li I - ä - > 6 7 i u », H Pe - 3 2 “ ’ & - \ En 14 » Zu 3.4 nr @ j [ s = x “ 72 ” - Bi LT u a > 8 nn 3 ar En B z , „r s E „® _ .—. Pr) d by the Internet Archive in 2011 ‚with funding from University of Toronto a at EL ia nr a 5 . f ‘ D ' a „ RN 8 4 ” . . R i 1’ r \ I 4 wa ki . s - N 1 73 “ “ re * & ‘ a N e t » ’ e D R) j d ' 4 % 4.2 v ’ ee « b u I 5 es | vy s | Br 0 A ir © #ä 7 ” .* > ” A ie Br 2 A 4 % u “X Das Meer Dr/3-WIESE Alie Rechte vorbehalten. — Nachdruck verboten. | .i rc ne h + nd L ut “ EN . .. „ Das Meer Geographische, naturgeschichtliche und volks- wirtschaftliche Darstellung des Meeres und seiner Bedeutung in der Gegenwat DW OR DR. J. WIESE R Mit zahlreichen Bildern und Karten ON /Q EAN) JOo& /4 24 71.5 2 J BERLIN Verlagsbuchhandlung ALFRED SCHALL Kgl. Preuß. u. Herzogl. Bayer. Hofbuchh. Verein der Bücherfreunde > DB N on pw» H- Inhaltsverzeichnis. Einleitung: Meergruß. Gedicht von Heinrich Heine . I. Abschnitt, Das Meer und seine Erscheinungen. . Zur Geographie des Meeres . Der Meeresboden . ee . Meeresgrund. Gedicht von a Freiherr v. a Das Wasser des Meeres Von der deutschen Tiefsee- EN Ein Tag an Bord des Expeditions- dampfers „Valdivia“. Von Dr. Gerhard Schott, Hamburger Seewarte . Ebbe und Flut. , . Die Ströme des Meeres . . Wellen und Wogen . a ER RRE . Wogenspiel. Gedicht von 1. Fehr. v. Erkendork ß . Der Wind. Gedicht von Heinrich Heine. { . Die „„‚Hirondelle‘“ im Wirbelsturm, Von Albert L. een von RE £ . Im Sturm. Gedicht von Julius Sturm . . Nach dem Sturm. Gedicht von Emanuel Geibel . Unterseeische Vulkane . Die Halligen und ihre Besohnsr . Der Halligmatrose. Gedicht von ae Athe . Dünenberge und ihre Wanderung . Packeis und Eisberge II. Abschnitt, Das Leben im Meere. A. Die Pflanzenwelt. . Mit dem Taucher auf dem Meeresgrunde. Von M, Dankler, Rumpen . . Meeresalgen. Von Dr. Adolf Hansen, Professor an der Universität Gießen . Der Bernstein, seine Gewinnung und Bearbeitung B. Die Tierwelt, Das Meeresleuchten . Meerleuchten. Gedicht von e Diveedefedt . Schwämme und Schwammfischerei . Korallen und Koralleninseln . Die Stachelhäuter der Tiefsee . . Die Krustentiere . . . . . Die Austern Seite 40 129 141 152 159 166 168 174 180 188 200 8 ED, u Ser Senn Inhaltsverzeichnis, Perlen und die Perlenfischerei r erälongäen (Kraken und Tinfenfsche) Schildkröten Seeschlangen . Meeresvögel { Fische. a) Haie aid Fbchen . Seewärts. . Die Flotte — eine Schule für das deutsche Volk . . Schwimmende Paläste . Eine schwimmende Stadt . Deutsches Flaggenlied. Von Robert Satiner . Weltverkehrsstraßen des Ozeans . Die Welthäfen der Gegenwart E N A A FE . Wie findet der Schiffer den Weg über en er Von Friedrich Meister . Auf die Reise, Gedicht von Ludwig Uhland . Leuchttürme a ea ee . Der Leuchtturm. Gedicht von Hermann Lingg . . Rettungswesen zur See . De Schipperfru. Gedicht von ee Groth . Feuer auf See, Von Wiihelm Rabe . Weltenverbindende Drähte . b) Der Hering und sein Fang . c) Sardine und Sardelle ; d) Elektrische Fische — Schnee — esende Rische e) Lachs — Schellfisch — Dorsch — Kabeljau . >: f) Die Plattfische A g) Der Aal h) Die Thunfische . Die deutsche Hochseefischerei . Die Riesengarde des Ozeans . Leviathan., . Die Seerobben und ihr Fang . Gedicht von Ferdinand Kreiligrath III. Abschnitt, Das Meer im Leben der Völker. Von Generalmajor z. D. Dr. A. Pfister Br 329 344 346 333 360 363 373 381 390 391 405 406 412 413 44 see ee Vorwort. "Und nun laßt hervor mich treten, Schau’n das grenzenlose Meer; Laßt mich knien, laßt mich beten, Mich bedrängt die Brust so sehr! Von ähnlichen Gefühlen, wie sie der Wanderer in „Faust“ empfindet, ist wohl jeder beseelt worden, der zum erstenmal den Blick über die unbegrenzte Wassermasse des Ozeans schweifen ließ und mit staunendem Auge das stetig wechselnde Spiel der wogenden Fluten des gewaltigen, erhabenen Meeres verfolgte. Beim Anblick dieses großartigsten Schauspieles der Natur, dieser bald sonnenbeglänzten, in rhythmischen Wellen dahinziehenden, bald schaumbedeckten, in wilden Wogen dahinstürmenden See, kommt es uns so recht zum Bewußtsein, wie nichtig und klein doch der Mensch ist gegenüber der erhabenen Majestät des Ozeans. Da lernen wir auch begreifen und verstehen, dal das Meer von jeher und überall, wo Menschen zu ihm in Beziehungen traten, einen Gegenstand heiliger Scheu und andächtiger Bewunderung: bildete und die Phantasie der Völker mächtig anregte. Aber nicht nur grobartig, gewaltig, majestätisch ist der Ozean in seinen wunderbaren Erscheinungen, er spielt auch eine ungemein wichtige Rolle im Leben einzelner Menschen wie ganzer Völker. Bis in die tiefsten Tiefen ist er ein lebender Organismus mit seinem reichen, wunderbaren, seltsamen Pflanzen- und Tierleben. Die moderne ÖOzeanographie, der es besonders in den letzten Jahr- zehnten gelungen ist, in die grause Nacht zu dringen, hat uns die (reheimnisse der Tiefsee enthüllt, so manches frühere Rätsel ge- löst und uns die Bedeutung des Meeres als eines wirtschaftlichen Faktors ersten Ranges, als eines nimmer zu erschöpfenden Liefe- ranten von Nahrungsmitteln aller Art kennen und schätzen gelehrt. 8 Vorwort. Der Ozean ist in unseren Tagen aber auch ein völkerverbin- dendes, nicht mehr ein trennendes Element. Seine „heiligen Fluten“ durchfurchen hochmastige Segler und stolze Riesendampfer, um im friedlichen Austausch der Güter und Schätze fernster Länder den Wohlstand der Völker zu heben und durch die Beförderung eines immer mehr anschwellenden Menschenstromes die Bewohner der Kontinente einander näher zu bringen. Er ist der größte schwimmende Markt, ein wirtschaftlicher Tummelplatz von der höchsten Bedeutung, über dessen unendlichen Raum Tag für Tag, Nacht für Nacht schwimmende Paläste mit vielen Tausenden von Menschen dahinstürmen. Der Ozean ist aber auch der Schauplatz blutiger Kämpfe. Auf ihm spielen sich nur zu oft die kriegerischen Ereignisse ab, deren Ausgang das Wohl und Wehe der Staaten entscheidet. Nur ein Staat, der zur See stark und mächtig ist und schon im Frieden es verstanden hat, auf ihren Fluten eine kampfestüchtige Marine heranzubilden, vermag: in Krieg'szeiten, in den großen weltgeschicht- lichen Fragen, ein entscheidendes Wort mitzusprechen. Das Meer nach diesen Richtungen — seinen wunderbaren Er- scheinungen, seinen wirtschaftlichen Reichtümern, seiner kommer- ziellen und nationalen Bedeutung — zu schildern und dem Ver- ständnis nahe zu bringen, ist Aufgabe und Ziel des vorliegenden Werkes. Zwar fehlt es nicht an vortrefflichen Büchern, die sich mit dem Meere beschäftigen, aber zum Teil sind sie nicht er- schöpfend genug und behandeln nur die eine oder andere, wenn auch wichtige Seite des Gegenstandes, zum Teil sind sie veraltet und durch die Forschungen der neueren Ozeanographie überholt, zum Teil sind sie aber auch rein wissenschaftlicher Natur und ebenso wertvoll für den Fachmann, wie wertlos für den Laien, dem zu ihrem vollen Verständnis die notwendigen Vorkenntnisse fehlen. Bei der Abfassung meines Werkes, das dem Manne der Wissenschaft nichts Neues sagt und sagen will, leitete mich die Absicht, ein im besten Sinne des Wortes populäres Werk dem nicht fachmännisch Gebildeten, besonders aber auch der see- begeisterten reiferen deutschen Jugend auf den Tisch zu legen. In ihm soll und wird der Leser alles, was über das Meer zu wissen nötig ist, erfahren. Er wird in die wichtigsten Phänomene des Meeres nicht nur einen Einblick erhalten, sondern sie auch in ihrer Entstehung und ihrem Zusammenhang begreifen lernen. Er wird . i Ä ‘ TEE WERE BEE U NE EEE Vorwort. 9 -in die Tiefen des Meeres geführt, um Bekanntschaft zu machen mit der so mannigfachen Pflanzen- und Tierwelt, und seiner Er- kenntnis soll die ungeheure Wichtigkeit der Rolle näher gerückt werden, die dem Meere im Völkerleben zufällt. Diese Ziele sucht mein Werk durch frische, anschauliche Schil- derungen zu erreichen, die, in allgemeinverständlicher Sprache geschrieben, in ihrer Gesamtheit ein wenn nicht erschöpfendes, so doch übersichtliches und in den Hauptpunkten sicher genügendes und zutreffendes Bild von dem Meere nach den angegebenen Rich- tungen entwerfen. So habe ich speziell in den Abschnitten über die Tierwelt des Meeres in erster Linie diejenigen Arten ein- gehender behandelt, die für den Haushalt des Menschen besondere Bedeutung beanspruchen. Lange Beschreibungen habe ich nach Möglichkeit vermieden, weil mir die Schilderung ihrer Lebens- gewohnheiten, ihrer Eigentümlichkeiten und ihres Fanges wich- tiger erschien. Eine umfangreiche Literatur hat mir auf der einen Seite meine Aufgabe erleichtert, aber auf der anderen auch erschwert. Für jeden, der ähnliche Arbeiten angefertigt hat, braucht es keiner be- sonderen Ausführung, wie schwierig es ist, aus einer reichen Fülle wissenschaftlichen Materials das Wesentliche auszuwählen, verständ- nisvoll zu sichten, zweckmäßig zu gruppieren und in die angemessene Form zu bringen. Zu meinem Zwecke standen mir zunächst zahl- reiche, in verschiedenen vorzüglichen Zeitschriften zerstreute Ar- beiten zur Verfügung. Als solche Zeitschriften nenne ich nament- lich: „Überall“, „Flotte“, „Nauticus“, „Woche“, „Natur“, „Natur und Haus“, „Prometheus“, „Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik“, „Gaea“, „Naturwissenschaftliche Rundschau“. Folgende Werke sind benutzt worden: . Apstein, C., Tierleben der Hochsee. Kiel 1905. . v. Boguslawski u. Krümmel, Handbuch der Ozeanographie. Stuttgart 1884/87. . Brehm, Tierleben. 8, Bd. . Brüning, Das Meer und seine Bewohner. Dresden 1905. Chun, C., Aus den Tiefen des Weltmeeres. Jauer 1900, . Duge, F., Hafenmeister, Die Dampfhochseefischerei in Geestemünde. Geeste- münde 1838: 7. Guthe u. Wagner, Lehrbuch der Geographie. I. Bd. Hannover u. Leipzig 1900. 8. Krümmel, Der Ozean. Leipzig und Hannover 1886, 9. Mangin, Der Ozean, seine Geheimnisse und Wunder, Berlin 1866. 10. Marschall, Die Tiefsee und ihr Leben. Leipzig 1886. 11. — Die deutschen Meere und ihre Bewohner. Leipzig 1895. awı 2 oN » IO Vorwort. 12. Schleiden, Das Meer. Berlin 1874. 13. Süß, Das Antlitz der Erde. Wien 1888, 14. Thomson, Wyville, The Atlantic. London 1877. 15. Thoulet, Oceanographie. Paris 1890. 16. — L’occan et ses lois. Paris 1904. 17. Voges, L., Das Pfanzenleben des Meeres. Leipzig 18806. 18. Walther, ]J., Allgemeine Meereskunde. Leipzig 1893. Die zahlreichen, an geeigneter Stelle eingestreuten Gedichte werden vielen Lesern eine nicht unwillkommene Beigabe sein, sie dürften besonders nach der Seite des Gremüts anregend wirken und zur Veranschaulichung ein gut Teil beitragen. Schließlich will ich nicht unterlassen, auch an dieser Stelle den Herren Autoren, die mir für mein Werk so außerordentlich wert- volle Beiträge selbstlos zur Verfügung stellten, den herzlichsten Dank auszusprechen. Sie namentlich aufzuzählen erübrigt sich, da sie als Verfasser der betreffenden Aufsätze im Inhaltsverzeichnis genannt sind. So übergebe ich denn mein Werk der Öffentlichkeit mit dem Wunsche, daß ein günstiger Wind es begleite auf seiner Fahrt durch die deutschen Lande. Möge es ihm gelingen, die Bekannt- schaft mit den Wundern und Geheimnissen des Ozeans in den weitesten Kreisen zu vermitteln, die Liebe zum Meer in die Herzen der Leser zu senken, ein Stück Seeluft in das Gremüt des deutschen Volkes zu zaubern, und möge es schließlich an seinem bescheidenen Teile mehr und mehr die hohe Bedeutung des Kaiserwortes wür- digen und schätzen lehren: „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser.“ Berlin, am Sedantage 1906. Dr. J. Wiese. Meergruß. Thalatta! Thalatta! Sei mir gegrüßt, du ewiges Meer! Sei mir gegrüßt zehntausendmal Aus jauchzendem Herzen, Wie einst dich begrüßten Zehntausend (Griechenherzen, Unglückbekämpfende, heimatverlangende, Weltberühmte Griechenherzen. Es wogten die Fluten, Sie wogten und brausten, Die Sonne goß eilig herunter Die spielenden Rosenlichter, Die aufgescheuchten Möwenzüge Flatterten fort, lautschreiend, Es stampften die Rosse, es klirrten die Schilde, Und weithin erscholl es wie Siegesruf: „Ihalatta! Thalatta!“ Sei mir gegrült, du ewigres Meer, Wie Sprache der Heimat rauscht mir dein Wasser, Wie Träume der Kindheit seh’ ich es flimmern Auf deinem wogenden Wellengeebiet, Und alte Erinnerung erzählt mir aufs neue Von all dem lieben, herrlichen Spielzeug, Von all den blinkenden Weihnachtsgaben, Von all den roten Korallenbäumen, Einleitung. Meergruß. Goldfischehen, Perlen und bunten Muscheln, Die du geheimnisvoll bewahrst Dort unten im klaren Kristallhaus. OÖ, wie hab’ ich geschmachtet in öder Fremde! Gleich einer welken Blume In des Botanikers blecherner Kapsel, Lag mir das Herz in der Brust. Mir ist, als saß ich winterlange, Ein Kranker, in dunkler Krankenstube, Und nun verlass’ ich sie plötzlich, Und blendend strahlt mir entgegen Der smaragdene Frühling, der sonnengeweckte, Und es rauschen die weißen Blütenbäume, Und die jungen Blumen schauen mich an Mit bunten, duftenden Augen, Und es duftet und summt und atmet und lacht, Und im blauen Himmel singen die Vöglein — Thalatta! Thalatta! Heinr. Heine, L. Abschnitt, Das Meer und seine Erscheinungen. I Zur Geographie des Meeres. „Unermeßlich und unendlich, Glänzend, ruhig, ahnungsschwer Liegst du vor mir ausgebreitet, Altes, heil’ges, ew’ges Meer.“ Anastasius Grün, „Den Erdball umgibt ringsum die Lufthülle: einen Teil seiner Außenseiten bedecken die Wasser, den anderen, welcher mit trockener Oberfläche der Luft zugewendet ist, nennen wir Veste. Im Gegenteil jener beiden flüssigen Formen, die in ihrer räum- lichen. Gesamtheit Atmosphäre und Meer oder Ozean heiben, wird der feste Boden das Land genannt.“ Trotz der anerkannten Autorität des berühmten Geographen Ritter, der diese Worte schrieb, müssen wir doch sagen: die Festiänder sind gleich Inseln in einer großen, zusammenhängenden Wasserfläche zerstreut, die wir das Weltmeer nennen. Es gibt nur ein Weltmeer, denn wir können, ohne auch nur einmal un- umgängliche Landstrecken zu finden, zu Schiff alle Ozeane be- fahren, aber nicht von einem Kontinent zum anderen — denn Europa und Asien bilden eigentlich ein einheitliches Ganzes — trockenen Fußes gelangen. Daß die Oberfläche des Erdballs eine überwiegend ozeanische ist, ergibt sich auch aus der Verteilung von Wasser und Land. Nach unserer heutigen Kenntnis darf man die Ausdehnung der Landfläche zu 144,5, der Wasserfläche zu 365,5 Millionen qkm annehmen. Es stellt sich also das Verhältnis des von Land bedeckten Teils der Erdoberfläche zur Wasserfläche etwa wie 2:5. Hierbei sind in den unbekannten polaren Gebieten IA Dr, Wiese, Das Meer. zirka 9 Millionen qkm vermutungsweise rein dem Lande und zirka ı2 Millionen dem Meere zugerechnet: Ein Blick auf die Karte genügt, um zu erkennen, daß die Flächenverteilung von Land und Wasser in den einzelnen Erd- gürteln eine sehr verschiedene ist. In. den zwischen 40 '—70°N. gelegenen überwiegt sogar das Land (zirka 60°/,), in allen übrigen das Wasser in einem nach Süden steigenden Maße. Die gesamte Nordhälfte der Erde enthält 40°, Land und 60°/, Wasser, auf der Südhalbkugel erreicht die Landfläche selbst mit Einschluß der vermutungsweise angenommenen antarktischen Gebiete (9 Mil- lionen qkm) nur 17 °/,. Jedoch bildet der Äquator für diese Ver- hältnisse, wie Guthe-Wagner richtig bemerkt, keine ausgesprochene Scheide. Man hat daher seit ı5o Jahren eine eigene Landhalb- kugel der Wasserhalbkugel entgegengesetzt, deren Pole dort ge- sucht werden müssen, wo tatsächlich der zugehörige Grenzkreis die größtmögliche Land- bzw. Wassermasse einschließen würde. Um sich auf dem großen Gebiete ozeanischer Wasserbedeckung: auf unserer Erde geographisch zu orientieren und die mannigfachen Verschiedenheiten, die das Meer in verschiedenen Gegenden dar- bietet, anschaulich umgrenzen zu können, hat man die Meeres- raume ein- und in kleinere Areale abgeteilt. Abgesehen von der großen Schwierigkeit einer solchen Umgrenzung bei der eben ganz gleichförmigen Oberfläche des Meeres führte aber auch die bis zum Jahre 1845 von den verschiedenen Kartographen in so ver- schiedener Weise befolgte Methode der Einteilung und Benennung der Meeresflächen zu großen Mißverständnissen. Bei der gewaltigen Bedeutung aber, die die Frage nach der wirklichen Gestalt der Kontinentalblocks und der Weltmeere hat, war eine Verständigung notwendig. Diese Verständigung gelang in einer Kommission, die die Geographische Gesellschaft zu London berief. Ihre Beschlüsse sind heute allgemein anerkannt. Ä | Nach diesen Beschlüssen teilt der Jenaer Professor Joh. Walther in seiner allgemeinen Meereskunde das Weltmeer folgender- maßen ein: | ı. Der Atlantik. Im Norden und Süden ist er begrenzt durch die beiden Polarkreise, im Westen durch die Küste von Amerika und einen von Kap Horn nach Süden gezogenen Meridian, im Osten durch die Küsten von Europa und Afrika und den Meridian des Kap Agulhas an der Südspitze von Afrika. Seine Fläche be- I. Abschnitt. &r 0 2 X7 2 2, LBkyg DZ Y an 80 2 RT RI N I NIIN win 9 RR DT S N; * HE HA S I Dr IS ERS RN 2 > Di; 2 DHL? u4> U% % ( 7? 0, fb} : tl er CHE HALBx Ug wesl I & S > ST S N‘ N N N IN N N /] ISSN N D N N A N N BREI u DIS N I Das Meer und seine Erscheinungen. RI u e N San) N r N S RT N, N SU N CH % III 15 Die Wasserbedeckung der Erde. 16 Dr. Wiese, das Meer, trägt mit Einschluß des amerikanischen und des europäisch-afrika- nischen Mittelmeeres 88 Millionen qkm oder 1610000 [ ]|Meilen. Im allgemeinen erscheint der Atlantik als eine Sförmige ge- wundene Meeresstraße, von der große Buchten und Mittelmeere in die Küstenländer hineindringen. Dadurch erhält die Küstenlinie einen sehr komplizierten Verlauf und die Küstenländer eine für ihre Geschichte sehr bedeutsame Gliederung. Wenn wir absehen von den zum Kontinent gehörigen und innerhalb der Kontinental- stufe gelegenen großen Inseln von Großbritannien, an der Labrador- küste von Grönland und den großen Antillen, so sind fast alle Inseln des Atlantik vulkanischen Ursprungs. Island, die Azoren, die Kanaren, die Kapverden, Fernando Po, Aszension, St. Helena, Tristan-da-Cunha und ein Teil der Antillen sind teils noch tätige, teils erloschene Vulkane. Groß ist die Zahl der mächtigen Ströme, die in das Becken und in die Mittelmeere des Atlantik einmünden. Weichsel, Oder, Elbe, Rhein, Donau, Dniepr, Don, Nil, Po, Rhone, Senegal, Niger, Congo, Oranje, La Pata, Amazonas, Orinoko, Rio Grande, Mississippi und St. Lorenzstrom sind mit ihrem ganzen Flußgebiet dem Atlantik tributär. Er unterscheidet sich hierin wesentlich von dem Pazifik, bei dessen Beschreibung wir auf diese Gegensätze noch aufmerksam machen werden. Be- trachten wir die vertikale Gliederung der Kontinente, die das Becken des Atlantik umrahmen, so ist eine latsache von grober Wichtigkeit und steht im engsten Zusammenhange mit der soeben besprochenen Erscheinung der großen Küstengliederung und dem Flußreichtum: alle Küsten des Atlantik werden nämlich entweder von Tiefländern begrenzt oder, wenn Gebirge an sie herantreten, so laufen diese nicht parallel zur Küstenlinie, sondern ihre Ketten treten unter sehr verschiedenen Winkeln an die Küste. Es macht den Eindruck, als ob das Meer überall siegreich in das Land hineingedrungen sei und die Küsten durch die Angriffe des Meeres zerfressen worden wären. Nicht die Leitlinien festländischer Grenzgebirge, sondern der Strand eines buchtenreichen Meeres bestimmt die Umrahmung des Atlantik. Man nennt diese Forur der Küstengliederung den „atlantischen Typus“. “ 2. Der Pazifik oder Stille Ozean wird im Osten durch die amerikanische Küste, im Westen durch Asien und Australien und im Süden durch den Polarkreis begrenzt. Er bedeckt eine ' Fläche von 175 Millionen qkm oder 3190000 Quadratmeilen. Seine ee DE ee ee a u. 2 ee ei ee ee I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, Ir Ostküste ist ohne Buchten oder Mittelmeere, nur der kalifornische Meerbusen macht eine bescheidene Ausnahme. Seine Nord- und Westküste wird durch sechs große Randmeere gegliedert, die von dem offenen Ozean durch Inselreihen abgetrennt werden: nach Norden das Behringsmeer mit den Aleuten, dann das Ochotskische Meer mit Kamtschatka und den Kurilen, das Japanische Meer mit Sachalin und den japanischen Inseln, das Gelbe Meer mit den Liukiuinseln, das Chinesische Südmeer mit den Philippinen und die Bandasee, abgegrenzt durch Neuguinea. Eine ungeheure Zahl kleiner Inselarchipele ist über das ganze Gebiet des Pazifik ausgestreut. Hierin liegt schon ein prinzipieller Unterschied gegen den Atlantik. Nur ein kleiner Teil dieser Inseln ist vulkanischen Ursprungs, z. B. Sandwichs-L, Fidji-I., Galapagos, — die Mehrzahl von ihnen bestehen aus Korallenkalk und sind von lebenden Korallenriffen gesäumt. (Im Atlantik finden wir dagegen eine einzige kleine Gruppe ozeanischer Koralleninseln, die Bermudas.) Im langen Verlauf der amerika- nischen Küste münden nur zwei namhafte Flüsse, der Columbia und der Colorado, in den Pazifik, und nur in die Randmeere seiner Westküste strömen Amur, Hoangho, Yangtsekiang und Mekhong hinein. Im ursächlichen Zusammenhang damit steht es. daß die Ränder der pazifischen Küsten durch Kettengebirge ge- bildet werden. Die Kordilleren in Südamerika, Sierra Madre in Mittelamerika, Sierra Nevada und Aljaskagebirge in Nordamerika bilden die direkte Begrenzung des Ozeans und treten so geschlossen und so ununterbrochen an die Küste heran, daß kein namhaftes Flußgebiet sich nach dieser Seite entwickeln kann. Auch auf der Westküste des Pazifik sehen wir mächtige Randgebirge Kontinent und Ozean scheiden. Das Gebirge von Kamtschatka, das Tatar- gebirge, Korea und Hinterindien bilden hohe (Grenzmauern zwischen beiden. Man kann daher diesen Charakter eines von parallelen Randgebirgen umrahmten Ozeans als den „pazifischen Typus“ der Küstenentwicklung dem atlantischen gegenüber- stellen. 3. Der Indik wird nach Norden begrenzt durch die Küsten von Asien, nach Westen durch Afrika, nach Osten durch Australien und die Sundainseln, nach Süden durch den Polarkreis. Er umfaßt ein Areal von 74 Millionen qkm oder ı340000 (uadratmeilen. "Während sein südlicher Teil den Charakter eines fast inselfreien Dr. Wiese, Das Meer. 2 18 Dr. Wiese, Das Meer, offenen Beckens besitzt, greift er im Norden mit drei tiefen Buchten in das Festland hinein: - dem Meerbusen von Bengalen, dem Arabischen Meer mit dem Golf von Persien und dem Roten Meer. Seine Küstenentwicklung ist abwechslungsreichh doch nähert sie sich mehr dem atlantischen als dem pazifischen Typus. Während seine südliche innere Fläche keine Inseln besitzt, liegen in seiner Nordhälfte die Korallenarchipele der Andamanen, Nikobaren, Lakkediven, Malediven und Chagosinseln, dann einige kleine vulkanische Inselgruppen wie Seychellen, Amiranten. Be- merkenswert sind die großen Inselschollen von Madagaskar, Ceylon und der großen Sundainseln, die an seinem Rande liegen. Auf der langen afrikanischen Küste münden nur der Limpopo und Sambesi, im Norden Euphrat, Tigris, Indus, Krischna, Godavari, Ganges, Bramaputra und Iravaddy. 4. Das Nördliche Eismeer, der Arktik, umfaßt ein Gebiet von ı5 Millionen qkm oder 278000 Quadratmeilen. Es ist charakterisiert durch eine Menge großer Kontinentalinseln, die seine Fluten gliedern ; Spitzbergen, Novaja-Semlja, die Neusibirischen Inseln, Banks-Land, Prinz-Alberts-Land, Grinnelland, Baffınsbai und Grönland sind die wichtigsten unter ihnen. Einen großen Teil des Jahres deckt eine unabsehbare Eisdecke das Arktische Meer und macht es jedem Schiffe unnahbar. 5. Das Südliche Eismeer, der Antarktik, enthält ein Gebiet von 2o Millionen qkm oder 372000 Quadratmeilen und gehört zu den unbekanntesten Teilen der Erde. Im Süden finden wir die mächtigen Vulkane Erebus und Terror, an verschiedenen anderen Stellen hat man Landränder entdeckt, aber die übrige Fläche ist so unter Eis und Schnee begraben, daß kein Mensch zu sagen weiß, ob sie dem Meere oder dem Festlande zuzurechnen ist. Hier harren noch große, ungelöste Aufgaben der geographischen Wissenschaft und des Mutes der Entdecker. Im großen und ganzen ist das Polarmeer durch seine Kälte und Unwirtlichkeit charakterisiert, der Indische Ozean durch seine Hitze und die eigentümliche Erscheinung der halbjährlich wech- selnden Passatwinde oder Monsoone. Der Atlantische und Stille Ozean, durch alte und neue Welt scharf voneinander geschieden, bilden, wie Maury zuerst bemerkt hat, einen merkwürdigen Kontrast. Der Atlantische Ozean dehnt sich von Norden nach Süden aus, der Stille Ozean von Ost nach West. Die Strömungen I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 19 des Atlantischen Ozeans sind schnell und eng, die des Stillen Ozeans langsam und. breit. Die Hauptströme des Atlantischen Ozeans laufen vom Äquator nach dem Norden und umgekehrt, im Stillen Ozean dagegen zwischen dem Äquator und dem Süden. Im Atlantischen Ozean sind die Fluten hoch, im Stillen niedrig. Der Stille Ozean nährt die Wolken mit Wasserdampf, die Wolken nähren den Atlantischen Ozean mit Regen. In letzterem fällt fünfmal soviel Regen als im Stillen Ozean. Der Atlantische Ozean ist der stürmischste, der Stille Ozean das stillste Meer der Erde. Zu diesen großen ozeanischen Weltteilen verhalten sich die scharf abgegrenzten Becken, wie die Ostsee und das Mittelmeer, wie Halbinseln, die nur durch einen schmalen Streifen Wasser mit der ozeanischen Hauptmasse zusammenhängen, die Ostsee durch den Sund, das Mittelmeer durch die Straße von Gibraltar. Ähnlich läßt sich dann auch das verhältnismäßig kleine, aber noch ziemlich scharf abgegrenzte Becken der Nordsee betrachten, das aber durch mehr als eine Verbindung mit dem Atlantischen Ozean und andrerseits mit der Ostsee zusammenhängt. Die vier salzigen Landseen endlich, der Aralsee, das Kaspische Meer, das Tote Meer und der Große Salzsee in Nordamerika sind offenbar stehen gebliebene Reste einer größeren Meeresausbreitung, Lachen, die nach Ablaufen der Gewässer von dem geologisch gehobenen Lande in größeren oder kleineren Vertiefungen stehen blieben. Der Meeresboden. Die Meerestiefe aber, Die ist ein heil’ges Land; Sie ist noch unentweihet, Berührt von keiner Hand. H. v. Litas Wenn man von einem durch die Windstille mitten auf dem Meere zurückgehaltenen Schiffe über Bord irgendeinen schweren Gegenstand wirft, so sieht man ihn in das blaue Wasser hinabsteigen, das ihm seine Färbung mitteilt; sein Glanz erblaßt, er verschwindet, aber wenn er seinen Sturz fortsetzt, so muß er früher oder später den festen Boden erreichen. In welcher Entfernung befindet sich dieser Boden? Ist er überall unter der gewaltigen Ausdehnung der Fluten gleich weit von der Oberfläche entfernt? Seit Jahr- tausenden beschäftigen solche Fragen die Menschen. Sie sind heute, wenn auch nicht vollständig, so doch hinreichend genug gelöst, um unseren ersten und wichtigsten theoretischen und praktischen Bedürfnissen zu genügen. Dazu waren 3000 Jahre Arbeit nötig. Die Wissenschaft ist eine Frucht, die langsam reift.... Die Gesamtmasse der ozeanischen Grewässer wird auf 1279000000 Kubikkilometer geschätzt. Diese Ziffern sagen unserm Verstande nichts, aber eine Vergleichung wird ihre Tragweite erst in das richtige Licht rücken. Seit der Geburt Jesu Christi bis zum Jahre 1901 ist genau eine Milliarde Minuten vergangen. Daraus folgt, daß unter der Annahme, das augenblickliche Meeresbassin sei leer, ein gewaltiger Fluß, der in der Minute ein Kubikkilometer Wasser abgeben und seit Beginn der christlichen Ara fließen würde, noch etwa 600 Jahre weiter fließen müßte, bevor er jenes Bassin so aus- füllte, wie es heute ist. Wie sieht es nun auf dem Meeresboden, über dem sich so er il) K, vl N u u, I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. Der Photograph auf dem Meeresgrund 22 Dr. Wiese, Das Meer, gewaltige Wassermassen lagern, aus? Wir haben durch das Tief- seelot und durch die Tiefseenetze eine, wenn auch nicht er- schöpfende, so doch ziemlich genaue Kenntnis über das Boden- relief des unergründlichen Meeres und seiner Tiefen. Hier auf die Lotungen und die Forschungen mit den Schleppnetzen genauer einzugehen, ist nicht unsere Absicht. Aus späteren Aufsätzen wird der Leser sich über das Verfahren bei solchen wissenschaft- lichen Untersuchungen eine anschauliche Vorstellung machen können. Wir berichten hier lediglich, was die Tiefseeunter- suchungen über die Gestalt, die Ablagerung und die Tiefenver- hältnisse ergeben haben. Während jeder Gebildete das Relief der Erdoberfläche der Kontinente im wesentlichen kennt und weiß, in welchen Gegenden der Erde die höchsten Erderhebungen zu suchen sind, die etwa 6000 m Höhe übersteigen, pflegt die Kenntnis von der Boden- gestaltung der Meere und der vorhandenen Meerestiefen in der Regel auf den kleinen Kreis der Fachleute beschränkt zu bleiben. Die meisten Menschen vergegenwärtigen sich kaum, daß das Meer nicht minder bedeutende Niveauverschiedenheiten aufweist als das Land, und stellen sich womöglich unter dem Boden der Ozeane eine große, ebene Fläche dar, die nur an den Küsten ein sanftes Aufsteigen bzw. Absinken aufweist. Tatsächlich sind die Niveau- unterschiede in den Meeren zuweilen noch weit grotesker als auf dem Lande; an manchen Stellen findet man aus den größten Meerestiefen plötzlich, fast ohne jeden vermittelnden Übergang, Inseln an die Oberfläche emporragen. Dies gilt z. B. für eine Reihe der Koralleninseln im Stillen Ozean, aber z.B. auch für die Bermudainseln im Atlantischen Ozean u. a... Wenn an diesen Stellen der Meeresboden sich plötzlich heben würde, daß er in seiner Gesamtheit über das Wasser emporragte, würden die be- treffenden Inseln als viele tausend Meter hohe, spitze Gebirgsnadeln von einer auf allen Seiten unerhörten Steilheit sichtbar werden, ° gegen die etwa das Matterhorn wie eine unbedeutende, sanfte Erhebung erscheinen würde, und mit deren seltsamem Aussehen nichts Bekanntes sich würde vergleichen lassen. Aber dennoch ergeben die Messungen, daß weite, fast ebene Flächen am Meeresgrunde durchaus vorherrschen und ein leb- hafter Wechsel der Bodenneigung immerhin zu den Seltenheiten gehört. Ganz abgesehen von den als Vulkan- oder Koralleninseln er ee erreceeiile S u ee ee 4 ee ee ee I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 23 aufragenden Pfeilern sind viele Gegenden des Meeres reich an vulkanischen Aufschüttungen, aber was an zusammenhängenden Erhebungen die benachbarten großen Senkungen überragt, trägt durchaus den Charakter der Landschwellen oder des Tafellandes an sich, die mit sanften Böschungen sich zu den großen Tiefen neigen. Wir sprechen diese Erhebungen als unterseeische Plateaus und, wenn sich solche nach einer Richtung im be- sonderem Maße ausdehnen, alsRückenan. Treten sie dem Meeres- spiegel näher, so bezeichnet man sie als Bänke (Neufundland- bank). Die tieferen Senkungen zwischen jenen zerfallen dann in Becken und Mulden oder bei steiler gestellter Umrandung in Kessel und Rinnen. Jedoch hat sich daneben auch für jegliche beträchtlichere Einsenkung der Name Tiefen eingebürgert. Der wesentliche Unterschied der Formen des Meeresbodeps gegenüber denen der trockenen Landfläche besteht, wie Guthe-Wagner richtig hervorhebt, in dem Vorherrschen größter Formen, in der Ab- wesenheit jener die Oberfläche im einzelnen ausgestaltenden Klein- formen, wie sie wesentlich den Atmosphärilien zu verdanken sind; es fehlt die Ausfurchung des Bodens durch strömendes Wasser. Abgesehen vom Gebiet der Flachsee, deren ausgesprochene Eben- heit der ausgleichenden Arbeit der Meereswellen entstammt, und der Meeresstraßen, wo Unterströmungen oft bis zu bedeutenden Tiefen den Ablagerungen entgegenarbeiten und die Zugänge offen halten, ist in den Tiefen des Meeres keine den Boden benagende Kraft wirksam. Er ist die Stätte unausgesetzter Ablagerung und Auflagerung. Hierdurch werden mit der Zeit auch die durch vulkanische Kräfte hervorgerufenen Unebenheiten gemildert. Aber eben der große Reichtum an unterseeischen Vulkanbergen und Ausbrüchen beweist, daß am Meeresboden in tektonischer Hinsicht von völliger Ruhe nicht gesprochen werden darf. Manche Bänke lassen sich daneben unschwer auf Senkungen des Meerbodens zurückführen, durch dieInseln unter Wasser gesetzt werden (Ischagos- bank im Süden Indiens). Es wird sich nun freilich für immer der unmittelbaren Forschung entziehen, in welcher Weise die den tiefen Meeresboden zusammensetzenden Schichten gelagert sind. Im all- gemeinen aber sind die Höhenunterschiede zwischen unterseeischen Plateaus und benachbarten Becken zu groß, als daß sich erstere durch einen verschiedenen Grad von Sedimentauflagerung erklären ließen. Man wird die Mehrzahl der Erhebungen wie Einsenkungen 24 Dr. Wiese, Das Meer, auf schwache Verbiegungen der Erdrinde und längs der steilen Abfälle auf Flexuren und Brüche zurückführen dürfen, ohne, wie gesagt, den Nachweis wie auf dem Lande durch Aufschlüsse und Bohrungen liefern zu können. Alle Kontinentalränder begleitet ein bald breiterer, bald schmälerer Gürtel von Flachsee, eine meist sehr ebene Stufe, deren Grenze im allgemeinen längs der Isobathe (Linien gleicher Meeres- Globigerinen (Aus: Chun, „Aus den Tiefen des Weltmeeres“) tiefe) von 200 m angenommen werden kann, weil dort sich eine steilere Böschung einzustellen pflegt. Aber manchmal findet diese Randstufe schon bei 350— 100 m ihre Grenze, mitunter zieht sie sich mit verschwindender Neigung bis zu 3—400 m hinab, um erst dann rasch in die Tiefe zu fallen. Bei Steilküsten kann die vorgelagerte Flachsee oft als eine durch die Brandungswelle bei positiver Strand- verschiebung entstandene Strandterrasse angesehen werden. Wo a aa Te I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 25 der Flachseeboden beträchtlichere Unebenheiten zeigt, hat man es dagegen zumeist mit einer über Wasser umgrestalteten, dann aber untergetauchten Landschaft zu tun; häufig ist diese vor Flußb- mündungen noch von Talsenken durchzogen, die bis zu gewaltigen Tiefen in ihre Sohle eingeschnitten sind. Nur wenige Stellen hat man im Meere gefunden, bei denen der Boden aus festem Felsgestein besteht. Im großen und Radiolarinen (Aus: Chun, „Aus den Tiefen des Weltmeeres“) ganzen ist der Meeresboden nicht nur die Heimat einer großen Anzahl von eigenartigen Vertretern der Tierwelt, auf die wir noch später zu sprechen kommen, sondern auch die Grabstatt für alles, was an der Oberfläche lebt. Insbesondere gilt das von den massenhaft im Meere verbreiteten Protozoen. Bekanntlich sind das Geschöpfe, die im Rahmen einer einzigen Zelle das Leben in denkbar nacktester Form repräsentieren. Viele scheiden Schalen 26 Dr. Wiese, Das Meer. aus, die meist aus kohlensaurem Kalk oder aus Kieselsäure be- stehen. In den kalten arktischen und antarktischen Strömungen überwiegen diejenigen Protozoen, die Kieselskelette ausscheiden. Vor allem imponieren hier durch die Massenhaftigkeit ihres periodischen Auftretens die dem Pflanzenreiche zuzuzählenden Diatomeen. Die Schalen aller dieser mikroskopischen kleinen Organismen sinken allmählich auf den Meeresgrund nieder und häufen sich dort im Verlaufe der Jahrtausende zu mächtigen Pänken an. Bis zu einer Tiefe von 4000 m baut sich der Unter- grund der Ozeane im Bereiche der kalten Stromgebiete aus fast reinem Kieselgur auf, während in den wärmeren Regionen der sog. Globigerinenschlick, gebildete aus den Kalkschalen von Foraminiferen, überwiegt. In größeren Tiefen werden die letzteren aufgelöst, und es bleiben nur die unlöslichen anorganischen Bestandteile der Schalen übrig, die den für die Tiefen von unter- halb 4500 m charakteristischen roten Ton bilden. An manchen Stellen vermischen sich die Schalenreste der Protozoen mit den Grehäusen von Flügelschnecken (Pteropoden) und Keilschnecken (Heteropoden). Sogar Haifischzähne, Gehörsteinchen von Fischen, Gehörknochen von Walen können mit den Skelettresten fest- sitzender Tiefseeorganismen nicht unwesentlich zum Ausbau der abyssalen Schichten beitragen. Milliarden von Leichen sinken täglich und stündlich in die Tiefe und gleichzeitig mit ihnen der Schlamm, den die Flüsse mitführen, vulkanische Asche und der Geschiebelehm arktischer und antarktischer Gletscher, die, an ihrem Rande in Eisberge zerschellend, sich südlich bis zum 40., nördlich bis zum 60. Breitengrade zerstreuen.') Die Geologie belehrt uns darüber, daß ein Teil der Erdrinde, auf dem wir unsere Lebensarbeit verrichten, ursprünglich den Untergrund von Ozeanen bildete. Der Nachweis, daß der Tiefsee- schlamm, der den Meeresboden überlagert, in letzter Linie dem organischen Leben seine Entstehung verdankt, ist eins der groß- artigsten Ergebnisse der neueren Tiefseeforschung. Wir fangen jetzt an, einen Einblick in die verblaßten Urkunden der Erd- geschichte zu gewinnen und überzeugen uns, daß jene uralten !) Unter dem Namen Plankton faßt man die freilebenden, im Wasser willenlos schwimmenden oder treibenden zahllosen kleinen Organismen zusammen, während die aktiv selbsttätig schwimmenden als Nekton, die festsitzenden oder am Boden kriechen- den Tiere oder Pflanzen als Benthos bezeichnet werden. I, Abschnitt, Das Meer und seine Erscheinungen. 27 Blätter nur die Vorrede zu einem Schauspiel bilden, das sich heute noch vor unseren Augen vollendet. Wenden wir uns nunmehr den Tiefenverhältnissen zu. Auch von der großen Tiefe der meisten Meere macht man sich eine ganz falsche Vorstellung. Bekanntlich sind etwa zwei Drittel der Gesamtoberfläche der Erde von Wasser bedeckt, und in diesem ungeheuren Raum weist nicht weniger als die Hälfte mehr als 3600 m Tiefe und 7 v. H. der Fläche mehr als 5400 m Tiefe auf. Was das zu bedeuten hat, erkennt man, wenn man sich vorstellt, daß die Hälfte des gesamten Landes Gebirge von mindestens 3600 m Höhe und der 14. Teil solche von mindestens 5400 m Höhe aufweisen würde. Bekanntlich kommen derartige Erhebungen von 5400 m nur recht vereinzelt vor, in Europa überhaupt nicht, und die einzige Gegend der Erde, wo ein großer Landkomplex in seiner gesamten Masse 5400 m Höhe erreicht und übersteigt, ist das tibetanische Hochland. — Im Meer hingegen erstrecken sich die Senkungen von mindestens 5400 m über ungeheure (Ge- biete, deren Flächeninhalt man allein auf insgesamt 715 200 Qua- dratmeilen schätzt. Nicht weniger als 43 meist sehr ausgedehnte Senkungen, die diese Tiefe erreichen, kennt man bisher in den Meeren der Erde, davon entfallen ı5 auf den Atlantischen, 3 auf den Indischen und 24 auf den Stillen Ozean. Unter den genannten drei Hauptozeanen der Erde erreicht der Indische die am wenigsten großen Tiefen, die sich merkwürdiger- weise nicht etwa nahe der Mitte des großen Meerbeckens finden, sondern nahe dem Rande, in der Gegend der Sundainseln. Süd- lich der Insel Sumbava, unter ıı° 22’ südl. Br. und 116° 30’ östl. L. sinkt die Meerestiefe bis auf 6205 m, und noch erheblich größer, nämlich 7300 m, ist die Tiefe in der Nähe der Insel Amboina in- mitten der sonst ziemlich lachen Celebes-See, deren Meereszugang- straßen sonst nur etwa 1500 m tief sind. — Im Atlantischen Ozean findet sich eine Senkung, die lange Zeit für die zweitgrößte der ganzen Erde galt. Sie liegt im Norden von Portoriko unter 19° 39’ nördl. Br. und 60°26’ westl. L. und wurde am 27. Januar 1883 von dem amerikanischen Dampfer „Blake“ aufgefunden. Nach den nahe- gelegenen Jungferninseln ist sie das Jungferntief benannt worden. Noch größere Tiefen gibt es im Stillen Ozean. Die 8513 m tiefe Stelle, die von dem Dampfer „Tuscarora“ am ı9. Juni 1874 unter 44° 55’ nördl. Br. und 132° 26’ östl. L. aufgefunden wurde und 28 Dr. Wiese, Das Meer. nach ihm ihren Namen erhielt, galt über 20 Jahre als die größte Senkung, die der Meeresboden überhaupt aufzuweisen habe. Aber im Juli 1895, ließ der Dampfer „Penguin“ im Osten der Tonga- inseln, wo man schon früher 8284 m gelotet hatte, das Senk- blei bis auf 8960 m hinab, ohne auf Grund zu stoßen. Diese Feststellung führte zu genaueren Nachforschungen in der genannten Gegend. Alsbald fand man hier — in der sogenannten Fossa Aldrich — mehrere benachbarte Stellen von mehr als 9000 m Tiefe, am 31. Dezember 1895 lotete man ebendort im Osten der Kermadec- und Tonga- (Freundschafts-)Inseln sogar 9427 m. Einige Jahre hindurch galt nun diese Tiefe für die größte, bis anläßlich der Lotungen für die von den Amerikanern geplante Verlegung eines quer durch den Stillen Ozean von St. Francisco bis nach den Philippinen laufenden Kabels Ende November 1899 durch das Ver- messungsschiff „Nero“ eine noch um 206 m tiefere Stelle gefunden wurde. Diese 9633 m betragende Meerestiefe, die im Osten der amerikanischen Marianneninsel Guam liegt, ist nun bis auf den heu- tigen Tag die absolut tiefste Senkung, die bekannt geworden ist. Ob auch diese Zahl dereinst noch übertroffen werden wird, muß dahingestellt bleiben. Unmöglich ist dies keinesfalls, aber die Wahrscheinlichkeit, daß es noch größere Tiefen gibt, wird von Jahr zu Jahr geringer, je mehr die Forschungen fortschreiten. Bemerkenswert ist, daß die eigentlichen Tiefbecken nicht in der Mitte oder Mittelachse der großen Ozeane liegen, sondern mehr den Festlandsrändern genähert sind. Für einige Meere seien schließ- lich noch die Mitteltiefe und die größte zurzeit bekannte Tiefe angegeben. Mitteltiefen. Größte Tiefen. Großer Ozean 4100 m 9633 m Atlantischer Ozean 3800 m 8015 m Indischer Ozean 3600 m 6200 m Nordsee 90 m 808 m Ostsee zom 430 m_ Mittelmeer I450 m 4400 m. i 4 a 3. Meeresgrund. Ich seh’ von des Schiffes Rande Tief in die Flut hinein: Gebirge und grüne Lande Und Trümmer im falben Schein Und zackige Türme im Grunde, Wie ich’s oft im Traum mir gedacht, Das dämmert alles da unten Als wie eine prächtige Nacht. Seekönig auf seiner Warte Sitzt in der Dämmerung tief, Als ob er mit langem Barte Über seiner Harfe schlief; Da kommen und gehen die Schiffe Darüber, er merkt es kaum, Von seinem Korallenriffe Grüßt er sie wie im Traum. Joseph Freiherr von Eichendorff. Se) 2 Das Wasser des Meeres O Stimmen der Wasser, wie ward euer Laut Seit den Tagen der Kindheit mir lieb und vertraut! Wenn die Worte der Menschheit mir klangen wie Hohn, Drang stets mir versöhnend ans Herz euer Ton. Jeder, der auf einer Seereise die mannigfachen Farben des ı Meeres zu bewundern Gelegenheit hat, wird sich fragen, woher diese oft so auffällige Verschiedenheit des scheinbar ewig gleichen Wassers stammt. Schon vielfach haben wissenschaftliche Expedi- tionen wie einzelne Forscher die interessante Frage erörtert und Material zur Lösung des Problems zusammengetragen. In um- fassendster Weise ist das von Professor Krümmel, dem bekannten Özeanographen, geschehen, der nicht nur wertvolle neue Beiträge und Beobachtungen geliefert hat, sondern auch die bis dahin vor- liegenden Befunde einheitlich zusammenstellte und erörterte. Das höchst wichtige Ergebnis war die Feststellung der Tatsache: ]Je durchsichtiger und klarer das Wasser ist, zum reiner blau:ist see r2rnr In der Tat hängen Durchsichtigkeit und Hacke des Meeres sehr eng zusammen. Schöpft man Seewasser in geringen Mengen, etwa in einem Wasserglase, so ist es vollkommen farblos und so durchsichtig wie das klarste Quellwasser auf dem Lande. Diese Durchsichtigkeit des Meerwassers ist natürlich im höchsten Grade wichtig für das Eindringen von Licht- und Wärmestrahlen in größere Tiefen, wo diese den Organismen zustatten kommen können. Die Durchsichtigkeit des Meerwassers ist nicht nur eine im höchsten Grade verschiedene, sondern auch im allgemeinen eine hohe. Viele Tropen- und Subtropenmeere, wie das Mittel- ländische und Karibische Meer, sind seit alters her wegen ihrer kristallenen Klarheit berühmt. Selbst von dem sonst gar nicht IE 7977 I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 37 durch verlockende Reize ausgezeichneten Roten Meer hat Georg Schweinfurth die magischen- Effekte einer stillen Vollmondnacht geschildert, wo der silberne Schein dieses Gestirns Luft und Meer in gleicher Klarheit durchleuchtet: Die Barke schwimmt alsdann gleich einem Luftschiff in einem einheitlichen durchsichtigen Medium, denn auch die Tiefen der See, erhellt vom senkrecht Özeanographische Instrumente, einfallenden Mondlicht, gleichen dem Himmel über dem Beschauer, und Scharen geheimnisvoller Wesen sieht er in buntem Getümmel tief zu seinen Füßen. Die Durchsichtigkeit des Meerwassers prüft man durch Be- stimmung der Tiefe, bis zu der man in die Tiefe gelassene weiße Scheiben noch erkennen kann. Im Ionischen Meere hat man die 52 Dr. Wiese, Das Meer. Grenze bei 5o m gefunden, in klaren Meeren mag das Sonnen- licht vielleicht bis ı0oo m dringen, darunter ist also völlige Dunkelheit. Die chemische Lichtwirkung reicht weiter, nach neueren Untersuchungen bis zu 400 m. Jedenfalls wechselt die Durchsichtigkeit beträchtlich. Ist die Farbe des Meeres um so reiner blau, je klarer das Wasser ist — mit Recht nennen daher die Seeleute den ofenen Ozean, die eigentliche Tiefsee, „das blaue Wasser“ —, so steigert sich in einzelnen tiefen Meeren, wie z. B. im Mittelmeer, diese Farbe bis zum leuchtendsten Ultramarin, und zwar nicht nur bei hellem Sonnenschein, sondern auch bisweilen bei leicht ver- schleiertem Himmel, wie schon eine Beobachtung von Goethe bei seiner Überfahrt von Palermo nach Neapel beweist. In gerin- geren Tiefen über Bänken und an den Küsten wird die Farbe der See beeinflußt durch die des Untergrundes. So wird das Wasser der Ostsee als flaschengrün bezeichnet; die Farbe wird um so mehr nach Olvengrün bis Blaugrün verschoben, je mehr der Grund aus feinem Schlamm besteht. Einige gute Belege in dieser Be- ziehung bringt Dr. Abegg bei. Auf der Rede von Suez fand er das Rote Meer „grün“, im Golf von Suez „grünblau“* und einen Tag später, weiter südlich im offenen Meere „lachend hell- blau“. Vor der Straße von Bab el Mandeb erschien das vorher blaue Meer wieder „etwas grün“ und bei der Insel Perim „völlig grün“, Ähnlich hinter Aden nach Ceylon zu folgen sich vom Land an „blaugrün“, „hellblau“, „himmelblau“, „reinblau“. An der Mündung des Irawaddy in das Bengalische Meer zeigte sich in ähnlicher Weise die Wirkung der durch den Flußschlamm erzeugten Suspension, die die Bucht von Martaban „grün* macht, während außerhalb der mächtigen Wirkungssphäre dieser Strommündung das wohlbekannte „Tiefblau“ des Tropenmeeres sich wieder ein- stellte; vor Penang verriet sich die Nähe des Landes wieder durch ein „deutliches Grünblau“, die Straße von Malakka und die Inselwelt um Singapore und Java erfüllt „hellgrünes“ Wasser. Noch deutlichere und plötzlichere Übergänge fanden sich im Hafen von Neapel und besonders vor Genua, wo das trübe Hell- grün des Hafens mit geschnittener Schärfe in das Blau des Mittelmeeres übergeht. Auch in denKorallenatollen des Roten Meeres fällt auf, wie das Blau des umbrandenden Meeres plötzlich im Innern in ein helles Grün übergeht, das vielleicht mit der von I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 93 Engler konstatierten Absonderung von Petroleum durch die Korallen im Zusammenhange steht, indem dies in feiner Emulsion als Trübung wirkt. Daß es übrigens nicht allein auf die Nähe des Landes, sondern auch auf seine geologische Beschaffenheit ankommen dürfte, scheint daraus hervorzugehen, dal z. B. bei der Felseninsel Sokotra trotz großer Nähe des Landes das Wasser auffallend blau blieb, ähnlich wie dies Krümmel über der flachen Neufundlandbank fand; denn untiefe Meeresstellen geben natürlich ebenso wie Ufer die Möglichkeit des Vorhandenseins gröberer Suspensionen. Es wird natürlich von der Beschaffenheit des Gesteins, das vom Wasser bespült wird, abhängen, ob letzteres gröbere oder feinere Partikel loslösen kann. Auch die Beimengung färbender Körper erzeugt abweichende andere Farben. Nach Krümmel ist das Gelbe Meer durch den vom Hoangho hineingeführten gelben Löb so gefärbt; andere als „rot“ bezeichnete Meere erhalten diese Farbe angeblich durch organische Beimengungen. So sind im südlichen Teil des Roten Meeres und im Arabischen Meere sehr häufig große Flächen blutrot gefärbt durch massenhaft auftretende mikroskopische Tierchen, deren Durchmesser Dr. Buist im Bombay zu 0,029 mm gemessen hat. Doch ist das Rote Meer unzweifelhaft nach den Erythräern der Alten benannt. — Ähnliche Tiere treten im Bereiche des Indischen Ozeans auch in anderen Färbungen auf, so. milchweiße oder gelbliche Flächen von bisweilen großer Aus- dehnung erzeugend, oft zur Beunruhigung der Seefahrer, die unter dem helleren Wasser verborgene Untiefen fürchten, bis eine von der Oberfläche der See geschöpfte Probe ihnen die Ursache ent- hüllt. — Im Südatlantischen und Südpazifischen Ozean sind von den Kap-Hornfahrern sehr häufig rote Streifen von beträchtlicher Länge angetroffen worden, die aus Scharen kleiner brauner Krebse zu bestehen pflegen, wie schon die Holländer im Jahre 1509 vor Entdeckung des Kap Horn berichteten. _ In den Polarmeeren überwiegt eine grünliche (laschengrüne) Färbung, während blaues Wasser nur da, wo aus den Tropen kommende wärmere Strömungen vordringen, regelmäßiger ge- funden zu werden scheint. Doch sind einzelne entschieden grün gefärbte Stellen unzweifelhaft auf Diatomeenscharen, die sich dort ansammeln, zurückgeführt worden, so die schon von Wiliam Dr. Wiese, Das Meer. 3 FU 34 Dr. Wiese, Das Meer. Scoresby im Grönlandmeer westlich von Spitzbergen so anschaulich beschriebenen grünen Streifen. Ebenso hat James Clark Roß in der Nähe des antarktischen Eises vielfach ein durch rostfarbene Diatomeen schmutzigbraun gefärbtes Meer gefunden. Man hat Weasserschöpfapparate hergestellt, die es gestatteten, Seewasser aus allen, selbst den größten Tiefen, heraufzuholen, Sie öffnen sich in einer bestimmten Tiefe und sind so eingerichtet, daß die Wasserproben sich beim Heraufziehen nicht mit solchen anderer Schichten mischen. Meist handelt es sich um einen beider- Auswerfen des Lotes, seits geöffneten Metallzylinder, durch den also das Wasser zunächst durchlaufen kann, bis in bestimmter Tiefe die Deckel oder Ventile durch — längst der Leine — nachgesandte Gewichte oder selbst- tätig mittels Gregendruck des Wassers beim Heraufziehen ver- schlossen werden kann. Die zahlreichen Wasserproben haben nun ergeben, dal nicht weniger als 35 Promille fester Stoffe in unge- löster Form im ÖOberflächenwasser der offenen Ozeane enthalten sind, die bei Verdampfung als feste Bestandteile zurückbleiben ; es sind dieses insgesamt die sog. Meeressalze, unter denen das Kochsalz die Hauptrolle spielt. Außerdem finden sich DD al ln th u nl ln dal Aa an nn An Vie eh ee ee ei. ie ee ie. ie ee acer este ee ee 6 Bee ec ee ee I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 35 an Salzen Chlormagnesium, Bittersalz, Gips, Chlorkalium. Der Salzgehalt bewirkt, daß das Meerwasser schwerer ist als Süb- wasser, und zwar wiegt ein Liter Seewasser, je nach dem Salz- gehalt, 1024—ı028 g, während ein gleiches Maß Süßwasser bei gewöhnlicher Zimmertemperatur 1000 & wiegt. An Gasen enthält das Meerwasser Kohlensäure und atmosphärische Luft. Letztere wird vom Meer an seiner Oberfläche aufgenommen, und zwar in desto größerem Maße, je kälter es ist, wie dies auch beim reinen Wasser der Fall ist. Aber während die atmosphärische Luft sich bekanntlich aus 2ı Teilen Sauerstoff und 79 Teilen Stickstoff zu- sammensetzt, besteht die von der Meeresoberfläche absorbierte Luft‘ca. zu !/), aus Sauerstoff, zu ?/, aus Stickstoff, was für die durch Kiemen atmenden Tiere von großer Bedeutung ist. In der Tiefe wird der Sauerstoff allmählich durch den Atmungsprozeß der Seetiere und die Verbrennung faulender Stoffe vermindert, während der Stickstoffgehalt der gleiche bleibt. Die Kohlensäure rührt von dem Lebensprozeß der Tiere her, die Kohlensäure aus- atmen. Was den Druck des Wassers anbetrifft, so nimmt man an, daß je 1o m Wassertiefe einem Druck von einer Atmosphäre ent- sprechen. Am Boden der Tiefsee herrscht demgemäß ein Druck von 800 Atmosphären; aber, wenn man annimmt, daß dieser ge- waltige Druck, dem die Tiere in ihrer Wassertiefe ausgesetzt sind, hinreicht, um alle lebenden Organismen zusammenzudrücken, so hat man nicht in Betracht gezogen, daß der Druck nicht ein- seitig ist und von unten und von der Seite mit derselben Intensität einwirkt, Dadurch hebt sich seine Wirkung auf, und es ist nach- gewiesen, daß Tiefseetiere, die auf Bord eines Schiffes gelangen und dort sehr bald sterben, eher durch den raschen Wechsel der verschiedenen Temperaturen als durch die Druckverminderung ihren Tod finden. Überhaupt ist Temperatur und Meerwasser nach mehr als einer Richtung von ungeheurer Wichtigkeit. Für uns ist die Temperatur der Oberfläche am wichtigsten. Von ihr sind im beträchtlichen Maße die Klimate der verschiedenen Weltteile abhängig. Sie läßt sich verhältnismäßig leicht bestimmen. Wir wissen soviel darüber, daß wir wahrscheinlich in einer Reihe von Jahren keine bedeuten- den Fortschritte in dieser Beziehung mehr machen werden. Wir verstehen vollkommen, warum Gegenden mit gleicher geographischer 1 27 J 36 Dr. Wiese, Das Meer. Breite in ihren Mitteltemperaturen so weit auseinandergehen; warum Nebel in bestimmten Gegenden häufiger auftreten als in anderen und wie es kommt, daß gewisse Gegenden schweren Stürmen häufiger ausgesetzt sind als andere. Mit Bezug auf den letzteren Punkt haben neuere Untersuchungen ganz klar ergeben, daß Stürme dort entstehen, we große Unterschiede in der Ober- flächentemperatur der See auftreten. Es ist durch Beobachtungen erwiesen, daß in der Gegend südlich von Neu-Schottland und Neu- fundland viele der Stürme entstehen, die über den Atlantischen Loten an Bord. Ozean die britischen Inseln erreichen. Eine Untersuchung der Wassertemperatur an der Oberfläche zeigt, daß die Änderungen in dieser Gregend außergewöhnlich groß sind, nicht nur, weil an der Innenseite des warmen Wassers des Golfstroms, und zwar unmittel- bar daneben, das kalte Wasser des Polarstroms südwärts fließt, sondern auch, weil innerhalb des Golfstroms selber, der aus Streifen warmen und kälteren Wassers besteht, Unterschiede bis 20° F (11° C) vorkommen. Dieselben Verhältnisse wiederholen sich süd- lich vom Kap der guten Hoffnung, einer anderen ganz bekannten Geburtsstätte von Stürmen. Hier ergießt sich die Agulhaströmung rd an we er ee ei ne N tere en I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, a von ca. 70° F. (21° C), abgelenkt durch das Land, in die südlicher liegende, um 25° F (14° C) kältere Wassermasse, und der Ort, wo sich beide treffen, ist als besonders stürmisch wohl bekannt. Süd- östlich vom Rio de la Plata ist eine andere stürmische Gegend; hier finden wir dieselben außergewöhnlichen Wechsel in der Ober- flächentemperatur. Noch eine andere liegt in der Nähe der Nordost- küste Japans mit ähnlichen Verhältnissen. Diese Unterschiede ent- stehen durch eine Mischung von Wassermassen entweder so, dals eine starke, durch das Land abgelenkte Strömung in Wasser von verschiedener Temperatur gerät, wie beim Kap der guten Hoffnung, oder so, daß untere Schichten kühleren Wassers durch einen seichten Öberflächenstrom aufsteigen, wie es im Golfstrom der F all zu sein scheint. Ein bemerkenswerter Punkt, der neuerdings durch die Unter- suchungen von John Murray in schottischen Lochs aufgedeckt wurde, ist der Einfluß des Windes auf die Oberflächentemperatur. Es ist beobachtet worden, daß ablandiger Wind das Oberflächen- wasser vor sich hertreibt. Dies Wasser wird auf dem nächstliegen- den Wege ersetzt, d. h. durch Wasser unterhalb der Oberfläche, das zum Ersatz aufsteigt. Da die unteren Schichten immer kühler als die Oberfläche sind, ist ein Fallen der Temperatur die Folge, und wir finden wirklich, daß in der Nähe aller Seeküsten, wo ein stetiger ablandiger Wind weht, das Wasser kühler ist als weiter seewärts. Dies ist von Wichtigkeit für das Wachstum der Korallen und er- klärt, warum wir in allen westlichen Küsten der großen Festländer, wo die Passate wehen, fast einen gänzlichen Mangel an Korallen finden, während an den östlichen Küsten, gegen die warme Strö- mungen drängen, ein Überfluß von Korallenriffen ist, da das Korallen- tier nur in solchem Wasser gut gedeiht, das sich oberhalb einer bestimmten lTemperatur hält. Beobachtungen der Temperatur der Wasserschichten zwischen der Oberfläche und dem Boden sind in den letzten Jahren an vielen Stellen gemacht. Verglichen mit der Fläche der Ozeane, ist ihre Zahl gering, aber unsere Kenntnis nimmt von Jahr zu Jahr zu. Es ist leicht begreiflich, daß Beobachtungen über die Iem- peratur in großen Tiefen große Sorgfalt erheischen. Erstens müssen die Thermometer sehr sorgfältig angefertigt sein. Sie müssen strengen Proben unterworfen und während des Gebrauchs sorg- 38 Dr. Wiese, Das Meer. fältig behandelt werden. Die Beobachtungen sind nicht alle von gleichem Wert, die kritische Bearbeitung bietet deshalb beträcht- liche Schwierigkeiten und verlangt viel Takt. Indessen wollen wir einige bekannte Tatsachen angeben. Wir haben gelernt, daß die Tiefe des warmen Öberflächenwassers gering ist. In dem Äqua- torialstrom zwischen Afrika und Südamerika, wo die Oberfläche 78° F (25,6% C) aufweist, finden wir in 100 Faden Tiefe nur 55ER (12,8° C), ein Unterschied von 23° F (13° C), und die Temperatur von 40° F (4,4° C) wird bei 400 Faden erreicht. Soweit wir wissen, nimmt in dieser Gegend die Temperatur mit der Tiefe am schnellsten ab, aber allgemein gesprochen herrschen dieselben Änderungen überall. In dem tropischen Teile des Stillen Ozeans nimmt die Temperatur von der Oberfläche, 82° F (27,8 C) bis zu einer Tiefe von 200 Faden um 32° F (18° C) ab, während 40° F (4,4° C) in 500 bis 600 Faden Tiefe gefunden werden. Unterhalb der allgemeinen Tiefe von 400 bis 600 Faden nimmt die Temperatur sehr langsam ab, aber in dem absoluten Betrag herrschen große Abweichungen, wenn wir in verschiedenen Teilen des Ozeans zu großen Tiefen kommen. Eine der interessantesten Tatsachen ist die, daß in abge- schlossenen unterseeischen Becken des Ozeans die Temperatur des Wassers am Boden allem Anschein nach viel höher ist als die Temperatur des Wassers in gleicher Tiefe außerhalb des unter- seeischen Rückens, der das Becken abschließt und es von den tieferen Gebieten außerhalb trennt, und daß diese Bodentemperatur in allen beobachteten Fällen gleich der Temperatur auf dem Rücken ist. Hierdurch werden wir in den Stand gesetzt, unsere unvoll- kommene Kenntnis der Tiefen zu ergänzen, denn wenn wir nun in einem gewissen Teile des Ozeans beobachten, daß die Tempe- ratur in großen Tiefen höher ist als in ähnlichen Tiefen und in (rewässern, die anscheinend mit jenen in Verbindung stehen, dann können wir sicher sein, daß ein unterseeischer Rücken vorhanden ist, der das Bodenwasser von der Bewegung abschneidet, und daß die Tiefe dieses Rückens dieselbe ist, in der die entsprechende Temperatur in dem äußeren Wasser gefunden wurde. Als einen Zusatz nehmen wir ferner an, daß die Bewegung des Wassers in großen Tiefen kaum bemerkbar sein kann, denn wenn eine Be- wegung vorhanden wäre, die wir im gewöhnlichen Sinne des Wortes als Strömung bezeichnen könnten, würde dies Wasser 1. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 39 unfehlbar einen Rücken übersteigen und über die andere Seite fließen und dabei eine tiefere Temperatur mitnehmen. Ein be- merkenswertes Beispiel bietet die Bodentemperatur des Nord- atlantischen Ozeans. Diese ist nirgends geringer al®7 330 E (1,7° C), obwohl die Tiefen sehr bedeutend sind. Aber im Süd- atlantischen Ozean, in einer Tiefe von nur 2800 Faden, ist die Bodentemperatur nur ein wenig über 32° F und wir sind des- halb überzeugt, daß irgendwo zwischen Afrika und Südamerika ein Rücken in einer Tiefe von ca. 2000 Faden vorhanden sein muß, obwohl die Lotungen ihn noch nicht anzeigen. Wir gelangen zu demselben Schluß für den östlichen und westlichen Teil des Südatlantischen Ozeans, wo ähnliche Unterschiede bestehen. Dann zeigen die wenigen Temperaturen, die im östlichen Teil des süd- lichen Stillen Ozeans gewonnen wurden, wieder einen beträcht- lichen Unterschied gegen die im südlichen Atlantischen, und wir sind genötigt, einen Rücken von den Falklandsinseln bis zum Südpolarland anzunehmen. Von der deutschen Tiefseeexpedition. Ein Tag an Bord des Expeditionsdampfers „Valdızaz Von Dr. Gerhard Schott, Hamburg, Seewarte. Aus Meer und Wald: Meer: Rausch um die Hiehen du selbst, doch mich laß branden in Tiefen, Jeder erfülle das Los, das sein Geschick ihm beschert. Albert Möser. Es darf vorausgesetzt werden, daß die vielfachen Aufgaben und auch der im ganzen gewiß glückliche Verlauf dieser von Reichs wegen ausgrerüsteten Expedition in den Grundzügeen bekannt sind, und ich möchte daher zuerst eine kurze Beschreibung des Schiffes selbst geben. Es ist ein Vergnügen, hier aussprechen zu können, daß die Leistungen der von der Hamburg-Amerika-Linie zu einem sehr mäßigen Preise gestellten „Valdivia“ noch weit über die von der Expeditionsleitung zu stellenden Anforderungen hinausgingen ; den geradezu hervorragenden Seeeigenschaften des Dampfers ist es zu einem großen Teile zuzuschreiben, daß unsere Tiefsee- expedition im Süden eine Reihe geographisch wichtiger Ergebnisse gewonnen hat. Die „Valdivia“ wurde im Jahre 1886 unter dem Namen „Lijuka* für die Hamburg-Südamerikanische Dampfschiffahrts- gesellschaft in England erbaut und hat bis 1897 den Dienst zwischen Hamburg und Brasilien bzw. dem La Plata versehen; sie kam dann in den Besitz der Hamburg-Amerika-Linie, welche sie in den Dienst nach Westindien einstellte.e Die Abmessungen I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 4r sind folgende: Länge 308, Breite 37 und Tiefe 24 Fuß; der Raum- gehalt beträgt 3887 cbm netto oder 1372 Registertons netto. Der Dampfer hat zwei Pfahlmasten, mittschiffs in den beiden Gängen befinden sich außer sonstigen Räumlichkeiten die Kammern der Offiziere, im Hlinterschiff ist ein großer Salon und dahinter noch eine Reihe sehr geräumiger Kabinen; jedes Expeditions- mitglied hatte eine Kabine für sich. Ein Deckhaus über dem Salon diente der Expedition nach dem Umbau als Mikroskopier- ‚raum. Die dreizylindrige Maschine indiziert 1400 Pferdekräfte und verleiht dem Schiffe bei Volldampf (zwei Kesseln) eine Geschwin- digkeit von reichlich ı2 Knoten. Wesentlicher war dabei noch, daß schon mit einem Kessel bei nur 9 t täglichem Kohlen- verbrauch und nicht zu schwerer See eine Vorwärtsbewegung von acht bis neun Seemeilen in der Stunde erreicht wurde; diese Ge- schwindigkeit wurde immer eingehalten und daher, abgesehen von der Fahrstrecke im südlichen Eismeer und von der Heimreise (Port Said-Hamburg), stets mit nur einem Kessel gefahren. Hierauf besonders beruhte der Kostenanschlag und hierauf auch die Möglichkeit, fast den gesamten während der Reise notwendigen Kohlenvorrat im Schiffe mitzunehmen. Der ganze Unterraum und ein Teil des Zwischendecks barg bei der Abfahrt 2ı00 t deutsche Briketts, welch letztere sich vorzüglich bewährt haben und außerdem gegen Selbstentzündung bei der langen Reise die größte Sicherheit gewährten; sie haben in der Tat nie eine nennens- werte Erhöhung der Temperatur &ezeigt. Es waren Einrichtungen getroffen, daß die Kohlen in der Hauptsache direkt aus dem Zwischendeck in die Bunker und vor die Feuer gebracht werden konnten. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß während der ganzen Reise, zumal auch während der 7ıtägigen, fast ununterbrochenen Dampferfahrt von Kapstadt über die Bouvetinsel nach dem Eismeer und wieder nordwärts bis Sumatra nie auch nur der geringste Schaden an der Schiffsmaschine eingetreten ist, obwohl sie bei dem tagtäglichen, stundenlangen Hin- und Hermanöverieren während der Lotungen und Fischfänge gehörig angestrengt worden ist. Was dies für uns bedeutete, wird man ermessen können, wenn man bedenkt, dal wir fast immer gänzlich außerhalb der gewöhnlichen Schiffahrtslinien, viele Wochen aber weit im Süden zwischen dem 42 Dr. Wiese, Das Meer. Eis gewesen sind, von wo wir, wenn etwas Ernstliches eingetreten wäre, bei dem Fehlen der Takelung das Schiff wohl nie hätten wegbringen können. Planktonnetze, Die Um- und Einbauten, die lediglich zu Expeditionszwecken nötig waren, sind sehr umfangreich gewesen und erforderten ein- I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 43 schließlich der Aufstellung der Expeditionsmaschinen drei Monate angestrengtester Arbeit im Jahre 1898. Wenn ich nun den Verlauf eines normalen Arbeitstages auf dem Expeditionsschiff zu beschreiben versuchen soll, so ist zunächst zu bemerken, daß das Tagewerk mit sehr geringen Ausnahmen regelmäßig morgens um 5'/, Uhr begann; in den Tropen war es dann oft noch so dunkel, daß wir kaum das Zählwerk an der Lot- maschine erkennen konnten. Die mittlere Distanz, welche zwischen zwei Stationen im all- gemeinen gelegt wurde, betrug etwa ı20 bis 160 Seemeilen und wurde mit acht bis neun Seemeilen stündlicher Fahrt in ı5 bis ı8 Stunden während des voraufgehenden Abends und der Nacht ab- gelaufen. In der Regel, zumal seit dem Verlassen von Kapstadt und dem Betreten ganz unerforschter Meeresgebiete, war die erste im Laufe eines Tages vorgenommene Arbeit die Tiefseelotung, welche je nach der Tiefe von 5'/,—7'/, a. m. dauerte. Das Schiff wurde, nachdem vorher der Dampfdruck gefallen war, gestoppt und so vor Wind und Strom hingelegt, dal auf der Schiffsseite, von welcher aus gearbeitet werden sollte, Luv war. In den meisten Fällen ist ja bekanntlich die Richtung, nach der der Strom setzt, und die Richtung, nach der der Wind weht, dieselbe oder doch nicht gar zu sehr voneinander verschieden, so daß das Freihalten der Seilleitung vom Schiffskörper ohne grobe Schwierigkeit sich ermöglicht; aber wir haben immerhin häufig genug auch beträchtliche Abweichungen hiervon empfunden. In der letzten Zeit, als der Dampfer hoch heraus aus dem Wasser lag und mit den Sonnensegeln dem Winde viel Windfang bot, kam es vor, daß der Dampfer vor dem Winde in anderer Richtung trieb als die Strömung und die von ihr erfaßten Kabel, wobei dann ein Wegtreiben des Schiffes über das Kabel kaum vermeidbar war. Zu demselben Effekt kam es, wenn eine Richtungsdifferenz vorhanden war zwischen der Strömung der oberen Wasserschichten und derjenigen der tieferen Schichten. Das Kabel stand dann zuerst ganz richtig und gut frei vom Schiff, bis plötzlich (oft von einer Tiefe von 200, 300 bis 400 m an) das Kabel unter den Schiff verschwand; dieser Fall war bei der Messung von Tiefen- temperaturen für die in Abständen von wenigen hundert Meter angebundenen Thermometer höchst gefährlich, bei der Netz- fischerei aber weniger, da kurz vor dem Hochkommen des Netzes, 44 Dr. Wiese, Das Meer. beim Überschreiten der Grenze zwischen den zwei verschieden gerichteten Strömungen, das Kabel regelmäßig wieder gut frei vom Schiffe sich stellte. War die Stromgeschwindigkeit oder die Trift des Schiffes vor dem Winde sehr groß, dann vergrößerte sich der Winkel, unter welchem die Drahtleitungen wegstanden, zusehends um so mehr, je tiefer die unteren, langsam bewegten oder ruhigen Wasser- schichten hineinkamen; bei der Netzfischerei ist es vorgekommen, dal der Winkel zwischen Kabel und Meeresoberfläche nur noch etwa 10° war und man fast keinerlei Anhalt mehr über die wirklich erreichte Tiefe hatte; es: war hier nicht angängig, durch Manöverieren das Schiff immer dicht über der Ausgangsstelle zu halten. Bei der Tiefenlotung mit dem sehr schnell ablaufenden, äußerst dünnen Klaviersaitendraht war es meist — selbst mit Ein- schraubenschiff — möglich, durch Manöver mit dem Ruder und der Maschine den Dampfer stets oder doch zu dem voraussicht- lichen Zeitpunkte der Grundberührung wieder dicht neben die Stelle hinzubringen, wo der Draht im Meer verschwand, so daß die ausgegrebene Drahtlänge fast immer recht genau die wahre Meerestiefe repräsentierte; zu diesem Manöver gehörte sehr großes seemännisches Geschick, wie es unser Kapitän Krech be- tätigte, und ein so vorzüglich grehorchendes Schiff, wie es die „Valdivia“ war. Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die Sigsbeesche Tiefsee- lotmaschine oder die französische Lotmaschine und ihre Wirkungs- weisen zu beschreiben, nur einige allgemein interessante Angaben und Erfahrungen hinsichtlich der Tiefseelotungen mögen hier Platz finden. Auf der Trommel der erstgenannten Maschine hatten wir 8ooo m sog. Klaviersaitendraht und auf der zweiten 6000 m ge- drehtes Stahlseil von 1,3 mm Durchmesser. Der Klaviersaitendraht ist der Lotdraht par excellence, er hat nur einen Durchmesser von 0,9 mm, ist polierter Stahldraht und, solange er vor Rost behütet wird, von einer ganz unübertrefflichen Güte und einer garantierten Iragfähigkeit bis 200 kg. Wir benutzten deutsches Fabrikat (Poehlmann, Nürnberg) und haben z. B. mit diesem Draht bei sturmbewegter See aus über 5000 m Tiefe den Draht samt einem 28 kg schweren Senkgewicht und einigen anderen In- Ver a Vi aa I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 45 strumenten heraufgebracht; dabei wiegen 1000 m dieses Drahtes in Luft 5 kg. Die Sinkgewichte werden an einer Lotröhre so aufgehängt, daß sie selbsttätig bei Erreichung des Meeresbodens abfallen und auf dem Grunde liegen bleiben, damit die Drahtleitung entlastet wird; wenn sehr große Tiefen erwartet werden, benutzen wir solche von 28 kg Schwere (Preis jeder dieser Eisenkugeln 6 bis 7 M.), bei geringeren Tiefen (unter 1000 m) genügte ein Gewicht von ı5 kg (Preis etwa 3 bis 4 M.). Das Kunststück bei dem Messen von ozeanischen Tiefen be- steht darin, durch Anziehen einer Bremse an der Trommel genau soviel Hemmung beständig wirken zu lassen, daß das Gewicht der außenstehenden Drahtleitung (ausschließlich Sinkgeewicht) immer kompensiert ist und somit, sobald das schwere Sinkgewicht den Grund erreicht und keine Zugkraft mehr ausüben kann, die Maschine still stehen muß. Dabei ist noch eine interessante Kom- plikation erwähnenswert. Man sollte zunächst erwarten, daß man sukzessive die Hemmung mit zunehmender Drahtlänge vermehren müsse, da doch z. B. 5000 m Draht mehr wiegen als 4000 oder 3000 m. Aber es ist wenigstens bei Benutzung von Klaviersaiten- draht gerade das Gegenteil der Fall, was den Verfasser dieser Zeilen selbst nicht ‘wenig überraschte; es kommt nämlich der Faktor der Reibung im Wasser in Betracht, und dieser ist selbst bei dem dünnen polierten Drahte so gewaltig, daß mit zunehmender Tiefe daß Mehrgewicht der außenstehenden Drahtlänge durch das Mehr des Reibungswiderstandes nicht nur nicht ausgeglichen wird, sondern sogar eine direkte, allmählich sich steigernde Hemmung auftritt, welche durch ein sukzessives Lüften der Bremse zu über- winden ist. Während das Hinablaufen des Drahtes mit einer sekundlichen Geschwindigkeit bis zu 2,5 m erfolgte, wurde nach erfolgter Grundberührung ı,5 bis 2,0o m in der Sekunde. aufgeholt (mit Dampf- bzw. elektrischer Kraft), so daß eine Tiefenlotung von etwa 5000 m ungefähr ı!/, Stunden Zeit beansprucht; hierin sind noch 5 bis 7 Minuten eingerechnet, die man vor Beginn des Auf- wickelns warten muß, damit das Tiefenthermometer am Meeres- grund sich richtig auf die Bodentemperatur einstellt. Bei dem Einwinden des Lotdrahtes wird die Trommel außer- ordentlich stark beansprucht, da einige Tausend Wickelungen mit Dr. Wiese, Das Meer. En ENDETE kalnetz, i Vert I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 47 einer an sich nicht großen, aber sich direkt addierenden Kraft auf die Trommel kommen, so daß eine Beanspruchung von über 100000 kg vorkommen kann; es ist ein ähnlicher Vorgang wie das beim Aufwickeln eines Zwirnfadens um einen Finger: schon nach wenigen Umwickelungen fühlt man sehr deutlich den rasch zunehmenden Druck. In der Tat haben wir an Bord der „Valdivia“ es wiederholt erlebt, daß die Trommel der einen Lotmaschine, die statt aus Stahlguß aus Gußeisen bestand, auseinandergedrückt wurde und schließlich ganz zusammenbrach. Es folgte, wenn gegen 7 Uhr morgens die Tiefe, Bodenbe- schaffenheit und Bodentemperatur bekannt waren, meist zunächst ein Zug mit einem der Vertikalnetze, die von verschiedenen Größen waren und deren größtes einen oberen Durchmesser von etwa 3 m hatte. Diese Netze waren ebenso wie die Schließnetze aus allerfeinstem (Grazestoff gefertigt, welcher selbst die kleinsten Organismen nicht hindurchschlüpfen ließ. Den äußeren Schutz für die Gaze bildete ein darum gegebenes „Fischnetz*. Diese „Vertikalnetzfänge“ oder „Vertikalzüge“ filtrierten die gesamte über dem tiefsten erreichten Punkt stehende Wassersäule ab und brachten meist eine erstaunliche Fülle von Organismen aller Art, großenteils natürlich kleine Lebewesen, meist aber auch einige große und schöne Formen, wie rote Tiefseekrebse, sammetschwarze Tintenfische, Kephalopoden u. a. m. Eine nur oberflächliche Unter- suchung und die Konservierung dieser Fänge beschäftigte die Zoo- logen schon stundenlang, desgleichen sehr häufig den Zeichner, welcher Skizzen in Farbe von ganz besonders wichtigen oder auf- fälligen Tieren anfertigte. Wissenschaftlich ungleich wertvoller, ja wohl die wichtigsten von allen, waren die Fänge mit den Schließnetzen. Diese Netze sind imstande, uns ein begründetes Urteil über die in den verschiedenen Meerestiefen vorhandenen Arten und Mengen der Organismen zu verschaffen; sie werden geschlossen in die ge- wünschte Tiefe versenkt, öffnen sich dann beim Heraufholen für eine beliebig einstellbare Schicht von 530, 100, 200 m oder mehr, welche somit abgefischt wird, und schließen sich darauf wieder vollständig dicht. Hier kann nur als eines der wichtigsten Ergeb- nisse dies angegeben werden, daß im Meere keine einzige Tiefenzone, wenn wir in vertikaler Richtung von oben nach unten gehen, azoisch, d. h. ohne Lebewesen ist, obschon ja nach den großen Dr. Wiese, Das Meer. mr: 2 OS F DAR Schließnetz nach dem Heraufkommen. or dem Herablassen. ießnetz v Schl I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 49 Tiefen hin, von 2000 m ab, die Quantität der flottierenden Or- ganismen sehr rasch abnimmt. Bei einem südlich von Sokotra ausgeführten Schließnetzzug, der die dem Meeresgrund unmittelbar aufliegenden Schichten (4800 bis 4200 m Tiefe) abfiıschte, wurden noch lebende Krustazeen gefangen, Krebse also, welche unter einem Drucke von über 400 Atmosphären, in einer für mensch- liche Augen jedenfalls absoluten Finsternis und in einem eiskalten Wasser von — ı° C existieren. Von den Schließnetzen machte auch der Botaniker noch speziellen und sehr ausgiebigen Gebrauch, indem er sich bemühte, durch eine große Zahl von sog. Stufenfängen in den liefen zwischen Oberfläche und rund 400 m zu bestimmen, in welcher Tiefe in den verschiedenen Ozeanen und Stromgebieten die untere (srenze pflanzlichen Lebens sich befindet; im allgemeinen scheint zwischen 5o und 8o m die Entwicklung des vegetabilischen Plankton ihre größte Intensität zu erreichen und in 5300 bis 350 m die assimi- lierende Vegetation aufzuhcren. Sehr oft wurde durch derartige Fänge mit Vertikal- und Schließnetzen oder dem eigentlichen Planktonnetz die ganze zur Verfügung stehende Tageszeit bis ein oder vier Uhr nachmittags ausgefüllt. Zeitraubender noch war das von der eben beschriebenen Fischerei wesentlich verschiedene Arbeiten mit den Grundnetzen, das sog. Dredgen. Zum Dredgen dienten in eisernen Bügeln hängende, äußerst kräftige Netze, weiche an dem stärksten Kabel bis zum Meeresgrunde versenkt wurden; bei ozeanischen Tiefen von 3000 bis 4000 m dauerte ein solcher Fischzug leicht 8 bis 1o Stunden. Die Ergebnisse dieser Fänge waren je nach der Bodenbeschaffenheit gänzlich wechselnd; nicht selten war der Inhalt des Netzes auch für einen Laien von unbeschreiblichem Interesse durch die Fülle und monströse Absonderlichkeit der Tiefseetiere, und schon die Reisebeschreibung aus der Feder des Herrn Professor Chun hat eine größere Anzahl dieser wunderbaren Tiere in naturgetreuen Abbildungen gebracht. Öfters freilich war der Inhalt gleich Null oder bestand fast nur aus einer Menge Schlamm. Durch steinigen Grund, wie besonders auf der Agulhas- bank oder vor der Bouvetinsel, wurde diesen Grundnetzen sehr übel mitgespielt, und wenn das Netz nicht ganz verloren ging, dann kam es wie ein „zerbrochener Regenschirm“ herauf, und Dr. Wiese, Das Meer. 4 50 Dr. Wiese, Das Meer. jeder Schleppnetzzug in großen Tiefen erforderte die peinlichste Aufmerksamkeit, Beobachtung der Dynamometer, Maschinen- manöver, damit nicht größeres Unheil passierte; häufig genug stieg die Beanspruchung des Kabels auf 5000 bis 7000 kg. Daß es der Tiefseeexpedition gelang, nahe vor Enderby-Land im Gebiete des Packeises einen 5 Zentner schweren Stein sedi- mentären Charakters aus einer der Mont Blanc-Höhe entsprechenden Tiefe mit der Dredge heraufzuwinden, ist schon mehrfach berichtet worden. Die reichsten Fänge mit dem Grundnetz haben die Zoo- logen, soweit ich weiß, in der Nähe der Niasinseln an der West- küste Sumatras sowie an der Somaliküste, beide Male in Tiefen von 800 bis 1600 m, gehabt, aber nie, mit einer einzigen Aus- nahme, war der Inhalt des Fanges an Fischen derartig, daß der immer nach einer Beute für seine Küche ausschauende Koch hätte etwas abbekommen können, vielmehr bildete gerade die Mannigfaltigkeit der erbeuteten Formen ein Charakteristisches der Resultate der Schleppnetzzüge. Es erübrigt noch, der ozeanographischen Arbeiten zu ge- denken, welche vom Hinterdeck ausgeführt wurden mittels eines 2000 m langen Stahlseils. Hier waren der Chemiker und der ÖOzeanograph beschäftigt, Tiefentemperaturen zu messen, Wasser- proben zur Bestimmung der im Meerwasser. absorbierten Gase heraufzubringen, die Farbe und Durchsichtigkeit zu bestimmen und das spezifische Gewicht bzw. den Salzgeehalt zu messen. Dazu kamen die Tag und Nacht alle vier Stunden von den wache- gehenden Offizieren angestellten meteorologischen Beobachtungen, welche durch selbstregistrierende Barometer, Thermometer und Hygrometer ergänzt und vervollständigt sind. Nicht zu vergessen ist auch die Tätigkeit in den Laboratorien, im Mikroskopierraum und besonders im Konservierungssraum, wo der Präparator die ge- schossenen oder gefangenen Vögel abzubalgen, die gefischten Tiere zu konservieren und für ihre gute Unterbringung zu sorgen hatte; auch die photographische Dunkelkammer war ein viel um- worbener Raum; außer dem „offiziellen“ Photographen hatten nicht weniger wie sieben Herren photographische Apparate mit sich, und es sind im ganzen weit über 2000 Aufnahmen der ver- schiedensten Art gemacht worden, die eine in diesem Umfang wohl ungewöhnlich reiche Illustration alles während der Expedition Geschehenen und Gesehenen ermöglichen. Die Platten wurden I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. SI mit verschwindenden Ausnahmen sämtlich an Bord entwickelt, in den Tropen unter Zuhilfenahme von durch Eis gekühltem Wasser, Man kann wohl sagen, daß überall, wo man hinblickte, im Laufe des Tages auf der „Valdivia“ emsige Tätigkeit herrschte. Sehr oft wurde, wenn der Zustand der See es gestattete, solange der Dampfer gestoppt war, das kleine, leichte „Schlickrutscherboot“ ausgesetzt und an der Oberfläche mit verschiedenen kleinen Netzen gefischt. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß auch der Fang von Haifischen sehr intensiv betrieben wurde, sammeln sich doch diese Tiere in den tropischen Meeren gerade um das den ganzen Tag über stillliegende Schiff oft in sehr großer Anzahl. je nach dem Umfang der Arbeiten, welche der Leiter der Expedition an einer Station auszuführen beabsichtigt, konnte nach- ‚mittags in den Stunden zwischen ı und 4 Uhr die Fahrt fortge- setzt werden; häufig genug dehnten sich jedoch die Tiefseeunter- suchungen bis 6 Uhr und in die Dunkelheit hinein aus, so dab beim Scheine elektrischer Lampen die Fänge noch ausgesucht wurden. Da im allgemeinen gleichzeitig zwei Kabel nicht in die See versenkt werden dürfen, wenn man nicht die Gefahr einer heillosen Verwirrung der Seilleitungen befürchten will, so mußten die einzelnen Arbeiten hintereinander erfolgen, und da begreift es sich, daß oft zwölf Stunden Arbeitszeit nicht ausreichten. Um eine Anschauung von dem an einem Arbeitstage über die Rollen und Winden der Expeditionsmaschinen bewegten Draht- längen zu geben, seien hier die für den ı. April 1899 gültigen Zahlen mitgeteilt; die „Valdivia* war damals, etwa 150 Seemeilen südlich von Sokotra, an einer über 5000 m tiefen Stelle; es ist dabei zu bemerken, daß dieser Tag — es galt den Abschluß der wichtigsten Arbeiten auszuführen — besonders stark ausgenutzt wurde, doch unterblieb immerhin andererseits eine Fischereiart an diesem Tage, die der Grundnetzfischerei. Fs wurden am 1. April bewegt: + (10128 m bei der Lotung, 4400 m für ozeanographische Zwecke 14528 M „ei Temperaturmessuugen) für chemische Zwecke 950 m, bei den Schließnetzfängen 10908 m, bei den Vertikalnetzfängen 7000 m, bei den Planktonfängen 600 m, u in Summa 34046 m. 2 Dr. Wiese, Das Meer, Die Expeditionsarbeiten haben vom 2. August (Nordsee) bis ı. April (bei Kap Guardafui) gedauert, und wir haben durchschnitt- lich an 22 Tagen im Monat wissenschaftliche Untersuchungen an- gestellt, im ganzen an 175 Arbeitstagen, während nur 95 Tage für Landaufenthalte und Vorwärtsfahren gebraucht wurden, darunter allein 30 Tage für die Heimfahrt von Guardafui. Hiermit dürfte wohl das Wichtigste, was von dem Verlauf eines normalen Arbeitstages an Bord der „Valdivia“ zu sagen ist, erschöpft sein. Doch zahlreich und auch verschiedenartig genug waren die Abweichungen und Abwechslungen, die in diesem Schiffsleben eintraten. Da die Expedition mit Ausnahme der nordpolaren Gegenden alle Klimazonen der Erde durchfahren hat, so kam schon allein hierdurch Wechsel genug in die an Bord der „Valdivia* einge- haltene Lebensweise. Bald fuhr der Dampfer unter Sonnensegeln in der brütenden Schwüle der Tropen, bald in den Sturmgebieten gemäßigter Breiten, dann auch in einer von Eis starrenden Um- gebung; begreiflicherweise boten gerade die vier Wochen, welche wir im Greebiete des Antarktischen Ozeans zugebracht haben, eine Fülle neuer Eindrücke und Anschauungen. FEiskaltes Wasser von Temperaturen zwischen — 0,5° und — 1,7° C, ebensolche Tempe- raturen der Luft, fast ständig Eis in seinen verschiedenen Er- scheinungsformen (Treibeis, Packeis und Eisberge) rings um das Schiff, dazu täglich anhaltende Schneeböen, welche uns in den tiefsten Winter versetzten und einmal eine ausgiebige Schnee- schlacht unter den Expeditionsmitgliedern, dazu als unangenehmste Beigabe häufige Nebel — dies waren die hervorstechendsten Merk- male der zwischen der Bouvetinsel und der Gegend von Kerguelen verbrachten Zeit. Niemals wird derjenige, der nicht selbst dicht unter einem schwimmenden großen Eisberge entlang gefahren ist, von der imposanten Ruhe und der majestätischen Unnahbarkeit eines solchen Kolosses eine entsprechende Vorstellung sich machen können; wenn ein Büchsenschuß oder die Dampfpfeife das Echo von den Eiswänden löste, kam Leben in diese tote Welt, die vor das geistige Auge das Bild eines gewaltigen südpolaren Festlandes zauberte, auf dem diese Gletscher entstanden sein müssen. Silber- möwen, Sturmvögel, Kaptauben und Pinguine, welch letztere öfters auf einem niedrigen Vcerlande der Eisberge sich förmliche Rutsch- bahnen zur See hin angelegt hatten und wie Silhouetten vom I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 53 weißen Hintergrund sich abhoben, vervollständigten das Bild jener Gewässer; dagegen wurden die weißen Albatrosse in der Eisgegend gar nicht mehr angetroffen. Noch gründlicher war natürlich für die Expedition die Ab- wechslung, wenn an unbewohnten oder bis zu einem gewissen Grade „wilden“, d.h. von europäischer Kultur noch nicht in Be- schlag genommenen Inseln gelandet wurde. Als solche sind Ker- guelen, St. Paul, Neu-Anısterdam, die Niasinseln, Kondul und Nakauri auf den Nikobaren und der Suadiva-Atoll in den Malediven zu erwähnen; es ist natürlich hier nicht angebracht, diese Land- aufenthalte zu schildern, was allein eine umfangreiche Mitteilung ausmachen würde. Aber ausgesprochen sei, daß der Aufenthalt auf Kerguelen in den Weihnachtstagen 1898 geradezu an das Wunderbare und Märchenhafte grenzte; dem Verfasser dieser Zeilen sagte einer der Offiziere der Expedition später, daß er die Tage auf Kerguelen nicht gegen alle andere, in allen Weltteilen verbrachte Zeit eintauschen möchte. Es war einmal das Gefühl des Aufenthaltes auf einem großen, gänzlich von Menschen unbe- wohnten Land, das eine herrliche Hochgebirgsnatur schon fast vom Meeresspiegel ab zeigt, und dann die mit dem Menschen un- bekannte, interessante Tierwelt, wodurch der Genuß jener vier Tage zu einem unvergleichlichen und unvergeßlichen gestempelt wurde. Denn*wenn man, ohne der Übertreibung geziehen werden zu dürfen, erzählen kann, daß man die flinken Möwen, Chionis und andere Vögel mit den Händen von den Felsen weggegriffen hat, auf den im Sande lagernden mächtigen Seeelefanten rittlings ge- sessen hat, ohne einen besonderen Eindruck auf diese Tiere zu machen u. a. m., so sind dies sicherlich Erlebnisse, die heutzutage bei einer mit unheimlicher Schnelle um sich greifenden Ausdehnung menschlicher Kultur zu den seltensten gehören, zumal die Welt erschreckend klein für die Erhaltung solcher Urzustände zu werden beginnt. Ganz besonders angenehm und wohltuend sind schließlich die Eindrücke gewesen, die wir von allen den auswärtigen Gregenden gewonnen haben, welche schon von Europäern in Besitz genommen worden sind. Überall ist die deutsche Tiefseeexpedition als ein Unternehmen friedlichen Wettbewerbs mit den wissenschaftlichen Unternehmungen anderer Nationen der Gegenstand zuvorkom- mendster Aufmerksamkeit gewesen. Es darf hinzugefügt werden, daß das Erscheinen des Forschungs- 54 | Dr. Wiese, Das Meer. schiffes „Valdivia* in gar manchen Häfen zweifellos zu einem vielleicht nennenswerten Ereignis in nationaler Hinsicht geworden ist: die Tatsache, daß das Deutsche Reich als solches sich ene schlossen hatte, für rein wissenschaftliche Zwecke immerhin be- deutende Summen auszugeben und einen großen Seedampfer für viele Monate über die Ozeane zu senden, hat sicherlich in den be- suchten englischen und holländischen Kolonien einen nicht zu unterschätzenden Eindruck gemacht und von der immer mehr auf- strebenden Seemacht Deutschlands ein außergewöhnliches Zeugnis abgelegt. In Kapstadt und Padang ist dies seitens hoher Beamter jener Kolonien besonders hervorgehoben worden. Wenn, wie in Zanzibar, alle Deutschen am Tage des Einlaufens der „Valdivia“ ihre Geschäfte schlossen und unter Führung ihres energischen Konsuls die Expedition begrüßten, so konnte diese Auszeichnung nur als eine Errungenschaft gelten, die zwar auf geistigem Gebiete wurzelte und hier ihren Inhalt hat, aber den Charakter einer nationalen Tat nicht verleugnete. Es würde diese Seite der Forschungsfahrt hier nicht erwähnt worden sein, wenn nicht aus berufenstem Munde bei Rückkehr der „Valdivia“ gerade hierauf in anerkennenden Worten hingewiesen worden wäre. 6: Ebbe und Flut. Das Leben gleicht dem Meere, Hat Sturm und Ebb’ und Flut; Man muß Matrose werden, Und dann durchschifft man’s gut. H. v. LittreoWw. Eine der erhabensten, großartigsten Erscheinungen des Ozeans sind die Gezeiten oder, wie sie der Bewohner der deutschen Nord- seeküste nennt, die Tiden. Vielleicht üblicher ist der Name Ebbe ‘und Flut. Worin bestehen nun Ebbe und Flut? Suchen wir den Vorgang zunächst einmal zu schildern. Kommen wir zur Zeit der Flut an die niederländische oder an unsere deutsche Nordseeküste, so gewahren wir, wie nach einiger Zeit das Wasser allmählich von den Ufern zurückweicht und aus allen Kanälen und Gräben nach dem Meere zuströmt. Nun gewinnt die Küste zusehends an Breite und Höhe; jede von den vorliegenden Inseln umgibt sich mit einem breiten Gürtel von Vorland; Strecken untergegangener, früher bewohnter Landschaften tauchen wie Gespenster aus der Tiefe auf; die Schiffe sinken mit dem Wasser herab und sind in den hochufrigen Rinnen, in denen allein noch Wasser zurückblieb, halb versteckt. Die eingetretene ‚Ebbe hat die Geheimnisse der Tiefe enthüllt. Neben zierlichen Schnecken und Muscheln sind allerlei seltsam gestaltete Tiere des Meeres zum Vorschein gekommen. Vieles von dem Seegewürm des entblößten Grundes fällt den Möwen, Strandläufern und Schnepfen, die dort ihr Wesen treiben, zur Beute. Auch das arme Volk der Küstenstädte füllt jetzt ohne Mühe die mitgebrachten Körbe und erntet, wo es nicht gesät hat. Doch das Wasser drängt schon wieder leise rückwärts, und die ausfließenden Ge- wässer des Festlandes geraten mit ihm in Streit. Immer mächtiger Dr. Wiese, Das Meer, 71 ON schwillt die Flut an, drängt den schwachen Gegner ohne Mühe zurück und zieht endlich triumphierend zu allen Toren des Landes ein. Die kahlen Sandbänke sind nun wieder verschwunden; die Austern- und Krabbensucher sowie die Strandspaziergänger haben längst die Flucht ergriffen und sich hinter den Dämmen und Deichen geborgen; die Inseln sind wieder auf die Hälfte ihres Umfangs zusammengeschmolzen; Landstücke, die eben noch mit dem Festlande verbunden waren, lösen sich und werden zu Inseln; die Hafendämme, vorher riesengroß, erscheinen wieder klein und unbedeutend. Die Schiffe steigen auf den schwellenden Wassern wieder hoch empor; Gräben, die einige Stunden vorher kaum ein Boot zu tragen vermochten, sind jetzt selbst für große Fahrzeuge schiffbar. Wo zur Zeit der Ebbe die Postkutsche über das Watt landeinwärts fuhr, da wogt jetzt die schäumende Flut. Nun wird in allen Schiffen und an allen Ufern gerüstet. Schiffe aller Art suchen mit der herankommenden Flut in die Mündungen der Flüsse zu gelangen, andere warten auf die abziehenden Gewässer, die sie von der Küste weg nach dem offenen Meere bringen sollen. (Hentschel und Märker in „Umschau in Heimat und Fremde*). Dieser Vorgang des Zurückweichens und Wiederkommens der Wassermassen, dieses Sinkens und Steigens wiederholt sich zweimal innerhalb 24 Stunden, so daß sich in dieser Zeit zweimal die Flut oder das Hochwasser, zweimal die Ebbe oder Niedrigwasser ein- stellt. Allerdings sind hierbei große Verschiedenheiten zu beachten. ‚In manchen Meeren steigt das Meer gewaltig, so in der Fundybai, Nordamerika um mehr als 20 m, bei Sankt Malo im Kanal um ı5 m, bei Brest um 6 m. In der Nordsee beträgt die Höhe der Flut bei Helgoland 2 m, an der Mündung der Elbe und Weser 4 m. Die inselumrahmten Mittelmeere sind durch schwache Tiden ge- kennzeichnet; so das amerikanische, das bei Jamaika nur 30, bei Colon 50, Vera Cruz 60 cm erlangt. Das austral-asiatische erreicht nur selten über 2 m; diese beiden Mittelmeere zeigen aber eine merkwürdige Verwandtschaft darin, daß stellenweise die Wirkungen der täglichen Ungleichheit so mächtig werden, daß darüber die halbtägigen Tiden sich beinahe ganz in eintägigre Tiden verwandeln. Das sind die altberühmten Eintagsfluten des mexikanischen Golfs und des (rolfes von Tongking, die ihresgleichen an den europäischen oder westamerikanischen Küsten nicht finden: ein geographischer Unterschied, der sehr schwer aufzuklären sein dürfte Es Te Ze u u a A er ‘JAS [osuf 19p ne IsrT Pq Sunpurigr = VO on 4 «D) Fe! © ın is) KB} A .-_ UV nn "Oo A 5 En B} VO De ri n I. Abschnitt. 58 Dr. Wiese, Das Meer. scheint, als wenn hier stehende Wellen im mexikanischen Golf sowohl wie in der sog. Chinasee sich über die vom östlichen Ozean eindringenden Tiden überlagern, also Interferenzen bilden, Abgeschlossene Meeresbecken zeigen geringe Gezeiten. Im Mittelmeer betragen sie 30—3;o cm, im Michigansee nur höchstens z cm. Das Schwarze und Weiße Meer sind gänzlich frei davon. Bisweilen dringt die Flut in die Mündungen größerer Flüsse oder schmaler Meeresbuchten zu großer Höhe hinein. Am Amazonen- strom ist der Einfluß der Gezeiten 800 km landeinwärts zu be- . merken, in der Elbe dringt die Flut ı0o0o km weit ein. Die Hafen- städte Hamburg, Bremen, Newyork würden nicht solche Bedeutung als Handelsstädte haben erreichen können, wenn nicht die Flut in den Unterlauf der großen Flüsse dringen würde, an denen sie liegen. Dieses Stück, das unter dem Einfluß der Gezeiten steht, nennt man Ästuarium. Man mißt die Eintrittszeit und Höhe der (rezeiten an zahlreichen Punkten der Erde durch selbstaufzeich- nenden Pegel oder Flutmesser. Diejenige Stunde, in der bei Flut der höchste Wasserstanderreicht wird, ist die Hafenzeit eines Ortes, Schon frühzeitig haben die Küstenvölker die wechselnden Er- scheinungen von Ebbe und Flut beobachtet und zu erklären ver- sucht. Man erkannte, dab an jedem Tage die Flut etwa 50 Minuten später eintritt als am vorhergehenden und ebenso der Mond 50 Minuten später den höchsten Punkt seines Bogens über den Horizont erreicht. Ferner sah man, daß, wie der Mond im Laufe eines Monats seine Gestalt wechselte, innerhalb derselben Zeit sich regelmäßig auch die Höhe der Flut änderte. Ebenso schien die letztere beeinflußt durch die Bewegung der Sonne, da die Tag- und Nachtgleichen im Frühling und Herbst stets von sehr heftiger Flut begleitet sind. Dieses Zusammentreffen der Erscheinungen des Meeres mit den Bewegungen von Mond und Sonne ist so auf- fallend, daß man einen Zusammenhang zwischen beiden ableiten mußte. Und in der Tat, was schon im Altertum vermutet wurde, ist durch die Forschungen von Newton und Laplace wissenschaft- lich begründet worden, nämlich daß die (Grezeiten eine Folge hauptsächlich der Anziehungskraft des Mondes, teilweise auch der unserer Sonne sind. Zum Zeichen, dal sie diese Anziehungskraft fühlt, erhebt sich die Erde in ihrem beweglichsten Teile, dem Wasser, täglich zweimal zu den befreundeten Himmelskörpern Zur Zeit des Neumonds und Vollmonds, wenn infolge der Stellung Yes Au TeL Zu Se I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 59 des Mondes und der Sonne zur Erde die Anziehungen der beiden Himmelskörper vereinigt wirken, entstehen besonders hohe Flut- wellen, die man Springfluten nennt, während bei den sog. Nipp- fluten zur Zeit des ersten und letzten Mondviertels die Flutwelle wieder hochsteigt. Stürme ändern das gewöhnliche Verhältnis zwischen Ebbe und Flut wesentlich; die Ebbe ist dann weniger bemerklich, während die Flut ihre gewöhnliche Höhe bedeutend überschreitet. Stürme aus Nordwest erzeugen die oft mit ver- heerender Gewalt auftretenden Sturmfluten und sind deshalb an der deutschen Nordseeküste sehr gefürchtet. Übrigens ist der stete Wechsel der Ebbe und Flut neuerdings in ganz eigenartiger Weise in Ploumanach, einer kleinen Hafen- stadt an der Nordküste Frankreichs, als Kraftquelle ausgenutzt. An der sehr buchtenreichen Küste der Bretagne bildet das Meer eine Reihe natürlicher Becken, in denen sich der Unterschied im Wasserstande zwischen Ebbe und Flut ganz beträchtlich fühlbar macht; er beträgt stellenweise sogar ı2 m. In Ploumanach bieten nun die natürlichen Verhältnisse die Möglichkeit, die großen Wassermassen, die die Flut heranwälzt, aufzustauen und hernach als Kraftquelle nutzbar zu machen, und zwar nicht bloß zur Um- setzung in elektrische Energie, sondern zur Gewinnung von Eis. In beiden Formen bringt die Kraft der Gezeiten der Stadt Vorteil. Die Ploumanacher sind nämlich zum großen Teil Fischer, die mit den Schätzen des Meeres den Pariser Markt mit Fischen versorgen. Im Sommer, wo die elektrische Beleuchtung nicht viel bedeutet, gebrauchen sie jedoch viel Eis zur Aufbewahrung und zum Versand ihrer Fische; während der heißen Jahreszeit mub also die aufgespeicherte Wassermenge mehr der Eisgewinnung dienen. Ein natürlicher Teich von der Gestalt eines gleichschenk- ligen Dreiecks, dessen Grundlinie nach dem Binnenlande zu liegt, ist durch einen Damm von 220 m Länge getrennt. Die Länge des Teiches beträgt 250 m, so daß er ungefähr eine Öberfläche von anderthalb Hektar hat. Der Damm ist nun von Schleusen durchschnitten, die sich selbsttätig schließen und-öffnen. Zur Ebbe- zeit sind sie alle geschlossen, zur Flutzeit, da sie nach innen schlagen, alle geöffnet. Sobald das Meer steigt, drückt das Wasser die Tore nach innen auf, und Flutwasser ergießt sich in den Teich. Sobald die Flut zu sinken beginnt, schließt das abströmende Wasser selbsttätig die Schleusentore, und der Teich bleibt mit Wasser ge- 00 Dr, Wiese. Das Meer, füllt. Um nichts verloren gehen zu lassen, sind die Tore sogar mit Kautschukleisten gedichtet, so daß ihr Schluß vollständig ist; es sickert trotz des beträchtlichen Druckes nicht ein Liter in der Stunde durch. Entsprechend dem Wechsel der Gezeiten füllt sich also der Teich täglich zweimal, ohne daß er besonderer Wartung bedarf. Allerdings kann das aufgestaute Wasser nicht bis zum Ebbestand ausgenutzt werden, denn der Teich dient gleichzeitig noch der Zucht von Austern, Muscheln und Hummern; er muß also immer etwas Wasser enthalten. Man kann ihn jedoch mit einer besonderen Schleuse auch vollständig leer laufen lassen. Immer- hin bleiben aber —5 m Wasserhöhe zum Betriebe zweier Wasser- räder ausnutzbar. Im Sommer wird indes nur eins davon benutzt; es betreibt eine Pictetsche Kältemaschine, die in acht Stunden gegen 240, am ganzen lage etwa 450 kg Eis erzeugt. Die Pic- tetsche Kältemaschine braucht jedoch nur fünf bis sechs Pferde- kräfte, die Wasserräder können aber anfänglich 50o und nach vier Stunden immer noch 20 Pferdekräfte liefern; es ist also noch Kraft zum Betriebe elektrischer Anlagen reichlich vorhanden. Die Betriebskosten der ganzen Einrichtung sind gering, sie belaufen sich, das Gehalt für den einzigen Aufseher mitgeerechnet, noch nicht auf 8 M. den Tag. Die Ströme des Meeres. Ja, träumen läßt sich’s gut am Meer... Es brausen aus der Tiefe her Jehovas Psalmen, und es zieht Zum Grunde des Sirenenlied, Hans Bergmann. Der Kreislauf beschränkt sich nicht nur auf das Blut des Menschen oder auf das Bargeld oder die: Wertpapiere einer Re- gierung oder einer Bank. Der Kreislauf ist der wesentliche Faktor, der überall in der Natur sichtbar ist. Das Netzwerk der Ströme ist das Lebensblut des Landes, der Winde, der Atmosphäre und der Strömungen des Ozeans. Langes Stehen im Schnee führt den Tod herbei, weil der Blutumlauf im Körper gehemmt wird; so ist Umlauf irgendeiner Art zur Erhaltung der Elemente der Natur, der sozialen wie der physischen, notwendig. Der Mensch stirbt, wenn der Blutumlauf aufhört. Das Land würde ähnlicherweise sterben, soweit es sich um die Bewohnbarkeit und die Anbaufähigkeit handelt, wenn die Flüsse zu laufen aufhörten. Die Luft würde in ähnlicher Weise verderben und uns keinen erfrischenden Atem mehr liefern, wenn die Winde aufhören und die Zyklonen nicht mehr die Atmosphäre reinigen würden. Der Ozean würde ohne seine Strömungen bald sterben, und seine Oberfläche sich mit toten Fischen und mit abgestorbenen Formen des Tierlebens bedecken. Unsere Erde wird so lange bewohnbar bleiben, als diese unendlichen Methoden des Kreislaufes in Tätig- keit bleiben; und wenn diejenige Kraft, die wir Schwerkraft nennen, die Himmelskörper nicht mehr in ihrem. Lauf erhalten wird, so wird der Untergang des Weltalls besiegelt werden. Die Ozeane, die drei Viertel der Erdoberfläche einnehmen, befinden sich nie in absoluter Ruhe. Von den Polen bewegt sich das Wasser an gewissen Stellen gegen den Äquator und führt Eisberge mit sich, die in der tropischen Sonnenwärme allmählich 62 Dr. Wiese, Das Meer. schmelzen. Andererseits bewegt sich das Wasser vom Äquatorial- meer gegen die Pole, und zwar in Form von warmen Strömungen, die sich dadurch, daß sie in die Eisregionen dringen, nach und nach abkühlen. „Die Strömungen sind also in Wirklichkeit nichts anderes“, wie Elise Reclus sagt, „als die sich fortbewegenden Ozeane, durch die das Wasser jedes einzelnen Meeres nach und nach in alle Gewässer der Erde gebracht wird. Jedes Tröpfchen ändert in den Untiefen der Meere beständig seinen Platz. "Es sinkt bis an den Meeresgrund oder steigt bis an die Öber- fläche, es bewegt sich vom Äquator zum Pole oder vom Pole zum Äquator und durchläuft so alle Regionen des Ozeans. Keine größere Meeresströmung zeigt in ihrer äußeren Kontur dieselben Abweichungen wie die Küste des betreffenden Meeres. Während sich die meisten Meeresufer dem Auge des Beschauers als eine stete Aufeinanderfolge von Vorgebirge und Bucht darbieten, sind für die Meeresströmungen die langen regelmäßigen Kurven maß- grebend; deshalb gibt uns die äußere Gestalt der Strömungen nur ein ganz allgemeines Bild von jenen Ufern, die sie berühren. Jene Gewässer, die in ihre allgemeine Kreisbewegung nicht hinein- grezogen werden, bleiben aber auch nicht vollkommen ruhig. Auch sie haben ihren Kreislauf, der seinen Impuls von der großen Meeresströmung empfängt.