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Das Unbewiisste

vom Standpunkt

der

Physiologie und Descendenztheorie.

Eine kritische Beleuchtung des naturphilosophischen Theils

der Philosophie des Unbewiissten

aus naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten.

Berlin. Carl D u n c k e r ' s T e r 1 a g: .

(C. Heymons.) 1872.

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Vorwort.

Ochon seit Neujahr 1870 lag uns der Gedanke nahe, die naturwissenschaftlich werthvTjllen und folgenschweren Gedankenkeime, welche in der „Philosophie des Un- bewussten" enthalten sind, hervorzuheben, ihre Unverträg- lichkeit mit anderen in diesem Werke maassgebenden me- taphysischen Elementen darzuthun, und ihre Bedeutung durch detaillirtere Ausführung in helleres Licht zu rücken» Es war diese Aufgabe entweder in rein kritischer, oder ia rein positiver Gestalt lösbar; das Schwanken zwischen beiden r)ehancllui]gs weisen, die in dem Xachstchenden einen vielleicht nicht ganz zweckmässigen Compromiss geschlossea haben, so wie die Hoffnung, die so nahe liegende Aufgabe von berufeneren Händen ausgeführt zu sehen, Hess un& mit der zusammenhängenden Niederschrift der Gedanken zogern, bis der stets wachsende P^rfolg und Einfluss der „Philosophie des Unbewussten", das Ausbleiben einer sach- gemässen Kritik von naturwissenschaftlichem Standpunkt, endlich statt deren das Erscheinen einiger Gegenscliriften^ welche den Standpunkt der Naturwissenschaften, den sie

zu vertreten behaupteten, auf das Aergste compromittirten^ es immer wünschenswertlier erscheinen Hessen, mit den inzwischen weiter ausgearbeiteten Gedanken hervorzutreten. Wenn dieselben trotzdem noch immer den Eindruck des Aphoristischen, vielleicht sogar Unreifen machen, so möge diess in der Neuheit des Gegenstandes und der Unmög- lichkeit, denselben schon jetzt erschöpfend zu behandeln, -seine Entschuldigung finden.

Der Verfasser.

L

Descendenztheorie und natürliche Zuchtwahl.

Die .Lehre, dass alle Formen der organischen Schöpfung auf der Erde in einem genealogischen Verwaudschaftsverhaltnisse stehen und auf gemeinsame Abstammung zurückgeführt werden müssen, diese Lehre , welche schon früher von Geoffroy St. Hi- laire, Lamarck, Göthe, Oken und anderen ausgesprochen war,., hat erst durch Darwin's Lehre von der natürlichen Zuchtwahl eine so handgreifliche Form gewonnen, dass sie in der Natur- wissenschaft gegenwärtig als fast allgemein acceptirt gelten kann, und in den Gebieten der Zoologie, Botanik, Paläontologie, ver- gleichenden Anatomie und Biologie eine vollständige Revolution hervorgerufen hat. Nur einige äitcre Naturforscher, welche sich unfähig fühlten, noch einmal ganz umzulernen, verhalten sich jetzt noch ablehnend gegen die Descendenztheorie oder Abstam- mungslehre, und diese auf dem Aussterbeetat stehenden Gegner vermögen natürlich nicht, den unaufhaltsamen Siegeslauf der neuen Wahrheit zu hemmen. Wenn die deutsche Naturphilo- soi)hie schon lange vor Darwin diese Lehre zu der ihrigen ge- macht hatte, wenn ein Oken sogar den lebendigen Urschleim (heut Protoplasma genannt) und die einzelligen Infusorien als erste und zweite Stufe der organischen Reihe aufstellte und die Anwendung seines Princips auf den Menschen („der Mensch ist entwickelt, nicht erschaffen^') nicht scheute, wenn Scho- penhauer sich ausdrücklich zu der Lamarck'schen Abstammungs-

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lehre bekannte, wenn ferner diese Lehre nichts weiter ist als die Anwendung des Priueips der Eutwickelung auf das orga- nische Leben auf der Erde, also auch eine nothwendige, wenn auch unausgesprochene Ergänzung der Hegel'schen Philosophie bildet, deren Kern ja das Entwickelungsprincip ist, dann ist es wohl kein Wunder, wenn die jüngste deutsche Philosophie, welche sich selbst als die höhere Einheit von Hegel und Scho- penhauer ankündigt, auch die Descendenztheorie ausdrücklich in ihr System aufnimmt, und dieselbe auf ihre Weise näher zu be- gründen sucht. Sie erfüllt damit einerseits nur eine Aufgabe, welche ihr durch den Entwickelungsgang der neuesten Philo- sophie selbst unmittelbar vorgezeichnet und nahe gelegt war, und sie thut damit andrerseits gegenüber dem heutigen Standpunkt der Wissenschaft überhaupt nur ihre Schuldigkeit; denn wenn die Philosophie im Allgemeinen die Pflicht hat, anerkannten Wahrheiten der empirischen Wissenschaften gegenüber keine Ver- stösse zu begehen, so ist insbesondere heutzutage jedes philo- sophische System als ein todtgeborenes Kind, als ein kläglicher Anachronismus zu betrachten, welches so blind ist, die Desceu- denztheojie negircnd von sich ausschliessen zu wollen. Es ist aber auch die Descendenztheorie in ihren Consequenzen eine in alle Gebiete so tief eingreifende Lehre, dass die moderne Philo- sophie ebensowohl neue Befruchtung als auch neue Aufgaben durch dieselbe erhält: Probleme, deren Bearbeitung schon ausser- halb der Naturwissenschaft liegt, und doch für die menschlichen Interessen von höchster Bedeutung ist. Insofern nun der Natur- forscher zugleich Mensch ist, und als gebildeter Mensch an diesen Interessen Theil nimmt, erwächst auch ihm das Recht und die Pflicht der Prüfung, ob und wie die Philosophie den Consequen- zen der Abstammungslehre bereits Rechnung getragen habe. Bei dieser Untersuchung werden wir uns wesentlich an die „Philo- sophie des Unbewussten" als an das einzige philosophische Sy- stem, welches zu der Descendenztheorie eine klare und entschie- dene positive Stellung genommen hat, zu halten haben; wir wer- den ihren Standpunkt und dessen Detailaustührung einer kriti- schen Betrachtung unterwerfen, welche, als gestützt auf ein vom ijystem selbst adoptirtes Princip, der Anforderung einer „imma-

iienten Kritik" entsprechen dürfte, und werden überall da, wo die Ph. d. Unb. vor dem Richterstuhl dieser Kritik nicht besteht, uns zu bemühen haben, in Gestalt naturphilosophischer oder psychologischer Studien positive Anhaltspunkte zu Tage zu för- dern, welche geeignet sind, die Erkenntniss über den als un- zureichend erkannten Standpunkt hinauszuführen.

Die Wahrheit der biologischen Descendeuztheorie muss hier- bei natürlich als erwiesen vorausgesetzt werden, da ein Nachweis derselben zu viel Raum beanspruchen würde, und in zahlreichen Schriften geliefert ist, von denen wir hier nur die drei wichtig- sten Quellenschriften hervorheben wollen: Darwin's „Entstehung der Arten'^ deutsch von Bronn (4. Aufl. Stuttgart, Schweizerbart 1870); Wallace's „Beiträge zur Theorie der natürlichen Zucht- wahl" deutsch von Meyer (Erlangen, Besold 1870), und als syste- matischeste endlich Häckel's „Natürliche Schöpfungsgeschichte" (2. Aufl. Berlin, Reimer 1870). '

Zur Beseitigung eines häufig vorkommenden Missverständ- nisses muss ich hier mit besonderem Nachdruck darauf aufmerk- sam machen, dass die biologische Descendeuztheorie vor der Dar- win'schcn Lehre bestand, und ihre Wahrheit unabhängig ist von der Tragweite und Zulänglichkeit der letzteren. Dieses Yerhältniss wird von den meisten Gegnern Darwin's verkannt; indem dieselben Gründe für die Unzulänglichkeit der natürlichen Auslese im Kampf um's Dasein vorbringen, glauben sie in der Eegel ebensoviel Gründe gegen die Stichhaltigkeit der Descen- deuztheorie vorgebracht zu haben. Beides hat aber direkt gar nichts mit einander zu thun; es wäre ja möglich, dass Darwin's Theorie der natürlichen Zuchtwahl absolut falsch und unbrauch- bar und dennoch die Abstammungslehre richtig wäre, dass nur die causale Vermittlung der Abstammung einer Art von der an- dern eine andere als die von Darwin behauptete wäre. Ebenso wäre es möglich, dass zwar theilweise die von Darwin entdeckten Yerniittlungsursachen des Uebergangs statt hätten, zum andern Theii aber Uebergangserscheinungen vorlägen, welche bis jetzt nicht durch diese Annahmen erklärt werden könnten, und daher entweder eine ergänzende Hülfshypothese zu der Darwinschen verlangten, oder gar ein coordinirtes Erkläruugsprincip erforder-

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ten, das bis heute ebensowenig entdeckt wäre, wie das Dar- win'sehe es vor 20 Jahren war. Eine solche theilweise Unkennt- niss in den wirkenden Ursachen des Ueberganges aus einer Form in die andere kann die allgemeine Wahrheit der Descendenz- theorie ebensowenig beeinträchtigen, wie das Fehlen gewisser ZwischenfoiTuen , oder die in manchen Fällen noch bestehende Unsicherheit, von welcher bestimmten Form eine gegebene andere abstamme. Wenn selbst früher, wo noch jede Kenntniss über die den Uebergang vermittelnden Ursachen fehlte, die Abstam- mungslehre den bedeutendsten Köpfen aus allgemeinen natur- philosophischen und apriorischen Gründen gesichert erschien, so- kann jetzt, wo durch Darwin und Wallace die unzweifelhaft wichtigste, wenn nicht allein hinreichende Ursache des Ueber- gangs als überall wirksam und als für zahlreiche Fälle that- sächlich ausreichend klar und schlagend nachgewiesen ist, um so- weniger mehr ein Zweifel an der Wahrheit der Descendenztheorie bestehen.

Auch in dieser Trennung sind wir mit der Philosophie des Uubewussten im Einklang; während dieselbe die Descendenz- theorie den Traditionen der deutschen Naturphilosophie gemäss bedingungslos acceptirt, und dem Darwin'schen Erklärungspriucip ein hohes Verdienst und eine vielseitige Verwendbarkeit willig einräumt, polemisirt sie ebenso entschieden gegen die Ueber- schätzung der Tragweite des Darwin'schen Princips (Ph. d. Unb, S. 578)*) und gegen den Glauben, mit demselben alles leisten zu können; namentlich wendet sie sich gegen die Erklärung der organischen Schönheit allein durch natürliche Zuchtwahl (S. 255 259), hebt das Hand in Hand Gehen zweckmässiger Verän- derungen bei demselben Individuum und bei beiden Geschlechtern derselben Art hervor (8. 577), reproducirt die von Wallace auf- gestellten Schwierigkeiten hinsichtlich der Entstehung gewisser Abweichungen beim Menschen (578), zeigt auf das Problem hin,, wie sich typische Höhenbildungen zu einer neuen Ordnung ent-

*) Wo nicht eine andere Auflage besonderi angegeben ibt, beziehen sich die citirten Seitenzahlen der Ph. d. Unb. stets auf die gleichlautende 8te und 4te Auflage.

wickeln können (585—588), und wiederholt die EimvUrfe Nä- geli's*), dass die natürliche Zuchtwahl im Kampf um's Dasein nur physiologische, nicht morphologische Veränderungen hervor- rufen und daher auch nur solche erklären könne (589 591). Wir möchten zu diesem noch eine Schwierigkeit hinzufügen, welche unseres Erachtens sehr schwer zu wiegen scheint.

Darwin und Wallace nehmen an, dass eine zufällige indivi- duelle Abweichung sich erhält, insofern sie für die Lebensbedin- gungen des Wesens sich nützlich erweist, und dass Varietäten oder Specien, welche von andern wesentlich abweichen in einer Weise, die für ihre Lebensweise einen besonderen Nutzen ge- währt, als entstanden zu denken sind durch eine Summation mi- nimaler zufälliger Individualabweichungen. Diese Erklärung setzt ausgesprochener Maassen oder stillschweigend voraus, dass in der That jede dieser minimalen Individualabweichungen sich unter den Lebensbedingungen der damals bestehenden Art für das ab- weichende Individuum als nützlich erwies; wo diese Voraus-

*) Dass die Ph. d. Unb. hiermit den Nagel auf deu Kopf getroffen, zeigt folgende Steüe in Danvin's neuestem Werk, welche uns erst mehrere Monate nach der Niederschrift dieses Abschnitts zu Gesichte kam: „Man kann daher den direkten und indirekten Resultaten natürlicher Zuchtwahl eine sehr be- trächtliche, wenn schon unbestimmte Ausdehnung geben; doch gebe ich jetzt, nachdem ich die Abhandlung von Xägeli über die Pflanzen und die Bemer- kungen verschiedener Schriftsteller, besonders die neuerdings von Professor Broca in Bezug auf die Thiere geäusserten, gelesen habe, zu, dass ich in den früheren Ausgaben meiner ..Entstehung der Arten" wahrscheinlich der Wir- kung der natürlichen Zuchtwahl oder des Ueberlebens des Passendsten zu viel zugeschrieben habe. Ich habe die fünfte Auflage der „Entstehung'" dahin geändert, dass ich meine Bemerkungen nur auf die adaptiven Ver- änderungen des Körperbaues beschränkte. Ich hatte früher die Existenz vieler Structurverhältnisse nicht hinreichend betrachtet, welche, so weit wir es be- urtheilen können, weder wohlthätig noch schädlich zu sein scheinen, und ich glaube, dies ist eines der grössten Versehen, welches ich bis jetzt in meinem Werke entdekt habe" („Die Abstammung des Menschen*', deutsch von Carus, 2. Auflage, Bd. I, S. 132). Wenn Danvin es als wahrscheinlich ein- räumt, dass er „den Einfluss der natürlichen Zuchtwahl übertrieben habe"' (ebd. S. 133), so giebt er eben damit zu, dass die Anhänger der Descendenz- theorit', auch wenn sie die Theorie der natürlichen Zuchtwalü nicht gerade verwerfen (S. 132), doch dieselbe als zur Erklärung nicht allein hinreichend ansehen müssen, befindet sich also principiell nunmehr mit der Auffassung der Ph, d. Unb. und der unsrigen in Uebereinstimmung.

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Setzung nicht zutreffend wäre, würde der ganze Erklärungsmodus hinfällig, gleichviel ob nach Summation einer grösseren Anzahl gleichgerichteter Abweichungen sich eine summarische Abweichung ergeben mag, welche nützlich ist oder nicht; nur wenn jeder einzelne der Summanden das betreffende Individuum concurrenz- föhiger macht im Kampf um's Dasein, nur dann wird diese Ab- weichung sich vor dem sofortigen Wiederausgleich mit entgegen- gesetzten zufälligen Abweichungen und vor dem Wiederuntergang in die Stammform bewahren und die Grundlage für weitergehende Abweichungen nach derselben Richtung in den folgenden Genera- tionen bilden können. Diese Voraussetzung trifft nun allerdings in vielen Fällen zu, in vielen andern aber auch nicht, und Dar- ^™ und Wallace haben es unterlassen, jeden einzelnen Fall auf das Zutreffen dieser Voraussetzung zu prüfen.

Wenn eine Schmarotzer-Milbe (Myobia), die darauf angewiesen ist, auf thierischen Haaren herumzuspazieren , ihr vorderes Fuss- paar zu einem Klammerorgan umgebildet hat, so ist kein Zweifel, dass jede noch so geringe individuelle Abweichung nach dieser Richtung das betreffende Individuum besser befähigt, mit den Vorderfüssen ein Haar zu umfassen, und an demselben sicher auf und abzuwandern. Ganz anders liegt die Sache hingegen bei den von Wallace mit Vorliebe behandelten Beispielen von natür- lichen Masken, bei welchen ein Thier das Aussehn einer ihm ganz fernstehenden, durch irgend welche Eigenthümlichkeiten besser geschützten Gattung täuschend nachahmt, und dadurch der- selben Sicherheit gegen seine Feinde theilhaftig wird wie die nachgeahmte Gattung, ohne dass es dabei wirklich deren Schutz- mittel gewinnt. So ahmen z. B. gewisse weisse Schmetterlinge aus der Familie der Pieriden (Leptalis) diejenigen x\rten der Hc- liconidcn, in deren Bezirk sie leben, so täuschend nach, dass man sie äusserlich fast nur durch die Structur der Füsse unterschei- den kann. Die copirten Heliconiden besitzen einen unangeneh- men Geruch und Geschmack, welcher sie vor den Verfolgungen der Vögel schützt, und da nur etwa 1 Leptalis auf 1000 Heli- coniden vorkommt, so reicht dieser Schutz für die ersteren voll- kommen mit aus. Nun stehen sich aber beide Gattungen min- destens so fern wie etwa Fleischfresser und Wiederkäuer unter

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den Vierfüssern (Wallace „Beiträge zur Theorie der nat. Zucht- wahl" S. 93), man kann sich daher leicht denken, eine wie grosse Zahl von Zwischenstufen für den Uebergang nöthig war, wenn diese nur durch Addition zufälliger Individualabweichungen erfolgen sollte. Flügel , Fühler und Abdomen haben sich ver- längert, die Farben der nachgeahmten Arten vom Gelb und Orange bis Braun und Schwarz werden bis auf die Giade der Durch- sichtigkeit und die Zeichnung der kleinsten Flecke und Streifen treulich copirt, und selbst die Gewohnheiten sind derart modifi- cirt, dass die Leptaliden dieselben Orte wie ihre Vorbilder be- suchen und sogar dieselbe Flugart angenommen haben (ebd. .S. 94 95). Es ist klar, dass die Aehnlichkeit nützlich ist, aber eben so klar, dass sie erst dann einen gewissen Schutz gewähren kann, wenn sie gross genug wird, um die scharfen Augen der Vögel zu täuschen. Es würde also bei der grossen Diffe- renz der äusseren Erscheinung eine Zwischenstufe, welche immer- hin dem Aussehn der Heliconiden schon näher steht als dem der LeptaHden, doch noch hinreichend deutliche Abweichungen von den Heliconiden zeigen, um von den Vögeln deutlich erkannt zu werden, also den Inhabern wenig oder gar nichts nützen, und jedenfalls würden solche Zwischenstufen, welche den gewöhn- lichen weissen Pieriden noch näher stehen als dem Aussehn der Heliconiden, in keiner Weise irgend welchen Schutz gemessen, also auch ihre Inhaber nicht concurrenzfähiger im Verhältniss zur Stammform machen. Hier ist also die obige Voraussetzung nicht erfüllt; das Priucip ist auf die ersten Stufen zufälliger Abwei- chungen, ja selbst auf in der Mitte zwischen beiden Formen -stehende Zwischenstufen nicht anwendbar, und kann deshalb die vorliegende Erscheinung nicht erklären. Nur da wo die Stanmi- form , von welcher die Umwandhing zur natürlichen Maske aus- geht, der nachgeahmten Species ohnehin schon so ähnlich sieht, dass eine Verwechslung von Seiten der Feinde möglich ist, nur ^a ist die natürliche Zuchtwahl im Stande, die Aehnlichkeit zu TervoUkomnmen und immer täuschender zu machen. Da diess aber nur bei einem Theil der bis jetzt bekannten Beispiele von Mimicry zutrifft, so müssen in den übrigen Fällen noch andre bis jetzt unbekannte Ursachen tbätig gewesen sein.

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Nach diesen Ausstellungen gegen die Tragweite der nattir- liehen Zuchtwahl können wir nicht umhin, auch noch einen Blick, auf die Gründe zu werfen, w^elche einerseits für die hohe Be- deutung der natürlichen Zuchtwahl innerhalb eines weiten Gel- tungsgebiets und andrerseits für die unzweifelhafte Wahrheit der Descendenztheorie sprechen. Was zunächst die natürliche Zucht- wahl betrifft, so ist folgende einlache und nur auf allgemein be- kannte Thatsachen fussende Erwägung geeignet, uns einen Ein- blick in ihr Wirkungsgebiet zu verschaffen. Jede Species hat die Tendenz, sich in geometrischer Progression zu vermehren;, da aber die Individuenzahl jeder Species im Ganzen durch lange^ Zeiträume hindurch stationär bleibt, und nur ein kleiner Theil der meisten Arten jährlich stirbt, so muss allemal von dem Nach- wuchs so viel zu Grunde gehen, als er keine Stellen in dem gegebenen Haushalt des Lebens für sich vacant findet. Nun gleicht jedes Wesen im Grossen und Ganzen seinen Vorfahren^, deren Beschaffenheit es erbt; aber es gleicht ihnen nur bis auf ein gewisses Maass individueller Abweichung, welche ent- weder eine für seine Lebensbedingungen und Concurrenzfähig- keit gleichgültige sein kann (dann erlischt sie durch Kreuzung)^„ oder eine ungünstige, dann wirft sie ihren Inhaber mit Sicherheit unter die grosse Masse des zu Grunde gehenden Nachwuchses^ oder aber eine günstige, dann erhöht sie seine Chancen im Kampf der allgemeinen Concurrenz um's Dasein, zu den Wenigen zu ge- hören, welche sich zu behaupten und ihre Beschaffenheit auf Nachkommen zu vererben im Stande sind. Es können sich also von allen individuellen Abweichungen vom Stammestypus immer nur die im Kampf um's Dasein günstig wirkenden und die Art ihrer Lebensbedingungen vollkommener anpassenden erhalten und- vererben, diese ader kiinnen sich durch neue individuelle Abwei- chungen nach derselben Richtung in der nächsten Generation auch addiren, und diese hereditäre Sumniation der die Art concurrenzfähiger machenden individuellen Abweichungen heisst eben „natürliche Zuchtwahl". Eine Species kann nur bestehen und gedeihen, wenn sie sich im Anpassungsglei chgewich t zu den sie umgebenden Lebensbedingungen befindet, und die ge- rühmte Vollkommenheit der Organismen beruht eben darin, dass'

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die allermeisten sich in diesem Zustande des Anpassungsgleich- gewichts unserm Blicke präsentiren. Wenn die Lebensbedingungen sich ändern, so kommt es darauf an, ob die Species solche indi- viduelle Abweichungen aus sich hervorbringt, dass aus denselben durch Ueberleben des Passendsten und Vererbung seiner Be- schaffenheit auf die Nachkommen sich eine Abänderung der Art entwickelt, welche mit der Abänderung der Lebensumstände glei- chen Schritt hält. Ist obige Bedingung nicht erfüllt, oder ist die Aenderung der Verhältnisse zu gross oder zu plötzlich, so nimmt die Art an Zahl ab, verkümmert und stirbt aus; auch solche im Yerfall und im Aussterben begriffene Arten sind uns in der Gegenwart vielfach bekannt. Da nun die physischen Verhältnisse auf jedem Theil der Erdoberfläche, wie uns die Geologie lehrt, in einem beständigen Wechsel befindlich waren und immer sein werden, so begreift es sich, ein wie grosses Feld der Wirksam- keit der natürlichen Sichtung des überreichen sich zum Leben drängenden Nachwuchses in allen Arten und der durch Ver- erbung hieraus entspringenden natürlichen Zuchtwahl zu allen Zeiten off'en stand, und es stellt sich nunmehr als eine Haupt- aufgabe der Geologie und Biologie heraus, durch wechselseitigen Vergleich der physischen Lebensbedingungen einer gewissen Ge- gend zu einer gewissen Zeit und der Beschaffenheit der daselbst :florirenden Thier- und Pflanzenspecien eine Art öcologischer Statik des Katurlebens, d. h. eine Kenntniss aller Arten von Anpassungs- gleichgewichten kennen zu lernen, eine Kenntniss, welche gestatten würde, von der Beschaffenheit einer Species genaue Schlüsse aut seine Lebensbedingungen oder von einer Veränderung einer Spe- cies auf die entsprechende Veränderung der Lebensbedingungen zu machen, und ebenso umgekehrt. Wenn man nun aber die Einflüsse der geologischen Veränderungen der physischen Ver- hältnisse der Erdoberfläche genetisch nachconstruirt hat, so muss man hierin auch die hauptsächlichsten Ursachen für die Verän- derung der die Erdoberfläche bewohnenden Organisation begriffen haben. Diess führt uns zu der Descendenztheorie hinüber.

Schon seit dem Entstehen der vergleichenden Anatomie war es das eifrigste Bestreben der Zoologen und Botaniker, die gegen- wärtig lebenden Organisationsformen nach ihrer Verwandtschaft

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in ein natürliches System zu ordnen, welches ungesucht' mehr und mehr die Gestalt eines, wenn auch vielfach lückenför- migen, Stammbaums annahm. Andrerseits erkannte man schon früh, dass die Entwickelungsgeschichte des Individuums (Embryo- logie und Metamorphologie) eine bedeutende Analogie mit diesem Stammbaum zeige , dass sie aber denselben doch immer nur un- vollkommen in der Weise recapitulire, dass sie nicht dem Ganzen y. sondern nur einer einzelneu Linie desselben entspreche. Die paläontologischen Forschungen fügten diesen beiden Reihen eine- dritte hinzu, indem sie mehr und mehr ermittelten, welche Thier- arten einer jeden geologischen Periode den Thierarten, Gattungen und Ordnungen der Gegenwart systematisch entsprächen. Als Ganzes genommen zeigte nun der paläontologische Stamm- baum die vollkommenste Uebereinstimmung mit dem systema- tischen der vergleichenden Anatomie, nur dass er die Lücken des letzteren in soweit ergänzte, als die Vertreter vergangener geologischer Perioden sich nicht bis in die gegenwärtige Flora und Fauna hinein conservirt haben; im Einzelnen betrachtet,. d. h. eine paläontologische Vorfahrenreihe einer bestimmten Thierart der Gegenw^art aus dem Ganzen herausgelöst, zeigt er wiederum die vollständigste Uebereinstimmung mit dem Ent- wickelungsprocess des Individuums vom befruchteten Ei bis zur endgültigen Form. Diese Uebereinstimmungen sind nur so zu deuten, dass der systematische Stammbaum nur die historische Projection des paläontologischen Stammbaums auf die Gegen- wart ist, und dass die embryologische Entwickelungsreihe nur die abbrevirte individuelle Recapitulation der paläontologischen Entwickelungsgeschichte der Species ist, zu welcher Entwicke- lungsreihe natürlich nur ihre direkten Vorfahren, also nur eine einzige Linie des gesummten paläontologischen Stammbaums, gehören. Xur indem der paläontologische Stammbaum als wirkliche genealogischeDescendenz gefasst wird, lösen sich alle diese Piäthsel, und wächst die Auffassung der gcsammten Biologie zu einer grossartigen Einheit zusammen. Unter- stützt wird diese Auffassung noch wesentlich durch die Fort- schritte der Lehre von der geographischen und topographischen Verbreitung der Specien, und die Aendcrung dieser Verbreitungs-

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bezirke in den früheren geologischen Perioden, ein Wissenschafts- zweig, der ganz unverkennbar für jede Art auf eine Urheimath oder ein Ausbreitungscentrum zurückführt. Zur weiteren Empfehlung dient ihr die Lehre von den rudimentären Or- ganen, welche durch Nichtgebrauch verkümmert und entartet sind, aber trotz ihrer nunmehrigen Unzweckmässigkeit immer fort- bestehen, — eine Erscheinung, die durch Verweisung auf den allgemeinen Schöpfungsplan (Ph. d. Unb. S. 170) in Anbetracht der behaupteten Allweisheit und Allmacht des Unbewussten kei- neswegs befriedigend erklärt wird, während die Vererbung diese Constanz der morphologischen Grundtypen sofort genügend be- gründet. Endlich bestätigt sich die Descendenztheorie um m mehr, je tiefer man in den Zusammenhang des Naturlebens, in die Wechselbeziehungen der Organismen, ihrer Einrichtungen und Lebensgewohnheiten, insbesondere in die Erscheinungen des Com- mensalismus und Parasitismus eindringt. Alle diese Betrachtungen im Zusammenhang müssen die Wahrheit der Descendenztheorie zur vollkommenen Evidenz bringen. Die Ph. d. ünb. fügt diesen inductiven Bew^eisen einen deductiven hinzu, mit dem wir den nächsten Abschnitt beginnen wollen.

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Die Teleologie vom Standpunkte der Descendenztheorie.

Wenn schon die eigenthümliche Begründung, welche die Ph. d. Unb. für die Descendenztheorie beibringt, der Form nach de- ductiv ist, so entspricht sie doch ihrem Inhalt nach dem Geiste der Naturwissenschaft vollständig, da sie, wie im Grunde alle naturwissenschaftliche Hypothesenbildung, auf der fortschrei- tenden Elimination des Wunderbegriffs beruht. Der roheste Wunderglaube wäre nämlich die Annahme unmittelbarer Erschaffung aller Specien in erwachsenen Exemplaren; ein ge- ringeres Wunder wäre schon die Erschaffung derselben in Gestalt befruchteter Eier, welche etwa geeigneten Pflegeeitern anvertraut wurden; eine weitere Reduction erlitte das Wunder, wenn diese Eier an ihrer natürlichen Stelle, dem Eierstock der nächstver- wandten 8pecies, entständen und der übernatürliche Eingriif sich auf Herstellung derjenigen Abweichungen beschränkte, welche die Entwickeliing zu der neuen Species prädisponiren; endlich werden diese Eingriffe auf ein Minimum zurückgeführt durch die Annahme, dass die Uebergänge in einer Addition von zufälligen individuellen Abweichungen bestehen, zu deren Fixirung in den meisten Fällen die natürliche Zuchtwahl ausreicht. Nach derselben Methode der Elimination des Wunders hätte nun aber weiter geschlossen werden müssen, dass in allen den Fällen, wo die natürliche Zuchtwahl nicht ausreicht, andere noch unbekannte wirkende Ursachen vor- handen sein müssen, mechanische Zusammenhänge, die uns bis jetzt verschlossen geblieben sind. So schliesst aber die Ph. d. Unb. nicht, sondern sie statuirt überall da direkte übernatürliche

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I^ingriffe eines intelligenten metaphysiseben Willens in den natur- ^esetz massigen Verlauf der organischen Processe^ wo „die ent- standenen Abweichungen, welche zum Plane des Unbewussten ^•ehören, aber den Organismen keine gesteigerte Co neu r- renzfähigkeit im Kampfe ums Dasein verleihen , vor dem Wiederverlöscheu durch Kreuzung bewahrt" werden sollen (S. 593), und ebenso statuirt sie dort übernatürliche Eingriffe, ^0 nicht zufällig entstehende und doch im Schöpfungsplan liegende Abweichungen hervorgerufen werden sollen, (ebenda), obwohl sich doch gar nicht sagen lässt, dass irgend welche minimale In- dividualabweichungen nicht zufällig entstehen könnten, sondern eigentlich auch hier nur das Fixiren solcher Abweichungen ge- meint ist, die erst nach längerer Addition in bestimmter Richtung ^eine Bedeutung erlangen (z. B. Uebergang in neue Ordnungen und neue morphologische Typen). Jedenfalls verlässt die Ph. d. U. bei dieser Hypothese übernatürlicher Eingriffe die natur- wissenschaftliche Anschauungsweise und Methode, und zieht meta- physische Aushülfen heran, um thatsächlich vorhandene, Lücken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss auszufüllen. Diess kann 4ie Naturwissenschaft nicht acceptiren; so wenig sie sich darum ^u bekümmern hat, ob die Naturgesetze und die Causalität letzten Endes sich selbst wieder in Finalität und logische Kategorien .auflösen, so sehr muss sie doch darauf halten, dass ibr Gebiet xein von solchen Beimengungen bleibt und dass die Lücken in der Erkenntniss der causalen Zusammenhänge der objectiven Er- scheinungswelt offen als solche anerkannt und der künftigen Aus- füllung durch rein causale und mechanische Zusammenhänge offen gehalten werden, hinter welchen dann immerhin die Metaphysik ihren ungestörten Tummelplatz behalten mag. \yenn auf S. 790 die Causalität als „logische Nothwendigkeit" bestimmt wird, die durch einen Willen reahsirt wird, und wenn diese logische Noth- wendigkeit als die gemeinsame Wurzel von Causalität und Fina- lität bezeichnet wird, so darf diess keinenfalls so gedeutet werden, als ob der metaphysisch-teleologische Eingriff in einen naturgesetz- lichen Process mit der in dieser wirkenden Causalität auf gleicher Stufe stände. Die naturgesetzliche Causalität wirkt immer auf dieselbe Weise, unbekümmert darum, ob im besonderen Falle

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ihr Wirken empfindenden und lebenden AVesen nützlich oder verderblich wird, ob sie die Naturzwecke des Welten- planes unmittelbar fördert oder hemmt ; der teleologische Ein- griff hingegen arbeitet immer und ausnahmslos direkt auf den Zweck des Naturprocesses hin. Die naturgesetzliche Causalität richtet sieh allein nach den gegebenen Umständen und reagirt auf diese mit blinder Noth wendigkeit; der teleologische Eingriff richtet sich zwar auch nach den gegebenen Umständen und erfolgt ebenso gleichmässig wie die causale Wir- kung, sobald die Umstände identisch wiederkehren, aber diese Gleichmässigkeit ist bedingt durch das Sichgleichbleiben des End- zweckes, und die momentane teleologische Berücksichtigung dieses Endzweckes ist das neu hinzutretende Moment, welches eben eine Modification der vorliegenden Umstände durch einen metaphysischen Willen in dem Sinne herbeiführen soll, dass nunmehr die Wirkung der Naturgesetze eine dem Naturzweck unmittelbar dienende wird, die ohne diesen Eingriff eine dem Naturzweck wenigstens in diesem Falle zuwiderlaufende ge- worden wäre (Pb. d. U. S. 142—143, 176-178). Wenn die naturgesetzliche Causalität zugleicli eine möglichst zweckmässige sein soll, so liegt doch diese Zweckmässigkeit nicht im einzelnen Fall, sondern nur in dem vielfach von Rückschlägen und Hem- mungen durchkreuzten Gesammtgange, und das Gesetz wird im einzelnen Fall nur inne gehalten, weil die Coustanz der Wirkungs- weise teleologisch gefordert ist (S. 560 Anm.) und von allen möglichen Gesetzen dieses das durchschnittlich zweck- mässigste oder das relativ zweckmässigste in Bezug auf das Gesamm t resultat ist; der teleologische Eingriff hingegen wird als die hinzutretende Correktur gedacht, welche den durch constante Gesetze teleologisch nicht zu leistenden Rest auf ihre unmittelbare Action übernimmt. Dieser Unterschied darf nicht tibersehen werden ; er ist deutlich genug ausgesprochen, und ist gross genug, um die Naturwissenschaft zu einem energischen Protest gegen den etwaigen Versuch zu veranlassen, durch meta- physisch-teleologische Auslegung der CausaHtät zugleich den un- mittelbaren teleologischen Eingriff mit einschmuggeln zu wollen. Lässt man sich den letzteren einmal gefallen, so ist das Wunder

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seinem Begriff nach (als metaphysischer Eingriff in den gesetz- massigen Gang der physischen Causalität) acceptirt, und es ist dann nur noch eine Differenz dem Grade nach, welche das theologische Wunder (insofern es nicht naturwidrig gefasst wird) von diesem metaphysischen unterscheidet; ob der unbewusste Wille Atome verschiebt und dadurch Ströme im Organismus er- zeugt, welche den Wachsthumsprocess in eine neue Richtung drängen, oder ob Gott in der Transsubstantiation die üratome so umlagert, dass die chemischen Elemente sich in andre verwan- deln, das ist kein Unterschied mehr im Wesen der Sache, son- dern nur noch in der Intensität und Ausdehnung des Eingriffs. Fragen wir nun, was die Ursache eines solchen Abfalls von der naturmssenschaftlichen Anschauungsweise bei der Behand- lung einer naturwissenschaftlichen Frage gewesen sein mag, so zeigt sich die Neigung dazu einerseits durch die Antecedentien der deutschen Philosophie vorgezeichnet, und muss andrerseits auf den Abschnitt A der Ph, d. Unb. verwiesen werden, welcher das Resultat gegeben hatte, dass jeder Moment desLe- bensprocesses eine Summe zahlloser teleologischer Eingriffe erfordert. Die deutsche Philosophie war von jeher gewohnt , der Idee einen maassgebenden Eiufluss auf die Le- bensprocesse der Organismen zuzuschreiben, welche als Träger der Realisationen der Idee gelten sollten; den Kant-Fichte'schen subjektiven Idealismus ganz bei Seite gelassen , findet sich auch bei Schelling, Schopenhauer und Hegel nirgends eine genügende Würdigung der Materie als einer selbstständigen, jedes metaphy- sischen Eingriffs in ihre Gesetze und Rechte spottenden Macht; überall werden vielmehr die organischen Wesen als unmittelbare individuelle Realisationen der Idee behandelt. Hiergegen er- scheint das Verfahren der Ph. d. U. in der That als ein him- melweiter Fortschritt, welches der unbewussten Idee als organi- sirendem Princip die Materie als selbstständige coordinirte Macht gegenüberstellt, deren Gesetze jene nicht überspringen kann, son- dern mit denen sie rechnen und die sie zu ihren Zwecken klu^ benutzen muss (S. 605), wenngleich in Jetztei_Reihe die Materie mit ihren unverbrüchlichen Gesetzen auch hier nur als Objek- tivation der Idee auf niederer Stufe erscheint. Diese metaphy-

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^sche Voreingenommenheit wirkte zusammen mit den Resultaten des Abschnitts A. Dieser Abschnitt aber behandelt alle vorkom- menden Probleme ohne jede Rücksicht auf die Descen- denztheorie, >Yährend dieselben derart sind, dass sie einzig und allein von dem Staudpunkt der Descendenztheorie aus richtig gestellt und annähernd gelöst werden können. Werthvoll ist hingegen der dort zur Evidenz gebrachte Satz, dass Instinct, Reflexbewegungen, Naturheilkraft, sclbstständige Functionen niederer Nervencentra und organisches Bilden ein immittelbar zusammengehöriges Ganze darstellen (S. 164—165), eine Reihe, in der jedes Glied mit jedem andern durch flüssige üebcrgänge verbunden ist, so wie ihre höchsten Glieder in ebenso flüssiger Weise in die Erscheinungen des bewussten Geisteslebens hinüberleiten. Es kann hiernach nur ein und dasselbe Er- klärungsprincip sein, welches in allen diesen Erscheinungs- gebieten maassgebend ist. Anstatt aber mit demjenigen Gliede der Reihe, welches durch die Descendenztheorie am besten er- klärt wird , zu beginnen und von diesem , der Zweckmässigkeit der organischen Bildungen, hinaufzusteigen zu den andern, be- ginnt die Phil. d. Unb. gerade umgekehrt mit dem schwierigsten, dem Instinct, und thut dort der Möglichkeit einer Erklärung durch die Descendenztheorie, wde sie Darwin in seinem Capitel Instinct bietet, nicht einmal Erwähnung. Diess ist nur so zu erklären, dass diese Abschnitte vor jeder Bekanntschaft mit Darwin's Ori- ginalwerk und auch vor genauerer Bekanntschaft mit der Be- deutung und Tragweite der Descendenztheorie überhaupt verfasst öind, während die Cap. IX und X des Abschn. C. , namentlich der Schluss des Cap. X bereits eine Kenntniss der eminenten Bedeutung der Descendenztheorie erkennen lassen. Durch diesen Unterschied zwischen den Abschnitten A und C fällt das Buch in naturwissenschaftlicher Hinsicht gleichsam in zwei Stücke aus- einander, die nicht zusammenpassen wollen, eine Thatsache, die meines Wissens keiner der zahlreichen Rccensenten des Wer- kes auch nur von Ferne geahnt hat. Ist aber die Descendenz- theorie eine Wahrheit, (wie die Ph. d. U. zugiebt), und ist sie im Stande, für die Erscheinungsreihen des ersten Abschnitts, wenn auch nur theilweise, wirkliche Erklärungen zu liefern (was

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211 UDtersuchen die Ph. d. U. im Abschnitt A versäumt hat, wäh- rend sie es im Abschn. C. Cap. IX in vielen Punkten zugiebt), so wird dadurch die ausschüessliche Geltung und das angenotm- mene Wahrscheinlichkeitsmaass des im Abschn. A angewandten Erklärungsprincips ebenso wie die mit Hülfe desselben erzielten Resultate in Frage gestellt, also auch die Behauptung von den beständigen teleologischen Eingriffen des organisirenden Unbc- wussten an den Lebensprocess nicht ohne Weiteres als Aushülfe für die Lücken herangezogen werden dürfen, welche die natür- liche Zuchtwahl in dem Verständniss der Descendenztheorie lässt.

Die weitere Ausführung des hier nur andeutungsweise zur vorläufigen Orieutirung Vorangeschickten kann erst später folgen ; dagegen wollen wir in diesem Capitel noch auf zAvei Stellen ein- gehen , in welchen die teleologischen Eingriffe aus allgemeinen Gesichtspunkten besprochen werden. Die erste derselben ist der Aufsatz „üeber die Lebenskraft'^ in den „Gesammelten philoso- phischen Abhandlungen zur Phil. d. Unb/' (Berlin, Carl Dunckcr 1872), die andere das zweite Einieitungscapitel der Ph. d. U. : „Wie kommen wir zur Annahme von Zwecken in der Natur?"

Der Aufsatz „Ueber die Lebenskraft'^ präcisirt nach einem historischen Kückblick die moderne Fassung der Frage in fol- gender Alternative: „auf der einen Seite ein zweckmässig wirkendes immaterielles Princip, welches die fragliche Anordnung- der L'mstände" (unter welchen aus den unorganischen Molecular- kräften sich die organischen Processe entfalten) „herbeiführt und dauernd aufrecht erhält, auf der andern Seite ein einmaliger Zufall der Urzeugung, und zwar solcher überaus merkwürdiger Zufall, dass die aus ihm resultirenden combinirten Functionen die Aufhebung dieser fraglichen Umstandsanordnung dauernd aus- schliessen. Ist der Zufall der Urzeugung nicht bloss einmal, sondern (ifters eingetreten, so ist es um so merkwürdiger, dass er stets in einer Weise eintrat, welche die Dauer seiner Pro- dukte in sich schloss. So bedenklich diese Zufallstheorie auch schon deshalb sein muss, weil bei den zahllosen denkbaren Umstandscombinationen eine ausserordentlich geringe apriorische W^ahrscheinlichkeit für das Eintreten der geforderten vorhanden war, so ist dieselbe doch nur dann überhaupt haltbar, wenn die

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Thier- und Pflanzenphysiologie im Stande ist, nachzuweisen, dass wenn einmal durch jenen Urzeugungszufall organisches Leben in irgend einer der uns bekannten Gestalten geschaffen war, die so gegebenen Umstandscombinationen wirklich ausreichten, um mit alleiniger Hülfe der unorganischen materiellen Kräfte sich selbst und dadurch den vitalen Functionen ihren Fortbestand zu sichern" (Ges. phil. Abhandl. S. 109—110).

Die Begründung zerfällt, wie wir sehen, in zwei Theile, der erste gegen die Urzeugung lebensfähiger Formen , der zweite gegen deren Erhaltung und Fortbildung gerichtet. Der zweite Theil giebt also nur eine Wiederholung unserer so eben besprochenen Alternative: ob die natürliche Zuchtwahl, insofern sie nicht ausreicht, durch ähnliche mechanische Vermittlungen, die uns noch unbekannt sind, oder durch metaphysisch teleologische Eingriffe so weit vervollständigt wird, um die fortschreitende Ent- wickelung der Organisation zu Stande zu bringen; hierin finden wir mithin keinen neuen Gesichtspunkt. Dagegen ist dieser allerdings in dem ersten auf die apriorische Wahrscheinlichkeit gestützten Argument enthalten, nur ist er entschieden unrich- tig angewendet.

Die Phil. d. Unb. sagt S. 558: „Es ist wahrscheinlich, dass vor der Entstehung der ersten Organismen schon organische Ver- bindungen niederer Stufe vorhanden gewesen seien," welche sich (S. 556:) „unter dem Einflüsse einer feuchten und sehr kohlensäurereichen Atmosphäre, so wie der höheren Wärme, des Lichtes und starker electrischer Einflüsse gebildet hatten." Eignet man sich diese Voraussetzungen an, und fügt die Betrachtung hinzu, dass wenn solche der Urzeugung günstige Bedingungen in früheren geologischen Perioden einmal, wie doch noth wendig, stattfanden, sie wohl auch durch anselniliche geologische Zeit- räume hindurch bestanden, so ist in der That die Folgerung nicht zu umgehen, dass im Lauf der Zeit und im Wechsel der Um- .stände diese organischen Stoffe in zahllose Combination en zu einander traten. Unter diesen wahllosen Anordnungsweisen, Gruppirungen und Verbindungen musste der bei weitem grösste Theil auf der Stufe unorganischer Form stehen bleiben, weil er nicht die zu einer solchen nothwendige chemische Zusammen-

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Setzung und physikalischen Eigenschaften erlangte; ein sehr \4el kleinerer Theil, der aus diesen Combinationen organischer Materie hervorgegangenen Resultate mochte vielleicht vorübergehend sich der organischen Form nähern, oder auch wirklich in dieselbe eintreten, dabei aber nicht die zur längeren Behauptung derselben erforderliche Beschaffenheit besitzen; ein dritter noch kleinerer Theil vermochte etwa für sich selbst diese Form im Wechsel des Stoffs so lange zu behaupten, als etwa noch jetzt die unge- fähre Lebensdauer der primitivsten Protisteuarten beträgt , ent- behrte aber derjenigen Eigenschaften, welche durch Theilung und Fortpflanzung die Species auch nach dem natürlichen Absterben des Individuums erhalten ; ein vierter Theil mochte sowohl die zur Selbsterhaltung als zur Gattungserhaltung nothwendigen Eigenschaften besitzen, entbehrte aber jener eigeuthümlichen „Tendenz, abzuändern'^ (Phil. d. Unb. S. 591), oder doch jener Tendenz, in der bestimmten Richtuung abzuänderu, welche allein zur Entwickelung in höhere Formen führen konnte; ein fünfter Theil endlich besass auch diese Eigenschait zu den übrigen. Pie Nachkommen der vierten und fünften Classe unserer Unter- scheidung sind es, welche noch heute Meer und Erde bevölkern; von welcher Art von Moneren die Fortentwickelung zu Infusorien aus- gegangen ist, ob von einer der jetzt noch lebenden, oder von einer untergegangenen Art, davon wissen wir noch nichts; das aber schon können wir als sicher annehmen, dass die Mehrzahl der Protisten, die wir heute noch kennen, zu jener eutwickelungsunfähigen vierten Classe gehört. Die ephemeren Schöpfungen unserer zweiten und dritten Classe konnten natürlich nur so lange ihren Bestand als Arten gesichert sehen, als die günstigen Bedingungen ihrer stets erneuten Urzeugung fortdauerten; die erste Classe aber würde vom teleologischen Standpunkt aus als die der gänzlich niisslungeuen Schöpfungsversuche zu bezeichnen sein.

Nehmen wir nun als durch die Thatsache vorhandener Orga- nismen erwiesen an, dass die Möglichkeit der Entstehung des Wirklichen in den Bedingungen früherer Schöpfungsperioden zu irgend einer Zeit gegeben war (Ph. d. U. S. 555 550), so folgt aus unserer Annahme über die zahllosen Combinationen der voraus- gesetzten organischen Materie die apriorische Wahrscheinlichkeit

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und zwar als eine der 1. oder der Gewissheit sehr nahe kom- inende, dass unter den zahllosen Combinationen mit der Zeit auch solche vorkommen mussten, welche der in den Bedingungen enthal- tenen Möglichkeit der Urzeugung entsprachen, und somit dieselbe verwirklichten. Die von uns unterschiedenen Classen fordern in aufsteigender Eeihe ein mehr oder minder günstiges Zusammen- treffen mannichfacher Umstände, und gerade diesem entsprechend haben wir die Häufigkeit der einschlägigen Fälle von Urzeugung in der Gesammtzahl der Anläufe zu einer solchen überhaupt zu denken. Die von dem Aufsatz „Ueber die Lebenskraft" ange- zogene Wahrscheinlichkeitsrechnung kehrt sich mithin, weit ent- fernt, die Theorie metaphysischer Eingriffe zu unterstützen, ganz und gar gegen dieselben, und war das Verkennen dieser Sach- lage nur dadurch möglich, weil die zahllose Menge der mög- lichen Combinationen organischer Materie im Laufe der Zeit un- beachtet gelassen' war, von welchen nur einige wenige auf die lebensfähigen, noch wendiger auf die reproduktionsfähigen, und ganz wenige, vielleicht nur eine, auf die entwickelungsfähigen Formen kommen. Nicht nur, dass der Aufsatz: „Ueber die Lebens- kraft" die lebensunfähigen und fortpflanzungsunfähigen Combina- tionsresultate vollständig ignorirt, soconfundirter ausserdem noch die beiden letzten Classen, die reproduktionsfähigen und entwickelungs- fähigen miteinander, w^ährend doch auf der untersten Stufe des- Protistenreichs gewiss ganz ebenso und noch viel mehr als auf allen Stufen des Thier- und Pflanzenreichs auf eine entwicke- lungsfähige Art eine grosse Zahl entwickelungsunfähiger Arten kommen mussten, da jede Höherbildung über das Niveau einer breitverzweigten Stufe hinaus immer nur an einem oder höchstens zwei Punkten derselben ihren Ursprung nimmt, welche besonders' zur Abänderung in höhere Formen hinneigen.

Wir gehen nach Erledigung dieses Punktes zu dem schoix erwähnten zweiten Einleitungskapitel der Phil. d. Unb. über. Dieses Capitel ist mehrfach in dem Sinne missverstanden worden, als sollte es allein und für sich die Existenz von Natur- zwecken beweisen, während doch deutlich genug ausgesprochen ist, dass es sich hier nicht um materiale Erkenntniss, sondern „nur um die Feststellung der formalen Seite des zwecker-

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kennenden Denkprocesses handelt" (S. 41), um Aufklärung der Principien, ,,nacli welchen sich der logische Process über diesen Gegenstand mehr oder minder unbewusst in jedem vollzieht, der hierüber richtig nachdenkt'' (8. 48). Nur die Anwendbarkeit dieses logischen Schemas auf „Beispiele in Masse" soll den Gegner von der Wahrheit der Teleologie überzeugen können, nicht etwa die wenigen in diesem Capitel „nur zur Erläuterung und Veran- schaulichung der abstracten Darlegung" beigefügten Beispiele. Wir können daher ruhig zugeben, dass die Art und Weise, in welcher sich mehr oder minder unbewusst in jedem Anhänger der Teleologie die Ueberzeugung von der Existenz wirkender Katurzwecke herausbildet, hier richtig belauscht und wieder- gegeben sei, und werden damit doch noch nicht im Geringsten eine objektive Gültigkeit der so entstandenen Ueberzeugung ein- geräumt haben. Ob dieser Process zu positiv begründeten Re- sultaten führt oder nicht, hängt ganz davon ab, ob die abstracten Voraussetzungen, welche zum Eechnungsansatz der Wahrschein- lichkeitsrechnung benutzt werden, in dem jedesmal gegebenen concreten Falle zutreffen. Nun ist aber das Hauptmittel zur Erlangung einer grösseren Wahrscheinlichkeit die Voraussetzung, dass zur Erziclung einer gewissen zweckmässigen Wirkung (z. B. des menschlichen Sehens) eine grössere Anzahl von einander unabhängiger Bedingungen (S. 41) zusammenwirken müssen , von denen keine fehlen darf (z. B. hier die vielen Einrichtungen des menschlichen Auges S. 43). Die Unabhängigkeit der Be- dingungen von einander ist unbedingtes Erforderniss, ohne welches die Rechnung falsch wird (S. 41 Anm.). Gerade hier springt es recht deutlich in die Augen, dass dieses Capitel vor dem Be- kanntwerden mit der vollen Bedeutung der Descendeuztheorie geschrieben sein muss; denn die Descendeuztheorie zeigt eben, dass die verschiedenen demselben Zwecke dienenden Einrich- tungen desselben Organs oder desselben Organismus immer Hand in Hand mit einander sich entwickeln, aus gemeinsamen In- diiferenzpunkten heraus sich differenziren und in ihrer allmäh- lichen Vervollkommnung durch die gleichen Ursachen bestimmt worden, also nichts weniger als unabhängig von einander genannt werden können. Bleiben wir, um auch unsererseits eine Er-

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läuterung zu geben, bei dem Beispiel des nienschlicben Auges, so dürfen wir dasselbe nicbt als etwas fertiges anseben, und seine wirkenden Ursacben mit der Betraebtung der embryologiseben Entwickelungsmomente als abgeseblossen betracbten, wie jenes Capitel es tbut, sondern wir müssen die Lebre der Descendenz- tbeorie beranzieben, dass die wirkenden Ursacben für die Be- scbaifeubeit des Menscbenauges in der ganzen Entwickelungs- reibe seiner directen Yorfabren, bis zur Urzelle und protoplas- matiseber Monere binab, zu sueben seien. Man muss sieb bierbei stets vergegenwärtigen, dass in der Entwickelung des organiseben Lebens jede Function trüber da ist, als das ibr specifiscb dienende Organ entwickelt wird, eine Tbatsacbe, w^elcbe wesentlicb dazu beiträgt, viele Kätbsel aul mecbaniscbem Wege zu lösen, welcbe obne dieselbe nur auf teleologiscbem Wege lösbar scbeinen. Das Protoplasma selbst ist gleicbsam jenes Urwunder, w^elcbes alle Functionen der Sinneswabrnebmuug, Bewegungsläbigkeit , Tbei- lungs- oder Fortpflanzungsvermögen, Assimilationskraft u. s. w. in sieb vereinigt ; denn die Versucbe an den einfacbsten Moneren (Protoplasmaklümpcben obne naebweislicbe Zellmembran) zeigen, dass es für alle Arten von Reizen (Electricität , Liebt, Wärme, Lufterscbütterung, Berübrung u. s. w.) empfindlicb ist, und auf dieselben mit Contraction, Formveränderuug (welcbe Locomotion oder Tbeilung im Gefolge baben kann), cbemiscber Action (Verdauung) und Wacbstbum reagirt, wäbrend das Wacbstbum über eine gewisse Grösse binaus nacb pbysikaliscben Gesetzen das Zerfallen des Protoplasmatropfens in zwei kleinere (wie bei einem mebr und mebr vergrösserten Quecksilbertropfen) nacb sieb ziebt. Das Protoplasma ist mitbin der Ur-Indiff erenz punkt aller organiseben Lebenstbätigkeit, von welcbem aus sieb die ver- scbiedenen Organe und Systeme erst a 1 1 m ä b 1 i c b d i f f e r e n - ziren, indem gewisse T belle des Protoplasma eine für je eine oder mebrere bestimmte Alten von Functionen vorzugsweise geeignete Bescbaffenbeit annebmen. Die so im Organismus eingetretene Arbeitstbeilung wird nun durcb Vererbung auf die Nacbkommen übertragen und im Laufe der zabllosen Gescblecbterfolgen verscbiedenster Specien und Ordnungen immer mebr vervollkommnet, d. b. immer stärker diiferenzirt. So z. B.

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bestellt die erste DifFerenziruDg behufs grösserer Liehtempfindlich- keit in Aggregaten von Pigmentzellen, welche, ohne einen Seh- nerven zu besitzen, auf einer Sarcodemasse aufliegen, und nach Jourdain als Sehorgane dienen. Der nächste Fortschritt ist, dass eine Art Sehnerv sich bildet, dessen Ende von einer durchschei- nenden Haut geschützt und von den Pigmentzellen umlagert wird. Von dieser Art ist selbst noch das Auge des Amphioxus, des Urvaters des Wirbelthierreichs , der als solcher auch zu den directen Vorfahren des Menschen gehört; das Organ liegt hier in einer faltenartigen mit Pigmentzellen ausgekleideten Hautein- stülpung, in welcher der Nerv von durchscheinender Haut, ohne irgend welchen anderen Apparat bedeckt ist. Wenn sich diese Vertiefung (wie schon bei manchen Seesternen) mit gallertartiger, durchsichtiger, aussen gewölbter Masse ausfüllt, so wird dadurch zunächst eine Concentration, also eine Verstärkung der Intensität der Lichtwirkung erzielt; man sieht ferner, dass durch Her- stellung eines entsprechenden Zwischenraums zwischen Nerven- ende und linsenförmiger Gallertmasse das P^ntwerfen eines Bildes auf dem ersteren durch die letztere ermöglicht wird. (Auch beim Menschen entwickelt sich die Linse ursprünglich nur aus einer Anhäufung von Epidermiszellen in einer sackförmigen Hautfalte, während der Glaskörper sich aus dem embryonalen subcutanen Gewebe bildet). In den beiden Classen der Fische und Rep- tilien ist nun, wie Owen bemerkt, die Reihe von Abstufungen der dioptrischen Bildungen sehr gross, und auf einem Wege, den zu verfolgen hier zu weit führen würde, gelangt das Auge erst ganz allmählich zu demjenigen Grade der VervoUkommung, welchen wir am menschlichen Organismus bewundern. Wie weit entfernt aber auch diese von einer makellosen Vollkommenheit ist, wie sehr sie den Charakter zufälliger Anpassung und bedenklicher €ompromisse an sich trägt, und wie viel die unbewussten Schlüsse des Verstandes bei der Entwickelung der Wahrnehmung aus dem gegebenen Empfindungsmaterial vertuschen, corrigiren, ersetzen und hinzu erfinden müssen, um uns den Schein eines voll- kommenen Organs vorzugaukeln, hat u. A. Helmholtz in der ersten Abhandlung des H. Bandes seiner „Populären wissenschaft- lichen Vorträge" auseinandersetzt.

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Die Nichtberiicksiclitigung aller dieser allein in das Ver- ständniss der Sache einfahrenden Umstände lässt die Anwen- dung des logischen Schemas auf das vorliegende Beispiel ^Is un- statthaft erscheinen. Dieses Beispiel ist aber ebenso typisch für die in den Organismen angestaunte Zweckmässigkeit, wie jenes logische Schema typisch ist tür die psychologische Entstehung: des Glaubens an die Zweckmässigkeit als in der Natur wirk- sames Princip, wie solche in den Köpfen derer vor sich geht, die ohne Kenntniss der Descendenztheorie über solche Probleme nach- denken. Es behält demnach dieses Capitel nur insofern einen W erth, als es uns dasVerständniss eines systematischen Irrt h ums und seiner bis zum siegreichen Durchbruch der Des- cendenztheorie dauernden Geltung erschliesst. Dagegen wird e& kaum möglich sein, Beispiele aus dem Bereich der organischen Xatur zu finden, welche nicht durch die Anwendung der Descen- denztheorie auf ihre Erklärung in ein solches Licht gerückt wurden, dass die Anwendung jenes logischen Schemas auf die- selben als ausgeschlossen erscheint. Denn die Descendenztheorie lehrt uns, dass eine Unabhängigkeit der bei einer orga- nischen Erscheinung cooperirenden Bedingungen nicht existirt, dass vielmehr ihr mehr und mehr Auseinandertreten aus gemein- samem Indifferenzpunkt heraus Wirkung derselben Ursachen war, und die Theorie der natürlichen Zuchtwahl lehrt uns eine von diesen Ursachen, und wohl unzweifelhaft die wichtigste als eine solche kennen, welche durch rein mechanische Compen- sationsphänomene zweckmässige Resultate hervorbringt. Die Des- cendenztheorie stellt das teleologische Princip nur in Frage^ indem es ihm den Boden für einen positiven Beweis entzieht ; die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl aber beseitigt das- selbe ganz direkt, so weit als sie selbst mit ihrer Erklärung reicht. Denn die natürliche Auslese im Kampf ums Dasein, das Zugrundegehen des minder Zweckmässigen und das Ueberleben und Sichweitervererben des Passendsten und Zweckmässigsten ist ein Vorgang von mechanischer Causalität, in dessen gleich- massige Gesetzlichkeit nirgends ein teleologisch bestimmendes metaphysisches Princip eingreift, und doch geht aus ihm ein Resultat hervor, das wesentlich der Zweck-

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inässigkeit entspricht, d. li. diejenige Besebaffeubeit besitzt, welche den Organismen unter den gegebenen Umständen die höchste Lebensfähigkeit verleilit. Die natürliche Zuchtwahl löst das scheinbar unlösliche Problem, die Zweckmässigkeit als Hesultat zu erklären, ohne sie dabei als Princip zu Hülfe zu nehmen.

Man konnte bisher zu der Zweckmässigkeit der organischen Einrichtungen in der Katur eine zweifache Stellung nehmen : ent- weder man erkannte die empirisch gegebene Thatsache dieser Zweckmässigkeit an, oder man leugnete sie der Erfahrung zu- wider. Merkwürdigerweise hat die Philosophie meistenstheils dieser empiiischen Thatsache Rechnung getragen, während gerade der naturw^issenschaftiiche Materialismus, der sich verpflichtet erklärte, einer speculativen Philosophie gegenüber die Fahne der Empirie hochzuhalten, sich durch Ableugnung aller Naturzweckmässigkeit bis auf die allerneueste Zeit mit der Erfahrung in Widerspruch setzte. Er beging aber diesen Ver- stoss gegen sein methodologisches Princip deshalb, weil er fühlte, dass er sich nach Anerkennung der Naturzweckmässig- keit (vor dem Bekanntwerden der Darwin'schen Begrün- dung der Descendenztheorie) consequenter Weise nicht der An- erkennung eines teleologischen Princips neben dem der mecha- nischen Causalität entziehen konnte; ehe er aber auf diese Weise sein materiales Princip preisgab, beging er lieber jenen Widerspruch gegen sein formales Princip, und ging mit krampf- haft geschlossenen Augen gegen die überall sich aufdrängende Thatsache der Zweckmässigkeit durch die Welt. Dieser natur- wissenschaftliche Materialismus, der zum letzten Mal als Reaction gegen den Hegelianismus in den 40ger und 50ger Jahren eine gewisse Blüthe erlebte, erlitt einen totalen Umschwung durch die Darwin'sche Modificaction der Descendenztheorie, welche ihm plötzhch die Augen darüber aufschloss, dass gerade die Aner- kennung und Verfolgung dieser Zweckmässigkeit eines der wichtigsten Förde rungs mittel für seine Aufgabe des Verständnisses der causalen Naturzusammenhänge werde. Vor Darwin hatte derjenige, welcher die Naturzweckmässigkeit aner- kannte, nur die Wahl, entweder ein teleologisches metaphysisches

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Princip als in der Natur wirksam zu supponiren, oder sich dem ftir den Naturforscher völlig unbrauchbaren und auch philosophisch längst überwundenen subjektiven Idealismus (Kant, Fichte, Schopen- hauer) in die Arme zu werfen, welcher alle Erfahrung, also auch die empirisch wahrgenommene Naturzweckmässigkeit , in vom Subjekt producirte Erscheinungen ohne eine über das Gebiet des Subjektiven hinübergreifende Eealität verwandelt. Jetzt zum ersten Mal war die Möglichkeit gegeben, die Zweckmässigkeit der Natur anzuerkennen, aber sie nur als ein durch genau aufzeigbare mechanische Compensationspr ocesse ent- standenes Resultat anzuerkennen.

Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, erhält die Leistung Dar- win's zugleich die Bedeutung einer eminenten philosophi- schen That, deren Tragweite für die Umwandlung der philo- sophischen Systeme sich jedenfalls in eine im Einzelnen bis jetzt unabsehbare Perspektive ausdehnt. Ein sehr gutes Beispiel zu den Compensations Wirkungen oder Anpassungs- und Ausgleichs- phänomenen, welche dem des Entstehungsprocesses Unkundigen als zweckmässig erscheinen müssen, giebt Wallace (Beiträge S. 315 ff) in der Besprechung eines Stromsystems, welches dazu dient, das durch Verdunstung vom Meere aufgestiegene und als Regen auf das Festland niedergefallene Wasser wieder zum Meere zurückzuführen, und so den Kreislauf des Wassers zu schliessen; ein solches Flussbett in seinen Verzweigungen sieht ganz aus, als ob es für den Fluss gemacht wäre, während es doch durch denselben gemacht ist. „Setzen wir voraus, dass Jemand, der von moderner Geologie absolut Nichts weiss, sorgfältig ein grosses Flusssystem studirt. Er findet in seinem niedriger gelegenen Theile einen tiefen breiten Kanal, der bis an den Rand gelullt ist, dessen Wasser langsam durch eine flache Gegend dahinfliesst und eine Menge von Sedimenten in die See trägt. Höher hinauf verästelt er sich in eine Anzahl kleiner Kanäle, welche abwech- selnd durch flache Thäler und hohe Uferbänke fliessen; manch- mal findet er ein tiefes Felsenbett mit senkrechten Mauern, welche das Wasser durch eine Hügelkette leiten; wo der Strom eng ist, findet er ihn tief, wo er weit ist, seicht. Weiter hinauf kommt

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er in eine Berggegend mit hunderten von kleinen Strömen und Flüssclieu, ein jeder mit seinen Seitenbächen und Rinnen, ^^^Iche das Wasser aus jeder Quadratmeile Oberfläche sammeln, und ein jeder Kanal der Menge des Wassers, welches er zu leiten hat, angepasst Er findet, dass das Bett ^ines jeden Zweiges und Stromes und Baches steiler und steiler wird, je mehr er sich den Quellen nähert, und auf diese Weise in den Stand gesetzt ist, das Wasser nach heftigem Regen fortzuschaffen, und die Steine, die Kiesel und den Sand zu entfernen, welche sonst seinen Lauf hemmen würden. In jedem Theile dieses Systemes würde er genaue Anpassung von Mitteln an einen Zweck finden. Er würde sagen, dass dieses Kanalsystem planmässig angelegt worden sein müsse, da es seinem Zwecke so wirksam entspricht. Nur ein Geist konnte so genau die Abschüssigkeit der Kanäle, ihre Capa- cität und die Schnelligkeit ihres Laufes der Natur des Bodens und der Menge des Regenfalles angepasst haben. Dann weiter würde er specielle Anpassung an die Bedürfnisse des Menschen sehen, wenn breite ruhige schiffbare Flüsse durch fruchtbare Ebenen fliessen, welche eine grosse Bevölkerung enthalten, wäh- rend die Felsenströme und Bergwasser auf jene unfruchtbaren Gegenden begrenzt sind, welche nur für eine kleine Bevölke- rungsmenge von Schäfern und Hirten passen. Er würde mit Un- gläubigkeit auf den Geologen hören, welcher ihn versicherte, dass Anpassung und Ausgleichung, welche er so bewunderte, ein un- vermeidhches Resultat der Thätigkeit allgemeiner Gesetze wären. Dass Regen und Flüsse durch unterirdische Kräfte unterstützt, das Land mcdellirt, die Hügel und Thäler gebildet, die Fluss- betten ausgehöhlt und die Ebenen nivellirt hätten; und nur nach vieler geduldiger Beobachtung und eingehendem Studium, nachdem er die unbedeutenden Veränderungen überwacht haben würde, welche Jahr für Jahr entstehen, und nachdem er sie mit tausend und zehntausend multiplicirt, nachdem er die verschie- denen Gegenden der Erde besucht und die Veränderungen, welche überall Platz greifen, und die unverkennbaren Zeichen grösserer Veränderungen in vergangenen Zeiten beobachtet hatte würde er es verstehen, dass die Oberfläche der Erde, wie schön und

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harnionisch sie auch aussieht, in jeder Einzelheit von der Thätig- keit von Kräften abhängt, welche sich erwiesener Maassen selbst ausgleichen."

,^Uud mehr noch, wenn er seine Untersuchungen genügend ausgedehnt hätte, so würde er finden, dass jeder üble Etfect, w^elchen er für das Resultat der Nichtausgleichung würde halten müssen, hier oder da vorkommt, nur dass er nicht immer übel ist. Wenn er auf ein fruchtbares Thal sieht, so würde er viel- leicht sagen: „„Wenn der Kanal dieses Flusses nicht wohl ad- justirt wäre, wenn er einige wenige Meilen einen verkehrten Weg ginge, so würde das Wasser nicht ablaufen können und all diese üppigen Thäler, die voll von menschlichen Wesen sind, würde das Wasser verwüsten."" Wohl, es giebt Hunderte solcher Fälle. Jeder See ist ein Thal, „vom Wasser verwüstet", und in einigen Fällen (wie beim todten Meer) ist es ein positives Uebel, ein Fleck in der Harmonie und Anpassung der Oberfläche der Erde. Und wieder könnte er sagen: „„Wenn hier kein Kegen fällt und die Wolken über uns fort in eine andere Gegend ziehen, so würde dieses grüne und hoch cultivirte Land eine Wüste werden" ". Und es giebt solche Wüsten, über einen grossen Theil der Erde hin, welche fruchtbarer Regen in schöne Wohnplätze für den Menschen verwandeln würde. Oder er könnte einen grossen schiffbaren Fluss beobachten, und reflectiren, wie leicht Felsen oder ein steileres Bett an seiner Stelle ihn für den Menschen nutzlos machen würde ; und ein wenig Forschung würde ihm zeigen, dass Hundorte von Flüssen in jedem Theile der Erde existiren, welche auf diese Weise für die Schiffahrt nutzlos ge- worden sind."

„Genau dasselbe findet in der organischen Natur statt, wir sehen einen wHinderbaren Fall von Ausgleichung, eine ungewöhn- liche Entwickelung eines Organes, aber wir übergehen jene Hunderte von Fällen, in denen diese Ausgleichung und Entwickelung nicht vor sich ging. Ohne Zw^eifel greift, wenn eine Ausgleichung nicht statt hat, eine andere Platz, weil kein Organismus zu existiren fortfahren kann, der nicht seiner Umgebung angepasst ist; und stetige Abänderungen mit unbe-

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greuzter Kraft der Vervielfältigung geben in den meisten Fällen die Mittel zur Selbstausgleichung."

