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SEP 13 1932 CR x E ud, We »

DAS KOMMENDE, GESCHLECHT

"ZEITSCHRIFT FÜR EUGENIK ERGEBNISSE DER FORSCHUNG

herausgegeben von Prof. Dr. Eugen Fischer, Direktor des Kalser Wilhelm-Instituts für ach es menschliche Erblehre und Eu ugenik zu SR 8 Prot. ve Herman ckermann, E eg E. ik und Priv. ent Dr. Otmar Freihe

von Verschuer, Leiter der Abteilung für e Erblehre im ebe institut

BAND VII, HEFT 1

93237 ERZIEHUNGSPROBLEME IM LICHTE VON ERBLEHRE UND ) EUGEN IK

SSC "von. | Feser D GÜNTHER JUST

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FERD. DUMMLERS VERLAG - BERLIN UND BONN

DAS KOMMENDE GESCHLECHT

erscheint In freier Folge. Sechs Hefte bilden einen Band. Die Verantwortung für die einzelnen Beiträge dieser Zeitschrift tragen die Verfasser selber. Alle Zuschriften, die die Schriftleitung betreffen, sind zu richten an die Abteilung Eugenik, Kaiser Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik zu Berlin-Dahlem. Da in jedem Heft wie im vor- liegenden ein Grundgedanke durchgeführt werden soll, wird dringend ge- beten, ohne vorherige Anfragen keine Handschriften einzusenden.

Dieses Heft ist auch als Sonderdruck zum gleichen Preise erschienen.

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D EE Dieses Heft wurde ausgegeben im Juli 1932

ERZIEHUNGSPROBLEME IM LICHTE VON ERBLEHRE UND EUGENIK.

Referat erstattet im Wissenschaftlichen AusschuB der Berliner Gesellschaft für Eugenik am 17. März 1932

von Prof. Dr. Günther Just Greifswald. 1 22D 22 1. Einleitung. ff e | 2. Erziehungs möglichkeiten. ee EP

3. Erziehungsziele. 4. Erziehungs einrichtungen. 5. Leitsätze.

1. Einleitung.

In einer aufs höchste gesteigerten Intensität geistiger Be- mühung, in leidenschaftlichem Einsatz aller Kräfte ringt die Gegenwart um die Probleme der Erziehung. Alte Anschauun- gen stellen im Für und Wider mit solchen, die sich für durch- aus neu, aus unserer Zeit geboren halten, sodaß die öffentliche Erörterung der pädagogischen Fragen ebenso umfangreich wie vielgestaltig ist. In diesen Fragen, die in ihren letzten Grund- lagen wie in ihren täglichen Auswirkungen tief ins Biologische hineinreichen, darf auch der Biologe beanspruchen gehört zu werden, vor allem der Erbbiologe und Eugeniker”.

1) Ebensowenig wie im Text selbst kann in den Literaturangaben Voll- ständigkeit angestrebt sein. Vielmehr müssen sich unsere Angaben auf die Nennung einiger wichtigerer Schriften und auf den Nachweis derjenigen Arbeiten beschränken, auf die im Text unmittelbar Bezug genommen wird. In ihnen findet man die weitere Literatur angegeben. Allgemein seien ge- nannt: F. Lenz, Über die biologischen Grundlagen der Erziehung, 2. Aufl, München 1927; Vererbung und Erziehung, hrsg. von G. Just, Berlin 1930; Kind und Umwelt, Anlage und Erziehung, hrsg. von A. Keller, Leipzig und Wien 1930; W. Hartnacke, Naturgrenzen geistiger Bildung, Leipzig 1930; F. Lenz, Menschliche Auslese und Rassenhygiene (Eugenik), 4. Aufl., München 1932. B. Bavink, Das Problem der sittlichen Erziehbar-

N88 710 ;

2 Das kommende Geschlecht

Aber noch ehe wir beginnen kónnen, meldet sich bereits der Widerspruch: der Zweifel von seiten derjenigen, die ge- wohnt sind, die Probleme der Erziehung ausschließlich unter Gesichtspunkten geisteswissenschaftlicher Be- trachtungsweise zu sehen, und die einen ungerechtfertigten und unberechtigten Einbruch des Naturwissenschaftlers in ein ihm, wie sie meinen, doch unzugängliches Gebiet fürchten. Es sind vor allem drei Einwände grundsätzlicher Art, die hier vor allem Beginn unserer Erörterung schon er- hoben werden können.

Wie sollte es möglich sein, so fragen diese Zweifel, mit b i o- In gts “he n::Erkenntnismitteln zu Fragen Stellung zu neh- mit; die es doch unmittelbar mit der menschlichen Pers ö n- skit hikei£z zu tun. haben? Der Persönlichkeit, die mit den Mit- “tel 'rätionaler: "Betrachtungsweise nicht vollständig erfaßt werden kann, da ihr in garnicht wegzuleugnender Weise Irrationales eignet? Der Persönlichkeit, deren tiefsten Wesens man auf dem Wege eines Erkennen-Wollens nicht teil- haft zu werden vermag, sondern dem man sich nur durch ein sich einfühlendes Verstehen zu nähern versuchen kann. Der Persönlichkeit schließlich, deren subiektives Eigen- leben sich doch ganz offenbar jeder Möglichkeit objektiven Hineindringens für immer verschlossen zeigt?

Es scheint uns notwendig, auf solche Einwände, die unseren Versuchen immer wieder von Seiten einer zeisteswissen- schaftlichen Grundhaltung entgegenstehen, mit einigen ein- leitenden Sätzen zu antworten, wenn diese auch, zumal im Rahmen unserer auch im Ganzen ja mehr skizzierenden Fr- örterung, mehr andeutend als begründend sein kënnen?

Was zunächst den ersten Einwand betrifft, daß die Per- sönlichkeit ein letztlich Irrationales und damit ein biologischer Erkenntnismöglichkeit grundsätzlich Entzogenes sei, so ant-

keit im Lichte der Biologie, Z. evangel. Rel.-Unterr., 1930; W. Köhn, Die Vererbungslehre in der pädagogischen Aussprache der Gegenwart, A. Rass. Ges. Biol. Bd. 23, 1930; P. Knauer, Der Erziehungspessimismus der rassenhygienischen Pädagogik und die Vererbungstatsachen, Württ. Schul. warte, 6. Jahrg. 1930; F. Lenz, Die Bedeutung des Bildungswesens für die Rassenhygiene, Staats-Anzeiger für Württ., Besondere Beilage Nr. 7, 1930; R. Lotze, Vererbung und Schule, Stuttgart 1927.

2) Vgl. G. Just, Vererbung, Umwelt, Erziehung (in: Vererbung und Erziehung, hrsg. von G. Just, Berlin 1930).

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 3

worten wir: Jeder Naturgegenstand, jedes Naturgeschehen, mit welchem naturwissenschaftliche Forschungsarbeit sich be- schäftigt, enthält Irrationales, ja enthält es, allgemein gesehen, sogar in mehr facher Beziehung.

Gewiß bleibt die Individualität, als die jede Persönlichkeit sich darstellt, letzten Endes irrational: insofern sie eben in- dividuellist. Aber individuelle Vorgänge bilden doch den Ausgangspunkt überhaupt jeder biologischen Forschungs- arbeit, und auch wenn die Untersuchung zahlreicher derartiger individueller Einzelfälle schließlich das Aussprechen einer all- gemeiner gültigen Aussage, einer allgemeineren Gesetzlich- keit, möglich macht, so bleiben alle jene Einzelfälle, für sich allein betrachtet, doch immer noch mit dem Merkmal des In- dividueilen, des einmalig „Zufälligen“, belastet, das sie einer restlosen kausalen Erfaßbarkeit grundsätzlich entzieht. Die Unmöglichkeit also, das Individuelle rational vollständig er- fassen zu können, eben weiles individuell ist, gilt nicht allein für die Erforschung einer menschlichen Persönlichkeit, son- dern ebenso für die Erforschung jedes biologischen, ja auch jedes rein im Anorganischen ablaufenden einzelnen Naturvor- gangs, für das Schlüpfen dieses Schmetterlings, der soeben vor meinen Augen seine Puppenhülle verläßt, für das Fallen und Schmelzen jenes Schneeflöckchens, für einen Ausbruch des Vesuvs.

Auch dort indessen, wo bereits die Zurückführung mehr oder weniger umfangreicher Teile der individuellen Vorgänge auf eine allgemeine Gesetzmäßigkeit möglich geworden ist, wo es sich also nicht mehr um individuelle Eigentümlichkeit, sondern um generelle Gesetzlichkeit handelt, bleibt Irrationales: sei es, indem es als Unerkanntes, in das Gesetz nicht Einbezogenes, ja nicht Einziehbares zurückbleibt, sei es, indem es im Gesetz als solchem mit enthalten ist.

Die höchste Form naturwissenschaftlicher Gesetzesaussage ist die mathematische Formel. Diese aber sieht ihrem We- sen nach von all demjenigen ab, was gerade überall und immer die wirklichen Vorgänge in der Natur für uns als be- obachtende, als erlebende Wesen kennzeichnet, nämlich vom Qualitativen. Je weiter in irgendeinem Teilgebiet der Natur- wissenschaften die Erforschung der Zusammenhänge fort- schreitet, um so mehr werden die uns mit unseren Beobach-

4 Das kommende Geschlecht

tungen unmittelbar gegebenen Qualitäten aus den Sätzen aus- geschaltet, die über die betreffenden Vorgänge erkenntnis- mäßigen Aufschluß geben. Die quantitative Erfassung der Vor- gänge indessen, deren Endergebnis sich in einer nackten For- mel ausgesprochen findet, kann die Beobachtung des Qualita- tiven, von der sie ausgeht, nicht etwa ersetzen, sondern stellt ein diesem qualitativ Gegebenen gegenüber grundsätzlich An- dersartiges dar. Qualitative Beobachtung und quantitative Analyse sind zwei Bewältigungsweisen Eines und des Glei- chen, deren keine das Ganze erfaßt. Die quantitative Gesetzes- formel stellt ein gedankliches Destillat dar; das Qualitative bleibt dabei als Rückstand übrig. Keine Kenntnis der Gesetze der Optik vermag das Wissen um Farben zu ersetzen.

Und zwar nicht nur das Wissen um Farben oder um Töne eben als Qualitäten, also um Qualitatives schlechthin, sondern auch um Farben im Gegensatz zu Tönen oder inner- halb der Farbreihe um die spezifische Qualität eines Grün, eines Rot, eines Gelb, also um gerade diese Farben, um das „gerade so und nicht anders“-Sein einer Qualität. Hierin liegt ein zweites, von keiner noch so weit vorgetriebenen Forschungsarbeit Wegzuanalysierendes: außer dem Qualita- tiven im Unterschied vom Quantitativen bleibt allem wirk- lichen Geschehen als irrationaler Bestandteil das spezi- fische So-Sein der Qualitäten. Und es ist außerordentlich wichtig sich klar zu machen, daß diese So-Seins-Spezifität so- gar bis ins Quantitative hinein Gültigkeit behält. Wäre nämlich unsere Erkenntnis selbst bis zu dem undenkbaren Punkte vorgedrungen, daß das Getriebe des Weltganzen dar- stellbar geworden wäre durch eine einzige Formel, so wären die Beziehungen zwischen den Gliedern dieser Formel, obwohl sie rein quantitativen Charakters wären, irrationaler Art: sie wären, da ja jene Formel das Ende alles Forschens darstellte, rein als solche gegeben, auf nichts mehr zurückführbar, irratio- nale Eigenschaften der „Individualität“ Welt.

Kurz, alle naturwissenschaftliche, insonderheit auch alle biologische Arbeit stößt fort und fort an die Grenzen des Ir- rationalen: einmal an diejenige des individuellen Geschehens, ferner aber auch im Allgemein-Gesetzlichen an die des Quali- tativen und des spezifischen So-Seins der Qualitüten. Dann aber kann das Irrationale der menschlichen Persönlichkeit

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 5

nicht als etwas gerade sie Auszeichnendes einen Gegengrund gegen den Versuch liefern, sich ihr mit den Mitteln biologi- scher Analyse zu náhern.

Aber ist nicht jenes Zweite, das wir eingangs nannten, ist nicht die Notwendigkeit des „Verstehens“ seelischer Vorgänge ein unübersteigbares Hindernis, das sich allem Erkennenwollen entgegenstellt? Wenn man fremdem See- lischen nur mittels eines sich einfühlenden Verstehens zu nahen vermag, muß dann der Versuch, hier Erkenntnis erar- beiten zu wollen, nicht grob, plump genannt werden?

Auch hier aber scheint uns der Sachverhalt für den Psy- chologen wie für den Biologen grundsätzlich gleich zu liegen. Beide bedürfen als Grundlage ihrer Erkenntnisarbeit eines möglichst umfangreichen Tatsachenmaterials, das sie als sol- ches nicht durch Erkennen, sondern durch „Erleben“ gewin- nen. Die Tatbestände, die der Erkenntnisarbeit zugeführt wer- den sollen, müssen zunächst einmal rein als solche erlebt wer- den, um dann im Ganzen oder in ihren Teilen anderen Tatbeständen zugeordnet), untergeordnet, mit ihnen ver- glichen, in sie zerlegt, in sie übergeführt werden zu können. Die psychischen Vorgänge laufen nun gleichsam in einem höheren Stockwerk ab als elementarere Lebensvorgänge. Es sind andersartige Sachverhalte, die der Psycho- loge kennenzulernen und zu ordnen, andere, die der Biologe zu beobachten und einzuordnen hat, und die Schwierigkeiten, an sie heranzukommen, sind für den Psychologen demgemäß andere als für den Biologen. Aber der grundsätzliche Weg der Forschungsarbeit beobachtendes Erleben und erkennen- des Zuordnen ist in beiden Fällen durchaus der gleiche, mag es sich um die Analyse eines mehr oder weniger einfachen rein physiologischen Geschehens oder um die Durchdringung und Ordnung von Sinnzusammenhängen handeln.

Bleibt als Drittes und Letztes noch der Einspruch derjeni- gen, die das Recht subjektiven Lebens glauben gegen die Unberechtigung eines objektiven Erkennenwollens verteidigen zu sollen. Die Antwort hierauf liegt teilweise bereits in dem bisher Gesagten. In der Tat schneiden sich zwar die beiden Kreise, die durch Selbstsein einerseits, durch Erkennenwollen

8) Vgl. M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin 1918.

6 Das kommende Geschlecht

dieses Seins andererseits gegeben sind, aber sie decken sich nicht und lassen sich niemals zur Deckung bringen, weil sie in verschiedenen Ebenen liegen. Jedes Ich steht subjektiv im Mittelpunkt einer Welt, die nur ihm gehórt, und keine Wissenschaft kann ihm diese rauben. Ich bin, Ich fühle, Ich liebe: dieses mein seelisches Sein, unmittelbar mir gehórig, bleibt von jeder wie immer gearteten Erkenntnis un- angetastet. Zwar kann gerade hier ein nicht genug in die Tiefe gehendes Denken zu mancherlei seelischen Konflikten führen; aber solche Konflikte sind auch mit dem Denken lös- bar, nicht nur gegen das Denken.

Diese kurzen Ausführungen mógen genügen, um zu erwei- sen, daB dem Biologen durchaus das Recht zukommt, zu den Problemen der Persónlichkeit und zu denen der Erziehung Stellung zu nehmen, ohne daß er dadurch eine Mitarbeit be- anspruchte, die ihm nicht zukáme. Ob dieses Recht ihm zu einer Verpflichtung wird, wird davon abhängen, wieweit es ihm Bedürfnis ist, an seinem Teile an diesen ewigen Problemen, die dem Menschen aufgegeben sind, mitzuarbeiten.

Aus solcher Einstellung heraus wollen wir versuchen, zu einigen Fragen, die sich auf Erziehungsmöglichkeiten, Erzie- hungsziele und Erziehungseinrichtungen beziehen, vom Boden der Erbbiologie und Eugenik aus Stellung zu nehmen.

Wir sind uns dabei völlig der zwiespältigen Situation be- wußt, die darin gegeben ist, daß wir auf der einen Seite mehr Probleme auízuzeigen als endgültige Lósungen für sie zu ge- ben vermógen, auf der anderen Seite aber vor der táglichen Notwendigkeit stehen, trotz aller Unvollkommenheit unserer derzeitigen Einsichten doch praktische Erziehungsarbeit zu leisten. Wenn wir daher eine Reihe klarer Grundsátze und Forderungen aussprechen, so sind wir nicht etwa der über- neblichen Meinung, als vermóchten wir was niemand ver- mag, mindestens heute noch nicht endgültige und überall zwingende Finsichten zu geben; wohl aber sind wir der Über- zeugung, daB unsere Sátze und unsere Forderungen gedank- lich und vor allem tatsachenmäßig so gut unterbaut sind wie irgendwelche anderen und darum beanspruchen dürfen, in einer Zeit des Umbaus und Neubaus unseres Erziehungs- und Bildungswesens gehört zu werden. Wir wissen übrigens, daß

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 7

manche unserer Forderungen bereits in mehr oder weniger breitem Ausmaße Verwirklichung findet oder im Begriff dazu ist. Wenn wir sie gleichwohl aussprechen, so tun wir es ein- mal aus dem Bedürfnis klarer grundsätzlicher Stellungnahme, dann aber auch wegen der Gefahr von Rückschritten, also so- zusagen im Zeichen der Bundesgenossenschaft.

Wir können diese einleitenden Auseinandersetzungen nicht beschließen, ohne noch etwas auszusprechen, was uns beson- ders am Herzen liegt. Vielleicht nämlich würde mancher un- serer Kampfgenossen auf dem heißumstrittenen Felde der Eu- genik es lieber sehen, wenn wir mehr die eugenische For- derung herausstellten als die eugenisch Problematik erörterten. Wer indessen mit uns der Überzeugung ist, daß -— nicht nur in geistigen Angelegenheiten die erfolgreichste, wenn auch die schwierigste Kampfstellung und damit auch, auf die Dauer gesehen, die beste Taktik in strenger Sachlich- keit besteht, der wird uns Recht geben, wenn wir Freunden und Gegnern unserer Arbeit gegenüber unermüdlich immer wieder die grundsätzliche Doppelheit unserer gegen- wärtigen eugenischen Aufgabe betonen: die Notwendigkeit entschlossenen praktischen Zupackens auf der einen Seite, die Verpflichtung aber zugleich zu immer neuer Prüfung und Vervollkommnung der tatsachenmäßigen Grundlagen und theoretischen Anschauungen der Eugenik als Wissen- schaft. Ja wir meinen, daß eine solche Einstellung, die die Begrenztheit alles Wissens nie aus dem Auge verliert, uns nicht weniger, sondern mehr Recht gibt, für die Verwirk- lichung unserer Forderungen einzutreten, für die wir eben in klarer Einsicht die Verantwortung übernehmen. „Nichts wäre“, wie wir vor Jahresfrist schrieben“, „unserer Arbeit verderblicher als auch nur der Schein dogmatischer Ein- seitigkeit und Engherzigkeit.“

Aber wenn so eine eugenische Klärung eines praktischen Problems „auch nicht den Charakter der Absolutheit be- sitzt, wenn also grundsätzlich damit gerechnet werden muß, daß auch über sie hinaus ein wie auch immer gearteter Fortschritt möglich ist, so bleibt doch der Anspruch bestehen,

4) G. Just, Eugenik als Problemkreis und als Aufgabenkreis. Eugenik. Bd. 1, 1931.

8 Das kommende Geschlecht

daß für eine Reihe von praktischen Fragen die nach dem heu- tigen Stand unserer Kenntnisse und zwar umíangreicher Kenntnisse beste Lósung diejenige der Eugenik ist. Mehr aber vermag keine Lósung eines praktischen Problems zu sein““.

Nach diesen gerade augenblicklich besonders notwendigen einleitenden Bemerkungen kehren wir zu unserem engeren Thema zurück und wenden uns zunächst der Frage nach den Möglichkeiten der Erziehung zu, also nach Wesen und Gren- zen der Erziehungsarbeit. Wir werden auch dabei in einigetu etwas weiter ausholen müssen.

2. Erziehungs möglichkeiten.

Erziehen bedeutet: auf eine in Entwicklung begriffene psychophysische Individualität Einflüsse aussenden. Erziehung hat es also mit einem Doppelten zu tun: mit dem Individuum, das erzogen wird oder werden soll, und mit den Einflüssen, welche erziehend wirken oder wirken sollen.

Wir wollen alles, was auf ein Individuum einzuwirken ver- mag, als seine Umwelt ihm gegenüberstellen“. Erziehung im engeren Sinne läßt sich dann in biologischer Ausdrucks- weise kennzeichnen als die planmäßige Darbie- tung bezw. Fernhaltung fórdernder bezw. schadigender Umweltein wirkungen, seien es bloße Umweltbedingungen, ohne die eine normale Entwicklung als solche nicht vor sich gehen kann, oder seien es Umweltreize, die womöglich von dem zu Erziehenden be- wußt erlebt werden.

Um einen solchen Satz nicht mißzuverstehen, muß man allerdings den Umweltbegriff in jener breitesten Aus- weitung fassen, in der er hier allein gemeint sein kann. Wir haben also, wenn wir hier von Umwelt sprechen, etwa an den Einfluß des Elternhauses zu denken, dessen geistige und. sittliche Luft, dessen Traditionsgebundenheit, dessen innere Kraft oder dessen Leere weit ins Leben hinein wirksam blei- ben kann, an den Einfluß der Schule, unter dem das Kind und der Heranwachsende ja oft mehr als ein Jahrzehnt steht und der wiederum auf die geistige und sittliche Grundhaltung ent-

*) Siehe unter 2).

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 9

scheidend einzuwirken vermag, an den Einfluß des Berufs? und seines spezifischen Ethos.

Alle diese Einflüsse erscheinen als formende Kräfte von groBer Gewalt. Es kann ja in der Tat kein Zweifel bestehen, daB jede geistige Individualität solchen Umwelteinflüssen offen steht und daß sie daher und zwar mit steigendem Alter in entsprechendem Ausmaße „umwelterfüllt“ ist. Er- fahrungen und Kenntnisse, Ideale und Ziele beruflichen Stre- bens wie persönlicher Sehnsüchte entstammen in weitem Um- fange der geistigen Umwelt, in die der Einzelne hinein- gestellt ist. Ein großer Teil seiner „inneren“ Welt ist so nichts anderes als ursprüngliche Umwelt, die ins Individuum hinein- verlegt, von ihm aufgenommen und verarbeitet und dem Ge- füge der geistigen Gesamtpersönlichkeit irgendwie eingeord- net worden ist. Und wenn der Einzelne von diesem „Inneren“ wieder anderen mitteilt, so ist das in mancher Beziehung nichts anderes als eine Weitergabe, eine Rückerstattung gleichsam von Besitz, den auch er durchaus nur „andern schul- dig" blieb.

Aber ist mit dieser Feststellung des Einflusses der Umwelt, die wir in den vorstehenden Sätzen ja bereits mit gewissen Einschränkungen aussprachen, nun das Entscheidende gesagt? Ist das Problem der Erziehung wirklich so sehr ein Problem der Umwelteinflußmöglichkeiten, daß die Pädagogik in man- chen ihrer Vertreter und bis auf den heutigen Tag den An- spruch erheben kann, die Seelen der Zöglinge bilden zu kön- nen, als seien sie aus Wachs? Sind die wesentlichen Grund- eigenschaften, die tiefsten Charakterzüge einer Persönlichkeit begreifbar als das Ergebnis all der Umwelteinflüsse, denen sie im Verlaufe ihres Werdens ausgesetzt war?

Wir wollen Antwort auf diese Fragen suchen, indem wir un- seren Blick dem Bilde einer einzelnen Persönlichkeit zuwen- den. Wir wählen jenen zu früh verstorbenen Dichter, der seiner dichterischen Berufung bis zum Äußersten gefolgt ist wie wenige neben ihm, und dessen Hingegebenheit an seine Aufgabe noch jetzt Jahr um Jahr aus dem Reichtum seiner Briefe zu uns spricht, die selber ja beinahe noch ein zweites

5) Vgl. Bogen, Berufspsychologie (in: Handwörterbuch der Arbeits- wissenschaft, Bd. 5, Halle 1928).

10 Das kommende Geschlecht

Lebenswerk umschlieBen. Und neben Rainer Maria Rilke stellen wir Ruth Schaumann, gleichsam seine Schwester im Dichterischen, die junge Künstlerin, die Dichterin, Zeichnerin und Bildhauerin in einem ist.

Diese beiden Dichterpersönlichkeiten tragen eine Reihe ge- meinsamer Züge, die uns in ihren Werken auís deutlichste entgegentreten wobei es kaum nótig sein sollte hinzuzu- setzen, daß wir mit den wenigen und knappen Hinweisen die- ses Absatzes nicht etwa die künstlerische Gestalt der beiden Dichterpersónlichkeiten mehr als nur eben in einigen Be- ziehungen zu umreifen suchen. Beider Lyrik ist vielfältig Gedankenlyrik, sentimentalisch im Sinne Schillers. Sie ist ebenso durch eine höchste Geprägtheit der Form ausgezeich- net wie durch eine schwingende, manchmal fast betörende Musikalität. Das Musikalische der Form wird durch die reiche Wiedergabe akustischer Eindrücke im Inhalt der Gedichte in eigentümlicher Weise unterstützt; die Vorgänge draußen werden von beiden weniger gesehen als gehört „Die Dinge singen hör ich so gern‘ —, ja das Gehörte wird gleichsam gesehen: „Das Lied bleibt eine Weile über den Dingen und sickert dann in die vielen dunklen Spiegel hinein und ruht in ihnen wie Silber in Seen“”.RilkesundRuthSchaumanns künst- lerische Welt ist die der Gotik. Ihre religiöse Welt die der Mystik. Ihre seelische Haltung gegenüber der Welt höchste Ichbezogenheit, in Rilkes ,,Duineser Elegien“ als das immer wieder schmerzlich erlebte Gefühl eines nicht zu schlie- Benden Risses zwischen Ich und Welt zu ergreifendem Ausdruck kommend“.

6) R. M. Rilke, Die frühen Gedichte, Leipzig, Insel-Verlag, S. 94. Ähnlich in seinem „Stunden-Buch“ (Leipzig, Insel-Verlag), S. 61: „. . Sind das die Dinge, die wie eine ungespielte Melodie im Abend wie in einer Harfe stehn?" 7) R. M. Rilke, Erzählungen und Skizzen aus der Frühzeit, Leipzig 1928, S. 379. 8) Man lese in der achten der Duineser Elegien (Leipzig 1923) die Sätze: „Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein und nichts als das und immer gegenüber. Und wir: Zuschauer, immer, überall, dem allen zugewandt und nie hinaus! Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.“

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 11

Es klingt beinahe wie eine Versicherung von etwas Selbst- verständlichem, wenn wir an solchem Beispiel zu veranschau- lichen suchen, daB das dichterische Schaffen und das dichte- rische Erlebnis, das zur Formprágung drángt, dieser seiner be- sonderen Form nach und diesem seinem besonderen Inhalt nach ganz wesentlich von innen her bestimmt, daß es aus der Persónlichkeit als solcher heraus geboren ist. Und indem wir dieses wie gesagt, als fast selbstverstándlich zugeben, sind wir zugleich der Überzeugung, daB dieses von-Innen- her mehr sein muß als bloß ins Individuum hineinverlagerte Umwelt, mehr als nur Umweltgeprägtheit und Umwelterfüllt- heit, daß es vielmehr der „Kern“ der Persönlichkeit selber sein muß, der sich wenn auch umweltgep-ágt und umwelterfüllt hier darstellt.

Worin aber besteht dieser Kern?

Um diese Frage in ihrem ganzen Umfange zu stellen, ver- vollständigen wir das Bild, das wir uns von den beiden soeben besprochenen Persönlichkeiten gemacht haben, durch Betrach- tung ihrer körperlichen Erscheinung. Wir er- kennen dann, daß sie jenem Körperbautypus angehören, den wir als leptosom oder schmalwüchsig bezeichnen”. Man be- trachte das hohe, schmale Gesicht, wie es in seiner bekann- ten schönen Rilke-Büste Fritz Huf geformt hat’, man be- achte auch das Winkelprofil, das ja ein besonders hervor- stechendes Merkmal ausgeprägt Leptosomer sein kann und das auf einer Photographie Rilkes aus dem Jahre 1906 deutlich erkennbar ist!?.

Nun erinnern wir uns, daß dieser Körperbautypus eine nicht etwa streng an ihn gebundene, aber doch in einer deut- lichen Mehrháufigkeit mit ihm verbundene Entspre- chung im Psychischen” besitzt: den schizothymen

9) E. Kretschmer, Körperbau und Charakter, 9. und 10. Aufl., Ber- lin 1931.

10) Abbildungen dieser Büste finden sich in R. Faesi, Rainer Maria Rilke, 2. Aufl., Zürich, Leipzig u. Wien o. J., in W. Stammler, Deutsche Literatur vom Naturalismus bis zur Gegenwart, 2. Aufl, Breslau 1927, in Klabund, Literaturgeschichte, Wien o. J.

H) In Lou Andreas-Salomé, Rainer Maria Rilke, Leipzig 1929.

*) Siehe unter 9).

12 Das kommende Geschlecht

Typus, in dessen vielfältigem Bilde'? wir neben manchem an- deren auch alle jene Züge wiederfinden, die wir vorhin für un- sere beiden Dichter als besonders charakterisierende hervor- gehoben haben.

Soweit wir solche individuellen Züge in den Rahmen eines psychischen Typus einordnen, bleiben wir natürlicherweise in- nerhalb der Grenzen einer rein psychologischen Betrachtungs- weise oder können jedenfalls darin bleiben —. Sobald wir solche psychischen Typen aber, wie sich das heute mit immer größerer Deutlichkeit aufdrängt, in einen gesetzmaBigen Zu- sammenhang mit kórperlichen Bautypen zu bringen vermó- gen, sind wir mitten im Biologischen.

Wir besitzen heute eine Reihe typologischer Gruppierungs- versuche!?, Einige sind rein geisteswissenschaftlichen Ur- sprungs und halten sich bewußt in diesen Grenzen. Andere sind auf experimentalpsychologischer Grundlage errichtet und nähern sich in ihrer Methodik und in ihren Ergebnissen sehr stark einer biologisch orientierten Typologie. Solch letztere setzt gleichsam noch wieder ein Stockwerk tiefer an, indem sie auch das Kórperliche einbezieht, und liefert damit einen Unterbau aller rein psychologischen und rein geisteswissen- schaftlichen Einteilungsversuche. Die Wichtigkeit solches Un- terbaus auch für die hóheren Stockwerke wird besonders dort deutlich, wo es gelingt, im psychophysischen Grenzgebiet, also in der Psychomotorik“), dem Schrifttypus u. ä., die Möglichkeit einer biologischen Typologie aufzuzeigen“.

12) Vgl. E. Kretschmer, Körperbau und Charakter, 9. und 10. Aufl., Berlin 1931; E. Kretschmer, Geniale Menschen, 2. Aufl, Berlin 1931; G. Pfahler, System der Typenlehren, Leipzig 1929.

13) Vgl. G. Pfahler, System der Typenlehren, Leipzig 1929, und F. v. Rohden, Die Methoden der konstitutionellen Körperbauforschung (= Handbuch der biolog. Arbeitsmethoden, hrsg. von E. Abderhalden, Lieferung 292), Berlin u. Wien 1929; E. Jaensch, Grundformen mensch- lichen Seins, Berlin 1929.

14) W. Liepmann, Psychomotorische Studien zur Konstitutionsfor- schung, Dt. Z. f. Nervenheilkunde, Bd. 102, 1928; W. Enke, Die Psycho- motorik der Konstitutionstypen, Z. angew. Psych., Bd. 36, 1930, auch separat Leipzig 1930; F. H. Lew y, Experimentelle Untersuchungen zur psycholo- gischen Typenforschung, I. Die Motorik (in: Die Biologie der Person, hrsg. von Th. Brugsch und F. H. Lew y, Bd. II, Berlin und Wien 1931).

15) S, Jislin, Körperbau, Motorik, Handschrift, Z. f. Neur. u. Psychia- trie, Bd. 98, 1925; ders., Konstitution und Motorik, ebda, Bd. 105, 1926;

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 13

An diesem Punkte unserer Erörterung drängen sich eine Reihe von Fragen auf, auf die wir heute nur erst eine ganz vorläufige Antwort geben können!“. Wir wissen, um nur einige hervorzuheben, wenig oder nichts über die Häufig- keit, mit der bestimmte Teilcharaktere eines psychophysischen Typus wie etwa des leptosomen mit anderen Teilcharak- teren gemeinsam im gleichen Individuum auítreten, über die "Art und Weise, in welcher solche Teilcharaktere sich in Spannung und Ausgleich mit anderen derartigen Aufbaustücken der psychophysischen Konstitution zum Gesamtgefüge der Per- sónlichkeit integrieren. Wir wissen zwar, daB die psychophy- sische Konstitution sich im Laufe des individuellen Lebens zu wandeln vermag; aber über die Möglichkeiten und die jewei- ligen Häufigkeiten des Umschlags bestimmter Typen in andere wissen wir ebensowenig wie über die Gesetzmäßigkeiten, denen dieser Konstitutions wandel! folgt. Nicht unwichtig hin- zuzufügen, daB hier auch ein praktisch-pádagogisch wichtiges Problem vorliegt, das seinem Wesen nach nur durch umfang- reiche, über genügend lange Zeitspannen hin ausgedehnte Un- tersuchungen zu lósen ist, ohne dessen Aufhellung aber die entscheidende Frage nach der frühzeitigen Erkennungsmóg- lichkeit eines bestimmten psychophysischen Typus oder Unter- typus keine endgültige Beantwortung finden kann. Zum Teil wenigstens hángt es mit all diesen Lücken unseres heu- tigen Wissens zusammen, daB auch eine weitere Frage noch nicht wirklich beantwortet werden kann: nämlich die nach dem Anteil des Erbgutes an der Bildung jener Teilcharak- tere des Persónlichkeitsgefüges und an Entwicklung und Auf- bau des Gefüges als Ganzen!®. Daß wir in all diesen Hinsich- ten so wenig wissen, liegt aber, wie wir besonders betonen möchten, ausschließlich an der Jugend dieses ganzen For- schungsgebietes, dessen bisherige Ergebnisse indes zur wei-

P. Koch, Kinderschrift und Charakter, Iserlohn, 6.—12. Aufl, 1932; E. Flatow-Worms, Handschrift und Charakter (in: Die Biologie der Person, II, 1931).

16) Kurzer Bericht bei G. Just, Die Persönlichkeit als biologisches Problem, Eugenik, Bd. 2, 1932.

17) Vgl. G. Just, Grundtypen des Kórperbaus, Eugenik, Bd. 2, 1932.

18) Vgl, Ch. R. Stockard, Die kórperliche Grundlage der Persón- lichkeit. Übertragen von K. D. Rosenkranz. Jena 1932.

14 Das kommende Geschlecht

teren Verfolgung der soeben angedeuteten Probleme durchaus nur ermutigen.

Um so wichtiger ist es, daB wir doch bereits wenigstens von einem dieser Teilcharaktere der Konstitution etwas in Hinsicht auf die Erblichkeitsfrage aussagen können, und zwar gerade von einer Eigenschaftsart, die in engster Beziehung zum Umwelt-Erlebnis steht, von dem wir vorhin sprachen. Es ist nämlich die bevorzugte Aufnahme von Fa r b eindrücken bezw. von Formeindrücken in einer gegebenen optischen Situation in einem erheblichen Maße erbbedingt!?. Ob also jemand, dem etwa in einem psychologischen Ver- such eine Reihe verschiedenfarbiger Figuren von gleichzei- tig verschiedenem Formcharakter für eine kurze Zeitspanne geboten wird, vorzugsweise die Farbwerte oder aber vorzugs- weise die Formwerte aufnimmt und gedächtnismäßig festhält, ist weitgehend durch seine Erbveranlagung bestimmt.

Die Erbbedingtheit gerade dieser konstitutionellen Eigen- schaft ist, um es noch einmal hervorzuheben, darum so bedeu- tungsvoll, weil es sich in ihr um eine Fähigkeit handelt, die das Umwelt-Erlebnis in entscheidender Weise in einer bestimm- ten Richtung sich vollziehen läßt; denn von dieser Fähig- keit hängt es ab, ob die Eindrücke, die der Einzelne aus der Umwelt in sich aufnimmt, in erster Linie formgeprägt oder aber farbgeprägt sind. Hier haben wir also einen klaren Fall von Erbbedingtheit einer spezifischen indivi- duellen Umweltbeeindruckbarkeit.

Wir erinnern uns nun daran?”, daß bevorzugte Formbeach- tung einen der psychischen Konstitutionscharaktere des schi- zothymen Menschen darstellt, also in Korrelation steht zu

19) O. von Verschuer, Intellektuelle Entwicklung und Vererbung (in: Vererbung und Erziehung, hrsg. von G. Just, Berlin 1930); O. von Verschuer, Erbpsychologische Untersuchungen an Zwillingen, Z. f. ind. Abst. u. Vererbungslehre, Bd. 54, 1930; O. Kroh, Methoden der experimen- tellen Typenforschung in ihrer Bedeutung für die menschliche Erblichkeits- lehre, Z. f. ind. Abst. u. Vererbungslehre, Bd. 54, 1930.

20) Experimentelle Beiträge zur Typenkunde, hrsg. von O. Kroh, Bd. I, Leipzig 1929; G. Pfahler, System der Typenlehren, Leipzig 1929. Aus der Marburger Schule von E. Jaensch gingen hervor: E. Ritter, Form- und Farbbeachtung bei Jugendlichen, Z. f. Psych, Bd. 117, 1930, und O. Poppinga, Form- und Farbbeachtung bei Erwachsenen, Z. f. Psych., Dd. 121, 1931. =

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 15

akustischer Einstellung, gebundenerer Phantasie, záherem ge- dächtnismäßigen Festhalten am Einzelnen, zu einer weniger zielgerechten Motorik, während bevorzugte Farbbeachtung als Teilcharakter des zyklothymen Menschen Korrelation zeigt zu mehr visueller Einstellung, schwebenderer Phantasie, fließenderer Gedächtnistätigkeit, zielgerechterer Motorik. Wenn wir nun auch von einer tieferen Erkenntnis dieser Zu- sammenhänge noch entfernt sind, so wird doch soviel deutlich, daß für alle diese wichtigen Teilcharaktere der Persönlichkeit die Vererbung eine nicht unerhebliche Rolle spielen muß.

Doch wir brauchen, um die Gedankengänge unseres Hauptthemas weiter verfolgen zu können, auf die Lösung die- ser Fragen nicht zu warten. Denn wenn wir auch, wie wir sehen, mit dem Versuche, das Gefüge der Persönlichkeit gleichsam von oben her in immer tiefere Schichten zu ver- folgen, um so schließlich bis zu den letzten biologischen Grund- lagen des Persönlichkeitsgefüges durchzustoßen, erst im An- fang stehen, so können wir auf einem anderen Arbeitsgebiete, nämlich dem im engeren Sinne erbbiologischen, das nicht vom Ganzen der Individualität, sondern von bestimmten scharf umschriebenen Eigenschaften ausgeht, also nicht von oben her abzutragen, sondern von unten her aufzubauen ver- sucht, auf klare und gesicherte Ergebnisse hin- weisen, die in der gleichen Richtung liegen wie der Fall der bevorzugten Form- oder Farbbeachtung.

Wir wissen, daß das subjektive Erlebnis der Far- ben, das ja bereits beim Einzelnen starken Schwankungen je nach den Bedingungen der Beobachtung unterliegt bei Nacht sind zwar nicht alle Katzen grau, aber das Farberlebnis entscheidend verändert —, bei verschiedenen Menschen auclı unter gleichen Beobachtungsbedingungen sehr verschieden- artig ist. Etwa jeder zwölfte Mann ist nicht normal farb- tüchtig, ein Teil dieser Männer teilweise farbenblind, indem er Rot und Grün nicht wirklich voneinander zu unterscheiden vermag”. Unter den solchergestalt Farbenschwachen und

21) G. M. H. Waaler, Über die Erblichkeitsverhältnisse der verschie- denen Arten von angeborener Rotgrünblindheit, Z. ind. Abst. V. I., Bd. 45, 1927; P. von Planta, Die Häufigkeit der angeborenen Farbensinnstörun- gen bei Knaben und Mädchen und ihre Feststellung durch die üblichen klini- schen Proben, A. f. Ophthalm., Bd. 120, 1928.

16 Das kommende Geschlecht

Farbenblinden gibt es wieder verschiedene, scharf un- terscheidbare Unterformen. Es gibt auch eine teilweise Farb- übersichtigkeit: solche Menschen vermögen etwa zwei graue Farben, die einem Normalen als durchaus gleich erscheinen und erst bei künstlicher Beleuchtung sich durch einen viel- leicht rötlichen Schimmer des einen Grau voneinander zu unterscheiden beginnen, bereits bei Tageslicht als verschie- den anzusprechen?!?), Noch wieder andere, allerdings sehr sel- tene Menschen sehen überhaupt keine Farben, sind also total farbenblind: die bunte Welt der Anderen besteht für sie nur in allerlei Abschattungsstufen des Grau, wie sie zwischen Weiß und Schwarz liegen. Für all diese Verschiedenartig- keiten des individuellen Farberlebnisses nun kennen wir be- sonders genau die Bedeutung der Erbveranlagung; die Ver- erbungsgesetze des Farbensinns und seiner Abweichungen gehóren zu den am besten erforschten Tatsachen der mensch- lichen Erblehre?”.

Wiederum haben wir hier den Fall, daß Eigenart und Um- fang der subjektiv erlebten Umwelt durch die Erbstruktur des Individuums bedingt ist. Und wir können, diese und ver- wandte Tatsachen verallgemeinernd, sagen, daß das sub- jektive Umwelterlebnis und die objektive Umweltprägbarkeit eines Menschen nicht allein von dem Vorhandensein einer be- stimmten objektiven Umwelt abhängig ist, sondern nicht minder auch von der erbbeding- ten Empfänglichkeit des betreffenden Indi- viduums für eben diese Umweltreiz ed.

218) E. Wölfflin, Tafeln mit Umschlagfarben zum Nachweis von rela- tiver Rot- und Grünsichtigkeit, Leipzig 1926.

22) A. Franceschetti, Die Vererbung von Augenleiden (in: Kur- zes Handbuch der Ophthalmologie, hrsg. von F. Schieck und A. Brück- ner, I. Bd., Berlin 1930); W. Brunner, Über den Vererbungsmodus der verschiedenen Typen der angeborenen Rotgrünblindheit, Arch, Ophthalm., Bd. 124, 1930.

23) H. Hoffmann, Charakter und Umwelt, Berlin 1928; G. Just, Die biologischen Grundlagen der Begabung, Volksaufartg. Bd. 3, 1928; G. Just (s. unter 2); R. Müller-Freienfels, Charakter und Erlebnis, Jahrb. d. Charakterol, Bd. 2/3, Berlin 1926. Vgl. ferner F. Stern, Milieu (in: Handwórterb. d. mediz. Psychologie, hrsg. von K. Birnbaum, Leipzig 1930).

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 17

Der Tatsachen zum Beleg dieses Satzes lieBen sich noch viele anführen. Gerade in den allerletzten Jahren ist die For- schung auf dem Gebiete der psychischen Vererbung ja um ein erhebliches Stück vorwärts gekommen. Genealogische, experimentalbiologische, erbstatistische, in besonders erfolg- reicher Weise neuerdings vor allem zwillingsbiologische Unter- suchungen?“ haben uns mit einer Fülle von ständig sich ver- mehrenden Tatsachen bekannt gemacht, die die gewaltige Bedeutung der Erbveranlagung für die Ent- wicklung bestimmter psychischer Eigen- schaften zeigen.

Einige wenige Hinweise mögen hier genügen. Musikali- sche Begabung?“ beispielsweise beruht in ihren Teil- komponenten wie in ihrer Gesamtheit auf der Erbveranlagung, welche die Grenzen bestimmt, innerhalb welcher musikalische Leistungen erzielt zu werden vermögen. Die Entwicklung bestimmter sozialer und sittlicher Charak- ter eigenschaften?“ ist ebensowenig unabhängig von der Veranlagung wie die schulischen Leistung en:“, so sehr auch gerade auf diesen beiden Gebieten sich die mannigfach- sten Umwelteinflüsse bemerkbar machen??”. Inbezug auf die

24) Baur-Fischer-Lenz, Menschliche Erblichkeitslehre, 3. Aufl. München 1927; O. von Verschuer (s. unter 19); O. von Verschuer, Ergebnisse der Zwillingsforschung, Verh. Ges. phys. Anthrop., Bd. 6, 1931; H. Luxenburger, Leistungen und Aussichten der menschlichen Mehr- lingsforschung für die Medizin, Z. ind. Abst. u. Vererbungslehre, Bd. 61, 1932.

25) H. Koch und Mióen, Die Erblichkeit der Musikalität I. IL, Z. Psychol, Bd. 99, 1926 und Bd. 121, 1931; J. A. Miöen, Geniet og For- bryderen som biologisk problem, Religion och Kultur, Bd. II, 1931.

26) M.-Th. Lassen, Zur Frage der Vererbung „sozialer und sittlicher Charakteranlagen" (auf Grund von Fragebogen über Zwillinge), Arch. Rass. Ges. Biol., Bd, 25, 1931.

27) J. Frischeisen-Köhler, Untersuchungen an Schulzeugnissen von Zwillingen, Z. ang. Psych. Bd. 37, 1930.

28) Vgl. A. Argelander, Der Einfluß der Umwelt auf die geistige Entwicklung, Jenaer Beitr. z. Jug.- u. Erz.-Psych. 7, 1928; A, Argelander, Das wirtschaftliche Milieu in seiner Auswirkung auf Schulleistung und In- telligenzalter des Kindes, Z. Kinderforschg., Bd. 38, 1931; A. Busemann, Die Umwelt als persónlichkeitsbildender Faktor, Bd. 45, 1932; A. Buse- mann und Q. Bahr, Arbeitslosigkeit und Schulleistungen, Z. pádag. Psych., Bd. 32, 1931; K. Marbe und L. Sell, Beruf der Eltern und Schulleistun- gen der Kinder, Z. Psychol. Bd. 122, 1931; A. Müller, Abhängigkeit der Schulleistungen von wirtschaftlichen und sozialen Finflüssen, A. ges. Psych. Bd. 83, 1932.

