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DENKMÄLER

GRIECHISCHER UND RÖMISCHER SKULPTUR

Im Auftrag des K. Bayer. Staatsmini steriums des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten

herausgegeben von

A.FURTWÄNGLER und H. L. URLICHS

HANDAUSGABE

Dritte stark vermehrte Aufläse Mit 60 Tafeln und 73 Textabbildungen

F. BRUCKMANNA.-O./MÜNCHEN

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übersetzungsrecht vorbehalten Copyright by F. Bruckmann A.-G. München 191 1

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Druck Tou F. Bruckmann A.-G., München

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Die hier gegebene bequeme Handausgabe der soeben beendeten, in großem Folioformate') publizierten Auswahl von „Denk- mälern griechischer und römischer Skulptur" erscheint auf den einstimmigen Wunsch einer sehr großen Anzahl von Leitern und Lehrern höherer Unterrichtsanstalten in Deutschland, Österreich- Ungarn und der Schweiz. Sie soll es ermöglichen, daß Lehrer und Schüler jeder einzeln für sich in der Schule wie zu Hause den ganzen Inhalt des großen Werkes bequem sich vergegenwärtigen können.

Die Texterklärungen sind von den Verfassern von neuem durchgesehen und verbessert, den fremdsprachlichen Zitaten Über- setzungen beigefügt worden. Vor allem aber sind die Texte nach kunsthistorischen wie sachlichen Gesichtspunkten geordnet und in zehn verschiedene Gruppen verteilt worden. Jeder dieser Gruppen wurde ein zusammenfassender neuer Text vorangestellt, der das zerstreute Einzelne unter gemeinsamen größeren Gesichtspunkten zu betrachten strebt. Es sollen diese Texte nicht den Ersatz einer Kunstgeschichte bieten, der Charakter des ganzen Werkes als einer Denkmälersammlung sollte durch sie nicht verändert werden ; allein das einzelne Monument soll durch sie die Stelle angewiesen er- halten, die ihm innerhalb der gesamten Entwicklung der antiken Kunst zukommt. Da die ausgewählten Denkmäler alle Hauptepochen vertreten, so gestalten sich diese Gruppentexte allerdings zugleich zu einem Überblick über die ganze antike Kunstentwicklung und über alle Hauptgattungen der alten Plastik.

Neuere Autoren zu zitieren ist grundsätzlich fast ganz ver- mieden worden; nur antike Schriftsteller sind an geeigneten Stellen herangezogen. Überall ist das Bedürfnis der Schule und das der weiteren Kreise der Gebildeten im Auge behalten.

') Denkmäler griechischer und römischer Skulptur, Auswahl für den Schulgebrauch aus der von Heinrich Brunn, Paul Arndt und Friedrich Bruckmann herausgegebenen Sammlung. Im Auftrage des K. Bayer. Staatsministeriums des Innern für Kirchen- und Schulangelegen- heiten veranstaltet und mit erläuternden Texten versehen von A, Furtwängler und H. L. Urlichs. München 1895—1898. 5 Lieferungen.

IV VORWORT

Auch der bildliche Teil des Werkes ist in dieser Handaus- gabe gegenüber der großen um einige Stücke vermehrt worden.

In die Arbeit haben sich die beiden Herausgeber nach ge- meinsam festgestelltem Plane zu gleichen Teilen geteilt. Die ein- zelnen Texte sind jeweils von ihren Verfassern besonders ge- zeichnet.

München, im Juni 1898. A. Furtwängler. H. L. Urlichs.

VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE

Das Ziel des in Illustrationen reich vermehrten, in Erläuterungen vielfach veränderten und erweiterten Buches bleibt das näm- liche wie früher: An vorsichtig und maßvoll ausgewählten Proben wird das Verständnis für die Antike in ihrer historischen Entwick- lung und ästhetischen Bedeutung durch Bild und Wort vermittelt. Die eigenartigen Texte Furtwänglers, dessen jähen, frühzeitigen Tod wir alle in immer gleich starkem Schmerze tieffühlend be- klagen, wurden in pietätvoller Gesinnung genau revidiert, aber nur möglichst wenig verändert, freilich an gar manchen Stellen wesentlich vervollständigt. Der Widerspruch von Fachgenossen gegenüber einzelnen subjektiven Meinungen des kühn genialen For- schers ist kurz hervorgehoben. Zur Ergänzung der auch von mir allein bearbeiteten Teile sind Furtwänglers andere Werke oft benützt worden, für die äginetischen Skulpturen waren seine Publikationen Hauptquelle; diese bleiben ein unvergängliches Denkmal von Energie und Umsicht, von Glück und Kombinationsgabe, für alle Zeiten ein stolzes Monument der hohen Bedeutung des großen Archäologen.

M ün che n, Ende April 1911. Heinrich Ludwig Urlichs.

Von A. Furtwängler sind in den beiden ersten Auflagen be- arbeitet: Die Einleitungen zu den Gruppen I IV, VI und die Texte zu den jetzigen Tafeln 1, 2, 5, 7—9, U^-IS, 18, 19, 21, 22, 26, 28, 35—40, 43—45, 48, 49 und 56.

INHALTSVERZEICHNIS

Seite

I. Gruppe: Die altertümliche Kunst .... l Tafel 1. Altertümlichejünglingsstatue von Tenea. München, Glyp- tothek "^

2. Altertümliche Mädchenstatue. Athen, Akropollsmuseum . 4

Textfigur 1. Mädchen von der Akropolis, ebenda .... 6

,, 2. Kopf von Figur /.....,...■■.•• 7 3/4. Giebelgruppen des Aphaiatempels von Ägina. München,

Glyptothek 8

Textfigur 3. Ostgiebel des Aphaiatempds von Agina in

Wiederherstellung .... 8

4. Kopf und Schulterten eines Knappen aus dem

Ostgiebel 13

5. Bogenschießender Herakles aus dem Ostgiebel 14

II. Gruppe: Götterbilder aus dem fünften Jahrhundert 16

Tafel 5. Athena Lemnia des Phidias. Marmorstatue. Dresden,

Albertinum

Textfigur 6. Athena Lemnia nach der Ergänzung im Münch- ner Gipsmuseum 19

718. Kopf der Athena Lemnia. Bologna, Stadt.

Museum 20, 21

6. Athena Parthenos. Marmorstatuette. Athen, Zentralmuseum 23 Textfigur 9. Gemme des Aspasios. Wien, Kaiserl. Antiken- sammlungen 24

7. Athena von Velletri. Kolossalstatue. Paris, Louvre ... 26 " Textfigur 10. Kopf der Athena von Velletri. Vorderansicht 27

11. n " Seitenansicht 27

8. Apoilon mit der Kithara. Kolossalstatue. München, Glyp

tothek

28

9. Statue der Hera. Rom, Vatikan 30

10. Statue des Asklepios. Neapel, Museo Nazionale 32

Textfigur 12. Asklepios von Melos. London, British Museum 34

11. Dioskur vom Monte Cavallo zu Rom 36

Textfigur 13 und 14. Die beiden Dioskuren vom Monte

Cavallo. Seitenansichten 38, 39

15. Kopf eines der Dioskuren 40

12. Nike" des Paionios in Olympia, ergänzt') 41

III. Gruppe: Andere Skulpturen des fünften Jahrhunderts 44

Tafel 13. Die Eleusinischen Gottheiten. Marmorrelief. Athen, Zentral- museum '*^

14, Orpheus und Eurydike. Marmorrelief. Neapel, Museo Na-

zionale

48

15. Medusa. Marmormaske. München, Glyptothek 51

16/17. Reliefs vom Parthenonfries. Athen und London . 52

Textfigur 16. Kopf des „Apollo" . " 53

17. Jünglingskopf vom Westfries 55

18. Oberkörper des Reiters mit bäumendem Pferd 57

•) Nach einer Photographie aus dem Verlage von Ernst Wasmuth in Berlin.

VI INHALTSVERZEICHNIS

Seite Tafel 18. Gruppe von drei weiblichen Statuen aus dem Ostgiebel

des Parthenon. London, British Museum 58

19, Liegende männliche Statue aus dem Ostgiebel des Par- thenon. London, British Museum . 61

20. Statue eines Mädchens von der Korenhalle des Erech-

theions zu Athen. London, British Museum 63

IV. Gruppe: Skulpturen aus dem vierten Jahrhundert:

Götterbilder, Jäger mit Hund 66

Tafel 21. Eirene mit dem Kinde Plutos. München, Glyptothek . . 68

22. Statue der Demeter von Knidos. London, British Museum 70 Textfigur 19. Kopf der Demeter von Knidos. Nach dem

ergänzten Abguß 71

23. Ruhender Ares. Rom, Thermenmuseum 72

Textfigur 20. Kopf des Ares Ludovisi 74

24. Kopf des Hermes aus der Gruppe des Hermes und

des Dionysosknäbleins. Marmorgruppe. Olympia ... 75

Textfigur 21. Statue des Hermes. Olympia 76

25. Marmorkopf der Aphrodite. Berlin, Sammlung von Kauf- mann. Vorder- und Seitenansicht 78

Textfigur 22. Mädchenkopf praxitelischer Zeit. München,

Glyptothek 79

26. Marmorbüste aus Eleusis. Athen, Zentralmuseum .... 80

27. Zeus von Otricoli. Rom, Vatikan . 82

Textfigur 23. Marmorkopf des Zeus., Boston, Museum of

Fine Arts . 83

24. 25. Zeus. Boston. Nach ergänztem Abguß.

Vorderansicht. Seitenansicht 84, 85

28. Der Apoll vom Belvedere. Rom, Vatikan 86

Textfigur 26. Kopf des Apolls vom Belvedere 88

29. Artemis von Versailles. Paris, Louvre 89

30. Melpomene. Marmorstatue. Rom, Vatikan 91

31. Hypnos. Bronzekopf. London, British Museum 94

Textfigur 27. Hypnos, Marmorstatue. Madrid, MuseodelPrado 96

28. Hypnos. Abguß in Ergänzung. Straßburg . 97 32. Jäger mit Hund. ') Marmorstatue. Kopenhagen, Glyptothek

Ny-Carlsberg . 98

Textfigur 29. Kopf eines Jägers. Marmor. Rom, Villa Medici 99

V. Gruppe: Griechische Athletenstatuen lOi

Tafel 33. Diskobol nach der Bronzestatue des Myron in Ergänzung.

Rom, Thermenmuseum 105

Textfigur 30,31. Bronzekopf. München, Glyptothek. Seiten- ansicht. Vorderansicht ....-■■. 102, 103

32. Kopf vom Diskobol des Myron 104

33. Diadumenos nach Polyklet. Marmorstatue

aus Delos. Athen, Zentralmuseum .... 105 34. Bronzestatue eines Faustkämpfers. Rom, Thermenmuseum 106

') Nach einer Photographie von V. Tryde, Kopenhagen.

INHALTSVERZEICHNIS VII

Seite

Tafel 34. Apoxyomenos. Marmorstatue nach Lysipp. Rom, Vatikan 107

Textfigur 35. Kopf des Apoxyomenos 109

VI. Gruppe: Grabmalen in

Tafel 35 36. Zwei Grabreliefs in Athen 113

Textfigur 36 Trauernde Dienerin, Berlin, K. Museen . . 115 37/39. Der sogenannte Alexandersarkophag von Sidon. Kon- stantinopel, Kaiserlich Ottomanisches Museum 116

Textfigur 37. Perserkopf 117

38139. Kopf Alexanders d. Gr. ...... 1 18, 119

40. Perserkopf 121

41. Kampfgruppe von der Vorderseite des Ale- xandersarkophags ... 122

42. Perserkopf 123

43. Makedonenkopf 124

VII. Gruppe: Statuarische Gruppen 129

Tafel 40. Niobe. Marmorgruppe. Florenz, Offizien 131

Textfigur 44. Kopf der Niobe 133

41. Rettung der Leiche des Patroklos durch Menelaos. Mar- morgruppe in der Loggia dei Lanzi, Florenz 134

42. Laokoongruppe. Rom, Vatikan 137

Textfigur45. Laokoongruppe. Ergänzung. Dresden, Albertinum 138

Textfigur 46. Kopf des Laokoon 141

43. Odysseus. Kopf der Marmorstatue. Venedig, Dogenpalast.

Vorder- und Seitenansicht 142

Textfigur 47. Marmorstatue des Odysseus 143

44. Orestes und Elektra. Marmorgruppe des Künstlers Mene- laos. Rom, Thermenmuseum 146

VIII. Hellenistische Kunst 150

Textfigur 48. Nike von Samothrake. Paris, Louvre ... 151 49. Marmorkopfeines Barbaren. Brüssel, Musee

Royal 152

50, Marmorrelief mit ländlicher Szene. München,

Glyptothek 153

,, 51. Bronzekopf eines jugendlichen Satyrs. Mün- chen, Glyptothek 154

Tafel 45. Der Nil. Kolossale Marmorstatue. Rom, Vatikan . . . 155 46. Sterbender Gallier. Marmorstatue. Rom, Kapitolinisches

Museum 157

Textfigur 52. Kopf des sterbenden Galliers ....... 158

53. Kopf des Galaters aus der Marmorgruppe ,, Der

Galater und sein Weib", Rom, Thermenmuseum 159

IX. Gruppe: Historische Kunst der Römer i6i

Textfigur 54, Marmorrelief vom Trajansbogen in Benevent.

Darbringung eines Opfers durch den Kaiser 162 55. Marmorrelief von der Trajanssäule in Rom. Sturm einer dakischen Abteilung gegen eine

römische Festung 163

VIII INHALTSVERZEICHNIS

Seite

Textfigur 56. Sauopfer, den Penaten dargebracht. Relief

von der Ära Pacis. Rom, Thermenmuseum 164

Tafel 47. Statue einer trauernden Barbarin. Florenz, Loggia dei Lanzi 166

48/49. Reliefs der Marcussäule zu Rom, Piazza Colonna . . 168

X. Gruppe: Griechische und römische Porträts 172

Textfigur 57. Altrömer. Marmorkopf. München, Glyptothek 172 58. Plato. Hermenbüste. Rom, Vatikan . . . 173 59. Hellenistischer Feldherr oder Fürst. Kopf der

Bronzestatue. Rom, Thermenmuseum ... 174 60. Hellenistischer Fürst, Antiochus HI. von

Syrien genannt. Marmorkopf. Paris, Louvre 175 61. Büste aus grünem Basalt, Cäsar benannt.

Berlin, K. Museen 176

62. Terrakottakopf eines Altrömers. Boston, Mu- seum of Fine Arts 177

63. Marmorkopf der jüngeren Agrippina. Kopen- hagen, Glyptothek Ny-Carlsberg 178

64. Antoninus Pius. Marmorbüste. Neapel, Museo

Nazionale 179

65. Marmorbüste des Caracalla. Berlin, K. Museen 180 66. Bronzekopf des Kaisers Maximinus Thrax.

München, Antiquarium 181

67. Marmorkopf einer Römerin. Kopenhagen,

Glyptothek Ny-Carlsberg 182

Tafel 50. Perikles. Hermenbüste. London, British Museum . . . 183

51. Sophokles. Marmofstatue. Rom, Lateran 185

Textfigur 68. Kopf der Marmorstatue des Sophokles . . . 187

Tafel 52. Euripides. Hermenbüste. Neapel, Museo Nazionale . . 188

53. Sokrates. Hermenbüste. Rom, Villa Albani ...... 190

Textfigur 69. Marmorbüste des Sokrates. Neapel, Museo

Nazionale 192

54. Kopf der Marmorstatue Alexanders des Großen. München,

Glyptothek 194

Textfigur 70. Marmorstatue Alexanders des Großen . . . 195

55. Demosthenes. Marmorstatue. Rom, Vatikan 197

Textfigur 71. Demosthenes. Marmorkopf. Kopenhagen,

Glyptothek Ny-Carlsberg . 198

56. Homer. Marmorherme. Schwerin, Großh. Bibliothek . 199 Textfigur 72. Kopf des Homer. Marmor. Rom, Vatikan 201 ,, vS7. Zwei römische Porträts: Büste des Agrippa in Paris, Louvre, und Bronzekopfeines Unbekannten in Rom, Konservatoren- palast 202

58. Augustus. Bemalte Marmorstatue. Rom, Vatikan .... 205 Textfigur 73. Reliefs vom Panzer der Augustusstatue . . 2Ü7 59. Marmorstatue einer Frau aus Herkulaneum. Dresden,

Albertinum 209

60. Römischer Bürger, mit der Toga bekleidet. Marmorstatue.

London, British Museum . 212

I. DIE ALTERTÜMLICHE KUNST

L)ie Kunst hat in Griechenland schon im zweiten Jahr- tausend V. Chr. sich zu hoher Blüte entfaltet. Es war dies die Periode der sogenannten mykenischen Kultur mit ihren glänzenden Palästen, den bunten, von Goldschmuck bedeckten Gewändern, prachtvollen Waffen, reich in Relief und Malerei geschmückten Geräten und Gefäßen. Die Erinnerung an diese Epoche lebte im Heldengesange der Griechen fort.

Allein wie kunstreich und schmuckvoll man in jener Heroen- zeit die Umgebung zu gestalten wußte, die große monumentale Skulptur befand sich noch in ihren Anfängen. Und auch diese verkümmerten, als die dorische Wanderung zunächst einen all- gemeinen Rückgang der Kultur zur Folge hatte.

Erst langsam und allmählich begann im Laufe des siebenten Jahrhunderts v. Chr. sich eine monumentale Plastik in Griechen- land zu entwickeln. Es geschah dies indes nicht ganz aus eigener Kraft, sondern mit Anregung aus der Fremde, nach auswärtigen Vorbildern. Die Verbindungen der lonier mit dem kleinasiatischen Hinterlande und namentlich die Kenntnis Ägyptens wirkten be- fruchtend. Für die ruhig stehende Einzelfigur entlehnte man das Schema einfach aus der ägyptischen Kunst, und auch in der ein- zelnen Formgebung hatte diese anfangs großen Einfluß. Doch rasch bahnte sich der griechische Geist seine eigenen Wege; er brachte individuelles Leben zum Ausdruck und überwand das ab- strakte, tote Schema.

Ein vorzügliches Werk, an dem man die übernommenen Grund- Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 1

2 DIE ALTERTÜMLICHE KUNST

züge des ägyptischen Vorbildes ebenso wie die Eigenart des leben- digen griechischen Geistes erkennt, ist die Statue Tafel 1.

Sie ist schon in dem schönen Marmor der Insel Faros ge- arbeitet, der für monumentale Skulpturen erst gegen Ende des siebenten Jahrhunderts benutzt zu werden begann. Die älteren griechischen Skulpturen bestanden in der Regel aus Holz oder geringeren Kalksteinarten, die man im Altertum gewöhnlich „Porös" nannte. Die Marmorskulptur entwickelte sich zuerst auf den marmorreichen Inseln Naxos und Faros. Erstere Insel ging voran, allein ihr Material ist das gröbere, und der unendlich schönere parische Marmor ward mit der Zeit natürlich bevor- zugt und verdrängte jenen. Er gewann große Verbreitung; auch in Attika sind fast alle altertümlichen Skulpturen, die nicht aus heimischem Kalkstein gefertigt sind, aus jenem parischen Marmor gearbeitet. Der schöne Marmor des Fentelikon bei Athen ward erst seit dem fünften Jahrhundert für die Skulptur ausgebeutet.

Neben der monumentalen Steinplastik entwickelte sich der Bronzeguß größerer Statuen. Samische Künstler scheinen den Hohlguß in Ägypten gelernt und nach Griechenland übertragen zu haben. Doch erst gegen Ende des sechsten Jahrhunderts kommt der monumentale Bronzeguß zu voller Entwicklung und wird von nun an die vornehmste Technik für die Einzelfiguren.

Die altertümliche monumentale Flastik hat menschliche Figuren als Denkmäler für die Gräber sowohl wie als Weihgeschenke für die Heiligtümer gearbeitet; sie hat aber auch Götter und Heroen gebildet, sei es als Tempelbilder, sei es als Votivgaben in den Heiligtümern. Und auch Tierfiguren wurden nicht selten als Weih- geschenke sowie für Grabmäler gearbeitet. Eine Grabstatue ist Tafel 1, ein Weihgeschenk aus einem Heiligtum Tafel 2 sowie Figur L

Die dekorative Flastik hatte die schönsten Aufgaben an den Tempeln zu erfüllen, die seit dem Ende des siebenten Jahr- hunderts aus gewaltigen Steinblöcken errichtet zu werden pflegten, während man sich in älterer Zeit mit Holz- und Lehmwänden be- gnügt hatte. Sowohl die Metopen als die Giebel der Tempel und zuweilen die Friese wurden nun mit Steinskulpturen bedeckt. Aus parischem Marmor bestehen die Giebelfiguren des Aphaiatempels von Ägina (Tafel 3/4 und Fig. 4 u. 5),der köstlichste Schatz des reifen Archaismus, gleich ausgezeichnet durch sorgfältige Wiedergabe der Natur und rhythmische Bewegung in den Einzelgestalten und Gruppen sowie durch das frische Leben der ganzen Komposition.

ALTERTUMLICHE JÜNGLINGSSTATUE VON TENEA

MÜNCHEN, GLYPTOTHEK

JÜNGLINGSSTATUE VON TENEA

TAFEL 1

ALTERTÜMLICHE JÜNGLINGSSTATUE VON TENEA

MÜNCHEN, GLYPTOTHEK.

Die etwa r'2 Meter hohe Statue wurde 184C in der Nähe von Korinth an der Stelle des alten Tenea gefunden und 1853 für die Glyptothek erworben.

Sie besteht aus großkörnigem, parischem Marmor. Bei der Auffindung waren die Arme und Beine in mehrere Stücke ge- brochen; nur der mittlere Teil des rechten Armes fehlte und ist daher ergänzt worden. Im übrigen ist die Figur vorzüglich erhalten; namentlich ist auch der Kopf, der durch ein übergestülptes Ton- gefäß geschützt gefunden wurde, glücklicherweise ganz unversehrt.

Dargestellt ist ein unbekleideter Jüngling in steifer, straffer Haltung. Das Gewicht des Körpers ruht auf beiden Füßen; der linke ist etwas vorgesetzt; beide berühren den Boden mit voller Sohle. Die Arme hängen völlig symmetrisch an beiden Seiten gerade herab, und beide Hände sind in gleicher Weise gekrümmt, so daß der Daumen nach vorn zu stehen kommt. Die Haare sind lang und fallen in breiter Masse auf den Rücken herab. Sie sind nur in einfachen Wellen gegliedert. Sie waren ohne Zweifel eben- so wie Augäpfel und Lippen einst bemalt. Ein schmückendes Band, das ursprünglich auch farbig war, umgibt den Kopf.

Die Statue wird gewöhnlich als „Apoll von Tenea" bezeich- net. Es ist richtig, daß der vorliegende Typus einer jugendlichen männlichen Figur von der altgriechischen Kunst für den Gott Apollon verwendet worden ist. Allein er ist ebensowohl auch zur Dar- stellung von Heroen und Menschen benutzt worden. In unserem Falle sprechen nun die Umstände der Auffindung entschieden da- für, daß die Statue einen Verstorbenen darstellte. Sie ward nämlich in der Nekropole von Tenea auf einem Grabe gefunden. Der Ver- storbene ist aber nicht in der Tracht des Lebens, sondern in idealer, unbekleideter Gestalt wie ein höheres Wesen, ein Heros dargestellt.

Alle wesentlichen Züge des Schemas, welches die Statue zeigt, sind mit Ausnahme der völligen Nacktheit von der ägyp- tischen Kunst entlehnt; die damaligen Erstversuche monumentaler Statuen bei den Griechen benützten ägyptische Vorbilder. Die Durchbildung im einzelnen jedoch ist rein griechisch und von der

4 DIE ALTERTUMLICHE KUNST

bei den Ägyptern üblichen Art sehr verschieden. Der Jüngling ist nicht bloß steif hingestellt wie die gleichartigen Figuren bei den Ägyp- tern, sondern steht, voll von eigenster innerer Energie, mit stramm durchgedrückten Knien da, und aus dem Kopfe leuchtet schon, im Gegensatze zu dem stumpfen Ausdruck bei den Ägyptern, ein Strahl jenes freien lebendigen Menschentums, das sich in Griechen- land so herrlich entwickeln sollte. Das steife Lächeln an diesem Jüngling von Tenea ist der erste Vorbote einer künftigen Fülle individuellen geistigen Ausdrucks in der griechischen Kunst.

In der Bildung des Körpers sind die Beine der am meisten gelungene Teil. Die feinen Gelenke, die Knöchel und Knie, die zierlichen Füße, die straffen, fleischigen, von den knochigen Teilen deutlich geschiedenen Muskeln sind schon überraschend richtig ge- geben. Viel unvollkommener sind Brust und Bauch gebildet; doch zeigt sich auch hier, dem ägyptischen Vorbild gegenüber, ein durchaus selbständiges Streben und eigenes Beobachten der Natur. So ist der Brustkorb wesentlich richtiger gegeben als im ägyptischen Typus und an einigen ihm genauer folgenden älteren griechischen Werken.

Das Ideal, welches dem Künstler vorschwebte, ist das eines straffen, athletisch gebildeten Jünglings mit kräftiger Brust und feinen gelenkigen Gliedern, frei von allem Weichlichen und Vollen.

Das Werk ist etwa gegen Ende des siebenten oder um den Anfang des sechsten Jahrhunderts v. Chr. entstanden und aller Wahrscheinlichkeit nach ein vorzügliches Erzeugnis der zu jener Zeit in der Gegend von Tenea (in Kleonä, Argos, Korinth, Sikyon) tätigen Künstler Dipoinos und Skyllis oder ihrer Schule. Es ist bei weitem das schönste erhaltene Exemplar einer in neuerer Zeit nicht mehr seltenen Gattung von altertümlichen Steinskulpturen, die am Anfang der Entwicklung monumentaler Plastik in Griechen- land stehen.

TAFEL 2 ALTERTÜMLICHE MÄDCHENSTATUE

ATHEN, AKROPOLISMUSEUM.

Auf der Akropolis zu Athen wurde in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts innerhalb des sogenannten Perser- schuttes, d. h. des durch die Einäscherung der Burg um 480 v, Chr.

ALTERTÜMLICHE MADCHENSTATUE

ATHEN, AKROPOLISMUSEUM

ALTERTUMLICHE MADCHENSTATUE 5

entstandenen Schuttes eine ganze Anzahl ahertümlicher Mädchen- statuen gefunden, die in feinem parischen Marmor gearbeitet sind und zum Teil noch ihren ursprünglichen Farbenschmuck erhalten haben.

Eines der vorzüglichsten Stücke dieses Fundes gibt die Tafel 2 wieder. Die Statue wurde 1886 in drei getrennten Teilen nord- westlich vom Erechtheion gefunden. Sie ist ein weniges unter Lebensgröße.

Das Mädchen steht nach ganz altertümlicher Weise mit ge- schlossenen Beinen da. Der rechte Arm hängt mit geschlossener Faust in derselben ägyptischem Vorbilde folgenden Weise herab, wie bei der vorigen Figur des Jünglings Tafel 1. Der linke Unterarm war horizontal vorgestreckt und besonders angesetzt; er ist nicht gefunden worden. Die Gewandung besteht aus einem ionischen linnenen Unterchiton, der nur unten in welligen Linien zum Vorschein kommt. Darüber ist der dorische wollene Peplos gezogen, der auf beiden Schultern zusammengesteckt ist. Er wird von einem Gürtel umschlossen, dessen beide Enden vorne herab- fallen ; vorne und hinten zeigt der Peplos einen bis gegen den Gürtel reichenden Überfall. Nur an den Oberarmen und an den beiden Nebenseiten vom Gürtel abwärts ist der Peplos in spär- liche, knappe Falten gelegt; die große Masse des Gewandes ist völlig faltenlos gebildet.

Diese Faltenlosigkeit des Gewandes, ebenso wie die Stellung mit geschlossenen Beinen, gehört der Typik der älterarchaischen Kunst an. Dagegen überrascht der Kopf durch die außerordent- liche Lebendigkeit des Ausdrucks und die Feinheit der Aus- führung. Die Statue ist wesentlich jünger als der Jüngling Tafel 1; die Gesichtsformen und die Bildung der Haare sind von bedeutend entwickelterer Art. Der Künstler hätte, wenn er gewollt hätte, ebenso wie andere seiner Zeitgenossen reiche Falten und eine be- wegtere Stellung bilden können; er folgte in Gewand und Stellung absichtlich einer gewissen älteren Tradition. Die Wirkung, die er erzielte, ist in der Tat eine mächtige; der Kontrast, welchen die starre Haltung und die glatte Fläche des Körpers mit dem leben- sprühenden Kopfe bilden, wirkt überaus fesselnd und macht diese Figur zu der anziehendsten unter allen ihren Genossinnen auf der Akropolls.

Das Haar fällt ganz offen und lose auf die Schultern und weit im Rücken herab; es entbehrt jeder künstlichen Anordnung. Ein schlichtes, gerades Band liegt darin. Wohl erhalten ist die rote Färbung des Haares; auch die Iris der Augen ist rot. Am Gewände sind feine Ornamente mit roter und grüner Farbe auf-

DIE ALTERTÜMLICHE KUNST

Fig. 1. Mädchen von der Akropolis

gemalt; vom Gürtel abwärts laufen drei breite Ornamentstreifen ; der Saum unten ebenso wie der Saum des Überfalles zeigen sehr zierliches Ornament. Die Masse des Ge- wandes aber ist ebenso wie alles Fleisch einfach weiß gelassen.

Als Probe einer aus derselben Zeit, aber aus einer ganz verschie- denen Stilrichtung stammenden Figur desselben Fundes von der Akropolis geben wir eine zweite Statue (Fig. 1), die bisher nur im Oberteil zusam- mengesetzt war und erst jüngst durch glückliche Angliederung anderer erhaltener Stücke vervollständigt wurde. Nun erscheint die Figur, die das linke Bein vorsetzt und das in reiche Falten gebrochene Gewand mit der Linken emporzog, in Be- wegung und Kleidung erst recht von dem Typus unserer Tafel völlig verschieden. Schlank, elegant, wie verjüngt steht sie da, freilich ist die Stellung der Füße noch unbe- holfen, sie will in schwachem Ver- such das Gehmotiv zum Ausdruck bringen. Die stark und mannigfach geschwungenen Faltenzüge des eng- anliegenden Gewandes sind eingra- viert und lassen die Formen der Beine deutlich durchblicken. Ur- sprüngliche Bemalung hat die jetzt leer erscheinende Fläche belebt. Die vorgehaltene Rechte hielt höchst wahrscheinlich eine Frucht. Das reichgeschmückte Mädchen trägt über dem ionischen Chiton ein schräg über die Brust gelegtes, auf der rechten Schulter zusam- mengeknüpftes Obergewand mit reich gefälteltem Überfall. Den Kopf (Fig. 2) mit den zierlich ge-

ALTERTÜMLICHE MADCHENSTATUE

lockten Haaren schmückt ein Diadem '). Der Ausdruck des Gesichtes mit den vollen, sinn- lichen Lippen ist besonders freundlich. Die Säume des Ge- wandes sind wie bei der Statue auf Tafel 2 mit farbigem Orna- mente geziert.

Die eigentliche Heimat der Kunstrichtung dieser Figur ist ohne Zweifel lonien, und zwar Kleinasien und besonders die Insel Chics, während der Stil jener anderen Statue (Tafel 2) mehr auf einzelnen Inseln, wie Naxos, sowie im Peloponnes erwachsen sein wird.

Beide Statuen sind kaum vor dem letzten Viertel des sechsten Jahrhunderts entstanden zudenken. Einen anderen Namen als „Mädchen", xöpcti, können wir ihnen nicht geben; es sind

nicht Göttinnen, sondern nur der Göttin Athena geweihte Mädchen- bilder. Sie gehören zu dem Köstlichsten, das uns die archaische Kunst hinterlassen hat.

Fig. 2. Kopf von Fig. 1

') Oben im Scheitel steckt ein langer, spitzer Metalinagel zur Abwehr der Vögel von der im Freien aufgestellten Figur. Vgl. auch Horaz Satiren 1, 8,3 7.

DIE ALTERTÜMLICHE KUNST

Fig. 3. Ostgiebel des Aphaiatempels von Ägina in Wiederherstellung

TAFEL 3/4

GIEBELGRUPPEN

DES APHAIATEMPELS VON ÄGINA

MÜNCHEN, GLYPTOTHEK.

Durch gnädige Fügung des Geschicks sind die unter dem Namen „Ägineten" weltberühmten Skulpturen verhältnismäßig gut erhalten geblieben: auf der Athen gegenüberliegenden Insel Ägina erhebt sich ein Tempel, fern von größeren Siedelungen in stiller Einsamkeit auf waldiger Höhe gelegen. Gerade vor 100 Jahren haben zwei Architekten, der Engländer Cockerell und der Nürn- berger Haller von Hallerstein, die von edler Begeisterung für die Antike und von jugendlich romantischen Gefühlen beseelt waren, aus den unberührten Trümmern des Tempels die aus feinem parischen Marmor hergestellten Statuen herausgeholt, unter dem huldvollen Schutz von Athena Ergane. Die Erwerbung bei bedenklich drohender,

OSTGIEBEL DES APHAIATEMP

WESTGIEBEL DES APHAIATEMI

GEFALLENER AUS DER RECHTEN ECKE DES WESTGIEBELS

MÜNCHEN. GLYPTOTHEK

F. ERUCKMANN

TAFEL 3/4

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■.LS VON ÄGINA IN ERGÄNZUNG

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ELS VON AGINA IN ERGÄNZUNG

GEFALLENER AUS DER LINKEN ECKE DES OSTGIEBELS

MÜNCHEN. GLYPTOTHEK

DIE GIEBELGRUPPEN VON ÄGINA 9

drängender Konkurrenz, der Transport von Malta aus durch Meeres- stürme und Seeräubergefahren hindurch bis zur Landung bei Neapel, der Landweg von da nach Rom, das liest sich wie eine moderne Odyssee. Die Bergung ist das Werk des Bildhauers Martin von Wagner, des tatkräftigen und zähen Agenten von Kronprinz Lud- wig von Bayern '). Jene beiden Entdecker, die in engem Freund- schaftsbunde edle Ziele gemeinsam ins Auge faßten, bleiben dem Nachwuchs für immer ein leuchtendes Vorbild idealen Strebens und ein stets gleich stark wirkender Sporn zur Nachahmung. Vor allem gebührt die Ehre dem kunstsinnigen Fürsten, der gleich nach der Auffindung den hohen Wert der Ägineten erkannt und deren Kauf veranlaßt hat. Denn sie bildeten seit der 1828 in der Münchner Glyptothek erfolgten Aufstellung bis zum heutigen Tag ein sehr wichtiges Muster reifarchaischer Kunst und vermittelten zwei Generationen die allerdings oft nur äußerliche Kenntnis jenes Stils; das „äginetische Lächeln", das ist der liebevolle Ausdruck der Gefühle, gewann unter den Laien infolge Verkennung der Absicht oft fast komische Bedeutung. Erst 90 Jahre nach der Auffindung wurde der Tempelbezirk unter Furtwänglers energischer und um- sichtiger Leitung methodisch durchforscht; auf Grund neuer Funde und erneuter Durcharbeitung des alten Materials ist die unserer Darlegung zugrunde gelegte Rekonstruktion bewerkstelligt worden. Die Modelle -) von ein Fünftel natürlicher Größe erregen in der Glyptothek auch durch die Wiederherstellung der reichen Bemalung lebhaftes Interesse weiter Kreise. Neben der harmonischen Ge- schlossenheit und dem rhythmischen Wechsel beider Giebelkompo- sitionen sehen die Originale, auseinandergerissene und lückenhafte Teile des Ganzen, gar öde und langweilig aus. Deren Ergänzung wurde in Rom unter Thorwaldsens Leitung nach damaliger Sitte ohne pietätvolle Schonung des Erhaltenen in Marmor ausgeführt. Auch der Name des Tempels ward durch die bayerischen Gra-

M Er drückt nach dem 1813 glücklich erreichten Kauf des kost- baren Schatzes den freudig gestimmten Dank brieflich aus in den charak- teristischen Worten: „Wie Odysseus, viel geduldet haben Sie, Wagner, und das wegen meiner, dessen ich mein ganzes Leben eingedenk seyn werde". Das gleichzeitige Geschenk, eine goldene Uhr, zeigt auf der Rück- seite ein „L" mit der Umschrift des leicht geänderten Verses von Vergil Aeneis I, 204: Post varios casus, post tot discrimina rerum. („Nach mannigfachen Wechselfällen, nach so vielen Gefahren".)

-) Figur 3 bietet die Ostfront in Ergänzung dar: Sechs Säulen, als Akroterien in der Mitte die feingeformte Palmette mit zwei Mädchenge- staltcn, an den Ecken je ein Greif. Die Metopen, von denen man keine Spur gefunden hat, bestanden vielleicht nur aus bemalten Holzplatten. Das Ganze ist eine treffliche Probe der streng regelmäßigen dorischen Bau- art in ernstem, gedrungenem Stil.

10 DIE ALTERTUMLICHE KUNST

bungen festgestellt; das Heiligtum, früher fälschlich dem Zeus Pan- hellenios, später scheinbar mit etwas mehr Berechtigung der Athena zugesprochen, ist jetzt durch einen Inschriftfund als Tempel der Aphaia erwiesen. Der Kult der auf dem Eiland hochverehrten Lokalgöttin war in der Frühzeit Griechenlands, schon im zweiten vorchristlichen Jahrtausend von kretischen Siedlern aus der Heimat dort eingeführt worden; der nunmehr auf Ägina heimischen Aphaia ward zwischen 490 480 v. Chr. ein neues Haus gebaut. Auf diese Zeit führt der Stil von Architektur und Plastik; bestimmtere Datie- rung war bisher nicht möglich.

Wir wenden uns nun der Betrachtung der Skulpturen zu und beginnen mit der Komposition. Gleich der erste, leicht gewon- nene Eindruck lehrt, daß die Statuen vortrefflich in dem von der Mitte nach den Seiten schräg abfallenden Räume dastehen, in archi- tektonischer Regelmäßigkeit den Giebeln sich eingliedern, doch keine starren Gebilde darstellen, vielmehr die Vorstellung frischen Lebens wecken. Dadurch ist die schwierige Aufgabe der Aus- füllung des enggeschlossenen Rahmens gelöst. Doch auch inner- halb der Giebelfronten haben die Künstler für reichen Wechsel in Inhalt und Gruppierung, in Waffen und Kleidung gesorgt. Ins- besondere vermeidet der deutlich erkennbare Kontrast der zwei Szenen im allgemeinen die allzu leicht mögliche Eintönigkeit. Beide- male weilt die Kriegsgöttin unter ihren Helden, einmal in ruhiger Situation, nur durch die Fußstellung als gehend gedacht, das zweite- mal stürmt sie, die Agis weit ausbreitend, dahin. Sie bildet in der Mitte den festen Punkt und wahrt dadurch strenge Symmetrie des Ganzen. Am Westgiebel schließt sich je ein trefflich kompo- nierter Dreiverein von Kämpfern an ; nach altüberliefertem Schema streiten zwei Helden über einem Unterlegenen. Darauf folgen je zwei Angreifer, gegen einen Verwundeten gerichtet. Gerade in diesen Daliegenden, sowie in dem Schild und Helm an den Ecken scheint das allmähliche Austoben der lauten Schlacht zu größerer Ruhe symbolisch angedeutet und zugleich die vom architektonischen Standpunkt aus schwierige Ausfüllung jener Teile gelungen.

Zwar ebenfalls regelmäßig, doch weit mannigfaltiger und geist- reicher präsentiert sich die Ostfront: mehr Lösung statt Verknüp- fung, viel bunter Wechsel der Bewegung, fast ein elastisches Hoch- und Niederfluten der Glieder, den Meereswogen vergleichbar. Die Gruppen zu beiden Seiten der Göttin sind aus vier Figuren zu- sammengestellt: einem Niedersinkenden wird vom Sieger der Todes- stoß versetzt, ein Knappe eilt zu Hilfe, ein Bogenschütze zielt auf den siegesgewissen Gegner: edle Heldentreue in schlichter Form. Und wiederum klingt das hitzige Gefecht sanft aus: zwei

DIE GIEBELGRUPPEN VON ÄGINA 11

Schwerverwundete hauchen fern vom Getümmel ihr Leben aus, Waffen beschließen das Ganze.

Gerade in dieser ebenso einfachen wie sinnreichen Raumaus- füllung, dem glücklichen Ergebnis reiflicher Überlegung, besteht das erste hohe Verdienst der Künstler. Im einzelnen ist jeder Teil besonderer Würdigung wert. Die Hauptgruppen für sich ge- nommen erscheinen als wohl gelungene Bildungen. Und weiter, der Gegensatz von Aktion und Ruhe, der Kontrast von Nacktheit und Bekleidung, die Verschiedenheit von Wehr und Waffen, alles erregt Aufmerksamkeit und Interesse. Liegende, Kniende, nach rückwärts Sinkende, vorwärts Stürmende, Beispringende zu be- trachten bietet immer neue Reize; jeder in seiner Art ist in Stel- lung und Bewegung eine achtenswerte Leistung, am kühnsten er- scheint das Wagnis der großartig gelungenen Wiedergabe der zu- rücksinkenden Helden in voller Rundplastik. Und überblickt man wieder das Ganze, so glaubt man sich versetzt in den männermor- denden Kampf um Troja und in manchen Betrachters Phantasie gewinnen einzelne Episoden, einzelne Verse der Ilias plastische Verkörperung, noch lebensvoller, wenn man vor den bunt bemalten ') Modellen steht. Aber nicht etwa bestimmte Szenen werden illu- striert, vielmehr ist das lange, abwechslungsreiche Ringen um die starke Feste in zwei Darstellungen gewissermaßen typisch wieder- gegeben. Und diese umfassende Vorstellung wird durch geringe Mittel erzielt, durch elf bzw. dreizehn Gestalten. Um Troja spielen sich die Vorgänge ab. Das durfte man wohl gemäß dem kriege- rischen Inhalt von vornherein für wahrscheinlich erachten, erwiesen wird es durch die vorletzte Figur rechts vom Ostgiebel (auch ab- gebildet Fig. 5): Herakles ist kenntlich an dem vorne am Helm sichtbaren Löwenoberkopf, der einen Teil dieser Bedeckung des Hauptes bildet; er zog im Bunde mit den Agineten, mit dem Äakiden Telamon gegen den Troerfürsten Laomedon. Nun kann sich der rückwärtige Giebel nur auf die spätere berühmtere Expedition be- ziehen, woran wieder Heroen der Insel, vor allem der Telamonier Aias, hervorragenden Anteil nahmen. Diese doppelte Ruhmestat wird von Pindar^) in lauten Tönen gepriesen und die Skulpturen haben somit in der fast gleichzeitigen Literatur eine Parallele zum Zeugnis für die Popularität der Sagen. Die Darstellungen waren so recht geeignet, die Erinnerung an die tapferen Ahnen beim starken, tatenlustigen Seevolk wachzuhalten. Nähere Deutung, be-

') Reste der ehemaligen Bemalung sind am Marmor noch vorhanden; sie waren reichlicher bemerkbar bald nach der AutHndung der Skulpturen.

2) Nemeische Siegesgesänge 111, 36 ff., IV, 24 tf. ; isthmische V, 35 ff., VI, 27 ff.

12 DIE ALTERTUMLICHE KUNST

stimmte Benennung einzelner Figuren, genaue Illustration des Epos lag gewiß weder im staatlichen Auftrag noch im Sinne der aus- führenden Bildhauer, Jedem Betrachter, jedem Bewohner des Eilands kamen ungezwungen die Kämpfe um Ilion, der Vorfahren glor- reiche Talen ins Gedächtnis. Und mehr wollte damals die Kunst nicht zum Ausdruck bringen, nicht erreichen.

Mit eingehender Betrachtung einzelner Gestalten erzielen wir eine Würdigung des Stils. Unterlebensgroß sind die Skulpturen mit kurzem Oberkörper und langen Beinen, im Westgiebel die Um- risse knapp und präzis, fast etwas hart im Gegensatz zu der volleren, reicheren Formgebung des Ostgiebels; hier schauen auch die geistig durchdrungenen Physiognomien ausdrucksvoller drein als dort: Übergangsstil, Mischung von Älterem und Vollendeterem, ehrliches Ringen nach ganzer Vollendung. Die Marmortechnik wird kühn souverän geübt, mit der Bronzetechnik wetteifernd : ohne Stütze sind sogar weit vorgestellte oder vorgestreckte Glieder gearbeitet. Von reliefartiger Behandlung ist kaum mehr eine Spur bemerkbar. In voller Körperlichkeit sind die Figuren vor die Giebelwand frei hingestellt, überwiegend in Profil, indes mehrfach durch leichte Wendung, Drehung en face sich nähernd, im einzelnen in Haltung wohl noch unbeholfen : Athena-West setzt die Füße zur Seite, der Körper ist nach vorne gerichtet. Genaue Naturbeobachtung, liebe- volle Ausarbeitung, getreue Wiedergabe des Nackten zeichnen diese Werke des reifen Archaismus besonders aus, die üppig quellende, oft noch naiv zur Geltung kommende Frische der Gesichter zu studieren wird man nicht müde, es sind die vollen Knospen, aus denen die Blüte der hohen Kunst zu schöner Entfaltung sich ent- wickelt. Die helle Schaffensfreudigkeit, von der die Meister beseelt waren, teilt sich unwillkürlich dem Betrachter mit, besonders vor dem Marmor in der Glyptothek; dorthin wird von den Repro- duktionen weg immer wieder gerne jeder eilen, dem der Zauber altertümlicher Plastik sich offenbart hat, dort kommt auch der gewaltige Unterschied von Original und Kopie durch den bequemen Vergleich mit anderen Skulpturen des Museums erst recht zum Bewußtsein. Die Ägineten einer bestimmten Schule, bestimmten Künstlern zuzuweisen, ist in Ermanglung schriftlicher Überlieferung unmöglich, jedenfalls war nur durch lange Handhabung jene Sicher- heit in der Marmortechnik und jener ausgezeichnete Naturalismus erreichbar, gewiß beeinflußt von den östlichen Inseln, von lonien, vom benachbarten Athen, vielleicht auch durch einheimische Tradi- tion. Seit alter Zeit sind gewisse Figuren besonders berühmt. Der bärtige, in der Brust schwer verwundete Krieger (Tafel 3/4), der auch in Todesmattigkeit heldenhaft daliegt, erregt als schlichtes

DIE GIEBELGRUPPEN VON ÄGINA

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Fig. 4. Kopf und Schulterteil des beispringenden Knappen

aus der rechten Hälfte des Äginetischen Ostgiebels

München, Glyptothek

Bild des edlen Heroismus starkes Mitgefühl, vor allem, wenn man auf das leiderfüllte Antlitz hinschaut. Bewundernswert ist die wohlgelungene Formenbildung, z. B. die genaue Wiedergabe der Adern und Muskeln am linken Beine. Am jugendlichen Ver- wundeten (Tafel 3 4) weckt neben der ganzen Haltung, in der das rechte Bein, über das linke geschlagen, krampfhaften Schmerz kennzeichnen soll, an erster Stelle das Gesicht Interesse: wohl deutet der breitgezogene, offene Mund jenes arge Schmerzgefühl an, aber nur verhaltenes Leid vermag der ernst sinnende Blick auszuprägen. Immerhin bleibt auch dieser Kopf mit den vor- quellenden, mandelförmigen Augäpfeln eine sehr beachtenswerte Probe altertümlichen Stils; recht charakteristisch für ihn ist die Fülle des Haares, die, vorne in zwei Reihen Löckchen geordnet, nach rückwärts in langer und breiter Masse herabfällt; über die Brust legten sich dereinst einzelne Metallocken. Die ganze Frische des reifen Archaismus schaut man in den Zügen des jungen Knappen (Fig. 4), der weit vorgebeugt ausschreitet und seinem zurücksinkenden Herrn beispringend den herabgefallenen Helm reicht.

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DIE ALTERTÜMLICHE KUNST

Fig. 5. Bogenschießender Herakles aus der rechten Hälfte des Äginetischen Ostgiebels. München, Glyptothek

Am schön gewölbten Schädel ist das Haar wie auf Tafel 3/4, Figur links unten, wohl in Anlehnung an damalige Mode, aber auch in kunst- voller Stilisierung zurechtgeschmückt; vom Scheitel fällt es nach vorn und wird dort in drei Reihen Löckchen zusammengenommen, die sich durch sorgfältige Arbeit auszeichnen. Der Hinterkopf war bemalt, von Ohr zu Ohr läuft ein dicker Doppelzopf. Die Körperformen sind in voller Rundung durchgeführt. Der belebte Gesichtsausdruck läßt den freudigen Pflichteifer des treuen Dieners in naiv reizvoller Art erkennen. Neben jenem Sterbenden in der linken Ecke des Ostgiebels galt von jeher der kniende Bogenschütze (Fig. 5)

DIE GIEBELGRUPPEN VON ÄGINA 15

als eine Perle unter den Ägineten; der jugendliche Herakles wird dargestellt im Moment des Abschnellens seines Pfeiles , ziel- und sieggewiß. Schon die Situation ist äußerst prägnant. Nicht einmal das rechte Knie berührt den Boden, es setzen nur der Ballen des rechten und die Ferse des linken Fußes auf. Dadurch wird das Bewegliche, das elastisch Schwebende des athletisch geschulten Helden, des in allen Gliedern gymnastisch durchgebildeten Körpers so wahrheitsgetreu wiedergegeben, daß man zweifeln kann, ob kalter Marmor geformt ist oder kräftiges Leben pulsiert. „Welcher Ausdruck von Spannung und Energie, von Sto'z und Kühnheit, von selbstbewußtem Vertrauen auf jene volle Beherrschung der Glieder, die nur gymnastische Zucht den Menschen gibt. Am ganzen Körper ist nichts, das nicht in Spannung wäre. Und so sind sie alle, diese Ägineten. Sie kennen kein Sichnachgeben, kein Sichgehenlassen; nur der Tod selbst kann ihnen die Spannung rauben ein Geschlecht, das nimmer müde wird noch matt, immer froh und frisch, immer arbeitsfreudig, immer bereit, den sehnigen, in Muskelübung gestählten Körper zur Tat voll einzusetzen. " So gewährt das Studium der Einzelgestalt ebenso großen Ge- nuß als die Betrachtung der Giebelgruppen im ganzen, wie sie in den Modellen rekonstruiert sind. Wir freuen uns dankbar des durch die Forschung Errungenen und werden jetzt mit weit grö- ßerem Verständnis als unsere Väter, unsere Großväter Komposition und Stil der altberühmten Ägineten würdigen und zwar am besten in der Münchner Glyptothek, wo Ludwig L von Bayern als Kronprinz dem nicht zum mindesten durch seine Umsicht vereinigten Antiken- schatze ein vornehm klassisches Heim durch Klenze bereitet hat. Und doch, erst zur vollen Wirkung kamen dereinst jene in far- benprächtigem Festglanze prangenden Skulpturen an Ort und Stelle, im Zusammenhang mit der Architektur, für die sie geschaffen waren, in der klaren Beleuchtung des Südens, als sie auf der einsamen Berghöhe von Ägina die Giebel des dorischen Tempels schmückten, dessen Ruinen noch heutzutage dem Seefahrer in ihrer lichten Er- scheinung aus der Feme trauten Gruß senden.

II. GÖTTERBILDER AUS DEM FÜNFTEN JAHRHUNDERT

Nachdem die griechische Kunst sich aus den Fesseln des gebundenen altertümlichen Stiles befreit hatte, gewann die Götter- bildung außerordentlich an Vertiefung und lebendiger Charakteristik. Während man vorher sich begnügt hatte allgemein menschliche Bildungen durch äußerliche Attribute zu Göttern zu stempeln, während also ein Zeus von einem beliebigen würdigen bärtigen Manne, Apollon von irgend einem Jünglinge sich nur durch äußere Zutaten unterschied, suchte und fand man jetzt Mittel, das innere Wesen, die in Poesie und Glauben längst ausgebildete tiefere Eigen- art des Gottes zur Darstellung zu bringen. Die große Kunst des fünften Jahrhunderts verstand es dabei das Erhabene und Gött- liche immer als wesentlichsten Grundton festzuhalten, während die spätere Zeit in der Vermenschlichung weiter ging.

