Geschichte von hemmender, negierender. jedenfalls einseitiger Wirkung sein und unvermögend, ein vollkommenes Bild vom geistigen Gehalt der Zeit zu geben.

Die erdrückende Fülle überraschender Ereignisse. die unerhörte Verwirrung und Erschütterung der Gegenwart macht das Verlangen nach Klarheit und Übersicht mit jedem Tage dringender. Daß unsere großen Heerführer. daß die Geschäftsträger der einzelnen Staatsregierungen, kurz, die großen Verantwortlichen des politischen Weltbetriebes der Zeit ihren Stempel nicht aufzudrücken vermögen, erhellt auf den ersten Blick. Sıe werden zur Legende, wıe dıe Träger der Kronen zur Legende geworden sind. Clemenceau, Hindenburg sind ehrwürdige alte Herren, fast schon so ehrwürdig wie Metternich und Gneisenau. Gerade darum, daß man diese historischen Großen mit einem solchen Aufwand von Energie, aufopfernder Hingabe, unerschüfter- licher Überzeugung. und beseelt von einem tiefen Verant- wortlichkeitsgefühl ihre übermenschliche Pflicht erfüllen sieht. gerade darum kann man nicht an sie denken. ohne aus tiefster Seele eine Traurigkeit. ein bifteres Gefühl aufsteigen zu fühlen. das grausamer quält als Haß und Verachtung. Daß guter Wille töten kann, daß heilige Überzeugung Tausende und Abertausende verbluten und verhungern läßt, kann man eine packendere Tragık ersinnen ? Nicht, daß ihnen die Idee fehlte, daß sie blinde Kraft- äußerungen wären wie Napoleon der Gewaltige. Sıe handeln im Glauben. sie leben im Pathos. Doch kann dieser Glaube, kann dieses Pathos wenn man näher zusieht, nichts anderes bedeuten als einsetzen für die Interessen- sphäre einer mehr oder weniger umfangreichen und wert- vollen Gruppe. Das aber ist das Zeichen der Zeit. ist ein wesentliches Merkmal der kommenden Persönlichkeit.

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daß sie sich handelnd erhebt und Führer wird der ganzen leidenden Menschheit. Theoretiker. Philosophen, welche die Menschheit in den Kreis ihrer Betrachtung zogen, hat es zu allen Zeiten gegeben. Wir suchen, wir rufen den Menschen der Tat, wir suchen den Menschen, der uns lehrt wie wir leben, und nicht wie wir sterben sollen.

Es gab eine Zeitspanne, da die Augen der Welt auf eınen Mann gerichtet waren, der den Forderungen der Gegenwart wie kein anderer gerecht zu werden versprach, der mit der Glut der Idee die Kraft der Tat verband, der die Mittel in Händen hafe mit einer Weltordnung aufzurãumen. die für den (Organismus der Menschheit nıchts anderes bedeuten kann als krampfhafter Selbstmord- versuch. Wilson enfläuschte. Er hielt nicht. er konnte nicht halten, was er versprochen hafte. Sein Pathos war nicht Lüge, aber er war zu schwach, griff zu Kompromissen. wo ein scharfes Entweder-oder wenn nicht von unmiſtel- barer reeller. o doch von ungeheurer moralischer Wir- kung häfte sein können. Hatte er die Verantwortung ab- gelehnt. ein kurzes Wort hätte genügt. um Millionen An- hänger um seine Persönlichkeit sich scharen zu lassen, eine Revolution heraufzubeschwören, die stärker, bedeutender und höchstwahrscheinlich auch unblutiger gewesen wäre als alles. was die Geschichte gekannt hat.

Unwiederbringlich ist diese leuchtende Gestalt dahin- gegangen. welche während der letzten Kriegsmonate und in den ersten Verhandlungswochen die Hoffnung der Gerechtig- keit war. Der Erlöser ist tot, der nie gelebt hat. Der Name Wilson hat keinen Klang mehr.

Und wenn wir Umschau halten unter den hervorragenden Zeitgenossen, um Ersatz zu suchen, es findet sich niemand, der in so glücklicher Mischung moralische und reelle Kräfte zum Wohle der Menschheit entfalten könnte.

Einer war aa, ein zu früh Dahingegangener, der am 13

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31. Juli 1914. am Vorabend der Weltkatastrophe. das Opfer patriotischen Irrsinns wurde, einer war da, der zu Hoffnungen von ungeheurer Tragweite berechtigte: Jean Jaurès.

Immer wieder taucht ın den letzten Jahren der Ver- zweiflung die Frage auf: was häfte Jaurès dazu gesagt, was häfte Jaurès jetzt getan. wenn er am Leben geblieben wäre. Welch eine einzigartige Mischung wirksamster Gaben verkörperte diese selten umfassende Persönlichkeit. Man braucht nicht Sozialist zu sein, um diesen Sozialisten zum Freunde zu haben, nicht ausgesprochener Pazifist. um seine aufrichtige Friedensbegeisterung zu teilen. Der zielbewußte Parteipolitiker wächst über sich selbst hinaus, gewinnt einen Standpunkt, von dem aus sein kräftiger Aufruf zu Vernunft und Ge- rechtigkeit in alle Lager dringt. Wer Jaurès nicht liebt. wer diesen starken und reinen Menschen nicht liebt. ist der Menschheit verloren. Wenn wir eine bessere Zukunft zu erhoffen haben. wenn die Welt aufhören soll. ein ekel- haftes Schauspiel von Trug und Mord zu sein, dann müssen tausend. hunderttausend aufstehen und handeln wie er. Denn nicht an schönen Worten liel er sich genügen. Wirken war sein Wesen. Wirken auf einer Grundlage, die an wissenschaftlicher Gründlichkeit. an Lebenserfahrung und an Liebe zu Welt und Menschheit nichts zu wünschen übrig ließ. Sozialismus ist ihm mehr als Parteiprogramm oder Wissenschaft, Sozialismus bedeutet im letzten Grunde Ge- sinnung: Die Herrschaft einer Klasse ist ein Attentat auf die Menschheit. Der Sozialismus, welcher jede Klassen- herrschaft und überhaupt jeden Klassenunterschied aufheben wird, ist also gleichbedeutend mit der Wiederherstellung der Menschheit. Folglich ist es für jedermann eine Pflicht der Gerechtigkeit. Sozialist zu sein.

Man glaube nur nicht. gleich einigen Sozialisten und Positivisten, daß es kindisch und nutzlos sei, sich auf die Gerechtigkeit zu berufen. daß sie ein ganz metaphysischer

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und unendlich dehnbarer Begriff sei, und daß jede Tyrannei sich den Mantel nach ihrem Belieben aus diesem banalen Purpur zurechtgeschniften habe. Das ist keineswegs der Fall: ın der modernen Gesellschaft erhält das Wort Gerechtigkeit einen immer klareren und umfassenderen Sinn. Es besagt. daß ın jedem Menschen, ın jedem Individuum die Mensch- heit respektiert, das volle Menschentum möglichst entwickelt. werden muß. Es gibt aber nur da wahre Menschenwürde, wo Unabhängigkeit herrscht, tätiger Wille, freie und freu- dige Anpassung des Individuums an das Ganze. Überall da, wo die Menschen von der Gnade anderer abhängig sind, wo sie nicht aus freiem Willen an den allgemeinen Aufgaben mithelfen. wo das Individuum durch die Macht anderer, aus Gewohnheit. und nicht aus freiem Entschluß den Gesetzen der Gesamtheit unterworfen ist, überall da kann man nur von minderwertiger. verstümmelter Menschen- würde sprechen. Folglich wird die Menschheit durch die Abschaffung des Kapitalismus und die Einführung des Sozialismus zu ihrem Rechte kommen.

Wie Wilson war Jaurès vom Universitätsprofessor zum Politiker geworden, vom Idealisten zum Vorkämpfer seiner eigenen Ideale. Am 3. September 1859 wurde er zu Castres im Languedoc geboren. einem Landstrich. der manchen be- rühmten Franzosen hervorgebracht hat. einen Comte. La Fayefte, Ingres. Gallier. Kelten. Phönizier. Iberer. Ligurier bilden die ursprünglichen Elemente dieser Bevölkerung und haben sich zu einer eigenen, reich begabten und aktiven Rasse entwickelt. Wie, die meisten Volksführer entstammt Jaurès keiner proletarischen. sondern einer kleinbürgerlichen Familie. Seine Angehörigen mußten hart um ihre Existenz ringen. Höhere Schulbildung und Studium ermöglichte dem auffallend begabten Jüngling ein vermögender Gönner. der als Schulinspektor Gelegenheit hafte. sich von dem Reich- tum seiner geistigen Fähigkeiten zu überzeugen. Er hat es

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bereut. Die Ironie des Schicksals wollte es, daß der eıfrigste Reaktionär, der davon träumte, einen Orleans auf dem Throne Frankreichs zu sehen, dem bedeutendsten französischen Sozialisten den Weg ebnete. Unermüdliche Arbeitsfreude. verbunden mit seltenen Anlagen. brachte dem jungen Jaurès frühen Erfolg in seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Mit 25 Jahren wurde er Professor der Philosophie an der Universität von Toulouse. mit 26 Jahren Mitglied „der französischen Kammer. Das Erstaunliche ist. daſ er die Ideen des Sozialismus lange vertrat. bevor er von der praktischen sozialistischen Bewegung. von Volksversammlungen, Gewerk- schaften, Streiks auch nur eine Ahnung hafte. Erst im Jahre 1893 wurde er Mitglied der sozialdemokratischen Partei. Er sagt von sich selbst: Ganz für mich hafte ich in den ersten Jahren meines Studiums den ganzen Sozialismus von Fichte bis Marx erforscht und ergründet, und ich wußte dabei nicht, daß es in Frankreich sozialistische Gruppen gab, eine regelrecht ausgebildete Propaganda. und daß man von Guesde bis Malon in leidenschaftlichem Parteigeist einander bekämpfte. Wie sollten derartig gestaltete Geister nicht viel vom Leben zu lernen haben, wenn sie schlieflich mit ihm in Berührung kommen? Es gilt nicht allein die zuerst empfangene Bildung. welche zu papieren und einseitig war, zu verbessern und zu vervollständigen; es bedarf einer neuen Anstrengung, um gegenüber den allzu lebhaften un- gewohnten Eindrücken Stellung zu nehmen und ıns Klare zu kommen.

Im Jahre 1891 reicht er ın Parıs zwei Dissertationen ein. eine in französischer, eine in lateinischer Sprache. Die französische war betitelt: »Die Realität der Sinnenwelte«, die lateinische handelt »Von den Ursprüngen des deutschen So- zialismus. Die Idealisten Luther. Kant, Fichte und Hegel werden als Vorläufer und geistige Urheber des Sozialismus gewürdigt: Vor allem ergibt sich daraus deutlicher, wie

Jean Jaurès 71 sch die Ereignisse aus den Ideen berleiten. wie die Ge- schichte abhängig ıst von der Philosophie. Auf den ersten Blick könnte man glauben, daß der Sozialismus besonders in England seine Blüte entfaltet habe, da sich dort besonders : unverschämt die neue ökonomische Ordnung breit gemacht hat. welche das Geld zu ihrer ausschlieflichen Grundlage macht. In England war es ın jeder Beziehung leicht, sich eın Bild von der ökonomischen Entwicklung zu machen. Wer aber hat sie beobachtet und beschrieben? Es ist kein englischer Philosoph, es ist ein Deutscher, der sich in England aufhielt. Karl Marx. Hatte Marx sich nicht in die Hegelsche Dia- lektik hineinversenkt, er häfte nicht die ganze ökonomische Bewegung Englands mit dieser sozialistischen Dialektik in geistigen Zusammenhang bringen können. England lieferte die Tatsachen, aber die deutsche Philosophie hat diese Tatsachen gedeutet. Der Sozialismus war im deutschen Geiste lange vor dem anormalen Anwachsen der Schwerindustrie geboren und lange bevor die wesentlichen Bedingungen zum ökono- mischen Sozialismus in Erscheinung traten. Kurz, um den deutschen Sozialismus unserer Tage zu begreifen genügt es nicht, ihn in der besonderen und vorübergehenden Form falsch auszulegen. welche ihm Bebel und andere gaben. Man muß seine Ursprünge zu erforschen suchen, d. h. seine Quellen aus Intellekt und Gewissen. Das ıst der Grund, weshalb ich den christlichen Sozialismus Luthers studiert habe, den moralischen Sozialismus.

Jaurès ist ausgesprochener Idealist im wörtlichsten Sinne. Ausgehend von der Idee gelangt er zur Tat. Seine Welt- anschauung war geklärt. bevor er in die politische Aktion trat. Seine Philosophie beherrscht sein Leben. sein Leben ist Ausfluß seiner Philosophie. Um den Politiker und Sozialreformator ganz zu verstehen. muß man sich mit dem Philosophen vertraut gemacht haben. Neu. ursprünglich, eigenartig sind die Elemente seines Weltempfindens keines-

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wegs. Nur darum erhalten sie eine besondere Bedeutung. weil sie in ihren letzten Konsequenzen einen starken Einfluß auf die sozialen Forderungen der Gegenwart ausüben.

„Das tiefste und edelste Bedürfnis des menschlichen Geistes ıst das Bedürfnis nach Einheit‘, in diesen Worten offenbart sich am deut- lichsten Ausgang und Ziel seiner Philosophie, wie im letzten Grunde wohl das Wesen der Philosophie überhaupt. Gei- stige Kräfte allein vermögen das Beglückende dieser Ein- heitsemanation nicht voll zu erschöpfen. Es gehört dazu ein starkes Gefühl. ein intuitives Umfassen der kosmischen Offenbarungen. Zum Erkennen muß sich Glaube gesellen, zur Wissenschaft dichterisches Erfahren. Nur das Erlebnis zeugt Leben. Und Wissen kann vom Erleben geschieden sein wie Himmel und Erde. l

Ich bins so sagt er, »mit Carlyle überzeugt, daß die ersten denkenden Menschen, welche in den gewaltigen Natur- erscheinungen selbstständige Personen erblickten, der Wahr- heit näher standen, als die mechanische Auffassung, die überall nur wenig unterschiedliche Variationen eines gleich- förmigen Themas sehen möchte. Es gibt im All ein dra- matisches Element, bestimmte Rollen sind in der Welt verteilt. und wenn wir die metaphysische Funktion zu be- stimmen suchen, welche die mannigfachen Kräfte im Sein erfüllen, und welche die Wissenschaft auf eine banale Ein- heit zurückführt, so haben wir dabei nicht im Sinne mit der Wissenschaft zu brechen, die im übrigen unserseits weder etwas zu befürchten noch etwas zu erwarten hat; wir beabsichtigen lediglich in unserer Vorstellung vom All den Sinn der Einheit und den Sinn des Lebens in Ein- klang zu bringen.

Dieselbe Kraft dichterischer Intuition. welche im All die Einheit erlebt. erfährt sie in gleicher Weise im engen kosmischen Kreise der Menschheit, des Volkes, der Familie.

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der Freundschaft. Das Beglückende. im Gefühl unserer Ein- heit, das Beglückende im Gefühl von Mensch zu Mensch entspringt dem gleichzeitigen Bewußtsein unseres Losgelöstseins. der Eigenheit. Die Gefahr. daß der Sozialismus zu ödem Uniformismus entarten könnte, ist nicht vorhanden, denn nur einer ausgeprägten Persönlichkeit wird das Bewußtsein der Einheit in vollem Umfange zuteil werden können. Auf- gehen im All. Einswerden mit Mensch und Gesellschaft. bedeutet auf keinen Fall Preisgabe des Persönlichen. Ver- lieren seiner selbst. Man veräußert sich nicht im Verinnern. Je stärker man im andern lebt, desto wacher wird das Gefühl der Eigenheit. desto größer der Reichtum der Welt unseres Inneren:

»Die Seelen stehen im Kampf mit allen gegebenen Kräften, mit allen ursprünglichen Gefühlen. Sie erwehren sich ihrer und überwinden sie, indem sie die noch dunkeln Elemente sich klären lassen, indem sie die widerspruchsvollen Elemente in Harmonien aufzulösen suchen. Ich glaube, daß man sich das All als eine ungeheuere Gesellschaft von Kräften und Seelen vorstellen könnte. Diese Kräfte, diese Seelen liegen ı im Kampf zwischen Gut und Böse, streben aus der Tiefe des Widerspruchs und Elends zur Fülle und Harmonie des glücklichen Lebens, ziehen Nutzen aus allen urewigen Elementen der Welt: Wärme. Licht. Elek- trizität. Schall, sie bringen sie zur Klarheit des Bewult- seins, sie ordnen sie in der Welt ihres Innern, die immer reicher wird- und immer mehr: dem All entspricht. So gibt es im All wie in der Gesellschaft keine Schöpfung neuer Ideen, keine neuen wesentlichen Beziehungen.

Die Einheit aber ist nichts Starres. Unbewegliches. Totes. Sie wird zum lebendigen Ausdruck von Selbstentfaltung und Freiheit. Sie wandelte sich in sich selbst. ist Schöpfung aus unmiftelbarster Evolution. Sie bedeutet das Prinzip des steten, unermüdlichen Aufbaus. im Gegensatz zur zerstö-

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renden Macht Jualistischer Scheidung. Man mag Monismus, Pantheismus, Einheit sagen, im Grunde steckt ein freudiges bejahendes Gefühl dahinter, das Bewußtsein zu wachsen aus eigener Kraft, aber aus derselben Erde wie Baum, Tier und Mitmensch. Isolieren mag sich der Kleinmütige, Schwäch- liche, der immer nur fürchten muß, sein bißchen Eigenheit ganz zu verlieren, gewöhnlich zu werden unter den Gleichen, erdrückt zu werden vom frei sıch entfaltenden Nebeneinander.

Wie im Individuum aus dem Kampf ‚widerstrebender Kräfte sich schließlich eine fruchtbare Harmonie, eine be- stimmte geistige Richtung ergibt, so sind auch die Parteien der Gesellschaft zur Schöpfuug, zur Evolution berufen. Der Vertreter der Parteien verteidigt seinen Standpunkt, nımmt dıe Interessen seiner Gruppen wahr. Um aber der Ver- wirklichung seiner Ideen Dauer zu verleihen, bedarf es noch einer besonderen Anstrengung. die aus der Enge in die Weite strebt, sich über den eigenen Standpunkt erhebend, lavierend, ohne seinen eigentlichen Kurs zu verlieren, nach einenden Elementen sucht, ım Prinzip der Einheit das letzte unumgängliche Mittel der Entwicklung erblickt.

Bei Jaurès bedurfte es dieser Anstrengung kaum. Er war sich von vornherein bewußt, das alles, was aus Engherzigkeit, Mangel an Verständnis und gutem Willen, Überhebung und Starrsınn der Möglichkeit einer Einigung entgegen ist, zu verderblicher Auflösung und Vernichtung führen muß. Sozialismus bedeutet ihm mehr als Politik, wie ihm Menschheit mehr als Nation

bedeutet. In bewultem Gegensatz stand er zu Clemenceau.

erkannte mit aufrichtiger Trauer die erschüfternde Tragik. welche darin liegt, daß eine solche überragende Kraft sich an überlebten, unfruchtbar gewordenen Zielen in maſloser Energie verschwendet.

Jaurès ist tot, Clemenceau lebt. Das Volk dee Revo- lutionen verleugnet im Jahre 1919 den ersten Mai. Der

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gewaltige Politiker triumphiert über den großen Sozialisten. Die Zeit wird entscheiden. ob dieser Triumph von Dauer ist.

Seit seinem Eintritt in die Kammer im Jahre 1885 hat Jaurès eine Politik bekämpft. von deren verhängnisvollem Irrtum er ım Grunde seines Herzens überzeugt war. Der Streit. welcher sich damals wegen Tonkin und den kolo- nialen Fragen erhob. häfte seiner Meinung nach geschlichtet werden können. »Ich halte es mit für das größte Unglück, welches die Republik hat treffen können«, sagte er, :»daß dieses Vorspiel von Zank und Streit beı der Gesetzgebung von 1885 nicht vermieden worden ıst, und wenn es nıcht immerhin einigermaßen gewagt wäre von Schuld zu sprechen. wo es sch um die so schwierige und verwickelte Ent- scheidung über Wohl und Wehe der Menschen handelt, so möchte ich sagen. daß es der Hauptfehler im Leben Clemenceaus war, diesen Streit nicht verhindert zu haben. Man debaftierte damals im Parlament wegen der Aneignung kolonialen Gebietes, wie sie ın der Folge bei sämtlichen Großmächten zur Selbstverständlichkeit wurde. Jaurès warnte vor Unternehmungen, die einen Zusammenstoß der inter- essierten Regierungen schließlich unvermeidlich machen mußten, er verwarf Spekulationen, die oligarchischen Kreisen Vorschub leisteten und die Kraft und Einheit des Landes gefährdeten. Das alte Kolonialgebiet wahren, von Neueroberungen absehen, war sch gemäfhigter Vorschlag. Er drang nıcht durch. - Über Clemenceaus gegnerischen Standpunkt in dieser Zeit äußert er: Was die internationalen Fragen, die äußere Politik seit 1884 und 1885 betraf, so sucht Clemenceau, tappt . im Dunkel, wagt und wagt nicht. Er verallgemeinerte das Problem in seiner heftigen Art die Politik koloniale Er- oberungen zu bekämpfen und setzt sich eifrig, soweit es yon Frankreich abhängen konnte, für den endgültigen Frieden

= Jede Stunde des Friedens fördert die Freiheit, jede

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Stunde des Friedens dient der Gerechtigkeit. Die endgültige Revanche wird ın dem Sieg der neuen sozialen Ordnung bestehen.. sagt Clemenceau. Jaurès weil von vornherein, daß es sich hierbei um nichts anderes handelt als schöne Phrasen. „Das sinde, so bemerkt er, -wie es scheint entscheidende Worte. Die immanente Gerechtigkeit. von der Gambeſta sprach, verliert hier ihren geheimnisvollen Schleier. Das ist nicht mehr die rätselhafte Nemesis, die stumm und verhüllt an der Schwelle der Zukunft kauert und auf die vielleicht blutige Stunde der Sühne und Wiedervergeltung wartet. Diese immanente Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit der Demokratie: sie bedeutet Sicherstellung des Völkerrechts und des Rechtes der Individuen durch die Macht der Recht- lichkeit eines .dauerhaften Friedens. durch den Sieg der menschlichen, sozialen und internationalen Solidarität. Das ist nicht das Gewalt-Recht des Stärkeren. Ganz im Gegen- teil: es ist die endgültige, absolute Ablehnung der Gewalt und bewaffneten Rache, es ist die endgültige, absolute Ab- lehnung der militärischen Revanche, d. h. dessen, was der Sprachgebrauch schlechtweg unter »Revanche« versteht. Es ist die Konzentration aller Kräfte und Energien des fran- zösischen Volkes auf sein inneres Werk politischen und sozialen Fortschriſts.

Warum aber -hat sich Clemenceau zwanzig Jahre später über ein Wort von Pressense entrüstet. das eine fast wörtliche Wiederholung seiner eigenen Formeln war? Wie kam er vor allem dazu. in der Initiative zur all- gemeinen gleichzeitigen Abrüstung. welche Frankreich er- greifen sollte. eine Selbstverleugnung. eine sträfliche Un- klugheit zu sehen? Behaupten, daß man den Frieden will. heißt zugeben. daß man bereit ist. notwendigerweise auf alle kriegerischen Maßnahmen zu verzichten. wenn auch die andern Völker gleichzeitig zu diesem Verzicht bereit sind. Behaupten, daß die wahre Revanche im Fortschritt

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(on

der Demokratie und ın der Organisation einer neuen sozialen Ordnung bestehe, heißt erklären. daß alles. was den demokratischen Fortschritt und die Entfaltung der sozialen Gerechtigkeit beschleunigt. auch die Stunde der Revanche schleunig herannahen läßt. Und wer kann in Abrede stellen, daß die Politik des sicheren Friedens und der gemeinsam verabredeten Abrüstung zur Entfaltung von Freiheit und Gerechtigkeit beitragen wird, ındem die Militärkasten, dieses Instrument der Unterdrückung, in Mi- kredit gebracht und die Mittel, welche der bewaffnete Friede verschlingt. für soziale Zwecke nutzbar gemacht werden? Ist es denn so sträflich. zwanzig Jahre nach dem Kriege eine Politik zu verfolgen, die Clemenceau dreizehn Jahre nach dem Zusammenbruch verfocht? Wäre es wirklich so unbesonnen, nachdem wir dreißig Friedens- jahre erfahren haben, die Friedenserklärung Clemenceaus für eine Möglichkeit hinzunehmen, welche er der Welt verkündete, als Frankreich noch unter dem unmiftelbaren Eindruck des Schreckensjahres stand? Und wenn es unsrer- seits eine idyllische Albernheit ist, »Frieden zu blöken«, wie Clemenceau gesagt hat. wie häften wir mit den Wölfen heulen können, als er selbst zwanzig Jahre vor uns das Signal zum Blöken gegeben hafte? Sollte es sich bewahrheiten. daß aller Wille vergeblich ist. wenn man nicht fest entschlossen ist. das Werk der Demokratie bis zum Sozialismus zu vertiefen und mit allen Kräften des internationalen Proletariats den Friedenswillen zu stützen, und daß der Glaube an die friedliche Wiederherstellung der Rechtszustände trügerisch und unsicher ist. wenn er eich nicht auf die Gewiſcheit der sozialistischen Evolution stützt

In der Lösung der sozialen Frage gipfelt nach Jaurès innere und auch äußere Politik. In scharfem Gegensatz steht diese Auffassung zur Ansicht Clemenceaus. Kämpfer

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sind beide. Aber während der eine nationale Interessen und die Interessen seiner Partei vertrift, äußere und innere Politik treibt, legt es dem andern vornehmlich an einem Standpunkt, der die gesamte Menschheit nach Möglichkeit zu berücksichtigen imstande ist. Denn Jaurès ist ganz und gar nicht einseitiger Geschäftsführer des Proletariats. Vor- urteile sind ihm fremd. Man beachte, wie redlich er in allen Kämpfen stets bemüht war, einen versöhnlichen Ton zu finden. Immer war seine erste Frage: wo liegt das Gemeinsame, wo bietet sich eine Möglichkeit. ein Einver- ständnis mit dem Gegner zu erzielen. um auf dieser Grundlage dann vorsichtig weiterzubauen. Vorbildlich war sein Wille zur Verständigung. Während Clemenceau sschreit«, „auf brausend antwortete, in jeder Geste eine ab- wehrende Haltung verrät. läßt Jaurès auch da. wo er leidenschaftlich und scharf wird, immer noch jenes Wohl- wollen erkennen, welches zur sachlichen Diskussion uner- läßlıch bleibt.

sIch will keine Kasernen und Klöster; wie ihr sie vorbereitete, schreit Clemenceau. »Kasernen und Klöster.! spricht Jaurès, »was will er damit sagene? Und dann er- örtert er die Frage mit philosophischer Gelassenheit. die sch immer bewußt bleibt, daß Mißverständnisse die Hälfte alles Menschenzwistes ausmachen. Wer im Kollektivismus nichts anderes sieht als Zwangsanstalten wie Kasernen und Klöster, der anerkennt in seinen Augen im Privatbesitz und Kapitalismus die Bedingungen zur Freiheit. Auf diese Weise wird die Menschheit vor. eine geradezu grausame Alternative gestellt. Auf der einen Seite droht die Knecht- schaft der Proletarier, auf der andern die Knechtschaft durch Sozialismus. Es heißt entweder selbst Kerkermeister werden oder die Kerkermeister hinab ins gemeinsame Ge- fängnis zerren. Der Kampf der Klassen wird zum un- überbrückbaren Abgrund zweier Weltanschauungen. Nach

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Clemenceau ist der Bildungsstand der Arbeiter in den großen Städten und auf dem Lande derart, dał eine politische Bevormundung seitens einer aufgeklärten, gebildeten Gruppe erforderlich wird. Diese erlesene Gruppe, welche jeder Definition entbehrt, wird für die Aufwärtsentwicklung der Demoktatie verantwortlich gemacht. Mit seinen eigenen Worten: »Die Kunst der Politik ın einer Demokratie besteht. darin, die Emanzipation der überlegenen Gruppe in den Dienst der Emanzipation der anderen, untergeordneten Gruppe zu stellen. Der Grad der Bildung spricht das entscheidende Wort. Allerdings, fügt er dann beiläufig ein. sıch will zugeben. daſ hinter dem politischen Kampf der Kampf der Interessen steht. Ich gestehe sogar zu. wenn Sie wollen. daß es recht gesehen überhaupt nur Interessenkämpfe gibt.. Hier liegt der kapitale Unterschied zwischen der zeitgemäßen Forderung des großzügigen Sozi- alisten und der altväterlichen Erhabenheit des selbstgerechten Politikers. Clemenceau ıst als Erlesener der erlesenen Gruppe bereit, der ungebildeten Masse Aufklärung zukommen zu lassen, er fühlt sich sogar verpflichtet dazu, aber er benimmt sich dabei wie ein herrschsüchtiger Lehrer gegen- über seinen Schuljungen. Sein . Mißtrauen läßt ihn den Rohrstock nicht aus der Hand legen. Jaurès trit für die Bildung des Volkes mit nicht geringerem Eifer ein, lehnt es aber entschieden ab. sich die siliche Bevormundung seiner Mitmenschen angelegen sein zu lassen. Bildung ist Freiheit. und Freiheit verschenkt sich nicht. Den Weg bahnen. mit gutem Beispiel vorangehen. reformieren und nieht herrschen ist seine Aufgabe. Denn welches ist im Grunde die aufgeklärte Gruppe, die sich berufen wähnt. die Erziehung des Menschengeschlechtes zu übernehmen? Das ist die Elite der Bürger und Kapitalisten. Die ist emanzipiert. mehr als das, sie ist souverän. Ihren Händen soll das Schicksal des Proletariats anvertraut werden, sie

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sollen die Unbemittelten lehren: wie mans macht. Jeden- falls wäre das noch das Beste, was dabei herauskommen könnte. Nein. Jaurès will nicht gnädig sein und die armen Teufel lehren. wie se im Kampf ums Dasein am besten ihre Interessen zu wahren haben, wie. sie es anzustellen haben, daß sie über kurz oder lang aus ge- schundenen Schülern zu schindenden Lehrern werden. aus armseligen Proletariern zu Mitgliedern der - erleuchteten Gruppe · „Die Klasse der Proletarier«, sagt er. ist nicht gewillt. die Menschheit -dem Eigentum unterzuordnen. im Gegenteil, sie unterstellt das Eigentum der Menschheit. Sie will, daß die Menschheit aufhöre, Instrument des Eigen- tums zu sein, sie will das Eigentum zum Instrument der Menschheit machen. Sie bereitet auf diese Weise unbe- stritten eine soziale Ordnung vor. für die es überhaupt keine Klassen mehr gibt.. Jaurès ist weniger entrüstet als aufrichtig betrübt über die Kurzsichtigkeit Clemenceaus. Er erblickt eine verhängnisvolle Tragik in der Art. wie eich die gewaltige Kraft des rastlosen Politikers auf Irr- wegen vergebens verschleudert: » Wie schade, daß Clemenceau- selbst nicht alle Folgerungen aus den Prämissen zieht. welche in seinen Worten dunkel enthalten sind. Diese Konfusion der Gedanken, diese Unsicherheit einer Idee, welche dıe Zukunft ım Auge behält, sich aber selbst alle Türen verschließt, gibt den Ausführungen Clemenceaus.. ıch weill nicht wie, etwas Beschränktes das fast schmerzhaft berührt. Und das kommt daher, weil er sich von der wahren Natur des Klassenkampfs immer noch keine rechte Vorstellung machen kann, weil er ein blindes Durcheinander von Miftrauen und Haß darin erblickt, das vom Cäsarentum entfesselt und entfacht wird.

Die Ablehnung der bürgerlichen Tendenzen vollsieht sch bei Jaurès mit bewundernswerter Objektivität. Der

Historiker. welcher die erste Geschichte des Sozialismus

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schrieb, ist weit davon entfernt, sich einseitigen Wider- spruch zum Grundsatz zu machen. Der Kapitalismus ist ihm eine entwicklungsgeschichtliche Notwendigkeit, welche in ihrem Ursprung der Größe durchaus. nicht entbehrt. Ohne religiösen Geist, ohne sittliche Kräfte wäre die er- staunliche Entwicklung der Bourgeoisie schlechthin unmöglich gewesen.

»Die Bourgeoisie wäre nicht so groß geworden, wie sie ist. sie hatte die weite moderne Welt mit ihren un- begrenzten Möglichkeiten nicht schaffen können, wenn sie geglaubt hätte. daß sie lediglich ein elendes Ausbeuter- gewerbe betreibe. wenn sie nicht zum mindesten edle Illusionen von hehrer Gesinnung und Begeisterung für den Fortschritt der Menschheit besessen hätte. Karl Marx verfuhr in seiner Beurteilung kapitalistischer Zustände zu einseitig. Er verleugnete die fruchtbaren Kräfte, wollte nur die Schaftenseiten sehen. Jaurès fährt fort:

„Es wäre ein großes und verlockendes Problem weit verwickelter und viel menschlicher als dasjenige, wo- mit sich Marx beschäftigt hat zu untersuchen, wie diese Art moralischer Gewißheit, diese Sicherheit des Ge- wissens sich bei der Bourgeoisie anbequemen konnte an all die gewalttätigen und trügerischen Praktiken. an die Grausamkeiten in den Kolonien. an die Gaunereien im Handel, an die ganze Mannigfaltigkeit der Ausbeutungs- formen. welche den ersten Perioden des Kapitalismus = seinem Erscheinen und seinem Wachstum das Gepräge gaben. Dieses Problem geht über meine Kraft: man mülte die zahllosen Elemente einer moralphilosophischen Unter- suchung darüber aus den Dokumenten aller Art, dıe das XVI. XVII. und XVIIL Jahrhundert uns hinterlassen bat. hervorholen. Und nur eine starke und divinatorische Begabung könnte bis zum Grunde des Problems vor- dringen. Aber gewiß ist, daß die Bourgeoisie nicht edie

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Kraft gehabt häfte, die wirtschaftliche Umwälzung zu unternehmen und über alle furchtbaren Schwierigkeiten hinweg zu vollenden. wenn sie mit einer verkümmerten, schmutzigen Seele begonnen, wenn sie nicht den Glauben an den endgültigen Segen ihres Werkes für die ganze Masse der Menschen gehabt hätte. in denen sie, Christus und der Vernunft zufolge, ihre Brüder erkennen müßte. Es wäre kindisch, in der Kühnheit der religiösen Revolution. in der die Bourgeoisie soweit ging. nur eine macchiavellistische kaufmännische Berechnung zu erblicken.

Die schöpferische Kraft des Kapitalismus läßt sich nicht leugnen. Es wäre verkehrt, rücksichtslos zu verdammen und Elemente des Aufbaus vernichten zu wollen, die für die Aufwärtsentwicklung der menschlichen Gesellschaft unerläß- lich sind. Die politische Freiheit ist dem Proletariat gegeben. Jetzt muß es daran gehen, sıch seine wirtschaftliche Frei- heit zu sichern. Der mittelalterliche Feudalismus wurde ab- gelöst vom bürgerlichen System. Durch den Übergang der Produktionsmiſtel in den Besitz der Gesellschaft vollzieht sich die Schöpfung des neuen "Systems. das mit Klassen- vorrechten aufräumt und in sozialer Gerechtigkeit der menschlichen Gesellschaft dient.

In der Methode. diesem neuen System zum Sieg zu verhelfen. triſt Jaurès in ausgesprochenen Gegensatz zu einem anderen Politiker, Jules Guesde. Die Kluft, welche Guesde von der Bourgeoisie trennt. ist unüberbrückbar Ja. er legt sogar den größten Wert darauf, daß sie unüberbrückbar. bliebe. Reformen, welche in friedfertiger Vereinbarung herbei- geführt werden, gelten ihm nichts sind im Gegenteil Kompromisse, die im letzten Grunde für das Proletariat von nur schädigendem Einfluß sein können. Unversöhnlich steht er der kapitalistischen Staatsordnung gegenüber. Ge- walt muß Recht schaffen. Grau in grau wird die alte Ordnung in bewußter Entstellung und Übertreibung dar-

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gestellt. Legitime Wege. Wirkung im Parlament und in der Regierung werden verworfen oder sind doch nur von untergeordneter Bedeutung:

„Um ärztlichen Beistand seitens der Kommunen handelt es mch? Gehen Sie nur fröhlichen Herzens hin, meine Herren Verwundeten. Dank dem »Progressiste von Lyon werden die Steuerpflichtigen die Kosten zahlen. Sie sind es die Euren Opfern umsonst Ärzte und Medi- kamente liefern werden .. und wer weiß? vielleicht auch einen Sarg, wenn es nötig ist. Der Arbeiterdeputierte von Lyon ist ein Possenreißer.«

Guesde bleibt nicht immer konsequent: Jaurès hat ihm seine Widersprüche deutlich vor Augen gehalten, aber in der Theorie und auch ın den Hauptrichtlinien seines praktischen Verhaltens behandelt er Evolution und Reformen als Blendwerk und Schwindel, vor dem das Proletariat zu warnen ist. Nicht durch gerechte Teilnahme der Proletarier an den politischen Befugnissen. sondern durch ihre unbe- schränkte Vorherrschaft ist die neue Ordnung denkbar. und herbeizuführen ist dieses Ubergewicht nur auf gewaltsamem Wege. Bietet sich für bürgerliche und sozialistische Gruppen eine Gelegenheit zu gemeinsamem Handeln. zu gemeinsamer Förderung humaner Interessen. Guesde zieht die Hand zu- rück, verschließt die Augen, ist vor allem darauf bedacht. die Gegensätze immer gewaltiger anwachsen zu lassen. um auf diese Weise schließlich in unvermeidlichem Kampf auf Leben und Tod die Entscheidung herbeizuführen. Auch Jaurès schrickt vor gewaltsamen Eingriffen nicht zurück, hält die Revolution für einen wesentlichen Faktor des Fortschrifts, aber nur notgedrungen läßt er sich herbei. zu diesem äußersten Mittel zu greifen. Er will jede Sozialreform unterstützen soweit es ihm möglich ist, ganz gleich von welchem Lager sie ausgeht, ruft aber ohne Bedenken den

Proletariern zu: 14

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„Die Vergewaltigungen seitens der Machthaber fordern selbstverständlich die Gewalttaten des Volkes heraus und rechtfertigen sie... Erwartet den unausbleiblichen Tag der Revolution!.

Am besten erkennt man aus den folgenden Worten. wie Jaurès über die sozialistische Kampfmethode dachte:

„Es hat nicht viel zu sagen, daß die einen unter uns sich mehr von der Wirksamkeit des allgemeinen Wahl- rechts versprechen, die anderen mehr von der Notwendig- keit revolutionären Handelns. Es gibt niemand unter uns Sozialisten, der ım Wahlkampf nicht dabei sein wollte. Die Ersetzung des kapitalistischen Eigentums durch das soziale Eigentum ist eine zu einschneidende ökonomische Revolution, sie. setzt zu entgegengesetzte Leidenschaften, Hoffnungen und Befürchtungen ın Bewegung, als daß es jemandem zukäme, im voraus mit Sicherheit den Weg zu bestimmen, den man zur Lösung der Aufgabe beschreiten muß.«

Immer wieder steht das Prinzip der Einheit bei Jaurès im Vordergrunde aller Erwägungen. Die Möglichkeiten einer fruchtbaren und gerechten Evolution sind für ihn nicht lediglich auf sein Parteiprogramm aufgebaut. Wo Einmütig- keit im Handeln herbeizuführen ist. müssen die Schranken einseitiger Gruppenpolitik fallen. Alle Krafte sind frei zu machen und zu unterstützen. welche für die Entfaltung sozialer Gerechtigkeit in Frage kommen. Als man ihm gelegentlich der Dreyfusaffäre den Vorwurf macht, daß er sich für einen Offzier, für einen Angehörigen der ver- haften Militärkaste, allzueifrig ins Zeug lege, weist er diesen Vorwurf entrüstet zurück, erklärt den Fanatikern. daß es sch um Prinzipien und nıcht um Personen handele. Gerech- tigkeit ist ein Gut, an dem die gesamte Menschheit teilhaben mul, wenn der Glaube an den Fortschri® nicht unter- geben soll.

„Es gibt Stunden · sagt er. da es für das Proletariat

Jean Jaurès 685

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von Interesse ist. eine allzu heftige intellektuelle und moralische Entartung selbst der Bourgeoisie zu verhindern. Als sich gelegentlich eines Verbrechens der Militärbehörde zwischen den verschiedenen bürgerlichen Parteien der Streit erhoben hafte. welchen Sie kennen. und als eine kleine bürgerliche Minorität den Versuch machte. gegenüber dem ganzen Lügengemächte, das gegen sie losgelassen wurde, nach Gerechtigkeit und Wahrheit zu schreien, damals war es aus obigen Gründen Pflicht des Proletariates. seine Neutralität aufzugeben, sich da einzusetzen, wo die Wahr- heit litt. wo die Menschheit um Hilfe rief.

Der Weg zu einmütigem Handeln ist Verständigung. Der Weg zur Verständigung Aufklärung. Auf einen wohl- durchdachten. sorgfältigen Unterricht der Jugend legte Jaurès ganz besonderen Wert. Man darf sich nicht scheuen. mit Ernst. Schlichtheit und Größe zu den Kleinen zu sprechen. Im Kinde schlummert ein unbegrenzter Wissensdurst. sein Herz begegnet der Idee mit einer wunderbaren Empfäng- lichkeit. die leider immer noch unterschätzt und mißachtet wird. Vor allem gilt es. die Freude an selbständıgem Lesen zu wecken. »Wenn ein Schüler, der wissensdurstig ist, recht lesen könnte, so würde er schnell nach der Lektüre von sieben oder acht ausgewählten Büchern eine zwar sehr allgemeine, aber doch sehr hohe Idee von der Geschichte des Menschengeschlechts, von dem Aufbau der Welt. von der Geschichte der. Erde innerhalb des Alls und von der Geschichte Frankreichs innerhalb der Mensch- heit gewinnen können.«

Hinsichtlich der Bildungsmöglichkeiten tri& die soziale Ungeheuerlichkeit unserer Zustände am besten zutage. Welch ene Roheit läßt sich die Gesellschaft zuschulden kommen, indem sie dem geborenen Reichen die Tore zu aller Er- kenntnis und Schönheit weit öffnet. während dem geborenen Armen gerade in dem Augenblick die Miel zur Ver-

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vollkommnung entzogen werden, da er die Früchte seiner geistigen Anstrengung langsam zu genießen beginnt. Man behandelt ihn wie einen Klavierschüler, den man vorsätz- lich über die unvermeidlichen Fingerübungen nicht hin auskommen lat. Welch ein alberner Widerspruch ergibt sich daraus, daß die geistig-religösen Elemente, welche der Staat in der Volksschule zum Prinzip des Unterrichts macht, von der geistigen Elite ganz Europas mit Recht oder mit Unrecht verleugnet werden. Wie soll die Menschheit zur Ver- wirklichung eines gemeinsamen Ideals heranreifen können, wenn die einzige Bildungsstufe, welche der Masse zu er- klimmen möglich ist, nicht nur denkbar niedrig bleibt, sondern überhaupt keine Grundlage, keinen Ansatz zu dem bildet, was den geistig zu höchst Stehenden am wesent- lichsten erscheint. Die siliche Diktatur der Kirche hat der Gesellschaft schweren Schaden gebracht. Das erste Recht der Masse ist das Recht auf ein eigenes Gewissen, Die Aufgabe des Unterrichts beschränkt sich auf Auf- klärung. Gewissenszwang bedeutet Sifllichkeitsverbrechen. Der Grieche erkannte nur die eigene Kultur an und haßte und verachtete den Barbaren, der Christ taufte die Heiden mit Feuer und: Schwert, der Katholik muß von seiner allein- seligmachenden Anschauung überzeugt sein. Der moderne Mensch ıst keiner Schablone unterworfen. Der Unterricht dient dazu, ihn reif zu machen für die Erkenntnis der Forderungen sozialer Gerechtigkeit und die Gefahren des Egoismus. Nur da ist sitliche Reife denkbar, o Freiheit dıe Vorbedingung moralischer Entwicklung war. Unterrichten heißt, den Weg ebnen und nicht, den Weg bestimmen. Der Unterricht darf daher keinem nivellierenden Unifor- mismus unterworfen werden. Die Kommunen haben das Recht, neben den Staatsschulen eigene Unterrichtsanstalten ins Leben zu rufen, welche den besonderen Neigungen der Landschaft und Bevölkerung entsprechen. Die Methode des

Jean Jaurès l 687

Unterrichts bietet unbeschränkte Möglichkeiten, das Ziel bleibt dasselbe: Erziehung zur Freiheit. Das oberste Prinzip der Erziehungsfrage aber ergibt sich aus den folgenden Worten:

»Man diskutiert, man legt seine Gründe dar, als ob eine große Nation sich fest für dieses oder jenes Unter- richtseystem entscheiden könnte. Meine Herren, man lehrt nicht das, was man will. Ich möchte nicht einmal behaupten. daß man das lehrt, was man weiß oder was man zu wissen glaubt. Man lehrt nur und man. kann nur lehren, was man ist.

Die praktischen und moralischen Forderungen, welche Jaurès an den politischen Menschen stellt, sind evident. Schwieriger ist es. sich ein deutliches Bild von der end- gültigen Form zu machen, welche die Gesellschaft nach seinem Urteil annehmen soll. Die Ansichten Bernsteins. daß die Bewegung alles, das Endziel garnichts bedeute, teilt er nicht: .

Aber diejenigen, welche es sich zum Ziel gesetzt haben, die Demokratie auf breiten und sicheren Wegen zum Kommunismus zu führen, diejenigen, welche nicht auf den

wang emer Stunde, auf die Illusionen eines erregten Volkes rechnen können, sind verpflichtet, mit der bestimmtesten Klarheit auszusprechen, welcher gesellschaftlichen Form sie die Menschen und Dinge zuführen wollen und durch welche Einrichtungen und Gesetze sie zur kommunistischen Ordnung zu gelangen hoffen. Ich weil nicht. ob Bernstein nicht durch die Notwendigkeit der Polemik dazu geführt wurde, ın erster Linie die kritische Seite seines Werkes auszuführen. Es wäre jedenfalls ein schwerer Irrtum und ein großer Fehler, das Endziel des Sozialismus im Dunkel der Zukunft verschwimmen zu lassen. Der Kommunismus muß die leitende und sichtbare Idee der ganzen Bewegung bleiben.

688 Fritz Schwarz

Die Menschheit krankt am Dualismus von Kapıtal und Proletariat. Aufgabe des Proletariats ist es, diesen Dualismus zu beseitigen. doch nicht darum setzt er im Klassenkampf seine Kräfte ein. um den Kapitalisten zu berauben. um auf seine Kosten Kapitalist zu werden. Das hieſſe jenen Dualismus nicht aus der Welt schaffen. sondern ihm ledig- lich eine neue Form geben, die keineswegs Anspruch auf soziale Gerechtigkeit machen könnte. - Damit also der Klassenkampf tatsächlich zum Austrag komme«, sagt Jaurès, genügt es nicht. daß das ganze organisierte Proletariat gegen den Kapitalismus vorgeht, es genügt nicht. daß ein Antagonis- mus der Interessen zwischen Kapitalisten und Angestellten vorhanden ist. die Angestellten müssen auf Grund der Ge- setze der geschichtlichen Evolution auf die Errichtung einer neuen Ordnung hoffen. In dieser neuen Ordnung wird das Eigentum auf hören Monopol zu sein. Der Besitz wird nicht gesondert und privat bleiben. sondern sozial werden. damit alle Produzenten vereinigt sind. und gleichzeitig an der Arbeit und dem Genuß ihrer Früchte teilhaben.

Das Proletariat ist berufen. eine Rolle von weltge- schichtlicher Bedeutung zu spielen. die weit über seine engere Interessensphäre hinauswächst. Gerechtigkeit allen, heißt seine Forderung. Sozialismus bedeutet Humanität. Die sozialistische Frage ist eine Frage der f ganzen Menschheit. Keine Klasse, keine Partei hat ein so weitschauendes um- fassendes Ziel.

„Das edelste Ideal bedeutet eine Gesellschaft. in der die Arbeit herrscht. in der es weder Ausbeutung noch Unterdrückung gibt. in der die Kräfte aller sich in freier Eintracht vereinen, in der das soziale Eigentum. Grundlage und Bürgschaft der persönlichen Entfaltung aller bedeuten wird. Daß alle Menschen aus dem Zustande rücksichts- loser Konkurrenzkämpfe zur Vereinigung übergehen. dal dıe Masse sich von der wirtschaftlichen Passivität zur Initiative

Jean Jaurès 6889

und Verantwortlichkeit aufschwingt. daß alle Tatkraft. die aich in fruchtlosen und wilden Kämpfen verausgabt. sich einer großen, gemeinsamen Aktion anschließt: das ist das höchste Ziel. welches sich die Menschen stecken können. Wenn die Menschen erst weniger darauf versessen sein werden zu herrschen, wenn sie auch von der Sorge. sich zu verteidigen weniger im Bann gehalten und ihrer selbst und der anderen sicherer sein werden, dann werden sie auch mehr Muße und geistige Unbefangenheit haben, um Körper und Geist zu bilden.“

Der Sieg des Proletariats im Klassenkampf führt also ganz und gar nicht zur Diktatur, denn dieser Sieg bedeutet nichts anderes als Verzicht auf jede Klassenherrschaft. Gewalt darf nur dort angewandt werden. wo Notwehr in Frage kommt. Wo Vergewaltigung droht. Im übrigen vollzieht sich die Umbildung der neuen Gesellschaft in friedlicher Evolution. die jedes Glied zur Teilnahme auf- fordert.

Ferner vollzieht sich die Umwandlung innerhalb der Nation als der gegebenen organischen und historischen Form. denn der Proletarier hat trotz Marx und Engels ein Vaterland. In den »Cahiers de la QJuinzaine«*) äußert sich Jaurès in einem. »das Endziel« betitelten Artikel wie folgt:

All diese Not. alle Ungerechtigkeiten und Unordnung kommt nur daher, daß eine Klasse die Produktions- und Lebensmittel im Besitz hat und ihre Gesetze einer anderen Klasse und der ganzen Gesellschaft vorschreibt. Diese Oberhoheit einer Klasse muß also gebrochen werden. Die unterdrückte Klasse und damit zugleich die ganze Gesellschaft muß befreit werden. Der Klassenunterschied muß auf- gehoben werden, indem man der Gesamtheit der Volks- genossen, der organisierten Gemeinschaft. den Besitz der

) Nach einer Übersetzung von Dr. Südekum.

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Lebens- und Produktionsmiftel überträgt. die heute in den Händen einer Klasse Miel zur Ausbeutung und Unter- drückung sind. Anstelle der anarchischen und mißbräuch- lichen Herrschaft einer Minderheit muß die allgemeine Genossenschaft der vereinigten Bürger gesetzt werden mit dem allgemeinen Besitz der Miel zur Arbeit und zur Freiheit, das ist der einzige Weg. die Menschen zu befreien. Und deshalb ist es das Hauptziel des kollektivisti- schen und kommunistischen Sozialismus. das kapitalistische Eigentum in ein gesellschaftliches Eigentum zu verwandeln.

In dem gegenwärtigen Zustand der Menschheit, wo es nur nationale Organismen gibt, wird das soziale Eigentum die Gestalt des nationalen Eigentums haben. Das Vorgehen der Proletarier wird mehr und mehr international sein. Die verschiedenen Nationen werden auf dem Wege der Entwicklung zum Sozialismus ihre wechselseitigen Beziehungen mehr und mehr in Frieden und Gerechtigkeit ordnen. Aber die Nation wird noch auf lange Zeit hinaus den historischen Rahmen des Sozialismus abgeben, die Form der Einheit liefern, in die die neue Gerechtigkeit gegossen wird.

Man wundere sich nicht, daß wir, nachdem wir zuerst die Freiheit der menschlichen Person verlangt haben, die nationale Gemeinschaft ıntervenieren lassen. Nur die Nation kann alle einzelnen befreien. Nur die Nation könnte alle die Mittel zur freien Entwicklung bieten. Die einzelnen. kleinen. vorübergehenden Organisationen vermögen nur zeit- weise kleine Gruppen von Individuen zu unterstützen. Aber es gibt nur eine allgemeine und beständige Organisation, welche die Rechte aller Individuen ohne Ausnahme, und nicht nur der lebenden. sondern den noch kommenden Generationen zu sichern imstande ist.

Und diese allgemeine, unvergängliche Organisation, welche auf einem bestimmten Teil des Planeten alle Individuen umfaßt und ihr Werk und ihre Gedanken auf die nach-

Jean Jaurès o 0. 08 folgenden Organisationen erstreckt, das ist die Nation. Wenn wir uns auf die Nation berufen, so deshalb, um die Totalität und Universalität des individuellen Rechtes sicher zu stellen. Kein menschliches Wesen darf in irgend einem Augenblick außerhalb der Rechtssphäre stehen. Niemand darf der Gefahr ausgesetzt sein, der Sklave oder das Instrument eines anderen Menschen zu werden. Niemand darf der positiven Miel beraubt sein, frei. ohne knechtische Ab- hängigkeit, von wem auch immer sie ausginge, zu arbeiten. Bei der Nation findet das Recht aller Individuen ‘heute, morgen und alle Tage seine Gewährleistung. Und wenn wir der nationalen Gemeinschaft das übertragen, was das Eigentum der kapitalistischen Klasse war, so geschieht das nicht. um aus der Nation ein Idol zu machen, um ihr die Freiheit der Individuen zu opfern. Im Gegenteil, nur damit sie die Basıs für alle individuellen Betätigungen wie für alle individuellen Rechte abgeben sol. Das soziale, das nationale Recht ist für uns nur die Totalıtät, der Inbegriff der Rechte aller Individuen. Das soziale Eigentum ist nur das Miftel, das allen zur Verfügung steht." Nationen, welche im Innern nach obigen Grundsätzen organisiert sind, müssen naturgemäß im Verkehr miteinander neue, menschenwürdige Formen annehmen, von denen bisher nicht die Rede war. Kein Staat war bisher über seine - Pflichten und Rechte im Klaren. Die schwachen Ansätze humaner Verbindlichkeit, wıe sie z. B. ım Haager Abkommen zum Ausdruck kamen, haben im Kriege ein gründliches Fiasko erlitten. Das Wort Patriotismus hat einen recht üblen Beigeschmack bekommen. Dem Staat der alten Form fehlte und fehlt noch heute: das Gewissen. Dem Staat ist erlaubt. was dem Individuum bei hoher Strafe untersagt ist: Diebstahl, Betrug, Raub und Mord. Übertriebene Höflich- keit und unehrliche Hochachtung bilden den diplomatischen Deckmantel für infame Intriguen. Diplomat sein heißt be-

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—— e naen omeen ete Sia ER wen

trügen können. Daneben treibt die Militärbehörde schon zu Friedenszeiten ihr demoralisierendes Werk. Gelegentlich der Dreyfusafläre bemerkte Jaurès:

Die Nationen, welche offiziell im Frieden sind. rüsten nicht nur gegeneinander. sondern sie lassen sich auch fort- während zum niedrigsten Spionageverfahren herbei. Sie sind bemüht, die ausländischen Offiziere zu korrumpieren, um se zum Verrat zu bringen, sie versuchen durch Diebstahl und Betrug einander ihre Geheimnisse zu entwenden. Spionage, Gegenspionage, Kauf der Gewissen Raub von Dokumenten, das ıst das hohe moralische Ziel, wohın das gegenwärtige System der Nationen führt. Wird die europäische Gesiftung einmal dieses System abgeschüftelt haben, so wird sie erstaunt sein, daß sie solche Schande so lange zu ertragen vermochte.«

Die Nation mul ihre Unabhängigkeit. AER Ein schlagkräftiges Heer bleibt vorläufı 19 unerläßlich. In seinem Werk »Die neue Armees hat Jaurès die Frage der nationalen Verteidigung eingehend erörtert. Mit erstaunlicher Sachkennt- nis entwickelt er die Probleme, bewegt sıch auf dem ıhm fremden Gebiet mit solcher Sicherheit, daß Männer vom Fach ihm einstimmig höchste Anerkennung zollen. Der wissenschaftliche Charakter der umfassenden Arbeit läßt die Ausführungen niemals trocken oder gar langweilig erscheinen. Wie immer. so verbindet Jaurès auch hier strenge Sachlich- keit mit begeisterter Schwungkraft. Dazu kommt, daß sein weıftragender philosophischer Blick aus der Enge des Gegen- ständlichen hinaus die interessantesten und anregendsten Perspek- tıven gewährleistet und ın fesselnder Weise dıe militärischen Fragen mit dem sozialen Problem sich verschmelzen läßt.

Von allen Militärsystemen der Welt entspricht seiner Ansicht nach das schweizerische am ehesten dem Ideal einer demokratischen. völkischen Armee. Abzuschaffen ist vor allem der verderbliche Dualismus von aktıvem Heer

Jean Jaurès 693

und Reserve. Die aktive Armee sollte alle verwendbaren Bürger vom 21. bis zum 35. Lebensjahre ın sıch vereinen. Achtmal werden die Angehörigen des Volksheeres zu o. bis 21 tägigen Ubungen einberufen. nachdem sie zuvor eine halbjährige Ausbildung erledigt haben. Vom 14. Lebens- jahre an werden die Knaben zu militärischen Übungen herangezogen. Der gesamte Militärdienst vollzieht "sich nicht in abgeschlossenen Kasernen, sondern innerhalb des völkischen Lebens. Auf diese Weise wird unter großen Ersparnissen von Zeit und Geld eine Volkswehr herangebildet, dıe als geschlossenes Ganzes gelten und einheitlich Verwendung finden kann. Die Freude an soldatischer Betätigung wird erhöht. die störende Unterbrechung ım Berufsleben mit ıhren un- berechenbaren Folgen fallt fort, der Heeresdienst wird zur willkommenen Abwechslung innerhalb der alltäglichen Be- schäftigung. Die Privilegierten mögen sich beruhigen, daß aus einem permanenten Übungsheer, dessen Angehörige die Waffe im Hause haben, eine Gefahr für die öffentliche Sıcherheit erwachse. Als Beispiel wird wieder die Schweiz herangezogen. Zürich. Winterthur. Basel bilden bedeutende In- dustriezentren. Der Gegensatz von Kapital und Proletariat kam dort in Streiks, Demonstrationen und Aufständen häufig genug zum Ausdruck Militär machte von der Waffe Ge- brauch, um der Volksmassen Herr zu werden. Der um- gekehrte Fall ist nie eingetreten. Jaurès hat über seinen Tod hinaus recht behalten. Die Straßenkrawalle haben sıch vermehrt und schroffere Formen angenommen, und doch. besteht zwischen derartigen Zusammenstößen von Polizei und Masse oder Militär und Masse ein himmelweiter Unterschied. was etwa Zürich und Berlin anbetrifft. Der Segen eines aus dem Volke erwachsenen Übungsheeres kann nicht deut- licher zum Ausdruck kommen. Jaurès hat recht, wenn er sagt:

Die Wahrscheilichkeit blutiger und brutaler Zusammen- stöße zwischen der Armee und dem arbeitenden Volke

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muß sich mit jedem Tag verringern. Sie muß verschwinden. Sie wird verschwinden..

Abzuschaffen ist ferner die Einrichtung des exklusiven aktiven Offizierstandes. welcher den Massen verständnislos gegenübersteht und eine Nluft zwischen Leitung und Heer entstehen läßt, die dem einfachen Volksgenossen alle Freude an militärischer Betätigung nimmt. Mit vorbildlichem Ent- gegenkommen fordert Jaurès die Offiziere selbst zur Ein- sicht auf. bitet sie eindringlich, den persönlichen Ehrgeiz dem höheren. nationalen Interesse zu opfern. Denn das Volk hat nicht nur das Recht. es hat die Pflicht zu fordern, daß die militärische Organısation ohne jedes Vor- urteil einer besonderen Klasse und Kaste vor sich geht. und daß sie von keinem anderen Standpunkte betrachtet wird als einzig und allein von dem der nationalen Ver- teidigung. Um Offiziere heranzubilden, die der Aufgabe der Führer eines Volksheeres gerecht werden, ıst es vor allem nötig. daß man ihre systematische Isolierung ın Militärschulen aufgibt. Wie der Soldat durch die Ab- sperrung in der Kaserne die Fühlung mit dem Volk verliert, so leitet sich die exklusive Haltung des Offiziers nicht zum wenigsten aus jener strengen Abgeschlossenheit her, die ihn sogar vom Verkehr mit Männern derselben Standes- und Bildungsstufe abschneidet. Das freie Studium auf der Universität sollte für die Offiziere wie für die Akademiker, Juristen. Ärzte, Ingenieure gelten. Dort ist Gelegenheit zur Fühlungnahme mit den verschiedenen Berufs- interessen gegeben, dort kreuzen sich die Ideen, färben aufeinander ab, durchdringen sich. Gleichzeitig bricht . man so mit dem absurden Prinzip, dem angehenden Offizier im Gegensatz zu allen anderen (sebildeten Vorgesetate au Lehrern zu geben. : zu kommandieren wo man unterrichten sollte.

Die Armee ist der Ausdruck der selbständigen Aktivität

Jean Jau ooo 885 einer ganzen Nation und nicht das Werkzeug einer schuld- bewußten und darum ängstlichen Ausbeuterklasse. Wenigstens sollte es so sein. Wie jeder Organisation, so muß auch der Armee selbständiges Denken zuerkannt werden.

Was die Arbeiter, was die Sozialisten an der Armee auszusetzen haben, ist die Tatsache, daß sie der Bourgeoisie als Werkzeug zu innerer Unterdrückung und zu Aben- teuern außerhalb des Landes dient. Wenn man die Wahrheit sagen soll, sie ist tatsächlich nur ein Werkzeug. Sie hat keine eigene Kraft, keinen: autonomen Willen. keine selbständige Politik. Sie ist, in Frankreich wenigstens, die Dienerin der Zivilbehörden. Selbst wenn sie sich häßlıche Ausschreitungen zuschulden kommen läßt, wenn sie dıe Verfassung verletzt, die Freiheit beengt oder vernichtet, auf das Volk schießt, so geschieht das ganz und garnıcht auf Initiative ihrer Führer hin und ganz und garnicht in ihrem eigenen und direkten Interesse.

Jaurès darf hier nicht mußverstanden werden. Die Forderung der Selbständigkeit hat ıhre Grenzen und will selbstverständlich nur insoweit gelten, als der Wille des gesamten Volkes darın verkörpert wırd. Die Tatsache, daß die Armee den Interessen der Reaktion einseitig dient, muß aus der Welt geschaffen werden. Dem Proletariat werden durch solche Einseitigkeit ın ganz unbilliger Weise die politischen Rechte geschmälert. Die Armee, namentlich die französische Armee, muß gegebenenfalls zum wesent- lieben Faktor der Revolution werden. Der sozialistische Historiker gibt dieser Lieblingsidee breiten Raum. Zu- sammenfassend bringt er seine Anschauung ın den Worten zum Ausdruck:

Ein kräftiges Volksheer. welches den Kasernendienst in Schulunterricht umwandelt. welches die Kaserne zu einer Schule macht und aus der gesamten Nation eine

gewaltige und starke Armee bildet. die im Dienst der

696 n Fritz Schwarz

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nationalen Autonomie und des Friedens steht. ein solches kräftiges Volksheer bedeutet innerhalb der militärischen Organisation die wahre Befreiung Frankreichs. Nur so läßt eie sich herbeiführen.

Das begeisterte Eintreten für die Schöpfung eines nationalen Volksheeres verleitet Jaurès niemals dazu. über sein Ziel hinauszuschießen. Die Wehrmacht verfolgt ledig- lich den Zweck nationaler Verteidigung. Keine unlautere Nebenabsicht dart dieses Ziel trüben. Bis zum letzten Atemzuge war er bemüht. der friedlichen Verständigung der Völker nach bestem Gewissen und mit allen Kräften zu dienen. Die Liebe zur Heimat schließt eine wirksame Internationale nicht aus: Man könnte fast sagen: Ein wenig Internationalismus entfremdet dem Vaterland. viel Internationalismus nähert uns ihm. Ein wenig Patriotismus entfremdet der Internationale. viel Patriotismus nähert uns ihr. Die Idee der Einheit muß im Verkehr der Nationen wie überall zum Ausdruck kommen. Einer der obersten Grundsätze internationaler Einigung besteht darin. daß man mit der eigenen Schuld und Unzulänglichkeit nicht Versteck spielt. daß jeder vor seiner Tür kehrt. ansta sich in Selbstüberhebung und billiger Anklage des Gegners über die eigenen Fehler hinwegzutäuschen. Es war ein ver- hängnisvoller Irrtum. in suggestivem Eigendünkel Patriotismus üben zu wollen. Selbsterkenntnis ist hier wie überall der erste Schrift zur Besserung. Wohltuend wirkt die Offen- heit, mit der Jaurès schlicht und sachlich von der eigenen Schuld spricht ohne sich von der landläufigen patriotischen Meinung beirren zu lassen. Er warnt vor Selbstbetrug und Fahrlässigkeit, er wagt es. seine Landsleute darauf aufmerksam zu machen, daß die Kriegserklärung auch in einer Republik durchaus nicht immer den Willen des Volkes verkörpere. Die Internationale der Arbeiter und Sozialisten hat die Pflicht. den Frieden über alle nationale

Jean Jure 597

Engherzigkeit und V oreingenommenheit hinweg zu erhalten.

„So kommt es, daß auf allen diesen Kongressen die Internationale der Arbeiter und Sozialisten den Proletariern aller Länder die doppelte unzertrennbare Pflicht ins Ge- dächtnis ruft. den Frieden mit allen verfügbaren Mitteln zu erhalten und gleichzeitig die Unabhängigkeit aller Na- tionen zu schützen. Ja, den Frieden mit allen Mitteln proletarischer Aktion aufrecht zu erhalten, selbst durch den internationalen Generalstreik. selbst durch die Revolution. Wie viele absichtliche und unfreiwillige Mißverständnisse, wieviel Rücksichtslosigkeit und Verleumdung haben sich die Gegner des Sozialismus in dieser Beziehung geleistet. Sie vergessen, oder sie tun wenigstens so, als ob sie vergaben. daß selbst in den demokratischen Ländern der Krieg ohne Zustimmung des Volkes. ohne sein Vorwissen. ja gegen seinen Willen entfesselt werden kann. Sie vergessen. daß die äußere Politik in der Geheimniskrämerei, mit welcher sich noch die Diplomatien umgeben, allzuoft der Kontrolle der Nation entschlüpft. Sie vergessen. daß eine Torheit. eine Geckenhaftigkeit. eine einfältige Herausforderung oder die verbrecherische Begehrlichkeit einiger Finanzgruppen plötz- liche Konflikte herauf beschwören kann: daß es noch von einer Minderheit, von einer ganz geringen Sippschaft, von einem konsequenten, aber einseitigen Manne abhängt, die Nation ın Verwicklungen zu bringen, Zustände herbei- zuführen, die nicht wieder gut zu machen sind, und dal Krieg und Friede noch außerhalb der Gesetzbarkeit einer Demokratie stehen. Was die Entwicklung ım Innern an- betrifft, so gibt es auch da Überfälle und Anschläge. Man kann sie aber in ihrer Wirkung bekämpfen und ein- schränken. Wenn jedoch Narren oder Verbrecher die Kriegsfackel entzündet haben, wie soll dann das Volk den Brand beschränken oder löschen? Die maßlosen persönlichen Kombinationen des Herrn Hanotaux haben Frankreich fast

698 Fritz Schwarz

zu einem Kriege mit England verleitet. Die maflosen per- sönlichen Kombinationen des Herrn Delcasse haben Frankreich fast zu einem Kriege mit Deutschland verleitet. Die dunklen Machenschaften der Cliquen in der deutschen Reichskanzlei vermochten die gesamte europäische Politik in Erschüfterung zu bringen. und je nachdem die Gruppe Holstein oder die Gruppe Eulenburg obenauf war. vermehrten oder vermin- derten sich die Aussichten auf einen Krieg. Der marok- kanische Konflikt hat sich zu gewissen Stunden hinter den finstern Kulissen der Finanz abgespielt. Der Antagonismus der französischen und deutschen Geldleute hat den Frieden Europas gefährdet.»

Die Schuldfrage, welche das weltverheerende Verhängnis von 1914 ın allen Lagern, ın allen Herzen aufgeworfen hat ist wohl von niemand mit so rückhaltloser Größe erörtert worden als vón Jaurès. Der patriotische Taumel der Mobilisationstage vermochte seine unbestechliche Seele nicht zu verblenden. Sechs Tage vor seinem Tode, am 25. Juli 1914, eine halbe Stunde nachdem der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich und Serbien bekannt geworden war, sprach er zum letzten Male zu seinen Landsleuten, sprach mit einer so erschüfternden Klarheit und Offenheit, mit einer so hellsichtigen Mensch- lichkeit, daß alle Zeitgenossen beschämt vor ihm die Augen häften senken müssen.

In einer so schwerwiegenden Stunde. in einer Stunde. welche für uns alle, für alle Vaterländer 20 voller Gefahr ist, will ich mich nicht lange damit aufhalten, nach Ver- antwortlichkeiten zu suchen. Moutet hat sie genannt und ich bezeuge vor der Geschichte, daß wir sie vorausgesehen und angegeben haften.

Als wir sagten. daß das gewaltsame Eindringen in Marokko für Europa eine Ära von Ehrgeiz, Begehrlichkeit

und Streitsucht herauf beschwöre, hat man uns schlechte

Jean Jaurès on 699

Franzosen genannt, uns, denen die Sorge um Frankreich am Herzen lag. Da steckt unser Anteil an der Verantwort- lichkeit und er tritt noch deutlicher zutage. wenn ihr euch vergegenwärtigt. daß Bosnien und die Herzegowina den Anlaß zum österreichisch-serbischen Konflikt bilden. Als die Österreicher Bosnien und die Herzegowina annek- tierten. haften wir Franzosen weder das Recht noch das Mittel. ihnen den geringsten Widerstand entgegen zusetzen. da wir in Marokko engagiert waren und gegenüber den Sünden der andern Nachsicht üben mußten, wenn wir ihrer- seits gegenüber unserer eigenen Sünde Nachsicht erwarten wollten.

Damals sagte unser Minister des Äußeren zu Österreich:

„Wir überlassen Euch Bosnien und die Herzegowina unter der Bedingung. daß ihr uns Marokko überlaßt.« Und wır ließen solche Kompromisse von Macht zu Macht, von Nation zu Nation wandern und sagten zu Italien:

Du kannst nach Tripolis gehen, da ich in Marokko bin Du kannst an einem Ende der Straße stehlen, da ich am anderen Ende gestohlen habe ·

Jedes Volk erscheint mit seiner eigenen kleinen Brand- fackel in der Hand ın den Straßen Europas. So haben wır denn jetzt den Brand. Zugegeben, Mitbürger. wir haben unsern Anteil an der Verantwortlichkeit. aber die Ver- antwortlichkeit der andern läßt sich nicht dahinter verbergen. Wir haben das Recht und die Pflicht, die Hinterlist und die Gewalttätigkeit der deutschen Diplomatie zu brandmarken.—

Wo es galt. die Stimmen der Vernunft und Ge- rechtigkeit geltend zu machen, hat sich Jaurès eingesetzt. Romain Rolland spricht von dem geheimnisvollen Zufall, der ein so gutes Genie hat hervorbringen können und wirft die Frage auf, wann der Welt wohl wieder eine solche

Persönlichkeit werden würde. »Jaurds«, so sagt er, sbietet 15

700 PFeritz Schwarz / Jean Jaurès

in den neueren Zeiten das fast einzigartige Beispiel eines großen politischen Redners, der gleichzeitig ein Meister des Gedankens ist, der eine tiefe Bildung mit scharfer eigener Beobachtung verbindet und die siſtliche Reinheit mit. der Kraft der Tat.

Von allen Großen der Revolution war Danton derjenige. welchen Jaurès am meisten geliebt hat. Und wie sein Ideal, so gewann auch er die Herzen der Menschen im Sturm seiner großzügigen Offenheit. so warf auch er seme Worte voll Verstand und Feuer. um die edelsten Kräfte zum Wohle des Ganzen zu einen, und wie Danton, so starb auch er den schönsten Tod, den Tod für die Überzeugung.

Hans Janowitz / Unter Lucifers Fuß _ 701

UNTER LUCIFERS FUSS VON HANS JANOWITZ

Lucifer schwebte zwischen Himmel und Hölle. von Goftestrotz strotzend, in aufrührerischer Schönheit.

In sanftem Fluge wandte er sich abwärts. wo hinter geballten Finsternissen seine Sterne rollten. getaucht in die Weltnacht. Erzene Strahlen seiner Blicke teilten das Athergewöll. dröhnend schlugen die lichtdurchschwemmten Klumpen über ihm zusammen, wie sein Weg ihn tiefer führte. Sein Auge ‘wies ihm das Ziel. Über die Erde hin hieb sein Blick in magischem Zorne. Lucifer suchte. Ungeheuerliche Striemen hafte der Blick des Engels in die Erde gebrannt. Die Kruste des Gestirnes schwärte schon in langen Strichen. und immer neue Linien grub das ewige Auge in die verdammten Strecken ein. Europa brannte. Da beftete Lucifer den Blick auf einen Ort: die Erdmassen kochten auf, ein Wirbel entstand, und in ungemessener Tiefe bleckte ein Krater auf, glükte und erkaltete allmählich.

Unten war man sich über die Ursache der Krater- bildung. die als eine Katastrophe kosmischer Kräfte empfunden wurde, nicht einig. Als häfe eine 10000-cm- Granate eingeschlagen. sagten die heimgekehrten Soldaten, so sähe der Trichter aus. in dessen Schu einige ver- brannte Dörfer begraben lagen. Man erwog. ob ähnliche Ereignisse nicht auch an anderen Orten zu fürchten wären: aber zu Unrecht. Ein neues Ereignis, fremdartiger noch als dieses und ebenso aufschreckend und unerklärlich,

702 B Hans Janowitz rü@elte plötzlich an den Nerven der Stadt, rüftelte wirk- lich und wahrhaftig an den diehtgelegten Telephon- und Lichtdrähten und den Leitungen der elektrischen Bahnen am Kurfürstendamm, rüftelte so kurz und so heftig. dal sie entzwei gingen, bevor noch die Zeit um war. dıe nötig gewesen wäre zur Besinnung.

Um 7 Uhr abends das Dunkel hafe sich eben erst zu Nacht und Nebel verdichtet um 7 Uhr abends hae es begonnen. Ein tiefer Schaften, schrecklich anzusehn am herbstlichen Himmel, senkte sich in schwerem Falle nieder. ein Schafen, dem eine furchtbare Stofflichkeit. un- durchdringlich- drohend. inne zu wohnen schien. Wenige Sekunden später war es schon zu spät, über das Phänomen nachzudenken. Das schwebte erst über dem Tiergarten, ein formloses, unübersichtliches Ungeheuer. Droschkengäule wieher- ten angstvoll auf, die Singvögel zwitscherten unsinnig und fla@erten durcheinander: viele schlugen sich an Bäumen und Kandelabern tot. Wuchtig steigerte eich der Luftdruck zu tödlichem Andrang. Das niegehörte Brausen. Schwirren und Pfeifen eines unnatürlichen Sturmes ertönte: das Un- geheuer raste seitlich hernieder Dächer flogen wie Strohhüte umher. in weitem Umkreis erbebte die Millionen- stadt und plötzlich lag das Ding fest. ausgedehnt in der Länge des Kurfürstendamms, von der Kaiser- Wilhelm- Gedächtniskirche bis fast nach Halensee. eingeklemmt in die innen eingeknickten und zum großen Teile in formlose Haufen eingepurzelten Häuserfronten der eben noch mit ihren Prachtbauten prunkenden Straßenzeile.

Ein Schrei barst, als wäre in dem Kessel eines Herzens, das sich Luft macht durch das Ventil einer Kehle. die Todesangst einer Armee zusammengeprefßt, die sich zum Sturme anschickt. Unter der Ferse Lucifers, seitlich unter der Sohle und zwischen seinen Zehen, spritzte und pritschelte die jammervolle Sauce von tausend zer-

Unter Lucifers Ful 703

quetschten Menschen- und Tierleibern hervor. Arme und Beine hingen in der Blutlache. Huren- und Schieberbeine, Knaben- und Mädchen-, Kutscher- und Grafenbeine, die Extremitäten von Juden und Holländern, Deutschen und Franzosen, Negern und Matrosen, Pelze, Autobestand- teile. Lenkstangen der Straßenbahnwagen, Spazierstöcke. Boas. Pleureusen, Droschkenräder, Zylinder, Handtäschchen, Pferde- köpfe mit dem Ausdruck ırrsinniger Angst, ein Anblick unsagbaren Jammers. Reporter schluchzten.

Da lüftete Lucifer leicht die Sohle, als er sich auf der Erde zurechtstellte, und ein Auto, das noch lebendig pustete, schlüpfte mit einem gewaltsamen Ruck in eine jener Rinnen, die, wie jede menschliche Sohle, so auch die Sohle des gestürzten Engels eingezeichnet trug. und es krabbelte mit gekrümmten Rädern, mit letzter Anstrengung, rechts und links immer wieder an die Hautwände stoßend, vorwärts, dem Ausgange zu. Durch einen glücklichen Zu- fall war es samt seinen Insassen vor dem Zerquetscht- werden verschont geblieben. Es taumelte dahın ın der Haut- furche, über zuckende Gliedmaßen und Blutlachen hinweg. und schon sah der Chauffeur vor sich den Abend blinken ein von wilder Gestaltenjagd zerrissenes Bild. Noch sperrte ein Toter den Weg. Der Chauffeur rıß sich und den Wagen zusammen in letzten Zügen rollte und fauchte der Motor 'in einem Sprunge schwang sich der Wagen hinkend über den Toten hinweg und ins Freie. Der Chauffeur blieb in Todesstarre liegen. Dem ver- stümmelten Fahrzeug entstieg ein prustender Herr. der sich schüttelte und putzte. Sein. hastıg-schweifender Blick fand den zerstörten Taxameter. „Wieviel? Drei Mark fünfzig. sechsunddreißigfache Taxe, macht einhundertsechsundzwanzig Mark. Können Sie wechseln? Hier. Mensch, so nehmen Sie doch!. Keine Antwort. Eine schüftere Menschenmenge hatte sich scheu genähert und drängte jetzt heran. glotzte

744 ꝗ—•Tꝛ o Hans Janowitz den Überlebenden an, der eben drei Fünfzigmarkscheine in die eiskalte Hand des Chauffeurs preſte und ihn nochmals rüftelte. Dann klopfte der Herr sich hastig ab. zugleich orientierte er sich an den Trümmern der Gedächtniskirche über die Ortslage. Jetzt blickte er sich nach der nächsten Stadtverbindung um. löste vom Vorderrad seines Fahrzeuges ein Stück hängengebliebene, abgeschundene Fußhaut Lucifers und steckte sie zu sich, raste dann mit dem gellenden Schrei: Auto: Haalt! Auto! um die Kirche herum davon. In der Tauentzienstraße, mitten in dem der Un- glücksstäte entgegenbrandenden, jagenden Menschenstrom. erraffte er eines. »Fahren Sie Potsdamer. Platz! Los!« Und er setzte sich neben den Chauffeur, schuf brüllend und gestikulierend Platz, raste. davon. Vor dem Hause der deutschen Lederaktiengesellschaft gebot er halt. Zwei Minuten später stieg er in Begleitung zweier zigarrenrauchender Herren wieder ein. Denselben Weg ging es zurück. »Nu aber legen Sie man loses, begann der eine seiner Begleiter. Meine Herren, das größte Geschäft Ihres Lebens! Wir gründen eine Rohmaterial G. m. b. H. für Im- und Export, kaufen heute nacht noch die Ruinen zu beiden Seiten des Kurfürstendamms auf bis zur Joachims- talerstraße. Wir beginnen als alleinige Inhaber der Leder- gruben sofort mit dem Schürfen. . »Was meinen Sie? Schürfen? Ich verstand doch Leder engros? »Engros?« ereiterte sich der Herr, ich sag Ihnen. ein Gebirge von Leder! Mien im Westen am Kurfürstendamm ein Gebirge von Leder ist angekommen! Direkt Kolonieersatz, Afrika am Kurfürstendamm! Mit meinen Augen hab ichs gesehen, meine Herren, mit eigenen Händen das Muster hier mitgenommen. Immense Höhe, nicht abzusehen der Turm von der Gedächtniskirche war dagegen wie ein Zeigefinger gegen den eisernen Hindenburg

ie Herren kamen vor dem Trümmerhaufen der

Unter Lucifers Ful 705

Gedächtniskirche an und waren sich einig. ein Milliarden- geschäft in Aussicht zu haben. Aber einige flinke Kon- kurrenten haften die gleiche Geistesgegenwart bewiesen, waren jedoch früher zur Stelle gewesen: sie haften bereits mit den Besitzern einiger Häuserruinen Kaufverträge ab- geschlossen. Im Romanischen Cafe, das intakt geblieben war, haften Kellner, Polizeibeamte und Journalisten eine Art Nachrichtenzentrale für das neue Ereignis improvisiert; dort wurden die Verträge unterschrieben. Das Postamt ın der Marburgerstraße war in einer Weise überlaufen, die jeder Beschreibung spottet. Der Preis für Vorderplätze in der Händlerkete am Telegraphenschalter wurde von 100 Mark auf 1000 und ım Laufe einer weiteren halben Stunde auf 3000 Mark hinauflizitiert. Berichterstatter und Agenten telegraphierten das Ereignis in die Welt, wobei die Be- zeichnungen, die man dem Gegenstande der allgemeinen Erregung gab, weit auseinander gingen. Während die einen das Schlagwort vom »Gebirge von Ledere weitergaben, nahmen andere eine mehr skeptische Haltung ein; denn wiewohl die berühmtesten Chemiker Berlins sich seit einer geraumen Weile um die Analyse des fremden Stoffes mühten, konnte man zu einem definitiven Ausspruch nicht gelangen. »Naturledere schrieen die einen, »Schwindel!« antworteten die anderen. -Ein Trick der Ententekonkurrenz gegen die deutsche Lederindustrie« hieß es. »Kunstleder bestenfalls" Der Streit aber wurde nicht ausgetragen, er löste sich in sprachloses Staunen, als ein kleiner, bloß- füßiger Junge, der sonst vor dem Café des Westens die letzten schwedischen Streichhölzer«e ausbot, an die er- regten Gruppen herantrat und gleichmütig verkündete: In Halensee wären die 5 Zehen des Ungeheuers entdeckt breiter wie der Kurfürstendamm. Um die Nägel prima, primissima Horn. wäre eine Schlacht entbrannt

und zwar hife: ein Schuhmacher aus der Wilmersdorfer-

706 Hans Janowitz

straße Nr. 812 ein kleines Freikorps aufgeboten. das mit scharfer Waffe jede Annäherung neuer Interressenten abwies. während er selbst. 812, mit seiner Frau und 17 Gehilfen. fieber- haft an der Arbeit wäre, den Nagel der großen Zehe zu lösen und partienweise abzutragen. Ein besseres Horn gäbe es in ganz Deutschland nicht. häfe der Schuhmacher gesagt. und die fünf Nägel auf den gewaltigen Zehen repräsentierten einen Wert von 180 Millionen Mark und darüber. Sein Nachbar, der Schuster aus dem Hause Nr. 814. schlich inzwischen neidzerfressen zur- Kommandantur. Er hae die Transaktion mit 812 zusammen unternehmen wollen, war aber brüsk abgewiesen worden. Nun wollte er gegen die 812 er ein stärkeres Freikorps aufbieten. um sich in den Besitz der fünf Hornfelder zu setzen. und es gelang ihm. einen kampffreudigen Soldatenvater. einen geborenen Führer übrigens. Anführer in jedem Sinne. zu seriösen Verhandlungen zu bewegen. Der Maler Lampion wurde an diesem Abend unausgesetzt ans Telefon gerufen. Sechs Plakate für die Leder-Schurf Akt.-Ges. waren fertiggestellt. drei für die Naturleder G. m. b. H. eines für »Deutsche Hornfelder Kurfürstendamm, das einzig echte Naturhorn-. neue Aufträge neugegründeter Firmen liefen ein. Seitenlange Annoncen flogen in die Nachtredaktionen. Das tollkühne Freikorps 812 bestand heldenmütig einen schneidigen Hand- granatenangriff der Lüftwitzer Jäger, die Schuhmacher 814 endlich im Interesse der Republik für seine Ziele gewonnen hafte. Noske selbst hafe von dem Zusammenbruch des Jägeran- griffs erfahren: er dirigierte neue Freikorps gegen die Haus- macht des 812 ers. denn man hae ihm die Sache als einen versuchten Spart akusputsch gegen die republikanische Regierung geschildert. Eine regelrechte Belagerung der Zehen Lueifers wurde eingeleitet. Mörser fuhren vor. Scheinwerfer belichteten das Kampffeld. Der verteidigende Schuhmacher brach sich bei einem Sturz von der großen

Unter Lucifers Fug 707

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Zehe am Asphalt das Genick. Die Besatzung revoltierte. Man wollte die opfervolle Verteidigung nur gegen das Versprechen der Sozialisierung der Hornfelder weiterführen. Der Oberkellner Naucke vom Olivaer Platz endlich die Leitung an sich: Jedoch konnte er die Sozialisierung beim besten Willen nicht zugestehen. weil „dieser Zweig unserer Volkswirtschaft für solche Experimente noch nicht reif seie, Man begriff ihn nicht ganz, aber seine hochgeschwungene Rede hae die Gemüter beruhigt. Die Angriffaschlacht unter persönlicher Führung Noskes ging an. Die 814er Jäger liefen Sturm gegen die Bollwerke auf der. großen und kleinen Zehe. Immer ran. an die Flanken! hafte ein befreundeter Herr. beliebter Monokelträger vom alten Generalstab. Noske eingeflüstert. »daa Zentrum fillt dann von selbst. Die Frau des auf dem Hornfelde der Ehre gebliebenen 812ers, an der Spitze ihrer 17 Gesellen, schlug sich mit ebensoviel Kisten Naturhorns in der Richtung der Wilmersdorfer Felder durch, bevor noch die Besatzung im Noskeschen Eisenhagel zermürbt war. Auf den Trümmern der erstürmten Bollwerke hißte der 814 er selbst, der heldenmütige Schuhmacher, unter den blıtzenden Augen des Triumphators Noske die Fahne seiner Firma. . .