18 Das kommende Geschlecht

Schulleistungen zeigt sich ein stärkerer Grad solchen Einflus- ses bei der Erlernung von Fremdsprachen, in der Geschichte und beim Rechnen, während die naturwissenschaftlichen und zeichnerischen Leistungen in höherem Maße anlagebedingt er- scheinen?”.

In allen diesen Fällen ist der Einfluß der Umwelt nicht etwa als gleichgültig anzusehen; müssen doch oft bestimmte Um- weltvoraussetzungen erfüllt sein, wenn die betreffenden An- lagen sich zu voller Blüte entfalten sollen. Aber umgekehrt sind diese Umweltsverhältnisse nicht das alleinig Entschei- dende; vermögen sie doch nichts, wenn die Anlagen fehlen, die zur Entfaltung gebracht werden könnten.

So ergibt sich uns ein Gesamtbild, das sich in zwei kurzen Sätzen aussprechen läßt: Die Veranlagung eines Menschen kann sich nur insoweit aus- wirken, als es die Umwelt zuláBt Aber diese Umwelt vermag ihrerseits auch nur in- soweit einzuwirken, als ihr die Veranlagung entgegenkomm t.

Damit aber sind wir an dem Punkte angelangt, an dem es uns móglich ist, unsere Bestimmung über das Wesen der Er- ziehung, wie wir sie zu Beginn dieses Kapitels gaben, durch eine Aussage über die Grenzen aller Erziehungs- arbeit zu ergänzen.

Erziehung vermag weder im Qualitativen beliebig naclı allen Richtungen hin, noch im Quantitativen bis ins Unbegrenzte zu wirken. In beiderlei Hinsicht stößt sie vielmehr schließlich: an Grenzen. Diese Grenzen der Erziehbarkeit des Einzelnen aber sind nichts anderes als biologisch ausgedrückt die Grenzen der Modifizierbarkeit" erbbeding- ter Entwicklungsablàufe.

In der Auffassung, als könne erzieherischer Einfluß aus dem „Wachs“ der jungen Kinderseele nach Belieben ein Er- wünschtes heraus,, kneten“, als könne er aus dem „unbeschrie- benen Blatt“ ebensogut einen Maler wie einen Mathematiker „machen“, kann der Erbbiologe nur einen verhängnisvollen

29) Vgl. auch G. Just, Ist „Vererbung und Umwelt" eine Kompromiß- formel? A. Rass. Ges. Biol. Bd. 23, 1931. * = Fähigkeit der Abänderung seitens der Umwelt.

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 19

Irrtum erblicken, den er umso schärfer bekämpfen muß, als er noch immer weitverbreitet ist. Daß man, um diesem Irr- tum entgegenzutreten, sich nicht in die Gefahr des entgegen- gesetzten Irrtums begeben muß, wird aus unserer ganzen bis- herigen Auseinandersetzung deutlich geworden sein.

Mit dieser Stellungnahme, die sich nicht wie die „Knet“- Theorie aus einer reinen Ideologie herleitet, sondern aus den Tatsachen der Vererbungsforschung und der Umwelt- forschung gewonnen ist, befindet sich der Erbbiologe und Eu- geniker Seite an Seite mit pádagogischen Kópfen hóchsten Ranges. Wir lassen hier nur zwei sprechen: Goethe und Jean Paul.

Goethe hat nicht nur in seinen oft angeführten Versen in „Hermann und Dorothea‘ die entscheidende Bedeutung der Veranlagung für den Erfolg der Erziehung betont, sondern im- mer wieder auch jenem unlöslich erscheinenden Ineinander- verstricktsein von UmwelteinfluB und erblicher Mitgift Aus- druck gegeben. Sagt er auf der einen Seite in den „Sprüchen“: „Nicht allein das Angeborene, auch das Erworbene ist der Mensch,“ betont er auf der anderen Seite immer wieder die Bedeutung dessen, was dem Einzelnen „gemäß“ ) ist, so spricht er in „Dichtung und Wahrheit“ ganz unzweideutig in einem kurzen Satze das aus, was wir hier ausführlicher abge- leitet haben: „Was einer nicht schon mitbringt, kann er nicht erhalten“ “. Und in Goethes Erklärung seiner „Urworte Orphisch" heißt es nicht minder deutlich: „Bei der Erziehung, wenn sie nicht öffentlich und nationell ist, behauptet Tyche ihre wandelbaren Rechte. Sáugamme und Wärterin, Vater oder Vormund, Lehrer oder Aufseher, sowie alle die ersten Um- gebungen an Gespielen, ländlicher oder städtischer Lokalität, alles bedingt die Eigentümlichkeit durch frühere Entwickelung, durch Zurückdrängen oder Beschleunigen; der Dämon freilich hält sich durch alles durch, und dieses ist denn die eigentliche Natur, der alte Adam und wie man es nennen mag, der, sooft auch ausgetrieben, immer wieder unbezwinglicher zurück- kehrt." „Der Dämon bedeutet" aber, wie es in der Erklärung der ersten Strophe des tiefsinnigen Gedichtes heißt, „die not-

30) E. Caspers, Goethes pädagogische Grundanschauungen im Ver- hältnis zu Rousseau, Pädagog. Mag. H. 861, Langensalza 1922. 31) Zitiert nach E. Caspers.

20 Das kommende Geschlecht

wendige, bei der Geburt unmittelbar ausgesprochene, be- grenzte Individualität der Person, das Charakteristische, wo- durch sich der einzelne von jedem andern bei noch so groBer Áhnlichkeit unterscheidet." So móchte man denn einige Zeilen später „gar wohl gestehen, daß angeborne Kraft und Eigenheit mehr als alles übrige des Menschen Schicksal be- stimme.“ Und wir sind nicht verwundert, über den Kern der Persönlichkeit die Worte zu lesen: „Dieses feste, zähe, dieses nur aus sich selbst zu entwickelnde Wesen.“

Bei Jean Paul?” aber finden wir den Satz: „Das Höchste ist überall im Menschen das Angeborene“; Erziehung kann „nur befördern, ausbilden, aber nicht erschaffen.“ Und wir kónnen unserer Ansicht über Wesen und Grenzen der Er- ziehung nicht treffender und schóner zugleich Ausdruck geben als mit Jean Pauls Wort: „Alles Lehren“, oder sagen wir allgemeiner: Alles Erziehen „ist mehr Wärmen ais Säen“ ““.

Aus unserer grundsätzlichen Stellungnahme zur Erzie- hung und ihren Grenzen ergeben sich einige allgemeine p r a k- tische Grundsätze für die Erziehungsarbeit wie von selbst. |

Vor allem: Alle Erziehung kann nur individuelle Er- ziehung sein. Nichts wäre falscher, als in dieser Forderung einer Erziehung von der Eigenart des Kindes aus einen über- triebenen Anspruch einer individualistisch verdorbenen Zeit zu sehen. Sich auf die Art des Kindes unermüdlich einzustellen ist ja doch keineswegs gleichbedeutend mit Nachgiebigkeit ge- gen seine Unart. In einer ehrlichen Achtung der kindlichen In- dividualität aber, im vollen Ernstnehmen aller ihrer Äußerun- gen wird stets eines ‚der Geheimnisse, vielleicht das Grund- geheimnis wirklichen erzieherischen Erfolges ruhen.

An einem entscheidungsvollen Punkte der Entwicklung gilt dies noch einmal im besonderen: bei der Berufswahl. Hier sollte, unbeschadet der Notwendigkeit ernstester Beratung durch Eltern und Berufserfahrene und abgesehen von gewis- sen besonders gelagerten Fällen, in die freie Entscheidung des

32 Jean Paul Friedr. Richters Levana, hrsg. von Karl Lange, 3. Aufl, Langensalza 1910, S. 48 Anm. 33) a. a. O.; Sperrung von uns.

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 21

jungen Menschen selbst so wenig wie möglich eingegriffen, zu- gleich ihm aber auch das Gewicht der Selbstverantwortung für seine Wahl so deutlich wie móglich gemacht werden. Die Berechtigung eines solchen Grundsatzes ergibt sich daraus, daB es Beziehungen der Konstitutionstypen zur Beruíseig- nung nicht nur, sondern auch zur Beruísneigung gibt”.

Was die Schulerziehun g betrifft, so erscheint es uns wichtig, eine Grundforderung immer wieder mit allem Nach- druck zu erheben: námlich die Forderung kleiner Klas- sen. Wir sind uns völlig darüber klar, daB diese geradezu elementare Forderung in der heutigen wirtschaftlichen Not- lage wie eine Utopie erscheint. Aber einmal haben grund- sátzliche Forderungen sich nicht an der Zeit zu messen, diese sich vielmehr an jenen zu bewáhren; dann aber móchten wir das Unsere tun, um die Gewissen dafür aufzurütteln, daB derlei Schulprobleme nicht Angelegenheiten einer Berufsschicht sind, die für ihre Forderungen eben selber kämpfen solle, sondern eine Angelegenheit des ganzen Volkes. Nicht für die Lehrer fordern wir die kleinen Klassen, sondern für die Kinder, für unsere Kinder. Und wir tun es, weil man fünfzig Kinder in einer Klasse allenfalls unterrichten kann, aber nicht erziehen. Alle diese Kinder, jedes eine Individualität für sich, erhalten ja, wenn wir die Sachlage einmal zugespitzt formulieren wol- len, garnicht von dem gleichen Lehrer Unterricht, der da vor ihnen auf dem Katheder steht, sondern jedes Einzelne der Fünfzig erlebt seinen Lehrer, empfängt seinen irgendwie anderen Unterricht. Wie soll der Lehrer, wenn die Zahl der ihm anvertrauten Kinder ins Übermächtige wächst, noch im- stande sein, sich auf alle die Einzelnen so vielfältig einzustel- len, daß doch ein Jedes inseiner Weise zuseinem Rechte komme?

Daß dieses Recht nicht nur in intellektueller Erziehung, sondern in der Erziehung des ganzen Menschen besteht, daß über der Schärfung des Intellekts nicht körper- liche Erziehung, Willensschulung, Pflege der seelischen Kräfte

34) H. Bogen, Vererbung des Berufs, Mediz. Welt, 1. Jahrg. 1927 (auch in: Volksaufartg, 3. Jahrg., 1928); H. Bogen, Erbgang und Be- ruf, Verh. I. Intern. Kongr. f. Sexualforschung, 4. Bd., Berlin und Köln, 1928; C. Coerper, Personelle Beurteilung nach der praktischen Lebenseignung, a) Kórperlich (in: Die Biologie der Person, Bd, IV, Berlin und Wien 1929).

22 Das kommende Geschlecht

vernachlässigt werden dürfen, würden wir heute, wo all diese Forderungen fast schon anachronistisch wirken, nicht mehr auszusprechen brauchen, wenn wir nicht von diesem Boden aus einer bestimmten Kritik entgegenzutreten hätten. Man hält dem Einzug derartiger pädagogischer Bestrebungen in die Volksschule entgegen, daß auch bei ihrer restlosen Durchfüh- rung die Unterrichtserfolge nicht wesentlich hóher werden würden. Aber sind denn die vorweisbaren Lern- und Gedächt- nisleistungen der MaBstab für die Erfolge der Schule? Ist es kein Gewinn, wenn die Freude am Lernen sich erhöht, wenn das innere Leben der Kinder reicher und mannigfaltiger wird, wenn das Kind Zeit gewinnt zu innerem Reifen? Es handelt sich auch für uns eben nicht nur um die Erzielung von Lern- ergebnissen, überhaupt nicht darum allein, das rein Unterricht- liche zu fórdern, sondern es geht uns um Erziehung als Gan- zes, um die Schaffung einer Schulatmospháre von Licht, Fróh- lichkeit, Kindgemáfheit, einer Schule, in die die Kinder am Morgen voller Erwartung hineinlärmen, aus der sie des Mit- tags singend herauskommen, und aus der sie bei ihrer schließ- lichen Entlassung nicht geknickt, verschüchtert, feindlich, son- dern gerade, von Selbstvertrauen und Arbeitswillen erfüllt, ins Leben hinausgehen. Bedeutet dieses alles für den Einzelnen und für das Volksganze nichts?

Ob auf dem Wege über eine solche Volksschule doch auch eine Erhóhung des allgemeinen Bildungsniveaus unseres Volkes eintreten kónnte, vermag niemand vorherzusagen, aber auch niemand von vornherein zu leugnen.

Daß allerdings, um dies sogleich hinzuzusetzen, in der Durchführung oder Nichtdurchführung solcher pádagogischen Maßnahmen in keiner Weise die entscheidende Ursache künftiger kultureller Hóher- oder Minderleistung un- seres Volkes liegt, darüber werden wir im vierten Kapitel aus- führlicher sprechen.

Schon hier aber müssen wir, unsere grundsätzliche Aus- einandersetzung über die Grenzen der erzieherischen Arbeit zum Abschluß bringend, vor einer unmöglichen Forderung bzw. einer unhaltbaren Folgerung warnen. Wir dürfen nicht glauben, daß die Erziehung der nächsten Generation, indein den Enkeln durch Vererbung zuteil würde, was wir un-

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 23

seren Kindern an kórperlicher und geistiger Bildung haben an- gedeihen lassen, ein erster oder vielmehr bereits ein wei- terer Schritt sei zur Erziehung auch der auf sie folgenden Generationen. Solcherlei Anschauungen einer Vererbung der Erziehungseriolge, die sich selber gern für opti- mistisch halten, entbehren einer tatsáchlichen Grundlage".

Zwar vermag die Erziehungsarbeit in der Tat über die un- mittelbar Erzogenen hinaus wirksam zu bleiben, indem sie in diesen und in der von ihnen geleisteten Arbeit ein kulturel- les Milieu sich entwickeln hilft, das für die Generation der Enkel günstigere Entwicklungsbedingungen bietet. Aber was so verbessert wird, sind allein die Umweltbedingungen, nicht aber die Erbanlagen, welche in ihnen sich entíalten. Diese Anlagen mógen in der Enkelgeneration unter deren günstigeren Umweltverhältnissen zu reicherem, üppigerem Aufblühen kommen als zuvor, und dieses seines Erfolges darf sich der Erzieher mit Recht freuen. Nur darf er diese Ver- besserung der Umwelt nicht mit einer Verbesserung des Erb- gutes verwechseln.

Sich dies klarzumachen, heißt nicht die Arbeit des Erzie- hers entwerten, Im Gegenteil! Eben darum verlangt jede Ge- neration von neuem Erziehung und Erzieher. In jeder Gene- ration beginnt die Arbeit immer wieder von vorn. Gerade aber in ihrem nie vollendeten Bemühen, sowohl in der Erzie- hung der Generationen wie in der erzieherischen Arbeit am einzelnen Menschen, liegt Bedeutung und innere Größe aller Erziehungsarbeit. Erziehung ist eine unendliche Aufgabe, eben weil sie eine endliche ist.

Aber wir kehren noch einmal zu der Frage nach den Gren- zen der Erziehbarkeit des Einzelnen zurück. Diese Grenzen heben sich in besonderer Deutlichkeit dort heraus, wo es sich um Schwererziehbare oder um solche handelt, die man als praktisch unerziehbar bezeichnen kann.

Wir sind weit davon entfernt, alle jene verderblichen Ein- flüsse zu übersehen, die ein Kind, das in einem anderen Milieu zu einem durchaus brauchbaren Menschen heran- wachsen würde, in seiner Entwicklung aufs schwerste zu

*) Siehe unter 20.

24 Das kommende Geschlecht

schádigen vermógen, und wir verschlieBen die Augen nicht vor dem gut Teil Wahrheit, das in den Sátzen eines warm- herzigen Arztes“ liegt: „Auf Grund all des Elends, das ich als Schularzt und Fürsorgearzt kennen gelernt habe, muß ich ehrlich zugestehn: Wenn ich heute unter denselben Verhält- nissen, in derselben Gesellschaft in einem Hinterhaus Acker- straße aufgewachsen wäre, wie die Jungen, die mir als Sünder vorgeführt werden, und über die ich ein ,psychiatrisches' Gut- achten abgeben soll, ich wáre nicht um ein Haar besser ge- wesen.“ Aber wir verkennen auch nicht, daß in solchen Sätzen eben nur ein Teil der Wahrheit, nicht die ganze Wahrheit liegt.

Denn mit der Erkenntnis, daß ungünstige Umweltbedingun- gen eine Minus-Entwicklung auch bei normaler Veranlagung zur Folge haben kónnen, ist die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, daB es auch minderwertige Erbveran- lagungen gibt, die auch unter günstigeren Umweltverhält- nissen als denen, welchen solche Erbminderwertigen oft unter- worfen sind, zu keinen individuell und sozial tüchtigen Men- schen führen würden. Am deutlichsten wird die Unmöglichkeit erzieherischer Beeinflussung in jenen krassen Fällen, wo jede Ansprechbarkeit auf sittliche Impulse vollständig fehlt.

Wir können auch hier wieder nur andeuten, welcher Art das Tatsachenmaterial*® ist, auf Grund dessen wir die Erbbe- dingtheit vieler geistiger und moralischer Minderwertigkeit klarzulegen vermögen. Einmal ist es die Tatsache, daß die prozentuale Häufigkeit für die Zahl der wenig oder garnicht Gebesserten unter Fürsorgezöglingen und Kriminellen sich in den Angaben der verschiedensten Untersucher meist mehr oder weniger einem und demselben Zahlenwert nä- hert, der übrigens Lombrosos Zahl für die Häufigkeit der geborenen Verbrecher außerordentlich nahe liegt?. Zweitens sind es Untersuchungen an Sippschaften von Minderwertigen und

85) A. Keller, Erziehungsfehler und Fehlerziehung (in: Kind und Um- welt, Anlage und Erziehung, hrsg. von A. Keller, Leipzig und Wien 1930). Vgl. auch W. Villinger, Die Grenzen der Erziehbarkeit (in: Reform des ne hrsg. von C. Frede und M. Grünhut, Berlin u. Leipzig 1927).

36) J. Lange, Verbrechen und Vererbung, Eugenik, Bd. 1, 1931; vel. auch die Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft, Bd. I—III, Graz 1928, 1929, 1931.

37) Näheres demnächst an anderem Orte.

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Fugenik 25

Kriminellen. Drittens ergab sich auch hier wiederum aus Zwi!- lingsuntersuchungen eine Mitwirkung der Erbveranlagung an der Entwicklung zahlreicher krimineller Persónlichkeiten in so überwältigender Klarheit, daß der Psychiater J. Lange seiner rasch bekanntgewordenen Schrift?9), in der er über seine Befunde berichtet, den Titel geben konnte: „Verbrechen als Schicksal". Soeben sind übrigens durchaus übereinstimmende Mitteilungen von einem hollàndischen Psychiater?? gemacht worden: die von ihm untersuchten 4 Paare eineiiger, also erb- gleicher Zwillinge sind sámtlich in beiden Partnern kriminell, während von seinen 5 Paaren zweieiiger, also erbverschiede- ner Zwillinge jeweils nur der eine Partner kriminell ist.

Überall dort, wo die Entwicklung zum normal-vollwertigen Menschen durch die Erbveranlagung erschwert oder praktisch unmóglich gemacht ist, steht erzieherische Bemühung vor der wenn auch schweren Notwendigkeit, ihre Grenzen zu sehen. Fine solche Einsicht bedeutet keineswegs, nun etwa überall dort, wo sich Erziehungsschwierigkeiten aufrichten, die Hánde resigniert in den Schoß zu legen, bedeutet auch nicht, jene un- glücklich Veranlagten einfach ihrem Schicksal zu überlassen.

Aber wenn wir die Pflicht haben, für diese Erbminderwer- tigkeiten nach Kräften zu sorgen, ihnen ihr materielles und psychisches Dasein nach Möglichkeit erträglich zu gestalten, so haben wir nicht minder die Pflicht, mit allen Kräften dafür zu sorgen, daß die weitere Erzeugung solcher erbminderwertigen Individuen eingedämmt werde. Zu den heilenden und erzieherischen Maßnahmen, die, wie gesagt, oft genug nichts als eine reine Sisyphus-Arbeit darstellen, müssen eugenische Maßnahmen“ hinzu- treten, die im Gegensatz zu den ersteren stets einen tatsäch- lichen Erfolg verbürgen.

Wir meinen, wer unser Volk lieb hat, und wer über der Not der Gegenwart die Zukunft unserer Enkel nicht vergißt, muß sich nicht nur mit dem Kopfe, sondern mehr noch mit dem Her-

38) J. Lange, Verbrechen als Schicksal, Leipzig 1929.

39) A. M. Legras, Psychose en Criminaliteit bij Tweelingen. Diss. Utrecht 1932.

40) P Lenz (s. unter D; H. Muckermann, Wesen der Eugenik und Aufgaben der Gegenwart, Berlin 1929; H. Muckermann und O. von Verschuer, Eugenische Eheberatung, Berlin 1931.

26 Das kommende Geschlecht

zen auf die Seite der eugenischen Forderung stellen, sofern er seine Augen nicht vor ebenso klaren wie drohenden Tatsachen verschlieBt. |

Diese Forderung nach Verhinderung der Erzeugung erh- minderwertiger Individuen ist auch nicht etwa nur eine rein negative Maßnahme, als die sie zunächst erscheinen mag. Oder bedeutet es nichts, daB viele dringenden Forderungen erzieherischer und gesundheitlicher Sorge um das erbge- sunde Kind immer wieder unerfüllt bleiben müssen, weil vergleichsweise gesehen ein Übermaß von Mitteln, die sonst dem normalen Kinde zugutekommen kónnten, für das nicht-normale Kind benötigt wird?“!

Um auch sogleich noch kurz auf einige andere Einwände zu antworten, die hier erhoben zu werden pflegen: Kann eine Maßnahme wie die Sterilisierung*?), die im Gegensatz zur Keimdrüsenentfernung die psychophysische Persönlichkeit durchaus unversehrt läßt, ihr also keinerlei leiblichen oder geistig-seelischen Schaden zufügt‘?, irgendeinen berechtigten Anspruch des Erbminderwertigen verletzen? Kann eine Maßnahme, die, aus tiefster Verantwortung heraus geboren, im Kampf gegen geistige und sittliche Minderwertigkeit entscheidende Erfolge verspricht, ihrerseits gegen Geist oder Sittlichkeit verstoßen? Und wenn sie im Widerspruch mit dem Gesetz steht, wenn die Erbgesundheit eines Volkes, also sein biologisch und damit in letzter Linie auch sein kul- turell höchster Besitz, „heute noch kein im Strafrecht aner- kanntes Rechtsschutzgut‘“® ist, ist es dann nicht an der Zeit,

41) J, Lange, Untersuchungen in einem Elendsquartier, A. Rass. Ges Biol. Bd. 24, 1930: H. Muckermann, Illustrationen zu der Frage: Wohl- fahrtspflege und Eugenik, Eugenik, Bd. 2, 1931; Rabes, Eugenik und kirch- liche Liebestätigkeit, Eugenik, Bd. 1, 1931.

42) R. Gaupp, Die Unfruchtbarmachung geistig und sittlich Kranker und Minderwertiger, Berlin 1925; E. S. Gosney und P. Popenoe, Ste- rilization for human betterment, New York 1931 (deutsch: Sterilisierung zum Zwecke der Aufbesserung des Menschengeschlechts, Berlin u. Kóln 1930); siehe auch unter 40).

43) Collected papers on eugenic sterilization in California, Pasadena, Cal. 1930.

44) E, Hópler, Sterilisierung und Strafrecht, A. Rass. Ges. Biol. Bd. 25, 1931, S. 212; vgl. auch H. Muckermann, Eugenik und Strafrecht, Eugenik, Bd. 2, 1932.

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 27

daß die Rechtswissenschaft der neuentstandenen Tatsachen- und Gedankenwelt entsprechend umlernt und zu eng gewor- dene Begriffe weiter faBt?

Schließlich wird, wenn von der Notwendigkeit von Maß- nahmen zur Verhinderung der Fortpflanzung erblich schwer Belasteter die Rede ist, immer wieder die Frage aufgeworfen, ob nicht mit der Ausmerzung der minderwertigen Erbanlagen die Gefahr verbunden sei, daß auch hochwertige Erbanlagen, die sich in den betreffenden Individuen fänden, nun ebenfalis vernichtet würden. Gibt es nicht, so sagt man weiter, sogar eine Fülle von Beispielen für eine Beziehung zwischen psy- chischer Abwegigkeit, ja Krankheit einerseits, Genialität andererseits? Wir antworten darauf: Nicht um die Ausschal- tung jeglichen Erbunnormalen überhaupt kann es sich für uns als Eugeniker handeln, sondern um die Ausschaltung all des Erbunnormalen, dem innerhalb der betreffenden in div i- duellen Erbgefüge und innerhalb der betreffenden fami- liáren Erbbesitze keinerlei Positives gegenüber- Steht, um die Ausschaltung also aller derienigen erblichen Minderwertigkeit, die sorgfältigstem Ermessen nach in alle Zukunft nur immer wieder Minderwertigkeit erzeugen würde. Die Durchführung der Forderungen der Eu- genik würde die Menschheit keines künfti- gen Genies berauben, wohl aber im Gegen- teil ihr manch eines zu schenken vermögen.

3. Erziehungsziele.

Mehr noch als im vorigen Kapitel werden wir uns in die- sem, in welchem wir uns den Zielen der Erziehung zuwen- den, darauf beschränken müssen, nur einige Fragen heraus- zugreifen, um sie in großen Umrissen zu erörtern. Die Not- wendigkeit einer solchen Beschränkung besteht umsomehr, als vieles von dem, was in diesem Zusammenhange noch zu sa- gen wäre, weniger vom Standpunkte gerade des Erb biologen als vielmehr vom Standpunkte eines in ganz allgemei- nem Sinne biologisch orientierten Beurteilers gesehen wäre.

Die letzten Ziele, die sich der Erzieher setzt, sind ohne Zweifel unmittelbar von seiner weltanschaulichen, sittlichen, religiösen Gesamthaltung abhängig. Mit zwei Fragen aber

28 Das kommende Geschlecht

wird sich jede Erórterung über Erziehungsziele auseinander- zusetzen haben: einmal mit der Erziehung des Individu- ums als solchen, zweitens mit der Erziehung des Einzel- nen zur Einordnung in die Gemeinschaft.

Die erstgenannte Erziehungsaufgabe ist die gleiche, die man oft als Erziehung zur Persónlichkeit charakterisiert. Die zweite fällt zu einem gewissen Anteil mit der Erziehung zum Beruf zusammen, geht aber in ihrem Wesentlichen weit dar- über hinaus; ist ja doch vielmehr der entscheidende Gegensatz zur Persónlichkeitserziehung in der Betonung des Über- individuellen gegeben, für das und in das hinein erzogen werden soll.

Die durch eine solche Doppelaufgabe gegebene scheinbare Gegensátzlichkeit ist nicht einfach gleichbedeutend mit der- jenigen zwischen individualistischer und kollektivistischer Er- ziehungsauffassung. Denn die Gemeinschaft, in die das In- dividuum hineingestellt ist, ist nicht allein die soziolo- gische der mit ihm lebenden Menschengemein- schaft, sondern zweitens auch die biologisch-genera- tive der Gemeinschaft Mensch, der Gattung.

In letzterer Hinsicht ist der Einzelne, in der Kette der Generationen nur ein Glied zwischen Vergangenheit und Zit- kunft, in das überindividuelle Leben der Familie, der Rasse, der Gattung eingefügt, und nur mit und in der Giil- tigkeit auch dieser seiner überindividuellen Beziehungen besitzt der Einzelne seine bio- logische Totalität. Gleichwohl behält aber das Indivi- duum seinen ihm eigentümlichen biologischen Standort: denn alle Manifestationen des Überindividu- ellen bestehen ja jedenfalls soweit es sich um den Menschen handelt darin, Individuelles sich ent- faltenzulassen.

In ersterer Hinsicht, in Hinsicht also auf die Frage der Ein- ordnung des Einzelnen in die soziale Gemeinschaft, sei in aller Entschiedenheit betont, daß gerade der Biologe keineswegs zu einseitig kollektivistischen Gedankengängen gezwungen ist. Er wird im Gegenteil auf die grundlegenden biologischen Un- terschiede hinweisen müssen, die zwischen einem Insekten- staat und einem menschlichen Gesellschaftsaufbau bestehen. Und da ist vor allem zu sagen, daß eines der für die kulturelie

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 29

Entwicklung wichtigsten biologischen Charakteristika der Gattung Mensch in ihrer mangelnden Speziali- sierung gegeben ist, die eine entsprechend vielseitige An- passung an die verschiedenartigsten Aufgaben des Lebens- kampfes im Laufe der Entwicklung des Menschengeschlechts möglich gemacht hat. Nicht nur die Mannigfaltigkeit der Be- tätigungsmöglichkeiten als solche, sondern die Möglich- keit einer ständigen Umformung dieser Betäti- gungen, entsprechend den jeweils wechselnden Anforderungen, bedeutete und bedeutet kulturelle Aufstiegsmöglichkeit, im Praktisch-Technischen wie in den Bezirken des rein Geisti- gen. Eine prinzipielle Unterordnung des Individuellen unter ein kollektivistisches Primat wáre biologisch als eine Sack- gasse der kulturellen Entwicklung anzusehen, als ein Sich- Selbst-Aufgeben eines spezifisch Menschlichen. Der Mensch darf nicht zum bloßen Glied etwa eines Wirtschaftsprozesses herabsinken. Entwicklungsziel menschlicher Kultur kann nicht der Ameisenstaat sein.

Einer solchen Einstellung gemäß ist unser Erziehung s- ideal ein in einem recht verstandenen Sinne huma- nistisches. Kaum nötig hinzuzufügen, daß wir hierbei nicht etwa an den Schultypus des humanistischen Gymnasiums denken, sondern an den eigentlichen Sinn unseres Wortes.

Woran wir denken, ist einmal der Mensch, der in Sich einen Sinn sieht und eine Aufgabe besitzt, aber zugleich, indem er auch seine zwiefache Einordnung ins Überindividuelle als einen unlösbaren Teil Seiner Selbst erlebt, Sich in bewußter Verpflichtung als Ich dem Über-Ich einordnet, dann aber auch die Persönlichkeit, imstande, von eigenem Standort aus auf vielfältige geistige und praktische Anforderungen sich einzustellen.

Berufsbildung soll sich demgemäß auf der Grundlage einer möglichst breiten allgemein-menschlichen Bildung aufbauen. Gerade für diejenigen, die künftig die Führer in der kulturel- len und zivilisatorischen Arbeit stellen sollen, muß sowohl vom Standpunkt des Einzelnen wie von demjenigen der Ge- sellschaft aus solche breite Grundlage gefordert werden. welche Umstellbarkeit und grundsätzliche Teilnahmemóglich-

30 Das kommende Geschlecht

keit am Kulturganzen zu gewährleisten vermag. M e nsc hen- bildung geht vor Berufsbildung, um dann in der Berufsarbeit ihre Vollendung und Kró- nung zu finden.

Nach einigen Richtungen hin seien die praktischen Forderungen‘ genannt, die sich uns von unserer Grund- einstellung aus ergeben.

Die höhere Schule, um hier nur von dieser zu re- den, muß in ihrem Grundbau weniger spezi- alisiert, in ihrem Oberbau spezialisierter werden als bisher. Nunmehr wáre dem Einzelnen Zeit gelassen, zur Erkenntnis seines inneren Berufsziels weiter heranzureifen, statt daß durch die Notwendigkeit frühzeitiger elterlicher Wahl zwischen verschiedenen Schultypen die Mög- lichkeiten der Selbstentscheidung praktisch doch allerlei Ein- schränkungen erfahren. Dafür sollte in den Oberbau der höhe- ren Schule die künftige Berufsspezialisierung, soweit es sich um deren allgemeine Grundlagen handelt, bereits in sehr weitgehendem Ausmaße hinein verlegt werden. Bei zahlrei- chen Schülern dieser Oberklassen sind die geistigen oder be- ruflichen Interessenrichtungen so ausgeprägt, sind die Einzel- nen von diesen sie unausgesetzt beschäftigenden inneren In- teressen so stark ergriffen, daß die Schule dem Rechnung tra- gen muß der jungen Menschen wegen und damit auch ihrer selbst wegen. Der Unterricht in den Oberklassen muß noch freier gestaltet werden als das heute bereits der Fall ist; ihm ist eine gleichsam college-artige Form zu gebenfí9, die die Mitte hàlt zwischen der gróBeren Gebundenheit der Schul- arbeit, wie sie für die jüngeren Jahrgänge gilt, und der Lern- freiheit, die unsere Hochschulen als eines ihrer kóstlichsten Güter niemals aufgeben sollten. Wir brauchen nicht zu be- fürchten, daB bei solch freierer Arbeitsgestaltung in den obe- ren Klassen der hóheren Schule die Leistungen sinken wür- den. Im Gegenteil dürften nun, wo eine viel stárkere innere

45) Vgl. hierzu vor allem die unter 1) genannten Schriften von F. Lenz.

46) Vgl. E. Spranger, Über Gefährdung und Erneuerung der deut- schen Universität, Leipzig 1930, und die Bemerkungen von Ph. Depdolla zu Lenz Erziehungsschrift in den Unterrichtsbl. f. Math. u. Naturwiss., Bd. 34, 1928.

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Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 31

Anteilnahme bei den Schülern vorausgesetzt werden dari, durchaus die hóchsten Anforderungen gestellt werden. Junge Menschen dieser Altersklassen sind nur zu gern bereit, sich mit all ihrer Kraft auch schwierigen Aufgaben zuzuwenden, wenn es nur ihre Probleme sind, um die es geht, und um die sie ja oft mit soviel Ernst und innerer Wahrhaftigkeit ringen.

Durch die Doppelma8nahme einer Verlängerung der allgemeinen Vorbildung für die höheren Berufe und einer Vor- verlegung der Berufsspezialisierung könnte also auf beiden Gebieten, dem der Allgemeinbildung und dem der Vorbildung für die spätere eigentliche Berufsbildung, eine Höherleistung erreicht werden. Allerdings dürfte weniger auf abfragbares, examensmáDig vorführbares Wissen Wert gelegt werden als vielmehr auf eigentliche Sachleistung und somit auf den Be- weis sacheingestellter Leistungsfahigkeit. Aber diese ließe sich nunmehr, wo ein sorgsames Beachten der typologischen und individuellen Eigenart die persönlichen Schaffenskräfte des jungen Menschen sich freier entfalten ließe, in gerechterer Weise beurteilen.

Gewiß würde mancherlei Wissensstoff über Bord geworfen werden müssen. Das meiste davon wird aber sicherlich reiner Gedáchtnisballast sein, totes Wissen, ohne Bildungswert. Ja, wir sollten hier rücksichtslos und ehrlich zupacken, statt daß jede Generation der nächsten ihre eigenen Fehlwege von neuem zumutet, vielfältig doch nur aus unbewußter Scheu, sie nicht vor sich selber eingestehen zu müssen.

Die Verwirklichung unserer Doppelforderung würde zu- gleich zu einer Verkürzung der Ausbildungszeit für die höheren Berufe führen können. Wir möchten auf diese Möglichkeit mit besonderem Nachdruck hinweisen, weil hier einer Forderung Genüge geschehen könnte, die von e u g eni- schen Gesichtspunkten aus erhoben werden muß. Immer wie- der muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Zeit- spanne, die in den höheren Berufen bis zum Tage der selb- ständigen Berufsausübung vergeht, länger und länger gewor- den ist, und daß obwohl gerade augenblicklich hier auch ganz andersartige Ursachen mitwirken und sich in den Vor- dergrund der Beurteilung drängen doch auch diese Ver- längerung der theoretischen und praktischen Ausbildungs-

32 Das kommende Geschlecht

zeit eine Hinauszógerung der Eheschlief ung zur Folge hat, weil erst zu einem immer spáter liegenden Zeit- punkt einigermaßen gesicherte wirtschaftliche Grundlagen ge- geben sind. Ohne Zweifel bleibt es aber, biologisch und euge- nisch gesehen, ein Unding, daß junge Menschen so weit, wie das heute geschieht, in ihre spannkräftigsten, innerlich am stärksten geballten Jahre hinein noch immer Vorbereitungs- und Prüfungszeiten durchzumachen haben, statt in Beruf und Familie bereits ihren Mann zu stehen ein Zustand, der sich in generativer Hinsicht durchaus nur zum Schaden des Ein- zelnen und des Volksganzen auswirkt‘”.

Zur Frage des Lehrstoffes wäre von unseren Grund- gesichtspunkten aus vieles zu sagen. Wir müssen uns hier auf dasjenige beschränken, was im Rahmen unseres Themas un- ter allen Umständen ausgesprochen werden muß.

Zu einer Bildung im humanistischen Sinne gehört ohne je- den Zweifel auch naturwissenschaftliche, vor allem biolo- gische Bildung““. Ihr muß im Bildungsplane aller hóheren Schulen die ihr zukommende Geltung verschafft wer- den. Wir denken hier wieder keineswegs an irgendwelchen bloßen Wissensstoff, der etwa in praktischer Hinsicht wün- schenswert wáre, sondern an biologische Unterweisung, die sich an den ganzen Menschen wendet. Nicht nur ist eine Kenntnis des heutigen naturwissenschaftlichen Weltbildes in philosophischer Hinsicht so bedeutungsvoll*?, daß der junge Mensch, der sie nicht in ihren einfachsten Grundzügen er- wirbt, brennenden Fragen unseres Geisteslebens ohne Ver- ständnis und ohne Urteil gegenüberstehen muß, sondern vor allem gewáhrt biologische Finsicht, gibt biologisches Denken die kräftigsten Anregungen für Lebensanschauung und sittliche Einsicht. Nirgends kann dem jungen Menschen die innige Verflochtenheit individueller und über- individueller Verpflichtungen mit den naturgesetzlichen Grund-

47) F. Lenz, Über die biologischen Grundlagen der Erziehung, 2, Aufl., München 1927. |

48) Vgl. Depdolla, Biologie und Humanismus, Monatsschr. f. höh. Schulen, Bd. 30, 1931.

49) Vgl. B. Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaf- ten, 4. Aufl, Leipzig 1930.

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 33

lagen unseres Seins so nahe gebracht werden wie hier, nir- gends vermag er so stark wie hier zu erleben, daB Naturgesetz und Sittengesetz Schwestern sind. Biologie ist ja nicht ein- fach die Summe dessen, was eine breitere Öffentlichkeit sich gemeinhin unter Zoologie und Botanik vorzustellen pflegt, sondern sehr viel mehr als dieses und überdies noch ein Ge- biet sui generis, das sich heute mit weiten Teilen medizini- scher Disziplinen und ebenso weiten Gebieten psychologischer Forschung gemeinsam zu einer „großen“ Biologie"? auszuge- stalten beginnt. In den Umkreis solcher Biologie gehört das lebendige Geschehen im einzelnen Individuum in allen seinen Auswirkungen ebenso hinein wie die Gesetze, die den Strom des überindividuellen Lebens beherrschen.

Wenn wir daher fordern, daß Biologie zu einem Haupt- und Kernfach in jeder Art höherer Schule werden muß, so geschieht das nicht aus dem engen Gesichtswinkel des Spezialisten heraus, der in einer vielleicht verzeihlichen Überschätzung seines eigenen Ar- beitsgebietes diesem eine möglichst weite Geltung zu ver- schaffen sucht, sondern aus tiefster intellektueller und sittlicher Verantwortung für unser Volk und seine künftigen Führer, über deren Bildungsweg wir hier ja im besonderen sprechen.

Auch eugenische Unterweisung gehört als Teil dieses biologischen Unterrichts in die höhere Schule”. Wenn wir es für richtig halten und auch wir halten es für richtig —, daß unsere Jugend über den Untergang der alten Kulturvólker unterrichtet wird, so sollten wir ihr auch eine eingehende Belehrung über denjenigen Kulturuntergang nicht vorenthal- ten, der uns schließlich näher angeht als derjenige der alten Völker und der die wichtigste Frage darstellt, die es überhaupt für unser Volk heute gibt: über den Untergang nämlich, der als zweifellos drohendes, aber zugleich doch, wenn wir uns der Gefahr erwehren, ebenso zweifellos

50) Den hübschen Ausdruck gebraucht W. Peters, Die Vererbung geistiger Eigenschaften und die psychische Konstitution, Jena 1925,

51) Ph. Depdolla, Eugenik und höhere Schulen, Volksaufartg, Bd. 3, 1928; Ph. Depdolla, Vererbungslehre und Eugenik in ihrer Bedeutung für die Mädchenerziehung, Mädchenbildung, Bd. 6, 1930.

34 Das kommende Geschlecht

noch abwendbares Schicksal über vielen europäischen Völkern, auch dem unseren, schwebt.

Nach der Überzeugung aller, die mit den Tatsachen der fortschreitenden biologischen Verschlechterung unseres Volks- kórpers (vgl. S. 35 und 42) genügend vertraut sind, ist es hohe Zeit, daß etwas geschieht. Aber ohne Durchdringung weiter Kreise unseres Volkes sowohl der gebildeten wie der einfachen Schichten mit biologischen Einsichten wird es keine entscheidenden Fortschritte im praktisch Eugenischen geben kónnen. Die Bemühungen um solche Durchdringung müssen daher in breiter Front überall ansetzen, wo es móg- lich ist. Auch in der Schule. Gerade der Eugeniker unter- streicht daher die Forderung einer viel stárkeren Berücksich- tigung der Biologie in den Lehrplänen mit besonderem Nach- druck.

Selbstverständlich gehört die unterrichtliche Behandlung eugenischer Fragen in die obersten Klassen. Dort aber bietet sich nicht nur im biologischen Unterricht*?, sondern auch in geisteswissenschaftlichen Fächern“), etwa bei der Behandlung mancher geschichts- und kulturkundlicher Stoffe, oder im Religionsunterricht, mannigfaltige Gelegenheit, euge- nische Gedanken wenigstens anklingen zu lassen. Überall, wo der eugenischen Gedankenwelt Eingang in die Schule ge- geben wurde und zahlreiche Lehrer, vor allem viele Bio- logie-Lehrer unserer höheren Schulen, haben, wie wir mit Freude feststellen, dies im Rahmen des Möglichen bereits ge- tan —, ist solcher Unterricht auf die stärkste innere Anteilnahme und Mitarbeit der jungen Men- schen gestoßen. Eugenische Unterweisung verfolgt eben nicht allein das intellektuelle Ziel eines Verständnisses der biologischen Grundlagen aller Kultur und Kulturentwicklung. sondern auch das charakterliche Ziel bewußten Sich-Beugens unter Überindividuelles. In beiderlei Sinne ist eugenische Fr- ziehung im Tiefsten eine Erziehung zur Ehrfurcht: Eugenik und Frivolität schließen einander aus.

52) Ph. Depdolla, Vererbungslehre und naturwissenschaftlicher Un- terricht (in: Vererbung und Erziehung, hrsg. von G. Just, Berlin 1930); L. Spilger, Vererbungsiehre und Rassenhygiene im biologischen Unterricht der höheren Schule, Arch. Rass. Ges. Biol. Bd. 19, 1927.

58) H, Schlemmer, Vererbungslehre und geisteswissenschftlicher Un- terricht (in: Vererbung und Erziehung, hrsg. von G. Just, Berlin 1930).

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 35

Auch für de Hochschulen müssen wir auf die Ge- fahr hin, daß man auch darin wieder bloß den übersteigerten Anspruch einer Spezialistengruppe erblickt den Einbau der Eugenik fordern? Es geht heute wirklich nicht mehran, daB so wichtige Gebiete, wie Erbbio- logie und Eugenik es sind, an den deutschen Hochschulen so gut wie keine eigenen Fach- vertretungen besitzen", Wenn es möglich war, für die Rechtswissenschaft gleichsam eine Verwalterin v o r- handener Güter eine Reihe neuer Lehrstühle in Preu- Ben zu schaffen, dann sollte das Gleiche trotz aller Wirt- schaftsschwierigkeiten für Wissenschaften móglich sein, die nicht nur werterhaltend genannt werden dürfen, sondern ge- radezu wertschaffend zu wirken vermögen.

Hier besteht wirklich eine dringende Aufgabe der Aus- bildung für Studierende aller Fakultäten. Oder ist es um nur wieder eine einzige Tatsache zur Veranschaulichung her- anzuziehen ohne Bedeutung, wenn die künftigen Pfarrer und Richter ebenso wie die künftigen Ärzte und Erzieher! intellektuell und seelisch von der Feststellung“ ergriffen werden, daß es in Deutschland als Mindestzahlen erb- bedingter körperlicher und psychischer Gebrechen

13 000 Blinde, 15000 Taubstumme, 60 000 Epileptiker, 70—80 000 Jugendirre (Schizophrene), 20—25 000 manisch-depressive Irre, 60 000 hochgradig Schwachsinnige, 120 000 Schwachsinnige leichteren Grades

gibt? Und wenn sie von den wissenschaftlichen Grundlagen und den praktischen Zielen der Eugenik so viel erfahren, um

54) E. Fischer, Die Sozialanthropologie und ihre Bedeutung für den Staat, Freiburg und Leipzig 1910; W. Schallmayer, Vererbung und Auslese, 3. Aufl, Jena 1918.

549 E. Lehmann und R. Beatus, Der Unterricht in der Vererbungs- wissenschaft an den deutschen Hochschulen, Der Biologe, Bd. 1, 1931/32.

55) Vgl. auch E. Dobers, Biologie und neue Volksschullehrerbildung, Der Biologe, Bd, 1, 1931/32.

59) O. von Verschuer, Vom Umfang der erblichen Belastung im deutschen Volke, A. Rass. Ges. Biol. Bd. 24, 1930.

36 Das kommende Geschlecht

später ein jeder an seinem Platze an ihrer Verwirk- lichung mitarbeiten zu kónnen?

