PROGRAMM

SR. KÖNIGL. HOHEIT DEM GROSSHERZOGE VON HESSEN UND BEI RHEIN

ERNST LUDWIG

ZUM 25. AUGUST 1896 GEWIDMET

VON

RECTOR UND SENAT DER LANDESUNIVERSITÄT.

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DAS DOGMA VOM NEUEN TESTAMENT

VON

Dr. Gustav Krüger,

PROFESSOR DER THEOLOGIE AN DER* LANDESUNIVERSITÄT.

GIESSEN, 1896.

GRO.SSH. HES.S. HOF- UND UNIVERSITÄTS-DRUCKEREI CURT VON MÜNCHOW,

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in 2015

https://archive.org/details/dasdogmavonneuenOOkrge

Ich hätte die folgenden Bemerkungen auch „Stossseufzer eines Kirchenhistorikers" überschreiben können. Nicht im Namen der Dogmatik will ich reden oder mich in ihre Sachen mischen: was für eine Rolle das „Dogma vom Neuen Testament" in der syste- matischen Wissenschaft oder gar im praktisch-kirchlichen Leben spielt, werde ich nicht erörtern. Aber auch als „Neutestamentier" rede ich nicht : vielmehr was ich zu sagen habe, richtet sich grade an die Adresse dieser Herren ; a male informatis möchte ich mich ad melius informandos wenden. Vielmehr vom Standpunkt des Kirchen- und Dogmenhistorikers trete ich an mein Thema heran und gebe mich der stillen Hoffnung hin, dass meine Worte bei alle denen nicht ganz ohne Wiederhall bleiben, die eben als Historiker, sie seien nun „Neutestamentier" oder nicht, sich durch jene eigentümliche, in unseren theologischen Fakultäten beliebte Teilung der Fächer beengt fühlen, die sachlich Zusammengehöriges auseinanderreisst und den gesunden Fortschritt der Wissenschaft hindert.

Also wieder eine methodologische Untersuchung, eine Schul- frage, pedantischer Krimskrams? Ich bin mit Anderen der Ansicht, dass methodologische Untersuchungen sehr wichtig sind, dass viel darauf ankommt, den Begriff einer Wissenschaft richtig zu be- stimmen, weil dadurch auch die Ziele dieser Wissenschaft richtig oder wenigstens richtiger abgesteckt werden können. Man ist noch lange kein Schulfuchs, wenn man darauf Wert legt. Aber ich denke mich keineswegs auf die methodologische Frage zu be- schränken, sondern werde an Beispeilen die Thatsache erörtern,

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dass eben in Folge einer unrichtigen Begriffsbestimmung die Wissenschaft in ihrem Fortschreiten gehemmt worden ist.

Der Stein des Anstosses ist das Neue Testament, genauer aus- gedrückt, seine Behandlung im Rahmen einer besonderen Wissen- schaft, einer theologisch-historischen Disziplin, die nach Gesichts- punkten arbeitet, denen zu Liebe das Neue Testamentaus seiner ihm in der Geschichte zugewiesenen Umgebung herausgenommen wird, so dass eine fruchtbringende Betrachtung zur Unmöglichkeit wird. Die These, die ich im Folgenden zu verfechten gedenke, lautet also: Die Existenz einer „neutestamentlichen" Wissenschaft oder einer „Wissenschaft vom Neuen Testament" als einer besonderen theologisch-geschichtlich en Disziplin ist ein Haupthinderniss i) einer fruchtbaren, zu gesicherten und allgemein anerkannten Er- gebnissen führenden Erforschung des Ur- christentums, also auch des Neuen Testa- mentes selbst und 2) eines gesunden theolo- gisch-wissenschaftlichen Unterrichtsbetriebes. Ich verbinde damit den Wunsch, dass in nicht zu ferner Zeit die Vertreter dieser „neutestamentlichen" Wissenschaft sich zu einer richtigeren Einteilung ihrer Aufgaben entschliessen mögen. Meine Ausführungen habe ich, wie es sich für ein „Programm" gehört, in eine Form gekleidet, die darauf berechnet ist, Wider- spruch und Zustimmung hervorzurufen. Widerspruch erwarte ich vornehmlich von Seiten der Alteren: sie werden, selbst wenn sie grundsätzlich zustimmen möchten, einer Umsetzung dieser Grundsätze in die Praxis ablehnend gegenüber stehen. Zustimmung hoffe ich bei den Jungen zu finden, wenn nicht für alles Einzelne, so doch für die Hauptsachen. Welche Aufnahme aber meine Bemerkungen auch finden mögen, mir genügt es, eine Frage berührt zu haben, die mir mit den Lebensinteressen unserer Wissenschaft eng zusammenzuhängen scheint.

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I.

Es handelt sich bei unseren Erörterungen hauptsächlich um zwei Sonderdisziplinen, die sogenannte „Einleitung in das Neue Testament" und die sogenannte „Theologie des Neuen Testamentes". Die Konsequenzen für die „neutestamentliche Zeitgeschichte", die „Disziplin mit dem bedenklichen Namen", ergeben sich teils von selbst, teils ist ihr Betrieb so geartet, dass er sich zu einem Beweise unserer Auffassung der Sache gestaltet. Was von den historischen Disziplinen gilt, findet ohne Schwierigkeit Anwendung auch auf die exegetische.

Im Allgemeinen herrscht unter den Verständigen darüber kein Streit, dass die beiden zuerst genannten „Wissenschaften", im Gesammtorganismus der Wissenschaft betrachtet, als be- sondere Abschnitte der christlichen Litteraturgeschichte einerseits, der chrisdichen Theologiegeschichte andrerseits erscheinen. Wo man mit dem „Dogma vom Neuen Testament", recht eigentlich einem Hauptdogma der katholischen Kirche, das die evangelischen Kirchen wie so vieles Andere ohne Prüfung übernommen haben, gebrochen hat, da soll keine Rede davon sein, die neutesta- mentlichen Schriften und die darin niedergelegte Theologie als erhaben über Zeit und Raum zu behandeln; man will und kann sie in der That nur innerhalb ihrer Zeit und ihrer Umgebung verstehen. Aber während man die Berechtigung dieser Betrach- tungsweise und damit die Berechtigung einer Geschichte der urchristlichen Litteratur, als welche den gesammten Bestand dieser Litteratur einer kritischen Beleuchtung unterzieht und in seinen

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Zusammenhängen aufzubauen unternimmt, oder einer Geschichte der urchristlichen Theologie mit ähnlichen Aufgaben grundsätzlich anerkennt, glaubt man doch den Respekt vor dem Neuen Testa- ment dadurch erweisen zu sollen, glaubt man seiner klassischen Bedeutung für unsere Religion nur dadurch gerecht werden zu können, dass man es einer isolirten Betrachtung unterzieht, die es doch wieder als etwas Besonderes erscheinen lässt. Oder man giebt für seine Person diese Position auf, hält aber die Zeit nicht für reif, unsere heutige theologische Wissenschaft nicht für kräftig genug, eine andere Betrachtungsweise zu ertragen. Nun, ich meine, man kann von jener klassischen Bedeutung des Neuen Testamentes als Christ, als Theologe und als Historiker völlig überzeugt sein, man kann auch damit sich ganz einverstanden wissen, dass den neutestamentlichen Urkunden in exegetischen und historischen Vorlesungen eine ihrer Bedeutung entsprechende Beachtung fortgesetzt geschenkt werde, ohne doch ihrer Isolirung das Wort zu reden. Und man mag von unserer Wissenschaft denken wie man will, so pessimistisch braucht man nicht zu sein, dass man sie für unfähig hält, einer richtigen Erkenntniss gemäss zu handeln.

Hören wir den vornehmsten unter den deutschen Vertretern der neutestamentlichen Disziplin, zu dem wir Jüngeren als zu einem Meister in herzlicher Verehrung und ungeteilter Bewunderung seines wissenschaftlichen Könnens aufschauen: Heinrich Julius Holtzmann in Strassburg. Wir besitzen von ihm eine 1892 in dritter Auflage erschienene „Einleitung in das Neue Testament" und sehen ihn beschäftigt an einer „Neutestamentlichen Theologie", deren erste Abschnitte wir bereits in Händen halten. Beide Bücher sind Lehrbücher für Zwecke des theologischen Studiums, beide sind in dieser Eigenschaft Glieder eines Cyclus, der in Freiburg erscheinenden „Sammlung theologischer Lehrbücher". Dem Ver- fasser war also seine Marschroute vorgeschrieben : warum sollte er eine „Einleitung" nicht schreiben, da man sie von ihm wünschte

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und er sie zweifellos am besten schreiben konnte, wenn es auch eine Einleitung alten Stiles werden musste ? Aber seine prin- zipiellen Ausführungen zeigen, dass er sich dabei nicht ganz wohl fühlte : „Nur der schulmässig theologische Betrieb lässt uns solche Grenzbestimmungen gewinnen, innerhalb welcher die sog. Einlei- tung herkömmlicher Weise das gegen andere abgegrenzte Gebiet ihrer Arbeit sieht". Und : es „soll natürlich nicht in Abrede ge- stellt werden, dass das den Einleitungsdisziplinen eignende Material je länger je mehr unter einen Gesichtspunkt rücken wird, kraft dessen es zuletzt als naturwüchsiger Zweig am Baume der Litte- raturgeschichte erscheinen kann". Nun, so ändert doch diesen schulmässig theologischen Betrieb , so lasst doch das Herkömm- liche herkömmlich sein, schlagt neue Bahnen ein, wenn ihr der Ansicht seid, sie führen besser zum Ziel. Aber Holtzmann meint : die erheblichen Abweichungen , die in den Einzelunter- suchungen über die Einleitungsfragen immer noch zu Tage treten, „dürften geeignet sein, das oft erhobene Bedenken zu begründen, welches gegen das Unternehmen, die brüchige Schale der bis- herigen Disziplin definitiv zu sprengen, aus der Unfertigkeit der vorbereitenden Untersuchungen erhoben wurde". Ich fühle das Gewicht dieses Einwurfs, und doch meine ich, es sei nicht schwer, sich seiner zu erwehren. An und für sich kann jedenfalls die Furcht vor dem Misslingen kein zureichender Grund dafür sein, Reformen an einer als „brüchig" erkannten Sache zu unterlassen. Aber ich will die Vorsicht und Besonnenheit ehren, die aus dem Einwurf spricht. Nur muss ich mir die Gegenfrage erlauben : wie nun, wenn die „Unfertigkeit der vorbereitenden Untersuchungen" eben durch die falsche Arbeitsteilung und durch den falschen Arbeitsbetrieb mitverschuldet wäre ? *) wenn die nicht zu leugnende

*) Ganz das Gleiche gilt auch von der Disziplin der „Einleitung in das Alte Testament". Cornill (Einl. in das A. T. Freiburg i. B. 1891) schreibt: „Eine wirkliche biblische Literaturgeschichte ist bei dem gegenwärtigen Stand der Forschung und vielleicht für immer unmöglich. So lange noch im Ernste

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Zersplitterung der Meinungen über die wichtigsten Einleitungs- fragen eben vor Allem auch darin ihren Grund hätte, dass man sich nicht entschliessen kann, „die brüchige Schale der bisherigen Disziplin definitiv zu sprengen" ? Ich werde Material beizubringen suchen, das die Berechtigung dieser Gegenfrage erhärten soll.