Das fünfte Jahrhundert ist die eigentlich klassische Periode der Götterbildung, in der die bedeutendsten und großartigsten Schöpfungen, welche die längste Nachwirkung hatten, entstanden. Weitaus der größte Anteil hieran kam den attischen Künstlern zu, unter diesen voran Myron, dann Phidias und seinen Schülern, insbesondere Agorakritos und Alkamenes.

Die Göttin Athena hat ihre charaktervollsten Bilder fast alle im fünften Jahrhundert erhalten. Die späteren Athenabildungen machen zumeist einen etwas flauen, weichen Eindruck gegenüber jenen. Den Ernst und die strenge, hoheitsvolle Reinheit im Wesen der Göttin hat nur die ältere Kunst voll ausgedrückt.

GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT 17

Unsere Tafeln (5 und 6) bieten zwei Athenastatuen des Phidias in antiken Nachbildungen, die Athena Lemnia') und die Athena Parthenos, beide trotz aller Verwandtschaft doch auch über- aus verschieden: die Parthenos, die in Glanz und Pracht strahlende Göttin, die allzeit siegreiche, die deshalb die Siegesgöttin auf der Hand trägt, in voller Waffenrüstung und in glänzendem Schmucke, der am Helm, an Ohren und Hals, am Schilde und bis herab zu den Sohlen der Sandalen alles festlich ziert, das Gesicht mit freudigem Stolze ruhig geradeaus den frommen Besuchern des Tempels ent- gegengekehrt — dagegen die Lemnia, schmucklos und schlicht, im Werktagskleide, den Helm auf der Hand, die Ägis nachlässig schräg umgetan, in der ganzen Erscheinung nur die kraftvolle, reine, hohe Jungfrau, den Kopf lebhaft nach der Seite wendend, ebenso knaben- haft unschuldig wie wunderbar schön.

Es ist uns die Athena Lemnia in außerordentlich viel besseren Kopien erhalten als die Parthenos, indem dieses kolossale Gold- elfenbeinwerk nur gleichsam in Auszügen, jene Bronzestatue, um bei dem Gleichnis zu bleiben, in genauen Abschriften auf uns ge- kommen ist. Nur die letzteren geben uns einen Begriff von dem Höchsten und Feinsten, was Phidias vermochte.

Eine dritte Athenastatue (Tafel 7), ebenfalls eines der groß- artigsten Götterbilder des fünften Jahrhunderts, zeigt uns, wie ein anderer Künstler die Göttin auffaßte; sie hat hier statt der milden Schönheit phidiasischer Bilder mehr Strenge und Ernst, ihr denkendes, kluges Wesen war dem Künstler am wichtigsten erschienen.

Diese drei so verschiedenen Bildungen der einen Athena sind zugleich ein deutliches Beispiel dafür, daß die schöpferische, eigent- lich klassische Periode der antiken Kunst keine festen Göttertypen kennt; hier schafft noch jeder Künstler frei und sucht immer neue, andere Seiten der Gottheit abzugewinnen, so daß selbst die Athena- bilder des einen Phidias untereinander durchaus verschieden waren. Die viel verbreitete Vorstellung, daß es im Altertum für jede Gott- heit nur immer ein sogenanntes kanonisches Ideal gegeben habe, ist falsch und hat höchstens eine beschränkte Geltung für die Spätzeit, in welcher nichts Neues mehr erfunden ward und von der ganzen bunten Fülle der älteren Schöpfungen nur wenige durch ständige Wiederholung sich erhielten, die nun die kanonischen Typen darstellten.

Auch eine großartige Bildung des A pol Ion aus der Schule des Phidias zeigen unsere Tafeln (8); er ist hier als der Gott der

') Siehe Textzusatz zu Tafel 5.

Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl.

18 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT

ernsten, hohen Musik in feierlichem Schritte, in langem Gewände, wie ein Kitharode dargestellt, der einen heiligen Hymnos anzu- stimmen im Begriffe ist.

Ebenfalls aus der Schule des Phidias ist die Hera (Tafel 9) hervorgegangen. Leider ist der olympische Zeus des Phidias uns nur in flüchtigsten Umrissen durch kleine Münznachbildungen hadrianischer Zeit bekannt; die Ausgrabungen zu Olympia haben nur noch Splitter der steinernen Basis dieses wunderbaren Gold- elfenbeinkolosses zutage gebracht.

Dagegen ist A s k 1 e p i o s uns mehrfach in Statuen erhalten, die auf Schöpfungen des phidiasischen Kreises zurückgehen ; eine der schönsten ist die Tafel 10 wiedergegebene Statue,

Die Dioskuren vom Monte Cavallo (Tafel 11) sind stark und schwungvoll bewegte, unbekleidete Heldengestalten und geben jenen bekleideten, ruhigen Göttern gegenüber eine notwendige Ergänzung unserer Vorstellung von dem, was die phidiasische Kunst in Ge- staltung mythologischer Figuren geleistet hat ').

Durch lebhafte Bewegung verwandt ist die schwebende Nike von Paionios (Tafel 12), die uns glücklicherweise im Originale erhalten ist.

TAFEL 5 DIE ATHENA LEMNIA DES PHIDIAS^)

MARMORSTATUE. DRESDEN, K. ALBERTINUM.

Die Tafel gibt eine etwas überlebensgroße Marmorstatue im K. Albertinum zu Dresden wieder. Ihr in zwei Ansichten abgebildeter

') Siehe Textzusatz zu Tafel 11.

-) Das wundervolle Bildwerk, das als eine der schönsten Götterstatuen des fünften Jahrhunderts wiedererstanden ist, ward namentlich neuerdings dem Phidias abgesprochen und einem ebenbürtigen Zeitgenossen zuge- wiesen, sei es, daß er ein Attiker oder Peloponnesier war oder Elemente beider Kunstrichtungen in sich vereinigte. Ganz sichere oder wenigstens höchst wahrscheinliche Lösung des Problems könnte nur dann erfolgen, wenn Nachbildungen der „Lemnia" auf anderen die dereinstige Bestimmung, des Originals klarstellenden Monumenten, etwa auf Urkunden-, beziehungs- weise Weihreliefs oder auf Münzen einer bestimmten Siedelung oder Kult- stätte zutage kämen. Aber auch ohne Entscheidung bleibt die tiefempfundene Freude am Anblick des herrlichen Götterbildes aus der Glanzzeit helle- nischer Skulptur ungeschwächt lebendig.

DIE ATHENA LEMNIA DES PHIDIAS

DRESDEN, K. ALBERTINUM

ATHENA LEMNIA

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Kopf (Fig. 7 u. 8) mit dem Halse bis zum

Gewandaus- schnitt ist in- des der Gips- abguß eines imStädtischen Museum zu Bologna be- findlichen Marmororigi- nales. Die rechte Brust und der linke

Armstumpf bestehen ebenfalls aus Gips; sie sind abgeformt von einer in den entsprechen- den Teilen besser erhal- tenen zweiten Statue inDres- den, die eine genaue Wie- derholung je- ner ersteren ist. An dieser zweiten ist auch der Kopf erhalten, nurin

verstümmel- tem Zustande.

Dieser Kopf, der zwar abgebrochen war, aber in seiner Bruch- fläche genau auf den Torso paßt, also zweifellos zugehört, ist eine genaue Wiederholung jenes prachtvoll erhaltenen Kopfes in Bologna, dessen Abguß deshalb zur Vervollständigung jener ersteren, auf unserer Tafel dargestellten Dresdner Statue benutzt worden ist. Der Nachweis der Zugehörigkeit des helmlosen, früher meist für männlich angesehenen Kopftypus von einziger Schönheit zu diesen

Fig. 6. Sog. Atliena Lemnia nach der Ergänzung im Münchner Gipsmuseum

20 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT

Athenastatuen ist zugleich mit dem Nachweise, daß wir in diesen Marmorwerken römischer Zeit mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit getreue Kopien einer verlorenen Bronzestatue der Athena von Phidias, und zwar der von den Alten Lemnia genannten und als

schönstes Werk des Mei- sters bewunderten Statue der Akropolis zu Athen besitzen, erst in neuerer Zeit gelungen.

Attische Vasenbilder, ein attisches Relief, sowie Nachbildungen des Ober- körpers der Statue, die mehrfach auf antiken ge- schnittenen Steinen vor- kommen, machen es sehr wahrscheinlich, daß die vorgestreckte rechte Hand der Göttin einst den abge- nommenen Helm trug. Die erhobene Linke stützte sich ohne Zweifel auf die Lanze (Fig. 6). Die nach älterer Weise noch recht groß gebildete Ägis ist schräg umgelegt und mit Schlangen über der Hüfte gegürtet. Sie läßt die linke Brust frei; wahrscheinlich soll durch diese Art die Ägis anzulegen, das friedliche Wesen der Göttin hervorgehoben werden, das sich auch in dem unbedeckten Kopfe deutlich kundgibt. Das Haar ist ziemlich kurz und überdies hinten in einen Wulst auf- genommen. Eine breite Binde, die rückwärts geknüpft ist, schneidet tief in das weiche, volle, lockige Haar ein. Der Bologneser Kopf gibt die feine Ziselierung der Haare des Bronzeoriginales offenbar recht treu wieder. Die Augenhöhlen sind an diesem Kopfe leer, weil das Auge aus farbigen anderen Stoffen, in Nachahmung der an dem Bronzeoriginal befolgten Weise, eingesetzt war.

Die Göttin steht fest auf dem rechten Fuße, der linke ist entlastet zur Seite gesetzt, gleichfalls noch mit ganzer Sohle ruhend, doch erscheint im Gegensatz zur Athena Parthenos die Figur auch dadurch viel bewegter. Sie hat schlanke, kraftvolle, zum Männ-

Fig. 7. Kopf der Athena Lemnia Bologna, Stadt. Museum

ATHENA LEMNIA

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liehen neigende Körperformen. Die Hüften sind schmal, der Busen ist flach, doch die Brust kräftig breit. Auch der Kopf enthält zu dem weiblichen eine Beimischung knabenhaft männlichen Wesens. Die Göttin ist das Idealbild klarer Reinheit, Unschuld und Kraft.

Der Kopf ist stark nach der einen Seite gewendet, während der Körper an dieser Be- wegung keinen Teil nimmt und sich gerade von vorn zeigt. Es ist dieseinegewisse Härte, die den Werken um die Mitte des fünften Jahr- hunderts noch eigen ist. Jene Wendung des Kopfes beweist aber auch, daß das Original der Statue kein Tempel- bild war, indem ein solches mehr geradeaus dem anbetend von vorn Nahenden entgegen- blicken mußte.

Das Gewand der Göttin ist dasselbe, das auch die Parthenos trägt ; es ist der dorische Peplos aus kräftigem Wollstoff. Er hat einen

großen Überschlag und ist darüber gegürtet. An der rechten Seite ist er offen. Es ist das für die kräftige Jungfrau charakte- ristische Gewand'). Die Faltengebung ist sehr verwandt derjenigen an der Parthenos, zeichnet sich vor dieser aber aus durch eine gewisse kühne Frische und weniger absichtlich wirkende Anord- nung. Dagegen lassen verschiedene Anzeichen in der stilistischen Behandlung des Gewandes wie auch des Kopfes erkennen, daß das Original ein wenig älter als die Parthenos gewesen sein muß.

Dies Original muß ein sehr berühmtes gewesen sein. Außer mehreren Marmorkopien sind uns auch, wie schon bemerkt, ver-

Fig. 8. Kopf der Athena Lemnia Seitenansicht

') Über diese Tracht vgl. auch den Text zu dem Relief nischen Gottheiten" (Taf. 13).

.Die Eleusi-

22 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT

schiedene Nachbildungen des Oberteils der Statue auf geschnittenen Steinen erhalten. Daß das Original von Bronze und daß es kein Tempelbild war, ist schon erwähnt worden. Die große Verwandt- schaft mit der Parthenos läßt vermuten, daß auch dies ein Werk desselben Künstlers, des Phidias, war. So bezeugen die Monu- mente eine einst berühmte unbehelmte Athena phidiasischen Stiles. Nun wissen wir anderseits durch die literarische Überlieferung'), daß zu Athen auf der Akropolis, nicht als Tempelbild, sondern als Weih- geschenk im Freien, eine Bronzestatue der Athena von Phidias stand, welche nach den Weihenden die Lemnia genannt wurde und durch ihre außerordentliche Schönheit berühmt war. Lukian-) schwärmt ins- besondere von dem Gesichte der Göttin, dessen ganzen, also von einer attischen Helmkappe offenbar nicht beeinträchtigten Umriß er zu der Musterschönheit nehmen will, die er aus den berühm- testen Statuen konstruiert. Ferner erfahren wir durch Himerius') von einer durch Schönheit des Gesichts und Helmlosigkeit cha- rakterisierten, aber sonst nicht näher bezeichneten Athena des Phidias. Da aber gerade die Lemnia, wie aus Lukian zu schließen ist, im Kreise der späteren Rhetoren als diejenige Athena des Phidias galt, die durch Schönheit hervorragte, so ist die Identifikation der helmlosen Athena des Himerius mit der Lemnia als nahezu sicher anzusehen. Die literarische Überlieferung von dieser durch ihre ein- zige Schönheit des Gesichtes berühmten helmlosen Lemnia stimmt nun aber so vortrefflich zu jener durch die erhaltenen Kopien in Marmor und auf Gemmen erschlossenen phidiasischen Athena- statue, daß an ihrer Identität kaum ein Zweifel sein kann.

Die Marmorkopien der Lemnia bieten uns zum erstenmal ein Götterbild des Phidias in genauer, auch in der Größe dem Ori- ginale entsprechender Nachbildung; denn die Kopien der Parthenos sind alle ungenau, weil freie Reduktionen eines Kolossalbildes.

Die Entstehungszeit der Athena Lemnia ist rund um die Mitte des fünften Jahrhunderts anzusetzen. Genauer fällt sie wohl um 447, indem sie wahrscheinlich in Beziehung steht zu der um diese Zeit erfolgten Herabsetzung des jährlichen Tributs von Lemnos auf die Hälfte des früheren Betrages. Diese ist aller Wahrschein- lichkeit nach dadurch veranlaßt, daß attische Bürger neues Land auf Lemnos angewiesen bekamen, weshalb der Tribut natürlich herabgesetzt werden konnte. Die Statue, die Phidias ausführte, ist wahrscheinlich der Dank der Athener auf Lemnos für die Ver-

') Pausanias Beschreibung Griechenlands I, 28, 2.

2) Bilder 6, vgl. auch 4.

3) Reden 21, 4.

ATHENA PARTHENOS 23

Stärkung durch Zuzug neuer attischer Bürger und ein Zeichen des dadurch hergestellten engeren Verhältnisses zur Heimatstadt und ihrer Göttin. Die Statue ward nach den Athenern auf Lemnos, die sie geweiht, die Lemnierin genannt.

TAFEL 6 ATHENA PARTHENOS

STATUETTE AUS PENTELISCHEM MARMOR ATHEN, ZENTRALMUSEUM.

Gegen Schluß des Jahres 1880 ist zu Athen in der Nähe eines Gymnasiums, das nach dem Stifter Varvakion heißt, die mit der Basis etwas über einen Meter hohe, auffallend gut erhaltene Statuette ans Licht gekommen; nach dem Fundorte benannt, zählte sie bald zu den bekanntesten Überresten antiker Plastik. Sie ist eine Kopie aus hadrianischer Zeit. Daß dieselbe eine Nachbildung des Götterbildes ist, welches Phidias für die 14 m hohe Cella des Parthenon auf der Burg von Athen 438 v. Chr. vollendet hat, konnte bei einem Vergleiche der genauen Beschreibung, die Pausanias ') von dem Originale gibt, und der bereits nachgewiesenen Kopien des Meisterwerkes nicht bezweifelt werden. Es war im wesent- lichen eine Holzstatue, deren Gewandteile mit einer dünnen, ab- nehmbaren Goldhülle überzogen waren, während Elfenbeinplättchen die nackten Körperteile bedeckten. Die Gesamthöhe betrug ver- mutlich ungefähr 12 m -), das Gewicht des Goldes allein wahr- scheinlich 44 Talente 1 1 52,62 kg. Die Varvakionstatuette gibt zum erstenmal eine Gesamtvorstellung des chryselephantinen Kolosses. Wenn sie auch erst in der römischen Kaiserzeit ohne Kunstver- ständnis gearbeitet ist, so bietet sie doch das Urbild ohne willkür- liche Umgestaltung, nur mit teilweiser Abstreifung des reichen Nebenwerkes, wie vor allem der Reliefs, getreu dar.

Auf einer an der Vorderseite architektonisch gegliederten Basis steht die Göttin, in jugendlichen, kräftigen Formen gebildet, auf-

') Beschreibung Griechenlands I, 24, 5—7.

-) Die Höhe des Goldelfenbeinbildes ohne Basis wird auf etwa 10 1 1 m berechnet. Schwanthalers kolossale Bronzestatue der Bavaria, die zu Mün- chen in freier Natur auf der die Theresienwiese begrenzenden Anhöhe mächtig emporragt, ist ohne das stattliche Steinpiedestal ungefähr 20,5 m, also fast doppelt so hoch.

24 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT

recht da. Der Peplos, der, in Steilfalten geordnet, sie bis zu den Füßen bekleidet, ist auf der rechten Seite offen; sein Überwurf

fällt tief herab und ist über den

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Fig. 9. Gemme des Aspasios Wien, Kaiserl. Antikensammlungen

Hüften mit einem Gurte zusam- mengezogen und in regelmäßigen Falten kunstvoll zurechtgelegt. Auf der schuppigen, schlangenumsäum- ten Ägis, die kragenartig um die Brust sich legt, ist in der Mitte das in altertümlichem Stile fratzen- haft gebildete Medusenhaupt an- gebracht. Der Helm, dessen Kappe am Hinterkopfe bis über den Nacken schützend hinabreicht und vorn ein breites Stirnband trägt, liegt am Kopfe eng an und läßt vor den Ohren kleine Ringellocken hervorquellen, während von rück- wärts je zwei langgezogene Haar- strähnen über die Ägis nach vorn sich legen. Hoch empor ragt der reichgebildete Schmuck des Helms. In der Mitte ruht auf einer Sphinx der geschwungene Bügel, der bis in den Nacken hinabreicht, zu den Seiten desselben bildet je ein teilweise zerstörtes Flügelpferd die Grundlage zweier weiterer Büsche. Die Backenklappen sind schräg nach aufwärts geschlagen.

Von den mit hohen Sohlen bekleideten Füßen steht der rechte ganz auf dem Boden auf und ist so der Träger der Last, der linke, ein wenig zur Seite gesetzt und leise erhoben, läßt die Form des Spielbeines durchschauen und gibt der schweren Gewandung eine mäßige Bewegung, ohne die strenge Regelmäßigkeit des Ganzen zu stören. Beide Arme sind am Handgelenke mit Schlangenbändern geschmückt. Auf der rechten geöffneten Hand schwebt Nike, deren Kopf nicht erhalten ist, in langem Kleide und mit gesenkten Flügeln, die stetige Gefährtin der siegreichen Athena. Sie ist halb zum Be- schauer gewandt, dem sie mit beiden Händen eine Binde wie zur Bekränzung gereicht haben wird. Da die schwere Last der Nike von dem frei gehaltenen Arme nicht getragen werden konnte, so ist eine Stütze in der Form einer Säule untergestellt worden, die zugleich die sonst unangenehm wirkende Leere auf der rechten Seite ausfüllt. Denn auf der linken faßt die Göttin nur leicht den großen, kreisförmigen, in der Mitte mit Gorgomaske gezierten

ATHENA PARTHENOS

ATHEN, ZENTRALMUSEUM

ATHENA PARTHENOS 25

Schild, der auf eine kleine Erhöhung aufgesetzt ist. In der inneren Wölbung ringelt sich eine mächtige, bärtige Schlange empor, die Hüterin der Burg, das heilige Tier des Erichthonios. Die Angriffs- waffe der Athena, die Lanze, war im Originale an der linken Schulter angelehnt.

Das Geistige, das in dem Urbilde lebte, prägt sich, wenn auch sehr vermindert'), in dem Gesichte dieser recht geringen Kopie aus; tadellos erhalten, zeigt es volle, runde Formen, ebenso wie der Hals durch kräftige Bildung auffällt. Der Mund ist leise ge- öffnet und verleiht dem Antlitze den Ausdruck frischen Lebens, den im Originale die leuchtenden Augensterne aus Edelsteinen noch gesteigert haben werden. Man erkennt in den klugen, ge- messenen, Hoheit und auch Milde offenbarenden Zügen die würdige Tochter des Beraters Zeus, dessen Haupt sie entsprungen und dessen Offenbarung sie ist. Indes das Großartige der Erscheinung beruht in der Erhabenheit der ganzen Gestalt. Denn trotz der Kleinheit der Kopie glaubt man die Statue in ihrer gewaltigen Größe vor sich zu sehen und gewinnt eine klare Vorstellung von dem ehr- würdigen Tempelbilde, das, auch losgelöst von der strengen dori- schen Architektur der säulenumgebenen Cella, mit tiefer religiöser Scheu erfüllt, während der Anblick des Frieses') durch den reichen Wechsel immer frischen Lebens den Beschauer in gehobene Stim- mung versetzt. Phidias hat in der Goldelfenbeinstatue viel von dem zum Ausdruck gebracht, woraus die Blüte des perikleischen Zeitalters sich entfaltete, Achtung gebietende Stärke, nach sieg- reichen Kämpfen bewaffneten Frieden, Verstand und Geist, endlich den Reichtum an barem Gelde. „Die Göttin auf der Burg war die Personifikation der mächtigen Stadt, deren Herrschaft Meere und Länder umspannte. Es war die Herrin, die ihr Volk und dessen Verbündete beschirmt, zur See und auf dem Lande zum Siege führt." Die Auffassung der Athena als der majestätischen, friedlichen, aber wohlgerüsteten und starken Schutzgöttin ist im Gegensatze zu der lanzenschwingenden Pallas, der kampfesfreudigen Promachos der älteren Zeit von nun an in der Kunst maßgebend geblieben, und dieses Bild der Göttin ist auch uns vertraut.

') Einen Ersatz bietet die vortretfliche Gemme des Aspasios aus augusteischer Zeit (Fig. 9).

-) Proben sind Tafel 16—17 abgebildet.

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26 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT

TAFEL 7 ATHENA VON VELLETRI

KOLOSSALSTATUE. PARIS, LOUVRE.

Diese wohlerhaltene Marmorstatue gibt ein im Altertum be- rühmtes Bronzeoriginal wieder; wir besitzen noch andere Marmor- kopien, namentlich des Kopfes, z. B. in der Münchner Glyptothek aus Villa Albani in Rom ; doch die Pariser, in einer römischen Villa zu Velletri gefundene Statue ist die beste der Kopien.

Die Göttin steht in majestätischer Haltung da. Auf dem linken Fuße ruht sie fest auf, während sie den rechten nach sich zieht; die Spitze des rechten Fußes ist ziemlich stark nach außen ge- wendet, wodurch der Unterkörper breite und monumentale Ruhe erhält. Der rechte Arm ist erhoben und faßte die schräg nach unten aufgestützte Lanze hoch am Schafte. Die rechte Hand mit der vorderen Hälfte des Unterarmes ist jetzt erneuert, am Ellen- bogen ist der Arm gebrochen ; er war wahrscheinlich etwas mehr gebogen. Der linke Arm liegt fest am Körper an, der Unterarm ist vorgestreckt, die Hand ist ergänzt; sie trug einst, wie eine athenische Kupfermünze zeigt, welche das Original der Statue nach- bildet, eine Nikefigur, die der Göttin in Athen so unlöslich ver- bunden ist und die auch die Parthenos des Phidias auf der Hand trug. Auf einer anderen Münze und zwar von Amastris in Pa- phlagonien, die gleichfalls das Urbild des Werkes wiedergibt, hält die Linke die Eule.

Die Gewandung der Göttin besteht aus dem dorischen Peplos von derbem Wollstoffe, der wie bei der Parthenos mit einer Schlange gegürtet ist; an der Seite ist er indes nicht offen, sondern zuge- näht. Darüber trägt sie den Mantel, ebenfalls von dickem, wol- lenem Stoffe, der auf der linken Schulter aufruht und, um die Hüften geschlungen, vom linken Arme festgehalten wird. Er bildet vorn einen großen, dreieckigen Überschlag. Dieser Mantel trägt sehr zur majestätischen Erscheinung der Göttin bei.

Auf der Brust ruht wie ein Kragen die Ägis, die hier auch am oberen Rande mit Schlangen besetzt ist, absichtlich klein ge- bildet, da Athena nicht als streitbare Göttin gedacht ist. Der Ober- kopf wird vom Helme bedeckt, der die korinthische Form hat; heruntergezogen deckte derselbe, der Ausschnitte für die Augen hatte, das ganze Gesicht; gewöhnlich trug man ihn zurückgeschoben,

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WERTVOLLE BÜCHER

IN FRIEDENS^AUSSTATTUNG

VERLAG F. BRUCKMANN A.^G. /MÜNCHEN

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gegeben von S^.7!lacfoxo]lr}, ^.paulp imt) ^ ^eiganb. 0^r. = 8o.

508 Letten mit 2 l'^ilbniiyen ©ebunben 'J^MO.-

„T>er -öanP enthält, wenn and) nid)t aUe bemertenäwerten literan'fc^cn "JUtf^rungen 53apcreiDorfcrei/ fo Dorf) genug, um ein 3utreffenDcfi 53flD öi'cfcf* et'gcnartfg fcf)arfen unD feinen &ciiteß gctrifnnen 3u fönnen. Oberalt in Den '^uffät3en, 53riefen unD fonftt'gcn 'JJIifseden De^ ^ucf)es( fprfc{)t fid) eine Perfönh'c^feft von retci)fter iSt'nftc^t nni) glän- 3cnDer "Sarftedungi^funft auß. &o fet i)aß 53ucf) lftcran'fci)en 'i^einfcfemecfern aufß tpcärmfte empfohlen." (©c{)(efifche 3citung)

Dr. 'Hubert 'Drc^bner, l^ie (^ntfte^ung t)er Äunftfritif im 3u|ammcn()ang ber ©efc^id)te bc£^ em-opa'ifcl)cn Äiinfttcbene», 8°. 359 eeiten . .^ öebmtben m 12.-

„. . . f)anDelt uon Der (yefd)id)te Der Äunftfrttt'f biß auf "DtDerot. 'J^Tan erfahrt vieieß pon Der Äunftfritit, Die im Qlltertum geübt tPurDe, unD erlebt mit, tpie ficb in Den grof3en ©eelen Der D?enaiffance Da^ fünftlerifc^e'^^eranttnortungt^gefühl von Der ©e= bunDen^eit an Den ©toff loölöfte tpte Die Äunft aufhörte, 'Dienerin De^ ©laubene! 3u fein, um fortab feine "^reunDin ju roerDen . . . 'S}aß "Dre^Dner mit erftaunlic^er 33elefenheit oorgubringen tpeil^, ift 3cile für Seile lugleid) ©enuf5 unD 53elef)rung . . ." (Dr. -iPaiter i). ©ammann in „5i)amburger ÄorrefponDcnt")

g r 1 1) c ( (, ?1 0 0 a ( f 0 a ( ^ P M ( 0 f 0 p (). 8°. 110 eeiten.

©ebunben "^ll 4-50 „^aß f)übfcb au^geftattetefleine33ucf)ift intereffant genug, um neben Den53iograph{en, Die mehr (i'l)ronif bieten, gelefen 3u trerDen : e^ ift unftreitig Da^ 53efte, waß bißi)er über ^louali^ gef d)rieben tpurDc." ((fffener Q3olf£i5eitung)

Dr. Jriebrtd) von ^au^egger, ©ebanfen eine^ (Sc{}auent)en. ®efamme(te ^luffa't3e. ©rof3=8°. 549 <Seiten mit einem Porträt in

"p^otogram'ire ^71. H-

„T>aß ^ud) bringt in feinem erften Seit 'StbhanDlungen über Rünftler, if)re IDerfe, ihr lOirfen (por allem über D\icf). '3Dagner). 3"^ jroeifen Jeil ftebt 53''"^c9iicf «l^ Der grofV ©cfiauenDe vov unß: 3ct)eß Äapitel ift beDeutcnD unD aufflarenD, t)oll glücflicber WeDanfen unD tntereffanter Probleme. T)ie Qtufiftattung Dee> i^uclje^ ift auf^erorDentlicf) uornel)m." (,>])amburger ^lac^rtrf)ten)

Dr. grtebrid) von ^au^egger, "Die '^Tlufif aiß Qiu^brucf. 8°. 237 Seiten OVbunben l^l 6. -

„^in 53ucb, Das! unter Ph'lcfopben unD 'J^Uififern bcred^tigte^ '^hiffeben hervorrief, ÖegenftanD 3ahlreid)er 3eitunge!artifel unD 5ahlreidier VriwatDcbatten loar. *^in 'JTtcifterftücf geraDesu ift Der 5. '^lbfd)nitt. Der 3ahlreid)e allgemeine ^Ipercpu^ übcrKunft unDt3h'fcfoph'f enthält, ^ie von Dem 03eiftreid)tum unD iDealem Cjtreben y)i"i^^cgger£< ein glän3enDee(3eugnie( ablegen." i.'^Iui^ einer i^cfprediung in „'?^lufifa(ifdic ?\unDfchau")

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26 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT

TAFEL 7 ATHENA VON VELLETRI

KOLOSSALSTATUE. PARIS, LOUVRE.

Diese wohlerhaltene Marmorstatue gibt ein im Altertum be- rühmtes Bronzeoriginal wieder; wir besitzen noch andere Marmor- kopien, namentlich des Kopfes, z. B. in der Münchner Glyptothek aus Villa Albani in Rom; doch die Pariser, in einer römischen Villa zu Velletri gefundene Statue ist die beste der Kopien.

Die Göttin steht in majestätischer Haltung da. Auf dem linken Fuße ruht sie fest auf, während sie den rechten nach sich zieht; die Spitze des rechten Fußes ist ziemlich stark nach außen ge- wendet, wodurch der Unterkörper breite und monumentale Ruhe erhält. Der rechte Arm ist erhoben und faßte die schräg nach unten aufgestützte Lanze hoch am Schafte. Die rechte Hand mit der vorderen Hälfte des Unterarmes ist jetzt erneuert, am Ellen- bogen ist der Arm gebrochen ; er war wahrscheinlich etwas mehr gebogen. Der linke Arm liegt fest am Körper an, der Unterarm ist vorgestreckt, die Hand ist ergänzt; sie trug einst, wie eine athenische Kupfermünze zeigt, welche das Original der Statue nach- bildet, eine Nikefigur, die der Göttin in Athen so unlöslich ver- bunden ist und die auch die Parthenos des Phidias auf der Hand trug. Auf einer anderen Münze und zwar von Amastris in Pa- phlagonien, die gleichfalls das Urbild des Werkes wiedergibt, hält die Linke die Eule.

Die Gewandung der Göttin besteht aus dem dorischen Peplos von derbem Wollstoffe, der wie bei der Parthenos mit einer Schlange gegürtet ist; an der Seite ist er indes nicht offen, sondern zuge- näht. Darüber trägt sie den Mantel, ebenfalls von dickem, wol- lenem Stoffe, der auf der linken Schulter aufruht und, um die Hüften geschlungen, vom linken Arme festgehalten wird. Er bildet vorn einen großen, dreieckigen Überschlag. Dieser Mantel trägt sehr zur majestätischen Erscheinung der Göttin bei.

Auf der Brust ruht wie ein Kragen die Ägis, die hier auch am oberen Rande mit Schlangen besetzt ist, absichtlich klein ge- bildet, da Athena nicht als streitbare Göttin gedacht ist. Der Ober- kopf wird vom Helme bedeckt, der die korinthische Form hat; heruntergezogen deckte derselbe, der Ausschnitte für die Augen hatte, das ganze Gesicht; gewöhnlich trug man ihn zurückgeschoben.

ATHENA VON VELLETRI PARIS, LOUVRE

ATHENA VON VELLETRI

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Fig. 10 u. 11. Kopf der Athena von Velletri. Paris, Louvre

SO wie er auch am Porträt des Perikles erscheint. Ihr Haar hat die Göttin in der schlichtesten Weise zurückgestrichen.

Die Züge und der Ausdruck des Kopfes (Fig. 10 u. 11) stehen in vollem Gegensatze gegen das volle breite Gesicht der Parthenos und ihr freudig sieghaftes Wesen. Hier bilden Ernst und Strenge den Ausdruck; es ist die sinnende, denkende, kluge und reine Jung- frau dargestellt.

Der Kopf ist vortrefflich erhalten, indem selbst die Nase antik ist. Er erscheint schmal und fein gegenüber der mächtigen, breiten Brust. Sehr charaktervoll ist auch das Gewand behandelt. Es zeigt schwere, einfache, wahre Falten, die nicht gefällig sein wollen, die aber an der Majestät und Wucht der ganzen Erscheinung wesent- lich beteiligt sind.

Die Eigentümlichkeiten des Stiles von Kopf und Gewand lassen sowohl eine Zeitbestimmung als eine Vermutung über den Künstler zu, dem wir das Original verdanken. Dasselbe muß in der peri- kleischen Zeit, doch an ihrem Ende, kurz vor Ausbruch des Pelo- ponnesischen Krieges entstanden sein ; wie die athenische Münze

28 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT

zeigt, befand es sich im Bereiche Athens. Der Künstler aber muß dem Kreise des Phidias unabhängig gegenübergestanden haben. Genauere Vergleiche der Formen mit anderen Werken, z. B. mit der Herme des Perikles und mit der Medusa Rondanini lehren, daß es wahrscheinlich Kresilas war, der Künstler, der eben den Perikleskopf gebildet.

Die Statue aber war vielleicht identisch mit einer schon im Altertum viel bewunderten Athena Soteira im Heiligtume des Zeus Soter im Piräus.

Als Retterin, als kluge, mächtige Beschützerin des siegreichen Athen war die Göttin gedacht.

TAFEL 8 APOLLON MIT DER KITHARA

KOLOSSALSTATUE AUS MARMOR. MÜNCHEN, GLYPTOTHEK.

Eine erhabene, mächtige Gestalt kommt in langsam feierlichem Schritt auf uns zu. Sie hält im Schreiten inne, ruht fest auf dem rechten Fuße und zieht den linken nach sich. Eine große Kithara wird vom linken Arme an den Körper gedrückt, doch muß sie noch an einem Tragbande befestigt gedacht werden, das um die Brust hing. Die Rechte war ruhig vorgestreckt und hielt die Schale zur Spende bereit (der jetzige rechte Arm ist ganz modern). Nicht Gesang und Saitenspiel ist dargestellt, sondern der vorangehende Moment des feierlichen Antretens und der Spende vor Beginn des festlichen Spiels.

Die Gestalt ward früher für weiblich gehalten. Sie galt Win- ckelmann, der sie noch im Palaste Barberini zu Rom bewunderte, für eine Muse; er erkannte den hoheitsvollen Stil älterer Zeit in ihr und vermutete, es sei die Muse des Ageladas, des Lehrers des Polyklet und Phidias. Er sah die „hohe Gratie" in ihr im Gegensatze zur „gefälligen Gratie" des anderen schreitenden Kitha- roden, der in der Tat auch jüngerer Zeit angehört.

Es ist Apollon dargestellt in dem langen Festgewande, das alle trugen, die sich am Feste des Gottes durch Kitharaspiel und Ge- sang um die Preise bewarben. Bis in die spätere griechische Zeit wird daher Apollon der Musiker zum Unterschiede von dem nackten bogenkämpfenden Gotte regelmäßig in jenem langen Gewände dar- gestellt. Es ist der dorische Peplos mit großem Überfall, unter

APOLLON MIT DER KITHARA MÜNCHEN, GLYPTOTHEK

APOLLON MIT DER KITHARA 29

der Brust mit breitem Bande gegürtet. Auf den Schultern ist ein weiterer Überfall als hinten herabfallender kurzer Mantel befestigt. Zu der feierlichen Tracht gehören auch die Sandalen mit hohen Sohlen. Der Kopf zeigt eingesetzte Augen, die hier, was sich sehr selten findet, ziemlich gut erhalten sind. Das Weiße der Augen besteht aus weißem Steine. Die dunkle Pupille ist ausgefallen; die Wimpern bestanden aus gezacktem Bronzeblech; ihre Spuren sind deutlich erhalten. Der Kopf ist mit dem Halse in die Statue eingesetzt, doch von dem alten Künstler selbst, er ist keineswegs etwa eine antike spätere Restauration. Das üppige, volle Haar ist gescheitelt und fällt in je zwei Locken auf die Brust herab; über der Stirne emporgebunden steigert es das Majestätische des Kopfes.

Die Ausführung der Statue, die in einer Villa zu Tuskulum 1678 gefunden wurde, fällt, wie aus der Art der Arbeit zu schließen ist, ungefähr in die augusteische Epoche. Doch kann kein Zweifel sein, daß sie ein älteres griechisches Original wiedergibt. Es läßt sich auch noch mit voller Sicherheit angeben, welcher Kunstschule dies Original angehört hat : die Vergleichung der sicheren Werke des Phidias, der Athena Lemnia und Parthenos, ergibt, daß dieser Apollon im Anschlüsse an Phidias geschaffen ist und eine unmittel- bare Weiterbildung des Stiles des Meisters darstellt; auch der dorische Peplos erscheint in der Form und Faltengebung, die der Meister und sein Kreis bei weiblichen Gottheiten bevorzugten. Auf Münzen des Kaisers Augustus, die sich auf den bei Aktium 31 v.Chr. errungenen Sieg und auf den dafür geweihten Palatinischen Tempel beziehen, ist das Original unserer Statue wiedergegeben. Da die Identifikation mit dem im Tempel selbst aufgestellten Bilde des im 4. Jahrhundert v, Chr. tätigen Skopas aus stilistischen Gründen un- möglich erscheint, ist so gut wie sicher eine zweite, bei Properz III, 29, 5 f. als im Hofe wohl nahe am Altare stehende Marmorstatue in unserem Werke veranschaulicht, zumal die von dem Dichter angedeutete Situation damit sich wohl vereinigen läßt.

Unter den uns erhaltenen Götterbildern gibt es kaum ein zweites, das bei gleich guter Erhaltung eine gleich grandiose Auf- fassung wie die unseres Apollon zeigt, das so vollständig und un- getrübt den reinen Eindruck eines majestätischen Tempelbildes der phidiasischen Auffassung vermittelt.

30 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT

TAFEL 9 STATUE DER HERA

ROM, VATIKAN.

Diese überlebensgroße Marmorstatue wurde in Rom auf dem Viminal bei einer vom Kardinal Francesco Barberini veranstalteten Ausgrabung gefunden und befindet sich jetzt in der großen Rotunde des Vatikanischen Museums. Man pflegt sie nach dem ersten Besitzer die „Barberinische Hera" zu nennen. Die Statue ist gut erhalten ; nur die aus dem Gewände vortretenden Arme, die aus besonderen Stücken gearbeitet und angesetzt waren, sind verloren und jetzt ergänzt; doch konnte der Ergänzer das Richtige kaum verfehlen. Am Kopfe ist nur die Nase neu; im übrigen ist der Kopf vortrefflich erhalten und ungebrochen ; er ist aber mit dem anstoßenden unbekleideten Teile der Brust aus einem besonderen Stück Marmor gearbeitet und eingesetzt. Auch die Füße waren besonders angesetzt; der linke ist ergänzt. Das Zusammenfügen großer Marmorfiguren aus Stücken war im Altertum etwas ganz Gewöhnliches und man hatte eine große Geschicklichkeit darin. Man sparte auf diese Weise an Material und konnte die Marmor- figuren zu relativ billigen Preisen herstellen.

Die Statue ist eine im zweiten Jahrhundert n. Chr. wahrschein- lich für den Palast eines vornehmen Römers, möglicherweise aber auch für ein Heiligtum in Rom gearbeitete Kopie eines verlorenen griechischen Originals aus der Zeit unmittelbar vor oder während des Peloponnesischen Krieges. Das Werk muß in späterer Zeit berühmt gewesen sein, indem es mehrfach kopiert worden ist. Eine besonders gute Wiederholung, die in den Ruinen einer römischen Villa in den Sabinerbergen gefunden ward, befindet sich jetzt in Kopenhagen; sie ist eine Arbeit etwa augusteischer Zeit; das hohe Diadem, das den Kopf unserer Statue schmückt, fehlt ihr nach dem Gebrauche der älteren Marmorarbeit, wo dergleichen Einzel- heiten besonders aus Metall angesetzt zu werden pflegten.

Der Stil des uns durch die Kopien vergegenwärtigten Werkes ist so sehr verwandt dem einer ebenfalls im Altertum hochberühmten und in zahlreichen Kopien erhaltenen Aphroditestatue, wo die Göttin in dünnem, ungegürtetem Gewände dargestellt ist, daß man einen und denselben Künstler als Schöpfer beider Werke anzusehen hat. Die Aphrodite geht aber sehr wahrscheinlich auf Alkamenes, den

STATUE DER HERA ROM, VATIKAN

STATUE DER HERA 31

berühmten Schüler des Phidias, zurück; mithin wird auch die Hera auf denselben großen Künstler zurückzuführen sein.

Die Deutung der Göttin als Hera kann zwar nicht als völlig gewiß angesehen werden, indem ihr Typus an keinem Denkmale als Hera oder Juno gesichert ist; allein sie ist sehr wahrscheinlich, und der Name Hera erklärt die gesamte Auffassung wie die Einzel- heiten der Statue entschieden am besten.

Eine hehre Gestalt steht vor uns, eine große, erhabene Göttin, eine wahre Königin und Herrin. Und doch trägt sie den Kopf nicht stolz erhoben, sondern milde geneigt, Gewährung verheißend den Wünschen des Frommen, der sich ihr betend naht.

Sie trägt das dünne, ungegürtete Untergewand, das die mäch- tigen Formen des Körpers durchscheinen läßt, ähnlich Aphrodite, der Göttin der Liebe, und wie bei jener gleitet das Gewand an der einen Schulter lose herab. Allein der Unterkörper ist von dem schweren, dichten Mantel verhüllt, der ernste, strenge Würde verkündet.

Der Mantel liegt mit dem einen Ende auf der Imken Schulter auf und ist im Rücken nach der rechten Hüfte und von hier mit dem anderen Ende nach der linken Seite gezogen, wo er von dem linken Ellenbogen fest angedrückt und gehalten wird. Der Mantel bildet vorn einen großen, dreieckigen Überschlag, ganz ähnlich wie bei der Athena von Velletri (Tafel 7). Hier wie dort gibt eben diese Gewandanordnung dem Auftreten der Göttin etwas besonders Majestätisches.

Die Statue stimmt mit jener Athena auch in der Stellung und Haltung überein. Die Göttin ruht wie dort auf dem linken Fuße, während der rechte in Schrittstellung zurückgezogen ist. Die nackten Füße tragen an beiden Statuen jene Sandalen mit schweren, dicken Sohlen, die an den Götterbildern der phidiasischen Periode gewöhn- lich sind und die auch die Athena Parthenos (Tafel 6) trägt. Es stimmt ferner an jenen beiden Statuen die Haltung der Arme und die Wendung des Kopfes durchaus überein. Die erhobene Rechte stützte sich dort auf die Lanze, hier auf das Szepter; die vor- gestreckte Linke trug ein Attribut, das wir nicht mehr feststellen können, möglicherweise die Opferschale, wie der Ergänzer angenom- men hat.

Die welligen, mit dem Diadem geschmückten Haare sind in der Mitte gescheitelt und zurückgestrichen, hinten aber aufgenommen und in ein Tuch gesammelt, ganz ähnlich wie bei der obengenannten Aphrodite. Allein der Ausdruck des Kopfes ist recht verschieden von der hingebenden, süß lächelnden Anmut jener Liebesgöttin; er ist ernst und streng, wenn auch nicht ohne königliche Milde.

32 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT

So paßt das plastische Bild dieser Göttin vortrefflich zu jener in Mythus und Dichtkunst erscheinenden Gestalt der Hera, der hehren Gemahlin des Zeus, der Himmelskönigin, der Beschützerin des Ehebundes unter den Menschen.

TAFEL 10 STATUE DES ASKLEPIOS

MARMOR. NEAPEL, MUSEO NAZIONALE.

Die nicht unbedeutend über die natürliche Größe eines Erwach- senen gebildete, im ganzen gut erhaltene und richtig ergänzte') Statue, als deren Fundort ohne sichere Gewähr der Äskulaptempel auf der Tiberinsel in Rom bezeichnet wird, ist seit Mitte des sechzehnten Jahr- hunderts in der Antikensammlung der römischen Familie Famese nachweisbar und nach dem Aussterben derselben zu Ende des acht- zehnten Jahrhunderts mit anderen teilweise weltberühmten Antiken nach Neapel gelangt. Sie ist die mäßig gute Kopie eines griechi- schen Originalwerkes, das mit größter Wahrscheinlichkeit unter dem Einfluß phidiasischer Kunst wohl nicht allzulange nach den Parthenonskulpturen von einem unbekannten Künstler geschaffen worden ist^) und jedenfalls dereinst als Kultbild in einem Heiligtume des Gottes geweiht war.

Asklepios, bei Homer ^) als einfacher Arzt genannt, wurde in Griechenland als orakel- und heilspendender Erdgeist verehrt und hat daher die heilige Schlange als unzertrennliches Attribut bei sich. Sein Kult ist dort seit alter Zeit an vielen Orten unter immer

') Abgesehen von kleineren Ergänzungen ist der größte Teil des rechten Armes, sowie des Stabes und der Schlange erneuert.

2) Der Typus trägt das geistige Gepräge attischer Kunst dieser Epoche; als Schöpfer wird Alkamenes vermutet, der um 420 zu Mantlnea das Tempel- bild des Gottes gefertigt hat (Pausanias, Beschreibung Griechenlands 8,9, 1). Doch auch zu Athen ist wohl um dieselbe Zeit für den am Südfuße der Akropolis gelegenen heiligen Bezirk die Statue des Asklepios entstanden, dessen Kult 420 aus Epidauros nach Athen kam; der maßgebende Einfluß der hier ausgebildeten Darstellungen auf die Folgezeit läßt sich wenigstens an den zahlreichen Votivreliefs noch erkennen und ist demgemäß auch für die Rundplastik sehr wohl möglich, wenn auch aus dem vorhandenen statuarischen Material bisher nicht erweisbar.

^) llias 4, 194.

STATUE DES ASKLEPIOS

NEAPEL. MUSEO NAZIONALE

STATUE DES ASKLEPIOS .33

stärkerer Betonung des ärztlichen Berufes des Heilgottes weit ver- breitet gewesen und hat insbesondere zu Epidauros in Argolis, später auch zu Pergamon in Kleinasien einen berühmten Mittel- punkt gefunden. Dorthin pilgerten von nah und fern Kranke aller Art um Genesung zu gewinnen und gesundeten durch mannigfache, sonderbare Wunderkuren. Von Epidauros nach Rom überführt, hat Asklepios von hier aus seinen Weltlauf weiter genommen.

Die künstlerische, bis in die spätrömische Zeit maßgebende Darstellung des Asklepios ist in den letzten Jahrzehnten des fünften Jahrhunderts v. Chr. von einem attischen Meister im Kreise des Phidias ausgestaltet worden und kann in der hier abgebildeten Statue als einem wertvollen Beispiele der zahlreich erhaltenen Monumente gewürdigt werden. Die Göttlichkeit des Bildes, das bei geschlos- senen Umrissen beinahe in architektonischer Regelmäßigkeit sich aufbaut, wird durch die an eine Kultstatue erinnernde ehrwürdige Erscheinung, sowie durch die Beifügung der breiten, wulstigen Woll- binde im Haare, durch die heilige Schlange und den mit Binden netzartig umhüllten Omphalos ') angedeutet. Im übrigen ist die Gestalt über das Menschliche nicht erhaben, sondern tritt uns als ein im besten Lebensalter stehender Mann entgegen, dessen breite Körperbildung insbesondere durch die vom Gewände freigelassene Brust sich offenbart und den Gott als Muster kräftiger Gesund- heit darstellt. Die Kleidung entspricht derjenigen des griechischen Bürgers. Das Himation ist in großen Flächen und einfachen Falten um den Körper gelegt und nur an den beiden über den linken Arm fallenden Enden reicher drapiert. Die festaufstehenden Füße sind mit dicksohligen Sandalen bekleidet. Der linke, in dem Hi- mation verborgene Arm ist in die Seite gestützt, der gesenkte rechte faßt den dicken, in die Achselhöhle gestemmten Wander- stab, der von der heiligen Schlange umringelt wird. So ist As- klepios hier als der stets rüstige, von einem Kranken zum an- dern eilende Arzt gedacht, der zwar im gegenwärtigen Augen- blicke in ausruhender Stellung verharrt, aber in seinem Geiste auch jetzt tätig erscheint. Denn er hat das Haupt, das von einem ' Vollbarte umrahmt ist und durch die üppige Fülle des Locken- kranzes ein überaus ehrwürdiges Aussehen gewinnt, leise zur Seite geneigt; die mächtige, stark vortretende Stirne, der nachdenkliche,

') Die Beziehung dieses sonst dem delphischen Apollon beigegebenen Attributs zu Asklepios ist literarisch nicht überliefert; es scheint ebenso wie die Schlange eine Erinnerung an den unter der Erde hausenden Gott zu sein, wie man ihn ursprünglich sich gedacht hat. Übrigens wird auch eine Übertragung des Omphalos als Symbol des chthonischen Kultus in Delphi von Apollon auf Asklepios vermutet.

Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 3 .

34 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT

in die Ferne gerich- tete Blick, die milden, väterlichen Züge (tö ueiAi/io\', TTpdov, das Milde, Sanfte), lassen den Betrachter das Wesen des gereiften und erfahrenen, stets hilfbereiten Arztes in seiner edelsten Form erkennen. Gerade der Ausdruck des Hauptes erhebt neben der ge- samten ehrwürdigen Er- scheinung das Bildwerk auch ohne starke Be- tonung äußerer Mittel der Darstellung über das Menschliche empor. Diese Vereinigung von schlichter Einfachheit und göttlicher Erhaben- heit, die noch heutzu- tage tiefe Wirkung aus- übt und großes Ver- trauen einflößt, wird im Altertum dem im Heilig- tum dem Kultbilde nahenden Gläubigen Trost im Leide und zuversichtliche Hoffnung geweckt haben. So versteht man beim Anblicke des ehrwürdigen Bildwerkes die zahlreichen, dem Askle- pios gewidmeten Beinamen, die weniger fromme religiöse Scheu als rührendes kindliches Vertrauen der Menschheit zu dem Heil- gotte offenbaren: Die dichterisch erhabenen Bezeichnungen „xc'tpjaa ^ey' dvüp(ö:;Toiöi, xaxwv iieXxTip' öbuvdoov" („die große Wonne für die Menschen, den Bezwinger böser Schmerzen")') und „rexrova voD^uvia:: äuF,f)()V ymapxHoc . ., i'ipoa :TavToban:ctv dXxTfipa voüöcov" („den milden Schöpfer gliederstärkender Schmerzlosigkeit, den Heros, der die mannigfaltigen Krankheiten abwehrt")-) haben ebenso wie die das Wesen der Gottheit knapp und klar zusammenfassenden Worte „xt'ewv 6 TipaöiaTÖc re xai cpiXavOp.corrÖTaToc" („der sanf-

Fig. 12. Asklepios von Melos Marmorkopf. London, British Museum

') Hymnos auf Asklepios, homerische Hymnen 16, 4. ^) Pindar, pythische Oden 3, 6 ff .

STATUE DES ASKLEPIOS 35

teste und menschenfreundlichste der Götter") ') und ähnliche mehr in der künstlerischen Darstellung des Asklepios monumentalen Ausdruck gefunden.