Wenn man erst auf diese Compensationsphänomene achtet, so kann man sie allerwärts beobachten, und sie sind sogar in ein- facheren Fällen der mathematischen Behandlung nicht unzugäng- lich. Denken wir uns z. B. auf einem gemeinsamen, die Erschüt- terungen fortpflanzenden Fundament eine grosse Anzahl Uhren von ganz verschiedener Pendellänge im Gange, so wird jede der Uhren jede andere in ihrem Pendelgange beeinflussen, theils in beschleunigendem, theils in verlangsamendem Sinne, je nachdem die Herstellung möglichster Coincidenz des Ganges auf die eine oder auf die andere Weise leichter erreichbar ist. Durch diese Einflüsse werden zunächst die zufälligen 'Verschiedenheiten in der zeitlichen Lage der Anfangspunkte der Undulationen beseitigt und in der Weise conform gemacht, dass von Zeit zu Zeit eine Periode wiederkehren muss, wo alle Pendel gleichzeitig einen Ausschlag macheu. Zweitens aber bewirken diese Einflüsse dauernde Anpassungen in der Undulationsgeschwindigkeit der verschiedenen Pendel in dem Sinne, dass die genannte Periode möglichst ver- kürzt wird, also der gemeinsame Ausschlag aller und eine da- zwischenfallende möglichst häufige Coincidenz möglichst vieler Pendel möglichst oft wiederkehrt. So entsteht das Compensations- phänomen einer rhythmisch gegliederten Periode, deren eigen- thümliche Architektonik sich auch empirisch dem Ohr vernehmlich macht, so dass man fast an eine verborgene Absicht in der Re- gulirung glauben könnte, wenn nicht die mathematische Behand- lung dieses mechanischen Problems die strenge Nothwendigkeit des Resultates ausser Frage stellte. Etwas ähnliches wie bei den Uhren in diesem Beispiel findet in der kosmischen Mechanik in der gegenseitigen Beeinflussung der um die Sonne laufenden Planeten statt, welche in Folge der elliptischen Beschaffenheit ihrer Bahnen ebenfalls wirkliche Oscillationen beschreiben; nur ist das Resultat hier ein umgekehrtes, d. h. es wird jede Bildung einer Coincidenzperiode auf die Dauer unmöglich, weil, wenn solche stattfände , die Störungen bei jeder Wiederkehr beträchtlicher würden und die Selbstständigkeit der betreffenden Planeten ver- nichten würden. Bedenkt man nun, dass das Planetensystem durch

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allmähliche Zusammenziehung der Sonne unter Ablösung von Eingnebeln entstanden ist, so erhellt sofort, dass bei diesem über- aus langen Process nur solche Planeten als selbstständige Residua resultiren konnten, welche vor einer solche» Aufhebung ihrer Selbstständigkeit durch wiederkehrende Periodi- cität der Störungen sicher sind, d. h. deren Bahnen in irrationalem Verhältniss zu einander stehen. Betrachtet man diese Thatsache und die Garantie des Bestehens, welche sie dem Planetensystem gewährt, losgelöst von dem Entstehungsprocess desselben, aus welchem sie als Compensationsphänomen resultirte, so kann man kaum mnhin, eine unergründliche Weisheit in dieser Anordnung zu bewundern.

Ist es schon in der unorganischen Natur oft schwierig genug, die Compeusationswirkungen im Naturhaushalt und das universale Anpassungsgleichgewicht, welches derselbe repräsentirt , zu ver- stehen, so ist es kein Wunder, dass wir mit unserm Verständnis» der analogen Erscheinungen auf dem unendlich viel complicirteren Gebiete der organischen Natur noch bei den ersten schüchternen Versuchen des Eindringens stehen. So weit aber sind wir durch Darwin in der That schon geführt worden, dass die Richtung, in welcher einzig und allein weitere Aufschlüsse zu erwarten sind^ keinem naturwissenschaftlich veranlagten Kopfe mehr zweifelhaft ijein kann.

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Die Entwickelung vom Staiiclpimkte der Desceiidenztheorie.

Schopenhauer sucht einmal zu beweisen, dass diese Welt die schlechteste von allen möglichen (d. h. existenzfähigen) sei („Welt als Wille und Vorst.'^ 3. Aufl. Bd. II. S. 667). Er sagt daselbst;- „Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie sein musste, um mit genauer Koth bestehen zu können: wäre sie noch ein klein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehen. Folglich ist eine schlechtere, da sie nicht bestehen kimnte, gar nicht möglich^ sie selbst also unter den möglichen die schlechteste." Die Ph, d. U. nennt dies (S. 638) „ein offenbares Sophisma," und wir können ihr nur darin beistimmen. Das „Bestehen" nämlich ist hier zunächst doppelsinnig genommen; denn wenn „diese Welt'' nicht mehr bestehen kann, so hört sie darum nicht anf als Welt zu bestehen, sondern nur als diese zu bestehen, d. h. sie wird insoweit eine andre, dass ein neues Anpassungsgleichgewicht eintritt, welches in seiner Art weder schlechter noch besser, sondern' ebenso gut ist als das frühere. Dass es nun aber in der Natur dieser Welt liegt, in jedem Moment eine andere zu werden, und dass der Begriff „dieser Welt" die gesammte Reihenfolge der in ilir naturgemäss zur Entfaltung kommenden Zustände und Ver- änderungen in sich befasst, ist dabei übersehen, sonst könnten nicht auf 8. 668 die untergegangenen Faunen und Floren früherer geologischer Perioden als Welten bezeichnet werden, „die noch* etwas schlechter waren, als die schlechteste unter den möglichen/^

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"W^'eiin wirklich frühere Welten schlechter waren, als die jetzige^ so kann diese letztere nicht die schlechteste aller möglichen sein; andrerseits da auch die gegenwärtige nicht so bleiben kann, wie sie ist, sondern ebenso dem Untergang verfallen ist wie die paläo- zoischen Faunen, musste auch sie schlechter sein als die schlech- teste aller möglichen, so dass das Argument jedenfalls zu viel beweisen würde. Wenn die dem jetzigen Weltzustande eventuell bevorstehende Veränderung zum Schlechteren führte, so wäre da- mit eben der Gegenbeweis gegen die Thesis geführt; wenn sie zu einem Zustand führen würde, der in seiner Art gleich gut ist, so wäre Veränderung oder das Stationärbleiben indifferent für die Beurtheilung des Werthes der gegenwärtigen Welt; wäre endlich die Veränderung ein Uebergang zum Besseren, so müsste ihr Werth als Durchgangsstufe mit in Rechnung gestellt werden. Auf alle Fälle ist Schopenhauer's Argumentationsweise sophistisch und haltlos. Aber wohlgemerkt gilt dies von ihr nur in Bezug auf die Welt als Ganzes, nicht aber von ihrer Anwendung auf das Einzelne namentlich in Verbindung mit dem schon von Schopen- hauer daselbst angedeuteten allgemeinen Kampf um's Dasein und dem unglaublich grossen Ueberschuss der Keime (S. 668). So verstanden und zugleich auf die Existenzfrage in einem ganz be- stimmten Zeitpunkt und unter ganz bestimmten Verhältnissen bezogen, ist es allerdings richtig, dass das Anpassungsgleichge- wicht für jede Species eben nicht mehr als das Minimum der Existenzfähigkeit bedeutet, dessen es bedarf, um nicht zu verkümmern und auszusterben; aber es ist diese Bemerkung trotzdem auch so noch einseitig und dadurch irreleitend, denn es ist die Kehrseite der Medaille vergessen, dass jedes An- passungsgleichgewicht etwas in seiner Art Vollkommenes ist, welches jeder Species alles zuweist, dessen sie zum Leben in den ihr gegebenen Verhältnissen bedarf, dass ein Mehr in dieser Richtung das Bestehen dieser augenblicklich vorhandenen Welt ganz ebenso stören würde wie ein Weniger, da jedes Plus irgend einer Species an Lebensfähigkeit ein Ue her greifen derselben über ihr bisheriges Gebiet und die Zurückdrängung oder Vernichtung anderer Arten von Lebewesen und damit zu- gleich eine Umwandlung des bestehenden Weltzustandes in

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einen andern znr Folge haben würde. Weil jede im Anpassiings- gleicbgewicht befindliche Art für ihre gegebenen Lebensbedicgungen yollkomraen ausgerüstet ist, darum würde ihr jedes Plus werthlos und nutzlos sein für diese Lebensverhältnisse, und würde sie sofort zum Uebergreifen über ihre Sphäre anspornen und zum Hinaustragen der Coneurrenz um's Dasein in andere Lebensver- hältnisse zwingen, die ihr bisher verschlossen waren und längst von anderen Arten occupirt sind; deshalb können wir aber auch mit demselben Kecht, wie wir oben die Gaben und Einrichtungen einer Species als das Miniraum ihrer Existenzfähigkeit bezeichne- ten, sie nun auch als das Maximum bezeichnen, beiUeberschreitung dessen die Art nothgedrungen die ihr in diesem Weltzustande oder in dem vorliegenden Anpassungsgleichgewicht des Gesammt- naturhaushalts gezogenen Grenzen der Lebensverhältnisse über- schreitet und diese Welt zu einer anderen macht.

In Wirklichkeit nun ändert sich, wie schon bemerkt, der Weltzustand beständig, und keine solche Aenderung ist denkbar, bei welcher nicht, was auf der einen Seite eine oder mehrere Species gewinnen, auf der andern Seite eine oder mehrere Species ein- büssen. Dieser Satz gilt für die organische Xatur auf Erden wenigstens für die unseren Blicken überschaubare Zeit eines unge- lähren Sicbgleichbleibens der Bewohnbarkeit der Erde; er dürfte wohl, obgleich sich dies vorläufig nicht inductiv erweisen lässt, auch für die Welt als für ein Ganzes gelten, in welchem die ge- sammte unorganische Natur und die Organisationen sämmtlicher hierzu geeigneter Weltkörper in Eins gefasst sind. Allerdings gilt dieser Satz nicht genau, sobald wir die Geschichte der Erde von dem ersten Moment an, wo Organisation möglich wurde, bis zu dem Augenblick, wo keine mehr m()glich sein wird, im Zusammenhange betrachten. Denken wir uns die Zeit dieses Abkühhmgsprocesses von dem Unbewohnbarkeitspunkt vor Hitze bis zum Unbewohnbarkeitspunkt vor starrer Kälte behufs graphi- scher Versinnbildlichung aui die Abscissenaxe aufgetragen, auf dieser alsdann in gleichen Zeitabständen Ordiuaten errichtet, deren Höhe nach der Günstigkeit des betreffenden Zeitpunktes für das Bewohntwerden durch organische Wesen bemessen ist, und die oberen Endpunkte aller Ordinaten durch eine Curve vcr-

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bunden, so repräsentirt diese Curve den quantitativen Verlauf der Bewohnbarkeit der Erde während der Dauer derselben ; sie muss einen aufsteigenden und einen absteigenden Ast zeigen, die durch ein ziemlich breites Stück in der Nähe des Maximums verbunden sind. Diese Curve repräsentirt natürlich nur die Aeuderung des durchschnittlichen Be wohnbarkeitsmaases der Erdoberfläche, während die Bewohnbarkeit ihrer verschiedenen Stellen jeder- zeit sehr verschieden ist, und theils aus kosmischen, theils aus tellurischen Ursachen an jedem Punkte fortwährend sehr bedeu- tenden Schwankungen unterworfen ist. In jeder dieser Schwan- kungen erfüllt sich das Gesetz, dass, was eine Art verliert, die imdre gewinnt, aber nur mit der näheren Bestimmung, dass ein Wachsen oder Abnehmen der durchschnittlichen Bewohnbarkeit der Erde zugleich auch dem Gedeihen und der Organisation im Ganzen oder im Durchschnitt zu Gute kommt, beziehungsweise zum Nachtheil gereicht. Verzeichnen wir in der graphischen Dar- stellung eine zweite Curve, welche die Veränderung der durch- schnittlichen Höhe der Organisation auf Erden repräsentirt, so muss diese Curve der ersteren ähnlich sein, der Zeit nach aber etwas später liegen, da eine Veränderung der Verhältnisse der Er- doberfläche eine gewisse Zeit braucht, um ihren Einfluss in Her- stellung eines neuen Anpassungsglcichgewichts auszuwirken; namentlich wird die Verschiebung der zweiten Curve gegen die erste i n d e r Nähe des Maximums ziemlich beträchtlich sein, weil dort die grösste Widerstandskraft der einmal entstan- denen Organisation gegen Veränderungen der Umgebung vorliegt. Die Veränderungen, welche jede locale Schwankung in der Organisation der betreffenden Localität erzeugt, produciren die verschiedenartigsten Formen neuer Anpassungsversuche, und im aufsteigenden Ast der Curve werden solche neue Formen bei dem allgemeinen Günstigerwerden der Bewohnbarkeitsverhältnisse meist Gelegenheit finden, sich geographisch über ihren Entstehungs- bezirk hinaus auszubreiten, und wie viele von ihnen auch unter- liegen und bald wieder zu Grunde gehen, gerade die kräftigsten und lebensiähigsten der neuen Formen werden ganze Erdtheilc für sich erobern. Dies ist die Entstehungsgeschichte aller gegen- wärtig weitverbreiteten Arten, die stets auf einen engen Bezirk

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als auf ihr Ausbreitungscentruin und ihre Entstehungsbeimath hinweisen. Die immer erneute Wiederholung dieses localen Höher- bildungsprocesses mit nachfolgender geographischer Ausbreitung und siegreicher Verdrängung anderwärts bereits angesiedelter min- der concurrenzfähiger Arten ist es, wodurch die allmähliche Ge- sammthöherbildung der Organisation sich vollzogen hat und noch beständig vollzieht, namentlich in dem Höherbildungsprocess der ^Menschheit in sich durch immer von Neuem wiederholte Ausrot- tung der niederen Racen durch die von ihrem localen Entstehungs- bezirk sich ausbreitenden höheren Racen und Stämme, ein Process, den die Ph. d. U. ganz richtig (ohne teleologische Ein- griffe) zeichnet (S. 341 343 und 569). Wenn die periodische Aenderung der Verhältnisse an einer bestimmten Stelle mit häu- tiger Wiederkehr schon früher stattgehabter Zustände im Allge- meinen einen Kreislauf von Formen erzeugen muss (z. B. perio- dische Wiederkehr von Eiszeiten), so wird doch dieser Kreislauf niemals ein vollständig und genau in sich zurückkehrender sein, sondern einer Spirale gleichen, welche eine aufsteigende Richtung zeigt, so lange die Gesammtverhältnisse der Erde noch im Güustigerwerden begriffen sind, im umgekehrten Fall aber absteigende Richtung besitzen muss. Dass das Maxiraum gün- stiger Bedingungen iür die Bewohnbarkeit der Erde schon jetzt erreicht sei, ist nicht wahrscheinlich; wenn wir bedenken, dass von den Menscheuracen die höchsten Ciilturracen stets aus ge- mässigten Klimaten hervorgegangen sind, und dass der Grund- stock des irdischen Festlandes noch ein melir tropisches Klima besitzt, so dürfen wir von einer weiteren Abkühlung der Erde erwarten, dass noch grössere Landstriche als bisher einladend für die menschlichen Culturracen werden dürften. Jedenfalls, mag nun die Be wohnbar keits kurve ihr Maximum schon er- reicht haben oder nicht, liegt doch das Maximum der Organi- s a t i 0 n s kurve noch vor uns in der Zukunft. Wir befinden uns mit anderen Worten noch im aufsteigenden Ast der die Or- ganisationshöhe bezeichnenden Curve; nicht nur zeigt uns ein Blick nach rückwärts ein beständiges Höherbilden von der Ur- zelle bis zur jetzigen Organisation, sondern auch der Blick nach vorwärts eröffnet uns noch eine weite Perspektive auf die Höher-

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bildung derjenigen Species, welche den Gipfel der irdischen Or- ganisation repräsentirt und ihre allen anderen Formen überlegene Lebensfähigkeit und Coucurrenzkraft dadurch bewiesen hat, dass sie entscheidender als irgend eine andere in das frühere Anpas- sungsgleichgewicht eingegriffen, ja man kann sagen, in demselben eine förmliche Revolution hervorgerufen hat (durch Ausrodung der Wälder und Cultivirung des Bodens mit ihren Nahrungs- pflanzen, durch Vertilgung der grossen Raubthiere und Ersetzung der übrigen grösseren Thiere durch ihr Zuchtvieh u. s. w. u. s. w.). So sehen wir uns, mögen wir den Blick nach rückwärts oder vorwärts wenden, innerhalb einer aufsteigendenEntwicke- lungs reihe stehen, deren Voraussetzung die kosmische Ent- wickelung unsres Planetensystems und die geologische Ent-. Wickelung des sich allmählich abkühlenden Erdkörpers ist, deren Blüthe aber die anthropologische Entwickelung ist, die Ent- Wickel ungsgeschichte der Menschheit, welche man in ihrem durch Documente aufgeschlossenen Theil Geschichte kurzweg nennt.. Die Ph. d. U. hat diese universelle Bedeutung der Entwickelung"^ auf S. 714 716 nachdrücklich hervorgehoben, und die zweite der schon oben erwähnten „Gesammelten philosophischen Abhand- lungen zur Ph. d. U." beschäftigt sich mit dem Nachweis, dass das bleibende Grundprincip der HegeFschen Philosophie, an wel- chem ihre einzelnen Theile und Behauptungen gemessen werden müssten und von welchem eine Umbildung derselben ausgehen müsse, eben der Begriff der Entwickelung sei. Schon oben hatten wir erwähnt, dass gerade die Descendenztheorie die Forderung der Entwickelung besser als irgend eine andre Anschauungsweise des organischen Lebens auf Erden realisire. Wenn es die Auf- gabe der Philosophie ist, die Stellung des Einzelnen in seinem Volke, des Volkes in der Menschheit, der Menschheit in der Ge- schichte der Erde und ihres organischen Lebens und so endlich die Stellung des Individuums im Weltganzen zum klaren Ver- ständniss zu bringen, wenn alle diese Beziehungen sich so er- gänzen und bedingen, dass das Verständniss des Ferneren ohne das des Näheren unmöglich ist, so wird man anzuerkennen haben^ dass jede Philosophie zur Lösung ihrer Aufgabe unfähig ist, welche das Wesen der Entwickelung in der Geschichte der Mensch-

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heit und der Organisation auf der Erde verkennt. Hegel bat das grosse Verdienst, die Menschheitsgeschichte klarer als irgend einer seiner Vorgänger als Entwicklung erkannt zu haben; aber er leugnete die Entwickelung in der Natur, indem er ibr die Ge- schieh te absprach. Die Ph. d. U. verbessert diesen Fehler, indem sie auf Grund der von ihr acceptirten Descendenztheorie die Menscbheitsentwickelung nur als Glied wenn auch als höch- stes Glied in der Entwickelungsgeschichte der Organisation auf der Erde auffasst. Dieser Standpunkt steht auf der andern Seite unvergleichlich viel höher als der geschichtslose Process bei Schopenhauer, der wegen der Unrealität der Zeit überhaupt nur den subjektiven Schein einer i3ewegung giebt.

Dass der Begriff der Entwickelung an dem des Zweckes hängt, ist richtig, weil das Niedere und Höhere, zwi- schen welchen sich das Aufsteigen bewegen soll, nur durch die Zweckmässigkeit als solche bestimmt werden können. Wir haben aber oben gesehen, wie anders der Begriff des Zweckes von der Descendenztheorie gefasst wird, als von einer teleologischen Meta- physik, und hieraus ergeben sich wiederum verschiedene Conse- quenzen. „Fehlt der objektive Zweck, so ist der Naturprocess nur gleichgültige Veränderung, zweckloser Uebergang vom Einen zum Andern; giebt es objektiv nur Gleichberechtigtes und Gleich- gültiges, das erst vom subjektiv-menschlichen Standpunkt aus als Höheres und Niederes erscheint, so giebt es auch keine objektive Entwickelung" (Ges. phil. Abhandl. S. 27). Von dem, was bloss vom subjektiv menschlichen Standpunkt als Natur- zweckmässigkeit erscheint, ist selbstverständlich durchaus abzu- sehen ; nur das objektiv Zweckmässige kann objektive Entwicke- lung ermöglichen. Aber die Descendenztheorie erkennt ja in der That die Zweckmässigkeit der Organismen als eine objektive Thatsache an, nur dass sie dieselbe als unbeabsichtigtes mecha- nisches Ptesultat betrachtet. Fragt man: wofür sind die Orga- nismen zweckmässig, so ist die Antwort: für das Dasein, für die Existenz, und da ihr Dasein ein lebendiges ist, für das Le- ben. Dieser Zweck ist aber kein metaphysisch-teleologisch ge- setzter, sondern er ist nur die vorgefundene Voraussetzung, auf welcher die Concurrenz, der Kampf um's Dasein mit unwillkür-

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lieber Naturnothwendigkeit entbrennen miisste. Das Dasein ist das Fundament für das entstandene Anpassungsgleicbgewicbt; das ^yas da ist, kann nicbts anderem angepasst sein als dem Dasein. Nur weil das Dasein der letzte Grund der Concurrenz des ein- zelnen Daseienden ist, stellt es sieb bintennacb aueb wieder als der Zweck dar, welcbem die Anpassungspbänomene des aus dieser Concurrenz als Sieger Resultirenden dienen. In diesem Sinne bat also die tbatsäcblicbe Zweckmässigkeit, welcbe von der Descendenztbeorie zugestanden wird, nur eine relative Bedeu- tung, nämlicb relativ oder rückbezüglicb auf das Dasein, aus der Concurrenz um welcbes sie mecbaniscb bervorgegangen. Die te- leologiscbe Metapbysik bingegen, welcbe nocb nicbt aus der Descendenztbeorie gelernt bat, dass und wie es Zweckmässigkeit als Resultat geben kann obne Zweck als wirkendes Princip, und welcbe desbalb bei jeder vorliegenden Zweckmässigkeit sofort einen principiellen idealen Zweck als zu Grunde liegend voraus- setzt, muss nun notbgedrungen nacb dem Zweck des Zweckes fragen, also immer von einem Zweck auf den andern weiter ge- fiibrt werden, und kann sieb nur bei einem absoluten Zweck be- rubigen, nicbt wie die Descendenztbeorie bei dem relativen Rück- gang bis auf den Grund, welcber die Entstebung des zw^eck- mässigen Resultats zur Folge batte, indem er sie sieb (dem Dasein) anpasste. Messen wir beide Auffassungen an der Wirklicbkeit, so zeigt sieb die erstere als durcbaus mit dem Gegebenen über- einstimmend, wäbiend die letztere wesentUcbe Bedenken wacb- ruft. Da nämUcb unter gegebenen Daseins-Bedingungen selir oft die mögliebste Einfacbbeit der Organisation, welcbe die geringste Gefalir läuft, am zweckmässigsten ist, so zeigt sieb nicbt selten die zweckmässige Anpassung an die Lebensbedingungen in der Rückbildung einer bereits mit reicber Specialisiruug der Or- gane versebenen Art in eine unvollkommnere Gestalt (z. B. bei ge- wissen Scbmarotzerkrebsen, wo nur nocb das Embryo die Ab- kunft der Art verrätb). Dieser Rückbildungs- oder Verkümme- rungsprocess gewisser Zweige des grossen Stammbaums ist das gerade Gegentbeil dessen , was der Menscb , der sieb als Ziel der Entwickelungsreibe ansiebt, unter Entwiekelung verstebt, nämlicb fortscbreitende Ditferenzirung und Specialisirung der Or-

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^ane behufs vervollkommneter Arbeitstheilung im Organismus. In AVabrlieit aber zeigt sich, dass diese nur für die Mehrzahl der Fälle das Höhere ist, wo sie der Coneurrenz um's Dasein besser xlient, dass unter Umständen aber die einfachere Organisation dem Zweck des Daseins besser dient. Wie solche Rllckbil- dungsprocesse aus der Entwickelungs reihe, die zum Menschen führt, herausfallen, ebenso streng genommen auch schon alle Seitenzweige des Stammbaums, welche weder zu der di- rekten Vorfahrenlinie des Menschen gehören, noch auch (wie z. B. die Pflanzenwelt), zur Herstellung des für den Menschen erforder- lichen Zustandes der Erdoberfläche mit ihrem Naturhaushalt un- erlässlich nothwendig sind. Es erscheint vom Standpunkt der natürlichen Descendenztheorie nicht zweifelhaft, dass die Knochen- fische eine höhere Entwickelungsstufe der Knorpelfische reprä- sentiren, weil sie ihre überlegene Concurrenzfähigkeit im Kampf um's Dasein thatsächlich durch das Wachsthum ihrer relativen Anzahl mit jeder geologischen Periode documentirt haben. Vom Standpunkt der teleologischen Metaphysik aber ist nicht ersicht- lich, warum es nicht bei den Knorpelfischen sein Bewenden hatte, da doch nur aus diesen die Amphibien hervorgingen, und die Knochenfische ganz ausserhalb der zum Menschen führenden Ent- wickeluugsreihe liegen.

Nicht geringer als solche thatsächlichen Bedenken sind die -Schwierigkeiten, in welche die teleologische Metaphysik sich da- durch verwickelt, dass sie bei jedem Zweck nach dem Zweck des Zweckes zu fragen genöthigt ist, und soniit die Entwicke- lung nur als eine dem absoluten Zweck dienende und erst bei -diesem ihr Ende findende anzusehn vermag, ohne doch diesen Endzweck in befriedigender Weise positiv bestimmen zu können. Während Hegel sich gegen die hierin liegenden Schwierigkeiten durch nicht zu Ende Denken und dialektische Unklarheit zu schützen wusste (vergl. Gesch. ph. Abhandl." S. 50 55), zieht die Ph. d. Unb. mit Schärfe die letzten Consequenzen des teleo- logischen Princips. Da nur ein, jeder Freiheit von den instink- tiven Hlusionen entbehrendes Denken das Dasein als absoluten Selbstzweck fassen kann, da im Gegentheil die Ph. d. U. das JJasein als solches als etwas von Grund aus Unvernünftiges und

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zwar nicht nur als etwas Zweckloses, sondern als etwas Zweck- widriges (Antilogisches), weil sich selbst zur Qual Gereichendes^ darstellt, so kann ihr als der letzte Zweck, dem das So und nicht anders Sein des Daseienden dient, nur die Negation des Da- seins als solchen gelten; oder mit anderen Worten das Endziel der absolut gefassten Entwickelung kann nur die Aufhebung des Processes in der Universalwillensrerneinung sein, mit welcher die Welt erlöschen müsste. Es ist der Ph. d. U. nicht gelungen, es wahrscheinUch zu machen, dass die Summe der Bedingungen, von welchen die Möglichkeit einer solchen Universalwillensver- neinung abhängen soll, innerhalb der Menschheit auf Erden ein- treten werde, während andererseits die von ihr gezogenen meta- physischen Consequenzen zugleich mit den metaphysischen Vor- aussetzungen der durch die Descendenztheorie wohl unheilbar geschädigten Teleologie hinfällig werden. Wir werden daher für unsere weiteren Betrachtungen davon absehen dürfen , dass der zu erwartende weitere Gang der kosmischen und geologischen Processe durch eine von der Menschheit in Scene gesetzte Welt- vernichtung vorzeitig abgeschnitten werde; wir werden vielmehr betrachten, wie sich der Begriff der Entwickelung zu diesem wei- teren Gange stellen muss.

So gewiss die Erde einst ein integrirender Theil der über das ganze Planetensystem als Nebelfleck ausgedehnten Sonne war, so gewiss sie später als glühender Tropfen mit gasiger Hülle die Sonne umkreiste, so gewiss wird sie einst vollständig erstarren, wie der Mond (wenigstens auf der uns zugekehrten Seite) es schon jetzt ist. Auf wie viele Millionen Jahre auch die Wärme der Sonne, welche sich vorläufig durch fortschreitende Contraction derselben beständig ersetzt, noch vorhalten möge, unfehlbar wird in einer Zeit, welche in der Oekonomie der kos- mischen Processe als kurze Spanne zu bezeichnen ist, auch die Sonne so weit zusammengezogen und abgekühlt sein, dass ihre Strahlen auf den erstarrten Planeten kein neues Leben mehr zu entzünden vermögen. Dieser Verlauf der Dinge, der mit der- selben Sicherheit wie das Eintreten von Mond- und Sonnen- finsternissen (nur bis jetzt noch nicht mit bestimmten Zeitangaben) vorhergesa^t werden kann, lehrt uns, dass auch die Monde,

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Planeten, Sonnen und Planetensysteme als kosmische Individuen dem Gesetz der Vergänglicbkeit aller Individualexistenz unter- worfen sind, dass auch sie zwischen Entstehen und Vergehen Jugend und Alter durchmachen, dass auch in ihrem Individual- leben dem Aufsteigen ein Niedergang, der Entwickeluug zum Gipfel ein Verfall entspricht. In Bezug auf die Geschichte der irdischen Organisation haben wir nur an die vorhin besprochenen Curven zu erinnern, welche die Veränderung der Bewohnbarkeit und die Veränderung der Organisationshöhe graphisch repräsen- tiren. Es ist wahr, dass wir nicht bestimmen können, wie weit wir gegenwärtig noch von dem Gipfelpunkte der Entwickeluug der Menschheit entfernt sind, es ist wahr, dass die bis jetzt unabsehbare Perspektive des naturnothwendigeu Auf st eigens es allein sein kann, welche unser praktisches Verhalten zum Process bestimmt, aber es ist ebenso wahr, dass theoretisch genommen diese Entwickeluug keine absolute sondern eine relative, ausschliesslich von der mehr oder minder langen Dauer und der mehr oder minder hohen Steige- rung der Günstigkeit der Bedingungen abhängt, welche die Erde ihren Bewohnern darbietet, dass diese Entwicke- luug weder eine bis zu gegebenem Endziel aufsteigende gerade Linie, noch eine sich einem Ideal unendlich annnähernde Asym- ptote ist, sondern nur den aufsteigenden Ast einer Welle re- präsentirt, welcher unentrinnbar in den absteigenden Ast des zum Untergange führenden Verfalls hinüberleitet. Allen relativ noch so berechtigten Hoffnungen blühender Menschheitsentwicke- lung und winkender Weltverbesserung gegenüber hält uns das Aussterben der grönländischen Eskimo's, welche familienweise erfroren in ihren Schneehütten gefunden worden, gleichsam als ein beständiges memenio mori für die Menschheit das dereinstige Lebensbild der letzten Menschen in dem alsdann wärmsten Lande der Erde vor.

Wir wissen nicht, wie viele Planeten unseres oder anderer Planetensysteme sich unter solchen Bedingungen befinden, dass sie eine Organisation entwickeln, aber das wissen wir, dass alle diejenigen, welche jemals im Laufe ihres Lebens in solche Be- dingungen gelangen, auch eine ebensolche Curve ihrer Organi-

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sationsgeschichte mit aufsteigendem und absteigendem Ast zeigen- müssen, gleichviel ob das Maximum dieser Curve hoch oder niedrig liegt. Nehmen wir an, dass die Planeten unseres Systems, wie es neuerdings wahrscheinlicher geworden ist, alle oder grossen- theils zu einer gewissen Zeit ihres Lebens eine gewisse Organi- sation tragen, so würde sich aus der Zusammenstellung dieser einzelnen Curven auf gemeinsamer die Zeit darstellender Abscissen- axe ein Gesammtbild vom organischen Leben un- seres Planetensystems ergeben, und auch hier müsste sich' irgendwo ein absolutes Maximum herausstellen, wenn auch ausser- dem noch mehrere untergeordnete Maxima gezählt werden dürften. Unsere Kenntniss reicht noch nicht so weit, um zu sagen, was aus erstarrten Sonnen und Planetensystemen wird, und ob' und auf welche Weise sie von Neuem in den Process der kos- mischen Veränderung hereingezogen werden. Im Allgemeinen kann man aber sagen, dass die Helmholtzsche Annahme von der all- gemeinen Welterstarrung nicht mehr dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft entspricht, dass vielmehr alles mehr und mehr auf die Vermuthung eines kosmischen Kreislaufs der Veränderung hin- drängt, in welchem die Umwandlung der Spannkraft in lebendige Kraft (durch Verdichtung der Nebelmassen, Erzeugung und Aus- strahlung von Wärme) schliesslich auf irgend eine Weise wieder in Spannkraft zurückkehrt (und sei es selbst mit Hülfe einer die Unendlichkeit beseitigenden, in sich geschlossenen vierten Dimen- sion des Raumes). Wenn schon in dem gegenwärtigen Augen- blick die ungeheuere Zahl von Fixsternen in unserer Weltlinse, bei denen wohl meistens dunkle Planeten vorausgesetzt werden dürfen, und die Zahl von fernen, mehr oder minder in Stern- haufen verdichteten Nebelflecken, welche ebensoviel andere Welt- liusen repräsentiren, die Möglichkeit einer zahllosen Wiederholung solcher Bedingungen bietet, von denen die Entwickelung plane- tarischer Organisation abhängt, so wird bei Berücksichtigung der mit der Zeit von allen kosmischen Individualitäten durchlaufenen verschiedenen Abkühlungsphasen die Wahrscheinlichkeit noch sehr viel grösser, dass die Organisation auf Erden nur einer unter zahllosen ähnlichen Fällen ist, bei denen die Bedin- gungen ebensowohl günstiger als ungünstiger, also die

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Organisationsstufe der hochstehenden Organismen ebenso leicht eine höhere, als eine niedrigere wie die des Menschen sein kann. Gerade die ungeheueren Perspektiven der modernen Astronomie sind so recht geeignet, die Erde nicht bloss ihrer Quantität nach als ein Atom in der unermesslichen Aus- dehnung der kosmischen Massen erscheinen zu lassen, sondern auch im Hinblick auf die spectralanaly tisch erwiesene durch- schnittliche Gleichartigkeit aller kosmischen Materie an den Ge- danken zu gewöhnen, dass sie selbst qualitativ mit der von ihr getragenen Organisation nur ein Exemplar einer zahl- reichen Species repräsentirt. Der falsche geocentrische Standpunkt der christlichen Weltanschauung ist es wesentlich, der durch seine Eintrichterung von Jugend auf diese Einsicht er- schwert ; wir mlissen anerkennen , dass der Buddhismus in seinen zahllosen Welten einer viel gesunderen und erhabeneren Anschauung huldigte, ebenso wie seine Ansicht über die periodische natur- gesetzliche Auflösung und Wiederentstehung dieser Welten von dem neuereu wissenschaftlichen Standpunkt mehr und mehr be- stätigt wird; was ihm fehlte, war nur die Einsicht, dass diese Welten nicht neben der Erdscheibe jenseits des Oceans, sondern am Sternenhimmel zu suchen seien.

Die Phil. d. Unb. neigt in ihrem Anschluss an die moderne Naturwissenschaft ursprünghch keineswegs zu einer geocentrischen Anschauungsweise, aber sie sieht sich am Schlüsse unwill- kürlich und fast mit Widerstreben dadurch auf die Engherzigkeit dieses Standpunktes zurückgeworfen, dass sie durch ihre teleolo- gische Metaphysik zur Aufstellung eines absoluten Zwecks ge- zwungen wird, der draussen in der mechanischen Aeusserlichkeit des Kosmos, wie auch das blödeste Auge sieht, schlechterdings nicht zu finden ist, und deshalb dort gesucht werden muss, wo die längste Entwickelungsreihe nach rückwärts sich mit der grössten Entwickelungsperspektive nach vorwärts verbindet: in der Menschheit, die zugleich das einzige uns bekannte Bei- spiel der Willensentscheidung nach bewusster abstrakter Reflexion darbietet. Nur am Menschen kann eine Philosophie, welche die Ne- gation zum absoluten Zweck erhebt, ihre Hebel einsetzen wollen, denn nur in ihm kann sie ein Wesen finden, das fähig ist, auf sei-

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nem Bewusstsein titanenhaft sich gegen den unbewussten Weltwillen aufzulehnen; darum wird die Ph. d. U. nothwendig anthropocen- trisch, und hierdurch wenigstens in qualitativem Sinne wiederum geocentrisch. Reducirt man die Bedeutung der Menschheit und der Erde auf ihr wahres kosmisches Maass als eines atomistischen Individuums unter zahllosen ähnlichen^ von einer nach kosmischem Maassstabe gemessen verschwindend kurzen Gesammtlebensdauer, so reducirt sich auch die in der Ph. d. U. als absolut dar- gestellte Entwickelung der aufsteigenden Hälfte dieser Lebens- dauer zu einer relativen, welche im kosmischen Process nicht mehr Bedeutung hat, als etwa die aufsteigende Hälfte dieser bestimmten Meeres welle in dem unaufhörlichen Wellen- spiel des Oceans. Nächst der Erkenntniss ihrer thierischen Abstammung kann nichts so heilsam sein für den hohlen Dünkel der Menschheit von ihrer exceptionellen Würde als diese Erkennt- niss von der wahren Bedeutung ihrer Stellung im grossen Welt- ganzen und von der Relativität der Entwickelung, welche ihre Geschichte in der Gesammtheit des kosmischen Processes reprä- sentirt.

Wenn wir im vorigen Abschnitt sahen, dass die Descendenz- theorie die empirisch als Thatsache gegebene Zweckmässigkeit der Organismen anerkennt und als Resultat mechanischer Compen- sationsw irkungen erklärt, ohne des Zweckes als wirksamen idealen Princips zu bedürfen, so zeigte sich in diesem Abschnitt, dass die so constatirte Zweckmässigkeit keine von einem absoluten Endzweck oder Selbstzweck abgeleitete absolute Bedeutung habe , sondern nur relativ oder rückbezüglich auf den einmal vorgefundenen Boden des Daseins verstanden werden dürfe, wie sie nur aus diesem durch die naturnothwendig entsprungene Con- currenz hervorgegangen sei. Diese relative Bedeutung sahen wir weiter vom Begriff des Zweckes auf den der Entwickelung sich übertragen, w^elche nur relativ in Bezug auf den Lebenslauf des kosmischen Individuums eine solche ist, indem sie die aufsteigende Hälfte dieses Individuallebens repräsentirt.

lY. Gehirn und Intellekt.

Einer der Hauptgründe, welche die Popularität Schopen- liauer's bedingten, war seine unzweideutige Annäherung an die naturwissenschaftliche Denkweise hinsichtlich des menschlichen Intellekts, dessen Functionen er als Hirnfunctionen anerkannte. Kant und Fichte, denen die Materie nur ein vom Subjekt ge- setzter und mit der Vorstellung des Subjekts auch wieder ver- schwindender Schein war, standen natürlich einer solchen Auf- fassung fern, ebenso fern wie ihre Anschauung der Natur- wissenschaft; Schelling und Hegel hingegen bekümmerten sich nur zu wenig um Naturwissenschaft, um sich mit derselben aus- einanderzusetzen, während sie schon wesentUch mit ihr auf dem- selben Staudpunkt in Bezug auf diese Fragen stehn; denn in beider Naturphilosophie entspringt der Geist aus der Entwicke- lung bewusstloser Naturkräfte, sei es, dass dieselben als sich ob- jektivirende und aus jeder Objektivation in höherer Subjektivi- tätsstufe sich in sich zurücknehmende Potenzen (Schelling), sei es, dass sie als die im dialektischen Process begriffenen auseinan- dergefallenen Momente der Idee in ihrem Anderssein (Hegel) an- gesehen werden. Schelling macht dem Empirismus das ausdrück- liche Zugeständniss, dass alles B e w u s s t s e i n einer Vorstellung durch Affection eines Organismus bedingt sei (vgl. Ph. d. U. S. 399), und der Grundgedanke der Hegerschen Philosophie be- steht darin, dass der Geist als solcher, d. h. als Bewusstsein und Selbstbewusstsein, erst durch die Biickkehr der Idee aus ihrem

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Anderssein in der Natur zu sich selber entstehe, ein Process der nach unserer Kenntniss sich nur im thierischen, beziehungsweise menschhchen Hirn erfüllt. Schelling wie Hegel reserviren sich aber die vernünftige Vorstellung oder Idee abgesehen von der Form des Bewusstseins , die sie im menschlichen Geiste hat, als metaphysisches Princip. Auch Scbopenhauer verzichtet nicht auf die platonische Ideenwelt, welche auch ihm unzweifelhaft ein Jen- seits und Prius der durch Gehirnfunction erzeugten bewussten Yoi-stellung ist („Ges. phil. Abhandl." S. 61 65); aber ebenso- wenig wie Schelling und Hegel die naturwissenschaftliche Auf- fassung mit ihren metaphysischen Principien in deutliche Ueber- eiustimmung zu bringen unternommen * haben , ebensowenig hat Schopenhauer die Discrepanz seiner platonischen Ideenwelt mit den Produkten des Gehirnintellekts zu beseitigen vermocht. Diese metaphysisch-transcendente Ideenwelt vor und jenseits der Ent- stehung der bewussten Hirnvorstellung beruht nun aber, insofern sie die Typen der Organismen als Urbilder der Verwirklichung und den Plan des ganzen Weltprocesses als einen zu bestimmtem Ziele führenden in sich enthalten und deren Realisation durch metaphysische Eingriffe leiten soll, ganz und gar auf der teleo- logischen Metaphysik. Wird diese letztere durch die Descendenz- theoiie ihrer bisherigen Stützen beraubt und durch die Theorie der natürlichen Zuchtwahl in der Hauptsache positiv ersetzt, so fällt auch die platonische Ideenwelt der transcendenten Urbilder als eine überlebte, überflüssig gewordene und durch anderweitige Anschauungsweisen ersetzte Hypothese in sich zusammen. Wo die Typen der Organisationsformen mechanisch aus Compen- sationswirkungen resultiren, bedarf es keiner urbildlichen Idee mehr, um ihre Entstehung mit Hülfe beständiger metaphysisch- teleologischer Eingriife in den Naturprocess zu erklären. Diese „Idee" war nur die Form, in welcher der als Pnncip supponirte Zweck existirend gedacht wurde; fällt der Zweck als Princip fort, so fällt selbstverständlich auch die hypothetische Form seiner Existenz hinweg. Da nach der Descendenztheorie alle Firmen der Organisation allein aus den physikaUschen und chemischen Gcj^etzen der Materie heraus entstanden gedacht werden, so bleibt freilich in dieser gesetzmässig wirkenden Beschaffenheit der Ma-

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terie ein Kaum für die Hypothese idealer Anticipationen de künftigen übrig (Pli. d. U. S. 484—487), aber diese würdet dann jedenfalls gesetzmässig durch die jeweiligen Verhältnisse be- stimmte, nicht teleologisch sich selbst bestimmende sein und würden nicht über den Wirkungsmodus der Atome hinausgehen, so dass also alle zusammengesetzten Resultate aus ihnen mechanisch hervorgehen würden, ohne von ihnen als solche be- absichtigt zu sein.

Um Missverständnissen vorzubeugen, bemerken wir hier von vornherein, dass die theoretische Frage nach der metaphysischen Bedeutung der Idee vollkommen unabhängig ist und getrennt gehalten werden muss von der praktischen Frage nach der ethi- schen, ästhetischen und erkenntnisstheoretischen Bedeutung des Ideals. Die letztere ist über allen Zweifel erhaben und unab- hängig von jedem metaphysischen Standpunkt; die erstere ist problematisch wie alle Metaphysik und ist der Ausfall der schwan- kenden Entscheidung ohne Einfluss auf das Leben der Mensch- heit und sein Streben nach den Idealen. Von der Annahme der Idee leitet sich der theoretische Idealismus her, ein der mannichfaltigsten Formen der Ausbildung, der verschiedensten Modificationen und Nuancen fähiger Standpunkt; von der thätigen Hingabe an das von dem Menschengeist sich vorgesteckte Ideal leitet sich der praktische Idealismus ab, der wahre Welt- eroberer, dessen Palladium von keinem Volke ungestraft verlassen werden darf, wenn es nicht trotz allen civilisatorischen Raffine- ments zu thierischer Stufe zurücksinken und idealere Völker über sich hinwegschreiten sehen will. Der theoretische Idealismus ge- hört dem Streit der Gelehrten und dem Gezänk der Schulen an^ der praktische Idealismus ist der wahre tiefinnerste Hebel alles Cultiirfortschritts, die Legitimation der günstiger veranlagten Racen und Stämme für ihren historischen Beruf, der sofort erlischt, so^ bald sie dieser ihrer Fahne untreu werden. Wenn wir also den theoretischen Idealismus in seiner bisherigen teleologischen Ge- stalt als einen durch die Descendenztheorie überwundenen Stand- punkt betrachten müssen, so legen wir doch entschiedene Ver- wahrung ein gegen etwaige unberechtigte Consequenzen in Bezug^

auf unsere Stellung zum praktischen Idealismus.

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Nach dieser Abschweifung wollen wir dazu übergehen , zu betrachten, wie die Ph. d. U. das Verhältniss der Hirnfunction zum menschlichen Intellekt auffasst.

Das Cap. II des Abschn. C beschäftigt sich mit dem Nach- weis, dass Gehirn und Ganglien Bedingung des thierischen Be- wusstseins seien; es behauptet, dass alle bewusste Geistes- thätigkeit ein materielles Substrat bedürfe, an welchem sie entstehe, und nur die unbewusste sich frei von einem solchen vollziehe (S. 388, vgl. 402 3). Die letztere vollzieht sich nie- mals in den Formen der Sinnlichkeit (374 375), wo wir also solchen begegnen, wissen wir, dass sie aus der Mitwirkung der unmittelbar oder mittelbar durch die Sinne erregten Hirnfunction herrührt. Das Unbewusste hat ferner kein Gedächtniss (379 unten); es kann keine Erfahrungen in sich aufnehmen, noch durch diese klüger werden, als es ist (709); es kann sich durch üebung und Gewohnheit nicht vervollkommnen (S. 609 Z. 6 8). Wo wir also einem Aufbewahren empfangener Eindrücke be- gegnen, wissen wir, dass dasselbe nur vom Gehirn herrühren kann (379). Die sogenannten schlummernden Gedächtnissvor- stellungen sind also gar keine Vorstellungen, weder bewusste noch unbewusste, sondern nur latente Dispositionen des Gehirns zur leichteren Entstehung gewisser Formen von Molecularschwin- gungen , denen dann gewisse Vorstellungen im Bewusstsein ent- sprechen (S. 268 Anm. , S. 28). „Wie eine Saite auf alle Luft- schwingungen, die sie treffen, wenn sie von denselben überhaupt zum Tönen gebracht wird, immer mit demselben Tone resonirt, und zwar mit dem Ton a oder c, je nachdem sie auf a oder c gestimmt ist, so entsteht auch im Gehirn leichter die eine oder die andere Vorstellung, je nachdem die Vertheilung und Span- nung der Hirnmolecule so beschaffen ist, dass sie leichter mit der einen oder mit der andern Art von Schwingungen auf einen ent- sprechenden Reiz antwortet; und wie die Saite nicht bloss auf Schwingungen, die ihren Eigenschwingungen homolog sind, son- dern auch auf solche, die entweder nur wenig von denselben ab- weichen, oder aber in einem einfachen rationalen Verhältniss zu denselben stehen, resonirt'^ (wenn auch mit geringerer Stärke), „so werden auch die Schwingungen der prädisponirten Molecule

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einer Hirnzelle nicht bloss durch Eine Art zugeleiteter Schwin- gungen wachgerufen, sondern auch durch wenig abweichende oder in einem einfachen Verhältniss zu der Prädisposition stehende Reize (dieser Zusammenhang ist in den Gesetzen der Ideen- association erkennbar). Was bei der Saite das Stimmen ist, das ist ftir das Gehirn die bleibende Veränderung, welche eine leb- hafte Vorstellung nach ihrem Verschwinden in Vertheilung und Spannung der Molecule hinterlässt" (S. 28). Es ist unmöglich, dass irgend ein Schwingungsprocess in den Moleculen eines so nachgiebigen Körpers, wie das Gehirn ist, vor sich gehen sollte, ohne eine bleibende Veränderung in demselben zu hinterlassen, und zwar eine Veränderung in dem Sinne, dass künftig eine Wiederkehr gleicher Schwingungen an derselben Stelle weniger Widerstand findet, als ein Auftreten abweichender Schwingungen. Wie sehr alle stehenden Wellen danach streben, eine veränderte Vertheilung der Materie hervorzurufen (und zwar Verdichtung in den Knoten, Verdünnung in den Schwingungsmaximis), zeigen schon die Chladni'schen Klangfiguren, und zeigen in anderer Weise die chemischen Wirkungen der Licht- oder Wärmeschwingungen,, welche doch auch nur auf Umänderung der molecularen Lage- rungsverhältnisse beruhen (man denke insbesondere an die Farben- photographie, die von Zenker ganz richtig erklärt worden ist).- Denkt man sich nun eine solche Aenderung der Dichtigkeitsver- hältnisse herbeigeführt, welche einer Verdichtung an den Schwin- gungsknoten entspricht, so wird nunmehr eine solche Anordnung dahin wirken, von aussen eintretende Schwingungen in solche umzuwandeln, welche der bereits bestehenden Vertheilung ent- sprechen. In dieser Weise wirken z. B. die Endglieder der Stäb- chen und Zapfen in der Retina, welche alle eintretenden Licht- schwingungen in eine oder mehrere von drei bestimmten Wellen- arten umsetzen (roth, grün, violett), und diese weiter zum Bewusstseinsorgan leiten. Denken wir uns also im Grosshirn ähnliche Prädispositionen zu bestimmten Schwingungsformen theils durch Ererbung von den Vorfahren übernommen, theils durch die selbst empfangenen Eindrücke erworben, so werden auch diese eine ähnliche Auswahl von der durch die Sinnesnerven oder aus- anderen Hirntheilen zugeleiteten Schwingungen (Reize) treffen.

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und um so leichter auf einen Reiz reagiren, je verwandter er der eigentliiimlichen Sehwingungsform ist, d. h. je leichter er in die- selbe umgewandelt werden kann. Je ferner diese Verwandtschaft ist, desto schwächer wird die Reaction sein, und wird bald so schwach werden, dass sie unterhalb der Bewusstseinsschwelle bleibt, wofern nicht der Reiz durch Intensität die Unzuläng- lichkeit seiner qualitativen Verwandtschaft ersetzt. Bei einem gewissen Maass qualitativer Abweichung reicht dann aber keine praktisch mögliche Intensität aus, um die Reaction über die Schwelle zu heben. Wenn die ererbten Prädispositionen mehr Anlagen und Fähigkeiten betreffen, so ist das Gedächtniss recht eigentlich unter das Gebiet der erworbenen Hirndispositionen zu setzen, es ist die Summe aller Eindrücke, die von früher ge- habten lebhaften oder wiederholten Vorstellungen hinterlassen sind. Da nun jede gegenwärtige Vorstellung mit ihren actuellen Hirnschwingungen zugleich auf alle vorhandenen Prädispositionen als erregender Reiz wirkt, so wird es wesentlich von dem Grade der Verwandtschaft abhängen, welche der vorhandenen Prädispo- sitionen am kräftigsten auf die bestehende Vorstellung reagirt; diese wird alsdann, wenn die bestehende Vorstellung sich soweit abschwächt, um in dem beschränkten Raum bewusster Aufmerk- samkeit einer neuen Platz zu machen, sich mit ihrem Inhalt in das Bewusstsein als Nachfolgerin jener Vorstellung eindrängen und hierbei die Concurrenz aller übi-igen (ebenfalls, aber nicht in gleichem Maasse verwandten) Prädispositionen siegreich bestehen. Diese so in's Bewusstsein getretene neue Vorstellung schwächt sich aber nach dem Gesetz der Ermüdung bald ebenfalls ab und zieht nun ihrerseits wiederum die ihr verwandteste der vorhandenen Prädispositionen als Nachfolgerin herbei. Man erkennt hierin leicht den Piocess der durch kein bestimmtes Interesse geleiteten Ideenassociation. Dass die Gesetze derselben auf dem mecha- nischen Zusammenhang der molecularen Schwingungsprocesse im Hirn mit den daselbst vorhandenen Prädispositionen beruhen, wird auch von der Ph. d. U. S. 253 anerkannt. Dagegen wird ebendort der Einfluss der Stimmung und des Interesses auf die Ideenassociation als etwas ganz heterogenes dargestellt. Dies scheint uns nicht richtig.

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Von den Stimmungen ist es iiinlänglicli bekannt, wie sehr gerade sie auf constitutioneller Grundlage und auf vorübergeben- den Zuständen des Organismus beruhen. Die wechselnden Ver- hältnisse des Blutumlaufs und der mehr oder minder sauerstoif- reichen Beschaffenheit des das Hirn umspülenden Blutes, die verschiedenen Phasen des Verdauungsprocesses und des Ge- schlechtslebens und die von beiden abhängigen Zustände des sym- pathischen Nervensystems nebst vielen anderen somatischen Bedin- gungen, die uns "vdelleicht noch unbekannt sind, sind ebenso viele Einflüsse, welche theils die Erregbarkeit, Impressionabilität und Reagibilität des Gehirns im Allgemeinen steigern oder depri- miren, theils in besonderen Parthien desselben eigenthümliche 3Iodilicationen hervorrufen (vgl. „Philosophische Monatshefte'' Bd. IV, Hft. 5, S. 389, Z. 5 3 von unten, wo der Verfasser zu- gesteht, dass die Stimmung augenscheinlich durch vorübergehende Beschaffenheit des Hirns verursacht wird, wie das Temperament durch dauernde). Wie die Erregung gewisser Hirnparthien ge- wisse Nerven in Mitleidenschaft zieht, welche dann ihrerseits wieder körperliche Processe hervorrufen (z. B. Rührung das Wei- nen, Angst das Herzklopfen u. s. w.), so ist rückwärts durch körperliche Zustände, die durch Nerven zum Gehirn geleitet werden, eine ungleichmässige Erregung gewisser Gehirnparthien bedingt, und eine solche hat dann zur noth wendigen Folge, dass die in denselben vorhandenen Prädispositionen schon bei gerin- gerer Intensität der Reize als sonst Reactionen liefern, die ober- halb der Schwelle liegen, und dass sie mithin in der Concurrenz der verschiedenen Prädispositionen (schlummernden Gedächtniss- vorstellungen) um das Hineingeiangen in's Bewusstsein einen Vor- rang erlangen. So werden z. ß. bei geschlechtlichem Erregungs- zustande alle Vorstellungen, welche dem Bewusstsein vorschweben, durch die Ideenassociation solche Nachfolger herbeizuziehen be- müht scheinen, welche mit dem Geschlechtsleben in näherer Be- ziehung stehen; bei allgemeiner Erregung des Gehirns durch massigen Weingenuss ergiebt sich ein Zustand von Heiterkeit, •der dem Auffinden von Scherzworten und Witzen günstig ist, (Ph. d. U. S. 255) und der Zustand der geistigen Trunkenheit, der Begeisterung, des Enthusiasmus oder wie man ihn im Gegen-

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gatz zum Zustand der Nücbternheit nennen will, ist aus ähnlichen' Gründen der Entstehung von künstlerischen, namentlich poetischen Conceptionen günstig (247—248). Wenn wir somit sehen, dass der unwillkürliche Einfluss der Stimmung auf die Ideenassociation wesentlich auf somatischen Ursachen vorühergehender Hirnzu- ßtände beruht, so werden wir bei dem flüssigen Uebergange von hier zu den bewussten Interessen kaum etwas anderes erwarten dürfen, als dass auch der maassgebende Einfluss bewusster Ab- sicht körperlich vermittelt gedacht werden muss, welche eine Gedankenreihe zu einem vorgesetzten Ziele geflissentlich hinleitet. Dieses Ziel muss, wenn auch nicht in seiner völligen Bestimmt- heit, doch wenigstens den Umrissen nach dem Bewusstsein vor- schweben, oder in bestimmter bekannter Richtung gesucht werden* kurz es müssen Anhaltpunkte gegeben sein, auf welche sich erfahrungsmässig bei solchem Suchen eine gespannte Aufmerk- samkeit richtet. Diese Aufmerksamkeit greift gleichsam über diese Anhaltpunkte hinaus in's Blinde, wie eine augenlose Raupe in Rankenwindungen einen neuen Stützpunkt sucht. Aber eben der Umstand, dass diese gespannte Aufmerksamkeit nach ganz, bestimmter, aber der Zeit nach versuchsweise wechselnder Rich- tung hinausgesandt wird, wie ein Eclaireur zur Recognoscirung- des Gedächtnissterraius, eben dieser Umstand macht es erklärlich, dass von den ruhenden Hirnprädispositionen nunmehr die in der Richtung dieser Aufmerksamkeit gelegenen leichter erregt werden als alle anderen; denn die Aufmerksamkeit ist ein in den Sinnes- nerven centrifugaler, hier aber innerhalb des Centralorgans ver- bleibender und nur noch in Bezug auf die Stelle der actuellen erregenden Vorstellung als centrifugal zu bezeichnender Inner- vationsstrom, welcher die Wirkung hat, die von ihm be- troffenen Parthien für jede Art von Reizen erregbarer za machen, als sie im ruhenden normalen Zustande sind (vgl. Ph. d. U. S. 116, 155—156, 419-421, auch 246—247). Wäre die^ Richtung der Aufmerksamkeit eine vollkommen dem Ziele ent- sprechende, so würde auch beim ersten Versuch die entsprechende Vorstellung aus ihrer Prädisposition ausgelöst werden; sind aber die Anhaltspunkte zu unbestimmt und tastet in Folge dessen die Aufmerksamkeit erst nach einigen falschen Richtungen, so tau-

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chen auch zunächst einige als unbrauchbar zu verwerfende Vor- stelhingen auf; sind endlich die Anhaltspunkte ganz ungenügend, so dass sie nicht einmal die ungefähre Richtung vorschreiben^ oder hat die Aufmerksamkeit sich einmal in eine irrthümliche Richtung verrannt, so ist alles Herumtasten derselben erfolglos. ' Diese Betrachtung erscheint geeignet, die Argumente der Ph. d, U. auf S. 253 und 254 wesentlich zu modificiren, die Erforder- lichkeit der dort behaupteten metaphysisch-teleologischen Eingriffe behufs der Erklärung der Probleme der Ideenassociation min- destens in Frage zu stellen und vorläufig den Glauben an die Möglichkeit einer zureichenden Erklärung derselben aus mecha- nischen Ursachen festhalten zu lassen.

Die Ph. d. U. huldigt in Bezug auf die Entstehung der be- wussten Empfindung ebenso entschieden einer Theorie der De- centraHsation wie in Bezug auf die Lebensfunctionen des Organis- mus; wenn sie in letzterer Hinsicht nur die von den Coryphäen der Naturwissenschaft (Virchow u. A. m.) eingeschlagene Bahn verfolgt, so wird die Physiologie andererseits nicht umhin können^ ihre Uebertragung von der Aeusserlichkeit der Lebensfunctionen auf die Innerlichkeit bewusster Empfindung zu acceptircu, wie die Analogie der constituirenden Theile eines höheren Organismus mit niederen individuellen Organismen einerseits und die ununter- brochene Stetigkeit der absteigenden Thier-, Pflanzen- und Pro- tisten-Reihe andrerseits es gebieterisch fordert und die graduell abnehmende morphologische und chemische Verwandtschaft def Gehirnzellen mit den Ganglienzellen der niederen Nervencentral- Organe und den lebenden Zellen des Körpers überhaupt es ohne- hin schon wahrscheinlich macht (vgl. Ph. d. U. S. 456 461 ; auch 52—56 und 58 ff.). Wir werden daher die Annahme zu der unsrigen machen dürfen, dass Empfindung (welche als solche allemal schon Bewusstsein in sich schliesst) nicht bloss dem grossen Gehirn des Menschen zukommt, sondern auch allen seinen untergeordneten Nervencentralorganen (Kleinhirn , verlängerten Mark, Rückenmark und sämmtlichen Ganglien) ja sogar jeder ein- zelnen protoplasmahaltigen Zelle im Körper, ebensogut wie wir dieselbe nicht nur den höheren, sondern auch den niederen Thieren^ ja selbst den Protisten und ebenso den protoplasmahaltigen Zelle»

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in niederen und höheren Pflanzen zuerkennen. Selbstverständlich ist der Inhalt dieses Empfindens auf den verschiedenen Stufen sehr verschieden an Reichthum und Feinheit (Ph. d. U. 424—426), und dadurch scheinbar auch dem Grade des Bewusstseins nach. Alles Empfinden entspringt aus Schwingungen, aus Be- wegungen von Moleculen, welche denselben von aussen (durch Reize) aufgenöthigt werden ; die Zeitlichkeit dieser Schwingungen setzt die bestimmte zeitliche Form der Empfindung (308 309), und die Geschwindigkeit, Intensität, Gestalt und sonstige eigenthümliche Beschaffenheit bestimmt die Qualität der Empfindung, welche unter der Voraussetzung gleicher Schwingungsarten von der Stelle im Gehirn gänzlich unabhängig ist (299—301 und 302). Nur insofern verschiedene Hirnstellen mit verschiedenen Prädispositionen be- haftet sind und deshalb auf gleiche Reize mit verschiedenen Schwingungs arten antworten, sind sie von Einfluss auf die Em- pfindung. Ist jede protoplasmatische Zelle empfindungsbegabt, und nur von der Verschiedenheit der Molecularschwingungen , zu denen sie geneigt und fähig ist, die Verschiedenheit ihrer Empfin- dungen abhängig, und gilt dieser Satz wie für alle lebenden Zellen so insbesondere auch für alle Gehirnzellen, so muss das Gehirnbewusstsein als S u m m a t i o n s p h ä n o m e n sämmtlicher Gehirnzellen aufgefasst werden, wie die Ph. d. U. unter Ver- werfung aller physiologisch ganz unhaltbarer Hypothesen von Centralzellen *) und Centralpunkten auch wirklich thut (S. 299), indem sie ganz richtig die thatsächlich in demselben vorhandene Einheit auf die ebenfalls in demselben vorhandene Güte der Lei- tung nach allen Richtungen zurückführt (S. 429— 430). Denn die Leitung ist es, durch welche die in einer Zelle statthabenden Empfindungsschwingungen mit den in einer andern Zelle des Ge- hirns statthabenden communiciren, sich mittheilen und dadurch für den Standpunkt der Innerlichkeit oder Empfindung in die höhere Einheit des nebeneinanderstehenden Inhalts eines ge- meinsamen Bewusstseins verschmelzen. Diese Verschmelzung findet zunächst in höchst auffallender Weise zwischen den Empfin- dungen und Vorstellungen der beiden durch eine ziemlich schmale

♦) Vgl. Fechner'8 „Psychophysik", Bd. II, S. 392-421.

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Brücke verbuiuleuen GrosshirDliemisphären , ebenso aber auch :zwisclien verschiedenen Theilen des Gesammthirns (z. B. zwi- schen dem Grosshirn und den Vierhügeln als Centralorgan der Gesichtswahrnehmung) statt. Während also zwischen den Em- pfindungen entfernterer Centralorgane desselben Organismus nur eine so dürftige Verbindung besteht, dass nur dumpfe Mitthei- lungen von einem Bewusstsein zum andern gelangen und von einer höheren Bewusstseinseinheit aller in einem Organismus enthaltenen Bewusstseine eigentlich nicht gesprochen werden kann, so ist doch das Hirnbewusstsein, welches das bei weitem höchste im Organismus ist und darum gewöhnlich schlechtweg als Ver- treter seines Bewusstseins überhaupt angesehen wird, selbst wie- der eine höhere Einheit vieler in ihm umiasster Bewusstseine, nur dass in ihm die Einheit so sehr dotninirt, dass sie bei allen über der Schwelle des Gesammtbewusstseins hegenden deren Be- sonderheit in sich aufhebt.

Dasjenige Bewusstsein, mit welchem erst meine Erfahrung beginnt, ist dasjenige, welches auch die Vorstellung meines Ich umfasst und welches die Möglichkeit besitzt, seinen Inhalt mit /allen Sinneswahrnehmungen und all seinem Gedächtnissinhalt zu vergleichen. Auf dieses Bewusstsein, auf dieses die gesammte Masse des grossen Gehirns umspannende Summationsphänomen bezieht sich jede Angabe, dass eine Empfindung oder Wahrneh- mung in mein Bewusstsein eintritt, auf dieses allein also auch die erfahrungsmässige Angabe, dass ein gegebener Reiz unterhalb der Schwelle liege (vgl. Ph. d. U. S. 29 31). Keineswegs aber können wir behaupten, dass Empfindungen unterhalb der Schwelle dieses Gesammthirubewusstseins auch unterhalb der Schwelle ihres Zellen bewusstseins liegen; sondern wie sehr wahrscheinlich ein .Sinnesnerv an jeder Stelle eine gewisse Empfindung von den ihn durchlaufenden Schwingungen hat, ohne dass doch diese Empfin- dung als solche weiter geleitet würde und zum Hirn bewusstsein gelangte, ganz ebenso kann und muss auch jede Zelle im Hirn ihre Privatempfindungen haben, welche unterhalb der Schwelle des Gesammthirubewusstseins liegen. So erst erhalten die nega- tiven ys Fechner's eine i)ositive Bedeutung und verschiedene JTälle (z. B. Beeinflussung der Klangfarbe durch Obertöne, die

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unterhalb der Schwelle liegen, Beeinflussung des Charakters; der Grefühle durch Vorstellungs- oder Empfindungsschwingungen^ die unterhalb der Schwelle liegen vgl. Ph. d. U. S. 229-231) machen es direkt wahrscheinlich, dass sie als Empfindungen exißtiren, also als Zellenempfindnngen, da sie eingestandener Maassen nicht Gesammthirnempfindungen sein sollen. So erlangt der Begriff der Schwelle eine ganz andere Bedeutung, er wird nämlich auf eine Relation zu einem Summationsphänomen von bestimmtem Umfang reducirt. Während er sonst wohl teleologisch begreif lieh (ebd. S, 30), in causaler Hinsicht aber völlig räthselhaft war, wird er nun erklärlich als Function des inneren Lei- tungswider Standes desjenigen Complexes von organischer Materie, welchen das Summationsphänomen umfasst, auf das er sich bezieht. Denn allein auf der Leitung im Hirn beruht, wie wir sahen, das Summationsphänomen des Hirnbewusstseins ; da nun jede Leitung Widerstände bietet, so kann sie als Leitung erst wirksam werden, wenn die Oscillationen eine solche Inten- sität gewinnen, dass diese Widerstände überwunden werden, und erst in diesem Falle kommt das Gesammtbewusstsein zu Stande^ welches ich mein Bewusstsein nenne, und auf welches sich die gewöhnlich so genannte Bewusstseinssch welle bezieht.*)

Kun können wir aber ohne Zweifel die soeben in Bezug auf Hirn, Grosshirnhemisphären und Hirnzelle angestellte Betrach- tung in analoger Weise wiederholen, wenn wir auf den lebendigen (protoplasmatischen) Gesammtinhalt einer solchen Zelle und seine einzelnen organischen Partikelchen (oder auf die Molecule des betreff'enden Proteinstoffs) reflectiren. So wenig das Gehirn als-

*) Durch diese Auffassung löst sich unter anderm auch der scheinbare Widerspruch zwischen der Behauptung der Phil. d. Unb , dass alle Empfindung 60 ipso bewusste Empfindung sein müsse, und dass doch die Empfindungen, aus welchen unbewusst die Anschauungen des Auges construirt werden, jen- seits des liewusstseins liegen (vgl. auch „Das Ding an sich und seine ße- Bchaff'enheit", Berlin, C. Üunker, 1871, S. G7); die Lösung liegt darin, dasa das Bewusstsein, welches ich mein Bewusstsein nenne, nur die fertige An- schauung kennen lernt, und die Empfindungen, welche dieser Anschauung zu Grunde liegen, nur in einem niedern Bewusstsein bestehen, welches mein Bewusstsein nur durch künstliche Hülfsmittel der Steigerung behufs Erleichte- rung der Communication und selbst da noch blos unvollständig in sich herein- zuziehen Tennag.

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Cranzes zur EmpfiuduDg kommen kann, es sei denn durch Sum- mation der Empfindungen seiner organischen Elemente, ebenso- wenig kann der protoplasmatische Zellinhalt als Ganzes zur Em- pfindung kommen, es sei denn durch Summation der Empfindungen seiner organischen Elemente. Dass wir die Zelle klein nennen, ist ein ganz zufälliges und subjectives Urtheil; dem Molecule gegenüber ist sie von so ungeheurer Grösse, dass es auf den Unterschied der Grösse des Gehirns und der Zelle danach kaum noch anzukommen scheint. Dennoch kommt es auf die absolute Grösse der Zelle an; denn dieselbe ist eine solche, dass die Lei- tungswiderstände innerhalb derselben zu klein werden, um be- sonderer Leitungsvorrichtungen zu bedürfen; das Protoplasma selbst reicht zur Leitung auf die Entfernungen innerhalb der Zelle und damit zur Herstellung des Gesammtzellenbewusstseins als eines Summationsphäuomens aus den Separatempfindungen der orga- nischen Molecule aus. Freilich wird auch hier noch ein gewisser innerer Leitungswiderstand vorhanden bleiben, der von Reizen unterhalb einer gewissen Grösse nicht überwunden wird; wir werden also auch hier eine Zellenbewusstseinsschwelle statuiren müssen, obwohl dieselbe sich nicht leicht empirisch dürfte nach- weisen lassen.

Zum dritten Male werden wir dieselbe Betrachtung wieder- holen müssen, wenn wir von dem höchst zusammengesetzten organischen Molecule des protoplasmatischen Zelleninhalts auf dessen chemische Elementarmolecule und auf die gleicbmässigen üratome zurückgehen. Wir sehen von dem hier erreichten Standpunkte, dass die von der Ph. d. Unb. betonte Rela- tivität des Individualitätsbegriffes (Abschn. C. Cap. VL S. 495 ff.) nicht nur für äusserliche organische Individuen, sondern auch für Bewusstseinsindividuen eine in noch viel strengerem Sinne zu nehmende Wahrheit ist, als es nach den dort gegebenen Ausführungen scheinen konnte.