Holtzmann schreibt aber auch: „Dass wir aus dem viel grösseren Umfange altchristlicher Litteratur gerade nur diese 27 Schriften zum Gegenstande von Forschungen machen, welche eine eigene Disziplin füllen, hat seine Ursache lediglich in dem traditionellen dogmatischen Begriffe, welcher sowohl den leitenden Gedanken bei ihrer ersten Sammlung, als auch das Motiv für jenes gesteigerte Interesse enthält , welches Theologie und Ge- meinde ihnen von jeher, zumal innerhalb des Protestantismus, gewidmet haben". Traditionell, dogmatisch sind nun einmal Worte, die bei der Untersuchung geschichtlicher Fragen keinen guten Klang haben. Aber Holtzmann scheint ihnen wirklich so etwas wie wissenschaftlichen Wert beilegen zu wollen. Er würde sonst nicht geschrieben haben : wo die dogmatischen Be-

die Frage aufgeworfen werden kann: ob Mose oder Esra, ob Salomo oder Alexander Jannaeus, so lange kann von einer hebräischen Literaturgeschichte nicht die Rede sein." Der Pessimismus, der aus diesen Sätzen spricht, ist entschieden unberechtigt: denn nach Cornills eigenen Ausführungen dürfen eben derartige Fragen im Ernste nicht mehr aufgeworfen, jedenfalls aber nicht ernsthaft genommen werden. Was würden wir sagen, wenn unsere Historiker deshalb darauf verzichten würden, die ältere römische Geschichte kritisch zu rekonstruiren, weil es immer noch verdrehte Köpfe giebt, die von der Königs- zeit nach Livius berichten möchten ? Es ist doch nur das Mehr an Vorurteilen, das wir zu bekämpfen haben, und das besiegen wir nicht, wenn wir fortwäh- rend in zartester Weise darauf Rücksicht nehmen. Giebt es wirklich noch Leute von so entzückender Naivetät, dass sie Abraham, Isaak, Jakob und Joseph ihre Lebensgeschichte höchst eigenhändig aufzeichnen lassen (vgl. Theol. Lit. 1896, 258), so wollen wir sie doch nicht stören. An ihnen ist Hopfen und Malz verloren, so gut wie an denen, die jeden Angriff auf die „Echtheit" eines neutestamentlichen Schreibens mit dem Hinweis pariren : der Name steht doch aber darüber! Umgekehrt soll man auch jene „Historiker" sich selber über- lassen, die sich vor nichts als ihrem eignen Ingenium beugen und am liebsten die ganze alte Geschichte als untergeschoben betrachten, jedenfalls aber nur als Tummelplatz ihrer närrischen Einfälle gelten lassen möchten.

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griffe des Kanons und des Neuen Testaments keinerlei Wirkung ausüben dürfen, da wird man darauf dringen, dass Name und Begriff der „Einleitung" aus der wissenschaftlichen Sprache und Praxis verbannt werden. „Andere Konsequenzen aber ergeben sich aus der Anerkennung der Thatsache theologischer Fach- studien. So gut wie spezifisch theologische Interessen auf eine Darstellung des religiösen Bewusstseins des Meisters und der Apostel im gemeinsamen Rahmen der sog. biblischen Theologie geführt haben" davon weiter unten , „so führen sie auch auf eine nicht blos gelegentlich , sondern ex professo geführte Untersuchung über Entstehung, Zweck und Sinn teils der ganzen Sammlung, teils ihrer einzelnen Bestandteile, d. h. der Schriften, welche schon die alte Kirche kanonisirt hat , um darin einen legitimen Geburtsschein für die eigene Existenz aufzuweisen, aus welchen aber auch noch jedwede Theologie der Gegenwart allein zu erheben vermag, was von Christus gedacht und gewollt, von den Aposteln gepredigt, von den ersten Generationen des Christen- tums geglaubt worden ist".

Mit diesen Worten wird der Standpunkt offenbar verschoben : es handelt sich nun nicht mehr um eine wissenschaftliche Zweck- mässigkeitsfrage, sondern es wird hier ein grundsätzliches Moment geltend gemacht, das für die Beibehaltung der bisher geübten Methode sprechen soll. Dabei werden also zwei Dinge verquickt, die, wenigstens so viel ich zu sehen vermag, nichts miteinander zu thun haben. Ich leugne weder die Thatsache theologischer Fachstudien noch bestreite ich, dass uns grade als theologischen Historikern eine ex professo geführte Untersuchung über Ent- stehung, Zweck und Sinn teils der ganzen Sammlung, teils ihrer einzelnen Bestandteile besonders am Herzen liegt, obgleich ich nicht sagen würde, dass „spezifisch theologische Interessen" uns auf diese Untersuchung hinführen. Ich bestreite nur die Berechtigung des Verfahrens, diese Schriften bei einer Untersuchung ihrer Ursprungsverhältnisse im Lichte des Urteils zu betrachten,

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das die Kirche später über sie gefällt hat. Ich bestreite, dass man berechtigt ist, mit dem Begriff „Neues Testament" in irgend einer Form bei der geschichtlichen Betrachtung einer Zeit zu operiren, die noch' kein Neues Testament kennt. Ich behaupte, dass dadurch für jeden Unparteiischen ein schiefes Bild entsteht, dass dadurch dem „Dogma vom Neuen Testament" seitens der Wissen- schaft in unberechtigter Weise Vorschub geleistet wird. Muss nicht die Vorstellung haften bleiben, dass diese 27 Schriften zur Zeit ihrer Entstehung eine privilegirte Stellung unter den übrigen einnahmen, wenn man sie in wissenschaftlichen Werken, die sie im Lichte ihrer Zeit, nicht aber der späteren Dogmatik, betrachten wollen, von allen übrigen Produkten urchristlicher Schriftstellerei isolirt findet?*)

Einen Beweis für die Richtigkeit meiner Einwände finde ich endlich darin, dass Holtzmann, der in den ersten Auflagen

*) Ahnliche Gedanken wie die oben zurückgewiesenen liegen einem sehr beliebten Einwand zu Grunde, den ich als wissenschaftlich berechtigt nicht anzuerkennen vermag, so einleuchtend er auf den ersten Blick zu sein scheint: man brauche, wenn man einen historisch-kritischen Bericht über die heiligen Bücher der Inder wünsche, doch nicht zugleich über diejenigen Bücher unter- richtet zu werden, die nicht heilig geworden sind; oder: es sei nicht einzusehen, warum man nicht eine besondere „Einleitung in den Koran" schreiben könne. Gewiss kann man das, wenn man nämlich Laien oder Seminaristen die that- sächlich in einem besonderen Korpus vereinigten Schriften vorführen will. Sonst ist es nur unter der Voraussetzung möglich, dass es neben den heilig gewordenen Büchern in der Zeit ihrer Entstehung keine solchen gab, die heilig hätten werden können. Trifft das für die indischen Religionsbücher oder den Koran zu, worüber ich mich nicht unterrichtet habe, so fällt der Einwurf hier in sich zusammen. Trifft es nicht zu, so würde der Korangelehrte, der nur in den Koran „einleitet", unwissenschaftlich arbeiten, und was er erzielte, wäre ein muhamedanisches Seminarprodukt. Zur Verdeutlichung weise ich auf die „Einleitung in das Alte Testament". Hier steht die Sache für die ältere Zeit so, dass in der That die heilig gewordene Litteratur mit der uns erhaltenen zusammenfällt. Behandelt man dagegen in der jüngeren Zeit, wie z. B. Cornill es thut, das Buch Tobit oder Jesus Sirach nicht, weil beide Bücher nicht im palästinensischen Kanon stehen, oder behandelt man Koheleth innerhalb einer Zeitperiode, in der das Buch gar nicht geschrieben sein kann, so thut man der ■wissenschaftlichen Betrachtung Gewalt an. Vgl. auch unten Nr. IV.

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seines Buches sich ganz streng auf die durch den Begriff des „Kanons" zusammengehaltenen 27 Schriften beschränkte, in der dritten Auflage für nötig befunden hat, ein besonderes Kapitel über die „Apokryphen des Neuen Testamentes" anzuhängen. Die Überschrift zeigt freilich, dass auch bei dieser Anordnung nicht der litterargeschichtliche, sondern der dogmatische Gesichtspunkt den Autor leitete. Indessen kommt unter dem Schlagwort „apo- kryph" fast die gesammte urchristliche Litteratur, von der soge- nannten gnostischen abgesehen, zur Behandlung, und ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich darin ein praktisches Zugeständniss finde. Nur kann ich nicht zugeben, dass dadurch die Sachlage verbessert worden wäre. Eher verschlechtert! denn dadurch, dass jetzt die übrigen urchristlichen Schriften in eine Art Anhang zum Neuen Testament verwiesen sind, wird die dogmatische Fiktion ihrer Minderwertigkeit erst recht aufrechterhalten. Macht es doch nun den Eindruck, als sei diese armselige Gesellschaft nicht würdig, in die vornehmen Kreise eingeführt zu werden, als müssten sie ein Hintertreppchen benutzen, um wenigstens von der Gallerie dem Fest zusehen zu können. Für die sogenannte Kanons- geschichte, für die Geschichte der Entstehung des Neuen Testa- ments, ist die kirchliche Urteilsbildung von höchster Bedeutung, und gerne gebe ich Holtzmann Recht, wenn er in der Geschichte des Kanons den „Kern der Einleitungsdisziplin" sehen will. Nur meine ich, schlägt er damit sich selbst.

Ich wende mich zur „NeutestamenÜichen Theologie", und gebe auch hier Holtzmann zuerst das Wort. Er ist nicht nur der Meinung, dass für die „neutestamentliche Theologie" der ge- schichtliche, und zwar der speziell dogmengeschichtliche, der einzige sichere und fruchtbare Standpunkt ist ; sondern er motivirt auch hier die ihm durch das Unternehmen, für das er arbeitet, auferlegte Beschränkung ausdrücklich damit, dass, wie es zur Zeit und zwar im Interesse der festen Abgrenzung der Disziplin rätlich sei, den alten Rahmen der neutestamentlichen Einleitung beizu-

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behalten, so es blos an der den praktischen Interessen der Schul- theologie entsprungenen Abgrenzung liege, wenn die neutesta- mentliche Theologie nicht ein Stück und ein Kapitel der Geschichte des Urchristentums werde. Also wieder „zur Zeit", „praktische Interessen", „Schultheologie", wo es sich um geschichtliche Fragen handelt. Gewiss ist es von grosser Wichtigkeit, eine Disziplin fest abzugrenzen, grade aber weil diese Grenzen jetzt deutlich verschoben worden sind, seit die wissenschaftliche Arbeit sich von den Banden des Kanons losgemacht hat oder darf ich am Ende nur sagen: losgemacht haben sollte , grade deshalb muss man einer anderen, nicht minder festen Abgrenzung das Wort reden. Und sollte denn wirklich was bei der „alttestamentlichen Theologie" möglich gewesen ist, wie Holtzmann selbst erwähnt, bei der neutestamentlichen unmöglich sein? Unsere „Alttestamentler" haben mit dem ererbten Schema gebrochen, sie wollen uns in neuem Gewände eine Geschichte der israelitischen und jüdischen Religion und Theologie geben. Steht es hier denn wirklich anders als im Neuen Testament? Ist dem Neuen nicht billig was dem Alten recht ist?