Interessant ist die Beobachtung vom Wandel in Auffassung und Bildung der Götter gerade bei Asklepios. Durch den Stil maßgebender Neuerer, wie Skopas, sind etwa seit der Mitte des vierten Jahrhunderts v. Chr. die Gestalten vielfach bewegt, das pathetisch belebte Gesicht bekundet innere Erregung; praxitelischer Einfluß wirkt oft auch fernerhin vorteilhaft ausgleichend '). Diese veränderte Art kommt im Ideal des Asklepios dem Wesen des Heilenden entsprechend in einem verbreiteten Typus trefflich zur Geltung. Was wir gemäß dem streng gemessenen, feierlichen Ernst der Olympier des fünften Jahrhunderts in dem Neapolitaner Bildwerk mehr ahnen als schauen dürfen, das tritt jetzt in volle Er- scheinung. Der sonst ruhig stehende Arzt ist nun in Stellung lebhaft bewegt, demzufolge ist das Haupt, der Blick zur Seite nach auf- wärts gerichtet. In dieser Situation muß der sehr große Kopf von der Insel Melos (Fig. 12), dessen Deutung schon durch den Fund im Bereich einer Asklepioskultstätte gesichert bleibt, nach den zu Epidauros gefundenen Statuetten aufgefaßt und zu einer mächtigen Statue ergänzt werden; er ist ein griechisches Original wohl aus den letzten Jahrzehnten des vierten Jahrhunderts. Himmlisch er- haben wirkt er schon durch die üppige Haar- und Bartfülle, Hei- lung ersinnend, ersehnend schauen die Augen nach oben ohne be- stimmtes Ziel träumerisch in die Ferne. Das Milde, Hoffnung- erregende leuchtet hervor, die teilnahmsvolle Menschenfreundlich- keit des Arztes, wie sie auch aus dem geöffneten Munde mit der herabhängenden Unterlippe spricht, kann kaum stärker, kaum edler hervorgehoben werden. Ein eigentümlicher Zauber glänzt in dem Antlitz, unwillkürlich auf den hilfeflehenden Kranken warmen Trost ausstrahlend. „Das Auge voll keuscher Reinheit und wohlwollender Milde schlägt der Gott auf und es leuchtet daraus hervor eine unsägliche Tiefe von Würdigkeit und sittlichem Adel." „ndvaYvov xai VXecov dvaxiv(')v öuuct, ßdiloc äf|OnaC)Tov vnaörpä'rixei öef-ivoTrjToq aiboi jaiyei'önc" (Kallistratos Beschreibungen von Statuen 10). Diese Charakteristik hat im Asklepios von Melos monumentalen Ausdruck.

') Aelius Aristides 18: dg (ppeap toü 'AcjxXhttioö („auf den Heil- brunnen des Asklepios"). (Dindorf, I. 409.)

^) Siehe Text zu „Demeter von Knidos" (Tafel 22l.

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36 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT

TAFEL 11 DIOSKUR VOM MONTE CAVALLO ZU ROM

Die Tafel zeigt die eine der beiden gewaltigsten und besterhal- tenen Kolossalfiguren, die uns das Altertum hinterlassen hat. Die Seitenansicht ist auf den Figur 13 und 14 gegebenen Abbildungen zu sehen. Das Gegenstück zeigt die gleiche Bewegung, nur mit vertauschten Seiten. Es sind die beiden Dioskuren, die ihre bäu- menden Rosse am Zügel führen, nach denen der Platz auf dem Quirinal zu Rom, wo sie stehen, seit dem Mittelalter der „Monte Cavallo" heißt. Als „cavalli marmorei" werden sie zuerst im zehnten Jahrhundert erwähnt. Sie gehören zu den wenigen Antiken, die niemals verschüttet waren. Sie standen bis 1589 auf einem antiken, mächtigen, aufgemauerten und mit Marmorplatten verklei- deten Postamente, und zwar pflegt man anzunehmen, daß sie zum Schmucke der Hallen und Gärten der gewaltigen Konstantinsther- men gehörten, von denen Reste in jener Gegend bis ins sechzehnte Jahrhundert erhalten waren. Auf den Marmorplatten des Posta- mentes standen in monumentalen großen Buchstaben die antiken, dem Postamente offenbar gleichzeitigen, also wohl der konstan- tinischen Epoche angehörigen Inschriften: „opus Fidiae" unter der auf unserer Tafel abgebildeten Statue, welche das Pferd mit der Linken zügelt, „opus Praxitelis" unter der anderen, welche das Roß mit der Rechten zügelt. In dem Postamente waren, wie dergleichen namentlich in späterer römischer Zeit sehr gewöhnlich war, ältere Architekturstücke verbaut. Die Statuen selbst waren viel älter als diese dem Standort nach vermutlich konstantinischen, jedenfalls wegen des Gebrauchs von F statt Ph nicht wesentlich früheren Inschriften; ihrer Arbeit nach können die Statuen kaum später als die frühere Kaiserzeit sein.

Erst 1589 ward durch Sixtus V. diese spätantike Aufstellung ersetzt durch eine neue, die im wesentlichen noch jetzt besteht. Die beiden Kolosse wurden auf zwei neuen getrennten Basen neben- einandergestellt und die schadhaften Teile ergänzt. Die Inschriften wurden durch neue Kopien ersetzt. Endlich wurde 1786 der vom Mausoleum des Augustus stammende Obelisk zwischen die beiden etwas auseinandergerückten Kolosse gesetzt, und 1818 ward eine große Brunnenschale hinzugefügt. Schon weit früher, vielleicht sogar bereits vor Sixtus V., haben sie einen Brunnen vor sich gehabt.

DIOSKUR VOM MONTE CAVALLO ROM

DIOSKUR VOM MONTE CAVALLO 37

Abgesehen davon, daß durch das jahrhundertelange Stehen im Freien die Oberfläche des Marmors an den Vorderseiten ganz zerfressen ist, sind die Kolosse vortrefflich erhalten und nur unwesentliche Stücke sind ergänzt. Das größte moderne Stück ist die Brust mit den Vorderbeinen des Pferdes auf un- serer Tafel.

Die Inschriften gehören in eine Klasse mit verschiedenen ganz ähnlichen, an römischen Postamenten gefundenen Bezeichnungen berühmter Werke oder deren Kopien, wie opuc Polycliti, opus Praxitelis, opus Bryaxidis u. a., die in gute Zeit, meist etwa das zweite Jahrhundert n.Chr. zu datieren sind und eine vortreffliche authentische Überlieferung über die Urheber der einst auf den Basen befind- lichen Statuen darstellen. Unsere Inschriften, wenn auch erst bei der Neuaufstellung in spätantiker Zeit angebracht, ersetzten doch ver- mutlich ältere gleichlautende ; denn die prächtige neue Aufstellung nach der Zerstörung des einst zugehörigen Baues erfolgte doch eben wohl, weil die Statuen namhafte waren und ihre großen Künstlernamen schon trugen. Jedenfalls haben wir von vornherein keinen triftigen Grund, diese inschriftliche Überlieferung Lügen zu strafen. Wir würden nur dann ein Recht dazu haben, wenn es aus stilistischen Gründen unmöglich wäre die Statuen als das zu verstehen, was die Inschriften von ihnen sagen, als Werke d. h. Kopien nach Werken eines Praxiteles und Phidias. Dies ist aber nicht nur nicht der Fall, sondern das Gegenteil tritt ein: auch ganz abgesehen von allen Inschriften müßten wir, nur dem Stile nach, die Statuen notwendigerweise dem Kreise des Phidias zuschreiben.

Nun hat es einen älteren Praxiteles gegeben es war wahr- scheinlich der Großvater des berühmten jüngeren Trägers dieses Namens , der ein etwas jüngerer Zeitgenosse des Phidias war. Die Namen der Inschriften stehen also nicht im Widerspruche mit dem Stile der Statuen. Freilich besteht natürlich auch die Mög- lichkeit, daß die Inschriften erst in der spätantiken Zeit ihrer Aus- führung willkürlich erfunden worden sind, indem man einfach die zwei berühmtesten Bildhauernamen wählte. Der Umstand, daß es gerade zwei so berühmte, allbekannte Namen sind, wird immerhin diese Möglichkeit als naheliegend erscheinen lassen.

Allein wie immer es mit den Namen bestellt sein mag, die stilistische Analyse ist davon unabhängig. Die Stilformen sprechen ihre deutliche, entschiedene Sprache. Hier ist keine Spur von „Eklektizismus", hier herrschen nur rein phidiasische Formen.

Was der feine Blick des Bildhauers Canova schon erkannt hatte, daß es in Rom kein Werk gebe, das der großartigen Eigen-

38 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT

Fig. 13. Dioskur vom Monte Cavallo

art der Parthenonskulpturen so nahe komme wie jene Kolosse, bestätigt sich bei jeder genaueren Vergleichung. Allerdings haben wir hier nur römische Kopien, nicht Originale vor uns; die ver- lorenen Originale waren ohne Zweifel von Bronze und entbehrten der plumpen Stützen, welche im Marmor notwendig waren und sich unter den Pferden sowie je neben dem vorschreitenden Beine des Jünglings in Gestalt' eines Panzers befinden. Der Stil entspricht, in allem einzelnen wie im ganzen, vollkommen dem von Fries und Giebeln des Parthenon. Insbesondere charakteristisch ist die eigen- artige Bildung der Rosse und die ganze schwungvolle Bewegung der sie bändigenden Jünglinge, die genau entsprechend am Basis- relief der Athena Parthenos wie am Parthenon fries vorkommt, und nicht minder charakteristisch ist die Art der Stilisierung der Kör- performen der Jünglinge und die ihrer Köpfe, zu denen sich unter

DIOSKUR VOM MONTE CAVALLO

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Fig. 14. Dioskur vom Monte Cavallo

den attischen Reitern des Parthenonfrieses die nächsten Verwandten finden ').

Der begeisterte, feurige Schwung, der die ganzen Gestalten durch- zieht, erreicht in den herrlichen Köpfen seinen höchsten Ausdruck (Fig. 15). Die Haare wehen im Winde zurück und umgeben wie Strahlen das Haupt, und aus den weit offenen Augen sprüht gött- liches Feuer. Das sind die lichten Söhne des Zeus, die Aioöxofmi, die im Strahlenglanze mit ihren glänzend weißen Rossen sich tummeln,

') Diese kühn und genial begründete Annahme wird angezweifelt und das Original aus stilistischen Gründen in die Zeit nach Alexander den Großen datiert, doch gibt man auch auf gegnerischer Seite die in die Augen fallende Verwandtschaft in Bildung der Jünglinge wie der Rosse mit Parthenon und Phidias zu; in dieser Hinsicht ist der Vergleich mit Tafel 17 sowie mit Fig. 17 und 18 lehrreich.

40 GÖTTERBILDER AUS DEM 5. JAHRHUNDERT

die JTtbXcüv biuaTipeq (Alkman), die Xeuxö- TTcoXoi (Pindar), die i'rijroiöi |aap|aaipovTS (Euripides).

In die erhobenen Hände sind natürlich die Zügel zu ergän- zen, in die gesenkten je eine Lanze. Ver- mutlich waren, wor- auf je ein Loch auf dem Scheitel deutet, vergoldete Sterne auf den Köpfen ange- bracht; denn Sterne gehören zu den ge- wöhnlichsten Sym- bolen derDioskuren. Daß ihnen hier die eiförmigen Mützen, die Piloi, fehlen, kommt daher, weil zur Zeit der Ent- stehung der Origi- nale dies Attribut der Dioskuren über- haupt noch unbe- kannt war; es verbreitete sich erst in der Epoche nach Alexander. In ihrer ursprünglichen Aufstellung standen die vier Figuren, die Rosse wie die Lenker, nicht wie jetzt in zwei rechten Winkeln gebrochen, sondern in einer Flucht vor einer Wandfläche angeordnet. Die Mitte zwischen den beiden Gruppen bildete vielleicht eine Brunnenanlage. Denn „wie sie nach schwerer Arbeit sich selbst und ihre Tiere am frischen Naß erquicken, so teilen sie dieses Labsal, Wasser spendend, auch anderen gnädig mit. Als Wasser- spender werden sie schon sehr frühzeitig bei den Hellenen im Kult verehrt und im Bilde veranschaulicht".

Fig. 15. Kopf eines der Dioskuren vom Monte Cavallo

NIKE DES PAIONIOS 41

TAFEL 12 NIKE DES PAIONIOS

OLYMPIA.

Vor der Ostseite des Zeustempels zu Olympia stand* einst in- mitten einer Fülle anderer Statuen, doch sie alle noch überragend, auf dreiseitigem Pfeiler die Statue der herabschwebenden Nike, welche in verstümmeltem Zustande bei den deutschen Aus- grabungen gefunden wurde; in der von dem Bildhauer Grüttner in Berlin hergestellten Ergänzung ist sie abgebildet. Die Statue besteht aus parischem Marmor und ward im Dezember 1875 in ihren Haupt- teilen wiedergewonnen, zu welchen später noch verschiedene weit verschleppte Splitter kamen. Leider ist das Gesicht nicht gefunden worden ; hierfür bietet einen gewissen Ersatz eine in Rom zutage gekommene Kopie des Kopfes aus römischer Zeit, die für den Ruhm des Werkes im Altertume zeugt. Die Statue maß bis zu den Flügelspitzen gegen 2,90 m Höhe; mit der dreieckigen, nach oben sich verjüngenden Basis aber erreichte das Ganze fast die Höhe von 12 m.

Einer der Basisblöcke trägt die folgende Inschrift: Meöadvioi xai NaujrdxTioi dveö-ev Ali 'GXufaJTiDJ bexarav d;TÖ tcov TToXefii'cov. Ilaicovioc e7ioir\(5E Mevbaioc xai TdxpcoTTpta iroicov eril tov vaöv evi'xa. „Die Messenier und die Naupaktier haben (dies Bildwerk) dem olympischen Zeus als Zehnten von den Feinden geweiht, Paionios von Mende hat es gemacht, der auch gesiegt hat, wie er die Akroterien auf den Tempel machte." Nach Pausanias Bericht (V, 26, 1) bezogen die Messenier das Denkmal auf den Erfolg von Sphakteria 425 v. Chr., bei welchem messenische Hilfstruppen wesentlich mit beteiligt waren; Pausanias selbst dachte an die von ihm IV, 25 erzählten Ereignisse um 455 v. Chr., wo die Messenier von Naupaktos das akarnanische Oiniadai einnahmen, aber freilich bald wieder aufgeben mußten. Beide Annahmen sind nur antike Vermutungen, nicht zuverlässige Überlieferung; sie sind beide nicht haltbar. Die zu der Fassung der Inschrift und den historischen Verhältnissen einzig passende Zeit ist vielmehr die unmittelbar nach dem Frieden des Nikias (421 v. Chr.), und die Statue galt den verschiedenen erfolgreichen Kämpfen, welche die Messenier und Naupaktier während des Archidamischen Krieges bestanden haben. Die Errichtung der alles überragenden Statue unmittelbar

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vor dem Zeustempel war zugleich eine starke Demonstration gegen das sonst in Olympia dominierende Sparta, die nur verständlich ist in einer Zeit, in der Sparta mit Elis zerfallen war, wie 420, wo Elis im Bunde mit Argos und Athen stand; auch machte man eben damals Versuche, die messenischen Emigranten von Naupaktos wieder in die Heimat zurückzuführen.

Nur mit dieser Datierung der Statue ist auch ihr Stil ver- einbar, ja er weist mit Bestimmtheit auf dieselbe Zeit hin. Die nächsten stilistischen Analogien sind gewisse um diese Zeit er- richtete Akroteriengruppen eines Tempels zu Delos und die Skulp- turen des Nereidendenkmals zu Xanthos. Um oder gar vor der Mitte des fünften Jahrhunderts, dürfen wir nach dem Stande unserer sicheren kunstgeschichtlichen Kenntnisse mit Bestimmtheit sagen, war jene eigentümliche die Nike charakterisierende Behandlung des Gewandes, das sich feucht an den Körper anlegt und dessen Formen völlig durchscheinen läßt und das vom Winde in freie flatternde Be- wegung versetzt wird, völlig unmöglich. Es bedurfte dazu erst einer längeren Entwicklung, die wir an den erhaltenen datierbaren Denkmälern noch verfolgen können.

Die Akroterien auf dem Zeustempel, mit denen Paionios in der Inschrift sich rühmt in einer Konkurrenz offenbar ge- siegt zu haben, waren nicht etwa, wie man auch angenommen hat, die von Pausanias wahrscheinlich irrtümlich dem Paionios zuge- schriebenen Statuen des Ostgiebels, sondern die vergoldeten Niken auf den Firsten des Tempels, die im Motiv der von den Messe- niern geweihten Marmorstatue wohl sehr geglichen haben. Diese Niken (Pausanias erwähnt V, 10, 4 nur eine über der Ostseite, doch ist wohl eine gleiche im Westen vorauszusetzen) scheinen um dieselbe Zeit wie die der Messenier aufgestellt worden zu sein.

Paionios stammte aus der ionischen Stadt Mende an der thra- kischen Küste. Aber auch durch seine Kunstart gehört er in den ionischen Kreis. Die Technik der Marmorarbeit beherrscht er mit außerordentlichem Geschick. Sie ermöglicht es ihm, der Kühnheit seiner Phantasie vollen Ausdruck zu verleihen.

Aus dem Himmel hernieder durch die Lüfte schwebend so hat er die Nike gedacht, und dies wiederzugeben ist ihm wirk- lich gelungen. Ja, man darf wohl sagen, es gibt in der ganzen Plastik aller Zeiten und Völker keine menschliche Figur, welche das Schweben und Fliegen so glaubwürdig darstellte, daß man es der Natur selbst nachgebildet meinen möchte. Leise vornüberge- neigt, das linke Bein etwas vorbewegend, die Arme ausgebreitet, die wie ein Segel hinter sich den Mantel halten, die Flügel ge- hoben, so schwebt sie hernieder, den Kopf geneigt und, wie den

PHOI.E. VVASMUTH A,-G., BERLIN

NIKE DES PAIONIOS, OLYMPIA ERGÄNZT VON RICHARD GRÜTTNER IN BERLIN

NIKE DES PAIONIOS 43

ganzen Körper, ein wenig nach ihrer Rechten gewendet, wie denn auch der linke Flügel höher gehoben ist. Durch die Luft kommt sie daher, und unter ihren Füßen zur Seite fliegt der Adler mit ausgebreiteten Schwingen, gleich ihr, der Siegesgöttin, ein Bote des Zeus, des olympischen Gottes.

Die Marmormasse unter den Füßen und dem Gewände, aus welcher der Adler herauskommt, ist als Luft gedacht und war ge- wiß dementsprechend bemalt. Das technisch notwendige Gleich- gewicht gegen die vornübergeneigte Stellung der Göttin gaben der schwere Mantel und die Flügel. Mit großem Geschick hat der Künstler fast alle Stützen vermieden und dazu die flatternden Ge- wandenden benutzt. Die Göttin ist mit dorischem Peplos bekleidet, der über dem Überschlag gegürtet ist; auffallenderweise ist er an beiden Seiten offen und besteht aus zwei getrennten Hälften. Das linke Bein tritt durch die Verschiebung des Gewandes nackt her- aus. Die Formen des Körpers heben sich äußerst wirkungsvoll ab von dem prächtig bewegten Hintergrunde des bauschenden, flat- ternden Gewandes. Das Haar ist aufgenommen und größtenteils unter breiten Binden verhüllt. Unter der Brust ist ein bronzener Gürtel hinzuzudenken. In der Ansicht von unten, für welche sie berechnet war, erschien die Statue noch viel schlanker und natür- licher bewegt als in der hier abgebildeten Ansicht aus gleicher Höhe.

Die wundervolle Schöpfung hat schon im Altertum zahlreiche freie Nachbildungen erfahren; wir kennen aber kein anderes Werk, das ihr gleichgekommen wäre.

III. ANDERE SKULPTUREN DES FÜNFTEN JAHRHUNDERTS

Während uns die wichtigsten Meisterwerke der antiken Plastik, die bedeutendsten Tempel- und Votivstatuen, wenn über- haupt, so zumeist nur in Kopien erhalten sind, besitzen wir von Skulpturen, die dekorativen Zwecken dienten, und namentlich von Reliefs der Gräber und Heiligtümer manche überaus wertvolle Originale.

Das hervorragendste aller erhaltenen Weihreliefs aus Heilig- tümern ist Tafel 13, ein Relief, das, wenn auch flach gehalten doch durch seine Größe und Sorgfallt der Ausführung uns fast verlorene Statuen ersetzen kann; der Stil führt in den Kreis des Phidias. Nach der älteren Weise dieser Reliefs sind hier nur die Gottheiten, denen es geweiht war, unter sich dargestellt. Später pflegte der Weihende, oft mit seiner ganzen Familie, in kleiner Figur daneben angebracht zu werden.

Ebenfalls aus der phidiasischen Schule, aber aus etwas jün- gerer Zeit als das vorige, stammt das Orpheusrelief (Tafel 14), das vielleicht auch ursprünglich in einem Heiligtume geweiht war, obwohl) es nicht Gottheiten, sondern einen Vorgang aus der Heroen- sage darstellt.

Diese zwei auf drei Figuren beschränkten Reliefs geben einen vorzüglichen Begriff von jener stillen Hoheit, welche die religiösen Kompositionen phidiasischer Kunst auszeichnete.

Nicht ein Relief, aber etwas Verwandtes ist die Medusen- maske (Tafel 15), deren Original einst in einem Tempel geweiht und an der Wand aufgehängt war.

Unter den dekorativen Skulpturen nehmen die Reste des Marmorschmuckes des Parthenon in Athen die erste Stelle ein. Es ist noch eine größere Anzahl der Metopen erhalten, welche in Hochrelief namentlich Kämpfe mit den Kentauren schildern. Künst- lerisch noch bedeutender sind die Reliefs des Frieses, welcher den Festzug der Panathenäen darstellt und aus welchem Tafel 16 und 1 7 mit Figur 16 18 Proben bieten. Das Schönste und Großartigste

DIE ELEUSINISCHEN GOTTHEITEN 45

aber waren die Statuen der beiden Giebelfelder, von denen freilich nur wenige und diese verstümmelt auf uns gekommen sind. Tafel 18 und 19 sind vier der besten dieser Statuen wiedergegeben. Der Ostgiebel, dem sie angehörten, stellte die Geburt oder das erste Auftreten der Athena im Kreise der olympischen Götter dar; der Westgiebel zeigte den Streit der Athena mit Poseidon um das attische Land. Die Giebelstatuen wurden erst unmittelbar vor dem Peloponnesischen Kriege gearbeitet und zeigen gegenüber den Ko- pien der Athena Parthenos und Lemnia schon eine wesentliche Weiterbildung des phidiasischen Stiles. Wie das Gewand immer dünner und leichter und wie feucht anklebend gebildet wurde, das lehrt namentlich ein Vergleich der Mädchenstatue vom Erech- theion (Tafel 20) mit jenen älteren Athenafiguren. Auch diese Statue gehört zu den dekorativen Skulpturen, indem sie als Stütze verwendet war.

TAFEL 13

DIE ELEUSINISCHEN GOTTHEITEN

RELIEF AUS PENTELISCHEM MARMOR ATHEN, ZENTRAL-MUSEUM.'

Es ist unter den Denkmälern streng"' religiöser Kunst der Griechen das schönste, großartigste und best erhaltene, das, 1859 beim Bau eines Schulhauses im alten Heiligtum der großen Göt- tinnen zu Eleusis gefunden, sich jetzt zu Athen befindet und unter dem Namen das „eleusinische Relief" berühmt geworden ist.

Drei etwas überlebensgroße Figuren sind auf einer einzigen gewaltigen Platte in ziemlich flachem Relief gebildet. Die Platte ist vollständig; sie hat nur unten und oben einen vorspringenden Rand; der untere dient als Standplatte für die Figuren, der obere als schmückende Krönung. An den Seiten fehlt jeder Rahmen. Diese Einfachheit ist der alten Zeit eigen. Die Form der Platte ist genau diejenige, welche im fünften Jahrhundert auch bei den gewöhnlichen kleineren Weihreliefs die Regel ist. Erst die spätere Zeit pflegte kräftige pfeilerförmige Rahmen an den Seiten hin- zuzufügen.

Die Platte muß im Heiligtum aufgestellt gewesen sein wie andere Votivtafeln auch. Die leichten kleinen Weihtäfelchen des alten einfachen Kultus pflegten aufgehängt zu werden. Die schwereren

46 ANDERE SKULPTUREN DES 5. JAHRHUNDERTS

Marmorplatten wurden entweder mittels eines Zapfens auf einem frei- stehenden Pfeiler befestigt, oder sie wurden einfach an die Wand, besonders die einer Nische, gelehnt. Das eleusinische Relief, das nur eine monumentale Vergrößerung einer Votivtafel ist, muß man sich in letzterer Weise aufgestellt denken.

Nach der wahrscheinlichsten Deutung ist hier dargestellt, wie der Knabe Triptolemos von den beiden großen Göttinnen von Eleusis, Demeter und Köre, mit der Frucht des Feldes, den Ähren, ausge- stattet und mit dem Auftrage, die Kenntnis des Feldbaues in die weite Welt zu verbreiten, ausgesandt wird. Allerdings weicht das Relief von der sonst herkömmlichen Darstellung dieses Vorganges wesentlich ab. Doch wird dies aus künstlerischen Gründen zu er- klären sein, indem der Wagen, mit dem Triptolemos sonst zu fahren pflegt, die einfach strenge Komposition, die sich auf drei ruhig auf- recht stehende Figuren beschränkt, gestört haben würde.

Der Knabe empfängt etwas von der links stehenden Göttin, welche das Szepter mit der Linken aufstützt. Wahrscheinlich war es ein Büschel Ähren, der ursprünglich durch Bemalung ausge- drückt war. Die andere Göttin, an deren linke Schulter eine lange Fackel gelehnt ist, legt die Rechte auf den Kopf des Knaben; vor dem Stirnhaar des letzteren befindet sich ein Bohrloch, das einen metallenen Gegenstand festhielt; man vermutet darin einen Kranz, den die Göttin dem Knaben aufsetzte.

Daß die beiden Frauen Demeter und Köre sind, steht außer Zweifel; allein welche die Mutter, welche die Tochter sei, ist nicht sicher. Im Altertum gaben vermutlich, der damals herrschenden Sitte gemäß, gemalte Inschriften über den Figuren bestimmten Auf- schluß über deren Bedeutung. Da eine feste Typik, welche De- meter und Köre unterschieden hätte, wenigstens auf den Denk- mälern des fünften Jahrhunderts noch keineswegs nachzuweisen ist, so können wir die beiden Figuren auch nicht ohne weiteres benennen. Der Umstand, daß die eine das Szepter, die andere die Fackel trägt, daß die eine, wie es scheint, die Ähren übergibt, die andere einen Kranz aufsetzt, reicht ebenfalls nicht zur Unter- scheidung hin. Jene Attribute sind den beiden Göttinnen gemein- sam, ebenso wie sie beide in gleicher Weise an Triptolemos Aus- sendung beteiligt sind. Allerdings scheint die Figur links durch das Szepter und die ihr zugewandte Haltung des Triptolemos als die an Würde und Rang hervorragendere gekennzeichnet, wonach man in ihr Demeter gesehen hat. Jene Züge passen aber auch zu Persephone, der Heiligen, der Herrin (äyvi], dyaiM], bKönoiva, dvaööa). Dagegen hat der Künstler die beiden Gestalten offenbar durch die Tracht des Gewandes sowohl wie der Haare und durch

DIE ELEUSINISCHEN GOTTHEITEN

ATHEN, ZENTRALMUSEUM

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DIE ELEUSINISCHEN GOTTHEITEN 47

die Art der Körperhaltung aber nicht durch die Körperformen unterschieden. Die Göttin zur Rechten trägt den weichen, dünnen ionischen Linnenchiton mit Oberärmeln und darüber den Mantel. Es war dies zur Zeit der Entstehung des Reliefs in Athen die ältere Modetracht der Frauen, die eben damals begann, durch den dorischen ärmellosen, wollenen Peplos mehr und mehr verdrängt zu werden. Diesen letzteren trägt denn auch die andere Göttin, und zwar gegürtet und mit einem langen Überschlag versehen, dessen Enden vom Rücken über die Schultern gelegt sind. Diese Tracht ward in Athen damals zunächst besonders von jungen Mäd- chen angenommen. Unter den Göttinnen ist es die Parthenos, die Jungfrau Athena, die sie zuerst annimmt. Die jungen Mädchen, die Korai, welche die Halle am Erechtheion stützen, sind in der- selben dargestellt. Dies deutet darauf hin, daß die Köre unseres eleusinischen Reliefs in der Gestalt links zu erkennen ist. Frei- lich ward auch Demeter in eben dieser Tracht sicher schon in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts dargestellt; allein hier, wo eine Unterscheidung offenbar beabsichtigt ist, wird jene Tracht doch wohl Köre bezeichnen sollen.

Die Haare dieser Göttin zur Linken fallen lose ohne jeden Schmuck auf den Nacken herab; die Haare der andern sind in die Höhe genommen. Wenn dies, wie es offenbar hier der Fall ist, einen Unterschied von Tochter und Mutter andeuten soll, so kann kaum ein Zweifel sein, daß das lose herabhängende Haar dem Mädchen zukommt, das aufgesteckte der Frau. Denn es ist uns ausdrücklich überliefert, allerdings erst aus jüngerer Zeit, daß das unverheiratete Mädchen das Haar hängen ließ, die Frau es aufsteckte '). Die Denkmäler zeigen uns, daß dies durchaus nicht immer der Fall war; allein wo, wie hier, ein Altersunterschied durch die Haartracht angedeutet werden soll, ist derselbe wohl nur in jenem Sinne aufzufassen.

Zu der Annahme, daß die Göttin links Köre, die rechts De- meter sei, paßt auch die Verschiedenheit ihrer Haltung sehr gut. Die herbe, düstere Strenge scheint für die hehre Jungfrau, die Herrin der Unterwelt ebenso bezeichnend, wie das weichere mildere Wesen für die mütterliche Demeter. -)

') Callimachus, hymn. in Cer. v. 5 nebst dem Scholion dazu. Epigramm des Antipater Anthol. Pal. 6, 276.

-) Neuerdings wird wohl allgemein in der Gottheit links die Mutter, in der rechts die Schwester des Triptolemos erkannt. Schon der Umstand, daß erstere die Ähren reicht, paßt entschieden für Demeter Karpophoros, auch der Typus der Gestalt und Gewandung ist für sie in dieser Form nachweisbar.

48 ANDERE SKULPTUREN DES 5. JAHRHUNDERTS

Triptolemos der Knabe steht zwischen beiden, ganz dem hin- gegeben, was die hohen Göttinnen mit ihm vornehmen. Er trägt einen langen Mantel, der ihm auf der rechten Schulter liegt und dessen Ende er mit der Linken festhält. Das Haar des Oberkopfes ist nach vorn gekämmt und über der Stirne in einen Knoten ge- schlungen. Es ist dies eine Haartracht der Knaben, die besonders in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. in Mode war.

Der Stil des Reliefs ist durchaus der attische der phidiasischen Periode. Durch genauere Vergleiche mit datierbaren Skulpturen läßt sich das Werk in die Zeit zwischen 450 und 440 setzen; es wird ein wenig älter sein als der Fries des Parthenon. Geist und Ausführung entsprechen vollständig dem, was wir von phidia- sischer Kunst wissen, der wir dieses herrliche Werk unbedenklich zurechnen dürfen.

Die religiöse Kunst des Phidias zeichnete eben diese Kon- zentration auf eine große Wirkung, die erreicht wird durch Fern- halten jedes nebensächlichen störenden Elements, und die Art jener Wirkung aus, die stille Ruhe, der feierliche, fromme Ernst der nur leise bewegten Figuren.

TAFEL 14 ORPHEUS UND EURYDIKE

MARMORRELIEF. NEAPEL, MUSEO NAZIONALE

Dieses im Museo Nazionale zu Neapel befindliche Relief unbe- kannter Provenienz ist aus pentelischem Marmor gearbeitet und eine ziemlich gute, etwa aus der augusteischen Epoche stammende Kopie eines verlorenen attischen Reliefs, das in den letzten Dezennien des fünften Jahrhunderts entstand und einen Meister der phidiasischen Schule zum Urheber hatte. Es sind noch andere Kopien dieses Reliefs erhalten ; doch ist das hier wiedergegebene Neapler Exem- plar das beste. Es hat auch den Vorztig antiker, griechischer Namensbeischriften, die in absichtlich altertümlicher Schreibart über den Köpfen der Figuren stehen. Bei Orpheus sind die Buchstaben von rechts nach links zu lesen, wie auch die Stellung dieser Figur den beiden anderen entgegengesetzt ist. Doch auch ohne die Inschriften wäre die Bedeutung der Gestalten unzweifelhaft.

ORPHEUS UND EURYDIKE

NEAPEL, MUSEO NAZIONALE

F. BRUCKMANN A.-G., MÜNCHEN

ORPHEUS UND EURYDIKE 49

Orpheus hat durch die Macht seines Gesanges und seines Leierspieles die sonst unerbittlichen Unterweltsgottheiten gerührt und erweicht; er hat seine geliebte Gattin Eurydike wieder er- halten. Da vergißt er des Gebotes, auf dem Wege sich nach ihr nicht umzukehren. So zeigt uns das Relief das Paar; Orpheus hat sich nach der Geliebten umgewendet; er sieht sie, und der beiden Blicke versenken sich ineinander; sie haben sich wieder- gefunden. Sie legt dem Gatten, seines Besitzes sich zu verge- wissern, die Hand auf die Schulter. Doch zur gleichen Zeit er- greift Hermes, der Totenführer, die Rechte Eurydikes, um sie wieder zu den Schatten zu führen: die sich soeben in Liebe ge- funden, werden mit leiser, aber unerbittlicher Gewalt von neuem getrennt.

Orpheus ist als der Sänger gekennzeichnet durch die Leier, die er in der Linken hält, als Thraker durch die hohen, bis zu den Knien reichenden Stiefel, die aus Rehkalbleder zu denken sind, und durch die Fuchspelzmütze, die ct\con:exfi, die ihm den Kopf bedeckt '). Er trägt im übrigen einen gegürteten Chiton griechischer Sitte und eine auf der rechten Schulter geknüpfte Chlamys, welche auch den linken Arm nebst der Hand verhüllt. Das Gesicht des Orpheus ist modern ergänzt, ebenso wie seine rechte Hand, die aber, wie die übrigen Repliken zeigen, ähnlich bewegt war; der Gestus begleitet seine Worte, die er zu sprechen im Begriffe ist. Nach anderer Auffassung will er die Hand der Gattin fassen oder hat ihr Antlitz entschleiert.

Eurydike trägt den dorischen Peplos in der Weise, wie sie in der phidiasischen Zeit zu Athen üblich war. Das gegürtete Gewand bildet einen Bausch über dem Unterleib; der Überfall des auf den Schultern zusammengesteckten Kleides reicht bis zu eben jenem Bausch. Über den Kopf hat sie ein Schleiertuch geworfen, das auf ihre Schultern fällt. Durch die völlige Profil- stellung ihres linken Fußes ist angedeutet, daß sie nach rechts hin zu schreiten im Begriffe war und nur jetzt innehält; die ver- schiedene Fußstellung des Orpheus zeigt an, daß er sich umge- dreht hat.

Hermes ist als Gott durch etwas größere Gestalt ausgezeichnet. Auch er hält inne im Schreiten nach rechts. Er trägt, wie ge- wöhnlich in der älteren Kunst, einen Chiton und darüber eine Chlamys, die auf der rechten Schulter geknüpft ist. Der Chiton ist mit einem breiten Riemen gegürtet und bildet darunter einen kleinen Bausch. Im Nacken hängt Hermes sein breitkrämpiger

') Vgl. Herodot 7, 75. Xenophon Anab. 7, 4, 4.

Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl.

50 ANDERE SKULPTUREN DES 5. JAHRHUNDERTS

Reisehut, der Petasos, der an einem (plastisch nicht ausgedrückten) Bande um den Hals befestigt wird. Der vorstehende Rand des Petasos ist modern ergänzt. Das gelockte Haar ist kurz geschnitten, wie bei den die athletischen Übungen pflegenden Jünglingen. An den Füßen trägt er Sandalen ; eine andere Replik (die des Louvre) gibt ihm Stiefel. Das Kerykeion hält er nicht. In anmutiger, fast verlegen schüchterner Weise faßt seine Rechte den Chiton. Das ganze Auftreten des Gottes ist still bescheiden. Er handelt in höherem Auftrag und führt ihn so milde aus, wie er es nur vermag.

Die ruhigen, großen Züge der Köpfe, die reichen, schönen Falten der Gewänder und die gesamte Stilisierung sind durchaus von der Art wie am Parthenonfries und an den verwandten Werken der phidiasischen Schule aus der Epoche rund um 430 v. Chr.

Vor allem bewundernswert ist aber, wie hier auf so engem Räume mit so still und ruhig bewegten Figuren bei noch völligem Fehlen detaillierter, physiognomischer Ausprägung der Gefühle doch eine solche Fülle von Handlung und eine solche Tiefe der Emp- findung zum Ausdruck gekommen ist. Eine Schöpfung dieser Art war nur in der phidiasischen Zeit möglich. Die Komposition ist vollendet; man kann nicht den kleinsten Zug an ihr ändern, ohne das Ganze zu zerstören.

Die Bestimmung des einstigen Originalreliefs zu Athen ist un- gewiß. Jedenfalls war es aber nicht ein bloßer „Wandschmuck", wie man gemeint hat; denn dergleichen gab es in jener Zeit noch nicht. Das Relief kann sehr wohl religiöse Bedeutung gehabt haben; es schließt sich in seiner Form und Gestalt durchaus an die älteren Votivreliefs an ; es war eine selbständige Tafel, oben mit einem Randleistchen abgeschlossen, einst auf einem Pfeiler oder in einer Nische aufgestellt. Eine neuerdings vielfach ange- nommene aber ungewisse Vermutung ist die, daß es ein von einem im Wettkampfe siegreichen szenischen Choregen zum Danke er- richtetes Weihrelief ist, das den Hauptinhalt der Tragödie, mit welcher der Chorege siegte, in gedrängter Fassung zum Ausdruck bringt: dann hätte es dereinst mit zwei ähnlichen Darstellungen, etwa mit dem Peliadenrelief, vereinigt, den in einer Trilogie an den großen Dionysien zu Athen errungenen Sieg verewigt; es wäre der Dreiverein in einen tempelartigen Bau eingegliedert zu denken nahe dem Theater an der Tripodenstraße, wo noch heute das zier- liche Lysikratesdenkmal, des Dreifußes freilich längst beraubt, einsam dasteht. Jedenfalls erscheint durch das ergreifende Ethos, welches die Handlung leise durchbebt, der abgeklärte Adel der attischen Tragödie insbesondere des Sophokles verkörpert.

MEDUSA 51

Die Schönheit der Komposition veranlaßte kunstsinnige Römer sich Kopien davon anfertigen zu lassen, deren eine das Neapler Relief ist.

TAFEL 15 MEDUSA

MASKE VON MARMOR. MÜNCHEN, GLYPTOTHEK.

Diese berühmte Maske befand sich ehemals im Palaste Rondanini zu Rom, wo sie von Goethe bewundert wurde. Sie pflegt die Medusa Rondanini genannt zu werden. Sie ist eine treue, römische Kopie etwa augusteischer Epoche nach einem verlorenen grie- chischen, höchst wahrscheinlich in Bronze ausgeführten Originale. Es sind uns noch mehrere Repliken, d. h. andere Kopien nach demselben Originale erhalten, die für die Rekonstruktion der Stil- formen des Urbildes von Wichtigkeit sind. Diese Repliken waren vielleicht als ct7T<)rp6::Taia („Unheil abwehrende Bilder") am Eingang römischer Gebäude angebracht. An dem hier wiedergegebenen, gut gearbeiteten Münchner Exemplare sind nur unbedeutende Teile der Schlangen und Haare, sowie die äußerste Spitze der Nase er- gänzt. Die Maske ist frei gearbeitet; sie war ohne Zweifel be- stimmt, an irgend einer Wand befestigt, d. h. aufgehängt zu werden. Niemals aber hat sie, wie man fälschlich gemeint hat, in einem bestimmten Zusammenhange mit einem Architekturgliede gestanden; sie war kein dekoratives, tektonisches, sondern ein selbständiges Werk, die Weihgabe in einem Heiligtum.

Medusa erscheint hier nicht in der alten Weise fratzenhaft verzerrt, sondern in reiner menschlicher Schönheit. Doch hat der Künstler zur Charakteristik die Flügel und die zwei Schlangen benutzt, die, um den Kopf geringelt, sich unter dem Kinn zu einem Knoten verschlingen. Ferner gab er ihr große geöffnete Augen und gesträubtes Haar. Zum Hauptträger des Ausdruckes aber machte er den Mund, den er von ungewöhnlicher Breite und etwas geöffnet bildete, so daß die obere Zahnreihe sichtbar ward.

Man glaubte früher, die Medusa sei hier sterbend gedacht; Goethe meinte zuerst in dieser Maske „das ängstliche Starren des Todes" ausgedrückt zu sehen. Es war das ein Irrtum. Dem ganzen Kreise von Werken, in den sich die Rondaninische Medusa historisch

52 ANDERE SKULPTUREN DES 5. JAHRHUNDERTS

einreiht, liegt es vollständig fern, eine Sterbende, im Tode Er- starrende darstellen zu wollen. Sie wollen nur in menschlich schöner Form ausdrücken, was die alten Typen durch die rohe Verzerrung taten, die zwingende Gewalt des dämonischen Wesens, dessen Anblick dem Sterblichen das Blut in den Adern gerinnen, ihn zu Stein erstarren läßt. Dies ist dem Künstler vortrefflich gelungen durch den Ausdruck schauriger Kälte, den er dem Gesichte zu verleihen wußte, durch den breiten, geöffneten Mund, das mächtige Kinn und die großen, starren, durch die breite Nase weit auseinanderstehenden Augen.

Auch der streng lineare, für die Maske besonders passende Aufbau steigert jene Wirkung des Dämonischen. Die wagerecht ausgebreiteten Flügel bilden einen horizontalen oberen Abschluß, der auf das Ganze darunter gleichsam einen düster lastenden Druck ausübt. Nach unten konvergieren die Linien in der Art eines gleichschenkligen Dreiecks und treffen zusammen da, wo der schreckhafte Ausdruck des Ganzen sich konzentriert und in dem halbgeöffneten Munde seine größte Stärke erreicht.

Man hat die Maske früher in spätgriechische Zeit gesetzt; mit Unrecht; denn ihr Stil weist das Original mit voller Bestimmt- heit noch bis an das Ende des fünften Jahrhunderts. Ein großer Künstler muß ihr Schöpfer sein. Die Behandlung der Formen enthält charakteristische Züge, welche gestatten, in der Maske die Schöpfung des Künstlers Kresilas zu vermuten, desselben, auf welchen der Perikles (Tafel 50) und wahrscheinlich auch die Athena Velletri (Tafel 7) zurückgehen.

TAFEL 16/17 RELIEFS VOM PARTHENONFRIES

PENTELISCHER MARMOR. GÖTTERGRUPPE VOM OSTFRIES

ATHEN, AKROPOLISMUSEUM. REITER MIT BÄUMENDEM PFERD

VOM WESTFRIES ATHEN, NOCH AM TEMPEL. REITERGRUPPE

VOM NORDFRIES, LONDON, BRITISH MUSEUM.

Rings um die äußere Cellawand des 438 eingeweihten Tem- pels der Athena Parthenos auf der Akropolis zu Athen lief ein fast 160 m langer, 1 m hoher Fries in Flachrelief, der seit

RELIEFS VOM PARTH ENON FRI ES

ATHEN, AKROPOLISMUSEUM UND LONDON, BRITISH MUSEUM

RELIEFS VOM PARTHENONFRIES

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1816 großenteils im British Museum zu London aufbewahrt wird. Dargestellt sind die feier- liche, an den großen Panathenäen erfolgte Übergabe des Festge- wandes, des sogenannten Peplos, an Athena, welche nach des Künstlers Idee in Gegenwart der olympischen Götter statt- fand, und der aus diesem An- lasse veranstaltete Festzug der Bevölkerung der Stadt auf die Burg. Die sowohl aus dem Göttervereine als auch aus dem Festzuge hier abgebildeten Pro- ben gewähren in Verbindung mit den auf Tafel 18 und 19 wiedergegebenen Figuren aus dem Ostgiebel des Parthenon von

Fig. 16. Kopf des „Apollo'

der Vollendung der attischen Kunst zur Zeit des Phidias eine an- schauliche Vorstellung. Seit ihrer würdigen Bekanntmachung sind die Parthenonskulpturen wie eine Offenbarung der reinen Antike als der Gipfelpunkt griechischer und menschlicher Kunst über- haupt insbesondere von hervorragenden Künstlern gewürdigt und gepriesen worden; sie werden für alle Zeiten durch die künst- lerische Auffassung, die technische Vollendung, den wahren Tri- umph der Verbindung des Realismus und Idealismus für die Grenzen und Ziele der Plastik einen richtigen Maßstab abgeben, sowie zur Läuterung des Kunstgeschmackes beitragen und dadurch auf unsere modernen Kunstrichtungen, die zum großen Teile aller- dings in berechtigtem Widerspruch mit der seit Winckelmann geltenden Klassizität stehen, einen mäßigenden, wohltätigen Ein- fluß ausüben.

Von den hier abgebildeten Göttern ist Poseidon sicher erklärt, in der mittleren Gestalt ist höchst wahrscheinlich Apollo zu er- kennen, die weibliche von unsicherer Deutung wird Artemis oder wegen der Nachbarschaft mit Aphrodite Peitho genannt. Auch losgelöst von dem gesamten Göttervereine erregt die Gruppe der drei Figuren unser künstlerisches Interesse im höchsten Grade. Was den Betrachter mächtig anzieht, ist die in der äußeren Form über das Menschliche nicht erhobene Darstellung und zugleich die überirdische Schönheit und Erhabenheit der Gestalten, die Ver- körperung des ungezwungenen Verkehrs der homerischen Götter-

54 ANDERE SKULPTUREN DES 5. JAHRHUNDERTS

weit, die insbesondere an den nackten Körperteilen sich zeigende unerreichte Formengebung, vor allem die Behandlung der Draperie der Gewandung, ein ewig wechselndes, immer neue Gesichtspunkte erschließendes Wellenspiel der Falten, das Ergebnis eingehenden be- rechnenden Studiums, das in seiner rhythmischen und harmonischen Wirkung den Eindruck der Natürlichkeit hervorruft. Im einzelnen wird das Auge zunächst auf die herrliche Gestalt des jugendlichen „Apollo" gelenkt, der in ungezwungener Haltung zu Poseidon sich zurück- wendet: er ist ein Bild kräftiger, schwellender Gesundheit und wird in seiner vornehm leichten Bewegung, den üppigen, fast weichlichen Zügen des schöngelockten Kopfes (Fig. 16) als die Zierde des Göttervereins am Parthenonfries bewundert'). Der bärtige Poseidon^) sitzt aufrecht da, ernst und gemessen, fast etwas steif, dem herankommenden Festzuge entgegensehend, ebenso wie „Artemis" in feierlicher Haltung dorthin blickt. Sie ist von kräftiger, jugendlicher Körperbildung und durch reiche Kleidung ausgezeichnet: über den von der linken Seite herabgefallenen Chiton legt sich an dem unteren Teil des Körpers der Mantel, eine Haube verdeckt fast völlig das Haar. In der zierlich erhobenen rechten Hand hat die Göttin vielleicht eine Blume gefaßt. Gerade durch den Gegensatz in Haltung und Bewegung des Dreivereins hat der Künstler die störende Einförmigkeit des Ganzen glücklich vermieden und dem harmonischen Bilde einen neuen Reiz verliehen.

Die Götter erwarten sitzend die Prozession des attischen Volkes, welche wegen der Mannigfaltigkeit von Inhalt und Anordnung, des Wechsels der Darstellung, der Vorzüglichkeit der bis ins einzelne ausgeführten Arbeit als das unerreichte Meisterwerk friesartiger Reliefverzierung von Künstlern und Kunstkennern gepriesen wird. Vor allem hat der Reiterzug ^) durch die unerschöpfliche Fülle der Motive und Bewegungen von jeher besondere Bewunderung erregt und kann auch in den hier abgebildeten Proben gewürdigt werden. Er ist ein Abbild der rossefreudigen und rossestolzen athenischen Jugend ^), ein Beweis für die Trefflichkeit der Pferdezucht der

') In der. linken Hand wird ein Lorbeerzweig vermutet, das Haar war, wie aus den Fig. 16 deutlich sichtbaren Bohrlöchern zu erschließen ist, mit einem metallenen Kranze geschmückt.

2) Die linke Hand hat nach einer wahrscheinlichen Annahme den kurzen Dreizack gehalten, sein Haar hat ein Band geziert.

^) Für dessen Verständnis bieten Xenophons Schriften „über die Reit- kunst" und „von den Obliegenheiten eines Reiterobersten" mannigfache Anregung.

^) Vgl. Aristophanes Wolken 15, Thukydides, Geschichte des Pelo- ponnesischen Krieges VI, 12, 15, 16 u. a. St. m.

RELIEFS VOM PARTHENON FRIES

55

Fig. 17. Kopf eines lebhaft erregten Jünglings, der auf

sprengendem Rosse sitzt und nach dem säumenden

Genossen umschaut. Westfries des Parthenon. Marmor.

London, British Museum

euirtrroc /topa („des durch Pferdezucht berühmten Landes"), wie Attika von Sophokles') genannt wird, und für die Tüchtigkeit der Lenker. Die wechselvoll gekleideten und ausgerüsteten Reiter, schlanke und bewegliche Gestalten, sitzen mit sicherem Schluß der Schenkel und leicht bewegtem Oberkörper auf den feurigen, nur durch großes Geschick zu bändigenden Tieren, die auffallend klein

') Ödipus auf Kolonos 668 (Teubnerscher Text, 5. .^ufl. 1882); vgl.

56 ANDERE SKULPTUREN DES 5.JAHRHUNDERTS

mit dickem Halse und kurzer Mähne gebildet sind '). Roß und Reiter rufen auch heutzutage in ihrer harmonischen Vereinigung das lebhafte Interesse des Kenners wach und ernten uneingeschränktes Lob. Die Bewegungen der drei einigermaßen gut und vollständig erhaltenen Gruppen unserer Tafel 16, die eine gedrängte Kavalkade bilden und in kurzem Galopp dahinreiten, erklären sich größtenteils aus sich selbst: der Jüngling links sieht, vorwärts gebeugt, mit einem gewissen feierlichen Ernst auf das Zaumzeug hin und bringt es mit beiden Händen in Ordnung; er zeigt, ebenso wie der mittlere, auf- recht sitzende, in seinem ganzen Auftreten Anstand und Beschei- denheit. Die Perle der Darstellung ist der Reiter, welcher mit der linken Hand das eine Ende des Zügels festhält, zugleich aber den Luftsprung des ungestümen Pferdes mit einer kühnen Bewegung des rechten Armes zu begleiten und durch Anziehen des anderen Zügelendes zu hemmen bestrebt ist; die in der halben Rückenan- sicht zur vollen Geltung kommende Körperform ist nach Kompo- sition und Bewegung eine bedeutende Leistung der Bildhauerkunst. Weit übertroffen wird er von dem Relief auf Tafel 17, wo nur ein Reiter mit seinem Tiere die ganze Platte okkupiert; es ist eines der herrlichsten des Frieses und weckt schon durch die frappie- rende Darstellung sofort packendes Interesse, wertvoll auch des- halb, weil es die landläufige Vorstellung vom phidiasischen Stile modifiziert und erweitert; denn dem Bilde gibt nicht hoheitsvoller Adel, sondern überaus starker Realismus, dramatisches Pathos das Gepräge (vgl. auch Fig. 17). Rückwärts ist der Zug in Vorberei- tung, noch nicht zu dichter Schar geordnet. Eben will der Mann, der mit der Rechten den Zaum fest und kurz hält, von rechts mit dem linken Bein sich aufschwingen, auf einen an der Straße stehenden Trittstein den rechten Fuß setzend, da steigt das ungestüm vor- wärtsdrängende Vollblutpferd noch im Anlaufe hoch empor und sucht die unbequeme Last sich fernzuhalten ; nur ein Fuß berührt den Boden. In diesem Augenblick reißt sich der Lenker unwill- kürlich selbst nach links zurück, zieht den bisher schlapp herab-

auch Vers 708 ff.:

"AWov b' aivov e/co jnaxpoitöXei xäbe xpatiöTov bc7)pov ToG lueydXou &a{)aovo^ etJtsTv, yß-oxbc, aü/i^jna ^eiiaTov eui7i:iov, euTiwXov, . . . (des Poseidon). „Hoch nun preise das Lied noch ein anderes Gut, welches als edelste Gabe dem Lande geschenkt der erhabene Meergott! Du, Kronide, verliehst uns das herrliche Roß " ') Siehe zu Tafel 17.