Einige Fliegerstaffeln haften Auftrag bekommen. mit Scheinwerfern hochzustegen, um Aufschluß über die Dimensionen des rätselhaften Riesenklumpens zu verschaffen. Sie waren unverrichteter Dinge zurückgekehrt, die unförmige Säule stiege endlos an, berichteten sie, ihre Höhe ließe sach überhaupt nicht ermitteln.

Miels Feuerwehrleitern.. die an der Ferse angelegt waren, drangen einige Männer durch die Hautlinien höher und gelangten sogar bis zum. Rif des Fußes wo aber der weitere Aufstieg des steilen Objektes und dicht- gelagerter Wolken wegen auf unüberwindliche Schwierigkeiten

708 g Hans Janowitz

stiel. -Am hellen Tage wollte man, mit allen technischen Hilfsmiſteln ausgerüstet, die Sache weiter verfolgen.

Sebastian, der lyrische Strichjunge von der Tauentzien- straße, hafte in extatischer Raserei den Trümmerhaufen erstiegen, an dessen Stelle einst das filmglückstrahlende Marmorhaus gestanden hae und hielt von hier aus in Fisteltönen, die sich überschlugen. eine Predigt miften in plündernde Horden hinein, die sich in kleinen Schwärmen überall am Orte der Katastrophe herumtrieben und an Mobiliar zusammenrafften. was unter den Trümmerbergen erhalten geblieben war. »Goft hat demissionierte so klang der Tenor seiner Rede »es lebe der Rientopp. Wir stehen an der Wende der himmlischen Hurerei, von nun ab ist die kriegerische Stinkbombe, Erde geheißen, Sprung- bret für die kinematographischen Lüste Satans . « so tobte der Irre in die immer bedrohlicher alles Herkommen verlassenden und immer blutiger aufschwellenden Exzesse der Nachtschrecken. |

Militär brach von allen Seiten der Stadt auf, um den tobsüchtigen Stadtteil zu zernieren. Im Geknafter einiger hundert Maschinengewehre. im Krachen und Heulen des wüstesten Durcheinanders von Schlacht und Zertrümmern. Plündern und Hetzen. miften in dem Hexensabbat von Pulverdampf und Schiebertum, Mord und Verkauf. Schul- befehl und Schnoddrigkeit hob sich Lucifer auf und entstieg dem irdischen Wirrwarr.

Alles. was da noch auf seinem Fuße kreuchte und fleuchte, rutschte ab und zerschlug am aufgerissenen Boden. Die Menschenwelle go sich in das nun freie Beſt des Kurfürstendamms, der fast durchgehend eingedrückt war, Sprünge und Spalten trug. Wo die Untergrundbahn unter ihm lief, war sie verschüftet. In der Finsternis, die das Grauen einhüllte. stürzten bei der Uhlandstraße ganze Menschenknäuel in die aufgebrochene Tiefe, um nie wieder

Unter Lucifers Fuß 709

emporzukommen. Die fiebrige Rasereı der Menschen dauerte bis zum Morgengrauen. Als man ım. ersten Tageslicht den Umfang der Katastrophe übersah, begann eine unsagbare Erschlaffung aller Herzen Herr zu werden. Die Reichs- regierung, von einem Kranz von Männern mit Kurbel- kästen gefolgt. besichtigte die Stäĝe der Zerstörung und ordnete Trauermessen an. Noske selbst war im Wirbel der Schreckensnacht untergetaucht und kam nie mehr an die Oberfläche empor. Sollte Lucifer ihn in hohe Regionen entführt haben, um ihm im Dienste der Goftesgegnerschaft den ewigen Odem einzublasen? Oder hafte auch ihm der Asphalt das Genick gebrochen —?

Im erstea Morgenwinde des Weltentags flogen farbig blühende Ätherwolken daher und sammelten sich zu kind- lichen Reigen um Lucifers Kniee. Engelsknaben entstiegen dem Gewölk und ließen sich in endlosen Reihen auf den Füßen Lucifers nieder. Mit dem urscharfen Atem der Gestirne scheuerten sie allen Erdenrest fort, der noch die Haut des Strahlenden verunglimpfte. Ball- und Konzert- plakate, die {flinke Berliner Austräger in bunter Reihe angepappt haften, schmolzen da zu Schmutzklümpchen zu- sammen und zergingen im Lichtäther. Blühend in ewiger Jugend schwebte der Morgendliche zwischen Himmel und Hölle. Verraucht war sein Zorn. Freude verströmte sein taumelnder Blick durch den Raum, und wo der gütige Blitz seines Auges in fernster Ferne einen Himmels- körper ereilte. da blühte noch nach Jahrtausenden milder Rasen ‚aus dem Stein. Und duftende (Quellen entsprangen dort dem vom Tode zum Leben erwachten Boden.

Aus einer Pore der Haut brachten die Engelsknaben, die Lucifers linkes Bein blankgescheuert haften, Sebastian heran- geschleppt. den lyrischen Strichjungen von der Tauentzien- strasse. Nach seiner Predigt hae er sich in die Lüfte

710 Hans Janowitz / Unter Lucifers Fuß

geschwungen, am Schwanzende eines Aeroplans festgekrallt. der in Spiralen aufstieg. und als der Flieger nach Uberholung des Höhenweltrekords zum Abstieg ansetzte. hate Sebastian noch so viel Besinnung gehabt. um sch in einem Satze auf Lucifers Bein hinüberzuschwingen und in der nächstgelegenen Pore zu verstecken, wo er. geschützt wie in einer Höhle. in Todesohnmacht liegen blieb.

Als die Engel ihn nun hervorzogen und herangeschleppt brachten und mit ıhm lachend emporstiegen, um ıhn dem Strahlenden zu zeigen. da fiel das göttliche Auge auf den armseligen Menschenleib und. vom Allwind und von diesem Blick gespeist. gedieh Sebastian und wuchs gewaltig auf zur Herrlichkeit der Engel. Da wachte er nun, der lyrische Strichjunge, zum großen Tode auf und hing jubelnd am Halse Lucifers, mit den Augen des Neugeborenen die wahre Welt um sıch erfassend. Un- geheuer schallte da das Lachen des jungen Engels durch den Morgen der erste Laut der Unsterblichen. Und als Lucifer, der morgenumglänzte Jüngling. mit seiner Stimme einfiel da orgelte und posaunte dröhnende Harmonie durch die unendlichen Räume, daß die Bollwerke Zions erbebten und er selbst. der alte Jehova. auf seinem blutigen Marmorthrone zu wackeln anhub und gefährlich ins Wanken kam. Ä

In dieser Stunde barsten die Mauern Jerichos in allen Herzen

»Paul Gauguins Todeskampf« von Victor Segalen im 8. Heft des Forum . ist von H. Jacob aus dem Französischen übersetzt.

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog Derfflisterstr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam- Berlia / Druck der B. Gundlach A.-G., Bielefeld

DAS FORUM

4. Jahr Juh 1920 | | Heft 10

(Abgeschlossen am 6. August 1920)

ABRECHNUNG VON FRANZ SCHULZ

Ein Zettel aus dem Nachlaß des deutschen Philosophen Immanuel Kant:

Widerruf und Verleugnung seiner inneren Überzeugung ist niederträchtig: aber Schweigen in einem Fall wie dem gegenwärtigen ist Untertanspflicht.«

Hundertfältig ineinander verschachtelt und verkrampft in nie gehörter Korruption. Lüge und Heuchelei, in Kehlen verbissen und doch kumpanen-solidarisch, Feftbauch an Fett- bauch gepreßt,. schiebend und üble Dämpfe verbreitend, himmelhoch gröhlend und bis zum Tode betrügend, das ist das offizielle Deutschland. Wem nicht übel wird angesichts der schaudervollen Kloake, der versuche, einen Korruptions-Almanach der deutschen Revolution zu schreiben, beginnend mit der Drohung des kaiserlichen Ministers Scheidemann an die revoltierenden Matrosen in den ersten Novembertagen 1918, schließend mit dem Freispruch der leichenhungrigen Arbeitermörder von Thal. (Bis hierher: es genügt und mehr erträgt in kollektiver Betrachtung das Nervensystem keines Sennhirten).

Der Prozeß gegen den unschuldigen Dreifus, den man mit Hilfe gefälschter Papiere und meineidiger Zeugen ver- urteilte. erschüfterte die Welt. Der Fall wurde in allen Sprachen diskutiert. Anständige Menschen aller Länder er- hoben sich und riefen über die Erde, daß in Paris ein Unrecht geschehen sei und wer also rief, überlegte nicht

712 Franz Schulz

erst seine und des Unglücklichen Parteizugehörigkeit und daß jener Jude sei und er selbst etwa nicht. Diese Unbedingtheit gerechter Hilfeleistung, prinzipiell selbstverständlichh muß gerade in unserer Zeit des relativen. des parteilichen Rechts- empfindens betont werden. Zola schrieb damals: »In meinen Nächten würde das Gespenst des Unschuldigen umgehn. der dort drüben in grausamster Marter büft für ein Ver- brechen, das er nicht begangen hat.« Unsere Herren aber haben einen guten Schlaf und in Eberts, Geſlers und Theodor Wolffs Träumen gehen keine unerquicklichen Gespenster um. Höchstens vielleicht Nachtgestalten der Demokratie, die das Krähen des Hahnes zu üblen Phrasen verdichtet. Gibt es etwas Widerlicheres, als Gellers Aus- spruch, es sei »traurig«. was in Thal geschehen ist und die ja recht sanften Bemerkungen der Presse, die Schlachtung Landauers sei denn doch nicht ganz korrekt geschehen, die Freisprechung der Schlächter und all jener Mörder mit Epauleften und Couleurkappe allerdings recht betrüblich.

Die simple Forderung persönlicher Anständigkeit ist illu- sorisch geworden bei Menschen, die ein Popanz ganz und gar beherrscht: so sehr, daß er sie eigene Lächerlichkeit ebenso ignorieren läßt, wie dieser Lächerlichkeit grausige Folgen: der Popanz »Diplomatie« Eine falsch souveräne Geste ersetzt ihnen das Reinlichkeitsgefühl und falsche Worte den Blick der Klugheit. Sie werden im Auslande gelesen und gehört, man beurteilt dort die Ereignisse nach ihren Worten und das deutsche Volk ist nervös genug. allzu nervös, als dal man es mit Dingen, die nun einmal geschehen und »leider«e nicht mehr zu ändern sind, noch unnötig erregen sollte. So denken diese »Diplomaten«, sie fühlen sich als Träger der Verantwortung und werden zu moralisch Mitschuldigen jeder Schurkerei. Sıe sind verant- wortlich für eben alles, gegen das sie verantwortlich sein sollten.

Abrechnung 713

Immer gibt es einen Grund, klug. »diplomatisch« zu sein, immer stehen wir vor einer Schicksalswende: sei es der Friede von Versailles oder St. Germain, die Eröffnung der Nationalversammlung,. des Reichstags, der Landesversammlung oder die Konferenz von Spaa, lauter Entscheidungen, die ruhig Blut. erfordern. Inzwischen aber kocht das Blut der Arbeiter immer heißer und das Ausland, nach dem zu schielen die verantwortlichen Diplomaten keinen Augenblick unterlassen, hat Tag für Tag Gelegenheit, die Theorie vom »Boches neu zu beweisen. Durch die Klugheit dieser Menschen ist Deutschland ın einen moralischen Düngerhaufen verwandelt worden, wie kein Land und keine Zeit je ibn gesehen hat. Die Greuel des Zarismus, Abscheu einer noch unerfahrenen Welt, sind in Ungarn weit übertroffen, in Deutschland erreicht: hier wie dort arbeitet eine ver- brecherische Ochrana siehe Blau-Prozeß —, hier wie dort werden Gefangene ermordet und die Morde bleiben ungesühnt. weil ihre Aufdeckung allzu große Wellen schlüge. Noch nie war die Gefahr des fürchterlichsten Pessimismus und der Resignation aller Anständigen so nahe wie heute angesichts der deutschen Zustände. Zola konnte noch vor kaum zwanzig Jahren schreiben: »Wenn man die Wahrheit eıngräbt, ballt sie sich zusammen unter der Erde und ıhre Sprungkraft wird so groß, daß an dem Tage. da sie ausbricht, alles mit ihr auffliegt- ... Wer von uns hat heute die Kraft zu solcher Zuversicht!?

* « 1*

Der Eintri in die Gemeinschaft der Offiziellen Deutsch- lands kostet einen teuren Preis: Den Verzicht auf An- ständigkeit und Gerechtigkeit. Obzwar zur rechts- sozialistischen Partei reuig zurückgekehrt und obzwar zweifellos einer ihrer Fähigsten, gelangte Eduard Bernstein nicht in die

Regierung, weil er, vom »Wahrheitsfimmel« besessen, die:

714 Franz Schulz

Kriegsschuld der kaiserlichen Bande betont. Ein anderes Beispiel solch teuren Preises: Professor Walter Schücking,. mutig und wahrheitsliebend ım Kriege, hat den Mut ın jene fatale »Diplomatie« verwandelt, seit er Emissär der Re- dierung geworden ist und wie er jedes mutige Wort von da ab vermied. unterließ er es, auch nur mit einem Worte seines Kollegen und früheren Kommilitonen, des Professor Nikolai, öffentlich sich anzunehmen, den gemeine Fäl- schungen des Rektors Meier der Herr klage endlich! von der Berliner Universität vertrieben haben. (Und die anderen, sonst anständig gesinnten Hochschullehrer’? Als Professor Albert Einstein jüngst ein Zirkular ver- sandte, das sie auffordert, gegen die blödsinnigen Anpobe- lungen Nokolais solidarisch Stellung zu nehmen, antworteten die Braven: Die Affäre sei ja sehr empörend, doch könnten sie nicht riskieren, selbst von den nationalistischen Studenten aftakiert zu werden). Der Fall Nikolai ist ein charakteristischer Ausschnift aus der deutschen Republik: Gemeinheit erzeugt Feigheit. Feigheit Dummheit und Dummheit Ungerechtigkeit. Die Professoren sind bei der demokratischen Presse in die Schule gegangen. die giftige Atmosphäre jener »Diplomatie« betäubt auch die früher wahrhaft Wachen.

Kurz vor: seiner Ermordung schrieb Hans Paasche einen Aufruf an die deutschen Nechtsgelehrten“): es war ein Schrei des Entsetzens über eine Justiz, die Mörder schützt und selbst mordet, des Entsetzens darüber, daß jene, die zum Protest berufen wären, das Furchtbare schweigend sanktionieren und also sich mitschuldig machen. Und als man auch Hans Paasche ermordet hafte und als es offenbar wurde, daß auch dieser Mord ungesühnt bleibt. da rührte sich gerade diese oder jene übel knirschende Jour- nalistenfeder, um wiederum diplomatisch zu - konsta- tieren, daß hier immerhin und allerdings etwas augenscheinlich Forume, Heft 8 dieses Jahrgangs.

Abrechnung | 715

sozusagen mit Verlaub nicht ganz in Ordnung aei. Nach demselben Cliché waren schon die Proteste gegen zwanzig und mehr gleich blutige, gleich ungesühnte Verbrechen fabriziert worden. Nichts hate sich geändert seit dem ersten Mord, dem Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxem- burg und nach wie vor gilt, was Paasche in jenem Appell an die Tauben und Blinden schrieb: »... Das Unrecht aber, das im Namen des Gesetzes täglich begangen wird in all den freudlosen Gerichtszimmern Preußens, ist um vieles gefährlicher, als das ın Freiheit begangene, weil es in völliger Sicherheit an Wehrlosen geschieht, mit dem Bewußtsein der Selbstgerechtigkeit, der siftlichen Empörung und des Hasses, ja, mit dem Augenaufschlag zu Gott.. Der Aufruf endet mit dem Satz: »Gemeingefährlich können nur die Mächtigen sein, sie gilt es zu bewachen!: |

Ist je in Deutschland etwas Wahreres geschriebenen worden, als dieses Wort des angeblich Pathologischen?!

* * r

So traurig steht es um die deutsche Republik. Und es gibt ein Land, von dem gerade jene deutschen Diplomaten. nur in Tönen des Hasses oder professoraler Verurteilung sprechen: Ruf land. Jeden Tag mul der bedauernswerte Abonnent lesen, daß die Bolschewiki Wasser in ihren Wein. gössen. dal sie einen versteckten Despotismus aufrecht erhielten, daß sie im Kremel praften, während die Arbeiter hungern. daß Trotzki der typische Sadist sei mit Minderwertigkeitskomplexen die Menge und Lenin ein mongolischer Schuft trotz seiner Rednerbegabung. Ein deutscher Minister, der ein paar Sätze richtiger Feststellungen über Sowjet-Rufland spricht, muß am nächsten Tage in den lieblichen Ghor einstimmen, will er sein Amt behalten, und von der brennenden Flamme. Bolschewismus deklamieren.

Mit einem Wort den Sinn dieser Blödsinnigkeiten zu- 16

Gun un ni, Frans, Sehuls sammengefalt: Bei allen bedauerlichen Vorfällen in Deutsch- land gähnt doch ein tiefer Abgrund zwischen unserer Demokratie und dem russischen Bolschewismus.

Ja hier gähnt ein Abgrund und er ist wohl tiefer, als die Herren es zu denken vermögen. Gäbe es kein anderes Symptom, es genügte, die beste aller Reden. die von Offiziellen und Offiziösen seit dem 9. November in Deutsch- land gehalten wurde, mit irgendeiner Rede Lenins, Trotzkis oder Tschitscherins zu vergleichen. Gäbe es kein andere: Symptom, als diese Illustration der Klugheit hier und dort. Doch es gibt unzählige Symptome des tiefen Abgrunds und was vor allem die Wahl zwischen diesen beiden Welten nicht schwer macht, ıst die Erkenntnis, um welchen Preis die bolschewistischen, um welchen die deutsch-demokratischen Kompromisse erkauft werden. Wer wollte leugnen, daß die Bolschewiki Wasser in ihren Wein gießen, wie der Schmock sich ausdrückt? Doch der Aspekt welch großen Zieles und welche eiserne Notwendigkeiten entringen den Lenkern eines hungernden, von Seuchen und seit sechs Jahren vom Kriege geplagten. von der ganzen Welt boykottierten und bekämpften. dabei seit jeher industriearmen, von Gruppen eigenen Volkes sabotierten Landes ihre harten Mabregeln! Und wie sieht die diplomatische Klugheit aus, die in Deutschland Morde halboffiziell sanktioniert. Rom- promil gegen den Rechtsstaat an die ominöse Ruhe- bedürftigkeit eines in Wahrheit empörungsbedürftigen Volkes? Geßlers Ausspruch von den allerdings »traurigen« Gescheh- nissen in Thal neben Trotzkis Rede auf dem Kongreß der Kommunistischen Partei Ruflands*) gestellt, die die bittere Forderung provisorischer Miltarisierung darlegt, die Worte dieses bolschewistischen »Sadisten«e neben denen des militärfrommen Feldwebel-Sohnes müßten Jedem zeigen, auf ‚welcher Seite Gerechtigkeit und zugleich Klugheit und nicht JJ Seite 737 dieses Heftes.

Abrechnung | 717

zuletzt diplomatische Geschicklichkeit steht. Ein Dokument heldenhaften Kampfes und ein Dokument kläglichster Dumm- heit. Solcher Antithesen gäbe es tausend.

Dem deutschen Bürger aber sagt nichts, was alles sagt. Er ist das Paradox der Weltgeschichte: Dem ersten Blick grotesk, dem zweiten, philosophisch befangenen, immerbin wahr, weil er eben so geschaffen ist, enthüllt er sich dem driften und letzten als eine unsägliche Plattitüde, die zu hassen falsch, die zu bekämpfen und über die hinwegzuschreiten notwendig ıst. Daß der Bolschewismus keine Erscheinung ist, über die irgendeinmal hinwegzuschreiten wäre, das sehen heute alle. Lloyd George inbegriffen. Nur der deutsche Bürger und seine redenden, schreibenden und regierenden Musterexemplare sehen es nicht, weil dieser Bürger nichts sieht als sich selbst, nichts will als sein Wohlergehen und weil ihn die Dinge nichtmehr interessieren, sobald seine Wortführer im -B. T.. und in der -N. V.. ein Wort gefunden haben. unter dem er das Ding registrieren und also aus der Welt schaffen zu können glaubt.

Denn das ist es, was die Deutschen von allen Völkern unterscheidet: Die Worte sind nicht mit den Dingen, sondern gegen sie. Der Reichswehrminister will die Tatsache des grauenvollsten Massenmordes mit dem Worte »straurig« aus der Welt schaffen. Dieselbe Methode versucht der deutsche Bürger von Beginn an gegen den Bolschewismus: Seit drei Jahren erzählt man an der Börse, im Spielklub, in der Presse, am Turf und am Stammtisch, der Bolschewismus sei »reif zum Untergang« und noch un- gezählte Male werden wir es hören, solange bis der zum Untergange wahrlich längst schon reife Bürger noch 'unter- gehend kreischen wird: -Der Bolschewismus ist reif. .

Allerdings wird ihm wohl dann durch einige überaus malgebende Faktoren die Rede abgeschniften, ja, vielleicht ins Gegenteil umgekehrt werden.

1 Lenin / Thesen über die

THESEN ÜBER DIE NATIONALE UND KOLONIALE FRAGE

VON LENIN

Vorläufiger, den Delegierten des 2. Kongresses der Kommunistischen Internationale vorgeschlagener Entwurf.

1. Nach ihrer Natur ist der bürgerlichen Demokratie das abstrakte und formale Verhalten zur Frage der Gleichheit überhaupt, darunter zur nationalen Gleichheit eigen, Unter dem Scheine der Gleichheit der mensch- lichen Persönlichkeit proklamiert die bürgerliche Demokratie die formale oder juridische Gleichheit des Eigentümers und des Proletariers, des Ausbeuters und des Aus- gebeuteten. wodurch sie die unterdrückten Klassen im höchsten Grade betrügt. Die Gleichheitsidee, die eine Abspiegelung der Warenproduktionsbeziehungen ist, wird von -der Bourgeoisie in ein Kampfmittel gegen die Ab- schaffung der Klassen verwandelt, unter dem Vorwande von angeblich unbeschränkter Gleichheit der menschlichen Persönlichkeiten. Der wirkliche Sinn der Gleichheits- forderung besteht nur in der Forderung nach Ab- schaffung der Klassen.

2. Gemäß ihrer Hauptaufgabe. des Kampfes gegen die bürgerliche Demokratie und der Enthüllung ihrer Lage und Heuchelei. muß die Kommunistische Partei als bewußte Vermiſtlerin des Kampfes der Proletarier zum Sturze des bürgerlichen Joches auch in der nationalen Frage nicht abstrakte und nicht formale Grundsätze an die erste Stelle setzen, sondern, erstens, die genaue Darlegung der genauen geschichtlichen und vor allem der wirtschaftlichen Ver- hältnisse: zweitens die klare Absonderung der Interessen

nationale und koloniale Frage 719

der unterdrückten Klassen, der Werktätigen. der Aus- gebeuteten. von dem allgemeinen Begriffe der Volksinteressen, die die Interessen der herrschenden Klasse bedeuten: drittens eine eben so klare Absonderung der unterdrückten. ab- hängigen. nicht gleichberechtigten Nationen von den unter- drückenden. ausbeutenden. vollberechtigten Nationen, als Gegen- gewicht zur bürgerlich-demokratischen Lüge, welche die der Epoche des Finanzkapıtals und des Imperialismus eigene koloniale und finanzielle Unterjochung der ungeheuren Mehr- heit der Bevölkerung und der Länder durch eine geringe Minderheit der reichsten. vorgeschriftenen kapitalistischen Länder vertuscht.

3. Der imperialistische Krieg 1914—18 hat mit be- sonderer Deutlichkeit vor allen Nationen und vor den unterdrückten Klassen der ganzen Welt die Lügenhaftigkeit der bürgerlich-demokratischen Redensarten aufgedeckt und gezeigt, daß der Versailler Vertrag der berühmten »West- lichen Demokraten: eine noch grausamere und schändlichere Vergewaltigung der schwachen Nationen ist, als der Brest-Litowsker Vertrag der deutschen Junker und des Kaisers. Der Völkerbund und die ganze Politik der Entente nach dem Kriege deckt noch deutlicher und schärfer diese Wahrheit auf. Dadurch wird überall der Kampf der vorgeschriſtenen Länder wie auch aller werk- tätigen Massen der kolonialen und abhängigen Länder ver- schärft und der Zusammenbruch der kleinbürgerlich-nationalen Vorstellungen -in Bezug auf die Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens und der Gleichheit der "Nationen unter der Herrschaft des Kapitalismus beschleunigt.

4. Aus den oben angeführten grundlegenden Leitsätzen folgt, daß die nähere Verbindung der Proletarier und der werktätigen Massen aller Nationen und Länder zum ge- meinsamen revolutionären Kampfe zwecks des Sturzes der

Grundbesitzer und der Bourgeoisie in den Vordergrund

720 Lenin / Thesen über die der ganzen Politik der Kommunistischen Internationale ın der nationalen und kolonialen Frage treten muß. Nur eine solche Verbindung sichert den Sieg über den Kapı- talismus: ohne diesen Sieg ist die Abschaffung des nationalen Joches und der Nichtgleichberechtigung unmöglich.

5. Die politische Lage der Welt hat jetzt die Dik- tatur des Proletariats auf die Tagesordnung gesetzt und alle Ereignisse der Weltpolitik konzentrieren sich unver- meidlich um einen Mittelpunkt. nämlich um den Kampf der Weltbourgeoisie gegen die russische Räterepublik, die um sich folgerichtig einerseits die Rätebewegungen der vorgeschriftenen Arbeiter aller Länder, anderseits alle natio- nalen Befreiungsbewegungen der Kolonien und der unter- drückten Nationen gruppiert, welche sich durch schwere Er- fahrung davon überzeugen, daß ıhre Reftung nur ım Siege der Rätemacht über den Weltimperialismus liegt.

6. Also kann man sich gegenwärtig nicht auf die nackte Anerkennung und Proklamierung der Verbindung der Werktätigen der verschiedenen Nationen beschränken, sondern muß die Politik der Verwirklichung des innigsten Bundes aller nationalen und kolonialen Befreiunge- Bewegungen mit Sowjetruſlland betreiben und die Formen dieses Bundes der Entwicklungsstufe der kommunistischen Bewegung unter dem Proletariat eines jeden Landes oder der bürgerlich- demokratischen Befreiungsbewegung der Arbeiter und Bauern in den rückständigen Ländern oder unter den rückständigen Nationalitäten anpassen.

7. Das Bündnis ist eine Übergangsform zur vollen Vereinigung der Werktätigen aller Nationen. Das Bündnis hat schon in der Praxis seine Zweckmäfigkeit offenbart: so z. B. in den Beziehungen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik zu den übrigen Sowjetrepubliken (der ungarischen, finnischen, leſtländischen in der Vergangenheit, der

aserbeidschanischen, der ukrainischen in der Gegenwart), wie auch

nationale und koloniale Frage 721

innerhalb der russischen Sowjetrepublik in bezug auf die Nationalitäten. die weder eine staatliche Existenz noch Selbstverwaltung besaßen (z. B. die autonomen Republiken der Baschkiren und Tataren innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, die 1919 . und 1920 geschaffen worden sind).

8. Die Aufgabe der Kommunistischen Internationale besteht in dieser Hinsicht nicht nur in der weiteren Entwicklung, sondern auch ım Studium, ın der Prüfung der Erfahrungen dieser Bündnisse, die auf der Basıs der Räteordnung und der Rätebewegung entstehen. In An- erkennung der Bündnisse als Übergangsform zur vollen Vereinigung muß eine immer engere Verbindung angestrebt werden. wobei in Erwägung zu ziehen ist: erstens die Un- möglichkeit des Bestehens der Sowjetrepubliken, die von den militäriseh bedeutend mächtigeren imperia- listischen Mächten der ganzen Welt umgeben sind. ohne engere Verbindung mit den anderen Räterepubliken zu haben: zweitens die Notwendigkeit des engen wirtschaftlichen Bundes der Räterepubliken, ohne den die Wiederherstellung der durch den Imperialismus vernichteten Produktivkräfte und die Sicherstellung des Wohlstandes der Werk- tätigen nicht möglich ist; drittens das Bestreben. zur Schaffung einer einheitlichen Weltwirtschaft nach einem gemeinsamen Plane, der vom Proletariat aller Nationen geregelt wird. Diese Bestrebung ist schon beim Kapitalismus ganz offen zutage getreten und sieht ihrer fernen Ent- wicklung und Vollen dung durch den Sozialismus unbedingt entgegen.

9. Auf dem Gebiet der Beziehungen innerhalb des Staates kann die nationale Politik der Kommunistischen Internationale sich nicht mit der nackten, formalen, nur in Worten erklärten und praktisch zu nichts verpflichtenden Anerkennung der Gleichberechtigung der Nationen be- gnügen, auf die sich die bürgerlichen Demokraten be-

22 Lenin / Thesen über die

schränken einerlei. ob sie sich aufrichtig zu diesen bekennen oder sich unberechtigt die Bezeichnung Sozialisten beilegen, wie die Sozialisten der II. Internationale. Nicht nur ın der ganzen Propaganda und Agitation der kommunistischen Parteien von der Parlamentstribüne und außerhalb derselben müssen unentwegt dıe bestän- digen Verletzungen der Gleichberechtigung der Nationen und der Garantien der Rechte der nationalen Minderheiten enthüllt werden, dıe ın allen kapitalistischen Staaten” trotz den sdemokratischene Konstitutionen geschehen, sondern not- wendig ist auch: erstens, die beständige Erläuterung, daß nur die Röäteordnung imstande ist. den Nationen in Wirklichkeit dadurch Gleichberechtigung zu sichern, daß sie erst die Proletarıer. darauf die ganze Masse der Werktätigen im Kampfe mit der Bourgeoisie vereinigt: zweitens die direkte Unterstützung der revolutionären Be- wegungen bei den abhängigen und nicht gleichberechtigten Nationen (z. B. in Irland, unter den Negern Amerikas usw.) . und in den Kolonien durch alle kommunistischen Parteien. Ohne diese letztere. besondere wichtige Bedingung bleibt der Kampf gegen die Unterdrückung der abhängigen Nationen und Kolonien. wie auch die Anerkennung ihres Rechtes auf staatliche Absonderung. ein lügnerisches Aushängeschild, wie wir dies bei den Parteien der II. Internationale schen. 10. Die Anerkennung des Internationalismus in Worten. seine Verwässerung in der Tat in der ganzen Propaganda, Agitation und praktischen Arbeit durch kleinbürgerlichen Nationalismus und Pazifismus bildet die üblichste Er- scheinung nicht nur bei den Zentrumsparteien der IL Inter- nationale, sondern auch bei denen, die aus dieser Inter- nationale ausgetreten sind. Ja, diese Erscheinung findet man sogar nicht selten inmitten solcher Parteien, die sich jetzt kommunistisch nennen. Der Kampf mit diesem Übel, mit den am tiefsten eingewurzelten kleinbürgerlich-nationalen

nationale und koloniale Frage 723

Vorurteilen muß umsomehr in den Vordergrund gerückt werden, je brennender die Frage der Umwandlung der Diktatur des Proletariats wird: nämlich die Umwandlung aus einer nationalen Diktatur (d. h. der in einem Land existierenden, zur Führung einer Weltpolitik unfähigen) in eine internationale Diktatur (d. h. in eime Diktatur des Proletariats wenigstens in einigen vorgeschriftenen Ländern, die fahig zu einem entscheidenden Einfluß auf die ganze Weltpolitik ist). Der kleinbürgerliche Nationalismus erklärt als Internationalismus die Anerkennung der Gleich- berechtigung der Nationen und ganz abgesehen davon, dał eine derartige Anerkennung nur ın Worten ge- schieht hält den nationalen Egoismus für unantastbar. Der proletarische Internationalismus dagegen fordert: Erstens: Die Unterordnung der Interessen des proletarischen Kampfes des Landes unter die Interessen dieses Kampfes im Weltmaßstab: zweitens: Die Fähigkeit und Bereitschaft von Seiten einer Nation, die über die Bourgeoisie gesiegt hat, die größten nationalen Opfer zu bringen, um den internationalen Kapitalismus zu stürzen. Daher ist in den kapitalistischen Staaten, die Arbeiterparteien besitzen, welche tatsächlich einen Vortrupp des Proletarıats darstellen, der Kampf mit der opportu- nistischen und kleinbürgerlich-pazifistischen Verdrehung der Begriffe und der Politik des bürgerlichen Internationalismus die eu und wichtigste Auf gabe. . Im Verhältnis zu den Staaten und Nationen. die 3 ge zurückgebliebenen, vorherrschend feudalistischen oder patriarchalisch-bäuerlichen Charakter tragen, mul man besonders folgende Punkte ım Auge behalten. a) Alle kommunistischen Parteien müssen der bürgerlich- demokratischen freiheitlichen Bewegung in diesen

Ländern zu Hilfe kommen In erster Linie trifft diese Ver- pflichtung zur tatkrüftigen Hilfe die Arbeiter des betreffenden Landes, von

724

Lenin / Thesen über die dem die zurückgebliebene Nation in kolonialer oder finanzieller Beziehung abhängt.

b.) Notwendig ist ein Kampf gegen die Geistlichkeit und andere reaktionäre mittelalterliche Elemente. die Einfluß in rückständigen Organen haben.

c.) Notwendig ist der Kampf gegen den Pan-Islamismus und ähnliche Richtungen, die den Versuch machen, den Freiheitskampf gegen den europäischen und amerikanischen Imperialismus mit der Stärkung der Macht des Adels der Großgrundbesitzer und Geistlichen zu verbinden.

d.) Ferner ist besonders die Unterstützung .der bäuerlichen Bewegung in den zurückgebliebenen Ländern gegen die Grundbesitzer. und alle Formen und Überreste des Feudalismus notwendig: man muß vor allem danach streben, der bäuerlichen Bewegung einen möglichst revolutionären Charakter zu geben und eine möglichst enge Verbindung zwischen dem westeuropäischen kommunistischen Proletariat und der revolutionären Be- wegung der Bauern im Osten, in den Kolonien und den rückständigen Ländern herzustellen.

e.) Gegen den Versuch, der bürgerlich-demokratischen Freibeitsbewegung in den zurückgebliebenen Ländern ein kommunistisches Mäntelchen um- zuhängen, muß ein entschlossener Kampf geführt werden. Die Kommu- nistische Internationale hat die Pflicht, die bürgerlich-demokratische nationale Bewegung in den Kolonien und rückständigen Ländern nur zu dem Zweck zu unterstützen. um die Bestandteile der künftigen proletarischen Parteien der wirklich und nicht nur dem Namen nach kommunistischen in allen rückständigen Ländern zu sammeln, sie zum Bewußtsein ihrer besonderen Aufgaben zu erziehen und zwar zu den Aufgaben des Kampfes mit der bürgerlich-demokratischen Richtung im Schoße ihrer engeren Nation. Die kommunistische Internationale muß ein zeitweiliges Bündnis mit der demo- kratischen Bourgeoisie der Kolonien und rückständigen Ländern eingehen, darf sich aber nicht mit ihr vermischen, sondern muß bedingungslos den selbständigen Charakter der proletarischen Bewegung such in ihrer un- entwickeltesten Form aufrecht erhalten.

f.) Notwendig ist es, unter den breitesten Massen der Werktätigen aller und insbesondere der rückständigen Länder fortgesetzt den Betrug aufzudecken und aufzuklären. den die imperialistischen Mächte systematisch dadurch begehen, daß sie unter der Schaffung politisch unabhängiger Staaten Staatsgebilde ins Leben rufen, die wirtschaftlich, finanziell und militärisch vollständig von ihnen abhängig sind. In den derzeitigen internationalen Verhältnissen gibt es für die abhängigen und schwachen Nationen keine andere Rettung mehr, als ein Bünd- nie von Räterepubliken.

12. Jede Knechtung der kolonialen und schwachen

Völkerschaften durch die imperialistischen Großmächte hinterließ in den werktätigen Massen der geknechteten

nationale und koloniale Frage 725

Länder nicht nur Gefühle der Erbiſterung. sondern auch Gefühle des Miftrauens gegen die knechtenden Nationen im allgemeinen, und dauert auch gegen das Proletariat dieser Nationen. Der niederträchtige Verrat am Sozialismus durch die Mehrheit der offiziellen Führer dieses Proletariats von 1914—19, als die Sozialpatrioten unter der »Ver- teidigung des Vaterlandes. die Verteidigung des Rechts · ihrer Bourgeoisie auf Knechtung der Kolonien und Aus- plünderung der finanziell abhängigen Länder verbargen dieser Verrat konnte dieses vollstandig gerechtfertigte Mig- trauen nicht entkräften. Anderseits ist, je rückständiger das Land, desto stärker die kleinbäuerliche Produktionsweise. der Patriarchalismus und der Lokalpatriotismus in ihm. und dies führt unvermeidlich dazu, daß die tiefsten der kleinbürgerlichen Vorurteile. nämlich die des nationalen Egoismus und der nationalen Beschränktheit, besonders stark und beharrlich auftreten. Da diese Vorurteile erst nach der Ausrottung des Imperialismus und Kapitalismus in den vorgeschriftenen Ländern und nach der radikalen Umformung der ganzen Grundlagen des wirtschaftlichen‘ Lebens der rückständigen Länder ausgeroſtet werden können, so kann die Beseitigung dieser Vorurteile nur sehr langsam vor eich gehn. Daraus ergibt sich für das klassenbewußte kommunistische Proletariat aller Länder die Verpflichtung zu besonderer Vorsicht und besonderer Aufmerksamkeit gegenüber den an sich überlebten nationalen Gefühlen ın den lange. Zeit geknechteten Ländern und Völkerschaften und zugleich die Verpflichtung, Zugeständnisse zu machen, um desto rascher dieses Miftrauen und diese Vorurteile zu beseitigen. Ohne freiwilligen Zusammenschlul des Pro- letariats und damit aller werktätigen Massen aller Länder und der Nationen der ganzen Welt zu einem Bunde und einer Einheit kann der Sieg über den Kapitalismus nicht mit vollem Erfolg zu Ende geführt werden.

126 Lenin und Trotzki

ZWEI REDEN VON LENIN UND TROTZKI auf dem IX. Kongreß der Kommugistischen Partei Ruflands

LENINS BERICHT.

Genossen! Bevor ich mit meinem Bericht beginne, muß ich sagen, daß er, wie dies auf dem letzten Kongresse der Fall war, in zwei Teile eingeteilt ist, den politischen und den .organisatorischen. Diese Einstellung führt uns vor allem auf den Gedanken darüber, wie sich die Arbeit des Zentralkomitees in politischer und organisatorischer Beziehung entwickelt hat.

Unsere Partei hat das erste Jahr ohne Gen. Swerdlow durchlebt; dieser Verlust mußte die ganze Organisation des Zentralkomitees beeinflussen. So harmonisch in sich die organisatorische und politische Arbeit vereinigen, wie dies Gen. Swerdlow verstanden hatte, konnte niemand und wir mußten versuchen, seine Ar- beit durch die Arbeit eines Kollegiums zu ersetzen. Die Arbeit des Zentral- komitees im Berichtsjahr wurde von zwei auf der Plenarsitzung des Zentralkomitees gewählte Kollegien durchgeführt; der Örganisationsbureaux des Zentralkomitees. wobei zwecks strenger einheitlicher Ausführung und Konsequenz der Beschlüsse der einen oder anderen Institution, der Sekretär des Zentralkomitees beiden Bureaus angehörte. Die Sache gestaltete sich so, daß die Hauptaufgabe der Organisations- bureaus die Verteilung der Parteikräfte war und das politische Bureau die poli- tischen Aufgaben durchzuführen hatte.

Über die politische Arbeit des Zentralkomitees Bericht erstatten, das ist eine sehr schwere Arbeit, wenn man sie im buchstäblichen Sinne des Wortes auffaßt. In diesem Jahre lief ein erheblicher Teil der Arbeit des politischen Bureaus auf die laufende Lösung jeder entstehenden Frage hinaus, die zur Politik in bezug stand, so daß das politische Bureau die Tätigkeit aller Sowjet- und Parteiinstitu- . tionen, aller Organisationen der Arbeiterklasse vereinigte und bestrebt war, die ganze Arbeit der Sowjetrepublik, alle Fragen der internationalen, der inneren und der auswärtigen Politik zu leiten. Es versteht sich, daß es unmöglich wäre, auch nur annähernd alle diese Fragen aufzuzählen. Jeder von uns, der in dieser oder jener Sowjet- oder Parteiorganisation tätig ist, hat täglich den ungewöhnlichen Wechsel der politischen Fragen, der auswärtigen wie der inneren, verfolgt. Die Lösung dieser Fragen selbst ist, wie sie in den Dekreten der Sowjetmacht und in der Tätigkeit der Parteiorganisation zum Ausdruck kam, die Bewertung des Zentralkomitees der Partei. Es muß gesagt werden, daß die Zahl der Fragen so groß war, daß sie oft überaus eilig entschieden werden mußten und nur dank der vollen Bekanntschaft der Glieder des Kollegiums untereinander, dank der Kenntnis der Meinungschattierungen, dank dem gegenseitigen Vertrauen konnte die Arbeit

Zwei Reden 727

durchgeführt werden. Sonst würde das die Kräfte eines dreimal größeren Kolle- giums überstiegen haben. Oft mußten weniger verwickelte Fragen auf diese Weise entschieden werden, daß die Versammlung durch ein Telephongespräch ersetzt wurde. Das wurde ın der Gewißheit getan, daß einige wissentlich komplizierte Fragen nicht umgangen werden würden. Solch eine Vereinfachung der Arbeit half sehr.

Anstatt einen chronologischen Überblick und eine Gruppierung der Gegen- stände zu geben, will ich mich in meinem Bericht bei den wichtigsten, den wesent- lichsten Momenten aufhalten und zwar bei denen, die die Erfahrung des gestrigen Tages, richtiger des durchlebten Jahres, mit den Aufgaben verbinden, die vor uns stehen. Für die Geschichte der Sowjetmacht ist die Zeit nicht gekommen. Wenn sie gekommen wäre, so würde ich für meine Person und, ich glaube, auch im Namen des Zentralkomitees sagen, daß wir nicht die Absicht haben, Historiker zu sein. Uns interessiert die Gegenwart und die Zukunft, hauptsächlich die Zukunft. Das vergangene Berichtsjahr nehmen wir als Material, als Lehre, als Trittbrett, von dem aus wir weiterschreiten. Geht man an die Sache von dieser Seite heran, so teilt sich die Arbeit des Zentralkomitees in zwei große Zweige; in die Arbeit, die mit den militärischen Aufgaben und denjenigen verbunden war, die die inter- nationale Lage der Republik bestimmten und die Arbeit des inneren friedlichen . wirtschaftlichen Aufbaues, die vielleicht erst seit Ende des vergangenen oder seit Beginn des laufenden Jahres in den Vordergrund trat, als es klar wurde, daß der entscheidende Sieg an den Fronten des Bürgerkrieges unser ist.

Im Frühjahr des vergangenen Jahres war unsere militärische Lage ım höchsten Grade schwierig. Wir mußten, wie ıhr euch erinnern werdet, nicht wenig Nieder- lagen, nicht wenig neue, riesige, unerwartete Angriffe der Vertreter der Gegen- revolution und der Vertreter der Entente aushalten. Daher ist es vollkommen natürlich, daß der größte Teil dieser Periode mit Arbeiten angefüllt war, die die Durchführung der militärischen Lage bezweckten, der Aufgabe des Bürgerkrieges, die allen Kleinmütigen unlösbar schien und die sie veranlaßte, vollständig auf- richtig zu sagen, daß das rückständige und geschwächte Rußland nicht im Stande sei, das kapitalistische Regime der ganzen Welt zu besiegen, wenn die Revolution sich im Westen in die Länge zieht. Und wir mußten daher, unsere Position bei- behaltend, mit voller Sicherheit und absoluter Gewißheit sagen, daB wir siegen werden. Die Losungen „Alle für den Sieg” und „Alle für den Krieg“ mußten durchgeführt werden. Im Namen dieser Losungen mußten wir oft bewußt und offen eine ganze Reihe der wesentlichen Bedürfnisse unbefriedigt lassen, mußten auf Schritt und Tritt viele ohne Hilfe lassen, in der Gewißheit, daß dies so richtig sei, da dies Opfer gebracht wurde, um unsere ganze Kraft auf den Krieg und - auf den Sieg in diesem Kriege, den uns die Entente aufgezwungen hatte, konzen- trieren zu können.

Und nur dank dem Umstande, daß die Partei auf der Wacht stand, daß die Partei streng diszipliniert war, und die Autorität der Partei alle Ressorts, alle In- stitutionen in der Losung vereinigte, die vom Zentralkomitee aufgestellt war, gingen Hunderte, Tausende und im Endresultat Millionen, wie ein Mann. Und nur

728 Lenin und Trotzkı

weil unerhörte Opfer gebracht wurden, konnte das Wunder geschehen, daß wir ungeachtet des zweimaligen, drei- maligen und vıermaligen Angriffes der Imperialisten der Entente und der Imperialisten der ganzen Welt imstande waren zu siegen. Daraus, daß wir ohne Disziplin und ohne Zentralisation diese Aufgabe niemals überwältigt haben würden, müssen wir eine Lehre ziehen.

Die von uns gebrachten unerhörten Opfer zur Rettung des. Landes vor der Gegenrevolution, zum Siege der Revolution über Judenitsch, Koltschak und Denikin sind eine Lehre für die soziale Weltrevolution. Um unsere Aufgabe zu verwirk- lichen, hatten wir Disziplin in der Partei, strenge Zentralisation und absolute Ge- wißheit dessen nötig, daB die unerhört schweren Opfer zehn- und hundert- tausender Menschen helfen werden, diese Aufgabe zu verwirklichen, daß diese Aufgabe wirklich durchgeführt werden könne. Dazu war nötig, daß unsere Partei und die Klasse, die die Diktatur der Arbeiterklasse verwirktlicht, Elemente seien, die Millionen und Millionen Werktätiger ın Rußland und ın der ganzen Welt ver- einigen. Zentralisation, Disziplin und unerhörte Selbstaufopferung haben unsere Aufgabe gelöst.

Wie konnten Millionen Werktätiger in einem Lande, das am wenigsten zur Organisation erzogen war, dahin kommen, daß diese Disziplin und Zentralisation verwirklicht wurden? Nur dank dem Umstande, daß der Besitz, der kapitalistische Besitz isoliert, wir aber vereinigen, eine immer größere Anzahl von Millionen Werktätiger ın der ganzen Welt ver- einigen. Jetzt sehen dies sogar die Blinden, sogar diejenigen, die das nicht sehen wollten. Unsere Feinde aber trennten sich je weiter, desto mehr. Sie isolierte der kapitalistische. Besitz, der Privatbesitz bei der Warenproduktion, ob dies kleine Besitzer waren, die auf den Verkauf des Cetreideüberſlusses auf Kosten der hun- gerigen Arbeiter spekulierten, oder Kapitalisten der verschiedenen Länder, die mili- tärische Macht besaßen, sogar wenn sie eine Liga der Nationen, eine große, ein- heitliche Liga aller vorgeschrittenen Nationen geschaffen haben würden. Diese Einigkeit ist von Anfang bis zu Ende Fiktion, Betrug, Lüge. O, wir haben das größte Beispiel gesehen; die berühmte Liga der Nationen, die da versuchte, Rechte auf Verwaltung von Staaten zu geben, die Welt aufzuteilen, diese be- rühmte Liga hat sich als Seifenblase erwiesen, die sofort zer- platzte, weil sie auf kapitalistischem Besitz basierte. Wir haben dies im größten historischen Maßstabe gesehen.

Das bestätigt jene grundlegende Wahrheit, auf deren Anerkennung wir unser Recht bauten, unsere feste Zuversicht auf den Sieg in der Oktoberrevolution, darauf, daß wir eine Sache beginnen, der sich trotz allen Schwierigkeiten und Hinder- nissen Millionen und Millionen Werktätiger in allen Ländern anschließen werden. Wir wußten, daß wir einen Verbündeten haben, daß das eine Land, dem die Ge- schichte diese ehrenvolle und schwierigste Aufgabe auferlegt hat, nur verstehen müsse Selbstaufopferung zu offenbaren. Diese unerhörten Opfer werden sich hundertfältig bezahlt machen, da jeder übrige Monat, den wir in unserem Lande verleben, uns Millionen und Millionen Verbündeter in allen Ländern gibt.

Zwei Reden 729

Wir mußten siegen. weil unsere Feinde, die formal durch eine Liga der stärksten Regierungen der Welt und der Vertreter des Kapıtals verbunden waren, keinen innerlichen Zusammenhang hatten; weil der kapitalistische Besitz sie trennte, sie gegeneinander warf, sie zersetzte, die Verbündeten in wilde Tiere verwandelte, so daß sie nicht sahen, wie Sowjetrußiand seine Anhänger vermehrte, wie unter den englischen Soldaten, die in Archangelsk geiandet waren, so auch unter den französischen in Sewastopel und unter den Arbeitern alier Länder, wo die Sozial- kompromißler für das Kapital Partei ergreifen mußten. Diese fundamentale und tiefste Ursache hat uns ìn ihrem Endresultat zum sichersten Siege verholfen. Sie fährt fort, die wichtigste, unbezwingbare, unversiegbare Quelle unserer Kraft zu sein, die uns erlaubt zu sagen, daß wir, wenn wir erst in unserem Lande den Kommunismus vermittels der Diktatur des Pro- letarıats, vermittels der größten Vereinigung seiner Kräfte durch seine Avantgarde, durch seine vorgeschrittenePartei, verwirklicht haben werden, die Weltrevolution erwarten können. Und das ist in Wirklichkeit der Ausdruck des Willens des Proletariats, der Ausdruck der proletarischen Entschlossenheit zum Kampfe, der proletarischen Entschlossenheit zum Bunde von Millionen und Millionen von Arbeitern in allen Ländern.

Dies wurde bis jetzt von den Herren Bourgeois und den angeblichen Sozialisten der 2. Internationale für eine Agitationsphrase erklärt. Nein, das ist die historische Wirklichkeit, die durch die blutige und schwere Erfahrung des Bürgerkrieges in Rußland bestätigt worden ist, denn dieser Bürgerkrieg war eın Krieg gegen das Weltkapital, dieses Weltkapital aber ist im Streite von selbst zusammengestürzt, es verzehrt sich selbst, damit wir gestählt und gestärkt aus diesem Kampfe hervor- gehen im Lande des vor Hunger und am Flecktyphus sterbenden Proletariats. Das, was früher für eine Agitationsphrase galt, worüber zu lachen die Bourgeoisie gewöhnt war, dieses Jahr unserer Revolution, vor allem das Berichtsjahr, hat sich in eine endgültige, unbestreitbare historische Tatsache verwandelt, die die Mög- lichkeit gibt, mit Gewißheit zu sagen, daß wir eine Weltbasis haben, die unendlich viel breiter ist, als sie es in irgendwelchen anderen Revolutionen war. Wir haben einen internationalen Verband, der nirgends eingetragen, nirgends formuliert ist, der vom Standpunkt der Staatenbildung nichts bedeutet, der aber in Wirklichkeit die kapitalistische Welt zersetzt und alles ist. Jeder Monat, in dem wir uns Posi- tionen errangen oder sie einfach gegen den unerhört mächtigen Feind behaupteten. bewies der ganzen Welt, daß wir recht haben und gab uns neue Millionen Menschen.

Dieser Prozeß schien schwer, war von gigantischen Niederlagen begleitet. Auf den unerhörten weißen Terror Finnlands folgte, gerade im Berichtsjahr, die Niederlage der ungarischen Revolution, die die Vertreter der Entente einem heimlichen Abkommen mit Rumänien gemäß erstickten, wobei sie ihre Parlamente und Vertretungen betrogen. Noch niemals hat jemand darüber auch nur den hundersten Teil der Wahrheit gesagt, die wir wissen. Das war der gemeinste Verrat, eine Verschwörung zwischen der Entente und Rumänien, um

730 Lenin und Trotzki

durch den weißen Terror die ungarische Revolution zu ersticken. Sie gingen auf Verständigung mit den deutschen Kompromißlern ein, um die deutsche Revolution zu ersticken. Diese Leute, die Liebknecht für einen ehrlichen Deutschen er- klärt hatten, stürzten sich ım Verein mit den deutschen Imperialisten wie tolle Hunde auf diesen ehrlichen Deutschen. Sie übertrafen hier alles, was möglich war und jede Äußerung dieser Art ihrerseits befestigte und stärkte uns und untergrub den Boden unter ihnen.

An unserer Revolution hat sich mehr als an irgendeiner anderen das Gesetz be- stätigt, daß die Kraft der Revolution, die Wucht des Andranges, die Energie, Ent- schlossenheit und der Triumph des Sieges den Widerstand der Bourgeoisie ver- stärken. Je mehr wir Proletarier siegen, desto mehr entwickeln. wir die kapitali- stische Exploitation, desto mehr lernen die kapitalistischen Ausbeuter sich zu ver- einigen und zum entschlosseneren Angriff überzugehen. Ihr erinnert euch alle sehr gut es ist vom Standpunkt der Zeit aus nicht lange, vom Standpunkt der laufenden Ereignisse aus aber sehr lange her daß der Bolschewismus zu Beginn der Oktoberrevolution für eın Kuriosum gehalten wurde und mußte man ın Ruß- land bald diese Ansicht aufgeben, so hielt sie sich ın Europa sehr lange. Doch in diesem Jahre haben wir gesehen, daß diese Ansicht, die der Ausdruck der Nicht- entwicklung und Schwäche der proletarischen Revolution war, auch in Europa aufgegeben ist. Der Bolschewismus ist zur Welterscheinung geworden, die Ar- beiterrevolution hat den Kopf erhoben. Das Sowjetsystem, das wir den Geboten des Jahres 1905 und unserer eigenen Erfahrung folgend geschaffen haben, hat sich als historische Welterscheinung erwiesen und jetzt stehen sich, man kann ohne Übertreibung sagen, im Weltmaßstabe zwei Lager in vollem Bewußtsein gegen- über. Es muß bemerkt werden, nur in diesem Jahre haben sie sich zu entschlossenem Endkampfe einander gegenübergestellt und vielleicht durchleben wir gerade jetzt während der Tagung unseres Kongresses einen Augenblick des größten, schroffsten Umschwunges vom Kriege zum Frieden.

Ihr wißt alle, daß die Führer der imperialistischen Ententestasten der ganzen Welt verkündeten: „Wir werden den Krieg mit den Usurpatoren, den Macht- räubern, den Gegnern der Demokratie, den Bolschewiki nicht aufgeben.“ Ihr wißt, daß sie die Blockade aufgehoben haben, daß ihr Versuch, die kleinen Staaten zu vereinigen, mißlungen ist, weil wir es verstanden haben, nicht nur die Arbeiter der ganzen Welt, sondern auch die Bourgeoisie der kleinen Länder auf unsere Seite zu ziehen, weil die Imperialisten nicht nur Bedrücker der Arbeiter ihrer Länder sondern auch der Bourgeoisie der kleinen Staaten sind. Ihr wißt, daß wir das schwankende Kleinbürgertum innerhalb der vorgeschrittenen Linder auf unsere Seite gezogen haben. Und jetzt ıst der Augenblick eingetreten. wo diese Entente ihre Versprechungen, ihre Verträge bricht, die sie, nebenbei bemerkt, in großer Menge mit verschiedenen russischen Weißgardisten abgeschlossen hat. Für diese Verträge hat die Entente Hunderte von Millionen hinausgeworfen und die Sache nicht zu Ende geführt. Jetzt, nach Aufhebung der Blockade, ist sie tat- sächlich mit der Sowjetrepublik in Verhandlungen getreten, die sie übrigens nicht zu Ende führt, weil sie den Glauben an ihre kleinen Staaten verloren hat.

Zwei Reden 731

Wir sehen, daß die Lage der Entente vom Standpunkt der gewöhnlichen Auf- fassung der Jurisprudenz nicht bestimmt werden kann. Die befindet sich mit den Bolschewiki weder im Frieden noch im Krieg. Sie erkennt uns an und sie erkennt uns nicht an. Und dieser volle Zerfall unserer Gegner, die überzeugt waren, daß sie etwas vorstellen, beweist, daß sie nichts vorstellen als ein Häuflein kapitalistischer wilder Tiere, die sich in den Haaren liegen und vollständig machtlos sind, uns etwas anzuhaben. Und jetzt ist die Lage derart, daß uns Lettland offi- zielle Friedensvorschläge gemacht hat; Finnland hat ein Telegramm geschickt, in dem es offiziell von der Demarkationslinie spricht; und endlich Polen, dessen Ver- treter besonders stark mit dem Säbel gerasselt haben und rasseln, Polen, das am meisten bekommen hat und noch ganze Züge mit Artillerie bekommt, dem Hilfe in allem versprochen ist, wenn es nur den Krieg mit Rußland fortsetzt, dieses Polen, dessen Regierung sich in so schwankender Lage befindet, daß sie gezwungen ist, sich auf jedes Kriegsabenteuer einzulassen, dieses Polen fordert uns auf, in Friedensverhandlungen einzutreten.

Man muß im höchsten Grade vorsichtig sein. Unsere Politik verlangt jetzt mehr als je aufmerksame Behandlung. Hier ıst es am schwersten, die richtige Linie zu finden, da niemand das Geleise kennt, auf dem der Zug steht. Der Feind selbst weiß nicht, was er weiter tun wird. Die polnischen Arbeiter entflammen immer mehr und mehr. Im Bewußtsein der Vertreter des gutsherrlich-bürgerlichen Polen entsteht der Gedanke: ist es nicht zu spät? wird es ın Polen nicht früher zur Sowjetrepublik kommen als der Staatsakt, der den Frieden oder den Krieg fest- setzt, zustande kommen wird? Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Sie wissen nicht, was ihnen der morgige Tag bringt. Wir aber wissen, daß Jeder Monat uns eine gigantische Ver- stärkung unserer Kräfte gibt und weıterhin geben wird. Daher stehen wir jetzt in internationaler Beziehung besonders sicher da, sicherer als irgend jemals. Aber der internationalen Krise gegenüber müssen wir uns mit außerordentlicher Aufmerksamkeit verhalten und müssen bereit sein, jeder Überraschung zu begegnen.

Es ist unmöglich ihr ferneres Verhalten vorherzusehn. Wir kennen diese Leute, wir kennen diese Kerensky, Menschewiki und Sozialrevolutionäre. In diesen Jahren haben wir gesehen, wie sie es heute mit Koltschak hielten, morgen fast mit den Bolschewiki, darauf mit Denikin, wie dies alles durch Phrasen über Freiheit und Demokratie verhüllt wurde. Wir kennen diese Gesellschaft. Daher ergreifen wir mit beiden Händen den Friedensvorschlag und sind zu maximalen Zugeständnissen bereit, da wir überzeugt sind, daß der Frieden mit den kleinen Staaten unsere Sache unendlich besser vorwärts bringen wird, als der Krieg mit ihnen. Durch den Krieg haben die Imperialisten die werktätigen Massen betrogen, sie haben die Wahrheit über Sowjetrußland ver- he imlicht, jeder Frieden aber eröffnet unserem Einfluß einen hundertmal größeren und breiteren Weg. Dieser Einfluß war in diesen Jahren ohnehin groß. Die Kommu- nistische Internationale hat nie dagewesene Siege errungen. Wir aber wissen zu- tleich, daß man uns jeden Tag den Krieg aufzwingen kann.

17

732 Lenin und Trotzki

Daß Kriegsvorbereitungen im Gange sind, darüber herrscht gar kein Zweifel. Daher müssen wir in unserer internationalen Politik besonders manövrieren, fest den Kurs einhalten und zu allem bereit sein. Den Kampf um den Frieden haben wir mit außerordentlicher Energie durchgeführt. Dieser Kampf zeitigt präch- tige Resultate. Auf diesem Kampfplatz haben wir uns am leichtesten offenbart und auf jeden Fall nicht schlechter als auf dem Tätigkeitsfeld der Roten Armee an der blutigen Front. Aber nicht vom Willen der kleinen Staaten hängt es ab, Frieden mit uns zu schließen, selbst wenn sie Frieden schließen wollten. Sie stecken bei den Ententeländern bis über die Ohren in Schulden, dort aber herrscht arges Gezänk und verzweifelter Wetteifer miteinander. Daher müssen wir im Auge be- halten, daß vom Standpunkt des historischen Weltmaßstabes aus, der durch den Bürgerkrieg und den Krieg gegen die Entente begründet ist, der Frieden natürlich möglich ist. Daher müssen wir alle Schritte zur Erlangung des Friedens tun, müssen aber zugleich unsere ganze Kriegs- bereitschaft anspannen und auf keinen Fall unsere Armee entwaffnen.

Wichtige prinzipielle Erwägungen haben uns veranlaßt, in entschlossener Weise die Werktätigen zur Ausnutzung der Armee für die grundlegenden und laufenden Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaues zu bewegen. Gehen wir zu diesen prinzi- piellen Erwägungen über, die von ungeheurer Bedeutung sind. Die alte Quelle der Disziplin, das Kapital, ist geschwächt; die alte Quelle der Vereinigung ist ver- schwunden. Wir müssen eine neue Quelle der Disziplin und ‚der Vereinigung schaffen. Das, was der Zwang bildet, ruft die Empörung und das Geschrei der bürgerlichen Demokratie hervor, die mit Worten über „, Freiheit“ und „, Cleich- heit“ um sich werfen, ohne zu verstehen, daß Freiheit für das Kapital ein Ver- brechen gegen die Arbeiter ist, daß Gleichheit des Satten und Hungrigen ein Ver- brechen gegen die Werktätigen ist. Im Namen des Kampfes gegen die Lüge verwirklichen wir die Arbeitspflicht und die Ver- einigung der Werktätigen, ohne im geringsten den Zwang zu fürchten, denn nirgends ist die Revolution ohne Zwang durchgeführt worden und nichts ist gesetzlicher als der Zwang, wenn die Revolution die Fähigkeit bewiesen hat, diese Klasse zu Opfern zu bewegen. Sie hat das Recht, den Zwang zu verwirklichen, um für jeden Preis das ihre zu be- haupten.

Wenn über den historischen Faktor der Herrschaft der Bourgeoisie gestritten wurde, vergaßen die Herren Kompromißler wie die Herren deutschen Unab- hängigen und die französischen Longuetisten einen solchen Faktor wie die revolutionäre Entschlossenheit. Festigkeit und Unbeugsamkeit des Proletariats. Und diese Unbeugsamkeit und Stählung unseres Proletariats, das sich und anderen ge- sagt und in Wirklichkeit bewiesen hat, daß wir eher zugrunde gehen, als das Terri- torıum unseres Landes, unsere Disziplin, die Prinzipien der Disziplin und der festen Politik, aufgeben würden, für die wir alles opfern müssen, ist Tatsache. Das ist die historische Tatsache, im Augenblicke des Zerfalles der kapitalistischen Länder, der kapitalistischen Klassen, im Augenblick der Verzweiflung und Krisen,

Zweı Reden | 733

das ist die entscheidende historische Tatsache, angesichts welcher die Phrasen über Minderheit und Mehrheit, über Demokratie und Freiheit nichts entscheiden, wie sehr die Helden der vergangenen historischen Epoche auch auf sie hinweisen. Hier entscheiden Bewußtsein und Festigkeit der Arbeiterklasse. Wenn die Arbeiterklasse zur Selbstaufopferung bereit ıst, wenn sie bewiesen hat, daß sie alle ihre Kräfte anzustrengen versteht, so entscheidet das die Aufgabe. Alles muß zur Lösung dieser Aufgabe geopfert werden. Die Entschlossenheit der Arbeiterklaase, ihr un- beugsamer Wille zur Verwirklichung der Losung: „eher untergehen als sich er- geben diese Entschlossenheit ist nicht nur ein historischer Faktor, sondern auch der entscheidende, der siegende, Faktor. Und von diesem Siege, von dieser Gewißheit gehen wir über und sind wir schon übergegangen zu den Aufgaben des friedlichen wirtschaftlichen ‚Aufbaues, deren Lösung die Hauptfunktion unseres Kongresses bildet.

Jetzt besteht die Aufgabe darin, die Fragen des wirtschaftlichen Aufbaues, die Wiederherstellung der zerstörten Produktion zu lösen und zu diesem Zwecke alles, was das Proletariat konzentrieren kann, seine Einigkeit zu beweisen. Hier ist eiserne Disziplin nötig, ein eisernes Regime, ohne das wır uns nicht nur über zwei Jahre sondern auch nicht einmal zwei Monate hätten halten können. Wir müssen es verstehen, unseren Sieg anzuwenden. Anderseits muß man begreifen, daß dieser Übergang viele Opfer erfordert, deren das Land ohnehin schon viele gebracht hat. Der prinzipielle Standpunkt des Zentralkomitees ın dieser Sache war klar. Unsere ganze Tätigkeit war dieser Politik unterworfen, wurde in diesem Geiste geleitet. Eine solche Frage z. B. wie die Frage der kollegialen oder der persönlichen Ver- waltung, die ihr entscheiden werdet, die an und für sich, aus dem Zusammenhang gerissen, eine Einzelheit scheint und nicht auf radıkale prinzipielle Bedeutung Anspruch erheben kann, muß unter dem Gesichtswinkel der grundlegenden Errungen- schaften unseres Wissens, unserer Erfahrung, unserer revolutionären Praxis der zurückgelegten Etappen behandelt werden.

Man sagt z. B. „die kollegiale Verwaltung ist eine der Formen der Teilnahme breiter Massen an der Verwaltung. Wir im Zentralkomitee haben auch über diese Frage gesprochen und müssen vor euch Rechenschaft ablegen. Genossen, mit einer solchen theoretischen Konfusion kann man sich nicht zufrieden geben. Wenn wir in der grundlegenden Frage unserer militärischen Tätigkeit, unseres Bürgerkrieges auch nur den zehnten Teil einer solchen theoretischen Konfusion zugelassen hätten, so wären wir geschlagen worden und es wäre uns recht geschehen. Wie kann man die Beteiligung einer neuen Klasse an der Verwaltung mit der kollegialen oder per- sönlichen Form der Verwaltung in Zusammenhang bringen? Genossen, gestattet mir, ein wenig Theorie in die Frage zu bringen, wie eine Klasse verwaltet, wodurch sich die Herrschaft der Klasse ausdrückt. Sind wir doch in dieser Beziehung keine Neulinge; unsere Revolution unterscheidet sich von den früheren dadurch, daß in ihr kein Utopismus ist. Wenn die alte Klasse von einer neuen abgelöst wird, kann diese sich nur in wildem Kampfe mit den Klassen halten. Und nur wenn sie es versteht, die alte Klasse zu vernichten, wird sie bis zu Ende siegen. Der gigantische komplizierte Prozeß des Klassenkampfes stellt die Sache so hin, anders würdet ıhr in einen Sumpf von Konfusion versinken.

734 Lenin und Trotzki

Worin besteht die Herrschaft der Klasse? Worin bestand die Herrschaft der Bourgeoisie? In der Konstitution stand geschrieben: „In der Freiheit und Gleich- heit“. Das ist eine Lüge. Solange es Werktätige gibt, sind die Eigentümer fähig und als solche sogar gezwungen zu spekulieren. Wir sagen, daß es hier keine Gleichheit gebe, daß der Satte dem Hungrigen, der Spekulant. dem Werktätigen nicht gleich sei. Worin drückt sich die Herrschaft der Klasse aus? Die Herrschaft des Proletariats drückt sich ın der Aufhebung des gutsherrlichen und kapitalistischen Eigentums aus. Sogar der grundlegende Inhalt aller früheren Konstitutionen bis zur republikanischen lief auf das Eigentum hinaus. Unsere Konstitution hat sich das Recht auf historische Existenz erworben, wir haben nicht nur auf dem Papier niedergeschrieben, daß wır das Eigentum aufheben. Das siegende Proletariat hat das Eigentum aufgehoben und bis zu Ende abgeschaft,—darınbestehtdieHerrschaft der Klasse. Vorallem in der Frage des Eigentums. Als die Eigentumsfrage praktisch entschieden war, war. dadurch die Herrschaft der Klasse gesichert; die Konstitution schrieb darauf auf dem Papier das nieder, was das Leben entschieden hatte; „es gibt kein kapi- talistisches und gutsherrliches Eigentum.“ und fügte hinzu: „die Arbeiterklasse hat mehr Rechte als die Bauernschaft, die Ausbeuter aber haben gar keine Rechte. Damit war das niedergeschrieben, wodurch wir die Herrschaft unserer Klasse verwirklicht hatten, wodurch wir die Werktätigen aller Schichten, aller kleinen Gruppen verbunden hatten. Die kleinbürgerlichen Eigentümer waren zersplittert. Unter ihnen sind diejenigen, die ein größeres Eigentum haben, die Feinde der- jenigen, die weniger haben und das Proletariat erklärt ihnen offen den Krieg, wenn es das Eigentum aufhebt. i

Es gibt noch viele unbewußte und unwissende Elemente, die jedem freien Handel folgen; und wenn sie Disziplin und Selbstaufopferung im Kampfe und im Siege über die Ausbeuter sehen, können sie nicht kämpfen; sie sind nicht auf unserer Seite, sind aber machtlos, gegen uns aufzutreten. Die Herrschaft der Klasse wird nur durch das Verhältnis zum Eigentum bestimmt. Eben dadurch wird die Kon- stitution bestimmt. Und unsere Konstitution hat unser Verhältnis zum Eigentum und unser Verhältnis zur Frage, welche Klasse an der Spitze stehen muß, richtig nıedergeschrieben. Wer in der Frage, wodurch die Herrschaft der Klasse ausge- drückt wird, in Fragen des demokratischen Zentralismus verfällt, wie wir dies oft beobachten, der bringt soviel Verwirrung ın die Sache, daß eine erfolgreiche Arbeit auf diesem Boden nicht möglich ist. Klarheit der Propaganda und Agitation ist die Grundbedingung der Arbeit.

Wenn unsere Gegner auch anerkennen, daß wir ın der Entwicklung der Agitation und Propaganda Wunder vollbracht haben, so muß man es nicht äußerlich auf- fassen, daß wir viel Papier und Agitation verwendet haben, sondern innerlich, daß alle die Wahrheit begriffen haben, die diese Agitation enthielt. Und von dieser Wahrheit können wir nicht abweichen. Wenn die Klassen einander ablösen, so ändern sie ıhr Verhältnis zum Eigentum. Die Bourgeoisie hat das Feudalsystem abgelöst, se hat das Verhältnis zum Eigentum geändert. Die Konstitution der Bourgeoisie sagt: „Wer Eigentum besitzt, der ist dem Bettler nicht gleich“. Und das war die

Zwei Reden 735

Freiheit der Bourgeoisie. Diese „Freiheit übergab die Herrschaft im Staate der kapitalistischen Klasse.

Und was denkt Ihr wohl? Als die Bourgeoisie das Feudalsystem ablöste, ver- wechselte sie da die Herrschaft mit der Verwaltung? Nein, so dumm waren die Bourgeois nicht. Sie sagten, daß man, um zu verwalten, Leute brauche, die . zu verwalten verstehen; dazu müsse man die Lehnsherrn nehmen und sie ändern. So taten sie auch. Nun, war dies ein Fehler? Nein, Genossen. Die Fähigkeit zu verwalten fällt nicht vom Hrmmel und wird nicht vom heiligen Geist geboren. Deshalb, weil die Arbeiterklasse eine vorgeschrittene Klasse ist, ist sie noch nicht von vornherein zur Verwaltung fähig. Das sehen wir an einem Beispiel. Als die Bourgeoisie siegte, nahm sie die Verwalter aus der Feudalklasse. Ja, woher solite sie sie sonst nehmen? Man muß nüchtern die Sache sehen. Die Bourgeoisie nahm die vorhergehende Klasse, und vor uns steht gegenwärtig dieselbe Aufgabe, die Kenntnisse, die technische Erfahrung der vorhergehenden Klasse zu nehmen, sie uns zu unterwerfen, sie zum Siege der Arbeiterklasse auszunutzen. Wir sagen, daß die Klasse, die gesiegt hat, reif sein müsse, die Reife aber wird nicht durch Vorschrift oder eine Bescheinigung bewiesen, sie wird durch Erfahrung, durch die Praxis be- scheinigt. Die Bourgeois siegten, ohne zur Verwaltung reif zu sein und sie stellten ıhren Sieg dadurch sicher, daß sie eine neue Konstitution proklamierten. Sie nahmen die Rekruten der Verwaltung aus ihrer Klasse und begannen ihre eigenen neuen zur Verwaltung vorzubereiten, zu welchem Zwecke sie den ganzen Staatsapparat in Bewegung setzten, die Feudalinstitutionen sequestrierten und nur diejenigen in die Schule ließen, die reich waren. Auf diese Weise bereiteten sie im Laufe vieler Jahre und Jahrzehnte Administratoren aus ıhrer eigenen Klasse vor. Und gegenwärtig muß es in einem Staate, der nach dem Ebenbild der herr- schenden Klasse eingerichtet ist, ebenso gemacht werden, wie dies in allen Staaten gemacht wurde. Wenn wir uns nicht auf die Position des reinsten Utopismus der leeren Phrasen stellen wollen, so müssen wir sagen, daß die Erfahrungen früherer Jahre in Erwägung gezogen werden müssen; daß wir die durch die Revolution eroberte Konstitution sicherstellen müssen; für die Verwaltung aber, für die staatliche Organisation brauchen wir Leute, die die Technik der Verwaltung beherrschen, die staatliche und wirtschaftliche Erfahrung besitzen. Solche Leute aber sind nirgends zu finden als ın der vorhergehenden Klasse.

Auf Schritt und Tritt sind die Urteile über die Kollegialität in der Verwaltung vom Geiste einer unzulässigen Unwissenheit, vom Geiste der Feindseligkeit gegen- über dem Spezialistentum. Mit einem solchen Geiste kann man nicht siegen. Um zu siegen, muß man das ganze tiefe historische Verhältnis verstehen, muß man daran denken, daß wir den Kommunismus aus den Trümmern der alten bürger- lichen Welt bauen, und um diesen Kommunismus zu bauen, muß man die Wissen- schaft und die Technik nehmen und sie für breitere Kreise anwenden. Das ist aber nirgends zu finden als bei der Bourgeoisie. Diese Grundfrage muß hervor- gehoben und zu den Grundaufgaben des wirtschaftlichen Aufbaues gestellt werden.

Wir müssen ım Staat und beim Aufbau mit Hilfe derjenigen verwalten, die

736 Lenin und Trotzkı

der von uns gestürzten Klasse angehören, diejeuigen unter ihnen, die von den Vorurteilen ihrer Klasse durchtränkt sind, müssen wir umündern. Darauf müssen wir Verwalter aus unserer Klasse werben. Wir müssen den ganzen Staats- apparat anwenden, damit die Lehranstalten, die Fortbildung, die praktische Vor- bereitung für das Proletariat, für die werktätigen Bauern unter Leitung der Kommu- nisten ausgenutzt werden. Nach unserer zweijährigen Erfahrung dürfen wir nicht so sprechen, als ob wir zum erstenmal an den sozialistischen Aufbau gehen. Das ist glücklicherweise falsch. Wir haben genug Dummheiten gemacht in der Periode, als wir im Smolny-Institut saßen. Dessen brauchen wir uns nicht zu schämen. Woher sollten wir Verstand nehmen, wenn wir zum erstenmal eine neue Sache in Angriff nahmen? Wir versuchten es so und versuchten es anders. Wir schwammen mit dem Strom, weil das falsche Element von dem richtigen nicht zu trennen war dazu gehört Zeit. Jetzt ist die jüngste Vergangenheit, aus der wir heraus sind, die Vergangenheit, in der Chaos und Enthusiasmus herrschten, vorüber. Darüber besitzen wir Dokumente. Der Brest-Litowsker Friede war ein historisches Dokument; mehr als das, er war eine historische Periode. Der Brester Frieden wurde uns deshalb aufgedrungen, weil wir auf allen Gebieten machtlos waren. Was stellte diese Periode dar?? Das war die Periode der Schwäche, aus der wir als Sieger hervorgegangen sind. Das war die Periode der Kollegialität der Verwaltung. Diese historische Tatsache müssen wir anerkennen.

Wir müssen mit Energie, mit Einheit des Willens ın die Höhe steigen. Den Gewerkschaftsverbänden stehen gigantische Schwierigkeiten bevor. Man muß zu erreichen suchen, daß sie ihre Aufgabe im Geiste der Partei, im Geiste des Kampfes gegen die Überbleibsel des berühmten Demokratismus, gegen das Geschrei über die Ernennung auffassen. Dieses ganze schädliche alte Gerümpel, das nur in Re- solutionen und Gesprächen zu dulden ist, muß hinweggefegt werden. Anders können wir nıcht siegen. Wenn wir uns diese Lehre ın zweı Jahren nicht zu eigen gemacht baben, sind wir rückständig, die Rückständigen aber werden geschlagen werden.

Die Aufgabe ist im höchsten Grade schwer. Unsere Gewerkschaften haben bei dem Aufbau des proletarischen Staates gigantische Hilfe erwiesen. Sie waren das Bindeglied, das die Partei mit der unwissenden Millionenmasse verband. Die Ge- werkschaftsverbäande haben im Kampf mit der Zerrüttung die schwerste Arbeit geleistet. Als dem Staat auf dem Verpflegungsgebiet geholfen werden mußte, war das nicht die größte Aufgabe? Das Proletariat fuhr fort Opfer zu bringen. Man schreit über Zwang, das Proletariat aber hat diesen Zwang für gesetzlich erklärt und seine Richtigkeit dadurch bewiesen, daß es die größten Opfer gebracht hat. Die Mehrheit der Bauernbevölkerung der erzeugenden Gouvernements zum erstenmal besser als seit hunderten von Jahren im zaristischen kapitalistischen Rußland. Die Avantgarde der Arbeiterklasse mußte dieses Opfer bringen. Das war eine Schule des Kampfes. Nach Verlassen dieser Schule muß sie weitergehen. Jetzt muß ein Schritt vorwärts getan werden, koste es, was es wolle.

Wie alle Gewerkschaften haben die alten Gewerkschaftsverbände ihre Geschichte und ihre Vergangenheit. In dieser Vergangenheit waren sie Organe der Abwehr

Zwei Reden 737

gegen diejenigen, die die Arbeit knechteten, gegen den Kapitalismus. Jetzt, wo die Klasse zur Staatsklasse geworden ist, und wo sie mehr Opfer bringen und mehr zugrunde gehen muß, mehr hungern muß als früher, hat sich die Lage ver- ändert. Nicht alle verstehen diese Veränderung und nicht alle haben ihren Sinn erfaßt. Hier helfen uns die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, die unbemußt den Ersatz der persönlichen Verwaltung durch die kollegiale Verwaltung fordern. Entschuldigt, Genossen, das wird nicht durchgehen. Das haben wir uns abgewöhnt.

Vor uns steht eine sehr komplizierte Aufgabe; nach dem Siege an der blutigen Front, an der unblutigen Front zu siegen. Dieser Krieg ist der schwerere. Diese Front ist die schwerste. Das sagen wir allen bewußten Arbeitern offen. Die Lage gestaltet sich folgendermaßen; je mehr wir gesiegt haben, desto mehr haben wir solche Gebiete wie Sibirien, die Ukraine, das Kubangebiet. Dort sind reiche Bauern. Wir wissen, daß dort jeder, der ein Stückchen Land hat, sagt: „Was geht mich die Regierung an? ich reiße vom Hungrigen so viel ich kann, um das übrige be- kümmere ıch mich nicht”. Verwalten müssen wır mit Hilfe der Klasse, die ihre Kräfte verausgabt hat, die ihre Kräfte anspannen muß. Jenen Bauern, dem Spekulanten der sich unter Denikin auf unsere Seite neigte, wird jetzt die En- tente helfen. Der Krieg hat die Front und die Formen geändert. Jetzt wird mit Handel, mit Schleichhandel gekämpft. Die prinzipielle Grundlage dafür ist voll- kommen in den Thesen des Gen. Kamenew ausgedrückt, die in den „, Iswestija des Zentralkommitees veröffentlicht waren. Sie wollen den Schleichhandel international gestalten. Sie wollen den friedlichen wirtschaftlichen Aufbau in die friedliche Zer- setzung der Sowjetmacht verwandeln. Entschuldigt, ihr Herren Imperialisten, wir sınd auf der Hut. Wir sagen: wir haben gekämpft und unsere grundlegende Losung ist es noch immer, die Prinzipien der Festigkeit und die Einheit des proletarischen Willens voll und ganz aufrechtzuerhalten und- auf das Arbeitsgebiet zu übertragen; mit den alten Vorurteilen, den alten Gewohnheiten muß aufgeräumt werden.“

Wir können mit Hilfe der Spezialisten unseren grundlegenden Wirtschaftsplan noch ausführlicher ausarbeiten. Wir müssen sagen, daß dieser Plan auf viele Jahre berechnet ist. Wir versprechen nicht, das Land mit einem Mal vom Hunger zu befreien. Wir sagen, daß der Kampf schwerer sein werde als an der Kampffront, er interessiert uns aber mehr, er bildet eine Stufe, die den wirklichen fundamentalen Aufgaben nähersteht. Er erfordert dıe maximale Anspannung unserer Kräfte, jene Willenseinheit, die wir früher gezeigt haben und die wir jetzt zeigen müssen. Wenn wir diese Aufgabe lösen, so werden wir an der unblutigen Front einen ebenso großen Sieg erringen wie an der Front des Bürgerkrieges.

TROTZKI ÜBER DIE NÄCHSTEN AUFGABEN DES WIRTSCHAFT- LICHEN AUFBAUES.

Die Geschichte hat uns vor die Aufgabe der Organisation der Arbeit gestellt Die Organisation der Arbeit ist wesentlich die Organisation der neuen Gesellschaft denn jede historische Gesellschaft ist Organisation der Arbeit. Wir organisieren

738 Lenin und Trotzki

die Arbeit oder beginnen die Organisation der- Arbeit nach neuen sozialen Grund- sätzen. Wandte unsere frühere Gesellschaft bei der Organisation der Arbeit zugunsten der Minderheit Zwangsmethoden an, wobei die Minderheit diesen Zwang auf die erdrückende Mehrheit der Werktätigen ausdehnte, so unternehmen wir zum ersten- mal in der Weltgeschichte den Versuch, die Arbeit der Werktätigen im Interesse dieser werktätigen Mehrheit zu organisieren. Das aber bedeutet selbstverständlich nicht die Beseitigung des Zwangselements. Nein, der Zwang spielt und wird noch im Laufe einer bedeutenden historischen Periode eine große Rolle spielen. Der allgemeinen Regel nach ist der Mensch bestrebt, sich der Arbeit zu entziehen. Man kann sagen, daß der Mensch ein ziemlich faules Tier ist, und auf .dieser Eigenschaft basiert eigentlich der menschliche Fortschritt, denn würde der Mensch nicht danach streben, mit seiner Kraft sparsam umzugehen würde er nicht danach streben, für eine kleine Menge Energie soviel Produkte wie möglich zu bekommen, so würde es keine Entwicklung der Technik und der sozialen Kultur geben. Von diesem Gesichtspunkt aus ist also die Trägheit eine progressive Kraft. Hieraus darf natürlich nicht der Schluß gezogen werden, daß die Partei in ihrer Agitation diese Eigenschaft als moralische Pflicht zu empfehlen habe. Wir haben sowieso Überfluß an ihr und die Aufgabe der gesellschaftlichen Organisation besteht darin, die Trägheit in einen bestimmten Rahmen zu bringen, sie zu disziplinieren und mit Hilfe der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit anzutreiben.