Die Aufgabe einer „neutestamentlichen Theologie" hat Holtz- mann völlig richtig definirt, wenn er an der oben (S. 9) zitirten Stelle sagt : sie solle uns darstellen, „was von Christus gedacht und gewollt, von den Aposteln gepredigt, von den ersten Gene- rationen des Christentums geglaubt worden ist". Wenn man den zweiten Punkt allenfalls auf Grund der neutestamentlichen Ur- kunden allein erörtern kann, was ist mit dem ersten und dritten ? In einem wundervollen Kapitel hat denn auch schon Holtzmann „die religiöse und sittliche Gedankenwelt des gleichzeitigen Juden- tums" zur Erklärung der Gedankenwelt Jesu herangezogen. Wie kann er aber dem schulmässig theologischen Betrieb zu Liebe auf Heranziehung und ausführliche Darstellung der nicht im Neuen Testament zu Worte gekommenen urchristlichen Gedanken- welt verzichten, die nicht nur zur Erläuterung dessen unentbehr-

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lieh ist, „was von den ersten christlichen Generationen geglaubt worden ist", sondern die selbst einen Teil, und keinen verächt- lichen, dieses Glaubens darstellt?

Und dächten nur wenigstens alle wie Holtzmann, wären es wirklich nur praktische Gründe, besonnene Erwägungen gegen- über einem anscheinenden Radikalismus, die Sache wäre zu er- tragen : es stünde zu hoffen , dass die Ausführung wieder gut machen würde, was eine ängstliche Begriffsbestimmung vielleicht verschuldet haben könnte. Es giebt aber immer noch Gelehrte, denen unsere Wissenschaft viel, zum Teil sehr viel zu verdanken hat und die sich doch von der Vorstellung nicht losmachen können, dass lange vor der Zeit , in der die Sammlung entstand , eine spezifisch „neutestamentliche" Gedankenbildung existirte; Gelehrte, die in dem Neuen Testament so etwas wie ein noli me tangere sehen, die es nicht begreifen können , dass man neben dem Hebräerbrief den Barnabasbrief, neben Jakobus auch Hermas zur Erörterung bringt; die, obwohl sie recht gut wissen, dass einige unserer neutestamentlichen Schriften erst im „nachapostolischen" Zeitalter entstanden sind, thun als könnten sie solche Unterschiede ignoriren , und womöglich das nachapostolische Zeitalter einer Verflachung gegenüber dem apostolischen bezichtigen, wo es doch einen Johannes hervorgebracht hat. Da wirkt das Dogma vom Neuen Testament, da wird mit einem Massstab gemessen, den man dem Handwerkskasten der katholischen Kirche entnommen hat. Ein Blick in unsere dogmengeschichtlichen Lehrbücher kann uns zeigen, welch' grosser Schaden der geschichtlichen Betrach- tung dadurch noch immer angethan wird.

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Ich beginne mit Seeberg*). Sein Buch ist in der Haupt- sache vortrefflich und zweckentsprechend. Es ist klar geschrieben, gut disponirt, jede Seite zeigt den Fachmann, der den Stoff voll- ständig beherrscht; die einzelnen Lehren sowie die Gesammt- auffassung vom Christentum in den verschiedenen Zeiträumen werden durchaus vorurteilsfrei dargestellt. Eine Ausnahme macht nur die kurze Übersicht über das Urchristentum. „Die urchristliche Verkündigung" wird als § 6 der Einleitung vorangeschickt, und es folgt nun : „Erstes Buch. Erster Abschnitt. Erstes Kapitel. § 7 : die apostolischen Väter". Der Leser erhält und soll viel- leicht den Eindruck erhalten, als handle es sich in diesen beiden Paragraphen um ganz verschiedene Welten, als seien „die ur- christliche Verkündigung" und „die apostolischen Väter" durch eine tiefe, tiefe Kluft von einander getrennt. Sieht er aber näher zu, so ist es das Dogma vom Neuen Testament, was ihm ent- gegenschaut. Da werden die Urkunden des Neuen Testamentes unter dem Titel der urchristlichen Verkündigung behandelt, als seien ihre Autoren nur einer oder vielmehr eines, nämlich ein Sprachrohr des heiligen Geistes ; da figuriren als Zeugnisse für den Gedanken, dass Christus Gott ist , wahllos neben einander Johannes, der Römerbrief, der Titus- und der 2. Thessalonicher- brief, der Judas- und der 2. Petrusbrief (!), der erste Johannes- und der Epheserbrief : Dokumente, die auch die konservativste Kritik nicht als gleichartig anerkennen kann. Derselbe Verfasser, der gleich darauf bei den apostolischen Vätern schreibt : „Die Klarheit der Darstellung wie die Wichtigkeit des Gegenstandes lassen es als geraten erscheinen, die oben angeführten Schriften (nämlich der ap. V.) einzeln auf ihren Lehrgehalt hin zu prüfen".

*) Lehrbuch der Dogmengeschichte. Erste Hälfte : die DG. der alten Kirche. Erlangen und Leipzig 1895.

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unternimmt es, den Gehalt der neutestamentlichen Schriften nicht „historisch differenzirt" , sondern „in ihrer Einheit" kurz darzu- stellen, nur weil sie von -der Kirche im Neuen Testament zusammengestellt sind. Aber noch mehr : er scheidet, wie wir gesehen haben , den Gedankengehalt dieser Schriften ganz streng von dem der apostolischen Väter, in der Fiktion, dass nur die neutestamentlichen Schriften die „Grundgedanken der urchrist- lichen Verkündigung" enthalten. Er muss doch wissen, dass der vorkatholischen Christenheit davon nichts bekannt war; er weiss es sicher, dass der Begriff „apostolische Väter" erst auf Grund katholisch-dogmatischer Erwägung zu Stande gekommen ist; und er sollte demnach zugeben, dass man bei einer Darstellung der urchristlichen Verkündigung entweder die echt-apostolische davon aussondern und demnach mindestens Dokumente wie den Judas-, den Jakobus- und den zweiten Petrusbrief, den Epheser- oder die Pastoralbriefe für die nachapostolische Zeit zurückstellen, oder den Begriff der urchristlichen Verkündigung zu dem der vorkatho- lischen erweitern, dann aber neben den genannten und wohl noch anderen neutestamentlichen Schriften als gleichwertig und gleich- zeitig im selben Zusammenhang die „Apokryphen" und die „apo- stolischen Väter" behandeln muss. Jetzt muss Klemens von Rom den Vorwurf ertragen, dass er „die Heilsbedeutung des Todes Christi nicht in ihrem biblischen Umfange erfasst" habe, als ob es überhaupt für ihn eine Bibel gegeben hätte, nach der er sich hätte richten können ; er muss sich sagen lassen, dass man „nicht den Eindruck habe", als wenn er „die biblische Anschauung von Christi Werk und die Bedeutung des Glaubens wirklich verstanden und sich innerlich angeeignet" habe. Das allgemeine Urteil könnte ja richtig sein*). Aber ist Seeberg wirklich der Meinung, dass

*) Siehe hierzu auch das unter Nr. III Erörterte. Ich bemerke nebenbei, dass bei der Darstellung der Theologie des Klemens auch eine positiv falsche Angabe von nicht zu unterschätzender Bedeutung sich eingeschlichen hat. Wir lesen (S. 19): „Gott ist (nämlich für Klemens) b-soc; xal 6 xüp'.o; 'Irjaoüc

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Klemens hier schlechter dasteht als Jakobus oder Judas? Und wenn er, wie ich annehme, dieser Meinung nicht ist, wie kann er den Klemens für die angebliche Minderwertigkeit seiner christ- lichen Gedankenbildung verantwortlich machen, indem er zum Massstab das Neue Testament nimmt, das Klemens nicht kennt und dessen Schriften selbst nicht alle über jenen Vorwurf erhaben sind ? Und Alles das der dogmatischen Fiktion zu Liebe, dass die neutestamentlichen Schriften ein in sich völlig gleichwertiges und von allen anderen urchristlichen Schriften völlig verschiedenes corpus doctrinae christianae bilden. Das Dogma vom Neuen Testament liegt dem so trefflichen Historiker wie eine Binde um die Augen.

Kann man etwa Loofs*) davon ganz frei sprechen? Keines- wegs! Zwar in dem Paragraphen, der vom „Glauben der Urgemeinde und der Entwicklung im apostolischen Zeitalter" handelt, werden wirklich nur Schriften herangezogen, die eine gesunde historische Kritik in dieses Zeitalter versetzen kann, und die Berufung auf so

XpioTÖi; xcct TO Trvsu[j.a (z'yiov" unter Berufung auf 58, 2; 46, 6. Wessen Unbe- fangenheit durch Sachkenntniss noch nicht getrübt ist, vornehmlich also der Student, kann diesen Satz wegen des „Gott ist" nicht anders auffassen, als lehre Klemens die Trinität, und zwar nach kirchlichem Verstände. Schlägt man nun die angezogenen Stellen nach , so findet man : (58, 2) Ci^ "fap ö ^soc, y.al Zfi 0 xüpioc 'Irjociuc Xpiaxö<; xtzi xvsüixc! xo cl-fiov, -q xs xt'axi; y.al -q iXxt; xcüv ixXsxxojv, und (46, 6) : 'q wy\ e.va &eov iyojisv xat iw. Xpiaxöv x«i sv -icvsü^a x^c yapixoc; xo sxyu9-sv If ■q\).ö.c,. Hier ist weder etwas über Gottes Wesen („Gott ist") ausgesagt, noch findet sich eine trinitarische Formel : denn an der ersten Stelle figuriren hinter dem TcväD|i(z und gleichwertig mit ihm xtaxic; und iXitt't;, und an der zweiten Stelle ist zwar auch xvsüjxa «yiov gemeint, aber die Formu- lirung macht es ganz unmöglich, an etwas wie „heiliger Geist" im kirchlichen Sinn zu denken. Die Darstellung Seebergs zeigt sich hier zwar nicht durch das Dogma vom Neuen Testament denn am Neuen Testament kann er für keinerlei „Trinitätslehre" einen Eideshelfer finden, er müsste sich denn , auf Mtth. 28, 19 oder gar i Joh. 5, 7 berufen wollen , wohl aber durch das Dogma der Kirche überhaupt beeinflusst. Nur wer mit diesem Dogma an die zitirten Stellen herantritt, wie es vor Seeberg auch Andere (z. B. der gelehrte, aber befangene Caspari) gethan haben, kann den Sinn hinein- legen, den man nach Seeberg darin finden soll.

*) Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, 3. Aufl., Halle 1893.

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zweifelhafte Schriften wie Jakobus und 2. Petrus fehlt. Aber wenn nun im folgenden Kapitel das „vulgäre Heidenchristentum" der nachapostolischen Zeit geschüdert wird, so wird von den neu- testamentlichen Schriften, die auch nach Meinung des Ver- fassers — in diese Zeit gehören, kein Gebrauch gemacht: es ist, als existirten sie gar nicht. So weit also trug den Verfasser seine historische Einsicht, dass er die Zeugnisse nicht am unrechten Ort verwertete ; sie an der richtigen Stelle nutzbar zu machen hinderte ihn das Dogma vom Neuen Testament.