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RELIEFS VOM PARTHENONFRIES

57

hängenden lin- ken Zügel nach oben straff an ') und gewinnt momentan die bestmöglichste Gewalt über sein Roß. Der ausgezeichnete Künstler hat gewiß im Frei- en oder in der Rennbahn,viel- leicht gar am Modell im Ate- lier, die zu- fällige Augen - blickssituation beobachtetund alsposenhaftes Bravourstück seines Könnens wiedergegeben. Man zweifelt, ob der Kontra- post der Kom- position, der

Zusammen- schluß wider- strebender

Fig. 18. Oberkörper des Reiters mit bäumendem Pferd. Nach einem aus alter Zeit erhaltenen Gipsabguß

Kräfte oder die rhythmische Stellung, die anatomisch sorgfältige Bildung der zwei Einzelfiguren größere Bewunderung verdienen. Von dem kühn und genial gestalteten Pferde, an dem jede Falte, jede Ader zum Ausdruck kommt, fällt der edel und lebens- voll geformte, feuersprühende Kopf ins Auge; sein Körper ist aus künstlerischen Erwägungen im Widerspruch mit der Wirklich- keit allzu klein gebildet um beide Figuren in proportionelles Ver- hältnis zu bringen. Des bärtigen Reiters Haupt, das am Original jetzt leider zerstört ist, läßt sich glücklicherweise einigermaßen würdigen an einem aus alter Zeit erhaltenen Gipsabguß (Fig. 18). Es trägt die thrakische, zu Athen in Mode gekommene Fuchspelz-

■) Linker Unterarm nur ganz schwach sichtbar.

58 ANDERE SKULPTUREN DES 5.J AHRHUNDERTS

mutze (siehe zu Tafel 14), der nur auf der linken Schulter geknüpfte Chiton ist infolge der heftigen Bewegung herabgeglitten, au-ch der kurze Mantel mit dem gefalteten Saume flattert vom Winde ge- peitscht nach rückwärts und steigert die Vorstellung von dem stür- mischen Vorgang; zugleich ist dadurch ebenso wie durch den Pferde- schwanz der Raum noch weiterhin ausgefüllt. Und erst recht glaubt man sich mittenhinein in die Szene versetzt beim Anblick des stark erregten, zornerfüllten Gesichts; durch lauten Zuruf sucht der Lenker die schwere Bändigung des unfügsamen Tieres zu erleichtern. So zeigt sich auch an diesem Teil der hochbedeutende Wert der Friesdar- stellung, doch wird das Auge von selbst wieder dem Ganzen sich zuwenden, von neuem das grandiose Gesamtbild auf sich wirken lassen. Die beiden Tafeln 16/17 sind gerade durch den Gegensatz der Auffassung geeignet den ausgedehnten, mannigfachen Reiter- zug im Gedächtnis lebendig zu erhalten. Freilich erst durch bunte Bemalung und glänzende Metallzutaten wurde die volle Wirkung erreicht, wovon man nur eine blasse Ahnung, kein klares Bild, ge- winnen kann. Aber auch ohnedies spenden die Reliefs eine un- versiegbare, immer nur kräftiger wirkende Quelle vornehm reinen Kunstgenusses. Die abwechselnden Motive, die Gestalten der Reiter und Pferde, den Ausdruck der klugen, durchgeistigten Gesichter der athenischen Jugend, die feurig belebten Köpfe der Tiere wird man im einzelnen zu studieren nicht müde, um dann wieder an der Be- trachtung des Ganzen sich zu erfreuen. Heitere Frische und Natür- lichkeit, ernste Feststimmung, der Abglanz der lebendigen Wirk- lichkeit teilen sich dem Beschauer unwillkürlich mit und versetzen ihn in die Zeit der großen Panathenäen dorthin, wo der feierliche Zug den Burgweg hinauf zum Tempel der Athena Parthenos ge- wallt ist.

TAFEL 18

GRUPPE VON DREI WEIBLICHEN STATUEN AUS DEM OSTGIEBEL DES PARTHENON

LONDON, BRITISH MUSEUM.

Diese Gruppe von pentelischem Marmor befand sich einst nahe der rechten Ecke im östlichen Giebelfelde des Parthenon auf der Akropolis zu Athen. Seit 1816 gehört sie dem Britischen

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OSTGIEBEL DES PARTHENON 59

Museum zu London. Die Figuren sind als Hestia, Demeter, Per- sephone; Amphitrite, Thalassa, Rhode, Perse, Circe; Klotho, La- chesis, Atropos; Aglauros, Herse, Pandrosos; Thallo, Karpo; die Chariten; Peitho, Aphrodite, und endlich als Personifikationen von Wolken gedeutet worden. Unter dem Namen „Tauschwestern" wurden sie am bekanntesten.

Die Köpfe fehlen alle und die Arme sind verstümmelt; doch sind die Figuren durch ihre die Natur getreu wiedergebenden und doch weit übertreffenden Körperformen, durch ihre wohlerhaltene und wundervoll gearbeitete Gewandung, durch die meisterhafte Technik in der Marmorbearbeitung die mit Recht am meisten be- wunderten Reste der Giebel des Parthenon. Sie stellen eine eng- verbundene Gruppe von drei Frauen dar. Aufgerichtet würde ins- besondere die Gestalt rechts ein Wunderbild weiblicher Fülle und Pracht darbieten. Die Figur links war im Giebel eng an die beiden anderen herangeschoben und mit dem Körper gerade nach vorn gerichtet (also noch etwas weiter nach rechts herumgedreht als auf unserer Tafel); ihr Kopf dagegen wendete sich nach links, nach der Mitte zu; er war 1674 noch erhalten. Wie eine damals gemachte Zeichnung lehrt, berührte die zweite, mittlere Figur mit ihrem rechten Ellenbogen das linke Knie der links sitzenden. Mit der rechten Hand zog diese mittlere Figur den Mantel an ihrem Rücken empor; den linken Arm legt sie um ihre Genossin, deren Oberkörper sie in ihrem Schöße sich aufstützen läßt. Beide blickten nach der Giebelecke zu; der Kopf der Gelagerten war 1674 noch vorhanden. Die Linke dieser Figur war erhoben und hielt lose ein stabförmiges Bronzeattribut, wie aus einem durch die Falten auf dem linken Oberschenkel gehendes Bohrloch bezeugt wird.

Die drei Frauen ruhen auf felsigem Boden; sie sind alle mit dem ionischen dünnen Linnenchiton bekleidet, der weite, geknüpfte Oberärmel hat und in sehr feinen Falten bricht. Um den Unter- körper haben sie den aus schwerem Wollstoff bestehenden Mantel geschlungen. Ein gröberes Tuch ist unter der Liegenden und ihrer Genossin auf dem Felsen ausgebreitet.

Nach rechts hin folgte im Giebel die mit ihrem Viergespann von Rossen in den Okeanos hinabtauchende Selene oder Nyx, die Göttin der Nacht.

Die Gruppe muß einen Dreiverein von Göttinnen darstellen. Die verbreitetste Deutung auf die sogenannten Tauschwestern, die drei Töchter des Kekrops, entspricht nun zwar dieser Bedingung; allein sie ist deshalb unhaltbar, weil die im Ostgiebel dargestellte Szene, die Geburt der Athena, nicht auf dem Burgfelsen Athens, dem Sitze jener Kekropstöchter, sondern im Olymp spielt, der

60 ANDERE SKULPTUREN DES 5.J AHRHUNDERTS

von Sonne und Mond umkreist und vom Okeanos umflutet wird. Es sind die drei Moiren, die Töchter der Nacht'), auch hier im Giebel der in den Okeanos hinabsteigenden Göttin der Nacht zu- gewendet. Die Schicksalsgöttinnen wurden allzeit bei den Geburten gegenwärtig gedacht^); sie bestimmen die Zukunft des Neugebo- renen; sie durften auch bei der himmlischen Geburt der Athena nicht fehlen. Mit der Athena Polias der Akropolis waren sie über- dies im Kulte verbunden^).

Die Schicksalsgöttinnen wurden seit alter Zeit als Spinne- rinnen gedacht; sie heißen xAcoO^ec; („Spinnerinnen") schon in der homerischen Poesie ^). Das verlorene Bronzeattribut der Gelagerten, das sie in der Linken hielt, war ohne Zweifel ein Spinnrocken und die wie man an dem Armstumpf noch sieht, einst nicht un- beschäftigte — Rechte zog spinnend den Faden.

Die Moiren wurden nicht etwa alt und häßlich gedacht; ja, in Athen galt Aphrodite, die Göttin der Schönheit, als die älteste der Moiren ; die Poesie nannte sie die eücoXevoi xoupai Nuxtc):; („die schönarmigen Töchter der Nacht") '). In berückender Schön- heit hat sie der Künstler des Ostgiebels dargestellt.

Die Figuren sind das Vollendetste, was uns an bekleideten Statuen der phidiasischen Kunst erhalten ist.

Neuerdings hat man wiederum die Figur links aus dem Drei- verein gelöst und in der Erwägung, daß die olympischen Götter bei der Geburt der Athena anwesend sein müssen, für die beiden liegenden Figuren die Deutung auf Aphrodite, im Schöße der Peitho oder der Mutter Dione ruhend, bevorzugt; mit der Göttin der Liebe war deren stets dienstbereite Gehilfin, die Göttin der Überredung, zu Athen in gemeinsamem Kult verehrt. Die Erklärung der dritten Gestalt bleibt freilich in diesem Falle noch unsicherer als bisher, Hestia, die Personifikation des häuslichen Herdes, ward sie benannt.

') Hesiod, Theogonie 217.

-) Vgl. z. B. Pindar, Ol. 6, 42; 10, 52; Isthm. 6, 17.

3) Corpus inscriptionum Atticarum I, 93.

^) Odyssee n 197.

5) Bergk, poetae lyrici Graeci III, fragmenta adespota 140.

OSTGIEBEL DES PARTHENON 61

TAFEL 19

LIEGENDE MÄNNLICHE STATUE AUS DEM OSTGIEBEL DES PARTHENON

LONDON, BRITISH MUSEUM.

Diese Statue von pentelischem Marmor befand sich einst im östlichen Giebel des Parthenon auf der Akropolis zu Athen, und zwar nahe der linken Ecke desselben. Sie gehört seit 1816 dem Britischen Museum zu London. Sie ist als Herakles, Theseus, Jakchos, Dionysos, Pan, Kephalos, Kekrops und Olympos erklärt worden; doch ward sie unter dem Namen „Theseus" am be- kanntesten.

Hände und Füße fehlen und der Kopf ist stark beschädigt; dennoch ist die Figur die besterhaltene von allen Giebelstatuen des Parthenon. Sie stellt einen nackten Jüngling dar, welcher auf felsigem Boden lagert, über welchen er das Fell eines wilden Tieres, anscheinend eines Panthers, und darüber sein Gewand ge- breitet hat. An den Füßen befand sich, wie ein Bohrloch am linken Knöchel zeigt, eine von Bronze angesetzte Fußbekleidung. Der linke Unterarm ist auf den Fels gelehnt und stützt den auf- gerichteten Oberkörper. Die Linke hielt ein Bronzeattribut, wie aus der Bronzepatina hervorgeht, die sich, durch das Regenwasser herabgeschwemmt, noch jetzt an dem Rande des Auflagers der Figur, auf dem Giebelboden, erkennen läßt. Die Rechte war er- hoben, wahrscheinlich ohne ein Attribut. Der Kopf zeigt kurz ge- schnittenes, nicht gelocktes und einfach anliegendes Haar; an der rechten (in der Abbildung nicht sichtbaren) Seite des Oberkopfes ist das Haar noch ziemlich gut erhalten. Auf dem Scheitel be- findet sich ein tiefes antikes Bohrloch und von da am Hinterkopf abwärts eine rauh behauene Stelle. Dies rührt von der Aufstellung und Befestigung der Statue im Giebelrahmen her. Es ist ein Irr- tum, wenn einige im Nacken des Jünglings Spuren von Zöpfen haben sehen wollen; das Haar erscheint einfach anliegend und kurz wie das der Athleten, nach anderer Beobachtung ist der Ein- druck der Tänie (Binde) zu erkennen.

Der Fluß der Umrisse dieser freien Rundplastik ist herrlich, die Formen des nackten Körpers sind kraftvoll, wie durch athletische Übung gestählt und auch der geistig belebte Kopf mit seiner in

62 ANDERE SKULPTUREN DES5.J AHRHUNDERTS

der Mitte nach unten stark vordringenden Stirne zeigt den Typus der Athleten und kraftvollen, jugendlichen Heroen. Die ruhende Kraft ist zum Ausdruck gebracht, aufrecht stehend gedacht würde die Figur als ein wunderbar vollendetes Bild männlicher Stärke und Schönheit vor Augen treten.

Die Stellung der Statue im Giebel war etwas schräger, als sie unsere Abbildung zeigt, und zwar so, daß die rauhgespitzte Stelle des Felsens unter dem linken Arme zur Giebelwand vertikal stand. Die Füße sind angezogen. Bis unmittelbar an sie heran reichten die in plastischen Wellen im Marmor nachgebildeten Fluten des Okeanos, aus welchen die vier Rosse des Helios und der Sonnen- gott selbst mit Kopf und Armen emportauchen. Diese Gruppe füllte die linke Ecke des Giebels. Unser Jüngling scheint die Rechte dem aufgehenden Helios zum Gruße zu erheben.

Die in dem Giebelfelde dargestellte Handlung war die Geburt der Athena, eine Sage, die gerade den Athenern lieb und wert war; in voll erwachsener Gestalt war die Göttin in der Mitte des Giebels ihrem thronenden Vater Zeus gegenübergestellt. Rings versammelte Götter, die staunen ob der neuen gewaltigen Erscheinung. An den Enden die ruhige Flut des Okeanos, der die Welt um- spannt, für welche Athena geboren wird; aus ihm erheben sich und in ihn sinken die himmlischen Gestirne, Helios und Selene, welche die Giebelecken füllen.

Die Deutung der Jünglingsfigur dieser Tafel, welche sowohl mit den Tatsachen in Einklänge steht als sich aus dem Zusammen- hange der Darstellung begründen läßt, ist die auf Kephalos, den schönen, jugendlichen Jäger, den Eos geraubt und zu sich an den Okeanos entführt hat. Das verlorene Bronzeattribut der Linken war die Lanze, die an der linken Schulter lehnend zu denken ist.

Die Giebel des Parthenon sind erst kurz vor dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges zur Vollendung gekommen. Die Jünglingsfigur dieser Tafel ist das beste erhaltene Zeugnis für die Meisterschaft, welche die von Phidias beherrschte attische Kunst dieser Zeit in der Bildung des unbekleideten männlichen Körpers erreicht hatte.

Wie bei den sogenannten Moiren (Tafel 18) wird jetzt in dem Jüngling, der auf Pantherfell ruht, wieder ein Olympier vermutet und zwar Dionysos, für den allerdings auch die ganze bequeme Haltung trefflich paßt.

MÄDCHENSTATUE VOM ERECHTHEION 63

TAFEL 20

STATUE EINES MÄDCHENS VON DER

KORENHALLE DES ERECHTHEIONS

ZU ATHEN

PENTELISCHER MARMOR. LONDON, BRITISH MUSEUM.

Unter dem falschen, bereits im Altertum für ähnliche Figuren gebrauchten Namen der Karyatide') ist die inschriftlich-) nur all- gemein und unbestimmt als xopp („Mädchen") bezeichnete, etwa 2,30 m hohe, leider mehrfach nicht unerheblich verletzte Statue weltbekannt geworden. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von Lord Elgin aus Athen nach London gebracht, hat sie dort einst auf der Akropolis mit fünf Genossinnen das Gebälk der Südwest- halle des Heiligtums der Athena Polias, das nach einem Räume desselben gewöhnlich Erechtheion genannt wird'^), als vollständig frei gebildete Rundfigur auf einer hohen Brüstung stehend, ge- tragen und ist durch eine Terrakottanachbildung ersetzt worden. Jener gewöhnlich als Korenhalle bezeichnete Teil des Tempels war, wie aus den über die Bauzeit des Erechtheions teilweise Aufschluß gewährenden Inschriften geschlossen worden ist, bereits mindestens 413 v. Chr. im wesentlichen vollendet. Die architektonische Ver- wendung der Gestalt ist durch den auf dem Kopfe ruhenden rund- lichen Wulst, sowie das einfache Kapitell mit der überaus fein und frisch gearbeiteten Verzierung der Perlenschnur und des Eier- stabes, endlich durch die profilierte Deckplatte angedeutet. An der Halle selbst schließen sich das dreifach gegliederte Epistylion ohne Fries und das Kranzgesimse mit Zahnschnitt an.

Eine attische Jungfrau von kräftigen und schönen Formen steht in blühendem Lebensalter vor uns und ist hier im Dienste der Gottheit verwendet, wie attische Mädchen am Cellafriese des Parthenon im panathenäischen Festzuge mancherlei für das der Athena dargebrachte Festopfer nötige Geräte herbeitragen. Sie

') Vgl. Vitruv, de architectura I, 1, 5; die dort gegebene Erklärung des Namens entbehrt durchaus der Wahrscheinlichkeit. -) Corpus inscriptionum Atticarum 1, 322. ■'') Pausanias, Beschreibung Griechenlands I, 26, 5 ff.

64 ANDERE SKULPTUREN DES 5.J AHRHUNDERTS

erscheint bis über die Füße bekleidet mit dem nur Hals und Arme freilassenden Peplos, über dessen Gürtel der Bausch in geschwungener Linie verlaufend herabhängt. Geschmückt ist sie mit der reichen Fülle des feingewellten Haares, das in mehreren nur teil- weise sichtbaren Zöpfen kunstvoll geordnet nach vorwärts über die Schultern in je zwei langen Strähnen sich legt und rückwärts, in einen starken und langen Schopf endigend, frei und tief hinabreicht. Der architektonischen Verwendung entsprechend, steht die Gestalt in gerader Haltung aufrecht da, ist indes durch das zur Seite gesetzte, deutlich hervortretende linke Bein ohne große Störung der Ruhe und Regelmäßigkeit des Ganzen mäßig bewegt. Die nur teilweise erhaltenen Arme schließen sich fest an den Ober- körper an, die linke Hand hatte den vorn an der Brust und ins- besondere im Rücken sichtbaren Überschuß des Peplos leicht ge- faßt. Die Gewandung, die in steifen, tiefen Falten verläuft und an jenem über den Gürtel hervorgezogenen Teile in wechselvollem Spiele geordnet ist, umhüllt zwar den Körper fast ganz, läßt aber großenteils dessen Formen klar durchscheinen. Das volle, breite Gesicht zeigt die echt attischen, klugen und lebendigen Züge, be- wahrt aber zugleich den dem architektonischen Prinzipe entspre- chenden feierlichen Ernst des Ausdrucks. Die Gestalt ist auch los- gelöst von dem Gebäude, für das sie bestimmt war, als eine aus- gezeichnete Schöpfung der attischen Kunst des fünften Jahr- hunderts von der Hand eines unbekannten, dem Stile und der Zeit nach dem Phidias nicht fernstehenden Meisters ein unschätz- bares Werk. Zur vollen Geltung aber kommt sie im Zusammen- hange mit der Architektur unter dem heiteren, blauen Himmel von Athen dort, wo die kleine Korenhalle auch neben dem mäch- tigen Bau des Parthenon in ihren edlen und einfachen, feinen und anmutigen Formen hervorragt. Denn in ihr ist die Verbin- dung von Plastik und Architektur, die Vertretung der Säule durch die menschliche Gestalt') ohne Störung des architektonischen Ge- setzesund ohne Zurückdrängung der Vorstellung von einem mensch- lichen Wesen überaus glücklich hergestellt worden. Die Mädchen erfüllen die ihnen gewordene Aufgabe, ohne in derselben aufge- gangen zu sein ; sie tragen ebenso sicher als leicht, stehen in geschlossenen Umrissen und vollen Formen den Säulen gleich in feierlicher, ernster Haltung ruhig und fest da, atmen aber in un-

') Sie ist in sehr ähnlicher Form bereits in der archaischen Kunst nachweisbar; denn beiden erfolgreichen französischen Grabungen zu Delphi sind derartige Frauenfiguren zutage gekommen, die als Bestandteile des Schatzhauses der Knidier gelten und demgemäß aus dem Ende des sechsten Jahrhunderts v. Chr. stammen.

TAFEL 20

STATUE EINES MADCHENS VON DER KORENHALLE DES ERECHTHEIONS ZU ATHEN

LONDON, BRITISH MUSEUM

F. BRUCKMANN A.-G.. MÜNCHEN

MÄDCHENSTATUE VOM ERECHTHEION 65

geschwächter Fülle jugendliches, frisches Leben, das am Kapitelle in den lebensvollen Verzierungen des ionischen Baustiles gewisser- maßen sich fortsetzt und durch die nur wenig überragende, leicht aufruhende Deckplatte nicht gestört wird. Darum sind sie auch, bald nachdem sie in weiteren Kreisen durch würdige Ver- öffentlichung bekannt geworden waren, als Vertreterinnen der reinen griechischen Antike allseitig bewundert und gepriesen worden, darum schon im Altertum ebenso wie in neuerer Zeit bis in un- sere Tage bei Bauten angebracht, nachgeahmt, umgebildet, nie- mals freilich erreicht worden. Gerade durch ^^ergleichung mit diesen Erzeugnissen späterer Kunst und späteren Kunsthandwerks werden die Urbilder bei ihrer höchsten Vollendung in noch glänzen- derem Lichte erscheinen.

Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl.

IV. SKULPTUREN AUS DEM VIERTEN JAHR- HUNDERT: GÖTTERBILDERJÄGER MIT HUND

Auch im vierten Jahrhundert sind es die attischen Künstler, welchen die Weiterbildung der Göttertypen insbesondere verdankt wird. In dieser Epoche verlieren die Götterbilder an unnahbarer Hoheit, um an Menschlichkeit und Innerlichkeit zu gewinnen. Die Künstler suchen weniger vom Standpunkte des Frommen aus das Erhabene und Göttliche als sich in die Seele der Gottheiten versetzend das Menschliche in ihnen darzustellen. Die Gottheiten erscheinen nun von Empfindungen bewegt und mit sich selbst be- schäftigt, wo sie vordem nur dem Anbetenden sich würdevoll zeigten.

Ein vortreffliches Beispiel bietet der sitzende Ares (Tafel 23), den manche ohne sichere Begründung auf Skopas, den großen Zeitgenossen des Praxiteles, zurückführen, andere mit mehr Recht als eine Schöpfung aus lysippischen und skopasischen Ele- menten betrachten. Der Gott ist ohne alle Rücksicht auf fromme Verehrer ganz in sich selbst versunken gedacht; das Motiv deutet Leidenschaft und Unruhe an, die in seinem Innern gärt, die aus dem erregten, in die Ferne gerichteten Blicke spricht und in dem ungeduldigen Umfassen des Knies sich ausdrückt. Ähn- lich die Demeter (Tafel 22), die von älteren Bildern würdevoll thronender Gottheiten so sehr verschieden ist. Auch sie zeigt sich nicht der Außenwelt, sondern ist ganz ihrer eigenen Empfindung hingegeben. Wir haben Grund, diese Statue mit der Richtung des Skopas in Beziehung zu setzen.

Weniger tiefe Empfindung, keine stärkere Erregung der Seele, aber heitere, süße Anmut ist der Grundzug der Schöpfungen des zweiten großen Meisters der Epoche, des Praxiteles. Sein Her- mes (Tafel 24), den wir so glücklich sind im Originale zu be-

SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT 67

sitzen, ist ein herrliches Beispiel dafür; die ganze Gruppe und namentlich der Kopf des Hermes sind von einer entzückenden An- mut. Zugleich ist dieses Werk auch in technischer Hinsicht sehr charakteristisch; es zeigt, welche der früheren Zeit unbekannten, außerordentlichen Wirkungen die Marmorarbeit nun hervorbringen konnte. Die wunderbare Zartheit der Meißel führung im Gesichte, besonders um das Auge, die feine Wiedergabe der Textur der Haut, dazu das lockere, mit dem Bohrer gearbeitete Haar mit seiner von der glatten Haut stark abstechenden, stumpfen Oberfläche dies sind Effekte, die erst Praxiteles dem Marmor abzuringen gewußt hat. Leider besitzen wir seine Aphrodite zu Knidos nur in Kopien (Tafel 25), die wenigstens einen annähernden Begriff von dem Reize des Werkes vermitteln. Hier feierte die Vermenschlichung der Gottheit einen besonderen Triumph: die Idee der zum Bade sich bereitenden Göttin die der Auffassung der Götter in der vorigen Periode so sehr zuwiderläuft ward in den auf Praxiteles folgenden Zeiten außerordentlich beliebt und immer neu variiert. Ein köstliches Original, das lange fast allgemein als ein Werk von Praxiteles Hand galt, ist dann wieder der sogenannte Eubuleus von Eleusis (Tafel 26), der mit milder Anmut den trüben Ernst des Unterweltgottes vereinigt; freilich bleibt die Deutung auf Tri- ptolemos sehr erwägenswert. Auch hier können wir die Technik der antiken Marmorarbeit auf ihrer Höhe bewundern.

Die Eirene (Tafel 21), von Kephisodotos, wohl einem älteren Anverwandten des Praxiteles, herrührend, ist ein für den Anfang des vierten Jahrhunderts charakteristisches Werk, das in Stellung und Gewandung ein merkwürdiges Rückgreifen auf die ältere phi- diasische Weise zeigt und doch vom Wesen jener älteren Werke schon völlig verschieden ist. Nach dem Zusammenbruch des glän- zenden attischen Reiches am Ende des Peloponnesischen Krieges setzt die neue Richtung in der Kunst zunächst etwas befangen ein und wendet sich von den Extravaganzen der letztvorangegangenen Epoche recht absichtlich zu den älteren, mehr Einfachheit und Wahr- heit zeigenden Formen zurück, um so allmählich zu einem neuen Stile zu gelangen. Die Vollendung der neuen Weise in der Ge- wandbehandlung zeigt die Demeter (Tafel 22).

Neben Praxiteles und Skopas wirkten noch manche andere bedeutende Künstler. Der Typus des Zeus, den der Kopf von O tri coli zeigt (Tafel 27), ist vielleicht im Kreise von Meistern atti- scher und lysippischer Kunstrichtung entstanden. Möglicherweise geht der schwungvolle Apoll (Tafel 28) auf Leochares zurück. Er ist im Gegensatze zu dem langbekleideten Kitharoden Apoll (Tafel 8) ein prachtvolles Beispiel der anderen Auffassung des

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Gottes als des unbekleideten ferntreffenden Jünglings mit Bogen und Pfeil. Die eilende Artemis (Tafel 29) kann aus dem Kreise des Praxiteles oder seiner Nachfolger oder anderer Attiker hervorge- gangen sein. Auch die Muse Melpomene (Tafel 30) scheint vielen praxitelischen Ursprungs. Die weit reichende, lange wirk- same Tradition zeigt sich bis in die hellenistische Epoche hinein, wo die Körperbildung weichlicher, die Gesichtsformen zart ver- schwommener erscheinen, die Bewegungsmotive oft noch viel kühner, genialer gestaltet werden: Ein Produkt dieser Fortsetzung und Er- weiterung praxitelischen Geistes ist der Hypnos (Tafel 31), der wohl auch von anderen kongenialen Meistern, von Skopas Stil nicht unbeeinflußt geblieben ist. Von des letzteren männlichem Schön- heitsideal bietet der Jäger mit Hund (Tafel 32) eine glänzende Probe.

TAFEL 21

EIRENE MIT DEM KINDE PLUTOS

MÜNCHEN, GLYPTOTHEK.

Die Statue, die aus pentelischem Marmor besteht, befand sich früher in der Villa Albani zu Rom und ward wahrscheinlich in der Gegend von Rom gefunden. Nachdem sie vorübergehend, durch Napoleon L entführt, in Paris gewesen war, kam sie in die Glyptothek zu München. Sie ward früher als Ino Leukothea mit dem Dionysoskinde erklärt. Später erkannte man mit größter Wahrscheinlichkeit in ihr die Nachbildung einer einst zu Athen befindlichen Statue des Künstlers Kephisodotos, welche die Friedens- göttin Eirene mit dem Knaben Plutos, dem Dämon des Reich- tums, auf dem Arme darstellte'). Diese Gruppe wurde in Athen wahrscheinlich 374 nach glänzenden Siegen über die Peloponnesier und nach Befestigung der Hegemonie über die Seestaaten gelobt und wohl 371/70 bei Gelegenheit eines festlichen Friedenskon- gresses errichtet; vor ihr wurde der Friedensgöttin alljährlich ein größeres Opfer von Staats wegen dargebracht-).

In majestätischer Haltung steht die Göttin da, fest auf dem linken Fuße ruhend, den rechten entlastet zur Seite setzend. Die

') Pausanias, Beschreibung Griechenlands 9, 16, 2. -) Isokrates XV, 109. Cornelius Nepos, Timotheus 2.

EIRENE MIT DEM KINDE PLUTOS

MÜNCHEN, GLYPTOTHEK

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erhobene Rechte stützte sich auf ein langes Szepter (der rechte Arm der Statue ist modern ergänzt). Auf dem linken Unterarm trägt sie ein kleines Knäbchen, das die Rechte (ergänzt, doch richtig) nach ihr ausstreckt und in der Linken ein Füllhorn hielt, das Symbol der segensreichen Fülle des Reichtums. Der Ergänzer hat der linken Hand fälschlich eine Kanne gegeben; das Füllhorn wird sowohl durch die Nachbildung der Gruppe, die sich auf athenischen Münzen erhalten hat, als durch eine besser erhaltene Wiederholung des Knaben bezeugt, die sich in Athen befindet. Auch der Kopf des Knaben ist nicht der richtige ; er ist zwar antik, stammt aber von einer anderen Figur, wahrscheinlich einem Eros; an jener Wiederholung in Athen und einer anderen in Dresden ist der richtige Kopf erhalten.

Die Friedensgöttin erscheint hier in sinnvoller Weise als die Pflegerin des Reichtums. Wie eine Mutter hält sie den Knaben auf dem Arme und blickt milde zu ihm nieder, der sich zärtlich zu ihr wendet. Das weiche, volle Haar der Göttin ist aus der Stirne gestrichen und um ein Diadem gelegt, das nur in der Mitte vorn sichtbar ist. Nach hinten fallen reiche Locken nieder. Ihr Gewand ist der dorische Peplos von Wollstoff, der so angezogen ist, wie es in Athen im fünften Jahrhundert üblich war. Sie ist gegürtet, doch fällt das Gewand über den Gürtel, so daß ein Bausch quer über dem Unterleib entsteht; auf den Schultern sind die Enden des Gewandes zusammengeheftet, und der große Über- schuß des Stoffes fällt als Überfall nach vorn und hinten herab. Die stilistische Behandlung der Falten schließt sich in den Grund- zügen an die Vorbilder an, die Phidias geschaffen, unterscheidet sich von jenen aber durch manche kleine Züge, die von erneutem Naturstudium zeugen. Dieser Gewandstil ist dem Anfang des vierten Jahrhunderts recht charakteristisch, indem man damals von der in der Zeit des Peloponnesischen Krieges herrschenden Weise (vgl. Tafel 20) sich abwandte und zu den älteren, nicht manierierten, der Natur näher stehenden Vorbildern zurückkehrte, die man nun neu umzuarbeiten begann. In der Bildung des Kopfes der Eirene und der ganzen milden, weichen Stimmung in der Wendung und Neigung desselben spricht sich der Charakter der Epoche, welcher das Original der Statue angehörte, deutlicher aus, der Epoche, in welcher Praxiteles seine Tätigkeit begann.

Der Künstler Kephisodotos war nämlich, wie es scheint, ein etwas älterer Zeitgenosse des berühmten Praxiteles, der wahr- scheinlich zu diesem in einem nahen verwandtschaftlichen Verhält- nisse stand. Daß er sein Vater war, wie in neuerer Zeit gewöhn- lich angenommen wird, ist möglich, aber nicht sicher.

70 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

Das Original der Gruppe war sehr wahrscheinlich von Erz. Die uns erhaltene Marmorkopie ist etwa in der augusteischen Epoche gearbeitet.

TAFEL 22

STATUE DER DEMETER VON KNIDOS

MARMOR. LONDON, BRITISH MUSEUM.

Eine der schönsten Götterstatuen, die uns erhalten, ein echtes griechisches Originalwerk nicht nur aus der Zeit, sondern auch aus dem Kunstkreise der großen Meister des vierten Jahrhunderts V. Chr., des Skopas und Praxiteles, ist die sitzende Demeterstatue von Knidos, die 1858 gefunden und ins Britische Museum gebracht worden ist.

Die Statue befand sich nicht in einem Tempel, sondern in einem offenen Temenos zu Knidos, d. h. einem umzäunten heiligen Räume. Das Temenos bildete eine Terrasse am Abhang einer schroff ansteigenden Felswand. An den übrigen drei Seiten war die Plattform von einer Mauer umgeben. Eine Nische in der felsigen Rückwand scheint die Stelle gewesen zu sein, an der sich die Statue ursprünglich befand. Die gefundenen Inschriften zeigen, daß das Temenos den unterirdischen Gottheiten und insbesondere der Demeter und Persephone geweiht war. Leider ist eine zur Statue gehörige Inschrift nicht gefunden.

Indes kann kein Zweifel sein, daß diese Göttin von weichem, mildem, mütterlichem Charakter nicht Persephone, sondern die Mutter Demeter selbst darstellt.

Die mütterlichen Gottheiten wurden in der griechischen Kunst seit alter Zeit mit Vorliebe, ihrem ruhigen Wesen entsprechend, sitzend dargestellt. Auch die volle Bekleidung und die Verhüllung des Hinterhauptes, die wir an unserer Statue bemerken, sind Züge, die schon von alters her der mütterlichen Göttin eigneten. Demeter trägt hier einen feinen ionischen Linnenchiton, der nur unten über den Füßen und am rechten Oberarm sichtbar wird; darüber hat sie den Mantel geschlungen, der von feinem Wollstoff zu denken ist. Der Mantel bedeckt den Hinterkopf und verhüllt in eng an- schließenden Falten fast den ganzen Körper. Der Sitte nach ist er unter dem rechten Arme durchgezogen, so daß dieser zur Bewe-

STATUE DER DEMETER VON KNIDOS

LONDON, BRITISH MUSEUM

DEMETER VON KNIDOS

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gung Frei bleibt. Das Ende des Mantels ist über die linl>ce Schul- ter geworfen.

Leider feh- len die beiden Unterarme; ohne Zweifel haben die Hände etwas ge- halten; doch fehlt jede Spur, um etwas Sicheres darüber zu sagen. Auch die Kniee und das ganze rechte Unterbein sind sehr beschä- digt. Dagegen ist der Kopf (Fig. 19) bis auf die Na- senspitze vor- trefflicherhalten. Er ist, wie die Tafel deutlich er- kennen läßt, mit dem Halse in den Torso eingelas- sen. Er besteht aus feinem, wei- ßem parischen

Marmor, dessen durchscheinendes Korn selbst in der Photographie kenntlich ist. Der Körper ist aus geringerem, etwas graubläulichem Marmor gearbeitet. Ein ähnliches Verfahren ward gerade in der guten Zeit griechischer Skulptur öfters angewendet. Wenn man nicht die ganze Statue aus dem teuren feinen Marmor machen konnte, so benutzte man ihn wenigstens für den Kopf und setzte diesen in das geringere Material ein. Freilich ging dies nur bei bekleideten Figuren gut an, wo das Gewand die Fuge ver- bergen half.

Das Gewand bricht in zahllosen Falten, die sich vielfach kreuzen und schneiden. Es ist dieser Gewandstil für die Kunst des vierten Jahrhunderts v. Chr. recht charakteristisch. Der Künstler geht

Fig. 19. Kopf der Demeter von Knidos, ergänzt

72 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

nicht aus auf wirkungsvolle, einfach große Formen, sondern sucht dem Reichtum der Natur durch Beobachtung der kleinen, einzelnen, zufälligen Erscheinungen nachzukommen.

Die Haare der Göttin sind, wie es der Mutter ziemt, schlicht und einfach angeordnet. Das weiche, volle Haar ist in der Mitte gescheitelt und nach den Seiten gekämmt. Am Halse fallen lose natürliche Locken bis zur Brust herab.

Der Künstler hat sich und dies ist das Bedeutendste an der Statue in das Innere, die Seele der von ihm dargestellten Göttin selbst versetzt. Er hat sie nicht als unnahbares, fernes, von menschlichen Empfindungen unbewegtes Wesen geschildert. Er hat ihr Seele gegeben. Und dies ist wieder ein charakteri- stischer Zug für die Götterbildung im vierten Jahrhundert. Ob- wohl thronend, ist doch die Haltung der Göttin keine unbewegt feierliche. Der linke Fuß ist lebhaft zurückgezogen und vor allem ist der Blick etwas nach der Seite und aufwärts gerichtet : diese Göttin schaut nicht majestätisch auf die nahenden Andächtigen, sie ist mit sich selbst, mit ihrer eigenen Stimmung beschäftigt. Ins- besondere durch die Bildung des Auges, und dann auch die des Mundes, hat es der Künstler verstanden, ihrem Kopfe den Aus- druck einer gewissen wehmütigen Sehnsucht zu verleihen: es ist Demeter die Mutter, der die Tochter Persephone geraubt ward.

Um die Mitte des vierten Jahrhunderts wurden namentlich durch das Mausoleum zu Halikarnaß und den neuen Tempelbau zu Ephesos die ersten Künstler aus Athen nach der kleinasiati- schen Küste gerufen. Auch in Knidos haben diese damals ge- arbeitet. Der Kunstcharakter der Demeter stimmt sehr mit der Richtung überein, die, nach dem, was wir wissen, Skopas einge- schlagen hat; die Statue wird von einem ihm nahestehenden, auch praxitelische Elemente stark ausdrückenden Meister geschaffen sein.

TAFEL 23 RUHENDER ARES

MARMOR. ROM, THERMENMUSEUM.

Auf dem alten Marsfelde zu Rom zwischen den heutigen Palazzi Santa Croce und Campitelli, wo im Altertum das 13 v. Chr. eingeweihte Theater und die gleichzeitig erbaute Krypta des Baibus

RUHENDER ARES 73

lagen, ist die im ganzen gut erhaltene und richtig ergänzte') Statue gefunden worden und bereits im siebzehnten Jahrhundert im Be- sitze der Familie Ludovisi nachweisbar; nach ihrem ehemaligen Aufbewahrungsorte in der Villa Ludovisi benannt, ist sie neben dem sogenannten Ares Borghese im Louvre zu Paris die berühm- teste Darstellung des Kriegsgottes und gibt in guter römischer Nachbildung ein griechisches Originalwerk wieder, von dem mehrere Kopien in Bruchstücken erhalten sind ; die oft vermutete Beziehung zu dem sitzenden Ares des Skopas-), an dessen Kunstcharakter der pathetische Ausdruck des Kopfes manchen erinnert, ist in Er- manglung näherer Nachrichten über dieses Werk unerweisbar, vielmehr erscheint die Schöpfung durch einen nur noch unter dem Einfluß des Skopas stehenden Bildhauer, der zugleich schon stark von Lysipp abhängt, weit wahrscheinlicher. Auch ob die unten zum Teil wenig glücklich angebrachten Attribute, Schild, Helm, Beinschiene, sowie der Eros, welcher auf das insbesondere in hellenistischer und augusteischer Zeit betonte Verhältnis des Ares zu Aphrodite hindeutet, erst Zutaten des römischen Kopisten sind, läßt sich nicht ganz sicher entscheiden ; jedenfalls zeigt sich die genial entworfene, durch den wunderbaren Fluß der Linien und die rhythmische Bewegung der Glieder von allen Seiten gleichmäßig wirksame Figur innerhalb ihrer geschlossenen Umrisse ohne diese Beifügungen um so einheitlicher und günstiger. Schon ohne jene kriegerischen Attribute und das Schwert, das vermutlich auch im Originale von der linken Hand gehalten war, ist die körperliche Beschaffenheit ebenso wie das geistige Wesen des Kriegsgottes unübertrefflich klar zum Ausdruck gebracht. Auf einem Felsen sitzt Ares mit vorwärts gebeugtem Oberkörper in bequemer Hal- tung da, die Hände über das hoch emporgezogene linke Bein legend; durch die herabgefallene Chlamys tritt die durch athletische Übung errungene Elastizität und Gewandtheit des von dicker Fett- masse umspannten Körpers deutlich hervor, die breite Brust und

') Abgesehen von kleineren Ergänzungen sind am Ares im wesent- lichen neu die rechte Hand, der Schwertgriff und der rechte Fuß, am Eros der Kopf, der linke Arm mit dem Köcher, der rechte Vorderarm mit dem Bogen, der rechte Fuß. Die Ansatzspuren auf der linken Schulter des Ares und unterhalb derselben sicher zu erklären, ist bisher nicht gelungen; man hat einen zweiten Eros vermutet, den Gott auch mit der ihm zur Seite stehenden Aphrodite gruppiert. Die Höhe der sitzenden Figur be- trägt 1,56 m.

-) Das marmorne Kolossalbüd befand sich zu Rom im Tempel des Mars, den Brutus Callaecus, der Bezwinger der Lusitaner und Gallaecer (Konsul 138 v. Chr.l, in der Nähe des Circus Flaminius erbaut hatte (Plinius der Ältere, naturalis historia 36, 26).

74 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

die mächtigen Arme ') zeigen gewaltige Kraft, die überaus langen und schlanken Beine un- übertroffene Schnellig- keit -) des Gottes. So ruft die Gestalt trotz der ruhigen Situation den Eindruck rastloser Tätigkeit hervor und läßt erwarten, daß der Kriegsgott jeden Au- genblick aufspringt um im Kampfgetümmel als ßpoToXoiyoc;, ftoOpoq "Apric;(„ menschenver- derbender, ungestümer Ares") zu wüten.

Diese aus dem Ge- samtbilde gewonnene Vorstellung wird be- stätigt und bekräftigt durch den Ausdruck des vorgebeugten Kop- fes, der, getrennt von der Statue betrachtet, immer neue Gedanken wachruft (Fig. 20). Während wir bei dem Anblick anderer thronen- der oder sitzender Gottheiten von einer gewissen frommen Scheu befangen werden, wird hier Auge und Gemüt von persönlichem Interesse für den Kriegsgott gefesselt, wenn wir die geistige Stimmung des jugendlichen, von üppigem Lockenhaare bedeckten Kopfes zu ergründen suchen. Getrennt vom fröhlichen Kreise der olympischen Götter blickt Ares träumerisch sinnend in die Ferne, nicht ohne den Zug tiefer Melancholie und Unzufrieden- heit mit seinem Dasein, im Inneren leidenschaftlich erregt und

Fig. 20. Kopf des Ares Ludovisi

') . . . im' "ApT(o:; 7iaXa,uäcDv („von Ares Armen") Homer, Ilias 3, 128. 2) . . . "Apqa

ojxÜTaTOv Ttep eovTa O'etöv, oi "OXv)|ii7tov e)^ouöiv. („. . . den Ares,

der doch an Schnelle besiegt die Unsterblichen auf dem Olympos") Homer, Odyssee 8, 330 f.

RUHENDER ARES

ROM, THERMENMUSEUM

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KOPF DES HERMES 75

von Unruhe gepeinigt, ein stürmischer, unbändiger, streitbarer Charakter :

Aiei yäp toi e'pi^ tk 91X1] rtöXejuioi' Tt-" ,Lia/oi re. l^qTpöt; Tox jLievoc; kötu ääöyexov, oüx KTiieixTOv

"Hpn^').

(„Immer hast du den Zank nur geliebt und Kampf und Befehdung! Gleich der Mutter an Trotz und unerträglichem Starrsinn, Heren").

Die aus der homerischen Poesie in plastischer Anschaulich- keit hervortretende Gestalt des Ares ist in der herrlichen Statue verkörpert.

TAFEL 24

KOPF DES HERMES AUS DER GRUPPE DES HERMES UND DIONYSOSKNÄBLEINS

VON PRAXITELES. ÜBERLEBENSGROSS. PARISCHER MARMOR.

OLYMPIA.

Der bereits seit längerer Zeit erfolgte Nachweis mehrerer literarisch überlieferter Werke des Praxiteles in römischen Kopien hat die Bedeutung des von alten Schriftstellern gepriesenen attischen Marmorbildners, sowie die Größe des Verlustes der Originale ahnen lassen. Um so berechtigter war die laute Freude der Kunstkenner, die sich rasch der ganzen gebildeten Welt mitgeteilt hat, als am 8. Mai 1877 bei Gelegenheit der auf Kosten des Deutschen Reiches unternommenen Ausgrabung der Festesstätte von Olympia die hier im Texte abgebildete, im ganzen sehr gut erhaltene -) Gruppe (Fig. 2 1 ) an das Tageslicht gekommen und würdig bekannt gemacht worden war. In der Cella des Heratempels der Altis wurde sie zwar ohne Künstler- und Weihinschrift gefunden, konnte aber auf Grund ihrer stilistischen Eigenart sogleich mit der von Pausanias^) als dort be- findlich erwähnten Gruppe des Praxiteles identifiziert werden. Wahr- scheinlich ist sie von einer anderen Stelle der Altis oder vielleicht

') Homer, Ilias 5, 891 ff.

2) Die linke Hand hat einst das in vergoldeter Bronze gebildete Kerykeion, die hoch erhobene Rechte wahrscheinlich eine Traube gehalten. •') Beschreibung Griechenlands 5, 17, 3.

76 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

auch aus einem ande- ren Orte erst später zu einer uns unbekannten Zeit in jenes Heiligtum versetzt worden, da die gemeinsam mit der Gruppe gefundene Ba- sis einer bedeutend jüngeren Epoche als diese angehört und infolgedessen nicht die ursprüngliche ist. Der ehemalige Aufstel- lungsort des Meister- werkes kann ebenso- wenig wie der Anlaß der Darbringung in Er- manglung literarischer Nachrichten ermittelt werden. Dagegen bie- tet das Verständnis derDarstellung keiner- lei Schwierigkeit: Der Götterbote Hermes ist von Zeus beauftragt worden, sein Brüder- lein, den kleinen Dio- nysos, nach Nysa in Böotien zu den Nym- phen als dessen künf- tigen Pflegerinnen und Erzieherinnen zu brin- gen, und hält auf der Wanderschaft dorthin Rast, indem er die Chlamys abgestreift hat und auf einem von dem Gewände größtenteils bedeckten Baumstamme den linken Ellenbogen aufstützt. Das Knäblein, das er auf dem Arme hält, lehnt sich mit der rechten Hand an die Schulter seines Be- schützers und hat die linke nach einem von Hermes einst gehal- tenen Gegenstand ausgestreckt; in demselben, der mit dem größten Teile des rechten Armes verloren gegangen ist, vermutet man mit hoher Wahrscheinlichkeit eine für den künftigen Gott des Weines überaus passende Traube. Wie Hermes von den griechischen Dich- tern als allzeit rüstiger, stets dienstbereiter und gewandter Götter-

Fig. 21. Statut- des Ht-rmcs in Olympia

KOPF DER STATUE DES PRAXITELISCH EN HERMES OLYMPIA

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KOPF DES HERMES 77

böte '), als V^ertreter jugendlicher Kraft-) und Schönheit ') gefeiert und im Kultdienste weit und breit verehrt worden ist, so bietet diese Statue eine plastische Verkörperung seines Wesens und seiner Wirk- samkeit dar. Denn er tritt in derselben als kräftig gebaute, edle Jünglingsgestalt von heiterem, freundlichem Charakter entgegen. Doch weit mehr als das rhythmisch bewegte und harmonisch ge- schlossene Gesamtbild der Gruppe ist das tadellos erhaltene ') Haupt als schönster Teil des Bildwerkes in Abbildungen und ins- besondere Abgüssen weit verbreitet und geschätzt. Sei es, daß die technisch meisterhafte Behandlung des Marmors und die sorgfältig durchgeführte Arbeit beobachtet wird, sei es, daß man die Einfachheit und Erhabenheit der Auffassung und Dar- stellung ins Auge faßt, in gleichem Maße muß die Leistung des Praxiteles als Höhepunkt künstlerischen Schaffens gepriesen werden. Der Kopf ist leise gesenkt, das Auge ruht nicht unmittelbar auf dem Kinde, sondern richtet in scheinbarer Sorglosigkeit den Blick träumerisch sinnend in die Ferne. Betrachtet man die formale Bildung des Kopfes, so werden die klaren und bestimmten Umrisse des mächtig gewölbten Rundschädels und das nach unten sich stark verjüngende Gesicht als bezeichnende Eigentümlichkeiten praxite- lischer Kunst hervortreten. Richtet man das Auge auf die Details, so wird das mit genialer Freiheit behandelte, in einzelne Locken sich teilende Haar^), das von den glatten Flächen des Gesichts wirkungsvoll sich abhebt, ebenso wie die von demselben scharf abgegrenzte, in ihrem Unterteil stark hervortretende Stirne, die in leichter Wellenlinie verlaufende Nase, die Modellierung der Wangen, der ernste und zugleich freundliche Zug um den kleinen, leise ge- öffneten Mund, endlich die Abrundung des Kinns mit dem Grüb- chen auch im einzelnen das feine Formenverständnis des Künstlers auf das glänzendste offenbaren. Im Gesamtbilde des Hauptes aber ist es das durchgeistigte, von leiser seelischer Erregung belebte

') 0-ewv Ta/v:, uYyeXo^ („der schnelle Götterbote'*) (Hesiod, Werke und Tage 85) u. a. St. m. Das bei Homer übliche Beiwort bidv.Topo- („der Ge- leitende") kennzeichnet seine Tüchtigkeit in dieser Hinsicht am klarsten.

2) 'E\ayv>\\v- (wörtlich „zum Wettkampf gehörig") heißt Hermes als Gott der Wettkämpfe und der Palästra.

•5) /cipiv b' tneU^nxe Kpü\{(!)v („Anmut aber hat Kronion hinzugefügt") liest man im Hymnos auf Hermes, homerische Hymnen 3, 575; ebenda Vers 127 führt der Gott den Beinamen /apjau^pwv („heiteren Sinnes").

^} Die auf der Abbildung sichtbaren dunkeln Flecken rühren von Kalksinter her, welcher sich unter der Erde an den Marmor angesetzt hat.

') Dasselbe war höchstwahrscheinlich einst mit einem aus Metall gebildeten Kranze geschmückt, wie aus den auch in der Abbildung deut- lich erkennbaren Einarbeitungen im Marmor geschlossen werden darf.

78 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

Antlitz, das den Betrachter unwiderstehlich fesselt. Freilich wird gemäß der künstlerischen Auffassung und Empfänglichkeit desselben der Eindruck in mancher Hinsicht ein verschiedener sein und darf hier durch allzustarke Betonung individueller Gefühle nicht gestört werden. Zweifellos aber wird jedermann beim Anblicke des voll- endeten Marmorwerkes weniger in laute Begeisterung als in frohe, gehobene Feststimmung versetzt, die als edelste und erhabenste Wirkung der bildenden Kunst erachtet werden muß.

TAFEL 25

MARMORKOPF DER APHRODITE

NACH PRAXITELES. ETWAS ÜBERLEBENSGROSS. AUS TRALLES IN KARIEN. BERLIN, SAMMLUNG VON KAUFMANN.