Kachdem wir die Sehwelle als Function des inneren Leitungs- widerstandes des entsprechenden Complexes verstehen gelernt haben, müssen wir schliessen, dass bei den einfachen Uratomen jeder Grund zur Annahme einer Empfindungsschwelle wegfällt, da sie eben einfach sind, also von einem inneren Leitungswider-

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stand keine Rede sein kann. Hierdurch würde sich das Haupt- bedenken der Ph. d. Unb. gegen die Annahme einer Empfindung der Atome (S. 490) erledigen und dieser fast unvermeidlichen. Hypothese eigentlich nichts mehr im Wege stehen. Unvermeidlich scheint uns diese Hypothese deshalb, weil, wenn die Empfindung nicht eine allgemeine U reigenschaft der constituirenden Elemente der Materie wäre, schlechterdings nicht einzusehen wäre, wie durch formelle Potenzirung und Integration derselben das uns bekannte Empfindungsleben der Organismen sollte ent- stehen können. Dass die Materie, bis in ihre letzten Principien verfolgt, aus dem Gebiete der Physik hinaus und durch den dunklen KraftbegriiF in das der Metaphysik hinüberführt, ist einmal nicht zu leugnen; so bleibt denn auch nichts übrig, als an jener Stelle die gemeinsame metaphysische Wurzel der in ihren höheren Steigerungen als stets sich wechselseitig bedingenden und doch scheinbar so heterogen und unvermittelt neben einanderstehenden Sphären der Innerlichkeit (Empfindung^ Bewusstsein) und AeusserKchkeit (räumlichen Wirkens und Daseins) zu suchen und vorauszusetzen. Es ist unmöglich, dass aus rein äusserlichen Elementen, die jeder Innerlichkeit entbehren, plötzlich bei einer gewissen Art der Zusammensetzung eine Innerlichkeit hervorbrechen sollte, die sich immer reicher und reicher entfaltet ; so gewiss vielmehr die Naturwissenschaft überzeugt ist, dass in der Sphäre der Aeusserlichkeit die höheren (organischen) Er- scheinungen doch nur Combinationsresultate oder Summations- phänomene der elementaren Atomkräfte sind, ebenso gewiss kann sie , wenn sie sich einmal ernstlich mit dieser andern Frage be- schäftigt, sich der Ueberzeugung nicht verschKessen , dass auch die Empfindungen höherer Bewusstseinsstufen nur Combinations- resultate oder Summationsphänomene der Elementarempfindungen der Atome sein können, wenngleich letztere als solche immer unterhalb der Schwelle der höheren Gruppenbewusstseine bleiben. In dem Verkennen dieser Doppelseitigkeit der objektiven Er- scheinung, deren innere und äussere Seite sich wie die Concavität und Convexität einer und derselben Kreislinie gegenseitig bedingen und doch wie diese nur jede von je einem Standpunkte aufge- fasst werden können, in dem Verkennen dieser Doppelseitig-

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keit, welche alles Dasein von seinen niedrigsten bis zu seinen liöcbsten Erscheinungsformen durchzieht, liegt der Grundfehler alles Materialismus und alles subjektiven Idealismus. So un- möglich der Versuch des letzteren ist, die äusserlichen Erschei- nungen des räumlichen Daseins aus Functionen der Innerlichkeit und deren Combinationen zu construiren, ebenso unmöglich ist das Bestreben des ersteren, aus irgend welchen Combinationen äusserlicher räumlicher Kraftfuuctionen eine innerliche Empfindung aufzubauen, ein Bestreben, an dem selbst der talentvolle Herbert Spencer gescheitert ist.*) Es leuchtet nunmehr auch ein, weshalb unser Standpunkt ebensowenig als Materialismus, wie als sub- jectiver Idealismus bezeichnet werden kann; denn wenn wir in den Atomen, aus welchen die Materie besteht, die einheitüche metaphysische Wurzel der äusserlichen und innerlichen Erscheinung des Weltweseus oder der Weltsubstanz (nämlich der Welt als räumlich gesetzten Daseins und der Welt als Vor- stellung) zu suchen haben, so haben wir eben damit anerkannt^ dass Innerlichkeit (Empfindung, Vorstellung, Bewusstsein) keines- wegs als blosse Folge der in der Sphäre der materiellen Aeusser- lichkeit vorgehenden Functionen angesehen werden kann (eben- sowenig wie umgekehrt), sondern dass sie als ebenso ursprüi^lich wie diese gesetzt werden muss, und als eine der Aeusserlichkeit schon in den primitivsten Elementen des Daseins gleichberechtigte und coordiuirte Erscheinungssphäre aus der gemeinsamen meta- physischen Wurzel der Welt resultiren muss. Unser Standpunkt kann aber auch schon deshalb nimmermehr Materialismus heissen, weil uns die Materie selbst gar kein an und für sich subsistirendes Prineip, d. h. keine Substanz im strengen Sinne sein kann, son- dern uns selbst nur als ein Combinationsresultat oder Summationsphänomen immaterieller Atomkräfte gilt, weil das, was wir Materie als äusserlich gesetzte räumliche Existenz nennen, seinerseits ebenso sehr nur ein Phänomen einer metaphysischen Wesenheit ist wie die Empfindung, bloss mit dem

*) Vgl. A. P. Barnard's Rede über die neueren Fortschritte der Wissen- schaften, deutsch von Klöden, Berlin 1869, S. 42 bis 52, und TyudaH's Aeusse- rungen im Anhang.

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Unterschied, dass erstere Phänomen in der Sphäre der Aeusser- lichkeit oder Objektivität, letztere Phänomen in der Sphäre der Innerlichkeit oder Subjektivität ist.

Wenn wir sagten, dass die Empfindung als ursprüngliche Eigenschaft der die Materie constituirenden individualisirten Elemente (Atome) angesehen werden müsse, welche nicht durch die anderen Eigenschaften derselben in secundärer Weise verursacht sei, sondern als coordinirte Sphäre zu betrachten sei, so schliesst dies doch, wie schon erwähnt, die Wechselwirkung zwischen dem bestimmten jeweiligen Inhalt beider Sphären nicht aus. Die Bestimmtheit des Inhalts der Empfindung durch die Vorgänge in der Aeusserlichkeit ist jedenfalls über allen Zweifel erhaben ; der umgekehrte Eiufluss der Empfindung auf die äusseren Vorgänge ist mindestens als höchst wahrscheinlich anzusehen, aber nicht etwa so, als ob die Gesetze des äusseren Geschehens dadurch Ausnahmen und Eingriffe erlitten, sondern so, dass diese Einflüsse sich innerhalb des Rahmens der naturgesetzhchen Noth wendigkeit halten, indem sie mitbestimmend auf das unter gleichen Umständen regelmässig wiederkehrende Verhalten der Atome wirken, aus wel- chem wir erst das Gesetz abstrahiren. Gerade dass wir bei unsern Abstractionen der Gesetze des äusseren Geschehens bis jetzt nicht im Stande sind, das Moment der Innerlichkeit mit in die Formeln einzuführen, gerade dieser Umstand giebt den meisten Natur- gesetzen noch eine unserm Verständniss so fremdartige Physio- gnomie, weil zwar die äussern Umstände und das äussere Resultat richtig aufgezeichnet sind, aber die innerliche Vermittelung fehlt, wxlche erst gleichsam die lebendige Seele des im Gesetz ausge- drückten realen Zusammenhanges bildet. Es ist dies ganz das- selbe Verhältniss wie im umgekehrten Falle in einer subjekti- vistischen Psychologie, welche von den Einflüssen der durch die realen Vorgänge des äusserlichen Daseins erregten Hirnschwin- gungen völlig Abstand nimmt und sich darauf beschränkt, aus den empirisch beobachteten Zusammenhängen zwischen Vor- stellungs- oder Empfindungs- Elementen Gesetze zu abstrahiren. Diese Gesetze können vollständig richtig aufgestellt werden (z. B. über die Idecnassociation) und doch fehlt jede Einsicht, wie so gerade diese Zusammenhänge zu Stande kommen, bis die

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Eücksichtnahme auf die Wechselwirkung mit der Sphäre der Aeusserlichkeit (wie wir oben sahen) Licht iu die Sache bringt (vgl. auch als anderes Beispiel die Erörterung über immanente und transcendente Causalität im „Ding an sich", insbesondere S. 77).

Wenn Spinoza bemerkt, dass ein fallender Stein, w^enn er Bewusstsein hätte, frei zu handeln glauben würde, so können wir hinzufügen, dass er Lust oder Behagen an dieser freien unbe- hinderten ßethätigung seiner Willensnatur empfinden würde, dass er aber Unlust empfinden würde, w^enn die seiner Tendenz ge- mässe Fallbewegung (etwa durch Aufschlagen auf den Erdboden) gehemmt und verhindert würde, denn der in ihm lebendige Wille würde im ersteren Falle im Zustande der Befriedigung^ im letzteren Falle im Zustande der Kichtbefriedigung befindlich sein. Wenn nun auch die Atomempfindung zu tiefstehend für ausgiebige Vergleichungen und deutliches Bewusstsein der Lust gedacht werden müsste, so würde sie doch jedenfalls von jeder Störung der naturgemässen Intentionen unangenehm afficirt werden und ohne Zweifel auch von dem Contrast einer nach längerer Hemmung wieder freiw erdenden Bethätigung angenehm berührt werden. Hiermit w^ären auch für das Empfindungsleben ausgedehnterer mateiieller Complexe die bestimmenden Elemente gegeben, welche sich auf den verschiedenen Stufen organischen Aul'baues auch innerhalb desselben Organismus wiederholen (Ph. d. Unb. 225 226 und Lotze „Medicinische Psychologie'^ 2. Buch^ 2. Cap.). Ob ein Molecule sich in Ruhe oder Bewegung befindet^ ist an und für sich schon wegen der Relativität der Bewegung gleichgültig; eine Aenderung des Zustandes der Bewegung wird daher in demselben Sinne, wie eine Aenderung des Zustandes der Ruhe als Störung durch äusseren Eingriff aufzufassen sein^ vorausgesetzt natürlich, dass diese Aenderung wirklich von aussen durch mechanische Uebertragung lebendiger Kraft und nicht durch eine aus der Action der eigenen Kräfte herrührende Beschleu- nigung hervorgerufen wird. Der Bewegungszustand, in welchem sich ein Molecule befindet, ist gleichsam der indifferente Nullpunkt seines Empfindens, der gewohnheitsmässige Zustand, dessen Contrast mit einem früher einmal vorangegangenen anderen Zu-

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siand, mochte derselbe mm eine angenehme oder unangenehme Empfindung repräsentiren , längst verklungen ist. Deshalb macht es nach Beseitigung dieses Contrastes auch keinen Unterschied mehr für die Empfindung des Atoms, ob die innehabende Be- wegung durch eine frühere Bethätigung der eigenen Kraft (nicht durch gegenwärtige, denn diese würde Beschleunigung, mithin Veränderung des Bewegungszustandes bringen) oder durch eine frühere Uebertragung lebendiger Kraft von aussen herrührt, und wird mithin auch die Störung des Bewegungszustandes, als des nunmehr natürlichen, in gleicher Weise empfunden werden, welches auch sein Ursprung sei. Wenn nun, wie wir sehen, die Störung des Bewegungszustandes, der aus Bethätigung der eigenen Kraft herstammt, unangenehm empfunden wird, so müssen wir schliessen, dass ganz ebenso auch jede Störung eines aus fremder lebendiger Kraft herstammenden Bewegungszustandes unangenehm empfunden wird, ausgenommen, wenn die Störung dahin wirkt, die gebundene Action der eigenen Kraft frei zu machen. Ferner wird es in gleicher Weise empfunden werden, ob die als Störung von aussen eingreifende Geschwindigkeitsänderung im positiven oder negativen Sinne, als Beschleunigung oder Verlangsamung wirkt. Nun werden aber alle Schwingungen von Hirnmoleculen in erster Reihe durch ausserhalb ihrer selbst liegende, von anderen Hirn- oder Nerven-Moleculen an sie herantretende Bewegungsreize erregt; wenn auch die Art und Weise oder Form ihrer Schwin- gungen zum Theil durch die Prädispositionen ihrer Lage undVer- theilung bedingt ist, so ist doch das Entstehen der Schwingung immer Folge eines herantretenden Reizes, d. h. übertragener leben- diger Kraft von anderen schwingenden Nerventheilen , die sie letzten Endes beim Wahrnehmungsprocess durch die lebendige Kraft der Licht-, Schall- und anderen Schwingungen erhalten haben. Dies wäre wenigstens beim rein passiven Percipiren die einzige Kraftquelle, angenommen, dass ein solches passives Per- cipiren ohne actives Appercipiren oder Einordnen in bekannte Vorstellungsreihen in aller Strenge vorkäme. Das Appercipiren, das sich mehr oder minder dem Percipiren immer beimengt, ist aber schon ein Beginn der activen Verarbeitung von empfangenen Vorstellungen und erfordert als solches eine Aufwendung der im

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Creliiru aufgespeicherten chemischen Kraft (welche aus den Nah- rungsmitteln herstammt). Diese active Krafthethätigung ist nur das Allgemeinere dessen, was wir bereits als Aufmerksamkeit kennen lernten und was bei allem Wahrnehmen, Appercipiren, Lenken einer Gedankenreihe zu bestimmtem Ziele, kurz bei jeder geistigen Arbeit und namentlich bei produktiver Arbeit eine so dominirende Rolle spielt. Auch diese eigenthümliche Activität des Gehirns aus dem aufgespeicherten Kraftvorrath bedarf zu ihrem Eintreten eines von aussen herantretenden Reizes, aber die lebendige Kraft, welche er auslöst, ist viel grösser als die, welche er mitbringt (etwa wie die lebendige Kraft der Luft in den Pfeifen einer gespielten Orgel, die vom Balgentreter herrührt, weit grösser ist als die lebendige Kraft der die Tasten bewegenden Finger des Orgelspielers, welche doch für die Pfeifen als aus- lösender Reiz wirkt). Nur die Aufmerksamkeit und geistige Activität ermüdet das Gehirn, nicht die passive Aufnahme, weil nur in ersterem Falle die eigene Kraft verzehrt wird. Das ohne jede Aufmerksamkeit den Sinneseindrücken träumerisch hinge- gebene Gehirn ermüdet ebenso wenig, wie es von den Bildern des wirklichen Traumes ermüdet. Wohl aber können dabei noch die Sinnesorgane, die Sinnesnerven und die Centralorgane der Sinnesperception ermüden, weil in ihnen unwillkürlich und reflec- torisch durch die eintretenden Reize immer eine gewisse Reaction erregt wird, welche als eine ermüdende active Aufmerksamkeit (aber nicht als Gehirnaufmerksamkeit, sondern als untergeordnete Nerveuaufmerksamkeit) zu bezeichnen ist, eine Activität, deren Kraftverbrauch bis zu eingetretenem Ersatz wie überall eine Ab- stumpfung gegen den Reiz zur Folge hat. Auch beim Gehirn selbst ist die Aufmerksamkeit auf die meisten Reize von gewisser Grösse zum Theil unwillkürlicher Reflex, zum andern Theil aber Resultat eines Ueberlegungsprocesses, der die betreffenden Reize mit den Interessen des Individuums confrontirt und danach erst sich zur Aufmerksamkeit in höherem oder geringerem Grade entschliesst ; bei gewissen Stimmungen kann aber der unwill- kürliche Reflex auf lange Reihen gewisser Reizklassen sehr gering werden, und dann darf er praktisch vernachlässigt werden, weil die beständige Alimentation des Gehirns (wie im Traum) mehr

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als gentigt, um den dabei stattfindenden Kraftverbrauch zu er- setzen. Umgekehrt scheint bei gespanntem, aufmerksamem Suchen nach einer Vorstellung (siehe oben S. 56) der die vorhandenen ver- wandten Dispositionen erregende centrifugale Innervationsstrom das allein Bestimmende zu sein, und doch ist nicht zu vergessen, dass die actuell im Bewusstsein vorhandene Vorstellung für die neu entstehende als äusserer Reiz w^irkt, welcher ein gewisses Maass von lebendiger Kraft überträgt, ganz wie die Schallwellen lebendige Kraft auf die Cortischen Organe übertragen. Wir sehen also, dass streng genommen die lebendige Kraft des Reizes und die aus der aufgespeicherten Nervenkraft herrührende reflectorisch (sei es unwillkürlich oder durch bewussten Reflectionsprocess) ausgelöste lebendige Kraft als Quellen der lebendigen Kraft einer Vorstellung immer Hand in Hand gehen, dass aber bald der eine Factor, bald der andere verschwindend klein werden kann, je nachdem die Produktivität oder die Receptivität dominirend her- vortritt.

Wenn es sich um die Frage der Entstehung desBe- wusstseins oder der Empfindung handelt, so liegt es auf der Hand, dass wir es mit jenem extremen Falle zu thun haben, wo die Receptivität dominirt; denn erst nachdem wir von den primitiven Ursprüngen der Empfindung einen langen Weg aufsteigender Entwickelung zurückgelegt haben, kommen wir in Regionen, wo von einer geistigen Verarbeitung der Empfindungen die Rede sein kann. Dies gilt ebenso von den untersten Stufen der Empfindung im menschlichen Organismus, wie von denen in der aufsteigenden Reihe des Protisten- und Thierreichs als Ganzen. Wir werden also bei den Anfängen der Empfindung die reflec- torische Entfaltung eigener Kraft vernachlässigen dürfen und uns an den erregenden Reiz als die wesentliche Quelle der leben- digen Kraft der Empfindungsschwingungen halten dürfen. Diese vom Reiz übertragene lebendige Kratt ist nun aber für jedes davon betroffene Molecule ein störender Eingriff in seinen be- stehenden Zustand, von dem es sich nach den obigen Erörterungen unangenehm afficirt fühlen muss. Es findet sich in eine Bewe- gung versetzt, zu welcher in seinem Willen, d. h. in seiner ihm eigenthümlichen Kraft sammt den Gesetzen, nach denen sie sich

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äussert, keine VeranlassuDg gegeben war; diese Bewegung em- pfindet es als eine seinem Naturwillen nicht gemässe, aufgezwun- gene, widerwärtige. Hier wenn irgendwo ist der Ursprung der actuellen Empfindung und damit zugleich der Ursprung des Be- wusstseins zu suchen, das nur durch den Contrast des eigenen Willens mit dem eigenen Thun entstehen kann, während die behagliche Empfindung der dem eigenen Willen gemässen Bethä- tigung erst durch den Contrast mit der bereits vorhandenen ent- gegengesetzten Empfindung entstehen kann. Wir glauben uns bis auf die Herleitung und Ausdrucksweise hier in völliger Ueber- einstimmung mit der Ph. d. U. zu befinden (S. 404 406 und 409—410).

Wenn wir oben die Empfindung als allgemeine ursprüngliche Eigenschaft der constituirenden Elemente der Materie in Anspruch nahmen, so war doch damit natürlich nicht die actuelle Empfin- dung gemeint, welche erst durch den äussern Reiz hervorgerufen wird, sondern das latente Vermögen, auf einen solchen Eingriff durch äussern Reiz mit der Empfindung zu antworten. Diese metaphysische Wurzel des Atoms, welche zugleich seine Kraft, äusserlich nach bestimmten Gesetzen zu wirken, und seine Fähigkeit, aul eine Aenderung seiner äusseren ßewegungszustände mit Empfin- dung zu reagiren, umfasst und welche natürlich jenseits alles Be- wusstseins liegt, kann man als das Unbewusste des Atoms be- zeichnen, welches die primitivsten Urformen von Wille und Vor- stellung in seinem Schoosse trägt. Dieses Unbewusste ist der metaphysische Hintergrund, auf welchem durch die Aenderung der äusseren Vorgänge das Wunderbild der bewussten Empfin- dung entworfen wird, gleichsam die Wand für die Zauberlaterne, deren Bild ohne solche nicht zur Erscheinung käme, der unver- änderlich bleibende Hintergrund, auf welchem die wandelnden Erscheinungen der Empfindungs- und Vorstellungswelt sich ab- spielen (vgl. „Philosophische Monatshefte^', herausgegeben von I. Bergmann Bd. IV, Hft. 1 S. 47). Leider hat die Ph. d. U. diese Betrachtung nicht für das einzelne Atom durchgeführt, son- dern gleich mit dem Hirnbewusstsein begonnen; dadurch ist sie in eine unberechtigte Gegenüberstellung von unbewusstem Geist und Materie hineingerathen, gleich als ob der unbewusste Geist

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als ein abgetrenntes Wesen den Atomen der Materie etwa so gegenüberstände, wie diese sich untereinander (z. ß. S. 403 Z. 17—19; S. 404 Z. 9—7 von unten). Eine Betrachtung der Empfindung zunächst am Atom würde hingegen haben erkennen lassen, dass das Unbewusste, welches empfindet, nicht etwas dem Atom fremd Gegenüberstehendes, von ihm Getrenntes, sondern eben dieses selbst ist; das eben dargelegte Anerkenntniss , dass Einheit des Bewusstseins in einer Gruppe von mit Einzelbewusst- sein begabten Elementen nur durch Leitung bedingt ist (S. 426—430), und dass das so entstandene einheitliche Bewusstsein in der That ein Summationsphänomen ist, also z. B. das Hirnbewusstsein ein Summationsphänomen aus Zellenbewusstseinen ist (S. 299 Z. 11 12), würde dann in Verbindung mit dem Ver- ständniss des Vorganges am Atom verhindert haben, den unbe- wussten metaphysischen Hintergrund, auf welchem das einheit- liche Bewusstsein entworfen wird, noch in etwas anderem zu suchen als dem Unbewussten der Atome des materiellen Complexes, in welchem das einheitliche Bewusstsein stattfindet.

Was jedoch die scheinbare Differenz zwischen unserer Dar- stellung und der Ph. d. U. wiederum vermindert, ist der Monis- mus der letzteren, d. h. ihre Behauptung, dass das Unbewusste in Allem substantiell identisch und Eines und nur in phänome- naler Hinsicht (sowohl in der äusserlich realen Existenz, als in der innerlichen Abgeschlossenheit des Bewusstseins) eine Vielheit des Daseins nachgewiesen werden könne. In der That hat die Naturwissenschaft als solche nicht nur kein Interesse, sich diesem Monismus zu widersetzen, da er ja die reale Vielheit der phy- sischen Erscheinung unangetastet lässt, sondern sie darf sogar anerkennen, dass der Hintergrund dieser metaphysischen Hypo- these in vieler Hinsicht für das Verständniss der Naturgesetze vortheilhaft ist. Wenn die Naturwissenschaft nur erst über das Vorurtheil eines substantiellen Stoffs in den Atomen neben und ausser den Atomkräften hinweggekommen ist (S. 475 ff.), und die potentielle Kraft (gewöhnlich von den Physikern Spannkraft ge- nannt) als etwas Unräumliches erkannt hat (487 489), so wird ihr auch der Schein, in den Atomen getrennte Substanzen zu be- sitzen, verschwinden, und sie wird sich vom rein physikalischen

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Standpunkt nunmehr ganz gleichgültig gegen die Frage ver- halten, ob die Atome substantiell oder nur functionell verschieden seien, ob sie selbständig jedes für sich subsistiiende Monaden, oder ob sie nur verschiedene Functionen einer identischen abso- luten Kraftsubstanz (eines Weltwillens) seien. Sobald man sich dessen bewusst ist, dass man mit dem Begriff der potentiellen Kraft (nicht zu verwechseln mit der lebendigen Kraft, welche nur mechanisches Moment der Bewegung ist) bereits das Gebiet der Physik überschritten und das der Metaphysik betreten hat, so wird mau sich auch nicht zu sträuben brauchen, weiteren meta- physischen Erwägungen und Hypothesen Raum zu geben und in der metaphysischen Wurzel eines jeden physikalischen Atoms nur eine einzelne Verzweigung der grossen metaphysischen Wurzel der Welt anzuerkennen (490 491). Ich will hier nur auf eine Erwägung der Ph. d. U. aufmerksam machen, nach welcher bei getrennten Substanzen jede reale Beziehung, also auch jeder causale Ein- fluss auf einander unverständlich wäre, wenn nicht ein metaphy- sisches Band denselben vermittelt, welches den Atomen nicht, wie diese sich untereinander, getrennt gegenübersteht (denn dann wäre auch wieder der influxus zwischen Band und Atomen un- verständlich) , sondern dieselben als höhere Einheit in sich ent- hält ('526—527). Aber auch wem diese metaphysische Erwägung nicht stichhaltig erscheint, dürfte doch sich zu einer Art Monis- mus getrieben sehen, wenn er von den äusseren Beziehungen der Atome untereinander zu ihren innerlichen Beziehungen, d. h. zu dem Summationsphäuomen eines einheitlichen Bewusstseins mit seiner Betrachtung übergeht. Wenn mein Vorstellungsleben ausser Stande ist, auf die Bewusstseinssphäre eines andern Menschen einen Einfluss zu üben, es sei denn durch Vermittelung der bei- den zugängUchen Sphären des äusserlichen Geschehens, so findet zweifelsohne dasselbe Verhältniss auch bei Atomen statt: die Em- pfindung eines Atoms kann auf die Empfindung eines andern Atoms influiren nur durch die Sphäre des äusserlichen Geschehens, durch Veränderung des fremden Bewegungszustandes durch den eigenen. Dies drückt sich auch darin aus, dass die Leitung, d. h. die Möglichkeit der Uebertragung des Bewegungszustandes, Bedingung für die Concrescenz der getrennten Empfindungen zu

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einem einheitlichen Bewusstsein ist, weil ohne dieselbe jede Beein- flussung unmöglich wäre. Aber wenn sie auch Bedingung ist, so kann sie doch nicht vollständige oder zureichende Ursache sein; denn wenn gleich die Empfindung eines Atoms durch das andere alterirt werden kann, so muss man doch erwarten, dass die alterirte Empfindung von der Empfindung des alterirenden Atoms nach wie vor atomistisch gesondert bleibt. Wie auf Grund blosser Leitung eine Verschmelzung mehrerer Bewusstseine zu einem oder der Aufbau eines höheren Bewusstseins aus den nie- deren sollte zu Stande kommen können, wird nicht ersichtlich, so lange wir nicht die Hypothese einer metaphysischen unbe- wussten Einheit der empfindenden Atome hinzufügen. Dann na- türlich hat das Summationsphänomen des einheitlichen Bewusst- seins keine Schwierigkeit mehr, weil der metaphysische Hinter- grund, auf welchem die bewusste Empfindung entworfen wird, nicht mehr ein atomistisch-zersplitterter , sondern ein einheitlicher ist, nämlich das Eine Unbewoisste, welches sich nur functionell (als viele Atom-Kräfte und Atomempfindungen) in die Vielheit be- geben hatte. Fügen wir hinzu, dass auch wir z. B. im Hirn- bewusstsein das Eine und absolute Unbewusste nur insofern als Hintergrund voraussetzen, als es in denAtomen dieses Ge- hirns functionirt, und dass andererseits auch die Ph. d. ü. das Eine und absolute Unbewusste nur insofern als Individualgeist individualisirt denkt, als es auf diesen Organismus hin functionirt, so scheint der vorhin urgirte Unterschied fast gänzlich wieder zu verschwinden. Dennoch ist er vorhanden und lässt sich dahin präcisiren, dass wir keine Functionen des Unbewussten kennen, welche auf diesen Organismus Bezug hätten, als die- jenigen, welche in den Atomen desselben sich offenbaren, wohin- gegen die Ph. d. U. die beständigen metaphysisch-teleologischen Eingriffe in den Lebensprocess des Organismus sowohl auf phy- sischem wie auf psychischem Gebiete behauptet und deshalb einen viel weiteren Begriff hat als wir von „dem Unbewussten, insofern es in Bezug auf diesen Organismus functionirt". Aller- dings haben auch wir durch das Zugeständniss, dass h()here Be- wusstseinseinheiten durch blosse Atomempfindungen ohne das metaphysische Band des Einen absoluten Unbewussten nicht

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möglich seien, schon implicite zugegeben, dass dieses doch noch ausser seinen Functionen in den Atomen als solchen bei dem Zustandekommen des einheitlichen Bewusstseins betheiligt sei; aber diese Betheiligung ist eine rein passive, jede active Be- thätigung ausschliessende und ganz besonders alle Eingriffe in den naturgesetzlichen Gang der Ereignisse ausschliessende; es ist eben nur die einheitliche Wand, die still hält, und nur da- durch zum Zustandekommen der von ihr aufgegangenen Bilder mitwirkt, dass sie da ist, und zwar als Eine und ganze da ist. Es hängt mit der erörterten Differenz eine andere Schwie- rigkeit eng zusammen, in welche die Ph. d. U. durch ihre teleo- logischen Velleitäten sich verwickelt. Wir sahen schon oben, dass die Art und Weise einer entstehenden Empfindung unab- hängig ist von dem Ort, wo sie entsteht, nur abhängig von der Porm und Modalität der sie hervorrufenden Schwingungen, dass also genau gleiche Schwingungen nicht nur an jeder Stelle des- selben Gehirns, sondern auch in verschiedenen Gehirnen genau gleiche Empfindungen hervorrufen müssen. Dies ist nur möglich, -wenn die Reaction des Unbewussten (Empfindungsvermögens) auf die Schwingungen mit der entsprechenden Empfindung eine durch ausnahmslose Naturgesetze bestimmte ist, welche jede Willkür und Freiheit ebenso wie jede Zufälligkeit unbedingt ausschliesst. Nur wenn die Reaction der Innerlichkeit auf den äusserlichen Vorgang eine durch äusserlichen Zwang aufgenöthigte ist, tritt jener Contrast zwischen dem nicht selbstgesetzten und doch vorgefundenen Empfindungs- oder Vorstellungsinhalt und zwischen dem naturgemässen eigenen Willensinhalt ein, welcher durch die unlusterweckende Opposition seiner Elemente zugleich der Entstehungsmoment des Bewusstseins sein soll. Die Ph. d. U. erkennt dies ausdrücklich an und spricht es so aus: „Der Gegensatz zwischen Wille" (eigenem Naturwillen) „und Vor- stellung^' (hervorgerufener Empfindung) wird noch dadurch erhöht, dass die Vorstellung nicht unmittelbar durch die materielle Bewegung gegeben ist, sondern erst durch die gesetzmässige Reaction des Unbewussten auf diese Einwirkung; es tritt also noch hinzu, dass das Unbewusste mit einer Thätigkeit ant- worten muss, welche ihm gleichsam aufgenöthigt wird.

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Auf diese Weise entstehen zunächst die einfachen Qualitäteis der Sinneseindrücke, wie Ton, Farbe, Geschmack u. s. w. , aus deren Beziehungen zu einander sich dann die ganze Wahr- nehmung aufbaut, aus welcher wieder durch Reproduktion der Gehiruschwingungen die Erinnerungen, und durch theilweises Fallenlassen des Inhalts der letzteren die abstracten Begriffe entstehen" (S. 406). Wenn es unzweifelhaft richtig ist, dass die Empfindung nicht als unmittelbare und ausschliessliche Folge der äussern Bewegung, sondern nur als Reaction des Unbewussten (Empfindungsvermögens) auf diese Bewegung zu verstehen ist, wenn es ferner richtig ist, dass die so als Reaction aus dem Un- bewussten selbst hervorquillende Empfindung nur dann die Ent- stehung des Bewusstseins begreiflich macht, wenn sie als auf- genöthigte, naturnothwendige, nicht aus der eigenen Willensnatur hervorgehende gefasst wird, so darf auch nimmermehr diese Reaction als eine vom Unbewussten teleologisch zum Zweck der Entstehung des Bewusstseins gesetzte und bestimmte gedacht werden, wie die Ph. d. U. es thut; denn dann läge nur eine Taschenspielerei vor, dass das Unbewusste über eine Reaction als nicht von ihm gewollte oder beabsichtigte stutzt, die es doch mit der andern Hand sich selbst mit wohlberechneter Absicht unter den Zauberbecher geschoben hat, aus dem sie nun zum Vorschein kommt. Solche Selbstbegaukelung des Un- bewussten ist ganz unmöglich ; entweder ist die teleologische Meta- physik richtig, und die Bewusstseinsentstehung der hauptsächliche Mittelpunkt des Unbewussten, dann ist die obige Theorie der Be- wusstseinsentstehung falsch; oder aber diese Theorie ist, wie wir glauben richtig, dann kann die Bewusstseinsentstehung nimmer- mehr der Zweck, sondern nur die unbeabsichtigte Folge des Vorganges gewesen sein, aus dem sie resultirt. Da wir ohne- hin schon unsern Standpunkt gegenüber der Teleologie klar- gestellt haben, so kann natürlich dieses Dilemma uns nur in un- serer Auffassung bestärken.

y.

Charakter und Wille.

„Wenn dem Materialismus einmal das bewusste Vorstellen und Denken eingeräumt ist, so hat er volles Recht, auch das be- wusste Fühlen und damit das bewusste Begehren und Wollen in Anspruch zu nehmen, da die physiologischen Erscheinungen für alle bewussten Geistesthätigkeiten das Gleiche aussagen. Es ist völlig inconsequent von Schopenhauer, den Gedächtnissschatz des Geistes sammt den intellectuellen Anlagen, Talenten und Fer- tigkeiten des Individuums auf die Constitution des Hirns zurück- zuführen und den Charakter des Individuums, der sich eben so leicht, wo nicht noch leichter, dieser Erklärung unterwirft, von derselben auszuschliessen und zu einer individuellen metaphysischen Essenz zu hypostasiren, welche seinem monistischen Grundprincip in's Gesicht schlägt.^^ (Phil. d. Uub. S. 3'S7 388.) „Der Cha- rakter ist der Reactionsmodus (des Individuums) auf jede be- sondere Classe von Motiven, oder was dasselbe sagt, die Zu- sammenfassung der Erregungsfähigkeiten jeder besonderen Classe von Begehrungen" (234). Die verschiedenen Seiten oder Grund- richtungen des Charakters, welche als innere Triebfedern des Handelns den verschiedenen Motivklassen als äusseren entsprechen, sind die Triebe (61 u. 233). „Der Trieb hat also als solcher nothwendig einen bestimmten concreten Inhalt, welcher durch die physischen Prädispositionen der allgemeinen Kürperconstitution und der raolecularen Constitution des Centralnervensystems bedingt ist" (61). Diese theils ererbten, theils im Laufe des Individual-

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lebens erworbenen molecularen Hirnprädispositionen sind es also, welche nicht nur das Gedächtniss und die intellectuellen Anlagen, sondern auch den Charakter bestimmen (28), indem sie in beiden Fällen sich als das Substrat bekunden, durch welches die Macht der Gewohnheit sich bethätigt (608). Die Temperamente werden in ganz analoger Weise durch eine dauernde, wie die Stimmungen durch eine vorübergehende Gesammtdisposition des Gehirns be- dingt (Phil. Monatshefte Bd. IV. Hft. 5. S. 389). Die Thatsache der Vererbung von Charaktereigenschaften wie von intellektuellen Anlagen wäre, da der Befruchtungsakt ein rein materieller (physi- ^ kalisch-chemischer) Vorgang zwischen sperma und ovum ist, schlechterdings unbegreiflich, wenn nicht alle die so vererbten Charaktereigenschaften wie intellektuellen Anlagen ausschliesslich von der Constitution des Organismus abhängig wären, dessen Beschaffenheit allerdings durch die Beschaffenheit der Zeugungs- stoffe bedingt zu denken ist (ebenda S. 388). Indem der Mensch durch Ererbung der constitutionellen Anlage und der charaktero- logischen Hirnprädispositionen als Resultat einer zahllose Gene- rationen umspannenden charakterologischen Entwickelungsreihe dasteht, ist es kein Wunder, dass das Resultat so undenklich langer Processe nicht ohne Weiteres umgestossen oder corrigirt werden kann durch die Einwirkungen, welche während eines Menschenlebens auf dieses Gehirn influiren, und dass die Mo- di ficabilität des Charakters in einer Generation in ziemlich enge Grenzen eingeschlossen ist, welche dennoch Spielraum genug gewähren, um diese Modificabilität zu einem praktisch und ethisch höchst bedeutsamen Moment zu machen (ebenda S. 383, 391). Denn als Endglied einer langen Ahnenreihe, in der alle möglichen Charaktere vorgekommen sind, enthält auch jeder Mensch in sich die Anlagen zu allen Trieben ohne jede Ausnahme, und nur in den verschiedenen eine quantitativ oder graduell verschiedene Prädisposition (ebd. 390). Je nach den Motiven, welche am häufigsten an den Menschen herantreten, wird die Gewohnheit durch quantitative Steigerung gewisser häufig erregter Triebe und Depression anderer durch Verkümmerung und Nichtgebrauch eine Aenderung des Stärkeverhältnisses der Triebe oder Charakter- anlagen untereinander hervorbringen und dadurch den Charakter

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als Ganzes modificiren (ebd. 390-391; Ph. d. Unb. 608, 610 bis 611). Wenngleich die Thatsaebe, dass der Charakter in Him- dispositionen besteht, jede Aenderung des Charakters durch einen einmaligen , noch so energischen Willenseutschluss unmöglich macht, weil eben die Hirnconstitution nicht so leicht und am wenigsten durch plötzlichen Willenseutschluss zu ändern ist, so bietet sich doch durch die Gewohnheit einer bestimmten Hand- lungsweise die Möglichkeit, mit der Zeit den Charakter nach bewussten Grundsätzen zu modificiren (Ph. des Unb. 358), und die Möglichkeit, gewissen Motivklassen aus dem Wege zu gehen und andere Motivklassen häufig und mit Lebhaftigkeit sich zu vergegenwärtigen und auf sich wirken zu lassen, giebt wiederum die Mittel an die Hand, um seine Haudhingen annähernd nach Principien zu regeln (356 358). Diese Auffassung bietet mithin eine auf thatsächlichen Grundlagen erwachsende Handhabe der sittlichen Selbstzucht und der Erziehung Anderer, was sich von keiner auf dem Freiheitsbegriff beruhenden Ethik behaupten lässt. Das Motiv ist allemal Vorstellung, besteht also in Hirn- schwiugungen, der Inhalt des resultirenden Willens besteht eben- falls in einer Vorstellung (Phil. Monatshefte Bd. IV, Hft. 5, S. 396—401), also in Hirnschwingungen, und die blosse Vorstellung (welche nicht Willensinhalt ist) unterscheidet sich von der ge- wollten Vorstellung oder der Vorstellung als Willensinhalt doch auch nur dadurch, dass erstere nur innerhalb des Grosshirns (als Erreger anderer Vorstellungen als Reiz fuugirt, während letztere ihre erregende Kraft auch auf die centralen Endigungen der motorischen Nerven ausdehnt und so Handlungen hervorruft. Niemand, der einmal einräumt, dass Vorstellungen in Hirnschwin- gungen bestehen, kann bestreiten, dass jede Vorstelluug eben deshalb auch eine gewisse lebendige Kraft repräsentirt, und es erscheint deshalb nicht als ein qualitativer , sondern nur als ein gradueller Unterschied, ob diese lebendige Kraft ausreicht, um centrale Eudigungen motorischer Nerven zu erregen, oder ob sie zur Ueberwindung der dazwischen liegenden Leitungswiderstände zu schwach ist und nur andere latente Hirndispositionen zu er- regen vermag. Dass die Grenze eine durchaus flüssige ist, zeigen die durch blosse Vorstellungen unwillkürlich hervorgerufenen Be-

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wegiingen (Cap. A VII Nr. 2, S. 159—163), bei denen dann die Ph. d. U. einen unbewussten Willen voraussetzt, den wir eben als die lebendige Kraft der Vorstellungsschwingungen bezeichnen, wofür auch das zu sprechen scheint, dass die Stärke der un- willkürlich erregten Beweguugstendeuzen proportional der Leb- haftigkeit der Vorstellungen, d. h. der lebendigen Kraft ihrer Schwingungen ist. Ausser dem graduellen Unterschied zwischen der blossen und der gewollten Vorstellung kann jedoch sehr wohl noch bei letzterer direkt ein (der Aufmerksamkeit verwandter) centrifugaler Inuervationsstrom hinzutreten, welcher die Ueber- tragUDg der lebendigen Kraft der Vorstellungsschwingen nach bestimmten Richtungen oder in bestimmte Bahnen (nach den centralen Endigungen gewisser motorischer Nerven) hinlenkt, durch Erregung der auf der Leitungsbahn gelegenen Nervenpar- thien den Leitungswiderstand in dieser Richtung vermindert und die lebendige Kraft der geleiteten Schwingungen wohl gar noch positiv verstärkt. Ein solcher positiver Inuervationsstrom würde überall da vorauszusetzen sein, wo eine Vorstellung nicht unwill- kürlich die motorischen Nervenenden erregt, sondern wo die be- wusste Absicht des Handelns vorliegt; die positive Verstärkung der Energie der erregenden Schwingungen würde namentlich da zu erwarten sein, wo es sich nicht nur um einen motorischen Inuervationsstrom überhaupt handelt, sondern um einen sehr energischen, der die Muskeln zu kräftigster Contraction anregt. Wir haben oben der Einfachheit wegen einen Punkt über- sprungen, den wir jetzt nachholen wollen. Eine als Motiv wir- kende Vorstellung erregt nämlich nicht nur Eine latente Hirn- disposition, sondern immer mehrere zugleich, aber in verschie- denem Grade, gerade wie Avir dies schon im vorigen Abschnitt sahen. Wenn dort unter den blossen Vorstellungen ein Kampf um das Vordrängen in das Bewusstsein, in die eng begrenzte Sphäre der gleichzeitigen Aufmerksamkeit entstand, so entsteht hier unter den auf's Handeln gerichteten Vorstellungen oder den aus der Erregung der Triebe entspringenden Begehrungen ein analoger Kampf, in welchem einestheils partielle oder totale In- terferenzen der Schwingungen stattfinden können, theils auch Hereinziehen neu angesprochener Dispositionen oder Umbildungen

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und Zusammensetzungen sich ergeben können, die durch ihr End- resultat uns häufig sehr überraschen (235), da sie grossentheils jenseits des ßewusstseins sich vollziehen (234, 236) und uns die Gesetze dieser Voi'^änge noch nichts weniger als bekannt sind. Abstrahirt man von den wirklichen mechanischen Vorgängen bei dem Zusammenstoss verschiedener Schwingungen, die aus verschiedenen gleichzeitig und in ungleicher Stärke erregten Dispositionen hervor- gehen, und fasst man nur die empirischen Gesetze in's Auge, welche die empirische Psychologie aus der innern Selbstbeobachtung über den Kampfund die Zusammensetzung der Begehrungen ableitet, so kann man diese Processe graphisch versinnbildlichen durch die me- chanischen Gesetze aus der Statik des Atoms, indem man die Be- gehrungen als Kräfte, die auf einen Punkt wirken, aufzeichnet, und den Willen als die aus ihnen hervorgehende Kraftresultante construirt (vgl. Phil Monatshefte Bd. IV, Hft. 5, S. 406—408). Aber auch abgesehen von dieser graphischen Darstellung ist es streng richtig, dass das wirkliche Wollen jeden Moments die Re- sultante aller in diesem Moment erregten Begehrungen ist (Ph. d. U. 234, 357), und dass mithin, da strenggenommen niemals nur eine einzige Disposition allein, sondern höchstens eine einzige vorwiegend durch ein Motiv erregt werden kann, alles wirkliche AVoUen im Menschenhirn Summationsphänomenin ganz demselben Sinne wie alles bewusste Vorstellen ist. Im einen wie im andern Falle bleiben die constituirenden Elemente unterhalb der Bewusstseinsschwelle, und wenn die wichtigeren der erregten Begeh- rungen hiervon eine Ausnahme zu machen scheinen, so ist es doch nur scheinbar, denn einzeln bewusst werden diese streitenden Interessen doch eben nur in präliminarischen Reflectionen über die wahre Bedeutung der Motive und der Folgen dieser oder jener Hand- lungsweise (236), welche noch weit von dem Moment des noth- wendigen Entschlusses abstehen und deshalb nur in Velle'itäten und Vorsätzen arbeiten, die nicht selten von dem wirklich ein- tretenden Wollen zum Erstannen des Intellekts völlig über den Haufen geworfen werden (235). Aber auch wenn sie sich als richtig erweisen, so ist doch das wirkliche Wollen, das mit der Inauguration der That zusammenfällt (769 ff.), in dem Moment seiner Realität Summationsphänomen aus unbewussten Com-

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ponenten, mögen dieselben immerhin zu früheren Zeiten öfters^ das Bewusstsein einzeln durchlaufen haben. Die unbewussten,, d. h. hier nur unterhalb der Schwelle des Gesammthirnbewusst- Seins gelegenen Componenten sind aber die Reactionen der ein- zelnen charakterologischen Hirnprädispositionen auf die Hirn- Schwingungen der Vorstellung des Motivs, d. h. sie sind wiederum Summationsphänomene, deren Leistungsvermögen der lebendigen Kraft der schwingenden Hirnmolecule entstammt und sich au& dieser ganz ebenso zusammensetzt, wie die Zellenempfindung aus- den Empfindungen der Zellenmolecule. Ueberspringen wir dem- nach die Zwischenglieder, so ist der Hirnwille ganz ebenso ein Summmationsphänomen der vielen Atomwillen des Gehirns, wie die Hirnempfindung ein Summationsphänomen der Atomempfin- duugen des Hirns ist. So unmöglich, wie eine Entstehung der Empfindung in irgendwelchem Atomcomplexe ohne Empfindungs- vermögen der Einzelatome wäre, ebenso unmöglich wäre auch die Entstehung eines Willens in einem Atomcomplex, ohne dass- schon die Einzelatome den Willen hätten, aus dem der Gesammt- Wille sich aufbaut. Wenn das Atom zuerst ein Metaphysisches und dann ein Physisches ist, so kann man es sich auch wohl gefallen lassen, seine Kraft, die ebensowohl zugleich etwas Inner- liches als etwas Aeusserliches ist, in erster Reihe als Wille zu bestimmen (S. 486), nachdem einmal erkannt ist, dass das, was als Hirnwille herauskommt, doch schon im Atom drin gesteckt haben muss. Aber freilich werden wir uns nicht damit begnügen dürfen, den Willen eines Menschen nur in dem den Atomen seines Gehirns abstract gemeinsamen Formalprincip der Bewegung und Veränderung zu suchen, welches hinter den concreten Hirn- dispositionen gleichsam auf Bethätigung lauert (61), sondern wir werden über die Bedeutung dieser Jbloss formalen Ab str actio n hinaus zu einem concreten Collectivum gehen müssen, wel- ches die unbewussten Willen der einzelnen Atome nicht bloss unter sich, sondern in sich begreift (S. 4). Wie wir die Mög- lichkeit der Empfindung als Summationsphänomen nur unter dieser Voraussetzung einer metaphysischen substantiellen Einheit die Atome begreifen konnten, ganz ebenso auch den Willen. Dann aber werden wir auch ebenso wie vorher bei der Empfindung,.

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der Nothwendigkeit enthoben sein, einen andern Willen im i\ dividuum anzuerkennen als den, welcher in den Atomen desselben als Atomwille naturgesetzmässig sich auswirkt, und werden alle Theorien von metaphysisch teleologischen Willenseingriffen des Unbewussten in den Process des physischen und psychischen In- dividuallebens entschieden verwerfen, wie wir es auf intellek- tuellem Gebiete bereits gethan haben. Es giebt keinen Indivi- dualwillen als die Willen der Atome des Individuums und die aus diesen naturgesetzmässig resultirenden Summationsphäno- mene; es giebt keine Thätigkeit des absoluten Unbewussten in Bezug auf dieses Individuum, als welche sich in den naturgesetz- mässigen Atomtunctionen erschöpft.

Die Ph. d. U. supponirt nun aber ausser den auf die natur- gesetzmässigen Actionen der Atome gerichteten Functionen des absoluten Unbewussten in Bezug auf jedes Individuum noch ein ganzes Strahlenbündel von Functionen, welche in metaphysisch- teleologischen Eingriffen in den physischen und psychischen Lebensprocess des Individuums bestehen, und sucht in diesen erst den eigentlichen und wahren Individualwilien. Wenn die meta- physisch-teleologischen Eingriffe ohnehin gestrichen werden, so fällt jeder metaphysische Yorwand für eine solche Behauptung fort, welche empirische und inductive Anhaltpunkte überhaupt nicht besitzt. Wenn Schopenhauer den Individualwilien als ein- fachen metapliysischen Wesenskern jeder individuellen Existenz hypostasirte, so that er es in dem guten Glauben, im Besitz einer von allen sonstigen Vorstellungsarten principiell verschiedenen Er- kenntnissweise zu sein, mit welcher er sich durch unmittelbare innere Selbstwahrnehmung von der metaphysischen Willenssub- ötanz in jedem Augenblick überzeugen k('>nne. Im „Ding an sich" (S. 28 53j sind die Trugschlüsse, durch welche er zu diesem Glauben kam, und die Selbstwidersprüche, in welche er sich nothwendig durch denselben verwickeln musste, deutlich dar- gelegt und die Ph. d. U. beweist (S. 410 417; a priori und a posteriori den Satz, dass das Wollen an und für sich immer unbewusst sein müsse, und der Schein einer Bewusstheit des Wollens nur durch die Gewöhnung an eine Selbsttäuschung ent- Btehe, indem der Mensch des Wolleuü auf dreitaehe Weise un-

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inittelbar inne zu werden glaubt: „1) ans seiner Ursache, dem Motiv, 2) aus seinen begleitenden und nachfolgenden Gefühlen, und 3) aus seiner Wirkung, der That, und dabei 4) noch den Inhalt oder Gegenstand des Willens als Vorstellung wirklich im Bewusstsein hat" (414). Wir möchten noch hinzufügen, dass unter den begleitenden Gefühlen auch solche sind, welche von dem oben besprochenen verstärkenden centrifugalen Innervations- strom herrühren und, wie erwähnt, sich besonders bei bewusster Concentration der Energie auf die vorgesetzte Handlung einstellen werden (vgl. 415 oben); ganz dem analog ruft bekanntlich auch der als Species in diesem Genus enthaltene centrifugale Inner- vationsstrom der Aufmerksamkeit eigenthümliche Empfindungen hervor, welche es möglich machen, dass man sagen kann, die Aufmerksamkeit selbst könne Gegenstand der Wahrnehmung und folglich des Bewusstseins sein (419). Ist nun aber einmal die undurchdringliche Unbewusstheit des Wollens an und für sich eingestanden, so hört jede Möglichkeit auf, über die Natur des- selben dem dogmatischen Schein des Instinctes gemäss unmittel- bare Behauptungen aufzustellen, und man sieht sich gänzlich auf das reducirt, was die Wissenschaft durch indirekte Schlüsse als das Wahrscheinliche inductiv zu reconstruiren sich genöthigt sieht (417). Wenn nun diese wissenschaftliche Reconstruction eine wesentlich andere Physiognomie gewinnt, so hat der instinc- tive Glaube hiergegen so wenig mehr ein Recht zum Einspruch, als z. B. in der von der Naturwissenschaft an Stelle des instinc- tiven sinnlichen Scheins reconstruirten räumlichen Aussenwelt; wie die Körper dieser Aussenwelt in der subjektiven Erscheinung sich als solide und compact darstellen, während sie räumliche Zusammenordnungen punctueller Atomkräfte sind, gerade so er- scheinen die Individualwillen der instinctiven Selbstauffassung einfach, solide und compact, während sie complicirte Summations- phänomene von zahllosen Atomwillen sind. Dennoch scheint es ein Rest von diesem dogmatischen Schein des unmittelbaren In- stinctglaubens gewesen zu sein, was die Ph. d. U. verhindert hat, die einfachen Consequenzen aus dem Satze zu ziehen, dass das jedesmalige Wollen die Resultante aller gleichzeitig erregten Begehrungen sei (234, 357) and dass diese Begehrungen die durch

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das Motiv zur Actualität erregten molecularen Hirndispositionen (Triebe) seien (61, 28, 608 9). Ja auch noch andere Stellen der Ph. d. ü. weisen auf unser Resultat als auf ihre unausweichliche Consequenz hin, so z. B. die ganz richtige Erklärung, dass das Wollen selbst die That sei (769), insofern die That definirt werde nicht als das äussere Sichtbarwerden der Handlung, sondern als diejenigen Bewegungsprocesse der centralen Hirnmolecule, welche den organischen Ursprungsherd der Handlung bilden (vorausgesetzt dass die Ausführung auf dem Leitungswege nicht durch inter- ferirende Schwingungen gekreuzt wird 770). Ist das Wollen mit der That in diesem Sinne identisch, so ist eben auch die That d. h. die centralen Hirnschwingungen, welche bei ungestörtem Verlauf die Handlung hervorrufen mit dem Wollen identisch, und wir dürfen sie mithin als Definition des Hirnwillens (als Summa- tionsphänomens) ansehen. So meint es aber die Ph. d. ü. nicht, sondern die betrachtet den psychischen Willensakt als ein zu den Atom willen des Hirns und ihrer Combination Hinzukommen- des, als einen metaphysischen Eingriff in den naturgesetzmässigen Process zwischen Reiz und Reaction, wie wir ihn oben besprochen haben. Gleichwohl erkennt sie an, dass jede Leistung des Organis- mus, gleichviel ob sie in Muskelcontractionen oder geistiger Arbeit besteht (393), aus einem äquivalenten Verbrauch aufgespeicherter chemischer Kraft herrührt, welche durch den StofPumsatz aus den chemischen Kräften der zugeführten Nahrung wieder ersetzt wer- den muss (153j; sie erkennt ferner an, dass sowohl das Muskel- system als das ganze Nervensystem, insbesondere aber auch die Centralorgane des letzteren, als Kraftmaschinen zu betrachten sind,, dass, wenn der ganze Organismus mit einer Dampfmaschine zu vergleichen ist, die Oscillationen der centralen Nervenmolecule die Bewegungen der Ventile und Stellhebel repräsentiren würden, welche den Gang der Maschine und die Art ihrer Leistungen regeln, nur dass der Organismus selber zugleich Heizer und Maschinist (ja auch Reparateur und Maschinenbau- meister) ist und folglich keines Hebelstellers ausser ihm bedarf (153). Ein solcher dem Organismus fremder Hebelsteller wäre aber gerade das Unbewusste in seinem metaphysischen Eingriffen, welche

den Uebergang aufgespeicherter chemischer Kraft in mechanische

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Muskelkraft in ganz bestimmter Weise und Kichtung veranlassen sollen. Wenn das Unbewusste eine und sei es auch relativ noch 55.0 kleine Kraft zu der im Organismus aufgespeicherten Kraft durch metaphysisch bewirkte, physisch nicht verursachte Drehungen von Gehirnmoleculen hinzufügen könnte (151 152), so wäre damit das Gesetz der Erhaltung der Kraft für die organische Welt ausser Geltung gesetzt, deun die Summe der (inneren und äusseren) Kraftausgaben des Organismus müsste gegen die Summe seiner Krafteinuahme einen Ueberschuss aufweisen, welche der Kraftsumme der metaphysischen Eingriffe gleichkommt. Wäre auch dieser Ueberschuss relativ zum Ganzen noch so unbedeutend, so dürfte er doch nicht verschwindend klein sein, wenn man noch ferner an eine reale und entscheidende Beeinflussung der Vorgänge im Gehirn durch unmittelbares Eingreifen eines metaphysischen Princips glauben soll. In der That können diese Eingriffe, wenn sie das entscheidende Moment für die Handlung des Organismus bilden sollen , keineswegs etwa blosse Differentiale sein, sondern müssen ebenso wie bei den Beis])ielen der Dampfmaschinen u. s. w als Grössen derselben mathematischen Ordnung gedacht werden und in ihrer Summe fürs Leben eines Individuums eine ganz ansehnliche Grösse, in ihrer Summe für das gleichzeitige Leben der Erde aber schon ein ganz kolossales Quantum reprä- sentiren, welches also unbedingt das Gesetz der Erhaltung der Kraft aufheben würde. Freilich können wir bis jetzt die Rich- tigkeit des Gesetzes der Erhaltung der Kraft für die organischen Wiesen keineswegs mit solcher Genauigkeit nachweisen, dass nicht in den wahrscheinlichen Fehlern für solche Hypothesen Platz bliebe; aber gerade die metaphysische Evidenz dieses Gesetzes leuchtet für jeden an naturwissenschaftliche Denkweise Gewöhnten so sehr a priori ein, dass die exacte Erbringung des Beweises für ein einzelnes Gebiet der Sicherheit der Geltung des Gesetzes kaum ein Erhebliches hinzuzufügen vermöchte. Der Verf. erkennt dies auch selber an, indem er für die Motivation auf physischem Gebiet ein Analogon des Gesetzes der Erhaltung der Kraft her- zustellen versucht (Phil. Monatshefte Bd. IV. Hft. 5. S. 403); wenn aber einmal die Motivation als Process zwischen erregender bewusster Vorstellung: und hewusstem Willensinhalt (ebenda S, 39G

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unteu), imd diese beiden als durch HirDschwingungen bestimmt, also der ganze Process wesentlich als ein Process von Hirn- schwingungen anerkannt ist, so läuft ein solches Gesetz der Er- haltung der Kraft für die Motivation auf immateriell-psychischem Gebiet ganz in derselben Weise als fünftes Rad am Wagen neben- her, wie etwa der intelligible Charakter neben dem durch die Körper- und Hirnconstitution bestimmten empirischen Charakter (ebenda S. 382—393), und die Bedingtheit des Resultats jedes einzelnen Motivationsaktes sowohl durch den materiellen Hirn- process, als auch durch den immateriellen Motivationsprocess er- gäbe eine ebenso unvereinbare Concurrenz wie die Bedingtheit jeder einzelnen Handlung sowohl durch die immanente Causalität des empirischen Charakters, als auch durch die transcendente Causalität des intelligiblen Charakters (vgl. „Ding an sich'' S. 5 ff.). Das mit Recht Angestrebte die Anwendung des Gesetzes der Erhaltung der Kraft auf den Motivationsprocess wird aber thatsächlich erreicht durch Beseitigung aller metaphysischen Ein- griffe des ünbewussten und das Anerkenntniss, dass der Moti- vationsprocess in dem Process der Hirnschwingungen ohne jeden metaphysischen Rest erschöpft ist und dass in den Leistungen und Handlungen des Organismus keine Kraft zu Tage tritt, als welche entweder durch die erregenden Reize oder durch die Nahrungsmittel in denselben eiugeiiihrt ist, wobei erstere als Aus- lösuiigsmittel der durch den Assimilationsprocess aufgespeicherten chemischen Spannkraft dienen.

Von welcher Seite wir auch die metaphysischen Eingriffe in die Lebensprocesse der Organismen betrachten mögen, überall er- weisen sie sich als unstichhaltig. Wenn die Ph. d. Lnb. den Charakter ebenso wie das Gedächtniss als die Summe der im Hirn vorhandenen latenten Dispositionen zu gewissen Schwin- gungsarten anerkennt, so werden wir nicht umhin können, äusser- lich angesehen im Wollen ganz ebenso wie im Vorstellen die actuellen Schwingungen zu erkennen, welche nach mechanischen Gesetzen durch adäquate Reize aus diesen Dispositionen ausge- löst sind , und werden ebensowenig bezweifeln dürfen , dass das Wollen innerlich genommen ebenso wie das bewusste Empfinden oder Vorstellen ein Summationsphänomen aus gleichartigen Ele-

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nieutartinictioneu (letzten Endes der Atome) darstellt. So allein werden wir die brauchbaren Anläufe der Ph. d. Unb. richtig* zu Ende gedacht und eine einfache und naturgemässe Grundlage für unsere weiteren Betrachtungen gewonnen haben. Wenn mit der Causalität im Sinne einer ausnahmslosen naturgesetzlichen Noth- wendigkcit mit Ausschluss aller metaphvsisch-teleologischen Ein- griffe Ernst gemacht werden soll, so bleibt liir rein psychische Functionen eines Uubewussten jenseits der aus den Atomen sich entwickelnden Processe kein Platz; wenn wir aber einmal Wille und Vorstellung als Summationsphänomene aus entsprechenden Elementarfuuctionen der Atome anerkennen, so verschwindet liir die Erklärung jedes Bedürfniss, ausser der gemeinsamen meta- physischen Wurzel dieser constituirenden Elemente des Organismus noch andere metaphysische Factoren herbeizuziehen. Wenn die Phil. d. Unb. anerkennt, dass nur in der Besonderheit des Orga- nismus die Besonderheit auch der geistigen Individualität begründet liegen kann und jeder eigenthümliche Zug in einem Indindual- geiste durch eine entsprechende Eigenthümlichkeit seines Orga- nismus bedingt sein muss, so müssen wir nunmehr noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass der Organismus selbst das Individuum ist. Denn wenn die Phil. d. Unb. aus dem grossen Urquell des Einen absoluten Unbewussten noch ein Strahlen- bündel von Functionen ausser den blossen Atomfimctionen auf den Organismus gerichtet dachte und mit zu dem geistigen Indi- viduum rechnete, so müssen wir jetzt annehmen, dass die meta- physische oder innerliche Seite der constituirenden Elemente des Organismus hinreicht, um die geistige Individualität in demselben Sinne zu constatiren, wie die äussere Seite derselben die leibliche constituirt.

Eine hieraus folgende Consequenz, die sehr fruchtbar werden könnte, will ich hier zum Schluss nur andeuten. Bekanntlich ruht alles organische Leben auf der Erhaltung und Steigerung der Form in und durch den Wechsel des Stolfs, und die Iden- tität der Individualität wird nicht durch die Identität der Sub- stanz, sondern durch die Continuität des Processes bedingt. Er- haltung der Form durch Erhaltung des Stofis ist Mumitication, alles Leben beruht auf dem Stoffwechsel, auf der Mauserung.

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Die Erkenntiiiss dieaes wichtigen Satzes ist noch ziemlieh juDg, so jung, dasä man sich nicht wundern darf, dass noch Niemand gewagt hat, die so nahe liegende Uebertraguug auf das geistige Gebiet zu machen. Leben ist Leben, und die allgemeinsten Gesetze des Lebens als solchen können auf dem Gebiete der Innerlichkeit nicht entgegengesetzt lauten wie auf dem Gebiete der Aeusser- lichkeit. Diese Annahme macheu aber diejenigen, welche von der Seele des Individuums als von einer die ganze Lebenszeit hindurch identischen Substanz sprechen. Die Phil. d. L^nb. macht sich dieses Fehlers zwar nicht in gleicher Weise schuldig, indem sie die Seele nur als einen Complex immer neu aus dem gemeinsamen metaphysischen Urquell ausstrahlender Functionen auffast, aber dennoch fehlt auch hier die durchgreifende Analogie zwischen innerlicher und äusserlicher Sphäre, da doch die Be- schaffenheit des ^ich beständig mausernden Gehirns nur Gelegen- heitsursache für die metaphysischen Eingriffe des Unbewussten, nicht die substantielle Basis der geistigen Summationsphänomene selbst vorstellt. Aber das erkennt wenigstens die Ph. d. Unb. an,

dass die Identität des S^elh^tbfW"^'^^'^^^"'^ ^^"'' "^on df r Af;;gliplnVpit der Erinnerung, also von der formellen Existenz der Hirndispo- sitionen, abhäno^t, und dass die wesentliche Identität des Charakters

ZU verschiedenen Zeiten, analog wie die wesentliche Identität der Phvsiosniomie, unabhängic: ist von der Mauserun^^ der Theile des Organismus, auf denen Charakter, resp. Physiognomie, beruht. AVie das Leben jeder Species und insbesondere der Menschheit nur möglich ist durch ihre beständige Mauserung, d. h. durch beständiges Aussstossen von Individuen und Ersatz durch frische, jugendliche , weil ohne dies das Menschheitsbewusstseiu ver- knöchern, verzweifeln und absterben müsste (vgl. „Ges. phil. Abhdl.'^ S. 79), so ist auch das geistige Leben des Individuums nur dadurch möglich, dass bei jedem Vorstellungsakt ein Stoff- wechsel in den thätigen Hirnparthieen stattfindet, ein Ausstossen abstrapezirter Molecule und ein Eintreten frischer durch das Blut zugeführter an Stelle derselben. Jedes neu eintretende Molecule ist nicht nur äusserlich , sondern auch innerlich genommen dem , austretenden gleichwerthig und mithin geeignet, dieselben Func- ! tionen auch ebensogut zu vollziehen, und bringt ausserdem diel

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Frische mit, die jenes während des Gebrauches eingebUsst hatte. Indem aber bei diesem Stoffwechsel die bestehende Form (wie bei allem organischen ßildenj gewahrt bleibt, dauern auch die auf molecularen Lagerungsverhältnissen beruhenden Hirnprädis- positionen fort, d. h. Ggadäßhtmss und Charakter bleiben von der ^^eistigen Mauserun^'^ unangetastet. Die Frische und Elasticität des geistigen Lebens ist aber allein durch die geistige Mauserung möglich; ohne dieselbe träte geistige Mumification ein, in der alles Leben erstürbe.

VI.

Die Vererbung insbesondere des Charakters.

Der Begriff der Vererbung bietet eines der schwierigsten Probleme für die NaturwisseDSchaft. Wir werden den gegenwär- tigen Stand der Frage am richtigsten bezeichnen, wenn wir sagen, dass die Vererbung auf allen Gebieten des organischen Lebens Thatsache ist, dass diese Thatsache aber bis jetzt jeder natur- wissenschaftlichen Erklärung spottet und dass die teleologisch- metaphysische Erklärung hier am allerwenigsten im Stande ist, den Mangel an Verständniss des naturgesetzlichen Zusammenhangs zu ersetzen.

Wenn in einer Baumart mit aufrechtstehenden Zweigen sich ein Exemplar vorfindet, welches aus unbekannten Ui Sachen hängende Zweige bekommen hat , so haben zugleich alle diese Zweige die Eigenschaft, wenn sie als Stockreiser neue Bäume aus sich erzeugen, diese Eigenthümlichkeit ihres mütterlichen Organismus, an der sie selbst theilnahmen, fortzupflanzen. Das- selbe gilt von den durch einen rothen Farbstoff in den Blättern ausgezeichneten „Blutbäumen''. Bei geschlechtlicher Fortpflanzung solcher Spielarten gelingt es dagegen nicht, sie zu conserviren; die Abweichung von der durch lange Generationen inveterirten Con- stitution ist zu bedeutend, um sich bei der Vererbung durch einen so kleinen Theil des mütterlichen Organismus, wie der Same ist, gegen die Tendenz des Rückschlags durchzusetzen. Man ersieht hieraus, um wie viel leichter die ungeschlechtliche Vererbung als

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die geschlechtliche ist; und braucht sich nun nicht mehr zu wun- dern, dass die Entstehung der geschlechtlichen Vererbung des Artcharakters erst möghch wurde auf der Basis einer lange fort- gesetzten ungeschlechtlichen Fortpflanzung im Protistenreich, durch welche gleichsam schon eine durch die Dauer befestigte constitu- tionelle Vererbungsfähigkeit als Grundlage der geschlechthchen Vererbung geschaffen worden war. Je grösser der die Vererbung vermittelnde materielle Complex im Verhältniss zum mütterlichen Organismus ist, desto leichter müssen die eigenthümlichen Dispo- sitionen der künftigen Bildung in demselben Platz finden, und daher sehen wir auch im Durchschnitt dieses Grössenverhältniss beim Herabsteigen in der Stufenreihe der Organisation wachsen, bis der junge Süsswasserpolyp sich endlich als fertiger Dirai- nutivorganismus vom Mutterthier loslöst (wie der Gärtner es mit dem Zweig der Blutbuche künstlich thut), oder gar die proto- plasmatische Monere sich einfach in zwei gleiche Organismen halbirt, sobald sie durch Ernährung so weit gewachsen ist, dass sie als einfacher Tropfen für die natürliche physikalische Tropfen- grösse des protoplasmatischen Proteinstoffs zu gross geworden. Ohne Frage musste die Möglichkeit der Vererbung überhaupt in der physikalisch-chemischen Beschaffenheit der Materie gegeben sein, sonst hätte sie nicht, wie die Erfahrung es lehrt, zur Wirk- lichkeit werden können; wenn aber diese Möglichkeit vorhan- den Avar, so kam es nur darauf an, dass unter den vielen ürzeu- gungsprodukten sich auch eines oder wenige befanden, welche durch Zufall eine solche Beschaff'enheit erlangt hatten, dass sie zur Selbsttheilung bei Ueberschreitung einer gewissen Grösse hin- neigten. Setzen wir diese Voraussetzung als erfüllt, so mussten alle anderen Urzeugungsprodukte nach Ablauf ihrer (nothwendiger- weise beschränkten) individuellen Lebensdauer ohne Hinterlassung von Spuren ihres Daseins zu Grunde gehen, während einzig und allein jene zur Selbsttheilung tendirenden fortbestanden, weil nämlich diese Beschaffenheit ihrer Constitution beiden Hälften nach dem ersten Selbsttheilungsakte verblieben war und diese nothwendig zur abermaligen Selbsttheilung nach hinreicbendera Wachsthum und zur abermaligen Uebertragung ihrer Tendenz auf ihreThcilungsprodukte führen musste (vgl. oben Abschn.H, S. 22-23).