“ Die Meeresströmungen, diese mächtigen und sich stets be- wegenden Wasserstraßen, werden voın Seefahrer ausgenutzt, um den Lauf der Schiffe zu beschleunigen. Sie bringen auf dem Wasser schwimmende Gegenstände, sowie gewisse Samen bis an die fernsten Küsten. Man kann sagen, daß ihre Wirkung in der Natur eine enorme ist. Sie graben auf dem Meeresgrunde neue Tiefen und bewirken dann die Ablagerung gewisser Sedimente; sie halten die Homogenität der Zusammensetzung und des Salz- geehaltes in der flüssigen Menge aufrecht, und endlich, was von besonderer Wichtigkeit ist, .haben sie einen ungemein großen Ein- luß auf das Klima. Die auffallendste Erscheinung beim Meer ist die beständige, horizontale Bewegung seines ÖOberflächenwassers, das an vielen Orten ganz bestimmte Richtungen einschlägt. Diese großen Meeresströme sind nun viele Jahre lang untersucht worden, und unsere Kenntnis derselben nähert sich einem Punkte, über den hinaus ein großer Fortschritt für alle Zeiten sehr zweifelhaft ist, N ze zu une As I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 63 mit Ausnahme kleiner Einzelheiten. Obwohl nämlich ohne Zweifel die Gewässer in jedem größern Bezirk im allgemeinen sich immer in derselben Richtung bewegen, ändern sich die Geschwindig- keiten, die Grenzen der verschiedenen tieferen und seichten Strömungen, hauptsächlich infolge der fortwährenden Änderung der Stärke und Richtung des Windes. Als ziemlich sicher läßt sich annehmen, daß die erste bewegende Kraft des Oberflächen- stromes der Wind ist. Aber nicht etwa der Wind, der vielleicht, und wäre es andauernd, über die Wasserteile weht, die sich mit größerer oder geringerer Geschwindigkeit in irgendeiner Richtung bewegen, sondern die großen Windsysteme, die im allgemeinen aus derselben ungefähren Himmelsrichtung über weite Flächen wehen. Diese Windsysteme, zusammen mit der Ablenkung durch das Land, bestimmen die hauptsächliche Oberflächenbewegung. Die Hauptpunkte der großen Strömungen können in folgender Weise ganz bestimmt und einfach erklärt werden. Die Passate geben den ersten Anstoß. Sie verursachen eine Oberflächentrift von geringer Geschwindigkeit über weite (Grebiete in derselben allgemeinen Richtung, in der sie wehen. Diese Triftströmungen treffen zusammen, vereinigen sich und drängen schließlich gegen das Land. Sie werden abgelenkt, zusammengepreßt und nehmen an Geschwindigkeit zu. Sie ergießen sich entweder durch Straßen zwischen Inseln hindurch wie in das Karaibische Meer, werden gegen das Land gedrängt und entweichen auf dem einzig mög- lichen Auswege — wie z.B. in der Straße von Florida, und bilden einen großen Meeresstrom wie den Golfstrom — oder sie werden, wie im Falle der Agulhasströmung und der starken Strömung, die längs der Sansibarküste nördlich läuft, einfach gegen das Land angedrängt, von ihm abgelenkt und fließen mit vermehrter Geschwindigkeit die Küste entlang. Diese schnellen Ströme ver- lieren sich endlich scheinbar inmitten der Özeane, aber sie erzeugen ihrerseits wieder langsamere Bewegungen, die beim Erreichen seichtern Wassers oder, wenn sie Land antreffen, aufs neue zu deutlichen Strömungen werden. : Entsprechende Verhältnisse finden wir an der Westseite des Stillen Ozeans wo die japanische Strömung in ähnlicher Weise entsteht. Die Tatsache, daß wir an allen westlichen Ufern der Welt- meere, wohin die Passate wehen, die stärksten Küstenströmungen ALQVATORTAL AEDVATORIAL- Dr. Wiese, Das Meer. et WENDÄHREIS Ar ——— — Grenıe dauernder menschlicher Wohnsilxe. 04 f3 BP RE TE I SE 4 ı A TR ALT / N \ Eu 7 wer u LE LELSER Treibeaisgrenze. 9 30 Ts SESAB — 2 ER = (IR an 1, ng } V GAR - 92. 4 x Em eu N OSUm = be AERDATORT N BF IR RT EEE IN ot So 2. = r TE RR ea x (AT N ee PERHERE / d EIAL. ar A - nt \ \Ado RR Pu ERS =———— ED ) » Mb 5 x I EN ! 5 ! ZA DE | as ee Er = Ar o r = m ei „+ wes”” | | | a N En SE en + Ina k NEE 1 a en SE POLARKREIS —TN - 30 60 90 120 150 Zub nene Oetradegrenze ne [almengrense Die Strömungen des Meeres. ZN = | | 30% NORQDL\WENDEHR - e € . 0 WORD- = 3 Y) [) I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 65 finden, genügt beinahe allein schon für den Beweis des Zusammen- hangs beider. Die westlichen Winde, die in hohen nördlichen und südlichen Breiten vorherrschen, kommen in zweiter Linie als die Erzeuger großer Strömungen in Betracht. In einigen Fällen nehmen sie der Lage des Landes entsprechend die Arbeit der Passate wieder auf und setzen die von diesen begonnene Be- wegung weiter fort; in andern sind sie selbst die Ursache großer Bewegungen des Wassers. Verglichen mit dem großen Kreislauf aus dieser Quelle, ist die Wirkung der Unterschiede in Temperatur und spezifischem Gewicht unbedeutend, obwohl auch sie tätig sind, besonders beim langsamen Kreislauf in den untern Schichten und in größerem Maße bei der Mischung des Wassers in der Tiefe in senkrechtem Sinne. Kein Tropfen des Meeres ist auch nur für einen Augenblick in Ruhe, auch nicht in der größten Tiefe. In dem großen Ozeanbecken sind sechs Stromkreise vorhanden, die in der Weise symmetrisch an den Äquator angelagert sind, daß der erste Stromkreis zwischen 0° und 10°, der zweite zwischen 10° und 50°, der dritte 50° und 80° verläuft, und zwar auf den beiden Halbkugeln in der gleichen Richtung. Von diesen Strömungen sind besonders diejenigen bemerkens- wert, die den Austausch des warmen Wassers am Äquator mit dem kalten Wasser der gemäßigten Breiten und der Polarmeere vermitteln. So verläuft auf der nördlichen Halbkugel an der linken Seite der Ozeane eine warme Strömung’ nach Nordosten. Als solche kennen wir im Atlantik den Golfstrom, im Pazifik an den chinesischen und japanischen Küsten den warmen Kuro-Siwo-Strom. Dagegen dringt auf der südlichen Halbkugel rechts eine kalte Strömung nach dem Äquator zu. Wir finden dieselbe wieder in dem kalten Strome, der längs der Südwestküste von Afrika bis gegen die Kongomündung vordringt, und in der Westwindtrift, die die süudamerikanische Westküste von Chile bis nach Peru bespült.)) Unsere besondere Aufmerksamkeit verdient der Golfstrom, der zuerst von Franklin mit diesem Namen belegt worden ist. Wir können ihn nicht besser schildern als es durch Robert Blatchford in der bekannten englischen Wochenschrift „Clarion“ geschehen ist. Er beschreibt eine Fahrt durch den Golfstrom in geradezu poetischer Form. „Für uns ist der Golfstrom“, sagt Blatchford, I) Im übrigen vgl. man in bezug auf Benennung und Lauf der Strömungen die Karte. Dr, Wiese, Das Meer. 5 66 Dr. Wiese, Das Meer. „gewöhnlich nichts als ein geographischer Ausdruck, ein Wunder der See, das irgendeinen Zusammenhang mit dem Wetter hat. Aber der Golfstrom ist die Glorie des Ozeans, das Allerwunder- vollste in dieser wundervollen Welt. Und wie schwach das klingt! Der Golfstrom ist eine Art Fluß im Ozean. Ein blauer Fluß in einem blauen See. Er kommt vom Kap her und schwingt als die südatlantische Strömung um die Westküste von Afrika herum; dann geht er den Äquator entlang westwärts bis zum Golf von Mexiko, wo er umspringt und nun als Golfstrom die Küste von Florida nordwestlich grüßt. Nördlich von den Azoren teilt er sich in zwei Ströme. Der eine, der kleinere, fließt nach Norden, der englischen Insel zu, der breitere wirbelt herum und fließt nach Süden, umarmt die Azoren, Madeira, die kanarischen Inseln und löst sich schließlich bei der großen Dahomeybai im Ozean auf. So ist denn der Goltstrom ein ungeheurer Wasserschwall, der Tausende von Meilen lang von der tropischen Sonne erwärmt wird und dann Wärme, Gesundheit und Farbe mit seinen Wellen bringt und trägt. Man kann in ihm von den Azoren nach Jamaika segeln oder von Madeira nach den kanarischen Inseln. Ich habe beides getan. Ich bin im Golfstrom Tag auf Tag gefahren, ich habe Stunde um Stunde bei Tag und bei Nacht in das Angesicht dieses Wunders gestarrt, habe versucht, Worte und Ausdrücke zu finden, die stark und malerisch genug wären, von seiner Schönheit eine blasseAhnung zu geben; undich fühle, daßkeine Feder es zutun vermag. Der Ruhm des Golfstromes ist seine Farbe. Wer nicht das Glück gehabt hat, diese Farbe zu sehen, diese lebendige, erstaun- liche und erschauernde Farbe, nie kann der wissen, was das Wort ‚blau‘ wirklich bedeutet. Es gibt kein Blau, das dem Blau des Goltstroms wirklich gleichkommt. Nichts läßt sich mit ihm ver- gleichen. Es reicht von jenem reichen, lebhaften, lebendigen Blau, das schwarz ist, bis zu jenem glänzenden, unbeschreiblichen, blen- denden, unfaßbaren Azur. Es ist ein überperfektes Ultramarin in all den Tinten und Schatten der Himmelsfarbe; und alle diese Tinten und Schatten leben ; leuchtend, flammend, intensiv glühend, flimmernd, sprühend, blitzend, sich gegenseitig überbietend, über- schattend, verändernd, durchleuchtend, unerhört blau, blau, blau. So rollt das azurne Wunder Tausende von Meilen in seiner majestätischen Großartigkeit dahin. Seine Farbe ist so reich, so mächtig, so süß, daß wir sie nicht nur sehen, wir scheinen sie zu a ee er ee «ee ee Dr“ wei I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 67 schmecken, zu fühlen. Ihre Schönheit ist so intensiv, daß sie uns ans Herz zu greifen scheint, daß sie uns Iränen in die Augen drängt und die Schleier unserer Seele beben macht. Sie füllt uns mit seltsamen, dumpfen Ahnungen. Unter dem tiefblauen tropischen Himmel, im verschwenderischen Strahlenglanz der tropischen Sonne, mit Millionen glühender Funken gleich Brillanten, dem weichfarbigen Schaum, Wirbeln von Blau, purpurnen und violetten Schatten und Widerscheinen wie von blauen Feuern — drängt dieses Bacchanal von Farben und Märchen, wie Formen voller Majestät vorwärts und bringt Gesundheit und Freude und Schönheit den Menschenkindern. In seinen mächtigen Wogen ist jede Nuance des erhabensten Blau: das Blau des Pfauenhalses, das Blau des Schmetterlingsflügels, das Blau des tropischen Himmels, das Blau der Türkisen und Saphire, das Blau des sommerlichen Mitternachtshimmels, das Blau des königlichen Velvet, das Blau der Hyazinthen, des Prisma und des Regenbogens und der Flamme, das Blau der Märchen und der Träume.“ Lafcadio Hearn, der den großen Golfstrom kannte und liebte, spricht von seiner Pracht: „Für mich ist der Anblick eines leb- haften Blau stets von einer vagen Gemütsbewegung des Ent- zückens begleitet. Einmal steigerte sie sich zur Ekstase, das war, als ich zum ersten Mal den Golfstrom sah. Seine magische Groß- artigkeit machte mich an meinen Sinnen zweifeln; ein fammendes Azur, als wären eine Million Sommerhimmel zu einer reinen fließenden Farbe kondensiert.“ Und er erzählt von einem Kapitän, der — welche wundervolle Idee —, die Hochzeitsreise mit seinem jungen Weibe den Golfstrom entlang machte, wie die junge Frau ein seidenes Kleid verlangte von demselben himmlischen Blau, und wie der Kapitän die ganzen Seidenladen der Welt durchsuchte, bis er die Farbe nach fünfzehn Jahren in einer Straße von Kanton fand. Wirklich, solange man den Golfstrom nicht gesehen hat und die Milchstraße dort oben, solange weiß man nicht, was Himmel und Erde sind, solange weiß man nicht, daß man.lebt. Aber, im (Golfstrom zu sein und hinaufzuschauen in das ferne Mysterium der Milchstraße und dann an Picadilly zu denken, an Shoreditch und die Minenländer, und die gelbe Presse, und das Parlament! Wie wunderbar! Wie traurig!“ an Wellen und Wogen. Eine Welle sagt zur andern: Ach, wie kurz ist dieses Wandern; Und die zweite sagt der dritten: Kurz gelebt ist kurz gelitten! K.R, Tanner. Das offene Meer in einem schweren Sturm bietet dem Menschen vielleicht die eindruckvollste Betätigung der Naturkräfte dar, die es gibt, und viele von uns haben ohne Zweifel dabei Gefühle empfunden, die, je nach der Stimmung des einzelnen, zwischen Ehrfurcht und Bewunderung bis zum reinen Hochgenuß schwankten, als sie sich zum erstenmal diesem großartigen Schauspiel gegeen- übersahen. Die Höhe, die Sturmwellen erreichen, ist noch nicht genau bestimmt worden. Abgesehen von der Schwierigkeit der Aufgabe und der geringen Zahl Leute, die sich mit ihr abgeben, wenn sie eine Gelegenheit dazu haben, kommt es nur selten vor, daß eine einzelne Person wirklich ungewöhnlich hohe Wellen zu sehen bekommt, auch wenn sie ihr ganzes Leben auf See zubringt. Wenn die Naturwissenschaft eine Erscheinung aufklären will, geht sie ihr zuerst messend zu Leibe, und so sind namentlich in der neueren Zeit viele Messungen an Meereswellen vorgenommen worden, die auch zu immerhin genaueren und zuverlässigeren Er- gebnissen geführt haben. Danach steht es jetzt fest, dal die Höhe der Meereswellen ı2 m nur selten, und ı5 m wahrscheinlich über- haupt nie überschreitet; die Angaben für die Länge der Wellen schwanken in weiterem Umfang, indem der Höchstbetrag von einigen auf 500, von anderen auf mehr als 800 m angegeben wird. Nach einem Vortrag, den Professor Laas über die Messung der Meereswellen und ihre Bedeutung für den Schiffsbau vor der „Schiffsbautechnischen Gresellschaft“ gehalten hat, beträgt die Länge Zu Ze en I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 69 der Wellen bei einem durchschnittlichen Zustand des Meeres 60 bis 14o m, ihre Geschwindigkeit ıı—ı5 m in der Sekunde und ihre Aufeinanderfolge 6—ıo Sekunden. Diese Zahlen sind immer- hin noch in höherem Grade einer Verbesserung fähig, und deshalb bleibt es wünschenswert, daß noch dauernd möglichst viele Messungen der Meereswellen angestellt werden, was allerdings vom Bord eines Schiffes aus erhebliche Schwierigkeiten hat. Zu be- stimmen sind folgende Größen: einmal die Zeit, die vergeht, bis zwei hintereinander folgende Wellenberge oder Wellentäler den- selben Punkt passieren; ferner die Geschwindigkeit oder die Stärke, die der Wellenkamm in einer Sekunde durchläuft; drittens die Wellenlänge oder der Abstand von einem Wellenkamm zum nächsten; endlich die Höhe, d. h. der senkrechte Unterschied zwischen Wellenberg und Wellental. Solche Bestimmungen vom fahrenden Schiff aus zu machen, ist, wie gesagt, sehr schwierig. Daraus ergibt sich die Bedeutung der Tatsache, daß jetzt ein neues und schärferes Mittel zur Erreichung dieses Zweckes ge- funden worden ist, und zwar in der Photographie oder, genauer gesagt, in der Photogrammetrie. Die Photogrammetrie hat sich auf verschiedenen (sebieten der Praxis als ein hochwichtiger Zweig der Untersuchung erwiesen. Wo essich besonders um die Messung von körperlichen Gegenständen durch die Photographie handelt, wendet man wohl auch den noch schärfer bezeichnenden Ausdruck Stereophotogrammetrie an. Professor Laas hat das Verfahren an Bord des großen fünfmastigen Hamburger Segelschiffes „Preußen“ auf einer Fahrt nach Chile im Jahre 1905 zum erstenmal erprobt. Die Versuche: sind durchaus geglückt, denn sie haben Aufnahmen geliefert, an denen nicht nur die Höhe und die Länge, sondern auch die Form der Meereswellen aufs genaueste zu ermitteln mög- lich gewesen ist. Es läßt sich bereits ersehen, daß die Form der Meereswellen eine andere ist, als man bisher angenommen, was auch für den Schiffsbau von erheblicher Tragweite werden kann. Wenn durch Zusammenwirken der Meeresforscher und der Schiffs- kapitäne die Bewegungen der Meereswellen erst ganz genau be- kannt geworden sein werden, dann werden auch die Schiffsbauer ihre Schlüsse mit Bezug auf die beste Bauart der Schiffe daraus ziehen. Die großen Sturmwellen pflanzen sich weithin fort. In einigen Fällen überbringen sie eine Warnung, da ihre Geschwindigkeit 79 Dr. Wiese, Das Meer. die der Fortbewegung des ganzen Sturmgebietes bei weitem über- trifft. In anderen Fällen deuten sie an, daß ein Sturm, von dem man nichts weiter sieht, irgendwo gewütet hat, möglicherweise in großem Abstand. Wenn sie über die Grenzen des erzeugenden Windes hinausgewandert sind, verlieren sie die steile Form, die sie kennzeichnet, solange sie unter seinem Einfluß stehen, und gehen in ein Wogen über, das im tiefen Wasser kaum bemerkt wird. Aber bei der Annäherung an seichtes Wasser kommen sie wieder zum Vorschein und die „Roller“, die gelegentlich an ver- schiedenen Orten in Breiten auftreten, wo niemals Stürme vor- kommen, sind anscheinend verursacht durch solche Wellen, die in viele Tausende von Meilen entfernten Gegenden entstehen. Dies scheint der Ursprung der wohlbekannten Roller bei Aszension und St. Helena zu sein, wo diese Erscheinung wegen des felsigen und der See voll ausgesetzten Landungsplatzes besonders auffällt, Andere Roller dagegen entstehen unzweifelhaft durch Erd- beben oder vulkanische Ausbrüche auf dem Meeresboden. Viele der großen und plötzlich auftretenden Wellen, die an der West- küste von Südamerika Verwüstungen und großen Verlust an Menschenleben verursacht haben, gehören hierher. Gewöhnlich hat es an Beobachtungen gefehlt, aus denen man auf den Herd der Störung hätte schließen können, aber wahrscheinlich ist bei hohen Wellen der Ausgangspunkt nicht sehr weit entfernt ge- wesen. In einem bemerkenswerten Falle lagen die Verhältnisse umgekehrt. Der Ausgangspunkt war bekannt und die Entfernung, die die entstandene Welle zurücklegte, konnte in ziemlich be- friedigender Weise verfolgt werden. Dies war der große Ausbruch in der Sundastraße im August 1883, wobei an Ort und Stelle der größere Teil der Insel Krakatau verschwand und an den benach- barten Küsten Javas und Sumatras durch die ungeheure Welle, die sie verwüstete, nahezu 40000 Menschen ihr Leben verloren. Die Aufzeichnungen von selbsttätigen Flutmessern und Einzel- beobachtungen machten es möglich, die Wellen, die von diesem Ausbruch herrührten, auf weite Entfernungen zu verfolgen. Diese Wellen hatten eine große Länge; die Kämme trafen in Zwischen- zeiten von etwa einer Stunde ein, bewegten sich mit einer Ge- schwindigkeit von ca. 350 Meilen die Stunde und waren also auch ungefähr um diesen Betrag voneinander entfernt. Die am Kap Horn aufgezeichneten Wellen waren unzweifelhaft durch den Aus- Zu N [2 2 I. Abschnitt, Das Meer und seine Erscheinungen, 71 bruch verursacht und legten 7500 und 7800 Meilen an beiden Seiten des Südpolarlandes zurück. Sie waren nur fünf Zoll (13 cm) in Höhe über dem mittleren Meeresspiegel, während die an den Plätzen in Südafrika, in einem Abstand von 53000 Meilen von der Ausbruchstelle, beobachteten Wellen ein bis zwei Fuß hoch waren, die ursprünglichen langen Wellen von unbekannter Höhe, aber vermutlich nicht über r10—ı5 Fuß (3—4'/, m). Dies ist die erste derartige Gelegenheit gewesen, die Entfernungen zu untersuchen, bis zu denen sich große Wellen fortpflanzen können; aber da eine Katastrophe wie diese im Wiederholungsfalle auch von einem ähnlichen Verlust von Menschenleben begleitet sein dürfte, wollen wir hoffen, daß zu unseren Lebzeiten keine zweite Gelegenheit sich bietet, so interessant auch die Bearbeitung der vielen Begleit- erscheinungen gewesen ist. Die Tiefe, bis zu der die Wirkung der durch den Wind her- vorgerufenen Oberflächenwelle reicht, ist durch Beobachtungen nur ungenügend bekannt. Wenn wir aber die Abdachung des Bodens in der Nähe von Land da betrachten, wo es dem vollen Einfluß des Ozeans ausgesetzt ist, dann sind wir überrascht durch die ganz allgemeine reißend schnelle Zunahme der Böschung, so- bald eine Tiefe von etwa So—ı00 Faden (5300—600 Fuß) erreicht ist. Die Wahrscheinlichkeit liegt vor, daß dies mit der Tiefe zu- sammenhängt, bis zu der die Wellenwirkung reicht, indem die kleinen festen Bestandteile von Flüssen herabgeführt oder vom Lande durch das Nagen der Brandung abgewaschen, verteilt und allmählich die Böschung hinab bewegt werden. Sehen wir uns aber Bänke in der offenen See genauer an, so finden wir sehr viele mit einer mittleren Tiefe von 30—40o Faden und die Frage entsteht, ob dies nicht die allgemeine Tiefengrenze der Macht der Meereswellen ist, bis zu der sie die ihrer Einwirkung ausgesetzten Massen zerkleinern, wenn sie einigermaßen zerreibbar sind. Natürlich hat der Mensch nach Mitteln und Wegen geforscht, um auch den Gefahren, die ihnen durch die gewaltigen Wogen drohen, ein Paroli zu bieten. Unter solchen Mitteln spielt auch die Beruhigung der tobenden See durch Öl eine große Rolle. Vielfach wird allerdings die Wirksamkeit dieses Mittels bestritten, indessen hat Karl Thiemann in einer sehr lehrreichen Studie näher ausgeführt, daß tatsächlich eine dünne Ölschicht ein ganz ausge- zeichnetes Mittel ist, um einem Schiff auf offener See Schutz gegen az Dr. Wiese, Das Meer, die gefährlichen Brechwellen zu geben. Natürlich darf man sich nicht etwa vorstellen, daß die See dadurch „glatt wie ein Spiegel“ würde: die sich auf- und niederbewegende „Dünung“ wird durch das Öl natürlich nicht im mindesten beeinflußt. Aber sie ist dem Schiffer auch sehr gleichgültig, nur die „Brecher“ fürchtet er, die weißen, sich überschlagenden Sturzwellen, und diese werden tat- sächlich durch das Öl beeinträchtigt. Die Erklärung der Sturzwellen und der Ölwirkung ist nicht so ganz einfach; das Primäre sind die langen glatten Wellen, die unter dem Einfluß des Windes entstehen. Nun setzen diese Wellen- kämme dem Winde Widerstand entgegen; er reibt sich an ihnen, es entstehen dadurch kleine Unebenheiten in der Welle; durch den Wind entstehen dann weitere sekundäre Bewegungen in der Welle, die es schließlich bewirken, daß die dem Winde zugekehrten Wasser massen über die dem Winde abgekehrte Seite herübergedrängt werden, dort den weißen Schaumkamm bilden und schließlich auf der steilen Seite der Welle jäh herabstürzen. Dadurch entstehen die gefürchteten „Brecher“, deren Ausdehnung und zerstörende (rewalt mit der Stärke des Windes in doppelter Weise zunehmen: einerseits wird die Höhe der Welle größer, der Fall also tiefer, und zweitens treibt der Wind einen größeren Bruchteil der Wasser- masse auf den Kamm und in das Wellental hinab. Dieses „Brechen“ der Wellen kann nun durch Öl beseitigt werden. Zur Erklärung dieser Tatsache sind zwei Annahmen zulässig. Man kann sich vorstellen, daß das Öl die Oberfläche der Welle derart glättet, daß sie dem Winde nicht jene erwähnten kleinen Rauhigkeiten darbietet, in die er hineinfassen kann, um so gewissermaßen der Woge das Fell über die Ohren zu ziehen; er streicht dann einfach über die reibungslose Fläche fort. Oder aber man kann annehmen, daß durch die zähe Ölschicht die Ober- llächenspannung so verändert wird, daß die Oberfläche dem Zer- reiben durch die Windstöße größeren Widerstand entgegensetzt. Beide Annahmen sind wohl richtig, und in beiden zusammen ist die Ursache des Phänomens zu suchen. Sehr viel weniger wirk- sam ist das Öl bei den Brechern der Brandung, wie sie an den Küsten sich findet. Hier herrscht nämlich eine andere Ursache vor. Die Welle wird in ihren unteren Partien durch Reibung auf dem Untergrund in ihrer Fortbewegung aufgehalten; infolgedessen rücken die oberen Partien schneller vor als die tieferen und I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 73 schlagen schließlich über sie fort: gerade wie, ein laufender Mensch, dessen Füsse angehalten werden, vornüber fällt. Dieser Vorgang wird noch verstärkt durch die unter dem Wasserspiegel zurück- flutenden Wassermengen, die ihrerseits wieder den Lauf der Wellenbasis aufhalten. Da dieses Phänomen der Brandungswellen also auf ganz anderen Ursachen beruht wie die Windbrecher auf hoher See, so liegt es auf der Hand, daß sie auch nicht durch die- selben Mittel beeinflußt werden können; gegen die rein körper- liche Reibung der tiefen Schichten kann das oberflächlich aufge- gossene Öl natürlich nicht wirken, und so erklärt sich dieser Miß- erfolg sehr einfach. Ebenso muß es natürlich bei mechanischen Hindernissen sein, die den Gang der Wogen beeinflussen, wie Klippen, Eisberge, Wracks usw. Das Öl muß also so verwendet werden, daß es die Wellen der Windseite vor dem Brechen bewahrt; es muß also auf der Wind- seite in dünner, möglichst gleichmäßiger Schicht ausgebreitet werden. Diese Oldecke braucht nur äußerst geringfügig zu sein. Eine Schicht von 64 Milliontel Millimeter soll (nach Ernst Foerster) bereits genügen, um die stärksten Brecher zu vernichten. Wichtig ist die Art des Öles. Mineralöle sind wenig brauch- bar, um so weniger, je reiner sie sind. Gereinigtes Petroleum ist überhaupt nicht zu gebrauchen. Am besten sind tierische, be- sonders Fischöle, auch Pflanzenöle sind zu verwenden. Es scheint also, als ob die geringen Verunreinigungen, die in diesen immer etwas ranzigen Olen sich finden, sehr wesentlich zu einer gleich- mäßigen Ausbreitung beitragen. Dickflüssige Öle sind besser als dünne, jedoch muß man bei niedriger Temperatur dünnflüssige Öle benutzen. Als sehr brauchbar hat sich Rüböl erwiesen. Die etwas primitive Technik der „Ölung“ besteht darin, daß man Säcke mit Werg füllt, mit Öl durchtränkt und an geeigneten Stellen des Schiffes aufhängt, am besten mit Gewichten beschwert, um ein ruhiges Hängen im Winde zu bewirken. Sie dürfen nicht den Wasserspiegel berühren und nicht zu dicht am Rumpf des Schiffes hängen. Praktisch ist auch die Benutzung der Klosett- röhren, die mit Werg verstopft und mit Öl gefüllt werden. N —— —_ Q. Wogenspiel. Ewig muntres Spiel der Wogen, Viele hast du schon belogen, Mancher kehrt nicht mehr zurück. Und doch weckt das Wellenschlagen Immer wieder frisches Wagen, Falsch und lustig wie das Glück, J. Frhr. v. Eichendorft. © 1ELO) Der Wind. Der Wind zieht seine Hosen an, Die weißen Wasserhosen! Er peitscht die Wellen, so stark er kann, Die heulen und brausen und tosen. Aus dunkler Höh’, mit wilder Macht, Die Regengüsse träufen; Es ist, als wollt’ die alte Nacht Das alte Meer ersäufen. An den Mastbaum klammert die Möve sich Mit heiserem Schrillen und Schreien; Sie Nlattert und will gar ängstiglich Ein Unglück prophezeien. Heinrich Heine. Nil Die „Hirondelle* im Wirbelsturm.') Von Albert I, Fürsten von Monaco, Das Meer, das heute zornig schäumend, Von Sturm gepeitscht, den Strand zerwühlt, Dasselbe ist's, das morgen träumend Mit leisem Kuß die Ufer kühlt. Ch. Mickwitz. Die „Hirondelle“ verließ Sankt Johann am 16, August, war bald von einem ziemlich starken Südwestwind erfaßt und verschwand in dem auf der hohen See liegenden Nebel, der bald die Linie der hohen Vorgebirge umhüllte und diese nur noch als einen durch das Dunkel dringenden Schatten erscheinen ließ. Eine dauernde Sorge bedrückt den Seemann, dessen Wachsamkeit inmitten der im Meere auftauchenden Hindernisse bei diesem doppelten Schleier von Finsternis und Nebel völlig lahmgelegt werden kann. Man weiß nie, ob sich nicht zwei Schiffe gegenüberstehen. Wohl ertönen ihre Nebelhörner, die sie gegenseitig benachrichtigen sollen, aber der Nebel lenkt gar oft den Schall ab und verursacht dadurch verhängnisvolle Irrtümer. Man weiß nie, ob ein schwim- mender Eisberg oder ein Wrack in der Nähe ist. Die schwimmenden Eisberge bewegen sich nämlich ganz geräuschlos, außer wenn ein stürmisches Meer an ihre Höhlungen schlägt und die Bogen, Säulen, Girlanden und Verzierungen, die unter dem Einfluß des südlichen Hauches zerbrechlich wurden, mit Krachen zusammen- wirft. Ein Wrack ist ein halb unter Wasser befindliches Gerippe, das kaum durch das Geräusch der Wogen oder durch einen Schaumstreifen verraten wird, ein Anzeichen, so gering wie das 1) Wir entnehmen diesen interessanten Aufsatz mit Genehmigung des Verlages dem Werke „Ein Seemannsleben‘“, (Verlag von Boll & Picardt.) 76 Dr. Wiese, Das Meer. Schaukeln windbewegter Gräser auf der welligen Oberfläche eines Kirchhofes. Eine amerikanische Zeitschrift, der „Pilot Chart“, bringt all- monatlich dutzendweise die auf dem Atlantischen Ozean im wracken Zustande angetroffenen verlassenen Schiffe zur Kenntnis. Dank dieser Mitteilungen vermag man den Zickzackkurs dieser grefähr- lichen Blöcke zu erkennen, die die Windstöße innerhalb der all- gemeinen Strömung hin und her schieben, und von denen viele zweifellos bis in die Wirbel des Saragossameeres ge- langen. Zwei Fälle unter vielen beweisen die dau- ernde Gefahr, die ein solches Wrack zu zeitigen vermag. Im Juni 1881 wurde die „Oriflamme* von ihrer Mannschaft, die das ausgeebrochene Feuer nicht bewältigen konnte, verlassen; man befand sich im Stillen Ozean, 1300 Meilen westlich von der peruvianischen Küste. Vier Monate später bemerkte der Dampfer „Iron Gate“, der von Australien nach der Westküste von Nord- amerika fuhr, auf 13° 27 südliche Breite und 127 19° westliche Länge ein Albert I., Fürst von Monaco, verbranntes und mastlos umherirrendes Fahrzeug, allem Anschein nach die „Oriflamme*. Am ı2. Februar ı882 lief auf der Insel Raroria im Pomotu- archipel ein verbrannter Rumpf auf, in dem die Eingeborenen eine Glocke mit der Inschrift „Oriflamme 1865“ fanden. Ohne jeden Zweifel schwamm dieses Schiff noch acht Monate onne Bemannung- und durchlief vom südlichen Aquatorialstrom auf diese Weise 2840 Meilen (3260 km). Ein anderes Wrack, ein gleichfalls verlassener Schooner, die I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 77 „Iwenty one Friends“, wurde zum erstenmal an der Westküste der Vereinigten Staaten, nicht weit von der Chesapeakebai, ange- troffen. Vom Golfstrom erfaßt, schwamm es weiter in nördlicher Höhe und gelangte rasch nach Osten. Es geriet hierauf nach Südost, erreichte den Golf von Gascogne und wurde dort am 4. Dezember desselben Jahres 130 Meilen von Kap Finisterre ge- sehen, nachdem es ebenfalls acht Monate lang eine Strecke von 3500 Meilen (6480 km) zurücklegte, wobei es von 22 Schiffen signalisiert wurde. Diese beiden Ausnahmefälle sind noch lange nicht so packend wie das vielleicht einzig dastehende Ereignis eines um das Jahr 1887 von Neuschottland nach New-York abgesandten Holztransportes. Der Transport wurde in einem Zyklon von seinem gewaltigen Bugsierdampfer getrennt; das Kabel riß und nahm sogar noch ein Stück vom Deck des Dampfers mit sich. Dieses ungeheure Wrack, so lang, so hoch und so breit wie ein moderner Riesendampfer, schwamm nun unbeaufsichtigt auf einem sehr befahrenen Meere, das häufig nebelig ist. Bald jedoch lösten sich diese 27000, zehn bis dreißig Meter hohen Bäume auseinander und schwammen in Gruppen kettenweise zusammengebunden umher, mehrere Monate lang die ganze transatlantische Schiffahrt beunruhigend. Man wird es niemals erfahren, wie viele Schiffe durch Zusammenstöße mit diesem schwimmenden Wald untergingen. Jahrelang bedeckten diese Hindernisse, herumkreisend, den Atlantischen Ozean, um erst später, als sie genügend vom Wasser angesaugt waren, sanft zu der tiefen Knochenstätte hinabzugleiten, wo in ungreheurer Auf- häufung die großen verschwundenen Lebewesen neben den kleinen Muscheln —, wo der Mensch aus allen Epochen seiner Stammes- geschichte und die aufeinanderfolgenden Erzeugnisse seines Genies ruhig schlummern. Die „Hirondelle“ setzte alle Segel bei, um so schnell als mög- lich in weniger gefährliche Gewässer zu gelangen. Mit ihrem durch schwere Winde und Stürme hart mitgenommenen Segelzeug, von dem täglich neue Nähte rissen, flog sie über das Meer und überflügelte sichtlich alle ihr in der gleichen Richtung begegnenden Fahrzeuge. Doch ein Schiff, das rasch die Heerstrasse der Zyklone durcheilt, muß doppelt wachsam sein; es kann von einem solchen Zyklone erreicht werden, der schneller ist, als es, oder selbst in 78 Dr. Wiese, Das Meer. einen langsameren hineinfahren, der voraus war. Die Wachsamkeit des Kapitäns ist demnach der einzige Schutz des Schiffes. Am 23. August, als der 28. Längengrad und die nördliche Breite von 49° erreicht war, schien indessen ein unange- nehmer Zwischenfall schon sehr unwahrscheinlich zu sein. In den ersten Tagesstunden frischte die Brise von Süd-Südost auf, und das von vorhergehenden Winden noch aufgewühlte Meer be- gleitete den Schooner mit länglichen Wellen, bewegten Hügeln gleich, die bei Sonnenschein den grünlichen Schatten der Wolken und während der stummen Dunkelheit der Nacht das Funkeln des sternbesäten Himmels widerspiegelten. Plötzlich stiegen hinter- einander Sturmwolken mit ihren in gelblichem und durchsichtigen Nebel sich verdichtenden Umrissen von Süden auf, während die Säule des Barometers sprungweise fiel. Dies beunruhigte aber niemand. „Vielleicht ein neuer Sturm, ein letzter Stoß nach Frank- reich hinüber; man .wird eben ein bißchen Öl auslassen!“ sagten die Matrosen und refften gemächlich die Segel ein. Wind und Himmel, die bald sehr verdächtig wurden, fesselten meine ganze, schon recht mißtrauisch gewordene Aufmerksamkeit; denn die Möglichkeit eines unheilvollen Zyklons, der über den Ozean hinwirbelte, ein aufgeregtes Meer vor sich herstoßend, dessen Wellen ineinanderdrängten, mußte von der „Hirondelle* viel ernster als jede andere Gefahr der Reise ins Auge gefaßt werden. Die Ge- lehrten wie die Seeleute sind heute einig über die Manöver, die vor- zunehmen sind, um dem Zentralgebiete eines Zyklons zu entgehen, nur fordert die Anwendung dieser Formel Ruhe und Urteilskraft, da besonders die kleinen Fahrzeuge großen Gefahren dabei aus- gesetzt sind. Seitdem unsere Amerikafahrt beschlossen war, studierte ich daher diese Frage. — Ein ausgezeichneter Kapitän, unter dem ich lernte, sagte mir eines Abends im Antillenmeer, wo gerade stürmisches Wetter die Hindernisse einer schweren Überfahrt zu vermehren drohte: „An Bord muß der Offizier nicht nur zu jedem Kampf bereit sein, sein Geist muß sich auch im voraus einen Weg durch die Verkettung möglicher Vorfälle bahnen, denn hier treten die Ereignisse plötzlicher als sonst im Leben in Erscheinung, und die begangenen Fehler können leicht zu ernsten und unausbesserlichen Folgen führen. Während Ihrer Wachstunden als Offizier und später während Ihrer schlaflosen Nächte als Kapitän gewöhnen Sie Ihren Geist an die Voraussicht I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 9 möglicher Unfälle und an die Prüfung dessen, was in diesem oder jenem Falle zu tun nötig wäre. Eine solche Gewohnheit wird die Schnelligkeit des Erfassens der Situation und die an Bord so häufig notwendig werdende rasche Entscheidung begünstigen, für die Sie die Mittel vorbereitet haben werden.“ Die Erinnerung an jene Worte hat während der an Abenteuern so reichen Kampagne, welche die „Hirondelle* im Jahre 1887 durchgemacht hat, auf mein Handeln bestimmend eingewirkt, und das blitzartige Eintreten der Ereignisse vom 23. August fand daher unsere Abwehr vor- bereitet. | Das Schiff steuerte im richtigen Kurse, als die Vorläufer des Orkans durch heftige Böen aus Süd-Südost und durch tolle Schwankungen des Barometers bei einem seltsam verstörten Himmel einsetzten. Es war acht Uhr morgens; man fuhr mit der bei bewegtem Meere möglichst größten Geschwindigkeit weiter. Bald wich der Wind nach Süden; auf einem gelben Firmament vermehrten sich die Sturmwolken, sie kamen immer niedriger, und man glaubte, daß sie bald die Spitzen der Masten berühren müßten. Eine be- sondere Störung, deren Wesen uns unbekannt ist, übt auf die lebende Materie zuweilen bei der Annäherung intensiver Er- schütterung des Planeten einen warnenden Einfluß aus. Eine ge- heimnisvolle Woge flutet dann durch den menschlichen Organismus, welche die Sinne verwirrt und die Urteilskraft beunruhigt. Der Zyklon umwirbelte sehr bald unseren Schooner, den ein düsteres Schicksal dazu verurteilt zu haben schien, seine Laufbahn zu beschließen, und mein Herz war sehr bedrückt, als ich den un- ergründlichen und geheimnisvollen Ereignissen gegenüber, die unserer harrten, meine letzten Befehle erteilte, um bis zum Ende zu kämpfen. Werden die auf der „Hirondelle* wohlbekannten Maßnahmen, wie die Aufrichtung eines Schoonersegels, die Be- setzung der Pumpen, die Verschließung der Luken, das Festbinden der nötigen Mannschaften auf Deck und das Ausgießen von Öl imstande sein, eine Katastrophe zu verhüten? Ich glaubte es nicht, denn der Wind, das Wasser, die Wolken sahen aus, als ob sie der Tod selbst geführt hätte; aber nicht jener Tod, bei dem eine teure Hand seinem Opfer die Augen zudrückt, sondern jener, ‘der den Schauer der letzten Stunde mit einer ganzen Kette von Schrecken 80 Dr. Wiese, Das Meer. erhöht. Schon sah ich die See zum letztenmal über das Deck springen, diese einzige Zufluchtsstätte zermalmen und unter dem Geschäume riesiger Wellen die zwanzig‘ Leichname meiner Leute fortschwemmen. ... Es war Mittag; mit einer uns allen unbekannten Wut raste der Sturm über uns. Jeden Augenblick meinte man, daß er den höchsten Grad erreicht habe, und doch wuchs er noch von Stunde zu- Stunde. Die von solchem Winde zerrissenen Wolken erfüllten die Luft mit einem kupferfarbenen Nebel, und eine gelbe Finsternis herrschte. Man konnte nicht sagen, ob es regnete; aber ein salziger Wasserstaub flog schneidend in die Gesichter. Dies ver- ursachten die vom Wind hingewehten Wellenkämme, während ihre heftig abprallende, höhlenartig durchwühlte Masse durch ein sprühendes Weiß den Weg der Böen andeutete. Es sträubten sich die hohen, überstürzenden Wogen, furien- gleich mit tosendem Lärm hintereinanderjagend, häufig noch von dem schäumenden Zusammenbruch einer noch mächtigeren Welle übertönt, die den Raum mit einer Detonation erfüllte, der einem bis ins Mark drang. Wie Sterbegeläute ertönte dieses Tosen meinen Ohren, und ich horchte danach, so wie ein Sterbender vielleicht das letzte Echo des Weltenlärms zu erhaschen sucht. Gegen fünf Uhr tobte der Sturm in seiner ganzen Kraft, was ich nicht nur durch mein eigenes Urteil feststellen konnte, da die stärksten Empfindungen immer weniger abschätzbar sind, sondern durch den Stand des Barometers, den ich, wissend, wie kostbar solche Dokumente für die Wissenschaft sind, mit großer Sorgfalt beobachtete. Der Schooner bäumte sich vor dem Anstoß der Wogen hoch auf und fällt dann von ihrem Rücken tief in den Abgrund hinunter; und manchmal, wenn sich eine dieser Wogen mit ihrer ganzen Wucht auf uns stürzt und die folgenden Massen auf zehn Sekunden verbirgt, meint man, daß alles vorüber sei. Jeder an Bord hält sich dann an allem, was die krampfhaft gewundenen Arme nur erfassen können, an Ankerbetings, Lichttraljen und Tauen. Mit dem donnernden Grekrach eines zusammenbrechenden Baues stürzen diese Wellenmassen über das Vorderteil, fegen über das ganze Schiff weg, erschüttern es und legen es nieder. Eine zum Himmel aufstrebende Wassergarbe fällt auf die Masten, das Takelwerk und Fa Als au De u u rn u nn iR tt te A er ee. de ee “ri. Deere I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 8ı die Segel, und eine Woge streicht von einem Ende des Decks über das andere, alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wie ein reißender Strom mit sich fortführend. Zuerst halberstickt von diesem überströmenden Wasser, fühlt man doch bald, daß der Schooner den nach allen Seiten ins Meer abfließenden Wassermassen noch Widerstand leistet. Die Augen folgen in der Angst, einen von uns mitgeerissen zu sehen, fieberhaft den rückweichenden Riesen, und das Ohr lauert auf einen Schrei, während die Schläge des Herzens rascher hämmern. Einmal neigt sich der Schooner derart, daß das große Boot die Wellen berührt, wobei es zunächst den Vorderkran mitreißt und dann, mit Wasser gefüllt, auf die nachgebenden Gurten fällt. Das Ganze hängt jedoch noch am Schwungseil und stößt bei jeder Bewegung des Schiffes an dessen Flanken. Die nachfolgenden Stöße des Meeres drohen das Unheil vollständig zu machen, und unser demoliertes Boot wäre ganz zertrümmert worden. Da wollen wir trotz alledem dieses wichtige Hilfsmittel retten; der Obermaat und die Wachtmannschaften stürzen herbei. Die einen ziehen das Schwungseil an, damit die anderen, die auf die Relings und auf die ersten Wewelings des Fockmastes geklettert waren, den Kran wieder an seinen Platz bringen können. Da steht nun auf einem sich fortwährend ins Meer tauchendem Punkte ein Häuflein Menschen, das Wunder leistet, um dem Zyklon das erste Bruch- stück ihres Schiffes streitig zu machen. Nach zwanzig Minuten gefährlicher Anstrengung ist die Ein- holung des Bootes gelungen, doch scheint neues Unheil bevor- zustehen, und für den Fall einer schweren Havarie, durch die wir veranlaßt werden konnten, uns vom Meere treiben zu lassen, bringt man am Fockmast ein kleines Sturmsegel an, das festeste, über das wir verfügten, und zum Aufrollen ganz bereit. Die Nacht bricht an. Alles, was nur möglich, war getan, und jeder trachtet danach, ein günstiges Symptom ausfindig zu machen, denn die Widerstandskraft kann gegen einen solchen Ansturm nicht mehr lange aushalten. Aber nichts. Unter dem Dämmerschleier, der sich nach und nach auf die gegen uns entfesselten Gewalten niederläßt, erkennen unsere von Wind und Salz brennenden Augen noch immer den weißen Schaum der Wellen. Dr. Wiese, Das Meer. 6 82 Dr, Wiese, Das Meer. Nun war es völlig Nacht, und die in bläulichem Phosphor- glanze sich brechenden Massen erschienen wie Seeungeheuer, die auf dem Meere umherschleichen, um schneller die Opfer des Sturmes erfassen zu können. Sie werfen die Myriaden Tierchen, die ihnen den Lichtschimmer verleihen, auf das Deck, und lassen auf allem, was sie berühren, tausend funkelnde Flitterklümpchen, deren Glanz bald nachläßt und dann ganz verlöscht, wenn das Meer sie nicht wieder sofort zurücknahm. Wirft sich eine Woge auf das Schiff, so sprüht eine Feuergaarbe auf und hüllt Mast und Segel in ihren fahlen Schimmer. Um acht Uhr wechselt die Wache, und an der Luke der hinteren Leiter, die sich einen Augenblick für sie öffnet, erscheinen sechs Mann. Mit ihren großen Stiefeln, ihren Weachsleinwand- röcken sind diese braven, strammen und schwerfälligen Leute kaum wiederzuerkennen. So gut sie können, suchen sie, bis zum Knie im Wasser watend, bei Schwankungen ausgleitend und sich in der Dunkelheit nach Möglichkeit festhaltend, ihre Posten einzunehmen. Kaum werden einige Worte gewechselt, und die abgeelösten Mann- schaften gehen wassertriefend ab, um einen zweifelhaften Schlaf zu suchen, den die Erschütterung des Schiffes unaufhörlich unter- brechen muß. Aber dennoch müssen Körper und Geist ausgeruht werden, damit die Leute vier Stunden später wieder vor die Bresche treten können. Das sonst so lachende und freundliche Innere des Schooners zeigt heute gar seltsame, schaurig-malerische Bilder. Wahrlich, wenn uns diesmal der Tod fortholt, so müssen wir ihm Gerechtig- keit widerfahren lassen, denn im Innern wie außerhalb des Schiffes macht er seine Sache großartig und bereitet einen Schauplatz vor, der nicht gewöhnlicher Art ist. Beim Laternenscheine — die Lichttraljen sind mit Linnen und Decken verdichtet — ergeht über das gelockerte Deck. eine un- aufhörliche Überschwemmung, die bei jedem neuen Wellenschlage zur Sintflut anwächst. Das Geräusch des Wassers im Innern, das Klatschen der über unserem RKopfe hinrollenden Wogen und der dumpfe Lärm der von außen an den Schiffsrumpf aufprallenden Wellen vereinigen sich zu einem wirren Getöse, das uns den be- vorstehenden Untergang anzukündigen scheint. Nahe an der Hintertreppe inmitten einer Anzahl für den Fall einer Havarie vorbereiteter Werkzeuge schlummert ein zusammen- I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 83 gekauerter Mann ganz sorglos; dreißig‘ Jahre auf dem Meere ver- bracht, haben ihn abgestumpft. Ruhig geht er dorthin, wohin man ihn befiehlt, führt den Wellen, dem Winde, der Gefahr zum Trotz das Notwendige aus und kehrt wieder in seinen Winkel zurück, nachdem er dem Meere noch einen ärgerlichen Blick zugeworfen. Sobald wird er ja seine Hängematte nicht aufsuchen können! Dann setzt er sich hin, um die Gegenstände wieder zu reinigen, die er eben naß gemacht hat, bloß um die Zeit herum- zukriegen. Ein anderer, eine „Landratte“, die sich aber rasch ein- gelebt hatte, sieht wohl ein, daß etwas Besonderes vorgeht. Er sagt sich, den ganzen Tag hat man keinen Tisch gedeckt und nun, da die Nacht angebrochen, legt sich niemand nieder. Zum Teufel dieser Müßiggang, denkt er und öffnet sein Proviantfach, über das er zu schalten hat, und fängt an, Zucker zu zerkleinern und Rationen vorzubereiten, um für morgen vorzuarbeiten. Sicherlich haben unsere Mahlzeiten die über die Ereignisse des Tages waltende Harmonie nicht gestört, und die nervöse Ab- spannung trug dazu bei, daß wir mit Geringem gesättigt wurden. Überdies funktionierte der Herd durchaus nicht. Gegen Abend versuchte man dennoch, etwas zu kochen, und in der nur halb erleuchteten Mannschaftsstube schwankten zusammengekauerte Gruppen vor ihrem Eßtopf, ohne daß es ihnen immer gelang, diesen vor dem eindringenden Wasser zu retten. Eine kleine Herzstärkung, die mabvoll verteilt wurde, entsprach besser den durch die fortwährenden Überflutungen hart mitgenommenen Leuten, die ihren Nervenwiderstand von Stunde zu Stunde ver- längern mußten. Im Salon herrschte völlige Enthaltsamkeit; dieser bot übrigens mit seinem Durcheinander von Büchern und Papieren und den auf den aufgeweichten Teppichen hin und her rollenden zerbrochenen Stühlen einen phantastischen Anblick. Satan, der arme Hund, der sonst so fröhlich auf Deck herum- sprang, sitzt da ganz ängstlich und erregt und hält sich, so gut es geht; wenn der Boden unter seinen Füßen zu schwinden scheint, klammert er sich an, .duckt sich nieder und läuft die Stufen empor, um aufs Geratewohl zu entfliehen, kehrt aber bald, von dem Lärm draußen erschreckt, wieder zurück. Heulend und seufzend weiß er nicht mehr wohin, wenn das Wasser von der Decke herabrieselt und den Boden bestreicht. Sein Körper zittert, 6*F 84 Dr. Wiese, Das Meer. seine Zähne knirschen. Er brauchte zwei Tage, um sich zu beruhigen, und die Woche darauf verfiel er in Krämpfe. In der Nacht änderte sich das Bild nur in seinen Farben und Schatten; man brachte aus irgendwelchen Geräten die roten und grünen Situationslaternen an, um sie jeden Augenblick anstecken zu können, falls sich irgendein Schiff zeigen sollte, da sie auf ihrem gewöhnlichen Platz: nicht halten konnten. Bei einem solchen Wetter, das die Schiffe fast unlenkbar macht, sind alle Manöver zur Vermeidung eines Zusammenstoßes sehr mißlich. Gegen Mitternacht ließ eine merkliche Besserung des Wetters in uns die Hoffnung wach werden, daß das Unheil, das einige Stunden lang unmittelbar bevorstehend erschien, vielleicht doch vermieden werden könnte. Doch erschien dieser Hoffnungs- schimmer, der sich rasch unsere Seelen eroberte, immer noch hinter einem düstern und ungewissen Schleier, da wir wußten, daß ein derartig erregtes Meer nur langsam fallen könne. Und in der Tat warfen noch bei Tagesanbruch die furchtbaren Wellen ihre glänzenden Wassermassen auf, die mir vorhin wie ein Leichentuch erschienen waren. Aber eine neue Morgenröte, zwar noch so zweifelhaft und düster wie die vom 24. August, breitete über unsere geängstigten Herzen einen stärkenden Tau. Schon floh die Nacht und nahm mit ihren geheimnisvollen Schatten das Furchtbarste in diesem drohenden Naturspiele mit sich. Für diejenigen Wesen, für die das Licht etwas Belebendes hat, öffnet die Rückkehr der Sonne neue Energiequellen, sie ruft neue Kräfte im Kampfe um das Dasein wach. Wenn daher der Seemann das Ende einer furchtbaren Nacht fühlt, die ihm wie ein für immer geschlossenes Grab erschienen war, so richtet er unauf- hörlich sein durch Wachen abgezehrtes Gesicht gen Osten. Nach der Zyklonentheorie mußte die „Hirondelle“, da sie ab- seits vom Zentrum und außerhalb seiner Linie war, den Wind von hinten nehmen, der außerdem die Fahrt begünstigte. Um aber dieses Manöver vornehmen zu können, mußte das Schiff einen Augenblick den Wellen, von denen noch so manche gefährlich werden konnte, seine Breitseite zukehren. Es lag da eine letzte Gefahr vor uns, die ich soviel wie möglich zu verringern be- müht war. K 4 > I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 85 Nachdem ich meinen Plan gefaßt, rief ich die Obermats, um, ihre besten Ansichten zusammenfassend, die Bestimmungen zu treffen, die imstande wären, den Erfolg dieses Manövers, das uns bald aus unserer Lage herausbringen mußte, zu sichern. Vor allen Dingen mußte so schnell wie möglich umgekehrt werden. Die Mannschaft wurde so verteilt, daß sie auf den ersten Befehl das Schoonerseegel in demselben Moment einziehen konnte, wo das Vorstagsegel aufgezogen wurde. Man setzte das schon vor- aus am Fockmast klargemachte viereckige Segel aus, sobald es vollstehen konnte. Die Kompaßuhr, die seit dem vorhergehenden Tage so oft befragt wurde, zeigte auf fünf Uhr, als ich, ein kurzes Abflauen des Windes benutzend, abhalten ließ. Fast augen- blicklich drehte sich die „Hirondelle“, von den Klüversegeln ge- stützt, während das Schoonersegel gesetzt wurde, und nahm eine Zuversicht erweckende Geschwindigkeit an. Eine große Menge Öl, die seit Beginn des Manövers aufs Meer gegossen wurde, hat vielleicht dazu beigetragen, die Wellen für den Augenblick unschädlich zu machen. Wir liefen jetzt vor dem Sturm her, der rasch abnahm, und die großen Wellen, deren Andrängen gegen die Seitenwand des Schiffes dieses vorhin noch aus den Fugen bringen konnte, rollten ihre Brandung unter sein fließendes Hinterteil. Die Seevögel kamen wieder herbei, um die Wirbel des Kielwassers zu unter- suchen, und bettelten mit ihrer schreienden Stimme. Ganze Trupps von Walen tauchten wiederholt aus den Fluten ihre schwarzen Körper hervor, von denen dann das Wasser wie von Klippen abfloß, und ihre zylindrischen Schädel waren, da sie ganz nahe an der bewegten Öberfläche schwammen, bei jeder sich überstürzenden Welle vollständig zu sehen. Licht und Leben kam allenthalben wieder zum Vorschein und zerriß den schaurigen Mantel, unter dem wir schon die Nähe des Todes zu fühlen gewähnt. Den Qualen des Tages, der uns der letzte zu sein schien, folgte das Vertrauen in die Zukunft und die Freude an den so hart erkämpften Stunden der Gegenwart. Die würdige Stille und Ruhe, die meine Seeleute während dieser schwersten Krise ihres Lebens beobachtet hatten, machte zunächst einer Aufwallung des Stolzes über den kleinen Schooner Platz, der aus einer Prüfung, die so oft die größten Fahrzeuge vernichtet, schadlos hervorgegangen war. 86 Dr. Wiese, Das Meer. An diesem Tage schien die Sonne nicht, aber als die Nacht hereinbrach und ich nach vorwärts, weit zu den Küsten Europas hinüberblickte, bis ins Innerste durch eine Flut bewegter Erinne- rungen erschüttert, wie sie nach entschiedenen Krisen über uns kommen, da erglänzte in der ersten Wolkenlichtung ein Stern. Über dem leeren Horizont nahm er gar bald die Züge eines holden Antlitzes an, den Ausdruck eines Frauenherzens, das in gefahrvollen Stunden über denjenigen wacht, den es liebt, und meine Einbildungskraft berauschte sich in Genüssen, die durch die kaum überstandenen Beklemmungen nur an Intensität zunahmen, | — (EEE iM ji ii iM iM IiMMEMMMEMEMEE ji iM SEE 12; Im Sturme. Nur dunkle Nacht, wohin ich spähe, Die Brandung heult am Fels empor, Es droht ein Riff mir in der Nähe, Weh’ mir, daß ich die Bahn verlor! Doch sieh! Dort steigt vom Licht umflogen Ein Kreuz als Leuchtturm aus den Wogen. Ach komm, mein erstgeborner Bruder, Du sturmerprobter Steuermann! Ergreife du für mich das Ruder, Bevor mir Mut und Kraft entrann, Und laß in diesen wilden Wellen Mein armes Schifflein nicht zerschellen. Du nahst — ein Wort! Der Sturm muß schweigen, Weit hinter mir liegt Klipp’ und Riff; Und wie die Wogen sanft sich neigen, Durchfurcht die stille Flut mein Schiff; Im Osten graut der Morgen wieder, Und du. — blickst segnend auf mich nieder. Julius Sturm, — On — 0 = = = 3 04 2 3 = 0 3% BEENLENFERFERRNERNIEER LEN ENTE 303 No TITER 13. Nach dem Sturm. Nach dem Sturm am Himmelsrande Schwebt der Mond um Mitternacht; Langsam, schimmernd her zum Strande Rollt die Flut und brandet sacht. Ihre dumpfen Schläge mahnen An ein Herz, das müde pocht; Keine Spur mehr läßt dich ahnen, Welch ein Chaos hier gekocht. Sagt, wohin dies wilde Schwellen Jauchzender Titanenlust? — Wer begreift euch, Meereswellen ? Wer begreift dich, Menschenbrust ? Emanuel Geibel, 28 eh I4. Unterseeische Vulkane. Du zeigst mir ew’ge Schöpferkraft, Die rastlos aus sich selber schafft, Stets neue Lebenswellen treibt, Und immer doch die alte bleibt. F. v: Bodenstedt. Unter denjenigen Gebieten der Geologie, auf denen die mo- derne wissenschaftliche Forschung in den letzten Jahrzehnten ganz gewaltige Fortschritte zu verzeichnen hat, nimmt der Vulkanismus vielleicht die erste Stelle ein. Nur sehr wenige Naturerscheinungen auf Erden gibt es, die geeignet sind, den menschlichen Geist in höherem Maße anzuregen als die Tätigkeit der Vulkane und als die Frage nach ihrer Entstehung. Vollends in Tagen, wie die Gegenwart sie gebracht hat, in Zeiten, wo die geheimnisvollen Kräfte der Unterwelt wieder einmal, wie schon so oft, plötzlich und unvermutet blühende Städte vernichtet, reichgeeseginete, frucht- bare Landstriche versengt haben und ganze Inseln dem Unter- gange und der Vernichtung durch die brennenden Gewalten des Erdinnern geweiht schienen, mußte mehr und mehr die Frage nach dem Warum und Wie dieser Dinge in den Vordergrund sich drängen und der Geologe mit ganz besonderer Vorliebe und erhöhtem Eifer sich der dankbaren Forschung auf diesem Gebiete zuwenden. Ob- wohl wir nun interessante und wertvolle Studien über die Vulkane des Festlandes der geologischen Wissenschaft verdanken, so ist doch unser Wissen bezüglich der unterseeischen Vulkane, besonders deren Ausbruchstellen, noch ziemlich lückenhaft und unzuverlässig. Gibt es doch Gelehrte, die der Ansicht sind, daß ihre Existenz überhaupt recht fraglich se. Um so angemessener dürfte es er- scheinen, das Wichtigste und Wesentlichste über unterseeische Vulkane zusammenzustellen. Wir legen dabei ein Kapitel aus dem 90 Dr, Wiese, Das Meer, vor wenigen Jahren erschienenen Werke von Dr. Hyppolit Haas, „Der Vulkan“, Berlin, Alfred Schall, zugrunde, in dem der Ver- fasser, Professor an der Hochschule zu Kiel, in einer auch dem Laien durchaus verständlichen Schreibweise nach ganz vorzüglicher Methode die Natur und das Wesen der Feuerberge im Lichte der neueren Anschauung darzustellen gewußt hat. Die nach der Katastrophe auf Martinique dahin abgesandte Kommission hat erklärt, daß sich auf dem in der Nachbarschaft des Feuerkegels gelegenen Meeresgrunde keine topographischen Veränderungen vollzogen hätten. Mag sein, daß sie dazu berechtigt Ausbruch des Mont Pele auf Martinique am 16. Dezember 1902, Anfang der Eruption 8 Uhr 26 Minuten, war. Noch besser hätte sie getan, wenn sie das weniger bestimmt ausgesprochen hätte. Rund um die Inselwelt der Antillen herum haben da und dort Brüche und Zerreißungen der untermeerischen Kabel stattgefunden, und es ist die Annahme, daß dergleichen Er- eignisse vorgegangen sein sollten, ohne die Folgen von einem Wechsel in der Topographie des Meeresbodens gewesen zu sein, recht schwer zu verstehen. Man muß hier ja beachten, daß der- artige Erscheinungen nur auf einen verhältnismäßig kleinen Flächen- raum beschränkt blieben und daß deren Feststellung sehr genaue und sehr mühsame Untersuchungen erfordert, denn unser Blick kann (lie Tiefe leider nicht durchdringen und das Lot erteilt doch jeweils dee ee ee. I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 91 nur über den einzelnen Punkt genaueren Aufschluß. Auch zuver- lässige Seekarten gibt es nur erst wenige. Immerhin sind deutliche Beweise für submarine Eruptionen vorhanden, wenn es der Wissen- schaft auch noch nicht gelungen ist, die genaue Lage eines solchen unter dem Wasser des Ozeans verborgenen Vulkans festzustellen. Im Jahre ı81r tauchte die Insel Sabrina in der Nachbarschaft der Azoren aus den Tiefen des Weltmeeres auf, Ferdinandea an der Südküste von Sizilien hat seit ihrem ersten Erscheinen 1832 mehrfach wieder ihr feuriges Felsenhaupt aus dem Ozean erhoben, der Georgios im Archipel von Santorin hat zischend und pfauchend die Meeresfluten durchbrochen und sich einen dauernden Platz über ihrem Spiegel erobert. Im hohen Norden, bei Alaska, haben sich die Bogoslofvulkane aus dem Meeresgrunde aufgetürmt, und im Mexikanischen Golf ist die unter 22° 34’ ı4” und 93° 38’ 16" ge- legen gewesene Insel Bermuja infolge des Ausbruchs der Montagne Pel&ee ganz plötzlich wieder in der Tiefe der Wogen verschwunden. Derartige Ausbrüche finden meist in verhältnismäßig wenig tiefen Meeresströmungen statt, womit auch das Auftauchen der erup- tiven Massen über dem Wasser genügend erklärt sein dürfte. Für Sabrina scheint dies jedoch nicht zuzutreffen, denn Lotungen an der Stelle des nunmehr wieder versunkenen Eilandes haben Tiefen von 2500 m ergeben. Aber die Azoren und die diese Inselwelt umgebenden Meeresteile sind deshalb besonders interessant, weil sie gewissermaßen im Schnittpunkt zweier großer Zonen vul- kanischer Tätigkeit liegen. Die eine derselben umzieht den Pla- neten und läuft über Zentralamerika, Mexiko, die Antillen, Azoren, Südspanien, den Ätna, Vesuv, Santorin, das Rote Meer, den per- sichen Meerbusen, die Bahreininseln und den Malayischen Archipel, während die andere der Achse des Atlantischen Ozeans folgt, und zwar über Iristan d’Acunha, St. Helena, Ascension, die Kap-Verden, Kanaren, Azoren, Madeira und die nördlichen Regionen mit dem vulkanreichen Island. Diese Achse des Atlantik ist bekannt als eine Linie, längs welcher sehr häufig Meeresbeben auftreten, Erscheinungen, die sich durch ganz besondere Stöße an Fahrzeugen, die eben dann durch diese Gegenden segeln oder dampfen, kund zu geben pflegen. Man weiß heutzutage bestimmt, daß solche stoßartigre Erschütterungen der Schiffe die Folgen erdbebenartiger Phänomene auf dem Meeresboden sind, zumal sie sich meist ganz unabhängig von 92 Dr. Wiese, Das Meer. irgendwelchen vulkanischen Ausbrüchen auf dem Festlande er- wiesen haben. Noch weitere Belege für das Vorhandensein sub- mariner Ausbruchstellen geben die so vielfach beobachteten Kabel- brüche und die ganz eigentümliche Art und Weise, in der sich dieser Vorgang vollzieht. Die Kabel sehen nämlich aus, als ob sie mit Gewalt zusammengerissen worden seien. Dann lassen sich auch tatsächliche Umwälzungen am Meeresboden konstatieren, so im Griechischen Meere und im Malayischen Archipel. Von Aus- strömungen von Schwefelwasserstoffgasen auf dem Meeresboden Die Glutwolke um 8 Uhr 29 Minuten, bei Ajaccio zwischen den Sanguinairesinseln und der Küste, die in die Tiefe gebrachte Gegenstände von Silber anlaufen oder matt werden lassen sollen, wird ebenfalls erzählt. | Englische Kabelgesellschaften haben besonders in den jüngst verflossenen Jahren an den Gestaden der verschiedenen vulkanischen Eilande Lotungen zum Zweck der Legung der Telegraphendrähte vornehmen lassen, die klar und deutlich dartun, daß diese Inseln einen Steilabsturz in die Abgründe des Meeres besitzen und von tiefen Abgründen durchzogen werden, genau so wie die Vulkane I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 93 des Festlandes. Die submarinen Gehänge von Tristan d’Acunha zeigen 33°, die von der Paulsinsel sogar 62°, und überall im Golf von Guinea, an den Azoren, an Jan. Mayen, den Liparischen Inseln, an Santorin, der Amsterdaminsel und den Eilanden des Bandameeres und des Gesellschaftsinseln-Archipels lassen sich ähn- liche Verhältnisse erkennen. Überall, wie das auch auf den Feuer- bergen bei den Kontinenten zu sehen ist, ist das Gehänge in un- mittelbarer Nähe des Kraters immer am größten. | Manche dieser Vulkaninseln erheben sich auf einem gemein- samen Fundament und lösen sich erst in einer gewissen Tiefe in einzelne Pfeiler auf, wie die Azoren, die Gesellschaftsinseln, die Fidschi- und Samoaeilande u.a.m. Nachdem sich auf dem Meeres- boden aus den festgewordenen eruptiven Massen erst ein massiver, gemeinsamer oder einzelner Grundsockel mit geschrägten Kanten gebildet hatte, mußte dieser an Höhe und Umfang infolge der noch später ausgebrochenen feurig-fHüssigen Materialien in Gestalt von Laven oder losen Gesteinen immer mehr und mehr zunehmen. ‚Und auch ferner noch, wenn der Vulkankegel sich schon über den ‘Wellen erhoben hatte, trugen die von seinen Abhängen in die Fluten rollenden Bruchstücke viel zur Befestigung und Ausdehnung des vulkanischen Unterbaues bei. Mag sein, daß auch von unten her in den Sockel sich einstauende Magmamengen dabei mit- gearbeitet haben. - Auf solche Weise haben sich manche submarine Vulkane im Laufe der Zeiten bis über den Meeresspiegel emporrecken können, und wenn das möglich gewesen ist, warum sollte es dann nicht ebenfalls welche geben, die noch auf ihrem Wege dahin begriffen sind, wenn vielleicht auch noch recht fern vom Ziel befindlich; solche, die noch tief unten in den salzigen Wassern des Ozeans versteckt sind und deren Vorhandensein oft nur ganz zufällig durch eine besonders glückliche Lotung entdeckt wird? Einige Beispiele derartiger submariner Eruptionen mögen hier noch aufgeführt werden. _ Sabrina im Archipel der Azoren hat in geschichtlichen Tagen fünfmal von sich reden gemacht, aber immer nur für kurze Zeit. 1658 und 1691, dann 1720 und ı811. In diesem letzgenannten Jahre kam eine Vulkaninsel von etwa go m Höhe zur Ausbildung, die eine zentrale Krateröffnung besaß. Ihr Leben war nur ein recht kurzes, denn schon nach wenigen Jahren blieb von Sabrina 94 Dr. Wiese, Das Meer. nicht viel mehr übrig. Anno 1867 fand vor Terceira ein neuer Ausbruch statt. Eine Insel tauchte diesmal nicht aus den Wogen auf, wohl aber erschienen Schlacken an der Meeresoberfläche und Flammen, die vom Verbrennen der aufsteigenden Gase herrührten (Kohlenwasserstoffe und reiner Wasserstoff). Santorin, eine der Zykladen, ist ein alter vom Meere durch- brochener Krater, der manche Ausbrüche er- lebt hat. Im Jahre 97: vw. "Chr. « ventständ Paläa-Kaimeni etwa im Zentrum dieser vulkanischen Bucht; 46 n. Chr. bildete sich eine weitere Insel, die sich mit der ersten vereinigte; durch fer- nere Ausbrüche im Jahre 726, dann 1573 nahm das neue Eiland zu.: Das'78. Jahrhun- dert sah die Geburt einerzweiten größeren Insel im Golf von San- torin. Nea-Kaimeni kam zum Vorschein. Die Anfänge seiner Entstehung fallen in die Jahre 1707 bisı712. Die Felsnadel (Cöne) im Krater des Mont Pele auf Martinique, am 25. März 1903. Damals war es schon zu einem kegelför- migen- Gebilde von etwa 100 m herangewachsen, das einen Krater von 8o m Durch- messer hatte. Nur wenige Spuren der vulkanischen Tätigkeit zeigten sich in den folgenden 150 Jahren, bis im Januar 1866 die unterirdischen Gewalten von neuem und in grobßartiger Weise entfesselt wurden. Schwefelwasserstoffgase und weiße Dämpfe I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 95 entströmten dem Meerwasser, das zu sieden anfıng, und am 4. Ja- nuar stieg ohne besonderes Geräusch eine glutige Masse aus der Tiefe auf, die bereits nach wenigen Stunden 25 m lang und 8 m breit geworden war bei ıo m Höhe, und sich drei Tage später schon in einen Berg von 70 m Länge auf 30 m Breite und 20 m Höhe verwandelt hatte, den man nach dem griechischen König „Georgios“ getauft hatte. Flammenerscheinungen, die auf dem glühenden Berge auf und nieder tanzten, sind dabei beobachtet worden. Gleich darauf fand die Vereinigung des neuen Vulkans mit Nea-Kaimeni statt, während im Südwesten dieser Insel noch ein anderes Riff aus dem Wasser emporbrodelte, das auch stetig an Höhe und Umfang heranwuchs und den Namen „Aphro6ssa“ er- hielt. Im Mai war auch dieses in Zusammenhang mit Nea-Kaimeni getreten. Inzwischen war der Georgios nicht untätig geblieben. Mehr- fache Ausbrüche von glühenden Steinen und Aschen waren aus seinem Scheitel erfolgt, jedoch ohne dal es zu einer eigentlichen Kraterbildung gekommen wäre. Diese Massen wurden aus Spalten herausgeschleudert, die den Berg in nordsüdlicher Richtung durch- zogen. Im August kam dann eine Krateröffnung zur Entstehung, welche Lavamassen aussandte, die viel zur Vergrößerung des Ei- landes beitrugen, in der Gestalt ein Kilometer langer Ströme, die aber 100 bis 200 m Dicke besaßen. Im Laufe der darauffolgenden Jahre wiederholte der (reorgios seine Ausbrüche, und im Jahre 1870 war Nea-Kaimeni etwa viermal größer geworden, als vor Beginn der Eruptionsphase von 1866. Ähnlich wie die Geschichte Sabrinas ist diejenige der Insel Julia oder Ferdinandea, deren Geburt in das Jahr 1831 fällt. Am 28. Juni stiegen unweit der Küste von Sizilien, zwischen dieser und Pantellaria gewaltige Rauchwolken aus dem Meere auf, das Wasser wurde bergartig aufgetürmt, am 18. Juli kam die Insel zuerst zum Vorschein, aus deren Krater ständig Aschen und Schlacken aus- geworfen wurden. An der betreffenden Ausbruchstelle war durch Lotungen kurz vorher eine Tiefe von etwa 200 m gefunden worden. Die Rauchsäule wurde immer mächtiger und soll bis 50o m hoch in die Lüfte hinaufgestiegen sein, die Insel nahm immer mehr zu; Anfang August hatte sie einen Umfang von 4800 m. Aber bereits Ende September war das nur aus ausgeworfenen losen Massen 96 Dr. Wiese, Das Meer. | und nicht etwa aus Lava zusammengesetzte Eiland wieder auf 700 m reduziert, bei 33 m Höhe, und Ende Dezember war es völlig verschwunden. Die betreffende Stelle blieb aber ziemlich seicht und zeigte lange Zeit hindurch nur einen Wasserstand von 2 m. 32 Jahre später erfolgte ein neuer Ausbruch im Jahre 1863. Eine Insel von 60 bis 8o m entstand, hatte aber bald das gleiche Geschick wie ihre ältere Schwester. Und abermals, im Oktober 1891, regte sich hier die vulkanische Macht. Durch heftige Erschütte- rungen wurde Pantellaria betroffen, während wenige Kilometer davon, im Nordosten, eine wohl ein Kilometer lange Barre heißer Lavablöcke auf dem Meeresspiegel erschien, die Rauch und Dampf unter zischenden Geräuschen von sich gaben. Nach zwölf Tagen kam alles wieder zur Ruhe. ee re en TE en En In der Beringsee ereignete sich im Frühjahr 1796 folgendes: Im Archipel der Al&uten kam unter erdbebenartigen Erscheinungen und donnerartigem (Getöse eine dampfende (Gesteinsmasse zum Vorschein, die zur Insel heranwuchs und aus deren Krater Steine dreißig‘ Meilen weit, bis Unnak, geschleudert wurden. 1806 besuchte Langsdorff die dortige Gegend und beschrieb das Eiland als pfeiler- artiges Gebilde mit senkrechten Wänden. 1817 hatte es einen Um- fang von 2!/, Meilen, 350 Fuß Höhe und einen drei Meilen in die See sich hinein erstreckenden Rand von Bimssteinen. Damals wurde es auch mit einem Namen belegt und Joanna Bogoslova genannt. Tebenkof sah den neuen Vulkan im Jahre 1832 und berichtete, derselbe hätte nunmehr 1500 Fuß Höhe bekommen, sei von pyra- midaler Gestalt und bestände aus einer Anzahl steiler Klippen, die aussähen, als müßten sie jeden Augenblick zusammenbrechen. So blieb im wesentlichen die Gestalt des Feuerberges, bis ihm im Jahre 1883 ein Genosse erstand, der qualmend und dampfend in seiner Nachbärschaft aus dem Wasser emporkam, seinen Bruder bald an Umfang überragte und innerhalb kurzer Zeit zu einem spitzen Kegel von 800--1200 Fuß Höhe heranwuchs. Dieses neue Ungetüm erhielt den Namen „New-Bogoslov“, während von anderer Seite „Grewingk-Vulkan“ zu Ehren des Forschers Grewingk vor- geschlagen wurde. Die Offiziere des amerikanischen Regierungsdampfers „Corwin* besuchten den Vulkan am 2ı. Mai 1884 und waren die ersten, die ihren Fuß auf seine Felsen gesetzt haben. Sie maßen die Höhe I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 97 des Berges, etwa 500 Fuß und stellten die Lage der kraterähnlichen Spalte fest, aus der Schwefeldämpfe, Wasserdampf und noch andere Dinge hervorkamen. Die Spalte befand sich etwa im obersten Drittel des Berges, von dessen Gipfel gleichfalls Dampfmassen aus- gesandt wurden. Allmählich bildete sich auch eine Art Landbrücke heraus, die den alten Vulkan mit dem neuen verband, doch ver- schwand diese wieder und war im Jahre 1891, wo beide Berge wieder durch die See voneinander getrennt waren, nicht mehr zu beobachten. es Dr. Wiese, Das Meer, - 1.53 Die Halligen und ihre Bewohner. Das ist die Hallig -—— Nüchtern, öd’ und häßlich Scheint sie des Weltkinds wechselndem Verlangen, Doch ernsten Seelen bleibt sie unvergeßlich, R. Fuchs An der Westküste des Herzogtums Schleswig liegen, umflutet von den Wogen der ruhigen Nordsee, außer den als Bade- örtern bekannten Inseln Föhr und Sylt und den wenigen oft erwähnten Marschinseln Nordstrand und Pellworn, die Halligen; gar freundlich blicken sie aus dem grauen Wattenmeer mit ihrem lieblichen Grün hervor; „Augen (Oogen) des Meeres“, so nannten die alten Friesen diese Inselreste, wie z. B. Norderoog, Süderoog, Wangeroog usw. Ihrer Zahl nach sind es dreizehn, unter denen Hooge, Nordmarsch-Langeneß und Oland an Größe und Anschen voranstehen. Da Hamburger Hallig und Pohnshallig mit denı Festlande durch Dämme verbunden worden sind und infolgedessen ihre Inselnatur eingebüßt haben, so bleiben nur elf echte Inselhalligen übrig. Es gehört nämlich zu dem Begriffe Hallig, daß die mit diesem Namen bezeichnete Insel klein, daß sie weder durch Dünen noch durch Deiche und Dämme gegen die Fluten geschützt ist. Die bedeutendsten dieser Halligen sind noch keine halbe Quadratmeile groß, die kleineren oft nur von einer Familie bewohnt, kaum ein paar hundert Fuß lang und breit. Zunächst interessiert uns die Frage: wie sind diese Halligen entstanden? Mit dem Durchbruche des Isthmus zwischen Frankreich und England begann für die Küsten der Nordsee eine unruhe- volle, katastrophenreiche Zeit. Für die Marschlandköge, das Wattenmeer und die Halligen waren damit die Bedingungen ihres Bestehens gegeben. Eine Hallig ist der insulare Rest des durch Sturmfluten, Eisgang und Gezeitenströmungen zerrissenen I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 99 Marschlandes, das das Meer auf dem moorigen und sumpfigen Untergrunde zwischen der Dünenkette Jütlands und dem Geest- rücken abgelagert hatte. — Sie steigt mit stark zerklüfteten, senkrechten Wänden aus dem Wattenplateau hervor. Frucht- bare Lehmschichten decken ihren Boden und tragen ein dichtes Graskleid, das in der Eigenart seiner Lebensbedingungen an die regelmäßigen Salzwasserüberschwemmungen gebunden ist. Durch- schnitten sind sämtliche Halligen von einem mehr oder minder dichten Netz von Gräben, die unter dem Namen von Gröpeln, Schloten und Prielen das Land entwässern. Ursprünglich hat Menschenhand diese Adern künstlich geschaffen, aber das fließende Wasser setzt seitdem nagend und unterspülend in vielfach be- drohlicher Weise die Arbeit fort. Der Bahn der Prielen folgend, dringt das Wasser bei Flutzeiten landeinwärts, um es mit dem Ebbestrom wieder zu verlassen. Nur wenige Stege führen über das Grabengewirr, von denen die größeren mit einseitigem Ge- länder versehen sind. Der Verkehr ist daher an ganz bestimmte Pfade geknüpft und mit mancherlei Schwierigkeiten und Gefahren verbunden. Unterbrochen wird die einheitliche Grasnarbe hier und da von rundlichen, zumeist mit Wasser ausgefüllten Depressionen, über deren ursächliche Natur sich noch keine über- einstimmende Meinung herausgebildet hat, und von Sand- und Muschelablagerungen, die sich besonders in der Nähe des Strandes finden und dort das Gras ersticken. Auch sonst fehlt es nicht an Feinden des Graswuchses, unter denen vor allem der silber- schimmernde Wermut und die zahlreichen Ameisenkolonien zu nennen sind. | Trotz dieser störenden Einzelheiten aber wäre es dennoch höchst verkehrt, mit dem Bilde der Halligen Vorstellungen von Öde und Trostlosigkeit zu verknüpfen. Man kann sich im Gegenteil kaum ein lieblicheres Landschaftsgemälde denken. Be- sonders im Juni, kurz vor der Heuernte, wo die Grasflur in vollster Entwicklung prangt und Millionen duftender Blüten und Blümchen aus ihr hervorlugen, bietet uns die Hallig einen wahrhaft herz- erquickenden Anblick dar. Zu dem vegetativen Bilde gesellt sich dann noch eine reizende Staffage aus der Tierwelt. Stattliche Rinder dehnen sich im Grase, und muntere Lämmer führen ebendort ihre Sprünge auf. An den Rändern der Gräben huschen flinke Strandläufer hin und her, und darüber schweben schöne silber- 7* Dr. Wiese, Das Meer. 100 Weidende Schafherde auf der Hallig. I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. Iol weiße Lachmöwen, Seeschwalben und die hübsch gezeichneten Austernfischer. Alles atmet Luft und Leben, ob auch die stahl- grauen Meeresfluten das kleine Eiland lustig umschaukeln. In dieses reizvolle Gesamtbild aber fügt sich endlich auch der Mensch noch mit seinen Wohnstätten harmonisch ein. Dauernder Besiedelung sind die Halligen lediglich mit Hilfe künstlicher Hügel fähig, die, aus dem lehmigen Erdreich ihrer ‚Umgebung aufgeworfen, sorgfältig mit Rasen abgeböscht werden und unter dem Namen der Werften oder Wurten einzelne oder mehrere Höfe tragen. Die Häuser der Siedelungen auf den Werften stellen in mannigfacher Hinsicht eine hübsche originelle Entwicklung des ‚deutschen Hauses dar. Maßgebend für ihre Eigenart sind wie immer die besonderen Lebensbedingungen gewesen. Das feuchte und stürmische Seeklima hat die durchgängige Orientiertheit nach Süden, die Kostspieligkeit und Beschränktheit der Bauplätze die Zusammendrängung von Wohnräumen, Ställen und Erntegelaß unter einem Dach, das Vorbild der Schiffskojen endlich die eigen- tümliche Einrichtung der Schlafstellen mit ihren charakteristischen Wandbetten zuwege gebracht. Auch das Brennmaterial ist durch die Eigenart der. Lebensbedingungen bestimmt; es besteht bei der Abwesenheit anderer Materialien aus getrocknetem Dünger. Quellen gibt es auf den Halligen nicht. Die Bewohner sind daher auf Regenwasser angewiesen, das in gemauerten Zisternen vom Rohrdach her aufgefangen wird, wie wir es beispielsweise auch von Helgoland her kennen. Ein reizender Schmuck der Halligwerften sind die netten Gärtchen. Da der Weststurm hier mit ungebrochener Wucht daherbraust, so legt der Halligmann seinen meistens nur ein Ar großen Garten an der Öst- und Südseite seines Hauses an. Hier baut er seine Nutz- und Zierpflanzen, und man muß sich wun- dern, daß sie hier noch so gut gedeihen, wie dies wirklich der Fall ist. Auf der zo Hektar großen Hallig Süderoog wohnt nur eine Familie, und diese Familie darf sich rühmen, den schönsten : der Halliggärten zu besitzen. Er ist eingefriedigt von einer Hecke aus blühendem Bocksdorn, von dem auch die Laube des Gartens gebildet ist. Auch steht in diesem Garten eine Robß- kastanie (der einzige Baum dieser Gattung auf den Halligen). Dieser Baum hat aber noch nie eine völlig entwickelte Frucht 102 Dr. Wiese, Das Meer. getragen, denn, trotzdem man ihm einen möglichst geschützt liegenden Platz gegeben hat, werden doch die Früchte immer dann schon. vom Winde heruntergeworfen, wenn sie die Größe einer Erbse oder die einer Bohne erreicht haben. Man hat hier auch den Versuch mit dem Anbau von Fruchtbäumen und Frucht- sträuchern gemacht. Apfel- und Birnbaum, Kirsche und Pflaume, Stachel- und Johannisbeere hat man angepflanzt. Die zuletzt ge- nannten beiden Sträucher pflegen meistens gute Früchte zu tragen. Dagegen setzen die Kern- und Steinobstbäume wohl Früchte an, bringen sie aber meistens nicht zur Reife, da der Wind sie vor- zeitig abschüttelt.e. P. Knuth bemerkt über diesen Garten: „Von Zierkräutern bemerke ich Levkoje, Goldlack, Bart- und Federnelke, Aster, Tausendschön, Immergrün, Löwenmaul, Narzisse, Tulpe, Band- gras. Nutzpflanzen sind: Kartoffeln, Wurzeln, Grünkohl, Bohnen, Gurken, rote Rüben, Zwiebeln, Porree, Schalotte und Schnittlauch.“ Rechnen wir jene Roßkastanie ab, so kann gesagt werden, daß sich dieselben Nutz- und Zierpflanzen auch auf den anderen Halligen finden; das gilt namentlich von der Hallig Hooge (17 Häuser, 57 Einwohner). Da sieht man noch Schneebaum, Goldregen, Buchsbaum, Esche, Ulme (dieser stattliche Baum ist offenbar der älteste Baum unserer Halligen), graue und PBalsampappel, Weide und eine (kümmerliche) Fichte. Auf den Halligen findet man an Zierpflanzen noch Bauernrose, Aurikel, blaues Speerkraut. Endlich sind an Nutzpflanzen noch zu nennen: Salat, Mairüben, Runkelrüben, Kohl- rabi, Petersilie, Sauerampfer, Meerrettig (auch verwildert), Erdbeere und Erbse. Es gibt aber auch unter den Halligen einige, bei denen man kaum von der Einrichtung von Hausgärten sprechen kann. Da ist zunächst Langenel3 zu nennen, woselbst nicht einmal bei dem Pastorate Zierpflanzen zu finden sind. Rosen, Georginen und Schwertlilien hat der Ortsvorsteher doch angepflanzt. So gibt es denn auch auf einigen Halligen manche Werften, um deren Häuser eine völlige Wildnis herrscht, da keine Spur von (Gartenanlage sich vorfindet. Die Halligenbewohner sind rein germanischer Abstammung, ein kräftiger, stattlicher Menschenschlag, sichere Haltung und ruhiges Benehmen kennzeichnen sie. Ein maßvoll temperiertes Wesen bleibt ihnen in allen Lebenslagen eigen. Sie sind geborene I. Abschnitt, Das Meer und seine Erscheinungen, 103 Seeleute. Aufgewachsen und gestählt im Kampf mit den Ele- menten, immer besonnen und kaltblütig entschlossen, stets bereit, der Gefahr die Stirn zu bieten. Und dieser Gefahren drohen ihnen eine ganze Zahl. Sehr anschaulich schildert sie Christoph Biernatzki in „Die Hallig“ oder „Die Schiffbrüchigen auf dem Eilande in der Nordsee“. Zur Gewohnheit sind für die Bewohner der Halligen die Über- schwemmungen geworden, die alles flache Land überwogen, an die Werfte hinaufsteigen und an die Mauern und Fenster der Hütten mit ihrem weißen Schaum anschlagen. Da blicken denn diese Wohnungen aus der weiten, umrollenden Wasserfülle nur noch als Strohdächer hervor, von denen man nicht glaubt, daß sie menschliche Wesen bergen, daß Greise, Männer, Frauen und Kinder unterdessen vielleicht um ihren Teetisch hersitzen und kaum einen flüchtigen Blick auf den umdrängenden Ozean werfen. Manch ein fremdes, aus seiner Bahn verschlagenes Schift segelte schon in solchen Zeiten nächtlicherweile über eine Hallis hinweg, und die erstaunten Seeleute glaubten sich von Zauberei umgeben, wenn sie auf einmal neben sich ein freundliches Kerzenlicht durch die hellen Fenster einer Stube schimmern sahen, die, halb von den Wellen bedeckt, keinen anderen Grund als diese Wellen zu haben schien. Aber es bricht der Sturm zugleich mit der Flut auf das bange Eiland ein. Die Wasser steigen gegen 20 Fuß über ihren gewöhnlichen Stand hinauf. Die Wogen dehnen sich zu Berg und Tal, und das Meer sendet immer in neuen, langen Zügen seine volle, breite Gewalt gegen die vollen einzelnen Werften, um sie aus seiner Bahn wegzuschieben. Der Erdhügel, der nur eine Zeit- lang zitternd widerstand, gibt nach; bei den unausgesetzten An- griffen bricht ein Stück nach dem andern ab und schießt hinunter. Die Pfosten des Hauses, welche die Vorsicht ebenso tief in die Werft hineinsenkte, als sie darüber hervorstehen, werden dadurch entblößt; das Meer faßt sie und rüttelt sie. Der erschreckte Be- wohner des Hauses rettet zuerst seine besten Schafe hinauf auf den Boden des Hauses, dann flieht er selbst nach. — Und hohe Zeit war es! Denn schon stürzen die Mauern, und nur noch einzelne Ständer halten den schwankenden Dachboden, die letzte Zuflucht. Mit furchtbarem Siegesübermut schalten nun die Wogen in dem unteren Teil des Hauses; sie werfen Schränke, Kisten, Betten, Wiegen mit wildem Spiel durcheinander, schlagen sich Dr, Wiese, Das Meer. 104 en Blick in das Innere einer Halligkirche. IN S I. Abschnitt, Das Meer und seine Erscheinungen, 105 immer freieren Durchgang, um alles hinauszureißen auf den weiten Tummelplatz ihrer unbändigen Kraft, und die Anzahl der Stütz- punkte des Daches wird immer weniger, des Daches, dessen Nieder- sturz einer noch vor wenigen Stunden in häuslicher Geschäftigkeit miteinander wirkenden oder im sanften Arme des Schlummers nebeneinander ruhenden Familie ein schäumendes Grab bereitet. Ängstlich lauscht das Ohr, ob nicht das Brausen des Sturmes ab- nehme; ängstlich pocht das Herz bei jeder Erschütterung; immer enger drängen sich die Unglücklichen zusammen. In der Finsternis sieht keiner das entsetzlich bleiche Angesicht des andern —, im Donnergeroll der tobenden Wogen verhallt das bange Gestöhn; aber jeder kann an seiner eigenen Qual die marternde Angst seiner Lieben ermessen. Der Mann prelßt das Weib, die Mutter ihre Kinder mit Verzweiflung voller Todesgewißheit an sich; die Bretter unter ihren Füßen werden von den Wogen gehoben, aus allen Fugen quellen die Wasser auf, das Dach wird durchlöchert vom Wogensturz; ein irrender Mondstrahl dringt durch die zerrissenen Wolken, fällt hinein auf die Jammerszene, die, von seinem bleichenden, zuckenden Lichte beleuchtet, in all ihrer Furchtbarkeit erscheint und die angstverzerrten Gesichter einander spiegelt. Da kracht ein Balken. Ein furchtbarer Schreckruf! Nur noch eine martervolle Minute! Noch eine! Der Dachboden senkt sich nach einer Seite; ein neuer Flutenberg schäumt herauf, und — im Sturmgeheul verhallt der letzte Todesschrei. Die triumphierenden Wogen schleudern Trümmer und Leichen zu — — —. Die Sprache der Halligbewohner ist die friesische und zwar ein besonderer Dialekt des Friesischen. Die drei Mundarten der Insel- friesen sind nämlich die Sylter, die Föhringer und die Halliger Mundart. Das Kind lernt von der Mutter diese, in Schule und Kirche aber auch leicht die hochdeutsche Sprache. Mancher alte Brauch hat sich auf den Halligen erhalten. So besteht noch heute der Unterschied in der Tracht der jungen Halligmädchen und der Halligfrauen darin, daß letztere unter dem Kopftuch, das auch die Mädchen tragen, einen roten Lappen mit einem Bande am Hinterkopfe befestigt haben. Der junge Hallig- bewohner bringt noch heute wie früher seine Werbung direkt bei dem Mädchen an. Nach erhaltenem Jawort findet bei den Eltern der Braut eine Verlobungsfeier statt, zu deren Verherrlichung Maststämme aufgerichtet werden, von denen eine Flagge weht; 106 Dr. Wiese, Das Meer, ebenso führen an dem Tage die Schiffe, die bei der Hallig liegen, Flaggen. Von dem Tage an zeigen sich Braut und Bräutigam öffentlich. -_ Am Vorabend der Hochzeit, die „Koost“ genannt wird, (auf Föhr und Amrum Bradlap, auf Sylt Brölleg, auf dem frie- sischen Festlande Koost), werden außer in dem Hochzeitshause auch von den jungen Leuten Vorbereitungen getroffen. Wie bei der Verlobung richtet man Mastbäume mit Fahnen auf, ohne daß man sonst Polterabende abhält. Als Hochzeitsbitter hat der Bräutigam, Hallighaus nach der Sturmflut. in dessen Elternhause man Hochzeit feiert, fungiert. Auf kleinen Halligen, wie auf Oland, werden sämtliche Einwohner eingeladen, auch Freunde und Bekannte von benachbarten Eilanden. Am Freitage versammeln sich die Gäste zu der Festlichkeit, die bis Mitternacht die Aufwärterinnen zu ordnen haben; von der Zeit an übernimmt der Bräutigam diese Aufgabe. Im Hochzeitshause an- gekommen, werden die Gäste durch Erfrischungen gelabt, und die Gesellschaft begibt sich dann zur Kirche. Zur Linken des Bräuti- gams geht, angetan mit ihrem besten, bunten Kleide, die Braut- re ae en I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 107 jungfer, zu seiner Rechten im Brautkranze die festlich geschmückte Braut. In der Kirche nimmt die Brautjungfer ihren Platz zur Linken der Braut, im Hochzeitshause wieder zur Linken des Bräutigams. Der Trauungsakt bietet nichts Eigentümliches. Beim Austritt des jungen Paares aus der Kirche hört man noch hier und da Ehrenschüsse, dagegen ist die Sitte, das Paar alsdann mit Musik zu empfangen, auf Oland abgeschafft. Auswärtige Gäste und Verwandte nehmen im Hause an einer Mittagsmahlzeit teil, für alle Gäste dagegen wird ein Abendschmaus aufgetragen. Von nun an wechseln Tanz und Gesang in heiterer Folge, leider aber sind in der neueren Zeit die alten Tänze abgeschafft und haben den modernen Platz gemacht. So vergeht im Jubel die Nacht und nachdem der jungen Frau der rote Lappen aufs Kopftuch befestigt ist, führt erst die frühe Morgenstunde die Gäste heim. Einige Tage nach der Hochzeit erhält die junge Frau ihre Mitgift ausgezahlt, die früher stets am Freitag vorher ausgezahlt wurde. FEhekontrakte werden nicht abgeschlossen. | Jene aus der Vergangenheit mitgeteilte Sitte, vor die Wohnung der Verlobten ein Boot zu tragen, wenn der Bräutigam auf einer anderen Hallig wohnte, kennt man noch heute. Man zierte ein kleines Boot mit brennenden Laternen, läßt einen Musikanten in ihm Platz nehmen und trägt es am Freitag vor der am Sonntage stattfindenden öffentlichen Verlobung vor das Haus. Hier werden die jungen Leute bewirtet und teilt der Bräutigam außerdem Ge- schenke an sie aus, wofür sie später ein Fest, Gilde genannt, an- richten, an dem alle teilnehmen. Stirbt heute jemand auf der Hallig, so wird von dem Todes- fall zunächst dem Prediger die Nachricht überbracht, worauf dann am Mittag der folgenden Tage eine halbe Stunde die Kirchen- giocke geläutet wird, bis schließlich am Beerdigungstage mit drei- maligem viertelstündigen Läuten die Glocke ihre Todesklage be- schließt. Man hält das Sterben eines Gemeindentitgliedes für eine Erlösung. Solange man den Sarg über einer Leiche noch nicht geschlossen, wachen zwei Personen, und man läßt zwei Lichter dabei brennen. Geschmückt werden nur Kinderleichen, eingesargt ausgestellt dagegen keine. Die Trauerkleider der Halligbewohner sind schwarz; alles hat sich jetzt, um mit Dr. Element zu sprechen, in Dunkelheit gesteckt. Als Begräbnistage sind Freitag und 108 Dr. Wiese, Das Meer. Dienstag gebräuchlich, Montag wird vermieden. In dem Sterbe- hause findet eine Feier statt, ehe sich der Zug in Bewegung setzt, und zwar wird meistens gesungen und gebetet. Hinter dem Sarge gceht zunächst der Prediger mit den Kindern, die singen, und dann folgt das Leichengefolge, das aus den Verwandten des verstorbenen Gliedes und den erwachsenen Bewohnern der Insel besteht. Familiengrüfte gibt es nicht; das Grab erhält eine Tiefe von sechs Fuß und wird fast immer von einer bestimmten Person ge- graben, die aber nicht angestellt ist. Während des Einsenkens der Leiche in die Gruft wird ein Gesang gesungen; alsdann nimmt der Prediger den Spaten zur Hand, wirft dreimal ein wenig Erde auf den Sarg und begleitet seine Tätigkeit mit den Worten: „Erde zur Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staub“ usw., worauf er den Toten einsegnet. Abschiednehmend vom Grabe, versammelt sich die Gemeinde in ihrer Kirche zu einem Trauergottesdienste, worauf am Nachmittage das Grab von Männern aus dem Gefolge zugeschüttet wird. Auch auf der Hallig ist die sonst in Friesland übliche Weise heimisch, der Kirche beim Tode eines wohlhabenden Familiengliedes eine oder zwei Wachskerzen zu schenken, die dann, vor dem Altare stehend, bei feierlichen Gelegenheiten, namentlich aber an hohen Festtagen, angezündet werden. Eine mit schwarzen Florbändern an ihnen befestigte Gredächtnistafel sagt uns den Namen und Todestag der Verstor- benen. Die Lichter des zuletzt Verstorbenen finden vor der Mitte des Altares ihren Platz. Spuksichtige Leute, so wird auf dem friesischen Festlande erzählt, sehen an diesen Tafeln, welches Menschen Leichenbegängnis das von ihnen gesehene sein wird und sagen danach, wenn sie nahe genug herankommen, sogar Todestag und Todesjahr voraus. Mit allen Fasern seiner Seele liebt der Halligbewohner seine Heimat. Stets baut er, wenn das Unwetter das Haus zerstört hat, sich wieder auf demselben Flecke an. Und mancher Halligbewohner, der als reicher Mann aus der Fremde heimkam, beschließt seine Tage auf dem gefahrvollsten Fleck der Erde, auf dem trostlosen Boden, der aber für ihn die geliebte Heimat bedeutet und sein ganzes Denken und Sinnen ausfüllt. Seit einiger Zeit haben aber auch Private, Grenossenschaften und nicht zuletzt die Regierung den Kampf gegen das Meer aufgenommen. Mitte der neunziger Jahre wurde vom Festlande aus der erste Damm in das Watten- 3 2 I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 109 meer gebaut. Man verband durch einen Damm von 4,6 km die Hamburger Hallig mit der Küste und führte dieses Werk auch glücklich zu Ende, obwohl tausend Meter von einer Sturmflut zer- stört wurden. An diesen Damm setzt sich der fruchtbare Marsch- boden an, so daß neues Land gewonnen wird, das mit jedem Jahre an Ausdehnung wächst. In den letzten Jahren sind die Inseln Aland und Langeneß-Nordland durch Dämme untereinander und mit dem Festlande verbunden worden. Sie stellen jetzt einen mehr als 15 km ins Wattenmeer reichenden Fangarm dar, der die Bildung neuen Landes sehr begünstigt. Der Wert dieser ins Meer ge- bauten Dämme für die Landgewinnung wurde schon vor Jahr- zehnten erkannt. Es fehlte nur an demjenigen, der die Kosten vorstreckte, denn daß sie schnell durch das gewonnene Land ge- deckt werden, zeigt sich jetzt mit voller Klarheit. Nach langem Zögern hat der preußische Staat sich der Sache angenommen. Die vorgenannten Dämme wurden bereits durch ihn erbaut. Der jetzt nach Nordstrand zu bauende wird nur 3 km lang; dieses Werk wird nicht allzu schwierig sein; denn die zurzeit vor- handenen, zur Flutzeit nur für flachgehende Schiffe befahrbare Wasserstraße ist bei tiefer Ebbe bequem zu durchwaten. Durch jeden Damm werden im Wattenmeer sog. „tote Buchten“ geschaffen, d. h. Flächen, an denen die Flut die von ihr mitgeführten Senkstoffe absetzen kann. Es ist erklärlich, daß durch die Dämme die Kraft des Flutstromes gebrochen wird und Land sich nur da bilden kann, wo die Wellen kraftlos an den Strand schlagen. Jeder neue Damm bringt Gewinn, und je eifriger daran gearbeitet wird, dem Meere an der schleswigschen Küste Halt zu gebieten, desto größer wird der Erfolg sein. Nur in der Ruhe kann das neue Land entstehen. . Wenn die vorhanden, wächst es gleichsam aus dem Wasser empor. Tausende von Hektar des fettesten Marschbodens sind hier zu gewinnen in friedlicher Arbeit. Wenn irgendwo, dann handelt es sich hier um die Erfüllung einer Kulturaufgabe von größter Be- deutung, denn das ganze Wattengebiet läßt sich dem Meere ab- ringen, gleichsam ein neuer Landesteil, dessen Fruchtbarkeit es mit jedem Landesstrich aufnehmen kann. EN 16. Der Halligmatrose. „Kapitän, ich bitt” Euch, laßt mich fort, OÖ laßt mich frei, sonst lauf ich von Bord, Ich muß heim, muß heim nach der Hallig! Schon sind vergangen drei ganze Jahr’, Daß ich stets zu Schiff, daß ich dort nicht war Auf der Hallig, der lieben Hallig.“ — „Nein, Jasper, nein, das sag ich dir, Noch diese Reise machst du mit mir, Dann darfst du gehn nach der Hallig. — Doch sage mir, Jasper, was willst du dort? Es ist ein so Ööder, armseliger Ort, Die kleine, die einsame Hallig.“ — „Ach, mein Kapitän, dort ist's wohl gut, Und an keinem Ort wird mir so zumut, So wohl, als auf der Hallig; Doch mein Weib hat um mich manch traurige Nacht, Hab’ so lang nicht gesehn, wenn mein Kind mir gelacht, Und Hof und Haus auf der Hallig.“ — „Do höre denn, Jasper, was ich dir sag’; Es ist gekommen ein böser Tag, Ein böser Tag für die Hallig; Eine Sturmflut war wie nie vorher, Und das Meer, das wildaufwogende Meer, Hoch ging es über die Hallig. I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, Doch sollst du nicht hin, vorbei ist die Not, Dein Weib ist tot, und dein Kind ist tot, Ertrunken beid’ auf der Hallig; Auch die Schafe und Lämmer sind fortgespült, Auch dein Haus ist fort, dein Wurt zerwühlt: Was wolltest du tun auf der Hallig?“ „Ach Gott, Kapitän, ist das geschehn ? Alles soll ich nicht wiedersehn, Was lieb mir war auf der Hallig? Und ihr fragt mich noch, was ich dort will tun? Will sterben und im Grabe ruhn Auf der Hallig, der lieben Hallig.“ — Hermann Allmers. 