Bei der Inangriffnahme des Aufbaues der Gemeinwirtschaft nach neuen soli- darisch sozialen Grundsätzen, d. h. nach den Grundsätzen des im Bau begriffenen Kommunismus, sind wir von Anfang an auf die Frage der Militarisierung gestoßen. Eine ganze Reihe von Artikeln, Versammlungen, Reden und Diskussionen verlaufen bei uns unter der Losung der Militarisierung. Einige Genossen, darunter an erster Stelle einige hervorragende Leiter der Gewerkschaftsverbände, äußern sich in dem Sinne, daß sie nicht gegen die Militarisierung seien, daß sie aber 2i jetzt nicht begriffen haben, was das eigentlich bedeutet.

Aus diesem Anlasse brachte die „Prawda” unlängst einen nicht uninteressanten, aber prinzipiell falschen Artikel des Gen. W. Smirnow über die Militarisierung der Arbeit. Sein grundlegender Gedanke ıst folgender: soweit wır jetzt auf breiter Grundlage der Mobilisation der Bauernmassen im Namen der Aufgaben überge- gangen sind, die die Massenanwendung der Arbeitskraft erfordern, ist die Mili- tarısierung unbedingt notwendig. Wir mobilisieren die Bauernkraft und wir bilden aus dieser moLilisierten Arbeitskraft Arbeitsteile, die sich dem Typus der Truppen- teile nähern. Wir. geben den Kommando- und Instruktorenbestand, wir müssen kommunistische Zellen geben, damit diese Teile nicht seelenlos, sondern von dem Bestreben zu arbeiten beseelt sind. Folglich ist dies die volle Annäherung an die militärische Form der Organisation. Hier ist das Wort „Militarisierung” am Platze. Aber, sagt Gen. Smirnow, wenn wir auf das Industriegebiet, auf das Gebiet der qualifizierten Arbeit übergehen, wo wir gewerkschaftlich gegliederte Produktions- organisationen der Arbeiterklasse haben, so besteht hier keinerlei Notwendigkeit, den militärischen Apparat zur Bildung von Arbeitsteiien zu verwenden, hier kann keine Rede von Militarisierung im erwähnten Sinne des Wortes sein. Hier gibt

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es Gewerkschaftsverbände und diese erfüllen die Aufgabe der Organisation der Arbeit. i

Genossen, wenn man auf diese Weise an die Frage herangeht, so zeugt das von völliger Unkenntnis des Wesens jenes wirtschaftlichen Umschwunges, der sich gegenwärtig vollzieht. Es versteht sich, daß der Unterschied zwischen den prole- tarıschen, in Gewerkschaftsverbänden organisierten Arbeitskraft und der bäuer- lichen, vom militärischen Apparat mobilisierten Arbeitskraft ungeheuer ist. Die Militarisierung wird in dem einen Falle auf anderen Wegen durchgeführt werden als im anderen Falle. Jedoch die Frage der Mobilisierung der qualifizierten Arbeits- kraft durch die Tatsache des Bestehens der Gewerkschaftsverbände lösen, annehmen, daß die Verbände, so wie wir sie von der Vergangenheit übernommen haben, durch die Tatsache ihrer Existenz die Arbeitsaufgaben in bezug auf die gelernten quali- fizierten Arbeiter lösen, das heißt das Wesen der Frage nicht verstehen.

Die qualifizierte proletarische Arbeitskraft wurde unter der Herrschaft des Kapi- talismus auf dem Markte gekauft und gemäß Nachfrage und Angebot zu festen Preisen von einem Ort an den andern verschoben. Sie hieß freiwillige oder , freie Arbeit. Die Gewerkschaftsverbände sind aus der Vereinigung dieser „, freien Arbeit entstanden, aus dem Bestreben, durch Kampf, Ausstände usw. die günstigsten wirtschaftlichen Bedingungen für diese Arbeit zu erkämpfen. Wer aber verteilt gegenwärtig die Arbeitskraft und wer schickt sie dorthin, wo sie gemäß den wirt- schaftlichen Aufgaben der im Bau begriffenen sozialistischen Wirtschaft nötig ist? Die Gewerkschaftsverbände laut Forderung der Organe der Gemeinwirtschaft. Welche Menschen müssen aber verwendet werden, damit der Arbeiter, der nach dem Orte T. geschickt ist, sich wirklich an den Ort T. begibt?.... Mit anderen Worten, gegenwärtig begibt sich der Arbeiter aus dieser Fabrik in die andere nicht frei- willig, wie dies beim Kapitalismus hieß, d. h. nicht unter den Schlägen des wirt- schaftlichen Zwanges, des Zwanges durch Hunger, wie dies unter der Herrschaft des Kapitals war, sondern er begibt sich und muß sich dorthin begeben in Uber- einstimmung mit dem einheitlichen Wirtschaftsplan, laut Bestimmung der zentralen Wirtschaftsorgane. f

Folglich sind die Arbeiter jetzt an die Fabriken und Werke gebunden. Es ver- steht sich, daß der eine Arbeiter dies Band als Dienst empfindet, als Pflicht, die er aus innerer Überzeugung, im Interesse der Hebung der Volkswirtschaft erfüllt; der andere macht sich keine klare Vorstellung von seiner Lage; der dritte, der rückständigste, empfindet seine Lage heute noch als direkten Zwang, dem er sich widersetzt. Solche Arbeiter gibt es, davon zeugt die Statistik der Gewerkschafts- bewegung. In den wichtigsten Industriezweigen sind bei uns 1 150 000 Arbeiter verzeichnet, in Wirklichkeit aber arbeiten nur 850 000. So war es vor |%—2 Mo- naten. Wo sind die 300 000 geblieben? Sie sind fortgegangen. Wohin? Ins Dorf, vielleicht in andere Industriezweige, vielleicht beschäftigen sie sich mit Spekulation. Also auf 800000 Arbeitende kommen 300 000, militärisch ausgedrückt, Deserteure. Auf militärischem Gebiet haben wir einen entsprechenden Apparat, der in Aktion gesetzt wird, um die Soldaten zur Erfüllung ihrer Pflichten zu zwingen. Dies muß in der einen oder anderen Form auch auf dem Arbeitsgebiet geschehen. Wenn

740 Lenin und Trotzki

wir ernsthaft von einer planmäßigen Wirtschaft sprechen wollen, wenn die Arbeits- kraft in Übereinstimmung mit dem Wirtschaftsplan im gegebenen Entwicklungs- stadium verteilt werden soll, darf die Arbeiterklasse kein Nomadenleben führen. Sie muß ebenso wie die Soldaten verschoben, verteilt, abkommandiert werden. Das ist die Grundlage der Militarisierung der Arbeit und ohne diese Grundlage können wir nicht ernsthaft von einer Industrie auf neuer Basis sprechen.

Die wichtigste Aufgabe ist augenblicklich die Hebung des Transportzustandes, die Vermeidung seines weiteren Nieder- ganges und die Beschaffung der elementarsten Vorräte an Lebensmitteln, Rohstoffen und Heizmaterial. Während der ganzen nächsten ersten Periode muß die ganze Arbeitskraft auf die Lösung dieser Aufgabe konzentriert werden, die eine Vor- aussetzung der ferneren ist. Die zweite Periode (ob sie Monate oder Jahre dauern wird, das ist jetzt schwer vorher zu sagen, das hängt von vielen Ursachen ab, von der internationalen Lage und nicht zuletzt von der Eintracht unserer Partei) bildet der Maschinenbau ım Interesse des Transports, der Gewinnung von Rohstoffen und Lebensmitteln. Die dritte Periode muß vom Maschinenbau im Interesse der Produktion der wichtigsten Gebrauchsartikel eingenommen werden und endlich die vierte Periode von der Produktion der wichtigsten Gebrauchsartikel.

Diese Abstufung ist für die Klarlegung unseres Wirtschaftsplanes vor den Ar- beitermassen von großer Bedeutung. Wir sind verpflichtet zu sagen, daß wir eine Arbeitsmobilisstion auf breiter Grundlage nicht durchführen können, wenn wir nicht alles, was an Ehrlichkeit und Begeisterung in der Arbeiter- und Bauernmasse vorhanden ist, erfassen, wenn wir dieser Masse nicht unseren Plan erklären. Wir müssen offen und deutlich sagen, daß unser Wirtschaftsplan bei maximaler An- spannung der Werktätigen nicht Milch und Honig fließen machen könne, sondern daß wir bei höchster Anstrengung in der nächsten Periode unsere Arbeit darauf richten werden, die Bedingungen für die Produktion der Produktionsmittel vorzu- bereiten. Und nur nachdem wir die Möglichkeit haben werden, Produktionsmittel zu. produzieren, werden wir zur Pro- duktion der Konsumtionsmittel unmittelbar für die Massen übergehen. Die für alle greifbare Frucht unserer Arbeit, die Gegenstände des persönlichen Gebrauchs, werden ersetzt im Stadium des letzten Gliedes dieser wirtschaftlichen Kette erreicht werden. Die Massen, die für Arbeitsziele mobilisiert werden, müssen diesen Wirtsschaftsplan in seinem ganzen Umfange verstehen, um fähig zu sein, ihn auf ihre Schultern zu nehmen und nicht bei der Durchführung dieses Planes zehnmal die Geduld zu verlieren. Das ist die schwierigste Aufgabe, die vor der Partei steht.

Es versteht sich, wir würden kurzsichtige Skeptiker vom Typus der Kleinbürger sein, wenn wir uns vorstellen würden, daß das Wiederaufleben der Wirtschaft ein allmählicher Übergang vom völligen wirtschaftlichen Verfall der bis jetzt in den wichtigsten Wirtschaftszweigen fortbesteht, zur Blüte sei, daß wir uns auf den- selben Stufen erheben werden, die wir hinunter gegangen sind, d. h. daß wir erst nach langer Zeit unsere Wirtschaft auf die Stufe erheben werden, auf der sie sich vor dem imperialistischen Kriege befand. Eine solche Vorstellung ist unbedingt

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falsch. Der Vorfall, der auf seinem Wege alles vernichtet und zerschlagen hat, hat gleichzeitig den Weg für den neuen Aufbau gereinigt und in Übereinstimmung mit den technischen Mitteln, über die die Wirtschaft verfügt und über die wir ver- fügen, wird unsere Wirtschaft sich ebenso entwickeln, wie sich die russische kapitalistische Wirtschaft entwickelt hat, die nıcht von Stufe zu Stufe übergegangen, sondern über eine ganze Reihe von Stufen hinweggesprungen ist.

Es ist ganz klar, daß wir, wenn wir erst die ärgste Armut überwunden haben werden, eine ganze Reihe der folgenden Stufen überspringen werden. Wir werden z. B. zur Anwendung der Elektrizität in den wichtigsten Zweigen der Industrie und des persönlichen Konsums übergehen können, ohne das Stadium des Dampfes durchgemacht zu haben. Folglich eröffnen sich uns große Perspektiven, die natür- lich von der Entwicklung der Energie, der Fähigkeiten, d. h. vom subjektiven Faktor und vom zweiten Faktor, von der Entwicklung der uns vom Kapital hinter- lassenen Technik, abhängen. Diese Perspektiven haben wir vor uns, wir müssen um jeden Preis aus dem Schmutz, aus dem Dünger heraus, ın dem wir bis zum Halse versunken sind. Wir polemisieren sehr viel über kollegiale und persönliche Verwaltung, vorläufig aber haben wir unseren Wirtschaftskarren noch nicht von der Stelle gerückt; wir dürfen uns nicht vom Schwung der Polemik betrügen lassen, da bis jetzt noch auf keinem der wichtigsten Gebiete eine Besserung zu merken ist. Der Druck der besten Kommunisten hat eine Verbesserung des Trans- ports ergeben, doch auch diese ıst geringfügig.

Also, ein einheitlicher Wirtschaftsplan als Grundlage der Verwendung der Ar- beiterkraft und der Bauernmassen, qualifizierter und unqualifizierter, das ist die erste grundlegende Aufgabe. Der zweite Punkt wird große Bedeutung haben und die Formulierung, die Gen. Gussew in seiner Broschüre „Über Anwendung der Elektrizität im ganzen Lande“ gibt, wird in Übereinstimmung mit der geplanten Etappen des Wirtschaftsplanes ins Leben umgesetzt werden. Um sie nicht als teil- weise Aufgabe, als minimales Programm, sondern in größerem Maßstabe durch- zuführen, wüssen wir wiederum den Maschinenbau heben, dazu aber müssen wır die erste Aufgabe lösen, die Hebung des Transports und der Beschaffung der Lebensmittel und der Rohstoffe. Je breiter die Grundlage sein wird, auf. der die Arbeitskraft angewandt werden wird, desto intensiver wird die Versorgung mit Maschinen vonstatten gehen. Folglich spitzt sich auch die Frage der Ar- beitsarmee in bedeutendem Maße zu.

Diese Frage begegnete anfangs einer scharfen Opposition. Man wies vor allem darauf hin, daß die Produktivität in den Arbeitsarmeen nicht groß sein werde. Man wies darauf hin, daß der Soldat, der sich aus einem Rotarmisten in einen Arbeitsarmisten verwandelt, seinen Posten verlassen und nach Hause gehen werde, weil er annehmen werde, daß seine Aufgabe erfüllt sei. Das waren die beiden ersten Beweisgründe, die gegen die Arbeitsarmeen angeführt wurden. Aber beide. haben sich als vollständig falsch erwiesen,

Die Behauptung, daß die freie, die freiwillige Arbeit produktiver sei als die er- zwungene, war richtig in bezug auf das Feudalsystem, das bürgerliche Regime.

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Die Arbeit der Arbeiter in der Fabrik aber war unbedingt produktiver als die Arbeit des Handwerkers. Diese Arbeit basierte auf besonderen Zwangsmethoden und Zwangsfornen auf der Exploitation der Arbeitskraft, dies alles aber geschah unter der Flagge der „freien Arbeit“. Die Bourgeoisie hat gelernt, durch verschiedene Methoden aus den Arbeitern viel mehr Arbeit herauszupressen, als in der Epoche des Feudalismus und der Leibeigenschaft aus den Leibeigenen herausgepreßt wurde.

Diese Entwicklung der Produktivität der Arbeit aber hat die Ablösung der kapi- talistischen Wirtschaft durch die neue, kommunistische vorbereitet und ın bezug auf diese neue kolossale historische Veränderung das behaupten, was ın bezug auf die alte Lage richtig war, heißt ım Rahmen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Vorurteile bleiben. Wir sagen: es ist nicht wahr, daß dieerzwungene Arbeit unterallen Umständen und unter allen Bedingungen unproduktiv ist. Hier besteht die ganze Aufgabe darin, den Arbeiter psycho- logisch, innerlich und nicht durch äußeren Zwang in den Arbeitsprozeß hinein- zuziehen. Das hat auf seine Art jedes Regime getan; das Feudalsystem hat zu diesem Zwecke Lüge, Betrug und die Hierarchie der Pfaffen ın Anwendung ge- bracht. Die Bourgeoisie hatte ihre eigenen Methoden. Sie hatte das nötig, denn sie war eine Minderheit, die die Mehrheit unterdrückte; sie mußte betrügen. Hierher gehörten eine besondere Arbeitslöhnung, der Stücklohn, der Akkordlohn und ge- wisse Prämien, eine gewisse Karriere, die einige Glückliche zu machen suchten. Alles dies beeinflußte die Arbeiterklasse. Die Presse wie die Schule waren Mittel zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit. Die Monarchie wie die Republik, alles dies war ein komplizierter Apparat, um die Organisation der Werktätigen in der Hand zu behalten und aus ihnen das Maximum des Mehrwerts herauszupressen. Folglich ist das bürgerliche Regime durchaus nicht auf einmal mit hoher Produk- tivität der Arbeit entstanden. Nein, die Erhöhung der Produktivität der Arbeit war nicht nur das Resultat der unpersönlichen historischen Entwicklung, sondern bildete auch die bewußte Aufgabe der herrschenden Ausbeuter, die sie durch An- wendung einer ganzen Reihe von Mitteln, durch Mobilisation der Engel, Erzengel, Gefängniswärter und Henker erreichten, das war ein ganzes System der Beein- flussung.

Wir dürfen nicht vor die Notwendigkeit gestellt werden, den Massen etwas zu verheimlichen, geschweige denn sie zu betrügen. Gleichzeitig aber stehen wir vor der Notwendigkeit, das komplizierte System von Mitteln und Methoden geistigen und organisatorischen Charakters durch Prämienverleihung und Bestrafung in An- wendung zu bringen, um die Produktivität der Arbeit nach den Grundsätzen des Zwanges zu erhöhen, auf denen unsere ganze Wirtschaft basiert. Wir müssen nicht über allgemeine Unergiebigkeit der Arbeit schwatzen, sondern lernen, die Pröduk- tivität mit allen Mitteln zu erhöhen, die einem ehrlichen und gut organisierten Arbeiterstaat zu Gebote stehen, darunter mit ideellen Mitteln, durch Agitation und geistiges Hineinziehen in die Interessen der Wirtschaft. Das Verständnis eines jeden Arbeiters, eines jeden Bauern, jeder Bäuerin für den Zusammenhang zwischen dem Schicksal ihrer Existenz und dem wirtschaftlichen Schicksal des ganzen Landes hat bei dem neuen System der sozialen Beziehungen und der Arbeitsorganisation

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eine ungeheure geistige. organisierende Bedeutung. Wenn unser Apparat nichts taugt, so kann der mobilisierte und unwissende Bauer, wenn man ihn auf die Eisen- bahn bringt und keine Schaufeln für die Arbeit vorbereitet, natürlich nicht von Begeisterung für diese auf Zwang beruhende soziale Organisation der Arbeit er- griffen werden. Damit er immer weniger den drückenden Charakter dieses Zwanges fühle, dazu gehört vor allem, daß der Apparat gut funktioniert, daß die Anzahl der Arbeitshände den Aufgaben entspricht und dahin befördert wird, wo diese Aufgabe vorhanden ist, wo Lebensmittel, Instrumente und Instruktoren, die einen Kopf auf den Schultern haben, vorhanden sind. Das ist die elementarste Bedingung; ohne richtige Organisation der Arbeit können wir ihre Produktivität nicht erhöhen. Endlich ist die persönliche Interessiertheit jedes einzelnen Arbeiters, jedes einzelnen Bauern an den unmittelbaren Resultaten der Verwendung seiner Arbeitskraft. nötig. Ich spreche von dem Prämiensystem, das notwendig ist, solange Knappheit an Lebensmitteln besteht, solange wir das System der Verteilung der notwendigsten Gebrauchsartikel nicht dezentralisieren konnen, damit jeder das erhalte, was er braucht (das wird als Resultat des 4. Stadiums unseres allgemeinen Wirtschafts- planes der Fall sein, wenn wir erst die drei vorhergehenden Stadien überwunden haben werden). Vorläufig muß die Verteilung zentralisiert sein, d. h. wir müssen sie den Produktionsaufgaben unterordnen; vor allen denjenigen versorgen, die zur Produktion in den wichtigsten Zweigen nötig sind, und die Unternehmen mit Lebens- mitteln versehen, die besser, ehrlicher ihre Arbeitspflicht erfüllen. Das ist auch ein Weg zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit. Endlich die Strafmaßnahmen, die wir nicht aufgeben können, in bezug auf die Deserteure der Arbeit. Mit einem Wort, das ganze komplizierte System geistiger Maßnahmen, organisatorisch materieller, repressiver, das Prämiensystem und die Anwendung von Strafmaßnahmen, kann, in Einklang gebracht und systematisch angewandt, das Kulturniveau der Produktivität der Arbeit auf eine Höhe bringen, auf der sie noch bei keinem Regime gestanden hat. Das Verständnis für diese Aufgabe, die nicht fix und fertig von oben herabfällt, ıst der wichtigste Bestandteil bei der Lösung unserer praktischen Aufgaben.

Es besteht kein Zweifel, daß die Produktivität der Arbeit gegenwärtig in unsern Arbeitsarmeen noch niedrig genug ist und in der ersten Preiode noch niedriger war. Das ist eine sehr wichtige Tatsache, daß sie ın der ersten Periode niedriger war als augenblicklich. Wenn wir die Berichte der ersten Woche und Tage über die Verwendung der früheren 3. Armee an der Arbeitsfront lesen, so sehen wir, daß 13—15, manchmal 20—30 Rotarmisten nötig waren, um einen Faden Holz zu beschaffen. 3—4 Mann waren, so viel ich weiß, vor dem Kriege die Norm. Man sagt, daß ein Bewohner der Nordgouvernements genügt habe, um einen Faden Holz zu beschaffen und hier sind plötzlich 30 nötig. Aber nach der Prüfung stellte sich heraus, daß die Truppen in der ersten Periode 8—10 und mehr Werst von ihrem Arbeitsbezirk entfernt untergebracht waren, und daß ein erheblicher Teil des Arbeitstages für den Gang verwendet wurde. Es stellte sich heraus, daß ein bedeutender Teil der Rotarmisten nicht wußte, wie ein Baum zu fällen und zu zerhacken ist, daß keine Instruktoren, keine Instrumente vorhanden waren, daß

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das Wirtschaftsorgan nicht in Gang gebracht war. Diese Ursachen genügen, um die niedrige Produktivität der Arbeit zu erklären.

In der ersten Periode des Bestehens der Sowjetwirtschaft trugen unsere Haupt- verwaltungen und Zentren einen in bedeutendem Grade syndikalistischen Charakter. Sie verteilten nicht die Produktion, die sie erzeugten, denn in der ersten Periode wurde fast nichts erzeugt, sondern das, was von der Vergangenheit nachgeblieben war. Je weiter desto mehr nahmen sie oder waren sie bestrebt den Charakter von Trusten anzunehmen und organisierten, normierten, versuchten sich die Produktion unterzuordnen. Diese 50 Hauptverwaltungen, die gegenwärtig alle grundlegenden Zweige unserer Wirtschaft umfassen, vereinigen sich in ihren Gipfel auf dem Trust der Truste dem Präsidium des Obersten Volkswirtschaftsrates.

Eine derartige Organisation unserer Wirtschaft ıst dem Plane nach, wenn man sie als groben Entwurf nimmt, eine richtige sozialistische Wirtschaft, eine plan- mäßige Wirtschaft; sie wird nach grundlegenden Betrieben organisiert, sie vereint die Produktion von oben bis unten. Sie setzt aber voraus, daß der zentrale Ver- waltungsapparat ein idealer Registrierungs- und Verteilungsapparat ist, der mit dem Wirtschaftsplan in Einklang steht. Sie setzt voraus, daß unter der Leitung des Obersten Volkswirtschaftsrates eine ideale Klaviatur vorhanden ist, so daß man nur eine bestimmte Taste anzuschlagen braucht, um eine entsprechende Menge Kohle, Holz, Arbeitskraft dorthin zu verschieben, wo sie dem Plane nach gebraucht werden. Natürlich haben wir noch in keinem Ressort und vor allem nicht im Obersten Volkswirtschaftsrat, dem kompliziertesten und schwerfälligsten Ressort, eine solche ideale sozialistische Klaviatur. Was geschieht, wenn im kapitalistischen Trust die örtlichen Unternehmen einen Teil der Produkte unmittelbar aus den Händen der Hauptverwaltung ım Engroshandel bekommen, den anderen Teil aber auf dem ört- lichen Markt kaufen? Die Waren bewegen sich gemäß der Kalkulation des freien Handels. Bei uns ist dies nicht der Fall. Und das ist unsere größte Errungen- schaft. Wir haben den freien Handel, die Ausbeutung, die Konkurrenz, die Spekula- tion getötet. Aber wir haben noch jenen einheitlichen Wirtschaftsplan nicht, der die elementare Arbeit der Gesetze der Konkurrenz ersetzen muß. Hieraus ent- stehen dem Obersten Volkswirtschaftsrat Schwierigkeiten. Er gibt einen bestimmten Wirtschaftsplan. Dieser Plan ist von zentralistischen Ansichten über die Wirtschafts- aufgaben diktiert. Der Plan aber wird in Wirklichkeit an Ort und Stelle nur im Umfange von 10—5 Prozent verwirklicht. Gegenwärtig ist jeder Wirtschaftsplan eine Gleichung mit mehreren unbekannten Größen.

Das ist keine Verurteilung des Obersten Volkswirtschaftsrates, das ist eine Charakteristik, fast eine Photographie dessen, was in Wirklichkeit vorhanden ist. Ich wiederhole jeder Wirtschaftsplan ist eine Gleichung mit vielen unbekannten Größen. Sie hat im Uralgebiet ihren bestimmten Ausdruck gefunden. Hier gibt es Holz, Hafer, Weizen, Arbeitskraft, Fabriken, Einrichtungen, alles dies ist aber auseinandergerissen. Während meines Aufenthaltes im Uralgebiet wies man mich 2. B. auf die Tatsache hin, daß in einem Gouvernement die Menschen Hafer essen, im andern, benachbarten, die Pferde mit Weizen gefüttert werden, das Gou- vernements-Verpflegungskomitee aber nicht das Recht habe, den Weizen aus einem

Zwei Reden 745

Gouvernement ins andere zu befördern, ihn gegen Hafer auszutauschen, obgleich dadurch den Plänen des Verpflegungskommissariat durchaus kein Schaden erwachsen würde, da die Gesamtsumme die gleiche bleiben würde und nur die Pferde Hafer, die Menschen aber Weizen essen würden, was dem Geschmack mehr entspricht. Die Anektote drückt unsere allgemeinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten aus; ein bestimmter Plan ist vorhanden, aber das Material zu seiner Verwirklichung fehlt oder ist nur zu einem Zehntel oder ein Fünftel vorhanden.

So, wie das bis jetzt war, kann das nicht weitergehen, besonders in den Be- zirken, die vom Zentrum weit entfernt sind. Wir haben auf dem letzten Rätekongreß den ersten Schritt vorwärts getan und die Selbständigkeit der örtlichen Institutionen erweitert. Dieser Schritt muß jetzt bestimmten Inhalt erhalten. Wir wenden das System der speziell Bevollmächtigten an. Und über diese Kategorien bin ich mir nach meinem Aufenthalt im Uralgebiet klar geworden. Ich bin der Meinung, daß dies System unverzüglich dem Museum zu übergeben sei. Im Uralgebiet waren Fälle, wo ein Bevollmächtigter des Obersten Volkswirtschaftsrates nicht nur auf einen zweiten Bevollmächtigten des Obersten Volkswirtschaftsrates stieß, sondern sogar auf einen Bevollmächtigten einer Abteilung, einer Hauptverwaltung usw. Wenn aber der erste Bevollmächtigte den Bevollmächtigten des Verpflegungs- kommissariates zu finden wünscht, ohne den er nichts tun kann, da er ohne Lebens- mittel nicht eine Fabrik in Gang setzen kann, so kann er diesen Bevollmächtigten nicht finden und wenn er einem begegnet, so nur einem solchen, der den Rückweg anzutreten im Begriff ist. Diese Lage ist fernerhin absolut unmöglich.

So lange wir unseren Apparat nicht biegsamer und beweglicher gestalten, o- lange wir ihn nicht dem anpassen, was sich an Ort und Stelle ereignet, können wir im Kampfe mit dem Bureaukratismus absolut keinen Erfolg haben. Die zweite Methode, um unsere Hauptverwaltungen elastischer zu gestalten, ist die Er- richtung von Gebietswirtschaftsorganen, die tatsächlich an Ort und Stelle. entstehen. Wir haben die Arbeitsarmeen geschaffen. Die Arbeitsarmeen sind Organisationen zur Verwendung der Militärkräfte an Ort und Stelle nach dem Order der Wirtschaftsorgane. In der Praxis hat sich gezeigt, daß überall wo Ar- beitsarmeen geschaffen werden, sofort neben ihnen ein Gebietswirtschafts-Zentrum entsteht. Jekaterinburg haben wir in einigen Tagen in solch ein Zentrum ver- wandelt, ohne es zu merken. Diese Arbeit aber ist sozusagen illegal. Sie muß legalisiert werden, d. h. es muß anerkannt werden, daß in entfernten Gebieten mit- scharf ausgedrückter wirtschaftlicher Physiognomie Gebietsorgane notwendig sind, nicht auf Grund der Wiederherstellung des Gebietswesens, sondern auf Grund von Vertretung der Hauptwirtschaftszehtren. Der Vertreter des Obersten Volkswirt- schaftsrates muß mit dem Vertreter des Verpflegungskommissariats und dem Ver- treter des Landwirtschaftskommissarıats usw. eng verbunden sein.

Ich erlaube mir, mich bei der Frage der Industrieverwaltung aufzu- halten. Diese Frage hat Gen. Lenin berührt und die ihm opponiert haben. Ich werde an diese Frage nicht von der theoretischen sondern von der empirischen, prak- tischen Seite herangehen. Ich spreche von der kollegialen und der per- sönlichen Verwaltung. Ich muß eine Beschuldigung abwehren, die

746 Lenin und Trotzkı

gegen die persönliche Verwaltung erhoben worden ist. Einige Genossen sagen, unsere unlängst geborenen militärischen Spezialisten versuchen, ihre unreife Er- fahrung vom militärischen Gebiet auf das wirtschaftliche Gebiet zu übertragen; vielleicht sei diese Erfahrung auf militärischem Gebiet gut, tauge aber auf wirtschaft- lichem gar nicht. Diese Erwägung ist falsch in jeder Beziehung. Es ist vollständig falsch, daB wir in der Armee mit der persönlichen Verwaltung begonnen haben und gegenwärtig vollständig zu ihr übergegangen sind. Falsch ist auch, daß wir diese Erfahrung der Armee entlehnt haben.

Wir haben darüber vor 2 Jahren, am 8. März 1918, auf der Moskauer Konferenz gesprochen und es ist von den Vertretern der Moskauer Arbeiterklasse gebilligt worden. Daher jetzt davon sprechen, daß dies militärische Vorurteile grüner mili- tärıscher Spezialisten seien, ıst Unsinn. Die Notwendigkeit der Heranziehung von Spezialisten war anerkannt worden, ihre Ausnutzung war unbedingt notwendig. Betrachtet man den Verwaltungsapparat als Schule, obgleich es sich um den Apparat der Wirtschaftsverwaltung handelt, so erfordert unsere Resolution, daß, wer lernen will, in die Schule gehen, besondere Instruktionskurse besuchen muß; wer aber verwalten muß, der geht nicht in die Schule, sondern geht um zu verwalten. Geht man auch bei dieser Frage vom beschränkten Gesichtspunkt der Schule aus, so muß ich sagen, daß bei persönlicher Verwaltung die Schule zehnmal besser ıst, da ein guter Arbeiter nicht durch drei unreife ersetzt wird; stellt man aber drei Unreife auf den verantwortlichen Verwaltungsposten, so beraubt man sie der Möglichkeit, sich davon Rechenschaft abzulegen, was ihnen fehlt:

Das ist keine prinzipielle Frage. Daß dem so ist, das beweisen am besten die Leiter der Gewerkschaften, die für Werkstätten, Bergwerke und Zechen keine kolle- giale Verwaltung fordern. Nur Verrückte, sagen sie, können verlangen, daß dort eine aus drei oder fünf bestehende Verwaltung wirke. Dort muß ein Leiter der Zeche sein. Warum? Wenn die Verwaltung eine Schule ist, warum ist dann eine Schule niederen Typus nicht nötig? Ist doch die Fabrikverwaltung schon die zweite Stufe. Warum fordert niemand die kollegiale Verwaltung der Zechen und Werk- stätten? Weil dies zu absurd sein würde. Das würde das Kollegialsystem auf den Gebieten der Betriebsverwaltung in eine Absurdität verwandeln.

Aber wenn die kollegiale Verwaltung für die Werkstätten kein heiliges Gebot ist, warum muß sie ein solches für die Fabrik sein? Als Gen. Rykow zum Diktator der militärischen Versorgung in dem Augenblick ernannt wurde, da uns der voll- ständige Untergang drohte, als unsere Patronen gezählt waren, ist Gen. Rykow vortrefflich mit seiner Aufgabe fertig geworden, er hat aber zur ersten Bedingung die Durchführung der persönlichen Verwaltung gemacht. Er schickte Bevollmächtigte in die einzelnen Bezirke, stellte sie über die militärischen Beschaffungsorgane und die Gouvernementswirtschaftsräte, und an Ort und Stelle waren viele damit unzu- frieden, doch dies war notwendig. Diese speziell Bevollmächtigten schickten, z. B. im Uralgebiet, ihre speziell Bevollmächtigten in die Werke und Fabriken, und diese Bevollmächtigten des speziell Bevollmächtigten des von Gen. Rykow außerordentlich Bevollmächtigten führten in den Fabriken und Werken, wo sie wankende Kollegien vorfanden, die persönliche Verwaltung ein.

Zwei Reden 747

Es ist nicht wahr, daß die Arbeiterklasse sich der Einführung der persönlichen Verwaltung widersetzt. Es ist nie vorgekommen, daß protestiert worden ist, weil auf den Eisenbahnen eine Person, ein Kommissar, ein Chef verwaltet; nie haben die Arbeiter gesagt: „Entsetzt diesen Chef, Kommissar oder Leiter, obgleich er ein kluger und vorsichtiger Mensch ist“. Wenn die Arbeiter unzufrieden waren, so sagten sie: „Setzt ihn ab, denn er ist ein Taugenichts“. Das aber bezieht sich auf die Kollegien ebenso wie auf einzelne Personen. Die Arbeiter, die breiten Massen sind daran interessiert, sie auszubilden, das aber wird dadurch erreicht, daß die Verwaltung der Fabrik periodisch vor der ganzen Fabrik Rechenschaft über ıhre Tätigkeit ablegt, und alle Arbeiter, die Interesse offenbaren, werden auf entsprechende Kurse geschickt oder von einem weniger verantwortungsvollen Posten auf einen verantwortungsvolleren gestellt. Die Frage aber, ob in der Verwaltung einer oder drei sitzen, interessiert nicht die Arbeitermassen, sondern den rückständigeren. schwächeren. weniger tauglichen Teil der Arbeiter- arıstokratie.

Der vorgeschrittene bewußte, sichere Arbeiter strebt immer danach, die Fabrik ganz ın seine Hände zu nehmen, zu zeigen, daß er verwalten kann; ist aber er schwach, schwankt er, so möchte er sich an einen anderen lehnen, damit seine Schwäche nicht bemerkt werde. Wenn der Arbeiter schwach ist, so muß er erst Gehilfe sein; lernt er zu, so macht ihn zum Leiter oder Direktor einer kleinen Fabrik; erweist er sich noch als schwach, so erniedrigt ihn. Er wird vorwärts kommen. In einem Kollegium aber, wo die Verantwortlichkeit nicht klar ist, er- lischt das Verantwortlichkeitsgefühl. Daher spricht unsere Resolution von einer systematischen Annäherung an die persönliche Verwaltung, selbstverständlich nicht durch einen Federstrich. Wo der Arbeiter fertig wird, muß er der Leiter der Fabrik sein und einen Spezialisten zum Gehilfen haben; wo aber der Spezialist am Platze ist, muß dieser zum Leiter gemacht und ihm ein Ärbeiter als Gehilfe beigegeben werden. Das ist die einzige ernste Auffassung von der Sache und nur auf diesem Wege werden wir zum Ideal, der organisierten Produktion, gelangen.

Es besteht noch eine Frage, die auf diesem Kongresse klar und unzweideutig entschieden werden muß, wenn wir bei der Lösung der dringendsten Aufgaben des Wirtschaftsplanes ernsthaft vorwärtskommen wollen. Ich spreche von der politischen Hauptverwaltung der Eisenbahnen. Einige Genossen sagen, dies sei ein Schlag, der der Gewerkschaftsbewegung beigebracht werde, andere be- haupten, dies sei die Zerstörung der Parteiorganisation.

Genossen, das ist eine Frage von außerordentlicher Schärfe und ungeheurer praktischer Wichtigkeit. Man muß geschickt an diese Frage herangehen. Von ihrer Lösung hängt es ab, ob wir auf dem Gebiet des Transports einen Schritt vorwärts tun werden oder nicht. Es ıst für jeden von uns offensichtlich, daß hier von einem Ersatz der Gewerkschaften oder, um so mehr, der Parteiorganisation keine Rede sein kann. Wenn ihr sagen würdet, daß alle Gewerkschaftsverbände durch politische Abteilungen ersetzt werden müssen, so würde das praktisch heißen, daß wir eine Massenorganisation der Arbeiterklasse zu Grabe tragen.

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748 Lenin und Trotzki / Zwei Reden

Wir müssen im gegebenen Wirtschaftszweig energische organisatorische Anstren- gungen machen. Ein Genosse sagt, daß er die politischen Abteilungen ın der Armee anerkenne: die Armee bewegt sich von Ort zu Ort und könne deshalb nicht von den Parteikomitees besorgt werden; dieser Genosse aber erkennt die politischen Abteilungen in bezug auf die Eisenbahnen nicht an. Er ist offenbar der Meinung, daß, da die Armee sich bewegt, hier politische Abteilungen nötig seien, und da die Eisenbahn sich nicht bewege, hier politische Abteilungen nicht nötig seien. Ich aber denke, daß, da sich bei uns die Eisenbahnen dadurch auszeichnen, daß sie schwer, wie vorwärts, zo auch zurück, in Bewegung zu bringen sind, wir ge- zwungen sind, außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen. Natürlich, würde der Verband der Eisenbahner auf dem Niveau des Verbandes der Metallarbeiter stehen, der lange noch nicht ıdeal, aber der vorgeschrittenste ıst, so könnten wir die polı- tischen Abteilungen entbehren. Aber ihr wißt, daß dies nicht der Fall ist. Die Arbeitermassen auf den Eisenbahnen enthalten noch eine große Menge Elemente, die aus der Ruchlowschen Epoche stammen. Der Verband der Eisenbahner ist einer der schwächsten und rückständigsten. Kann jemand sagen, daß wir die Wieder- belebung des Transports davon in Abhängigkeit bringen dürfen, wie die Entwicklung des Eisenbahnerverbandes verlaufen wird? Wer das sagt, der versteht nichts von dieser Sache. Der Verband der Eisenbahner muß umgearbeitet werden, er muß die erforderlichen Arbeiter erhalten, die böswilligen italienischen Saboteure müssen bestraft werden. Dazu gehört eine Reihe von Meetings, zu großem Erfolge aber gehören zwei Jahre. Die nächsten Wochen jedoch bringen den entscheidenden Augenblick im Leben unseres Transports. Hier sind außerordentlich Maß- nahmen nötig. die das Tempo der Entwicklung des Eisenbahnerverbandes und der Hebung seiner Existenz überholen. Wer kann diese Maßnahmen ergreifen? Die organisierte Arbeiterklasse in der Person ihrer entwickelsten Elemente. Diese besten Elemente wenden Zwangsmaßnahmen ın bezug auf den rückständigen Teil der Arbeitsarmee an. Darin liegt die Hauptsache. So steht die Frage der politischen Hauptverwaltung der Eisenbahnen ın bezug auf den Gewerkschaftsverband.

Genossen! Die Parteiautorität der Kommunistischen Partei ist in allen Fragen nötig, vor denen wir gegenwärtig stehen. Die Mobilisation der breiten Arbeiter- und Bauernmassen, den Arbeitszwang können wir nicht durchführen, wenn wir bei dieser Sache nicht das Gewissen und das Bewußtsein zu Hilfe nehmen, wenn wir nicht die gewerkschaftliche Ehre nach neuen sozialistischen Grundsätzen, wenn wir nicht das Pflichtgefühl usw. wecken. Diese Aufgabe erfordert eine gewisse Anspannung der Kräfte während einer langen Periode, erfordert Agitation und Propaganda. Unsere Fraktion wird sich je weiter desto mehr verändern, den Fragen entsprechend, die das Leben stellen wird, sie wird sich immer mehr mit den Fragen der Wirtschaft, der Naturwissenschaft und Technologie beschäftigen. Jeder Arbeiter muß die natürliche, körperliche Welt kennen, die uns umgibt und die Kräfte, die nicht immer günstig sind. Unsere Entwicklung vollzieht sich im Kampfe mit diesen Kräften und durch ihre Unterwerfung. Das ist in der nächsten Epoche, je weiter umso mehr, notwendig. Wir werden den Buchdruck auf eine höhere

Beschlüsse d. IX. Kongresses d. Kommunist. Partei Ruflands 749

Stufe als gegenwärtig bringen, wır werden eine ungeheure Propaganda entfalten müssen, um die Weltanschauung von den übernatürlichen Kräften, von Gott und den Engeln, zu reinigen. Den breiten Massen muß aber der Wirtschaftsplan ge- zeigt werden, auf Grund dessen wir unseren Partei- und Sowjetapparat erbauen, die Mobilisation der breiten und werktätigen Massen vorzunehmen. Wir können nicht warten, bis jeder Bauer und jede Bäuerin verstehen werden, wır müssen jeden zwingen, den Platz einzunehmen, auf den er hingehört. Hier ist neben unserer Agitation und Propaganda, die historische Bedeutung haben, die Einheit des Willens m unserer Partei von ungeheurer moralischer Bedeutung. Wenn wir nach diesem Kongresse, angesichts unserer kolossalen Aufgaben wankend und stolpernd auftreten werden, wenn wir den Streit fortsetzen werden, ob der Arbeitszwang anzuwenden sei oder nicht, ob die Zwangsmobilisation und die Verwendung der Truppenteile zur Arbeit durchzuführen seien oder nicht, so würde dies den Zusammenbruch unseres Wirtschaftssystems ın seinem Fundament bedeuten, denn wenn das mittlere Element der Bauernschaft und das rückständige Element der Arbeiterklasse nicht alles ın unserer Arbeit deutlich versteht und begreift, so ıst die Einigkeit unseres Bewußtseins und Willens etwas, das es begreift. Auf dem historischen Schauplatz sind an ihm verschiedene Staatsformen, verschiedene Kräfte und Parteien vorüber- gezogen. Die Massen haben eine Partei gesehen, die genau weiß, was sie will; die das was sie will, mit lauter Stimme sagt und die einen eisernen Willen anwendet, um das, was sie will, zu verwirklichen. Sie müssen von der Einigkeit des Partei- willens durchdrungen und durchtränkt sein. Wenn ihr diese Einigkeit des Partei- bewußtseins und des Parteiwillens geben werden, werdet ihr die größte Aufgabe in der Weltgeschichte vollführen.

BESCHLÜSSE DES IX KONGRESSES DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI RUSSLANDS

NACH DEM BERICHT DES ZENTRALKOMITEES

Nach Anhören des Berichts des Zentralkomitees erkennt der IX. Kongreß der Kommunistischen Partei (der Bolschewiki) Rußlands an, daß das Zentralkomitee unter den Bedingungen des erbittertesten Bürgerkrieges, des intensiven Aufbaues der Räte und des ungewöhnlichen Wachstums der Parteı hat arbeiten müssen. Der Kongreß findet, daß das Zentralkomitee, ungeachtet aller Schwierigkeiten im Gange ‘der Arbeit, die politische Linie und die organisatorische Ar- beit der Partei richtig und sıcher'durchgeführt habe. Der Kongreß drückt dem Zentralkomitee seine Billigung aus und geht zur Tagesordnung über.

750 Beschlüsse des IX. Kongresses der

Die Mobilisation der gelernten Arbeiter.

In den Thesen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Rußlands über die Mobilisation des industriellen Proletariats, die Arbeitspflicht, die Militarisierung der Wirtschaft und der Verwendung von Truppenteilen für wirtschaftliche Bedürfnisse billigend, verfügt der Kongreß:

Die Parteiorganisationen müssen auf jede Art und Weise den Gewerkschaften und den Arbeitsabteilungen bei der Registrierung der gelernten Arbeiter helfen, um diese mit derselben Konsequenz und Strenge zu produktiver Arbeit heran- zuziehen, wie dies in bezug auf die Personen des Kommandobestandes zu Armee- zwecken durchgeführt wurde und durchgeführt wird. Jeder gelernte Arbeiter muß zu seiner Spezialität zurückkehren. Ausnahmen, d. h. Belassung von gelernten Arbeitern auf anderen Sowjetposten, können nur mit Einwilligung der entsprechenden bevollmächtigten Zentral-Organe zugelassen werden.

jedes soziale Regime (das Sklaventum, die Epoche der Leibeigenschaft, das kapitalistische Regime) hat seine Methoden des Arbeitszwanges und der Arbeits- erziehung gehabt, die den Interessen der ausbeutenden Oberschichten dienten.

Vor dem Sowjetregime steht in ihrem vollen Umfange die Aufgabe, seine eigenen Methoden der Beeinflussung zu entwickeln, um die Intensität und die Zweckmäßig- keit der Arbeit auf der Grundlage der vergesellschaftlichten Wirtschaft im Interesse des ganzen Volkes zu erhöhen. Neben den agitatorisch- ideellen Beeinflussungen der werktätigen Massen und der Repressalien in bezug auf die bewußten Müfßig- gänger, Parasiten und Desorganisatoren ist der W etteifer ein machtvolles Mittel zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit. In der kapitalistischen Gesellschaft trug der Wetteifer den Charakter der Konkurrenz und führte zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. In einer Gesellschaft, wo die Produktionsmittel nationalisiert sind. kann der Wetteifer bei der Arbeit nur die Gesamtsumme der Arbeitsprodukte erhöhen, ohne die Solidarität zu stören.

Vom Zentralısmus der Trusts zum sozialistischen Zen- tralis mus.

Die jetzige Organisationsform der Industrie ist eine Übergangsform. Der Ar- beiter hat die kapitalistischen Trusts nationalısiert, sie durch einzelne Unternehmen desselben Industriezweiges ergänzt und nach dem Typus dieser Trusts auch die Unternehmungen vereinigt, die beim Kapitalismus nicht in Trusts vereinigt waren. Das hat die Industrie in eine Reihe machtvoller vertikaler Vereinigungen ver- wandelt, die wirtschaftlich voneinander getrennt und nur auf ıhrem Gipfel durch den Obersten Wirtschaftsrat verbunden sind.

Während beim Kapitalismus die Unternehmen, die einem Trust angehörten, viele Rohstoffe, Arbeitskraft und anderes, auf dem nächsten Markte erwerben konnten, müssen dieselben Unternehmen unter don gegenwärtigen Verhältnissen alles nötige laut Order der Zentralorgane der vereinigten Wirtschaft bekommen. Indessen haben, bei der ungeheuren Ausdehnung des Landes, bei der äußersten Unbestimmtheit und Veränderlichkeit der Grundfaktoren der Produktion, bei der Zerrüttung des Transports, den äußerst schwachen Verkehrsmitteln, bei der außerordentlichen Unge-

Kommunistischen Partei Ruflands 751

nauigkeit der Methoden und Resultate der wirtschaftlichen Registrierung die Me- thoden des Zentralismus, die das Resultat der ersten Epoche der Enteignung der bürgerlichen Industrie waren und unvermeidlich zur Isoliertheit der Unternehmen an Ort und Stelle (in den Städten, Gouvernements, Bezirken, Gebieten) geführt haben, jene ungeheuerlichen Formen der Verschleppung zur Folge gehabt, die unserer Wirtschaft unersetzlichen Schaden zufügen. Die organisatorische Aufgabe besteht darin, bei Erhaltung und Entwicklung des vertikalen Zentralismus auf der Linie der Hauptverwaltungen ihn mit der horizontalen Unterordnung der Unter- nehmen auf der Linie der wirtschaftlichen Bezirke zu kombinieren, wo die Unter- nehmen verschiedener Industriezweige und verschiedener Bedeutung gezwungen sind, sich von ein und denselben Quellen des örtlichen Rohstoffes, der Transport- mittel, der Arbeitskraft und dergl. zu nähren.

Organisation der Industrieverwaltung.

Die wichtigste Aufgabe bei der Organisation der Verwaltung ist die Schaffung einer kompetenten, festen, energischen Leitung, einerlei, ob es sich um ein ein- zelnen Industrieunternehmen oder um einen ganzen Industriezweig handelt. Zwecks vereinfachter und genauer Organisation der Produktionsverwaltung. sowie zwecks Ökonomie der organisatorischen Kräfte hält der Kongreß es für notwendig, die Industrieverwaltung der „Verwaltung durch eine Person“ zu nähern, und zwar „Verwaltung durch eine Person“ voll und unbedingt in Werkstätten und Abteilungen herzustellen, zu diesem System in Fabrikverwaltungen und zu beschränkten Kollegien in den mittleren und höheren Gliedern des administrativen Produktionsapparates überzugehen.

Die äußerst wichtige Frage der Heranziehung von immer größeren Kreisen der Arbeiterklasse zur Verwaltung der Wirtschaft muß durch eine ganze Reihe Maß- nahmen gelöst werden, von denen die wichtigsten unten angeführt sind, was jedoch durchaus nicht auf Kosten der Widerstandfähigkeit, Kompetenz und Einfachheit des Verwaltungsapparates in jedem gegebenen Augenblick geschehen darf. In Anbetracht dessen, daß der unbestreitbare Typus der Verwaltung einzelner Sowjet- unternehmen wie ganzer Zweige noch nicht festgestellt ist, wobei die Bildung der notwendigen Stämme von Administratoren, Direktoren usw. sich noch im Anfangs- stadium befindet, hält der Kongreß es für möglich und zulässig, auf dem Wege der Alleinverwaltung verschiedene Kombinationen anzuwenden, wie:

a) ein Verwaltungsdirektor aus der Zahl der Arbeiter Professionisten). der festen Willen, Selbstbeherrschung und im besonderen die Fähigkeit offen- bart, Spezialisten, Techniker, Ingenieure zur Arbeit heranzuziehen; neben ihm, als Gehilfefürdentechnischen Teil, ein Ingenieur;

b) ein Ingenieur (Spezialist), der über die erforderlichen Eigenschaften verfügt, als tatsächlicher Leiter des Unternehmens und neben ihm ein Kommissar aus der Zahl der Arbeiter (Professionisten), mit weitgehenden Rechten und der Verpflichtung, sich um alle Seiten des Unternehmens zu kümmern.

752 Beschlüsse des IX. Kongresses der

c) Arbeiter (Professionisten), einer oder zwei, in der Eigenschaft von Ge- hilfen des Direktors (Spezialisten), mit dem Rechte und der Ver- pflichtung der Gehilfen, sich um alle Zweige der Fabrikverwaltung zu kümmern, aber ohne das Recht, die Anordnungen des Direktors aufzuheben;

d) ın Fällen, wo kleine, eng verbundene Kollegien vorhanden sind, deren Glieder einander ergänzen und in der Praxis schon ihre Arbeitsfähigkeit bewiesen haben, sind diese Kollegien beizubehalten, wobei die Rechte des Vorsitzenden zu erweitern und seine Verantwortung für das ganze Kollegium zu erhöhen ist. Die Kollegien in den mittleren und höheren Organen der Wirtschaftsverwaltung (Gouvernementswirtschaftsräte und Bezirksverwaltungen, Hauptverwaltungen und Abteilungen) müssen auf die minimale Zahl der Glieder, beschränkt werden, wobei der Vorsitzende für die ganze Arbeit der Verwaltung die Verantwortung zu tragen hat.

Auf jeden Fall ist die tatsächliche Verwirklichung, von oben bis unten, des oftmals proklamierten Prinzips der genauen Verantwortlichkeit einer bestimmten ‚Person für eine bestimmte Arbeit die unerläßliche Bedingung der Verbesserung der wirtschaftlichen: Organisation und des Wachstums der Produktion.

Die Kollegialverwaltung, soweit sie im Prozesse der Beratung und Entscheidung angewandt wird, muß im Prozeß der Ausführung unbedingt der Alleinverwaltung den Platz räumen. Der Grad der Tauglichkeit einer jeden Organisation muß davon gemessen werden, wie streng in ihr die Pflichten, Funktionen und Verantwortlichkeiten verurteilt sind.

Die Heranziehung der Massen zur We der Industrie.

Der Kongreß hält es für notwendig, tatsächliche Maßnahmen zu ergreifen, um breite Arbeiterkreise zur Organisation der Produktion zu erziehen und aus der Mitte der Arbeiterklasse beständig frische Elemente heranzuziehen, die fähig sind, organı- satorische Arbeit auf dem Gebiete der Produktion zu leisten. Zu diesem Zwecke ist es notwendig:

a) durch Vermittlung der Gewerkschaftsverbände und de Obersten Volkswirt- schaftsrates die Propaganda auf dem Gebiete der Produktion auf die nötige Höhe zu bringen, ohne sich auf allgemeine Aufrufe zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit zu beschränken, sondern durch Konkretisierung und Spezialisierung der Frage nach den Industriezweigen und den einzelnen Unternehmen’ es sich zur Aufgabe zu machen, daß jeder Fabrikarbeiter die Rolle und den Platz des Unternehmens im allgemeinen System der sozialistischen Wirtschaft kenne; perio- dische (2. B. allmonatliche) Erörterungen auf der Generalversammlung der Fabrik- arbeiter, Berichte der Verwaltung über die ım verflossenen Monat geleistete Arbeit und über den Produktionsplan für den neuen Monat zum System zu machen;

b) bei den einzelnen großen Unternehmen oder bei den Kleinbetrieben Kurse für Industrieverwaltung zu organisieren, die die fähigsten Ar- beiter, ohne sie der Produktionsarbeit zu entziehen, an der Praxis des gegebenen Unternehmens mit den notwendigen Elementen der Verwaltung bekannt machen sollen;

Kommunistischen Partei Ruflands 753

c) die auf diese Weise geschulten Arbeiter zu Gehilfen der Verwalter der ein- zelnen Abteilungen oder des Fabrikdirektors zu ernennen;

d) Arbeiter mit derartiger vorheriger praktischer Erfahrung auf selbständige Ver- waltungsämter, anfangs in. kleinere, darauf in größere Unternehmen zu berufen.

Die Spezialisten in die Industrie.

Von dem Standpunkte ausgehend, daß ohne wissenschaftliche Organisation der Produktion die breiteste Anwendung der Arbeitspflicht und der größte Heroismus der Arbeiterklasse den Aufbau einer machtvollen sozialistischen Wirtschaft nicht nur nicht sichern, sondern dem Lande auch nicht die Möglichkeit geben können, zich aus den Krallen der Armut zu befreien, hält der Kongreß es für unbedingt notwendig, alle arbeitsfähigen Spezialisten der verschiedenen Wirtschaftszweige zu registrieren und sie zur Organisation der Produktion auf jede Art und Weise auszunutzen.

Die Notwendigkeit der Kontrolle und der strengen Bestrafung aller. gegen- revolutionären Elemente in Kraft lassend, die ihre Ämter zu Zwecken des Wider- standes gegen das sozialistische Wirtschaftsregime auszunutzen bestrebt sind, er- innert der Kongreß gleichzeitig in der kategorischesten Form alle Parteimitglieder an die Aufgabe der ideellen Hineinziehung der Spezialisten in die Sphäre der Produktionsinteressen der Sowjetrepublik und macht in strenger Übereinstimmung mit dem Geist und dem Buchstaben unseres Programmes allen Parteimitgliedern zur Pflich, die Herstellung der Atmosphäre kameradschaft- licher Mitarbeiter zwischen den Arbeitern und den technischen Spezialisten anzustreben, die das proletarische Regime vom bürgerlichen geerbt hat.

Für eine der Agitationsaufgaben auf gesamtpolitischem Gebiete und auf dem Gebiet der Produktion hält der Kongreß die Bekanntmachung der breiten Arbeiter- massen mit dem grandiosen Charakter der wirtschaftlichen Aufgaben, vor denen das Land steht, mit der Wichtigkeit der technischen Bildung, der administrativen und wissenschaftlich-technischen Erfahrung und macht es allen Parteimitgliedern zur Pflicht, unerbittlich gegen den von Unbildung zeugenden Dünkel anzukämpfen, als habe die Arbeiterklasse ihre Aufgaben lösen könne, ohne die Spezialisten der bürgerlichen Schule auf den verantwortlichen Posten auszunutzen. Für jene demagogischen Elemente, die derartige Vorurteile des rückständigen Teiles der Arbeiter ausnutzen, kann in den Reihen der Partei des wissenschaftlichen Sozialismus kein Platz sein. Die individuelle Registrierung der Produktivität der Arbeit und die individuelle Prämiierung müssen in entsprechender Form auf das administrativ- technische Personal angewendet werden. Die besten Administratoren, Ingenieure, Techniker müssen in günstigere Bedingungen gestellt werden, damit sie ihre Kräfte ım Interesse der sozialistischen Wirtschaft verwenden können.

Im besonderen müssen jene Spezialisten hoch prämiiert werden, unter deren Leitung sich die Arbeiter mit bedeutenden Erfolge jene notwendige Erfahrung an- eignen, die ihnen die Möglichkeit sichert, späterhin selbständige administrative Ämter zu bekleiden. Das Vorurteil gegen den Eintritt des höheren technischen Personals der Unternehmen und Institutionen muß endgültig aufgegeben werden.

754 Beschlüsse des IX. Kongresses der

Durch Aufnahme von Ingenieuren, Ärzten, Agronomen usw. in ihre Verbände werden die Gewerkschaften diesen Elementen helfen, auf Grund von kameradschaft- licher Zusammenarbeit mit dem organisierten Proletariat an der aktiven Arbeit des Sowjetaufbaues teilzunehmen und werden die notwendigen Arbeiter er- werben, die über wissenschaftliche Kenntnis und Erfahrung verfügen.

Die Arbeitsarmeen.

Die Ausnutzung der Truppenteile für Arbeitszwecke hat in gleichem Maße ein praktisch-wirtschaftliche, wie sozialistisch-erzieherische Bedeutung. Bedingungen der zweckmäßigen Verwendung der Truppenteile in großem Maßstabe sind:

a) der einfache Charakter der Arbeit, der allen Rotarmisten in gleicher Weise

zugänglich ist.

b) die Anwendung des Systems der Erteilung von Aufgaben, deren Nichterfüllung die Verminderung der Nation nach sich zieht;

c) die Anwendung des Prämiensystems;

d) Die Beteiligung an den Arbeiten in ein und demselben Bezirk einer bedeutenden Anzahl von Kommunisten, die fähig sind, die rotarmistischen Teile durch ıhr Beispiel zu beeinflussen.

Die Heranziehung von großen Gruppenvereinigungen zur Arbeit ergibt unver- meidlich einen höheren Prozentsatz von Rotarmisten, die nicht unmittelbar in der Produktion beschäftigt waren. Daher ist die Verwendung von ganzen Ärbeitsarmeen, mit Aufrechterhaltung des Armeeapparates nur insofern zu rechtfertigen, wie die Erhaltung der Armee in ihrem Ganzen zu Kriegszwecken notwendig ist. Sobald diese Notwendigkeit fortfällt, müssen die schwerfälligen Stäbe und Verwaltungen aufgelöst und die besten Elemente der gelernten Arbeiter als kleine Arbeitsschlag-

bataillone in den wichtigsten Industrieunternehmen ausgenutzt werden.

Musterunternehmen. .

Neben allgemeinen Maßnahmen zur Hebung der Wirtschaft des Landes und zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit in der Industrie, hält der Kongreß die Schaffung von einzelnen Unternehmen der wichtigsten Industriezweige in den ent- sprechenden Bezirken für notwendig. Diese Unternehmen, die dem allgemeinen Wirtschaftsplan entsprechend auf Grund von technischen-geographischen und anderen Erwägungen gesondert behandelt werden müssen, sind eiligst mit ergänzender Ein- richtung, notwendiger Arbeitskraft, Technikern. Lebensmitteln, Heizmaterial und Rohstoffen zu versorgen. An der Spitze solcher Unternehmen müssen die besten Administratoren und Techniker gestellt werden. Politisch müssen diese Muster- unternehmen unter der unmittelbaren Aufsicht des Zentralkomitees der Kommuni- stischen Partei Rußlands stehen. Die Berichte über den Gang der Arbeiten in den Musterunternehmen müssen periodisch in der Presse veröffentlicht werden. Bei den Unternehmen müssen, sobald dies möglich ist, technische und administrative Kurse, Arbeitsschulen und dergl. eröffnet werden, damit jedes Musterunternehmen zur Schule der industriellen Erziehung und zum Herde der virtschaftlich-technischen Schöpferkraft für einen umfangreichen Bezirk, für einen gamen Industriezweig. wenn nicht für das ganze Land werde.

Kommunistischen Partei Ruflands 755

Der Übergang zum Milizsystem.

Das nahende Ende des Bürgerkrieges und die ungünstigen Veränderungen in der internationalen Lage Sowjetrußland setzten radıkale Veränderungen im Militär- wesen, in Übereinstimmung mit den dringenden wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnissen des Landes auf die Tagesordnung.

Anderseits ist es notwendig festzustellen, daß sich die sozialistische Republik, solange in den wichtigsten Weltstaaten die imperialistische Bourgeoisie an der Macht bleibt, auf keinen Fall für außer Gefahr betrachten kann. Der weitere Gang der Ereignisse kann in einen gewissen Augenblick die Imperialisten, die den Boden unter den Füßen verlieren, von neuem auf den Weg blutiger, gegen Sowjetrußland gerichteter Abenteuer führen. Hieraus folgt die Notwendigkeit, die militärische Verteidigung der Revolution auf der nötigen Höhe zu erhalten.

Der gegenwärtigen Übergangsperiode, die einen dauernden Charakter annehmen kann, muß eine derartige Organisation der Kräfte entsprechen, bei der die Werk- tätigen die erforderliche militärische Vorbereitung erhalten und möglichst wenig der produktiven Arbeit entzogen werden. Einem solchen System kann nur die sich auf das Territorialprinzip stützende Arbeiter- und Bauernmiliz entsprechen.

Das Wesen des Sowjetmilizsystems muß in der möglichsten An- näherung der Armeen an den Produktionsprozeß bestehen, so daß die lebendige menschliche Kraft bestimmter wirtschaftlicher Bezirke zugleich die lebendige mensch- liche Kraft bestimmter Truppenteile bildet.

Bei der territorialen Verteilung müssen die Milizteile (Regimenter,Brigaden,Divisionen)der- artig der Verteilung der Industrie angepaßt werden, daß die Industrieherde mit der sie umge- benden und zu ihnen neigenden landwirtschaftl. Peripherie die Basis für die Milizteileabgeben.

Organisatorisch muß sich die Arbeiter- und Bauernmiliz auf Stämme stützen, die in militärischer, technischer und politischer Hinsicht gut vorbereitet sind, denen beständig von ihnen ausgebildete Arbeiter und Bauern. zur Verfügung stehen, die sie in jedem beliebigen Augenblick ihrem Milizbezirke entziehen, mit ihrem Apparat umfassen, unter das Gewehr stellen und ın den Kampf führen können.

Der Übergang zum Milizsystem muß notwendigerweise allmählich vor sich gehen, in Übereinstimmung mit der militärischen und international-diplo- matischen Lage der Sowjetrepublik, unter der Bedingung, daß die Verteidigungs- fähigkeit der letzteren ın jedem Augenblick auf der nötigen Höhe bleibe.

Bei der allmählichen Demobilisierung der Roten Armee müssen ihre besten Stämme am zweckmäßigsten, d. h. den Bedingungen der örtlichen Produktion- und Lebensweise am meisten angepaßt, auf dem Territorium des Landes verteilt werden, wodurch der fertige Verwaltungsapparat der Milizteile gesichert werden muß.

Die zur militärischen Verteidigung des Landes bestimmte Organisation der Milizstämme muß ın dem Maße, wie dies notwendig, der Arbeits- pflicht angepaßt sein, d. h., sie muß fähig sein, Arbeitsteile zu bilden, und sie mit dem notwendigen Instruktionsapparat zu versehen.

Sich in der Richtung der Verwaltung in ein bewaffnetes kummuni- stisches Volk entwickelnd, muß die Miliz in der gegenwärtigen Periode in ihrer Organisation alle Merkmale der Diktatur der Arbeiterklaase beibehalten.

756 Kropotkin / Politische Rechte und

POLITISCHE RECHTE UND IHRE BE- DEUTUNG FÜR DIE ARBEITERKLASSE VON PETER KROPOTKIN

Beste, klarste Formulierung der Ansicht, daß vom bürgerlichen Parlamentarismus alles, nur kein Heil zu er- warten ist, unwiderlegbare Begründung der Not- wendigkäit revolutionärer Tat, wer so klug und glühend schon vor Jahren aussprach. was wir heute fühlen, der ist unser Lehrer und Bruder auch wenn er Anarchist ist, Schreckgespenst aller redegewandten Parteisekretäre.

Kein Tag vergeht, ohne daß die bürgerliche Presse in allen Tonarten den Wert und die Bedeutung der politischen Rechte besingt: Allgemeines Wahlrecht. Wahlfreiheit. Prel- freiheit, Versammlungsrecht usw. | |

»Wenn Ihr solche Rechte habt, zum Teufel, weshalb revoltieren ?? so fragt man uns »verbürgen sie nicht die Möglichkeit aller nur denkbaren Verbesserungen, ohne die Notwendigkeit, zu den Waffen greifen zu müssen?. Untersuchen wır einmal den Wert dieser Freiheiten von unserm Standpunkte. dem Standpunkt einer Klasse, die wenig Rechte aber sehr viele Pflichten hat!

Wir behaupten nicht, wie man es so oft uns nachsagt. dal die politischen Rechte durchaus keinen Wert für uns haben. Wir wissen sehr gut, daß seit den Zeiten der Leib- eigenschaft, ja, selbst seit dem vorigen Jahrhundert mancher Fortschritt sich verwirklichte. Der Mann aus dem Volke ist nichtmehr das von allen Rechten entblößte Wesen. das er früher war. Unser Bauer vird nichtmehr durch die Straßen gepeitscht wie sein Standesgenosse in Rußland. Der Arbeiter, besonders der großen Städte, schätzt sich nicht geringer wie jeder andere, wenn er seine Arbeits- stäfte verläßt. Der Arbeiter ist nichtmehr, wie früher, das

ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 757

aller Menschenrechte bare Geschöpf, das von Adel und Bourgeoisie als Lasttier angesehen wurde. Dank den Revo- lutionen, dank dem vom Volke vergossenen Blut ist er jetzt ım Besitze gewisser persönlicher Rechte, deren Wert wir ganz und gar nicht geringschätzen.

Doch wir lernten unterscheiden. Wir wissen, dal ein Unterschied besteht zwischen Rechten und Rechten. Es gibt Rechte, die einen gewissen Wert besitzen, aber auch solche die so gut wie keinen Wert haben. Diejenigen aber, welche beide zu vermengen trachten, sind Heuchler und Voiksbe- trüger. Es gibt Rechte, wie z. B. die Gleichheit der Bauern und Adeligen im persönlichen Verkehr, die Unverletzlich- keit der Person und noch viele andere, welche durch einen zähen Kampf erobert wurden und welche dem Volke ge- nügend wertvoll sind, um es . revoltieren zu lassen. wenn man sie ıhm nehmen würde. |

Doch es gibt auch Rechte, wie das allgemeine Wahl- recht, Preßfreiheit usw., welche das Volk nie und nimmer in Gärung versetzen würden, weil es eben sehr gut heraus- fühlt, daß diese Rechte, die so außerordentlich geeignet sind, die herrschende Klasse, die Bourgeoisie, gegen die Gewalt von Regierung und Adel zu schützen im Grunde eben nichts sind als Werkzeuge der herrschenden Klasse. um ihre Herrschaft über das Volk zu handhaben. Diese Rechte haben nichts gemein mit den auf Taten beruhenden Rechten, von denen wir oben sprachen: sie gleichen ihnen nicht, weil sie in Wirklichkeit den Massen des Volkes keinen Schutz bieten. Wenn man gegenwärtig den ganzen Zierat noch mit dem pompösen Titel »politische Rechte« bezeichnet, so geschieht dies darum, weil unsere politische Sprache nichts anderes ist, als ein unverstehbares, sinnloses Geschwätz, erfunden von der Bourgeoisie zu ihrem Nutzen und Interesse. |

** « *

758 Kropotkin / Politische Rechte und

In der Tat. wie kann man von politischen Rechten sprechen, wenn es nicht das Mittel ist, die Unabhängigkeit. die Würde und die Freiheit derer zu sichern, die die Macht, ihr Recht selbst zu beschirmen, noch nicht besitzen? Welchen Nutzen hat solch ein Recht, wenn es kein Werk- zeug zur Befreiung derer ist, die die Freiheit erstreben? Die Gambetta. Bismarck. Gladstone haften gewil keine Prel- und Versammlungsfreiheit nötig, sie schrieben was sie wollten. vereinigten sich mit ıhren Getreuen und sprachen was ıhnen beliebte. Sie brauchten einfach deshalb keine Freiheiten, weil sie frei waren. Wenn es nötig ist, jemandem die Freiheit der Presse und des Wortes zu garantieren, dann doch wohl nur denen, die nicht mächtig genug sind, ihrem Willen Geltung zu verschaffen. Dies war denn auch der natürliche Ursprung aller politischen Rechte.

Von diesem Standpunkt stellen wir nun. die Frage: Sind die politischen Rechte wirklich für die eingeführt, welche sie einzig nötig haben.

Gewiß nicht! Das allgemeine Stimmrecht kann manchmal bis zu einem gewissen Grade die Bourgeoisie schützen gegen die zentralisierte Macht der Regierung, ohne daß jene ge- nötigt wäre, ihre Zuflucht zu regelrechter Gewalt zu nehmen. Es kann ferner dazu dienen, das Gleichgewicht herzustellen zwischen zwei Parteien, welche um den größten Einfluß kämpfen, ohne daß auch sie, wie es früher geschah, zur Gewalt greifen müßten. Doch dies Recht ist vollkommen wertlos, wenn es darauf ankommt, die Regierung umzu- stürzen oder auch nur ihre Macht zu beschränken, die Herrschaft aufzuheben.

Das allgemeine Wahlrecht ist ein ausgezeichnetes Werk- zeug zur friedlichen Schlichtung von Streitigkeiten zwischen den Beherrschten und Herrschern. Doch kann das be- herrschte Volk irgendwelchen Vorteil davon haben? Die Geschichte kann uns hierüber Aufklärung geben. Solange

ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 759

die Bourgeoisie fürchtete. das Stimmrecht würde in den Händen des Volkes zu einer Waffe werden, welche sich gegen ihre Vorrechte wenden könnte, hat sie es erbiftert bekämpft. Doch als sie sich im Jahre 1848 überzeugen konnte, daß das allgemeine Wahlrecht in Wirklichkeit nicht zu fürchten. sondern im Gegenteil wie ein Zauber- miftel geeignet war, das Volk einzuschläfern, da nahm sie es mit Begeisterung an. Und jetzt ist die Bourgeoisie selbst der eifrigste Verteidiger dieses Rechtes. Weshalb? Weil sie erkannte, dal es eine großartige Waffe ist, die Macht in ihren Händen zu behalten, obne fürchten zu brauchen. ihren Interessen zu schaden.

* * *

Dasselbe gilt von der Preſfreiheit. Welches war in den Augen der Bourgeoisie das schlagendste Argument, die Frei- heit der Presse zuzugestehen? Ihre Ohnmacht! Jawohl, ihre Ohnmacht! De Giradin schrieb ein ganzes Buch über die Ungefährlichkeit der Presse. . Ehemals. so sagt er in diesem Buch, verbrannte man Hexen und Zauberer, weil man dumm genug war, an ihre Allmacht zu glauben: heute geschehen dieselben Dummbeiten gegen die Presse, die man allmächtig wähnt. Doch diese Allmacht gibt es nicht. Die Presse ist genau so harmlos und ungefährlich, wie die Zauberer des Mittelalters. Warum sie also verfolgen? Es ıst lange her. daß dies Urteil ausgesprochen wurde. Und wenn jetzt Bürgerliche sich über Preßfreiheit streiten, welche Gründe sind es, die sie zugunsten dieses Rechtes geltend machen? »Seht nach England, der Schweiz und Amerika. da ist die Presse frei, und doch ist dort die kapitalistische Ausbeutung besser entwickelt als anderswo. Laßt nur ge- fährliche Theorien entstehen! Wir haben Miftel genug, ihre Stimmen zu ersticken. ohne dal wir gezwungen sind, unsere Zuflucht zu regelrechter Gewalt zu nehmen. Und wenn ın erregten Zeiten die revolutionäre Presse eine Waffe wird,

760 Kropotkin / Politische Rechte und

nun dann ist es noch Zeit genug, sie unter dem einen oder dem andern Vorwand zu vernichten..

Mit dem Recht der freien Vereinigung ist es nicht besser bestellt.

»Bewilligen wir ruhig die Freiheit der Vereinigung.. sagt die Bourgeoisie, »sie wird unsere Privilegien nicht schädigen. Wir haben uns nur vor geheimen Gesell- schaften zu fürchten, die öffentlichen sind just das beste Mittel, die geheimen zu unterdrücken. Werden in einem Augenblick der Überreizung die öffentlichen Vereinigungen zu gefährlich für uns, dann haben wir immer noch die Mittel in der Hand, sie zu unterdrücken, dann besitzen wir die Staatsmacht noch.«

„Die. Unverletzlichkeit des Hausrechts die mögt ihr meinetwegen in die Gesetzbücher niederschreiben und über- all verkünden. sagen die Schlauen unter der Bourgeoisie. „Wir wünschen es nicht, daß die Agenten der Polizei uns in unserm Hause überraschen, doch wir richten ein Cabinet noir ein, um Verdächtige zu beobachten, wir bevölkern das Land mit Spitzeln, wir halten ein Verzeichnis der Personen, die uns gefährlich erscheinen, und bewachen sie überall. Sehen wir etwa einmal, daß diese Unverletzlichkeit des Hausrechtes uns schädlich ist, dann zum Teufel mit der Unverletzlichkeit, dann verhaften wir die Menschen in den Betten und nehmen Haussuchungen vor, um alles durch- zustöbern. Handeln wir dann nur ganz brutal: wer etwa zu laut schreien und protestieren sollte. den sperren wir ein und zu den andern sprechen wır dann: »Was wollen Sie, meine Herren, Krieg ist Krieg!« Ohne Zweifel wird man beistimmen.«

Und das Briefgeheimnis? sagt es, schreibt es und verkündigt es überall, daß der Brief unverletzlich ist. Wenn der Postmeister eines Dorfes aus Neugierde einen Brief

öffnet. enthebt ihn augenblicklich seines Amtes und

ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 761

nennt ihn einen ungehobelten Patron und Übeltäter! Sorgen wir dafür, daß unsere gegenseitigen Geheimnisse, die wir in unsern Briefen uns mitteilen, nicht bekannt werden. Be- kommen wir aber davon Wind, daß eine Verschwörung gegen unsere Vorrechte im Entstehen ist, dann öffne man die Briefe und stelle, wenn es nottut, dazu tausende von Beamten an. Sollte es aber jemand einfallen, dagegen zu protestieren. dann antworten wir unbekümmert, wie jüngst ein englischer Minister unter den Beifallsbezeugungen des Parlaments: »Ja, meine Herren, schweren Herzens und mit Widerstreben beschlossen wir, die Briefe zu öffnen, es blieb uns eben kein anderes Mittel übrig. Das Vaterland (das heißt Adel und Bourgeoisie) war in Gefahr!

* « *

So sehen die sogenannten politischen Rechte aus.

Die Freiheit der Presse und Vereinigung, die Unverletzlichkeit des Hausrechts, wie die andern alle heilen mögen, sie werden nur so lange respektiert, als das Volk sie nicht gegen die privilegierten Klassen anwendet. Sobald man aber diese Rechte anwenden will. um die Privilegien zu beseitigen, wird man sie samt und sonders über Bord werfen.

Und das ist sehr natürlich: der Mensch besitzt nur die Rechte, die er sich durch ernsten Kampf erworben hat, für die er jeden Tag bereit ist, mit ganzer Person einzutreten. Daß man in den Straßen unserer Städte nichtmehr Männer und Frauen die Peitsche fühlen läßt, wie es jetzt noch in Odessa geschicht, kommt daher, weil das Volk die Schergen in Stücke reifen würde, wenn es den Herrschenden einfallen würde. Dal sich kein Adeliger auf der Straße den Weg bahnt, indem seine Diener links und rechts Stockbiebe austeilen. kommt daher, weil man den Diener, der dies täte, auf der Stelle

762 Kropotkin / Politische Rechte und

totprügeln würde. Daß ferner gegenwärtig auf der Straße und in öffentlichen Gebäuden eine gewisse äußerliche Gleich- heit herrscht zwischen Arbeitern und Unternehmern, ist darin begründet, dal dank den geschehenen Umwälzungen ein Gefühl persönlicher Würde bei dem Arbeiter sich ent- wickelte, das ıhm nicht erlaubt, Beleidigungen seines Herrn zu dulden doch nie deshalb, weil ihm etwa ein Gesetz dieses Recht verbürgte.

« * >

Es ist klar. daß in der gegenwärtigen Gesellschaft, die ja nur aus Herren und Knechten besteht, eine wahre Frei- heit nicht existieren kann, sie kann nicht existieren. so lange es noch Ausbeuter und Lohnsklaven, Herrscher und Beherrschte gibt. Daraus folgt allerdings nicht, daß wir bis zu dem Tage, da die anarchistische Gesellschaft die bisherige ablöst, die Presse geknebelt wünschen wie in Oesterreich. das Recht der Vereinigung unterdrückt wie in Rußland, die Unverletzlichkeit des Hausrechts eingeschränkt wie in der Türkei. Gerade weil wir Sklaven des Kapitals sind. ver- langen wir das Recht. zu schreiben und zu drucken was uns gefällt, das Recht uns zu versammeln, uns zu organisieren wie es uns gut dünkt, einzig und allein um das Joch des Kapitals zu zerbrechen.

Doch es ist hohe Zeit, daf wir verstehen lernen, daß keine gesetzliche Verordnung uns in den Besitz dieser Rechte einsetzen kann. Sie werden uns nicht verbürgt durch einen Wisch Papier, der durch die geringste Laune unserer Herren zerrissen werden kann: die Wahrung und Bürgschaft für die Erhaltung dieser Rechte liegt einzig und allein bei uns selbst. Wenn wir eine Macht sind, fähig. Achtung vor unserm Willen zu er- wecken, dann wird es auch möglich sein, Respekt vor unsern Rechten zu erreichen.

ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 763

Wollen wir das Recht haben, zu sprechen und zu schreiben, was uns beliebt, das Recht, uns zu versammeln und uns zu organisieren. Wohlan! Dann werden wir nicht im Parlament um Erlaubnis fragen, die Freiheit nicht durch ein Gesetz von der Regierung erbefteln. Organisieren wir uns zu einer Macht, die imstande ist, den Unterdrückern die Zähne zu zeigen wenn sie unverschämt genug sind, unser Recht auf Schrift-. Rede- und Koalitionsfreiheit zu beschränken. Seien wir stark, und wir können versichert sein, daß niemand es wagen wird. uns das Recht, zu sprechen, zu schreiben, zu drucken und uns zu vereinigen, zu nehmen. Wenn es uns gelingt, so viel Bewußtsein in der Masse zu erwecken, daß sie unter Umständen mit Ein- setzung der ganzen Persönlichkeit bereit ist, für ihre Rechte einzutreten und sie sich zu erkämpfen, dann wird man es nichtmehr wagen, ihre Rechte anzutasten oder viele andere zu verweigern, die sie zurückverlangen wird. Dann, und nur dann, werden wir diese Rechte wirklich erringen, während wir um sie sonst noch jahrzehntelang in den Parlamenten befteln würden. Dann werden uns diese Rechte sicherer verbürgt sein, als wenn sie von Zeit zu Zeit von neuem auf einen Fetzen Papier geschrieben werden. |

Die Rechte kommen nicht von selbt. man muß sie sich erkämpfen.

762 Kropotkin / Politische Rechte und

totprügeln würde. Daß ferner gegenwärtig auf der Straße und in öffentlichen Gebäuden eine gewisse äußerliche Gleich- heit herrscht zwischen Arbeitern und Unternehmern, ist darin begründet, daß dank den geschehenen Umwälzungen ein Gefühl persönlicher Würde bei dem Arbeiter sich ent- wickelte, das ihm nicht erlaubt, Beleidigungen seines Herrn zu dulden doch nie deshalb, weil ihm etwa ein Gesetz dieses Recht verbürgte.

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Es ist klar, dal in der gegenwärtigen Gesellschaft. die ja nur aus Herren und Knechten besteht, eine wahre Frei- heit nicht existieren kann, sie kann nicht existieren, so lange es noch Ausbeuter und Lohnsklaven, Herrscher und Beherrschte gibt. Daraus folgt allerdings nicht. daß wir bis zu dem Tage, da die anarchistische Gesellschaft die bisherige ablöst, die Presse geknebelt wünschen wie in Oesterreich. das Recht der Vereinigung unterdrückt wie in Rußland. die Unverletzlichkeit des Hausrechts eingeschränkt wie in der Türkei. Gerade weil wir Sklaven des Kapitals sind. ver- langen wir das Recht. zu schreiben und zu drucken was uns gefällt. das Recht uns zu versammeln, uns zu organisieren wie es uns gut dünkt, einzig und allein um das Joch des Kapitals zu zerbrechen.

Doch es ist hohe Zeit, daf wir verstehen lernen, daß keine gesetzliche Verordnung uns in den Besitz dieser Rechte einsetzen kann. Sie werden uns nicht verbürgt durch einen Wisch Papier, der durch die geringste Laune unserer Herren zerrissen werden kann: die Wahrung und Bürgschaft für die Erhaltung dieser Rechte liegt einzig und allein bei uns selbst. Wenn wir eine Macht sind, fähig. Achtung vor unserm Willen zu er- wecken, dann wird es auch möglich sein, Respekt vor unsern Rechten zu erreichen.

ihre Bedeutung für die Arbeiterklasse 763

Wollen wir das Recht haben, zu sprechen und zu schreiben, was uns beliebt, das Recht, uns zu versammeln und uns zu organisieren. Wohlan! Dann werden wir nicht im Parlament um Erlaubnis fragen, die Freiheit nicht durch ein Gesetz von der Regierung erbefteln. Organisieren wir uns zu einer Macht, dıe ımstande ist, den Unterdrückern die Zähne zu zeigen wenn sie unverschämt genug sind, unser Recht auf Schrift-. Rede- und Koahtionsfreiheit zu beschränken. Seien wir stark, und wir können versichert sein, daß niemand es wagen wird, uns das Recht, zu sprechen, zu schreiben, zu drucken und uns zu vereinigen, zu nehmen. Wenn es uns gelingt, so viel Bewußtsein in der Masse zu erwecken, dal sie unter Umständen mit Ein- setzung der ganzen Persönlichkeit bereit ist, für ihre Rechte einzutreten und sie sich zu erkämpfen, dann wird man es nichtmehr wagen, ihre Rechte anzutasten oder viele andere zu verweigern, die sie zurückverlangen wird. Dann, und nur dann, werden wir diese Rechte wirklich erringen, während wir um sie sonst noch jahrzehntelang ın den Parlamenten befteln würden. Dann werden uns diese Rechte sicherer verbürgt sein, als wenn sie von Zeit zu Zeit von neuem auf einen Fetzen Papier geschrieben werden. |

Die Rechte kommen nicht von selbt. man muß sıe sich erkämpfen.

764 Willy Haas

DER JOURNALIST Versuche einer psychologisch-historischen Ortsbestimmung der intellektuellen Gruppe VON WILLY HAAS.

I.

Aus einer mythischen Urzeit, in der der Begriff der Bourgeoisie noch so etwas wie bewegenden und bewegten Gehalt hafte. ragen etliche ehemals - ethische. Uberbleibsel. undeutlich genug. als kaum mehr formal beachtete Anstands- regeln. zuletzt nur noch als bloße petrefakte Zeremonien in unsere großkapitalistische Luft hinein völlig sinnlos geworden, unverständlich, in der Luft hängend, scheinbar ohne Wurzel und Nährstoff; dennoch vorhanden: sogar irgendwie gespenstisch- beweglich. merkwürdig genug: wie galvanisierte Leichenmuskeln .

Galvanısiert aber: durch walke Naturkräfte?

Darüber eben einige beiläufige Notizen, die eich später in ein geschlossenes System, »Vom Geistigen und vom Staates, einfügen sollen

Man betrachte den Betrieb einer durchschniſtlichen Tagesredaktıon von heute und morgen. Paradox ist: eine völlıg sinnlose, gleichwohl sentimental-höflich konservierte Distanz zwischen Administration und Redaktion, Geldgeber und geistigem Leiter dieses journalistischen Institutes. Petrifi- zıert: denn diese Distanz ıst doch natürlich auf der Basıs der gegenwärtigen materiellen Ordnung nıcht mehr lebendig. Dennoch irgendwie gespenstisch vorhanden; zu einem ge- spenstigen Leben galvanieiert. von Tag zu Tag. Wieso?