Und Harnack? Es mutet mich selbst wunderlich an, dass ich meinem verehrten Lehrer, von dem ich weiss, dass er für seine Person das „Dogma vom Kanon" (vgl. Dogmengeschichte P 29) überwunden hat, einen ähnlichen Vorwurf wie den genannten Ge- lehrten machen soll. Und doch muss ich behaupten, dass die Be- handlung des Urchristentums in seinem berühmten Buch die Eier- schalen jenes Dogmas deutlich an sich trägt. Wie soll man es sich sonst erklären, wenn in dem Abschnitt über „die gemeinsame Verkündigung von Jesus Christus in der ersten Generation seiner Gläubigen" zwar völlig korrekt neben dem Glauben der ersten Jünger nur die paulinische Gedankenwelt dargestellt wird, dann aber in einem, anscheinend unmotivirten „Zusatz" die johanneischen Schriften erscheinen, von denen Harnack doch selber annimmt, dass in ihnen der Glaube der ersten Generation nicht mehr zum Ausdruck kommt? Gewiss, er macht bei dem Querdurchschnitt, den er leider, wie auch Loofs der aber wenigstens für den Ignatius eine Ausnahme macht durch das Christentum der nachapostolischen Zeit gelegt hat"), auch von der einen oder

*) Das dritte Kapitel des ersten Buches der H arnack 'sehen Dogmen- geschichte („der Gemeinglaube und die Anfänge der Erkenntniss in dem zum Katholizismus sich entwickelnden Heidenchristentum") halte ich eben um dieses Querdurchschnitts "willen, den doch selbst Seeberg vermieden hat, für bedenk- lich : die grosse Mannigfaltigkeit der Typen kommt nicht zur Geltung; die Kategorieen, von denen die Ueberschriften der einzelnen Abschnitte reden (z. B. „neues Gesetz"), entstammen zum Teil einer dogmatischen Betrachtung

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anderen neutestamentlichen Schrift Gebrauch, aber es geschieht schüchtern, fast unbewusst und jedenfalls lange nicht so ergiebig, wie es der Sachverhalt verlangt hätte. Was soll man aber dazu sagen, dass jener „Zusatz" mit der Bemerkung eröffnet wird: „Was wir an dem Neuen Testamente mit Recht vor Allem schätzen, dass es nämlich eine Verbindung der drei Gruppen, synoptische Evangelien, Paulusbriefe, johanneische Schriften ist, darin drückt sich auch der reichste Inhalt der ältesten Geschichte des Evange- liums aus." Einem Werturteil christlicher Frömmigkeit, das man übrigens auf der hier doch in erster Linie massgebenden katho- lischen Seite schwerlich unterschreiben würde, fällt der geschicht- liche Thatbestand zum Opfer: denn dass das Neue Testament eine Verbindung jener drei Gruppen sei, kann man nur behaupten, wenn man seine übrigen Bestandteile ignorirt. Harnacks Konstruktion muss den Schein erwecken, als decke sich nun der „Glaube der ersten Generation" mit dem Neuen Testament (= synoptische Evangelien, Paulus, Johannes), und so hält auch bei ihm, aller- dings auf einem reizvollen Umweg, die ungeschichtliche Vor- stellung ihren Einzug, die ich bei Seeberg und Loofs konstatiren zu müssen glaubte. Harnack hätte sich ich glaube das zuversichtlich behaupten zu dürfen jene Verbindung gar nicht konstruirt, wenn nicht das Dogma vom Neuen Testament seine geheimnissvolle Macht auch auf ihn ausgeübt hätte*).

Nach einer Richtung möchte ich den bisher geführten Nach- weis noch ergänzen. Es ist eine bekannte Gepflogenheit der Herausgeber und Kommentatoren patristischer Schriften , unter

(s. darüber Nr. III), und weder vom „Gemeinglauben" noch von „den Anfängen der Erkenntniss" unter welchem Terminus ich mir übrigens nichts Konkretes vorstellen kann erhält der Leser eine geschichtlich richtige Vorstellung, vom „Heidenchristentum" ganz abgesehen.

*) Wiefern die Trennung der Neutestamentlichen Theologie von der Dogmengeschichte die Darstellung bei den genannten Autoren schädlich beein- flusst, habe ich weiter ausgeführt in meiner Abhandlung: Was heisst und zu welchem Ende studirt man Dogmengeschichte? (Freib. u. Leipz. 1895.)

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oder hinter dem Texte die Stellen der heiligen Schrift zu notiren, die dem Verfasser bei seinen Ausführungen vorgeschwebt haben können oder die er förmlich^ zitirt. Daneben werden selbstver- ständlich, wenn auch nicht immer mit der gleichen Sorgfalt, etwaige Zitate und Reminiszenzen aus anderen Autoren vermerkt, jeden- falls aber wird das Verzeichniss der biblischen Stellen gesondert geführt. Dieses Verfahren hat offenbar überall da einen guten Sinn, wo es sich um einen Autor handelt, der ein Neues Testa- ment — das alte darf hier ausser Betracht gelassen werden besitzt : denn in diesem Falle ist das Neue Testament eine einheit- liche Grösse, und man handelt durchaus im Sinn des Autors, wenn man den neutestamentlichen Zitaten ihre besondere Stelle in einem Index locorum scripturae sacrae zuweist. Das gilt aber nur für die katholische Zeit : denn kein Schriftsteller vor Irenäus kennt ein Neues Testament. Bei der Herausgabe einer vorka- tholischen Schrift ist es nicht nur nicht angebracht, sondern es verwirrt geradezu den Sachverhalt, wenn man etwaige Berührungen mit neutestamentlichen von denen mit anderen urchristlichen Schriften abtrennt. Noch bedenklicher ist es freilich, wenn man sich ich möchte fast sagen : krampfhaft bemüht, „Beleg- stellen" aus dem „Neuen Testamente" bei dem betreffenden Autor aufzustöbern, dafür aber die Notirung anderer urchristlicher Paral- lelen unterlässt. Für jenes Verfahren darf ich auf jede beliebige Ausgabe eines „apostolischen Vaters" verweisen; für dieses möchte ich als besonders charakteristisches Beispiel die an sich so ver- dienstliche Textausgabe der Apologie des Aristides von Seeberg (Erl. u. Lpz. 1894) heranziehen.

In dieser Ausgabe sind unter dem Texte 23 Reminiszenzen um Zitate handelt es sich bei Aristides nicht aus der Bibel, davon 17 aus dem Neuen Testamente, angeführt. Ich lege nun in diesem Zusammenhang keinen Wert darauf, dass mir von diesen 17 Stellen kaum die eine oder andere als eine wirkliche Reminiszenz einleuchten will; man könnte mich voreingenommen

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schelten*). Die Hauptsache ist, dass nur neutestamentliche Stellen notirt werden, während die von Seeberg selbst anerkannten mannigfachen Berührungen des Autors mit Schriften, wie der Predigt des Petrus oder dem Brief an Diognet überhaupt nicht erwähnt werden, von leichten Anklängen an andere urchristliche Schriften und der am Tage liegenden Verwandtschaft mit der jüdischen apokryphen Litteratur zu schweigen. Der nicht einge- weihte Leser erhält somit ein ganz falsches Bild : er muss an- nehmen, dass Aristides schon ein Neues Testament besessen habe, dem jene Reminiszenzen entstammen ; er kann nicht annehmen, dass all diese Berührungen zusammengenommen nicht entfernt an

*) Wenigstens beiläufig darf ich aber doch auf Folgendes hinweisen. Wenn Aristides (15, 5) schreibt: „von der Speise der Götzenopfer essen sie (die Christen) nicht", so notirt Seeberg Act. 15, 29, als ob der Apologet, um eine derartige Bemerkung zu machen, die Apostelgeschichte gelesen haben müsste ! Wenn es (15, 7) heisst: „in aller Demut und Güte wandeln sie, und Lüge wird nicht bei ihnen gefunden", so muss dem Verfasser Gel. 3, 12 vor- geschwebt haben, nur weil auch hier die ypyjoiio-crjC und die ■zttTzvyyfpoaovq vor- kommt. Spricht Aristides (16, 6) davon, dass xa Koi-Ka s&v/j TrXavwv-c« xßt TcXc.vwaiv, so liegt 2 Tim. 3, 13 zu Grunde, als ob das Wort von den betrogenen Be- trügern zuerst vom Verfasser des Timotheusbriefes gebraucht sein müsste (s. zu dem Sprüchwort Wendland in Rhein. Mus. 49, 1894, 309), und als ob es bei diesem nicht in einem ganz andern Zusammenhang verwendet wäre. Die Worte (17, 4): „in Unwissenheit habe ich dies gethan", erinnern doch sicher nicht sowohl an i. Tim. i, 13: 0x1 d-jvo&v lizoi-qaa iv aiiiaxra (! darauf kommt es hier an) als an Petri Ker. Frg. 8 (v. Dobschütz p. 24) : oa« iv dfvoia TIC ujitüv sTOLTjaev. An der Stelle (17, 6): „so mögen nun aufhören die Zungen derer, welche Nichtigkeit reden, und die Christen verleumden" i. Pe. 3, 10 (TCct'jodtoj r/jv "cXwoacfv d~o y.ay.oü y.w. "/st'Xy) 10b [irj XaX^aai ook'jv) wiederzufinden, ist, abgesehen davon, dass es sich auch um Ps. 34, 14 handeln kann , schon des- halb unmöglich, weil der griechische Text der Apologie hier: xfzuoaaS^ioaav ^.axawljj-(omTzc, liest, also eine Ähnlichkeit nur noch in der gemeinschaftlichen Verwertung des Ttcfüsiv liegt. Streng genommen bleiben von allen bei Seeberg notirten Reminiszenzen nur Matth. 13, 44, vgl. Arist. 16, 2 (Verwertung des Gleichnisses vom Schatz), Job. 3, 13 oder 6, 58 vgl. Ar. 2, 6 und die gelegent- lichen Anklänge an Rom. i, 23—25 in Kraft. Von Bedeutung ist dabei nur die Berührung mit den Johannisstellen. Ich gestehe, dass ich mich dem Ge- wicht des beiderseitigen rzii' otjpavoü xaiaß«; nur schwer zu entziehen vermag. Im Allgemeinen wird aber diese Übersicht gezeigt haben, wie vorsichtig man bei Untersuchung litterarischer Verwandtschaft zu Werke gehen muss.

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die durchgehende Anlehnung des Autors an die „Predigt des Petrus" heranreichen. Warum aber hat der Herausgeber dieses Verfahren befolgt? Antwort weil bewusst oder unbewusst das Dogma vom Neuen Testament nachwirkt, dem gegenüber der geschichtliche Thatbestand als relativ gleichgültig erscheint.

Diese Beispiele mögen genügen. Es wäre aber ungerecht, dem Dogmenhistoriker und Patristiker zur Last zu legen, was die Berufenen besser zu machen versäumt haben. Ist doch selbst Weizsäcker nicht ganz von dem Vorwurf freizusprechen, dass er dem Neuen Testamente zu Liebe manches Dokument in seinem „apostolischen Zeitalter" (2. Aufl. Freib. 1892) behandelt , das wie Johannes, Epheser- und Jakobusbrief darin nichts zu suchen hat.

Eine Änderung wird vermutlich nicht eher eintreten, als bis die Neutestamentier sich zu einer Umgestaltung ihres Betriebes entschliessen werden. Ein Blick aber in die vorläufig veröffent- lichte Disposition der Neutestamentlichen Theologie von Holtz- mann zeigt uns, dass wir darauf noch nicht zu hoffen wagen dürfen. Die zweite Hälfte des Buches ist hier „Paulus und die nachapostolische Litteratur" überschrieben , und dieser Abschnitt eingeteilt in : i. Der Paulinismus; 2. Deuteropaulinisches und Un- paulinisches ; 3. Der johanneische Lehrbegriff. Der Herr Ver- fasser hat die grosse Liebenswürdigkeit gehabt, mir mitzuteilen, dass das Wort „unpaulinisch" als ein Verlegenheitswort der vor- läufigen Disposition in der eigentlichen Darstellung nicht er- scheinen werde. Die Thatsache bleibt aber doch bestehen, dass zwischen dem Paulinismus, dem man den Deuteropaulinismus mit einem Schein von Rechte zuordnen mag, und dem johanneischen LehrbegrifT ein Etwas erscheint, das sich auf dem Standpunkt einer neutestamentlichen Theologie nun einmal nicht greifbar definiren, sich in einer der geschichtlichen Entwicklung ent- sprechenden Gruppirung nicht unterbringen lässt. Ein Teil der katholischen Briefe , dazu die eine oder andere Schrift , wird immerdar einen „zufälligen und fragmentarischen Bestandteil der

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neutestamentlichen Theologie" bilden. In Harnack's Verbindung der Teile des Neuen Testaments war dieses X gar nicht in Ansatz gebracht. Man sieht, dass auch die „neutestamentliche Theologie" ihm nicht gerecht zu werden vermag, und ich weiss in der That nicht, wie das beim gegenwärtigen Stande der Methode besser werden soll.