17. Dünenberge und ihre Wanderung. Einsam ist es auf der Düne, Unten rauscht das ew’ge Meer, Und hier oben schwankt das grüne Ried im Winde hin und her. Albrecht Graf Wickenburg. Wir stehen am Strande und lauschen dem Wellenschlag der Flut, der in eintönigem Gebrause zu unseren Ohren dringt. Drüben in weiter Ferne schäumen mächtige Wogen über der tiefgrünen Flut empor, ein kühler Wind weht vom Meere her, der den Sand schnell trocknet und die winzigen Körnchen zu Millionen gleich einem feinen Nebel wegführt. Während sie so wirbelnd dahin- fliegen, erzeugen sie ein leises, knisterndes Geräusch. Näher und näher führt diese flüchtenden Sandmassen der Wind zu jener un- absehbaren Sandkette, die Hügel an Hügel, Rücken an Rücken von der See aus langsam aufsteigt. Eigenartig und doch reizvoll wie die Landschaften des ewigen Schnees wirken diese merk- würdigen Sandregionen, und besonders der Binnenländer, der zum erstenmal die Sandwelt der Dünen durchwandert, richtet in stummer Bewunderung seinen Blick auf das grausenerregende, öde und doch fesselnde, einer geisterhaften Erscheinung gleiche Panorama... Die steilen Abstürze und Hänge, die scharfgeschnittenen Grate verleihen dem Ganzen ein Gepräge von Größe und, wenn das Sonnenlicht auf den bleichen, fast blendenden Massen liegt, so könnte man glauben, der schneebedeckte Kamm eines Hochgebirges steige vor uns auf... Es läßt sich denken, daß diese wunderbaren Gebilde von jeher den Scharfsinn des Forschers geweckt haben; dennoch ist es erst in den letzten Jahren gelungen, mit fast absoluter Gewißheit die Se ni 1 ie ee N erg in ee ED tn I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. E13 Entstehung und das Wesen der Dünen klar zu legen und mit manchen über sie herrschenden alten Vorstellungen aufzuräumen. Die Dünen kommen als Reste früherer Bildungen im Innern der Länder und als neuere Bildungen an der See vor. Fern vom Meer und von größeren Flußläufen finden sich im Innern des Landes (besonders in der Sahara, in der Ägyptischen Wüste) weite Dünengebiete. Man deutete die in den Wüsten befindlichen früher als Spuren einstiger Meeresbedeckung. Jetzt kennt man die Be- dingungen, unter denen sie, fern vom Meere, in Wüsten und Steppen entstehen und zu gewaltigen Massen anwachsen. Man findet zwerghafte Vertreter gleicher Entstehungsart auch inmitten fruchtbarer Gelände, z. B. in Deutschland überall dort, wo durch künstliche oder natürliche Vernichtung der Pflanzendecke eine Sandfläche freigelegt wurde oder wo Sandgehänge vom Winde benagt werden. Man unterscheidet ferner neben diesen Festlands- dünen Flußdünen, die früher wenig beachtet wurden. Sie besitzen indessen weite Verbreitung im europäischen Rußland und fehlen auch nicht in Deutschland, wo wir sie an den Ufern der Weichsel, der Oder, der Elbe und des Rheins treffen. Am meisten und am längsten bekannt sind die Stranddünen. Sie finden sich an allen sandigen Küsten. Sie finden sich in Deutschland an der Ost- und Nordsee, in Dänemark an der jütländischen Küste, ferner an den Küsten von Holland und Belgien, an den Küsten von Norfolk, Suffolk, Somerset und Cornwall in England, in Frankreich an den Küsten der Normandie, der Bretagne, des Languedoc und nament- lich der Gascogne. Auch in Spanien und an der Westküste von Afrika kommen Dünen vor, ferner an den Küsten des Rigaischen Meerbusens, sogar des Kaspischen Meeres und des Aralsees. In Amerika finden sich Dünen hauptsächlich in Massachusetts und an der Kiste von Kalifornien. Die bedeutendsten Dünen liegen an solchen Küsten, die nach Westen, Nordwesten oder Südwesten gerichtet sind; so die Dünen von Kurland, Jütland und Schleswig, die Dünen der Frischen und Kurischen Nehrung und der Gascogne; die letzteren sind die längsten und breitesten, sie erstrecken sich längs des Biscayischen Meer- busens von der Pointe de Grave an der Mündung der Gironde bis Bayonne an der Mündung des Adour auf 240 km. Die Dünen der pommerschen, west- und ostpreußischen Küste haben insgesamt eine erheblich größere Ausdehnung; sie werden aber an einzelnen Dr. Wiese, Das Meer. 8 8 Dr. Wiese, Das Meer. Stellen durch Diluvialschichten unterbrochen, wie z. B. am Samlande, bei Rixhöft u. a.a. O. Die interessantesten Dünen der Welt sind zweifellos die der Kurischen Nehrung. Es ist dies ein schmaler Landstrich von nur 0,5—3,5 km Breite, aber 98 km Länge, der sich zwischen der Ost- see und dem Kurischen Haff erstreckt und mit Ausnahme weniger oasenhafter Unterbrechungen ganz mit Wanderdünen bedeckt ist, die eine Höhe von 60 m und mehr erreichen. Bisher wurde in geographischen Schriften die Bildung der Dünen in der Weise erklärt, daß der Wind überall dort, wo feiner, lockerer Sand in ausreichender Menge vorhanden ist, also besonders an Meeresküsten und in Sandwüsten, diesen emporwirbelt, die feineren Körner mit sich führt und, wenn er sich an einer kleinen Unebenheit des Bodens, einem Stein, einem Grasbüschel oder einem anderen Hindernis staut, den Sand dort in eigenartiger Weise auf- häuft. Durch diese Sandanhäufung wird das Hindernis vergrößert, und dies führt nun zu immer größeren Windanstauungen, infolge- dessen zu vermehrter Sandablagerung, bis diese Sandhügel schliels- lich zu solcher Größe anwachsen, daß sie sich zu Dünen vereinigen. Daß auf die geschilderte Weise größere Sandwehen zustande kommen und insbesondere die unter dem Namen Barchane be- kannten Bogendünen vieler binnenländischen Wüsten gebildet wurden, kann nicht bezweifelt werden. Anders dagegen verhält es sich mit den langen, ziemlich regelmäßigen parallelen Dünen- zügen, die am häufigsten an den Küsten, nicht selten jedoch in binnenländischen Wüsten, z. B. in der Lybischen Wüste, vorkommen. Es hieße dem Zufall eine zu große Rolle einräumen, wenn man an-. nehmen wollte, dal diese so häufig auftretende Dünenform, die sich gerade durch die Regelmäßigkeit auszeichnet, durch zufälliges Aneinanderreihen derartig gebildeter Sandanhäufungen entstanden wäre. Der deutsche Forscher Baschin hat nun kürzlich in über- zeugender Weise dargetan, daß die regelmäßige, wellenförmige Anordnung des Sandes, die die Grundlage für die Regelmäßigkeit weiterer Sandanhäufungen schafft und schließlich zur Dünenbildung führt, dieselbe Ursache hat wie die Bildung der Wasserwellen. Man kann auf jeder asphaltierten Straße beobachten, daß der Staub sich in den den Wellentälern der Wasserwellen entsprechenden Linien fortbewegt, wenn der Wind darüber hinweht, vorausgesetzt, daß dieser nicht eine solche Stärke erreicht, daß er den Sand I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 115 in langen, seiner eigenen Richtung parallelen Streifen vor sich herfegt. Dünen treten daher überall da auf, wo die drei für ihre Bildung unbedingt erforderlichen Dinge vorhanden sind: lockere und trockene Sandmassen, hinreichend starke Winde und merkliche Unmebenheit des Terrains.. Wir finden sie an allen Flachküsten, die mit einer Anschwemmungszone versehen sind, an allen Steilküsten mit vorgelagertem Flachstrande, z. B. auf Jütland und Sylt, wo die Höhe der Steilküste 34 m beträgt, am Kap Trafalgar und auf Sardinien in einer Höhe von 150 resp. 400 m. In klimatisch weniger begünstigten Gebieten breiten sie sich im Innern der Kontinente längs der Flüsse aus und schließlich ganz besonders da, wo infolge der Ungunst des Klimas keine Pflanzenwelt, keine Humusschicht sich bilden kann, wo die nackten Gesteine anstehen oder der Sand weite Flächen bedeckt. | Die Höhe der Dünen ist sehr verschieden, aus Ursachen, auf die wir hier nicht näher eingehen können. Einige Zahlen seien indessen angeführt. Die Höhe der Flußdünen ist gewöhnlich nicht so bedeutend wie bei den Strand- und Kontinentaldünen. So hat Sokolow trotz eingehender Beobachtungen keine Flußdünen von mehr als 10—ı€ m Höhe gefunden. Am Don sollen sie nach Aussage Margaritows allerdings nicht unter 30 m, an der Oka nach den Angaben Dokuschajews sogar bis zu 60 m hoch sein, wobei indessen zu bemerken ist, daß die Lage der Grund- flächen der Dünen bis jetzt nicht bekannt wurde. Die Barchane, jene sichelförmigen Dünen, sind ebenfalls sehr niedrig. Sie sind im allgemeinen 2—5 m, in der Sahara nicht über ıo m hoch. Eine gleiche Höhe gibt Radde auch für die Barchane an. - Sie beträgt nach seinen Angaben ı5—20, höchstens 30—35 Fuß. Eine bedeutendere Höhe erreichen die Stranddünen. Die Dünen an der Nordsee sind ı5—20, höchstens 35 m hoch, die an der Östsee 30—40, an der Kurischen Nehrung sogar, wie bereits bemerkt, 60o m. Zu den höchsten Stranddünen gehören die am Golf von Biscaya; sie sind ungefähr go m hoch und werden nur von den Dünen zwischen Kap Verde und dem Kap Bojador über- troffen, deren Höhe auf ı20—ı80o m angegeben wird; von ihnen steht aber noch nicht fest, ob sie Strand- oder Festlandsdünen ‚sind. Sie erreichen eine Höhe bis zu 200 m, Bargeau gibt die Höhe der Dünen bei Ghadames auf 300 m an. Fre einen - Dr. Wiese, Das Meer. Wandernde Düne, I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 11T Nur eines dringt in die Öde der Dünen, die sich mit ihren hageren Rücken. und hohlen Tälern einsam und einförmig dahin- ziehen, Bewegung, das ist der Wind. Jeder Lufthauch spielt mit dem losen, lockeren Geriesel, und erhebt sich der Wind stärker, steigert er sich zum Sturm, dann entwickeln sich wahrhafte Wüsten- szenen. — „Dröhnend scheint die Erde zu beben,“ so schildert Hermann Masius diesen Naturvorgang, „aber mitten durch Sturm und Brandung hört man das rasselnde Zusammenschlagen der Dünenhalme und das Wirbeln des Sandes, der verfinsternd den Luftraum erfüllt und hageldicht herabschlägt. Und nicht bloß Sand und Staub, alles, was der Wind erraffen kann — Kies, Muscheln, Scherben — reißt er empor und mit sich fort in mäch- tigen Wolken, um weithin das Land damit zu überschütten. So wird die Düne flüchtig. Siewandert, und wandernd begräbt sie, ohne eigentlich zu vernichten, Felsen und Bäume, Brunnen und Teiche, Felder und Wälder, Dörfer und Städte. Denn derartig ist die Beweglichkeit der Düne, daß selbst, wenn die Wogen ihren Fuß unterwaschen und sie wieder ins Meer ziehen, der Gipfel nichtsdestoweniger in das Festland vorrückt. Von einer Seite schon zerstört und zerfallend, verschlingt sie sich auf der anderen Seite gleich jenen Reptilien, die, zerstückt und zerschnitten,, dennoch von ihrer Beute nicht lassen.“ Wie viele Strecken fruchtbaren Erdreichs auf diese Weise im Laufe der Zeit verloren gegangen sind, wird nur annähernd abge- schätzt werden können, da die Schnelligkeit, mit der die Dünen vordringen, sehr verschieden ist. Trockene Luft, eine hohe Tem- peratur, gleich gerichtete Winde, die Abwesenheit fließenden Wassers und ein lockerer horizontaler Untergrund sind der Be- wegung der Dünen förderlich. Bei den Küstendünen ist die Ge- schwindigkeit im allgemeinen am größten. Am Strande herrschen kräftige Seewinde vor, und wenn sie auch von Sandwinden ab- ‚gelöst werden, so erhalten diese doch sehr selten die Stärke der landigen Luftströme. DBedeutend langsamer wandern die Fluß- dünen. In den Flußtälern sind vorherrschende Winde weitaus seltener; zudem wird ihre Stärke ganz bedeutend gemindert durch die im Innern auftretende Vegetation, durch die menschlichen An- siedelungen, überhaupt durch die mehr oder minder bedeutenden Unebenheiten des Terrains. Noch langsamer wandern die großen Dünenketten in den Wüsten, so daß man deren Beweglichkeit I1l8 Dr. Wiese, Das Meer, sogar bestritten hat. Es ist wahr, daß das Beobachtungsmaterial gerade bei diesen Sandhügeln weniger zuverlässig ist, wie bei den übrigen Dünen, deren Veränderung schon um der Gefahr willen, die eine Wanderung für das benachbarte Kulturland mit sich bringt, eingehender studiert wurde. Und so gehen denn die Meinungen bezüglich der großen Wüstendünen in diesem Punkte auseinander: einerseits wird behauptet, dal» sie ihren Ort bei- behalten, andererseits werden Beispiele für ihre Veränderlichkeit und Bewegung: herbeigeführt. Die Dünen der Kurischen Nehrung rücken nach Behrendt pro Jahr 5—6 m vor; die Geschwindigkeit der Düren auf der Frischen Nehrung bestimmt Hagen zu 5,5 m, Krause zu 3,7—7 m; die Dünen auf Sylt wandern nach dem Grafen Baudissin 53m, die Dänemarks nach Andersen ı—7 m pro Jahr. Rascher bewegen sich die Flugsandberge an der atlantischen Küste, da die Winde daselbst kräftig sind. Die Dünen in der Gascogne legen nach Bremontier an einigen Stellen einen Weg von 20—25 m zurück, während die jährliche Geschwindigkeit einer ganzen Kette nach Delesse nicht einmal 2 m beträgt. Nach E. de Beaumont wären die Dünen in der Bretagne im Durchschnitt sogar 135 m pro Jahr vorgerückt, da sie in 200 Jahren ca. 27 km zurückgelegt hätten. Es liegt fast etwas Dämonisches in der Erscheinung der Dünenwanderung, und wohl begreift sich die Erbitterung, mit der der Mensch gegen den unfaßbaren Feind ankäınpft. Gerade die Chronik der deutschen Küsten und Inseln weiß zu berichten von diesem verzweifelten Ringen. Schritt für Schritt wurden da die Felder, die Häuser verteidigt, und wenn nichts mehr zu retten war, suchte man wenigstens die Kirchen zu halten. Man wollte die heilige Stätte nicht preisgeben, und nachdem längst die Pforten versperrt waren, stieg die Gemeinde noch durch das Fenster ins Gotteshaus, und der Geistliche predigte statt von der Kanzel von einem Sandhügel, bis zuletzt nichts mehr übrig blieb, als den Bau abzubrechen und ihn vielleicht für ein neues Jahrhundert auf ge- sicherter Stelle wieder aufzurichten. Die Tatsache, daß die Wanderung der Dünen ganze Kultur- striche in öde Wüsteneien verwandelte, hat die in ihrer Existenz bedrohten Menschen veranlaßt, die Dünen durch Zwangsansiede- lungen von Gewächsen zu befestigen, und dieses Verfahren hat sich in letzter Zeit zu einer förmlichen Technik ausgebildet. Besonders hat in den letzten Jahren die deutsche Regierung sich a nn Se BZ Ze DET A f : hl 5 A 4 I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 119 den Dünenbau unter Anwendung größerer Mittel angelegen sein lassen. Techniker wie Forstbeamte sind tätig gewesen und noch tätig, den Dünensand festzulegen und die Dünen, besonders die Wanderdünen, aufzuforsten. Auf diese Tätigkeit des Dünenbaues hier im einzelnen einzugehen, verbietet der Raum. Alles Wissens- werte darüber findet sich in dem ganz vorzüglichen, vor einigen Jahren erschienenen „Handbuch des Dünenbaus“ von Paul Gerhardt, hier seien nur einige allgemeine Gesichtspunkte angeführt. Bei allen Dünen richtet sich das Kulturverfahren nach dem örtlichen Bedürfnisse. Bei den belgischen Dünen z. B., die an be- liebten Badeorten liegen, ist die Sorge der Dünenverwaltung neben der Erhaltung der Vordünen vornehmlich auf die Erzielung von Laubholz gerichtet. Bei allen anderen Dünen erstrebt man im allgemeinen, als dem Sandboden der Binnendüne mehr entsprechend, die Kultur von Nadelhölzern. Ist die Düne von geringem Umfang, so kann eine kostspielige Melioration und Düngung zur Anwendung kommen: ein Erfolg ist dann verhältnismäßig leicht zu erreichen. Bei Dünen von großer Ausdehnung dagegen muß bei der Wahl des Kulturverfahrens neben der Sicherheit des Erfolges auf mög- lichste Ermäßigung der Kosten Bedacht genommen werden. In dem Falle hat das Klima einen solch entschiedenen Einfluß. Während z.B. die Dünen in der Gascogne dank dem südlichen vortrefflich milden Klima in außerordentlich billiger und leichter Weise nur durch Ausstreuen des Samens von Pinus maritima auf den Dünen- sand unter dem Schutz von Strauchdeckungen haben kultiviert werden können, ist die Kultur der ausgedehnten ÖOstseedünen Deutschlands, die jetzt eifriger betrieben wird, erheblich schwieriger und zeitraubender. Dort hat sich die Kultur sehr schnell auf große Flächen ausdehnen lassen, so daß gegenwärtig die Binnendünen der Gascogne vollständig befestigt sind. Hier stellt das rauhe Klima große Hindernisse der Kultur des Sandbodens entgegen. - Schwer und mühevoll ist die Arbeit. Langsam, mit großem Auf- wand von Geduld, Fleiß und Geld muß hier das Ziel gewonnen werden. Zahlreich waren die Versuche, die ausgeführt wurden. Viele scheiterten. Aber unverdrossen wurden andere von neuem unternommen und die gewonnenen Lehren hierbei benutzt. So haben die Bemühungen endlich Erfolg gehabt, und die Früchte jahrelangen Fleißes liegen in gut befestigten Vor- und Binnen- dünenwerken vor uns. 120 Dr. Wiese, Das Meer. Heute sind die Zustände auf der Kurischen Nehrung schon anders geworden, als sie noch vor drei Jahrzehnten waren. Die Wanderdünen freilich sind noch auf meilenweiten Strecken vor- handen. Der Eindruck, den sie hervorrufen, ist noch der gleiche. Aber die Kultur ist in die Öde gedrungen. Die Vordüne ist überall befestigt und damit der Bestand der Küste, der Fluß- mündungen und Häfen gesichert. In den Palwen, den Niederungen zwischen Vor- und Binnendüne, befinden sich dichte Erlen- und Kieferngebüsche mit zahlreichem Wildbestand. Rehe und Hasen, Füchse und Dachse sind vorhanden, sogar das seltene Elchwild ist anzutreffen, ganz besonders zahlreich ist aber die Vogelwelt ver- treten. Bei allen Ortschaften sind die Wasserdünen festgelegt. Hab und Gut der Bewohner sind dadurch geschützt. Häfen und Anlegeplätze sind entstanden und werden von den sich sicher fühlenden Einwohnern in größerer Zahl gewünscht. In den Palwen zieht sich längs des dort angelegten Weges die Telegraphenlinie als Zeichen der modernen Bedürfnisse der Nehrungsbewohnerhin... So ist es denn dem vereinigten Zusammenwirken von Tech- nikern, Greologen, Botanikern und Forstleuten gelungen, im Kampfe gegen das winzige Sandkorn, das in jahrhundertelanger Arbeit den Menschen und menschlichen Wohnungen Verderben und Ver- nichtung brachte, in verhältnismäßig kurzer Zeit einen glänzenden Sieg zu erringen, die Sandmassen „seßhaft* zu machen und weiteres Unheil zu verhüten; ja, sie haben jene Sandregionen sogar in reizende Landschaften, die von einer mannigfaltigen Tier- und Pflanzenwelt belebt sind, umgewandelt und weite Strecken Öden Sandes zu Stätten der Kultur geschaffen, an denen neues Leben aus den Ruinen emporblüht. Be LE an han a ea ne a 7 ze 18. Packeis und Eisberge. Wer hat die schwedischen Streichhölzer bei sich? Der sei so freundlich und leuchte her! Hier muß ein Strand sein, Hier muß ein Land sein! Kinder, hier liegt was im Arktischen Meer. Johannes Trojan. Erst wenige Tage hat das Schiff den gastlichen Hafen Nor- wegens verlassen und ist in voller Fahrt gen Norden gesteuert — da bieten sich ihm auch schon die ersten Anzeichen, dab es sich den Polarregionen nähert. Es dauert nicht lange, so vermindert sich die Fahrgeschwindigkeit, es durchschneidet den sog. Eisbrei. Bald aber bildet sich dieser Brei in festeres Eis um, das dem Laufe des Schiffes ein Ende bereitet und es festhält. Das Fahrzeug be- findet sich im Packeis, das weithin nach allen Seiten sich aus- dehnt und einen undurchdringlichen Gürtel um die Länder des Eismeeres bildet. Je weiter man nach Norden vordringt, um so mehr wächst die Ausdehnung der Eisfelder. Das Überwintern be- ginnt, die Tage werden kürzer, die Sonne erhebt sich immer weniger über den Horizont, sie verschwindet schließlich für mehrere Mo- nate. Windstöße folgen auf Windstöße. Unter der Wirkung der Kälte vollziehen sich Spaltungen, die mit furchtbarem Krachen, dumpfem Geräusch und endlosem Wimmern vor sich gehen. Das Packeis wird in gewaltige Stücke zerschnitten. Durch die Gewalt des Unwetters stoßen die Massen gegeneinander, zerschmettern einander, häufen sich zu furchtbaren Massen und bilden Berge oder Hügel, die unübersteigbar sind. Das unbewegliche Schiff muß einen furchtbaren Druck aushalten, der nur zu oft ihm den Unter- gang: bereitet. 22 Dr. Wiese, Das Meer. Endet schließlich der Winter und erscheint die Sonne wieder über dem Horizont, so spaltet sich das Packeis; die Spalten er- weitern sich und werden Kanäle, durch die das Schiff sich aus seiner Gefangenschaft befreien kann. Die Eisstücke werden von Strömungen und Winden in das Meer hinausg’etragen und begegnen als Treibeis dem Schiffe. Jahrein jahraus wechselt unaufhalt- sam die Oberfläche, die Decke und die Ausdehnung der Eisfelder und, wenn sich nicht die Eisschollen von den gewaltigen, am Ufer aufgetürmten und nach unten mächtig dicken Eisbänken ablösten, so müßte die Eisdecke des Polarmeeres in steter Vergrößerung be- griffen sein. Im Smithsund wurde ein altes Eisfeld beobachtet von Einsamkeit in der Eiswüste. etwa 5o m Dicke, ı0o km Länge und 6 km Breite. Im antarktischen Gebiete ist die Entwicklung der Treibeisfelder geringer als auf der nordischen Halbkugel. Das Meereis der Polargebiete, das nichts anderes ist als gefrorenes Meerwasser, hat viel von seinen früheren Schrecken eingebüßt, nachdem die Treibfahrt Nansens mit der „Fram“ und ebenso die Überwinterung der deutschen Südpol- expedition bewiesen haben, daß sich ein gutes Fahrzeug ruhig‘ dem Schoße des Eises anvertrauen kann. Ganz anderen Ursachen verdanken die Eisberge ihre Ent- stehung, die eine der charakteristischen Erscheinungen der Polar- gebiete sind. Die Entstehung der Eisberge gehört zu den groß- I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, Er artigsten Vorgängen der Natur. Die Produktionsstätte der Eis- massen des Atlantischen Ozeans ist das Inlandeis von Grönland. Das Inlandeis bedeckt das ganze Innere von Grönland und bildet eine Eisfläche von etwa 20000 Quadratmeilen oder ein Ge- biet wie das Deutsche Reich und Frankreich zusammengenommen, während sämtliche Gletscher der Schweiz nur eine Fläche von etwa 60 Quadratmeilen bedecken. Rings herum wird das Inlandeis von einem eisfreien Küstenland umgeben, dessen Breite sehr ver- schieden ist, das aber nur an einigen Stellen über ı50 km erreicht. Stellt man sich nun das Inlandeis selbst als eine langsam fließende Masse vor, die von ihren höher gelegenen Punkten im Innern nach allen Seiten zur Küste strömt, dann hat man ein Bild von der Be- wegung des Eises. Es bahnt sich durch die Täler des Küsten- landes einen Ablauf, und zwar geschieht dies meistens in den Fjorden, die tief ins Land dringen. Dort, wo sich das Eis durch die Täler schiebt, ist die Bewegung eine recht beträchtliche, wes-., halb man mit Recht von Eisströmen sprechen kann. Während sich täglich der Buargletscher in Norwegen nur !/,, m vorwärts bewegt, fließt der Jacobshavngletscher, an der grönländischen West- küste, täglich 20 m, also 200mal so schnell, und bei dem Gletscher bei Augpadlartok stellte Marineleutnant Ryder, der 1891/92 das Gebiet des Scoresbysundes an der Ostküste Grönlands erforschte, sogar eine Geschwindigkeit von 31 m fest. Die grönländischen Gletscher bewegen sich somit außerordent- lich schnell, und fast alle haben ihren Abfluß in den Fjorden. Hier setzen sie ihre Bewegung im Wasser fort, bis sich das Ende des Gletschers loslöst, ein Vorgang, der als „Kalben“ bezeichnet wird, unter fürchterlichem Getöse vonstatten geht und die See weithin in Aufruhr bringt. Einige der mächtigsten Eisberge, die man kennt, wurden von der Ryderschen Expedition im Scoresbysund ange- troffen, denn hier lag ein Koloßb von 1880 m Länge, 630 m Breite und durchschnittlich 47 m Höhe. Ein anderer Eisberg war 941 m lang, ebenso breit und durchschnittlich 63 m hoch. Eisberge von diesem und ähnlichem Umfange gelangen indessen so gut wie nie- mals ins offene Meer, da die Fjorde, in denen die Eiskolosse ent- stehen, gewöhnlich an den Mündungen flach sind, wo dann die zum Meer treibenden Eisberge stecken bleiben, bis sie durch Ab- schmelzen oder erneutes „Kalben“ an Umfang verlieren und weiter schwimmen. Dr. Wiese, Das Meer. S [6 l \ SS S ıwImMmend | e E GW isberge. vr. I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen. 125 Eine besonders gewaltige Produktionsstätte für Eisberge ist die Melvillebai, die große Bucht, die die dänischen Kolonien von dem kleinen Eskimostamm trennt, der am Smithsund wohnt. An der Melvillebai liegt ein Gletscher neben dem andern, und rechnet man alle Eisströme, die sich zwischen Kap York und dem süd- lichen Ende der Melvillebucht bis Red Head hinab ins Meer er- gießen, zusammen, so ergibt sich eine Gletscherfront von etwa 30o km, die eine der mächtigsten Ablaufstellen für das grönlän- dische Inlandeis darstellt. Es hat somit seinen guten Grund, wenn der nördliche Teil der Baffinsbai, an dem die Melvillebucht liegt, bei den Fangschiffern in schlechtem Rufe steht. Hier ging auch im Sommer 1903 die „Vega“, Nordenskiölds berühmtes Schiff, unter. Einer der größten Eisströme, die es auf der Erde gibt, ist der Humboldtgletscher, der nördlich von Smithsund liegt und eine Breite von Ioo km hat. Die durchschnittliche Dicke wird beim Ablauf auf etwa 200 m geschätzt. Rechnet man, daß diese Eismasse jährlich etwa 100.m vorwärts gleitet, so setzt der Humboldtgletscher jährlich viele Kubikkilometer festen Eises ins Meer. Auch die antarktischen Regionen sind reich an Eisbergen. „Allen Beobachtern der antarktischen Eisberge“, sagt Karl Chun in seinem Werke „Aus den Tiefen des Weltmeeres“ „ist es aufgefallen, daß sie in der Nähe ihrer Greburtsstätte tafelförmige Riesen von einförmigem Aussehen darstellen. Da sie aus Gletschereis bestehen, so ergibt die Berechnung, daß sie zu etwa '/, aus dem Wasser hervorragen, während nicht weniger als °/_ in das Wasser ein- tauchen. Wir haben versucht, durch exakte Messungen ihre Höhe über Wasser zu bestimmen, indem wir behufs Ermittelung der Ent- fernung des Schiffes von den Eisbergen die Fortpflanzungs- geschwindigkeit des Schalles in Gestalt des prächtig von denselben _ widerhallenden Echos benutzten. Es wurden Schüsse abgefeuert, mit der Sekundenuhr genau die Zeit zwischen Knall und Echo kontrolliert und dann mit dem Sextanten die Höhe des Eisberges gemessen. Eine einfache Rechnung ergab den Nachweis, dab mancher der von uns gesehenen Eisberge die beträchtliche Höhe von nahezu 60 m erreichte; die Mehrzahl war niedriger und wies eine mittlere Höhe von 30 m auf. Die Länge der von uns ge- messenen Eisberge schwankte selbstverständlich in noch viel wei- 126 Dr. Wiese, Das Meer, teren Grenzen als die Höhe. Einen der längsten, den wir .maßen, trafen wir am ı4. Dezember an; er war 54 m hoch und 575 m breit. Gewaltige Berge, wahre Eisinseln, sahen wir in der Nacht vom 17. zum 18. Dezember bei Enderbyland. Als wir uns damals aus dem Packeise herausarbeiteten, befanden wir uns in nicht weiter Entfernung von einem Eisberge, den ich anfänglich für die dem Festlande vorliegende Eismauer hielt, bis es sich herausstellte, daß wir es mit einer Eisinsel zu tun hatten, deren Ausdehnung von den Offizieren auf vier bis fünf Seemeilen geschätzt wurde. Solche Rieseninseln müssen gewaltigen Gletschern entstammen, welche die Schneemassen eines weitausgedehnten und sanft gegen die Küste abfallenden Hinterlandes dem Meere zuführen. Kaum entstanden, wird der tafelförmige Eisriese bereits unter den Einwirkungen der Außenwelt umgeformt. Die gewaltigen Klötze, welche aus Millionen von Tonnen Eis bestehen, unterliegen der schmelzenden Wirkung des Wassers und der Luft, nicht minder auch den mechanischen Eingriffen der Brandung. Wie lang ein antarktischer Koloß den äußeren Einflüssen zu widerstehen vermag, läßt sich bei dem Mangel an zuverlässigen Beobachtungen schwer entscheiden. Mag er kürzere oder längere Zeit — vielleicht ein Jahrzehnt — aushalten, so ist doch schon bei der Geburt sein Schicksal besiegelt, das ihn um so rascher erreichen wird, je schneller er durch Strömungen, unter Umständen auch durch ständig wehende Winde, in warme Gebiete getrieben wird.“ Man kann sich kaum etwas großartig Schöneres und majestätisch Eindrucksvolleres denken, als einen großen Eisberg, den man unter günstigen Umständen sieht. Es ist ein Anblick, der sich weder als Bild, noch in Worten entsprechend getreu schildern läßt. Seine stattlichen Kuppeln, seine glänzenden Zinnen und Gipfel, sein feen- hafter Aufbau, seine eigentümliche meergrüne Färbung, die von ihm herunterströmenden kleinen Wasserfälle — alle tragen dazu bei, die Sinne mit einem Gefühle ehrfurchtvollen Grauens zu be- stricken. Die Eisberge sind jedoch ebenso trügerisch als schön und die Annäherung an sie, gebührende Entfernung ausgenommen, äußerst gefährlich. Infolge des beständigen Abschmelzens des Eises verändern die Eisberge stetig ihre Gestalt; ihr Schwerpunkt wird verändert, sie stürzen über den Haufen, und wehe dem unglücklichen Schiffe, das dann in der Nähe eines solchen Eis- berges ist. | I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 127 Oft sind Fischer von Neufundland, wenn sie Bruchstücke von Eisbergen abhackten, um ihre Fische zu verpacken, durch die riesigen Eishügel vernichtet worden, die herabglitten und Menschen und Boote in einem Malstrom im kleinen in die Tiefe sandten. Wenn ein Ozeandampfer mit einer Geschwindigkeit von ı8 bis 20 Knoten die Stunde im Nebel gegen einen solchen Eiswall rennt, so kann man nur hoffen, daß der Eisberg standhält; in dem Fall kann das Schiff noch mit zertrümmertem Bug davonkommen; wenn aber der Eisberg umstürzt, so ist das Schiff unter dem Gewicht einer Tausende von Tonnen schweren Masse verloren, oder sein unterer Teil wird zertrümmert, wenn der Eisberg darunter schwankt. Eisberge findet man das ganze Jahr, besonders aber im Frühjahr im Atlantischen Ozean östlich von Neufundland. Während des Frühlings, wenn Blizzards, Nebel und Froststürme herrschen, sind die Eisberge eine schreckliche Gefahr; man kennt Fälle, daß Schiffe vier Stunden nach Verlassen eines Neufundländer Hafens gesunken waren, so dicht sind die Wasser mit diesen mit Schnee bedeckten Eishügeln übersät. Dann ist die gewöhnliche Gefahr vervielfältigt, denn die Nebel spotten des stärksten Sehvermögens, und man weiß erst von dem Dasein eines Berges, wenn der Vorderteil dagegen treibt. Selbst im Sommer kann bei ruhiger See und klarem Hori- zont ein Nebelvorhang herniedersteigen, so daß die äußerste Vor- sicht geboten ist. Außerordentliche Zahlenangaben, deren Richtig- keit jedoch feststeht, liegen über diese Eisberge vor. Die Passagiere des nach Labrador bestimmten Postschiffes zählen oft auf der Höhe jener Küste 200 bis 300 Eisberge täglich. Der Dampfer „Pelikan“ traf 1902 auf der Höhe von Ungava einen Eisberg von neun eng- lischen Meilen Länge und 270 Fuß Höhe. Das britische Kriegs- schiff „Charybdis“ traf 87, von denen einer 318 Fuß hoch war. Da ein Eisberg nur etwa ein Achtel oder ein Siebentel seiner Masse über der Oberfläche zeigt, kann man danach ermessen, wie tief er ist. Das stahlblaue arktische Eisfeld, daß an den Ufern Neufund- lands vorbeisegelt, bietet jedem Fahrzeug Trotz; hier bestehen die Eisfelder aus titanischen Formationen, die viele Fuß hoch und alle durch flache Schollen zusammengeschweißt sind. Das zer- _klüftete Eis und die chaotischen Formationen, die sich meilen- weit auf jeder Seite erstrecken, bieten einen Anblick, der den mutigsten Schiffer erschrecken kann, wenn er an solche "Verhältnisse noch nicht gewöhnt ist, und daher wählt man immer 128 Dr, Wiese, Das Meer. Neufundländer als Führer bei den arktischen Expeditionen über Grönland. Wären die Eisberge leicht zu unterscheiden, so würde der Seefahrer wenig von ihnen zu befürchten haben. Dies ist aber ° nicht der Fall, denn sie sind meist in Nebel eingehüllt und finden sich nur in Breiten, wo dichter Nebel herrscht. Der Thermometer gibt nur in nächster Nähe Anzeichen von dem Vorhandensein des Eises, und selbst bei der äußersten Wachsamkeit sind Eisberge dicht beim Schiffe, ehe sie bemerkt werden. Der Passagier in seiner warmen Koje hat kaum eine Ahnung von der gewaltigen Anspannung der Nerven beim Kapitän und den Offizieren in der- artigen Fällen. Die Furcht vor dem Zusammenstoß mit den Eisbergen hat neuerdings die Seeleute erfinderisch gemacht in dem Bemühen, irgendein Mittel zu entdecken, um von der Nähe von treibenden Eisbergen oder Eisfluren zeitig benachrichtigt zu werden, was ja namentlich bei dichten Seenebeln von besonderer Wichtigkeit ist. Hierzu dienen z. B. sehr empfindliche Thermometer, die das rasche Sinken der Temperatur beim Nahen von Eisbergen sogleich an- zeigen. So hatte der Dampfer „Sardinien“ der Allanlinie 1905 am 3. April einen Zusammenstoß mit einem Eisberge, der dank dieser Ihermometer verhältnismäßig glücklich ablief. Der Dampfer, der eine große Zahl schottischer Auswanderer an Bord hatte, traf den Berg nachts in seiner Fahrstraße. Man hatte von der Nähe des Eises durch plötzliches Fallen des Quecksilbers zwar Kenntnis erhalten und war daher ganz besonders vorsichtig. Leider war die Nacht so dunkel, daß das Schiff nur in einen brüchigen Rand hineingeriet; das Eis gab dort nach, und der Dampfer glitt, das Eis streifend, vorbei, so daß er, ohne Schaden zu nehmen, davon- kam. Da der Zusammenstoß keine zu starken Erschütterungen hervorbrachte, so merkten die Fahrgäste von dem Vorfall nichts, so daß die Ruhe an Bord nicht gestört wurde. Vorsichtige Kapitäne machen oft einen mehrstündigen Umweg, wenn Eisberge signalisiert worden sind. Namentlich durch die’ drahtlose Telegraphie, aber auch durch Pfeifen signalisieren die Liniendampfer oft die Lage der Eisberge. Aber die Bewegung dieser Berge ist oft höchst unregelmäßig, je nach den verschie- denen Strömungen im Ozean. Manche behaupten sogar, die Eis- masse zu riechen; die Neufundländer jedoch, die besten Eisschiffer Verne an ng + nn un ei mein na en ern a Te Fe en I. Abschnitt. Das Meer und seine Erscheinungen, 129 der Welt, erklären das für eine lächerliche Behauptung‘, da ihre Erfahrung ihnen gezeigt hat, daß sie nur durch den ungewöhn- lichen Glanz, den der Eisberg beim Nähern verbreitet, seine Gegen- wart merken können. Die Hauptverminderung der Gefahr, die durch Eisberge droht, kann nur geschehen durch umsichtigr Füh- rung der Dampfer, und dieser Führung ist es wohl in erster Linie zu danken, daß in den letzten Jahren die mit allen modernen Ein- richtungen ausgerüsteten Passagierdampfer weniger durch Eisberge bedroht worden sind als früher. INS Dr. Wiese, Das Meer. 9 IL Abschnitt Das Leben im Meere. A. Die Pflanzenwelt. Mit dem Taucher auf dem Meeresgrunde. Von M. Dankler, Rumpen. Bedeckt vom Taucherhelm! Wie still ist's um mich her. — Man hebt mich auf, ich sink, und lautlos schließt das Meer Sich über meinem Haupt, dem schwindelnden, zusammen. Beklemmung regt die Brust, heiß drängt das Blut zum Hirn, Die Pulse stocken fast; ein Schmerz durchzuckt die Stirn, Vor meinen Augen blitzt und sprüht ein Heer von Flammen, Eugen Hane. Das ı9. Jahrhundert wird nicht mit Unrecht ob seiner Fort- schritte bewundert und gepriesen; der denkende, rastlos vorwärts- strebende Menschengeist hat in der Tat Großes erreicht; besonders im Wunderreiche der Naturwissenschaften ist der Fortschritt ein ungeheuerer gewesen. Allein, wieviel auch geschah, ebensoviel bleibt noch zu tun übrig. Vor allem bietet die Erforschung der Meere noch ein gar weites Arbeitsfeld. Wenn man allerdings manche Erzählungen und Beschreibungen liest, so sollte man glauben, diese Forschungen hätten keinen Zweck mehr, so anschaulich wird da geschildert, wie es in Tiefen von 2—3000 m aussieht; aber diese Schilderungen werden oft mehr von der Phantasie als vom Wissen diktiert und haben vielfach denselben Wert, als wenn phantasiebegabte Schriftsteller das Leben auf dem Mars schildern. Die nachstehenden Ausführungen wollen nun interessante Einzelheiten bieten, die den Mitteilungen zweier schwedischer Taucher verdankt werden, und weiter einige weitverbreitete Fabeln 4 = EEreeN II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 131 richtig stellen. Der erste Teil der Arbeit soll das Tier- und Pflanzenleben 3—5 m unter dem Meeresspiegel zeigen und uns sodann in größere Tiefen führen, die der Taucher nach dem heutigen Stande der Taucherkunst noch zu erreichen imstande ist. Zugrunde liegen dabei die Mitteilungen des Tauchers C. Lind- ström, der als ebenso bewanderter Botaniker und Zoologe wie als tüchtiger Taucher bekannt ist. Um auf dem Meeresgrunde wandeln zu können, muß der Taucher einen kräftigen Körper, ein gesundes Herz und eine be- sondere Ausrüstung haben. Daß ein kräftiger Körper notwendig ist, geht schon daraus hervor, dab ein vollständiger Taucheranzug 160— 180 Pfd. wiegt. Die gesunde Beschaffenheit des Herzens aber wird bedingt durch den nicht zu vermeidenden Luft- und Wasserdruck, der selbst bei einem durchaus gesunden Herzen manchmal furchtbare Beklemmungen hervorruft, beim geringsten Herzfehler aber zu einem sofortigen Herzschlag oder ähnlichen Katastrophen führen könnte. Ehe der Taucher den eigentlichen Taucheranzug anzieht, ver- sieht er sich mit dicken, wollenen Unterkleidern, gewöhnlich von weißer Farbe. Je nach der Tiefe, die der Taucher erreichen will, zieht er drei bis vier Unterjacken, Beinkleider und Strümpfe über- einander an, um den Wasserdruck zu vermindern. Dann kommt erst der eigentliche Taucheranzug, der aus feinem Gummielastikum hergestellt und von beiden Seiten mit gegerbtem Köper überzogen ist. Nun folgen Helm und Brustharnisch, die aus verzinntem Kupfer hergestellt werden. Die Taucherhelme, die zurzeit in Gebrauch sind, können als Kunstwerke in ihrer Art bezeichnet werden und sind mit Telephonapparat und elektrischem Licht, versehen. Natür- lich gilt dies nur von den allerbesten Apparaten, doch sind Fern- sprecher für Taucher, die in 50—70 Fuß Tiefe arbeiten, und _ elektrische Beleuchtungsapparate für liefen von 20—25 Fuß gerade keine Seltenheiten mehr. Der Helm hat drei kräftige, in Messing gefaßte Spiegelgläser, zwei längliche für die Seiten und ein kreis- rundes für die vordere oder Gesichtsseite. Gekreuzte Stahlstäbe schützen sie vor dem Zerbrechen. Eine Anzahl künstlicher Ventile regeln Luftzuzug und Abzug. In den Helm mündet auch die Luft- röhre, deren einzelne Teile vermittelst eiserner Scharniere zusammen- gefügt sind und deren zweites Ende an der Taucherluftpumpe be- festigt ist. Der Brustharnisch ist mit dem Helm vollständig luft- 9* 132 Dr. Wiese, Das Meer. dicht verbunden, ebenso schließen die Ärmel des Taucheranzuges an den Handgelenken luftdicht ab. Die Stiefel sind aus stärkstem Leder hergestellt und mit Bleisohlen versehen; ein Paar wiegt die Kleinigkeit von 30—35 Pfd. Bei besonders schwierigen Arbeiten an versunkenen Schiffen sind dieselben noch mit eisernen Zehkappen versehen. Eine Anzahl plattenförmiger Gewichte, ein breiter Gürtel mit Arbeitszeug und einem starken Messer und die um den Leib geschlungene Leine zum Hinaufziehen vervollständigen die Aus- Taucher im offenen Meer, rüstung. Der Abstieg ins Wasser erfolgt entweder vermittelst dieser Leine oder auf einer starken Leiter. Begleiten wir einen Taucher einmal auf seinem Ausfluge auf den Meeresboden und zwar in eine liefe von 4—8 m. Mit schnellen Ruderschlägen nähert sich das große, breit- gebaute Taucherboot der gewählten Stelle. Nun werden die Ruder eingezogen, nur ein alter Matrose arbeitet so viel, daß das Boot ruhig liegen bleibt. Der Taucher nimmt noch eine kleine Stärkung, schließt den Helm und gleitet, die Füße nach unten, leicht ins Pe \ II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 133 Wasser. Ein kleiner, gurgelnder Trichter entsteht, dann kräuseln sich die Wellen wieder gleichmäßig und umspielen Aufzugstau und Luftröhre, die von einem erfahrenen Matrosen beaufsichtigt und gehalten werden. Der Taucher ist sachte bis auf den Meeresboden geglitten. Trotz seiner schweren Stiefel tritt er leicht auf, indem er prüfend den Boden befühlt, ob dieser fest oder morastig ist. Da das erstere der Fall, so geht er zufrieden weiter. Obschon die Oberfläche von den Strahlen der Morgensonne beleuchtet wird, so herrscht hier unten doch ein stets wechselndes Zwielicht. Aber mit jeder Minute gewöhnt sich sein Auge mehr daran, und bald kann er auch die kleinsten Gegenstände genau unterscheiden. Er wandelt zwischen Korallenriffen, die sich bald beinahe bis zur Oberfläche des Wassers erheben, bald kaum fußhoch den Boden bedecken. Bald streben sie orgelpfeifenartig in die Höhe, bilden Säulen, Bogen und überhängende Wölbungen, bald bilden sie fest- geschlossene kompakte Massen, denen alle Gliederung fehlt, endlich gleichen andere unterirdischen Wäldern mit reich verästelten Bäumen und Sträuchern. Und diese Zauberwälder, diese Höhlen und Grotten glänzen im verschiedensten Lichte. Dort erscheint ein rosenrot beleuchteter Abhang, dort verliert sich der Blick in grünlich und bläulich schimmernde Tiefen. Auf Fels- und Korallenriffen haben die Algen, die charak- ‚teristischen Seepflanzen, Wurzel gefaßt. Da wachsen die schwimmenden Gebüsche des Blasentanges. Sein fein gregabeltes, schmales, zähes und schlüpfriges Gezweig macht es ihm möglich, auch dem stärksten Wellengange erfolgreichen Widerstand ent- gegenzusetzen. Die Wellen reißen ihn hin und her, ohne ihn recht fassen zu können. An anderen Stellen wachsen wieder unter der Flut kleine Gärten zartfarbigen Perltanges oder des dunklen Schotentanges. Zehn bis fünfzehn Fuß lange Meerbindfäden schlingen sich dazwischen. Zwischen den starren Korallenmassen und den leicht beweg- lichen, im Wasser dahinflutenden Tangen herrscht ein greschäftiges, bewegliches Treiben, entwickelt sich ein reiches Tierleben. Sehr zahlreich vertreten ist die Sippe der Fische. Zu hunderten um- spielen kleine finger- und handlange Anchovisarten die Blätter des Tanges. Mit eleganten Bewegungen des biegsamen Leibes schießen 134 Dr. Wiese, Das Meer, sie dahin. Unaufhörlich sind die glitzernden Flossen in Bewegung, unaufhörlich verschwinden kleine Wasserinsekten in den stets offenen Mäulern, unaufhörlich verfolgen und jagen sie sich im munteren Spiele. Da verdunkelt sich für einen Augenblick der Boden, eine Reihe langgestreckter Schatten sind eingefallen, wie mit Blitzesschnelle verschwinden die kleinen Fische. Aber alle waren noch nicht schnell genug. Eine Anzahl halbmeterlanger Schellfische sind die Friedensstörer. Gierig reißen sie die großen Mäuler auf, gierig blicken die großen runden Augen und wehe dem, was von kleinen Fischen in ihren Bereich kommt. In weiterer Ferne zieht langsam ein Sägefisch oder Sägehai vorüber. Sein ÖOberkiefer ist zu einer mehr als drei Fuß langen, schmalen Knochen- platte verlängert, die auf beiden Seiten mit eingekeilten Zähnen versehen ist. Durch seine gewaltige Stoßkraft ist er ein sehr ge- fährlicher Feind, greift jedoch den Menschen nicht an, Schwarz und weiß marmorierte Muränen suchen die schlammigen Partien des Ufers auf, und beim Weiterschreiten des Tauchers erheben sich zu seinen Füßen die flachen Lappengestalten der Steinbutten. Sie retten sich aus dem Bereiche der Füße, lassen sich aber da- neben wieder zu Boden sinken, dem sie sich so flach anschmiegen, dal sie kaum zu unterscheiden sind. In einer dunklen Ecke, halb von Schlamm und Pflanzenresten bedeckt, lauert ein Froschfisch oder Seeteufel. Selbst unbeweglich liegend, läßt er seine langen Bartfäden im Wasser treiben und schnappt die Fischlein, die sich von diesen falschen Würmern betören lassen. Was aber der Uneingeweihte nicht für Tiere halten sollte, das sind die prächtigen Seeanemonen, die sich auf Steinen, Fels- vorsprüngen und Muschelschalen niedergelassen haben. Sie sind die lebendigen Blumen der Tiefen, Blumen des Tierreichs, und wirklich, sie brauchen sich vor ihren Schwestern aus dem Pflanzen- reiche, wenigstens, was leuchtende Farbenpracht angeht, nicht zu schämen. Im allgemeinen erscheinen sie als sackförmige Körper, die mit einem Ende auf einer festen Unterlage anhaften, während das Vorderende von einem Kranze schön gefärbter Fühler um- geben ist. Fühlt das Tier sich sicher, so sind alle Fühler aus- gestreckt, und das Granze bietet einen um so hübscheren Anblick, als Körper und Fühler meist in verschiedenen Farben glänzen. Naht eine Gefahr, so werden die Fühler schnell eingezogen, und das Ganze gleicht einem unförmigen Gallertklumpen. Die Fang- s \ - ‘ - - II. Abschnitt, Das Leben im Meere, 135 arme sind mit zahllosen Saugnäpfchen versehen und schwitzen einen brennenden Nesselsaft aus. An den Korallenästen kriechen ungestalte Seegurken, deren walzenförmiger Körper ebenfalls an der Vorderseite ein ganzes Bündel Fang- oder Fühlhörner, sog. Tentakel, trägt. Verschiedene Arten von Seesternen und apfelförmige Seeigel bewegen sich ver- mittels kleiner Saugfüßchen, Stacheln und kaum sichtbarer Wen- dungen und Biegungen langsam fort. Ein recht interessantes Zu- sammenleben führen Einsiedlerkrebs und Seeanemonen. Um seinen empfindlichen Schwanz zu schützen, hat der erstere seinen Hinter- teil einem leeren Schneckengehäuse anvertraut, und auf dem Schneckengehäuse sitzt groß und breit eine Seeanemone, die also auch von dem Krebse mitgeschleppt wird. So sonderbar aber auch die Zusammensetzung sein mag, beide Teile haben Nutzen davon. Die Anemone findet bei dem wandernden Krebse mehr Nahrung, als wenn sie festhaftet, während der Krebs gegen viele Feinde geschützt ist, die die nesselnden Tentakel der Seeanemone gewaltig fürchten. Weiter schreitend gelangt der Taucher an eine felsige Stelle mit lockerem Steingeröll. Zwischen den größeren Blöcken lauern die interessanten Tintenfische. Der eine ruht zwischen den Steinen. Gierig blicken die großen Augen auf die seitwärts spielenden Fische und die langsam über den Boden kriechenden Krebse. Noch gleiten die langen Fangarme mit den zahlreichen Saugwarzen wie spielend und tastend über die Steine, aber vielleicht im nächsten Augenblicke werden sie sich mit furchtbarer Gewalt um den Körper ihres Opfers schlingen, es so mit unlöslichen Schlingen festhaltend. Quallen und Medusenhäupter ziehen langsam vorüber; jeden Augenblick erscheinen seltsamere Gestalten. Der Taucher hat eine breite Tasche umgehängt. In diese füllt er herein, was ihm für die naturwissenschaftliche Gesellschaft, die ihn besoldet, passend erscheint. Nun ist die Tasche gefüllt! Ein dreifacher Ruck am Seile, und er wird langsam heraufgezogen. Nach einer kurzen Rast ist er bereit, an einer anderen Stelle wieder hinabzusteigen. Ganz andere Charaktere aus dem Tier- und Pflanzenreiche findet der Taucher in mehr nördlich liegenden Seen und Meeren, so z. B. in der Nähe von Helgoland in der Nordsee. Hier ist das Wandern auf dem Meeresboden und somit das Studium des Tier- 136 Dr. Wiese, Das Meer. und Pflanzenlebens sehr erschwert durch eine Unmasse von Tangen und Algen, die hier wirkliche Wälder und Gebüsche bilden. Nach den Mitteilungen Lindströms, der im Dienste eines englischen Naturforschers sammelte, finden sich im Umkreise der Insel nicht weniger als 315 Algenarten. Jede Strecke zeigt neue Arten, jede = Tiefe hat ihre Formen. In die größeren Tiefen führt der Knoten- tang über, dann tolet (deri,gesägte Tang und der Rie- mentang, der mit seinem 6—ı2 Fuß langen Laubwerk weit ausgedehnte, unterirdische Wäl- der: bildet, Hier wohnt der präch- tige Schuppenfisch, die schlanke Meer- nadel schiebt pfeil- schnell durch das Blattgewirr und der blau-grüne Meer- skorpion fällt durch seinen Silberschim- merins Auge. Glatt- und Stachelroche bevölkern den Bo- den des untersee- ischen Waldes, wäh- rend goldglänzende Makrelen gleich den Vögeln des Festlan- Der schwimmende Taucher. des in den Wipfeln spielen. Aus dem tiefsten Dickicht streckt der gepanzerte Hummer seine Scheren, und dazwischen flimmern die Borstenbüschel der See- raupen. Größere und kleinere Delphine tummeln sich gleich spie- lenden Hunden umher. Lindström tauchte hier auch nach Muscheln und Seeschnecken und fand am Wrack eines in den fünfziger Jahren untergegangenen amerikanischen Schiffes allein gegen 17 Arten. Bw 2 2. 2 4 Be een EN EA Ds Pe se u II, Abschnitt. Das Leben im Meere. 137 Es ist wirklich wunderbar, wie die Tier- und Pflanzenwelt des Meeres sich einander anpaßt. Zu den Riesentangen, deren Blätter viele Meter lang werden, gehören auch Riesentiere, während die zarten Algenarten von ebenso zarten Bewohnern belebt werden. Werfen wir zunächst einen Blick ins Reich der Riesentange, - deren Dimensionen merkwürdigerweise zunehmen, je näher es den Polargegenden zugeht. Merkwürdig ist diese Erscheinung aller- dings nur, wenn man sie mit der Vegetation des Festlandes ver- gleicht, denn bei der Tierwelt des Wassers finden wir die gleichen Erscheinungen. Die Riesentange bilden ungeheure, unterseeische Urwälder, und in der Dunkelheit dieser Urwälder leben auch die riesigen, dunkelgefärbten Wale. Taucherarbeiten sind hier sehr behindert. In den meisten Meeren muß der Taucher stets vor Haifischen auf seiner Hut sein, doch soll die eigentliche Gefahr für den ge- panzerten Taucher nicht so groß sein, als man meist annimmt. Viele Haifische scheuen direkt den Taucher oder ergreifen bei seiner Annäherung sofort die Flucht; andere umkreisen ihn in weitem Bogen, noch andere dagegen gehen auch sofort zum An- griff über. In den meisten Fällen wächst die Gefahr mit der größeren Zahl der Haie, da die Bestien dadurch erstens kühner im Angriff werden, andererseits der Taucher seine Aufmerksamkeit allzusehr teilen muß. Sehr viele Taucher scheuen den Meeraal noch viel mehr als den Hai. Dieser Aal, der die respektable Länge von mehreren Metern erreicht, greift in zahlreichen Scharen an, ist sehr kühn und furchtbar gefräßig. Von unten, von oben, von allen Seiten angreifend und beißend, schnappen sie besonders nach den Händen der arbeitenden Taucher. Was ihr furchtbares Gebil) erreicht, ist verloren, und sind ihre Angriffe um so gefährlicher, als die pfeil- schnell heranschießenden, schlangenartigen Tiere kaum zu fassen und zu verwunden sind. Beim Angriff stoßen diese Tiere einen dumpfen Laut aus, der dem Bellen eines Hundes ähnelt. Die anderen See- und Meertiere sind weniger gefährlich, sie zeigen mehr Neugierde als Angriffslust, sind auf eine be- stimmte Tierart als Nahrung angewiesen, und Angriffe sind durchweg Ausnahmen. Zu den Ausnahmen gehören ebenfalls die Angriffe großer Polypen, und erklären die meisten ersten 138 Dr. Wiese, Das Meer. Taucher die jährlich auftauchenden Zeitungsnotizen über solche Anfälle als Erfindungen und Übertreibungen. Der europäische Taucher, resp. der modern ausgerüstete Taucher hat überhaupt nichts von ihnen zu fürchten. Er könnte und würde im Falle eines solchen Angriffs die Fangarme abschneiden und so das Tier wehrlos machen, ohne daß es seinen Anzug durchdringen könnte. Dagegen ist es leicht möglich, dal ein sog. Achtfuß, auch See- polyp: oder Kraken genannt, unbekleidet niedertauchende Per- len- oder Schwanım- taucher, oder auch an den Küsten Badeıl: in eine schlimme Lage bringen kann. — Die schrecklichste Arbeit für den Tau- cher aber ist es, wenn er zu einem Wrack niedergehen muß, das tote Menschen ent- hält. - Der Anblick der Leichen ist um so schrecklicher, als diese nicht daliegen, son- derninallenStellungen umherschwimmen ... GreradedieWrack- taucher stehen meist in großerGefahr. Jede Der Taucher komnıt an die Oberfläche. Welle kann die Lage des Schiffes, in das sie eindrangen, verändern, dadurch die Türen schließen oder verrammeln, ihre Luftröhre zuquetschen und sie so dem schrecklichen Tode des Ertrinkens, des Erstickens überliefern. Und in vielen Fällen ist dabei absolut jede Hilfe durch Kameraden u. dgl. ausgeschlossen. Doch veriassen wir jetzt den Taucher und suchen in Tiefen II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 139 zu dringen, die auch diesem Arbeiter der Tiefen verschlossen bleiben. Auch hier sei zuerst das Pflanzen- und Tierleben, soweit es heute bekannt ist, betrachtet. Als Pflanzen der Tiefe haben wir die Tange und Algen kennen gelernt. Aber das Wort „Tiefe“ ist ein sehr relativer Begriff und eine Stelle des Meeres, die ıoo m tief ist, kann im Vergleich zu Tiefen von Tausenden von Metern ja bald „seicht“ genannt werden. Die Pflanzen, auch die Seepflanzen, sind abhängig von Licht und Wärme, und danach richtet sich auch ihre Verbreitung. Das Licht dringt nun, wie durch empfindliche photographische Platten festgestellt wurde, etwa 300 bis 600 m ins Wasser, in größeren Tiefen herrscht vollständige Finsternis, während bei 1000 bis IIOoo m Tiefe die Wärme des Wassers unter 4° C sinkt. Dazu kommt noch das große Lichtbedürfnis der Seepflanzen, die nicht nur Licht, sondern sogar viel Licht verlangen. Sie finden sich denn auch nur bis zu Tiefen von 80 bis ı2o m, und ist die letztere Tiefe schon als Ausnahme zu betrachten. Der Boden des Meeres stellt an tieferen Stellen, also auf un- geheure Strecken, eine vollständig pflanzenleere Wüste dar. Der charakteristische Boden der größeren Tiefen ist ein roter Ion, der sich aus einem Gemenge von Schalen und Skeletteilen von Millionen Leichen der Seetiere, Schlammteilen der Ströme unter dem Ein- flusse des Salzwassers und des ungeheueren Wasserdruckes der Tiefen zu bilden scheint. Sind aber die ungeheueren Tiefen des Meeres, wo die Lotungen (Messungen) statt Hunderte von Metern deren Tausende ergeben, auch allen Pflanzenwuchses bar, die Tierwelt ist zahlreich vertreten, die Tiere sind die Herrscher der furchtbaren Meerestiefen, und noch keine Tiefe ist gefunden worden, die nicht Spuren tierischen Lebens gezeigt hätte. Fische, Krebse, Seesterne sind am zahl- reichsten, daneben aber auch andere Formen vertreten. In den größten Tiefen herrschen die Knorpelfische vor. Zum Teil flach am Boden liegend oder gar halb im Schlamm vergraben, lauern sie auf ihre Beute, oder huschen in Schwärmen über den Meeres- boden und stellen mit scharfen Zähnen ihrer Beute nach. In geringeren Tiefen sind die Knochenfische zahlreicher. Grar- neelen und Schizopoden treten hier in unabsehbaren Scharen auf. Meerasseln, Taschenkrebse, Astaciden und Einsiedlerkrebse zeichnen I40 Dr. Wiese, Das Meer. ihre Spuren in den Tiefseeschlamm. Tunikaten, Mollusken, Würmer, Stachelhäuter und Korallenpolypen, ganze Wiesen von zierlichen Seelilien und ungeheuere Massen der reizendsten Protozoen ver- vollständigen das wechselvolle Bild der Tierwelt dort unten in den gewaltigen Tiefen des Meeres. Die Tiere, die in den großen Tiefen leben, sind in mannig- facher Hinsicht sehr interessant. Ihr Körper muß so eingerichtet sein, daß er dem furchtbaren Drucke, der da unten herrscht, wider- stehen kann; für je Iooo m Tiefe rechnet man aber auf einen Quadratdezimeter einen Druck von Io850o kg. Er ist aber jeden- falls eher größer als kleiner. Die nötige Widerstandskraft dieser Tiefseetiere ist nun teilweise in ihrem allgemeinen Bau, in der Be- schaffenheit ihrer Körpermasse begründet, dann aber finden sich in dem Innern auch gaserfüllte Hohlräume, die jedenfalls von großer Bedeutung sind. Viele der Tiefseetiere sind blind, andere ‘sind mit sehr großen Augen versehen. Viele leuchten in einem phosphoreszierenden Licht, und vielleicht ist dieses Licht das einzige, das jemals den Tiefseebewohnern leuchtet. Die eigentlichen Bewohner der größten Tiefen können in den oberen Wasserschichten nicht leben. Der Druck, der andere Fische töten würde, ist zu ihrem Leben notwendig. Werden sie durch besondere Apparate und Netze herausgehoben, so kommen sie tot und zerrissen an der Oberfläche an. Wie. groß aber der Druck ist, kann man schon aus der einfachen Tatsache ersehen, dab die Korkstöpsel, die an den Netzen befestigt sind, in der Tiefe auf die Hälfte ihres Umfanges zusammengedrückt werden und beim Herauf- ziehen nicht mehr schwimmen. So bietet das Meer in allen Tiefen noch zahllose Wunder, und jede Forschungsreise, besonders aber die Tiefseeforschungen der letzten Jahre, bringen neue Wunder an den Tag. Meeresalgen. Von Dr. Adolf Hansen, Professor an der Universität Gießen. Sieh da, ein Zauberreich, das stetig sich verschönt, Bunt wie der Tulpe Flor, des Ara Prachtgefieder. Eugen Hane. Die Ansicht, daß unsere Erde erst als Wohnsitz belebter Wesen ihre eigentliche Bestimmung gefunden habe, mußte sich aus der Tatsache ergeben, daß überall, wo nur die Möglichkeit gegeben ist, Leben aufkeimt und sich entwickelt. Nicht nur unter günstigen und gemäßigten Bedingungen sehen wir ein Drängen pflanzlichen und tierischen Daseins, sondern auch unter extremen Verhältnissen: auf sonnendurchglühten Felsenwänden der Hoch- gebirge sowohl, wo die Flechten als krustenförmige Überzüge die mikroskopischen Pioniere bilden, die das Gestein auflockern und höheren Pflanzen einen Boden bereiten, wie auf Gletscherfeldern oder arktischem Inlandeis, wo noch kleine Algen vegetieren und ihr bescheidenes Dasein fristen. Daher wundern wir uns nicht, daß auch in jenen ungeheuren Vertiefungen der Erdoberfläche, welche das flüssige Element ausfüllt, sich wenigstens teilweise eine Pflanzenwelt angesiedelt hat, aber wir staunen über den ganz be- _ sonders bewunderungswürdigen Formenreichtum der Meeres- bewohner. Freilich ist die Pflanzenwelt trotz der ungeheuren Meeresräume nicht so ausgedehnt wie die Pflanzenwelt der trockenen Feste. Man würde irren, wenn man den Meeresgrund ganz mit Pflanzen erfüllt glaubte oder überall nach schwimmenden Meeres- gewächsen suchen wollte. Nur mikroskopische, dem bloßen Auge unsichtbare Pflänzchen, welche zum Plankton gehören, schwimmen im Wasser. Die eigentliche Meeresflora ist festgewachsen und angesiedelt auf den Sockeln der Kontinente nahe der Meeresober- fläche. Die Tiefsee aber, welche noch ein so merkwürdiges Tier- 142 Dr. Wiese, Das Meer, leben birgt, ist eine ganze vegetationslose Wüste. Die Meeres- pflanzen sind wie die Landflora Geschöpfe des Lichtes, welches in jene großen Tiefen nicht mehr hineindringt. Und so bildet denn die Meeresflora einen Kranz, der die Küsten begleitet, einen Kranz, den wir aber erst erblicken, wenn wir hinabschauen in den kristallenen Palast des Meergrottes. Die Tatsache, daß die Meeresalgen nicht in unermeßliche Tiefen hinabsteigen, ist für ihr Studium von Wichtigkeit. Wir können sie auf dem seichten Meeresboden und in ihren Felsen- grotten wachsen sehen. Vielfach bilden sie eine bunte Flora ver- schiedenster Arten, zuweilen bedeckt eine Art weite Strecken, gleichsam eine unterseeische Wiese bildend. Von einem Boote aus läßt sich leicht ein lehrreicher Blick in die Tiefe tun. Mehr noch sieht man, wenn man mit einem Taucherapparat hinunter- steigt. Doch ist das nicht überall unbedingt nötig, denn durch die Ebbe wird der Meeresboden häufig freigelegt, so daß man Ki t hindert auch in dieser Flora botanisieren kann. Auf den ersten Blick macht diese Pflanzenwelt auf uns einen fremdartigen Eindruck. Mit der uns umgebenden Vegetation des festen Bodens haben diese Gewächse wenig Ähnlichkeit. Das kommt daher, weil nur ganz wenige Blütenpflanzen an der Meeres- vegetation teilnehmen, die Hauptmasse aber aus Algen besteht, Die paar Blütenpflanzen, die im Meere wachsen, werden gewöhn- lich Seegräser genannt, obgleich sie gar nichts mit unseren Ge- treide- und Wiesengräsern gemein haben als schmale grasähnliche Bretter. Von den Seegräsern ist das gewöhnliche Seegras Zostera marina bei uns bekannt, da es von der Flut in ganzen Wagen- ladungen an den Strand geworfen und als Polstermaterial benutzt wird. Die Seegräser sind aber eigentlich Fremdlinge, die in das Meer eingewandert sind, sich wohl in der salzigen Flut angesiedelt haben, es aber zu keiner großen Formentwicklung bringen, denn man darf nicht vergessen, daß die Meerespflanzen sich in ganz be- sonderen Verhältnissen befinden, da sie nicht in reinem Wasser, sondern in einer etwa dreiprozentigen Kochsalzlösung leben müssen. Würden wir Land- oder Süßwasserpflanzen in eine solche Koch- salzlösung setzen, so würde ihnen das wenig behagen. Die Algen des Meeres sind dagegen ihrem Medium angepaßt und nehmen es ihrerseits sehr übel, wenn man sie in süßes Wasser bringt, in dem sie nach kurzer Zeit zugrunde gehen. Dieser enge Zusammenhang = re II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 143 der Meeresalgen mit dem Salzwasser läßt sich aber vollkommen verstehen, denn sie sind offenbar nicht in das Meer eingewancdert wie die Seegräser, sondern im Meere selbst entstanden, als dies noch unsere Erde fast vollständig bedeckt. Im Meere regte sich nicht bloß das erste tierische, sondern auch das erste pflanzliche Leben. Die Meeresalgen sind demnach die ältesten Pflanzentypen, was manche Abweichungen von den viel später entstandenen Land- pflanzen erklärt. In allen Stufen, von mikroskopischer Kleinheit bis zu gigan- tischen Formen von hundert Metern Länge, wie sie uns in der Gattung Macrocystis begegnen, zeigen die Meeresalgen vielfach schon Gestalten der verschiedenen höheren Pflanzengruppen. Die einfachen gleichen nur dünnen, zum Teil verzweigten Fäden oder breiteren Bändern. Bei anderen Arten glaubt man ein zierliches Bambusgebüsch, eine Tamariske, eine Ipuntia oder Palmenwedel von allerliebster Kleinheit zu erblicken. Hier scheinen zarte Farnenblätter unter dem Wasser zu wachsen, dort sind die Fels- wände mit unförmlichen hohlen Säcken besetzt oder mit kugel- förmigeen grünen, bovist-ähnlichen Gestalten wie gepolstert. Zarte, in buntem Farbenspiel schillernde Blasen bilden traubenförmige Vegetationen, und die kleine zierliche Acetabularia mediterranea bildet schirmförmige Gestalten, die einem kleinen Hutpilz zum Ver- wechseln ähnlich sehen. Aber diese mannigfaltig gestaltete Flora grüßt uns nur selten mit dem angenehmen, gleichmäßigen Grün der Landpflanzen, sondern prangt im duftigen Rosa, im glühenden Karmin oder im schönen Violett, in welche bunte, phantastische Farbenpracht die olivenfarbigen, düster braunroten oder goldbraunen Fukaceen, Diktyotaceen und Laminarien eine passende Schattierung bringen. Einige Arten gewinnen dadurch an Zauber, daß sie im Tageslichte mit buntem Perlmutterglanz irisieren. Nach der so leicht zu unterscheidenden Färbung kann man die Meeresalgen, die auch Tange genannt werden, am leichtesten in drei Abteilungen bringen, in die der Grüntange (Chlorophyceen), Brauntange (Phäophyceen) und Rottange (Rhodophyceen oder Florideen). Zu den grünen gehören die zierlichsten Formen, z. B. die Gattung Bryopsis,:die dunkelgrüne, aus zarten weichen Federchen bestehende Polster auf Steinen bildet. Ferner gehören dahin die pP 144 Dr. Wiese, Das Meer. mehr auffallend als schön gestalteten Caulerpa-, Udotea- und Codiumarten. Am Mittelmeer sieht man die Flutlinie häufig begrenzt durch die glänzenden grünen Lappen der Alge Ulva Lactuca, die vom Meer ausgeworfen und, wie der Name Lactuca andeutet, als Salat gegessen wird. Mehr als die grünen Meeresalgen treten durch Zahl und An- sehen die beiden anderen Abteilungen hervor. Die eine davon bilden die Phäophyceen, mit verständlicherem und ebenso guten Namen „Brauntange“ genannt. Durch goldbraune und grünbraune Farben ausgezeichnet, finden wir unter ihnen große, zum Teil erstaunlich große Pflanzen von vielen hundert Meter Länge. Die Laminarien mit ihren dicken, schier unzerreiß- baren Stengeln und ihren handförmigen geteilten blattähnlichen Orga- nen, die Fukaceen, von denen der Blasentang,, Fucus vesiculosus, jedermann, der ein- mal am deutschen Meeresstrand weilte, bekannt ist, sind Be- wohner dernordischen Meere und gehen bis ins Eismeer hinauf. Zu ihnen gesellen sich Spitze von Asco- die wunderlichen phyllum nodosum (Chordaarten, bei wel- 1/, nat. Größe, Nach Turner. 3 E ( ) einen dicken Faden 2 (Aus „Apstein, Tier- Ar nat, Größe. (Nach Hauck.) leben der Hochsee“) Von dreißig und mehr Aus „Apstein, Tierleben der Hochsee“, Metern Länge dar- stell. Die größten Formen sind die Macrocystis- und Lessonia- arten, welche mit anderen in den Meeren der südlichen Halbkugel von der Magelhaensstraße und den Falklandsinseln bis über Ker- guelensland hinaus unterseeische Wälder von großer Ausdehnung bilden, die zwischen ihrem braunen und olivenfarbigen Laube ein Tierleben von überraschender Mannigfaltigkeit zeigen. Doch wir chen die ganze Pflanze Fucus vesiculosus, Eee FR TEA II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 145. finden außer diesen mächtigen auch zierliche Formen unter den Brauntangen. Fin Pflänzchen, die im Mittelmeer häufige Padina pavonia, verdankt ihren Namen ihrer einem aufgerichteten Pfauen- schweif gleichenden Form. Durch konzentrische Linien ist sie sehr hübsch gezeichnet und mit weißen Kalkinkrustationen betupft. Imponieren die Laminarien und Fukaceen, von denen der Blasen- tang durch seine als Schwimmorgane dienenden blasigen Auftrei- bungen auffällt, durch die Stattlichkeit ihrer Vegetationsorgane, so überrascht die dritte Gruppe der Meeresalgen, die Floriden oder Rottange, das Auge durch eine ungewöhnliche Zierlichkeit und durch die Farbenpracht purpurner und violetter Abstufungen. Wenn der Botaniker einem Laien eine Pflanzenabteilung zeigt, so ist sein Dank in der Regel ein achtungsvolles Staunen. Man erblickt eine Fülle von Formen, die zusammengehören sollen, aber doch alle verschieden sind, was man nicht gleich zusammenreimen kann. Die meist ganz unverständlichen lateinischen Namen (leider ein notwendiges Übel) machen es schwierig, sich auch nur einiges von diesen Verschiedenheiten einzuprägen. Und so hat der Zu- hörer denn den Eindruck, dal die Dinge gewiß sehr interessant seien, aber recht verstehen könı.e man sie doch nicht, ohne ein Gelehrter zu sein. Das ist aber ein Vorurteil, und ich möchte ver- suchen, es durch eine weitere Einführung in das Verständnis der Algenformen zu beseitigen. Wenn wir nur Bilder ansehen, dann sagen uns die Formen freilich nichts, allein wenn wir untersuchen, in welcher Weise die Algen des Meeres eigentlich leben, dann werden uns die Formen von selbst verständlich. Es gibt nur zwei Aufgaben, welche das gesamte Leben der Pflanzen ausfüllen: Ernährung und Fortpflanzung. Die ganze Organisation, sowohl die äußere wie die innere, umfaßt nur Ein- richtungen, welche zur Erreichung dieser beiden Lebensziele dienen. _ Wir nennen diese Einrichtungen Organe und unterscheiden daher nur Fortpflanzungs- und Ernährungsorgane. Die Fortpflanzungszellen, aus denen eine neue Pflanze entsteht, sind bei allen Pflanzen, also auch bei unseren Meeresalgen, von mikroskopischer Kleinheit und mit bloßem Auge nicht sichtbar. Zuweilen sind sie in Behälter eingeschlossen, die durch Form und Größe einem aufmerksamen Beobachter auffallen, aber doch sind diese Fortpflanzungsorgane der Algen so klein, daß sie nicht maß- gebend für das Aussehen derPflanzen und für ihre Architektonik sind. Dr. Wiese, Das Meer. _ 10 Mr 146 Dr. Wiese, Das Meer. Was wir also mit bloßem Auge von unseren Meeresalgen wahrnehmen, sind ausschließlich die Organe der Ernährung. Wir brauchen uns nicht verwirren zu lassen durch die ungemeine Ver- schiedenheit, welche die Gestalten der Meeresalgen uns entgegen- bringen. Die Formenunterschiede sind von unserem Standpunkte aus nebensächlich. Die olivenfarbigen, braunen oder prächtig roten Körper bedeuten alle dasselbe, es sind Ernährungsorgane der Algen, gleichviel, ob sie einfache Zellfäden oder verzweigte Fiedern oder Zellkörper sind, oder mehr blattähnliche Gestalt besitzen, wie bei den Laminarien und Fukaceen. | Wir sehen gleichzeitig, daß die Organisation bei den Pflanzen recht verschieden ist von derjenigen der Jiere und unseres eigenen | Körpers, die Ernährungsorgane liegen bei den Tieren im Inneren des Körpers und unterscheiden sich anatomisch scharf von den Organen mit anderen Aufgaben. Bei den Pflanzen finden wir keine im Körper eingeschlossenen Organe für das Ernährungs- geschäft, die ganze Pflanze ist Ernährungsapparat: sie ernährt sich mit ihrem geanzen Körper. Wir sehen auch sonst nichts der tierischen Organisation Ähnliches, keine Öffnungen zur Aufnahme der Nahrung, keine Hohlräume zu ihrer Verarbeitung. Überall herrscht das Streben vor, breitere Flächen, Blätter zu erzeugen, Formen, die das Tierreich nur äußerst selten aufweist. Das kommt daher, weil die Pflanzenernährung in erster Linie vom Licht ab- hängig ist und die Lichtstrahlen nur in flache, dünne Organe mit genügender Stärke eindringen können. Da, wie schon gesagt ist, auch die Meeresalgen des Lichtes bedürfen, so begreifen wir voll- kommen die allgemeine Übereinstimmung ihrer Gestalten mit den- jenigen höherer Pflanzen. Aber um das vollständig einzusehen, ist es nötig, die Arbeit der Ernährung'sorgane etwas näher zu betrachten. Die Ernährung der Pflanzen ist eine ganz eigentümliche a in einer Beziehung grundverschieden von der Ernährung der Tiere. Die Pflanzen nehmen keine festen Kohlenstoffverbindungen wie Eiweißstoffe, Zuckerarten und Fette auf, sondern sie benutzen als Kohlenstoffnahrung ein Gras, die Kohlensäure der Luft. Bei den Landpflanzen wird diese Kohlensäure der Luft unmittelbar ent- nommen, in den Blättern zu Zucker und Stärke verarbeitet, die sich zunächst in den Biättern ablagern. So bereiten sich also die Pflanzen ihre feste Nahrung selbst innerhalb ihres Körpers, um ” | II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 147 daraus nach mancherlei Stoffwechselprozessen ihre Organe auf- zubauen. Die Meeresalgen stehen mit der Luft nicht in unmittelbarer Berührung, aber-so wie die Fische die sich im Wasser stetig auf- lösende Luft zum Atmen benutzen, reißen die Algen die mit der Luft gelöste Kohlensäure an sich, um sie ebenso wie die Land- pflanzen zu verarbeiten. Untersuchen wir die Blätter einer Eiche oder einer beliebigen anderen Pflanze, selbst eines Mooses, unter dem Mikroskop, so er- gibt sich, daß ein Blatt keinen homogenen Bau besitzt, sondern aus Zellen zusammengesetzt ist, welche von scharfumgrenzten Körnern von grüner Farbe angefüllt sind. Diese grünen Körner, die Ursache der grünen Farbe der Pflanzenteile, heißen Chlorophyll- körner, und obgleich sie so winzig‘ klein sind, sind sie doch die Laboratorien, in denen der Prozeß der Bildung organischer Sub- stanz aus Kohlensäure und Wasser vor sich geht. » Solche Chlorophylikörner enthalten auch die fadenförmigen oder blattartigen und anders gestalteten Organe der Meeresalgen. Das Merkwürdige dabei ist jedoch, daß nur wenige von ihnen grün aussehen. Die braune oder rote Farbe, mit der viele uns entgegen- treten, rührt daher, daß sie neben dem grünen Chlorophyll noch andere den höheren Pflanzen fehlende Farbstoffe erzeugen, die den grünen Farbstoff ganz verdecken. Wir können uns auf eine ein- fache Weise davon überzeugen, daß die Meeresalgen wie die höheren Pflanzen Chlorophyll enthalten. Der grüne Farbstoff der Blätter ist in Alkohol löslich, und wenn wir Blätter damit übergießen, er- halten wir eine prachtvolle smaragdgrüne Lösung. Eine ganz gleiche Flüssigkeit erhält man, wenn man rote oder braune Algen mit Alkohol auszieht. Der grüne Farbstoff wird ausgezogen, während die roten und braunen Farbstoffe in den Algen zurückbleiben. So können wir denn mit Leichtigkeit feststellen, daß die Meeresalgen für die Ernährung ebenso ausgerüstet sind wie die höchsten Pflanzen, wie eine Palme oder eine Eiche, und dab sich bei diesen die Kohlenstoffgewinnung in gleicher Weise vollzieht wie bei den auf viel tieferen Stufen stehenden Meeresalgen. Die Kraftquelle für den Ernährungsprozeß ist die Sonne, welche ihre Lichtstrahlen den Pflanzen täglich zufließen läßt. Die Lichtwellen, welche im Chlorophyll absorbiert werden, geben den Anstoß zu den chemischen Prozessen der Stärkebildung im Chlorophyll. 10* 148 Dr. Wiese, Das Meer. Erst die Kenntnis, daß die Meeresalgen Chlorophyll enthalten, dessen Tätigkeit vom Licht abhängig: ist, macht die Gestalten dieser Pflanzen verständlich. Man begreift, daß die Meeresalgen nicht ein zufälliges Gewirr von Grestalten sind, sondern daß sie so aus- sehen müssen, wie sie aussehen, Denn es ist leicht einzusehen, daß sowohl die Absorption der im Wasser gelösten Kohlensäure als die Durchleuchtung des Chlorophyll durch die Lichtstrahlen am vollkommensten stattfinden, wenn die chlorophylihaltigen Gewebe zu dünnen, durchsichtigen ausgebildet sind. Bei den Meeresalgen sowohl wie im ganzen Pflanzenreiche hat sich die Formenbildung der Organe nach dem Chlorophyll gerichtet. Solange wir dessen Tätigkeit nicht kannten, blieben uns die Formen bloße Tatsachen ohne tiefere Bedeutung. Physiologische Studien dagegen liefern den Schlüssel für ein lebendiges Verständnis der Pflanzengestalt. Wir begreifen jetzt ohne weiteres, warum bei den Pflanzen Blätter oder blattähnliche Organe so verbreitet sind, daß sie den Charakter der Pflanze im Gegensatz zum Tiere bilden. Die Bildung von Blättern und biattähnlichen dünnen Flächen hängt mit der eigen- tümlichen Ernährung der Pflanzen auf das engste zusammen. Vergleicht man auch die übrigen Bauverhältnisse der Meeres- algen mit den Land- und Sülswasserpflanzen, so überrascht es zwar nicht, bei sowohl ihrer Abstammung als auch der Zeit ihrer Ent- stehung nach so. verschiedenen Pflanzengruppen den größten Ver- schiedenheiten zu begegnen, allein der größere Teil dieser Unter- schiede findet ebenfalls seine Erklärung in der Lebensweise der Meeresalgen. Bei den Landpflanzen treffen wir meist aufrechte, zum Teil steife, verholzte Stengel und Stämme an. Den Meeresalgen würden diese nur zum Schaden gereichen. Sie müssen der gewaltigen Kraft der Meeresbrandung standhalten können. Holzige Stengel würden einfach zerbrechen. Ihr anatomischer Bau ist daher sehr einfach, sie bestehen aus weichem parenchymatischen Gewebe, _ welches sich durch starkes Quellungssvermögen auszeichnet. Daher sind die Stengel der Meeresalgen äußerst biegsam und nachgiebig, dabei aber bei den größeren Formen, z. B. den Laminarien, fest und unzerreißbar. Bei den Landpflanzen und den aus dem Wasser hervorragen- den Sumpfgewächsen, den Rohren und Schilfen u. a., haben Holz und Grefäßstränge der Stengel die Aufgabe, das von den Wurzeln " ee re See Ben, indem . sie . 1I. Abschnitt, Das Leben im Meere. 149 aufgenommene Wasser den Blättern zuzuführen, um den Verlust, welcher fortwährend durch Verdunstung der Belaubung entsteht, zu decken. Die Meeresalgen sind ganz von Wasser umgeben, sie erleiden also keine Verdunstung und brauchen daher keine Gefäß- und Faserstränge für die Zuführung neuen Wassers. Aus dem gleichen Grunde fehlt ihnen eine eigene Wurzel vollständig. Die meisten Meeresalgen wachsen auf felsigem Boden. Mit einer Wurzel würden sie in die Unterlage gar nicht eindringen können, und überdies brauchen sie auch kein Organ zur Aufnahme von Wasser und Salzen, da sie von beiden umgeben sind. Dagegen ist eine Befestigung auf der Unterlage für die Existenz der Meeresalgen ein fast noch größeres Bedürfnis als für Landpflanzen. Der untere Teil der Algenstengel ist daher statt zu einer Wurzel zu einem Haftorgan ausgebildet, welches in Form einer dicken Saugscheibe oder eines verzweigten Fußes sich mit ganz ungewöhnlicher Festigkeit an den Boden festklammert. Es gelingt nicht, große Laminarien vom Boden loszureißen, dazu ge- hört die Gewalt der Stürme, welche die Algen an den Strand wirft. Diese Angaben Sf, beseitigen die fal- Sy | sche Vorstellung, welche man viel- fach verbreitet fin- det, daß die Meeres- algen im Meer frei- schwimmende Pflanzen wären. Diese Meinung hängt zusammen mit den Berichten von im Meere schwimmenden Tangwiesen, jenen Sargassowiesen, welche schon dem Kolumbus und sei- ner Mannschaft Schrecken einflöß- Sargassum bacciferum. !/, nat. Größe. (Nach Agassiz.) (Aus „Apstein, Tierleben der Hochsee“.) 150 Dr. Wiese, Das Meer. fürchteten, mitten im Meere stecken zu bleiben. Diese schwim- menden Sargassowiesen, so genannt, weil sie vorzugsweise aus einer Algenart, Sargassum bacciferum, bestehen, sind keine lebendigen Wiesen, keine natürlichen Wohnstätten der Algen. Stürme und Wogen rissen sie von ihrer Heimat, der Nordküste Südamerikas, los. Die Meeresströmung des Golfstromes trieb sie dorthin, wo man sie findet, und in dem ruhigen Mittel- punkte des ungeheuren Wirbels, den der Golfstrom zwischen der alten und der neuen Welt verursacht, sammeln sich die abge- rissenen Tangmassen. Dieses sog. Sargassomeer hat zu fabelhaften Übertreibungen Veranlassung gegeben. Es ist ja keine Rede davon, dal die Tang wiesen, denen man oft tagelang auf der Seefahrt be- gegnnet, ein Schiff aufhalten können. Es ist namentlich wenig be- rechtigt, die Sargassomassen mit auf den Erdkarten einzutragen, da sie weder in der Ausdehnung noch überhaupt etwas Konstantes sind. Mit den Winden und Strömungen wechseln sie ihren Ort, und wo heute ein Schiff auf starke Sargassomassen stößt, findet ein anderes morgen schon freies Meer. So erklären sich diese schwimmenden Algen. Sonst aber sind alle Algen seßhaft ange- siedelt auf dem festen Meerboden. Mit ihren Haftorganen halten sie gewaltig fest am felsigen Grunde. Eher reißen die zähen Stengel, ehe die Haftorgane sich von ihrer Unterlage trennen, und wenn bei heftigen Stürmen die Laminarien der Gewalt der Elemente nachgeben müssen und auf den Strand geschleudert werden, dann offenbart das Klammerorgan recht seine Bestimmung. Nach Stürmen ist bei Helgoland der Dünenstrand bedeckt mit Laminarien, die die Brandung ans Land warf. Daran hängen unlösbar feste große Steine vom Meeresgrunde. Die Haftwurzel sitzt noch immer fest darauf, und ohne loszulassen ri sie die mächtigen Steine mit aufs Trockene. Wenn bei aller Verschiedenheit die Meeresalgen diejenige Familienähnlichkeit besitzen, welche zu ihrer systematischen Zu- samınenordnung veranlaßt, so weicht eine kleine Abteilung der Florideen so wesentlich von den anderen ab, dab man sie eine Zeitlang gar nicht für Pflanzen, sondern für Korallen hielt. Wegen dieser Ähnlichkeit hat man ihnen dann später wenigstens den Namen Korallineen gegeben. Sie haben die Eigentümlichkeit, sich ganz und gar mit Ausnahme der Fortpflanzungsapparate mit kohlensauren Kalk zu inkrustieren, den sie aus dem Meereswasser II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 151 niederschlagen. Dadurch werden sie steinhart, und eine solche Alge macht tatsächlich den Eindruck eines Steines. Die Kalkalgen sind in allen Meeren verbreitet und werden beim Arbeiten mit dem 'Schleppnetz in Menge mit heraufgebracht. Die ganze Körperform der Meeresalgen, steht in engem Zu- sammenhang mit der Ernährung und Vegetation dieser Pflanzen, eins ist aus dem andern verständlich. Aber wie eingangs gesagt wurde, handelt es sich nicht nur darum, dal» Pflanzen sich ernähren, sie müssen sich auch fortpflanzen, damit mit dem Absterben einer Generation nicht der ganze Stamm erlischt, sondern sich in unbe- grenzten Zeiten fortpflanzt. Während aber Ernährungs- und Wachstumsvorgänge an und in sichtbar in die Augen fallenden Organen stattfinden, sind die Fortpflanzungsvorgänge bei den Algen ebenso wie im ganzen Pflanzenreich verborgene Vorgänge, die erst das Mikroskop klargelegt hat. Wir wollen, da es sich hier nur darum handelt, mit den Formen der Meeresalgen bekannt zu machen, damit sie uns bei einem Aufenthalt am Meere nicht fremd sind, nur ganz kurz auf die Verhältnisse der Fortpflanzung, die sich dem gewöhnlichen Blick ganz entziehen, hindeuten. Für die Fort- pflanzung werden von allen Meeresalgen besondere Zellen von mikroskopischer Kleinheit gebildet, die sich zu gewissen Zeiten von ihrem Körper loslösen, und aus denen durch Keimung ein Pflänz- _ chen entsteht, welches gemach heranwächst. Die Fortpflanzungs- zellen (Sporen) bilden sich in der Regel in besonderen kleinen Be- hältern allerverschiedenster Form. Sie sind teils beweglich und - schwimmen nach ihrer Ausstoßung eine Zeitlang im Wasser umher, teils sind sie unbeweglich. Aber ein größerer Unterschied besteht darin, _ daß gewisse Arten der Sporen ohne weiteres zu einer neuen Pflanze R 5 er 4 r heranwachsen, während in anderen Fällen die Fortpflanzungszelle erst durch einen anderen, dann als männlich bezeichneten kleinen Zellkörper befruchtet werden muß. Nur dem in mikroskopischer Forschung Geübten ist es vergönnt, diese merkwürdige Erscheinung des Lebens zu verstehen. >: 3. Der. Bernstein — seine Gewinnung und Bearbeitung. Eine Schlange kroch, da tropften trauernde Zweige Bernsteinzähren herab, von Heliaden geweint. Sie, die staunend sich vom klebrigen Taue gehemmt sah, Wurde vom goldenen Naß plötzlich erstarrend umfaßt. Überhebe dich nicht, Kleopatra, des fürstlichen Grabs, Da ein edlerer Sarg hier die Schlange umschließt. Dieses hübsche Epigramm hat der Dichter Martial auf eine in Bernstein eingeeschlossene Schlange gedichtet; auch aus ihm er- sehen wir, daß der Bernstein, dieses Geschenk des Meeres, schon in alten Zeiten bekannt und geschätzt war. Schon der Dichter Homer gedenkt des Bernsteins als einer der kostbarsten Waren der phönikischen Handelsleute. Diese führten den Griechen „das braune Gold“ zu, und es ist sicher, daß durch den Bernsteinhandel, der von Italien und Griechenland her nach dem Norden betrieben wurde, zuerst die Südküsten der Nord- und Ostsee den Alten be- kannt geworden sind. Auch die Nordsee wirft namentlich an der Westküste der jütischen Halbinsel Bernstein aus, dessen jährlicher Ertrag noch in den sechziger Jahren des ı9. Jahrhunderts auf 3000 M. angeschlagen wurde, während er im Altertume bedeutender gewesen sein muß. Die Bernsteininseln der Alten (Glessariae, Electrides) umsäumten höchstwahrscheinlich die Westküste Schles- wigs und Jütlands und sind erst später durch Versandung fest ge- worden. Schon sehr frühe müssen Handelswege nach dem „Bern- steinlande“* bestanden haben, denn Schmucksachen aus diesem Material kommen schon in etruskischen Gräbern aus dem siebenten Jahrhundert v. Chr. vor. Auch bis Ostpreußen müssen diese Handelsbeziehungen gereicht haben, denn ostpreußische Gräber- funde haben Schmuckstücke, Bronzeschwerter und andere Erzeug- nisse alter südeuropäischer Industrie hergegeeben, die mit Sicherheit auf die erste Hälfte des Jahrtausends v. Chr., vielleicht auf eine Bene Wr re. © he ä 3 x j u ger Tr * p Pr RIED TE NDR A, II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 153 noch ältere Zeit hinweisen. Die erste geschichtliche Überlieferung über den Bernsteinhandel stammt aus dem Jahre 320 v. Chr. und meldet den Besuch des Massiliers Pytheas an der deutschen Küste. Die Beziehungen eines regen Tauschhandels haben sich viele Jahr- hunderte hindurch erhalten. Davon legen wieder ostpreußische Gräberfunde Zeugnis ab. Eine kaum unterbrochene Musterkarte fremdländischer Industrie ist hier aufgedeckt worden. Besonders reich vertreten ist die römische Kaiserzeit, wie denn auch Kaiser Nero im Jahre 54 n. Chr. eine Gesandtschaft zum Zwecke des Bernsteinhandels absandte. Aber auch Erzeugnisse der früheren römischen Industrie fehlen nicht. Auf andere Handelswege deuten Gräberfunde aus der Wikingerzeit und solche echt germanischer Herkunft. | Nicht geringe Mengen Bernsteins sind auf diesen Handels- wegen, deren bedeutendster die Rheinstraße war, verbreitet worden. Im ersten Jahrhundert n. Chr. war der Bernstein im Potale so häufig, daß ihn die Bauernfrauen als gewöhnlichsten Schmuck trugen. Bis in das 16. Jahrhundert hinein galt der Bernstein einzig als Produkt der See. Die großen Mengen, die im Altertum und im Mittelalter in den Handel kamen, sind am Strande der Öst- und Nordsee aufgelesen worden, wo sie auch jetzt noch nach jedem größeren Sturme mit Tang und anderen Algen, sowie mit schwarzen verrotteten Holzstückchen vermischt, in der Schälung liegen. Diese Tatsache leitete schon frühe zu einem anderen noch heutzutage geübten Verfahren der Bernsteingewinnung. Mit langen Haken werden die bei stürmischem Wetter auf den Wellen herantreibenden Massen von Seetang, in denen der Bernstein gerne hängen bleibt, auf den Strand gezogen, oder von Männern, die soweit als mög- lich im Wasser stehen, mit etwa metergroßen, an langen Stangen befestigten Netzen herausgefischt. Andere Leute, die am Strande stehen, lesen den Stein aus den Tangmassen heraus. Zu den ältesten Methoden, den Bernstein aus dem Meere selbst zu gewinnen, gehört auch das sog. Bernsteinstechen. Es ist einträglicher als das Fischen, aber nur an wenigen Stellen des Strandes’ausführbar. Bei Brüsterort, der Nordwestspitze der recht- eckigen samländischen Halbinsel, springt ein aus mehr oder minder großen erratischen Blöcken gebildetes Steinriff eine halbe Meile weit in die Ostsee vor, das den vom Sturme verschlagenen Schiffen gefährlich wird, und vor dem zu warnen eine der Aufgaben des 154 Dr. Wiese, Das Meer. Brüsterorter Leuchtturms ist. In diesem Riffe bleiben bei jedem Sturme große Bernsteinmengen hängen, deren Gewinnung durch Stechen Professor Zaddach im Jahre 1867 beobachtete und in folgender Weise beschrieb: „Täglich, wenn die See klar und nicht zu bewegt ist, stoßen frühmorgens viele Böte, von denen jedes mit drei oder vier in dieser Arbeit geübten Leuten und einem Aufseher bemannt ist, vom Lande, legen sich in einiger Ent- fernung vom Strande der Reihe nach vor Anker, und man sucht nun den zwischen und unter den Steinen liegenden Bernstein zu gewinnen. Mit starken Doppelhaken, die an 30 Fuß langen Stangen befestigt sind, werden die Steine umgekehrt und fortgerollt, und mit kleinen Käschern schabt man den darunterliegenden Sand ab und hebt den sich darin etwa vorfindenden Bernstein auf. Der Ertrag ist so bedeutend, daß die Arbeit zu jeder Jahreszeit, selbst im Winter, wenn die See an der Küste zugefroren ist, auf dem Eise fortgesetzt wird.“ (B. Landsberg , Preußische Jahrbücher, Bd. 95.) Jüngeren Datums als das Bernsteinstechen ist das Bernstein- tauchen. Die Taucher, denen durch eine Luftpumpe Luft zu- greführt wird, steigen zu zweien von einem Boot in die See; hier arbeiten sie mit Spaten und Hacke den Bernstein frei. Es ist klar, daß ein Naturtaucher ohne Apparat zum Luftschöpfen viel zu kurze Zeit unter Wasser bleiben kann, um auf dem Meeresgrund, da wo er zwei Mann tief ist, gehörig‘ nach Bernstein suchen zu können. Der Bernstein findet sich in bedeutenderer Menge erst in einer weit größeren Tiefe. Durch die Taucherei ist die Quelle aufgedeckt, aus der die Bernsteinvorräte früherer Zeiten geflossen sind. Eine von dem fossilen Harz gleichmäßig durchsetzte Schicht findet sich auf der ganzen Westküste Samlands und auf einem Teil der Nord- küste im Meeresgrunde vor, und weist, soweit die Beobachtungen das ersehen lassen, eine gleichmäßig horizontale Lagerung auf. Sie ist an der Westküste stärker als an der Nordküste, liegt aber dort tiefer als hier. Von der Küste setzt sich diese Schicht see- wärts fort bis dahin, wo sie durch die zunehmende Meerestiefe ab- geschnitten wird. Das muß an der Nordküste Samlands in geringerer Entfernung vom Ufer, nämlich schon bei etwa 20 Fuß Tiefe, ge- schehen, während westwärts sich wahrscheinlich die Schicht, ent- sprechend ihrer tieferen Lagerung, weiter ins Meer erstreckt. Der von der See ausgeworfene Bernstein stammt ursprünglich einzig di a Me U TE Tee - “er = a ar. ee ee > II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 155 aus dieser Schicht. Dabei ist aber festzuhalten, daß nur ein ge- ringer Teil des von den Wellen aufgewühlten Steines am Strande abgesetzt. wird, die Hauptmenge auf den Boden des Meeres zurück- gelangt. So müssen Stürme und Wellen auf dem Grunde des Meeres eine zweite jüngere Schicht gebildet haben, die neben anderen Sinkstoffen auch große Bernsteinmengen enthält. Das ist keine neue, aber eine den Wellen zugänglichere Quelle des kost- baren Strandgutes. Tatsächlich ist Bernstein in „alluvialen“ unter- meerischen Schichten vielfach gefunden worden. Daß auch der an der westpreußischen und pommerschen Küste ausgeworfene Bernstein aus dem samländischen Lager herstammt, ist zwar nicht be- ARSIK: a \ RISINSL. niesen, aber doch [OR ahrscheinlich TN.r w inlich. BZ Winde und Wellen Dres cz können wohl einen DEI FGE Trz so weiten Transport © @ 6) al, | 70 (OÖ) SM IQ) N 19 ol = e N hr © \ 2) ’ 1) N A he) SIWZUANN NY OS Mikroskopische Struktur des Holzes der Bernsteinkiefern. Bernsteintropfen, Quer-, Radial- und Tangentialschnitt. (Nach Jentzsch.) (Nach Jentzsch.) bewirken, da der Bernstein in seinem spezifischem (Gewichte dem Wasser nahezu gleichkommt. Schließlich wird der Bernstein durch regelrechten Bergbau gewonnen, denn in den Uferbergen des Samlandes — und nur hier ist die blaue Erde entdeckt worden, in der sich das fossile Harz in gleichmäßiger und reichlicher Ablagerung findet — bildet sie eine meist unter dem Meeresspiegel liegende Schicht von 1,3 1,7 m Mächtigkeit. Sie wird nach Westen immer stärker, sinkt dafür aber hier unter den Meeresspiegel. In Palmnicken, wo die blaue Erde unter 30 m starken Deckschichten liegt und eine beträchtliche Stärke hat, hat der preußische Staat den Betrieb des Bergwerkes auf eigene Rechnung übernommen. Von dem (Ge- 156 Dr. Wiese, Das Meer. lingen des Unternehmens zeugt die Ausdehnung‘, die derselbe jetzt genommen hat. Großartige Maschinenhäuser, in nächster Nähe des Bahnhofs gelegen, der den Verkehr mit Königsberg: vermittelt, bilden seinen Mittelpunkt. Sie enthalten die Fördermaschinerie, den Ventilator und die Sieb- und Schlemmvorrichtungen zum Aus- spülen des Bernsteins aus der heraufbeförderten blauen Erde; außerdem sind eine eigene Eisengießerei und andere Werkstätten damit verbunden. In Entfernungen bis zu 2 km erstrecken sich um diesen Mittelpunkt die Stollen. m x Um sie in den losen Erdschichten & IE genügend zu sichern, sind starke 2 | Balken- und Bretterüberdachun- f a: \ gen angebracht. Da trotzdem \ zu Anfang des Betriebes ein Erd- rutsch stattgefunden und einige Bergleute abgesperrt hatte, ist jetzt noch in anderer Weise für die Sicherheit des Betriebes ge- sorgt. Eine Anzahl von Luft- | A, N schächten führt senkrecht von N I m I \ denStollen aufwärts. Jedermündet \ in einem schornsteinähnlichen Turm, der eine Bedachung trägt, die einem Zylinderhut mit gitter- artig durchbrochenen Seiten- wänden ähnelt. Die Luftschächte sorgen für Durchlüftung der Stollen, bieten aber zugleich Not- ausgänge für die Arbeitenden. Tafeln mit der Aufschrift: „Bruch- feld; Betreten lebensgefährlich!“ zeugen in weitem Umkreis von dem Vorhandensein noch befahrener oder schon verlassener Stollen. In Palmnicken allein sind über 1000 Arbeiter tätig. Das Sortieren der größeren Bernsteinstücke geschieht in der Königsberger staat- lichen Bernsteinmanufaktur. Es gibt an dreißig Handelssorten, einige Sorten gehen nur nach Zentralafrika und Südamerika, andere werden ausschließlich für den mohammedanischen Kultus oder zu Mundstücken für die bekannten türkischen Wasserpfeifen verwendet. Der Haupthandelsplatz, namentlich für den nach dem Orient ee — ee — BE 38 a Re RATE our — 2 Hypoclinea baltica, Mayr. Männchen. Eine Ameise aus dem Bernstein, Sehr vergrößert. (Nach Mayr.) Nr ee II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 157 gehenden Bernstein, ist Wien, wo heute über fünfzig Fabriken und Kunstdrehereien bestehen. In Paris, London, Konstantinopel, New York, Mexiko, Kairo, Kalkutta, Bombay, Honkong und Jeddo ist der Bernstein ein be- liebter Handelsartikel geworden. Rußland, Frankreich und Nord- amerika lassen zwar den Rohbernstein zollfrei einführen, haben aber auf fertige Bernsteinartikel einen ziemlich hohen Eingangszoll gelegt. Deswegen errichtete Becker für den russischen Export eine eigene Fabrik in Rußland, und zwar in Polangen, unweit der preußischen Grenze bei Memel. Hier werden russische Heiligen- bilder, Amulette, billige Perlen und Korallen angefertigt. Der ab- zudrehende Bernstein wird mit einem Hobeleisen zugrehackt. Die nötige Politur erhält er gleich auf der Drehbank durch Schlemm- / N ‘ 7 ” Im Bernstein eingeschlossene Gliedertiere. Vergrößert. (Nach Jentzsch.) Links Schnellkäfer (Elates), in der Mitte eine Pilzmücke (Mycetophila spinosa, Löw.), rechts ein Tausendfuß (Lithobius planatus). kreide. Die Polanger Fabrikate gehen zunächst nach Moskau und von dort durch zahlreiche Agenten, die namentlich auf der Messe in Nischnij-Nowgorod tätig sind, bis nach dem tiefsten Asien. Die Bernsteinindustrie leidet im allgemeinen sehr durch die Bernsteinimitation. Aus Abfällen werden größere Platten zusammen- geprebßt und zu Zigarrenspitzen verarbeitet. Unter den Bernstein- dreherzünften hatten manche einst einen hohen Ruf; heute sind als Fabrikationsort nur noch Stolp und Danzig von Bedeutung. Bernsteinkorallen fabrizieren außerdem noch Worms und Polangen. In Danzig werden jährlich etwa 250 Zentner Bernstein zur An- fertigung von Perlen und etwa 30 Zentner zur Herstellung von Bernsteinspitzen verbraucht. In Nürnberg werden Ansatzspitzen für Bruyerepfeifen hergestelt, in Wien namentlich Rauchrequisiten, zum Teil in Verbindung mit Bruyere und australischem Veilchenholz. 1358 Dr. Wiese, Das Meer. Daß die Herstellung der Mundstücke aus Bernstein ein so außerordentlich ergiebiger Zweig der Fabrikation und des Handels ist, hat seinen ganz besonderen Grund. Die Mundstücke, gewöhn- lich in Kugel- oder Eiform, gehen namentlich nach dem Orient, wo ihr Gebrauch durch einen medizinischen Aberglauben gestützt wird. Man behauptet nämlich, daß der Bernstein unfähig sei, eine ansteckende Krankheit, Pest oder dergleichen zu übertragen, daß man daher ein Bernsteinmundstück ganz ‚sicher an die Lippen | bringen kann ohne Rücksicht darauf, wer kurz zuvor daraus geraucht. Welcher Luxus trieben wird, mag aus folgenden Beispielen hervorgehen: Ein Aussteller auf der großen internationalen Ausstellung in Südenham hatte vier Mundstücke ausgestellt im Gesamtwerte von 20000 M. Ein anderer Aussteller Mirhan Bernstein mit Insekten. Duzoglu hatte ein kurzes kugeliges Mund- stück, allerdings mit Edelsteinen besetzt, im Werte von 305 £ ausgeeboten. Wo heute die nimmer ruhenden Wogen des Meeres rollen, da wiegten sich vor vielen tausend Jahren die Wipfel dunkler Tannen- und Fichtenwälder. Der Bernstein des Samlandes, der ein Grebiet einnahm, das im Süden etwa von den Küsten der heutigen Ostsee begrenzt wurde, enthielt außer Tannen und Fichten Lebensbäume, Eichen, Lorbeergewächse, Palmen, Erikaceen, Farnen, Flechten und Moose. Während die Bäume abstarben und ver- westen, sammelte sich im Laufe der Jahrtausende das Harz in dem Bernsteinwalde und umschloß zugleich manche Tiere, besonders Insekten, darunter hauptsächlich Zweiflügler (über 230 Arten); von unseren Käferfamilien sind 49 vertreten. Ferner finden sich im Bernstein eine ganze Reihe von anderen kleinen Lebewesen. mit diesen Mundstücken, türkisch Imanes, ge- B. Die Tierwelt. Das Meeresleuchten. „Lichtschäumend kräuselt sich die überschlagende Welle, Funken sprühet die weite Fläche, und jeder Funke ist Die Lebensregung einer unsichtbaren Tierwelt.“ „Humboldt. Der Ozean, diese Welt mit eigenem Dasein, dieser Sitz einer besonderen Schöpfung, in deren Schoße Tausende von Millionen Wesen ein von dem unseren durchaus geschiedenes Leben führen, bietet sehr oft ein hochinteressantes und das Auge entzückendes Schauspiel: das Meer leuchtet. Wer nicht Zeuge eines solchen Phänomens in der heißen Zone und besonders im Großen Ozean gewesen, kann sich, wie Alex. von Humboldt bemerkt, nur eine unvollkommene Vorstellung von der Erhabenheit eines so groß- artigen Schauspiels machen. Wenn ein Kriegsschiff, durch einen frischen Wind getrieben, die schäumenden Fluten durchschneidet, so kann man sich an dem Schauspiele, das das Anprallen der Wogen bietet, nicht sättigen. So oft während der Bewegung des Rollens die Flanken des Schiffes aus dem Wasser hervorkommen, scheinen rötliche Flammen, ähnlich denen des Blitzes, vom Kiele auszugehen und sich an der Oberfläche des Meeres hinzuziehen. ‚Zwei französische Naturforscher, die zwei Reisen um die Welt mit- gemacht und den Ozean in allen Richtungen durchschifft haben, Quoy und Gaimard sind mehrmals in der Lage gewesen, diese zauberhafte Beleuchtung der Gewässer zu bewundern. „Kaum ist der Tag entschwunden,“ sagen sie, „als auch schon das Schauspiel beginnt, und Millionen leuchtender Körper auf den Wogen zu rollen scheinen. Die Helligkeit des Lichts nimmt zu, an den Seiten des Schiffs oder der Felsen, an welchen sich die Welle bricht; E 160 Dr. Wiese, Das Meer. jeder Ruderschlag eines Fahrzeuges läßt Lichtströme aufsprühen, und das entfliehende Schiff läßt hinter sich eine lange feurige Furche zurück, die in dem Maße, wie man sich entfernt, an Hellig- keit abnimmt.“ Vortrefflich hat auch de Quatrefages dieses herr- liche Schauspiel beschrieben. Bei Boulogne an der Küste der pas de Calais erscheinen die Wogen ganz gleichmäßig milchweiß, man möchte sie mit dem Schaume vergleichen, der durch den Anprall des Wassers am Ufer entsteht. In der Dämmerung unter den günstigsten Umständen ist das alles, was man aus- einer Entfernung von 60 bis 70 m wahrnimmt. In dem Maße, wie man sich dem Meere nähert, ändert sich der Anblick; ist man dem Ufer nahe gekommen, so erscheinen die Kämme der Wogen, wie schwache bläuliche Flammen, und wo sie sich brechen, lassen sie das Licht heller und weißer aufleuchten. Unmittelbar am Ufer erschienen diese Wogen de Quatrefages oft wie geschmolzenes Blei oder Silber, übersäet mit einer unendlichen Menge kleiner lebhaft weißer oder weißgrrüner Fünkchen. Die Wellen überspülten das flache Sandgestade der kleinen Pave aux-huiters genannten Bucht auf weithin, und die ganze Fläche, die sie einnahm, leuchtete in gleichmäßig‘ weißem Schimmer, von dem Myriaden lebhafter und in grünlichen und bläulichen Teilen funkelnder kleiner Sterne sich abhoben. Da, wo das Wasser vom Sande eingesogen wurde, verriet ein starker leuchtender Saum seine Grenze. Dieser Anblick trat be- sonders in den kleinen Vertiefungen und Tümpeln der Bucht her- vor, in denen der Lichtsaum des zurückgebliebenen Wassers immer kleinere Kreise bildete in dem Maße, wie sich das Wasser in den Boden verlor. Zog man schnell einen langen Stab durch das Wasser, so erschien die hierdurch entstandene Furche in ihrer ganzen Länge wie glänzendes Silber. Das Wasser, das in einer gewissen Höhe von ihm herabfloß, wenn er aus dem Wasser gehoben wurde, glich völlig geschmolzenem Silber, und die kleinsten Tröpfchen boten alle den gleichen Anblick. Solche Tröpfchen ließen auf der Hand und auf den Kleidern leuchtende Teilchen zurück, deren Glanz ziemlich lange anhielt. Die in das Seewasser eingetauchten Hände erschienen über und über leuchtend, aber nach Verlauf einiger Sekunden waren sie nur noch mit zahlreichen Flecken bedeckt, deren gleichmäßiges, nicht intermittierendes Licht ziemlich lange anhielt. Pe ru II, Abschnitt. Das Leben im Meere, 161 Der bei der Ebbe von dem zurückweichenden Wasser eben verlassene Teil des Strandes zeigte keine Spur von Licht, aber bei der geringsten Erschütterung glänzte der Boden auf und schien unter den Sohlen der Wandelnden buchstäblich Feuer zu fangen. Durchschneidet aber ein Dampfer die Fluten, dann nimmt die Szene eine noch prächtigere Gestalt an. Nach allen Seiten hin werden die leuchtenden Wassermassen aufgewühlt und fallen in zahllosen, funkelnden Tropfen als Feuerregen auf die Oberfläche des Meeres zurück. Brillantgarben wälzen sich empor vor dem Druck des Kiels wie goldglühende Ackerkrume von der Gewalt eines gigantischen Pfluges, und hinter dem dahineilenden Schiffe zieht sich eine lange, flammenverbrämte Strahlenschnur. Wo die leichte Welle sich kräuselt, blitzt es auf und zittert und flittert 7 EIN SS, = =: Leuchtende Rippenqualle. Leuchttierchen. Pleurobrachia pileus, Natürl. Größe, Noctiluca miliaris., 35fach vergrößert, (Nach Vanhöffen.) (Nach Leunis.) Aus „Apstein, Tierleben der Hochsee“.) ” I durcheinander, als ob Najaden mit hurtigen Händen Fangball spielten mit ihrem demantenübersäeten Geschmeide. Zwischendurch tauchen, zahlreichen Meteoren gleich, Feuermassen auf mit wunder- sam weißer, grüner und roter Glut und verschwinden, lange leuchtende Furchen hinter sich lassend, wieder in die dunkle, un- bekannte Tiefe. Woher kommt denn dieses Leuchten? Die Ursache desselben sind die Tiere. Vor 70 Jahren schon entdeckte Ehrenberg in der ‚ Ostsee Leuchtinfusorien und hielt sie fast zwei Monate lebendig im Aquarium. Eins der am weitesten verbreiteten Leuchttierchen ist die Noctiluca miliaris, auch Geißelinfusorie genannt. Sie ist nach Schenkling-Prevöt ein einzelliges Wesen von Stecknadel- kopfgröße mit durchsichtiger Haut. An ihrem bald apfel-, bald pfirsich-, bald nierenförmigen Körper trägt sie eine Geißel, die eine Dr. Wiese, Das Meer, rI 162 Dr. Wiese, Das Meer, Fortsetzung der Umhüllungshaut des Körpers zu sein- scheint, bei ihrer geringen Größe aber nicht als Fortbewegungsorgan angesehen werden kann, vielmehr dazu dienen wird, die Beutetierchen, als Diatomeen, Desmidaceen und Infusorien, in die an ihrem Grunde gelegene Mundöffnung zu führen. Diese Noktiluka besitzt keine besonderen Leuchtorgane ; es leuchtet vielmehr der ganze proto- plasmatische Teil des Körpers, wie das bei den nächsten Ver- wandten: Noctiluca pacifica, im Stillen Ozean an der australischen und südamerikanischen Küste vorkommend, und Noctiluca homo- genea, im südchinesischen Meere lebend, auch der Fall ist. Das Licht der erstgenannten Form, die eine ausgedehnte geographische Verbreitung hat und auch das Meeresleuchten in der Nordsee her- vorruft, ist funkelnd und gewährt im Moment des Aufblitzens ein wirklich zauberisches Schauspiel und da diese Wesen nur auf äußere Reize mit Leuchten reagieren, nimmt man mit Recht das Leuchten als ein Zeichen ihres Unwillens oder Schmerzes an. Die größere Verwandte im Stillen Ozean leuchtet mit weißlichem und der Chinese mit grünlichem Lichte. Eine andere Art der unend- lichen Schar der „Nachtleuchter“ lebt im Mittelmeer; es ist Lepto- discus medussoide. | Auf der denkwürdigen wissenschaftlichen Erdumsegelung des englischen Schiffes „Challenger“ 1872—76 entdeckte man Orga- nismen von elegant spindelförmiger Gestalt, die gleich jenen zu den Cystolagellaten gehören, die Pyrocysten (Feuerkästchen), welche die Hauptursache des tropischen Meeresleuchtens sein dürften. Zu ihnen gehören Pyrocystis noctiluca und Pyrocystis fusiformis, von welchen die letztere, seltener vorkommende Art stets in Gesellschaft von noctiluca gefunden wurde; beide erstrahlen in hellem Lichte. In hervorragender Weise beteiligen sich an dem Seefeuer- werke auch die nach der dem Körper dicht aufliegenden Hülle benannten Manteltiere Tunicata, besonders die Scalpen, welche in allen warmen Meeren angetroffen werden. Sie schwimmen ent- weder einzeln oder in zusammenhängenden Ketten. Schweben sie, wie es in den Tropenmeeren häufig der Fall ist, in dichtge- drängten Scharen unter der Oberfläche dahin, so scheint das ganze Meer eine Lichtmasse zu sein. Das glühendste Licht verbreitet die sogenannte große Feuerwalze, Pyrosoma giganteum. Diese Feuerleiber erreichen eine Länge von 6-7 Zoll und sind aus einer Il. Abschnitt. Das Leben im Meere, 163 Anzahl kleiner Individuen so zusammengewachsen, daß der Mund nach außen gekehrt, der dicke Hinterleib der Walzenröhre zu- gewendet ist. In diese pressen sie das Wasser, nachdem es ihre Kiemen gestreift hat, hinein, und da sie einen Sack darstellt, so tritt das Wasser an derselben Stelle auch wieder heraus; dadurch bewegt sich das ganze Tierkonglomarat vorwärts. Parceni gelang es, die Leuchtkörper dieser Pryrosomenart nachzuweisen. Er fand, daß das Licht von Myriaden kleiner, fast in gleichen Abständen voneinander auf der Oberseite der Kolonie gelegener Zwillings- fleckchen (d. h. immer zu zwei dicht beisammenstehender) ausgeht. Die Leuchtorgane selbst haben ovale oder bisweilen abgestumpft dreieckige Umrisse. Wird ein solcher Tierstock berührt, so glimmen an der Berührungsstelle erst einzelne Lichtpunkte auf und verbreiten sich dann über den ganzen Zylinder, als steckten sie sich gegenseitig@ an. Die einzelnen Funken werden heller und heller, dehnen sich mehr und mehr aus N N SEN EEE SI ei) f 2 2, a; i £ und fließen in eine bläu- lich grüne Lichtmasse zusammen, bis endlich der ganze Körper wie ein weißelühender Eisen- stab im hellsten Licht- glanze erstrahlt. Das sind die geschicktesten Feuer- werker des Meeres, Feuerwalze Feuerkugel. welche, scharenweise Pyrosoma atlanticum Pyrocystis noctiluca. 