Obwohl erbbiologische und eugenische Vorlesungen in kei- nem Studienplan vorgesehen sind, werden sie auch heute be- reits von zahlreichen Studierenden der verschiedensten Fächer eifrig besucht. Trotzdem aber werden sehr viele Studierende vom Ideenkreise der Eugenik nicht erfaßt, und es gibt viel- leicht zum Nachdenken Anlaß, wenn wir die Worte wieder- geben, die ein iunger Rechtsanwalt nach einem eugenischen Vortragsabend zu seinen Bekannten sagte, bei denen er zu Be- such war und die ihn zu dem Vortrag mitgenommen hatten. Der Inhalt des Gehörten hatte ihn stark gepackt. „Was mich aber," sagte er, „am meisten erschüttert, ist dies, daß ich es einem Zufall verdanke, von diesen Dingen gehört zu haben, die doch auch für meinen Beruf so wichtig sind.“

Einbau der Biologie, im besonderen auch der Erbbiologieund Eugenik,in die Bildungs- wege aller Schichten unseres Volkes, vorab der künftigen Führerschicht, ist eine Forde- rung des Tages und mehr als das.

Wir sagten: aller Schichten; denn wenn wir ausführlicher auch nur von hóherer Schule und Hochschule gesprochen ha- ben, so sind wir doch, wie ausdrücklich hervorgehoben sei, der Meinung, daß auch im Unterricht sáàmtlicher anderen Schularten einer eugenischen Belehrung ihr Platz zu- kommt*?, Das Was und Wie wird sich dabei natürlich in sehr wechselnder Weise der geistigen und sittlichen Reife der Schüler anzupassen haben.

4. Erziehungseinrichtungen.

Außer ihrer Erziehungsaufgabe als solcher ist der Schule noch eine zweite Aufgabe aufgetragen, die mit der ersteren in einem nur mittelbaren Zusammenhange steht: die Auslese der Fáhigen fáhig einmal für die weitere Teilnahme am Unterricht, fáhig spáter dann auch für die Ausbildung zu bestimmten Berufen. Zwei Wegpunkte sind in dieser Bezie-

57) Fender, Eugenik und Berufs- und Fachschulen, Volksaufartg, Bd. 3. 1928; Russell, Eugenik und Schulplan in den weiblichen Schulsystemen, ebenda; Wolter, Eugenik und Volksschule, ebenda,

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Fugenik 37

hung besonders scharf markiert: der Übergang zur höheren Schule und die Zulassung zum akademischen Studium.

Die Erziehungsaufgabe und die Sichtungsaufgabe der Schule, so verschieden sie in ihrem Wesen und in ihrer Ziel- setzung sind, sind gleichwohl an sich durchaus miteinander vereinbar, ohne daß es dabei zu einer Beeinträchtigung der eigentlichen Erziehungsaufgabe kommen müßte, die zuletzt doch das A und O aller schulischen Arbeit bleiben muß. Erst durch die Verbindung der Sichtungsaufgabe mit dem Grund- satz einer Berufsberechtigung und durch die Über- steigerung der Berechtigungsforderung seitens bestimm- ter Kreise des öffentlichen Lebens kommt ein Fremdartiges in die Schularbeit hinein: fremd der Bildungsarbeit der Schule, deren ruhige Durchführung empfindlich gestört wird, fremd auch einem Sichtungsziel, das allein durch die pädagogische Aufgabe selbst, also von innen her, bestimmt ist.

Das Ergebnis, nicht allein von hier aus zustandegekommen, aber doch ohne diese einmal bestehenden Verhältnisse nicht möglich, liegt in der erschreckenden Überfüllung der Hochschulen und dem starken Andrang zur höhe- ren Schule vor aller Augen?“. Um nur ein paar Zahlen zum letzteren zu nennen: In Bremen?” geht ein Drittel, in Württemberg‘® gar mehr als die Hälfte der Volksschüler in höhere Schulen über. Umgekehrt verläßt in Bremen jährlich ein Zehntel der höheren Schüler ihre Anstalt vorzeitig, sodaß bis zur Obertertia 40%, also zwei Fünftel, der ursprünglich Ein- getretenen wieder ausgeschieden sind wobei die nutzlos ver- tane materielle Belastung der betreffenden Familien nur im Vor- beigehen erwähnt sei. In den Städten mit mehr als 50 000 Einwohnern?! schließlich sind es im Durchschnitt knapp 30%

58) Vgl. M. Kullnick, Die Entwicklung des Besuches der höheren Lehranstalten sowie der Universitäten und Technischen Hochschulen in Deutschland (in: Statist. Unt. zur Lage der Akadem. Berufe, Ergänz.-Bd. zur Deutschen Hochschulstatistik, Winterhalbj. 1929/30, Berlin 1930).

59) K. Kurz, Schüler, die vorzeitig die höheren Schulen verlassen, Bremen 1930.

60) R. Lotze, Die Verteilung der Grundschüler von Groß-Stuttgart auf die weiterführenden Schulen, Württ. Schulwarte, Jhrg. 1928 (auch separat).

61) G. Bäumer, Schulaufbau, Berufsauslese, Berechtigungswesen, 2. Aufl. Berlin 1930.

38 Das kommende Geschlecht

der Sextaner, also noch nicht ganz ein Drittel der in die hóhere Schule Eingetretenen, die sie mit dem Zeugnis der be- standenen Abschlußprüfung verlassen.

Was hat der Erbbiologe und Eugeniker zu dieser Situation, was hat er zum Auslese-Problem zu sagen?

Aus erzieherischen wie aus eugenischen Gründen kónnen wir uns den Rufen nach energischem Abbau des Berech- tigungswesens*? nur anschließen. Solch ein Abbau be- deutet für die Schule, wie mit besonderer Betonung hervorge- hoben sei, weder einen Abbau der erzieherischen Arbeit noch eine Ausschaltung ihrer Auslese-Aufgabe, wohl aber eine Zu- rückführung beider auf ihren eigentlichen Sinn.

Wir wiesen bereits darauf hin, daB Auslese als solche zur reinen Erziehungsaufgabe als solcher in keiner notwendigen Gegensätzlichkeit stehe. Ja, in gewissem Sinne bleibt die er- stere die Voraussetzung der letzteren. Rein erziehlich ze- sehen, hat ja der weniger Leistungsfähige ein Anrecht darauf, vor einem Blindlauf seines Bildungsganges und damit nicht nur vor unnütz vergeudeter Zeit, sondern vor allem vor der Gefahr eines seelischen Schocks mit ihren móglichen Auswir- kungen in der gesamten künftigen Persónlichkeitsentwick- lung‘? bewahrt zu werden. Anderseits hat der wirklich Lei- stungsfähige Anspruch darauf, daB beispielsweise die höhere Schule gerade ihn fördere und in dieser ihrer wichtigen und eigentlichen Aufgabe nicht durch die Rücksichtnahme auf die weniger Leistungsfähigen gehindert werde. Für die Berufs- frage gelten Erwägungen verwandter Art.

Von der Grundschule nach oben soll daher ein Engpaß scharfer Auslese führen, ebenso von der höheren Schule zur Hochschule. Diese Auslese allerdings soll einzig und allein nach der zu erwartenden Bewährung erfolgen, also ohne jeg- liche Rücksicht auf andersartige Gesichtspunkte ausschließlich eine Auslese der Tüchtigen darstellen.

Hier aber melden sich die Zweifel. Ganz abgesehen von Allzumenschlichem, das sich kaum je wird ganz ausschalten lassen, erhebt sich doch die berechtigte Frage, wieweit denn die Methoden der Auslese als solche, seien es Prüfun- gen, seien es Tests, seien es schließlich Beurteilungen seitens

62) Vgl. K. Kurz, a. a. O, S. 75.

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 39

der Lehrer auf Grund längerer Beobachtung, doch selber noch immer einer eingehenden Prüfung bedürfen. Wir müssen bei der Erörterung der Auslese-Probleme aufs äußerste darauf bedacht sein, nicht unbemerkt die bisherigen Auslese-Metho- den und ihre Ergebnisse als solche von absoluter Gültig- keit hinzunehmen.

Beispielsweise wissen wir erst wenig über die Zusammen- hänge zwischen psychophysischer Typenzugehörigkeit und Er- gebnis bestimmter Prüfungsaufgaben, etwa im Testverfahren; immerhin schon soviel*?, um sagen zu können, daß auch hier sich nicht eines für alle schickt.

Noch weniger wissen wir über eine Frage, die besonders für die Frage der Führerauslese brennend ist: über die Bezie- hungen zwischen Schulleistung und Leistung im späteren Leben“). An der Klärung dieser Frage nach allen Seiten hin hat aber das soziale Ganze ein besonders ho- hes Irfteresse. Denn wenn wir in unserer jetzigen Erórterung zunächst das Recht des Einzelnen auf die ihm gemäße Erzie- hung in unser Blickfeld gerückt haben, so schátzen wir dem- gegenüber das Recht der Gesellschaft auf die besten Köpfe und die tüchtigsten Hände für ihre verschiedenartigen Auf- gaben nicht geringer ein. Wie sehr die Beurteilung der Be- ziehungen zwischen Schulleistung und Lebensleistung im Dun- keln tappt, mögen zwei Zitate zeigen. In einer soeben erschie- nenen Denkschrift“ lesen wir: „Es liegen hierbei zwei Irr- tümer zugrunde: einmal der, daß Schultüchtigkeit gleich Le- benstüchtigkeit sei, und sodann die falsche Annahme, daß Leh- rerurteile späterhin vom Leben mit ausreichender Häufigkeit bestätigt würden.“ Dagegen hören wir von einem anderen Autor*?: „Die durchgehend gültige Regel ist die ziemlich ge- naue Proportionalität der späteren Lebensstellung mit den Schulleistungen, wie jede einigermaßen vollständig durchge-

93) Vgl. hierzu K. Dambach, Die Mehrfacharbeit und ihre typolo- gische Bedeutung (in: Experimentelle Beiträge zur Typenkunde, hrsg. von O. Kroh, Bd. I, Leipzig 1929).

64) Vgl. E. Petersein, Schulbewährung und Lebensbewährung, Diss, Köln 1930.

65) E. Boehm, Die Dauer der zum Hochschulstudium führenden höhe- ren Schule, Mitt, Verb. dt. Hochschulen, Bd. 12, 1932, S. 40.

66) B. Bavink in einer kritischen Besprechung in: Unsere Welt, 23. Jhrg., 1931, S. 93 (im Original erste Satzhälfte gesperrt).

40 Das kommende Geschlecht

führte Abiturientenstatistik beweist." Klärung können hier nur empirische Untersuchungen auf hinreichend breiter Grund- lage bringen”.

Daß die Schule zunächst die „schulischen“ Be- gabungen und die schulisch gerichteten Interessen erfaßt, kann ihr billigerweise nicht zum Vorwurf gemacht werden. Nur darf sie und dürfen wir eben schulische Begabung nicht mit Begabung schlechthin, Schulinteresse nicht mit gei- stigem Interesse überhaupt verwechseln, und es ist eine ihrer schönsten, allerdings schweren und verantwortungsvollen Auslese-Aufgaben, gerade auch spezifische Sonderbega- bungen, spät heranreifende Begabungen u. ä. nicht nur nicht zu übersehen, sondern auch sie den ihnen ge- mäßen Berufswegen zuführen zu helfen.

Von seiten der Hochschule, der weiteren Ausbildungs- stätte der schöpferischen Köpfe, der kritischen Intelligenzen und der Führernaturen, ist die wesentliche Vorbedingung, die sie an ihre Adepten zu stellen hat, nicht ein in mehr oder we- niger großem Umfang nachgewiesenes Examenswissen, auch nicht irgendwelche mehr fachgemäßen Vorkenntnisse, die an sich natürlich wünschenswert, aber von dem ernstlich um seine Sache Bemühten doch stets verhältnismäßig rasch zu erwerben sind?; sondern worauf es ihr vor allem ankommt, ist geistige Aufnahmefähigkeit und innere Bereitschaft zu hin- gebungsvoller fachlicher Arbeit.

Die Gesellschaft schließlich fordert für sich überall nicht einfach Intelligenzen, sondern zugleich auch oder gar vor allem Charaktere.

So hat die Schule in der Auslese gewiß keine leichte Auf- gabe. Wir möchten aber glauben, daß in all den genannten Hinsichten die von uns geforderte college-ähnliche Ausgestal- tung der Oberklassen unserer höheren Schulen gerechtere Urteile ermöglichen wird, die dem Einzelnen und der Gesell- schaft zugute kommen werden.

Da aber auch die besten Auslesemaßnahmen sich in . ihrem Urteil immer nur auf einen Ausschnitt des Lebens beziehen und ihre Entscheidungen daher grundsätzlich der

97) Solche Untersuchungen sind im Gange.

*) Trotzdem bleibt aber unsere auf S. 30 erhobene Forderung zu Recht bestehen.

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 41

Korrekturmóglichkeit durch das Leben selbst unterliegen, da ferner auch ein richtiges Sichtungsurteil noch nicht be- deutet, daß der als gemäß angegebene Ausbildungsweg nun von dem Betreffenden tatsächlich auch gegangen wird oder aus irgendwelchen Gründen überhaupt gegangen werden kann, so muB auch unabhàngig von den normalerweise üb- lichen Ausbildungswegen jedem, der sich die Kräfte dazu zu- traut, die Móglichkeit eines Nachweises seiner Leistung und seiner Leistungsfähigkeit offenstehen. Allerdings sollten auch hier wieder überalterte Einrichtungen, wie etwa die Extra- neer-Reifeprüfung, die nicht als ein gerechtes und sinnvolles Auslese-Verfahren angesprochen werden kann??, entschlossen fallen gelassen werden.

Unsere bisherigen Auseinandersetzungen zum Auslese-Pro- blem gelten ausschlieBlich dessen einer Seite, der individuellen. Wir müssen uns dem Auslese-Problem nunmehr auch von der anderen Seite zuwenden, indem wir den eugenischen Gesichtswinkel wáhlen. Diese zweite Seite des Problems ist in den Zusammenhángen zwischen Aufstieg und gene- rativer Leistung? gegeben. Erst durch die Einbezie- hung auch dieses umfangreichen und schwierigen Komplexes von Tatsachen erhalten wir das Gesamtproblem, in dessen leidenschaftlicher Erörterung die Gegensätze der Auffassun- gen gerade auf dem pädagogischen Gebiete so scharf aufein- andergeprallt sind.

Es kann kein Zweifel daran sein, daß unter den Gründen, die zur bewußten Einschränkung der Kinderzahl führen, der Aufstiegswille und das Bestreben um die Erhaltung der bereits erreichten sozialen Lage, sei es für sich selbst, sei es für die Kinder, einen bevorzugten Platz einnehmen. Zum

68) Man lese den detaillierten Bericht von P. Zylmann über die in einem solchen Examen an ihn gestellten Anforderungen (in: A. Grimme, Vom Sinn und Widersinn der Reifeprüfung, Leipzig o. J. [1923]). Z. selbst spricht sich übrigens r die Beibehaltung eines solchen Examens aus.

69) P. Lenz, Menschliche Auslese und Rassenhygiene (Eugenik), 4. Aufl, München 1932; H. Muckermann, Differenzierte Fortpflanzung A. Rass. Ges. Biol. Bd. 24, 1930; H. Muckermann, Vergleichende Unter- suchungen über differenzierte Fortpflanzung in einer Stadt- und Landbevöl- kerung (1847 Familien mit 7201 Kindern), Bericht 9. Jahres-Vers. Dt. Ges. f. Vererbwiss., Leipzig 1932.

42 Das kommende Geschlecht

Teil erwachsen aus solchen oft mit seelischen und materiel- len Opfern verbundenen Bemühungen, den Kindern ein besseres oder doch jedenfalls kein schlechteres soziales Los zu verschaffen, als es die Eltern selber haben, zum Teil hervor- gegangen aus kraf egoistischen Ansprüchen eines fessellosen Individualismus, der keine Bindungen an überindividuelle Ver- pflichtungen mehr kennt, hat die Einschränkung der Kinderzahl zu Verhältnissen geführt, die bereits in Gestalt des „Einkind- Problems'"? sogar die Schulerziehung vor besondere Auf- gaben stellt. Von den oberen Schichten aus, deren durch- schnittliche Kinderzahl als erste einen starken Abfall erlitt, haben sich diese EinschránkungsmaBnahmen durch die soziale Stu- fenfolge mehr und mehr nach abwärts ausgebreitet, sodaß heute zum Teil keine wesentlichen Fruchtbarkeitsunterschiede zwischen den einzelnen sozialen Schichten mehr bestehen, ja daß mancherorts sogar in der Oberschicht ein gewisses Plus in der Fortpflanzungsziffer gegenüber den mittleren Bevólkerungs- schichten vorhanden sein kann'?. So ist denn heute an recht vielen Orten nur eine einzige Bevólkerungsschicht geblieben, die sich durch ihre hohe Fortpflanzungsrate vor den anderen auszeichnet: das ist trauriger-, ja man muß sagen entsetz- licherweise jene Schicht, die dafür sorgt, daB die Hilfsschulen mit einer größeren Zahl schwachsinniger Kinder gespeist wer- den'?, oder auch jene allerunterste Schicht, in der sich körper- liche, intellektuelle und moralische Minderwertigkeit versam- melt finden“.

Wenn wir hier von der rein quantitativen Seite der Bevöl- kerungsfrage absehen, die nicht unmittelbar in unseren Zusam- menhang gehört und auch einer weiter ausholenden Erörte-

70) P. Oestreich, 40 Proz. Einkinder?! Die neue Erziehung, 12. Ihrg., 1930; P. Oestreich, Pädagogik im luftleeren Raum?, ebenda, 13. Ihrg., 1931.

71) Für Zürich: Ehrler, zit. nach K. V. Müller, Arbeiterbewegung und Bevölkerungsfrage, Jena 1927; für Bremen: K. Kurz, Zusammenhänge zwischen Kinderzahl und wirtschaftlicher Lage des Elternhauses, A. Rass. Ges. Biol. Bd. 20, 1928; für Stuttgart: R. Lot z e, Untersuchungen über die Kinderzahl Stuttgarter Familien, ihre Abstufung nach sozialer Zugehörig- keit und ihren Einfluß auf Schulwahl und Schulleistungen, Württ. Schul- warte, Jhrg. 1929 (auch separat).

72) Vgl. z. B. R. Lotze (s. unter 7*).

73) Vgl. J. Lange (s. unter *?).

——————— C ——— Nri nndis dd

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——

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 43

rung bedürfte, wenn wir also allein die qualitative Seite des Gesamtproblems ins Auge fassen, so ergibt sich aus den vorliegenden Tatsachen ein durchaus eindeutiger Schluß: Un- ser Volk steht nicht mehr bloß vor der Gefahr einer relati- ven Zunahme des erbminderwertigen Bevölkerungsanteils, sondern steht in einer Reihe von Orten unseres Vaterlandes in einem derartigen Vorgang bereits mitten inne.

Damit steht der Erzieher dann vor der Tatsache einer ab- soluten und relativen Zunahme derjenigen Bevölkerungsschicht, deren Kinder zu einem erheblichen Teil aus inneren Ur- sachen bildungsschwach oder bildungsun- fähig sind, der Sozial- und Kulturpolitiker vor der Gefahr eines zwangslàufigen Absinkens des durchschnitt- lichen kulturellen Niveaus unseres Volkes, der Eu- geniker vor der Frage, wie diesem für unsere kulturelle Selbst- behauptung überaus gefahrvollen Zustande abgeholfen werden kann.

Von der Notwendigkeit negativer eugenischer Maßnahmen sprachen wir bereits. Nicht minder wichtig aber als diese MaBnahmen, die die künftigen Generationen von einer Berges- last von Elend, Not, Gemeinheit und Verbrechen befreien wür- den, sind die eugenischen Maßnahmen positiver Art, die dazu bestimmt sind, den Bestand an Erbtüch- tigen und Erbüberwertigen, den unser Volk heute besitzt, für die Zukunft mindestens zu erhalten, aber womöglich noch zu mehren”.

Wir sahen, daB ein Zusammenhang des Auístiegs und des Aufstiegswillens mit der Fortpflanzungsziffer besteht. Wenn man also wie auch wir das tun für jeden wirklich Tüch- tigen die grundsätzliche Möglichkeit seines Aufstiegs fordert, so muß man auf der anderen Seite aufs äußerste dar- aufbedacht sein, daß einso zustande kommen- der Gegenwartsgewinn nicht zu einem Ver- lust in der Zukunft wird, indem die soziale Gemeinschaft den Mann gewinnt, aber Seine Familie verliert.

Nicht jedes Aussterben natürlich einer emporgerückten Familie bedeutet einen Verlust für die Gesamtheit, ja es kann ein Gewinn für sie sein. Wir wissen doch alle nur zu gut, wie für den Aufstieg eines Menschen oder für die soziale Behaup-

44 Das kommende Geschlecht

tung einer Familie ganz andere Ursachen entscheidend sein kónnen als Fignung, geistige oder moralische Tüchtigkeit. Aber in den wohl zahlreicheren Fállen sind es doch in irgendeinem Betracht Tüchtige, welche aufsteigen. An der Erhaltung ihrer Familien hat die Gesellschaft ein hohes Interesse.

Nun pflegt man geltend zu machen, daß das Aussterben aufgestiegener Familien für die Gesamtheit doch keinen irgendwie bedeutsamen Verlust darstelle, da jaimmerneue Kräfte vonuntennachrückten. Dieser ebenso ver- breiteten wie kurzsichtigen Anschauung müssen wir aufs schärfste entgegentreten'?; denn ihr in der heutigen Lage unseres Volkes einfach nicht mehr er- träglicher Optimismus ist es vor allem, der der Durchführung der eugenischen Forderungen, von denen wir jetzt sprechen, im Wege steht.

Zunächst kann man es um bildlich zu sprechen nur als leichtsinnig bezeichnen, wenn man dem Verlusteines Kapitals, das reiche Zinsen trägt, mit Gleichmut zusieht, weil man ja Reserven habe, auf die man zurückgrei- fen könne. Ein solcher Satz kann nie und nimmer im Sinne eines ,,Privilegs für irgendeine Schicht gemeint sein, sondern nur als Ausdruck der Verantwortung für unser ganzes Volk, über dessen schaffende Hände die besten schaffenden Köpfe gebeugt bleiben sollen.

Die ganze Gefährlichkeit jenes Optimismus wird aber erst deutlich, wenn man sich klarmacht, daß die Voraus- setzung einer Unerschöpflichkeit dieser Re- serven eben gar nicht zutrifft.

Einmal wird heute ja auch, wie wir sahen, in den mittleren Bevölkerungsschichten und in der gehobenen Schicht der Ar- beiterschaft eine Beschränkung der Geburtenzahl geübt, so- daB die Aussterbegefahr für die einzelne Familie jetzt eben nicht etwa mehr bloß für die oberen Schichten besteht, son- dern bereits für jene Schichten, von denen aus der Aufstieg erfolgt.

Dann aber muß noch ein Weiteres überlegt werden: Die Sonderung eines Volksganzen in einzelne Berufsgruppen be-

74) G. Just, Die biologischen Grundlagen der Begabung, Volksauf- artg, Bd. 3, 1928.

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 45

dingt, indem diese Berufe jeweils ihre besonderen Anforderun- gen an die körperliche und geistige Leistung stellen, im gro- Ben und ganzen eine Sortierung bestimmter Veranlagungen, von denen sich die einen mehr in dieser, die anderen mehr in jener Berufsgruppe zusammenfinden. Wir wiesen auf die Be- ziehungen zwischen Beruíswahl und Konstitutionstypus be- reits hin und erinnern hier weiterhin an die Tatsachen einer „Berufsvererbung“ “, welche gleicherweise Liebe wie Eig- nung zu den familieneigentümlichen Berufen in den betreffen- den Familien voraussetzt. In den einzelnen Berufsgruppen müssen sich aus solchen Ursachen die verschiedenen Veran- lagungen, die verschiedenen Anlagekombinationen in verschie- den hohen Durchschnittshäufigkeiten finden. Vor allem wer- den sich überall dort, wo eine Berufsgruppe besonders hohe oder besonders differenzierte Anforderungen stellt, ent- sprechende Veranlagungen in ihr sammeln.

Fs handelt sich bei alledem natürlicherweise keineswegs um Beziehungen absoluten Charakters, sondern nur um Durchschnitts verhältnisse. Solche sagen, um das über- flüssigerweise eigens hervorzuheben, nichts, aber auch gar- nichts über den einzelnen Angehörigen irgendeiner Be- rufsgruppe aus. Der Einzelne kann vielmehr, wel- cher beruflichen Gruppe, welcher sozialen Schicht er auch angehören möge, sämtliche nur denkbaren Möglichkeiten körperlicher, intellektueller, moralischer Veranlagung, jeden nur möglichen Grad von Kulturwertig- keit in sich verkörpern. Die Gruppen als Ganze aber zeigen untereinander Unter- schiedlichkeiten, die in entscheidender Weise auf die Grundveranlagungen der in ihnen zus ammengeballten Menschen zurück- gehen, wobei wir keineswegs außer acht lassen, daß auch Umwelteinflüsse mannigfaltigster Art an der Formung des „Berufsgesichts“ mitarbeiten, und ferner in Rücksicht ziehen, daB auch nicht-sachgerechte Auslesevorgänge die Zusammen- setzung der Berufsgruppen mitbestimmen.

75) Vgl. H. Bogen (s. unter 34); von Behr-Pinnow, Über Gei- genbauerfamilien, A. Rass. Ges. Biol. Bd. 21, 1929.

46 | Das kommende Geschlecht

Wenn das aber so ist, so bedeutet das Aussterben einer Familie in zahlreichen Fällen insofern einen besonderen Ver- lust, als es sich um den Verlust eines Anlagengefüges han- delt, für das gerade in dieser seiner Eigenart Ersatz notwendig wird.

Solange nun der Mutterboden, aus dem sich alle diese Familien ursprünglich einmal emporhoben, gen ü- gend fruchtbar bleibt, wird er in der Tat einen sol- chen Ersatz zu leisten vermógen. Denn von den Individuen ähnlicher Veranlagung und damit ähnlicher Aufstiegsgeeignet- heit gelangt ja nicht jedes einzelne tatsächlich zum Aufstieg, und die betreffenden Erbpotenzen können daher dem Volks- körper erhalten bleiben, auch wenn ein Teil ihrer Träger sich nicht mehr fortpflanzt. Allerdings kann aus anderen Ursachen eine allmähliche Verarmung an gerade diesen Erbstruktur- formen eintreten. Unmittelbar gefährlich wird die Situation aber erst in dem Augenblick, in dem die Fruchtbarkeit des Mutterbodens selbst in merklichem Ausmaß nachläßt. Denn nun kann es geschehen, daß aufstiegsgeeignete, kulturbefä- higte Veranlagungen von bestimmter Eigenart, die der Mut- terboden womöglich bereits nur mehr verhältnismäßig spär- lich enthält, hier unten ebenso aussterben wie die bereits aufgestiegenen entsprechenden Veranlagungen oben. Diesem Punkte aber nähern wir uns in bedrohlicher Weise: wir sind in Gefahr, daB unser Volks körper, während er sich mit kulturunfähigen Veranlagungen mehr und mehr an reichert, gleichzeitig an kultur- hochwertigen Veranlagungen mehr und mehr verarmt.

Wir möchten übrigens, um Mißverständnisse auszuschlie- Den, hier einschalten, daß die jetzige bevölkerungsbiologische Situation nicht ausschlieBlich aus den geschilderten Zusam- menhängen heraus zu begreifen ist, sondern daß Auslesevor- gänge auch mannigfach anderer Art mitgewirkt haben.

Jedenfalls erkennen wir: Wer Begabtenaufstieg will muß auch Eugenik wollen, und es ist die drin- gendste Aufgabe, die es für unser Volk in seiner Gesamtheit heute geben kann, für die generative Erhaltung der erbtüchti- gen und der erbüberwertigen Familien aller sozialen Schichten zu sorgen, also sowohl der Oberschicht wie des

Erziehungsprobieme im Lichte von Erblehre und Eugenik 47

Bauernstandes, des Mittelstandes und der Arbeiterschaft, vor allem ihrer gehobene- ren Schicht, die ja zu überwiegendem Teile noch vor 1—2 Generationen selber dem Mittelstande angehörte“.

Welche Bedeutung für jeden künftigen Aufstieg die Er- haltung eines fruchtbaren erbtüchtigen Mutterbodens besitzt, wird besonders deutlich, wenn wir“ den sozialen Aufstieg nicht mehr nur unter dem Gesichtswinkel der gegenwär- tigen Aufstiegserfordernisse ansehen. Die spezifischen An- forderungen, die an die Aufstiegswilligen gestellt werden, sind ja keine absoluten Gegebenheiten, sondern wechseln ent- sprechend den Umformungen unserer wirtschaftlichen, kul- turellen, gesellschaftlichen Struktur. Daher braucht ein Volk außer den Schichten der Aufgestiegenen mit ihrer Differen- zierung und Spezialisierung einen Mutterboden, aus dessen Potenzen- Mannigfaltigkeit der ver- schiedenartigste Menschenbedarf gedeckt werden kann. Die Erhaltung solch einer breiten, gleich- sam relativ undifferenzierten Schicht von intellektueller und charakterlicher Tüchtigkeit können wir in Vergleich setzen zu der in unserem Erziehungsideal geforderten Erhaltung ei- ner individuellen Mannigfaltigkeitsbereitschaft gegenüber zu einseitiger Berufsdifferenzierung.

Von den notwendigen Maßnahmen der positiven Eugenik als solchen zu sprechen, ist hier nicht der Ort. Nur einige Bemerkungen müssen wir gerade in unserem Zusammenhange noch hinzufügen.

Der Erhaltung der, wie wir gesehen haben, so wert- vollen breiten Mutterschicht dient auch das, was für diese Schicht durch Schaffung immer günstigerer Lebensbedingun- gen getan wird. Auch eine gute Schule gehört dazu, und wir begreifen an diesem Punkte unserer Erörterung, daß die Durchdringung unserer Volksschule mit dem Besten, was es

76) Vgl. auch H. Lundborg, Rassenbiologische Übersichten und Perspektiven, Jena 1921; H. Lundborg, Die Rassenmischung beim Men- schen, in: Bibliographia Genetica Bd. 8, 1931 (auch separat, 's-Graveu- hage 1931).

K. V. Müller, Rassenhygiene und soziale ee A. Rass. Ges. Biol. Bd. 24, 1930.

48 Das kommende Geschlecht

an erzieherischem Geiste und erzieherischem Können gibt, ebensosehr eine eugenische wie eine pädagogische und eine soziale Aufgabe ist wenn auch nicht die Aufgabe schlecht- hin.

Mit der Hebung des materiellen Lebensstandards breiterer Schichten, mit der Hebung ihres Bildungsniveaus mag zu- gleich bereits dasjenige Aufstiegsverlangen schwächer wer- den, das eben zur Verwirklichung solcher Ziele drängt. Da- mit indessen der Aufstiegswille sich in der Zukunft möglichst ausschließlich aus denjenigen inneren Quellen herleite, von denen her er auch für die Gemeinschaft einen Wertzuwachs bedeutet, nämlich aus der brennenden Berufsneigung und aus dem Bewußtsein der Berufung, scheint uns noch ein Weiteres nötig zu sein. Fernab von solchem Willen zum Beruf, fern- ab auch von Wünschen materieller Art bildet, wie zu leicht übersehen wird, eine der Triebfedern ftir das Aufstiegsverlan- gen der Anspruch auí soziale Geltung. Der Mensch will nicht unter den anderen, er will neben ihnen stehen.

Hier liegt abermals eine wichtige Aufgabe nicht zuletzt erzieherischer Art. Es gilt die Überbrückung sozialer Klüfte durch eine wahrhafte innere Anerkennung des Tüchti- gen unabhängig von seiner beruflichen und sozialen Stellung. Je aufrichtiger wir oben und unten uns bemühen, Standes- dünkel und Klassenhaß zu überwinden, umso besser dienen wir zugleich der generativen Tüchtigkeit unseres Volkes und der Erhaltung unseres erbtüchtigen Bevölkerungsanteils und damit der Zukunft unserer Kultur.

Unsere letzten Ausführungen scheinen uns vielleicht in den Augen mancher Leser allzuweit von unserem Gegen- stande fortgeführt zu haben. Sie waren aber notwendig, um davon zu überzeugen, daß das weitgespannte Ziel einer Höher- führung unseres Volksganzen, ja daß auch nur das dagegen bescheidenere Ziel einer bloßen Erhaltung unserer kultu- rellen Höhe ebensowenig durch bloße Begabtenauslese er- reicht werden kann wie durch reine Erziehungsmaßnahmen, sondern daß es dazu außer manchem anderen auch eines Bündnisses zwischen Pädagogik und Eugenik

Erziehungsprobleme im Lichte von Erblehre und Eugenik 49

bedarf. Wohl besteht dieses Bündnis heute schon in mehr als nur in Anfängen, aber es muß erst noch wirklich stark werden.

Ebenso wie ohne Mitwirkung der Eugenik die sozialen Fragen nicht zu lösen sind, wird eine groß gesehene pädago- gische Arbeit zur Unfruchtbarkeit in sich selbst verurteilt sein müssen, wenn nicht auch sie die Erbbiologie zur Beraterin, die Eugenik zur Bundesgenossin hat. Darum wird eine in die Tiefe gehende pädagogische Besinnung der Ge- genwart zugleich eine Besinnung auf Erb- biologie und Eugenik sein.

5. Leitsätze.

Unsere pädagogisch-eugenischen Forderungen sind kurz zusammen- gefaßt die folgenden: Im Hinblick auf

A) den Einzelnen 1. Förderung und Aufstiegsermöglichung für alle wirklich Befähigten.

2. Schärfste Auslese der Befähigten sowohl beim Übergang zur höheren Schule wie beim Übergang zur Hochschule unter BSR aller Fehlerquellen solcher Auslese.

B) die Schule

1. Weiterer Ausbau des gesamten Bildungswesens energischer Abbau des Berechtigungsunwesens.

2. Verbreiterung des einheitlichen Grundbaus der höheren Schule zeitliche Verkürzung und stärkere Spezialisierung ihres Oberbaus.

C) den. Lehrstoff

1. Einbau von Biologie und Eugenik in die Lehrpläne sämtlicher höheren Schulen unter Erhebung der Biologie zum Kernfach.

2. Errichtung von Lehrstühlen für Erblehre und Eugenik an den Univer- sitäten und Hochschulen.

D) unsere kulturelle Zukunft

1. Förderung der Nachwuchsziffer der überdurchschnittlich Tüchtigen durch Maßnahmen positiver Eugenik.

2. Erhaltung des breiten Mutterbodens charakterlicher und intellektueller Tüchtigkeit durch Maßnahmen positiver Eugenik; hierher gehört auch die Eindämmung des übersteigerten Aufstiegswillens durch Überbrückung S0- zialer Gegensätze.

3. Eindämmung, womöglich Ausschaltung des Bevölkerungsanteils der Erbminderwertigen durch Maßnahmen negativer Eugenik,

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ZEITSCHRIFT FÜR EUGENIK

ERGEBNISSE DER FORSCHUNG herausgegeben von Prof. Dr. Eugen Fischer, Direktor des Kaiser Wilhelm-Instituts "t Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik zu Baci Ari Prof. d Herman d uckermann, Leiter der Abteilung für Eugenik und Priv. ent Dr. Otmar. It von Verschuer, Leiter der Abteilung für ge wee Erblehre Im : D cS Pi á i D Le es HI E her 7 à ohh, BAND VII, HEFT 2 "ha AL WDR N Vie? }

_ DIE NEUROPATHISCHE E FAMILIE

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von

Privatdozent Dr. F. CURTIUS

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erscheint in freier Folge. Sechs Hefte bilden einen Band. Die Verantwortung tür die einzelnen Beiträge dieser Zeitschrift tragen die Verfasser selber. Alle Zuschriften, die die Schriftleitung betreffen, sind zu richten an die Abteilung Eugenik, Kaiser Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik zu Berlin-Dahlem. Da in jedem Heft wie im vor- liegenden ein Grundgedanke durchgeführt werden soll, wird dringend ge- beten, ohne vorherige Anfragen keine Handschriften einzusenden.

Dieses Heft ist auch als Sonderdruck

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Dieses Heft wurde ausgegeben im Oktober 1932

DIE NEUROPATHISCHE FAMILIE

EUGENISCHE BETRACHTUNGEN AUF FAMILIENPATHOLOGISCHER GRUNDLAGE MIT VORSCHLÄGEN ZUM AUSBAU DER FAMILIENFORSCHUNG

Von Dr. F. Curtius, Privatdozent für innere Medizin (Aus der Medizin. Klinik Heidelberg, Direktor Prof. Dr. Siebeck). Mit 6 Figuren und einer Tabelle.

I. DIE NEUROPATHISCHE FAMILIE

Im 19. Jahrhundert wurde vor allem von franzósischen Nervenürzten der Begriff der neuropathischen Familie auf- gestellt: sie beherbergt organische Nervenkrankheiten, Psy- chosen, verschiedene Schwachsinnsformen und Psychopathien. Unter diesen wurden besonders die zahlreichen Asozialen her- vorgehoben: Trinker, Dirnen, Kriminelle, Gewalttátige, Sexual- abnorme usw.

Daraus geht hervor, welche verderbliche Rolle die neuro- pathische Familie in der Gesellschaft spielt. Gewiß stellen auch sonstige Erbkranke eine schwere Belastung dar; sei es nun, daß sie fürsorgebedürftig sind, wie etwa schwere Diabetiker oder Kranke mit erblichem Star, oder daß sie selbst wenigstens in ihrer Arbeitsfähigkeit stark beeinträchtigt werden: z. B. Menschen mit schwerer erblicher Kurzsichtigkeit oder mit Hüftgelenks-Luxation.

Daß es schließlich eine Anzahl völlig harmloser Erbano- malien gibt, die weder persönlich noch Een irgendwie ins Gewicht fallen, ist bekannt.

Anders dagegen bei der neuropathischen Familie: man kann sie geradezu als Quell all jener Abnormen bezeichnen, die die größte Belastung öffentlicher Mittel bedeuten durch Fürsorge- und Hilfsschulerziehung, Freiheitsstrafen, die sich ja oft über Jahrzehnte erstrecken, Verpflegung in Heilanstalten, Asylen usw. Vielleicht noch größer ist die Gefahr, welche diese Men- schen in moralischer Hinsicht für ihre Umgebung bedeuten.

1

2 Das kommende Geschlecht

So kann man wohl sagen, daB die neuropathische Familie ein zentrales Problem der Eugenik darstellt.

In einem gewissen Gegensatz hierzu steht die Tatsache, daB der Begriff der neuropathischen Familie in der letzten Zeit etwas verdrängt, ja mancherorts geradezu als unwissenschaft- lich bezeichnet wurde.

Dies ist z. T. sicher berechtigt. Die alten Autoren haben námlich die bunte Fülle der verschiedenartigsten Nervenleiden in diesen Sippen dadurch erklären wollen, daB sie den Begriff der „transformierenden Vererbung“ einführten: die Erbanlagen sollten vóllig inkonstant sein; vererbt werde nur eine allge- meine degenerative Veranlagung, auf deren Boden dann die verschiedenen Erscheinungsbilder hervorwüchsen. Die gleiche Krankheit solle nur selten wieder in der Familie auftauchen, oder mit anderen Worten: háufiger als die sog. homologe sei die heterologe Vererbung.

Diese Behauptungen haben sich als unrichtig erwiesen. Nach der Einführung des Mendelismus in die menschliche Biologie, die wir ja in erster Linie den bahnbrechenden For- schungen von Eugen Fischer verdanken, zeigte sich bald, daß die homologe Vererbung beim Menschen genau so häufig ist wie bei Tier und Pflanze; der Begriff der transformieren- den Vererbung ist wie wir wissen mit der modernen Erbwissenschaft völlig unvereinbar: die relative Konstanz der Gene stellt ja geradezu die Grundlage der Genetik dar.

Unter diesen Umständen konzentrierte sich das Interesse der neurologischen Erbforscher auf die Verfolgung einzelner Leiden, und das letzte Ziel sah man in dem Nachweis, daß die betreffende Krankheit dem einfachen Mendelschema folge. Man glaubte sogar, dies für die Mehrzahl aller Erbkrankheiten des Nervensystems nachweisen zu können.

Es scheint, als ob die jugendliche menschliche Erbpathologie hier etwas über das Ziel hinausgeschossen sei: in neuerer Zeit haben sich doch wieder zahlreichere Komplikationen gezeigt. Die methodische Unvollkommenheit zahlreicher älterer Erhe- bungen hat die Verhältnisse oft einfacher erscheinen lassen, als sie in Wirklichkeit sind. Dazu kommt die Erkenntnis der letzten Jahre, daß die Manifestation bestimmter Erbanlagen von der Umwelt und dem übrigen Genotypus viel abhängiger ist, als man früher dachte. So kam es, daß neuerdings die

Die neuropathische Familie 3

Frage wieder mehrfach behandelt wurde, wie die Vielgestal- tigkeit der familiáren Nervenkrankheiten vom genetischen Gesichtspunkt aus zu verstehen sei.

Aus diesen Ausführungen ergibt sich, daB der Polymorphis- mus der neuropathischen Familie, wie er von der klassischen Neurologie in zahllosen Fällen geschildert wurde, theoretisch durchaus nicht unmöglich ist.

Zunächst aber müssen wir wissen: findet man auch heut- zutage noch, wo unsere Diagnostik schärfer, unsere Krank- heitssystematik ungemein reichhaltiger ist, jene verschiedenen Anomalien des Nervensystems nebeneinander? Daß das tat- sächlich der Fall ist, möchte ich an einer Reihe selbst unter- suchter Familien zeigen.

Wenn ich die verschiedenen Sippen unter dem Namen der „neuropathischen Familie“ zusammenfasse, so geschieht dies zunächst ohne theoretische Deutungsversuche (auf die wir hier nicht eingehen wollen), sondern aus praktischen Gesichts- punkten; unter diesen ist der eugenische der wichtigste.

Mag auch Unklarheit herrschen über die korrelativen Be- ziehungen der verschiedenen Nervenkrankheiten, über die Frage, ob bei den einzelnen Leiden Polymerie oder Monomerie vorliegt, und in welchem Ausmaß peristatische Faktoren zur Auslösung nötig sind, ob es einen gemeinsamen Grundfaktor für die endogene und exogene Anfälligkeit des Nervensystems gibt, das eine steht fest: vom eugenischen Gesichtspunkte aus dürfen, ja müssen wir diese Familien einer einheitlichen Be- trachtung unterziehen, denn sie alle erzeugen wie gleich zu zeigen ist schwerste Schädlinge; mögen wir nun von Here- dodegenerationen, Infektionskrankheiten des Nervensystems oder sogen. funktionell-psychogenen Störungen ausgehen. Zunächst gehen wir aus voneinerechten Erb- krankheit, der familiáren spastischen Spi- nalparalyse:” Die spastische Spinalparalyse führt zu einer mehr oder weniger entwickelten Versteifung und Läh- mung der Beine, die in vielen Fällen den Patienten völlig arbeitsunfähig macht.

1) Die Familie ist eingehend geschildert in meiner Arbeit: Familiäre diffuse Sklerose und familiáre spastische Spinalparalyse in einer Sippe. Z. Neur. 126. 1930.

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Die neuropathische Familie 5

Zeichenerklärung zu den Figuren. Q = organische Nervenkrankhei-

ten, einschlieBlich Lues (Pa- ralyse, Tabes) und Halbsei- tenlahmung nach Schlagan- fall, Epilepsie

O = Kinderkrämpfe

D

Meningitis, Encephalitis

© = Migräne und habituelle Kopf-

schmerzen, Enuresis, Psycho- pathie, Alkoholismus, Neu- rose, alle endogenen Schwach- sinnsformen

Q Psychosen (auBer Paralyse)

Q Tuberkulose (Tbc.)

Ó selbst untersucht (s. u.)

d = selbst gesehen (s. ges.)

Ó genauer Bericht

uv.— unverheiratet

Summarisches Verzeichnis der Auffälligen aus Familie F.-Gr. (Spastische Spinalparalyse).

auch sonst sehr háufig beschrieben.

: haltloser Psychopath (vgl. unten) : 1 an Hirnabszeß

: 1 an Hirnhautentzündung

: Sexuell haltlose Schwachsinnige

Figur 1 : Spastische Spinalparalyse (Sp. 17: Schwachsinniger Sp.) 18: Schwachsinnige : Geisteskrankheit 19: Explosiver Psychopath : Sp. Sp. 20: Sp. Sp. : Schwachsinn, später Geistes- 21: Schwachsinn krankheit, Suicid. 22: Schwere Hysterie : Sp. Sp. (?) 23: Trinker : Sp. Sp. (?) 24: Sexuell haltlose und schwachsin- : Sp. Sp. nige Psychopathin, 3 illegitime : Epilepsie mit Demenz (Land- Kinder von 3 verschiedenen Män- streicher) nern : Propfschizophrenie (Geistes- 25: t an Hirnhautentzündung krankheit bei angeborenem 26: Schwachsinniger Bettnässer Schwachsinn) 27: Diffuse Sklerose (Sektion) : Trinker 28: T an Kinderkrämpfen : Rudimentäres Spinalsyndrom 29: Diffuse Sklerose (Sektion) (Sp. Sp.?) 30: u. 31: während bezw. kurz vor : T an Hirnhautentzündung der Geburt T ohne irgendwelche

bekannte Ursachen (genaue Pro- tokolle der Frauenklinik); Letal- faktoren?

Was sehen wir an dieser Familie F.?

1. Echt homologe Vererbung der spastischen Spinal- Paralyse, die 5(7?)mal in der Familie vorkommt. Dies wurde

Bemerkenswert ist Fall 20: wegen „multipler Sklerose“

6 Das kommende Geschlecht

bezieht er seit langen Jahren 100 % Kriegsdienst-Rente, trotz- dem es sich bei ihm mit Sicherheit um ein rein erbliches Leiden handelt, bei dem auch die auslósende Wirkung des Kriegs- dienstes nicht anzuerkennen ist. Man sieht aus diesem Bei- spiel, wie wichtig es für den Versorgungsarzt sein kann, die Familiengeschichte seiner Patienten genauer festzustellen.