Im Altertum wurde als schönste Statue der Erde und berühm- teste Schöpfung des attischen Marmorbildners Praxiteles die nackte, in das Bad steigende Aphrodite gepriesen, welche, aus leuchtendem, parischem Marmor gebildet, an einer ihrer berühmtesten Kultstätten'), zu Knidos ^) am Vorgebirge Kariens, in einem kleinen, am Meere gelegenen Tempel aufgestellt war^). Jene durch die alten Schrift- steller bezeugte Wertschätzung des Bildwerkes, das auf Grund der Darstellungen knidischer Münzen aus römischer Kaiserzeit schon lange in mehreren Kopien nachgewiesen war, wird jetzt durch zahl- reich erhaltene Wiederholungen auch monumental bestätigt. Bereits im Altertum wurde der Kopf als der künstlerisch vollendetste und edelste Teil der Statue insbesondere von dem feinfühlenden Kunst- kenner Lucian ^) verständnisvoll beurteilt und kann in der hier in Vorder- und Seitenansicht abgebildeten Kopie, die fast unversehrt erhalten ist und als tüchtige Arbeit eines griechischen Künstlers

•) So ruft Horaz, carmina 1, 30, 1, Venus als ,regina Cnidi' („Königin von Knidos") an.

2) Den Reichtum der blühenden Seehandelsstadt an Marmorwerken berühmter attischer Meister des vierten Jahrhunderts v. Chr. bezeugt lite- rarisch Piinius der Ältere, naturalis historia 36, 22, monumental die dort gefundene Statue der Demeter, abgebildet in dieser Handausgabe Tafel 22.

3) Piinius der Ältere, naturalis historia 36, 20 f. (vgl. auch 34, 69). Pausanias, Beschreibung Griechenlands 1, 1, 3. Lucian, imagines 4. Pseudo- lucian, amores 13.

••) imagines 6; vgl. auch Pseudolucian, a. a. O. 13.

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APHRODITE NACH PRAXITELES

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sich darstellt, gut ge- würdigt werden. So ist sie geeignet, die im Altertum dem Origi- nale gespendeten, uns fast überschwenglich erscheinenden Lob- sprüche vollauf zu be- stätigen, und läßt vor allem die der praxi- telischen Kunst eigen- tümliche zarte Be- handlung des harten und spröden Marmors auch in diesem Ab- glanze des Urbildes genügend erkennen. Die Göttin der Liebe, deren Aussehen und Wesen insbeson- dere durch die seit der homerischen Poesie beliebten Beinamen „xaXii, 91X01.1 uBibiir" („schön, hold lä- chelnd") u. a. m. ge- kennzeichnet sind, ist in der Gestalt eines jugendlichen, blühen- den Weibes verkör- pert. Ihr Haupt, das auf dem in vollen Formen gebildeten Halse ruht, ist etwas zur Seite geneigt, der Blick der flachen, schmalen Augen träumerisch sinnend und sehnend in die Ferne auf ein unbestimmtes Ziel gerichtet. Das in vielen, gleichmäßig verlaufenden Strähnen angeordnete Haar, welches durch ein doppeltes Band in drei Zonen sich sondert und Ohren, sowie Schläfe teilweise bedeckt, ist rück- wärts in einem Schöpfe zusammengehalten. Die einzelnen Teile des ovalförmigen Gesichtes hat Praxiteles mit feinstem Formen- verständnis wiedergegeben: Die dreieckige Stirne, die zarten Um- risse der Brauen, die Abrundung des Kinns, die feine Modellierung der Wangenflächen und Nase, vor allem aber der zartgebildete, etwas geöffnete Mund, um den ein leises Lächeln spielt, sind eigen- tümliche Vorzüge seiner Kunst, die zwar auch bei anderen weib-

Fig. 22. Mädchenkopf praxitelischer Zeit und Richtung, eine Göttin oder Sterbliche darstel- lend. Griechisches Marmororiginal, München, Glyptothek (nach Ergänzung in Gips)

80 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

liehen, auf ihn oder seine Schule zurückgeführten Köpfen hervor- treten, bei keinem aber in dieser harmonischen Vereinigung von Anmut und Würde wiederkehren (vgl. auch Fig. 22). Während bei älteren Darstellungen der Aphrodite die stärkere Betonung reifer Weiblichkeit ins Auge fällt, erscheint hier der zarte Liebreiz eines jugendlichen, mädchenhaften Wesens hervorgehoben, der für die Kunst der Folgezeit bis in die Gegenwart trotz des späterhin viel- fach hervortretenden Ausdrucks der Sinnlichkeit im wesentlichen maßgebend geblieben ist. Er wird in seiner schlichten Einfachheit und göttlichen Erhabenheit, ebenso wie die kraftvolle und heitere Gestalt des Hermes, als höchster künstlerischer Ausdruck jugend- licher Schönheit auf jedes empfängliche Auge einen mächtigen Zauber ausüben, so oft es auf diesem Doppelbilde ruht, bei dessen Anblick man nur darüber Zweifel hegen kann, welcher von beiden Ansichten der Preis gebührt.

TAFEL 26 MARMORBÜSTE AUS ELEUSIS

ATHEN, ZENTRALMUSEUM.

Dieser herrliche Jünglingskopf ist 1885 zu Eleusis in einem kleinen Heiligtume des Pluton gefunden worden, das sich vor einer ernsten, dunkeln Felshöhle nahe den Propyläen des großen eleu- sinischen Heiligtums befand. Zugleich waren hier Weihinschriften an ein nur als „der Gott" und die „Göttin" bezeichnetes altes chthonisches Götterpaar, sowie an Eubuleus gefunden worden. Dieser Eubuleus war eine selbständige Gestalt des eleusinischen Glaubens und nicht etwa mit einem anderen Gotte identisch. Sein Name, mag er den Wohlberater oder Wohlwollenden bedeuten, ge- hört zu jenen den unterirdischen Mächten aus Scheu und Furcht gegebenen Namen, in denen der Wunsch sich ausspricht, daß der chthonische Dämon sich nur von seiner segenbringenden Natur zeigen möge. Im Kulte des Eubuleus zu Eleusis vergrub man ihm ein Schweinchen in die Erde. Daher machte ihn die Sage zum Schweinehirten, dessen Tiere beim Raube der Kora mit in die Erde verschwanden; und um ihn an die großen eleusinischen Göttinnen näher anzugliedern, machte ihn die dortige Sage zum Bruder des Triptolemos oder Sohne der Demeter; er ward somit jugendlich ge-

MARMORBUSTE AUS ELEUSIS

ATHEN, ZENTRALMUSEUM

MARMORBÜSTE AUS ELEUSIS 81

dacht. In der Tat ist der jugendliche, lockige Eubuleus, zum Teil mit dem Schweinchen und dem Zweigbündel des mystischen Kultus in den Händen, in verschiedenen, den eleusinischen Kultus an- gehenden Denkmälern nachzuweisen.

Die Fundumstände machen es somit möglich, in dem hier ab- gebildeten Jünglingskopfe, der ein chthonisches Wesen darstellen kann, jenen Eubuleus zu erkennen. Die symmetrisch in die Stirne hereinfallenden Haare sind für die Unterweltgottheiten charakte- ristisch.

Der Kopf muß berühmt gewesen sein. Im eleusinischen Heilig- tume selbst fanden sich zwei Repliken, die sich als geringere, spätere Wiederholungen kundgeben. Ferner aber wurde der Kopf von den Kopisten der römischen Zeit in Italien nachgebildet; wir besitzen noch solche Kopien in italienischen Museen, die dort früher als Bildnisse Vergils galten.

Die wunderbar vollendete Ausführung des eleusinischen Kopfes, die in jedem Zuge die Meisterhand bekundet, läßt keinen Zweifel, daß wir in ihm eben das berühmte Original selbst besitzen, das die späteren Kopisten wiederholten. Sein Künstler muß ein nam- hafter gewesen sein, da das Werk sonst nicht wiedergegeben worden wäre. Sein Stil weist es in den praxitelischen Kreis; ja, die Technik der Ausführung von Haar und Fleisch hat nirgends eine nähere Par- allele als am Hermes von Olympia (Tafel 24), der nach dem Zeug- nisse des Pausanias von Praxiteles herrührt.

Nun wissen wir durch die Inschrift einer Herme im Vatika- nischen Museum zu Rom, deren Kopf leider verloren ist, daß die dortigen Kopisten den Kopf eines „Eubuleus des Praxiteles" dar- stellten ; die Inschrift der Herme, EußouXeüq ripa^iTeXouc, ist eben- so abgefaßt wie die von zwei anderen römischen Kopien, lavDjui'ibiiq Aeco/dpoi::; und 'HpaxXqc Eücppdvopo(:;. Der Eubuleus des Praxi- teles mußte sich einst in Eleusis befinden, da wir sonst nichts von dem Kulte eines Eubuleus ohne Zusatznamen wissen. Der Künstler Praxiteles aber war natürlich der große, berühmte, nach dem die römischen Kopisten so unzählige Male arbeiteten, und nicht ein anderer obskurer Mann.

So drängte denn manches zu der Identifikation des eleusini- schen Kopfes mit dem verlorenen, später kopierten Originale des Praxiteles. Allerdings ist jene Inschriftenherme im Vatikan heutzutage kopflos und möglicherweise war von Praxiteles ein an- derer Typus des „Wohlberaters", der des bärtigen chthonischen Gottes, dargestellt. So erscheint die Beziehung des eleusinischen Kopfes zu dem Künstler oder wenigstens zu seinem Kreise eigent- lich nur durch den Stil gesichert, doch auch der Stil führt keines-

Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. tJ

82 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

wegs ausschließlich auf jenen großen attischen Meister selbst. Die oft vorgeschlagene Deutung auf Triptolemos bleibt sehr erwägenswert, zumal da er tatsächlich auf einem eleusinischen Votivrelief aus der Mitte des vierten Jahrhunderts v. Chr. so erscheint. Freilich drückt unser Kopf in wunderbar vollendeter Weise gerade das Gemisch von milder, freundlicher Weichheit und trübem, düsterem Ernste aus, das eben den Unterweltgott, den Eubuleus, charakterisiert. Auf der Brust ist ein Chiton angedeutet, wie ihn die chthonischen Götter in der Regel tragen.

Man vermutet, daß der Kopf nicht zu einer Statue gehörte, auch saß er nicht auf einer Herme, und ebensowenig hat er die spätere, erst in Rom entstandene Form der eigentlichen hinten hohlen Büste. Er ist an der Brust durchgeschnitten wie die Büsten der früheren Renaissance. Auch die klassische griechische Kunst kannte diese Form. Der Kopf war vielleicht einst in einer kleinen Ädikula auf einer Tischplatte aufgestellt, in welche er mit dem unteren Rande eingelassen war. Ein Relief aus Eleusis zeigt eine gleichfalls als Eubuleus gedeutete Büste etwa in dieser Weise auf- gestellt, freilich gehört es nach der Haartracht in flavische Zeit und jener Kopf kann ebensogut Triptolemos oder lacchos genannt werden.

Trotz der Verstümmelung an Nase und Augenbrauen ist der Kopf unserer Tafel eines der herrlichsten Originalwerke, das wir aus der Antike besitzen.

TAFEL 27 ZEUS VON OTRICOLI

KOLOSSALKOPF VON MARMOR. ROM, VATIKANISCHES MUSEUM.

Dieses in den weitesten Kreisen der Gebildeten bekannte und durch Abgüsse vielfach verbreitete Kunstwerk ist in den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts in Otricoli, dem alten Ocri- culum, einer nordöstlich von Rom im ehemaligen Umbrien gelegenen Landstadt, bei den von Papst Pius VI. veranstalteten Grabungen zutage gekommen und gilt, in der Sala rotonda des Vatikanischen Museums aufgestellt, mit Recht als eine Zierde des an auser- lesenen Werken reichen Prachtraumes. Trotz völliger Erneuerung der Büste und Rückseite darf die Erhaltung eine glückliche ge- nannt werden, da das Gesicht, abgesehen von kleineren Ergän-

ZEUS VON OTRICOLI

ROM, VATIKANISCHES MUSEUM

ZEUS VON OTRICOLI

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Zungen, unversehrt ist. Früher fälschlich als Nachbildungdes Kopfes von der phidiasischen Goldelfenbeinstatue im Zeustempel zu Olympia betrachtet, wird das Bildwerk heutzutage als eine gute römische Ko- pie nach dem Haupte des Marmorstandbildes eines unbekannten grie- chischen Meisters an- gesehen,welches gemäß der kräftigen, realisti- schen Formengebung und der trotz schein- barer feierlicher Ruhe des Ganzen im ein- zelnen erregten Züge des Antlitzes nicht vor der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr., vielleicht auch et- was später entstanden ist und neuerdings mit Wahrscheinlichkeit auf Grund des Stils und Gesichtsausdrucks mit Meistern, die Elemente attischer und lysippischer Kunstrichtung in sich vereinigen, in Ver- bindung gebracht wird. Jenes Marmorwerk muß, als Kultbild in einem Tempel oder heiligen Bezirke der Gottheit geweiht, durch seine Kolossalität und die wahrhaft göttliche Erhabenheit des Hauptes im Gemüte des frommen Gläubigen tiefe religiöse Scheu mit zwingender Gewalt wachgerufen haben; durch die im Originale vorauszusetzende Neigung des Kopfes wurde diese Wirkung gewiß noch verstärkt.

Gerade bei dem Anblicke des Antlitzes gewinnt die Tatsache, Homer habe den Griechen ihren Olymp geschaffen, neue Bestä- tigung; denn das Bild des Zeus, das durch die schöpferische Ge- staltungskraft der homerischen Poesie in die Religion und das V^olksbewußtsein der Griechen und Römer übergegangen ist und noch heutzutage dem Leser der homerischen Gesänge deutlich vor Augen tritt, ist hinsichtlich der äußeren Form und des inneren

Fig. 23. Marmorkopf des Zeus Boston, Museum of Fine Arts

84 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

geistigen Wesens in dem Werke plastisch verkörpert, das zugleich eine ausgezeichnete Probe für die bewun- derungswürdige Fähig- keit der griechischen Kunst ablegt, die Be- deutung einer Gottheit in ihrem vollen Um- fange auch ohne Bei- fügung bezeichnender Attribute gerade in dem Haupte zum Ausdruck zu bringen.

Zeus ist in gereif- tem, würdigem Mannes- alter gedacht, von der Schwäche des Greises unberührt; das Haupt ist leise nach vorwärts gesenkt. Das mächtige, der Mähne des Löwen vergleichbare Haar, das wie ein dichter, wellen- artig bewegter Kranz das Gesicht umrahmt und die Ohren bedeckt, sowie der herrliche Vollbart mit den rundlich gekräuselten Locken verleihen dem Ant- litze den Ausdruck des Väterlichen, Ehrwürdigen, erheben es aber durch die Großartigkeit der Erscheinung über das Menschliche hinaus. In dem durch die Fülle des Haares und Bartes fast etwas zu eng begrenzten Gesichte offenbaren die lange Querfurche und die darunter stark vorspringenden Knochen der mächtig empor- ragenden Stime den Sitz klaren Verstandes und energischen Willens, die schmalen, tiefliegenden Augen, über welchen in lang- gezogenem Bogen die Brauen sich wölben, zeigen den festen, ruhigen, sicheren Blick, sprechen aber zugleich in Verbindung mit dem geöffneten Munde und der herabhängenden Unterlippe eine gewisse Heiterkeit und Gutmütigkeit des Alters aus. Harmonisch mischen sich Züge stürmischer Leidenschaft und abgeklärter Ruhe. Man erkennt in dem Bilde den Zeüq xvbiaxoc, ineyiöroq („den erhabensten, gewaltigsten Zeus"), der durch die Bewegung des Kopfes und der Locken, durch das Zucken der Brauen den Olymp

Fig. 24. Zeus. Boston. Nach ergänztem Abguß

ZEUS VON OTRICOLI

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erschüttert, den jitnTie:ra Zei3:; („Berater Zeus"), den Tiarqp dvbptov xt Oewv TE („Vater der Menschen undGötter"), von dem mit weiser Besonnenheit aller Ge- schicke geleitet werden, den Zevc |aei\i/iöc(„den milden Zeus"), der durch die leise Nei- gung des Hauptes dem in frommer Scheu na- henden Gläubigen Er- füllung seiner Bitten gewährt und Trost im Leide spendet. So sucht und findet man in den einzelnen Zügen des Antlitzes die Elemente, aus denen das Wesen des Allherrschers und Allvaters sich zusam- mensetzt; wenn man sich aber wieder zur Betrachtung desganzen Bildes sammelt und erhebt, wird, je länger das Auge auf ihm ruht, der Eindruck erhabener, allumfassender Majestät vorherrschen.

Viel ruhiger und reiner als im Zeus von Otricoli ist das Wesen des Gottes wiedergegeben in einem Kopfe, der vor einigen Jahren in dem an wundervollen Skulpturen der zweiten Blüte attischer Kunst überreichen Kleinasien, zu Mylasa unweit von Halikarnaß zutage kam ') (Fig. 23); er ist ein kostbares Marmor- original des vierten Jahrhunderts v. Chr., das Werk eines attischen Meisters ersten Ranges. Die in der Abbildung nicht sichtbaren Löcher am Oberkopfe lassen auf das ursprüngliche Vorhandensein eines Aufsatzes (Polos oder Kalathos) schließen: So ward der ka- rische Zeus dargestellt. „Eine vornehme, aber milde Schönheit strahlt aus diesem Kopfe. Es ist nicht die straffe und unnah-

Fig. 25. Zeus. Boston. Nach ergänztem Abguß

') Er war allein gearbeitet und bestimmt, in eine Statue, wohl ein Sitzbild, eingelassen zu werden. Die Erhaltung ist bis auf die größtenteils zerstörte Nase recht gut.

86 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

bare Hoheit der phidiasischen Epoche, nicht das ruhelose, stür- mische Wollen der Alexanderzeit, es ist ein freundliches, auch menschliches Wesen, das in schlichten, ruhigen und milden For- men hier sich ausspricht." In diesen abgeklärten Zügen glaubt man trotz der durch Zeit und Kunstrichtung bedingten Verschie- denheit der Formengebung die Majestät des Zeus zu Olympia von Phidias, wie er auf elischen Münzen geschaut wird, noch leise zu ahnen, deutlich zu verspüren. Dadurch steigert sich der WertdesWerkes, daszu den schönsten auf uns gekommenen Götter- köpfen, zu den herrlichsten Antiken überhaupt zählt.

TAFEL 28 DER APOLL VOM BELVEDERE

MARMORSTATUE. ROM, VATIKANISCHES MUSEUM.

Diese berühmte Statue wurde schon zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, vielleicht in der Nähe von Rom gefunden ; über den Ort des Fundes schweigen die zuverlässigen Quellen ältester Zeit. Die Statue ward vom Papste Julius IL, in dessen Besitze sie sich befand, zum Schmucke des von ihm erbauten Belvedere im Vati- kanischen Palaste verwendet. Sie hat eine ungeheure Wirkung auf die Künstler und Gelehrten sowohl wie auf die Laien aus- geübt. Sie hat eine Menge von Erklärungen hervorgerufen, die zum Teil geistvoll, zum Teil verkehrt und nicht selten auch beides zusammen waren.

Der schlanke Götterjüngling Apollon ist im Begriffe, schwung- voll elastischen, leichten Ganges an uns vorüberzuschreiten. Der Kopf ist nicht nach der Richtung des Schrittes, sondern nach der Seite gewendet. Der strahlende Blick ist weit in die Ferne ge- richtet. Der Künstler will sagen : dieser Apollon hat nicht ein einziges beschränktes Ziel im Auge; er schaut nach links, er schaut nach rechts, er schaut allüberallhin ; denn er ist der rettende, der helfende Gott, der abwehrt alles Unheil; er ist der Strahlende, der alles Finstere besiegt, der alles Böse, alles Kranke sühnt und heilt. Seine Namen sind (l'oißoc und llaid\', poiibpoinioc, dXe^i- xaxoc, ärrorporraio::, iax\\p, iarpöi und äxeöTODp (der Hilfreiche, der Unheilabwehrer, der Heilende).

APOLL VOM BELVEDERE 87

Die Waffe aber, mit der er fernhin trifft und immer siegt, ist sein Bogen; er ist der äf^yrfiorüro- und y.Xvivroloz, der ky.uEnyoz und !';xii|j().\oc (der mit dem silbernen Bogen, der Bogenberühmte, der Ferntreffer). Die linke Hand der Statue, die verloren und ergänzt ist, trug einst ohne Zweifel den Bogen, vielleicht zugleich einen Pfeil, den die Bogenschützen mit dem Mittelfinger der den Bogen haltenden Linken zu umfassen pflegten. Um die Brust läuft das Band des auf dem Rücken hängenden Köchers; schon dieses Attribut fordert das Vorhandensein des Bogens.

Die rechte Hand trug einen Lorbeerzweig mit daran befestigten geknoteten Binden (ars^unara). Das Ende dieses Attributes ist oben am Stamme (oberhalb des Kopfes der Schlange) noch erhalten und auf der Tafel sichtbar. Das jetzt das obere Ende bildende Stück des Stammes ist zusammen mit dem ganzen rechten Unter- arme und der rechten Hand modern ergänzt. Der Unterarm war ursprünglich etwas mehr gehoben und weiter vorbewegt. Die Ver- bindung mit dem Stamme war durch den in Marmor ausgeführten Lorbeerzweig mit den Binden hergestellt. Dies Attribut bezieht sich auf die reinigende, die heilende und sühnende Kraft des Gottes und kommt öfters in seiner Hand vor. Auch die Verbindung von Bogen in der Linken und Lorbeerzweig in der Rechten ist durch zahlreiche Apollodarstellungen zu belegen.

In neuerer Zeit war lange die Ansicht verbreitet, der Gott habe in der Linken die Ägis gehalten, die er im Kampfe den nach Delphi eingedrungenen Galliern entgegenhalte. Diese Hypothese gründete sich auf die Erklärung eines Attributrestes in der Linken einer Bronzereplik der Statue im Besitze des Grafen Stroganoff zu St. Petersburg. Allein diese Bronzestatuette ist nichts als eine mo- derne Fälschung; die auf sie gebauten, schon an sich äußerst un- wahrscheinlichen Hypothesen fallen damit in sich zusammen. Aber auch alle anderen Erklärungen, welche dem Gotte und seinem Bogen ein bestimmtes Ziel vorschreiben, sind verfehlt.

Zu bemerken sind noch die äußerst zierlichen Sandalen, die für den durch sein Reich wandernden und überallhin Hilfe bringenden Gott charakteristisch sind. Auf der rechten Schulter ist eine Chlamys geknüpft, die über den linken Arm herabfällt. Man hat sich mit Recht gewundert, daß die ruhig drapierten Falten dieses Gewandes ohne alle Rücksicht auf die rasche Bewegung der Figur gebildet sind. Indes diese Chlamys ist vielleicht nur eine Zutat des Mar- morkopisten. Eine solche Zutat ist wohl sicher der stützende Baum- stamm mit der Schlange. Denn das Original war höchstwahrschein- lich eine Erzstatue, die solcher Stütze nicht bedurfte. Auch das Gewand fungiert wesentlich als Stütze des linken Armes der Mar-

88 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

morkopie. Die Aus- führung der Kopie fällt erst in das zweite Jahrhundert n. Chr.

Das Original aber war ein herr- . liches Werk der Blütezeit griechi- scher Skulptur. Es gehörte dem vierten Jahrhundert v. Chr. und zwar der zwei- ten Hälfte desselben an. Es gibt Gründe, die es manchem wahrscheinlich ma- chen, daß es ein Werk des Leocha-. res, eines jüngeren Zeitgenossen des Praxiteles und Sko- pas, war.

Der schlanke Körper und die schwungvolle Be- wegung sind präch- tig; allein das Schönste und Be- deutendste an dem Werke ist der Kopf (Fig. 26). In ihm gewinnt die ganze Hoheit und Reinheit des apollinischen Wesens, in ihm auch die feurige Energie des strahlenden Gottes ihren vollendet- sten Ausdruck ; stolze Erhabenheit des allbeherrschenden Geistes, souveräne Verachtung des Niedrigen, Gemeinen prägt sich in den Gesichtszügen deutlich vernehmbar aus. Die sittliche Macht helle- nischer Religion erzielt durch das Götterbild noch heutzutage tiefe Wirkung. Daß diesem männlichen Wesen aber weibliche Zartheit nicht ganz fehle, das deutet die von der Mädchentracht entlehnte üppige Haarfrisur an, indem die Fülle der Locken auf dem Kopfe in eine Schleife gebunden ist. In der Dichtung heißt der Gott ja auch dxepöex6|ar|c und äßpoxairn^ (mit ungeschorenem, weich- lichem Haare).

Fig. 26. Kopf des Apolls vom Belvedere

DER APOLL VOM BELVEDERE

ROM, VATIKANISCHES MUSEUM

90 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

Denn nicht auf ein Ziel ist sie in ihrem Blicke beschränkt, überall hat sie ein wachsames Auge und Ohr, überallhin eilt sie:

IltuTr) i-'nirsTpt'f^ieTai, i>np(ov nA^xoDOct YevE!>\i\v ') („Wendet sich überallhin, die Geschlechter der Tiere vertilgend").

Gerade in diesem Gegensatze des vorwärts stürmenden Kör- pers und des zur Seite geworfenen Hauptes ist der wunderbare Rhythmus der Bewegung, welcher die Gewandung in schönem Flusse der Falten sich anschließt, und damit ein hohes künstlerisches Ver- dienst der Statue begründet.

Das rasche, kräftige Wesen der wie eine Nymphe den Freuden der Jagd ergebenen Göttin, das aus den Gesängen des Homer dem Leser in klarer Deutlichkeit entgegentritt, hat in dem Bild- werke plastische Verkörperung gewonnen ; denn die Verse

. . ."ApTejuii; eiöi xai' oupea io/Katpa, r\ xard TriöyeTov 7tEpi,ut]xeTov r\ 'Epü)j,av9-ov, TEp7t(i(.ie\i) xtt:;ipoiöi xai c)xe{ij^' e-Xdcpoacsiv^; („. . . Artemis herrlich einhergeht, froh des Geschosses, über Taygetos Höhn und das Waldgebirg Erymanthos und sich ergötzt, Waldeber und flüchtige Hirsche zu jagen") erschließen gleichsam erst das volle Verständnis der Statue, und die Bezeichnungen dypoTepri, lo/eaipa, xeXabeivii, norvia iHripcov („wild, Pfeilschützin, tosend, Herrin des Wildes") finden in ihr monumentalen Ausdruck. Diese Vorstellung von Artemis, die in dem griechischen Volke geherrscht hat, ist auch bei den Römern verbreitet gewesen: Horaz dichtete von Diana:

(dicite virgines) . . .

vos laetam fluviis et nemorum conia,

quaecumque aut gelido prominet Algido,

nigris aut Erymanthi

silvis aut viridis Cragi^) (Jungfrauen) („Ihr, lobpreist sie, die gern weilet in Strom und Hain, der auf Algidus Schnee-Kuppe die Wipfel hebt, dort auch, wo Erymanthus dunkel raget und Cragus grünt").

Mit der lebhaft bewegten Gestalt stehen die Bildung des vom Winde gekräuselten Haares, das vorn von einem kammartig auf- gesetzten Diadem gekrönt und rückwärts zu einem Knoten auf- gebunden ist, und der erregte, kampfesmutige, siegesgewisse Aus- druck des Antlitzes mit dem geöffneten Munde und der aufgeworfenen Unterlippe in voller Übereinstimmung. Indes tritt in der Form des feinen Ovals des Gesichtes, den zarten Wangen, dem runden Kinne

') Hymnos auf Artemis, homerische Hvmnen 27, 10.

2) Odyssee 6, 102 ff.

3) Carmina, 1, 21, 1 ff.

ARTEMIS VON VERSAILLES

PARIS, LOUVRE

MELPOMHNE 91

der mädchenhafte Charakter der jugendlichen Schwester des in Schönheit strahlenden Apollo klar hervor. Nur zufällig freilich ist die nahe Verwandtschaft mit der gleichfalls weltberühmten Statue des Gottes im Belvedere des Vatikanischen Museums, welche auf der Ähnlichkeit des Kunststiles, der Handlung und Bewegung beruht. Auch das Original der Artemis von Versailles, die eine mäßig gute Kopie der römischen Kaiserzeit ist, war ein Meister- werk aus der Blütezeit der griechischen Kunst und hat, wenn es aus Bronze gegossen war, der etwas störenden, zwischen der Hirsch- kuh und dem linken Beine der Göttin angebrachten Stütze nicht bedurft'); aus kunsthistorischen Gründen kann es kfum früher als um die Mitte des vierten Jahrhunderts entstanden sein, wegen der Trefflichkeit der Erfindung und des Stiles darf es wohl kaum später angesetzt werden. Wie Praxiteles für das auf felsiger Höhe empor- ragende Heiligtum zu Antikyra in Phokis ein auf römischen Kaiser- münzen erhaltenes Kultbild der Göttin, die mit Köcher und viel- leicht auch Bogen ausgerüstet, mit der Fackel in der rechten Hand und dem Hunde zur linken Seite dahinstürmt, gearbeitet hat-), so war auch das Urbild der Artemis von Versailles, dessen Künstler unbekannt ist, dereinst in einem Tempel oder heiligen Bezirke der Gottheit geweiht. Einem Attiker etwa aus dem Kreise des Praxi- teles oder der am Mausoleum von Halikarnaß tätigen Meister mag es verdankt werden.

TAFEL 30 MELPOMENE

MARMORSTATUE. ROM, VATIKANISCHES MUSEUM.

Die etwa lebensgroße, gut erhaltene und richtig ergänzte-') Statue wurde gemeinsam mit sechs anderen Musen und einem leierspielenden Apollo 1774 unter den Trümmern einer südöst- lich von Tivoli gelegenen antiken Villa entdeckt und hat, von Papst Pius VI. für das Vatikanische Museum angekauft, in dem

') Vielleicht ist auch das Tier erst vom Kopisten beigefügt.

-) Pausanias, Beschreibung Griechenlands 10, 37, 1.

■*) Abgesehen von unbedeutenderen Ergänzungen sind neu die rechte Hand mit dem obersten Teil der Maske, der linke Fuß, der linke Vorder- arm mit dem Schwerte; dieses ist durch eine in Stockholm befindliche Wiederholung der Statue gesichert.

92 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

nach den Musenstatuen benannten Prachtsaale Aufstellung ge- funden. Daß die Musen auch in unserem Zyklus in freier Natur und wahrscheinlich auf dem abgeschiedenen, wald- und schluchten- reichen Helikongebirge, wo sie einst in der Neunzahl, den Nymphen gleich, die Reigen aufführten'), gedacht sind, daran erinnert die Andeutung der Gegend durch die Felsen; indes nicht mehr zum Tanze sind die Schwestern vereinigt, sondern jede ist für sich mit der ihr zugewiesenen Bestimmung beschäftigt. So hat Melpomene, einst die Muse des Gesanges, vielleicht schon zur Zeit der Blüte des attischen Dramas die Tragödie vertreten und diese Rolle trotz einiger Schwankungen auch in späterer Zeit bis auf den heutigen Tag behauptet'). Die Darstellung derselben, wie sie in der hier abgebildeten Statue vor Augen tritt, ist eine der bedeutendsten und eines von jenen Kunstwerken der Antike, die durch ihre Erhabenheit unmittelbar wirken, indes auch noch manche Schönheiten bergen, die dem Auge erst allmählich sich offenbaren. Eine mächtige Gestalt in ihren starken Formen mit der An- deutung fast männlicher Kraft steht in Vorderansicht und nur etwas nach links seitwärts gerichtet in bequemer Haltung aufrecht da. Sie hat das linke Bein auf ein hohes Felsstück aufgesetzt, welche Stellung durch die ruhige Situation erklärt wird und zu- gleich den großartigen Eindruck der Gesamterscheinung erhöht ; durch den Gegensatz der Haltung der Arme und Füße ist sie in mäßige Bewegung gesetzt. In der Gewandung einer tragischen Schauspielerin ist sie völlig bekleidet mit dem aus schwerem Stoffe gearbeiteten, mit langen Ärmeln und Überschlag versehenen, schleppenden Chiton, der durch die hohe Gürtung mit breitem Bande die Vorstellung der Größe der Figur steigert und in ein- fachen, schweren, durch die Verschiedenheit der Körperbewegung teils gradlinigen, teils geschwungenen Linien sich bricht. Den Mantel hat sie in fast absichtlich unregelmäßiger und nachlässiger Form um den rechten gesenkten Arm wulstartig gewunden, über den Rücken gezogen und in einem kleinen Reste über die linke Schulter gelegt. Dicke Schuhe bekleiden anstatt des üblichen Kothurns die Füße. Die Muse der Tragödie wird durch die mit der rechten Hand gehaltene, in typischer Form gleichfalls der tragischen Bühne entnommene Maske des Herakles gekenn- zeichnet; er ist als Vertreter der Heroen der Tragödie gedacht.

') Hesiod, Theogonie 1 ff.

2) Auf einem Wandgemälde aus Pompeji, jetzt im Louvre zu Paris, liest man die Inschrift Mf:\-t(j|aKvq Tpaycobiav (ergänze txet) („Melpomene; ihr Gebiet ist die Tragödie") u. a. m. Bei Horaz, Oden 1, 24 aber ist Melpomene die Muse der klagenden Gesänge überhaupt.

MELPOMENE ROM, VATIKANISCHES MUSEUM

MELPOMENE 93

da seine Sagen besonders häufig gerade in späterer Zeit im Drama behandelt wurden, und erscheint durch das onkosartig über den Kopf gezogene Löwenfell deutlich charakterisiert. Auch das mit der linken Hand gefaßte Schwert, durch welches die Verwicklung der Handlung blutige Lösung fand, weist auf die Muse der Tra- gödie ebenso klar hin wie sie durch den Schmuck des Haares, das Laub und die Frucht des Weingottes Dionysos, zu dessen Ehren die attischen Festspiele gegründet und gefeiert wurden, und durch die Kleidung in ihrer äußeren Erscheinung unverkennbar vor Augen tritt'). Doch der Eindruck männlicher Kraft und feierlicher Erhabenheit, strenger und vornehmer Schönheit wird vollendet durch die Bildung des Kopfes, dessen Aussehen durch die schwere, in den Nacken frei herabfallende und die Stirne teilweise bedek- kende Lockenfülle noch ehrwürdiger erscheint. Der leise geöffnete Mund mit dem eigentümlich herben Zuge um die Lippen, der ab- wärts gerichtete feste Blick der schmalen, hochumränderten Augen verleihen dem Gesichte den Ausdruck ernsten Sinnens, einer in sich gesammelten und geschlossenen Stimmung, nicht lauter Klage, nicht maßlosen Jammers. Zugleich entbehrt das längliche, nach unten sich zuspitzende Antlitz in seinen feinen und zarten Formen nicht völlig des Reizes jugendlicher Weiblichkeit ohne den ernsten Charakter des Ganzen zu stören. So versetzt der Künstler in Verbindung mit der majestätischen Gesamterscheinung auch durch den Ausdruck des Gesichtes den Betrachter in die Stimmung, die ihn bei der Lektüre der Tragödien noch heute erfaßt und des Besuchers des antiken Theaters in erhöhtem Maße sich bemäch- tigt haben muß. Denn er hat den kraftvollen, ernsten, ergreifenden Gehalt der antiken Tragödie in ihrer äußeren Darstellung und ihrem inneren Wesen durch das eine edle Bildwerk ohne allzu starken Aufwand äußerer Mittel mit voller Klarheit und Individualität zum Ausdruck gebracht und dadurch das höchste künstlerische Ziel der schwierigen Aufgabe einer Verkörperung der Tragödie erreicht. Über den Schöpfer des Originals jenes Zyklus der neun Musen, von denen sieben in guten römischen Kopien erhalten sind, ist eine Vermutung geäußert worden. Genaue Vergleichung des Kunstcharakters der Statuen, insbesondere des Stils und Aus- drucks der in wechselvollen, charakteristischen Formen gebildeten Köpfe hat an die Kunst des Praxiteles erinnert. Dieser hat für

') Vgl. aus der Literatur Ovid, amores 3, 1, 11 ff. venit et ingenti violenta Tragoedia passu fronte comae torva, palla iacebat humi. („Auch die Tragödie kam, mit mächtigen Schritten gewaltig, wild in der Stirne das Haar, schleppend das lange Gewand").

94 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

die am Fuße des Helikon gelegene böotische Stadt Thespiä, wo die Göttinnen gleichfalls besondere Verehrung genossen, eine Erzgruppe der Musen gearbeitet, die nach dem Standorte Thespiades genannt, von Konsul L. Licinius Lucullus nach seinen siegreichen Kämpfen in Spanien zu Rom an dem von ihm aus der Kriegsbeute erbauten Tempel der Felicitas beim Velabrum geweiht worden sind'). Doch läßt sich die unmittelbare Rückführung auf Praxiteles trotz mancher Anklänge an seine Kunstart nicht beweisen, und die Ansicht, daß die Statuen des Vatikanischen Museums einen späteren, in Anleh- nung an ältere Vorbilder etwa in hellenistischer Zeit entstandenen Musenzyklus wiedergeben, bleibt erwägenswert. Jedenfalls lebt in den Köpfen soviel praxitelische Eigenart, daß wir den Ursprung im Kreise des Meisters oder seiner Nachfolger, seiner Nachahmer zu suchen haben.

TAFEL 31 HYPNOS

BRONZEKOPF. LONDON, BRITISH MUSEUM.

Durch glückliche Fügung läßt sich der 1855 bei Perugia (Perusia) zutage gekommene, ausgezeichnete Bronzekopf unschwer ergänzen. Denn eine Madrider Marmorstatue -) gleichen Größen- verhältnisses, welcher die Arme fehlen, wird leicht und sicher ver- vollständigt durch andere Nachbildungen des Originals, z. B, durch eine Berliner Gemme (Fig. 27 und 28). Auch die Deutung ist über jeden Zweifel erhaben: der schlank gewachsene Junge mit Hörn und Mohnzweig in den Händen ist Hypnos, der Schlafgott; an den Zwillingsbruder Oneiros, den Traumgott, zu denken verbietet die Tatsache, daß dieser in Volksreligion, Literatur, Kunst gegenüber jenem wenig hervortritt. Der Typus der Statue, der bis in spät- römische Zeit im wesentlichen maßgebend blieb, entstand frühestens in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr., da er manche

') Cicero in Verrem 4, 2, 4. Plinius der Ältere, naturalis historia 34, 69 (vgl. auch 36, 39), Strabo, Geographie 8, p. 381. Cassius Dio, römische Geschichte fragm. 75 Melber.

2) Ohne Ergänzung niifit sie 1,50 m in der geneigten Stellung, auf- gerichtet würde sie etwa 1,62 m hoch sein. Am Gipsabguß (Fig. 28) ist mit Recht der das Auge störende Baumstamm, welcher dem Marmor (Fig. 27) als Stütze dient, weggelassen; denn er fehlte auch am Urbild aus Erz.

BRONZEKOPF DES HYPNOS NACH DEM ABGUSS LONDON, BRITISH MUSEUM

F. BRUCKMANN A. -G . MÜNCHEN

HYPNOS 95

im Kreise des Praxiteles und Skopas ausgebildete Stilelemente zu vereinigen scheint, kann aber sehr wohl auch einige Jahrzehnte später geschaffen sein; denn bei der langen Dauer dieser Kunst- richtung bleibt in Ermanglung historischer Nachrichten genaue Datierung unerreichbar. Möglichkeiten der Weihung waren mannig- fach gegeben. Wohl mag ein dankbarer Sterblicher, der nach langen Qualen endlich Schlaf fand, das V'otiv gestiftet haben. Doch hat sich der Kult des Gottes in anderer Hinsicht ausgestaltet: die Himmlischen geben den kindlich naiv Gläubigen ihren Willen in Traumerscheinungen oft durch Hermes Vermittlung kund oder es wird im Schlaf durch göttliche Eingebung Erfüllung der Herzens- wünsche gewährt. Vor allem wurden in den heiligen Bezirken des Asklepios den seelisch und körperlich Leidenden im Zustande des langen Schlafes (i-Yxoiuiirti::, incubatio) Kuren empfohlen, Genesung ward verheißen. Von solchen Wundern lesen wir auf Inschriften von Epidauros, so erklärt sich die Verehrung des Hypnos im Asklepieion zu Sikyon (Pausanias, Beschreibung von Griechen- land 11, 10, 2). An einer Kultstätte geweiht und etwa neben dem Altare oder in einem kleinen Tempel von verschiedenen Seiten in wirkungsvoller Beleuchtung sichtbar, hat das Bronzeoriginal, durch reiche Vergoldung glanzvoll verziert, zauberhaften Reiz ausge- strahlt, wenn es in andächtiger Stimmung vom richtigen Stand- punkte aus bei mäßiger Entfernung geschaut wurde. Beim Anblick der Kopie findet noch heutzutage das Gemüt in schwerer Arbeit, schwerer Sorge Erholung und Erquickung.

Eine zartgebildete, fast noch knabenhafte Gestalt von reifender Schönheit schwebt in der Stille der Nacht durch die Lüfte über die Erde dahin, scheinbar nur nach einem Punkte zielend, in Ge- danken gewiß nach allen Seiten hilfreich sich wendend, wo nur immer Mühebeladene wachen oder unruhig schlafen. Mit dem Oberkörper nach vorwärts gebeugt, neigt sich Hypnos leise auf die Menschen nieder, um schlafspendenden Saft über die Augen zu träufeln und mit schlummerbewirkendem Mohn die Schläfen zu berühren '). Das vortrefflich zur Geltung kommende Motiv des leichten Schreitens, sachten Schwebens, der scharfe Gegensatz der Armbewegung, der wundervolle Rhythmus der ganzen Figur, durch den die Raum- grenze der Rundskulptur fast überschritten wird, endlich die glück- liche Wahl des prägnanten Moments verdienen ebenso große Be- wunderung wie die meisterhaft gelungene Personifikation, wodurch das Wesen des gütigen Allhelfers, wie es seit der homerischen

') Diesedurch viele Kunstdarsteilungen veranschaulichte Tätigkeit wird auch an zahlreichen Stellen römischer Dichter wiedergegeben; besonders deutlich ausgeprägt ist die Schilderung bei Silius Italicus Punica X, 352 tf.

96 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

Poesie im Volksbewußt- sein lebte, durch die Pla- stik in die Erscheinung tritt, nicht realistisch derb, nicht unheimlich, keine Furcht erregend, nur das Sinnen und Sehnen der Menschen zart verkör- pernd, schon durch die jugendlich holde Gestalt wie schmerzenlindemder Balsam wohltätig wirkend. Diese Bildung von der Hand eines gemüt- und phantasiereichen, schöp- fungskräftigen Künstlers ist so recht antik, so recht der damaligen Vorstel- lung vom Verhältnis zwi- schen Göttern und Sterb- lichen entsprechend, mutet uns aber zugleich ganz modern an; denn Auf- fassung und Ausführung stimmt mit unserem Füh- len und Denken überein. Und wiederum erregt wie bei anderen Göttergestal- ten des vierten Jahrhun- derts v.Chr. der Kopf für sich psychologisches In- teresse. Seine Schönheit erschließt am reinsten nicht allzu eingehende Formenanalyse, sondern Festhaltung und Vertiefung des einmal ge- wonnenen Eindrucks durch stilles Betrachten. Das jugendlich reiche Haar erscheint nach der Mode frisiert. Es ist gescheitelt und durch ein breites Band geteilt, üppige Locken hängen hinter den Ohren herab, vorn wird es zu je einem Wulst zusammengenommen, rückwärts in einem dicken Schopf vereinigt. An das in architektonischer Regelmäs- sigkeit geordnete Haar schließt sich ungezwungen das große Flügel- paar') an, das Gebilde gewissermaßen fortsetzend und verbreiternd.

Fig. 27. Hypnos, Marmorstatue Madrid, Museo de! Prado

') Der linke Flügel ist am Original nicht erhalten, am ergänzten Ab- guß (Fig. 28) erneuert.

HYPNOS

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Erklärung findet es am geeignetsten da- durch, daß Hypnos wie ein Nachtvogel möglichst geräusch- los durch die Dun- kelheit dahinhu- schend gedacht ist. Gemäß der Rich- tung des Oberkör- pers ist der Kopf stark geneigt. Die Züge des Gesichts, das zum feinen Oval sich abrundet, hau- chen sanfte Milde aus, träumerisches Sinnen, leises Lä- cheln liegt auf dem Antlitz, fast etwas verschwommen ist der Blick, die Au- genlider scheinen sich bereits zu senken : Der Mo- ment des Ein- schlummerns naht beim Gott selbst, bei dem liebreichen und huldvollen Dä- mon, der als Hyp-

nodotes den müden Sterblichen herzerquickenden Schlaf (vi'ibuiLiov vriNov) eben spendet. Feierliche Stimmung, stiller Friede teilt sich uns mit. Im Innern klingen nur leise homerische Verse wieder:

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„Herzerquickenden Schlaf senkte über die Lider die lichtäugige Athene"

(Odyssee I, 363 f.).

In der Tat, die geniale Schöpfung eines Meisters aus der zweiten Blüte griechischer Kunst hat mit gleicher Kraft von der hellenischen Kultur bis ins römische Weltreich hinein gewirkt, von da weiter bis auf den heutigen Tag. Ein solches Zauberbild läßt sich nicht durch viele Worte beschreiben, man muß es still in

Fig. 28. Hypnos. Abguß in Ergänzung. Straßburg

Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl.

98 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

sich versunken immer von neuem betrachten und studieren; dann wird es das empfängliche Auge unwiderstehlich bannen. Gerade vielen dem klassischen Altertum kongenialen Kennern der Antike ist die Bronze von Perugia als sorgenlösendes Bild lieb und traut geworden.

TAFEL 32 JÄGER MIT HUND

MARMORSTATUE. KOPENHAGEN, GLYPTOTHEK NY-CARLSBERG.

Auffassung und Erklärung der etwas überlebensgroßen, aus Italien und zwar angeblich aus Monte Cassino herrührenden Statue bildet ein interessantes Problem. In zahlreichen, voneinander mehr- fach verschiedenen Kopien ist das etwa aus der Mitte des vierten Jahrhunderts v. Chr. stammende Original erhalten. Die unter dem Namen „Meleager" altberühmte Statue im Belvedere des Vatikani- schen Museums zu Rom hat zur linken Seite einen mächtigen Eber- kopf; die daraus erschlossene Deutung auf jenen Heros ist auf alle Nachbildungen übergegangen. Eine Wiederholung in Berlin er- mangelt des Gewandes, eine andere im Fogg Museum of art zu Cambridge bei Boston, ebenfalls ohne Chlamys, stemmt zum Er- satz für den langen Spieß einen kurzen Stock ') unter die Achsel. Wahrscheinlich war das Urbild wenigstens vom Kleide frei und trug vielleicht statt des Speers diese Stütze; höchstens der treue Hund, der alle Strapazen mit dem Herrn teilt (öuvdetfAoc), schaute zu ihm auf. War das Original aus Bronze, so hat sogar der beim Marmor aus statischen Gründen angebrachte Baumstumpf gefehlt. So wirkt die Komposition durch ihre Einfachheit weit besser. Die Verschieden- heiten in der Darstellung zeigen an einem lehrreichen Muster das freie Schalten und Walten der späteren Kopisten, die dem Geschmack und Bedürfnis der Zeit folgend, willkürlich änderten. Gerade jene Statue wurde von den das Weidwerk eifrig pflegenden Römern zum Schmuck der Villen und Parks bevorzugt und da besonders

') Ein solcher ward, wie Monumente zeigen und Xenophon Kyne- getikos 6, 11 und 17 berichtet, auf der Jagd getragen und diente wohl zum Aufscheuchen, zum Treiben und Erlegen des Wildes. Die Lektüre der Schrift des Xenophon regt auch sonst zum Verständnis unserer Statue viel- fach an.

FHOT. V. TRYDE, KOPENHAGEN

JAGER MIT HUND

KOPENHAGEN, GLYPTOTHEK NY-CARLSBERG

JÄGER MIT HUND

Italien durch Reichtum an Schwarzwild sichauszeich- nete, lag die Beifügung des Eberkopfes sehr nahe. So bleibt nicht einmal für die weitbekannte Replik im Vatikan die alte Erklärung ganz gesichert. Jäger und Hund nennen wir das Ori- ginal und vermuten, daß dieses schöne Idealbild ohne Porträtzüge dereinst an einem Orte hellenischer Kultur als Votiv eines Sterblichen zum Dank für guten Erfolg der Jagd in einem Heiligtum etwa der Artemis geweiht war oder an einer Grabstätte das An- denken des jagdliebenden Verstorbenen den Hinter- bliebenen wachhielt. Der- artige Darstellungen des täglichen Lebens zeigen

attische Grabreliefs, in der Literatur überliefert Plinius der Altere, Naturalis historia 34, 91 Erzbilder der venatores von mehreren griechischen Künstlern. Bei den Griechen galt gleich der Athletik dieser Sport, der den Körper stählt und die Sinne schärft, für ein schönes und nützliches Vergnügen und mit Passion ward ihm ge- huldigt.

Die Kopenhagener Kopie ist sehr gut und konnte nach anderen Repliken richtig ergänzt werden : Der rechte Arm, Teile des Speers sowie der Kopf sind erneuert, letzterer nach einer ausgezeichneten Wiederholung in Villa Medici zu Rom (unergänzt abgebildet Fig. 29). Auf jedes künstlerisch empfängliche Auge übt das wundervolle Bild- werk beim ersten Anblick frappierende, tiefgehende Wirkung aus. Meisterhaft erscheint die Formengebung des nackten männlichen Körpers, abgerundet, abgeschlossen in den Umrissen, naturgetreu, die Natur fast übertreffend. Kräftig und schlank gebaut, elastisch bewegt steht der junge Weidmann da, mit rechtem Standbein, den linken Fuß ein wenig zurück und zur Seite gesetzt. Der starke Holzspieß läßt sich durch eine eiserne Spitze mit zwei Wider- haken (xvwbovTec) zur üblichen Form unschwer vervollständigen.

Fig. 29. Kopf eines Jägers. Marmor Rom, Villa Medici

100 SKULPTUREN AUS DEM 4. JAHRHUNDERT

Der an den Rücken gelehnte rechte Arm deutet Rast nach den Mühen der Jagd an, doch die rhythmisch schwungvolle Linie des Körpers, an dem namentlich die hohen Beine leicht zu schweben scheinen, vor allem der Ausdruck des zur Seite geworfenen, träu- merisch in die Ferne sinnenden Kopfes, sogar die Chlamys, die um Schultern und Unterarm in genialer Draperie sich schlingt, rufen den Eindruck nervöser Unruhe des Ruhenden hervor, lassen ahnen, daß im nächsten Augenblick Mann und Hund von neuem über freies Feld, durch dichten Wald in wilder Hatz dahinstürmen. So kommt das Wesen des Weidwerks in der Person des Jägers ohne starke äußere Mittel vortrefflich zur Geltung; man fühlt sich mit- gerissen von der den Jüngling erfüllenden Kraft und Begeisterung. Zu diesem Sujet paßte eben ausgezeichnet die Kunstrichtung, welcher der unbekannte Meister folgte. Der Stil des Skopas aus Faros wird glänzend veranschaulicht. Er erstrebt und erreicht intensiven Aus- druck seelischer Erregung, Leidenschaft in bewegter Situation, in der Hitze des Kampfes, aber auch in ruhiger Haltung der Menschen, dem etwas jüngeren Lysipp in mancher Beziehung nicht fernstehend, scharf entgegensetzt dem etwa gleichalterigen Praxiteles. Und dieses Pathos glüht, sprüht am mächtigsten im lockenreichen Haupte (Fig. 29). Schon der ziemlich flache Schädelbau, die breiten Um- risse des Gesichts sind ganz verschieden vom mächtig gewölbten Rundschädel, vom zartgeformten Oval des Antlitzes am praxiteli- schen Hermes, die tiefliegenden, nach aufwärts schauenden Augen rufen das eigentümlich starke Feuer des Blicks hervor, aus dem geöffneten Mund glaubt man den Atem zu vernehmen. Die in der antiken Literatur viel erörterten Gegensätze von Ethos und Pathos, psychologische Studien haben eine Wandlung in Auffassung und Wiedergabe des Seelenlebens geschaffen, ein neues in Malerei und Plastik lange und weithin erkennbares Schönheitsideal bewirkt; vermutlich haben auf die Skulptur führende Meister der Schwester- kunst maßgebenden Einfluß gewonnen. Die Gesichtszüge strahlen nicht anmutigen Zauber auf den Betrachter sanft und mild aus, sondern innere Erregung teilt sich ihm unwillkürlich mit. Der hochbedeutende Wert der kraftvoll herrlichen Statue wird durch die psychologisches Interesse weckende Bildung des Kopfes ge- waltig gesteigert.

V. GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN

In Griechenland bestand eine sehr alte Sitte, das Bildnis der Sieger in den Wettkämpfen dem Gotte, zu dessen Ehren die Fest- spiele veranstaltet wurden, zu weihen. Denn an vielen Orten, so in Olympia, sind Statuetten aus Ton oder Bronze von teilweise primitivster Kunstübung gefunden worden, welche die Wettkämpfer in mannigfacher Art und Situation, als Reiter, Krieger, Wagen- lenker usw. darzustellen versuchen. In Übereinstimmung mit der mächtig vorwärts schreitenden Entwicklung der statuarischen Kunst wurde es gemäß literarischer und inschriftlicher Überlieferung seit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert ein häufig geübter Gebrauch, zur dauernden Ehrung des Siegers und bleibenden Er- innerung an den errungenen Erfolg fast ausschließlich aus Bronze gefertigte und etwa in Lebensgröße gebildete Statuen in der Regel an der Festesstätte selbst zu weihen, aber manchmal auch in der Palästra oder an einem öffentlichen Platze der Heimat des Siegers aufstellen zu lassen; für die Errichtung trug er selbst oder auch die heimatliche Gemeinde, Verwandte, Privatpersonen Sorge. So waren an den berühmten Stätten der Festspiele allmählich zahl- reiche Bildnisse vereinigt, die im Altertum bei dem Besucher in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit einen überwältigenden Gesamt- eindruck bewirkt haben müssen. Für Delphi durften wir dies aus literarischen Nachrichten schon längst erschließen und haben durch die von der französischen Regierung dort veranstalteten Ausgrabungen Bestätigung gewonnen. Der Fund des Wagenlenkers aus Bronze, der zu dem einen Sieg des Polyzalos von Syrakus verherrlichenden

102

GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN

Viergespann gehörte, ist eine der wertvoll- sten Antiken des rei- fen Archaismus. Über Olympia waren wir durch den Perigeten Pausanias schon vor der auf Kosten des Deutschen Reichs un- ternommenen Aufdek- kung der Altis näher unterrichtet ; zahlreiche bei dieser Gelegenheit zutage gekommene Basen jener Bronze- werke, auf denen in gebundener oder unge- bundener Rede Name und Heimat des Siegers, die Art des Sieges, häufig auch seine frü- heren athletischen Er- folge inschriftlich ver- zeichnet sind, geben jetzt einen monumen- talen Beleg. Die Statuen selbst freilich waren schon im Altertum fast alle geraubt oder zerstört worden, und nur ganz geringe Reste sind in Olympia wiedergefunden; auch sonst sind Origi- nale griechischer Athletenbilder nur vereinzelt erhalten (Fig. 30 u. 3 1 ). Einigermaßen Ersatz für den unermeßlichen Verlust der Urbilder bieten zahlreiche, fast ausschließlich aus Marmor gefertigte Kopien, die auf Bestellung römischer Kunstliebhaber zur Ausschmückung der Paläste und Villen, der öffentlichen Plätze und Gebäude, wie der Thermen gefertigt worden sind. Viele archaische Meister, in der Blütezeit griechischer Kunst die bedeutendsten Erzgießer insbe-

Fig. 30. Bronzekopf') München, Glyptothek

') Knabenkopf mit der Binde geschmückt, wohl von der Statue eines Siegers im Faustl^ampf, da der sichtbare Teil des rechten Ohres stark ver- schwoilen gebildet ist. Griechisches Original im Stil und aus der Zeit des Polyklet und Phidias, „der kostbarste Schatz der Münchner Glyptothek, das Ideal von Reinheit, Unschuld, liebenswürdig edler Größe, eines der herrlichsten griechischen Originale, die uns erhalten sind". Die Büste mit vergoldetem Schwertband ist modern.

GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN

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sondere des fünften und vierten Jahrhun- derts V. Chr. haben Siegerstatuen gearbei- tet, deren Nachbil- dungen aus der Menge der erhaltenen römi- schen Kopien wieder aufzufinden der archäo- logischen Forschung teilweise bereits ge- glückt ist und noch gegenwärtig eine ihrer hervorragendsten Auf- gaben bildet. Dadurch sind wir in den Stand gesetzt, die künstle- rische Richtung füh- render Meister und ihrer Schule zu wür- digen : Dem Argiver Polyklet war die formale Bildung ruhig stehender Gestalten nach mathematisch ge- nau festgesetztem Pro- portionssystem höch- stes Ziel; auch ist auf manchen Jünglings- und Knabengestalten aus Polyklets Werkstatt, Schule oder Nachfolge durch das gemessene und bescheidene Wesen sowie durch die reine jugendliche Scham, die in den Gesichtszügen leise hervortritt, der wunderbare Zauber ethischer Anmut, der „ctibco:;", des „decor" ') ausgebreitet (Fig. 30, 31 u. 33). Der etwas ältere Athener Myron gilt als Meister in der Wiedergabe rhythmisch bewegter und geistig belebter, von intensiver innerer Glut erfüllter Figuren (Taf. 33 und Fig. 32), der Sikyonier Lysipp hat im Gegensatz zu der weitverzweigten und weithin wirksamen polykletischen Schule ein neues, schlankere Formen bezweckendes Proportionssystem des menschlichen Körpers zur Anwendung gebracht und als Gründer der naturalistischen Rich- tung für die Folgezeit große Bedeutung gewonnen („Apoxyomenos" Tafel 34).

Fig. 31. Bronzekopf München, Glyptothek

') Vgl. Quintilian, institutio oratoria XII, 10, 7 f.

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GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN

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Fig. 32. Kopf vom Diskobol des Myron

In völliger Nacktheit dargestellt, geben die gymnastisch durch- gebildeten Körper der schlanken Knaben und Jünglinge, der kräf- tigen Männer, die nicht getreu nach dem Leben als Porträts wieder- gegeben, sondern nach den in den Palästren sich darbietenden Modellen und Motiven zu dem erhabensten Ideal von Stärke und Schönheit umgestaltet und erhöht sind, in dieser Form das beste Zeugnis für die veredelnde Wirkung der maßvoll betriebenen Athletik ab. Es sind die herrlichsten Menschen, welche die Kunst aller Zeiten geschaffen hat. In der Menge der erhaltenen Typen lassen sich ungezwungen zwei Hauptgruppen unterscheiden : Der Athlet ist entweder in lebhafter Situation, in einem Kampfschema oder in ruhiger Stellung vor oder nach dem Kampfe dargestellt. Für erstere genügt es, an Myrons rhythmisch vollendeten Diskobol ') mit dem leben- sprühenden, von Leidenschaft durchleuchteten Antlitz (Tafel 33 und Fig. 32) und an die beiden Ringer aus Bronze in Neapel zu erinnern,

') Die Abbildung Tafel 33 bietet den bronzierten Gipsabguß, der haupt- sächlich aus zwei sehr guten Kopien zusammengesetzt ist: Der größte Teil des Körpers stammt von dem im Thermenmuseum zu Rom aufbewahrten Marmorfund, der 1906 im Krongut von Castel Porziano auf dem Boden des alten Laurentum unter den Resten einer antiken Villa zutage kam, der Kopf ist nach der altberühmten Kopie im Palazzo Lancelotti zu Rom ergänzt.

DISKOBOL NACH DER BRONZESTATUE DES MYRON IN ERGÄNZUNG

ROM. THERMENMUSEUM

GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN

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die in gebückter Hal- tung und mit vorge- streckten Händen den günstigen Augenblick zum Erfassen desGeg- ners erlauern (Nach- bildungen von Sieger- statuen lysippischer Kunstrichtung), end- lich auf die sinnreich und kunstvoll ver- schlungene Ringer- gruppe zu Florenz, eine Kopie nach einem Originale etwa der ersten Hälfte des drit- ten Jahrhunderts v. Chr., hinzuweisen, um die wechselvollen Mo- tive der Situation, die glückliche Wahl des bezeichnenden Mo- ments, die meisterhafte Rhythmik der Bewe- gung, die große An- schaulichkeit und Le- benswahrheit würdi- gen zu können. Häu- figervertreten und rei- cher an Motiven ist die letztere Gruppe: Der Sieger träufelt sich vor dem Kampfe aus dem Salbfläschchen Öl auf den Körper, um die Glieder für den Ring- kampf geschmeidiger zu machen (sogenannter „Salber" zu München nach einem attischen Werke des fünften Jahrhunderts v. Chr.); nach errungenem Erfolge legt ein anderer die Siegesbinde um das Haupt („Diadumenos" nach Polyklet Fig. 33) oder schabt sich das Öl und

') Das Motiv der Statue ist trotz der fehlenden Hände erkennbar: Der Jüngling faßte die Enden der Binde, um den am Hinterkopfe ge- schlungenen Knoten fest zusammenzuziehen. Da in der guten Marmor-

Fig.33. Diadumenos ') nacli Polyklet. Marmor- statue aus Delos. Athen, Zentralmuseum

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GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN

den Schmutz vom Körper(„Apoxyo- menos" nach Ly- sipp Tafel 34). In diesen Bildungen ist es die ruhige Stellung und Ge- schlossenheit der Figuren, oft auch das zurückhalten- de Auftreten, der ernste und sin- nende Ausdruck des Antlitzes, die den Betrachter vom künstleri- schen Standpunkte aus befriedigen und zugleich sym- pathisch berüh- ren. Erst etwa vom Ende des vierten

vorchristlichen Jahrhunderts an, wohl teilweise unter dem Ein- flüsse lysippischer Kunstrichtung und Schule wird die Persönlichkeit des Siegers in der Körper- und Gesichtsbildung stärker betont und genaue Wiedergabe der Natur in wachsendem Maße erstrebt. Ein in Olympia zutage gekommener Bronzekopf ist eine treffliche

Fig. 34.

Bronzestatue eines l-austkampfers Rom, Thermenmuseum

Kopie, die wohl noch in vorchristlicher Zeit gefertigt ist, die in der Ab- bildung weggelassene, am rechten Beine angebrachte Stütze Chlamys und Köcher trägt, ward jüngst in kühner und geistreicher Vermutung die Deutung auf Apollo vorgeschlagen, während bisher jene Attribute als will- kürliche Zutaten des Kopisten galten. Jedenfalls ist die Figur ein har- monisch vollendetes Bild des Zusammenwirkens gymnastischer, ethischer, musischer Erziehung. Sie scheint schwebend, fast tanzend einherzu- schreiten, neigt bescheiden den Kopf, gleichsam vor höherer Macht sich beugend. Eine Darstellung des Apollo, der die Binde um das Haupt sich legt, ist bei Pausanias, Beschreibung Griechenlands 1, 8, 4 als nahe am Arestempel zu Athen befindlich überliefert.

APOXYOMENOS 107

Probe aus den Anfängen dieser neuen realistischen Richtung. Indes als die ausgeprägteste Schöpfung derselben wird die in Rom gefundene und dort im Thermenmuseum aufbewahrte Bronze- statue eines Faustkämpfers (Fig. 34), ein aus einem Lande griechischer Kultur entführtes Original vielleicht noch des dritten vorchristlichen Jahrhunderts, mit Recht bezeichnet. Auf einem Felsen ruht nach errungenem Siege ein bärtiger, überaus kräftig gebildeter Faustkämpfer, dessen Vorderarme und größter Teil der Hände mit dem Schlagriemenzeug umwickelt sind, und blickt mit stolzer, höhnischer Miene nach aufwärts. Sein zerstoßenes Gesicht zeigt ebenso wie die breitgedrückten Ohren und die platt- geschlagene Nase die deutlichsten Spuren des bestandenen Kampfes. Nur durch die künstlerisch hervorragende Ausführung und die packende Wirkung der Darstellung kann der abstoßende Eindruck, den man beim Anblicke dieses rohen, berufsmäßigen Athleten er- hält, gemildert werden. Das empfängliche und empfindsame Auge wird sich bald wieder jenen Kopien der Meisterwerke des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr., wie dem Diadumenos, Apoxyo- menos u. a. m. zuwenden, in denen die griechische Athletik in ihrer edelsten Form verkörpert ist.

TAFEL 34 APOXYOMENOS

MARMORSTATUE NACH LYSIPP IM BRACCIO NUOVO DES VATIKANISCHEN MUSEUMS ZU ROM.

Wohl selten hat die Entdeckung der römischen Kopie eines griechischen Meisterwerkes in der antiken Kunstgeschichte eine solche Wichtigkeit erlangt, als die 1849 in Trastevere zu Rom ans Tageslicht gekommene ') Nachbildung des bei Plinius dem Alteren ^) unter dem griechischen Namen des Apoxyomenos er-

') In den Trümmern eines umfangreichen Gebäudes aus der späteren Kaiserzeit, wahrscheinlich eines Bades, zu dessen Schmuck eine Athleten- statue geeignet erscheint.

^) Naturalis historia 34, 62; der lateinische Name „destringens se" ist von Plinius a. a. O. ebenfalls beigefügt.

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GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN

den Schmutz vom Körper(„Apoxyo- menos" nach Ly- sipp Tafel 34). In diesen Bildungen ist es die ruhige Stellung und Ge- schlossenheit der Figuren, oft auch das zurückhalten- de Auftreten, der ernste und sin- nende Ausdruck des Antlitzes, die den Betrachter vom künstleri- schen Standpunkte aus befriedigen und zugleich sym- pathisch berüh- ren. Erst etwa vom Ende des vierten

vorchristlichen Jahrhunderts an, wohl teilweise unter dem Ein- flüsse lysippischer Kunstrichtung und Schule wird die Persönlichkeit des Siegers in der Körper- und Gesichtsbildung stärker betont und genaue Wiedergabe der Natur in wachsendem Maße erstrebt. Ein in Olympia zutage gekommener Bronzekopf ist eine treffliche

Fig. 34.

Bronzestatue eines haustkampfers Rom, Thermenmuseum

kopie, die wohl noch in vorchristlicher Zeit gefertigt ist, die in der Ab- bildung weggelassene, am rechten Beine angebrachte Stütze Chlamys und Köcher trägt, ward jüngst in kühner und geistreicher Vermutung die Deutung auf Apollo vorgeschlagen, während bisher jene Attribute als will- kürliche Zutaten des Kopisten galten. Jedenfalls ist die Figur ein har- monisch vollendetes Bild des Zusammenwirkens gymnastischer, ethischer, musischer Erziehung. Sie scheint schwebend, fast tanzend einherzu- schreiten, neigt bescheiden den Kopf, gleichsam vor höherer Macht sich beugend. Eine Darstellung des Apollo, der die Binde um das Haupt sich legt, ist bei Pausanias, Beschreibung Griechenlands 1, 8, 4 als nahe am Arestempel zu Athen befindlich überliefert.

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APOXYOMENOS

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Probe aus den Anfängen dieser neuen realistischen Richtung. Indes als die ausgeprägteste Schöpfung derselben wird die in Rom gefundene und dort im Thermenmuseum aufbewahrte Bronze- statue eines Faustkämpfers (Fig. 34), ein aus einem Lande griechischer Kultur entführtes Original vielleicht noch des dritten vorchristlichen Jahrhunderts, mit Recht bezeichnet. Auf einem Felsen ruht nach errungenem Siege ein bärtiger, überaus kräftig gebildeter Faustkämpfer, dessen Vorderarme und größter Teil der Hände mit dem Schlagriemenzeug umwickelt sind, und blickt mit stolzer, höhnischer Miene nach aufwärts. Sein zerstoßenes Gesicht zeigt ebenso wie die breitgedrückten Ohren und die platt- geschlagene Nase die deutlichsten Spuren des bestandenen Kampfes. Nur durch die künstlerisch hervorragende Ausführung und die packende Wirkung der Darstellung kann der abstoßende Eindruck, den man beim Anblicke dieses rohen, berufsmäßigen Athleten er- hält, gemildert werden. Das empfängliche und empfindsame Auge wird sich bald wieder jenen Kopien der Meisterwerke des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr., wie dem Diadumenos, Apoxyo- menos u. a. m. zuwenden, in denen die griechische Athletik in ihrer edelsten Form verkörpert ist.

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TAFEL 34 APOXYOMENOS

MARMORSTATUE NACH LYSIPP IM BRACCIO NUOVO DES VATIKANISCHEN MUSEUMS ZU ROM.

Wohl selten hat die Entdeckung der römischen Kopie eines griechischen Meisterwerkes in der antiken Kunstgeschichte eine solche Wichtigkeit erlangt, als die 1849 in Trastevere zu Rom ans Tageslicht gekommene ') Nachbildung des bei Plinius dem Alteren -) unter dem griechischen Namen des Apoxyomenos er-

') In den Trümmern eines umfangreichen Gebäudes aus der späteren Kaiserzeit, wahrscheinlich eines Bades, zu dessen Schmuck eine Athleten- statue geeignet erscheint.

^) Naturalis historia 34, 62; der lateinische Name „destringens se" ist von Plinius a. a. O. ebenfalls beigefügt.

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108 GRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN

wähnten und unter dieser Bezeichnung bekannten Werkes des sikyo- nischen Erzgießers Lysipp. Wohl erhahen '), konnte die vortreff- liche Kopie auf diesen Meister auf Grund der Nachrichten ^) über das von ihm angewendete Proportionssystem des menschlichen Körpers mit größter Wahrscheinlichkeit sogleich nach dem Funde zurückgeführt werden und bildet seitdem einen festen Ausgangs- punkt für die Zuweisung anderer Werke in die lysippische Schule und Zeit. Das verlorene Bronzeoriginal, dessen ursprüngliche Be- stimmung und Aufstellungsort in einem Lande griechischer Kultur uns literarisch nicht überliefert sind, wird das Bildnis eines Wett- kämpfers gewesen sein, der bei einem Festspiele im Ringkampfe oder Pankration den Sieg errungen hatte und zu dessen Ehrung die Statue an der Festesstätte selbst, vielleicht auch etwa im Gymna- sium oder auf einem öffentlichen Platze seiner Heimat geweiht war. Von Agrippa^) nach Rom übergeführt und der Darstellung entsprechend vor den von ihm erbauten, an das Pantheon sich anschließenden Thermen im Campus Martius aufgestellt, ist es dort allgemein bekannt und geschätzt worden ; darum wurde es, als es Tiberius in die Gemächer seines Palastes entführt hatte, vom Volke bei Gelegenheit einer Theatervorstellung in echt süd- ländischer Weise stürmisch zurückgefordert, so daß es der Kaiser an dem bezeichneten Platze wieder aufstellen ließ ^).

Etwas über die Lebensgröße gebildet, steht in völliger Nackt- heit ein jugendlicher, kräftig gebauter Athlet vor uns, der nach dem Kampfe das ÖL^) und den Schmutz von dem rechten Arme mit dem festgehaltenen Schabeisen'^) entfernt. Dies alltägliche, der Palästra entlehnte Motiv, das auch von anderen bedeuten-

') Abgesehen von unbedeutenden Ergänzungen sind nur die Finger der rechten Hand mit dem fälschlich beigefügten Würfel erneuert.

-) Bei Plinius dem Alteren, naturalis historia 34, 65.

^) Hingewiesen sei auf sein Porträt, abgebildet in dieser Handausgabe Tafel 57.

") Ygl. Plinius a. a. O. 34, 62.

^) Über die Sitte der Griechen, in der Palästra vor dem Ringkampfe den Körper mit Öl und Staub zu bestreichen, genügt es, auf die anschau- liche und belehrende Darstellung bei Lucian, Anacharsis sive de exercita- tionibus 28 f. zu verweisen.

'') Dasselbe ist in der Abbildung nur teilweise und ganz undeutlich zu erkennen; es ist ein mit einem Griffe versehenes Gerät, das sichel- förmig gebogen und an der Innenseite zum Zwecke der Aufnahme des Öles und Schmutzes ausgehöhlt ist. Der griechische Name ist ötXfiyyic, aber auch 'S,vaxpiq und Siiotpa. Von dem gleichen Stamme ist das Verbum (XTio^ÜEiv („abschaben") und die in die lateinische Sprache übergegangene statt „destringens se" gebrauchte Partizipalform „ü:xu5uü|uevoc;" („der sich. Abschabende") gebildet.

APOXYOMENOS

ROM, VATIKANISCHES MUSEUM

APOXYOMENOS

109

den Meistern, wie von Polyklet ') zur Darstel- lung gebracht wurde, hat Lysipp mit uner- reichter Kunst wieder- gegeben Die hochauf- gewachsene, elastische Gestalt mit überaus großem Unterkörper, breiter Brust, hohem Halse und auffallend kleinem Kopfe-) steht mit ziemlich weitaus- einandergesetzten Füs- sen in scheinbarer Ruhe da, ruft aber infolge der Stellung der Beine und Arme die Vorstellung lebhafter Bewegung, eines Hin- und Her- wiegens des ganzen Körpers hervor. Beim Anblicke derselben zweifelt man, ob die Geschmeidigkeit der Glieder, die feine Mo- dellierung des Nackten,

der reiche Wechsel des Muskelspiels oder die schlanke Proportio- nalität, die geschlossenen Umrisse-), die Rhythmik der Bewegung größere Bewunderung verdienen. Diese Vorzüge, die vor der Mar- morstatue selbst oder deren Abgüsse bei wechselndem Standpunkte erst in ihrem ganzen Umfange gewürdigt werden können, haben seit der Auffindung die stets wachsende Anerkennung der Kunst- verständigen erlangt und sind für den ausübenden Künstler eine nie versiegende Quelle der Belehrung geblieben.

Über der Bewunderung des rhythmisch und harmonisch voll- endeten Gesamtbildes wird allzuleicht die Betrachtung und Wür- digung des Hauptes (Fig 35) vernachlässigt, durch dessen Bildung

Fig. 35. Kopf des Apoxyomenos

') Plinius a. a. O. 34, 55.

-) Vgl. die bereits angeführte Steile des Plinius 34, 65.

^) Da die in der römischen Marmorkopie ursprünglich angebrachten und teilweise noch erhaltenen Stützen, welche zur Entlastung der vorge- streckten Arme aus statischem Grunde notwendig waren, ebenso wie der

110 jGRIECHISCHE ATHLETENSTATUEN

der Meister eine neue Probe seines Könnens abgelegt und seine individuelle, Naturwahrheit und Realismus erstrebende Eigenart zum Ausdruck gebracht hat. Von der wirr durcheinander geworfenen Haarmasse bedeckt, ist der Kopf, in dem im Gegensatze zu älteren Athletenbildern die Porträtzüge des Dargestellten vielleicht schon ein wenig angedeutet sind, zum Zeichen der Ruhe nach bestan- denem Kampfe leise nach abwärts gesenkt. Das Gesicht zeigt ein breites Oval, der untere Teil der Stirne tritt in naturalistischer Weise stark hervor. In dem sinnenden, fast melancholischen Antlitze, so- wie dem geöffneten Munde ist starke innere Erregung veranschau- licht, wie sie im Ausdrucke anderer, auf die lysippische Schule und Zeit zurückgeführter Köpfe wiederkehrt') und bei einem Ath- leten nach den Aufregungen des Wettkampfes wohlbegründet ist. So wird durch die Physiognomie des Antlitzes das Interesse des Betrachters aufs neue angeregt, das Verdienst des ganzen Werkes aber gesteigert, das auch abgesehen von der hohen künstlerischen yollendung als Musterbild eines von Jugend auf durch methodische Übung gekräftigten und gestählten Körpers für die weitesten Kreise des Volkes unschätzbare Bedeutung gewinnt.

an der Rückseite des linken Beines befindliche Baumstamm in dem Bronze- originale gefehlt haben, war die Wirkung des Rundwerkes eine noch viel einheitlichere.

') Die Gegenüberstellung mit dem Kopf des Hermes von Olympia (Tafel 24) veranschaulicht den tiefgehenden Unterschied zwischen praxi- telischer und lysippischer Kunst in Formengebung und seelischem Aus- druck; auch die Vergleichung mit dem Kopf des Ares Ludovisi (Fig. 20), der mit Lysipps Kunstcharakter verwandt ist, aber auch noch an Skopas erinnert, ist lehrreich. Vom feurigen Pathos seiner Physiognomien und von der schwungvoll elastischen Bewegung seiner Gestalten wecken pak- kende Vorstellung Figur 29 und Tafel 32, die den Vergleich mit jenen beiden Meistern nahelegen. So stehen die für die Stilentwicklung griechischer Plastik weithin und lange wirksamen Künstler in bezeichnender Eigenart klar vor Augen.

VI. GRABMÄLER

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leben den Heiligtümern der Gottheiten waren es die der Ver- storbenen, d. h. waren es die Gräber, welche in der klassischen Zeit die plastische Kunst hervorragend beschäftigten. Wir besitzen noch aus fast allen Perioden der antiken Kultur, von den ältesten Zeiten bis in die spätesten, plastisch verzierte Grabmäler.

Es lassen sich unter ihnen drei Reihen unterscheiden, die frei- lich vielfach ineinander übergehen und miteinander verbunden sind. Die eine geht aus von dem durch den Tod erhöhten Zu- stande des Verstorbenen, der den Überlebenden als höheres Wesen des Jenseits erscheint, dem Verehrung gebührt. Die andere und wichtigste Reihe will nur die Erinnerung festhalten an den Ver- storbenen, dessen Bild in irgend einer mehr oder weniger charak- teristischen Weise wiedergegeben wird. Die klassische Kunst be- gnügte sich dabei immer mit allgemeinen Umrissen und betonte das allgemein Menschliche gegenüber dem Individuellen. Immer gibt sie den Menschen in einem sein allgemeines Wesen charak- terisierenden Zustandsbild, niemals in irgend einem einzelnen, vom Zufalle bedingten Momente des Lebens. Selbst individuelle, por- trätmäßige Gesichtszüge der Personen werden erst in der späteren Zeit, etwa von der Alexanderepoche an, gewöhnlicher. Die dritte Reihe der Grabmäler ist diejenige, welche nicht das Bild des Ver- storbenen, sondern allerlei Bildwerk als Schmuck enthält; doch kann diese Gattung auch mit einer der vorigen verbunden sein. Der Schmuck wird zumeist aus dem Kreise der Heroensage ge- wählt; die Beziehungen zu dem Verstorbenen sind, wenn sie vor- kommen, immer ganz allgemeine; sie deuten auf die Lieblings- beschäftigung des Toten, wie Jagd und Krieg, oder auf den Todes- fall im allgemeinen, wie Klagefrauen, Leichenzug, Leichenspiele u. dgl. Ganz individuelle Darstellungen aus der persönlichen Lebensge- schichte des Verstorbenen werden niemals zum Grabesschmucke gewählt.

Die Formen der künstlerisch geschmückten Gräber der Alten

112 GRABMÄLER

sind überaus verschiedene gewesen. Man muß das eigentliche Grabmal, das über dem Grabe sich erhebt, unterscheiden von dem Grabe als Behälter des Verstorbenen. Unsere Tafeln geben Proben von beiden.

Künstlerisch reich verzierte Särge kennen wir schon aus dem sechsten Jahrhundert, aus der ionischen Stadt Klazomenae; sie sind mit Tieren und allerlei Kampfesbildern geschmückt. Aus der besten Zeit des freien Stiles besitzen wir nur geringere Reste von Holzsarkophagen, die dekorativ oder mit Bildwerk aus der Helden- sage, wie dem Tode der Niobiden, geschmückt waren. Äußerst selten sind die Marmorsärge in dieser Epoche ; doch ist ein vor- zügliches Stück des vierten Jahrhunderts mit Amazonenkämpfen in Wien, und sind vor allem die herrlichen Sarkophage von Sidon erhalten, deren größter und vorzüglichster Tafel 37 bis 39 abge- bildet ist. Überaus gewöhnlich wird die Sitte der reliefgeschmück- ten Marmorsärge in der römischen Kaiserzeit, aus der sie in Menge erhalten sind. Sie tragen zumeist mythologische Darstellungen ; die Bilder aus dem Menschenleben haben immer allgemeinen Cha- rakter. — Außer den Särgen wurden auch die Aschenurnen zu- weilen mit Bildwerk geziert; es geschah dies indes in Griechen- land nur vereinzelt, sehr häufig aber in Etrurien und Rom.

Die einfachste Gattung der eigentlichen Grabmäler über dem Grabe ist die der Stele, der in die Erde gerammten Steinplatte, die schon in der alten mykenischen Epoche mit Relief geschmückt zu werden pflegte. Im sechsten Jahrhundert war die schmale, hohe Stele, welche nur die aufrechte Figur des Verstorbenen in Lebensgröße enthielt, zumeist beliebt; Frauen wurden oft sitzend dargestellt. Nur durch die Figur einer Dienerin erweitert, zeigt diesen Typus die noch aus dem fünften Jahrhundert stammende schöne Stele der Hegeso Tafel 36. Von den im vierten Jahrhundert in Athen beliebten Familienbildern gibt Tafel 35 ein sehr gutes Beispiel. Der giebelförmige Abschluß, den diese Grabmäler haben, geht indes schon über den Typus der eigentlichen Stele hinaus und berührt sich mit einem anderen, der ein mehr oder weniger ädicula- oder tempeiförmiges Mal über dem Grabe zeigt. Reiche, prunkvolle Grabmäler, wie sie namentlich in Kleinasien entstanden, haben geradezu die Tempelform gewählt, dafür ist das Mausoleum von Halikarnaß klassisches Beispiel. Eine andere Reihe von Grab- mälern geht dagegen von der Idee eines Altares aus, der über dem Grabe sich erhebt; eine andere begnügt sich, den Grabhügel, die Aufschüttung des Grabtumulus, künstlerisch auszugestalten; doch bestanden diese verschiedenen Arten durchaus nicht zu allen Zeiten und an allen Orten.

ZWEI GRABRELIEFS VON ATHEN 113

TAFEL 35 und 36

ZWEI GRABRELIEFS VON ATHEN

Auf einer Platte pentelischen Marmors von 1,45 Höhe und 0,85 Breite (Tafel 35) ist eine Gruppe von drei Figuren in Relief ausgehauen. Die rechte obere Ecke der Platte ist ergänzt. An beiden Seiten wird die Platte von schmalen Antenpfeilern einge- faßt. Oben lag über diesen ein giebelförmiger Abschluß, der in einem besonderen Blocke gearbeitet war und verloren ist. Auf dem Gesimse desselben stand die Inschrift, welche angab, wem das Grabmal galt.

Die Platte, jetzt im Zentralmuseum zu Athen, ist 1870 bei den Ausgrabungen am Dipylon zu Athen, nahe dem Kirchlein Agia Triada gefunden worden. Damals entdeckte man, unter tiefem Schutte vergraben, ein wunderbar wohl erhaltenes Stück der alten Nekropole vor dem großen Doppeltore, dem Dipylon zu Athen, aus welchem die heilige Straße nach Eleusis und die große Fahr- straße nach dem Piräus führte. Es war Sitte bei den Alten, die Grabmäler längs der Hauptstraße unmittelbar vor den Toren an- zulegen. Die Athener scheinen indes selbst bei einem uns un- bekannten Anlaß späterer Zeit jenes Stück der Gräberstadt zu- geschüttet zu haben ; man vermutet, daß dies etwa in der Zeit bald nach der Einnahme Athens durch Sulla geschah, und nimmt an, daß die Athener das Stück vor dem Tore freier Benutzung zurückgewinnen, aber auch die Grabstätten der Väter schonen wollten und deshalb den ganzen Platz mit Schutt auffüllen ließen. So hat sich eine Reihe der stattlichsten, schönsten Grabmäler aus der Blütezeit attischer Kunst noch unversehrt aufrecht stehend erhalten.

Zu den frühesten der erhaltenen bildlich verzierten Grabmäler an diesem Platze vor dem Dipylon gehört die schöne Stele der Hegeso, der Tochter des Proxenos, welche Tafel 36 abgebildet ist. Sie steht noch jetzt an ihrer ursprünglichen Stelle an der Gräber- straße aufrecht. Auch diese Platte ist an beiden Seiten eingefaßt von Antenpfeilern, deren Kapitell aber viel sorgfältiger gearbeitet ist als an der anderen Stele. Darüber der giebelförmige Abschluß, auf welchem die Inschrift 'Hyriaw Ilpo^evo(u) angebracht ist; die Schreibweise o für ov gehört der älteren Zeit an. Auf einem Lehn- stuhl von ebenso einfacher wie außerordentlich schöner Form mit

Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 8

114 GRABMÄLER

geschwungenen Beinen sitzt Hegeso in ionischem Chiton mit Halb- ärmeln und dem Mantel. Ihr Haar ist mit einem Tuche und Bin- den in zierlichster Weise geschmückt, und auf dem Hinterkopfe hängt ein dünner, feiner Schleier. Sie ist im Begriffe, aus dem Schmuckkästchen, das eine Dienerin ihr vorhält, einen Gegenstand, der nur durch Farbe angegeben war, der Haltung der Finger nach eine Halskette, zu nehmen. Sie blickt prüfend auf den Schmuck. Die Dienerin trägt ein von der Herrin ganz verschiedenes Kostüm; auch ist ihr Gesicht, obwohl schön, doch von minder edlen, vor- nehmen Zügen als das der Herrin. Ihr Haar ist ganz unter einer Haube verborgen, und sie trägt einen ungegürteten Chiton mit engen Ärmeln, der die Fremde, die Sklavin charakterisiert; auch sind ihre Füße in Schuhen versteckt, während die Herrin Sandalen an den auf einem zierlichen Schemel ruhenden Füßen trägt.

Der Stil weist dies köstliche Relief in die Zeit der Schule und Nachfolge des Phidias, in die Epoche des Peloponnesischen Krieges. Die Köpfe haben viel Ähnlichkeit mit denen am Par- thenonfriese; die dünn und wie feucht sich anschmiegende Ge- wandung weist auf die angegebene etwas jüngere Zeit. Jedenfalls gehört die Stele noch in das fünfte Jahrhundert.

Das Relief hat nur die Absicht, die Erinnerung festzuhalten an die edle, schöne Frau Hegeso, und das Mittel, das gewählt ward, ist, sie einfach darzustellen, wie sie in der Erinnerung lebte, zu Hause sitzend, mit Schmuck beschäftigt, von der Sklavin be- dient. Nicht die Spur einer Andeutung des Todes, als Abschieds vom Leben, oder des Jenseits.

Die größere Stele, welche Tafel 35 wiedergibt, stellt nicht eine Verstorbene allein, sondern eine Familienvereinigung dar. Sie gehört zu den im vierten Jahrhundert sehr üblichen Denkmälern, welche Familiengräber schmückten und den einzelnen nicht allein, sondern im Vereine mit den geliebten Angehörigen darstellen. Auch diese Reliefs sind Erinnerungsbilder, bestimmt, das Gedächtnis an die in Liebe innig Verbundenen festzuhalten. Auch bei ihnen keine Spur einer Andeutung des Abschieds vom Leben.

Man hat diese Bildwerke vielfach mißverstanden. Den An- laß dazu bot ein auf ihnen besonders beliebtes Motiv, der Hand- schlag, den man ohne weiteres, moderner Auffassung folgend, als Zeichen des Abschieds mißverstand. Obwohl gleich die nächsten Fragen, wer denn Abschied nehme, wer dableibe, wer der Tote, wer die Überlebenden seien, in die größten Schwierigkeiten ver- wickeln und die falsche Fährte erkennen lassen, so war doch jene verkehrte Deutung sehr verbreitet. Sie beruht auf völligem Ver- kennen dessen, was die antiken Grabdenkmäler sind und wollen.

ATTISCHES GRABRELIEF

ATHEN, ZENTRALMUSEUM

F BRUCKMANN A.-G.. MÜNCHEN

GRABSTELE DER HEGESO

ATHEN, DIPYLON

ZWEI GRABRELIEFS VON ATHEN

115

Der Handschlag bedeu- tet nicht Abschied, sondern ist nur ein Zeichen des in- nigen, unverbrüchlich treuen Zusammenhaltens der Fami- lienglieder. Der Schatten des Todes, der auf diese Verei- nigungen auf dem Grabmale fällt, läßt sich nur an einzel- nen wehmütigen Bewegun- gen erkennen, die meist nur den im Hintergrunde stehen- den Figuren geliehen sind.

Auf unserer Platte sehen wir eine sitzende und eine von rechts herantretende Frau im Handschlag vereint. Beide tragen den ionischen Chiton und den Mantel, an den Füßen Sandalen. Sie blicken sich treu und innig an. Immer ist wie hier das Zu- sammenhalten, Zusammen- kommen, niemals ein Aus- einandergehen dargestellt.

Im Hintergrunde steht, auf seinen Stab gelehnt, ein bärtiger Mann, der den Man- tel in üblicher Weise auf der linken Schulter und um den Unterkörper gelegt trägt. In trübem Sinnen legt er die

linke Hand an den Bart. Sein Kopf ist, wie dies auf den älteren Stelen fast immer der Fall ist, allgemein und nicht als Porträt gebildet; es ist ein kräftiger, schöner Männerkopf, ebenso wie die Frauen von typischer Schönheit sind.

Der Stil dieses Reliefs zeigt schon große Verschiedenheit von dem der Hegeso; am deutlichsten ist dies in den Köpfen und der Behandlung des Haares. Der große Zug, das abgeklärt Reine, Edle ist mit der stärkeren Stilisierung der Formen verschwunden; dafür sind Gesicht und Haar und Gewand freilich natürlicher und wahrer gebildet. Das Relief gehört der ersten Hälfte des vierten Jahr- hunderts v. Chr. an.

Fig. 36. Trauernde Dienerin aus Menidhi,

dem alten Acharnä. Attische Grabstatue

um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr.

Berlin, K. Museen

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116 GRABMALER

Wie auf attischen Grabreliefs im Hintergrund als Nebenfigur eine Dienerin erscheint, mit der Gebärde der Trauer den gesenkten Kopf auf die Hand legend, so waren Rundplastiken in gleicher Situation an Grabstätten angebracht. Unter den erhaltenen Exem- plaren ist eine Perle die etwa um die Mitte des vierten Jahr- hunderts V. Chr. zu datierende junge Sklavin (Fig. 36), die nach einer sinnigen, allerdings nicht sicheren Erklärung dereinst mit einem gleichfalls erhaltenen Pendant an einer Grabanlage zu Menidhi in Attika, an der Stelle des alten Demos Acharnä, auf einem Felsen sitzend als Wächterin gedacht war. Wie die Mädchen ihren Herrinnen zu deren Lebzeiten treue Dienste leisteten, so hüteten sie später die Ruhestätte, in schlichter Einfachheit ergreifende Bilder wehmütiger Hingebung über den Tod hinaus.

TAFEL 37—39

DER SOGENANNTE ALEXANDERSARKOPHAG VON SIDON

KONSTANTINOPEL, KAISERLICH OTTOMANISCHES MUSEUM.

Im Frühling des Jahres 1887 stieß man in der Nekropole des alten Sidon (heute Saida) beim Suchen nach Bausteinen zu- fällig auf eine große unterirdische Grabanlage, die von der türki- schen Regierung mit Umsicht und Vorsicht ausgegraben wurde; sie enthielt 17 Sarkophage, die in das Kaiserliche Museum zu Kon- stantinopel verbracht wurden. Der größte und in der Ausschmük- kung reichste dieser Sarkophage ist derjenige, welchen man nach der Figur Alexanders d. Gr., die auf den Reliefs vorkommt, den Alexandersarkophag benannte.

Die Ansicht Tafel 37 zeigt in zwei Teile zerlegt die Reliefs der Vorderseite, während Tafel 38 den ganzen Sarkophag etwas schräg von seiner Rückseite gesehen wiedergibt; diese letztere stand einst in der Grabkammer nahe ihrer Westwand. Man erkennt hier links noch in starker Verkürzung die nördliche Schmalseite des Sarges. Die Hauptseite war nach Osten, nach dem freien Räume der Grab- kammer gekehrt; sie unterscheidet sich von der Rückseite durch eine sehr viel reichere Reliefdarstellung, die siebzehn menschliche Figuren und sechs Rosse enthält, während jene nur sieben Männer und fünf größere Tierfiguren aufweist. Indes die Feinheit und Sorgfalt der Ausführung ist auf allen Seiten die gleiche.

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DER SOGEN. ALEXANDERSARKOPHAG 117

Fig. 37. Perserkopf

Durch den bei statt- licher Größe (die mensch- lichen Figuren des Haupt- reliefs haben 58 cm Höhe) außerordentlichen Reich- tum und durch die vollen- dete Schönheit des orna- mentalen wie figürlichen Schmuckes, sowie durch die einzig dastehende Er- haltung, welche sich sogar auf die farbenprächtige Bemalung erstreckt, ist dieser Sarkophageines der allerersten und bedeutend- sten aller uns gebliebenen Werke der Antike. Die Ausdehnung der Relief- streifen der Langseiten beträgt je 2,80 m.

Die ornamentale Ver- zierung des Sarkophages

gehört dem ionischen Architekturstile an. Der eigentliche Körper des Sarges hat die Gestalt eines oben und unten reich mit ionischer Profilierung gezierten hölzernen Kastens mit Rahmenwerk und Fül- lung. Die letztere besteht aus den ziemlich hoch ausgearbeiteten Reliefs. Der Deckel des Kastens hat die Gestalt eines Tempel- giebels mit ionischem Gebälk. Unter dem Zahnschnitt läuft ein Fries mit reizend natürlich gebildetem Weinlaub. Dieses natura- listische Ornament war zur Zeit der Entstehung des Sarkophages noch etwas Neues; später finden wir es an mancherlei Geräten öfter. Die Sima ist mit dreifach gehörnten Löwenköpfen geziert, die dem Typus des persischen Löwengreifs angehören. Dieser Greifentypus ward in Griechenland als speziell persisch empfunden; in ganzer Figur erscheinen diese Löwengreife zu den Seiten der Palmette der beiden Giebelfirstakroterien, sowie gemalt auf der Satteldecke des Persers der nördlichen Schmalseite. Als Eckakro- terien fungieren gelagerte Löwen. Als Stirnziegelschmuck dienen an den Langseiten weibliche Köpfe mit schilfblattartiger Bekrönung, die sich an eine in gewissen Kulten übliche Tracht von Tänzerinnen anzuschließen scheint. Dieselben Köpfe kehren oben als First- akroterien wieder; doch wechselten sie hier ab mit Adlern, die weggebrochen und bis auf geringe Reste verloren sind.

118

GRABMALER

Fig. 38. Kopf Alexanders d. Gr.

Das Ganze ist aus zwei gewaltigen Blöcken pentelischen Marmors ge- arbeitet.

Das Relief der Rück- seite Tafel 38 (die Haupt- gruppe größer auf Tafel 39) zeigt eine Löwenjagd, an welcher sowohl griechisch als persisch gekleidete Männer teilnehmen. In der Mitte wird ein durch Kleidung wie Gesichts- typus (siehe Abbildung des Kopfes Fig. 37) als Per- ser charakterisierter Rei- ter von einem Löwen an- gefallen. Der Löwe, der nach einer in der grie- chischen Kunst häufigen nicht ganz natürlichen hundeartigen Weise gebildet ist, hat sich auf das Roß des Reiters gestürzt und zerfleischt dessen Brust. Der Perser zückt die Lanze gegen das Tier. Diese Lanze war von Metall gearbeitet und besonders angesetzt ; sie ist mit allen anderen metallischen Zutaten (Waffen, Gürtelschließen u. a.) ver- loren gegangen. Dem bedrängten Perser kommen fünf andere Männer zur Hilfe, zunächst ein Perser zu Fuß, der mit dem Beile nach dem Löwen ausholt. Die persische Tracht ist hier wie bei dem Reiter sehr deutlich ; sie besteht aus bunten, engen Bein- kleidern, ebenfalls buntem Rock mit engen Ärmeln und einem Überwurf, der ebenfalls mit Ärmeln ausgestattet ist, die aber nicht angezogen sind ; es ist der Kandys, der frei im Rücken flattert und dessen Ärmel nur bei der Parade vor dem Könige angezogen wurden (vgl. Xenophon, Kyropaed, 8, 3, 10). Der Kopf ist be- deckt von der weichen Tiara, die auch das Untergesicht fast bis zur Nase umhüllt. Dem Perser eilen ferner zu Hilfe zwei griechisch gekleidete jugendliche Reiter mit (jetzt fehlenden) Lanzen ; sie tragen kurzen Chiton und Chlamys; der linke hat enge Ärmel am Chiton ; im kurzen Haare liegt eine Binde, wodurch er von dem anderen unterschieden wird ; sein Kopf ist voll Energie und Kraft, aber ohne eigentlich individuelle Porträtzüge (siehe Fig. 38); er hat vielmehr die typischen Züge, welche die attische Kunst des vierten Jahrhunderts den Athleten und dem jugendlichen Herakles

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DER SOGEN. ALEXANDERSARKOPHAG 119

Fig. 39. Kopf Alexanders d. Gr.

gibt. Insbesondere kann von einer Ähnlichkeit mit den in- dividuellen Zügen sicherer Porträts Alexanders d. Gr. nicht die Rede sein; der Haar- wuchs ist sogar vollständig verschieden von jenen und vielmehr der typische der Athleten und des Herakles.

Dennoch ist es höchst wahrscheinlich, daß in diesem Reiter links von dem vor- nehmen Perser Alexander d. Gr. zu erkennen ist, und zwar deshalb, weil er auf der Hauptseite des Sarkophages (Tafel 37) erkannt werden muß in einer Gestalt, deren Gesicht ebensowenig Porträt- ähnlichkeit mit Alexander hat, die aber durch das Löwenkopffell auf dem Haupte und durch die Handlung unzweideutig als Alexander charakterisiert ist. Dort ist eine große Schlacht zwischen Persem und Makedonen dargestellt und Alexander durch die Löwenhaut un- zweifelhaft (der Kopf Fig. 39). Diese läßt aber auch erkennen, woher der Künstler seine ganze Vorstellung vom Äußeren des großen Königs hatte : nicht von den wirklichen Porträts sonst hätte er niemals ein so unähnliches allgemeines Bild gegeben , sondern lediglich von den Münzen Alexanders mit dem jugendlichen Herakleskopfe. Daß dieser in späterer hellenistischer Zeit als Bildnis Alexanders ange- sehen wurde, wußten wir bereits; daß dieser populäre Irrtum aber in die Alexanderzeit selbst zurückgeht, lehrt unser Sarkophag. Der Herakleskopf der Münzen war nicht im mindesten als Porträt Ale- xanders beabsichtigt, sondern stellt nichts als die normale Weiter- bildung des Heraklestypus in der Alexanderzeit dar; nur durch Miß- verständnis sah man das Bild des Königs darin, von dem man wußte, daß er sich gerne mit Herakles identifizierte und mit Löwenfell und Keule auftrat (Ephippos bei Athenaeus, deipnosophistai 12, p. 537 f.).

Die Tatsache, daß der Künstler des Sarkophages keine wirk- lichen Bildnisse Alexanders gekannt und nur das vermeintliche der Münzen benutzt hat, ist auch wichtig, indem sie zeigt, daß man sicher auf falschem Wege war, wenn man, wie bisher allgemein geschehen, den Künstler im Kreise des Lysippos von Sikyon suchte und nur zwischen dessen beiden Hauptschülern Euthykrates und

120 GRABMALER

Eutychides schwanken zu dürfen vermeinte. Die Künstler aus Lysippos Kreise waren natürlich mit dem wirklichen Porträt Alexan- ders, das ja ein Hauptgegenstand von Lysippos Kunst war, aufs genaueste vertraut. Es kommt hinzu, daß der Auftrag, eine deko- rative Arbeit zu liefern, wie sie unser Sarkophag darstellt, ganz außerhalb des Kreises der Tätigkeit des Lysippos und seiner Schule lag, die nur den vornehmen Erzguß pflegte. Dagegen waren die attischen Ateliers eben für derartige Aufträge eingerichtet. Da nun ferner das Material unseres Sarkophages attischer Marmor ist, kann kaum bezweifelt werden, daß auch der Künstler der attischen Schule angehörte. Der Stil der Bildwerke aber bestätigt diese Annahme aufs entschiedenste. Sowohl die Erfindung der Motive, als die Ausführung des einzelnen, insbesondere des Gewandes und der Köpfe, zeigt den Künstler als unmittelbaren Nachfolger jener attischen Meister, welche das Grabmal des Königs Maussollos zu Halikarnaß mit ihren Marmorwerken geschmückt hatten. Indes muß man sich wohl hüten, an einen der großen Namen selbst zu denken ; einem Leochares z. B., der Alexander selbst porträtiert hat, dürfte man die Alexanderbildung unseres Sarkophages niemals zuschreiben.

Im Museum zu Wien befindet sich ein in der Arbeit sehr verwandter Sarkophag mit Amazonendarstellungen, der aus demselben attischen Künstlerkreise herstammen muß wie der große sidonische; indem man fälschlich annahm, daß der Marmor des Wiener Sarko- phages peloponnesischer Herkunft sei, glaubte man darin eine Stütze für die Annahme gleichen Ursprungs des Alexandersarkophages zu haben. Allein jener Wiener Sarg stammt, wie neuerdings nach- gewiesen ward, aus Soloi auf Kypros, und der Marmor desselben ist nicht peloponnesisch, sondern vielmehr pentelisch wie der des sidonischen. Es war derselbe mit Aufträgen für den Osten be- schäftigte attische Künstlerkreis, dem beide Werke entsprangen.

Doch fahren wir fort in Betrachtungen der Jagdszene des sidonischen Sarkophages.

Der andere Reiter in kurzem Chiton und Chlamys, der auf dem Jagdbilde von rechts heransprengt, muß einer der Genossen Alexanders sein; ihn bestimmt Hephaistion oder, wie man auch wollte, Krateros zu nennen, ist schon zu weit gegangen, da der Künstler die Figur nicht weiter individualisiert hat; er hat ihr einen Kopf von ganz allgemeinem, kräftigem, athletenartigem Typus ge- geben, denselben, den er bei dem rechts folgenden Jüngling ver- wendet hat.

Die zwei Figuren am linken Ende des Bildes stehen noch mit der Hauptszene in Verbindung; hinter Alexander eilt ein nackter Mann zur Hilfe herbei, der nur über dem linken Arm ein Ge-

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DER SOGEN. ALEXANDERSARKOPHAG 121

wandstück hängen hat. Der Moment des eiligen Laufes ist ganz vortrefflich erfaßt. Nicht min- der ausgezeichnet in der Bewegung ist der folgende, im Zurückweichen den Bogen ab- schießende Perser, die Linke hielt den Bogen, die Rechte zog die Sehne an. Die Ärmel des Kandys flattern im Rücken empor. Auch am rechten Ende ist ein Grieche und ein Perser dar- gestellt, doch ohne Beziehung zur Hauptszene; es ist hier ein selbstän- diges kleines Bild der Erlegung eines Hirsches gegeben. Der Hirsch wird

von dem nur mit der Chlamys bekleideten griechischen Jüngling mit der Linken am Geweih gepackt und mit der verlorenen Lanze in der Rechten bedroht; die Bewegung hat entschieden mehr Schönheit und Schwung als Wahrscheinlichkeit. Der Perser schwingt die Axt ähnlich wie der hinter dem Löwen stehende. Seine nach rechts ausweichende Bewegung entspricht genau der des bogenschießen- den Persers am anderen Ende, eine Symmetrie, welche dem ganzen Bilde einen wohltuenden Abschluß gibt. Drei Jagdhunde, von denen einer den Löwen in das Hinterbein beißt, vervollständigen das leben- dige Bild einer Jagd, in der Alexander d. Gr. mit den Seinen als Genosse eines persischen Großen erscheint.