Interime Reformen. wie: materielle Sıcherstellung der redaktionellen Unabhängigkeit durch Betriebsrat und lang- fristige Kündigungsfristen vernebeln höchstens. Und doch:

es wırd vernebelt. Warum?

Der Journalist | 765

II.

Was ist denn primäre Pflicht des Geistes? Doch wohl: einen materiell und also auch peychisch gegebenen Zustand sichtbar auf seine klaren, organıschen, durch eben- jenes materielle Skele bedingten Formen und Umrisse zurückzuführen. |

Ist der Geistige »Revolutionäre? Dann muß er vorerst nicht so sehr sagen. was iste; vielmehr: er muß durch Tat jene Situation unzweideutig realisieren helfen. die im Augenblick einzig und allein realisierbar. weil einzig und allein materiell gegeben ist.

Aufbauend: um das Haltbare haltbar zu machen: de- struktiv- produktiv: um das Abbruchsreife als ein faktisch Ausgebautes ad absurdum zu führen. Immer aber: pour Être sec, wie Stendhal sagt. Denn Nüchternheit ist die einzig mögliche Form des revolutionären Rausches.

III.

Den seelisch hypertrophen Arabeskenheiligen aber be- herrscht eben die Ideologie stärker als die Tatsache.

Und das gerade ıst der Kernpunkt des Problems: jeder soziale Körper scheidet aus bestimmten wunden Stellen seines Organismus solche körperphantastische Jenseits-Im- ponderabilien aus, die seinem spezifischen sozialen Wundfieber als spezifisches Antitoxin entgegenwirken. Um sıch zu erhalten, als Organismus: Gesetz der Trägheit in der 1 Natur: Und wäre der Organismus noch so wertlos

Da eind Pfaffen. Mönche, Prediger. Offiziere eines längst unwirklich gewordenen Jenseits, das einem staats- feudalen Diesseits korrespondiert bat

Aber da sınd, primär gezeugt durch dieselbe physische und psychische Unterernährung, die phantom - besessenen ideologisch- liberalen Flagellanten. Säulenheiligen, J enseits- Heroen der bourgeoisen Epoche: Die Bourgeoie- Geistigen: und ihre

766 Willy Haas

sekundären Proselytenmönche, die ernährt, was jene wenigstens verzehrt hat: die Journalisten der bourgeoisen Periode.

Und da ist auch unser Redakteur . . .

Die klare, faktische Manifestierung des faktisch gegebenen Zustandes würde heißen: vollkommene, offizielle. anonyme Unterstellung des Chefredakteurs unter den kapitalistischen Besitzer: als bloßen Schreiber. Das wäre subjektiv gewissen- haft und objektiv von einer unermeßlichen ethischen Wirkung.

Aber nein: ihm, dem Redakteur. bedeutet eine Luft- spiegelung von Gedanken- und Gewissensfreiheit« etwas. Flöchstes Paradox: in einem gesellschaftlichen Organismus, in dem die Idee gar nicht existieren kann (sollte man denken), weil sie in diesem Organismus der kapitalistischen Welt doch weder notwendig ist, noch Platz findet: weder als ein Nährendes noch als ein Ernährtes Existenzfähigkeit besitzt: existiert sie dennoch. Warum?

IV.

Wir sagten: Die klare, anonyme Unterstellung des Chefredakteurs unter den kapitalistischen Besitzer wäre subjektiv anständig und objektiv von einer unermellichen ethischen Wirkung. Darüber wäre zu sprechen.

Subjektiv anständıg: Denn die Arbeit der Hände nährt ihren Mann immer redlich; mag er sie nun an der Dy- namomaschine oder an der Schreibmaschine ihre Kraft und Geschicklichkeit aufwenden lassen.

Und wirklich: Die Schreibmaschine müßte, in dieser kapitalistischen Zeit, das einzige erlaubte Produktionsmittel des Journalisten sein.

Sie allein. ein Mechanisches. mechanisch durchaus, auch mit dem Kopfe noch, zu Bedienendes. gewährleistet un- zweideutig einen rein fabrıkmäfßigen, außergeistigen Journal- betrieb. Sie stellt den Journalisten dorthin. wohin er gehört.

Wenn er sauber bleiben will: neben den ebenso vollkom-

Der Journalist 767

men, bis ins Psychische hinein, mechanisierten Lohnarbeiter des kapitalistischen Taylor-Systems. Ein Unglücklicher neben dem andern

Die Manipulation mit Schreibtedern, als welche aller- band gefährlichen Miſſbrauch des Hausbrandes: »Geiste be- fürchten läßt, müßte den journalistischen Kindern bei Strafe

des schwarzen Mannes verboten werden.

V.

Aber auch objektiv von einer unermeßlichen ethischen Wirkung, wie wir schrieben:

Man überlege doch: Das bischen reale Stoſkraft. daß der Intellektuelle noch hat, verpufft er gegen sich selbst.

Was seine Intention betrifft. so müßte die bourgeoise Tagespresse ewig jene dämonisch-gefährliche Autorität be- halten, die sie, als Instrument angeblich unabhängiger Männer mit unabhängiger Meinung heute zum Teil noch hat.

Diese Macht würde durch die offizielle Unterstellung sofort abgebaut werden: Herr X. wäre nur faktisch und offenkundig das, was er ja doch ist: der angestellte Büro- schreiber des Herrn Stinnes, der Beamte eines unerhört erweiterten Reklamebüros der Stinnes-Konzerne, das eben seine Reklame jetzt mit geänderten ideologischen Reklame- waffen fortzusetzen beschließt... . . . | Der große Irrtum des intellektuellen J ournalisten ist bier die Annahme, daß einem J eden diese Situation ebenso durchsichtig ist wie ihm selbst.

Verhängnisvoller Irrtum! Die völlige Unzweideutigkeit dieser Situation: Fortsetzung der Reklame als politische Weltanschaung ist. in ihrer ganzen schamlosen Nacktheit. durchaus nicht allen Klar.

Und wäre sie es selbst: sie würde den Intellektuellen der Pflicht nicht entheben, das innerlich unzweideutig Wahre

zur äußeren unzweideutigen Manifestation zu führen.

768 Willy Haas

VI. |

Und die Ortsbestimmung des Intellektes in dem gegen- wärtigen sozialen Weltkomplex?

Ein praeservatıves oder antitoxitisches Sekret des wunden. bourgeoisen Organismus. Kein aktıves Element. nicht einmal ein passives: sondern ein bloßes Mittel: in der ganzen, weitesten Bedeutung des Begriffes.

Der Begriff des «Miftelse aber enthält als wesentlichstes Merkmal: daß das »Miĝele das primitivste Niveau des Ich-Bewußtseins: Klarheit über die eigene dynamische Be- stimmung; über Richtung und Intensität des Stoles, den dieses spezifische organische Faktum durch seine bloße organische Existenz führt (denn jedes orga- nische Faktum hat, vermöge seiner Expansionsmöglichkeit, als bloß Existierendes schon seine spezifische Stoß- richtung und Stoßkraft): daß das »Miftele dieses hier bezeichnete p rımıtivste Niveau des reflektiven Ich-Bewußtseins noch nıcht erreicht hat e.

Und eine soziale Gruppe, im Stadium des Mittels bedeutet: daß eben jene soziale Gruppe als Organismus noch nicht das übertierische Niveau des Individuums er- reicht hat, das Niveau des verfeinerten Organismus, als welches Reflexion . . . . Reflexion und Selbstbestimmung eventuell voraussetzt. |

Die soziale Gruppe des Proletariats hat jene reflexive Möglichkeit durch Marx und Sorel bekommen. Die intellektuelle Gruppe · steht also entwicklungsgeschichtlich. unter dem Proletariat und ist als gleichstehender Mit- kämpfer einstweilen noch kaum akzeptabel.

Naturgeschichtliche Notwendigkeit führt natürlich, wie den Einzelorganismus. so auch den sozialen Organismus aus dem Stadium des Unbewußtseins allmählich in jenes der Reflexionsfähigkeit. Mit diesem Momente aber scheidet er als »Miftele aus. Die Heiligen des früheren, die Asketen

Der Journalist 769

und Mönche des späteren Mittelalters waren noch antı- toxitische Mittel des feudalen Systems. Der Entwicklungs- zustand eines dämmernden Ich-Bewußtseins: die große katholische Kirche, der Klerikalismus, ließ ganz automatisch den Christen als »Mittele zurücktreten; seine Stelle nahm das Militär ein, dessen primitive ideologische Gläubig- keit denn auch bis zum heutigen Tag glücklich vor- gehalten hat .

Beginnende N scheidet nämlıch eine jede Gruppe ausnahmslos automatisch in zwei Hälften: in die beharrende nihilistisch- konservative. der jede, auch die dogmatische Realıtät um welchen Preis ımmer Lebensnot- wendigkeit ist: als stützender Stab. Diese Hälfte -Klerikalisiert · sich. Die andere geht, wohin immer, ihren Weg weiter

In diesem sich spaltenden und teilweise klerikalisierenden Stadium steht der J ournalismus eben heute.

Klerikalismus ist nämlich: Vorwegnahme der Realität ` als Dogma. Realität hat als primäres Merkmal: intellegible Wahrheit. Daher ist Realität unmöglich; Menschen- problem: ohne Wirklichkeit zu leben. Ein Menschenproblem, dessen Theoretiker (und nichts mehr) der Metaphysiker

amt

Der Klerikale umgeht dieses Problem, weıl er es aut keine Weise bewältigen kaun. Er konstruiert sich eine imaginäre »Wirklichkeite, die jenes integrierende Merkmal: intellegible Wahrheit. nicht besitzt: das Glaubensdogma. Ihm fliegen die Herzen Aller jener zu, die das Erkenntnis- problem zerreiſen und vernichten würde. Dies der ver- führerische Glanz der klerikalen Seelenkonstellation.

In zehn, zwanzig Jahren wird der Begriff des in- tellektuellen Journalismus dasselbe leicht-perverse Verführungs- schillern für die unmöglichen Menschen haben, das seit rund hundert Jahren. seit der Romantik. auf der sicht- baren Außenfläche des Begriffs Katholizismus · irisiert. Ihm

770 Willy Haas

werden verfallen sein die Kinder jener Realitätsüchtigen à tout prix von Friedrich Schlegel (über Nietzsche’) bis zu Paul Claudel. Der Typus des Intellektuellen als erotische Fata Morgana ist im Erscheinen

VII.

An ihren aktiven Tendenzen ist eine Gruppe psycho- logisch zu fixieren. |

Eine solche Tendenz ist hier bereits erörtert worden: die Tendenz der unmittelbaren Autorität »Besitzere gegenüber.

Wie nun ist ihre Tendenz der Autorität gegenüber überhaupt, präziser ausgedrückt: dem Inbegriff der heutigen Autorität, dem ephemeren Staatsgebilde, gegenüber?

Noch der geistigste Journalismus strebt schlechtweg eine Sozialisierung des gesamten geistigen Betriebes, vom Theater bis zur Tageszeitung und zum Kino hinab, an.

Hier erst dokumentiert sich jene tiefe Selbst-Unsicherheit, die dem Begriff des sunbewulßten Mittelss charakteristisch anhängen muß.

Was hat eine ihrer 88 bewufte soziale Gruppe der Menschheit als Höchstes anzubieten? Sich selbst. Die eigene, immanente, unterirdische, höchst- individuelle, noch nicht verwirklichte Struktur ıhrer selbst: als einer angenommenen und tiefst-geglaubten sozialen Höchstform.

Das tut das revolutionäre Proletariat von heute ım Kommunismus Tut es die intellektuelle Gruppe? Kann sie es tun? Und welche Struktur wäre es denn, die sie anzubieten häfte?

Welches ist überhaupt ihre höchsteigene soziale Struktur dynamei »der Möglichkeit nache, um aristotelisch zu sprechen? Diese Möglichkeit obendrein aufdasOptimistischeste geschen?

Der Journalist 771

Abbau der zufälligen Autorität: mil Darüber hinaus aber: freies Spiel der gegebenen seelischen Kräfte; körper- liche Herstellung der natürlichen Beziehung aus den seelischen Imponderabilien der Über- und Unterlegenheit. des Hasses, der Bewunderung. des Neides, aller dieser Elemente zusammen: also, historisch gesprochen: das vor- sozialistische Ideal des Smith schen Liberalismus mit seinem chaotischen: »Laisez faire, laissez passer le: ein durchaus frühes und gröberes Stadium des sozialen Gewissens. Und: Besitzen wir etwa nicht diese Gruppen. ehrlich realisiert. in effigie, wenigstens als Miniatüre. in unzähligen literarischen Klüngeln? Zum Beispiel in der Stefan-George- Gruppe mit ihren Anrainern und unmittelbar innerlich beteiligten Gegnern? Und ein Buch, wie Friedrich Wolters „Herrschaft und Dienste: gıbt es nicht die Theorie dieses sozialen Gebäudes wenigstens ehrlich? So ehrlich, daß es von der erdrückenden Majorıtät der heutigen Intellektuellen als magna charta einfach unterschrieben werden müßte, hätten sie die Nüchternheit, die Selbstkontrolle, die psychisch-historische Situation ihres Soꝛzial-Sinnes auch wirklich zu überblicken ?

Was charakterisiert diese Situation? Zweierlei: eine reale Lebendigkeit der Praedestinations-Idee. Und eine reale Lebendigkeit des Autoritäts-Gedankens, aufgebaut auf dieser imponderablen. Praedestination.

Ganz weit gefaßt: Die Antithese »Oben-unten« als ein Sozial-Seiendes und Wirksames ... . .

Kann diese ephemere Wirklichkeit irgendeinmal den Charakter einer » historischen Fiktione bekommen? Und auf welehem Wege? Durch welche Kräfte? Ä

Vorerst scheint es: nicht. Denn jene graduellen Beziehungen von Herrschaft und Dienst sind doch schein- bar praedestiniert-geistige Beziehungen der Natur selbst: Grad des Geistes, Talentes, der Genialität: wie sollte

772 Willy Haas

ihre Wirklichkeit ın der intellektuellen Sphäre jemals unwirklich werden?

Aus sich selbst wird sie es niemals werden: denn der Intellekt in sich selbst wird, ist er konsequent und selbstgläubig. auch an die geistige Notwendigkeit einer sozialen Verwirklichung jener prädestinierten Stufenhaftigkeit glauben müssen.

Nein! es müßte ein völlig disparater Sozialismus hinzu- und eintreten, den die intellektuelle Gruppe niemals aus sich‘ selbst heraus wird zeugen können. Erst dieses Disparate könnte die soziale Relevanz jener immanenten prädestinierten Grad-Struktur ad absurdum führen. Erst dieses Disparate könnte den Grundstein legen zu jener primären »Sozialı- sıerung des Talentes«, die die psychologische Voraussetzung ist für jede wirkliche Sozialisierung einer jeden geistigen, geist-nahen oder vorgeblich-geistigen Institution. | |

Der hier umrissene Vorgang ist, und zwar genau in der psychologisch abgeleiteten Ar., als wirkliche Experiment vorhanden; in jenem großen anonymen Werk über »Proletarische Ethike, dessen anonymer Autor, wie Ludwig Rubiner sagt, zum erstenmal sozialistische Ethik an seiner eigenen Anonymität verwirklichte: den »Einzelnen als Zelle: als Mitmenschen: als ungenanntes Wesen, dessen wertvollstes Schicksal das Opfer seiner eigenen Sonderperson für die Gemeinschaft iste uns vorführt.

VIII.

Und dennoch wollen sie sozialisieren; und zwar sofort: auf der Stelle; und Alles: Theater. Kino. Redaktionen, Buchverlage: alles, alles wollen sie dem Staate von heute anvertrauen. So vertrauenswürdig ist ihnen dieser Staat von heute. |

Der Journalist 773

Wir wollen von dem Meritorischen schweigen: ob man durch solchen unerhörten Machtzuwachs auf ideellem Gebiete den Staat von heute nicht bis ins Unangreifbare stärkt: die Revolution für ungewisseste Zeit aufschiebt. .... .

Uns interessiert hier nur das historisch-topische Moment: eine irgendwo anderwärts vorhandene, irgendwo anderwärts seelisch fundierte Wahrheit wird einfach präokkupiert: eine Wahrheit, die nicht ihre Wahrheit ist; eine Realität, die nicht ihre Realität ist; eine imaginäre Realität; ein Dogma: Die Sozialisierung als totes Dogma.

Wir kommen auf früher Angedeutetes zurück: der intellektuelle Journalismus ist auf jenem Wege dämmernder Reflexions möglichkeiten, die den Klerıkalismus in irgend- einer Form als notwendige Begleiterscheinung absplittert.

Diese Hypothese: an neuer, erweiterter Perspektive wiederum erwiesen

IX.

Die revolutionären Schichten Frankreichs verdanken einer ihnen. wie keinem anderen Volke die wirkliche geistige Gruppierung klarstellenden politischen Geschichte ihre bestimmte und historisch gegebene Flaltung gegen den Intellektualismus. |

Die große Revolution als Tatsache ist ihnen unver- lierbar-höchstes, immer wieder produktive Gut. Die große Revolution als reale Errun genschaf t ist geschichtlich gegebenes Faktum, über das hinausgebaut werden muß. Die Revolution als of fiz isse Tradition ist ihnen der Inbegriff des zu Bekämpfenden e.o

Denn wirklich: um sie klarzustellen, müssen diese Dinge auf dem Kopf stehen. Liberté. égalité, fraternité muſ immer wieder zur akademischen Phrase geworden sein. um diese großen Revolutionsideen immer wieder regenerierbar zu machen

774 Willy Haas / Der Journalist

Aber auch den französischen Intellektuellen wie der Geschichte Frankreichs muß nachgesagt werden, daß sie zu- mindest ehrlicher sind als die Unsrigen. Ihre Thomas Manns waren natürlich bis 1914 streng parallel: Voltärianer und Revolutionaristen. Und dre geistige Fronde war zum großen Teil nationalistisch, ıintegral-kirchlich, sogar royalıstisch : Claudel, Gide, Péguy.

Nun aber: die größere Ehrlichkeit: republikanisch und revolutionär-traditionalistisch war nicht nur dieser oder jener Thomas Mann. sondern die ganze Intellektuaille insgesamt. der ganze J ournalismus. das ganze Konversations- theater, die ganze Wissenschaft, die ganze Unterhaltungs- literatur: kurz gesagt: die Sphäre der intellektgebornen Talent-Mittelmäfigkeit durchaus,

Nur aus solchen Aspekten heraus ist die streng antuntellektuelle Haltung des einzigen wirklich revolutionären Vorkriegsfrankreich, das der Name Sorel und das Programm des Syndikalismus fast restlos bezeichnet, zu ver- stehen...

Inwiefern der Krieg diese Situation verändert bat. dies darzustellen, kann nicht Aufgabe dieser Studie sein. Es sollte nur gezeigt werden, wie eine etwas charakteristischere politisch-historische Konstellation (und auch diese ist, was Frankreich betrifft. gewiß kein Zufall) sofort die einzig wahre, einzig mögliche Distanz zwischen Revolution und Intellektualismus aufrichtet.

Anatole France Gespräche über die Intelligenz 775

GESPRÄCH ÜBER DIE INTELLIGENZ

RANDBEMERKUNGEN, DIE PIERRE NOZIÈRE® IN SEINEN GROSSEN PLUTARCH ZEICHNETE

VON ANATOLE FRANCE

Arist, Polyphil und Dryas Polyßhil

Arist, wie kannst Du sagen, daß die Intelligenz das Wesentliche im Menschen sei? Sie ist es nicht. Die Intelligenz auf der überlegenen Stufe ıhrer wirklichen Entwickelung, das heißt die Eigenschaft einige ewig übereinstimmende Momente in der Verschiedenheit der Erscheinungen. zu er- fassen, ist selten und unsicher bei den Tieren unserer Art. Nicht von ihr lebt der Mensch. Sie regelt nicht die Funktionen des organischen Lebens: sie befriedigt weder Hunger noch Liebe: sie wirkt nicht mit im Blutkreislauf. Der Natur fremd. ist sie der Moral. wenn auch nicht ge- rade feindlich, so doch gleichgültig. Sie hat nicht die tiefen Instinkte der Wesen, die übereinstimmenden Gefühle der Völker, die Sien und Bräuche festgesetzt. Sie hat weder die heilige Religion noch die mächtigen Gesetze eingeführt, die sich in einer feierlichen Vorzeit auf der gemeinsamen Entfaltung der Kräfte des elementaren Lebens aufbauten. Was ich hier sage, soll nicht die Majestät göftlicher und menschlicher Einrichtungen herabsetzen: Ihr versteht mich doch. Der rührende Glanz der religiösen Bräuche setzt sich aus dem formlosen Trümmerhaufen der primitiven Apotheken zusammen: die Theologien haben die verehrungswürdige Unintelligenz und die heilige Bestürzung unserer wilden

®) In seinen Memoiren identifiziert sich Anatole France mit Pierre Noziöre.

(Asmerk. der Übers).

776 | l Anatole France

Vorfahren angesichts des Schauspiels vom Universum zum Ursprung. Die Gesetze sind nur die Verwaltung der Instinkte. Sie sind den Gewohnheiten unterworfen. die sie zu unterwerfen behaupten: das eben macht sie der Gemeinsamkeit erträglich. Früher nannte man sie Bräuche. Die Grundlage dazu ist außerordentlich alt. Die Intelligenz hat begonnen in den Geistern zu keimen, als der Mensch bereits seinen Glauben, seine Siten, seine Liebe und seinen Haß, seine gebieterische Idee von Gut und Böse aufgebaut hafte. Sie ist von gestern. Sie stammt von den Griechen, den Ägyptern, oder, wenn Ihr wollt, von Akadiern oder Atlanten. Sie kam nach der Moral, was sage ich, nach der Flöte und dem KRosenol. Sie ist in diesem alten Tier eine reizende und verächtliche Neuheit. Sie hat hier und da hinlänglich helle Strahlen hingeworfen, das gebe ich zu. Sie strahlt angenehm in einem Empedokles und in einem Galilei, die ein glücklicheres Leben geführt häften, wären sie weniger begabt gewesen für die Erfassung von einigen ewig übereinstimmenden Momente in der un- endlichen Verschiedenheit der Phänomene. Die Intelligenz hat eine gewisse Grazie, einen Zauber, das gebe ich zu. Bei einigen Personen gefällt sie. Da sie heute selten ist und, nur auf eine geringe Anzahl verachteter Menschen beschränkt, lebt, bleibt sie unschuldig. Aber man darf sich darüber nicht täuschen: sie steht im Widerspruch zum Geist unserer Art. Wenn sie durch einen Unglücksfall, der nicht zu befürchten ist, plötzlich die Menschenmasse durch- strömte. würde sie wie eine Ammoniaklösung auf einen Ameisen- haufen wirken. Das Leben stünde plötzlich still. Die Menschen können nur unter der Bedingung bestehen, daß sie das wenige das sie begreifen, schlecht begreifen. Un- wissenheit und Irrtum sind dem Leben so notwendig wie Wasser und Brot. Die Intelligenz muſ in der Gesellschaft außerordentlich selten und schwach sein, um ungefährlich zu bleiben.

Gespräche über die Intelligenz 777

So spielt es sich tatsächlich ab. Nein. es wird nicht alles in der Welt zur Erhaltung der Wesen geregelt, sondern die Wesen erhalten sich nur unter günstigen Umständen. Man mul er- kennen, daß die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit instinktiven Haß gegen die Intelligenz empfindet. Das tiefe dunkle Ge- fühl ıhres Interesses treibt sie dazu.

Arist

Die Intelligenz, wie Du sie erklärt hast, ıst offenbar die spekulative Intelligenz, die Fähigkeit zur Philosophie der Wissenschaften. Und es scheint doch, daß diese Eigenschaft nicht so neu ist wie Du sagst: es scheint im Gegenteil, daß sie so alt ist wie die Menschheit. Der Mensch, der als erster in seiner Höhle über dem Herdstein einen Bären- schenkel röstete. war nicht nur ein Koch; er war ein Chemiker, und die Philosophie der Wissenschaften war ihm ganz und gar nicht fremd. Wahr ist, daß die Menschen aus den richtigsten Grundsätzen die falschesten Schlüsse ziehen. Nicht die Intelligenz ist der Menschheit gefährlich, sondern die Irrtümer der Intelligenz. Die Eigenschaft, das Weltall auf eine gewisse Art zu verstehen, ıst gerade an die Organe des Tieres gebunden, das wir verkörpern, und der Mensch ist weise geboren. Ich schmeichele mir, voll und ganz in der Natur zu bleiben, wenn ich meine Arbeiten über landwirtschaftliche Chemie und Archäologie betreibe. Kurz, Polyphil, ich will. Dir zugeben, daß die Anlage zur Abschweifung bei unsersgleichen groß ist, und daß der Mensch gerade die Eigenschaft sich zu irren mit der größten Macht ausübt.

Dryas

Das liegt daran, daß wir nur auf die positive Periode eingehen.

Polyßhil

Ganz und gar nicht, Ihr erkennt mit mir an, dal die Glaubenslehren, die Moral und die Gesetze nicht einer ver-

778 Anatole France / Gespräche über die Intelligenz

nunftgemäßen Auslegung der Naturphänomene entstammen, daß eine freie Intelligenz dieser Phänomene die notwendigen Vorurteile schwächt, und daß die Gabe viel zu wissen ein verhängnisvoller Auswuchs ist. Dryas Das ist nicht ganz wahr. Polyfhil

Das ist so wahr, daß die Theologen, die Goft als ein äußerst intelligentes Wesen auffassen, nicht zulassen können, daß er moralisch ist. Ohnehin ist die Idee eines moralischen Goftes lächerlich.

Dryas

Die Moral ist bis heute auf den theologischen Ideen aufgebaut worden. Wir haben eine fetischistische, eine polytheistische und eine monotheistische Moral gehabt. Die letzte war hart. Die Zeit ist gekommen, wo die Moral auf der Wissenschaft aufgebaut wird

Poly$hil

Ich will Dir nicht vorwerfen, dał Du die Wissen- schaften den Religionen gegenüberstellst. Aber, wenn man die Dinge in der Nähe betrachten muß, Dryas, was sind die Religionen, ich bie Dich, was sind sie, wenn nicht sehr alte Wissenschaften, Astrologien, Arithmetiken, Meteoro- logieen: abgestandene, zersetzte, trübe gewordene Arzneien: Verordnungen einer sehr alten und fernen Polizeigewalt. durcheinandergemengte Rezepte von Küche und Hygiene. Grundsätze primitiven Ackerbaus und ungeselliger Lebensart? Die positiven Aufschlüsse und die vernünftigen Anwendungen werden mit dem Alter. das sie sonderbar und geheimnisvoll macht, zu Dogmen des Glaubens und Zeremonien des Kirchendienstes.

Auch unsere Wissenschaft wird Auswüchse des Aber- glaubens zeugen. Darüber kommt man nicht hinaus. Intelligenz ist der menschlichen Natur ein Abscheu. Religionen entstehen

Morbus Berolinensis 1229

unter unseren Augen. Der Spiritismus verarbeitet in diesem Augenblick seine Dogmen und seine Moral. Er hat seine Andachts- übungen und seine Konzile, seine Väter und seine Millionen von Anhängern. Die Spiritisten gründen ihren Glauben auf die Chemie,. so wie sie von Lavoisier geschaffen worden ist: sie rühmen sich, die neuesten Ideen über die Beschaffenheit der Materie zu haben. Sie behaupten eine gute, eine aus- gezeichnete Physik zu besitzen.. Wir sind die Gelehrten! rufen sie. Wie Arist sagte: »Man zieht die falschesten Schlüsse aus den richtigsten Grundsätzen.

Arist

Ich merke. Polyphil, daß Du Dich mit der Intelligenz herumstreitest, wie es verliebte Leute miteinander tun. Du überhäufst sie mit Vorwürfen, weil sie nicht die Königin der Welt ist. Ihre Herrschaft ist nicht absolut. Aber sie ist eine vermögende Dame, nicht ohne Kredit in mehreren ehrbaren Häusern und ihre mächtige Milde wirkt sogar in in dieser großen Stadt, die an einem breiten Fluß in einem fruchtbaren Tal gelegen ist.

- (Autorisierte Uebersetzung von Beatrice Sacks).

MORBUS BEROLINENSIS

Es gibt in Deutschland eine weit verbreitete Seuche, die namentlich in Berlin grassierend fürchterliche Verheerungen anrichtet. Wer dieser Seuche einmal verfallen ist, dessen Geisteskräfte bleiben Zeit seines Lebens geschwächt. In den Vierteln der Armen sind die Folgen ebenso zu merken, wie am Kurfürstendamm, während der Hungertyphus seltsamerweise nur die Straßen der Minderbemittelten heimsucht. Diese Seuche, „Morbus Berolinensis“, heißt zu deutsch „B. Z. am Mittag” (,, B. Z.“ ist vermutlich eine Abkürzung von „Berliner Zulukaffer“). Was diese Seuche ferner von allen Epidemien unterscheidet, ist, daß sie nicht ihre Be- kämpfer, die Ärzte, sondern im Gegenteil die Krankheitserreger, die Ullsteins, reich macht.

Wo man das seltsame Ding anfaßt, das sich „Öffentliches Leben“ nennt kommt man auf groteske Erscheinungen. Die Symptome der deutsch-bürgerlichen

25

780 Morbus Berolinensis

Tragikomödie liegen zu Haufen. Es bedarf nicht Karl Kraus scher Gewissenhaftig- keit. die alles kontrolliert und das Beste auswählt, jeder Blick, jeder Griff vermag zu demonstrieren. Um diese Behauptung zu beweisen, kaufte ich eines Tages ein Exemplar des Dummheits-Erregers „B. Z. am Mittag” und fand bei sorgfältiger Lektüre hundert wertvolle Symptome in den Rubriken „, Feuilleton“, „Variété und Kino“, „Kleines Feuilletton“, „Kleine Chronik (Wie niedlich das alles ist!). „Sport“ und „Allerlei“, beinahe ebensoviele im politischen Teil, deren amüsanteste

hier kundgegeben seien. *

An der Spitze des Blattes fett gedruckt eine „Eigene Drahtung aus Marien- werder: f . . . . Heute sprach ich einen Soldaten der roten Armee, der der sogenannten baltischen Landwehr, die auch u. a. von baltischen Baronen geführt wird, angehörte. Er sagte mir, daß schon vor längerer Zeit ein Kom- pagniebefehl ausgegeben war, daß die Russen den polnischen Korridor auflösen

wollen. *

Gleich daneben wieder eine „Eigene Drahtung” (Ja, wir haben's) über den Streik ın Zittau. Da leider keines der Zittauer Bürgerkinder sich in diesen Tagen an einem Prellstein das Knie geritzt hat, konnte über „blutige Ausschreitungen” der Arbeiter nichts gemeldet werden; hingegen:

.. . . Der Oberbürgermeister von Zittau ist heute früh von Dresden weg- gefahren und wird jeden Augenblick in Zittau zurückerwartet. Man rechnet damit, daß er mit den

Vortruppen der Reichswehr in die Stadt kommen soll. Die Reichswehr wird von der Bürger- schaft mit großer Sehnsucht erwartet. Der Belagerungszustand ist bereits über Zittau verhängt. Man glaubt nicht, daß auf andere

Weise als durch das Erscheinen der Reichswehr diè nor- male Lage hergestellt werden kann.

Der Fünfzehner-Ausschuß,

der sich die Polizeigewalt angemaßt hat, herrscht immer noch. Die Stimmung der einsichtigen Arbeiterschaft ist unbedingt gegen den Terror und gegen den Streik

Dann eine Hofnachricht: Der Reichspräsident besucht die technische Messe.

Reichspräsident Ebert sagte einer Einladung des Meßamts folgend, seinen Besuch zur bevorstehenden technischen Messe in Leipzig zu.

*

Morbus Berolinensis | 781

Ferner:

Rede des Rektors Prof. Eduard Meyer.

Die Berliner Universität beging heute mittag den Geburtstag ihres königlichen Stifters Friedrich Wilhelm III. in gewohnter Form mit einem Festakt in ihrer neuen Aula. Die Feier erhielt ihr Gepräge durch die Rede des jetzigen Rektors der Universität, Prof. Eduard Meyer, den seine Eigenschaft als Geschichtsschreiber des Altertums nicht hindert, ein sehr lebhafter Gegen- wartspolitiker zu sein, und der auch in einzelnen Stellen seiner heutigen Aus- führungen seine parteipolitische Stellung erkennen ließ.

Prof. Meyer spricht einleitend von der unendlichen Ferne, in die die Zeit des Stifters der Universität uns heute schon gerückt scheint. Muten uns doch die stolzen Denkmäler und Bauten Berlins heute kaum anders an als die Ruinen von Athen, von Theben und Ninive. . Die Vorgänge der letzten Wochen, sagte der Rektor, müssen auch dem verblendetsten Schwärmer für Völkerversöhnung und Millenium (?) der Ge- rechtigkeit fühlbar gemacht haben, welches Schicksal uns unsere Feinde bereiten wollen.

Aus einem Briefe, den ein beim Beginn des Krieges nach Amerika über- gesiedelter Schotte am 6. Dezember 1918 einem Gesinnungsgenossen schrieb, teilt Prof. Meyer einige Worte mit: die deutsche Niederlage und Unter- werfung sei durch moralischen Zusammenbruch, durch Verrat hervorgerufen. Aber die deutschen Taten seien wahrlich groß, ein dauernder Besitz. Noch stehen wir so fährt der Rektor fort in dem Fieberparoxysmus, in der Gedankenöde, die uns überall anstarrt. An schöpferischen Ideen, in denen die Seele unseres Volkes sich offenbaren würde, fehlt es in dem Getriebe der Weltverbesserer vollkommen. Soweit es sich nicht um Fieberträume einer pathologisch gärenden Zeit handelt, wirtschaften wir mit überkommenem Gut, mit seit langem eifrig erörterten Lehrsätzen und Postulaten, die ein ganz anderes Gesicht bekommen, sobald der Versuch gemacht wird, sie aus der Theorie in die harte Wirklichkeit zu überführen.

Aus ihnen sucht man jetzt in aller Hast einen Neubau mit glänzender, aber rasch abbröckender Stuckfassade zusammenzuflicken. Vergebens geht der sehnsüchtige Blick nach einer willensstarken, schöpferischen Persön- lichkeit aus wie sie vor 100 Jahren in Überfülle zu Gebote standen. Wo eine solche fehlt, da haben die untergeordneten Kräfte freien Spielraum, da waltet der anarchische Zufall des blinden Ungefährs.

Prof. Meyer schilderte dann ausführlich die große Aufgabe, die der Wissen- schaft, insbesondere der historischen, im Leben der Nation gestellt sei, und ver- teidigte die Universitäten gegen die Angriffe, die neuerdings gegen ihre Organi- sation und ihre Vertreter gerichtet werden.

Das Groteske an diesem Bericht ist nicht so sehr die Tatsache, daß der monar- chistische Fälscher Meyer Rektor an der Universität ın der Hauptstadt einer Republik ist, weit grotesker noch ist: daß die Mitglieder einer Zeitungsredaktion

782 Der Fall Jacobsohn-Hilferding

die davon leben, daß „wir (ominöses Wort!) zu allem ‚Stellung nehmen müssen, daß die Scribenten diese Annonceninstitutes mit angeblich demokratisch-republika- nischer Unterhaltungsbeilage hier keine „Stellung nehmen, weil, nun weil sie einerseits Respekt vor einen Wissen haben, das sie zu besitzen vorgeben und denn . . Meyer ist ja kein Nikolai!

*

Weil aber alles Heitere auch eine Pointe haben muß, äußert der ., Wir“ des Verdummungs-Erregers sich zu den an sich schon grotesken Verhandlungen über die Kriegsschuld aut dem Kongreß der Zweiten Internationale:

Die neue Fassung der Verantwortlichkeitsformel mutet den Sozialdemokraten zu, für ganz Deutschland die elsaß-lothringische Frage als nicht mehr bestehend zu erklären. Dazu haben sie natürlich nicht das Recht. Ebensogut könnte man aber auch von der sozialdemokratischen Partei die Wiedergutmachung der Kriegs- schaden verlangen, wofür selbst die gefülltesten Gewerkschaftskassen nicht aus- reichen würden. Die ganze Verantwortlichkeitsfrage ist auf ein falsches Gleise geraten. Schon Lenin hat den Entente-Arbeitern den Rat gegeben, einmal auf die Öffnung der Londoner und Pariser Archive zu dringen. Wenn berechnet wird, daß die deutschen Sozialdemokraten um fünf Jahre zu spät Re- volution machten, so könnte die Resolution ja für Franzosen und Engländer heute einen genaueren Termin zum Revolutionsbeginn festsetzen.

Die „B. Z. am Mittag“ beruft sich auf Lenin! Nun, vielleicht kommt einst der Tag, da diese schnoddrige Notiz den Kern eines Briefes bildet, der in Berufung auf die schon am 3. August 1920 bekundete bolschewistische Gesinnung Sowjet- Inserate erbittet. F. S.

DER FALL JACOBSOHN-HILFERDING

Im Heft 27/28 der „F Aktion“, erschienen am 10. Juli 1920, schreibt Franz Pfemfert einen Aufsatz, der mit geringen Kürzungen hier abgedruckt sei.

Gemeinheit plus Feigheit, nur auf diese Formel ist die Art zu bringen, in der die Hilferdinge gegen jeden Genossen vorgehen. der, dem Willen der revolutionären Arbeiter gemäß, die Sumpfpolitik der USP-Bonzen bekämpft. Gemeinheit plus Feigheit. Denn die Schandblätter „Freiheit“ und „Leipziger Volkszeitung“ wissen mit ihrer gemeinen Gesinnung nichts anzufangen, solange der Gegner vor ihnen steht. Wendet er aber für einen Augenblick den Rücken, dann fühlt die Feigheit sich obenauf und sowohl in der . Freiheit“ wie in der „Leipziger Volkszeitung“ wird „mannhaft” gekämpft.

Wilhelm Herzog ist, das wissen die Leser der , Aktion“, leitender Redakteur der ‚Hamburger Volkszeitung. Er hat in diesem Blatt, an das ihn das Vertrauen

Der Fall Jacobsohn-Hilferding 783

der Hamburger USP-Arbeiter gegen den Willen und trotz allen Schiebungs- versuchen der Crispien-Zentrale gerufen hat, immer wieder die Praktiken der „, Frei- heit“-Redaktion bekämpft. Die Hilferdingsippe schwieg (natürlich) und versuchte nur auf Umwegen (über den unsäglichen Jacobsohn) Wilhelm Herzog mit Dreck zu bewerfen. Gestellt, kniff das Gesindel. Niemand vom „Zentralkomitee wollte etwas gesagt haben. |

Wilhelm Herzog ist nun, mit Zustimmung der USP-Genossen Hamburgs, auf ein paar Wochen nach Moskau gereist Curt Geyer vertritt ihn ın Hamburg bis zur Rückkehr. Von Moskau aus kann Wilhelm Herzog nicht gut Lügen ab- wehren. Und wenn Herzogs Moskaureise an die große Glocke gehängt wird, dann ist es vielleicht sogar denkbar, daß der unbequeme Störer unserer Stampferpoiitik nicht so schnell zurückkehren könnte.. also kalkulierten die Hilferdinge, und in der ., Freiheit“ (28. Juni 1920) und in der „Leipziger Volkszeitung fanden Polizei- gehirne diese unglaubliche Denunziation:

„Kein Unabhängiger in Moskau.

Die „Frankfurter Zeitung bringt die Meldung, daß bei der vorbereitenden Konferenz des geschäftsführenden Ausschusses der Kommunistischen Internationale in Moskau neben Vertretern anderer Länder Cachin und Frossard als Vertreter Frankreichs anwesend seien, außerdem ein Vertreter des linken Flügels der deut- schen Unabhängigen.

Bekanntlich waren Cachin und Frossard zwecks Unterhandlungen über den Anschluß ihrer Partei an die dritte Internationale in Moskau, dagegen sind Ver- treter der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands noch nicht in Rußland. Es gibt infolgedessen auch keinen Vertreter des, linken Flügels, der an den Sitzungen hätte teilnehmen können. l

Die Meldung könnte sich höchstens darauf beziehen, daß Wilhelm Her- zog jetzt in Moskau sein Domizil aufgeschlagen hat. Sollte er sich wirklich als Vertreter des linken Flügels der Unabhängigen Sozialdemo-

- kratie Deutschlands bezeichnet haben, so hätte er das ohne jede Berechti- gung getan. Denn wir haben Grund zu der Annahme, daß das kurze Gastspiel, das Herzog in unserer Partei gegeben hat, ein für allemal zu Ende ist. Herzog ist kein Vertreter unserer Partei, denn es ist bekannt, daß das Zentralkomitee die Hamburger Parteiorganisation aufgefordert hat, Herzog von der Reichtags- kandidatenliste zu streichen, und daß Herzog nach Eintreffen dieses Briefes in Hamburg schleunigst verduftet ıst, um weiteren für ıhn unangenehmen Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen.“

Daß die Hilferdinge die Stirn haben, namens des „linken Flügels“ den Schnabel aufzutun, ist eine Frechheit, gegen die sich der „linke Flügel“, d. h. die auf dem Leipziger Parteitag siegreich also in der Mehrheit gewesenen USP. Arbeiter zu wenden haben werden. Daß ich mein „Domizil“ in Leipzig aufschlage, wenn ich dorthin zu einem Kongreß fahre, wird nur sagen können, wer der Polizei einen Wink geben will. Daß Wilhelm Herzog nicht „verduftet‘ ist, daß Wilhelm Herzog keinerlei „Auseinandersetzungen zu scheuen hatte oder hat, dafür bürge ich! Und das famose „Zentralkomitees weiß so gut wie ich, daß der augenblicklich Wehrlose

784 Der Fall Jacobsohn-Hilf erding

wiederholt mit aller Schroffheit darauf bestanden hat, daß das , Zentralkomitee nicht unterirdisch, sondern offen gegen ihn auftreten mögel Das Zentralkomitee drückte sich. Herr Hilferding, eine feine Quelle, schien versiegt so lange Wilhelm Herzog zur Stelle war. Vor seiner Abreise empfing der Verleumdete die offizielle Erklärung, man habe sich über- zeugt, er sei zu Unrecht verdächtigt, er sei verleumdet worden. Nun, da er weg ist, nun, da er in Moskau den für die II. Internationale geborenen USP- Bonzen lästig werden könnte, jetzt kommt das Pack mit „unangenehmen Auseinander- setzungen ? Pfui Teufel, ist das ein Schuft, der die , Freiheit“-Notiz verfertigt hat! Gegen solche Kreatur würde ich nur mit Ohrfeigen vorgehen können!

... Aber was hat man denn gegen Wilhelm Herzog überhaupt gehabt, als er noch hier war? Wer hat denn gegen ihn „gezeugt? Herr Siegfried Jacobsohn, der durch literarische Diebstähle bekannt gewordene Herausgeber der „Schaubühne Diese Begleiterscheinung des deutschen Pressebetriebs hat allerdings das Zeug, den USP-Bonzen zu gefallen; in dem Blatte tummeln sich der Lyriker Heinrich Ströbel und der Renegat Karl Kautsky. Es ist ein Papier, das heute USP-Führern zum Munde redet, wie es im Kriege den Alldeutschen und den Politikern von der Art des Herrn Robert Breuer zu gefallen wußte.

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Hier ein paar Gesinnungsproben aus der Dreckschrift.:

Die Schaubühne vom 8. Februar 1917:

„Es liegt nahe, nachdem der uneingeschränkte Unterseebootkrieg eingesetzt hat, daß nun gewisse Leute sich rühmen, ihn erzwungen zu haben.... Es wäre traurig um das Deutsche Reich bestellt, wenn seine verantwortlichen Stellen sich durch den Lärm der Straße, die Erregung der Versammlungen oder die Anmaßung von Zeitungsartikeln zu ihren Maßnahmen drängen ließen. Glücklicherweise hat sich das monarchische Prinzip, dessen Wert wir gerade darum schätzen lernten, als ein unverrückbares Bollwerk gegen die Willkür und den Vorwitz der Demagogie erwiesen. Es war beinahe unnötig, war aber zur Belehrung der ungefragten Hitzköpfe ge- boten, daß der Kanzler in seinen Auslassungen, die den Beginn des uneingeschränkten U-Bootkrieges ankündigten, ausdrücklich betonte: alle berufenen Stellen hätten sich in diesem Entschluß zusammengefunden, alle wären einig. An solcher Selbst- verständlichkeit kann die Taktik einiger Boulevardblätter, bei dem Dank für den neuesten Kriegsentschluſ geflissentlich die Reichsregierung anzunehmen, nichts ändern.”

Die Schaubühne vom 22. Februar 1917:

.. . Insofern ist der Krieg, den wir durchleben, ein sittlicher Fort- schritt; denn alle Beteiligten geben offen zu, daß es sich um irdische Werte handelt, um Absatzgebiete, um Bergwerke, um Schiffahrt, um Siedlungsland für Zeugungskraft. |

Die Schaubühne vom I. März 1917:

Die Unterseeboote sind bei ihrer Arbeit; die verantwortlichen Stellen haben, unbekümmert um das Geschrei der Gasse, den Zeitpunkt für gekommen

Der-Fall Jacobsohn- Hilferding 785

gehalten, die Kriegsmaßnahmen gegen England bis zum denkbar höchsten Grade zu steigern. . Von hier aus fordern sie jetzt die Formulierung der Kriegsziele. Solcher Torheit gegenüber ıst auf die politisch sehr klugen Ausführungen des Frei- herrn von Zedlitz zu verweisen; dieser Konservative hat das kurzsichtige Begehren der Friedensdillettanten folgendermaßen abgefertigt: „Daß diese Forderung mit dem Wortlaut und Sinne der Reichsverfassung unvereinbar ist, vielmehr einen schweren Eingriff ın das verfassungsmäßige Recht des Kaisers bedeutet, wird ernstlich nicht zu bestreiten sein. . . Es kommt hinzu, daß auch nur der Kaiser, bei dem: alle Fäden der Kriegslage zusammenlaufen, die volle Kenntnis aller Tatsachen besitzt, die für die Beurteilung der Frage, wann und zu welchen Bedingungen der Friede zu schießen ist, entscheidend sind.“ ... Wir fordern aber, daß keine verantwortliche Stelle falsche Nachgiebigkeit zeıgt und auch nur andeutungsweise sagt, was zu verschweigen Pflicht ist.

Die Schaubühne vom 8. März 1917:

Es ist das eingetroffen, was wir erhofft haben und was notwendig war: Der Kanzler hat die Erörterung von einzelnen Kriegszielen abgelehnt. Und auch sonst ist die Deklamation von Minimalforderungen, ohne deren Verwirklichung Deutschland angeblich verloren sein soll, einigermaßen belanglos gewesen. Alle Verständigen begnügten sich mit der Formulierung des Kanzlers: „Dem Kriege ein Ende machen durch einen dauerhaften Frieden, der uns Entschädigung gewährt für alle erlittene Unbill, und der einem starken Deutschland ein gesichertes Dasein und eine ge- sicherte Zukunft bietet. Alle Verständigen bekannten sich zu dem Grafen Tisza: „Wir führen diesen Krieg, weil wir ihn zur Rettung unseres angegriffenen Lebens führen müssen. Niemand (von den Narren abgesehen) zweifelt mehr daran, daß der kommende Friede ein Ausgleichsfriede sein wird, kein Diktat, sondern eine Verhandlung. Kein Verständiger zweifelt andererseits daran, daß bis zu diesem Tage der Einsicht die Waffen ihre harte, ihre ungehemmte, ihre rücksichtslose Sprache sprechen müssen. Selbstverständlichkeiten. Scheidemann bestätigte nur, was der Kanzler gesagt hatte: „Wir vertrauen unserer bis an die Zähne gewapp- neten Volkskraft . . ."

Die Schaubühne vom 12. April 1917:

Die Botschaft des Präsidenten, mit der er den Kongreß zu gewinnen wußte, trieft von Ethik. Wir haben nie geleugnet, daß Heuchelei und. andere Kriminalität zum Apparat der Politik gehören. Aber alles hat seine Grenze an der Lächerlich- keit. Wilsons Kreuzpredigt gegen das barbarische Deutsch- land ist eine Exzentrik-Nummer..

In solchem Zusammenhang wollte das Bekenntnis der Sozialdemokratie zum monarchischen System, wie es der „Vorwärts in seiner wahrhaft historischen Nummer vom 3. Aprıl 1917 abgegeben hat, verstanden sein. Klar und eindeutig hat die deutsche Arbeiterschaft vor aller Welt festgelegt, daß niemand einen Keil zwischen Volk und Krone zu treiben vermag.

Die Schaubühne vom 19. April 1917:

.. . wir müssen England, dessen imperialistischer Aktionsradius während des Krieges zweifellos gewachsen ist, so weit gefügig machen, daß es unsern berech-

786 Der Fall Jacobsohn-Hilferdinę

tigten Lebensinteressen freien Raum gibt. Wir brauchen das Weltmeer; wir brauchen offene Türen. Wir werden England nicht eher aus der Gewalt unserer U-Boote freigeben, als bis es dıs Dasein eines starken, auf Wachstum und Erfolg eingestellten Deutschlands anerkannt hat. . Daß dieser Kampf von Deutschland gewonnen werden wird, ist genau so gewiß, wie die

Tatssche, daß das englische Imperium durch diesen Krieg nicht beseitigt werden

kann. Die Schaubühne vom 26. April 1917:

Als der „Vorwärts“ sich zur Monarchie bekannte, war er tapfer; es war dies immerhin ein Entschluß, der- einen Bruch mit langjähriger

Vergangenheit bedeutete. Er war eine Fortsetzung der tapferen Poli- tik vom 4 August 1914.

Die deutsche Sozialdemokratie hat auch im Verhältnis zu ihren Wählermassen keine leichte Stellung; die Führer mußten, je länger der von ihnen mitverant- wortete Krieg dauerte, desto mehr damit rechnen, ihre Volkstümlichkeit ein bißchen zu gefährden. Da nun aber die Unterstützung, die die Sozialdemokratie der Krieg- führung zuteil werden läßt, nur dann eine wirkliche Förderung bedeuten kann, wenn wirklich die breiten Massen hinter ihren Führern stehen, so müssen diese notwendig den Stimmungswellen, die durch die Massen laufen, bis zu einem ge- wissen Grade nachgeben. k

Über die Arbeitseinstellungen hat Hindenburg das rechte Wort gesagt; niemand kann billigen, daß die Arbeiter ihre Wünsche, ob diese nun auskömmliche Ernährung, neue politische Rechte oder den Beginn der Friedens- verhandlungen suchen, mit Mitteln zu erreichen streben, die nur geeignet sind, genau das Gegenteil von dem Erstrebten herbeizuführen.

Die Schaubühne vom 3. Mai 1917:

.. . Es will verstanden sein, wenn der Kommentar zum deutschen Heeres- bericht, der niemals große Worte gebraucht hat, von diesen tagelangen Kämpfen Nachricht gibt, wie sie nur gegeben werden kann, wenn dort im Feuer unserer Geschütze wirklich Englands beste Truppenmacht zusammengebrochen ist. „In der neuentbrannten Schlacht bei Arras am 23. April haben die Engländer die blutigste Niederlage und die schwersten Verluste des ganzen Krieges erlitten. Auf den photographischen Aufnahmen unserer Flieger aus etwa über 2000 Meter Höhe sind deutlich die Leichenhauſen der in schweren Schlachttagen gefallenen englischen Sturmtruppen zu erkennen.“ Empfindsame Gemüter werden beim Lesen solcher Sätze aufschaudern. Wir wollen sie deshalb wahrhaftig nicht tadeln; aber wir müssen sie daran erinnern: Es ist Krieg. Die Banalität solcher Er- innerung kann uns nicht davon abhalten, die englischen Leichenhaufen, ehrerbietig, mit tiefem menschlichem Respekt und dennoch mit Genugtuung zu bewillkommnen. Die Leichenhaufen bedeuten den Weg zum Frieden. Da sie aber nur sein können, wo Stürme von Granaten die Luft eisern machen, so hat Gröner, so haben Hinden- burg, Bethmann Hollweg, die Gewerkschaften und alle einsichtigen Männer recht,

Der Fall Jacobsohn-Hilferding 787

wenn sie darauf bestehen, daß keine Sekunde verpaßt wird, um unsere Rüstung furchtbar und unwiderstehlich zu machen. Es wäre selbstmörderische Phantasterei, wollte man von irgendeiner anderen Maßnahme, von Erklärungen und Beteuerungen, von Friedensdemonstrationen und international gerichteten Bekenntnissen eine stärkere Förderung des Friedens erwarten als von der Verblutung der gegen uns gerichteten Militärmacht. Nur im Zeichen dieser Ströme von Blut, nur im Zeichen des zermalmenden Eisens, das diese Ströme hervorbrechen macht, können wir davon sprechen, daß das Ziel nahe ist.... Wir müssen den Kriegs- willen der Gegner durch Blut ersticken.

Bei Beginn der letzten deulschen Offensive.

Die Schaubühne vom 21. März 1918:

Sollte Deutschland, was wir nicht wissen, was wir aber immerhin für möglich halten, das Jahr 1914 und die serbische Untat für günstig befunden haben, so könnte man doch nur festhalten, daß der Verlauf der Ereignisse ihm und seinen Verantwortlichen recht gegeben hat. . . Einige Tage lang haben wir hier und da ganz ehrlich an den „letzten Krieg geglaubt. Auch dieser Glaube ist dahinge- fahren; wir wissen heute, daß unsere Sehnsucht noch von unsern Kindeskindern geliebt werden wird, und daß die Politik langsam arbeitet. Dieser Krieg wird nicht der letzte gewesen sein; aber er wird vielleicht der erste einer neuen Reihe sein. Er ist auch nicht vom Zaun gebrochen worden, und es ist darum an ihm im Sinne der bürgerlichen Moral auch niemand schuldig. ... Was nun auch immer die Archive von sich geben mögen: an dem Grundsätzlichen solcher Auffassung wird das nichts ändern. Dies gilt auch für die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky, mit der die feindliche Propaganda, aber auch der inländische Pazifismus hausiert, und die im

übrigen schon wegen der sie befleckenden Eitelkeit, mit der sie geschrieben wurde,

ziemlich belanglos ıst. Was Lichnowsky enthüllt, ist bestenfalls die Unfähigkeit Einzelner; aber selbst, wenn es daran gefehlt hätte, und wenn all das geglückt wäre, was den Zusammenstoß im letzten Augenblick verhüten sollte: es hätte sich nur um eine Vertagung handeln können.

Nun steht das Ende vor den Toren: eine neue Absteckung imperialistischer Wege. Durch den Gemütsschleier des Selbstbestimmungsrechts der Völker hin- durch können wir deutlich erkennen, wie Deutschlands Ausdehnungs- bedürfnis sich im Osten befriedigt. Wozu hier Phrasen machen? Das Notwendige geschieht. Finnland, die Aalands- Inseln, Riga mit der nach Berlin in Verwahrung gebrachten Herzogskrone und davon abhängig Livland, Estland und Litauen bis hinunter nach Odessa: die Lage dürfte klar sein und dürfte nicht einmal durch die polnische Schwierigkeit gestört werden... Kein ewiger Frieden senkt sich hernieder. Aber eine neue Plattform für neue Entwick- lungen ist gezimmert worden.. Schuld und Sühne sind nur sentimentale Vokabeln für Schwäche und Kraft. . . 1914 wurde das deutsche Volk in seiner

788 Der Fall Jacobsohn-Hilferding

Ganzheit aufgerufen. Der Frieden darf diesem Heerbann keine Entlassung bringen.

„Wir un d die Alldeulschen“

Schaubühne, 25. April 1918:

„Unsere letzten Wochenübersichten haben wieder einmal eine Anzahl Brief- schreiber in Bewegung gesetzt. Insgesamt richten sie an uns die entrüstete Frage, wodurch wir uns eigentlich noch von den Alldeutschen unterscheiden. Wir hätten den Ostfrieden zwar kritisch betrachtet, aber ihn schließlich mit heimlichem Schmunzeln entgegengenommen. Wir wären sichtlich dabei, die Juli-Resolution abzubauen, und sagten deutlich genug, daß wir vor der Versetzung etlicher Grenz- pfähle auch im Westen nicht zurückscheuen würden.. Wir sind beinahe zer- knirscht und geben all die Schandtaten, die man uns da vorwirft, nicht ohne leise Selbstironie, aber auch nicht ganz ohne Befriedigung zu.... Ob wir jemals an den ewigen Frieden unerschütterlich geglaubt haben, können wir heut kaum noch sagen. Aber wir möchten nicht grundsätzlich abstreiten, daß der Krieg, vielleicht sogar die Serie der Kriege, die mit dem jetzt zu Ende gehenden möglicherweise anfängt, die Voraussetzung” zu internationalen Verständigungen zwischen möglichst großen Interessenkomplexen ist. . . Die Alldeutschen sind ungebändigter Instinkt; wir möchten solcher Animalität ideesuchende Kritik sein. Wir hätten gegen die Alldeutschen kaum etwas einzuwenden, wenn sie nicht, was aller- dings zu der Lebensart solcher Erscheinungen gehört und darum kein Vorwurf, sondern eine Feststellung ist, mit Unfehlbarkeit gegürtet wären. Begriffen sie die Relativität ihrer Berechtigung und ihrer Einflußmöglichkeit, so könnten wir sie als einen nützlichen Faktor im politischen Kalkül uns gefallen lassen. Die Alldeutschen aber sind in dem Wahn befangen, daß jeder, der nicht so will, wie sie gern wollen, mehr als ein Narr, nämlich ein Verräter ist. Und das allerdings macht sich nicht nur unbequem, sondern oft genug und jedenfalls über- wiegend zu Schädlingen. Über ihr Programm ließe sich diskutieren: ihre Methode ist töricht und selbstzersetzend. Absolut betrachtet dürfte das Zu- sammenspiel, wie es die Alldeutschen betreiben, nicht gar so viel minderwertiger sein als das unsrige: die Monomanie aber, die von jeder intellektuellen Hemmung entblößte Perversität, mit der sie sich ihren Zwangsvorstellungen hingeben, macht sie für die Durchführung einer Wirklichkeitspolitik unbrauchbar. Sie sind mehr Verräter als irgendein noch so gewitzter feindlicher Nachrichtenagent, denn sie entblößen bis zur Schamlosigkeit ihre Pläne. Sie schwelgen in einem rauschartigen Wiederkauen und Vorwegfressen dessen, was man unter gegebenen Umständen wohl tun kann, jedoch nur dann mitteilt, wenn solche Mitteilung einen die Hand- lung erleichternden Zweck ausübt, nicht aber das genaue Gegenteil hervorrufen muß."

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.. . Genug! Die Proben wirken, einfach hintereinandergestellt; Kommentare scheinen nur die USP-Führer nötig zu haben, denn den Kautsky, Ströbel, Hilfer- ding usw. sind die Leistungen der vielgeprüften Schaubühnenfigur sehr genau bekannt. Das „Zentralkomitee weiß, daß der Herr Jacobsohn nur aus ohnmäch-

Der Fall Jacobsohn-Hilferding 789

tiger Wut gegen Wilhelm Herzog kläffte: Wilhelm Herzog hat den sauberen Herrn gründlich erledigt und Wilhelm Herzog hat außerdem das Verbrechen begangen. eine sehr wichtige Tageszeitung zu schaffen, die „Republik“. Die sachliche Ent- larvung seines politischen Schiebertums hätte der Jacobsohn schließlich noch er- tragen. Aber diese Zeitung! Herr Jacobsohn, der immer mit größenwahnsinnigem Neid nach Maximilian Harden hinschielt, hatte sich's schon so hübsch ausgemalt: ER würde DAS große: deutsche Tageblatt starten.

Herr Siegfried Jacobsohn in der „, Schaubühne“ vom 18. März 1915:

Nach diesem Kriege wird ebenfalls unentbehrlich sein eine Zeitung, deren Haltung irgendwie von der Tradition der alten Frankfurter Zeitung bestimmt ist; die politisch die Linie von Bethmann Hollweg zu Wolfgang Heine zieht. Vor vıerundvierzig Jahren hat Rudolf Mosse den Blick gehabt, ein Bedürfnis der jungen Reichshauptstadt zu erspähen, und den Mut und die Kraft, es zu befriedigen. Schafft mir zehn Millionen, und ich mache mit euch und dreißig Männern unserer Generation diese Zeitung eine Zeitung, wie Deutschland sie noch nie gesehen hat.

Er suchte nun einen „Genialen Millionär“: Die Schaubü!.ne vom 8. April 1915:

Sie haben (20 läßt er sich apostrophieren), lieber S. J., in Ihrer „Antwort“ an die Herren S. G. und U. R. „Gebt mir zehn Millionen, und icb mache eueh die beste deutsche Zeitung die Richtung gewiesen, in der die dringlichste Aufgabe der nächsten Zukunft liegt.. . Bei solchen Gelegenheiten erkennt man erst, wie wenig Lebenslust und Lebensleidenschaft in unsern jungen Millionären steckte. Es gibt weit und breit keine Position, die machtvoller, seelenfüllender, verführerischer wäre, als eine große, freie, führende Zeitung zu besitzen und zu lenken. Kein Ministerposten, kein Fürstenthron gibt Gelegenheit, so systematisch am Wesen der Nation zu bilden, zu formen, das deutsche Volk mit eignen Händen fühlend zu gestalten wie diese tägliche Bearbeitung des Volksgeistes. . . .

Auf der Linie von Bethmann Hollweg bis zu Scheidemann und Haenisch müßte für diese befreiende Zeitung von heute an gesammelt werden!.

Ach, wenn wir einen genialen Millionär hätten, der den Anfang machen wollte. Hier liegt eine historische Mission auf der Straße.

Die Schaubühne vom 27. Mai 1915:

Es wird sich darum handeln, die Politik der Linie Bethmann Hollweg zu Scheide- mann gegen Alldeutsche, Konservative, Nationalliberale und gegen Sozialdemo- kraten zu propagieren.. Das Gesetz der geistigen Trägheit wird dafür sorgen, daß unsere Bassermänner ich meine den Politiker Bassermänner, unsere Haasen Haasen und unsere Oldenburger Januschauer bleiben. Die neue Zeitung wird die Zeitung der Umlernenden, das Organ der Kriegsdemokraten, das Blatt der regierungswilligen und regierungsberechtigten Linken sein! Das ist mit dem „Vorwärts, der eines der konservativsten, lernunwilligsten, geistesträgsten Zentren Deutschlands ist, nicht zu machen. ... Hat er nie bemerkt, daß der „Vorwärts“ so ziemlich das schwerstverständliche Blatt in Deutschland ist? . . .

790 Der Fall Jacobsohn-Hilferding

Ich glaube nicht, daß die Scheidemann, Lensch, Haenisch ihre Richtung durch- setzen werden. Und die Haupthemmung hat ihnen der versteinerte „Vorwärts errichtet!... Die unechte, nur auf Organisationszwang, nicht auf Leserlust beruhende Herrschaft des „Vorwärts wäre kinderleicht zu brechen! Berlin darf nicht Karl Liebknechts uneinnehmbare Phrasenresidenz werden.

Für eine solche Mission sollten sich nicht drei Redakteure finden? Ich nenne dir zwanzig. die mit flammenden Herzen bei einer solchen Zeitung mitwirkten: Friedrich Naumann, Paul Rohrbach, Karl Leuthner, der bedeutendste Kopf der Revisionisten, Paul Lensch (so ziemlich der beste deutsche Leitartikler), A. Haenisch, Ulrich Rauscher, Friedrich Stampfer, Hermann Wendel, Stefan Großmann, Adolf Köster. Und was für ein Gewimmel der besten Köpfe, die auf dieses Zentralorgan des neuen Geistes nur warten: Arthur Holitscher, Robert Hessen, Hermann Fried- mann, Kurt Eisner, S. Saenger, Martin Buber, Gustav Landauer, Ernst Jäckh, René Schickele, der Mannheimer Ernst Wichert (eine strahlende Energie), Alfred Polgar, Paul Schlesinger, Hans Delbrück, Arnold Zweig, Legationsrat Riezler, Staats- sekretär Solf und . . . Ihr ahnt ja nicht, wie viele aus der höchsten und besten preußischen Bureaukratiel .

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Der „geniale Millionär” ließ die „historische Mission“ des nur in diesem Deutschland möglichen Konjunkturkerls Jacobsohn auf der Straße verkommen. Die Drucksache der für das „‚monarchische Prinzip“ und gegen die Gasse Umlernen- den“ (von Rohrbach bis Stampfer und Haenisch—Parvus) konnte nicht geschaffen werden; Berlin blieb Karl Liebknecht ausgeliefert. Dagegen gab ein „genialer Millionär“ Geld für Wilhelm Herzogs „Republik“ her, worüber der Recke Jacob- sohn vor Wut beinahe erstickt sein soll vie- die Umgebung des Kriegsdilettanten überall erzählte.

Ist es noch unverständlich, daß Herr Jacobsohn allen Unterirdischen, die gegen Wilhelm Herzog Persönliches auszukramen wünschten, die richtige Nummer wurde? Was in der Schaubühne gegen Herzog gesagt worden ist es sind so blöde, böe- willige Verleumdungen, daß ich die Quelle im Zentralkomitee der USP-Bonzen zu suchen empfehle! Jedenfalls, USP-Arbeiter in Hamburg (und überall), solltest du aus der Affäre ., Freiheit“, Leipziger Volkszeitung erkennen, daß die Besiegten von Leipzig munter ihr Gewerbe fortsetzen. Und du hast zu schweigen, wenn Gemeinheit plus Feigheit dich verhöhnen. So will es die „Parteidisziplin I...

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog Derttlingerstr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdame- Berlin / Druck der E. Gundlach A.-G., Bielefeld

DAS FORUM

4. Jahr August 1920 Heft 11

(Abgeschlossen am 6. September 1920)

RUS SISCHES NOTIZ BUCH MAI— AUGUST 1920

VON WILHELM HERZOG

VORWORT

Die meisten Fremden, die nach Sowjet-Rußland kommen, ähneln ein wenig jenem englischen Reisenden, von dem der witzigste Kopf unter den Deutschen, Georg Christoph Lichten- berg, erzählt, er war zum ersten Male nach Deutschland gekommen und in Göttingen in einem Hotel abgestiegen. wo ihn ein rot- haariger und stofternder Kellner bediente, worauf er flugs nach England berichtete: die Menschen in Deutschland sind rothaarig und stottern. |

Die Vokabeln des westeuropäischen Bürgers für Sowjet- Rußland lauten: die Menschen hungern, das wirtschaftliche Leben ist tot, Terror herrscht! Die Eindrücke und Erlebnisse, die ich während der drei Monate meines Aufenthaltes in Moskau, Petrograd, an der Wolga von Nishnij-Nowgorod bis Saratoff. an der Front in Smolensk und vor Borissow hate, waren so gewaltiger Natur, waren in ihrem Reichtum so mannigfaltig. so wıdersprechend, so sich durchkreuzend, daß, sie treffend wiederzugeben, die gleichwertige Form ım Ausdruck für sie zu finden, mir nur selten gelingen wird. Aber was ich versuchte, in den allzu flüchtig hingeworfenen Notizen, die ich täglich niederschrieb, war: ohne günstige oder ungünstige Vor- urteile. jedenfalls ohne Scheuklappen festzustellen. was ist. D. b. und schon wieder ist äußerste Zurückhaltung geboten

192 Wilhelm Herzog / Vorwort

was für einen nicht russisch sprechenden Europäer ist, der sich bemüht, diese neue Welt in sich aufzunehmen.

Und da ist zu sagen: aus dem Chaos der bisherigen Welt- ordnung hat sich ein gewaltiger Staat gelöst, der über hundert Millionen Menschen zwingt. auf Grund des revolutionären Marxismus nach neuen Gesetzen, in neuen Formen zu leben. Dieser kühne Versuch hat alle Merkmale des Unzulänglichen nicht nur im Aufbau, sondern auch in dem, was er bisher zerstörte, zerstören konnte. Sowjet-Rulland von heute ist noch keine Kommunitas, wie sie sich die Führer der Kommunisten denken. Vieles blieb stehen, mußte stehen bleiben, was dem kapitalistischen Staat entwuchs. Nicht alle Formen und Institutionen konnten restlos zerstört werden, wollte man die Geburt des Neuen nicht gefährden.

Und dennoch, welche ungeheure Arbeit, welche ungeheure Leistung ist vollbracht! In heroischer Anspannung der Kräfte des russischen Proletariats ist eine der bisherigen Gesellschafts- ordnung diametral entgegengesetzte sozialistische Ordnung ent- standen: richtiger: im Entstehen begriffen. Dumm und plump lügt, wer westeuropäischen Arbeitern das gegenwärtige Sowjet- Rufland als Paradies vorgaukelt. Rlüger und raffinierter lügt schon, wer es als Hölle malt. Aber: weder Paradies noch Hölle. Sondern russische Erde, willkürlich. unökonomisch, bar- barisch behandelt und verschlampt: Jahrhunderte hindurch unter der Zarenherrschaft. Die Bewohner zu geregelter Arbeit nur schwer zu disziplinieren. Neigung zum Nichtstun. Geschehen lassen. Hinnehmen. was kommt. Einfluß des Orients überall sichtbar: in den Sitten. in den Gebräuchen. im Faulenzen wie im Schmutz der Häuser und Höfe, im Bau, im Schmuck der Kirchen und Paläste. Und sind vielleicht trotz allem Schmutz und Ordnungsmangel glücklicher als wir, diese Men- schen! Jedenfalls sind sie unbeschwerter, heiterer, ungebundener. Sie verachten die Pedanterie, ja selbst die Sauberkeit der Ord- nungsdeutschen. Und Pünktlichkeit ist ihnen ein westlicher, auf

zum russischen Notizbuch 793

jeden Fall allzu bürgerlicher Begriff. »Nitschewo« das ist ein Hauptwort der russischen Sprache. Man hört es am Tage wohl hundertmal. Im Theater, auf der Straße, in den Ämtern, auf der Eisenbahn. Unübersetzbar. Und was bedeutet es doch? Es kommt alles zu seiner Zeit. Macht nichts. Nur nichts so gewichtig nehmen. Ins Preußisch-Kleistische übersetzt: Gleichviel. Es kommt schon alles ins Reine. Ob ein bißchen früher oder später, was liegt daran? Wir haben ja soviel Zeit! Der Russe hat nicht den europäischen Maf- stab, nicht einmal das Gefühl für Zeit und Raum. Die Weis- heit Buddhas grinst oder leuchtet überall hervor. Und wir. hastige Europäer, sind oft geneigt, zornig zu werden über soviel Zeitverlust, oder hochmütig zu lächeln über den Mangel an Organisation und "könnten selbst von dieser »revolutionären« Geduld ein wenig lernen.

Die kapitalistische Unordnung der Bourgeoisie wurde zu- nächst abgelöst von dem Versuch einer sozialistischen Ordnung. Richtiger: von einer antıkapitalistischen, antibürgerlichen. zum Kommunismus strebenden Unordnung. Bürgerliche Anarchie wurde in dieser Periode des Überganges, des Bürgerkrieges, des Mangels an Menschen und Kräften aller Art ersetzt durch sozialistische Anarchie. Immer bei höchstem, intensivstem Bemühen, den jungen Staatsapparat zu vervollkommnen, die Sowjet-Verwaltungen und Institutionen in allen ihren Gliedern zu verbessern, zu steigern, um sich endlich einer kommunistischen Ordnung zu nähern. Unreife. Dummheit, Atavismen aus der alten Gesellschaft stehen hindernd im Weg. Bewußte und und unbewufte Sabotage hemmen die Entwicklung. Der Auf- bau kam nicht über die Grundmauern hinaus. So ist das Ganze noch unwohnlich, kalt, leer und wenig komfortabel. Denn über allem schwebt die ungeheure wirtschaftliche Not.

Und trotz alledem: Wie reich ist dieses arme Land! Un- erschöpflich seine Wälder, seine Äcker! Aber seine Bewohner, die des Notwendigsten zum Leben entbehren müssen, leiden

794 RS Wilhelm Herzog / Vorwort Hunger. frieren. sterben dahin. Weshalb? Weil christliche Mordstaaten ıhre Profitgier realer als ihren heuchlerischen Pazifismus betätigen, weil sie die Grenzen dieses hungrigen Landes überwachen und es vom Weltverkehr absperren. weil das von ihnen mit äußerstem Naffinement erfundene und durch- geführte System des Imperialismus immer neue Kriege ver- ursachen muß, um dem revolutionären Rußland keine Ruhe zur Erholung und zum Aufbau zu gönnen. Und deshalb halten sie die eiserne Mauer. die sie durch ihre Trabanten legen ließen, noch immer aufrecht.

Seit fast drei Jahren kämpfen die Russen einen in der Geschichte beispiellosen Kampf gegen ihre Bedränger. Während drei Millionen der besten und wertvollsten Männer draußen an der Front kämpfen und der inneren Aufbauarbeit entzogen werden müssen, beweist das russische Proletariat durch seine heroische Entsagungskraft und durch seinen Fanatismus für die Idee Tag für Tag, wie unerschüfterlich sein Wille zur Ver- teidigung der von ihm begonnenen Weltrevolution ist. Aber trotz Anspannung aller Kräfte und bereits erzielten erstaunlichen Leistungen sind die Schwierigkeiten des Eisenbahn- und Trans- portwesens des Problems aller Probleme in Rußland kaum überwindbar. Den Mangel an Produkten und Kleidung kann keine kommunistische Organisation oder Verteilung, kann weder Lenin noch Trotzki beseitigen, so lange nicht Lokomotiven, landwirtschaftliche Maschinen, Instrumente, Ersatzteile, Roh- stoffe in das von sechsjährigem Kriege ausgesogene Land gebracht werden können.

Schon aber birst die Mauer. Die Erkenntnis, der Trotzki am Ende seiner Schrift »Von der Oktober-Revolution bis zum Brester Friedensvertrag: Ausdruck gab, wird zur Gewiſheit: der Krieg hat den Boden der ganzen kapitalistischen Welt unterminiert. »Darin besteht., schrieb Trotzki. . unsere unbe- siegbare Kraft. Der imperialistische Ring, der uns zusammen- preßt, wird von der proletarischen Revolution gesprengt werden.«

zum russischen Notizbuch 795 Diese Zukunftsworte, nicht nur von den Repräsentanten der Bourgeoisie sondern auch von den Lauen, den Schwankenden, Halben. Zaghaften unter uns als agitatorische Phrasen gewertet und belächelt, oft gehöhnt, sind heute handgreifliche Wirklich- keit geworden. Aufgabe der europäischen und amerikanischen Arbeiter wird es sein, diese Sprengung von den russischen Pionieren erfolgreich begonnen zu vollziehen. indem sie Sowjet-Rufland in seinem Kampf auf Leben und Tod mit allen Mifteln unterstützen und sein Werk in ihren eigenen Ländern fortsetzen. |

Schon leuchten die Signale unseres Sieges. Die stolzen Sieger von Versailles verhandeln mit den Schnorrern und Verschwörern von Brest-Litowsk. Sie tuns beim englischen Gof ungern. Aber sie müssen. Gezwungen von ihren weltwirtschaftlichen Kalkulationen und nicht zuletzt von den immer stärker werdenden Forderungen der trotz dem Oppor- tunismus ihrer Führer erwachenden Arbeiterschaft. Diese hochmütigen Herrscher des Weltkapitals, die in London thronen, können sich artig und nicht ohne Entgegenkommen mit den rötesten Kommunisten-Führern, ihren Todfeinden, unterhalten, wenn es Geschäfte zu machen gilt und wenn sie ver- sprechen, wie Radek höhnte, mit ihnen nur »von Kohle und Holz, Hanf, Leinen, Baumwolle, Eisenbahnen und anderen Dingen zu reden, die ihre zehn Prozent wert sinde.

Die objektiven Voraussetzungen für den Entscheidungskampf reifen in allen Ländern heran. Umheult von der übermächtigen Weltpresse, verdächtigt, verleumdet und besudelt von ihr, muĝ der ungleiche Kampf geführt werden. der ums Ganze geht und dessen Endresultat auf Grund historischer Erkenntnis nur unser Sieg sein kann. Das weiß, das fühlt die Bourgeoisie aller Länder. Auch die Parolen haben sich vereinfacht.

Der dialektische Prozeß in der Geschichte zwingt die Halben und die Lauen, dadurch auch alle Kleinbürger unter den Sozi-

alisten, sich zu demaskieren. Die sogenannten rechten Führer 2 1

796 Wilhelm Herzog / Vorwort zum russischen Notizbuch

der Unabhängigen konnten ihr antibolschewistisches Herz nicht länger verleugnen. Trotz allen Solidaritätsbekenntnissen und Versammlungsphrasen. Mit einem Ruck haben sie sich ehrlich und loyale zu den Scheidemännern, ja weit darüber

hinaus in die Bekämpfungsphalanx gegen die Bolschewikı gestellt. Ja sie haben immer - loyal und ehrliche dem demo-

kratischen Bürgertum und allen Feinden Sowjet-Ruflands für Monate, für Jahre hinaus Waffen und Munition geliefert. Auch dies klärt das Kampffeld, hellt es auf. Wir sehen: der Feind steht ın unseren eigenen Reihen. Es ist der deutsche Spießbürger, der Revolutions-Philister, der ungeistige, bornierte Parteiboche. Und ihn gilt es zu bekämpfen, wollen wir den Sieg nicht gefährden. Mögen sie uns wegen der durch unsere Moskauer Erlebnisse nur noch gesteigerten Liebe und Freund- schaft für das ringende Sowjet-Rufland in den Rücken fallen. mögen sie uns weiter zu beschmutzen und zu verleumden trachten, wır bringen so viel Heiterkeit und frohen Mut von Moskau mit. daß wir hoffen, nicht nur mit der Bourgoisie fertig zu werden, die ihrem Untergang entgegentaumelt. sondern wir werden auch diese Zwischenstufen, diese Kompromil- Gestalten. alle nicht Warmen und nicht Kalten innerhalb der proletarischen Revolution zwingen müssen, sich selbst dort- hin zu stellen. wohin sie gehören. Die ungeheure Bewegung, in welcher die Welt sich gegenwärtig befindet, duldet kein Halbdunkel der Überzeugung. des Entschlusses, des Willens. Unpolitische mögen abseits stehn.

Die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse haben sich heute so zugespitzt, daß in diesem mörderischen Kampf, dem das deutsche Proletariat, und mit ihm das Weltproletariat bereits die kühnsten Führer geopfert hat, jeder Verantwortliche, der schwankt, dıe eigene Kampffront verwirrt und den Prozeß der Revolution hemmt. Es gibt jetzt in dieser gefährlichen Situation für Sowjet-Rufland. d. i. für die Welt-Revolution- kein Hin und Her mehr. Hier entscheidet sichs! Die kommu-

Wilhelm Herzog / Russisches Notizbuch 797

nistische dritte Moskauer Internationale ist das Zeichen. Das weit- hin sichtbare Symbol! Unsere rote Fahne! Wer nicht für sie ist, der ist gegen sie. Wer nicht für sie kämpft, der kämpft gegen sie.

Das bedeutet nicht wie Sudermännische Helden als politische Führer verkleidet mit hohlstem Theaterpathos ver- künden för uns Unterwerfung. Lecken des russischen Stiefels. Buße in Sack und Asche, oder auch nur Verzicht auf Kritik. sondern das gerade Gegenteil: intensivste Mitarbeit. gesteigerte Selbstkritik innerhalb unserer Welt. Anspornen aller revolutionären Kräfte für den Endkampf. Sammlung der Avant- garden aller Länder, denen es nur gelingen wird, in dem ge- fährlichen Ringen der gewaltigen, schwerbewaffneten, glänzend organisierten, übermächtigen Bourgoisie Herr zu werden, wenn sie sich Kopf und Herz nicht ım geringsten von der klein- bürgerlichen Skepsis, der schlechten Luft der deutschen Spießer anstecken lassen, sondern unbeirrbar das Vorbild der großen russischen Revolution vor Augen demselben Ziele zumarschieren werden. Durch die drite Internationale zum Siege der Welt- revolution.

Berlin, 5. September 1920.

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15. Mai 1920. Auf dem Schiff einer finnischen Gesellschaft, der „Torneo. von Steftin nach Reval. Schiffsgäste: meist Finnen. Esten und baltische Barone. Ihr Ziel: Helsingfors oder Reval. Unterhaltung mit einem Passagier, der sich später als ein in Deutschland sehr bekannter philosophischer Schriftsteller zu erkennen gab. Die Bauern ın Estland, erzählt er, seien gegen das sozialistische Regime. Die Gutsbesitzer seien enteignet gegen eine imaginäre Entschädigung. Umwandlung bereite sich vor. Man treibe. so klagt er, trotz dem starken Einfluſ der Entente bolschewistische Politik in Estland. |

798 Wilhelm Herzog

Am Montag früh, nach zweieinhalbtägiger Fahrt, Ankunft im Hafen von Reval. Hotels überfüllt. Schließlich in einem kleinen sehr verschmutzten Gasthof gelandet. Die Wagenfahrt: 150 estnische Mark. Immerhin erlebt man zum erstenmal seit sechs Jahren die freudige Überraschung. daß die deutsche Mark irgendwo mehr gilt. und zwar das dreifache als in Deutsch- land. Für 300 deutsche Mark erhält man 900 estnische Mark !

Am nächsten Tag ins Ministerim des Auswärtigen dieser noch sehr jungen Republik. Ein niedriger Bau mit großen schönen Räumen und alten Möbeln ım Inneren. Um die Er- laubnis zu erhalten. die Grenze nach Rußland zu passieren,

ist ein Telegramm erforderlich, das 35 Mark kostet.

18. Mai 1920.

Besprechung mit einem der Führer der estnischen Sozial- demokraten. Martna, der seine antıbolschewistische Gesinnung nur schlecht verbergen kann. In einer Sitzung des estnischen Parlaments. Darnach ins Gewerkschaftshaus mit dem Vorsitzenden der Un- abhängigen Sozialisten, Genossen Kruus. Kruus ist ein noch junger Maon von 29 Jahren, Historiker, klar und ehrlich. Der Volksstaat Eesti ist eine ebertinische Republik en miniature. Das Koalitionsministerium, das sich hier gebildet hat, besteht aus zwei Mitgliedern der sozialdemokratischen Partei, drei Mitgliedern der Arbeitsgruppe (liberal-sozial-demokratisch), drei Volkeparteilern. drei Fachministern. Das Innen- und das Arbeits- ministerium verwalten Sozialdemokraten.

Das Parlament Estlands besteht aus 120 Mitgliedern. Die Wahlen ergaben folgendes Resultat: 41 Sozialdemokraten sieben Linkssozialisten (darunter Kruus, Semper, ein estnischer Dichter), 30 Mitglieder ‚der Arbeitsgruppe (Trudowikı), 24 "Mitglieder der Volkspartei (nationalliberal). 8 Agrarier (feudal). 6 HNerikale. 3 Mitglieder der deutschen Partei in Estland (baltische Barone). 1 Russe.

Russisches Notizbuch nn 799

Die estnischen Sozialdemokraten sınd gekränkt, wenn man sie mit den deutschen Sozialdemokraten auf eine Stufe stellt. Sie lehnen die Gemeinschaft mit Scheidemann, Ebert und David entschieden ab, ja sie äußern scharte Worte gegen die verbrecherische Politik der Noske-Sozualisten. Aber sie bleiben Anhänger der II. Internationale. also Kameraden der von ihnen angeblich so bekämpften Scheidemänner.

Auffallend. angesichts der Verhältnisse in anderen Ländern ist der Radıkalismus der Gewerkschaften Estlands. In Reval selbst gehört die große Mehrzahl aller Mitglieder zur radikalen U. S. P. oder ‚zur kommunistischen Parteı. Im Zentralrat der Gewerkschaften, der aus 61 Mitgliedern besteht. sitzen nur 3 Sozialdemokraten |

Vor dem Kriege beschäftigte Reval 25000 Arbeiter. Werft-, Hafenarbeiter und Arbeiter der Textil-Industrie und Waggonfabriken: jetzt nur 17 000 Arbeiter. Im September 1919 fand ein Kongreß aller estnischen Gewerkschaften statt. Von den 434 Delegierten wurden 102 verhaftet. am selben Tage an die Front geschickt. 26 der besten und energischsten Führer wurden erschossen (darunter ein ehemaliger Minister der sozialdemokratischen Partei).

In Reval erhielt der Arbeiter vom 1. Dezember 1919 an 30 Mark Tagelohn. Davon brauchte er täglich für Lebensmiſtel 15 Mark. Er erhielt dafür: 1⁄2 Pfund Schweine- fett oder 1 Pfund Rindfleisch. / Pfund Brot. 2 Pfund Kartoffeln. z Pfund Grütze oder Erbsen täglich; z Pfund Butter wöchentlich.