2. Neben der spastischen Spinal-Paralyse findet sich ein zweites Erbleiden: die sog. „diffuse Sklerose“. Eine analoge Beobachtung machte Scholz: früher als ganz heterogen angesehene Leiden gehóren also genetisch zusammen!

3. Neben den beiden Erbkrankheiten finden wir noch andere Nervenleiden, u. a. zwólf psychisch schwer Abnorme (Geisteskranke, Schwachsinnige, Psychopathen, 1 dementen Fpileptiker).

Für unsere eugenische Betrachtung interessieren uns in erster Linie psychopathische Persónlichkeiten; ich schildere deshalb kurz eine solche (Nr. 13):

Franz B. geb. 1881, Techniker, gut begabt. Einjähriger. Leidenschaftlicher Spieler. Pumpte haltlos. Seit 1906 ver- schollen. Uneheliches Kind im Ausland und in Deutschland. 1916 Karte aus dem Felde. Dort tapfer. Nach dem Krieg an Fabrik beteiligt. Sehr unternehmungslustig. Patente ange- meldet. Rasend gespielt. Deshalb hohe Strafen. Leidenschaft- licher Kettenraucher. Liebenswürdig, angenehmer Gesell- schafter. Diagnose: haltloser Psychopath.

In der Familie P sind: von 45 Personen 25 neuro- pathologisch schwer auffällig. Sie entstammen alle der Ehe zwischen einem Mann mit erblicher Spinalparalyse und einer geisteskranken Frau! Hierdurch kam es zweifellos zur ungünstigen Summation pathogener Anlagen, wobei unent- schieden bleibt, inwieweit die Gene unabhängig voneinander weitergegeben werden, oder ob sie sich z. T. auch summieren oder potenzieren können.

Der Polymorphismus der Neuropathen-Familien kann z. T. wohl auf diese Affinität abnormer Persönlichkeiten zurück- geführt werden; zu ihrer Erklärung reicht diese Tatsache aber nicht aus.

Ich schildere jetzt eine zweite Familie: auch hier gingen wir von einer wohl im wesentlichen erblichen Krankheit aus, nämlich einer seltenen Form der Migräne: der

Die neuropathische Familie 1

ophtalmoplegischen Migráne bezw. rezidivierenden Oculomo- toriusparese:”

In der Familie fanden wir:

1 paranoide Schizophrenie,

4 Debile,

1 Idioten,

1 Imbecille mit Hypogenitalismus,

3 Psychopathen,

1 Debilen mit cerebraler Kinderlähmung, 1 mongoloide Entwicklungsstörung,

3 Todesfälle nach Kinderkrampfen.

Überblicken wir diese Reihe, so sehen wir wieder: orga- nische Nervenkrankheiten, Schizophrenie, Psychopathie und besonders viel Schwachsinn leichter und schwerster Art.

Einen der Psychopathen möchte ich kurz schildern: 43jähr. Landwirt, von klein an beschränkt. Im Dezember 1914 zwei Tage, nachdem er ins Feld gekommen ist verschüttet, keine Verletzung. Seitdem hysterische Anfälle und Stupor. Deshalb fünf Monate im Heimatlazarett. Als a. v. mit 33'/, % K.D.- Rente entlassen. Später Kapitalabfindung. Dezember 1920 Antrag auf Rentenerhöhung, da er „vollständig arbeitsunfähig“ sei. November 1921 fachärztliches Urteil: „außerordentlich krankheitsüberzeugt, wehleidiger Habitus des von Haus aus Beschränkten“; die jetzt noch bestehenden, bis acht Tage (!) dauernden Anfälle seien zweifellos hysterischer Art. 1929 neuer Rentenerhöhungsantrag, obgleich W. alle landwirtschaft- lichen Arbeiten ausführt; das Versorgungsamt lehnt deshalb das Bestehen einer Erwerbsminderung und Dienstbeschädi- gung ab. |

Ich habe diesen Fall deshalb etwas näher geschildert, weil er uns auf ein sozialmedizinisch und eugenisch wichtiges Pro- blem hinweist. Welchen Anteil hat die Konsti- tution am Zustandekommen der rentenneu- rotischen Einstellung? Diese Frage ist noch ver- hältnismäßig wenig bearbeitet worden. Zur Konstitutions- analyse brauchen wir in erster Linie die Familienanamnese, und es ist klar, daB beim Vorhandensein von Begehrungsvor- stellungen die Frage nach familiären Anomalien fast stets negativ beantwortet wird (Henke, Klieneberger u. a.).

2) F. Curt ius u. J. F. de Decker, Erbliche Disposition bei rezidiven Oculomotoriusparese Klin. Mbl. f. Augenh. 84, 1930.

Das kommende Geschlecht

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Die neuropathische Familie 9

Summarisches Verzeichnis der Auffälligen aus der Renten-Neurotikerfamilie 1 nach M.Wagner

Figur2 1: Gewalttätiger Psychopath. T an 12: Schwachsinnige Psychopathin. Apoplexie Herumtreiberin (Fürsorgeer- 2: Endogene Depression ziehung) 3: Schwere Hysterie 13: Schwachsinniger Bettnásser 4: Psychopath. T an Lungentuber- 14: Krimineller Imbeciller, Hy- kulose pogenitalismus. (Zwangser- | _ 5: Schwer psychopathische Hoch- ziehung) = staplerin 15: Imbeciller Bettnässer 8 6: Schwachsinnige 16: Schwachsinniger Bettnässer 2 7: Krimineller Renten - Neurotiker. 17: Schwachsinniger, „Moral in- = Proband (vgl. unten) sanity“. Spinale Kinderläh- 8: Hysterie mung. (Zwangserziehung) 9: Krimineller Psychopath und Ren- 18: Epilepsie ten-Neurotiker 19: Epilepsie. T an tuberkulóser Hirn- 10: Schwachsinnige hautentzündung 11: Psychopath 20: f an spinaler Kinderlähmung

Wir haben trotzdem an der Bonner Poliklinik auf Anregung von Herrn Prof. Siebeck entsprechendes Material ge- sammelt und dabei bedeutsame Feststellungen gemacht." Von den vóllig auslesefrei gewonnenen 15 Rentenneurotikern waren elf schon vor dem Trauma abnorme Persónlichkeiten:

1 explosiver, roher, vorbestrafter Psychopath,

4 Debile,

1 krimineller Debiler,

1 psychopathischer Debiler,

1 arbeitsscheuer psychopathischer Trinker,

1 Debiler; schon vor dem Unfall (Invaliden-) Renten- Begehren ohne objektiven Befund,

1 Hysteriker mit Ohnmachten,

1 Psychopath.

Bei der Betrachtung dieser Reihe abnormer Persónlich- keiten kann für denjenigen, welcher gewohnt ist, den Kranken nicht als isolierte Erscheinung, als reines Umweltprodukt zu betrachten, sondern als Glied einer größeren biologischen Ein-

3 Maria Wagner: Die Erbanlage bei Rentenneurotikern. D. Z. f. Nervenheilk. 123, 1932. Daselbst eingehendere Wiedergabe der Befunde.

10 Das kommende Geschlecht

heit, der Familie, kaum ein Zweifel über das Ergebnis unserer erbbiologischen Nachforschungen sein.

Ich gebe einen Stammbaum wieder: (Fig. 2.)

Hier sei der kurze Befund unseres Probanden (Nr. 7) wiedergegeben: 44jähr. Maurer, als Junge roher, gemütsloser Herumtreiber. Bis zum Antritt der aktiven Dienstzeit (22j.) 8mal bestraft (gef. Körperverletzung, Beleidigung, Diebstahl, Hausfriedensbruch, Betteln usw.). Ein Jahr im Felde. An- schließend ein halbes Jahr im Lazarett wegen „Herzschwäche“ (ohne organischen Befund), „Zittererscheinungen“, „Hysterie“. März 1916 entlassen wegen Hysterie mit 33'/; % KDB.-Rente. 1920/21 ein Jahr Gefängnis (schwerer Diebstahl). August 1928 Rentenerhöhungsantrag wegen unbestimmter allgemeiner Kla- gen. Damals ebenso wie bei der Berufungs-Untersuchung 1930 kein objektiver Befund. Antrag abgelehnt. 1930 Ren- tenzahlung eingestellt. Darüber starke Erregung; will „weiter“ gehen. |

Ist es zu verwundern, wenn Männer aus derartigen Fami- lien dem Kriegsdienst, aber auch sonstigen Traumen, wie etwa Betriebs-Unfällen, gegenüber versagen? Wenn sie bei der ersten seelischen Belastung zusammenbrechen? Wie viele Tausende haben eine Verschüttung (die bei dem oben ange- führten Manne schon nach drei Tagen Felddienstes zum end- gültigen Ausscheiden aus dem Heere führte) durchgemacht und nach anfänglichem Schock noch jahrelang Felddienst geleistet? Wie kann man von schwachsinnigen oder arbeitsscheuen Psychopathen, deren einziges Streben schon in den auskömm- lichen Vorkriegsjahren dahin ging, sich von der Arbeit zu drücken und oft in krimineller Weise auf Kosten anderer ein Parasitenleben zu führen, wie kann man von derartigen Menschen verlangen, daß sie zu Renteníragen einsichtig Stel- lung nehmen? Werden sie nicht vielmehr zwangsläufig zum Rentenkampf getrieben, der ihnen doch die ersehnte Möglich- keit eines relativ gesicherten Daseins auf Kosten des Staates ermöglicht?“ |

*) AuBer rein materiellen Interessen sind allerdings bei vielen Renten- Neurotikern (vielleicht besonders bei den weniger psychopathisch veran- lagten) auch solche Impulse wirksam, die einer anderen Sphäre entstammen: persönliches Geltungsbedürfnis, der Wunsch, das vermeintlich mißachtete Recht auf Versorgung zu erkämpfen. Über diese Fragen haben v. Weiz- säckers Untersuchungen neue Anschauungen vermittelt.

Die neuropathische Familie 11

Vergegenwürtigen wir uns jene allgemein bekannten Bei- spiele pflicht- und verantwortungsbewußter Männer, die trotz sicherer, oft schwerer Kriegsschäden die gewohnte Arbeit wie- der aufnahmen, um es dabei oft zu erstaunlichen Leistungen zu bringen. Gewiß spielen hier das soziale Niveau, die Er- ziehung und die Art der Beschäftigung eine maßgebende Rolle. DaB aber andererseits die minderwertige Erbanlage den Boden für die Entstehung der schwersten Renten-Neurosen ebnet, daran kann kein Zweifel mehr bestehen.

Wir haben uns (soweit das an einem kleinen Material möglich ist) bemüht, auch statistisch die Rolle der neuropa- thischen Veranlagung bei der Entstehung der Renten-Neurose zu erfassen; so fanden sich z. B. Schizophrenie, Epilepsie, Imbecillität und Debilitat:

in den Familien von 15 Renten-Neurotikern in 8,4% der Fälle, in den Familien von 56 Knochenfraktur-Pa- tienten (normales Vergleichsmaterial) in 1,1% der Fälle.

Die neuropathologische Gesamtbelastung betrug

in den Familien der Rentenneurotiker 74,3% in den Kontrollfamilien 32,1%

Es kann also keinem Zweifel unterliegen, daß es sich hier um gesetzmäßige Zusammenhänge handelt. Dringend erwünscht wäre allerdings eine Fortsetzung dieser nur als Anfang zu be- trachtenden Untersuchungen von M. Wagner.

Bedenken wir die ungezählten Summen, die für die Begut- achtung, Beobachtung und Untersuchung, auch Heilbehandlung der Renten-Neurotiker nötig sind, die zahlreichen Fälle, in denen jahrelang eine Rente ausgezahlt wird, ohne daß dies nach den Regeln der medizinischen Begutachtung berechtigt war. Dazu kommt noch die Fülle pathologischer Familienmit- glieder, die dem Staate zur Last fallen. So kann man wohl sagen, die Familie des psychopathischen Renten-Neurotikers stellt ein besonders krasses Beispiel für den Krebsschaden dar, den die erbliche Neuropathie an unserem Volkskörper bedeutet. Soziale Eingliederung, Arbeitsbeschaffung u. ä. können in ge- eigneten Fällen den Neurotiker zwar in das Gesellschaftsleben zurückführen; dies haben die groß angelegten therapeutischen Maßnahmen v. Weizsäckers und seiner Mitarbeiter in

12 Das kommende Geschlecht

vorher ungeahnter Weise glänzend bewiesen.” Richten wir jedoch unseren Blick auf das Volksganze, so muß außerdem der eugenische Gedanke berücksichtigt werden; vor allem hinsichtlich derjenigen Fälle, die infolge schwerster degenera- tiver Veranlagung eine doppelte Gefahr für die Gesellschaft bedeuten, einmal infolge ihres asozialen Verhaltens, vor allem aber durch die erbliche Übertragung ihrer krankhaften Anlage auf die Nachkommenschaft. Für sie gelten die Worte H. Mucker manns: „Die selbstverständliche Lösung liegt darin, daß wir die gesunden begabten Arbeitskräfte im Volke vermehren und alle diejenigen, die wegen persönlicher Min- derwertigkeit nicht arbeiten können oder wollen und nur von den Früchten der Arbeit der Gesunden und Begabten leben, nach bester Möglichkeit vermindern“.

In den vorgeführten Familien waren wir von verschiedenen Leiden ausgegangen, zunächst von einer echten Heredode- generation, dann von einem Gehirnleiden, das wohl auch im wesentlichen erbbedingt ist, und schließlich von einem psycho- pathischen Mann, dessen Klagen nur „funktioneller“ Natur waren.

Ich móchte jetzt noch einige Stammtafeln anführen, die wie- der von einer organischen Krankheit des Zentralnervensystems, der multiplen Sklerose, ihren Ausgang nehmen. Über die Ur- sache dieses Leidens herrscht noch Unklarheit: manche neh- men an, daf) es sich um eine Infektionskrankheit handelt. Eines ist jedenfalls nach meinen Untersuchungen sicher, daß die Krankheit nur dann entsteht, wenn eine besondere erbliche Disposition vorliegt.?

Uns interessieren wieder in erster Linie die psychopathi- schen Persónlichkeiten, die gerade in den Multiple-Sklerose- Familien besonders stark vertreten sind:

wir fanden sie bei den Eltern in 3.57 (0) 9 % der Fälle » Geschwistern „„ 10.28 (3.86)% nm nm Kindern 9 11.4 (1.2) Io » 99

im Gesamtmaterial 5.15 (20) %

5 V. v. Weizsäcker: Über Rechtsneurosen. Nervenarzt 1929. Soziale Krankheit und soziale Gesundung. Julius Springer 1930.

8) Ringehende Schilderung meiner 106 Familien umfassenden Erhebun- gen in der demnächst erscheinenden Monographie: Multiple Sklerose und Erbanlage.

*) In den Klammern die entsprechenden Zahlen der Normalbevölkerung.

Die neuropathische Familie 13

Ahnlich sind die Zahlen (Gesamtmaterial) für Schwachsinnige 3.35 (1.08) % der Fälle Epilepsie 1.0 (0.18) %

Verschiedene Psychosen waren ebenfalls in den Multiple- Sklerose-Familien wesentlich stárker vertreten als in der Durchschnittsbevölkerung.

Unter den charakterologisch Abnormen möchte ich beson- ders die Menschen mit einer krankhaften Hypersexuali- tät herausgreifen; ich gebe ein Beispiel: (Fig. 3.)

Man sieht in dieser Familie: eine abnorme Stärke des Ge- schlechtstriebes, die sich hemmungslos über die gewohnten Schranken des bürgerlichen Lebens hinwegsetzt. Daß es sich nicht nur um Milieu-Wirkung handelt, geht schon daraus her- vor, daß die gleiche sexuelle Hemmungslosigkeit bei Personen beobachtet wird, die jahrelang getrennt leben und sich z. T. kaum kennen. Es sind hier vielmehr tiefere biologische Ge- setzmäßigkeiten anzunehmen. In der Familie E. fanden wir neben den Hypersexualisten einen schwachsinnigen Psycho- pathen, der körperlich die Zeichen des ausgesprochenen Hypo- genitalismus (Keimdrüsenunterentwicklung) trägt.

In 2 von 3 weiteren Multiple-Sklerose-Familien mit der glei- chen familiären Hypersexualitát waren Homosexuelle vertreten. Aus der Erb-Pathologie der endokrinen Drüsen ist die familiäre Kombination verschieden gerichteter Abwegigkeit der gleichen Drüse schon bekannt, z. B. Basedow beim Vater, Myxoedem beim Sohn. Ich möchte deshalb annehmen, daß auch hier etwas Entsprechendes vorliegt. Abnorme Stärke des heterosexuellen Triebes, Homosexualität und Hypogenitalismus wären dann auf gleiche oder ähnliche genotypische Veranla- gung zurückzuführen: vererbt wird die Dysfunktion, die sich phänotypisch verschieden äußern kann. Gerade diese Betrach- tungsweise zeigt uns an, daß es sich bei der Hypersexualität im wesentlichen nicht um den Einfluß schlechter Gewohnheit, ungünstigen Milieus handelt, sondern um eine erbliche Fehl- anlage. Aus der experimentellen Vererbungsforschung ist Analoges bekannt (, polare Vererbung“, Timoféeff).

Die Kenntnis der pathologischen Sexuali- tät ist für den Eugeniker von größter Wich- tigkeit. Aus dieser trüben Quelle stammt ein Großteil

Das kommende Geschlecht

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Die neuropathische Familie 15

Summarisches Verzeichnis der Auffälligen, aus der Multiple-Sklerose-Familie E.-M.

10:

: Unklare

Figur 3.

: Psychopath, T an Hirnschlag 11:

: Psychopath,

im Alter senile Demenz

Gehirnerkrankung, t mit 11 Jahren

: Anna K. geb. M. 39j. Selbstmord

durch Leuchtgas. Stets sehr ner- vös, in der letzten Zeit geistig abnorm. (Näheres?). Vor und nach dem Tode des Mannes ex- tramatrimonielle Verhältnisse; als Witwe lebte sie mit einem Manne und der minderjáhrigen Tochter auf einem Zimmer. We- gen ihrer sexuellen Zügellosig- keit von der Familie gemieden. Diagnose: sexuell haltlose PSy- chopathin. Suicid.

: Schwachsinniger. Gefallen. : Käte Z. geb. M. T 45j,, an Lun-

gen-Tuberkulose. ^ Unaufrichti- ger, heuchlerischer Charakter, sehr nervös. Stark sinnlich; noch als Witwe mehrere Ver- hältnisse.

Diagnose: sexuell haltlose Psy- chopathin.

: Schwere Hysterie mit depressi-

ven Phasen; Suicidversuch.

: Depressive Hysterika. : Maria L. geb. M. 55j. Seit lan-

gen Jahren wegen Erbschaftsfra- gen und unsittlichen Lebenswan- dels mit den Schwestern zerfal- len; im Kriege als Witwe meh- rere Verháltnisse. Lieblos gegen die Kinder; ist indolent, nach- lássig im Haushalt, schmutzig, „schlecht veranlagt“. Geringe Intelligenz.

Diagnose: sexuell haltlose Psy-

chopathin. Multiple-Sklerose (typischer Fall).

12:

13:

14:

15:

Hans Z. t am. an Lungen- Tu- berkulose. Sexuell frühreif, machte schon als Kind s e xu - elle Attacken auf Kusinen.

Klara Z. f 22j., an doppelseitiger kavernóser Lungen- u. Darm- Tu- berkulose. Sexuell völlig haltlos: mehrere Verhältnisse. Angeblich auch inzestuóse Beziehungen zum Muttersvater! Gefallsüchtig, männertoll. Diagnose: sexuell haltlose Psy- chopathin.

Otto Z. 25j, schwachsinniger Psychopath; brutale Angriffe auf seine Umgebung. Zwangs- erziehung. Ausgesprochene Un- terentwicklung der Keimdrüsen: Hoden atrophisch, bohnengroß, weich und schlaff. Bartwuchs kaum angedeutet; weibliche Stimme. Kleiner Kopf, mäßiger eunuchoider Hochwuchs. Zeit- weise gehäufte Pollutionen. Cirrhotische Lungen- Tuberku- lose. Diagnose: Hypogenitalismus; Schwachsinniger Psychopath. Alwine Z. t 25j, an Lungen- und Kehlkopf-Tuberkulose, mäßig be- gabt, faul, 2mal sitzen geblieben. Von früher Jugend an sexuell betätigt. Karl Z. T 1921 an doppelseitiger Lungen-Tuberkulose. Gut begabt. Sehr schlechter Charakter; we- gen Unterschlagung aus der

Lehre entlassen. Trank und rauchte maBlos. Sexuell haltlos; nach Aussage der Erzieher

„schlimmer Junge“. Diagnose: sexuell haltloser Psy- chopath.

16 Das kommende Geschlecht

16: Luise Z. 206j, Hausangestellte. 18: Kindlicher Hysteriker. Schwach begabt, 2mal sitzen ge- 19: f einjährig an Krämpfen (Arzt-

blieben. Putzsüchtig, eitel, sexu- bericht). elle Aktivität. 20: Schwachsinnig. Differenz der Diagnose: Minderbegabt,sexuelle Bauchdeckenreflexe. Aktivität. 21: Seit längerer Zeit wegen „Ma- 17: SchwachsinnigerHysteriker. Ren- genneurose" in fachärztlicher ten - Neurotiker. Alkoholintole- Behandlung.

ranz. Alte Lungen-Tuberkulose.

aller Kriminalität. Denken wir nur an jene bestialischen Mas- senmörder, die die Öffentlichkeit so lebhaft beunruhigt, den Staat aber Unsummen gekostet haben. Ich glaube, man wird bei der Familien-Untersuchung derartig Abnormer kaum je- mals eine schwerere neuropathische Veranlagung vermissen; im Fall Kürten z. B. war dies deutlich genug. Es gibt nur einen Weg, um dieser schweren Erkrankung des sozialen Or- ganismus entgegen zu treten, deneugenischen. Die erste Bedingung hierzu ist aber die Sammlung griindlicher Familien-Geschichten. Hier stehen wir erst am An- fang, und es muB dringend gefordert werden, daß unter staat- licher Unterstützung alle einschlägigen Kriminalfälle ausgewer- tet werden. Leider ist das meines Wissens nur recht selten geschehen. Einen verheißungsvollen Anfang bedeuten die in den letzten Jahren gegründeten kriminal-biologischen Sammel- stellen.

Es liegt nahe, einer weitere soziale Erscheinung von die- sem Gesichtspunkt der Sexualbiologie zu betrachten, die Prostitution. Bekanntlich ist die Frage nicht eindeutig geklärt, ob Prostituierte sexuell abnorm veranlagt sind. Von vielen Autoren wird die Hauptschuld in Umwelteinflüssen ge- sehen. Zu dieser Frage möchte ich noch einige meiner Be- obachtungen anführen:

In der Multiple-Sklerose-Familie P. fanden sich wieder 5 sexuell völlig haltlose Personen: 3 Söhne und 2 Nichten der Patientin; außerdem 5 Psychosen (z. T. Schizophrenie), schwere Psychopathen und andere Nervenkranke. Die eine der sexuell Abnormen ist polizeilich beaufsichtigte Herumtreiberin, oft monatelang von Hause fort; sie wird von verschiedenen Män- nern unterhalten. Wie ist nun das häusliche Milieu? Die Mut- ter ist Beamtenwitwe und stammt aus einer recht gut situierten

Die neuropathische Famille 17

Bürgersfamilie, ein Vetter ist angesehener Arzt, eine andere Tochter Postbeamtin: diese und die Mutter machen einen außerordentlich soliden Eindruck, keine wirtschaftliche Not, saubere, geráumige Wohnung, ausreichender Verdienst. Es lagen also hier weder drückende Not vor, noch ungünstige Milieu-Einflüsse. Wir haben daher unbedingt das Recht, die soziale Entgleisung dieses Mädchens im wesentlichen auf „endogene“ Einflüsse zurückzuführen, zumal die schwer patho- logische Familie uns ja geradezu in diese Richtung weist.

Ich führe noch einen Stammbaum an, in dem die schwere

familiäre Neuropathie als Mutterboden der Prostitution deut- lich ist. (Fig. 4.)

Die beiden Prostituierten (Nr. 22 u. 23) dieser Familie sind schwachsinnig, ebenso wie ein Bruder. Bekanntlich ist das nach zahlreichen Untersuchungen in einem hohen Prozentsatz der Fall. Diese Beispiele, die ja nur kasuistische Illustrationen bedeuten sollten, werden immerhin gezeigt haben:

daB vorwiegend solche Mádchen der Prostitution anheim- fallen, die aus schwer neuropathischen Familien stammen. Häufig sind sie selbst schwachsinnig. Daneben scheint aber nicht selten eine pathologische Triebstärke vorhanden zu sein, die, wie wir sahen, als erbliche Dysfunktion der Keimdrüsen verstanden werden kann. Die Bedeutung von Milieufaktoren

tritt in vielen Fállen hinter diesen erbbiologischen Tatsachen zurück.

Ich kónnte nun noch zahllose Typen schwerer Psycho- pathie aus meinen Multiple-Sklerose-Familien vorführen: Rohe, Gewalttätige, Gemütskalte. Daneben elegante, wortge- wandte Hochstapler, die in geschicktester Weise ihre Umge- bung oft jahrelang zu betrügen verstehen. Aus diesen Gruppen rekrutiert sich eine große Anzahl krimineller Persönlichkeiten, wie sie in vorbildlicher Weise in der Arbeit Langes: „Ver- brechen als Schicksal“ geschildert werden. Lange konnte mit seinen Zwillingsstudien bekanntlich nachweisen, daß die Kriminalität im wesentlichen erbbedingt ist: Familien-Unter- suchungen, wie ich sie durchgeführt habe, bestätigen seine Befunde vollständig. Sie bieten gegenüber Zwillingsuntersu- chungen den Vorteil, daß das Netzwerk der abnormen Erb- anlage weiter zurückverfolgt werden kann. Andererseits ge-

2

Das kommende Geschlecht

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Die neuropathische Familie 19

Summarisches Verzeichnis der Auffälligen aus der Multiple-Sklerose-Familie A.

Figur 4 1: Altersschwachsinn 15: Anomalien der Bauchdecken- 2: Trinker reflexe 3: Depressive Neurotika 16: Wirbelsáulen-Tuberkulose 4: Beschränkte Psychopathin 17: Bettnássen 5: Multiple Sklerose, Debilität 18: Klein T an Krämpfen 6: Trinker 19: Habituelle (migráneartige) Kopf- 7 u. 8: Klein T an Krämpfen schmerzen, Bettnässer, monoku- 9: Epilepsie? lärer Nystagmus (sehr seltene 10: Familiäre Alexie: erbliche Un- einseitige Form des Augapfel- fähigkeit des Lesenlernens. Die zitterns; weist auf Erkrankung Anomalie ist, wie hier, öfters mit der Augenmuskelkerne des Ge- mäßigem Schwachsinn verbun- hirns bezw. zugehöriger Bahnen)

den; in anderen Fällen dagegen 20: Klein T an Krämpfen ist sie bei intellektuell Vollwer- 21: Nystagmus (doppels. Augenzit-

tigen beobachtet worden und tern; vgl. Nr. 19); Magen- muß auf eine umschriebene Ent- neurose wicklungsstörung im Hinterlap- 22: Schwachsinnige Psychopathin u. pen des Gehirns bezogen werden Prostituierte 11: Epileptiforme Migräne und 23: Schwachsinnige, brutale Psycho- Schwachsinn pathin u. Prostituierte; trinkt 12: Bettnässen; Turmschädel 24: Schwachsinniger Renten-Neuro- 13: Familiäre Alexie mit Schwach- tiker

sinn u. Migräne (vgl. Nr. 10) 25—27: Klein T an Krämpfen. 14: Klein T an Krämpfen

statten die Zwillingsuntersuchungen eine zahlenmäßig exaktere Analyse.

Neben diesen wenn ich so sagen darf Kriminalpsycho- pathen fanden sich in den Multiple-Sklerose-Familien noch infantil-Geltungsbedürftige, einfache Hysteriker, oft hypochon- drischer Färbung, die Gruppe der Schizothymen und Schizo- iden, die dem Beobachter als verschrobene Einspänner und Sonderlinge, bösartig Negativistische oder ähnliche entgegen- treten, und schließlich die Gruppe der Zyklothymen.

Bei den Schizothymen und Zyklothymen gelang häufig der Nachweis, daß in der gleichen Familie auch die Mutterpsy- chose: die Schizophrenie bezw. das manisch-depressive Irre- sein vertreten war.

Das kommende Geschlecht

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Die neuropathische Familie 21

Neben Psychopathen sind vor allem Schwachsinnige, Epi- leptiker und Trinker als schwere Gesellschaftsschädlinge aus dem Kreise der neuropathischen Familien zu bezeichnen.

Ich gebe noch einen einschlägigen Stammbaum wieder, der wieder von einem Multiple-Sklerose-Kranken aus gewonnen wurde. (Fig. 5.)

Zum SchluB móchte ich noch einmal auf die schon erwáhnte Affinität zwischen psychopathischen Per- sonen eingehen. Schon die französischen Neurologen haben auf diese Erscheinungen hingewiesen („pathologische Zucht- wahl“, Féré); daß Menschen mit schweren Erbschäden oft nur biologisch minderwertige Ehepartner finden, hat Lenz allgemein hervorgehoben. So ist bekannt, daß sich Taub- stumme häufig heiraten.

Summarisches Verzeichnis der Auffälligen aus der Multiple-Sklerose-Familie Ludw. Schm.

Figur 5

1: Psychopath 21: Migräne 2: Trinker 22: Beginnende Multiple Sklerose? 3: kriminelle brutale Psychopathin Markhaltige Fasern im Sehner- 4: Trichterbrust ven (angeb. Anomalie); Wirbel- 5: sexuell haltlose Psychop. sáulenspalt (Spin. bif. occ.) 6: debiler Trinker. Suicid. 23: Deb. (Imb.?) Hypogenitalismus. 7: Migräne t an Lungen-Tuberkulose 8: Epilepsie P: Multiple Sklerose (Proband) 9: Debilität 24: Deb. Psychopath. Bettnässer 10: Imbecillitát 25: Angebor. Augapfelzittern (Nyst.), 11: Debilität Imbecillität 12: Deb. Pavor nocturnus. 26: Debiler Psychopath 13: Abscencen (Epil.). 27 u. 28: Klein T an Krämpfen 14: Epilepsie 29—32: Kl. t an Krämpfen (30 hatte 15: Vasoneurose angebor. Klumpfuß) 16: Trichterbrust 33: Bettnässer. Wirbelsäulenspalt 17: Imbecillität (Spin. bif. occ.) 18: Debil. Lungen-Tuberkulose 34: T Meningitis 19: Deb. Psychopath. Schielen 35 u. 36: Klein t an Krämpfen. 20: Trichterbrust. Bauchdeckenreflex-

Anomalien

In vier der sechs hier aufgeführten Familien konnte achtmal die Verbindung zwischen neuro-psychopathischen Individuen festgestellt werden! Dabei wurden diese Stammbäume nicht

22 Das kommende Geschlecht

nach diesem Gesichtspunkte ausgewählt! Aus meinem Material kónnte noch eine groBe Anzahl entsprechender Ehen vorgelegt werden. Ich habe diese Tatsache auf folgender Tabelle zu- sammengestellt: (Tabelle 1.)

Die Summation pathologischer Anlagen wird naturgemäß begünstigt, wenn die abnormen Ehepartner auch noch ver- wandt sind; es muß ja dann damit gerechnet werden, daß be- sonders viel gleichsinnige Anlagen zusammentreffen. Dies konnte ich auch tatsächlich in unseren Multiple-Sklerose- Familien mehrfach beobachten. Als Beispiel führe ich an die Familie K. (Fig. 6.)

In dieser schwer pathologischen Familie führte die Ehe zwischen zwei abnormen Geschwisterkindern, námlich einem Psychopathen und einer Schwachsinnigen, zu drei Kindern:

einer Tochter mit multipler Sklerose, einem imbecillen Sohn, einer debilen Tochter!

Die schwere Gefahr, welche die Tráger latenter Erbanlagen für die Gesellschaft bedeuten, kann kaum klarer bewiesen werden als durch diese Beobachtung.

Die Summation pathologischer Anlagen durch diese Ver- wandten-Ehen war der alten Neurologie als „kumulative Ver- erbung schon bekannt. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß seiner Zeit bei der besagten Eheschließung der greise ka- tholische Ortsgeistliche dringend gewarnt hatte!

Ich will damit die Schilderung neuropathischer Familien abschließen. Meine Aufgabe sah ich im wesentlichen darin, an Hand gründlich durchforschter Familien ein möglichst plasti- sches Bild von der Biologie oder sagen wir lieber der Patho- logie der neuropathischen Familie zu entwerfen.

Es sei nochmals ausdrücklich wiederholt, daß die Zusam- menfassung dieser Einzelbeobachtungen lediglich vom euge- nischen Gesichtspunkte aus unternommen wurde, ohne daß damit gesagt sein soll, daß auch eine erbbiologische Identifizierung der von ganz verschiedenen Proban- den ausgehenden Sippen beabsichtigt ist.

Allerdings bleiben die eugenischen Folgerungen aus unseren hier mitgeteilten Untersuchungen genau die gleichen auch dann, wenn wir von einem völlig homogenen Probanden-

Die neuropathische Familie 23

Tabelle 1 Beispiele von Ehen zwischen neuropathologisch Abnormen

Probanden : Krankheit Ehe zwischen 2 Abnormen

Spast. Spin. Paralyse

Familie Nachkommen

Von 45 Bluts verwandten sind 23 neuropatholog. abnorm

Q Stammvaterspast. Spin. Paralyse

Q Stammutter später

geisteskrank

Krimineller 16 Kinder, davon

Arbeit | krimineller Psychopath 7 klein f von Renten- Q Debile 9 neuropathologisch M. Wag- | neurotiker schwer abnorm ner

270 Krimin.Psycho- path u. Renten- neurotiker

Debile

Nr. 1 1 Sohn: Psychopath

6 Kinder: sámtlich neu- ropath. abnorm

Gewalttätiger Psychopath

Q Endogene De-

pression

Familie Multiple

Trinker 4 Kinder, davon

L. Schm. Sklerose Q Brutal, primi- 1 Debil tiv,sittlich tief- ] imbecill, hypersex. stehend Fürsorgezógling

DebilerTrinker

Sexuell haltlose Psychopathin

Debilerpsycho-| 4 Kinder

pathischer 1 Bettnüssen, Skro- Rentenneurot. phulose, Heilanstalt OQ Debile,Lungen- 1t Miliar-Tbc. m. Me-

ningit.(Mon.i.Kr.-H.) 1 Knochen-Tbc. ] Spondylitis-Tbc.

Tbc.

Multiple Sklerose

8 Kinder 2 kl. f 1 Neurotik., Nystagm. 2 debile Prostituierte 1 deb. Rentenneurot.

Familie A.

CT Trinker

Q Multiple Sklerose, Debilität

Das kommende Geschlecht

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Die neuropathische Familie 25

material ausgehen; dies zeigen meine ausgedehnten Familien- untersuchungen bei Multiple-Sklerose-Kranken (vgl. S. 12).

Unser Thema hat zahlreiche Beziehungen zum Ent- artungsproblem, indem gerade die neuropathische Fa- milie bekanntlich als Hauptrepräsentant der Entartung be- zeichnet wurde. Der klassische, von Morel geprágte Ent- artungsbegriff bezeichnet „ein durch innere Gesetze bestimm- tes Fortschreiten nervöser Krankheiten von Geschlecht zu Geschlecht“ (Bumke). Es ist nicht meine Absicht, die Rich- tigkeit dieser Anschauung hier zu diskutieren; wahrscheinlich entspricht sie nicht den biologischen Tatsachen (Bumk e); ihre letzte Stütze, die sog. Anteposition, hat sich in der Mehr- zahl der Fälle ebenfalls als statistische Täuschung erwiesen. Ganz anders liegen jedoch die Dinge, wenn wir eine Bevól- kerungsgruppe entartet nennen, die in kórperlicher wie see- lischer Beziehung von der Norm stark abweicht; dies dürfte dem ursprünglichen Wortsinn tatsáchlich gut entsprechen und andererseits in knapper, prágnanter Weise die Tatsachen kennzeichnen. In diesem Sinne ist die neuropathische Familie schwer entartet und bedeutet für die Ge- sellschaft eine der größten Gefahren. Nach unseren Ausfüh- rungen dürfte kaum ein Zweifel bestehen, welches die Quellen dieser Entartung sind: die pathologischen Erbanlagen, die, häufig durch ungünstige EheschlieBungen potenziert, von Gene- ration zu Generation weitergegeben werden. Keimschádigun- gen spielen u. E. eine wesentlich geringere Rolle, wenn auch nach den neueren Ergebnissen der experimentellen Forschung (Alkohol, A. Bluhm) wieder mehr an derartige Noxen gedacht werden muß. Wir kommen also zu einem ganz anderen Er- gebnis als Bumke, der in seinem 1922 herausgegebenen Buche (Kultur und Entartung) feststellt, „daß sich alle nach- weisbaren Degenerationserscheinungen auf äußere soziale Ur- sachen zurückführen“ und daher auch durch Verbesserung der Lebensbedingungen heilen lassen. Ob der Verfasser allerdings auch heute, nachdem eine Fülle neuer erbbiologischer Tat- sachen veröffentlicht wurde, noch auf dem gleichen Standpunkt steht, müssen wir dahingestellt sein lassen. Durch äußere Einwirkungen kann u. E. keine Sanierung der neuropathischen Familie erfolgen; es gibt nur einen einzigen Weg, der Erfolg verspricht, den eugenischen.

II.

ÜBER DIE BEDEUTUNG DER FAMILIENFORSCHUNG FÜR DIE EUGENIK UND DIE NOTWENDIGKEIT EINES METHODISCHEN AUSBAUES.”

ZielbewuBte und erfolgversprechende eugenische Arbeit kann nur auf der sicheren Grundlage einer wissenschaftlich einwandfreien Erbpathologie geleistet werden.

Die menschliche Vererbungsforschung findet sich gegen- über derjenigen an Tier und Pflanze in entschiedenem Nachteil: die hinsichtlich der Mendelanalyse minimalen Kinder- zahlen, die seltenen Generationsfolgen, die hochgradige Ba- stardierung sind methodische Hauptmängel unseres Materials. Diese Mängel sind gegebene Tatsachen, mit denen wir uns abfinden müssen.

Ganz anders steht es jedoch mit einer weiteren Fehler- quelle, nämlich der Qualität unserer Erhebungen.

Die niedrigste Stufe der Familienpathologie stellt die ge- wöhnliche Familien-Anamnese dar. Dies sei an folgendem Beispiel dargelegt:

Bei meinen Untersuchungen über die Familien von 56 Mul- tiple-Sklerose-Kranken wurden insgesamt Erhebungen über 2778 Blutsverwandte angestellt. Von 2006 derselben, die z. Zt. der Untersuchung am Leben waren, konnten 1036 51,6% selbst untersucht werden.

Um mir ein Urteil zu bilden über die Qualität der üblichen, klinischen Familien-Anamnese, verglich ich die Zahl der neurologisch-psychiatrisch auffälligen Fa- milienmitglieder, die in den klinischen Krankenge- schichten der Probanden verzeichnet waren (,,Familien- Anamnesen“), mit den von mir bei systematischer Familien- forschung gewonnenen Zahlen:

*) Unter freundlicher Mitarbeit von Dr. jur. Hans Deichmann.

Die neuropathische Familie 27

Neurologisch-psychiatrisch Auffällige

KR Familienanamnesen Familienforschung

beiEltern, Geschwistern 17 und Kindern

In der engeren Familie wurden also nur 12%,

in dem Gesamtmaterial wurden also nur 3% der Auffälligen durch die gewöhnliche Familienanamnese er- faßt! Außerdem erwiesen sich von den 22 familienanamnesti- schen Meldungen des Gesamtmaterials elf als falsch oder ungenau!

Durch die systematische Familienforschung konnten also unvergleichlich zahlreichere und genauere Feststellungen ge- macht werden, als mittels der gewöhnlichen Familienanamnese. Als Unterlage für erbpathologische Studien müßte diese in Zukunft völlig ausgeschaltet werden; die Frage ist von mir eingehend an anderer Stelle behandelt worden.”

Aber auch die bisher qualitativ hochwertigste Stufe der Familienforschung ist noch weit entfernt von der Methodik des Experimental-Genetikers. Es ist für ihn selbstverständlich, die phänotypische Beschaffenheit seiner Objekte eingehend zu registrieren. Durch diese zwar recht mühevollen, aber unbe- dingt nötigen Befundaufnahmen war es z. B. allein möglich, bei der Obstfliege jene eigenartigen erblichen Beziehungen zwischen der Beschaffenheit von Auge und Flügel u. ä. zu ent- decken. Wir müssen bedenken, daß derartige Korrelationen zwischen Einzelmerkmalen auch in der Pathologie des Men- schen eine große Rolle spielen; ich nenne z. B. die Beziehungen zwischen gewissen Skelettanomalien (Status dysraphicus) und einer im wesentlichen erblichen Rückenmarkskrankheit, der Syringomyelie, oder die Beziehungen zwischen Turmschädel und haemolytischen Icterus usw. Es gibt aber unmittelbar eugenisch noch weit zentralere Fragen der experimentellen Genetik, die in entsprechender Weise analysiert wurden: etwa die Korrelation zwischen Fruchtbarkeit und Lebensdauer einerseits und gewissen körperlichen Merkmalen andererseits;

7) Familienanamnese und Familienforschung. Münchener Med. Wochen schrift 1931. S. 582.

28 Das kommende Geschlecht

auch diese Untersuchungen wurden teilweise an der Obstiliege durchgeführt. Zu ihrer exakten statistischen Verarbeitung war die peinlichste Auszáhlung aller Individuen, auch der nicht geschlüpften oder klein verstorbenen nótig.

Es zeigt sich also, die für den Biologen selbstverstándliche Auszáhlung und Beschreibung aller über- hauptproduzierten Individuen ist die unbedingte Voraussetzung einer exakten Erbanalyse. Dabei handelt es sich bei den Objekten der Zoologen um erbbiologisch relativ einfache, vor allem unter sich einheitliche Individuen, deren Ascendenz seit Generationen bekannt ist. Wie anders beim Menschen: inhomogenes Material, keine oder ganz unvollstán- dige Kenntnisse über die früheren Generationen, schlieBlich die groBen oben dargelegten methodischen Schwierigkeiten.

Wie die Qualität der menschlichen Erbuntersuchungen häufig beschaffen ist," wurde ebenfalls oben auseinanderge- setzt. Selbst die bisher eingehendste Familienforschung ist durch zahlreiche Lücken entstellt.

Es kann gar nicht bezweifelt werden, daß die Erbanalyse vieler menschlicher Merkmale noch sehr im Argen liegt; man vergleiche hierzu etwa die aufschlußreichen Ausführungen von Eug. Fischer in seinem Referat „Versuch einer Gen-Ana- lyse des Menschen“.“ Es gibt hereditäre Krankheiten und normale Merkmale, über deren Erbgang trotz langjähriger mühevoller Studien noch keine Klarheit herrscht. Die erbbio- logische Erforschung von Korrelationen, die gerade für die Aufstellung eines eugenischen Programms besonders erwünscht wäre, steckt noch in den allerersten Anfängen.

Aus den dargelegten Tatsachen ergibt sich die klare For- derung: die menschliche Vererbungsforschung, insbesondere die Erbpathologie muß die einzige Möglichkeit einer Angleichung ihrer Methodik an die experi- mentelle Genetik anstreben, d. h. endlich zu einer lücken- losen Registrierung aller Individuen einer Familie vordringen.

8) Diese Ausführungen beziehen sich auf die Familienforschung. In der Zwillingsforschung wurden von zahlreichen Autoren einwandfreie Schil- derungen der Einzelindividuen gegeben.

?) Zschr. f. indukt. Abstammungs- und Vererbungslehre, Bd. 54.

Die neuropathische Familie 29 Dabei ist zunächst wichtiger, die engste Familie (Eltern, Geschwister und Kinder) vollständig zu erfassen und eine möglichst große Zahl derartiger Familien summierend sta- tistisch zu verarbeiten, als größere Sippen mit den geschil- derten Mängeln aufzunehmen.

Die Forderung nach lückenloser Familienforschung ist schon vor Jahren erhoben worden; so schreibt der um die menschliche Erbforschung so verdiente Kliniker W. Weitz über die Familienforschung: „die Untersuchung soll sich.... nicht auf das zu erforschende Leiden allein, sondern auf den Gesamtstatus erstrecken“; ganz ähnlich der Pathologe Rößle: „bisher ist man in der menschlichen Vererbungsforschung fast ausschließlich von der Verfolgung einzelner pathologischer Erscheinungen ausgegangen, nicht von der Gesamtbetrachtung der Familien; infolgedessen wissen wir auch heute wenig über die innere Verwandtschaft verschieden lokalisierter oder ver- schieden sich äußernder Erkrankungen.“

Daß diese Ratschläge bisher nur recht selten befolgt wur- den, stellt m. E. den methodischen Hauptfehler der mensch- lichen Erbforschung dar.

Bei der Registrierung von Einzelindividuen hat die Human- Biologie gegenüber der Zoologie einen auch von Genetikern hervorgehobenen großen Vorteil: unsere gründlichen Kennt- nisse der Morphologie, Physiologie und Pathologie des Men- schen; die Methoden und Standardwerte sind gegeben; es kommt nur darauf an, sie für die Erbforschung auszuwerten. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Medizin von einer derartig neu orientierten Erbforschung des Menschen starken Gewinn hätte. Dann wird auch die Eugenik die dringend nötigen Unterlagen für ihr Handeln gewinnen.

Treten wir nun der praktischen Auswertung dieser Gedanken näher. Ich möchte sie an Hand meiner eigenen Erfahrungen kurz darstellen und auf Wege hinweisen, die unser Ideal, eine lückenlose Familienfor- schung, verwirklichen könnten.

Die erste Forderung ist restlose Untersuchung aller Le- benden. Sie ist nur dann zu erfüllen, wenn die Probanden ausgelesen werden, und zwar nach dem Gesichtspunkt der Erreichbarkeit; ein Patient, dessen Geschwister in Amerika leben, schaltet für die Familienforschung aus.