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Wenn wir oben (Absclin. II, S. 26 27) sahen, dass alle Fortentwickelung der niederen Formen darin besteht, dass die verschiedenen Lebensfunctionen , welche ursprüngHch alle gleichmässig von ein und demselben Protoplasmatröpfchen be- sorgt werden, allmählich an verschiedene T heile des für die ver- schiedenen Verrichtungen sich differenzirenden und specialireuden Protoplasmas vertheilt werden, so findet diese Arbeitstheilung auch auf die Function der Fortpflanzung Anwendung. Im Kampf um's Dasein mussten nothwendig diejenigen Arten Moneren den Vorsprung gewinnen, welche für das Geschäft der Fortpflanzung sich passender constituirt erwiesen; ihre Nachkommen wurden zunächst relativ häufiger und verdrängten endlich die minder günstig zur Vermehrung veranlagten vollständig. So haben wir uns zu denken, dass aus der einfachen Selbsttheilung heraus sich durch den blossen Einfluss der natürlichen Zuchtwahl zunächst die feineren Formen der ungeschlechtlichen und aus dieser end- lich durch den Durchgangspunkt der Sporenkoppelung hindurch die geschlechtliche Fortpflanzung entwickelt habe, welche, bei- läufig bemerkt, bei den Infusorien schon in hoher Vollkommenheit angetroffen wird. Wenn auf diese Weise vermittelst der natür- lichen Zuchtwahl erklärlich wird, wie die ersten Anfänge der Vererbung oder Uebertragung der constitutionellen Veranlagung Hand in Hand mit den ersten Anfängen der Fortpflanzung oder Vermehrung entstehen mussten, und wie sich aus diesen Anfängen eine stufenweise Höherbildung derselben, aus dem Weniger ein Mehr allmählich herausbilden musste, so bleibt dock bei alledem das Ver- stäudniss für das Detail des Mechanismus der Vererbung auf höheren Stufen des Fortpflanzungsprocesses namentlich jeder Einblick in die Art und Weise der Niederlegung der gesanmiteii constitutionellen Eigcnthümlichkeiten in die winzigen Zellen der Zeugungsstoftc und in die Art und Weise der Wiederentfaltung dieser Prädispositionen iur Wirklichkeit im neuen Individuum vorläufig durchaus ver- schlossen. Nur soviel muss uns als feststehend gelten: erstens dass alle geistigen und körperlichen Eigenthümlichkeiten wirklich in den Zeuguugsstoft'en und in der unendlichen Feinheit ihrer eiweissartigen Materie molecular prädisponirt sind (Ph. d. Unb. ^. 511 und 54G), und zweitens, dass die Niederlegmig der mole-

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cularen Prädispositionen zu allen diesen elterlichen Eigenthtimlich- keiten in den Nachkommen nicht das Resultat metaphysisch-telec- logischer Eingriffe, sondern das Endresultat einer langen genea- logischen Vererbungsreihe ist, welche durch natürliche Zuchtwahl in den elterlichen Organismen die Fähigkeit und Tendenz zur Bildung so beschaffener Zeuguugsstoffe als befestigte constitutionelle Prädisposition entwickelt hat. Wenn auch die Ph. d. Unb. Recht hat, dass die Vererbung und die in den Organismen liegende Fähigkeit zu derselben eine qualilas occulia bleibt (256), so kanu doch auch sie nicht umhin, die Thatsache ihres Bestehens und die immense Ausdehnung ihrer Wirksamkeit anzuerkennen, und ist am w^enigsten im Stande, durch die Hinzufiigung ihrer teleo- logischen Eingriffe die Sache verständlicher zu machen. Sie ge- steht (S. 568) zu, dass jeder Keim in seiner materiellen Consti- tution die Prädisposition trägt, sich leichter nach der durch die elterlichen Organismen vorgezeichneten Richtung als nach irgend einer andern zu entwickeln; z.B. „die Gruppirung der Molecule in diesem AVeizenkeim ist eine solche, dass leichter eine Weizenpflanze als eine andere Pflanze daraus entstehen kann, leichter die Varietät der Mutterpflanze als eine andere, und leichter ein Individuum^ welches der Mutterpflanze (oder durch Rückschlag einer früheren Generation) ähnelt als ein anderes" (Ges. phil. Abhandl. S 36). Sind die äusseren Umstände für das Leben des Keimes und der aus ihm entstehenden Pflanze die normalen, so werden diese Prädispo- sitionen zu ungestörter Entwickelung gelangen ; treten aber abnorme Umstände ein, so werden sich Abweichungen von der normale» Entwickelungsrichtung ergeben. In beiden Fällen hat das Unbe- wusste als Oberaufseher des Wachsthums oder als „organisirende» Principe (Ph. d. Unb. 560 Anm.) eigentlich gar nichts bei der Sache zu thun; es läuft jedenfalls so lange als fünftes Rad am Wagen nebenher, als es bei der Sinecure dieser allgemeinen „psychischen Leitung" keinen besonderen Grund findet, es sich nicht bequem zu machen, d. h. „der dispositionell vorge- zeichneten Entwickelungsrichtung, als der im Allgemeinen seinen vorgesetzten Zwecken entsprechenden und die geringsten Reali- sationswiderstände bietenden Richtung" zu folgen (S. 568). Wenn das „organisirende Princip" für gewöhnlich sich selbst zu

dieser passiven Rolle verurtheilt, eiu blosses ,,Placet" zu dem ohnehin schon Geschehenden zu erthcilen, und wenn man ausser- dem allen Grund hat^ der Behauptung positiver teleologischer Eingriffe in den Proeess in Ausnahmefällen zu misstrauen, so liegt der Gedanke nahe, dass diese ganze Hypothese unbegründet sein dürfte und dass dieselbe ihr Entstehen nur verdankt einerseits der mangelhaften Ausnutzung der Consequenzen der Dcscendenz- theorie und Theorie der natürlichen Zuchtwahl und andererseits den thatsächlichen Lücken unserer Erkenntniss, welche aber einer Ausfüllung durch fortschreitende Erkenutuiss des natürlichen €ausalzusammenhangs offen gehalten werden müssen. Je weiter diese Kenntniss fortschreitet, desto mehr zeigt sieh alle Zweck- mässigkeit durch das Functioniren von IMechanismen bedingt, welche die Ph. d. Unb. ja auch so willig anerkennt, welche aber Glicht, wie sie meint, durch teleologisch -metaphysische Eingrifie des ünbewussten, sondern durch mechanische Compensationsprocesse (vgl. oben Abschn. II.) entstanden sind. Zu diesen Mechanismen gehört nun auch einerseits der Keim mit allen seinen molecularen Prädispositionen der künftigen Entwickelung und andererseits die Prädisposition der elterlichen Organismen zur Bildung eines solchen Keimes zwei ganz verschiedene Dinge, welche als Wirkung und Ursache wohl auseinanderzuhalten sind, und beide doch nur Zwischenglieder in dem Proeess der Vererbung zwischen der constitutionellen Beschaffenheit der Eltern und der des Kindes bilden.

Wenn schon die molecularen Vorgänge bei der Vererb ung hinsichtlich ihrer Beschaffenheit im Einzelnen und der Art und Weise ihrer mechanischen Gesetzmässigkeit bis jetzt für uns in Dunkel gehüllt sind, so sind wir noch weit mehr im Unklaren über die besonderen Eigenthümlichkeiten, welche der Proeess der Vererbung bei näherer Betrachtung zeigt, wie z. B. die Unter- schiede der actuellen und latenten, der monomorphen und poly- morphen Vererbung oder auch die eigenthümliche Erscheinung, dass besondere Charaktere, welche an dem elterlichen Organismus nur an gewissen Stellen oder nur zu gewissen Zeiten oder Phasen des Lebens oder der Entwickelungsdauer vorhanden sind, auch bei dem erzeugten Organismus nur au denselben Stellen,

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beziehungsweise in denselben Zeitabschnitten der Lebensent- wickelung hervorzutreten pflegen. Die Haut und Haare bieten nach ihrer allgemeinen Beschaff'enheit wie nach besonderen localen Merkmalen eines der sichtbarsten Beispiele der Vererbung. Auswüchse, Flecke und Pigmentablagerungen an gewissen Stellen der Haut vererben sich oft so regelmässig, dass sie als Familien- erkennungszeichen gelten können. Organische Leiden z. B. Krankheiten der Leber, der Nieren, des Gehirns, der Athmungs- Organe, der Verdauungs Werkzeuge vererben sich auf dieselben Theile in den Nachkommen und halten auch gewisse Grenzen in Betreff der Lebensperiode inne, wo sie aus ihrer Latenz her- vortreten; z. B. Krebs nicht vor dem SOsten Lebensjahre, Wahn- sinn und Schwindsucht nicht vor dem ITten oder I8ten. Das Kind entwickelt seine geschlechtliche Activität in demselben Lebensalter wie seine Eltern, es bringt die echten Zähne in ent- sprechendem Alter hervor, ja es zeigt sogar ererbte Zahnkrank- heiten in demselben Alter, wie seine Eltern sie gehabt haben. Die Reifezeit gewisser Obstvarietäten wird von den Nachkömm- lingen selbst in abweichendem Klima inne zu halten gesucht, und erst allmählich tritt die nothwendige Accommodation ein.

Im Keim sind noch alle Dispositionen zu der Eigenthümlich- keit der elterlichen Organismen latent; erst im Laufe der Lebens- entwickelung treten dieselben zu verschiedenen Zeiten hervor. Nun ist es aber nicht durchaus nothwendig, dass sie im Laufe eines Individuallebens hervortreten; unter Umständen sind die Dispositionen so beschaffen, dass sie erst gewisser äusserer Ein- flüsse oder Gelegenheitsursachen bedürfen, um actuell zu werden. Derart sind z. B. viele ererbte Krankheitsanlagen (Blutarmuth, chronische Nervenleiden, Tuberculose, Wahnsinn, Krebs u. s. w.), welche nicht gerade in so excessivem Maasse vorhanden sind^ dass sie unter allen Umständen zum Ausbruch gelangen müssen. Kommt nun ein mit solcher Anlage Behafteter in Lebensumstände oder in zufällige Ereignisse, welche dem Ausbruch der Krank- heit günstig sind, so wird irrthümlicher Weise häufig die Ge- legenheitsursache des Ausbruchs als alleinige und zureichende Ursache angesehen (z. B. Druck für Krebs, Gemtithserschütte- rungen für Wahnsinn, Erkältung für Lungentuberculose, mangel-

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hafte Erüährung tlir Bliitarrauth u. s. w.) und die ererbte Dispo- sition, welche doch die eigentliche Ursache aller dieser Krank- heiten bildet, dabei ausser Acht gelassen. Bleibt hingegen der Betreffende während der Dauer seines Lebens vom Ausbruch seiner ererbten Kran kheits- Anlage verschont, so kann er sie trotz- dem auf seine Nachkommen weiter vererben, und dies ist die latente Vererbung. Man kann sich diess auch so klarmachen: wenn ein Mann Disposition zum Krebs ererbt hat und zeugt mit 25 Jahren ein Kind, so kann es für die BeschaiFenheit dieses Kindes nicht mehr darauf ankommen, ob er mit 26 Jahren von einem Dachziegel erschlagen wird, oder ob er mit 30 Jahren vom Krebs befallen wird, oder ob seine Anlage bis zu seinem ander- weitigen Tode im GOsten Lebensjahre latent bleibt; jedenfalls ist das Kind zu einer Zeit gezeugt, wo seine Disposition zum Krebs noch latent war, und dennoch erbt es dieselbe von ihm. Da ist es denn nur noch ein Schritt weiter zur latenten Vererbung sol- cher Eigenschaften, die ihrer Natur nach in dem Vererbenden niemals aus der Latenz heraustreten können, wie wenn z. B. eine Frau die schöne Bassstimme und den starken rothen Bart ihres Vaters auf ihren Sohn vererbt (Ph. d. Unb. S. 140). Ein eclatantes Beispiel der latenten Vererbung ist der Generations- wechsel der niederen Thiere, wo die 1. Generation mit der 3., 5. u. s. w., und die 2. mit der 4, 6. u. s. w. übereinstimmt; manchmal, z. B. bei dem Seetönnchen (Doliohim) ^ ist sogar die L Generation gleich der 4., 7. u. s. w., die 2. gleich der 5., 8. u. s. w. , und die 3. gleich der 6., 9. u. s. w. Man sieht hieraus, dass die Vererbung auch mehr als eine Generation hindurch latent bleiben und dann doch wieder zum Vorschein kommen kann , wie man es auch bei Aehnlichkeiten in einer Galerie von Familienbildern wohl zu beobachten Gelegenheit hat. Bei Varietäten nennt man ein solches Auftreten latent gewordener Charaktere Rückschlag oder Atavismus, eine den Thierztichtern wohlbekannte Erscheinung. Wenn bei der geschlechtlichen Fort- pflanzung ohnehin schon die Eigenthümlichkeiten beider Eltern concurriren, um sich in dem Erzeugten zur Geltung zu bringen (wie dies besonders deutlich bei Bastardzeugungen hervortritt), so wird die Complication durch den Rückschlag noch grösser, da

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nun ausser den Charakteren der beiden Eltern noch die in ihnen latent vorhandenen Charaktere der 4 Grosseltern, 8 ürgrosseltern u. s. w. zur Geltung zu gelangen bestrebt sind. Je nachdem nun bei der Concurrenz entgegengesetzter Eigenthüralichkeiten die eine die andere gänzlich zurückdrängt, oder beide sich aut- heben, oder aber einen Compromiss in einer neuen Eigenthiimlich- keit schliessen, kann aus dieser Complication die allergrösste Mannigfaltigkeit entspringen, und man mag danach ermessen, wie gross die Schwierigkeit im concreten Falle sein muss, analytisch zu bestimmen, in welcher Weise alle Eigenthümlichkeiten eines Kindes aus Vererbung entsprungen sind ; zugleich geht aber auch daraus hervor, wie wenig diese Schwierigkeit der Analyse im concreten Falle als Instanz gegen die Thatsache der Vererbung überhaupt geltend gemacht werden darf.

Bisher sind wir immer noch von der stillschweigenden Vor- aussetzung ausgegangen, dass eine Species auch einen in sich monomorphen oder eingestaltigen Typus repräsentiren müsse. Diese Voraussetzung wird aber durch die Thatsache des Polymor- phismus oder der Vielgestaltigkeit widerlegt, welche viele Specien in auffallendem Grade zeigen. Man kann sich eine polymorphe Species etwa wie eine dem Generationswechsel unterworfene Species vorstellen, wo aber die verschiedenen Typen der Genera- tionen nicht nach sondern neben einander bestehen, und jeder dieser Typen nicht nur den andern, sondern auch seinesgleichen, beides untermischt, hervorbringt. Wir finden aber den Poly- morphismus nicht nur, wie den Generationswechsel, bei niederen Seethieren (z. B. Seefedern), sondern auch bei höherstehenden Thieren, (vgl. Wallace „Beiträge zur Th. d. nat. Zuchtwahl", deutsch von Meyer S. 165 179) insbesondere solcher Arten, bei denen ein Theil natürliche Masken (Mimicry) trägt, oder bei wel- chen ein Genossenschaftsleben mit weitgefiihrter Arbeitstheilung besteht (Bienen, Ameisen); streng genomuien ist alle Zwei- ge s c h 1 e c h 1 1 i c h k e i t an und für sich schon Polymorphis- mus, auch wenn sie nicht mit sonstigen correlativen Modilica- tionen verknüpft wäre. Diese finden sich aber überall vor und gehen bei manchen Specien, wo die Lebensverhältnisse der Geschlechter sehr verschieden sind, bis zu Abweichungen, welche

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im Männchen und Weibchen nimmermehr dieselbe Thierart ver- muthen lassen. Aller Polymorphismus ist nun als ein System correlativer Modificationen zu betrachten, und die Ver- erbung innerhalb polymorpher Specien zeigt die Tendenz, neu hinzutretende (z. B. durch Anpassung erworbene) Abweichungen in einem der Typen eher auf die Nachkommen mit denselben als auf die mit dem entgegengesetzten Typus zu übertragen; oder genauer ausgedrückt: solche zu einem Typus neu hinzu- tretende Abweichungen werden bei der Vererbung auf dessen vielgestaltige Nachkommen nur bei den Individuen mit demselben Typus hervortreten, bei denen mit anderm Typus aber latent bleiben und erst bei deren Nachkommen, welche den entsprechenden Typus zeigen, wieder hervortreten. Wir erinnern an das obige Beispiel von der Bassstimme und dem rothen Barte. In dieser Weise können die ersten Ursprünge eines durch all- mähliche Trennung der Lebensverhältnisse sich bildenden Poly- morphismus nach und nach durch fortschreitende Anpassung der Einzeltypen sich steigern, z. B. eine abweichende Färbung zwi- schen den Gefiedern der beiden Geschlechter einer Vogelart sich entwickeln, wenn nur das eine Geschlecht brütet und hierzu besseren Schutz durch Aehnlicbkeit mit dem Nest und dessen Umgebung braucht als sein flüchtig umhereileuder Gatte (vgl. Wallace a. a. 0. S. 130—134). Welche individuelle Abwei- chungen inCorrelation zu demjenigen System von Modifi- cationen stehen, das die Eigenthümlichkeit des polymorphen Typus ausmacht, ist natürlich a priori nicht zu bestimmen, und es ist daher auch nicht vorher zu bestimmen, welche individuelle Abweichungen z. B. beim Menschen sich auf beide Geschlechter vererben und welche sich nur auf die männlichen oder nur auf die weiblichen Nachkommen vererben. Nicht selten tritt jedoch eine Vererbung nur in männlicher oder nur in weiblicher Linie ein, wo man es nicht erwarten sollte, z. B. bei gewissen physiognoraischen Eigenthümlichkeiten, oder bei gewissen Krank- heiten; so z. B. vererbte Edward Lambert (geb. 1717) seine zoll- dicke krustenartige Epidermis mit schuppenartigen und stachel- förmigen Fortsätzen nur auf seine Söhne und Enkel, aber nicht auf die Enkelinnen. Uebermässige Fettentwickelung an be-

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stimmten Körperstellen vererbt sich häufig nur in weiblicher Li- nie; Hautmale bald in männlicher, bald in weiblicher, bald in gemischter Linie. (Vgl. zu der ganzen Lehre von der Vererbung- Hackers nat. Schöpfungsgesch. 2. Aufl. S. 158—163, 178—197). Wo sich alles an der Constitution des Organismus vererbt, ist von der Constitution des Gehirns mit seinen molecularen Dispositionen keine Ausnahme zu erwarten. Der ererbte Cha- rakter, welcher, wie wir wissen, in einer Summe bestimmter Hirn- dispositionen besteht, gehört mit zum Typus der menschlichen Constitution, modificirt durch den Typus der Race, des Volkes, des Stammes, der Familie, des Geschlechts; der Grundstock des Charakters ist also Resultat einer durch mehr oder minder lange Generationenfolge constituirten und befestigten Vererbung, und die concurrirenden individuellen Eigenthümlichkeiten der 2 Eltern, 4 Grosseltern und 8 Urgrosseltern , und die zufälligen Umstände der Zeugung, des embryonalen Lebens, sowie die EinflüsBe wäh- rend der Kindheit und Jugend u. s. w. sind nur Nebenumstände, welche an den durch befestigte Vererbung überkommenen Grund- stock des Charakters Modificationen hinzufügen. Je öfter eine Eigenthümlichkeit schon in der Generationenfolge vererbt worden ist, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch auf die nächste Generation sich vererben wird; dieses Gesetz der constituirten oder befestigten Vererbung ist der Grund, dass einerseits der Charakter sich strenger und sicherer als die in- tellectuellen Anlagen von mehr individueller Natur vererbt und dass andererseits die durch die neu erworbenen individuellen EigenthümUchkeiten der Eltern und durch die zufälligen Um- stände der Zeugung und Kindheit hervorgerufenen Modificationen doch immer nur von secundärer Bedeutung gegenüber demjenigen Theil des Charakters erscheinen, welcher auch bei den Eltern schon ererbte Anlage war. In ßürgerfamilien ist das Material für den Nachweis fortgesetzter Charaktervererbung nur schwerer zu beschaffen, sonst würde dieselbe sich auch dort herausstellen; in Adelsgeschlechtern, wo die Familientradition auf lange Ge- schlechterfolgen sorgfältig bewahrt wird, findet sich aber auch ebenso häufig und noch häufiger Vererbung von Charaktereigen- schaften bestätigt, als die schon angeführte Vererbung von körper-

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liehen Aehnlichkeiten oder Absonderlichkeiten. In Ftirsten- geschlechtern bietet auch die Geschichte Material, um eine solche Vererbung deutlich genug zu erkennen ; man denke an die Julier, Claudier, Borghia's, Bourbonen, Habsburger u. s. w. Wenn der gute Charakter mehr aus einem harmonischen Gleichgewicht der Triebe untereinander und mit dem Intellekt, der böse hingegen aus der Monstrosität einseitiger Triebe hervorgeht, so liegt es auf der Hand, dass böse Charaktere weit mehr Chancen zur Ver- erbung darbieten, und so findet man auch weit häufiger in einer längeren Geschlechterfolge gleiche Laster (Blutdurst, Grausamkeit, Wollust, Leichtsinn, Ehrgeiz, Hochmuth, tyrannische Herrschsucht U.S.W.) als gleiche Tugenden. Die Laster aus Monstrosität einseiti- ger Triebe grenzen unmittelbar an die erblichen Geistesstörungen. Keine Art von Krankheiten ist in so grauenerregender Weise fast ausschliesslich in erbUcher Disposition begründet wie die Geisteskrankbeiten, und zwar von jenen leichteren Störungen an, welche einerseits als Schrullen und Wunderlichkeiten, andrer- seits als krankhafter Hang zu gewissen Lastern zu bezeichnen sind, durch die ausgesprocheneren Formen der fixen Ideen, der Schwermuth, der Narrheit und des Wahnsinns hindurch bis end- lich zu den Extremen der Tobsucht und des Blödsinns. Wenn es noch irgend einer Bestätigung dafür bedürfte, dass die be- kannte Thatsache der Vererbung der Charaktereigenschaften rein auf Vererbung von constitutionellen organischen Eigenthümlich- keiten und speciell von Gehirnprädispositionen beruht, so muss dieser flüssige Uebergang von Geisteskrankheiten in Charakter- anlagen, oder von excessiven und monströsen Hirndispositionen in bloss quantitativ und graduell innerhalb der normalen Grenzen hervorragende, den letzten Zweifel beseitigen. Da auch das ge- sunde Geistesleben aus Factoren besteht, deren quantitatives Ver- hältniss sehr bedeutenden Schwankungen unterworfen ist, so ist eine Grenze, wo das quantitative Verhältniss zu einem abnormen oder krankhaften wird, schlechterdings nicht zu ziehen, und des- halb sind auch für den Psychologen nicht diejenigen Irren die interessantesten, welche hinter Gitter und Riegel unschädlich ge- macht werden mussten, sondern diejenigen, welche sich frei in der Gesellschaft bewegen, weil in ihnen die Uebergangszustände

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zwischen gesundem und krankem Geistesleben rückwärts ein Licht auf die Grundlagen der normalen psychischen Prooesse zu werfen geeignet sind.

Wenn wir anerkennen mussten, dass die befestigten Eigen- thümlicbkeiten oder Charaktere in der Concurrenz um die Vor- vererbung vor den neu hinzu erworbenen einen entschiedenen Vorsprung haben, so ist doch die Bedeutung der letzteren keines- wegs zu unterschätzen, denn auf ihr beruht die Modificabilität und Entwickelungstahigkeit des constitutionellen Typus der Species, die Veränderlichkeit des Artcharakters, eine Thatsache, welche ohne Vererbung individuell erworbener Abweichung vom bisherigen Typus schlechterdings unmöglich wäre. Aus der Ehe eines durch Zufall mit sechs Fingern geborenen Mannes und einer fünf- fingrigen Frau in Spanien hatten säramtliche Kinder sechs Finger bis auf das Jüngste, welches der Vater deshalb nicht als das seinige anerkennen wollte. In einer andren spanischen FamiHe vererbte sich die Sechszahl der Finger auf 40 Individuen. Durch blosse Inzucht sechsfingriger Individuen Hesse sich eine sechs- iingrige Menschenrace erzielen, bei der dies Merkmal bald befestigt sein würde; durch Kreuzung gehen aber solche individuelle Ab- weichungen immer wieder in der füntfingrigen Race unter (Häckel a. a. O.S. 159). In Massachusetts züchtete i. J. 1791 Seth Wirght aus einem zufälHg mit auffallend langem Leib und ganz kurzen krummen Beinen geborenen Lamme eine entsprechende Schafrace (Otterschafe), welche ihm den Vortheil bot, die Hecken nicht überspringen zu können. Aehnlich wurde in Paraguay von einem im Jahre 1770 geborenen hörnerlosen Stiere eine höruerlose Rind- viehrace gezüchtet (Häckel S. 193). „Niemand wird bezweifeln,, dass die in gewissen Familien erblichen Krankheitsanlagen, wenn man im Stammbaum rückwärts geht, auf einen Vorfahren hin- führen müssen, der sie nicht mehr ererbt, sondern erworben hat. Dass sich amputirte Arme und Beine und dergleichen Ver- stümmelungen in der Regel nicht vererben, beweist gegen unsere Behauptung gar nichts, denn es sind zu grobe und handgreifliche Eingriffe in die typische Idee der Gattung, als dass man ihre Realisation im Kinde erwarten könnte; und doch giebt es selbst hier merkwürdige Ausnahmen. Nach Häckel zeugte ein Zucht-

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stier^ dem durch Zufall der Schwanz an der Wurzel abgeklemmt ivurde, lauter schwanzlose Kälber, und hat man durch cons^quentes Schwanzabschueiden während mehrerer Generationen eine schwanz- lose Hunderace erzielt. Meerschweinchen, welche durch künst- liche Verletzung des Rückenmarks epileptisch gemacht worden waren, vererbten die Krankheit auf ihre Nachkommen. Im All- gemeinen vererben sich erworbene Eigenschaften um so leichter, je weniger sie den Arttypus stören, in je minutiöseren orga- nischen Veränderungen sie bestehen. Letzteres ist aber bei allen Dispositionen des Gehirnes zu gewissen Schwingungszuständen der Fall. Es ist eine bekannte Erfahrung, dass die Jungen von gezähmten Thieren zahmer werden, als die jung eingefangenen von wilden, dass von Hausthieren wieder diejenigen Jungen am zahmsten, folgsamsten, gelehrigsten u. s. w. zu werden versprechen, die von den zahmsten, folgsamsten, gelehrigsten Eltern stammen.*) Jede Dressur eines Thieres nach einer bestimmten Richtung bietet um so mehr Aussicht auf Erfolg, je weiter die Dressur der Eltern in derselben Richtung gediehen war. Junge undressirte Jagd- hunde von ausgezeichneten Eltern machen bei der Jagd von selbst Alles ziemlich richtig, während bei Hunden, die von Eltern stammen, welche nie zur Jagd gebraucht wurden, die Jagddressur eine furchtbare Arbeit ist. Söhne aus Reiterfamilien bringen Sitz und Balance schon zum ersten Versuch mit" (Ph. d. U. S. 61 1 612). Nach dem Angeführten unterliegt es keinem Zweifel, dass Charaktereigenschaften sehr wohl vererbt werden können, auch ^venn sie nicht ererbt, sondern nur individuell erworben waren. „Wenn wir die Laster aus gewissen inveterirten Ano- malien auf dem Boden der Constitution erwachsen sehen" (z. B. Trunksucht, geschlechtliche Verirrungen, Blutdurst u. s. w\), „wenn wir unzweifelhaft die Vererbung von Lastern constatiren können, so liegt auf der Hand, dass die Vererbung der vom Vater er-

*) Zu Aristoteles Zeiten musste unser Hofgeflügel noch unter Netzen und Körben gehalten werden, wie heute bei uns die Fasanen, und doch ging jenem Zustand eine schon vier Jahrtausende lange Domestication voran, während es nun nach abermals 2000 Jahren gelungen ist, die flüchtigen Naturinstinkte voUkommen zu bezähmen.

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■worbenen Constitution im Sohne die Ursache des Lasters ist**^ (Phil. Monatshefte Bd. IV. Hft. 5. S. 389—390). Dasselbe gilt aber auch für feinere Nuancen des Charakters, die in den Eltern habituell actualisirt sind; es gilt sogar für die unscheinbarsten Aeusserlichkeiten in Haltung, Bewegungen, Benehmen (Ph. d. Unb, S. 613) und habituelle Modificationen in der Art und Weise der Ideenassociation, Dinge bei denen sich freilich oft schwer der Einfluss der Vererbung von dem Einfluss des Beispiels trennen lässt. Dass die aristokratische Tournure wesentlich auf einer angeborenen Grundlage beruht, ist bekannt; es kommt dies nicht selten in Bastarden zur Erscheinung, die, ohne von ihrer Ab- stammung zu wissen, in keineswegs aristokratischer Umgebung erwachsen sind. In ähnlicher Weise ist es Katzen angeboren^ ihre Excremente, wenn irgend möglich, zu verscharren; jedes höhere Thier hat eine mehr oder minder aristokratische oder plebejische Tournure mit auf die Welt gebracht, welche es von seinen Vorfahren durch Vererbung überkommen hat und welche ihm sein äusserliclies Verhalten in allen Lebenslagen, die ihm naturgemäss vorkommen, bis auf die kleinste Geste und Bewe- gung vorzeichnet. Aber auch im eigentlich geistigen Sinne haben die Thiere einen Charakter, der z. B. bei Hunden und Pferden sich zum entschiedenen Individualcharakter ausprägt, während bei tieferstehenden Thierarten die Abweichungen des Individual- charakters vom typischen Artcharakter so gering sind, dass man sagen kann: beide fallen zusammen, ein Umstand, durch den die Vererbung nur um so mehr zu einer befestigten wird. Nur der Charakter der ersten protoplasmatischen Monere, die aus Ur- zeugung entstanden, war eine tabula rasa; strenggenommen war selbst hier schon die zutällige Zusammensetzung der Stoffe ent- scheidend. Von da an aber hat die Entwickelung der geistigen Artcharaktere mit der Entwickelung der organischen Typen. gleichen Schritt gehalten; beide sind durch das gleiche Princip gefördert: durch die Vererbung der hinzuerworbenen Eigen- thümlichkeiten , durch welche eine beständige Erweiterung und Bereicherung des Charakters mit der aufsteigenden Ent- wickelungsreihe entstehen musste. So empfing der erste Mensch schon einen reich angelegten Charakter, welcher sich dann in der

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anthropologischen Höherentwickelung der Menschheit immer viel- seitiger differenzirte und immer reicher entfaltete. Wie auf äusser- lich organischem, so auch auf innerlich psychischem Gebiet ist es immer erst die Vererbung der individuell erworbenen Eigenschaften^ welche die Entstehung von Typen und Charakteren mit befestigter Vererbung möglich macht.

Wenn wir oben (S. 77) gesehen haben, dass die Beeinflussung des Handelns durch willkürlich vorgehaltene oder ferngehaltene Motive die Möglichkeit bietet, durch Erziehung au Anderen und durch sittliche Selbstzucht an sich selbst, vermittelst der Gewöh- nung an gewisse sittliche Handlungsweisen und Entwöhnung von unsittlichen, nennenswerthe charakterologische Modiiicationen her- vorzurufen, so musste doch damals der Gedanke deprimirend wirken, dass diese Moditicationen dem ererbten Grundstock des Charakters gegenüber immerhin von secundärer Natur blieben. Jetzt aber eröffnet uns die Desceudenztheorie durch die Verer- bung solcher individuell erworbenen Moditicationen des Charakters die tröstliche Perspective auf die Möglichkeit einer progressiven Veredelung des menschlichen Charakters durch Sum- mation der durch Erziehung und Selbstzucht erzielten indi- viduellen Abweichungen, ein Gedanke, der wohl geeignet scheint^ an einer Reform der bisher theoretisch so traurig bestellten und praktisch so unwirksamen und werthlosen Wissenschaft der Ethik mitzuwirken.

VII.

Die A'ererbuug von Anlagen und Fertig- keiten,

Wir haben im letzten Abschnitt gesehen, wie gross der Unter- schied zwischen der constituirten Vererbung und der Vererbung neuerworbener Eigenschaften hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, Festigkeit und Dauerhaftigkeit der Uebertragung ist. Es ver- halten sich z. B. im Charakter die durch constituirte Vererbung angeborenen Eigenschaften zu den in der Kindheit und Jugend durch Erziehung, Verhältnisse und Schicksale hinzuerworbenen gleichsam wie zwei verschiedene Schichten, von denen die ober- flächliche unter gewöhnlichen Umständen die wichtigere scheinen kann, weil sie die tiefer liegende verhüllt und die Reize früher als diese und leichter als diese in Empfang nimmt; erst wenn grosse Motive an den Menschen herantreten, welche nicht bloss seine oberflächlichen Gewohnheiten und Interessen berühren, son- dern sein Innerstes ergreifen und durchwühlen, erst dann wird diese Hülle durchbrochen und der angeborene Charakter macht sich in seinem dominirenden Rechte geltend. Dieses Verhältniss kann natürlich nur da sich der Beachtung aufdrängen, wo die Einflüsse des Lebens dahin gewirkt haben, den Charakter nach einer andern Richtung hin zu entwickeln, als die angeborenen Anlagen von selbst eingeschlagen hätten; wenn aber auch ein mehr oder minder entschiedener Gegensatz zwischen dem an- geborenen und erworbenen Theil des Charakters zu den Selten- heiten gehören wird, so wird man doch bei den meisten Menschea

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auf gewisse specielle Richtungen stossen, wo ein solcher Gegen- satz sich entwickelt hat und gerade das Hervorbrechen des Ur- sprünglichen, Angeborenen bei wichtigen Veranlassungen ist es, was uns in anscheinend bekannten Charakteren plötzlich als ein Widerspruch gegen die für gewöhnlich documentirte und deshalb für charakteristisch angenommene Verhaltungsweise überrascht. Die angeborenen Dispositionen sind tief eingegraben, aber nicht scharf und sauber, ausser w^enn sie durch Uebung und Gewohn- heit nachgemeisselt sind; die neu hinzuerworbenen Dispositionen und Modificationen besitzen hingegen wohl die Schärfe und Dinstinction des Schnitts, welche sie auf verwandte schwache Reize leicht ansprechen lässt, aber nicht die nachhaltige Tiefe des Eindrucks, welche sie eine Concurrenz mit den angeborenen Dispositionen aushalten Hesse, wenn letztere einmal erregt sind. Auf schwache Reize resoniren die angeborenen aber nicht geübten Dispositionen deshalb nicht, weil sie zu verwittert, zu undeutlich sind, um das bei schwachen Reizen nothwendige Maass qualita- tiver Uebereinstimmung zu besitzen; je stärker aber der Reiz wird, um so grössere Differenzen zwischen sich selbst und der Disposition überwindet er im Hervorrufen der Resonanz. So rufen denn grossartige Motive auch latente Dispositionen, die man längst erstorben glaubte, zu neuem Leben wach, wie etwa die grelle Beleuchtung schnell auf einander folgender nächtlicher Blitze die alte verwitterte Rieseninschrift einer Felswand plastisch hervortreten lässt, auf der der Forscher bei Tageslicht und in nächster Nähe betrachtend bis dahin nur die darüber gekritzelten Bemerkungen moderner Touristen erkannt hatte.

Wie die angeborene Sphäre des Charakters zur erworbe- nen, so ungefähr verhält sich die erworbene Charaktersphäre zum Gedächtniss. Dies scheint paradox, und doch ist es kein heterogenes Gebiet, auf das wir hinübergehen, sondern nur ein gra- duell verschiedenes (vgl. oben S. 77 78). Das Motiv ist, wie wir wissen, Vorstellung, und der Inhalt des Willensaktes, welcher als JEleaction auf das Motiv folgt, ist ebenfalls Vorstellung ; ganz ebenso ist beim Process der Ideenassociation der hervorrufende Reiz Vor- .steliung und der Inhalt der Reaction Vorstellung; im einen wie im andern Falle haben wir es mit molecularen Hirnschwingungen

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zu thun, welche vorhandene Dispositionen zu neuen Schwingungen erregen, von welchem Process sowohl Anfangs- wie Endglied als? Vorstellung in's Bewusstsein treten. Der Unterschied liegt wesentlich nur in dem Maass der Willensbetheiligung, oder anders ausge- drückt: theils in der absoluten Intensität der erregten Schwin- gungen, theils in der relativen Intensität, mit welcher sie auf die Centralorgane der Bewegung influiren und hierdurch zur Hand- lung intendiren. Die Ueberlegenheit der Intensität der tieferen: Sphäre tritt selbstverständlich nur dann hervor, wenn sie durch einen entsprechenden Reiz wirklich erregt worden ist ; dann aber verhält sich die Intensität der angeborenen zur erworbenen Cha- raktersphäre ganz ebenso wie die Intensität der letzteren zu der Sphäre der Gedächtnissdispositionen. Denn man würde sehr irren, wenn man glaubte, dass die Gedächtnissvorstellungen jeder Willensbetheiligung entbehrten. Wir sahen schon oben, dass jede noch so abstracte Vorstellung mindestens die Tendenz zu den ihr entsprechenden Bewegungen der Sprachorgane mit sich führt; einer andern Weise sich handelnd zu äussern, dazu fehlt es ihr nicht sowohl an Intensität, als an Gelegenheit, d. h. es ist ihrer Natur nach nicht abzusehen, welche Art von Handlung eine blosse gleichgültige Gedächtnissvorstellung unmittelbar herbeiführen sollte, Sie befindet sich dabei in einer ähnlichen Lage wie eine charak- terologische Disposition, welche beim Mangel einer gegenwärtigen Gelegenheit zum Handeln sich auf die Vorstellung der künftig bevorstehenden Gelegenheit hin als Vorsatz und Verlangen äußert, Dur dass in diesem Falle die Möglichkeit des Ueberganges in wirkliche Handlung von einer erfüllbaren Bedingung abhängt, bei der blossen Gedächtnissvorstellung aber selbst das nicht. Ana- tomisch muss sich dieser Unterschied in einer verschiedenen Lage der Partien aussprechen, in welchen die Gedächtnissdispositionen und in welchen die charakterologischen Dispositionen niederge- legt sind ; die letzteren müssen den Centralorganen der Bewegung näher liegen, oder doch durch bessere Leitung mit ihnen ver- bunden sein; in demselben Maasse aber müssen sie derjenigen Hirnschicht ferner liegen, in welcher das hellste und klarste Be- wusstsein erzeugt wird. Wenn aber unser Ausdruck, dass die iSphäre der erworbenen Charaktereigenschaften gleichsam eine

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Hülle um den Kern der angeborenen bilde, zunächst nur bildlich zu nehmen war, so dürfte die Behauptung, dass die Sphäre des Gedächtnisses am meisten peripherisch (von den Centralorganen der Bewegung aus gerechnet) zu suchen sei, einigen Anspruch auf reale Bedeutung haben, um so mehr als auch pathologische Erfahrungen (Substanzverlust des Gehirns, Aphasie durch Schlag- fluss u. s. w.) auf einen Sitz des Gedächtnisses in den unter der Stirn gelegenen Theilen des Grosshirns hinweisen.

Wenn nun auch die relative Intensität, mit welcher die Ge- dächtnissvorstellungen auf die Centralorgane der Bewegung in- fluiren, gering genannt werden muss, so braucht deshalb ihre ab- solute Energie im Verhältniss zu erregten charakterologischen Dispositionen keineswegs unbedeutend zu sein. Dies beweist schon die Lebhaftigkeit und Klarheit des Bewusstseins, durch welche sie jenen entschieden überlegen sind. Die Leitungswider- stände in der Richtung auf die Centralorgane der Bewegung ver- hindern sie nur, ihre Intensität nach dieser Richtung hin zur Gel^ tung zu bringen, während sie dadurch Gelegenheit erhalten, die- selbe innerhalb der Sphäre des Gedächtnisses selbst fruchtbar zu verwerthen, indem sie dieselbe im Process der Ideenassociation fortwährend auf neue Vorstellungen tibertragen. Erst durch dieses in sich Abgescblossensein der Sphäre des Gedächtnisses wird die Beweglichkeit und Lebendigkeit des Vorstellungsprocesses möglich, welche im bedeutungsvollen Gegensatz steht zu der Schwerfällig- keit und Stabilität des Begehrungs- und Gefühlslebens (Phil. d. Unb. S. 374). Während die Dauerhaftigkeit der Gefühle, Bestre- bungen und Interessen allein das Leben vor Zerfahrenheit und unstäter Zersplitterung schützen kann, ist die schnelle Beweglich- keit des Vorstellungslebens die nothwendige Voraussetzung für jede intellectuelle Leistung, sei es auf dem theoretischen Gebiete der Erfindungen und Entdeckungen, sei es auf dem praktischen Gebiet der Auswahl der richtigen Mittel für die vom Gefühlsleben gesteckten Ziele. So kann man die dynamische Leistung der Vor- stellungssphäre auf die charakterologische Sphäre des Begehrungs- und Gefühlslebens auch dahin definiren, dass sie in der ange- messenen Verarbeitung der Motive der letzteren besteht, während sie zugleich bei dieser ihrer anscheinend rein intellek-

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tuellen Arbeit doch wieder unter dem bestimmenden Einfluss der mehr centralen Sphäre der charakterologischen Dispositionen steht, wie dies Schopenhauer (W. a. W. u. V. Bd. IL) in dem Capitel: „Der Primat des Willens im Selbstbewusstsein" näher ausgeführt bat. Einen directen Einfluss auf das Handeln gewinnt die Vor- stellungssphäre erst dann, wenn die Vorstellung einer willkürlich auszuführenden Bewegung oder Handlung mit einem activen centrifugalen Innervationsstrom (vgl. oben S. 78) verbunden auftritt, was wiederum nur möglich ist, wenn entweder diese be- wusste Absicht mit dem unbewussten Resultat der Motivation übereinstimmt, oder aber wenn die betreffende Handlung eine für den Charakter und die Lebensinteressen völlig gleichgültige ist. Wenn wir nach dieser Auseinandersetzung an unserm obigen Ausspruch festhalten dürfen, dass die Gedächtnisssphäre sich zur Sphäre der erworbenen Charakterdispositionen ungefähr so ver- hält, wie diese zu der Sphäre der ererbten Charakterdispositionen, so werden wir uns nicht wundern dürfen, dass, da doch schon die Vererbung erworbener Charaktereigenschaften so viel schwie- riger und unsicherer ist als die der angeborenen, durch constituirte Vererbung befestigter Charakteranlagen, dass nunmehr die Sphäre der Gedächtnissdispositionen, welche hinsichtlich der Tiefe ihrer Eindrücke sich als noch weit oberflächlicher erweist, für ge- wöhnlich gar nicht mehr zur Vererbung gelangt, oder wenn man so sagen darf, bereits unterhalb der Schwelle der Vererbung liegt. Sind doch die Eindrücke oft so schwach, dass sie in dem- selben Individuum nicht mehr zur Reproduction gelangen können, d. h. radical vergessen bleiben, wie sollten sie da eine über das Individuum auf seine Nachkommen hinübergreifende Wirksamkeit äussern können? Aber selbst solche Gedächtniss- vorstellungen, welche durch häufige Reproduction fester ein- geprägt werden, wie z. B. der Vocabelschatz der Muttersprache, zeigen keine Spuren von Vererbung; man hat wenigstens noch nirgends constatirt, dass ein von Deutschen geborenes Kind in seiner Kindbeit die deutsche Sprache leichter erlernte als irgend eine andere mit der deutschen auf gleicher Stufe der formalen Entwickelung stehende Sprache. Für dieses unterhalb der Ver- erbungsschwelle gelegene Gebiet von Hirndispositionen, insoweit

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es für das menschliche Culturleben Bedingung ist, muss dann eben die Erziehung namentlich in frühester Kindheit vicarirend eintreten, um gleichsam die organisch begonnene Modellirung des Gehirns im Embryo durch systematisch regulirte Vorstcllungs- zufuhr und Uebung zum Abschluss zu bringen. Dass derartige Gedächtnissdispositionen, wie Vocabeln, zn oberflächUch zur Ver- erbung sind, kommt offenbar daher, dass die Gedächtnissvorstel- lungen dieser Art mehr oder minder conventionelle Be- griff sz eichen sind, die nichts Typisches an sich haben und deren conventionell so oder so bestimmte Qualität (ob „pere" oder „Vater'') iitr die intellektuelle Bedeutung ebenso gleichgültig ist wie für das Interesse und Gefühlsleben. Ganz anders, wo es sich nicht bloss um gleichgültige Zeichen oder um Erfahrungs- wissen, sondern entweder um eine typische Form der Vor- stellungs weise, oder um einen Vorstellungsinhalt handelt, dessen Qualität zugleich das Begehrun gs- und Gefühlsleben afficirt, also in das Gebiet charakterologischer Prädispositionen hinüber- greift. Beides haben wir gesondert zu betrachten, wie innig es auch in sich wiederum zusammenhängen mag. Nur die letztere Seite betrachten wir in diesem Abschnitt, während die erstere, die typischen Formen des Denkens und Anschauens, dem folgenden Abschnitt vorbehalten bleibt.

Wir sahen schon oben, dass die Hirnprädispositionen des Ge- dächtnisses nicht sowohl specifisch als graduell von den charak- terologischen Hirnprädispositionen verschieden sind, dass der Uebergang zwischen beiden ein durchaus flüssiger, durch die mannigfachsten Verbindungsglieder vermittelter ist, und dass die blosse interesselos gleichgültige Gedächtnissvorstellung nur das eine Endglied dieser Reihe ist, deren anderes Ende die an- geborene, aber durch erworbene Modificationen entgegengesetzter Art latent gewordene Charakteranlagc ist. Jede charaktero- logische Prädisposition ist ein vorausbestimmter Reactionsmodus des Begehrens auf eine gewisse Art von Motiven, und jeder Reactionsmodus wird nur dadurch zu einem eigenthümlichen, das» das bei einem gegebenen Motiv resultirende Wollen einen eigen- thümlichen (von dem anderer Individuen abweichenden) Vor- stellungsinhalt besitzt. Ist also der Charakter angeboren

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(d. h. ererbt), so ist auch der eigenthtimliche Vorstellimgsinhalt angeboren, dessen Gewolltwerden bei gegebenem Motiv die Eigen- thümlichkeit des angeborenen Reactionsmodus ausmacht. Ein Vorstellungsinhalt kann aber nur angeboren sein als ererbte schlummernde Gedächtnissvorstellung, d. h. „als moleculare Hirn- disposition zu gewissen Schwingungsarten" (Ph. d. U. S. 613). Wir können hinzufügen, dass gar nichts als dieser Vorstellungs- inhalt qualitative Unterschiede des Begehrens oder WoUens bewirken kann, da ja die leere Form des Wollens, abgesehen von diesem Vorstellungsinhalt, überhaupt nur quantitative Unter- schiede der Intensität zulässt (ebenda S. 105), und ohnehin als Wollen gar nicht zum Bewusstsein gelangt (vgl. oben Abschn. V). Die Ph. d.U. fährt fort: „In dieser Art ist z.B. das Verhalten des undressirten jungen Jagdhundes (seine Aufmerksamkeit auf Wild, sein Stutzen, seine Neigung zum Apportiren geworfener Gegenstände) durch ein von seinen Vorfahren ererbtes Gedächtniss zu erklären, so aber, dass die aus den ererbten Hirndispositionen auf geeignete Veranlassung auftauchenden (Erinnerungs-) Vor- stellungen nicht als Erinnerungen bewusst werden, sondern nur als Inhalt der durch jene Veranlassungen (Motive) hervorgerufenen Willensakte auftreten*' (S. 613). Hiermit ist zugleich das psycho- logische Kriterion für den Unterschied individuell erworbener und ererbter Gedächtnissdispositionen ausgesprochen: bei der Repro- duction der ersteren taucht das Bewusstsein, die Vorstellung schon trüber gehabt zu haben, mit auf; und das Fehlen dieses Bewusst- seins lässt bei den letzteren den Charakter der Erinnerung nicht zur Geltung kommen. Der junge Jagdhund wird von der Ge- sichtswahrnehmung des Wildes oder des geworfenen Steins zwar ebenso afficirt wie etwa ein junger Wachtelhund; aber er reagirt mit anderen Vorstellungen auf diese Wahrnehmungen, wenngleich seine Vorstellungsreactionen nicht als blosse Vorstellungen, son- dern als Vorstellungsinhalt von Willensakten hervortreten. (Bei- läufig sei hier bemerkt, dass Darwin das anderartige Verhalten junger Hunde, die von gut dressirten Jagdhunden abstammen, bestätigt). Wenn blindtaubstumme Mädchen mit dem Eintritt der Pubertät die volle Schamhaftigkeit ihres Geschlechts gegen die Berührung männhcher Personen entwickeln (Ph. d. U. S. 186—187),

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«0 treten Vorstellungsmassen aus zuvor latenten Dispositionen her- :aus, welche bei dem Mangel entsprechender Belehrung und Er- ziehung nur als Gedächtnissdispositionen zu bezeichnen sind, die von der constituirten Vererbung ähnlicher Vorstellungsmassen in weiblicher Linie herröhren und, wie alle Vererbungen, sich zu derselben Zeit zur Actualität entfalten, wie dies in den Vorfahren der Fall war. Von der Putzsucht dieser unglücklichen Geschöpfe lässt sich nur dieselbe Erklärung geben. Diese Beispiele eröffnen aber zugleich eine weite Perspektive auf den grundlegenden Ein- :fluss ererbter Vorstellungsmassen in solchen Fällen, wo der Ein- fluss von Erziehung, Gewohnheit und Uebung verstärkend oder modificirend hinzutritt.

Wenn ein aus einer Reiterfamilie stammender Jüngling nicht selten Sitz und Balance zu seinem ersten Reitversuch in einer anderen Anfängern überlegenen Weise mitbringt, so zeigt sich auch hier eine Summe ererbter Vorstellungen und Kenntnisse über die den jeweiligen Störungen der Balance entgegenzustellen- den Muskelbewegungen, nur dass diese Vorstellungen hier noch weniger als bei dem Apportiren des jungen Jagdhundes als solche zum Bewusstsein kommen, sondern in den Ausführungsimpulsen zu den entsprechenden combinirten Muskelbewegungen involvirt bleiben. Diese Vorstellungsmassen treten im gegebenen Beispiel um so weniger in's Bewusstsein, als die entsprechenden mole- cularen Dispositionen grossentheils im Kleinhirn und verlängerten Mark zu suchen sind. Die ererbte Disposition aller Thiere zu den ihrem Leben nöthigen Bewegungen des Gehens, Schwimmens, Fliegens u. s. w. entspricht ganz und gar dieser Reiterdispo- sition; sie tritt um so deutlicher hervor, in je fertigerem Zustande das Thier in's Leben eintritt, und entzieht sich der Beobachtung in um so höherem Grade, je länger die Dauer der jugendlichen Unreife ist, die bekanntlich beim Menschen und demnächst bei den antropoiden Aff'en am grössten ist. Beim Menschen scheint das Kind gar nichts mitzubringen, sondern alles erst zu lernen; in der That aber bringt es alles oder doch unendlich viel mehr als das fix und fertig aus dem Ei kriechende Thier mit, aber es bringt alles in unreifem Zustande mit, weil des zu Entwickelnden bei ihm so viel ist, dass es in den 9 Monaten des Embrvolebens

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Hur erst im Keime vorgebildet sein kann. So geht nun da» Reiten der Dispositionen bei fortschi-eitender Ausbildung des Säuglinggehirns mit dem Lernen, d. h. mit dem Nachmeisseln dieser Dispositionen durch Uebung Hand in Hand und erzielt dadurch ein weit reicheres und saubereres Endresultat, als die blosse Vererbung bei den Thieren vermag (vgl, Ph. d. Unb. S. 314). Aber selbst das menschliche Kind würde mit dem wundervollen Mechanismus seiner Gliedmaassen und seiner Sinnes- werkzeuge gar nichts anzufangen wissen, wenn es nicht die Hirnprädispositionen zum Gebrauch derselben als ererbten Besitz mitbrächte; der Unterschied ist nur, dass es wegen der noch breiartigen Beschaffenheit seines Gehirns, das sich erst allmählich consolidirt, lange Zeit braucht, um von seinem Eigen- thum vollen Besitz zu ergreifen, während das Thier von Anfang an in seiner beschränkteren Domäne wie zu Hause ist. Bei dem ßeichthum der menschlichen Erbschaft aber heisst es:

„Was Du ererbt von Deinen Vätern hast.

Erwirb es, um es zu besitzen". Das Lernen des Kindes ist dieser Erwerbungs- oder Aneig- nungsprocess des Ererbten. Während das Thier niemals zu der abstracten Vorstellung gelangt, diese oder jene Bewegung vollziehen zu wollen, sondern immer nur Bewegungen auf entsprechende praktische Motive oder aus unmittelbarem Bewegungstrieb vor- nimmt, gelangt der Mensch dazu, die Ausführungsimpulse zu den Bewegungen der wichtigeren, quergestreiften Muskeln unter Um- ständen auch von den unmittelbaren praktischen Motiven ab- lösen zu können und mit der abstracten Vorstellung der Aus- führung einer solchen Bewegung zu associiren. Diese Ablösung findet nicht plötzlich statt, sondern allmählich. Schritt vor Schritt, durch Selbstbeobachtung und Belauschung der nur mit schwachen begleitenden Empfindungen in's Bewusstsein fallenden Impulse. Wie die Uebung und Vererbung im Thierreich die Verbin- dung zwischen der Wahrnehmung oder Vorstellung des prak- tischen Motivs mit der Ausführungsbewegung dem Hirn einge- graben, Dispositionen gegründet und Leitungsbahnen für den Willensirapuls geschafften hatte, so schaffet Uebung und Vererbung in der Menschheit (und schon in den intelligentesten Thieren)

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ähnliche Associationen zwischen gewissen abstracten Vorstellungen und den entsprechenden Ausführungsbewegungeu, vorausgesetzt, dass die Vorstellungen intensiv genug sind und dass die unmittel- bare Ausführung der Bewegung in imperativer Form in ihnen enthalten ist. Insoweit diese Associationen ererbt oder fest ein- geübt sind, geschehen sie mit einer ziemlichen Sicherheit; doch können sie niemals dasjenige Maass nahezu unfehlbarer Sicher- heit erlangen, was die durch befestigte Ererbung constituirten in- stinctiven Bewegungsreactionen auf bestimmte für das Leben des betreffenden Wesens wichtige Motive besitzen ; denn das eine Glied der Association, die abstracte Vorstellung, entzieht sich der Ver- erbung, und deshalb muss das Band in jedem Individuum gleich- sam neu geknüpft werden. Wir können hiernach der Ph. d. Unb. nicht zugeben, dass die Möglichkeit des Fehlgreifens die Hypo- these eines mechanischen Zusammenhangs zwischen Vorstellung und Ausführungsimpuls discreditire (S. 66j ; diese Möglichkeit be- weist eben nur, dass dieser Zusammenhang nicht dennaassen durch lauge Vererbung befestigt ist, um praktisch unfehlbar ge- worden zu sein, sondern dass diese mechanische Leitung sich noch wie die mangelhaft isolirte Leitung einer elektrischen Batterie verhält, welche gelegentlich einen Funken seitwärts überspringen lässt. Je dauernder eine bestimmte Association zwischen Vor- stellung und Ausführung geübt wird, um so besser wird die Leitungs- bahn eingegraben und um so seltener die Fälle des Fehlgreifens. Hieraus folgt, dass die praktische Unfehlbarkeit der in- stinctiven und retlectorischen Bewegungen durch die befestigte Vererbung des Leitungsmechanisraus zwischen Motiv und Aus- führung hinreichend erklärt ist, ohne dass man für diesen Zweck eine metaphysische Unfehlbarkeit des Unbewussten zu Hülfe zu nehmen brauchte; es folgt ferner daraus, dass eine Vervoll- kommnung der Association durch Gewohnheit und Uebung wirklich stattfindet, und dass mithin dieser ganze Associations- process nur auf materiellem Gebiete zu erklären gesucht werden kann, da das Unbewusste weder in seinem Wesen, noch in seinen Functionen einer Vervollkommnung durch Gewohnheit und Uebung fähig ist (vgl. oben S. 52). Die Phil. d. Unb. muss sich in

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einem solchen Falle, wo üebung einen Process ermöglicht, der anfänglich mit vergeblichen Anstrengungen versucht wurde, zu der Behauptung Zuflucht nehmen, dass der metaphysisch-teleolo- gische Eingriff des Unbewussten in dem nicht zu dieser Art von Functionen prädisponirten Organ zu grossen Widerstand finde, um sich geltend machen zu können, und dass die vom Organ durch Uebung oder Vererbung erlangte Prädisposition dem Unbewussten den Eingriff erleichtere (vgl. Ph. d. Unb. S. 284, Z. 8—11). Wenn aber das Vorhandensein der molecularen Prädisposition doch einmal als Bedingung zugegeben ist, und zugleich als die Bedingung, auf deren Vervollkommnung die Vervollkommnung der Association zwischen Vorstellung und Ausführung beruht, dann gleicht der darüber schwebende metaphysische Eingriff doch stark einem fünften' Rad am Wagen, das zur Erklärung nichts mehr beiträgt. Was das Wahre an dem Cap. A II der Ph. d. Unb. ist, das ist der Nachweis des schon oben zugestandenen Satzes, dass ohne vorgefundene angeborene Prädispositionen behufs Association gewisser Vorstellungen (Motive) mit gewissen Bewe- gungen der ganze Apparat von Muskeln, motorischen Nerven und Centralorganen der Bewegung für den Besitzer werthlos und un- brauchbar sein würde, weil er nichts mit ihm anzufangen wüsste. Die Summe der angeborenen Prädispositionen dieser Art ist eben das, was die Ph. d. Unb. die unbewusste Kenntniss der Lage der centralen Endigungen der motorischen Nerven nennt; sie sind Prädispositionen zu gewissen Reactionen, welche den Bewegungs- impuls auf gewisse centrale Nervenendigungen richten, und ihre Reactionen bestehen in molecularen Schwingungen, welche denen der Vorstellungen zwar analog, aber doch noch so weit von ihnen (schon durch die Lage im Gehirn) verschieden sind, dass sie nicht als Vorstellungen bewusst werden.

DiePh. d. U. sperrt sich letzten Endes nur deshalb dagegen, diese Erklärung zu acceptiren, weil sie durch dieselbe das Problem nicht gelöst, sondern nur nach rückwärts verschoben erachtet, da dieselbe die Frage nach der Entstehung der Prädisposition in den Vorfahren offen lasse (S. 66—67). Nun ist aber aus der Beobachtung am Menschen bekannt, dass mit Hülfe des mehr

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oder weniger blinden, auf gut Glück herumtappenden Probirens die ersten Versuche zur Association einer gewissen Bewegung mit der Vorstellung dieser Bewegung vorgenommen werden, und dass der centrifugale Innervationsstrom*) dabei mitunter gar keine, mitunter nur sehr dürftige Anhaltpunkte hat. Im erstereu Falle sind nicht selten alle Versuche erfolglos (z. B. die Versuche zur Bewegung der menschlichen Ohrenmuskeln, zu deren Ausführung wir die Prädisposition nur in sehr abgeschwächter und ver- kümmerter Gestalt überkommen haben). Ist aber ein solcher Versuch erst ein Mal gelungen, so bleibt ein Eindruck von der dem Innervationsstrom ertheilten Richtung haften, welcher für den zweiten Versuch schon einen Anhaltpunkt gewährt. Auf diese Weise ist ein Zuwachs solcher Prädispositionen und eine feinere Durcharbeitung und Vervollkommnung der ererbten in der That ohne alle metaphysisch-teleologischen Eingriffe des Unbe- wussten erklärlich, und da wir vom Menschen rückwärts durch seine ganze Ahnenreihe bis herab zur Urmonere nirgends einen Punkt finden, wo mehr als dies verlangt würde, so werden wir auch in der Entstehungsgeschichte dieses Prädispositionencomplexes von den ersten mechanischen Contractionen des Protoplasmas auf die verschiedenen Reize bis herauf zu den complicirtesten Bewe- gungsfertigkeiten der höheren Tliiere und Menschen nichts finden, was die mechanische Erklärungs weise als principiell unzulänglich erscheinen Hesse, wenngleich wir gern zugeben, dass wir damit noch weit entfernt sind von der eigentlichen Erklärung eines einzelnen concreten Vorgangs.

Nachdem wir uns über das Princip verständigt haben, welches bei der Erklärung der sogenannten körperlichen Fertigkeiten zu Grunde zu legen ist, können wir um so weniger zweifeln, dass es sich bei der Erklärung der rein geistigen Fertigkeiten um dasselbe Princip handeln kann; denn hier können die Gehirndis- positionen viel unmittelbarer wirken, weil die Schwierigkeit der einzugrabenden Leitungsbahnen von den vorstellenden Grosshirn- partien zu den Centralorgauen der Bewegung hinwegfällt. Die

*) Vergleiche oben S. 78 u. 56—57.

8"

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geistigen Fertigkeiten können sich nur auf die Verarbeitung von Vorstellungsmassen einer gewissen Qualität (mathematische, musi- kalische u. s. w. Talente) oder auf Verarbeitung aller oder doch der meisten aufstossenden Vorstellungen in gewissem Sinne und in gewisser Richtung (philosophische, poetische u. s. w. Talente) beziehen, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass die fruchtbringende Ausübung verschiedener dieser Anlagen eine gewisse Combination von rein geistigen und geistig-körperlichen Fertigkeiten erfordert (z. B. ausübend- musikalische, mimische, bildnerische Talente). In diesem Gebiet kann kein Zweifel obwalten, dass die Ph. d. ünb. mit unserer Auffassung übereinstimmt, auch wenn sie es nicht ausdrücklich ausspräche (3. Aufl. S. 612 Z. 12 5 von unten; 1. Aufl. S. 517); schon das klare und entschiedene Auftreten der Schopenhauer'schen Philosophie Hess in dieser Frage kaum einen Rückfall befürchten. Um so wunderbarer aber ist es, dass die Ph. d. Unb. bei dem engen und flüssigen Zusammenhang der reingeistigen, gemischten und körperlichen Fertigkeiten für die letzteren, die doch ihrer Natur nach dem materiellen Mechanismus Aveit näher liegen, ein abweichendes metaphysisches Erklärungs- princip aufstellt, und ist diese Inconsequenz (wie schon oben S. 20 21 bemerkt) nur dadurch erklärlich, dass das Cap. A II einige Jahre früher als Cap. C X verfasst ist. Auf S. 613 der 3. Aufl. wird geradezu eingeräumt, dass „auch bei Menschen sich ein grosser Theil der äusserlichen Manieren und Eigen thümlich- keiten der Haltung, der Bewegung und des Benehmens aus er- erbten llirnprädispositionen der mit denselben Eigenthümlichkeiten behafteten Vorfahren zusammensetzt", d. h. also doch, dass auch körperliche Gewohnheiten und Fertigkeiten aus ererbten llirn- prädispositionen erklärt werden können.

Dass gewisse geistige Talente durch mehrere Generationen in einer Familie erblich sind, beweisen zahlreiche Beispiele (Maler, Mathematiker, Astronomen, Schauspieler, Feldherren u. s. w.) (Ph. d, Unb. S. 013). Die Familie Bach producirte nicht weniger als 22 hervorragende musikalische Talente. Der Kampf um's Dasein unter Völkern und Individuen wirkt auf beständige Stei- gerung der durchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten im

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Menschengeschlecht hin^ während der Charakter sich wohl reicher und reicher differenzirt, aber nicht in dem Maasse von Wichtig- keit für den Kampf um's Dasein ist w^ie der Intellekt (613 614), Dazu kommt noch, dass mit der Zeit immer neue Gebiete des Geistes erschlossen und damit neue Fertigkeiten und Anlagen zur Handhabung und Bearbeitung der einschlagenden Vorstellungs- massen entwickelt w^erden, während zugleich andererseits trotz der auch auf geistigem Gebiete beständig wachsenden Arbeits- theilung doch die Durchschnittsmasse des jedem einzelnen Indi- viduum einer Culturnation zugeführten geistigen Bildungsmaterials ebensowohl im beständigen Wachsen ist, wie die auf die Erziehung eines Individuums durchschnittlich verwendete Arbeit.

Die Ph. d. Unb. sagt S. 340—341 hierüber Folgendes: „Wie jeder Körpertheil durch den Gebrauch und die Uebung gestärkt und zu neuen ähnlichen Leistungen geschickter gemacht wird, so auch das grosse Gehirn ; wie bei jedem Kürpertheil ist aber auch beim grossen Gehirn die von den Eltern erworbene Kräftigung und materielle Vervollkommnung durch Vererbung auf das Kind übertragbar. Diese Vererbung ist nicht in jedem einzelnen Falle direkt nachweisbar, aber als Durchschnitt von einer Generation auf die folgende genommen ist sie Thatsache und ebenso ist es Thatsache, dass es eine latente Vererbung giebt, welche erst in der zweiten oder dritten Generation ihre Früchte oiföiibart fz. B. wenn Jemand von seinem Grossvater mütterlicher- seits starken rothen Bartwuchs und schöne Bassstimme geerbt hat). Da jede Generation ihren bewussten Intellect weiter aus- bildet, also auch dessen materielles Organ weiter vervollkommnet, so Summiren sich im Laufe der Generationen diese für Eine Gene- ration immerhin unmerklich kleinen Zuwachse zu deutlich sicht- bar werdenden Grössen. Es ist keine blosse Redensart, dass die Kinder jetzt klüger geboren werden und dass sie, minder kindlich als sonst, schon in der Kindheit Neigung zeigen, vorzeitig altklug zu werden. Wie Junge dressirter Thiere zu der gleichen Dressur geeigneter sind, als wild eingefangene Junge, so sind auch die Kinder einer menschlichen Generation um so geschickter zur Er- lernung bestimmter Könnens- und Wissensgebiete, je weiter jene

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es darin bereits gebracht hatte. Ich bezweifle z. B., dass ein Helenenkuabe jemals ein tüchtiger produktiver Musiker im mo- dernen Sinne geworden wäre^ weil sein Gehirn derjenigen ererbten Prädispositionen für das weite Gebiet der musikalischen Harmonie entbehrte, welche erst die moderne westeuropäische Menschheit sich durch eine historische Entwickelungsreihe von mehr als fünf- zehn Generationen erworben hat. Ein Archimedes oder Euklid möchte trotz seines relativen mathematischen Genies sich recht unbeholfen als Schüler eines Unterrichts in der höheren Mathe- mathik erwiesen haben.

„So erzeugt jeder geistige Fortschritt eine Steigerung der Leistungsfähigkeit des materiellen Organs des Intellekts, und diese wird durch Vererbung (im Durchschnitt) dauernder Besitz der Menschheit, eine erklommene Stufe, welche das Weiteraufsteigen zur nächsten erleichtert, d. h. die Fortschritte des geistigen Be- sitzes der Menschheit gehen Hand in Hand mit der anthropo- logischen Entwickelung der Race, und stehen in Wechselwirkung mit derselben; jeder Fortschritt der einen Seite kommt der an- dern Seite zu Gute; es muss also auch eine anthropologische Veredelung der Race, die aus anderen Ursachen als aus geisti- gen Fortschritten entspringt, die intellektuelle Entwickelung lördern. Von letzterer Art ist z. B. die Veredelung der Race durch geschlechtliche Auswahl (Cap. B. II), welche unauf- hörlich ihre unbeachteten aber mächtigen Wirkungen übt, oder die Concurrenz der Racen und Nationen im Kampf um's Dasein, welcher unter den Menschen sich nach ebenso unerbittlichen Natur- gesetzen vollzieht wie unter Thieren und Pflanzen."

Wir sehen also, dass die Vererbung ebensowohl auf intellek- tuellem wie auf charakterologischem Gebiete wirksam ist, und Äwar auf ersterem noch weit wirksamer, theils desshalb, weil, wie schon bemerkt, die charakterologischen Diff'erenzirungen sich leichter durch Kreuzung wieder ausgleichen, die intellektuellen aber im Kampf der Individuen und Völker um's Dasein sich potenziren, theils deshalb, weil der jeweilige intellektuelle Ge- sammtbesitz der Menschheit im Gedächtniss der Lebenden und in <ler Literatur eine substantielle Existenz hat, welche an die nach- kommenden Generationen durch Unterricht übertragbar ist, während

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hingegen in charakterologischer Beziehung nur ein dürftiges Analogon im System der Ethik vorhanden ist, und hierbei nicht die Aufnahme dieses Vorhandenen in's Gedächtniss, sondern nur die Eiuprägung der praktischen Principien in den Charakter (durch Erziehung oder Selbstzucht), welche unendlich viel schwie- riger ist, zur Sprache kommen kann. Soviel wirksamer, wie der intellektuelle Unterricht als die charakterologische Erziehung ist, soviel wirksamer ist die Unterstützung des Menschheitsfortschritts, welche der intellektuellen Entwickelung als die, welche der charakterologischen Entwickelung über die Leistungen der blossen Vererbung hinaus durch Uebertragung auf Lebende erwächst.

VIII.

Die Abkürzung der Ideenassociation und die Vererbung der Denkformen.

Wir hatten oben (S. 115 116) darauf hingedeutet, dass die sogenannten Talente oder geistigen Anlagen wesentlich in der Fertigkeit der Handhabung und Bearbeitung gewisser Vorstel- lungsmassen, oder der Bearbeitung beliebiger Vorstellungen in einer bestimmten Richtung bestehen und dass diese Fertigkeiten aus ererbten oder durch Uebung erworbenen Gehirnprädispositionen erklärt werden müssen. Wenn nun bei aller geistigen Arbeit, gleichviel ob sie in der Auswahl geeigneter Mittel zu praktischen Zwecken, oder in künstlerischer Conception, oder in wissenschaft- lichem Erfinden und Entdecken besteht, die Pointe des Gelingens immer darin liegt, dass einem „die rechte Vorstellung im rechten Moment einfällt" (Ph. d. U. S. 255, 269 if.), so wird das eigent- lich Produktive in der Geistesarbeit ausschliesslich in der activen Ideenassociation (vgl. oben S. 56—57) zu suchen sein, keineswegs etwa in formal-logischen Processen, wie dem Schluss- verfahren, bei dem nichts herauskommt, als was man vorher hinein- gesteckt hatte (Ph. d. U. 276—277). Selbst wo es sich nur um Herstellung einer gewissen Ordnung gegebener Vorstellungsmassen handelt, wird doch das maassgebende Princip, nach welchem das Ordnen vorgenommen wird, Sache eines glücklichen Griffes, also Resultat einer produktiven Ideenassociation sein. Alle formellen Forschungsmethoden der deductiven und inductiven Logik dienen doch nur dazu, das durch kühne und glückliche Ideenassociation

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Concipirte objektiv sicherzustellen, resp. als Irrthum zu erweisen ; der physikalische Experimentator wie der produktive Mathema- tiker leisten beide doch eigentlich nur dann Bedeutendes, wenn sie der Hauptsache nach schon vorher wissen, was bei ihrer Arbeit herauskommen muss; andernfalls bleiben sie ewig fleissige Stümper. Die Ideenassociation ist die allgemeingültige, emg- unersetzliche Urform, in welcher jeder Vorstellungsprocess ver- läuft, und alle Regeln der Methodik des Denkens sind doch nichts als Abstractionen von gewissen bequemer systematisirbaren Unter- arten dieser Urform. Diese Urform hat in der Psychologie der meisten Philosophen noch keineswegs ihre verdiente Beachtung gefunden.