Ab 1. März 1920 wurde der Tagelohn um 30% erhöht = 39 Mark.

Ab 1. Juni 1920 wurde der Tagelohn um weitere 30% erhöht = 48 Mark. |

Vom 1. März 1920 an sind die Lebensmittelpreise um

800 Wilhelm Herzog

Alle Güter sind enteignet. Bisher nur 40%, parzelliert. Gegen Entschädigung. die allerdings nur auf dem Papier steht. Sie ist noch nicht gezahlt, und es gibt auch noch kein Gesetz dafür. u

Vom 1. Juli 1919 bis zum 31. Dezember 1919 ver- ursachte der Republik Eesti, die 1200000 Einwohner zählt, die Militärmacht, die sie unterhielt. 1 Milliarde 300 Millionen Kosten. Also 2000 Mark pro Kopf jährlich!

Am 25. Aprıl 1920 Gründung der U. S. P. Estlands (früher Sozialisten-Revolutionäre).

21. Mai 1920.

In einem deutschen Buchladen einen Bädeker für Rußland, einen Dante und einen Tolstoi erstanden. Der Bädeker (von 19121), künftig eine unerschöpfliche Quelle reinen Humors. kostete 69 estnische Mark. Tolstoi s Krieg und Frieden; (in der schönen Insel- Ausgabe) 65 Mark.

Polens Offensive, nach Zeitungsmeldungen, steht schon still. Gegenoffensive der Bolschewiki hat bereits begonnen.

Mit den Genossen Kruus und Semper ins Lindencafé. Das ist die Sehenswürdigkeit der -Residenz.. Die Mehrzahl der Besucher in Uniform. Englische. italienische. amerikanische. französische. estnische Offiziere und Soldaten. Für einen Nicht- militaristen schwer unterscheidbar. Oft phantastisch gekleidet. Alle stolz, selbstbewußt in ihrer Manneswürde und die Zeichen ihres Ruhmes auf der Brust. Spaziergang mit Kruus und Semper nach dem Katharinental. Sehr schöner Blick aufs offene Meer.

Am Abend 11 Uhr Abfahrt von Reval nach Moskau. Auf dem Bahnhof eine estnische Kommission, die zu Ver- handlungen nach Moskau fährt. Im Sowjetwaggon ein Kurier Tichitscherins, eine verspätet eingetroffene englische Delegierte Mil Bonfield. ein Mister Fisher aus Chikago vom amerikanischen Hilfskomitee. Am nächsten Morgen in Narva, der letzten

Russisches Notizbuch 801

estnischen Station. Mit der Engländerın und dem Amerikaner Fahrt durch die Stadt. Alte Festung. Der Fluß wild und romantisch. In einer griechisch- katholischen Kirche Gottesdienst. Ein Ersatz für dieses Opium ist noch nicht gefunden. Zurück zum Zug. Einige Stunden wird rangiert. hin und zurückgefahren. bis 3 Uhr mittag. Dann endlich nach fünfstündigem Auf- enthalt in sehr langsamem Tempo weiter.

Vor Jamburg. der ersten russischen Stadt. von neuem Kontrolle durch Soldaten der Republik Eesti. Dann russische Kontrolle, gut aussehende kräftige Matrosen prüfen streng und entschieden die Pässe der Reisenden. Obwohl alle Formalitäten erledigt scheinen. dürfen wir noch nicht weiter. Der Apparat funktioniert auf beiden Seiten noch nicht richtig. Jamburg hat noch keine Anweisung zur Weiterfahrt gegeben.

Aber immerhin: russische Luft weht. Wir sind auf Sowjet- gebiet. Wir fühlen uns freier und heiterer. Und wir üben revolutionäre Geduld.. Ordnung und Disziplin werden die Sowjetrepublik reften. Trotzkıs Wort, der Titel einer seiner wichtigsten Schriften, verläßt einen von dieser Minute nicht mehr. Nach J amburg, auf einer kleinen Station, treffen wır einige hundert auf Abtransport wartende deutsche Kriegs- gefangene. Die meisten sehr radikalisiert. Gute Revolutionäre. Ein hochgewachsener junger Mann trit an mich heran, stellt sich vor als Leutnant Bertram und mischt sich in die Unter- haltung. die wir mit den Soldaten führen. Es ist der Offizier. der bei Helfferich in Moskau tatig gewesen war und als Geisel für Axelrod zurückbehalten wurde. Er klagt heftig über die estnische Regierung. die ihn nicht über die Grenze lasse. während die russische Sowjetregierung alles getan habe, um ihn zurückzu- betördern. Er hat viel geliften, und der hübsche junge Mann sieht in unrasiertem Zustande und ohne Kragen ın der Tat etwas heruntergekommen aus. |

Abends weiter nach Petrograd. Wir kommen Pfinget- sonntag früh 10 Uhr vor Petrograd an. Einfahrt nicht möglich.

822 Wilhelm Herzog

Erst 12 ½ Uhr miftags auf dem Nikolaibahnhof. Der Zug nach Moskau fährt gerade fort. Wir müssen bleiben.

Erster Eindruck: Die ungewöhnliche Sauberkeit der Straßen. Man sıeht keine Bürger. Die Geschäfte geschlossen. Die goldenen Kuppeln der Kirchen. Durch den Newsky-Prospekt nach dem Winterpalais. Die Newa. Drüben die Peter-Pauls-Festung. An der Newa die verlassenen Paläste der Großfürsten, des Adels und der Groß-Bourgeoisie. Jetzt überall Sowjet- institutionen. Kinderheime und Büros. Ä

Der Vorsitzende der kommunistischen IIL Internationale Sınowjew, der im ersten Sowjethaus, dem früheren Astoria- Hotel wohnt; ist für einige Tage nach Charkoff gereist. Wir besuchen die Isaakskırche und werden Zuschauer einer nach altem Rhytus durchgeführten Hochzeit. Abends 9 Uhr 30 nach Moskau. Mit der sehr reformistisch gesinnten englischen Genossin Bonfield Gespräch über Henderson. Sie will es nicht glauben, daß er der englische Scheidemann ist, und ist sehr böse wegen dieser Charakteristik. Nachts Lenins »Notizen eines Publizisten« in Heft 9 der »Kommunistischen Internationale gelesen. Klar, einfach und unwiderlegbar. Darauf als Kontrast eine in Reval gekaufte Kriegs-Broschüre eines deutschen Junkers: Mit der Eisernen Division im Baltenland.« Dumm, brutal und ahnungslos. Verfasser Korvettenkapitän Freiherr von Steinacker. Die Schrift ist charakteristisch für die Möglichkeiten in der deutschen Re- volution. 1920 in einem Hamburger Verlag erschienen. der sich nach eigener Angabe die Aufgabe stellt. nationale Politik mit liberaler Wirtschaftsordnung und sozialem Ausgleich zu verbinden. Alldeutsche und Demokraten in trautem Verein. Ein Kaiserlicher Seeofhzier. ein Baltıkumer par exellence als Truppenführer republikanisch sein sollender Soldaten.

24. Mai 1920. Endlich 9 ½ Uhr abends in Moskau. Vom Bahnhof im Auto in eins der Sowjethäuser, das frühere Savoy-Hotel.

Russisches Notizbuch 803

Erster Eindruck auf der Fahrt: Leere, Hunger, Schmutz undElend. Jedes Hotel hat an Stelle des Hotelleiters einen Kommandanten. Wir trafen es unglücklich. Der Kommandant war zufällig nicht anwesend. Und sein Stellvertreter auch nicht. Wir mußten eine kleine Stunde warten, und ich wurde dann in ein noch nicht aufgeräumtes Zimmer geführt. Es sah toll aus. Das Bett war offenbar vor einigen Stunden von einem anderen Gast verlassen worden, der das Zimmer seit mehreren Wochen inne gehabt hate. Frische Wäsche war nicht zu beschaffen. Alles machte einen sebr verwahrlosten Eindruck Das Hotel, früher sicherlich. eins der besteingerichteten und modernsten Hauser Moskaus durch 2%, Jahre dauernden Bürgerkrieg. durch Leerstehen, Mangel an Reinigungsmitteln, an Personal, durch Diebstähle. durch Barbarei eines Teiles seiner neuen Bewohner, die den kapitalistischen Komfort noch micht zu. würdigen wußten, und Werte, die sie aus Selbsterhaltung hatten bewahren müssen, nicht achteten und zerstörten, völlig heruntergekommen dieses Hotel hate der Bürgerkrieg wie die meisten anderen Häuser gezeichnet. Man sah ıhm seine Erlebnisse an. Es war verwandelt und es bot einen jimmer- lichen und elenden Anblick durch seine Verunreinigung.

Sehr deprimiert wanderte ıch des Nachts ın das nahe gelegene Volkskommissarıat für Auswärtige Angelegenheiten. das im früheren Hotel Metropol untergebracht ist. Man hae mir gesagt, daß infolge der eigentümlichen Arbeitsweise Tschitscherins dieses Kommissariat in der Nacht geöffnet sei Tschitscherin pflegt nämlich die ganze Nacht durchzuarbeiten, von abends 7 bis morgens 8 oder 9 Uhr. Nach dieser Arbeitsmethode muß sich ein Teil seiner Beamten natürlich richten. Und so fand ıch denn ın der Tat einen seiner Sekretäre -nachts um 2 Uhr in seinem Büro. Auf seine Frage, ob ich eine gute Unterkunft gefunden hätte. schien es mir richtig. ihm aufrichtig zu erwidern. Er sandte sogleich einen seiner Untergebenen mit mir, um für ein sauberes Logis

804 Wilhelm Herzog

zu sorgen. Aber für diese Nacht war alle Liebesmüh ver- gebens. Ich mußte also wohl oder übel in diesem wenig an- heimelndem Raum übernachten. Da ıch aber lieber auf der Erde schlafe als in ein schmutziges Bett zu gehen, so legte ich mich in Kleidern zunächst auf das arg ramponıerte und verwanzt ausschauende Sofa. Schlaf konnte ıch nıcht finden. Bald hörte ich ein leises, nach und nach stärker werdendes Geräusch. An der Wand raschelte es. Ich stand auf, knipste das elektrische Licht an und bemerkte unterhalb des Fensters an der Dampfheizung eın sehr liebes und neugierig drein- schauendes Mäuschen. Es hafte offenbar heftigen Hunger. Ich legte ihm ein Stück Brot und ein Stück Käse zum Nacht- mahl hın und spielte mit ihm, da es ganz zutraulich wurde, die Nacht durch. Als es dämmerte, ging ich hinunter und ‚machte einen Spaziergang durch die Straßen. Die Sonne söhnte mich mit vielem aus. Die Fremdartigkeit der Stadt, die goldenen Kuppeln der zahllosen Kirchen, an denen man vorüber- kommt, das Gemisch von Orient und Okzident fesselt den Blick des Beschauers. Die Straßen fingen an belebt zu werden: im Gegensatz zu Petrograd herrscht ein buntes, mannigfaltiges. oft absonderliches Treiben auf den Moskauer Straßen. Autos rasen mit übergroßer Geschwindigkeit durch die flutende Menge. Vier- und fünffach überfüllte Straßenbahnen werden an den Haltestellen umlagert und an ihnen hängen Männer, Frauen und Kinder vorne, hinten, auf den Trıftbreftern, auf der Abschlußstange in selbstmörderischer Weise. Man mul es aufgeben mit einer Straßenbahn mitzukommen, ohne diplomierter Akrobat zu seın.

Ich ging ins Nationalhotel zur Genossin Balabanowa. Auch in diesem Hotel wohnen nur Angestellte und Beamte der Sowjetregierung. Das Nationalhotel war früher das vor- nehmste Hotel Moskaus. Es ist auch jetzt gut gehalten, die Treppen sind sauber. die Zimmer und die Möbel unversebrt und rein gehalten. Im Zimmer der Genossin Balabauowa sind

Russisches Notizbuch 805

die Möbel mit Schutzdecken überzogen. Und die kleine Frau, deren Berühmtheit fälschlich darın allein besteht, daß sie acht oder neun Sprachen ausgezeichnet beherrscht. ist ein kluger. tief gebildeter und gütiger Mensch. Sie steht seit J ahrzehnten in der Bewegung. ist eine radikale Marxistin und sie steht mit ihrer Liebe als sozialistische Kämpferin zwischen zwei sehr entgegengesetzten und dennoch verwandten Nassen: Italienern und Russen. Sie fühlt sich Italien wahlverwandt: se hat viele Jahre dort gelebt. Italien ist ihr zur zweiten Heimat geworden und sie spricht italienisch nicht wie die anderen Sprachen, die sie beherrscht: englisch, französisch. deutsch, schwedisch, spanisch, sondere wie ihre Muftersprache.

25. Maı 1920.

Am Nachmittag in das Haus der III. Internationale: zu Radek.

Der sehr geschmacklose Bau ist das Palais, in dem der deutsche Gesandte. Grat Mirbach. ermordet wurde. Der frühere Besitzer dieser typischen Parvenüvilla war ein Herr Berg. ein reicher Moskauer Fabrikant. Nach Mirbachs Tode zog Herr Helfferich. der betriebsamste. unter den wilhelminischen Ministern. für einige Wochen in dieses Haus ein, das ganz dem Stile Wilhelms II. entspricht.

Es ist schade, daß infolge des Mangels an geeigneten Gebäuden die III. Internationale gezwungen war, hier ihr Heim aufzuschlagen. Karl Radek, der vor einigen Monaten aus dem Berliner Kerker. aus der Moabiter Bastille der Lehrter Straße nach Rußland zurückgekehrt ist. wurde zum Sekretär der III. Kommunistischen Internationale gewählt. Und sein lebendiger, ewig fluktuierender Geist arbeitet fieberhaft. Sein an die deutschen Romantiker (mit einem Schuß polnischen Judentums) erinnernder Kopf ist geladen mit Witz und Energie. Er schreibt täglich zwei Leitartikel. einen für die

»Prawda« und einen für die -Iswestija- und oft noch einen

806 Wilhelm Herzog

dritten. der durch Radio nach Christiania gefunkt wird. Er empfängt täglich Besuche von mehr als einem Dutzend Dele- gierter aus allen Ländern der Welt. Er erteilt Rat und gibt Auskunft. Er präsidiert Sitzungen der IIL Internationale und nimmt teil an den Konferenzen des Executiv-Komitees der Zentralkomitees der Parteı und zahlloser anderer Körper- schaften. Er hält Vorlesungen ın der Arbeiteruniversität und vor den Offizieren der Roten Armee. Er spricht in Ver- sammlungen, auf Kongressen der zentralen und lokalen Sowjets. Und alles dies ohne Oberflächlichkeit, nicht leichtfertig. sondern nach gründlicher Vorbereitung. sachkundig. äußerst ernsthaft (wenn auch nıe ohne Witz). Das Problem beherrschend, das er scharf anpackt, darstellt und zergliedert. Es ist eine Lust ihm zuzuhören. Er ist außerordentlich reich an Einfällen: er hat eine ungewöhnliche Personal- und Sachkenntnis. Ihm ist aus der Bewegung des Proletariats aller Länder jedes Datum, jedes Geschehnis. jeder Führer, ja jede einigermaßen wichtigere Person bekannt. Dazu kommt eine große historische Bildung und eine sehr klare Erkenntnis der weltpolitischen Zusammen- hänge.

Er ist ein glänzender Stilist. Und obschon er die russische Sprache keineswegs wie ein geborener Russe beherrscht, be- wundert man seine Aufsätze wegen ihrer Klarheit und der Leuchtkraft ihrer Bilder. Sein quecksilbriger Geist reagiert auf alle Eindrücke des menschlichen, politischen und geistigen Lebens. Kurz: eın hochbegabtes Individuum, der geborene Propagandist. der Agitator ohne Rücksichten und ohne Hemmungen. Er kennt keine Kompromisse, sobald es gilt, die feindliche oder noch gleich- gültige Welt zu infizieren. sie zu vergiften, sie mit der Idee der Weltrevolution zu durchdringen. Er gehört mit Bucharin, Ossinsky und anderen zu der jüngeren Generation der Bolsche- wıkı (d.h. der revolutionären Marxisten.) Dieser extreme Stratege des : Klassenkampfes, dieser gefürchtete Terrorist liebt die deutsche Literatur, kennt Goethe, Heine, Kleist, Friedrich von

Russisches Notizbuch | 807

Gentz und die Romantıker, Büchner, Grabbe, liebt Conrad Ferdinand Meyer und zitiert Verse von Stephan George und Hugo v. Hofmansthal.

Mit jungen Jahren war er nach Deutschland gekommen und hafe an der Leipziger Universität Nantionalökonomie und Ge- schichte studiert. Sein immer reger Geist nahm die Kultur der deutschen Humanitätsperiode ebenso lebhaft auf, wie die weltrevolutionären theoretischen Untersuchungen und Ana- lysen der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Karl Marx und Friedrich Engels. Radek begann als Neunzehnjähriger in der Redaktion der »Leipziger Volkszeitung«, arbeitete dann ın Bremen und Göppingen als Redakteur an den Partei- organen, bis seine zahlreichen Feinde eine sehr gemischte Vereinigung von raffinierten Parteitaktikern, subalternen Büro- kraten und deutschen Spießern auf Grund lächerlichster „Tatsachen einen Fall Radek konstruierten. Die idiotischsten Vorwürfe, die jämmerlichsten Verdächtigungen kläglicher Philister. die sich für Sozialdemokraten hielten. genügten. um einen freien ungebundenen Geist zu Fall zu bringen. dersen einziges Verbrechen war, nıcht das korrekte Leben eines Normalbürgers. sondern ein etwas boh&mehaftes Dasein zu führen. Die deutsche Sozialdemokratie, deren Schicksal es war, sich am 2. August 1914 selbst zu schänden, gab ein Jahr vorher 1913 auf ihrem Parteitag in Jena ein kleines, schüchternes Vorspiel hierzu durch die Art der Behandlung dieses „Falles Radek... Sie befleckte, sie entehrte sich selbst. indem sie einen ihrer besten jugendlichen Kämpfer, einen der saubersten inmitten von fragwürdigen Opportunisten und streberischen Parteisekretären aus der Partei ausschloß. Es war ein Ton im Auftakt zu der weltgeschichtlichen Tragödie des imperialistischen Krieges und der Haltung der deutschen Sozialdemokraten zu ihm. Es war das erste Anzeichen der Bankroſterklärung dieser verbürgerlichten, nur in Worten revolutionären Gesell-

schaft. Und Radek kann seinem „Falle. dankbar sein. daß

08794. Wilhelm Herzog er ihn schon ein Jahr vorher aus einer Partei löste, die J ahrzehnte hindurch Klassenkampf heuchelte, um, als es ihn zu erproben galt, plötzlich Burgfrieden zu erklären und ın ıhm 5 Jahre zu verharren: in innigster Gemeinschaft mit ihrem bis- herigen Todfeinde, der bürgerlichen Gesellschaft.

Karl Radek sah früher als die meisten anderen uner- bi@lichen Kritiker der deutschen Sozialdemokratie, welche Richtung sie mit Notwendigkeit einschlagen müßte, wenn irgendwelche Krisen oder Katastrophen hereinbrächen. Sıe krankte am Revisionismus und am Maulheldentum. Und die Verbürgerlichung hafe schon ihre Knochen erweicht.

Aber Radeks persönlicher Fall war durch die seltsame Gegnerschaft Rosa Luxemburgs und Leo Jogisches (Tyskas) noch komplizierter geworden. Man wollte einen unbequemen Kämpfer beseitigen. Jedes Mitel war dazu recht. Er wurde mit Kot bespritzt. als ein schmutziges Subjekt hingestellt. mit dem eine anständige und honeſte Partei nichts gemein haben könne. Die korrupte Wohlbürgerlichkeit hat die Ebert- Scheide mann-Partei ja dann auch in allen darauf folgenden immer größer werdenden Fällen, die sie tiefer und tiefer sinken ließen, bewiesen. Radek, der unter diesen Beschmutzungen trotz aller Freiheit des Geistes und innerer Heiterkeit sehr gelitten haben muß, hafte kaum einen Freund. der zu ihm hielt. Er blieb allein. Er rang eich durch und er weil heute, daß auch dieser ihn persönlich treffende Prozeß notwendig war, um an einer kleinen Stelle das Symptom der geheimen Krankheit des damals schon zerüfteten Parteikörpers zu verraten.

Heute ıst er freier und ungebundener denn je. Er lacht über die kleinen Schmutzfinke und die größeren Intriguanten, die ihn vor sieben Jahren abwürgen wollten. Es war gut für ihn, dies alles durchgemacht zu haben. Denn er durchschaut wie nur wenige all die Regiekünste und Machenschaften führender Bürokraten und bedrohter Parteihäuptlinge gegen

unbequeme rigoristische Kämpfer, die weder durch gute noch

Russisches Notizbuch 809

durch schlechte Behandlung unterzukriegen oder mundtot zu machen sind. Und die man deshalb nicht ungern moralisch gemeuchelt sieht: entweder durch den Parteiklatsch, durch unkontrollierbare Verdächtigungen oder durch die gern auf- genommenen Infamien der bürgerlichen Journaille.

Radek erzählt mır einiges von seinen damalıgen Erlebnissen, von der Maulwurfstätigkeit der dabei mitwirkenden Genossen. . Wir fahren von der III. Internationale am Abend spät nach einer Sitzung mit den Delegierten der Deutschen Kommunistischen Arbeiterpartei (K. A. P.). dem Genossen Appelt. Hamburg und Jung. Berlin in den Kreml. in seine Wohnung. In dem ehemaligen sogenannten Kavaliershaus. das früher zaristische Beamte bewohnten, sind je zwei Zimmer für die verantwortlichen Kommissare und Funktionäre eingerichtet. Wir bleiben bis morgens früh im Gespräch zusammen. Mit großer Lebendigkeit malt er die Siege der Bolschewiki in Persien und das Vordringen der Roten Armee in Polen. Teheran sei morgen zu nehmen. Armenien wird von den Roten besetzt werden. Die Polen sind bereits zurückgeschlagen und weichen. Ein Donkosakenführer Genosse Butjenoff hat, sich große Verdienste erworben. Radek erzählt interessante Details von ihm. Von seiner Herkunft, seinem Vater, einem alten Grofbauern, seinem Erwachen für die Revolution, seinem Sammeln der roten Kosaken. Er verfügt jetzt über eine gut aus- gerüstete Kavallerie von 20000 Mann. In dem Kriege gegen Polen wird er bald eingreifen und vermutlich eine ent- scheidende Rolle spielen.

Vor einigen Tagen hat Radek einen sehr merkwürdigen Abend bei ihm im Zuge verbracht. Zusammen mit Schaljapın dem berühmten Sänger, der behauptet, Kommunist geworden zu sein, und mit dem Bauerndichter Demjan, der seit Ausbruch der Revolution durch seine Dichtungen eme außerordentliche Popularität errungen hat. Drei Kosaken machten Musik, ein seltsamer Mensch, den man Schaljapins

810 Wilhelm Herzog

Narren nennt. tanzte auf dem Koffer. Eine sehr piſtoreske Gesellschaft, der Butjenoff von seinen Erlebnissen erzählte. In der Unterhaltung gibt Radek unendlich viel. Er kenn- zeichnet mit ein paar Strichen hervorragende Führer: er spricht von Tchitscherin. der aus einer aristokratischen Familie stammt, 1900 Botschaftsrat in Berlin war, und mit dem ermordeten Graf Mirbach verwandt war. Der nächste und beste Freund Radeks ist Nikolai Bucharın. Der klügste und klarste Kopf unter den Theoretikern der jungen Generation und einer der entzückendsten Menschen. Er studierte in Wien, der junge radikale Markist wurde Schüler Machs. des Philosophen und Physikers. Später lebte und arbeitete er ın Schweden, Frankreich und Amerika. Er ist heute 31 Jahre alt. Ich blieb mit Radek die ganze Nacht zusammen. Er kennt l die Verhältnisse in Deutschland wie kaum ein zweiter unter den Führern der Bolschewiki. Erst gegen fünf Uhr morgens legten wir uns schlafen. Einige Stunden später, am nächsten Vormittag, fuhren ' wir aus dem Kreml zusammen in die Dritte Internationale. Radios aus Lyon waren gerade eingetroffen. Sie meldeten Siege der roten Armee an der polnischen Front.

26. Mai 1920.

Nachmittags in unserm Hotel Delovoi Dvore Gespräch mit den englischen Delegierten, darunter: Williams, Turner, Frau Snowden, Wallhaed. Sie wünschen, über die gegenwärtige Situation in Deutschland und über die Parteiverhältnisse unter- richtet zu werden. Sie machen nicht den Eindruck von Re- volutionären, sondern vielmehr den gepflegter Bürger. die Beamte der Arbeiterbewegung geworden sind, und deren Funk- tionen nach besten Kräften ausüben. Es ist ihnen offenbar zu gut gegangen und es geht ihnen noch zu gut. Sie empfinden bei aller Bemühung, Verständnis für Sowjetrußland aufzu-

bringen, den ungeheurem Gegensatz zwischen ıhrer gesicherten

Russisches Notizbuch l 811

Ruhe und dem Fanatismus der Russen. Einer unter ihnen, der Jüngste, Clifford Allen. Redaktionssekretär deo Daily Herald, ist ein überzeugter Kommunist.

In der Unterhaltung betonten sie die mir schon bekannte eigenartige Tatsache, daß England eigentlich keine sozialistische Tagespresse habe. Nur der »Daily Heralde, der zwar auch nicht offizielles Parteiorgan sei, erscheint täglich in einer Aut- lage von 350 000 Exemplaren.

Am Abend zusammen mit Bertrand Russel, der sich der englischen Delegation angeschlossen hat, und Clifford Allen.

| 27. Maı 1920

In den Dom Sojusow., den früheren Adelsklub, nahe dem großen Theater. Dort veranstaltet das politische Auf- klärungskomitee des Moskauer Kriegskommissarıats ein Konzert- Meeting. Das Programm trägt an der Spitze eın Wort von Dostojewski: Schönheit wird die Welt erreften« und ein Wort von Goethe: »Kunst ıst der Weg zum Sozialısmuss, ein Satz, den man leider vergeblich in den Werken Goethes suchen wird .. Das Theater ist angefüllt mit Arbeitern, jungen Mädchen, Angestellten der Sowjets und Kriegsverletzten. Ein sehr aufmerksames Publikum. Die allzuoft mifbrauchte Phrase »Kunst für das Volke scheint hier ihre Verwirklichung gefunden zu haben. Zuerst spricht ein politischer Redner, dann kommt eın Chor, aus Männern und Frauen bestehend, der die Internationale, die Marseillaise und andere revolutionäre Lieder singt. Eine Kapelle von Balalaika spielenen Soldaten unter der Leitung eines Offiziers erregt durch die rührende Einfachheit und den diskreten Vortrag ihrer Kunst den nicht enden wollenden Beifall der Zuhörer.

Abends elf Uhr kommt Bucharin zu mir ins Hotel. Bis nachts halb drei debattiert. Über Moral und Sozialismus; über die bürgerlichen Nationalökonomen; über seine Studen-

tenzeit in Moskau und Wien, wo er Mathematik studierte. 22

810 l | Wilhelm Herzog

Narren nennt. tanzte auf dem Koffer. Eine sehr piftoreske Gesellschaft. der Butjenoff von seinen Erlebnissen erzählte. In der Unterhaltung gibt Radek unendlich viel. Er kenn- zeichnet mit ein paar Strichen hervorragende Führer: er spricht von TIschitscherın, der aus einer aristokratischen Familie stammt, 1900 Botschaftsrat in Berlin war, und mit dem ermordeten Graf Mirbach verwandt war. Der nächste und beste Freund Radeks ist Nikolai Bucharin. Der klügste und klarste Kopf unter den Theoretikern der jungen Generation und einer der entzückendsten Menschen. Er studierte in Wien. der junge radikale Markist wurde Schüler Machs. des Philosophen und Physikers. Später lebte und arbeitete er in Schweden, Frankreich und Amerika. Er ist heute 31 Jahre alt. Ich blieb mit Radek die ganze Nacht zusammen. Er kennt l die Verhältnisse in Deutschland wie kaum ein zweiter unter den Führern der Bolschewiki. Erst gegen fünf Uhr morgens legten wir uns schlafen. Einige Stunden später. am nächsten Vormittag, fuhren ' wir aus dem Kreml zusammen in die Dritte Internationale. Radios aus Lyon waren gerade eingetroffen. Sie meldeten Siege der roten Armee an der polnischen Front.

26. Mai 1920.

Nachmittags in unserm Hotel -Delovoi Dvore Gespräch mit den englischen Delegierten. darunter: Williams. Turner. Frau Snowden, Wallhaed. Sie wünschen, über die gegenwärtige Situation in Deutschland und über die Parteiverhältnisse unter- richtet zu werden. Sie machen nicht den Eindruck von Re- volutionären, sondern vielmehr den gepflegter Bürger. die Beamte der Arbeiterbewegung geworden sınd, und deren Funk- tionen nach besten Kräften ausüben. Es ist ihnen offenbar zu gut gegangen und es geht ihnen noch zu gut. Sıe empfinden bei aller Bemühung, Verständnis für Sowjetrußland aufzu-

bringen, den ungeheurem Gegensatz zwischen ıhrer gesicherten

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Ruhe und dem Fanatismus der Russen. Einer unter ihnen, der Jüngste. Clifford Allen. Redaktionssekretär des Daily Herald, ıst eın überzeugter Kommunist.

In der Unterhaltung betonten sie die mir schon bekannte eigenartige Tatsache, daß England eigentlich keine sozialistische Tagespresse habe. Nur der »Daily Heralde, der zwar auch nicht offizielles Parteiorgan sei, erscheint täglich in einer Aut- lage von 350 000 Exemplaren.

Am Abend zusammen mit Bertrand Russel, der sich der englischen Delegation angeschlossen hat, und Clifford Allen.

| 27. Maı 1920

In den »Dom Sojusowe, den früheren Adelsklub, nahe dem großen Theater. Dort veranstaltet das politische Auf- klärungskomitee des Moskauer Kriegskommissarıats ein Konzert- Meeting. Das Programm trägt an der Spitze eın Wort von Dostojewski: »Schönheit wird die Welt erreften« und ein Wort von Goethe: Kunst ist der Weg zum Sozialısmus, ein Satz, den man leider vergeblich in den Werken Goethes suchen wird .. Das Theater ist angefüllt mit Arbeitern. jungen Mädchen, Angestellten der Sowjets und Kriegsverletzten. Ein sehr aufmerksames Publikum. Die allzuoft mifbrauchte Phrase »Kunst für das Volke scheint hier ihre Verwirklichung gefunden zu haben. Zuerst spricht ein politischer Redner. dann kommt ein Chor, aus Männern und Frauen bestehend, der die Internationale, die Marseillaise und andere revolutionäre Lieder singt. Eine Kapelle von Balalaika spielenen Soldaten unter der Leitung eines Offiziers erregt durch die rührende Einfachheit und den diskreten Vortrag ihrer Kunst den nicht enden wollenden Beifall der Zuhörer.

Abends elf Uhr kommt Bucharin zu mir ins Hotel Bis nachts halb drei debaſtiert. Über Moral und Sozialismus: über die bürgerlichen Nationalökonomen; über seine Studen-

tenzeit in Moskau und Wien, wo er Mathematik studierte. 22

812 =. Wilhelm Herzog In Bucharin ist Gegenwart und Zukunft der Weltrevolution verkörpert. Er gehört zur Jugend der weltrevolutionären Bewegung. Er ıst der extremste kritischste Kopf ım Executiv- Komitee der Kommunistischen Partei und zugleich der zu- kunftsfroheste und kühnste Optimist. Er betrachtet die Entwick- lung der Weltrevolution mit all ihrem Grausamkeiten, Aus- schweifungen etwa wie ein Biologe die Tier- und Pflanzenwelt betrachtet. Denn die Notwendigkeit des Prozesses gilt ihm alles. Wir sind dazu da, ihn zu beschleunigen. Alles andere ist romantische Ideologie, Sentimentalität. moralischer. pazifisti- scher, intellektueller Fetischismus. Fetischismus ist sein Lieb- lingswort.

Die alte kapitalistische bürgerliche Kultur, die Ungeheueres und AuLßerordentliches geleistet hat, ist im Absterben. Eine neue Welt beginnen wir zu: bauen. Widerstände und Schwierigkeiten. die kaum überwindbar scheinen, werden wir schließlich überwinden. Was haben die westlichen Kultur- staaten so rief er aus diesem neuen frühlinghaften Blühen entgegenzustellen?

29. Mai 1920.

Nachts zwölf Uhr auf den Kursker Bahnhof, um gemein- sam mit der englischen Delegation nach Nishnij- Nowgorod zu fahren und von dort auf der Wolga zu Schiff einige Dörfer und Städte zu besuchen.

Auf dem Bahnhof begrüßt mich Guilbeaux, der bereits seit zwei Jahren in Rußland lebt. Wir beziehen zusammen ein Coupe. Von den Engländern reisen mit: Bertrand Russel, Mrs. Snowden. Williams. Wallhead. Dr. Geest. der Arzt der Delegation und Clifford Allen. Am nächsten Morgen zehn Uhr in Nishnij- Nowgorod. Empfang am Bahnhof durch Arbeiter und Soldaten der Roten Armee. Mit breiten roten Fahnen, mit vielen roten Bannern. die in sehr reicher goldener

Schrift Parolen der proletarischen Revolution tragen. Alles

Russisches Notizbuch | 813 sehr festlich bei strahlender Sonne. Musik der Rotarmisten- kapelle. Begrüßung. Ansprachen, Williams, der wenigstens ın Worten Revolutionärste unter den Engländern. antwortet. Dann spricht Wallhead. der Führer der I. L. P. einige kurze Sätze. Er hat ein geistigeres Gesicht.

Wir müssen an der ansehnlichen Truppenschau vorüber- marschieren. Lange Reihen roter Soldaten. Stramm diszipliniert. Nicht ohne Drill. Vom Bahnhof. den eine große der englischen Delegation zujubelnde Menschenmasse umsäumt, in Autos zur Landungsstelle an der Wolga. Aufs Schiff. einen sehr schönen komfortablen Dampfer. den sich kurz vor dem Kriege der Zar bauen ließ. Die Breite und das pittoreske Ufer des Flusses ist der erste Eindruck, der haften bleibt. Mit Bertrand Russel zusammen gefrühstückt. Über die Nichtigkeit solcher Empfänge gesprochen. Für die Propaganda dennoch notwendig?

Auf dem Schiff: der jetzige Leiter der Fabrik in Sormowa. Er gıbt ın großen Zügen eine Darstellung ihrer Tätigkeit. Sie war eine der größten Fabriken Rußlands. 1917 hafe eie noch fünfundzwanzigtausend Arbeiter. jetzt: elf- tausend. Von den elftausend Arbeitern können wieder- um nur sechstausend richtig arbeiten, etwa fünftausend sind durch den Mangel an Nahrungsmittel so entkräftet. dal sie entweder nur vier Stunden täglıch, oder gar nicht arbeiten können. Außerdem fehlt es ıhnen an der notwendigsten Kleidung, an Schuhwerk usw. Die anderen sind an der Front. Bis zum Krieg : Waggonfabrik, dann umgestellt in eine Munitions- fabrık. Es wurden früher dort fünt Millionen Pud Stahl verarbeitet. Die Arbeiter dieser Fabrik, wie überhaupt die von Nishnij- Nowgorod und Kasan, sind immer die besten revolutionären Kämpfer gewesen.

Der Sprecher (Ingenieur) ist der Vorsitzende des Arbeiter- rates von Sormowa.

Einige Zechen arbeiten nicht, weil kein Naphta vorhanden ist und sie mit Holz nicht heizbar sind. Jetzt werden alle

811 WV .ilhelm Herzog

Anstrengungen gemacht, um sie mit Torf (in Verbindung mit Spiritus) zu heizen. Diese Zechen stellten früher die Räder der Eisenbahnwagen her. Als Koltschak kam. nahm er alles. was nicht niet- und nagelfest war. mit sich fort oder zerstörte. was er zerstören konnte.

In der Gegend von Nishnij viel Hausindustrie. Die Ar- beiter stellen aus Holz Löffel, Schüsseln und ähnliches für den Bedarf der Bauern her.

Viele Lederfabriken sind in Betrieb geblieben und arbeiten jetzt hauptsächlich für die rote Armee.

Am Abend lädt uns der lokale Sowjet zu einem Bankett ins Sowjethaus. Wiederum Begrüßung. Ansprachen. Reden aut russisch und englisch, und am Schluß singen alle ernst und feierlich die Internationale. Es ist sehr spät nachts ge- worden, als wir mit dem Schiff von Nishnij-Nowgorod ab- fahren. . . die Wolga hinauf nach Kasan.

Mit Losowsky. dem Mitglied des Zentralrates der All- russischen Gewerkschaften, aufschlußreiche Unterhaltung über die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in Rufland.

In der Kabine mit Guilbeaux die ganze Nacht sehr gefroren.

30. Mai 1920.

Das Schiff hält am Ufer. Wir gehen in ein kleines Dorf. Es heißt Iljenzkaja Pustynj. In ein Bauernhaus. Die Bäuerin, die uns etwas verwundert empfängt, erzählt, daß sie und ihr Mann acht Hektar zu kultivieren haben. Der Mann ist Sowjetbeamter und Waldhüter. Im Häuschen überall, ın allen Zimmern, Heiligenbilder. Im Wohnzimmer gesellt sich dazu ein Grammophon und eine Nähmaschine. Die Bäuerin hat einen kleinen Buben auf dem Arm. Er ist 4 Jahre alt und wohlgenährt. Sie hat ihn, da sie keine Kinder hafe, adoptiert. Im übrigen scheint sich das Leben der russischen Bäuerin nicht wesentlich von dem der deutschen Kleinbäuerin

zu unterscheiden.

Russisches Notizbuch 815

Die Bauern wollen wenig von den Verordnungen der Behörden wissen. So wenig, wie früher. An einer kleinen Kirche, die sehr schmuck, weill. unmittelbar am Wolga-Ufer steht, sammeln sie sich an diesem Sonntagmorgen wie eine Herde braver Tiere, die sich zu ihrem Hirten flüchten in begreiflicher Scheu vor den fremden Eindringlingen. Die Buntheit dieses Bildes schrie nach Flaubert.

Mittags zurück aufs Schiff. Gespräch mit Russel und Mrs. Harrison. Mrs. Harrison erkundigt sich nach Berliner Persönlichkeiten. Sie ist eine sehr gewandte Korrespondentin. Ihre Beziehungen sind sehr mannigfaltig. Sie kennt zwischen dem Mississippi und der Wolga alle sogenannten führenden Persönlichkeiten. Sie spricht über Walter Rathenau. Theodor Wolff. von Gerlach, natürlich auch über die Gräfin Treuberg. Für einige Minuten Berliner Atmosphäre an den Ufern der Wolga.

Russel macht zwischendurch skeptische Bemerkungen. Obschon immer Ironıker, der gern Gottes und der Welt- revolution spottet, ist er doch leidenschaftlich der Idee der Revolution ergeben. In erster Linie ist er Pazifist. Anti- militarist, ein guter Europäer. Aber er sieht. daß alle unsere letzten Ziele erst erreicht werden können, wenn wir den Übergang das ist die Diktatur des Proletariats mit all ihren Konsequenzen durchgemacht haben werden. Wir können ihn nicht überspringen. Und so grauenvoll, so bitter, so dunkel, so blutig, so unmenschlich dieser Korridor durch den Wider- stand der konterrevolutionären Klasse werden kann. es bleibt uns keine Wahl, es gibt keinen anderen Weg. Diese Erkenntnis sich selbst und anderen einzuhämmern, ist gebiete- rische Pflicht. Russel anerkennt den Willen und die große Kraft der bolschewistischen Führer, vor allem. Lenins. Aber er ist ein zu anarchistischer. Parteidisziplin verachtender Geist. als daß er verzichten könnte, allzu sichtbare Auswüchse der neuen Herrschaft und sei sie auch die des geheiligten Prole-

816 Wilhelm Herzog

tariats zu kritisieren. Er tut es nie aus einer bürgerlich- kapitalistischen Gesinnung heraus, vielmehr stets als revolu- tionärer Aphoristiker. dem diese ganze Welt fragwürdig vorkommt, der ihre große Gemeinheit und ihre kleinen Er- bärmlichkeiten zur Genüge kennt, und der, wie er von sich selbst sagt, lieber einige Monate ins Gefängnis ginge, als auf einen guten Witz zu verzichten. Er bat etwas von einem alten liebenswürdigen Faun. Und dieser wegen seines Anti- militarismus in England zu Gefängnis verurteilte Ketzer, dieser Sozialist aus Ethik. aus vornehmer Gesinnung. dieser radikale Feind des Militarismus stammt, wie man weil, aus einer der ältesten Adelsfamilien Englands und hat zum Bruder einen riehtiggehenden Lord. Er ist eine Kreuzung zwischen Whistler und Wilde. Anarchistischer Künstler und sozialistischer Geist. Kein Bolschewik. Rein revolutionärer Marxist.

Gegen Abend kommen wir nach Kasan. Meeting an der Landungsstelle. auch Guilbeaux spricht. Außer ihm Williams und Frau Snowden. Russel mokiert sich.

Der junge Clifford Allens ist wahrscheinlich infolge der Kälte der letzten Nacht erkrankt. Liegt in der Kabine. Beide Lungen angegriffen. Er hat sich die Tuber- kulose während des Krieges im englischen Gefängnis geholt, wozu man ihn für mehrere Jahre, da er den Militärdienst

verweigerte, verurteilt hatte. Er ist Russels bester Freund.

31. Mai 1920.

Vormittags 11 Uhr landen wir in Simbirsk. Mit Los- sowsky, Guilbeaux und einer jungen Russin in die sehr schmutzige Stadt.

Als wir nach einigen Stunden aufs Schiff zurückkehren, finden wir eine Deputation der Arbeiter von Simbirsk an Bord vor, die gekommen ist, um die englischen Delegierten zu begrüßen.

Nachmittags luden uns die Matrosen zu einem Konzert

aufs Oberdeck. Ihr Führer hielt zunächst eine kurze Ansprache

Russisches Notizbuch 817

und dann sangen die-Matrosen mit großer Wärme einige revo- lutionäre Lieder, das Lied von der roten Fahne und zum Schluß das Wolgalied: »W niz po Matuschke, po W olge«.

Abends gegen 9 Uhr hält das Schiff in Novodevitschie. einem kleinen, inmiften von Kreidefelsen gelegenen Dörfchen. Etwa 5000 Einwohner. Zementfabriken.

Schnell wird auf dem Balkon eines kleinen Häuschens eine Rednertribüne errichtet und auf dem Platz davor eın Meeting arrangiert. Von der englischen Delegation spricht Dr. Geest. Das Auditorium, daß sich vor dem Holzhäuschen angesammelt hat, besteht aus alten russischen Bauern, Bäuerinnen, jungen Arbeitern und Kindern. Alle jucken sich. Die Moskitos stechen heftig. Gegen ihre Zudringlichkeit hilft keın Schlagen, kein Abstreifen. Die fremden Sprachen berühren die Dorfbewohner offenbar komisch. Nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen, beginnen zunächst bei den ersten Worten der Sprecher zu lachen. Sowohl bei Geest wie bei Gilbeaux. der eın paar schöne revolutionäre Phrasen an dıe trotz alle- dem neugierig - unruhige Menge richtet. Losowskı übersetzt. Die Moskitos stechen weiter, und man kämpft so kontinuierlich und unermüdlich wie erfolglos gegen ihre Plage.

Die Männer lauschen, wenn sie sich nicht kratzen. Ihre Haare fallen ihnen tief ins Gesicht, ihre Gesichter sind ver- wiftert, sie tragen meist große, schwarze, braune oder rötliche Bärte und Mützen auf dem Kopf. Alles dies berührt sie fremd- artig. Die Frauen, junge und alte, sind ziemlich sauber gekleidet und haben um den Kopf weile, gelbe, grüne oder rote Tücher. Sie sind noch uninteressierter als die Männer, aber noch neu- gieriger. Die Kinder, die sich offensichtlich Mühe geben. still zu bleiben, kratzen sich oder stecken sich Zweige ın den Mund. Sie sind garnicht schmutzig und tragen ım Gegenteil weile russische Hemden.

Dieses sehr farbige Publikum der Dorfbewohner kann noch nicht wie die städtischen Arbeiter die Internationale

818 Wilhelm Herzog

singen. Ein wenig erstaunt beim Anstimmen und sicher etwas verlegen. befreunden sich die Bauern nur langsam mit den Tönen der Revolution.

Die Masse begleitet uns vom Versammlungeplatz herunter zum Schiff. Wieder mußte ich an den Dichter der »Madame Buvary« denken. Ein schönes Bild: der Zug der Bauern und Bäuerinnen, singend, belustigt. aufgerührt von dem seltsamen Erlebnis, das plötzlich ihren Ort überfiel.

1. Juni 1920.

Wir fahren auf Samara zu. Ein Schiff mit Musik kommt uns entgegen.

Vormittags 10% Uhr mit Russel und Mrs. Harrison in die Stadt gefahren. Die anderen in Autos zum Sowjet- haus, wo ein Meeting stattfindet. Wir bummeln durch die Straßen der sehr häßlichen Stadt. Schmutzig und ohne eigenes Gepräge. Auf der Hauptstraße vor der deutschen Kirche begegnen wir einer kleinen, schmächtigen Frau, die in beiden Händen drei große runde Brote trägt. Mrs. Harrison beginnt ein Gespräch mit ihr auf russisch, ein Mann gesellt sich zu uns. Er ist, wie er behauptet, ein jüdischer Arbeiter. Er und die Frau sprechen gebrochen deutsch. Beide jammern. Nie wars so schlimm. Nichts zu essen, klagt die Frau mit den drei Broten. Keine Freiheit, stöhnt der angebliche Ar- beiter. Es sei wahr, fügte er hinzu, als ich ihm vorhalte, ob die Juden es unter dem Zaren etwa besser gehabt häften, es sei wahr. die Juden häften als Juden nichts mehr zu leiden, eie seien gleichberechtigt mit den anderen; aber das Leben sei entsetzlich teuer. Grammophonartig hört man diese Welt- klage, deren Berechtigung durch ihre unaufhörliche Wieder- holung nicht getötet werden kann.

Die Frau lädt uns ein, zu ihr zu kommen. Wir fe: ihr, um zu sehen, wie diese klagenden Kleinbürger ı in Wirklich- keit leben. Sie hafe, soweit wirs überblicken konnten, eine mit dem üblichen Bourgeois-Hausrat eingerichtete Wohnung

Russisches Notizbuch 819

von drei oder vier Zimmern. Ihr. Mann. den sie uns vorstellte. war früher Schneidermeister gewesen. Vereint jammerten sie über zwei erwachsene Söhne, die in Amerika wären der eine Ingenieur, der andere Arzt und der ganze bürgerliche Familienstolz konnte beim Zeigen der schmucken Photographien dieser guten Söhne eine stille Orgie feiern. Die Frau wımmerte weiter über alles und nichts. zeterte gegen den Terror, erzählte Greuelgeschichten. und jede Miene. jedes Wort flehte Mitleid. Wie bedauernswert sie in Wirklichkeit war, sollten wir bald merken. Wir bekamen sogleich die Probe aufs Exempel für dié Berechtigung ihrer Klagen. Sie lud uns ein zum Tee, beschwor uns, zu bleiben, wır seien ıhr von Gof geschickt, endlich könne sie all ihr Leid hinausschreien über die Not und das Elend, daß jetzt über Rußland gekommen sei. . . Und da wir ablehnten, ging sie hinaus und brachte, vermutlich um uns noch mehr zu reizen und zum Bleiben zu verlocken. ein Laib des schönsten Weılbrots herein, wie ich es seit sechs Jahren nicht mehr geschen hafte. Sıe versicherte, sie wisse, was sie deutschen Gästen schuldig sei, es würde nicht an echtem Tee und Zucker fehlen. Als ich ihr ganz zart andeutete, dal es ihnen doch nicht gar so schlimm gehen könne, da sie noch so herrliches weıßes Mehl zu verbacken habe, lächelte sie schlau und ihre winzigen Augen wurden Stecknadelköpfe: » Ja. dies Mehl habe ich schon seit zwei Jahren liegen]. Und den Zucker. den echten Tee, die Bufer wahrscheinlich ebenso lange. Wir ‚forschten jedoch nicht länger, denn der anfängliche Verdacht wurde zur Gewiſcheit. daß ihr Jammern über die Not und die Grausamkeit der Sowjetbehörden von der Angst stammte, als Spekulantin gefaßt zu werden. Herzlich dankten wir ihr für den Einblick, den sie uns in ihr Haus gewährt hatte. und verließen diese gastfreundliche kleine Wucherin. die allzu begreiflich keine Freundin der ihrem Denken und Fühlen ent-

gegengesetzten neuen Ordnung sein konnte. |

820 Wilhelm Herzog

Aber es ist wichtig zu wissen, daß neben den Gegenrevolu- tionären aus den adligen und großkapitalistischen Kreisen den Bolschewiki nichts so gefährlich ist, als diese Schicht offener und heimlicher Feinde der Sowjets, der kleinen Schieber und Spekulanten.

« « *

Beim deutschen Pastor, namens Lintius. Er ist verreist. Seine Frau, eine hagere Dame mit goldener Brille. empfängt uns in seinem Bibliothekzimmer. Sie gibt uns bereitwillig Auskunft auf alle unsere Fragen. Von äußerster Sachlichkeit. einfach und bestimmt. zeichnet sie. die ihrer Weltanschauung und ihrem ganzen Wesen nach keine Freundin der Bolsche- wiki sein kann, ein sehr anschauliches und ungeschminktes Bild der wirklichen Verhältnisse, der Schwierigkeiten, und der Bemühungen der Kommunisten, den Aufbau vorzubereiten, um die Lage des Volkes zu bessern.

In schlichtester Weise illustrierte eie das tägliche Leben durch einige Daten:

Die Arbeiter (die zur ersten Kategorie gehören) erhalten täglich 1 Pfund nicht schlechten Brotes. Reines: Roggenbrot. Die zweite Kategorie erhält % Pfund Brot täglich. Außer- dem gibt es nur noch ½ Pfund Salz im Monat und zwei Schachteln Zündhölzer. Man soll bekommen: Fleisch, Fisch, Oel. Aber nichts davon erhalte man. Das Ei kostet 40 Rosel 1 Pfund Butter 1000 bis 1500 Rubel.

Die Kinderspeiseanstalten bekommen die Vorräte der Speku- lanten. Die Kinder haben es am besten. Sie erhalten miftags eine gute Suppe mit einem Stück Fleisch und eine schmackhafte Grütze. Es gibt in Samara allein 16 Kinderhäuser: alle Kinder dieser Instituten sehen gut gefüftert und gut gekleidet aus.

Mit den Schulen selbst steht es sehr schlimm. Ungeheizt. Kein Schuhzeug für die Kinder, Lehrer sind vorhanden.

1917 war die öffentliche Sicherheit in Samara sehr schlecht. Viele Banditen, Straßenräuber.

Russisches. Notizbuch 821

Auffallend in den Schulen seit der Revolution die Un- eittlichkeit. Besonders die Aggressivität der Mädchen gegen die Buben. Junge Mütter von vierzehn Jahren.

Die Lehrer bekommen 2170 Rubel monatlichen Gehalt.

Ein Pfund Fleisch aber kostet 450 Rubel. Ein Pfund Kohlen 45 Rubel, ein Faden Holz 15000 Rubel. |

Sofort nach der Revolution wurden Kurse für Analpha- bethen eingerichtet. Besonders am Abend. Sie erhalten un- entgeltlich Hefte und Bücher. Alles vorzüglich eingerichtet.

Seifen- und Sodafabriken arbeiten, sonst steht alles still.

Eine Wäscherin bekam früher 1 Rubel pro Tag (mit Verpflegung). Jetzt verlangt sie 300 bis 400 Rubel und man gibt es ihr.

Man zählt etwa 2000 Deutsche in Samara. Jeder Sowjet- beamte hat 2000 bis 3000 Rubel monatlichen Gehalt.

Eine Wohnung von 2 bis 3 Zimmern kostet monatlich 600 Rubel.

Das Volk, zuerst froh, den Druck des Zarismus los zu sein, ist jetzt wieder unzufrieden. Die Kirchen sind überfüllt. Die Priester leben jetzt besser, als unter dem Zaren. Die Gemeinde versorgt sie reichlich. Mit-Naturalien und mit Geld. Freiwillig. Ein Bürger gab kürzlich 8000 Rubel für den Pfarrer.

Auch ihre Familie. klagte sie mit leiser Stimme, wurde vom Bürgerkrieg nicht verschont. Einer ihrer Söhne, ein Arzt im Heere wurde erschossen. Weil er, wie sie sagt, während der Besetzung Samaras durch die Tehecho-Slovaken dreimal im tschechischen Büro gewesen war, nur um durchfahrenden Reichsdeutschen, die der russischen Sprache nicht mächtig waren, zu helfen.

Im Oktober 1918 rückten die Tschechen ab. Gegenseitige Repressalien fürchterlichster Art. Die Tochecho-Slovaken. geführt von französischen Offizieren. massakrierten die Arbeiter. Die Roten zurückgekehrt töteten viele Kapitalisten und Intellektuelle. |

822 | Wilhelm Herzog

Es gab in Samara Millionäre (zwanzig- bis dreißigfache Millionäre) die nicht lesen und nicht schreiben konnten. Sıe lebten im geschmacklosesten Luxus; ihre Söhne und Töchter ver- praßten parvenühaft das leicht und schnell erworbene Geld. Jetzt sind viele dieser Söhne und Töchter zu schwerer Arbeit herangezogen worden. Die Mehrzahl allerdings hat sıch durch rechtzeitige Flucht ın Sicherheit gebracht.

Die Theater geben sehr häufig Kindervorstellungen. Die Schauspieler erhalten Gagen bis 6000 Rubel. Mindestgehalt: 3000 Rubel. Man spielt Gorki, Tolstoi; in der Oper heute:

Carmen. * «

Kurz nach unserer Rückkehr aufs Schiff erhalten wir den Besuch des Kommandanten der militärischen Abteilung der W olga, Baltıskı. Dieser ehemals zaristische Offizier aus dem großen Generalstab steht bereits seit 1917 im Dienste der Revolution. Auf einige ıhm gestellte Fragen gab er mır in liebenswürdiger Weise Auskunft. Der Rotarmist erhält monatlich 1000 Rubel, der Unteroffizier 2000 Rubel, der Offizier 3000 Rubel. Die höheren Offiziere bis zum Armee- Kommandeur 6000 Rubel.

Im vorigen Jahre wurde der Jahrgang 1901 mobilisiert. Es wird möglichst alles genommen. Stimmung in der Armee: die der Sieger.

* * *

Abends sieben Uhr auf ein Meeting des Sowjets von Samara. In ein großes Theater. Die Bilder von Karl Marx. Liebknecht. Lenin. Trotzki im Vorraum, auf der Bühne, im Zuschauerraum. Rote Fahnen. Standarten. Banner mit revolutionären Parolen sind vor den Kulissen aufgestellt. Eine große Musikkapelle der Rotarmisten intoniert die Inter- nationale. Sehr stark und imposant wirkt die enthusiastische Volksmasse durch ihre Einheitlichkeit. dureh die fühlbare Sehnsucht, die sich den fremden Delegierten entgegenstreckt

Russisches Notizbuch 823

und ın dem kaum ausgesprochenen und doch überall hörbaren Ruf gipfelt: »Setzet unser Werk fort, das wir begonnen! Helft uns endlich! Indem ıhr Euch befreit, befreit ıhr uns! Unsere Not ist riesengroß, nicht lange mehr können wir sie alleın tragen!

Festgestellt muß werden: die englischen Delegierten erwecken in dem russischen Proletariat Illusionen, Hoffnungen. Werden sie sie erfüllen? Die Masten werden durch die Repräsentanten eines Volkes aufgewühlt, dessen Regierung Sowjetruſlland durch Polen und den Baron Wrangel bekriegen laßt. Diese Repräsentanten der englischen Arbeiterschaft werden von den russischen Volksmassen mit rührender Be- geisterung aufgenommen. Sie werden umjubelt. Das russische Proletariat aller Parteirichtungen erwartet von den Engländern tatkräftige Hilfe. Bald. Werden sie sich‘ irren? Werden sie wieder enttäuscht werden? Die Engländer, deren Worte oft revolutionär klingen, scheinen brave Bürger. reformistisch- opportunistische Sozialisten. Arriviert. saturiert. in gehobenen Stellungen sich wohlfühlend. Keine revolutionären Klassen- kämpfer. |

Russel, ein geistiger Radikaler. ist im Grunde trotz seinem Pazifismus revolutionärer, als alle zusammen, jedenfalls anti- bürgerlicher, zıelbewußter, freier und ohne die Hemmungen eines Gewerkschafts- Bürokraten. dessen Macht sich jedesmal vor der Last der Verantwortung fürchtet und verkriecht. Unter den englischen Delegierten war mehr als ein Legien. nur waren es Legiene zweiten. dritten oder vierten Ranges.

2. Juni 1920. Vormittags auf dem Schiff Gespräch mit Russel über die politische Situation in Deutschland, über, die Herrschaft des Proletariats in Rußland und die Überbleibsel der bürgerlich- kapitalistischen Gesellschaft, die überall sichtbar und schwer zu beseitigen sind. Korruption, Protektionswirtschaft, lächerlicher

824 Wilhelm Herzog

Eigennutz, Unhöflichkeit des Herzens, Vorurteile (früher mit einem + Vorzeichen, jetzt mit einem Vorzeichen), die Anwendung abgegriffener Phrasen. kurz: die Gefahr der Discrepanz zwischen Wort und Tat.

Mittags 2 Uhr gingen wir in ein kleines Dorf. Es hiel Wofkressenskoje, und liegt schon nahe der Kolonie der W olgadeutschen, In einem Bauernhaus nahe der Wolga. oben auf dem Heuboden: ein elfjähriger deutscher Junge. Kräftige, rote Backen, starke Muskeln.

Eine Dorfschullehrerin, die etwas deutsch spricht, führt uns durchs Dorf. Die Einwohner. erzählt sie. leben nicht schlecht. Nur die Schleichhandelspreise gäben überall Ursache zu klagen. 10 Eier 300 bis 400 Rubel. 1 Pfund Bufer 1000 Rubel. Aber gar keine Seife, wenig Kleidung. keine Schuhe.

Die reinliche, etwas deutsch sprechende Volksschullehrerin lädt uns zum Tee ein. Nach einigem Sträuben müssen wir annehmen. Als wir in ihr Häuschen hineinkommen. steht der Tisch bereits voll schönsten Weillbrots. Eiern. Speck. Fleisch und Kaviar.

Nachmittags 5 Uhr fahren wir mit dem Schiff weiter die Wolga hinauf. Immer vom gleichen sonnigen Wetter be- gleitet. .. Und abends 9 Uhr landen wir in Marxstadt, so nach Karl Marx von den deutschen Kolonisten umgetauft. Bis zur Revolution hieß dieser Hauptort der Wolga-Deutschen Catherinenstadt. Die auf dem linken Ufer von Catherina der Zweiten gegründete deutsche Kolonie besteht seit 162 Jahren. Marxstadt hat jetzt etwa 30 000 Einwohner. Im ganzen Gebiet, das durch die Bolschewiki zu einem eigenen Gouver- nement Trudowaia Kommuna oblasti njemzew »Powolshja« (der »Arbeitskommune des Gebiets der Wolga-Deutschen.) zusammengeschlossen worden ist. leben etwa 600 000 Deutsche.

Sie haben in diesem Steppengebiet der Wolga mit Bienen- fleiß Heimstäften geschaffen, die sich durch ihre Sauberkeit

auffallend von den russischen Nachbarorten unterscheiden. Das

Russisches Notizbuch 825

ist nicht etwa ein deutscher Chauvinismus. der mich diese Fest- stellung machen läßt: ich hörte vielmehr diese Tatsache von den Bewohnern der umliegenden russischen Dörfer selbst betont. die mit einem Gemisch aus Bewunderung und Neid von den ungleich besseren Lebensbedingungen in der deutschen Arbeits- kommune erzählen. Etwas herablassend und doch mit stiller Anerkennung pflegt der Russe diese ihm fremdartige Tätigkeit und Liebe zur Ordnung in die Worte zusammenzufassen: sordnungsliebend und akkurat, wie ein Deutscher.

Einige Namen der von deutschen (und wohl auch schweizer) Kolonisten gegründeten Dörfer und Städtchen: Schaffhausen, Glarus. Basel, Zürich. Soloturn. Zug. Luzern. Obermönch, Uhrbach, Mannheim. Strallburg. Oberdorf. Erlenbach.

Vor dem Sowjethaus empfing uns der zweite Vorsitzende des Sowjets. Friedrich Lederer. Ihm danke ıch die folgenden Mitteilungen. Wieder gebe ich sie so flüchtig, so zusammen- hanglos, wie ich sie bekommen habe, nur als Andeutungspunkte. die vielleicht ein ganz klein wenig über die wirklichen Ver- hältnisse zu orientieren vermögen. Kaufleute wurden enteignet. Privateigentum ist noch nicht abgeschafft. In Marxstadt: eine Garnison mit zweı Regimentern (eins reguläre Truppen, das andere ein Arbeitsregiment). Nur Deutsche. 4000 Mann bilden eın Regiment.

Die Bauern haben den Grolgrundbesitz, ohne das betreffende Dekret der Sowjetregierung abzuwarten, enteignet.

Viele Großgrundbesitzer und ihre Söhne arbeiten jetzt in landwirtschaftlichen Abteilungen oder im Heere mit.

In Marxstadt: eine. Fabrik für Herstellung landwirtschaft- licher Maschinen beschäftigt bis zu 380 Arbeitern. Es herrscht Arbeitermangel. Die Fabrik ist sequestriert und wird voraus- sichtlich der »Arbeitskommune des Gebietes der Wolga- Deutschen« unterstellt werden.

Rationierung der Lebensmittel wie folgt: pro Monat 30 Pfund Mehl. Schwerarbeiter. erste Kategorie. 45

826 er Wilhelm Herzog

Pfund Mehl (sehr schönes Weıißmehl), 1⁄4 Pfund Fleisch pro Tag.

Alle Arbeiter haben meist ihr eigenes Vieh (Schweine, Hühner. sogar Pferde).

Es gibt 10 professionelle Verbände (Gewerkschaften), darunter: Metallarbeiter: Sowjetsbeamte und - angestellte: Bau- arbeiter; —Mühlenarbeiter: Lederarbeiter und Schuhmacher. Schneider. | |

Jeder Bürger erhält 10 Arschın pro Kopf auf 1⁄2 Jahr. darunter Tuch und Wäsche. Schuhversorgung sehr schlecht.

Lebensmittelpreise:

ın Marxstadt ın Moskau Fleisch. 1 Pfund.. 20 Rubel 1000 - 1400 Rubel Eier, 10 Stück .... 800 1500—1600 Bufer, 1 Pfund .. 1000 2700

Milch (10 Teegläser) 180 (2 Teegläser) 250

Marxstadt hat 8 Schulen und 3200 schulpflichtige Kinder. Darunter eine Schule zweiter Stufe für Russen und eme Schule zweiter Stufe für Deutsche. Mit den Schulen ist es schlecht bestellt, denn die Lehrer sind zum größten Teil mobilisiert.

Die Grofbauern haben noch 100 Dessjatin (1 Dess. = weniger als ein Hektar) bis 60 Pferde, 10 Kühe, eine Menge Rinder und Schweine. Die Großbauern sind meistens Meno- niten. Der Bauer hat durch Sowjetverordnung 4 Dessjatin pro Kopf bekommen. |

Etwa 50 der größten Grundbesitzer wurden völlig enteignet. Sie wurden von Haus und Hof vertrieben. Die meisten sind geflüchtet.

J etzt liefert die Arbeitskommune des Gebietes der Wolga- Deutschen 12 Millionen Pud Frucht, Korn, Hafer ab.

Denikin und Koltschak waren in bedrohlicher Nähe, sind aber nicht ins Gebiet hineingekommen. Jetzt hat die Arbeits- kommune 6000 bis 7000 Mann Truppen, wovon zwei Kom-

Russisches Notizbuch 827

pagnıen, 1000 Mann, kürzlich an die polnische Front geschickt wurden.

Alle Mähmaschinen sind sequestriert und werden von der Landabteilung der Sowjets der Arbeitskommune verteilt.

Die kommunistische Partei hat in Marxstadt etwa 250, im ganzen Gebiet 900 Mitglieder. Jede Woche findet ein Meeting statt.

Gegen Abend veranstaltete der Sowjet von Marxstadt eine große Versammlung unter freiem Himmel. Arbeiter, Arbeiterinnen und alle Rotarmisten. die in Marxstadt in Garnison liegen. nahmen daran teil. Von einer großen Tribüne herunter sprachen ein englischer Genosse, ein Delegierter der Shop Stewards. dann ein Vertreter der deutschen Syndikalisten, Genosse Sturm und ıch.

In kurzen Zügen versuchten wır den ın dıese Wolga- steppen verpflanzten Deutschen die gegenwärtige politische Situation zu veranschaulichen. Man konnte ihnen nichts Gutes berichten. Die Ermordung Karl Liebknechts. Rosa Luxem- burgs. Kurt Eisners, Gustav Landauers, Eugen Levinds, an die ich erinnerte, und die Nachrichten über den Sieg der Gegen- revolution, lösten Rufe des Abscheus und der Empörung aus.

Begeistert sangen alle am Schluß der Versammlung die Verse der Internationale, zu denen die Kapelle der Rotarmisten die Musik machte.

Darauf eine große Parade aller Truppen auf den großen freien Felde. Sie machte einen außerordentlich disziplinierten Eindruck. Nachts um ein Uhr fahren wır auf einem Tender zurück zum Schiff.

3. Juni 1920. Früh 9 Uhr in Saratoff. Es. ist sehr heiß während aller dieser Wolga-Fahrten. Gegen Mittag allein vom Schiff in die Stadt. Ich treffe einen Balten, der seit 1917 in Saratoff lebt. War vorher in England. Er führt mich durch

verhältnismäßig saubere Straßen dieser an Tanger erinnernden 23

828 E Wilhelm Herzog

Stadt. Er erzählt, dał unter anderen viele deutsche Groß- kaufleute (Schmidt, Bender u. a.) enteignet und ihre Häuser beschlagnahmt wurden. Er führt mich in einen solchen »Bourjuiss-Palast wie er sagt, »den nur ein einziger bewohnt habe«. Jetzt spielen dort Kinder von acht bis vierzehn Jahren. Alle diese Paläste der Kapitalisten sind in Kinderheime umgewandelt. Eine sehr freundliche Lehrerin führt uns durch die Unterrichts- und Schlafzimmer. Ganz sauber. Kinder sehen wohlgenährt aus.

Nebenan in das Haus des Volksgerichts. Keine Sıtzung. Vorm Eintri@ in einen sehr schönen Park treffe ich Russel und Mrs. Harrison. Mit ihnen auf den Markt. Der asiatisch- tatarısche Einfluß überall stark fühlbar. Saratoff, eine äußerst lebendige, dem Orient schon ganz nahe Stadt.

Im Bolschewismus mischt sich Fanatismus der Idee. rücksichtsloser Wille. Wort Tat werden zu lassen, mit gläubiger Inbrunst. mit jüdischem Geist und kühnster Unter- nehmungslust. Kluger Wirklichkeitssinn mit asiatischer. ta- tarischer Feindschaft gegen das Europaertum. Feindschaft selbst gegen seine Vorzüge. seine Reinlichkeit. gegen seinen Ordnungs- sinn. gegen seinen Komfort, kurz gegen die westliche Zivilisation. Zum Teil wurzelt auch hier der Hal gegen das Bürgertum an sich. Er wurde Tausenden zum Evangelium. |

Der Markt von Saratoff bietet ein sehr buntes Bild. Eine ganz phantastısche Welt tut sich auf: ein verwirrender Wechsel von Farben, zudringlicher, penetranter Gerüche, reiz- voller und abstoßender Figuren. Wir kauften uns zwei Gläser mit Kompof für je 250 Rubel. Es sah nicht übel aus und schmeckte irgendwie nach Ananas. Wir setzten uns auf die Bordschwelle eines Troſtoirs auf dem Markt und löffelten die Gläser leer. Mehrfach wurden wir unterbrochen von Händlern, die uns die Gläser mit oder ohne abzukaufen wünschten. Es muß ein köstlicher Anblick gewesen sein, uns so sitzen zu sehen: in der grellen Sonne, umgeben von schachernden Schleich-

Russisches Notizbuch | 829

händlern, zerlumpten Männern, mit falschen Edelsteinen heraus- geputzten Frauen und Mädchen und entsetzlich schmutzigen Kindern. Sie boten alles feil, was man sich nur wünschen konnte. Stoffe. Schuhe. Blusen. Kleider. Silberzeug. Schmuck- stücke. Kopftücher, Shawls, Spitzen, Bänder, Blumen, Bücher. Bilder. Noten, Nippes. Schnickschnack und allen Kitsch der letzten Jahrzebnte. Darunter zuweilen ein wertvolles ‘Stück. An Lebensmitteln kann man kaufen: Milch, Bufer, Hühner, Fische, Käse, Brot, vom blondesten, das wır ın Deutschland nie zu sehen bekommen, und ganz helles Weizenmehl. Selbst Seife ist vorhanden. Halbwüchsige Buben bieten irgendwo gestohlene Zigareſten feil und legen dadurch ihren Grundstock zu einem Millionenvermögen ın Sowjet-Rubelscheinen. Gegen dieses Speku- lantentum ist selbst die Außerordentliche Kommission machtlos.

Abends 8 Uhr zu einem Meeting ins Sowjethaus. Großes vierrangiges Theater. Nicht ohne verblichenen Glanz. Auf der Bühne eine große Kapelle, die die Internationale into- niert. Dann die üblichen Begrüßungsreden. Als erster von den englischen Delegierten spricht Skinner, ein alter Gewerk- schaftsbonze. der sicherlich mehr vom Whisky, als vom Kommunismus versteht; ein Legien drien Ranges. Das gute, abnungslose Proletariat von Saratoff keine Idee mit diesem Manne verbindend begrüßt ihn mit einem zehnminutigen Beifallsjubel. Begeisterung ist fast immer ein Miſcverständnis.

Illusionen werden wachgerufen. Die Enttäuschung der revolutionären Arbeiter über diese Trade Unions Beamten kann furchtbar sein. Aber warum klärt niemand die russische Ar- beiterschaft auf. Es erscheint mir falsch, eie im Glauben zu lassen. diese Engländer seien Kommunisten oder Revolutionäre. Später wırd man über Verrat der englischen Arbeiterklasse jammern, wo heute bereits erkennbar ist, welch opportunistisch- reformistisch-scheidemännischen Geistes diese Führer sind, die sich in Sowjetrußland als revolutionäre Helden vorkommen, während sie in London wohlgeachtete Bürger sind.

830 Wilhelm Herzog

——— ³ —— m m

4. Juni 1920.

Nachts 12 Uhr von Saratoff mit der Bahn zurück nach Moskau.

Vorurteile eines Europäers in Sowjetrufland. Bertrand Russell empfindet sie sehr stark. Seine Abneigung gegen jeden Militarismus steigert sich noch. Den Mangel an Organisation des täglichen Lebens. die geringe Fähigkeit disponieren zu können, das Ungezügelte, Zeit- und Maflose, das Extreme sieht er als asıatısch-tatarısch an im Gegensatz zur Zivilisation des Westens. Wir werden diese bürgerliche Zivilisation aber vielleicht von Grund aus zerstören müssen, wollen wir alle ihre Entartungen beseitigen. Mir scheint, auch er geht ı in seinem Urteil von Beobachtungen aus, die er an einzelnen Dingen und Personen machte, deren unangenehme und widerwärtige Eigenschaften noch in der bürgerlichen Gesellschaft wurzeln. Es ist der Abfall des Zersetzungsprozesses, in dem sich die Gesellschaft von heute befindet. Die alte »Kulture stirbt; eine neue hat sich noch nicht bilden können. Nur ganz schüchterne Ansätze sind vorhanden. Und viele der Neuerer haben sich von der Erbschaft der alten Kultur noch nicht frei machen können. Zu wenige sind noch mit dem wahren Geist des Kommunismus erfüllt! Kommunismus, Errichtung einer neuen Gemeinschaft. die Erneuerung der Welt ist nicht möglich ohne vorherige Reinigung, Läuterung der einzelnen Menschen. So denken die ethischen Kommunisten, ohne die aus der materialistischen Geschichtsauffassung dagegen sprechenden Argu- mente zu berücksichtigen.

Der allzugroße Beamtenstaat der städtischen, ländlichen und Gouvernementssowjets erzeugt eine neue Bürokratie, die nıcht weniger schwerfällig. nicht weniger pedantısch, nıcht weniger egoistisch, nicht weniger engherzig. nicht weniger an- maßend arbeitet. wie die alte. Nichts Verwunderliches. Denn wie sollten sich die Menschen in dieser kurzen Übergangs- periode verändert haben? Nur bei Einzelnen hat sich zweifellos

Russisches Notizbuch 831

eine innere Umwandlung vollzogen. Die wirkliche Erneuerung des kleinen, alltäglichen Lebens wırd jedoch erst von der jungen Generation kommen ım Kampf gegen die alte, die auf allen Gebieten belastet ist mit der Erbschaft der bürger- lichen Gesellschaft: mit allen Übeln ihrer Korruption, der Trägheit und Unhöflichkeit ihrer Herzen, mit ihren Gesinnungen, ihrer Klatschsucht, ja mit ihren Vorurteilen auf moralischem, erotischem. sexuellem Gebiet. Die jetzt heranwachsende. empor- kommende Generation von Jungen und Mädchen, befreit von den Fesseln der bürgerlichen Schule, nıcht mehr unter dem Einfluß der Kirche und den konventionellen Lügen der Ge- sellschaft, wird sich selbst erst befähigen müssen, die neue Welt aufzubauen und ın allen ıhren Teilen mit dem Geiste des Kommunismus, der befreiten Menschheit, zu erfüllen. Von der jetzt herrschenden Generation ist diese völlige Umwälzung nicht zu erwarten, soviel einzelne Tausende revolutionärer "Kämpfer die alte Gesellschaft abgestoßen, ihre Tafeln zerbrochen haben. Sie sind es in Wahrheit allein, die der J ugend als Pioniere vorangehen, ihr als symbolische un der neuen Welt voranleuchten. 2. 8

Ich lese wieder Lenins »Staat und R Ein großes

Werk wire zu schreiben: Von Marx bis Lenin. Aber wer könnte das? Vielleicht allein Bucharin.

| Lenin zitiert in seiner Schrift den grundlegenden Satz von

Engels: -Der Staat ist weder die Wirklichkeit der sittlichen

Idee. noch das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft. Wie

Hegel behauptet, er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft

auf bestimmter Entwickelungsstufe.«

Ferner Engels: »In einer demokratischen Republik übt der Reichtum seine Macht indirekt. aber um so sicherer aus. (Wie auf die deutsche Stinnes-Republik gemünzt, aber vor

sechzig J ahren schon geschrieben).

Lenin über den - freien Volksstaat«, die landläufige Losung der deutschen Sozialdemokraten der siebziger J ahre:

832 o Wilhelm Herzog

Sie birgt, sagt er, keinerlei politischen Inhalt, abgeschen von der kleinbürgerlichen schwülstigen Umschreibung des Wesens der Demokratie, in sich. Engels ließ die Losung aus agitatorischen Gründen »zeitweilige gelten . Diese Losung. schreibt Lenin weiter. war aber opportunistisch, denn sie bedeutete nicht nur eine Schönfärbung der bürgerlichen Demokratie, sondern brachte auch eın mangelndes Verständnis für die sozialistische Kritik jedweden Staates zum Ausdruck. Wir treten unter dem Kapitalismus für die demokratische Republik als die für das Proletariat beste Staatsform ein. aber wir dürfen nicht vergessen, daß auch in der demokratischen bürgerlichen Republik Lohnsklaverei das Los des Volkes ist. Ferner: Jeder Staat ist - eine besondere Repressionsgewalt« gegen die unterdrückte Klasse. Es ist also jeder Staat unfrei und kein Volksstaat. Marx und Engels haben dies wiederholt ihren Parteigenossen in den siebziger Jahren auseinandergesetzt. Engels Ausführungen über das Absterben des Staates sind, wie Lenin von neuem feststellt, nicht nur gegen die Anarchisten, sondern ebenso gegen die Opportunisten gerichtet. »So wird die große revolutionäre Lehre unmerklich dem herrschenden Pfahlbürgertum angepaßt. Die Folgerungen gegen die Anarchisten wurden tausendmal wiederholt, verflacht, in die Köpfe in einer recht vereinfachten Form eingehämmert und erreichten eine Festigung des Vorurteils. Die Schlußfolgerungen gegen dıe Opportunisten wurden dagegen vertuscht und vergessen“. Engels will die ganze Staatsmaschine in ein Museum von Altertümern. neben das Spinnrad und die bronzene Axt. versetzen. Und Lenin zitiert jene großartigen Sätze von Engels, die wegen ihrer unumstößlichen Wahrheit und der Schärfe ihrer Erkenntnis ein unvergängliches Vermächtnis bleiben werden. Das Vermächtnis eines Propheten der Weltrevolution! Ich kann mich nicht enthalten, diese Worte Engels hierher- zusetzen. So oft man sie liest, immer wieder erscheinen sie einem als die Quintessenz aller revolutionären Theorie:

Russisches Notizbuch 833

„Der Staat ist also nicht von Ewigkeit her. Es hat Gesell- schaften gegeben, die ohne ihn fertig wurden, die von Staat und Staatsgewalt keine Ahnung haften. Auf einer bestimmten Stufe der ökonomischen Entwicklung, die mit Spaltung der Gesellschaft ın Klassen notwendig verbunden war, wurde durch diese Spaltung der Staat eine Notwendigkeit. Wir nähern uns jetzt mit raschen Schriften einer Entwicklungsstufe der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives Hindernis der Produktion wird. Sie werden fallen. ebenso unvermeidlich, wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins. Museum der Altertümer. neben das Spinnrad und dıe bronzene Axt.

5. Juni 1920.

Wir fahren durch Tambow, Koslow und sollen früh 8 Uhr in Moskau sein. Also von Saratoff bis Moskau in 32 Stunden. Bädeker nennt 1912 als Reisezeit für diese Strecke 21 Stunden. Nach sechsjährigem Krieg und völliger Verwüstung der Wirtschaft des Landes eine sehr beachtenswerte Leistung. Der Fahrpreis betrug 1912 nach Bädeker 19 Rubel.

Keine Uhr auf den Bahnhöfen, die wir passieren, geht. Oberflächliche Europäer un] mit ıhrem Urteil Leichtfertige bekommen Veranlassung. Kritik an einer solchen Schlamperei. wie überhaupt an dem Fehlen jeder „Ordnung“. zu üben. Die kurzsichtigen Toren sollten wissen, daß alle Materialien, auch die kleinsten Instrumente, fehlen, die zur Reparatur notwendig wären.

In der Nacht Gespräch mit Losowsky, der mitwirkt, den englischen Delegierten Williams. den Vertreter der Transport-

arbeiter, ein wenig zu »interviewen«. Eine englische Revolution,

834 Wilhelm Herzog

äußert Williams, ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Sie sei abhängig von der europäischen Entwicklung und den ökonomischen Krisen ın England. Ich fragte: sind die Arbeitermassen radikaler als die Führer der Delegation? Antwort: die Führer werden nur von einer kleinen Schicht von Funktionären gewählt. Die große Mehrzahl, die Masse sei indifferent. lange nicht so radikal als die Führer (?). Einen Metallarbeiterverband gibt es in England nicht. Er zerfällt in 70 bis 80 Einzelgewerkschaften. (Gießer, Messing-. Kupfer- Schmiede- Arbeiter usw.)

Über die Gewinnung und Beförderung von Naphtha aus Astrachan und Nishnij-Nowgorod empfingen wir auf Grund einer Unterredung mit Swerdlow, dem Stellvertreter Krassıns, des Kommissars für Verkehrsmittel, folgende Angaben:

In diesem Jahre wurden bereits 400 000 Pud abgeliefert. Man erwartet, daß monatlich 30 Millionen Pud Naphtha für ganz Rußland geliefert werden können, auf marıtımem Wege.

Von Benzin während der ganzen Saison (fünf Monate): 8%, Millionen Pud.

Von Naphtha für die Saison (Mie April bis September) 120 Millionen Pud. 1907 (die letzte Statistik) warde an Naphtha in dem gleichen Zeitraum (Mitte April bis September) 253 Millionen Pud abgeliefert.

Wir haben zur Verfügung, erklärt Swerdlow, für die Wolga 104 Millionen Pud Tonnage. Spezial-Dampfschiffe für Naphtha haben 50. Millionen Pud Tonnage. Das übrige an Tonnage wird verwendet für Ladungen von Baumwolle (aus Turkestan), Holz und Getreide aus den W olgaländern.

20% von den jetzt nicht brauchbaren Schiffen werden in kurzer Zeit repariert und verwendbar sein.

Die Tonnage der einzelnen Wolgaschiffe schwankt zwischen 10000 bıs 650 000 Pud.

Losowsky rät mır, wenn. wir nach Moskau zurückgekehrt sind, mich mit dem Zentralbüro für Statistik (Zentralnoje

Russisches Notizbuch 835

Statistischeskoje Upravlenie) mit dem Kameraden Popow in Verbindung zu setzen. Dort würde ich die genauen Daten für die Gewinnung der wichtigsten Produkte auf Grund der Statistiken 1913 und 1919 erhalten. | Ich will mich bemühen, diese Ziffern noch zu erhalten. Im Gespräch mit Losowsky ın seinem Coupe: er erzählt, daß der Menschewik Zeretelli, früheres Mitglied des Kabınefts Kerenski, jetzt Minister in Grusien (Georgien) ist. Er war in Paris mit Clemenceau zusammen. Vor kurzem wurde in Baku die Sowjetrepublik ausgerufen ! Pünktlich um 8 Uhr morgens treffen wir in Moskau ein. Müssen aber bis 11 Uhr im Zuge warten. Keine Autos. Unterdessen Gespräch mit dem deutschen Genossen Sturm und dem englischen Genossen Tanner über die syndikalistische Bewegung in England. Die Shop Stewards sind für »direkte industrielle Aktion. Antiparlamentarier. Sie sind eine große Macht geworden. Etwa 500000 Arbeiter wählen Shop Stewards.

« « k

Mittags 722 Uhr schickt mir Radek sein Auto, das mich in die III. Internationale fährt. Er räumt, ordnet Briefe. Manuskripte. sortiert Bücher. Zeitschriften und. Zeitungen schimpft auf die Hilfskräfte. Bibliothek der III. Internationale soll. endlich eingerichtet werden. Spät nachmittag mit Radek zusammen ins Delovoi Dvor. Mit dem amerikanischen Genossen Bilan Gespräch über den Kommunismus in Amerika. Die Kommunisten sind nach den neuesten Meldungen aus Amerika wieder für legal erklärt.

Abends um 7 Uhr mit Radek, seiner Frau und ihrer Freundin in seine Sommer wohnung nach Tarassowka gefahren. Das ist ein kleines Dorf mit einer Reihe bürgerlicher Landhäuser, schön gelegen inmiſten großer Gärten. Sehr verschieden eingerichtet, manche äußerst einfach, wie bei uns auf dem Lande, gute Bauernhäuser, andere wieder nach westeuropäischem

834 Wilhelm Herzog

äußert Williams, ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Sie sei abhängig von der europäischen Entwicklung und den ökonomischen Krisen ın England. Ich fragte: sind die Arbeitermassen radikaler als die Führer der Delegation? Antwort: die Führer werden nur von einer kleinen Schicht von Funktionären gewählt. Die große Mehrzahl, die Masse sei indifferent, lange nicht so radıkal als die Führer (?). Einen Metallarbeiterverband gibt es in England nicht. Er zerfällt in 70 bis 80 Einzelgewerkschaften. (Gießer, Messing-. Kupfer-. Schmiede- Arbeiter usw.)

Uber die Gewinnung und Beförderung von Naphtha aus Astrachan und Nishnij- Nowgorod empfingen wir auf Grund einer Unterredung mit Swerdlow. dem Stellvertreter Krassins, des Kommissars für Verkehrsmittel, folgende Angaben:

In diesem Jahre wurden bereits 400 000 Pud abgeliefert. Man erwartet, daß monatlich 30 Millionen Pud Naphtha für ganz Rußland geliefert werden können, auf maritimem Wege.

Von Benzin während der ganzen Saison (fünf Monate): 81% Millionen Pud.