75 fach neben den Schiffsplanken 1/, nat, Größe, lach, Schütt.) hinziehend, dasWasserin (Nach Agassiz.) 2 ’ (Aus „Apstein, Tier- leben der Hochsee“,) (Aus „Apstein, Tierleben der ” Hochsee“) dunkler Nacht mehrere Faden tief so prächtig illuminieren, daß Thun- und Haifische über dem finsteren Abgrund sichtbar werden. Herr von Bibra erzählt in seiner Reise nach Chile, daß er eines Abends sechs bis acht Pyrosomen auffing und von den- selben ein Licht erhielt, daß er einem erkrankten Freunde in der sonst ganz dunklen Koje die Beschreibung der Tiere bei ihrem eigenen Lichte vorlesen konnte. Fast vollständig ähnlich dieser Form ist die von P&con entdeckte und im Atlantischen Ozean vorkommende Pyro- soma atlanticum. Die Farbe des Tieres ist in der Ruhe opalisierend 141* 164 Dr. Wiese, Das Meer. gelb, vermischt mit schmutzig-grün. Bei Berührung nimmt es sofort die rote Farbe glühenden Eisens an, und wie das Metall in dem Maße, wie es erkaltet, ein Farbenspiel durchläuft, so zeigt auch das Pyrosom in dem Maße, wie seine Leuchtkraft abnimmt, eine Folge verschiedener, anmutiger, reizender Tinten: tiefrot, morgenrotrot, orange, grünlich und azurblau. Der Forscher Gigliolii, der im Chinesischen Meere und im Atlantischen Meere viele schöne Arten der Familie fischte, fand, daß ihr tiefrotes Licht vom Nukleus — so heißt der von den Ein- geweiden gebildete Knäuel — ausging, während bei den nahen Verwandten der Gattung Doliolum, die als durchsichtige, tonnen- förmige Körperchen im nördlichen Atlantischen, im Indischen und im Stillen Ozean leben, das grüne Licht von der Körperoberfläche ausstrahlt. Aber nicht allein die kleinen Urtiere leuchten, sondern auch einzelne Quallen oder Medusen, die wohl jeder Besucher eines Nordseebades kennt. Die Medusen treten vereinzelt oder in un- geheuren Schwärmen im Plankton auf, erreichen Erbsengröße bis 5o cm Größe. Trotz ihrer gallertartigen Beschaffenheit sind sie sehr gefährliche Raubtiere, die ziemlich große Fische zu betäuben und zu fangen vermögen. Sie sind es, die wie leuchtende Kuge'n in den Wellen tanzen. Aber nicht nur an seiner Überfläcne leuchtet das Meer, sondern auch in der Tiefe. Die zu den Korallen gehörenden Seefedern lassen ihre Zweige funkeln, gewisse See- sterne leuchten und die Bohrmuscheln phosphorisieren, auch einige Tintenfische sind mit Leuchtkraft begabt. Die schönsten Lichter senden aber die zu den Tunikaten oder Manteltieren gehörenden Seescheiden aus, die man deswegen Feuerzapfen genannt hat. Sie treiben in Scharen an der Oberfläche wärmerer Meere umher und senden bald hellblaues, bald rötliches Licht aus, das später in gelb oder grün hinüberspielt.e. Sehr groß ist auch die Zahl der mit Leuchtorganen ausgestatteten Fische in der Tiefsee.e. Man darf wohl annehmen, daß hier die Lichtentwicklung eine willkürliche ist und angewandt wird auf der Jagd nach Beutetieren. Bei einigen dieser Tiefseefische sind die Leuchtkörper in der Nähe der Augen angebracht, damit neugierige Geschöpfe sofort in den Gesichtskreis des Räubers kommen. Auch an den Barteln sitzen die Lichter und dienen hier gewiß als Anlockungsmittel. Bei noch anderen Tiefseefischen sind sie über den ganzen Körper verteilt. Aber II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 165 nicht immer sind die Leuchtwerkzeuge deutlich lokalisiert, sondern es scheint auch dem den Körper überziehenden Schleime Leucht- kraft innezuwohnen. So sind neben dem Plankton, dieser aus kleinen und kleinsten, meist glashell durchsichtigen Organismen zusammengesetzten Welt, eine große Anzahl von Tieren der Tiefsee, die bei Nacht auf- steigen, die Beleuchter des Ozeans. Mach Myriaden und Legionen zählen diese Illuminatoren des Meeres. Sie tragen in sich das feine Prinzip, das alle Religionen, Philosophen und Poesien als. das Symbol des göttlichen Geistes verkündigt haben: das Licht Und wem es vergönnt war, auf nächtlicher Meerfahrt das Schau- spiel des Meerleuchtens zu genießen oder vom Strande aus zu be- obachten, wird sicher die herrliche Schilderung in die Erinnerung kommen, die Krabbe vom Meeresleuchten entwirft: Und nun zum Meere wende dein Gesicht; Welch Glanz der Wogen, siehst’s dort leuchten nicht? Ein Steinwurf, selbst der leise Ruderschlag Ruft aus der Tiefe helle Flammen wach, Berühr am Strande nur die helle Phosphorflut, Und deine Hand blitzt auf von kalter Grlut. Staun an das Wunder hier! — man tritt und sieht Auf Sand, der funkelt und auf Naß, das glüht. OOOIETETER 2. Meerleuchten. Wann laue Sommerlüfte wehn Und späte Nacht die See verdunkelt, Dann könnt ihr in der Brandung sehn, Wie jede Welle glänzt und funkelt. Ein Ruderschlag, ein Griff der Hand Erweckt die hellsten Farbenspiele, Und goldne Furchen bis zum Strand Zieh’n hinter dem geschwinden Kiele. Meerleuchten heißt dies Phänomen; Der Kenner will es explizieren: Er läßt’s elektrisch bald entstehn, Und bald von Weich- und Wwassertieren. Er irrt, wie denn die Wissenschaft Die Wahrheit niemals ganz getroffen; Nur vor des Dichters Seherkraft Liegt auch dies lichte Rätsel offen. Er spricht: Die hellen Wellen sind Die letzten, liebenden Gedanken Von allen denen, die in Wind Und Wetter sanken und ertranken. So oft der Wind zum Lande steht, Geschieht’s als ob er ihnen riefe; Ein Regen und Bewegen geht Durch ihres Kirchhofs feuchte Tiefe. II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 167 Ihr Geisterblick starrt unverwandt Nach der geliebten Heimat Küsten; Ein Fuß erhebt sich, eine Hand, Wie wenn sie sie erreichen müßten. Doch mit Polypenarmen hält Das Meer zurück, was es genommen; Des Abgrunds dunkler Vorhang fällt, Sie können nicht nach oben kommen. Nur ihrer Sehnsucht Grüße trägt Die See mitleidig ans Grestade, Wo sie sich leuchtend überschlägt Auf der verlornen Lieben Pfade. Und aus dem Schaum scheint ein Gesicht, Ein bleiches, traurig aufzutauchen, Ein flehendes: Vergiß mein nicht! Im Nachtwind leise zu verhauchen. Franz Dingelstedt. 3» Schwämme und Schwammfischerei. „Hätte Plinius nicht besser getan, einen Schwamm zu nehmen und alles, was er über die Schwämme sagt, auszulöschen? * Erasmus, Ein so guter Hausfreund uns seit der Kindheit Tagen der Schwamm, besonders der Badeschwamm ist, so sind doch genauere Kenntnisse über ihn wenig verbreitet. Wir selbst würden in dem ursprünglichen Produkt, das in mühevoller Arbeit den Fluten des Meeres entrissen wird, kaum unsern in jedem Haushalte vorhandenen Badeschwamm erkennen. Ähnlich dem Korallenstock ist der Schwamm im lebenden Zustande eine Tierkolonie. Dieses Fasergerüst ist mit einem Netz überzogen, das wie eine schwarze Haut aussieht. Die Substanz ist eine Art Fleisch aus sehr dünnen, mehr oder weniger elastischen Fasern, die dermaßen verschlungen sind, daß sie ein elastisches Gewebe bilden. Dieses Gewebe wird durchkreuzt von einer Menge Kanäle von verschiedenem Durchmesser, die sich verzweigen. In allen diesen Öffnungen zirkuliert das Wasser und strömt aus und ein, durch die Bewegung kleiner Wimpern zum Fließen gebracht. Diese Wimpern sitzen in Zellen, aus denen die ganze schwarze Haut zusammengesetzt ist; außerdem gibt es auch noch andere Zellen in ihr, die beständig hin und her kriechen. Nicht alle Schwämme haben dieselbe Klumpenform wie unser Badeschwamm. Je nach den Arten nehmen sie sehr verschiedene Formen an, wie die von Röhren, Vasen, Sträuchern, Fächern usw., und diese Formen sind gewöhnlich sehr unregelmäßig. Ihre Farbe ist ein gelbliches Weiß oder bräunliches Rot, das für das Auge nichts Angenehmes hat. Durch die Natur der Außenhaut zerfallen die Schwämme in Unter- abteilungen. Entweder bleibt die Außenhaut weich (Weichschwämme), II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 169 ‘oder sie entwickelt in sich eine Art von Skelett. Dieses besteht aus Hornstoff oder Seidenstoff, gleich ähnlichen, vielfach allseitig sich verbindenden Fäden (Hornschwämme, die jedermann durch den gemeinen Badeschwamm bekannt sind); oder das Skelett wird aus Kalkkörperchen gleichsam zusammengefilzt (Kalkschwämme); oder endlich es besteht aus zahlreichen bei den verschiedenen Arten sehr verschiedenartig und oft sehr zierlich gestalteten, in- einander gewirrten Kieselnadeln oder auch noch aus langen, glas- artigen Kieselfäden, die oft als Haare und lange Bärte den Schwamm- körper außen bedecken (Kieselschwämme). Man findet die Schwämme in allen Breiten, bald in bedeutender Tiefe, bald der Oberfläche mehr oder weniger nahe, bald sogar auf Felsen, die abwechselnd von der Flut bedeckt oder verlassen wer- den. Die bedeutendsten Schwammfischereien sind im Archipel auf Naxos und den benachbarten Inseln, besonders leben die Be- wohner der Insel Syme und Nikaria fast allein vom Schwammfischen. Auch auf Korfu und an der dalma- tischen Küste, bei Tunis und Algier werden Schwämme Farrea occa. gefischt. In großem Malß- Glasschwamm. stabe wird die Schwamm- fischerei in den Gewässern der Bahamainseln betrieben. Die Schwammfischerflottillen fahren gewöhnlich von der Hafenstadt Nassau aus. Im Hafen dieser auf der Insel New-Providence ge- legenen Stadt liegen stets einige Dutzend Schwammfischerschuner und Schaluppen vor Anker. Dieselben haben zwischen ıo und 30 t Iragkraft, eine Besatzung von acht bis zwölf Mann und führen je zwei bis drei kleine Ruderboote mit sich. Insgesamt sind in den Bahamas etwa 450 bis 500 solcher Fahrzeuge bei der Schwamm- fischerei in Verwendung. Die Zahl aller bei der Fischerei und Zu- richtung der Schwämme beschäftigten Personen mag 5000 bis 6000 170 Dr, Wiese, Das Meer, betragen. Mit Ausnahme der Schiffseigentümer und Makler sind dieselben durchweg Neger und Mulatten. Die Schwammfischerei kann das ganze Jahr hindurch betrieben werden; jedoch pflegen die meisten Schiffe ihre Fahrten während der Monate Juli, August und September einzustellen, da dann die Bahamas häufig von Orkanen heimgesucht sind. In der Regel werden die Schuner für sechs bis sieben Wochen ausgerüstet und verteilen sich dann, fünf bis sieben Fahrten jähr- lich ausführend, über den ungeeheuren, aus mehr als 3000 Inseln, Riffeilanden und Klippen bestehenden Archipel. Die Schwamm- betten sind sehr ungleichmäßig verteilt. Am ergiebigsten sind die- jenigen der nordwestlichen Inseln. Auf den Bänken angekommen, setzen die Schaluppen die Mannschaften in den kleinen Ruder- booten aus und nehmen sie samt der Ausbeute am Abend wieder an Bord. Zwei Mann genügen für ein Boot. Der eine derselben handhabt das Steuer, während der andere dem Fischen der Schwämme obliegt. Zur Ausübung ihres Gewerbes bedürfen die Schwammfischer nicht vieler Werkzeuge. Letztere bestehen nur aus einer Io bis ı5 m langen Stange, die unten mit zwei starken eisernen Haken- zähnen versehen ist, und einem sog. Wasserglase. Das letztere ist ein kleiner, viereckiger Holzkasten, mitunter auch nur ein Eimer, in dessen Boden, zwei Fingerbreit vom Rande entfernt, eine Glas- scheibe eingesetzt ist. Wird dieses Instrument bis über die Glas- scheibe hinaus in das Meer eingetaucht, so ist unter der Scheibe jede störende Wellenbewegung aufgehoben, so daß man durch das überaus durchsichtige Wasser alle auf dem Boden des Meeres be- findlichen Gegenstände bis zu einer Tiefe von ı5 bis 20 m deutlich erkennen kann. „Alsich“, sagt Rudolf Cronau, New-York, in einer herrlichen Schilderung (Überall 1902), der wir hier folgen, „in einem solchen Schwammfischerboot eine Fahrt nach den berühmten See- gärten der Insel New Providence unternahm und dort zum ersten Male ein solches Meerglas benützte, entschleierte sich meinem staunenden Blick eine traumhaft schöne Welt. Was ich bisher in Aquarien nur vereinzelt und in dürftigen, halb verkümmerten Exemplaren gesehen, war hier in überschweng- | lichster Fülle und schönster Entfaltung vorhanden. Da waren weite | Strecken, auf denen sich schneeweiße Korallenstöcke erhoben, bald | II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 173 in baum- oder blumenkohlartigen, bald in handförmigen oder knollisgen Gebilden, bald in mächtigen Platten und Waben, bald verzweigt und zackig aufragend gleich Kakteen. Und auf allen diesen von smaragdgrünen und azurblauen Wassern umgebenen Bauten flimmerten die Fühler von Millionen winziger Korallen- tierchen. Zwischen ihren zackigen Gehäusen wucherten lange, jeder leisen Strömung folgende Seefedern, daneben standen karminrote, aus feinstem Spitzengewebe bestehende, metergroße Seefächer auf dünnen Stielen. Andere Gewächse erinnerten an mächtige, purpur und gelb gefärbte Farnkräuter, oder sie wallten wie vom Zephir getragene grüne, weiße oder violette Seidenbänder dahin. Als ein paar Ruderschläge uns bis zu jenen Stellen brachten, entdeckten wir, daß daselbst ganze Ansiedelungen entzückender Seerosen und Anemonen wucherten; bei schärferem Zusehen vermochten wir sogar die Bewegungen der einzelnen staubfadenartigen Fangarme zu erkennen, mit denen diese zwischen Tier und Pflanze ein Mittel- ding bildenden Geschöpfe ihre aus kleinen Mollusken und Würmern bestehende Beute erhaschten. Einen schneidenden Gegensatz zu jenen leuchtenden, anscheinend nur aus Sonnenschein und Farbe bestehenden Wesen bildeten faustgroße tintenschwarze Körper, die manchmal so massenhaft beisammen lagen, dal ihr Schein der Oberfläche des Wassers einen eigentümlichen, rötlich-schwarzen Schimmer verlieh. Es waren Kolonien von Seeigeln, lebendige, mit Tausenden von langen, überaus feinen Stacheln besetzte Nadel- Kissen, die den in diesen Gewässern Badenden wenig Freude be- reiten. Weitaus poetischer erschienen mir die großen glocken- förmigen Medusen, die gleich unterseeischen Seifenblasen durch die dunkelblauen Wasser dahinschwebten und ihre Nesselfäden hin und her spielen ließen. Keiner der zahlreichen Fische wagte die zarten Geschöpfe zu stören, denn dieselben verfügen über ein ganzes Arsenal geheimnisvoller giftiger Waffen, die selbst dem Menschen gefährlich werden können. Auch unter den zahlreichen Fischen, die vereinzelt oder in Zügen daher kamen, gab es viel abenteuer- liches Volk, mit dem, wie mit großen Herren, nicht gut Kirschen zu essen ist. Da war der an der Stirn gleich einem Rind mit zwei Hörnen bewaffnete Kuhfisch; der kugelrunde, über und über mit Stacheln besetzte Judenfisch, und tausend andere Schuppenträger, die bald wie mit Gold und Silber bedeckt schienen, bald brennend rote, kanariengelbe, samtschwarze und hellgrüne Farben trugen, 173 Dr. Wiese, Das Meer. oder jenes entzückende Blau besaßen, das wir auf den Fittichen grewisser brasilianischer Schmetterlinge bewundern. "seweyeg usop ul J9YUISYJWUIBMUIS Doch alle diese Naturwunder interessierten den mich beglei- tenden Schwammfischer nicht. Seine Blicke glitten gleichgültig über diese ihm alltäglichen Erscheinungen hinweg, um mit desto II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 173 größerem Behagen auf einigen recht unscheinbaren, dunklen Klumpen haften zu bleiben, die einer Korallenbank aufsaßen. Ein Ruderschlag genügte, um «das Boot direkt über jene Stelle zu treiben, und nun langte der Fischer, das Glas in der linken Hand haltend, mit der rechten nach seiner langen Harpune, stieß dieselbe in die Tiefe hinab, brach mit einer geschickten Bewegung die Klumpen einen nach dem andern los, zog sie empor und schleu- derte sie mit kurzem Ruck auf den Boden des Bootes. Die so aus dem Schoß des Meeres ans Tageslicht beförderten Schwämme waren. nichts weniger als anziehende Gegenstände, sondern häßliche, braunviolette, oft fast schwarz aussehende, schlei- mige Klumpen, die gleich einem Gelatinepudding schwabberten und zitterten und nach einiger Zeit, als die heiße Sonnenglut auf sie einzuwirken begann, einen üblen Geruch verbreiteten.“ Als ein gutes Ergebnis wird es bezeichnet, wenn die Be- mannung nach etwa sechswöchentlicher mühevoller Arbeit unter den glühenden Strahlen der Sonne 12— 135000 große Exemplare nach Hause bringt. Gewöhnlich bringt ein Schiff aber etwa 3000 große und 7500 kleine Schwämme heim. Der heraufgebrachte Schwamm sieht, wie schon bemerkt, ganz anders aus, als der in den Handel gebrachte. Er ist schleimig, weich, mit der erwähnten schwarzen Haut bedeckt und mit einer weißen Flüssigkeit erfüllt. Alle diese tierischen Substanzen, diese Millionen von Lebewesen, die den Schwamm aufbauten, werden durch die Sonnenhitze ge- tötet und durch wiederholtes Austreten und Ausspülen entfernt. Dann legt man die Schwämme unter öfterem Begießen mit Meer- wasser zum Bleichen in die Sonne, sortiert sie und bringt sie zum Verkauf. Für die Ausfuhr werden sie noch besonders geschnitten, nochmals chemisch gereinigt und in kleinen Ballen zusammen- gepreßt, die nun in die weite Welt wandern und, ehe sie zum Gebrauch kommen, im Großhandel noch durch mehrere Hände gehen. 4. Korallen und Koralleninseln. „Blutrot schlingt die Koralle sich um die Weiße des Nackens,“ Sidonius Apollinaris, Während man früher unter Korallen niedere Seetiere aus sehr verschiedenen Abteilungen verstand, bezeichnet man jetzt als Korallen nur die sog. Polypenstöcke. Die Tiere, die dieselben bilden, gehören in der Mehrzahl der Fälle zu der Ordnung der Korallpolypen, in der Minderzahl zu der Ordnung der Hydra- medusen. Zur Bildung von Korallen ist stets eine Kolonie (Stock) von Einzeltieren erforderlich. Es sind daher alle Arten der Ord- nungen, die kein zusammenhängendes Skelett besitzen, von dem Begriff „Koralle* ausgeschlossen. Die Tiere, die jene kalkigen oder hornigen, als Korallen bezeichneten Skelette erzeugen, stellen in der Hauptsache einfache Schläuche mit je einer von Fühlern (Tentakeln) umgebenen Mundöffnung dar. Alle diese zu einer Kolonie vereinigten Einzeltiere stehen durch ein Grefäßnetz mit- einander in Verbindung, so daß die vom einzelnen Tier erzeugten Nährstoffe von der Gesamtheit verbraucht werden. Ein bezeichnendes Beispiel für die soeben geschilderten Ver- hältnisse liefert die allbekannte Edelkoralle (Korallium rubrum Lamk,). Sie gehört zur Familie der sog. Rindenkorallen aus der Ord- nung der Fiederkorallen und lebt im Mittelmeer, Adriatischen Meer, an der Nordwestküste von Afrika und an den Kapverdischen Inseln in einer Tiefe von 70—ı80 m. Die Stöcke sind bis 30 cm hoch, baumartig verzweigt, der Unterlage fest aufgewachsen und besitzen eine steinharte, rot bis weißlich gefärbte Achse. Letztere ist nach außen mit einer dünnen orangeroten Rinde bekleidet, in der die einzelnen Korallentierchen sitzen und in die sie sich völlig II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 175 zurückzuziehen vermögen. Die Tierchen sind weiß und winzigen, achtstrahligen Sternchen vergleichbar. In der Rinde nun verläuft ein reich entwickeltes Gefäßnetz, daß alle Einzeltiere miteinander in Verbindung setzt. Das harte, rote Achselskelett wird schon seit alter Zeit zu geschätzten Schmucksachen verarbeitet, weshalb die Edelkoralle namentlich für den Handel und die Industrie der Mittelmeerländer große Bedeutung erlangt hat. ]Je zarter die rote Färbung dieses Skeletts ist, desto höher steht es im Preise; von den teuersten Korallen kostet das Kilogramm bis zu 500 Frcs. An den Küsten von Italien, Sizilien, Sardinien, Algier und Tunis ist die Korallenfischerei ein eigener Erwerbszweig geworden. Von Neapel allein, neben Livorno und Genua, dem Hauptsitz der Korallen- fischerei, laufen alljährlich mehrere hundert Fischerbarken aus. Ungefähr 4000 Fischer, meist Italiener, fördern jährlich 60— 70000 kg Korallen zu- tage, die einen Rohwert von rund 4‘), Millionen Frs., nach der Verar- beitung aber einen Wert von mehr als 20 Millionen Frs. besitzen. Die Korallentierchen wohnen nicht nur kolonienweise zu vielen Tausenden auf einem. Stocke, sondern an ge- wissen, für die Entwicklung der Ko- en rallen günstigen Stellen der Ozeane ' Corallium rubrum, Edelkoralle. siedeln sich zahllose Stöcke neben- und aufeinander an und bilden dann die sog. Korallenriffe und Koralleninseln. Wie diese Koralleninseln zustande kommen, hat Moritz Schanz sehr anschaulich in seinem Werke über „Australien und die Süd- see“ geschildert. Die Korallen siedeln sich an den Küsten der Insein und Kontinente warmer Meere auf einem höchstens 35—s5o m tiefen Grunde des Ozeans an und bilden daselbst einzelne Höcker, zwischen denen sich Trümmer von Korallenstöcken, den Skeletten von Korallentierchen, vom Meere zusammengespült, festsetzen, Neue Generationen bauen sich auf den alten Höckern auf, erhöhen dieselben und überwölben ihre Zwischenräume, und zwar ist das Wachstum dieser sich so bildenden „Korallenbänke* ein verhält- 176 Dr, Wiese, Das Meer. nismäßig rasches; ist doch z. B. die Torresstraße seit ihrer Ent- deckung durch Ausbreitung der Korallenbauten in ihrem Fahr- wasser so bedeutend beschränkt worden, daß man an eine gänz- liche Sperrung derselben in der Zukunft denken darf. Die kalk- reichen Exkremente zahlreicher, die Korallenfelder abweidender Fische mischen sich mit den durch die Wellen abgerissenen Korallentrümmern, die zu Sand zerkleinert werden und sich in allen Zwischenräumen ablagern. Bis an die Meeresoberfläche zur Ebbezeit bauen sich die Polypen empor, dann siedeln sich auf ihrer Oberfläche besonders Kalkalgen an, die eine Entblößung zur Ebbe- zeit vertragen; Wellen und Wind werfen abgerissene Trümmer von Korallen auf die Höhe des Riffs, und so hebt sich dieses im Verlauf: der Zeit ‘zunächst an eimzelaen Punkten und endlich im ganzen Umfang über die höchste Flutlinie. Darwin hat nicht nur die ver- schiedenen Formen der Korallen- kolonien übersichtlich eingeteilt, sondern auch eine Hypothese über den Bildungsvorgang für diese ver- schiedenen Formen aufgestellt, die auf der Annahme allgemein ver- breiteterSenkungen desMeerbodens beruht. Er unterscheidet Saum-, 39 Damm- und Lagunenriffe. Die rote Schmuckkoralle. Saum- oder Küstenriffe erstrecken sich dicht am Rande eines Landes ins Meer, fußen auf dem sich vom Ufer herabsenkenden Meeres- boden und werden vom Strande gewöhnlich durch schmale Streifen ganz seichten Wassers geschieden, die das Landen meist nur in Booten gestatten. Die Damm- oder Barrierriffe sind aus den Küstenriffen durch allmähliche Senkung des Landes entstanden und ziehen sich in größerer, oft meilenweiter Entfernung von der Küste dahin; sie erreichen eine Breite von vielen Kilometern und, wie z. B. bei dem großen Barrierriff vor der Küste von Queensland, eine Länge von 2000 km. Ein Meeresarm von gewöhnlich nicht unbedeutender II. Abschnitt. Das Leben im Meere. I SI —T Tiefe, das Küstenmeer, dessen Boden aus Korallensand besteht, und in dem sich zahlreiche Korallenbänke und -riffe zu erheben pflegen, trennt das Barrierriff von dem Küstenriff; die ruhige Wasserfläche dieses Meeresarms kontrastiert stark mit der tosenden Brandung am Außenrand des Riffs, die den randständigen Korallen- stöcken eine reichere Nahrungszufuhr bietet, als das ruhige Küstenmeer. Ist das Sinken des Landes oder der Insel so weit vorgeschritten, daß sie ganz unter dem Spiegel des Meeres verschwinden, so geht das Barrierriff in das Lagunenriff oder Atoll über, das nun nicht mehr Land, sondern eine seeartige Meeresfläche, die Lagune um- gibt; diese merkwürdigste Form ist besonders im Indischen, mehr noch im Stillen Ozean verbreitet und weist zwei Unterformen auf: sie zeigt nämlich einen nur wenige Fuß über Fluthöhe hohen und meist nur 300—400 m breiten, ovalen, seltener kreisrunden Ring, der im Innern eine ruhige, 60— 150 m tiefe Wasserfläche einschließt; manchmal erhebt sich das Atollriff aber auch nur in einzelnen, im Kreise angeordneten Inseln über das Meer. Schroff fällt das Atollriff zum tiefen blauen Ozean ab, viel sanfter neigt es sich nach innen unter das meist flache, grünliche Gewässer der einge- schlossenen Lagune; zu diesen natürlichen Häfen, in deren Korallen- grund die Schiffe auf ruhigem Wasser gut verankert werden können, wenn auch draußen weißschäumende Wellenkämme hoch aufgepeitscht werden, führen meist mehrere genügend tiefe Lücken als sichere Durchlässe für die Schiffe durch das Riff. Auch die Hochinseln sind zuweilen von einem atollartigen Kranz eines mehr oder weniger weit ausgrerückten Dammriffs um- zogen, hinter dessen Durchfahrten in sturmgedeckten Lagunen- streifen sich recht gute Ankerbuchten finden. | Darwins Theorie geht, wie schon erwähnt, von der Annahme allgemein verbreiteter Senkungen des Meerbodens aus. Dabei muß sich aber die Senkung stets so langsanı vollziehen, daß die Korallen durch Fortbau nach oben ersetzen können, was ihnen durch zu tiefes Eintauchen entzogen wird, denn bei einer Tiefe von 35—50om ist die Grenze der Lebenszone der Korallen bereits erreicht. Auf der Insel Funafutti, einem typischen Atoll der Ellicegruppe, im Jahre 1898 vorgenommene wissenschaftliche Tietfbohrungen des Ringfelsens ergaben noch bei einer Tiefe von 340 m einen harten dolomitähnlichen Riffstein, so daß der Beweis eines Korallenbaues Dr. Wiese, Das Meer. 12 178 Dr. Wiese, Das Meer. erbracht ist, der bis in Tiefen hinabgeht, in denen niemals lebende Polypen riffbildender Korallen angetroffen wurden. Dieser Befund laßt sich wohl nur durch eine allmähliche Senkung des in geringerer Tiefe begonnenen Baues erklären, wie sie die Darwinsche mannig- fach bestrittene Koralleninseltheorie voraussetzt. Bei Ebbe, wo ein großer Teil des Riffs, bei manchen Atollen der ganze Korallenring aus dem Wasser hervorragt, lassen sich > Koprallenriffe, Madrepora (Schwammkoralle), Pocillopora etc. am Großen Australischen Barrier-Riff, natürlich Bau und Fortbildung der Riffmauer am besten beobachten. Dann gewahrt man, wie rüstig die stockartig miteinander ver- bundenen Polypen, meist Madreporen, namentlich an der Nord- ostseite ihren Bau weiterführen, denn gegen diese Seite treibt ihnen unter dem Einfluß des Nordostpassates die Brandung stets die meiste Nahrung zu. Kaum zu Manneshöhe überragen diese Flacheilande das Mittelwasser mit ihrem aus festem, licht- grauem Korallengestein oder aus weißgelblichem Korallenkalksand II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 179 bestehenden Boden, über den sich erst im Laufe der Zeit durch die Vegetation eine dunklere Humusdecke ausbreitet. Ein natür- liches Merkmal aller aus festgestampften Lagen von korallinischem Trümmergestein aufgebauten Inseln ist, daß ihnen trotz des feuchten Tropenklimas jedwede Quelle, jeder Bach fehlt. In den Boden eingegrabene Zisternen füllen sich bei der Porosität des Kalk- gesteins und der Meeresnähe bald mit Brackwasser. Als dem Meeresboden entstiegene Landschollen haben die Koralleninseln ihren Pflanzenteppich aus Arten gewebt, wie sie ihnen von älteren Ländermassen in Sporen oder Samen geliefert werden, sei es durch Wind, Meeresdrift oder Vogelflug; dadurch ist besonders die Flora der Flacheilande keineswegs „tropisch mannigfaltig“, sondern stimmt auf weite Flächen ärmlich eintönig überein. Jedoch sind die wenigen Arten stets so malerisch gruppiert, so formenschön und meist wie zu theatralischer Wirkung in reizendem Durcheinander zusammengewürfelt, in strotzender Üppig- keit sich drängend, daß man fast überall einem reichen Landschafts- schmuck durch die Vegetation begegnet. Kaum ist auf dem Korallenriff eine neue Zinne aufgeworfen, so schmückt sich die jugendliche Schaumgeborene nach Professor Kirchhoffs klassischer "Schilderung, der wir in den nächsten Zeilen folgen, alsbald mit ‚smaragdenem Geschmeide. Besonders einige strauchartige Gre- ‚wächse, voran eine Scaevola, leiten den Übergrünungsvorgang ein; ihr rascher Aufwuchs fördert baldige Bildung von Dammerde, in der dann nach dem Zufallsspiel allerwegen gleichartiger Ursachen eine ganze Reihe von Gewächsen Wurzel schlägt, gleichartig auf allen flachen Koralleninseln, nur mit leisen Variationen der sich stets gleichen Grundmelodie. Wo die Humusschicht am mächtigsten lagert, erheben sich nach wenigen Jahren hohe Bäume zum bereits entstehenden Walde. Nach außen, d.h. nach der offenen See zu, ist dieser regelmäßig von schlank aufgeschossenen Kokospalmen umsäumt, die ihre herrlichen Federbuschwipfel immer in Seeluft schaukeln wollen. Sie bringen wegen der Leichtigkeit, mit der ihre großen Nüsse in der Meeresströmung treiben und von der Brandung auf das niedrige Ufer geworfen werden, den fast nie fehlenden amerikanischen Einschlag in das Gewebe; ja zuweilen bilden sie, wie von Menschenhand in Reihen gepflanzt, den alleinigen Baumwuchs neben dem Gesträuch der langgezogenen Atollinseln. Zr ı2* Die Stachelhäuter der Tiefsee. Der Seeigel besitzt aber am meisten Schutzmittel von allen, denn die Schale ist rings gewölbt und durch die spitzen Stacheln verpalisadiert. Aristoteles. Unter der Bezeichnung Stachelhäuter vereinigt man eine Anzahl von Tieren der Tiefsee, von denen die bemerkenswertesten die Seegurken (Holothurien), die Seeigel (Echinoiden), die See- sterne (Asteroiden) und die Haarsterne (Crinoiden) sind. Die Seegurken oder Seewalzen haben einen beinahe schilderförmigen, zuweilen wurmförmigen, gewöhnlich lederartigen Körper, der mit zahlreichen, sehr ausdehnbaren, völlig zurück- ziehbaren Saugfüßchen versehen ist. An jedem Ende befindet sich eine Mündung. Ihre Haut besitzt nur gering entwickelte Kalk- einlagerungen in Gestalt von Nadeln, Platten, Schnallen, Stühlchen, in seltenen Fällen von Schuppenstacheln und Ankern. Der Mund befindet sich am vorderen Ende; um ihn herum liegen zehn Kalk- platten, die den Schlund ringförmig umgeben. Bemerkenswert ist, daß sich im Verdauungskanal der Holothurien vielfach Schmarotzer ansiedeln, die dort als Parasit sich aufhalten. Da ist besonders ein kleiner Fisch, der Fierasper, zu nennen. Dieser Fisch treibt sich in seiner Jugend lustig an der Meeresoberfläche herum und geht dort auf ehrlichen Nahrungserwerb aus, wobei er durch ein eigen- tümliches Gebilde unterstützt wird, das einer Angelrute gleicht, deren Schnur mit kleinen Plättchen besetzt ist. Mit dieser vorn am Kopfende befindlichen Vorrichtung lockt er allerlei kleines Getier an, das ihm als leckere Beute zum Opfer fällt, sobald es in die Nähe seines Maules kommt. Später verkümmert dieses Angelinstrument und der Fierasper sucht sich eine ihm passend II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 18E erscheinende Seegurke aus, die er zunächst schmeichelnd umwirbt, um schließlich Wohnung und Beköstigung in ihrer Darmhöhlung zu beanspruchen. Der mit so originellen Lebensgewohnheiten be- haftete Fisch ist ein Bewohner des Mittelmeers; seine Entdeckung datiert aber erst seit einigen Jahrzehnten. Die Seegurken, die sich in der eben geschilderten Weise übertölpeln lassen, sind überhaupt sehr geduldige und gutmütige Wesen. Sie lassen, wie man zu sagen pflegt, Holz auf sich hacken, und es ist ihnen darum schon recht, daß sie von allerlei Schmarotzern behelligt werden. So lebt in den Holothurien, die das Meer in der Nähe der Philippinen be- völkern, ein kleiner Krebs (Pinnoteres holo thuriae), der oft in großer Anzahl durch die hintere Leibesöffnung der Seegurken ein- wandert und von hier aus in die langen, verästelten Schläuche ge- langt, die man „Wasserlungen“ nennt, weil sie Organe sind, die der Atmung vorstehen. Zur Zeit, .wo sich jene Krebschen an- siedeln, sind sie noch im Larvenstadium und sehr klein. Aber sie wachsen dann im Innern der Seegurken rasch heran, verlieren die Augen und werden ihrer Lebensweise nach zu echten Parasiten, die ihren Platz nie wieder freiwillig verlassen. Dabei erleidet die Wasserlunge, in der sie schmarotzen, eine weitgehende Entartung, indem ihre Seitenzweige eingehen, während sich die Hauptstämme, wo die Tiere sitzen, erweitern. Anscheinend aber leidet die See- gurke unter diesen Einwirkungen nicht im geringsten. Bekannt- lich werden die Holothurien, von denen wir hier sprechen, in China und Japan auch für die menschliche Küche zubereitet und bilden eine Nahrung, die unter dem Namen Trepang in ganz Öst- asien wohlbekannt und geschätzt ist. Der Geschmack derselben soll äußerst fein und pikant sein. Der Fang der Holothurien er- fordert viel Geduld und Ausdauer. Die über ihre Fahrzeuge vor- gebeugten Malaien haben lange Bambusstöcke in Händen, die ineinandergesteckt werden können, und von denen der letzte mit einem Haken versehen ist. In der günstigen Zeit, d. h. bei ruhigem Wetter, dringen die Augen der geübten Fischer in die Tiefe dieser Gewässer und nehmen mit Leichtigkeit in einer Tiefe von nicht weniger als 100 Fuß, wie behauptet wird, die an Korallen- rife oder Felsen angeheftete Holothurie wahr. Dann fährt die Harpune sanft hernieder und trifft ihre Opfer, und nur selten ver- fehlt der Malaie seinen Stoß. Zuweilen entfernen sich die Trepangs weit von den Küsten, oder die Seltenheit des ruhigen Wetters 182 Dr. Wiese, Das Meer, macht den Fischfang wenig einträglich; daher glaubt man auch daß die Malaien behufs des Fischens dieser Tiere die Küsten Neu- Hollands aufgesucht haben, und zwar lange bevor Europäer diese Grestade betraten. Grehen wir nun zur zweiten Klasse der Stachelhäuter über, zu den Seeigeln. Der Körper des Seeigels ist nur eine mehr oder weniger abgeplattete oder längliche Kugel; er ist mit einem festen kalkartigen Panzer bekleidet, der aus einer Menge beweglicher, symmetrisch in zwanzig Reihen geordneter Täfelchen besteht, von denen jedes einen starren, spröden Stachel trägt. Dieser Panzer ) | 3 ee ar Pas . ’ | ar un ® .% “ 6 “ be n ; ar; . & RR = = 5 5 * y a! £ x = . x‘ F ” 2 Be . “ ey N 7 R “ “ ER S - La 3 x N > "4 > E:% S‘ n £ 4 2 A 5% $: N S Y L ei \ R S k% > { 3 N N; ’ > x & ‘Ss R R ” S SESRyIES k & - en x 4 ET Rn Seeigel, Marshallinseln (Heterocentrotus mammilatus). ist von so vielen kleinen Löchern durchbohrt, wie er Stacheln hat, und durch die die Füße sich hervorstrecken. Eine größere Aus- zackung öffnet sich für den Mund, der bei einigen Arten, den leischfressenden, waffenlos ist, bei den eigentlichen Seeigeln aber mit fünf Zähnen ausgerüstet ist, die dazu dienen, den Tang, der ihre Nahrung bildet, zu zermalmen. Alexander Agassiz, wohl der beste Kenner der Seeigel, nimmt für die vertikale Verbreitung der Seeigel, die immer auf dem Boden lebende Tiere sind, drei Zonen an: die litorale bis zu ı5o Faden Tiefe, die kontinentale, ab- hängig von den Veränderungen, die die Kontinente im Laufe der geologischen Entwicklung der Erde erlitten haben, bis 500 Faden, II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 183 und die abyssische, die vom Anfang ihres Bestehens an in den Tiefenverhältnissen ihrer Wohnstätten wenige oder keine Ver- änderungen erfahren hat, und bis 2900 Faden, die tiefste von einem Seeigel (Pourtalesia laguncula) als bewohnt gekannte Tiefe, hinabgeht. Unter allen Stachelhäutern ist die Klasse der Seesterne die in jeder Beziehung am höchsten entwickelte, was wohl in erster Linie darauf zurückzuführen ist, daß ihre Angehörigen im Gegen- satz zu den meisten übrigen Echinodermen keine blöden Vegetarier bzw. Schlammfresser sind, sondern von animalischer Kost leben. Ein wirkliches Raubtier kann, wie Marschall sagt, nur selten und unter ganz besonderen Verhältnissen ein sessiles Tier sein, es muß viel- mehr die Fähigkeit freier Örtsbewegung bewahrt und diese in um so höherem Maße entwickelt haben, je hurtiger seine Bentetiere sind. Mit der Gewohnheit energischerer Bewegung aber geht Hand in Hand Be ireiere Gliederung des Körpers, ein ent- I wickelteres Muskel- Gemeiner Seestern (Asteracanthion rubens). system, höher beanlagte nervöse Apparate und als endliche Folge aller dieser zusammen- wirkenden Faktoren eine größere Intelligenz. Wie anders ist das planvolle Benehmen eines gefangenen Schlangensterns, der mit großer Gewandtheit zu entschlüpfen versucht und zu entschlüpfen versteht, gegenüber der stumpfsinnigen Resignation einer tragen Holothurie, die, ihren höchsten Trumpf ausspielend, ihre Eingeweide von sich bricht! Der Körper der Asteroiden zeichnet sich zunächst dadurch aus, daß er flachgedrückt ist, daß sein System von Ambulakral- füßchen sich ausschließlich auf der Mundseite befindet und dab seine Radien immer mindestens etwas eckig vorspringen, meist sogar zu längeren, oft selbst sehr langen Armen ausgezogen sind. 184 Dr. Wiese, Das Meer. Diese Arme selbst .sind gegliedert und besitzen ein inneres Skelett, dessen Teile ähnlich wie die Wirbel an dem Rückgrate eines Wirbeltieres miteinander verbunden sind. Man unterscheidet zwei Unterklassen der Seesterne: die Schlangensterne (Öphiuriden) und die eigentlichen Seesterne (Stelleriden). | Die Schlangensterne haben lange, meist sehr bewegliche Arme” von zylindrischer Gestalt, die sich scharf gegen die Scheibe des am "WERE >. Auen Te — Schlangenstern (Ophiothrix capilaris Lym.) 3fach vergrößert, Körpers absetzen und auf der Unterseite mit einer kontinuierlichen Reihe von Schildern versehen sind, die Lücken zwischen sich haben, aus denen die Füßchen hervortreten. Die große Beweg- lichkeit der Arme erlaubt den Schlangensternen ein rasches Kriechen und Klettern, und Preyer hat gezeigt, wie überraschend klug: sie ihre Bewegungsfähigkeit zu benutzen verstehen, um ihren Körper aus den ungewöhnlichsten Zwangslagen zu befreien. Ophiuriden finden sich in allen Meeren und in allen Tiefen, und manche Arten aus der Tiefsee leben in großen Gesellschaften. II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 185 Die Zahl der bekannten Arten ist durch das von Theodor Lyman bearbeitete Challengermaterial von 380 auf 550 gestiegen, und die meisten neuen Formen stammen aus Tiefen von über 100 Faden. Die übrigen Seesterne (Stelleridae) besitzen einen After, und ihre Arme sind an der Unterseite mit einer nicht von Schildchen überdeckten Längsfurche (Ambulakralfurche) versehen, in der sich die Füßbchen befinden. Die meisten Arten sind Be- wohner der weniger tiefen (rewässer, doch gibt es auch interessante Tiefseeformen. Wenig bekannt dürfte sein, daß die Scesterne große Liebhaber von Austern sind. Bezüglich der Art und Weise nun, wie der Seestern die Muschel überwältigt, haben die Beobachtungen des Zoologen P. Schiemenz folgendes ergeben. Wird einem hungrigen Seestern eine Muschel angeboten, so faßt er sie und bringt sie unter sein Mittelstück, wo er sie derartig festhält, daß das Schloß der Muschelschale gegen die Unterlage, die freien Schalränder gegen die Unterseite des Seesterns aber nach oben gerichtet sind, Een RS Brisinga elegans, aus 820 Faden Tiefen, 186 Dr. Wiese, Das Meer. Der Seestern liegt dabei mit den Enden seiner Arme dem Boden auf, während er mit den dem Mittelpunkt näher liegenden Teilen der Arme und dem Mittelstück über die Muschel einen Berg bildet. In dieser Lage wird die Muschel von dem Seestern geöffnet und ausgesaugt. Das Öffnen geschieht jedenfalls mit Hilfe der schon erwähnten „Ambulakralfüßchen“ des Seesterns. Das sind Schläuche, die an der Unterseite des Tlieres in großer Anzahl vorhanden sind und die Ortsbewegung des Seesterns vermitteln, indem sie sich lang auszustrecken und wieder einzuziehen vermögen. Indem sich die Füßchen an beiden Schalenhälften der Muschel festsetzen, üben sie einen dauernden Zug auf die Schalen aus, bis diese schließlich auseinanderreißen. Um die Kraft zu erproben, die zum Öffnen der Muschel gehört, stellte Schiemenz einige sinnreiche Versuche mit Seesternen und Muscheln an, wobei er fand, daß die beim Öffnen in Frage kommenden Füßchen in ihrer Gesamtheit eine größere Kraft besitzen, als die Muschel ihnen entgegenzusetzen vermag. Das Verzehren der Muschel durch den Seestern erfolgt ver- hältnismäßig rasch; ein mittelgroßer Seestern hatte eine Auster von 2!/, cm Durchmesser, die ihm geöffnet dargereicht wurde, in vier Stunden völlig verdaut. Schiemenz weist auf die große Schäd- lichkeit der Seesterne für die Austernzucht hin und macht darauf aufmerksam, daß es wegen der bei ihnen sehr ausgebildeten Fähig- keit, verlorene Körperteile durch Neubildungen zu ersetzen, nicht genügt, sie zu zerstückeln, sondern daß vor allem das Mittelstück, daß sich am leichtesten zu ergänzen vermag, zu vernichten ist. Dies gilt aber auch für die einzelnen Arme, die sich wieder zu einem neuen Seestern ergänzen können. Wie es Hunderte von Arten von Holothurien, Echinoiden und Asteroiden gibt, so ist auch das Geschlecht der Crinoiden oder der Haarsterne überaus mannigfaltig. Besonders bekannt sind unter ihnen die Seelilien. Chun ist es gelungen, eine ganze Anzahl von Crinoiden zu finden. Hören wir, was er über ver- schiedene Vertreter der Crinoiden sagt: „Seltener freilich sind die prächtigen und für die Tiefsee besonders charakteristischen See- lilien (Crinoiden), die niemals verfehlten, unsere Aufmerksamkeit in besonderem Grade zu fesseln. Wenn wir an die letzteren an- knüpfen, so sei bemerkt, daß bis jetzt sieben Gattungen gestielter Crinoiden, die zum Teil ausgestorbenen Formen sehr nahe stehen, II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 187 in der Tiefsee nachgewiesen wurden. Unsere Expedition hat nach den mir zugegangenen Berichten von Professor Doederlein fünf Gattungen in acht verschiedenen Arten wiedergefunden. Eine neue Gattung war unter ihnen nicht vertreten, doch ergab es sich, daß nur eine Art (Rhizocrinus Rawsoni) bisher beschrieben war, während alle übrigen neu sind. Unter den nicht wiedergefundenen zwei Gattungen gehört die eine (Holopus) dem westindischen, die andere (Caiamocrinus) dem pazifischen Gebiete an. Schon bei Er- wähnung des tiefsten Zuges, den wir im antarktischen Gebiete nahe Enderbyland in 4636 m ausführten, wurde darauf hingewiesen, daß er zwei Arten der Gattungen Hyocrinus und Bathycrinus lieferte. Besonders reich an gestielten Crinoiden erwies sich das Mentaweibecken, in dem wir nicht weniger als vier neue Arten von Pentacrinoiden nachzuweisen vermochten. Unter ihnen be- finden sich drei olivengrün gefärbte Arten der Gattung Pentacrinus, die wir bei Siberut dreschten, und drei fahl gefärbte Exemplare der Gattung Metacrinus aus dem Süd-Niaskanal, die wahre Glanz- stücke unserer Sammlung abgeben. Während die hier genannten neuen Arten sich in den Rahmen des von ihren Verwandten be- kannt gewordenen Verbreitungsgebietes einfügen, so bedeutet die Entdeckung einer neuen Art des Rhizocrinus von der Somaliküste ans 1644 und 1668 m Tiefe eine überraschende Erweiterung unserer Kenntnisse über die geographische Verbreitung. Es handelt sich um zierliche Crinoiden, die wir mit leider fast durchweg abge- brochenen Armen in ziemlich großer Zahl auffanden. Sie stehen dem von Michael Sars, dem ausgezeichneten norwegischen Forscher, entdeckten Rhizocrinus Lofotensis nahe, unterscheiden sich jedoch von ihm nicht nur durch andere Eigentümlichkeiten ihrer Struktur. Auch von den nur in der Jugend gestielten, späterhin aber frei beweglichen Crinoiden wurde eine nicht unbeträchtliche Zahl von Arten in verschiedenen Tiefen erbeutet. Den arktischen Antedon prolixa und atlantischen Antedon phalangium dreschten wir in der Faröerrinne bzw. auf der Josephinenbank in derartigen Mengen, daß wir von den aus den Maschen des TIrawl nieder- fallenden Exemplaren geradezu überschüttet wurden. Von der Gattung Endiocrinus fanden wir besonders schöne, schwefelgelb gefärbte, einer neuen Art angehörige Exemplare bei der Somali- küste in 1289 m.“ —N —— 6. Die Krustentiere. Die Krustentiere sind die Insekten des Meeres, aber durchschnittlich größer, stärker und gefräßiger, Alfred Fredol. Außerordentlich verschieden, schon wegen der äußeren Ver- hältnisse, unter denen sie leben, ist die Gruppe der Krebstiere nach (restalt und Organisation. Meist Wesen von scheußlicher Häßlich- keit und Gefräßigkeit, sind diese Panzertiere stark, unverwundbar und vortrefflich für ihren Beruf des Krieges und der Zerstörung organisiert. Sie alle zu beschreiben, ist unmöglich. „Besichtigt man eine mittelalterliche Waffensammlung,“ sagt Michelet, „und begibt man sich nach Betrachtung dieser schweren Kisenmassen, die die Ritter anlegten, in ein naturgeschichtliches Museum und betrachtet hier die Ausrüstung der Krustentiere, so fühlt man Mitleid mit den Künsten der Menschen. Die ersteren sind nichts weiter als lächerliche Karnevalsverkleidungen, in denen die Menschen erdrückt und erstickt werden und die nur dazu an- getan sind, den Krieger wehrlos zu machen. Die anderen, be- sonders die der schrecklichen Decapoder, sind derart furchtbar, daß wenn sie nur bis zur Größe des Menschen vergrößert würden, niemand den Anblick aushalten könnte und selbst die Tapfersten vor Schrecken erstarren würden. Wir sehen sie alle kampfbereit in ihrer kriegerischen Haltung unter der furchtbaren Angriffs- und Verteidigungsrüstung, die sie so leicht tragen: starken Kneifern, haarscharfen Lanzen, Kauwerkzeugen, die Eisen zerbeißen können, Panzern, denen man nur nahe zu kommen braucht, um tausend- fachen Tod zu finden. Man dankt der Natur, daß sie ihnen nur diese Größe gab, denn niemand hätte sie bekämpfen können. Jede j | U. Abschnitt. Das Leben im Meere. 189 Feuerwaffe wäre wirkungslos gegen sie gewesen, der Elefant hätte sich vor ihnen verborgen, der Tiger hätte sich auf die Bäume ge- flüchtet, und das Rhinozeros hätte in seinem Felle keine Sicherheit gefunden. Allem Anschein nach begünstigt die Natur so nützliche Diener in ganz besonderer Weise. Gegen ihre unendliche Frucht- barkeit erhebt sich in den Krustentieren eine unendliche Zerstörung. Sie sind überall, in allen Strichen, so verschiedenartig wie das Meer. Die Geier, Möwen usw. teilen sich mit den Krustentieren in das Kerustentier, wichtige Amt von Gesundheitswächtern. Ist ein großes Tier er- legen, so ist sofort der Vogel darauf, das Krustentier drunten und drinnen, und arbeiten daran, es verschwinden zu lassen. Die kleinste Krabbe, die man für ein Insekt halten möchte, der Meerfloh, hält sich an sandigen Küstenstrichen auf unter dem Sande. Wirft ein Sturm Medusen und andere Gegenstände in Menge aus, so sieht man den Sand anschwellen, sich bewegen und sich sodann mit Schwärmen dieser tanzenden Totengräber bedecken, die lustig 190 Dr. Wiese, Das Meer. am Strande umherhüpfen und’ ihn in den Zwischenreihen zweier Fluten zu säubern bemüht sind. Die Krabben oder Krebse sind groß, stark, voller List, ein kampflustiges Volk. Sie besitzen in so hohem Grade den Instinkt des Krieges, daß sie sich selbst des Lärms bedienen, um ihre Feinde zu schrecken. In drohender Haltung ziehen sie mit erhobenen Kneifzeugen zum Kampfe aus und schlagen dieselben gegeneinander. Dabei sind sie vorsichtig, wo sie auf eine größere Kraft stoßen. Im Augenblicke der Ebbe betrachtete ich sie von einer Felsspitze aus. Obwohl ich aber sehr hoch stand, so trat doch die Versammlung, als sie sich beobachtet sah, den Rückzug an. Es sind keine Achilles, sondern Hannibals. Wenn sie sich stark fühlen, greifen sie an. Sie fressen Lebende und Tote. Der verwundete Mensch hat von ihnen alles zu fürchten. Man erzählt, daß sie auf einer wüsten Insel mehrere Seeleute Drakes auffraßen, die ihre krabbelnden Legionen überfallen hatten.“ Unter den Krustentieren interessieren uns hauptsächlich die schon erwähnten Krabben und die Hummern. Die Krabben, von denen die Nordseekrabbe Garneele, die Ostseekrabbe Granate ge- nannt wird, bildet ein sehr wichtiges Volksnahrungsmittel. Die Garneele wird, nach Brüning, „Das Meer und seine Bewohner“, 7 em lang. Ihre Färbung ist hellgrau mit vielen bunten Flecken. Beim Kochen wird sie nicht rot wie die Granate, sondern bleibt grau. Die beiden ersten Beine, d. h. auf jeder Seite eins, sind als Greifwerkzeuge eingerichtet, indem auf einem kräftigen Handstück ein einzelner, beweglicher Finger steht, der gegen einen Fortsatz der Hand schlägt. Sonst ähnelt die Garneele in ihrem Körperbau sehr dem bekannten Flußkrebse, der gleich ihr und dem Hummer zu den Zehnfußkrebsen gehört. Man zählt dabei nur die Füße des Rumpfes, doch haben die Tiere an den Gliedern ihres langen Schwanzes auch noch Beine, die nicht zum Gehen benutzt werden. An diesen tragen die Weibchen die Eier. Die Garneelen schwimmen meistens auf dem Rücken oder bewegen sich mit Hilfe ihres Schwanzes hüpfend und springeend fort, weshalb sie im Volksmunde auch den Namen Hoppkrabb führen. Sie sind durchsichtig und entziehen sich dadurch den Blicken ihrer Feinde, glauben sie sich aber dennoch in Gefahr, so graben sie sich unglaublich schnell in den Sand ein. — Die Granaten sind den Garneelen sehr ähnlich. Sie sehen aus, als wären sie von ganz hellem Bernstein und sind darum im Wasser nur sehr schwer zu sehen. Beim Kochen werden Be II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 191 sie rosenrot. Ihr Fleisch ist schmackhafter als das der Grarneelen. Eine Granate ist das verkleinerte Bild eines Hummers. Am Vorder- ende des Kopfschildes trägt sie weit vorausstehend einen mächtigen, säbelförmigen, mit scharfen Dornen besetzten Fortsatz, der wie eine tötliche Waffe dem Feinde drohend entgegenstarrt. Doch dient das gefährliche Ding anscheinend nur als Schreckmittel, weil man niemals sieht, daß die Granate es wirklich zum Angriff oder als Verteidigungswaffe verwendet. Das erste Fußpaar des Rumpfes ist mit zierlichen Scheren versehen und dient dem Tiere zur Reinigung seines Körpers. Unablässig ist es darauf bedacht, mit den Haaren dieser Füße sich zu bürsten und mit den Scheren jeden Fremdkörper von seinem glänzenden Panzer abzunehmen. Das zweite Fußpaar ist länger und stärker als das erste und trägt größere Scheren. Diese sind die Waffen des Tieres und dienen zum Ergreifen und Festhalten der Beute. Auch das Granatweibchen trägt die Eier unter dem Schwanze. Die auskriechenden Jungen sehen den Eltern durchaus nicht ähnlich und müssen erst ein Larvenstadium durchmachen. Der Krabbenfang wird in den Wattenmeeren sehr eifrig be- trieben. Zu Milliarden sind diese Küstengewässer von den Krebs- tieren bevölkert. Auf der Halbinsel Dangast fängt man sie in Körben, an der Westküste Holsteins beim Nordseebad Büsum in Netzen. Beide Fangmethoden sollen hier dargestellt werden. Die erstere hat uns sehr anschaulich Schulte vom Brühl, die zweite Dr. G. Ziegler geschildert. Die Flut hat sich nahezu verlaufen, da stellt der Fischer einige aus Weidenruten geflochtene Fangkörbe auf einen Schiebkarren und sucht auf schmalen Faden zwischen Deich und Düne den Strand zu erreichen. Dort liegt umgestürzt, um vor Regen ge- schützt zu werden, das eigenartige Fahrzeug, das ihm das Fort- kommen über den schlammigen Schlick ermöglicht. Die „Schlöpe“ heißt es im Volksmunde und ist ein Mittelding zwischen Boot und Schlitten, ein Kasten, der etwa ein Meter lang, halb so breit und etwa ein Drittel Meter hoch ist und an dem etwas erhöhten Vorderbord eine aus Latten und Stangen gezimmerte Handhabe aufweist. Auf die Schlöpe werden nun die Körbe gesetzt, und der Fischer rutscht in das schlammige Element, in den Schlick, der mit dem Schmutz einer zerfahrenen und durch starke Regengüsse aufgeweichten Landstraße die größte Ähnlichkeit hat. Er hat die Dr. Wiese, Das Meer. 192 Hein kchıende Krabbenfischer. II, Abschnitt. Das Leben im Meere, 193 Seitenlehnen der Handhabe ergriffen, kniet bei vorgebeugtem Körper mit dem einen Beine auf dem Hinterbord der Schlöpe und stößt mit dem freien Fuß ruderartig in den Schlamm. Indem er abwechselnd die Füße benutzt, „schlittert“ oder rutscht er vorwärts, Bald versinkt der Fuß des Rutschers nur bis an den Knöchel in den Schlick, bald taucht das Bein bis fast ans Knie in den Schlamm, aber der Mann ist in diesem Rutschen wohlgeübt und gleitet mit erstaunlicher Schnelligkeit auf der Masse dahin. Zunächst sucht er eine der Wasserrinnen, die „lJief“, zu erreichen; dort ist sein Ruderboot verankert; er macht es flott, nimmt seine Schlöpe ins Schlepptau und setzt nach dem gegenseitigen Ufer über; dann rutscht er wieder über den Schlick, bis er an einer für den Granat- fang günstigen Stelle anlangt. Diese liegt gewöhnlich am Rande einer „lief“ oder bei einer „Priel“, der natürlichen Abflußrinne bei der Ebbe. Hier werden nun die Fangkörbe durch eingerammte Pfosten derart festgelegt, daß ihre offene Seite der Ebbe zugekehrt ist. Die Körbe sind kegelförmig gestaltet, nahezu zwei Meter lang, mit einer dreiviertel Meter im Druchmesser haltenden Öffnung versehen und aus Hasel- oder Weidenruten so geflochten, daß ein Raum von der Breite eines Bleistifts zwischen den einzelnen Stäben entsteht. Ein zweiter, ciuer Aalreuse ähnlicher, engerer Korb wird in den äußeren, der ihm gleichsam als Hülse dient, hineingeschoben. In der Reuse nun sammelt sich die Beute, nach- dem ihr der größere Korb gewissermaßen „die Direktive gegeben“. Mit der Flut zu Milliarden der tieferen Stellen des Küstenmeeres entsteigend, wird der Granat von der zurückgrehenden Ebbeströmung zweimal täglich in die Fangkörbe hineingetrieben. Der Fischer zieht den Fangkorb hervor, löst den in die Spitze gesteckten Pflock und schüttet die Granaten, zwischen denen sich vereinzelt auch wohl ein Aal, eine Butte, eine Seenadel oder gar ein Katzenhai, immer aber ein paar Krabben aller Größen befinden, in die mit- gebrachten Behälter und schiebt dann die Körbe wieder ineinander, der nächsten Ebbe das rein selbsttätige Fangwerk vertrauensvoll überlassend. Auf dem Wege, den er kam, kehrt der Fischer vor der lang- sam steigenden Flut zurück. Zur Nachtzeit, während welcher der Fang der kleinen Nachttiere, denn das sind die Granaten wie alle Krebse, meist reicher ist, und bei nebligem Wetter zeigen ihm tief in den Scklick gesteckte Reiser den Heimweg an. Am Ufer bringt Dr. Wiese, Das Meer, 13 194 Dr. Wiese, Das. Meer, er seine Beute auf den Schiebekarren, reinigt in einem Tümpel seine Beine, welche immer aussehen, als seien sie in der Tinte ge- "wesen, vom Schlick und schiebt dann nach Hause. Sein Werk ist aber noch nicht beendet. Mit weiblicher Hilfe werden die Granaten sogleich gesiebt und die größeren alsdann etwa zwei Minuten in Salzwasser gekocht, wobei sie eine schmutzig--rötliche Farbe an- nehmen, während die höher gewerteten Ostseekrabben und die französischen Crevetten nach dem Kochen blaß rosenrot erscheinen. Das ausgesiebte kleinere Zeug — das Liter hiervon kostet nur einen Pfennig — wird als Dünger verkauft oder wandert zur Darre, um zu Hühnerfutter oder zu „Guano“ verarbeitet zu werden, hin- gegen verschickt man in entsprechender Verpackung die frische, große Ware als billige Delikatesse nach den Städten der Gegend oder gar, gut konserviert, weit ins Inland. Im Büsumer Hafen liegen gegen 30 meist einmastige Krabben- kutter. So ein Krabbenkutter ist ı5—2o m lang, mit einem für ‘diese Länge sehr bedeutenden Tiefgang von 3 m und darüber; er ist infolge seiner scharfen Bauart ein ausgezeichnetes Seefahr- zeug. Die Stenge, d. h. die Verlängerung des Mastes, ist hoch, das Bugsprit oder der Klüverbaum horizontal; wenn ein zweiter Mast vorhanden, so ist dieser sehr kurz und führt nur ein kleines Segel. Das Großsegel wird oben durch die Gaffel, unten durch den Baum oder Giekbaum gehalten. Trotz des Klüverbaums haben die Krabbenkutter kein Klüversegel, sondern ein Focksegel Die Besatzung des Schiffes besteht aus dem Eigentümer und seinem Knecht. Vorn im Schiff befindet sich eine Kajüte, die wohl zum Schlafen eingerichtet werden kann, aber nur als Aufbewahrungs- raum für Ersatznetze, Segel und Geräte, sowie zum Kaffeekochen benutzt wird. Dicht hinter dem Mast steht eine eiserne Winde zum Einziehen des Netzes, hinter diesem befindet sich die Küche wenn man einen Raum, in dem sich ein eiserner Kochherd mit einem eisernen Kessel findet, so nennen darf. Nur durch eine Bretterwand von dieser Küche getrennt, befindet sich ein zweiter kleiner, ebenso tiefer Raum, der dem Schiffer zum Aufenthalt dient und von wo aus er das Schiff lenkt. Hinter diesem Raum ist dann noch ein kleines Hinterdeck, auf das der Fang ausge- schüttet und wo er ausgesucht wird. Erst mit eintretender Ebbe oder kurz vorher kön die Schiffe den Hafen verlassen, nur mit auflaufendem Wasser in . Wert Bikini ae er II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 195 ihn zurückkehren. Die Zeit von einem Hochwasser bis zum andern dauert ı2 Stunden, davon entfallen 7 Stunden auf das Ab- laufen und 5 Stunden auf das Auflaufen des Wassers; daraus folgt, daß der Eintritt der Ebbe jeden Tag um eine Stunde später ein- tritt, also auch das Auslaufen der Kutter jeden Tag um eine Stunde später erfolgt, und es folgt auch daraus, daß so ein Krabben- fang mindestens zehn Stunden dauert. „Die Vorbereitungen zum Fang,“ fährt nun Ziegler fort, „be- standen aber darin, daß der Knecht den Kessel aus der Küche hob und außen von Ruß, innen von dem von der letzten Kocherei noch befindlichen grau-grünen Fett- und Eiweißwasser reinigte, und zwar mittels eines Piassavabesens, zuerst außen, dann innen. Trotz- dem konnte man dieses Reinigungsverfahren nicht unappetitlich nennen, denn die vielen Eimer Seewasser, die zum Nachspülen be- nutzt wurden, machten alles wieder gut. Nun wurde das Netz klar gemacht. Die Arbeit unterschied sich wenig von der bei der Hochseefischerei gebräuchlichen, nur daß alles selbstverständlich hier in viel kleineren Verhältnissen vorhanden war. Der einzige Unterschied bestand in der Spannung des Netzes; während auf den Dampfern der Hochseefischerei das Netz durch zwei Scher- bretter auseinandergehalten wird, dient hierzu beim Krabbennetz ein etwa 8 m langer, armdicker Balken. Scherbretter sind nur bei einem in Fahrt befindlichen Dampfer verwendbar; da der Kutter aber während des Fanges nur treibt und die Scherbretter dabei nicht in Wirksamkeit treten können, so müssen sie hier durch einen Baum ersetzt werden. Als alle Vorbereitungen getroffen und wir weit genug vom Lande entfernt waren, wurde das Netz über Bord geworfen und nun der Kutter sich selbst überlassen. Das ist nun das Schrecklichste der Schrecken; das ablaufende Wasser trieb das Schiff weiter zur Bucht hinaus, der Südwestwind wollte es wieder hereintreiben, das auf ı5 m Tiefe nachschleppende Netz widersetzte sich beidem, so ergab sich eine Wirkung, die unbe- schreiblich war. Auf einem in Fahrt befindlichen Schiffe kann man dessen Bewegungen durch entgegengesetzte Bewegungen des Körpers in etwas entgegenarbeiten, hier aber hat das Schiff jeden Charakter, jeden Halt verloren, und mir blieb weiter nichts übrig, als mich mit der Bemerkung des Schiffers zu trösten, daß von den vielen Besuchern seines Kutters noch keiner von der Seekrankheit verschont geblieben sei. je > Ei 23 106 Dr. Wiese, Das Meer. Einstweilen ging’s ja noch, und als etwa nach einer Stunde das Netz aufgewunden wurde und der Inhalt auf das Hinterdeck ausgeschüttet war, das Fahrzeug wieder gegen den Wind auf- kreuzte, konnte ich zu dem Schiffer in die Versenkung steigen und mich an dem Aussuchen des Fanges beteiligen. Krabben waren nun allerdings das wenigste. Das erste, was in die Augen fiel, waren eine Menge kleinerer und größerer Taschenkrebse, die nach allen Seiten hin Reißaus nahmen; danach fielen verschiedene Arten von Seesternen und die Muschelschalen des Wellhorns auf, viele der letzteren von Pagurus bernhardus bewohnt, einige auch mit, leider zerdrückten, Actinien besetzt. Nachdem auch hiervon die Hauptsache entfernt war, bestand der Rest aus etwa finger- langen Kabeljau und kleinen, mark- bis handtellergroßen Flundern. Der Kabeljau ist der größte Feind der Krabben und der Krabben- fischer; vielen, die kaum größer waren als eiue Krabbe selbst, steckte der Schwanz einer solchen zum Halse heraus, andere, die ich öffnete, hatten zwei bis drei Stück bei sich. Nachdem endlich alles sorgfältig ausgesucht, mögen 10—ı2 kg (sarneelen übrig ge- blieben sein. Diese wurden noch in einem Sieb von bestimmter Maschenweite abgesiebt und die kleinsten ihrem Element zurück- gegeben. Ich hatte noch Zeit, von all dem unnützen Getier, wie der Fischer meinte, einiges in die Transportkanne zu sammeln, als der. Fang von neuem losgehen sollte; der Kutter wurde wieder sich selbst überlassen, und jeden Charakters bar, schlenkerte er auf den Wellen, wie ein Betrunkener auf der Straße. Zudem hatte sich das Wetter wesentlich verschlechtert; ein heftiges Gewitter mit ergiebigen Regengüssen zwang mich, in die vordere Kajüte zu kriechen und die Luke über mir zuzumachen. Von hier an erstreckte sich meine Tätigkeit auf das Öffnen der Luke, um frische Luft zu holen, und auf das Schließen derselben, um mich gegen den Regen zu schützen. Nachdem wir noch dreimal ge- fischt hatten und die durch den Antritt der Rückreise neu er- wachten Lebensgeister mir erlaubten, mich wieder um meine Um- gebung zu kümmern, der Regen auch nachgelassen hatte, so konnte ich noch dem Kochen des vierten Fanges zusehen; viel war daran nicht zu sehen. Die Brühe in dem Kessel sah genau so aus, wie die heute früh über Bord gegossene. Die Garneelen werden etwa zehn Minuten in Seewasser gekocht, dem auf einen II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 197 Eimer noch eine doppelte Handvoll Salz zugesetzt wird, dann mit einem Löffel herausgefischt und auf flache Hürden zum raschen Abkühlen ausgebreitet. Ich brachte es auch schon wieder fertig, von den noch warmen Krebsen zu essen, mochte sie aber nicht. Der Fischer und sein Knecht meinten, das läge an mir. Die ganze Ausbeute des Tages betrug 4o kg, und da das Kilo von den Büsumer Gastwirten mit 20 Pf. bezahlt wird, so be- trug die ganze Tageseinnahme 8 M. An die Konservenfabrik, die auch den Versand frischer Ware besorgt, werden sie schon mit 16 Pf. abgegeben und von hier ein Postpaket unter Nachnahme mit 2,50 M. versandt; in Berlin pflegt das Pfund dann 40—60 Pf. zu kosten. Der Fischer also, der die meiste und schwerste Ar- beit hat, hat den geringsten Verdienst.“ Zu den größten See- krebsen des Meeres gehört der Hummer, der, im Mittelmeer als Languste, in den norwegischen (re- wässern als Nierenauge be- zeichnet wird. In Deutsch- land wird der Hummer nur an den Küsten von Helgo- land gefangen, da sie wegen ihres Felsgrundes den Krebstieren allein die geeigneten Lebensbedin- gungen geben. Nach Professor Ehrenbaum-Helgoland wird der Hummer in der Regel in Fangkörben erbeutet, die, mit einem Köder versehen, dem Tiere den Eingang sehr bequem machen, dagegen den Ausgang möglichst erschweren. Diese vogelbauer- ähnlichen Körbe, die die Helgoländer Tiners nennen, enthalten am Boden Steine oder Zement, um auf den Grund zu sinken. Eine mit Kork besetzte Leine verrät dem Fischer die Stelle, wo das Fanggerät versenkt ist. Jeden Tag wird dieses einmal mittels der Leine aufgehoben, seines Inhalts beraubt und mit einem frischen Hummernfischer von Helgoland. 198 Dr. Wiese, Das Meer. Köder versehen. Von solchen Fangkörben wird eine sehr große Anzahl verwendet, sie liegen alle in Reihen, ein zwei Mann eut- haltendes Hummerboot arbeitet mit 40—100 Stück, in der un- mittelbaren Nähe von Helgoland liegen deren mehrere tausend. Als Köder dient der Dorsch und andere Fische. Von einem Boot ‘werden in einem Tage bis zu 50 Stück Hummer gefangen. In der kältesten Zeit des Jahres verfällt der Hummer in eine Art Kältestarre, es wird deshalb zu dieser Zeit der Fang nicht be- trieben. Außerdem besteht eine Schonzeit, die von Mitte Juli bis Mitte September dauert, Die meisten Hummer werden im Früh- jahr gefangen, im Herbst nicht einmal halb soviel. Da kein Zuzug von außerhalb erfolgt, so ist also die Zahl der zu fangenden Tiere stark begrenzt. In dem ungünstigen Jahre 1902 wurden 41 300 Stück erbeutet, in günstigen dürfte sich die Zahl auf 60000 be- laufen. Die Hummer werden, nachdem man ihnen die Scheren zusammengebunden, mit denen sie einander leicht beschädigen können, in hölzernen, durchlöcherten Kästen aufbewahrt und hier bis zum Verbrauch sorgfältig gefüttert. Solange das Wasser warm bleibt, ist das Krebstier sehr freßbegierig, sein Appetit wird mit minderwertigeen Fischen gestillt, die in kleine Stückchen zerschnitten werden. So nimmt der Hummer in der Gefangenschaft bedeutend zu, er wird stärker. Da aber der feste Panzer eine Zunahme nur bis zu einem gewissen Grade gestattet, so pflegt das Tier sich nach einer bestimmten Zeit zu häuten. Kleine Tiere häuten sich mehrmals, der*marktfähige Hummer in der Regel nur einmal im Jahre. Auch in den Kästen erfolgt die Häutung. Nachdem das Tier den Panzer verloren hat, ist es lange Zeit sehr unbeholfen, außerdem ist sein Körper alsdann schutzlos den übrigen Hummern, preisgegeben, die kein Bedenken tragen, ihren Kameraden zu ver- zehren. Der Häutungsprozeß muß deshalb sehr genau beobachtet und die Tiere müssen nach der Häutung von ihresgleichen getrennt werden. Der Prozeß erfolgt sehr schnell, in zehn bis zwölf Minuten, aber erst nach Wochen bekommt die Schale ihre alte Festigkeit. Der Hummer wächst nur langsam, selbst wenn er an Grewicht beträchtlich zunimmt. Ein 25 cm langes Tier wiegt ge- wöhnlich ein Pfund, ein solches von 33—34 cm zwei Pfund. Mehr als 50 cm Länge scheint der europäische Hummer nie zu erreichen, auch der amerikanische, der meist schwerer wird, wird nie länger, er bekommt ausnahmsweise ein Gewicht von ı2—ı3 Pfd.; der Fa & ee A A II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 199 größte, den Ehrenbaum in Helgoland sah, wog dagegen nur 8 Pfd. bei einer Länge von 48 cm. Man nimmt an, daß die Ge- schlechtsreife des Hummers bei einer Länge von 24 cm im fünften - Jahre eintritt. Das Weibchen trägt die Eier unter dem Hinterleibe ein Jahr mit sich herum, ehe die Jungen ausschlüpfen. Für die Ergiebigkeit des Hummerfanges ist von großer Bedeutung, daß das Tier sehr viel Eier ablegt. Junge einpfündige Helgoländer Hummer produzieren 8000— 10 000, vierpfündige gar 30 000— 36 000 Eier. Im Larvenzustand schwimmen die jungen Tiere einige Wochen frei im Wasser umher. Dabei fallen sicherlich viele Fischen und anderen Feinden zum Opfer. Später nach mehreren Häutungen, beginnt der Hummer, der nunmehr das Larvenstadium überwunden hat, das Leben auf dem Grunde des Meeres. Hier kann er sich unter Steinen verbergen, und damit hat er die ge- fahrvollste Zeit seines Lebens hinter sich. es 7% Die Austern. Mensarum palma et gloria — der Tafel Triumph und Ruhm, Plinius. Seit Jahrtausenden ist die Auster ein wichtiges Nahrungsmittel ; sie nimmt unter den eßbaren Weichtieren oder Mollusken noch heute die erste Stelle ein. Schon bei den Alten wurde mit den Austern ein ungeheurer Luxus getrieben. Lucilius spricht von einer Auster, die für 100000 Sesterzien (5000 Taler) gekauft war. Am meisten wurden die von Circeji geschätzt, von denen Plinius rühmt, daß es „nirgends süßere und zartere gebe“. Erst in zweiter Reihe standen die Austern aus dem Lucriner See; doch wurden diese von einem solchen Feinschmecker wie Sergius Orata, den Cicero den größten Schlemmer nennt, den Circejischen noch vor- gezogen. Bei steigendem Bedarf holte man die Austern von Brun- disium, von Tarent und seibst aus Cyzicum und aus England; schon damals also „Natives“ und „Colchesteraustern“! Man ab sie frisch und machte sie, nach Senaca, am liebsten erst bei Tische auf; wahrscheinlich bereitete man auch ein Ragout von ihnen, worauf sich die patina ostrearum, die „Austerschüssel“ bei Seneca, beziehen mag. Auch wurde ein eigenes Austernbrot (panis ostre- arius bei Plinius) dazu gebacken. Schon bei den Römern war man abei nicht mit dem zufrieden, was die Natur freiwillig darbot. Die von fernher geholten Austern wurden erst im Lucriner See ge- mästet, ehe man sie verspeiste. Ja, der schon genannte Orata legte zuerst Parks für künstliche Austernzucht in der Bai von Bajae an die ihm große Summen einbrachten. Seit jenen Zeiten ist der Verbrauch von Austern immer mehr gestiegen und hat besonders rasch zugenommen, seit die Eisen- bahnen es auch den Binnenländern möglich machen, sie frisch zu II. Abschnitt, Das Leben im Meere, 201 genießen. Freilich wird der Kaiser Vitellius, der täglich in vier Mahlzeiten 4800 Stück Austern genoß, wohl schwerlich wieder er- reicht, noch weniger übertroffen werden; daß aber ein Mann ein paar hundert Austern auf einmal verzehrt, ist in den Küstenstädten gerade nichts so sehr Seltenes. Die Auster ist nahrhaft und leicht verdaulich. Nach Payen enthalten 16 Dutzend Austern etwa 315 & stickstoffhaltiger Substanz, fast genau die Menge, deren ein kräf- tiger Mann zu seiner täglichen Ernährung bedarf, so daß nach jener Angabe Vitellius gerade für 25 Mann aß. In keiner europäischen Stadt dürfte indessen der relative Austern- genuß größer sein als in London. Allein aus dem Meerbusen, an dem Edinburg liegt, aus dem Firth of Forth, bringt man nach Johnston 11520000 Stück in die künstlichen Fütterungsanstalten. Der Austerkonsum Englands repräsentiert etwa einen Wert von 100 Millionen Mark. Was will das aber sagen gegen den Austern- verbrauch Nordamerikas? New York allein verzehrt in einer Woche 100 Millionen Stück. Wieviel Millionen Stück mag das sog. Groß-New York verspeisen! Einen ungefähren Begriff kann man sich machen, wenn man erfährt, daß der Austernhandel im Staate New York allein ein Durchschnittskapital von 5000000 Dollars gleich 20000000 Mark repräsentiert. Für den Versand nach dem Westen werden ganze Eisenbahnwaggons, sog. Refrigerator-Caoswaggons mit Kühlvor- richtung, die eigens zu diesem Zwecke gebaut sind, beladen. In dem weiten Gebiete der Union gibt es wohl kaum einen, der sich in seinem Leben noch nicht ein Austerngericht geleistet hätte. Dort ist die Auster zum Volksnahrungsmittel geworden, und eine ganze Klasse von Menschen, scuckers, sind Tag und Nacht be- schäftigt, Austern zu öffnen; denn in Amerika kommt die Auster zumeist „entschält“ auf den Markt. Was sind nun die Austern und wo kommen sie vor? Die Austern sind, wie jedermann weiß, Muscheln. Der Zoologe rechnet sie zu den kopflosen Tieren, weil ihnen ein,)eigentlicher Kopf fehlt. Trotzdem haben sie Augen und Fühler, Kiemen und einen Mund. Der Rumpf ist verhältnismäßig: klein. Ein Fuß fehlt ihnen. Der Körper wird umschlossen von einer Haut, die man den Mantel nennt. Das Ganze schließt die zweiklappigre Schale ein. Die eine dieser Schalenklappen ist gewölbt und dient dem Tiere als Lager, die andere platte, ist der Schutzdeckel. Auf einer Seite sind die Schalenklappen durch das sog. Schloß verbunden, das immer das 292 Dr. Wiese, Das Meer. Bestreben zeigt, die Schale zu öffnen. Daher gehen die Schalen. toter Muscheln stets auseinander, und gestatten so auffressenden. Krebstieren den Zutritt, die als Gesundheitspolizei der Wässer schnell damit aufräumen. Durch die Mitte der Muschel geht von. einem Schalendeckel senkrecht zum andern der Schließmuskel, ein Organ von außerordentlicher Stärke. Schließt die Auster ihre Schalen, so wird eine gewisse Menge Wasser nıit eingeschlossen, wo- durch die Kiemen feucht erhalten bleiben, so daß die Tiere auch außer- halb des Wassers eine Zeitlang am Leben bleiben. Die Austern sind zweigeschlechtig. Sie erzeugen eine Menge Eier. Sind die Jungen ausgeschlüpft, so verlassen sie die Schalen des Muttertieres und schwimmen kurze Zeit als bewimperte Larven frei im Wasser um- her. Dann setzen sie sich an feste Gegenstände an und beginnen nun das eigentliche Muschelleben. Da sie sich nun nicht mehr von der Stelle bewegen können, müssen sie mit der Nahrung: vorlieb nehmen, die das Wasser ihrem Munde zuführt. Die Austern finden sich an den englischen und französischen Küsten und an der norwegischen Küste bis 65 nördlicher Breite. Die etwa 50 schleswigschen Austernbänke liegen an den Abhängen der tiefen Rinntäler des Wattenmeeres in 1,5—9g m Tiefe und sind meist 100 m breit und 1000 m lang. Der Grund besteht aus Sand, kleinen Steinen und Muschelschalen. Einzelne Austern finden sich im ostfriesischen Wattenmeer, viele leben auf den Fischergründen der südlichen Nordsee, sind aber wegen der Tiefe (meist über 30 m) schlecht zu fangen und auch nicht so wohlschmeckend wie die Austern der schleswigschen Bänke, werden aber viel größer. An der jütischen Küste gehen die Austern um Skagen herum bis ins Kattegat. Im Limfjord finden sie sich, seitdem 1825 das Land im Westen von der See durchbrochen worden ist, und bilden jetzt einen bedeutenden Handelsartikel. Im Belt haben Austern, wie eine fossile Bank zeigt, östlich von Kiel gelebt und sind erst, nach- dem das Östseewasser zu salzarm geworden, eingegangen. Er- wachsene Austern leben allerdings auch in Wasser von nur 1,2°/, Salzgehalt längere Zeit, die Larven fordern jedoch mindestens 3 °/,. Außerdem ist der Mangel an Ebbe und Flut einer reichlichen Er- nährung hinderlich. Auch an der Westküste von Frankreich und Portugal, im Mittelmeer (Neapel, Tarent) und im Schwarzen Meer finden sich Austern; die reichsten Austernbänke hat Nordamerika (besonders die Chesapeakebai, Massachusetts und Virginia), jedoch II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 203 bedürfen sie gegenwärtig alle der Nachhilfe von Menschenhand. Die australischen Bänke liegen vorzugsweise in Neusüdwales und Tasmania. Die Austernfischerei, die Anfang Herbst beginnt, ist im schleswig- holsteinischen Wattenmeer Regal, ähnlich wie die Bernsteinfischerei in der Ostsee. Die Helgoländer haben im gewissen Umkreis Fischereirechte und weiterhin im offenen Meer ist die Auster vogel- frei. Die preußische Regierung hat den Ertrag der Austernbänke an ein Hamburger Haus verpachtet, aber zur Verhütung von Raub- fischerei ein ausgredehntes Aufsichtsrecht sich vorbehalten. Die Kampagne umfaßt ungefähr zwei Monate. Alle Kutter, die einen geringen Tiefgang haben, meist ı2 m lang und 3,5 m breit sind Großsegel, Gaffeltopfsegel, Fock und Klüver führen, fischen mit fünf Nutzen. An guten Tagen ergibt der Ertrag zwei Tonnen auf den Kutter, deren jede 20 Mk. Fischerlohn abwirft. Da die Auster sonach allein zwei Pfennig Fischerlohn kostet, die übrigen Regiekosten und der Anteil an der recht erheblichen Pachtsumme noch einen nicht kleinen Zuschlag ergeben, so rechtfertigt sich der hohe Preis dieses ersehnten Leckerbissens aller Feinschmecker. In Husum befindet sich ein Sammelbecken für den Fang, den ein zwischen Husum und der Austerflottille kreuzender Dampfer dorthin befördert. Von Husum aus erfolgt der Versand der hol- steinischen Auster. Der Austerbestand umfaßt fünf Distrikte. Der südlichste ist der von Hörnum, der Südspitze der schmalen, lang von Nord nach - Süd gestreckten Insel Sylt, von der eine Bahn nach Westerland, der Mitte der Westküste, führt und wo nun bei einer Landungs- brücke die von Helgoland kommenden Dampfer anlegen. Diese Hörnumer Auster, sonst die am meisten geschätzte, hat jetzt an Ertrag nachgelassen. Die übrigen Bänke ziehen sich inmitten des Wattenmeeres, in tiefen Rinnen, der Insel parallel; nur eine zweigt nach westlich, nach Munkmarsch zu ab, gegen die Mitte der Ostküste zu also, wohin schon längst von Westerland aus eine Kleinbahn führt und wo die Dampfer des Landverkehrs mit Sylt anlegen. Diese Austerbänke sind nur ein paar Meter breit und nicht viel mehr als hundert Meter lang. Da liegen die Austern unbefestigt auf dem Grunde. 204 Dr. Wiese, Das Meer. Dem treftlichen Victor Blüthgen verdanken wir eine Schil- derung des Austernfanges, dem er auf dem Kutter Hörnum bei- gewohnt hat. Wir entnehmen dieser Schilderung einige Einzel- heiten. Zunächst geht die Fahrt auf dem Kutter in früher Morgenstunde auf das ungewöhnlich belebte Wattenmeer hinaus. „Es ist eine rauhe Luft, dennoch ziehen wir es vor, auf Deck zu bleiben, um die Morgensonne durch das dunkle, unruhige Gewölk aufklettern zu sehen und Notizen von unserem gefälligen Führer einzuheimsen, der von seinem Lukensitz am Steuer aus das Um- legen des Segels kommandiert. Denn es gilt zu lavieren, wir fahren erst östlich, dann nördlich, der Lister Austerbank zu. Eine gute Stunde lang. Dann hebt Meister Prott sein Per- spektiv und fängt an, gegen die Ostausladung der Nordspitze von Sylt zu, auf der das Dörfchen List liegt, zu visierenssssese schmalen Austerbänke, deren Ort nichts auf der Meeresoberfläche markiert, zu finden, ist ein Kunststück, und er bringt es fertig, einzig, indem er das Zusammentreffen gewisser optischer Merkmale beobachtet. Endlich ein Wink. Der Gehilfe greift zum Austernetz, schleift ein Tau daran und versenkt es in das dunkle, wogende Wasser. Das Netz, ein kaum zwei Meter langes Schleppnetz, besteht auf der Unterseite, mit der es den Grund fegt, aus verbundenen Eisen- ringen, nur die Oberseite aus Hanfgeflecht. Dazu gehört ein mit Mennige gestrichenes Triangel mit meterlangen Seiten aus Stab- eisen; zwei Schenkel krümmen sich noch ein Stück über die Basis hinaus und sind am Ende noch einmal durch ein Schareisen ver- bunden; die Eisenseite des Netzes schließt an das Schareisen, die Hanfseite an die Triangelbasis an, so daß der Raum zwischen Schareisen und Basis den Einschlupf bilcet. Das Gewicht des Eisenrahmens drückt nun das Schareisen an den Meeresgrund an, auf dem es die Bewegung des Kutters entlangschleift, und so schaufelt es in das Netz, was immer im Weg liegt. Und als das nach einiger Zeit gehoben und auf Deck aus- greschüttet wird — Himmel, was für ein Durcheinander! Ein Berg zur Hauptsache aus leeren Austernschalen, Massen von roten See- sternen und Seeigeln, grünstruppig wie walnußgroße Kletten, be- stehend, dazwischen von Einsiedlerkrebsen bewohnte Schnecken- häuser, deren Insassen sich ängstlirh zurückziehen oder verzweifelt II. Abschnitt. Da Leben im Meere. 205 herausflüchten, etliche Taschenkrebse, leere und volle Rocheneier, ein junger Knurrhahn, ein Miniaturneunauge ... Aber auch volle Austern. Wir knien alle vier dabei, emsig mit der Auslese beschäftigt, und als wir die unnützen Zutaten der Flut zurückgegeben haben, zählen wir: annähernd fünfzig, meist Prachtaustern, sind der Ertrag, die Meister Prott sorglich einheimst. Fünf Züge tun wir, ungefähr mit dem nämlichen Effekt. In den Pausen aber hält unser wackerer Führer beständig mit stillem Schmunzeln in der Rechten ein offenes Messer, in der Linken ein ausgesucht großes Austerngehäuse, das er mit dem Geschick, wie es nur langjährige Übung verleiht, für uns öffnet, um uns eine der frisch-fetten Insassinnen nach der andern eßfertig hinzureichen. Und aus den entkorkten Flaschen gluckt es dazu, und der schmucke Kutter fährt ruhig genug durch den Wogenprall, um den behag- lichen Genuß nicht zu stören. OÖ heiliger Bacchus, solch eine fette Holsteiner frisch vom Meeresgrund ist doch noch ein anderer Genuß wie vom Faß in der Weinstube! Nur muß man das salzig-bittere Wasser zuvor ein wenig ablaufen lassen, das der Filtrierapparat, der Bart, recht eigen- sinnig festhält. Das brave Schaltier müßte Riesenerträge abwerfen, wenn sie seiner Vermehrungsfähigkeit entsprächen. Die Anzahl der Eier, die eine Auster jährlich produziert, schwankt zwischen 100000 und über eine Million. Von dem im Juni austretenden Laich, milchig und schleimig, kommt nur das wenige zur Entwicklung, was sich irgendwo anheftet. Die junge Auster setzt sofort Schale an, außerdem besitzt sie ein aus der Schale heraustretendes Polster von langen, schwingenden Wimpern, mit denen sie rudert. Das ver- liert sich, und nun ist sie an den Boden gebunden, wo sie rasch wächst; nach einem halben Jahre ist die Schale talergroß, nach einem Jahre wie ein Fünfmarkstück, dann setzt sie Jahresschichten “an, im Durchschnitt zehn, aber auch mehr. Ihre Nahrung besteht aus mikroskopischen Bestandteilen des Seewassers, das der spie- lende Bart filtriert. Schon zur Zeit der alten Römer legte man, wie bemerkt, künstliche Austernbänke an. Dieser Gebrauch breitete sich immer mehr aus und erhielt sich durch das ganze Mittelalter bis in die 206 Dr. Wiese, Das Meer. neueste Zeit hinein. Die Sage erzählt, daß um das Jahr 1040 die schleswig-holsteinischen Austernbänke angelegt wurden. 1375 ver- bot ein Gesetz Eduard UI. von England, Austernbrut zu sammeln und zu verpflanzen anders als im Mai. Die Austernbänke an der Mündung der Themse sollen um das Jahr 1700 angelegt worden sein. Heute finden sich ergiebige Austernbassins in Belgien, Frankreich, Italien. Jetzt ist der klassische Ort für die Austernzucht Whitstable, wo eine Gilde etwa 10000 ha Meeresboden bewirtschaftet. Die berühmten kleinschaligen „Natives“ werden im Sommer als junge, 2,5—4 cm grobe Austern hauptsächlich von den natürlichen Bänken im Themsebusen geholt und auf die besseren Austerngründe gebracht. Junge Brut, die sich oft gedrängt an alte Schalen oder dergleichen ansetzt, wird im zweiten Lebensjahr abge- löst und an derselben Stelle ‚p LUFT KR PN, r\ u) m) | A Vuli MH „ daß sich nun jedes Tier frei ausbilden kann. Die Austern- parke in Ostende, etwa 2 m tiefe Teiche, stehen durch Schleusen mit dem Meere in Verbindung. Die Wände sind mit Mauerwerk oder Holz be- kleidet, der Boden ist mit Bret- Holländische Auster. tern bedeckt, und jede Am lage hat ein Klärbassin, in dem das Wasser seinen Schlamm absetzen muß. Sie. enthalten nur englische Austern. Man verwendet auch Gestelle aus Ziegeln, auf dem sich die jungen Austern festsetzen, und Holzstäben, die sich herausheben bzw. reinigen und in anderes Wasser übertragen lassen. Vielfach hält man die Austern auch in großen Holzkasten, die den Durchfluß des Wassers gestatten und den Muscheln Nahrung und Schutz gewähren. Marennes an der Mündung der Seudre und das gegenüberliegende La Iremblade liefern aus ihren Teichen (Claires) die vorzüglichsten französischen Austern. Die einzelnen Teiche = S IS Sg SIT RSIS SS re SINE = SZ Eu en = = = 25 ar fl 1 , N N SER EEE CH SH - 22 III TIER <> 7 DI NIE Fa N Ir SSL EN I TIL EEESSSSSS [N Ic III ST Span —— = 23 N m rm 2 ee sind 2—30v0 qm groß, das Wasser steht in ihnen 0,3—0,5 m hoch. Man bringt die besonders an der Bretagne gefischten jungen Austern wieder ins Meer geworfen, so- vr m vl ET eu [an nn 7 BE un u II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 207 im Herbst in die Claires, wo sie drei bis vier Jahre bleiben müssen. Hier nehmen sie eine grüne Färbung an, die aber keinen Einfluß auf den Geschmack der Auster haben soll; diese grünen Austern sind so geschätzt, daß man die grüne Farbe durch Kupfersalze "künstlich herzustellen sucht. Die grüne Farbe ist an die Kiemen, Eingeweide usw. gebunden, und rührt von Algen her, die in den ‘betreffenden Körperteilen fortleben sollen. In den Bassins von Arcachon erscheinen die Austern aus dem gleichen Grunde violett gefärbt. Die künstliche Zucht sucht der jungen Brut, von der sonst der größte Teil zugrunde geht, geeignete Vorrichtungen darzubieten, auf denen sie sich anheften und vor störenden Einwirkungen ge- schützt werden kann. Im Lago di Fusaro bei Neapel hat man Faschinen zwischen Tauen an Pfählen aufgehängt und auch stets einen Ansatz von jungen Austern erzielt, die die auf Steinhügel im See gelegten Mutteraustern liefern. Derartige Methoden führen pur dort zum Ziel, wo die Bedingungen besonders günstig sind. anderswo mußte man sich mehr an die natürlichen Bedingungen "halten, so setzt man auf flachen, bei starker Ebbe trockenen Gründen Ziegel, Steine, Faschinen und Bretter mit Muschelschalen usw. aus, ‘um die schwärmende Brut aufzufangen, die das Wasser aus natür- lichen oder künstlichen Bänken herbeiführt, und schützt die jungen Austern sorgfältig vor zu großem Temperaturwechsel und den An- griffen anderer Tiere. 1891 wurden in Frankreich nahezu 823 Mill. Austern im Werte von ungefähr ı6 Mill. Frank auf den Markt ge- bracht. Die größten Austernzüchtereien befinden sich bei Auray und Arcachon. Der Park bei Auray umfaßt ı47 ha mit 8o Mill. Austern. Die dortigen natürlichen Bänke liefern bei sorgfältiger Pflege immer noch 8 Mill. jährlich. Die portugiesische Auster (O. angulata), die sich an der Mündung der Gironde freiwillig an- gesiedelt hat, ist größer, aber weniger schmackhaft, als die ge- wöhnliche Auster, gedeiht aber außerordentlich leicht und vermehrt - sich so stark, daß neben ihr die gewöhnliche Auster bald ver- schwindet. Sie ist in Portugal Volksnahrungsmittel, auch geht sie in großen Mengen nach England. In den deutschen Meeren wollen Austernparke ebensowenig‘: wie die Neuanlagen und Vergrößerungen von Austernbänken gedeihen, weshalb man sich auf die Reinigung der natürlichen Bänke von Schlamm, Pflanzen und. schädlichen Tieren, Bestreuung mit Austern- oder Muschelschalen, um das An- u: 208 Dr. Wiese, Das Meer, sammeln von Brut zu befördern, Bemessung des jährlichen Fanges und zeitweise Schonung (1. Mai bis 31. August) beschränkt. Auch lohnen sich Vorratsanstalten, die gleichzeitig den Geschmack der Austern verbessern mögen. Selbst die Austernschalen werden benutzt. dGereinigt, aus- gekocht und gepulvert, dienen sie als präparierte Austernschalen gegen Magensäure, als Zahn- und als Putzpulver. Wo Austern in großen Mengen vorkommen, werden die Schalen zu Kalk gebrannt; auch dienen sie zur Ausbesserung der Austernbänke. Was die Zubereitung der Austern betrifft, so erklären die echten Austernliebhaber diese für eine Ketzerei und behaupten, man müsse Austern ohne jede Zutat sofort nach dem Aufbrechen der Schale nur mit ihrem eigenen Wasser hinunterschlingen, wenn | man ihr eigentliches Aroma genießen wolle. Auch wir bekennen uns zu diesem Grundsatze als einem in der Natur unserer Freundin begründeten. Aber wir dürfen doch nicht verfehlen, daß es min- destens ebensoviele Arten, die Austern zu kochen, zu backen und zu braten gibt, als man Rezepte zur Bereitung von Eiern hat. Der in Deutschland ziemlich allgemeine Gebrauch, sie nach der Suppe zu reichen, wird von Feinschmeckern verworfen und der französischen Speiseordnung‘, nach der die Mahlzeit mit ihnen be- ginnt, der Vorzug gegeben. Sie bilden bei feinen Saucen und Ragouts einen unentbehrlichen Bestandteil. Viele trinken Cham- pagner zu den Austern, jedoch ist guter Weißwein, namentlich Chablis oder auch Rheinwein entschieden vorzuziehen. 8. Die Perlen und die Perlenfischerei. „Unter allen Kostbarkeiten nehmen die Perlen die erste Stelle und gleichsam die Spitze ein.“ Plinius. In den ältesten Urkunden der Menschheit wird die Perle er- wähnt, und seit den ersten Anfängen der Kultur unter den Menschen wird sie gekannt und geschätzt. Nach den uralten orientalischen Sagen entsteht sie aus einer Himmelsträne (einem Tautropfen), den eine unter günstigen Sternen sich Öffnende Muschel in sich auf- nimmt und zu dem feuchtschimmernden Kügelchen reift. „Perlen bedeuten Tränen“, sagt Lessing in der Emilia, (ralotti, während das gläubige Kindesalter der Menschheit geradezu sagte: „Perlen sind Tränen, die ein Gott geweint, daher ihre überirdische Schön- heit.“ „Alle Völker kennen sie und nennen sie,“ sagt Schleiden, „alle Völker preisen sie um die Wette, bei allen Völkern von dem alten Sanskritstamme bis zu den modernen Kulturvölkern Europas, von dem überbildeten Chinesen bis zu dem rohen Natursohn, der die Wilden Floridas als Kazike beherrschte, ist sie der höchste Schmuck der Vornehmen, die würdigste Feier der Toten, das edelste Weihgeschenk für die Tempel der Götter.“ In China waren schon 2200 v. Chr. die Perlen in großem Ansehen; erst in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. kamen die indischen Seeperlen in Gebrauch. Sagen und Phantasien aller Art heften sich an diese „Muschel- frucht“. Die Taoisten, die Goldköche und Rosenkreuzer der Chinesen, knüpften große Hoffnungen an sie und waren überzeugt, aus ihr den Stein der Weisen bereiten zu können. In Indien waren Perlen im Gebrauch, soweit menschliche Überlieferung zurückreicht. Indische Legenden erzählten von den Moniperlen („Edelperlen*“), deren Licht so staık leuchte, daß man Reis dabei kochen könne. Auf der buddhaistischen Insel Poeto steht das goldene Bild der Dr. Wiese, Das Meer. 14 210 Dr. Wiese, Das Meer, Göttin der Gnade an der Stelle, wo sie gen Himmel fuhr. Es ist fünf Zoll hoch, und den Rumpf bildet eine einzige, ganz vollkommene Perle. Man schmückt nach der Ramayana sogar die Elefanten der Vornehmen mit Perlen. Auch bei den Ägyptern war die Perle von jeher ein geschätzter Schmuck, und welcher Luxus später damit getrieben wurde, zeigt die Geschichte der Kleopatra, die, um dem Antonius zu beweisen, dab sie bei einer Mahlzeit leicht zehn Millionen Sesterzien (5350000 Taler) verschwenden könne, eine Perle aus ihrem Ohr nahm, sie in Essig auflöste und trank. Die Perle des zweiten Ohres, wodurch die Wette gewonnen worden wäre, rettete Lucius Plancus durch eine feine Wendung. Sie fiel später dem siegreichen Feldherrn Agrippa in die Hände, der sie teilen und die Hälften in die Ohren der Venus im Pantheon einsetzen ließ. Julius Cäsar schenkte der Mutter des Brutus eine Perle, die 330000 Taler gekostet hatte. Nach Plinius erschien Lollia Paulina, Gemahlin des Cajus Caligula, bei einer Verlobungs- feier mit einem Schmuck aus Perlen und Smaragden, der für 2220000 Taler gekauft war. Auch in den deutschen Kronen glänzten Perlen. Die deutsche Reichskrone, die noch von Karl dem Großen herstammen soll, trägt auf dem goldenen Bogen, der sich darüber wölbt, die aus Perlen gebildete Inschrift: „Chuonradus dei gratia Romanorum imperator augustus“. Häufig wird in Luxusgesetzen den Bürgern die Verschwendung mit Perlenschmuck verboten, natürlich ohne Erfolg. Von besserer Wirkung, und auch wohl aus einem edleren Sinne hervorgehend, war das Verbot des Perlen- fischens bei den peruanischen Inkas, indem sie sagten, daß der Staat keinen Nutzen dabei habe, der das bei dem gefährlichen Gewerbe aufs Spiel gesetzte Leben seiner Bürger aufwiegen könne. Wie bereits angedeutet, wurden durch die Entdeckung Amerikas die neuen Perlengebiete dem europäischen Handel erschlossen und eine größere Ausbeute in Perlen gefördert. Von berühmten Perlen der Neuzeit sei die erwähnt, die ehedem der Schah von Persien besaß, von 4 cm Höhe und bald 2 cm Dicke und die der Juwelier Tavernier bei seiner Orientreise im 17. Jahrhundert auf 1600000 Fres. schätzte, oder die andere, die Ludwig XIV. der Frau von Maitenon schenkte, im Gewicht von 27’/, Karat, oder eine, die zur Zeit Karls V. im Madrider Schatze sich befand, um 1505 für 80000 Du- katen gekauft, und die unter dem Namen La Peregrina bekannt ist. Die größte, von der wir wissen, besaß Philipp von Spanien a EA 1 SZ 2 u. II. Abschnitt, Das Leben im Meere. 211 sie hatte die Größe eines Taubeneis, war birnenförmig und würde jetzt über drei Millionen Mark gelten. Perlmuschelbänke finden wir zunächst über den ganzen In- dischen Ozean zerstreut, doch liefern die meisten Erträge diejenigen von Ceylon und des Persischen Meeres. Die Perlmuscheln des Persischen Golfes sind größer wie die ceylonischen, ihre Perlen sollen auch durchweg einen mehr grellen gelben Schein aufweisen im Gegensatz zum weißen Schimmer ihrer indischen Vettern. China liefert große Mengen des beliebten Schmuckes, und der Große Ozean ist ein einziges großes Perlenmeer. Auch die Meere Mittelamerikas liefern den begrehrenswerten Schmuck. — = ——ElnnQ = y Flußperlmuschel. (Margaritana margaritifera.) Länge 12 cm. Aber die Natur hat nicht nur die fremden Länder mit 'der Perlmuschel beschenkt, auch unsere Heimat besitzt eine Abart, die Süßwasserperlmuschel, die von den Nordgrenzen Frankreichs bis an die Gestade des nördlichen Eismeers verbreitet ist und in deutschen wie schottischen, in skandinavischen wie russischen Ge- wässern edle Perlen hervorbringt. In Deutschland sind es haupt- sächlich Bäche und Flüßchen, die vom Böhmerwald, vom Fichtel-, Erz- und Riesengebirge herabkommen, die als perlerführend be- kannt sind, so daß Sachsen in dieser Richtung namentlich bevor- zugt erscheint. Die Elsterperlen sollen bereits von venetianischen Kaufleuten aufgefunden sein. Aber was ist die Armut der Bäch- 14* 943 Dr. Wiese, Das Meer. lein unserer Zone gegen die unermeßliche Fruchtbarkeit tropischer Ozeane ? Woraus besteht die Perle? Diese Frage beantwortet Hermann Barth in seinem vortrefflichen Werke „Das Geschmeide“ in folgender Weise: In Wahrheit besteht die Perle aus demselben Stoff, der die innere, die Perlmutterschicht der Schale bildet: zeigt doch auch die Perle einen zarten, lieblichen Perlmutterglanz, Orient ge- nannt, der den Seeperlen allerdings stärker als den Flußperlen eigen ist. Aber die Perlmutter, die als das quantitativ bedeut- samere Nebenprodukt gewonnen wird, bildet sich durch einen organischen, gesetzmäßigen Vorgang und setzt sich an bestimmten Orten an, die Perle ist durch krankhaften, nicht ursprünglich not- wendigeen Prozeß entstanden, eine übermäßige Absonderung von Perlmutter an einer Stelle, wo ein ungewöhnlicher Reiz auf die Muschel einwirkt. Perlmutter macht die oberste Lage der in tierischen Schleim eingehüllten Kalkteilchen aus, die von dem Weichtier abgesondert werden und übereinander abgelagert die Verdickung der Muschel’ oder eines Schneckenhauses hervorbringen, andererseits sich über die alten Ränder hinausschieben und den Schalenumfang vergrößern, bei Schnecken die Windungen ver- längern. Zum Unterschied von den älteren Ablagerungen irisieren diese Kalklagen, sie zeigen bunten Farbenglanz, der dadurch her- vorgerufen wird, dal in den kleinen Zwischenräumen der Kalk- teilchen die Lichtstrahlen bei der Refraktion zerlegt werden. Zur Entstehung der Perle führen, wie jetzt schon lange als ausgemacht gelten muß, allerlei Zufälligkeiten: der Mantel des Tieres wird ver- letzt, und es sucht durch ein Pflöckchen sich zu schützen, das es aus den abgeesonderten Kalkmassen ballt — so entsteht die innen an der Schale mit breiter Basis aufsitzende Kropfperle, die für den Gebrauch erst losgetrennt werden muß, auch Schalperle (soufflures de nacre) genannt; oder ein fremder Körper ist ins Innere der Muschel eingedrungen, ein Sandkorn, ein Algenfaden, ein Ein- geweidewürmchen, und das Muscheltier sucht deren Schädlichkeit zu beseitigen und spinnt sie in eine Perle ein — die schönsten, runden, ringsum freien Perlen bilden sich auf diese Weise. Wirklich zeigen die Perlendurchschnitte eine große Anzahl sehr dünner Schichten aus organischer Substanz mit kohlensaurem Kalk, die sich konzentrisch bedecken und einhüllen, und in der Mitte eingeschlossen einen meist länglichen Kern; die innersten sr Zu 7 II. Abschnitt, Das Leben in Meere. 273 Schichten um ihn herum erscheinen auseinandergezerrt, wenn der Kern ein Entozoon, ein Schmarotzertierchen, war; denn der Ein- dringling wird sich sträuben, bis ihn die immer undurchdringlicher werdende Hülle leblos macht. Nach diesem Prinzip wäre allerdings die Möglichkeit gegeben, künstliche Perlenbildung hervorzurufen. Nachdem wir die Frage der Entstehung der Perle beantwortet haben, suchen wir weiter nach dem Wert des hochgeschätzten Kleinodes. Bei der Abschätzung des Wertes muß außer Grewicht, Größe und Form auch Glätte und heller durchsichtiger Glanz und Färbung bei dein kleinen Meeresmirakel berücksichtigt werden. In Europa sind die runden, silberartig milchweißen am gesuchtesten, in Indien, Persien, Arabien zieht man die gelblichen vor. Diese sind allerdings in warmen Ländern mehr zum Gebrauche geeignet, da die weißen durch Feuchtigkeit der Haut leicht eine unangenehme, ungleiche, gelbe Farbe erhalten; gelindes Erwärmen zwischen Weizenmehl, Wasserdämpfen, viertelstündiges Kochen in Kuhmilch, Backen zwischen Brotteich oder vorsichtige Anwendung: sehr ver- dünnter Schwefelsäure soll die Trübung allerdings etwas wieder vermindern, kann aber Flecken doch nie so vollständig entfernen, daß der ursprüngliche Glanz und die edle echte Färbung voll zurückkehrt. Da die Perle aus kohlensaurem und phosphorsaurem Kalk und tierischen Stoffen besteht, so wird sie von stärkeren Säuren leicht angegriffen, und alle Versuche, sie dadurch gründlich zu reinigen oder zu korrigieren, sind mit großer Behutsamkeit vor- zunehmen und stets eine gewagte Sache Starke Hitzegrade vertragen die Perlen nicht, sie werden darin leicht blind und mißfarbig. Bemerkenswert ist das Verfahren orientalischer Juweliere und Perlenhändler, fleckige und stellenweis abgeriebene Perlen zu wertvollen zu machen, indem sie sehr vorsichtig die oberste Schicht absprengen. Zwar besteht jede Perle aus konzentrischen Schalen oder Lagen, aber diese haben gleichwohl nie völlig gleiche Dicke, und so muß auch jenes schwierige Geschäft der Verbesserung oft mißglücken. Im Verkauf wird die Perle in sechs Größen stückweise, und zwar nach Karat berechnet, etwa !