80 Das kommende Geschlecht

Wie verhält es sich aber mit solchen Verwandten, die in Deutschland, aber weit entfernt vomWohnort des Untersuchers leben? Diehl’s und v. Verschuer's großzügige Studien an tuberkulósen Zwillingen haben gezeigt, daB in derartigen Fällen nichts anderes übrig bleibt, als die betreffenden Per- sonen aufzusuchen. Auf die Dauer würde jedoch ein derartiges Verfahren groBe Kosten verursachen, es sollte deshalb (wenigstens für die Familienforschung) ein anderer Ausweg gefunden werden.

Professor Siebeck, einer der wenigen Kliniker, die in großzügiger Weise erbpathologische Studien gefördert ha- ben, hat einen wertvollen Vorschlag geäußert: die Befunderhe- bung bei weit entfernten Familienmitgliedern soll dadurch er- móglicht werden, daB über ganz Deutschland (spáter viel- leicht auch das Ausland?) ein Netz „erbbiologischer Untersuchungsstellen“ gespannt wird. Selbstver- ständlich ist hierzu keine Einrichtung neuer Abteilungen oder ähnliches nötig: es muß lediglich erreicht werden, daß erbbio- logisch interessierte und ausgebildete Ärzte sich bereit er- klären, einzelne familienbiologisch wichtige Personen, die innerhalb ihres Bezirkes wohnen, zu untersuchen und die möglichst genauen Befunde dem Bearbeiter des Materials zur Verfügung zu stellen. Durch gegenseitigen Austausch der- artiger Befunde wäre außerordentlich viel gewonnen. Es wäre wohl unerläßlich notwendig, als Leiter erbbiologischer Unter- suchungsstellen solche Ärzte zu wählen, die an Kliniken oder großen Krankenhäusern tätig sind, um die diagnostisch ein- wandfreie Durchführung der Untersuchungen (Röntgenunter- suchungen, evtl. nötige Spezialuntersuchungen durch Fach- ärzte usw.) zu ermöglichen. Zu erwägen wäre auch, inwie- weit die beamteten Ärzte zu einer solchen Organisation heran- gezogen werden könnten.

Es wird sich empfehlen, vorläufig nur wenige erbbiologische Untersuchungsstellen zu schaffen, um die Brauchbarkeit einer derartigen Organisation zu prüfen. Dies hat aber noch den besonderen Vorteil, daß zunächst nur solche Ärzte betraut werden, die sich bereits durch erbpathologische Publikationen als geeignet bewährt haben. Es ist aus später zu erörternden Gründen kaum zu umgehen, diese Erbforscher mit einigen besonderen Befugnissen auszustatten; man wird bei den zu-

Die neuropathische Familie 3l

stándigen Behórden zunáchst williger Gehór finden, wenn ent- sprechende Anträge nicht zu zahlreich einlaufen.

Sehr oft wird man ohne die Auswertung von Akten- material nicht auskommen (Versorgungs-, Sozial-, Krimi- nalakten, Schulberichte usw.); zunächst dann, wenn das Ein- zelindividuum infolge einer längeren Krankheits- oder Sozial- geschichte durch die momentane Befunderhebung nicht genü- gend charakterisiert werden kann, dann bei Verstorbenen.

Es erhebt sich die Frage, in welchem Umfange derartige Aktenunterlagen ausgewertet werden können?

In vielen Fällen stößt die Einholung von Akten oder Be- richten auf große Schwierigkeiten. Im folgenden seien einige Beispiele angeführt.

Die Leiterin eines katholischen Lyzeums weigerte sich, einen unserer Fragebogen zu beantworten, der eine Schülerin betraf, mit der Begründung: „als Amtsperson glaube ich, die Angaben nicht machen zu sollen“. Entsprechend der Direktor eines evangelischen Lyzeums mit der Bemerkung: „Die Schü- lerin ist uns zu treuen Händen übergeben; eine Auskunft kann ichnurder Behörde, nicht einem Forschungs- institut erteilen“. Der Rektor einer Volksschule schrieb: „ich weiß aber nicht, ob die einzelnen Lehrpersonen berechtigt sind, außerdienstlich die gewünschte Auskunft zu erteilen“. Der Rektor einer Lehrerbildungsanstalt verweigerte die erbetenen Mitteilungen über einen Zögling; nur das zustän- dige Ministerium für Kultus und Unterricht sei dazu berechtigt.

Ein anderes Beispiel: um objektive Unterlagen über den schwer psychopathisch-kriminellen Vater einer Multiple- Sklerose-Kranken zu erhalten (wegen Urkundenfälschung er- hielt er 1 Jahr Gefängnis und den schlichten Abschied aus einer höheren Staatsstellung, wegen Ehebruchs wurde er schuldig geschieden), wurde eine Anfrage an das preußische Innenministerium gerichtet mit der Bitte um Mitteilung, bei welcher Stelle die Akten eingesehen werden könnten. Nach Umwegen wurden wir an das Reichsarchiv verwiesen. Dies teilte schließlich mit, daß Abschriften des erst- und zweit- instanzlichen Gerichtsurteils vorhanden seien, „nach den be- stehenden Bestimmungen könne die Einsicht in Personalakten aber nicht gewährt werden“. Die nochmalige aufklärende An- . frage der Direktion der Poliklinik hatte lediglich einen gleich-

32 Das kommende Geschlecht

lautenden BeschluB des Prásidenten des Reichsarchivs zur Folge.

Die verstorbene Tante einer Multiple-Sklerose-Kranken sollte nach Angabe der Familie schwachsinnig und später geisteskrank gewesen sein. Da eine Befunderhebung nach Lage des Falles auf andere Weise nicht zu erlangen war, wandten wir uns an das zuständige Bürgermeisteramt mit einer Anfrage, in der alle wesentlichen Fragen genau aufge- zählt waren. Das Bürgermeisteramt weigerte sich, „Auskünfte der gewünschten Art an Privatpersonen zu erteilen“. Es wurde anheimgestellt, „die Auskunft durch die Direktion der medizinischen Universitätspoliklinik einholen zu lassen“. Man sei alsdann zur Auskunfterteilung bereit. Auf die Anfrage der Direktion lief dann ein eingehender, die Kranke ausreichend charakterisierender Bericht des Ortslehrers ein, der dazu vom Bürgermeister veranlaßt worden war.

Ehe ich zwei weitere, für die juristische Beurteilung wich- tige Beispiele anführe, möchte ich einem naheliegenden Ein- wand begegnen. Man könnte nämlich einwenden, es wäre kein großer Schaden, wenn einige Fälle der endgültigen Klärung entgingen; dieser Standpunkt ist aber durchaus verfehlt; die „lückenlose Familien forschung“ darf keine Kom- promisse schließen, wenn sie wirklich ein unantastbares Ma- terial bereitstellen will, und zwar nicht nur aus den oben dar- gelegten allgemeinen, sondern auch aus speziellen Gründen. Wir fordern meist nur die Akten über Personen ein, die sich aus dem Familienverband dadurch herausheben, daß sie auf- fallend sind oder waren. Wenn ihre Registrierung versagt, ist also eine viel bedenklichere Lücke zu erwarten, als bei unauf- fälligen Familienmitgliedern.

Und nun noch zwei Beispiele, in denen es sich um Akten in Versorgungsangelegenheiten handelt. Wir wandten uns an ein rheinisches Versorgungsamt mit der Bitte, uns die Akten des Schwerkriegsbeschädigten Heinr. M. (schwerer Parkinsonis- mus nach epidemischer Hirnentzündung) zur Einsicht zu über- lassen. Darauf erhielten wir die Rückfrage, „zu welchem Zweck“ die Anfrage erfolge, und ob der M. einverstanden sei. Die Direktion der Poliklinik antwortete, es handle sich um Familienforschung; M. sei psychisch schwer verändert und habe deshalb (beim Hausbesuch) nicht um die Einwilligung

gebeten werden kónnen. Darauf das Versorgungsamt: Obgleich die Aktenabgabe nur mit Einwilligung des Beschädigten erfol- gen darf, werde das Hauptversorgungsamt K. um Entscheidung gebeten. Dies geschah mit einem lángeren Schreiben des Ver- sorgungsamtes an das Hauptversorgungsamt, indem auf den § 59 des Verfahrens-Gesetzes verwiesen wurde, insbesondere darauf, daB ,anderen Personen... ohne Einwilligung der Be- rechtigten die Finsicht in die Akten nur dann gestattet werden kann, wenn ein rechtliches Interesse glaubhaft ge- macht wird". Das Hauptversorgungsamt K. entschied: da nach dem Schreiben der Direktion der Poliklinik anzunehmen ist, „daß die Einsicht in die Rentenakten lediglich zu wissenschaft- lichen Zwecken gewünscht wird, .... bestehen mithin keine Bedenken, dem Wunsch zu entsprechen".

Vorstehendes Beispiel ist, wie ich schon andeutete, vom juristischen Gesichtspunkt aus von Bedeutung. Der $ 59 des „Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen" vom 10. Januar 1922 bestimmt, daß eine Akteneinsicht dritten Personen (also abgesehen vom Beteiligten selbst) nur gestattet werden kann, wenn sie „ein rechtliches Interesse glaubhaft machen können“. Unter rechtlichem Interesse ist aber nur ein privatrechtliches zu verstehen; eine Handhabe, uns die Akten zu überlassen, bietet das Gesetz also nicht. Wie konnte nun das Hauptversorgungsamt K. zu der für uns günstigen Ent- scheidung kommen? Dazu müssen wir einen kurzen Blick in die Ausführungsbestimmungen zu diesem Gesetz’? werfen. Hier ist zu $ 59 des Gesetzes u. a. gesagt (IV), daB „die Leiter der Verwaltungsbehörden (in unserem Falle also das Haupt- versorgungsamt K.) die ihnen unterstellten Beamten allge- mein ermächtigen können, die Akteneinsicht in un- bedenklich erscheinendem Umfange zu ge- statten“. Es besteht kein Zweifel, daß sich das Hauptver- sorgungsamt K. in seiner Entscheidung auf diese Ermächtigung stützt. Benutzung von Akten zu rein wissenschaftlichen Zwecken entspricht eben der „Akteneinsicht in unbedenklich erscheinendem Umfange“. Wir fragen: was steht dem im Wege, daB eine interne Anweisung des Reichsministe- riums des Inneren diese Tatsache einmal allgemein feststellt?

10) Zentralblatt für das deutsche Reich (Reichsministerium des Innern), Jahrgang 50, Nr. 6.

34 Das kommende Geschlecht

Unkenntnis der Ausführungsbestimmungen zeigt daher ein süddeutsches Versorgungsamt, welches entschied: Das Ver- sorgungsamt D. lehnt die Abgabe von Akten ab, da „nach $ 59 des Verfahrensgesetzes . . . . ohne Einwilligung des Beschä- digten oder seines gesetzlichen Stellvertreters keine Einsicht in die Akten gestattet werden“ kann.

Fin Ausweg, wie der vorgezeigte, findet sich leider in anderen Fällen nicht. Wir begegnen sehr oft dem Hinweis auf die Beamtenschweigepflicht (z. B. bei Lehrern), wie sie aus- drücklich im Reichsbeamtengesetz vom 17. Mai 1907 $ 11 ent- halten ist, die aber auch ohne Kodifikation zu den selbstver- ständlichen Pflichten der Beamten gehört. Eine Kodifikation findet sich z.B. auch in der Reichsversicherungsordnung $ 141.

Selbstverständlich ist die Akteneinsicht stets möglich, wenn der Beteiligte seine Einwilligung dazu gibt. Diese ist in vielen Fällen ohne große Schwierigkeiten zu erlangen, wenn sie auch stets eine Verlängerung und Verteuerung der Erhebungen mit sich bringt. In anderen Fällen bedeutet sie jedoch den völligen Ausfall der Unterlagen. Viele der auffälligen Personen stehen nämlich einer Einsichts-Genehmigung in ihre Akten ausge- sprochen negativ gegenüber; ein Renten-Neurotiker z. B. be- fürchtet, daß sein schwebendes Verfahren ungünstig entschie- den werde, ein früher Geschlechtskranker, ein Krimineller sucht zu vermeiden, daB die unerwünschten Tatsachen aus seinem Vorleben zur Kenntnis des Untersuchers gelangen. Viele schließlich werden, sei es durch Apathie, psychopathische Gehemmtheit oder Schwachsinn die Aufforderung zur Einwil- ligungserklärung gar nicht beantworten. Deshalb muß gefordert werden, daB die Abgabe von Aktenmaterial und Berichten auch ohne die Einwilligung des Rubrikaten möglich ist. Wir glauben, daß in allen Fällen, wo es sich um die Auskunfterteilung bezw. die Akten- überlassung durch Beamte handelt, mit generellen Anweisun- gen der zuständigen Ministerien im Sinne der Ausführungs- bestimmungen des oben angeführten Gesetzes geholfen wäre. Denn in den allermeisten Fällen sind die Vorgesetzten berech- tigt, den einzelnen Beamten von der Schweigepflicht zu be- freien. Durch deren Entscheidung nimmt man außerdem dem Einzelnen die Verantwortung für die für Laien oft nicht leicht zu treffenden Entscheidungen.

Die neuropathische Familie 35

Wenn, wie wir oben ausführten, nur wenigen, erbbiologisch: besonders qualifizierten Ärzten die behördliche Unterstützung. der Familienforschung erteilt wird, so kann ein Mißbrauch aus der Akteneinsicht nicht erwachsen. Zudem kónnte dem durch besondere Einzelbestimmungen evtl. auch noch entgegenge- arbeitet werden.

Wenn die vorgeschlagenen Sammelstellen eingerichtet sind, wáren die Behórden nur anzuweisen, mit tunlicher Beschleu- nigung die angeforderten Akten oder Berichte an die erbbio- logische Sammelstelle abzugeben. Die Ablehnung der Akten- Ausgabe hátte, wenn nicht ganz besondere, náher zu um- reiBende Fälle vorliegen, gegenüber den erbbiologischen Unter- suchungsstellen ganz zu unterbleiben.

Nicht so einfach ist die Frage beim ärztlichen Be- rufsgeheimnis. Viele Ärzte werden sich gegen den Ge- danken sträuben, daß hier Konzessionen gemacht werden, und doch liegen die Dinge gar nicht kompliziert. Die überwiegende Mehrzahl aller Kollegen stellte mir anstandslos ihre Notizen oft in recht ausführlicher Form zur Verfügung. Ich hatte dies auch gar nicht anders erwartet, da ja zwischen Ärzten auch sonst Befundberichte ohne Bedenken ausgetauscht wer- den; handelt es sich hier darum, einen schwierigen Einzelfall zu klären, so liegt bei der Familienforschung prinzipiell nichts anderes vor: die erbbiologische Analyse des Probanden. Und trotzdem müßte man erreichen, daß alle Ärzte veranlaßt wer- den, ihr Material den erbbiologischen Untersuchungsstellen zur Verfügung zu stellen.

Vom juristischen Standpunkt ist hierzu folgendes zu sagen. Die Schweigepflicht der Ärzte beruht auf $ 300 StGB., der den Ärzten sowie ihren Gehilfen verbietet, „Privatgeheimnisse unbefugt zu offenbaren“. Nun ist es aber herrschende und selbstverständliche Ansicht, daß ein Arzt, der sein eigenes Material wissenschaftlich natürlich ohne Namensnennung oder andere Angaben, die die Identifizierung des Patienten ermöglichen veröffentlicht, nicht „unbefugt offenbart“, was ihm anvertraut ist.““ Wenn der Arzt nun sein Material einem

1) Vgl. v. Ohlshausen’s Kommentar zum StGB (11. Aufl. 1927)

zu $ 300, Anm. 91, S. 1689. Frank, StGB. (18. Aufl. 1931) zu $ 300, Anm. IV, S. 702. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts (25. Aufl. 1927). $ 120 III 1, S. 50. G. Aschaffenburg, Berufsgeheimnis

(8 300 StGB.) u. Psychiatrie, ärztl. Sachv.-Zeitg. 1901, H. 23, S. 476.

36 Das kommende Geschlecht

Kollegen zur wissenschaftlichen Ausbeutung überláBt, so wird dieser automatisch zum Gehilfen des praktischen Arztes und ihn bindet dann in gleicher Weise der $ 300 StGB. Damit sind Mißbräuche ausgeschlossen.“ Vielleicht könnte diese Frage gefördert werden, wenn sich die ärztlichen Standes- organisationen ihrer aufklärend annáhmen.

Ich komme jetzt zu einer bedenklichen Fehlerquelle der Familienforschung, deren Beseitigung wahrscheinlich auf die größten Schwierigkeiten, stoßen wird. Zahlreiche Ärzte, selbst kleinere Krankenhäuser machen keinerlei Aufzeichnungen über ihre Patienten! In diesen Fällen kann natürlich keine Auskunft erwartet werden. Es läge aber auch im Interesse der Morbi- ditäts-Statistik, der Seuchenbekämpfung und mancher anderer sozial-medizinischer Arbeitsgebiete, wenn hier Wandel ge- schaffen würde: jeder Arzt wäre zu verpflichten, alle wesent- lichen Erkrankungen neben genauen Personalien wenigstens kurz zu registrieren. Auch dies wäre eine Aufgabe für die ärztlichen Standesorganisationen. Weiterhin müßten Ärzte, insbesondere aber Krankenhäuser und Kliniken dazu ange- halten werden, ihre Krankengeschichten und Notizen nicht zu vernichten. Falls sie selbst das Material nicht aufheben können, sowie im Falle des Ablebens, wäre das so gesammelte Material der Sammelstelle zu übergeben, welche die Sichtung und Ver- nichtung des Überflüssigen zu übernehmen hätte. Das gleiche muß für Behörden wie Versorgungsämter, Gerichte usw. ge- fordert werden.

Wertvolles Materialist durch Einstampfen von Krankengeschichten und sonstigen Akten verloren gegangen: es ist endlich an der Zeit, diese für die erbpathologische Forschung unersetzlichen Quellen zu fassen.

Ein Punkt muB noch besprochen werden, die dringende Not- wendigkeit einer engeren Zusammenarbeit von Anatomie und genealogisch orientierterKli- nik! Es wurde darauf zwar schon wiederholt hingewiesen,

12) Die gleiche Ansicht vertritt v. Ohlshausen a. a. O., Z. $ 300, Anm. 8, dritter Absatz, S. 1682: „Ein Arzt kann das Privatgeheimnis einem zweiten Arzt ohne Genehmigung des Patienten mitteilen, auch ohne ihn zur Mitbehandlung zuzuziehen...", da diesem die gesetzliche Verschwiegen- heitspflicht ebenfalls obliegt.

Die neuropathische Familie 37

und es liegen als Ergebnis derartiger Bestrebungen eine Reihe wertvollster Untersuchungen vor; dennoch ist dieser Zweig des Forschungsbetriebes noch dringend reformbedürítig. Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden; ich greife nur einen, wie mir scheint, wichtigsten Punkt heraus. Es lie- gen dank der Bemühungen mehrerer Forscher über Erbkrank- heiten, insbesondere solche des Nervensystems, heute schon zahlreiche genealogisch-klinische Erhebungen vor. In diesen Familien finden sich aber zahlreiche Fälle, die zwar klinisch genau untersucht, aber aetiologisch-pathogenetisch ungenügend geklärt sind. Dies betrifft besonders einzelne Krankheiten, meines Erachtens in besonderem MaBe den Schwachsinn. Das Wort „Idiotie“ z. B. besagt uns in ursáchlicher Hinsicht zu- nüchst gar nichts. Dieser Zustand kann auf áuBere Schádigun- gen (insbesonders die elterliche Syphilis, intrauterine Gehirn- entzündungen, schwere Geburtsschädigungen usw.), wie auch auf rein oder z. T. erbliche Fehlentwicklungen zurückzufüh- ren sein (amaurotische Idiotie, tuberóse Sklerose, diffuse Skle- rose, Porencephalie usw.). All diesen Dingen kommt aber in theoretischer (Pathologie, Vererbungswissenschaft) wie auch in praktisch-eugenischer Hinsicht eine ganz verschiedene Be- deutung zu. Man denke nur an die ungeheure Wichtigkeit der Keimschádigungs-Forschung! So lange wir noch so auferor- dentlich wenig über dies Kapitel wissen, kónnen wir unmóglich zu einer planmäßigen Bekämpfung der Keimschädigungen, ins- besondere der Schwachsinnsentstehung vordringen.

Es ist also zu fordern, daß Idioten oder sonstige Schwachsinnige, die in den Stammbaum-Aufzeich- nungen eines Forschers oder eines Instituts verzeichnet sind nachdem Todeauchautoptischeingehend untersucht werden.

Die Bedingungen zur Verwirklichung dieses Ziels liegen be- sonders günstig, da fast alle Idioten in Anstalten untergebracht sind. In den zu schaffenden erbbiologischen Sammelstellen wären besondere Listen derartiger Personen zu führen, in denen sich ein genauer Vermerk über die betreffende Anstalt findet. Die Anstaltsleitung müßte über die besondere Wich- tigkeit der betreffenden Zóglinge unterrichtet und dahin ver- stándigt werden, daB der zustándigen Sammelstelle unmittel- bar nach dem Tode des Schwachsinnigen auf kürzestem Wege

38 Das kommende Geschlecht

(Telephon, Telegraph) Meldung zu machen ist. Diejenigen An- stalten, welche über besondere histopathologisch geschulte Prosektoren verfügen, werden an Ort und Stelle die nótigen Untersuchungen vornehmen kónnen; wo das nicht der Fall ist, muB ein besonderer Dienst organisiert werden, um die Autop- sie von einem sonstigen, in der Nähe erreichbaren Hirnanato- men ausführen zu lassen. Es könnte scheinen, daß diese For- derungen zu selbstverständlich wären, um programmatischer Ausarbeitung zu bedürfen. Leider ist dies nicht der Fall! Ich kenne eine ganze Reihe von Fällen, wo in Anstalten die autop- tische Beurteilung verstorbener Idioten unterblieb, über deren Familien eingehende, mühevoll zusammengetragene genealogi- sche Unterlagen vorliegen. In Einzelfällen stießen auch meine entsprechenden Bemühungen auf verständnislosen Widerstand. Hier kann nur eine straffe Organisation Wandel schaffen. Die Wissenschaft wie die Praxis werden von einer solchen syste- matisch betriebenen, genealogisch - anatomischen Forschung weitgehende, in ihren Ausmaßen noch gar nicht zu über- blickende Förderung erfahren.

Das Gleiche, was ich für die Idiotie ausführte, gilt auch für die Epilepsie und, mutatis mutandis, für eine Reihe an- derer Krankheiten und Anomalien.

Schließlich muß noch auf die Probanden selbst hingewiesen werden. Es ist manchmal recht schwer, ja unmöglich, die vor- handenen Widerstände zu überwinden. In solchen Fällen bleibt nichts anderes übrig, als die betreffenden Familien von der Bearbeitung ganz auszuschließen. Hier erwächst der Verbrei- tung richtiger Vorstellungen über die Bedeutung der Erbfor- schung eine große Aufgabe. Außerordentlich viel ist schon geschehen, besonders durch die unermüdliche Tätigkeit von Professor Hermann Muckermann, dann durch beson- dere Vereinigungen, wie den früheren Bund für Volksaufartung, die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene (Eugenik) usw. Höchst bedauerlich ist der Umstand, daß dem heranwachsen- den Arzt während seines Studiums keinerlei Gelegenheit zur Frwerbung einiger erbpathologischer Kenntnisse gegeben ist. Die Überfüllung des Stundenplans macht die Einführung eines neuen Lehrgegenstandes fast zur Unmöglichkeit. Es wäre zu erwägen, ob nicht durch Einschränkung anderer Lehrgebiete oder durch Einbau erbpathologischer Unterweisungen in sonsti-

Die neuropathische Familie 39

gen Vorlesungen dem Übel abgeholfen werden kónnte; in erster Linie wären Hygiene oder innere Medizin berufen, den Schritt- macher abzugeben. M. v. Gruber hat sich für derartige Be- strebungen bekanntlich aufs lebhafteste eingesetzt.

Die Ablehnung erbpathologischer Durchforschung seitens einzelner Probanden und ihrer Familienmitglieder ist bei man- chen Leiden wenig nachteilig. Liegt uns z. B. daran, die Fa- milien von Stoffwechsel- oder Kreislaufkranken zu untersu- chen, so werden die „negativen“ Familien leicht durch andere ersetzt werden kónnen, ohne daf eine einseitige Auslese zu be- fürchten wáre.

Ganz anders dagegen bei Personen aus neuropathischen Fa- milien, wie wir sie oben geschildert haben. Kriminelle und sonstige Asoziale und ihre Familienmitglieder werden beson- ders ablehnend sein, wenn sie aus stark belasteten Familien stammen; aber auch das Umgekehrte ist denkbar: die schwerst Degenerativen sind oft von einer Indolenz, die moralisch höher Wertigen abgeht. So ist die Gefahr gegeben, daß die Mate- rialsammlung zu einseitigen Ergebnissen führt. Diese Unter- suchungen stellen aber, wie oben eingehend dargelegt wurde, die Hauptaufgabe des eugenisch orientierten Familienforschers dar, und es muB gefordert werden, daß hier ein ganz beson- ders reines und groBes Material zusammengetragen wird.

Auch hier kónnte bis zu einem gewissen Grade Abhilfe ge- schaffen werden:

Zunáchst durch eine systematische Ver- bindung erbpathologischer und fürsorgeri- scher Arbeit. Die von öffentlichen Organen erfaßten Ab- normen müßten veranlaBt werden, ihre engste Familie der Un- tersuchung zuzuführen. Auf diese Weise wird sicher mancher schwere Milieuschaden ausgeschaltet werden und zugleich wird dem Erbpathologen die lückenlose Sammlung auslesefreien und gut untersuchten Materials ermóglicht. Man denke etwa an die bis ins feinste ausgebaute Tuberkulosefürsorge, um anzuerken- nen, daß hier nichts Unmögliches gefordert wird.

Endlich wäre ins Auge zu fassen, ob Fürsorge, Öffentliche Krankenhilfe usw. nicht auf eine unauffällige, die Privatsphäre des einzelnen nicht zu stark bedrohende Weise von der Bereit- stellung des für die Sammelstelle wichtigen Materials abhän- gig gemacht werden könnten. Ich bin mir bewußt, damit eine

40 Das kommende Geschlecht

sehr heikle Frage aufgeworfen zu haben, von deren endgülti- ger Beantwortung ich daher absehen muB.

Zusammenfassung von Teil II.

Fassen wir noch einmal kurz das Ergebnis unserer Untersuchung zu- sammen:

Die bisherige Methode der medizinischen Genealogie ist unzureichend; sie muB ersetzt werden durch die ,lückenlose Familienfor- schung“, die sich nur auf die restlos untersuchte Familie zu stützen hat.

Um der lückenlosen Familienforschung die Arbeit zu erleichtern bezw. zu ermöglichen, schlagen wir Folgendes vor:

1. Die Errichtung erbbiologischer Untersuchungs- und Sammelstellen.

2. Das notwendige Aktenmaterial muB den Stellen unter 1 bezw. den mit Familienforschung beschäftigten Ärzten vollständig zugänglich gemacht werden, und zwar

a) bei Akten in Versorgungsangelegenheiten durch einen Hinweis des Reichsministeriums des Innern auf die Ausführungsbestimmungen zu $ 59 des Verfahrens-Gesetzes, welche die Überlassung von Ak- ten auch an Unbeteiligte ermöglichen,

b) durch Anweisungen der zuständigen Reichs- und Landesministerien an die übrigen für Akten-Überlassung in Frage kommenden Ver- waltungsbehörden (z. B. Landesversicherungsämter, Schulbehör- den etc.) im Sinne der Ausführungsbestimmungen des oben zitierten Gesetzes. |

3. Die ürztlichen Standesorganisationen sollen aufklárend dahin wirken, daB alle Ärzte ihr Material den unter 2 benannten Stellen zugänglich machen. Dabei ist darauf zu verweisen, daB dies keine unerlaubte Durchbrechung der ärztlichen Schweigepflicht darstellt, und daß nicht der mitteilende Arzt, sondern der Arzt, der das Material in falscher Weise verwerten würde, sich nach 8 300 StGB. strafbar machen würde.

Aus 2 und 3 ergibt sich, daB keine juristischen Bedenken bestehen, wenn die Auskunftserteilung bezw. die Vorlage von Akten in dem von uns vorge- schlagenen Umfange ohne Einwilligung des Rubrikaten erfolgt.

4. Akten, Krankengeschichten etc. müssen vor der Vernichtung für die Familienforschung ausgewertet werden, indem die Sichtung und Vernichtung den erbbiologischen Sammelstellen übertragen wird.

5. Die Bedeutung der Familienforschung muß in möglichst weite Kreise getragen werden. |

a) Durch Fortsetzung der schon jetzt so erfolgreichen Aufklärungs- arbeit.

b) Durch erbpathologische Unterweisung der Medizin-Studierenden.

6. Es muB angestrebt werden, die öffentliche Fürsorge-Arbeit für die Familienforschung auszuwerten.

DAS KOMMENDE GESCHLECHT

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Wie behüten wir die Familie vor Gefdhledhistranthelten, Tuber: kuloſe und Alkoholismus? Kr: 2, M. 1.80). Wie bewahren wir die familie vor ben Gef chlechts krankheiten d Doffen) / Wie überwinden wir den Einfluß der Tuberkuloſe auf die Familie der Ge⸗ genwart? (Bönniger) / Wie behüten wir die Familie vor dem Einfluß des Alkoholis⸗ mus? (Bluhm) / Geſchlechtliche Sittlichkeit / Auf dem Wege zur Ehe / Kinderſchickſale ehelich und unehelich Geborener / Doſtojews kis Kritik der Proftitution(Mucdermann). Wohnung und wiriſchafiliche Gicherung der naturtreuen Normalfamilie (Doppelheft 5/4, M. 1.80). Cohn und Wohnung (Kohn) / Um das Kleinhans (Paulſen) / Wie ift die Wohnungs: und MEA im Dienfte ber naturtreuen Normal⸗ familie zu geftalten? (Briefs⸗Weltmann) / Wie ift die wirtſchaftliche Sicherung der naturtreuen Normalfamilie zu gewinnen? (Joos) / Das Reichs mietengeſetz und die kinderreiche Familie (Schmitz) / Umſchau und Bücherbeſprechungen. *

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| M. 1 1933

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ITSCHRIFT FÜR EUGENIK ERGEBNISSE DER FORSCHUNG

herausgegeben von Prof. Dr. Eugen Fischer, Direktor des Kalger baee sue Instituts für

von Verschuer, Lelter der Abteilung für menschliche Erblehre im gleichen Institut

BAND VII, HEFT 3

DIE EUGENISCHE BEDEUTUNG DES SCHWACHSINNS

von

Professor Dr. JOHANNES LANGE

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E FERD. DUMMLERS VERLAG - BERLIN UND BONN

DAS KOMMENDE GESCHLECHT

erscheint in freier Folge. Sechs Hefte bilden einen Band, Die Verantwortung für die einzelnen Beitráge dieser Zeitschrift tragen die Verfasser selber. Alle Zuschriften, die die Schriftleitung betreffen, sind zu richten an die Abteilung Eugenik, Kaiser Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik zu Berlin-Dahlem. Da in jedem Heft wie im vor- liegenden ein Grundgedanke durchgeführt werden soll, wird dringend ge-

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Ferd. Dümmlers verlag, Berlin SW 68 und Bonn

Dieses Heft wurde ausgegeben im März 1933 |

DIE EUGENISCHE BEDEUTUNG DES SCHWACHSINNS

Von Professor Dr. Johannes Lange, Breslau. Mit 8 Tafeln.

In seinem Lehrbuch der Geisteskrankheiten schreibt Bumke Oktober 1929: Es ist „nicht ganz sicher, ob es eine im eigentlichen Sinne ererbte Imbezillitát oder richtiger: De- bilitàt überhaupt gibt. Immerhin spricht manches dafür, daB auch eine Imbezillität durch Idiokinese zu entstehen und sich dann zu vererben vermag. Über den Erbgang wissen wir frei- lich beinahe noch nichts.“ Wenige Monate später wartet Brugger mit genauen Erbproportionen auf, im gleichen Jahre legt Smith sein schwachsinniges Zwillingsmaterial vor und kurz darauf beschäftigt sich Luxenburger mit so speziellen Fragen wie der Manifestationswahrscheinlichkeit des erblichen Schwachsinns und den Letalfaktoren, um schlieB- lich auf Grund aller vorliegenden Untersuchungen eine sehr bestimmte Meinung über den Erbgang des Schwachsinns zu äußern.

Wer das Schrifttum nicht kennt, könnte darnach meinen, daß wir in wenigen Jahren ganz außerordentliche Fortschritte gemacht haben. Denn zwischen dem „beinahe nichts" von Bumke und den Aufstellungen Luxenburgers ist ein tiefer Abgrund. Wenn man aber berücksichtigt, daB Bumke auf Davenport und Danielson sowie Goddard selbst hinweist und daß ihm Reiters und Osthoffs Unter- suchungen ebenso wenig entgangen sein dürften wie Lokays klare Ergebnisse an Münchener Material, dann sieht die Sach- lage plótzlich ganz anders aus. Und wenn Bumke vor kur- zem in einer Diskussionsbemerkung über seinen früheren Standpunkt hinausgehend bekundet hat, man dürfe doch wohl sagen, daß es ererbte Schwachsinnsformen gebe, so leitet Häfner aus seinen „Informationen“ und dieser Bemerkung die Meinung her, daß die erbbiologischen Fragen im Schwach- sinnsgebiet von einer Lósung noch weit entfernt seien. Ge- rade diese Auffassung macht es ihm leicht, mit Einsatz eines

2 Das kommende Geschlecht

ganzen Arsenals von vorwiegend allerdings affektiven Grün- den gegen die angeblichen Übergriffe der Eugenik Sturm zu laufen. Bei solchem Stand der Meinungen ist eine Aufrollung des Fragenkreises dringend angezeigt. Es handelt sich ja um sehr ernste Probleme.

Als Oligophrene, d. h. als Leute, in deren Hirn wenig los ist, faBt Kraepelin die Menschen zusammen, die hier ge- meint sind. Das ist bestimmt noch die beste Begriffsbestim- mung, so wenig sauber sie auch erscheint. Im übrigen gren- zen alle Sachverstándigen die Schwachsinnigen nach dem Intelligenzmangel ab, wenn damit die klinischen Erscheinun- gen auch nicht erschöpft sind.

Es liegt darnach nahe, zunächst einmal nach der Er bli c h- keit der Intelligenz zu fragen in der Hoffnung, daß von hier aus Licht auf die Erblichkeitsfragen im Schwachsinnsge- biet fallen kónnte. Leider wird dadurch das Problem nicht we- niger schwierig. Es gibt ebenso viele Definitionen des Be- griffes Intelligenz wie Forscher, die sich um seine Klärung bemüht haben, ja es ist nicht einmal leicht, sich in eines der beiden Hauptlager zu schlagen. Die eine Gruppe von Sach- verständigen sieht nämlich vor allem etwas Zentrales, Ganz- heitliches in der Intelligenz, das ebenso wie der Begriff Per- sónlichkeit eine additive Betrachtung schlechterdings nicht zulassen soll; die andere Gruppe denkt an nichts Ganzheit- liches, sondern an zahlreiche, einzelne, voneinander gesonderte Fáhigkeiten nebeneinander, wie etwa Ziehen, der unter In- telligenz „das Gedächtnis in seinen mannigfachen Unterarten, die Ideation und die sogenannte Kombination‘ versteht. Dabei verschmilzt für die erste Gruppe die Intelligenz in unlösbarer Weise mit dem Ganzen der Persönlichkeit. Persönlichkeit und Intelligenz aber bleiben für uns, wie Jaspers sagt, „immer in hohem Grade unklare Begriffe“. „Sie sind Ideen eines Un- endlichen“. „Das Ganze aller Begabungen, aller Talente, aller Werkzeuge, die zu irgend welchen Leistungen in Anpassung an die Lebensaufgaben brauchbar sind, nennen wir Intelli- genz.“

Da uns das Ganze als solches wissenschaftlich nicht faß- bar ist, müssen wir uns an die Analyse halten, und wir wollen dies immer im Hinblick auf die Erblichkeit tun. Bei der Be- trachtung von Einzelbegabungen aber, von Talenten,

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 3

von Werkzeugen des Seelenlebens stehen recht klare Tat- sachen vor uns. Wir sehen Sonderbegabungen in ausgespro- chenem Maße erblich, etwa die musikalische Begabung nicht bloß in der Familie Bach, sondern in zahlreichen genau be- forschten Stämmen, die mathematische Begabung bei den Bernouillis und vielen anderen, hohe bildnerische und dich- terische Talente bei mehreren Blutsverwandten, etwa bei den v. Eyck, Mieris, Teniers einerseits, den Corneille und Cole- ridge andererseits, höchste technische und erfinderische Be- gabungen etwa bei den Siemens und den Krupp, familiäre ge- niale naturwissenschaftliche Begabung etwa bei den Vettern Darwin und Galton. All dies ist aber bei den Großen nur be- sonders deutlich; es fehlt auch bei den Kleinen nicht, wenn wir nur darnach fragen. Ja wir sehen hier selbst kleine Züge der Intelligenz erblich, wie etwa die Begabung zu Wortwitzen. Vater, Mutter, Geschwister, Onkel oder Großeltern werden als gleichbegabt genannt, wenn wir nach diesem oder jenem kleinen Talent forschen.

Ganz das Gleiche gilt aber auch für unsere Intelligenz- lücken. Wie gescheit einer ist, das merken wir erst an den Dummheiten, die er gelegentlich macht; besonders aber an den allzeit leeren Stellen, die fast jeder von uns in sich birgt, den „partiellen Idiotien“ im Sinne von Reichardt. Wer ist unter uns, der nicht auf mathematischem, auf tech- nischem, auf sprachlichem, auf musikalischem, dichterischem oder bildnerischem Gebiete ein Idiot oder doch so etwas wie schwachsinnig wáre? Einer meiner Vorgánger konnte noch nach langen Jahren in seiner Klinik von keiner Stelle des Hau- ses aus sagen, nach welcher Richtung die Strafe liegt, und er verlief sich unweigerlich auch in den klarsten räumlichen Ver- hältnissen; und einer meiner Lehrer konnte alles behalten, ganze Lebensläufe seiner Patienten mit zahlreichen Einzel- heiten, ihre Gesichter und ihre Unterbringung in den Kranken- räumen, nur ihre Namen nicht. Jeder von uns aber kennt zu- gleich diesen oder jenen Angehórigen, bei dem ganz gleich- artige Defekte vorgelegen haben wie bei ihm selbst. Selbst von den Großen im Reiche des Geistes kennen wir manche bleibende partielle Dummheit.

Auf der anderen Seite wissen wir von allgemein tief schwachsinnigen Menschen, die einmal gehórte lange Predig-

4 Das kommende Geschlecht

ten Wort für Wort aufzusagen vermógen, die erstaunliche rechnerische Leistungen vollbringen und die im Nu sagen kónnen, welcher Wochentag etwa am 17. 2. 1956 sein wird oder am 2. 9. 1850 war. Es gibt musikalische Idioten und Schwachsinnige mit ungewóhnlichem Bildnertalent.

Vor allem aber kennen wir klinisch verschieden- artige Typen offenbar erblichen Schwachsinns. Ich meine hier nicht die klar gezeichneten Gruppen der amau- rotischen Idiotie, der tuberósen Sklerose, des Mongolismus, die aus einem Kollektiv Schwachsinniger leicht ausgeschaltet werden kónnen; ich meine auch nicht den Kretinismus und die mit anderen endokrinen Anomalien verbundenen Infantilismen. Vielmehr lassen sich auch aus dem verbleibenden großen Rest klinische Sonderformen herausheben, die sich nicht etwa auf Temperaments- oder Charakterunterschiede zurückführen lassen, sondern offenbar auf Differenzen in den Grundlagen der Intelligenz selbst beruhen. Erwähnt seien etwa jene gern mit Mikrocephalie verbundenen Formen, die gewissermaßen einer vollen Regulation auf tiefem Niveau entsprechen, ferner die formal begabten ausgesprochen Schwachsinnigen mit ei- ner Fülle leeren Wissens, die in jeder konkreten Situation ver- sagen; ich denke weiter an die Gedächtnis- und Lern- schwachen und an jene Imbezillen vom Typ des Mongoloids, die rasch auffassen, ganz gut merken, aber gar nichts mit ihrem Gedächtnismaterial anzufangen wissen. Es gibt be- stimmt noch manchen anderen Typ von Schwachsinn. Daß alle diese verschiedenen Gruppen erblich identisch sein soll- ten, ist nach unseren sonstigen Erfahrungen nicht eben wahr- scheinlich.

Wenn wir all das bisher Ausgeführte überdenken und noch dazu ins Auge fassen, daß auch die Talente nicht etwa schlechthin als Ganzes fortgegeben werden, sondern nach neueren Untersuchungen unzweifelhaft auch erblich höchst verwickelt aufgebaut sind, dann kommen wir zu dem Schluß, daß ganz bestimmt die „Intelligenz“ erblich nichts Einfaches ist. Wir müssen vielmehr eine hochgradige Po- Iymerie annehmen. Und wir haben allen Anlaß zu vermuten, daB wir auch im „Schwachsinn“ nichts Einfaches vor uns haben. Vielmehr werden wir auch hier, wenigstens für einen

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 5

Teil der Schwachsinnszustände, mit polymerer Entstehung rechnen müssen.

Zugleich müssen wir uns jedoch daran erinnern, daß etwa Goethe nicht bloß mit Lucas Cranach und dem hochbegabten europäischen Fürstenhaus verwandt ist, sondern unter ande- ren auch mit den Gebrüdern Schlegel, mit Rudolf Binding, aber auch mit Sigrid Onegin. Und Goethe steht keineswegs allein. In vielen Familien unseres unmittelbaren Umkreises sehen wir ausgezeichnete Leistungen verschiedener Blutsverwand- ter, nicht auf den gleichen, sondern auf den verschiedensten Gebieten. Bedeutende Männer sind in der Regel mit anderen bedeutenden Mánnern verwandt, nur daf diese vielfach in ganz anderen Schaffenszweigen Hervorragendes leisten. Ich erinnere etwa an die Mendelsohn und die Coleridge, vor allem aber an das sehr umfangreiche Material, das sich in dieser Hinsicht in Galtons Hereditary genius findet. Gewif läßt sich fast in allen den einzelnen von Galton betrachteten Sondergruppen zunächst der Nachweis spezifisch ähnlicher Familienbegabung führen, daneben finden sich aber in einem sehr hohen Prozentsatz der Familien ganz andersgerichtete, nur gleichfalls sehr hohe Begabungen. Hier haben wir also ein sehr starkes Argument für die Annahme, daß in dem, was wir als Intelligenz begreifen, doch ein zentraler Faktor stecken könnte, der vielleicht neben hochausgebildeten spe- ziellen Werkzeugen als Ganzes erblich fortgegeben wird. Doch muß dies keineswegs so sein. Wir sehen ja auch sonst in un- serem Umkreis, daß die intellektuellen Niveauunterschiede der Ehegatten nicht allzu große zu sein pflegen. Es kommt hinzu, daß, wenigstens bis in die jüngste Zeit hinein, das Heiraten auf annähernd dem gleichen sozialen Niveau die Regel war, und wir haben sehr erhebliche Stützen für die Annahme, daß im großen Ganzen den sozialen Unterschieden solche der In- telligenz parallel gehen.

Dies schließt aber natürlich einen zentralen einfach erb- lichen Faktor keineswegs aus. Bei manchen erblichen Krank- heiten sehen wir ja, daß ein monomeres erbliches Merkmal im Individualleben tiefen Schwachsinn, regelmäßig oder doch überwiegend häufig, herbeiführt, so etwa die einfach do- minante Erbchorea oder die rezessive amaurotische Idiotie. Kónnen wir hier auch grobe Hirnveránderungen feststellen,

6 Das kommende Geschlecht

die beim einfachen Schwachsinn zu fehlen pflegen, so weisen uns diese Erbkrankheiten doch darauf hin, daß erblicher Schwachsinn nicht polymer entstehen muß, sondern auch monomer, wenn auch anatomisch für uns nicht oder noch nicht greifbar, möglich ist.

Ob aber nur Summe oder aber ob Ganzes neben der Summe der Einzelwerkzeuge als erblich angenommen werden kann, auf jeden Fall bleibt nur die Annahme, daß Intelli- genzerblichnichtsEinheitliches und nichts Ein- faches ist, und wir werden dies auch von den Schwach- sinnszuständen nicht erwarten können. Es erscheint also bedenklich, in genealogischen Untersuchungen „Schwach- sinn“ als einheitliches Merkmal zu nehmen, wie dies bisher geschehen ist. Auf der anderen Seite ist aber unzweifelhaft klar, daß, was wir dem allgemeinen Sprachgebrauch nach In- telligenz nennen, erblich wesentlich mitbedingt sein muß, da wir ja die erbliche Fortgabe zahlreicher Spezialtalente ebenso wie zahlreicher Defekte, hoher Allge- meinbegabungen wie bestimmter Demenzprozesse mit Be- stimmtheit nachzuweisen vermögen.