Von Naphtha für dıe Saison (Mitte Aprıl bis September) 120 Millionen Pud. 1907 (die letzte Statistik) wurde an Naphtha in dem gleichen Zeitraum (Mifte April bis September) 253 Millionen Pud abgeliefert. l

Wir haben zur Verfügung., erklärt Swerdlow, für die Wolga 104 Millionen Pud Tonnage. Spezial- Dampfschiffe für Naphtha haben 50. Millionen Pud Tonnage. Das übrige an Tonnage wird verwendet für Ladungen von Baumwolle (aus Turkestan), Holz und Getreide aus den W olgaländern.

20% von den jetzt nıcht brauchbaren Schiffen werden in kurzer Zeit repariert und verwendbar sein.

Die Tonnage der einzelnen Wolgaschiffe schwankt zwischen 10000 bıs 650 000 Pud.

Losowsky rät mir, wenn. wir nach Moskau zurückgekehrt sind, mich mit dem Zentralbüro für Statıstik (Zentralnoje

Russisches Notizbuch 835

Statistischeskoje Upravlenie) mit dem Kameraden Popow in Verbindung zu setzen. Dort würde ich die genauen Daten für die Gewinnung der wichtigsten Produkte auf Grund der Statistiken 1913 und 1919 erhalten.

Ich will mich bemühen, diese Ziffern noch zu erhalten.

Im Gespräch mit Losowsky in seinem Coupé: er erzählt, daß der Menschewik Zeretelli, früheres Mitglied des Kabinetts Kerenski, jetzt Minister in Grusien (Georgien) ist. Er war in Paris mit Clemenceau zusammen.

Vor kurzem wurde in Baku die Sowjetrepublik ausgerufen

Pünktlich um 8 Uhr morgens treffen wir in Moskau ein. Müssen aber bis 11 Uhr im Zuge warten. Keine Autos. Unterdessen Gespräch mit dem deutschen Genossen Sturm und dem englischen Genossen Tanner über die syndikalistische Bewegung in England. Die Shop Stewards sind für - direkte industrielle Aktion«, Antiparlamentarier. Sie sind eine große Macht geworden. Etwa 500000 Arbeiter wählen Shop Stewards.

+ * *

Mittags 132 Uhr schickt mir Radek sein Auto, das mich in die III. Internationale fahrt. Er räumt, ordnet Briefe. Manuskripte, sortiert Bücher. Zeitschriften und. Zeitungen schimpft auf die Hilfskräfte. Bibliothek der IIL Internationale soll endlich eingerichtet werden. Spät nachmittag mit Radek zusammen ins Delovoi Dvor. Mit dem amerikanischen Genossen Bilan Gespräch über den Kommunismus in Amerika. Die Kommunisten sind nach den neuesten Meldungen aus Amerika wieder für legal erklärt.

Abends um 7 Uhr mit Radek, seiner Frau und ihrer Freundin in seine Sommerwohnung nach Tarassowka gefahren. Das ıst ein kleines Dorf mit einer Reihe bürgerlicher Landhäuser. schön gelegen inmiften großer Gärten. Sehr verschieden eingerichtet, manche äußerst einfach, wie bei uns auf dem Lande, gute Bauernhäuser, andere wieder nach westeuropäischem

834 Wilhelm Herzog

äußert Williams, ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Sie sei abhängig von der europäischen Entwicklung und den ökonomischen Krisen in England. Ich fragte: sind die Arbeitermassen radikaler als dıe Führer der Delegation? Antwort: die Führer werden nur von einer kleinen Schicht von Funktionären gewählt. Die große Mehrzahl, die Masse sei indifferent., lange nicht so radikal als die Führer (?). Einen Metallarbeiterverband gibt es in England nicht. Er zerfällt in 70 bis 80 Einzelgewerkschaften. (Gießer, Messing-, Kupfer-. Schmiede-Arbeiter usw.)

Über die Gewinnung und Beförderung von Naphtha aus Astrachan und Nishnij- Nowgorod empfingen wir auf Grund einer Unterredung mit Swerdlow, dem Stellvertreter Krassıns, des Kommissars für Verkehrsmittel, folgende Angaben:

In diesem Jahre wurden bereits 400 000 Pud abgeliefert. Man erwartet, daß monatlich 30 Millionen Pud Naphtha für ganz Rußland geliefert werden können, auf maritimem Wege.

Von Benzin während der ganzen Saison (fünf Monate): 81, Millionen Pud.

Von Naphtha für die Saison (Mitte April bis September) 120 Millionen Pud. 1907 (die letzte Statistik) wurde an Naphtha in dem gleichen Zeitraum (Mitte April bis September) 253 Millionen Pud abgeliefert. |

Wir haben zur Verfügung. erklärt Swerdlow. für die Wolga 104 Millionen Pud Tonnage. Spezial-Dampfschiffe für Naphtha haben 50. Millionen Pud Tonnage. Das übrige an Tonnage wird verwendet für Ladungen von Baumwolle (aus Turkestan), Holz und Getreide aus den W olgaländern.

20% von den jetzt nicht brauchbaren Schiffen werden in kurzer Zeit repariert und verwendbar sein.

Die Tonnage der einzelnen Wolgaschiffe schwankt zwischen 10000 bis 650 000 Pud.

Losowsky rät mır, wenn. wir nach Moskau zurückgekehrt sind, mich mit dem Zentralbüro für Statistik (Zentralnoje

Russisches Notizbuch 835

Statistischeskoje Upravlenie) mit dem Kameraden Popow in Verbindung zu setzen. Dort würde ıch dıe genauen Daten für die Gewinnung der wichtigsten Produkte auf Grund der Statistiken 1913 und 1919 erhalten. | Ich will mich bemühen, diese Ziffern noch zu erhalten. Im Gespräch mit Losowsky in seinem Coupé: er erzählt, daß der Menschewik Zeretelli, früheres Mitglied des Kabinefts Kerenski, jetzt Minister in Grusien (Georgien) ist. Er war in Paris mit Clemenceau zusammen. Vor kurzem wurde in Baku die Sowjetrepublik ausgerufen ! Pünktlich um 8 Uhr morgens treffen wir in Moskau ein. Müssen aber bis 11 Uhr im Zuge warten. Keine Autos. Unterdessen Gespräch mit dem deutschen Genossen Sturm und dem englischen Genossen Tanner über die syndikalistische Bewegung in England. Die Shop Stewards sind für, direkte industrielle Aktıon«, Antiparlamentarier. Sie sind eine große Macht geworden. Etwa 500000 Arbeiter wählen Shop Stewards.

* * *

Mittags 7722 Uhr schickt mir Radek sein Auto, das mich in die III. Internationale fährt. Er räumt, ordnet Briefe. Manuskripte, sortiert Bücher, Zeitschriften und. Zeitungen schimpft auf die Hilfskräfte. Bibliothek der IIL Internationale soll endlich eingerichtet werden. Spät nachmittag mit Radek zusammen ins Delovoi Dvor. Mit dem amerikanischen Genossen Bilan Gespräch über den Kommunismus in Amerika. Die Kommunisten sind nach den neuesten Meldungen aus Amerika wieder für legal erklärt.

Abends um 7 Uhr mit Radek, seiner Frau und ihrer Freundin in seine Sommerwohnung nach Tarassowka gefahren. Das ıst ein kleines Dorf mit einer Reihe bürgerlicher Landhäuser, schön gelegen inmiſten großer Gärten. Sehr verschieden eingerichtet, manche äußerst einfach, wie bei uns auf dem Lande, gute Bauernhäuser, andere wieder nach westeuropäischem

836 Wilhelm Herzog

Geschmack oder westeuropäischer Geschmacklosigkeit, in eınem Gemisch von alten wertvollen Möbeln, sehr schönem alten Porzellan und weniger schönen Gegenständen aus dem 19. und 20. J ahrhundert.

Am Samstagabend lange mit Radek unterhalten. Über Lenin, Trotzki. Bucharin, Rykow. Altvater. einem zaristischen Admiral, der sich der kommunistischen Partei zur Verfügung gestellt hate. Uber die gegenwärtigen und künftigen Auf- gaben der III. Internationale. Sie kann, sie muß das auswärtige Amt der Welt werden. Vertreter in allen Ländern, Radek sprüht vor Einfällen. Sein Wesentlichstes ist jedoch: sein reicher innerer Humor. Er sieht das Ernste und Tragischste noch von der heiteren Seite. Ein genialer Pampheletist im Gespräch, wie im Schreiben. Er ist nicht nur witzig. sondern vor allem teuflisch klug. praktisch. Tatsachen liebend. Feind dem unfruchtbar Geistigen. Utopischen. Intellektuellen. Welt- politiker. jesuitisch begabt. Und bei allen Ausschweifungen des Geistes, ein Mensch von selbstverständlicher, oft rührender Güte. Als Politiker ist Macchiavell sein Liebling und Vorbild.

Wir kommen im Laufe der Gespräche immer wieder auf die Persönlichkeit Lenins zurück. Und sein Wesen setzt sich mir von ganz verschiedenen Temperamenten gesehen und dargestellt so zusammen:

Ein ganz in sich geschlossener Mensch; Bauer, in seiner Kühle, in seiner nüchternen Überlegung, was der Augenblick erfordert, in seiner Schlauheit. Ein unermüdlicher Arbeiter. Und als solcher erforschte er alle ihm nur irgendwie zugänglichen Ge- biete des ökonomischen, sozialen und politischen Lebens. Un- beirrbar; Lob und Tadel beeinflussen ihn kaum. Er ist gegen alles Komplizierte, Verstiegene im Denken und im Ausdruck. Klarheit des Gedankens und Allgemeinverständlichkeit der Sprache sind ıhm die ersten Gebote für den revolutionären Agitator in Wort und Schrift. Er sieht die Dinge rund. Und er geht bei allen Streitfragen sofort auf den Kern des

Russisches Notizbuch 837

Problems los. Er greift, er packt es an und löst seinen Kern wie aus einer Nufschale heraus. |

Es gibt zweifellos eine ganze Reihe von Menschen, die ebenso klug. ebenso gebildet, ebenso begabt, ebenso scharfsinnig. ebenso sachlich, ebenso kritisch, ebenso ehrlich, ebenso fleißig. ebenso revolutionär, ebenso konsequent sind wie Lenin. Aber was seine (sröße ausmacht, das ıst gerade die Zusammenfassung aller dieser ungewöhnlichen Eigenschaften, die Harmonie der Stimmen in ihm. Daraus, scheint mir, ergibt sich seine Universalität. seine innere Sicherheit. seine Hilarıtas, seine Sophrosyne. wie die griechischen Philosophen die heitere Ruhe des Weisen nannten.

* * *

Am Sonntag nachmiftag fahren wir zusammen mit einem Freunde Radeks auf einem Boote über den spiegelglaften, tiefen Bach ans andere Ufer. Dort. i In einem Kleinen. geschmack- l vollen Landhaus treffen wir Sadoul. den in Paris unter der Clemenceau-Regierung zum Tode verurteilten französischen Kameraden, mit seiner vor zwei Tagen aus Frankreich eim- troffenen Frau. Der ehemalige Pariser Anwalt und spätere Offizier der französischen Militärmission in Moskau Jacques Sadoul ist ein schön gewachsener. ernster Mann von etwa 35—40 Jahren. Man spricht englisch, russisch, französich, polnisch, deutsch. Und in allen Sprachen wird immer die gleiche Frage nach den deutschen Verhältnissen, nach der Entwicklung der deutschen Revolution gestellt. Alle so verschieden an Ursprung. Kennt- nissen, Erfahrungen fragen zunächst: Woran liegt das langsame Tempo der deutschen revolutionären Bewegung und wie lange wird sich die bürgerliche Gesellschaft noch halten? Man ist trotz allen Zeitungsnachrichten und Artikeln schlecht oder wenig unterrichtet über die objektiven Voraussetzungen der deutschen Verhältnisse. Einige wenige ausgenommen, kennen die Meisten selbst die Parteiverhältnisse in Deutschland nur im groben Umriß,

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7. Juni 1920.

Montag früh es ist 11 Uhr nach Moskauer Zeit also 8 Uhr in Berlin, fahren wir vom Dorf Tarassowka zurück nach Moskau: Radek. seine Frau und ihre Freundin. die Frau eines Genossen, der Kommandant an der Front ist. Zuerst in den Kreml, da Radek noch die angekommenen englischen, französischen und deutschen Zeitungen von seiner W obnung in die III. Internationale mitnehmen will.

Im Delovoi. Dvor den englischen Korrespondenten des Daily Herald, Young, getroffen. Guter, feingeschniſtener Kopf, war früher in der englischen Diplomatie. Seit einigen Jahren Sozialist. Etwas skeptischer Sonderling.

Abends Borodin bei mir. Er geht wahrscheinlich nach dem Osten, nach Turkestan und Afghanistan, die sich immer erfreulicher röter werdend entwickeln. N

Mit ihm spazieren gegangen. dann zu ihm in seine Wohnung in der Sophijskaia Nabereschnaja. In das ehemalige Haus eines Zuckerkönigs, namens Charitonenko. Ein mächtiger, dunkler Bau, mit schönen Räumen im Innern, sehr kostbar und nicht immer geschmacklos eingerichtet, in dem sich jetzt Arbeitsräume einer Abteilung des Auswärtigen Amtes befinden.

Der Besitzer dieses Palastes war augenscheinlich ein typischer Vertreter der russischen Großbourgeoisie. Seine Bibliothek, die unangetastet blieb, und die ich mir ein wenig genauer ansah, ist die Bibliothek eines reichen Mannes in Europa um die Jahrhundertwende. Wenig wissenschaftliche Werke, kaum ein philosophisches Buch. Dafür aber alle Prachtwerke des 19. Jahrhunderts, russische, deutsche, fran- zösische, englische Ausgaben. Sehr kostbar gebunden: die Schriften der Enzyklopädisten. Daneben Balzac. Stendhal, Victor Hugo, Flaubert, George Sand, Gauthier, Beaudelaire, Maupassant, France, Zola. Auch .die deutschen Klassiker ‚sind vorhanden und die populärsten Kunstbücher der letzten

Russisches Notizbuch 839

dreiPig J ahre, von Muthers ‚Geschichte der Malereis bis zu. Meier-Gräfe.

8. J uni 1920.

Vormiſtag Spaziergang allein durch die Stadt. Durch die Warwarka dem Kreml zu. Vor dem Kreml der »Krass- naja plostschad« (der Rote Platz) mit einer phantastischen Kirche. der berühmten Wassilij Blashennije (Basilius - Kathedrale), deren wulstige Zwiebelkuppeln jede in einer anderen Farbe er- strahlt. In den Kreml, durch das Sspaſlkija- Tor. Den russischen Adler. der auf der sehr hohen Turmspitze thront, hat man noch nicht herunterholen können. Zu schwierig. er dem Eingang: das von dem Zaren Alexei Michailovitsch gestiftete Bild des Erlösers. das einstige Palladium des Kreml. Baedeker äußert 1912: -Alexeis Gebot, dal kein Mann bedeckten Hauptes durch das Tor gehen soll, wird heute noch streng befolgt«. Das hat sich geändert. Jetzt rasen die Autos der im Kreml wohnenden Volkskommissare durch das heilige Tor und die früheren »Schnorrer und Verschwörere und jetzigen Reprä- sentanten des russischen Volkes ziehen ihre Mützen höchstens vor.den am Tore stehenden Rotarmisten, die strenge Wache halten. Niemand darf ohne Ausweis, der nur sehr schwer zu bekommen ist, dieses Tor passieren. Vom Kreml herunter hat man eine zauberhafte Aussicht auf Moskau: am Denkmal eines Heruntergeschlagenen. Es stand hier wenn ich nicht irre ein mächtiges Bronzestandbild Alexanders des Zweiten. Die Revolution hat ihn nachträglich geköpft. Es ist nur der Sockel übriggeblieben. Am Großen Palais vorbei, einem sehr festlichen, schönen Gebäude aus den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Nachmittags ging ich zu dem Maler Kandinsky, den ich einmal in München flüchtig kennen gelernt hate. Er ist seit 1914 wieder in Moskau und jetzt Vorsteher einer Sektion im Kommissariat für Volksbildung: der Museumsleitung. Er

840 Wilhelm Herzog

ıst ın der Entwicklung seiner Kunst immer weiter vorge- sehriften. Er malt immer neue und immer schönere Symphonien. deren Fremdartigkeit nicht nur die Bürger verblüfft. Und doch liegt grade diesem Künstler sicherlich nıchts ferner als der Bluff.

Er ging und sähe nur A seinen Weg. den er als visıonärer Künstler einmal erschaut hat. Ich habe mich in den letzten Jahren zu wenig mit den Werken der jüngsten Malerei beschäftigt und ich spüre mein fernes Verhältnis zu ihnen mit großem Bedauern. Aber nıcht zu verkennen bleibt der Ernst und die Leidenschaft eines Künstlers wie Kandinsky für den, der ohne Voreingenommenheit an seine Bilder herantriſt und als stiller Beschauer ohne traditionelle Vorstellungen seine Farbenharmonien auf sich wirken läßt.

Er klagte mir sehr über die Not des Lebens. Sein Ge- halt betrage monatlich 4800 Rubel. Davon könne man nicht leben. Es reiche etwa für zwei bis drei Tage. Seine Schüler häften vorigen Winter buchstäblich gehungert und gefroren. Auch jetzt seı das Leben, obwohl eın wenig besser geworden, noch sehr schwer. Verkauf von Kleidungsstücken helfe‘ über das Schlimmste hinweg. Jedoch streng verboten. Wird be- straft. Die Mutter seiner Frau, keine Kapitalistin. arbeite jetzt auch in einem Amt. Sie bekommt monatlich 3000 Rubel Es ist natürlich unmöglich für sie, davon zu existieren.

Hauptursachen der Krieg. ö

Für ein Bild bekommt er 20 000 Rubel. Das ist an- gesichts der Lebensmiſtelpreise 1 Pfund Brot kostet 550 Rubel. 1 Pfund Salz 1300 Rubel. 1 Pfund Kartoffeln 200 Rubel so gut wie nichts.

Chagall arbeitet in Witebsk. Auch er ist Leiter einer Schule. Er kommt in den nächsten Tagen nach Moskau zu- rück. Kandinsky empfiehlt mir vor allem ein Museum an- zusehen, das die herrlichsten russischen Heiligenbilder enthalten soll. Und das expressionistische Museum!

Russisches Notizbuch 841

9. Juni 1920.

Lenin hat eine neue Arbeit geschrieben: Der Radıkalıs- mus, die Kinderkrankheit des Kommunismuse. Ich erhielt das Manuskript in Schreibmaschinenabschrift vor einigen Tagen und las es vergangene Nacht zu Ende. Lenins Auseinander- setzung mit den sogenannten slinkene Kommunisten entbehrt nicht der Schärfe. Sie ist wieder wie alle seine Arbeiten äußerst klar und anschaulich geschrieben. Die Argumente sind nicht neu, aber geschickt und übersichtlich zusammengestellt. Zweifellos wird diese Schrift Lenins großes Aufsehen erregen. Und sie wird zum erstenmal eine heftige Polemik innerhalb der kommunistischen Parteien selbst hervorrufen. Trotz ein- zelnen Einwänden. die dagegen zu machen wären, scheint mir Lenin ın seiner Grundauffassung vom Parlamentarismus und Antiparlamentarısmus, von den Gewerkschaften und von dem notwendigen Zentralismus in Partei und Verwaltung durchaus im Recht für die nächste Zukunft. Und nur in diesem Sinne d. h. im Hinblick auf die vorrevolutionäre Periode, auf die Zeit vor dem Übergang zur Diktatur, will er ver- standen sein.

Mittags 12 Uhr zu Radek in die III. Internationale. Er teilt mir die ersten Ergebnisse der Reichstagswahlen mit. Sie brachten den Scheidemännern und Demokraten eine schwere Niederlage und der U. S. P. den zu erwartenden Gewinn.

« * *

Eine traurige Kunde, die mich tagelang niederdrückte: Hans Paasche auch er von Neichswehr- Offizieren erschossen. Auf seinem Gut. Ich dachte der Stunden, die er bei mir war. Dieser sonderbare, knabenhafte Schwärmer, dieser tapfere Kämpfer, der unbeirrbar blieb. War er nicht ge- zeichnet? Und mußte er nicht dem Schicksal die von ihm so geliebten und bewunderten größeren Pionieren, Rosa Luxem- burg, Karl Liebknecht, folgen? Sein Feld war kleiner als das ihre. Und er selbst war von viel kleinerem Format. Aber

842 Wilhelm Herzog

in der Ehrlichkeit seiner Überzeugung, in der Leidenschaft seines Willens war dieser edle -Sohn eines jämmerlichen Vaters, war dieser aus einer Bourgeoisfamilie entartete Rebell ihnen ebenbürtig.

Nachmittags 5 Uhr fuhr ich nach einer Verabredung mit Trotzkis Stellvertreter, Sklianski in den „Revwoen- sowjet. Das ist die Abkürzung für Revoluzionnij Woennij Sowjet = Revolutionärer Kriegsrat. Das Trotzkische Kommissariat unterscheidet eich wesentlich von allen anderen Kommissariaten. Schon dem ersten flüchtigen Blick fällt die überraschende Ordnung, Disziplin und Ruhe auf. Und nicht zuletzt die Präzision, mit der überall, in allen Ab- teilungen gearbeitet wird. Nichts von altrussischer Schlam- perei, nichts von revolutionärer - Bohème, kein laisser faire. laisser aller, kein »nıtschewo« sondern ein zielbewußtes Ar- beiten, das den Wert von Zeit und die Ausnutzbarkeit der zur Verfügung stehenden Kräfte und Mittel richtig einzu- schätzen weil. Ein sehr wohltuender Eindruck. Hier klappt alles:; hier herrscht eine straffe revolutionäre Disziplin. die der rein militärischen äußerlich verdammt ähnlich sieht, deren Geist jedoch ihr schärfster Antipode Menschen, und nieht uniformierte Puppen oder Sklaven, belebt. Hier. in Trotzkis Reich. wird eine im geheimen schüchtern gemachte Feststellung plötzlich strahlende Wirklichkeit: Pünktlichkeit. Widerwille gegen Schmutz und Bummelei. Ordnungeliebe sind nichts Gegenrevolutionäires. Und man wünscht nur. daß es diesem energischen Organisator gelingen möge. den von mir schlampigen Revolutionären gegenüber oft zitierten Titel seiner Schrift: Ordnung und Disziplin werden die Sowjet- republik rettene! auch auf anderen Gebieten in die Tat um- zusetzen. Nur der neu entflammte Krieg hat ihn bisher daran gehindert. Seine Tatkraft beschränkte sich nicht auf das Militärwesen. Und da er erkannte, welcher Teil des staatlichen Lebens zunächst am dringlichsten reorganisiert und

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erneuert werden mußte, so konzentrierte er alle ıhm noch übrigbleibenden Kräfte auf die Neugestaltung des Eisenbahn- und Transportwesen... Er vereinigt jetzt in seiner Hand. richtiger in seinem Kopf, die Leitung des Kriegskommissariats mit dem des Kommissarıats für Eisenbahnen. Dieses letztere übernahm er. als Krassin von der Sowjetrepublik nach London geschickt wurde. Wie erfolgreich seine Tätigkeit ist. sobald er an einer Stelle einsetzt, verrate ein Beispiel unter hunderten: früher fuhr man die Strecke Moskau Saratoff. in 39 Stunden. Seit kurzem braucht man nur 22 Stunden.

Meine Unterredung mit Skliansky Trotzky ist an der Front hafte das Resultat, daß ein früherer Generalstabs- ofhizier, jetzt Kommandeur eines Frontabschniftes beauftragt wurde, uns alles Wissenswerte über die Organisation des Kriegskommissariats mitzuteilen und zu zeigen. Ich hoffe, darüber an anderer Stelle ausführlicher berichten zu können.

* * *

Abends gingen wir in ein Kinderkonzert. In einem der Berliner Philharmonie ähnlichen Saal Moskaus. Etwa 2000 Kinder im Alter von 4 bis 12 Jahren lauschten als auf- merksamstes Publikum den sehr lustigen Darbietungen auf der Bühne. In sehnsüchtiger Naivität hingen ihre Blicke an den bunten Bildern, die ihre verwunderten Augen erschauten und entzückten. Als Schauspieler wirkten nur Kinder mit. Man spielte Märchen, so dıe Fabel von der Heuschrecke und der Ameise nach Lafontaine. In reizenden Kostümen, sehr grotesk mit der typischen Begabung der Russen für alles Spielerische. mit ihrer natürlichen Leidenschaft zur Musik, zum Gesang und zum Tanz. Ein sechs- oder siebenjähriges Mädchen, eine süße kleine Ballerina. tanzte leicht und grazıös alleın als Goldfischehen unter dem großen Jubel der tausendköpfigen Kinderschar. Man spielte dann eine Art von Melodrama lein sehr rührendes und moralisches) von einer Hasenfamilie, in die durch den Wolf.

durch den Fuchs, durch den Bär arge Beunruhigung kommt, 4

844 Wilhelm Herzog

bis seich alles schließlich zum guten Ende löst, indem sie sich für gegenseitige Hilfe die moralisch- revolutionäre Nutz- anwendung entscheiden. Jedes Kınd bekommt an einem solchen Abend in der stundenlangen Pause ein Bufterbrot mit Käse oder Wurst, ein Glas Milch und zwei Bonbons.

Donnerstag, den 10. Junı 1920.

Mi@woch nachts, noch nach dem Kinderkonzert. das erst um 12 Uhr endete, mit dem Korrespondenten des »Daily Heralds Young ins Kommissariat des Auswärtigen. Die letzten Radios melden Siege von der polnischen Front.

Rosenberg. einer der Sekretäre Techitscherins, gibt mir eine Nummer des »Petit Parisien«, in der ein Reporter. den man nach Rufland zugelassen hafte. nicht ohne Ungeziefernosheit seine Erlebnisse berichtet, bei denen man eich juckt.

Wir erfahren die letzten Resultate der deutschen Reichs- tagswahlen: 110 Noske- Sozialisten: 45 Demokraten: 80 U. S. P.; 67 Zentrum: 65 Deutschnationale: 61 Stresemänner: 5 Welfen: 2 Kommunisten. Nichts Uberraschendes. Es entspricht ungefähr dem. was man erwarten konnte.

Mittags 12 Uhr in die Ausstellung des revolutionären Kriegsrates. Ein Adjutant Sklianskıs, ein sehr sympathischer junger Otfizier. begleitet uns. Er und der Kommandeur. den wir gestern schon sprachen, erklären sehr anschaulich an der Hand von Karten und Diagrammen den Aufbau der Roten Armee. Es gibt neben der Roten Armee jetzt zwei Arbeits- armeen (im Ural und im Kaukasus), eine driſte wird in Archangelsk gegenwärtig gebildet, vorzüglich für Transport- zwecke. Getreideablieferung. Abholzung der Walder.

Nachmiftage 4 Uhr in das Kommissariat für Volksbildung. Wir geraten in die Theaterabteilung. Es findet gerade eine Sitzung stat. Im Vorzimmer. an dessen Wänden sehr wenig

revolutionäre Bilder. aber viel bürgerlicher Kitsch hängt.

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sıtzen einige Schauspieler. An einem anderen Tisch: Arbeiter mit Mappen unterm Arm, Frauen mit intelligenten, ver- witterten Gesichtern und Sowjetangestellte. Lunatscharsky ist verreist, in Charkow. Wird übermorgen zurückerwartet. Sein Sekretär. Wengrow. stellt sich uns zur Verfügung. Er will uns in den nächsten Tagen alle nur gewünschten Aufklärungen über die Arbeit und die Gliederung des Kommissarıats geben.

Freitag, den 11. Juni.

Um 2 Uhr nachts, gemeinsam mit den englischen Dele- gierten Wallhead. Bonfield. Purcell, Skinner und den Dol- metschern Petrow und Feinberg, von Moskau an die polnische Front. Mit uns ım Zuge fährt der Oberbefehlshaber der Roten Armee, Kamenew.

Wir fahren in einem sehr bequemen Waggon des früheren Eisenbahnpräsidenten dieser Linie. Nach sehr langsamer Fahrt um 6 Uhr nachmiftags Ankunft in Smolensk. Begrüßung auf dem Bahnhof durch Rote Truppen. Parade. Wir werden wıeder einmal photographiert und gefilmt. Es ist peinlich und es widerstrebt einem sehr. als Sehenswürdigkeit behandelt zu werden. Aber es muß sein. sagt man uns.

Nach überstandener Prozedur. kommt zu uns in den Wagen ein Mitglied der politischen Abteilung des revolutionären Kriegsrats. Später erfahre ich: er heißt Smilga, ist ein Freund Trotzkis und einer der tüchtigsten Propagandisten in der Roten Armee. Es entspinnt eich eine interessante Unterhaltung zwischen ihm und den englischen Delegierten. die von seiner Seite nicht ohne Spitzen gegen England geführt wird. In einem kurzen Vortrag. der der Unterhaltung vorausging. führte er ungefähr folgendes über die militärische und politische Situation Sowjet- rufßlands aus: -Der Kampf gegen die Polen ist schwieriger. als gegen Denikin. Koltschak. Judenitsch. Sie haben einen französischen Generalstab. englische Artillerie und amerikanische Patronen. Die englische Delegierte. Bonfield. fragt. ob die

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Rote Armee weiter vordringen werde, wenn dıe Polen an ihre Grenzen zurückgeschlagen sind. Wallhead wirft dazwischen: hoffentlich bis Warschau! Der junge Offizier mit dem hellblonden Spitzbart und den zusammengekniffenen Augen. lächelt: Das ist nicht allein eine politische, sondern auch eine militärische Frage.

Die Rote Armee hat gegen Polen viele einst zaristische Offiziere eingestellt, die sich als geeignet erwiesen. Aber sie hat Tausende nnd Abertausende Proletarier zu Offizieren gemacht. so daß in der Tat eine Armee der Arbeiterklasse gegenwärtig gegen die polnischen Truppen kämpft. Die über- große Mehrzahl: Bauern. Arbeiter, junge Offiziere. Wie in der großen französischen Revolution.

So ist z. B. Kommandeur der Westfront ein junger Offizier von 27 Jahren, der Koltschak besiegt hat. Er heißt Tuchatschewsky, Sohn eines Adligen. Kommunist seit zwei Jahren. |

« « *

Mit Rotarmisten auf dem Bahnhof von Smolensk unter- halten. Fragen nach der politischen Situation in Deutschland und England. Einer trägt auf seiner Brust das Bild Rosa Luxemburgs, umgeben von einer roten Schleife. Ich frage ihn, ob er etwa dem Regiment Rosa Luxemburg, von dessen Existenz man mir erzählte, angehört, Er antwortete: »Nein, ich liebe eie: deshalb trage ich ihr Bild.

Mit Autos vom Bahnhof in die Stadt gefahren. Die Disposition klappt wieder einmal nicht. Wir kommen in einen sehr wenig einladenden Raum, einen fast leeren Laden eines recht wenig sauberen Hauses. Man darf nie vergessen, daß der Widerwille gegen Schmutz nur sehr gering bei den meisten Russen entwickelt ist. Anzustecken fürchtet man sich 33 Mal am Tage und in der Nacht. Die meisten waschen sich wenig und ungern. Wenn eie es vermeiden können, so tun sie es.

Russisches Notizbuch 847

Immer wieder stellt man etwa folgende wehmütige Betrachtungen an:

Den Russen fehlt: Dissen ökonomische Verwendung von Zeit und Kraft, Sınn für Sauberkeit und Ordnung.

Die Russen haben: Fanatismus, Liebe zur Idee, Willen zur Tat, Musik.

Sonnabend, den 12. Juni 1920

Am Nachmittag in ein nahe bei Smolensk gelegenes Kriegs- gefangenen- Lager zu den Polen. Nach einer Minute unseres Eintritts sind wir von Hunderten armer, zerlumpter Soldaten umringt. Viele polnische J uden. Alle Gefangenen berichten das Vorhandensein französischer Offiziere im polnischen Heere. Man habe deutsche Mausergewehre und französische Munition. Einige der Gefangenen sind schon seit mehreren Monaten in dem Lager. Sie klagen sehr. Sie seien ohne Arbeit. Sie wollen arbeiten, dann bekämen sie auch mehr zu essen. Jetzt den ganzen Tag nur: 1 Pfund Brot und eine Wassersuppe.

Revolution in Polen? Bald wahrscheinlich? Solange der Krieg dauere. meinen sie, kaum; nach Niederlage vor dem Friedensschluß, sehr wahrscheinlich, manche sagen: sicher. Die Juden wurden von den Polen schlecht behandelt. Viele Progrome. Aber auch hier schlage man sie. Zurückzuführen auf irgend- einen untergeordneten Burschen. Das darf nicht sein. Oder wir geben uns selbst auf. Wir versprechen ihnen, es zu melden und für die Beseitigung dieses Rohlings zu sorgen. Unver- ständlich bleibt, warum unter ihnen keine Propaganda für den Eintritt in die große Armee getrieben wird.

Smolensk. Mittags. Auf dem Bahnhof. Schmutz, Schmutz, Schmutz. Angst vor Ansteckung dominiert. Überall | Läuse, Wanzen, Ungeziefer aller Art. Auf dem Bahnhof liegen, an die Wand gelehnt. oder auch mifen. auf dem Bahnsteig. Männer, Frauen, Kinder. In Lumpen. zerfetzt. stafi Schuhe Lappen um die Beine und Füße. Meist schlafen sie.

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Oder sie ‚essen oder trınken irgendeine undefinierbare Flüssig- keit. Es gibt an großen Verkaufsständen Brot. Butter. Eier. Wurst. Gurken, Kirschen. Himbeeren zu kaufen. Uberall Fliegen. Insekten. Man juckt sich immerfort und der Reiz hygienischer Sauberkeit konnte hier noch nicht entdeckt und empfunden werden. Weil alles dazu Notwendige fehlt.

Einige Lebensmittelpreise:

1 Pfund Bufer . . 1200—1500 Rubel DE so y aos 0 1 Pfund Brt . . . 150—170

(Auf Karten zu festem Preise kostet ein Pfund Brot 1.50 oder 2 Rubel.)

Jeder Rotarmist und jeder Kriegsbeamte bekommt täglich Pfund Brot. monatlich 4 ½ Pfund Zucker, 15 Pfund Fleisch oder Fisch und 7 ½ Pfund Grütze. Alles dies zu- sammen kostet zu festen Preisen 200 Rubel.

Eine Schachtel Zündhölzer kostet in Smolensk 85 Rubel.

Den nächsten Tag müssen wir bis 2 Uhr miſtags im Wagen verbringen. Infolge der elenden Disposition. Nutzlose Zeit- vergeudung. Wir sehen uns inzwischen die- Front- des Bahn- hofs von Smolensk an. Nachmittags findet eine große Parade der Smolensker Truppen statt: auf einem sehr großen, freien Felde vor der Stadt. Oberbefehlshaber: der junge Tucha- tschewsky. Sofort wird ein Meeting veranstaltet. Wir auf einem Lastwagen, rings um uns eine gewaltige, enthusiastische Menge, umsäumt von den dichten Reihen der Roten Truppen. Wallhead und Purcell sprechen. Sehr revolutionär. Und die Übersetzung ihrer Reden löst oft stürmische Jubelrufe aus, be- sonders als sie die eben eingetroffene Nachricht verkünden Kiew genommen. Die Polen vollständig geschlagen, will das Klatschen der begeisterten Masse kein Ende nehmen. Nach dem Meeting marschieren alle Truppen, dıe roten Arbeiter und. Arbeiterinnen der verschiedenen Gewerkschaften mit ihren roten Fahnen an uns vorüber. Die Truppen Intanterie, Artillerie

Russisches Notizbuch 849

und Kavallerie in strammer Haltung. gut diszipliniert. machen einen vorzüglichen Eindruck. Während des langdauernden Vorbeimarsches spielt die Rote Kapelle mit großer Verve die Internationale.

Tuchatschewsky ein sehr in sich geschlossen scheinender junger Mann mit einem feinen Kopf und weichen, mädchen- haften Gesichtszügen sehr selbstbewußt und entschieden. Er trägt einen, ihm vom Z. I. K. (Zentralnij Ispolnitelnij Komitet d. h. Zentral-Exekutiv- Komitee). geschenkten Säbel mit dem Bilde Karl Marx. Der Sieg von Kiew, erklärt er. ist durch die Kavallerie Budyonoffs errungen worden.

Von der Parade in den Sowjet. Ein großes Meeting in einem sehr schönen weilen Saal, an dessen Wänden Marmor- tafeln mit Inschriften von Karl Marx, Friedrich Engels und anderen revolutionären Sozialisten. Sonne strahlt herein und erhellt den Saal, die Menschen. Meist junge Intellektuelle, Arbeiter und Arbeiterinnen. auch Menschewiki. Zunächst übliche Begrüßung der englischen Delegierten. Der erste russische Redner läßt am Schlusse seiner Ansprache neben der Sowjet-Republik Polen zu voreilig und optimistisch für die Ohren der englischen Delegierten die Sowjet-Reputlik England, leben. Von den Engländern sprechen Bonfield und Skinner. Die Versammlung ist sehr beifallsfreudig. Der alte Skinner spricht witzig von den englischen Bolschewikı, wofür sie drüben gehalten werden. Purcell hält eine sehr radikale, mit großem Enthusiasmus aufgenommene Rede. Dann auf Aufforderung Petrows spreche ich. Der Ankündigung des Vorsitzenden, daß ich als nicht offizieller Delegierter der revolutionären deutschen Arbeiter sprechen werde, folgt minutenlanges Klatschen. Als später die Rede übersetzt wırd, erheben sich alle beı Erwähnung der Namen Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs, Kurt Eisners, Gustav Landauers, Eugen Levinds, und die Kapelle spielt den Trauermarsch. Eine unvergelliche, sehr ergreifende Szene. Es sprechen noch ein Vertreter der Rotarmisten, ein Vertreter

850 Wilhelm Herzog

der Jugend-Organisation der Kommunistischen Partei und ein sehr intelligenter Repräsentant der Menschew¾iki. Der letzte fühlt sich durch eine Äußerung von mir ein wenig gekränkt. Ich hafe gesagt, auch wir in Deutschland haben unsere Menschewiki; bei uns heißen sie nur anders. Der mensche- wistische Redner erhob Einspruch dagegen. daß ich seine Partei mit der der Scheidemann, David, Noske auf eine Stufe stellte. Der Vergleich träfe nicht zu. Ich ließ ihm am Schluß der Versammlung durch den russischen Dolmetscher kurz er- widern: er sei im Irrtum, ich würde unter den deutschen Menschewikı nicht nur die Scheidemänner verstehen. Und wenn es ıhm lieber wäre, mit Kautsky und Hilferding ver- glichen zu werden, und er diesen Vergleich für treffender hielte. so wäre es mir auch recht.

Beim Verlassen des Saales und des Sowjethauses: großer Jubel der Massen.

Vom Sowjethaus in den Generalstab, in das Hauptquartier der Westfront. Während die englischen Delegierten sich über ein soeben eingetroffenes Telegramm Radeks unterhalten, suche ich Tuchatschewsky auf. Er sitzt in einem miftelgroßen Raum, an dessen Winden riesengroße Gseneralstabskarten hängen, an einem Schreibtisch über eine Karte gebeugt. Er spricht einfach und klar über die Aussichten des Krieges gegen Polen. Er hatte kürzlich eine Niederlage zu verzeichnen. Er erklärt sie dadurch, dal infolge der frühzeitigen Bildung der Arbeitsarmee, dıe Rote Armee geschwächt wurde. Keine Reserven standen ihm zur Verfügung. Jetzt aber geht es wieder vorwärts. Man würde es bald merken. Der gute Anfang sei gemacht: durch die heute gemeldete Eroberung von Kiew.

Um 12 Uhr nachts ins Sowjethaus. Bankett. Ansprachen. Dann werden revolutionäre Lieder gesungen von einem kleinen Chor junger Arbeiter.

Zurück zum Bahnhof von Smolensk um 3 Uhr morgens! Dort in der Bahnhofshalle der Russe kennt kein Mal

Russisches Notizbuch 851

an Zeit Vorführung eines Films aus dem Kaukasus, von den dortigen Kämpfen mit den weilen Garden: die Führer der Roten, seltsame Gestalten darunter, die Verwüstung durch Denikin; Smilga als Leiter = revolutionär-militärıschen Propaganda.

13. Juni 1920.

Um 15,5 Uhr morgens Weiterfahrt nach Borissow. Einige Stunden geschlafen. Um 10 Uhr vormittags im Eisenbahn waggon erklart uns der Vorsitzende des politisch- militärischen Rates, Mjassnikow, die Arbeit der Propaganda in der Front-Armee und beim Feinde.

Neuerdings werden Granaten, mit Literatur gefüllt, abge- schossen. Sie enthalten 60 bis 80 Flugblätter. die sich beim Niederfallen der Granate herauslösen und selbst zerstreuen.

Sonntag vormittags. den 13. Juni 1920. Mjasenıkow, der Leiter der politischen Abteilung, und zu- gleich Mitglied des Revolutionär- Militärischen Rats, gibt uns eine ausführliche Darstellung über die Organistion der Politischen Abteilung dee Revolutionären Militärischen Rates der Westfront. Zwei Hauptaufgaben:

L Kontrolle der Kommandeure. soweit sie nicht Kom- munisten sind. Kein Kommandeur kann einen Befehl geben. der nicht vom politischen Kommissar gegen- gezeichnet ist.

Bildung von revolutionären Komitees in den er- oberten Gebieten, die später die Wahlen für den Rat vorzubereiten haben. Bis dahin haben sie allein die Gewalt.

II. Kulturelle und politische Auf klärungsarbeit. Propa- ganda in der Roten Armee, im Kriegsgebiet und beim Feind.

852 Wilhelm Herzog

a) das Kulturelle: Schulen, Klubs, Sport, Kurse für Analphabeten und Mittelschüler, Universi- taten für die Front. Musik. Theater.

b) Politisch- marxistische Arbeit durch Parteischulen (erste, zweite, dritte Stufe), Kurse für politische Agitatoren und Vorbildung für Kommissare.

Propaganda. Im Monat Mai 1920 wurden hergestellt an Flugblättern. Zeitungen. Broschüren, Plakaten usw., 4 388 390 Exemplare. Im Monat Juni täglich: 500 000 Exemplare. Im Monat Mai 1920 wurden hergestellt: Flugblätter. 70 verschiedene. 3745600 Exemplare

Plakate. 3 8 112000 - Broschüren, 24 Br 1192150 x Zeitschriften, 5 a 110000 s Postkarten, 3 = 75000 * Zeitungen. 27 5 153640

Die politische Abteilung der Westfront hat Bewer 800 Mitarbeiter an der Spitze (in Smolensk, dem Haupt- quartier und den einzelnen Frontabschniften).

J ede Kompagnie, jedes Regiment, jedes Bataillon, jede Brigade, jede Armee hat besondere Abteilungen für kulturelle Arbeit.

Die Kompagnie und das Regiment wählen sich selbst ihre Komitees.

Für politisch-kommunistische Arbeit in diesen militärischen Formationen ist allein der Kommissar verantwortlich. Er ar- beitet jedoch mit den Komitees der Kompagnien und Re- gimenter zusammen.

Diese Komitees gründen Klubs. Theater und veranstalten musikalische Aufführungen. Die Mitwirkenden sind Rot- armisten aus den einzelnen Sektionen der Armee. Außerdem aber organısıert die politische Abteilung der gesamten West- front besondere Künstlertruppen für Theater. Musik, Kino

usw. dıe für die ganze Front spielen.

Russisches Notizbuch 853

Professoren der Universitäten. Lehrer, politische Agita- toren und Organisatoren von Klubs, Sportveranstaltungen usw. sendet die Politische Abteilung von Smolensk an die Front und in das Kriegsgebiet: zwecks Abhaltung von Vorlesungen und Kursen. ,

Die politische Arbeit in der Armee und in dem Kriegs- gebiet wird durch Mitglieder der R. K. P. durchgeführt.

Alle Kommissare in der Armee sınd Kommunisten.

Unter den Kommandeuren gibt es viele Nichtkommunisten.

So ıst S. Kamenew, der Oberbefehlshaber der gesamten Roten Armee, keın Kommunist. Er war ein alter zaristischer Regimentskommandeur. Ihm zur Seite als Kommissar steht Kurski, einer der Führer der R. K. P. früherer Volks- kommissar für Justız. `

Tuchatschewski, Kommandeur der Westfront, ist Kommu- nist. Er hat keinen Kommissar neben sich, wird aber von dem Revolutionären-Militärischen Rat, der nur aus Kommunisten besteht, kontrolliert.

Die Disziplin in der Armee.

Eine äuferliche Disziplin existiert nicht. Grußpflicht be- steht nicht. Nur im Dienst. Aber die innerliche Disziplin ist viel stärker als in der früheren zarıstischen Armee.

Genosse Mjassnıkow erzählt, daß er auch ın der alten Armee gedient habe. Er kennt also die Disziplin von beiden. In der zaristischen Armee, äußert er, wurden gegen Offiziere nur selten Todesurteile vollstreckt. In der Roten Armee (haupt- sächlich an der Front) sehr viele. Kommandeure und Kommissare, die bei Durchführung ihrer militärischen Aufgaben Verbrechen begehen, werden schwer bestraft und auch oft zam Tode verurteilt.

Mjassnıkow, in seiner Darstellung fortfahrend, bemerkt: die Deutschen haben vergiftete Gase erfunden. Die Rote Armee versendet vergiftete · Propaganda- Granaten. Es ist eine ganz gewöhnliche Granate, die bei der Explosion Flugblätter in polnischer Sprache verbreitet.

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Die Zentralleitung. deren offizieller Titel lautet »Revo- lutionärer Militärischer Rat der Republike besteht aus sechs Mitgliedern. Ihr Präsident: Trotzki. Mitglieder: Rykow, Smilga, Stalin, Kurski, Kamenew.

Der Chef des politischen Departements bei dem Revo- lutionär-Miliärischen Rate der Republik ist Smilga.

Jeder Revolutionär-Militärische Rat hat seine politische Abteilung. Das Schema ist etwa folgendes:

Zentrale . P. A. Front . P. A. Armee P. A. Division P. A. Bataillon P. A. Regiment | P. A.

* « *

Mittags um 2 Uhr halten wir 17 Werst vor Borrissow. Weiterfahren dürfen wir nicht. Schon Kriegsgebiet. Wir verlassen den Zug und fahren mit Autos weiter bis kurz vor Borissow. Zum Regimentsstab. Junge Offiziere als Führer. Einige davon ehemals zaristische Offiziere. Jetzt schon Kom- munisten. Mehrfach durch polnische Kugeln verwundet. Zur Batterie. Truppen im Wald. Flüchtlinge, Frauen und Kinder. abgerissen, bepackt mit ihrem bißchen Habe. Wir fragen sie nach ihren Erlebnissen. Meist jüdische Polen. Immer wieder trifft man sie, wo Elend und Qual ist. Mit ihren verhärmten Gesichtern, altklug. leidensvoll, mit sehnsüchtigen Augen. Ver- wundet und geduckt und von rührender Hilflosigkeit.

Wir gehen zu Ful zur Batteriestellung. Einige Schüsse werden abgefeuert. Ich bleibe Antimilitarist im Innern. Ob- schon ıch die Notwendigkeit deutlich erkenne, in dieser frühen Periode der zum Kommunismus treibenden Entwicklung auf kein Gewaltmiftel verzichten zu können, das uns zur ersten Stufe einer wirklichen Kultur., des verwirklichten Sozialismus mitzuverhelfen vermag. Ist der Sieg erreichbar ohne diese

Russisches Notizbuch 855

Gewaltmiftel, diese von uns verabscheuten Mordinstrumente? Die alte Klasse hat sie erfunden. Sie gebraucht sie, ihre Macht zu erhalten. Die neue Klasse hat keine Wahl. Sie mul neben all ihren anderen Waffen auch diese der alten Klasse benutzen, will sie. nicht auf die Eroberung ihres Zieles verzichten oder sie immer weiter auf Jahrzehnte hinausschieben.

Wundervoller Tag. Sonne. Die Polen stehen jenseits der Beresina. In Neu-Borissow. Das alte Borissow fast völlig zerstört. Von 14000 Einwohnern sind nur 6000 zurück- geblieben. Wie es unter den Menschen Pechvögel gibt, so offenbar auch unter den Städten und Dörfern. Borissow ist gezeichnet vom Schicksal. Hier verlor 1812 Napoleon beim Übergang über die Beresina 30000 Mann.

Einer von den jungen Offizieren. die uns begleiteten. ist ein Leĝe. Er stammt aus Riga und war Student an der Moskauer Universität. Ein anderer aus bürgerlicher Familie, Sohn eines Professors, stammt aus Odessa, war schon während des Krieges Leutnant. Beide sprechen ein wenig deutsch.

Zurück mit den Autos zum Zug. Fortsetzung der Unter- haltung mit Mjassnıkow, dem Leiter der Politischen Abteilung dieses Frontabschnittes.

Nachts 2 Uhr schlafen gelegt. N Montag. den 14. Juni 1920.

Vormittag, 11 Uhr, Ankunft in Smolensk. Müssen warten kein direkter Zug nach Moskau.

Mittags. 3 Uhr. können wir weiterfahren. Genosse Smilga kommt an die Bahn vor Abfahrt des Zuges und erzählt lächelnd gute Nachrichten: Kiew ganz erobert. West- front stehe ausgezeichnet.

Unterwegs Tolstois Krieg und Friede n. weitergelesen. Eine andere Welt.

Dienstag vormiftags 11 Uhr in Moskau. Vom Bahn- hof in unser Hotel »Delovo Dvore. Die italienischen Dele-

gierten werden erwartet.

856 Wilhelm Herzog

Die Tochter Kropotkins eine junge Frau in hellem Sommerkleid. kennen gelernt. Besuch ihres Vaters in Dmitriew besprochen und für nächste Zeit ın Aussicht genommen. Es geht ihm schlecht, äußert me. Wenig zu essen. Keine Bufer, keine Milch. Und 78 Jahre alt. Die drei Pfund Bufer, die ich aus Reval mitgenommen hatte. will ich ihm bringen.

Mittags, 3 Uhr, mit Frau Kropotkin-Lebedew zu Radek in die III. Internationale.

Abends Banket im Hause des früheren deutschen Klubs, das jetzt von der Moskauer Gewerkschaftszentrale bewohnt wird. Von der Bühne des großen Saals herab sprechen etwa 15 Redner, darunter Serrati. Lunatscharski. Sadoul, Wallhead. Nach den Reden theatralische und musikalische Vorführungen: äußerst witzige Karikaturen und Satiren gegen die Entente und die von ihr ausgehaltenen Generäle. Gegen Judenitsch, Kolt- schak, Denikin. Dann ein sehr übermütiges Pamphlet gegen Pilsudski, der mit Koltschak und Denikin zusammen ein Terzett bildend —, jämmerliche Tänze aufführt und groteske Sprünge machen aul

16. Juni 1920.

Mittags Bucharin bei mir. Ihm Aufsatz über die Front- reise der englischen Delegation diktiert, den er gleich {für die »Prawda« russisch schreibt. Er hafte ungefähr folgenden Wortlaut:

Vier Mitglieder der englischen Delegation Wallhead. Purcell, Skinner, Bonfield —, reisten letzten Donnerstag an die polnische Front. Sie kamen Freitag vormittag nach Smolensk, wo sie am Bahnhof von einer grossen Menge von Arbeitern. Rotarmisten und vom Revolutionskomitee für die Westfront begrüßt wurden.

Am nächsten Tage fand bei Smolensk eine große Parade aller dort in Garnison befindlichen Truppen und aller Arbeiter- organisationen stat. Die Delegierten richteten Ansprachen an die gewaltigen Massen und forderten sie auf, für die Errungen-

Russisches Notizbuch 857

schaften der Revolution gegen die polnischen Barone und ihre Helfershelfer die englischen und französischen Kapi- talisten mit äußerster Energie zu kämpfen. Die englischen Arbeiter werden nach ihrer Rückkehr die Wahrheit über Rußland und Polen erfahren. Sie werden den Kampf auf- nehmen gegen die englische Regierung, um die weitere Unter- stützung Polens durch die Entente unmöglich zu machen. Der englische Genosse Purcell erklärte, daß sie nicht nur die englischen Arbeiter gegen die Unterstützung Polens und für den Frieden mit Rußland aufrufen werden, sondern für den schärfsten Klassenkampf gegen das Kapital und für die Diktatur des Proletariats. Der Genosse Wallhead äußerte sch ähnlich. Er wünschte der Roten Armee schnellen und entscheidenden Sieg über Polen. Der Sieg bei Kiew sei glückverheißend, aber noch nicht genügend. Die Polen müssen so geschlagen werden, daß die polnischen Kommunisten im- stande sind, ıhr Regime ın Warschau zu errichten. Enthusiastisch jubelten die Massen den englischen Delegierten zu und begleiteten sie mit revolutionären Gesängen bis zum Sowjethaus.. Hier wurde die Delegation begrüßt: von dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees der Räte des Smolensker Gouvernements, vom Stadtsowjet, von dem Rat der Gewerk- schaften von Smolensk, von der Parteı der kommunistischen Jugendorganisation ‘und von einem Vertreter der Menscheviki. Letzterer erklärte, daß die russische Arbeiterschaft ein Recht habe. die energische Unterstützung der englischen Arbeiterschaft in ihrem Kampfe gegen die Konterrevolution zu fordern und daß es nicht bei Worten bleiben dürfe. Die Entente habe die Absıcht, aus Rufland eine Kolonie zu machen. Die schmutzig- sten Seiten der Weltgeschichte sind die barbarısche und furchtbare Unterdrückung und Plünderung der englischen Kolonien durch die englische Burgeoisie und andere Völker. Von den englischen Delegierten sprachen: Bonfield. Skinner und Purcell, Skinner erklärte: die englische Arbeiterschaft habe

858 n Wilhelm Herzog die Mauern der Blockade durchlöchert. Dadurch sei es ihnen gelungen. nach Rufland zu kommen. Er glaube. daß diese Bresche hoch bewertet werden mul und dal durch sie auch die russische Delegation nach England kommen könnte, um dort die Erfahrungen der russischen Revolution den eng- lischen Arbeitern zu vermitteln. Die englische Regierung wird der Einreise der russischen Delegation ohne Zweifel Schwierig- keiten entgegenstellen und sie unmöglich zu machen suchen. Aber die englische Arbeiterschaft muß und wird alles tun, um der russischen Delegation alle Freiheiten ın England zu schaffen.

Purcell stellte fest, daß eine englische Delegatıon noch nıe so viel Gelegenheit und Freiheit gehabt habe, alles kennen zu lernen, wie in Rußland. Er hoffe, die Zeit sei nicht fern, wo auch die englischen Arbeiter ıhren russischen Brüdern die Reste des Feudalismus, die Paläste der Könige, die Burgen und Villen der Magnaten werden zeigen können —: umgewandelt in Häuser der Arbeit oder der Erholung fürs Volk.

Sonntagmorgen fuhr die Delegation von Smolensk weiter an die Front. Der Zug hielt 17 Werst vor Borıissow. Mit Autos ganz nahe an die Stadt herangefahren. Besprechungen mit Rotarmisten und Flüchtlingen aus Borissow. Ein Drittel der Stadt, erzählten sie, sei völlig zerstört. Die Polen haben Borissow und die umliegenden Dörfer zum großen Teil aus- geplündert. Betrunkene Offiziere und Soldaten haben viele Mädchen und Frauen vergewaltigt und geschlagen. Die Dele- gierten begrüſten die Rotarmisten. wünschten ihnen baldigen Sieg und sicherten ihnen Unterstützung der organisierten englischen Arbeiterschaft zu.

Von großem Interesse war für die englische Delegation die neue Art der Propaganda beim Feind. Die Rotarmisten schießen pazifistische Granaten ab. Sie enthalten revolutionierende Literatur. Flugblätter und Zeitungen zur Aufklärung der polnischen Truppen.

« *

Russisches Notizbuch 859

Abends 7 Uhr ins Große Theater zu einer Sitzung des Allrussischen Zentral-Exekutivkomitees (W. I. C. K. Wserossij- skaja Zentralnaja Ispolnitelnaja Kommissja). Dieses früher kaiserliche Theater ist ein sehr schönes Gebäude aus den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Sehr reich, sehr vornehm, sehr festlich. Der Zuschauerraum in Weil, Rot und Gold, mit fünf Rängen, falt etwa fünf- tausend Zuschauer. Wo einst die Moskauer Großbourgeoisie auf teuer erkauften Plätzen saß, ın den Logen, ım Parkett, in den Rängen, sitzen heute Arbeiter und Arbeiterinnen, Vertreter der Sowjets von Moskau und den anderen russischen Gouvernements. Und auf der Bühne. an einem mit rotem Tuch bezogenen Tisch. sitzen die Mitglieder des W. I. C. K. (des Allrussischen Zentral- Exekutivkomitees). In der Mitte, als Vorsitzender: der Bauer Kalının, ein Mann zwischen 45 und 50 Jahren, der große Verehrung, vor allem wegen seiner strengen Redlichkeit. genießt. Ein alter Kämpfer der Parteı. Links und rechts von ihm: Kamenew, der Vorsitzende des Moskauer Rats. Bucharin, Radek. Tschitscherin. der diesen Abend eın großes Referat über die auswärtige Politik halten soll. Auf der Bühne, im Hintergrunde und an den Seiten: rote Fahnen und Standarten. Hinter dem Tisch des Präsidiums sitzen auf Bänken oder Stühlen die ansländischen Delegierten, Italiener (Serratı, Graziadei. Bombaccı, Taragona, Paravani), Franzosen (Sadoul, Cachin und Frossart), Amerikaner, Eng- länder, Inder, Perser. Koreaner. der Stellvertreter Tschitscherins, Karachan, Losowsky vom russischen Zentralrat der Gewerk- schaften, und eine große Anzahl von Vertretern der verschiedenen Volkskommissariate.

Die Szene ähnelt auf den ersten Blick eher einem Volks- tribunal. als der Sitzung eines Kongresses, aber bereits nach wenigen Minuten wird dieser primäre Eindruck aufgehoben. Schon durch die Ungezwungenheit, das oft Formlose, ganz und gar Unparlamentarische der ganzen Geschäftsführung. Obschon 25

860 Wilhelm Herzog

eine gewisse revolutionäre Ordnung, ein propagandıstisches Arrangement nicht zu verkennen ist. Wieder muß man auf den Beginn der Sitzung mit revolutionärer Geduld warten. Stat um 7 beginnt sie kurz vor 1⁄2 9 Uhr. Kalinin eröffnet sie.

Er begrüßt zunächst die ausländischen Delegierten. Seinen Worten folgt minutenlanger J ubel des ganzen Hauses. Alle erheben sich von ihren Sitzen. Man spielt die Internationale. ; Alle singen mit. Nach Kalinin spricht ein Genosse aus der Ukraine über die dortige Lage und den polnischen Krieg. Ihm folgt Graziadei, der Sprecher der italienischen Delegation. Der nächste Redner ist der Franzose Cachin, der mit großem rednerischem Talent, nicht ohne gallisch-theatralisches Pathos, die Sünden seiner Partei beichtet und Besserung gelobt. Nach Cachin sprechen drei exotische Genossen, die das neugierige Interesse des ganzen Hauses auf sich ziehen: der Inder Roy, ein Genosse aus Persien und einer aus Korea, Nach jeder Rede, die englisch, französisch, italienisch oder russisch gehalten wird, ist die unverwüstliche Balabanowa bemüht, sie zu über- tragen. Nach den ausländischen Delegierten sprechen: Kamenew und Bucharin. Beide wenden sich scharf gegen die opportunistische Politik der französischen Partei und der Parteien der anderen westlichen Länder. Spät nachts gegen drei Uhr wird die Sitzung vertagt auf morgen abend.

Donnerstag. den 17. Junı 1920.

Vormittags elf Uhr in den Vserossijski Zentralni Sowjet Professionalnich Soiusow (Zentralrat der Gewerkschaften Rul- lands) zu Losowskı, der mich eingeladen hatte, ıhn zu besuchen, damit er mir genauere Aufklärung über die Organisation der russischen Gewerkschaften geben könnte.

Der Zentralrat der Gewerkschaften befindet sich im früheren Elite-Hotel, gegenüber der ehemaligen Reichsbank. Losowski berichtet als Neuestes, was aber für die nächsten Tage noch geheim gehalten werden müsse: die Gründung einer

Russisches Notizbuch | 861

Gewerkschaftsinternationale (zimmerwaldienne). Gestern mit Engländern (W illiams, 5 Purcell), mit Italienern und Russen vorbereitet. Es werde eine Konferenz einberufen werden. die die Aufgabe haben soll, die Vorarbeiten zu leisten für einen provisorischen Kongreß aller auf dem Boden der driſten Internationale stehenden Gewerkschaften der Welt. Ein provisorisches internationales Bureau wurde bereits gegründet mit dem Ziel. diese internationale Konferenz der revolutionären Gewerkschaften vorzubereiten. N

Der Allrussische Zentralrat der Gewerkschaften entspricht ungefähr. was seine Aufgaben und sein Arbeitsfeld betrifft. unserer Zentralkommission der Gewerkschaften. Sein Präsidium bilden dreizehn Mitglieder. Seine Hauptorgane sind: eine täglich erscheinende Zeitung Professionalnoie D vischenie . (Gewerk- schaftsbe wegung · ihr verantwortlicher Redakteur: Losowskı: eine Monatsschrift -Meschdunarodnoie Rabotscheje Dvischenie« „Internationale Arbeiterbewegung ·).

Unter den größten russischen Gewerkschaften stehen die Eisenbahner an der Spitze. Ihr Verband zählt 700000 Mitglieder. Textilarbeiter- Verband 600000 Mitglieder

Metallarbeiter- Verband 500000 8 Angestellten- Verband 450000 2 Die Verwaltung aller dieser Gewerkschaften ıst ın den Händen der Kommunisten. Mit Ausnahme der Gewerkschaft der Angestellten der Banken und Kreditanstalten. Dort ist das Verhältnis 1: 2. ein Kommunist und zwei angeblich Parteilose. Bei dem Zentralkomitee war die Zusammensetzung das letzte Mal wie folgt: von den dreißig Mitgliedern waren siebzehn Kommunisten, fünf Internationalisten, acht gehörten anderen Parteien an oder waren parteilos. Kommunisten und Ignternationalisten haben sich am 20. Dezember 1919 vereinigt. Losowski selbst war früher Internationalit

* « *.

862 Wilhelm Herzog

Am Abend gegen sieben Uhr wieder ins Große Theater: Fortsetzung der gestrigen Sıtzung des W. I. C. K Der Zuschauerraum ist wieder von vielen Tausenden angefüllt. Tschitscherin spricht. Mein freundlicher Übersetzer, ein junger jiddischer Dichter, der Hamlet ins Jıddische übertragen hat, teilt mir die wesentlichsten Äußerungen Techitscherins mit, während er.spricht. Die großangelegte Rede Techitscherins dauert fast drei Stunden. Man hat den Eindruck eines ungewöhnlich sachlichen, sachtreuen Menschen, der selbst die Monotonie nicht scheut, da es nüchterne Tatsachen zu berichten gilt. Nach ihm sprechen Redner der Opposition, der äußersten Linken ın der Parteı, unter anderen Ossinsky.

Während der folgenden Reden in einem der Bühne benachbarten Seitenraum. begegne ich Bucharin. der mich mit Gorki und Zinowiew bekannt macht. Gorki hatte ich mir nicht so groß vorgestellt. Er überragt alle und geht meist mit ein wenig nach vorn geneigtem Oberkörper. einen grollen Schlapphut auf den borstigen Haaren. Wir sprachen über den Verlag der Weltliteratur, dem er jetzt wie er sagt fast alle seine Kräfte widme. Er kommt kaum zum Schreiben. Gorki lebt in Petrograd. Er bat mich. ihn auf der Rückreise zu besuchen. Mit Sınowiew über die politische Situation in Deutschland und die elenden deutschen Parteiverhältnisse gesprochen. Er hat einen sehr ausdrucksvollen Kopf. den Kopf eines sehr geistigen Künstlers, er spricht klar und fließend deutsch. obwohl er behauptet, es nur mit Mühe sprechen zu können. Sehr einfach, sehr schlicht, alle Machenschaften der Staatsmänner und der Parteihäuptlinge durchschauend, durchaus vertraut mit ıhren Intrigen. guter Kenner ihrer Strategie, Skeptiker aus Erfahrung, verwundert er sich über nıchts mehr. Er fragte sehr interessiert, wie sich die unabhängige: sozialistische Arbeiterschaft in ihrer großen Mehrzahl zu der dritten Inter- nationale stelle. ob sie den Anschluß wirklich wolle und wenn ja. Was sie jetzt noch hindere. Ich bemühte mich, ihm äußerst

Russisches Notizbuch 863

sachlich die Aufklärung zu geben, die ich ihm geben konnte. Ich erzählte ıhm u. a. von den Hamburger Genossen. deren große Majorität für den sofortigen Anschluß an die Moskauer drie Internationale sei. Er bat mich, morgen abend in die drifte Internationale zu kommen, wo eine Sitzung des Exekutiv- komitees staftfinden werde.

Über die denkwürdige Versammlung dieses und des voran- gegangenen Abends funkte ich im Kommissariat des Aus- wärtigen nachts nach Deutschland einen Bericht. der natürlich von den offiziellen deutschen Stellen nicht weitergegeben wurde und so nirgends veröffentlicht werden konnte. Dieses Radio vom 17. Juni 1920 lautete folgendermaßen:

Den sıebzehnten Juni. Die vom Allrussischen Zentral- Exekutivkomitee einberufene Session wurde am 16. Junı 1920 abends ım Großen Theater von Moskau durch ıhren Vor- sitzenden Kalinin eröffnet. Vor Eintrit in die Tagesordnung, die unter anderen Referate über die auswärtige Politik, die militärische Lage und die Situation in Mittelasien vorsieht. begrüßte die Versammlung mit großer Begeisterung die aus Italien gestern eingetroffene sozialistische Delegation. darunter Serrati. Bombacei und Graziadei. Nach Kalinin sprach der ukrainische Kommunist Petrowsky, der die Proletarier aller Länder zum Schutze und zu Hilfe Sowjet-Rußlands aufrief. Der nächste Redner, Graziadei. Mitglied des italienischen Parlaments. betonte die beständige Solidarität des italienischen Proletariats mit der revolutionären russischen Arbeiterschaft. Jetzt habe es sie von neuem durch die Tat erwiesen: durch seine Weigerung. Waffen von Italien nach Polen transportieren zu lassen. Dies jedoch sei zu wenig. In nächster Zukunft werde sich die Solidarität ausdrücken durch aktiven Kampf des italienischen Proletariats gegen das bürgerlich- kapitalistische Regime. Es wird vordringen bis zur sozialen Revolution. Dem

Italiener folgte der französische Sozialist Marcel Cachin, der

864 Wilhelm Herzog

die Fehler der französischen sozialistischen Partei eingestand und Verzeihung dafür erbat. Die neuen Überzeugungen, die er Sowjetrußland gewonnen habe, zwingen ıhn, künftig dafür zu wirken, daß die französischen Sozialisten sich nıcht nur mit dem Ausdruck der Sympathie begnügen, sondern das Beispiel Ruflands imitieren werden. Er sang eine Hymne auf Sowjet- Rußland als auf den ersten heroischen Versuch einer rein sozialistischen Republik ohne alle Kompromisse. Die nächsten beiden Redner Kamenew, der Vorsitzende des Moskauer Arbeiter-. Bauern- und Soldatenrates und Bucharin, Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei übten schärfste Kritik an der Haltung Cachins und seiner Gesinnungs- genossen ın Frankreich, Deutschland und England.

Die Sıtzung wurde gestern spät nachts abgebrochen und heute abend fortgesetzt. In einer großen zweistündigen Rede stellte T'schitscherin die auswärtige Politik Rußlands den all- gemeinen politischen W eltzusammenhängen gegenüber. Er unter- strich die vielmals. bewiesenen Friedensbemühungen Sowjet- Ruflands. Eine auswärtige Politik Deutschlands gebe es nicht. Die deutsche Republik bilde gegenwärtig weltpolitisch ein Vacuum. Obwohl sie das größte Interesse häfte, mit Sowjet- Rußland in Verhandlungen zu treten, geschehe von ihrer Seite augenscheinlich aus Furcht vor der Entente und ihrer Ziel- losigkeit heraus nichts. Im Zusammenhang mit der englischen Politik gab Tschitscherın aus dem Inhalt der Verhandlungen zwischen Lloyd George und Krassin die interessante Tatsache bekannt, daß Lloyd George um alle Störungen für den Beginn von Handelsbeziehungen auszuschalten. folgende Bedingungen stelle:

1. keine Intrigen in Persien, Afghanistan und Vorderindien

zu führen.

2. Keinerlei Propanda zu treiben, weil jede Sowjet-

Propaganda einer Kriegsführung gleichwertig sei. 3. Falls Baron Wrangel Krieg aufgebe. müsse er am-

| nestiert werden.

Russisches Notizbuch 865

4. Kein Angriff gegen die Nachbarstaaten.

5. Batum soll unangetastet bleiben. England gestehe dasselbe

für sich. Selbstbestimmung.

Die folgenden Sprecher, Mitglieder des Exekutivkomitees aus den Gouvernements, wandten sich gegen Tichitscherin und seine allzu milde Friedenspolitik. Sie forderten Kampf gegen die kapitalistischen Welträuber. der zu siegreichem Ende geführt werden müsse. Karl Radek, der nach den bolschewistischen Jusqu auboutisten sprach, verteidigte Tschitscherins Politik, indem er ıhr gegenüberstellte: die Kampfbereitschaft der Roten Armee. Der russische Generalissımus Kamenew gab darauf eine genaue sachliche Darstellung der militärischen Lage. Die Sitzung endete mit der Annahme eines Aufrufs an die polnischen Soldaten, den unsinnigen Kampf aufzugeben und sich den russischen Arbeitern und Bauern zu verbrüdern: auf Grund ihrer gemeinsamen proletarischen, Interessen.

866 Wilhelm Herzog

DIE WUT DES HILFERGEDINGES

Ich bin Mitte Mai 1920 nach Moskau gereist. Ohne die Crispiene und Ditt- männer zu fragen. Nur ım Einverständnis mit meinen Hamburger Parteigenossen und auf Einladung in Berlin weilender russischer Kameraden, Vertretern der dritten Internationale. Und mit Wissen von Braß, Geyer, Stoecker, Koenen, Rosenfeld.

Darob Ärger, Neid, Wut am Schiffbauerdamm. Und als ein bürgerlicher Korrespondent der „Frankfurter Zeitung” etwas Falsches meldet, stürzt sich das Hilfergedinge darauf und nagt an dem Knochen herum, den man ihm hingeworfen hat. Was dabei herauskommt an Cekei f, an Geifer, an brüderlicher Liebe und Solidarität, sieht dann in dem Organ der Berliner revolutionären Arbeiter, in der „Freiheit“ die damit unter die Stufe großstädtischer Revolverblätter gesunken ist, so aus:

Kein Unabhängiger in Moskau.

Die „Frankfurter Zeitung“ bringt die Meldung, daß bei der vorbereiten- den Konferenz des geschäftsführenden Ausschusses der Kommunistischen Internationale in Moskau neben Vertretern anderer Länder Cachin und Frossar als Vertreter Frankreichs anwesend gewesen seien, außerdem ein Vertreter des linken Flügels der deutschen Unabhängigen.

Bekanntlich waren Cachın und Frossard zwecks Unterhandlungen über den Anschluß ihrer Partei an die dritte Internationale in Moskau, dagegen sınd Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands noch nicht in Rußland. Es gibt infolgedessen auch keinen Vertreter des „linken Flügels, der an den Sitzungen hätte teilnehmen können.

Die Meldung könnte sich höchstens darauf beziehen, dad Wilhelm Herzog jetzt in Moskau‘ sein Domizil aufgeschlagen hat. Sollte er sich wirklich als Vertreter des linken Flügels der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands bezeichnet haben, so hätte er das ohne jede Berechtigung getan. Denn wir haben Grund zu der Annahme, daß das kurze Gastspiel, das Herzog in unserer Partei gegeben hat, ein für allemal zu Ende ist. Herzog ist kein Vertreter unserer Partei, denn es ist bekannt, daß das Zentralkomitee die Hamburger Parteiorganisation aufgefordert hat, Herzog von der Reichstagskandidatenliste zu streichen, und daß Herzog nach Ein- treffen dieses Briefes in Hamburg schleunigst verduftet ist, um weiteren für ıhn unangenehmen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen.

Dies stand in der Hilferding-Cassirerschen „, Freiheit“ am 28. Juni 1920. Ich werde chronologisch vorgehen. Am 30. Juni erwiderte die „Hamburger Volkszeitung“ der „Freiheit, indem sie ihre Darstellung Verleumdung betitelte. Sie fügte dem lügenreichen Freiheit-Zitat diese Worte an:

Die Wut des Hilfergedinges 867

Wir

Demgegenüber wiederholen wir unsere Feststellung, daß Cenosse Herzog im vollsten Einverständnis mit den in Frage kommenden Instanzen der Hamburger Parteiorganisation vorübergehend nach Rußland gefahren ist. Der in der „Freiheit erwähnte Brief traf erst geraume Zeit später ein. Deshalb ist die Schlußfolgerung, die von der Redaktion der „Freiheit“ daran geknüpft wurde, unzutreffend. Herzog konnte nicht „verduften, um unangenehmen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen“, wegen eines Briefes, der erst nach seiner Abreise beschlossen wurde. Wır bedauern, daß die Leichtfertigkeit der „Freiheit“ dem „Echo“ bereits gestern Gelegen- heit gab, an Stelle notwendiger sachlicher Auseinandersetzungen sich auf das Gebiet persönlicher Stänkereien zu begeben.

bekamen in Moskau erst am 10. Juli das Ferien Geschreibsel

der „Freiheit“ zu sehen.

Am

selben Tage telegraphierte Genosse Radek, der Sekretär der III. Inter-

nationale, der „, Freiheit“:

„Freiheit“, Berlin.

„Freiheit“ vom 28. Juni befaßt sich mit Aufenthalt Cenossen Herzog in Moskau. Halte für meine Pflicht festzustellen, daß Herzog in keiner Weise als Vertreter des linken Flügels der Unabhängigen aufgetreten ist. Zu den Sitzungen des Exekutivkomitees wurde er als Mitglied der Unab- hängigen Sozialdemokratie als Cast eingeladen. Dies erfolgte. weil vir Herzog als einen Cenossen kennen, der eine sichere bürgerliche Stellung als Schriftsteller aufs Spiel gesetzt hat, um der Sache der Arbeiterschaft zu dienen und ihr ehrlich gedient hat. Das Urteil darüber, ob wir richtig dem Genossen Herzog gegenüber gehandelt haben, überlasse ich getrost den deutschen Genossen. Radek.

Mir selbst übergab Genosse Radek zur Veröffentlichung in Deutschland das

folgende

Schreiben:

Moskau, 10. Juli 1920. Werter Genosse Herzog! i

Es hat mich sehr gefreut, daß Sie auf die Anregung einiger russischer Genossen nach Moskau kamen, um sich hier an Ort und Stelle über die Lage in Rußland und die III. Internationale zu orientieren, denn ich hoffe, daß Ihr Aufenthalt der gemeinsamen Sache des russischen und deutschen Proletariats nur dienen kann. Derselben Meinung scheint die Clique zu sein, die nichts mehr als die Wahrheit über Sowjet-Rußland und die Kom-

munistische Internationale fürchtet. Ich wurde von Berlin aus vor Ihnen

‘gewarnt durch mündliche Andeutungen und Behauptungen, denen ich so

wenig Beachtung schenkte, daß ich sie gar nicht dem Exekutivkomitee mitteilte: ich war überzeugt, daß, wenn Ihre „Freunde“ in der U. S. P. irgend welch greifbares Material gegen Ihren moralischen Wert hätten, so würden sie nicht nur uns, sondern der deutschen Öffentlichkeit dies mitteilen. Nun bringt die Hilferdingsche „Freiheit“ vom 28. Juni eine Notiz, die ich dreimal gelesen habe, ohne aus ihr mehr zu erfahren, als daß das Z.K. der U. S. P. D. Ihre Streichung von der Liste der Kandidaten gefordert hat. Ich bin jetzt genötigt, davon das Exekutivkomitee in Kenntnis zu setzen, hoffe aber bestimmt, daß solange das Z.K. der U.S.P.D. es nicht für nötig halten wird, seinen Schritt so zu motivieren, daß es

868

Wilhelm Herzog

klar sein wird, es handle sich nicht um einen Meuchelmordversuch an einem revolutionären Kämpfer, solange werden wir Sie als unseren Gast behandeln.

Mit kommunistischem Gruß Karl Radek.

Weder Brief noch Telegramm Radeks hat die ., Freiheit“ der Herren Hilfer- ding. Cassirer & Co., bis heute gedruckt.

Einer der russischen Kameraden, die mich zur Reise nach Moskau aufgefordert hatten, Genosse Borodin, schrieb der ., Freiheit“ unter dem 12. Juli 1920 den folgen- den Brief, der in der „Roten Fahne” vom 30. Juli und in der „Hamburger Valk«- Zeitung” vom 29. juli unter dem Titel: „Zur Verleumdungspraxis der „Freie“ veröffentlicht wurde. Die ., Freiheit“ hat Borodins Brief ebenso wie Radeks Zuschriften unterschlagen.

Moskau. 12. Juli 1920. Redaktion der „Freiheit“, Berlin.

In der „Freiheit“ vom 28. Juni 1920 las ich eine Notiz darüber, daß Genosse Wilhelm Herzog nach Moskau gekommen sei, dort sein neues Domizil aufgeschlagen habe und daß er sich offiziell als Vertreter des linken Fiügels der U.S.P.D. bezeichnet habe.

Mich hat diese Erklärung um so mehr erstaunt, als ich in erster Linie die Reise des Genossen Herzog nach Rußland verursacht habe. Ich halte

- mich deshalb für verpflichtet, durch dieses Schreiben entsprechend dem

wahren Sachverhalt die Geschichte der Reise des Genossen Herzog Rußland darzustellen.

Im März dieses Jahres bin ich in Begleitung einiger Genossen aus England und den Vereinigten Staaten durch Deutschland nach Rußland gereist. Wir hielten uns einige Zeit in Berlin auf, um uns mit der deut- schen revolutionären Bewegung näher bekannt zu machen. Während unseres Berliner Aufenthaltes kamen wir mit den Vertretern der verschiedenen

Strömungen der deutschen Arbeiterbewegung zusammen. Unter anderen

trafen wir auch die unabhängigen Sozialisten Braß, Stoecker, Koenen, Rosenfeld. In ihrer Gesellschaft schlossen wir Bekanntschaft mit dem Genossen Herzog.

Aus häufigen Gesprächen mit ihm und schon vorher aus seinen Artikeln konnten wir schließen, daß er uns näher stand als die meisten anderen Unabhängigen und daß er in wichtigen Fragen der Taktik, besonders aber in der aktiven Betätigung seiner Partei sich im Gegensatz zur Führung befand. Außerdem haben wir in unseren Gesprächen über die kommu- nistische Ill. Internationale und über den Aufbau Sowjetrußlands uns die Meinung gebildet, daß für Genossen Herzog die beste Orientierung in diesen Fragen an Ort und Stelle in Rußland selbst erfolgen könnte. Und wir schlugen ıhm deshalb vor, auf eigene Faust als Publizist, als Heraus- geber des „Forums“, sich unserer Gruppe anzuschließen und gemeinsam mit uns nach Rußland zu reisen. Ich erinnere mich noch sehr gut der Einwände, die Genosse Herzog gegen die Möglichkeit seiner Reise machte: l. daß er den Hamburger Parteigenossen versprochen habe, die Redaktion ihres Organs zu übernehmen, daß er deshalb nach Hamburg fahren müsse; 2. daß die Paß- und Visumschwierigkeiten nicht leicht überwindbar sein werden.

‚Wider unser Erwarten ließ sich der zweite Einwand in relativ kurzer Zeit erledigen. Und später erfuhr ich, daß es dem Genossen

Die Wut des Hilfergedinges 869

gelungen war, nach Rücksprache mit den Hamburger Parteigenossen ihr Einverständnis für seine Reise nach Rußland zu erzielen und ihm einen Urlaub von einigen Wochen zu gewähren. Er konnte jedoch leider noch nicht mit uns zusammen reisen. Wir gaben der Erwartung Ausdruck, daß er uns so schnell als möglich folgen werde. Dies geschah Mitte Mai. Jede andere Darstellung, die durch Tatsachen nicht erwiesen werden kann.

muß als Klatsch oder Verleumdung bezeichnet werden. M. Borodin.

Am selben Tage, am 12. Juli 1920, sandte ich von Moskau aus der „Freiheit“ dieses Schreiben:

Moskau, den 12. Juli 1920. Redaktion der „Freiheit“, Berlin.

Sie werden hierdurch auf Grund des J Il des Preßgesetzes aufgefordert, die folgende Richtigstellung in der nächsten Nummer Ihrer Zeitung an derselben Stelle, wo Ihre falschen Behauptungen standen, zu veröffentlichen:

J. In der Nummer vom 28. Juni 1920 schreibt die ,F Freiheit“ nach Zitierung einer Nachricht aus der „Frankfurter Zeitung“, daß ein Vertreter des linken Flügels der deutschen Unabhängigen an der vorbereitenden Konferenz des geschäftsführenden Ausschusses der Dritten Internationale teilgenommen habe: „Diese Meldung könne sich höchstens darauf beziehen, daß Wilhelm Herzog jetzt in Moskau sein Domizil aufgeschlagen hat“.

Diese Behauptung ist unwahr. Wahr vielmehr ist, daß ich dem Wunsch einiger russischer Genossen und meinem eigenen Willen gefolgt bin, einige Wochen in Sowjet-Rußland zu leben, um die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse unter der verleumdeten Bolschewistenherrschaft kennen zu lernen.

2. Die „Freiheit schreibt weiter: „Sollte er sich wirklich als Vertreter des linken Flügels der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands be- zeichnet haben, so hätte er es ohne jegliche Berechtigung getan.“

Diese Behauptung, in Form eines Verdachtes gekleidet, ist unwahr. Wahr vielmehr ist, daß ich mich niemals in Moskau als Vertreter des linken Flügels der U. S. P. D. bezeichnet habe. An der Sitzung des Exe- kutivkomitees der Dritten Internationale nahm ich auf Einladung seines Vorsitzenden Sınowiew und seines Sekretärs Radek als Gast teil,

3. Die „Freiheit“ schreibt ferner, es sei „bekannt, daß das Zentral- komitee unserer Partei die Hamburger Parteiorganisation aufgefordert hat, Herzog von der Reichstagskandidatenliste zu streichen und daß Herzog nach Eintreffen dieses Briefes in Hamburg schleunigst verduftet ist, um weiteren für ihn unangenehmen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen‘.

Die ın diesem Satze enthaltenen drei Behauptungen sind unwahr. Wahr vielmehr ist:

a) Es war mir unbekannt (und da die „Freiheit“ vorher nichts bekannt machte, wohl auch der Allgemeinheit), daß das Zentralkomitee irgendeine derartige Aufforderung an die Hamburger Organisation gerichtet hat.

b) Bis zum letzten Tage meines Hamburger Aufenthalts war dort kein Brief des Zentralkomitees eingetroffen, jedenfalls mir kein Sterbenswort davon bekannt.

c) Ich bin den unangenehmen Auseinandersetzungen nicht aus dem Wege gegangen, sondern habe sie zu wiederholten Malen brieflich und

870 Wilhelm Herzog / Die Wut des Hilfergedinges

mündlich immer wieder gefordert. Eine Tatsache, die die Genossen Rosen- feld, Braß, Stoecker, Koenen, Geyer, Däumig werden bestätigen können.

Wilhelm Herzog.

Die „Hamburger Volks-Zeitung vom 29. Juli 1920 schloß den Abdruck meiner Zuschrift, der Zuschriften Radeks und Borodins mit diesen Worten:

„Die Angriffe der „Freiheit“ gegen Genossen Herzog sind erfolgt während seiner Abwesenheit. Sie waren diktiert von der Hoffnung. daß der Moment, wo sich Genosse Herzog nicht zur Wehr setzen kann, der geeignetste ist zur Austragung von Differenzen zwischen Genossen. Dann braucht der Angriff nicht der Wahrheit zu entsprechen. Es bleibt doch etwas hängen.

Solche Kampfmethoden richten sich selbst.“

Ich selbst habe den in der „Freiheit“ sitzenden traurigen Kreaturen, die dieses, Bubenstück verübten, nur diese Notiz gewidmet, die ich noch aus Moskau dem Forum - zur Veröffentlichung sandte: í

Den Jacobsöhnen gesellt sich endlich offen die Hilferdingsche ., Freiheit“. Heim- lich bestanden diese Beziehungen zwischen dem Abschaum der Menschheit, jener verleumderischen Konjunktur-Journaille, und dem Zentralorgan der U.S.P.D, schon längere Zeit. Der wegen seines schändlichen Handwerks oft geohrfeigte Wicht dessen ordinärer Klatsch .alleın auf Originalität Anspruch macht, wurde zum will- kommenen Bundesgenossen des bedrängten Hilferding, des Chefredakteurs der von den Berliner radikalen Arbeitern herausgegebenen ,d Freiheit“.