Einer der wichtigsten Vorgänge im gesamraten Gebiete der Psychologie, die bisher kaum geahnt ist, ist nun die Abkür- zung der Ideenassociation, deren Pt e s u 1 1 a t Lazarus „Ver- dichtung des Denkens^' genannt hat (Ph. d. U. 262). Wenn ich zu irgend einem mir gesteckten Ziel, von der Vorstellung A aus- gehend, die Vorstelhmgen B und C passiren muss, um zur ge- suchten Vorstellung D zu gelangen, dann braucht sich die Lösung dieser Aufgabe mit denselben Mitteln nur einigemal in meiner Praxis zu wiederholen, so werden die ZAvischenglieder B und 0 sich von selbst elidiren. Das erste Mal muss ich den centri- fugalen Innervationsstrom der Aufmerksamkeit bei jedem der Glieder aussenden, um zum nächsten zu gelangen, bei jeder "Wiederholung des Processes sind aber die Prädispositionen besser eingegraben und sprechen auf den Reiz der hervorrufenden Vor- stellung leichter an; dadurch vermindert sich sowohl die erforder- liche active Energie der Aufmerksamkeit, als auch die zwi- schen A und D verfliessende Zeit. Nach öfteren Wiederholungen bedarf es gar keines activen Suchens mehr und rückt D an A der Zeit nach so nahe heran, dass das Bewusstsein nicht mehr die nöthige Zeit erhält, um auf B und C als solchen zu verweilen; ohnehin besitzen B und C kein Interesse, wohl aber D, welches eben das gesuchte Ziel ist. Sind in dieser Weise B und C erst einmal unter die Bewusstseinsschwelle ge- sunken, so sinken sie schnell immer weiter, so dass man nun sagen kann, D sei mit A unmittelbar associirt. Die Ver-

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biudung von A mit D durch B und C hindurch, war viel- leicht eine wohlbegründete, logisch vermittelte, während die un- mittelbare Verbindung von A mit D eben wegen der fehlenden logischen Verbindungsform als eine logisch unbegründete, zufällige oder willkürliche erscheint, so lange man nicht diese genetischen Verbindungsglieder restituirt. Nun kann dieser Process der Ab- kürzung aber noch weiter gehen. Man denke sich, dass eine neue Reihe activer Ideenassociationen die Vorstellungen A, D, G und K durchläuft (wobei die Association von D und G und von G und K selbst schon eine abgekürzte sein kann) und dass diese Reihe auf bestimmte Veranlassung hin ebenfalls häufiger wieder- kehrt, so wird sich durch denselben Elisionsprocess zuletzt A mit K unmittelbar associiren. Wenn bei dem ersten Abkürzungsver- fahren zwischen A und D die logisch vermittelnden Zwischen- glieder noch durch leichtes Besinnen zu restituiren waren, so kann bei einem weiter fortgeführten Abkürzungsverfahren diese Restitution der Zwischenglieder zuletzt sehr schwierig, ja bei einer vererbten Tendenz oder Prädisposition zu solchen ab- gekürzten Associationen zuletzt ganz unmöglich werden.

Nun beruht aber alle Fertigkeit und Anlage zur Gedankenver- arbeitung in einer bestimmten Richtung aufsolchenerworbenen oder ererbten Prädispositionen zu abgekürzter Ideen- association. Wo die Fertigkeit eine durch Uebung indivi- duell erworbene ist, wird man sich in der Regel des Unterschie- des mit einer früheren Zeit, wo man sie noch nicht besass, be- wusst sein, indem man sich dessen erinnert, wie man früher viele Schritte der Ideenassociation zu demselben Ziele brauchte, wo man jetzt mit einem ausreicht. Am frappantesten ist aber die Erscheinung der abgekürzten Ideenassociation oder des Ueber- springens mehrerer logischer Zwischenglieder in solchen Fällen, wo man sich der Zeit vor erlangter Uebung nicht mehr be- wusst ist, und wo dann in der Regel schon ererbte Dispo- sitionen zu Grunde lagen, welche der Uebung nur das Nach- m eissein überliessen und dadurch die Periode der Unbeholfen- heit sehr abkürzten. In solchen Fällen, wenn man nicht ihren flüssigen Uebergang zu denen, wo der Abkürzungsprocess zu Tage liegt, beachtet, scheint es dann in der That, als läge eine höhere

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metaphysische Eiugebung vor. Die Ph. d. U. bemerkt ganz richtig, dass auch in dem discursiven Denken, wo alle logischen Zwischeustationen in bewussten Haltepunkten, also in Hirn- schwingungen, vollständig ausgeführt worden, doch der Ueber- gang von einer Vorstellung zur andern ein unbewusster Process ist, und somit die neue Vorstellung intuitiv eintritt dass man aber im Unterschiede von diesem in kurzen Schritten sich be- wegenden Denken ein intuitives im engeren Sinne erst dann anerkennt, wenn eine discursive Vermittelung durch actuell vorhandene, in möglichste Nähe an einander gerückte logische Zwischenglieder nicht mehr ersichtlich ist (S. 282 283). Man braucht zu diesem Anerkenntniss der Gleichartigkeit des Vorstellungsprocesses in beiden Fällen nur noch das in der Ph. d. U. fehlende Verständniss über die allmählich wachsende Ab- kürzung des Processes der Ideenassociation hinzuzufügen, um ein Erklärungsprincip für das sogenannte intuitive Denken zu gewinnen, welches, wenn es auch nicht mit einem Schlage alle Käthsel der Conceptionen des Genies löst, doch einen Fingerzeig giebt, auf welchem Wege von dem Verständniss der gewöhnlich vorkommenden abgekürzten Denkprocesse zu den selteneren pro- duktivsten Formen derselben aufzusteigen sei. Es lag dies der Ph. d. U. um so näher, als sie selbst wenigstens andeutungsweise die analoge Erscheinung der abgekürzten Vererbung be- rührt (S. 570 Anm.), nämlich die Thatsache, dass in der em- bryonalen Entwickelung der niederen Thiere je zwei Stufen mehr Zwischenglieder zeigen, als dieselben Stufen in der embryonalen Entwickelung eines zu derselben direkten Descen- <lenzlinie gehörigen höheren Thieres zeigen, dass mit anderen Worten bei höheren Thieren die durch lang andauernde Ver- erbung fester und fester constituirte Entwickelungsfähigkeit des Ei's eine Elision von Uebergangsstufen gestattet, welche bei der Entwickelung der niederen Thiere noch unerlässlich sind.

Wenn wir eine fremde Sprache lernen, so lernen wir sie mit Hülfe von Kegeln. Aber um eine Sprache zu können, muss durch den Abkürzungsprocess der Ideenassociation die Regel bereits wieder elimiuirt sein, muss der concrete Fall unmittelbar diejenige Vorstellung hervorrufen, welche der Anwendung der

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Regel auf diesen Fall entspricht. Wer eine Sprache auf diese Weise kann, der vergisst mit der Zeit die früher erlernten Re-- gelu vollständig, weil die Gedächtnisseindrücke derselben nicht mehr im Bewusstsein reproducirt werden; er kann alsdann über den logischen Grund seiner abgekürzten Ideen- Association nicht mehr Auskunft geben, wenn dieselbe ungerechtfertigter Weise einmal angefochten wird, er besitzt wohl diese logische Be- gründung implicite oder immanenter Weise in seinem concreten Vorstellen, aber weil sie ihm eben unbewusst geworden ist^ 80 kann er sich nur noch auf sein Sprach -Gefühl berufen, Kinder lernen ihre Muttersprache allerdings . ohne Regeln , aber sie machen auch dafür den genetischen EntwickelungsprocesSy den ihre Sprache in Jahrtausenden zurückgelegt hat, in ab- gekürzter Weise in einigen Monaten durch, d. h. sie fangen mit der Wurzelsprache an, gehen dann zur agglutinirenden Wortsprache über und gelangen erst ganz allmählig zum Verstand- niss der Flexionen und Syntax. Bei alledem aber wären sie doch ausser Stande, die Sprache auf diese Weise und noch dazu im Laufe weniger Jahre, ja fast nur Monate, vollständig zu erlerneUj wenn sie nicht die molecularen Hirnprädispositionen zu den typischen Formen des Sprachbaues und zu den typischen Ver- knüpfungsweisen der Vorstellungen in unseren flectirenden Sprachen schon als ererbten Besitz mitbrächten. Dass die Kinder von Wilden, deren Sprachsystem auf niedrigerer Stufe der for- malen Entwickelung steht, unsere modernen europäischen Sprachen (mit Ausnahme des Englischen, das kaum noch Flexionssprache zu nennen ist) schwerer lernen als ihre Muttersprache und schwe- rer als unsere Kinder, ist durch mehrfache Beispiele wahrschein- lich gemacht; wir glauben, dasselbe auch von chinesischen Kin- dern voraussetzen zu dürfen.

Alle Sprache beruht auf dem Begriff des Zeichens; in ihm kommt Geberdensprache, Lautsprache und Schriftsprache zu- sammen. Das Zeichen ist eine besondere Art der Association einer Vorstellung mit einer andern, so dass die erstere keinen andern Zweck und keine andere Aufgabe hat, als die zweite hervorzurufen. Eine solche Verknüpfung ist selbst schon etwas so Eigenthümliches, dass sie als typische Form der Association

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betrachtet werden miiss. Dass die Prädisposition zu derselben angeboren, d. b. ererbt ist, erbellt wieder am besten aus der Beobacbtung an Blindtaubstummeu. Man muss sieb nur einmal recht deutlich in die Lage eines solchen unglücklichen Geschöpfes versetzen, um die Schwierigkeit, sie zur Zeichensprache zu führen, nach ihrem ganzen Umfang zu ermessen. Man gebe ihnen z. B. in die eine Hand ein Ei und führe die Finger der andern Hand über ein Zeichen, etwa über die eingravirten Schriftzeichen; so oft man diese Procedur auch wiederholen mag, ^vird man doch nie dadurch den Begriff des Zeichens und des Bezeichneten in dem Intellekt des Schülers hervorrufen, wenn die Prädisposition des Gehirns für diese Verknüpiung (wie etwa bei einem geistig tiefstehenden Thiere) fehlt.

Wie bei der Erlernung einer fremden Sprache die gramma- tische Regel aus der Ideenassociation elidirt werden muss, so beim Erlernen der Mathematik die mathematische Regel. Welche Qual verursacht den Kindern nicht schon das Rechnen mit Brüchen, und welche Menge von Regeln erlernen sie zu diesem Zweck, die alle bestimmt sind, vergessen zu werden, wenn diese Hantirungeu zur Fertigkeit geworden sind! Und so geht es weiter durch alle Stufen der Mathematik. Niemand kann erfolg- reich eine höhere Stufe beschreiten, er habe denn zuvor die Ver- fahrungsweisen der vorhergehenden Stufen in's Gefühl aufge- nommen, d. h. die abstracten Regeln aus der Association des gegebenen besonderen Falles mit der regelrecht entsprechenden Operation elidirt. In der Mathematik enthält aber selbst schon die A u f s t e 1 1 u n g der Regel eine Abkürzung der Ideenassociation, nämlich die Elision der logischen Begründung der Regel in ihrer Allgemein giltigkeit, welche wohl beim tyrannischen Usus der Sprache, niemals aber beim mathematischen Denken fehlen darf, und welche dennoch allerdings nicht ohne das Bewusstsein, sie jederzeit reproduciren zu können zu den Acten des Unbewussten gelegt wird, indem die Regel dem Ge- dächtniss eingeprägt wird. Die mathematischen Begriff'e selbst (z. B. schon die im dekadischen Zahlensystem geschriebene Zahl, die negative Grösse, das Produkt, der Bruch, die Potenz, die Wurzel, der Logarithmus, die imaginäre Grösse, das unendlich Grosse und

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Kleine, die Kreisfunetionen , das Differential und Integral, die elliptischen undAberschen Functionen, die stets wiederkehrenden Constanten, wie g, tt, e u. s. w.) sind sämmtlich doch nur Zeichen ftir das Resultat eines genetischen Gedankenprocesses , den es keinem Mathematiker einfällt beim Arbeiten sich beständig zu wiederholen, obwohl das Zeichen ohne Wiederholung dieses Pro- cesses leer ist. Nun sind aber für jeden dieser Begriffe ge- wisse Formen der Association mit anderen mathematischen Begriffszeichen, welche die Beziehung der ersteren zu den letz- teren und die durch solche Beziehung zu bestimmten Zwecken geforderten praktischen Verfahrungsweisen in sich enthalten, ein- für allemal aus dem Entstehungsprocess der Begriffe logisch abgeleitet und dem Gedächtniss als abgekürzte Associationen ein- geprägt. Diese im Gedächtniss mit dem begleitenden Bewusstsein logischer Begründung niedergelegten nothwendigen Beziehungen zu anderen Begriffszeichen sind nun der eigentliche und bleibende Inhalt jedes mathematischen Begriffs- zeichens, jedoch noch mit der einschränkenden Bestimmung, dass in jedem concreten Falle nur soviel davon zum Bewusst- sein kommt, als durch die jeweiligen Verbindungen mit anderen Begriffszeichen praktisch erfordert wird. Bedenkt man, dass der Entstehungsprocess eines höheren mathematischen Begriffs- zeichens zunächst auf niedere, und die Genesis dieser wieder auf niedere führt u. s. f., ehe man bei der anschaulichen Grösse als unteren Grenze ankommt, so mag man ermessen, welche Masse von verdichtetem oder comprimirtem Denken in einem einzigen höheren mathematischen Begriffs- zeichen steckt und welches Maass von Abkürzung der Ideen- association die höheren Operationen der Mathematik voraussetzen (Ph. d. Unb. S. 262). Es kann hiernach auch nicht Wunder nehmen, wenn diese höheren mathematischen Operationen nur in verhältnissmässig wenigen Gehirnen eine Prädisposition vorfinden, welche sie ohne allzu grosse Anstrengungen des Denkens ermög- licht; Thatsache ist, dass bei der gewöhnlichen Weise des Unter- richts nur etwa V3 von der männlichen Jugend der gebildeten Gesellschaftsschichten die oberen Gebiete der niederen Analysis mit ihrem Verständniss durchdringt, während es von diesem

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wieder höchstens 10 Procent gelingt, in der höheren Mathematik heimisch zu werden. Je entschiedener die reinen Spiritualisten die Vernunft als die göttliche Prärogative der Menschheit be- haupten, um so williger müssen sie zugeben, dass die Anwendung dieser Vernunft auf die Gegenstände der höheren Mathematik nur an einer mangelnden Gehirnprädisposition scheitern kann, dass also auch der Vorzug einer specifisch-mathematischen Be- fähigung nur in dem angeborenen Besitz solcher prädispositioneller Gehirnanlagen begründet sein könne und nicht etwa in individuell bevorzugenden Inspirationen eines metaphysischen Unbewussten zu suchen sei. Dass übrigens diese angeborene Anlage zur Mathematik als durch Vererbung entstanden zu denken sei, spricht die Ph. d. Unb. S. 341 deutlich genug aus (vgl. oben S. 117 bis 118), sowie sie S. 613 auf die Erblichkeit des mathematischen Talents in gewissen Familien hinweist. Energie des denkenden Studiums und Uebung kann auch hier den Mangel ererbter An- lage zum Theil ersetzen und die Vererbung der so erworbenen Prädispositionen ist es, welche die Anlage der Nachkommen con- stituirt, welche alsdann in diesen abermals gesteigert werden kann.

Was wir bei den mathematischen Begriffen in so hohem Grade nachgewiesen haben, gilt in geringerem Grade von allen abstracten Begriffen, und in um so beträchtlicherem Maasse, je abstracter dieselben sind. Wenn wir oben (S. 123) den Unterschied zwischen discursivem und intuitivem Denken als einen relativen erkannten, so gilt dasselbe von den Resultaten dieses Denkens, der discursiven und intuitiven Vorstellung, oder dem Begriff und der Anschauung. Was an dem abstractesten Begriff positiv ist, ist Anschauung („Ding an sich" S. 105) und andrerseits sind die Anschauungen, von denen die Abstraction der Begriffe ausgeht, selbst schon Resultate einer ererbten und erworbenen abgekürzten Ideenassociation , in denen die logische Arbeit der elidirten Zwischenglieder und Vorstufen unbewusst geworden ist. „Die Anschauung im engeren Sinne ist nur ein Begriff von niedrigerer Abstractions- (und Corabinations-) Stufe; der Begriff ist nur eine Anschauung von höherer Abstractions- (und Combinations-) Stufe" („Ding an sich" S. 107). Der Begriff

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hat seinen ihn von der Anschauung unterscheidenden Charakter in dem begleitenden Bewusst sein der Negativität in Bezug auf dasjenige, wovon abstrahirt ist; je wichtiger aber in einem Begriffe das combinirende oder synth etische Ele- ment im Verhältniss zum negirenden oder abstrahirenden ist und je mehr sein Gedächtnisseindruck zur typischen Form des Vorstellens wird, die sich durch Vererbung befestigt, desto mehr schwindet für das Bewusstsein sein Unterschied von der An- schauung; sobald die Abkürzung der Ideenassociation so weit gediehen ist, dass die Vorstufen der Genesis des Begriffs unbe- wusst geworden sind, ist der Begriff für das Bewusstsein zur Anschaung selbst geworden, gleichviel wie lang und be- schwerlich der Weg seiner Genesis vor vollendeter Abkürzung der Ideenassociation war. Für den echten Mathematiker sind Diffe- rential und Integral ganz ebenso entschiedene Anschauungen, w^ie etwa für den niederen mathemathischen Verstand das „Produkt" zur Anschauung geworden ist, nachdem die Genesis des Begriffs aus der Summe von n gleichen Summanden unbewusst geworden ist. Was Schopenhauer für die Geometrie richtig herausgefunden hat, gilt ganz ebenso auch für die Algebra, wenngleich die Prä- dispositionen für das eine Gebiet vorhanden sein können, ohne die für das andere, und umgekehrt; auf alle Fälle aber darf man sich nicht auf die angeborenen Prädispositiouen blind verlassen, ohne dieselben im discursiveu Durchdenken der Sache zu con- troliren und nachzumeisseln (Ph. d. ünb. 279 282).

Wenn wir uns ein wenig besinnen, was wir bei dem gedank- lichen Operiren mit einem Begriff oder einer abstracten all- gemeinen Vorstellung (z. B. Hund, Haus, Liebe) eigentlich im Be- wusstsein haben, so ist das etwas höchst Wunderliches. Zunächst haftet der Inhalt an der Vorstellung des Wortes als Begriffs- zeicheus; Taubstumme und Thiere bilden zwar auch Begriffe ohne Worte, aber sie gewinnen niemals die Leichtigkeit der Hand- habung derselben wie der sprechende Mensch und bleiben in Folge dessen auch auf ziemlich niedrigen Stufen des Abstractions- processes stehen , ohne die höheren zu erreichen. Au die Wort- vorstellung knüpft sich nun beim Operiren mit dem Begriff noch ein gewisser schattenhafter, nebuloser, flüchtig vorüberhuschender

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Vorstellungsinhalt, der schwer festzuhalten und zu definiren ist. Beim Sprechenhören oder zusammenhängenden Lesen, Ja selbst beim schnellen Selbstdenken wird das Wort im Bewusstsein so schnell von den nachfolgenden Worten verdrängt, dass dieser Inhalt neben dem Wort als solchen gar keine Zeit hat, zur Gel- tung zu kommen, es sei denn, dass das Wort eine dominirende Bedeutung im Satze in der Weise einnimmt, dass die ihm zu- kommende Vorstellung als Orgel}3unkt die folgenden Vorstelluugea begleitet und in der Gesammtanschauung von dem Inhalt des Satzes den Kern des Vorstelluugsbildes abgiebt. Insoweit dies nicht der Fall ist, wird gerade wie bei einem mathematischen Begriffszeichen von allen Hirnprädispositionen, welche mit diesem Zeichen asöociirt sind, nur derjenige Thcil actualisirt werden^ welcher durch die anderen Worte, mit denen das fragliche im Satze in Beziehung gesetzt ist, wachgerufen werden. Dieser wach- gerufene Theil fügt dann dem Kern des Vorstellungsbildes im Satze eine neue Bestimmtheit hinzu. Es verliert durch diese Beschränkung des ins Bewusstsein tretenden Inhalts Jeder Begriff durch Verbindung mit anderen an Abstractheit, und nur diesem Umstand ist es zuzuschreiben , dass die Sprache als Mittel einer Kunst, der Poesie, verwendbar ist, welche doch nur in concreter Anschaulichkeit ihre Aufgabe erfüllen kann. Die Beziehungen der W^orte untereinander in einer wissenschaftlichen Untersuchung, z. ß. einem Paragraphen der Hegel'schen Logik^ sind natürlich ganz andere als in einer poetischen Schilderung^ und demgemäss wird bei denselben Worten, selbst wenn sie mit denselben oder ähnlichen verbunden sind, doch ein ganz anderer Theil des mit ihnen associirten Vorstellungsinhalts ins Bewusstsein gerufen werden. Wer nur in der einen Art von Beziehungen zu operiren geübt und gewohnt ist, für den bleibt der wahre Sinn der andern Art leicht ganz unverständlich, obwohl er die Worte und Satzconstructionen ganz gut zu kennen glaubt.

Sehen wir nun von der Verbindung eines Worts mit anderen im Satze ab und fragen nach der Vorstellung, die man mit dem Worte verknüpit, wenn man es allein für sich hinstellt, so ist es- klar, dass dieselbe ganz abhängig sein wird von den Beziehungen^

unter welchen man dem Worte am häutigsten zu begegnen ge-

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wohnt ist. Von entscheidendem Einfluss bleiben dabei die Ge- dankenproeessc, durch welche der Begriff in der Kindheit zuerst gebildet wurde, und die concrcten Gegenstände, von denen er zufällig zuerst abstrahirt wurde. Das kleine Mädchen, das zuerst <ien Wachtelhund ihrer Grossniutter „Hund" nennt, wird ihr Leben lang eine andere Vorstellung mit dem AVorte „Hund" verbinden, als der Knabe, dessen Kindheit von einem Neufundländer behütet ist; das Dortkind wird das Abstractum „Haus" stets anders Te])roduciren; als der dem städtischen Palast Entsprossene. Will man ein Abstractum deutlich und vollständig vorstellen, «0 bleibt nichts übrig, als den vollständigen genetischen Ab- stractionsjn'ocess desselben zu reproduciren ; da man dies aber fast niemals, ausser in entscheidenden Begriffsuntersnchungen, thut, so folgt daraus eben, dass man sich in allen anderen Fällen mit einer abgekürzten Ideenassociation zwischen dem sprachlichen Begriffszeichen einerseits und derjenigen beschränkten Seite von dem Resultat des genetischen Abstractionsprocesses begnügt, welche für die Beziehungen des Worts in dem vorliegenden Fall von Bedeutung ist. Je niedriger die Abstractionsstufe des Be- griffs, um so kleiner ist die bei diesem Abkürzungsprocess elidirte Vorstellungsmasse ; je höher die Abstractionsstufe, um so grösser ist der Ausfall an Gliedel'u, um so höher der Grad der Abkürzung, um so schwerer zu erfüllen auch die Voraussetzung aller Verständigung durch die Sprache, dass verschiedene Personen mit denselben Wortverbindungen denselben Sinn verbinden , da sich nicht nur der genetische Abstractionsprocess , sondern auch der Abkürzungsprocess bei jedem Individuum etwas anders ge- staltet.

Wo der Spielraum individueller Abweichung so beträchtlich ist, kann die Aussicht auf Vererbung von vornherein nicht gross sein und so sehen wir denn auch nicht, dass die Auffassungen sehr abstracter Begriffe von Seiten der Eltern anders als durch die Erziehung einen Einfluss auf die des Kindes haben. Eine Tölligc Ausnahmestellung nehmen aber diejenigen abstracten Be- griffe ein, welche typische Formen der Vorstellungsweisen bezeichnen; so gross auch die individuellen Verschiedenheiten in der bewussten Auffassung des Inhalts dieser Begriffe sind,

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so identisch bei allen Menschen gleicher Spracbstul'e erweisen sich die ererbten Prädis Positionen zur formell so und so be- stimmten Yorstellungsweise und Verknüpfungs\veise der Vorstel- lungen. Zum Theil sind diese typischen Denktormen das durch die Gewalt der Tbatsachen octroyirte subjective Nachbild von den Formen des Daseins und Geschehens („Ding an sich" S.8G - 89), zum Theil sind es formale Beziehungen, in welche das Denken die gegebenen Objecte theils untereinander, theils zu sich selbst und seinem Erkennen setzen musste, um sich in denselben soweit Orientiren zu können, dass das praktische Handeln möghch wurde. Von der ersten Art sind die Kategorien der Substantialität und Inhärenz, der Causalität und Nothwendigkeit, der Einheit und Vielheit (Zahl), der Gleichheit und Ungleichheit; letztere stehen schon auf dem Uebergange zu den Beziehungsbegritfcn der All- heit, der Negation und Limitation, der Möglichkeit, rnmöglich- keit und Zufälligkeit („Ding an sich^' ^S. >>V). Hiermit sind die typischen Denkformen oder Kategorien keineswegs erschöpft; jeder Versuch einer vollständigen Auszählung derselben ist von vorn- herein als verfehlt anzusehen deshalb, weil diese allgemeinsten Denkformen stetig und flüssig in formale Prädispositionen der Vorstellungsweise und Yerknüpfungsweise der Vorstellungen von minderer Allgemeinheit übergehen und sich ein specifischer Unter- schied zwischen ihnen und z. B. den Prädispositionen für mathe- matisches Denken oder musikalische Composition gar nicht au- geben lässt. Zum Theil, aber doch auch nur zum kleineren Theil, fallen die Kategorien der Logik mit den Elementen der Gram- matik, die allgemeinsten typischen Denkformen mit den allge- meinsten typischen Sprach formen zusammen, oder haben wenig- stens in diesen ihr äusseres Analogon, wie das Denken überhaupt an der Sprache ein seinen Leibesformen accurat angepasstes Ge- wand besitzt. Der typischen Spracbformen sind aber andererseits wieder mehr als der bisher statuirten typischen Denkformen (vgl. Ph. d. Unb. S. 262 263), so dass also auch nach dieser Seite die Prädispositionen von formaler typischer Bedeutung einen all- mählichen Uebergang zu concreteren Dispositionen bilden. Gleich- wohl ist die Verwandtschaft der typischen Sprachformen mit den typischen Denkformen ebenso geeignet, wie die Verwandtschaft

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der speciellen formalen Denkanlagen auf einseitigen Gebieten mit den allgemeinen Kategorien, um dafür zu sprechen, dass auch die letzteren in molecularen Hirnprä dispositionen ihren Grund haben, welche von den Vorfahren ererbt und von diesen durch allmählichen durch viele Jahrtausende ver- theilten Zuwachs Hand in Hand mit der Entwickelung der Sprache und dessen, was wir jetzt unter menschlicher Intelligenz verstehen^ erworben worden sind (Ph. d. Unb. S. 614). Das Princip dieser Fortbildung kann nichts anderes gewesen sein, als das BedtirfnisSy die Welt der umgebenden Objecte mit dem Verständniss zu durch- dringen und den in ihr sich darbietenden Verhältnissen ebenso- wchl wie den Beziehungen zwischen ihr und den eigenen prak- tischen Lebensinteressen bestens Rechnung zu tragen.

Von den vielen möglichen Arten der Vorstellungsver- knüpfung wurde auf jeder Stufe der Entwickelung diejenigen beibe- halten, welche sich für die praktischen Cousequenzen des Denkens als nützlich bewährten ; diese wurden wiederholt und prägten sich dadurch ein, während etwaige andere versuchte Verknüpfungs- formen wegen ihrer minder guten Anpassung an die Zwecke des Lebens keine oder schwächere Aufforderungen zur Wiederholung in sich enthielten und sich deshalb verloren. Die in diesem ideelen Kampf um's Dasein siegreichen Vorsteiiungsformen konnten aber eben nur d a d u r c h die praktisch sich als n ti t z 1 i c h bewährenden sein, weil sie den tliatsächlichen Verhältnissen der Aussenwelt besser entsprachen, weil sie ein adäquateres subjek- tives Abbild derselben gaben als andere; denn nur unter dieser Voraussetzung waren sie im Stande, die richtigeren Consequenzen tür praktische Handlungen zu ergeben, welche auf ihnen fussten. In diesem Sinne besitzen ja sogar schon die Thiere die Kategorien, sie beurtheilen die kommenden Ereignisse nach dem Princip der Causalität und richtigen ihre Handlungen darnach ein; sie besitzen die Kategorie der Zahl (wenn auch nur in ihren niederen Stulenj und unterscheiden auf das allerschärfste nach der Kategorie der Gleichheit und Ungleich- heit; sie denken nach dem Satz der Identität und des Wider- spruchs, weil eine andere Form der Vorstellungsverkuüptüng falsche Voraussetzungen in ihnen hervorrufen würde, die ihren

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Interessen schädlich werden mtissten. So ist z. B. die Krähe überzeugt, dass die Zahl 7 der in die Schiesshütte gegangenen Jäger sich selbst identisch bleibt und noch nach einer Stunde sich identisch ist; dächte sie anders und käme, wenn erst 6 davon die Hütte verlassen haben , an den Lockvogel heran , so würde sie den Schaden davon haben. Die so von den thierischen Vor- fahren ererbten Denkformen und Denkgesetze brauchte der Mensch nur strenger und sicherer auszuprägen, feiner durchzubilden und mit neuen zu bereichern ; aber trotz der Sprache , welche die Reflexion auf dieselben und das BewusstAverden derselben als solcher ermöglicht , dauert es doch noch sehr lange , ehe der Mensch auf inductivem Wege sich den Besitz dieser typischen Denkformen und Denkgesetze, deren er sich beständig bedient, zum Bewusstsein bringt; zeigt doch ein Homer, Pindar und Aeschylos noch keine Ahnung davon und war es nach dem Vor- gang platonischer Andeutungen dem Aristoteles vorbehalten, den Grundstein zu dem menschlichen Bewusstsein über die synthe- tischen Formen seiner Deukoperationen zu legen. Und während die praktische Anwendung dieser dem Gehirn durch Ver- erbung imprägnirten Prädispositionen zu gewissen Formen der VorstellungsverknüpiÜDg bei allen Menschen seit Jahrtausen- den dieselbe ist, streiten sich noch heute, Jahrtausende nach Aristoteles, die Philosophen über die Natur und das Wesen dieser synthetischen Formen, d, h. ist noch heute die bewusste Er- kenn tniss dieses uubewussten Eigenthums nicht zum Abschluss gelangt und ein Tummelplatz der widersprechendsten Ansichten. Hieraus geht aber auch rückwärts hervor, dass die Anwendung der angeborenen Formen von der An- sicht des Bewusstseins über dieselben gänzlich unabhängig ist, ebenso unabhängig beim Civilisirten wie beim Wilden, beim Menschen wie beim Thier. Diese Thatsache sollte doch die- jenigen Theologen und starren Spiritualisten etwas stutzig machen, welche wähnen, dass die Kategorien und Denkgesetze, welche den Kanon des Logischen bilden, eine Gabe seien, welche einen specifischen Unterschied des Menschen vom Thiere begründeten, oder dass der göttliche Funke der Vernunft es sei, der den Menschen in eine völlig heterogene Geistessphäre erhebe,

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als das „veriuinftlosc" Thier. Nicht in der Sphäre des Bewusst- sein liegt die Vernunft, sondern in der der unbewussten, ange- borenen, lornialcn Prüdisposition ; unbewusste Vernunft hat aber das Tliior gerade so gut wie der Mensch, nur auf einer graduell verschiedenen Stufe der Entwickelung je nach der Stufe der Intelligenz des Tliieres, das man aus der Reihe heraus- greift.

Es ist allerdings die stärkste Zumuthung, die man dem Philo- sophen stellen kann, dass er die typischen Denkformen und Denk- gesetze auf psychologischem Gebiet als Resultate eines allmäh- lichen Anpassungsprocesses zwischen den Gehirneindrticken der Vorstellungsvcrknüpfungen der Thiere und den gegebenen Ver- hältnissen der Aussenwelt betrachten solle, und dennoch dürfte bei näherer Betrachtung selbst für den Metaphysiker das Paradoxe dieser Behauptung verschwinden. Zunächst ist zu beachten, dass die Genesis der logischen Prädispositionen auf psycho- logischem Gebiet nicht das Mindeste aussagt oder gar ent- scheidet über das onto logische Wesen der logischen Formen und Gesetze auf metaphysischem Gebiet, also auch ihrer metaphysischen Bedeutung keinen Eintrag thun kann. Jede Philosophie, die die Beschränktheit des subjectiven Idealismus überwunden und die Bedeutung der logischen Formen und Ge- setze für die Welt der Dinge an sich für das reale Dasein und Geschehen zugegeben hat, muss anerkennen, dass die logischen Formen und Gesetze in dem thierischen und menschlichen Intellekt letzten Endes nur deshalb Gültigkeit haben können, weil dieser Intellekt selbst eine reale Existenz hat, weil er zur Welt des realen Daseins gehört und mit unter deren Formen und Gesetzen steht. Ist es aber einmal zugestanden, dass die subjective Logik nur ein Ausfluss der objectiven Logik sein kann, so bleibt nur noch die Frage zu entscheiden, ob die Begründung der psycho- logischen logischen Formen und Gesetze in den ontolo- gischen eine unmittelbare oder mittelbare sei. Wenn man früher, gestützt auf eine teleologische Metaphysik, der scheinbar einfacheren Annahme einer unmittelbaren Begründung den Vorzug gab, so muss gegenwärtig die Analogie der gesammten übrigen Schöpfungsgebiete hiervon abmahnen, welche durchgehend»

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eine sehr allmähliche Vermittelung durch langwierige Eutwicke- lungsprocesse zeigen, wo man früher an unmittelbare Coustituirung aus der Hand der schöpferischen Natur oder Gottes geglaubt hatte. Ist der ganze Mensch und si)eciell das Organ seines Geistes das Resultat einer solchen langwierigen Kntwickelung, so lässt die Analogie erwarten, dass auch die logischen Formen seiner Vor- stellungen und seiner Vorstellungsverkntipfungen nur das Resultat eines Entwickelungsprocesses in meiner Almenreihe seien.

Diese Vermuthung findet ihre Bestätigung darin, dass wir die verschiedenen Entwickelungsstufen der psychologi- schen Logik in den uns erhaltenen Resten der menschlichen Ahnenreihe handgreiflich vor uns haben; wir brauchen nur z.B. den Vorstellungsprocess eines Wurms, eines niederen Fisches, einer Amphibie, eines niederen und eines höheren Säugethicres^ eines Buschmanns, eines Kosaken und eines gebildeten Europäers zu vergleichen. Eine weitere Bestärkung erhält unsere Annahme in der nahen Verwandtschaft der Denkformen mit den An- schauungsformen, welche wir sogleich näher betrachten werden und für welche dieselbe Annahme kaum zu umgehen ist. Zu einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit wird sie endlich erhoben durch den Verzicht auf teleologische Eingriffe in die organischen Molecularprocesse des Gehirns, durch welche also auch eine unmittelbare logische Bestimmung der Verknüpfungs- weise zweier Vorstellungen ausgeschlossen bleibt, insofern dieselbe nicht nach den mechanischen Gesetzen der Gehirnschwingungen sich schon von selbst aus den vorhandenen Prädispositionen und den auf diese einwirkenden Bewegungsreizen ergiebt. Da wir die bewusste Vorstellung überhaupt als Sunnnationsphänomen aus den Empfind ungs- oder Vorstellungsfunctionen der Atome be- trachten und einen andern Geist als die Innerlichkeit der Atome des Gehirns selbst als im Menschen wirksam anzuerkennen keinen Grund gefunden haben, so kann auch das objectiv reale Dasein, in welchem die subjectiv-logischen Formen ihre Begründung haben sollen, in nichts anderm als im Gehirn gesucht werden, und kann die gesetzmässige Bestimmtheit der synthetischen Formen des Vorstellungsprocesses im Sinne der objectiv gültigen logischen Formen und Gesetze durch keine andere Eigenschaft dieses realen

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Daseins bedingt sein, als durch die ererbten Prädispositionen des Gehirns, in welchen allein die Vorstellungsverkntipfiing prä- determinirt sein kann. Die ausnahmslose Sicherheit, mit welcher 2. B. die Prädispositionen der logischen Grundgesetze der Identität und des Widerspruchs psychologisch functioniren, würde hiernach herrühren von der unendlich langen Generationenreihe des Thier- reichs, durch welche die Vererbung dieser Verknüpfungsform zu einer überaus befestigten geworden ist. Während bei allen anderen als den rein logischen Formen in der Ahnenreihe des Menschen ein öfter wiederholter AVechsel stattfindet, bleiben diese immer und immer dieselben und werden niemals durch die Nöthigung zu einer Vorstelluugsverknüpfung gestört, welche diese Dispo- sition abschwächen könnte, wie dies bei allen typischen Formen <ler Tnstinctvorstellungen mehr oder minder häufig der Fall ist. Schon die Ideenassociation, welche ohne jede ererbte Anlage bloss durch Gewöhnung während eines Menschenlebens erworben ist, kann eine Gewalt bekommen , der gegenüber alles abstracte Besserwissen ohnmächtig wird (z. B. die Association der Vor- stellung der Unreinheit mit der Vorstellung eines Porcellangetässes von der Gestalt eines Nachtgeschirrs; oder die Association der Vorstellung der Todsünde mit der Vorstellung der Tödtung einer Kuh, wie sie im Kopfe aller gläubigen Brahrainen besteht); wie darf man sich da solchen Thatsachen gegenüber noch wundern, wenn eine durch Millionen Jahre ohne jede Stcirung befestigte Vererbung, welche in der Erfahrung und Gewöhnung des indivi- duellen Lebens nichts als Bestätigung und Bestärkung findet, das Kesultat einer so unerschütterlich befestigten Prädisposition zu Stande bringt, dass es gegen das Functioniren derselben keine Appellation mehr im Bewusstsein des Individuums giebt!

Indem die besprochenen Prädispositionen die Vorstellungs- weise und Verkntipfungsweise von Vorstellungen nach bestimmten typischen Normen prädeterminiren, ohne selbst dabei in's Bewusst- sein zu treten, sind sie das Prius des allein in's Bewusstsein tretenden Resultats. Nim ist aber nur dasjenige, was im Be- wusstsein vorgefunden wird, für das Individuum empirisch gegeben, was aber jenseits des Bewusstseins in dem vorbewussten EntstehuDgsprocess des Empirischen liegt, ist nicht mehr empirisch

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y.u neniiCD, sondern steht, insofern es von der begrifflichen Unter- suchung als wirklich vorhanden constatirt ist, in einem begriff- lichen Gegensatz zu dem Empirischen. Als Prius des Empirischen heisst es in der Philosophie seit Kant „das Apriorische" <vgl. „Ding an sich" S. 67). Schon Plato hatte erkannt, dass der menschliche Intellekt nichts weniger als eine leere Tafel, eine iabula rasa sei (wie Locke behauptet), sondern, dass alles Lernen ein dem Auftauchen von Erinnerungen ganz analoger Process sei. Sein Irrthum bestand nur darin, dass er die Prädispositionen zu dieser Erinnerung in einem früheren Leben der mit sich iden- tischen Individualseelensubstanz, anstatt in der Vererbung von den Vorfahren des Individuums her begründet wähnte fPh. d. ünb. S. ßl3). Dass die Denkformen nicht individuell erworben, sondern angeboren seien, wurde mit Recht von Descartes so scharf prononcirt, aber Locke hatte ebenso sehr Recht, zu be- streiten, dass es angeborene Ideen oder Vorstellungen gäbe, da in der That die Prädispositionen zu gCAvissen Denkformen ebenso wenig und noch weniger Ideen oder Vorstellungen heissen können, als die individuell erworbenen Prädispositionen des Gedächtnisses (Phil. d. Unb. S. 613, 27-28, 253, 268), denn diese geben doch beim Functioniren eine wirkliche Vorstellung, jene aber nur constituirende formale Elemente einer Vorstellung oder den Associatiousmodus zwischen mehreren. Indem Kant den Aus- druck ,,a priori^'- als den Gegensatz zu „empirisch" bestimmte, traf er den Nagel auf den Kopf und gab dem Dilemma eine neue Fassung: der nachkantische Empirismus konnte nur noch mit offenbarem Unrecht bestreiten, dass unsere Denkformen a priori seien. Kant bestimmt in seiner Polemik gegen Eberhard's Kritik (Kant's Werke ed. Rosenkranz Bd. I. S. 445—446) die apriori- schen Formen (es ist hier zufällig von den sinnlichen Anschauungs- formen die Rede) als keineswegs in Gestalt fertiger Ideen oder Bilder angeborene, sondern als innewohnende passive Be- schaffenheiten (Receptivitäten) des Gemüths, auf gewisses Afficirt- werden hin Vorstellungen von einer gewissen Vorstellungsform 'ZU bekonmien; nicht sie selbst, sondern der erste formale Grund ihrer Möglichkeit sei uns angeboren (vgl. „Ding an sich" S. 110). Es ist klar, dass diese Erklärung ganz mit dem tibereinstimmt,

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was wir Prädispositionen neuneD, nur dass Kant die Entscheidung offen lässt, ob diese Prädispositionen als in der Substanz des materiellen Organs der Deukfnnctionen niedergelegt oder als in der metaphysischen Natur einer spiritualistischen Seelensubstanz begrtindet zu betrachten seien. Im Stillen scheint Kant selbst in Betreff der sinnlichen Anschauungsfoimen mehr zu der ersteren, in Betreff der logischen Denklbrraen mehr zu der letzteren An- nahme sich hingeneigt zu haben (vgl. „Ding an sich" S. 82— 83)^ aber Kant's Bedenken wegen der allgemeingültigen Bedeutung der logischen Formen, die durch Fichte's Deduction und Hegel's Dialektik zum System ausgesponnen wurde, sind für uns durch die vorangeschickten Betrachtungen über die psychologische Ge- nesis der logischen Denkformen beseitigt. Der erste nachkantische Philosoph, der die von Kant gelassene Zweideutigkeit im modernen physiologischen Sinne erledigte, war Schopenhauer, welcher die intellektuellen Functionen überhaupt und ohne Ausnahme für Functionen des Gehirns erklärte und wir haben gesehen, dass jede aridere metaphysische Seelensubstanz ausser der inneren Seite der das Gehirn constituirenden Atome eine durch kein Er- klärungsbedürfniss legitimirtc Hypothese ist. Wir müssen also Schopenhauer's Annahme, dass die apriorischen Formen Functionen des Gehirns seien, unbedingt billigen und können den „angeborenen formalen Grund" des so und nicht anders Functionirens nur in der zu einer solchen Functionsweise prädisponirten molecularen Be- schaffenheit des Gehirns suchen.

Haben die nachkantischen Philosophen den Empirikern gegenüber darin Recht, dass alles Vorstellen im Individuum a priori entspringe, so hat doch die empiristische Anschauungs- weise den Philosophen gegenüber insoweit Recht behalten, als sich herausgestellt hat, dass für die Stufenreihe der Orga- nismen als Ganzes genommen das Empirische das Prius des Apriorischen ist, indem die Hirnprädispositionen, aus welchen die apriorischen Functionen entspringen, selbst wieder nur das Endresultat eines langen Anpassungsprocesses sind, in welchem Fortschritte durch empirisches Tasten und Befestigung der nützlichen Versuche durch natürliche Zuchtwahl Hand in Hand gehen. Diese neu errungene Auffassungsweise ist aber

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bis jetzt von verschiedenen Seiten erst angedeutet, noch nirgends durchgeführt worden ; unsere bisherigen Ausführungen in Verbindung mit denen des folgenden Abschnitts werden hinreichen, dieselbe als mit demjenigen ^laasse von Wahrscheinlichkeit bewiesen er- achten zu lassen, dessen solche Fragen in der Gegenwart über- haupt fähig sind. Zugleich erhellt aus unseren Untersuchungen, dass einzig und allein die von der biologischen Descendenztheorie neu in die Wissenschaft eingeführten Perspectiven im Stande waren, den principiellen Gegensatz von philosophischen Aprioristen und naturwissenschaftlichen Empiristen in einer höheren Einheit zu versöhnen, welche die relative Wahrheit beider Standpunkte in sich vereint und die unwahre Einseitigkeit beider den Blicken der Gegen- wart enthüllt. Die Ph. d. Unb. acceptirt , indem sie sich die De- scendenztheorie einverleibt, auch dasErklärungsprincip, welches die letztere für die bisher als metaphysisches Wunder angestaunte That- Sache des „a priori'^ darbietet (vgl. S. 613), wie dies aus dem Zu- sammenhang unserer bisherigen Erörterungen hinreichend hervor- geht ; indem sie aber andrerseits von der Hypothese der beständigen metaphysisch -teleologischen Eingriffe in den naturgesetzlichen Verlauf der organischen und insbesondere der Gehirn-Processe nicht loskommen kann , c o n f u n d i r t sie das richtige Er- klärungsprincip des „a pr/o/i*^ zugleich auch mit jenem uner- weislichen speculati ven, welches bisher, so lange es das einzige existirende war, eine gewisse Beachtung verdiente, aber gerade durch das allen Anforderungen glänzend entsprechende der Descendenztheorie als endgültig beseitigt zu betrachten ist, so dass von einem Nebeneinanderfortbestehen beider mit vicari- rendem Füreinandereintreten (im Sinne d. Ph. d. Unb.) keinen- falls mehr die Rede sein kann.

IX.

Die Entstehung der Anschanungsform der Räumlichkeit.

Wir werden die Genesis der Anschauungsform der Räum- lichkeit in der Weise zu ergründen suchen, dass wir die im genetischen Process der Wirklichkeit zuletzt hinzugefügten Ent- wickelungsstufen zuerst abhandeln, also den Weg der Natur rück- wärts durchmessen. Wir werden dem entsprechend zunächst das flächenhafte Gesichtsfeld in zwei Dimensionen, wie es der operirte Blindgeborene schon bei den ersten Sehversuchen mitbringt, als gegeben voraussetzen, und die Entstehung der Anschauung der dritten oder Tiefen-Dimension auf dieser Grundlage untersuchen.

Tritt ein leuchtender Punkt in das vorausgesetzte flächen- hafte Sehfeld, so stellen beide Augenaxen sich reflectorisch so €in, dass die Stellen des deutlichsten Sehens (die gelben Flecke) beider Netzhäute das Bild des leuchtenden Punktes aufnehmen. Treten mehrere leuchtende Punkte hinzu, so wechselt die Augen- stellung mit den fixirten Punkten nach dem Gesetz der Ermüdung. Bei dieser successiven Fixation sind nun zwei Fälle möglich: entweder die realen leuchtenden Punkte liegen in einer zur Seh- axe senkrechten Fläche, dann fallen ihre Bilder auf den Netz- häuten beider Augen auf correspondirende Stellen*); oder aber die realen leuchtenden Punkte liegen in verschiedener Entfernung

*) Die Abweichungen sind wenigstens so gering, dass sie praktisch zu vernachlässigen sind.

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vom Auge, dann ändert sich bei der Fixirung jedes Punktes die Convergenz der Sehaxen und dadurch das Lagenverhältniss der Bildpunkte auf den Netzhäuten in der Weise, dass nicht mehr correspondirende Stellen von ihnen getroffen werden. Die Ab- weichung von der Correspondenz wird um so grösser, je grösser der Unterschied in den Entfernungen der realen Lichtpunkte vom Auge ist. Wenn der Blick von einem Lichtpunkt zu einem gleich weit entfernten übergeht, so haben die Augen nur die Muskel- empfindung des zurückgelegten Weges; wenn er aber zu einem Lichtpunkt von verschiedener Entfernung übergeht, so haben die Augen ausser dieser Muskelerupfindung des zurückgelegten Weges noch zweitens die der veränderten Convergenz und drittens die der veränderten Correspondenz der Lage der übrigen im Sehfeld befindlichen Punkte (Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinnes- wahrnehmung, Leipzig 1862, S. 291 293). Der Intellekt sucht diese Thatsachen mit dem Verständniss zu durchdringen; der Tastsinn kommt ihm hierbei auf kurze Entfernungen zu Hülfe; auf grössere Entfernungen wird er durch die Veränderungen im Sinne perspectivischer Verschiebung unterstützt, welche in seinen Wahrnehmungen vorgehen, wenn er seinen Körper von der Stelle bewegt. Dazu kommt nocli die Veränderung der scheinbaren Grösse eines Gegenstandes, der durch seine Bewegung aul den Beobachter zu oder von demselben hinweg ihn nöthigt, bei der Fixation die Convergenz der Sehaxen stetig zu vergrössern resp. zu verringern, und viele andere ähnliche Erscheinungen, die sich dem Intellekt als zu lösende Probleme aufdrängen. Jede falsche Deutung dieser Veränderungen in den Wahrnehmungen hat den Misserfolg des auf sie gebauten Handelns zur Folge, jede richtige Deutung wird durch das Gelingen der auf solche Voraussetzungen hin vorgenommenen Handlungen belohnt; hierdurch wird jede falsche Deutung eine Warnung vor Wiederholung derselben, jede richtige eine Ermunterung zum Festhalten der eingeschlageneu Richtung des Denkens und zum Weiterschreiten auf derselben. So zwingt die Nothwendigkeit des Handelns von selbst zu einer allmählich fortschreitenden richtigen Deutung, d. h. zu einer solchen die der wirklichen Beschaffenheit der Dinge ent- sprechend ist. Bei diesen Vorstellungsverknüpfungen haben

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nun jedesmal nur das Anfangsglied (die gegebenen Organempfin- dungen) und das Endglied (das jeweilige Kesultat des Verstän- digungsbemüliens) ein Interesse, die gleichgültigen Verbindungs- glieder aber werden durch Abkürzung der Ideenassociation elidirt. In demselben Maasse als das Verständniss fortschreitet, schreitet auch der Process dieser Abkürzung der Ideenassociation fort, und bei demjenigen Maass von eingeübtem Verständniss, welches ein erwachsener Mensch von seinen Gesichts Wahrnehmungen besitzt, hat diese Abkürzung einen solchen Grad erreicht, dass für denjenigen, welcher den angegebenen Entstehungsprocess nicht beachtet, die schlagfertige Festigkeit der Association zwischen Vorstellungen, welche sich so fern zu liegen scheinen, in der That höchst überraschend ist. Wir haben eine ziemlich ebenso genaue Schätzung von relativen Entfernungsverschiedenheiten in der Tiefendimension wie in der Breitendimension und für unser Be- wusstsein ist die Tiefe der räumlichen Wahrnehmung von nicht minder anschaulicher Natur als die Höhe und Breite. Es wäre ein so absolut sicheres Function! ren der Association zwischen den complicirten Orgauempfindungeu und den complicirten Raum- vorstellungen, welche wir an dieselben knüpfen, es wäre eine solche Unmittelbarkeit der Anschauung der dritten Dimension, eine so vollständige Elision der vermittelnden Verbindungsglieder zwischen diesen Endgliedern einer höchst complicirten Ideen- association für die Uebungszeit eines Menschenlebens entschieden un- möglich, wenn nicht eine durch befestigte Vererbung überkommene Gehirnprädisposition zu dieser Art von abgekürzter Vorstellungs- verknüpfung uns angeboren wäre, welche nur durch die Uebung der Kindheit aufgefrischt und nachgemeisselt zu werden braucht. Auch hier ist es wesentlich der unreife Zustand des Kinder- gehirns bei der Geburt, der diese Sachlage den Blicken des Physiologen und Psychologen verhüllt, so lauge dieselben ihre Beobachtung nicht auf das Thierreich ausdehnen; in letz- terem aber zeigt sich die erforderliche Zeit der Uebung um so kürzer, je reifer das Gehirn des Thieres bei der Geburt resj). bei der Oeffnung der Augen ist. Das Thierreich als Ganzes muss aber die dritte Dimension und die Prädisposition zu der- selben auf ganz demselben Wege, nur langsamer, erworben haben,

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wie wir es oben von der Uebung des Individuums gezeigt haben. Wenn der Mensch ohne Augen ein ganz hlilf loses Geschöpf ist, so hatte das Thierreich den Vortheil, die Augen zunächst nur als nebensächliche littlfsorgane zu entwickeln und dieselben erst jilhnählich so zu vervollkommnen, dass sie zu einem wichtigen und zuletzt unentbehrlichen Hitlfsmittel im Kampf um's Dasein wurden; hier konnte und musste nun natürlich der allmähliche Fortschritt des Verständnisses der Sinneswahrnehmungen Hand in Hand gehen mit dem allmählichen Fortschritt der Ent- wickelung des Sinnesorgans: und jeder solche gemeinsame Fort- schritt vervollkommnete zugleich die an die Nachkommen ver- erbte Prädisposition zu dem richtigen Yerständniss. So steht endlich unsere menschliche Anschauung als das letzte Glied einer durch lange Vererbung gesteigerten Fertigkeit da, welche als wesentliches Moment in sich die dritte räumliche Dimension als typische P^orm der Anschauung enthält. Nur so wird die Illusion erklärlich, in der wir uns betinden, wenn wir die Tiefendimension der Gegenstände unmittelbar und anschau- lich wahrzunehmen glauben, während wir doch wissen, dass dies nur eine hinzu gethane Vorstellung ist, welche mit gewissen Complicationen von Organcmpfiudungen des Auges (Muskelempfindungen und Correspondenzverschiebungen) vermöge einer ererbten und individuell nachgeübten Gehirnprädisposition in unwillkürlicher und nolhwendiger Weise verknüpft wird. Die Abkürzung der Ideenassociation geht hier so weit, dass sogar das Anfangsglied, die Organempfindungen, als interesselos niit elidirt wird und in's Unbewusstsein versinkt, und dass auf den zum Gehirn geleiteten Reiz sofort und unmittelbar jene assoeiirte Vor- stellung eintritt, weil sie allein von praktischem Interesse ist. Wir finden hier eine eclatante Bestätigung des oben (S. 128) praeliminarisch aufgestellten Satzes, dass selbst begriff- liche Vorstellungsgebilde (wie die Tiefendimension bei ihrer ersten Construction ohne Zweifel eines ist) sich um so mehr der Anschauung nähern, je mehr sie zu vererbten typischen Vorstellungsformen werden, und dass sie zur w i r k 1 i c h e n A n - schauung werden, sobald die Vorstufen ihrer Genesis voll- ständig unbewusst geworden sind. Da die Gesichtsanschauung

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der Prototyp aller Anschauung ist, von dem dieselbe sogar ihren. Namen durch Generalisatiou entlehnt hat, so dürfen wir wohf auch die hier evident gewordene Genesis der Anschauung als solchen generalisiren und sagen, dass alle Anschauung, die wir besitzen, auf dieselbe Weise entstanden zu denken sei, nämlich durch Unbewusstwerden der Zwischen- glieder in dem Ideenassociationsprocess, durch welchen sie sich aus den elementaren Empfindungen mit Hülfe b e g r i f f - lieber constructiver Deutungsversuche derselben allmählig- entwickelt hat. Die elementare Empfindung (welche Kant die Materie der Anschauung nennt) unterscheidet sich von der Anschauung durch den Mangel des begrifflich-synthetischen An- theils; der discursive Begriff unterscheidet sich von ihr durch den. Mangel au intuitiver Unmittelbarkeit; der Begriff schliesst das Bewusstsein der Möglichkeit, seine Genesis durch alle Vermitte- lungsstufen hindurch jeden xA.ugenbUck reproduciren zu können^ als nothwendiges Moment, als integrirenden Bestandtheil seines^ Wesens in sich ein und weiss sich somit als vermittelt, der An- schauung ist dieses Bewusstsein abhanden gekommen und der so erzeugte Schein der Unmittelbarkeit kann selbst durch die bessere discursive begriffliche Einsicht in die Genesis derselben nicht mehr alterirt werden, weil er organisch begründet ist; die Anschauung ist sonach die höhe reEinheit von Empfin- dung und Begriff, in welcher beide Bestandtheile unbewusst geworden sind durch den Abkürzungsprocess der Ideenassociation; die Anschauung ist die allein übrig gebliebene Frucht des Baumes, dessen Wurzel die Empfindung, dessen Stamm^ Aeste und Blätter die begriffliche Construction war. Auch die Philosophie hatte bereits das synthetische Element in der Anschauung anerkannt und hatte verstanden, dass sowohl die elementare Grundlage als auch der begriffliche Aufbau nur als unbewusste Voraussetzungen in der als solchen unmittelbar dem Bewusstsein gegebenen Anschauung entbalten sei (vgl. „Ding an sich" 8. 66—68, 71-72, 82—83, 89—91; Ph. d. Unb. S. 275^ 303— o04j; sie hatte nur die Genesis der Anschauung nicht als Abkürzungsprocess der Ideenassociation begriffen und deshalb war ihr das synthetisch- Constructive, welches unbewusöterweise in dem

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aber den ursprünglichen Empfindungsstoff hinaus in der Anschauung enthaltenen Plus an A^'orstellungselementen implieite drinsteckt, ein unverstandener metaphysich-teleologischer Eingriff geblieben, anstatt darin das Functioniren der Gehirnprädispositionen zu er- kennen, welche den formalen Niederschlag des genetischen Ent- wickelungsprocesses der Anschauung in der Ahnenreihe des Indi- viduums repräsentiren. Dass solche beständig in typischer Form wiederholte Functionen einen Eindruck im Gehirn hinterlassen müssen, welcher als Prädisposition für wiedervorkommende Fälle sich geltend macht, nimmt ja die Pb. d. Fnb. sell)st an; dass solche Prädispositionen sich vererben und diiroh langandauernde Vererbung sich immer mehr befestigen, gesteht sie ebenfalls zu (S. 614 615;; dann haben wir aber auch in dieser ererbten Prädisposition eine thatsächliche Erklärung des synthetisch-con- structiven Elements ''^ in der Anschauung, welche den meta- physisch-teleologischen Eingriff überflüssig macht, und dies be- streitet die Ph. d. Unb. wunderbarer Weise sogar lui- die dritte Dimension (S. 312), von der wir bisher allein gesprochen haben. Der tiefere Grund dieser anscheinenden ineonsoquenz liegt in dem Mangel des Verständnisses der Abkürzuug der Ideenassociation ; (lieser Mangel verhindert den Einblick in die wahre Genesis der Anschauung und lässt deshalb mindestens bei P^ntstehung der Hirnprädisposition an metaphysiseh-teleologische Eingriffe glauben, weil das Resultat ein teleologisch werthvoUes ist. Wir wissen aber, dass Zweckmässigkeit als Resultat sehr wohl möglich ist ohne Zweckmässigkeit als Princip (vgl. oben S. 28—30), und haben diesen Satz bei der Entstehung der Fertigkeiten der Central- organe im Gebrauch der willkürlichen Muskeln (vgl. oben S. 112—115) an einem concreten, bereits in's psychiscbe Gebiet hin- überführenden Beispiel genau geprüft und bestätigt gefunden, wo -ähnliche liedenkeii wie hier obwalteten. So wenig die Ph. d. Unb. auf den ihr nahe genug liegenden Gedanken verlällt, die

*) Dieses syuthetisch-constructive Element in der Anschauung ist, da es nur unbcwusst und implieite in dem Resultate drinsteckt, au und für sick genommen eben als Prius des allein in's Bewusstsein fallenden RcsultaLs id. i. der Anschauung selbst) zu bezeichnen, und fallt deshalb mit dem zu- sammen, was die Philosophie das Apriorische nennt (vgl. oben 136 139).

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Entstehung zweckmässiger äusserer Einrichtungen als Resultat von Anpassungs- und Coinpensationsprocessen ohne metaphysisch- teleologische Eingriffe anzusehen, so wenig kommt sie auf den Gedanken zweckniJ5ssige Gehirnmechanismen als Resultate von psychischen Anpassnngs- und Compensationsprocessen ohne meta- physisch-teleologische Eingriffe anzusehen. Wo sie eine prä- disponirte Association von Vorstellungen vorfindet, welche den, logisciien Zuschauer auffordert, eine Verknüpfung durch logische Zwischengheder zu ergänzen, da nimmt sie sofort und ohne Wei- teres an, dass diese Zwischenglieder in unbewusst metaphysischer Actualität als gegenwärtig wirksame bei dem Vorgang der Association betheiiigt seien, anstatt daran zu denken, dass diese prädisponirte Association das Resultat eines Abkürzungs- processes sein müsse, in welchem die früher einmal allerdings actuell vorhandenen Zwischenglieder als überflüssiger Ballast elidirt worden sind und bloss der äusserliche, mechanische, prädispositionelle Zusammenhang zwischen Anfangs- und Endglied übrig geblieben ist (vgl. oben 121 123). Wo die Resultate des Vorstellungsprocesses logisch sind, da setzt die Ph. d. Unb. sofort ein a c t i v e s , logisch bestimmendes metaph} sisches P r i n c i p als Grund dieser Erscheinung, während doch gerade die in der subjectiven Vorstellungsassociation sich entfaltende Logik zu- nächst eine passive, durch die praktisch gebotene Anpassung an die thatsächlich gegebenen Verhältnisse äusserlich erzwungene ist und erst später im Kopfe des gebildeten Menschen eine sich activ bethätigende werden kann, wenn die Prädispositionen zur logischen Verknüpfung der Vorstellungen durch befestigte Ver- erbung bereits so fest eingewurzelt sind, dass sie zu einer selbstständigen Macht im Denken geworden sind. Nicht deshalb haben im Kampf der Associationsformen im Denken die logisciien Associationsformen den Sieg davon getragen, weil sie logisch, sondern weil sie praktisch sind, weil sie allein den thatsächlichen Verhältnissen entsprechen, und dass sie hintennach sich als logisch herausstellen, ist ganz ausschliesslich dadurch bedingt, dass die thatsächlichen Verhältnisse, aus der Anpassung an welche sie entstanden sind, ebenfalls logisch sind (vgl. oben S. rd'2 ff.).

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Aus dem praktisclien Bedürfniss allein ist auch jene Deutung der Gesichtswalirnehmung-en erwachsen und befestigt^ welche die dritte Dimension zu den zwei Dimensionen der Fläche hinzutügt; die Nothwendigkeit, sich der Aussen weit behufs der Erhaltung des Daseins anzupassen, drängte jedes Wesen dahin, mit fortschreitender Vervollkommnung des Auges auch die Deutung- der Gesichtswahrnehmungen in dem Sinne fortzubilden, dass die räumliche Ordnung der realen xVussendinge so suppouirt wurde, wie sie wirklich sein musste, um die Sinnesorgane so afficiren zu können. Auch hier war der Fortschritt im Tliierreich ein tastendes Probiren, von welchem nur jene Associationsarten bei- behalten wurden, welche durch den Erfolg bestätigt und belohnt wurden (^vgl. oben S. 141) , keineswegs aber ein activ logisches Moment, ausser in soweit schon vorhandene Prädis- positionen zur logischen Vorstellungsassociation sich an diesem tastenden Probiren nützlich betheihgten. Hätte in derselbea Weise, wie die Sinnesaffectionen durch die Aussenwelt ihre Deutung im Sinne einer dritten Dimension erheischten, ein prak- tisches Bedürfniss sich herausgestellt, gewisse problematische Moditicationen der Gesichts Wahrnehmungen im Sinne einer vierten Dimension des Raumes zu deuten, und hätten die hier- aus gezogenen Cousequenzen und die auf dieselbe gebauten Hand- lungen und Experimente dieselbe eclatante Bestätigung gefunden, wie es bei den auf die dritte Dimension gebauten der Fall ist, so würde ohne Zweifel mit den fraglichen Xodificationen der Ge- sichtswahrnehmungen sich die Vorstellung einer vierten Dimension in derselben Weise associirt haben, wie mit den oben (S. 140 141) angegebenen Moditicationen die Vorstellung einer dritten Di- mension; wenn ferner dieses Bedürfniss einer vierten Dimension sich in einer entsprechend frühen Stufe unserer Ahnreihe heraus- gestellt hätte, so würde diese Ideenassociation nicht nur eine ebenso starke Abkürzung erlitten haben, sondern auch die Prädis- position zu derselben ebenso sehr durch Vererbung befestigt sein, wie es jetzt die der dritten ist, und wir würden alsdann die vierte Dimension ebenso unmittelbar in der Anschauung zu besitzen glauben, wie jetzt die dritte. Rückwärts können wir darauf üchliessen, dass die Ordnung der realen Dinge, in soweit

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hie fiir das Afficiren unserer Siiuiesorgaue von Einfluss ist, sich tliatsächlicfi in drei Dimensionen erschöpft, weil noch nirgends in unserer jetzt sehr genau und sorgfältig durchforschten Sinnes- "wahrnehnumgen sich Modificationen gefunden hahen, welche nicht durch die Annahme von drei Dimensionen ausreichend erklärt würden. Im reinen Begriff hindert uns nichts, eine vierte Dimension des Raumes zu denken (wie durch Gauss, Riemann und Helmholtz zur Genüge dargcthan); in der Anschauung iiher können wir einfach deshalb nicht über die drei Dimensionen hinaus, weil die Anschauung nach unserer obigen Definition (S. 14-3 144 u. 128) überhaupt nur die Function einer aus stark abgekürzter Ideenassociation erwachsenen Prädisposition ist, und die Voraussetzungen zur Genesis einer solchen in Bezug anf eine vierte Dimension fehlen.

Ganz anders als bei einer problematischen vierten Dimension stellt sich die Sache, wenn wir zu der Betrachtung der ersten und z w e i t e n D i m e a s i 0 n d e s R a u m e s übergehen, denn hier ist ebenso wie bei der dritten Dimension einerseits die Anschauung als Resultat einer unbewusst synthetischen Function und anderer- seits die vor und jenseits der Raumanschauung gelegenen un- räumlichen elementaren Orgaaempfiiidungen (intensiv und quali- tativ durch Localzeichen verschiedene Netzliauteindrücke und Muskelbewegungsempfinduogen) gegeben; die Anschauung ist das Endglied, die Organempfindung das Anfangsglied eines Vorstel- lungsassociationsverlaufs , welcher ursprünglich nur in der den praktischen Bedürfnissen angepassten Deutung der gegebenen Empfindungen bestanden habeji kann, welcher aber, ebenso wie der bei der dritten Dimension, einer so starken Abkürzung unter- legen hat, dass nicVit nur die Zwischenglieder, sondern auch das Anfaugsglied de}- Organemptiudungen als solches aus dem Be- wusstseiu entschwunden ist. Auch hier muss nothwendig die oft wiederholte Function eine (durch Vererbung gesteigerte und be- festigte) Prädispositiou zu dieser synthetischen Function im Hirn zurückgelassen haben (vgl. oben S. 145). In Bezug auf An- t5chaulichkeit stehen die erste und zweite Dimension keines- wegs höher als die dritte, sondern dieser gair/ gleich (S. 142), und die Vorstellungsvcrkntipfungen, durch welche das Individuum seine

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Gesichtswahrnehmimgen in Bezug auf die dritte Dimension ver- stehen lernt, sind auf das Innigste verwebt mit jenen, durch welche es das feinere Verständniss und die sicherere Uebung in der Beurtheihmg der tiiiehenhaften Dimensionen erlangt (vgl. Wundt, Beitr. zur Theorie der Sinneswahrn. S. 289). Gleichwohl besteht zwischen der llirnprädisposition zur Flächenwahrnehmung und der zur Tiefenwahniebmung ein Unterschied, welcher beweist, dass die erstere viel stärker durch Vererbung befestigt ist, also viel weiter in der Ahneureihe des Menschen hinaufreicht als die letztere; es functionirt nämlicii die erstere in ihrer ein- fachsten Gestalt ohne alle Uebung, wie die Operationen von Blindgeborenen beweisen, während die letztere erst durch individuelles Experimentiren geweckt und durch individuelle Uebung nachgeraeisselt werden muss. Dieser Unterschied ist für die teleologisch-metaphysischen Eingriffe der Ph. d. l'. ein unerklärliches Problem, während er sich vom Standpunkt der Descendenztbeorie ganz leicht durch das höhere Alter erklärt. Wie viel Millionen Jahre mögen unsere Ahnen als Infusorien,. Würmer und Knorpelfische in bloss zwei Dimensionen gesehen haben, ehe sie das Verständniss der dritten auch für den Gesichts- sinn erlangten, die sie für den Tastsinn und Muskelbewegungs- sinn schon viel früher besassen. Auch die richtige Deutung der Gesichtsemplindungen in Rücksicht auf Flächenausbreitung ist ein teleologisches Resultat, aber auch dieses werden wir analog dem Vorgang bei der dritten Dimension nicht als aus einem teleologischen Princip durch metaphysische Eingriffe entstanden denken, sondern als aus einem allmählich Hand in Hand mit der Vervollkomunning des Organs von dem leicht empfindlichen Proto- plasma der Monere bis zum Menschenaugenpaar fortschreitenden Anpassung an das gegebene Empfindungsmaterial unter dem Druck der praktischen Bedürfnisse des Lebens und der allgemeinen Concurrenz um die Erlangung der Bedingungen desselben. Weil wir die Prädisposition zur Flächenanschauung so fertig über- kommen, dass wir sie für ihre Fundamentalfunction gar nicht mehr zu üben brauchen, deshalb stehen wir so viel rathloser vor der Aufgabe, die elidirten Glieder des ursprünglichen Association^- processes zwischen Empfindung und Anschauung wissenschaftlich

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zu restitiürcn; bei der dritten Dimension ist die Sache so sehr viel leichter, weil die hier erforderliche individuelle Uebung den Abkiirzungsprocess der Associationskette wenigstens in seinen hauptsächlichsten Stadien individuell wiederholt und man sich hierbei unter abnorm günstigen Umständen selbst belauschen kann, sei es, dass diese Umstände pathologisch gegeben , sei es, dass sie durch sinnvoll erdachte (meist stereoskopische) Experi- mente herbeigeführt sind. Die Zeiten, in welchen die Abkürzung <ier Associationskette für die Genesis der Flächenanschauung vor sich ging, liegen Millionen Jahre hinter uns, uud selbst wenn sie sich heute noch wiederholen, so wäre es doch höchstens in nie- deren Thieren, in deren Seele uns kein Einblick vergönnt ist Gleichviel nun, ob die Schwierigkeiten dieses Problems für uns überhaupt lösbar sind oder nicht, so steht doch so viel fest, dass wir in unserm menschlichen Intellekt die Ursache der Flächen- anschauung ebenso wie die der Tiefenanschauung lediglich in einer angeborenen Prädisposition des Gehirns zu suchen haben, wne Schopenhauer dies ganz richtig auticipirt hat (Ph. d. U. S. 305—306), ohne jedoch die Art der Genesis dieser Prädis- position als Ererbung eines in früheren Stufen unserer Ahnenreihe erworbenen und gesteigerten Besitzes zu vernmthen. Keinenfalls werden wir fernerhin mit der Ph. d. U. (S. 306) die Unmög- lichkeit behaupten dürfen, dass die Umwandlung der quali- tativ verschiedenen Empfindungen in ein extensiv räumliches Pild ohne Beihülle metaphysischer Inspiration geschehen könne, nach- dem wir unsererseits die Möglichkeit erkannt haben, dass auch hier das Teleologische Resultat sein könne, ohnePrincip zu sein, und dass auch hier ein allmählich entstandenes und all- mählich vervollkommnetes, aus der Concurrenz vielleicht zahl- reicher verfehlter Versuche siegreich hervorgegangenes End- Resultat eines langen Entwickelungsprocesses vorliegt. Wir wollen in dem Folgenden versuchen, den Schwierigkeiten des Problems durch einige ihrer Natur nach ziemlich subtile Betrach- tungen näher zu tr6ten.