Gibt es einen einheitlichen und klaren Begriff Intelligenz nicht, fehlt uns beim Durchschnitt der Menschen auch große Leistung, Berühmtheit oder aber herausgehobene Lebens- stellung als unzweideutiger Maßstab der Intelligenz, so wissen wir doch ohne weiteres, was mit den Worten Schwachsinn und Intelligenz gemeint ist, und im Umgang mit Menschen sind wir praktisch selten im Zweifel, ob wir es mit einem Klugen oder mit einem Dummkopf zu tun haben. Zudem haben wir zum mindesten in der Vorgeschichte eines jeden auch einen im ganzen offenbar recht gut brauchbaren Maßstab für die Gesamtintelligenz, nämlich in den Schulerfolgen. Man mag darauf hinweisen, daß die Schulerfolge von manchen Großen des Geistes bescheidene gewesen sind, wie etwa O s t- wald dies mit Nachdruck getan hat; man mag auf der an- deren Seite auf den berüchtigten Primus omnium hinweisen, der im Leben immer versagen soll; aber es kann doch zugleich kein ernstlicher Zweifel sein, daß im allgemeinen der einzelne hält, was er in der Schule verspricht. Gewiß spielen für die

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 7

Schulleistungen Charaktereigenschaften eine große Rolle, und es sind hier Fähigkeiten bedeutsam, die als solche noch nicht intelligentes Verhalten gewährleisten, wie etwa Gedächtnis und reine Lernfáhigkeit. Im Durchschnitt aber versagt er- fahrungsgemäß in der Volksschule nur derjenige grob, der unterdurchschnittliche Fähigkeiten auf vielen Einzelgebieten hat; und wer ganz ohne Anstand die Schule durchmacht, kann haltlos, asozial oder befehlsautomatisch und damit lebens- untauglich sein, nicht aber ein Dummkopf im Sinne dessen, was wir unter Schwachsinn verstehen. |

Bei allen Einschränkungen im einzelnen können wir also der allgemeinen Erfahrung nach die Schulerfolge als Maßstab der Intelligenz gebrauchen, und wenn wir hier Kinder mit El- tern, Geschwistern und Großeltern vergleichen, dann sehen wir so hohe und in ihrer Art so klare Korrelationen, daß da- durch auf der einen Seite die Brauchbarkeit des Maßstabes dargetan, auf der anderen Seite auch die Erbbedingtheit der Grundlagen für die Schulleistungen bewiesen wird. In Deutschland hat vor allem Peters ausgedehnte Untersuchun- gen dieser Art gemacht. Die Leistungen der von ihm unter- suchten Kinder wichen in der gleichen Richtung vom Durch- schnitt ab, wie jene der Eltern und der Großeltern, wenn auch nicht in dem gleichen Maße. Die Geschwister waren einander unähnlich, wenn auch die Eltern dies waren. Hatten die El- tern annähernd gleiche Leistungen aufzuweisen, dann wichen die der Kinder in der Richtung der Großeltern vom Mittel ab. Auch die Geschwisterähnlichkeit war eine erhebliche. P e- ters ist der Meinung, daB bei den Schulleistungen neben den Erbeinflüssen dem Milieu nur eine bescheidene Rolle zu- komme. Ähnliche Untersuchungen haben auch andernorts mit sehr ähnlichen Ergebnissen geendet. Ich erinnere vor allem an die Erhebungen von Hey mans und Wiersma. Aus al- len diesen Untersuchungen geht zugleich hervor, daf nicht nur die durchschnittliche Hóhe, sondern auch die Art dér Be- gabung erblich mitbestimmt ist. Endlich mag man besonders aus den Untersuchungen von Peters schließen, daß bei der Vererbung der Intelligenz wie einzelner Begabungen neben rezessiven auch dominante Erbmodi eine Rolle spielen.

Besonders eindringlich hat die Zwillingsmethode gezeigt, wie groß die Bedeutung der Erblichkeit für die Schulleistun-

8 Das kommende Geschlecht

gen ist. Erbgleiche Zwillinge stehen einander nach den ver- schiedensten Untersuchungen sehr wesentlich náher als erb- verschiedene und andere Geschwister. Dabei zeigt sich in Übereinstimmung mit den Erhebungen von Peters, daB nicht bloß der allgemeine Durchschnitt der Leistungen ein sehr ähn- licher ist, sondern daB die erbgleichen Zwillinge in der Regel auch in den gleichen Fächern Überdurchschnittliches oder Unzureichendes leisten, wiederum in sehr viel deutlicherem Maße als erbverschiedene Zwillinge. Hier sind vor allem die Erhebungen von v. Verschuer und Frau Frischeisen- Kóhler zu nennen.

Ist damit die Bedeutung der Erblichkeit für die Schul- leistungen festgelegt, so bleibt doch noch der Beweis für die aus der allgemeinen Erfahrung geschöpfte Behauptung, daß die Schulerfolge für die Bewährung im Leben ausreichende prognostische Anhaltspunkte geben. So weit ich sehe, gibt es eigene Untersuchungen dieser Art für Durchschnittsschüler nicht. Hier können wir uns aber an jene Kinder halten, die in Hilfsschulen eingeschult werden müssen, weil sie auch nicht annähernd den normalen schulischen Anforderungen ent- sprechen. Die hier vorliegenden Untersuchungen sind freilich zum Teil durch die Tatsache belastet, daß sie von Hilfsschul- lehrern stammen, d. h. durchschnittlich ganz ausgezeichneten Menschen, zu denen aber notwendig ein spezifischer Optimis- mus gehórt, wenn sie ihren schweren Aufgaben gewachsen sein wollen. Immerhin lassen die groben Lebenserfolge, die durch eine optimistische Brille nicht verfärbt werden können, einige Anhaltspunkte zu. Ich nenne nur eine Aufstellung von Clemens Wemmer, der die Schicksale der 1919 bis 1922 entlassenen Bonner Hilfsschüler verfolgte. Er fand unter 103 22- bis 25jährigen Probanden bei Abschluß der Beobachtung:

Ungelernte Fabrik- und Ge- legenheitsarbeiter, Tage- löhner, Ausläufer, Arbeits-

burschen 69 davon 56 Männer, 13 Frauen Fabrikarbeiter (in etwa ge-

lernte) 10 10 : Handwerker, unselbstándig 3 3 »5

Handwerker, selbständig T

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 9

Dienstboten, Stundenhilfen

Knecht, Diener 15 5; 2 » 13 Im Haushalt der Eltern 24 5 " 19 5„ In Anstaltspflege 4 , 4 - 5

Dabei waren nicht weniger als 84% der Männer für län- gere oder kürzere Zeit arbeitslos gewesen. Ich gebe hier nur dieses eine Beispiel für viele, da ich in anderem Zusammen- hange noch auf die Frage zurückkommen muß.

Man wird hier zugleich daran erinnern, daß die soziale Schicht, welche Hilfsschüler erreichen, gerade jene ist, die wieder prozentual am meisten Kinder in die Hilfsschule liefert. Die Untersuchungen von Prokein zeigen dies ebenso wie jene von Wemmer oder die von Küster. Hier schließt sich also wieder der Kreis zum Problem der Erblichkeit.

Können wir nach all dem annehmen, daß Einschulung in die Hilfsschule im allgemeinen Minderbegabung und zugleich durchschnittlich unzureichende Bewährung im Leben bedeutet, so wissen wir doch von den Menschen, mit denen wir zu tun haben, in der Regel nichts Bestimmtes über die Schulerfolge; wir bekommen oft genug falsche Angaben. Halten wir uns aber an die Bewährung im Leben und sind wir auf Fremd- schilderungen angewiesen, dann kann uns geschehen, daß wir fälschlich manche psychopathische, aber normal begabte Men- schen in die Rechnung hinein bekommen. Denn oft genug sind es psychopathische Wesenszüge, die zum sozialen Versagen führen. Auch hier also tauchen ernste Bedenken gegenüber den üblichen genealogischen Erhebungen auf.

Immerhin werden wir in der Mehrzahl der Fälle erfahren, ob einer in der Hilfsschule war oder doch in der Volksschule vielfach sitzen geblieben ist und, wenn wir auch noch die Be- währung im Leben heranziehen, uns bei der Einordnung eines Menschen in die grob ausgeprägten Schwachsinnszustände selten täuschen. Schwieriger aber wird die Beurteilung der leichterenSchwachsinnsgrade und es taucht dann zugleich die sehr ernste Frage auf, ob es angängig ist, die ver- schiedenen Schwachsinnsgrade erblich einheitlich zu be- handeln.

Man pflegt klinisch der Einteilung des Schwachsinns nach der Schwere den Begriff des Intelligenzalters zugrunde zu legen. Das Intelligenzalter gewinnt man aber, indem

10 Das kommende Geschlecht

man die Person mit einem Stufentest untersucht, der be- stimmte Leistungen für eine bestimmte Altersstufe als Norm vorsieht. Leistet etwa eine Person alle Tests für das 12. oder aber alle für das 11., einige für das 12. und dazu eine be- stimmte Zahl weitere für das 13. Lebensjahr, dann setzt man das Intelligenzalter auf 12 an. Als Idioten bezeichnet dann etwa Brugger in Übereinstimmung mit anderen an Hand einer solchen Skala jene Erwachsenen, die nicht über das In- telligenzalter 6 hinauskommen, als Imbezille diejenigen zwi- schen 6 und 12, als Debile diejenigen von 12 bis 14. Noch unter die belastenden Schwachsinnigen rechnet er aber „schwach Begabte", die zwar die Schule ohne Anstand durchmachen oder nur gelegentlich einmal sitzen bleiben, dann aber doch im Leben nicht recht vorwärts kommen. Ganz abgesehen davon, daß ein erwachsener Schwachsinniger natürlich seiner körper- lichen Ausreifung, seiner ausgedehnteren Lebenserfahrungen und seines ganz anderen Lebenskreises wegen nicht einem Kind von 6 oder 12 oder 14 Jahren gleichgesetzt werden kann, ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, die mit der Prüfung selbst verbunden sind, und davon, daß dabei niemals die In- telligenz allein geprüft wird, ist es uns doch bei genealogi- schen Untersuchungen in der Regel nicht möglich, den Test anzuwenden. Aber selbst wenn dies möglich ist, entsteht die Frage, ob diese Einteilung nach dem Intelligenzalter berech- tigt ist.

Prüft man große Menschengruppen nach einfachen Frage- bogenmethoden, wie etwa Rodenwaldt dies bei schlesi- schen, ich selbst bei bayerischen Rekruten getan haben, dann erhält man Leistungen, die erstaunlich tief stehen. Ich will hier auf Einzelheiten nicht eingehen und lediglich erwähnen, daß etwa 10% der bayerischen Rekruten nach sprachlichem Ausdruck, Orthographie und Kenntnissen auf einer so tiefen Stufe stehen, daß man sie nach den Fragebogen mindestens als Debile betrachten möchte. Und wenn man vollends mit Hilfe eines reich gegliederten Stufentests Massenuntersuchun- gen anstellt, wie dies in Amerika mit allen Rekruten des Welt- krieges geschehen ist, dann ergibt sich ein durchschnittliches Intelligenzalter, das sich nur bei Engländern, Schottländern und Holländern über die von Brugger angenommene Grenze der Debilität erhebt und bei den übrigen nordwest-

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 11

europäischen Völkern dicht an der obersten Grenze der De- bilität bleibt, während die Abkómmlinge aller anderen Völker zum Teil nicht unwesentlich darunter bleiben. Das würde also bedeuten, daB der Durchschnitt der Menschen debil ist, selbst bei den gebildetsten und geistig begabtesten Völkern.

Hier stimmt etwas nicht. Denn es kann kein Zweifel sein, daB die groBe Mehrzahl eben jener nach dem Intelligenztest debilen Rekruten im Leben Tüchtiges leistet, also nicht schwachsinnig sein kann. In der Tat nimmt Popenoe De- bilität nur bis zum Intelligenzalter 11 an, rechnet alle Men- schen bis Intelligenzalter 12 als zweifelhafte, bis zum Intelli- genzalter 13 als Grenzfälle und bis Intelligenzalter 14 als nied- rig stehende Normale. Der Test, der uns Schwachsinnsgrade abgrenzen lassen soll, wird also in seinem Ausfall verschieden beurteilt, und er kann uns irreführen, wenn wir die durch- schnittlichen Verháltnisse nicht kennen. Ganz bedenklich aber erscheint es, wenn man neben Debilen auch noch schwach Be- fáhigte als belastend in die genealogischen Rechnungen ein- setzt, also Menschen, die nach dem Intelligenztest mehr lei- sten dürften als der Durchschnitt. Kann man aber und das ist die Regel einen Stufentest nicht anwenden, dann werden die Schwierigkeiten noch gróBer. GewiB kann der Erfahrene meist auch in einer längeren Unterhaltung feststellen, ob er es mit einem Schwachsinnigen oder einem durchschnittlich oder gut begabten Menschen zu tun hat. Es ist aber kein Zweifel, daB damit ein sehr subjektives Moment in die Rechnung hin- ein kommt. Selbst wenn man sich aber nie oder doch nur sel- ten táuschen sollte, dann bleibt immer noch die schon erwáhnte Frage, ob denn die leichteren Schwachsinnsgrade in erblicher Hinsicht den schwereren gleich behandelt werden kónnen.

Sie sehen, die Bedenken háufen sich, und ich muB noch weitere hinzufügen. Es ist unzweifelhaft, daB geistige Ver- fassungen, die vom erblichen Schwachsinn nicht zu unter- scheiden sind, durch früh einwirkende äußere Schäden herbeigeführt werden können, ohne daß diese selbst am klini- schen Bilde erkennbar sein müssen. Wir sehen solche Zu- stände unter unseren Augen entstehen. Oft genug versagt dann aber später die Anamnese. Von den zahlreichen Formen von Idiotie und Imbezillitát, die etwa Weygandt abgrenzt, sind die meisten im frühen Leben erworben und nicht erb-

12 Das kommende Geschlecht

licher Natur. Im Einzelfalle kann es ganz unmöglich werden, die Diagnose zu stellen und das Ausgangsmaterial sauber zu halten, so eifrig man sich auch bemüht.

Die bisherigen Ausführungen zusammenfassend können wir also sagen: es ist von vornherein nicht wahrscheinlich, daB die Schwachsinnszustánde erblich einheitlich sind. Es gibt offenbar auch klinisch verschiedene Formen erblichen Schwachsinns. Die Abgrenzung der leichteren Schwachsinns-

L Untersuchungen von Brugger (endogene Fülle).

oj] 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

Onkel u. Tanten........... Neffen u. Nichten.......... Darchschnittsbevélkerung . . .

beide Eltern normal.....

ein Elter schwachsinnig .

Geschwister

beide Eltern schwachsinn.

% 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

zustánde von der Norm ist theoretisch und praktisch sehr schwierig und wir wissen zunächst nicht, ob es berechtigt ist, leichtere und schwerere Schwachsinnsgrade erblich ein- heitlich zu behandeln. Endlich gibt es durch äußere Schäden verursachte Schwachsinnszustánde, die klinisch von erblichen nicht zu unterscheiden sind. Bei dieser Sachlage werden Sie mit mir besorgt fragen, ob denn aus Untersuchungen, die mit solchen auBerordentlichen Unsicherheiten belastet sind, etwas herauskommen kann, was wissenschaftlich brauchbar ist, und vor allem, was eugenische Schlüsse zuläßt.

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 13

Wie weit die bisher vorliegenden Untersuchungen den theoretischen Bedenken standhalten, das soll jetzt unter- sucht werden. Brugger, der ein großes thüringisches Ma- terial mit modernen Methoden untersuchte, trennt die erkenn- baren exogenen von den endogenen Schwachsinnsformen. Diese nimmt er aber im wesentlichen als einheitliche Gruppe. Er rechnet, wie erwähnt, Debilität bis zum Intelligenzalter 14 und nimmt außerdem noch schwache Begabungen als bela- stend an. Dabei fand er unter den Geschwistern endogen Schwachsinniger 31,48 %, unter den Eltern 27,2 %, unter den Onkeln und Tanten 7,77 %, unter den Neffen und Nichten 11,39 % Schwachsinnige. Im einzelnen ergaben sich 17,8 % oligophrene Geschwister, wenn beide Eltern normal begabt waren, 41,26 % oligophrene Geschwister, wenn ein Elternteil schwachsinnig war, 91,15 % oligrophrene Geschwister bei Schwachsinn beider Eltern. Dazu führt Brugger aus, daß seine Zahlen am ehesten für rezessiven Erbgang sprechen; er betont aber selbst, daß die Sachlage doch in mancher Hinsicht ungeklärt und daher bei Berechnung von Mendel-Zahlen aller- größte Vorsicht geboten sei.

Die von Brugger gefundenen Zahlen würden nicht ohne größte Bedenken verwertbar sein, wenn er tatsächlich in so weiten Grenzen Schwachsinn angenommen hätte, wie dies seinen theoretischen Ausführungen entspricht. Sichtet man sein Material aber im einzelnen, dann stellt sich heraus, daß von den als schwachsinnig geführten Geschwistern etwa % bildungsunfähig, nahezu bildungsunfähig und im besten Falle hilfsschulbedürftig sind. Der verbleibende Rest ist nach sei- nen Mitteilungen nicht so sicher einzuordnen. Aber es ist doch unzweifelhaft, daB Brugger praktisch sehr viel strenger verfahren ist, als zunächst angenommen werden konnte. Selbst wenn man nur die % Tiefschwachsinnigen in die Rechnung einsetzen wollte, dann würde sich an dem grundsätzlichen Er- gebnis nichts ändern. Eines der schwersten Bedenken ent- fällt also.

Das gleiche gilt aber für die nächst bedeutsame Unsicher- heit. Man könnte sich etwa vorstellen, Brugger hätte in seine endogene Gruppe lediglich besonders schwer belastete Probanden hineingenommen und dadurch falsche Zahlen er- halten. Tatsächlich aber hat er die Familien der von ihm als

14 Das kommende Geschlecht

exogen betrachteten Schwachsinnigen ebenso genau beforscht und auch dabei eine auBerordentlich hohe Belastung mit Schwachsinn gefunden, eine Belastung, die ein Vielfaches jener der Durchschnittsbevólkerung betrágt. Seine Auswahl war also tatsáchlich eine strenge, aber wohl eher zu Ungunsten hoher Belastungsproportionen. Damit entfallen gerade die wesentlichsten Bedenken, und es schwindet weiter jeder ernste Zweifel an der Bedeutung der Untersuchungen, wenn wir sie mit jenen anderer Forscher vergleichen.

So hat Loka y an Münchener Material, das freilich nicht bis zum Ende gesichtet wurde, grundsátzlich gleichartige Er- gebnisse gehabt (Oligophrene unter den Geschwistern 16 bis 18%, Eltern 12,6%, Neffen und Nichten 7 bis 8,2%. War ein Elternteil schwachsinnig, so waren 33% Probandengeschwister schwachsinnig; waren beide Eltern schwachsinnig [1 Fall], so waren es auch alle Geschwister, war kein Elternteil schwach- sinnig, so waren 13% der Geschwister schwachsinnig. Und wir finden nichts anderes, wenn wir uns Ausgangsmaterialien zuwenden, die gar nicht auf eine mehr oder weniger subjektive Abschätzung des Intelligenzgrades der nächsten Angehörigen angewiesen sind, sondern bei denen die Geschwister der Pro- banden ganz unter den gleichen Bedingungen faBbar werden wie diese selbst. Insbesondere Hilfsschulmaterial er- füllt diese Bedingungen in sehr glücklicher Weise. Hier haben wir auch bei den Geschwistern den Maßstab der Einschulung in die Hilfsschuleinrichtungen. Freilich sind nicht alle Hilfs- schüler schwachsinnig im engeren Sinne; manche haben nur grobe Sinnesmängel und andere sind vorwiegend psycho- pathisch. Dazu kommt, daB ein nicht unbetráchtlicher Prozent- satz der hilísschulbedürftigen Schwachsinnigen nichterblicher Entstehung ist. Alle diese Umstánde wirken aber eher im Sinne einer Verkleinerung der Schwachsinnigenproportionen unter den Geschwistern; sie geben uns daher unter eugeni- schen Gesichtspunkten eher ein zu ungünstiges Bild.

In dem verhältnismäßig kleinen Material von Wemmer entfallen auf 99 Familien 653 Geburten, von denen Wemmer nur die 121 Fehlgeburten und Verstorbenen, nicht die bis zu 10jährigen ausscheidet (wie Brugger dies tut), sodaß 532 übrig bleiben. Nach Abzug der Probanden finden sich unter 429 Geschwistern wieder 67, d. s. 15,6% oligophrene Ge-

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 15

schwister, von denen 53=12,4% auch in der Hilfsschule wa- ren. Wenn man berücksichtigt, was ich vorhin über die Art des Hilfsschulmaterials gesagt habe, dann wird klar, daß seine Ergebnisse dicht bei jenen Bruggers liegen müssen. Schwachsinnige Elternteile findet Wemmer übrigens

II. Untersuchungen von Reiter u. Osthoff. Vergleich mit Brugger u. Wemmer.

% 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

5 Wemmers Zahlen Geschwister. 15,69], ͤ je Eltern: ae 26,7% eee

beide Eltern gesund ....

ein Elter schwachsinnig.

Geschwister

beide Eltern schwachsinn.

Geschwister auf der Hilfs-

achule oss E 12,4%

Vater schwachsinnig Mutter schwachsinnig

beide Eltern schwachsinnig % | 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

35=34,7%, davon beide Eltern in 8 Fällen, sodaß in 26,7% der Fälle Schwachsinn eines oder beider Elternteile vorlag.

Von Hilfsschulmaterial sind auch Reiter und Osthoff ausgegangen, und zwar von 400 bzw. 250 Rostocker Hilfs- schülern. Die von den beiden Autoren gefundenen Proportio- nen schwachsinniger Blutsverwandter übersteigen weitaus

16 Das kommende Geschlecht

jene der bisher genannten Untersucher. Berechnet man die von Reiter und Osthoff gegebenen Zahlen nach Art von Brugger und Lo k a y, dann sind von den 625 Geschwistern der Hilfsschüler 320 wiederum schwachsinnig, d. h. 51,2%, von den Elternteilen aber etwa 40% (39,6%). Diese Zahlen lassen sich nicht mehr mit einem einfach rezessivenErbgang vereinen; man wird vielmehr, die Stichhaltigkeit der Unter- suchungen vorausgesetzt, auch an dominanteSchwach- sinnsformen denken, zum mindesten neben rezessiven. Die Frage ist nur, ob Reiter und Osthoff wirklich nur Schwachsinnige erfaBt haben und nicht auch weniger gut be- gabte Normale, d. h. ob sie nicht zu freigebig mit der Diagnose „Schwachsinn“ gewesen sind. Tatsächlich haben die Autoren alle Eltern ihrer Kerngruppe von 250 erreichbaren Hilfs- schülern aufgesucht und offenbar auch sonst besonders ein- gehende Erhebungen angestellt. Wenn man daneben berück- sichtigt, wie erheblich der Schwachsinnsgrad sein mußte, da- mit Brugger einen Verwandten als oligophren bezeichnete, dann wird man für móglich halten, daB die Erhebungen von Reiter und Osthoff auch leichtere Formen von Schwach- sinn, aber eben noch von wirklichem Schwachsinn erfaßten, und daß diese leichten Formen zum Teil einem anderen Erb- gang folgen. Brugger und Lokay gingen ja zudem von asylierten Kranken, Reiter und Osthoff von Hilfsschulmaterial aus. Daß leichtere abnorme Merk- male einem dominanten, schwerere der gleichen Art aber re- zessivem Erbgang folgen, sehen wir auch sonst in der Erb- lehre, und es ist dies auch verständlich, da Schwerabnorme in der Regel von der Fortpflanzung ausgeschaltet bleiben, ihr pathologisches Erbgut selbst also nicht fortzugeben vermögen.

Einen gewissen Maßstab für die Art der Zuordnung von Reiter und Osthoff ergibt die Tatsache, daß etwa 21,5% der Hilfsschüler andere Hilfsschüler zu Geschwistern hatten (31 Familien mit 2 Geschwistern, 8 Familien mit 3 Ge- schwistern in der Hilfsschule). Wir kommen somit für die sicherlich erheblichen Schwachsinnsgrade zu Proportionen, die jenen von Brugger entsprechen, und die Ergebnisse von Reiter und Osthoff nähern sich denen Bruggers auch an, wenn man die Proportionen der schwachsinnigen Kinder

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 17

für solche Familien überblickt, wo nebeneinander beide Eltern- teile auch schwachsinnig waren.

Eltern: Kinder: geistig gesund schwachsinnig geistig gesund schwadlsmnlg beide 9,3 90,7 eines von beiden 40,9 59,1 beide | 50,0 50,0

Professor Reiter hat, wie Lokay mitteilt, auf eine Frage Rüdins geantwortet, daß er die Grenzen des Schwachsinns eher noch zu eng gesteckt habe. Berücksich-

III. Zwillingsuntersuchungen von Smith.

% 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 50 zweieiige Zwillinge......

Partner krank ...... ... m

Partner gesund ............

16 eineiige Zwillinge .. .... Partner krank. ...........

Partner gesund............ % | 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

tigt man all dies, dann wird man schwerlich um die schon er- wähnte Annahme herumkommen, daß es auch dominante, wahrscheinlich leichtere Schwachsinnsformen gibt. Gleiches hat man wohl aus den spärlichen Mitteilungen zu schließen, die Rüdin über die Untersuchungen von Rüdin-Senger an Münchener Hilfsschiilern gemacht hat: Danach fanden sich Familien mit Schwachsinn beider Eltern und aller Kin- der, aber auch mit Schwachsinn beider Eltern, deren Kinder nicht oder nur zum Teil schwachsinnig waren. Rüdin möchte auch aus den Arbeiten des Amerikaners Go d- dard (Familie Kallikak) entnehmen, daB es vielleicht auch dominante Formen von Schwachsinn gibt. Ich denke fer-

2

18 Das kommende Geschlecht

ner an eine Mitteilung Chotzens, Breslau, über eine Fa- milie mit eigenartigen Entwicklungsstörungen, die lei- ches für eine offenbar besondere Form des Schwachsinns eindringlich zeigt. Vater und beide Söhne sind Hilfsschüler. Die außerordentliche Häßlichkeit des Vaters läßt zugleich er- kennen, was auf dem Heiratsmarkt noch Wert hat. Erneut darf ich meiner Überzeugung Ausdruck geben, daß es neben der hier gezeigten Sonderform wohl noch mancherlei andere Sondertypen des Schwachsinns gibt, nur daß sie äußerlich weniger auffällig sind.

Die Untersuchungen Bruggers schweben trotz aller eingangs gemachten Bedenken offenbar nicht in der Luft. Viel- mehr finden sich überall, wo wir den Schwachsinn nur packen, hohe Proportionen sicherer Oligophrener im Umkreis der Aus- gangskranken. Einen Schlußstein bedeuten in dieser Hinsicht die Untersuchungen von Smith an Zwillingen unter den schwachsinnigen Anstaltsinsassen Dänemarks. Unter 6700 Schwachsinnigen fand Smith 122 Mehrlingsgeburten, von denen 66 verwertbar waren, 50 zweieiige Paare, 13 vermut- lich sicher eineiige Paare und 3 wahrscheinlich eineiige Paare. „Unter den 50 Paaren zweieiiger Zwillinge waren 4mal die beiden zusammengehörigen schwachsinnig, bei 46 Paaren war nur der eine Zwilling schwachsinnig. Unter den 3 wahr- scheinlich eineiigen Paaren waren alle 6 schwachsinnig. Un- ter den 13 vermutlich sicher eineiigen Paaren waren in 11 Fäl- len die beiden zusammengehörigen Zwillinge schwachsinnig.“ Smith schließt daraus mit Recht, daß die Ursache des Schwachsinns weit mehr in der Erbanlage als in der Einwir- kung der Verhältnisse im weitesten Sinne zu suchen sei. Ja, nach seinen Gesamterfahrungen möchte er ungefähr 80% des Schwachsinns für erblich erachten, den Rest für erworben.

Wichtig scheint mir von den Ergebnissen dieser Unter- suchungen von Smith die Tatsache, daß gewisse Gradunter- schiede des Schwachsinns auch bei den eineiigen Paarlingen vorkommen. Man wird daraus die Berechtigung herleiten können, Schwachsinnszustände verschiedener Schwere unter Umständen als erblich gleich zu behandeln, wie dies in den bisher genannten Untersuchungen geschehen ist. Ferner ist erwähnenswert, daß gelegentlich neurologische Erscheinungen auch bei Zwillingen deutlich waren, deren Schwachsinn als

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 19

erblich anzunehmen ist. Gerade dieser Befund läßt erkennen, wie schwer es sein kann, aus dem klinischen Bild allein auf die endogene oder exogene Natur des Schwachsinns zu schlie- Ben. Er macht zugleich die hohe Belastung mit Schwachsinn, welche Brugger und andere bei ihren vermeintlich exogen Schwachsinnigen gefunden haben, erklärlich.

In diesem Zusammenhang kann ich nicht unerwähnt lassen, daB bei der mongoloiden Idiotie von Luxenburger und anderen an der nichterblichen Genese festgehalten wird, ob- gleich, soweit ich sehe, noch kein diskordantes eineiiges Paar bekannt geworden ist, wohl aber manches konkordante ein- eiige Paar und zahlreiche diskordante zweieiige Paare. Die Zwillingsuntersuchungen sagen allein noch nicht alles; sie brauchen den Rahmen der Familienuntersuchungen. Gerade dadurch, daB sie mit allen unseren sonstigen Erfahrungen völlig übereinstimmen, gewinnen die Untersuchungen von Smith ihren entscheidenden Wert.

Luxenburger, der unter Berücksichtigung aller bisher vorliegenden Erfahrungen die Manifestationswahr- scheinlichkeit des Schwachsinns als eine sehr große bezeichnet, Hat bei Siebung der Beobachtungen und Errech- nung der Geschlechtsproportion sein Augenmerk insbesondere der Tatsache zugewandt, daß offenbar mehr männliche als weibliche Schwachsinnige bekannt sind. So finden sich auch in den Materialien von Rosanoff und Smith erheblich mehr männliche als weibliche Probanden. Wenn Luxe n- burger darnach der Hypothese Rosanoffs beitritt und eine Dimerie mit einem rezessiven Faktorenpaar in einem autosomalen Chromosom und einem anderen im X-Chromo- som annimmt, so móchte ich ihm zunáchst, auch mit der Fin- schránkung, die er macht, nicht ohne Bedenken folgen. Vor allem kann ja nach den vorliegenden Untersuchungen nicht angenommen werden, daB Schwachsinn erblich etwas Einheit- liches sei. Sodann sind gewiß etwa in den Hilfsschulen offen- bar mehr Knaben als Mádchen. In Bayern aber finden sich in den Jahren 1924 und 1925 in den Anstalten für Gebrech- liche in allen Altersstufen bis auf die bis zu 6jährigen Kinder nicht unerheblich mehr weibliche als männliche Idioten, Kre- tinen, Blöde und Schwachsinnige. Es muß weiter berücksich- tigt werden, daß an Knaben und Männer durchschnittlich grö-

20 Das kommende Geschlecht

Dere Anforderungen gestellt werden als an weibliche Wesen, und daß wohl schon geringere Grade von Schwachsinn bei den Männern leichter zur Internierung führen, weil hier zu- gleich die Neigung zu antisozialen Handlungen eine weit grö- Bere ist als bei den Frauen. Hier kann nur ein ganz genau untersuchtes einheitliches Material weiterhelfen. Daß die Hypothese Luxenburgers für einen Teil der Schwach- sinnszustände Geltung haben mag, soll damit natürlich nicht bestritten werden.

Wenn Luxenburger auf Grund zwillingsbiologischer Tatsachen und allgemeiner Annahmen für den Schwachsinn praenatale, aber auch postnatale Letalfaktoren ablehnt, so möchte ich keineswegs den Wert seiner Berechnungen an- zweifeln. Aber es scheint mir nötig, etwa die Sterblichkeit in Schwachsinnigenanstalten mit jener in anderen Kinder- anstalten, nach Geschlechtern gesondert, zu vergleichen und diese Erfahrungen durch sehr sorgfältige Geschwisterschafts- untersuchungen zu ergänzen. Erst dann wird man Luxen- burgers Schlüssen zustimmen können.

Weitere Untersuchungen sollen hier nicht herangezogen werden, da sie auch die ausgedehnten amerikanischen Er- hebungen uns nichts Neues bringen. Wenn wir an den Ausgangspunkt zurückdenken, dann müssen wir Bumke in- sofern recht geben, als wir über „den Erbgang" des Schwach- sinns noch wenig wissen. Aber wir haben wohlbegründeten Anlaß zu der Annahme, daß es rezessive, aber auch domi- nante, monomere, aber auch polymere Formen des Schwach- sinns gibt. Der Wert der vorhandenen Untersuchungen wird nicht geschmälert durch die Vermutung, daß das klinische Aus- gangsmaterial ein uneinheitliches war. Wie immer man die errechneten Proportionen auch betrachten mag, auf jeden Fall sind die Menschen, die mit klinischem Schwachsinn behaftet sind, zum weitaus größten Teil Kondensatoren ungünstiger Anlagen, die wiederum mit aller Bestimmtheit zu Schwach- sinn führen müssen, wenn der Ehepartner entsprechende An- lagen hat, auf jeden Fall aber im Erbgang fortgegeben werden und als eine ernste Drohung dauernd bestehen bleiben. Wir wissen, Schwachsinn ist zum weitaus größten Teil erblich und die erbliche Potenz des Schwachsinns ist durchschnittlich eine erheblich größere als etwa jene der anderen großen psy-

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 21

chiatrischen Formenkreise; wenn wir also über den Erbgang oder über die Erbgänge im übrigen noch nicht genau Bescheid wissen, so wissen wir doch alles, waseugenisch bedeutsamist. Mit aller Bestimmtheit kónnen wir sagen, daB erblich Schwachsinnige sich nicht fortpflanzen sollen. Darauf aber kommt es an.

Damit ergibt sich die dringendste Frage: Pflanzen sich Schwachsinnige heute tatsáchlich fort und in welchem Aus- maB? Daf dies überhaupt geschieht, geht ja schon aus mei- nen bisherigen Mitteilungen hervor. Nach den übereinstim- menden Ergebnissen von Brugger, Wemmer, Reiter und Osthoff stammen ja zahlreiche Asylierte und Hilfs- schulschwachsinnige von oligophrenen Eltern ab. Immerhin bleiben die Idioten in der Regel von der Fortpflanzung ausge- schaltet. Aber die Idiotie ist ohnedies háufig das Ergebnis im Leben erworbener Krankheiten. Auch die asylierten Imbezil- len dürften selten zur Familiengründung kommen. Anders die Nichtasylierten. DaB diese zum erheblichen Teil Familien gründen, und noch dazu umfangreiche Familien, das läßt sich aus zahlreichen Untersuchungen entnehmen.

Wir wissen zunächst, daß zwischen sozialer Lage und durchschnittlicher Kinderzahl eine ziemlich hohe negative Korrelation besteht. Ich denke an die bekann- ten Untersuchungen an den Postbeamten-Kategorien, an den bayerischen Beamten, an die Erhebungen Pearls in Eng- land 1911, nach denen für zahlreiche akademische Berufe etwa 1 Kind pro Ehe, dagegen für ungelernte Arbeiter 4,83 Kinder gefunden wurden. Grundsätzlich entsprechen diesen Ergeb- nissen die Untersuchungen von Stevenso n, aber auch jene Burgdörfers 1926 für Beamte der Reichsverwaltung, an- dere für die Berufsklassen in Preußen 1912 (Offiziere, höhere Beamte, freie Berufe durchschnittlich 2 Kinder, Landarbeiter und Tagelóhner durchschnittlich 5,2 Kinder pro Ehe), sowie 1921 bis 1923 in Heidelberg (Dresel und Fries: Aka- demiker 2,71, Handarbeiter 5,96 Kinder pro Ehe). Dabei kann ganz allgemein, wenn auch keineswegs ohne Ausnahme, an- genommen werden, daß dem sozialen Niveau das Be- gabungsniveau parallel geht. Wenn eine solche allge- meine Annahme gewissen Bedenken begegnet, so gibt es doch Untersuchungen genug, die von den intellektuellen Leistungen

22 Das kommende Geschlecht

selbst ausgehen. So haben Fürst und Lenz 809 Münchener Fortbildungsschüler untersucht und bei Lehrlingen und Un- gelernten die Geschwisterzahlen zur Durchschnittsnote in Be- ziehung gesetzt. Sie fanden

bei der Durchschnittsnote der Lehrlinge der Ungelernten

II 2,39 3,23 III 2,70 3,30 IV 3,15 4,10 V 6,51 6,10

Geschwister.

Diese Zahlen sprechen für sich selbst. Die negativen Kor- relationen sind für die Lehrlinge 0,19 + 0,04, für die Un- gelernten 0,27 + 0,06. Für Giessen hat Gertrud Decker an 796 Volksschülern eine Korrelation von 0,39 t 0,03 errechnet, und in England fanden Sutherland und Thomson bei 1924 11jáhrigen Schulkindern eine Korrelation von 0,20 # 0,02. Sehr ähnlich sind die Ergebnisse von Kurz für Bremen und von Keller für Winterthur in der Schweiz. In Bremen nämlich stellte Kurz für die Zöglinge der einzel- nen Schularten Beziehungen zur Kinderzahl her. Er fand 1928 für hóhere Schüler durchschnittlich eine Geschwisterzahl von 2,1, für Volksschüler in gehobenen Zügen 2,8, Volksschüler in Normalzügen 3,3, Angehörige von Abschlußklassen 4,3; und entsprechend Keller 2,1, 2,5, 3,0 und 3,3. Dabei ist zu be- rücksichtigen, daß in Abschlußklassen nur solche Volksschüler kommen, welche wegen mangelnder Begabung unfähig zur Erreichung des normalen Schulzieles sind.

Wenn mit dem Fortschreiten der Zeit die gewollte Kinder- beschränkung zunächst in den Großstädten immer weitere Volkskreise ergreift, so etwa deutlich nachweisbar in Berlin und Stuttgart, so muß Lotze 1929 für Stuttgart doch fest- stellen: „Die Hilfsschiiler stammten durchweg aus kinder- reichen Familien“, und in den Berichten Schickenbergs über 1500 kinderreiche Familien Hannovers findet sich die be- merkenswerte Feststellung, daß, während unter der Gesamt- zahl der Schulkinder nur 2,5% Hilfsschüler waren, die kinder- reichen Familien 6,6% Hilfsschüler stellten. Dabei waren von 1243 kinderreichen Vätern 24% arbeitsscheu, Trinker, Spieler und Zuhälter. |

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 23

Auch wenn man kleinere Untersuchungen, die unter einem ganz anderen Gesichtspunkt angestellt sind, heranzieht, dann ergibt sich Gleiches. So entfielen auf die Familien von W em mer s Hilfsschülern 6,6 Kinder durchschnittlich und auf 32 Familien, in denen beide Eltern irgendwie belastet waren, gar 7,25 pro Familie. Auch hier sehen wir also ansteigende Fruchtbarkeit mit zunehmender Minderwertigkeit. Erwähnt

IV. Lenz und Fürst. 809 Fortbildungsschiiler

Durchschnittsnote bei den Lehrlingen bei den Ungelernten II 2,39 3,25 III 2.70 3,30 IV 3,15 4,10 V 6,51 6,10

Korrelation Durchschnittsnote Geschwisterzahl

Lenz und Fürst (809 Foribildungsschüler München) 0,19 +0,04

Decker (796 Volksschüler GieBen) 0,39 + 0,03

Sutherland und Thomson (1924 11 jáhrig) 0,20 + 0,02 Geschwisterzahlen für Schüler Kurz (Bremen) Keller (Winterthur)

Höhere Schulen 2,1 2,1

Gehobene Züge Volksschulen 2,8 2,5

Normalzüge Volksschulen 3,3 3,0

Abschlußklassen Volksschulen 4,3 3,3

sei endlich, daß Brugger für die endogen Schwachsinnigen eine Geschwisterschaftsgröße von 5,65, für die exogenen von 4,57 fand, Reiter und Osthoff aber 7,5 Schwangerschaf- ten und 6 lebende Kinder pro Mutter der Hilfsschüler zählten.

Aus all dem ist mit Bestimmtheit zu entnehmen, daß Schwachsinnige und Menschen mit Anlage zu Schwach- sinn dann, wenn sie heiraten, offenbar durchschnittlich sehr fruchtbar sind. Wir wissen damit aber noch nicht, in welchem Umfange die Schwachsinnigen zur Fortpflanzung gelangen. Hier fehlen ausgedehnte Untersuchungen, so weit ich sehe, ganz. Es ist tief bedauer- lich, daß die Schwachsinnigenanstalten in dieser Hinsicht bis-

24 Das kommende Geschlecht

her über ihre ins Leben hinausgegangenen Zóglinge noch keine zusammenfassenden Darstellungen gegeben haben.

Halten wir uns an die gut bearbeiteten kleinen Gruppen, so hatten von Wemmers 103 Hilfsschülern, die bei Ab- schluß der Untersuchung 22 bis 25 Jahre alt waren, schon 12 geheiratet. Unter anderen findet sich eine Ehe zweier Hilfs- schüler, die schon 5 Kinder hervorgebracht hat, darunter wie- derum zwei Hilfsschüler. Von 231 Hilfsschiilern aus Meißen im Alter von 16 bis 38 Jahren, bei denen leider eine Alters- verteilung nicht vorgenommen ist, sind 64, also mehr als ein Viertel, verheiratet, 35 Männer und 29 Frauen, und dazu kom- men noch uneheliche Kinder, die von „mehreren“ geboren wurden.

Von einer Gruppe von 141 Zóglingen der Anstalt Pópel- witz-Breslau, ehemaligen Hilfsschülern, die bei der Schulent- lassung ohne längerdauernde Spezialausbildung nicht für be- rufsfähig erachtet wurden, sind fast 40% erwerbsunfáhig ge- blieben und meist in Anstalten. Aber von dem Rest dieses offenbar besonders tiefstehenden Materials sind 8 verheiratet, also mehr als 5%. Dabei muB man wissen, daB von den 20jährigen der Reichsbevólkerung etwa nur 4% verheiratet sind, von den 25jáhrigen etwa 44%, von den 22- bis 23jäh- rigen aber nur 16%. Denkt man hier insbesondere an W e m- mers Hilfsschulmaterial, so möchte scheinen, daB die H e i- ratsháufigkeit der nicht asylierten Sch wachsinni- gen und ihr Heiratsaltersichnichtsehr wesent- lich von jenen derDurchschnittsbevólkerung unterscheiden dürften. Immerhin sind hier dringend eingehende Untersuchungen angezeigt.

Ein volles Bild von der Bedeutung der Schwachsinnigen und ihrer Nachkommenschaft für das Leben der Gemeinschaft gewinnen wir aber erst, wenn wir uns klar machen, wie die Oligophrenen den Lebenskampf bestehen. Zunächst ein- mal kostet ein Hilfsschulkind die Gemeinschaft ein Mehr- faches von dem, was ein Volksschüler an Ausgaben bedeutet. Nicht wenige ehemalige Hilfsschüler müssen aber dann doch noch in Spezialanstalten aufgenommen werden und ver- ursachen dadurch ganz wesentlich mehr Kosten als Hilfs- schüler und natürlich auBerordentlich viel mehr als Gesunde.

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 25

Von 151 Heilbronner Hilísschülern (Jahrgang 1922—27) sind 16 in Schwachsinnigen-, 15 in Fürsorgeerziehungsanstalten, dazu kommen 7 Verwahrloste, also insgesamt 38 oder etwa 25%. Von Wemmers 103 Probanden sind 4 in Anstalts- pflege, 16 in Fürsorgeerziehung, von dem Pöpelwitzer Material 38 von 141 in Anstalten, also etwa 27%.

V. Heilbronner Hilfsschüler Hoffmann.

150 Hilfsschüler (1922-27) . . Hilfsarbeiter (83) .... ..... Lehrlinge geworden (67) ... Lehre beendet (37).........

Gesellenprüfung gemacht (25)

Gesellenprüfung bestanden (19)

Noch als Gesellen tátig (12)

Besonders eindrucksvoll und wohl die durchschnittlichen Verháltnisse widerspiegelnd sind die Heilbronner Erhebungen von Hoffmann. Von 150 Hilfsschülern der Jahrgänge 1922—27 sind Hilfsarbeiter oder Laufburschen 83 oder 55,5%, Lehrlinge geworden 67 oder 44,5%, haben die Lehre beendet 37 oder 25%, haben die Gesellenprüfung gemacht 25 oder 17%, haben die Gesellenprüfung bestanden 19 oder 13%, sind noch als Gesellen tätig 12 oder 8%. Von dem Pöpelwitzer Material sind von 141 verstorben 9 = 6,4%, nicht erwerbsfähig 54=38,3%, voll erwerbsfähig im Haushalt der Eltern 26, im eigenen Haushalt 8, in fremdem Haushalt 19, zusammen 53=37,6%, in der Landwirtschaft tätig 7, im Gewerbe 13, arbeitslos 5, das sind zusammen 17,7%. Über die beruflichen Schicksale von Wemmers 103 Hilfsschülern haben wir

26 Das kommende Geschlecht

schon berichtet. So weit andere Untersuchungen vorliegen, entsprechen sie durchaus diesen Ergebnissen. Schon die Her- kunftsfamilien der Schwachsinnigen stehen durchschnittlich sozial sehr tief. Aus den Hilfsschülern wird also nicht viel, sobald man sie vom Gesichtspunkt der positiven Leistung her betrachtet.

Wie steht es aber, wenn man auch nach dem asozialen oder antisozialen Versagen forscht? Hier gibt, so viel ich sehe, nur die Untersuchung Wemmers näheren AufschluB. Von seinen 103 bis 25 jährigen Hilfsschülern haben bisher eine asoziale Entwicklung durchgemacht 41, von denen 12 nur verwahrlost, 29 aber kriminell geworden sind, und zwar finden sich folgende Delikte:

Strafbare Handlungen:

Jungen Mädchen

Diebstahl 17

Unterschlagung 5 Mundraub 2 Hehlerei 1 Sachbeschádigung 2 Kórperverletzung 3

Raub 1 Beleidigung 2 Widerstand 1 Grober Unfug 1 Betteln, Landstreichen 4

Sittlichkeitsvergehen 5

Nichtstrafbare Handlungen: Jungen Mädchen

Umhertreiben 23 12 Schulschwänzen 15 10 Nächtigen im Freien 4 1

Sexuelle Verwilderung 1 10

In 16 Fällen wurde Fürsorgeerziehung angeordnet, also in etwa 15%, während im Durchschnitt auf die Gleichaltrigen in Preußen in den entsprechenden Altersstufen 0,15 bis 0,29% in Fürsorgeerziehung kommen; d. h. die Hilfsschüler werden 100mal so oft fürsorgeerziehungsbedürftig als die normal- sinnigen Gleichaltrigen.