Natürlich bin ich weit entfernt davon, zu leugnen, dass es auch von der hier festgesetzten Regel Ausnahmen giebt. In seiner glänzenden „Geschichte der heiligen Schriften Neuen Testamentes" (6. Aufl. Braunschweig 1887) hat R e u s s den Versuch gemacht, in die herkömmliche Betrachtungsweise Bresche zu legen. Indessen haftet doch selbst Reuss noch an dem Begriff „Neues Testament", nur dass er sich berechtigt glaubt, diesen Begriff in einem weiteren Sinn zu nehmen und darunter alle Schriften zu verstehen, deren Ursprung zu irgend einer Zeit auf die Apostel und ihre Inspiration zurückgeführt worden ist. Ich kann nicht finden, dass er damit dem geschichtlichen Sinn des Begriffes gerecht wird. Reuss konnte zu seiner Definition nur gelangen, weil ihm doch noch irgendwie am Begriff „Neues Testament" gelegen war. Seine Definition erscheint wie ein Kompromiss, seine Darstellung aber giebt zum Glück mehr als die Definition erwarten lässt*).

*) Ich setze zur Erläuterung den ersten Paragraphen des Buches von Reuss her. „Mit dem Namen heihger Schriften Neuen Testamentes bezeichnet man insgemein die Sammlung derjenigen Bücher, welche die christliche Kirche als die echten Urkunden der durch ihren Stifter Jesus Christus vermittelten Offenbarung anerkannt hat. In sofern aber das Urteil der Kirche über die Berechtigung einzelner Bücher, in eine solche Sammlung aufgenommen zu werden, erst allmählich zum Abschlüsse gediehen ist, und der Begriff heiliger Schriften zeitweise ein fliessender war, so nehmen auch wir vorläufig jenen Namen im weiteren Sinne und verstehen darunter alle Schriften, deren Ursprung zu irgend einer Zeit auf die Apostel und ihre Inspiration zurückgeführt worden ist und welche als solche beim Religionsunterrichte in der christlichen Kirche oder von einer aus derselben hervorgegangenen Partei zum Grunde gelegt worden sind." Dazu die Anmerkung : „Neues Testament. Doppelte Bedeutung dieses Namens : Die kirchlich vulgäre, als Bezeichnung eines Buchs, die biblisch- theologische, als einer Religionsanstalt (= Neuer Bund). Die letztere wird hier angenommen."

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Pflei derer hat in seinem schönen Buche: „Das Urchristen- tum, seine Schriften und Lehren" (Berlin 1887) wirklich den „ge- schichtlichen Zusammenhang -aufzuzeigen gesucht, und ihn trifft unter den neuen Darstellern der Vorwurf, im Dogma vom Neuen Testament befangen zu sein, wohl: am wenigsten. Aber er schildert uns zwar den „antignostischen Katholizismus", den darin bekämpften Gnostizismus dagegen behandelt er nicht, und ich vermag für solches Verfahren den Grund nur darin zu sehen, dass nach Pflei- derers Meinung die Gnostiker in eine Geschichte des Urchristen- tums nicht hineinzugeboren scheinen*). Und endlich lässt Pflei- derers Disposition die Vermutung wenigstens als möglich er- scheinen, dass auf die Abgrenzung seines Themas das Neue Testa- ment doch noch einen Einfluss geübt hat.

Die einzige, mir bekannte, prinzipielle Erörterung der in Rede stehenden Fragen findet sich in van Manen's Leidener Antritts- rede : de leerstoel der oud-christelijke letterkunde (Groningen 1885), wenigstens soweit es sich um die „Einleitung ins Neue Testament" handelt. So sehr ich von dem Verfasser in Fragen der Kritik abweiche, hier stimme ich wesentlich mit ihm überein. Wenn Holtzmann (Einleitung S. 11) meint, dass aus der Anerkennung „theologischer Fachstudien" andere Konsequenzen als die von

*) Ich benutze die Gelegenheit zu bemerken, dass van Manen's Kritik meiner Geschichte der altchristlichen Litteratur (Theol. Tijdschr. 1895, 338 342) einen wunden Punkt meiner Disposition des Stofifes in der ersten und zweiten Abteilung richtig erkannt hat. Die Trennung der gnostischen Litteratur von der urchristlichen ist ein wissenschaftliches Unding. Ob ein Evangelium gnos- tisch ist oder nicht, kann in der That für die wissenschaftliche Betrachtung so wenig ausmachen, wie es verschlägt, ob ein Theologe Gnostiker war oder nicht. Wir vergessen bei der Behandlung eines Theologen wie Valentin oder Marcion immer noch gar zu leicht, dass ihm die Ketzermarke doch erst von der Kirche angehängt ist. Wie mancher moderner Theologe ist mit den Genannten in gleicher Verdammniss! Man wird ihnen nicht eher gerecht werden, als bis man sie mit Johannes oder Ignatius auf gleichem Fusse behandelt, meinetwegen als die „Liberalen" oder „Radikalen" neben den „Orthodoxen" oder „Positiven", wenn man diese viel missbrauchten Schlagwörter in die damalige Zeit zu übertragen nicht Anstand nehmen müsste.

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van Manen gezogenen sich ergeben , so muss ich das unter Hinweis auf meine früheren und künftigen Bemerkungen bestreiten. Es ist mir dabei durchaus nicht darum zu thun, den sogenannten „vorurteilslosen Historiker" herauszukehren, sondern eben als Theologe verfechte ich meine These.

Bevor ich aber dazu übergehe, meine Kritik durch Auf- zeigung dessen, was ich an die Stelle der bekämpften Anschauung setzen möchte, positiv zu ergänzen und daraus die mir nötig scheinenden praktischen Folgerungen zu ziehen, möchte ich einen Augenblick in der Vergangenheit weilen. Es liegt mir daran, noch einige Beobachtungen beizubringen, die es vielleicht verständlich machen, warum mir die heutzutage herrschende Betrachtungsweise geradezu als ein Rückschritt erscheinen will.

III.

Es ist noch nicht lange her, dass ich Schweglers Buch: „Das nachapostolische Zeitalter in den Hauptmomenten seiner Ent- wicklung" (Tübingen 1846, 2 Bände) kennen lernte. Ich sage ab- sichtlich : kennen lernen. Gelesen hatte ich das Buch schon früher, so gelesen, wie man es als junger Privatdozent angesichts einer neu zu arbeitenden fünfstündigen Vorlesung zu machen pflegt und machen muss. Ich hatte es noch dazu im Bann der Vorurteile gelesen. Auch mit diesem Bekenntniss werde ich schwerlich allein stehen, dürfte aber im Allgemeinen noch besser daran gewesen sein als die Theologen der jüngsten Generation , die zum grösseren Teil, und sicher auch die wissenschaftlich arbeitenden unter ihnen, Schwegler kaum noch in die Hand nehmen werden. Warum nicht? Nicht nur, weil das Buch ein halbes Jahrhundert alt ist, sondern vornehmlich, weil er es in die wissenschaftliche Acht gethan hat. Unsere massgebenden Lehrbücher der Kirchen-

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und Dogmengeschichte zitiren es entweder an verlorener Stelle oder gar nicht. Müller z. B. führt zwar Lechlers mittelmässige, nicht Schweglers hervorragende Leistung an, und Harnack nennt zwar Schwegler wiederholt, hält es aber nicht für der Mühe wert, sich mit seinen eigentümlichen Ansichten auseinander- zusetzen.

Warum ist das Buch in solchen Bann gethan worden? Ant- wort : wegen Verbreitung von natürlich wissenschaftlichen Irrlehren. Worin bestanden diese? Vornehmlich in jener An- schauung, wonach das Christentum ursprünglich nichts anderes hat sein wollen als die Vollendung des Judentums, Judenchristen- tum, vielleicht essenisch gefärbtes, Ebionitismus ; wonach weiter Paulus es war, der die Autonomie und Universalität des Christen- tums zur Anerkennung gebracht hat; wonach endlich im heftigen Kampfe dieser Anschauungen zwar der Paulinismus das Wesent- liche seiner Gedanken durchzusetzen wusste, doch auch später keineswegs zur Alleinherrschaft kam, vielmehr das Judenchristen- tum ein wesendiches Element der christlichen Religion blieb, und nur aus einer Vermittlung beider Richtungen, aus gegenseitigen Zugeständnissen der einen an die andere, aus einer allmählichen Verschmelzung ihrer dogmatischen Anschauungen , ihrer Ein- richtungen und ihrer Grundsätze, um die Mitte und nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts die gesammt-chrisdiche oder katho- lische Kirche entstand*). Es ist diejenige Anschauung, gegen welche Ritsehl in der zweiten Auflage seiner „Entstehung der altkatholischen Kirche" (Bonn 1857) sich wendete und die durch ihn, seine Mitarbeiter und seine Schüler so in den Hintergrund gedrängt worden ist, dass, wer heutzutage von ihr Notiz zu nehmen oder gar sich zu ihr zu bekennen wagt, in Gefahr gerät, entweder mit Achselzucken für hoffnungslos zurückgeblieben oder mit Entrüstung für einen Ketzer erklärt zu werden.

*) Die Formulirung nach Z e 1 1 e r , Vorträge und Abhandlungen. Zweite Sammlung. Leipzig 1877, S. 352.

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Es kann nicht in meiner Absicht liegen, Recht oder Unrecht dieser Meinung hier ausführlich darzulegen. Nur andeuten möchte ich, dass nach meinem Dafürhalten der durch R i t s c h 1 eingeleitete Prozess noch nicht gewonnen ist, dass wir uns jetzt in einem Stadium der wissenschaftlichen Arbeit befinden, das zwar nicht zu Schweglers „Judenchristentum", aber doch zu einer weit stärkeren Betonung des jüdischen Einflusses auf die Bildung der katholischen Kirche zurückleiten wird. Nur ein leichtes Schlag- licht möchte ich auf die jetzige Sachlage werfen. Die Eachgenossen wissen, dass Spitt a uns jüngst mit einer Auslegung des Jakobus- briefes und des Hirten des Hermas überrascht hat, der zufolge diese beiden Schriften nur leicht christlich überarbeitete jüdische Produkte sein sollen. Die Fachgenossen wissen aber vielleicht nicht und vermutlich weiss es Spitta selber nicht, da er es nicht erwähnt , dass schon Schwegler (Band I, 333 f.) mit Beziehung auf die Schrift des Hermas geschrieben hat: „Der Geist der jüdischen Gesetzlichkeit und Werkgerechtigkeit herrscht so sehr in ihr vor, das eigentümlich Christliche, namentlich in seiner paulinischen Fassung, tritt in solchem Masse zurück, dass nur wenige Stellen zu tilgen wären, um das ganze Buch für ein Er- zeugniss des vorchristlichen Judentums ausgeben zu können." Was in seinem Sinn vom Jakobusbriefe gleichfalls gelten würde. Ich frage nun: wer urteilte besonnener: Spitta, der, weil ihm die Zeit um das Jahr 100 herum schon in „heidenchristlichem" Lichte erscheint, ein solches „jüdisches Buch" in solcher Zeit nicht zu verstehen vermag und es deshalb, nicht ohne es beschnitten zu haben, in frühere Zeit zurückweist, oder Schwegler, der nach dem Geist des Dokuments sein Bild vom Gei.st der Zeit sich schuf? Mir ist die Antwort nicht zweifelhaft, aber mag man denken wie man will: jedenfalls beleuchtet Spittas Hypothese grell den Stand der Dinge.