/, g, und der Preis wird nach dem Quadrat der Schwere bestimmt, indem man zunächst den Wert einer einkaratigen Perle von derselben Farbe und Form ermittelt und diesen \Vert mit dem Quadrat des Gewichtes des 214 Dr. Wiese, Das Meer. vorliegenden großen Exemplars und das gefundene Produkt dann noch mit acht multipliziert. An und für sich teurer, weil schwieriger zu erlangen, sind Schnüre von Perlen, bei denen nach Möglichkeit solche von gleichem Gewicht zusammengereiht werden. Kleine Perlen werden lotweise verhandelt, aber auch hier besteht noch ein Unterschied, je nachdem eine größere oder geringere Zahl aufs Lot geht. Zu schnellem und richtigem Sortieren dient ein Blechsieb mit Löchern von verschiedenem Durchmesser. Mit seltsamen Märchen sind die Berichte der Alten über die Perlenfischerei ausgeschmückt, wohl teilweise aus dem Grunde, um dem Gegenstand einen noch höheren Wert beizumessen. Wir wissen über die Anfänge der Gewinnung: der Perlen nichts Sicheres, wohl aber wissen wir, daß Ceylon ein uralter Stapelplatz für Perlen ist. In der Meeresenge zwischen der Küste Corelmandel und dem nördlichen Ceylon wird noch heute der „Edelstein des Meeres“ dem nassen Element in mühevoller Arbeit entrissen. Diese Perlen- fischerei hat Möbius in seinem Buche über die echten Perlen ge- schildert, und seiner Schilderung folgt unser schon genannter Gewährsmann Hermann Barth. Möbius führt uns zu der Haupt- station Kondatschy, gemeinhin nach Aripo benannt, einem alten Fort nahe der Mündung des Malwatleoya, d. i. des Blumengarten- flusses, aus dem die Fischer ihr Trinkwasser holen, obgleich er beinahe eine Meile entfernt ist. Sonst ist die Küste dürre und öde. Mit unerbittlicher Macht herrscht die glühende Sonne über alles rund umher, soweit der ungehemmte Blick über die Ebene schweift. Im ausgedörrten Sande steht das magere Gras wie Stroh, nur einige zusammengeschrumpfte Blätter hängen an dem nackten Gesträuch; selbst das Insekt sucht Schutz vor den sengenden Strahlen; aber da ist nichts, was Schatten würfe; nur zitternder Dunst schwebt über dem Boden, und auch die See spiegelt er- drückende Hitze zurück. Im glühenden Sande liegen die gebleichten Gebeine der Perlensucher, die im Angesichte der Schätze, nach denen sie gelüstete, ihren Tod fanden. Ein großes dorisches Ge- bäude, das Gouverneur North errichtete und das vom Aufseher der Bänke bewohnt wird, ist der einzige Gesichtszug der Gegend, der allereinförmigsten von ganz Ceylon. So sieht die Stätte aus, wo sich ein Bild bunten Gewühls entrollt, wenn die Taucherböte ankommen und zufolge des Aufrufes der Regierung aus allen Teilen Indiens tausende zu blendenden Spekulationen herbeiströmen. II, Abschnitt. Das Leben im Meere. 215 Schnell entstehen dann lange Reihen von Hütten aus Bambus- und Arekapfählen, mit Palmenblättern, Reisstroh und bunten Baum- wollzeugen bedeckt, unter denen das Volk schläft. Händler ziehen herbei und schlagen ihr Lager von groben Kleidern und irdenen Gefäßen zum Reiskochen auf. Auch Aben- teurer, Taschenspieler erscheinen, und gewandte Diebe schleichen sich ein. Ein jeder spekuliert mit Geld und Kre- dit, soviel er kann. Einige reiche Ein- geborene vom Kontinent erscheinen in stolzen Tragsesseln mit prachtvollen Sonnenschirmen und tragen sammtne, mit Gold verbrämte Kleider. Vor Beginn der Kampagne sind die Perlenbänke untersucht worden. Ende Oktober, in der kurzen Zeit des guten Wetters zwischen dem südwest- lichen Monsum und dem nordöstlichen, haben eingeborene Piloten diese Ar- beit getan; Kenntnis und (Geschäft erben vom Vater auf den Sohn. Sie untersuchen die Lage der Bank, und wepn in tausend der versuchsweise heraufgebrachten Muscheln Perlen in einem gewissen Wert enthalten sind, so wird die Stelle für geeignet erklärt, regelmäßig ausgebeutet zu werden; sind dagegen viele junge und unreife Muscheln in der Zahl, so wird die Fischerei an diesem Punkte in die Zukunft verschoben, damit unnütze Verringerung des Muschelbestandes nach Möglichkeit vermieden werde. Die Muscheln liegen verstreut PEchetä im Sandboden des Meeres oder leben in großen Mengen beisammen und bilden Hügel, indem die jüngeren auf den älteren, abgestorbenen, festsitzen, oder sie siedeln sich auf Korallen an. Man findet sie in einer Wassertiefe von 210 Dr. Wiese, Das Meer, 6 som, die greeignetste Tiefe scheint etwa ı5 m zu sein. Über vanzen Komplex, der dem Fang geöffnet werden soll, werden Eon greankert, dreieckige Flöße, mit Flaggen verschiedener Farben, e Beschaffenheit der Gegend, die Muschelmengen, die voraus- = che Ausbeute bezeichnen. ın der Mitte des Februar sammelt sich in der Bai die Flottille d Fischer. Von Ceylon sind nicht soviele Leute dabei wie von d.: Küste des Festlandes.. Um sechs Uhr morgens beginnt das I.uchen. Mit einem schweren Stein belastet, stürzt der Taucher in die Flut und sinkt schnell unter, auf dem Grund wirft er sich neder und reißt alles ab, was in den Bereich seiner Hände kommt | neben ihm steht der Korb, den sie an einem Tau wieder auf- winden können, in aller Eile rafft der Mensch hinein, was er findet — ein Ziehen an dem Seil, das ihn mit dem Boote verbindet, ist das Zeichen, daß er aufsteigen will, und nach ein bis anderthalb Minuten Aufenthalt unter Wasser kommt er wieder empor. Länger zu bleiben sind die Leute nicht gewöhnt, sie vermögen auch nicht gleich wieder sofort zu tauchen, sondern bedürfen stets einer Pause des ruhigen Atmens, aber sie steigen selten deshalb ins Boot, sie ruhen schwimmend aus und verbringen so, vierzig- bis fünfzigmal tauchend, den ganzen Tag im Wasser. Ähnlich ist das Treiben an den Bahreininseln im Persischen Golf; nur pressen sie dort die Nasenlöcher mit Hornklemmen zu- sammen, die Ohren werden mit geölter Baumwolle verstopft. Außer den heftigen Erschütterungen der Gesundheit durch dies Taucherleben ist der Mann auch beständig: durch die Haifische bedroht. Haifischbeschwörer läßt er darum am Ufer für sich beten, während er draußen arbeitet, und bezahlt sie von seinem Verdienste, auch die katholischen Taucher binden sich Bibelsprüche als Amulette am Arm fest. Und wenn es. nicht der Hai ist, so sind es Säge- fische, die gefährlich werden. Dann die zunehmende Kühle, das eigentümliche Zwielicht drunten, der peinliche Schmerz in Ohr und Auge! DBedenkt man, dal doch im äußersten Fall der Ertrag jedes- mal 150 Muscheln ist, oft aber auch nur 5— ı0 ergriffen werden, und daß dabei überhaupt immer “, aller Muscheln ohne Perlen sind, so merkt man wohl, wie schwer der Beruf ist, der für den Schmuck- kasten der Reichen die Perle aus dem Schoße der Salzflut hervorholt. Die Aussonderung der Perlen aus den Muscheln ist eine ekel- hafte Arbeit. Der ganze Ertrag einer mehrtägigen Fischerei wird II. Abschnitt. Das Leben im ‘Meere. 217 auf einen Haufen geworfen, man läßt ihn zehn Tage faulen, die stinkende Masse waschen sie dann oftmals und wiederholt in ge- neigten, mit feinen Abzuglöchern versehenen Holzkästchen durch, bis alle weichen Teile der Tiere entfernt sind; mit viel Vorsicht wird zu Werke gegangen, um auch die kleinsten Perlchen zu er- halten, dennoch geht ein bedeutender Teil verloren, Viele Übung erfordert die Art, wie die Bewohner von Ceylon die Perlen für den Handel durchbohren. Ein kegelförmiges Stück hartes Holz wird mit der Spitze in den Boden festgeschlagen, die Perlen werden in Löcher von angemessener Größe gesteckt, die man auf der Oberfläche anbringt; nun nimmt der Mann einen dünnen Holzstab von fünf Zoll Länge, der an dem einen Ende eine gute Stahlnadel hat, an dem anderen eine kurze Eisenspitze. Die Nadel setzt er der Perle an, die Eisenspitze stemmt sich gegen ein Stück Kokosnufßschale, das der Arbeiter mit der Stirn nieder- drückt. Ein Bogen aus Bambus und Kokosfasern setzt den Apparat in Bewegung. Um die Hitze der Reibung zu verhüten, wird während des Bohrens mit dem Finger häufig angefeuchtet. Zum Durchbohren einer Perle braucht der Mann zwei bis drei Minuten, geschickte Arbeiter stellen in einem Tage 300 kleine und 600 große Perlen fertig. Natürlich sind auch die Perlen ein Gegenstand der Imitation und der Fälschung geworden, aber mit diesen uns hier zu be- schäftigen, liegt keine Veranlassung vor, da wir es hier nur mit der Schöpferkraft des Meeres, das uns die schöne funkensprühende Königin des Schmuckes spendet, zu tun haben. “+ O0. Die Kephalopoden. Sonst, wenn der Vater auszog, liebe Kinder, Da war ein Freuen, wenn er wiederkam; Denn niemals kehrt er heim, er bracht euch etwas, War’s eine schöne Alpenblume, war’s Ein seltner Vogel oder Ammonshorn, Wie es der Wandrer findet auf den Bergen, Schiller, Wilhelm Tell, Als noch die Meeresfluten über unsere Erde dahinrauschten, lebten in ihnen vierkiemige Tiere. Es waren die Tintenfische, und die Ammonshörner sind nichts anderes als Schalen ausgestorbener vierkiemiger Tintenfische. Von jeher haben diese Tiere, die der Naturforscher Kephalopoden oder Kopffüßler nennt und zu den Weichtieren rechnet, die Phantasie der Völker beschäftigt. Man nannte sie im Altertum „Polypen“ oder Vielfüßler wegen der vielen um den Mund herumstehenden Arme, die mit Saugnäpfen versehen sind und zum Fangen der Beute dienen. Sobald das Tier auf dem Boden verweilt, dienen ihm die Arme zum Gehen oder vielmehr zum Kriechen. Dabei sind die zahlreichen Saugscheiben von großer Bedeutung, mit deren Hilfe sie Arm um Arm fixieren, um den. übrigen Körper nachzuziehen, mit denen sie sich aber auch an eine gegebene Unterlage so fest halten können, daß große Gewalt da- zu grehört, um sie abzulösen. Nach der Zahl ihrer Atmungsorgane unterscheidet man Vier- und Zweikiemer. Die Vierkiemer haben kleine zurückziehbare, zahlreiche Tentakeln. Sie bewohnen eine vielkammerige Schale, die Ähnlichkeit mit einem Schneckengehäuse hat. Die meisten Mitglieder dieser Ordnung sind ausgestorben. Die Zweikiemer werden in achtarmige und zehnarmige Kephalopoden geteilt. Während die plumpern achtarmigen sehr hurtig und ge- schickt zu kriechen verstehen, sind die im allgemeinen schlanker II. Abschnitt, Das Leben im Meere, 219 gebauten zehnarmigen Formen, die Kalmare und Tintenfische, die besseren Schwimmer. Wenn auch in mancher fabelhaften Erzählung über die Kraken und Tintenfische vieles übertrieben ist, so ist es dennoch zweifel- los, daß die unheimlichen Tiere, die durch das Gewimmel ihrer Fangarme, durch ihre Stärke und Wehrhaftigkeit, durch den starren Blick ihrer Augen den Seeleuten Grauen ein- Nößen, zu den furchtbarsten Tieren des Meeres gehören. Neben kleinen findet man auf hoher See Kephalo- poden von ungewöhnlichen Körperdimensionen. Wenn- schon die Berichte von Olaf Magnus und dem Bischof Erich_Pontoppidan, wonach die Kraken gelegentlich wie Inseln mit Bäumen bewach- sen und mit Hügeln be- deckt aus dem Meere tau- chen sollen, ungeheuerliche Übertreibungen sind, so liegt ihnen doch, wie Mar- schall bemerkt, ein Körn- chen Wahrheit zugrunde. Wir wissen jetzt nament- lich durch die Untersuchung Verrills, daß es wahre Riesen unter den Kopf- füßlern gibt: Architeuthis Der Belemnit (Tintenfisch). prınceps wird, die Arme mit- a) Knochengerüst. — b) Rekonstruiert. gemessen 12, und A. mona- chus über 9 m lang. Schon Quoy und Gaimard hatten während der berübmten Reise der französischen Fregatte „Astrolabe“ aus dem Atlantischen Ozean nahe dem Äquator Reste eines Kephalopoden aufgefischt, der nach ihrer Schätzung mindestens ein Gewicht von 50 kg gehabt haben muß. Am 30. November 1861 begegnete der Dampfaviso Alekto einem Kalmar von 5—6 m Länge ohne die 4 re. 320 Dr. Wiese, Das Meer. Tentakeln, dessen Gewicht auf 2000 kg geschätzt wurde. Man machte Jagd auf das Greeschöpf, fing es auch, indessen es befreite sich unter Verlust seines Körperendes. Die Tintenfiische sind außerordentlich gefräßige Tiere; bringt man ihrer mehrere in einem Aquarium zusammen, so fallen nicht selten die größeren, auch wenn reichlich Futter gereicht wird, über die kleineren her. Vor ihren Schlupfwinkeln auf dem Meeresboden liegen ın'tunter Haufen von leeren Schnecken- und Muschelschalen, Kre.sspanzern und Fischgräten. Aber trotz ihres regen Appetits verschlingen sie doch ihre Beute nicht immer sofort, sondern sie legen sich für magere Zeiten Vorräte zurück, denn auf dem Grunde ihrer Felshöhlen findet man nicht selten lebende Schaltiere in großer Zahl. Im Falle der Gefahr wissen sie die Überreste ihrer Mahlzeiten, Kjökkenmöddinger, der vor ihrer Höhle liegt, ganz ge- schickt als Schutzmittel zu benutzen. Will man nämlich einen Tintenfisch gewaltsam aus seiner Höhle hinausziehen, so erfaßt er schnell mit Hilfe der zahlreichen Saugnäpfe seiner langen Arme eine Menge von Muschelschalen, Krebspanzern, Steinen u. dgl., schlägt die so beladenen Arme rund um seinen Körper und stellt sich tot, wie ein Igel, dessen Stacheln hier die spitzen Körper ver- treten. Ein Feind, der auf einen solchen steinigen Klumpen ein- beißt. würde doch das Gefühl bekommen, dal} es vor lauter Muscheln und Steinen sich nicht recht lohnte und auf einen derartig ge- panzerten Tintenfisch verzichten. Bekanntlich haben viele Kopffüßler die Fähigkeit, sich in der Farbe dem Äußeren der Umgebung, z. B. der Farbe des Meeres- grundes, anzupassen. Einen solchen willkürlichen Farbenwechsel gestatten den Tieren die zahlreichen farbstofführenden Zellen (Chro- matophoren) in ihrer Haut. Ein und dasselbe Tier verfügt oft über zehn verschiedene Farben (schwarz, braun, rot, rosa, gelb, grün, blau usw.). Daraus folgt, daß es, wenn es alle gelben Farbzellen spielen läßt, das eine Mal gelb, das andere Mal, wo es mehr die roten hervorkehrt, rot aussehen kann. Dieser Farbenwechsel unter- liegt ganz dem Willen des Tieres und kann fast augenblicklich eintreten; überdies vermag es jedem Körperteil noch seine be- sondere Farbe zu geben. Schneidet man indes die Nerven, die dieses Farbspiel vermitteln, auf der einen Seite durch, so wird die betreffende Körperseite farblos, weiß, während die andere, wo der Nerv unbeschädigt geblieben ist, noch alle Schattierungen von se II.. Abschnitt. Das Leben im Meere, 221 Gelb, Rot bis Schwarz durchmachen kann. Die Möglichkeit des willkürlichen Farbenwechsels hat für die Tintenfische dieselbe Be- deutung, wie für andere Tiere die Schutzfärbung. Die Kopffüßler der Tiefsee besitzen in ihren Farbenzellen zugleich auch noch Leuchtorgane; jedes Tier trägt gewissermaßen Hunderte von kleinen Laternen mit sich herum. Merkwürdig ist, daß manche Kopffüßler noch eine Art Auge besitzen, das aber nicht zum Wahrnehmen von Licht, sondern von Wärmestrahlen da zu sein scheint, so dab das Tier vermöge dieses natürlichen Ihermometers in jeder Wasser- schicht über die jeweilige Temperatur unterrichtet ist. Bei seinen Forschungen über die Lebensweise der Kopffüßler hat Prof. Joubin noch eine seltsame Entdeckung gemacht, die den Ursprung der grauen Ambra, jenes wertgeschätzten Riechmittels, aufklärt. Die graue Ambra schwimmt in südlichen Gegenden auf dem Meere, sie wird aber bekanntlich auch: in den Eingeweiden von Pottfischen gefunden, die sich fast ausschließlich von Tinten- fischen und anderen Kopffüßlern nähren. Nun gıbt es einen Tinten- fisch (Eledone moschata), der in seiner Haut eine Unzahl von Drüsen besitzt, welche einen Stoff von starkem Moschusgeruch absondern. Frißt nun ein Pottfisch solche Moschuskopffüßler, dann erleidet der Moschuskopf in dem großen chemischen Laboratorium, das der Magen und der Darm eines Pottwales darstellt, eine Reihe von unbekannten Umwandlungen, woraus die Ambra entsteht. Sie ist also gewissermaßen als eine Art Gallen- oder Darmstein (Co- prolith) des Pottwales aufzufassen. N m IO. Die Schildkröten. „Nach einer indischen Urmythe trägt ein Elefant die Erde; er selbst, damit er nicht falle, wird wiederum von einer Riesenschildkröte getragen. Worauf die Schildkröte ruhe, ist dem gläubigen Brah- minen nicht zu fragen erlaubt.“ Humboldt. „Die Schildkröten,“ sagt Schleiden, „abgeschlossen in ihrem festen Panzer, über den ein Wagen hinfahren kann, ohne ihn zu verletzen, ihrer zähen Reizbarkeit, so daß der abgeschnittene Kopf noch lange die Augen verdreht- und heftig beißt, mit ihrer ge- waltigen Muskelkraft, daß ein paar Männer auf das Schild treten können, ohne daß das Tier in seinem Gange gestört wird, und daß es, an einem Nachen befestigt, denselben tagelang durch das Meer schleppen kann — konnten allerdings auf ein phantasiereiches Volk, wie die Indier, einen solchen Eindruck machen, daß sie in ihren kosmogoonischen Märchen eine Schildkröte zum Träger der Erde wählten. Ihnen schwebte die Erde haltungslos im ewigen Himmel, und sie gaben ihr daher eine Stütze; dem Griechen ruhte aui der unerschütterlichen Erde das Gewölbe des Himmels, dem sie daher den Atlas zur Stütze gaben, daß er nicht auf sie herabstürze.* Nur wenige Arten der Schildkröten leben im Meere, aber alle sind äußerst gewandte und ausdauernde Schwimmer, und ihre Be- wegungen im Wasser sind so zierlich, daß man sie diesen plumpen lieren nicht zutrauen sollte. Vielfach sind sie riesenhafte Tiere und werden bis 2 m lang und 800 kg schwer. Ihr Rückenschild ist herzförmig, die Spitze liegt nach hinten. Der Panzer ist ent- weder mit Hornplatten bedeckt :oder lederartig. Die Kiefern sind lippenlos, mit einer für die einzelnen Arten charakteristischen PP II. Abschnitt. Das Leben im Meere. rin Hornschneide versehen. Die Füße sind zu Flossenfüßen umge- wandelt. Die Vorderbeine sind immer bedeutend größer als die Hinterbeine. Die Zehen sind flach und unbeweglich, da sie unter der gemeinsamen Haut stecken, mit ein bis zwei oder ohne Krallen. Kopf und Beine sind nicht unter das Schild zurückziehbar. Die Schildkröten sind sämtlich sehr scheu und suchen die Küsten nur auf, um am Strande im Sand ihre Eier zu legen, die dann durch die Wärme des von der Sonne erhitzten Sandes ausgebrütet werden. Wir unterscheiden nach Apstein folgende Arten: Lederschiidkröte, Dermatochelys coriacea Rondelet. Der Panzer dieser Schildkröte ist mit einer dicken Lederhaut über- zogen, auf der sich sieben Längskiele erheben. Die Vorderbeine sind doppelt so lang als die hinteren. Die Hornschneide des Ober- kiefers besitzt drei tiefe Ausrandungen. Die Fär- bung ist braun, die Kiele etwas lichter, die Beine sind schwärzlich. Die Lederschildkröte wird bis Dermatochelys coriacea. Ledeıschildkröte. über 2 m lang und kann !/,, nat. Größe. (Nach Tem. u. Schleg.) 8oo kg wiegen, sie lebt hauptsächlich .im wär- meren Atlantischen Ozean, kommt aber auch in den übrigen ÖOzeanen und im Mittelmeer vor. Ihre Nahrung besteht aus Fischen, Krebsen, Weich- tieren. Ihr Fleisch ist un- tauglich, aus den Eiern wird Öl gewonnen. (Aus „Apstein, Tierleben der Hochsee“, Karettschildkröte, Chelone imbricata. Der Rücken ist mit Hornplatten (13 Scheiben und 23 bis 27 Randplatten) überzogen, die dachziegelartig sich decken. Der Öberkiefer ist hackig, die Ränder der Kiefer- Chelone imbricata. Karettschildkröte. . . = !/,, nat. Größe. (Nach Schinz.) schneide sind ungezähnelt. (Aus „Apstein, Tierleben der Hochsee“. E. 224 Dr. Wiese, Das Meer, Die Vorderfüße besitzen zwei Krallen, der Schwanz ragt nicht unter dem Rückenschild hervor. Die Färbung ist schwarzbraun bis grünlichbraun mit gelber Zeichnung, das Brustschild gelbweiß mit schwarzen Flecken, ebenso der Kopf und die Beine. Diese Schildkröte lebt in den tropischen Teilen aller Ozeane, am häufigsten ist sie in Westindien und zwischen den hinter- indischen Inseln. Sie frißt Weichtiere und Fische. Ihr Fleisch ist ungenießbar. Von ihr wird das Schildpatt gewonnen, von dem eine Schildkröte 2—8 kg liefert. Ihre Länge übersteigt ı m nicht. 7 | e= Suppenschildkröte, Chelone viridis Schneider. Die Rücken- ! platten (13 Scheiben und 25—27 Randplatten) überdecken sich nicht, sondern stoßen Be aneinander. Der Rand der Kieferschneide ist fein ge- zähnelt. Die Füße tragen nureineKralle. DerSchwanz ragt unter dem Rücken- i schild hervor. Die Färbung ist dunkelgrün mit helleren und dunkleren Flecken, die Bauchseite - schmutzigweiß. Chelone viridis. Suppenschildkröte. Diese Schildkröte be- 1/,, nat. Größe. (Nach Schinz.) wohnt alle Meere, sowohl Aus „Apstein, Tierleben der Hochsee“. der warmen, als der ge mäßigten Gegenden. Na- mentlich wird sie in Westindien gefangen, da ihr Fleisch äußerst schmackhaft ist. Auf hoher See ist sie öfters zu sehen, wie sie’ nahe der Oberfläche gewandt dahinschwimmt. Sie leben gesellig und finden sich an den Küsten ein, um Tang und Seegras zu fressen. Solange sie sich auf hoher See finden, scheinen sie a hungern oder sich von Seetieren zu nähren. Die Länge beträgt 2 m und das Gewicht bis 500 kg. 2 Europäische Seeschildkröte,- Thalassochelys corticata Rondelet. Das Rückenschild hat ı5 Scheiben, aber auch 25 Randplatten. Die Platten der Mittellinie tragen einen Kiel. Der Schwanz ist sehr kurz und kegelförmig. Die Beine tragen zwei Krallen, die an den Hinterbeinen sehr klein sind. Die Färbung‘ II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 225 ist kastanienbraun, die Unterseite gelblich. Die Länge beträgt bis ı m, das Gewicht bis 200 kg. Im Atlantischen Ozean und im Mittelmeer findet sich diese Schildkröte, die tierische Kost zu sich nimmt. Weder Fleisch noch Schildpatt sind zu TEN Der Fang der Schildkröten geschieht auf verschiedeneWeise. Wenn sie nachts ihre Eier legen, sucht man sie auf dem Lande zu überraschen und dreht sie, bis- weilen mitHilfe von Hebebäumen, un, So auf dem Rücken lie- gend, können die Tiere sich nicht “mehr auf die Beine richten und werden nun einfach mitgenom- men. Bisweilen liefert ein auf diese Weise gefangenes Tier ‚einer ganzen Schiffsmannschaft . eine vollständige Nahrung. Auch ‚mit Netzen wird wohl die Schild- kröte gefangen. In origineller Weise benutzt man auf Kuba die Schildfische zum Schildkröten- fang. Man befestigt, wie Humboldt berichtet, eine starke Schnur -an ihrem Schwanz, wirft sie dann ins Wasser und zieht mit ihnen das Tier, an dem sie sich festgesaugt haben, ans Land. Thalassochelys corticata. Europäische See- schildkröte. !/,, nat. Größe. (Aquar. neapol.) (Aus „‚Apstein, Tierleben der Hochsee‘.) Dr. Wiese, Das Meer. I5 ar Die Seeschlangen. Die Annäherung an die Geisterbäume wird durch Korallenbänke erschwert, zwischen denen zahlreiche schwarze Holo- thurien und elegant schwimmende See- schlangen sich umhertrieben, | Karl Chun. Die zu den Giftzähnern oder Proteroglyphen gehörigen See- schlangen, Hydrophiinae, tragen im allgemeinen den Schlangen- charakter zur Schau, sie weichen aber in mehrfacher Hinsicht von ihren landbewohnenden Verwandten beträchtlich ab. Ihr auf- fallendstes und charakteristischstes Merkmal bildet der Ruderschwanz. Der Rumpf ist, abgesehen von seinem vorderen Abschnitt, der walzig rund erscheint, bei den einzelnen Arten mehr oder minder seitlich zusammengedrückt. Die Seeschlangen, sind sehr giftig, ihr Gebil besteht im Ober- kiefer aus gefurchten Giftzähnen und hinter diesen stehenden kleineren Zähnen. Der Unterkiefer ist mit zahlreichen starken Fangzähnen bewehrt. Die verschiedenen Vertreter dieser Gruppe sind mit Ausnahme einer Art, der Gattung Distira, die einen Süßwassersee auf Luzon bewohnt, alles Meerestiere, die die Flüsse nicht freiwillig be- suchen. Obwohl die Tiere keine eigentlichen Küstentiere zu nennen sind, halten sie sich in nicht allzu großer Entfernung von dem Lande im Meere auf. Bei dieser ausgesprochen marinen Lebensart ist es selbstver- ständlich, daß diese Tiere ihrem Medium, in dem sie leben, vorteil- haft angepaßt sind. Der Ruderschwanz sowie die seitlich zu- | sammengedrückte Körperform befähigen sie, mit großer Greschwin- | digkeit durch das Wasser zu eilen, auch können die Tiere den | II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 2 vw u Schwanz als Anker benutzen. Die auf der Oberfläche der Schnauze gelegenen Nasenlöcher ermöglichen es ihnen, Luft einzunehmen, ohne daß hierbei ein größerer Teil des Körpers aus dem Wasser gehoben werden muß. Diese Schlangen können eine be- trächtliche Zeit unter Wasser bleiben, da die enorm entwickelte Lunge, die die ganze Leibeshöhle bis zum After durchzieht, ein vortreffliches Luft- reservoir darstellt, vermittelst dessen sie ein großes Quantum Luft auf- nehmen können. Hierbei kommen den Seeschlangen die verschließbaren Nasenöffnungen in erster Linie zustatten. Die hauptsächlichsten Wohnge- biete dieser Schlangen bilden, nach Alexander Sokolowsky, die südchine- sischen und nordaustralischen Ge- wässer. Sie verbreiten sich über den Indischen und Stillen Ozean bis an die Westküste von Amerika. Im Stillen Ozean finden sie sich von Neuseeland bis nach Japan hinauf. Die Tiere sind sämtlich lebendig gebärend. Ihre Nahrung besteht aus Krebsen und Fischen. ImZusammenhang: mit den Meeres- schlangen können wir nicht an der Fabel von der Seeschlange vorbei- gehen. Die Fabel von der Seeschlange ist schon recht alt. Nach Dr. Schnee wird besagtes Geschöpf zuerst von Olaus Magnus 1555 und dann von Pelamis bicclor. Meeresschlange. !/. nat. Größe. (Nach Schinz.) (Aus „Apstein, Tierleben der Hochsee“. Nikolaus Gramius erwähnt. Als Vater und eigentlichen Urheber der Seeschlangensage bezeichnet er aber Erik Pontoppidan, gest. 1764, von dem u. a. die Mitteilung stammt,.daß der Leib des Un- getüms braun und so lang sei, daß seine Windungen gleich einer Kette von Oxhoftfässern auf dem Wasser erscheinen. Gleichzeitig -x I5 228 Dr. Wiese, .Das Meer. beschreibt auch Hans Egede, der Evangelist Grönlands, ein großes Seeungeheuer mit langer Schnauze und sehr großen flügelartigen „Ohren“; „der hintere Teil war wie eine Schlange“, nach einiger Zeit tauchte das Tier rückwärts ins Wasser und streckte dabei seinen Schwanz etwa eine Schiffslänge vom Kopfe entfernt über die Oberfläche. — Kine an Alter dem Olaus Magnus gleich- kommende Darstellung der Seeschlange findet sich bei dem schweizerischen Naturforscher Konrad Geßner (1516—1565). In seinem, freilich erst 1613 in Heidelberg erschienenen „Schlangen- buch“ gibt er uns sogar die Abbildung einer ganz riesigen „Wal- schlange“, wie sie sich aus einem kleinen Segelschiffe die einzelnen Seeleute als Opfer herausholt. Weitaus die meisten (ehrlichen) Berichte über die Seeschlange führt Schnee auf die Verwechslung mit riesigen Tintenfischen (Cephalopoda) zurück, von denen bereits die Rede war. - Doch sind es, wie Schnee weiterhin ausführt, nicht stets solche Ungeheuer von Cephalopoden, die Seeschlangen vortäuschen ; auch hintereinanderschwimmende Züge von Delphinen, Heringen und andern Fischen dürften oft den wahren Kern einer angeblich beobachteten Seeschlange darstellen. Ein nicht geringer Anteil an der Bildung der Seeschlangensage kommt auch den großen Walen des Meeres zu. Diese schwimmen bekanntlich mit sog. tummelnden Bewegungen, in einer Wellenlinie mit vertikalen Schwanzschlägen, was, aus der Ferne gesehen, sehr leicht den Eindruck eines mächtigen, sich halb unter, halb über Wasser dahinschlängelnden Geschöpfes macht. Ein solcher Wal braucht sich bloß in eine Gegend zu verirren, wo er sonst nicht vorkommt, und die Gelegenheit zur Bildung einer Seeschlangenmäre ist ge- schaffen. So erzählt Schnee einen hübschen Fall, der sich in den 60er Jahren an der englischen Küste ereignete. Dort zeigte sich mehrere Wochen lang ein Seeungeheuer, so daß die Fischer, die sich bedroht glaubten, um die Absendung eines Kriegsschiffes | baten. Das fragliche Tier wurde dann noch vom deutschen= Dampfer „Karlsruhe“ aus beobachtet, und die Folge war, daß bald in allen Blättern die neueste Kunde von der Seeschlange zu lesen war. Und doch reicht eine einzige der vom Dampfer beobachteten Einzelheiten hin, um das Wesen des angestaunten Tieres zu er- kennen: als es beim Herankommen des Schiffes untertauchte, ward II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 229 eine große, wagerecht liegende Schwanzflosse sichtbar. Dieses Merkmal kommt eben nur den Walen zu. Eine wertvolle Ergänzung zu Schnees Ausführungen gibt R.du Bois-Reymond. Seine Beobachtung machte er im Jahre 1890 als Schiffsarzt auf der „Serapis“ in der westlichen Ausfahrt der Mangellanstraße bei dunstiger Luft und spiegelglatter See. In einem damals geschriebenen Briefe sagte er: „Plötzlich sahen wir in lebhafter Bewegung im Wasser folgendes: Glatt, schwarz und blank! — Alle, mit deren Würde es vereinbar war, tobten vor Erstaunen und Aufregung über diese Seeschlange. Den Kopf sich lang hervorstrecken und umdrehen zu sehen, war ein scheußlicher Anblick, die Bewegung des Wassers schauerlichh, wenn man an den ungeheuren Leib dachte.“ Durch das Fernrohr wurde unser 'Gewährsmann aber bald eines besseren belehrt. Es handelte sich um eine Gresellschaft Seelöwen (Ötaria). Einer von ihnen steckte seinen spitzen Kopf weit aus dem Wasser hervor, während ein anderer, ruhig auf dem Rücken liegend, (außer der Schnauzenspitze) nur die Vorderbeine bzw. Vorderflossen gekreuzt aus dem Wasser hielt und dadurch den im Bogen aus dem Wasser hervorragenden Teil eines Schlangenleibes markierte. — Diese eigentümliche Stel- lung scheint für die Seelöwen eine bequeme Ruhelage zu sein; denn du Bois-Reymond beobachtete sie nachher noch bei einem andern Tier. Aus dem Mitgeteilten kann man entnehmen, dab die Beobachter die Entfernung und zugleich auch die Größe der "Erscheinung überschätzt hatten. Diese Täuschung kann um so leichter eintreten, als das Merkmal bekannter Größe auf offener See fast ganz fortfällt. Es soll schließlich nicht unerwähnt bleiben, daß die Akademie der Wissenschaften in Paris kürzlich das Fabeltier vor ihr gelehrtes Forum gezogen und ihr Dasein amtlich in das Jahrbuch ihrer Er- Örterungen und Verhandlungen eingetragen hat. Professor Giard, Mitglied der Akademie, Professor für Zoologie an der naturwissen- schaftlichen Fakultät von Paris, Verfasser zahlreicher Werke, nament- lich über die organische Entwicklung des Tierreiches, stand dem berüchtigten Ungeheuer vor der hohen gelehrten Körperschaft Gevatter, indem er den Bericht des Leutnants zur See, Eost, Kom- mandanten der „Decidee“ in den indochinesischen Gewässern, vor- las und erörterte, der mitsamt seiner Mannschaft am 23. Februar 1903 das Tier beobachtete. Sie hielten es, berichtet der Offizier, zuerst 230 Dr. Wiese, Das Meer. für eine ungeheure Schildkröte, die an der Oberfläche des Meeres schwamm. Dann aber sahen sie plötzlich das Tier sich über eine Länge von gegen 35 m entwickeln, wiederholt untertauchen und an der anderen Seite des Schiffes wieder auftauchen, wobei es seinen in der Mitte drei bis vier Meter im Durchmesser dicken Leib in wellenförmigen Ringeln wand und mit großer Geschwindig- keit vorwärts bewegte. Seine Haut war schwarz mit gelblichen Flecken, sein Kopf grau und schuppig, ähnlich dem einer Schild- kröte. An der Spitze spritzte es eine Säule dichten Wasser- dampfes aus. Da die ganze Mannschaft der „Decid&ee* den Bericht unterzeichnet hat, so zweifelt Giard auch nicht an seiner Richtig- keit, und die Seeschlange, so erklärte er dem „Temps“, tritt damit Hydrophis canyocincta. !/, nat. Größe. (Nach Brehm.) (Aus „Apstein, Tierleben der Hochsee‘“.) in der Tat aus der Dichtung in die Wirklichkeit. Giard erinnerte zugleich daran, daß auch der Leutnant Laareville,. Kommandant der „Avalambe“, im Juli 1897 in derselben Bai von Along ein See- ungeheuer desselben Aussehens gesehen habe. Nach der Beschrei- bung ist Giard geneigt, es einer Gruppe von Reptilien zuzuzählen, die man bisher vollkommen verschwunden glaubte. Neuerdings hat der in Hamburg durch lange Jahre an der Seewarte als Leiter der geographischen Abteilung tätig gewesene, jetzt dem Marineministerium in Berlin zugeteilte, in maritimen und wissenschaftlichen Kreisen gleich geschätzte Kapitänleutnant Georg Wislicenus in der „Täglichen Rundschau“ seine Erfahrungen mit II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 231 dem Untier veröffentlicht. Danach haben am 26. Juli 1893 eine ganze Anzahl urteilsfähiger Männer das Tier beobachtet. In der Sammlung der Schiffstagebücher der Seewarte findet man unter 417 das „Meteorologische Journal Sr. Maj. Korvette. Elisabeth“ für die Zeit vom 3. April bis zum 29. September 1883. Die letzte Spalte enthält für den 26. Jul, an dem nachmittags 4 Uhr die Reede von Libreville (Gabun) verlassen wurde, folgende Bemerkungen: 4 Uhr 4o Min. nachm. Segel gesetzt. 5 Uhr. Einen Schwarm größerer und kleinerer Wale bemerkt und bei denselben ein Tier, welches in Form und Bewegung einer großen Schlange ähnlich sah; dasselbe hatte eine weißliche Farbe und erhob das Vorderteil oftmals 10--ı8 Fuß über das Wasser, während der übrige Teil des Körpers in mehrfachen Windungen das Wasser aufwühlte. gez. Hbg. (Chiffrezeichen des Navigationsoffiziers, des Kapitän- leutnants Herbing). Und ferner: „Ich kann konstatieren, dal ich einige Zeit nach der vor- stehend geschriebenen Beobachtung, um 6 Uhr nachmittag, auf etwa zwei Seemeilen Entfernung ein Seetier in Schlangenform sich vielleicht 20 Fuß (mindestens) aus dem Wasser habe emporheben sehen, von weißlicher Farbe und mehr flach wie rund. Der Zu- fall wollte, daß ich das Fernglas gerade darauf gerichtet hatte. Nachdem der Körper wieder verschwunden, zeigte sich auf dem Wasser ein Schaumstreifen, wie das Kielwasser eines großen Schiffes. Vielleicht fünf Minuten sah ich in derselben Richtung, aber etwas weiter entfernt, ein garbenförmiges Aufsprudeln des Wassers, ähn- lich der Erscheinung, wie sie das Sprengen einer kleinen Mine auf der Wasseroberfläche verursacht, und durchaus verschieden von der Wasserstaubwolke, wie sie von den Luftausstößen des Wal- fisches herrührt. Der Kommandant gez. H. (Zeichen des Kommandanten, Kapt. z. S. Hollmann).“ Wislicenus schreibt dazu seinerseits: „Hierzu bemerke ich, dab ich für die Richtigkeit der Abschrift aus dem angeführten dienst- lichen Journal einstehe und daß auch meine eigene Beschreibung 232 Dr. Wiese, Das Meer. des Tieres, die ich jetzt anfügen will, nach bestem Wissen und so genau, wie ich mich des Vorfalls noch erinnern kann, im Jahre 1893 niedergeschrieben ist. Zuvor will ich noch hinzufügen, daß mir damals, als ich die Beobachtung machte, weder von Pontoppidan, noch von Egede, noch von irgendeiner anderen bestimmten See- schlangenbeobachtung etwas bekannt war. Wie alle andern hielt ich die nur ab und zu in einzelnen Zeitung'sberichten auftauchende ‚Seeschlange‘ für eine große ‚Ente‘. Das erste Insichtkommen des Tieres muß etwa 5 Uhr statt- grefunden haben, denn in der Messe hatte das Essen pünktlich ro Minuten nach 5 Uhr begonnen. Wir segelten ziemlich vor dem Wind bei schwacher Brise, als sich achteraus in etwa !/, Seemeile Abstand verschiedene Wale zeigten, die sich in einer Herde tum- melten und spielten, so wie jeder Seemann es Hunderte von Malen schon gesehen hat. Kurz darauf zeigte sich auch unsere See- schlange, die vielleicht von den Walen in die Enge getrieben war, und von ihnen umringt wurde. Ihre Längsrichtung war beinahe senkrecht zu unserer Kurslinie, soviel wir es schätzen konnten. Ich selbst hatte Gelegenheit, das Tier mindestens 20 Minuten lang zu beobachten, wobei allerdings unser Abstand von ihm fortwährend zunahm und schließlich etwa zwei Seemeilen (gleich 3 km) betrug. Wären wir nur unter Dampf gewesen, so hätte der Kommandant sicherlich angeordnet, auf das Tier zuzuhalten. Da wir aber vor dem Winde segelten und das Tier zu luvwärts von uns war, So hätten wir, um an seinen Ort zu gelangen, an den Wind grehen und kreuzen müssen, wozu wir bei der schwachen Brise sehr viel Zeit gebraucht hätten. Es war nicht anzunehmen, daß das Tier so lange auf uns grewartet hätte. Während unserer Beobachtung bewegte es sich nur langsam von der Stelle. Seine Formen und die Bewegungen, die über Wasser sichtbar wurden, sind mir noch in ganz fester Erinnerung. Der Kopf, dessen Profil ich lanzettförmig nannte, wobei ich an das Blatt einer Schwertlilie oder einer ähnlichen Pflanze dachte, blieb bei jedem Auftauchen auf unserer linken Seite; mit anderen Worten, das Tier kreuzte unser Kielwasser von rechts her kommend und nach links hingehend. Bei dem etwas weniger hoch als der Schwanz sich aus dem Wasser hebenden Kopf und bei dem Hals (also etwa ı5 Fuß) verhielt sich die Länge zur Dicke etwa wie 4:1. Die Bewegungen des Halses mit dem Kopfe erfolgte genau so, a II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 237 wie wenn man den Unterarm flach auf den Tisch legt, ihn dann durch Drehung des Ellbogengelenks etwa 45—50° hoch hebt und plötzlich wieder fallen läßt, ohne das Handgelenk zu bewegen. Die ab und zu auftauchenden Rückenteile waren gekrümmt; der größte Teil des Rückens befand sich meist unter Wasser, meist war nur eine, manchmal zwei oder auch drei Krümmungen über Wasser zu sehen. Der Schwanz machte fast dieselbe hochklappende und fallende Bewegung wie der Kopf; durch seine viel geringere Breite und Gabelung war er deutlich vom Kopfe verschieden. Die obere Schwanzhälfte war zweiteilig@ und bewegte sich etwa so, wie man den steifgehaltenen Mittel- und Zeigefinger einer Hand aus- einander- und zusammenklappt. Dabei hatte dieser gegabelte Schwanz nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit irgendeiner Fisch- - flosse, da er sehr schmal war und allmählich dünner wurde. Die Innenfiächen der Gabelung schienen weiß zu sein. Bei der ganzen Erscheinung klappte meist der Kopf und der Schwanz gleichzeitig: hoch und blieb nur kurze Zeit zu sehen. Gerade der Umstand, daß auch nach längeren Zwischenpausen immer wieder genau die- selbe Erscheinung, links der Kopf, dann ein oder mehrere Rücken- teile und rechts der gabelförmige Schwanz erschienen, bestärkten alle, die es sahen, in der Überzeugung, daß es nur ein schlangen- artiges Tier sein konnte. Leider war die Entfernung zu groß, um Einzelheiten, wie Augen u. dgl. erkennen zu können. Der Unter- schied im den Färbungsangaben, die der Kommandant und ich aufschrieben, kann daher gekommen sein, daß ersterer häufiger mit einem Fernglas beobachtet, oder auch, dab er vielleicht mehr nach der Bauchseite, ich mehr nach der Rückenseite die Färbung gegen den Hintergrund schätzte. Farben auf See auf große Ent- fernungen richtig zu schätzen, ist ebenso schwer, wie Größenver- hältnisse richtig anzugeben, wenn man den Abstand nicht kennt und keinen Vergleichungsstab besitzt.“ 12, Die Meeresvögel. Alle Eigenschaften, welche die Sturmvögel zu den sympathischsten Genossen des See- fahrers machen, finden sich vereint in dem wunderbaren, schneeweißen Sturmvogel, dem sichersten Zeugen für das nahe Eis, Karl Chun. Unter der Bezeiehnung Meeresvögel fassen wir diejenigen Vögel zusammen, deren Leben sich auf dem Ozean oder auf den in ihm sich befindenden Inseln abspielt. Drei Eigenschaften sind es besonders, die den Körperbau dieser Tiere in seiner Bildung beeinflussen. Entweder sind die Vögel vorzügliche Flieger, vor- treffliche Schwimmer oder nicht minder gute Taucher. Viele von ihnen vereinigen in sich mehrere dieser Vorteile. Entsprechend diesen Eigenschaften hat sich der gesamte Qrganismus des Vogels entwickelt. | Fassen wir zunächst die Schwimmer ins Auge. Bei diesen Vögeln, als deren Typus die Pinguine gelten, hat sich der Körper so umgestaltet, daß das Tier, abgesehen von dem Federkleid, seinem ganzen Aussehen nach garnicht mehr recht auf die Be- zeichnung „Vogel“ Anspruch erheben kann. Der Körper ist zu einem abgestutzten Kegel geworden, der zur Durchschneidung der Wasserflächen beim Schwimmen geeignet scheint. Die Flügel er- innern total an die Flossen der Seehunde, sie entbehren gänzlich der Schwungfedern und sind demnach gänzlich untauglich zum Fliegen. Die Federn des Körpers haben sich zu langen, haarartigen Gebilden, die dachziegelartig angeordnet sind, umgestaltet. Auf den Flügeln sind die Federn zu schopfartigen Gebilden geworden, die der Hautoberfläche dicht anliegen und somit die Reibung im Wasser verhindern. II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 335 Um aber den Körper erfolgreich durch das Wasser schieben zu können, sind die Beine zu kurzen, mit Schwimmhäuten ver- sehenen Rudern geworden, die hinten am Körper angebracht sind. Hierdurch wird eine größere Wirkung erreicht. Durch diese Stellung der Beine ist der Gang der Tiere sehr ungeschickt, sie watscheln in aufrechter Haltung des Körpers umher. In Übereinstimmung mit der Fluglosigkeit dieser Vögel mangelt ihren Knochen die Pneumatizität, sie sind nicht lufthaltig. Da die zu Ruderflossen umgebildeten Füße das Steuern im Pinguinenkolonie auf der Seymour-Insel, Wasser übernehmen, ist auch der Schwanz rückgebildet, er besteht bei den Pinguinen nur aus borstenartigen Federn. Als Schutz gegen das Eindringen des Wassers sondert die Haut der Pinguine eine Öölige Flüssigkeit ab. Es gibt sechs Gattungen von Pinguinen mit 17 Arten. Man trifft sie in der südlich gemäßigten und kalten Zone im Meere schwimmend an. Wir nennen, auch hier wiederum ‚mach Apstein, die hauptsächlichsten Arten. Der Riesenpinguin Aptenodytes patagonica Forst, wird bis über ı m groß, bei einer Flügellänge von 35 cm. Er 236 Dr. Wiese, Das Meer. ist kräftig gebaut, hat einen langen, schlanken, an der Spitze sanft nach unten zrebogenen Schnabel, kräftige, bis zu den Füßen dicht befiederte Beine. Seine Färbung ist oben schiefergrau, die Unter- seite weiß, Kopf, Nacken und Kehle sind bräunlichschwarz, vom Kopf zieht bis zur Brust herab'ein gelber Streifen. Er kommt im Südlichen Eismeer vor und brütet auf den Inseln daselbst, auch an der Südspitze Amerikas. Pygoscelis papua Sonn. Bei dieser Gattung ist der Schnabel nicht so lang wie bei der vorhergehenden, der Unterschnabel auch an der Spitze nicht gebogen. Dieser Pinguin wird nur 70 cm lang. Seine Heimat ist das südliche Eismeer. Die Färbung ist auf der Oberseite schiefergrau, jede Feder hat aber eine graublaue Spitze, Kopf und Nacken sind braunschwarz, zwischen den Augen zieht sich ein weißes Band hin. Die Unterseite ist reinweiß. Goldhaariger Pinguin, Catarrhactes chrysocome Forst, wird ungefähr '/, m lang, Hals, Kopf, Rücken und Flügel sind schiefergrau, die Bauchseite und der Hinterrand der Flügel sind weiß, an jeder Seite des Kopfes trägt er Büschel goldgelber Federn. Der Schnabel ist rot, die Füße grauweiß. Er lebt im. Südlichen Eismeer und geht bis zum Feuerland und Südaustralien. Brillenpinguin, Spheniscus demersus Briss. Die Ober- seite ist schwarz mit einem Stich nach schiefergrau, die Unterseite ist weiß, Brust und Bauch mit schwarzen unregelmäßigen Flecken. Über die Brust verläuft ein gekrümmtes schwarzes Band, das sich an jeder Seite bis "zum Schwanz fortsetzt. Der Schnabel ist braun- schwarz mit einer weißen Binde. Die Länge beträgt 70 cm. Dieser Pinguin findet sich and der Südpitze von Afrika und Süd- amerika. Ebenso gute Schwimmer als Taucher sind auch die Alke, deren Flügel nur ausnahmsweise verkümmert sind. Mithin sind sie noch verhältnismäßig gute Flieger. Pinguine, wie Alke, sind echte Meeresbewohner, die nur während der Brutzeit an das Land gehen. Beiden ist die Geselligkeit gemein, welche Eigen- schaft sie mit vielen anderen Meeresvögeln übereinstimmend haben. Schon bei den Alken läßt sich konstatieren, daß das Gehen ihnen Mühe macht; die Steißfüße, und unter diesen die See- taucher, Urinatoridae, vermögen sich auf dem Lande nur kriechend fortzubewegen, sie sind mithin noch mehr wie die vorigen an das Wasser gebunden. Bei ihrer Kriechbewegung benutzen sie die a Meere, im Das Leben II. Abschnitt, opasmag N, TANTE, Hi T Ki) 4 I. 238 | Dr. Wiese, Das Meer. Füße als Nachschieber, die sich zu diesem Zwecke besonders eignen, da sie ganz hinten am Körper eingefügt sind. Obgleich die Alken keine besondere Fertigkeit im Fliegen bekunden, so ist dennoch ihr Flug, der in gerader Richtung stattfindet, sehr fördernd. Tord-Alk Alca torda;,L. Der Schnabel ist hoch und zu- sammengedrückt, der Oberschnabel hakig. Die Färbung auf der Oberseite und am Vorderhalse ist schwarz, die Unterseite weiß. Vom Schnabel zieht nach dem Auge eine weiße Linie, eine eben- solche quer über die Flügel. Der Schnabel ist schwarz mit weißem Querband, die Füße sind auch schwarz. Er erreicht 42 cm Länge - und lebt an den Küsten des Nordatlantischen Ozeans, im Winter streicht er bis Neu-England und dem Mittelmeer. Der Tordalk nährt sich von Fischen und kleinen Krustentieren. Auf sog. Vogel- bergen brüten sie gemeinsam. | Papageitaucher,Fraterculaarctical. Der Schnabel | ist sehr hoch und schmal, mit Furchen und scharfkantig. Die Färbung des Gesichtes und der Kehle ist aschgrau, die Oberseite und ein Halsring schwarz, die Unterseite weiß. Der Schnabel ist. hellrot, an der Wurzel blaugrau, die Füße sind rot. Er wird 3zı cm lang. Seine Heimat sind die Küsten und Inseln des Nordatlantischen und Arktischen Ozeans. Er bevölkert in unzähligen Mengen die Vogelberge im hohen Norden. Der Papageitaucher fliegt dicht über dem Wasser hin, so daß Füße und Flügel eintauchen, dabei durchfurcht er mit dem Schnabel das Wasser, um Nahrung auf- zunehmen, auch kann er mehrere Minuten unter ‚Wasser bleiben. Lumme Uria lomvia Pall. Der Schnabel ist spitz, lang und ohne Querfurchen. Die Färbung des Kopfes, Halses und der Oberseite ist schwarzbraun, mit einem weißen Streifen über den Flügeln. Die Unterseite ist weiß. Im Winter ist auch der Vorder- hals weiß. Der Schnabel ist schwarz, die Füße grauschwarz. Die Länge beträgt 50 cm. Sie bewohnt die Küsten des Nordatlan- dischen Ozeans und Behringmeeres, lebt auf dem Meere und geht zum Brüten an Land. Trottellumme Uria troile Lath. Der Schnabel ise länger und schwächer als bei voriger Art, die Firste etwas weniger gebogen. Die Färbung ist grünlichschwarz bis rußbraun, die Unter- seite ist weiß, die Flanken dunkelgrau gestreift. . Sie wird 46 cm lang, bewohnt die Küsten des Nordatlandischen und Pazifischen. Ozeans und geht bis zum 30.° im Winter. II, Abschnitt. Das Leben im Meere, 239 Alle diese Meeresvögel sind in ihrem Nestbau sehr einfach. Es hängt dieses mit der Natur ihrer Nistplätze zusammen. In den meisten Fällen ist es ein kunstlos vertieftes Erdloch, das mit Gras- halmen umrandet ist. Von den Alken ist bekannt, daß sie sich Höhlen graben oder sonst natürliche Öffnungen im Gestein als Niststätte benutzen. In manchen ‘Fällen legen sie ihr Ei auf die nackte Erde, ohne jegliche Nestvorrichtung, ab. Die geringe Zahl der Eier, in den meisten Fällen überhaupt nur eins, sonst zwei, ist zu verwundern. Es hängt dieses wohl von der großen Individuen- zahl ab, die der Art eine Weiterexistenz zusichert. Von ausgezeichneter Entwicklung ist der Ortssinn dieser Tiere, denn es ist mit Sicherheit konstatiert worden, daß z. B. die Lumme trotz der großen Zahl der brütenden Artgenossen ihre Niststätte wiederfindet. Die Seetaucher bauen sich aus Schilf und Riedgras ein kunstloses Nest zusammen; auch ihr Gelege bestelt nur aus zwei Eiern. Nach Schilderung dieser als Schwimmer und Taucher vor- trefflich organisierten Vögel wenden wir uns ausgezeichneten Fliegern zu. Hier sind es in erster Linie die Sturmvögel, Thalas sornithes, die in Frage kommen. Als ein von allen anderen Vögeln unterschiedliches Kennzeichen ist die Tatsache zu verzeichnen, daß ihre Nasenhöhlen auf dem Oberschnabel sich in röhrenartige Gebilde fortsetzen. Die Vögel sind im Fluge wahre Künstler. Namentlich sind die Albatrosse, Diomedeinae, durch mächtige, lange und schmale, mit langen Schwungfedern versehene Flügel ausgezeichnet. Die Flügel der Möwensturm- vögel, die sich in ihrem Körperbau den eigentlichen Möwen nähern, sind weniger lang, befähigen die Tiere aber zu einem anhaltenden Flug, der sie die meiste Zeit ihres Lebens in der Luft fliegend zu- bringen läßt. Während bei den vorhergenannten Vögeln das Flug- vermögen ganz verloren ging oder nur verhältnismäßig gut aus- gebildet war, zeigen die Sturmvögel eine hohe Entfaltung dieser Fähigkeit, ihr Flügel ist in seltenen Fällen mit einer Zahl von 39 Schwungfedern ausgestattet. Eine ganz besondere Art, sich gegen Störenfriede beim Brut- geschäft zu verteidigen, besitzen die Möwensturmvögel, die dem Eindringenden eine übelriechende tranige Flüssigkeit entgegen- spritzen. Alle diese Vögel bauen wenig kunstvolle Nester, sei es, wie de Tauchsturmvögel, Pelecanoides, die unter der Erd- ne — 240 = === Dr Wiese, Das Meer. ‚.oberfläche lange Gänge in die Erde hineinarbeiten, in die sie, ohne ein Nest zu besitzen, die Eier ablegen, oder wie die Albatrosse, die nur niedrige abgestumpfte Erdkegel errichten. Unter den vielen Arten der Sturmvögel ist der Albatroß wohl das freieste Tier auf der Erde, Er brütet im Oktober am Kap Horn und auf Neuseeland, geht aber, als der einzige Vogel, der die Tropen über- fliegt, vom April bis Juli selbst an den Kurilen und der Küste von Mövennester, Kamtschatka auf die Jagd. Der nah verwandte Fregattenvogel ist dem Albatroß in Leichtigkeit und Ausdauer des Fluges gleich; er ist aber auf die Tropen beschränkt, lebt von fliegenden Fischen, die er in der Luft hascht, oder von Fischen, die er anderen abjagt; er .selbst berührt nie das Wasser und setzt sich nur auf Bäume oder Felsen einsamer Inseln. Der dritte im Bunde dieser leicht und weit fliegenden Seevögel ist der allen Seereisenden bekannte 7 II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 241 Bopikvogel, so genannt, weil er nur unter den Tropen, übrigens aber rings um die Erde, vorkommt. Man unterscheidet den weibschwänzigen gewöhnlichen von dem nur im Indischen Ozean sich findenden rotschwänzigen. Der Körper dieses zierlichen Tieres ist nur von Taubengröße, mit den langen Schwanzfedern aber mißt er drei Fuß. An die vorigen schließen sich die echten Sturmvögel, gute Flieger, die mit den Winden nur spielen und überaus leicht mit ausgebreiteten Flügeln die sturmbewegten Wogen, um zu fischen, auf- und und ablaufen, ohne je mit den breiten Schwimm- füßben tief einzutauchen. Am bekanntesten ist die Sturm- schwalbe der nördlichen Hälfte des Atlantischen Ozeans. Diese kleinsten von allen Seevögeln werden auch wegen ihres Gehens auf dem Wasser „St. Petersvögel“ oder „Peterels“ genannt; die englischen Matrosen geben ihnen, wir wissen nicht weshalb, den Namen „mother Carey’s chiken“* und halten sie gewissermaßen heilig, indem sie glauben, daß die Seelen der ertrunkenen Matrosen in ihnen wohnen; das Töten eines solchen Tieres bringt dem Schiffe unausbleibliches Verderben, ihre Ankunft am Schiffe verkündet den nahenden Sturm. Letzteres ist allerdings wahr, denn sie schwärmen beständig auf hoher See herum und suchen die Küsten und auch ‚wohl ein Schiff nur zum Ausruhen, bei heftigem Sturme auf; zu- weilen werden sie dabei wohl weit verschlagen, und ı821ı wurden einige sogar bei Breslau geschossen. Sie sind so tranig, dal) die Insulaner der Faröern nur mit der Nadel einen Docht durch die Körper ziehen und sie dann als Lichter brennen. Nahe verwandt und ähnlich über die Wogen schreitend, in die er starren Blicks nach Beute hineinschaut, ist der Eissturmvogel, der, im Nörd- lichen Polarmeer heimisch, nur selten bis zu den deutschen Küsten herabkommt und der Kapsche Sturmvogel, der ebenso dem südlichen Meere eigen ist. Zu den eigentlichen Möwen leiten de Raubmöwen, Sterco- rariidae, hinüber, die auf dem Erdboden in flachen, mit Gras aus- geepolsterten Mulden ihr Gelege ausbrüten. Diese sind ganz vor- treffliche Flieger, die in den geschicktesten Schwenkungen durch die Luft gleiten. Als Aufenthalt wählen die Vögel das offene Meer, sie kommen nur zur Fortpflanzungszeit an die Küsten geflogen. Diesen entgegengesetzt sind die eigentlichen Möwen, Larinae, als Küstenvögel zu bezeichnen, die sich nur in wenigen Arten weit Dr. Wiese, Das Meer. 16 242 Dr. Wiese, Das Meer. von der Küste entfernen. Auch diese Tiere leisten in der Elus= fähigkeit Erstaunliches, sind aber namentlich als ganz vorzügliche Schwimmer organisiert, dagegen werden sie im Stoßtauchen von den Seeschwalben,Sterniae, übertroffen, die inihrer Lebens- weise, indem sie den Küstensaum und die Fluß- und Seeufer be- wohnen, nicht mehr zu den eigentlichen Meeresvögeln zu rechnen sind. Auch sie sind ganz vortreffliche Flieger, worauf ihre schmalen und spitzen Flügel schon hindeuten. Wir verzichten darauf, die verschiedenen Arten der Möwen aufzuzählen und wenden uns denjenigen Produkten zu, die uns die Meeresvögel liefern. Wir alle wissen, daß die mächtigen (Gruanolager, die sich hauptsächlich auf den Inseln des Westküste Südamerikas und südwestlichen Küste Afrikas fanden und zum Teil heute noch finden, alte Brut- und Wohnplätze der Meeresvögel sind. Man hat beobachtet, daß in ı'/, Jahren etwa 2000 t Guano von ihnen produziert werden. (ranz gewaltig ist auch die Menge des Nahrungsstoffes, den die Vögel in. ihrem Fleische liefern. Die Tiere werden ebensowohl frisch verzehrt als eingesalzen für den Winter aufbewahrt. So salzt man bei der Südküste von England jährlich etwa 250000 Stück des Eissturmvogels ein, der übrigens tranig schmeckt und unangenehm riecht. Für alle nordischen Re- gionen ist der Seepapagei am wichtigsten; er liefert insbesondere die reichsten und sichersten Wintervorräte. Von einem einzigen kleinen Felsen der Faröern gewinnt man jährlich 240000 Stück. Einen wichtigen Gegenstand des Einsammelns bilden ferner die Eier. Einer der besten Eierlieferanten ist der Tölpel oder die Baßgans, von der man allein auf St. Kilda jährlich über 20000 Stück sammelt. Die Silbermöwen sollen während der Brütezeit ebenda täglich 300 bis Soo Eier liefern. Auf Sylt sammelt man nach Naumann jährlich bis 50000 Möweneier und fast ebensoviel von den Meerschwalben. Man hat berechnet, daß Grönland jährlich etwa 200000 Eier von Wasservögeln konsumiert. Aber nicht allein auf diese Gegenden ist das Eiersammeln beschränkt. Im Golf von Mexiko liegt eine Insel, von der selbst weit herkommende Fischer, besönders aus der Havanna, die Eier holen. Jedes Schiff führt wöchentlich 20000 Eier fort. Das wichtigste Tier der Vogelfauna für die Bewohner des hohen Nordens ist die Königsente und deren nächste Verwandte, .die Eidergans. Sie liefert den Lappländern die hochgreschätzten wi Fr ONÄNN ch 2 en a II, Abschnitt. Das Leben im Meere, 243 Daunen und die Eier. Auf den Shetlandsinseln, jener Gruppe von 50 Felseilanden, die sich weit in die Nordsee erstrecken, ist die Jagd auf Eidergänse eine der Hauptbeschäftigungen der Bewohner. Sie übertrifft bei weitem die Gemsenjagd an Gefahren. Unfälle sind bei diesen wolkenhohen Kletterjagden so häufig, daß oft eine ganze Familiengeschichte sich in der einen Zeile wiederholen läßt: „Mein Großvater fiel, mein Vater fiel und ich muß auch fallen.“ Ja, es gilt als ein stolzes Wort, sagen zu können: „Dein Vater starb in seinem Bette, aber der meinige ging dahin wie ein Mann!“ was soviel heißt, als: er stürzte von einer Höhe von tausend Fuß in die brüllende Meeresflut und ward nicht mehr gesehen. Da hängen sie an einem einzigen Strick von yo bis 50 Faden (Klafter) Länge, der oft so zerzaust und zerrieben wird an den scharfen Kanten der Felsen, daß er reißt und der Kletterer hinabstürzt. Aber die Ge- wohnheit macht die Leute gleichgültig. Ja, es kommt vor, dab zwei oder drei sich einem solchen Tau anvertrauen. Davon geht eine grausige (seschichte. Ein Vater mit seinen zwei Söhnen hing an einem einzigen Tau über dem unendlichen Abgrund, und sie plünderten die Vogelnester um Eiderdaunen. Der jüngste Sohn saß am höchsten und bemerkte plötzlich, wie das Tau an einer Stelle zu seinen Häupten unter der dreifachen Last nachzugeben schien. Er rief hastig dem Bruder zu, der einige Ellen unter ihm saß, den Vater mit dem Beile abzuhauen, sonst wären sie alle drei verloren. Jener weigerte sich mit Entrüstung, worauf der erstere, ohne einen Augenblick zu zögern, das Tau unter sich durchhieb und so Vater und Bruder in die Tiefe schleuderte. Die Shetländer gingen dem Überlebenden Zeit seines Lebens aus dem Wege, sagend, er hätte selber das Tau loslassen und so den beiden an- deren die Chance der Rettung lassen sollen. Das zeugt für die - Gesinnung der Männer in bezeichnender Weise. Ein Kletterer von der Insel Fowlar hörte, daß auf dem Kap Noß sich eine Felsensäule perpendikulär bis zu einer Höhe von 160 Fuß erhöbe, die als völlig unzugänglich gelte. Aber es lag ihm daran, Ruhm unter seinen Landsleuten zu erwerben, und da ihm als Preis eine Kuh verheißen worden, ermöglichte er es, von einem Boote aus bis auf den Gipfel dieser Felsennadel zu klimmen. Von dieser ließ er einen Flaschenzug hinab, mit einem Korbe daran, der nach der gegenüberliegenden Klippe des Festlandes gezogen werden konnte. Aber anstatt sich dieses immerhin zuverlässigen 16* 244 Dr. Wiese, Das Meer. Spinngrewebes zur Lustfahrt über den 60 Ellen breiten und 400 Fuß tiefen Abgrund zu bedienen, entschloß sich der Tollkopf, den Rückweg an derselben Felsensäule hinunter zu unternehmen. Das war der schwierigere Teil der Arbeit, so schwierig, dal er sein Boot nimmer erreichte, sondern sein Grab in den Wogen fand. Ein anderer kletterte an dem schwingenden Tau hinunter und hatte reiche Jagdbeute in den Felsennestern. Als er das Zeichen gab, verwickelte er sich in der Schleife derart, daß seine Fübe nach oben sich streckten und sein Kopf nach unten zu hängen kam. So ging es aufwärts und dazu mit heiler Haut. Oben an- gelangt stimmte der Gerettete, noch am Tau zappelnd, in das laute Grelächter seiner auf ihn harrenden (renossen ein. Die Felsenklippen sind meist überhängende. Deshalb sind diese „rockmen“ (Felsenmänner), wenn sie einen Fußhalt an den Steinwänden gewinnen wollen, genötigt, sich an dem freihängeenden Tau mehrere Ellen weit in die Luft hinauszuschwingen, damit der Rückschwung sie in Berührung mit diesem oder jenem noch so schmalen Felsenvorsprung bringen möchte, an dem sie sich sofort anklammern, Fuß fassen, dann mit einem Holzlöffel die Eier aus dem Nest heben und die zerbrechliche Beute in ein um den Leib gewundenes Netz häufen. Oft kommt es vor, daß der Vogel, seine Beraubung voraussehend, schadenfroh die Eier selbst aus dem Nest dem Plünderer an den Kopf wirft, um sie ihm nicht zu gönnen. Ein solcher „Felsenmann“ stand einst auf solchem Vorsprunge, über und unter sich viele hundert Fuß von Felsenwand, und be- merkte, wie das Tauende, das er an der Klippenspitze geankert, d.h. festgeknüpft hatte, sich loslöste und wie ein ungeeheures Pendel in die Luft hinwegschwang. Sollte es ganz aus dem Bereiche seiner Hand entschlüpfen, so wußte er, daß Tod sein gewisses Los sei, entweder durch einen Fall oder durch die fürchterliche Pein des Verhungerns. Deshalb beobachtete er so kaltblütig wie mög- lich das hin und her schwingende Tau, und als es schon in seiner Bewegung nachließ, dennoch aber bis auf vier Fuß Nähe ihn bei einer vielleicht letzten Schwingung erreichte, sprang‘ er mit todes- mutigem oder besser gesagt lebensmutigem Ansatz weit hinaus ın den Luftraum, erhaschte krampfhaft das Tau und war gerettet. EN — 3. Die Fische. „Aber nicht vermag ich die Arten alle, ihr Schwimmer, Nicht die Scharen all, die hier durchschneiden die Fluten, Noch die Namen all der Kinder fruchtbaren Stammes auf- zuzählen.‘ Antonius, a) Haie und Rochen. Wenige Fische des Meeres beschäftigen die Phantasie des Menschen, besonders der Seeleute, in so hohem Maße wie die Haie. Der Hai kommt in allen Meeren vor, wenn er auch vorzug'sweise in den tropischen Meeren wohnt; so lebt der Eishai in arktischen Teilen des Nordatlantischen Ozeans. Er wird bis 8 m lang und ist sehr gefräßig. Seine Nahrung vesteht in Fischen, und er fällt wohl auch Wale an. Beim Zerlegen gefangener Walfische soll er sich einstellen und mit unglaublicher Frechheit von dem Leichname fressen, während noch die Matrosen auf seinem Rücken arbeiten. Er vergreift sich dabei nicht an diesen, auch wenn einer von ihnen von dem Wal abgleitet und ins Wasser fällt. Der Eishai, der auf hoher See und in der Tiefe lebt, aber auch zuweilen an die Küsten kommt, hat einen schrecklichen Feind in dem Potwale. Vor ihm ergreift er die Flucht und schwimmt dem Strande zu, wo er manch- mal, von Angst getrieben, wirklich strandet. In dem Arktischen Meere lebt auch der Riesenhai, der bis ı1o m lang wird. Er ist im Nordatlantischen Ozean der größte Vertreter seiner Klasse und hält sich gewöhnlich in der Tiefe auf, kommt aber auch an die Oberfläche. Dabei ist er harmlos und nährt sich von kleinen Fischen und anderen Meerestieren. Den Menschen ungefährlich ist auch der etwa 5 m lange Fuchshai, der gleichfalls sich von kleinen Fischen, Heringen, Sardinen und Sprotten nährt und in tropischen und gemäßigten Teilen des Atlantischen Ozeans und im Mittelmeer TEE nm nm nn nn N Ri I r \ Dr. Wiese, Das Meer. Cetorhinus maximus, lielseehaifisch mit verkümmerten Augen, zeichnet sich durch sehr grobe Kiemenspalten aus, die sich vom Rücken bis zur Mittellinie an der Kehle erstrecken, II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 247 gemein ist. Er soll die Schwärme jener Fische umschwimmen und mit seinem langen Schwanze kräftige Schläge austeilen, daher der Name „Drescher“ (Apstein). Der Heringshai wird 3—4 m lang und ist sehr gefährlich. Er lebt von der Nordsee an durch den Atlantischen Ozean und Mittelmeer, auch ist er auf Japan gefunden worden und kommt oft in Gesellschaften von 20—-30 Stück vor. Im Indischen Ozean lebt auf hoher See der Tigerhai, der etwa 5 m lang wird, während der fürchterlichste aller Haie, der Hammerhai, auf schlammigem Grunde in den tropischen und subtropischen Meeren wohnt, 2,5—4 m lang und 200—300 kg schwer wird. Aus seiner Leber wird Tran bereitet. Fast nur in den Tropen kommen die Menschenhaie vor, die eine bedeutende Größe erreichen. Unter ihnen ist der blaue Hai, der etwa 4 m lang wird, der gefürchtetste. Im allgemeinen ist der Körper der Haie, deren sämtliche Arten wir hier nicht aufzählen können, mehr oder weniger zylindrisch und geht allmählich in den Schwanz über. Die fünf bis sieben kiemigen Öffnungen liegen seitlich. Das Skelett ist knorpelig. Die Haut ist mit kleinen stachelartigen Verknorpelungen bedeckt, so daß sie sich rauh, chagrinartig anfühlt. Hinter dem Auge liegt je ein Spritzloch, bei einigen, wie den Menschenhaien, fehlen diese Spritzlöcher. Das Gebil besteht meist aus mehreren hintereinander liegenden Reihen scharfer, spitzer Zähne. Rechnet man hierzu die ungeheuren Öffnungen der Kinnladen, so wird man es begreiflich finden, daß diese gefräßigen Räuber den Seeleuten einen gerechten Schrecken einflößen. Zu jeder Zeit folgen die Haie dem Schiffe mit unermüdlicher Ausdauer, immer bereit, alles, was dem Schiffe entfällt, zu verschlingen. Wenn der Hai will, schwimmt er sehr schnell; im allgemeinen ist er indessen kein Freund der Eile und verläßt nach einer gewissen Zeit gut segelnde Schiffe und Dampfer. Den Reiz und die Aufregung eines Kampfes gegen die Wüteriche des Meeres schildert uns Chun, indem er sagt: „Als wir langsam unser Vertikalnetz am 27. August in die Tiefe, gleiten ließen (seinen Grlaseimer umwickelten wir mit einer Matte, um bei dem Aufkommen ein Zerbrechen an den Bordwänden zu verhüten), brachte ein Zuruf des RKapitäns, daß ein großer Hai das Schiff umkreiste, alles in Aufregung. Man stürmt auf das Poop, wo rasch durch den Navigationsoffizier ein Stück Speck an den Haihaken befestigt und herabgelassen wird. Bald gewahren 248 Dr. Wiese, Das Meer. wir den Carcharias mit graubräunlichem Rücken, großen Brust- und Rückenflossen und breitem Kopfe, der langsam um das Drahtseil des Vertikalnetzes schwimmt. Er mußte die Kost gewittert haben; doch dauert es längere Zeit, bis er in die Nähe des Hakens ge- langt. Einen ungemein fesselnden Anblick gewährte es, als die die Haie stets begleitenden Piloten (Naucrates ductor) mit ihrer Zebrastreifung gleichfalls sichtbar wurden und unermüdlich alle Wendungen des riesenhaften Genossen in elegantem Bogen mit- machten, indem sie bald über dem Vorderkörper schwammen, bald unter den Brustflossen sich deckten. Mit gespannter Aufmerksam- keit verfolgen wir alle Bewegungen, bis schließlich der Haken da- durch gefaßt wird, daß der Hai sich auf die Seite legt und mit dem unterständigen Maule den fetten Bissen zu verschlingen sucht. Dies gibt das Signal zum Aufziehen. Jeder greift an, aber es ist umsonst; der Speck ist abgerissen und der Haken hat nicht gefaßt. Während ein weiteres Stück an letzteren befestigt und angebunden wird, verkündet ein Zuruf, daß ein zweiter Hai in der Nähe ist, dem sich rasch ein dritter und schließlich noch ein vierter, ein jeder mit seinen kleinen Begleitern, hinzugesellt. Ruhig und lang- sam, in eleganten Bogen umkreisen die mächtigen Tiere das Vorder- teil des Schiffes, während ein zweiter Köder am Haken ihnen zu- geworfen wird. Es dauert denn auch nicht lange, bis der erste Haken gefaßt wird und im Rachen festhaftet. Die wilde Auf- regung, welche sich nun der Schiffsmannschaft bemächtigt, spottet aller Beschreibung. Der Ruf, daß ein Hai an der Harpune hängt, dringt in den Maschinenraum, in die Küche und in die Kojen. Von allen Seiten stürmt die Mannschaft herbei und zieht an dem Tau, während der Hai, seinem Element entrissen, an dem Haken sich wild bäumt und mit der Schwanzflosse die Bordwandung peitscht, sodaß weithin die Schläge dröhnen. Bald erscheint sein blutiger, mit dreieckigen, spitzen Zähnen besetzter Rachen an der Reeling; ein Ruck, und die Bestie liegt an Bord, nach allen Seiten sich emporschnellend und rasend mit dem Schwanze um sich schlagend. Da heißt es vorsichtig sein, um nicht dem Maule oder der weit geefährlicheren Schwanzflosse nahe zu kommen. Der Boots- mann stürmt mit einem schweren Knüppel, der Zimmermann mit einer Axt herbei, während andere ein Tauende um den Schwanz zu werfen versuchen, das denn auch schließlich faßt und eng um einen Block ge- wunden wird. Nur mit Mühe gelingt es, die Mannschaft davon 249 "NONSIAUI Smydkur pums usssofjsnigg 9Uulds !zueMyIS WOSTUD] “nazur] pun ozmeuydS a9j2j1dsasnz yaımuspaıoaseme Ur YOSYPYO9SJOLT, A9J9][eIs99 pansqr ur “wurgstpey eNOonaey] ee TIER n im Meere, ‚ebe I Das II. Abschnitt. EXe) Dr. Wiese, Das Meer, abzuhalten, daß das Tier durch Hiebe zerfleischt und vernichtet wird. Der Hai ist der geschworene Feind des Seemanns, und nie habe ieh wildere Schimpfworte gehört, als sie dem geefesselten Beherrscher der Meere zu teil wurden. Man speit ihn an und bittet sich wenigstens die Gunst aus, das Schwanzende abzuhacken, aus dem das Blut in dicken Strömen hervorschießt. Während wir noch um das erste Opfer beschäftigt sind, ver- kündet ein Freudengeschrei, daß ein zweiter Hai die von der Brücke ausgeworfene Angel gefaßt hat.‘ Kurz darauf beißt der dritte, schließlich auch der vierte an. Jedesmal wiederholen sich die auf- regenden Szenen, und selbst der Koch sucht mit seinem Bratspieß nachzuhelfen, daß die wütenden Bestien glücklich über die Reeling an Bord gehißt werden. Dabei rollt das Schiff in der Dünung, eine See nach der anderen kommt über Bord, übergießt den über- eifrigen Photographen mit seinem Momentapparat und wirft die anderen nieder, die angstvoll nach dem Tauende greifen, um nicht in den blutigen Gischt, in dem die Haie das Deck mit Schlägen peitschen, hineingespült zu werden. \er nicht von Neptun mit feuchtem Guß bedacht wird, steht / schweißtriefend da und läßt sich von dem Zoologen belehren, dab die in den letzten Zuckungen liegenden Haie der Gattung Car- charias, und zwar der in diesen Regionen häufigen Art Carcharias Lamia, angehören. Darauf deutet die ungewöhnliche Breite der Brust- flosse, die Stellung der hohen, vorderen Rückenflosse, die abge- rundete, wenig verlängerte Schnauze und die Gestaltung des aus dolchförmigen Zähnen bestehenden Gebisses. Wir messen ein Exemplar und finden, daß es die immerhin beträchtliche Länge von 2,48 m (von der Schnauzenspitze bis zum Ende der Schwanzflosse) aufweist. Bei der Sektion, die uns Anlaß bietet, Gehirn, Herz und Spiraldarm für anatomische Zwecke herzurichten, ergibt es sich, daß der Magen vollständig leer war. Die Bestien müssen einen wahren Heißhunger verspürt haben, da es sonst kaum erklärlich gewesen wäre, dab sie trotz der abgefeuerten Schüsse der Reihe nach anbissen und uns in so reicher Zahl zum Opfer fielen. Hai- tische haben späterhin nur allzu oft dem stilliegenden Schiff Besuch abgestattet und uns leider gar manchmal die Lust benommen, das kleine Boot auszusetzen, um der pelagischen Oberflächenfischerei nachzugehen,“ Ein naher Verwandter des Haifisches sind die Rochen, eben- II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 251 falls Knorpelfische, deren gewaltige Brustflossen großen Flügeln gleichen. Sie sind Grundfische und Fleischfresser, die meist von Küstentieren und Weichtieren leben. Nur die Adlerrochen oder Meeradler, die in allen tropischen und gemäßigten Meeren leben, 1 Wasserschichten gesehen. Ein sehr sonderbarer Stammesgenosse der Haifische ist der Sägefisch, ein Rochen, der mit einer furcht- baren Waffe ausgerüstet ist. In der Tat ist seine längliche und in I, m breit und ı2 kg schwer werden, werden öfter in den oberen tHarpunierter Peitschenroche. Form einer Säbelklinge abgeplattete Schnauze auf beiden Seiten mit starken, spitzen und schneidenden, gleich Zähnen eingekeilten Spitzen besetzt. Die Körperform ist länglich wie bei den anderen Haien und ganz vorzüglich zum Schwimmen geeignet. Der Säge- tisch wird bis 2 m lang und findet sich im Mittelmeer und Atlan- tischen Ozean. Er greift größere Fische und Wale an und reißt ihnen mit seiner Säge Stücke Fleisch aus dem Körper heraus. Den Tintenfischen stellt er eifrig nach. Unter den aufregenden Vergnügungen der Amerikaner ist Dr. Wiese, Das Meer, [59} [Wi [597 eine der merkwürdigsten die Jagd auf den Riesen-Rochen, der in seiner ungreheuerlichen Gestalt und Größe wie eine Erscheinung aus der sagenhaften Vorwelt der Drachenzeit, anmutet. e Diese sonderbaren (Geschöpfe messen von der einen Flügel- flosse bis zur andern 6 m und darüber, — große Tiere bis ° zu zehn Meter. Die Länge des Körpers vom Maul bis zur der 5 Stelle des Schwanzansatzes beträgt 3 bis 3'/, m, während der ° Schwanz selbst wieder 2'/, bis 3 m lang ist. Diese furchtbar ausschauenden Raubfische sollen bis zu 3000 Kilogramm (60 Zentner) wiegren, also dreimal soviel wie ein starker Ochse. Der unheimliche Anblick wird noch dadurch erhöht. dal» die Tiere am Kopf in der 7 5o0opfündiger Peitschenroche im >prunge. Nähe der Augen zwei armesdicke fleischige Taster von ı m Länge haben, die beständig in Bewegung sind, jeden berührtem NINE wi Gegenstand sofort greifen und dem mit vielen Zähnen gepflasterten Maule zuführen, in dem ein zusammengekauerter Mann bequem rn Platz hätte. Die Tiere sind auf. dem Rücken braunschwarz, am Bauche grauweih. von Die Jagd auf dieses Riesentier des Meeres ist deshalb mit? großen Gefahren verknüpft, weil es, mit der Harpune getroffen, mit wilden Schlägen seiner breiten Flossenflügel sich über das Wasser emporschnellt. Trifft es beim Niederfallen mit seinem kolossalen Grewicht das Boot, so wird dieses unfehlbar zerschmettert. pr PIOeR II, Abschnitt. Das Leben im Meere. 253 Die Insassen können noch von Glück sagen, wenn sie nicht von dem niederstürzenden Untier selbst zu Brei geschlagen oder durch den von dem untertauchenden Fisch gebildeten Strudel in die Tiefe hinabgezogen werden. Die Boote zu dieser Jagd werden daher ganz besonders ausgerüstet und mit luftgefüllten Zinnbehältern möglichst vor dem Sinken geschützt. Ist ein Tier durch die an der Leine liegende Harpune getroffen, so rast es oft mehrere Kilo- meter dahin und zieht das an der Leine hängende Boot nach sich. Bei einer solchen Jagd verrannte sich jüng'st einer der Riesenfische in eine Bucht und geriet schließlich auf den Strand, wo er von herbeigeeilten Indianern vom festen Boden aus mit Eisenstangen ‚erschlagen wurde. Der Fisch maß von Flossenspitze zu Flossen- spitze über 6 m. Bei der Seltenheit dieses Wildes sind solche Jagden natürlich trotz der damit verbundenen Gefahren von Lieb- habern sehr gesucht. a vn D) Der Hering und sein Fang. Gewisse Leute haben heut Ich hab’ es also eingericht't, Zum Hering eingeladen. Daß jeder meiner Gäste Zu solcher großen Salzigkeit Das vierte Glas umsonst heut kriggt; Kann es gewiß nicht schaden, Denn bei dem Heringsfeste, Daß ich auf vieler Freunde Wunsch Da stellt der Durst sich sicher ein, Heut abend gebe einen Punsch, Drum wird es sehr zweckmäßig sein, Und wohl bekomm’s den Herren! Wenn ich denselben lösche. Gewisse Leute meinen wohl, Sie seien klug beraten; Doch heut in meinem Beutel soll Noch klingen ihr’ Dukaten; Und noch bemerk’ ich: ich heiß Büll, Der Heringsspender, der heißt Müll, Willkommen sein’ Dukaten! Über den Salzheringsschmaus, von dem uns in diesen Versen ‚berichtet wird, möge der freundliche Leser das Nähere bei dem allzeit schalkhaften Fritz Reuter nachlesen, uns interessiert hier die Frage nach dem Vorkommen und dem Fang des Herings, der eines der wichtigsten Volksnahrungsmittel bildet. Früher nahm man an, daß er aus dem Eismeere komme, heute weiß man be- E 251 Dr. Wiese, Das Meer. stimmt, daß er die nördlichen Gegenden des Atlantischen Ozeans, also auch die Nord- und Ostsee, bewohnt. Hier lebt er an tiefen Stellen, sammelt sich zur Laichzeit in Zügen und steigt zum Zweck der Fortpflanzung in die seichten Küstengewässer empor. Oft bilden die Heringe Bänke von 5—6 Meilen Länge, 2—3 Meilen Breite und wechselnder, aber immer sehr bedeutender Tiefe. Bis- weilen schwimmen sie so dicht, daß eingesteckte Stangen eine Zeitlang stehen bleiben. So wie sie sich der Oberfläche nähern, erglänzt das Meer in wunderbar schönem Perlmutterschimmer, das (reräusch ihrer Bewegungen gleicht täuschend dem Fallen eines Platzregens. Sie laichen nicht an allen Orten zugleich; so laichen die Seeheringe im Sommer und Herbst, die Küstenheringe im Winter und Frühling. Auch von Gestalt und Größe sind die Heringe verschieden. Die Seeheringe haben einen kurzen Kopf und Schwanz und einen langen Rumpf, bei den Küstenheringen ist das Verhältnis gerade umgekehrt, der Rumpf ist gedrungen, und Kopf und Schwanz sind relativ lang. Der norwegische Frühjahrshering erreicht eine Länge von 40 cm, während die kleinen Strömlinge der östlichen Ostsee nur halb so lang werden. Strömlinge nennt man sie, weil sie zur Laichzeit auch in die Flub- mündungen hineingehen; so laichen z. B. viele Heringe im Nord- Östsee-Kanal. Die weiblichen Heringe heißen Rogener, die männ- lichen Milchner. Heringe, bei denen Roggen und Milch noch nicht entwickelt sind, und die meistens sehr fett sind, nennt man Jungfern- oder „Matjesheringe“. („Matje“ ist ein holländisches Wort und heißt auf deutsch Mädchen.) Fische, bei denen Roggen und Milch stark entwickelt sind, führen im Handel den Namen „Voll- heringe“, und solche, die nach dem Laichen gefangen werden und darum mager sind, heißen „Hohlheringe“. Der Wert der Gesamtausbeute der nordeuropäischen Staaten an Salzheringen betrug im Jahre 1900 nicht weniger als 67 Millionen Mark, davon wurden in Deutschland allein für 30 Millionen ein- geführt. Deutschland ist also das am meisten Heringe konsu- mierende Land. Betrachten wir nunmehr den Fang dieses Kkost- baren Bewohners der Meere bei drei verschiedenen Nationen: den Schotten, den Norwegern und den Deutschen. Der freundliche Leser begleite uns in eine schottische Herings- handelsstadt. Hier bildet in den Heringsmonaten der Hering den einzigen Gegenstand der Unterhaltung. Fortwährend laufen, wenn II, Abschnitt. Das Leben im Meere. 255 Wind und Wetter günstig sind, Boote aus der Hafenmündung' aus und suchen die hohe See; und wenn dann eine frische Brise ein- tritt, so genügt eine ganz kurze Zeit, um die Bucht mit hunderten der hübschen Fahrzeuge anzufüllen, die ihren Kurs auswärts hinaus. nach den Fischfangsgiünden nehmen. Sobald man den Hafen verlassen, die Segel aufgesetzt und gerichtet hat, macht es sich die Mannschaft einer solchen Herings- büse bequem und setzt oder legt sich zwischen den Netzen auf dem Deck nieder; allein je näher man dem Fischfangsgrunde kommt, desto lebhafter wird es: Jedermann, vom Schiffer herab bis zum „Abschaumjungen“ (dem Knaben, dem die Verpflichtung obliegt, mit einem kleinen Handnetz jeden Hering aus dem Wasser zu fischen, der etwa von den Netzen fällt), schaut begierig über die Meeresfläche hin, in der Hoffnung, Anzeichen von dem Nahen der Fische zu entdecken. Sollten die gewünschten Zeichen ent- deckt werden, dann um so besser; allein oft geschieht es, daß man keine sicheren Beweise von dem Vorhandensein von Fischen er- langt: wenn man dann eine Entfernung erreicht hat, wo aller Wahrscheinlichkeit nach Fische im Überfluß vorhanden sind, so. werden die Segel heruntergelassen, und die Bemannung beginnt im Schlummer des Abends die Netze in die See auszulegen. Wenn dies geschieht, wird nur ein kleiner Teil des Segels aufgehißt, und während das Fahrzeug sich langsam durch das Wasser bewegt, fahren die Fischer fort, ihre Netze über Bord zu lassen, bis ihre ganze Ausrüstung von, sagen wir, 50 aneinander gebundenen Netzen, die sich in einer geraden Linie, auf eine Länge von 2000 m erstrecken mögen, ausgegeben sind, und das Granze senk- recht im Wasser hängt, an einem Tau aufgereiht, woran Schwimmer und Baken von Fellen oder Metall befestigt sind. Wenn der ganze Vorrat von Netzen, der den auf einer großen Station be- schäftigten Booten gehört, ausgelegt ist, so ist das Meer auf viele Meilen hin ein einziges vollständiges Netzwerk, aus dem die Heringe kaum entweichen können, und von der Arbeit, die für die Fischer mit dem allnächtlichen Einziehen und Wiederauslegen der Netze verbunden ist, mag man sich einen Begriff machen aus der Tat- sache, daß die von den schottischen Fischern benutzten Netze, wenn man sie aneinander heftet und in gerader Linie auslegt, Sich über einen Raum von 10000 engl. Meilen oder so ziemlich die dreifache Breite des Atlantischen Ozeans erstrecken würden. 256 Dr. Wiese, Das Meer. Sind nun die Netze wohlbehalten dem Meere anvertraut, so wird der Mast heruntergelassen, das Licht aufgehißt und alles für die Naeht an seinen Platz gebracht. An Bord der Boote hat sich die Mannschaft zur Ruhe begeben, mit Ausnahme von einem Mann oder zwei, die die Stelle der Wache vertreten; aber auch sie sinken, wenn ihre Unterhaltung ins Stocken gerät, unfehlbar in Morpheus’ Arme und überlassen es der Vorsehung, die Pflichten zu erfüllen, die sie auf sich genommen haben. Ein- oder zweimal während der Nacht läßt der Schiffer ein oder das andere Netz heraufziehen, um zu sehen, ob sich kein Fisch gefangen hat, und wenn dann die Aussichten auf Erfolg gut sind, wird die gewählte Stellung beibehalten; findet man aber keine Heringe in den Netzen, so fährt die Mannschaft häufig nach einem anderen Punkte, in der Hoffnung, dort vom Glücke mehr begünstigt zu werden; die Arbeit des Auslegens der Netze muß dann von neuem vorgenommen werden. Wenn der Morgen anbricht, werden die Bemannungen munter, und in früher Stunde beginnt die Arbeit des Einziehens der Netze; sobald diese früher oder später, je nach dem Gewicht der ge- fangenen Fische, beendigt ist, so werden alle Segel aufgesetzt, und wenn das Boot nun stetig durch die See hinfährt und die vom Bug verdrängten Wogen hell und silbern in der Morgensonne glänzen, so hat die Mannschaft alle Hände voll zu tun, um die Heringe aus dem Netz zu schütteln und sich in anderer Weise auf das Ausladen ihres Fanges vorzubereiten, sobald man den Hafen erreicht hat. Wenn das Netz wie ein Vorhang im Wasser hängt, so geraten die auf ihrem Zuge vorwärts schwimmenden Heringe mit den Köpfen in die Maschen, aus denen sie sich nicht mehr herausarbeiten können; sie werden gefangen gehalten, bis die Netze an Bord gezogen und die Fische in den Raum ge- schüttelt werden. Manchmal verfangen sich die Heringe in solch dichten Massen, daß beinahe eine ganze Ausrüstung von Netzen in den Meeresgrund sinkt, was bisweilen einer einzigen Boots- mannschaft einen Verlust von 100—1350 Pfund Sterling verursacht, während zu anderen Zeiten das Fahrzeug so tief mit der kostbaren Frucht beladen ist, daß es auf der langen Fahrt von vielleicht 40 Meilen nach dem Hafen bis auf Handbreite vom Bord einsinkt, das Wasser gelegentlich über das Verdeck spült und nur die herrschende ungeemeine Windstille das Fahrzeug vor dem Sinken II. Abschnitt. Das Leben im Meere. Ir bewahrt. In mancher Saison erweist sich der Fang für eine längere Zeit als gänzlich unergiebig, und da die ganze Bevölkerung in den Fischerstädten vollständig von dem Erfolge dieses Erwerbs- zweiges abhängt, so stimmen solche Mibßerfolge den Mut der Leute bedeutend herab. Nach einer Periode ungünstigen Fanges verbreitet die uner- wartete Ankunft eines glücklichen Fahrzeuges am frühen Vor- mittag mit der Nachricht, daß das Geschwader endlich einen großen Zug Fische ‚getroffen und einen schweren Fang gemacht habe, sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt und verursacht die größte Aufregung unter der ganzen Bevölkerung, vom größten Fischpökler bis zum kleinsten Fischerjungen. Die Anländen füllen sich rasch mit Scharen von Besuchern, teilnehmenden Zuschauern und solchen, die direkt am Heringshandel beteiligt sind, und die Wirkung, die der von den örtlichen Fischweibern gesprochene rauhe Dialekt, vermengt mit der harten verschiedenen Aussprache der Eingeborenen von Fife, Berwickshire, Banff und Moray und dem lauten gellenden Gälisch der Hochländermädchen hervorbringtt, ist ungewöhnlich fremdartig. Sobald die Boote um den Wogen- brecher liegen, werden sie von vielen erwartungsvollen Gresichtern fest ins Auge gefaßt; kaum legen sie am Hafendamm an, so _ werden die Bemannungen derjenigen Boote, die so glücklich waren, von ihren Verwandten mit stürmischem Jubel begrüßt und bilden den Anziehungspunkt für alle Bummler im Hafen. Nun beginnt die Arbeit des Ausladens. Der Schiffer steht auf dem Hafendamm, um die Körbe ans Land zu ziehen, bei welchem Geschäft ihm oft sein Weib hilft, das in vielen Fällen den Löwen- anteil der Arbeit auf sich nimmt. Wenn die Männer einige Zeit im Raume gearbeitet haben, so werden sie allmählich von den silbernen Fischschupper ganz bedeckt, bis ihre Kleidung das Aus- sehen eines Panzerhemdes annimmt, in dem sich ihre kräftigen stämmigen Gestalten sehr gut ausnehmen. Sobald die Heringe in die Höfe gebracht sind, werden sie in große viereckige, hölzerne Tröge, sog. Forelands, ausgeleert, von denen viele unter einem Dache stehen, so dals die den Fisch aus- weidenden Weiber vor der Sonnenhitze wie vor der Unbill der Witterung geschützt sind. Diese Frauen zeigen infolge einer lebenslangen Erfahrung eine große Geschicklichkeit in ihrer Arbeit, und die Schnelligkeit, mit der sie einen Hering ergreifen, das Dr. Wiese, Das Meer. 17 Dr. Wiese, Das Meer. 258 Heringsflotte. II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 259 Messer in seine Kieme einsetzen, die Eingeweide herausnehmen und diese in eine \Wanne, den Fisch in eine andere werfen, ist einer der Hauptzüge des Geschäftes und scheint in den Augen des Fremden das Ergebnis einer Taschenspielererziehung zu sein. Im Verlaufe eines Nachmittags und Abends wird durch eine Rotte Frauen, bestehend aus zwei Ausweiderinnen und einer Packerin, eine ganze Reihe von Tönnchen mit Heringen gefüllt, und sie haben damit einen Verdienst von 10— 20 Schillingen gemacht. Was die Natur der Insel Island an Bodenproduktion versagt hat, hat sie in reicher Fülle ihren Flüssen und Seen, besonders aber den sie umgebenden Gewässern des Meeres, gespendet. Diese sind reich an Fischen der verschiedensten Art, und so wird Fischfang auf Lachse, Stockfische, Heringe, Haie und Wale von den Isländern mit vielem Eifer, obwohl mit wechselndem Erfolge betrieben. Am Heringsfange sind die eingeborenen Isländer aller- dings, trotzdem auch hier in den letzten Jahren Fortschritte zu verzeichnen sind, doch weniger beteiligt als andere Nationen. Die Norweger haben einen großen Teil des Heringfanges in den is- ändischen Gewässern in den Händen. Das ist stets seit langer Zeit so gewesen. Vielleicht kommt das daher, dab die Norweger, wie die Bewohner des nördlichen Europa überhaupt, große Kenner und Liebhaber von Heringen sind, während bei den Isländern dieser Fisch als Nahrungsmittel niemals recht eingeführt gewesen ist und auch heute noch nicht genügend gewürdigt wird. Wahrscheinlich ist der Grund hierfür die Abneigung des Isländers gegen Salz, "weil er den Skorbut so sehr fürchtet. Alle ihre präservierten Nahrungsmittel werden nämlich entweder durch Trocknen und Räuchern süß oder durch Sauergärung sauer haltbar gemacht; ‘den Hering aber kann man wegen seines hohen Gehaltes an Tran nicht ohne Salz haltbar machen. - Bekanntlich macht der Hering häufige und vielfache Wande- ungen und nach verschiedenen Teilen der Küste; zuweilen ver- aßt er die Küste eines Landes für eine Zeitlang ganz, wie es vor Jahren an den norwegischen Fjorden der Fall war. Irgendein derartiger Vorfall mag in der Tat auch die erste Veranlassung Jegeben haben, dab die Norweger in den isländischen Gewässern uf den Fischfang gingen, obwohl der genaue Zeitpunkt, in dem amit begonnen wurde, nicht mehr ermittelt werden kann. Die lorweger konnten dort fischen wie in ihren eigenen Fjorden, I Si 260 Dr. Wiese, Das Meer. nn „denn sie fangen die Fische, wenn sie ihnen bis vor die Türe kommen, als bäten sie ordentlich, daß man sie fangen solle*; aber nn 0 Zu sie haben nicht den Unternehmungsgeeist der schottischen Fischer, die sich weit in die See hinauswagen, um dort unter großen Ge- fahren bei jeder Witterung die Fische aufzusuchen. Allein trotz- dem sind die Norweger kühne und tüchtige Seeleute, Die Heringe der isländischen Gewässer werden alle in den in RE AM Fjorden, nicht auf hoher See gefangen. Die nach Island kommenden norwegischen Fahrzeuge sind meistens Schoner, die die nötige nn Ausrüstung an Salz und Fäßchen an Bord haben. Nach ihrer Ankunft werden sie teilweise abgetakelt und vor Anker gelegt, nachdem man zuerst das Material zum Einpökeln an die ver- es schiedenen Stationen gebracht hat. Diese Stationen sind einfache hölzerne Schuppen, die man am Strande erbaut hat und die teil- weise ins Wasser hineinragen, mit einer Plattform oder Anlände ze Ay an der Seeseite, um die Fischerboote ausladen zu können. Sie liegen immer an Stellen, wo das tiefe Wasser bis dicht an die Küste heranreicht, so dal die Fahrzeuge mittels einer Laufbrücke EL IZrN a 7 von der Anlände aus und noch immer schwimmend geladen werden können, da das Steigen und Fallen der Flut im Norden und Osten BR von Island nur drei Ful beträgt. Die aus Norwegen kommenden Fischerboote sind kleiner als aus die an der britischen Küste üblichen, aber größer als diejenigen der Isländer; sie sind mit Mast, Spritsegel und Klüver versehen und sehr leicht, da man mit ihnen kein sehr schweres Wetter zu” bestehen beabsichtigt. Das Netz ist aus einem Stück, ein Schlag- netz, mit dem die Heringe nach der Küste gefegt werden. Sollte es mehr Heringe enthalten, als die Boote tragen können, so werden 3 die Enden des Netzes am Strande verankert und die Boote mit” so vielen, als sie nur tragen können, aus dem Innern des Schlag- | netzes heraus mittels Sacknetzen an langen Stangen beladen. Die | übrigen Fische bleiben dann, wohlbehalten und alle lebend, tage- lang in dem großen Netze eingeschlossen, bis man ihrer bedarf, oder bis der Inhalt des letzteren erschöpft ist. Die Netze sind von verschiedener Größe, von 20 Faden lang und 53 Faden breit bis zu ı5o Faden lang und 20 Faden breit, und werden je nach Maßgabe” der Tiefe des Wassers an der Küste, an der man fischt, gebraucht. Die Maschen der Netze sind nur einen halben Zoll weit und werden ın Norwegen für Sprotten und Heringe gleicherweise gebraucht. > »K m: I lI. Abschnitt. Das Leben im Meere, 261 Wenn man die Fische geladen hat, werden sie sogleich ganz, d. h. ohne daß man die Eingeweide herausgenommen hat, mit Salz in die Tönnchen eingepökelt und nicht erst ausgreweidet, wie dies in Schottland geschieht. Obwohl dies Einpökeln nicht so gut ist, wie das schottländische und holländische, so verursacht das Ver- fahren doch weniger Arbeit und weniger Behandlung des Fisches, wodurch weniger beschädigt werden. Die Norweger beschäftigen dabei viele Isländer, aber nur als Tagelöhner, sowohl in den Booten wie beim Laden der Fahrzeuge auf den Stationen. Der Zeitpunkt der Ankunft und die Richtung des isländischen Heringszuges scheinen mit denjenigen des schottischen ganz iden- tisch zu sein, nämlich vom Mai und Juni bis September und Oktober und von der Westküste um den Norden herum bis nach der Ost- küste. Der nördliche Teil des Zuges führt zuzeiten innerhalb, zu- zeiten außerhalb des Polarkreises hin. Die Heringe scheinen die- jenigen Fjorde ganz zu vermeiden, die entweder cinen allmählich sich verflachenden Strand oder Hindernisse in Gestalt von Sand- banken, Felsen oder Eilanden haben. Ihr Lieblingsaufenthalt sind Fjorde, die bis an die Küste heran einen klaren Strich tiefen Wassers haben. Zur ersten gemiedenen Klasse gehören Hrutafjord, Skagafjord und Eyafjord im Norden, an dem sich keine Fischer- stationen befinden, doch liegt im Hrutafjord die Handelsstation Bordeyri, (nach der der Fjord zuweilen benannt wird), und hier sah Capitain John Coghill, der reisende Agent für das Handelshaus Slimon von Leith, das einen höchst ausgedehnten Handelsverkehr zwischen Großbritannien und Island hergestellt ‘hat, vor einigen Jahren bei einer Gelegenheit den Strand des Fjordes meilenweit mit toten Heringen bedeckt. Die Fische waren von Walen den Fjord hinaufgetrieben worden, hatten sich in ihrer Angst dem Lande zugedrängt und waren dabei zu Tausenden umgekommen. Die Heringe erscheinen zuerst im Mai oder Juni auf der Höhe ‚von Isafjord im Nordwesten von Island, allein die Zeit wechselt in den verschiedenen Jahren. Der Zug nähert sich dann der Insel und streicht an der Nordküste hin, biegt um Langanaes (Langmnase), die nordöstliche Spitze von Island, herum und zieht an der Öst- küste herab, berührt aber niemals die südlichen und südwestlichen Küsten. Bisweilen finden sich die Heringe schon Ende August, dagegen im September immer, beinahe in allen östlichen Fjorden, besonders im Eskifjord und Seydisfjord. DR, Dr. Wiese, Das Meer. - Seydisfjord ist ?®/,—ı'/, engl. Meilen breit, verläuft auf 10-12 engl. Meilen westlich, wendet sich in seinem Schoße oder obersten Teile südlich und ist auf dem ganzen Wege zu beiden Seiten von steil abstürzenden Bergen von 2500—3000 Fuß Höhe einge- schlossen, mit tiefem Wasser bis dicht an die Küste heran, aus- genommen an seinem landwärts gekehrten Ende und seiner nord- westlichen Ecke, wo die Küste sich etwas verflacht, weil die aus den Bergen heruntergekommenen Flüsse hier ihren Schutt abge- lagert haben. ? Die ruhigen, die steilen Berghänge widerspiegelnden Ge-° wässer zeigen auf den ersten Blick kaum eine Spur von Leben in ihnen. Nur da und dort ein Flug weißer Meeresvögel oder das gelegentliche Lärmen einiger Heringwale, die nicht sehr hech spritzen, ist alles, was darauf hindeutet, daß das Wasser von Fische N aller Art wimmelt. Man sieht keine Scharen von Booten, die am Abend aus- oder am Morgen einlaufen, man hört kein Geschrei oder Gelächter an den Landungsplätzen; kein Hasten und Schreien, keine Eile der Fischer, denn die Beute ist in ihrer Hand, und sie können ihre Arbeit nach Belieben regeln — sie können die Netze einziehen, die Fische pökeln, die Tönnchen verschiffen, ganz wie es ihnen paßt, alles sehr ruhig, mit großem Fleiße, aber ohne Lärm’ und Eile. Das Wasser wimmelt von Heringen, und dort, wo jene Meeresvögel gemächlich fischen, da stehen die Fische im Wasser, eingeschlossen von den ungeheuren Netzen, die ı5o Faden lang und 20 Faden breit sind. Die Fischer haben alle ihre großen” Netze ausgesetzt.und suchen die Zahl derselben noch zu vermehren, indem sie einige von den kleinen zusammennähen; allein diese sind nur 53 Faden breit und reichen nicht tief genug hinab, um a f den Grund zu gehen, und sind daher von keinem sonderlichen Nutzen. Die isländischen Heringe sind sehr groß, 13—14 Zoll lang und je 1ı2—ı4 Unzen englisch wiegend. Die Möven haben einige Mühe, um sie zu packen und zu verschlingen. Wenn sie sie beim Kopf erfassen können, so ist es gut, allein sie haben selbst dann noch Not, sie hinunterzuwürgen. Man findet oft Fische, denen von den Schnäbeln der Vögel die ganze Haut vom Rücken gestreift worden ist, bei dem vergeblichen Versuche, sie zu verschlingen. Machen wir nunmehr auch eine Fangreise mit einem deutscher Heringsdampfer. Wohl ausgerüstet verläßt dieser den Hafen und II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 2063 steuert denjenigen Plätzen zu, auf denen er einen guten Fang ver- mutet. Auf ihnen angekommen, beginnt er Nachmittags seine Netzfleet auszusetzen. Der Zeitpunkt wird so gewählt, daß die bei 150 Netzen 2 bis 2!/, Stunden dauernde Arbeit vor Eintritt der Dunkelheit beendet ist. Bei dem Aussetzen wie beim Einholen der Fleet ist die ganze Mannschaft beschäftigt, für jedes dieser Manöver wird „alle Mann“ beordert. Jeder Mann der Besatzung hat seine Station. Auf dem Fangplatz wird gestoppt und rück- wärts gearbeitet, bis der Dampfer, der mit dem Vordersteven in den Wind gedreht liegt, langsam zurückgeht. Das vordere Ruder wird in Funktion gesetzt, die Mannschaft tritt auf ihren Stationen an; vorne, am Steuerbord, der Steuermann und ein Matrose, die das Ansteeken der Netze und Bojen an das Reep besorgen und ‚das klare Aussetzen überwachen. Die übrige Mannschaft ist beim Aufholen der Netze aus dem Raum und beim Vorausmannen der- selben verteilt, Netze und Reep werden direkt aus ihren: Ver- stauungsräumen über Bord gesetzt, erstere mitschiffs, um nach vorne geholt und hier vom Steuermann an dem Reep befestigt zu werden. Letzteres gleitet direkt über einen an Steuerbord vor dem Fock- want angebrachten Poller. Ist das letzte Netz über Bord, so werden noch 500 m Reep ausgesteckt und dieser dann um den Poller auf Verdeck festgelegt. Während des Aussteckens muß das Schiff in gerader Richtung achteraus gehen und treiben, wo- zu nach Bedarf Maschine und vorderes Ruder Hilfe leisten. Nach beendetem Aussetzen treibt der Dampfer mit stehender oder ganz langsam vorwärts gehender Maschine bis ı oder 2 Uhr des nächsten Morgens; um diese Zeit beginnt das Einholen des Netzes, wenn inzwischen weder durch Ansegelung noch durch Sturm dem Netze Schäden zugefügt sind. Im ersten Falle ist es Aufgabe des Dampfers, die abgerissene Netzfleet so schnell als möglich wieder aufzusuchen. Dies ist ihm vermöge seiner willkürlichen Bewegungs- fähigkeit besser als einem Logger, der stets aufkreuzen muß, mög- lich. Durch Sturm kann ein Heringsfischer, ob Dampfter, ob Segel genötigt werden, seine Fleet länger als beabsichtigt stehen zu lassen oder früher einzuholen, um das bei heftigem Stampfen des Schiffes leicht vorkommende Brechen des Reeps und Zerreißen der Netze zu vermeiden. Gelingt es nicht, die Netzfleet vor Aus- bruch schlechten Wetters zu bergen, so läßt man sie ruhig aus und den Dampfer treiben. Zwar wird dies ohne Beschädigungen E. 264 Dr. Wiese, Das Meer. auch nicht abgehen, aber die Gefahr, das Reep zu brechen und das ganze Fleet zu verlieren ist nicht vorhanden und es „reiten* die Heringsfischer vor der treibenden Fleet sehr gut einen Sturm ab. Das Einholen des Netzes geht in der Weise von statten, dab das Reep um das Dampfspill gelegt, über die Lager am Bug ein- gehievt und direkt wieder in den Reepraum befördert und aufge- schossef wird. Während des Einhievens steckt ein Mann am Bug die Netze von dem Reep los, die nach mittschiffs gemannt und hier über die Holzrolle an Deck geholt werden. Die in demselben befindlichen Heringe, die mit Kiemen oder Körper sich in den Maschen festgeklemmt haben, werden ausgeschüttelt und die Netze sofort im Netzraum verstaut. Nach Beendung des Einholens sind auch die Fanggeräte verstaut, sodaß das Deck für die Bearbeitung des Fanges vollständig leer ist. Ist der Fang: nicht so groß, dab die Masse der an Deck liegenden Heringe die Arbeit verhindert, so bleiben die Heringe sämtlich an Deck; werden sie infolge ihrer Menge unbequem, so Öffnet man zwei mit Holzdeckeln ver- schlossene Öffnungen von 25 cm Länge und 6 cm Breite, die sich im Deck befinden und unter denen im Raum größere Kästen, Krippen genannt, eingebaut sind und läßt die Heringe nach unten gleiten. Die Öffnungen im Deck werden geschlossen, sobald man genügend Platz hat. Sofort nach dem Einholen beginnt das Schlachten oder Kaaken der Heringe. Der Hering muß vor dem Messer sterben, sonst wird er schlecht, d. h. das Fleisch wirt röt- | lich und bleibt weichlich, wie dies bei den schottischen Heringen der Fall ist, die stets erst an Land zubereitet werden, nachdem sie schon längere Zeit tot sind. Schon 1746 kannte der Bürger- | meister Andersohn in Hamburg den Unterschied zwischen dem frischgesalzenen holländischen und dem später zubereiteten schot- | tischen Hering im Geschmack und Dauerhaftigkeit. Er gibt als? Grund für die schlechtere Qualität des letzteren an, „daß über die 3 Zubereitung gemeiniglich mehr als einmal 24 Stunden verstreichen“. Bei dem frisch verarbeiteten Hering zieht das Salz das Blut aus” dem Fleische, und dieses wird fest und weiß. Ist das Schlachten beendet, so geht der Hering sofort in die Hand des Salzers über. Die Körbe, in die die geschlachteten Fische hineingeworfen sind, werden in eine Trage (Back) von Holz geschüttelt und leicht mit Salz gemischt. Mit diesen Tragen transportiert. man sie zu den an = Deck bereitstehenden Fässern. II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 205 Schließlich sei noch bemerkt, daß ein Heringsdampfer, wenn er einen guten Fang trifft, seine Ladung von 600 Fässern in einigen Tagen an Bord haben kann; ist der Fang schlecht, so dauert es vielleicht drei bis vier Wochen, bevor er die Heimreise antreten kann. a Piz) c) Sardine und Sardellen. „Die Welt ist ein Sardellensalat, Er schmeckt uns früh, er schmeckt uns spat; Zitronenscheiben rings umher, Dann Fischlein, Würstlein und was noch mehr In Essig und Öl zusammenrinnt, Kapern, was künftige Blumen sind — Man schluckt sie zusammen wie ein Gesind,* Goethe, Der Hering hat eine ganze Reihe von Verwandten, die gleich- falls als Volksnahrungsmittel eine bedeutsame Rolle spielen. Da ist zunächst die Sprotte oder der Breitling zu nennen, die in allen europäischen Meeren, besonders aber zu Millionen an der Ostküste Schleswig-Holsteins gefangen wird und als Kieler Sprotten einen Weltruf erlangt hat. In Norwegen macht man sie ein und verkauft sie als Anchovis. Wichtiger ist indessen die Sardine, die ausge- weidet und gesalzen als Sardelle in den Handel gebracht wird. „Sardine“ (ebenso lateinisch und griechisch) ist ursprünglich ein Gattungsname für eine Anzahl eingesalzener Fische gewesen, die man schon vor Jahrhunderten und Jahrtausenden im Mittelmeer, besonders in der Nähe der Insel Sardinien, fing und dort für den Versand zuzubereiten pflegte. Heute versteht man unter demselben Namen eine ganz bestimmte Art, die zwar auch im Mittelmeer vorkommt, deren wahre Heimat aber der weite Atlantische Ozean ist, wo man ihr von der Küste Frankreichs und Spaniens bis nach Amerika hin begegnet. Das Hauptgebiet für den Sardinenfang ist aber die Küste der Bretagne und ihr Mittelpunkt das kleine Städtchen Concarneau, dessen männliche Bevölkerung zum weitaus größten Teil, nämlich mit über 3000 Mann und 700 bis 800 Booten, dem Sardinenfang obliegt. 