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 21

Im übrigen aber vermógen wir über die ferneren Schick- sale der Hilfsschüler nichts zu finden. Als Erwachsene, die das Leben ohne Fährnisse bestehen, sehen wir sie nur durch Zufall. Aber wir können in allen großen Gruppen vonSchádlingen der Gemeinschaft nach den Oligophre- nen suchen, und wir werden dann ein annáherndes Bild von der tatsáchlichen Bedeutung des Schwachsinns gewinnen.

VI. Schwachsinnige Fürsorgezöglinge Prozentzahlen.

0

10 20 30 40 50 60 70 8 90 100 Preußen 1927-1930........

Cramer-Hannover 376 schul- ent PEIPER

Mönkemöller-Hannover 589 schulpfl. F.

Schnitzer-Pommern 522 F..

Sieferl - P. Sachsen 1057 F.. Major - Berlin 170 F.. Lund - Hall 175 F..

Gruhle- Flehingen 105 F..

"ie

10 20 30 40 50 60 70 S0 90 100

Nach der allgemeinen preuBischen Fürsorgestatistik sind unter 100 Fürsorgezóglingen 1927 bis 1930 beschränkt 15 bis 20%, schwachsinnig 5 bis 5,5%, idiotisch 0,1%, also etwa 20 bis 25% Minderbegabte. Bei Spezialuntersuchungen Sachverstándiger kommen aber viel hóhere Zahlen heraus. So fand Cramer unter 376 schulentlassenen Fürsorgezóglingen Han-

novers 204 idiotisch bis leicht imbezill, d. h. etwa 54%, Mönkemüller unter 589 schulpflichtigen Fürsorgezöglin- gen Hannovers 172 oder 29% Oligophrene,

28 Das kommende Geschlecht

Schnitzer unter 522 Fürsorgezöglingen Pommerns 272 oder 52%,

Siefert unter 1057 Fürsorgezóglingen aus der Provinz Sach- sen 32 bzw. 42%.

Major unter 170 Fürsorgezóglingen Berlins 105 oder 62%,

Lund unter seinen 175 Hallzöglingen 59 oder 34%,

Gruhle unter 105 Flehinger Fürsorgezóglingen etwa 20% eigentlich Schwachsinnige und 45% unterdurchschnittlich Begabte.

Selbst wenn man annehmen will, daB die Zahlen in der Regel auch die ausgeprágteren Beschránktheitsgrade erfassen, zeigt sich doch, wie außerordentlich hoch die Beteiligung der Schwachsinnigen an den Insassen der Fürsorgeerziehungs- anstalten ist.

Völlig entsprechend ist der Anteil Schwachsinniger offen- bar an der Gruppe der eingeschriebenen Prostituierten. Sichel fand in Frankfurt unter 152 Prostituierten 31,6% Im-

bezille und Idioten,

Müller in Köln 30%,

Bonhoeffer in Breslau unter 190 Prostituierten über 31%,

Schneider in Köln unter 70 eingeschriebenen Prostituier- ten 54% Schwachsinnige.

Wenn wir endlich noch die Kriminellen heranziehen. um die schwärzesten Seiten des Bildes zu vervollständigen, so fand Warstadt unter Rückfälligen 30% Schwachsinnige, Bonhoeffer unter großstädtischen Bettlern 21%, Aschaffenburg unter 200 zu Gefängnis verurteilten Sitt-

lichkeitsverbrechern 36,5%,

Bonhoeffer unter 50 rückfälligen Kórperverletzern 22%,

Lumpp unter 60 Lebenslänglichen 15%.

Die ausgedehnteste Untersuchung stammt wohl von Riedl, der aus dem gut durchgearbeiteten Material der Kriminal- biologischen Sammelstelle am Zuchthause Straubing nur Ver- brecher heranzog, die mit dem gleichen Delikt mehrfach rück- fällig geworden waren, mindestens zweimal, also mindestens dreimal bestraft waren. Er fand unter

200 Körperverletzern 32% + 3,3 300 Betrügern 14% + 2,0 300 Dieben 31% + 24,

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 29

unter der Gesamtheit der Gewohnheitsverbrecher danach 25,1% + 1,5 Schwachsinnige.

Auch die Auszählung kleiner Untersuchungsreihen ergibt Entsprechendes. So untersuchte Schurich 31 vielfach Rückfällige, von denen etwa ?$ minderbegabt waren; von den 16 Verwahrungstypen waren aber 6 geistesschwach. Fuchs- Kamp fand unter ihren kriminell gewordenen Fürsorgezóg- lingen 16 von 38 minderbegabt oder imbezill, also etwa 42%.

VIL Prostitution und Schwachsinn.

5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Sichel (Frankfurt) ......

Müller (Köln) .......... Bonhoeffer (Breslau)

K. Schneider (Köln) ....

% 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50

Kümmern wir uns auch um die weniger schwarzen, aber doch noch bedenklichen Seiten im Dasein der Gemeinschaft, so wird man etwa an die Gruppe der Rentenneurotiker denken, die ihrer Persönlichkeit nach allerdings bisher nur in bescheidenem Umfange beforscht wurden. Die Zahlen gehen hier weit auseinander. Während Bonhoeffer nur etwa 10% intellektuell Defekte bis Imbezille unter den Rentenneuro- | tikern fand und Enke ausführt, daß die verschiedenen Schwachsinnsformen keine Rolle gegenüber den Psychopathen- gruppen spielen, fand Jolly 30% Minderbegabte unter seinen Rentenneurotikern. In Breslau zählten wir Gutbegabte 5%, aber 39% Debile. Hier handelt es sich lediglich um Neben- ergebnisse von Untersuchungen mit anderen Zielen und damit sicherlich um Minimalzahlen. Daß die tatsächlichen Verhält- nisse noch ungünstiger sind, möchte man aus Erhebungen ent- nehmen, wie sie etwa Maria Wagner von der Medizini- schen Universitáts-Poliklinik Bonn her gemacht hat. In ihrem unausgelesenen Material von 15 Probanden waren 6 schwach-

30 Das kommende Geschlecht

sinnig. Daß es sich hier um erblich Schwachsinnige handelt, geht aus den ausgedehnten Familienforschungen hervor, die unter den Blutsverwandten mehr als 10% Debilität und Im- bezillität aufdeckten, d. h. unter den 389 lebenden und toten Blutsverwandten im ganzen 46 schwachsinnige, von denen abgesehen von ihrer Debilität 27 noch dazu psychopathisch bzw. neurotisch waren. Maria Wagner schließt mit Recht aus ihren Untersuchungen, daß Schwachsinn als ausgespro- chen disponierendes Moment für die Entwicklung renten- neurotischer Reaktionen anzusehen sei.

Gar nicht erfaßbar oder doch bisher nicht erfaßt ist die Zahl schwachsinniger Krankenhausläufer. Nach mei- nen Erfahrungen schätze ich den Prozentsatz außerordentlich hoch. Hier fehlen aber alle eigentlichen Untersuchungen, so- daß ich lediglich mit meinen und meiner Mitarbeiter Ein- drücken aufwarten kann.

Endlich werden wir fragen, wie es denn inden Familien derSchwachsinnigen hergeht. Nur so können wir ein wirkliches Bild dessen gewinnen, was Schwachsinn für das Dasein bedeutet. Lassen Sie mich ein besonders glückliches Beispiel wiedergeben ich muß dabei allerdings eine Anleihe machen, denn ich selbst habe in glückliche Verhältnisse bei Schwachsinnigen keinen Einblick und dazu ein durch- schnittliches Beispiel aus meiner Sammelmappe. Die Anleihe mache ich bei dem außerordentlich menschenfreundlichen, gü- tigen JosefLundahl, der vom Visby-Asyl aus offene Für- sorge auf der Insel Gotland trieb.

Er verfolgte einen jungen Geistesschwachen in seine Hei- mat, der 19jährig in fremden Dienst gekommen und hier durch Überarbeitung und Unfähigkeit zur Eingewöhnung, wie die Mutter meint, auffällig geworden war und so in die Anstalt aufgenommen werden mußte. In der Familie, zu welcher der Kranke bald heimkehren konnte, fand Lundahl sehr har- monische Verhältnisse, den Vater, offensichtlich imbezill und unfähig, primitivster Arbeit vorzustehen, die Mutter, normaler als der Vater, und 8 Söhne; beide Eltern körperlich in bestem Zustand. Die Familie lebt vom Steinschlagen im Steinbruch. Nur der 28 jährige Älteste ist außerhalb in Arbeit. Der zweite ist der Anstaltspatient, der zu Hause arbeitet, Violine spielt und der Führer seiner Brüder bei der Steinbruchsarbeit ist.

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 3l

Nach ihm kommt ein tiefstehender Imbeziller, körperlich schwach und arbeitsunfähig, der nicht beim Militär war und nur ein bißchen mit Postkarten usw. handelt, aber das Akkor- dion spielt. Ihm folgt ein etwas hóherstehender Imbeziller, der immerhin militárisch ausgebildet werden konnte. Der 5. Bru- der ist wieder ein schwáchlicher Imbeziller, der seinen Kopf verlor, als er zum Militárdienst eingezogen werden sollte,

VIIL Kriminalität und Schwachsinn.

% [ 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Warsiadi-Rückfällige 300%

Bonhoeffer - Betiler 21%

Aschaffenburg - Sn verbrecher.......... 30%

Bonhoeffer - R 0

Lumpp-Lebenslüngliche 15% Riedl 200 Körperverleizer | 32%

Riedl 300 Betrüger 14%

Riedl 300 Diebe 31%

Riedl 800 Gewohnheilsver- drech er 25,1 + 1,5

% 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50

Messer im Bett glaubte, von Schüssen und Gewehren sprach, aber sofort gesund wurde, als er erfuhr, daB er nicht einge- zogen werden würde. Auch er spielt gut Violine. Der náchste 19 jährige Bruder ist gescheiter als die anderen und gilt bei ihnen als heiter und erfolgreich. Dann kommt ein 17 jáhriger Bruder, offensichtlich imbezill und in der Entwicklung zurück, der aber ziemlich gut im Steinbruch arbeitet. Es bleibt schlieB- lich noch ein 12 jähriger Idiot, der gar nichts zu tun vermag. Zwischen allen Brüdern herrscht groBe Liebe. Lundahl

32 Das kommende Geschlecht

schreibt dazu: „Hier sind die Fähigkeiten minimal, was aber daraus geworden ist, ist diesen Fähigkeiten angepaßt. Wir können tatsächlich mit Leibniz sagen, daB wir hier „die beste aller Welten“ vor uns haben. Diese Jungen erhalten sich selbst oder nehmen ihren Unterhalt sozusagen unmittelbar aus dem Boden. Sie sind von niemand abhängig, sie belasten nie- mand. Um Vergleiche zu haben, müssen wir zurück zu primi- tiven Völkern gehen, die ihren Lebensunterhalt unmittelbar aus der Natur nehmen. Diese Jungen wünschen nichts, sie sind zufrieden in ihrer Liebe zueinander im Familienkreis. Nichts zwingt sie in Lebenslagen hinein, mit denen sie nicht fertig werden; aber wir sehen, daß Gefahren sie bedrohen, sobald sie ihre begrenzte Sphäre verlassen (einer hatte kein Glück bei einer Stellung außerhalb der Familie und alle wurden see- lisch durch die Drohung des Militärdienstes in Mitleidenschaft gezogen). Jedes andere Los, das Minerva ihnen aus dem Tempel des Schicksals hätte zuteil werden lassen, würde wahrscheinlich einen völlig zerstörenden Einfluß auf sie alle ausgeübt haben. Nähme man ihnen den Steinbruch, so würde ihrer aller Leben wahrscheinlich trostlos sein, vor allem wenn man sie sich in eine Großstadt versetzt denkt, oder wenn man die Möglichkeit ins Auge faßt, daß eines von den Eltern in jungen Jahren gestorben wäre. Aber so wie es ist, gehen die Dinge gut. Dieser Fall scheint mir zu zeigen, daß es für jedes Individuum und jede Familie eine Welt gibt, welche die beste aller möglichen ist." Diese Ausführungen sind zugleich kenn- zeichnend für so manchen Menschenfreund, der geneigt ist, das Schicksal des Einzelnen vor dem der Gemeinschaft zu sehen.

Und nun ein anderes Bild: Ein in München zugereister, jetzt 58 jähriger Flickschneider aus Preiskretscham, debil, und seine debile Ehefrau, jetzt 47 Jahre alt, die 14 mal geboren hat, von mindestens 3 Männern. Aus der ersten Ehe leben 2 Kinder, ein Sohn, der bald fern der Familie, arbeitslos, aus seinem erlernten Beruf zum Handlangen kommt, und eine Tochter, geistesschwach und überall fortgeschickt, die wenige Zeit nach der letzten Geburt der Mutter selbst eine Totgeburt durch- macht. Dann kommt eine uneheliche Tochter der Frau, die von den Eltern daheim behalten und auch auf die dringlichsten Vorstellungen und energischsten Schritte der Ämter nicht zur Arbeit geschickt wird, weil sie ja doch, wie die Eltern sagen,

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 33

heiraten wird. Weiter folgt eine Schar jüngerer Kinder, von denen Schlimmes bisher nicht verlautet. Ich berichte hier nur Aktenbekanntes aus ein paar Jahren:

Seit 1922 wird die Familie zweimal exmittiert und beim letzten Mal stehen die Möbel tagelang auf der Straße. Mann, Frau, Kinder sind an verschiedenen Stellen in Heimen und Asylen untergebracht, um dann in eine Barackenwohnung zu kommen. Nach 4 Wochen ist es endlich so weit. Beim Ein- zug ,überhebt" sich der Ehemann Ahnliches kommt immer wieder vor —, sodaß er lange Zeit krankfeiern muß. In der neuen Wohnung besitzt die ganze groBe Familie nur ein Bett und eine Matratze, sodaB zunáchst eine entsprechende Zahl von Decken zugewiesen werden muB. Der Mann wird es ist Winter zum Schneeschaufeln kommandiert. Er fállt na- türlich an einem der ersten Tage hin, sodaB er, angeblich we- gen Gehirnerschütterung, Schadenersatzansprüche an die Stadt stellen kann. Zu gleicher Zeit liegt die Frau, die vor kur- zem eine Fehlgeburt hatte, krank im Bett. Dafür gibt in eben dieser Notlage die älteste geistesschwache Tochter freiwillig ihre Arbeitsstelle auf, um einen Kinderpflegekurs durchzu- machen. Wenig später streitet der Mann mit der Frau. Er will nämlich die Erziehungsbeiträge der Kinder heraushaben angeblich will er Schulden bezahlen —, und als er sie nicht bekommt, verläßt er die Familie, um sich dann mit einem my- stischen Beinschaden (Schmerzen im Knie) zurückzufinden. Im folgenden Winter ist es bei großen Schulden trotz aller Unterstützungen so weit, daß die Kinder nicht mehr zur Schule gehen können, weil sie keine Schuhe haben. Immer wieder greift die Fürsorge energisch ein, die Verhältnisse bleiben aber gleich trostlos. Der Mann hat höchstens geringen Verdienst als Flickschneider, und es ist begreiflich, daB sich die Kunden allmáhlich verlieren, da die Wohnung stets einen schlechten Eindruck macht. Nie ist aufgeräumt, es ist schmutzig und besonders das Schlafzimmer voll Ungeziefer. Die Frau ist angeblich immer leidend. Der Mann ist als un- wirtschaftlich und arbeitsfaul verrufen, und er stellt sich über- all so total verlottert und wenig vertrauenerweckend vor, daB er eine Absage bekommen muß. Geschenkte Wäsche wird getragen, bis Sie schwarz vor Schmutz ist, und die ab- getragenen Lumpen sind dann im Keller zu finden. In der

3

34 Das kommende Geschlecht

Familie wird immer gut gelebt, so lange Geld da ist, aber ge- hungert, wenn es verbraucht ist. Dabei kommt es vor allem auf Vermittlung des Bundes der Kinderreichen zu vielfachen Unterstützungen von allen móglichen Seiten. Es besteht der dringende Verdacht, daB die Familie Sachen zerschlágt, um ihre Bedürftigkeit vorzutäuschen und Mitleid zu erregen. Die Nachbarn sind erbost über die Faulenzer. Aber der Mann ist tatsáchlich nicht anpassungsíáhig. Er ist ungeschickt, stellt wenig vor. Vermittelt man ihm Schneiderarbeit, so macht er sie so schlecht, daB ihm nichts mehr zugewiesen werden kann. Versucht man, ihm doch wieder Konfektionsarbeit zu ver- schaffen, so lehnt er sie selbst ab, angeblich, weil er sich die Augen dabei verderbe. Er will nur MaBarbeit machen. Die Frau ist schmutzig, elend und verkommen. Die Kinder sehen bleich aus, sind ármlich angezogen, tragen geschenkte Klei- der bezw. Lumpen, da anscheinend nicht das Talent, das Ver- ständnis und die Möglichkeit zum Instandhalten besteht. Die Kinder leben von der Schulsuppe.

Zum Schluß lassen Sie mich die Frage stellen, wie viele Schwachsinnige unter uns leben. Hält man sich an die amtlichen Schwachsinnigenzáhlungen, dann ist die Zahl schon groB genug. So betrágt nach dem Statistischen Jahr- buch von 1932 die Zahl der geistig Gebrechlichen 230 000. Je- doch ist ohne weiteres klar, daB damit nur die schwersten Formen, und auch diese nicht ausnahmslos, wahrscheinlich nicht einmal zu einem sehr hohen Bruchteil gefaßt sind. We- sentlich hóhere Werte ergeben schon die Auszáhlungen der Durchschnittsbevólkerung, wie sie von Rüdins Institut aus vorgenommen sind. Die Zahlen weichen aber in ziemlich er- heblichem Maße voneinander ab und schwanken zwischen 0,6 © und etwas über 2%, zum Teil wahrscheinlich wegen des ganz verschiedenen Ausgangsmaterials, zum Teil weil die Kriterien der Abgrenzung der Schwachsinnszustände etwas verschie- dene waren. DaB es bei solchen genealogischen Erhebungen nicht gelingt, die Schwachsinnigen leichteren Grades zu er- fassen, móchte ich aus Bruggers Auszáhlung einer einheit- lichen Wohnbevölkerung von mehr als 37000 Köpfen ent- nehmen. Brugger fand hier eine Schwachsinnerkrankungs- wahrscheinlichkeit von 0,59, und zwar im Landkreis Stadt- roda, also in Thüringen. In Thüringen sind aber durchschnitt-

Die eugenische Bedeutung des Schwachsinns 35

lich 2,2% der Schüler in Hilfsschulen dort, wo Hilfsschulein- richtungen bestehen; in ganz Thüringen, also offenbar auch die Orte ohne solche Einrichtungen mitgerechnet, sind 1925 1,67% Hilfsschüler gezählt worden. Gewiß scheinen auch hier gewisse regionäre Unterschiede zu bestehen es ist aber doch nicht wahrscheinlich, daB gerade in Stadtroda so viel weni- ger Schwachsinnige sein sollten als sonst in Thüringen.

Den sichersten MaBstab geben nach allem, was ich mit- geteilt habe, immer noch die Finschulungen in die Hilfsschulen, die in Deutschland durchschnittlich 1,5 bis 2% betragen dürf- ten. Wenn es sich hierbei auch keineswegs ausschließlich um erblich Schwachsinnige handelt, so machen sie doch den weitaus größten Teil aus. Auf 100 Menschen in Deutschland 1 bis 2 Schwachsinnige oder doch in erheblichem Maße Unter- begabte, die ihre Unzulänglichkeit ihrem ungünstigen Erbgut verdanken das ist eine unzweifelhafte Tatsache. Und sie wiegt so schwer, daß die mancherlei Bedenken, die gegenüber den Forderungen der Eugenik auftauchen mögen, ernstlich nicht ins Gewicht fallen können.

36 ; Das kommende Geschlecht

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Rodenwaldt: M. Psychiatr. 17, Erg. Bd. 17, 19, 67.

Rüdin, E.: Über Vererbung geistiger Stórungen. Z. Neur. 81, 1922, S. 459.

Schickenberg: Zit. nach Eugenik, 1, 1931, H. 5.

Schneider, K.: Studien über Persönlichkeit und Schicksal eingeschrie- bener Prostituierter. Berlin 1926.

Schurich, J.: Lebensläufe vielfach rückfälliger Verbrecher. Leipzig 1930.

Smith, J.: Das Ursachenverhältnis des Schwachsinns beleuchtet durch Untersuchungen von Zwillingen. Z. Neur. 125, S. 677, 1930.

v. Verschuer: Z. f. ind. Abst. u. Vererb. 54, 1930.

Wagner:D. Z. Nervenheilkunde 123, 1932, S. 230.

Warstadt A.: Vergleichende kriminalbiologische Studien an Gefangenen. Z. Neur. 120, 1929, S. 178.

Wemmer: Z. Kinderfsch. 40, 1932, 105.

DAS KOMMENDE GESCHLECHT

Don Band I ift noch lieferbar:

Zur Wertung des Kindes (Heft 4, M. 1.80) Der Kinderfegen in feiner Bedeutung für das natürliche und ſittliche Wohl der Familie (Seeberg) / Die Wertung des Kindes durch die Verwaltung einer deutſchen Großſtadt (Schickenberg) / Wohnungsfürforge für kinderreiche Familien (Luther) / Die Familie in der Fabrikwohlfahrt (v. Glü⸗ mer) / Einige Forderungen der Raffenhygiene zum Wohle der 5 (Lenz) / Selbſthilfe und die Bünde der Kinderreichen (Stoffers) / Sur ertung der Qualität des Kindes (Muckermann).

x Don Band H find noch erhältlich: Wie behüten wir die Familie vor Gefdhlechistrantheiten, Tuber fufofe und Alkoholismus? (80h 2, M. 1.80). Wie bewahren wir die Familie vor den Geſchlechts krankheiten d Doten) / Wie überwinden wir den Einfluß der Tuberkuloſe auf die Familie der Gee genwart? (Bönniger) / Wie behüten wir die Familie vor dem Einfluß bes Alkoholis⸗

mus? (Bluhm) / Geſchlechtliche Sittlichkeit / Auf dem Wege zur Ehe / Kinderſchickſale ehelich und unehelich Geborener / Doſtojewskis Kritik der Proftitution(Mudermann),

Wohnung und wirtfchaftliche Sicherung der naturtrenen Normalfamilie (Doppelheft 3/4, M. 1.80). ohn und Wohnung (Kohn) / Um das Kleinhaus(Paulſen) / Wie iſt die Wohnungs⸗ und e nege m Dienfte der naturtreuen Normal- familie zu geftalten? (Briefs⸗Weltmann) / Wie ift die wirtſchaftliche Sicherung der naturtreuen Normalfamilie zu gewinnen d (Joos) / Das Reichsmietengeſetz und die kinderreiche Familie (Schmitz) / Umſchau und Bücherbeſprechungen.

x Band III (vollſt. M. 8.10, einzeln nur noch Dj. 8 u. 4)

Kinderwohlfahris pflege auf Grundlage der Erfahrungen in Erfurt. Don Dr. K. Trutz (Doppelheft 1/2

M. 2.25).

Jugendrecht, Jugendſchutz und Jugendwohlfahrt in der deutſchen Gefeggebung, Don Geh..

at Profeſſor Dr. Martin Faßbender. (Heft 5, M. 4.05).

Das Wiſſen und Wollen der beiden Geſchlechter in den Entwicklungsjahren der Reife (Heft 4, M. 1.80). Inkretion und werdende Reife (J. W. Harms) / Seeliſche Eigenart der beiden Geſchlechter in der Zeit der werdenden Reife (Charlotte Bühler) / Das Wiſſen in den Entwicklungs⸗ jahren (J. Muckermann) / Das Wollen in den Entwicklungs jahren (Prof. Dr. E. G. ur). | Das Sufammengehen der beiden Geſchlechter in der Seit der werdenden Reife (Dr. Hanna Gräfin von Peſtalozza) / Umſchau.

x Band IV (vollſt. M. 9.45)

Zur praftiihen Löſung des Wohnungsproblems aus mehreren charakteriſtiſchen Städten (Heft 1, M. 1.50). Die Wohnungsknapp⸗ heit (Prof. Dr. Meyer) / Wohnungsbau der Stadt Freiburg (Stadtverordn. Marbe) / Die Wohnungsfrage in Worms (Beigeordn. Winkler). Naſſenforſchung und Volk der Zukunft Ein Beitrag zur Einführung in die Frage vom i chen Werden der Menſch⸗ de be Dr. Hermann Muckermann. (Heft 2, M. 2.25. Einzeln nicht mehr eferbar.

FERD. DUMMLERS VERLAG . BERLIN SW 68 u. BONN“

Hy DAS KOMMENDE GESCHLECHT

Der Alkoholmißbrauch Von Geh. Medizinalrat Dr. Max Fiſcher. (Heft 3, a 2.70). Die Lebenstrifis des deutſchen Volkes |

Geburtenrückgang, Fürſorgeweſen und Familie. Don Stadtobermedizinalrat Dr. Hermann Paull, . Heft 4, M. 3.15. Auch als Sonderdruck erſchienen.)

| Band V (eue Folge) | Weſen der Engenif und Aufgaben der Gegenwart. Don Dr. Hermann Mudermann. (Doppelheft 1/2, M. 2,25).

Pfuchiatriſche Indikation zur Steriliſierung von Prof. Dr. Ernſt Rüdin, Abteilungsleiter an der Deutſchen Forſchungs anſtalt

für Pſychiatrie. (Heft 5, M. 1.80. Einzeln nicht mehr N Bevölkerungsfrage und Sieuerreform.

Don Oberregierungsrat Dr. Friedrich Burgdörfer, Direktor im Statiſtiſchen Reidhsamt, Berlin. (Heft 4/5, M. 5.55). |

Erbſchädigung beim Menſchen. Don Prof. Dr. Eugen Fiſcher, Direktor bes Kaiſer e für Anthropologie, menſchliche Erblehre und Eugenik. (Heft 6, M. 1.80). x

Band VI (Jedes Heft auch als Sonderdruck erhältlich.)

Eugeniſche Eheberatung. Don prof. Dr. Hermann Muckermann und Privatdozent Dr. O. Frhr. v. Verſchuer. (Heft 1/2. M. 2.50.)

Der Ausgleich der Samilienfaften. Don Prof. Dr. Fritz Lenz. (Heft 5. M. 2.25.)

Die Eugenik u. bie Ehe: u. Familiengeſetzgebung in Sowjeirußland. Don Dr. med., phil. et jur. Albert Niedermeyer. (Heft 4/5. M. 5.40.)

Pſychiatriſche Heillnnde und Eugenik. Don Priv.-Doz. Dr. Hans Luxenburger. (Heft 6. M. 2.25.)

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Band VII: (Jedes Heft auch als Sonderdruck erhältlich.)

Erziehnngsprobleme

m Gre von Erblehre und Eugenik. Don Prof. Dr. Günther Juft. (Heft 1) . 2.50.

Die neuropathiiche Familie Eugeniſche Betrachtungen auf familienpathologiſcher Grundlage mit Vorſchlägen zum Aus bau der Familienforſchung. Von Priv.⸗Dozent Dr. F. Curtius. Mit 6 Figuren und einer Tabelle. (Heft 2. M. 2.80)

Die eugeniſche Bedeutung des Schwachſinns Don prof. Dr. Johannes Lange. Mit 8 Tafeln. (Heft 3.)

- (Weitere Hefte erſcheinen in raſcher Folge)

FERD. DUMMLERS VERLAG . BERLIN SW 68 u. BONN a-

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SEP 8 195.

DAS KOMMENDE GESCHLECHT

ZEITSCHRIFT FÜR EUGENIK ERGEBNISSE DER FORSCHUNG

Herausgeber und Schriftleiter: Prof. Dr. Hermann Muckermann, Berlin-Schlachtensee

BAND VII, HEFT 4—6

DIE LEHRE VON DER ENTWICKLUNG UND VERERBUNG UND DAS CHRISTENTUM

Erwägungen aus dem Grenzgebiet

von

HERMANN MUCKERMANN

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FERD. DUMMLERS VERLAG - BERLIN UND BONN

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DAS KOMMENDE GESCHLECHT

erscheint in freier Folge. Sechs Hefte bilden einen Band. Die Verantwortung tür die einzelnen Beiträge dieser Zeitschrift tragen die Verfasser selber. Alle Zuschriften, die die Schriftleitung betreffen, sind zu richten an den Herausgeber, Berlin-Schlachtensee, Klopstockstr. 44/46. Da in jedem Heft wie im vorliegenden ein Grundgedanke durchgeführt werden soll, wird dringend gebeten, ohne vorherige Anfragen keine Handschriften einzusenden

INHALT: Seite

I. Im Grenzgebiet der Naturphilosophie . . . . . 2 . . 1 IL Der Grenzüberschritt und die Entelechie . . . . . . . . .. 9 III. Im Grenzgebiet der Ethik . . . . . 2 2 2 2 „17

SCHRIFTEN v. HERMANN MUCKERMANN

EUGENIK

Mit 34 Abbild. auf Tafeln u. im Text. Gr.8°, 184 S, Geb. M. 5. 85 (Soeben ersch.)

Man darf dieses Lehrbuch als die reife Frucht einer Lebensarbeit bezeichnen. Es faßt mit streng wissenschaftlicher Umgrenzung die Ergebnisse der Forschung zusammen, die zur Gestaltung der Eugenik geführt haben und zeigt wiederum mit streng wissenschaftlicher Umgrenzung und darum für jedes Kind unseres Volkes verbindlich —, was geschieht und geschehen muß, um diese für die Zukunft unseres Volkes entscheidende Wissenschaft in das nationale Gewissen zu versenken und zu erreichen, daß auf deutscher Scholle ein blühendes Volk aus dem biologischen Erbe unserer Ahnen werde.

EUGENIK UND KATHOLIZISMUS

2. Aufl. (3.—5. Tausend). Geb. M. 2.30 (Soeben erschienen)

Die Grundlage dieses Buches findet eine autoritative Antwort in der Enzyklika Casti connubii Papst Pius XI. Dementsprechend behandelt der zweite Teil dieses Buches die Assimilierung der Eugenik im Katholizismus, Um jedoch möglichst klar herauszustellen, was durch die Forschung erarbeitet worden ist und was vom Katholizismus übernommen wurde, wird diesem zweiten Kapitel ein erstes vorausgeschickt, das sich unabhängig von jeder kirchlichen Lehre mit dem Wesen der Eugenik und den Ergebnissen eugenischer

orschung auseinandersetzt. Der Zweck des Buches ist es, Grundsätzliches herauszu- arbeiten, der Versöhnung der Geister zu dienen und die Baha für eine nationale Eugenik weiter auszubauen.

RASSENFORSCHUNG u. VOLK DER ZUKUNFT

Ein Beitrag zur Einführung in die Frage vom biologischen Werden der Menschheit. 3. Auflage (7.—9. Tausend). Geb. M. 2.95 (Soeben erschienen)

„Als glánzender Redner und geschickter Lehrer versteht Muckermann es wie wenige, die Grundlagen der Rassenbiologie verständlich und fesselnd darzustellen. Ein sehr erheblicher Teil der bisherigen Erfolge des rassenbygienischen Gedankens ist sein Verdienst."

(Reclams Universum) DIE FAMILIE Gesamtauflage ½ Million! Jedes Heft 35 Pfg.

1. Die naturtreue Normalfamilie. 5. Werdende Reife.

2. Die Mutter und ihr Wiegenkind. 6. Eugenik.

3. Keimendes Leben. 7. Die Ehe-Enzyklika Papst Pius XI. u. 4. Eheliche Liebe. die Eugemk.

UM DAS LEBEN DER UNGEBORENEN

4. Auflage. 16.—20. Tausend. M. 1.35 Ferd. Dümmlers Verlag, Berlin SW 68 und Bonn (Gegr. 1808)

Dieses Heft wurde ausgegeben im Juli 1934

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DIE LEHRE VON DER ENTWICKLUNG UND VERERBUNG - UND DAS CHRISTENTUM

Erwägungen aus dem Grenzgebiet. Von HERMANN MUCKERMANN.

I. IM GRENZGEBIET DER NATURPHILOSOPHIE.

Wer das Grenzgebiet zwischen moderner Biologie und Christentum erreichen will, muB weite Wege gehen, gleich- gültig, ob er aus dem Reich der Biologie oder aus dem Reich des Christentums kommt. Denn das Christentum ist seinem Wesen nach die góttliche Offenbarung von Erkenntnissen, die wir niemals mit den Mitteln rein natürlicher Forschung er- reichen kónnen, und die moderne Biologie ist ihrem Wesen nach, wie alle Naturwissenschaften, das Ergebnis von Unter- suchungen, die der Menschengeist auf der Grundlage des Kau- salitátsprinzips erarbeitet. Das natürliche Grenzgebiet aber steht unter der Oberhoheit der Naturphilosophie und der natür- lichen Sittenlehre.

Solange wir über das Werden und die Entwicklung des Lebens nicht mehr behaupten, als wir tatsáchlich beobachten oder unmittelbar aus vorliegenden Tatsachengruppen schließen, haben wir das Grenzgebiet noch nicht erreicht. Ich erwáhne als Beispiele die großen Ergebnisse der Erbfor- schung und der Untersuchungen über das Ent- wicklungsproblem.

Ein Mendel hat bereits 1865 das Grundgesetz der Verer- bung in seiner Schrift „Versuche über Pflanzenhybriden“ be- wiesen. Die Forschung hat seit 1905 das gleiche Gesetz auf die Eigenschaften des Menschen angewandt, auch auf Geistes- krankheiten und Verbrechen. Es wáre tóricht, wenn man be- haupten wollte, daB die seelischen Eigenschaften des Menschen nicht wenigstens insoweit aus dem ererbten Keimgefüge stam- men, als, solange die Seele zur Lebenseinheit mit dem Kórper verbunden ist, die Gehirnzentren Organe seelischer Betátigung sind, ohne die solche Betätigung gänzlich gestört oder unmóg- lich sein würde.

1

2 Das kommende Geschlecht.

Was von der Vererbung gilt, gilt von der Entwicklung. Die Entwicklung der Arten wird heute nicht mehr bestritten. Bio- geographische Tatsachen, palaeontologische Urkunden, ver- gleichende Morphologie, Physiologie und Entwicklungsge- schichte lassen keinen Zweifel mehr zu, wenn es auch noch nicht möglich ist, das „Wie“ der Entwicklung genügend zu klären. Doch selbst hier wurden wichtige Fährten entdeckt, denen man getrost folgen darf. Ich erinnere an den Grund- gedanken des Darwinismus von der Auslese, durch die zwar keine neuen Formen entstehen können, die aber das Überleben entstandener Formen sichert. Ich erinnere weiter an die Mu- tationen, die, wie vor allem Mullers Untersuchungen an Droso- phila melanogaster beweisen, eine wirkliche Erbänderung dar- stellen hervorgerufen durch Einflüsse, die das Keimgefüge in einer bestimmten Zeit seiner Entwicklung erschüttern. Auch dafür, daB der Mensch nach seiner körperlichen Seite in den Kreisgang der Entwicklung einzuordnen ist, mehren sich die Indizien. Ich brauche nur auf die neuen Forschungen über Pithecanthropus und den verwandten Sinanthropus hinzuwei- sen, die, insoweit als das Körperhafte in Frage kommt, wohl nur cntwicklunzstheoretisch gedeutet werden können ganz ab- gesehen von den Analogieschlüssen, die uns nicht erlauben, Ausnahmen zu machen.

Keine Religion dürfte es wagen, an gesicherten Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung zu rütteln. Sie hätte die Grenzen ihres Reiches überschritten und müßte über kurz oder lang das zu Unrecht besetzte Gebiet wieder räumen ebenso wie die Biologie, die sich mehr zu behaupten getraute, als sie weiß. Ich erinnere an den Freiheitskampf eines Vesal, der vor 400 Jahren als erster anatomischer Denker die Autorität eines Galen und damit das Autoritätsprinzip in der Biologie zerbrach.

Eine Begegnung im Grenzgebiet zwischen moderner Biologie und Christentum vollzieht sich also erst in dem Augenblick, wo die letzten Urs achen biologischen Geschehens geklärt wer- den sollen.

Der Biologe mag wie ein Darwin in seinem Reich bleiben und erklären, daß er kein Metaphysiker sei. Doch im Grunde ist er ein echter Mensch, mit einem Geist, der unermüdlich wie das Meer immer wieder mit seinen Fragen an alle Ufer

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Die Lehre von der Entwicklung u. Vererbung u. das Christentum. 3

schlägt, um sie in die Tiefen zu reiBen. Man mag den rastlosen Wogen mit überlegener Gebárde das Wort von Du Bois-Rey- mond zurufen, daß wir nichts wissen und nichts wissen werden, so werden sie trotzdem in ewig gleichem Rhythmus dem Drang tiefster Sehnsucht gehorchen, die nach Aufklärung über Ur- grund und Ziel der Menschheit begehrt. So verläßt man das Reich der biologischen Forschung und befindet sich im Gebiet der Naturphilosophie, das uns unmittelbar vom Hoheitsgebiet des Christentums trennt.

Wir wollen im Grenzgebiet bleiben und nicht zu jenen Tiefen und Höhen hinüberschauen, die nur durch gött- liche Offenbarung erschlossen werden können. Denn es handelt sich janur um die Frage, ob der An- spruch des Christentums biologisch gesehen berechtigtist, daB Gott der Urgrund aller Ent- wicklung und Vererbung des Lebens und im be- sonderenderUrgrund der menschlichen Seele ist.

Selbstverstandlich ist der Begriff Gott dabei streng meta- physisch zu fassen und nicht etwa eine vielleicht sinnige, aber im Grunde doch immer naive Konstruktion menschlicher Phan- tasie mit dem Gottesbegriff zu verwechseln. Wenn ich „Gott“ sage, dann meine ich ein Wesen, das unabhangig von Zeit und Raum als einziges den Urgrund seines unwandelbaren Seins in sich selber tragt. Ein Wesen, das das Sein selber ist, wie es in den heiligen Biichern heiBt, wo Gott selbst nach der Dar- stellung des Verfassers dieser Bücher erklärt: „Ich bin Jahwe“ oder griechisch: ó ðv, d. h. der durch sich Seiende.

Meine Frage ist also, ob ich, ohne in Widerspruch mit bio- logischer Forschung zu geraten, Metaphysiker sein darf und ob ich als solcher den Anspruch des Christentums anerkennen kann, daß das Leben in seiner Entwicklung und Vererbung und daß im besondern die menschliche Seele den Urgrund des Seins in Gott dem Urgrund der ganzen Schópfung haben.

Wie schon gesagt, leugnet das Christentum kein einziges Ergebnis biologischer Forschung. Wer anders denken sollte, irrt sich wenn ich auch willig zugebe, daß gelegentlich z. B. selbst Theologen in der Ausdeutung der Heiligen Schrift unbegründete Ansprüche erhoben haben, indem sie nicht Got- tesgedanken in den heiligen Büchern suchten, sondern ihre

4 Das kommende Geschlecht.

eigenen zeitgebundenen Erkenntnisse nicht theologischer Art in die heiligen Bücher hineinprojizierten. Ich erinnere an jene gänzlich überflüssigen und bedauernswerten Kämpfe um den wahren Sinn des Schöpfungsberichtes, der keine Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung vorwegnimmt, sondern in tiefsinniger symbolischer Einkleidung tatsächlich nicht mehr und nicht weniger behauptet, als daß Gott der Urgrund aller Dinge ist und daß die Menschenseele in besonderer Weise auf Gott zurückgeht.

Worauf es ankommt, ist also nur das Eine, ob ich das Kausalitätsprinzip, das sonst für die biologische For- schung entscheidend ist, als Metaphysikerauftrans- zendente Ursachen anwenden darf.

Ich gebe gern zu, daß eine verfrühte Anwendung gänzlich verfehlt wäre und eine Hemmung für den Fortschritt sein könnte. Eine methodische Ausschaltung transzendenter Ur- sachen ist sicher geboten, um den Menschengeist vorwärts zu treiben, damit er die Erscheinungen der Natur auf bekannte Konstellationen chemisch - physikalischer Kräfte zurückführt. Ich behaupte weiter, daß unsere Kenntnis dieser Kräfte noch immer sehr unvollkommen ist, weshalb man vorsichtig sein sollte, wenn man von der Unzulänglichkeit solcher Ursachen spricht. Die Geschichte der Biologie beweist, wie eine ver- frühte transzendente Naturerklärung mehr und mehr an Boden verlor. Ich erinnere nur an organische Synthesen, die heute niemand mehr als Äußerungen einer transzendenten Entelechie deutet, oder an die Arten in der Entwicklungsgeschichte, die bestimmt nicht als unmittelbare Schöpfungen hingestellt wer- den dürfen. Trotz alledem ist nicht einzusehen, warum in den Fällen, wo die Unzulänglichkeit aller anderen Ursachen aus ihrer Natur heraus einleuchtend ist, die Annahme von transzendenten Ursachen methodisch unberechtigt sein soll.

Als Beispiel sei Hans Driesch gewählt, der das eben er- wähnte Wort „Entelechie“ aus den philosophischen Systemen längst vergangener Zeiten neu erweckte. Hans Driesch gründet seine Auffassung von dieser transzendenten Sonderheit in Or- ganismen darauf, daß kein rein mechanisches System denkbar sei, das eine zweckstrebige Anpassungs- und Entwicklungskraft in sich selbst trage, das sich fortwährend teile und doch ganz

Die Lehre von der Entwicklung u. Vererbung u. das Christentum. 5

bleibe, das verwundet, selbst zerschlagen werde und sich selbst restauriere.

Es kommt jetzt noch nicht darauf an, die Frage zu erörtern, ob die Gründe für die tatsächliche Annahme einer Entelechie durchschlagend sind, sondern nur, ob man es rein metho- disch als Metaphysiker ein unberechtigtes Schlußverfahren nennen darf, wenn man aus der inneren Unzulänglichkeit chemisch-physikalischer Kräfte auf transzendente Ursachen hinweist.

Ich behaupte vom Standpunkt der Naturphilosophie aus, daß eine ablehnende Stellungnahme wirklich nicht zu verstehen wäre.

Ist dem aber so, dann sind einzig die Gründe ent- scheidend, die die innere Unzulänglichkeit rein mechanischer Ursachen beweisen.

Ich beginne mit der menschlichen Seele. Sie stellt nach der Eigenart ihrer Tätigkeit ein Wesen dar, das durchaus übersinnlicher Natur sein muß, und das in seiner Seins- weise und darum auch in seinem Werden niemals aus der sinn- lich wahrnehmbaren Ordnung erstehen konnte. Ist es doch dem Menschengeist eigen, aus dem Sinnfälligen durch Abstraktion das Übersinnliche zu gewinnen, das begrifflich Allgemeine, das zum Unterschied von jeder rein sinnlichen Erkenntnis und von jedem Phantasiebild inhaltlich alles sinnlich Individualisierende abgestreift hat. Es sei nur an die Ideen und ihre Verknüpfung zu Syllogismen und Systemen erinnert. Darum ist es nur dem Menschen eigen, daß er aus innerer Einsicht zweckstrebig handelt und imstande ist, eine Kultur aufzubauen, die mit dem Feuer und mit Steinwerkzeugen beginnt und deren Wesen der Fortschritt ist. Hinzu kommt, daß der Mensch allein eine echte Sprache erfand, die auf Übereinstimmung beruht und nur durch Erziehung erlernt werden kann ganz im Gegensatz zur Scheinsprache der Tiere.

Die Worte „Entwicklung“ und „Vererbung“ im biologischen Sinn können daher niemals auf die Geistseele selbst angewandt werden, sondern immer nur auf die Organsysteme des Körpers, deren sich die Seele, solange sie mit dem Körper vereint ist, be- dient.

Ähnliche Erwägungen müßte man anstellen, wenn man von der EigenartdesLebens spricht. Denn nur dem Leben

6 Das kommende Geschlecht.

ist es eigentümlich, aus einem vorhandenen Erb- gefüge typische Gestaltungen und typische Funktionen selbstherrlich zu entwickeln und zwar so, daß, ganz anders als in physikalisch-chemischen Systemen, durch eine actio immanens Ausgang und Liel das Ganze ist und immer erst in Abhängigkeit vom Ganzenjedereinzelne Teil. Man beachte, wie jeder Eingriff in lebendige Formen sofort das Ganze zu Aus- gleichsversuchen drángt, die entweder zur Wiederherstellung des Gesamtorganismus oder zu Siechtum und Tod führen.

Das Lebensproblem mag in sich ein Weltrátsel sein und bleiben abgrundtief und unergründlich. Doch die Tat- sache, daß ein lebendiges System zuletzt grundsätz- lich verschieden ist von einem rein physikalisch- chemischen, ist kein Welträtsel mehr, sondern aus der selbst- herrlichen Autoteleologie, die auch dem primitivsten aller Lebe- wesen eigen sein muß, ersichtlich.

Wie wäre es denkbar, daß sich die Organismen mit dieser ihnen eigenen Zielstrebigkeit durch die Reihen der Entwicklung hindurch umgeformt hätten, wenn sie nicht imstande gewesen wären, sich selbsttätig zu ernähren, fortzupflanzen, sich in ver- änderte Lebensbedingungen einzuschmiegen, Verletzungen aus- zugleichen und durch Veränderung des Erbgefüges veränderte Organismen zu bilden? Unbewußt folgen sie einem inneren Gesetz, das sie aus dem Reich der toten Formen und Kräfte heraushebt.

Ist aber die Figenart des Lebens und im besonderen die Figenart der menschlichen Seele nicht zurückführbar auf chemisch-physikalische Konstellationen von Kräften, weil diese ihrem ganzen Wesen nach in sich unzulänglich dazu sind, dann wird man nichtnurzurErklärunglebendiger Funktionenimstrengsten Sinn,sondernauch für das Entstehen des Lebens und seine Ent- wicklung und Vererbung und im besonderen für das Entstehen der menschlichen Seele eine transzendente Erklärungsursache an- nehmen müssen. Es handelt sich um eine neue Seins- ordnung, die sich über Stoff und Kraft erhebt und die ebenso wie Stoff und Kraft im Anfang den Grund ihres Seins in einem Wesen haben muß, das das Sein selbst ist und

Die Lehre von der Entwicklung u. Vererbung u. das Christentum. 7

darum allein die unendliche Kluft vom Nicht- seinzum Sein überbrücken kann.