Man verzeihe die scheinbare Abschweifung, die doch im Plane meiner Abhandlung begründet ist und zum Thema in engster

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Beziehung steht. Wenn nämlich in jenen bedeutenden, die Ent- wicklung des vorkatholischen Christentums betrefifenden Fragen grössere Klarheit geschaffen werden soll, als sie heutzutage unter den Sachverständigen herrscht, so ist eine der ersten Vor- aussetzungen dafür der Bruch mit dem Dogma vom Neuen Testament.

Und eben diesen Bruch hatte Sch wegler bereits vollzogen. Ich weiss natürlich sehr wohl, dass er nicht der erste und nicht der einzige in seiner Zeit war, der hier klar und deutlich sah. Es ist mir natürlich bekannt, dass er seine Direktiven von Baur erhalten hat, und dass wir ohne Baur keinen Schwegler haben würden. Aber ich bin doch nicht sicher, ob nicht Schwegler besser zum Historiker qualifizirt war als sein grosser Lehrer. Man vergleiche beider Darstellungen des Urchristentums. Was immer Baurs Vorzüge sein mögen, die geschichtsphilosophischen Kategorieen drängen sich bei ihm, schon in der Anordnung und Gliederung des Stoffes, noch mehr in der Darstellung, so vor, dass man nicht mit Unrecht von Hegeltum geredet hat. Selbst- verständlich hat auch Schwegler seine Geschichtsphilosophie: welcher denkende Historiker hätte sie nicht ? Auch sind gewisse Grundgedanken gerade der Hegeischen Geschichtsbetrachtung auf ihn von Einfluss gewesen : welcher Historiker wüsste sich heute ganz frei davon? Aber Schwegler gehört zu den wenigen deutschen theologischen Historikern, die nicht unter der Herrschaft bestimmter, theologischer oder philosophischer, Kate- gorieen stehen. Er hatte einen weiten, weder durch eine Tradition noch durch Gegnerschaft gegen eine Tradition beengten Blick ; er hatte Sinn für geschichtliche Zusammenhänge, ohne einer über- triebenen Konstruktionslust zu fröhnen ; und wenn ich auch sein „nachapostolisches Zeitalter" schon um der wenig künstlerisch abgerundeten Disposition willen, die unter der energisch durchge- führten Grundanschauung hat leiden müssen, nicht gerade als ein Kunstwerk bezeichnen möchte, so bleibt doch bestehen, dass seine

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Darstellung auch in diesem Punkte denen seiner theologischen Konkurrenten vielfach überlegen ist*).

Schwegler nun wusste nicht nur, dass „die von der spätem katholischen Kirche vorgenommene Scheidung der kano- nischen und ausserkanonischen, dogmatisch-normativen und nicht- normativen Litteratur für eine rein historische Untersuchung, die jene Schriften nur unter dem Gesichtspunkt von Geschichtsquellen betrachtet, völlig bedeutungslos" sei, er handelte auch nach dieser Erkenntniss. Er betrachtete die Dokumente, alle ohne Unterschied, nach ihrer geschichtlichen Bedeutung; er wies ihnen die Stelle innerhalb der Entwicklung an, die ihnen nach seiner Grundan- schauung zukommen musste; er behandelte sie einzeln, nicht in der Absicht, einen „mittleren Durchschnitt" apostolischer oder nachapostolischer Lehre zu gewinnen. Da giebt es keine „apo- stolischen Väter" im Gegensatz oder in Ergänzung angeblich „ur- christlicher Verkündigung". Da werden auch keine „Werturteile" über die Verbindung verschiedener Gruppen im Neuen Testament gefällt, weil das Neue Testament in einer Darstellung dieser Zeit nichts zu suchen hat und weil W^erturteile überhaupt nicht in eine geschichtliche Darstellung gehören. Da stört uns keine „Ein- leitung**)" und keine „neutestamentliche Theologie", mit ihren „zur

*) Um Missverständnissen vorzubeugen, bemerke ich, dass ich Schwegler grade um des Ganges meiner Erörterung und auch um des gleich zu erörtern- den Kontrastes willen aus der Schaar seiner Genossen herausgegriffen habe. Ich weiss die Arbeit der übrigen „Tübinger", vorab also Hilgenfelds, Köstlins, Zellers, sehr wohl zu schätzen. Die Aufforderung an die jetzige Generation, die reichen Schätze in den „Theologischen Jahrbüchern" , weitaus der gehaltvollsten theologisch-historischen Zeitschrift, die wir besitzen, nicht ungehoben zu lassen, ist keinenfalls überflüssig, hoffentlich nicht vergeblich.

**) Schwegler schreibt (i, ii); „Es ist überhaupt die Frage, ob die Wissenschaft der „Einleitung ins N. T." in der bisherigen Weise der Bearbeitung noch wird fortbestehen können. Werden die neutestamentlichen Schriften, wie oben gezeigt worden ist, als Momente einer Entwicklungsgeschichte begriffen, so muss sich jene Wissenschaft schon um der breiteren Grundlegung willen, die sie dann erhält, in eine Entwicklungsgeschichte der apostolischen und nachapostolischen Zeit verwandeln. Es ist dies wenigstens der einzige

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Zeit noch rätlich erscheinenden Abgrenzungen". Kurz, da athmen wir die erquickliche Luft gesunder geschichtlicher Reflexion und Forschung, mögen immerhin -die Resultate solcher Reflexion und Forschung zum Widerspruch reizen oder zur Ergänzung auffordern.

Wie anders bei Ritsehl! Es dürfte unter den wissenschaft- lich arbeitenden Theologen der jüngsten Vergangenheit wenige gegeben haben, die so sehr wie Ritsehl im Banne des Dogmas vom Kanon gestanden hätten. Den Beweis liefert der ganze zweite Band seiner Lehre von der „Rechtfertigung und Versöhnung" mitsammt seinen allgemeinen Voraussetzungen. Indessen wird man hier mit der Art des Themas, das eine derartige Behandlung vertrug, vielleicht erforderte, rechnen müssen. Anders steht es mit der „Entstehung der altkatholischen Kirche". Man wird füg- lich behaupten dürfen : dieses Buch hat kein Historiker, sondern ein Systematiker geschrieben*). Gewiss hat Ritschis Kritik die Aufstellungen Schweglers , überhaupt der Tübinger, erheblich modifizirt und den „Hauptmangel in der tübingischen Geschichts- konstruktion überzeugend gezeigt" **) : es war ein grosses Ver- dienst, dass er die Uberschätzung des Ebionitismus und seines Einflusses nachwies, dass er auf jenes gegen Paulinismus und Ebionitismus neutrale Christentum aufmerksam machte und in ihm die Signatur des werdenden Katholizismus erblickte. Ich beab-

Weg, die neutestam entliche Kritik jener Zufälligkeit und Sub- jektivität zu entheben, die ihr bis jetzt noch anhaftet (von mir gesperrt)." Dass diese Worte vor fünfzig Jahren geschrieben wurden, ist ebenso beachtenswert wie es bedauerlich ist, dass sie heute noch ungläubige Leser finden. Baur hat sich mit ihnen in seinem Aufsatz über „die Ein- leitung in das neue Testament als theologische Wissenschaft" (Theol. Jahrb. 1850 und 1851) nicht auseinandergesetzt. Er hatte hier andere Probleme zu erörtern, aber ich bin überhaupt nicht sicher, ob er für Schweglers Fragestellung zugänglich gewesen wäre.

*) Ich kann hier nicht ausführen, weshalb nach meinem Urteil Aehnliches auch von der Disposition der ältesten Dogmengeschichte und ihrer Motivirung gilt, die Ritsehl in seinem bekannten Aufsatz: Über die Methode der ältesten Dogmengeschichte (Jahrb. f. deutsche Theol. 16, 1871, 191 214) versucht hat.

*') Vgl. A. J ü 1 i c h e r , Einleitung in das Neue Testament, Freib. 1894, S. 16.

sichtige aber dieser Frage und der anderen, wie weit Ritschis eigene Auffassung im Einzelnen haltbar ist, hier nicht nachzugehen, so wenig wie mir daran gelegen war, die Schweglersche Position inhaltlich zu kritisiren.

Um so mehr kommt es in unserem Zusammenhang darauf an, den dogmatischen Charakter des Buches im Allgemeinen an's Licht zu stellen. Man wird, wenn man es liest, die unangenehme Empfindung nicht los, dass es der evangelische Theologe ist, der der werdenden katholischen Kirche das Konzept zurechtrückt, wie denn schon die Vorrede von der Wichtigkeit des Gegenstandes für die evangelische Theologie redet. Je und denn stösst man auch im Zusammenhang der Darstellung auf Bemerkungen, die ein solches Interesse kundthun : „die Ermahnungen des Klemens werden die Grundanschauungen einfach voraussetzen, deren Be- gründung lebendig zu erhalten für uns Evangelische im Gegensatz gegen den mittelalterlichen und tridentinischen Katholizismus Be- dürfniss ist". Oder: „der Paulinismus des Klemens ist also von vorne herein nicht an dem paulinischen Charakter des evangelisch- kirchlichen Bekenntnisses zu messen". Als ob sich das nicht von selbst verstünde und als ob „wir Evangelische" als solche bei der Untersuchung dieser Fragen irgendwie beteiligt wären ! Die prinzi- pielle Auseinandersetzung mit Schwegler zu Eingang des Buches ist durchzogen von ähnlichen Nebenbemerkungen, und ein Ver- gleich der Einleitung in Ritschis Buch mit Schweglers Vorbemer- kungen ist gerade unter diesem Gesichtspunkt besonders lehr- reich.

Nun möchte das hingehen, wäre nur nicht der Charakter der Darstellung selbst dadurch erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Indessen liefert die ganze Darstellung den Beweis, dass es Ritsehl nicht nur darauf ankam, die Entwicklung vom apostolischen Zeit- alter zum nachapostolischen und katholischen hin historisch aufzu- zeigen, sondern zugleich die Minderwertigkeit der späteren Periode gegenüber der grundlegenden in religiös-dogmatischer Beziehung

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darzulegen. Für die Abschätzung des Verhältnisses aber, das zwischen den Ansichten „Christi und der Apostel" und des „Juden- christentums" einerseits, des •;7Heidenchristentums" andrerseits be- steht, besitzt Ritsehl im letzten Grunde doch keinen anderen Massstab als den ihm von der „heiligen Schrift" in die Hand ge- gebenen. Daran ändert der Umstand nichts, dass er selbst die „Lehrbegriffe" der einzelnen neutestamentlichen Schriften wohl zu differenziren weiss; die Thatsache bleibt bestehen, dass „das christ- liche Gesetztum der apostolischen Väter" nebenbei bemerkt eine in ihren beiden Gliedern völlig ungeschichtliche Kategorie an der „apostolischen Lehre" abgemessen wird, ein Verfahren, zu dem weder die „apostolischen Väter" noch die „apostolische Lehre" berechtigen. Man hat in diesem Verfahren und in seinem Resultat, nicht ganz mit Unrecht, eine Wiederbelebung jener ungeschicht- lichen, ja widergeschichtlichen Vorstellung vom „Abfall der nach- apostolischen von der apostolischen Religion" sehen wollen ; und wenn diese oder ähnliche Urteile richtig sind, so wird man nicht geneigt sein, bedingungslos mit Harnack (DG. 37) zu sagen, dass Rit Sehls Werk den Grund für die zutreffende geschichtliche Betrachtung der Entwickelung des ältesten Christentums gelegt habe.