266 Dr. Wiese, Das Meer. Die Sardine (Clupea sardina) gehört mit der Sardelle, dem Sprott, der Alsa (Maifisch) zur Familie der Heringe. Von den letzt- genannten Arten unterscheidet sie sich aber weniger durch ihre bläuliche, an den Seiten und am Bauch silberglänzende Färbung, als besonders durch die außerordentliche Empfindlichkeit ihrer Struktur. Während jene z. B. zum Laichen zum Teil bis in die Flüsse steigen, würde die Sardine im Süßwasser sofort zugrunde gehen. Die geringste Schramme, der Verlust von ein oder zwei Schuppen hat ihren Tod zur Folge, und es bedarf der größten Vorsichtsmaßregeln, um sie lebend an Land zu bringen. In ihrer vollen Entwicklung, ausgang'ss Winter, ist die Sardine etwas kleiner als der Hering, etwa 150 g schwer, fett, ölig und von mittel- mäßigem Geschmack. Man salzt sie in diesem Zustande ein und bringt sie unter die Presse, verwendet sie aber nicht zu Konserven, Bis zum Juni kann man noch immer ziemlich starke Sardinen fin- den, dann verschwinden sie spurlos bis auf einige Nachzügler. Bald darauf erscheint die junge Sommersardine‘ sie ist viel kleiner als die vorige, zum Laichen also noch völlig ungeeignet und wiegt kaum 12—ı5 g. Auch ist sie nur wenig ölig und von feinem Ge- schmack; sie ist es, die, in Büchsen präpariert, durch die ganze Welt versandt wird. Sie erscheint, man weiß nicht woher, in sog. Bänken, wie die Heringe. An sonnigen Tagen kommen sie dicht aneinander gepreßt an die Oberfläche, plätschern und überspringen sich und verwandeln das Wasser in ein leuchtendes, blitzendes Silberfelde Gegen Ende Oktober verschwinden sie, wie sie ge- konımen sind, und machen anderen Platz, die oft von ganz ver- schiedener Größe sind, so daß kein Fischer von einem Tag zum andern sagen kann, welche Sorte ihm zufallen werde. , Jede Be- mühung, das Woher, Wohin und Warum zu ergründen, ist bisher vergebens gewesen. Der Hering kommt zur bestimmten Zeit an seine großenteils bekannten Laichplätze; die Sardine ist zur Haupt- fang zeit noch weit von ihrer Reise entfernt. Nach Nahrung brauchte sie nicht zu suchen, das Meer bietet ihr zur Genüge; man kann wenigstens nicht sagen, daß man jemals Meerfische, wie Heringe, Sardinen usw., ausgehungert, mit dickem Kopf und ab- gemagertem Körper angetroffen hätte, wie es manchmal bei ge- fangrenen, schlecht gefütterten Fischen der Fall ist. Die Temperatur des \WVassers unterliegt allerdings Veränderungen; warum kommt aber der Fisch niemals über den Kanal hinaus, während doch im II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 26 Sommer das Wasser bis nach dem nördlichen Schottland hin eine BEme von ı2° erreicht? Der .Salm, die Forelle, der Hering wachsen sozusagen unter unseren Augen, etwa 0,01 m im Monat; hiernach müßte eine Sardinenbank mit Tieren von 0,03-—0,04 m drei bis vier Monate alt sein und im Laufe des zweiten Jahres, kurz ehe sie ihre volle Entwicklung erreicht, zur Eierablage kommen. Man könnte daher behaupten, daß die Sardine nur zufällig, etwa von Feinden aus ihren stets gleichmäßig erwärmten Aufenthalts- orten gejagt, an unseren Küsten erscheint und durch die kältere Jahreszeit wieder zurückgetrieben wird. Etwas Bestimmtes ist, wie gesagt, nicht darüber bekannt. Die Art und Weise des Fangs hat sich im Laufe der Zeiten nicht wesentlich verändert, ist aber immerhin eigenartig genug. Frühmorgens bei Sonnenaufgang, nur selten auch am Abend, laufen die gewöhnlich mit vier Mann besetzten Boote zu den bekannten Fischplätzen hinaus. Ein jedes führt seinen Vorrat an Köder, in der Hauptsache aus Rogen von Kabeljau bestehend, den man aus Norwegen, ja aus Amerika bezieht, und einige möglichst fein ge- flochtene Netze mit sich. Letztere bilden ein je ı5 m langes und breites Viereck bei 6—8 m Höhe; der obere mit Korkstückchen besetzte Raum hängt über das Hinterteil des Schiffes ins Meer; ebendort steht der Führer, der, am Ziel angelangt, mit geschickter Handbewegung unter allgemeinem Stillschweigen (da das ge- ringste Geräusch die Fische verscheucht) den Rogen links und rechts um das Netz herumstreut. Bald darauf erscheinen eine Masse kleiner Bläschen an der Wasseroberfläche, die an der Luft zerplatzen; die Vorboten der Sardine, die bei ihrem Emporsteigen unter dem sich vermindernden Druck Luft aus ihrer Schwimmblase entläßbt, Bald blitzt das Meer ringsumher von den silberhellen Seiten der herumschießenden Fische. Die Kunst des Fischers be- steht nun darin, diese beim Erhaschen der Nahrung in die Maschen des Netzes zu verwickeln; hält er letzteres für genügend schwer besetzt, so wird es eingezogen und ein anderes ausgeworfen, während das erste in ziemlich roher Weise von seinem Fang ent- lastet wird. So geht der Fang weiter bis gegen Abend, wo es gilt, den andern möglichst den Vorrang abzugewinnen, da bei reicher Ausbeute die Preise rasch sinken und am folgenden Tage der Fisch nur noch gut für den Düngerhaufen ist. _ Beim Einlaufen der Boote stehen die Familien der Fischer >68 Dr. Wiese, Das Meer, schon am Ufer, wo sie nach gewissen Zeichen von draußen her sich untereinander ihre Hoffnungen und Befürchtungen mitteilen und schon im voraus über die Preise verhandeln. Diesezsss ziehen sich stets auf 1000 Stück, Sind aber, je nach dersess giebigkeit des Fanges, den größten Schwankungen, von 3—50 Fr., unterworfen. Sind die Fische hereingebracht, so kommen sie in die Konservenfabriken. Hier werden sie mittels eines Holzmessers mit einem Schnitt zugleich des Kopfes und der Eingeweide be- raubt (die als Düngung'smittel sehr gesucht sind), dann gewaschen, getrocknet und auf Drahthürden ausgebreitet, die der Reihe nach in siedendes Öl getaucht werden. Man läßt sie danach abtropfen und schichtet sie auf lange Tafeln, an denen schon zahlreiche Arbeiterinnen ihrer warten, um sie in die bereit liegenden Büchsen zu verpacken. Nachdem man in diese noch etwas ÖI hat ein- fließen lassen, werden sie, zu hundert, in Kisten verpackt, die nach aller Herren Länder wandern. Die größeren, an den Küsten von England und Spanien ge- fangenen Sardinen, bekannt unter dem Namen „Pilchard“, sind zu Ölkonserven ungeeignet. Man beschränkt sich darauf, sie zu pressen, zu welchem Zweck besonders an der Küste von Cornwall große Veranstaltungen getroffen sind. Die Fische werden dort in halbkreisförmigen, ı km großen, etwa 30 m hohen Netzen sozu- sagen umzingelt und eingefangen, wonach die Netze durch Winden über den Meeresgrund hin nach dem Ufer gezogen werden, von wo man sie nach Bedarf, wie aus einem ungeheuren Reservoir, herausschöpft und in die Fabrik bringt. Dort unterliegen sie ver- schiedenen Behandlungsweisen. Meist bleiben sie etwa ı4 Tage in einer Salzlake, werden dann in durchlässige Fäßchen geschichtet und unter die Presse gebracht; nachdem sie hier von Öl und \Vasser, die durch die Fäßchen ablaufen, befreit sind, werden letztere nochmals aufgefüllt, und darauf fest verschlossen. Den Hauptverdienst bringt bei dieser Prozedur anscheinend das Fischöl, das nach oberflächlicher Reinigung für Lederfabriken u. dgl. ein sehr gesuchter Artikel ist. Auch in Frankreich findet eine reiche Ernte selten im ganzen eine lohnende Verwendung als Ölsardinen. In den Fabriken von Concarneau kommen von 400 Millionen höchstens 300 Millionen in Büchsen; der Rest wird eingepreßt, eingesalzen oder grün ver- kauft. Immerhin ist dieser Handelszweig aber so bedeutend, dab II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 209 die 350—60 Fabriken von Concarneau z. B. alljährlich gegen eine halbe Million Franken an Arbeitslohn ausgeben und Frankreich etwa für 10—ı5 Millionen Franken Ölsardinen versendet, wovon reichlich der dritte Teil nach Amerika geht. \Vie angedeutet, wird indessen noch eine lange Zeit vergehen, bis man die Verhältnisse dieser Wanderfische genau kennt, und erst dann wird man die Maßregeln feststellen können, die zu er- greifen sind, um die natürliche Produktion künstlich zu erhöhen. Der Fisch, der die europäische Sardine in Amerika ersetzt, ist der Menhaden (Clupea Menhaden), den amerikanischen Fischern als „meßbunker“* bekannt. Er kommt besonders häufig in den Meerbusen und Buchten von New-Brunswick, New-Foundland und Nova-Scotia vor; mit dem Erscheinen des Frühlings beginnt er seine Wanderung südwärts, und riesige Züge des Menhaden er- scheinen dann an der Küste von Long-Island und in der unteren New Yorker Bai. Im Herbste schwimmen diese Fische nach ihrer nördlichen Heimat vom Ozean zurück, und spät in den Winter fällt ihre Laichzeit. Das Fleisch des Menhaden ist zart, und die Amerikaner behaupten sogar, daß er in jeder Beziehung der fran- zösischen und spanischen Sardine vorzuziehen sei. Das einzige, was sich dagegen einwenden läßt, ist der ungewöhnliche Reichtum an Gräten in dem „mebßbunker“, und um diese unschädlich zu machen oder zu entfernen, mußte der Yankeegeist erst eine eigene ‚Maschine erfinden. Da diese sich in der Praxis glänzend be- währt hat, so darf Amerika getrosten Mutes den Kampf um die Brercdie vorzüglichsten „sardines a l’huile* auf den Tisch‘ zu bringen, mit den Franzosen und Spaniern aufnehmen. a Tız) d) Elektrische Fische — Schlammspringer — Fliegende Fische. Elektrische Organe und die Fähigkeit, elektrische Schläge auszuteilen, sind bei Fischen vielleicht weiter verbreitet, als man glaubt, Marshall. Eine der wunderbarsten Eigentümlichkeiten dient manchen Fischen zugleich als Schutz und als Angriffswaffe. Diese Erscheinung kommt aber nur einer sehr kleinen Anzahl von Wasserbewohnern 270 Dr. Wiese, Das Meer. zu; wir meinen die elektrischen Fische. Im wesentlichen besteht das elektrische Organ nach Schleiden in kleinen, durch das gleich- gültige Bindegewebe von einander abgegrenzten „Kästchen“, wie man sie nennt, d. h. wie Bienenzellen nebeneinander gestellten prismatischen Hohlräumen, die mit einer gallertartigen Substanz cefüllt sind. An die eine Fläche treten auffallend starke Nerven; diese bilden sich verteilend hier feine Netze, die sich für jedes Kästchen zu einer „elektrischen“ Platte gestalten. Diese elektrischen Platten bestehen aus mit einander eng verbundenen Zellen, in die die Endungen der elek- trischen Nerven übergehen; diese verschmelzen immer nur mit einer Fläche dieser Platten, und zwar ist diese Fläche bei allen Platten eines elektrischen Organs immer dieselbe, entweder dıe obere oder die untere. Die Nervenfläche der Platte ist auch die elektropositive, die andere die elektronega- tive. Dies ist der bei allen gleiche Bau des Organs, in allen übrigen Verhältnissen finden aber große Ver- schiedenheiten statt. Bei dem gefleckten und marmorierten Zitter- Das ] { IS E @ Oo; 1 I IS ® R ıs linke elektrische Organ Die elektrischen tes liegen die Sachen elektrischen Organe im IXopfe zu beiden Seiten des des Zitterrochen. Lappen. Schädels und erhalten ihre Nerven von der unteren Seite aus dem fünften und vier noch unbestimmten Gehirnnervenpaaren. Beim Zitteraal liegen an jeder Seite des Schwanzes unter der Haut zwei elektrische Organe, die ihre Nerven aus dem Schwanzteile des Rückenmarks erhalten. Bein Zitterwels liegt das elektrische Organ unter der Haut in der ganzen Länge des Körpers, in eine rechte und linke Hälfte und durch Scheidewände in zahlreiche, den Kästchen entsprechende Fächer geteilt. Nur ein einziges, II. Abschnitt. Das: Leben im Meere. 271 zwischen den zweiten und dritten Rückenmarksnervenpaare ent- springendes, eigentümliches Nervenpaar versorgt diese Organe. Ganz ähnliche Organe, wie die beschriebenen, finden sich auch bei den übrigen Rochen und den Spitzschnauzen im Schwanze, ohne daß man bis jetzt elektrische Entladungen bei diesen Fischen beobachtet hätte. Auch die sehr wenig bekannten Arten: der elektrische Stachelbauchundder indische Degenfisch wären hier noch zu erwähnen. Die eine der Spitzschnauzen wurde übrigens bei den alten Ägyptern heilig gehalten (vielleicht der Elektrizitäts- entwicklung wegen?) Auch der Zitterrochen war schon bei den Alten bekannt, er ist oft auf den Herculanischen Wandgemälden abgebildet. Dioscorides erzählt, daß man durch Berührung mit ihm Kopfschmerzen heile; später wendete man ihn auch gegen Podagra an. Das sind jedenfalls die ältesten Nachrichten, die wir bis jetzt von der Anwendung der Elektrizität als Heilmittel be- sitzen. Ans kräftigsten von allen scheint der Zitteraal zu wirken, der mit einer Entladung Maultiere und Pferde lähmt oder gar tötet und viele sonst fischreiche Landseen vollständig verödet hat. Er wird von allen Fischen aufs ängstlichste geflohen. Man fängt ihn, indem man Maultiere in das Wasser jagt, an denen er sich erst elektrisch erschöpfen muß. Wenn er dann vor den wild tobenden Tieren an flachere Ufer flüchtet, zieht man ihn mit trocknen, nicht leitenden Stecken ans Land. Humboldt hat uns in seinen Ansichten der Natur eine höchst lebendige und malerische Darstellung dieses Fanges gegeben. Ist der Aal einmal erschöpft, so bedarf er guter Nahrung und langer Ruhe, bis er wieder mit Elektrizität geladen ist. Übrigens scheint es, wenn man so sagen darf, von seinem Willen abzuhängen, ob er einen Schlag erteilen will oder nicht. Wir können diese kurze Darstellung einer so interessanten Erscheinung gewiß nicht besser als mit den Worten Humpboldt’s schließen: „Was unsichtbar die lebendige Waffe dieser Wasserbewohner ist, was durch die Berührung feuchter und un- Sieichartiger Teile erweckt, in allen Organen der Tiere und Pflanzen umtreibt; was die weite Himmelsdecke donnernd entflammit, was Eisen an Eisen bindet und den stillen, wiederkehrenden Gang der Nadel lenkt: alles fließt aus einer Quelle; alles schmilzt in eine: ewige, allverbreitete Kraft zusammen.“ Höchst sonderbare Fische sind de Meer-oder Schlamm- meandeln. Sie werden etwa ı5 cm lang. Der bekannteste 372 Dr. Wiese, Das Meer. von ihnen ist der Schlammspringer. Seine Brustflossen sind groß, seine Bauchflossen zusammengewachsen. Seine Augen, die fast oben auf dem Scheitel und dicht zusammenstehen, treten frosch- artig hervor. Sein Gebiß, das aus kegelförmigen Zähnen besteht, ist sehr stark und gut geeignet, Krebstiere und Insekten zu zer- beißen, die seine Nahrung bilden. Ihrer Jagd liegt er vorzugs- weise zur Ebbezeit ob. Er schießt dann mit der Gewandtheit einer Eidechse über den Schlamm dahin und verfehlt selten eine Beute. Dabei kommt es häufig vor, daß er an den Mangrove- Jagende Spritzfische. wurzeln emporspringt und sich mit seinen Bauchflossen an ihnen festklammert und weiter an ihnen emporklettert. „Mit welcher Schnelligkeit*, sagt Brüning, „der Schlammspringer über den feuchten Grund fahren kann, habe ich selbst gesehen, allerdings nicht im Freien, sondern im Aquarium. Einmal hielt ich eine ver- wandte Art aus Westindien, Eleotris maculata, im Aquarium. Ich hatte dasselbe im Hochsommer in die Sonne gestellt, und die Ver- dunstung war eine sehr starke, daß der Wasserstand immer niedriger und das Pflanzengewirr im Wasser immer dichter wurde. II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 273 Zwei Tage hatte ich mich nicht um das Aquarium kümmern können. Wie ich nun am dritten Tage mittags in das Zimmer trete, sehe ich einen der Fische etwa drei Fingerbreiten hoch mitten an der Glaswand über der Wasseroberfläche sitzen, dab mir unwillkürlich der Gedanke kam, das Tier sei tot und angetrocknet. Wie ich aber schnell hinzutrete, da springt mein kleiner Turnkünstler mit weitem Satz ins Wasser und ist im Nu im Pflanzendickicht ver- -schwunden.“ In den tropischen Gewässern finden sich höchst interessante Fische; die fliegenden Fische. Nicht weniger als 40o Arten sind bekannt, die zu den Makrelenhechten gehören. Das Maul ist kurz, Zähne fehlen oder sind sehr klein, der Körper ist mäßig ge- streckt mit ziemlich großen Schuppen. Die Brustflossen sind sehr lang und dienen als Flugorgan; alle Strahlen der Rücken- und Afterflossen sind verbunden. Die Schwimmblase ist sehr groß. Die fliegenden Fische sind dem Menschen selbstverständlich schon sehr frühzeitig aufgefallen. Zumal sie gerade im Mittelmeer häufig sind, befaßten sich mit ihnen auch schon die Schriftsteller des Altertums. In der Tat kann man sich wohl kaum eine merk- würdigere Erscheinung denken, als einen Schwarm von Fischen, der sich oft bis zu einer Höhe von mehreren Metern über die Meeresfläche hinaus erhebt und zuweilen mehr als hundert Meter weit durch die Luft fliegt, um erst dann in seinem einheimischen Element weiter zu verschwinden, Die neuzeitige Naturforschung' ist bemüht gewesen, die Frage, wie der Flug der Fische zustande kommt, gründlich und namentlich auch nach physikalischen Ge- sichtspunkten zu studieren, Die älteste Erklärung stammt von dem Nestor der Berliner Zoologen, Professor Moebius, der dem Wind dabei die Hauptrolle zuschreibt, indem die an den Fischen während des Fluges beobachtete zitternde Bewegung der Bauchflossen lediglich durch die Luftströmung hervorgerufen werden soll. Während spätere Forscher sich zum Teil dieser Auffassung ange- schlossen haben, sind andere dafür eingetreten, dab die Flugbe- wegung der Fische doch nicht so ganz passiv erfolgt, sondern daß die Tiere ihre Brustflossen selbst und mit einer gewissen Willkür bewegen, also ähnlich wie die Vögel ihre Flügel. Diese Ansicht ist zunächst durch gründliche Untersuchungen von Ahlborn und in allerletzter Zeit durch Durnford im „Amerikanischen Naturalist“ bestätigt worden. Durnford hält es für ganz unmöglich, daß die Dr. Wiese, Das Meer, 18 274 Dr. Wiese, Das Meer, fliegenden Fische allein durch den Wind bewegt werden, denn fürs erste wäre schon die verhältnismäßig geringe Fläche, die dem Winde von den Flossen dargeboten wird, dafür unzureichend. Der amerikanische Zoologe hat dieserhalb genaue Messungen angestellt an dem sogenannten Schwalbenfisch (Exocoetus volitans), der zu der Familie der Trughechte gehört und durch sein hervor- ragendes Flugvermögen die Aufmerksamkeit im hohen Maße auf sich gelenkt hat. Ein solcher Schwalbenfisch besitzt bei einem Körpergewicht von etwa ı Pfund Brustflossen mit einer Gesamt- fläche von 400 Quadratzentimetern. Das Verhältnis der Flugfläche zum “Gewicht beträgt daher rund 2,6, während bei den guten Fliegern unter den Vögeln das entsprechende Verhältnis viel größer ist, nämlich beim Stoßfalken bis 5,1, bei der Stadtschwalbe 4,2. Sogar bei einem Vogel wie dem Rebhuhn, ist das Verhältnis der Flugfläche zum Grewicht noch viel größer als bei den fliegenden Fischen. Wenn der Schwalbenfisch mit den echten Seglern unter den Vögeln verglichen werden sollte, so müßte er eine viermal größere Flugfläche besitzen und würde auch dann noch un- günstiger gestellt sein, weil seine Flossen ebene Flächen be- sitzen, die eine geringere Tragkraft haben, als die konkav ge- bogenen Vogelflügel. Gegen ‚die Annahme, daß die fliegenden Fische nur vom Wind getragen werden, spricht auch die Größe der Strecken, die sie durch die Luft zurückzulegen vermögen, selbst wenn der Wind nach Richtung und Stärke gar nicht so günstig ist. Vor allem aber liegt ein Widerspruch in der Tat- sache, da die fliegenden Fische ihren Flug in ganz beliebiger Richtung‘, oft also auch gegen den Wind, ausführen, außerdem auch zu steuern und ihre Flugrichtung zu ändern fähig sind. Jeden- falls müßten die Fische auch das Auffliegen zunächst selbst be- wirken, bis sie vom Winde erfaßt werden könnten. Ausall diesen Gründen kommt Durnford zu der Annahme, daß die frühere Er- klärung des Fluges bei den fliegenden Fischen nur durch Ver- mittlung des Windes nicht aufrecht erhalten werden kann. II. Abschnitt. Das Leben im Meere. e) hachs — Schellist — Dorsh -— Kabeljau. Der alte Petrus Saxonius (1699) erzählt, der getrocknete Schellfisch sei der Helgo- länder Brot. Marshall, Einer der prächtigsten und wcehlschmeckendsten Fische des Meeres ist der Lachs. Er ist ein Wandergeselle, der die Meere und Flüsse der nördlichen gemäßigten und kalten Zone in Europa, Asien und Amerika bewohnt, in Europa nicht unter dem 43.” nörd- licher Breite vorkommt und auch in den dem Schwarzen und Mittelländischen Meer zufließenden Strömen fehlt. Der Lachs wird meist nur ı m lang und 20 kg schwer, aber man hat auch schon solche von 1,5 m Länge und von 37, ja selbst 45 kg gefangen. Karl Theodor von Siebold beschreibt das Farben- kleid des schönen Tieres mit folgenden Worten: „Auf dem Rücken besitzt der Lachs eine graublaue Farbe, während Seiten und Bauch silberweiß gefärbt sind; nur wenige, teils eckige, teils runde schwarze Flecke halten den Rücken und die Seiten desselben be- setzt. Rücken-, Fett- und Schwanzflosse zeigen sich dunkelgrau gefärbt, die übrigen Flossen sind im jüngeren Alter blaß, im höheren Alter dagegen bald mehr, bald weniger grau pigmentiert. Diese Färbung und Zeichnung verändert sich auffallend, wenn der Lachs seinen Meeresaufenthalt verläßt und in die Flüsse hinauf- steigt, um dem Fortpflanzungsgeschäfte nachzugehen. Während dieses Aufenthaltes im süßen Wasser und unter allmählichem Reifer- werden der Geschlechtsabsonderungen färben sich die Lachse dunkler und erhalten die männlichen Individuen an den Leibesseiten sowie auf den Kiemendeckeln häufig rote Flecken. Bei ganz alten Männchen entwickelt sich zur Brunstzeit ein prachtvolles Farben- kleid, indem sich nicht bloß der ganze Bauch purpurrot färbt, sondern indem auch an den Seiten des Kopfes die roten Flecken ineinander fließen und unregelmäßige Zickzacklinien auf bläulichem Grunde darstellen, während die Basis der Afterflosse, der Vorder- _ rand der Bauchflossen sowie der Ober- und Unterrand der Schwanz- flosse ebenfalls einen roten Anstrich erhalten. All dieser Farben- schmuck verschwindet wieder, wenn die Laichzeit vorüber ist.“ Der Lachs lebt gern gesellig, schwimmt sehr gewandt, springt vortrefflich und mästet sich im Meer, wo er sich niemals sehr weit von seinem Geburtsfluß entfernt, von allenei’Fischen außerordentlich. 18* 276 Dr, Wiese, Das Meer. Im März, April oder Mai erscheint er an den Mündungen der Flüsse (derselbe Fisch sucht stets wieder denselben Fluß auf), hält sich hier einige Zeit auf und schwimmt dann in geordnetem Zug stromaufwärts. Dabei werden Stromschnellen, Wasserfälle, Wehre mit großer Kraft, Gewandtheit und Ausdauer übersprungen. Der Wandertrieb beseelt den Lachs mit einer geradezu „wüsten“ Energie, er schreckt vor keinem Hindernis auf seinem Wege zurück. „Dieser instinktive Trieb der Lachse, vom Meere in die Flüsse zu steigen,“ sagt Cuvier, „läßt sie nicht nur die ihnen gestellten Netze, sondern auch hohe Wehre überwinden. Berühmt ist der Lachssprung in der Grafschaft Pembroke, wo der Fluß Zing senkrecht aus bedeutender Höhe in das Meer stürzt. Hier verweilen die Reisenden oft, die Kraft und Geschicklichkeit, mit der die Lachse den Wasserfall zu nehmen wissen, um in den Fluß zu gelangen, bewundernd. Es gibt auch noch in Irland zwei andere berühmte Stellen des Lachssprunges, nämlich zu Leixlif und zu Bally Shannon. — Es ist schwer, sich eine richtige Vorstellung: von der Kraft zu machen, die die Fische entwickeln, um sich fast ı4 Fuß hoch aus dem Wasser herauszuschnellen oder einen wenigstens 20 Fuß weiten Bogen zu beschreiben, um über ein Wehr hinauszukommen. Ihre ersten Versuche haben meist keinen Erfolg, aber sie verlieren den Mut nicht und machen immer und immer wieder erneute Anstrengungen, bis sie ihr Ziel erreichen, worauf sie in den Wellen des Flusses verschwinden.“ Mit kräftigen Schwanzschlägen verstehen es die Lachse, die Stromschnellen des Rheines bei Laufenburg zu überwinden, aber der Rheinfall bei Schaffhausen ist ihnen doch zu mächtig, und daher können sie nicht in den Bodensee kommen, wohl aber in den Bächen oberhalb des Vierwaldstätter-, Züricher- und Wallen- städtersees laichen. Der Weser stromaufwärts folgend erreichen ° sie die Fulda und Werra nebst ihren Nebengewässern, von der Elbe steigen sie in die Saale und die Eger hinauf bis Hof und Weißenstadt in Oberfranken, und die Oder und Weichsel machen | es möglich, daß noch in Mähren und Galizien Lachsfang getrieben werden kann. | | Bei ihren Wanderungen sind unsere Fische so von dem einen Irieb, sich fortzupflanzen, beseelt, daß sie alles andere darüber vergessen; sie, gewiß sonst gefräßige Räuber, lassen selbst das | Fressen sein, und das ist in gewisser Beziehung gut. Wollten II. Abschnitt. Das Leben im Meere, eig, z. B. die Hunderte und Aberhunderte von Lachsen, die zu ihrer Rheinreise von Holland bis Basel etwa 60 Tage gebrauchen, sich ernähren, wie sie es im Meere zu tun gewohnt sind, dann wehe dem Fischfange auf dem Rhein. Wahrscheinlich ist der längere Aufenthalt im Süßwasser erforderlich, um die Lachse zum Fort- pflanzungsgeschäft fähig zu machen. Der stromaufsteigende Fisch ist sehr fett (Weißlachs), hat rotes Fleisch, färbt sich zur Laichzeit, wie bereits bemerkt, dunkler. Gleichzeitig entwickelt sich an der Unterkieferspitze ein knorpeliger harter Haken (Hakenlachs). Alle diese Veränderungen verschwinden wieder nach dem Laichen. Zur Aufnahme des Laichs höhlt das Weibchen mit dem Schwanz eine seichte Grube aus, in der das Männchen die in mehreren Tagen gelegten Eier befruchtet, die sodann durch Schwanzbewegungen wieder bedeckt werden. Nach dem Laichgeschäft kehren die Lachse abgemagert, da sie im Süßwasser kaum fressen, und mit blassem Fleisch (Graulachs) ins Meer zurück, auf dieser Talwanderung gehen sehr viele Lachse zugrunde. Die Jungen schlüpfen nach vier Monaten aus und sind ca. ı cm lang; sie werden im ersten Sommer ıo bis ı5, in 16 Monaten aber ca. 4o cm lang (Sälmlinge) und wandern dann langsam ins Meer, wo sie in kurzer Zeit außer- ordentlich an Gewicht zunehmen. Gezeichnete Lachse waren nach _ nur achtwöchentlichem Aufenthalt im Meere bis 7 kg schwerer geworden. Im zweiten und dritten Lebensjahre steigen sie in die Flüsse auf. Einst waren, wie Marshall sagt, im nördlichen Europa die Lachse so überaus häufig, dal die Dienstboten sich in ihrem Kontrakte ausbedangen, nicht mehr als zweimal wöchentlich Lachse zum Mittagessen vorgesetzt zu bekommen. Mag dies auch eine Anekdote sein, so ist doch sicher, daß früher, als der Aufstieg des Lachses durch Wehre noch wenig erschwert war, als Fabriken die Wasser noch nicht verpesteten und das Getriebe der Maschinen- . räder den Frieden der Laichbäche nur wenig störte, der L.achs in Deutschland weit häufiger als gegenwärtig vorkam. So wurden unweit Kassel 1443 mit einem Zuge 802 Stück in der Fulda ge- fangen, und die Besitzer des Schlosses Rheinfeld bezogen die Summe von 1100 schweren Talern Steuer von den St. Goarer Lachsfängern. Während in Sibirien, Rußland und Skandinavien der Lachs für die Volksernährung von hoher Bedeutung ist, gilt er bei uns 8 Dr. Wiese, Das Meer. |) BT mehr als Delikatesse. Am höchsten geschätzt ist der Wintersalm des Rheins; der Lachs der Nordsee und der Ozeane wird höher geachtet als der Ostseelachs. In den letzten Jahren ist es ge- lungen, große Zufuhren von Lachs in gefrorenem Zustande nach Pa ST nen 1 TE EEE ii dh Europa zu bringen, das solche ebenfalls im gefrorenen Zustande und geeräuchert schon seit längerer Zeit aus Amerika bezog. Der Fang der Lachse wird meist mit verschieden konstru- ierten Netzen betrieben, doch wird der Lachs in England, Schott- land und Skandinavien auch aus Flüssen geangelt. Merkwürdig ee u 7 2 an ist es, daß der Fisch im Meere nicht an die Grundangel geht; . a a a Be en re en = ET ei I Kabeljaufang mit Handleinen vom Bord des Schuners, überhaupt wissen wir von seinem Leben im Salzwasser fast nichts, nicht einmal mit Bestimmtheit seine Aufenthaltsorte. Eine be- sonders "aufregende Art, den Lachs zu fangen oder besser zu jagen, soll das Speeren desselben bei Fackellicht sein, wie es in Norwegen und Schottland geschieht, und wovon Walter Scott in seinem Roman „Redgauntlet“ ein so anziehendes Bild entwirft. Zu der Familie der Schellfische- zählen besonders drei Arten: Dorsch, Kabeljau und eigentlicher Schellfisch. Die Körper- gestalt der echten Schellfische ist gestreckt, das Flossensystem wohl entwickelt, und die Bauchflossen stehen vor den Brustflossen, die Tiere sind also Kehlflosser. Rückenflossen sind drei, After- Ps II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 279 flossen zwei vorhanden, die von vorn nach hinten an Höhe ab- nehmen. Diese Charaktere verraten von vornherein die guten Schwimmer. Alle Schellfische, von denen der Dorsch oder Kabeljau größer ist als der echte oder gemeine Schellfisch, sind gesellig lebende Fische, die ausschließlich tierische Kost, besonders Heringe, fressen. Da sie ungemein gefräßig sind, so bilden sie die wichtigsten Faktoren im Stoffwechsel der nordischen Meere. Sie bewohnen keineswegs ausschließlich tiefere Wasserschichten, sondern besuchen oft und gern obere. Daher kämpfen sie, wie Marchall richtig bemerkt, einen weit besseren Kampf um das Dasein, als solche Fische, die an ganz bestimmte Tiefen gewöhnt sind. Der Schell- fischfang wird hauptsächlich auf der großen Bank von Neufund- land betrieben, und zwar mit der Angel: Hier finden sich die Schellfische oder die Dorsche in so großen Mengen, dab ein einzelnes Boot an einem Tage viele hundert fängt. Bedenkt man nun, daß viele hunderte von Schiffen Tag und Nacht den Fang fortsetzen, so kann man sich eine ungefähre Vorstellung von der gewaltigen Masse gefangener Fische machen. Der Tag und Nacht fortgesetzte Fang auf einem furchtbar stürmischen Meere ist einer der beschwerlichsten, aber auch abhärtendsten und bildendsten Seemannsarbeiten, die sich denken läßt. Die größte Dorchfischerei in Europa ist auf den Lofoten, und sie beschäftigt 5000—6000 Fahr- zeuge mit 20000—30000 Mann. Durchschnittlich werden hier etwa jährlich 21000000 Stück Dorsche gefangen, von denen gegen 12000000 gesalzen und als Klippfisch (Baccalau) und 8000000 ge- _ trocknet als Rundfisch oder Stockfisch in den Handel kommen, der Rest wird in Norwegen selbst verbraucht. Im Jahre 1870 wurden 16456000 Stück Kabeljau getrocknet, und nebenher wurden noch 23542 hl Lebertran und 6570 hl Rogen gewonnen, der be- sonders nach Frankreich zum Köder beim Sardinenfang geht. Man bestreicht die Netze damit, und dieser Köder ist ganz unentbehrlich und durch keinen künstlich zubereiteten zu ersetzen. Außerdem dienen auf den Lofoten die Kabeljauabfälle zur Erzeugung eines Guanos im Betrag durchschnittlich von 400000 kg im Jahre. In deutschen Meeren ist der Dorsch besonders häufig auf der Doggerbank und um Helgoland, wo Black einmal innerhalb einer halben Stunde 90 Fische, darunter über die Hälfte Kabeljaue, fing. In der Ostsee, wo der aus der Travemünder Bucht für der beste gilt, ist er nicht selten, werden doch durchschnittlich vor Eckern- "ıojur A WT T9I9UISYUDJOJO”I 194 zyepdjpunues AS "IOVAJO 280 Dr. Wiese, Das Meer. förde jährlich 300000 kg Dorsch gefangen, obgleich das Meer hier nicht völlig seinen Bedürfnissen entspricht. Es ist nämlich stellen- weise nicht tief genug. Im Winter sucht der Kabeljau die Tiefe; sind aber die Winter kalt und streng, dann kann sich Grundeis II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 281 bilden, das sich an seine Kiemen setzt und ihn erstickt. Auf diese Weise kamen 1869 an der schleswig-holsteinischen Ostküste tausende um. Sind die Schellfische gefangen, so salzt man sie ein oder trocknet sie, in letzterem Falle bilden sie den eigentlichen Stock- fisch. Gesalzener Kabeljau oder Klippfisch wird folgendermaßen zubereitet: Die Dorsche werden zeitig im Frühjahr, oft schon im Februar gefangen, unter Wasser gespalten und schwach ge- salzen, dann legt man sie für 8—ı2 Wochen auf einen Haufen in ein dunkeles Gelaß, bedeckt sie währenddem mit eingesalzenem Heu oder Gras und beschwert sie mit Gewichten. Im April oder Mai werden sie umgelegt und so eng wie nur möglich geschichtet, worauf sie im Juli oder August zum (sebrauch fertig sind. | Der für heiße Länder bestimmte Dorsch oder Kabeljau wird mittels Pressen in kleine Kisten, Trommeln genannt, gedrückt und die für die Mittelmeerländer bestimmten werden gleich in Schiffs- ladungen ausgeführt. Große Massen von Stockfisch gehen nach Brasilien, und es ist in diesem gewaltigen Lande kaum ein be- wohntes Winkelchen zu finden, wohin der neufundländische Stockfisch nicht käme, transportiert auf den Rücken von Maultieren von der Seeküste bis in die entlegensten Provinzen des Innern. Die Neger Westindiens begrüßen ihn als willkommene Zutat zu ihrer Pflanzen- kost, in alle Länder des Mittelmeers findet er seinen Weg, Italiener, Griechen und Sizilianer erfreuen sich im gleichen Maße der Ernte des Meeres. Die Spanier und Portugiesen sind die besten Kunden der Stockfischhändler, und über die ganze iberische Halbinsel ist „bacalo“ ein stehendes Gericht. In wärmeren Ländern scheint die Bevölkerung eine besondere Vorliebe für Stockfisch und Klipp- fisch zu haben, und er ist ihr ein geradezu unentbehrliches Nahrungs- mittel. (Vgl. Marshall, „Die deutschen Meere und ihre Bewohner“) bar i) Die Plattüsche. Da ließ ich mich nieder, um der Ordnung nach die gefangenen Fische zu mustern, N OYILd. Zu den interessantesten Fische gehören in anatomischer Hin- sicht die Plattsfische oder Seitenschwimmer; einzelne ihrer Art sind zugleich sehr wohlschmeckend. Dr. Wiese, Das Meer. t> [00] 166) Die Plattfische unterscheiden sich von allen anderen Fischen durch die bei verschiedenen Arten in ungleichem Grade entwickelte Asymmetrie des Kopfes und durch die Gewohnheit, auf der Seite zu liegen und zu schwimmen. Beim Verlassen des Eies noch schmal und vollkommen symmetrisch gebaut, schwimmen sie in der normalen Stellung der übrigen Fische in großen Schwärmen an der Oberfläche, aber schon nach wenigen Wochen, wenn sie etwa ı!/, cm lang geworden sind, erscheint der Körper stark verbreitert, neigt sich auf die eine Seite, und bald senken sich die Fischchen auf den Grund, um sich dort zu lagern. Durch ein ungleich- mäßiges Wachstum der beiden Schädelhälften rückt das Auge der unten liegenden Seite allmählich um die Stirnkante herum nach der oberen Seite; mitunter bleibt es auf dieser Wanderung aus- nahmsweise auf der Stirne stehen, so daß es von beiden Seiten sichtbar ist. Namentlich auffallend ist dieses Stadium bei den Arten, deren Rückenflosse bis vor das Auge reicht, hier wandert das Auge unter der Rückenflosse hindurch. Bei Fischehen von ı!/, cm Länge ist die definitive Körperform schon ausgebildet. Außer der bei allen Plattfischen eintretenden Wanderung des Auges bildet sich bei vielen auch eine Asymmetrie des Mundes, der BE Ze Se u weder Brustilossen und der Beschuppung der beiden Seiten aus. Immer bleicht die blinde, ursprünglich der anderen gleich gefärbte Seite zu einem gelblichen Weiß, nur ausnahmsweise findet man Exem- plare, die auf der blinden Seite größere oder kleinere Flecken von der Färbung der Außenseite zeigen, mitunter auch solche, die beiderseits scheckig sind. Gewöhnlich fest auf dem Grund liegend, kriechen und gleiten die Plattfische durch Bewegungen der un- paarigen Flossen geschickt umher, wühlen sich gern bis auf die weit vorstehenden und sehr beweglichen Augen in Sand oder Schlick ein und haben in hervorragendem Maße die Fähigkeit, ihre Färbung derjenigen des Grundes schnell und vollkommen anzu- passen. Von den Plattfischen, die als 180 verschiedene Arten die Meere bevölkern und auch in Strömen und Flüssen aufsteigen, sind die wichtigsten der Heilbutt, der Steinbutt, die Scholle, die Flunder, die Seezunge. Wir verzichten darauf, diese Fische einzeln näher zu beschreiben und beschränken uns in Anlehnung an Brehm dar- auf, von ihren Sitten und Gewohnheiten zu erzählen. Mit Ausnahme des Heilbuttes lieben alle Plattfische seichte, i II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 283 am liebsten sandige oder doch nicht schlickige, d. h. mit weichem, tiefem Schlamme bedeckte Stellen des Meeres. Mehrere Arten, insbesondere die Flunder und die Zunge, halten sich gern an Fluß- mündungen auf; erstere unternimmt sogar zuweilen, den Strömen entsegengehend, Reisen bis weit in das Innere der Länder. In den englischen Flüssen, in der unteren Elbe und Weser, auch im Rhein, bis zur holländischen Grenze, kommen Flundern regelmäßig vor; man hat sie aber auch schon zu wiederholten Malen in dem Rhein noch in der Nähe von Mainz und ebenso in der Mosel und im Main gefangen. So träge nämlich die Plattfische zu sein scheinen, so gern wandern sie. Bei der außerordentlichen Häufig- keit der meisten Arten achtet man hierauf weniger, als es die Sache verdient. Von dem Heilbutt, einem für die Nordländer sehr wichtigen Nährfische, weiß man schon seit langem, daß er sich während des Winters mehr in der Tiefe aufhält und gegen das Frühjahr hin in die Buchten zieht. So erscheint er im Süden und Westen Islands mit dem Kabeljaue im März, wird im April häufiger und verweilt während des ganzen Sommers in der Nähe des Landes; im Norden der Insel hingegen kommt er erst im Mai, im Osten nicht vor dem Juli an; auch bei den Faröer und in Norwegen besucht er erst im Mai und Juni die nahe dem Lande gelegenen Gründe und verschwindet, wenn die rauhe Jahreszeit eintritt; in der Ostsee dagegen, insbesonders in der Kieler Bucht, fängt man ihn in größerer Anzahl nur in den Monaten Oktober, November und Dezember. Ebenso wie er erscheinen und verschwinden alle übrigen Platt- üsche, auf die man genauer geachtet hat. So wissen die Fischer, daß der Steinbutt in der südlichen Nordsee gegen Ende März, in den nördlicher gelegenen Teilen desselben Meeres etwas später aus der Tiefe zu den Sandbänken aufsteigt und mit Eintritt der heißen Witterung wieder nach der Tiefe zurückzieht. Ebenso ist bekannt, daß der Glattbutt auf den Watten an der Elbküste von April, an denen der Wesermündung von Mai bis zum Juni, im Greifswalder Bodden dagegen vom Mai bis zum August am häufigsten auftritt. Erfahrene Fischer haben ferner erkundet, dab der Goldbutt, der in Bezug auf seine Wanderungen ebensowohl Winter- und Sommerbutt wie Scholle und Maischolle genannt wird, nicht allein zu gewissen Zeiten sich auf wohlüberwachten Fang- plätzen einstellt und wieder entfernt, sondern auch während seines 4 4 284 Dr. Wiese, Das Meer. Aufenthaltes auf höher gelegenen Sandbänken noch besondere Streifzüge unternimmt, In den Sitten und Gewohnheiten, insbesonders in der Art und Weise, sich zu bewegen, ähneln sich die Plattfische durchaus; man hat wenigstens bis jetzt noch nichts beobachtet, was dieser Be- hauptung widerspräche. Sie liegen auf dem Grunde ihres Auf- enthaltsortes, bis auf die Augen mehr oder weniger im Sande versteckt und, mit Ausnahme der Augen bewegungslos, bis eine Beute sie hervorlockt oder ein Raubfisch sie vertreibt. Das Ein- graben geschieht mit einer merkwürdigen Schnelligkeit durch wellenförmige Bewegungen ihrer Rücken- und Afterflossen, wo- Dorie beim Heilbuttfang: Einholen der Langleinen. durch sehr bald ein flaches Loch ausgegraben und gleichzeitig die Rücken- und Bauchseite leicht mit Sand bedeckt wird. Eine einzige kräftige Bewegung genügt dann, die Sanddecke abzu- schütteln und den Leib in die Höhe zu heben, worauf der Platt- fisch unter fortgesetzten wellenförmigen Bewegungen seiner beiden Hauptflossen und der kräftigen Schwanzflosse weiter schwimmt, so dal» die Blindseite nach unten. die Rückenseite nach oben gerichtet ist. Wenn er eine jähe Bewegung ausführen will, tritt die Schwanz- flosse ebenfalls in Wirksamkeit, und er schießt dann, getrieben von After- und Rückenflosse, sehr rasch durch das Wasser. s Arne an PETER LT sen 2 2 Zu 27 Wirklich unterhaltend ist es, eine im Sand halb vergrabene Scholle zu beobachten. Ihre meist verschieden großen, sehr leb- II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 285 haft gefärbten Augen, denen man einen Ausdruck von Klugheit und Verschmitztheit zusprechen möchte, werden abweichend von denen anderer Fische ohne Unterlaß bewegt. Sie können nämlich nicht bloß willkürlich gedreht, sondern auch wie die der Frösche emporgehoben oder herausgedrückt und wieder in ihre Höhlen zu- rückgezogen werden, spielen somit in den verschiedensten Rich- tungen, weil unter den verschiedensten Winkeln zur Oberfläche des Körpers. Ein förmliches Lid, die sehr entwickelte Nickhaut, trägt zu ihrem Schutze wesentlich bei. Diese lebhaft gefärbten Augen sind strenggenommen das einzige, was man von dem im Sande verborgenen Plattfische wahrnimmt. Die Färbung der Augen- eite schmiegt sich dem Grunde und Boden des Gewässers genau in demselben Grade an wie das Haarkleid des Hasen dem Acker oder das Gefieder des Schneehuhns dem Alpengelände, und wie bei dem letzteren wechselt die Färbung nach Zeit und Örtlichkeit, nur mit dem Unterschiede, daß der Wechsel nicht bloß zweimal im Jahre, sondern bei jeder Ortsveränderung eintritt, Alles, was wir dem Chamäleon andichten, finden wir bei den Plattfischen verwirklicht. Legt sich einer beispielsweise auf sandigen Grund, so währt es garnicht lange und Färbung und Zeichung entsprechen diesem Grunde; die gelbliche Farbe tritt hervor, die dunklere verschwindet. Bringt man denselben Fisch, wie es in kleineren Behältern oft genug geschieht, auf anderen Grund, beispielsweise auf grauen Granitkies, so geht die Färbung der Augenseite sehr bald in dieselbe über, die dieser Grund hat; die früher gelblich erscheinende Scholle, Butte oder Zunge wird grau. Das jeder Art eigne Gepräge der Farbenverteilung und Mischung verwischt sich dabei nicht, aber es ändert sich doch bedeutend um, und der Beobachter kommt ganz zu der Überzeugung, daß bei diesen Fischen auf die Färbung wenig Gewicht gelegt werden darf. Den Fischern ist es wohl bekannt, daß in diesem Teile des Meeres, der Färbung des Bodens stets entsprechend, dieselbe Art der Platt-. fische dunkel, in jenem Licht gefärbt ist. So nennt man in Groß- britannien die Goldbutten, die man auf dem sogenannten Diamant- grunde an der Sussexküste fängt, Diamantschollen, weil sie sich durch die Reinheit ihrer braunen Färbung und. den Glanz ihrer Flecken vor allen andern auszeichnen und im Einklange der Boden- decke des betreffenden Grundes eine so gleichmäßige Färbung und Zeichnung bekommen, daß man, wäre die Veränderlichkeit der 286 Dr. Wiese, Das Meer. Farbe nicht bekannt, versucht sein könnte, eine eigene Art oder Spielart in ihnen zu sehen. In dieser absonderlichen Begabung, das Kleid den Verhält- nissen anzupassen, erklärt sich wohl am besten die unverhältnis- mäßige Häufigkeit der Plattfische. Sie sind nicht fruchtbarer als andere Fische, ja, die Anzahl ihrer Eier kann sich mit der vieler Verwandten nicht messen: von den Jungen aber entgehen viel mehr, als es im allgemeinen die Regel sein dürfte, den räuber- ischen Nachstellungen und erlangen somit die Größe, die sie be- fähigt, sich selbst zu schützen. Denn auch die Plattfische sind Räuber, die großen Arten unter ihnen, die sich selbst an Fische von der Größe des Kabeljaus wagen, sehr kühne, die kleineren die sich mit Krebsen verschiedener Art, Muscheln und Würmern genügen lassen, wenigstens äuberst gefräßige Raubfische. In der Mordlust und Raubgier kommen sich die großen wie die kleinen gleich. Sie verfolgen jede Beute, die sie bewältigen zu können glauben, und scheuen sich auch nicht, schwächere der eigenen Art anzufallen; unter den norwegischen Fischern gilt es als ausgemacht, daß die Verletzungen der flachen Seiten und der Schwanzgegend, die man so oft "bei ihnen bemerkt, von größeren Stücken derselben Art herrühren. Selbst die schlimmsten Feinde der Familie, Seewölfe und Rochen, finden in der großen Art Vergelter und Rächer; der Heilbutt namentlich gilt als ein Verfolger der fast in derselben Weise wie er lebenden Rochen. Die Fortpflanzung der Plattfische fällt in verschiedene Monate, im allgemeinen aber in die beste Jahreszeit, in den Frühling und Vorsommer nämlich. Für den Heilbutt werden die Monate Mai bis Juli, für Stein- und Glattbutt März bis Mai, für Goldbutt und Flunder Januar bis Juni, für die Seezunge Mai bis Juli angegeben. Um besagte Zeit nehmen die Eierstöcke der Rogener den größten Teil der Leibeshöhle ein, und die Hoden der Milchener strotzen von Samen. Der Laich wird auf demselben Grunde abgelegt, der unseren Fischen zeitweilig zum Aufenthaltsorte dient, vorzugsweise also auf sandigenn Boden, außerdem zwischen Seegräsern und anderen Meerespflanzen, auch wohl auf länger stehenden Fischnetzen. Die heranwachsenden Jungen bemerkt man ausgangss des Sommers, insbesonders während der Ebbe, weil sie, wie ihre Eltern, oft zu faul sind, mit eintretender Ebbe die seichteren Meeresstellen zu ver- lassen und tieferes Wasser aufzusuchen, vielmehr in den Sand ge- 1I. Abschnitt. Das Leben im Meere. 287 wühlt die Rückkehr der Flut abwarten. Etwas Zierlicheres von einem Tierchen als solch jungen Plattfisch kann man sich kaum denken. Abgesehen von der Größe, ist er in jeder Beziehung, in Färbung, Zeichung und Lebensweise, Sitten und Grewohnheiten der Alte, scheinbar aber viel schöner, beweglicher und deshalb an- mutiger. Wie kaum ein anderer Seefisch eignet er sich für die Gefangenschaft; denn er verlangt nicht einmal Seewasser, sondern gewöhnt sich leicht an das Wasser unserer Süßwasserteiche oder Flüsse und hält hier, falls es ihm nur nicht an Nahrung fehlt, vor- trefflich aus. Liebhabern empfiehlt Brehm gerade diese Fische, also unsere Schollen, Butten und Zungen, auf das angelegentlichste. Groß ist die Bedeutung der Plattfische für den menschlichen Haushalt. Alle Arten haben ein schmackhaftes, mehrere von ihnen ein vorzügliches Fleisch, das noch besonders dadurch sich für eine ausgedehnte Benutzung eignet, daß es sich tagelang hält, dem entsprechend auf weite Strecken versandt werden kann. An den meisten Seeküsten ißt man nur die frisch gefangenen Plattfische; im hohen Norden aber, wo die Ernte des Sommers zur Nahrung für den Winter dienen muß, bereitet man wenigstens die größeren Stücke für längere Aufbewahrung zu, indem man sie in Streifen schneidet und entweder einsalzt, oder an der Luft wie Stockfische trocknet, oder endlich räuchert. Besonders geschätzt sind Gold- butt, Kliesche und Steinbutt, aber auch die übrigen werden nir- gends gering geachtet. Auf dem Fischmarkt in London führen jahrlich allein die Holländer, die sich vorzugsweise mit dem Fange abgeben, für etwa zwei Millionen Mark Steinbutten, die Dänen für einige hunderttausend Mark ein, derer nicht zu gedenken, welche die britischen Fischer erbeuten, da höchstens ein Viertel des Be- darfes der Weltstadt von den Holländern geliefert wird. Jene Summe von etwa zwei Millionen Mark bezieht sich übrigens nur auf die von den holländischen Fischern unmittelbar nach England gebrachten Steinbutten, nicht aber auch auf die, welche die Nieder- länder schon auf hoher See an englische Fischer verkaufen. Wie viele Steinbutten in Holland selbst, in Deutschland, Frankreich und Jütland verbraucht werden, läßt sich nicht bestimmen, doch darf man wohl annehmen, daß der Gesamtwert dieses Teiles der Fischerei mehrere Millionen Mark betragen mag. Noch höher dürfte der Wert anderer Plattfische, beispielsweise der Goldbutten, Flundern und Zungen sein, so verhältnismäßig billig man sie auf 288 Dr, Wiese, Das Meer. allen Fischmärkten der Küstenstädte verkauft. Zuweilen fängt man Plattfische in unglaublicher Anzahl. So kamen, laut Yarrell, eines Tages so viele Goldbutten auf den Londoner Fischmarkt, daß ein großer Teil davon uuverkauft blieb. Erhebliche Mengen von ihnen wurden zu einem Penny das Dutzend losgeschlagen, obgleich die einzelnen Stücke nicht unter ı,; kg wogen, somit also für kaum neun Pfennig unseres Geldes gegen 20 kg Fische verkauft. Dem- ungeachtet gelang es nicht, den reichen Fang entsprechend zu verwerten; es fanden sich, selbst als man 50 Fische für 40 Pfennig ausbot, keine Käufer mehr, bis endlich der Lord-Mayor den Befehl gab, die übrigbleibenden unter die Armen zu verteilen. An Schollen wurden, nach Yarrell, jährlich etwa 86000 Scheffel auf den Markt zu Billingsgate geliefert. Auch der Fang der Heilbutten gibt zuweilen einen außerordentlichen Ertrag, weil man mit einer einzigen Langschnur manchmal ein, drei, vier oder fünf dieser großen Fische herauszieht. Mit den englischen, holländischen und dänischen Fischern konnten sich die deutschen, was den Ertrag ihrer Arbeit anbelangt, freilich nicht messen. Der Heilbutt kommt für unsere Küsten kaum in Betracht; von Steinbutten wurden nur alljährlich gegen 3000, von Groldbutten und Flundern je gegen 20000, von Zunge gegen 10000 kg nach dem DBinnenlande versendet. Nach einer Aufstellung von G. Platzmann wurden in der Markthalle von St. Pauli in Hamburg in einem Jahre neben anderen Fischen ver- steigert: Über 344000 kg Schollen, 143000 kg Seezungen und 37000 kg Steinbutten, die zusammen einen Erlös von fast 333000 Mark brachten. Jedenfalls ist aus diesen Zahlen, die doch nur den nicht einmal vollständigen Umsatz auf einem einzigen Fischmarkte kennzeichnen, wenn man sie vergleicht mit den vorhergehenden Zahlen, die etwa vor zwei Jahrzehnten einige Gültigkeit hatten, mit Sicherheit zu ersehen, welch einen außerordentlichen Auf- schwung die deutsche Seefischerei seitdem genommen haben muß. Am fettesten ist das Fleisch unserer Fische im Spätsommer, am schlechtesten, hier und da sogar ungeniebbar, im Spätherbste. Der Fang auf Plattfische wird in sehr verschiedener Weise © betrieben, je nach Örtlichkeit, Häufigkeit und auch je nach Art der Fische. An die Jagd der Wilden erinnert das hier und da gebräuchliche Verfahren, während der Ebbe mit bloßen Füßen ° die mit Wasser angefüllten Lachen des Strandes zu durchwaten, II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 289 die erfühlten Fische mit dem Fuße niederzutreten und dann einzu- sammeln. An günstigen Stellen der Küste wird auf diesem ein- fachen Wege oft reiche Beute gewonnen. FErgiebiger ist eine andere Fangart, das Schollenstechen. Sie beruht darin, daß der Fischer vom Boote aus beim stillen Meere den überfluteten Grund absucht und die erspähten Plattfische mit einer Lanze aufspießt oder auf sie ein mit Blei beschwertes, vielspitziges Werkzeug schleudert, das er dann mit dem Fische an einer Leine wieder heraufzieht. Auf ebenem Grunde wendet man ein besonders gebautes Schleppnetz, im tiefem Wasser die Angel oder die Grundleine an. Vielfache Beobachtungen und Versuche, die man anstellte, haben ergeben, dab sich Plattfische im süßen Wasser trefflich halten. Sie lebend zu versenden, verursacht nicht die geringsten Schwierigkeiten, denn ihre Lebenszähigkeit ist außerordentlich groß Die Meinung von Sieboldts, daß sich wenigstens die Flunder wohl bei uns in Teichen und Seen erziehen lassen werde, hat gewiß sehr viel für sich. Brehm teilt nicht einmal das von gedachtem Forscher ausgesprochene Bedenken: der gefräßige Fisch werde in unseren Süßgewässern nicht genug Nahruny finden, da die in England an- gestellten Versuche äußerst günstig ausgefallen sind, die versetzten Fische also doch wohl anstatt der Muscheln und Würmer des Meeres anderweits genügende Nahrung gefunden haben müssen. M’Culloch berichtet von Zungen, die man mehrere Jahre lang in einem Gartenteiche gehalten habe und behauptet, daß sie hier noch einmal so groß und fetter geworden seien, als in der See. Ein anderer Fischer hat, nach Yarrell, über ein Jahrzehnt Zungen ins Süßwasser übergeführt; sie blieben in den Flüssen, gediehen vorzüglich, nahmen bedeutend zu an Gewicht und pflanzten sich fort. Die Angelegenheit verdient also gewiß die Berücksichtigung verständiger Fischzüchter. In engerem Gewahrsame halten sich die Plattfische so leicht wie irgend ein anderer ihrer Klassenverwandten, gewöhnen sich sehr bald an die Enge des Beckens, wählen sich einen bestimmten Stand, lernen, wie unser Gewährsmann wenigstens annimmt, ihren Pfleger und selbst die Futterzeit kennen und scheuen sich nicht, diesem die ihnen vorgehaltene Nahrung aus der Hand zu nehmen. rarh Dr. Wiese, Das Meer. 19 290 Dr. Wiese, Das Meer. g) Der Aal. Glatt wie ein Aal, Sprichwörtliche Redensart, Der wunderlichste aller Wanderfische ist der Aal. Ein Nimbus des Greheimnisvollen umgibt diesen Fisch, der wie kein zweiter (Gregeenstand tiefgründiger Studien geworden ist. Ehe wir auf die. Ergebnisse der Wissenschaft eingehen, betrachten wir zunächst sein Äußeres. Der langgestreckte, zylindrische, nur im Schwanz- teil seitlich zusammengedrückte Körper ist mit einer dicken, schleimigen Haut bedeckt, in der die kleinen, sehr zarten, läng- lichen Schuppen in Zickzackreihen eingebettet sind. Der Kopf ist mehr oder weniger zugespitzt, mit vorstehendem Unterkiefer und ziemlich kleinen, mit mehreren Reihen feiner Hechelzähne be- waffnetem Munde, der bis unter das Auge reicht. Die Nasen- Öffnungen stehen der Schnauzenspitze nahe, die vorderen, röhren- förmigen dicht an der Öberlippe. Die kleine äußere Kiemen- Öffnung bildet einen engen senkrechten Schlitz dicht vor und unter der Brustflosse. Bauchflossen fehlen. Die Rücken- und Afterflosse, erstere um eine Kopflänge vor dem in der Körper- mitte liegenden After, letztere dicht .hinter demselben beginnend, gehen ohne Grenze in die abgerundete Schwanzflosse über, die einfachen, dünnen und biegsamen Strahlen sind in. der dicken Ei} Flossenhaut nur schwer sichtbar. Längs der Seitenlinie und am Unterkiefer sind die Öffnungen der Seitenkanäle deutlich erkenn- bar. Die Färbung ist nicht nur an verschiedenen Orten, sondern auch in demselben Gewässer sehr verschieden, der Rücken ist dunkelgrün, blau oder schwarz, die Seiten heller, der Bauch rein weiß. Mitunter ist der Rücken kaum dunkler als die Seiten, olivengrüne Exemplare mit goldgelbem Rückenstrich, auch ganz goldgelbe werden ab und zu gefangen, sehr viel seltener weiße. Der Aal erreicht eine Länge bis zu ı!/, m, ein Gewicht bis zu 5 kg, wird aber gewöhnlich nicht über ı m lang und 2—-3 kg schwer. Er ist in zahlreichen, durch die Breite der Schnauze, Länge der Afterflosse u. dgl. unwesentlich verschiedenen Lokal- formen, die vielfach als eigene Arten aufgefaßt und als Anguilla acutirostris, latirostris, obtusirostris, bostoniensis etc. beschrieben worden sind, weit verbreitet; er findet sich in ganz Europa mit Ausnahme des höchsten Nordens und der dem Schwarzen und II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 291 Kaspischen Meere zuströmenden Flüsse, in Algier, Japan, China, Nordamerika und Westindien in fließendem wie stehendem Süß- wasser und im Meere. Er vermeidet kalte und schnellströmende Bäche und bevorzugt ruhige Gewässer mit weichem Grunde, in dem er sich bei Tage gern verbirgt, während er nachts lebhaft umherstreift, um sich von kleinen Fischen, Krustazeen, Würmern und Aas aller Art zu nähren. Dem Fischlaich und den Krebsen ist er sehr gefährlich, auf den Laichplätzen der Fische findet er sich regelmäßig ein und frißt sich zu unförmlicher Dicke voll, die Krebse holt er, solange ihr Panzer noch nicht erhärtet ist, aus ihren Löchern; in manchen Gewässern sind sie durch den Aal gänzlich vertilgt. Obwohl der Aal als Raubfisch bekannt ist, wird immer von seinen fabelhaften Landwanderungen er- zählt, die er in Erbsenfelder unternehmen soll, um Schoten zu ‘fressen; er geht allerdings auf überschwemmten Wiesen und Feldern den Würmern und Schnecken nach, muß aber bei plötz- lichem Sinken des Wasserstandes oft in geringer Entfernung vom Wasser unıkommen, ohne in dasselbe zurückgelangen zu können. In Teichen, deren Wasser durch Einleiten schädlicher Stoffe ver- dorben wird, sterben die Aale oft aus, ohne daran zu denken, das Wasser zu verlassen. Früher waren allerhand Fabeln über die Entstehung der Aale, ihre Fortpflanzung und ihre Wanderungen im Umlauf. Auch heute ist noch manches aus der Naturgeschichte des Aales seltsam. Was indessen durch die wissenschaftlichen Forschungen festgestellt ist, sei hier mitgeteilt. Seit geraumer Zeit wußte man, daß unsere Flußaale Wanderungen unternehmen. Wenn die Herbststürme sich erheben, erwacht in den größeren, erwachsenen Aalen der Wandertrieb. Sie schließen sich zu Scharen von zwanzig bis vierzig Stück zusammen und schwimmen, namentlich in dunklen Nächten, stromabwärts. Bald tändeln sie langsam, mit Spielen sich die Zeit vertreibend, dahin, so daß sie im Laufe einer Nacht nur ı—2 km vorwärts kommen, bald eilen sie hurtig, so daß sie in derselben Zeitspanne zwanzig Kilometer zurücklegen. Immer vorwärts geht es, immer den Fluß hinab, denn das Meer ist das Endziel dieser Wanderung. Was nun hier die Aale weiter trieben, das entzog sich dem Auge der Forscher. Wir kennen aber noch eine Wanderung der Aale in entgegengesetzter Richtung. Im zeitigen Frühling er- 19* 292 Dr. Wiese, Das Meer. scheinen an den Mündungen der Flüsse junge Aale in großen Scharen und beginnen dem Strome entgegen zu wandern. Es sind kleine Fischehen von 5 bis höchstens 8 cm Länge. Oft zählen diese Scharen nach Myriaden, und die Züge sind so dicht, daß man mit Sieben in kurzer Zeit ganze Haufen der Fischlein heraus- schöpfen kann. In Frankreich nennt man diese Erscheinung „montee“ und verspeist die jungen Aale, indem man sie mit Eiern zu Pfannkuchen verbäckt. Kreuzt der Zug die Mündung eines Nebenflusses, so schwenkt ein Teil in diesen ein, die Hauptinasse strebt aber weiter, um die höheren Flußläufe zu erreichen. Starke Strömungen werden überwunden, indem sich die Züge dichter am Ufer halten; selbst Wasserfälle können dem Vorwärtsdrängen nicht Einhalt gebieten. Mit ihren feuchten, klebrigen Leibern suchen die kleinen Aale die Felsen zu erklimmen. Tausende bleiben dabei festkleben und gehen zugrunde, aber über ihre Leichen stürmen ° andere Tausende empor; so werden auch Schleusen und Wehre überschritten und selbst der Rhonefall und der Rheinfall über- wunden. In sinnreicher Weise haben die Italiener schon seit einigen Jahrhunderten dieses Auftauchen der Jungaale zu Fischerei- zwecken ausgenutzt. An der Mündung des Po liegt an einer großen Lagune das Städtchen Comachico. Man hat hier in den Sümpfen ein System geordneter Teiche angelegt. In diese werden im Februar und März die vom Meer kommenden Aale hineinge- lassen und dann festgehalten, um hier heranzuwachsen. Im Herbst fischt man dann die größten, die dem Meere zustreben wollen, heraus. Jahraus jahrein blüht das Geschäft. Zum Teil versendet man den Fang lebend nach den benachbarten Städten, in der Hauptsache aber werden die Fische gekocht, mariniert oder ge- räuchert. So werden Venedig, Rom, Neapel und andere Städte von Comachico aus mit Aalen versorgt, beträgt doch der Ertrag des Fanges jährlich gegen 5 Millionen Pfund. In unseren Ge- wässern wachsen die Jungaale rasch ; schon in zwei Jahren können sie bis 60 cm lang werden, sie bleiben hier aber etwa fünf Jahre lang und rüsten nach Ablauf dieser Zeit zur Meerfahrt. Aus diesen Wanderungen des Aales konnte man nun mit Be- stimmtheit schließen, daß seine Brutstätte das Meer sei. Es gelang aber niemand, an der Küste Laichplätze unseres Flußaales zu ent- decken. Inzwischen lernte man an den Seeküsten eigenartige Fische, die sog. Glasfische, kennen. Sie sind klein, erreichen nur II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 293 selten eine Länge von 20 cm; ihr Körper ist, wie schon der Name besagt, fast wie ein Glas durchsichtig; legt man einen solchen Fisch auf ein bedrucktes Papierblatt, so kann man darunter die Buchstaben sehen. Das Skelett dieser Tierchen ist nicht voll- ständig ausgebildet, und das alles im Verein mit der Tatsache, daß sie weißes Blut besitzen, legte die Vermutung nahe, daß diese Glasfische oder Leptocephalen Übergangsformen oder Larven anderer Fische seien. Man forschte weiter, beobachtete diese Wesen, die sehr zart sind, im Aquarium, und vor 20 Jahren konnte Delage feststellen, daß aus einer Art dieser Glasfische, dem Lepto- cephalus Morisic, sich der Meeraal oder Congur entwickelte. Mit unermüdlichem Fleiß setzten die Italiener Professor Grassi und Professor Calandruccio in Rom diese Untersuchungen fort und konnten den Nachweis führen, daß ein anderer Glasfisch, der Lepto- cephalus breviroctris, die Larve unseres Süßwasseraales ist. So kann seit etwa einem Jahrzehnt das große Geheimnis der Fort- pflanzung des Aales, das die Weisen unter den Naturforschern seit Aristoteles und Plinius beschäftigte, als entschleiert gelten. Die Meerwanderung ist die Brautfahrt des Aales; in der See legt er sein Hochzeitskleid an, das einen eigenartigen Silberglanz zeigt, er steigt in die tiefen Gründe, mindestens 50oo m hinab und verwandelt sich in einen Tiefseefisch mit großen, etwa ı cm im Durchmesser haltenden Augen. In das Süßwasser kehrt er nicht mehr zurück; ob er aber nach dem Laichgeschäft abstirbt, also zum Stamm jener Asra gehört, die sterben, wenn sie lieben, ist noch nicht festgestellt. Vielleicht lebt er als Tiefseefisch weiter fort. Aus den Eiern, die er auf den Grund des Meeres ablegt, entstehen die bandförmigen Larven oder Glasfische; sie machen verschiedene Metamorphosen durch, bis sie die Gestalt des Aales, sein Gebiß, rotes Blut u. dgl. erhalten und dann als Jungaale in die Flüsse aufsteigen. So vergehen von der Brautfahrt der Aale bis zum Aufsteigen der Brut etwa zwei Jahre. In unseren Flüssen sind die männlichen Aale viel schwächer vertreten als die Weibchen. Sie zeichnen sich durch einen metallischen Glanz aus, werden aber selten mehr als ao cm lang, haben darum für uns einen geringen wirtschaftlichen Wert. Die weiblichen Aale werden in den vier bis fünf Jahren ihres Aufenthaltes im Süßwasser bedeutend größer. 80 cm Länge und 3—4 Pt. Gewicht sind die Regel. Man fängt aber auch größere Aale bis 294 Dr. Wiese, Das Meer. zu ı m Länge, und ausnahmsweise kann ein fetter Aal bis zu 20o und 30 Pf. wiegen. Vermutlich handelt es sich hier um Weibchen, die aus unerforschten Gründen auf die Hochzeitsfahrt nach der Tiefsee Verzicht geleistet haben (Falkenhorst. „Die Rätsel des Aales“). Heute scheint der Aal nicht mehr so häufig vorhanden zu sein wie früher. Der Holländer Huttyne vermeldet 1747, „daß in Workum in Friesland der Fisch so mannigfach vorkam, daß man seinetwegen zwei bis drei Fahrzeuge unterhielt, die gelegentlich 100000 Pfund nach London überbrachten“. a Tin h) Die Thunäisde. „Der Thunfischfang dauert von Aufgang der Vergilien (Anfang Mai) bis zum Unter- gang des Arcturus (Mitte November), in der übrigen Winterzeit bleiben die Fische auf dem tiefsten Grunde verborgen,“ Plinius, Wo die tropische Sonne noch fruchtbar wirkt auf Sizilien, da blühen und fruchten das ganze Jahr hindurch Haine und Grotten voller Orangen und Oliven, und Feigenbäume und Reben bedecken die Abhänge oft bis zum Meere herab. Zwischen den Weinbergen wächst Getreide, das sehr gutes Brot, aber nicht mehr hinreichend liefert. Felsenrücken und weite Wildnisse von Steingeröllen sind bedeckt mit indischen Feigen, einer phantastischen, gigantischen Art Kaktus, dessen massive Blätter auseinander herauswachsen und pfirsichartige Früchte treiben, von denen die ärmeren Sizi- lianer oft monatelang im Jahre leben müssen, da sie Brot dazu essen können. Diese Kaktuswände und Labyrinthe mit fächer- artig übereinander ausschießenden, 12 bis ı4 Zoll langen Blättern charakterisieren fast alle landschaftlichen Gebilde Siciliens. Für Vieh wächst nichts, höchstens suchen kletternde Ziegen kärgliche Nahrung aus den Felsenklüften zusammen und liefern die nötigste Milch. Rindvieh wird größtenteils von getrockneten Blättern der indischen Feige und türkischen Weizens gefüttert und gibt nur den Reichen mageres, erbärmliches Fleisch. Auf dem Fleisch- II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 205 markte von Palermo kaufen sich die Leute ganze Haufen von ge- wöhnlichen Gartenschnecken oder ein Stückchen Polype (Stern- fisch). Bohnen werden roh gegessen. Im Winter kommt teures Kalbfleisch von Neapel. Ärmere Leute müssen sich jahraus, jahr- ein mit Früchten des Kaktus, Makkaroni, rohen Bohnen und ver- schiedenen Wurzeln behelfen. Fleisch können sie selten bezahlen, höchstens Fisch. Haupternte unter den Bewohnern der ehemaligen „Korn- kammer Roms“, wenigstens für die Küstenbewohner, ist daher die Fischerei. Und hier gibt’s nichts Charakteristischeres und Er- giebigeres als das jährliche Mordfest, zu dem der Thun- oder Thunfischfang Veranlassung gibt. Der Thun, wie wir ihn der Kürze wegen nennen wollen, ist ein in Herden ziehender Raub- und Wanderfisch und erreicht oft eine Größe von 5—7 Fuß in der Länge bei ziem- lich derselben Breite. Vom April an kom- men sie in Zügen: von verschiedener Zahl aus dem Großen Ozean durch die Meer- enge von Gibraltar Thynnus thynnus, Thunfisch. !/,, nat. Größe. (Cuv. Val.) und ziehen an den (Aus „Apstein, Tierleben der Hochsee“. Küsten hin, wo sie Sardinen, Anchovis und Meergewächse für ihre Nahrung finden und unterwegs, an den sardinischen und ligurischen Gestaden, gelegentlich gefangen werden, bis sie, in der Straße von Messina, von der Scylla und Charybdis, den Gegenströmungen aus dem Adriatischen Meere, beunruhigt, um die Küste von Sizilien herum im ruhigeren Wasser, das sie lieben, den Weg nach ihren Sommer- wohnungen im Schwarzen Meer verfolgen. Auf diesem Umwege nun geraten sie in die „Gremächer des Todes“, die man ihnen gebaut hat, um unter den Stichen und Stößen jauchzender, blut- triefender, fanatischer Menschen zu verenden und die Sizilianer mit ihrem substantiellen, kalbartigen Fleische zu ernähren. Schon Monate vorher sind Hunderte von Menschen eifrig be- schäftigt, um die „Gemächer des Todes“ mit den gehörigen Vor- zimmern bereit zu machen. Sie bestehen aus ungeheuren Netzen, die sich wirklich zu vier Wänden zusammenschließen und selbst 296 Dr. Wiese, Das Meer. einen Boden haben. Diese Netze werden von den Bewohnern selbst aus Sparto, spanischem Seegras, und neapolitanischem Hanf bis zu 1500 Fuß Länge, 500 Weite und 50 bis 100 Tiefe verfertigt, und zwar zunächst die Fäden oder Taue dazu in Palermo, die in Solanto zu den verschiedensten Arten und Graden des Setzwerks verwebt werden. Solanto ist eine mit Fischerhütten bedeckte, felsige vorspringende Landzunge mit einem normännischen Schlosse in der Mitte, dem Wohnsitze des jetzigen Eigentümers der „Tonnara“ oder „Ihunfischerei“. Es erhebt sich auf einem vorspringenden Felsen so weit übers Meer, daß man von den Balkons die Fische in dem klaren Wasser schwimmen und in der klaren Luft Siziliens bis zu den liparischen Inseln sehen kann. Vom März bis Juli ist hier alles in vollster Tätigkeit. Die Arbeiter erhalten ihren bestimmten Tagelohn und bestimmte Pro- fite von der Ernte, für deren Gelingen sie demnach alle ihre Kräfte aufbieten. Mit eintretendem warmen Wetter, das bald zur Hitze wird, schlafen sie offen und oft halb nackt auf dem Sande der Meeresküste, von den weichen Lüften wärmer zugedeckt, als wie von unsern Federbetten, neben denen keine friedlichen Meeres- wogen murmeln und plätschern. Anfangs April sind die Netze fertig und werden in groben Booten mit einer gehörigen Menge großer Steine und Korkstücke bereit gehalten, bis das Wasser still und klar ist. Namentlich muß das Meer von den häufig vorkommenden „remas“ oder Unter- strömungen frei sein, weil sonst die Netze nicht, wie erforderlich, senkrecht wie Wände eingesenkt werden könnten. Wächter müssen ununterbrochen in Booten auf dem Meere, auf dem Bauche liegend, dessen untere und innere Bewegung beobachten, bis sie es still finden. Jetzt ruft ein Zeichen alle harrenden Boote herbei, die etwa !/, Meile vom Gestade die Netze senken und zu ver- schiedenen geschlossenen Gemächern vereinigen. Öffnungen, die aus einem in das andere führen, können durch heraufgezogenes Netzwerk von oben her geschlossen werden. Dies geschieht, um’ die Fische aus einem in das andere ziehen zu lassen, hinter ihnen. zu schließen und die ersteren für neue Ankömmlinge wieder zu öffnen. Sind eine gehörige Anzahl endlich im Leva, dem letzten’ der „Gemächer des Todes“ versammelt, so wird der unter dem- selben angebrachte starke Netzboden heraufgezogen und die Ge- fangenen mit ihm. II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 297 Dann aber wird’s nach langer Ruhe desto lebendiger und dramatischer. Ein Signal von den Wächtern her wird der ganzen Volksmasse, die sich weit umher im Kreise auf lustigen Booten, Gondeln und Schiffen aller Art eingefunden, durch eine rote Flagge auf der Turmspitze des Schlosses zutelegraphiert. „Bandiera a Solanto!“ (Flagge auf Solanto) schreit und jubelt es nun weithin über das sonnige Meer und an den Grestaden entlang bis in die höchsten Felsen hinauf. „Bandiera a Solanto!“ Die Fischer oder Schlächter, die bisher in der Ferne warteten, schießen mit fanatischem Geschrei heran. Ihre Spieße oder Har- punen blitzen mit ihren Augen in den braunen Gesichtern um die Wette in der Sonne. Die Boote, Schiffe, Gondeln von Palermo und den Küstenörtern drängen sich zu einem engen Kreise rings- um. Man scherzt und lacht und neckt sich und klettert von Boot zu Boot. Alles ist Leidenschaft und Leben, Aufregung und Feuer. „Lonnara“ ist den Sizilianern, was den Spaniern die Stiergefechte, den Engländern der „Derby-Iag“. Der bewegliche Netzboden im „Gemache des Todes“ wir immer höher und höher gezogen. Die halbnackten, braunen, sehnigen „Schlächter“ stehen oben in ihren Booten und kreischen und schwingen ihre Harpunen wie Besessene. Sie stieren hinunter und sehen ihre Opfer in Verzweiflung klatschen und platschen und immer höher kommen. Zunächst springen in der Regel einige fliegende Fische heraus und suchen durch die Luft zu entkommen, werden aber von dem großen schwimmenden Amphitheater der Zuschauer gefangen. Der Netzboden wird endlich sechs bis acht Fuß unter der Oberfläche befestigt. Das Wasser darüber bedeckt sich mit weißem Schaum, so furchtbar klatschen und peitschen die Gefangenen. Der weiße Schaum färbt sich blutrot. Das klare, blaue Meer umher wird weiter und weiter wie ein Blutmeer. Alles brüllt, schreit, jauchzt, schwingt Mützen, Hüte, Tücher, Flaggen. Wie greuliche Unholde stechen und stoßen die Fischer in den Booten blindlings auf ihre Opfer unten, und werden manchmal von der verzweifelten Kraft von starken Fischen ins Wasser gezogen, bis zwei oder drei Mann sich je eines bemächtigt haben, um ihn heraus- zuziehen. Die Ihune sind furchtbar stark im Wasser, besonders in ihren Todeszuckungen, in denen sie Wasser und Blut weit und hoch umherspritzen. An die Luft, ins Boot geworfen, sterben sie nach einigen gefährlichen Schlägen sehr bald, aber nicht, ohne 298 Dr. Wiese, Das Meer. ihre Mörder vorher mit Blut überspritzt zu haben, mit Blut, das den schreienden, stoßenden, ausweichenden, zuspringenden Har- puniern unter dem klarsten, blauen Himmel im hellen, stechenden Sonnenschein aus Gesicht und Haar an den braunen Leibern herunterströmt. Das Blutvergießen und der fanatische Kampf in der Mitte ist von einem fanatischen Kreise jauchzender Zu- schauer eingerahmt. Ein furchtbares eigentümliches Jagdbild, das Augen, die nicht daran gewöhnt sind, nicht so leicht wieder ver- wischen können. Nicht minder bedeutend als der Fang des eigentlichen Thun- fisches ist der der Makrelen. Dieser Fisch (le macquereau, le sansonnet, il scombro, the marke rel) hat hinter den beiden größeren Rücken- flossen und hinter der großen Analflosse nur je Scomber scomber. Makrele. '/, nat. Größe. (Day.) fünf kleine Nebenflossen, (Aus „Apstein, Tierleben der Hochsee“,) während der Thunfisch deren acht bis neun hat; er findet sich in allen europäischen Meeren und vereinigt sich, wie der Thunfisch, zur Laichzeit in großen Zügen. Die Hauptfischerei der Makrelen ist in den Händen der Franzosen bei Dieppe und Boulogne und der Nordamerikaner. Auch die Engländer betreiben diesen Fang an ihren Küsten, und die Fischer an der Küste von Suffolk gewannen einmal durch ihn in wenigen Wochen 14000 £. Gewöhnlich werden die Makrelen sogleich auf dem Schiffe ein- gesalzen (Schleiden). Von geringerer Bedeutung, obwohl immer noch einen wichtigen Gegenstand des Fischfangs abgebend, ist die Bonite des Mittelmeers, die Amia der Alten und die gefährlichste Feindin der Sardellen; sie erscheint häufig auf den Fischmärkten Italiens. Dagegen liefert die Bonite der Tropen, die furchtbarste Verfolgerin der fliegenden Fische, nur ein wenig schmackhaftes, oft geradezu schädliches Fleisch. ZEEXZS 7, Die deutsche Hochseefischerei. „Herrschet über die Fische des Meeres .. .“ 1. Moses, I, 28. Deutschland hat nächst England die längste, die Nordsee be- grenzende Küste; in ihrer Nähe liegen die vorzüglichsten Fisch- gründe; sie ist mehr als die englische zur Hochseefischerei mit dem Grundschleppnetz geeignet, und dennoch nahm Deutschland lange Zeit hindurch nicht teil an der Ausbeutung der Nordsee, des deutschen Meeres, wie es selbst Engländer nennen; es überließ es diesen, für ihre Nation ein schönes gesundes Nahrung's- mittel sozusagen vor seiner Tür zu gewinnen, sowie einen Erwerbs- zweig auszubilden, der einem nicht geringen Teil der Bevölkerung zu Brot und Wohlstand verhalf. Das ist, Gottlob, nunmehr anders geworden. Die deutsche Hochseefischerei und der deutsche Fischhandel haben im Laufe der letzten ı5 Jahre eine ganz hervorragende, früher kaum ge- ahnte Entwicklung erfahren, die lediglich der Einführung des Dampf-Hochseefischereibetriebes und der erfreulicherweise in immer weitere Kreise eindringenden Erkenntnis des hohen Wertes der Seefische als Volksnahrungsmittel zu danken ist. Heute sind, um nur einige Zahlen zu nennen, mehr als 130 Hochseefischerei- Dampfer mit dem Fang der Seefische beschäftigt. Über zwölf Millionen Mark Wert repräsentieren die Fische, die auf den Markt kommen. Die Hauptplätze für den Fischhandel sind Hamburg, Altona, Nordenham, Bremerhaven und besonders Geestemünde mit seinem gewaltigen Fischereihafen. Die Fahrzeuge, mit denen die Dampfhochseefischerei betrieben wird, sind sehr seetüchtige Dampfer, die in ihrer äußeren Form und Takellage einer Jacht nicht unähnlich sind, Ihre Länge be- trägt 30—33 m, die Breite 5—6 und die Tiefe 2—3 m. Besetzt u 300 Dr. Wiese, Das Meer. sind die Dampfer mit dem Kapitän, einem Steuermann, zwei Maschi- nisten, dem Koch, Netzmacher, drei bis vier Matrosen und einem Heizer. Der Dienst auf dem Fischdampfer gehört zu den beschwer- lichsten der heutigen Seefahrt und erfordert in allen Chargen einen ganzen Mann. Diejenigen Seeleute, die die Fischdampfer bedienen, zählen zu denen, die die Seefahrt von ihrer rauhesten Seite kennen lernen und werden daher zu wetterfesten Seefahrern ausgebildet, deren Stand sonst bei der Dampferfahrt immer mehr zusammen- schmilzt. Matrosen, die ihre Ausbildung auf der Fischdampferflotte genossen haben, sind auch als tüchtige und brauchbare Seeleute bei der Kaiserlichen Marine geschätzt. Auf kleinem Fahrzeug auf ° hoher See, bei anstrengender Arbeit mit dem schweren Fischerei- gerät und im steten Kampf mit Schwierigkeiten und Gefahren aller Art, werden ihre Muskeln gestählt und ihnen die besten see- männischen Eigenschaften anerzogen, ihr Charakter zur selbstbe- wußten Handlung gebildet. Der Seemann, der an Bord eines Fisch- dampfers seine Schuldigkeit tut, wird es auch verstehen, sich in anderen Branchen der Seefahrt, in denen das Netz nicht gerade die Hauptrolle spielt, mit Umsicht zu benehmen. Das Bestreben, möglichst viele Fische zu fangen und zu diesem Zwecke eine möglichst große Fläche desMeeresbodens mit dem Netz zu bestreichen, ließ das Grundschleppnetz zu einem außerordentlich großen und schweren Fischereigerät werden, dessen Handhabung die volle Arbeitskraft und Aufmerksamkeit der ganzen Besatzung des Dampfers erfordert. Bei dem Aussetzen und Einholen desselben wird unter Umständen sogar das Maschinenpersonal mit herange- zogen, und jeder Mann hat bei diesem Manöver seinen bestimmten Posten (vgl. Hafenmeister F. Duge, „Die Dampfhochseefischerei in Greestemünde“). | Nachdem der Dampfer den zu befischenden Grund erreicht hat, und das Netz zum Aussetzen klar gemacht ist, d. h. die das- selbe schleppenden Leinen und sonstigen Vorrichtungen in Ord- nung gebracht und das hintere Ende geschlossen worden sind, be- schreibt er mit geminderter Fahrgeschwindigkeit einen Bogen, während dessen das Aussetzen des Netzes innerhalb des beschrie- benen Kreises erfolgt, um Netz und Tauwerk von der Schiffs- schraube frei zu halten. Zunächst wird der Sack (Steert) über Bord geworfen; sobald derselbe nach hinten ausgetrieben ist, löst man das vordere Ende des Baumes, hebt den Bügel an und läßt II. Abschnitt, Das Leben im Meere. 301 ihn von dem sich aufblähenden Netz über Bord reißen. Infolge des Fortganges des Schiffes treibt das über Bord geworfene Ende des Baumes sogleich vom Schiffe ab und steht der Baum bald rechtwinkelig zur Schiffswand. Dies ist der Moment, auch das bis dahin festgehaltene hintere Ende fallen zu lassen und mit dem Ablassen der Schleppleine von der Winde zu beginnen. Das Netz sinkt jezt an den Grund, so wie die Schleppleine abrollt. Nach- dem etwa die dreifache Länge der Wassertiefe abgelaufen ist, hält man die Leine fest, indem die Dampfwinde gebremst wird, und befestigt sie mittels einer Kette an großen eisernen Bolzen oder dem Roller vor der Winde, um die letztere zu entlasten und vor Beschädigungen zu schützen, wenn durch Festgeraten des Netzes anı Meeresboden Stöße entstehen. Das Aussetzen des Scherbretter- netzes erfolgt in ganz ähnlicher Weise. Das Ablassen der beiden Schleppleinen geschieht, da beide nebeneinander auf der Winden- trommel aufgewickelt sind, in genau gleichmäßiger Weise, damit von beiden die gleiche Länge über Bord kommt und die Scheer- bretter in gleicher Entfernung vom schleppenden Dampfer sich am Grunde befinden. Ist das Netz richtig an den Grund gebracht, so handelt es sich darum, es in gleichmäßigem Tempo über denselben hinweg zu schleppen, um zu verhüten, daß es nicht durch zu schnelles Fahren sprungweise sich vorwärts bewegt und dabei zeitweillg den Grund nicht berührt, oder daß sich bei zu langsamem Fahren das Grundtau zu sehr in den Grund einwühlt und die Fische auf- scheucht, die dann, wenn das Netz sich nur langsam vorwärts be- wegt, Gelegenheit zum Entweichen finden. Auch soll verhütet werden, daß das Netz in losem schlickigem Boden zu tief eingreift, so daß sich der Sack derartig mit Schlick füllt, daß der Dampfer das Netz nicht mehr schleppen kann. Die Regelung der Fahr- geschwindigkeit, die sich nach Strom-, Wind-, Bodenverhältnissen und der nachgestellten Fischart richtet, ist eine Aufgabe des Ka- pitäns, der er die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden hat. In der Regel wird die Maschine so dirigiert, daß der Dampfer das Netz mit einer Geschwindigkeit von 2 bis 2!/, Knoten, d. i. 60 bis 80 Meter in der Minute, über den Grund schleppt. Unter stetiger Beobachtung der Wassertiefe und der Grundbeschaffenheit, die von Zeit zu Zeit durch das Tieflot festgestellt werden, dauert der Netz- zug vier bis sieben Stunden, je nach dem Fang, der Witterung, 302 Dr. Wiese, Das Meer. Jahreszeit und den Bodenverhältnissen, wenn nicht das Festgeraten des Netzes in Wrackstücken, Felsen usw. ein früheres Einholen bedingen. Das Einholen des Netzes geschieht mittels der Dampf- winde und ist bei gutem Wetter und ruhiger See eine interessante Arbeit, denn mit Spannung sieht man dem Fangresultate entgegen. Bei stürmischem Wetter und hoher See ist das Manöver jedoch sehr häufig mit Gefahren aller Art für Schiff und Mannschaft ver- bunden, wenn das schwere Schiffereigerät gegen und auf das heftig arbeitende Schiff oder dessen Schraube geworfen wird. Nachdem der Baum resp. die Scheerbretter mit der Dampfwinde an Deck gebracht und befestigt sind, holt die Mannschaft das Netz mit den Händen ein, soweit der schwere, mit dem Fange angefüllte Sack dies gestattet. Der letztere wird dann mittels einer Schlinge und der Dampfwinde hochgehoben und, über Deck hängend, am unteren Ende geöffnet und entleert. Darauf wird zur Vermeidung jeden Zeitverlustes das Netz sofort wieder ausgesetzt, wenn nicht er- forderlich gewordene Reparaturen es bedingen, daß man das zweite stets in Bereitschaft gehaltene Netz in Benutzung nimmt. Jeden- falls besteht stets das Bestreben, das Netz sobald als möglich wieder an den Grund zu bekommen, sobald sich derselbe als ergiebig er- wies und man nicht eine andere (Gegend für den nächsten Netz- zug aufsuchen muß. Es gibt sogar Zeiten, zu denen die Dampfer nur bei Nacht fischen, weil der Tagesfang nicht lohnt. Dies ist in der Regel der Fall, wenn durch lang anhaltendes ruhiges Wetter das Wasser sich bis zum Grunde vollständig geklärt hat und die Fische das herannahende Netz zu früh gewahren; dann ergeben oft die Tageszüge nicht ein Viertel des Nachtfanges. Im Hoch- sommer werden Netzzüge möglichst so eingerichtet, daß der Fang bei Nacht oder früh am Morgen dem Netze entnommen wird, um die Fische nicht der Sonnenglut auszusetzen. Die von den Fischdampfern hauptsächlich gefangenen Fisch- arten sind: Schellfisch, Kabliau, Schollen, Steinbutt, Seezungen, Tarbutt, Roche, hauptsächlich‘ Dornroche, Knurrhahn, Seehecht, Heilbutt, Haifisch, Rotzunge, Katfisch, Lengfisch, Köhler, Pollack, Stör, Makrele, Seeteufel und Rotbarsch. Außerdem kommen in geringen Mengen oder einzelnen Exemplaren noch eine ganze Reihe von Fischen vor. Das durchschnittliche Gesamtfangergebnis einer Reise beträgt 150— 200 Zentner, erreicht vereinzelt 300—400 Zentner und aus den DET EEE AU TE I ch a ee ze Ze z I. Abschnitt, Das Leben im Meere, 303 Grewässern bei Island herum werden häufig 500—600 Zentner heim- gebracht. Das größte Fangergebnis von diesen letzten Gründen betrug 900 Zentner Fische. Zur Erlangung des Fanges sind je nach der Entfernung der Fangplätze, den Witterungs- und den Fangverhältnissen und oft auch dem Glück, das den Dampfer be- günstigt, Reisen von verschiedener Dauer erforderlich. Die in der Nordsee und dem Skagerrack fischenden Dampfer bleiben im Sommer gewöhnlich sechs bis acht Tage, im Winter neun bis zwölf Tage in See. Die Reisen nach Island dauern in der Regel ı3—ı6 Tage. Die längste Zeit der Reisen nimmt sehr oft die Ausreise und das Aufsuchen der Fischgründe in Anspruch. Hat der Dampfer erst Fische gefangen, so ist es sein Bestreben, die- selben so bald als möglich an den Markt zu bringen, und selbst wenn er das erhoffte Quantum noch nicht erreicht hat, so unter- bricht er doch häufig seine Reise, um mit frischer Ware an den Markt zu kommen, da der Ertrag sehr oft mehr von der Qualität der Fische, als von der Quantität abhängt. Dieser Umstand hat es auch verursacht, daß man auf den deutschen Fischdampfern auf die Behandlung der Fische an Bord eine ganz besondere Sorg- falt verwendet. Sogleich nach dem Fange werden die Fische geschlachtet, entweidet und durch Auswaschen mit Seewasser gründlich ge- reinigt. Dieses Verfahren ist für die Konservierung der Fische von der allergrößten Bedeutung. Die leicht zersetzbaren Einge- weide, namentlich die Leber, die bei der Aufbewahrung den Fisch in kurzer Zeit verderben oder wenigstens ihm den Wohlgeschmack rauben würden, werden sofort entfernt und das Blut abgewaschen, worauf der Fisch unverzüglich in zerkleinertem Eis verpackt wird, nachdem er nach Arten und Größe sortiert ist. Um auch diese Arbeit nach Möglichkeit zu beschleunigen, hat hierbei jeder Mann der Besatzung seine besondere Verrichtung zu besorgen, bei der er es deshalb zu einer bewundernswerten Fertigkeit bringt. So schneidet beispielsweise einer die Fische nur auf, während ein anderer das Herausnehmen der Eingeweide und ein dritter die weitere Reinigung besorgt. Bei der dem Schlachten folgenden Spülung erfolgt dann noch eine Prüfung der Fische durch den Steuermann in Bezug auf die richtige Sortierung und gründliche Reinigung, worauf die gut befundenen Fische in Körben in den Fischraum gebracht und verpackt werden. Jede Fischsorte kommt 304 ü Dr, Wiese, Das Meer. für sich in eine Abteilung, d. h. es werden große, mittel und kleine Schellfische, große und kleine Schollen, Steinbutt usw. getrennt von einander in den verschiedenen Fächern gelagert. Bei der Verpackung ist man bemüht, die Fische sowohl gegen die Be- rührung mit den Holzwänden, als großen Druck zu schützen. Zu diesem Zwecke wechseln Eisschichten und Fische mit dazwischen gelegten, an den Seiten auf Leisten ruhenden, durchlöcherten Brettern ab. Um den Zutritt der Luft und das Schmelzen des Eises möglichst zu beschränken, wird die obere Eisschicht noch mit einer Cocosdecke bedeckt und die Luke zum Fischraum nur in dringendsten Fällen geöffnet. Ist die Ladung im Markthafen gelöscht, so wird der Fischraum gründlichst gereinigt durch Aus- spülen und Ausbürsten mit Wasser, eventuell unter Anwendung einer Desinfizierung'sflüssigkeit, die zu diesem Zwecke von einer Geestemünder Apotheke besonders hergestellt wird. Nach ge- höriger Lüftung und Füllung des neben dem Fischraum liegenden Eiskellers werden dann die Räume bis zur Aufnahme des neuen Fanges wieder geschlossen. Durch ganz vorzügliche Transporteinrichtungen ist ein sehr ansehnlicher Versand der frischen Ware über das ganze Binnen- land bis nach Wien hin ermöglicht. Immer mehr und mehr bricht sich in den weitesten Kreisen der deutschen Bevölkerung die Er- kenntnis von der Nährkraft und der Bekömmlichkeit der Seefische Bahn, und es ist zu hoffen, daß durch die Auffindung neuer Fisch- gründe und die größere Kenntnis der Lebensbedingungen der Meer- bewohner einem Stillstande oder gar Rückgange der Hochsee- fischerei vorgebeugt und dem aufblühenden deutschen Gewerbe die Möglichkeit zu weiterem Aufschwung gegeben wird. Die bis- herige Entwicklung ist um so mehr zu begrüßen und ihre Fort- dauer um so wünschenswerter, als die Seefischerei nicht nur, wie bemerkt, ein vortreffliches Volksnahrungsmittel liefert, sondern auch Tausenden von Existenzen direkt und durch zahlreiche Gewerbe und industrielle Betriebe, wie Fischräuchereien, Fischkonserve- fabriken, Fischguanofabriken, Transiedereien, Marinieranstalten, Netzmachereien usw. indirekt reichen Lehn bringt und endlich unserer Marine ein wertvolles und unentbehrliches Menschenmaterial zur Verfügung stellt. — N — - 23: Die Riesengarde des Ozeans. „Die Walfischerei ist der unbedingt vor- züglichste Zweig aller kaufmännischen Schiff- fahrt. Zugleich ist derselbe im Frieden das am besten geeignete Mittel, den Mut, die Aus- dauer und den Unternehmungsgeist des See- manns im wahrsten und hellsten Lichte zu zeigen,“ Fr D. Bennet. Der Fisch ist die höchste Erscheinungsform der eigentlichen Seewesen. Auf der höheren Stufenleiter findet man auch noch Tiere, die im Ozean leben; aber eine sehr bestimmte Scheidelinie trennt diese von den erstern. Ihre äußere Bildung sowie ihre Gewohnheiten nähern sie den Fischen mehr oder weniger; sie unterscheiden sich aber von ihnen durch ihre Organisation, die die der Landtiere ist. Der Ozean ist nicht ihr Element, sondern nur ihr Wohnsitz. Sie finden hier ihre Nahrung; indes zur Ver- richtung der wichtigsten Lebenstätigkeit, des Atmens, bedürfen sie der freien Luft; diejenigen, die Eier legen, gehen in der Tagezeit ans Land und vertrauen ihre Eier dem Sande des Ufers an. Mit einem Worte, sie sind mehr die Gäste als die Angehörigen des Ozeans. Sie bilden den Übergang zwischen der neptunischen Schöpfung und der Landschöpfung:. Viele täuschen zunächst und haben lange den oberflächlichen Beobachter und den großen Haufen getäuscht, der unter dem Namen Fische alle im Wasser lebenden Geschöpfe zusammenfaßt. In der Tat sind die Waltiere ausschließlich für das Schwimmen eingerichtet und haben daher ganz dieselben Formen wie die Fische; der Körper, der wie aus einem (Gusse erscheint, spitzt sich am Hinterteile zu einem zweizackigen Schwanze zu, und er hat auch wirkliche Brustflossen ; erst nach genauerer Untersuchung entdeckt man Ähnlichkeiten mit den großen Landtieren. Man bemerkt Dr. Wiese, Das Meer. 20 306 Dr. Wiese, Das Meer. dann, daß die Haut der Waltiere frei von Schuppen, zuweilen sogar mit einzelnen dicken und starren Haaren besetzt ist. Die Flossen sind fleischig; ihr Gerüst besteht aus gegliederten Knochen, gleich denen der Füße und Hände der Landsäugetiere, die durch einen zusammengewachsenen Ellbogenknochen und Arnispindel sich an ein, allerdings sehr kurzes, aber nichtsdestoweniger deutliches Schulterblatt ansetzen. Überdies findet man an ihrem Skelette sämtliche Hauptbestandteile der großen Landtiere. Nur die Hinter- glieder fehlen, und es finden sich nur Spuren eines knöchernen, ganz in der Fleischmasse verborgenen Beckens. Greht man weiter in der Untersuchung ihres Organismus, so vervielfältigen sich die Bande, die die Waltiere mit den höheren Vierfüßlern verknüpfen und treten deutlicher hervor. Sie haben rotes und warmes Blut, von zweierlei Art: Arterien- und Venen- blut; ihr Atmen geschieht vermittelst Lungen durch unmittelbares Einsaugen der Luft; ihre Zirkulations-, Nerven- und Verdauung's- systeme sind ebenso vollständig wie bei den uns bekannten fleisch- und pflanzenfressenden Tieren. Die Weibchen säugen ihre Jungen, und ein Beobachter, der mehrmals Walfischmilch gekostet, ver- sichert, daß sie von Kuhmilch nicht wesentlich verschieden sei (Mangin, „Der Ozean“). Die Waltiere sind in fast allen Teilen des Ozeans verbreitet, aber unter den etwa fünfzig Arten, aus denen diese Klasse besteht, haben einige ziemlich beschränkte Wohn- bezirke. Die pflanzenfressenden (Manis, Dugongs usw.), die von Tang leben, halten sich in den weniger tiefen Teilen auf, die der Vegetation günstig sind, besonders in der Nähe der Inseln und der Engen, die die Inseln miteinander bilden. Eine Art derselben findet man zwischen den Aleutischen Inseln, die Dugongs zwischen den Molukken, die Manatis teils an der afrikanischen, teils an der amerikanischen Küste. Nicht so verhält es sich mit den Bläsern, die in den großen Meeren leben; indes haben sie auch umgrenzte Wohnbezirke, deren Ausdehnung im Verhältnis zur Größe und Stärke jeder Art zu stehen scheint. Die Flußbläser wagen sich nicht bis ins Meer; der Walfisch ist auf die nördlichen Meere be- schränkt, wie der Kapwalfisch auf die südlichen Meere; die Nord- kaper scheinen bestimmte Meere zu bewohnen, nur der Pottfisch würde sich in allen Meeren ohne Unterschied finden, aber es gibt nur eine Art desselben. Die Delphine und die ihnen nahestehenden Gruppen haben jede einen bestimmten Wohnbezirk im Atlantischen EZEnE 2 II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 307 Ozean nördlich oder südlich, im Mittelländischen Meere, im Stillen Meere oder in den Meeren, die Amerika oder Australien bespülen. Ungeachtet der Größe vieler hierher gehörigen Tiere leben dieselben doch meistenteils von verhältnismäßig kleinen See- geschöpfen. Besonders auffällig ist dieses Mißverhältnis bei den großen Bartenwalen (balaine franche, right whale), deren Nahrung ausschließlich aus ganz kleinen Weichtieren besteht. Beim Fressen schwimmen sie mit etwa ı2 Fuß hoch und ı6 Fuß lang geöffnetem Rachen, in das mit hunderttausenden jener kleinen „Wealfischaaß* 6 i \ Waikanone mit Harpune am Bug eines Fangdampfers, genannten Geschöpfe erfüllte Wasser einströmt und beim Schließen des Rachens ausströmt; von den Barten gleichsam filtriert, läßt es die kleinen Pteropoden in der Rachenhöhle zum Verschlucken durch den eugen Schlund zurück. Die dem arktischen Bartenwal dienenden Tierchen sind etwa ?°/, Zoll lang und färben in tiefen, breiten, meilenlangen und dicht gedrängten Zügen das Meer schmutzig-olivengrün. Von dem der Art nach verschiedenen ant- arktischen Bartenwal werden Tierchen verschlungen, die gar nur 3—4 Linien lang sind und in ihren unermeßlichen Zügen das Meer trüb-rötlich erscheinen lassen. Die außerordentlich schnell schwim - 209% 308 Dr. Wiese, Das Meer. menden Finnwale dagegen nähren sich größtenteils von ganz kleinen Fischen, Heringen und Sprotten, deren Zügen sie daher auch beständig folgen. Von den Delphinoden leben die meisten als gefährliche Raubtiere von kleineren oder größeren Fischen, besonders aus den Familien der Heringe und Stockfische. Nur die großen (cachalot, spermwhale) haiten sich, wie es nach neueren Beobachtungen scheint, ausschließlich an die Riesensepien. Fast alle Stubennaturforscher haben in ihren Werken be- hauptet, daß die Bläser, wenn sie, um zu atmen, an die Oberfläche des Wassers kämen, große Wasserstrahlen ausspritzen, wodurch sie ihre Gegenwart kundgäben. Die Tatsache wird allgemein an- genommen, und viele Zeichnungen, auf denen Walfische oder Pott- fische dargestellt werden, zeigen sie uns mit dem unumgänglichen, von der Spitze ihres Kopfes ausgehenden Wasserstrahle Nach der Versicherung solcher Beobachter, denen Waltiere anderwärts als in Büchern und naturwissenschaftlichen Museen zu Gesichte gekommen sind, stoßen die Tiere nicht Wasser aus, sondern Wasser- dampf, wie alle Säugetiere mit ihrem Atmen; nur verdichtet dieser Wasserdampf bei der Berührung, mit der frischen Luft sofort zu einer dichten Wolke und sodann zu einem feinen Regen. Das behauptet namentlich Scoresby, und sein Zeugnis ist bestätigt worden von denen, die Jagden auf Walfische und Pottfische mit- gemacht und hunderte dieser Tiere beobachtet haben. Das Nasenloch findet sich auch bei den. pflanzenfressenden Waltieren, indes an der vorderen Spitze oder am oberen mittleren Teile der Schnauze. Die Waltiere, die, wie man sieht, weit über den Fischen durch ihre künstliche Organisation stehen, der eine ungleich größere Gefühlstätigkeit und Empfänglichkeit entspricht, unterscheiden sich von denselben nicht weniger durch die Ent- wicklung ihres Verstandes. Ein bedeutend ausgebildeter geselligeer Trieb scheint einer der charakteristischen Züge ihrer Natur zu sein, und dieser Instinkt offenbart sich bei einigen Arten durch die starke und gegenseitige Zuneigung der Muttertiere und ihrer Jungen. Dieselbe Anhänglichkeit findet sich zwischen den Männchen, und nimmt wie die mütterliche Liebe einen rührenden Charakter an, da sie die Oberhand über den Trieb behält, der bei den meisten Tieren und selbst beim Menschen alle anderen beherrscht: den Frhaltungstrieb. Auf Neufundland gibt es einen Hafenort, der wegen seiner ' VIREN II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 309 Bedeutung für den Walfang den Namen Balaena erhalten hat. Hier werden die meisten Wale gelandet, die von amerikanischen Fischern im nördlichen Atlantischen Ozean aufgebracht werden. Ein Be- amter des Museums in Brooklyn, Dr. Lucas, hat dort eine grobe Anzahl von Walen genauen Messungen unterworfen, durch die man mit einer Zuverlässigkeit, wie wohl nie zuvor, über die Größe dieser Tiere unterrichtet wird. Dr. Lucas war 1903 vom Nationalnıuseum der Vereinigten Staaten :nach Neufundland entsandt worden, um we Kopf eines harpunierten Finwals. das Skelett eines großen „Schwefelbauches*, wie man die Riesen- wale in Amerika nennt, heimzubringen und für die Weltausstellung -in St. Louis herzurichten. Auf der Station Balaena machte nun Lucas zunächst die Bemerkung, daß die dorthin gebrachten Wale sichtlich von außerordentlicher Größe waren, während man doch annehmen mußte, daß die Tiere langsam wachsen und viele Jahre brauchen, um ihre volle Größe zu erreichen; demzufolge mußte man dann auch erwarten, kleine und große Formen zu finden. Das 210 Dr. Wiese, Das Meer. war nun eben nicht der Fall. Ein Weibchen von 64 Fuß Länge war das kleinste der Tiere. Im übrigen erwies sich der Unterschied zwischen den alten und den ganz sicher noch jungen Walen als un- beträchtlich. Zehn Weibchen maßen mit der genannten Ausnahme zwischen 20!/, und 20], m. Von vierzehn männlichen Walen war le der kleinste etwa 20, der größte etwa 22 m lang. Freilich wurde dem Forscher von den Walfängern berichtet, daß man gelegentlich auch Buckelwale von nur 7'/,—8 m Länge erlegt hätte. Diese waren aber noch Säuglinge, und man kaun wohl annehmen, daß die jungen Riesenwale schon im Alter von etwa einem Jahre eine Länge von 9 bis 10 m besitzen. Aus allem ergibt sich, daß die Riesenwale in der ersten Zeit ihres Lebens äußerst schnell wachsen, während sich dann später die Zunahme wesentlich verlangsamt. Bezüglich der Größe erwachsener Wale bemerkt Dr. Lucas, daß, abgresehen von den wilden Erzählungen von Schiffern und 'Abenteurern, die Länge des Riesenwals (Balaenoptera musculus) in guten Lehr- büchern auf 25'j, bis 28!/, m angegeben wird. So sehr häufig können jedoch diese Leviathane nicht sein, denn sonst hätte wohl auch Dr. Lucas in Neufundland während seines längeren Aufent- haltes daselbst einen solchen zu Gesicht bekommen. Die Länge eines Wales wird übrigens nicht von der Schwanzspitze, sondern vom Einschnitt der Schwanzflosse bis zur Nasenspitze gemessen. Auch die in Balaena untersuchten Wale von etwa 22 m waren jedenfalls nicht nur ausgewachsene, sondern auch bereits alte Tiere, wie namentlich die Beschaffenheit ihrer Wirbel auswies. Dr. Lucas zieht infolgedessen den Schluß, daß man die Länge der Riesenwale überschätzt und eher unter als über 24 m zu veranschlagen habe. Die Ausrottung der Wale schreitet im nördlichen Atlantischen Ozean unaufhaltsam vorwärts. Nach neuen Berichten der Walfischer in Neufundland sind im Jahre 1904 im ganzen 1270 Wale gefangen, gegen 859 inı Jahre 1903. Diese Tatsache scheint, der Behauptung, daß die Wale abnehmen, zuwiderzulaufen, aber 1904 waren elf Dampfer beim Walfang tätig, 1903 nur vier Dampfer, so daß im ersteren Fall auf jeden Dampfer 116, im zweiten 215 Wale ent- fielen. Es ist auch garnicht anders zu erwarten, als daß die Wale schnell abnehmen und vielleicht sogar aussterben müssen. Ihre Fortpflanzung ist nicht stark genug, um einen entsprechenden Nachwuchs an Stelle der durch die forcierte Jagd getöteten Tiere schaffen zu können. Es könnten allerdings auch andere Gründe .-, "PRIER II. Abschnitt, Das Leben im Meere, 311 im Spiele sein, indem sich die Wale aus’den Gegenden, wo sie am meisten verfolgt werden, zurückgezogen haben. Immerhin ist ein Fang von fast 1300 Walen in dem beschränkten Meeresgebiet um Neufundland eine ganz ungeheuerliche Leistung, die bei weiterer gleichartiger Fortsetzung zur raschen Vernichtung dieser großen Meeressäugetiere führen muß. Die Fischer selbst geben begreif- licherweise niemals zu, daß der Grad ihres Betriebes irgendeinen Einfluß auf die Verminderung der von ihnen gejagten Tiere aus- übe. Es wird einfach behauptet, daß die Wale, Seehunde und ARE Ablösen der Barten, aus denen das Fischbein hergestellt wird. Fische ihre Schlupfwinkel zu finden wissen, wo sie sich vor der Ausrottung schützen. Außerdem hat die Verminderung der Wale wahrscheinlich eine Wirkung auch auf die übrige Fischerei, und in Norwegen haben die Fischer es durchgesetzt, dal» der Walfang in gewissen Meeresteilen überhaupt verboten worden ist. Die Wale vertilgen ungeheure Massen von kleinen Krebstieren, die zur Familie der Asseln gehören und ihrerseits wieder Feinde der Fisch- brutsind. Aus diesem Grunde könnte Überhandnahme durch Vernich- tung der Wale zu einer ernsten Schädigung der Seefischerei führen. 