Man liest noch oft in den neuesten Schriften gebildeter Naturforscher eine verwunderte Hindeutung darauf, was das wohl flir eine wunderliche Gesichtsanschauung der Welt sein müsse,

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^elclie den lusekten als Empfind up.gsmosaik durch ihre PacettenaD^eu zugeführt wird. Eiue solche Bemerkung; beweist i:ur, wie gross häufig noch bei Physiologen die Unklarheit über die psychologischen Probleme der Wahrnehmung ist. Denn da die GesichtsempliiiduDgen ebenso wie alle anderen Sinneswahrneh- inungen durch isoiirte Nerveuprimitivfasern vom Sinnesorgan zum iJewusstseiu geleitet werden müssen, so wird durch diese üeber- tragung überall und in jedem Sinne nothwcndig ein Mosaik von Empfindungen ergeben, gleichviel ob der Reiz auf der ersten :Schicht von Xervensubstanz, welcher er im Organ begegnet, als ^ontinuirliche Extension oder als mofiaikartige Summe von Reizen zur Geltung kommt. Ersteres Arrangement würde denniach gar keinen Werth für die Wahrnehmungen haben und ist deshalb ^ueh in keinem Auge höherer Thiere benutzt Im menschlichen Auge wirken die Stäbchen und Zapfen der Retina ganz ebenso wie die Facetten im Insectenauge ; auch bei uns sind die End- glieder der den Reiz recipireuden Nerven so arrangirt, dass sie die Gesammtmasse der auf sie eindringenden Lichtwellen in discrete Gruppen gesondert, d. h. mosaikartig abgetheilt, recipireu. Der ganze Unterschied zwischen unserm Auge und dem der In- sekten ist der, dass unsere den Reiz recipirende Schicht concav gebildet ist, die des Insectenauges hingegen convex, und dass diese besseren Schutz gewährende Gestaltung bei uns dadurch ermöglicht ist, dass wir nicht wie die Insecten die von den Dingen ausgehenden Lichtstrahlen unmittelbar, sondern durch eine Linse gebrochen recipiren. Gesetzt den Fall, die Summe der Lichtstrahlen besässe wirkliche Continuität, was nach der atomistischen Annahme unserer Physik l)ekanntlich nicht der Fall ist, so würde doch die Ueberführung dieser objektiv -realen Continuität der Extension in die subjectiv-ideale unter allen Um- ständen eine Zerlegung in discrete Theile noth wendig machen, da die Zusammendrängung einer wirklich unendlichen Anzahl von discreten Nervenelementen in den begrenzten Raum des Organs schlechterdings unmöglich ist. Sonach muss alle sub- jectiv-ideale Extension mit Nothwendigkeit eine Reconstruction aus einer endlichen Zahl discretcr Empfindungselementen, d. h. .«in Mosaik sein, und] dieser allgemeingültige Satz findet sich

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empirisch am Menschenauge ebenso bestätigt, als am Facetten- äuge der Insekten. Die Thatsachen, dass wir dieses Mosaik discreter Empfindungen als extendirtes Continuum anschauen^ lässt nach Analogie schliessen, dass die Insekten das Empfindungs- mosaik ihrer Facettenaugen ganz ebenso nur und ausschliesslich als continuirliches Bild anschauen. Die Stetigkeit, die wir in unsere Flächenanschauung hineinlegen, ist taktisch eine Illusion in Bezug auf das gegebene Empfindungsmaterial, dem wir die- selbe aulhelten; die Frage ist nur, ob diese Illusion der An- schauung, welche teleologisch unseren praktischen Bedürfnissen entspricht, eine active oder passive Illusion, ob sie eine künstlich zu dem Zweck des Sehens erzeugte, weise berechnete Selbsttäuschung, oder ob sie eine unwillkürlich durch die Unvoll- kommenheit der Perception und Distinction sich ergebende Er- scheinung ist, die nur deshalb niemals eine Berichtigung ertahren hat, weil sie zuiällig gerade so am besten geeignet ist, uns das Verständniss der Aussen weit zu vermitteln. Die erstere Annahme wird stillschweigend von der Ph. d. Unb. vorausgesetzt, und sie ist es eigentlich, welche die Schwierigkeit der Erklärung erzeugt ; wäre aber die zweite Annahme die richtige, so würde mit dieser Erkenntniss eine Hauptschwierigkeit des Problems der Entstehung der Raumanschauung hinwegfallen.

Wir glauben nun in der That die zweite Annahme für die natürlichere und wahrscheinlichere halten zu müssen. Wir wissen, dass wir pathologische Lücken des Gesichtsfeldes ebensowenig bemerken, wie die normalen Lücken der blinden Flecke. Nach der gewöhnlichen Annahme w^erden diese Lücken mit der Farbe und Helligkeit der Umgebung activ ergänzt; wir halten hin- gegen die Annahme für ausi eichend, dass das Unterscheidungs- vermögen der Perception von Natur zu stumpf sei, um diese Lücken in der Continuität des Gesichtsfeldes ohne specielle Rich- tung der Aufmerksamkeit zum Bewusstsein zu bringen und dass diese Stumpfheit dadurch zur bleibenden Unfähigkeit ge- worden sei, weil sich niemals das praktische Bedürfniss einer Beachtung dieser Lücken der Continuität geltend gemacht hat. Ist einmal begriffen, dass die Continuität doch nur eine wie immer entstandene Illusion sei, so handelt es sich bei den blinden

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Stellen nur darum, dass die Unterbrechungen weder an sich so gross und auffallend seien, um die Yorhandene Illusion zu stören, noch auch, dass durch praktische Interessen die Aufmerksamkeit auf diese Lücken gelenkt werde. Wird die einmal bestehende Illusion der Continuität durch keine der beiden Ursachen alterirt, so besteht sie fort, auch ohne jede active Ergänzung der Empfin- dungslücken.

Es ist von Helmholtz darauf aufmerksam gemacht worden, wie vielerlei Unvollkommenheiten unser Gesichtsorgan besitze, von denen allen wir nichts merken, und wie viele subjektive Störungen der richtigen Wahrnehmungen aus denselben hervorgehen, die uns gar nicht zum Bewusstsein kommen. Die Ursache hiervon liegt allemal darin, dass wir nur für solche Combinationen Hirn-' prädispositionen besitzen, welche uns zum Verständniss der Aussenwelt nützlich sind, dass wir nur diejenigen Anlagen der Perception üben und die Aufmerksamkeit nur für solche Vorgänge im Organ schärfen, welche geeignet sind, uns über die Vorgänge der uns allein wichtigen Aussenwelt zu unterrichten, und dass wir in Bezug auf solche Modiiicationen der OrganempfindungeD, welche für diesen praktischen Zweck werthlos sind, niemals dazu gelangen, die ursprüngliche Stumpilieit und Unvollkommen- heit unserer liirnperception in Bezug auf die vom Organ zuge- führten Reize durch Aufmerksamkeit zu verschärfen und durch Uebung zu vervollkommnen und die so erworbenen Prädisposi- tionen dann weiter zu vererben. Wir befinden uns hinsichtlich der Perception der für das Verständniss der Aussenwelt wxrthlosen Zustände der Organempfindung heute noch ungefähr auf derselben Stufe, wie ein Individuum hinsichtlich der werthvoUen und wich- tigen Organempfindungen einnehmen würde, welches gar keine Gehirnprädispositionen für die Wahrnehmungsprocesse ererbt hätte, die Aussenwelt zu verstehen, um in derselben leben zu können. Stellt man sich den unter dieser Voraussetzung selbstverständlichen Grad von Stumpfheit der Perception vor, so wird man sich nicht wundern, dass in uns die w^erthlosen Organempfind iingen ebenso spurlos dem Bewusstsein verloren gehen, wie in einem solchen Individuum überhaupt alle dem Bewusstsein verloren gehen wür- den. (Auch ein Thier nimmt nur einen sehr geringen Theil der

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ihm zuHiessenden Wahrnebmuugeü iu sein Bewusstsein auf, weil seine Interessen so beschränkt sind.) Nachdem wir diese Unter- schiede in Feinheit und Stumpfheit der Perception für Empfin- dungen desselben Organs constatirt haben, verschwindet jedes Bedürfniss, eine active Ergänzung des Gesichtsfeldes zu Hülfe zu nehmen, um die Thatsache zu erklären, dass die bestehende Illusion der Continuität des Gesichtsfeldes durch die blinden Stellen nicht beeinträchtigt wird.

Erwägen wir nun aber, wie gross der Durchmesser der Lücke bei dem blinden Fleck ist im Verhältniss zu der Kleinheit der Lücke zwischen den Mittelpunkten der zwei benachbarten Nervenprimitivfasern entsprechenden Empfindungsstellen des Ge- sichtsfeldes, so leuchtet ein, dass diese letzteren Differenzen noch für ein sehr viel schärferes Perceptions- und Distinctionsvermögen, als das unserige nach obigem Beispiel ist, unpercipirbar bleiben müssen, so lange nicht die allerdringensten Aufforderungen von Seiten des praktischen Bedürfnisses die Aufmerksamkeit nach dieser Richtung schärfen. Da solche nicht vorliegen, so dürfen wir unsere obige Annahme als berechtigt ansehen, dass nämlich unsere Perception viel zu stumpf und unvollkommen ist, um die mosaikartig in einer Fläche nach ihren Localzeichen geordneten Empfindungen, welche durch sämmtliche Primitivfasern eines Seh- nerven heiTorgerufen werden, von einer wirklich continuirlichei\ Fläche zu unterscheiden; da sie zu stumpf ist, um die Lücken zwischen den discreten qualitativ bestimmten Empfindungen als solche aufzufassen, so muss die Perception als continuirlich exten- jsive in's Bewusstsein treten. Schon durch die recht ansehnliche Zahl der isolirten Nervenelemente (namentlich an der Stelle des deutlichsten Sehens) ist dafür gesorgt, dass der überwältigende Reichthum der gleichzeitig auf die Perception des Gehirns ein- strömenden Summe von Empfindungen dieses nicht dazu kommen lasse, das Manko in der Stetigkeit nach beiden Dimensionen sich zum Bewusstsein zu bringen.

Nachdem wir die anscheinende Continuität der Kaum- anschauung als eine passive, aus der Un Vollkommenheit unserer Auffassung herrührende Illusion erkannt haben, die zu ihrer Erklärung keines activen Zuthuns der Seele bedarf, haben wir

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weiter zu betrachten^ wie die Entstehung eines zweidimensionalen E m p f i n d u n g s m 0 s a i k s möglich sei.

Wir haben hierbei zunächst daran zu erinnern, dass der Be- griff der Dimension weiter ist als der der räumlichen Dimension, Im mathematischen Sinne versteht man unter einer Dimension die eindeutige Bestimmungsfälligkeit durch eine Variable, so dass also die Anzahl der zur eindeutigen Bestimmung erforder- lichen Variabein der Anzahl der Dimensionen gleich ist. Auch der einfache Ton ist eine Empfindung von zwei Dimensionen, denn er braucht zu seiner Bestimmung zwei Variable: Tonstärke und Tonhöhe. Zwischen dieser zweidimensionalen Empfindung lind den zweidimensionalen Empfindungen der Localzeichen der Xetzhauteindriicke besteht nun aber ein wesentlicher, bisher nicht in seiner fundamentalen Bedeutung beachteter Unterschied: von Tönen sind stets nur einer oder einige wenige zugleich im Be- wusstsein, von den Localzeichen der Netzhaut sind zu jeder Zeit alle zugleich im Bewusstsein. Die Töne liegen so weit von einander ab, dass sie als discrete Empfindungen mit Lücken zwischen sich percipirt werden ; die Empfindungen der Netzhaut aber liegen so nahe an einander, dass ihre Lücken sich der Per- ception entziehen und die Blusion der Continuität entsteht. Bei Tönen hat der Intellekt ein Interesse daran, selbst nahe an- einander gelegene Empfindungen als discrete auseinander zu halten; bei den Netzhautempfindungen hat er im Gegentheil Vortheil von der Illusion der Continuität. Bei nahe- liegenden Tönen geben die heftig sich bemerkbar machenden ^chwebungen ein Hülfsmittel, die Discretion festzuhalten; bei den Netzhautempfindungen fehlt etwas Aehnliches. Gesetzt den Fall, es gäbe keine Schwebungen und keine Combinationstöne, gesetzt fenier, es gäbe die M()glichkeit, zwei einfache Töne von gleicher Hrihe aber verschiedener Stärke auseinander zu halten (was nicht angeht), gesetzt endlich, jede Pfeife einer Orgel gäbe statt eines zusammengesetzten Klanges einen einfachen Ton, so würde man sich das Analogon der beständigen im Wachen nie aufhörenden Empfindung des Gesichtsfeldes (ganz abgesehen von seinem con- cretcn Inhalt) dadurch für den Gehörssinn vergegenwärtigen können, dass man anf einigen tausend gleichen Orgeln gleich-

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zeitig die sämmtlicben Pfeifen einer jeden dauernd ertönen lässt, aber so, dass jeder Ton auf jeder Orgel in einer andern Intensität erklingt. Dies Beispiel hinkt insofern, als die in zwei Dimen- sionen geordneten Localzeichen zusammengenommen nur eine intensiv schwache Nervenerregung geben, w^ährend die Aus- führung des Analogons auch bei dem Zutreffen aller unmöglichen Voraussetzungen doch noch eine so gewaltige Nervenerschütterung bewirken würde, dass sie nicht lange auszuhalten wäre. Ferner ist in den 2 Dimensionen der Tonempfindung schon jener con- crete Inhalt mit aufgenommen, der bei der Gesichtsempfindung erst in der Erfüllung der verschiedenen Stellen des Gesichtsfeldes mit Licht von verschiedener Intensität und Schwingungs- geschwindigkeit (Farbe) hinzukommt. Diese 2 Dimensionen der Lichtstärke und Farbe bleiben für das Auge ebenso discret wie Tonstärke und Tonhöhe für das Ohr, weil einerseits auch bei ihnen das praktische Interesse an die discrete Sonderling und nicht an die continuirliche Verschmelzung geknüpft ist, und weil andererseits auch sie nur in grossen Intervallen und spo- radisch vorzukommen pflegen (die anscheinende Continuität des Spectrums ist eine einflusslose und praktisch werthlose Aus- nahme). Diejenigen Empfindungen der Netzhaut hingegen, welche unabhängig von der Qualität des äusseren Reizes als in zwei Dimensionen gegebene Localzeichenempiindungen uns in dem nie verschwindenden Gesichtsfeld beständig vor Augen stehen (sowohl in den belichteten wie in den schwarzen Stellen desselben), diese haben neben dem Vorzug ihrer ununterbrochenen Einwir- kung auf den Intellekt zugleich den Vorzug, in einer unverändert bleibenden Summe gegeben zu sein, welche alle möglichen Werthe der beiden in ihnen enthaltenen Variabein innerhalb ge- wisser Grenzen (nämlich von Null bis auf das Maass der der Kandempfindungen der Retina zukommenden Lokalzeichen) in solcher Vollständigkeit erschöpft, dass die Lücken zwischen den einzelnen Stufen nicht zur Perception gelangen. Die Folge hiervon ist, dass, wenn man eine beliebige Empfindung heraus- greift, dieselbe unter allen Umständen in jeder der beiden Dimensionen zwei unmittelbare Nachbarempfindungen hat, welche gleichzeitig mit ihr actuell sind und deren Abstand

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Tou ihr (im Sinne des Maasses der quantitativen Veränderung <les Localzeichens , also noch nicht im rilnmlichen Sinne zu ver- stehen) nicht so gross ist, um als Lücke percipirt werden zu können. Diese Vollständigkeit des Empfindungs- complexes, welche in der überall bestehenden vierfachen Nachbarschaft für jede Einzelcinpfinduiig- gewährleistet ist, und welche auch bei dem Nullpunkt oder dem Punkt des mittleren Abstandes (wie oben zu verstehen) von den Empfindungen mit maximalcu Localzeichen (Randempfindungen) nicht unterbrochen wird, verleiht diesem Empfindungscomplex eine Geschlossen- h e i t; welche ausser bei dem Tastempfindungscomplex bei keinem .andern Sinne auch nur in annähernder Aehnlichkeit wieder vorkommt.

Erwägen wir nun, dass die oben (S. 152 154) aufgestellten Be- traclitungen über die nothwendige Entstehung der Illusion derCon- tinuität eine ganz allgemeine Geltung haben, welche oben nur der Deutlichkeit wegen auf ein räumliches Mosaik bezogen wurde, aber von der Räumlichkeit oder extensiven Beschaffenheit des zweidimensionalen Empfindungscomplexcs ganz unabhängig ist, so sieht man sofort, dass unser in sich geschlossener zweidimen- sionaler Empfindungscomplex zugleich als ein lückenlos conti - n u i r 1 i c h e r erscheinen muss. Erinnern wir uns endlich daran, dass in diesem Complex doch schon die constructive x\rbeit der Ord- nung der Localzeichen nach zwei Dimensionen vorausgesetzt ist, dass also das so erlangte Resultat etwas ganz anderes ist, als die noch rohe Summe der gegebenen Elementarempfindungen, dass mit einem Wort auf der jetzt erklommenen Stufe schon eine A n - schauung vorliegt, in welcher elementare Empfindung und con- structive Vorstellungsarbeit durch einen Abkürzungsprocess der Association unbewusst geworden sind, so haben wir eine solche Combination erlangt, dass wir sehr wohl sagen können: >nr haben die extensive Flächenanschauung in ihrer Genesis begriffen. Denn was sollt« für ein Merkmal zu derselben fehlen, wenn wir hinstellen : einen in sich geschlossenen , anscheinend lückenlos- continuirlichen, zweidimensionalen Empfindungscomplex von be- stimmter Maximalgrenze, welcher als Anschauung d. h. als fertiges Resultat vor's Bewusstsein tritt. Letzten Endes lässt sich keine

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Anschauung so beschreiben, dass einer sie verstehen kann, der nicht selbst diese Anschauung schon besitzt ; aber dieses Specifische der Anschauung, was wir als in der Genesis derselben begründet erkannt haben, ist eben schon in diesen Empfindungscomplex durch die nähere Bestimmung mit hineingelegt worden, dass der- selbe als fertige Anschauung vor's ßewusstsein tritt. In gewissem Sinne ist hiermit die räumliche Flächenanschauung als solche für eine Illusion erklärt; wer sich aber erinnert, dass wir auch die Tiefenanschauung und ebenso die Continuität der Extensionen für Illusionen erklären mussten, ja sogar, dass wir in gewissem Sinne jede iVnschauung für eine Illusion in Bezug auf ihren wirklichen Empfindungsstoft' erklären mussten, der kann für die Flächenanschauung nichts anderes mehr erwartet haben. Was M^ir Flächenanschauung nennen, das ist eben jene genetisch mit Nothwendigkeit so und nicht anders erwachsene Form der Illusion, die wir durch nothwendige Association mit diesem zwei- dimensionalen geschlossenen Empfindungscomplex der Netzliaut- localzeichen verknüpfen. Diese Illusion ist uns nützlich, weit sie in Verbindung mit der dritten Dimension nach Umständen gut genug der in sich geschlosseneu dreidimensionalen Ordnung der realen Dinge entspricht, welche letztere mindestens hin- sichtlich der realen Bewegung eine wirklich c o n t i n u i r 1 i c h e ist. Die letzten Endes aus der ünvollkommenheit unserer Auf- fassung entspringende Illusion ist es also allein , welche uns die auf keine andere Weise für uns zu erlangende Möglichkeit ver- schafft, unser subjektives Abbild der Ordnung der wirklichen Dinge einer wichtigen Eigenschaft derselben conform zu machen. Das Einzige, was bei der vorangehenden Erörterung noch zweifelhaft gebheben ist, ist der Vorgang des Ordnensder rohen Empfindungsmasse nach den (quantitativen Verliältnisscn ihrer Localzeichen in den zwei Dimensionen. Zunächst ist das Missverständniss auszuschliessen , als wäre dieses Ordnen als ein räumliches Umstellen zu verstehen; davon kann vor Fertigstelluug der Raumanschauung natürlich nicht die Rede sein; ein solches Missverständniss würde das andere voraussetzen, dass die discrcten Empfindungselemente vor ihrer Ordnung nach den Dimensionen einen gewissen Platz im Bewusstsein hätter, welchen es zu

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ändern gälte. Dies ist nattirlicli ganz verkehrt; das Zugleich- sein der elementaren Empfindungen im Bewusstsein kann nur ein durchaus raumloses sein, und der Begriff de« Ordnens ist nicht als das Schaffen eines noch nicht Vorhandenen zu verstehen, sondern nur als das Entdecken des bereits durch die Organ- einrichtung Gegebenen mit Hülfe eines idealen Durchlaufens der Empfindungen in der durch die gesetzmässige Aenderung ihrer Localzeichen bedingten Reihenfolge, als ein geistiger Orienti- rungsprocess des Bewusstseins in der gegebenen Empfin- dungsmasse, als dessen bleibendes Resultat durch Abkürzung der Ideenassociation die Neigung zurückbleibt, beim künftigen Durch- laufen dieser ^Massen mit der Aufmerksamkeit von jeder Empfin- dung immer nur auf ihren unmittelbaren Nachbarn und von diesem wieder nur auf den nach demselben Aenderungsgesetz sich anreihenden Nachbarn überzugehen, oder mit anderen Worten beim Durchlaufen der Empfindungsmasse mit der Aufmerksamkeit keine Sprünge zu machen und Richtung zu halten (nach demselben Aenderungsgesetz der Localzeichen fortzuschreiten). Hat sich diese Prädisposition hinlänglich befestigt, so ist dasjenige erreicht, was wir unter dem Namen des Ordnens der Empfin- dungen als erste Voraussetzung der Entstehung der Raura- anschauung fordern mussten, und alsdann geht der Abkürzungs- process der Ideenassociation in der eben ausgeführten Weise weiter, so dass die Aufmerksamkeit sich mit dieser hergestellten oder richtiger entdeckten Ordnung der Empfindungen gar nicht mehr beschäftigt, sondern sich der Totalität dieses nun ordnungs- mässig beherrschten Empfindungscomplexes zuwendet.

Wer in diesem Orientirungsprocess des Bewusstseins am Leitfaden der schrittweisen Aenderung der Localzeichen etwa eine Leistung sehen wollte, welche die intellektuelle Fähigkeit der niederen Thiere, in denen dieser Process sich vollzieht, über- stiege, der ist daran zu erinnern, dass solches nur wahr sein würde von einem Intellekt, der ohne ererbte Prädisposition einem solchen Reichthum gegenübergestellt würde, wie ihn etwa das Auge des Säugethieres oder auch schon das der Fliege bietet, dass aber obige Behauptung sofort hinfällig wird, wenn man be- denkt, dass das Organ und die prädispositionelle Fertigkeit zur

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Benützung der von ihm gelieferten Empfindungen Hand in Hand gehen und sich gemeinschaftlich ganz allmählich Schritt vor »Schritt vervollkommnen, so dass also auch jedes Wesen die der Oomplication seines Sinnes-Organs entsprechenden Prädispositionen des Centralorgans unfehlbar mit auf die Welt bringt und seinerseits nur die Aufgabe vorfindet, bei der Concurrenz um möglichst vortheilhafte Ausnutzung (und zu dem Zweck um möglichst genaues Verständniss der Aussenwelt) die ererbten Prä- dispositionen durch Probiren und Uebung um einen mini- malen Zusatz zu steigern und zu vervollkommnen und diese Aufgabe geht wahrlich nicht über seine Kräfte. Die ver- gleichende Anatomie lehrt uns ferner, dass die einfachsten Formen von Augen bei niederen Thieren zunächst durchaus nur der Unter- scheidung von hell und dunkel dienen können, und dass schon eine gewisse Vervollkommnungsstufe des Organs dazu gehört, um Lichteindrücke, welche von rechts oder links, von oben oder unten her das Organ treffen, als qualitativ verschieden auffassen zu können und so die erste primitive Grundlage zu einer Aus- bildung von Localzeichen zu gewinnen. In solchem Organ wird der gerade von vorn kommende Eindruck als der häutigste und deshalb normale und die von rechts, links, oben oder unten kommenden als specifische qualitative Modificationen der normalen Helligkeitsempfindung percipirt werden. Sie werden mit einem positiven oder negativen Localzeichen der einen oder der andern Dimension behaftet auftreten. Die Reaction des Thieres auf jede dieser Modificationen wird sich verschieden ent- wickeln, weil mit dem Leuchtenden für jedes Thier verschiedene praktische Interessen verknüpft sind, und es wird sich für jede Empfindung eine prädispositionelle Association mit gewissen Be- weguugsreactionen herausbilden, auch ohne dass das Thier zu einer extensiven Raumanschauung gelangt. Öo sehen wir, dass der Gesichtssiim der niederen Thiere schon lange vorher von erheblichen Nutzen werden kann, ehe seine Elemeutar- empfindungen so discret gesondert und so zahlreich neben- einandergestellt sind, um eine R a u m a n s c h a u u n g zu erzeugen. Auf dem Fundament jener Associationen von modificirtcn Gesichts- empfindungen mit bestimmten reflectorischen Handlungsweisen

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kann sich aber das Organ durch natürliche Zuchtwahl weiter entwickeln und immer mehr und immer feiner unterschiedene Elementarempfindungen liefern. Dann wird irgend einmal ein gewisser Punkt eintreten, wo die immer noch massige Zahl modi- ficirter Elementarempfindungen als geschlossener continuirlicher Empfindungscomplex sich darstellt und dadurch die Illusion der räumlichen Flächenanschauung erzeugte; denn soviel geringer al» die Zahl der discreten Empfindungselemente des Gesichtsfeldes^ und soviel grösser als die Lücken zwischen je zwei benachbarten Empfindungen (resp. der quantitative Sprung zwischen ihren Localzeichen) bei einem solchen niederen Thiere ist, um min- destens eben soviel stumpfer ist auch das Perceptionsvermögen des Centralorgans seines Intellekts als beim Menschen, so dass auch hier der Illusion der Continuität kein Hinderniss im Wege steht.

So verschwinden die Schwierigkeiten des Problems mehr und mehr, je eingehender man dieselben aus dem Gesichtspunkt der Descendenztheorie und der prädispositionellen Vererbung zer- gliedert. Wenngleich im Einzelnen noch immer vieles dunkel bleiben wird, so glauben wir doch den Weg angedeutet zu haben, auf welchem weitere Forschungen mehr und mehr Licht über diese Fragen verbreiten werden.

Es sei gestattet, am Schluss dieses Capitels eine kurze Be- merkung über die apriorische Denkform der Causalität hinzuzu- fügen, welche Schopenhauer mit Recht die wichtigste (wenn auch mit Unrecht die einzige) Kategorie nennt, und welche er eben«o richtig (wie Raum und Zeit) als Gehirnfunction ansieht, deren specifische Qualität natürlich als in der Beschaffenheit de» functionirenden Gehirns prädisponirt gedacht werden muss. Wir haben im Allgemeinen die apriorischen Denkformen schon am Schluss des Vlil. Abschnitts behandelt, und hätten nicht nöthig, hier noch einmal auf einen speciellen Fall zurückzukommen, wenn nicht die hervorragende Bedeutung der Causalität und ihre nahe Zusammengehörigkeit mit den Anschauungsformen des Raums und der Zeit dazu aufforderte, an die Betrachtung der letzteren beiden noch einen Hinblick auf die erstere anzu- schliessen.

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Schopenhauer begnügte sich damit, die Causalität für eine Hirn- functiou zu erklären, für die das Gehirn in demselben Sinne cou- struirt sei, wie das Auge für das Sehen; auf die Genesis dieser Hiruprädisposition ging er ebensowenig näber ein wie Kant, und erklärte sich mit der iiUgemeinen metaphysischen Behauptung einer Objectivation des Willens zum Leben zufriedengestellt. Wir haben aber gesehen, dass der Wille eines Individuums ein Summationsphänomen aus den Atomkräften der Centralorgane des Nervensystems ist (vgl. oben S. 79—81), und dass der Wille zum Leben oder Dasein eben auch nur das Resultat eines An- passungsprocesses an das als Ausgangspunkt desselben gegebene Dasein ist (vgl. oben S. 41 42). Somit sind also „Wille zum Leben" und „Hirnprädisposition der Causalität" coordinirte Wir- kungen einer und derselben Ursache: „des Anpassuugsprocesses an's Dasein in der Concurrenz um dasselbe", und nimmermehr kann die eine dieser Folgen ohne näheres Yerständniss als wir- kende Ursache der andern behauptet werden. Aber obwohl Schopenhauer die CausaUtät als Gehirnfunction anerkennt, so ver- kennt er doch den himmelweiten Unterschied einer solchen aus bestehenden Prädispositionen heraus blind (d. h. unbewusster Weise) wirkenden Function und des durch den Abstractions- process herauspräparirten Elements, welches als integrirender Be- standtheil complicirterer Vorstellungsmassen durch jene Function in diese letzteren hineingebracht ist, mit andern Worten er ver- wechselt die unbewusste mechanische Hirnfunction , welche zur causalen Association von Vorstellungen nöthigt, mit dem logisch herauspräparirten Begriff der Causalität. Die Ph. d. U. sagt (S. 312 313): „Deshalb ist es falsch, den Causalitätsbe griff als Vermittler für eine bewusste Ausscheidung des Objectes" (aus der Summe der gegebenen Empfmdungenj „zu setzen, denn die Objecte sind lange vorher da, ehe der Cau- salitätsbegrilf aufgegangen ist; und wäre diess auch nicht der Fall, so müsste auch dann das Subject gleich- zeitig mit dem Object gewonnen werden. Allerdings ist für den philosophischen Standpunkt die Causalität das einzige Mittel, um über den blossen Yorstelluugsprocess hinaus zum

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Subjecte und Objecte zu gelangen (vgl. das Ding an sich Abschn. IV nnd V); allerdings ist für das Bewusstsein des gebildeten Verstandes das Object in der Wahrnehmung nur als deren äussere Ursache enthalten; allerdings mag (?) der unbewusste Process, welcher dem ersten Bewusstvverden des Objectes zu Orunde liegt, diesem bewussten philosophischen Processe analog sein, so viel ist gewiss, dass der Process, als dessen Resultat das äussere Object dem Bewusstsein fertig entgegentritt, ein durchaus unbewusster ist, und mithin, wenn die Causalität in ihm eine Rolle spielt, was wir übrigens nie direct constatiren können, darum doch keinenfalls gesagt werden kann, wie Schopen- hauer thut, dass der apriorisch gegebene Causalitäts- begriff das äussere Object schaffe, weil man in dieser Ausdrucksweise den Begriff als einen bewussten auffassen müsste, was er entschieden nicht sein kann, weil er viel, viel später gebildet, wird, und zwar zuerst aus Beziehungen der bereits fertigen Objecte untereinander." (Vgl. auch „das Ding an sich" S. 66—74).

Halten wir daran fest, dass der Process, als dessen Resultat das äussere Object dem Bewusstsein fertig entgegen- tritt, ein Process von Hirnschwingungen ist, die durch die Molecularbeschaifeuheit des Gehirns lormell prädisponirt sind, so ist die in dem Citat offen gelassene Frage, ob die Causalität in demselben eine Rolle spielt, sehr leicht zu entscheiden. Es kommt nur darauf an, was hier unter Causalität verstanden wird. Ver- stehen wir darunter die causalen Einwirkungen der Hirnmolecule aufeinander, so ist ihre Betheiligung selbstverständlich; verstehen wir darunter jene gleichviel wie beschaffene, nicht selbst Begriff' seiende, sondern erst das Material zur Bildung des Causalitäts- begriffs erzeugende apriorische psychologische Function, so wird inan dieser psychologischen Function darum ihren Namen nicht entziehen dürfen, weil wir sie als Function des materiellen Denkorgans näher bestimmen gelernt haben. Versteht man aber unter der unbewussten Causalität eine meta})hysisch spiri- tualistische Intuition, die über dem materiellen Denkorgan jftchweben soll, und das getreue Abbild oder vielmehr Vorbild

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des philosophischen (bewussten) Causalitätsbegriffs darstellen soll, dann ist die Frage allerdings zu verneinen, denn zu einer solchen Hypothese liegt nicht nur keine Nöthigung vor, sie wird vielmehr durch die genügende physiologische Erklärung ent- schieden discreditirt.

Bei einer solchen Auffassung erhält freilich auch die Be- hauptung Schopenhauer's , dass auch das niedrigste Thier schon der Causalität bedürfe, um zu leben, eine modificirte Bedeutung. Zunächst gilt dieselbe jedenfalls nur mit Einschrän- kung auf diejenigen Thiere, deren Verstandeskräfte hoch genug entwickelt sind, um vonObjccten der AVahrnehmung bei ihnen reden zu können; denn nur bei solchen ist das Problem der Ent- stehung des Objects der Walirnehmung gegeben, zu dessen Lösung Schopenhauer die Causalität fordert; bei ganz tief stehenden Thieren wird ebenso wie bei Protisten und Pflanzen wohl von Empfindung, aber nicht mehr von Wahrnehmung im Sinne der Anschauung eines WahrnehmuDgsobjects die Rede sein können. Weiterhin aber gilt auch bei den wirklich wahrneh- menden Thieren Schopenhauer's Behauptung nur in dem Sinne, dass in den Nervencentralorgauen dieser Thiere auch schon ererbte Prädispositionen enthalten sein müssen, welche durch ihr Functioniren eine gewisse Associationsform von Vorstellungen zu Stande bringen, nielit aber in dem Sinne, als wäre ein bewusster oder unbewusster Begriff oder Idee der Causalität bei dem Vor- gang im Spiele. Schopenhauer deutet mit Recht darauf hin, dass die Hirnfunction der Causalität als Verselbstständigungsact der Wahrnehmungen zu Objecten mit der Hirnfunction der dritten Dimension des Raumes in einer nahen Beziehung steht; haben wir nun vorhin gesehen, dass die dritte Dimension der Raum- anschauung im Tbierreich erst ziemlich spät auftreten kann (jedenfalls lange nach der zweidimensionalen Raumanschauung, welche ebenfalls noch den niedrigsten Thieren fehlen dürfte), so haben wir hieran schon einen ungefähren Anhalt für die Beurtheilung der Entstehung der Prädispositiou der Causal- function. Wie wir oben (S. 160) erkannten, dass die durch verschie- dene Localzeichcn gefärbten Sinnesempfinduugen auch dann schon

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-durch Association von bestimmten Vorstellungen uiurVerlialtiuigs- weisen einem Thiere nützlich werden können, wenn es noch nicht die räumliche Ausbreitung dieser Empfindungen zur An- schauung vollzogen hat, ebenso werden wir zugestehen müssen^ dass verschiedene Empfindungen überhaupt ohne alle Verselbstständigung derselben zu Wahrnehmungs- objecten hinreichen können , um einem Wesen von ein- facheren Lebensverhältnissen die für seine Lebenszwecke nöthigen Eeize und Warnungen zu ertheilen, dass also auch durch natür- liche Zuchtwahl solche Wesen prädispositionelle Associa- tionen zwischen bestimmten Empfindungen und bestimmten Handlungsweisen erwerben und vererben können, ohne dass ihrem Bewusstsein eine objective Aussen weit aufgegangen wäre. Wie das Ordnen der durch Local zeichen gefärbten Tast- oder Gesichts-Empfindungen nur als Erleichterung für eine übersichtliche und zusammenfassende Orientirung dient, und deshalb erst dann nützlich wird, wenn der Reichthum der betreffenden Empfindungen ein gewisses Maass überschreitet, ebenso ist auch die Construction einer objectiven Aussenwelt nur ein ebensolches Hülfs mittel der üebersichtlichkeit, um die stets wachsende Totalsumme von Sinnesempfindungen unter solche einheitliche Gesichtspunkte zu ordnen, welche den ererbten Prädis- positionen der instinctiven Verhaltungs weise auf diese Empfin- dungen am besten entsprechen; dies geschieht aber durch Zu- sammenfassung der qualitativ verschiedensten Empfindungen in die Anschauung eines selbstständigen und wirkenden Objects. Nach Entstehung der dreidimensionalen Raumanschauung vollzieht sich dieser Process ganz von selbst dadurch, dass alle ßegriflfe von Causalität, Substantialität , Phänomenalität u. s. w. fehlen, also das Begriff*smaterial zu einer Unterscheidung des eigenen Vorstellungsgespinstes von der transcendenten Wirklichkeit mangelt, während andererseits die instinctiven Prädispositionen des Handelns ganz so functioniren, als ob das eigene sub- jective Wahrnehmungsbild selbst ein Wirkendes, Handelndes, feindlich oder freundlich in das Leben Eingreifendes wäre. Wie die Raumanschauung aus der Stumpfheit der Wahrnehmung ent-

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springt, welche von den Lücken nichts merkt, so entspringt dei' naive Realismus aus der Stumpfheit des Denkens, welchem noch die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen sub- jectiv-phänomenal und transcendent-real fehlt (vgl. „das Ding an sich" S. 70 71), eine Unterscheidung, gegen die sich bekannt- lich heute noch ganze Philosophenschulen mit unbegreiflicher Verblendung und Hartnäckigkeit versperren.

X.

Der Instinct

als ererbte Hirn- und Ganglien

Prädisposition.

"Wie wir oben (S. 29 30) gesehen haben, dass gerade der naturwissenschaftliche Materialismus sich gegen die empirische Thatsache der Naturzweckmässigkeit, welche die Philosophie meibteiis anerkannte, eigenwillig deshalb verschloss, weil ihm das Rüstzeug seines Wissens kein Erklärungsmittel t'ür eine solche Erscheinung bot, ebenso skeptisch, negirend oder ignorirend ver- hielt sich derselbe bisher meistentheils auch dem besonderen Fall der Naturzweckmässigkeit gegenüber, welcher in den Hand- lungen der Naturwesen zu Tage tritt und welchen wir, insofern der Zweck der Handlung dem Bewusstseiu des Thieres nicht g^egen- wärtig sein kann, mit dem Worte Instinct bezeichnen. Obwohl in der That über den Instinct der Thiere viel gefabelt worden ist, und auch wohl heute noch manche auf Treu und Glauben angenommene Behauptungen der genaueren Beobachtung und Bestätigung, beziehungsweise Berichtigung bedürfen, so ist doch die Zahl unzweiteliiafter Thatsachen auf diesem Gebiet so massen- haft und die Autopsie für jeden unbefangenen Beobachter der Natur überall so leicht zugänglich, dass wirklich nur systematische Voreingenommenheit das Vorhandensein des gebieterisch sich aul- drängenden Problems leugnen kann. Freilich fmdet man diese Voreingenommenheit heutzutage noch öfters selbst bei den Natur-

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iorscbern, welche die Descendenztheorie willig acceptirt haben, aber durch die theoretischen Antipathien ihrer Vergangenheit beeinfiusst sind. Zu dieser Classe gehört sogar Wallace, der den Einfluss der Gewohnheit bei der Entstehung des Instincts mit Eecht hervorhebt, aber von der Psychologie des Menschen und der Thiere \del zu wenig versteht, um die sensualistische Erklä- rungsmanier solcher Probleme, wie sie bei seinen Landsleuten besonders beliebt ist, in ihrer armseligen Plattheit zu durch- ;schauen und die Grösse des Fortschritts zu ermessen, welcher durch Darwin's Ausbildung der Descendenztheorie auch auf psychologischem Gebiete angebahnt worden ist. Der Nachweis, dass eine Function durch ein gewisses Maas von Uebung in sich gefestigt und gestärkt wird , genügt diesem Standpunkte sofort, um das Vorhandensein einer angeborenen Disposition zu leugnen, ohne Rücksicht darauf, dass die Uebung nur den letzten Schliff und die volle Sicherheit der Beherrschung liefert, und dass ohne das Angeborensein der Disposition ein solches Resultat in so kurzer Zeit und mit so geringen Mitteln gar nicht erzielt werden konnte. So erlernt z. B. der junge Singvogel den Gesang seiner Art erst durch eine gewisse Uebung, aber der ältere Vogel braucht nach jedem Rauhen eine ganz ebensolche Periode der Uebung, um wieder die Herrschaft über die Stimme zu erlangen, ohne dass er seine Sangesweise vergessen hätte, wie sein einsames Wiedereinüben derselben beweist; kann also unter solchen Um- ständen die dem jungen Vogel nöthige Uebung gegen die ange- borene Prädisposition zu seiner Sangesweise sprechen'? Es ist ferner wahr, dass erst die Nachahmung der Artgenossen dem Gesang des jungen Vogels die letzte Vollendung giebt, also als Hilfe lür die Nachmeisselung seiner Hirnprädisposition dient, aber ungefähr denselben Gesang übt er sich auch einsam aufwachsend ein, es müsste denn zufällig ein talentloses und träges Individuum sein. Ebenso ist es wahr, dass der Nachahmungsinstinct im Stande ist, die Functionsweise der ererbten Gesangs-Prädisposi- tionen zu modificiren, d. h. ein Singvogel lernt den Schlag anderer Specien imitiren; dies ist um so weniger zu verwundern, als ja manche Vogelarten ihr musikalisches Bedtirfniss ganz und gar durch erborgte Weisen befriedigen; je schärfer andrerseits die

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eigenthümlicbe Sangesweise einer Species ausgeprägt ist, um so grösseren Widerstand wird die ererbte Prädisposition der Modi- fication durch den Nachahmungstrieb entgegensetzen. Bei dem Sänger der Sänger, der Nachtigall, haben wir noch nichts von nennenswerthen Imitationen gehört; nur die von Natur schlechte- sten Sänger lernen menschliche Melodien nachpfeifen, und allen eigentlichen Singvögeln gefallt doch immer ihr eigenes Lied am besten. Ohne Zweifel bestehen auch in dem Vogelsang neben angeborenen Elementen typischer Bildungs- und Verknüpfungs- formen der Töne andere Elemente, welche der willkürlichen Modi- fication des Gesanges einen gewissen Spielraum lassen, ganz wie wir dies bei der menschlichen Sprache gesehen haben (vgl. oben (S. 123—125).

Es kann nicht unsere Absicht sein, uns hier auf eine längere Polemik gegen diejenigen einzulassen, welche die Thatsache des Instmcts bestreiten, sondern wir nehmen das Problem, ebenso wie es die Ph. d. Unb. aufstellt, als gegeben an und wollen nun sehen, was die Descendenztheorie für Mittel zur Erklärung der wunder- baren Erscheinung an die Hand giebt.

Wir haben in den vorhergehenden Abschnitten die Bedeutung der Vererbung hinlänglich erörtert; wir haben (S. 112 115) ge- sehen, wie der Organismus die Fähigkeit erwirbt, gewisse vor- gestellte Bewegungen zur Ausführung zu bringen und wie diese Fähigkeit durch Vererbung und Zuwachs sich befestigt und steigert; wir haben ferner betrachtet (S. 111 112), wie die kör- perlichen Fertigkeiten im weiteren Sinne auf ererbten Prädispo- sitionen sowohl des Gehirns als der untergeordneten der Central- organe des Nervensystems beruhen, wie man bei typischen Denk- formeu (S. 129 132j und bei anderen wichtigen Vorstellungs- elementen mit Recht von ererbten schlummernden Gedächtniss- dispositionen (S. 109— -111) sprechen kann^ und wie die geistigen Fertigkeiten, Anlagen und Talente, über deren Augeborensein alle Welt einverstanden ist, ebenfalls nur aus molecularen Prädisposi- tionen des Gehirns für gewisse Arten und Formen des Fuuctionirens erklärt werden können (S. 115 117). Wir sahen weiterhin (S. 136 bis 139), dass in der ererbten Hirnprädisposition für bestimmte psychische Functionsweisen jenes Element zu suchen ist, welches

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die Philosophie mit dem Worte a priori bezeichnet und dessen Bedeutung von der empirischen Psychologie so lange mit Un- recht verkannt worden war; wir erkannten insbesondere (S. 121 bis 123), dass diejenigen Vorstellungsverknüpfungen zur prä- dispositionellen Vererbung tendiren und besonders geeignet scheinen,, welche aus einem Abkürzungsprocess der Ideenassociation resul- tiren und wir fanden endlich (S. 101 103), dass der Charakter im weitesten Sinne sammt allen dem Individuum in Handlungs- weise, Benehmen, Manieren, Bewegung und Haltung anhaftenden Eigenthümlichkeiten gleichsam den Grundstock der psychischen Vererbung bildet. Alle diese getrennt betrachteten Elemente finden wir nun vereinigt im Instinct wieder. Derlnstinct ist zu- nächst „der innerste Kern jedes Wesens", wie sich schon daraus zeigt, dass er das Individuum zu den höchsten Opfern, sogar seiner Existenz, bringt (Ph. d. Unb. S. 101); beim Menschen aber nennen wir den tietlnnersten Kern des Wesens, der für all sein Thun und Lassen bestimmend ist, den Charakter (ebd. S. 236). „Wir werden später (Cap. B IV) sehen, dass man die Summe der individuellen Reactionsmoditicationen auf alle möglichen Arten von Motiven den individuellen Charakter nennt und (Cap. C X 2) dass dieser Charakter wesentlich auf einer zum kleineren Theil individuell durch Gewohnheit erworbenen, zum grösseren Theil ererbten -— Hirn- und Körperconstitution beruht ; da es sich nun auch beim Instinct um den Reactionsmodus auf gewisse Motive handelt, so wird man auch hier von Charakter sprechen können, wenngleich es sich hier nicht sowohl um den Individual- als den Gattungscharakter handelt, also im Charakter hinsichtUch des Instincts nicht das zur Sprache kommt, wodurch ein Indivi- duum sich vom andern, sondern wodurch eine Thiergattuug sich von der andern unterscheidet" (Ph. d. Unb. S. 79).

Indem nun der Instinct ein prädisponirter Reactionsmodus auf gewisse Arten von Motiven ist, muss in der prädisponirten Willensfunction zugleich die Vorstellung mit enthalten sein, welche den Inhalt des Ausführungswillens bildet (vgl. oben 105 G n. 109 _ 10); hierdurch stellt sich der Instinct als ererbtes Gedächt- niss dar, was um so entschiedener hervortritt, je eigenthümlicher der Vorstellungsinhalt einer Instincthandlung in ideeller Hinsicht

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geformt und in sich abgeschlossen ist (z. B. die stereometrische Gestalt der Bienenzelle, oder die Form des Netzes der Kreuz- spinne, oder die künstliche Construction des Cocons und seines Verschlusses durch manche Raupen). Wo sich der Vorstellungs- inhalt einer Instincthandlung in so ausgeprägter, unverändert wiederkehrender Form darstellt, da kann man ihn mit Recht als eine typische Vorstellungsform bezeichnen, welche sich in der Species durch Vererbung befestigt hat.

Aller Instinct hat die Foim des a prhri, da eben der Inhalt seines Functionirens etwas setzt, was dem Individuum nicht von aussen empirisch gegeben ist, sondern durch eine ihm selbst un- verständliche unbewusste Function seines Nervencentralorgans in fertiger Gestalt vor sein Bewusstsein hingestellt wird; nur ist hier zugleich der unwiderstehliche Zwang der praktischen Aus- führung mitgesetzt, was bei dem theoretischen a priori nicht der Fall ist. Wir werden später sehen, eine wie grosse Rolle bei der Entstehung solcher vererbter Gedächtnissprädispositionen die Ab- kürzung der Ideenassociation spielt. Jeder Instinct setzt eine Fähigkeit des Gebrauchs der willkürlich bewegbaren Körpertheile voraus, und die meisten fordern specifische Fertigkeiten in com- piicirten Combinationen von Bewegungen (so z. B. das Schwimmen, Gehen , Klettern , Fliegen , Springen u. s. w.). Immer verbindet sich auch mit den Prädispositionen zu solchen körperlichen Fertigkeiten ein gewisses Maass specifischer intellektueller Be- fähigung für Thätigkeitssphären; mit der körperlichen Geschick- lichkeit der Termiten, Biber, Vögel im Bauen ist unzweifelhaft eine gewisse geistige Anlage für dieses Gebiet verknüpft zu denken: man könnte sagen, diese Thiere haben eine Art Bau- sinn. Ebenso kann man den Singvögeln ein gewisses musika- lisches Talent, den Zugvögeln einen hochentwickelten Ortssinn zur Orientirung im Terrain nicht absprechen und doch stehen diese Befähigungen, welche nur durch ererbte Hirnprädispositionen entstanden zu denken sind, im unmittelbaren Dienste der be- treffenden Instincte und sind nur um derentwillen zur besseren Befriedigung der instinctiven Bedürfnisse vorhanden. Eine andere Reihe von Instincten, wie Nachahmungstrieb, Verheimlichungs- trieb, Bosheit, Mitleid, Vergeltungstrieb, Geschlechtstrieb u. s. w.,

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führen uns unmittelbar aus den Instincten , wie sie bei den höchsten Thieren sich darstellen, zu den Charaktereigenschaften hinüber, zu welchen dieselben bei den Menschen sich entfaltet haben (Ph. d. Unb. Cap. B I), und bei welchen die Bedingtheit durch moleculare Hirnprädispositionen nicht mehr zweifelhaft ist. Dass die Ph. d. U. alle wesentlichen Punkte unserer Paralleli- sirung einräumt, geht aus denjenigen Theilen unserer Unter- suchungen, auf welche vor Kurzem zurückgewiesen wurde, deut- lich genug hervor, und können wir uns deshalb die Wiederholung dieses Nachweises hier ersparen. Zum Ueberfluss spricht die Ph d. Unb. in diesem Cap. selbst S. 78 und 79 der dritten Auflage (die Stelle kam erst in der zweiten Auflage als Zusatz hinein) ihre Uebereinstimmung mit unseren Grundsätzen deutlich genug aus und giebt zu, dass die Instincte durch „morphologische oder molecularphysiologische Prädispositionen" verursacht sein können, indem diese „die unbewusste Vermittelung zwischen Motiv und Instincthandlung leichter und bequemer in die eine Bahn als in die andere lenken" (S. 78). Mit diesem aus dem Abschnitt C herübergenommenen Zugeständniss ist nun aber ein Keil in den Abschnitt A getrieben, welcher diesen vollständig aus seinen Fugen drängt; denn es ist hiermit ein naturwissenschaftliches Erklärungsprincip für das Problem des Instincts gegeben, welches dem Princip des unmittelbaren teleologischen Eingriffs von Seiten eines neben den Atomen des Organismus supponirten metaphysi- schen Wesens vermittelst einer unbewussten hellsehenden Intuition schnurstracks entgegengesetzt ist. War das naturwissenschaftliche Erklärungsprincip der molecularen Hirn- und Nervenprädisposition überhaupt einmal zugelassen, so lag der Ph. d. Unb. auch die Pflicht ob, zu untersuchen, wie weit mit diesem Princip allein in der Erklärung der Erscheinungen des Instincts zu kommen war, und ob der als unerklärbar etwa übrig bleibende Rest beglaubigter Thatsachen denn auch wirklich hinreichte, um neben diesem naturwissenschaftlichen Erklärungsprincip das metaphysische des teleologischen Eingriffs supponiren zu müssen. Diese Verpflichtung war um so dringender, je fundamentalere Bedeutung diesem €apitel vom Instinct zukommt, je mehr die Resultate dieses Capitels es sind, auf deren Schultern in Wahrheit die Hypothese

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der teleologischen Eingriffe vermittelst unbewusster Intuition be- ruht. Wir haben schon oben (S. 19 21) darauf hingedeutet, dass hier der schwache Punkt der Ph. d. Unb. zu suchen ist. Dass die zeitgenössische Kritik, welche sich mit diesem Werke in Abhandlungen und Streitschriften eingehender als vielleicht seit langer Zeit mit irgend einem beschäftigt hat, von diesem klaffenden Riss im Fundament des Gebäudes selbst nach Erschei- nen der zweiten Auflage mit dem erwähnten Zusatz, ja sogar nach Erscheinen der dritten Auflage mit der verhängnissvollen Anmerkung auf S. 12, auch nicht das allergeringste gemerkt hat, zeigt von Neuem, wie sehr sie die Geringschätzung verdient, mit welcher hervorragende Männer, wie Schopenhauer, sie stets be- handelt haben.

Betrachten wir nun, wie die Ph. d. U. das in der zweiten Auflage mit in dieses Capitel hineingeschobene Zugeständniss soweit zu verclausuliren versucht, um den Riss nothdürftig zu verkleistern und nicht das ganze Buch von A bis Z umarbeiten zu müssen. Dieser Verclausulirungen sind auf S. 79 der 3. Auflage fünf angegeben, von denen aber nur die erste und fünfte wirklich die Behauptung einer Einschränkung für das Erklärungsprincip enthalten, während die 2., 3. und 4. Bedenken sind, welche sich nicht gegen die Brauchbarkeit des Princips zur Erklärung, son- dern gegen die Schwierigkeiten richten, welchen die Frage nach der Entstehung der fraglichen Prädispositionen in gewissen Fällen oder in früheren Stadien der Entwickelungsgeschichte begegnet. Beides ist jedoch wohl aus einander zu halten; zu- nächst ist zu untersuchen, wie weit die Sphäre des durch diese Hypothese zu Erklärenden sich erstreckt, und dann erst in zweiter Reihe ist nach Aufhellung der Genesis dessen zu streben, was zunächst als Thatsache behufs der Erklärung der Erscheinungen hypothetisch vorausgesetzt wurde. Dunkelheiten, welche in der Genesis bleiben dürften, würden bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntniss durchaus keine entscheidende Instanz gegen die Hypothese selbst abgeben können, falls nur das in dieser Supponirte wirklich zur Erklärung der Erscheinungen in der Hauptsache hinreicht. Und diess ist in der That der Fall.

Die erste Clausel hat zu bemerken, „dass alle Abweichungen

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von den gewöhnlichen Grundformen des Instincts, insofern sie nicht bewusster Ueberlegung zugeschrieben werden können, in diesem (molecularen Hirn-) Mechanismus nicht prädisponirt sind" (S. 79). Man kann diess zugeben, wenn man sich erstens über die „Grundformen'^ des Instincts richtig verständigt und wenn man zweitens die Modificationen der bewussten zweckmässigen Ueberlegung bei Thieren nicht zu gering anschlägt, denn dann bleibt in der That nichts von unerklärten Erscheinungen übrig. Wenn die Bienen an den Wänden und der Decke nicht sechs- seitige, sondern fünfseitige Prismen bauen, so ist das nicht eine einmalige, unter ganz abnormen Umständen vorkommende, son- dern eine stetig sich wiederholende, gesetzmässige Modification des Instincts und demgemäss die fünfseitige Zelle am Rande ebensogut als typische Grundform der Instincttliätigkeit anzusehen wie die sechsseitige im Innern. Jeden Instinct auf eine einzige Grundform beschränken, hiesse der Natur eine Armuth aufzwingen, über die sie erhaben ist; überall wo modificirte Umstände in congruenter Form unter den natürlichen Lebensverhältnissen wiederkehren, werden auch in den betreffenden Instincten mit Sicherheit sich typische Modificationen des Verfahrens heraus- bilden. Erst so gefasst wird das Bild einer Claviatur von Prä- dispositionen im Gehirn, w^o die Tasten die Motive, die klingenden Saiten die Instincte sind (Ph. d. U. S. 73 74), einigermaassen der Fülle des Lebens entsprechend; so bleibt aber auch nichts Wunderbares dabei und ist die Forderung vollständig gewahrt, dass die gewöhnliche und die modificirte Handlungsweise (inso- fern beide gesetzmässig auf gleiche Motive wiederkehren) aus derselben Quelle stammen (S. 76 oben). Betrachten wir tiefer stehende Thiere, bei denen ein nennenswerthes Maass bewusster Ueberlegung nicht vorauszusetzen ist, so werden sich die Func- tionen des gesammten Lebens in einem ziemlich engen Kreise typischer Formen bewegen, wenden wir aber unsern Blick auf klügere und höher stehende Thiere (oder selbst nur auf die klugen Arten der Insecten), so wird der Kreis von typisch niodifi- cirten Instinctbandlungen in immer w^achsendem Maasse durch immer feinere Modificationen und Accommodationen an die Be- schaffenheit der concreten Fälle bereichert, welche aus der Mit-

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Wirkung der bewussten zweckmässig eingreifenden Ueberlegnng herrühren (vgl. S. 75 nnten bis 76 oben), und durch diese oft schwer zu entwirrenden und vermittelst Gewohnheit und Vererbung flüssig in einander übergehenden Combinationen von Instinct und bewusster Ueberlegung erhält erst die Lebenssphäre der höheren Thiere jene Breite und Mannichfaltigkeit, die im Menschen ihr Maximum auf der Erde erreicht. Hiermit fallen aber die Ein- wendungen in sich zusammen, welche die Ph. d. U. gegen die Erklärung des Instincts durch einen molecularen Gehirnmecha- nismus auf S. 73 77 vorbringt, und mit der Nothwendigkeit der Elimination dieser Hypothese fällt wiederum der Antrieb hin- weg, zu der anderartigen Hypothese eines rein spirituellen Processes ohne materielles Substrat tiberzugehen, wo die unbewusste hellsehende Intuition des Zw^ecks als Vermittlungsglied zwischen dem Motiv und der Instincthandlung dienen soll. Dass die „mechanische Leitung und Umwandlung der Schwingungen des vorgestellten Motivs in die Schwingungen der gewollten Handlung im Gehirn", welche Umwandlung eben durch die eingegrabene moleculare Prädisposition bestimmt ist, nicht als solche, sondern nur nach ihrem Resultat in's Bewusstsein fällt, ist gar nicht „wunder- bar" (S. 77), sondern entspricht vollständig allen gleichen Vorgängen der Motivation im menschlichen Charakter; alle Processe der Art, auch die mächtigsten, bleiben unbewusst, und nur ihre Resultate drängen sich dann mit solcher Kraft in's Bewusstsein, dass jeder Widerstand der bewussten Vernunft gegen dieselben mitunter vergeblich wird. Ist die typische Vorstellungsform, die den Inhalt der Instincthandlung bildet, nicht eingestaltig, sondern mehr- gestaltig, d. h. in verschiedenen, an modiiicirte Motive angepassten Modificationen vorhanden, so ist natürlich der moleculare Um- wandlungsprocess der Schwingungen nur vermittelst einer Mehr- heit von Hirnprädispositionen, welche verschiedenen Tasten der Claviatur entsprechen, zu erklären (S. 77).

Su))ponirt man nun aber auf diese Weise polymorphe Instincte för verschiedene modificirte Motive, so hat man keinen Grund mehr, mit der Ph. d. Unb. in der fünften (Uausel zu behaupten, „dass der unbewusste Zweck stets stärker bleibt, als dieGanglien- (oder Him-) Prädisposition" (S. 8(V), denn dieser unbewus<ste Zweck

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wird in der That nur da erfüllt, wo die entsprechenden Prä- dispositionen bereits vorhanden sind, oder wo die bewusste üeberleg'ung ausreicht, für den von dem Bewusstsein erkannten nächsten Zweck oder Mittelzweck zweckmässige Modificationen an den Instinctfunctionen anzubringen. Unter den gewöhn- lichen Verhältnissen des Thierlebens reichen diese beiden Be- dingungen zu, um das Verhalten des Thieres zweckmässig zu regeln, d. h. den unbewussten Zweck (des Daseins als solchen) zu erfüllen ; thäten sie es bei einer Species nicht, so hätte dieselbe ja längst aussterben müssen.

Treten aber ausnahmsweise Verhältnisse an ein Thier hcran^ welche sein bewusstes Verständniss nicht zu bewältigen vermag^ und für welches es keine Prädispositionen zu instinctiv-richtigem Verhalten besitzt, so erweist sich in solchem Fall der „unbewusste Zweck" als nicht stark genug, sich durchzusetzen, oder wie die Ph. d. Unb. es ausdrücken würde, die individuelle Vorsehung des Thieres lässt dasselbe im Stich, die teleologische Eingebung des Unbewussten, welche ja keine Verpflichtung hat, immer zu erscheinen, bleibt aus (S. 377 unten), kurz das Thier verhält sich unzweckmässig, und verfehlt den Instinctzweck, wofern es nicht gar an den Folgen seines unzweckmässigen Verhaltens zu Grunde geht. Ein Mechanismus, wie künstlich er sein mag, passt eben immer nur für gewisse Umstandscombinationen, und versagt für Fälle, auf die er nicht construirt ist, den Dienst, oder wirkt unzweckmässig, es sei denn, dass seine Leistung durch bewusste Ueberlegung corrigirt wird. Gewiss kann man dabei nicht sagen, dass der Instinct irre, aber man kann ebensowenig sagen, dass er unfehlbar sei; er verrichtet wie jeder Mechanis- mus mit Zuverlässigkeit eben nur den mehr oder minder eng begrenzten Kreis von Aufgaben, für die er construirt ist. Hiernach ist das zu corrigiren, was die Ph. d. Unb. über das Nichtirren- können des Instincts vorbringt (vergl. S. 87 und 377 379). Dass ein Mechanismus, wenn er wirkt, ohne Schwanken, Zögern und Zweifeln mit mechanischer Sicherheit undPräcision wirkt, ist selbstverständlich; dieser Umstand war am wenigsten geeignet, für eine metaphysisch- spiritualistische Hypothese ausgebeutet zu werden (S. 87), sobald nur erst einmal der Begriflf des molecularen

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Hirninechanismns lüit der zu erklärenden Thatsaclie confrontlrt worden war; denn diese besinnungslos zupackende Sicherheit \nrkt für solche concrete Fälle, für die der Mechanismus nicht passt, ebenso vorderblich (S. 125), wie in den Fällen der Zweck- mässigkeit nützlich. Mit Recht aber wurde das Merkmal der Rapidität der Reaction auf das Motiv als ein solches angesehen, welches einen specifischeii Unterschied zwischen Handeln aus Instinct und Ueberlegung begründet (S. 81 und 87), oder genauer zwischen solchem Handeln, wo die Reaction auf das Motiv aus- schliesslich durch das Functioniren instiuctiver oder charak- terologischer Prädispositionen verursacht ist, und solchem, wo sich zwischen die instictiv wirksamen Elemente eine mehr oder minder lange Erwägung von Motiven, Zwecken und Mitteln ein- schiebt, wo also das discursive Denken eine M e u g e Schritte machen muss, die bei der blossen einfachen Instinctreaction weg- fallen. Immerhin aber wird auch bei letzterer der mechanische Umw^andlungsprocess der Schwingungen des Motivs in die Schwin- gungen des instinctiven Wollens eine gewisse, w^enn auch kurze, d. h. auf Bruchtheile einer Secunde beschränkte Zeit erfordera; bei unserer physiologischen Auffassung des Vorganges ist die Zeit- losigkeit oder Momentanität der Reaction unmöglich, und die Thatsachen geben für eine solche Annahme gar keinen Anhalt, da sie eben nur eine gewisse Rapidität der Reaction, d. h. eine relativ kurze Dauer, bei blossen Instincthandlungen aussagen. Die Verantwortung für die Annahme einer zeitlosen Momentanität der unbewussten Intuition (S. 376) ist demnach lediglich der metaphysischen Speculation zu überweisen und findet in der Er- fahrung keine Stütze.

Wenn die Ph. d. Unb. S. 79 in der fünften Clausel sagt, dass auch der fertige Hülfsmechanismus nicht etwa zu einer bestimmten Instincthandlung necessitirt, sondern nur prä- disponirt, so ist dies ganz richtig, insofern nämlich eine Con- en rrenz mit anderen ebenfalls erregten Prädispositionen des Gehirns stattfindet, mögen dies nun ebenfalls instinetive und charakterologische oder zunächst Gedächtnissprädispositionen sein, welche neue Motivreihen aus der Erinnerung in's Bewusstsein einführen und so den Process aufs Neue compliciren. Gleichwohl

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wird die Ph. d. Unb. auf ihrem entschieden deterministischen Standpunkt am wenigsten bestreiten wollen, dass das Endresultat aller durch das zuerst auftretende Motiv angeregten Processe eia im strengen Sinne necessirtes sei, und nur, wenn man ein einzelnes Element dieses dynamischen Compromisses heraus- greift, kann man von dieser künstlichen Abstraction sagen, dass sie allein nicht necessitire, sondern nur prädisponire. Wäre ein Fall denkbar, wo durch ein Motiv nicht mehr als eine ein- zige Prädisposition erregt würde, so würde diese auch für sich allein necessitirend wirken. So viel ist aber klar, dass, wenn man neben und hinter diesem mit naturgesetzlicher Nothwendig- keit vor sich gehenden dynamischen Process der Motivation im Gehirn noch ein metaphysisches Wesen als Superintendenten an- gestellt denken wollte (Ph. d. Unb. S. 80 oben), dieses die ganz klägliche Rolle des fünften Rades am Wagen spielen würde (vgL das oben über den Motivationsprocess im Abschn. V. Gesagte).

Die Ph. d. Unb. setzt in dem Capitel „Instinct" noch ohne weiteres voraus, dass ein solcher molecularer Gehirnmechanismus dadurch entstanden gedacht werden müsse, dass die Vorsehung oder Natur ein- für allemal bewusst oder unbewusst den Instinct- zweck im Voraus gedacht und mit Rücksicht auf diesen Zweck den betreffenden Mechanismus dem Individuum eingepflanzt habe (S. 73 Mitte). Nach dem Abschnitt C der Ph. d. Unb. ist es aber selbstverständlich, dass, wenn ein solcher Gehirnmechanismus individuelle Existenz hat, er ebenso wie die gesammte innere und äussere typische Organisation des Thieres, zu welcher er als integrircnder Bestandtheil gehört, ererbt ist, so dass dann die weitere Frage nur lauten kann, wie die Vorfahren zu diesem Besitz gelangt sind, den sie durch Vererbung auf ihre Nachkommen tibertragen haben. Dass jeder liistinct einen integrirenden Bestandtheil des Gattungstypus bildet, erkennt auch die Ph. d. Unb. mehrfach an (z. B. S. 165); dass die Constanz des Gattungs- typus aus der befestigten Vererbung entspringt, wird sie gewiss nicht in Abrede steilen wollen; da hegt es doch nahe, auch die Con- stanz der Instincte in derselben Species aus der befestigten Verer- bung zu erklären und in dem fraglichen Zusatz (S. 78 unten bis 79 oben) wird in der That dieser Weg angedeutet. Nichtsdestoweniger

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steht am Schluss des Capitels (S. 102) zu lesen, dass die Constanz der Instincte aus der Constanz des Zweckes bei gleichen äusseren Verhältnissen folge. Hier haben wir, wie oben, zwei Erklä- rungsprincipien für dieselbe Sache, von denen schon eines allein ausreicht. Da das physiologische Erklärungsprincip der Vererbung ohnehin unabweisbar ist, so werden wir das teleologische um so mehr zurückweisen dürfen, als das actuelle Vorhandensein einer uubewussten Zweckvorstellung in den Instincten noch gar nicht erwiesen ist, im Gegentheil durch das Erklärungsprincip der ererbten Hirnprädispositionen selbst zu einer überflüssigen Hypo- these geworden ist.

Fragen wir nun nach der E n t s t e h u n g der Hirnprädisposition im Individuum, so stehen wir in erster Reihe dem Problem der Vererbung gegenüber und hiergegen richtet sich die zweite der erwähnten Clausein, indem sie besagt, „dass die Vererbung nur möglich ist unter beständiger Leitung der embryonalen Ent- wickelung durch die zweckmässige unbewusste Bildungsthätigkeit, allerdings wieder beeinflusst durch die im Keim gegebenen Prä- dispositionen" (S. 19). Wir haben oben im Abschnitt VI die Ver- erbung zu ausführlich behandelt, um hier noch einmal darauf zu- rückzukommen und können hier nur recapituliren, dass die in der Erklärung der Thatsachen noch vorhandenen Schwierigkeiten und Dunkelheiten durch die Annahme unmittelbarer metaphysischer Eingriffe nicht gehoben oder aufgehellt werden können.