Sicher ist , und darauf kam es mir bei diesem Rückblick hauptsächlich an, dass unsere heutige Betrachtungsweise, und zwar gerade die von Ritschi nachweislich beeinflusste, an diesem Mangel krankt. Wenn Loofs in der ersten Auflage seiner Dogmengeschichte in den folgenden sind die Worte wegge- fallen — von der „vulgär heidenchristlichen Grundanschauung"

als einem „moralistisch verflachten Christentum" sprach, das

„einen verblichenen und verschwommenen Abklatsch apostolischer Lehre darstelle" , so stand er offenbar inhaltlich und formell auf der R i t s c hl'schen Position. Und wenn schon sein Urteil dem geschichtlichen Sachverhalt sicher nicht gerecht wurde, so bestand eben doch der Hauptfehler darin, dass es überhaupt gefällt wurde. Bei Seeberg spielen eigentlich kirchliche Voraussetzungen eine

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zu grosse Rolle, als dass ich seine Methode in diesem Zusammen- hang zur Veranschaulichung heranziehen möchte. Dagegen muss es sich Harnack gefallen lassen und es entspricht seinem so- eben zitirten Urteil über Ritschis Buch , wenn seine Dar- stellung der Entwicklung des ältesten Christentums als von Ritschis allgemeiner Betrachtungsweise abhängig in Anspruch genommen wird.

Hält man endlich das Gesagte mit dem im ersten Abschnitt über unsere Autoren Bemerkten zusammen, so leuchtet auch von hier aus ein , weshalb ich diesen Rückblick zu meinem Thema in Beziehung setzen durfte. Der Leser aber, dem es vielleicht längst auf den Lippen schwebt : Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Thaten sehn , möge nun noch die positiven Vorschläge entgegennehmen, die ich im Hinblick auf meine These zu machen habe.

IV.

Ich nehme zunächst von der Thatsache Akt, dass, wie Holtzmann sich ausdrückt, die Disziplin der alttestamentlichen Theologie gemäss der Erkenntniss, dass der religionsgeschichtliche Standpunkt der Betrachtung der einzige und sichere ist, neuer- dings eine veränderte Behandlung erfährt. Aber wenigtens die bisher im Druck vorliegenden Bemühungen um eine solche Neu- gestaltung genügen dem Ideal nicht, das Stade jüngst in einer höchst lehrreichen und zum Verständniss der von mir gewünschten Reform unentbehrlichen Abhandlung aufgestellt hat*). Stade zeigt zuerst den Prozess auf, den die Entwicklung seiner Disziplin durchgemacht hat, und zeichnet sodann ihre Aufgabe in folgender

*) B. Stade, Ueber die Aufgaben der biblischen Theologie des Alten Testaments. Zeitschr. f. Theol. u. Kirche 3, 1893, 31—51.

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Weise : sie sei eine weit umfänglichere als die, den religiösen und ethischen Inhalt der Bücher des Alten Testamentes vorzuführen; sie habe vielmehr die spezielle-Vorgeschichte der christlichen Ideen unter dem alten Bunde in ihrem ganzen Umfang darzuthun. „Sie hat zu schildern, wie aus der Religion Israels in Folge der Predigt der Propheten und der eigentümlichen Geschichte dieses Volkes sich das Judentum bildet, und die Entwicklung dieses bis zum Auf- treten Jesu klar zu legen. Ja, soll die Darstellung einen Ruhe- punkt finden, so wird als Abschluss der ganzen Entwicklung die Predigt Jesu in kurzen Umrissen zu geben sein. In dieser finden alle die Fragen ihre Beantwortung, mit denen sonst die Darstellung in unbefriedigendster Weise schliessen müsste. Wer das religiöse Leben des Judentums in der neutestamentlichen Zeit in erschöpfender Weise zeichnen will, hat so notwendig die Predigt Jesu in die Gesammtdarstellung einzuzeichnen , wie derjenige , welcher die Predigt Jesu deutlich zeichnen will, jenes als des Hintergrundes bedarf. Für die theologische Betrachtung ist die Predigt Jesu so gut der Schlussstein der alttestamentlichen Entwicklung, wie der Ausgangspunkt für die biblische Theologie des Neuen Testamentes, für die Kirchen- und Dogmengeschichte".

Vortrefflich ! Nur ist das vorläufig ein blosses Ideal ! Wenigstens kann ich nicht finden, dass die einzige Darstellung, die man zum Vergleich heranziehen könnte, Smends Lehrbuch der alttestamentlichen Religionsgeschichte (Freib. u. Leipz. 1893), Stades positiven Forderungen gerecht wird , obwohl mit dem alten Schema hier gründlich gebrochen ist. Auch bei Smend hält sich die Darstellung im Rahmen der Bücher des Alten Testamentes. Keinerlei Versuch ist gemacht, die Entwicklung bis an die christliche Zeit hinanzuführen. Die Darstellung schliesst „in unbefriedigender Weise" mit Kohelet. Ist aber dieses Buch wirklich der jüdischen Weisheit letzter Schluss? Ich meine doch, ganz anders sei sie ausgeklungen oder habe fortgeklungen in der jüdischen Religiosität der letzten vor-

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christlichen, der ersten christlichen Zeit. „Das religiöse Leben, welches uns im Judentum der neutestamentlichen Zeit entgegen- tritt, ist ungemein viel mannigfaltiger und reicher als der Inhalt der jüngsten Schriften des Alten Testamentes". Ihr Höchstes aber hat diese Religiosität hervorgebracht in Jesus, dem Vollender des Alten, dem Anfänger des Neuen. Bis zu ihm müssen die Alt- testamentler ihren Faden fortspinnen, dem Grossen, mit dem das Alte endet und das Neue beginnt. Um diesen Grossen mögen sie sich streiten : der Alttestamentler wird mit einem Ausblick auf das Evangelium und die Persönlichkeit Jesu schliessen; der Neutestamentier kann damit nicht einsetzen, ohne zuvor einen Rückblick auf die jüdische Entwicklung geworfen zu haben*).

Es steht zu hoffen, dass sich die Alttestamentler auf die Dauer solchen Forderungen nicht entziehen werden. Oder sollte der „schulmässig theologische Betrieb" ein Hinderniss sein? Stade deutet nichts davon an, und ich vermag nicht einzusehen, warum man einem abgestandenen Dogma zu Liebe unseren jungen Theo- logen die Erkenntniss des geschichtlichen Zusammenhanges dauernd vorenthalten soll**). Ganz das Gleiche aber gilt von der Unter- suchung und Darstellung der klassischen Periode in der Geschichte des Christentums, deren Bezeichnung als „neutestamendiche" sich

*) Der Einzige, der bisher die israelitische und jüdische Geschichte unter dem angegebenen Gesichtspunkt behandelt hat, abgesehen von Stade-Holtz- mann, ist Well hausen, und der Abschnitt in seinem Buche, der vom „Evangelium" handelt, ist horribile dictu fast das Beste, was darüber jemals von einem Historiker gesagt worden ist.

**) Dann aber wolle man auch den Namen, und zwar auch in den Vor- lesungen, ändern. Stade sagt selbst, dass die Disziplin ihren Namen von dem letzten Werk trägt, das, nach Art der Orthodoxie und des Pietismus, dicta probantia zum Zweck des Schriftverweises für die Dogmatik zusammenstellte (K. Ha y mann, Bibl. Theologie, 4. Aufl., 1768). Der Name war also schon als Gabler die Disziplin reformirte, veraltet; und jetzt nach mehr als einem Jahrhundert will man ihn noch nicht fallen lassen ? Nomina sunt odiosa. Wenn diejenigen, die einen veränderten Betrieb der „Symbolik" wünschen, ihrem Bestreben durch Umtaufung der Disziplin („Vergleichende Konfessionskunde", „Kirchenkunde der Gegenwart") Ausdruck verleihen, warum wollen die Alt- und Neutestamentier zurückbleiben?

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nur nach Analogie eines bekannten Paradoxons unter dem Gesichts- punkt rechtfertigen lässt, dass es in ihr kein Neues Testament gab.

Und gerade im Interesse einer Gesundung des schulmässig theologischen Betriebs erhebe ich meine Forderung. Was wir jetzt geben, ist Stückwerk. Oder ist es etwas Anderes, wenn der Neutestamentier erklärt, Belangreiches über die ausserkano- nische Litteratur nicht sagen zu können, weil ihn seine Beschäf- tigung lediglich auf die kanonische hingewiesen habe? Oder wenn der Kirchenhistoriker zwar seine apostolischen Väter in Übungen traktiren und exegesiren darf, auf die Zusammenstellung mit den kanonischen Produkten aber verzichten muss, weil diese in den neu- testamentlichen Vorlesungen und Übungen behandelt werden? Ist es nicht eine unnatürliche Zerreissung zusammengehöriger Gegen- stände, wenn zwar der Kirchenhistoriker die Anfänge der kirchlichen und damit auch die urchristliche Verfassung behandeln darf oder soll, die Exegese der betreffenden Dokumente im Übrigen dem Neutestamentier überlassen muss ? Ich möchte wohl , dass man mir klipp und klar die Frage beantwortete, wie es möglich ist, die Apologieen Justins ohne fortgesetzte Übergriffe in die „neutesta- mentliche" Wissenschaft zu exegesiren, und unter welchem Ge- sichtspunkt man derartige Übergriffe rechtfertigen will ? Und um- gekehrt, ist nicht der Neutestamentier, für den Justin eine sehr wich- tige Persönlichkeit ist, durch seine jetzige Arbeitsweise ausser Stand gesetzt, ihn richtig zu würdigen und für seine Zwecke zu verwerten?

Der „Kirchenhistoriker" hat in dieser „neutestamentlichen" Periode nichts zu suchen ; man lasse ihn daher aus dem Spiele. Für ihn ist ausreichend gesorgt. Es steht ja nicht so, als Hesse sich diese Periode nicht nach unten abgrenzen,. Die Grenze ist viel- mehr durch das Auftreten der katholischen Kirche und ihrer dog- matischen Massstäbe deutlich gekennzeichnet. Da, wo die Formen erstarren, wo die Zäune aufgerichtet werden, die das alleinselig- machende von allem anderen Christentum, die den Orthodoxen vom Ketzer trennen, da ist der Einschnitt. Wiederum kann der

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Neutestamentier nicht abschliessen, ohne einen Ausblick in die Entstehung dieses Kirchenwesens zu thun und seinen gewaltigen, doch nur dem tiefer Blickenden deutlichen Abstand vom ursprüng- lichen Christentum darzulegen ; und der Kirchenhistoriker, der nun erst seinen Namen mit Recht trägt, muss einen kurzen Rück- blick auf die Urzeit werfen, ehe er sich daran macht, das uner- messliche Feld zu beackern, das ihm zur Pflege übergeben ist. Nur so kommt eine gesunde Arbeitsteilung zu Stande, die der Wissenschaft wie dem Lehrbetrieb zum Segen gereichen muss.