Wer glaubt, durch die Annahme von unendlichen Reihen von Welten dieser Schlußfolgerung entrinnen zu kónnen, der móge überlegen, ob durch eine solche Annahme die Eigenart der Glieder der Kette verándert wird. Die Zahl der Welten wird vermehrt, die Zeitdauer rückwärts und vor- wärts endlos verlängert, ein erstes und letztes Glied der Kette in verwegenem Traum ausgeschaltet. Aber die wesenhafte Abhängigkeit jedes Gliedes der Kette von einem anderen, jedes Weltsystems von Spiralnebeln, die in heißem Zusammenschlag den Kreislauf wieder beginnen, bleibt unverändert. Jedes Glied der Kette, jedes Weltsystem in der Folge der Welten ist selber eine gewordene Ursache. Keines trägt den Grund, warum es ist, in sich selbst. Wie könnte die Endlosigkeit die Ursachen ersetzen, derentwegen die Gesamtheit verursachter Welten ist. So wird das letzte Wort einer streng wissenschaft- lichen Naturphilosophie immer ein ehrfürchtiges Gottesbekennt- nis sein.

Die Biologie als solche hat wirklich keinen Grund, sich gegen solche Schlüsse der Metaphysik aufzulehnen. Und das Christentum seinerseits wird dieseSchlüssederMetaphysik, die eine ungeheure Beweiskraft durch die Quellen der Offenbarung erhalten, als Selbstverständlichkeit begrüßen.

Es kann sein, daß mir in unserer Zeit manche in meinem Beweisgang nicht folgen. Sie stehen gleichsam vor den Toren der Naturphilosophie und fürchten, den Schlüssel des Kausali- tätsprinzips, den sie sonst immer anwenden, hier nicht anwen- den zu dürfen, um das Tor zu erschließen. Sie fürchten, daB die Berufung auf Gott als den Urgrund der Dinge jede weitere Forschung hemmt und die unbefangene Naturerklärung trübt. Indessen brauche ich da nur auf so viele Meister naturwissen- schaftlicher Forschung hinzuweisen, die, tief durchdrungen von der inneren Überzeugung, daß Gott der Urgrund aller Dinge sein muß, sich erst recht in die Empirik versenkten und, gleich der rhythmisch wiederkehrenden Flut, aus diesen Abgründen ihrer Forschung von neuem zum Gotterkennen drängten. Ist es doch der einmal gewonnenen Gotterkenntnis eigen, daß sie ruhelos und bald auch mit heißer Liebe den Spuren des un-

8 Das kommende Geschlecht.

wandelbaren Seins in den Problemen des Wandelbaren nach- geht, den wogenden Systemen von Kräften und Gesetzen, welche die Funktionsgetriebe der Wandelbarkeit beherrschen und die das Werden des Lebens und dessen Entwicklung er- schließen.

Moderne Biologie und Christentum sollten immer ihre Ho- heitsrechte auf dem eigenen Boden wahren und nie- mals über die Grenzen ihrer Zuständigkeit hinaus Ansprüche stellen. Dann werden sie in dem großen Grenzgebiet, das zwischen ihnen liegt, sich gegenseitig Gast- freundschaft gewähren und bekennen, daß eine Naturphilosophie, die in Gott den Urgrundfür die Entwicklung und Vererbung des Lebens und im besonderen für die Entstehung der menschlichen Seele sucht, nicht allein nie- mals in Widerspruchmitsichselbstgerätoder auch nur ein einziges Ergebnis biologischer Forschung opfert, sondern auch methodisch fest verwurzeltim Boden der Forschung bleibt.

Von denen aber, die diese Auffassung nicht teilen, darf man sagen, daß sie zwar Gott verkennen, ihn jedoch trotzdem mit heiBer Inbrunst suchen. Rilke hat es in seinem Stundenbuch so ausgedrückt:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn.

Ich werde den letzten vielleicht nie vollbringen, aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,

und ich kreise Jahrtausende lang,

und ich weiB nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.

II. DER GRENZÜBERSCHRITT UND DIE ENTELECHIE.

Wer die Grenzen zwischen den Staaten der Gegenwart überschreiten will, muß mit Hemmungen rechnen. Es ist nicht anders in der Wissenschaft, zumal wenn man sich vom Boden der Empirik loslöst, um sich in das Reich des Transzendenten zu erheben. !

In dem ersten Abschnitt dieser Arbeit habe ich die Grenzen der Biologie überschritten, um in dem zwischenstaatlichen Reich der Naturphilosophie die Frage nach dem Urgrund jener Welt- und Lebensanschauung zu stellen, die dem Christentum eigentümlich ist. Fine vertiefte Einsicht verlangt, di e- sen Grenzüberschritt gleichsam mit der Zeit- lupe nocheinmalzusehen, und zwar insoweit, als es sich um die Gründe handelt, warum das Leben vor allem in seiner Entwicklung und Vererbung eine Gesetzmäßigkeit vor- aussetzt, die sich wesenhaft von den Gesetzmäßigkeiten nicht- lebendiger Systeme unterscheidet. Erst dann dürfen wir uns dem Grenzgebiet der Ethik nahen.

Ich verzichte auf die Darstellung der Geschichte des Pro- blems. Ich müBte sonst bis auf Aristoteles zurückgehen, dessen Vitalismus durch die Jahrhunderte hindurch besonders für die scholastische Philosophie maßgebend war. Fin überragender Vitalist der Gegenwart ist, wie ich schon früher erwähnte, Hans Driesch, der aus Verehrung für Aristoteles dessen Wort évteAéxeta (Entelechie) übernahm, um es mit neuem Inhalt zu erfüllen immer des ursprünglichen Sinnes gedenkend, daB in den Lebenserscheinungen ein Etwas eine Rolle spielt, „wel- ches das Ziel in sich selbst trägt“ 6 &yet év Eaut@ ce.

Damit habe ich bereits den Grundgedanken meiner Darlegungen vorweggenommen. Ich tat es, um die Wegrich- tung anzudeuten. Nun gilt es, den Weg selbst, den so viele Naturphilosophen seit Aristoteles gegangen sind, im Licht der Forschung der Gegenwart auszulegen.

Es ist unmóglich, alle Arten von Lebensgestaltungen und Lebensfunktionen philosophisch zu analysieren. Ich bescheide mich mit einer einzigen Gruppe von Erscheinungen, die für die

10 Das kommende Geschlecht.

Ontogenie oder für die Einzelentwicklung und für die Phylo- genie oder für die Entwicklung des Lebens überhaupt charakte- ristisch ist. Ich meine den FurchungsprozeB einer befruchteten Eizelle so genannt, weil dieser Vor- gang äußerlich sichtbar mit der Entstehung einer Furche auf der Oberfläche eines Eies beginnt. Im Innern besteht er aus Zellteilungen, die selbst wieder auf Spaltungen der stofflichen Grundlagen der Vererbung und Entwicklung zurückzuführen sind.

Ein günstiges Objekt zur Beobachtung ist das Frosch- oder Krótenei, dessen erste Formbildung man mit einer Lupe im Uhrglas verfolgen kann. Das Froschei ist kugelig von Gestalt und hat eine grauweiße und eine braunschwarze Polgegend. Die grauweiße ist schwerer und darum gewöhnlich nach unten gekehrt. Die beiden ersten Furchen schneiden sich unter einem rechten Winkel in den beiden Polen. Sie sind meridional. Die dritte Furche ist äquatorial. Sie teilt das Froschei in 8 Zellen; 4 kleine dotterarme am dunklen oder animalen Pol und ebenso viele dotterreiche am hellen oder vegetativen Pol. Schließlich entsteht durch fortgesetzte Teilung eine Art Maulbeerhügel oder Morula, die sich aus mehreren Zellagen zusammensetzt. Durch Finstülpungen und Ausstülpungen von Zellagen entstehen in einem ganz bestimmten Rhythmus die verschiedenen Organe mit allen Fáhigkeiten, die das Einzelwesen zu seiner individuel- len Betätigung und zu seiner Fortpflanzung benötigt.

Es ist hóchst bemerkenswert, daB man die einzelnen Zell- teilungen, die den Furchungen zu Grunde liegen, nur versteht, wenn man genau weiß, was aus den einzelnen Zellen werden soll. Das ideelle Schema des Herzustellenden beherrscht, wie Korschelt und Heider es in ihrem „Lehrbuch der vergleichen- den Entwicklungsgeschichte der wirbellosen Tiere" aus- drücken, jede Phase der Formbildung. Oder wie es in dem klassischen Buch von Wilson über die Zelle heißt: „we cannot comprehend the forms of cleavage without reference to its end- result“. Man nennt diese Beziehungen der Furchung zum End- ergebnis promorphologische. Mit anderen Worten, man hat den Eindruck, daß das zu gestaltende Ganze als Ganzes und nicht als Summe von Teilen bestimmend ist für jede Veränderung, die vorausgeht.

Die Lehre von der Entwicklung u. Vererbung u. das Christentum. 11

Die Frage ist nur, ob diese unzweifelhaften promorpholo- gischen Beziehungen, die man bis in die verschiedenen For- men der Chromosomenverteilung im FurchungsprozeB verfol- gen kann, einfach das Nacheinander von Stoff- und Kraftkon- stellationen darstellen, die uns in der Gesetzmäßigkeit ihrer Folge vitale Tendenzen vortäuschen, oder ob diese Beziehungen wirklich auf selbsttätige prospektive Potenzen zurückzuführen sind, d. h. auf Fáhigkeiten, die wie eine Direktive oder wie ein Bildner gleichsam vorausschauend das Endergebnis aus inne- rem Vermógen bestimmen.

Selbstverstándlich wird man nicht an Potenzen glauben, wenn eine äußere Folge von Stoff- und Kraftkonstellationen ge- nügt. Wer würde bei der Bildung von Kristallen selbsttätige prospektive Potenzen annehmen? Ein Kristall ist ein durchaus homogenes Molekuralaggregat im stabilen Gleichgewicht mit der gleichen Anordnung der Teile und Kráfte in jedem Punkt und in jeder parallelen Richtung. Seine Bildung erfolgt durch Auflagerung oder Einlagerung von Teilen aus einer vorhande- nen Lósung. Von einer Entwicklung kann überhaupt keine Rede sein, nicht einmal von Assimilation. Dies gilt auch von flüssigen Kristallen, die in jedem Teil die durch die Doppelbrechung an- gezeigte typische Kristallstruktur aufweisen und dem stabi- len Gleichgewicht zustreben.

Wollen wir die aufgeworfene Frage klären, so müssen wir die normale Entwicklung stó- ren.

Bleiben wir zunächst beim flüssigenKristall. Solche Gebilde sind gute Illustrationen, um den Gegensatz zu zeigen. Würde man einen flüssigen Kristall zur Kugel zusammen- drücken, so würde er sich beim Nachlassen des Druckes wieder zur Polyederform ausrecken. Zerteilt man den Kristall in Frag- mente, so wird sofort aus jedem Fragment ein regelmäßiger Ganzkristall. Die Erreichung des stabilen Gleichgewichtes ist bei jeder Zerstörung das einzige Ziel. Dies gilt auch für jede Reaktion flüssiger Kristalle auf äußere Reize, z. B. auf Erwär- mung und Abkühlung. Das scheinbare Leben des Kristalles er- starrt und kehrt wieder, so oft man eine bestimmte Tempera- turgrenze erreicht. Es ist immer nur ein beständiges Kristalli- sieren unter wechselnden Wärmebedingungen an den Tem- peraturgrenzen durch einen Übergang in die amorphe Gestalt

12 Das kommende Geschlecht.

unterbrochen. Ein Kristall wird immer nur von auBen durch eine actio transiens, die von einem Teil zum anderen übergeht, von einem Gleichgewichtszustand in den anderen getrieben. Jede selbsttätige prospektive Potenz ist ihm ebenso fremd wie einer kunstvoll gebauten Maschine aus physikalischen und che- mischen Bestandteilen, durch deren Zusammenwirken nur dann ein typischer Effekt erreicht wird, wenn keine Störungen, z. B. durch die Entnahme von Teilen, statttinden. Denn weder das Ganze allein noch irgend einer seiner Teile kónnte sich selbst oder die Teile ersetzen.

Ganz anders verlaufen die Experimente, die in den FurchungsprozeB eingreifen.

Ich will z wei Arten von Eingriffen besprechen. Durch die eine Gruppe wird die normale Umwelt der sich tei- lenden Zelle verándert, durch die andere die gegenseitige Lage der Zellen untereinander und innerhalb des ganzen Gebildes.

Ich beginne mit der Veränderung der normalen Umwelt. Die Ausschaltung der Schwerkraft und Zentrifugal- kraft durch Rotation der befruchteten Eizelle im Klinostaten ist ohne Einfluß auf die Entwicklung. Temperaturverschiebun- gen innerhalb enger Grenzen beschleunigen oder verzögern die Entwicklung. Starke Abweichungen oder einseitige Beeinflus- sung führen zu Mißbildungen durch örtlich begrenzte Hemmun- gen, die der wachsende Organismus deutlich zu überwinden sucht. Gleichartig in der Wirkung sind Veränderungen in der chemischen Zusammensetzung der normalen Umwelt. Seeigel- eier entwickeln sich gewöhnlich in einem kalkhaltigen Medium. Legt man sie in ein kalkfreies Medium, so trennen sich die Zellen voneinander. Werden sodann die losgelösten Zellen in ein kalkhaltiges Medium zurückgebracht, so entwickeln sich die einzelnen Gebilde entweder zu Teilembryonen, die, wenn sie nicht zu Grunde gehen, sich später ergänzen, oder zu normalen Embryonen von geringerer Größe. Wird der Kalkgehalt des normalen Seewassers verringert, so bleibt das Kalkgerüst der Seeigellarve rudimentär. Auch andere Entwicklungsstörungen treten auf. Sauerstoffmangel verzögert die Entwicklung oder führt zu Hemmungsmißbildungen. Werden Hühnereier bis auf den kleinen Raum über der Keimscheibe überfirnißt, so ent- wickeln sich normale aber sehr kleine Embryonen. Kurz, jeder Eingriff, der sich auf die Veränderung der normalen Lebens-

Die Lehre von der Entwicklung u. Vererbung u. das Christentum. 13

medien bezieht, erweist, daB diese Medien notwendige Bedin- gungen sind, von denen die eigentlich gestaltenden Krüíte des Organismus zwar in der Entfaltung ihrer Tätigkeit abhängen, nicht aber in der Eigenart ihrer Tätigkeit als Potenzen.

Die zweite Gruppe von Versuchen greift un- mittelbarindasinnere Getriebeein, um die Lage der Zellen untereinander und im Gesamtgebilde zu verándern. Gerade diese Gruppe von Fingriffen führt uns unmittelbar zu den selbsttátigen prospektiven Potenzen.

Der Entwicklungsmechaniker Wilhelm Roux hat bereits im Jahre 1883 einen in dieser Hinsicht grundlegenden Versuch durchgeführt, indem er mit einer heiBen Nadel eine der beiden ersten Furchungszellen des befruchteten Froscheies zerstórte. Die Folge war, daB sich die unverletzte Hälfte zu einem Halb- embryo entwickelte. Auf áhnliche Weise erzielte er aus dem vierzelligen Stadium einen Dreiviertelembryo. Spáter jedoch konnte Roux beobachten, wie sich die Teilembryonen zu nor- malen Individuen umbauten. In den Versuchen von Oskar Hert- wig entstanden überhaupt keine Teilembryonen, sondern im- mer leidlich normale Ganzembryonen. Den scheinbaren Wider- Spruch zwischen Wilhelm Roux und Oskar Hertwig lóste der amerikanische Forscher Thomas Hunt Morgan, indem er auf die Lage der Embryonen hinwies. Ist diese ungestört, so kommt es zu Teilbildungen, wird sie aber erschüttert, so bilden sich verkleinerte Ganzembryonen. Ganzembryonen erstehen immer, wenn die einzelnen Zellen voneinander gelöst werden. Hans Driesch erreichte dies z. B. durch Schütteln im Zweizellen- stadium. Es entstand eine normale Blastula, die, selbst wieder in Teile zerschnitten, zu so vielen normalen, wenn auch ent- sprechend verkleinerten Einzelwesen führte, als Stücke vor- handen waren. Auch völlige Verlagerung der Furchungszellen durch Druck macht es dem Gesamtgebilde durchaus nicht un- möglich, eine normale Entwicklung durchzusetzen.

Besonders bemerkenswert sind die Eingriffe, die Hans Driesch an der Seescheide Clavellina vornahm. Der Körper dieser Aszidie ist 1 bis 2 cm lang und besteht aus zwei Teilen: dem Kiemenkorb mit der Kieme und den Ein- und Ausströ- mungsöffnungen für das Nahrungs- und Atmungswasser, und dem angegliederten Teil, der Herz, Darm und Fortpflanzungs- organe umschließt. Wenn man die beiden Teile des Körpers

14 Das kommende Geschlecht.

voneinander trennt, so kann jeder einen anderen in typischer Sprossung von der Wunde aus regenerieren. Gleichzeitig kann der Kiemenkorb seine Organisation verlieren, um dann von neuem nicht etwa einen Kiemenkorb zu bilden, sondern eine ganze normale Clavellina. Es ist gleichgültig, ob hier, wie Hans Driesch behauptet, eine Rückbildung und dann folgende Neubildung vorliegt, oder ob, wieSchaxel wahrscheinlich macht, die Neubildung auf Reservezellen zurückgeht, die noch nicht differenziert wären. In jedem Fall erkennen wir, wie das zer- schlagene Gebilde noch immer ein Ganzes bildet, das sich typisch entwickelt. Ja wir kónnen bei diesem Experiment so weit gehen, daB wir aus jedem beliebigen Teil des Ganzen von neuem das Ganze entwickeln. Dabei ist es mehr oder weniger unwichtig, wie groß der Teil ist, den wir wählen.

Aus diesen Eingriffen in den normalen Lauf des Furchungs- prozesses folgt ohne weiteres, daB zwar aus jeder Zelle bei un- gestórter Lage im Ganzen ein bestimmter Teil des Organismus wird, daB aber zugleich jeder Teil wenigstens im Anfang die Fähigkeit bewahrt, das Ganze, das sonst aus der Totalität der Zellen wird, allein zu gestalten. Eineiige Zwillinge beim Men- schen werden ja genau so gebildet. Es ist somit die tatsáchliche Entwicklung abhángig von der Lage der Teile im Ganzen und vom Einfluß des Ganzen auf die Teile und der Teile voneinander. Das Ganze ist immer zu fassen als Ganzheit und nicht etwa als Summe von Teilen. Diese Umbildungskraft, die bei manchen Organis- men wie z. B. bei der Clavellina auch nach vielen Teilungen der Zellen noch erhalten bleibt, findet zumeist bereits sehr früh ihr Ende. Tótet man z. B. durch einen galvanischen Strom die unteren oder oberen 4 Zellen des Froscheies, so entwickeln sich die unverletzten 4 Zellen weiter, um dann schlieBlich abzuster- ben, ohne daß Regulationen eintreten. Innerhalb der einzelnen Zellagen indessen bleibt diese Umbildungskraft nach Zerstö- rung von Teilen noch lange erhalten, wie zuletzt jede Heilung einer Wunde und jede Neubildung nach dem operativen Verlust von Organteilen eines Organismus beweisen.

Ich meine, man könnte der Schlußfolgerung nicht aus- weichen, daß in den Organismen selbsttätigeprospek- tive Potenz en wirksam sind, die das Leben aus den rein chemischen und physikalischen Systemen als eine neue

Die Lehre von der Entwicklung u. Vererbung u. das Christentum. 15

Seinsordnung herausheben. Denn es ist, wie Hans Driesch nach meiner Ansicht mit Recht folgert, doch kein typisch hochkompliziertes chemisches und physikalisches System denkbar, das seine ganze unendliche Kompliziertheit bewahrt, selbst wenn man es beliebiger Teile beraubt. Es müßte ja fast jeder beliebig gewählte Teil die komplizierte Ma- schine ganz enthalten und zugleich jeden beliebigen und be- liebig großen Teil derselben. Weiter ist kein derartiges System denkbar, das sich wie ein Organismus fortgesetzt teilt und doch ganz bleibt, oder gar zerschlagen wird und sich selbst restauriert. Endlich trägt kein System, außer das Leben, eine Anpassungs- und Entwicklungskraft in sich selbst, die über das eigene System hinausgeht und eine endlose Folge von neuen Systemen bildet, die nicht einmal notwendig dem Ur- system gleichen, sondern neue Systeme erwecken, die in einer Fülle ohne gleichen die Pflanzen- und Tierwelt zusammen- setzen und bis hinauf zum Menschen reichen, der die höchste Stufe des Lebens darstellt selbst wieder durch seinen Geist wesenhaft verschieden von allen anderen Formen, denen die Fähigkeit der Abstraktion, des Urteils und des SchluBfolgerns nicht gegeben ist, wie ich im vorausgegangenen Abschnitt be- reits dargelegt habe. Ohne solche Voraussetzungen hat keine Theorie der Entwicklung und Vererbung, auch nicht der Dar- winismus, einen Sinn.

Die Entelechie, die ich bereits im ersten Abschnitt er- wähnte, trägt wirklich das Ziel der Entwicklung und Vererbung in sich selbst. Ihre Tätigkeit ist in der Sprache der scholasti- schen Philosophie eine im manente, d. h. sie besteht in einer selbsttätigen prospektiven Potenz eines leben- digen Wesens, sich selbst zu entfalten und zu ver- mehren nach einer typischen Form, doch so, daB das Ziel, das alles bestimmt und von dem alles ausgeht, in er- ster Linie das Ganzeals Ganz es ist und in Abhängig- keit vom Ganzen die Teile. Durch diese Eigenart unterscheidet sich das lebendige System vom chemischen und physikalischen, die das labile Gleichgewicht fliehen und in denen jeder Teil als Teil auf jeden anderen Teil wirkt nicht aus sich, sondern von außen, durch eine actio transiens, wie jedes Kristall- gefüge und jede chemische Verbindung beweist. Ohne selbst ein Stoff oder eine Energieform zu sein, erschöpft sich die

16 Das kommende Geschlecht.

Tätigkeit der Entelechie darin, den vorhandenen Stoff mit der vorhandenen Energie in Übereinstimmung mit den Gesetzen von Stoff und Energie immerfort vom Ganzen ausgehend auf das Ganze zu richten.

Was dies positiv bedeutet, kann ich nicht ausschópfen. Ich fürchte sehr, daB weder die Philosophie des Organischen von Hans Driesch, noch die Werke der Neuscholastik das Wesen der Entelechie positiv ausdeuten kónnen, wie viele auch Hans Driesch gelegentlich in würdiger Selbstbescheidung ihrer Wissenssphäre bekennen. Der Wert der For- schungen und der Naturerklärung durch eine Entelechie liegt darin, eindrucksvoller als je zuvor, die Tatsache eines wesenhaften Unter- schiedes zwischen den lebendigen Systemen und den rein physikalischen und chemischen Systemen aufzuzeigen wenn auch durchaus nicht verkannt werden soll, daß auch positiv die Entwicklung von Begriffen wie causa formalis aus einem Zeitalter, in dem sich so viele hochbegabte Geister der Metaphysik widmeten, eine Errungenschaft von bleibendem Wert darstellt, die unser naturwissenschaftliches Zeitalter wie einen reichen Quell aus den Bergen auffangen sollte, aus dem man mehr Weisheit schópfen kann, als die reine Naturwissenschaft allein jemals aus eigenem schópfen kónnte. Um Metaphysiker zu sein, muD man wenigstens Muße haben, die unsere überstürzende Zeit nicht mehr kennt. Nichts wáre nützlicher, als wenn die Geister von heute den Geistern von einst begegnen würden. Die Gei- ster von morgen würden reicher sein. Und wenn sich in Zu- kunít, wie stets seit den Tagen eines Aristoteles das schwan- kende Pendel in ewigem Antrieb in der Ausdeutung des Natur- geschehens bald mehr der Erforschung der Natur selbst und bald mehr der tieferen Klárung der Forschungsergebnisse zu- neigt, so wird auch dieses Hin und Her zuletzt nur Fortschritt bedeuten. Ein Rückschritt ohne gleichen wáre es, wenn das Pendel zur Ruhe käme. Es wäre das Zeichen dafür, daß alles Forschen und Grübeln zu Ende ist.

III. IM GRENZGEBIET DER ETHIK.

Begeben wir uns nunmehr aus dem Grenzgebiet der Natur- philosophie in ein anderes Grenzgebiet zwischen Biologie und Christentum: das Land der Ethik oder der Wissenschaft vom Seinsollenden. Bei der Sehnsucht des deutschen Volkes nach einem neuen blühenden Leben drängt es mich, meine Leser zu bitten, gerade in diesem Grenzland zu verweilen und von neuem den Gedanken der Gastfreundschaft getrennter Geister zu pflegen, damit, wenn móglich, aus gegenseitigem Verstehen Entschlüsse reifen, die unserm Volk zum Heile sind.

Es gibt bestimmte Ergebnisse der Biologie, von denen man annehmen darf, daß sie von großer Tragweite für die Ausdeu- tung und Bereicherung der christlichen Sittenlehre sein kónn- ten. Wir wollen diese Ergebnisse sammeln, um sodann die ethischen Folgerungen zu prüfen, die von der christlichen Sittenlehre ihrerseits assimiliert werden sollten. Da je- doch die Biologie so reich an Ergebnissen ist, die zur ethischen Auswertung drängen, daB es unmöglich wäre, auch nur in kurzer Zusammenfassung alles Wesentliche zu sagen, muß ich mich auf jene Teilfrage beschränken, die der Titel die- ser kleinen Untersuchung zum Ausdruck bringt. Es handelt sich wesentlich um die Eugenik, die von Haus aus nichts anderes ist als angewandte Biologie. Ist sie doch aus der Synthese der drei biologischen Begriffe Entwicklung, Vererbung, Auslese ent- standen.

Die Eugenik hat drei Aufgaben: sie soll bezüglich der Fortpflanzung bewirken, daß der Nachwuchs des Volkes in erster Linie aus heimrassigen, erbgesunden Fa- milien entsteht und nicht aus erblich belasteten. Sie soll hin- sichtlich der Pflege des Nachwuchses zu erreichen suchen, daß in erster Linie die erbgesunde Familie erhalten bleibt und nicht die erblich belastete. Sie soll endlich das bio- logische Ahnenerbe im Schoß der erbgesunden Fa- milie bereichern, um so den Aufstieg des ganzen Vol- kes zu ermöglichen.

18 Das kommende Geschlecht.

Die menschliche Erblehre beruht auf der ganz sicheren Er- kenntnis der Tatsache der Vererbung und der weiteren Tat- sache, daß die Gesetze, die in der Pflanzen- und Tierwelt gel- ten, ihre Anwendung auf den Menschen finden. Es ist dies nicht nur ein selbstverständlicher Analogieschluß, sondern ein gesichertes Ergebnis unmittelbarer Forschung. Abgesehen vom Studium der Genealogie erinnere ich vor allem an die Zwil- lingsforschung, die uns auf der Grundlage eineiiger oder erb- gleicher und zweieiiger oder erbverschiedener Zwillinge er- laubt, den Einfluß des Erbgefüges auf Gestalt und Funktion ge- nau zu unterscheiden von dem Einfluß der Lebensbedingungen, die entweder hemmend oder fördernd den Entwicklungsgang erblicher Anlagen innerhalb der Grenzen ihrer Reaktionsfáhig- keit beeinflussen.

Wir wissen heute, daB die typische Gestaltung der Men- schenkinder und alle Leistung des Lebens im tiefsten Grunde verwurzelt ist im Erbgefüge. Auch die hóhere seelische Tátig- keit ist, wie ich schon im ersten Abschnitt andeutete, trotz ihrer Eigengesetzlichkeit, die in der geistigen Natur der Menschen- seele begründet ist, vom ererbten Gehirn und Nervensystem abhängig, so daB selbst die stärkste Beeinflussung durch Erziehung niemals die Grenzen ererbter Möglichkeiten der Organe selbst sprengen kann. Ja wir sind so weit, daß wir immer kühner sein dürfen in der Erbprognose über die Folgen der Auslese bei der Eheschließung für die Figenart der Kinder. Dies gilt in erster Linie von Familien- stämmen, die in ihrem Erbgefüge gesund sind. Es gilt aber auch von den anderen, die infolge von Einwirkungen, die erst heute in ihrer Eigenart untersucht werden, ein Ahnenerbe auf- weisen, das wertvolle Anlagen eingebüßt hat. Ich erinnere an erblichen Schwachsinn, an Schizophrenie, an genuine Epi- lepsie, an manisch-depressives Irresein, an erbliche Taub- stummheit und Blindheit, an die Tuberkulose, die nach neuesten Forschungen zwar dem Wesen nach eine Infektionskrankheit ist, aber zugleich mit bestimmten erbbedingten Dispositionen zusammenhängt, und nicht zuletzt an das Verbrechen, das eben- falls mehr oder weniger erbbedingt sein kann.

Nun haben zwar viele erblich Belastete keinen Nachwuchs. Aber in anderen Fällen, z. B. bei Schwachsinnigen, ist der Nachwuchs umso größer. Im besonderen ist die Tatsache nicht

Die Lehre von der Entwicklung u. Vererbung u. das Christentum. 19

mehr zu leugnen, daB abgesehen von bestimmten Inseln inner- halb der verschiedenen Berufsgruppen, die sich durch einen naturgemáBen Reichtum an erbgesunden Kindern auszeich- nen, im allgemeinen Durchschnitt gerade die erbge- sunden Familien, aus denen in der Vergangenheit so viele leistungsfähige Menschen hervorgegangen sind, heute nicht mehr genug Nachwuchs aufweisen, um die Familien zu erhalten. Bis an die Tore der Landbevölkerung ist das Verhängnis fortgeschritten, und auf den höchsten Stufen innerhalb der verschiedenen Berufsschichten hat es sich am schärfsten ausgewirkt. Ich will hier vom Ethischen her die Ursachenfrage aufwerfen. Alle andern Gesichtspunkte könnten nur unter Zuhilfenahme vieler Grenzwissenschaften geklärt werden. Es genüge daher die Feststellung einer Tat- sache, die in der ganzen organischen Welt nicht ihresgleichen hat, weil nur der Mensch imstande ist, kraftseiner Frei- heit in sein eigenes Geschick einzugreifen.

Hinzu kommt das Ergebnis der Rassenkunde und Rassen- geschichte, daß die Eigenart eines Volkes wesentlich vom bio- logischen Erbstrom abhängt, der beim Werden des Volkes in sein biologisches Ahnenerbe einmündete. Nicht als ob der bio- logische Erbstrom allein entscheidend wäre. Die Einwirkung der Geistseele und die Sonderprägung durch den Dauereinfluß der Umwelt verdienen um so mehr Beachtung als manche ihre Bedeutung verkennen oder unterschätzen. Jedenfalls ist mit aller Bestimmtheit hervorzuheben, daß für die Eigenart eines Volkes und damit seiner Kultur die Behütung des Heim- rassigen in der Begründung der Ehen wesentlich ist.

Bis jetzt weilten wirim Reich derBiologie. Nun wollen wir die Grenze überschreiten, um dieFragezubeantworten,obsichaus solchen Tatsachen Folgerungen ergeben, durch welche die Ethik Biologie und Christentum zuein- anderin Beziehung setzt.

Die Ethik soll „Gut“ und „Böse“ voneinander scheiden,sollKriterien entwickeln, die diese Scheidung objektiv sichern, soll vor allem den Grund aufzeigen, der den Menschen von innen her verpflichtet, gut zu handeln.

Wollte ich alle Ethiker fragen, die ein System der Ethik auf- zubauen suchten, müßte ich viele Geister aus der Vergangen-

20 m Das kommende Geschlecht.

heit heraufbeschwóren und aus der Gegenwart herbeirufen. Vereinte man sie alle zu einer Tafelrunde, so würde man manch klaffenden Gegensatz entdecken. Was hat z. B. selbst der eudämonistische Utilitarismus mit dem ethischen Idealis- mus zu tun, der sich im absoluten Pflichtgebot eines Kant aus- prägt! Was der eine zum Prinzip erhebt, um die Sittlichkeit zu messen, wird von anderen zunáchst einmal der sittlichen Wer- tung unterworfen und dann durch Werte ersetzt, die an und für sich die Erwágung lustbringenden Nutzens ausschalten. Wie viele verwechseln Motive und Normen und werfen selbst dem Christentum Eudämonismus vor, weil es an ewiges Heil und ewiges Unheil erinnert. Eine verheißene Erfüllung oder Nicht- erfülung der tiefsten Sehnsucht im Menschen ist kein Sittlich- keitsmaß, sondern zumal im Gegensatz zu vergänglicher Lust nur ein psychologisch wirksames Motiv zur Verwirk- lichung ethischen Sollens, das selbst wieder zuletzt an einem anderen Wert zu messen ist.

Allein trotz äußerster Gegensätze würde man, wenn man feinhórig und willig ist, in jedem System den einen oder ande- ren Gedanken finden, der vielleicht sogar Wesentliches berührt oder doch einen wertvollen Baustein bildet. Ist also vielleicht sogar ein Synkretismus móglich? Wenigstens bei denen, die eine Gesinnungsethik verlangen? Würden die Hedonisten, auch die sozialen, an unserer Tafelrunde fehlen, so würde sie ohne- hin heute niemand mehr vermissen.

Es dürfte wenig Ethiker der Gegenwart geben, die daran zweifeln, daß die Vernunft, diealles umfaßt, die Richt- schnurfürdassittlicheHandelnist. Inder Voll- endung der vernünftigen Natur des Menschen durch ein freies Handeln, das vernunftgemäß ist undunserer Eigenartals Einzelwesen wie als Gesellschaftswesen entspricht, besteht unsere sittliche Aufgabe.

Ist dem so, dann ist sofort klar, wie weitgehend die Ergeb- nisse der menschlichen Erblehre unser sittliches Handeln be- einflussen sollten. Nur möge man nicht übersehen, daß gerade der Geschlechtstrieb eine überindividuelle Bedeutung hat, so daß in allen Fragen, die die Eugenik betreffen, der MenschnichtnuralsEinzelwesen,sondernauch

Die Lehre von der Entwicklung u. Vererbung u. das Christentum. 21

als Gesellschaítswesen sich zu entscheiden hat, nicht nur den Einzelfall, sondern auch dessen logische Folgerungen für die Gesamtheit, nicht nur Ge- genwärtiges, sondern auch Vergangenes und Zu- künftiges als lebendiges Glied in einer lebendigen Kette verbindend.

Darum ist es auch vernunftgemäß, wenn wir in Überein- siimmung mit den Ergebnissen der menschlichen Erblehre zu- nächst je ne Forderungen der Eugenik, die die Aus- schaltung von erblich Belasteten aus dem Kreisgang der Generationen zum Ziel haben, auf eine Art, die selbst wieder vernunftgemäß im allumfassen- den Sinn sein muf, zu erfüllen suchen.

Man mag über die Wege der Ausschaltung verschiedener Ansicht sein. Je mehr Gesichtspunkte in einer Erwágung zu berücksichtigen sind, umso leichter kann es geschehen, daB die Menschen in ihrem Urteil von einander abweichen. Kein Ein- sichtiger kann jedoch daran zweifeln, daB auf jede EheschlieBung verzichtet werden sollte, die die erblich Minderwertigen ver- mehren würde, ebenso wie es unverantwortlich wáre, wenn z. B. ein Syphilitiker Kinder erwecken wollte.

Was dagegen zu geschehen hat, damit auch jene von der Fortpflanzung ausgeschaltet werden, die selbst aus erblicher Veranlagung geisteskrank oder Verbrecher sind, ist eine Frage, die nicht von allen auf gleiche Art gelóst wird. Keiner wird daran zweifeln, daß man solche Menschen während der ganzen Zeit ihrer Fortpflanzungsfähigkeit in Anstalten be- wahren sollte, die keine Möglichkeit gewähren, Nachwuchs zu erwecken. Ob man überdies, zumal wenn die Bewahrung un- möglich sein sollte, andere Maßnahmen anwenden darf, die durch operativen Eingriff das Entstehen von Nachwuchs dau- ernd ausschließen, ist eine Frage, die ich eingehend in der Schrift „Eugenik und Katholizismus‘ behandelt habe. Es mag in diesem Zusammenhang genügen, auf diese Schrift hinzu- weisen.

Im letzten Ziel, die erbliche Belastung móg- lichst auszumerzen in der menschlichen Gesellschaft, kann keine Meinungsverschiedenheit sein, zumal da der Nahrungsspielraum bei der heutigen Gesell-

22 Das kommende Geschlecht.

schaftsordnung und Besitzverteilung für die Erbgesunden im- mer enger wird, zum Teil auch deshalb, weil die Ansprüche einer wachsenden Fürsorgebedürftigkeit mehr gestiegen sind als unter dem Gesichtspunkt des Gesamtwohles unseres Volkes tragbar erscheint.

Nicht weniger vernunfitgemäß als die erbliche Belastung zu überwinden, ist es, de heimrassigeerbgesunde Fa- milie zu erhalten und zu fördern. Sie sollte in der Lage sein, den größeren Nachwuchs ins Leben zu rufen, damit jeder Einzelne in seiner Art für den Gang durchs Leben mög- lichst vollkommen ausgerüstet sei, und damit die Völker, die am meisten fortgeschritten sind, nicht untergehen, sondern leben und aufsteigen.

Darum ist es sittliche Pflicht, daB die Menschen aus den heimrassigen erbgesunden Familien, die sich zur Ehe ent- schlieBen, in ebensolche Familien hineinheiraten und nicht etwa in Familien, bei denen nach gesicherten Kriterien der Erbpro- gnose die Vererbung schwerer Minderwertigkeit oder die Ver- formung ureigener Art und Kulturbildung befürchtet werden muß.

Weiter ist es sittliche Pflicht, daß sie die Erbanlagen, die sie tragen, zur vollen Entfaltung bringen und dafür sorgen, daß ihr Nachwuchs ebenfalls durch eugenische Eheschließungen den biologischen Erbschatz der eigenen Familie nicht vermindert, sondern wenn möglich erhält und erhöht.

Endlich ist es vernunftgemäß und daher sittliche Pflicht, daß man alle Pflege, die man für ein Volk aufwendet, in erster Linie auf die erbgesunde Familie konzentriert, weshalb, unbeschadet des großen Gesetzes der Nächstenliebe, das auch den erblich Belasteten gilt, eine Differenzierung in die gesamte Erziehung und Wohlfahrtspflege hineinzutragen ist, die vor allem der Erhaltung und Entwicklung der erbgesunden Famlie gilt. Es ist vernunftwidrig auch vom ethischen Standpunkt aus —, wenn man für hoffnungslos belastete Familien sorgt und gleichzeitig die erbgesunden Familien verelenden läßt. Sicher hat selbst jener, den wir nie mehr für Arbeit und Leben zurückgewinnen können, einen Anspruch auf menschenwürdige Fürsorge, und wäre es auch nur, um ihn bis zum Tode aufzubewahren. Aber die erste Sorge in einem Volk muß doch wohl den erbgesunden

Die Lehre von der Entwicklung u. Vererbung u. das Christentum. 23

Trágern des Lebens gelten, ohne die das Volk selbst untergeht und alle Fürsorge für erblich Belastete dazu.

Die ganze Eugenik ist also eineeinzigeethische Forderung an die Einsichtigen eines Volkes und an die Ge- setzgeber und Lenker der Staaten, daB sie trotz aller Zeichen, die Niedergang und Untergang verkiinden, aus der inneren Kraft des Lebens an den Aufgang glauben und den Aufgang wollen.

Ich meine, daB das Christentum keine Veranlassung hat, diese ethische Forderung abzulehnen. Im Gegenteil: es wird dieselbe auf jede Art begiinstigen, da doch die Ubernatur die Natur voraussetzt und da man doch aus Geisteskranken und gleichsam von Haus aus sittlich Entarteten die Zukunft von Staat und Kirche nicht gestalten kann. Es wird sogar, frei von MiBtrauen, das leider manchen Bestrebungen gegenüber nicht unbegründet wáre, die ernste Forschung, die sich auf mensch- liche Erblehre und Eugenik und darum zuletzt auf die Erhal- tung von Familie und Volk bezieht, auf jede Art zu fórdern suchen und im zwischenstaatlichen Gebiete der Ethik gemein- same Ziele pflegen.

Nur eines wird auch von der eugenisch bestimmten Ethik verlangt, damit sie dem Christentum willkommen bleibt. Und dieses Eine wird gerade von der Biologie niemals bestritten werden, da es jenseits der Zuständgkeit dieser Wissenschaft liegt.

Warumistdas, was im alles umfassenden Sinne ver- nunftgemäß erscheint, sittliche Pflicht? Ich weiß keine andere Lösung als jene, die sich unmittelbar aus den ersten beiden Abschnitten ergibt.

Ich habe von der Metaphysik aus Gott den Urgrund des Le- bens genannt, weil er das unwandelbare Sein selbst ist, das allein das wandelbare Sein in seiner Eigenart und seinem Wer- den verstehen läßt. Im besonderen führte ich die menschliche Seele in ihrem Werden auf Gott zurück, weil sie eine Seins- ordnung darstellt, die die ganze Natur überragt. Folglich ist der Mensch, auch wenn der Staub, der in ihm schwingt, auf eine Kette endloser Welten hindeutet, zuletzt in seiner Totalität wenn auch durch endlose Entwicklungen hindurch Got- tes Eigentum. Folglich ist Gottes Wille letzte

24 Das kommende Geschlecht.

Normíürunsersittliches Sollen. Das sittliche Na- turgesetz in unserer Vernunft muß zuletzt aus dem ewigen Geiste Gottes stammen und verpílichtet uns nicht nur durch einen äußeren Zwang, sondern durch innere wesenhafte Be- gründung. Gottes Wesen ist der Urgrund des Seins und aller sittlichen Werte. Die „Heterono- mie“, die viele vermuten, löst sich auf in eine „Autonomie“ von unbeschreiblicher Tiefe.

Ipsi sibi sunt lex sie selbst sind sich Gesetz schrieb ein Paulus an die Römer, um ihnen zu sagen, daß sie, auch wenn sie keine Christen seien, unentschuldbar genannt werden müßten, falls sie gegen das sittliche Naturgesetz in ihrer Seele handelten, und ebenso schrieb in alter Zeit ein Sophokles und in neuer ein Kant. Nur hat weder Sophokles noch Kant. die sich beide vor dem sittlichen Naturgesetz tief ergriffen beugen, die letzte Verwurzelung, die wir bei Paulus finden, mit dieser unwiderstehlichen Klarheit und Kraft ausgesprochen.

Wer die lex naturalis oder das sittliche Naturgesetz in der lex aeterna, d. i. im Willen dessen, der das Gute selbst ist, ver- wurzelt sieht, wird nicht nur die innere Verpílichtung ver- stehen, die dem sittlichen Naturgesetz eigen ist, er wird auch mit einer Liebe das Gute umgreifen, die sich gegen das Leid nicht wehrt, wie jener Finzige am Oelberg, der zwar um das Vorübergehen des Kelches bat, aber ihn trank aus Liebe zum Vater, der es so wollte.

Die Philosophen und die Ethiker der Gegenwart haben eine ungeheure Verantwortung. Soll nicht die ganze Kultur in der Finsternis des Zweifels und der Verzweiflung versinken, müs- sen sie dankbar jeden Lichtstrahl begrüßen, der aus dem Reich der Biologie und aus dem Reich des Christentums ihnen leuch- tet. Es ist eine und dieselbe Sonne der Wahrheit und Liebe.

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^ DAS KOMMENDE GESCHLECHT

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Geburtenrückgang, Fürſorgeweſen und Familie. Von Stadtobermedizinalrat Dr. Hermann Paull. (Heft 4, M. 8.15. Auch als Sonderdruck erſchienen.) x Band V (Neue Folge)

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Pſychiatriſche Indikation zur Steriliſierung Von Prof. Dr. Ernſt Ridin, Abteilungsleiter an der Deutſchen Forſchungs anſtalt für Pſychiatrie. (Heft 5, M. 1.80.)

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Don Oberregierungsrat Dr. Friedrich Burgdörfer, Direktor im Statiſtiſche Reichsamt, Berlin. (Heft 4/5, M. 5.55.)

Erbſchädigung beim Menſchen. Don Prof. Dr. Eugen Fiſcher, Direktor des Kaifer Wilhelm⸗Inſtituts für Anthropologie, menſchliche Erblehre und Eugenik. (Heft 6, M. 1.80.)

x Band VI (Jedes Heft auch als Sonderdruck erhältlich.)

Eugeniſche Eheberatung. Don Prof. Dr. Hermann Mucker mann und Prof. Dr. O. Frhr. v. Verſchuer. (Heft 1/2, M. 2.50.)

Der Ausgleich der Familienlaſten. Von Prof. Dr. Fritz Lenz. (Heft 5, M. 2.25.)

Die Eugenik u. die Che u. Familiengeſetzgebung in Sowjeirußland Don Dr. med., phil. et jur. Albert Niedermeyer. (Heft 4/5, M. 3.40.

Pſychiatriſche Heilkunde und Eugenik. Don Priv.-Doz. Dr. Hans LCuxenburger. (Heft e, M. 2.25.)

x Band VII: (Jedes Heft auch als Sonderdruck erhältlich.)

Erziehungsprobleme | m pis von Erblehre und Eugenik. Don Prof. Dr. Günther Juft. (Heft! . 2.50. Die neuropathiſche Familie Eugeniſche Betrachtungen auf familienpathologiſcher Grundlage mit Dorfchlägen zum Ausbau der Familienforſchung. Von Priv.⸗Dozent Dr. F. Curtius Mit 6 Figuren und einer Tabelle. (Heft 2, M. 2.80.) Die eugeniſche Bedeutung des Schwachſinns Don Prof. Dr. Johannes Lange. Mit 8 Tafeln. (Heft 3, M. 2.25.) Die Lehre von der Entwicklung und Vererbung und das

Chriſtentum. Erwägungen aus dem Grenzgebiet. Don Prof. Dr. Hers mann Mudermann. (Heft 4—6.)

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