Die menschlichen wie tierischen Figuren sind von gleicher Feinheit und Vollendung der Ausführung; die Köpfe zeigen leiden- schaftliche Erregung. Die Wirkung wird bedeutend unterstützt durch die Bemalung, die noch fast vollständig erhalten ist. Sie erstreckt

Fig. 40. Perserkopf

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GRABMALER

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Fig. 41. Kampfgruppe von der Vorderseite des Alexandersarkophages

sich namentlich auf die ganzen Gewänder, dann die Haare, die Augen nebst Brauen und Wimpern, sowie die Lippen; dagegen war das Fleisch nicht bemalt, sondern nur leicht getönt. Es sind sechs Farben verwendet. Violett, Purpur, Rot, Braunrot, Gelb und Blau. Besonders wirkungsvoll ist die Bemalung der Augen, durch welche der Künstler eine außerordentliche Kraft und Intensität des Blickes erreicht hat (Fig. 40). Man erkennt an diesem Beispiele, wie un- geheuer viel wir dadurch verloren haben, daß die Bemalung der antiken Marmorwerke in der Regel verschwunden ist.

Die Hauptseite des Sarkophages (Tafel 37) stellt eine große Schlacht zwischen Persern und Makedonen dar (die mittlere Gruppe zeigt auch Fig. 41), in welcher Alexander nebst zwei Genossen zu Pferd die beiden Ecken und die Mitte herausheben. Die Fülle der Figuren, die zum Teil in drei Gründen hintereinander angeordnet sind, gibt das Gewühl der Schlacht vortrefflich wieder. Das Relief erreicht hier eine damals durchaus neue malerische Vertiefung des Grundes. Während die Rückseite in den hergebrachten Formen des Friesreliefs gehalten ist, wird hier etwas völlig Neues geleistet.

Die Figur Alexanders zur Linken mit dem Löwenfell haben wir bereits besprochen. Mit der (fehlenden) Lanze stieß er nach einem vornehmen Perser, dessen Roß auf die Vorderbeine ge- stürzt ist, der sich aber mit der Waffe in der erhobenen Rechten noch zur Wehre setzt (den Kopf dieses Persers gibt Fig. 42). Die Gruppe kehrt ähnlich wieder auf einem berühmten Mosaik aus Pompeji, das kopiert ist nach einem Gemälde der Alexander- zeit. Der Vergleich zeigt aber, daß der Sarkophagkünstler die

DER SOGEN. ALEXANDEF^SARKOF^HAG 123

Fig. 42. Perserkopt

Szene, die ihm bekannt gewesen sein muß, des individuellen Charakters entkleidet hat. Überhaupt ist der Sarkophag in allem verallgemeinert und idealisiertgegenüber der bis in das Detail gehenden historischen Treue des in dem Mosaik kopierten Gemäldes.

Nach rechtshin folgt die schöne Gruppe eines Zweikampfs zwischen einem Perser und einem Makedonen. Hinter letz- terem schießt ein Perser den Bogen ab in der Richtung nach Alexan- der. Im Vordergrunde

fleht ein Perser um Gnade vor einem berittenen Makedonen, in dessen allgemein gehaltenem, jugendlichem Kopf man mit Unrecht Porträtzüge des Philotas, Hephaistion oder Krateros hat sehen wollen. Einem galoppierenden Perser fällt ein fast nackter, junger Grieche in die Zügel die Nacktheit wieder ein sprechender Be- weis für den verallgemeinerten heroisierten Charakter der Szene , während im Vordergrunde ein Perser den Bogen abschießt nach rechts, wo vom Ende her ein Makedone mit sehr entschlossenen Zügen (Fig. 43) und in voller Rüstung heranreitet. Man hat auch hier eine bestimmte Persönlichkeit vermutet und den älteren Mann, ein Bild eiserner Kraft, Parmenion, den bedeutendsten Feldherrn Alexanders, benannt. Dazwischen die schöne Gruppe, wie ein Per- ser zu Fuß den verwundet vom Pferde sinkenden Genossen auffängt. Außer den genannten Figuren sieht man noch am Boden vier ge- fallene Perser und einen toten nackten Griechen liegen.

Die Schmalseiten des Sarkophages sind in der einfacheren Art der Rückseite komponiert. Sie wiederholen dieselben Themata, die dort erscheinen, nur mit Weglassung Alexanders und alleiniger Her- vorhebung der Perser. Die nördliche Schmalseite zeigt wieder einen Kampf von Persern und Makedonen; ein vornehmer Perser zu Roß bildet die Mitte; die Makedonen oder Griechen sind auch hier, der Wirklichkeit entgegen, aber dem gewöhnlichen idealisierenden heroi- schen Stile entsprechend, nackt gebildet.

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GRABMALER

Fig. 43. MakedoncnLüpl

Die südliche Schmalseite stellt wieder eine Jagd dar, in welcher die Perser aber allein sind ; das gejagte Tier ist ein Panther. Auch die beiden Giebel zeigen Re- liefs, einerseits den Kampf von Persern und Griechen (man hat auch hier Ale- xander erkennen wollen, aber offen- bar mit Unrecht), anderseits einen Kampf zwischen griechisch beklei- deten Männern, ver- mutlich Makedonen und Griechen.

In der letzter- wähnten Szene hat man alle möglichen Mordtaten der Ale- xander- und Diado- chenzeit illustriert

sehen wollen; allein auch die Erklärung der übrigen Bilder hat sich bisher nach unserer Meinung auf durchaus falscher Bahn bewegt, von der irrigen Voraussetzung ausgehend, es müßten die Bilder bestimmte einzelne Vorgänge aus dem Leben derjenigen Person darstellen, für welche der Sarg bestimmt war. In dieser Annahme befangen, haben sich bisher sämtliche Erklärer bemüht, die Per- sonen der Bilder möglichst alle mit historischen Namen zu belegen. So wollte eine der Deutungen mit größter Bestimmtheit den Griechen Laomedon von Mitylene als „Grabherrn" erkennen, der von dem Künstler aber bald in persisches Kostüm verkleidet und mit Schnurrbart ausgestattet, bald in makedonischer Tracht mit glatt- rasiertem Gesichte dargestellt worden wäre! Ja eine so genaue Illustration des Lebenslaufs dieses Laomedon vermeinte man hier zu erkennen, daß man den Sarkophag geradezu als „neue histo- rische Quelle" für Einzelheiten der Diadochengeschichte bezeich-

DER SOGEN. ALEXANDERSARKOPHAG 125

nete. Eine andere Deutung sieht in dem „Grabherrn" Kophen, Sohn des Artabazos, einen vornehmen Perser, und glaubt die Sar- kophagbilder als genaue Illustrationen aus dem Leben eben dieses Mannes ansehen zu dürfen. All dies sind wertlose Phantasien, hervorgegangen aus einem völligen Verkennen des künstlerischen Wesens unseres Denkmals.

Wir haben bemerkt, daß an den beiden Langseiten Alexander d. Gr. dargestellt ist. Diese unmittelbar nach der Entdeckung schon gefundene Benennung ist, wie wir glauben, die einzige, die wirk- lich gerechtfertigt ist. Alle anderen Personen sind nicht nur für uns, sondern waren wahrscheinlich auch für den Künstler schon namenlos.

Die Anwesenheit Alexanders macht die Reliefs allerdings zu historischen; allein sie sind historisch in einem sehr beschränkten, aber echt antiken, griechischen, einem allgemeinen, weiten, idealen Sinne. Alexander ist das einzige wirkliche Individuum, das hier erscheint, er, der schon den Zeitgenossen himmelhoch und götter- gleich erhaben erschien; ihm gegenüber sind alle anderen nur Ver- treter von Menschenklassen, keine Persönlichkeiten mit Namen. Vergeblich wird man sich bemühen, die große Schlacht genau zu bestimmen als die von Issos oder Arbela und die Makedonen und Perser einzeln zu benennen und in einem von ihnen den „Grab- herrn" zu erkennen; der Künstler wollte ja nur eine Schlacht Alexanders gegen die Perser in echt hellenischer, allgemeiner Weise darstellen. Das Jagdbild zeigt Alexander nach der Besiegung Per- siens : er verkehrt freundschaftlich mit den persischen Großen und nimmt an ihren Jagden teil: auch dieses Bild von typischem, all- gemeinem Gehalt. Das Jagdleben der persischen Vornehmen, die Kämpfe der Perser mit den Makedonen und Griechen, sowie die Kämpfe der Makedonen und der Griechen untereinander dies schildern die übrigen kleinen Bilder ein lebendiges Zeitgemälde, aber mit typischen, nicht individuellen Figuren, daher auch mit typischen Motiven und selbst mit Einmischung des ganz unhisto- rischen heroischen Kostüms.

Würde der Sarkophag wirklich, wie man in gänzlicher Ver- kennung der Eigenart griechischer Kunst gemeint hat, einzelne auf Tag und Stunde bestimmbare Momente illustrieren, so würde er aus allem herausfallen, was wir von griechischer Gräberkunst wissen; erst wenn das Historische in den Bereich des Typischen, Allge- meinen gehoben ist, gliedert sich auch dieser Sarkophag als ver- ständliches Glied in die Kette des uns Bekannten.

Die Bilder zeigen unzweideutig, daß das Ziel des Künstlers nicht die Schilderung der Griechen oder Makedonen, sondern die

126 GRABMÄLER

der edlen Perser der Alexanderzeit in Jagd und Krieg war. Damit stimmt der ornamentale Schmuck des Sarges überein, der, wie wir sehen, eine so starke Verwendung von dem persischen Greife macht. Und damit stimmt endlich vor allem die aus dem Orte der Auf- findung zu erschließende Bestimmung des Sarkophages.

Diese letztere ist freilich Gegenstand einer lebhaften Kontro- verse geworden. Anfangs vermutete man sogar, der Sarg sei für Alexander d. Gr. selbst bestimmt gewesen ; dann setzte man dafür einen der makedonischen Generale ein, wie Parmenion oder Per- dikkas, oder einen Statthalter Syriens, ferner einen der vornehmen Perser, wie Artabazos oder Mazaios, indem man annahm, der Sar- kophag sei anderswohin, etwa nach Ägypten oder Babylonien, be- stimmt gewesen und nur durch irgend einen Zufall, durch Raub oder Kauf, an die Stelle der Auffindung in die Gruft zu Sidon ge- kommen. Diese Annahme ist gänzlich willkürlich und haltlos. Alle Tatsachen weisen vielmehr darauf hin, daß der Sarkophag für die Stelle gearbeitet ist, an welcher er gefunden ward.

Der Sarg stand in einer geräumigen Grabkammer zusammen mit drei anderen, die offenbar aus denselben Künstlerhänden her- vorgingen wie der große und mit ihm zugleich aufgestellt wurden; sie sind nur ornamental verziert; der reizende Weinlaubfries er- scheint auch an ihnen. An zweien finden sich phönikische Buch- staben als Versatzmarken für Deckel und Sarg; sie zeigen, daß die Ausführung der Särge gemeinsam und am Orte vorging, wo die attischen Meister sich phönikischer Steinmetzen für die unter- geordneten Arbeiten bedienten. Die wunderbare Erhaltung der Särge ist ohnedies kaum anders zu erklären, als daß sie frisch aus der Werkstatt am Orte in die Gruft kamen. Die Grabkammer ist die jüngste in einer größeren Anlage von sieben Kammern, die von einem Schachte ausgehen; die sukzessive Anlage dieser Kammern läßt sich noch deutlich verfolgen; mit ihr im vollkommenen Ein- klang steht die aus dem Stil zu erschließende Folge der darin befindlichen siebzehn Sarkophage. Die ganze Anlage ist gemacht mit sorgfältiger Berücksichtigung und Schonung eines unmittelbar benachbarten älteren Grabes, dessen Sarg eine Inschrift enthielt, die den sidonischen König Tabnit nennt, der an das Ende des sechsten Jahrhunderts v. Chr. zu setzen ist. Die Gräber liegen zusammen auf einem Familiengrundstück; nach der Inschrift des ältesten ist es die Gruft der Könige von Sidon ; der Mangel der Inschriften an den anderen Särgen kann nicht als Gegengrund an- geführt werden, da sie jünger sind, und die Sitte, die Inschrift an den unterirdischen Särgen anzubringen, abgekommen sein wird. Noch weniger Gewicht ist auf den Mangel goldener Diademe zu

DER SOGEN. ALEXANDERSARKOPHAG 127

legen; das Goldband im Grabe des Tabnit ist kein königliches Emblem, sondern ein in jener Zeit allgemeiner, später abgekommener Schmuck, der ähnlich in vielen nicht königlichen älteren Gräbern vorkommt; übrigens hat das älteste Grab der großen Anlage gleichfalls ein solches Goldband enthalten. Auch der sogenannte Alexandersarkophag ist demnach als der eines sidonischen Königs anzusehen; er ist mit den drei kleineren gleichzeitigen Särgen der jüngste und letzte in der Reihe; er wird dem letzten sidonischen König der heimischen Familie, dem Abdalonymos, gehören. Diese von einem deutschen Gelehrten, Franz Studniczka, aufgestellte und mit Glück verteidigte Annahme hat die größte Wahrscheinlichkeit für sich. Wenn man neuerdings gemeint hat, in einem auf dem Boden der Grabkammer gefundenen, aus numismatischen Gründen in die Zeit um 230 217 zu datierenden Didrachmon des Ptolemaios Soter eine Zeitbestimmung für die Aufstellung des Sarges zu be- sitzen — der dann einem reichen sidonischen Kaufherrn zuge- schrieben wird, der ihn antiquarisch erschachert hätte , so war dies ein Irrtum; denn jene Münze kann immer nur einen terminus ante quem abgeben; da die Grabkammer nach ihrer Anlage sicher wenigstens von Grabräubern besucht worden ist, so kann jener Fund durchaus nicht befremden. Abdalonymos ist auf Geheiß Alexanders durch Hephaistion auf den Thron der Väter gesetzt worden, um 333 v. Chr.; zugleich sollen ihm reiche Schätze und mehr Gebiet zugewiesen worden sein ').

Wir wissen sonst von ihm nur, daß er einmal feinen Parfüm (|it3pov) an Alexander gesendet hat. Große Taten hatte er sicher nicht aufzuweisen. Es war ein Irrtum, aus der oben charakte- risierten falschen Voraussetzung entsprungen, wenn man gemeint hat, Szenen aus seinem Leben auf dem Sarkophage zu erkennen. Er selbst kommt gewiß gar nicht vor auf den Bildern, die ein anderes höheres, allgemeineres Ziel verfolgen. Auch haben wir bereits bemerkt, daß die dargestellten Orientalen den Kopftypen wie der Tracht nach keine Semiten, sondern reine Perser sind. Die Adelsklasse aber, um so zu sprechen, in welche der sidonische König sich rechnen mußte, war die der persischen Großen, der Umgebung des Großkönigs, in welcher seine Vorgänger zum Teil einer hohen Stellung gewürdigt worden waren. Diese Klasse in den Verhältnissen zu schildern, welche die Eroberung Alexanders bedingte, das war die dem griechischen Künstler zunächst ge- stellte Aufgabe. Der sidonische Fürst erhielt damit einen zwar

') Curtius Rufus, Geschichte Alexanders des Großen IV, 1, 16—26; die dort gebotene Erzählung erscheint stark ausgeschmückt.

128 GRABMÄLER

nicht individuell persönlichen, aber einen vornehmen Grabesschmuck, der die Klasse wohl charakterisierte, zu welcher er sich rechnen zu dürfen stolz war. Indem diese aber damals von Alexander gleich ihrer Sonne das Licht empfing, so konnte die Gestalt dieses Helden den Bildern nicht fehlen ').

Wenn der sidonische König einen Griechen mit seinem Grab- male beauftragte, folgte er nur der Tradition des Hauses. Die Funde haben gezeigt, daß seine Vorfahren nicht anders als die vornehmen Phöniker überhaupt schon seit dem fünften Jahrhundert sich für ihre Grabmäler an Griechen gewendet haben, die längere Zeit zwar noch die ägyptische Sargform nachahmen mußten, dann aber frei die eigenen griechischen Formen anwenden durften.

Der Künstler hat die Aufgabe in echt griechischem Sinne ge- löst; unbekümmert um Kleines und Persönliches, nur das Große und Allgemeine im Auge, hat er gleichsam die Idee der Geschichte seiner Zeit, gesehen vom Standpunkte eines Großen des von Alexander besiegten, Alexander willig als Herrn erkennenden Ostens gegeben.

Wir wissen nicht, wann Abdalonymos starb. Die äußerst un- ruhigen historischen Verhältnisse in Syrien, ferner der Stil der Bildwerke und das ohne Kenntnis des wirklichen Porträts Alexanders gearbeitete Bild desselben, endlich der Inhalt der Reliefs, die nur mit Unrecht auf Diadochenkämpfe bezogen worden sind, die sich vielmehr ganz aus den Verhältnissen der Alexanderzeit selbst er- klären, sprechen für eine relativ frühe Datierung des Sarkophages, der demnach vielleicht selbst noch zu Lebzeiten Alexanders ent- standen ist. Es ist auch nicht völlig ausgeschlossen, daß der sidonische Herrscher, wie Maußolos von Halikarnaß, während seiner Regierung in eigener Person das Grab und dessen plastischen Schmuck aus- gewählt sowie die vorzeitige Ausführung veranlaßt hat.

') Und in diese konnte auch an nebensächlicher Stelle eines auf- genommen werden, das die Kämpfe der Griechen und Makedonen unter- einander schilderte (die oben S. 124 erwähnte sog. Mordszene) und das dem Künstler zur Vervollständigung des allgemeinen Zeitbildes (vgl. S. 125) passend erscheinen mochte.

VII. STATUARISCHE GRUPPEN

Die griechische Rundplastik hat im vierten Jahrhundert v. Chr. und in erhöhtem Maße in der hellenistischen Zeit eine bedeutende stoffliche Erweiterung gewonnen. Während sie in den älteren Epochen abgesehen von vereinzelten Ausnahmen unmittelbar an die Religion, das öffentliche Leben, den Grabeskult geknüpft war, erwuchsen ihr in den aufblühenden Handelsstädten Kleinasiens und der Inseln, sowie in den Residenzen hellenistischer Fürsten durch die statuarische Ausschmückung der Paläste, öffentlichen Plätze und Gebäude, aus- gedehnten Parkanlagen, prächtigen tempelartigen Grabdenkmäler völlig neue Aufgaben, oder es wurden dort die alten Aufgaben wenigstens in veränderter, erweiterter Gestalt gelöst. So erklärt sich die Entstehung zahlreicher, teilweise rein dekorativer Rund- werke, die entweder in der freien Natur aufgestellt oder zu einer baulichen Anlage in Beziehung standen. Die Stoffe derselben waren teils dem reinen Genre oder dem bacchischen, erotischen, neptunischen Götterkreise, teils der in der Malerei und Relief- kunst schon lange vorher bearbeiteten Heroensage entnommen, welche durch die ältere epische Poesie und das Drama lebendig geblieben war und in der gleichzeitigen Dichtung behandelt oder umgestaltet wurde. Da derartige statuarische Rundwerke dem Kunst- geschmacke der Römer entsprachen und als Zierden der Villen und Gärten reicher Privaten, der öffentlichen Gebäude, wie der Thermen und Theater, sich eigneten, sind Originale aus Ländern griechischer Kultur nach Rom entführt oder dort die Vorbilder kopiert worden, so daß eine verhältnismäßig große Anzahl von Werken dieser Kunst- richtung erhalten ist. Die dargestellten Sagen erforderten meistens die Bildung lebhaft bewegter Gruppen, in denen sich gewaltiger dramatischer Affekt kundgibt. Die Vereinigung zweier oder mehrerer lebender Wesen in bestimmter Situation und Handlung ist zwar schon in der archaischen Rundplastik, aber nur durch Aneinander- reihung oder Gegenüberstellung, durch lose Berührung wieder- gegeben worden. Die Bildung völlig oder großenteils freistehender,

Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 9

130 STATUARISCHE GRUPPEN

geschlossener Rundgruppen, sei es als Einzelwerke, sei es als Teile eines Zyklus, die bisher nur in Verbindung mit der Archi- tektur in Giebeldarstellungen oder auf Akroterien von Tempeln vorkam und die mit Recht als die schwierigste Aufgabe der Skulptur bezeichnet wird, ist das Verdienst der griechischen Plastik des vierten Jahrhunderts v. Chr. und des Hellenismus. Die herrliche Gruppenbildung von Eirene mit Plutos (Tafel 21) und Hermes mit dem Dionysos (Fig. 21) deutet zwar in einem gemütvollen Stim- mungsbilde auf das innige Verhältnis des Erwachsenen zu dem Kinde hin, zeigt aber in der formalen Gestaltung noch kein eng verbundenes Ganzes. Dagegen gehört von rein künstlerischem Standpunkte betrachtet in diesen Kreis auch die Ringergruppe zu Florenz, die nach Gegenstand und Bestimmung sich ausscheidet (vgl. S. 105). Von den hier abgebildeten Proben ist künstlerisch am bedeutendsten und zeitlich am frühesten die Vereinigung der Niobe mit der jüngsten Tochter (Tafel 40), die als Mittel- punkt der von rechts und links herbeieilenden Kinder in den Inter- kolumnien einer Säulenhalle nahe der Cellawand eines Tempels des Apollo, beziehungsweise der Artemis oder einer tempelartigen Grabanlage Kleinasiens passende Aufstellung gefunden haben mag; als plastische Verkörperung der Vergänglichkeit irdischen Glücks eignet sie sich vortrefflich zum Schmucke eines Grabes. Die er- schütternde Sage von dem Untergange der blühenden Familie ist in der Poesie bereits von Homer erzählt, von Äschylus und Sophokles dramatisch gestaltet, auch schon in der Kunst des fünften Jahrhunderts v. Chr. behandelt worden und war auf diese Weise im Volksbewußtsein lebendig geblieben. Die RettungderLeiche des Patroklos durch Menelaos (Tafel 41), ein Sinnbild wahrer Heldenfreundschaft, und der auf einem Abenteuer begrif- fene, in seiner Eigenart vorzüglich charakterisierte Odysseus (Tafel 43 und Fig. 47) führen ebenso wie die Darstellung des tragischen Schicksals des Laokoon und seiner Söhne (Tafel 42) unmittelbar in die Kämpfe um Ilion. Die Ori- ginale ersterer Bildwerke waren vielleicht Bruchstücke eines größe- ren Zyklus homerischer Szenen, die in fortlaufender Reihe oder geeigneter Gruppierung aufgestellt waren. Die Laokoongruppe, die freilich erst um 50 v. Chr. entstanden ist, trägt dennoch durchaus den Charakter hellenistischer Kunst an sich; sie hat vermutlich dereinst die Nische einer baulichen Anlage profaner oder religiöser Be- stimmung ausgefüllt. Und wenn wirklich die von Winckelmann vorge- schlagene Deutungder Gruppe des Kunst lersMenelaos(Tafel44) zu Recht bestehen kann, dann darf man annehmen, daß die Szene des Wiedersehens des Orestes und der Elektra am Grabe des Vaters,

NIOBE 131

das in ebenso einfacher als rührender Weise zum Ausdruck ge- bracht ist, im engen Anschluß an des Äschylus und Sophokles Tragödien erfunden worden ist und dereinst vielleicht ein römi- sches Theater geschmückt hat. Zu den anderen lebhaft bewegten Statuengruppen pathetischer Richtung steht sie durch die weihe- volle Stimmung des ganzen Bildes in wirkungsvollem Kontrast; auch zeitlich ist sie von jenen zu trennen, da sie das Werk einer eklektischen, zu Rom im ersten vor- und nachchristlichen Jahr- hundert tätigen Kunstschule ist, welche ältere griechische Einzel- figuren kopierte oder daraus neue Gruppen zusammenstellte.

„Hellas urväterlicher Sagen göttlich heldenhafter Reichtum," das Epos und Drama, sie haben die Stoffe zu diesen statuarischen Gruppen geliefert. Bei der Lektüre der griechischen und römi- schen Poesie gewinnen sie als plastische Veranschaulichungen der Mythologie unschätzbare Bedeutung, Bild und Lied werden durch gemeinsame Betrachtung wechselseitig erläutert. Vom künstleri- schen Standpunkte aus ist es die durch völlige Beherrschung der Technik bedingte Gebundenheit und Geschlossenheit der Figuren, der architektonische Aufbau, die Wahl des spannenden Moments, das maßvolle Pathos in dem Ausdruck der Gefühle, welche unbe- grenzte Bewunderung erregen und für alle Zeiten mustergültig bleiben werden.

TAFEL 40 NIOBE

MARMORSTATUE. FLORENZ, OFFIZIEN.

Die Mutter Niobe ist mit ihrer jüngsten Tochter vereinigt. Sie sind sich beide entgegengeeilt. Die Tochter ist entsetzt mit ausgestreckten Armen vor den Füßen der Mutter zusammenge- brochen. Die Mutter beugt sich zu ihr nieder und hat sie in ihren Schoß aufgenommen; sie drückt die Tochter mit der rechten Hand an sich; mit der Linken zieht sie den Mantel empor, um das Kind zu schützen gegen die Pfeile, die von oben niederschwirren. Denn in der Höhe befinden sich, unsichtbar, die erzürnten Gottheiten Apollon und Artemis, die, um ihre beleidigte Mutter zu rächen, die Kinder der Niobe mit den ferntrefFenden Geschossen erlegen.

132 STATUARISCHE GRUPPEN

Niobe, die Tochter des Tantalos, wie dieser des Umgangs der Götter gewürdigt, hatte wie dieser im Übermut sich erhoben und sich vermessen, glücklicher als Apolls und Artemis Mutter, als Leto, sein zu wollen, weil ihr reicherer Kindersegen als jener geworden. Mit dem Verluste ihrer ganzen blühenden Kinderschar muß sie büßen. Sie blickt zum Himmel auf, von wo ihr das Un- heil kommt, in stummem Schmerze. Ihre hoheitsvolle Gestalt, die unter Göttern gewandelt, ist geknickt. Sie beugt sich vor der Ge- walt des Überirdischen, die wie ein Sturm über ihr hinbraust; aber alles Weh des Irdischen, Endlichen ist in ihrem schmerz- vollen Aufblick vereinigt.

Im felsigen Gebirge vollzieht sich das Unheil. Der Boden ist ungleich und steigt nach rechts an. Hier nach rechts hinauf war die Mutter zu eilen im Begriffe, wie ihr Jüngstes sich ihr entgegenwirft und sie nun innehält, den Oberkörper etwas und den Kopf ganz herumwendet, so daß er in Vorderansicht erscheint. Die Figur baut sich reliefartig auf und ist nur für die Betrachtung von ihrer einen breiten Vorderseite komponiert. Sie bildete den Mittelpunkt einer größeren Gruppe; von rechts und von links kamen bestürzt eilende Kinder auf sie zu, und weiterhin folgten verwun- dete und sterbende. Alle überragte bei weitem die Mutter. Die Kinder sind und dies gilt auch von der jüngsten Tochter im Verhältnis zur Mutter zu klein gebildet, und zwar aus künst- lerischen Gründen, um diese als Hauptfigur recht hervortreten zu lassen. Die Gruppe hat niemals etwa einen Giebel geschmückt, auch nie ganz frei gestanden, sondern befand sich vermutlich ur- sprünglich zwischen den Säulen eines prachtvollen Baues aufge- stellt, vielleicht eines Grabmals in Kleinasien, in den Interkolumnien eines schmalen Peristyls nahe vor der Cellawand.

Uns sind nur Kopien eines großen Teiles, jedoch nicht der vollständigen Gruppe erhalten; die Niobestatue wurde 1583 zu Rom nebst anderen Teilen der Gruppe gefunden, und zwar in der Nähe der Laterankirche, auf dem Esquilin, wo zur Kaiserzeit die Parks und Villen der Nobilität lagen; es sind nicht sehr gut gearbeitete, aber im wesentlichen als treu anzusehende Kopien. Sie befinden sich jetzt in den Uffizien zu Florenz, aus dem Besitz der Medici stammend.

Plinius (naturalis historia 36, 28) erwähnt das Original als zu Rom in dem im Marsfeld am Marcellustheater gelegenen Apollotempel be- findlich; man zweifle, berichtet er, ob es von Skopas oder von Praxi- teles gearbeitet sei. Man kannte also den Künstler in Rom nicht mehr. Der Annahmederdortigen Kunstverständigen könnenwir nurbeitreten, insofern das Werk jedenfalls in den Kreis des Skopas und Praxiteles

NIOBE

FLORENZ, UFFIZIEN

F. BRUCKMANN A.-G , MÜNCHEN

NIOBE

133

Fig. 44. Kopf der Niobe

und in die Blütezeit der attischen Kunst des viertenjahrhunderts v. Chr. gehört. Gerade das Pathos in Gestalten und Gesichtern ist dem Kunst- charakter des ersteren eigen. Allein daß die Gruppe wirklich von Skopas oder Praxiteles war, ist nicht wahrscheinlich ; sie zeigt Ele- mente des Stils beider Künstler vereinigt und gehört deshalb ver- mutlich einem dritten Unbekannten an, und zwar einem Meister, der zu den damals in Kleinasien vielfach tätigen Attikern zählte. Von dort hat Sosius, wahrscheinlich Konsul 32 v. Chr., der unter Antonius als dessen Legat 38 v. Chr. in Syrien und Kilikien be- fehligte, die Originale nach Rom gebracht und in jenem nach glor- reichen Siegen wohl gleich nach 35 v. Chr. von ihm wiederher- gestellten Apollotempel geweiht. So mag Ovid, der die Metamor-

134 STATUARISCHE GRUPPEN

phosen vor der 8 n. Chr. erfolgten Verbannung entworfen hatte, die Bildwerke gekannt haben, als er die Tötung der Niobiden und die Bestrafung der Niobe in plastisch anschaulicher, psychisch er- greifender Art gestaltete. Und in der Tat, nicht nur die wechsel- volle Schilderung von den durch unsichtbare Macht getroffenen Kindern VI, 218 ff. erinnert lebhaft an die statuarischen Gruppen, sondern vor allem die Verse VI, 298 ff.

(Filia) ultima restabat; quam toto corpore mater, Tota veste tegens ,Unam minimamque relinque! De multis minimam posco' clamavit .et unam !' ')

vergegenwärtigen im Liede die Schmerzensmutter mit der jüngsten Tochter, Indes darf höchstens unbewußte Nachahmung angenommen werden. Denn abgesehen von tatsächlicher Verschiedenheit zwi- schen Bild und Dichtung, es zeigt Ovid auch sonst, z. B. in der Orpheusszene, so viel selbständige Gestaltungskraft, daß er jene Metamorphose in Anlehnung an die überkommene populäre Sage gar leicht aus eigenem Können frei geschaffen hat. Immerhin bietet der Vergleich von Kunst und Poesie in diesem Falle besonderes Interesse und trägt zur Auffassung, zum Verständnis beider wesent- lich bei.

TAFEL 41

RETTUNG DER LEICHE DES PATROKLOS DURCH MENELAOS

MARMORGRUPPE IN DER LOGGIA DEI LANZI ZU FLORENZ.

Die nicht unbedeutend über Lebensgröße gebildete Gruppe, die nur in den unteren Teilen erhalten war, aber durch eine gleich- falls in Florenz und zwar im Palazzo Pitti befindliche Wiederholung ergänzt worden ist-), wurde im sechzehnten Jahrhundert zu Rom jenseits des Tiber vor Porta Portese, der alten porta Portuensis

') „Nur die letzte noch blieb, die ganz mit dem Leibe die Mutter, Ganz in Gewand umhüllt: O die einzige laß mir, die kleinste! Von so vielen die kleinste verlang ich nur, rief sie, und eine!" ") Die Abbildung ist nach dem im Dresdner Albertinum zusammen- gesetzten Abguß wiedergegeben, der, anderen Repliken entsprechend, die richtige Stellung des Kopfes und der Arme bietet; im Originale ist ersterer nach der Wiederholung im Palazzo Pitti gesenkt.

PATROKLOS MIT MENELAOS 135

aus welcher die Straße nach dem von Kaiser Claudius angelegten Hafen Portus führte, in einer nach dem Besitzer Velli benannten Vigna entdeckt und 1570 von Großherzog Cosimo I. von Medici gekauft. Anfangs am Fuße des Ponte vecchio unweit des Palazzo Pitti aufgestellt, hat sie später an der Piazza Signoria in der Mitte der Loggia dei Lanzi zwischen teilweise hochberühmten Werken antiker und neuerer Kunst den Ehrenplatz gefunden.

Ein ungemein kräftiger und elastisch gebildeter, bärtiger Krieger, dessen mächtiger Helm mit Reliefs des Kentauren- und Lapithen- kampfes sowie zweier Adler mit ausgebreiteten Flügeln geschmückt ist, und der um den Körper ein Schwertgehänge und einen ge- gürteten, behufs freierer Bewegung an der rechten Seite offenen Chiton trägt, schreitet mit vorgesetztem linken Beine in stürmischem Schritte weitaus; er hat den rechten Arm um den Oberleib eines schlanken, in zarten Formen gebildeten, der Rüstung und Kleidung beraubten Jünglings geschlungen, der unter der linken Brust tödlich getroffen niedergestürzt ist und nun dem Gedränge der Schlacht und der Gewalt der Feinde entzogen wird. Der Jüngling ist auf die Knie gesunken und läßt den linken Arm schlaff herabhängen, den rechten Arm hat er auf den linken des Freundes gelegt, der wieder seinerseits mit diesem den Toten stützt. Der seitwärts wohl gegen nachdrängende Feinde zurückblickende Kopf des Retters zeigt in den leidenschaftlich erregten Zügen, dem schmerzvollen Auge, dem wie zum Schreien nach Hilfe weitgeöffneten Munde starke innere Erregung und bange Sorge um das Schicksal des gefallenen Ge- nossen. Der schön gelockte Kopf des Jünglings hängt hilflos nach rückwärts herab, das zarte Antlitz mit dem gebrochenen Auge und leise geöffneten Munde hat den frischen Hauch blühenden Lebens bewahrt. Beide Krieger erregen in hohem Maße die Teilnahme und das Mitleid des Betrachters.

Über die Deutung hat man lange gestritten und vielleicht auch heutzutage noch nicht allgemeine Übereinstimmung erzielt, daran freilich niemals gezweifelt, daß sie im troischen Sagenkreise zu suchen sei. Lange galt auf Grund einer Stelle der kleinen Ilias') der Tote für Achill, der Retter für Aias; seitdem man jedoch an einem im Vatikanischen Museum zu Rom aufbewahrten Bruchstücke einer Wiederholung des jugendlichen Genossen zwei Wunden, die eine wie auf unserer Gruppe, die andere am Rücken zwischen den Schultern beachtet hat, ist die richtige Folgerung gezogen wor- den, daß dieses Fragment das Original getreuer nachbildet, und auf Grund von Ilias 16, 806 ff. und 16, 821 ff. die Rettung des von

') Epicorum graecorum fragmenta coUeg. Kinkel I. S. 39 fragm. 2.

136 STATUARISCHE GRUPPEN

Euphorbos und Hektor gerade an jenen Stellen tödlich verwundeten Patroklos durch Menelaos erkannt worden. Indes die ganze Situation der Handlung und das bedeutende künstlerische Verdienst des Bild- werkes wird erst durch vollständige und genaue Lektüre des sech- zehnten und insbesondere des siebzehnten Gesanges der Ilias er- schlossen. Der Künstler hat aus den vom Beginne des Kampfes bis zur Bergung des Leichnams mannigfaltig und wechselvoll sich gestaltenden Szenen dem Gesetze der Rundplastik gemäß nur einen Augenblick zur Darstellung wählen können und als glückliche Zu- sammenfassung des wesentlichen Inhalts des siebzehnten Gesangs die Rettung des Patroklos durch Menelaos gewissermaßen frei ge- schaffen ').

Das Originalwerk, dessen Berühmtheit und Beliebtheit durch mehrere teilweise ausgezeichnete Nachbildungen meistens aus rö- mischer Zeit-) bezeugt ist, wird wegen der naturalistischen Cha- rakteristik sowie des starken Ausdrucks der Muskulatur mit der Laokoongruppe verglichen und mit pergamenischer Kunst in Ver- bindung gebracht, indes auch wegen des Vorzugs künstlerischer Bildung überhaupt und insbesondere der weisen Beschränkung in dem Ausdruck der Gefühle und der zwar bedeutenden, aber nicht übertriebenen Entwicklung der Muskulatur, endlich wegen der in dem jugendlichen Helden sich offenbarenden, an die Blütezeit attischer Kunst gemahnenden Schönheit höher geschätzt und sogar bis in die letzten Jahrzehnte des vierten Jahrhunderts v. Chr. hinaufge- rückt. Hinsichtlich der Körperbildung des Menelaos kann man auf einige mit der Kunst des Lysipp in Verbindung gebrachte Werke hinweisen und für die Gestalt, sowie den Gesichtsausdruck des Helden vielleicht auch in der Kunst des Skopas, als dessen wesent- liche Neuerung die Wiedergabe der Gefühle in leidenschaftlich er- regten Gesichtern lebhaft bewegter Figuren gilt, Anknüpfungspunkte finden. Eine ähnliche Gruppenbildung freilich ist aus jener Epoche bei Rundwerken bisher nicht nachgewiesen worden ; auch zeigt die starke Betonung des Anatomischen und bedeutende Hervorhebung des Pathos auf spätere Zeit hin, so daß die Entstehung des Werkes in hellenistischer Epoche, etwa im dritten Jahrhundert v.Chr., in hohem

') An die Darstellung erinnern allerdings Ilias 17, 580 f. und 17, 588 f.; aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß der Künstler gerade diesen bestimmten Moment im Auge gehabt und illustriert hat. Die Erbeutung der Wehr und Waffen des Patroklos durch Hektor, wodurch in dem Bildwerk die völlige Nacktheit des Gefallenen sich erklärt, ist insbesondere Ilias 17, 122 erwähnt.

-) Weitbekannt ist die bei dem Palazzo Braschi zu Rom im Freien aufgestellte Pasquinogruppe, nach der die Pasquillendichtung benannt wird. Diese vortreffliche Wiederholung ist griechische Arbeit.

I

RETTUNG DER LEICHE DES PATROKLOS DURCH MENELAOS

FLORENZ, LOGGIA DEI LANZI

F. BRUCKMANN A.-G.. MÜNCHEN

LAOKOON 137

Grade wahrscheinlich ist. Genauere Datierung derartiger Werke aus rein stilistischen Gründen ist unmöglich. Der Künstler, die Ver- anlassung und der Ort der Aufstellung der Gruppe als eines Einzel- werkes oder in Gemeinschaft mit anderen Darstellungen aus der Ilias können in Ermanglung schriftlicher Nachrichten und verwandter Monumente nicht ermittelt werden. Doch der hervorragende Wert des Werkes ist auch in ihm allein wohlbegründet. Denn die Voll- endung der Komposition, die trotz des größten Gegensatzes der Bewegung meisterhafte Geschlossenheit sowie der pyramidale Auf- bau der Gruppe befriedigen das Auge, ebenso wie das Gemüt durch die aus dem Epos gewählte, wahrhaft dramatische Handlung, den scharfen Kontrast der Situation und des Schicksals beider Krieger, die Betätigung aufopfernder Heldenfreundschaft, die Äußerung tiefen Seelenlebens mächtig bewegt und ergriffen wird. Aber auch darum ist das ebenso kraftvolle als edle Bildwerk wertvoll und schätzbar, weil es mitten in das Kampfgetümmel um Troja versetzt und das herrliche Lied der Patrokleia dem Gedächtnisse wachruft.

TAFEL 42 LAOKOONGRUPPE

MARMOR. ROM, VATIKANISCHES MUSEUM (CORTILE DEL BELVEDERE). ETWAS ÜBERLEBENSGROSS.

Das berühmteste Werk antiker Bildhauerkunst ist 1506 auf dem Esquilin in der Nähe der Titusthermen wie durch ein gnädiges Geschick wohlerhalten ') zutage gekommen, alsbald in Erinnerung

^) Abgesehen von unbedeutenderen Ergänzungen sind unschön und unrichtig in Stuck erneuert der rechte Arm des Laokoon, der ursprünglich nach dem Hinterkopfe zu gekrümmt war, der halbe rechte Unterarm mit Hand des älteren, der rechte Arm des jüngeren Sohnes, der wohl ein wenig nach innen gebogen war. Das Problem der Ergänzung beschäftigt seit langem Künstler und Kunstforscher. Eine neue, im Dresdner Albertinum ausgeführte Wiederherstellung ist Fig. 45 abgebildet. Herr Geheimer Hof- rat Professor Dr. Treu, dem die Erlaubnis zur Veröffentlichung verdankt wird, betrachtet das Problem auch dadurch noch nicht für abgeschlossen. Dessen Lösung wird jetzt erleichtert durch den Fund des schlangen- umwundenen rechten Armes von Laokoon; er stammt von einer etwas verkleinerten Kopie.

138

STATUARISCHE GRUPPEN

Fig. 45. Laokoongruppe Ergänzung, ausgeführt im K. Albertinum zu Dresden

an die berühmte Schilderung des Vergil ') richtig gedeutet und mit der von Plinius dem Älteren-) gepriesenen Gruppe der rhodischen Künstler Hagesandros, Polydoros und Athenodoros identifiziert worden. Sogleich nach der Auffindung von Papst Julius II. ange-

') Aeneis 2, 199 fF.

2) Naturalis historia 36, 37. Da das Haus des Titus, in dem nach Plinius das Werk aufgestellt war, auf dem Palatin lag, so muß der Stand- ort gewechselt haben.

TAFEL 42

LAOKOONGRUPPE

ROM, VATIKANISCHES MUSEUM

F. BRUCKMANN A.-G., MÜNCHEN

LAOKOON 139

kauft, hat es von Anfang an die Begeisterung gleichzeitiger nam- hafter Künstler und Gelehrten wachgerufen, wurde insbesondere von Michelangelo als Wunder der Kunst gepriesen und hat neben den Werken dieses Meisters in der Plastik der Folgezeit, nament- lich in der Barockskulptur hinsichtlich der Richtung auf das Pathe- tische und der Darstellung des nackten menschlichen Körpers nicht immer im günstigen Sinne vorbildlich gewirkt. Nachdem die Gruppe auch in der Blütezeit der deutschen Literatur von Winckelmann und Goethe überaus geschätzt und in sehr lehrreichen, indes von persönlicher Auffassung beeinflußten Ausführungen gewürdigt, sowie von Lessing in einer durch die scharfe Beweisführung klassischen, in den Ergebnissen großenteils verfehlten Erörterung über das gegen- seitige Verhältnis von bildender Kunst und Poesie behandelt worden war, ist der richtige Standpunkt für die Beurteilung in dem Grade verrückt worden, daß der subjektiven Auffassung, wie kaum bei einem anderen Kunstwerke ersten Ranges, weiter Spielraum gegeben ist. Aufgabe des Archäologen ist es, den wahren Wert der Gruppe mit unbefangenem Auge und nüchternem Urteile im Zusammen- hange mit anderen Werken der nämlichen Richtung festzustellen. Der ehemalige Aufstellungsort, von dem das Werk nach Rom gelangt ist, kann in Ermanglung urkundlicher Nachrichten nicht ermittelt werden; neuerdings hat man unter Berücksichtigung datier- barer, mit der Künstlerfamilie in Verbindung gebrachter rhodischer Inschriften die Entstehungszeit der Gruppe um 50 v. Chr. gesetzt. Der dargestellte Mythus ist in der nämlichen Fassung bereits im vierten Jahrhundert monumental nachweisbar und später von dem Dichter Euphorion ') aus Chalkis auf Euböa, Bibliothekar zu An- tiochia in Syrien zur Zeit des Königs Antiochos des Großen (224 187), im Epos behandelt worden: Laokoon, der troische Priester des thymbräischen Apollo, wird, als er bei dem schein- baren Abzüge der Griechen von Troja in Vertretung des getöteten Priesters des Poseidon diesem Gotte ein Opfer darbrachte, wegen einer früher von ihm begangenen Entweihung des Apolloheiligtums samt seinen Söhnen durch zwei aus dem Meere gesandte Schlangen getötet. Die Lösung der schwierigen Aufgabe einer Verknüpfung von fünf lebenden Wesen zu einer geschlossenen Rundgruppe ist durch die Mannigfaltigkeit der Schlangenwindungen ermöglicht worden. Als Grundlage des Aufbaus der Gruppe und Andeutung des Ortes der Handlung dient der Altar, auf dessen linker Kante Laokoon-)

') Vgl. Servius zu Vergil, Aeneis 2, 201.

2) Aus einer um das Haupt herumlaufenden Rille und aus Blätter- resten hinter den Ohren ist zu erschließen, daß er durch einen Lorbeer- kranz als Priester des Apollo gekennzeichnet war.

140 STATUARISCHE GRUPPEN

niedergesunken ist und festgehalten wird, nachdem während der Darbringung des Opfers Vater und Söhne von den plötzlich herbeieilenden Schlangen überrascht worden waren. In der Wahl des blitzartigen Moments und in der Vergänglichkeit des Vor- gangs ist ein wesentliches künstlerisches Verdienst der Gruppe begründet; bewundernswert sind die bei richtiger Ergänzung der fehlenden Teile noch wirksamere Geschlossenheit der Gruppe und der Aufbau zu einem nach linkshin verschobenen Dreieck, welches die mächtige Gestalt des Vaters durchschneidet, ferner die äußerst einfache, auf einen Blick zu überschauende, von jeder Überladung mit Details freie Komposition, der innerhalb der Gebundenheit dar- gestellte lebhafte Kontrast in Stellung und Bewegung der Figuren und die trotz scheinbarer Regelmäßigkeit des Ganzen im einzelnen vorherrschende Mannigfaltigkeit der Motive, endlich die Abstufung der Gefahr und der Wechsel in dem Ausdruck der Gefühle. Durch die fast gänzliche Abstreifung der Gewandung haben die Künstler ihre durch genaueste anatomische Kenntnis des menschlichen Kör- pers erreichte Virtuosität in der Behandlung des Nackten absicht- lich zur Geltung gebracht. Vermutlich haben die Bildhauer von der mächtig blühenden medizinischen Wissenschaft, von der exakten Beobachtung der Anatomie und Physiologie, wie sie seit der Ptole- mäerzeit besonders in Alexandria sich entwickelte, eingehend Kennt- nis genommen, um für ihre Technik daraus großen Gewinn zu ziehen. Jenen großen Vorzügen gegenüber wird man einzelne Unrichtig- keiten in den Proportionen, wie die übertriebene Länge des linken Beines des Vaters und die Verkürzung des linken Unterschenkels am älteren Sohne, mehr als den Ausfluß einer mit Michelangelo vergleichbaren, über Kleinigkeiten sich hinwegsetzenden künstle- rischen Genialität betrachten als einen das Auge wirklich störenden Fehler darin finden; insbesondere ist die Kleinheit der Knaben- gestalten im Verhältnis zu dem mächtigen Körper des Vaters das Ergebnis wohlerwogener Berechnung, welche Laokoon als die Haupt- person der Gruppe hervortreten zu lassen bezweckt hat. Freilich darf auch nicht die fast aufdringlich erscheinende Art der Bildhauer, mit ihrem Können zu prunken, die Muskulatur des Körpers, die Leiden der Seele beinahe in übertriebenem Maße zur Schau zu tragen, dem von dem ersten Eindruck gebannten Auge des Betrachters entgehen. Die Bewunderung des Gesamtwerkes wird gesteigert durch den Anblick der einzelnen Figuren: Die ganze Bewegung des über- aus kräftig gebildeten, in reifem Mannesalter gedachten Vaters ist veranlaßt durch den plötzlichen Biß der Schlange. Laokoon, der mit dem ganzen Aufgebot der Kraft seiner starken Arme Angriff und Um- schlingung abzuwehren sucht, zieht unwillkürlich die linke Seite und

LAOKOON

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Fig. 46. Kopf des Laokoon

den Unterleib ein, preßt Brustkasten und Rippen fast übertrieben heraus, wirft den Kopf (Fig. 46) weit zurück, um seinem maß- losen Schmerze in einem aus dem Innersten tief ausgeholten Seufzer, den man aus dem lebensvollen Marmor beinahe zu vernehmen glaubt, Luft zu machen. Der Schmerz prägt sich auf dem in allen seinen Flächen durchfurchten Gesichte, sowie in dem wirrbewegten Kopf- und Barthaare aus, sammelt sich aber in den verzogenen, nach auf- wärts wie nach höherer Hilfe gerichteten Augen. So wird immer- hin trotz des Mitleid weckenden Jammers eines schwachen und hilflosen Geistes gewissermaßen das Gefühl stiller Ergebenheit, der Ausdruck einer „großen und gesetzten Seele" erzielt, der durch die meisterhafte Vereinigung des körperlichen und seelischen Leids

142 STATUARISCHE GRUPPEN

stets die Aufmerksamkeit auf sich gezogen und Bewunderung er- regt hat. Zu Laokoon hinauf blickt der ältere Sohn, erschreckt und entsetzt über das Schicksal des Vaters, eine rhythmisch voll- endete Figur, die großenteils losgelöst aus dem engen Verbände der Gruppe, durch die Möglichkeit der Befreiung leise Hoffnung bestehen läßt. Sein jüngerer Bruder aber ist, an Armen und Beinen fest umschlungen, des Widerstandes kaum mehr fähig und zeigt in dem weit zurückgeworfenen Kopfe hilflosen, dem Erstarren des Todes nahen Jammer.

Dem die Teile der Gruppe betrachtenden und beurteilenden Auge erschließen sich neue Gesichtspunkte, neue Vorzüge. Doch wird der Beschauer von selbst vom Einzelnen wieder dem Ganzen sich zuwenden, um dann vielleicht zum Einzelnen zurückzukehren. So wird er die Behauptung Winckelmanns bestätigt finden, daß der "Weise darinnen zu forschen und der Künstler unaufhörlich zu lernen finde, und die Worte anerkennen, mit denen Goethe seine berühmte Darlegung über Laokoon einleitet: „Ein echtes Kunstwerk bleibt, wie ein Naturwerk, für unseren Verstand immer unendlich: es wird angeschaut, empfunden: es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt werden." Doch muß man in der Gruppe nicht zu viel suchen, den Meistern keine Erwägungen unterschieben, welche unerweislich oder unwahrscheinlich sind. Dann wird eine ungestörte und reine Würdigung erzielt werden.

TAFEL 43 ODYSSEUS

MARMORSTATUE. VENEDIG, DOGENPALAST.

Der in großen Ansichten auf der Tafel erscheinende Kopf sitzt ungebrochen auf der im Texte (Fig. 47) gegebenen Statue des Odys- seus im archäologischen Museum des Dogenpalastes zu Venedig. Sie kam dahin schon 1584 aus der Sammlung Grimani. Diese vor- treffliche, etwas über halblebensgroße Marmorstatue (Höhe 0,98) ist eine mit besonderer Sorgfalt gearbeitete Kopie des zweiten Jahr- hunderts n. Chr. nach einem verlorenen Originale der hellenisti- schen Epoche, des dritten bis zweiten Jahrhunderts v. Chr., als dessen Material mit größter Wahrscheinlichkeit Bronze angenommen

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ODYSSEUS

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werden darf. Der stützende Baum- stamm neben dem rechten Beine ist von dem Marmor- kopisten hinzu- gefügt; er hat einen Schuppen- panzer über den Baumstamm ge- hängt, dereinen sehr eleganten Eindruck macht. Die Eleganz und Sorgfalt in sol- chen nebensäch- lichen Dingen ist den Kopien ausderhadriani- sehen und an- toninischenZeit besonders cha- rakteristisch ; auch die zier- liche, runde pro- filierte Basis, die freilich viel ge- flickt, aber gro- ßenteils antik

Fig. 47. Marmorstatue des Odysseus

ist, gehört zu den Eigenheiten jener Kopien. Die Beine sind zwar gebrochen, aber bis auf Unwesentliches antik. Die einzige größere Ergänzung ist der rechte Arm, der nebst dem Schwerte ganz neu ist. Nur der Ansatz des nach hinten bewegten Oberarmes ist antik; der Unterarm muß mehr nach vorn gebogen gewesen sein, wie ein an der rechten Seite des Unterleibes sichtbarer, modern abgearbeiteter Rest einer im Marmor stehen gelassenen Stütze zeigt, die den Körper mit dem Unterarm oder dem Schwert, das, wie die leere Scheide, wohl auch in Marmor gearbeitet war, ver- bunden haben muß. Von der Schwertscheide ist nur das Ende ergänzt. Daß solche Attribute wie Waffen, die in älterer Zeit immer besonders angesetzt zu sein pflegen, aus dem Marmor ge- arbeitet werden, ist ebenfalls eine der charakteristischen Eigen-

144 STATUARISCHE GRUPPEN

Schäften der Kopien jener Epoche, der unsere Figur angehört. Am linken Arme ist nur die Hand und der herabhängende Zipfel der Chlamys modern. Der Kopf ist, wie bemerkt, ungebrochen und ganz vortrefflich selbst mit der Nase, deren Spitze nur ein wenig beschädigt ist, erhalten.