Hiernach bleibt nur die Frage übrig, wie in den Vorfahren die zu vererbenden Gehirnprädispositionen entstanden seien, und dieser Frage, gegen welche die 3te und 4te Clausel sich richtet, haben wir nunmehr näher zu treten. Die Ursache dieser Ent- stehung ist unzweifelhaft in einer allmählichen Steigerung der vererbten Prädispositionen zu suchen, und, wie wir es an ein- zelnen concreteu Beispielen schon in früheren Abschnitten (S. 21 ff., 112 ff., 159 ff., 164 ff.) erläutert haben, bietet die lange Generationenreihe von der niedrigsten protoplasmatischen Monere bis zu den höchsten Thieren Zeit und Spielraum genug, um ein solches Wachsthum frei von allen plötzlichen Sprüngen zu denken. Das in der Urmonere durch die physi- kalischen und chemischen Gesetze gegebene Verhalten gegen die

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veracbiedenartigeü Reiae- bildet den Ausgangspunkt für diese Ent- wickeluugsreihe , wie für jede aüdöre. und die von der Ph. d. Unb. mit Reeht so stark betoute Uebereinstimmung von organischem Bilden und Instinct wird durch diesen gemeinsamen Ausgangs- punkt und die gemeinsamen Ursachen der Abänderung und Steigerung erklärlieh; ebenso wird aber durch die inductiven Beweise für diese Uebereinstimmung das für das organische Bilden anerkannte Erklärungsprincip der Descendenztheorie auf den Instinct übertragbar und so dienen die betreffenden Aus- iithruugen der Ph. d. Unb. (S. 170—172, 435—440, 446—448) ganz direkt zur Unterstützung unserer Behauptungen. Noch deutlicher als bei Thieren treten die vermittelnden Uebergänge bei den Pflanzen hervor, wo einerseits die bewusste Ueber- legung gar nicht modificirend eingreifen kann und andererseits ausgebildete Centralorgane fehlen. Hier springt der mecha- nische Charakter der instinctiven Prädispositionen natürlich viel greller in die Augen und verweisen wir deshalb besonders auf die zuletzt citirten Stellen aus dem Capitel C IV. der Ph. d. Unb. Haben wir die natürliche Zuchtwahl als die wichtigste Ursache für die fortschreitende physiologische Differenzirung der Organismen erkannt, so wird sie es eben so gut für die fortschreitende Ge- wandheit in der Benutzung der differenzirten Organe sein. Dies ist um so einleuchtender, als auf den niederen Stufen des Thier- reichs, wo bewusste Ueberlegung noch nicht weiter als Bestimmungs- grund des Handelns berücksichtigt zu werden verdient, jede Aen- derung des instinctiven Verhaltens mit einer Aenderung der physio- logischen Differenzirung der Organe Hand in Hand geht. Die letztere wäre für die Lebenszwecke des Thieres in vielen Fällen werthlos, wenn nicht die rechte instinctive Benutzung hinzuträte; die natürliche Zuchtwahl würde dann also auf die Differenzirung und Vervollkommnung der Organe gar nicht wirken können, wenn sie nicht vermittelst einer damit Hand in Hand gehenden Veränderung der Instincte auf sie wirkte, denn erst durch eine solche wird der Vortheil ausgenutzt, den jene im Kampf ums Dasein zu bieten vermögen. Da es sich bei allen solchen Abänderungen nur um minimale Modificationen handelt, wie sie durch die natürlichen Differenzen der Individuen inner-

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halb derselben Art gegeben sind, so scheint das Zuhülferufen teleologischer Eingriffe nicht erforderlich, d. h. es kann die Be- hanptuDg der Ph. d. Unb. in der oten €iausel , dass der Instinct ohne ererbten Hülfsmechanismus die Ursache der E n t s t e h u n^ des molecularen Hülfsmechamsmus in früheren Generationen ge- wesen sein müsse, nicht zugegeben werden. Die Ph. d. Unb. verkennt in dieser Behauptung wiederum die Möglichkeit höchst complicirter zweckmässiger Resultate ohne teleologisches Prin- cip wie durch allmähliche Addition nützlicher zufälliger Ab- weichungen unter dem Einfluss der natürlichen Zuchtwahl.

In der That tritt aber zur Production individueller Differenzen durch zufällige Einflüsse und zur natürlichen Auslese derselben im Kampf um's Dasein noch ein anderes Princip von höchster Wichtigkeit hinzu, ohne welche die Entstehung des Instincts nicht zu verstehen wäre; dies ist bei geistig höher stehenden Thieren (also schon bei Insecten, vielleicht auch noch weiter abwärts) <ler Emfluss der bewussten Ucb er legung auf zweckmässige Modiücationen des ererbten Instincts. Solche durch bewusste Ueberlegung herbeigeführte Modiiicationen werden alsdann, wenn sie sich als nützlich erprobt haben, den nachfolgenden Genera- tionen theils durch Vererbung, theils durch Beispiel überliefert und befestigen sich so durch Gewohnheit, dass sie zum integrirendeii Bestandtheil des zu vererbenden Instincts werden. Sie addiren sich durch Generationen hindurch ganz ebenso wie die durch natürliche Zuchtwahl begiins^tigten zufälligen individuellen Abweichungen, und stellen sich ebenso wie diese vorzugsweise dann ein, wenn das Anpassungsgleichgewicht der bisherigen Instincte einer Art an ihre Umgebung durch irgend welche Aenderungen (Einwanderung neuer Thier- oder Pflanzenarten, Aenderung des Klimas, Wechsel des Wohnorts u. s. w.j alterirt wird, wo dann alle geistigen Kräfte der Species in Bewegung gesetzt werden müssen, um ein neues, möglichst günstiges An- passuugsgleichgewicht der Lebensgewohnheiten an die neuen Verhältnisse herzustellen. Wie bei menschlichen Stämmen und Staaten werden dann anch bei thierischen Specien gerade solche Katastrophen, welche den Bestand der Arten bedrohen, zu Vehikela beschleunigten Fortschritts, indem sie die im Schlendrian der

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Oewohnheit eingeschlummerten Geisteskräfte zu energischer Be- thätigung anspornen.

Im concreten Falle mag es bei tieferstehenden Thieren, in deren Seelenvorgänge wir keinen rechten Einblick haben, schwer genug zu entscheiden sein, wie viel von den Aenderungen der Instincte dem blossen Ertolg der natürlichen Zuchtwahl und wie Tiel der Addition von zweckmässigen Modificationen aus bewusster Ueberlegung zuzuschreiben sei; es dürfte dies um so schwieriger sein, als in der That meistens eine enge Verquickung beider Ur- sachen stattgehabt haben mag, und als die Erprobung, Bewährung und Erhaltung der zweckmässigen Modificationen aus bewusster Ueberlegung selbst eine natürliche Auslese der glücklichsten Ge- danken aus den minder glücklichen oder ganz unbrauchbaren genannt werden kann. Aber gleichviel, ob im besonderen Falle die Abänderungen mehr aus der Erhaltung zufälliger individueller Differenzen oder mehr aus rationellen Modificationen durch bewusste Ueberlegung herstammen, auf alle Fälle ist es das zur Ge- wohnheitwerden neu auftretender kleiner Abweichungen, was die alten ererbten Formen der Instincte moditicirt und bei der Addition durch Generationen hindurch völlig umgestalten oder höher entwickeln kann. In diesem Sinne kann man sagen, jeder Instinct sei seiner Entstehung nach in letzter Instanz ererbte Gewohnheit, und das alte Sprüchwort: „Gewohnheit ist die zweite Natur" erhält dadurch die unerwartete Ergänzung, dass die Gewohnheit zugleich auch das Prius und der Ursprung der ersten Natur, d. h. des Instincts ist. Denn immer ist es die Gewohnheit, d. h. die häufige Wiederholung der nämlichen Function, was die gleichviel wie hervorgerufene Handlungsweise den Centralorganen des Nervensystems so fest eingräbt, dass die so entstandene Prädisposition vererbungsfähig wird.

Was die empirischen Beläge zu den vorgetragenen Ansichten betrifft, 80 verweise ich vor Allem auf Darwin's Capitel über den Instinct in seiner „Entstehung der Arten" und nebenbei auch auf das Capitel „Philosophie der Vogelnester" in Wallace's „Bei- trägen zur l'h. d. nat. Zuchtwahl". Letzterer hebt den Einfluss der bewussten Ueberlegung auf die Modificationen des Nestbau- instincts bei Vögeln gut hervor, nur befindet er sich in dem

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Irrthunij als würde die so erlangte Gewohnheit bloss durch Lehre und Beispiel auf die folgenden Generationen tiberliefert ; von einer gleichzeitigen Vererbung der durch diese Gewohnheit eingegra- benen Hiniprädisposition weiss er nichts und sucht deshalb, wie oben erwähnt, den angeborenen Instinct möglichst zu leugnen.

Wir können hier nicht daran denken, ein vollständiges empirisches Material herbeizuschaffen, sondern fügen nur einige Beispiele zur Erläuterung des im Allgemeinen Gesagten bei.

Der Amerikanische Kukuk baut ein eigenes Nest und finden sich in diesem Junge in verschiedenen Altersstadien und noch bebrtitete Eier. Zugleich sind aber auch sichere Beispiele bekannt dass dieser Vogel ausnahmsweise, wie es auch von manchen anderen Vogelarten constatirt ist, seine Eier in fremde Nester lege. Dass auch bei unserm Kukuk neuerdings Fälle bemerkt sind wo er seine Eier selbst bebrütet und die Jungen selbst füttert, scheint zu beweisen, dass die früheren Vorfahren desselben ähnlich dem amerikanischen Kukuk gelebt haben. Letzterer legt Eier, die seiner Grösse angemessen sind, ersterer hingegen viel kleinere Eier. Die Vermittelung bildet der australische Broncekukuk, dessen Eier sowohl in Grösse wie in Farbe bedeutende individuelle Verschiedenheiten zeigen. Da nun unser Kukuk vorwiegend in den Nestern kleinerer Vögel Gelegenheit fand, seine Eier abzu- legen, so mussten diejenigen Individuen, welche die kleinsten Eier legten, am meisten Nachkommenschaft erzielen, und die aus den kleinsten Eiern entsprossenen jungen Kukuke erbten die Eigenschaft, kleine Eier zu legen. Ebenso wenn sich von den individuellen Abweichungen der Färbung der Eier einige durch Aehnlichkeit mit den entsprechenden Nesteiern der Pflegeeltern nützlich erwiesen, so musste die natürliche Zuchtwahl die Aehn- lichkeit dieser Färbung steigern. Ob wirklich ein und dasselbe Kukukweibchen die Fähigkeit besitzt, Eier von ganz verschie- dener Imitation der Färbung zu legen, oder ob diese Unter- schiede sich nicht vielmehr aut verschiedene Individuen als Familienerbeigenthümlichkeit vertheilen ; ob ferner der Kukuk sein Ei nach den betreffenden Nesteiern bildet, oder ob er nicht vielmehr sich ein Nest nach der feststehenden, also ihm be- kannten Färbung seiner Eier aussucht, dies alles sind Fra-

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gen, welche zu ihrer Lösung erst noch genaueren Studiums be- dürien.

Ein anderes Beispiel bietet die typische Form der Bienenjselle. Die Hummeln verwenden ihre alten Cocons zur Aufnahme von Honig, indem sie ihnen zuweilen kurze Wachsröhren anfügen; auch fertigen sie einzelne abgesonderte und sehr unregelmässig ab- gerundete Zellen von Wachs an. Zwischen der Hummel und unserer Biene, wenngleich der ersteren etwas näher, steht nach Körperbau und Zellenstructur die mexikanische Melipona domesücay welche einen fast regelmässigen wächsernen Zellkuchen mit cjlin- drischen Zellen bildet, in denen die Jungen gepflegt werden, der aber ausserdem einige grosse annähernd kugelförmige Zellen zur Honigaufnahme enthält. Letztere sind so nahe aneinander gertickty dass an den aneinanderstossenden Stellen Kugelabschnitte fehlen, und hier eine ebene Wachsschicht die Scheidewand bildet. Manche Zellen haben zwei, andere auch drei solche ebene Berührungs- flächen, und in letzterem Falle gruppiren sich diese drei Flächen zu einer dreiseitigen Pyramide, welche nach Huber off'enbar als ein rohes Abbild der dreiseitigen Basalpyramide an der Zelle unserer Korbbiene zu betrachten ist. Denkt man sich nun die Zellen der Melipona regelmässig in mehreren Schichten so grup- pirt, dass sie sämmtlich drei Schnittflächen auf der einen Seite und drei Schnittflächen auf der andern Seite hervorbringen, in der Mitte aber zur Aufnahme von Honig oder Jungen hinreichend verlängert sind, so muss diese Mitte nothwendig die Gestalt eines sechsseitigen Prismas annehmen, und sämmtliche Winkel müssen sich unter den gegebenen Voraussetzungen von selbst ergeben, da sie durch die Zusammenlagerung und gegenseitige Pressung und Abflachung der ursprünglich cylindrisch mit zwei halbkugelförmigen Enden gedachten Zellen rein stereometrisch bestimmt sind. Bedenkt man nun, dass Bienen ihre Arbeit stets mit rundlichem Aushöhlen eines massiven Walls von Wachs beginnen und erst zu guterletzt die Winkel scharf ausarbeiten, um das Maximum von innerem Raum zur Honigaufnahme zu gewinnen und das kostbare Material des Wachses nicht unnütz stark in abgerundeten Ecken stehen zu lassen, bringt man ferner in Anschlag, dass die mathematische Genauigkeit ihres Arbeits-

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resnltats denn doch auch wohl häutig übertrieben worden ist, so wird man es nicht unwahrscheinlich finden, dass frühere Vor- fahren unserer Bienen dereinst in älmlich unvollkommener Weise wie heute noch die Mexikanischen gebaut haben mögen und sidi allmählich zur jetzigen vervollkommneten Bauart heraufgearbeitet haben mögen. Dass die bewusste Ueberlegung, .der in den Dienst :des Bautalents genommene Scharfsinn dieser klugen Thiere dabei keine kleine Rolle gespielt haben mag, ist aus der verständigen Art und Weise zu schliessen, mit welcher sich gegenwärtig die Korbbienen künstlich veränderten Verhältnissen innerhalb ihres Korbes zu accommodiren wissen.

Mit Recht ist beim Bauen der Bienen und überhaupt im Leben der Insecteustaaten das wunderbare Ineinandergreifen der Instincte der einzelnen Individuen hervorgehoben (Ph. d. ü. S. 07—99) und betont worden, dass ein so einträchtiges Zu- sammenwirken nicht von Antrieben der bewusstcn Ueberlegung, sondern nur von instinctiven Functionen zu erwarten sei. Andrer- seits wird man sich aber auch hüten müssen, die Mitwirkung der bewiissten Verstandesthätigkeit bei der Ausführung solcher instinctiven Functionen zu unterschätzen. Wir wissen, dass die betreffenden höheren Insecten eine ziemlieh ausgebildete Zeichen- sprache besitzen, dass die Individuen derselben Gesellschaft sich persönlich kennen, dass eine gewisse hierarchische Rangordnung unter ihnen besteht, welche in den Kasten der Araeisenstaaten und in der Anstellung von Aufsehern und Ordnern bei der Arbeit sichtbar wird. Wir müssen ferner berücksichtigen, dass die Stö- rung,-welche bei modernen Menschen das einträchtige Znsammen- wirken durch das prätentiöse Hervorkehren der Individualitäten und durch die eitle Besserwisserei der Einzelnen erleidet, bei der Gemeinschaft von Wesen, die ein derartig ausgebildetes Gefühl der Persönlichkeit noch gar nicht besitzen, kaum zu erwarten steht, und wir werden uns den Unterschied schon an einem uns näher liegenden Beispiel klar machen können, wenn wir an die instinctive Eintracht des Zusanmienwirkens bei einem auf dem Kriegspfade befindlichen Trupp Indianer denken, wie sie durch die Gemeinsamkeit des Zwecks, die Gleichheit der gewohnten Mittel in seiner Verfolgung und die Stärke xJes Zugehörigkeit«-

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getühls zu dem socialen Ganzen geschaffen wird. Je enger und beschränkter der Kreis der zu verrichtenden Functionen ist, je fester diese und die bestimmte Form der Arbeitstheilung als schlummernde Gedächtnissvorstellungen und instinctive Triebe dem Centralorgan des Nervensystems imprägnii-t sind, je weniger das Gefühl der Individualität und das Bestreben, diese als solche zur Geltung zu bringen, entwickelt ist, desto einfachere Zeichen werden zur Verständigung über die der Willkür überlassenen Elemente der Cooporation genügen, und desto grösser wird die Eintracht des Zusammenwirkens und die Zweckmässigkeit des Ineinandergreifeus der Functionen der Einzelnen sein. Da alle diese Bedingungen in den Insectenstaaten in hohem Maasse erfüllt sind, so scheint es nicht erforderlich, ausser den prädispositionellen Instincten und der Verständigung durch Zeichensprache noch specielle teleologische Inspirationen eines metaphysischen Un- bewussten als Regulator der Cooporation zu supponiren.

„Jedes Thier wählt gerade diejenigen pflanzlichen oder thierischen Stoffe zu seiner Nahrung aus, welche seiner Ver- dauungseiurichtung entsprechen" (Ph. d. Unb. S. 89). Der Gesichts- eindruck, häufiger noch der Geruchseindruck, erweckt in dem Thier instinctiv ein Verlangen nach der Speise oder einen Wider- willen gegen dieselbe. Offenbar haben wir es hier mit ererbten Prädispositionen zu thuu, mag nun die Nahrung des Thieres auf eine einzige Pflanzenart oder Thierart beschränkt sein, oder zahlreiche Classen von Naturprodukten umfassen. Ebenso gewiss ist es, dass diese instinctive Zu- oder Abneigung, die durch den Gesichts- oder Geruchseindruck erweckt wird, ein Resultat des- selben Processes natürlicher Zuchtwahl ist, aus welchem die genaue Anpassung der Fress- und Verdauungswerkzeuge an die Art der Nahrung hervorgegangen ist. Im Allgemeinen frisst jedes Thier nur die Art von Nahrung, an die es selbst oder seine Vorfahren gewöhnt sind, und verschmäht alle andere (der Bauer macht es ja nach dem Sprüchwort ebenso); erweisen sich nun gar gewisse Classen von Nahrungsmitteln, die dem vorwitzigen Versuch des Abweichens vom Gewohnten nahe liegen, als schädlich, so wird sich der Widerwille gegen diese steigern, eines- theils dadurch, dass Individuen nach ihren Üblen Erfahrungen

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weiter leben und den so erworbenen positiven Widerwillen auf ihre Nachkommen vererben, anderntheils aber dadurch, dass die vorwitzigen ihren Abfall von der ererbten Tradition mit dem Leben bezahlen müssen und somit nur die in dieser Hinsicht vor- sichtigeren ihre Vorsicht und ihre Abneigung vererben. Der erstere Fall findet statt bei giftigen Kräutern auf der Weide oder giftigen Früchten im Walde; der letztere Fall beim Verhalten der Hechte und anderer Raubfische gegen Stichlinge oder der Raub- vögel gegen giftige Schlangen; beide Formen der Variation wirken zusammen um die Scheu der verfolgten Thiere vor den sie verfolgenden Raubthieren oder Menschen zu constituiren. Dass solche instinctive Abneigung, Scheu oder Furcht in Bezug auf Nahrungsmittel oder Feinde Resultat eines natürlichen Pro- cesses und nicht einer metaphysischen Inspiration ist, geht schon daraus hervor, dass alle Thiere nur ^'or denjenigen giftigen Natur- produkten oder gefährlichen Gegnern Scheu haben, welche ihre Species Gelegenheit gehabt hat, durch lange Erfahrung als schädlich und geiährlich kennen zu lernen. Wird eine Familie dann durch Domestication oder Ortswechsel diesen Einflüssen entrückt, so bleibt die instinctive Prädisposition zwar noch längere Zeit in der Ver- erbung erhalten, schwächt sich aber nach und nach mehr und mehr ab, um dafür den unter den neuen Verhältnissen hinzu- erworbenen (z. B. domesticirten oder zahmen) Instincten Platz zu machen. Daraus, dass minder scheue, furchtsame oder vorsichtige Individuen gewissen Gefahren gegenüber allemal ihrem Vorwitz zum Opfer fallen und dass hierdurch eine natürliche Auslese der vorsichtigeren stattfindet, die ihre Scheu vererben, erklärt sich sehr wohl die Entstehung von instinctiver Scheu vor gewissen verderblichen Gefahren, ohne dass die Entstehung der Prädispo- sitionen zu solchen „Unterlassungen, bei denen Zuwiderhandlungen stets den Tod zur Folge haben", nothwendig ein zweckthätiges Bilden zur Erklärung erforderte, wie die Ph. d. Unb. in der 4ten der vorerwähnten Clausein behauptet (S. 79).

Noch weniger kann man dies bei den auf die Fortpflanzung (beziehungsweise bei niederen Thieren auch auf die Metamor- phose) bezüglichen Instincten zugeben, welche, wie es bei niederen Thieren gewöhnlich ist, nur Ein Mal in jedem individuellen

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Lebenslauf zum Functioniren gelangen (Fh. d. IJab. S. 79); kann auch die Gewohnheit hier nieht in dem gebräuchlichen Sinne einer öfteren Wiederholung der Function von Seiten des- selben Individuums wirken, so tritt an ihre Stelle eine durcJh die Ausnahmslosigkeit des Vorgangs durch lange Genecationen- reihen hindurch um so stärker befestigte Vererbung, und gi-ade bei den Fortpflanzungsinstincten erklärt sich die modificirte Form derselben sehr leicht durch natürliche Zuchtwahl aus derjenigen Form, welche diese Instincte in der Stammform der betreffenden Species besassen (wie wenn z. ß. Specien, in welchen Männchen und Weibchen sich durchaus unähnlich sehen, sich allmählich aus einer Stammform entwickeln, in welcher dies nicht der Fall i^t^ durch welclie allmähliche Umwandlung aber eben das Wunder- bare einer instinctiven Begattungstendenz zwischen ganz unähn- lichen Organismen verschwindet). Aus dieser Entstehungsart er- giebt sich aber, dass auch hier da>s Hellsehen des Instincts in Bezug auf den Zweck, dem es unbewusster Weise dient, blosser Schein für den Beobachter ist, während in der That die instinc- tive Handlungsweise nur der Ausfiuss einer ererbten Hirn- oder Ganglienprädisposition ist, die sich in den Vorfahren dadurch entwickelt hat, dass sich individuelle Abweichungen addirten, welche sämmtlich, sowohl einzeln als zusammengenommen, die Species im Kampf um's Dasein günt^tiger stellten, als sie vorher stand.

Ganz dasselbe gilt in Bezug auf das Verhalten der Tliieiie zu künftigen Witterungsänderungen, welche in die Oekonomie ihres Lebens mächtig eingreifen (Ph. d. Unb. S. 90—91). Die Ph. d. Unb. gesteht zu, dass irgend ein Motiv da sein müsse, auf welches der Instinct reagirt, und dass in solchen Fällen dieses Motiv in einer Gefühlswahrnehmung gegenwärtiger atmosphärischer Zustände gesucht werden müsse, welche, wenn wir sie ebenso wahrnehmen könnten, uns als Symptom der bevorstehenden Witterungsänderung gelten würden. Obwohl nun die meisten Thiere, welche sich durch solche Einflüsse bestimmen lassen, un- zweifelhaft nicht eine solche Folgerung an ihre Gefühlswahr- nehmung knüpfen, so handeln sie doch instinctiv so, als ob sie die Folgen der wahrgenommenen Symptome im Bewusstsein hätten

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und ihre Vorkehrungen dagegen träfen. Hieraus folgt aber nur, dass sie in ihrem Gehirn eine ererbte Prädisposition zu solchen für das Bestehen ihrer Species nützlichen, vielleicht gar unent- behrlichen Handlungsweisen besitzen, welche auf das eintretende Motiv sofort mit dem Triebe zu der entsprechenden Instinct- bandlung reagirt; es folgt aber nicht daraus, dass sie den Zweck des Instincts, den ihr Bewusstsein nicht kennt, durch unbew^usstes Hellsehen actuell erschauen.

Wenn die Erklärung der Erscheinungen des Instincts nach dem Schelling'schen Ausspruch als „wahrer Probirstein ächter Philosophie'^ zu betrachten ist (Ph. d. Unb. S. 102), so müssen wir das Resume dieses Abschnittes dahin ziehen, dass die Ph. d. Unb. sich in diesem Kapitel an diesem Probirstein nicht als acht erwiesen hat, da sie ein unhaltbares teleologisch-metaphysisches Erklärungsprincip als das wesentUche (in der ersten Auflage als das alleinige) hinstellt und das w^ahre naturw^issenschaftliche Erklärungsprincip nur als untergeordnete Hülfshypothese aus dem Abschnitt C in die späteren Auflagen mit hereinzieht, ohne durch diese Concession mehr zu erreichen, als eine deutlichere Ent- hüllung der Discrepanz zwischen den Abschnitten A und C. Nur derjenige Leser der Ph. d. Unb., welcher die fundamentale Bedeutung des Capitels über den Instinct für die gesammten Entwickelungen des Werkes erkannt hat, wird die Tragweite einer kritischen Elimination des metaphysisch-teleologischen Er- klärungsprincips aus der Auflösung dieses Problems und der Sub- stitution desselben durch ein physiologisches Erklärungspiincip zu ermessen vermögen.

XL

Die Instincte der untergeordneten Central- Organe des Nervensystems.

Die Ph. d. Unb. plaidirt in dem Cap. A I mit Recht für Anerkennung einer relativen Selbstständigkeit der untergeordneten Centralorgane des Nervensystems unbeschadet der Thatsache, dass in der aufsteigenden Reihe des Thierreichs die Centralisation für die willkürlichen Bewegungen beständig wächst (S. 56). Die Analogie der niederen Thiere, bei welchen die Selbstständig- keit und Unabhängigkeit der einzelnen Ganglien von einander sehr gross ist, macht zum Theil erst die physiologischen und pathologischen Thatsachen beim Menschen und den höheren Säugethieren verständlich. Wenn ein Insect, dem man das Hinter- theil abschneidet, nichtsdestoweniger den Act des Fressens fort- setzt, „wenn sogar Fangheuschrecken mit abgeschnittenen Köpfen noch gerade wie unversehrte tagelang ihre Weibchen aufsuchen, finden und sich mit ihnen begatten , so ist wohl klar, dass der Wille zum Fressen ein Act des Schlundringes, der Wille zur Be- gattung aber wenigstens in diesen Fällen ein Act anderer Gang- lienknoten des Rumpfes gewesen sei" (S. 54). Die betreffenden Willensakte waren aber zugleich Functionen der beiden wichtig- sten und allgemeinsten Instincte und wir müssen somit folgern, dass auch die Instincte, d. h. die molecularen Prädispositionen zu gewissen Handlungsweisen, in den gegebenen Beispielen ihren Sitz in verschiedenen Centraltheilen des Nervensystems hatten. Als solche Instincte untergeordneter Nerrencentra sind nun auch

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alle die in dem Cap. A I angeführten selbstständigen Functionen des Rückenmarks und der Ganglien in höheren Thieren und im Menschen zu betrachten. AVenn ein ausgeschnittenes und ausge- gespritztes Froschherz noch Stunden lang weiterschlägt, so ist die Ursache nirgends anders zu suchen, als in den Prädispo- sitionen der Herzganglien zu einer rhythmischen Functionsweise, welche die Muskeitäsern des Herzens zu Contractionen von dem- selben Rhythmus anregt (Ph. d. U. S. 109). Eine solche Gang- lienprädisposition , deren typische Bethätigung so sehr den Charakter der Spontaneität trägt, als die instinctive Willens- äusserung eines Thieres es nur immer vermag, muss ebenso un- zweifelhaft 1 n s t i n c t genannt werden, als ihre Function Wille, da die unbewusste Zweckmässigkeit ihrer Leistungen nicht in Frage zu ziehen ist. Zweifelsohne wird auch hier die Perception irgendwelchen Reizes, d. h. eine Empfindung als Motiv für das Eintreten und die Fortdauer der Function vorhanden sein (ebd. S. 124), wenn wir den betreffenden Reiz auch noch nicht genauer angeben können ; ob und in wiefern aber eine actuelle Vorstellung des Willensinhalts als Summationsphänomen der den Ganglien- willen constituirenden Molecularwillen zu Stande kommt, das möchte schwer zu behaupten sein, da uns alle Anhaltspunkte zu einer solchen Behauptung fehlen. Keinenfalls kann die Berufung der Ph. d. Unb. (S. 109) auf „die unbewusste Vorstellung bei Austührung der willkürlichen Bewegung'^ einen solchen Anhalt- punkt gewähren, da wir diese Hypothese der Ph. d. Unb., wie sie in Cap. A II entwickelt ist, schon oben (Abschn. VII, S. 112 bis 115) als unbegründet nachgewiesen haben.

Dasselbe wie von der Herzbewegung gilt natürlich von den Bewegungen des Magens und Darms und von dem Tonus der Eingeweide, Gelasse und Sehnen in Bezug auf das sympathische Nervensystem, sowie von den Athembewegungen in Bezug aut das verlängerte Mark ; ebenso gilt es in Bezug auf das kleine Gehirn von jenen spontanen Bewegungen und Handlungen, welche Vögel und Säugethiere mit exstirpirtem Grosshirn vornehmen , wie das Unterstecken des Koples unter den Flügel beim Schlafen, das Schütteln und Putzen des Gefieders nach dem Erwachen, das Umherlaufen etc. (Ph. d. U. S. 58). Das Kleinhirn leistet aber noch

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weit meht\ dm Vi^ei^^upt das Gentralorgan def willktirli^hetf Beweguugen ist und diese instinctiv richtig besorgt, sobald ilim eine allgeitiein gehaltene telegraphische Ordre vom G-rosshim ztigekommen ist , welche als ein die Instinctfunction auslösender Reiz oder Motiv dient (ebd. S. 118 119). Erstreckt sich die Ordre auf eine dauernde Thätigkeit, so kann diese auch dann noch fortgesetzt werden, wenn das Grosshirn durch Schlaf- oder Be- wnsstlosigkeit depoteuzirt ist (z. B. das Weitermarschiren von Soldaten, die auf dem Marsch eingeschlafen sind, das Nacht- wandeln, bewusstloses Abspielen von auswendig gelernten Ciavier- stücken u. s. w.); hierin offenbart sich ganz deutlich die Selbst^ stäudigkeit des Kleinhirns und seine relative Unabhängigkeit vom Grosshirn (S. 120), und zugleich bestätigt sich die mechanische Sicherheit und das rapide Functioniren der mechanischen Instinct- prädispositionen im Gegensatz zu den bewussten detaillirten In- tentionen des Grosshirns mit der Schwertälligkeit und AengSt- lichkeit seiner discursiveu Reflexion (S. 117 und 119). Wie un- richtig die Ph. d. Unb. diesen wohlbeachteten Gegensatz deutet, davon scheint sie auf S. 120 selbst etwas zu ahnen, indem sie die Aehnlichkeit der so durch allmähliches Einüben und Gewöh- nung der Nervencentra zu erlangenden Fähigkeiten und Fertig- keiten mit Instincthandlungen anerkennt, da sie „einem zur Natur werden" wie diese und „für das Hirn unbewusst werden" wie diese , dennoch aber nicht nur ihre Identität mit dem Instinct be- streitet, sondern sie als „das gerade Gegen theil" desselben betrachten zu müssen glaubt, weil nämlich hier das „zur Natur- werden" und „Unbewusstwerden" auf Uebung und Gewöhnung, also auf einem Gedächtniss der niederen Nervencentra, d. h. auf von denselben erworbenen Prädispositionen beruht, während der Instinct auf dem teleologischen Eingriff eines metaphysichen Unbewussten beruhen soll, das durch Uebung und Gewohnheit gar nicht berührt werden kann. In Wahrheit besteht ein Unter- schied nicht in der Ursache der Fertigkeit (der moleculareu Prä- disposition), sondern nur in der Art und Weise, wie man zu der- selben gekommen ist, ob man sie nämlich selber erworben oder von den Vorfahren ererbt hat, oder ob man sie theils ererbt, theils selber weiter ausgebildet hat.

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HieriDit sind wir schon in das Capitei von den Reflex- bewegungen hinübergerathen, und in der That lässt sich Instinct und Reflexiunction gar nicht trennen. Denn auch beim Instinct muss irgend „ein äusseres Motiv zum Handeln immer vorhanden sein, und die Handlung eriblgt auf dieses Motiv mit Noth- wendigkeit, also reflectorisch, wenn auch (unter Umständen j erst mittelbar durch verschiedene Reflexionen vermittelt" (Fh. d. U. S. 164). Andererseits ist das Resultat des Capitels über die Reflex- bewegungen, dass diese „die Instincthandlungen untergeordneter Nervencentra" sind (S. 126), wobei der Zusatz nicht als un- bedingte Beschränkung zu verstehen ist, wie die Anerkeimuug von „Reflexwirkungen des grossen Gehirns" beweist (S. 116 und 121). Gerade die letzteren sind sehr lehrreich, weil ihre Beobachtung viele Vortheiie vor den pathologischen Experimenten an Thieren bietet (S. 114), und wir wollen sie deshalb noch etwas näher in's Auge fassen. Wenn ein Knabe zum ersten Mal in seinem Leben ein Glas von dem Tisch fallen sieht, an dem er sitzt, so wird er sich vielleicht mit Ueberlegung dazu ent- Bchliessen, nach demselben zu greifen, aber er wird mit seinem Entschluss sicher zu spät kommen (S. 117 Z. 1). Begegnet ihm aber die Sache öfter, so wird seine Ideenassociation sich abkürzen und der Sinneseindruck des fallenden Glases endlich unmittelbar die schnelle Handbewegung hervorrufen; d. h. die Hebung mrd in seinem Gehirn eine Prädisposition zu reflectorischem Handeln erzeugen. Wenn auch dieses Ereigniss nicht allgemein und wichtig genug ist, um auf die Vererbung einer so erlangten Prädisposition mit Sicherheit rechnen zu können, so wird doch eine ähnlich entstandene Prädisposition, das reflectorische Erheben des Armes zum Schutze des Auges gegen einen dasselbe be- drohenden Schlag, unzweifelhaft vererbt, ebenso wie die reflec- toriscben Bewegungen der Augenlieder, die sich schliessen, wenn das Auge bedroht ist; letztere Bewegung insbesondere kann man schon bei Säuglingen beobachten. Wie wir von allen körper- lichen Fertigkeiten gesehen haben, dass sie erworben, vererbt und als ererbte durch Hebung gesteigert werden (vgl. Abschn. VUj, do werden wir es auch von allen jenen Fertigkeiten annehmen

müssen, welche, gleichviel ob sie im Grosshirn oder in niederen

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Nervenceiitren ihren Sitz haben, in hervorragendem Grade einen reflectorisfheu Charakter an sich tragen und deshalb im engeren Sinne als Reflexbewegungen bezeichnet werden. Zum Theil sind dieselben für die Lebensökonomie der betreffenden Thiere von der grössten Wicktigkeit, zum Theil tragen sie den Charakter schlitzender oder abwehrender Tliätigkeiten an sich; alle aber sind in ihrer normalen Gestalt nützlich, zweckmässig? für die Be- sitzer, und lässt »sich deshalb sehr wohl der Einfluss der natürlichen Zuchtwahl auf die Ausbildung und Steigerung derselben begreifen. Bei höheren Thieren aber werden dieselben auch schon dadurch entwickelt, dass das Gehirn auf eine Sinneswahr- nehmung hin sich einen bestimmten Zweck vorsetzt, die zu seiner Erreichung nöthigen Bewegungen erst einzeln anordnet, dann combinirt in kleineren und grösseren Gruppen befiehlt, bis endlich die Einübung der niederen Nervencentra so weit gediehen ist, dass es nur noch eines einzigen Impulses vom Gehirn bedarf, um die gesammte Bewegung zur Ausfülirung zu bringen (S. 119^ vgl. auch o])en 8. 112 113). Es ist diese Elimination von Zwischengliedern ein analoger Process wie bei der i\.bkürzung der Ideenassociation, nur dass es sich hier um mehr als blosse Vorstellungen, um Bewegungsimpulse handelt. Ist die Sinnes- wahrnehmung, welche als erster Anstoss oder Eeiz zu der Hand- lung wirkt, von der Art, dass sie auch in niederen Nervencentris zur Perception gelangt, so kann die Elimination noch weiter gehen und auch die Thätigkeit des Gehirns ganz und gar aus- scheiden; denn wenn z.B. ein bestimmter Theil des Rückenmarks oder Kleinhirns so und so oft eine bestimmte Wahrnehmung des Muskclsinns der Beine percipirt und weiter geleitet hat, und jedesmal vom Grosshirn als Rückantwort die Ordre zu einer gewissen Bewegung der Beine (etwa zur Wahrung der Balance) ilarauf erhalten hat, so wird sich eine prädispositionelle Association der Perception jener Sensation mit der Tendenz zu dieser Be- wegung in dem betreffenden Centraltheil entwickeln, und nach der nöthigen Anzahl von Wiederholungen wird dieselbe hin- reichend befestigt sein, um von selbst ohne eingreifenden Impuls des Grosshinis in dem gewohnten Sinne zu functioniren; sobald das Grossbim dies bemerkt, hört es ^anz von selbst a»i, sieh

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mit der Sache noch weiter zu bemühen. Die Zweckmässigkeit der reflectorischen Instincte der niederen Nervencentra erklärt sich demnach einestheils als ein durch natürliche Zuchtwahl oder Sonstige mechanische Compensationsprocesse entstandenes zweck- massiges Resultat ohne teleologisches Princip, anderntheils als ein Ausfluss oder als ein capul mordium trüherer bewusster Zweckthätigkeit des Gross hi ms. Die von letzterer an- gebahnten und eingeübten Associationen zwischen Eeiz und Reactiou werden durch gewohnheitsmässige Eingrabung zu festen erblichen Prädispositioneu oder Instincten; je näher die niederen Nerven- centra dem Grosshirn liegen, durch je bessere Leitung sie mit demselben verbunden sind, je leichter sie detaillirte Ordres vom Grosshirn empfangen können, desto mehr zweckthätige Intelligenz wird aus dem Grosshirn in sie überstrahlen und in Gestalt instinctiver und veflectorischer Prädispositionen sich ablagern^ desto complicirtere und zweckmässigere und desto mehr Instincte und Reflexanlagen werden sie also enthalten (S. 113)^ und desto bedeutender werden sie auch physiologisch nach Quantität und Qualität entwickelt sein, immer vorausgesetzt natürlich^ dass wir es mit Wesen zu thun haben, deren Grosshirn bereits einer erheblichen Entfaltung bewusster Zweckthätigkeit fähig ist. Diese Betrachtungsweise stimmt wohl mit der thatsächlichen An- ordnung der Nervencentralorgane in den höheren Thieren vom Grosshirn bis herunter zum Ende des Rückenmarks und dem lose angefügten sympathischen Nervensystem überein, und dürfte un- vermuthetes Licht auf die ursächlichen Momente dieser Anordnung werfen.

Gerade an den Reflexbewegungen kommt der mechanische Charakter des Instincts, die auf ein enges, vorherbestimmtes Gebiet von Aufgaben beschränkte Zweckmässigkeit eines Mechanismus, am unmittelbarsten und deutlichsten zur Anschauung, and deshalb dienen gerade diese Ausführungen der Ph. d. ü. über die Reflex- bewegungen bei Thieren (Cap. A V) und insbesondere bei den Pflanzen (S. 441 444) recht schlagend zur Unterstützung unserer Auffassung. Nur die an dieses Problem schon mitgebrachte ver- kehrte Ansicht über den Instinct konnte den Blick für das ein- lache Sach Verhältnis trüben. ^

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Die Pb. d. ü. erkennt unter dem Hinweis auf den unmittel- baren flüssigen Uebergang zwischen Hirnreflex und bewusster Seeleuthätigkeit mit Recht die Einheiten des allen diesen Er- scheinungen zu Grunde liegenden Erklarungsprincips an und iährt fort : „Darum giebt es nur zwei consequente Betrachtungs- weisen dieser Dinge; entweder die Seele ist überall nur letztes Resultat materieller Vorgänge'^ (genauer: Summations- phänoiuen psychischer oder innerlicher Atomfunctionen) ,,suwohl im Hirn als im übrigen Nervenleben , dann müssen aber auch die Zwecke tiberall geleugnet werden, wo sie nicht durch bewusste Nerventhätigkeit gesetzt worden" (wir haben die Berichtigung dieses hier offenbar für die Entscheidung maassgebend gewordenen vordarwinschen Vorurtheils schon oft genug in's Auge gefasst), ^,oder die Seele" (als ein immaterielles, d. h. von der Materie geschiedenes, exclusiv spiritualistisches, nicht atoraistisch geglie- dertes und mit den Atomen des Gehirns zusammenfallendes, sondern einheitlich über denselben schwebendes Princip) „ist überall das den materiellen Nervenvorgängen zu Grunde liegende, sie schaffende und regelnde Princip" (S. 122), Wir sind der Ansicht, dass die materiellen Nervenvorgänge durch die ihnen immanenten Kräfte und durch die von aussen empfangenen Im- pulse geschaffen und durch die den Atomen immanenten Gesetze geregelt werden, dass alle Zweckmässigkeit für bestimmte Classen von Fällen nicht durch unmittelbare teleologische Eingriffe, sondern durch Mechanismen hervorgerufen wird, welche aus Anpassungs- processeu (sei es durch natürliche Zuchtwahl, sei es durch bewusste Accommodation) resultiren und dass diese Auffassung, wie wir oben (S. 62 63) gezeigt haben , keineswegs mit dem die Phänoraenalität der Materie und die subje(;tive Innerlichkeit der metaphysischen Atome verkennenden Materialismus zu vermengen ist. Dass die Ph. d. U. vor der Alternative eines metaphysiklosen Materialismus oder einer teleologischen Metapliysik sich für die letztere entschied, ist kein Wunder; dass sie aber vor dieser Alternative zu stehen glaubte, kam nur daher, weil sie den rich- tigen Mittelweg einer trotz aller Anerkennung resultirender phänomenaler Zweckmässigkeit a t c 1 e o lo g i s c h e n Metaphysik übersah , und sie übersah densell>en deshalb, weil sie, wenigsten»

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in ihrer ersten Hälfte, die Tragweite und die philosophischen Consequenzen der Descendenztheorie nicht verstand.

Was nun speciell bei den Reflexbewegungen die Gründe be- trifft, weshalb die Ph. d. Unb. die Erklärung durch eigenthüm liehe Mechanismen der Leitungsverhältnisse tür unmöglich hält, so ist es, weil „sich gar keine Gesetze und Einrichtungen mehr denken lassen, vvelche ein und denselben Strom bald auf nahe^ bald auf ferne Theile überspringen, bald in dieser, bald in jener Keiheufolge die Reacticnen auf einander folgen lassen, ja sogar auf einen einfachen Reiz ein abwechselndes Spiel der Antago- nisten eintreten lassen könnten" (S. 123). Was das Spiel der Antagonisten betrifft, so erinnern wir an die Ganglieninstiucte zu rhythmischen Bewegungen, wie z. B. der Herzschlag eine ist; werden rhythmische Bewegungen der Streckmuskeln und der Beugemuskeln eines Gliedes so combinirt, dass sie im Rhythmus ihrer Functionen alterniren, so ist das Spiel der Antagonisten fertig. Auch beim Herzschlage ja bei allen coraplicirteren In- stincten der niederen Nervencentra pflegt ein einfacher Reiz nicht eine einfache Reaction auszulösen, sondern den Impuls zur Aus- lösung einer ganzen geordneten Reihe von Actionen zu geben^ mögen nun diese so eng aneinandergerückt sein, dass sie dem oberflächlichen Beobachter den Schein einer einzigen Totalaction vorspiegeln, oder mögen sie auch für den Augenschein in eine ausgedehntere Reihe auseinandergezogen sein (z. B. gedankenlos- mechanisches Gehen einer ausgedehnten Strecke auf einmaligen Befehl des Grosshirns). Eine verschiedene Reihenfolge der Re- actionen wird nur bei Verschiedenheit des Reizes eintreten, für welchen Fall eben diesen reflectorischen Instincten ebenso wie den Instincten des Thierlebens ein ge^visser Polymorphismus zuzu- gestehen ist. Ebenso hängt es von der Beschaffenheit des Reizes ab, welchen Weg der Reiz nach Perception durch das nächste Centralorgan nimmt, ob dieses die Reaction selber besorgt, oder ob er weiter geleitet wird zu höheren Centren, die dann ihrerseits die Reaction in die Hand nehmen; dies alles wird bei gegebenem Reiz von der Gewöhnung und den ererbten Prädispo- ßitionen fest bestimmt, wenngleich Stimmung und andere physio- logische und pathologische Umstände einen gewissen Einfluss

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darauf haben und das Resultat unter Umständen modificiren werden. Ein „unerschöpflicher Reichthum von Combinationen" in der Accommodation der Bewegungen an die Umstände findet im strengen Wortsinn keinenfalls statt, wie die Ph. d. Unb. S. 124 behauptet; vielmehr zeigt die Beobachtung bei den tieferstehenden Nerveneentris (Rückenmark und Ganglien) in der That der Er- wartung gemäss (S. 124) nur die „stete Wiederkehr weniger und immer sich gleichbleibender Bewegungscomplicationen" und erst das verlängerte Mark, besonders aber das kleine Gehirn, entfaltet einen grösseren Reichthum von Reflexactionen, wie z. B. die Wahrung der Balance zeigt. Bedenkt man aber, dass aus einer massigen Zahl vorhandener Prädispositionen sich durch Reize, welche verschiedene derselben gleichzeitig afficiren, auf rein mechanischem Wege schon eine sehr grosse Zahl von Combinationen reflectorischer Wirkungen ergeben muss, erwägt man ferner, dass, wie schon angedeutet, die meisten dieser Prä- dispositionen selbst schon eine Anzahl von Modificationen als polymorphe Reflexe unter sich begreifen werden, berücksichtigt man endlich, eine wie colossale Menge von intellectuelleu und charakterologischen Prädispositionen im Grosshirn zusammen- gehäuft ist, so wird man keinen Anstoss mehr daran nehmen können, dem Kleinhirn die jedenfalls unendlich viel ge- ringereZahl molecularer Prädispositionen zuzuerkennen, welche 7.ur instinctiven und reflectorischen Centralregulation der Bewe- gungen der willkürlichen Muskeln erforderlich ist.

Können wir sonach den allgemeinen Argumenten der Ph. d, Unb. gegen die mechanische Erklärung der Reflexwirkungen durch moleculare Prädispositionen keine Beweiskraft zugestehen, so vermögen wir dies ebensowenig in Bezug auf das specielle pathologische Beispiel auf S. 123-124. Dieses Beispiel beweist allerdings, „dass die motorische Reaction nicht eine Folge der vorgezeichneten Bahnen der Leitung des Reizes ist, sondern daser der Strom, um (?) die zweckmässigen Reflexbewegungen zu Stande tn bringen, nach Zerstörung der gewöhnlichen Leitungsbahnen >jich neue Bahnen schafft, wenn nur nicht völlige Isola- tion der Theile bewirkt ist^^ (S. 123). Die neue Leitungsrichtung bestand vor Zerstörung der alten auch, und wird nach den all*

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gemeinen Gesetzen der Fonpflauzimg dynamischer Bevvegungs- ersclieinungen auch früher schon ei nen Nebenstrom von dem Hauptstrom des fortgepflanzten Reizes abgelenkt haben, jedoch einen Nebenstrom, der bei dem Verhältniss seines Leitungswider- standes zu dem des Hauptstroms ausser Acht gelassen werden kann. Wird nun dieses Verhältniss der Leitungswiderstände plötzlich dadurch geändert, dass der Leitungswiderstand, den der bisherige Hauptstrom findet, unendlich gross wird, d. h. tritt für den Hauptstrom Isolation ein, so muss die bisher auf Haupt- und Nebenstrom vert heilte lebendige Kraft des Reizes nunmehr auf die Richtung des Nebenstroms allein wirken und w^ird hier in vielen Fällen gross genug sein, um den vorhandenen Leitungs- widerstand bequem zu überwinden, welcher vielleicht den Neben- strom in der bisherigen Stärke vollständig absorbirte. So erklärt sich das Entstehen neuer Leitungsbalmen auf rein mechanischem Wege ohne alle teleologischen Eingriffe. In der That befindet sich aber die Ph. d. Unb. im Irrthum, wenn sie voraussetzt, dass eine mechanische Erklärung der Reflexbewegungen den Haupt- accent auf die fest vorgezeichneten Bahnen der Leitung des Reizes legen müsse, im Gegentheil erscheint der Weg, auf welchem der Reiz von der Einmündung der sensiblen Nerven in das Centralorgan zu den molecularen Prädispositionen seiner Reflexfunctionen geleitet wird, als unmittelbar gleichgültig und kommt es nur darauf an, dass er zu dieser Stelle des Centralorgans gleichviel Avie hingelangt und hier das Functioniren der molecularen Prädisposition provocirt.

Nachdem wir so die Instincte der niederen Nervencentra er- ledigt haben, welche Contraction von quergestreiften oder ein- fachen Muskelfasern zur Folge haben, also zur Erzeugung von Bewegungen oder Tonus dienen, haben wir uns noch mit der zweiten Hauptklasse von Ganglieninstincten zu beschäftigen, näm- lich denjenigen, welche der Regulation der vegetativen Functionen vorstehen (Ph. d. Unb. S. 56 unten ). „Die organischen Functionen, insoweit sie überhaupt von Nerven abhängig sind, werden durch sympathische Nervenfasern geleitet, welche dem bewussten Willen nicht direkt unterworfen sind, sondern von den Ganglien- knoten aus innervirt werden, von denen sie entspringen" (S. 149f

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vgl. S. 128 obeo). Wie allen Nerven ohne Ausnahme solche sympathische Nervenfasern beigemischt sind, so finden sich auch überall im Körper Ganglienknoten vertheilt, welche den vegeta- tiven Processen vorstehen, ja sogar, wir müssen annehmen, dass diesem Zweck dienende und für diesen Zweck prädisponirte Ganglienzellen im Rückenmark und in den dem Rückenmark näher liegenden Theilen des Gehirns eingelagert sind. Diese Ganglien und Ganglienzellen sind säramtlich direkt oder indirekt durch Leitung mit einander und mit dem Grosshirn und den Centralorganen der Sinneswahrnehmungen verbunden. Die Ver- bindung mit dem Grosshirn muss auch aus dem mittelbaren Ein- fluss bewusster Absichten, Vorstellungen und Gefühle auf die vegetativen Functionen (S. 158 162) gefolgert werden, da das Grossbirn eine direkte Einwirkung auf diese Vorgänge keinen- falls haben kann, sondern nur vermittelst eines Einflusses auf die betreffenden Ganglien. Jedenfalls hat man sich davor zu hüten, den Einfluss der Ganglien auf die vegetativen Functiojien in zu ausgedehntem Sinne zu fassen, da für einen grossen und gewiss den grössten Theil derselben die rein physikalischen und chemischen Vorgänge in Verbindung mit der gegebenen anatomisch- physiologischen Organisation hinreichen, um das Leben im Gange zu erhalten. Diese Bemerkung erhält noch besonderen Nachdruck durch die Verweisung auf das Leben der Pflanze, wo die Ganglien und Nerven fehlen, und nur ein schwacher Ersatz durch den protoplasmatischen Inhalt der lebenden Zellen stattfindet; hier tritt die blosse Mechanik der biologischen Processe viel deutlicher hervor, und hier wird es auch jedenfalls viel früher als in der Thierphysiologie gelingen, den causalen Zusammenhang der Lebens- erscheinungen mit ihren physikalischen und chemischen Grund- lagen genauer zu erforschen. Erst wenn dies auch im thierischen Leben geschehen sein wird, wird es nröglich werden, den wirk- lichen Antheil der Ganglien vermittelst der von ihnen ausgehenden sympathischen Nervenfasern festzustellen; vorläufig müssen wir uns mit dem Schluss begnügen, dass diese Apparate nicht ent- wickelt worden wären , wenn sie ni(5ht den sie besitzenden Orga- nismen nützlich und nothwendig wären. Zugleich müssen wir al>er auch jetzt schon im Hinblick auf die bereits erwähnte mittel-

bare Einwirkung des Grosshims auf vegetative Functionen, sowie auf viele andere schnelle Aenderungen derselben von instinctivem oder reflectorischem Charakter, anerkennen, dass wir ausser den physikalischen und chemischen Gesetzen zur Erklärung vieler Lebenserscheinungen noch eines andern Erklärungsprincips be- dürfen, welches vermittelst der sympathischen Nervenfasern aus den Ganglien heraus wirkt. Wenngleich manche der Detailangaben in dem Capitel über „Naturheilkraft" (A VI) Berichtigung von Seiten der exacten Forschung erheischen, so ist doch im All- gemeinen jenes Mehrbedürfniss daselbst hinreichend dargethan.

Dass aber der Einfluss der Ganglien und der in denselben für diese wichtigen Lebensfunctionen niedergelegten instiuctiven oder re- fiectorischen Prädispositionen unzureichend sei, um die Leistungen der physikalischen und chemischen Gesetze an Ort und Stelle des Vorgangs zur vollen Erklärung zu ergänzen, dass ist dort nirgends dargethan; es ist im Gegentheil an entscheidenden Stellen der Ein- fluss der Nerven und Ganglien übersprungen, um sofort zu einem infiuxus idealis zu gelangen, so z. B. S. 143 oben, wenn die die Veränderung der Secrete bestimmenden Veränderungen der Beschaffenheit der secernirenden Häute und Organe sofort als nur eine einzige endgültige Erklärung, nämlich in idealer Richtung, zulassend bezeichnet wird, während doch an anderer Stelle mit Recht der Einfluss des sympathischen Nervensystems gerade auf die secernirenden Häute der Secrctionsorgane hervor- gehoben wird. Ohne Zweifel ändern sich die vegetativen Func- tionen (z. B. die Secrete) je nach dem P^ntwickelungsstadium des Organismus (S. 142); hierin ist aber nur das schon oben be- sprochene Gesetz der Vererbung wiederzuerkennen, dass eine be- stimmte (sei es typische, sei es functionelle) Eigenthtimlichkeit der elterlichen Organismen bei den Nachkommen in demselben Ent- wickelungsstadium des individuellen Lebens aus der Latenz in die Erscheinung tritt, in welchem sie bei den Eltern sich einge- stellt hat. Lebensfunctionen , welche in ihren Veränderungen ge- wissen Rythmen (sei es nach Jahreszeiten, Mondwechsel, Tages- lauf oder unabhängig von diesen) unterworfen sind, w^erdeu na- türlich in demselben Sinne stets als Prädispositionen vererbt werden, welche das Gesetz des rythmischen Wechsels ihres Functionirens

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schon latent in sich enthalten und werden sogar unter umständen, wenn ihnen durch pathologische Verhältnisse das Functioniren eine Zeitlang unmöglich gemacht ist, nach Ablauf dieser Suspension mit derjenigen Modification der Functionen wieder einsetzen, welche sie entfalten würden, wenn sie auch in der Zwischenzeit weiter functionirt hätten (S. 129). Dies alles erfordert aber noch keine teleologischen Eingriffe, sondern wie die rythmische Herz- function und Darrafunction durch moleculare Ganglienprädisposi- tionen erklärbar sind, so sind es auch die vegetativen ; wenn wir zum Hohlwerden der Zähne oder zum Auftreten des Wahnsinns in dem nämlichen Lebensalter wie bei dem Vater keine teleo- logischen Eingriffe brauchen, so brauchen wir sie auch nicht für das Eintreten derjenigen Summe von Modificationen der vegeta- tiven Functionen, welche wir als Pubertät bezeichnen.

Die selbststäudigen Ganglienfunctionen, welche vegetativen Zwecken dienen, haben grossentheils einen ebenso ausgesprochen reflectorischen Charakter, wie die eigentlichen Reflex bewegungen. Wenn der Speisebissen durch Berührung der Mundschleimhaut und Zungenwarzen eine reichlichere Absonderung der Speichel- drüsen hervorruft, so ist dies ein ebenso reflectorischer Process, als wenn er durch Berührung mit den Schlundwänden Schling- bewegungen provocirt; wenn das letztere Folge der Reaction einer molecularen Prädisposition in einem untergeordneten Nerven- centrum (verlängerten Mark) ist, so ist kein Grund zu bezweifeln, dass dasselbe Erklärungsprincip auch auf den ersteren Vorgang Anwendung findet. Wenn die steigende Blutwärme reflectorisch gleichzeitig verstärkte Respirationsbewegungen und vermehrte Ab- sonderung der Schweissdrüsen der Haut bewirkt (S. 140 141), so ist die centrale Ursache in beiden parallelen Folgeerscheinungen offenl)ar eine analoge. Je wichtiger solche Vorgänge für die Lebensökonomie eines Thieres sind, oder für die seiner Vorfahren waren, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass solche instinctive oder refiectorische Ganglienprädispositionen, von denen ein Theil unter dem Gesichtspunkt der Naturheilkraft, ein anderer Theil unter dem der Lebenskraft oder organischen Bildunga- thätigkeit zusammengefasst zu werden pflegen, sich durch natür- liche Zuchtwahl entwickeln mussten.

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Dem entsprechend sind die zur Regelung* des Ersatzes ver- loren gegangener Körpertheile dienenden Prädispositionen um so mehr ausgebildet, je nothwendiger dieser Ersatz in der Lebens- ökonomie des Thieres ist; es sind aber die Prädispositionen für Neubildung von Körpertheilen um so nothwendiger für einen Organismus, erstens je leichter und je häufiger eine Beschädigung oder ein Verlust derselben in Folge ihrer Structur und der gesammten Lebensbeziehungen zu erwarten steht, und zweitens je wichtiger der betreffende Körpertheil iür den Organismus in seinem Kampf um die Existenz ist. Beide bestimmenden Einflüsse zeigen sich in der empirischen Beobachtung bestätigt: der erstere in der stärkeren Reproductionskraft w^enig widerstandsfähiger, also weicher oder gebrechlicher niederer Thiere (S. 131), ins- besondere in Bezug auf ihre am meisten der Verletzung exponirten Theile (S. 130), der letztere in der verschiedenen Stärke der Oanglien-Prädispositionen in demselben Thier, welche sich in der Verschiedenheit der auf mehrere gleichzeitig verloren gegangene Theile von ungleicher Wichtigkeit gerichteten Innervationsenergie offenbart fS. 129).

Die Ph. d. U. bringt auf S. 127 und 130 hinlänglich frap- pante Beispiele bei, welche die Wesensgleichheit und die Flüssigkeit des Ueberganges zwischen Instinct und Naturheilkraft beweisen und es in der That unmöglich erscheinen lassen, für beide ein verschiedenes Erklärungsprincip zu statuiren. Da wir für den Instinct ein anderes als die Ph. d. U. acceptirt haben, müssen wir es auch für die Naturheilkraft, und die Uebereinstimmung mit den durch unser Princip so wohl erklärbaren selbstständigen Bewegungsfunctionen , die von niederen Nervencentri>> spontan oder reflectorisch innervirt werden, lässt es keinem Zweifel unter- liegen, dass auch die vegetativen Functionen, mag es sieh nun inn Secretion, x\ssimilation, Regeneration oder Zeugung handeln, insoweit sie nicht blosse Resultate der wirksam werdenden che- mischen und physikalischen Gesetze sind, durch Innervations- strörae regulirt werden, die von ererbten und in früheren Ge- nerationen durch natürliche Zuchtwahl oder durch sonstige Com- pensations- und Accommodationsprocesse entwickelten Ganglien- prädispositioneu ausgehen. Das Resultat dieser Ganglienfunctioneu

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ist die restituirende Realisation des Gattungstyp us, der vorher durch äussere Störung alterirt war.

Wenn jeder Körperring eines Wasserregenwurms die Fähigkeit besitzt, den Typus des ganzen Wurms zu restituiren, so folgt daraus ohne Zweifel, dass dieser Typus in dem Ganglion jedes Ringes irgendwie enthalten sein muss; nur ist die Alternative (S. 128) unrichtig, dass er entweder als äussere Realisation oder als actuelle ideale Vorstellung darin enthalten sein müsse, denn es ist eine dritte Möglichkeit vergessen, welche dessenungeachtet aus der Ph. d. U. selbst zu entnehmen ist. Dieselbe Stelle (S. 128) besagt nämlich sehr treffend weiter, dass der Typus, nach welchem die Regeneration vollzogen wird, in dem sich regenerirenden Thier- bruchstück genau in derselben Weise oder Form enthalten sein müsse, wie der Typus der sechsseitigen Bienenzelle in der Biene vor seiner ersten Bethätigung, oder wie der Typus seines speci- fischen Nestbaues oder seiner Sangesweise im Vogel.

Auf S. 78 79 (in dem mehrfach erwähnten Zusatz) ist aber zu lesen, dass durch Gewohnheit eingegrabene und durch Vererbung beiestigte Prädispositionen in Hirn und Ganglien be- sonders den „immer wiederkehrenden Grundformen (Typen) der Instincte, wie z. B. der sechsseitigen Gestalt der Bienenzelle," zu Grunde liegen.

Als eine durch Vererbung befestigte moleculare Ganglien- prädisposition ist demnach auch die Art und Weise zu bezeichnen, wie in dem Ganglion des sich regenerirenden Wurmringes der Typus des ganzen Wurms enthalten ist. Diese Form der Depo- nirung ist ebenso wenig eine actuelle (gleichviel ob bewusste oder unbewusste) Vorstellung wie eine im Hirn des Menschen schlum- mernde Gedächtnissvorstellung (S. 2QS Anm.); sie ist noch weniger bereits äussere Realisation des Typus, wie es der fertige Wurm ist; sondern sie ist nur ein materieller Keim, welcher unter gün- stigen Umständen aus der Latenz hervortritt und zur Realisation des Typus sich entfaltet, sie ist moleculare Vorausbestimmung eventuell eintretender Functionen in dem Sinne, dass die Reali- sation dessen, was wir Gattungstypus nennen, als Resultat der Functionen sich ergiebt. Ein solcher Regenerationsakt aus einem Bruchstück ist dem Wachsthum des Thieres aus dem Embrya

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oder dem eben befruchteten Ei vSehr verwandt; hier wie dort stehen wir vor einer materiellen Masse, die die stoftliche Grund- lage für den weiteren Aufbau durch Assimilation fremden Stoffs bietet und zugleich in sich die Prädispositionen enthält, um diese Processe zu einem vorausbestimmten Ziele zu leiten. Weil aber diese Prädispositionen keine actuellen Vorstellungen sind, und weil in ihnen unmittelbar nur die Speeification der auszuübenden Funi3tionen, mittelbar durch diese das Resultat, aber in keiner Weise der Zweck als solcher enthalten ist, deshalb kann hier von einem Hellsehen (8. 170) ebensowenig die Rede sein als beim Instinct (vgl. oben S. 188 lb9). Welchen Ausgangspunkt man auch bei der Betrachtung der zu erklärenden Lebens- erscheinungen wählen möge, immer wird man beim Rückwärts- verfolgen der Ursachen (S. 176) auf das eben befruchtete Ei als letzte innerhalb des betrachteten Individuums gelegene Ur- sache geführt (S. 178). Wälirend nun die Ph. d. U. hier auf S. 179 anerkennt, dass .,das aus dem Ei hervorbrechende Junge bei höheren Thieren schon fast alle (Gebilde und) Differenzen des erwachsenen Thieres in sich enthält" sucht sie dasselbe Zu- geständniss dem eben befruchteten Ei vorzuenthalten, obwohl sie es ihm später auf S. 511 willig einräumt. Hier aber (S. 178 unten) wird die Thatsache, dass das eben befruchtete Ei unseren Sinneswerkzeugen und Beobachtungsmitteln eine „in sich durchaus gleichmässige Structur darbietet", zu dem Schlüsse benutzt, dass die in der Zwischenzeit von der Befruchtung bi« zur Geburt entstehenden Differenzirungen ein Maximum an teleologisch-meta- physischen Eingriffen erkennen lassen (S. 178 Mitte), dass die Seele in dieser Zeit „mit Herstellung der Mechanismen beschäftigt sei, welche ihr später im Leben die Stoff beherrschung zum grüssten Theil ersparen sollen" (S. 179). Nimmt man hingegen mit dem Abschnitt C an , dass im eben befruchteten Ei trotz der schein- baren molecularen Homogenität doch alle diejenigen Differenzen vorbanden sein müssen, aus denen sich später die gesammten ererbten Eigentbümlichkeiten von feinster körperlicher oder gei- stiger Natur entfalten (S. 511), dann fällt mit der unrichtigen Voraussetzung auch der darauf gebaute Schluss mit seinen Wun- dern. Denn die im befruchteten Ei gegebenen Differenzen sind

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von den elterlichen Organismen vererbt (vergl. oben den Ab- schnitt VI).

Nichts ist wichtiger für die Erhaltung der Arten im Kampf um's Dasein, als das Festhalten des im Entwickelungsproces» einmal Errungenen, das Behaupten der mühsam errungenen Ent- wickeluugsstufen, und dies kann nur durch möglichst vollkommene Vererbung geschehen ; die Niederlegung der elterlichen Eigenthtim- lichkeiten in den Zeuguugsstoffen muss also ein Hauptpunkt gewesen sein, an welchem die natürliche Zuchtwahl ihre Macht bethätigt hat. Wie sehr die Beschaffenheit der Zeugungsstoffe unter dem Einfluss von Stimmungen und Affecten steht, ist bekannt; hierdurch ist aber auch zugleich der Einfluss der Innervation auf ihre Bildung bewiesen. Es kann mithin keinen Bedenken unter- liegen, für die Regulirung der Ausbildung der Eier und Spermato- zoidcn der grössten und feinsten Kunstwerke im ganzen Reiche der Organisation in den Ganglien, welche den vegetativen Geschlechtsfunctionen vorstehen, Prädispositionen in demselben Sinne zu supponiren, wie die füi- Regeneration verloren gegangener Körpertheile oder für den Zellenbau der Bienen oder das Netz der Spinne oder die Schale des Nautilus, Wir wLssen sehr wohl^ dass die Schwierigkeiten im Einzelnen hiermit keineswegs gehoben sind und haben dies schon oben (im Abschn. VI) bei Besprechung der Vererbung angedeutet, aber eben dort auch betont , dass das Hinzuiügen teleologischer Eingriff'e keinenfalls das Dunkel zu erhellen vermag.

Wie das Rückwärtsverfolgen der Ursachen im individuellen Organismus allemal auf das eben befruchtete Ei mit all' seiner inneren prädispositionellen Diff'erenzirung zurückführt und dieses über sich hinausweist auf die Beschaffenheit der Eltern als Ur- sache, so führt das Rückwärtsverfolgen der Vererbungskette in der Ahnenreihe allemal auf die niedrigsten durch Urzeugung entstandenen Organismen zurück, und hier schliesst sich unsere Betrachtung an die oben (Abschn, II, S. 21—24, vgl. auch S. 26 27) gegebene Kritik des kleinen Aufsatzes „Ueber die Lebenskraft" an. Neben den inneren, in den früheren Zuständen des individuellen Organismus und seiner direkten Ahnenreihe gelegenen Ursachen laufen natürlich beständig die äusseren Ur

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Sachen der Veränderiing her, denn wie ohne Luft und Nahrun g-s- mittel, so wäre ohne Veränderungen der Erdoberfläche die bio- logische Entwickelung unmöglich, wie dies aus Abschn. III deutlich hervorgeht (vgl. oben S. 38 ff.).

Die Ph. d. U. räumt ein, dass wir „überall im Körper zweck- mässigen Mechanismen begegnen", und dass das Leben überhaupt nur dadurch möglich wird, dass diese zweckmässigen Mechanismen den grössten Theil der Arbeit leisten und den unmittelbaren teleologischen Eingriffen nur ein Minimum von Arbeit übrig lassen (S. 177). Dieses Minimum unmittelbaren Ein- greifens glaubt sie deshalb aufrecht erhalten zu müssen, weil eine prädestinirte (mechanische) Zweckmässigkeit als alleiniges Er- klärungsprincip „in Anbetracht dessen unmöglich erscheint, dass streng genommen jede Gruppirung von Verhältnissen im ganzen Leben nur Einmal vorkommt und doch jede Gruppirung von Verhältnissen eine andere Reaction fordert und gerade diese geforderte hervorruft" (S. 180). Diese Behauptung muss aber entschieden übertrieben genannt werden. Man kann zugeben, dass jede Gruppirung von Verhältnissen de facto eine andere Reaction hervorruft (was bei der variablen Combination einer grossen Anzahl von Mechanismen nicht anders sein kann), ebenso dass vom teleologischen Standpunkt jede Gruppirung eine andere Reaction erfordert; aber das ist nicht zuzugeben, dass in allen Fällen die factische und die teleologisch geforderte Reaction sich decken, vielmehr ist dies nur dann der Fall, wenn die Ver- hältnisscombination eine solche ist, für welche die Mechanismen des Organismus vollkommen angepasst sind, und enthält die Reaction des Organismus in dem Maasse mehr unzweckmässige Elemente, als in der Gruppirung der Verhältnisse, denen er ausgesetzt ist, die Zahl derjenigen Umstände wächst, für welche er noch keine passenden Mechanismen besitzt. Da jede Species sich im All- gemeinen im Anpassungsgleichgewicht an die sie umgebenden Lebensumstände befindet,' so werden solche Unzweckmässigkeiten wesentlich erst dann hervortreten, wenn sich ein Individuum plötzlich in abweichende Lebensverhältnisse versetzt sieht. Aber auch unter den gewohnten Verhältnissen erstreckt sich die An- passung doch meistens nur auf Elemente von irgend welcher

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Erheblichkeit für den Kampf iiin's Dasein, und kleinere Unzweck- mässigkeiten , die nicht Lebensfrage Itir das Thier sind, laufen häufig mit unter, und werden dann aus Mangel an einer Ursache zur Ausbildung entsprechender zweckmässiger Mechanismen mit- unter zahllose Generationen hindurch conservirt. Dies kann man besonders da beobachten, wo ähnliche Arten auf verschie- denen Erdtheilen einem verschieden heftigen Kampf ums Dasein ausgesetzt waren, in Folge dessen die bequemer lebende Art in ihrer Lebensweise offenbare Unzweckmässigkeiten conservirt hat, welche die stärker zur Anpassung gezwungene Art überwunden und durch zweckmässigere Instincte und Orgauisaticm ersetzt hat. Die Pathologie zeigt ferner Beispiele genug, wo die Ueaction des Körpers auf von aussen herangetretene Krankheitserscheinungen durchaus nicht den vom Arzte vertretenen teleologischen For- derungen entspricht, sondern convulsivische Anstrengungen entfaltet, die, weil sie nach verkehrter Richtung gehen, das üebel nicht abwehren, sondern die Schädigung des Gesanmitbefindens ver- stärken, resp. die Auflösung beschleunigen.

Unter denselben Gesichtspunkt unzweckmässiger Organisation fallen die rudimentären Organe (Ph. d. U. S.ITO), welche als Ueberreste partieller Kückbildungsprocesse (vgl. oben S. 42) zu betrachten sind, also Organe repräsentiren, welche früheren Vorfahren unter anderen Lebensverhältnissen einmal nützlich waren, seitdem aber nutzlos geworden sind. Es kann vom teleologischen Standpunkte nimmermehr gerechtfertigt erscheinen , dass die meisten Specien mehr oder weniger solcher nutzloser Stummel mit sich herum- schleppen, und dass das metaphysische ünbewusste sich mit dem organischen Bilden derselben und der Vererbung auf die Nach- kommen bemühen musste. Vom Standpunkt der Descendenz- theorie hingegen, wo die Vererbung ein bloss mechanischer Process ist, und dre natürliche Zuchtwahl nur so weit Modificationen fixiren kann, als dieselben positiv nützlich sind, begreift sich das Stehenbleiben werthloser Reste, deren Beseitigung keinen positiven Vortheil mehr gewähren würde, ganz von selbst (vgl. Häckei'a Nat. Schöplgsgesch." 2. Aufl. S. 255—260).