372 Dr. Wiese, Das Meer. Nur vereinzelt findet man an der Küste Norwegens noch die Überreste einer Jagdmethode, die in früheren Zeiten dort allgemein gewesen ist. In zwei bis drei kleinen Siedlungen in der Umgegend von Bergen wird der Wal noch heute mit Pfeil und Bogen erjagt und erlegt. Im übrigen werden für den Fang kleine, aber see- tüchtige Dampfer benutzt. Im Steven derselben befindet sich eine kleine Kanone, mit der eine Harpune abgeschossen wird; diese Harpune ist eine schreckliche Waffe: In ihrer Spitze ist ein hohler Raum, der mit Sprengstoff gefüllt ist, der sofort explodiert, wenn er auf Knochen trifft. Hinter dieser Granate sind große Widerhaken angebracht, die so eingerichtet sind, daß sie beim Eindringen der Harpune in den Walfisch noch zusammengelegt sind, aber sofort durch den mächtigen Ruck des getroffenen Tieres nach allen Seiten aufspringen. Am hinteren Ende ist diese Harpune mit einer sehr langen und starken Leine am Dampf- schitf befestigt. Mit dieser mörderischen Waffe versehen, kreuzt nun der Dampfer im Meere umher, oben im Vordermast ist eine Tonne angebracht, in der sich ein Mann zum Ausguck aufhält und nach den hohen wohlbekannten „Wasserstrahlen“ ausspäht, durch die sich der Wal bemerkbar macht. Hören wir nun die Schilderung, die Axel Ohlin, der im Sommer 1890 auf dem der Walfänger- gesellschaft Finnmarken zehörenden Dampfer „Finn“ zoologischer Studien halber eine Fahrt unternommen hatte, uns in so überaus anschaulicher Weise über das in allen seinen Phasen so aufregende Schauspiel gibt. Sind die erwähnten Wasserstrahlen bemerkt worden, so ent- steht an Bord Leben und Bewegung. Die Kanone wird schnell geladen. Der Maschinist heizt, daß das ganze Schiff zittert, in einer halben Stunde hat das Schiff die Dampfsäule erreicht, die sich jedoch von alten Walen herrührend erwiesen, die allein schwimmen; da es infolge ihrer Scheu schwer hielt, innerhalb gehöriger Schußweite (20 Klafter) zu kommen, wurden nur einige Versuche gemacht, ihnen nahe zu kommen; sie mißlangen aber alle, so daß sie schließlich aufgegeben wurden. Eines Mittags erscholl wieder der Ruf aus dem Ausguck: „Wal in Sicht!“ Diesmal war es kein vereinzelter Wal, sondern eine ganze „Schule“ von ıo bis ı5 Stück, die das Schiff buch- stäblich umringten, und diese Riesen des Meeres machten auf den II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 313 Beschauer einen eigentümlichen, unauslöschlichen Eindruck, wie sie in einiger Entfernung: neben dem Schiffe dahinschwammen. Indem sie erst. den oberen Teil des Kopfes über Wasser hoben, bliesen sie unter hörbarem Geräusch eine ı5 bis 20 Fuß hohe Dampfsäule durch die Nasenlöcher; diese verbreitete sich an der Spitze zu einer weißlichen Wolke und löste sich allmählich auf, darauf verschwand der Kopf, und auf dem Wasserspiegel wälzte sich wie ein schwarzes Riff der kolossale Rücken mit der für die Wale charakteristischen spitzen hohen Flosse. Nach Verlauf einer halben Minute verschwanden die Tiere wieder unter Wasser. Jeder Wal wiederholt diese Bewegung jede fünf bis sechs Minuten, und diese Zeit muß der Schütze ausnutzen. Eine spannende Jagd folgte. Der Ausguck, der von seiner Höhe bequem die Bewegungen der Wale in dem klaren und durchsichtigen Wasser verfolgen konnte, übernahm das Kommando. Volldampf! Vorwärts! Halt! Rückwärts! lösten einander in schneller "Folge ab, und der Rudergast hatte alle Mühe, in der hohen See das Schiff mit hinreichender Geschwindigkeit bald nach Steuer- bord, bald nach Backbord zu lenken. Bald kommt der Schütze einem großen Wale auf Schußweite nahe. Er drückt auf die Feder, aber der Schuß versagt. Innerhalb weniger Minuten taucht jedoch wieder vorn ein anderer Wal-auf, der der „Finn“ als Vor- schwimmer dient. Ein kräftiger Schuß kracht, der noch lange in den Ohren nachhallt.e. Der erste Laut, der darauf zu hören war, bestand aus einem kräftigen Fluch, den der Schütze aus seinem reichlichen Vorrat wählte, und dessen Anlaß man erst fand, als man die Harpune längs der Rückenfläche des Wals tanzen sah, hier und dort einen Hautfetzen lösend, aber ohne in den Körper einzudringen, weil die Schußweite zu lang geschätzt war und das Gewicht der langen Leine den hinteren Teil der Schußwaffe senkte und die Spitze aufwärts lenkte. Nach diesem Fehlschuß entfloh die ganze Herde mit pfeil- schneller Geschwindigkeit. Keine Zeit war zu verlieren. Die Harpune wurde wieder eingezogen, und bald zeigte der Maschinist an, daß der Dampf die höchste Spannkraft erreicht hatte, so daß er nicht kräftiger zu heizen wagte. „Finn“ zitterte in allen Fugen mit furchtbarer Heftigkeit, dampfte aber vorwärts durch die Sturz- seen, die nunmehr nicht allein über das Deck, sondern auch über den Schornstein spülten. | na 314 Dr. Wiese, Das Meer. Mit dem größten Ernst in seinem wettergebräunten Antlitz kroch der alte Schütze unter die Kanone, kauerte sich in dem engen Raum zusammen, und einer von der Mannschaft feuerte die Kanone ab, die mit einem losen Schuß geladen war. Mit siegesgewisser Haltung erhob sich der Schütze und verkündete - mit vergnügtem Lächeln, daß der Zauber gebrochen sei und daß der nächste Wal, der innerhalb Schußweite käme, unfehlbar er- legt würde. Dank der Dampfsäule, die den Weg der fliehenden Wal- schule markierten, ließ der Weg sich bequem verfolgen, und binnen ein paar Stunden waren die Wale eingeholt. Merkwürdigerweise hatten die Tiere sich schon beruhigt, und der angeschossene Wal mit dem. weißstriemigen Rücken schwamm ruhig und unbekümmert neben „Finn“ daher. Nach vielen Wendungen hin und her fand der Schütze endlich eine passende (Grelegenheit zum Schießen. Einer der größten Wale kehrte der Kanonenmündung seine volle Breitseite zu. Der Schuß krachte, und der Beherrscher der nördlichen Meere trieb scheinbar leblos auf der Meeresoberfläche. Die Dampfwinde wurde klar gemacht; der Koloß kam immer näher, und bald war er nicht mehr als drei bis vier Klafter vom Boote entfernt, als er das eigen- tümliche Schnauben hören ließ und ein vom Blut getränkter Strahl in die Luft emporspritzte. Infolge des unerwarteten Wiederer- wachens des Wales entstand eine gewisse Bestürzung unter den Seebären. Der Schütze ließ wieder einen kräftigen Fluch hören, und der Steward erblaßte, als er sah, daß der Wal des öfteren unter dem Boote verschwand. Die Gefahr, daß das Fahrzeug zum Kentern gebracht oder der Bug von der muskulösen Schwanz- flosse eingeschlagen werde, war augenscheinlich. In derartigen kritischen Augenblicken gilt es, die nötige Ruhe und Besonnenheit zu wahren. Die Fangleine ließ man bis auf 100 Klafter sich abwickeln. Die Maschine wurde gestoppt, und nun blieb nichts anders übrig, als sich vom Wal so lange bug- sieren zu lassen, bis er erschöpft war.: Länger als eine halbe Stunde dauerte die eigentümliche, befremdende Fahrt, über deren Geschwindigkeit keine Klage zu führen war. Ein Schlepp- hamen, den Ohlin hinab ließ, um in dem ruhigen Kielwasser kleine Seetiere zu fangen, wurde zerfetzt, und der Schütze behauptete mit aller Bestimmtheit, daß selbst die Möwe dem Schiff nicht zu II, Abschnitt. Das Leben im Meere. 315 | folgen vermöchte, das vom Wale mit einer Geschwindigkeit von 16—17 Knoten geschleppt wurde. Je länger die Fahrt andauerte, um so langsamer wurde sie. Allmählich ließ sich auch eine ge- _ wisse Erschlaffung in den Bewegungen des Tieres verspüren, und immer schwächer und seltener wurden die Ausatmungen. Die Maschine wurde schließlich auf rückwärts gestellt, und die Ein- holung der Fangleine mittels der Winde begann. Als der Wal sich in einer Entfernung von ıo Klaftern befand, wurde berat- schlagt, ob ihm der Gnadenschuß zu geben sei oder ob die Jolle hinausgebracht und der Koloß „geleicht“ werden sollte, ein oft unternommenes, aber etwas riskantes Verfahren, das darin be- steht, daß man sich ihm zu nähern versucht, um sein Herz mit einem langen Spieß zu durchbohren. Das erste Verfahren wurde gewählt, und nachdem die Kanone abgefeuert und die Harpunen- leine straff gespannt waren, hörte man einen anderen schwächeren Laut, welcher erkennen ließ, daß die Granate explodiert war; ein krampfhaftes Zucken durchzitterte die gewaltige Fleischmasse, und alles war zu Ende. Auf der Walfischstation wird der Wal, der nach oft schwerer Arbeit über hohe See 20 bis 30 Meilen bugsiert wird, verwertet. Selbstverständlich herrscht auf einer solchen Walfischstation ein fürchterlicher Schmutz, und die Luft dort ist auf weite Umkreise stark verpestet; Fremde befinden sich dort selbst bei kurzem Be- suche sehr übel; doch man muß vorsichtig zu Werke gehen, um nicht zu fallen, bald watet man durch Massen verrottender Ein- geweide, bald muß man über kolossale Skeletteile balancieren, unter denen namentlich die mächtigen Kinnbacken bemerkenswert sind. Mit Hilfe eines Dampfkrans wird der Wal dort ans Land ge- zogen, indem eine Trosse an seiner Schwanzflosse befestigt wird, und dann ist er zum Zerlegen bereit. Zuerst wird der mehrere Zoll dicke Speck unter der Haut entfernt, mit einem langen scharfen Messer werden Schnitte der Länge des Tieres nach gemacht, wodurch dann breite Streifen gewonnen werden; am Ende eines solchen wird eine eiserne Kette befestigt und diese "mächtigen Stücke mit Hilfe eines Dampfkrans in die Höhe ge- wunden, während ein Mann mit einem Messer hinterher geht und ‚den noch festsitzenden Speck losschneidet. Darauf wird der Speck in kleinere Stücke zerteilt und in die Trankocherei gebracht. Nach Abschmelzung wird der Tran zum Versand in Tonnen geschüttet. ze 316 Dr. Wiese, Das Meer. Gleichzeitig werden Barten losgeschnitten, die aus zwei bis drei Fuß langen, dreieckigen Scheiben bestehen, die in einer Anzahl bis zu 300 in zwei Reihen längs des Gaumes sitzen und deren innerer Rand in feine Fasern zersetzt ist. Nächst dem Speck geben die Barten den größten Ertrag, dank den verwöhnten modernen Damen, die des Fischbeins für ihr Korsett nicht entbehren können. Die sehr fein zersetzten Hornmassen der Barten haben außerdem | in den letzten Jahren reichlich Verwendung zur Verfälschung von Seide gefunden. Die Knochen werden in den Knochenmüblen gemahlen und zu dem vielbegehrten Knochenmehl verarbeitet. Das nach der Entfernung des Speckes übrigbleibende Fleisch wird zu sehr billigen Preisen (ı Pf. etwa pro Pfund) an die Inselbewohner verkauft, die es sehr hoch schätzen: sie kommen von weither mit großen Booten und beladen diese so schwer wie nur möglich. Hungrige Lappen und Finnen schneiden oft ganze Stücke aus dem Wal heraus und verzehren sie ohne weitere Zubereitung. Im Aus- sehen erinnert das Fleisch- an Rindfleisch, ist aber gröber und infolge des Blutreichtums fast schwarz; als Beefsteak gebraten, ist es wohlschmeckend und ohne Trangeschmack. — Aus alledem geht hervor, daß ein solcher Wal ein nicht geringes Kapital repräsentiert. Der Wert eines Blauwals wird auf ca. 5000 M geschätzt, er richtet sich aber nach Größe und Fettgehalt des Tieres. Von den übrigen Flossenwalen wird der Finnwal am höchsten geschätzt; der Bruttoertrag eines solchen kann auf 2—3000 M. steigen. Ein Buckelwal ergibt ı—2000 M. Was den Schnabelwal betrifft, so ist der Preis des aus ihm gewonnenen Öls in neuerer Zeit beträchtlich gefallen, und das Öl ist das einzige, was aus ihm gewonnen wird. Den Bartenwalen, die einen zahnlosen Unterkiefer besitzen, sind verschiedene Zahnwale, die mit zahlreichen kegelförmigen Zähnen versehen sind, äußerst gefährliche Feinde. Einer der größten Zahn- wale ist der Schwertfisch oder Butzkopf. Das Tier wird ıo m lang und hat seinen Namen von einer hohen säbelförmig gebogenen Fettfloße auf seinem Rücken. Er ist das furchtbarste Raubtier 7 des Meeres, vor dem alle anderen Tiere die Flucht ergreifen. Mit seinem gewaltigen, von großen kegelförmigen Zähnen starrenden Rachen ergreift er die Tiere, reißt ihnen ganze Stücken Fleisch aus dem Leibe oder verschlingt sie. Auch der Braunfisch oder das Meerschwein, in dessen vorne gerundetem Kopfe etwa 80 Zähne II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 357 stehen, ist ein räuberisches Tier. Er lebt vornehmlich im Nord- atlantischen Ozean und hält sich meist in der Nähe der Küste auf. Schlimme Räuber sind auch die Delphine, die ein schnabel- artig verlängertes Maul mit vielen spitzen kegelförmigen Zähnen haben. Die Delphine gehen nicht selten weit in die Flüsse hinauf; so befindet sich im Hamburger Museum ein ausgestopftes Exemplar von etwa 3 m Länge, das im April ıgoo an der von Hamburg nach Wilhelmsburg führenden Elbbrücke erlegt wurde Zu den Delphinen gehört auch der Tummler. Dieser begleitet in Trupps von fünf bis zehn Stück die Schiffe auf offener See. Die Tummler sind geschickte Schwimmer und scheinen sich einen Scherz daraus zu machen, das über den Ozean dahineilende Schiff zu umspielen. Die Passagiere verfolgen mit Interesse das Spiel der spitzköpfigen, metallisch glänzenden Gesellen, die mit munteren Sprüngen aus den Wellen hervortauchen. 10. Leviathan. Du zertrennst das Meer durch deine Kraft und zerbrichst die Köpfe der Drachen im Wasser. Du zerschlägst die Köpfe der Walfische und gibst sie zur Speise dem Volk in der Einöde, Psalm 74. An einem Tag im frühen Herbst ging ich entlang dem Meeres- strand, Das Haupt entblößt, den Blick gesenkt, die Lieder Davids in der Hand. Die See ging hoch, die Brandung schwoll, der frische Wind aus Osten pfiff. Am Horizont nach Westen flog mit weißem Segelwerk ein Schiff. Und als ich in dem Liederbuch des Königs über Israel, Bald um mich schauend, blätternd bald, gekommen war bis an die Stell’, Die über diesem Lied ihr lest, da naheten dem Öden Strand, Die grauen Segel eingerefft, drei Fischerboote, wohl bemannt. Und hinter ihnen, aus der Flut, der weißen, tauchend schwärzlich- grau, Schwamm riesengroß ein Ungetüm; sie schleppten es an einem Tau. Die Brandung grollt, laut kracht der Mast, den Anker wirft der Harpunier. — Am Ufer auf dem Trocknen ruh’n die Fischerboote samt dem Tier. II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 319 Und jetzt in Zügen, auf den Ruf der Gatten und der Brüder naht | Der Öde Volk, das jubelnde, aus seinen Hütten am Grestad. Sie sehen den Sohn des Ozean, den Leib vom Eisen aufgeschlitzt; Zerschmettert sehen sie das Haupt, das fortan keine Strahlen spritzt. Vor wenig Jahren erst gebar den Triefenden der kalte Pol; Ein Neuling noch, verirrt er sich zu dieser seichten Küste wohl. Untief’ und Bank versperrten ihm den Rückweg in das hohe Meer; Des jungen Riesen Kopf zerbrach der Herr durch eines Fischers Speer. — Und jene tanzten jauchzend um den Blutenden; mir aber war, "Als glotzt’ er halb geschloss’nen Aug’s verächtlich auf die rohe Schar. Mir war, als rauschte zürnend mir sein purpurrot verrieselnd Blut; Als murrt’ er röchelnd in den Sturm: „O miserable Menschenbrut! O Zwerge, die den Riesen ihr bezwungen habt durch schnöde List! O Zappler auf dem Trocknen ihr, die mein Gebiet ihr meiden müßt. Schwächlinge, die das Meer ihr nur in hohlem Boot befahren könnt, Dem jämmerlichen Schaltier gleich, das nie sich von der Muschel trennt! OÖ kahler Strand, o nüchterner! o kahl und nüchtern Treiben drauf! OÖ nüchtern Volk, wie bebten sie, da sie vernahmen mein Ge- schnauf! "Wie trostlos auf der Dün’ ihr Dorf mit seinen dumpfen Hütten steht! Und — bist du besser denn, als sie, der du mich sterben siehst, Poet? — Ieh wollt’ ich wäre, wo das Meer und wo die Welt ein Ende h nimmt! "Wo krachend in der Finsternis der Eispalast des Winters schwimmt. f 320 Dr Wiese, Das Meer. Ich wollt’, ein Schwertfisch wetzte dort am Eis sein Schwert und stieße mir Das jäh gezückte durch die Brust; so stürb’ ich wenigstens nicht hier !“ Es war ein Tag im frühen Herbst; die See ging hoch, der Ost- wind pfiff, Am Horizont nach Westen flog mit weißem Segelwerk ein Schiff, Ich aber wandte meinen Schritt; ich warf mich nieder auf die Dün’. Der Herr zerbrach des Walfischs Haupt und gab dem Volk der Öde ihn. Ferdinand Freiligrath. Nr Ir DS) 1; Dr. Die Seerobben und ihr Fang. Robben stiegen sodann empor aus wogender Salzflut, längs dem Ge- stade des Meeres in dichten Reihen sich lagernd. Homer, Odyssee, Eine große Anzahl Tiere, die als Säugetiere zu den Warm- blütlern gehören, führen ein mehr oder weniger amphibisches Leben. Wir meinen die Robben, deren verschiedene Arten wir hauptsächlich nach ihrem Vorkommen und ihrer Bedeutung für die Volkswirtschaft betrachten. Unter den ohrenlosen oder echten Robben nimmt der Fjord- seehund „Natsek“, der Grönländer, die erste Stellung ein. Er ist der kleinste in der Reihe seiner Verwandten und überall zu finden Dem Grönländer gewährt er den größten Nutzen, ebenso auch den Eskimos an der westlichen Wasserkante der Baffınsbay, am Boothia Isthmus usw. Parry und Kane haben ihn bis zum 82. Grad nördlicher Breite beobachtet. Er findet sich weiterhin in Island, Skandinavien, in der Ostsee, wo er zahlreicher an der Ostküste des Bottnischen Meerbusens auftritt und selbst in die Newa vor- dringt. | Ä Die Sattelrobbe oder der grönländische Seehund, „Atak“ der Grönländer, „Harpseal“ der Engländer, ist für den Massenfang durch europäische und amerikanische Schiffer wichtig. Das Männchen etwa 1,90 m groß, heilt auch schwarzseitiger, das Weibchen, gegen 1,60 m lang, blauseitiger Seehund. Die volkswirtschaftliche Be- deutung für die arktischen Völker teilt er mit dem Fjordseehund. In der Davisstraße bis hinab nach den Meeresgebieten von Neu- fundland, zwischen Grönland und Yan Mayen bei Spitzbergen, wird er grefangen, weiter nach Osten dringt er.selten vor. Dann und Dr. Wiese, Das Meer. 21 322 Dr. Wiese, Das Meer, wann wirderan die Küsten Skandinaviens, Britanniens und Deutsch- lands verschlagen. Der gesprenkelte Seehund „Kasigiak“ der Grönländer, kommt in dem Verbreitungsgebiet der Sattelrobbe vor, aber nicht so häufig. Wegen des selteneren Vorkommens an grönländischen Küsten bringt er den Grönländern selbst keinen größeren Nutzen. Er wird vielfach mit dem Fyordseehund verwechselt. Weniger verbreitet ist auch der graue Seehund, der die amerikanischen Küsten fast ganz vermeidet, häufiger aber an den schottischen und irischen Küsten angetroffen wird. —— I ————— nor \ De? i\ SUN! N PN i | ——- Die Bartrobbe, „Ugßuk“ der Grönländer, „Remmesael*-Riemen- seehund der Dänen, „Square-slipper* der Engländer, ist die größte Robbenart, die in arktischen Meeresgebieten angetroffen wird. Sie ist vorwiegend das Ziel der norwegischen Tranjäger. In der Baffinsbay, in der Davisstraße, bei Neufundland, Spitzbergen (West- küstengebiet), Nowaja Semlja (Südküstengebiet) kommt sie vor bis weit nach dem Osten zur Eingangspforte des großen Ozeans, bis wohin sie zu beobachten Nordenskiöld auf seiner „Vega“ Gelegen- heit hatte. Die Blasenrobbe oder Klappmütze, hat ihre Verbreitungs- II. Abschnitt. Das Leben im Meere. 328 mittelpunkte in der Nähe von Grönland oder Neufundland. Für die europäischen Schiffer sind das Hauptfanggebiet der Klapp- mütze die treibenden Eismassen zwischen Island und Grönland. Die tran- und fellliefernden Robben werden in der Antarktis durch See-Elefant und Seeleopard vertreten. Der weniger be- gehrte Seeleopard wird in dem ganzen antarktischen Grebiet ange- troffen, häufiger nur auf Südgeorgien, den Sandwich-, Südshetland- Südorkney-Inseln und an der Küste des Viktorialandes. Zu den Ohrenrobben gehören: Seelöwe, Mähnenrobbe, Seebär. Während die ersten beiden ihre Rolle im Welthandel nahezu ausgespielt haben, ist die dritte heute noch das wichtigste pelzliefernde Tier. Die Pelzrobbe bei der antarktischen Region hat eine weite Ver- breitung. Außer auf den schon genannten antarktischen Inseln wird sie ferner getroffen an chilenischen und ganz selten an peru- anischen Küsteninseln, sodann auf Feuerland, den Falkinseln, an den Küsten von Südwestafrika (Kap Kroß in Deutsch-Südwest- afrika), auf den südlichen Küsten von Neuseeland. Die wichtigste und begehrteste Pelzrobbe ist die Bärenrobbe oder der Seebär des nördlichen Ozeans oder des Beringmeeres. Das japanisch-russische Fanggebiet reicht von Haide bis zu den Kommandorsky-Inseln und das unionistisch-kanadische Fanggebiet von San Franzisko bis zu den Pribylow-Inseln. Diese Pelzrobben sind die „Furseals“ der englischen Robbenschläger. Der Seehund ist zumeist ein Küstentier, vorzüglich der Fjord- seehund und der gesprenkelte Seehund.. Am Außenrande der Fjorde, der Treibeisschollen, halten sich mehr die Bartrobbe und Klappmütze auf. Die Klappmütze wird auf der Außenseite des Packeises gejagt. Ebenso meidet die Sattelrobbe gern das feste Land. Alle Robben unternehmen bald größere, bald kleinere Wande- rungen. Bei vielen kennt man ganz genau den Wanderweg. Um sich zu sonnen und auszuruhen, hauptsächlich aber zum Zwecke der Fortpflanzung suchen die meisten Robben das Land auf. Mit dem Treibeis des ÖOstgrönlandstromes kommen Bartrobbe und RKlappmütze nach Juliana herab und weiterhin nach anderen Teilen der westgrönländischen Küste. Doch gehen sie nicht auf das Land, um dem Fortpflanzungsgeschäft nachzugehen, auch nicht um ihre Jungen zu säugen. Für ihr zahlreiches Auftreten sprechen die Ausdrücke für die mit Robben besäeten Treibeismassen, im Nord- aut Dr. Wiese, Das Meer. Siesta auf der Robbenbank. Nach dem Gemälde von Chr. Kröner, (Mit Genehmigung der Photographischen Gesellschaft in Berlin.) II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 325 westen von Neufundland befinden sich die „Robbenwiesen“. Auch die Fanggebiete der Dänemarkstraße bei Yan Maien sind solche „Seehundswiesen“ oder „Hochzeiten“. Die Bartrobbe zeigt sich in der Nähe Spitzbergens gewöhn- lich in den Monaten Juli, August und September. In der Davis- ‚straße und Baffınsbay, sind die Klappmützen von September bis zum März anzutreffen; im März wandern sie südlich bis zur Nähe von Neufundland, und im Juli beginnt die Rückwanderung. Die Sattelrobbe der grönländischen Küste wandert zweimal des Jahres, das erste Mal im März, wo sie vereinzelt selbst nördliche Gebiete von der Davisstraße aufsucht, das zweite Mal im Juli; von der ersten Wanderung kehrt sie im Mai, von der zweiten im September zurück. Auch bei den Elefantenrobben hat man bestimmte, all- jährliche Wanderzüge beobachtet. Im August, September und Oktober kommen sie nach Patagonien, um nach zwei- bis vier- monatigem Aufenthalt im Dezember wieder südwärts zu reisen. Die Pelzrobben des Beringmeeres haben ihren Winteraufenthalt an der Ostseite von Asien, östlich von Nordhondo, von Jesso und an einigen der sich anschließenden Kurilen, ferner an der West- küste von Nordamerika, etwa von 46 Grad bis 56 Grad n. Br., also von der kalifornischen Küste an bis zum Norden von Britisch- Kolumbien. Jedes Frühjahr wandern die Robben nach Norden, die der asiatischen Seite bis zu den Kommandorsky-Inseln (gegen 1000 Seemeilen), die der amerikanischen Seite bis zu den Pribylow- Inseln (gegen 1200 Seemeilen).. Diese nördlichen Wanderungen gehen nach (seschlecht und Alter, insofern die älteren Männchen den Anfang machen, die Weibchen und zuletzt die Jungen nach- folgen. » Die Ohrenrobben insonderheit verweilen wochenlang am Lande, um ihre Jungen zu säugen und sie allmählich ans Wasser zu ge- wöhnen. Ähnliches hat man auch bei den Seehunden im Norden beobachtet. Vanhoffen erzählt in seinen Beobachtungen über Grön- land: „Wie die Bärin für ihre Jungen eine Höhle baut, so richtet sich auch das Seehundsweibchen zwischen verschneiten Schollen und Eisbergtürmen auf dem Eise eine Wohnstube mit unsicht- barem Zugang zum Wasser ein.“ Dort wird im März eins, selten zwei Junge geboren. Auch all die anderen Robben gebären nur ausnahmsweise mal ein zweites Junges. Die Trächtigkeitsdauer schwankt je nach der Robbenart zwischen zehn und zwölf Monaten. 326 Dr. Wiese, Das Meer, Die Robben sind als neugierige Tiere bekannt. Ihre Neugierde und Gutmütigkeit bringt sie meist zu Falle. Sie sind höchst ge- sellige Tiere. Der Fjordseehund ist selten in Herden anzutreffen, obgleich er so weit verbreitet ist. Dieses vereinzelte Vor- kommen schützt ihn vor dem Massenfang und der vielfach damit zu- sammenhängenden Verminderung. Die Sattelrobbe, die Klapp- mütze, die Elefantenrobbe, der Seeleopard und die Pelzrobbe treten in großen, geschlossenen Familien auf. Das Weibchen ist kleiner als das Männchen, etwa nur zwei Drittel so groß und ein Drittel so schwer wie das Männchen. Für den Fang der Robben haben sich verschiedene Arten entwickelt. Die älteste und immer noch am meisten betriebene Fangart ist das Erschlagen mittels Keulen oder starker Knüppel. Auf den Robbenwiesen sind die Fangleute mit Harpune und mit eisernen und eisenbeschlagenen Haken versehenen Stöcken (auch Keulen) ausgerüstet. Die Stöcke werden zugleich beim Über- springen von einer Eisscholle zur anderen gebraucht. Aber die Klappmütze setzt ihren Angreifern großen Widerstand entgegen und erfordert gewandte und erfahrene Harpuniere. Die treibenden Eisfelder und Schollen bereiten dem Robbenfang auch in der Antarktis erhebliche Schwierigkeiten. Die heftigen Winde in der Westwindtriftzone erlauben bei vielen Inseln nur an der Leeseite den Fang, wie z. B. auf den Kerguelen. Für den Fang auf der Wetterseite müssen die Schiffe mit besonders schweren Ankern und Kabeln ausgerüstet sein. Das Erlegen mit der Lanze ist auch bei dem Robbenfang üblich. Dem Walroß ist allerdings nur mit dem Gewehr beizukommen, und die Kugel hat nur beim Kopfziel die gewünschte tötliche Wifkung; der Fettpanzer läßt die Kugel nicht durchdringen. Den zerstreut lebenden Seehunden an der Labrador-, Baffıns- land- und Grönlandküste bieten die zahlreichen Eilande und Felsen sicheren Unterschlupf. Sie werden am meisten mit der Kugel er- legt und zwar auf dem Wasser. Aber auch hierbei gehen dem Jäger sehr viele Tiere verloren; denn der tötlich getroffene See- hund sinkt schnell unter, und der herbeirudernde Schütze kann ihm nur einen wehmütigen Gruß auf Nimmerwiedersehen nachsenden Eskimos allein gelingt es, den Seehunden mit Flinte, Speer und Harpune beizukommen. Je nach den Jahresverhältnissen wird von den Eskimos der Fang verschieden gehandhabt. In Südgrönland “ We II. Abschnitt. Das Leben im Meere, 327 wird meistens der Kajakfang betrieben, da nur ganz strenge Winter den Fang auf dem Eise ermöglichen, der in Südgrönland die gebräuchlichere Fangmethode ist. Der Eskimo allein bringt es fertig, bei größter Kälte, tagelang vor den Eislöchern, in denen Seehunde aufsteigen, um Luft zu schöpfen, zu sitzen, um so den ersehnten Lebensmittelspender zu erlangen, der ihm denn auch selten entgeht. In Nordgrönland gibt der Seehundsfang mit Netzen reiche Beute. Diese Fangart wird auch bei den Völkern der nordeuropäischen und nordasiatischen Küsten vielfach ange- wendet. Bei der Pelzrobbenjagd des Nordpazifischen Ozeans braucht man zwei Fangmethoden, die pelagische Jagd, von Kanadiern und Japanern, den terrestrischen Fang oder den gewöhnlichen Robben- schlag, von Russen und Nordamerikanern (Vereinigte Staaten) aus- geübt. Die pelagische Jagd war zunächst nur Küstenjagd, wie sie von den Indianern Britisch-Kolumbiens gepflegt wurde. Durch die gesteigerte Nachfrage nach den wertvollen Pelzen wuchs diese Jagd mehr und mehr in den Ozean hinein. Die Indianer, die die Weißen auf den Fangschiffen begleiten, wissen mit dem Speer den Robben am besten beizukommen. Beim Schießen der Robben auf größere Entfernung gehen viele verloren. Man schätzt den Verlust auf 20—25 °),; gewiß eine große Anzahl, die aber die Engländer niemals zugeben wollen. Der terrestrische Fang, das Schlagen, „Killing“ der Robben auf dem Lande geschieht unter Aufsicht des Direktors und einiger Assistenten. Weibchen oder Männchen, die jünger als ein oder bereits fünf Jahre alt sind, werden nicht geschlagen, weil das Fell dann keinen Wert mehr besitzt. Es gilt nun, die geeigneten Tiere den Schlachtgründen „Killingsgrounds“ zuzutreiben, wo sie von den Eingeborenen durch einen Schlag mit Keulen auf den Kopf in der Nasengegend getötet und sodann ab- gehäutet werden, wobei eine bestimmte Arbeitsteilung unter den Eingeborenen innegehalten wird. Die Robbenfanggebiete, die für die Gegenwart von Bedeutung ‚sind, teilen wir in unregelmäßig besuchte und regelmäßig besuchte Gebiete ein. Von den Robbenjägern fast ganz verlassen sind die Küstenregionen des westlichen Südamerika bis zu den Küsten Kaliforniens, vom fünften Grad südl. Br. an bis etwa zum dreißigsten Grad nördl. Br. Die Inselgruppen der Antarktis, wie Südgeorgien, die Südshetland-, Südorkney-, Sandwich-, Balleny-, Crozeb-, Ker- 328 Dr. Wiese, Das Meer. guelen-, Heardinseln gehören zu den unregelmäßig besuchten Gre- bieten. Nur unter staatlicher Kontrolle könnten sich die Fang- gebiete zu regelmäßig‘ besuchten und geschonten Jagdgründen entwickeln. So aber schlagen die Robbenfänger alles nieder, ganz gleich, ob junge oder alte, männliche oder weibliche Tiere. Da den jüngsten Tieren kein Wert beigemessen wird, so läßt man sie leben, ohne dabei zu bedenken, daß kaum ein Tier so der eigenen Mutter bedarf, als die Robbe. Der Mutter beraubt, gehen die jüngsten Robben alle zugrunde. Das hat man besonders bei den Robben beobachtet, die zum Zwecke der Fortpflanzung und der Säuglingspflege das Land aufsuchen. INS wrlra ht nie m di- Wikingerfahrt. II Apschnitt. Das Meer im Leben der Völker. Ir Seewärts. Von Generalmajor z. D. Dr. A. v. Pfister. „Wer das grüne, kristallene Feld Pflügt mit des Schiffes eilendem Kiele, Der vermählt sich das Glück, dem gehört die Welt.“ Schiller, „Braut von Messina“, „Sie schreiben mir von Krieg, mein Lieber, und von Vorboten, welche die Ankunft des Gottes Mars anzeigen. Wahrscheinlich werden die streitigen Mächte ihre Wut auf dem Meere austoben. Meiner Flotte aber fehlen die Schiffe und Kanonen, die Steuer- männer, Admirale und Matrosen, und folglich habe ich nichts dabei zu sagen.“ — Das sind die Worte, welche Friedrich der Große 330 Dr. Wiese, Das Meer. an d’Alembert nach Paris schrieb am 26. Oktober 1777, als es schien, daß das Vorgehen der Engländer gegen die um ihre Frei- heit kämpfenden Nordamerikaner einen allgemeinen Weltbrand entzünden müsse. Halb im Ärger, halb in philosophischer Selbst- verspottung der eigenen Wehrlosigkeit zur See mag: der gewaltige Mann den Verzicht aufs Meer zu Papier gebracht haben. Mit solchem Grimme ließ viele Jahrhunderte vorher einst Kaiser Otto seinen Speer über die Wasser dahinsausen, als die weichenden Dänen hoch oben in Jütland die Küste erreicht hatten und nun ihre rettenden Schiffe bestiegen und den verfolgenden Deutschen sich entzogen. Denn wohl verstanden die Deutschen siegreiche Schlachten auf dem Lande zu schlagen, aber Schiffe besaßen sie nicht; ihr Verfolgen hatte am Meeresrand ein Ende. Schon früher, bevor Friedrich der Große den oben angeführten Brief geschrieben, war er bemüht gewesen, den Pariser Freunden die Furcht wegen eines allgemeinen Weltkrieges auszureden: „Über die Sorgen, welche Ihnen die Kriegswut der Engländer macht, kann ich Sie leicht beruhigen; wenn die Engländer jetzt auch das hitzige Fieber haben, so wird ihre Krankheit doch wahrscheinlich das Meer nicht überschreiten und den Kontinent nicht ergreifen. Ihre Guineen haben es freilich einigen principi di Germania bisogni di scudi (einigen talerbedürftigen deutschen Fürsten) angetan. Dabei wird es aber wohl bleiben, und der amerikanische Krieg wird für Europa sein, was die Fechterspiele den Römern.“ Friedrich behielt recht; aus dem Freiheitskampf der Nord- amerikaner entwickelte sich unmittelbar keine allgemeine Umwälzung. Er blieb nur Vorspiel. Schon hatte sich mit dem ersten Wellen- kräuseln die große Revolution in Frankreich eingeleitet. Bald folgte Schlag auf Schlag. Und jetzt stürzte alles Alte in Trümmer; der Bau Friedrichs des Großen selbst samt dem alten Deutschen Reich. Als die atemlose Zeit wieder zur Ruhe gekommen war, als man in Wien eine neue Ordnung der Dinge gefunden zu haben glaubte, da zeigte es sich, wie alle Güter dieser Erde an die Seefahrernationen, an die Engländer, Franzosen und Niederländer übergegangen waren, wie man dagegen- für das deutsche Volk eigens die vom Meer abgelegenen Bahnen zurecht gemacht hatte, auf denen dies Volk in Bedeutungslosigkeit, Armut und Ohnmacht leise dahinschritt. Dabei war nicht versäumt worden, dem deutschen Volk ein politisches Scheinleben zu geben und eine scheinbare re III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 331 Zentralbehörde in dem Bundestag in Frankfurt. Auch eine Art von neuem Handelsleben begann sich besonders an der -Nordseeküste zu regen, als die lähmende Fremdherrschaft gestürzt war und die Reederei der Hansestädte sich wieder aufs freie Meer hinauswagen durfte. Mit dem Sommer 1814 gedachten die Hamburger Reeder und ihre Kollegen in Bremen und Lübeck daran, ihren Anteil an der Seefahrt in der Ostsee, nach Skandinavien, nach Amerika und ins Mittelmeer wieder aufzunehmen. So viele versäumte Jahre mußten eingeholt werden. Durch französische Raubgier und durch die lange Abschließung von dem güterbringenden Meere war ihr Beutel gar leer geworden. Neue Handelsverbindungen galt es anzuknüpfen und die alten zu festigen, wollte man überhaupt wieder zu einigem Wohlstand gelangen und die Güterlosen, die Arbeitenden, die durch französische Gewalt noch ärmer gewordenen Armen wieder emporbringen. Ausgelassene Freude regte sich, als die letzten Franzosen abziehen mußten, als es mit dem strengen Regi- ment des Marschalls Davoust zu Ende war, als das Meer wieder frei vor den Hanseaten lag und der alte Handelsgeist sich zu regen begann. Hochgemute Liederlust war längst erwacht durch die Taten des Jahres 1813; jetzt brachte das Volkslied und der Bänkel- gesang auch die Befreiung des Handels zum Ausdruck: „Die Zeit, Franzosen, ist nicht mehr, _ Wo eure Kniffe galten, Und unser Beutel, sonst so schwer, Sich legt in große Falten, Wo nur Douanen und Regie Und wie sonst alle heißen sie Stets führten une bonne vie,“ Und ein anderes Lied: „Hurra herbei! Handel ist frei! Bald werden Segel und Masten Nicht mehr untätig hier rasten. A Hurra herbei! Handel ist frei! Schon sah man die großen Barkschiffe der Hanseaten wieder unterwegs nach den spanischen Häfen in Amerika, nach dem Mittel- meer, nach der Ostsee. Wer aber über See verkaufen will, der muß die See für seine Fahrt frei haben oder die Macht besitzen, 332 Dr. Wiese, Das Meer. Linienschiffezund Panzerkreuzer (über 5000 t) der 7 größten Seemächte Anfangs 1906: . { \ / \ ‚17 51 , \ am! au & S. m) mi 7800.) ER a 123%00. N, he mu W a ee > » Br en CHEED mm j De cm Fr: ai! reich G l. Siaalen mis. > 15Sch. U 1402708 Japıc B schland , 6Sch]] 568722. PL: au SSch. |353508. Russ. Osises rm Sch. | 347306 rt N Tin u Mr 'E lannien Frank reich Deal, > B wii ic. ISch. ih 82200% ek em —<— 4 art Mer F En = = A— E Ass Ostsee Frank reach Sch. Zip 68650£ SE N 66760L z pur! a III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 333 sie für sich frei zu machen. Während der vielen Kriege, die zu Land und zur See in der Napoleonischen Zeit ausgefochten wurden, . hatten sich über die salzige Flut ganze Geschwader von Seeräubern ausgebreitet, welche schutzlose Schiffe wegnahmen und hauptsäch- lich gegen solche im Hinterhalt lagen, denen begleitende Kriegs- schiffe fehlten. Den Barbareskenstaaten Nordafrikas entstammten diese Korsaren; ihre Heimat war besonders Marokko, Algier, Tripolis. Nicht bloß das Mittelländische Meer machten sie unsicher, schwärmten auch hinaus in den Atlantischen Ozean und bis in die Nordsee. Selten griffen sie ein Schiff an, das den großen see- fahrenden Nationen angehörte, denn sie fürchteten die Rache der Kriegsschiffe; ihre Beute suchten sie vornehmlich unter denjenigen Handelsschiffen, hinter welchen keinerlei Kriegsflotte stand — bei den Italienern also und bei den Hanseaten. Schon in früheren Jahrhunderten waren die afrikanischen See- räuber gefürchtet gewesen; mit Schrecken aber gewahrten jetzt die deutschen Seestädte, daß die Räuber kecker, zahlreicher und wohl- bewaffneter geworden waren alsjemals. In Hamburgnamentlich, dessen Handel den der anderen beiden Hansestädte bei weitem überwog, erkannte man, daß es sich darum handle, ob man überhaupt noch eine eigene Flagge auf hoher See führen könne, ob man nicht unter fremder Flagge fahren oder in ein Schutzverhältnis treten solle. Zunächst aber gedachte man, schon früher erprobte Bahnen einzuschlagen. Man erkundigte sich von Hamburg aus, was es wohl an Tribut kosten würde, wenn man Frieden für die unbe- schützten Hanseatenschiffe bekäme. Die Sache hat nichts so Un- gewöhnliches an sich, als es auf den ersten Blick scheint. Lange Jahre hatten die Hamburger in der Tat Tribut bezahlt, um von den Korsaren nicht belästigt zu werden, und jetzt eben, im Jahre 1816, mahnte der Marokkaner, dal der Tribut seit lange rückständig sei. Die angeknüpften Unterhandlungen zogen sich hin, kamen aber zu keinem Ergebnis, denn der Beutel der Hamburger war in der letzten Zeit durch die Franzosennot wesentlich erleichtert worden, und man hoffte, auf anderem Wege zu dem gewünschten Resultate zu kommen. Mit beweglichen Worten wandte man sich an dıe Engländer, _ sie möchten doch ein Einsehen haben und nicht glauben, daß die Hanseaten in einen Wettbewerb mit ihnen treten und den englischen - Handel schmälern wollten; davon könne ja niemals die Rede sein; 334 Dr. Wiese, Das Meer. nur um gelegentlichen Schutz wollten sie bitten gegen die bösen Barbaresken, damit ihre Flagge überhaupt sich noch auf dem Meere halten könne Auch ließen die Hamburger durchblicken, daß sie am Ende bereit seien, einen Beitrag für die englische Flotte zu entrichten. Es scheint, daß die Engländer ziemlich viel verlangt haben; wieviel? sagen die vorliegenden Nachweise nicht, aber es wurde über Englands Selbstsucht in Hamburg tüchtig los- gezogen und des englischen Schutzes nicht weiter erwähnt. Wenn die Engländer schlecht zu sprechen waren über die neuen Schiffahrtsunternehmungen der Hanseaten, so erscheint das in ge- wissem Sinn natürlich. Soeben hatten sie allein die große Heer- straße der Ozeane beherrscht, ganz allein hatten sie das Seefracht- fuhrwesen besorgt. Nun kamen aus der Kontinentalsperre alle die kleinen Seefahrer wieder heraus und suchten dem angeblich allein Berechtigten ins Handwerk zu pfuschen. Auch an andere Nationen, an Spanier, Portugiesen, Nieder- länder, Dänen, Schweden wanäten sich die Hamburger in ihrer Not. Viele höfliche Antworten kamen zurück, aber nirgends ließ sich eine Zusage von Schutz herauslesen; am besten benahm sich Schweden, das wenigstens nicht ganz abweisend sich verhielt. Zur gleichen Zeit aber schien in Deutschland selbst ein oberster Schutz für die gemeinschaftlichen Angelegenheiten erstanden zu sein. Im November 1816 war der deutsche Bundestag in Frank- furt eröffnet worden. Die Einrichtung des deutschen Bundes durch die Wiener Bundesakte begegnete freilich fast in allen Kreisen dem äußersten Mißtrauen, aber man würde die Zeit mißverstehen, wollte man annehmen, daß jetzt schon die Überzeugung von der Nichts- nutzigkeit der deutschen Bundesverfassung in dem Grade ver- breitet war, wie sie später Platz griff. Erst im Laufe der Jahre erkannte man, daß der Bundestag nichts weiter sei als eine Ver- sammlung kaltsinniger Regierungsvertreter, die kleine Dinge wie große Angelegenheiten behandelte, den wirklich großen Dingen aber aus dem Weg ging und sie ansah, als wären es Bagatellen. Damals, also in den Jahren 1817 bis 1819, versprach man sich wenigstens einiges von dem Wirken des Bundestags. Demnach trugen die Hanseaten, die Hamburger voraus, nach Frankfurt ihre Schmerzen. Des deutschen Seehandels höchst traurige Lage wurde hier von dem stimmführenden Hansagesandten vorgetragen und dabei die Hoffnung ausgesprochen, „daß der hohe deutsche Bund gi III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 335 als Gesamtheit und europäische Macht sich bewogen finden möge, alle Schritte zu tun, um die durch jene Seefrevel gefährdete Ehre der deutschen Flagge und die Wohlfahrt der deutschen Nation aufrecht zu erhalten.“ Im Gedankengang der damaligen Generation nahm der Bundestag die Stelle der abgegangenen habsburgischen Kaisermacht ein. Vergebens hatten die Hanseaten von der kaiser- lichen Gewalt eine Unterstützung in ihren früheren Gefahren er- hofft; um so sicherer zählten sie jetzt auf wirksamen Schutz. „Es handelt sich einfach darum,“ schlossen die vor dem Bundestag in Frankfurt stehenden Hanseaten, „ob wir noch eine eigene Flagge werden erhalten können oder nicht.“ Das war im Sommer 1817; noch saßen einige selbstbewußte, nationalgesinnte Männer im Bundestag; erst im Jahre 1820 sind viele vollends beseitigt worden. So fanden die Bittsteller jetzt noch einige Zustimmung. Namentlich der Gesandte für Baden erhob seine Stimme; er rufe die Erinnerung an die ruhmreichen Tage der Hansa zu Hilfe, man solle an die Kämpfe der Vitalienbrüder, an Türkenhilfe und Normannensteuer denken; er fordere die Ab- wehr der Barbaresken durch eigene Kraft der Bundesstaaten. Auch der württembergische Gesandte stimmte bei, wenn auch vor- sichtiger und mit dem Vorbehalt, daß die Binnenstaaten zu den Kosten nur in ganz geringem Grade beigezogen werden. Immer unmännlicher und schwächlicher wurde die Sprache. Die Bundes- versammlung ging nicht auf das Ansuchen der Hanseaten ein. So verlief die erste Verhandlung über die Errichtung einer deutschen Flotte. Endlich wurden Österreich und Preußen von den Hanseaten nicht als deutsche, sondern als europäische Mächte angegangen. Allein Österreich erklärte, es wünsche freilich auch die Sicher- stellung der hanseatischen Flagge, aber es habe unter allen Mächten am wenigsten direktes Interesse an solcher Sicherung, Einige Hoffnung hatte man noch auf Preußen gesetzt. Jedoch auch hier kam man über beschauliches Wohlwollen nicht hinaus. Wilhelm v. Humboldt sprach die Besorgnis aus, daß auch die Unterhand- lungen, welche die Hanseaten neuerdings wieder mit England an- geknüpft hatten, kein nennenswertes Resultat liefern würden, da England zu sehr dabei interessiert sei, daß die Küste der Barbaresken- länder keinem europäischen Staat in die Hände falle; in einem Vertilgungskrieg gegen dieBarbaresken werde Englandnie einwilligen 336 Dr. Wiese, Das Meer. Die Einfuhrsteigerung wichtiger von Übersee bezogener Rohstoffe von 1894—1904: Hautschuck u. Gullapercha Pelroleum 790% 383 227 220M. 109,4Mulion. 3987M 688M. Die Steigerung der Sparkassen-Einlagen in Preußen von 1889—1904 in Millionen Mark. Die Gesamtsumme der Einlagen im Deutschen Reich dürfte heute ungefähr 12 Milliarden betragen. Die Bevölkerungs- zunahme im Deut- schen Reich von 1875— 1905. Steigerung: 17,6 Millionen in 30 Jahren. Armn 46,7M Einwh_\a Außenhandel im Jahre 1904 ohne Edelmetalle. m Val. Staat. VFrankır ABusst. NY Jlal. apıan "N 70089 Mill. N 7209M. 3323.M. 2773M. N) 474. Vom Gesamtwert d. Außenhandels ent- fielen 1904 auf den Kopf der Bevöl- kerung Anteil d. Seehandels am deutsch. Außenhandel 1904: | Zunahme d. deutsch. Seehandels: I (>> — A KPEFERUT: Hi Die Bevölkerungszunahme im Durchschnitt des Jahrzehnts 1891—1900. (Bei Japan 1894— 1898.) BG DER, 72 FE WELHÄl Wi }) & | III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 337 und die anderen großen Mächte hätten zu wenig: Interesse bei der Sache, als daß man deshalb einen Speer mit England brechen sollte. Schüchtern sprach man von der Ausrüstung einiger be- waffneter Fregatten für das Mittelmeer; wirklich zustande kam nichts. Aus all den gewundenen Reden aber entnahm der hanse- atische Stimmführer, Senator Smidt: „Welche Furcht man hat, Verhältnisse zu berühren, welche die großen europäischen Mächte nun einmal ihrer besonderen Kuratel unterworfen zu haben meinen.“ Die Weiterführung der Verhandlungen für den Schutz der Seefahrt lag hauptsächlich in den Händen dieses Staatsmannes, Joh. Smidt, den man wohl den Franklin Bremens genannt hat, dessen Tätigkeit es vor allem zu danken ist, daß die selbständige Flagge der deutschen Städte noch weiter auf den Meeren wehte. Nicht müde wurde er, seine Landsleute an die Wehrhaftigkeit zur See zu mahnen: „Fassen wir keinen Entschluß der Art, so bleiben wir fortwährend in der Position des Mannes, der von Jerusalenı nach Jericho wanderte: „Priester und Leviten gehen gefühllos an ihm vorüber und wir können sehr leicht noch ein Jahrhundert ver- geebens warten, ehe uns ein barmherziger Samariter erscheint.* — „Haben wir im Jahre 1813 die alte Waffenscheu zu Lande glück- lich besiegt, warum sollte sie denn auf dem Meere permanent bleiben müssen? Greif’ an das Werk mit Fäusten!“ Das sei der allein richtige Grundsatz. Mannhaft habe sich der Lübecker Kapitän Schumann mit seinen Matrosen gegen die Seeräuber ge- wehrt; das seien die rechten Vorbilder für eine Schar hanseatischer Seetotenköpfe; aus solcher Schule könnten hanseatische Troups, Ruyters, Jean Barts und Paul Jones hervorgehen. Derartiger Appell aber zündete nur in Privatkreisen da und dort; ein antipiratischer Verein entstand in Hamburg. Auch Sammlungen fanden statt für eine Privatflottte. Allein die frei- willigen Gaben der Einzelnen sind selbst in Zeiten der größten Aufregung eine arme Finanzquelle. Mit dem Jahr 1824 mehrten sich wieder die Belästigungen, denen die Hanseaten in ihrer Wehrlosigkeit von seiten der Barbaresken ausgesetzt waren. Die Reeder sahen voraus, daß die Hamburgische Flagge, wenn sie nicht ganz verschwinde, sich bald nur noch an den Gestaden der Ostsee blicken lassen dürfe. Armselig schleppte sich der Seehandel hin. Im Jahre 1828 dachte man wieder ernst- Dr. Wiese, Das Meer, 22 338 Dr. Wiese, Das Meer. licher auf Abwehr. Zugleich wollte man durch englische Ver- mittlung den Frieden um den mäßigen Preis — man sprach von 12—15000 schweren Piastern — erkaufen. Konsul Turner von Gibraltar betrieb die Sache. Durch einen Israeliten aus Mogador ließ der Sultan von Marokko zugleich an die rückständigen Zahlungen mahnen. Das war die Lage der Dinge, als Frankreich mit dem Jahre 1830 die Eroberung von Algier begann. Damit schien sich ein vollständiger Umschwung vorzubereiten. Aber man mochte noch nicht recht glauben, daß wirklich dem Barbareskenunfug das letzte Stündlein geschlagen habe; ein Be- weis, wie sehr man sich im Lauf der Jahrhunderte an diese Kala- mität, als an etwas Unabänderliches, gewöhnt hatte. In der Tat, im Mai 1834 hörte man plötzlich, daß Marokko gegen die Hanseaten Korsarenschiffe ausrüste; schon hätten Österreich und Neapel einen Frieden erkauft; besonders seien die Riffpiraten zu fürchten. Man stand einer Tributzahlung wieder recht nahe; denn, so wurde im Senat Hamburgs vorgebracht, auch der Schwache müsse seinen Schutz haben, und „was helfen alle schönen Worte, wenn wir immer der leidende Teil sind.“ Allein es zeigte sich, daß hinter den Drohungen Marokkos nicht viel steckte, und als im Dezember 1845; der marok- kanische Gesandte in Paris sich zu Unterhandlungen bereit erklärte, um die hanseatischen Schiffe gegen Korsarengefahr zu decken, gab der Hamburger Senat zu erkennen, daß zu weiteren Ver- handlungen kein Grund mehr vorhanden sei. Im übrigen war der Zustand der alte. Vorsichtig und zaghaft schlich der deutsche Handel durch die Meere. Der Konsul eines deutschen Küstenstaates in einer Hafenstadt an der Westküste von Amerika schrieb 1845 an seinen Freund in Bremen: „Wir Deutsche im Ausland müssen uns in streitigen Fällen durch Eng- land, Frankreich oder die Vereinigten Staaten beschützen lassen, weil unsere Fürsten uns nicht helfen. Man gibt uns freilich Ge- sandte in Öberheimlichen Kammerherren usw., aber die armen Leute stehen wie die vergoldeten Eierschalen auf ihren Posten, da sie keine Stützen haben und ihre gerechten Forderungen nicht mit Gewalt bekräftigen können. Es fehlt ihnen an den Waffen, mit denen man, wie das England und Frankreich tun, uns Kauf- leute unterstützen sollte. Daß wir Deutsche unter solchen Um- ständen uns noch immer ohne Händel durchschlagen, ist be- wundernswert, aber die sich täglich mehrende Überzeugung, dal wi ee III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker, 339 wir von unserem Vaterland keinen Schutz erwarten dürfen, macht uns auch immer gleichgültiger gegen dasselbe und man sagt mit Recht, daß es im Ausland keine schlechteren Patrioten als die Deutschen gebe.“ „Nur aus Mitleid zertreten wir euch nicht,“ sprach der nord- amerikanische Präsident zu den hanseatischen Bevollmächtigten. Und damit wollte er keineswegs etwas die deutsche Nation Kränkendes sagen; denn hansische Seestädte und Deutschland be- trachtete noch kein Mensch als etwas notwendig Zusammenge- höriges. Die deutsche Nation als solche war ja noch gar nicht zu einer seefahrenden geworden ;; kein Mensch auf dem ganzen Frden- rund rechnete die Deutschen zu den auf dem Weltmarkt Ver- kehrenden, zu den berufsmäßigen Seefahrern: höchstens gestand man diese Rolle in bescheidenem Maße den Hanseaten zu, ohne aber dabei an ihre deutsche Zugehörigkeit zu denken. Unter den Revolutionen, welche in unserem rasch lebenden Zeitalter sich ohne Unterbrechung ablösen, ist wohl keine von so unmittelbaren energischen und weittragenden Folgen gewesen als die Heraus- bildung der Deutschen zu einer seefahrenden Nation, Der erste Schritt war geschehen durch die Aufrichtung des deutschen Zollvereins in den dreißiger Jahren, der zweite durch den zwanzig Jahre später erfolgten Beitritt der Nordseeküste zu diesem Verein, wobei nur die Hansestädte sich ausgeschlossen hatten. Es schien, als hätten sich Anfänge zu einem geeinigten Deutschland gebildet, wobei freilich alles sich noch recht unvoll- kommen zeigte. „Wo ist denn euer Deutschland ?* fragte man in Brasilien und in den Vereinigten Staaten: „Wir kennen nur eine preußische, eine hamburgische und noch sieben andere Flaggen, die sich alle für deutsch ausgeben; wir kennen aber weder eine deutsche Flagge, noch einen Konsul, der sie vertritt, noch ein Kriegsschiff, das sie verteidigt, und wenn die sog. deutschen Schiffe löschen, so tragen ihre Waren fast allesamt englische oder französische Etiketten.“ — Der Zollverein stellte für deutsche Ver- hältnisse entschieden ein großes Werk dar, aber es war nicht zu leugnen, sein Ausbau war höchst unvollkommen, und er fristete oft kümmerlich sein Leben zwischen Intrigen und Gewalttätig- keiten von seiten Englands und Österreichs. Viele in Deutschland selbst zweifelten an der Lebensfähigkeit des Zollvereins, in Eng- 237 340 Dr. Wiese, Das Meer. land gedachte man oft, sein Auseinanderfallen als ein Fest feiern zu dürfen. Unter denen aber, welche niemals an der aufwärts und vorwärts, zugleich seewärts führenden Entwicklung Deutschlands zweifelten, steht ein Ausländer vornan, der Franzose Henri Richelot, der Freund aller deutschen Bestrebungen, der geistreiche Volks- wirtschafter und Verfasser des im Jahr ı845 in französischer Sprache erschienenen Werkes „Der deutsche Zollverein“. — „Wer dürfte es wagen,“ fragt Richelot, „zu der auf ihre Erfolge mit Recht stolzen deutschen Industrie zu sprechen: Du darfst nicht weiter gehen! Wer dürfte es riskieren, dieser aufgreklärten und arbeitsamen Nation ein Halt! zuzurufen! Deutschland wird die angefangene Entwicklungslaufbahn mit Glanz vollenden und sich keine Ruhe gönnen, bis es den höchsten Gipfel von industrieller Durchbildung erreicht hat.“ — „Alle Völker von heute in Europa und Amerika sind Seefahrer oder schicken sich an, es zu werden; auf alle übt die See unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Der Busen des Ozeans ist es, aus dem die modernen Völker immer wieder Neubelebung und Kräftezuschuß schöpfen.“ — „Eine Handels- flotte aber bedarf notwendig des Schutzes durch eine bewaffnete Marine. Die Deutschen trennen diese beiden Gedanken keines- wegs; ihre Phantasie beschäftigt sich mit dem einen wie mit dem andern. Das geht so weit, daß man im verflossenen Jahr, als Preußen eine kleine Kriegskorvette in See gehen ließ, diese Er- scheinung -mit dem lebhaftesten Beifall begrüßte. Welche weit- gehenden Hoffnungen hat man doch an die Planken der winzigen ‚Amazone‘ geknüpft! Aber wohlgemerkt, der Besitz einer Kriegs- flotte ist für Deutschland nicht nur eine Frage der Entwicklung in Handel und Industrie, es würde ein solcher Besitz auch alle politischen Lebensbedingungen verändern; denn die Interessen einer Nation, die Festlandgroßmacht ist und zugleich zu den See- fahrern gehört, sind durchaus verschieden von den Zielen einer Nation, die ihre Größe ausschließlich auf dem Festland sucht.“ — „Die Vorstellung von einer deutschen Flagge und einer deutschen Flotte, anfangs seltsam und paradox erscheinend, ist in Deutschland doch rasch ernst genommen worden und hat ungemeine Popularität gewonnen.“ Der geistvolle Beobachter in Paris hatte ganz recht gesehen; die vierziger Jahre waren es, in denen das Phantasiegebilde von einer deutschen Flotte einige Gestalt gewann. Das war die Zeit, III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 341 in welcher Ferdinand Freiligrath des Herzens Sehnen in ein kleines Bündel von Sonetten faßte: „Sprach irgendwo in Deutschland eine Tanne: O, könnt’ ich hoch als deutscher Kriegsmast ragen, O, könnt’ ich stolz die junge Flagge tragen Des ein’gen Deutschlands in der Nordsee Banne! Dann wär’ ich Fähndrich, ha! wo Mann an Manne Blutrünst’ge Krieger deutsche Seeschlacht schlagen ; Wo deutsche Segler, grimm und ohne Zagen, Den fremden Entrer hauen in die Pfanne!“ Jetzt war endlich auch die Zeit gekommen, wo das deutsche Volk aufwachte aus jahrzehntelangem Schlaf und sich Bilder vor- hielt von Größe, Einheit und Freiheit. Und zu den ersten Zeichen des nationalen Erwachens gehörte der Ruf nach einer Flotte, um die Flagge und die Güter des jugendlichen Volkes der Deutschen, seine Ehre und seinen Wohlstand auf der ganzen Erde zu schützen bis in die fernsten Meerwinkel. Die Sache der Einheit und Frei- heit, die Sache Schleswig-Holsteins, des Lieblingskindes der Nation, identifizierte das deutsche Volk mit der Schaffung einer Flotte. Zusammen mit dem Aufschrei der bedrohten Schleswig-Holsteiner drang das tieftönende Rufen der See in die Paulskirche in Frank- furt. Mit freigebiger Hand stellte die Nationalversammlung im Sommer 1848 Mittel zur Verfügung. Man kaufte kriegstüchtige Schiffe und stattete sie mit deutscher Rüstung und deutschen See- leuten aus. Nie ist so heller Jubelruf über deutsches Wasser ver- hallt wie in dem Augenblick, da am Bord der auf der Weser liegenden deutschen Kriegsschiffe die Flagge schwarz-rot-gold emporstieg. Über das Wehe Friedrichs des Großen war man jetzt hinaus; man konnte nicht mehr sagen, daß der deutschen Kriegsflotte die Schiffe fehlen. Aber es war ein kurzer Traum. „Die Flotte hatte auch in Deutschland ihre Feinde,“ sagt der Reichsmarineminister Sena- tor Duckwitz, „im Norden wie im Süden, die, ohne je etwas davon gesehen zu haben, darüber spotteten und unzufrieden waren, dab dieselbe nicht wie Minerva aus dem Haupte Jupiters sogleich im Jahre 1848 auf den Beschluß der Nationalversammlung in einer Größe wie diejenige einer Großmacht fix und fertig herbeigeezaubert 342 Dr. Wiese, Das Meer. sei.“ Man fand, daß die Flotte ein lästiger Kostgänger werde, und verkaufte sie an den Meistbietenden. Und da standen sie wieder, unsere guten Deutschen; nach Friedrich Lists Ausdruck unseres Herrgotts Stiefkinder auf der See. Allein ungefähr zur selben Zeit, da die Reichsflotte verloren ging, ist der Grund zur preußischen Flotte gelegt worden, zum Norddeutschen Lloyd und zur Hamburg-Amerikalinie. „Freuen wir uns,“ fährt Duckwitz fort, „daß in Preußen, nachdem das Werk von 1849 untergegangen, ein so schöner Grund für den Wiederaufbau einer deutschen Flotte gelegt ist: auf diesem Grunde läßt sich weiter bauen, an diesen Kern kann sich getrost alles anschließen; denn in ihm ruht die Zukunft deutscher Wehrhaftigkeit auf dem Meere.“ Die deutsche Revolution war geendet im Jahre 1866, die Ein- heit Deutschlands wirtschaftlich und militärisch geschaffen. Die Flotte des Norddeutschen Bundes erstand. Im Sommer des Jahres 1870 war man daran, dem Feind den Fuß auf den Nacken zu setzen; die Schlacht bei Sedan war geschlagen, Frankreich schien erliegen zu müssen; da fand es einen Bundesgenossen, wenn auch einen heimlichen. Englands Unterstützung durch Herbeischaffung von Streitmitteln schuf für Frankreich die Möglichkeit, den Krieg zu verlängern, und Deutschland mit seiner noch schwachen Flotte stand dem Treiben zur See gegenüber wehrlos da. Denn zur See ist Mindermacht gleich der Ohnmacht. Man pflegt Jahr für Jahr haarklein vorzurechnen, wie der deutsche Handel lebensfroh sich hebt, wie er sich während eines Menschenalters vom Jahre 1870 ab verdreifacht hat, wie unsere Handelsinteressen an einzelnen Plätzen auf das Zehnfache gestiegen sind, wie unsere Handelswege immer verwundbarer sich gestalten, wie die anderen Völker im Wettlauf uns mit der Zahl der Kriegs- schiffe überflügeln, _ wie unsere Handelsstationen und Kolonien Schutz erheischen. Das alles mag schwer genug ins Gewicht fallen, um unsere Flotte stetig zu mehren. Die tatsächlichen inneren Gründe zur Hebung der Wehrkraft zur See liegen aber doch auf anderem Gebiet. Nicht weil unser Handelsgebiet schon so ausgedehnt ist, müssen wir eine Seemacht von erstem Rang haben, sondern weil wir genötigt sind, zur Ernährung unserer riesig anwachsenden Volksmenge das Handelsgebiet noch viel weiter auszubreiten und möglichst viele Güter der Erde zu erwerben, deshalb brauchen wir diese Seemacht. III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 343 Und weiter brauchen wir sie, um unsere Küste, dem Welt- handel so günstig gelegen wie keine andere in Europa, jedem Feinde unzugänglich zu machen. Für ein großes, stolzes, jugendfrohes Volk ist kein Strich seines Landes von solcher Bedeutung wie der Küstensaum am Weltmeer. Und hier besitzen die Deutschen eine so köstliche Ausstattung, wie sie von der Vorsehung keinem anderen Volke in Europa ge- geben worden ist. So weit auch das Atlantische Weltmeer die Küsten und Inseln vom Westen und Nordwesten Europas bespült, an einem bedeutungsvolleren Strich brechen sie sich nirgends als an den Ufern, welche den Mündungen der Elbe und Weser be- nachbart liegen. Und hier ruht das Kleinod, das eine deutsche Flotte auch gegen die größte Seemacht mul verteidigen Können, damit der alte wackere Spruch auch zur See sich bewahrheite: „Welcher im Krieg will Unglück han, Der fang’ ihn mit den Deutschen an!“ == Die Flotte — eine Schule für das deutsche Volk. In noch höherem Grade als die große Fortbildungsschule unserer Nation, das Landheer, glauben wir, wirkt die erziehliche Kraft der Marine auf das gesamte Volk ein und befruchtet das Leben einer Großmacht! Wie in der Armee, so wird auch in der Marine zu Manneszucht und Ordnung, Gehorsam und Strammheit, Ausdauer und Schlagfertigkeit erzogen. Mit unermüdlicher Sorg- falt wird herausgeholt, was in den Leuten an körperlichen und an geistigen Gaben steckt. Wie sie ihre Glieder gebrauchen lernen bis zur Anspannung aller Kräfte, so werden auch die Quellen des geistigen und sittlichen Lebens geweckt. Das Bewußtsein ihrer Leistungsfähigkeit stärkt ihre Selbständigkeit, die strenge Disziplin erhöht das Gemeingefühl, die ganze Erziehung pflegt die berechtigte Standesehre und den Mannesstolz. Dem Soldaten wie dem Matrosen wird es ein Stück seines eigensten Wesens, daß er unter Ver- achtung aller Gefahr das Leben einsetzt für die höchsten Güter seines Volkes. Aber der Seemann wird schon in Friedenszeiten durch den Kampf mit Wind und Wetter mit den Schrecken des Meeres an diese Gefahren gewöhnt. Sein Leben steht sichtbar täglich und stündlich in Gottes Hand. Kühnheit, Furchtlosigkeit ınd Gottvertrauen helfen ihm in den schweren Nöten seines Berufs, Wagemut und helläugige Zuversicht geleiten ihn. Und was vom Schiffsjungen und Matrosen unserer Marine gilt, dessen kann sich noch im höheren Maße das Offizierkorps rühmen. So gedeiht ein (geist der Kraft, voll männlichen Ernstes und frischer Fröhlichkeit in unseren „blauen Jungen“, und aus diesem Elitekorps geht ein breiter Strom vollblütiger Gesundheit des Leibes und der Seele in unser Volk hinein. Seefahrende Nationen sind zu allen Zeiten kräftige Völker gewesen. Das liegt im Wesen ihres Berufes, der Se A rn “ ae ur Ey as III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 345 nichts Krankes und nichts Schwächliches duldet. Die unendliche Weite des Meeres führt den Blick auch geistig in die Ferne, leitet ihn zu hohen Zielen, und die Erhabenheit der Natur läßt auf die kleinlichen Alltagssorgen nur mit Verachtung herabsehen. Die See ist der Tummelplatz der Kraft und des Unternehmungsgeistes für alle Völker der Erde und die Wiege der Freiheit. In der See nehmen die Nationen stärkende Bäder, erfrischen ihre Gliedmaßen, beleben ihren Geist und machen ihn empfänglich für große Dinge, sie waschen sich jenen Kleinsinn vom Leibe, der allem National- leben, allem Nationalaufschwung so hinderlich ist. Überall 1990. 3° Schwimmende Paläste. Die Kraft des freien Bürgers hat Mast an Mast gefugt, Von dem der Hansa Zeichen in alle Welt gelugt. Ernst Scherenbeze. Der moderne Ozeandampfer ist der Beherrscher des Meeres. Nicht die barbarischen Ketten, mit denen vor mehr als 2000 Jahren der Perserkönig Xerxes die spottenden Wogen des ungehorsamen Ozeans peitschen ließ, sondern das wundervoll ersonnene Dampf- schiff hat das gewaltige Meer in die Macht des Menschen gegeben. Wer heute reist, den nimmt als eine schwimmende, glänzende Stadt das Dampfschiff im Hafen auf; und die Stadt löst sich vom Lande, wandert ruhig und sicher, „ein Schwimmfels“, über die \Wasserweiten zu neuen Kontinenten und vereinigt sich von neuem mit dem Lande; die drohende Furchtbarkeit der „Wasserwüste“, des unbeugsamen Elements, ist verschwunden; in manchen Augen- blicken drängt sich dem Passagier die staunende Frage auf, ob er das Festland mit seiner behaglichen Wohnung, seinen Gesellig- keiten und Zerstreuungen, mit seiner gewohnten Lebenshaltung überhaupt verließ. Auch das einst menschenleere Weltmeer ist ein Königreich geworden mit 100 schwimmenden Städten darin und 100000 Menschen, die es fröhlich bevölkern. Städte, die nach ihrer Bewohnerzahl mit fast der Hälfte aller preußischen Städte wett- eifern, sind darunter, internationale Weltstädte und Badeorte mit armen und reichen Bürgern, mit Kurgästen und einer nach hunderten zählenden Beamtenschaft. In ihnen vergibt man vom ersten Augenblick an des Meeres und jeder Gefahr so ganz, als weilte man in einer auf Felsen gegründeten Stadt am Meere, nicht auf meerumflutetem Schiff. Zwei neue Özeanstädte der geschilderten Art sind vor kurzem entstanden, größer und gewaltiger als alle früheren, die Deutsch- III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 347 land je geschaffen. Kontinenteverbinderin trägt die eine den Namen des Erdteils, den sie der alten Welt nahe bringt, „Amerika“, die andere Haupt- und Kaiserstadt auf dem Ozean den Namen der B e a u a ET TE az R Bol k y EFT RBEREENTEER Dampfer Kaiserin Augusta Viktoria, höchsten deutschen Frau, der „Kaiserin Augusta Viktoria“, Über ihnen flattert der Wimpel der Hamburg-Amerika-Linie, der flotten- und verkehrsreichsten Reederei der Welt. Wie Dörfchen nehmen sich gegen diese neuesten Hauptstädte 348 Dr. Wiese, Das Meer. des Weltmeers die Schiffe aus, die vor 59 Jahren im Dienste der gleichen Reederei als erstklassige Schiffe ihrer Zeit auf der gleichen Route zwischen Hamburg und New York den Verkehr aufnahmen. Der Segler „Deutschland“ — dies war das erste aller Schiffe der Hamburg-Amerika-Linie — faßte gerade 20 Kajütspassagiere und 200 Zwischendecksreisende, während die „Amerika“ und „Kaiserin Augusta Viktoria* je 550 Passagiere in der ersten Kajüte, 300 in der zweiten, 250 in der dritten Klasse und 2300 im Zwischendeck zu beherbergen vermögen. Also 3400 Passagiere in bequemer Wohnung und ausgezeichneter Verpflegung viele Tage lang auf einem einzigen Schiffe, über ı5mal soviel wie zur Zeit des Seglers „Deutschland“ möglich war! Rechnet man die 600 Köpfe zählende Besatzung jeden Schiffes hinzu, so ergibt sich eine Weltmeerstadt von rund 4000 Bewohnern; ca. 60°/, aller Städte im Königreich Preußen übertreffen die „Amerika“ und „Kaiserin Augusta Viktoria“ an Einwohnerzahl nicht, und drei solcher Schiffe würden imstande sein, eine ganze Division Infanterie zu fassen. Und trotz dieser mächtig‘ erhöhten Passagierzahlen welch ein unvergleichlicher Zuwachs an Sicherheit, Schnelligkeit, Wohnraum und Güte der Verpflegung für jeden einzelnen der Passagiere! Es wäre undenkbar, daß bei dem heutigen Stand der Technik irgend jemand in gleicher Weise nach New York reisen könnte wie damals, als die Hamburg-Amerika-Linie, sich der Vortrefflich- keit ihrer „neuen kupferbodenen Schiffe“ rühmend, als ein Besonderes hervorheben durfte, daß auf ihren Schiffen jedem Passagier „ein eigenes Bett“ zur Verfügung stehe. Mächtig ist die erfindende Zeit vorwärts geschritten. Ein Blick auf die Dampfer „Amerika“ und „Kaiserin Augusta Viktoria“ zeigt, daß sie heute weniger denn jemals still steht. So ausgezeichnet im ganzen und in allen Einzel- heiten, so epochemachend in einer Fülle der Neuerungen sind diese Schiffe, daß ihnen schon heute nach fachmännischem Urteil der Ruf vorauseilt, die „Schiffe der ZukonTt7 ze se Da ist zuerst die alles überragende Gesamtgröße der Schiffe. Neben der Reederei, die ein hohes wirtschaftliches Interesse an der Ladefähigkeit besitzt, interessiert sie den Passagier als die freundliche Spenderin friedlicher, ruhiger Fahrt. Die Größe des Schiffes ist seine Würde. Es ist etwas anderes, ob die kleinen Karavellen des Kolumbus, ein Spiel der Wellen und der Wogen, in wochenlanger Reise über die Meereswellen tanzen oder ee; we Pr TEE ze „az Ill, Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 349 ein stählerner Doppelschraubenpanzer von 42500 Tonnen Eigen- gewicht, eine Stadt mit 4000 Menschen und 16000 Tonnen Gütern, dampfregiert, von 17200 Pferdestärken belebt, von Bilgekielen gestützt, das Meer durchfurcht. Alle deutschen Dampfer läßt die „Amerika“ an Größe hinter sich zurück; und die „Kaiserin Augusta Viktoria“ hat an Rauminhalt in der ganzen Welt keinen größeren neben sich. In den Jahren 1852— 1859 baute ein genialer Techniker in England eines der merkwürdigsten und kühnsten Wunderwerke schöpferischen Menschengeistes, das zu seiner Zeit unendlich be- staunte 22500 Tons-Schiff „Great Eastern“. Es ging zugrunde, weil das technische Wissen der Zeit einem so eminenten Entwurf noch nicht gewachsen war und weil ihm die wirtschaftlichen Be- dürfnisse der Zeit noch keine Beschäftigung geben konnten, die seiner Größe angemessen gewesen wäre So blieb es eine ver- einzelte Erscheinung bis auf die allerjüngste Zeit. Bader „Amerika“ und der „Kaiserin Augusta Bea hat Deutschland zum ersten Male das Bei under des Jahres ı859 eingeholt und über- flügelt, hat es den idealen, den lebensfähigen „Great Eastern“ geschaffen, der technisch und wirtschaftlich das ist, was jener frühere sein sollte. Der äußeren Größe der neuen Dampfer entspricht ihreinnere Geräumigkeit. Auf übereinanderliegenden Decks auf der „Amerika“ sind es deren fünf und auf der „Kaiserin Augusta Viktoria“ sogar deren neun — sind die Wohnräume der Passa- giere verteilt. Alle Kabinen sind ungewöhnlich groß, ein ganzes Deckist mit Staatsgemächern ausgestattet, die be- liebig zu größeren oder kleineren Wohnungen mit Salon, Schlaf- zimmer, Frühstückszimmer, Badezimmer usw. kombiniert werden können. Hier, im vornehmsten Viertel der „Stadt“, ist sogar ‚der Begriff „Schiffskabine“ kaum noch erkennbar; der durchgängige Ersatz der runden Kabinenfenster durch große rechteckige Zimmer- fenster sowie die vollständige Vermeidung übereinanderliegender Kojenbetten zugunsten breiterer, zu ebener Erde stehender Betten ‚erwecken von vornherein den angenehmen Eindruck, als ob der Besucher, an die nach der ‚Promenade“ führenden Fenster tretend, auf einen sonnigen (arten statt auf glitzernde Meereswellen müßte blicken können. -Eine ausgesuchte Eleganz und Reichhaltigkeit 350 Dr. Wiese, Das Meer. der Inneneinrichtungen erhöht und verstärkt diese Vorstellungen, auf festem Lande zu weilen. Von den allernotwendigsten Reise- gebrauchsgegenständen, auf die man sich früher zu beschränken pflegte, von Bett, Nachtschränkchen, Kleiderschrank und Wasch- toilette ist man hier überall zur weiteren Ausstattung der Wohn- gemächer mit Sofa, Tisch, mehreren Stühlen und Diplomaten- schreibtisch übergegangen, so daß jeder der hier in Betracht kommenden Passagiere in seinen eigenen Räumen kleine Zirkel abhalten kann. Das Tageslicht kommt zu freundlichster Wirkung durch die lichten Farben der Wände; überall ist für reichste Wand- und Deckenbeleuchtung gesorgt. Die Privatbäder des oberen Decks, die mit den Staatszimmern gemietet werden, haben direkte Zuleitung nicht nur von warmem und kaltem Salzwasser, sondern ebenso von warmem und kaltem Frischwasser. Die Waschtoiletten der Staatszimmer sind in gleicher Weise ausgerüstet. Alle Kammern und Bäder haben regulierbare elektrische Heizung. Die Lüftung der Kabinen, ein außerordentlich wichtiger Faktor für das Wohl- befinden des Passagiers, wird durch neue sinnreiche Konstruktionen vervollkommnet. Das Bestreben, bei windigem Wetter Zugluft in den Gängen auch bei Öffnung von Außentüren zu vermeiden, hat ebenfalls zu neuen Abwehrmaßnahmen geführt. Überhaupt wären eine Menge Kleinigkeiten zu nennen, die bei der Kabinenausstattung dieser neuen ÖOzeandampfer die rastlose Tätigkeit erfinderischer Köpfe kennzeichnen und in ihrer Zusammenwirkung der modernen Schiffskabine das Gepräge der höchsten Zweckmäßigkeit, Behag- lichkeit und Schönheit geben. ; | Vereinigen die Staatskabinen auch den höchsten Komfort der Schiffe, so bleiben doch die übrigen Kabinen, auch die billigsten, nicht viel hinter den geschilderten Qualitäten zurück. Geräumigkeit, Zweckmäßigkeit aller Einrichtungen, erlesener Geschmack und be- hagliche Wohnlichkeit zeichnen sie durchgängig aus. Für die gemeinsame Benutzung aller Kajütspassagiere dienen alsdann die breiten übereinanderliegenden Prome- nadendecks, auf denen sich der Passagier bei Promenade- konzerten ergehen und der Ruhe auf bequemen Schiffsstühlen pflegen kann, ferner zahlreiche geschützte Lauben zum Aufenthalt im Freien, wenn Wind und Wetter ungünstiger sind, prachtvolle Salons, ein großer Turnsaal mit den verschiedensten selbsttätigen Bewegungsapparaten, ausgedehnten Badegelegenheiten, darunter ee er a re Ba 1 2 DS EZ 7 Ze Pe © Zu 752 NT Z en ee ee a Sc III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 351 auch ein elektrisches Lichtbad u. dgl. m. Neben der reichhaltigen Schiffsbibliothek, die auf der „Kaiserin Augusta Viktoria“ allein ca. 1400 Werke der besten in- und ausländischen Literatur umfaßt, sorgt eine eigene Tageszeitung, die an Bord gedruckt wird, das „Atlantische Tageblattt“ „The At- lantic Daily News“, für die Unterhaltung der Passagiere. Die ei u m 6. 4 Te ase a Passagier-Ausschiffung in Cuxhafen, auf beiden Schiffen eingerichtete Marconistation, deren Benutzung auch den Passagieren freisteht, versorgt diese Bordzeitung täglich mit den neuesten Nachrichten vom Festland. Ein Verkaufsstand frischer Blumen leistet allen Auf- merksamkeiten der Passagiere untereinander Vorschub, frische Blumen verschönen reizvoll die Tafel, die Kabinen und das Bild des „Promenadenlebens“; frische Blumen unterstützen das Werk 352 Dr. Wiese, Das Meer. des Damenfriseurs — des ersten, der seine Kunst auf dem Welt- meere betreibt —, unterstützen, wenn Konzert und Ball die Gesell- schaft zusammenrufen; und frische Blumen trösten am Krankenbette, wenn einer der Passagiere das Unglück haben sollte, unterwegs zu erkranken. Außer den Schiffsärzten und ihrem Gehilfenstab sind jedem der beiden Dampfer Krankenpflegerinnen bei- gegeben. | Eine Neueinrichtung ist ferner der elektrisch betriebene Passagierfahrstuhl. Zur Bequemlichkeit der Passagiere führt ferner jeder der Dampfer ein spezielles Auskunftsbureaumit, das in allen Reiseangelegenheiten zu Wasser und zu Lande er- wünschten Rat und zuverlässigen Bescheid gibt. Der größte Fortschritt in den Passagiereinrichtungen einer „Amerika“ und „Kaiserin Augusta Viktoria“ kommt aber darin zum Ausdruck, daß jedes dieser Schiffe zum ersten Male mit einem a la carte-Restaurant ausgerüstet ist. Der Passagier braucht von nun ab nicht mehr wie früher an den gemeinsamen Mahlzeiten teil- zunehmen, sondern kann ganz nach Belieben die Restaurations- räume aufsuchen und aus dem mit erlesenem Geschmack aufge- stellten Menü auswählen, was ihm gerade begehrenswert erscheint. Geradezu ein Märchenbild aus Tausend und eine Nacht mitten auf dem Ozean ist der immergrüne Wintergarten, das Palmenhaus der „Kaiserin Augusta Viktoria“, das 100 Personen bequemen und erfrischenden Aufenthalt bietet. Über Palmen, Zier- gewächse und Blumen schweifen die Blicke weit übers Meer. Eine runde Glaskuppel im Plafond, die auf kunstvoll geschnitzten Pilastern ruht, hilft malerische Helligkeit über den Garten verbreiten. Blumen- beranktes Gitterwerk zieht sich an den Wänden entlang, auch das . Oberlicht ist mit reizvollem Spaliergestänge bekleidet. Der Ein- tretende sieht in den gegenüberliegenden Ecken der Vorderwand zwei Grotten, die Versailler Motiven nachgebildet sind: Schwäne, von Putten gehalten, speien Wasser in marmorne Muschelschalen. Ringsherum laden bequeme Korbstühle und Sofabänke zum Sitzen ein, seidene Kissen liegen umher, an kleinen Tischen wird Nach- mittags Kaffee und Tee in feinem Porzellan serviert. Über weiche Perserteppiche tritt der Fuß. Frische Blumen lugen aus gefloch- tenen Vasen, aus Körben, aus Gitterkästen längs der Wände am Boden. Die Rückwand läßt zwischen Palmengrün eine Parkland- III, Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 353 schaft sehen mit Schlössern und Springbrunnen, ein Motiv, wie es in diese Umgebung paßt. Bei Abend wird eine magische Be- leuchtung durch Wandleuchter und einen großen Lüster in der Mitte des Saales erzielt; hier glühen bunte Blumen aus reizendem Laubwerk hervor, dort in Grotten schimmert das niederträufelnde Wasser in bunten Lichtern. An der Inneneinrichtung der Dampfer haben die berühmtesten deutschen, englischen und französischen Firmen mitgearbeitet, deren Spezialgebiet die Dekoration der Schiffe isst. Gesellschafts- räume von bezwingender Schönheit sind auf diese Weise zustande gekommen. Dem Hauptspeisesaal gesellt sich ein Speise- salon, en Damensalon, einSchreibzimmer, enRauch- salon, ein Kinderspiel- und Eßzimmerzu. In der zweiten Kajüte finden sich Speise- Rauch- und Damensalon. Ist auf diese Art für einen so angenehmen Aufenthalt an Bord gesorgt, daß während der 7'/,tägigen Überfahrt von Cherbourg nach New-York schwerlich jemand die Freuden des Landes und die Fleischtöpfe der Heimat entbehren wird, so zeigen die Dampfer „Amerika“ und „Kaiserin Augusta Viktoria“ auf der anderen Seite auch die ganze Ausrüstung für deSicherheitderPassagiere die nach dem neuesten Stande der Technik denkbar ist. Längs- und Querschotten, wasserdichte Schottentüren, die auf ein elek- trisches Zeichen von der Kommandobrücke aus selbsttätig im Augenblick verschlossen werden können, sodaß Leckage immer nur einen einzelnen Raum des Schiffes mit Wasser füllen und das ganze Schiff nicht gefährdet werden kann, die üblichen Feuerlösch- einrichtungen mit Dampf und Wasser und außerdem der Clayton- apparat, der ausbrechendes Feuer mit Schwefeloxydgas bekämpft, Unterwasser-Glockensignale, die Schiffahrtshindernisse bei Nebel und unsichtigem Wetter rechtzeitig melden, drahtlose Telegraphie; alle diese Hilfsmittel, die zum Teil erst die allerjüngste Zeit er- funden hat, behüten und beschirmen die beiden ÖOzeanriesen vor jeder Gefahr. | So bieten die neuen Riesendampfer „Amerika“ und „Kaiserin Augusta Viktoria“ ihren Passagieren schlechterdings alles, was der moderne Mensch, fast möchte man sagen, erträumen kann. Keine angenehmere Fahrt über den Ozean, als im Schutz und in der Fürsorge dieser glänzenden Riesenstädte des Weltmeeres! Das Dr. Wiese, Das Meer. 23 354 Dr. Wiese, Das Meer. Genie des Menschen darf sich vor solchen Werken seiner die Elemente bezwingenden Macht immer herzhafter freuen. Niemand wird sie ohne Bewunderung sehen, niemand ohne wahrhafte Reise- freude auf ihnen das Meer befahren. Der Größe des Meeres tritt der Mensch mit solchen Werken seines erfinderischen Geistes und ruhelos schaffenden Fleißes groß gegenüber; auf der „Amerika“ und „Kaiserin Augusta Viktoria“ darf er sich sorglos und frei dem er- habenen Elemente anvertrauen. He Eine schwimmende Stadt. Deutsche Flagge sei gegrüßt! Steure kühn durch Wind und Welle, Nacht und Wolken hinter dir, Vor dir Sonnenaufgangshelle, Emanuel Geibel, Manches kleine Städtchen im Deutschen Reiche kann sich hinsichtlich seiner Einwohnerzahl und seiner gemeinnützigen Ein- richtungen mit einem Linienschiff der neueren Art nicht messen. So hat z. B. Seiner Majestät Linienschiff „Kaiser Wilhelm der Große“ an Offizieren und Beamten, Unteroffizieren und Gemeinen, eine Besatzung von 650 Köpfen. Eine kleine schwimmende Stadt mit allen Einrichtungen, die das tägliche Leben fordert, liegt vor uns. Sie ist allerdings auf einer Fläche von ungefähr 2000 qm zu- sammengedrängt, aber sie hat ganz wie die Mietshäuser großer Städte mehrere Etagen übereinander. Wie ist es möglich, daß 650 Personen in einer solchen Stadt Platz finden? wird mancher erstaunt ausrufen. Nun, gemach, sie haben in ihr nicht nur Platz, sondern wohnen besser und angenehmer als mancher Arme mit seiner Familie in den großstädtischen Mietskasernen, und vor allem, sie fühlen sich nirgend wohler und behaglicher als in ihr. Statten wir einmal dieser schwimmenden Stadt einen Besuch ab. Die Reinlichkeit ist hier in ihrer schönsten Blüte zu finden. Mit bestem Wasser, das an Bord durch Destillierapparate herge- gestellt wird, werden die Bewohner dieser Wasserstadt versorgt. Selbst in den verborgensten Winkeln finden wir elektrisches Licht. Überall, wohin man sieht, herrscht die peinlichste Ordnung. Der Bürgermeister, der Kapitän, ist zwar ein wohlwollender, aber auch gestrenger Mann, der keine Unordnung duldet. Pünktlich, zur bestimmten Stunde, durch Spielleute geweckt, erhebt sich die Bevölkerung dieser Stadt aus ihren Betten oder 23% r Sn nn reger . h De ae Dr. Wiese, Das Meer. Sort” 3 > EN? Kor ERLITTEN) 50 Panzer Deutschland. Leben der Völker. ım Meer Das III, Abschnitt. "SPoJey.) yıyasmmy>S er. RERTERTOR N 00: a. 9 2-" Hnar K ch“ 358 Dr. Wiese, Das Meer. vielmehr ihren Hängematten, wäscht sich und kleidet sich an, früh- stückt gemeinsam und geht an ihre Arbeit. Diese darf sie nicht früher verlassen, bis das Zeichen dazu durch die Pfeife des Boots- mannsmaaten gegeben wird. Gleichwie in kleinen Städtchen die Einwohner beim Ausklingeln einer Bekanntmachung ihre Arbeit unterbrechen und gespannt den nun folgenden Worten des Stadt- sergeanten lauschen, achtet man an Bord auf jedes Signal dieser Pfeife. Nach ihr tanzt an Bord alles. Hier gibt es keinen Tage- dieb, Landstreicher oder Bettler. Eine tüchtige Polizei, der Wacht- meister und sein Maate, sorgt eifrig dafür, daß alle Befehle und Vorschriften auf das Genaueste befolgt werden. Einwohner, die es einmal versuchen wollten zu faullenzen, werden durch die Schiffs- polizei sehr schnell und sehr gründlich von dieser bösen Eigen- schaft kuriert. Arbeit und Freizeit, Essen und Schlafen, Spiel und Dienst, alles geht nach einer bestimmten Ordnung. Selbst das liebe Geld wird, allerdings in nicht zu reichlicher Menge, zu be- stimmten Zeiten den Bewohnern der schwimmenden Stadt ausbe- zahlt.: Von Steuern sind sie allerdings frei. Auch für das geistige Wohl wird durch Gottesdienst und Unterricht gesorgt. Für das leibliche Wohl sorgen drei Restaurants, die Öffiziersmesse, die Deckoffiziersmesse und die Kantine. Sie liefern ihren Gästen für billiges Geld gute Getränke und sonstige Stärkungen. Wie am Lande, so schlägt auch hier die Feierabendstunde, und schon um acht Uhr geht von unsern Städtern, wer nicht durch „Wachegehen“ eder „Postenstehen“ daran verhindert ist, zu Bett. “ Natürlich blüht in unserer Stadt das ehrsame Handwerk; da häben wir zunächst den Schiffsbäcker, der es sich angelegen sein läßt, die Eimwohner mit frischem Gebäck zu versorgen. Torten und Biskuits sind es allerdings nicht, die sein eiserner Backofen liefert, sondern einfaches Soldatenbrot aus Weizenmehl, in Blechformen hergestellt, ab und zu auch einmal Semmeln. Der Kolonialwaren- händler, der hier den sonderbaren Namen „Bottelier“* führt, ver- ausgabt Tee, Kaffee, Zucker, Butter, Salz, Mehl usw., auch liegt ihm .die Verteilung des Fleisches ob, das ihm in der Regel von außerhalb, von einem Lieferanten zugeschickt wird. Im Auslande ' bernimmt. er vielfach selbst das Schlachten. Schuster, Schneider, Mechaniker, Zimmerleute, Schmiede, _ et) TR Büchsefimacher, selbst Maurer finden wir an Bord, ja sogar Laternen- £ anstecker und Laternenputzer sind vorhanden. Von der Be-: IIl. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 359 scheidenheit dieser Leute kann sich der Großstädter kaum einen Begriff machen. Der Schuhmacher nimmt für das Besohlen eines Paar Stiefel, wenn ihm die Sohlen geliefert werden, 25 Pfennig, alle Reparaturen fertigt er mit Vergnügen umsonst an. Auch der Schneider zählt hier zu den billigen Handwerkern; denn für das Wenden einer Hose berechnet er vielleicht eine Mark und alle größeren Reparaturen, die die Bewohner nicht selbst ausführen können, werden von ihm umsonst ausgeführt. Kurzum, wer ein Musterstädtchen sehen will, der gehe an Bord eines deutschen Kriegschiffes, und er wird vollkommen befriedigt sein. > Deutsches Flaggenlied. (Mit diesem im letzten Augenblick vom ÖOberfeuerwerksmaat Raahm angestimmten Liede, in das alle anderen einfielen, versank am 23. Juli 1896 heldenmütig die Mann- schaft des „Iltis“.) Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot Von uns’rer Schiffe Mast, Dem Feinde weh’, der sie bedroht, Der diese Farbe habt! Sie flattert an der Heimat Strand Im Winde hin und her Und weit vom deutschen Vaterland Auf sturmbewegtem Meer! Ihr woll’n wir treu ergeben sein, Getreu bis in den Tod, Ihr woll’n wir unser Leben weih’n, Der Flagge schwarz-weib-rot. Allüberall, wo auf dem Meer Ein hoher Mast sich reckt, Da steht die deutsche Flagge sehr In Achtung und Respekt. Sie bietet auf dem Meere Schutz Dem Reiche allezeit, Jedwedem tück’schen Feind zum Trutz, Der Deutschlands Ehr’ bedräut. Fürwahr, wo uns’re Flagge weht, Da hat es keine Not; Hoch leb’, die stets in Ehren steht, Die Flagge schwarz-weil-rot. = III, Abschnitt, Das Meer im Leben der Völker, Und wenn ein feindlich Schiff sich naht Und’s heißt: „Klar zum Gefecht!“ So drängt es uns zur kühnen Tat, Wir kämpfen für das Recht, Und dringt ein feindliches Geschoß In eines Seemanns Herz, Nicht klagt der wack’re Kampfgenoss’, Ihm macht es keinen Schwerz. „Hoch !“ ruft er dann: „Was schadet’s mir, Ich starb den Ehrentod Für Deutschlands heiligstes Panier, Die Flagge schwarz-weiß-rot. Und treibt ein feindliches Geschick Uns an ein Felsenriff, Gleichviel in welcherlei Gestalt Gefahr droht unserm Schiff: Wir weichen und wir wanken nicht, Wir tun, wie’s Seemanns Brauch, Den Tod nicht scheuend, unsre Pflicht Selbst bis zum letzten Hauch. Ja, mit den Wogen kämpfend noch, Der sterbende Pilot, In seiner Rechten hält er hoch Die Flagge schwarz-weiß-rot. In Afrika, in Kamerun Der wilde Feind sich zeigt, Der deutsche Seemann mutig ficht, Es weichet nicht so leicht. Der „Bismarck“ und die „Olga“ auch, Sie hielten tapfer stand, Wie deutsches Blut vergossen ist Im fernen wilden Land. Starb auch so mancher Kampfgenoss’ Den echten Heldentod, Hoch wehet doch in Afrika Die Flagge schwarz-weiß-rot. 301 362 Dr. Wiese, Das Meer. Es tönet hell durch Deutschlands Gau’n: Heil! Kaiser Wilhelm, dir! Du kannst auf uns’re Treue bau’n, Wir folgen mutig dir! Und wie auch einst der Würfel fällt, Sei’s Friede oder Krieg, Führst du uns an als Kaiserheld, Ist unser doch der Sieg. Hoch! Kaiser Wilhelm, lebe hoch! Beschütze uns vor Not. | Lang’ mögest du beschützen noch Die Flagge schwarz-weiß-rot! Robert Linderer. 6. Weltverkehrsstraßen des Ozeans. Die Nebel zerreißen, Es rührt sich der Schiffer, Der Himmel ist helle, Geschwinde! Geschwinde! Und Aeolus löset Es teilt sich die Welle, Das ängstliche Band. Es naht sich die Ferne; Es säuseln die Winde. Schon seh’ ich das Land! Goethe. Das Meer, einst ‘völkertrennend, heut völkervereinend, die Hochstraße des Erdballs, bietet ein überallhin gleichmäßiges, tragen- des, Zugang schaffendes Verkehrsgefilde, in das die modernen Dampfriesen selbstherrlich sich nach allen Richtungen ihre Gleis- furchen zu graben vermögen. In alten Zeiten, in der Jugend der Seeschiffahrt, war es nicht so. Die Anfänge geschahen mit einer unentwickelten Technik und einer ungenügenden Kenntnis von Meer, Wind und Wetter. Nur in der Küstenschiffahrt getraute man sich auf locker zusammen- gefügtem Fahrzeug ins Meer, das dem Ruderboot zunächst‘ fast unüberwindliche Schwierigkeiten entgegensetzte. Die Erfindung des Segelns, die Vervollkommnung der Ruderboote zur Galeere, die fortschreitende Kenntnis der Astronomie, der Meteorologie und der Meeresströmungen und -eigenheiten, die Erfindung und Ver- vollkommnung der nautischen Instrumente haben erst sehr all- mählich zu einer weiteren Ausdehnung die Handhabe geboten. Durch das ganze Altertum hindurch blieb die Schiffahrt primitiv, erstspät und ungern begann man im Mittelmeere sich weiter vom Lande zu entfernen, während man ällerdings nach und nach im Roten Meere, arabischen Golfe und im Indischen Ozean durch die dort herrschende Regelmäßigkeit der Strömungen und der Periodi- zität des zweimal im Jahre wechselnden Monsums zu größeren Unter- nehmungen angeregt wurde, zumal der Handel mit den Schätzen ee a re ee —— Zu BnN On ARTE er ai a ee wenn ar we "© - SE N . NEE Te 20 10 NN] ı L = 1, TA I I“ u \; Dr. Wiese, Das Meer. N S D, en ' aus 7% ur 9 Kanapte N ah d S n N N : OUURIT | Mazatları N N Ss SR Da URN NN 4 Horwans RT SL D I SE 21770 N Am 00 A \ \ ! Na drin NEAR E k N = 2 . a DT ’ ü Ei i 5 . if 0 RU . oN ut} - quatpr n NEN Wr N DL Sp ss III: x RR NPrL I ex BIS 1 S & RR RN NN \ Kon N N NN IDG RANDE N a N SID N p S N No’ > . RN IN 1 e 1 N , - DD E n Ö | 2 DLR N dORO N ) aQS } | Ä NS. N IR Aa a NS Ss x Su B Sr R . MOR EN oc alt nz : i IN { 2. AN ALRON DA N N N Rat il a TRTURN gs n/ 4 En) EEE RL II RAD \ ] | Südlie ' Wendekreis Shasta® 2 TRRÄN Ä ER > g xx | | ubaR ERRY Ss IN | alpard Q MVURY N b KO vd $ S Dampfschiffsvorbindungen \ Hamburg-Amer‘ka Linie. K%or | | | -| 5 — _ - : —— — ra mn — en m ' = — —— To —_— — er = BRD En EEE 2 60 20 ei, 0, u‘ . mn. 364 III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker, 3065 Indiens nur allzusehr lockte. Auch die späteren Seefahrer, die Wikinger und Normannen, hatten in der Regel weder die Mög- lichkeit, noch lag ein Grund vor, sich von den Küsten allzu weit zu trennen. Zwar hören wir von einzelnen Expeditionen, wie nach Island und Grönland, im ersten Jahrtausend, doch waren das Aus- nahmen, keine Unternehmungen mit dauernden Wirkungen. Erst die Fortschritte der nautischen Kenntnisse zur Zeit Heinrichs des Seefahrers, das immer dringender werdende Be- dürfnis nach der Auffindung des Seeweges nach Indien, nachdem der Landweg durch die Türkei gesperrt und gefährdet war, der wagende und neuerungslustige Geist der Renaissance brachten die Weltschiffahrt auf eine andere Basis. Im Zeitalter der Entdeckungen lernte man nach und nach, durch Wissenschaft und Seefahrtskunst das Meer eines Teiles seiner Schrecken zu entkleiden, und man begann neue Wege, nicht be- zeichnet durch Marksteine, wohl kenntlich aber durch den Stand der Gestirne, vielfach bestimmt auch durch die Richtung von Flut und Winden und Eisgang, über das Meer festzulegen. Im Norden die Eisberge und die Nebel, die dem Schiffer ein allzuweites Hin- aufgehen auf dem Wege zur neuen Welt unratsam machten, in der Mitte der Golfstrom mit seinem eigentümlichen Laufe, im Süden der Passatwind und die ein Umschiffen des Kaps der Guten Hoffnung auf dem Umweg über Brasilien ratsamer machenden Strom- und Windbedingungen bestimmten vielfach die Richtungen, in welcher ein Verkehr gehen konnte, tür den sich wirtschaftliche Bedürfnisse nach und nach herausstellten. Trotz der erheblichen Verbesserungen blieb man von Wind und Wetter in erheblichem Maße abhängig. Nur soweit der Stand der Technik, die voraus- zusetzende Durchschnittsgeschwindigkeit der Reisen und der zurVer- fügung stehende Schiffsraum es gestattet hatten, konnten Verkehrs- bedürfnisse ihre Befriedigung finden, bezw. als Realitäten entstehen. Ein Verkehr in leicht verderblichen Gütern, ein umfangreicher Verkehr in Massenartikeln, ein etwas regelmäßigerer, nach Fristen bemessener Verkehr überhaupt konnte kaum oder gar nicht sich entwickeln. Große Abweichungen kamen in der Dauer der Reise wie in der eingeschlagenen Route vor, außer dort, wo man sich wesentlich auf Meeresströmungen oder Passate verlassen konnte. Eigentliche Verkehrsstraßen im heutigen Sinn kennt man erst seit Einführung der Dampfschiffahrt, die den Einfluß von Wind, 366 Dr. Wiese, Das Meer. Wetter und Strömungen auf das Erheblichste verminderte, wenn auch nicht ganz beseitigte und bei einer bedeutend gesteigerten Durchschnittsgeschwindigkeit eine erheblich größere Regelmäßigkeit des Verkehrs zeitlich und örtlich ermöglichte. Nunmehr konnten entstehende wirtschaftliche Bedürfnisse auf eine ungleich besser gesicherte und regelmäßigere Befriedigung rechnen, die Volks- wirtschaft sich vom Seeverkehr mit Massengütern abhängiger machen. Aber wie die zunehmende Baugröße der Schiffskörper es diesen schließlich nicht mehr gestattet, allenthalben bei Ein- und Ausfahrt gefahrlos durch die Wasser zu gleiten, ohne ein Auf- laufen auf Untiefen befürchten zu müssen, so sind durch die Ver- kehrsbedürfnisse, durch die Anziehungskraft der wirtschaftlichen und kulturellen Zentren und die Rücksicht auf die schnellste und kürzeste Raumdurchmessung die Schiffe gezwungen worden, sich auf bestimmte Kurse mehr oder minder zu beschränken. Feste Straßen haben sich auf dem Weltmeer herausgebildet, auf deren meistbefahrenen heute sogar schon eine vertragsmäßige Trennung und Festlegung der Wege für Hin- und Rückfahrt aus Gründen der Verkehrssicherheit stattgefunden hat. Aber nicht allein neue Verkehrslinien auf alten Meeresbahnen wurden geschaffen, nicht nur die alten Bahnen durch Sicherung und Verbesserung der Fahrstraßen mittels Vermessung und An- legung' von Schiffskarten, Kennzeichnung der Klippen und Untiefen durch Warnungsmale, Leuchttürme und andere Schiffahrtszeichen, nutzbarer und die Anfangs- und Endstationen der Meeresstraßen durch Korrigierung der Flußmündungen, Hafenbau und Ver- besserung der Hafeneinfahrten gangbarer gemacht, auch durch Anlegung von Stützpunkten, früher Wasser- und Nahrungs-, heut namentlich Kohlenstationen, wurden die Straßen mehr und mehr für die Verkehrsbedürfnisse eingerichtet. Und nicht genug damit! Wo einem übermächtigen Verkehrs- bedürfnisse Landengen hemmend zwischen Meer und Meer ent- gegenstanden, da ‘suchten sıch die seegrewaltigen Völker künstliche Wege von Meer zu Meer zu schlagen; das Festland mußte weichen, um den Zwecken des Verkehrs Platz zu machen, um die Zusammen- schließung: bisher getrennter Verkehrskreise zu erzielen. Solche Pläne sind uralt. Die Verbindung des Niltales mit dem Indischen Ozean, bezw. der Suez-Kanal waren mehrfach wieder III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 367 aufgegebene Projekte der Ägypter. Als sich im Jahre 186g .die Völker der Welt bei der Eröffnung des Suezkanals einfanden, setzten sie zugleich das Mittelmeer in seine Herrschaftsrechte auf dem Gebiet des Handels wieder ein. Zum Heile der in den letzten Jahrhunderten neu entstandenen Handelsstaaten kann diese neue Herrschaft des Mittelmeeres nicht mehr eine Alleinherrschaft, wie sie es im Altertum und Mittelalter gewesen, werden, die neueste Zeit hat eben nur das im 16. Jahr- hundert aus dem Welthandel ausgeschaltete Mittelmeer in den- selben wieder eingeschaltet. Inzwischen waren auch alle Schranken, die der menschlichen Bewegung auf dem Meere gesetzt waren, durch das Zeitalter des Dampfes gebrochen worden. Unbegrenzt standen von jetzt ab alle Meere offen. Ein Weltverkehr von un- geahnter Ausdehnung erstreckte sich bald über das Atlantische Meer, die erste Handelsmacht der Welt stützt ihren Reichtum wesentlich auf ihre Stellung im Indischen Ozean, und tiefgreifende Entscheidungen fallen an den Küsten des Großen Ozeans, der sich immer mehr zu einer Hauptstraße des Weltverkehrs heraus- gebildet. Aus dem engen Rahmen der Binnenmeere hat sich der Weltverkehr immer weiter über die großen Ozeane ausgedehnt. Die Weltgeschichte einst auf einen Winkel des .Mittelmeeres beschränkt, dann die Geschichte des Mittelmeeres ist zur Geschichte des Atlantischen Ozeans geworden und erstreckt sich heute bereits über das. ganze Weltmeer. Die Riesenflächen des Großen und Indischen Ozeans werden zum Schauplatz welthistorischer Ent- scheidungen. Während sich der Verkehr in Europa über ungezählte Einzel- strecken zersplittert, wenn auch gewisse Querlinien besonders her- vortreten, während er sich in Nordamerika auf die den Erdteil durchquerenden Eisenbahnen konzentriert, müssen heute als die wichtigsten Straßen des Weltverkehrs die Linien von der Nordsee und dem Ärmelkanal nach Nordamerika, demnächst nach Mittel- und Südamerika und die durch das Mittelmeer nach Indien und Östindien betrachtet werden. Alle Weltstraßen, die von den Küste der europäischen Großstaaten fortführen, gehen von den Seitenmeeren und Buchten des Atlantischen Ozeans im Norden, Nordosten und Süden des europäischen Festlandes aus, im Norden von der Nord- und Östsee, im Nordosten zwischen Irland und der Iberischen Halbinsel, im Süden vom Mittelländischen und dem 368 Dr. Wiese, Das Meer. Schwarzen Meer. Sie alle führen durch die Zugänge zu zwei Meer- engen, dem englischen Kanal und der Straße von Gibraltar, um den Atlantischen Ozean zu gewinnen, durch den der von der Natur allein gegebene Weg auch in die anderen Weltmeere führt. Erst der Suezkanal hat einen direkten Ausgang aus den europäischen Gewässern nach dem Osten hergestellt. Der Lotse geht an Bord eines Passagier- dampfers, Die Routen, die den Atlantischen Ozean durchqueren, also zum amerikanischen Erdteil hinüberführen, teilen sich deutlich in drei Zweige: einen nördlichen, der Europa mit dem nördlichen Teile des amerikanischen Festlandes verbindet, die nordantlantische Route; einen mittleren, der zu den Staaten und Inseln des amerikanischen Mittelmeeres hinüberführt, die mittelatlantische Route und einen III. Abschnitt. Das Meer inı Leben der Völker. 