Ich höre einen Einwurf. Wird bei solcher Teilung der Fächer der dem Neutestamentier zugewiesene Stoff nicht noch stärker anschwellen als bisher? Der Neutestamentier exegesirt die Synoptiker in 5, wenn nicht in 6 Stunden, den Johannes in 4, Römer und Galater in 4 und mehr, ebenso die Korintherbriefe und mindestens 3 stündig die kleinen Paulinen, 3 stündig die Offen- barung, 3 stündig die katholischen Briefe ; er braucht 5 Stunden für seine „Einleitung", ebenso viel für seine „Theologie". 2 oder mehr für seine „Zeitgeschichte". Ich erlaube mir zu fragen: ist für den Lehrbetrieb, dessen Ziel doch die Einführung in die Haupt- sachen und in die Hauptsache, nämlich den Zusammenhang ist, die durch solch ungeheure Stundenzahl gekennzeichnete Speziali- sirung wirklich notwendig? Hängt sie nicht auch im letzten Grunde mit dem zusammen, was ich das Dogma vom Neuen Testament genannt habe?

Gewiss, die neutestamentlichen Schriften sind die klassischen Schriften unserer Religion : unsere Studenten , die dereinst als berufene Interpreten christlicher Religionswahrheit auftreten sollen, müssen sie nach Form und Inhalt gründlich kennen lernen. Ist es dazu nötig, dass sie in den Vorlesungen in die tiefsten Geheim- nisse einer allwissenden Exegese eingeführt werden , müssen sie in alle Einzelheiten der Forschungen über die Chronologie des Paulus und seiner Briefe eingeweiht werden? und müssen ihre Lehrer nicht auf die wunderlichsten Gedanken und Hypothesen

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verfallen, wenn sie immer aul's Neue Vers für Vers eines Briefes drehen und wenden, ob sie ihm nicht noch eine neue Seite abge- winnen können? Ist es wirklich nötig oder auch nur erspriesslich, für die „Einleitung" in diese 27 Schriften 5 Stunden in der Woche zu verwenden , während der Kirchenhistoriker in derselben oder annähernd derselben Zeit in die ganze Geschichte der alten Kirche „einleitet" , ohne dass ihn auch nur einen Augenblick die Furcht zu beschleichen braucht , dass er sich auf der Oberfläche halte ? Besteht nicht ein Missverhältniss, wenn die Theologie des Neuen Testamentes zu ihrer Behandlung die gleiche Zeit erfordert wie die Behandlung der Theologie der Kirche bis zur Reformation in der Dogmengeschichte? Muss nicht bei solchem Betrieb eine Menge Ballast mitgeschleppt werden, dessen man sich lieber ent- ledigen sollte, wenn man sein Fahrzeug höheren, besseren Regionen zuführen will ?

Man mag dem Klassischen einen noch so grossen Vorrang gönnen ; auch hier muss es Grenzen geben. Zum Mindesten aber wird man verlangen dürfen, dass die dergestalt beanspruchte Zeit auch den nichtkanonischen Schriften und ihrem Zusammenhange mit den kanonischen zu Gute komme. Man setze an die Stelle der „neutestam entlichen Zeitgeschichte" und der „Geschichte des apostolischen Zeitalters", welch' letztere man mit Vorliebe, aber ohne jede Berechtigung dem Kirchenhistoriker überlässt, eine allgemeine Geschichte des Urchristentums ; an die Stelle der „Einleitung" eine Geschichte der urchristlichen Litteratur; an die Stelle der „neutestamentlichen" eine Geschichte der urchristlichen Theologie. Man exegesire alle Evangelien in einem, die Paulinen in einem oder zwei Hauptkollegien*); die übrigen neutestament-

*) Ich bitte mir nicht einzuwenden, dass man in so bemessener Zeit nicht „gründlich" genug sein könne, dass der Student mit dem Text und seiner Auslegung nicht genügend vertraut werde. Aus eigener Erfahrung weiss ich, was es bedeutet, ein östündiges Exegetikum nur über Römer und Galater, ein 5stündiges nur über die Korintherbriefe zu hören. Niemand konnte es Lipsius

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liehen Schriften , die „Apokryphen" , die „apostolischen Väter" behandle man in Auswahl in Vorlesungen oder Uebungen*).

Die grossen Vorteile dieser Änderungen springen in die Augen. Man erzielt nicht nur eine sachgemässere, geschlossenere Behandlung der geschichtlichen Fragen, die für unsere Religion von grösster Bedeutung sind ; man dient nicht nur der Wissen- schaft, indem man ihr zu richtigerer Problemstellung verhilft ; man dient der Religion selbst. Die erhabensten Gedanken werden uns in ihrer ganzen Grösse erst recht deutlich, wenn wir sie in ihrem geschichtlichen Zusammenhang mit weniger erhabenen vergleichen können, wenn wir sie von weniger grossen sich abheben sehen. So erst wird das wirkliche Verständniss für den Reichtum er- worben, der in manchen Schriften des Neuen Testamentes aufge-

nachsagen, dass er in diesen Kollegien nicht anregend gewesen sei. Aber wenn ich bedenke, bis in welche Einzelheiten er vordrang und wie er die gesammte Forschung über die Entstehungsverhältnisse der Korintherbriefe zu Wort kommen liess, die er doch in der allgemeinen „Einleitung in's Neue Testament" auch behandelte und auf die unter Zusammenfassung der Ergebnisse zu verweisen völlig genügt hätte, so begreife ich zwar, dass er so viel Zeit gebrauchte, aber auch, dass mir seit jenen Stunden ein unüberwindlicher Wider- wille gegen den Gelehrtenkram und gegen das Doublettenunwesen, wie man es nennen könnte, in Universitätsvorlesungen geblieben ist. Wir könnten so viel Zeit sparen, wenn wir nur wollten, und Niemand würde es uns mehr danken als unsere Zuhörer.

*) An dieser Stelle habe ich noch eines oft gehörten Einwandes zu gedenken, den ich indessen, da er, wie der S. lo erledigte, nicht von wissenschaftlichem Gesichtspunkt aus erhoben wird , trotz seiner Bedeutung nur in einer Anmerkung behandeln kann. Man wirft ein : den künftigen Pfarrern, aus denen sich unsere Zuhörer fast ausschliesslich rekrutiren , sei an genauer Kenntniss der neutestamentlichen Schriften sehr viel, der übrigen urchristlichen Litteratur aber nur sehr wenig gelegen. Das Berechtigte an diesem Einwurf glaube ich in meinen Bemerkungen über die Stoffverteilung anerkannt zu haben. Übrigens aber muss ich ihn für unhaltbar erklären. Zunächst : wollte man jenen „praktischen" in Wirklichkeit ganz unpraktischen Gesichtspunkt durchführen , so würde ihm nicht nur die ausserkanonische, sondern auch ein Teil der kanonischen Litteratur zum Opfer fallen. Oder „brauchen" das Wort in dem bekannten spezifischen Sinn genommen unsere Pfarrer etwas von den Entstehungsverhältnissen des Judas- oder 2. Petrusbriefes zu wissen? Sicherlich nicht mehr als vom Barnabas- oder

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speichert ist, und somit auch für den oft gerühmten „Takt der Kirche" bei der Auswahl. Freilich auch vor Überschätzung wird man bewahrt, wenn man erkennt, wie wenig unfehlbar trotzdem diese Auswahl getroffen wurde. Die jetzige Zersplitterung des Betriebes macht solche Erkenntniss zwar nicht unmöglich , er- schwert sie aber, da sie einen Einblick in die Zusammenhänge nicht gewährt.

Klemensbrief. Den Gegner, der mich hier mit einem „doch" niederschlagen möchte, mache ich darauf aufmerksam, dass er nicht im Stande ist, dieses „doch" zu beweisen. Das Dogma vom Neuen Testament hält ihn gefangen, und er merkt es gar nicht mehr, dass er in der Praxis nur mit einem Ausschnitt des Neuen Testamentes arbeitet, jenem Ausschnitt, von dem Harnack an weiter oben (S. i8) zitirter Stelle sagte: sein Inhalt sei das, was wir am Neuen Testament vor Allem schätzen. Grösseren Wert lege ich in meinem Zusammenhang auf die Betrachtung, dass es uns schlechterdings darauf nicht ankommen kann, was unsere Zuhörer „brauchen" können: wir lehren nicht an einem Seminar, sondern an einer Universität, und unsere Auf- gabe lautet lediglich: wie führen wir unsere Zuhörer am besten in die Zusammenhänge des geschichtlichen Werdens ein? wie zeigen wir ihnen am sichersten, wie die Dinge wirklich ausge- sehen haben? Unsere wissenschaftliche Arbeit würde erst dann von dem hier zurückgewiesenen Vorwurf getroffen werden, wenn sie unfruchtbare Ge- lehrsamkeit auskramen und die höchsten Gesichtspunkte, d. h. d i e E r w e i- terung des Horizontes der Schüler und die Erkenntniss der Wahrheit, vernachlässigen oder ignoriren würde. Was aber die „Kirche" will und braucht, das zu erörtern und berücksichtigen, sollte denen überlassen bleiben, in deren Gedanken diese „Kirche" eine alles Andere in den Schatten stellende Rolle spielt. Wir leiden mehr als wir wissen oder zugeben wollen, unter jener Schleiermacherischen Begriffsbestimmung, wonach der Wert jeder theologischen, also auch der theologisch-historischen Arbeit sich im letzten Grunde nach dem bestimmt, was sie der Kirche leistet. Ich sollte denken, die Beurteilung wissenschaftlicher Arbeit vertrage nur einen Massstab, den, wie weit sie die Erkenntniss der Wirklichkeit fördert. Was diese Wirklichkeit für uns praktisch bedeutet, ist eine ganz andere Sache, die höch- stens insofern auf unsere Frage zurückwirken kann, als eine Wissenschaft, die sich mit für uns ganz gleichgültigen Formen und Erscheinungen der Wirklichkeit beschäftigt, ihres Namens nicht wert ist. Wir leben in der Gegenwart, und die Arbeit an der Vergangenheit ist uns nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck ; nur kann uns dieser Zweck nicht von einem Papste, und wäre es der zu Rom, vorgezeichnet werden. Die Wissenschaft hat das einzigartige Privileg, ihr eigener Richter zu sein, und gut oder bös gemeinte Einwände können daran nichts ändern.

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Der Kirchen- und Dogmenhistoriker aber, dessen Interessen nicht speziell im Urchristentum liegen, müsste sehr zufrieden sein. Ich meine nicht, dass nun der Kirchenhistoriker sich nicht mehr an der Forschung im Urchristentum oder an Vorlesungen über das Urchristentum beteiligen soll, wenn nämlich seine Fähigkeiten ihn dazu in den Stand setzen. Zwischen ihm und dem Neu- testamentler besteht ja kein weiterer Unterschied, als dass der eine die erste, der andere die späteren Perioden der Geschichte des Christentums behandelt. Nur für den zu behandelnden Stoff fordert meine These reinliche Scheidung gegenüber einer Ver- mischung, die durch einen der geschichtlichen Betrachtung gänz- lich fremden Faktor verursacht worden ist. Der Kirchenhistori- ker wird so von der Verpflichtung befreit, sich in einem Gebiete zu bewegen, in dem er alle Augenblicke auf eine Tafel mit „Ver- botener Weg" stösst ; er wird festen Boden unter den Füssen haben; er kann beruhigt an die Resultate seines neutestament- lichen Kollegen anknüpfen, denen zu misstrauen er jetzt aus den angegebenen Gründen oft genug Ursache hat; er spart die Zeit, die er jetzt in Vorlesungen und Übungen auf mangelhafte Er- forschung und Darstellung eines Stoffes verwenden muss, den vollständig zu erschöpfen ihm versagt bleibt.