Dieser Rudolf Hilferding, von Karl Radek bereits im vorigen Jahre als ‚der Mann der halben Wahrheiten und der. ganzen Lügen“ erkannt und gekennzeichnet, ist um es kurz und ein für allemal zu sagen ein bösartiger Verleumder, ein Ehrabschneider, ein kleiner, hinterhältiger Feigling. Will er] noch mehr? Wollen die Berliner unabhängigen Arbeiter, die sich von diesem Elenden ihr Organ ver- sauen lassen, noch mehr? Will das Zentralkomitee, das mich ohne Widerspruch verleumden ließ, noch mehr treffende Kennzeichnungen seines Kopfes, seines Lieb- lings? Gut. Sie sollen ihm werden. Ich werde nicht länger schweigen.

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog Derfflingerstr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Pots dar Berlin / Druck der E. Gundlach A.-G. Bielefeld

DAS FORUM

4. Jahr September 1920 Heft 12

(Abgeschlossen am 24. September 1920)

RUSSISCHES NOTIZBUCH MAI AUGUST 1920

VON WILHELM HERZOG (Siehe Forum 4. Jahrg.. Heft 11.)

Freitag, den 18. Juni 1920.

Nachmittags. 6 Uhr. in die III. Internationale. Sitzung des Exekutivkomitees. Sinowiew leitet sie. Neben ihm: Radek., Bucharin, Balabanowa. Ferner: Serrat, Bombacci. Sadoul. Cachin, Frossard, Graziadei, John Read, Mac Lean, Quelch, Karachan, Marchlewski und mehrere andere ausländische Ge- nossen.

Besprochen wird die Prüfung der Mandate und eine dafür einzusetzende Kommission, ferner. ob zwei Parteien in einem Lande gleichzeitig der III. Internationale angehören können. Es sprechen: Radek, Bucharin, Serrati, Sınowiew.

Sernati verlangt besonders im Hinblick auf die U. S. P. D. Ausschließung aller, die für die Bewilligung der Kriegs- kredite gestimmt haben.

Radek teilt mit, daß das kleine Bureau des Exekutiv- komitees beschlossen habe. da die Zentrale der U. S. P. D. sich noch ımmer nicht endgültig geäußert und auch keine Dele- gierten geschickt habe, sich mit einem Appell an die örtlichen und Landesorganisationen der U. S. P. D. zu wenden, um sie aufzufordern, selbst Delegierte zu wählen und nach Moskau

zu entsenden.

77... Wilhelm Herzog Dieses nach Deutschland gefunkte und telegraphıerte Manifest,

das erstaunlicherweise dem revolutionären deutschen Proletariat

so gut wie unbekannt geblieben ist, lautete folgendermaßen:

Vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale. |

An alle Orts- und Landes organisationen der Unabhängigen Sozialistischen Partei Deutsch- lands, an alle Arbeiter, die Mitglieder der U. S. P. D. sind.

Werte Genossen

Am 15. J uli 1920 wird, wie Euch bekannt ist, in Moskau der zweite Weltkongrel der- Kommunistischen Internationale eröffnet (die erste feierliche Versammlung findet ın Petersburg staft). Die klassenbewullten Arbeiter der ganzen Welt sind begeistert unserm Rufe gefolut. den Kongreß mit ıhren Ver- tretern zu beschicken. Die Mehrzahl der Delegierten aus England, Frankreich, Österreich, Ungarn, Italien. Amerika. Schweden. Bulgarien. Holland und anderen Ländern ist bereits in Rußland eingetroffen. Andere befinden sich auf dem Wege nach Moskau. Schon jetzt ist es klar. dał unser zweiter Kongreß in Wirklichkeit zum Weltkongresse der vor- geschrittenen Arbeiter werden wird. Der Kongreß wird den ‚Erfahrungen unseres Kampfes die Bilanz zıehen. Der Kon- grel wird uns, den Arbeitern der ganzen Welt, den weiteren We des Kampfes weisen, der Stimme des Kongresses werden die Werktätigen der ganzen Welt lauschen.

Genossen! Werdet Ihr wirklich abseits von einem solchen Kongresse stehen?

Wir sagen es Euch aufrichtig: das Exekutivkomitee und die zur kommunistischen Partei gehörenden Abeiter aller Länder werden äußerst betrübt sein, wenn Ihr, Arbeiter aus der U. S. P. D. nicht mit uns auf unserm Kongresse sein

werdet.

Russisches Notiz buen 8273

Wir wissen, daß Ihr, proletarische Mitglieder der U. S. P. D. mit allen Euren Gedanken bei uns seid. Wir wissen, dal Ihr in die Reihen unserer internationalen Arbeitergenossenschaft. in die III. Internationale strebt. Um so unzulässiger ist es. daß die rechten Führer Eures Zentralkomitees Euren und unsren Wunsch vereiteln.

Unter Eurem Drucke, unter dem Drucke der Arbeiter hat der Leipziger Kongreß der U. S. P. D. beschlossen, aus der II. Internationale auszutreten und in Beziehungen zur III. Internationale zu treten. Aber die rechten Führer Eures Zentralkomitees haben diesen Beschluß tatsächlich sabotiert und sabotieren ihn noch. Sie planen eine Konferenz der Zwischen- parteien. d. h. der Parteien, die aus der II. Internationale aus- getreten. der III. Internationale aber noch nicht beigetreten sind. einzuberufen. Diesen hoffnungslosen Versuch haben jetzt sogar die gemäßigten Führer der Französischen Sozialistischen Partei aufgegeben. Zwei Delegierte dieser Partei. Cachin und Frossard, sind schon in Moskau eingetroffen, und wir werden ihnen offen sagen, unter welchen Bedingungen die französische Partei in die Ill. Internationale aufgenommen werden kann. Die französischen Arbeiter zwingen ihre gemäßigten Führer. eine Annäherung an die III. Internationale zu suchen. Nur Eure Vertreter sehen wir bis jetzt nieht in Moskau.

Wir haben uns mit einem offenen Brief an die U. S. P. D. gewandt. in dem wir ‚genau und ausführlich die Bedingungen nannten, unter denen wir Eure Partei, wie auch die anderen Parteien, die bis jetzt der Strömung des Zentrums gefolgt sind, aufnehmen möchten. Euer Zentralkomitee hat diesen Brief des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale nicht einmal veröffentlicht. Es hat ihn geheim gehalten. Es verheimlicht ihn vor Euch noch jetzt. Das Z. K. der U. S. P. D. benach- richtigt uns durch sein Schreiben vom 6. Juni. unterzeichnet von Däumig, daß das offene Schreiben des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale von den Unabhängigen bis

871141 Wilhelm Herzog

jetzt nicht abgedruckt worden ist wegen „Mangel an Papier. Einen unwürdigeren Grund konnten Eure rechten Führer nicht ausdenken. Dieses Verhalten beweist. daß wir recht hatten, als wir sagten, daß Euer Beitritt zur III. Internationale nur über den Kopt der rechten Führer hinweg vollzogen werden könne.

In Anbetracht des Gesagten schlagen wir Euch, Genossen. folgendes vor: mögen die einzelnen Orts- und Landesorganı- sationen der U. S. P. D. die unverzüglich der III. Internationale beizutreten wünschen. sofort ihre Delegierten wählen und zu unserem Kongreß schicken, der für den 15. Juli anberaumt ist. Wartet auf niemand mehr. Erlaubt nicht Euren Willen zu vergewaltigen. Organisiert Euch schnell und erfüllt Eure Pflicht. Die revolutionären Arbeiter,. die Mitglieder der U. S. P. D., müssen auf dem Weltkongresse der Kommu- nistischen Internationale sein. Wir erwarten Euch! Genossen. Beeilt Euch! Erörtert unsern Vorschlag auf allen Euren Arbeiterversammlungen. Druckt ıhn ın Euren Zeitungen ab. Entlarvt diejenigen. die Euren Willen hintertreiben. Handelt!

| Mit kommunistischen Grüßen

Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale

Vorsitzender: G. Sınowjew.

Sekretär: Karl Radek.

Mitglieder des Exekutivkomitees der Kommunistischen Inter- nationale: Bombaccı

Serrati |

. Sozialistische Partei Italiens. Vacırca

Graziadeı

W. Uljanof-(Lenin) |

N. Bucharin |

Karachan | Kommunistische Partei Ruflands. J

Balabanoff Klinger

Russisches Notizbuch _ ___ 875

Marchlewsky (Karsky), Kommunistische Arbeiterparteı Polens, Schatzkin. Executive der Kommunistischen Jugendinternationale.

a u Britische Sozialistische Partei.

a | Komitee der III. Internationale in Frankreich, o ! Kommunistische Partei Ungarns.

Reisler, Kommunistische Partei Deutsch-Österreichs,

0 Kommunistische Arbeiterpartei Amerikas.

Stoklitzky. Kommunistische Partei Amerikas.

Schabline. Kommunistische Partei und Föderation der Ge- werkschaften Bulgariens.

Stutschka. Kommunistische Partei Lettlands.

Außerdem haben das vorliegende Schreiben unterschrieben: Gen. Losowsky, Vertreter des Allrussischen Zentralrats der Gewerkschaften. I. Armaud, Vertreterin der Kommunistischen Frauenorganisationen Ruflands.

*

Radeks Vorschlag wird einstimmig gebilligt. Auf semen Wunsch erteilt mir Sinowiew das Wort. Ich führe aus, dal Serratis Forderung nicht zu verwirklichen sei. Selbst Liebknecht habe das erste Mal nicht gegen die Kriegskredite gestimmt. Der Appell scheine mir gut und er könne wirken. aber man müßte ihn an einzelnen Stellen noch etwas genauer formulieren.

Die Sitzung dauerte bis 10 Uhr. Dann mit Radek und den italienischen Delegierten in den »Delovoi Dwor«. Um 11 Uhr in den Kreml zu Radek. Deutsche Zeitungen bis zum 11. Juni, französische und englische Blätter durchgestöbert. Der »Vorwärtse bringt eine idiotische Notiz über mich: -Der verschwundene Reichstagskandıidat«. Was für armselige Krea- turen sind diese Verleumder. Was für lächerliche Dummköpfe! 2 6

876 nn 00, Wilhelm Herzog Samstag. den 19. Junı.

Vormittags, 11 Uhr. in den Kreml zu Lunatscharski. Im Auto zusammen mit Balabanowa, Serrati. Graziadei. Während sie zur Sitzung des Exekutivkomitees der III. Internationale gehen. versuche ich. meine mit Lunatscharskı getroffene Ver- abredung innezuhalten und ihn um 11 Uhr zu treffen. Ich gehe hinauf. Lunatscharskı schickt mir eme Genossin, die mir mit- teilt, ein Engländer, der ihn dringend zu sprechen gewünscht habe und in einer Stunde abreise, sei bei ihm. Er bäte mich deshalb, ein wenig zu warten. Die Genossin: Frau Gorki, Radek. den ich vorher traf, ging in Lenins Haus, wo die heutige Sitzung des Exekutivkomitees der III. Internationale staſtfinden sollte. Er lud mich ein, nachzukommen. Ich wollte vor Beginn der Sıtzung nicht viel versäumen, wartete deshalb nıcht länger bei Lunatscharskı. sondern verabschiedete mich von Frau Gorki. die mir einen Propusk (einen Ausweis) ausstellte, damit ich in das Haus. wo die Sitzung stattfindet. hineinkommen könnte.

Die Sitzung hafte gerade begonnen, als ich eintrat. Die- selben Teilnehmer. wie gestern. In einem miftelgrossen Saal. geschmackvoll. und einfach eingerichtet. Durch seine Fenster blickt man auf das ın der Sonne liegende Moskau. Die zahl- losen goldenen Kuppeln strahlen und blinken im Sonnenlicht. Ein heiterer und sehr erfrischender Anblick. Es ist glühend heiß.

Aufer den gestrigen Teilnehmern, sitzt an einem kleinen Tisch Kamenew und neben ihm ein kleiner, untersetzter Mann mit einer großen Glatze. Ernst. beherrscht. zuweilen nachdenklich. Er hat einen kleinen braunen Spitzbart. Er bekommt Akten und Briefe zum Unterschreiben gebracht: er erledigt sıe, steht dann auf und setzt sich mit dem Rücken gegen das Fenster auf einen bequemen Sessel in die Sonne. Später erfahre ich, das ist Lenin. Nach den Bildern häfe ich ihn nicht erkannt. Alle Bilder, die ich bisher von ihm sah, geben eine ganz falsche Vorstellung von ihm.

Russisches Notizbuch De ke | 877

Rakowski spricht über Ungarn. Marcel Cachin über den Kampf des Proletariats gegen das Bürgertum in Frankreich. Serrati über die Arbeiterbewegung ın Italien, über den Kon- grel von Bologna, über die jetzige parlamentarısche Fraktion: ein seltsames Gemisch von Reformisten. Opportunisten (T urati. Lazzarı) und Maximalisten. über die Opposition der von Bordigha geführten Gruppe der Antiparlamentarier. die zugleich für den Ausschluß der Reformisten kämpfen. Das Ministerium Gioliti äußert Serrati werde der letzte Versuch der Bourgeoisie sein, seine Macht zu behaupten. Zwischenruf Radeks: sund Turati? Serrati: »Wır werden sehen!“

Frossard. Sadoul, Delignieres von den Franzosen äußern sıch über Thomas. Renaudels und Cachins Politik während des Krieges und nach dem Kriege.

Dann spricht Lenin in französischer Sprache. Schr zu- gespitzt, sehr klar, die Gegensätze scharf gegenüberstellend, oft mit scharfer Ironie und sehr witzig. Dann lacht er und mit ihm seine Zuhörer und dieses Lachen löst, wirkt befreiend, führt heraus aus breiten Sackgassen, in die sich die Polemik verlaufen hat. Lenin prüft die Phraseologie der Cachin und Frossard. Er wendet sich gegen sie. nicht ohne satirische Wendungen. Er kritisiert sie unerbifllich, jedoch sachlich. »Hu- manıtee und auch der »Populaıre«,: äussert er, seien keine revo- lutionären Organe. Er versäumt flicht. diese Feststellung durch Zi- tate und Anführung von Mitarbeitern fragwürdiger Art zu belegen. Dann wendet er sich den deutschen Cachins und Frossards zu und teilt mit: das Zentralkomitee der U. S. P. D. habe soeben einen von Däumig unterzeichneten Brief geschickt, der u. a. besage: »Papierknappheit« häfte bisher Abdruck der Moskauer Antwort verhindert. Das sei lächerlich und kindisch! Lenin wendet sich auch gegen Serrati. in dessen Partei sich noch immer ein Turatı aufhalten könne. Nach dieser. Polemik stellt er die alte Frage von neuem: was ist Diktatur des Proletariats? Er beantwortet sie unzweideutig: das sei nicht nur die Fähigkeit.

878 Wilhelm Herzog die Macht zu erobern und sie zu halten, sondern es sei die Fähigkeit, Härte zu zeigen, um den Sieg des Proletariats durch nichts gefährden zu lassen, wenn es sein muß, füsilieren zu lassen. Nach Lenins etwa eineinhalbstündiger Rede wird die Sitzung abgebrochen. Bucharin stellt mich Lenin vor. Sein erstes Wort: Nun, was sagen Sie zu Ihrem Däumig? Ich antworte: es sei mir unverständlich, wie er einen so törıchten Brief unterschreiben könnte. »Ja, so sind die Unabhängigen: Sie haben kein Papiers, äußert Lenin. Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß dies zum Glück nicht ganz stimme. Einige unabhängige Organe, wie die »Hamburger Volkszeitung · und das »Gothaer Volksblatt. hätten genug Papier dafür gehabt: sie haben die Moskauer Antwort bereits abgedruckt.

Lenin bittet. ihn durch Klinger, den Geschäftsführer der III. Internationale. anrufen zu lassen. um eine Zeit zu bestimmen. wann er meinen Besuch erwarten wird. Er erkundigt sich mit sehr natürlicher Liebenswürdigkeit. ob es einem an nichts fehle. ob ich einen Dolmetscher habe und fügt sogleich. seine Fragen sich selbst beantwortend. hinzu: Das ist bei uns alles noch nicht gut organisiert. aber auch das wird noch werden.

Die ersten Exemplare seiner neuen Broschüre »Der Radıkalıs- mus, die Kinderkrankheit des Kommunismus«, die soeben in rus- eischer Sprache erschienen ist. verteilt Lenin unter einigen Genossen.

Sonntag. den 20. Juni 1920.

Vormittags zehn Uhr mit mehreren Kameraden in ein Institut für Körperkultur. das einst ein Stift für adlige Waisen und junge Mädchen war. Sehr helle. sonnige Räume in einem alten Palast. Aufnahme finden Kinder von acht bis vierzehn Jahren und Studenten. Es wird unterrichtet: in Gymnastik. Tanz, Handwerk. Weben. Tischler- und Flechtarbeit, Malen. Modellieren. Musik. Plastik usw. Viele Lehrer. Ein Maler. ein Turnlehrer, ein Arzt wohnen im Hause. In diesem Institut für Körperkultur sind gegenwärtig 160 Kinder.. Alle sehen

Russisches Notizbuch 87 recht gut genährt aus. Knaben und Mädchen kurz geschoren. wie überall in Rußland. In hellen sauberen Kleidern, alle mit nackten Beinen.

Wir bekommen eine Aufführung zu sehen, Übungen der einzelnen Gruppen. Unter Leitung einer Schülerin, einem schr hübschen, gut gewachsenen Mädchen von 12 oder 13 Jahren, singt die ganze Kindergesellschaft die Internationale. Das junge ehemals adlige Fräulein dirigiert. Dann folgen, nach der Methode Dalcrozes, gymnastische und rhythmische Ubungen. Zuerst von den Kleinsten sehr lustig und akkurat ausgeführt. Dann kommen die älteren von 12 bis 14 Jahren. darunter noch viele früher adlige junge Mädchen, die man als Waisen nicht entfernt hat. Sie üben rhythmisches Schreiten, sie tanzen nach dem Kommando einer Schülerin. Die Kinder komponieren die Musik. die Tänze, auch die Webmuster selbst. Alles in der Erziehung ist darauf eingestellt. in dem Kinde Selbständigkeit zu entfalten.

Wir sahen uns die Schlaf- und Eßräume an. Alle peinlich sauber, hell und freundlich.

Von diesem Institut für Körperkultur, das uns einen aus- gezeichneten Eindruck machte. nach Sokolniki. in eine Wald- schule. Das Schönste und Hellste. was ich bisher sah. Die Kinder laufen als Nacktfrösche herum, nur mit einem kleinen Schurz bekleidet. Knaben und Mädchen. In einem geräumigen Holzhaus wohnen etwa 100 bis 120 nur leicht tuberkulöse oder schwächliche, zurückgebliebene Kinder. Darunter ein Mozart, so von seinen Kameraden und der Leiterin genannt, ein achtjähriger fürchterlich skrophulöser Knabe von unge- wöhrlicher musikalischer Begabung. Er spielt uns etwas vor. er improvisiert. am Schluß mul er natürlich die Internationale spielen, ın die alle mit einstimmen.

. Die Leiterin der Anstalt ist eine energische. junge Ärztin, die ın Zürich studierte und promovierte. Ein außer- ordentlich gewyandter. praktisch erfahrener und harmonischer Mensch. Wir wurden eingeladen, eın Frühstück ım Freien

880 E BER Wilhelm Herzog einzunehmen. Und was man uns hier in der Mite der Kinder in der freien Natur, in der Sonne bot, gehört zum köstlichsten und einfachsten. was ich bisher erlebte. Wären wir erst so weit, allen Menschen ein solches Leben bieten zu können: zurückgekehrt zur Natur, entspannt, schlicht, befreit von allen Lügen der »Kulture. Hier ist schon Zukunftsland. Und dieses Kinderland soll unsere Zukunft sein. Diese kleine Einöde. mit den spielenden. singenden und tanzenden Kindern inmiſten des Elends der Moskauer Bevölkerung. war nicht nur ein Labsal. war nicht nur die engbegrenzte Verwirklichung eines Ideals. sondern mehr: es war ein Versprechen an die Zukunft. ein vorweggenommener Versuch der kommenden Generation. Sie wird eich gesund gebadet haben: durch Sonnenbäder, durch lichte und heitere Stunden, dıe nach Überwindung der wirt- schaftlichen Not und Qual des vom Krieg und von den Kriegs- folgen verwüsteten Landes die heute Lebenden kaum noch werden mitgenießen können, die aber die jetzt heranwachsenden Kinder kräftigen und steigern werden im Kampfe ums Daseın und in ihrem Daseinsgenuß.

Montag. den 21. Juni 1920.

Vormittags 11 Uhr erhalte ich den Besuch des alten Freundes und Jüngers Tolstois. Paul Birukoffs. Etwas sehr Wobltuendes geht von dieser ganz im Geiste Tolstoi lebenden Persönlichkeit aus. Seine Erscheinung hat etwas ungemein Würdiges und Alttestamentarisches. Er ist ein Mann von ungefähr 60 Jahren mit sehr schönem Kopf. von ganz slavischem Typus mit weißem Bart und sehr schönen Händen. Seine Tracht: die weile, russische Bluse mit dem Gurt. wie uns Tolstoi in Jasnaja Poljana auf eınem berühmt gewordenen Bild entgegen- tri. Er erzählt mir von seiner großen, auf vier Bände berechneten Biographie Tolstois. wovon bisher zwei Bände auch im Deutschen erschienen sind. Der erste 1906, der zweite 1909, bei Moritz Perles in Wien. Der drite Band

Russisches Notizbuch u 881 ist im Manuskript fertig. Am vierten arbeite er noch und er hoffe, ihn Ende 1920 zu vollenden. Für Romain Rollands »Tolstois, der in deutscher Übersetzung noch im Laufe dieses Jahres erscheinen wird, hafte Birukoff die Liebenswürdigkeit. mir einen großen Teil seiner Sammlung von Tolstoi- Bildern die schönste und reichhaltigste, die es gibt zur Ver- fügung zu stellen.

Birukoff wohnt in Moskau bei dem nächsten Freunde Tolstois. Tschertkoff; er arbeitet innerhalb des Kommissarıats für Volksbildung mit: an einer eigenen Schöpfung. einer kommunistischen Siedlung. Er selbst bezeichnet sich als pazifistischer Kommunist. \

Mittags 2 Uhr in die III. Internationale zu Radek. Er erzählt mir von der irrsinnigen Hetze gegen mich. Mit mir habe die antibolschewistische Liga verhandelt. um mich zu gewinnen. Die Verhandlungen seien nur gescheitert an der Höhe des Kaufpreises. den ich gefordert häfte. Ferner: ich habe 40 000 Mark unterschlagen bei der- Republik.. Die Phantasie dieser Subjekte kann sich in keiner anderen Richtung bewegen. Es ist immer wieder dieselbe Methode. Zur Gründung der Republik haften mir so erzählte der Hauptverleumder Ernst Heilemann, der rothaarıge Mehrheitssozialist. Noskes intimster Freund unter freiem Himmel im Januar 1919 also zur Grün- dung der Republik haften mir die Bolschewiki durch das Haus Bleichröder 2 Millionen Mark überwiesen. Leider stimmte es nicht, sonst würde die Republik vermutlich noch existieren. Dann floh ıch nach der Verleumdung des »Vorwärts« (Chefredakteur Friedrich Stampfer; Urheber der Verleumdung: Herr Erwin Barth) mit mehreren Hunderttausenden von deutschen Reichsmark in die Schweiz und legte sie dort ın Schweizer Papieren an. Der anonyme Schurke hat bis heute seine Schamlosigkeit nicht zurückgezogen. Ja nicht einmal eingestanden, daß er sie begangen hat. Was soll man mit solch einem Gesindel anfangen? Vor dem bürger-

882 Wilhelm Herzog

e ie

lichen Richter schleppen? Jeder Fuſtritt wäre zu schade, wäre Kraftverschwendung für ein so armseliges. sich selbst erniedrigendes Subjekt. Nicht genug damit, die Kee der Verleumdungen ordinärster Art bricht nicht ab. Um einen sehr unbequemen Gegner. der wie kaum ein zweiter die schmutzigen Kanäle dieser Burschen kennt, zu beseitigen. ihn möglichst geräuschlos zu meucheln, werden Gerüchte, An- deutungen, faustdicke Lügen als wahr kolportiert. so daß ; jene Atmosphäre entsteht, vor der man sich ekelt, in der man sich schämt, Mensch zu sein und mit solchen Lebewesen eine Luft zu atmen. ,

Radek rät, die Dinge nicht tragisch zu nehmen. Das muß so sein. Festzustellen wird sein, wie weit das Zentralkomitee der U. S. P. D. sich absichtlich oder unabsichtlich anstecken liel. ob es wirklich in meiner Abwesenheit gegen mich ein Urteil fallte und ob sich gar die sogenannten Linken an dem Meuchelmordversuch beteiligt haben. Wir müssen ne bis wir Bestimmteres erfahren.

22. Juni 1920.

Narodny Kommissariat Prosweschenja.

Das Kommissiarıat für Volksbildung.

In den Kreml zn Lunatscharsky. Zusammen mit Genossen Bombaccı und den drei holländischen Delegierten Wynkop, van Leuven- und Kruyt. In großen Zügen deutet Lunatscharsky an, welche Aufgaben sich das Kommissariat gestellt habe. Besonders auf dem Gebiet der Schule, der Arbeiterbildung. der Universität. Die Vereinigung von theoretischem Wissen und praktischer Anwendung sei überall oberstes Prinzip der neuen Erziehung. Aber allzugroße Schwierigkeiten ständen den Bemühungen des Kommissarıats entgegen. Die besten kom- munistischen Arbeiter, die bereits Schüler der Arbeiter- universität waren, haben sich freiwillig zur Front gemeldet. Die meisten Pläne zur Errichtung neuer Lehranstalten für

!!!!! ß 8 Kinder und Erwachsene müssen liegen bleiben oder zum mindesten zurückgestellt werden. Denn es fehlt infolge des neuaufgeflammten Krieges überall am Nötigsten. An Heizmaterial. Nahrungsmitteln, Lehrbüchern. Papier. Schreib- federn und an hundert anderen kleinen, aber unentbehrlichen Dingen.

Fällt die Blockade der Entente, ist der Krieg mit den Polen und gegen den Baron Wrangel beendet, könnte man endlich aufatmen, so würde man sich ganz dem Aufbau und der schöpferischen Arbeit auf dem Gebiete der Volksbildung und Volkserziehung hingeben können. l

Mit Bombaccı, den eeine italienischen Freunde scherzhaft den italienischen Lunatscharsky tauften. vom Kreml ins Kommissariat selbst. Lunatscharskys Sekretär, Genosse Wengroff. gibt uns eine ausführliche Darstellung des Arbeitsplanes und erläutert mit großer Sachkunde die mannigfachen Aufgaben der einzelnen Abteilungen des Kommissariats.

J.

1916 war das Schulwesen fast völlig zerstört. Durch die Einberufung der Lehrer, die Wirkungen des Krieges usw.

1917 zur Zeit Kerenskis hafte Rußland nur Pläne. Ausgeführt wurde nichts.

Die Oktoberrevolution 1917 hat ungeheure Probleme hervorgerufen. Die Beseitigung der Klassenschulen war die vor- nehmste Aufgabe der Bolschewiki. Eine einzige Schule für alle.

Dieses Problem ist auch heute noch nicht gelöst. Man ist sich nur klar über. die Ausführung der wesentlichen Punkte und ist der Verwirklichung nahe.

« Unter Volksbildung versteht das Kommissariat ein weiteres Gebiet als man es gewöhnlich in Europa umfaßt. Vorschule. Schule. Hochschule, Theater.

1. Die Sorge des Kommissariats für das Kind beginnt

vom driten Jahre an.

884 Wilhelm Herzog

2. Bis zum dritten Jahre des Kindes hat die Sorge das Kommissarıat für Gesundheitswesen.

3. Von drei bis acht Jahren sind die Kinder ohne Unterschied der Klassen ın Institutionen untergebracht. Hier sollen alle Kinder aufgenommen werden, da dies infolge des Mangels an Kleidung. Schuhwerk usw. jetzt nur ın begrenztem Umfange möglich ist, so werden drei Kategorien von Kindern bei der Aufnahme bevorzugt:

1. Die Kinder der Rotarmisten.

2. Die Waisen der Revolution.

3. Die ärmsten Kinder.

Die Institutionen.

1. Kindergärten (zirka drei Stunden täglich).

2. Kinderheime (von morgens bis abends, 10—6 Uhr),

3. Kinderhäuser.

In allen diesen Institutionen bekommen Jie Kinder eine Erziehung nach einer kombinierten Methode von Fröbel- Montessori im Sinne der N S. F. S. R (Russischen Sozialistischen Föderativen Sowijet- Republik).

Vor 1917 hae Rußland fast gar keine 88 Und die wenigen waren nur für wohlhabende Eltern. Jetzt werden alle diese Kinder durch Staatsmiftel verpflegt und gekleidet.

Anfang 1920 hafte Sowjetrußland 3623 Kinderinstitutionen mit 205000 Kindern. Diese Zahlen beziehen sich nur auf die 40 Gouvernements Zentralrußlands, also nicht auf Ukraine, Sibirien. Kaukasus, Taschkent- und Donrepublik.

In Moskau sind etwa 200 Kinderanstalten. Im Sommer 1920 wurden etwa 50000 Kinder aus Moskau aufs Land gebracht und in früheren Bourgeoisie-Häàusern in Sommer- wohnungen einquartiert. Das charakteristische an der Aktivität der Sowjetregierung auf diesem Gebiete ist: das erste. was sie beginnen, sie eröffnen Vorschulinstitutionen und sie kämpfen

Russisches Not izbu eb 885 gegen das Analphabetentum. In den 40 Gouvernements be- finden sich 7 Millionen Kinder. Rußland hafte vor 1917 kaum Pädagogen. Drei Ursachen. weshalb bisher nur ein geringer Teil aller Kinder aufgenommen werden konnte. 1. zu wenig Pädagogen, 2. Mangel an Nahrung und Kleidung. 3. keine Häuser.

In den neuerrichteten Kinderhäusern arbeiten jetzt 11234 Pädagogen, Lehrer und Lehrerinnen. Die größte Anstrengung konzentriert das Kommissariat auf die Vor- bereitung dieser Pädagogen. Das ist das Problem, äußert Genosse Wengroff. an dessen Lösung wir mit äußerster Energie arbeiten. Während der letzten 2 ½ Jahre haben wir nur ın Moskau 400 Pädagogen ausgebildet und 104 Instruktoren. Unter Pädagogen verstehen wir die Lehrer, die Praktiker; unter Instruktoren die Organisatoren der Heime, | der Kurse, der Schulen. Die Instruktore kommen in ein Gouvernement und organisieren die Heime und Schulen im ganzen Gouvernement oder in einem Teil des Gouvernements. Genosse Wengroff selbst war Instruktor im Lenin-Zug. der nach Sibirien ging.

Für die Instruktoren wurden 40 Kosei in ganz Rußland abgehalten. An einem Kurse nahmen 100 Schüler teil. Besonders wird unter den Arbeiterinnen agıtıert, damit sie an diesen Kursen für Instruktoren teilnehmen. Es gıbt keine Diplome und keine Examen. Dauer der Kurse: vier, sechs oder acht Monate. Je nach der Reife des Schülers. Die Grundidee der Erziehung ist dıe Arbeit und Selbstbedienung des Kindes. Das Kind soll lernen, vom Augenblick an, wo es aufsteht bis zum Abend, wenn es zu Bett geht, alle seine Wünsche selbständig zu erfüllen. Wenn das Kınd morgens aufsteht. so macht es selbst das Bett. bereitet sich sein Früh- stück, wäscht das Geschirr ab nnd erledigt alle Verrichtungen selbst, die bisher Dienstboten und Erwachsene erledigen mußten.

886 Wilhelm Herzog

Das Budget für diese Kinderinstitutionen stellte sich 1919 auf 518000000 Rubel. Das sind die Selbstgestehungspreise der Sowjetregierung für Lebensmittel. Lehrmittel usw. und die Ausgaben für dıe Gehälter der Lehrer und Lehrerinnen.

II. Kinderschutz.

Die Institutionen für Kinder von 8—15 Jahren. Diese Institutionen haben den Charakter von Kindertamilien. Unter dem Zarismus gab es in ganz Rußland 583 Ninderasyle. die durch Wohltätigkeit von Privatleuten entstanden waren und erhalten wurden.

1919 gab es 2394 Kinderasyle und 70 Hauser für physisch schwache und geistig minderwertige Kinder.

Jugendliche Verbrecher werden durch einen »Kinder- sammler« zum Teil von der Straße aufgelesen, ihr Charakter beobachtet und dann auf die Kinderinstitutionen verteilt. Sie bleiben 1—3 Monate im Kollektor, wo sie psychisch und physisch untersucht werden.

In 583 Asylen waren (unter dem Zarısmus) 29 650 Kinder.

In 2493 Asylen sind (jetzt) 180 000 Kinder.

Die Kosten für diese Kinderasyle stellten sich 1919 auf 859 000000 Rubel.

Unter dem Zarismus: militärische Disziplin und Protektions- wirtschaft.

J etzt: Kinder der Ärmsten und freie Erziehung. Die Hauptleiterin dieser Institutionen äußerte kürzlich: Wir würden alle Kinder am liebsten in unsere Anstalten aufnehmen und dort erziehen. Wir könnten es auch, wenn wir nur genügend Nahrungsmiſtel hätten. Keine Zigaretten verkaufende Knaben und andere spekulierende Kinder gäbe es mehr auf den Straßen!

Unter dem Zarismus gab es in den Dörfern meist nur kirchliche Schulen mit zweijährigem Schulunterricht.

Außer diesen Kırchenschulen existierten noch Gemeinde- schulen. aber sie konnten nur eine geringe Anzahl von Kindern aufnehmen. Die Regierung des Zaren warf nur wenig Geld

Russisches Notizbuch _ 887

für diese Schulen aus. So wartete ein Dorf vierzehn Jahre lang, um eine Schule eröffnen zu können.

Unter dem Zaren gab es ın den Städten:

1. Elementarschulen (Volksschulen). 2. Realschulen und Gymnasien.

In die Gymnasien wurden nur Kinder der privilegierten Klassen aufgenommen.

Noch um das Jahr 1900 äußerte ein Minister Zweifel, ob man Kinder von Köchinnen in die Gymnasien aufnehmen könne. Das Schulgeld war so teuer, daß Kınder weniger bemiftelter Eltern nicht imstande waren, ihre Kinder auf diese Schulen zu schicken.

Die Disziplin in der Schule war gestützt auf: Karzer, schlechte Noten, Schulaufseher.

Die Aufgabe, die der neuen Erziehung in erster Linie erwuchs, war: alle Klassengegensätze in der Schule zu beseitigen.

Die letzte Schulstatistik stammt aus dem Jahre 1911. Dort waren in 40 Gouvernements 55000 Elementarschulen. Von 1911 an wurden jährlich 2500 Schulen eröffnet. 1917 gab es bereits. . . . . 67000 Elementarschulen 1919 am 1. Juli . 75 000 Im Jahre 1911 gab es in Rußland 85 000° Lehrer Im Jahre 19119 Rutland 170000 8 1911 wurden in den Schulen 3 500 000 Kinder unterrichtet 1919 wurden „n n s 6 000 000

Im ganzen gibt es in Rußland 8 Millionen Kidi ın schulpflichtigem Alter.

Schule des U. Grades für Kinder von 12—17 Jahren.

1914: 1622 Schulen ın ganz Rufland*).

1919: 3600 Schulen mit 470 000 Kindern und 29 000 Lehrern. Im ganzen aber hat Rußland 6 Millionen Kinder in diesem Alter!

) Nur in den Städten. Genauere Statistiken fehlen.

888 Wilhelm Herzog

Im Jahre 1919 betrugen die Kosten hierfür (für dıe Schulen I. und II. Grades) 9 900 000 Rubel. In diese Zahl sind einbegriffen: Verpflegung. Kleidung der Kinder und die Gehälter für dıe Lehrer.

Für die Kinder aller dieser Schulen wurden 1919 37000000 Arschin Stoff (für Kleidung, Wäsche) ausgegeben. „Und wir brauchtene klagte Genosse Wengrof 140 000 000 Arschin. Wir müßten, um die Kinder mit Schuh- werk versehen zu können, 9000000 Paar Schuhe haben. Aber wir haben sie nicht, weil das Leder für die Armee verwendet werden mull. Nur noch ein Beispiel für den ungeheuren Mangel am Allernotwendigsten, die der Krieg und die Blockade’ verursachten: Der Mangel an Schreibfedern ist so groß, daß eine Feder auf 500 Kinder kommt. Deshalb

mußte man wieder zum Gänsekiel zurückkehren!

Ä 23. Juni 1920.

Am nächsten Tage setzte Genosse Wengroff seine Dar- stellung fort. Er erklärte Bombaccı und mir die mannigfachen Bemühungen des Kommissariats, allen Schwierigkeiten zum Trotz den Aufbau des Schulwesens nıcht zu unterbrechen, ‘sondern vielmehr zu vervollkommnen. zu erweitern und neu zu organisieren. Er betonte immer wieder. daß das Grund- prinzip aller ihrer Kulturbestrebungen die Arbeit sei: die Arbeit des Kindes über die Vorschule zum Studentenarbeiter durch das Leben.

Die Einrichtung der Schule. Der Schulrat.

Er leitet die Schule. Er besteht aus allen Pädagogen de: Schule, einem Teil der Kinder (vom 12. Jahre an), der Eltern und der Einwohner der Stadt oder des Stadtviertels. Kinder, Eltern, Einwohner stellen jedoch nicht mehr als die Hälfte der Mitglieder des Schulrats.

Russisches Notizbuch _ __.__ 389

Die Funktionen des Schulrats: Aufstellung des Schulprogramms, der Wirtschaftseinrichtung. der administrativen Verwaltung.

Die Sowjetregierung hat kein stabiles Programm. Sıe hat eine Reihe von Musterschulen in jedem Gouvernement zwei bis drei eın gerichtet. Nach vorangegangenen experimentellen Versuchen. Bisher ist noch keine Schule so eingerichtet, wie das Kommissariat sich das Ideal denkt.

„Wir machen jetzte erklärte Genosse Wengroff = sdie größten Anstrengungen, aus dem Proletariat Kräfte für den Lehrberuf heranzubilden.«

Es existierte in Rußland ein Lehrerbund. 1917 haben die Mitglieder dieses Bundes alle Anordnungen der Regierung sabotiert. Jetzt seit Anfang 1918 gibt es einen Bund aller Arbeiter für Volksbildung und sozialistische Kultur.“ In ihm sind vertreten nicht nur Lehrer, sondern auch Lektoren, Bibliothekare. Schulangestellte usw. Dieser Bund gehört dem Allrussischen Gewerkschaftsverband an.

Vorbereitung der Lehrer. I. Grad. 1. Die höheren Lehranstalten: Früher 2 Institutionen (1916) Jetzt 51 a (1919) Die Kurse dieser Anstalten dauern 4—5 Jahre. II. Grad. 2. Die mittleren Lehranstalten: Früher (1916) : 19 Anstalten Jetzt (1919) : 156 Die Kurse dauern 3 Jahre. III. Grad. 3. Die niederen Lehranstalten: Früher (1916) 150 Anstalten. Jetzt (1919) 100 m

Die Kurse dauern 1 Jahr.

Die geringe Zahl der Anstalten des III. Grades erklärt sich daraus, daß die Lehrer des III. Grades in die Anstalten des IL Grades aufgestiegen sind.

888 Wilhelm Herzog

Im Jahre 1919 betrugen die Kosten hierfür (für die Schulen I. und II. Grades) 9 900 000 Rubel In diese Zahl sınd einbegriffen: Verpflegung. Kleidung der Kinder und die Gehälter für die Lehrer.

Für die Kinder aller dieser Schulen wurden 1919 37 000 000 Arschin Stoff (für Kleidung. Wäsche) ausgegeben. „Und wir brauchtene klagte Genosse Wengroff 140 000 000 Arschin. Wir müßten, um die Kinder mit Schuh- werk versehen zu können, 9 000 000 Paar Schuhe haben. Aber wir haben sie nicht, weil das Leder für die Armee verwendet werden mul. Nur noch ein Beispiel für den ungeheuren Mangel am Allernotwendigsten, die der Krieg und die Blockade’ verursachten: Der Mangel an Schreibfedern ist so groß, daß eine Feder auf 500 Kinder kommt. Deshalb

multe man wieder zum Gänsekiel zurückkehren!

23. Juni 1920.

Am nächsten Tage setzte Genosse Wengroff seine Dar- stellung fort. Er erklärte Bombaccı und mir die mannigfachen Bemühungen des -Kommissarıats, allen Schwierigkeiten zum Trotz den Aufbau des Schulwesens nıcht zu unterbrechen, sondern vielmehr zu vervollkommnen. zu erweitern und neu zu organisieren. Er betonte immer wieder, daß das Grund- prinzip aller ıhrer Kulturbestrebungen die Arbeit sei: die Arbeit des Kindes über die Vorschule zum Studentenarbeiter durch das Leben.

Die Einrichtung der Schule. Der Schulrat.

Er leitet die Schule. Er besteht aus allen Pädagogen der Schule, einem Teil der Kinder (vom 12. Jahre an), der Eltern und der Einwohner der Stadt oder des Stadtviertels. Kinder, Eltern. Einwohner stellen jedoch nıcht mehr als die Hälfte der Mitglieder des Schulrats.

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Die Funktionen des Schulrats: Aufstellung des Schulprogramms, der Wirtschaftseinrichtung, der administrativen Verwaltung.

Die Sowjetregierung hat kein stabiles Programm. Sie hat eine Reihe von Musterschulen in jedem Gouvernement zwei bis drei eingerichtet. Nach vorangegangenen experimentellen Versuchen. Bisher ist noch keine Schule so eingerichtet, wie das Kommissariat sich das Ideal denkt.

„Wir machen jetzte erklärte Genosse Wengroff == sdie größten Anstrengungen, aus dem Proletariat Kräfte für den Lehrberuf heranzubilden.

Es existierte in Rußland ein Lehrerbund. 1917 haben die Mitglieder dieses Bundes alle Anordnungen der Regierung sabotiert. Jetzt seit Anfang 1918 gibt es einen Bund aller Arbeiter für Volksbildung und sozialistische Kultur.“ In ihm sind vertreten nicht nur Lehrer, sondern auch Lektoren. Bibliothekare. Schulangestellte usw. Dieser Bund gehört dem Allrussischen Gewerkschaftsverband an.

Vorbereitung der Lehrer. I. Grad. 1. Die höheren Lehranstalten: Früher 2 Institutionen (1916) Jetzt 51 a (1919) Die Kurse dieser Anstalten dauern 4—5 Jahre. II. Grad. 2. Die mittleren Lehranstalten: Früher (1916): 19 Anstalten Jetzt (1919) : 156 = Die Kurse dauern 3 Jahre. III. Grad. 3. Die niederen Lehranstalten: Früher (1916) 150 Anstalten. Jetzt (1919) 100 .

Die Kurse dauern 1 Jahr.

Die geringe Zahl der Anstalten des III. Grades erklärt sich daraus, daß die Lehrer des III. Grades i in die Anstalten des II. Grades aufgestiegen sind.

890 | Wilhelm Herzog

Eine neue Einrichtung: Schnellkurse für Lehrer.. Ihre Dauer: Von sechs Wochen bis zu einem Jahr.

An diesen Kursen nehmen teil vornehmlich Arbeiter aus der Textil-. Eisenindustrie (Schlosser. Dreher usw..). aus den land wirtschaftlichen und volks wirtschaftlichen Betrieben. wie überhaupt aus allen Zweigen der Industrie und Landwirtschaft.

300 solcher Kurse finden jährlich ın den 40 Gouverne- ments statt.

Die höheren Schulen.

Universitäten. Höhere technische Schulen. Polytechnikum.

Die zarıstische Regierung hafte diese Anstalten nur im Zentrum Ruflands errichtet. In Moskan, Petersburg. Kasan Saratoff. Perm. Fünf waren genug. In Sibirien: Tomek. In der Ukraine: Charkow. Kiew. Eine Bergakademie in J ekaterınoslaw.

Seit 1918/19 wurden Universitäten errichtet in folgenden Städten: In Smolensk. Nis bnij- Nowgorod. Jaroslaw. Kostroma. Tambow, Woronesh. Samara. Astrachan, Taschkent. Sowjet- rußland hat jetzt im ganzen 15 Universitäten. Sie haben keinen typisch kommunistischen Charakter. Als Muster wurden die besten bürgerlichen Universitäten. besonders die amerika- nischen genommen. Früher gab es in allen Fakultäten. außer der medizinischen. theoretischen Unterricht. Die meisten der Universitäten sind gebildet nach dem Typus der Universität von Toronto (Canada). Ganz durchgeführt nach diesem System nur die Universität von Nishnij- Nowgorod.

In allen Universitäten wurde die gröſte Aufmerksamkeit auf die land wirtschaftliche Fakultät gelegt. In den folgenden fünf Universitäten konnte die land wirtschaftliche Fakultät schon eingerichtet werden: Tambow. Saratoff, Astrachan, Samara, Perm. In Kasan wurde eine Forstakademie gegründet.

Es gibt zwei Typen von hohen Schulen:

1. Medizinische und sozialwissenschaftliche Schulen. 2. Professionelle Schulen (technische, landwirtschaft- liche, handwerkliche Schulen).

Russisches Notizbuch 8989991

Oberstes Prinzip ist überall: die praktische Anwendung.

»Da unser nächstes Ziel jetzt iste so schloß Genosse Wengroff an diesem Tage seine sachlichen Ausführungen =s die professionelle Bildung zu größter Entwieklung zu bringen. und da wir bis zum Herbst 1920 gezwungen smd, 4000 Ingenieure auszubilden, so sind die Studenten der technischen professionellen Schulen militarisiert worden. Sie müssen 8 Stunden täglıch arbeiten, bekommen »Pajok« (eine erhöhte Ratıon) und werden von allen anderen Arbeiten befreit.«

Ich weil nicht, ob ich schon folgendes notiert habe: ein Dekret bestimmt. daß jeder nach dem 16. Lebensjahre das Recht zum Universitätsbesuch hat. Während die Universitäts- kurse, an denen bürgerliche und halbbürgerliche Studenten teil- nehmen, jetzt fast leer sind, nehmen 5000 Studenten an der Arbeiterfakultät teil. Vorschulen waren früher nicht vorhanden. Jetzt sind in Kindergärten 200 000 Kinder untergebracht. In Internaten: Waıisen- und Proletarierkinder, im ganzen etwa 700000. Von drei bis acht Jahren. Man nennt sie »Re- gierungs-« oder »Staatskinder«.

« x *

Abends gegen 7 Uhr mit Axelrod in das Künstlerische Theater, die berühmte Bühne Stanıslawskis. Es ist offenbar Sommer- Spielplan. Man gibt eine Operette -Die Tochter der Madame Angot«, sehr reizend, mit guten Kräften, geschmackvoll, aber ganz in bürgerlicher, konventioneiler Manier, und eins der Berliner Opereftentheater am Schiffbauerdamm oder in der Friedrichstraße spielte den Kitsch mit nicht schlechteren und nıcht geringeren künstlerischen Mitteln. Von einem revolutionären Repertoire, auch in diesem Theater, noch keine Spur. Woher sollte es auch kommen? Wie der Krieg, so hat auch die Revolution ın den Dichtern und Künstlern nur ganz wenige. ganz vereinzelte Werke losgelöst von ırgend welchem Wert, von irgend einem mit dem Weltgeschehen, mit der Welt- 27

892 Wilhelm Herzog

revolution verbundenen Geist. Die wichtig genommenen Nichtigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft beherrschen auch die Theater der Übergangsperiode. Selbst nach der Diktatur des Proletariats bleiben die Schaubühnen die Tummelplätze miſtelmaſiger oder revolutionsfeindlicher Skribenten, die früher die beliebtesten Lieferanten der Bourgeoisie waren.

Die westeuropäischen. vom (sroßkapıtal ausgehaltenen Zeitungen, behaupteten allerdings neben den tausendfachen täglichen Lügen, die sie sonst ihren armen Lesern vorsetzen müssen —. daß in Sowjetrußland alle Theater geschlossen sind. Es lohnt nicht. jeder Lüge den Hals umzudrehen. Es hilft auch nichts. Es ist die berühmte Hydra. Schlägt man ihr einen Kopf ab, so wachsen ıhm hundert nach.

Deshalb nur ganz kurz sachliche Feststellungen auf Grund des mır vorliegenden Programms der Moskauer Theater:

»Alexeew«e-Volkshaus: Mücterlicher Segen. Die Kinder des Waniuschin. Der König amüsiert sich. Tage unseres Lebens.

»Fledermaus«: Lew Ouritsch Sinitehin. Die Vize- Uniform. Das Goldene Kalb. Abend arrangiert von B. Borissow.

Nikitski- Theater: Gasparone, der Seeräuber.

Eremitage: Geschlossenes Theater: Lakaien. Treubruch. Florentiner Tragödie. Der Strohhut. Treubruch. Lakaien.

Spiegeltheater: Carmen. Rigoletto. Boris Godunow. Carmen. Die Russalka. Traviata.

Sommertheater: Anschauungsunterricht. Chamäleon usw.

Neuer Park: Symphonische Konzerte.

Aquarium: Geschlossenes Theater: Zwei Schwätzer. Der Dieb. Sonnenuntergang. Mil Hobbs. Der Dieb.

Offene Bühne: Abend des Humors und der Scherze.

Das sind alles nur Vorstellungen der Sommerbühnen. Die guten Theater haben ihre Schauspieler in die Ferien geschickt. Sie sind in der Zeit vom 1. Juni bis zum 1. September geschlossen. In dem am meisten besuchten Theater der Eremitage,

Russisches Notizbuch | 893

im Spiegeltheater. gastiert Schaljapin drei- oder viermal in der Woche. Ähnlich wie bei uns in Berlin im Deutschen Theater oder in den Kammerspielen Pallenberg in der Familie Schimeck die Sommerfreuden der Berliner erhöht, so ent-. zücken sich die Moskauer an ihrem Schaljapin. Nur mit dem Unterschied. daß Pallenberg ein großer, trotz allen Seitensprüngen ernster Künstler ist und Schaljapın ein welt- berühmter Primadonnerich. eine schon ausgesungene Lerche, eine eitle Rıesenkanone, ein Komödıant ganz großen Stils und begabt mit einer Routine, die schon wieder etwas Künstlerisches hat. Er gehört in die Reihe der Sandrock, Sarah Bernhard, Sonnenthal, de Max, d. h. also in die Internationale der etwas von der Zeit mitgenommenen ‚Schauspielermajestäten.

Jetzt ist er natürlich Kommunist und man erzählt sich die ergötzlichsten Geschichten von seiner nicht ganz gelungenen Umwandlung: vom zaristischen Hofschauspieler bis zum Freund der Volkskommissare. Man wirft ihm vor, für sein Auftreten pro Abend eine Gage von 300000 Rubel zu verlangen, die er auch bekommen soll. Andere, die ihn entschuldigen, erklären, wohl orientiert, er müsse seche Familien und 22 Kinder ernähren.

‚Die Schauspielergagen ın Sowjetrußland sınd eın besonderes Kapitel, und ich hoffe darüber mich noch genauer orientieren und bestimmteres feststellen zu können. So viel wie ich bisher hörte, erhalten die Schauspieler und Schauspielerinnen relativ schr hohe Gagen, mit denen sie selbst angesichts der grotesken Lebensmiftel- und Kleidungspreise gut auskommen können. Die Mindestgage beträgt zirka 20000 Rubel monatlich mit reich- lichem Pajok: mittlere Schauspieler verdienen monatlich 100 000 bis 150 000 Rubel (mıt Gastspielen). Eine junge, nicht bedeutende Schauspielerin, erhält für einen Abend, den sie gastiert, 20 bis 30000 Rubel. Ich will mich aber noch genauer erkundigen, um über diese wenig kommunistische Organisation des Theater-

betriebes wahrheitsgetreue Angaben zu erhalten.

894 | BER Wilhelm Herzog 23. Junı 1920.

Vormiftags im Kommissariat für Volksbildung. wo Wengroff. Lunatscharskys Sekretär. unterstützt von seiner Gehilfin. einer früheren Nunstmalerin. die ausführliche Darstellung der Aufgaben des Volkskommissarıats fortsetzt. dıe er gestern begonnen hatte. Während unseres Gesprächs erhalte ich die Mitteilung, daß Lenin telephoniert hat. er erwarte mich. Da kein Auto vorhanden. wird eine Droschke geholt: ein Fräulein. das mich begleitet. zahlt dem Kutscher im voraus den verlangten Fahrpreis: dreitausend Rubel.

In den Kreml. in das frühere Gerichts- oder Senatsgebäude. Ich komme ins Vorzimmer. Alles sehr einfach, beinahe karg eingerichtet. Lenins Sekretärin. eine rührende. Kleine. bueklige Genossin, sagt mir, dal Lenin mich sogleich empfangen werde. Nach zwei bis drei Minuten trete ich in sein Arbeitszimmer. Alle Bilder von ihm lügen. Er ist ein kleiner. untersetzter Mann mit einem keineswegs besonders auffallenden Kopf. Er hat einen sehr durchgearbeiteten Schädel, kleine, äußerst kluge, oft listig blickende Augen, ein mit vielen Sommersprossen bedecktes Gesicht. das nach unten in einen kleinen, bräunlichen Spitzbart verläuft. Was sofort auffällt, ıst: er lacht gerne und herzlich. Er hat das schlichte Wesen, das nur ganz große oder ganz einfache Menschen haben. Nichts Gekünsteltes, nicht die geringste staatsmännische Geste, kein Feuerwerk des Geistes, sondern eine selbstverständliche, allen Fragen des Lebens offene Menschlichkeit. eine völlig unbetonte Natürlichkeit offenbart sıch und nımmt gefangen. Er ist kein Popanz, er fühlt sich nicht als Gott. sondern als einer. der durch gründliche Arbeit von Jahrzehnten eine Sammlung von Kenntnissen und Erfahrungen erworben hat, die ihn zusammen mit seiner Klugheit und seiner strategischen Begabung mehr als andere befähigt hat. vor dem ungeheuerlichen Entscheidungskampf der entschlossenste und zugleich kühnste Führer des Ordens der

Bolechewiki zu werden. Diese am meisten verfolgte und

Russisches Notizbuch 89985 von allen revolutionären Parteien am giftigsten verleumdete Organisation zeigt in der Tat eine auffallende Ahnlichkeit mit dem rücksichtslosesten und kühnsten miftelalterlichen Orden der katholischen Kirche. dem Orden der Jesuiten. Das Absolute ihrer Weltanschauung. die strenge Disziplin. der Fanatismus für ihre Idee, das Großartige, das Naffinement ihrer Propaganda. der leidenschaftliche Wille zum Sieg. der sie unsentimental und hart macht und sie selbst vor Brutalitäten und Grausam- keiten nicht zurückschrecken läßt, und über all diesem der religiöse Glaube, daß durch ıhr Weltsystem und ihre Methoden die menschliche Gesellschaft dem Chaos entrissen und erlöst werden wird, die unbeirrbare und unermüdliche Arbeit für dieses Ziel. kurz alle diese außerordentlichen Werte, Eigenschaften und Kräfte sind den Mitgliedern des Ordens Jesu und der Partei der Bolschewiki gemeinsam. Der geniale Organisator des Jesuitenordens Ignatıus von Loyola, gereinigt von dem Schmutz, den Legenden, den Lügen, die der Unver- stand oder die Feindschaft über ihn erzeugt haben, diese Gestalt muſ heute revolutionären Marxisten in ihrer historischen Bedingtheit und Notwendigkeit anders erscheinen, als liberalen Sonntagspredigern, banalen »Freidenkerne oder gottlosen Klein- bürgern. Und dieser Ignatius von Loyola hat sich in seinen extremsten Antipoden verwandelt. in Lenin, dessen Jünger hängen an seiner Lehre mit derselben Inbrunst. wie vor fünf Jahrhunderten die radikalsten. fanatischsten Mönche an ihrem Ignatius. Der eine wurzelt in dem revolutionären Erdreich des Nazareners. der andere in der weltumwälzenden Lehre Karl Marxs. dessen unbeirrbarer und konsequentester Jünger. dessen Testaments- vollstrecker er wurde. Die Metamorphose auf dem Wege von fünfhundert Jahren von Loyola bis Lenin offenbart die Befreiung des menschlichen Geistes aus dem Kerker kirchlicher Traditionen und Dogmen. Ein Antijesuit erster Ordnung. der Antichrist des 20. Jahrhunderts. personifiziert in Lenin. be- tinnt den Kampf mit seiner kleinen Sekte, erobert die Macht.

896 Wilhelm Herzog weil sie zu halten und streut den Samen der Weltrevolution in alle Länder aus. Er wie Loyola zu seiner Zeit nur einer der leidenschaftlichsten Träger einer notwendigen Idee. die gebietersch und unabweisbar Verwirklichung fordert.

Das Gespräch mit Lenin dauerte etwa eineinhalb Stunden. Wir sprachen über seine letzte Arbeit: -Der „Radıkalismus“, die Kinderkrankheit des Kommunismus. Er fragte sehr interessiert nach den gegenwärtigen deutschen Parteiverhältnissen, obschon er selbst sie sehr genau kennt. bis auf Einzelheiten, die ihm zur Ergänzung willkommen sind. Lenin hat im Laufe seines politischen Lebens alle Formen des Kampfes am eigenen Leibe erfahren. Lachend erzählt er. wie die Mensche wiki ihn und seine Freunde verdächtigten: »Keine schmutzige Waffe war ihnen schmutzig genug, um, wenn möglich, den gefährlichen Gegner zu beseitigen. Er hafte gestohlen, Unterschlagungen begangen, er war gekauft, eın deutscher Spion, ın Verbindung mit dem deutschen Generalstab. Zum Beweise derartiger Behauptungen wurden Dokumente nıcht ohne Raffinement gefälscht. Und mit Wonne übernahm die Bourgeoisie und ihre Presse dieses Material ihrer Helfershelfer.«

Als er sıch unter der Regierung Kerenskis versteckt hielt. schalt man ihn einen Feigling. Und selbst nahestehende Freunde rümpften über sein »unrevolutionärese Verhalten die Nase, mifbilligten es scharf und laut. Er jedoch tat. was Klugheit ıhm gebot. ;

Lenin fuhr fort: »Der verleumderische Klatsch ist die letzte, nicht zu unterschätzende Waffe der Bourgeoisie und ihrer Lakaien, der konterrevolutionären Opportunisten aller Schat- tierungen. Jetzt. wo wir an der Macht sind, wo wir allein die Presse und alle Organe der öffentlichen Meinung in der Hand haben, richtet dieser Klatsch, dieses Übermiteln tendenziöser Gerüchte von Mund zu Mund über Verfolgungen. Erschießungen, besonders aber über Niederlagen an der Front

Russisches Notizbuch 897 eine Tätigkeit, die die Bourgeoisie äußerst geschickt betreibt unsäglichen Schaden an. Als Koltschak, Denikin, Judenitsch uns gefährlich bedrohten, blühte dieser gegen uns gerichtete Klatsch am kräftigsten. Aber auch jetzt noch. sobald eine uns ungünstige Meldung von der Front eintrifft, ist sie 24 Stunden früher bereits verunstaltet. vergröbert und gesteigert von den bourgeoisen Schichten ın Umlauf gesetzt worden. In kritischen Situationen ist das besonders gefährlich. Wir haben es erlebt. daß in solchen Stunden nicht ganz Gefestigte. die schon glaubten. zu uns zu gehören, schwankend wurden. Und das ist es. worauf es jene Verleumdungsstrategen Immer abgesehen haben.

Im Grunde jedoch sind alle diese infamen, persönlichen Mittel Lappalien im revolutionären Kampf. Mögen eie von sogenannten Sozialisten, heimlichen Konterrevolutionären oder von den aufrichtigen Repräsentanten der Gegenrevolution kommen. Fünfzehn Jahre lang haben wir Bolschewisten das durchgemacht. Manch einer von uns, der zu sensibel war, ertrug es nicht und kehrte angeekelt der Politik den Rücken. Manch einer brach zusammen. Aber man muß lernen, hart und unempfindlich gegen so etwas zu werden. Schwerer wiegend wurde für uns die Tatsache, daß Intellektuelle, die mit uns sympathisierten durch die Greuelgeschichten beeinflußt erklärten, von uns nichts wissen zu wollen. Jetzt, seit einigen Monaten erst, nachdem sie erkannt haben, daß sie belogen und irregeführt worden sind, kehren sie langsam zurück.

Lenin erkundigte sıch dann über das Verhältnis der K A. P. D.-Arbeiter zur K. P. D. Er bafe sich mit dem Delegierten der K. A. P. D., dem Genossen Appelt aus Hamburg. zweimal längere Zeit unterhalten und von diesem Arbeiter. wie er sagte, einen guten Eindruck bekommen. Trotz aller Konfusion, die aus seiner an sich sehr sympathischen und begreiflichen Feindschaft gegen den Parlamentarismus und gegen die alten Gewerkschaften in ihm entstanden sei. Lenin habe sich aber gefreut. von ihm zu hören. daß er im Wesentlichen mit

898 __ Wilhelm Herzog seinen Ausführungen in seiner letzten Schrift (Der Radikalismus. die Kinderkrankheit des Kommunismus«) übereinstimme.

Was die Politik der Unabhängigen, oder vielmehr ihres Zentralkomitees anginge. so befremde ihn die schwankende Haltung. das Hinauszögern, die Ausreden nur in sofern, als er nicht ganz begreife. weshalb sich die großen Arbeitermassen. die doch anscheinend den Anschluß an die III. Internationale wollen. diese Politik gefallen ließen. Er fragte mich zum zweiten Male, wie ich das doch von einem linken Unabhängigen, von Däumig, unterzeichnete letzte Antwortschreiben verstehe, das den Nichtabdruck des Manifests des Moskauers Exekutivkomitees unter anderen mit Mangel an Papier entschuldige. Lenin lachte: Ist das nicht lächerlich? Ich konnte es leider nicht verneinen. Und ich schämte mich, ein Unabhängiger zu sein. Er fragte nach dem Kräfteverhältnis des rechten und des linken Flügels. Und warum die mächtigsten Zeitungen der U. S. P. trotz den Leip- ziger Beschlüssen noch immer von Vertretern der Rechten geleitet werden können? Ich sagte ihm, daß jetzt sieben Monate nach dem Leipziger Kongreß das Kräfteverhältnis nicht ganz sicher zu bestimmen wäre, daß die Macht der Partei- bureaukratie nicht unterschätzt werden dürfte, daß allerdings mindestens fünf Achtel der Parteimitglieder für den Anschluß an die Ill. Internationale sein dürften. Und es sei anzunehmen, daß für jeden Fall Delegierte der U. S. P. D. zum Kongreß kommen werden. Entsprechend dem letzten Satz der Leipziger Resolution zur III. Internationale häften sie den Auftrag. den Anschluß zu vollziehen.

* « *

Vom Kreml zurück in den Delovoi Dvor. Gespräch mit Bombaccı und den anderen. sehr lebenslustigen Italienern. Ein sebr heiteres Völkchen. Ein ganz anderer Menschenschlag, als

etwa unsere Proletarierführer. Weltmännisch, mit viel Humor.

mit offenen Sinnen, sehr realistisch denkend, ohne deshalb

Russisches Notizbuch —č— 899 spießbürgerlich oder pedantisch zu werden. Zur Tag- und Nachtzeit singend, haben sie eine merkwürdige Verwandtschaft ın vielen Beziehungen mit den Russen.

Abends sieben Ubr in die Eremitage gefahren: Ballett. Man spielt »Coppelia« II. Akt, »Don Quichofte«, den »Korsar«, einen amerikanischen Tanz und -Die Beftlere von Saint-Saens. Alles künstlerisch nicht sehr reizvoll. Junge, talentierte Tänze- rinnen unter miftelmäßiger Regie und vor elenden Dekorationen. Das halb proletarische, halb bürgerliche Publikum jedoch ist entzückt. Die Kritiklosigkeit des Publikums. sein ahnungsloser Enthusiasmus ıst ein schwerer Schaden für dıe Entwicklung der

Schauspieler. Die ernsteren unter ıhnen gestchen es selbst.

24. Junı 1920.

Vormittags Rühle bei mir. Erzählt mir von seiner Unter- redung mit Radek. Er kenne ihn schon von der Leipziger Volkszeitung her. Von 1904.

Abends wieder in die Eremitage mit einigen ausländischen Kameraden. Man spielt den - Barbier von Sevilla - mit Schal- japin als Don Basilio. Nichts Uberwältigendes. Nur einige possenhafte Effekte. Typisches Sommertheater. Das Publikum sehr bunt. Promeniert im Garten. Trinkt schlechten Tee und ift Erdbeeren in einer Art von Schlagsahne sein sollendem Schnee. Das Tellerchen fünfhundert Rubel. Die Pausen sind länger als die Akte. Man sieht: Arbeiter, Bürger und Spekulanten. Junge Mädchen in weißen Kleidern, welen Strümpfen und oft mit sehr schönen Stiefeln, die bis zum Knie reichen. Blitzblanke Kostüme, sehr kostbare, durchbrochene Blusen, Pelze. Daneben abgerissene, verschmutzte Kleider und Schuhe. Damen ohne Strümpfe. mit geschminkten Gesichtern. allzu roten Lippen, neben Arbeiterinnen und Sowjetangestellten. einfach und ärmlıch gekleidet.

Im ganzen: ein sehr gemischtes, immer begeistertes Publikum.

voll junger (unerfahrener) Liebe zur Kunst.

900 Wilhelm Herzog

—e—— —-

25. Juni 1920.

Vormiftags werde ich abgeholt von Doktor Kananofl, einem früheren Studiengenossen. mit dem ich zusammen an der Berliner Universität Simmels Kolleg über Soziologie gehört habe und der mich jüngst bei einer zu Ehren der italienischen Delegation gegebenen Veranstaltung getroffen und erkannt hafe. Er ist nicht Bolschewik, war vielmehr früher Menschewik: arbeitet j edoch mit, denn er eympathisiert mit dem Kommunismus. Auf meine Frage erklärte er mir. Intellektuelle und Bourgeoisie seien völlig passiv. Keiner denke an die Unterstützung irgend welcher konterrevolutionären Bestrebungen.

Kananof ist Bibliothekar am Rumjanzeff-Museum. Er schlug mir vor, das Museum gemeinsam mit ihm zu besichtigen. Wir neh- men ein Auto und fahren hin. Ein auf einer Anhöhe sich erheben- der schöner und breiter Barockbau aus dem Ende des 18. Jahr- hunderts. Der Leiter des Museums ist ein Fürst Golizin geblieben. Die Bibliothek ist sehr groß. Der Lesesaal, ein heller, sehr freundlicher. zum Arbeiten einladender Raum, wird gegenwärtig wenig benutzt. Immer wieder bekommt man die nur allzu berechtigte Antwort: die besten Leute sind an der Front. Niemand von ıhnen hat Zeit zu lesen und zu studieren. Dringenderes steht auf dem Spiel: der Krieg gegen die Entente und die Konterrevolution.

Vom Rumjanzeff-Museum in das »Museum der Neuen Westlichen Malerei., die früher: Stschukın-Sammlung. Es ist ein sehr schöner, alter Palast. Innen: helle. weiße Räume von einem sehr vornehmen Geschmack eingerichtet. Mathisses Tanz. und »Musike zwei große Bilder in Rot im Treppen- aufgang. In der ganzen Sammlung kein überflüssiges Bild. Und nur Werke höchsten Ranges von Monet, Pissaro. Cézanne (sein Selbstbildnis), van Gogh. Viele Gauguins, Mathisses ein ganzer Saal —. Picassos. Zu kurz, zu flüchtig waren die zwei Stunden, um den Reichtum, der hier von einem edlen Bürger mit Geschmack vereint wurde,

Russisches Notizbuch 901

zu genießen. Es gibt zweifellos keine zweite Sammlung moderner Bilder, vor allem der Impressionisten, die soviel Meisterwerke höchsten Ranges enthält, die eine so vornehme Auslese des Adels der malerischen Genies aus dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts und vom Beginn des zwanzigsten bietet. Ich werde sehr bald wiederkommen. sobald > mehrere Stunden darauf verwenden kann.

Eine sehr mondäne Konservatorsgaftın N uns, obwohl keine Besuchszeit war, schließlich geöffnet, eine Griechin, dıe zur Russın geworden war, mit dem guten deutschen Namen Keller. Sie führte uns durch die schönen Säle, die sehr sauber gehalten sind. Die kostbaren Möbel sind durch Schutzhüllen gedeckt. Frau Keller klagte ein wenig: eie bekomme keinen Pajok. Der Mann in der W. C. K. (d. i. im Gefängnis der Auberordentlichen Kommission) seit sechs Wochen. „Wegen nichts. behauptete sie.

Mittags in die III. Internationale. Zu Radek. Will Däumig sofort schreiben und mir Kopie schicken. Er rät mir. vorläufig nichts zu tun. Erzählt seinen Fall in der polnischen und deutschen Partei. Alle = Jogisches. Rosa Luxemburg. Marchlewsky gegen ihn. Ebert, von Jogisches bearbeitet. Sein Ausschluß aus der Partei. Seine Tätigkeit in Göppingen und Bremen. Seine Broschüre Meine Abrechnung. Gegen fünf Uhr mit Radek in den Delovoi Dvor.

Abends mit Rühle und Knüfgen, dem blonden Matrosen, ın den Proletkult von Moskau. Leider ın einer schr üblen Protzenvilla, die dem Multimillionär Morossow gehörte. Stillos. ohne Geschmack; eine barbarısche Vermischung chinesischer, münchnerischer, französischer. schweizerischer. italienischer. russischer Kultur. Diese Villa mit ihrem ganzen Inventar könnte. so wie sie ist. am besten von dem in Stuttgart oder Mannheim gegründeten Museum für Geschmacklosigkeiten übernommen

werden.

902 Wilhelm Herzog

Später Spaziergang mit Rühle. Ins zweite Sowjethaus zu Bucharin. Bei ihm finden wir deutsche Zeitungen vom 10. bis 12. Juni. Wenn man eie liest. bekommt man von Moskau aus immer mehr den Eindruck, als ob Deutschland etwa ein Balkanstaat wäre. Rene Marchand, der französische Ingenieur, der sich den Bolschewiki angeschlossen hat, holt Bucharin ab. Marchand ist im Kommissariat für auswärtige Angelegenheiten bei Tschitscherin tätig. Fragt nach den deutschen Verhältnissen. Er ist der Überzeugung., die Entente wolle aus Furcht vor der Weltrevolution womöglich ein militärisches Regime in

Deutschland : lieber Reaktion, als Revolution.

26. Juni 1920.

Vormittags mit den holländischen Delegierten Van Leuven und Kruyt in den Kreml. Die roten Häuser, die Kirchen mit ıhren goldenen Kuppeln zeigen überall die Mischung von Orient und Okzident und vor allem den maurischen Einfluß, wie alle charakteristischen Gebäude Moskaus. In den Höfen maurische Treppen, sehr ähnlich denen von Verona. Alles sehr heiter, sehr sommerlich.

Vergebens ins Künstlertheater gefahren. Organisation klappte wieder einmal nicht. Eine Gesellschaft von fünfzehn bis zwanzig ausländischen Kameraden kann keinen Eintriſt erhalten. Kräfte- und Zeitverschwendung. Nitschewo! Ursache: keine Billets bestellt oder irgend eine Konfusion, um nicht zu sagen Schlam- perei, jener typischen Art, über die sich niemand mehr aufregt.

Im Grunde tut es auch wirklich nichts. Wir machen statt dessen einen Spaziergang durch die Stralen. Mit Rühle und Knüfgen auf eine Bank in den Anlagen vor dem Großen Theater gesetzt. Elegant gekleidete Damen mit wenig eleganten Säcken, die irgend einen Pajok enthalten. promenieren oder sitzen auf den Bänken, plaudern, kokeftieren.

Wir kaufen uns Erdbeeren. Das Pfund kostet 600 Rubel. Also etwa 6 Mark.

Russisches Notizbuch 2303

27. Juni 1920.

Nachmiſtags mit Angelika Balabanowa, den italienischen Delegierten. Rühle. Knüfgen, dem jungen Schweden Egede Nissen zum Brianski-Bahnhof. um uns die Propagandazüge anzusehen. Die Züge heillen: Kalininzug (nach dem Vorsitzenden des Allrussischen Zentral- Exekutivkomitees). Leninzug. Swerdlow- zug, Trotzkizug. Zug der Oktoberrevolution. Es gibt im ganzen fünf. Jeder umfaßt etwa zehn oder zwölf Waggons. Jeder führt mit sich eine Druckerei. eine Radiostation. ein Kino. eine Buchhandlung. eine hygienisch-medizinische Ausstellung. Die beiden Längsseiten jedes Wagens sind mit bunten volkstümlichen Bildern bemalt. die meist den Gegensatz von früher. jetzt und künftig sehr anschaulich darstellen. Die Maler mußten zu Karrikaturisten werden. In sehr breiter. sehr saftiger Manier entwarfen sie Bilder aus dem schwelgerischen und unnützen Dasein der Bourgeoisie und stellten ihm das schwere und mühselige Leben der Bauern und Arbeiter gegenüber. In ebenso grellen Farben. oft mit großartiger Bosheit gemalt, erscheinen die Repräsentanten des Weltkapitalismus, die Staats- männer der Entente. Einige dieser modernen Fresken auf Eisenbahnwaggons erzählen die Geschichte der mannigfachen Versuche, Sowjetrußland abzuwürgen. Durch gemietete Hunde, wıe Koltschak, Denikin, Judenitsch, Pilsudski. Alles dies ist mit sehr viel Witz. sehr viel Talent. äußerst einfach und klar., noch für den simpelsten Verstand einer Bauernmagd verständlich, dargestellt. Ein solcher Propagandazug ist meistens zwei bis drei Monate unterwegs. Er bringt ın entlegene Provinzen, in kleine Städte und Dörfer Aufklärung. Belehrung und Bildung durch ’revolutionäre Plakate, Broschüren, Zeitschriften und Bücher: durch Kinovorstellungen, Demonstrationen auf wissen- schaftlichem Gebiet. Vorträgen von Spezialisten über technische Erfindungen und Einrichtungen, über Hygiene. Und eın Stab von Vertretern aller Volkskommissariate reist mit ıhm, um ım Auftrag der Sowjetregierung den örtlichen Sowjets bei ihrer

904 Wilhelm Herzog

Organisierung. Vervollkommnung ihrer Einrichtungen zu helfen und die bestehenden Institutionen und Behörden zu kontrollieren.

Nachmittags Unterhaltung mıt dem norwegischen Kameraden. Genossen Langseth, Ingenieur von Beruf. Man habe begonnen. einen lange gehegten Plan auszuführen. norwegische und schwedische Arbeiter nach Rußland zu bringen. aber die Verwirklichung des Planes erweise sich als ungemein schwierig. Langseth klagt sehr über dıe Langsamkeit und Schwerfälligkeit der Verhandlungen mit dem Kommissariat und über die falsche Behandlung der eingetroffenen Arbeiter. Ich drücke ihm umso mehr mein Erstaunen darüber aus, da man mit allen Mifeln bestrebt war und bestrebt ist. qualifizierte Arbeiter aus dem Auslande für den Aufbau, für die Neuorganisierung der Fabriken und Betriebe zu bekommen. Und ich könnte mir nur erklären. daß die Schwierigkeiten und der Mangel an Interesse, von denen er spreche, auf untergeordnete Organe zurückzuführen oder durch Überlastung der zuständigen Persönlichkeiten verursacht sel. Ich riet ihm, sich direkt mit Radek in Verbindung zu setzen, von dem ich annehme, dal er in kurzer Zeit einen Weg zur Lösung dieser Frage (falls

eie ihm wichtig genug erscheine) zeigen würde.

Montag. den 28. Juni 1920.

Vormittags 11 ½ Uhr in die III. Internationale: Sitzung des Exekutivkomitees beginnt mit eineinhalb Stunden Verspätung. Winkop. -der fliegende Hollander -, protestiert gegen die An- wesenheit von Vertretern der französischen Sozialpatrioten. gegen Cachin und Frossard. Sinowjew ist für Verhandlungen mit allen, die sich der III. Internationale anschließen wollen. An der Sitzung nehmen teil: Sinowjew. Bucharin, Radek. Karski (Marchlewski), Serrati. Bombaccı, Graziadei. Von den englischen Shop-Stewards Tanner: Cachin und Frossard, Sadoul, Reisner., Balabanowa, Klinger.

Russisches Notizbuch 905

Es sprachen: Serrati (scharf gegen die anarchistischen Syndi- kalisten). Radek für Zulassung bezw. Einladung der rechts und links von der III. Internationale stehenden ehrlichen Revolutionäre. Später sprach Losowskı über die Gewerkschafts- frage. Die Sitzung dauerte bis sechs Uhr abends. Kurz vor dem Ende erhalten wir die Radiomeldung: Kabinett Fehrenbach habe sich gebildet mit dem Deutschnationalen Heinze und dem Demokraten Koch. Reichstagspräsidium: Löbe. Präsident: Dittmann. erster Vizepräsident.

Dienstag. den 29. Juni 1920.

Vormittags. nach langen Vorbereitungen eine Schreibmaschine erkämpft. Eroberung war sehr schwierig. Eine Belagerung von fast vier Wochen führte schließlich beim österreichischen Soldatenrat zum Sieg. Zubehör fehlte: Farbband wie Maschinen- schreiberin. Das erstere erhielt ich von der III. Internationale. und der deutsche Arbeiter- und Soldatenrat stellte mir in dauernder Hilfsbereits: haft eine seiner deutschschreibenden Damen für einige Stunden des Tages zur Verfügung. Endlich konnte ich meine Eindrücke ein wenig ordnen, durcharbeiten und zu dıktieren beginnen.

Von eıner bürgerlichen Dame, die jedoch mit den Sozialisten sympathisiert und ungefahr auf den Standpunkt der Mensche- wiki steht. höre ich für diese Kreise charakteristische Äußerungen. Sie stehen in scharfer Opposition zu den Bolschewiki und glauben noch immer nicht. daß ihre Herrschaft lange dauern wird. Die bürgerliche Dame ist die Frau eines früheren Leiters einer gröberen Bank. Sie ist Mutter eines sechsjährigen Kindes, sehr gut und elegant gekleidet und klagt unaufhörlich. Sıe erzählt sehr Trauriges. Und ihre Äußerungen, so subjektiv sie gefärbt sind, interessierten mich, nıcht nur wegen ihrer Tendenz. deren antıbolschewistischer Charakter unverkennbar war. sondern nıcht weniger wegen der Auffassung, die eine bürgerliche Frau von dem gegenwärtigen proletarischen

906 Wilhelm Herzog

—— :.

Leben Sowjetrußlands hat und als ihre ehrlich eroberte Über- zeugung ausspricht. Sıe äußert: alle spekulieren. Die Arbeiter nicht weniger als die übriggebliebenen Bürger. Unmöglich sei es. das Leben zu fristen. ohne zu verkaufen. Kleider. Hausrat. Wäsche. irgend welchen Schmuck oder überhaupt irgend etwas. das auf der Sucharewka (dem Moskauer Markt der Händler) einen Wert repräsentiert. Von den Rationen und dem Gehalt könne niemand leben. Alle diese Äußerungen will sie durch zahlreiche Beispiele belegen. Ein Paar Schuhe kosten 40000 Rubel. Ein Paar Sohlen 5000 Rubel. Ein Kostüm koste 200000 bis 250000 Rubel. Und das Grundgehalt einer Sowjetangestellten oder Bureauarbeiterin beträgt etwa zwischen 3000 und 7000 Rubel. Sıe vergaß jedoch das Wichtigste : den regelmäßigen Pajok. d. h. die freie Lieferung von Brot. Mehl. Zucker und anderen Lebensmitteln an die Sowjetangestellten. Dieser Pajock das gab sie auf meine Frage zu betrage ungefähr das zehnfache des Gehalts. 30. Junı 1920.

Mittags ein Uhr mit Graziadei und Serxati - in die Sozialistische Akademie. die von dem alten sozialistischen Theoretiker Rjasanoff geleitet wird. Er empfängt uns und gibt uns einige Aufschlüsse über die Gründung und die Organisation der Sozialistischen Akademie. Sie umfaßt gegenwärtig 22 Mit- glieder. Als Mitglieder werden nur Personen aufgenommen. die sich als Theoretiker verdient gemacht und solche, die sich um die Verbreitung des Marxismus verdient gemacht haben. Aber nur Marxisten können Mitglieder sein. Auch Mensche wiki. So sind Martoff. Suchanoff. Germanski Mitglieder geworden. Der Philosoph und Ökonom Bogdanoff ist der einzige Nicht- kommunist in der Akademie.

Jetzt habe äußert Rjasanoff mit großem Bedauern die Akademie gar keine Studenten. Folge des Krieges. In der Swerdlow-Universität waren 700 und 800 Studenten. Kürzlich wurden 120 an die Front geschickt. und das sind die besten.

Russisches Notizbuk 207

Zweck der Akademie: Studien über Geschichte und Praxis der Arbeiterbewegung.

Rjasanoff gibt eine ganz kurze, aber. gut orientierende Skizze über die Entwicklung der russischen Sozialisten:

Erste Generation: Plechanoff. Axelrod, Deutsch. Zweite Generation: Lenin. Rjasanoff. Trotzki. Dritte Generation: Bucharin, Ossinski. Miljutin.

Es fehlt an jungen Theoretikern. Nachwuchs überhaupt nicht vorhanden. wie bei uns. Als ich noch Radek hinzugefügt wissen will und ihn als einen der besten Köpfe der jungen Generation bezeichne. widerspricht Rjasanoff nicht ohne malitiöse Spitze. Radek sei nicht russisch. sondern vielmehr: polnisch- österreichisch-deutsch.

1. Juli 1920.

Vormittags zum Volkskommissar für Arbeit, W. Schmidt. Das frühere Stift für adlıge junge Mädchen, das jetzt das Arbeitskommissariat beherbergt. liegt ganz nahe dem Delowoi Dwor, inmiſten schöner Gärten. Ein klosterähnlich eingerichtetes ‚Gebäude von großer Weitläufigkeit. Genosse Schmidt gibt mir eine ausführliche Darstellung der Aufgaben und Ziele des Arbeiterkommissariats. Sein Mitarbeiter Anıkst bespricht das Problem der Einwanderung deutscher Arbeiter nach Rußland. Bexor. irgend etwas in dieser Richtung unternommen würde wird eine russische Delegation nach Deutschland reisen. um die Verhältnisse an Ort und Stelle zu prüten.

Das Kommissariat für Arbeit stellt sich die folgenden Aufgaben:

1. Registrierung aller Arbeitskräfte in Rußland.

2: Verteilung der Arbeitskräfte zwischen den verschiedenen

wirtschaftlichen Ämtern.

Es gibt keinen freien Arbeitsmarkt. Alle Amter. alle Organisationen können nur durch das Arbeitskommissariat Arbeiter beziehen. Zu den Obliegenheiten des Kommissariats gehören: Arbeiterschutz. Regelung der Arbeitszeit. der Frauenarbeit.

28

908 . Wilhelm Herzog Beschaffung von Arbeiter wohnungen. Schutz der Arbeiter- gesundheit und der Arbeiterjugend. Die Arbeiterinspektionen werden von den Gewerkschaften gewählt.

3. Festsetzung der Arbeitstarife und der Arbeitsnorm.

Minimallohn für die. minimale Arbeitsnorm. Alles darüber Geleistete wird prämiert dureh Geld oder Naturalprämie. Die Tarife werden mit den einzelnen Gewerkschaften dureh- gearbeitet. Festgesetzt werden sie vom Kommissariat.

Das Kommissariat arbeitet stets in engster Verbindung mit den Gewerkschaften. Im Kommissariat selbst sitzen Vertreter der einzelnen Gewerkschaften: der Metall-. Textil-. Transport- arbeiter usw. usw.

Maximalarbeitstag überall: acht Stunden. In verschiedenen schwierigen Betrieben: sechs oder sieben Stunden. Bergarbeiter haben de facto ebenfalls sechsstündige Arbeitszeit und ihre Maximalarbeitszeit im Monat beträgt achtzehn Tage.