309 südlichen, der zu den atlantischen Staaten Amerikas südlich des Äquators führt, die südatlantische Route. An der östlichen Küste des Atlantischen Ozeans entlang läuft der Seeweg von Europanachdem Westen und Süden Afrikas: die westafrikanische Route, Sich frei- machend von den Grenzgebieten des atlantischen Weltmittel- meeres, umgehen die beiden letzten Wege die Südspitzen Amerikas und Afrikas, um den östlichen Gebieten des Stillen Ozeans zuzu- streben. Auf der Westseite des Atlantik beginnt die atlantisch- pazifische Route, die die südatlantische fortsetzt und um Kap Horn öder durch die Magellanstraße an der langgestreckten Westküste des amerikanischen FErdteils hinaufführt. ° Auf der Östseite des Atlantik bewegt sich als Verlängerung der westafrikanischen Route um das Kap der guten Hoffnung herum die Straße nach Indien, Ostasien und Australien. Sie war der von der Natur gegebene Seeweg nach Östindien wie auch nach der Ostküste Afrikas. Seit einem Menschenalter hat sie ihre althistorische Bedeutung verloren, nur Segler, sowie nach Australien gehende Frachtdampfer befahren noch die alte Kaproute. Der Dampferverkehr hat sich zum aller- größten Teile dem kürzesten Wege durch den Suezkanal, der Suezroute zugewandt. Sie führt an den beiden Indien entlang nach dem äußersten Osten und nach Australien mit den benach- barten Inseln. Am Ausgange des Roten Meeres trennt sich von ihr die Straße, die an der Ostküste Afrikas gegen Süden hinunter- läuft, diesseits des Suezkanals begleitet sie von Gibraltar an die nordafrikanische Küste. Beide Strecken zusammen bilden die nord- und ostafrikanische Route. Um den Seestraßenzug zu einem den ganzen Erdball umspannenden Ringe zu machen, fehlt unter den bisher aufgeführten Routen noch eine den Großen Ozean durch- querende. Eine solche Route kann aber von den Küsten der europäischen Großmächte nicht ausgehen; denn wegen der ge- waltigen Breite des Pazifik -- er umfaßt an seiner breitesten Stelle mehr als den halben Erdball — sind zur Erreichung seiner Ost- und Westküsten vom Atlantischen Ozean aus die Wege um Kap Horn bezw. das afrikanische Kap und durch den Suezkanal immer die nächsten. Sie treten in den Großen Ozean ein, führen an seinen Gestaden zu beiden Seiten entlang, durchqueren. ihn aber nicht. Der direkte Verkehr von Europa nach den Südsee- inseln bewegt sich in zu wenig regelmäßigen Bahnen und ist auch zu unbedeutend, um hier besonders behandelt zu werden. Dr. Wıese, Das Meer, 24 370 Dr. Wiese. Das Meer, Ein transpazifischer Verkehr geht nur von den Vereinigten Staaten aus. Für ihre pazifischen Häfen ist der nächste Weg nach den westlichen Küsten des Großen Ozeans der Weg quer über ihn hinüber. Zwei Richtungen lassen sich dabei, vergleichbar den transatlantischen Routen, unterscheiden: die Verbindung mit Ost- asien und Indien, die nördliche transpazifische Route, »und-die Ver- bindung mit dem jenseits des Äquators gelegenen Australien und Neuseeland, die südliche transpazifische Route. Die Gliederung der Wege für den Seeverkehr der Union muß man im übrigen vom amerikanischen Standpunkt aus betrachten und den von der atlantischen und den von der pazifischen Seite ausgehenden Ver- kehr gleichzeitig trennen. Denn solange der Panamakanal nicht vollendet ist, sind die Richtungen des überseeischen Verkehrs für die atlantischen und pazifischen Häfen der Vereinigten Staaten ganz verschiedene. In nordsüdlicher Richtung verbindet die ost- pazifische Route die westlichen Unionshäfen mit den Häfen an der Westküste Mittel- und Südamerikas. Als Korrelat zu der atlantisch- pazifischen Route der europäischen Großmächte besteht natürlich. auch eine solche der Vereinigten Staaten im umgekehrten Sinne, von den westlichen Häfen aus um Südamerika herumlaufend und sich im Atlantik in mehrere Wege teilend. Der eine ist der heutige Verbindungsweg zwischen dem Westen und Östen der Union; auf ihm bewegt sich die große Küstenfahrt der Vereinigten Staaten. Die sich der östlichen Seite des Atlantik zuwendende Route dient in der Hauptsache dem Verkehr mit Europa; sie ver- läßt dort, wo Südamerika am weitesten gen Osten hervorragt, den Weg der großen Küstenschiffahrt nach den atlantischen Unions- häfen. Gleich am Kap Horn endlich wendet sich ein dritter Zweig der amerikanischen atlantisch-pazifischen Route nach Südafrika hinüber. So treffen sich die nach Westen und Osten gerichteten Arme des von der pazifischen Küste der Vereinigten Staaten aus- gehenden Straßenzuges im westlichen Teile des Indischen Ozeans. Dem gegenüber muß natürlicherweise das Seestraßennetz, das von der atlantischen Seite der Union sich nach den westlichen Gestaden des Stillen Ozeans erstreckt, mehr dem der europäischen (Großmächte ähneln. Die Kap der Guten Hoffnung- und Suez- routen führen von der Ostseite der Vereinigten Staaten nach dem fernen Osten. In der östlichen Hälfte des Atlantik treffen auch die Wege, die von der Union nach dem Westen und Süden III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker, 2 Afrikas gehen, die gleichen Wege der europäischen Großmächte. Dasselbe gilt für den westlichen Teil des Atlantik hinsichtlich der südatlantischen Route der Vereinigten Staaten. Entsprechend dem Seewege der europäischen Großmächte auf dem europäischen Mittelmeer verbindet die atlantischen Häfen der Union auch eine belebte Straße mit dem amerikanischen Mittelmeer. Wenn sie aber auch wie jene mehr der Küsten- als der überseeischen Schiff- fahrt dient, soll sie hier dennoch, ebenso wie die ostpazifische Mittelmeerroute, erwähnt werden, weil es gegenüber den von Der amerikanische Lotse. Europa kommenden mittelatlantischen Routen aus mehr als einem Grunde interessant ist, die Ausdehnungen der Beziehungen der Union auch zu dem mittleren Amerika zu veranschaulichen. Der Weg endlich, der von den atlantischen Uniorshäfen nach der pazifischen Küste Amerikas bis hinauf wieder an die eigene pazifische Küste führt, wurde bereits von der umgekehrten Richtung aus erwähnt. Schließlich fällt noch die Route, die das atlantische Gestade der Vereinigten Staaten mit Europa verbindet, zusammen mit der nordatlantischen Route der europäischen Großmächte. Wie die nordatlantische Route, von europäischer Seite ge- 24 * 372 Dr. Wiese, Das Meer. sehen, den Verkehr mit ‘der ganzen atlantischen Küste Nord- amerikas umfaßt, gilt umgekehrt für die Vereinigten Staaten als Route gleichen Namens der Weg nach allen von der Ostseite des Nordatlantik und seinen Nebenmeeren bespülten Küsten. Daher muß sich auch, vom Standpunkte der Vereinigten Staaten aus, die nordatlantische Route in ihrem letzten Teile in zwei Aste teilen, einen nördlichen, der die Küsten Europas nördlich der Enge von Gibraltar bestreicht, die europäische Atlantikroute, und einen süd- lichen, der zu den Küsten des. Mittelmeers führt, die europäische Mittelmeerroute. In letzterer ist also die oben genannte nord- afrikanische Route bereits einbegriffen. Eine ostafrikanische Route existiert, wie für die pazifischen, so auch für die atlantischen Häfen der Union noch nicht. | (Nauticus.) Die Welthäfen der Gegenwart. Auf, Matrosen, die Anker gelichtet, Segel gespannt und den Kompaß gerichtet! Liebchen, ade! Scheiden tut weh; Morgen geht’s in die wogende See. Wilhelm Gerhard. Bis zum Jahre 1870 hat London im internationalen Verkehr die Hauptrolle gespielt. Seit dieser Zeit ist der Mittelpunkt des Weltverkehrs auf eine Mehrheit von Hafenplätzen übergegangen, die auf engstem Raume kaum zwei Schiffstagereisen in den äußersten Punkten voneinander entfernt liegen und ein dichtes Netz regelmäßiger Dampfschiffahrt nach allen Seiten der Wind- rose ausstrahlen. Es sind die Häfen: London, Liverpool, Hamburg, Bremen, Amsterdam, Rotterdam, Antwerpen, Havre, die eine ein- heitlicbe einzigartige Gruppe bilden und, wenn einander auch aufs heftigste bekämpfend, doch mehr und mehr sich gegenseitig er- gänzend. Wenn London, das noch immer, aber auf wesentlich neuer Grundlage, die Führung hat, im Jahre 1870 65 v. H. des euro- päischen Verkehrs hatte, so stellt sich sein Anteil in der Gregen- wart auf 5o v. H. London versorgt also heute nicht annähernd mehr in gleichem Maße mit den Erzeugnissen überseeischer (re- biete, wie es früher der Fall war. Der Rückgang im Umladungs- verkehr ist ein bedeutender. Aus 43,4 Millionen Pfund Sterling, die im Jahre 1882 an kolonialen und fremden Erzeugnissen von London weiter verschifft wurden, sind nach dem „Nauticus“ rund 36 Millionen im Jahre 1900 geworden. Und auch dieser Wert ist nur erreicht, weil einige der wertvollsten Umschlaggüter im Preise noch gestiegen sind. Auf der anderen Seite hat der Ihemse- hafen aber auch seine überseeischen Verbindungen trotz des Ver- 374 Dr. Wiese, Das Meer. lustes an Umladungsverkehr beträchtlich ausgestaltet. Daß die Großschiffahrt im Themsehafen zugenommen hat, beweist die ge- waltige Steigerung zwischen 1870 und 1903 von 4 auf ıı Millionen Registertonnen. | Hauptrivale Londons und Englands ist Liverpool geworden. Ein sehr bezeichnender Unterschied zwischen den beiden Städten ist: daß London fast ausnahmslos von den fremden Erdteilen her sehr viel mehr Schiffe empfängt als es dorthin absendet, während in Liverpool ebenso fast ausnahmslos das Gegenteil der Fall ist. So hat denn die Themsestadt in der Gegenwart sehr viel stärker als noch vor dreißig Jahren die Rivalität Liverpools zu spüren, wie sie umgekehrt selbst auch noch in die alten Domänen der Mersey- stadt eingebrochen ist. Auf dem Festlande hat sich Hamburg an die erste Stelle auf- geschwungen, gestützt auf ein weites und sehr leistungsfähiges, ganz Mitteleuropa bis tief in den Osten hinein umfassendes Hinter- land, und zugleich Londons schärfster Konkurrent in dem Rest vom Umladungsverkehr, der in der modernen Seeorganisation Furopas noch geblieben ist. Der gewaltige Wirtschaftsaufschwung, der in Deutschland nach der politischen Gewitterreinigung des preußisch-österreichischen und deutsch-französischen Krieges einsetzte und unter nur geringen Rückschlägen ein immer schnelleres Tempo annahm — der Ausbau der Eisenbahn- und Binnenwasserstraßen, der das große Hinterland immer enger an die Küstenstädte anschloß —, die Eisenbahntarif- politik der deutschen Staatsbahnen, die den Seeverkehr wenigstens in der Ausfuhr besonders begünstigte — alles das kam Hamburg in besonderem Maße zugute und führte seinen beweglichen, reiche Initiative entfaltenden Kaufleuten das Material zu, mit dem sie in raschen Zügen, gedeckt von der deutschen Flagge und damit von der politischen Macht des Reiches, nach allen Seiten hin ein dichtes Schiffahrtsnetz auslegen und zugleich da selbstbewußt auftreten konnten, wo sie vorher nur geduckt und geduldet ihrem Gewinn nachgegangen waren. Aus den 60 v. H. des englischen Anteils an der Gresamtschiffahrt sind jetzt nur noch etwa 30 v. H. geworden, und selbst auf Europa entfällt doch nur noch die Hälfte, nicht mehr ?/,; dagegen nimmt die Ostküste Nordamerikas allein !/, und das übrige Amerika noch /, in Anspruch, während Asien und die a Ze W Pe Dr tu eh « RB A DTEL> IM ee re er - III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 375 Südsee etwa 5; und Afrika auf noch 4 v. H. des gesamten Ein- gangs aufzuweisen haben. Dampfer „Pennsylvania“ der Hamburg-Amerika-Linie löscht am Kronprinzquai, Hamburg hat jetzt in der Tat nach allen Erdteilen häufige und so gute Seeverbindungen, daß kein Gut einer Umladung in 376 Dr. Wiese, Das Meer. London etwa deshalb ‚unterworfen werden muß, weil vom Festlande aus die direkte Beförderungsgelegeenheit fehlt, und nichts kann deutlicher den gewaltigen Aufschwung des Elbhafens, insbesondere auch seine Stellung in der Organisation des Weltverkehrs, veran- schaulichen, als die Tatsache, daß Hamburg nicht nur für Skandi- navien und die Ostsee sich mit London in die Rolle des Ver- teilungsplatzes teilt, sondern daß auch ein gut Teil des Verkehrs, der zwischen fernen Fremdgebieten — etwa zwischen Nordamerika und Levante oder zwischen Nordamerika und Ostasien — sich abspielt, dabei der Hamburger Umladung sich bedient, ja, daß selbst nach London so manches Gut auf dem Wege über Hamburg transportiert wird, das aus alten Domänen der Londoner Schiffahrt, etwa aus Asien oder der Levante, herstammt. Hamburg ist in der Tat einstweilen der gefährlichste Rivale der britischen Haupt- stadt und als zweitwichtigster Welthafen überhaupt zu bezeichnen ; von den 1,6 Millionen des Jahres 1869 ist: der Gehalt der ein- fahrenden Schiffe bis zum Jahre ı903 auf 8,5 Millionen Register- auf das reichlich Fünffache, während in London tonnen gestiegen, nicht ganz eine Verdreifachung: eingetreten ist. Neben den Welthafen hat Bremen einen schweren Stand. Aber auch Bremen hat seine Stellung in den letzten Jahrzehnten wesentlich befestigt und seine Seebasis erweitert. Vom (Gesamt- verkehr Nordamerikas stellt es heute nur noch etwa ?/,, etwas weniger als vor 30 Jahren; dagegen ist der Anteil der anderen fremden Weltteile etwa '/, und der Großbritanniens auf !/, stehen geblieben, während der Verkehr mit den nichtdeutschen Festlands- häfen die entsprechende Steigerung erfahren hat. Insgesamt ist die Schiffahrt einer Richtung zwischen 1869 und 1903 von 650000 auf drei Millionen Registertonnen angewachsen. An dritter Stelle in Europa, an zweiter auf dem Festland, an vierter in der Welt steht in der Gegenwart Antwerpen, das sich mit Rotterdam und Amsterdam in den ganzen gewaltigen See- verkehr des Rheintales teilt, das außerdem aber: auch aus der Wirt- schaftskraft Belgiens sowie aus dem ganzen Osten und Nordosten Frankreichs reiche Nahrung zieht: in der Schiffsorganisation ist es besonders dadurch charakterisiert, daß es keine einzige große Über- seeverbindung aus eigener Initiative zur Entstehung gebracht hat — die Gesellschaften belgischer Flagge sind teils amerikanischen, teils englischen und deutschen Ursprungs — und daß es ganz ” III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 377 "überwiegend den von London und Hamburg-Bremen herkommen- den Linien als Anlaufshafen dient, nur in geringem Umfange An- fang und Endpunkt eigener Verbindungen bildet. Schuppen mit der gelöschten Ladung eines Amerikadampfers, Neben Antwerpen stehen, zu gutem Teil auf dasselbe Hinter- land gestützt, Rotterdam und Amsterdam als die eigentlichen 378 Dr. Wiese, Das Meer. Rheinmündungshäfen, und es ist nicht das letzte Zeichen von der enormen Wirtschaftskraft Westdeutschlands, daß es nicht weniger als drei Seehäfen zur Bedeutung von Welthäfen erhoben hat. Von den 400000 Registertonnen, die im Jahre ı870 in Amsterdam ein- gingen, ist der Verkehr in der Gegenwart auf ı'!/, Millionen ge- stiegen. Größer ist jetzt Rotterdam. Rotterdam, wo im Jahre 1870 erst ı,2 Millionen Registertonnen eingingen, hat es im Jahre 1903 auf sieben Millionen Tonnen gebracht, und nach allen Erdteilen hin spannt sich das Netz, dessen Teil das Gesamtergebnis gezeitigt hat. Havre, seinem Ursprung nach eine völlig künstliche Gründung, hat in der Gegenwart besonders seine amerikanischen Verbindungen beträchtlich ausgebaut, vom Norden Baumwolle und vom Süden Kaffee vor allem heranholend, zu. gutem Teil dabei allerdings fremder, namentlich auch deutscher Anlaufslinien sich bedienend. Insgesamt ist der Verkehr des französischen Hafens zwischen 1870 und 1903 von 1,2 auf 2,4 Millionen Registertonnen gestiegen. Dem uralten Rhonehafen Marseille, dessen Gesamtverkehr sich im Jahre 1903 auf 7,2 Millionen Registertonnen belief und dessen Hauptgebiet immer noch das Mittelmeer bildet, ist ein empfindlicher Konkurrent, dank dem Ausbau der alten Bahnen, in Genua ent- standen. Der ligurische Hafen ist sowohl für den Güterverkehr wie für die Personenbeförderung wichtig geworden. "Insgesamt sind im Jahre 1903 in Großer- und in Staffelfahrt fünf Millionen Registertonnen in Genua angekommen. Alle anderen Seehäfen des Mittelmeers stehen hinter diesen beiden letzten erheblich zurück. Nur Neapel und -Iriest, Konstantinopel, Smyrna und Odessa können noch internationale Bedeutung beanspruchen. Ein dichter Kranz von Seehäfen legt sich in der Gegenwart um den nordamerikanischen Kontinent herum und hält ihm die Verbindung mit anderen Erdteilen offen. Im Vordergrund als eigentliche Welthäfen stehen New-York im Osten und San Fran- zisko im Westen. | In der Statistik kommt. der Vorrang: New-Yorks deutlich zum Ausdruck: mit einem Schiffseingang von neun Millionen Register- tonnen hat es im Jahre 1903/4 fast 4o v. H. der gesamten Ozean- schiffahrt der Vereinigten Staaten in sich aufgenommen, während der nächst verkehrsstarke Hafen, Boston, es nur auf 2,7 Millionen gebracht hat; New-York hat damit eine Ziffer aufzuweisen, die in Europa nur von London übertroffen, von Hamburg aber nicht ganz III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 379 erreicht wird. San Franzisko hat es demgegenüber nur auf 800000 Registertonnen gebracht, während die Gesamtheit der Puget Soundhäfen nur auf ı,2 Millionen gekommen ist. Die Seehäfen der übrigen Erdteile verdanken ihre Stellung wesentlich den Beziehungen zu Europa und Nordamerika. In Vorderindien ist Bombay der wichtigste Hafen des indischen Fest- landes, dahinter tritt Kalkutta zurück, während Colombo auf Ceylon den ganzen reichen Durchgangsverkehr gewonnen hat, der von Europa durch den Suezkanal nach dem östlichen Asien und nach Australien gerichtet ist. Auch in Singapore ist der Durch- Kaianlagen der Hamburg-Amerikalinie in Hoboken (New-York). gangsverkehr bei weitem das Wichtigste. In Hongkong stellte sich im Jahre 1903 der Eingang von Schiffen europäischer Bauart auf 9,6 Millionen Registertonnen — eine Zahl, die in der ganzen Welt nur von London etwas übertroffen, von New-York und Ham- burg aber nicht erreicht wird. Das chinesische Canton und das ganz verwahrloste portu- giesische Macao kommen für den internationalen Grolßverkehr nicht in Betracht. Dagegen hat sich im Norden Shanghai zu einem Seeplatz ersten Ranges rasch emporgeschwungen. Shanghai ist heute der wichtigste Hafen des ostasiatischen Festlandes, in dem nicht nur die europäischen Chinalinien ihr Ende 380 Dr. Wiese, Das Meer. finden, von dem vielmehr auch nach dem höheren Norden ins Gelbe Meer hinein und nach Japan Zweiglinien ausstrahlen. Ähn- liche Bedeutung wie Shanghai für China hat Yokohama für das Reich des Mikado: Endpunkt der europäischen Japanlinien, Aus- gangspunkt der japanischen Europalinien, Anlaufshafen der west- amerikanischen Östasienlinien und Mittelpunkt eines dichten Netzes von kleineren Anschlußlinien, die auch nach China wieder hinüber- führen. In Süd- und Mittelamerika ist von wirklich großer Bedeutung nur Buenos-Ayres; in Afrika Kapstadt und Port Elisabeth; in Australien Sydney, Melbourne und Adelaide. 8. Wie findet der Schiffer den Weg über den Ozean. . Von Friedrich Meister. Ins Meer, ins freie Meer hinaus! Fahr wohl, du enger Hafen! Das Schiff sieht blank und lustig aus, Das Land blickt noch verschlafen. Hans Hoffmann. Angesichts der heutigen Hilfsmittel der Schiffahrt ist es schwer zu verstehen, auf welche Weise es den Seefahrern vergangener Zeiten gelang, ihre Schiffe aus einem Hafen in den anderen zu bringen. Wir denken hierbei nicht an die Seefahrer des Alter- tums, von denen man annimmt, daß sie sich immer in Landnähe grehalten und nachts, so gut es anging, nach den (sestirnen ge- steuert haben, wohl aber an die großen Entdecker Marco Polo, Vasco da Gama, Kolumbus, Magalhaes, Diaz und deren Zeitgenossen und Nachfolger, die um die südlichen Landspitzen von Afrika und Amerika herum nach Indien, über den Atlantischen Ozean nach der neuen Welt segelten oder sich aufmachten, die „Nordwestliche Durchfahrt“ zu finden. Von der geographischen Länge hatten sie kaum mehr als unvollkommene Anschauung, da sie der geeigneten Mittel zur Berechnung derselben entbehrten, und auch ihren Breitenbestimmungen fehlte die Zuverlässigkeit. Wenn man die Land- und Seekarten aus jener Zeit betrachtet, dann muß man lächelnd den Kopf schütteln. Die Umrisse der Erdteile und Inseln entsprechen so wenig der Wirklichkeit, als wenn sie Kinderhände aufs Geratewohl hingemalt hätten. Nichts- destoweniger aber erreichten jene alten Seefahrer die Hafenorte, nach denen sie unter Segel gegangen waren. Oft freilich, wenn die Reise lang war, geschah es, daß sie an hundert Seemeilen und mehr von dem erstrebten Hafen entfernt das Land anliefen; be- 382 Dr. Wiese, Das Meer. denkt man aber, daß ihre Kenntnis von den Abweichungen des Kompasses höchst mangelhaft, daß ihr Kompaß selber nur ein primitives und unvollkommenes Instrument war, daß sie sich nur auf den Nordstern und das Log mit einiger Sicherheit zu verlassen vermochten, dann kann man ihnen selbst für eine- solehe Leistung Bewunderung nicht versagen. Die moderne Wissenschaft hat es dem Schiffsführer der Jetzt- zeit leicht gemacht, den Pfad über die Meere zu finden. Sie bietet ihm vor allem genaues und zuverlässiges Kartenmaterial und die trefflichen, unentbehrlichen Segelhandbücher, die für den Dampfer- kapitän ebenso wichtig sind wie für den Segelschiffer. In den Seekarten findet der Schiffer die Wassertiefen, die Bänke, Un- tiefen und Klippen, die Leuchtfeuer, Bojen und Baken, sowie auch die magnetische Deklination eingezeichnet. Bestimmte Kreise um jedes Leuchtfeuer — die Lichtkreise — sagen ihm, wie weit das Feuer zu sehen ist. Mit Hilfe der Karte kann er also gefährlichen Stellen fern bleiben. Über Windverhältnisse, Strömungen und Gezeiten gibt sie ihm jedoch keine genügende Auskunft; auch manches andere, das für die Führung eines Fahrzeugs von Wichtig- keit ist, würde der Schiffer vergebens auf einer Karte suchen; er muß daher seine Zuflucht zu den Segelhandbüchern nehmen. In diesen findet er angegeben, wie er sein Schiff zu steuern hat, um sicher und schnell den Bestimmungsort zu erreichen, was für Wind er wahrscheinlich antreffen wird, welche Strömungen er benutzen kann oder vermeiden muß. Auch über die Häfen und Reeden, die er anzusegeln hat, enthalten die Segelanweisungen alle nötigen Angaben. Der Führer eines Schiffes, das im Sommer von Hamburg nach New York segeln soll, ersieht aus diesen Anweisungen, daß er vom Kanal aus südlich und an Madeira vorbeisteuern und dann etwa zwischen dem 20. und 23. Breitengrade bis in die Nähe der west- indischen Inseln westlich laufen muß, ehe er seinen Kurs direkt auf New York richten darf. Auf diesem Wege wird er einesteils- dem Gebiet atlantischer Wirbelstürme ausweichen, anderenteils den Nordostpassat und den Nordäquatorialstrom und später die öst- lichen Winde der westindischen Gewässer benutzen können, So gibt es für die meisten Seereisen bestimmte Fahrstraßen, die der Seemann einhalten muß, wenn er nicht in Windstillen, widrige Winde und andere Unannehmlichkeiten geraten will. N eure en Ill. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker, 383 Diese nützlichen Segelanweisungen sind entstanden aus dem Inhalt ungezählter Logbücher, jener seemännischen Tagebücher, in die bekanntlich alles während der Reise an Bord Beobachtete ein- getragen werden muß. Den ersten Anstoß zu dieser ungeheuren Sammelarbeit gab im Anfang: des 19. Jahrhunderts der amerikanische Marineleüutnant Manry, und seit der Zeit sind alle seefahrenden Nationen tätig‘, die Segelanweisungen zusammenzustellen und heraus- zugeben. Auch Deutschland ist in diesen Bestrebungen für die Sicherheit des Seeverkehrs nicht zurückgeblieben; die deutsche Seewarte setzt alle Kraft daran, den deutschen Seefahrern deutsche Werke zu bieten, die denen anderer Nationen vielfach überlegen sind. Für die deutschen und die englischen Gewässer und für die drei großen Weltmeere liegen deutsche Segelanweisung'en bereits vor. Welches Ziel die Seewarte bei deren Abfassung verfolgte, sagt sie selbst in den „Annalen der Hydrographie* 1897: „Mit dem unlängst erschienenen Segelhandbuch für den Stillen Ozean ist die Reihe der Werke zum vorläufigen Abschluß ge- kommen, in welchen die Direktion der Seewarte den: deutschen Seemann, dem jeweiligen Stand der Wissenschaft entsprechend, alles das bietet, was ihm zur sicheren Durchschiffung der Welt- meere zu wissen nötig ist und ihn von der einschlägigen Literatur des Auslandes unabhängig macht.“ Um etwa Fehlendes oder Falsches ergänzen und berichtigen zu können, verteilt die Seewarte an deutsche Kapitäne Frage- bogen, in welche diese auf Grund persönlicher Erfahrungen Hin- weise und Angaben machen sollen, wie die Segelanweisung noch verbessert werden kann, um allen Anforderungen zu genügen. Für spezielle Reisen, über die in Büchern wenig oder nichts zu finden ist, werden sogar schriftliche Segelanweisungen ausgearbeitet und den betreffenden Schiffern zugestellt. Solche Fälle kamen im Jahre 1895 vierzehnmal, 1896 zehnmal und 1897 achtmal vor. Durch Karte und Segelanweisung weiß also der Seemann, welchen Weg er zu steuern hat; jetzt kommt es für ihn darauf an, diesen Weg einzuhalten und sich auf dem Ozean zurechtzufinden. Bei Tageslicht und in Hafennähe fällt ihm dies nicht schwer; denn dann dienen ihm die Baken und Tonnen als Wegweiser. Auch nachts gibt es überall, wo es nötig ist, an den Küsten solche Wegweiser: die Leuchtfeuer auf Schiffen, Türmen und Bojen. 384 Dr. Wicse, Das Meer, Wie der Schiffer nach diesen Feuern seinen Kurs bestimmt, maß ein Beispiel zeigen. Ein Schiff segelt aus der Nordsee def Straße von Dover zu. Die Goodwinsandbänke liegen bereits hinter. ihm. Das Licht vom Goodwin-Feuerschiff ist eben noch am Horizont zu sehen, der Mann am Ruder hat die Weisung, so zu steuern, daß das Licht immer gerade noch sichtbar bleibt. So läuft das Schiff im Bogen um das Feuer auf dem in der Karte verzeichneten Lichtkreise desselben. Jetzt meldet der Mann auf dem Ausguck ein zweites Licht, rechts voraus, einen Strich nach Steuerbord, also nach rechts. Es zeigt sich daselbst ein Feuer, das alle sieben Sekunden heller auf- blitzt. An dieser Eigentümlichkeit erkennt der Schiffer in diesem Feuer das Doverlicht. Sein Fahrzeug befindet sich nunmehr in den Lichtkreisen dieses und auch des Goodwinfeuers, dort, wo auf der Karte beide Lichtkreise sich schneiden. Der Schiffer blickt ° auf die Karte, weiß nun genau, wo sein Fahrzeug liegt und bringt es auf südlichen Kurs, um von der Varnuntiefe freizukommen. Hat das Schiff den Kanal hinter sich und den Atlantischen Ozean erreicht, dann gibt es freilich keine Wegweiser mehr, und der Seefahrer ist auf Kompaß und Log, auf Sextant und Chrono- meter angewiesen; mit diesen Instrumenten muß er den Pfad über das Weltmeer finden, bei Tage wie bei Nacht. Ein Schiffskompaß sieht anders aus als ein Taschenkompaß. Die Magnetnadel ist fest mit der die Windrose darstellenden Scheibe verbunden, so daß letztere mitschwingt und man jede Himmels- richtung sofort ablesen kann, ohne erst, wie beim Taschenkompaß, das Instrument so drehen zu müssen, daß der Nordstrich der Scheibe unter den Nordpol der Nadel zu liegen kommt. Die Windrose ist in zweiunddreißig gleiche Teile, Striche genannt, ge- teilt. Außerdem trägt ihre Peripherie eine Gradeinteilung. Nadel und Scheibe schwingen in einem Messingkessel, der so in einem Ringe aufgehängt ist, daß er stets wagerecht schwebt. Am Innen- rande \es Kessels sieht man zwei senkrechte Striche, die genau in der Längsachse des Schiffes lieger und Steuerstriche heißen. Soll der Mann am Ruder einen bestimmten Kurs, z. B. Südwest, ‚steuern, so achtet er darauf, daß der Südwestpunkt der Scheibe den vorderen der Steuerstriche berührt, und ist sicher, richtig zu steuern. Weiß der Seemann den Kurs, den er innezuhalten hat, so muß ar he een ee he ce OR ee ee Ad a a III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 385 er ebenso notwendig wissen, welche Fahrgeschwindigkeit sein Schiff hat. Diese mißt er mit dem Log, das aus einer auf eine Haspel (Logrolle) gewickelten Leine besteht, an deren Ende ein dreieckiges Brettchen (Logschbeit), an einer Kante mit Blei be- schwert, befestigt ist. In der Logleine sind in Abständen von je 7,20 m Schnur- bzw. Lederstückchen (Knoten) eingedreht. Beim „Loggen“ wird das Logscheit über das Hinterteil des Schiffes ins Wasser geworfen, wo es aufrecht stehen bleibt und durch den Wasserdruck auf nahezu derselben Stelle gehalten wird, während das Schiff weitersegelt und die Logleine von der Haspel abrollt. Die Prozedur dauert genau 14 Sekunden, welcher Zeitraum ver- mittelst einer kleinen Sanduhr gemessen wird. Man holt nunmehr die Leine wieder ein und zählt dabei die abgelaufenen Knoten, nehmen wir an 10'/,. Das Schiff hat also in ı4 Sekunden ı0!/,mal 7,20 m zurückgelegt; es läuft demnach bei gleichmäßiger Ge- schwindigkeit in der Stunde ı10!/,mal ı852'/), m oder ı0!/, See- meilen. So weiß der Schiffer Richtung und Länge (Kurs und Distanz) des hinter ihm liegenden Weges und kann daraus auf die einfachste Art berechnen, wohin er, von einem bekannten Punkt aus, gelangt. Wäre er z. B. von dem vorhin festgestellten Standorte zwischen Goodwin-Sands und Dover ı6 Seemeilen nach Süden gesegelt, so hätte er vom Schnittpunkt der erwähnten Lichtkreise auf seiner Karte einen Bleistiftstrich nach Süden gezogen, auf diesem 16 See- meilen abgetragen und so seine Lage festgestellt, Allerdings gestaltet sich bei Kursen, die nicht Nord oder Süd liegen, die Sache etwas anders. Da die Karte niemals genau mit dem darzustellenden Teil der Erdoberfläche übereinstimmt, muß der erreichte Ort berechnet werden. Hier aber treten die „Koppel- tafeln“ ein, die dem Schiffer diese Berechnung ersparen. In diesen Tafeln findet der Seemann für jeden Kurs und für jede Distanz, bis zu 500 Seemeilen, angegeben, wohin er gelangt. Ist er 236 Mill (Seemeilen) West-Süd-West gesegelt, so schlägt er in den Tafeln die für W.S.W. geltende Seite auf und liest hier hinter 236, daß er 318 Mill nachı Westen und 90,3 Mill nach Süden vor- gerückt ist. Verwandelt er diese Strecken noch in Längen- oder Breitengrade, was teilweise wiederum mit Hilfe der Koppeltafeln geschieht, so kann er auch Länge und Breite des erreichten Punktes feststellen. Diesen Punkt verbindet er auf der Karte durch Dr. Wiese, Das Meer. 25 386 Dr. Wiese, Das Meer. eine gerade Linie mit dem Bestimmungshafen und steuert den so gefundenen Kurs. Eine Navigierung durch Kompaß und Log — man nennt sie „Gissung“ — hat jedoch ihre Mängel. Der Kompaß weist, der Deklination wegen, nicht immer nach Norden. Außerdem wirken die Eisenmassen der modernen Schiffe ablenkend auf die Nadel ein, und trotz „Kompensierungen“ ist es nicht immer möglich, diese Störung zu beseitigen. Auch die Messung der Fahrgeschwindig- keit durch das Log läßt zu wünschen übrig, wie auch der Laie sich leicht denken kann. Zum Überfluß steuert ein Fahrzeug keines- wegs immer in der Richtung'seinerLängs- achse ; bei seitlichem Winde wird es mehr oder weniger zur Seite getrieben; es „macht Leeweg“ oder „hat Abtrift“. - DiesezAp- trift aber läßt sich nur schätzen, wird also selten richtig in Rech- nung gezogen werden. Ein weiteres Hilfs- mittel des Seefahrers, das Lot, dessen (Ge- brauchsart als bekannt ep vorausgesetzt werden Karte zur Auffindung des Polarsternes. darf, kann auch nur in beschränktem Maße zur Anwendung kommen. Der Navigator der neuen Zeit wäre daher nicht viel besser daran, als jene eingangs erwähnten alten Seefahrer, wenn er den Sextanten und den Chronometer nicht zu seiner Verfügung hätte. Jeder Punkt der Erdoberfläche ist durch Länge und Breite genau zu bestimmen. Zur geographischen ' Breite gelangt der Schiffer u. a. durch Beobachtung des Polarsterns, der bekanntlich genau im Nordpol des Himmelsgewölbes steht. Der Bogen zwischen dem Stern und dem Horizont — die „Höhe“ des Sterns — beträgt auf dem neunzigsten Breitengrade genau 90°. Würden die von a. a Zu ET IT. Abschnitt, Das Meer im Leben der Völker. 387 den Gestirnen kommenden Lichtstrahlen auf ihrem Wege durch”die Luft nicht gebrochen, so müßte man unter dem Äquator den Polar- stern im Horizont sehen. Bei o° Breite ist also die Höhe dieses Sterns o°, bei 10° Nordbreite 10°, bei 20° Nordbreite 20° usw. Durch die Höhe des Polarsterns ist also die geographische Breite eines Ortes der nördlichen Hemisphäre genau festzustellen. Außer den Sternhöhen wird auch die Sonnenhöhe mit dem Sextanten gemessen, und gerade das letztere geschieht am häufigsten sowohl zur Bestimmung: der Breite, wie auch der Länge. Die Sonne läuft am 21. März und 23. September genau im Äquator, steht hier also mittags, wenn sie ihren höchsten Stand erreicht hat, im Scheitelpunkt des Beobachters. Aus dem, was vorhin über die Beobachtung des Polarsterns gesagt wurde, ergibt sich, daß die Sonne zu der genann- ten Zeit im Äquator eine Höhe von 90° hat. Aus dieser Größe erhält man die Breite — 0° — offenbar, wenn man jene von 90° ab- Zieht, denn 90° — 90° ist 0°. Ähnlich würde man die Breite auf den Polen bestimmen, Bestimmung der en der Sonne. wo an den vorausge- setzten Tagen die Sonnenhöhe gleich 0° ist, ähnlich auf jedem anderen Breitengrade. Wohlverstanden gilt das nur am 21. März und 23. September. Im Sommer, wenn die Sonne höher steht als an diesen Tagen, muß man natürlich von ihrer Höhenziffer etwas abziehen, im Winter etwas zuzählen, um durch Subtraktion von 90° die gesuchte Breite zu erhalten. Was abzuziehen bzw. zu addieren ist, üindet der Seemann für jeden Tag des Jahres im „Nautischen Jahrbuch“ angegeben. Es bleibt jetzt nur noch die Länge zu bestimmen, und auch dabei muß vor allem die Sonne helfen. Läuft sie doch nach volks- tümlichem Ausdruck an jedem Tage rund um die Erde und legt deren 360 Längengrade in 24 Stunden zurück. Daraus ergibt sich, daß sie, um einen Längengrad weiter nach Westen zu kommen, den 360. Teil von 24 Stunden, also 4 Minuten, braucht, oder daß I r* a 388 Dr. Wiese, Das Meer. sie ı° westlich von Greenwich 4 Minuten, 2° westlich von Green- wich zweiınal 4 —= 8 Minuten später als in Greenwich ihren höchsten Stand erreicht. Steht sie z. B. auf dem 47. Grade westlicher Länge am höchsten, ist es dort also Mittag, so war es schon vor 47 mal 4 Minuten oder 3 Stunden 8 Minuten in Greenwich Mittag; die Uhren dieses Ortes zeigen bereits 3 Uhr 8 Minuten nachmittags. Dieser Umstand wird zur Bestimmung der Länge verwertet. Wann es Mittag ist, erfährt der Seemann beim Messen der größten Sonnenhöhe:; denn sowie diese erreicht ist, muß die Uhr zwölf sein. Was es dann in Greenwich an der Zeit ist, sagt ihm der Chrono- meter, eine äußerst genau gehende Uhr, die, um Störungen im Gange zu verhüten, sehr vorsichtig behandelt und aufbewahrt werden muß. Der Schiffer braucht also nur den Unterschied zwischen Orts- und Greenwichzeit in Minuten zu verwandeln und die Minutenzahl durch vier zu dividieren. Das Ergebnis dieser Rechnung ist die Länge. So ist durch Länge und Breite der Schiffsort genau bestimmt. Mag ein Fahrzeug auch weit von seinem Kurse verschlagen werden, sein Führer findet dennoch den Weg über den Ozean. Er läßt das Schiff zunächst vielleicht beigedreht liegen, um nicht ins Ungewisse hineinzulaufen. Sobald aber das Wetter eine Beob- achtung gestattet, wird er die „Sonne nehmen“ und daraus Länge und Breite berechnen. Hat er aber auf der Karte nach Länge und Breite den Schiffsort „abgesetzt“, dann findet er auch weiter, wie vorstehend gezeigt worden ist. Auch wenn der Chronometer stehen bleibt und somit die Greenwichzeit unbekannt ist, weiß der Schiffer sich zu helfen und aus dem Bogen zwischen Mond und Sonne oder anderen Fixsternen — aus „Monddistanzen“ — oder aus den Verfinsterungen der Jupitermonde die Länge zu berechnen. Mag er noch so heim- gesucht werden, er findet seinen Weg, solange Sextant, Kompab und Log ihm bleiben. Ungezählte Generationen von Seeschiffern haben sich fast aus- schließlich mit Kompaß und Log behelfen müssen, obgleich be- sonders sorgfältig ausgerüstete Schiffe ab und zu auch Quadranten an Bord hatten, ungefüge Geräte von vier Fuß Durchmesser, aber „fein und künstlich aus gutem Birnbaumholz gezimmert und mit aller Sorgfalt in Diagonalen geteilt, sogar in Minuten“; dazu auch III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 389 „Stäbe zur Höhenmessung, sieben Fuß lang, und Astrolabien, zuerst angewendet von dem Portugiesen Martin de Boerina im Jahre 1485“, Diese Hilfsmittel aber gewährten den Seefahrern nur geringen Nutzen. „Die Länge eines Meridians“, schreibt der Astronom Gelli- brand um das Jahr 1600, „hat den größten Meistern der Geo- graphie von jeher viel Kopfzerbrechen verur- sacht und tut dies auch noch heute.“ Er war der Ansicht, dal3 Mond- finsternisse aın besten geeignet seien, die Länge danach zu be- rechnen. Eine schlimme Zuversicht für die da- maligen Seefahrer. Bei trübem Wetter kann auch der heutige Schiffer sich auf offener See nicht anders helfen & a 2 als durch Kompaß und Kleiner Quadrant zum Messen von Gestirnshöhen. Bee Die Leine, mit welcher Kolumbus die Fahrgeschwindigkeit seiner Karavelle maß, ist genau in der alten Weise auch noch heute überall in Grebrauch. Das neue Patentlog zeigt zwar einigermaßen zuverlässig an, welche Strecke der Dampfer oder das Segelschiff in gegebener Zeit, in 2ı oder 24 Stunden, zurückgelegt hat, allein das Log, bestehend aus Leine, Haspel und Sanduhr, ist der einzige Apparat, mit dem der Schiffer jederzeit die Schnelligkeit der Fahrt messen kann. ar 77 wir I Auf die Reise. Um Mitternacht auf pfadlos weitem Meer, Wann alle Lichter längst im Schiff erloschen, Wann auch am Himmel nirgends glänzt ein Stern, Dann -glüht ein Lämpchen noch auf dem Verdeck, Ein Docht, vor Windesungestüm verwahrt, Und hält dem Steuermann die Nadel hell, Die ihm untrüglich seine Richtung weist. Ja, wenn wir’s hüten, führt durch jedes Dunkel Ein Licht uns, stille brennend in der Brust. Ludwig Uhland, IO. Leuchttürme. Bei Holtenau am Meere Ragt hoch ein Turm empor, Ein Zeichen deutscher Ehre, Ein leuchtend Meteor. Dem Schiffer zeigt die Pfade Durch Nacht sein helles Licht Daß nicht an dem Gestade Sein schwankend Schiff zerbricht. F. Rotenberg. Der Seefahrer, der in angemessener Entfernung längs der nördlichen Küsten des Mittelmeeres fährt, bemerkt hier und dort auf der Spitze hoher Berge kleine, weiße Türme, die heute noch an mehr als einem Orte den Namen „Sarazenenturm“ führen. Auf jedem dieser Gebäude, so heißt es, wachte früher ein Posten, der sobald er in der Ferne gewisse Segel von nur zu bekanntem Aus- sehen erblickte, ein großes Feuer anzündete, nicht um die Schiffe sicher in den Hafen zu geleiten, sondern um den Bewohnern der benachbarten Dörfer anzukündigen, dal der Feind nahe und es Zeit sei, zu fliehen oder sich gegen ihn zu waffnen. Diese Küsten wurden in der Tat häufig von den Einfällen der Barbaren bedroht. Jedes zweifelhafte Segel wurde für feindlich gehalten, kaum wagte man es, um die Seefahrer in den Hafen zu geleiten, einige Nacht- signale beim Eingang zu den Häfen oder den Mündungen der großen Flüsse zu unterhalten. Der Seemann seinerseits, wenn er am Horizont ein Licht aufblitzen sah, hielt es für geraten, sich fern zu halten, denn mehr als einmal war es vorgekommen, daß Feuer in der schmählichen Absicht angezündet worden waren, um die Schiffer an die Küste zu locken und die Bewohner der Felsen in den Genuß des barbarischen Strandrechts zu bringen. 392 Dr. Wiese, Das Meer. Heute ist das ganz anders. Feuer von großer Tragweite sind allmählich angezündet, durchdringen aus weiter Ferne das Dunkel des Horizonts und signalisieren dem Seemanne die nahe Küste, wenn er noch weit genug entfernt ist, um Maßnahmen zu einer gefahrlosen Landung treffen zu können; dann, je mehr er sich der Küste nähert, erscheinen andere, weniger glänzende Feuer, die ihm die Windungen der Küste anzeigen, gefährliche Bänke signa- lisieren, die passierbaren Durchgangstellen abstecken, selbst beim Eingang der Haupthäfen des Ozeans die Höhe von Ebbe und Flut erkennen lassen und das Schiff sicher geleiten, bis es im Schutz der Reede oder des Hafenbassins liegt. Auch während des Tages enthüllen Baken und Bojen das Geheimnis der unter Wasser ver- borgenen Gefahren, und Landmarken, die sorgfältig an den be- suchtesten Orten der Küsten unterhalten werden, liefern dem See- fahrer Richtungspunkte der zu befolgenden Linie. Schiffbrüche zu verhüten durch Signalisierung der Klippen, die Dauer der Fahrten zu verkürzen dadurch, daß den Schiffen die Einfahrt bei Nacht mit fast ebenso großer Sicherheit, wie bei Tage ermöglicht ist, infolgedessen die Gefahren und die Kosten einer Seereise zu vermindern — das ist zugleich der menschliche und kommerzielle Zweck des großen Werkes der Beleuchtung der Küsten durch Leuchttürme und ähnliche Maßnahmen. Bekanntlich ist von Ptolemäus Philadelphus auf der Insel Pharos jener berühmte Turm errichtet worden, der den Zugang zum Hafen von Alexandrien signalisierte.e Mit Recht verdient er es, unter die sieben Weltwunder eingereiht zu werden, wenn man den Erzählungen der Historiker Glauben beimessen kann, die ihm eine Höhe von mehr als 100 Faden beilegen und behaupten, daß sein Feuer auf ı00 Meilen Entfernung sichtbar gewesen sei. Man spricht sogar von einem großen Spiegel, der auf der Spitze an- gebracht und bestimmt gewesen sei, die feindlichen Flotten zu be- obachten. Da man aber die üblichen Übertreibungen der Anna- listen zur Genüge kennt, so wird man derartigen Erzählungen um- soweniger Glauben beimessen können, als die Leuchttürme unserer Tage eine der dem Leuchtturm von Alexandrien vergleichbare Iragweite niemals haben. Dabei verfügen wir über bedeutend überlegenere Mittel der Beleuchtung, wie sie die Alten kannten. Man berichtet auch, daß ein Nachtsignal den Bosporus von Ihrakien erhellte. In Italien wurde der Zugang zum Hafen von Ostia durch III, Abschnitt, Das Meer im Leben der Völker. 393 ein Feuer bezeichnet. Puzzuola und Ravenna hatten Leuchttürme von prächtiger Architektur, aufgeführt aus weißen Steinen, damit sie bei Tage besser gesehen werden könnten. Gebäude der gleichen Art wurden zweifellos von den Römern an allen von ihnen be- suchten Küsten errichtet, wenigstens sind lange Zeit Spuren in ver- schiedenen Ländern übrig geblieben. Noch im .ı7. Jahrhundert sah man einen Leuchtturm von römischer Bauart, den Caligula an der Küste Frankreichs nahe bei Boulogne hatte aufführen lassen. Alle diese Feuer hatten gleichen Zweck, dem Seefahrer von Ferne den Zugang zu den Haupthäfen zu zeigen; aber ihr Schein mußte schwach und unsicher sein, da die Wissenschaft der Optik damals noch in der Kindheit lag. Man trug in jener Zeit keine Sorge, die dazwischen liegenden Teile der Gestade zu beleuchten, und der Seefahrer, der sich nicht vom Lande zu entfernen wagte, hatte nicht wie heute an den barbarischen Küsten einen Führer, der ihm den einzuschlagenden Weg zeigte. Im ganzen waren freilich die Leuchttürme vergangener Jahrhunderte nach den Berichten der Geschichtsschreiber bemerkenswerte Gebäude und Wunder der Architektur; aber man darf ruhig behaupten, daß das schwache und flackernde Licht, das von ihnen ausging, bei weitem nicht den Glanz und die Regelmäßigkeit des Lichtes unserer modernen Leuchttürme hatte. Die Beleuchtung der Küsten beruht jetzt auf ganz anderen Grundsätzen. Mit Recht hält man es für wichtig, zunächst dem aus der Ferne heranfahrenden Seemann die Nähe des Landes zu künden, weil gerade nahe dem Lande die Schiffahrt den größten Gefahren ausgesetzt ist. Die Küste bietet von Entfernung zu Ent- fernung Kaps, die weniger oder mehr in das Meer hervorspringen, oder Inseln, unterseeische Klippen, die vermieden werden müssen. Auf den äußersten Punkten sind die Leuchttürme erster Ordnung errichtet, deren Feuer in großer Höhe entzündet und mit den mächtigsten optischen Apparaten versehen sind, sodaß sie in weiter Entfernung sich ankünden. Sie sind derart verteilt, daß es selbst bei dichtem Nebel fast unmöglich ist, dem Lande zu nahe zu kommen, ohne wenigstens einen derselben zu Gesicht zu be- kommen; außerdem sind ihre Feuer durch Kombinationen von ab- wechselnder Verdunkelung und Licht verschieden dargestellt, so- daß der Schiffer am bloßen Anblick des Lichtes den Namen des Leuchtturms kennt, den er erblickt. Wenn er während der Nacht 394 Dr. Wiese, Das Meer. die Küste entlang fährt, ist er sicher, vor jeder Gefahr geschützt zu sein, falls er sich in respektvoller Entfernung von den Feuern hält und in dem Maße, wie eines von ihnen erlöscht ist und in dem Nebel des Horizonts verschwindet, taucht ein neues auf und weist ihm einen neuen Weg. So erstreckt sich zwischen zwei Leuchttürmen erster Ordnung eine mehr oder minder offene Bai, in der die Schiffe, die längs der Küste fahren, vor allen Gefahren geschützt sind. Diejenigen, die einen Hafen gewinnen wollen, sind gezwungen, in diese erste Feuerlinie einzudringen, und sie treffen dann auf die Leuchttürme zweiter und dritter Ordnung, mit geringerer Tragweite des Lichts, die es ihnen ermöglichen, die zurückliegenden Kaps, die Riffe der Bai, die Sandbänke zu vermeiden. Ist die Mündung eines Flusses oder der Zugang zu einem Hafen nur durch schmale Durchgangs- stellen möglich, deren Richtung selbst der Lotse kaum während der Nacht zu erkennen vermag, so sind andere Feuer derselben Ord- nung in der Richtungslinie des Fahrwassers errichtet und zeigen den Weg, der innezuhalten ist. So findet sich die Einfahrt in die Gironde durch elf Feuer erster, zweiter und dritter. Ordnung signalisiert, die mehr oder weniger weit ihre Lichtbündel aus- strahlen. Ist das Schiff endlich dem Hafen nahe, der das Ziel seiner Reise bildet, so bemerkt der Kapitän auf dem Hafendamme einfache Feuerwarten, Feuer vierter Ordnung von geringerer Kraft, die ihn geleiten, bis er in das Fahrwasser gelangt ist. Diese verschiedenen Feuer nun, die oft sehr nahe aneinander gerückt sind, sodaß man mehrere zugleich sieht, müssen, wie man leicht einsehen wird, sehr wohl unterschiedene Eigentümlichkeiten darbieten, denn der Seemann könnte sie sonst leicht zu seinem Verderben verwechseln, besonders wenn er aus der Ferne kommt, und er, da die Wolken ihn seit mehreren Tagen den Anblick des Himmels entzogen haben, nicht die nautischen Beobachtungen hat anstellen können, die die Richtigkeit seines Weges dartun. Vor- mals war es schwer, das Aussehen der Feuer der Leuchttürme ab- wechselnd zu gestalten; bis zum Ende des letzten Jahrhunderts kannte man für die Beleuchtung auf weite Strecken nur Feuer von trockenem Holz oder Steinkohle, und man verstand es nur, deren Aussehen durch kolorierte Gläser von verschiedenen Nüancen zu verändern, was ein sehr unvollkommenes Mittel ist, weil die sich über dem Meere lagernden Nebel die Farben oft entstellten. nn. NE cn h Leben der Völker. ım Das Meer III. Abschnitt, "wany}y9n9f N N N 396 Dr. Wiese, Das Meer. Die Nebel färben im allgemeinen die Feuer mehr oder minder rötlich und geben einem weißen Lichte das Aussehen eines kolo- rierten Lichtes. Übrigens haben die kolorierten Gläser die große Unzuträglichkeit, einen starken Teil des Lichtes, das durch sie hindurchgeht, zu absorbieren; sie rauben also dem Feuer einen großen Teil der Intensität. Erst die wunderbar vollkommenen Apparate, die seit einem Jahrhundert erfunden sind, haben in dieser Beziehung gewaltige Fortschritte gemacht. Auf älteren Leuchttürmen brennt ein ganzer Lampenkranz, dessen parabolische Reflektoren die Strahlen horizontal auswerfen. Neuerdings begnügt man sich mit einen starken Argandbrenner, dessen Licht in einem kaladioptischen Apparat (Fresnelsches Liniensystem) aufgefangen und in parallelen horizontalen Strahlen rings um den Horizont herumgeworfen wird. Als Lichtquelle be- nutzt man Petroleum, Gas oder elektrisches Licht. Das vor der Entdeckung des elektrischen Lichtes verwendete Rüböl lieferte eine Stärke von 5000—6000 Kerzen. Die erste Benutzung des elektrischen Lichtes ließ die Lichtstärke bereits auf 6000 Normal- gasflammen steigen. Mehr als das Doppelte ergab die Leucht- ‚kraft der eiektrischen Lampe auf dem im Jahre 1881 erbauten Leuchturm von Planier bei Marseille, nämlich ı27 0o00o Flammen, durch gleichzeitige Benutzung der im Bereiche der Optik ge- troffenen Verbesserungen war man in den Stand gesetzt, die Licht- stärke auf 900000 Flammen zu erhöhen. Der Leuchtturm von Heve bei Havre strahlt den Schiffern auf See ein kaum noch zu übertreffendes Licht von zweieinhalb Millionen Flammen Stärke entgegen und erreicht mit diesem Lichte- beinahe die gegenüber- liegende Küste Englands. Das größte elektrische Leuchtfeuer, das zu ständigem Dienst an irgendeinem: Punkte der Erde vorhanden ist, besitzt jetzt die Insel Helgoland in ihrem neuen Leuchtturm. Dies Leuchtfeuer hat nicht nur eine große Bedeutung für die Sicherung der Schiff- fahrt an der deutschen Nordseeküste, sondern ist auch als elektri- sches Wunder bemerkenswert. Helgoland hat das mächtigste Leuchtfeuer, das die Erde besitzt. Bei der Schaffung dieses Leucht- ‚feuers handelte es sich um einen Versuch mit einer ganz neu- artigen Einrichtung, vor deren Benutzung ausländische Fachleute sogar ausdrücklich warnten. Dieser Versuch aber ist geglückt, und man kanı sagen, sogar von einem vollen Erfolg gekrönt a ba rn" RER E TEEUGRER SIETUE EDEN III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 397 worden. An Stelle der kostspieligen Fresnelschen Linsen, die früher für ein starkes Leuchtfeuer als unerläßlich galten, ist seit einigen Jahren von deutschen Ingenieuren der Parabolspiegel aus Glas vorgeschlagen worden. Bei der Errichtung des Drehfeuers auf Helgoland wurde dieser Vorschlag zum erstenmal auf seine Ausführbarkeit erprobt. Gefordert wurde eine ungeheure Licht- stärke von 30 Millionen Kerzen. Während die Linsen von Fresnel das ganze Feuer des Leuchtturms umgeben, sind hier drei im Kreise angebrachte Parabolspiegel von je ®/, m Durchmesser so angeordnet, daß sich der elektrische Lichtbogen genau in ihrem Brennpunkt befindet. Die positive Kohle, von der die größte Lichtmenge ausgeht, ist den Spiegeln zugekehrt. Die drei Spiegel sind auf einer wagerechten Scheibe angebracht. Letztere ruht auf Stahlkugeln und wird von einem Elektromotor viermal in der Minute um ihre eigene Achse gedreht. Dadurch entstehen Licht- blitze mit einer Dauer von nur einer Zehntel Sekunde, die in Ab- ständen von fünf Sekunden aufeinander folgen. Der Leuchtturm selbst ist 82 m hoch. Bei gutem Wetter wird die Sichtbarkeit seines Feuers nur durch die Krümmung der Erdoberfläche be- grenzt. Für ein unmittelbar auf der Oberfläche des Wassers be- findliches Auge würde der Lichtblitz noch in 35 km Entfernung sichtbar sein, bei einer Erhebung des Auges über die Meeresober- fläche un nur ı m noch auf 39 km, und bei einer Stellung des Beobachters in x m über dem Meeresspiegel auf 42,6 km. Die Sichtbarkeit wächst sehr rasch mit der Erhebung des Beobachters, und schon in der ersten Betriebsnacht wurde das Leuchtfeuer von Helgoland in 64 km Abstand auf der Mole von Büsum und auch noch vom Leuchtturm in Amrum aus gesehen. Indessen bildet die Beleuchtungsfrage nur einen Teil der Wissenschaft der Leuchttürme. Die Physik muß sich mit der Mechanik zu einem Bunde vereinigen; für diese gewaltigen Licht- herde, die oft in Höhe von 70—80 m herabstrahlen, ist eine feste, widerstandsfähige Basis nötig. Nichts leichter als das, wenn diese Aufgabe auf festem Lande zu lösen ist. Aber eine andere Sache ist es, an sie heranzugehen, auf offenem Meere, auf Klippen von einigen Quadratfuß, im Sturmgebraus und Wellengang: Die abso- luteste Festigkeit im flüssigen Element, in der fortwährenden Be- wegung und Erschütterung herzustellen, ist eine schwierige Auf- gabe, die auch die Hilfsmittel moderner Bauweise nur unter ge- 398 Dr. Wiese, Das Meer. waltigem Kraftaufwand und unter großen Opfern zu lösen ver mögen. Kostet doch .oft der Transport und die Montage Materialien mehr als der ganze Leuchtturm! Nehmen wir nur als Beispiel den Bau des Leuchtturms Armen an, bei dem Geduld, Energie und Wissen der Ingenieure und todesmutige Aufopferung des Personals in Überwindung aller Schwierigkeiten auf ungeahnte Proben gestellt wurden. Armen, Madiou und Schomeur sind die drei äußersten Felsen des Dammes von Sein. Die Brandung an ihnen ist eine gewaltige. Madiou und Schomeur liegen kaum bei niedrigem Wasserstande bloß; von Armen sieht man undeutlich eine Art abgeplattetes und weißgischtiges Maul und die Spitze, die niedertaucht und wieder auftaucht aus den Wogen. Was an Schiffen an Schomeur, Madiou und Armen verloren gegangen ist, entzieht /sich jeder Schätzung. Diese drei Banditen des Meeres an dem vorgerücktesten Punkte des alten Kontinents verbündeten sich zu unheilvoller Gemeinschaft, die grausigsten Mordtaten zu verüben. Jahrhunderte hindurch haben sie die schlechtesten Taten verübt, die ein Felsen begehen kann. Das Bett des Meeres um sie herum ist ein gewaltiger, weiter Kirchhof, und deshalb wurde der Gredanke, auf diesem Trio von Mördern ein I’euer anzuzünden, oft in Erwägung gezogen. Man schreckte aber vor der Schwierig- keit, um nicht zu sagen Unmöglichkeit, zurück. Indessen begann man die Vorstudien, und 1867 ward die Ausführung beschlossen‘ ohne daß man an einen Erfolg glaubte. „Sobald eine Möglichkeit vorlag, zu landen,* schreibt einer der Ingenieure, die die Arbeit leiteten, „sah man Fischerboote herbeieilen. Zwei Mann ausjedem von ihnen stiegen. auf den Felsen, mit ihrem Rettungsgürtel angetan, duckten sich auf ihn nieder, indem sie sich mit einer Hand an- klammerten, mit der anderen einen Bohrer oder einen Hammer hervorholten und mit fieberhafter Tätigkeit arbeiteten, fortwährend bedeckt von den Wogen, die über ihre Köpfe dahineilten. Wenn. einer von ihnen von der Gewalt der Strömung hinweggerissen wurde, so hielt ihn sein Gürtel über Wasser und eine Boots- besatzung fischte ihn schleunigest auf, um ihn zur Arbeit zurück- zubringen.“ Am Ende der Arbeitszeit hatte man siebenmal landen und acht Stunden arbeiten können; fünfzehn Löcher waren an den höchsten Punkten gebohrt worden. Im folgenden Jahre landete man sechzehnmal und arbeitete achtzehn Stunden, Klammern wurden an den Felsen angebracht. Ein großer Schritt zum Er- Ba a see u Ve ar III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 399 folg. „Der eigentliche Bau beginnt 1869,“ so erzählt der oben erwähnte Ingenieur. „Es war eine möglichst schnelle Arbeit nötig, denn man arbeitete inmitten der Wogen, die bisweilen den Händen des Arbeiters den Stein entrissen, den er sich anschickte, an den richtigen Platz zu bringen. Ein erfahrener Seemann, gegen eine Spitze des Felsens gekehrt, stand auf der Lauer, und man beeilt sich zu mauern, wenn er eine kurze Windstille ankündigte und sich anzuklammern, wenn er die Ankunft einer großen Woge vor- hersagte. Die Arbeiter, der Ingenieur, der Aufseher, die stets die Arbeiter durch ihre Anwesenheit ermutigten, waren mit den von der Rettungsgesellschaft gelieferten Gürteln und Ginsterschuhen zur Verhütung des Ausgleitens versehen.“ Am Ende dieser. dritten Kampagne hatte man 25 cbm Mauerwerk aufgeführt, die man im folgenden Jahre unversehrt wieder vorfand. 1870 landete man achtmal und verbrachte achtzehn Stunden auf dem Felsen; 1871 landete man zwölfmal und arbeitete zweiundzwanzig Stunden; 1872 waren über ı1ı4 cbm an Ort und Stelle und die Aus- gaben beliefen sich schon auf 135336 Franks. Der Leuchtturm von Armen konnte endlich 1ı88ı der Benutzung übergeben werden. Sein Feuer dringt 20 Meilen weit, und er ist der letzte, den man beim Verlassen Europas bemerkt. Im ganzen hat er 942 200 Fr. gekostet, d. h. 1025 Fr. pro Kubikmeter Mauerwerk. Man sieht aus diesem einen Beispiele, daß, abgesehen von den sehr beträcht- lichen Unterhaltungskosten, der Bau eines solchen Leuchtturms ein kleines Vermögen erfordert. Bell-Rock und Cherry-Vore haben noch mehr gekostet, ersterer 1390000 Fr., letzterer gar 1ı 805000 Fr. Gewöhnlich sind zwei, bisweilen auch mehr Wächter auf einem Leuchtturm, die nach strenger Instruktion ihre Dienste verrichten müssen. Betrachten wir einmal das Tagewerk und das Los solcher Leute, die einsam auf isoliertem Felsen ihr Amt verwalten. Un- mittelbar nach der Morgenwache sind die Reflektoren und Refrak- toren zu polieren und zu reinigen, bis sie sich glänzend zeigen; ferner sind das Glas der Laterne, die Lampengläser, das Kupfer und Messingwerk, der Boden und Balkon des Leuchtturms, die Maschinerie und die anderen Apparate, die zur Beleuchtung gehören, die Treppen, Türen und Fenster aufs peinlichste zu säubern. Während der Nacht, nachdem die Feuer angezündet sind, sollen die Wächter in dem Leuchtturm regelmäßig und be- ständis Wache halten. Die erste Wache beginnt mit Sonnen- 400 Dr. Wiese, Das Meer. untergang, die zweite dauert von Mitternacht bis Tagesanbruch. Die Wächter wechseln. Die Wächter wechseln so, daß jeder einen Tag um den andern die erste Wache hält. Der Wächter, der auf Wache ist, braucht nicht wie an Bord aufzubleiben. Auf dem Sofa, das ihm die Verwaltung stellt, darf er sich ausruhen, nähen, träumen, unter der Voraussetzung, daß er aufmerksam nach dem Feuer und den anderen am Horizont sichtbaren Leuchttürmen Ausguck hält. Er muß die Witterung, die passierenden Schiffe, den Grad der Durchsichtigkeit der Luft, Zwischenfälle aller Art, die die Monotonie seiner Tätigkeit unterbrechen, in das Journalbuch eintragen. Nach dem Reglement muß er wegen der Lichthelle schwarze Brillen tragen. Ist seine Wache zu Ende, so weckt er den anderen Wächter und begibt sich für den Rest der Nacht zur Ruhe. Auf den Felsklippen des Meeres ist es ihm selbst im Sommer nicht möglich, den Turm zu verlassen, der Sturm und die Brandung hindern es. Oft müssen schon am Mittag Türen und Fenster ver- rammelt und die Lichter angezündet werden. Das furchtbare Ge- heul des Sturmes und die Wut der Wogen vereinen sich zum Angriff. Wie soll nun der Wächter auf dem engen Raum das unabweisbare Bedürfnis nach Bewegung befriedigen? Es gibt kein anderes Mittel, wenn das Unwetter tage- und wochenlang an- hält, als unaufhörlich die Leiter, die zur Laterne führt, auf und ab zu klettern. Die Zimmer sind zu eng, in ihnen kann nmıan höchstens drei Schritte tun. Diese Art Zellengefängnis übt auf das Gefühls- leben der Wächter schließlich einen bösen Einfluß aus. Um sich herum nur die graue Einförmigkeit des Meeres zu haben, als Ge- fangener sich ganze Wochen zu langweilen, ohne ein Fenster öffnen zu können, immer mit demselben Gefährten, dessen Manieren, Gewohnheiten, Gesten, Bewegungen, Art und Weise zu sprechen, ja, dessen Worte man schon im voraus kennt — alles das ist schrecklich. Nansen berichtet von seiner Nordpolreise, daß zur Zeit der Überwinterung, als die Seeleute des „Fram“ aus Gresund- heitsrücksichten auf das Eis stiegen, jeder beiseite ging, nur dar- auf bedacht, sich zu isolieren, für einen Augenblick dieser Ge- meinschaft an Bord zu entgehen, diesen unveränderlichen Unter- haltungen, diesen stets gleichen Gesichtern, die durch die Gewohn- heit schließlich beinahe verhaßt geworden waren. Das ist leicht zu begreifen. IIl. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 401 Auf einem. Leuchtturm des Cap Finisterre wurde einer der Wärter plötzlich vom Wahnsinn befallen. Es war Nacht, und sein Gefährte hielt die Wacht in dem Leuchtraum. Jener kletterte die Leiter empor und versuchte das Licht auszulöschen. Der andere mußte einen furchtbaren Kampf mit ihm bestehen, und es gelang ihm schließlich, ihn zu fesseln. Er hißte die schwarze Flagge; zum Glück bemerkte man sie morgens vom Lande aus. Das Meer begünstigte die Landung. Man bemächtigte sich des Irren und ersetzte ihn durch einen anderen Wächter. Bisweilen ist der erste Eindruck so stark, dab er den Neuangekommenen sofort entmutigt. Das entsetzliche Geräusch in der Laterne, die Windstöße, die den Leuchtturin erzittern und die Gläser ins Klirren bringen, das Ge- heul und Brausen der Wogen erfordern eben starke Nerven. Gewöhnlich sind die Umgebungen der Leuchttürme reich an Fischen. Zum Zeitvertreib und, um ihre Küche mit nicht zu ver- achtendem Vorrat zu versehen, fischen die Wächter an schönen Tagen mit der Angel oder Netzen. Im Frühjahr und Herbst, zur Zeit der Wanderungen, ist die Plattform der Leuchttürme oft mit toten Vögeln übersät. Das Feuer lockte sie an, 600— 1000 Vögel kommen oft in einer Nacht auf diese Weise um. Ja, die Gewalt, mit der sie oft gegen die (Gläser fliegen, hat schon mehr als ein- mal diese zum Zerspringen gebracht und Unfälle herbeigeführt. Deshalb hat man jetzt an vielen Leuchttürmen eiserne Stäbe vor den Fenstern angebracht. So gewaltig in ihrer Wirkung die modernen Leuchtapparate sind, so gelingt es ihnen doch bisweilen nicht, das dichte Dunkel gewisser Nebel zu durchdringen. Man hat versucht, dem Lichte den Ton zuzugesellen; das tiefe Geheul der Sirenen vermag kaum jene dichten, wallenden Nebel zu durchdringen. Wie viele Schiffe haben die Sirene erst gehört, das verschwommene Licht des Leucht- turms erst in dem Augenblicke bemerkt, als die Brandung sie schon gegen die Riffe schleuderte, auf denen jener errichtet ist. Mit Hilfe von Stricken und Haken haben die Wächter in solchen Fällen oft das Leben der Schiffbrüchigen retten können, während das Schiff vor ihren Augen in die Tiefe sank. So fest auch die Leuchttürme gebaut sind, so widerstehen sie doch nicht immer dem Anprall der Wogen: der Leuchtturm von Eddystone stürzte zum erstenmal in einem Unwetter während der Nacht am 26. November 1703 in den Abgrund des Meeres. Der Dr. Wiese, Das Meer. 26 402 Dr. Wiese, Das Meer. neue, mit großer Sorgfalt aufgeführte Turm verbrannte in der Nacht des ı. November 1755. Ein dritter, kurz nachher wieder her- gestellter und ı839 und dann 1865 reparierter Turm gab zu Be- sorgnissen wegen der Senkung des Bodens, auf dem er ruhte, Anlaß, man hat ihn durch einen neuen ersetzen müssen. Der auf Pfahlwerk errichtete Turm von Fletwood wurde im vorigen Jahr- hundert durch den furchtbaren Anprall eines Schiffes zerstört. In neuerer Zeit, im Jahre 1877, ist der an den Mündungen des Ganges errichtete Leuchtturm Krischna plötzlich verschwunden. Und welchen Gefahren sind nicht, von diesen Fällen abgesehen, die Wächter außerdem ausgesetzt! Am 2. November 1876, bei gutem Wetter, als das Wasser a m unter Hochstand war, wurde der Wächter Vimel, auf der äußeren Plattform mit der Befestigung des Stricks zur Ausschiffung beschäftigt, von einer Woge aus der Tiefe unter den Augen seiner Kameraden weggerissen. Einige Monate zuvor war auf demselben Leuchtturm die Laterne durch einen so heftigen Anprall des Meeres zerschmettert worden, so daß die Glasstücke die Kupferbeschläge der Apparate zerschnitten ; unter dem Andrang der Wassermassen und dem Anprall des heulenden Sturmes arbeiteten die Wächter unter höchster Lebens- grefahr sechs Stunden an der Wiederherstellung der Scheiben. Am Leuchtturm von „Vieille“ zerschmetterte eine Woge zwei Felder der Laterne, drang in den Turm, überschwemmte die Treppe, die Zimmer, das Lager mit den Lebensmitteln und warf ı7 cbm Wasser in das Innere. Fast hätten die Wächter Schiffbruch in ihren Betten erlitten. Auf manchen Leuchttürmen ist die schmale Leiter, die zur Laterne führt, mit keinem Geländer versehen, und zu beiden Seiten gähnt der unermeßliche Abgrund. Ein falscher Tritt ist der Tod. So fiel Jean Mevil, Wächter auf den „Roches-Douvres“, als er eben seine Wache beendet hatte, am 6. Januar 1893 von der Leiter und blieb tot. Seine Gefährten wickelten ihn in geteerte Leinwand und gaben das Notzeichen. Aber der Sturm war furchtbar. Fünf- zehn Tage hindurch war jede Landung unmöglich. Die beiden Überlebenden, Leroy und Chavanton, blieben fortwährend an der Laterne, an die Scheiben sich drückend und mit den Augen die endlose Fläche durchspähend. Sie wagten nicht, einander zu ver- lassen, wachten zusammen im Apparatzimmer und schliefen die F III. Abschnitt, Das Meer im Leben der Völker, 403 übrige Zeit auf Decken und Fellen. Je länger sie warten mußten, um so mehr wurden sie von Halluzinationen ergriffen, um so ängst- licher drückten sie sich gegen die Scheiben. Sie glaubten, Schritte auf der Treppe zu vernehmen, von draußen klopfte eine Hand gegen die Scheiben, oder eine Stimme rief ihre Namen. Sie aßen kaum und hielten sich mit kaltem Kaffee aufrecht. „Fünfzehn Tage hindurch“, berichtete Leroy, „haben wir sechs Pfund Brot ge- gessen.“ Leroy, widerstandsfähiger und ein Mann von Erfahrung, suchte 'seinen Genossen zu ermutigen, dessen Greehirn anfing, krank zu werden. Mit bewunderungswürdiger Selbstbeherrschung ver- nachlässigten sie während dieser Zeit nicht ein einziges Mal ihren Dienst, zündeten das Feuer an und verrichteten alle ihre Obliegen- Der Schnelldampfer ‚Deutschland‘ fährt in den Hafen von New-York ein. heiten. Indessen am Morgen des 15. Tages, als man ihnen endlich zu Hilfe kommen konnte, waren die beiden Männer kaum wieder zu erkennen: und Chavanton fast irrsinnig. Er konnte sich nicht wieder dazu entschließen, Dienst als Leuchtturmwärter zu tun. Und doch — wenn der Sturmwind heult, die Wogen vom Grunde "des Meeres aufwühlt und gewaltige Wassermassen gegen das winzige Gebäude auf den Felsenklippen wälzt, steht ruhig der Steuermann an Bord des Schiffes. Jenes Licht, das zu ihm dringt, durch Windesheulen und Sturmgebraus, ist die bezaubernde Macht, die ihn vor dem Abgrund in den sicheren Hafen rettet. Und wenn nach langer Meeresfahrt der Mann im Mastkorbe das erste euer vom Leuchtturm signalisiert, so gerät das ganze Schiff in 26* 404 Dr. Wiese, Das Meer. Aufregung: die Glocke ertönt, die Flagge wird gehißt, die Menschen stürzen auf Deck, umarmen sich, weinen, schwenken fieberhaft erregt ihre Hüte. Es ist da nur ein winziges Licht in dunkler Nacht, aber dieser Lichtstrahl ist der erste Gruß vom heimatlichen Boden, der erste Funken gleichsam vom wiedergewonnenen heimat- lichen Herde, den die Phantasie urplötzlich im Dunkel der Nacht vor die Augen zaubert. Der Leuchtturm. Schwarz an die Meerbucht schleudert der Südsturm schäumende Brandung. — Hoch von der Berghöh’n trotzigem Felshaupt flammt wie von hundert Fackeln der Leuchtturm, leuchtet und kündigt Richtung dem Seemann, Rettung und Landung. — Dumpf in die Wellen murmelt der erz’ne Atlas des Meeres, der wie ein Schutzgeist doppelte Leuchter über sein Haupt hält: „Einsam und gedankenlos halt ich hier oben schlaflos ein ewig wachendes Hochamt. Zornig umtost mich täglich die Brandung, schleudert mir höhnisch Leichen und Wrack zu. Todesangst ringt jammernd und fruchtlos nach mir empor, und wer in der Sturmnot auf und zu mir blickt, dankt mir im Aufblick zagender Hoffnung. Aber am Land dort drängen sich achtlos Schiffer und Kaufmann wägend zum Marktplatz. Immerhin! ringsum wirble du, Windsbraut, brichst mir ja noch nicht meine Granitbrust, löschest mir doch nicht meinen errettenden, lenkenden Lichtblick. Hermann Lingg. 12. Rettungswesen zur See. Still bei Nacht fährt manches Schif, Wenn die Morgenwinde wehn, Meersfei kämmt ihr Haar am Riff, Ist nicht Riff noch Fei zu sehn, Hebt von Inseln an zu singen, Und das Schifflein ist versunken, Die im Meere untergingen. Und der Schiffer ist versunken, Einen eigenartigen Namen hat der seebefahrende Bewohner der Bretagne für diejenige Zeit erfunden, in der die meisten Strandungen vorkommen. Er nennt sie „die dunklen Monate“. Fast täglich laufen dann Berichte ein über eines jener furchtbaren Dramen, deren Schauspiel die Küsten des Meeres sind. Uner- sättlich in seiner Grausamkeit, fordert das Meer unaufhörlich neue Opfer. Ganze Schiffe werden von den haushohen Wellen ver- schlungen, die Sturmesbraut zerreißt und zerfetzt die stärksten Schiffsteile und treibt große Fahrzeuge wie Nußschalen durch die Fluten, und die Schiffbrüche folgen sich in erschrecklicher Schnellig- keit, in die Familien der Seeleute Jammer und Trauer tragend. Glücklich noch das Schiff, das draußen auf hoher See von den wilden Orkanen und den brausenden Wellen umtost wird! Wehe . aber denen, die in der Nähe der Küste nicht rechtzeitig den schützenden Hafen erreichen können, sondern an die schroffen Felsen geschleudert werden und dort zerschellen. Und dennoch fürchtet der Seemann, wenn er der Übermacht des Sturmes und der Wellen unterliegen muß, heute nicht mehr in eben dem Maße wie früher die Küste; denn er weiß: dort drüben wachen bei Tag und Nacht Tausende von treuen Augen, um jede dem See- fahrer drohende Gefahr zu entdecken, da drüben schlagen Tausende von braven Mannesherzen, die bereit sind, auf das erste Notsignal durch die Wogen sich den Weg zu den gefährdeten Bewohnern des Schiffes zu bahnen. Und doch, was würde aller Mannesmut, alle Tatkraft nützen, wenn nicht die Männer, in besonderen III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker, 407 Rettungsstationen vereinigt, zugleich auch, dank der Entwicklung der Technik auf dem Gebiete des Rettungswesens, mit jenen aus- gezeichneten modernen Mitteln ausgerüstet wären, die in so hervor- ragendem Maße das Rettungswerk zu erleichtern imstande sind. Ehe wir diese modernen Rettungsmittel jedoch betrachten, sei zu- nächst der Gesellschaften gedacht, die sich ihrer bedienen. Nach . dem Beispiel Englands wurde in Deutschland im Jahre 1865 die „Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ be- gründet. In der ganzen Ausdehnung der deutschen Küsten -— 300 Meilen in der Ostsee durch die Riffe und in der Nordsee durch die Watten und Sandbänke — hat diese Gesellschaft nach und nach 121 Rettungsstationen ausgerüstet. Über 3000 Menschen- leben sind in dieser Zeit allein von den Stationen der deutschen Rettungsanstalten der größten Lebensgefahr oder dem sicheren Tode entzogen worden. { Das wichtigste Rettungsmittel zur See sind die Rettung'sboote. Sie sind in den verschiedenen Ländern verschieden. So sind die von der englischen „Königlich Nationalen Rettungsboot- Gesell- schaft“ benutzten Boote, Busch die bereits über 40000 Menschenleben ge- rettet worden sind, schwer und tiefgehend; sie richten sich selbsttätig wieder auf 1 Bootsflagge und entleeren sich: von selbst. Außerdem hat Eng- re zur Rettung Schiffbrüchiger. land Dampfrettungsboote; (Rotes Kreuz im schwarzumrandeten weißen Felde.) auch Frankreich besitzt solche Boote, die den englischen sehr ähnlich sind. Das gleiche Not- und Hilfszeichen der deutschen Gesellschaft ist der Fall in allen europäischen Ländern. Da die englischen Rettungsboote wegen ihrer Schwere und ihres Tiefganges sich für die deutsche flache, sandige Küste weniger brauchbar erwiesen haben, so hat man in Deutschland besondere, den deutschen Küsten- verhältnissen angepaßte Boote gebaut. Besonders entspricht das „Francis-Patent-Boot“ allen möglichen Anforderungen. Seine be- sonderen Vorzüge sind gute Stabilität und Leichtigkeit; diese ist für einen schnellen Transport in dem schweren Dünensand unserer . Küsten von großem Werte; jene soll möglichste Sicherheit gegen das Kentern gewährleisten. Die Boote sind nach dem Francis- 408 Dr. Wiese, Das Meer. Patent aus geriffeltem, verzinktem Blech hergestelit, das als Bau- material gegen das Holz den Vorzug größerer Festigkeit bei ge- ringerem (rewicht und bessere Widerstandsfähigkeit gegen die Ein- flüsse der Witterung, insbesondere der Temperatur, besitzt; sie sind vorn und hinten spitz und zur Erhöhung ihrer Schwimmfähig- keit. ın den Enden mit großen Luftkästen und an der Oberkante mit einem kräftigen Korkgürtel versehen. Das deutsche Rettungsboot kommt hauptsächlich in zwei Längen, 8,5 und 7,5 m, vor. Das größere ist 2,25 m breit und 0,83 m hoch; es hat ausgerüstet ohne Mannschaft 0,34 m Tiefgang. Das Boot besitzt keinen hochstehenden Kiel, sondern nur eine flache, in der Mitte etwa o0,5o m breite und nach den Enden schmaler werdende Kielplatte, auf der das Boot immer stehen bleiben soll, wenn es auf Grund komnmit. Um das Boot segelfähig zu machen, ist mittschiffs ein Schwert eingebaut, das in einem be- sonderen „Schwertkasten“ auf und niedergelassen werden kann. Der Schwertkasten reicht nur bis unter die Duchten (Sitzbänke); es kann durch ihn eine teilweise Selbstentleerung eintreten, wenn eine See das Boot halb vollgeschlagen hat. Außerdem ist jedes Boot natürlich auch mit einer Pumpe versehen. Eine besondere Einrichtung weist das Steuerruder auf. Da es beim Stampfen in schwerer See oft vorkommt, daß das Ruder aus dem Wasser kommt und das Boot dann nicht mehr steuerfähig ist, hat man das Steuer- ruder mit einem Mantel aus Eisenblech versehen, der vom Boot aus herabgelassen werden kann, so daß er eine Verlängerung des Ruders nach unten bildet, die auch bei heftigem Stampfen des Bootes im Wasser bleibt. Die Ausrüstung dieser Rettungsboote besteht aus Masten und Segel, Riemen (Ruder) und besonderen Steuerriemen, Bootshaken, Anker und Ankertau, einem Wurfdraggen (mehrarmiger leichter Anker) mit Leine zum Festhaken an dem havarierten Schiffe, Kom- paß, Laternen, Lot, Korkjacken, Eimer usw. Besonders erwähnens- wert ‘ist noch der Lenzsack. Dieser, ein trıchterformiger aus starkem Segeltuch verfertigter Sack, dient dazu, das Boot mit einem Ende gegen die Wellen zu halten und dasselbe zu steuern, wenn so hoher Seegang ist, dal Steuerruder und Steuerriemen nicht mehr angewandt werden können. Der Lenzsack wird dann mit der Öffnung nach vorn an einem kräftigen Tau geschleppt, und indem er sich dann mit Wasser füllt, leistet er bedeutenden Wider- ee A en er Bl III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 409 stand und hält das Boot „vor der See“. Soll er wieder eingeholt werden, so geschieht das mittels einer leichten Leine, die nach dem spitzen Ende des Lenzsackes geht und die, eingeholt, den Sack umkehrt, der dann zusammenklappt, sich leicht durch das Wasser ziehen und an Bord nehmen läßt. Weitere wichtige Ausrüstungsstüeke der Rettungsbote sind das „Cordessche Gewehr“ und die „Verysche Pistole“. Das erstere wirft eine Leine bis zu 70 m Entfernung und dient dazu, eine Verbindung zwischen dem Rettungsboot und dem verunglückten Schiff zu schaffen, wenn das Boot an dieses nicht herankommen Anwendung der Korkmatratze „Hammonia“ als Rettungsgürtel, kann. Aus der Pistole können Leuchtkugeln geschossen werden, die dem in Not befindlichen Schiffe das Nahen der Hilfe anzeigen sollen; auch mit dem Gewehr können derartige Signale abgegeben werden. Der Transport der Rettungsboote aus den Schuppen an die jeweiligen. Unglücksstellen findet auf einem besonderen Wagen statt, der auch mit zweckmäßigen Ablaufvorrichtungen für das Boot versehen ist. Einzelne Stationen der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“, wie Cuxhafen, Büsum, Friedrichskoog, von denen die Boote weite Wege bis zu den gefährlichen Strandungsstellen zurückzulegen haben, sind mit besonderen gedeckten Rettungs- booten, die vornehmlich zum Segeln eingerichtet sind, ausgerüstet. 410 Dr. Wiese, Das Meer. Diese sind teils aus geriffeltem Zinkblech, teils aus Holz gebaut und vorn und hinten eingedeckt; sie sind 9,6 m lang, 2,80 m breit, 1,55 m hoch und haben, voll ausgerüstet. einen Tiefgang von 0,,o m. In dem mittleren Teil haben diese Boote einen in Zellen eingeteilten doppelten Boden, der zur Selbstentleerung eingerichtet ist, auch haben sie wie die anderen Boote eine breite Kielsohle und ein Schwert. Der hintere eingedeckte Raum bildet eine kleine Kajüte, der vordere dient zur Aufbewahrung der verschie- denen Ausrüstungsgegenstände. | Von großer Wichtigkeit ist besonders der Raketenapparat; dieser hat den Zweck, durch Leinen eine Verbindung zwischen dem in. Not befindlichen Schiff. und dem Lande herzustellen. Er be- steht aus einem Raketenschieß- gestell, Raketen, Schießleinen, Rettung'stau, Jollentau, Hosen- boje, Winkflaggen, roter Laterne u..a.m. Alle diese Gegenstände sind auf zwei leichten, beweg- lichen, zweckentsprechend ge- bauten ° Wagen untergebracht, die immer zur Benutzung in den Schuppen der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger bereit gehalten werden. Die Handhabung des Ra- ketenapparats ist in kurzen Zügen folgende: die 8 cm-Rettungsrakete führt die an ihr befestigte Leine von etwa 50o m Länge bis 400 m weit und im Falle des Gelingens über das Schiff hinweg. Am Tage durch die Wink- flaggen, nachts durch die rote Laterne verständigen sich die Be- satzungen des Schiffes und die Rettungsmannschaften an Land, Rettungsjacke und Weste, ob die Leine an Bord aufgefangen ist. Mit dieser Schießleine holt nun die Schiffsbesatzung ein stärkeres Tau von Land her an Bord, das sog. „Jollentau*, das an Bord und _an Land pberzze einen „Block“ fährt und vermittelst dessen das eigentliche schwere Rettungstau an Bord geholt wird. Auf diesem bewegt sich nun die Hosenboje, die jedesmal eine Person aufnimmt, die dann in ihr durch das „Jollentau* ans Land gezogen wird. N No 2 III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker, 4Iı Ein wichtiges Schutzmittel der Rettungsmannschaft sind auch _ noch die Korkjacken. Diese sind aus einzelnen dicken, auf Segel- tuch genähten Korkstücken zusammengesetzt und umschließen in einem Ringe von ziemlich großem Umfange die Brust. Jede Korkjacke wird auf größte Tragfähigkeit geprüft. Die Jacke mub ıo kg Eisen 24 Stunden lang im Wasser tragen können und in dieser Zeit nicht über 500 & Wasser ziehen. Eine solche Jacke läßt erfahrungsmäßig auch den schwersten Mann, bekleidet mit dickem Wollenzeug und Seestiefeln, nicht untersinken, sondern trägt ihn 24 Stunden lang und länger mit den Schultern über Wasser. Die Mannschaften in den Rettungsbooten der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ müssen stets, sowohl auf Rettungs- wie Übungsfahrten, mit Korkjacken bekleidet sein. Die deutschen Passagierdampfschiffe zwischen Hamburg oder Bremen und Amerika haben sowohl für jeden Mann der Besatzung als auch für die volle möglicherweise aufzunehmende Anzahl der Passagiere Korkjacken an Bord, was von großer Wichtigkeit ist. Es kommt z. B. öfter vor, daß, wenn ein Schiff strandet, von den über das Schiff brechenden Sturzseen einige „Mann“ der Besatzung über Bord gespült werden, bevor man ihnen vom Lande aus Hilfe leisten kann. Haben die Fortgespülten Korkjacken an, so werden sie in der Regel von den Wellen dem Strande zugetrieben und vom Lande aus durch zugeworfene Leinen dem Wassertode ent- rissen, wogegen sie sonst in der Regel rettungslos verloren sind. Eine große Anzahl wackerer Seeleute sind so Tag für Tag, Nacht für Nacht im Dienste der „Deutschen (Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ tätig, um Schiff und Besatzung aus See- not zu retten. Wahre Wunder des Heldenmutes, von denen kaum eine Kunde in die Öffentlichkeit dringt, vollziehen sich dort an den sturmumbrausten Küsten. Nichts ist bewundernswerter als die einfache Tapferkeit, mit der diese Helden des Rettungswesens ohne Furcht vor Gefahr, ohne Furcht vor dem Tode an ihr Liebeswerk gehen. Wahrlich von diesen Leuten gilt „Sie sind das Salz der Erde“. Sie üben in allet Einfachheit des Herzens die beiden höchsten Tugenden, die es auf der Welt gibt, aus: die ruhige Verachtung des Todes und die gänzliche Selbstaufopferung aus Liebe zur Menschheit. N Eit Ha 3 MU 3 34 3 KVH34 Me 3A MV 3 Me MM AV MV. SD Gr IR ar var Le Gr TU U vr IOSHAITTOGEIATS IROR 52 RIENEO III GEN D Ö 13. De Schipperfru. Slap, Kindjen, söt, Ick weeg di mit de Föt; Buten geiht dat wille Haf, Dat weegt din Vader wul op und df, Slap, Kindjen, söt! Slap, Kind, un drom Vun Vageln un gollen Böm! Ick hör de See de ganze Nacht, Ick sitt nu lang de ganze Dag, Slap, du Kind, un dröm! Slap, du Engelsgesicht, He kummt gewiß torügg; Un keem he nich, dat weer so swar, So seet nu lang ick ümmerdar. Slap, du Engelsgesicht! Klaus Groth. 14. Feuer auf See. Von Wilhelm Rabe, Auch das Meer gibt seine Toten wieder, Wenn der Fürst des Lebens ruft, Sie, die ohne Glockenklang und Lieder, Sanken in die nasse Gruft, Die verzweifelnd mit dem Tod gerungen, Als der grause Abgrund sie verschlungen, Alle, die seit Noah’s Flut Bergetief im Meer geruht, RINGE Ebeuer auf See!“ wer rief das? Wer hatte das gerufen? „LPeuer auf See!“ Feuer auf See!“ — Wie ein elektrischer Schlag fuhr es durch das Hochzeitsfest im Stranddörflein. Die Musik brach ab, die Tanzenden hielten an, wie gebannt; die Zechenden sprangen von den Sitzen empor und dem alten, ein- armigen Hochbootsmann Steffen Groote blieb das malaiische Lied, das er eben einem kleineren Zirkel von Kennern zum besten gab, Zusate in.der Kehle stecken. Auch der Bräutigam und die Braut waren emporgesprungen, obgleich sie anfangs den Grund des panischen Schreckens nicht begriffen. Der Oberst drängte sich durch den Saal nach der Tür, und ihm nach stürzte der größte Teil seiner männlichen Gäste. Die Zurückbleibenden liefen aufge- regt durcheinander oder zu den Fenstern, die auf das Meer gingen. Die Braut faßte den Arm des alten Pfarrers: „O mein Gott, was ist denn? was ist geschehen?“ „Dort, dort! Weahrhaftig! O Gott, erbarme dich ihrer!“ rief der Greis, der das Fenster aufgerissen hatte und auf die See deutete, „Ein Schiff im Brande, dort, dort!“ Die Blicke des jungen Pfarrpaares folgten der zitternden Hand; in tötlichstem Schrecken stockte das Herzblut. — „Dort, dort!“ Es war halbe Abenddämmerung geworden, und der Übergang 414 Dr. Wiese, Das Meer. aus dem grauen Tage war so unmerklich geschehen, daß keiner der fröhlichen Hochzeitsleute darauf geachtet hatte. Noch immer bewegte kein Luftzug den Dunst, der über Land und Meer lag und den Horizont vollständig verschleierte; nur die Bewohner des Strandes konnten wissen, was seewärts der rote Schein be- deutete; den beiden Kindern des Binnenlandes aber mußte bei dem unbekanntem Schrecknis das Herz um so wilder schlagen. Ein brennendes Schiff! Hunderte von Menschen in der gräß- lichsten Todesnot! Die Sinne verwirrten sich bei den Gedanken, bei den hundert furchtbaren Bildern, die sich durch das Gehirn drängten. Das Hochzeitshaus wurde leer von seinen Gästen; auch die Weiber stürzten durch die Gänge und eilten nach dem Strand hin- unter. Als der alte und der junge Pfarrherr und die junge Pfarr- frau am Landung'ssplatz der Boote anlangten, fanden sie die Fischer wie die Hofleute in harter Arbeit beschäftigt, alles zur Ausfahrt fertig zu machen, während die Frauen in fieberhafter Aufregung durcheinander liefen und schrieen und nach dem Schein im Nord- westen winkten und gestikulierten. Unter die Männer mischte sich der junge Pfarrer und zog und schob mit den anderen; die Weiber suchte der alte Pfarrherr zur Vernunft oder wenigstens zur Ruhe zu bringen, wobei ihm die junge Gattin seines Amtsnachfolgers nach besten Kräften half. Zur glücklichsten Stunde entfaltete der Wind von Süden, ein wahrer Engel Gottes, seine Schwingen und griff in die Segel der Boote; nur die ältesten Männer, die Frauen und die Kinder blieben am Ufer zurück, während die jüngeren Männer hilfebringend ausfuhren. In dem ersten Boote, das vom Strande sich losmachte, befanden sich der alte Oberst und der Pastor-Adjunkt; — das furchtbare Leuchten in der Ferne erschien deutlicher und deutlicher. „Es ist ein Dampfer, sie könnten sonst nicht so gegen den Wind arbeiten!“ riefen einige der alten See- leute, die zurückbleiben mußten. „Sie wollen den Strand anlaufen,* meinte ein anderer. Allerlei Vermutungen über den Kurs des Schiffes wurden angestellt. Die einen hielten es für ein Stettiner Schiff auf dem Wege nach Stockholm, aber dagegen er- hoben sich viele Einwendungen. Andere meinten, es sei das ein Petersburger Paketboot, auf der Fahrt von Lübeck nach Kron- stadt. Dieser Ansicht fielen die meisten, unter ihnen der alte Pfarr- herr, bei. III, Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 415 Die Boote von Grunzenow waren längst in der zunehmenden Dunkelheit verschwunden. Man schleppte Brennmaterial am Strande zusammen und zündete ein mächtiges Feuer an und traf sowohl am Ufer als in den Hütten andere Vorbereitungen für den Fall, daß das Volk des brennenden Schiffes von den Männern heim- gebracht würde. „Gott segne dich, mein Kind,“ sagte der Pfarrer, der Braut die Hand drückend. „Dein Hochzeitstag geht bös zu Ende; aber du bist recht zur Frau eines Fischerpastors geschaffen. Du trittst dein Amt in Ehren an; Gott segne dich für ein langes tapferes, hilfreiches Leben.“ — Ein Geschrei der Menge unterbrach den Segnenden. Der Feuerschein auf dem Meere verlor ziemlich Bensell an Helliokeit und erlosch plötzlich ganz. Ein leises Schweigen erfolgte auf das schreckhafte Rufen, die Bemerkungen, die jetzt noch gemacht wurden, geschahen im leisesten Flüsterton, Es war, als ob niemand laut zu atmen wagte. „Sie sind gerettet oder — verloren!“ sagte endlich der alte Pastor, nahm das Käpp- chen ab und faltete die Hände. Er sprach das Gebet für die Schiffbrüchigen und Männer und Weiber und Kinder beteten in- brünstig mit; die Väter der betenden Greise aber hatten noch das Strandrecht in seiner ganzen Scheußlichkeit für Recht erkannt und ausgeübt. Eine tötlich bange Stunde verfloß; dann tauchten wieder Lichter in der Finsternis seewärts auf. Es waren die Fackeln der heim- kehrenden Boote und nun schrie wieder alles auf, was noch der Stimme irgendwie mächtig war. Nach einer halben Stunde pein- lichster Erwartung lief der erste übervolle Kahn an den Landungs- platz. „Rettung, Rettung! Gerettet, gerettet!“ schallte es durch- einander in deutscher und französischer Sprache. In halb wahn- sinniger Entzückung sanken die ersten der (reretteten nieder, ‘küßten unter krampfhaftem Lachen und Weinen den festen Boden der Erde, umarmten und küßten die Leute des pommerschen Strand- dorfes, die sich geschäftig, alle mögliche Stärkung und Hilfe bietend, an sie drängten. Der Oberst und der Pastor-Adjunkt befanden sich nicht in diesem ersten Boot; man vernahm aber jetzt, daß das verbrannte Schiff die „Adelaide“ von Havre de Grace sei, das eine Ladung französischer Weine und einige Passagiere nach Petersburg führen sollte. Die Aufregung war jedoch noch zu groß, um über die 416 Dr. Wiese, Das Meer. Einzelheiten des Brandes Näheres zu erfragen und zu erfahren. Vierundsechzig unglückliche, zum Teil verwundete Menschen hatten die Grunzenower ans Land gebracht; es fehlte nur noch der letzte Fischerkahn mit dem Oberst und dem jungen Pfarrer. „Die bringen den Kapitän und die Frauen,“ lautete die Ant- wort auf die ängstlichen Fragen der jungen Pfarrfrau. „Sie müssen gleich da sein, es ist ihnen gottlob nichts passiert.“ | N 15. Weltenverbindende Drähte. Unser Zeitalter steht im Zeichen des Verkehrs, Kaiser Wilhelm II Tief unter dem Meeresspiegel ziehen sich durch den Ozean von Land zu_Land, von Erdteil zu Erdteil jene unsichtbaren Drähte, die mit Blitzesschnelle Nachrichten durch die Tiefe des Meeres übermitteln. Es sınd die Tiefseekabel, die seit mehr als 5o Jahren die Erdteile verbinden und als ein völlig ausgebautes Kabelnetz die über- seeischen Verbindungen herstellen. Allen voran in der Anlage solcher Kabel ist England vorgeschritten, aber die Kabelindustrie erlangte erst ihre jetzige hohe Blüte in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, also nach zojähriger Entwicklung, als das elektrische Licht und die Telephone die Welt eroberten. Heute bestehen nicht weniger als 32 Privatgesellschaften, die unterseeische Kabel angelegt haben und in eignem Betrieb unter- halten. Von diesen Gesellschaften sind 22 englisch, von den übrigen sind 2 deutsch, ı französisch, ı amerikanisch, ı dänisch, ı deutsch-niederländisch. Unter den wichtigsten nichtenglischen Gesellschaften ist zu nennen die Deutsch-Atlantische Telegraphen- gesellschaft, von deren beiden überseeischen Kabeln das eine 1900, das andere 1904 gelegt wurde. Sie verbinden Borkum mit Coney-Island bei NewYork (mit einer Anlegestation auf den’Azoren); das Kabelnetz der Gesellschaft, die außerdem eine Strecke Borkum- Vigo in Besitz hat, umfaßt 9520 Meilen. | Die Gesamtlänge der Kabel der privaten überseeischen Kabel- gesellschaften darf auf 200 000 Seemeilen, d. i. mehr als 370000 km geschätzt werden. Außer diesen bestehen aber auch noch aus- gedehnte staatliche Untersee-Kabelnetze, die gewöhnlich die wich- tigsten Punkte der Küste eines Landes oder dieses selbst mit seinen Dr, Wiese, Das Meer. 27 418 Dr. Wiese, Das Meer. vorgelagerten Inseln und nicht zu weit entfernten Kolonien ver- binden. Manche dieser Linien stehen im gemeinschaftlichen Eigen- tum zweier Staaten; das ist z. B. der Fall bei jenen Linien, die England mit Frankreich, die Niederlande und Deutschland, ferner Deutschland mit Dänemark und Schweden, und andererseits Däne- mark und Schweden unter sich verbinden. Das bedeutendste staatliche Unterkabelnetz hat Frankreich. Es beträgt nahezu 10000 Seemeilen und umfaßt außer dem Kabel nach England, an dem dieser Staat Miteigentum hat, fünf Kabel nach Algier und Tunis, zwei Kabel nach Korsika und mehrere nach seinen weiteren Kolonien, so namentlich ein sehr wichtiges über Teneriffa nach Senegal. Unter den anderen staatlichen Kabeln verdienen Erwähnung ı. das deutsche Netz (2815 Meilen), das außer den in englischem, dänischem und schwedischem Mitbesitz befindlichen Kabeln ein wichtiges Küstennetz und zwei Kabel an der chinesischen Küste umfaßt: 2. das grobbritannische Netz (2304 Meilen), das außer den im Mitbesitz anderer Staaten befind- lichen Linien ein ausgedehntes Küstennetz sowie Verbindungen mit Irland, Schottland, den normannischeu Inseln, den Orkney- und Shet- landinseln usw. enthält; 3. das spanische Netz (1734 Meilen), das die Balearen, die Kanarischen Inseln und die marokkanische Küste versorgt; 4. das japanische Netz (2153 Meilen) mit ı24 Kabeln zwischen den zahlreichen Inseln des Reiches; 5. das niederländische Netz (2153 Meilen) mit 14 Kabeln zwischen den wichtigsten Sunda- inseln ; 6. das Kabelnetz der indisch-englischen Regierung (1930 Meilen), dessen Hauptstrang von Kuratschi in Indien nach Bushire und Fao an der Küste des Persischen Golfes geht und dort an die festländischen Linien und die asiatische Türkei An- schluß hat. | Unter den staatlichen Linien von geringerer Bedeutung ist die Norwegens besonders erwähnenswert; sie besteht aus 625 Kabeln von ı—2 km J.änge. Besondere Erwähnung verdient hier auch die 1892 angelegte englisch-transpazifische Linie, die insofern ein staatliches Unternehmen eigener Art darstellt, als sie von einem Abgeordneten der englischen Hauptstadt und der beteiligten eng- lischen Kolonien, dem Pacific Cable Board, verwaltet wird. Dieses Netz umfaßt 7837 Seemeilen und geht von Vancouver über die Faming-, die Fidji- Inseln und die Inseln Norfolk nach Neu-Seeland und Queensland. Im ganzen kann die Länge der in staatlichem III. Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 419 Besitz befindlichen Kabel auf 40000 Seemeilen geschätzt werden, so daß sich also in Verbindung mit der oben für die privaten Unterseekabel angegebenen Zahl für das gesamte Unterseekabel- netz der Welt eine ungefähre Länge von 440000 km ergibt. | Die Herstellung eines Tiefseekabels bietet besondere Schwierig- keiten, da z.B. der Atlantische Ozean Untiefen bis zu 7000 m aufzu- weisen hat. Hierdurch wird eine sehr gewissenhafte Isolierung der Ader erforderlich, da das Kabel in dieser liefe unter einem Druck bis zu 700 Atmosphären steht. Es muß sorgfältigst vermieden werden, daß sich in der Isoliermasse irgendwelche Hohlräume bilden, da sonst ein Durchdrücken dieser Masse unter Einwirkung des hohen Wasserdruckes erfolgt und hierdurch eine Verbindung zwischen der Ader und dem Meerwasser hergestellt wird. Man unterscheidet in der Hauptsache zwei Arten des unterseeischen Kabels: Küstenkabel und Tiefseekabel. Das erste unterscheidet sich vom letzten lediglich durch eine stärkere Panzerung, da es bei seiner Lage in geringerer Tiefe leicht Beschädigungen durch Schiffsanker usw. ausge- setzt ist. Die Herstellung des Kabels erfolgt auf folgende Weise: Die Kupferader wird mit Guttapercha überzogen, das in drei Schichten über die Ader gepreßt wird und ihre Iso- Durchschnitt eines Kabels, lierung bewirkt. Das Tiefseekabel wird in diesem Zustand einer Druckprobe, entsprechend einem in den Untiefen des Ozeans vor- kommenden Druck, ausgesetzt. Zum Schutz gegen Rosten wird das isolierte und gepanzerte Kabel noch mit geteertem Tauwerk umwickelt. Das fertige Kabel wird in großen Tanks aufgerollt und stets unter Wasser gehalten, da das Guttapercha Wärne und Temperaturwechsel nicht vertragen kann. Diese Tanks müssen möglichst in der Nähe der Anlegestelle des Dampfers aufgestellt sein, um eine schnelle Übernahme des Kabels an Bord zu ge- statten. Die Unterbringung des Kabels an Bord des Dampfers erfolgt meist in vier runden Tanks, in deren Mitte zum ungehinderten 277 420 Dr. Wiese, Das Meer. Ein- und Ausrollen des Kabels je ein Konus eingebaut ist. Ist ein Tank gefüllt, so wird er unter Wasser gesetzt. Die Enden der Kabelstrecken in den einzelnen Tanks werden aneinander gelötet, von der Hand mit Guttapercha umpreßt und gespleißt, so daß sich an Bord des Dampfers eine fortlaufende Kabelstrecke mit zwei freien Enden befindet, von denen das eine Ende in das meist im- hinteren Brückenhaus sich befindende Prüfungsamt verlegt und das andere zum Auslegen bereit gehalten wird. Vom Ausgangspunkt des Kabels wird ein solches durch Leichter nach See hinausgelegt, wo es äuf dem Dampfer an das eben erwähnte freie Kabelende angespleißt wird. Es erfolgt nun das Auslegen des Kabels dadurch, daß das in Fahrt befindliche Schiff das Kabel aus den Tanks heraus- zieht. Das Kabel läuft über das Hinterschiff und fällt von dort, über eine Rolle laufend, ins Meer hinab. Um das Kabel in der Gewalt zu haben und es möglichst in gerader Linie auslegen zu können, wird es, bevor es das Schiff verläßt, mehrere Male um eine Trommel geschlungen, die gebremst werden kann, um je nach den Witterungsverhältnissen und der Fahrgeschwindigkeit ein rascheres oder langsameres Ablaufen des Kabels zu erhalten. : Die Fahrgeschwindigkeit beim Verlegen richtet sich nach dem Wetter. Die Teilstrecke Borkum-Azoren des deutschen Kabels wurde bei einer mittleren Fahrgeschwindigkeit von sechs bis sieben Knoten in der Stunde ausgelegt, während beim Verlegen der zweiten Teil- strecke diese Geschwindigkeit bis zu zehn Knoten gesteigert wurde, was wohl die höchste Geschwindigkeit sein dürfte, die je e:’n Kabeldampfer erreicht hat. Beim Legen hat in kurzen Abständen eine Prüfung des aus- gelegten Kabelendes durch Verständigung vom Prüfungszimmer des Schiffes nach dem Lande zu erfolgen, um etwa auftretende Schäden sofort zu entdecken. Eine Beschädigung des Kabels be- dingt natürlich eine sofortige Reparatur, da sonst eine Kontrolle des weiter ausgelegten Kabels nicht möglich wäre. Die Fahrt wird zunächst verlangsamt und durch genaues Prüfen die Lage der schadhaften Stelle und ihre Entfernung von Bord bestimmt. Ist die beschädigte Stelle nicht weit vom Schiff entfernt, so. kann man das Kabel, soweit es erforderlich ist, wieder einholen. Im Vorderschiff ist zur Einholung des Kabels über die Bugrolle eine starke Winde aufgestellt. Das noch über die hintere Rolle laufende Kabel muß gekappt und vom Hinterschiff nach dem Vordersehill Das Meer im Leben der Völker. III. Abschnitt IHILYISTAUPST UMUTD INV 122 Dr. Wiese, Das Meer. geholt werden. Ein Tau wird über die Bugrolle hinweg an einer Schiffsseite entlang nach dem Hinterschiff gelegt und hiermit das Kabel heruntergeholt. Jetzt kann das Kabel bei ganz langsamer Fahrt eingeholt werden. Sobald die beschädigte Stelle über den Meeresspiegel kommt, ist eine Ableitung des Stromes nicht mehr möglich, und eine bessere Verständigung mit dem Lande tritt wieder ein. Das eingeholte Ende wird abgeschritten, das freie Ende vom Hinterschiff nach vorn geholt, wieder angespleißt und das Kabel über Bord geworfen. Die Verlegung des Kabels kann jetzt fortgesetzt werden. Eine derartige Reparatur erfordert vielleicht eine Tagesarbeit. Bei weitem ungünstiger liegen die Verhältnisse, wenn die be- schädigte Stelle des Kabels weit vom Schiff entfernt liegt. In diesem Falle muß das Kabel gekappt und an einer verankerten Boje aufgehängt werden. Das Aussetzen der Boje und das Herab- lassen des Ankers nimmt schon mehrere Stunden in Anspruch. Ist die Boje mit einem Signal versehen und ihre Lage genau be- stimmt, so tritt der Dampfer die Rückfahrt nach der beschädigten Stelle an, wo sofort das Fischen des Kabels beginnt. Da bei der großen Tiefe ein Heraufholen des Kabels ‘ohne weiteres nicht möglich ist, muß es zunächst am Grunde geschnitten werden. Ein Schneideanker wird über die Bugrolle ausgelassen und bei ganz langsamer Fahrt in möglichst rechtem Winkel zur Kabelrichtung über den Meeresboden gezogen. Der Anker ist auf beiden Seiten mit Haken versehen, so daß bei guter Lage ein Erfassen des Kabels auf dem Meeresboden möglich ist; ein Dynamometer dient zur Kontrolle des Kraftautwandes. Das Tau, an dem der Anker befestigt ist, läuft an Bord über zwei feste Rollen. Zwischen diesen liegt auf dem Tau eine dritte, Jose Rolle, die mit einem Ölpuffer verbunden ist, um gegen zu harte Schläge bei plötzlichem Fest- sitzen des Ankers gesichert zu sein. Wird der Anker, ohne Wider- stand zu finden, über den Meeresboden gezogen, so wird die mitt- lere Rolle infolge ihres Gewichtes eine tiefe Lage einnehmen. Bei plötzliichem Festhaken des Ankers wird sie emporschnellen. Häit die Rolle sich längere Zeit bei langsamer Fahrt in dieser höchsten Lage, so ist Aussicht vorhanden, daß der Anker das Kabel gefaßt hat. Jetzt wird das Tau langsam eingeholt. Aus der Art und Größe der Belastung wird man auf die Richtigkeit der Voraus- setzung schließen können. Der Schneideanker selbst hat zwei m III, Abschnitt. Das Meer im Leben der Völker. 423 Arme, die oben durch einen schwachen Bolzen zusammengehalten werden und an ihrem unteren Ende mit dem an Bord laufenden Tau verbunden sind. Beide Arme sind durch ein starkes Mittel- stück getrennt. Die eine Seite dieses Ankers ist am unteren Ende mit scharfen Messern ausgerüstet. Je höher das Kabel gehoben wird, desto schneller wächst die Belastung, bis ein Zerreißen des Bolzens eintritt und die Arme zusammenschlagen. Der mit Messern ausgerüstete Arm durchschneidet das Kabel, während der andere Arm das eine Ende festklemmt. Im günstigsten Falle ist es so möglich, bei einmaligem Fischen das Kabel zu schneiden und an Bord zu holen. Gelingt das nicht sogleich, so muß zunächst das erste Ende mit einem Hakenanker gefischt und auf seine Tauglich- keit untersucht werden. Ev. muß das Kabel, wenn die be- schädigte Stelle noch nicht ausgeschieden ist, eingeholt und dann an einer Boje aufgehängt werden. Sodann erfo:gt das Fischen des zweiten Kabelendes. Dieses wird an das Bordkabel angespleibt. Die Auslegung des Zwischenstückes erfolgt jetzt über das Vorder- schiff hinweg, da die Boje nachher von hier aus an Bord genommen wird, hier das Spleißen erfolgt und das Kabel vom Vorderschiff aus wieder über Bord geworfen werden muß. Die Reparatur ist beendigt; die Fahrt nach der zuerst ausgelegten Boje kann ange- treten werden. Diese wird ebenfalls an Bord genommen und der Anker eingeholt. Das Kabel wird nochmals geprüft und dann mit dem Kabel an Bord verbunden. Jetzt kann die weitere Verlegung des Kabels erfolgen. So kann eine Reparatur unter den günstigsten Verhältnissen verlaufen. Es ist wohl einleuchtend, daß der Erfolg und die Dauer der Reparatur vor allem von dem Wetter abhängig ist. Ein Fischen des Kabels kann nur bei ruhigem Wetter erfolgen. Beim Eintritt schlechten Wetters kann es vorkommen, daß die Reparatur oft lange hinausgeschoben werden und der Dampfer während dieser Zeit nutzlos umhertreiben muß. Die Unterbrechung einer bereits begonnenen Reparatur ist insofern noch unangenehmer, als es nicht ausgeschlossen ist, daß das bereits gefischte und an einer Boje aufgehängte Kabel durch das Wirbeln der Boje in den Wellen wieder losgerissen wird. Durch erneutes Fischen geht dann wieder viel Zeit und ein weiteres großes Stück Kabel verlorer So kann sich eine Reparatur oft über eine Woche erstrecken. +24 Dr. Wiese, Das Meer, . Ist die Verlegung des Kabels beendigt und hat die Prüfung ein gutes Resultat ergeben, so ist ein erneutes Defektwerden des Kabels in der Tiefsee kaum zu erwarten. In der Nordsee und im englischen Kanal sind jedoch häufiger Reparaturen infolge von Berührungen des Kabels mit Schiffsankern, Schleppnetzen usw. erforderlich. Dt u C. Schulze & Co., G.m. b. H., Gräfenhainichen. “ Sn % Fr» 2 u # u P > T u“ r s . . u P % ‘ >, £ ” A —; I 3 = 5 Li Di N = x E u. [5 . & \ a £ “x = % ) . i ' u N © - \ - Le \ A, 5 = u = . x ‚ ‚ > s gg. GC Wiese, Josef rl Das Meer W54 PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY 2 9 W3Ll SOd J1HS ATTaNITT z En ur erarfe Ne nn A RZRRIETN e ae m ur “ ri er DE Wa 4 Ben m rm. Par: =. EEE - wir nl - Se ep N eingang mn nn nee ne x x an am Ir m De Pe DEREN EL 225 We ODER NN - - - Dis ee aAunizeie nenne en Re ns ne | ni Tymstknfie a & RURICTe un Zn £ ee ine cr. mn N were rn a RO en . a or a - care |: - nn in - un. _ —— Zi a Del n - ne Ben en - u — ” —. a - ” - in rn er ne u u Ya . > . a nn nn nn a - ns Zu I rer gie m . 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