Wenn die Ph. d. Unb. (S. 170) sich auf die ideale Einheit im ganzen SchöpfungspJan beruft, so ist dagegen zu erwidern.

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dass diese Einheit, ais möglichste Constaiiz, Einfachheit und Gleich- heit der morphologischen Grundtypen gefasst, eher auf Armut h als auf Reichthnm in dem schöpferischen Geiste schliessen lässt; uns wenigstens kann das allweise ünbewusste damit nicht impo- niren, dass es rudimentäre Organe stehen lässt, um damit die Einheitlichkeit seiner Conceptionen zu beweisen. Die wahre Harmonie besteht nicht in der Gleichheit und der möglichst geringen Abweichung von der Identität des Einen Grundtypus, sondern in der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit, wo grade aus dem er- gänzenden Zueinauderpassen des Entgegengesetztesten die Leber- ei nstimraung als concreto entspringt.

Die Ph. d. Unb. schliesst (8. 180) den Abschnitt A mit dem Worte Schopenhauer's: ,,8o steht auch empirisch jedes Wesen als sein eigenes Werk vor uns." Wir sind dem gegenüber aus unseren empirisch-inductiven Betrachtungen zu dem Resultate ge- langt, dass jedes Wesen als das Werk seiner direkten Ahnenreihe vor uns steht. In der Verschiedenheit dieser Aussprüche liegt der ganze himmelweite Unterschied zwischen Schopenhauer und der modernen Descendenztheorie, den manche Anhänger des ersteren gegenwärtig gern verwischen möchten. Schopenhauer steht mit Schelling und Hegel darin auf ganz demselben Standpunkte, dass es ein metaphysisches immaterielles Wesen ist, welches sich in dem organischen Individuum objectivirt, d. h. seinen idealen Ge- halt realisirt. Wenn Schopenhauer dieses Wesen „Wille^', Schelling es „Subject-Object", Hegel es „Idee" nannte, so sind damit nur Differenzen betont, die ausserhalb des geineinsamen Gegensatzes zur naturwissenschaftlichen Anschauungsweise liegen. Die äusser- liche Objektivation eines metaphysischen Wesens, die jene nur im Allgemeinen behaupteten, suchte die Ph. d. ünb. im Einzelnen nachzuweisen und die verschiedenen Richtungen und Etappen der Kealisationsfunctionen zu belauschen. Sie trat zu dem Zweck im weiteren Verlauf der Untersuchung mit einem Fuss auf den Staudpunkt der Descendenztheorie hinüber, in dem Glauben, sich diese als Hülfsmittel dienstbar machen zu können, bemerkte aber nicht, dabS die herbeigerufenen Geister ihr über den Kopf wuchsen und ihren eigenen ursprünglichen Standpunkt unhaltbar machten.

Es war gut, dass sie erschienen ist, so wie sie ist, dass die alte

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teleologische Metaphysik zum letzten Male ihre Kräfte zusammen raiFte, um zu zeigen, was sie leisten könne und was nicht; wäre sie nicht spätestens in der Mitte der 60er Jahre geschrieben, so hätte sie überhaupt nicht mehr geschrieben werden können, da jetzt die Tragweite der Descendenztheorie allen klarer Blickenden zu offen liegt, um eine Arbeit zu verfassen, wie der Abschnitt A ist, d. h. ohne jede Rücksicht auf die Descendenztheorie.

xn.

Das Unbewusste.

Wir haben nunmehr den naturphilosophischen Theil der Ph, d. Unb. kritisch durchmustert und widerstehen der Versuchung, auch auf den psychologischen, historischen oder metaphysischen Theil näher einzugehen, z. B. den Kampf um's Dasein zwischen den mythologischen oder den theogonischen Ideen, oder den Sprach- wurzeln, Wörtern und Sprachformen, oder den Process der Ent- wickelung der Menschheit durch die Concurrenz der Racen und Völker, oder die Ausbildung der nützlichen Illusionen durch die natürliche Zuchtwahl hier näher zu behandeln, da zum Theil schon Gesagtes wiederholt werden müsste, zum andern Theil aber diese Gebiete für eine Behandlung im Sinne der Descendenz- theorie noch zu wenig aufgeschlossen und vorbereitet sind, als dass nicht ein solcher voreiliger Versuch dem im naturwissen- schaftlichen Gebiet nicht mehr anzutastenden Princip mehr Schaden als Nutzen zu bringen drohe.

Wir knüpfen demnach hier wieder an die erste Hälfte un- seres II. Abschnitts an (vgl. speciell S. 17 21) und wieder- holen den Protest der Naturwissenschaft gegen die teleologischen Eingriffe, deren die Leistungen der sich selbst überlassenen Natur^ gesetze alterirende Wirkungen vom Begriff des Wunders nicht verschieden sind und dazu dienen sollen, die Lücken unserer Kenntniss des naturgesetzmässigen Causalzusammenhanges vor- läufig zuzustopfen und zu verkleistern, damit das philosophische S3'stem sich als ein geschlossenes Ganze, als ein lückenlos das

Universum umfassendes und durchdringendes Verstehen präsen-

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tiren kann. So ist der teleologiscbe Eingriff von Jeher dazu verurtheiit, in jenen dunklen Regionen nein Dasein zu fristen^ wohin das Licht der exacten Wissenschaft noch nicht gedrungen ist; er ist das asylum uptoran^iop der pbiloso])]iischen und theo- logischen Speculation. Durch die Fortschritte der Physik aus dem Reiche des Unorganischen verbannt, wo er sich früher es hatte wohl sein lassen können, und wo heute nur noch fanatische Priester unter dem Gelächter der Gebildeten ihn als Schreckbild des rohen Haufens zu citiren wagen (nanientlich beim Auftreten ungewöhnlicher und verderblicher Naturerscheinungen), sieht der teleologische Eingriff sich in der Ph. d. Unb. bereits auf das Reich des Organischen beschränkt: hier, wo eben erst die ersten schüchternen Versuche zum Eindringen in das Verständniss des causalen Zusammenhangs der Erscheinungen begonnen haben, hat er noch ein verhältnissmässig gutes Leben, das ihm aber auch schon durch jeden neuen Fortschritt, jede neue Entdeckung ver- kümmert wird und durch die Sichersteilung der Descendenztheorie vermittelst der Darwin'schen Begründung der Theorie der natür- lichen Zuchtwahl in tausend Aengste gerathenist. Der teleologische Eingriff verhält sich zur Wissenschaft als ein würdiges Seiten- stück seines Gegeufüsslers, des Stoffs. Wie dieser als stehen ge- bliebenes für die Praxis ausreichendes und bequemes Vorurtheil früherer unwissenschaftlicher Anschauungsweisen zu betrachten ist (Vgl Ph. d. L'nb S. 473—476 u. ff.), ebenso auch der teleo- logische Eingriff; beide zusammen, als kritiklos hypostasirte Sinnen- lall igkeit und kiitiklos hypostasirter Wunderglaube, erfüllen den ganzen Raum einer unwissenschaftlichen Weltanschauung, in die sich die exacte Wissenschaft wie ein Keil hineinschiebt oder wie ein Lichtkegel, vor dem das Dunkel blinden Meinens und specu- lativen Wunderglaubens mehr und mehr zurückweichen muss, je breiter er sich entfaltet.

Wir haben in unseren Untersuchungen gesehen, dass der Abschnitt A der Ph. d. Unb. der Annahme des teleologischen Ein- griffs die Stütze, ^^ eiche er ihm gewähren soll, nicht gewähren kann und muss daher, bis andere und bessere Gründe für den- selben aufgestellt sein werden, dieses asijlw}» üinormUiae von der Wissenschaft ausgeschlossen und die bis jetzt der Erklärung noch

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übrig bleibenden Lücken für künftige Erfüllung durch Erforschung- des gesetzmässigen Causalzusamnienhanges offen gehalten bleiben. Mit dieser Annahme fällt aber auch der metaphysische Träger oder das Subject des teleologischen Eingriffs, das teleologisch Eingreifende selbst hinweg, d. h. es fällt das Unbewusste, insofern es als Subject der teleologischen Eingriffe gedacht wird; es ist die Annaiime zu streichen, dass ausser denjenigen Functionen des unbewussten Absoluten, welche in den naturgcsetzmässigen innerlichen und äusserlichen Actionen der Atome eines Organismus (als Summations])hänomen des Vor- stellens, WollenSj Lebens und Handelns) zu Tage treten, noch andere Stralilenbündel von aut diesen Organismus gerichteten Functionen des unbewussten Absoluten hinzukommen, welche als teleologische Eingriffe in den innerlichen und äusserlichen Lebensprocess der Im Organismus combinij'ten Elemente ein qua- litativ «uf ganz neuer und höherer Stute stehendes Plus hinzu- brächten. Wir haben diese Differenz unserex Auffassung von der iler Ph. d. Unb. schon oben, in PiCziig auf die Vorstellung im Abschn. IV (S. 61) -7oj, in Bezug auf den Willen im Abschn. \' (S. 79—86) auseinandergesetzt und haben hier nur deshalb noch einmal auf jene Darlegungen zurückzuverweisen, weil die Unhalt- barkeit der teleologischen Eingriffe, die oben nur erst behauptete Voraussetzung war, in den zwischenliegenden Abschnitten detaillirt nachgewiesen ist, so dass erst jetzt die oben entwickelten An- hichten ihre volle Begründung erhalten haben. Populär g(spr«»chen könnte mau unserem Resultat etwa folgende Fassung geben: Wenn wir unter ,,Seele^' psychische Innerlichkeit verstehen, so ist jedes Atom beseelt-, jeder Organismus, also auch der Mensch, hat gerade soviel „Seele", aber auch nicht ein Atom mehr, als» die ihn c o n sti tuirenden Atome zusammengenommen ,,Seele'' haben; wie durch die Oombination der äusserlichen Atomkräfte Naturkrätte von potenzirter Qualität entstehen, so ent- stehen durch Oombination von Atomseelen psychische Summations- phänomene, welche man in demselben Sinne Seelen von potenzirter Qualität nennen könnte; damit aber solche Summations- oder Com- binations-Phänomene innerlicher oder äusserlicher Art möglich seien, <lürfen die Atome nach beiderlei Hinsicht nur functionell, nicht

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»nbstantien verschieden und getrennt sein, müssen sie atomisirtg^.. Functionen der Einen absoluten Substanz sein. Im Gegensatz zu llem pant he ist ischen Monismus der Ph. d. U. wird man diesen Standpunkt als naturalistischen Monismus bezeichnen können. Es entsteht nun die Frage, welche Bedeutung denn für unsern Standpunkt noch „das Unbewusste'' habe, da doch die Ph. d. Unb. mit diesem Ausdruck gerade vorzugsweise das Subjekt der teleologischen Eingrifte bezeichnet, welches für uns bedeutungslos geworden ist. Wir dürfen diese Frage nicht mit dem Hinweis auf den Schluss des Cap. C VII (S. 543) von der Hand weisen, wo diesem inadäquaten negativen Ausdruck nur ein vorläufiger prophylaktischer Werth dem theistischen Standpunkt gegenüber beigelegt wird: denn es handelt sich für uns eben nicht darum, K)b dieses negative Prädicat eine wohlgewählte substantivische Bezeichnung sei, sondern darum, welche positive Bedeutung dem hinter diesem negativen Prädicat verborgenen Subject von unserem Standpunkt aus noch zukommen könne. Es war nichts Zufälliges, dass die Ph. d. U. gerade dieses Stichwort wählte, denn dasselbe lag in der Luft und war von allen Seiten vorbereitet; es war aber zugleich auch eine Forderung des Fortschritts in der Selbst- besinnung und dem Selbstverständniss der Menschheit, und nur weil es dies alles war, konnte es eine so schnelle und willige Aufnahme im Publikum linden, dass man es jetzt schon beinahe die Spatzen von den Dächern rufen hört. Dieser Fortschritt in dem „sich auf sich selbst Besinnen" der Menschheit bestand eben darin, dass überall das in die Erscheinung Tretende als ein Ausfluss des im Wesen Vorherbestimmten, das im Bewusstsein sich Mani- iestirende als ein nothwendiges Resultat der unbewussten, durch <lie Beschalfenheit des dunklen Grundes der Seele bestimmten Processe nachgewiesen wurde, und dass hiermit ebenso dem platt- rationalistischen Sensualismus, der die Seele für eine tabula rasa -ansieht, wie der schablonenhaft ein Bewusstseinsmoment aus dem andern herausspinnenden und dabei aller charakteristischen In- dividualität fern bleibenden Dialektik das Garaus gemacht wurde. In diesem Bestreben, alles auf der Obei-Üäche des Lebens zu Tage Kommende aus den inneren dunklen Tiefen abzuleiten, liegt 4er bleibende Werth der Neuerung, welcher dadurch nicht alterirt

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wird, wenn die Frincipien, in welchen das Bestimmende des dunklen Seelengrundes gesucht wurde, zum Theil als irrthümlieh sich erweisen.

In der That eontündirt die Ph. d. ünb. unter diesem den ganzen dunklen Urgrund des Lebens zusammenfassenden Aus- druck : „Das Unbewusste" eine Menge der verschiedensten Dinge, welche nothwendig einer sondernden Analyse bedürfen. Das Unterlassen einer solchen hat offenbar wesentlich dazu beigetragen, die Incongruenz der Abschnitte A und C den Augen des Verfassers selbst, sowie bis jetzt auch denen der Kritik zu verhüllen.

Zunächst ist zu unterscheiden das relativ, d. h. in Bezug auf das Gesammtbewusstsein des Grosshirns, Unbewusste, und das absolut, d. h. in jeder Beziehung genommen, Unbewusste. Diese Unterscheidung ist zum Schluss der Capitel A I und II (S. 59—60 und 69) zwar deutlich angegeben, aber im Verlauf des Werkes nicht überall klar erkennbar festgehalten und scharf durchgeiiihrt, so dass beides häutig in den gemeinsamen Nebel des Einen Unbewussten verschwimmt, und auf diese Weise dem absolut Unbewussten manches zu Gute zu kommen scheint, was von dem relativ Unbewussten gesagt sein sollte. Wir können aus den Resultaten unserer Untersuchungen (Abschn. IV S. 57 61) hinzufügen, dass nicht nur die ßewusstseinssphären der niederen Centralorgane des thierischen Nervensystems in diese Kategorie des relativ Unbewussten fallen, sondern dass für das Gesammt- bewusstsein des Grosshirns, welches allein ich mein Bewusstsein nenne, auch die Zellenbewusstseine resp. Molecularbewusstseine im Grosshirn selbst, d. h. diejenigen Functionen und Nerven- processe unbewusst sind, welche unterhalb der Reizschwelle des Gesammthirnbewusstseins aber oberhalb der Reizschwellen der entsprechenden Zellen- oder Molecularbewusstseine liegen. In dieser Region können sich Functionen von höchster Wichtigkeit für die Oeconomie des Geisteslebens vollziehen, die etw^a durch häufige Wiederholung dasjenige an Einfluss auf Prädispositionen- bildung ersetzen, was ihnen an Intensität abgeht und kann man in diesem Sinne wohl mit Wundt („Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung" S. 188) von (relativ) „unbewusster Uebung", oder mit Schopenhauer: („Parerg^" 2. Aufl. S. 59)

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unbewusster Rumination" sprechen (vgl. Ph. d. Unb. . 285 287). In diesen Regionen unterhalb der Schwelle des Ge- sammthirubewusstseins kann ferner ein grosser Theil der unbevvu^st mitbestimmenden Momente der Gefühle liegen (vgl. oben S. 59 60). Zugleich aber ist dabei in Erwägung zu nehmen, dass die eigent- liche intellektuelle Sphäre in der Gehirnrinde zu liegen scheinty während die Sphäre der Molecularprocesse, welche innerhch als Gefühle sich darstellen, dem Kleinhirn (dem Centralorgan der Bew egungen) näher, also in Bezug auf dieses weniger peripherisch liegt, als die reine Vorstellungssphäre (vgl. oben S. 106 108). Wie die Molecularschwinguugen einer blossen Vorstellung an sich sehr intensiv und doch dabei von sehr geringem Einfluss auf die Centralorgane der Bewegungen und auf die Bestimmung des Handelns sein können, so können umgekehrt die Molecular- schwingungen von tiefen und mächtigen Gefühlen an sich sehr inten- siv sein und doch lür das Gesammtbewusstsein der intellektuellen Sphäre des Grosshirns entweder ganz unter der Schwelle bleiben, rider doch in schwer fassbarer und vergleichbarer Form, in dunkler nebelhafter Gestalt in dasselbe eintreten. Da beide Er- scheinungen von der Güte der Leitung zwischen beiden Sphären abhängig, also coordinirte Wirkungen derselben Ursache sind, so- ist, wenn selbst nur die eine derselben (wie eben im Abschn. VII) constatirt ist, die andere a priori zu erw^arten. Jene Gefühle mögen in ihren betreffenden Zellen oder Hirnpartien zu hinlänglich starkem ßewusstsein gelangen; sie communiciren nur nicht voll- kommen genug mit demjenigen Hauptsummationsbewusstsein, welches, zu gedanklichen Reflexionen in besonderem Maasse be- fähigt, allein im Menschen die Stufe des Selbstbewusstseins er- rungen hat.

Nachdem wir so aus dem allgemeinen Begriff des Unbewussten zunächst die umlassende Sphäre des relativ Unbewussten aus- geschieden haben, haben wir in der übrigbleibenden Sphäre des absolut Unbewussten abermals jcme_.,.slrmig£_Ji>enn^ durch- zuführen zwischen dem physiologischen und^jneXapii^: - sTsc h e n^Jjibewm^sten. Unter dem plnsiologischen Unbewusstfj) verstehen wir die moleculare Hirn- und Ganglienprädisposition als Ursache der charakteristischen Bestinmitheit der physiologischen.

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und psychologischen Functionen eines Individuums; unter dem metaphysischen Unbewussteu das in den Atomen naturgesetz-

jfissig tiinctionirende Wesen der Welt, in welchen Functionen aber (im Unterschiede von der hierin zweifelhaften Ph. d. U.) die psychische Innerlichkeit mit inbegritien ist.

Eine wie grosse Rolle auch in der Ph. d. U. dasjenige, was wir hier das physiologische Unbewusste nennen, spielt, ergiebt sich aus unseren früheren Erörterungen, wonach Gedächtniss und Charakter ganz in dieses Gebiet lallen (Ph. d. U. S. 27 unten bis 28, 387 unten bis 388 oben, 608-610), der Process der Ideen- association als ein den mechanischen Gesetzen folgender mole- cularer Hirnprocess aufgelasst wird (S. 253), und nicht nur ererbte Charakteranlagen und Fertigkeiten, sondern auch ererbte Ge- dächtnissdispositionen statuirt werden (S. 613, S. 78 unten bis Tj oben).

Auf S. 600 wird sogar darauf hingewiesen, es sei kein Widerspruch, dass der ( 'harakter „im IJnbewussten liegt und doch seine Bcscliaffenheit durch das Hirn, das specißsche Organ des Bewusst Seins, mit bedingt werden soll; denn das Organ des Bewusstseins sanimt allen seinen niolecularen Lagerungs- verhältnissen, die als latente Dispositionen zu gewissen Schwingungszustäiiden dieser oder jener Art betrachtet werden müssen, liegt selbst yo sehr jenseits alles Bewusstseins, dass zwischen seiner materiellen Function und der bewussten Vor- stellung erst der ganze Coniplex jener unbewussten psychischen Functionen" (d. h. der teleologischen Eingriffe) „sich einschaltet, mit denen wir uns bisher beschäftigt haben". Streichen wir nun auch jene von der Ph: d. U. zwischen die mechanische Reaction der molecularen Hirnprädispositionen und das Summationsphänomen der bewussten Vorstellung oder des Begehrens eingeschalteten teleologischen Eingrilfe, so bleibt es doch immer richtig, dass Charakter und Gedächtniss, als specielle Beschaöenheiten des Gehirns, jenseits alles Bewusstseins, d.h. im Unbewussten, liegen.

Wir haben gesehen , wie sehr der Erklärungsbereich des physiologischen l nbewussten sich erweitert durch consequentes Zu Ende Denken der von der Ph. d. U. selbst (S. 78—79) zu

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gebtandeneu Möglichkeit, dieses Erkläningsprincip auf den Instinct auzuwenden; denn die Wesensgleichheit des lustincts mit den übrigen problematischen Processen des organischen Lebens lä^st die Uebertragung des für den Instinct adoptirten Erklärungs- princips auf alle übiigen als unausweichbare Forderung erscheinen.

So hat uns das physiologische Unbewusste eine Bedeutung gewonnen, in welcher es (in Verbindung mit der natürlichen Zuchtwahl und einer richtigeren Schätzung des Einflusses der bewussten Ueberlegung, Uebung und Gewohnheit auf Modificationen des Instincts) dasjenige zu ersetzen vermag, was in der Ph. d. U. das metaphysische Unbewusste als Subject der teleologischen Eingriffe für die Erklärung leisten soll. Wie in der recht ver- standenen Physiologie die ganze Psychologie enthalten ist, so enthält das physiologische Unbewusste alles das in sich, was unter dem Unbewussten als dunklem Hintergrunde des psy- chischen Lebens verstanden wird, gleichzeitig aber schliesst es auch die Ursachen der nicht aus bloss physikalischen und che- mischen Processen an Ort und Stelle verständlichen biologischen Processe in sich. Das physiologische Unbewusste ist es also, dessen Studium zunächst noth thut, um alle Räthsel des psychischen und organischen Lebens zu lösen; denn in ihm liegt der ganze Reichthum derselben beschlossen.

Gehen wir nun zu der andern Seite des absolut Unbewussten, dem m e t ap h y s i s c h e n Unbewussten über, so ist dies eben durch die Streichung des Subjects der teleologischen Eingriffe sehr viel ärmer als das metaphysische Unbewusste der Ph. d. U., welches das gemeinsame Subject der naturgesetzmässigen Atomfunctionen nur unter sich begreift, während dieses bei uns den ganzen Platz des metaphysischen Unbewussten einnimmt. Es ist keine Frage, dass die einfachste Atomfuuction eine Anticipation eines Zu- künftigen, erst noch durch die Action selbst in die Wirklichkeit zu Setzenden enthält (Ph. d. U. S. 484—485); ebenso unbedingt ist zuzugeben, dass der formelle Modus dieser Anticipation in den einfachen, die Materie erst constituirenden, also selbst im- materiellen Elementen selbst immateriell genannt werden müsse (S. 105) ; ob aber eine solche inhaltliche Bestimmtheit eines noch nicht Seienden in immaterieller Form, d. h. solche meta-

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physische x\iiticipation der Verwirklichimg durchaus ideale Be- stimmtheit genannt werden müsse, wäre immerhin noch zu erwägen, sobald man einmal mit der Annahme präexistirender typischer Gattungsideen vor ihrer Realisation in Thier- und Pflanzenreich gebrochen hat. Schwächt man durch Entkleidung von aller anthropopathischen Nebenbedeutung den Sinn des Wortes „ideal" so weit ab, dass er nichts mehr als die uns schlechterdings un- bekannte fS. 375, Z. 19 23) Form der immateriellen meta- physischen Anticipation innerhalb der diesen Inhalt verwirk- lichenden Function ist (Phil. Monatshefte Bd. IV, Hft. 1 , Schluss der Erwiderung gegen J. Bergmannes Kritik der Phil. d. Unb.), dann kann mau diese Bedeutung des Ausdrucks ideal zw^ar nicht mehr bekämpfen, aber das Wort hat dann auch nichts Significantes mehr an sich, es lordert das Verständniss nicht mehr, sondern bringt es eher durch die naheliegende Versuchung unfreiwilligen anthropopathischen Rückfalls in Gefahr.

So lange man das Unbewusste als Träger der teleologischen Eingrifte gelten lässt, liegt die Sache in sofern etwas anders, als mau in der Anticipationstorm im Atom nur die Species eines grossen Genus metaphysischer Anticipationen erblickt, welche ihrer Form nach zwar ebenfalls unbekannt, aber ihrem Inhalt nach zum grösseren Theil mit demjenigen identisch sind, was die Philosophie von Plato bis Hegel unter Ideen verstanden hat. Nachdem wir aber (vgl. oben S. 50 51) gesehen haben, dass die Typen der Organisation sich allmählich durch mechanische Oompensationsprocesse herausgebildet haben, ohne einem teleo- logischen Princip Raum zur Erklärung zu gestatten, haben w^ir auch von der Annahme der Präexistenz solcher Typen in Gestalt unbewusster Naturideen oder bewusster göttlicher Ideen als einer fernerhin grundlosen und unberechtigten Hypothese Abstand zu nehmen. Die Hypothese einer hellsehenden unbewussten Intuition -des lustincts mit ihrer Ausbreitung auf alle Gebiete des psychischen .und organischen Lebens war für die Ph. d. U. das willkommene Zwischenglied, oder vielmehr eine lange Stufenreihe von Binde- gUedern zwischen der Intuition des klarsten menschlichen Be- wusstseins und der anticipirenden Function des Atoms; nach Wegnahme dieser Kette würden die durch sie verknüpft gewesenen

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Endglieder völlig auseinanderfallen, wenn nicht auf der andern Seite die Restitution der in der Ph. d. U. zweifelhaften Atom- Empfindung und das genauere Verständniss des Bewusstseins als eines Summationsphünomens von organischem Ueber- einanderbau analog der Ineinanderschachtelung der relativen Individuen eine neue Verbindung herstellte.

Leider giebt nur diese neue Kette nicht, wie die zerstörte, scheinbare Aufschlüsse über die Natur der immateriellen meta- physischen Autieipation des Atoms bei seinem Functioniren. Man weiss von dieser Autieipation nur so viel, dass sie jenseits und vor aller Atomemplindung, d. h. Atombewusstsein, liegt, also eine absolut unbewusste ist, und dass sie nach P^intreten und Inhalt unabänderlichen Gesetzen folgt. Will man nun den Ausdruck ,,unbewusste Autieipation'' deutsch durch „unbewusste Vorstellung" wiedergeben, so ist dagegen natürlich wiederum nichts als die Gefahr des Rückfalls in anthropopatbische Nebenbedeutungen geltend zu machen. Die Erkenntniss wird dadurch ebenso wenig positiv gefördert, als wenn man die Spannkraft des Atoms Wille, den [Jmsatz derselben in lebendige Kraft Wollen nennt, da Wille und Wollen nur bestimmte Erscheinungsformen des Zusammen Wirkens von Atomfuuctionen sind, oder die Bezeichnungen, weiche wir den uns aus psychologischen Schlüssen indirekt bekannten Summationsphänomenen unseres thätigen Gehirns ertheilen (vgL oben S. 80 82); der Werth solcher Bezeichnungen liegt ebenso wie bei dem der Atom-Empfindung nur in dem Wecken und Wachhalten des Bewusstseins aou der wesentlichen Identität alles Lebens und aller seiner activen und rcceptiven Functionen in der gesammten organischen und unorganischen Natur.

Wenn wir oben (S. 17j bemerkten, dass die Naturwissen- schaft als solche sich um die Frage nicht zu kümmern habe, ob letzten Endes auch die Naturgesetze und die Causalität selbst sich, wie die Ph. d. L'nb. behauptet, in Finalität, d. h. in Teleo- logie, auflösen, so haben wir jetzt, wo wir uns mit dem Unbe- wussten in den Atomen beschäftigen, dieser Frage näher zu treten. Zunächst haben wir daran zu erinnern, dass alle Natur- kräite als Combinationen der einlachen Atomkräfte, alle Natur- gesetze als secundäre Gesetze oder als aus den einfachen Gesetzen

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der AtoiutuuctioDeii abgeleitete Folgeerscheinungen anzusehen sind (vgl. „Ges. phil. Abhandl." S. 123-124); dieses JY>lgeu der cornplicirteren Naturge^etze_aus den einfachen Gesejzen_dei- Me- (^nik des Aton^SLjmfeuweisen (was natürlich nur auf mathema- tischejgaJVege lüügliehjst) ist die let^e und "höchste Aufgabe der Physik, und die mechanische Wärmetbeorie, die mathematische Behandlung der akustischen und optischen ^chwingungsprocesse, sowie endlich dat- mathematische Eindringen in (bis Gebiet der Electricität haben in neuester Zeit glänzende Proben der wissen- schaftlichen Leistungsfähigkeit gegeben und unabsehbare Hoff- nungen für die Zukunft erweckt. Es ist, unumwunden gesprochen, das Ziel der Naturwissenschaft, alle die mannigfachen Natur- erscheinungen als Resultate zu begreifen, die aus der Mechanik der Atome hervorgegangen sind: alles Beobachten, Experimen- tiren und Induciren ist durchaus nur Mittel zu diesem Einen, letzten, alles bestimmenden Zweck, dessen Erreichung allein die Naturwissenschaft zur Wissenschaft im höchsten Grad zu erheben und abzuschliessen vermag. Die letzten Functionen der Atome werden wir uns ebenso einfach zu denken haben wie die Atome selbst; die Combination derselben zu den complicirten Naturerscheinungen muss aber mathematisch durchaus beweisbar sein. Nur ist frei- lich die Mathematik auch nur eine angewandte Logik, angewandt auf gegebene Existenzen in Bezug auf die Kategorie der Quan- tität; aber wohlgemerkt ist unter der hier in Anwendung kom- menden Logik nur der Satz vom Widerspruch (oder seine modi- ficirten Ausdrucks weisen ), nicht aber d i e T e 1 e o l o g i e zu ver- stehen; die Mathen»atik deducirt alles so und so nur deshalb, weil es ohne Widerspruch nicht anders sein kann, nicht weil das Sosein irgendwie zweckmässig wäre. Soll also irgendwo eine vorausbestimmte Einheit von causaler und finaler Nothwendigkeit stecken fPh. d. ü. S. 790), so muss sie bereits ganz und ohne Best in der Einrichtung der Elementarfuuctionen der einfachen Uratorae und in der Beschaffenheit der in ihnen als Gesetz erkennbaren Oonstanz der Wirkungsweise gegeben sein. Je einfacher wir ge- nöthigt sind, uns diese Gesetze zu denken, um so unwahrschein- licher wird eine solche Annahme, um so entbehrlicher und werthloser für die Erklärung der Welt wird sie aber zugleich.

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Das volle Verstäudniss der mechanischen Nothwendigkeit solcher Gesetze kann oft lange ausbleiben, bis plötzlich ein klarer Kopf das Ei des Columbus auf die Spitze stellt, wie es Kant mit dem alten Probleme des Parallelogramms der Kräfte gelang (vgl. Ph. d. Unb. S. 468). So bleibt man zuletzt nur bei dem Problem der Existenz, und zwar einer in bestimmter Essenz gege- benen Existenz, als dem ewig unlösbaren stehen, für das die teleo- logische Metaphysik ebensowenig ein Recept haben kann als irgend eine andere (S. 796 797). Solchen Ausgangspunkt aber einmal zugegeben, haben wir schon nach dem jetzigen Stande der Physik keinen Grrund mehr zu der Annahme, dass die Elementar- functionen der Atome ausschliesslich oder theilweise durch teleo- logische Rücksichten auf den Weltprocess und sein etwaiges Ziel bestimmt worden seien. Jeder Fortschritt in der mathematischen Physik wurd solchen Glauben unwahrscheinlicher machen.

Wir haben so eben eingeräumt, dass auch die Mathematik nur angewandte Logik sei, also die complicirten Naturgesetze und alle natürliche Causalität in diesem Sinne allerdings mit dem, was wir unter logischer Nothwendigkeit verstehen, identisch seien ; wir haben nur bestritten, dass diese logische Nothwendigkeit die teleologische A orsehung oder Finalität in sich schliesse. Die Finalität ist, wie die Ph. d. Unb. (S. 782 783) zuge- steht, ebenfalls angewandte Logik, aber in noch anderem Sinne als die Mathematik, welche eben nur die Existenz von Grössen voraussetzt. Die Finalität setzt ein Antilogisches voraus, welches nicht zu negiren widersinnig, d. h. der Natur des Logischen widersprechend wäre, es setzt aber auch ausser- dem voraus, dass die Existenz dieses Antilogischen als Anti- logischen dem Logischen (oder der gemeinsamen Substanz bei- der) empfindlich werde, und deshalb braucht die Ph. d. Unb. die vorweltliche und ausserweltliche Unlustempfindung des unerfüllten oder leeren Wollens (S. 785—786), mit welcher kühnen Hypothese die Möglichkeit seiner ganzen teleologischen Meta- physik steht und lällt. Diese Hypothese ist jedoch deshalb nicht haltbar, weil sie die Unendlichkeit des leeren Wollen» gegen- über dem endlichen erfüllten Wollen zur Voraussetzung hat. Nun ist aber ein unendliches Wollen ebenso unmöglich, wie jede

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andere existirende Unendlichkeit; die Potentialität kann hier nicht zur Entschuldigung dienen, weil der Wille sein Wollenkönnen durch zeitliches Wollen nicht erschöpft, also ein endlicher Wille für unendlich lauge Dauer des Wollens ausreichen würde. Der Wille ist nur deshalb unersättlich, weil jede Befriedigung sein Wollenkönnen nicht vernichtet und er nach derselben deshalb immer weiter will, aber seine Unersättlichkeit beweist gar nichts gegen die Endlichkeit seiner Intensität. Eine potentielle Unend- lichkeit des Willens bedeutet nur dann überhaupt etwas, wenn sie das Vermögen bedeutet, in demselben Moment ein unendliches aetuelles Wollen entfalten zu können; dann bedeutet sie aber etwas Falsches, weil AVidersiuuiges. Der Wille kann also eben- sowenig unendlich heissen als das Wollen und am w^enigsten das als der Moment der Initiative erklärte (S. 773 774) leere Wollen, welches weder endlich noch unendlich, weil einer Quantitätsbe- stimmung überhaupt so wenig wie der mathematische Punkt iähig sein kann. Ist nun der Wille keinenfalls unendlich, sondern endlich, so muss sich die intensive Grösse der Welt, d. h. die Summe der in derselben zur Erscheinung gelangenden Kraft, nach ihm richten; es wird also kein Ueberschuss eines leeren über das erlüllte Wollen bleiben, also eine ausserweltliche Unseiigkeit unmöglich sein. Damit fällt die Grundlage der beständig sieh erneuernden Finalität. Es bliebe höchstens noch die Möglichkeit einer vor weltlichen Unseiigkeit des leeren Wollens im Moment der Weltinitiative, durch welche die Atomgesetze einmal teleo- logisch bestimmt wären. So schwer auch der Grund einzusehen wäre, weshalb das der teleologischen Grundlage beraubte meta- physische Unbewusste den früher von ihm bestimmten Naturge- setzen , für die es doch kein Gedächtniss hat , auch fernerhin folgen solle, so ergeben sich doch noch grössere Schwierigkeiten von anderen Seiten her, welche den ganzen Einfluss teleologischer Erwägungen auf die Installirung des Processes zu einer böcbst unwahrscheinlichen Hypothese machen. Finalität braucht niimlich einen letzten Endzweck, ein Ziel, zu welchem der ganze übrige Proeess als Mittel gesetzt wird. So sehr wir mit den inductiven und deducliven Erwägungen der Ph. d. Unb. (Cap. C. XII u. XIII; vgl. „Ges. phil. Abhandl." S. 50—55) über die Unmöglichkeit eine»

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positiven Endziels des Weltprocesses tibereinstimmen, sowenig können wir ihren Glauben an die Möglichkeit eines negativen Weltziels beipflichten (vgl. oben Abschn. 111), um so mehr als sie die Wahrscheinlichkeit ihrer Annahme irgend welcher Pointe im Wcltlauf, oder irgend welchen Endzwecks (für den dann na- tliriich nach Elimination aller positiven nur ein negativer übrig bliebe) erst aus der Hypothese einer allweisen Vorsehung herleitet, die selbst nur wieder, wie wir gleich sehen werden, auf das be- reits beseitigte System der beständigen teleologischen Eingriffe sich stützt. Wir können nicht umhin, den Glauben an die Mög- lichkeit einer endlichen Universalwillensverneinung ebenso für eine Illusion zu erklären, wie die Ph. d. Unb. den Glauben Schopen- hauers an die Möglichkeit einer Individualwillensverneinung für eine Illusion erklärt. Beides sind am Ende nur Gemüthspostu- late, um aus der Aussichtslosigkeit des Pessimismus einen erlö- senden Ausweg zu finden, also Illusionen von derselben Classe, wie die lustincte der charakterologischen Hoffnung, der Liebe, der Ehre u. s. w., welche durch natürliche Auslese im Kampf um's Dasein sich entwickelt haben , indem nur diejenigen Menschen tibiig blieben und sich fortpflanzten, welche das Leben erträglich fanden und sich leidlich mit demselben abzufinden wussten. Der geringe Anklang, welchen gerade dieser Gedanke einer schliesslichen Universalwillensverneinung gefunden hat, scheint darauf hinzudeuten, dass es nicht nöthig sein dürfte, den drei von der Ph. d. Lnb. aufgestellten Stadien der Illusionen ein vierte» in diesem Sinne hinzuzufügen.

Aber nehmen wir selbst einen Augenblick an, die Universal- willensverneinung sei als Endziel des Processes zu fassen und als solches erreichbar, so liegt einem all weisen Unbewussten offenbar die Aufgabe ob, dieses Ziel so bald als möglich und so schnell als möglich zu erreichen, um die Qual des Processes nach Möglichkeit abzukürzen.

Das allmächtige Unbewusste, sollte man nun meinen^ könnte sich durch nichts gehindert sehen, im Moment der Er- hebung des Weltwillens zum Process sofort denjenigen Zustand zu realisiren, in welchem sich die Welt im Moment der Universal- willensverneinung am Ende des Processes dereinst betinden sollj

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denn es steht ja der Idee frei, welchen Inhalt sie dem Willen giebt, und dieser realisirt ihn unbesehens. Es ist bei einem all- weisen und allmächtigen Ünbewussten die Nothwendigkeit einer dem Endzustande der Welt vorausgehenden Entwickelung schlechterdings nicht einzusehen. Aber selbst auch eine solche Nothwendigkeit zugegeben, so soll doch das Maass der Ent- wickelungsgeschwindigkeit rein von der Idee abhängen, und nichts vermöchte bei der Relativität des Zeitmaasses sie zu hin- dern, den ganzen Entwickelungs-Process mit unendlicher Ge- schwindigkeit abschnurren zu lassen, d. h. ihn in eine unendlich kleine Zeit zusammenzudrängen, was praktisch dasselbe Resultat wie die unmittelbare Herstellung des Endzustandes der Welt er- geben würde. Da diese Cousequeuzen sämmtlich der Erfahrung widersprechen, müssen die Voraussetzungen falsch sein, d. h. es kann gar kein Endziel des Weltprocesses geben, nach welchem dieser von einer Vorsehung hingeleitet würde. (Vgl. auch oben S. 73 75). Kann es aber kein Endziel geben, so ist eine teleologische Prädestination des Weltprocesses durch eine diesem Endzweck angepasste Einrichtung der elementaren Naturgesetze unmöglich. Dann kann die Causalität wohl noch als identiscli mit logischer Nothwendigkeit, aber nicht mehr als identisch mit teleologischer Nothwendigkeit oder Finalität behauptet werden. Aber auch diese Identität von Causalität und logischer Noth- wendigkeit muss uns in einem andern Lichte als der Ph. d. U. erscheinen, weil das Apriorische und damit auch das Logische uns ein psychophysisch oder physiologisch Gegebenes, der Ph. d. U. hingegen ein metaphysisch-spiritualistisch Gesetztes ist. Im letzteren Falle kann über die Identität der logischen Notii- wendigkeit im Process des dinglichen Geschehens und im Process des bewussten Denkens kaum ein Zweifel bestehen; im ersteren Falle aber, wo die Prädispositionen der Vorstellungsverkuüpfung sich durch vererbte Anpassung an die Verknüpiungsweisen odor Zusammenhänge des realen Geschehens herausgebildet haben (vgl. oben iS. 134 136), drängt sich unabweisbar die weitere Frage auf, ob denn nicht am Ende der Charakter des Logischen, d. h. des für alle Fälle des Denkens Zwingenden, erst gerade ein subjectiv zu Staude gekommenes Moment sei, das deujciiigea

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thatsächlichcn Ziisamineiibängen, durch Anpassung an welche die subjectiv logischen Verkntipfungsformeu sich entwickelt habeUj durchaus nicht in derselben Weise zukommt. Diese wichtige Frage (vgl. Ph. d. U. S. 791 und 108) können wir hier nicht weiter verfolgen.

Nachdem wnr die x^nalyse des Unbewussten in 1) das relativ (fllr das Gesammthirnbewusstsein) Unbewusste, 2) das physio- logische Unbewusste und 3) das metaphysische Unbewusste durch- geführt haben, dürfte es angemessen sein, noch einmal recapitu- lirend uns vorzuführen, welche unter den von der Ph. d. U. dem Unbewussten schlechthin zugeschriebenen Eigenschaften auf die verschiedenen Elemente dieses Begriffs anwendbar bleiben. Wir schlagen hierzu Cap. C, I auf. Dort ist gesagt:

1) „Das Unbewusste erkrankt nicht." Dieser Satz ist ebensowenig wie die Folgenden auf das relativ Unbewusste be- zogen zu nehmen, sondern von vornherein auf das absolut Un- bewusste beschränkt zu denken. Auf unsern Begriff des meta- physischen Unbewussten finden natürlich die Begriffe der Krankheit und Gesundheit gar keine Anwendung; das physiologi.sche Un- bewusste kann sehr wohl erkranken, nur nicht spontan, sondern in Folge irgend welcher functionellen Störung. Das physiologische Unbewusste ist es ja gerade, welches die Erblichkeit der Geistes- krankheiten zu Stande bringt.

2) „Das Unbewusste ermüdet nicht." Für das meta- physische Unbewusste behält der Satz volle Geltung, denn die Atome der Himmelskörper gravitiren nun schon recht lange auf einander zu, ohne irgend welchen Nachlass in ihrer Kraftentfaltung zu zeigen. Für das physiologische Unbewusste hingegen ist der Satz unrichtig; gerade hier ist die Ermüdung ganz frappant wahr- nehmbar, und die Erscheinungen, welche dagegen zu sprechen scheinen, beruhen stets auf einer Ablösung der functionirenden Thcile, die ein Ausruhen und einen Kraftersatz ohne Unter- brechung der Function gestattet (z. B. gegenseitige Ablö.'.ung der den Herzschlag oder die Athmung bewirkenden Ganglien und Rtickenmarkspartien). Dass beim bewussten Wahrnehmen und Denken eine Ablösung in dem eiforderlichen Maasse nicht zu Stande kommen kann, mus« darauf beruhen, das» derinnervations-

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»trom der Aufmerksamkeit eine so bedeutende Menge von Kraft- vorrath des Gehirns consumirt, dass die gesammte Oeconoraie der Gehirnernährung für den Ersatz desselben bei dauernder An- spannung der xVufmerksarakeit nicht ausreichen würde. Auf diesen starken Kraftverbrauch deutet auch die active Spontaneität der Aufmerksamkeit im Gegensatz zu dem passiven Charakter der Gefühle oder dem gleichsam latenten der Leidenschaften, welche nur in den kürzeren Ausbrüchen der Affecte ein grösseres Quan- tum von Kraft consumiren.

3) „Alle bewusste Vorstellung hat die Form der Sinn- lichkeit, das unbewusste Denken kann nur von unsinn- lieber Art sein". Die Form der Sinnlichkeit ist selbst nur ein Summationsphäuomen aus Atomempfindungen, es würde also der allgemeinere Ausdruck lauten: Form der Empfindung. Letzterer umfasst dann auch das Bewusstsein niederer Nervencentra und untergeordneter Sphären im Grosshirn in Betreff ihrer unter- halb der Schwelle des Gesammthirnbewusstseins liegenden Func- tionen mit in sich, d. h. aber das relativ Unbewusste hat ebenfall» die Form der Empfindung.

Das physiologische Unbewusste als latente Disposition ist eben eine ruhende Beschaffenheit, die nicht unbewusstes Denken heissen kann; insofern es aber functionirt, erzeugt es eben allemal ßewusstseinsfunctionen. Selbst dann, wenn diese Functionen unter- halb der Schwelle des Gesammthirnbewusstseins liegen, müssen wir doch annehmen, dass sie in einzelnen Hirnpartien, Hirnzellen^ Moleculen oder auch nur Atomen irgend welches Bewusstsein erzeugen, welches alsdann immer die Form der Empfindung haben muss. Insoweit also das physiologische Unbewusste functionirt, schlägt es sofort in das Gebiet des relativ Unbewussten oder Bewussten über, und kann dann sein Denken nicht unsinnlicher Art sein; insoweit es nicht functionirt, kann von einem Denken bei ihm nicht die Rede sein. Somit bleibt die Verneinung de« Charakters der Sinnlichkeit oder Empfindung nur gültig für die anticipirenden Functionen des metaphysischen Unbewussten, die aber wieder nu/ sehr cum grano salis als Vorstellen oder Denken bezeichnet werden können,

4) „Das Uubewoßite schwankt und zweifelt

i5*

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nicht, es braucht keine Zeit zur Ueberleguiig, sondern erfat^st 3nomentan das Resultat." ,,Das Denken des Uubewussten ist zeitlos" (S. 376). Was die Rapidität der mechanischen Reactionen des physiologischen Unbewussten betrifft, so haben wir schon oben (S. 176 177) gesehen, dass dieselben nur Avegen des Fehlens aller Zwischenglieder eine relativ kurze Zeit erfordern aber keinenfalls in Null-Zeit verlaufen können. Letzteres müssen wir sogar von den Functionen des metaphysischen Unbewussten be- streiten, denn Function ohne Zeit ist ebenso wenig denkbar, wie etwa Causalität ohne Zeit; während die Ph. d. U. den letzteren Widerspruch der Kant'schen Philosophie beseitigt, lässt sie sich von dem ersteren kritiklos gefangen nehmen (S. 376). Wenn die unbewusste Idee dasjenige sein soll, was die Zeit, oder wenig- stens die bestimmte Zeit (S. 777, Z. 25 27) setzt, indem sie das „Was'' der Welt in jedem Augenblick bestimmt, wenn aber dieses ^,Was" ein sich stetig veränderndes ist, so muss jedenfalls auch die unbewusste Idee eine sich stetig verändernde sein; sie kann dann nicht bloss intermittirend einsetzen, sondern muss dauernd actuell sein, d. h, sie muss zeitlich, nicht zeitlos sein, um als Erklärungsprincip irgendwie brauchbar zu sein (vgl. 8. 384, Z. 3—4 von unten).

5) „Das Unbewusste irrt nicht". Wir haben in Be- 5Ug auf das physiologische Unbew^usste die Unanwendbarkeit der Kategorien der Wahrheit und des Irrthums ebenfalls schon oben (S. 176 ff.) besprochen; es ist klar, dass dieselben auf das meta- physische Unbewusste nach Streichung des Hellsehens und der teleologischen Eingriffe noch weniger passen.

6) „Dem Unbewussten können wir kein Gedächtnis s zu- schreiben." Dies ist für das metaphysische Unbewusste unbedingt richtig, wenn auch nicht aus den S. 379 380 angegebenen teleo- logischen Gründen; dem physiologischen Ucbewussten hingegen können wir nur deshalb kein Gedächtniss zuschreiben, weil es selber auch das Gedächtniss ist (S. 379, Z. 19—14 von unten).

7j„Im Unbewussten ist Wille und Vorstellung in untrenn- barer Einheit verbunden." In Bezug auf das metaphysische Un- bewusste bleibt dieser Satz bestehen, insoweit man eben die Aus- drücke Wille und Vorstellung daselbst gelten lässt. Für da»

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physiologische Ünbewusste hat der Satz deshalb keine GeltuDg-, weil in der ruhenden Hirnprädisposition von Wille und Vor Stellung- überhaupt keine Rede sein kann, während das Functio- niren der Prädisposition sofort Bewusstsein (sei es gesammthirn- bewusstes oder relativ unbewusstes) hervorruft, also in die Eman- eipation der Vorstellung vom Willen vermittelst der bcwussten Empündung umschlägt (vgl. oben S. 227, auch 73 if.)

Wir iügen mit fortlaufenden Nummer einige weitere Eigen- schaften des Unbewussten aus späteren Capiteln hier an, bei welchen es sich ausschliesslich um das Ünbewusste als Princip des Monismus, d. b. also um das metaphysische Unbev/usste handelt :

8) „Das Ünbewusste packt das Leben, wo es dasselbe nur packen kann'^ (S. bbO). Wo immer in einer gewissen Combi- nation organischer Stoffe die Möglich keil des Lebens gegeben ist, ergreift das ünbewusste als psychisches Princip die Gelegen- heit, um den Körper zu beleben und zu beseelen (S. 555); ob es auch millioiicnmal bei dieser Gier der Belebung verunglücken mag, CS lässr sieh dadurch nicht stören (S. 559). Es geht bei dieser Belebungsgier so blind darauf los, dass es keineswegs bloss solche Gelegenheiten benutzt, welche in dem direkten Stammbaume des Menschen (als dem den Endzweck des Processes erfüllen, sollenden Organismus) gelegen sind, sondern es nimmt auch alle seitwärts vom Wege liegenden Gelegenheiten , sich auszuleben, eifrig mit, und verrennt sich dabei häutig in Sackgassen der Ent- wickelung (S. 569), die dem angeblichen Endzweck des Processes- in keiner Weise dienen. Nur ein kleiner Theil des Thierreichs liegt im direkten Stammbaum des Menschen und nur ein kleiner Theil der draussen liegenden Arten des Thierreichs wäre nöthig für die Oeconomie der Natur in Bezug auf die Aufgaben der Menschheit; ebenso wäre ein viel weniger reichhaltiges Pflanzen- reich ausreichend, um die Aufgaben des Pflanzenreichs im Natur- haushalt in Bezug auf den Endzweck des Processes zu erfüllen ; alles übrige sieht aus wie ein lusus iriyeniij wie ein metaphysischer Lebermuth des Unbewussten über seine teleologischen Aufgaben hinaus. Da alles „Was*' der Welt aber rein teleologisch durch die Idee bestimmt sein soll, so wäre ein solcher blinder

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IJ^berdrang, das Leben allüberall und in allen nur möglieben Gestalten zu haschen und zu packen, selbst dann unerklärlich, wenn , vyie die Ph. d. Uiib. unrichtig annimmt, das Wollen im unendlichen Ueberschuss gegen die Idee vorhanden wäre. Obige Eigenschaft des L'nbewussten ist eben aus der thatsächlichen Welt empirisch aufgenommen, ohne sich mit den Principien der Ph. d. Unb. vereinigen zu lassen. Aus der Descendenztheorie, welche die gesammte Organisation als Resultat eines grossen mechanischen Compensationsprocesses im Kampf um's Dasein betrachtet, ergiebt sie sich hingegen ganz ungezwungen, denn hier gelangt eben ohne alle Rücksichten auf teleologische Leitung des Processes alles zur Existenz, für dessen Existenz die Bedingungen vorhanden isind.

9) Das Unbewusste sucht seine Leistungen mit einem Mini- mum von Kraftaufwand zu vollbringen (S. 560, 568). Dieser ebenso empirisch wie der vorige der Natur der Thatsachen ent- nonunene Satz passt ebensowenig wie jener zu den Principien der Ph. d. U. War dort der extensive Ueberschuss des Kraftaufwandes über das Maass des teleologisch Noth wendigen hinaus unverständlich, so muss hier die Knauserei mit der Intensität der aufzuwendenden Kraft anstössig erscheinen. Beim schwachen Menschen, dessen Kräfte unverhältnissmässig gering sind zu den Aufgaben, die er sich selber stellt und der ausserdem bequem und träge ist, weil ihm die Anstrengung Unlust bereitet, da ist es sehr begreiflich, dass er Erleichterung der Arbeit sucht, und dass die Herstellung kraftersparender Maschinen und Leistungen selbstthätig verrich- tender Mechanismen als zweckmässig (nämlich als den Zwecken und Verhältnissen des Menschen gemäss) gerühmt wird (S. 154, 620 unten); ein metaphysisches Unbewusstes hingegen kann gar keinen Grund haben, sich seine Aufgaben zu erleichtern oder durch Construction selbstthätiger Mechanismen theilweise von sich abzuwälzen, denn der grössere Kraftaufwand kann ihm ja keinen Verlust bereiten, also auch die Ersparniss an Kraft keinen Gewinn bringen, da vielmehr im Gegentheil im Fall eines be- stehenden Ueberschusses an leerem Wollen die ausserweltliche Unseligkeit desselben durch Verminderung der im Procoss zur Bethätigung gelangenden Kraft vermehrt werden müsste. Selbst

231

•dann, wenn man von einem unendlichen Willen absieht, muss doch das Eine Unbewusste immer in dem Sinne allmächtig bleiben, wie das Absolute in jedem Monismus so heisseu muss, nämlich als Besitzer aller Macht oder Kraft, die überhaupt in der Welt existirt. Da nun die Grösse der AVeit von ihm abhängt und eine allzu grosse extensive Ausbreitung im Sinne einer teleologischen Metaphysik gewiss zwecklos ist, so braucht er nur der Welt eine passende Grösse zu geben, um innerhalb derselben auf alle „Er- leichterungen^* vermittelst llülfsmechanismen verzichten zu können. Am Ende ist aber der ganze Process der kosmischen Entwicke- jung nur als ein solcher Hülfsmechanismus zur mittelbaren be- ijueraeren Herbeiführung des Endzustandes der Welt zu betrachten, von welchen nicht einzusehen ist, weshalb das allmächtige Un- bewusste mit ihm die Zeit vertrödelt, anstatt den Endzustand der Vv'elt (vor der universalen Willensverneinung) unmittelbar herbei- zuführen.— Ganz anders, wenn wir von der teleologischen Meta- physik absehen. Dann stellt sich in der Mechanik das Princip des minimalen Kraftaufwandes als ein mathematisch beweisbarer Satz dar und ergiebt sich, dass im Reiche des Organischen noth- wendig diejenigen Individuen einen Vorsprung in der Concurrenz iim's Dasein gewinnen müssen, welche mit den besten Mechanis- men zur Ersparniss an ihren höchst beschränkten individuellen Kräften ausgerüstet sind, dass also solche kraftersparende Mecha- nismen und Erleichterungen durch natürliche Zuchtwahl ganz von selbst sich in den Organismen herausbilden müssen.

10) Das Unbewusste ist allmächtig (S. 770, vgl. auch 163) imd allgegenwärtig (S. 620). Dass wir die Allmacht nicht als Unendlichkeit der Kraft oder des Willens, sondern nur als Ineinsfassung aller überhaupt existirenden Macht gelten lassen können, ist schon erwähnt. Ebenso aber können wir die All- gegenwart nicht als „ein unaufhörliches (teleologisches) Ein- greifen in jedem Moment und an jeder Stelle'^ (8. 620) gelten lassen, sondern nur als das in allen Atomen zugleich Wirken der Einen identischen unräumlichen Substanz der Welt (8. 491). lieides ist unmittelbar mit dem monistischen Princip verknüpft und giebt in unserer Fassung nicht den geringsten Anspruch auf «'ine Apotheose des Unbewussten.

232

11) Das Unbewusste ist allwissend (S. 620). Die Allwissenheit wird identiticirt mit „absolutem Hellsehen" (S. 620), oder mit der reinen Materie der Vorstellung- oder des Wissens in tiberbewusster Form (S. 537 538). Das Hellsehen wird ein ab- solutes genannt, weil ihm „alle nur irgend zur Sprache kommenden Data immer und momentan zu Gebote stehen'' (S. 618, vgl. auch S. 380). Diese Behauptung ist aber durch nichts zu erweisen versucht, auch dann nicht, wenn wir die Existenz eines Hellsehens, ja sogar eines irrthumsunlahigen Hellsehens zugeben wollten; es sind vieiraehr negative Instanzen gegen obige Be- hauptung in der Ph. d. Unb. zugestanden, nämlich die Möglich- keit des gänzlichen Ausbleibens der. hellsehenden Eingebung des Unbewussten zum Verderben des auf sie angewiesenen Indi- viduums (S. 377). Selbst ohne solche negative Instanzen könnt<*. doch eine noch so grosse Summe von positiven Instanzen für die Existenz eines Hellsehens nimmermehr zum Beweise etwas helfen, dass zu jeder Zeit und an jeder Stelle alle irgend erforder- lichen Data dem Unbewussten intuitiv gegenwärtig sein müssen. Es bleibt ein unendlicher Sprung über eine unausfüllbare Kluft hinüber, wenn man vom Hellsehen zum absoluten Hellsehen, von einem gewissen Wissen zur Allwissenheit übergeht. Wäre auch alles unantastbar, was die Ph. d. U. über das Hellsehen vorbringt, so wäre es doch ein unendlich dürftiges Material für das kühne Gebäude von Schlüssen, welches es tragen soll. Dieser Gedankensprung wäre sogar psychologisch unerklärlich, wenu nicht die Vermuthung nahe läge, dass hier wieder einmal dur Einfluss theologischer Jugendreminiscenzen sein Spiel mit dem Philosophen getrieben hat, jener unselige Eintluss, der schon so viel der besten Köpfe corrumpirt, so viel Schweiss der Edlen ^'ergeudet hat. Nun ist aber ausserdem selbst das ungenügende 3Iaterial, welches zur Stütze dienen soll, unhaltbar; denn die ganze Lehre vom unbewussten Hellsehen ist nur aus einer falschen Erklärung des Instincts hervorgegangen, und ebenso die Be- hauptung von der Unfehlbarkeit der durch dieses Hellsehen be- stimmten Eingriffe des Unbewussten, wie wir beides oben aus- führlich erörtert haben. Hiernach ist die Behauptung der All-

233

wissenheit des Unbewussten als eine nach jeder Beziehung grundlose und unhaltbare zu streichen.

12) Das Unbewusste ist allweise (S. 620). Die All- weisheit besteht aus zwei Elementen: erstens der Allwissenheit und zweitens der absoluten Zweckmässigkeit der allzeitlich- allgegenwärtigen teleologischen Eingriffe (S. 620); die Allwissen- heit liefert die erforderlichen Data, auf welche die teleologische Thätigkeit sich richtet, und die absolute Vollkommenheit der letzteren macht, dass jedesmal die dem gesammten Zweckgertist der Welt möglichst angemessene Vorstellung im möglichst an- gemessenen Moment an möglichst angemessener Stelle als teleo- logischer Eingriff in dem naturgesetzlichen Gang des Processes zu Tage tritt (S. 618). Wir haben über die teleologischen Ein- grifib dasselbe zu bemerken, wie so eben über das Hellsehen; selbst wenn sie constatirt wären, würde doch der Uebergang von einer solchen Thatsache zu der Behauptung einer absolut voll- kommenen Zweckthätigkeit des Unbewussten in dem an- gegebenen ^^inne ein unmotivirter Sprung bleiben. Hellsehen und teleologische Eingriffe zusammen würden nur die Annahme eines gewissen Maasses von Weisheit des Unbewussten begründen und rechtfertigen können, niemals die Annahme einer absoluten Weisheit oder All Weisheit. *) Nachdem wir aber Hellsehen und teleologische Eingriffe überhaupt als unhaltbare Hypothesen er- kannt haben, müssen wir auch nicht bloss die All Weisheit, sondern schon die Weisheit des Unbewussten als eine unhalt- bare Behauptung bezeichnen. AVie nur eine theologische Re- minisceuz die philosophischen Denkresultate in solchem iMaasse fälschen konnte, so muss auch nach dieser kritischen Purification die Aehnlichkeit des theologisch corrumpirten Unbewussten mit dem Gott der Theologie wieder verschwinden. Die Pli. d. U. ist insoweit dem monistischen Princip treu geblieben, um dem Prädicat der Güte oder All gute, welches nur eiaem rein

*) Vergleiche Hume, „Untersuchungen über den menschlichen Verstand", Deutsch von J. H. v. Kirchmann (Berlin: L. lleimann 1869), Abschnitt B. XI. S. 120-130.

234

ausserweltlicheu Gott zukommen kaun, keine Concessioneu zu machen, womit denn freilich auch der Gott des Gebets, der den menschlichen Leiden ein gleichtühlendes Herz und Trost entgegen- bringt und mit dem man sich auf Du und Du stellen kann, aus- geschlossen bleiben musste (S. 540). War aber somit das Un- bewusste kein Gott fiir's menschliche Gemtith, so konnte es doch wenigstens noch einen Gott für den menschlichen Ver- stand vorstellen, eben wegen des ihm vindicirten Prädicats der Allweisheit; nimmt man ihm auch dieses, so bleibt nur die mo- nistische Bubstanz mit Attributen übrig, welche zwar noch den metaphysischen Urgrund der Geistigkeit und Materialität als coordinirter Existenzsphären in sich enthalten, aber nichts von alledem mehr besitzen, was dem Alles seienden Einen den Cha- rakter der Göttlichkeit oder Gottheit verleihen könnte. Es ist dies noch besser verständlich, wenn wir einen Blick auf die drei Hauptbeweise vom Dasein Gottes werfen: der ontologische führt höchstens bis zum abstracten Begriff der unbestimmten Substanz, -der kosmologische höchstens zum Begriff der substantiellen Welt- ursache oder wirkenden Weltsubstanz, und erst der physiko- theologische oder teleologische Beweis verleiht dieser substantiellen Ursache jenen Charakter der Weisheit, ohne den der Mensch sich die Gottheit, das verabsolutirte Menschenideal, nicht zu denken vermag. Dieser letzte Beweis steht und fällt nun aber mit der teleologischen Metaphysik, und deshalb steht und fällt mit der letzteren auch der letzte Anker des Gottesglaubeus.

Die Ph. d. IT. als der letzte überhaupt mögliche Versuch zur Rettung der teleologischen Metaphysik ist zugleich der letzte Versuch zur Rettung des Gottesglaubens, wenn schon in wissen- schaftlich modificirter Gestalt. Die Theologie hat davon natürlich nichts gemerkt, aber sie wird vielleicht nach Jahrhunderten die Ph. d. U. als letzte Stütze ihrer Dogmen citiren, wenn der Schatten des Autors längst diese Citate desavouiren würde. Ein Dichter der Zukunft wird dann vielleicht eine Elegie über die cntgottete Welt singen, wie Schiller sie über Hellas' entgöt- terte Welt sang, ohne doch mit dieser poetischen Klage über entschwundene Schönheiten einer kindlichen Glaubenswelt die

235

Restitution des auf ewig Verioreueu für möglich zu halten oder auch nur zu wünschen. Denn die Wissenschaft wird unauf- haltsam fortschreiten und der Menschheit inzwischen mit einem tieferen Verständniss der Natur und ihrer selbst ein werthvolleres Geschenk gemacht haben, als die Träume waren, aus denen sie dieselbe mit rauher Hand erweckt hat.

»— <g>»Hg)l' <S>— *

Druckfehler-Bericlitigimg.

S. 85. Z. 14 lies S. 51 ff. statt S. 5 ff.

Inhalts - Verzeichniss.

Soit«

I. Dcscendcnztheorie uud natürliche Zuchtwahl 5

Die deutsche Philosophie und die Descendeuztheorie 5

Unabhängigkeit der Descendeuztheorie von der Theorie der natür- lichen Zuchtwahl 7

Unzulänglichkeit der Theorie der natürlichen Zuchtwahl .... 9

Hauptgründe für die Descendenztheorie 12

II. Die Teleologrie vom Standpunkte der Descendenztheorie ... 16

P'ortschreitende Elimination des Wunderbegriffs 16

Die teleologischen Eingriffe der Philosophie des Unbewussten . . 19

Die natürliche Zuchtwahl bei der Uraeuguug 21

„Wie kommen wir zur Annahme von Zwecken in der Natur V* . . 25 Die Zweckmässigkeit als Resultat mechanischer Compensations-

processe , ... 29

III. Die Entw ickclung: Tom Standpunkte der Descendenztheorie 35

Der W'eltzustand als Anpassungs-Gleichgewicht

Der Verlauf der Bewohnbarkeit der Erde 37

Die „Entwickelung" der irdischen Organisation als Folge des Gün- stigerwerdens der Bewohnbarkeitsverhältnisse der Erde . . 39

Die Relativität der Entwickeluug 41

Unhaltbarkeit des geocentrischen und anthropocentrischen Stand- punktes 45

IV. Gehirn und Intellekt 49

Idee und Idealismus 49

Entstehung und Functionirung von Vorstellungsprädispositionen im

Gehirn 52

Stinnnungen, Interesse und Aufmerksamkeit bei der Ideenassociation

Das Bewusstsein als Summationsphänomen 57

Die Ineinanderschachtelung der Bewusstseine verschiedener Ordnung 59

Die Innerlichkeit oder »"»^ubjectivität der Atome 61

238

Seit«

Lust und Unlust in den Atomen 65^

Entstehung der Empfindung im Gehirn 66

ünhaltbarkeit eines psychischen Hintergrundes der Vorstelkmgen

ausser der Subjectivität der Atome des Hirns 69

Ausschluss der Teleologie bei der Theorie der Bewusstseinsentstehung 73

T. Charakter und Wille 75

Die charakterologischen Triebe als Hirnprädispositionen .... 75 Der Individualwille als Summationsphänomen der Atomwillen des

Gehirns 78

Ünhaltbarkeit hinzukommender metaphysischer Willenseingriffe 81

Psychische Mauserung 86

Tl. Die Tererbuug", insbesondere des Charakters 89

Mechanische Entstehung der Vererbung 89

Latente Vererbung 93

Polymorphismus 96

Vererbung geistiger Eigenschaften 98

Vererbung individuell erworbener Eigenthtimlichkeiten 100

Tn. Die Vererbung" von Anlassen und Fertigrkeiten 104

Ererbter und erworbener Charakter 104^

Charakter und GedächtniäS 105

Ererbte schlummernde Gedächtnissvorstellungen als Inhalt charak-

terologischer Prädispositionen 109

Ererbte körperliche Fertigkeiten 111

ünhaltbarkeit einer metaphysisch-teleologischen Erklärung derselben 112

Ererbte geistige Fertigkeiten und Talente 115

Vm, Die Abkürzung: der Ideenassoeiation und die Vererbungr der

Denkformen 120

Die praktische Bedeutung der Ideenassoeiation und der Process

ihrer Abkürzung 120

Die abgekürzte Ideenassoeiation im Sprachgefühl 123

Dieselbe in der Mathematik 125

Dieselbe in den al>stracten Begriffen und Worten 127

Die tyi^ifichen Denkformen und Denkgesetze loO

Die Genesis der subjectiven Vernunft durch mechanische Compen-

sationsproresse 134

Die physiologische Begründung de« A priori 136

IX« Die Entstehung: der Angeiiauan«:fform der RSiamliebkeit 140

Die Entwickelung der Tiefendimension 140

Die Anschauung als unbewusgte Einheit Yon Empfindung und «yu-

thetischer Conitmction 14?«

239

Seite

Teleologischer Eingriff oder allmäbUche Anpassung an das prak- tische Bedüifniss? 145

Aeltere und stärkere Befestigung der Prädispositionen für die erste

und zweite Dimension 148

Umwandlung des discreten Empfindungsmosaiks in das continuir-

liche Anschauuugsbild , 150

Unterschied des Emptindungsmosaiks des Auges von anderen zwei- dimensionalen Empfiudungscomplexen 155

Die räimiliche Flächenanschauung als anschauliche Perception eines scheinbar continuirlichen zweidimensionalen Empfindungs-

complexes 157

Daß Ordnen des Emptindungscomplexes nach zwei Dimensionen 158

Gesichtsempfiudungen bei niederen Thieren 159

Die Causalität als ererbte Hirnfunction lol

Die Causalitätsi'unction bei niederen Thieren 164

X, Der Instinct als ererbte Hirn- und Gaiiglienprädispositiou . . 167

Instinct und Uebung 167

Der Instinct als Piosume der bisherigen Resultate 169

Der Grundfehler der Philosophie des ünbewussten 172

Polymorphe Instincte 173

Relativität der Zweckmässigkeit des Instincts 175

Ueberflüssigkeit teleologischer Eingilffe 177

Einfiuss der natürlichen Zuchtwahl auf die Entstehung des Instincts 179 Einfiuss der bewussten Ueberlegung auf die Modificationen der

Instincte 181

Kukuksei und Bienenzelle 18S

Cooperative Instincte 185

Instincte der Nahrungswahl, Feindesfurcht, Fortpflanzung und des

Witterungsvorgefühls 186

XI. Die Instincte der unterg:eordueteu Centralorg'anc des NerTcn-

systems 190

Selbstständige Functionen niederer Nervencemra 190

Die Retiexbcwegungen als Functionen von Hirn- und Ganglien- Prädispositionen 193

Nachweis teleologischer Irrthümer in Bezug auf Reflexbewegungen 196

f^influss der Ganglien auf vegetative Functionen 199

Die Naiurheilkraft als ererbte Ganglien-PräcUspositionen zu be- stimmten vegetativen Functionen 2<33

Die vegetativen Funciionen im Embryo bedingt durch ererbte Prk-

dispoßitionen der Zeugungsstoffe . . 205

Unvollkommenheit der «weckmJUaigen Mechauiimtn '^7

240

Seit«

Xn. Das Unbewnsste 211

Das Unbewnsste als Subject der teleologischen Eingriffe .... 211 Das relativ Unbewnsste (Bewnsstseiu niederer Ordnung) .... 215 Das physiologische Unbewnsste (Hirn- und Ganglien- Prädisposition) 216 Das metaphysische Unbewnsste (Subject der physischen und psy- chischen Atomfunctioneu) 218

Sind die Naturgesetze teleologisch oder blos logisch nothwendigV . 220 Kritik der Eigenschaften des Unbewussten nach Cap. C. I der

Philosophie des Unbewussten 226

Lebensgier und Kraftknauserei des Unbewussten 229

Allwissenheit und Allweisheit des Unbewussten 232

Druck r'm TJ. Sielin^ iu Nanrabnrjj.

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