Für die Jugendarbeit ist durch Gesetz festgestellt, daß Jugendliche nur vom sechzehnten Lebensjahre arbeiten können. Alle Jugendlichen unter sechzehn Jahren, welche noch beschäftigt: werden, befiehlt das Gesetz zu entlassen. Noch nıcht allgemein durchgeführt. Weil noch nicht genügend Internate und professionelle Schulen errichtet werden konnten. Durchgeführt jedoch sei, daß Jugendliche zwischen vierzehn und sechzehn Jahren nur vier Stunden arbeiten dürfen. Unter vierzehn Jahren jedoch sind bereits alle entlassen. Das ist überall in den Großbetrieben geschehen. In den Privatbetrieben (die bis fünf- zehn Arbeiter beschäftigen) konnten alle jugendlichen Arbeiter auch die bis vierzehn Jahren noch nicht entfernt werden. Weil sie nicht registriert sind.

Jetzt. vom 15. Juli 1920 an. wird ein neues Mifel angewendet werden, um auch diese Betriebe zu erfassen. Arbeiter werden künftig nur Lebensmitftelkarten erhalten, wenn der Betrieb. wo sie arbeiten, sich diesen Vorschriften des Arbeitskommissariats ganz unterwirft.

Russisches Notizbuch 5 909

Schon 1918 war die Arbeitspflicht für alle Bürger von 16 bis 50 Jahren durchgeführt. Frauenarbeitspflicht ebenfalls (keine Nachtarbeit). Und nur von 16 bis 40 Jahren. Acht Wochen vor und acht Wochen nach einer Schwangerschaft ist der Frau jede Arbeit verboten. Sie bekommt während dieser Zeit ıhren vollen Lohn und Unterstützung durch ver- schiedene Nahrungsmittel. Sie erhält nach der Geburt des Kindes 40 Arschin Weiſwäsche (etwa 30: Meter). Wenn sie selbst das Kind nährt, hat sie während der Arbeit nach je drei Stunden eine halbe Stunde frei, um das Kind zu stillen. Nährt sie nicht selbst, so bekommt sie Kindermilch frei geliefert.

Minimum des Tarif lohns 1200 Rubel

Mittlerer Tarif long. 1800 Rubel

Maximum des Tarif lohns 4800 Rubel

Nachmittags Borodin bei mir im Hotel. Er wird voraus- sichtlich nach dem Osten gehen. Als Leiter einer Mission nach Turkestan und Afghanistan. | Abends 8 Uhr zu T'schitscherin. Das Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten ıst von allen bureaukratischen Institutionen Sowjetrußlands offenbar das antıbürokratischste, um nicht zu sagen das bohemehafteste. Deutsche Ordnungs- pedanten wären entsetzt. Aber auch weniger korrekte sind zunächst, nicht mit Unrecht, über dieses Durcheinander, über diesen Wirrwarr. über die Abwesenheit jeglichen Organisations- vermogens erstaunt.

Techitscherin selbst ist ein Sonderling. Ein unermüdlicher Arbeiter, der tagsüber einige Stunden schläft, um von abends 6 Uhr die ganze Nacht hindurch bis morgens gegen 9 Uhr zu arbeiten. Er macht alles selbst. da er fürchtet, sich auf seine Mitarbeiter nicht verlassen zu können. Er ist nicht fähig. sich zu entlasten und geeignete Personen als Hilfskräfte zur Er- ledigung der minder wichtigen Arbeiten und des Kleinkrams

zu gewinnen. So sieht man ihn oft mit einem Brief oder

910 ___ Wilhelm Herzog Aktenstück aus seinem Arbeitszimmer zu einem seiner jungen Sekretäre behutsam schleichen. meist einen dicken wollenen Schal um den Hals. Und es macht ihm garnichts. den Weg vom vierten zum zweiten Stock durch viele Zimmer und Gänge mehrmals des Nachts zurückzulegen. Er geht auf diesem Wege an schnarchenden Schildwachen vorbei, ganz in seine Gedanken versponnen.

Es gibt wohl heute in den auswärtigen Ämtern der Welt keinen antidiplomatischeren Diplomaten als diesen ehemaligen Aristokraten. der sich allerdings schon frühzeitig zur Partei der Bolschewiki bekannte. Er ist ein hochgewachsener Mann von etwa 50 Jahren mit meist vornübergebeugtem Oberkörper. Seine Haltung ist lässig. fast schlapp. Sofort verändert sie sich. wenn er spricht. Alle seine Worte sind wohlüberlegt. klar. nüchtern, sich stets konzentrierend auf die reale Situation. Man empfängt den Eindruck eines ungewöhnlich sachtreuen und zugleich kenntnisreichen Kopfes. der unermüdlich und unbeirrbar die großen und kleinen Verbindungsstraßen der Weltpolitik studiert. ihre noch geheimen Zusammenhänge durchschaut, künftige Entwicklungsmöglichkeiten voraussieht und wenn möglich vor- bereitet. Tschitscherin ist als Politiker das. was Theodor Fontane einmal mit Selbstironie von sich als Erzähler äußerte: ein Puler. Einer. der es liebt, sich mit den kleinen Dingen so intensiv zu befassen oder intensiver gar, als mit den so- genannten großen. Dazu gehört großer Fleiß und Liebe zur Sache. Es ıst eine etwas nüchterne Liebe, aber sıe belohnt sıch selbst.

Tschitscherin führt auf einige Fragen, die ich an ihn stellte, wie er die weltpolitische Situation gegenwärtig und im besonderen das Verhältnis Rußlands zu England beurteile, etwa folgendes aus:

„Deutschland bildet gegenwärtig in der Weltpolitik wie ich schon jüngst auf der Sitzung des Kongresses der Allrussischen Sowjets äußerte ein Vakuum. Vielleicht wird jetzt. nach der Bildung des neuen Kabinets, eine Änderung

eintreten. Wir geben uns jedoch keinen Illussionen hin. Drei Hem-

Russisches Notiz buen 2911 mungen der bisher mehrheitssozialistischen Regierung gegenüber Sowjetrußlands: 1. Angst vor der Entente. 2. Die Sabotage der Geheimräte im Ministerium des Auswärtigen (spürte man etwas von einer Leitung des Herrn Müller ?). 3. persönliche Gekränktheit der scheidemännischen Sozialisten durch die Angriffe Lenins. Alle drei Momente fallen jetzt fort. Simons, selbst ein Geheimrat. wird sich von seinen Geheimräten nichts verbieten und nichts durchkreuzen lassen. Er ist zudem wie man sagt »östlich-orientiert«. Vor allem aber ist er zweifellos klüger als sein Vorgänger, Herr Müller. Wirtschaftlich braucht Deutschland dringender denn je Verbindung mit Rußland. Die Notwendigkeit naher Beziehungen wird bei dem bürgerlich-nationalen Kabinett vielleicht selbst die Angst vor der bolschewistischen Propaganda besiegen. Wir stellen uns, da die Weltrevolution alle Länder noch nicht ergriffen hat, darauf ein, mehr oder weniger gute Beziehungen zu allen Ländern zu eröffnen und zu pflegen, deren Regime ein bürgerlich-kapitalistisches oder ein pseudo-sozialistisch-demo- kratisches noch ist. Wir sind durchaus bereit. mit den Ententestaaten in Frieden zu leben, ja ihnen selbst oder Bürgern dieser Staaten gewisse Konzessionen in Rußiand ein- zuräumen, wenn sie unseren Versuchen dem Chaos Herr zu werden und aufzubauen, nützen. Wir waren bereit. schon vor einem Jahre den Bau einer sehr großen Eisenbahn vom Innern Rußlands nach Sibirien an einen zum amerikanischen Milliardär gewordenen schwedischen Großunternehmer zu verpachten. Es wurden sehr weitgehende Verhandlungen gepflogen. Ein Stab von Sachverständigen und Vertrauensleuten, die der Amerikaner herübergeschickt hafte, arbeitete bereits mit uns. Dann zerschlug sıch plötzlich der Plan. Der Auftraggeber verlor zu seinen Abgesandten das Vertrauen und entzog ihnen das Mandat, in seinem Namen zu verhandeln. Sie sehen, wie entgegenkommend wir bösen Kommunisten sein können, wenn wir uns für unser Land davon Nutzen versprechen.

912 Romain Rolland

DAS LEBEN TOLSTOIS VON ROMAIN ROLLAND

Der Dichter des Johann Christof, dem wir die drei großen Biographien über Michel Angelo, Tolstoi und Beet- boven verdanken, hat vielleicht am innigeten das Leben des Mannes von Jasnaja Poljana beschrieben, dessen Geist und Welt er sich am nächsten fühlte. Die deutsche Ausgabe seiner vor neun Jahren erschienenen Schrift »Vie de Tolstoi wird Ende November im Verlage der Literarischen Anstalt Rüſten u. Loening. Frankfurt a. Main erscheinen.

Hier die Anfangskapitel des Buches:

Das Licht, das mıt Tolstoı erlosch, war für unsere Generation das klarste, das unsere Jugend erhellte. In der schwerumschafteten Dämmerung am Ende des 19. Jahrhunderts war er der trost- bringende Stern, dessen Anblick unsere Seelen anzog und ihnen Frieden gab. Aus dem Kreis derer, für die Tolstoi weit mehr war als ein verehrter Dichter, für die er der beste und für viele der einzige wirkliche Freund ın der ganzen europäischen Kunstwelt war, möchte ich diesem geheiligten Andenken meinen Zoll der Dankbarkeit und Liebe entrichten.

Die Tage. da ich seine Werke kennen lernte. werden nie aus meinem Gedächtnis schwinden. Es war 1886. Nach einigen Jahren stillen Keimens brachen die wunderbaren Blüten russischer Kunst aus dem Boden Frankreichs hervor. Die Übersetzungen von Tolstoi und Dostojewski erschienen auf einmal mit fieberhafter Hast in allen Verlagshäusern. Von 1885 - 1887 wurden in Paris »Krieg und Frieden Anna Karenina. Kindheit und Knabenalter -. »Polikuschka« -Der Tod des Iwan Iljitsch. Novellen vom Kaukasus und die »Volkserzählungen« veröffentlicht, Innerhalb einiger Monate, einiger Wochen breitete sich vor unseren Augen das Werk eines ganzen großen Lebens aus, in dem sich eın Volk, eine neue Welt spiegelte.

Das Leben Tolstois 913

Ich war damals gerade in die »Ecole Normale« eingetreten. Wir Kameraden waren schr verschieden voneinander. In unserer kleinen Gruppe, die realistische und ironische Geister wie den Philosophen George Dumas, Dichter, die in Liebe zur italienischen Renaissance glühten wie Suarès. Anhänger der klassischen Tradition, Stendhalianer und Wagnerianer. Atheisten und Mystiker umfaßte, in dieser Gruppe gab es häufig Wortgefechte. kamen häufig Mißstimmungen auf; aber während ein paar Monaten einte uns die Liebe zu Tolstoi fast alle. Jeder liebte ihn zweifellos aus einem anderen Grund: denn jeder fand sich selbst in ihm wieder. und für alle war er die Pfarte, die ins unermeßliche All führte, die Offenbarung des Lebens. Um uns her. in unseren Familien. in unseren Provinzen erweckte die gewaltige Stimme, die von den äußersten Grenzen Europas her ertönte. zuweilen ganz unerwartet. dieselben Sympathien. Ich entsinne mich, daf ich einmal zu meinem größten Erstaunen Leute aus meiner Niverner Heimat, die sich keineswegs für Kunst interessierten und die fast nichts lasen, mit verhaltener

Rührung über den- Tod des Iwan Iljitsche reden hörte. Ich habe bei hervorragenden Kritikern die Behauptung

gelesen, Tolstoi verdanke seine besten Eingebungen unseren romantischen Schriftstellern: George Sand und Victor Hugo. Ohne darüber zu streiten. dał man wohl kaum von einem Einfluß der George Sand auf Tolstoı sprechen kann zumal da er sie nıcht ausstehen konnte —. und ohne den viel tat- sächlicheren Einfluß, den Rousseau und Stendhal auf ihn ausübten, zu leugnen, wäre es doch falsch, die Größe Tolstois und seine Macht uns zu fesseln, seinen Ideen zuschreiben zu wollen. Der Ideenkreis, in dem sich der Künstler bewegt. ist eng begrenzt. Seine Stärke beruht nıcht ın den Ideen, sondern im Ausdruck, den er ihnen gibt, in dem persönlichen Ton, in der Prägung des Künstlers, ın der Atmosphäre, ın der er lebt.

Ob die Ideen Tolstois entlehnt waren oder nicht wir werden später noch darauf zurückkommen —, so ist doch

94 22.2000... Romain Rolland

niemals in Europa eine Stimme erklungen. die seiner gleich gekommen wäre. Wie anders sollte man den Schauer der Erregung erklären, der uns damals behel, als wir diese Seelen- musik hörten, auf die wir solange gewartet haften und die uns nottat. Die Mode sprach bei unserem Gefühl nicht mit. Die meisten von uns, auch ich, lernten das Buch von Eugen Melchior de Vogüé über den russischen Roman erst kennen, nachdem sie Tolstoi gelesen haften: und seine Bewunderung erschien uns ma im Vergleich zu unserer. De Vogüé ur- teilte hauptsächlich als großer Literaturkenner. Aber für uns genügte es. nicht. das Werk zu bewundern. wir lebten es, es war unser. Unser, durch seinen brennenden Lebenshunger. durch sein jugendliches Fühlen. Unser, durch seine Ironie, die uns die Binde von den Augen nahm, durch seinen schonungs- losen Scharfblick, sein Wissen um den Tod. Unser. durch seine Träume von brüderlicher Liebe und von Frieden unter den Menschen. Unser, durch seine furchtbare Anklage gegen die Lügen der Zivilisation. Durch seinen Realismus und durch seinen Mystizismus. Durch seinen Erdgeruch, durch seinen Sinn für die unsichtbaren Mächte und durch sein Erschauern

vor dem Unendlichen.

Diese Bücher sınd vielen von uns das gewesen, was der Werther. seiner Generation war: der wundervolle Spiegel unserer Liebeskräfte und unserer Schwächen. unserer Hoff- nungen, unserer Schrecken und unserer Entmutigungen. Es machte uns weder Sorge. alle diese Widersprüche in Einklang miteinander zu bringen. noch diese vielgestaltige Seele. in der das Weltall widerhallte. in enge religiöse oder politische Kategorien zu zwängen. wie es die meisten. die in letzter Zeit über Tolstoi gesprochen haben, tun. weil sie sich nicht von dem Streit der Parteien freimachen konnten und ihn nach der Stärke ihrer eigenen Leidenschaften, nach dem Maßstab ihrer sozialistischen oder klerikalen Cliquen beurteilten. Als ob unsere Cliquen den Gradmesser für ein Genie abgeben

Das Leben Tolstois 915

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könnten! ... Und was gilt es mir. ob Tolstoi meiner Partei angehört oder nicht! Kümmert es mich. zu welcher Partei Dante und Shakespeare gehörten, wenn ich einen Hauch ihres Geistes spüre und ihr Licht in mich aufnehme?

Wir sagten uns keineswegs wie diese Kritiker von heute: „Es gibt zwei Tolstoi. den vor dem Wendepunkt und den nach dem Wendepunkt: der eine ist der gute, und der andere ist es nichte Für uns gab es nur einen, und wir liebten ihn restlos. Denn wir fühlten instinktiv, daß in solchen Herzen alles übereinstimmt, alles ın Verbindung miteinander steht.

Was wir mit dem Instinkt fühlten. ohne es uns erklären zu können, das soll unser Verstand heute beweisen. Heute können wir es nachholen, da dieses lange Leben sein Ende erreicht hat und sich den Augen aller unverschleiert mit beispielloser Offenheit und Aufrichtigkeit darbietet. Was uns sofort auffällt, ist, wie sehr sein Leben sich von Anfang bis zu Ende gleich blieb, trotz der Schranken. dıe man von Strecke zu Strecke hat errichten wollen. trotz Tolstoi selbst. der. wenn er liebte, wenn er glaubte, wie alle leidenschaftlichen Menschen geneigt war zu glauben, daß er zum erstenmal liebe, zum erstenmal glaube, und jedesmal von da an den Anfang seines Lebens datierte. Den Anfang und immer wieder den Anfang. Wie oft hat sich dieselbe Umwälzung, derselbe Kampf ın ıhm abgespielt! Man kann nicht von der Einheit seines Denkens sprechen es war nie eine solche vorhanden —, wohl aber von dem Vorhandensein der ver- schiedenen Elemente in ihm, die bald miteinander verbündet bald einander feindlich, öfter aber feindlich waren. Die Einheit beruht weder im Geist noch im Herzen eines Tolstoi, se beruht im Kampf der Leidenschaften in ihm, in der Tragödie seiner Kunst und seines Lebens.

Kunst und Leben sınd vereinigt. Nie waren Werk und Leben inniger vermählt: das Werk hat beinahe durchgängig

916 Romain Rolland

autobiographischen Charakter: von seinem 25. Lebensjahr an läßt es uns Tolstoi Schritt für Schritt in den widerspruchs- vollen Erfahrungen seiner abenteuerlichen Laufbahn verfolgen. Sein Tagebuch. das er vor seinem 20. Jahre begann und bis zu seinem Tode fortgeführt hat, die Angaben, die er Birukow zu dessen bedeutender Tolstoibiographie machte, vervollständigen diese Kenntnis und geben uns nıcht nur Ge- legenheit. beinahe Tag für Tag in Tolstois Innerem zu lesen, sie lassen uns auch die Welt. in der sein Genie wurzelte, und die Seelen, von denen seine Seele zehrte, wiedererstehen.

Ein reiches Erbe. Von beiden Seiten ein sebr vornehmes und sehr altes Geschlecht die Tolstoi und die Volkonski —. die sich rühmten bis auf Rurik zurückzureichen und ihren Stammbaum auf Genossen Peters des Großen, auf Generäle des Siebenjährigen Krieges. Helden aus den napoleonischen Kämpfen, Dezembristen und politische Verbannte zurückführten. Familienerinnerungen, denen Tolstoi einige seiner eigenartigsten Gestalten aus Krieg und Frieden · verdankt: der alte Prinz Bolkonski, sein Großvater mütterlicherseits. ein später Re- präsentant jener von Voltaireschem Geist durchsetzten. selbst- herrlichen Aristokratie zur Zeit Katharinas II.; der Prinz Nikolaus Gregorewitsch Volkonski, ein Vetter seiner Mutter. der bei Austerlitz verwundet und vor den Augen Napoleons vom Schlachtfeld aufgelesen wurde wie der Prinz Andre: sein Vater, der einige Züge von Nikolaus Rostow hatte: seine Mutter. die Prinzessin Merie. die sanfte Hallliche mit den schönen Augen, deren Güte - Krieg und Frieden: durch- leuchtet.

Er kannte seine Eltern kaum. Die reizenden Schilderungen in Kindheit und Jugend. enthalten, wie man weill. wenig Tatsächliches. Seine Mutter starb. als er noch nicht zwei Jahre alt war. Er konnte sich demnach nicht des ge- liebten Angesichts erinnern. das sich der kleine Nikolaus Irteniew durch einen Schleier von Tränen hindurch herauf-

Das Leben Tolstoıs 917

beschwört, jenes Angesichts mit dem strahlenden Lächeln, das Freude um sich verbreitete |

„Ach wenn ich dies Lächeln in schwierigen Augenblicken sehen könnte, dann wüßte ich nicht, was Kummer ist. .«.

Aber sie vererbte ihm zweifellos ihren vollkommenen Freimut, ıhre Gleichgültigkeit gegen die öffentliche Meinung und, wie man uns versichert, ihre wundervolle Begabung, selbsterfundene Geschichten zu erzählen.

An seinen Vater hafte er immerhin einige Erinnerungen, Der war ein liebenswürdiger Spöfter mit traurigen Augen. der in unabhängiger Stellung und bar jeden Ehrgeizes auf seinen Gütern lebte. Tolstoi war neun Jahre alt, als er ihn verlor. Dieser Todesfall »brachte ihm zum erstenmal die rauhe Wirklichkeit zum Bewußtsein und erfüllte sein Herz mit Verzweif lunge. Es war das erste Zusammentreffen des Kindes mit dem Schreckgespenst, dessen Bekämpfung ein Teil seines Lebens und dessen Verklärung und Verherrlichung der andere gewidmet sein sollte.. Spuren dieser Angst kommen in einigen unvergeßlichen Zügen der letzten Kapitel von »Kındheit« zum Ausdruck, wo die Erinnerungen auf die Erzählung vom Tode und vom Begräbnis der Muſter übertragen sind. | In dem alten Hause in Jasnaja Poljana blieben fünf Kinder zurück, in dem Hause, in dem Leo Nikolajewitsch am 28. August 1828 geboren wurde, und das er. nur um zu sterben, erst zweiundachtzig J ahre später verlassen sollte. Die Jüngste, ein Mädchen namens Marie, die später Nonne wurde (bei ihr. suchte der sterbende Tolstoi ein Obdach. als er seinem Haus und den Seinen entfloh). Vier Söhne: Sergius, ein liebenswürdiger Egoist. , aufrichtig bis zu einem Grade. wie ich es niemals gesehen habes. Dmitri. ein ver- schlossener Mensch voller Leidenschaft, der sich später als Student mit Ungestüm religiösen Ubungen hingab. unbekümmert um die öffentliche Meinung. fastete. den Armen half, den Sıechen Zuflucht gewährte, der sich aber plötzlich mit der-

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selben Heftigkeit der Ausschweifung i in die Arme warf, und der dann, von Reue zernagt. ein junges Madchen. das er aus einem öffentlichen Hause her kannte, loskaufte und bei sich aufnahm und mit neunundzwanzig J ahren an der Schwindsucht starb. Nikolaus, der Älteste, der Lieblingsbruder der von der Mutter die Begabung. Geschichten zu erzählen, geerbt hafte. ironisch. schüchtern und feinfühlig veranlagt. später Offizier im Kaukasus. wo er sich das Trinken angewöhnte. Auch er war voll christlicher Nächstenliebe. lebte in den bescheidensten Verhältnissen und teilte mit den Armen alles. was er hafte. Turgenıew sagte von ihm, daß er sjene Demut dem Leben gegenüber in die Praxis übertrug. die sein Bruder Leo in der Theorie zu entwickeln sich begnügte«.

Im Hause dieser Waisen waren zwei hochherzige Frauen: die Tante Tatiana, die. wie Tolstoi sagt, zwei Tugenden besaß: Ruhe des Gemüts und Liebes. Ihr ganzes Leben war nichts als Liebe. Sie opterte sich unaufhörlich.

„Durch eie habe ich die siftliche Befriedigung. die Liebe gibt. kennengelernt.

Die andere war die Tante Als die allen half und nie Hilfe wollte, die ohne Dienstboten auskam, und deren Lieblingsbeschäftigung darın bestand, Lebensbeschreibungen von Heiligen zu lesen und sıch mit Pilgern und »Einfältigen« zu unterhalten. Von diesen sEinfältigene lebten mehrere im Haus. Eine von ihnen, eine alte Wallfahrerin. die Psalmen leierte. war die Patin von Tolstois Schwester. Ein anderer. der s»Einfältige« Grischa konnte nichts als beten und

Welnen

„O. guter Christ Grischa! Dein Glaube war so stark. daß du die Nähe Goftes fühltest, deine Liebe war so heil, daß deine Worte den Lippen entschlüpften, ohne daß dein Verstand sich Rechenschaft darüber gab. Und da du Goſtes Herrlichkeit verehrtest und nicht Worte dafür fandest. warfst

du dich tränenüberströmt zu Boden!.

Das Leben Tolstois 919

——

Wer sähe nicht den Anteil, den alle diese bescheidenen Seelen an der Entwicklung Tolstois haften? Es ist. als ob eine von ihnen das Vorbild zum Tolstoi der letzten J ahre abgegeben habe. Ihre Gebete, ıhre Liebe legten dıe Saatkörner des Glaubens in den Geist des Kindes, deren Ernte der Greis reifen sehen sollte. Außer dem »Einfältigen« Grischa spricht Tolstoi von seinen Erzählungen aus der »Kindheite nicht von diesen bescheidenen Mitarbeitern, die seine Seele aufbauen halfen. Aber wie leuchtet hingegen durch das ganze Buch diese Kindesseele. . dieses reine und liebevolle Herz, gleich einem hellen Strahl, das immer bei den anderen die besten Eigenschaften herausfand«, diese außergewöhnliche Empfindsam- keit! Ist er glücklich, dann denkt er an den einzigen Menschen, den er unglücklich weill. er weint und möchte sich für ihn aufopfern. Er umarmt ein altes Pferd und biftet es um Ver- zeihung. daß er ihm Leid zugefügt hat. Er ist glücklich zu lieben, selbst wenn er nicht geliebt wird. Schon bemerkt man den Keim seines späteren Genies, seine lebhafte Einbildungs- kraft, die ıhn bei seinen eigenen Geschichten zum Weinen bringt, sein ımmer arbeıtendes Flirn, das stets zu ergründen sucht, an was die Leute denken, seine frühreife Beobachtungs- gabe und sein weıt zurückreichendes Gedächtnis, den auf- merksamen Blick, der mitten in seiner eigenen Trauer die Gesichter auf die Echtheit ihres Schmerzes prüft. Mit fünf Jahren fühlte er, wie er sagt, zum erstenmal, daß -das Leben kein Vergnügen, sondern ein ernstes Geschäft iste.

Glücklicherweise vergaß er es wieder. Zu jener Zeit ver- tiefte er sich in volkstümliche Erzählungen, in russische Bylinen. jene mythen- und sagenhaften Träume, in biblische Geschichten vor allem die erhabene Josephslegende, dıe er als alter Mann noch als das Muster aller Kunst ‚bezeichnet, und in Geschichten aus »Tausendundeine Nachts, die jeden Abend im Hause seiner Großmufter ein blinder Erzähler, auf dem

Fenstersims sitzend, vortrug.

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—— a a N

Er studierte in Kasan mit mäßıgem Erfolg. Man sagte von den drei Brüdern: »Sergius will und kann, Dmitri will und kann nicht, Leo will nicht und kann nichte.

Er machte die Zeit durch, die er sdie Wüste der Jugend: nennt, eine Sandwüste, über die stoßweise sengende Winde wehen. Über diese Zeit sind die Geschichten aus den ersten und späteren Jünglingsjahren reich an Bekenntnissen aller- persönlichster Art. Er ist allein. Sein Hirn ist in einem Zustand ununterbrochenen Fiebers. Während eines Jahres entdeckt er von sich aus alle Systeme und versucht sich darın. Als Stoiker unterwirft er sich körperlichen Qualen. Als Epikureer gibt er sich der Ausschweifung bin. Dann glaubt er an Seelen- wanderung. um schließlich in einen sinnlosen Nihilismus zu verfallen: es scheint ihm. daß er dem Nichts ins Auge schauen kann, wenn er eich nur schnell genug danach umdreht. Er analysiert sich und analysiert sich.

Ich dachte nicht mehr an irgend eine Sache. ich dachte. daſ ich an irgend eine Sache dachte.

Diese fortgesetzte Selbstzergliederung, diese Denkmaschine, die sich im leeren Raum dreht, bleibt ihm wie eine gefährliche Gewohnheit, die, wie er sagt, ihm oft ım Leben schadete, aber aus der seiner Kunst unerhörte Hilfsquellen flossen.

Bei diesem Beginnen hafte er seine ganzen Überzeugungen eingebüllt: so glaubte er wenigstens. Mit sechzehn Jahren hörte er auf zu beten und in die Kirche zu gehen. Aber sein Glaube war nicht tot. er glimmte nur im Verborgenen weiter:

„Trotzdem glaubte ich an etwas. An was? Das könnte ich nicht sagen. Ich glaubte noch an Goft, oder vielmehr. ıch leugnete ihn nicht. Aber was für einen Got? Das wußte ich nicht. Ich leugnete auch Christus und seine Lehre nicht. aber worin diese Lehre bestand. häfte ich nicht sagen können.

Für Augenblicke träumte er davon, Gutes zu tun. Er wollte seinen Wagen verkaufen, den Erlös den Armen geben. ihnen den Zehnten seines Vermögens opfern. sich ohne Dienst-

Das Leben Tolstois 921

boten behelfen... »denn es sınd Menschen wie iche. Er schrieb während seiner Krankheit Lebensregeln. nieder. Darin weist er naiv auf die Pflicht hin. -alles zu studieren und alles zu ergründen: Rechtslehre. Medizin. Sprachen. Landwirtschaft, Geschichte, Geographie. Mathematik, den höchsten Grad der Vollendung in der Musik und in der Malerei zu erreichen« usw. Er hafte »dıe Überzeugung. daß das Schicksal des Menschen ın seiner unablässıgen Vervollkommnung liege..

Aber von seinen Jünglingsleidenschaften, von ungestümer Sinnlichkeit und grenzenloser Eigenliebe getrieben. irrte dieser Glaube an die Vollkommenheit unvermerkt ab. verlor seinen selbstlosen Charakter und wurde praktisch und materiell. Wenn er seinen Willen. seinen Körper und seinen Geist vervoll- kommnen wollte, so geschah es nur, um die Welt zu besiegen und Liebe einzuflößen. Er wollte gefallen.

Das war nicht leicht. Er war damals von affenartiger Häflichkeit: ein rohes, langes und derbes Gesicht, kurze, tief in die Stirn gewachsene Haare, kleine Augen, die einen aus dunklen Höhlen hart anblitzten. eine breite Nase, aufgeworfene Lippen und riesige Ohren. Da er sich über diese Häflıchkeit. die ihn schon als Kind beinahe zur Verzweiflung gebracht batte. nicht täuschen konnte, gedachte er das Ideal eines erstklassigen Menschen- zu verwirklichen. Um es wie die anderen erstklassigen Menschen. zu machen, ließ er sich durch dieses Ideal zum Spiel. zum unsinnigen Schuldenmachen, zur vollkommnen Ausschweifung verführen.

Etwas rettete ihn immer wieder: seine unbedingte Aufrichtigkeit.

Weißt du. warum ich dich lieber habe als all die andern sagte Nekludow zu seinem Freund. »Du hast eine erstaunliche und seltene Eigenschaft: die Offenheit.

„Ja. ich sage immer Dinge. die ich mir vor Scham kaum selbst eingestehe.«

Bei seinen schlimmsten Verirrungen urteilt er über sich

mit schonungslosem Scharfblick.

Romain Rolland

»Ich lebe geradezu tierische, schreibt er in sein Tagebuch. ieh bin völlig nıedergedrückt.«

Und bei seiner Sucht zu analysieren. zeichnet er bis aufs kleinste die Ursachen seiner Irrungen auf:

1. Unentschlossenheit oder Mangel an Tatkraft.

. Selbstbetrug.

. Unbesonnenheit.

. Falsche Scham. Schlechte Laune. . Unordnung.

. Nachahmungssucht. Wankelmut.

9, Unüberlegtheit.

Mit derselben Freiheit des Urteils bekriſtelt er noch als Student die gesellschaftlichen Sitten und die Verbohrtheiten der Intellektuellen. Er macht sich über die Universitäts- wissenschaft lustig. weist ganz ernsthaft die historischen Studien ` zurück und läßt sich für die Kühnheit seiner Anschauungen in Haft nehmen. In dieser Zeit entdeckt er Rousseau, - die Bekenntnisse. den »Emil«.. Das trifft ihn wie ein Donnerschlag.

sIch trieb Kultus mit ihm. Ich trug sein Konterfei im Medaillon um den Hals wie ein Heiligenbild.

Seine ersten philosophischen Versuche eind Erläuterungen zu Rousseau (1846 1847).

Aber er wird der Universität und der - erstklassigen Menschen, so überdrüssig, daß er nach Jasnaja Poljana zurück- kehrt und sich in seine Felder vergräbt (1847 bis 1851): er nimmt wieder Fühlung mit dem Volk und will ihm helfen. will sein Wohltäter und Erzieher sein. Seine Erfahrungen aus jener Zeit verwertet er in einem seiner ersten Werke. im Morgen des Gutsherrne (1852), einer bemerkenswerten Novelle. deren Held der Prinz Nekludow ist. hinter welchem Decknamen sich Tolstoi mit Vorliebe verbirgt.

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Das Leben Tolstois 923

ie e a —— N DI no

Nekludow ist 20 Jahre alt. Er hat das Universitäts- studium aufgegeben, um sich seinen Bauern zu widmen. Ein Jahr lang arbeitet er daran, ıhnen Gutes zu tun, und wir sehen ihn, wie er sich bei einem Besuch im Dorf von der spöttischen Gleichgültigkeit. dem einge wurzelten Miftrauen, der Gerissenheit, dem Leichtsinn, dem Laster und der Undank- barkeit zurückgestoßen fühlt. Alle seine Bemühungen sind vergeblich. Er kehrt entmutigt zurück und sinnt über seine Träume nach, die er vor einem Jahr hatte. über seine edel- mütige Begeisterung. ⸗seine damalige Überzeugung, daß die Liebe und das Gutsein Glück und Wahrheit bedeuteten, das einzig mögliche Glück und die einzig mögliche Wahrheit auf dieser Welt.. Er kommt sich besiegt vor, ist voll Scham

und Überdruf.

»Als er am Klavier saß. berührten seine Finger unbewufßt die Tasten. Ein Akkord stieg auf. dann ein zweiter. ein dritter .. er begann zu spielen. Die Akkorde waren nicht ganz gleichmäßig: oft waren sie gwöhnlich bis zur Banalität und verrieten keinerlei musikalische Begabung. Aber er fand dabei ein unerklärbares, trauriges Vergnügen. Bei jedem Har- monie wechsel erwartete er mit Herzklopfen den nächsten Akkord. und was diesem fehlte, ergänzte er ungefähr mit seiner Phantasie. Er hörte den Chor, das Orchester.. Und das größte Vergnügen bereitete ihm seine lebhafte Phantasie, die ıhn ohne Schranken, aber mıt bewundernswerter Klarheit die verschiedenartigsten Bilder und Begebenheiten aus Ver- gangenheit und Zukunft vorspiegelte 2

Er sieht die liederlichen, mißtrauischen, lügenhaften, faulen und dickfälligen Muschiks wieder. mit denen er kurz vorher gesprochen hafte. Aber diesmal sieht er sie mit all ihren guten Eigenschaften, nicht mehr mit ihren Lastern; er führt sich mit Liebe in ihre Herzen ein: er entdeckt in ihnen Geduld und Ergebung in ihr er drückendes Sckicksal, Versöhnlichkeit gegen

erliſtenen Schimpf. Liebe zu ihren Anverwandten, und er 29

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sieht ein, warum sie aus Gewohnheit und Frömmigkeit am Vergangenen hängen. Er sieht ihre Tage, die nutzbringender. gesunder und ermüdender Arbeit gewidmet sind, mit anderen Augen an...

Wie schön.« murmelt er. »W arum bin ich nicht einer der ihren

Der ganze Tolstoi steckt schon in dem Helden dieser ersten Novelle. mit seinem klaren Schauen einerseits und seinen nie schwindenden Illusionen auf der anderen Seite. Er beobachtet die Menschen mit unbeirrbarem Wirklichkeitssinn, doch schließt er nur. die Augen, so schlagen ihn seine Träume und seine Liebe zu den Menschen wieder ın Bann.

Aber der Tolstoi von 1850 ist weniger geduldig als Nekludow. Jasnaja hat ihn enttäuscht, er ist des Volkes so müde wie der Vornehmen; seine Rolle bedrückt ihn: es liegt ihm nichts mehr an ihr. Außerdem drängen ıhn seine Gläubiger. 1851 flieht er in den Kaukasus zur Armee, bei der sein Bruder Nikolaus Offizier ist.

Kaum ist er dort, so findet er in der heiteren Gebirge- landschaft seine Fassung und seinen Goſt wieder:

„Vergangene Nacht habe ich wenig geschlafen .. Ich habe zu Gott gebetet. Es ist mir unmöglich. die Süßigkeit des Ge- fühls zu beschreiben, die ich beim Beten empfand. Ich habe die üblichen Gebete gesprochen und dann noch lange weiter gebetet. Ich wünschte etwas sehr Gewaltiges. etwas sehr Schönes... Was? Das kann ich nicht sagen. Ich wollte auf- gehen ın dem Ewigen, ich bat ihn, mir meine Fehler zu ver- zeihen.... Aber nein, ich bat nicht. ich fühlte, daß er mır schon vergab, da er mich diesen glückseligen Augenblick erleben liel. Ich betete. und gleichzeitig fühlte ich, daß ich nichts zu sagen hafte, dab ich nicht beten konnte, daß ich nicht zu beten wagte... Ich habe ihm nicht in Worten ge- dankt. ich dankte ihm im Fühlen. . Kaum eine Stunde war vorüber, da hörte ich schon wieder die Stimme des Lasters.

Ich War eingeschlafen und träumte von Ruhm und von Frauen:

——— —— BES:

Das Leben Tolstois _ | 925

das war also stärker als ich. Was lag daran! Ich danke Gott für diesen Augenblick der Glückseligkeit, und daß er mir meine Kleinheit und meine Größe gezeigt hat. Ich will beten, aber ich kann nicht; ich will begreifen. aber ich wage es nicht. Ich beuge mich deinem Willen!

Das Fleisch war nicht besiegt (das wurde es nie): der Kampf zwischen den Leidenschaften und Gott vollzog eich im geheimsten Herzen. Tolstoi vermerkt in seinem Tagebuch die drei Teufel, die ihn martern: 1. Spiel wut: ein aussichts- reicher Kampf. 2. Sinnlichkeit: ein sehr schwieriger Kampf. 3. Eitelkeit: der schrecklichste von den dreien.

Im selben Augenblick, in dem er davon träumte. für die andern zu leben und sich zu opfern. übermannten ihn wol- lüstige oder leichtfertige Vorstellungen: das Bild irgendeiner Kosakenfrau oder die Verzweiflung, die ihn ergriffe, wenn die linke Schnurrbartspitze mehr in die Höhe stände als die rechte. Was lag daran!]. Gott war da und verließ ihn nicht mehr. Die Hitze des Kampfes selbst wirkte befruchtend, alle Kräfte des Lebens wurden dadurch gesteigert.

Ich denke, daß die leichtfertige Uberlegung. die mich zur Reise in den Kaukasus veranlaßte. mir von oben eingegeben wurde. Die Hand Gottes hat mich geleitet. Ich werde ihm stets dankbar dafür sein. Ich fühle, daß ich hier besser ge- worden bin, und bin fest überzeugt, daß alles. was mir auch zustoſlen mag. nur zu meinem Besten ausschlagen wird. da ja Gott selbst es gewollt hat

Das ist die Dankeshymne der Erde im Frühling. Sie be- deckt sich mit Blumen. Alles ist gut. alles ist schön. Im Jahre 1852 treibt der Genius Tolstoi seine ersten Blüten: »Die Kindheit. -Der Morgen des Gutsherrn«, -Ein Überfall«. «Die Knabenjahree: und er dankt dem Lebensgeist. der ihn befruchtet hat.

Die Geschichte meiner Kindheit. wurde im Herbst 1851 m Tiflis begonnen und am 2. Juli 1852 in Piatigorsk im

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Kaukasus beendet. Es ist seltsam. daß Tolstoi im Rahmen dieser Natur. die ihn berauschte, inmiſten dieses neuen Lebens und der aufregenden Kriegsgefahr, während er eine Welt von ihm bis dahin unbekannten Charakteren und Leidenschaften entdeckte. in jenem ersten Werk auf die Erinnerungen an sein verflossenes Leben zurückgreift. Aber als er die Kindheit. schrieb, war er krank, seine militärische Tätigkeit war jäh unterbrochen worden: und während der langen Genesungszeit befand er sich, da er allein war und Schmerzen hatte. in rührseliger Stimmung, ın der sıch die Vergangenheit vor seinen Augen abrollte. Nach der erschöpfenden Anspannung der mil- lichen letzten Jahre war es ıhm angenehm. die Wunderbare. unschuldsvolle, poetische und fröhliche Zeite des Kindesalters wieder zu erleben und wieder -ein gutes. weiches und liebe- fähıges Kinderherz zu bekommen. Bei dem Ungestüm seiner Jugend. der Fülle von Plänen, seiner dichterischen Erfindungs- gabe, die zu epischer Breite neigte und sıch daher selten mıt einem einzelnen Vorwurf befaßte, für die die großen Romane vielmehr nur Glieder einer langen historischen Kette waren, Bruchstücke eines unermeßlichen Ganzen, das nie zu Ende geführt werden konnte, sah Tolstoi im übrigen zu diesem Zeitpunkt in den Geschichten aus der Kindheit nur die ersten Kapitel einer »Geschichte von vier Epochen« die auch sein Leben im Kaukasus einbegreifen und zweifellos mit der Offenbarung Gottes durch die Natur ihren Abschluß finden sollte.

Tolstoi ist später mit seinen Geschichten aus der - Kindheit. denen er einen großen Teil seiner Volkstümlichkeit verdankt, sehr streng ins Gericht gegangen.

Sie sind so schlecht. sagte er zu Birukow. »sie sind mit so geringer literarischer Ehrlichkeit geschrieben ... Es ist nicht aus ihnen herauszuholen..

Er stand mit dieser Ansicht allein. Das Werk, das er als anonymes Manuskript an die große russische Zeitschrift

Das Leben Tolstois u 927

»Sowremennik«e (Der Zeitgenosse) geschickt hafte. wurde sofort veröffentlicht (am 6. September 1852) und hafte einen Riesen- erfolg, der von allen europäischen Lesern bestätigt wurde. Indessen versteht man, daß es trotz seines dichterischen Reizes. seines vornehmen Stiles und seines Feingefühls dem späteren Tolstoi mißfallen hat.

Es hat ihm aus denselben Gründen mißfallen, aus denen es den anderen gefiel. Man muß zugeben: abgesehen von der Erwähnung gewisser lokaler Typen und einigen wenigen Seiten, die durch das religiöse Empfinden oder durch die Echtheit des Gefühls auffallen. ıst noch herzlich wenig von der Persönlichkeit Tolstois darin zu merken. Eine sanfte, weiche Empfindsamkeit. die ibm später immer unsympathisch war, und die er aus seinen anderen Romanen verbannte, herrscht vor. Wir kennen sie, diese Mischung von Humor und Rührseligkeit; sie stammt von Dickens her. Bei der Aufzählung seiner Lieblingsbücher zwischen 14 und 21 Jahren tragt Tolstoi in sein Tagebuch ein: »Dickens: David Copperheld. Bedeutender Einfluſ. Im Kaukasus liest er den Band noch einmal.

Zwei weitere Einflüsse verzeichnet er selbst: Sterne und Toepffer. Ich war damals von ihnen begeistert · sagte er.

Wer sollte glauben, daß die Genfer Novellene für den Dichter von Krieg und Friedens das erste Vorbild waren? Und doch braucht man es nur zu wissen. so findet man schon in den Geschichten aus der »Kindheite ihre gutmütige und spo@lustige Biederkeit wieder, die hier nur in eine vornehmere Natur verpflanzt ist. So war Tolstoi schon durch seine ersten Werke eine bekannte Persönlichkeit geworden. Aber seine Eigenart mußte sich noch befestigen. Das dauerte nicht lange. Die Jugend. (1853). die weniger rein und weniger abgerundet ist als die Kindheit, deutet auf selbständigere psychologische Beobachtung. auf ein sehr lebendiges Naturgefühl und ein so zerquältes Herz hin. wie sie Dickens und Toepffer wohl kaum batten. In dem »Morgen des Gutsherrn« (Oktober 1852)

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erscheint der Charakter Tolstois fertig entwickelt mit seiner unerschrockenen Beobachtungstreue und seinem Glauben an Liebe. Unter den bemerkenswerten Bauernporträts, die er in dieser Novelle zeichnet, findet sich schon die Skizze zu einer seiner schönsten Figuren aus seinen »Volkserzählungene: Der Alte mit dem Bienenstock. der kleine Alte unter der Birke. wie er die Hände ausbreitet und die Augen in die. Höhe richtet: rings um ihn ein Schwarm golden schimmernder Bienen. die ihn umschwirren. ohne ihn zu stechen, und einen Kranz um seinen in der Sonne leuchtenden kahlen Schädel bilden.

Aber die typischen Werke jener Zeit sind die, die seine augenblicklichen Gefühle unmittelbar wiedergeben: Die Geschichten aus dem Kaukasus. Die erste, »Der Überfall. (am 24. Dezember. 1852 beendet) erweckt durch die Pracht der Landschaftsbilder Bewunderung: Ein Sonnenaufgang in den Bergen am Ufer eines Flusses: ein merkwürdiges Gemälde, das die Schaften und die Geräusche der Nacht mit packender Eindringlichkeit wiedergibt; und die Heimkehr am Abend, da in der Ferne die schneebedeckten Gipfel im blauen Nebel verschwinden und die schönen Stimmen der singenden Soldaten aufsteigen und in der dünnen Luft verwehen. Mehrere Ge- stalten aus Krieg und Frieden · erproben hier schon ihre Lebens fähigkeit: der Hauptmann Khlopow, der wahre Held, der sich nicht zum Vergnügen schlägt. sondern weil es seine Pflicht ist. seines jener einfachen, ruhigen russischen Ge- seichter. denen man froh und gerne gerade in die Augen schaute Schwerfällig. linkisch. ein bißchen lächerlich. un- empfindlich gegen seine Umgebung ist er der einzige. der sich in der Schlacht gleichbleibt. während alle anderen sich ändern : ser ist genau 80 wie immer: dieselben ruhigen Bewegungen. dieselbe gleichmäßige Stimme, derselbe einfache Ausdruck in seinem naiven derben Gesicht.. Neben ihm der Leutnant, der die Rolle eines Lermontowschen Helden spielt und der, obwohl er ın Wirklichkeit der gutmütigste Kerl ist. tut, als ob die

Das Leben Tolstois 929

wildesten Gefühle ihn beherrschten. Und dann der arme, kleine Unterleutnant. ganz begeistert in der Aussicht auf sein erstes Gefecht,- überströomend von Zärtlichkeit, bereit. jedem um den Hals zu fallen. bewundernswert und lächerlich zu- gleich, der aich wie Petia Rostow stumpfsinnig töten läßt. In der Mitte des Bildes die Gestalt Tolstois, der beobachtet. ohne sich in die Gedanken seiner Gefährten einzumengen und der schon hier seinen Protestschrei gegen den Krieg erklingen läße:

»Können die Menschen denn ın dieser so schönen Welt, unter dem unermeßlichen Sternenhimmel nicht zufrieden leben? Wie können sie hier ihre Zerstörungswut, ihre Gefühle der Bosheit und der Rache gegen ıhren Nächsten aufrecht er- halten? In der Berührung mit der Natur, in der das Schöne und Gute am unmiftelbarsten zum Ausdruck kommt. sollte alles Schlechte aus dem Menschenberzen verschwinden.

Andere aus jener Zeit stammende Geschichten aus dem Kaukasus sind erst später zu Papier gebracht worden: 1854—1855 »Der Holzschlags, von peinlichster Naturtreue, ein wenig kalt, aber voll merkwürdiger Aufschlüsse über die Seele des russischen Soldaten, Aufzeichnungen für die Zu- kunft; 1856, eine »Begegnung im Feldee mit einem Mos- kauer Bekannten, einem verkommenen Lebemann und degra- dierten Unteroffizier. einem feigen. versoffenen Lügner. der es nicht vermag, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dal er ebensogut getötet werden könne wie einer seiner Soldaten. die er verachtet und von denen der geringste hundertmal mehr wert ıst als er.

Über all diese Werke erhebt sich als höchster Gipfel dieser ersten Gebirgskette einer der schönsten lyrischen Ro- mane, die Tolstoi geschrieben hat, der Sang seiner Jugend, das Gedicht vom Kaukasus, Die Kosaken Die Pracht der schneebedeckten Berge, deren edle Linien sich von dem strah- lenden Himmel abheben, erfüllt das ganze Buch mit ıhrer Musik. Und das Werk ist einzig durch das höchste, was

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dem Genie gegeben ist, »den allmächtigen Gof der Jugend, wie Tolstoi sagt, jenen Schwung. der nie wiederkehrt . Ein Bergstrom im Frühling! Eine Fülle von Liebe!

„Ich liebe. ich liebe so innig! .... Ihr Tapfern! Ihr Guten! .. wiederholte er und wollte weinen. Warum? Wer war tapfer? Wen liebte er? Er wußte es nicht recht.

Dieser Rausch des Herzens dauert ungebändigt fort. Der Held Oleninn ist wie Tolstoi in den Kaukasus gekommen. um dort aus dem Abenteurerleben frische Kräfte zu schöpfen: er verliebt sich in eine junge Kosakin und verliert aich in dem Chaos seiner widersprechenden Hoffnungen. Bald glaubt er, daß »für andere leben, sich aufopfern. Glück bedeutete, bald, daß sich opfern nur Dummheit iste: dann möchte er fast mit dem alten Kosaken Eroschka glauben: Alles hat seine Berechtigung. Goft hat alles zur Freude des Menschen erschaffen. Nichts ist Sünde. Sich mit einem hübschen Mädel belustigen. ist keine Sünde, ist ewige Seligkeit« Aber was braucht er denn nachzudenken? Es genügt zu leben. Das Leben ist lauter Güte, lauter Glück, das allmächtige Leben, das all- umfassende Leben: das Leben ist Gof. Ein glühender Natu- ralismus bäumt sich auf und zerreißt ihm das Herz. Allein im Wald, »smiften unter wildwachsenden Pflanzen, einer Menge von Tieren. Vögeln und Mückenschwärmen, in dem schaſtigen Grün. der dufterfüllten, heißen Luft. zwischen kleinen, trüben Rinnsalen, die allenthalben unter dem Laub dahınplätschern.« wenige Schritte von den Fallstricken des Feindes entfernt wird Oleninn plötzlich von einem solchen grundlosen Glücksgefühl erfaßt, daß er. wie er es als Kind gewöhnt war, das Kreuz schlägt und irgend jemand danken möchte. Wie ein indischer Fakir findet er Genuß darin. sich zu sagen, daß er alleın und verlassen in diesem Strudel des Lebens ist, das ihn aufsaugt. daß Myriaden unsichtbarer Wesen. die überall versteckt sind, in diesem Augenblick seinen Tod bedauern, dal jene Tausende

von ihn umschwirrenden Insekten, einander zurufen:

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„Hierher. hierher, Kameraden! Hier ist einer zu stechen! -

Und es war ihm klar, daß er hier kein russischer Herr aus der Moskauer Gesellschaft. der Freund und Verwandte von dem und jenem war. sondern einfach ein Wesen wie die Mücke, der Fasan, der Hirsch, wie alle Lebewesen. die ihn jetzt umschlichen.

„Wie sie werde ich leben und sterben. Und Gras wird darüber wachsen

Und sein Herz ist voll Freude.

Tolstoi lebt in jener Zeit in einem Rausch von Kraft und Liebe zum Leben. Er umfaßt die Natur und geht in ihr auf. Ihr vertraut er seine Schmerzen. seine Freude und seine Liebes- gefühle an. Aber dieser romantische Rausch tut niemals der Klarheit seines Blickes Abbruch. Nirgends mehr sind die Landschaften mit einem solchen Können und die Gestalten mit mehr Wahrhaftigkeit gezeichnet als in dieser glühenden Dichtung. Der Widerspruch zwischen Natur und Welt. der den Kern des Buches ausmacht und der Tolstois ganzes Leben lang ein Lieblingsgegenstand seiner Gedanken sein sollte, eın Artikel seines Glaubensbekenntnisses, läßt ihn schon hier, um das Komödienhafte der Welt zu geißeln, einige der herben Töne der »Kreuzersonatee anschlagen. Aber er ist nicht weniger schonungslos gegen die, die er liebt; und die Natur- wesen, die schöne Kosakin und ihre Freunde sind in grellstem Licht gesehen mit ıhrer Selbstsucht, ihrer Habgier. ihrer Schurkerei und allen ihren Lastern.

Eine außergewöhnliche Gelegenheit sollte eich ihm bieten, diese heldenhafte Wahrheitsliebe auf die Probe zu stellen.

Im November 1853 war der Türkei der Krieg erklärt worden. Tolstoi ließ sich der rumänischen Armee zuteilen, ging dann zur Krimarmee über und traf am 7. November 1854 in Sewastopol ein. Er glühte vor Begeisterung und Vaterlandsliebe. Er tat wacker seine Pflicht und war oft ın Gefahr, besonders von April bs Mai 1855. wo er einen

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über den anderen Tag Dienst bei der Batterie der 4. Bastei hafe. Da er monatelang ein Leben in beständiger Aufregung und Angst, Aug in Aug mit dem Tode führte, belebte sich sein religiöser Mystizismus wieder von neuem. Er führt Gespräche mit Gott. Im April 1855 verzeichnet er in seinem Tagebuch ein Gebet zu Gott. in dem er ihm für seinen Schutz in der Gefahr dankt und ihn anfleht, ihn weiter zu beschützen, um das ewige glorreiche Ziel des Seins, das ich noch nicht kenne. aber schon ahne. zu erreichen. Dieses Ziel seines Lebens war keineswegs die Kunst, es war schon jetzt die Religion. Am 5. März 1855 schrieb er:

„Ich war einer großen Idee nähergekommen, deren Ver- wirklichung ıch meın ganzes Leben opfern wollte. Diese Idee ist dıe Gründung einer neuen Religion, der Religion Christi, aber von Glaubenssätzen und Wundern befreit... In klarem Bewußtsein handeln, um die Menschen durch dıe Religion zu einen.

Das sollte das Programm seines Alters sein.

Um sich indessen von den ihn umgebenden Eindrücken abzulenken. machte er sich wieder ans Schreiben. aber wie hätte er die nötige geistige Freiheit finden sollen, um im Schrapnellhagel den dritten Teil seiner Erinnerungen aus der „Jugend zu verfassen?, Das Buch ist verworren und man kann sein Durcheinander und an manchen Stellen eine gewisse ab- strakte analysierende Trockenheit mit Abteilungen und Unter- abteilungen in der Manier Stendhals den Bedingungen. unter denen es entstand, zuschreiben. Aber man muß die ruhige Durchdringung der zahllosen wirren Gedanken und Träume bewundern, die sich in dem jungen Hirn zusammendrängen. Tolstoi ist in diesem Werk von seltener Aufrichtigkeit gegen sıch selbst. Und von welcher poetischen Frische ist er zuweilen, z. B. in dem reizenden Bild vom Frühling ın der Stadt, in der Erzählung von der Beichte und vom eiligen Gang ins Kloster

wegen der vergessenen Sünde.

Das Leben Tolstois 933

Ein leidenschaftlicher Pantheismus gibt gewissen Seiten des Buches eine lyrische Schönheit, deren Ton an die »Erzählungen aus dem Kaukasus erinnerte. So die Beschreibung jener Sommernacht:

»Der ruhige Glanz des leuchtenden Halbmonds. Der schillernde Teich. Die alten Birken, deren langsträhnige Zweige auf der einen Seite im Mondlicht silbern schimmerten und auf der andern Seite Busch und Weg mit schwarzen Schaften zudeckten. Hinter dem Teich der Ruf der Wachtel. Das kaum hörbare Geräusch zweier alter Bäume, die sich aneın- anderscheuern. Das Summen der Mücken und das Herabfallen eines Apfels auf trockene Blätter. Frösche, die bis an die Stufen der Terrasse hüpfen und deren grünliche Rücken ım Mondstrahl schillern .. . Der Mond steigt höher, schwebt im klaren Himmel und erfüllt den Raum: der wunderbare Glanz des Teiches wird noch strahlender, die Schaften noch schwärzer, das Licht noch heller... Doch ich armseliger Erdenwurm, der ıch schon von allen menschlichen Leiden- schaften beschmutzt, aber erfüllt von der ganzen unendlichen Macht der Liebe war, ıch hafte ın diesem Augenblick das Gefühl, als ob die Natur. der Mond und ich eines seien.“

Aber die Wirklichkeit der Gegenwart sprach lauter als die Träume der Vergangenheit: sie verschaffte sich gebieterisch Gehör. Die - Jugend- blieb unvollendet und der Stabshauptmann Graf Leo Tolstoi beobachtete in der Panzerung seiner Bastei im Kanonendonner, inmitten seiner Kompagnie. die Lebenden und die Sterbenden und zeichnete ihre Ängste und seine eigenen in seinen unvergeßlichen Erzählungen Sewastopol auf.

Diese drei Erzählungen Sewastopol im September 1854, Sewastopol i im Mai 1855 und Sewastopol i im August 1855. werden gewöhnlich i in einen Topf geworfen. Sie sind in- dessen sehr verschieden voneinander. Besonders die zweite Er- zahlung unterscheidet sich in der Empfindung und im Stil von den beiden anderen. Diese sind vom Patriotismus beherrscht:

über der zweiten schwebt unerbiftliche Wahrheit.

934 Romain Rolland

Man erzählt, daß dıe Zarın nach der Lektüre der ersten Geschichte weinte und daß der Zar in seiner Bewunderung befahl, man solle diese Seiten ins Französische übersetzen und den Verfasser an einen ungefährlichen Platz stellen. Man ver- steht das leicht. Alles verherrlicht hier das Vaterland und den Krieg. Tolstoi ist gerade erst hingekommen, seine Begeisterung ist vollkommen; er schwimmt im Heroismus. Er bemerkt bei den Verteidigern von Sewastopol weder Ehrgeiz noch Eigen- liebe noch sonst irgend ein niedriges Gefühl. Für ihn ist das Ganze ein Heldengedicht, dessen Heroen »Griechenlands würdıg« sind. Andererseits legen diese Aufzeichnungen keinerlei Zeugnis ab von einem Streben nach Erfindung oder von dem Versuch, objektiv zu schildern: der Verfasser spaziert durch die Stadt: er sieht sehr klar, erzählt aber alles in unfreier Form: Man sieht... man tri ein, man bemerkt... Es ist eine bessere Berichterstaftung mit schönen Natureindrücken.

Ganz anders ist die zweite Szene: Sewastopol im Mai 1855. Schon in den ersten Zeilen liest man: Tausende mensch- licher Eitelkeiten sind hier aufeinander gestoßen oder haben im Tod Ruhe gefunden

Und dann:

. und da es viel Menschen gab, gab es viel Faelle Eitelkeit Eitelkeit, überall Eitelkeit, selbst an der Pforte des Grabes. Es ist die unserm Jahrhundert eigentümliche Krankheit... Warum sprechen Homer und Shakespeare von Liebe, Ruhm und Leid und warum ist die Literatur unseres Jahrhunderts nichts als die endlose Geschichte der Eitlen und der Snobs?.

Die Erzählung, die nicht mehr ein einfacher Bericht des Autors ist, sondern die die Menschen und ihre Leidenschaften unmittelbar auftreten läßt. zeigt, was sich hinter dem Heldentum verbirgt. Der klare, unbeirrbare Blick Tolstois dringt bis in die Tiefen der Herzen seiner Waffenbrüder: in ihnen liest er, wie in sich selbst, Hochmut und Furcht, das Narrenspiel der Welt, das noch drei Schritt vorm Tode weitergespielt

Das Leben Tolstois | 935 wird. Besonders die Furcht wird eingestanden, ihrer Schleier beraubt und ganz nackt gezeigt. Diese unaufhörlichen Angst- zustände, dieser quälende Gedanke an den Tod werden ohne Scham und Mitleid mit fürchterlicher Offenheit aufgedeckt. In Sewastopol hat Tolstoi alle Sentimentalität verlernt. jenes unklare. weibische. weinerliche Mitleid.. wie er mit Gering- schätzung sagt. Und niemals hat sein Talent zur Analysierung. das man sich ‚schon während seiner Jünglingsjahre triebhaft entwickeln sah und das manchmal einen geradezu krankhaften Charakter annehmen sollte. eine bis zur Halluzination verschärfte Intensität erlangt. wie bei der Erzählung vom Tode Praslchulchins. Dort sind zwei volle Seiten der Beschreibung dessen gewidmet. was sich in der Seele des Unglücklichen abspielt. während der Sekunde. da die Bombe eingeschlagen ist und zischt. ehe sie explodiert. und eine Seite schildert, was sich in ihm abspielt. nachdem sie explodiert ist und -er auf der Stelle durch einen Treffer in die Brust getötet worden iste Wie Zwischen- aktmusık miea im Drama öffnen sich in diese Schlachten- bilder weite Liehtungen, Sonnenstrahlen. die Symphonie des Tages, der über dem wundervollen Gelände anbricht und wo Tausende von Männern mit dem Tode ringen. Und der Christ Tolstoi vergibt den Patriotismus seiner ersten Erzählung und flucht dem ruchlosen Krieg:

„Und diese Menschen. Christen. die alle dasselbe ri Gesetz der Liebe ‚und des Opferns bekennen. fallen beim Anblick ihrer Tat nicht reuig auf die Knie vor dem. der. da er ihnen das Leben gab. in die Seele eines jeden neben die Furcht vor dem Tode die Liebe zum Guten und Schönen pflanztel Sie umarmen einander nicht wie Brüder mit Tränen

der Freude und des Glückes.

Im Augenblick, als Tolstoi diese Novelle beendet hat, die herb ım Ton wie noch keines seiner Werke ist, fühlt er sich von Zweifeln ergriffen. Hafte er unrecht, so zu reden!

936 __Romain Rolland / Das Leben Tolstois

Ein peinigender Zweifel ergriff mich. Vielleicht sollte man das garnicht aussprechen. Vielleicht ist das. Was ich aus- spreche, eine jener schlimmen Wahrheiten. wie sie unbewußt in eines jeden Seele schlummern und die nicht zutage gefördert werden dürfen, weil sie sonst schaden anrichten. wie man die Hefe nicht bewegen soll. um den Wein nicht zu verderben. Wo ist das Schlechte, das man vermeiden soll. wo das Schöne. das man nachahmen soll? Wer ist der Bösewicht und wer ist der Held? Alle sind gut und alle sind schlecht.

Aber er findet sich stolz wieder:

Der Held meiner Novelle. den ich mit der ganzen Kraft meines Herzens liebe. den ich in seiner ganzen Schönheit zu zeigen versuche, der immer war, ist und sein wird, ist die Wahrheit.

Nachdem der Direktor des Sowremennik. Nekrasow. diese Seiten gelesen hatte. schrieb er an Tolstoi:

Gerade das braucht die russische Gesellschaft von heute: die Wahrheit, die Wahrheit. von der seit Gogols Tod so wenig in der russischen Literatur übriggeblieben ist... Jene Wahrheit. die Sie in unsere Kunst tragen, ist für uns etwas ganz Neues. Ich fürchte nur eines: daß die Zeit und die Niedertracht des Lebens. die Taubheit und Stummheit der uns Umgebenden aus Ihnen macht, was sie aus den meisten von uns gemacht haben. daß sie in Ihnen die Energie töten.«

Nichts derartiges war zu befürchten. Die Zeit. die die Energie der Durchschniftsmenschen verbraucht. hat die Tolstois nur gehärtet. Aber ım Augenblick weckten die schweren Prüfungen des Vaterlandes, die Einnahme von Sewastopol. mit einem Gefühl schmerzvoller Frömmigkeit aufs neue das Bedauern über seine allzu erbarmungslose Offenheit.

Maxim Gorki / Rußland und die Weltliteratur 937

RUSSLAND UND DIE WELTLITERATUR VON MAXIM GORKI

Maxim Gorki schrieb das folgende Vorwort zu dem ersten Katalog des Verlages. der Weltliteratur, den er mit Hilfe der bolschewistischen Regierung gegründet bat. Alle seine Kräfte widmet Gorki wie er mir in Perro- grad sagte gegenwärtig dem Aufbau dieses Verlages.

Ist es wirklich nötig, ein Wort über die Notwendigkeit einer ernsthaften Beschäftigung mit der Literatur oder zum mindesten ihrer genauen Kenntnis zu verlieren? Literatur ist das Herz der Welt, beflügelt von allen Freuden und Sorgen. Hoffnungen und Träumen der Menschen, ihrer Verzweiflung und Wut. ihrer Ehrfurcht vor der Schönheit der Natur, ihrem Schauder im Angesicht ihrer Mysterien. Dieses Herz sehnt sıch heftig und in Ewigkeit nach Selbst- erkenntnis, als ob in ihm all die Substanzen und Kräfte der Natur, die den Menschen als höchsten Ausdruck ihrer Vielfältigkeit und Weisheit geschaffen haben, danach strebten, Sinn und Zweck des Lebens zu deuten.

Literatur kann außerdem das alles-schauende Auge der Welt genannt werden, dessen Blick in die tiefsten Geheim- nisse des menschlichen Geistes dringt. Das Buch ein so einfaches und uns allen bekanntes Ding —, ist tatsächlich eins der größten und geheimnisvollsten Wunder der Welt. Da hat jemand, den wir nicht kennen, der vielleicht in einer uns unbegreiflichen Sprache redet. hunderte von Meilen von uns entfernt, auf Papier verschiedenartige Zeichen- Verbindungen hingemalt, die wir Buchstaben nennen und wenn wir sie ansehen, wie Fremde, weit entfernt von dem Schöpfer des Buches, so erfassen wir in geheimnisvollen

938 Maxim Gorki / Rußland Weise den Sinn all dieser Worte. Gedanken. Gefühle. Bilder: wir bewundern die Beschreibung der Natur. ent- zücken uns an dem Rhythmus der Sprache, der Musik der Worte. Indem wır gerührt, erregt, träumend, zuweilen auch lachend diese bunt bedruckten Blätter lesen. erfassen wir das Leben eines Geistes. der uns fremd oder verwandt ist. Das Buch ist vielleicht das komplizierteste und er- staunlichste all der Wunder. die der Mensch geschaffen hat auf seinem Weg zur Glückseligkeit und Bezwingung der Zukunft.

Es gibt noch keine Universal-Literatur, denn wir haben noch keine gemeinsame Sprache, aber jede literarische Schöptung in Vers und Prosa ist durchtränkt von der Einheit der Gefühle, Gedanken, Ideale. die allen Menschen gemeinsam sind, von der Einheit des heiligen Strebens des Menschen nach dem Glück geistiger Unabhängigkeit. von der Einheit des menschlichen Widerwillens gegenüber den Niederträchtigkeiten des Lebens, von der Einheit seiner Hoff- nungen auf Verwirklichung besserer Lebensbedingungen und von dem universellen Durst nach etwas. das in Worten oder Gedanken kaum zu umschreiben ist. kium darch das Gefühl begriffen werden kann, dies geheimnisvolle Etwas. dem wir die mafte Bezeichnung »Schönheite verleihen und das sich zu immer hellerer, immer prächtigerer Blüte in der Welt. in unseren eigenen Herzen entfaltet.

Was auch immer die inneren Verschiedenheiten der Nationen. Rassen. Einzelnen sein mögen. wie sehr auch die äußeren Formen der Staaten. der religiösen Auffassungen und der Sitten voneinander abweichen. wie unüberbrückbar der Klassenunterschied ist über all diesen Abgründen. die wir selbst in jahrhundertelanger Arbeit geschaffen haben. dunkelt das schwarze und drohende Gespenst von der all- gemeinen Erkenntnis aller Lebens- Tragik und das biftere Wissen um die Einsamkeit des Menschen in der Welt.

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und die Weltliteratur 5 339

Wir erheben uns aus dem Geheimnis der Geburt und wir finden zurück in das Geheimnis des Todes. Gemein- sam mit unserem Planeten wurden wir in den unendlichen Raum geschleudert. Wir nennen ihn das Universum. aber wir haben keine genaue Vorstellung davon und unsere Einsamkeit darin ist von solch unvergleichbar ironischer Vollkommenbeit.

Die Einsamkeit des Menschen im Universum und auf der Erde, die für viele - eine leider nicht einsame Wüste. ist auf Erden inmitten des quälendsten Widerspruches von Hoffnungen und Wünschen wird nur von wenigen wirklich begriffen. Aber die schwache Ahnung davon ist instinktmäßig wie ein schädliches Unkraut in jedem Menschen eingepflanzt und sie vergiftet oft das Leben von Menschen. die dem Anschein nach vollkommen immun sind gegen dieses verzehrende Heimweh, daß in allen Zeiten und bei allen Völkern gleich war. und das in derselben Weise Byron, den Engländer, Leopardi, den Italiener, den Verfasser des »Predigers Salomos und Lao-Te, den großen Weisen Asiens gequält hat.

Diese Qual, von einem dumpfen Gefühl der Unsicher- heit und Schicksalhaftigkeit des Lebens erzeugt. ist Hohen und Niedrigen gemeinsam und gilt für jeden. der den Mut hat. mit offenen Augen das Leben anzusehen. Und sollte je eine Zeit kommen, da die Menschen diese Qual überwunden und ın sich das Gefühl der Schicksalhaftigkeit und Einsamkeit erstickt haben, dann werden sie diesen Sieg nur auf geistigem Wege erreichen, nur durch die gemein- samen Bestrebungen von Wissenschaft und Literatur.

Die Erde ist außer ihrer Hülle von Licht und Luft umgeben, von einer Sphäre geistiger Schöpferkraft. von der mannigfaltigen regenbogenfarbigen Ausströmung unserer Energie, aus der alles, was ın Ewigkeit schön ıst, gewebt, gehämmert oder geknetet ist: aus ihr sind geschaffen die mächtigen

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940 i Maxim Gorki / Rußland Ideen und die hinrelende Vielfältigkeit unserer Maschinen, die überwältigenden Tempel und Tunnels, die die Felsen großer Gebirge durchstoßen, die Bücher, Gemälde, Gedichte, die Millionen Tonnen Eisen, die als Brücken über breite Flüsse geschleudert sind und mit so wunderbarer Leichtigkeit in der Luft schweben all die ernste und zierliche. all die erhabene und zärtliche Poesie unseres Lebens. Durch den Sieg des Geistes und des Willens über die Elemente der Natur und das Tier. im Menschen, wodurch ımmer strahlende Funken der Hoffnung aus der eisernen Mauer des Unbekannten geschlagen werden, können wır Menschen mit berechtigtem Stolz von der planetarischen Bedeutung der großartigen Anstrengung unseres Geistes reden, dıe am strahlendsten und schönsten ın der literarischen und wissenschaftlichen Schöpfung ausgeprägt ist. Die große Bedeutung der Literatur besteht darin. daß sie unsere Bewußtheit vertieft. unsere Erkenntnis des Lebens erweitert, unserem Gefühl Form verleiht und uns eindringlich sagt: Alle Ideale und alles Geschehen, die ganze geistige Welt ist geschaffen durch Blut und Nerven der Menschen. Sıe sagt uns, daß Hen- Toy. der Chinese. ebenso tödlich un- befriedigt von Frauenliebe ist wie Don Juan, der Spanier; daß der Abbessinier dieselben Lieder der Klage und der Liebesfreude singt, wie der Franzose: daß das gleiche Pathos herrscht ın der Liebe einer japanıschen Geisha und Manon Lescauts: daß die Sehnsucht des Menschen, in der Frau die andere Hälfte seiner Seele zu finden, mit gleicher Flamme die Menschen aller Länder, aller Zeiten verzehrt und verzehrt hat. | Ein Mörder ist in Asien ebenso verwerflich wie in Europa; der russische Geizkragen Plushkin ist ebenso er- bärmlich. wie der französische Grandet, die Tantüffs aller Länder ähneln einander, die Misanthropen sind überall gleich elend, und jedermann ist stets entzückt von der er-

und die Weltliteratur 941 greifenden Gestalt Don Quijotes. des Nitters vom Geist. Und schließlich reden alle Menschen in allen Sprachen immer von denselben Dingen, von sich und ihrem Schicksal. Menschen mit niedrigen Instinkten sind überall gleich. die Welt des Geistes allein ist unendlich vielfältig.

Mit unwiderstehlich überzeugender Klarheit gibt uns die schöne Literatur diese ganze unendliche Gleichheit und dauernde Vielfältigkeit wieder Literatur. dieser lebendige Spiegel des Lebens, der ın ruhiger Trauer oder ım Zorn mit dem gütigen Lachen eines Dickens oder der fürchter- lichen Miene eines Dostojewski all die Verwieldungen unseres geistigen Lebens reflektiert; die ganze Welt unserer Wünsche, die stehenden Sümpfe der Banalität und des Wahnsinns. unserem Heroismus und unsere Feigheit gegen- über dem Schicksal den Mut der Liebe und die Stärke des Hasses. die Niedrigkeit unserer Heuchelei und die Schändlichkeit unserer Lügen. unsere wıderwärtige Ver- dummung und unseren endlosen Todeskampf. unsere er- greifenden Hoffnungen und heiligen Bräuche alles. wo- durch die Welt lebt, alles, das an die Herzen der Menschen stürmt. Indem die Literatur den Menschen mit den Augen eines mitempfindenden Freundes, mit dem strengen Blick eines Richters betrachtet, mit ıhm fühlt, mit ıhm lacht, seinen Mut bewundert, seine Schwachheit verflucht erhebt sie sich über das Leben und erhellt gemeinsam mit der Wissenschaft den Menschen den Pfad zur Erreichung ihres Zieles. zur Entwicklung alles dessen. Was gut in ihnen ist. l

Es ist klar, daß die Literatur nicht völlig frei sein kann von dem, was Turgenieff den Druek der Zeite nannte. Es ist dies nur natürlich. denn -das Ubel besteht. daß man dem Tag seinen Tribut zahlen muĝe und es mag sein, daß das Übel des Tages öfter als es sollte. den beiligen Geist der Schönheit und unser Suchen nach

942 Maxim Gorki / Rußland

ihren »Eingebungen und Gebeten« vergiftet. Diese Eingebungen und Gebete sind vergiftet durch den häfßlichen Staub des Tages, aber »das Schöne ist das Seltene, wie Edmund Goncourt richtig sagte, und meistens sehen wir nur das Fehlen der Schönheit und unbedeutende Gewöhnlichkeit diese Gewöhnlichkeit, die, sobald sie in die Vergangenheit zurücksinkt, für unsere Nachkommen alle Zeichen und Eigenschaften wahrer, unverwelkbarer Schönheit trägt. Er- scheint uns nicht heute das strenge Leben der alten Griechen schön? Begeistert uns nicht die blutige, stürmische und schöpferische Zeit der Renaissance mit all ihrer »ge- wöhnlichen«e Grausamkeit? Es ist mehr als wahrscheinlich. daß die großen Tage der sozialen Umwälzung. die wir jetzt durchmachen, die Begeisterung, Ehrfurcht und Schöpfer- kraft der Generationen erregen werden, die nach uns kommen.

Wir wollen auch nicht vergessen, dal, obwohl Balzacs Arme Verwandtes, Golols »Tote Seelen« und die »Pickwick Paperse ausgesprochen Bücher sınd, die die Bedingungen des täglichen Lebens schildern, in ihnen doch eine große und unvergängliche Lehre enthalten ist. die die beste Uni- versität nicht verschaffen kann und die der Durchschnifs- mensch so stark und so klar nach einem Leben von 50 Jahren harter Arbeit sonst kaum lernt.

Das Gewöhnliche ist nicht immer banal, denn es ist das gewöhnliche Schicksal des Menschen, daß er verbrannt werde in dem Höllenfeuer seiner Bestimmung und diese Selbstverbrennung ist immer schön und notwendig und dabei auch lehrreich für diejenigen, die ihr ganzes Leben lang zaghaft dahinschwelen. ohne jemals aufzuleuchten in der strahlenden Flamme, die den Menschen vernichtet und die Geheimnisse des Geistes offenbart.

Menschliche Irrtümer sınd nıcht so charakteristisch für die- Kunst des Wortes oder des Bildes; charakteristischer ist die Sehnsucht, den Menschen über die äußeren Be-

und die Weltliteratur 943

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dingungen seiner Existenz zu erheben. ihn zu befreien von den Fesseln des herabwürdigenden Alltags. ihn sich selbst zu zeigen nicht als den Sklaven, sondern als den Herrn der Umstände, den freien Schöpfer des Lebens. und in diesem Sinne ist Literatur immer revolutionär.

Durch den mächtigen Schwung des Geistes, der über alle kleinlichen Alltäglichkeiten sich erhebt, der gesättigt ist mit dem Geist der Menschlichkeit, der den Haß: entzündet im Übermal leidenschaftlicher Liebe, ist die schöne Literatur unsere große Rechtfertigung und nicht unsere Verdammunng: sie weil, daß es keinen Schuldigen gibt wenn auch alles im Menschen ist. vom Menschen kommt. Die grau- samen Widersprüche des Lebens, die Feindschaft und Haf zwischen Nationen. Klassen. Individuen erregen. sind für die Literatur nur ein veralteter Irrtum und sie glaubt. daß der adlige Wille des Menschen all diese Irrtümer zerstören kann und muß, dal dagegen alles. was die freie Entwicklung des Geistes hemmt, den Menschen der Macht tierischer Instinkte überliefert.

Wenn man den mächtigen Strom schöpferischer Kraft genau betrachtet, wie er in Wort und Bild verkörpert ist. dann fühlt und glaubt man, daß der große Zweck dieses Stromes darın besteht. für immer alle Streitigkeiten zwischen Rasse. Natioh und Klassen wegzuwaschen und indem er die Menschen von der harten Last des gegen- seitigen Kampfes befreit. all ihre Kräfte frei macht für den Kampf mit den geheimnisvollen Kräften der Natur. Und es scheint, daß dann die Kunst des Wortes und des Bildes die Religion der Menschheit ist und sein wird, eine Religion, die alles in sich vereinigt. was geschrieben wurde ın den heiligen Schriften des alten Indien, ım Zend-Awesta, ın den Evangelien und ım Koran.

Dies ist ın einem rohen und äußerlichen Schema die Stellung zur Literatur ohne individuelle Abweichungen nach

44 Maxin Gorki / Rußland verschiedenen Seiten festzulegen zu der die Gruppe von Mitarbeitern der »Weltliterature sich bekennen, die unter dem Volkskommissariat für Unterricht sich gebildet hat mit dem Ziel, die Werke der bedeutendsten Schriftsteller Englands, Amerikas. Frankreichs. Deutschlands. Italiens. Spaniens. Portugals. Skandinaviens. Ungarns usw. zu veröffentlichen.

Wie aus der beiliegenden Liste zu ersehen ist, hat die Verlagsgesellschaft »Weltliteratur«e jetzt zu. Beginn ihrer Tätigkeit eine Auswahl getroffen aus den ın verschiedenen Ländern veröffentlichten Werken seit dem Ende des 18. Jahr- hunderts bıs zur Gegenwart, vom Beginn der großen fran- zösischen Revolution bis zur großen russischen Revolution. Auf diese Weise wird der -russische Bürger alle Schätze der Poesie und künstlerischen Prosa zur Verfügung haben, die während anderthalb Jahrhunderten von der gesamten geistigen Schöpferkraft Europas hervorgebracht worden sind.

In ihrer Gesamtheit werden diese Bücher eine um- fangreiche historisch- literarische Anthologie ‚bilden. die dem Leser die Möglichkeit gibt, sich von Grund auf mit dem Entstehen, der Leistung und dem Verfall literarischer Schulen bekannt zu machen. mit der Entwicklung der Technik in Vers und Prosa, mit dem gegenseitigen Einfluß der Literaturen verschiedener Völker und ganz allgemein, mit literarischer Entwicklung in ihrer historischen Kontinuität von Voltaire zu Anatole France, von Richardson zu Wells, von Goethe zu Hauptmann usw. Diese Bücher- reihe ist für die Volksbildung bestimmt und gedacht für Leser, die die Geschichte der literarischen Produktion in den Zeitraum zwischen den beiden Revolutionen studieren wollen. Die Bücher werden außerdem noch Einleitungen, Biographien der Verfasser enthalten, Skizzen der Epoche, in der die Schule, Gruppe oder das Werk entstanden ist, einen historisch-Literarischen Kommentar und bibliographische

und die Weltliteratur . Anmerkungen. Es ist beabsichtigt. mehr als 1500 solcher Bücher zu veröffentlichen. jedes von ungefähr 320 Seiten.

Später beabsichtigt die Weltliteratur ;, das russische Volk mit der Literatur des russischen Mittelalters und anderer slavischer Länder bekannt zu machen und auch mit der Wortkunst des Ostens. mit der schönen Literatur Indiens. Persiens, Chinas, Japans und der Araber.

Gleichzeitig damit wird eine Broschürenreihe veröffentlicht. die für die weiteste Verbreitung unter den Massen bestimmt ist. Diese Broschüren werden die bedeutendsten Werke der Literatur Europas und Amerikas enthalten und von Biographien. Anmerkungen. soziologischen Skizzen begleitet sein.

Da das russische Volk zielbewult die Straße geistiger Vereinigung mit den Völkern Europas und Asiens betritt. muſ es in seiner ganzen Masse die Besonderheiten in Geschichte. sozialem Leben und Psychologie der Nationen und Rassen kennen lernen. mit denen in Gemeinschaft es strebt, die neuen Formen der Wirtschaft aufzubauen.

Literatur. die lebendige und gleichnishafte Geschichte der Heldentaten und Irrtümer, der Erfolge und des Ver- sagens unserer Vorfahren, die die größte Fähigkeit besitzt. die Gedankenwelt zu beeinflussen. die Roheit der Instinkte zu verfeinern. den Willen zu erziehen. muß endlich ihre Weltrolle spielen die Rolle der Macht. dıe am stärksten und innigsten die Völker verbindet durch die Erkenntnis ihres Leids und ihrer Sehnsucht, durch die Erkenntnis ihrer gemeinsamen Wünsche nach einem glückseligen Dasein. das schön und frei ist.

Das Ziel der Broschüren ıst, den Leser aus den Massen so gut wie möglich, mit den Lebensgewohnheiten der europäischen und amerikanischen Völker bekannt zu machen. die Gemeinsamkeit und Verschiedenheit ihrer Ideen, Ziele und Sitten zu zeigen den russischen Leser vorzubereiten.

daß er die Welt und die Menschen kennen lernt. die so

946 Maxim Gorki / Rußland

reich und lebendig durch die künstlerische Literatur dargestellt werden und wodurch die gegenseitige Verständigung verschiedensprachiger Völker so leicht erreicht wird. Das Gebiet literarischer Produktion ist. die Internationale des Geistes, und in unseren Tagen, da der Gedanke der Bruderschaft der Völker. der sozialistischen Internationale, notwendig in die Wirklichkeit übergeführt wird, sind wir verpflichtet. jede Anstrengung zu machen, damit die Auf- nahme des gesunden Gedankens der universellen Brüderlich- keit mit größter Eile sich vollzieht und in die Tiefen des Geistes und des Willens der Massen dringt.

Je mehr der Mensch kennt, umso vollkommener ist er: je mehr der Mensch sich um seinen Mitbruder kümmert, umso schneller wird der Prozeß der Vereinigung aller guten schöpferischen Elemente zu einer gemeinsamen Kraft erreicht sein. umso schneller werden wir unseren Leidensweg überwinden, um zu der allgemeinen Freude des gegenseitigen Verstehens. der Ehrfurcht. der Brüderlichkeit zu gelangen zu unserem eigenen Heil.

Um das Lesen dem ungebildeten Volke anziehend zu machen. wird die Broschürenreihe Bücher von äufßerem Interesse enthalten. Geschichten mit verwiekelter Handlung. unterhaltende und humoristische Sachen, historische Novellen. abenteuerliche Erzählungen usw.

Die Broschüren werden in chronologischer Reihenfolge veröffentlicht. so daß selbst die Leser aus dem ‚Volke imstande sein werden. klar dem Gang der geistigen Ent- wicklung Europas zu folgen von der großen Revolution bis auf unsere tragischen Tage. Man beabsichtigt 3 5000 Broschüren, jede 32—64 Seiten stark, zu veröffentlichen.

In seinem Ausmaf ‚wird dieser große Verlegerplan einzigartig in Europa sein. E

Die Ehre, dieses Unternehmen verwirklicht zu haben, gebührt den schöpferischen Kräften der russischen Revolution,

und dıe Weltliteratur | 947

der Revolution. die von ihren Feinden als »der Aufstand der Barbarene bezeichnet wırd. Indem das russische Volk ein so verantwortungsvolles und groß angelegtes Kultur- unternehmen in dem ersten Jahre seiner Tätigkeit unter beispiellos schwierigen Verhältnissen unternimmt. hat es ein Recht zu sagen. daß es sich ein Monument errichtet. das seiner würdig ist.

Nach dem verbrecherischen und verfluchten Schlachten. das schändlicherweise von Menschen hervorgerufen wurde. die durch ihre leidenschaftliche Verehrung des feſten Götzen Gold. vergiftet waren, nach dem blutigen Sturm von Bosheit und Hal gibt es nichts Wirksameres, als das umfassende Bild geistiger Produktion überall sichtbar hin- zustellen. Während Roheit und Brutalität noch ihre Feste feiern. laßt uns alle dessen eingedenk sein. was wahrhaft menschlich ist. was die Vergangenheit uns gelehrt hat. was

Genius und Talent die Welt gelehrt haben.

Diesem Heft liegt ein Prospekt der Verlags- buchhandlung Walter Rothschild. Berlin. bei!

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| Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Wilhelm Herzog Derfflingerstr. 4 Berlin W 35 / Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam- Berlin / Druck der E. Gundlach A.-G., Bielefeld

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