Das Werk teilte mit anderen unserer besterhaltenen und vor- züglichsten Antiken (wie dem Bologneser Kopfe der Athena Lemnia, Fig. 7 und 8) das Schicksal, irrtümlicherweise für modern oder wenigstens für ganz überarbeitet gehalten worden zu sein. In Wirk- lichkeit ist es ganz vortrefflich erhalten und gerade am Kopfe auch nicht im geringsten überarbeitet.

Der Held trägt den Pilos, den ihm die spätere Kunst als dem Wanderer und Schiffer gegeben hat; denn eine solche Filzmütze war in Wirklichkeit die Tracht jener Leute. Der Pilos ist hier nicht steif und emporragend, sondern weich anliegend. Auf der rechten Schulter hat der Held die Chlamys geknüpft, deren Ende er um den linken Oberarm gewickelt hat. Der große runde Knopf auf der rechten Schulter ist mit dem Brustbilde der Athena ge- schmückt, der Göttin, deren Liebling Odysseus war, die ihn durch alle Gefahren schützend hindurchgeleitete. Die Göttin ist mit dem zurückgeschobenen korinthischen Helme und mit hinten kurz auf- genommenem Haare, sowie mit der Ägis auf der Brust gebildet. Auch dieses Detail ist von unberührter antiker Arbeit und ent- spricht, wie überhaupt die ganze Chlamys, dem Geschmacke der Epoche, in welcher die Marmorkopie entstand, so sehr, daß wir in diesem Gewände mit dem Knopfe eine Zutat des Marmorkopisten vermuten und das einstige Bronzeoriginal ganz unbekleidet denken dürfen. Die leere Scheide an der linken Seite beweist, daß Odysseus in der verlorenen Rechten das Schwert hielt.

In lebhaftem Ausschreiten einen Moment innehaltend, wendet er den Kopf um, blickt etwas empor und erhebt den linken Arm : der Vorsichtige hemmt den Schritt, indem er eine Gefahr zu be- merken glaubt. Durchdringenden Blickes späht er in die Ferne. Atemlose Spannung bannt ihn an die Stelle. Man sieht, wie der Leib eingezogen und der Mund geöffnet ist, indem er den Atem anhält; es wird die obere Reihe der Zähne sichtbar. Der Blick der weit offenen Augen ist gespannt, die Muskeln der Stirne sind zusammengezogen und bilden Falten. Offenbar späht er nicht nur, sondern lauscht auch in die Ferne. Odysseus ist nicht in offenem Kampfe, sondern in einem Abenteuer gedacht, wo es Vorsicht und Kühnheit, Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit zugleich gilt, kurz, in einer Situation, die so recht für den Helden paßt, der eben jene Eigenschaften in der vollkommensten Weise in sich vereinte.

ODYSSEUS 145

Welches Abenteuer der Künstler gemeint hat, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit bestimmen. Vielleicht gehörte noch eine zweite Figur dazu. Man könnte an eine Gruppe von Odysseus und Diomedes denken, da diese beiden Helden von der antiken Kunst überaus häufig zusammen dargestellt worden sind, namentlich in dem Abenteuer vom Raube des Palladions. Da pflegt in Odysseus die vorsichtige Klugheit, in Diomed der trotzige Mut charakterisiert zu sein. Wirklich gibt es Darstellungen dieser Art, in welchen Odysseus recht ähnlich wie in unserer Statue erscheint. Wir würden ihn dann auf dem Wege zum Raube des Palladions denken. Doch wahrscheinlicher dünkt uns noch, daß er auf dem Wege zum Lager des Rhesos gedacht ist, also in dem ir der Doloneia der llias beschriebenen Abenteuer. Sicher ist der Sinn des Motivs: er schreitet durch die Nacht, stutzt, horcht, späht und hält das gezückte Schwert bereit.

Der Künstler hat die Anregung zu seiner Figur wahrschein- lich aus der Malerei genommen. In Gemälden waren Stoffe wie der hier zugrunde liegende längst bearbeitet worden, ehe sie in die Rundplastik übergingen. Erst die hellenistische Kunst nach Alexander, der eben das Original unserer Statue angehört, hat das Stoffgebiet der Rundplastik dadurch wesentlich erweitert, daß sie in großem Umfange Szenen aus der Heroensage aufnahm, die man bis dahin nur in Gemälden dargestellt hatte. Ein Werk der gleichen Art und Richtung hellenistischer Kunst ist die Gruppe des Menelaos, der den toten Patroklos rettet (Tafel 41), wo der bärtige Kopf des Helden auch eine nahe stilistische Parallele zu unserem Odysseus bietet; ebenso gab es zu der Laokoongruppe (Tafel 42) wahrschein- lich in der Malerei ältere Vorstufen.

Odysseus trägt einen kurzen, kräftigen, stark gelockten Voll- bart und ebenso krauslockiges Haupthaar, das über der Stirne kräftig emporwächst, den oberen Teil der Ohren bedeckt und hinten ziem- lich kurz gehalten ist. Dieser tatkräftige Held kann keinen lang- hängenden Haarschmuck brauchen. Die Trennung der Locken über der Stirne ist mit feiner Absicht nicht über die Mitte gelegt, sondern etwas an die Seite, um den Schein des Nachlässigen, nicht des Symmetrischen, Würdigen zu erwecken. Mit seinem stark gelockten, schwarzen Haare ist dieser Odysseus recht ein Typus des Südländers, der er auch im Charakter ist, während andere unter den griechischen Heroen sich mehr unserem nordischen Heldenbegriffe nähern.

Der Künstler hat das Vielgewandte, Vielerfahrene, Listig- Kluge im Wesen des Odysseus und seine Verbindung mit schlagfertiger Kraft vortrefflich anzudeuten verstanden. Das liegt in allen Zügen, insbesondere in der nicht hohen, aber reich modellierten, durch-

Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 10

146 STATUARISCHE GRUPPEN

gearbeiteten Stirne, dem durchdringenden Blicke, der kräftigen, etwas gebogenen Nase, dem kleinen, beredten, vom Bart umrahmten Munde. Das alles kommt nicht dem Unerfahrenen, nicht dem Schwärmer oder Denker, sondern dem tatkräftigen, in den mannig- faltigsten Lebenserfahrungen geprüften Manne zu. Ein psycho- logisches Meisterstück ist geschaffen, gleich beweiskräftig für die wundervolle Anschaulichkeit der homerischen Poesie wie für die schöpferische Gestaltungskraft der hellenistischen Plastik und der wohl vorbildlich wirkenden Malerei. Denn wie in jener des Odysseus Charakter deutlich sich ausprägt, so blieb er im Volks- bewußtsein lebendig und tritt in der Kunst vor Augen.

TAFEL 44 ORESTES UND ELEKTRA

MARMORGRUPPE DES KÜNSTLERS MENELAOS. ROM, THERMENMUSEUM

Diese Gruppe befand sich seit Anfang des siebzehnten Jahr- hunderts in der Villa Ludovisi zu Rom und wurde erst kürzlich bei dem Abbruche jener Villa in einen neuen Palast, das Museo Boncompagni, überführt. Sie steht jetzt im Thermenmuseum. Über ihre Herkunft ist nichts Sicheres bekannt; daß sie auf dem Boden der Villa selbst gefunden sei, bleibt nur Vermutung.

Eine stattliche Frauengestalt und ein Jüngling, der um einen Kopf kleiner ist, halten sich umfangen. Die Frau legt ihm die Rechte auf die Schulter, der Jüngling hat seinen linken Arm um ihren Rücken gelegt. Ihre vorgestreckten Arme sind zwar beide ergänzt, allein sie können nicht viel anders gewesen sein. Die Frau steht ruhig und fest auf dem rechten Beine, während sie das linke entlastet zur Seite gesetzt hat ; ihr Oberkörper wendet sich dem Jüngling zu, auf den sie mit inniger Teilnahme herabsieht. Der Jüngling hält im Schreiten inne ; er ruht auf dem linken Fuße, indem er den rechten in Schrittstellung nachzieht; er blickt zu der Frau empor. Die Absicht des Künstlers war offenbar, zu zeigen, daß der Jüngling herankommt, während die Frau schon länger an dem Platze ist. Das innige Umfangen und Anblicken deutet an, daß es sich um eine Wiedervereinigung lange Getrennter handelt. Nur um möglichst viel Vorderansicht von den Figuren zu zeigen.

ORESTES UND ELEKTRA

ROM, THERMENMUSEUM

ORESTES UND ELEKTRA 147

erscheinen sie sich weniger unmittelbar zugewendet, als es beim Zusammentreffen zweier Personen natürlich wäre. Ein Auseinander- gehen, ein Abschied der beiden ist indes ganz offenbar nicht dar- gestellt, und die Deutungen der Gruppe, welche von dieser An- nahme ausgehen, sind deshalb falsch.

Zu einer bestimmten Erklärung verhelfen zwei charakteristische Umstände; erstlich der Altersunterschied der beiden dargestellten Personen, die Frau muß älter sein als der Jüngling; zweitens das kurz geschorene Haar der Frau; sie muß in Trauer sein zum Zeichen der Trauer schnitten die Frauen ihr Haar ab und dieser Umstand muß für die Person ein sehr wesentlicher sein, da ihn der Künstler offenbar als Hauptkennzeichen benutzt hat.

Die treffendste und deshalb gewiß einzig richtige Deutung, die sich auf dieser Grundlage ergibt, ist schon von Winckelmann gefunden worden : es ist das Wiedersehen von Orestes und Elektra am Grabe des Vaters. Elektra ist die ältere. Sie hat, selbst schon erwachsen, das Kind Orestes einst beim Tode des Agamemnon aus Klytaimestras Händen gerettet. Kaum mannbar geworden, noch als unausgewachsener Jüngling kommt Orestes zur Rachetat nach der Heimat zurück. Es ist sehr wahrscheinlich, daß man auf der Bühne die beiden in ähnlicher Weise in der Größe verschieden sein ließ, wie es die Gruppe zeigt; ja diesen starken, die Natur übertreibenden Größenunterschied hat der Künstler vermutlich eben von der Bühne, zu deren konventionellem Stile er sehr wohl paßt, übernommen. Elektra ist in Trauer: sie trat auf der Bühne mit der Maske der xorniuoc rrap^t-evo:; auf, d. h. sie hatte eine Maske mit kurzgeschorenem Haare ; sie hat seit dem Tode des Vaters die Trauer um ihn nicht aufgegeben, und dieser Zug ist der wich- tigste in ihrem Wesen und ward von allen Dichtern festgehalten.

„Auf die erste erschütternde Bewegung bei einer Wieder- erkennung folgt naturgemäß die ruhigere Freude, worin man des Glückes genießt, indem man sich fragt: bist du es wirklich? Diesen schönen Moment, worin die Geschwister aus dem Innern heraus die Bestätigungeines Glückeszu schöpfen verlangen, welchem äußere Um- stände die höchste Wahrscheinlichkeit gegeben haben, obgleich sie in völlig verschiedener und kaum noch erinnerlicher Gestalt einander verließen, drückt die Gruppe recht bestimmt aus . . . der Jüngere scheint gespannter zur Schwester aufzublicken, sie mit mehr Ruhe ihr Auge auf ihn zu heften, damit auch durch diese Art der Über- legenheit der Unterschied des Alters . . sichtbar werde . . Durch das kurz abgeschnittene Haar wird sie zur unglücklichen und im Druck der harten Mutter selbständigen und entschiedenen Elektra." Dies die schönen Worte, mit denen Welcker die Winckelmannsche

148 STATUARISCHE GRUPPEN

Deutung, die er mit Recht „die einzig richtige" nannte, begründet hat. Hinzufügen läßt sich noch, daß, wie Emil Braun bemerkte, die Marmorstütze hinter Orestes gewiß nicht ohne Absicht die sonst nicht gewöhnliche Form einer Stele hat: sie soll das Grab Agamemnons andeuten, an dem die Tragiker die Begegnung statt- finden lassen.

Otto Jahn hat geglaubt, noch eine bessere Deutung zu finden, indem er Merope mit ihrem Sohne zu erkennen vorschlug. Ob- wohl die Deutung vielen Beifall gefunden hat, ist sie doch durch- aus zu verwerfen. Merope erkennt ihren Sohn wieder, nachdem sie eben das Beil gegen ihn geschwungen hat, um ihn als ver- meintlichen Mörder ihres Sohnes zu töten. Diese Situation von gewaltigster Aufregung und starker, äußerer Bewegung ist unver- einbar mit der fest und ruhig stehenden Frauengestalt der Gruppe. Dann aber paßt auch das kurz geschorene Haar nicht zur Merope. Denn wenn auch innerlich trauernd um Mann und Kinder, war diese doch Fürstin und dem regierenden König vermählt; sie konnte auf der Bühne gewiß nicht als xot3pi|aoc, „mit geschorenem Haare", auftreten '), sondern mußte äußerlich als Königin erscheinen. End- lich aber hat die Geschichte der Merope nicht entfernt diejenige Berühmtheit genossen wie die der Elektra: der antike Beschauer kann bei unserer Gruppe nur zuerst an Elektra gedacht haben. Übrigens beschäftigen sich auch die anderen Gruppen, welche der- selben Kunstschule angehören wie die vorliegende, gerade mit Orest, Elektra und Pylades. Dagegen sind Kunstdenkmäler, die sich sicher auf Merope bezögen, überhaupt nicht nachzuweisen.

Die sonstigen Deutungen der Gruppe, Andromache Astyanax, Penelope Telemach, Aithra Demophon, Aithra Theseus, Deianeira Hyllos, Iphigenie Orest u. a. verdienen kaum der Erwähnung.

Der Künstler der Gruppe hat seinen Namen an der Stütze neben Orestes Bein angebracht. Dort steht : MeveXaoq STe9dvoD |aa\)r|Tilc eTroi'ei. Stephanos, der Lehrer des Künstlers Menelaos, ist uns bekannt als Schüler des Pasiteles, der zu Pompejus Zeit lebte. Menelaos gehört sonach in den Beginn der Kaiserzeit. Er arbeitete ohne Zweifel in Rom. Die Schule, der er angehörte, pflegte ältere Werke zu kopieren oder Gruppen zusammenzustellen

') Auch wenn sie bei Quintilian 11, 3, 73 „tristis" (traurig) hieße, würde dies gar nichts dafür beweisen; indessen an jener von Jahn ange- führten Stelle ist Merope Konjektur, und zwar eine ganz unnütze; über- liefert ist „Aerope in tragoedia tristis". Es genügt, an das Epigramm des Nikomedes auf ein Gemälde des Ophelion (Anth. Pal. 6, 316) zu erinnern, um zu erkennen, daß eben die „tristis Aerope" (die traurige Aerope) ein bekannter Typus war.

ORESTES UND ELEKTRA 149

aus älteren Einzelfiguren. Wahrscheinlich ist auch unsere Gruppe auf diese Art zustande gekommen. Es ist zu Rom im Museo Tor- lonia eine Wiederholung der Frauenfigur, aber mit einem ganz anderen Kopfe erhalten, die auch nicht in der Gruppenverbindung stand wie die unsrige. Es ist möglich, daß Menelaos für die Frauen- figur ein Vorbild aus dem vierten Jahrhundert benutzte und die Gruppierung, den Kopftypus und die Figur des Orestes hinzuer- fand. Dazu würde stimmen, daß der Mantel des Orest eine nicht griechische, wohl aber in der ersten Kaiserzeit sehr beliebte Ge- stalt zeigt. Die vielfach gebilligte Vermutung, daß das Ganze Kopie nach einer griechischen Grabesgruppe sei, daß so dereinst die still Vertrauten, Mutter und Sohn, auf der letzten Ruhestätte vereinigt standen, erscheint sehr sinnig, doch nicht erweisbar.

VIII. HELLENISTISCHE KUNST')

Die Entstehung und Entwicklung der hellenistischen Kunst vollzieht sich großenteils im engen Zusammenhange mit der Ge- staltung der staatlichen Verhältnisse nach Alexanders des Großen Tode. Die in den früheren Epochen als Pflegerinnen des Kunst- lebens hervorragenden Städte des griechischen Festlandes, insbe- sondere Athen, treten infolge ihrer politischen Schwächung in den Hintergrund; die neuen Residenzen der Diadochenreiche, Antiochia, Seleucia, vor allem Pergamon und Alexandria, die aufblühenden Seehandelsstädte, wie Rhodos, werden Mittelpunkte einer reichen, von der vergangenen Zeit in Auffassung und Inhalt teilweise völlig verschiedenen, in ihren Leistungen höchst originellen Kunst- richtung. Denn das gesteigerte Wohlleben, die große Prachtliebe, der veränderte Geschmack haben der Architektur, Plastik, Malerei und nicht am wenigsten dem Kunstgewerbe, der sogenannten Klein- kunst, bei der Errichtung und Ausschmückung öffentlicher Bauten und Anlagen, bei der prunkvollen Ausstattung der Wohnräume be- güterter Privaten und der mit ihnen verbundenen Gärten neue, mannigfaltige Aufgaben gestellt.

In den bedeutendsten Werken der Plastik erregen hinsicht- lich der äußeren Erscheinung vor allem das großartig Monumen- tale, die Kolossalität und Kühnheit der Komposition, sodann die meisterhafte Technik und die durch genaue Kenntnis der Anatomie erreichte Virtuosität der Behandlung des Nackten die höchste Be- wunderung; durch den effektvollen Realismus und das tiefe dra- matische Pathos der Darstellung lebhaft bewegter Figuren und Szenen werden die Nerven des Betrachters ergriffen und erschüttert, während

') Vgl. auch die einschlägigen Bemerkungen in der Einleitung zu Abschnitt VII: „Statuarische Gruppen" und X: „Griechische und römische Porträts".

HELLENISTISCHE KUNST

151

der Anblick der einfachen

und edlen

Skulpturen des Parthenon

der liebrei- zenden Schöp- fungen praxi- telischen Mei- ßels Auge und Gemüt befrie- digen und er- heben. Diese

bezeichnen- den Merkmale vereinigt in sich das künst- lerisch bedeu- tendste Bild- werk der Epo- che, die gran- diose Barock- figurderNike von Samo- thrake (Fig. 48), die meist als Weihge- schenk des DemetriosPo- liorketes zur

Erinnerung an den 306 v. Chr. in den

cyprischen Gewässern über Ptolemäos errungenen Seesieg gilt, gestiftet in das zur Diadochenzeit weitberühmte Kabirenheiligtum. Vorn auf einem Dreiruderer dahineilend nimmt die hochgewach- sene, schlanke Göttin mitten im Gewühl an der Seeschlacht teil und verkündet durch Trompetenstoß laut den Erfolg, indem sie dadurch die Streiter nur noch leidenschaftlicher und kampfes- freudiger stimmt; die linke Hand hält gemäß eines Ergänzungsver- suches als Siegeszeichen den kreuzförmigen Schmuck eines feind- lichen Fahrzeuges. Genialität der Auffassung, wechselvoller Rhyth- mus der stürmischen Bewegung, raffiniert behandelte Draperie der

Fig. 48. Nike von Samothrake. Marmor. Paris, Louvre

152

HELLENISTISCHE KUNST

vom Meerwind an den Körper gepeitschten Ge- wandung, vollendeter Aus- druck der weiblichen For- men, souveräne Beherr- schung der Marmortech- nik, alle diese Vorzüge machen die vielbewun- derte Gestalt auch im Torso zu einem Meister- werk der Plastik der Grie- chen, ja aller Zeiten über- haupt. Jene charakteri- stischen Eigentümlich- keiten des Hellenismus treten auch aus einem der glänzendsten Denkmäler, den Reliefdarstellungen der Gigantenkämpfe vom pergamenischen Altar ebenso wie aus der zwar viel jüngeren, indes stil- verwandten Laokoon- gruppe (Tafel 42) deut- lich hervor und sind teil- weise auch in der des Menelaos mit der Leiche des Patroklos (Tafel 41) und in dem Kopfe des Odysseus (Tafel 43) erkennbar. Diese im höchsten Grade pathetische Kunstrichtung spiegelt gewissermaßen den gewaltigen und gewaltsamen Charakter des Hellenismus und seiner durch ihre Persönlichkeit in der Geschichte mächtig hervortretenden Fürsten wider, deren kraftvolles Wesen in ihren Porträts bezeichnend zum Ausdruck kommt (vgl. Fig. 59). Den Herrschern war bei der Aufstellung prächtiger, in die Augen fal- lender Kunstwerke die Erhöhung des eigenen Ruhmes und Stei- gerung des Glanzes ihrer Regierung erstes Ziel. In diesem Sinne ist die Errichtung der umfangreichen Siegesdenkmäler zur Erin- nerung an die Bezwingung der wilden und tapferen Galater zu Per- gamon erst in vollem Maße verständlich; von ihnen vermutlich ist in dem „sterbenden Gallier" (Tafel 46, vgl. auch Fig. 52 und 53) eine Nachbildung erhalten, die als hervorragendes Muster der natura- listischen Kunstrichtung der Zeit überhaupt und insbesondere der verständnisvollen Auffassung und Wiedergabe des fremden Volks-

Fig. 49. Marmorkopf eines Barbaren Brüssel, Musee Royal du Cinquantenaire

HELLENISTISCHE KUNST

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Fig. 50. Marmorrelief mit ländlicher Szene : Bauer, eine Kuh zur Stadt treibend. Gute römische Kopie eines hellenistischen Originals. München, Glyptothek

typus von hohem Werte ist. In gleicher Beziehung gewinnt der weit unterlebensgroße Kopf eines Barbaren (Fig. 49) erhöhte Be- deutung. An ihm wirkt im Gegensatz zu abgeblaßten Kopien der köstliche Reiz des lebensfrischen Originals; dem Stile nach scheint es der älteren pergamenischen Schule verwandt zu sein und dem- gemäß noch ins dritte Jahrhundert v. Chr. zu gehören; indes ist längere, weiter reichende Wirkung dieser Kunstrichtung sogar bis in die Wende des zweiten und ersten Jahrhunderts v. Chr. wohl möglich. „Der Kopf stammt aus einer Kampfgruppe und gehört einem kämpfenden, aber unterliegenden Barbaren an, der mit An- spannung der letzten Kräfte mutvoll vorwärtsdringen möchte, dessen Pathos voll höchster Energie, aber auch schmerzvoll ist, darin sich sein Unterliegen ankündet. Der Blick der Augen ist von wunder- barem, packendem Ausdruck, der Mund weit geöffnet, die obere Zahnreihe sichtbar, die Stirne über den Augen stark zusammen-

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HELLENISTISCHE KUNST

Fig. 51. Bronzekopf des jugend- lichen Satyrs, voll naiver, fröh- licher Anmut, voll harmloser Schalkhaftigkeit. Feines, früh- hellenistisches Original. Mün- chen, Glyptothek

gezogen." An Wange und Ober- lippe sind Bartspuren bemerkbar. Die Deutung freilich macht große Schwierigkeiten. „Das Haar ist im Nacken hinten kurz gehalten, am Oberkopf ist es lang wachsen ge- lassen. Das lange, schlaffe Haar des Oberkopfes ist von der linken Kopfseite und von hinten her alles nach der rechten Seite hinüberge- kämmt und hier über der rechten Schläfe in einen Knoten zusammen- gedreht, dessen Spitze leider abge- brochen ist." Diese Mode läßt sich schon frühzeitig, etwa zu Beginn unserer Zeitrechnung, als germa- nisch'), später besonders bei den Bastarnern, monumental nachwei- sen. Deshalb hat man in dem Bild einen Vertreter dieses Stammes vermutet und weiter angenommen, daß das Wandervolk, das von der oberen Weichsel herkam, wohl schon um die Wende des dritten und zweiten Jahrhunderts v. Chr. in die Pontusgegend gelangte, jedenfalls bereits 184 v. Chr. in den Ländern der Donaumündung festsaß, auf diesen Zügen Galatern sich anschloß und in deren Diensten gegen Diadochenfürsten kämpfte; vielleicht ist es sogar selbst mit ihnen zusammengestoßen. Zur Erinnerung an den Sieg mag ein hellenistischer Machthaber das Denkmal errichtet haben. Indes das sind alles unerweisbare Hypo- thesen. Falls wirklich jene eigentümliche Haartracht schon früh- zeitig ausschließlich auf Germanen beschränkt und nicht auch bei anderen Barbaren, bei den Galatern Gebrauch war, dann gewinnt der Kopf erhöhtes Interesse für uns Deutsche als älteste Darstellung eines Deutschen, doch auch ohne sichere Erklärung erzielt er als charakteristisches Werk des Hellenismus in seiner monumentalen Kraft, in seinem heroischen Pathos gewaltige Wirkung.

Auf die Stoffe der hellenistischen Kunst hat die gleichzeitige Poesie nach verschiedenen Richtungen hin wirksamen Einfluß ge- wonnen. Zwar sind auch die althergebrachten Sagen, die im Volke stets lebendig geblieben waren, in der Dichtkunst behandelt und in der Plastik dargestellt worden (vgl. die bereits angeführten Bild-

') Vgl. auch Tacitus, Germania 38.

DER NIL 155

werke Tafel 41 43), aber auch viele entlegene Mythen, wie das Leben und Lieben der niederen Götter des erotischen, bacchischen, neptunischen Kreises, gewannen vorwiegend durch die alexandri- nische Poesie und durch gleichzeitige Schöpfungen der Kunst Po- pularität (siehe auch Fig. 51). Das gemütvolle Idyll, jene originelle Leistung der hellenistischen Dichtkunst, in welchem die wechsel- vollen Erscheinungen des Naturlebens, das ernste und heitere Trei- ben der Landleute usw. mit sichtbarer Liebe und genauer Beobach- tung bis ins einzelne geschildert werden, hat sein Gegenbild in genreartigen Erzeugnissen alexandrinischer Kunst, die verschiedene Vertreter der unteren Bevölkerungsklassen, den Fischer mit seiner Beute, den die Kuh zum Markte treibenden Lc»ndmann (Fig. 50) u. a. m. naturgetreu gebildet haben. Einer verwandten Anschauungs- weise verdankt die kolossale Statue des in voller Ruhe hingelagerten, von fröhlichen Knaben umspielten „Vaters" Nil (Tafel 45) ihre Ent- stehung, in welchem die behagliche und heitere Stimmung eines anmutigen Idylls zur Darstellung kommt.

TAFEL 45 DER NIL

KOLOSSALE MARMORSTATUE. ROM, VATIKANISCHES MUSEUM.

Die Statue wurde zusammen mit einem Gegenstück, das den Tiber darstellt und sich jetzt im Louvre zu Paris befindet, unter Leo X. wahrscheinlich 1513 zu Rom unweit von S. Maria sopra Minerva gefunden und im Vatikan aufgestellt. Die beiden Figuren hatten dereinst das in jener Gegend gelegene Heiligtum der Isis und des Serapis geschmückt. Der Nil ist die schönste Darstellung eines Flusses aus dem Altertum, das Vorbild für zahlreiche Nach- ahmungen bis in die neueste Zeit.

Er ist nicht als ein selbständiger Gott, sondern als Symbol seines Elementes aufgefaßt : das Ganze ist eine Allegorie des Flusses. Die kraftvolle Gestalt ist breit hingelagert; dies symbolisiert das ruhige, mächtige Dahinströmen des gewaltigen Flusses. Die sech- zehn Kinder, die ihn umspielen, sind Allegorien der sechzehn Ellen, um welche der Spiegel des Nils steigt, wenn er den höchsten Wasser-

156 HELLENISTISCHE KUNST

stand, der die höchste Fruchtbarkeit mit sich bringt, erreicht. Das Füllhorn in der Linken mit seinen Früchten und Ähren deutet eben diese Fruchtbarkeit des von dem Flusse bewässerten Tales an und den gleichen Sinn hat der Kranz von Ähren, Blüten und Blättern auf dem Kopfe sowie der Strauß in der Rechten, zu einem Ähren- büschel ergänzt. Die Heimat des Stromes wird durch die Sphinx gekennzeichnet, die dem linken Unterarme als Stütze dient; sie charakterisiert Ägypten ebenso wie die Wölfin mit Romulus und Remus an dem Gegenstücke die Heimat des Tiber bezeichnet. Der ägyptische Strom ist aber noch weiter durch das Krokodil verdeut- licht, mit dem einige der Kinder links spielen; vorn neben dem linken Knie sieht man ein Ichneumon, das auf das Krokodil los- gehen will ; auch mit ihm beschäftigen sich die Kleinen.

Das Element des Wassers ist indes nicht nur symbolisiert, sondern auch selbst dargestellt. Unter der linken Hand strömt es hervor und ergießt sich über die ganze Basis der Statue. An der auf unserer Abbildung allein sichtbaren Vorderseite derselben sieht man nur das fließende Wasser und rechts einige Wasserpflanzen. Auf den anderen Seiten der Basis sind auf dem Wasser Kämpfe von Nilpferden und Krokodilen, sind auf Barken rudernde Pygmäen, die von solchen Tieren bedroht werden, sind Ichneumon und Kro- kodil, Wasservögel und am Ufer weidende Rinder dargestellt.

Das stufenweise Emporklettern der Kinder zeigt das nach Ellen gemessene wachsende Ansteigen des Nils') an. Die Kinder sind übrigens stark ergänzt; an beinahe allen ist der Oberkörper modern, an einigen noch mehr. Ihre Gruppierung um die Haupt- figur ist aber nicht nur bedeutungsvoll, sondern auch künstlerisch überaus geschickt. Die Klarheit der Umrisse der Hauptfigur wird durch sie durchaus nicht beeinträchtigt, ja die mächtigen Formen derselben werden durch den Kontrast hervorgehoben, und Lücken wie die am Fußende und zwischen Armen und Körper werden passend gefüllt. Meisterhaft sind die Vorzüglichkeit der schwierigen Komposition, die Lebendigkeit der Motive, die poetische Gestaltungs- kraft, reizvoll wirkt der gesunde, anmutig spielende Humor.

Der wohlerhaltene Kopf des Flußgottes zeigt den Ausdruck ruhiger, erhabener Milde, wie er dem mächtigen, segenbringenden Strome geziemt. Der volle Bart ist fließenden Wellen gleich be- handelt.

Die uns erhaltene Statue, die mit ihrem Gegenstück, dem Tiber, gleichzeitig in Rom ausgeführt ward, ist die gute Kopie eines älteren, höchstwahrscheinlich in der Ptolemäerzeit zu Alexandrien geschaf-

') Plinius der Ältere, Naturalis historia 36, 58 u. a. St.

STERBENDER GALLIER 157

fenen Originales. Dafür spricht vor allem, ganz abgesehen von der Darstellung selbst, die Vertrautheit mit Pflanzen- und Tierformen Ägyptens, mit dem dortigen Kulturleben überhaupt, die frische Ur- sprünglichkeit des Ganzen.

Die hier durchgeführte allegorische Auffassung des Flußgottes ist der griechischen Kunst vor Alexander fremd. Diese kennt noch keine gelagerten, ihrem Elemente identischen Flußgötter. Die Fluß- götter der älteren griechischen Kunst sind nicht Allegorien der Flüsse, sie bedeuten nicht ein Naturelement, sondern sie sind lebendige Personen des Glaubens wie die anderen Götter, denen sie auch in den Motiven gleichen. Die Statue des Nil ist nicht nur das schönste, sondern wahrscheinlich auch das älteste Beispiel des alle- gorischen gelagerten Typus der Flußgötter.

TAFEL 46 STERBENDER GALLIER

MARMORSTATUE. ROM, KAPITOLINISCHES MUSEUM.

Unter dem Namen des sterbenden Fechters ist diese Statue seit langer Zeit weitbekannt und vielgepriesen. Von nicht sicherer Herkunft') läßt sie sich seit der ersten Hälfte des siebzehnten Jahr- hunderts als zum Bestände der Sammlung der Villa Ludovisi zu Rom gehörig nachweisen und ist von dort unter Papst Clemens XIL in das Kapitolinische Museum gekommen. Die Erhaltung ist nicht sehr glücklich: abgesehen von kleineren Ergänzungen sind völlig neu und daher nicht gesichert das Schwert nebst Scheide und Tragband

') Die Annahme, daß sie ebenso wie die Gruppe „Der Gallier und sein Weib" in den ehemaligen Gärten des Sallust, in deren Bereich Villa und Park Ludovisi angelegt waren, zutage gekommen ist, läßt sich ur- kundlich nicht beweisen. Der Galater hat im Schlachtgetümmel sein Weib, das nach Barbarensitte mit ihm in den Kampf gezogen ist, getötet, um es vor Gefangenschaft seitens nachdrängender Feinde zu retten; er selbst stößt sich soeben im letzten Augenblick vor der auch ihm drohenden Schmach das Schwert in den Hals, ängstlich erregt und zornerfüllt nach dem Gegner umblickend. Der von Pathos durchglühte Kopf (Fig. 53) ist ein ergreifendes Bild von tragischem Heroismus und ein künstlerisches Meisterwerk der hellenistischen Epoche.

158

HELLENISTISCHE KUNST

Fig. 52. Kopf des sterbenden Galliers

mit dem dazu gehörigen Teile der Basis ; zweifellos unrichtig hin- zugefügt ist an dieser Stelle das Ende des Horns, das nur in ein Mundstück auslaufen kann. Der rechte Arm ist echt, war aber ge- brochen.

Wie in dem rechtsseitigen Teile eines Giebels ruht hingestreckt auf der sich abdachenden Basis ein Krieger, der auf der rechten Seite dicht unter der Brust durch eine Stoßwunde von Feindeshand tödlich getroffen ist; er ist auf seinen mächtigen ovalen Schild niedergesunken, um den sich ein gewundenes, in zwei Teile ge- brochenes Hörn herumlegt, und vermeidet durch die ganze Lage des Körpers, insbesondere durch den aufgestüzten rechten Arm, dessen Hand nach außen gedreht ist, und das untergeschlagene rechte Bein, das von dem linken Arme krampfhaft gefaßt wird, jede durch eine Spannung der Muskeln eintretende Steigerung des Schmerzes. Hilflos und gebrochen ist der Kopf gesenkt, das Ge- sicht offenbart den Ausdruck schmerzhaften Leids, bewahrt aber die .'Vliene wilden Trotzes und verbitterter Wut (Fig. 52). Die Nationalität des Verwundeten ist zwar in einer durch den Einfluß griechischer Kunst etwas idealisierten Form, aber in unverkennbaren Zügen

STERBENDER GALLIER

159

meisterhaft zum Ausdruck

gebracht. Denn die

schlanke, ge- schmeidige Jünglingsge- stalt von her- vorragender Größe, deren saftiges und

kräftiges Fleisch von

fetter und dicker Haut

umspannt wird, ganz nackt und nur mit der aus Metall gewun- denen Hals- kette(torquis) geschmückt, die unregel- mäßige, un- griechische Kopf- und Ge- sichtsbildung mit struppi- gem, durch

den Gebrauch der Salbe in wulstige Strähnen verdicktem Haare und dem kurzgeschorenen Schnurrbarte der Oberlippe gewähren eine deutliche Veranschaulichung und Belebung der Vorstellung, die von dem Aussehen eines Galaters aus den Nachrichten antiker Schriftsteller') gewonnen wird; vermutlich hat dem Künst- ler ein charakteristischer Vertreter des Barbarenstammes un- mittelbar als Modell gedient oder er hat ein lebensgetreues Vorbild benützt; jedenfalls ist durch diese Darstellung eine glän- zende Probe für die Fähigkeit der hellenistischen Plastik, auch

Fig. 53. Kopf des Galaters aus der Marmorgruppe „Der Galater und sein Weib". Rom, Thermenmuseum

') Polybius, Geschichte 2, 29, Cäsar über den Gallischen Krieg 2, 30, Livius, römische Geschichte 6, 7, Diodor, Bibliothek, 5, 27 ff., Pausanias, Beschreibung Griechenlands 10, 19 ff.

160 HELLENISTISCHE KUNST

neue Typen zu bilden, dargeboten. Man empfindet Mitleid mit dem Schicksal des der Ermattung nahen Helden, der auch im Todes- kampfe die seinem Stamme eigene unbeugsame Tapferkeit bewahrt: in der Schlacht tödlich getroffen, hat er sich aus dem engen Ge- tümmel eine kurze Strecke weggeschleppt und haucht nun auf dem geretteten Schilde sein Leben aus im Anblick des Kriegshorns, durch dessen Schall er seine Genossen zum Kampfe entflammt hat und das im Gedränge des Gefechts zerbrochen ist. Dieses Stimmungsbild entwickelt sich dem Beschauer aus der Betrachtung des Werkes allein, als einer Einzelfigur gedacht. Mit Recht aber hat man die Zugehörigkeit der unter dem Namen „Der Gallier und sein "Weib" berühmten Gruppe im Thermenmuseum (Rom) zu der Statue des sterbenden Galaters aus der Gleichheit des Materials, Kunststils und Gegenstandes erschlossen, welche Folgerung durch die ehemals gemeinsame Aufbewahrung in der Villa Ludovisi be- stärkt wird. Auch hat man beide Werke als Bestandteile eines umfangreichen Schlachtendenkmals erkannt, das zur Erinnerung an Siege über jene kriegerischen Stämme errichtet worden ist, und nur unentschieden gelassen, ob die Originale selbst oder gute, mit diesen im wesentlichen gleichzeitige, vielleicht auch spätere Nach- bildungen von Bronzen erhalten sind ; auf Grund der Marmorart wird Kleinasien, neuerdings Ephesos oder Tralles, als Entstehungs- ort angenommen. In der Art haben Könige von Pergamon ') die gegen die Galater errungenen militärischen Erfolge auf ihrem Herrschersitz verherrlicht. Eine unmittelbare Beziehung zu diesen Denkmälern pergamenischer Kunst ist zwar urkundlich nicht ge- sichert, erscheint aber durch die Gleichheit der Darstellung und des Stils fast zweifellos. Die Entstehung ist innerhalb der ganzen Periode der Kämpfe, die von den Anfängen der Regierung Attalos I. bis 165 V. Chr. sich ausdehnten, sehr wohl möglich; eine genauere Zeitbestimmung könnte nur durch die Ermittlung des Anlasses der Stiftung, durch die Feststellung des geschichtlichen Ereignisses, zu dessen Verewigung jene Bildwerke beitragen sollten, gewonnen werden ^).

') Attalos I. (241 197), Eumenes II. (197—159), (Plinius der Ältere, naturalis historia 34, 84. Inschriften von Pergamon No. 20 tf.). Von den bei Plinius erwähnten, aus Bronze gearbeiteten Schlachtendenkmäiern sind bei Gelegenheit der von Preußen unternommenen Grabungen leider weder monumentale noch sichere epigraphische Reste zutage gekommen. Trotzdem muß die dereinstige Existenz zu Pergamon als gewiß gelten. Die Monumente waren von Attalos und Eumenes zu verschiedener Zeit getrennt oder vielleicht auch von letzterem Herrscher allein gemeinsam aufgestellt worden. Die Entscheidung darüber könnte durch genauere chronologische Bestimmung der bei Plinius a. a. O. aufgezählten Erzgießer

IX. HISTORISCHE KUNST DER RÖMER

L)ie Anfänge der historischen Kunst der Römer reichen ge- mäß der Nachrichten alter Schriftsteller bis in die frührepublikanische Epoche, wohl noch in das Ende des vierten, jedenfalls in das dritte vorchristliche Jahrhundert zurück. Insbesondere aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr. wird berichtet, daß siegreiche Feldherm ihre Kriegstaten durch Wandgemälde in Tempeln verewigen oder auf Tafelgemälden darstellen ließen, die in Heiligtümern geweiht oder öffentlich ausgestellt und dem Volke erklärt, im Triumphzuge ein- hergetragen wurden. Aus den kurzen, literarisch überlieferten In- haltsangaben einzelner dieser Darstellungen ersehen wir, daß darin die Grundlage für die Entwicklung der späteren monumentalen Relief- kunst der Römer ruht. Zwei vor einiger Zeit zu Rom in Gräbern zutage gekommene Fresken, das eine mit einer fortlaufenden Reihe von Szenen aus der Vorgeschichte Roms (aus dem Ende der Re- publik), das andere mit streifenweise übereinander angeordneten Abbildungen eines bestimmten, bisher nicht ermittelten kriegerischen Ereignisses (wohl aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert) er- innern hinsichtlich der Form, letzteres auch des Inhalts der Dar- stellung unmittelbar an diese spätere Reliefkunst und geben für jene literarischen Nachrichten über die altrömische Malerei den

Isigonus, Pyromachus, Stratonicus, Antigonus gewonnen werden, diese aber ist mit dem vorhandenen literarischen und inschriftlichen Material nur bei Phyromachus und zwar teilweise möglich; er hat sicher unter Eumenes II. gearbeitet, kann aber auch noch unter Attalos I. tätig gewesen sein. Die Konjektur „Epigonus" (vgl. Piinius 34, 88 und Inschriften von Pergamon a. a. O.) für das Piinius 34, 84 handschriftlich überlieferte „Isigo- nus" entbehrt der Berechtigung, und demgemäß ist die Beteiligung beider Künstler an den Siegesdenkmälern gesichert.

-) Aus Attalos I. Regierung wurden zu Pergamon Bathren derartiger Siegesmonumente, die auf Grund der darauf angebrachten Inschriften datierbar sind, gefunden ; doch ist die Beziehung zu den beiden in Rom befindlichen Marmorwerken unerweisbar, ebenso wie deren aus stilistischen Erwägungen erfolgte Zuweisung in jene ältere pergamenische Kunstschule nicht unbedingt überzeugt.

Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 11

162

HISTORISCHE KUNST DER RÖMER

Fig. 54. Marmorrelief vom Trajansbogen in Benevent Darbringung eines Opfers durch den Kaiser

monumentalen Beleg. Zugleich sind sie durch die schlichte und getreue Wiedergabe der Tatsachen als ein verhältnismäßig frühes Zeugnis für den ausgeprägten geschichtlichen Sinn der Römer von großer Wichtigkeit. Indes diese geringen Reste der Malerei er- scheinen unbedeutend gegenüber den zahlreichen, von dem Beginn der Kaiserzeit bis auf Konstantin herab erhaltenen Skulpturen der Sieges- und Ehrendenkmäler, welche zur dauernden Verewigung insbesondere militärischer Erfolge in den verschiedenen Teilen des Weltreichs errichtet wurden.

In Rom sind es abgesehen von unbedeutenderen Baulichkeiten drei Ehrenbogen ') und zwei Siegessäulen -), die noch heutzutage als weithin sichtbare Wahrzeichen der ewigen Stadt in die Luft emporragen. Beide Arten dieser Denkmäler sind gewissermaßen als hohe Postamente für die auf der Spitze zu errichtenden Dar- stellungen des Kaisers, sei es als einer Einzelfigur auf jenen Säulen, sei es ein Viergespann lenkend, wie häufig auf den Bogen, auf- zufassen. Beiden ist die Tendenz ihrer Entstehung gemeinsam, die in der Verherrlichung der Person des Herrschers sowie seiner krie-

') Der des Titus (eintorig), der des Septimius Severus und Konstantin (dreitorig).

2) Die des Trajan und Marc Aurel.

HISTORISCHE KUNST DER ROMER

163

Fig. 55. Marmorrelief von der Trajanssäule in Rom Sturm einer dakischen Abteilung gegen eine römische Festung

gerischen Taten und seiner Wirksamkeit im Frieden begründet ist. Beide zeigen wenigstens in der vorliegenden Gestalt und in der sie umkleidenden plastischen Dekoration ein echt nationales Gepräge '). Die architektonisch einfache und vornehme Symmetrie der Ehren- bogen, die in geschlossenen Umrissen von der örtlichen Umgebung scharf sich abheben, befriedigt den Betrachter in hohem Maße. An den ragenden Siegessäulen dagegen ist es nur die originelle Form und imponierende Höhe, die anfangs in Erstaunen setzen, auf die Dauer aber eine befriedigende Wirkung nicht erzielen. Während an den räumlich begrenzten und abgeteilten Flächen der ersteren eine Scheidung des Reliefschmucks in einzelne Szenen ermöglicht und eine Häufung derselben erschwert ist, sowie bei der mäßigen Höhe der Gebäude die Übersicht erleichtert wird, reihen sich an letzteren die Reliefs in schmalen Streifen spiralförmig fortlaufend von unten bis hoch nach oben und sind dem Auge nur im ge- ringsten Teile erreichbar-). Der sachliche Wert der Skulpturen so- wohl der Ehrenbogen, als auch der Siegessäulen beruht in erster

M Vorstufen der Entwicklung lassen sich in ägyptischer und grie- chischer Kunst verfolgen.

2) Nach neuer Erklärung stellen sie eine aufgewickelte Papyrusrolle die ein gemaltes Bilderbuch ohne Text war, in Marmor dar.

11*

164

HISTORISCHE KUNST DER RÖMER

Fig. 56. Sauopfer, den Penaten dargebracht Relief von der Ära Pacis. Rom, Thermenmuseum

Linie auf dem reichen Inhalt der Darstellungen, welche die lite- rarischen Quellen der Kaisergeschichte monumental bestätigen und ergänzen. Für das Staatsleben und den Kultus, vor allem aber für das Militärwesen in seinen mannigfachen Formen, für die Be- waffnung, den Kampf, die Belagerung und Befestigung u. a. m., end- lich für das Kulturleben der besiegten Völker, voran unserer eigenen Vorfahren, sind sie eine unschätzbare Quelle der Veranschaulichung und Belehrung (Fig. 54 56). Was die künstlerische Bedeutung betrifft, so ist dieselbe je nach der Zeit der Entstehung der einzelnen Denkmäler verschieden. In den Darstellungen der Ära Pacis Augustae ') (Fig. 56) und des Titusbogens wird man das weise

') Ahar der Friedensgöttin, den der Senat zur Feier der Rüclckehr des restitutor orbis Romani aus Spanien und Gallien im Campus Martius zu Rom gelobt hat (Monumentum Ancyranum II, 37); dessen Errichtung fällt in die Jahre 13—9 v. Chr. Die Szene (Fig. 56) wird feinsinnig auf den Urahnen des Augustus, Aeneas, bezogen. Dieser beabsichtigte den von

HISTORISCHE KUNST DER RÖMER 165

Maßhalten in der Gestaltung der Szenen, das vornehme und ruhige Auftreten der Personen, ihre treffliche Charakterisierung und vor- zügliche Wiedergabe im Porträt verdientermaßen würdigen. Von den Reliefs der Trajanssäule abwärts wird die verwirrende Häufung der Szenen und Figuren, der Mangel an Übersichtlichkeit und Klar- heit der Situation trotz der vielfach namentlich an der Trajans- säule anerkennenswerten Erfindungsgabe, vor allem aber die male- rischen Vorbildern entlehnte Anordnung in zwei oder noch mehr Reihen übereinander das Auge des Betrachters stören '). Auch wird die absichtliche Hervorhebung der Taten der Sieger und Zu- rückdrängung der Gegner, die rohe Gewalt in der Kriegsführung unser Gefühl verletzen. Großes historisches und künstlerisches Interesse bietet insbesondere unter den Reliefs der Trajans- und Marcussäule die bezeichnende und lebensvolle Bildung der bar- barischen, der germanischen Volkstypen und unter diesen wir- ken erhebend die Einzelfiguren männlichen und weiblichen Ge- schlechts, die auch nach der Unterwerfung in ihrem Auftreten hel- denhafte Fassung und Würde bewahren. Unter den erhaltenen Rundwerken dieser Art erscheint, vorausgesetzt, daß die Deutung richtig ist, als herrlichste Schöpfung die Statue einer trauernden Barbarin (Tafel 47), die vielleicht als Personifikation eines über- wundenen Volkes ein in den Anfängen der Kaiserzeit zu Rom er- richtetes Siegesdenkmal geschmückt hat; hinsichtlich der künst- lerischen Auffassung und trefflichen Wiedergabe der fremdländischen Nation ist sie ein Meisterwerk,

Troja mitgebrachten Penaten nach der Landung in Latium eine trächtige Sau zu opfern. Zur Andeutung der Götter, denen das Opfer gilt, ist mit unanstößlichem Anachronismus der von dem Kaiser wiederhergestellte Tempel der Penaten zu Rom gewählt, wo diese als Jünglinge mit Speeren in den Händen gebildet waren. Der Vorgang selbst ist in Ritus und Typus römischen Opfern entsprechend veranschaulicht. Gerade der Kult der troischen Penaten, die Verherrlichung des Aeneas ward von Augustus und seiner Zeit wie ein Unterpfand der Weltherrschaft mit besonderer Sorg- falt gepflegt.

') Vgl. die Tafel 48 und ^49 gebotenen Proben der Reliefs der Marcussäule.

166 HISTORISCHE KUNST DER RÖMER

TAFEL 47 STATUE EINER TRAUERNDEN BARBARIN

MARMOR. FLORENZ, LOGGIA DEI LANZL

Unter dem falschen Namen der „Thusnelda" ist die bedeutend überlebensgroße, gut erhaltene') Statue bekannt geworden. Bereits in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts in der Antiken- sammlung der Familie della Valle zu Rom nachweisbar, ist sie noch in dem nämlichen Jahrhundert in den Besitz der Medici und da- durch später nach Florenz gelangt, wo sie in der Loggia dei Lanzi aufgestellt, wohlverdienten Ruhm erlangt hat. Denn sie erregt so- wohl unser künstlerisches als auch gegenständliches Interesse in hohem Grade. Mit Recht wird in der Figur, welche in dem Ge- sichtsausdruck weder griechischen noch römischen Typus zeigt, eine trauernde Barbarin erkannt; da aber in Ermanglung eines Fundberichtes die ursprüngliche Bestimmung nicht ermittelt ist, so kann die fast allgemein gebilligte Vermutung, daß die Statue als Personifikation eines besiegten Barbarenvolkes ein in den Anfängen der Kaiserzeit zu Rom errichtetes Siegesdenkmal geschmückt habe, nicht ganz sicher erwiesen werden, und die Möglichkeit früheren Ursprungs oder der Nachbildung eines älteren Musters aus helleni- stischer Zeit bleibt vorerst noch bestehen. Jene Deutung freilich wird begünstigt durch die Tatsache, daß sehr ähnliche Gestalten neben einem gefangenen Fürsten auf dem zu Arausio, dem heutigen Orange, in Gallia Narbonensis wahrscheinlich zur Zeit des Tiberius errichteten Triumphbogen wiederkehren-) und Germaninnen auf der Marcussäule zu Rom in der Tracht mit der sogenannten Thusnelda manchen Berührungspunkt bieten^), sowie deren charakteristische Kleidung durch die berühmte Stelle in Tacitus Germania*) wenig-

') Abgesehen von kleineren Ergänzungen ist fast der ganze rechte lynterarm neu.

-) Ebenso auf einem zu Palermo aufbewahrten römischen Sarkophag mit Darstellungen von Kämpfen zwischen Römern und Galliern, ferner an dem Basament des Konstantinsbogens zu Rom.

^) Auf einem in Triest befindlichen Relief aus Kula in der Nähe von Philadelphia in Lydien, durch welches der Inschrift zufolge Germanicus oder der Kaiser Gaius geehrt wird, ist ein solches Frauenbild als .repfxavia' („Germania") bezeichnet.

'') Gap. 17: ... feminae . . . lineis amictibus velantur . . ., partemque vestitus superioris in manicas non extendunt, nudae brachia ac lacertos;

STATUE EINER TRAUERNDEN BARBARIN

FLORENZ, LOGGIA DEI LANZI

TRAUERNDE BARBARIN 167

stens teilweise erklärt wird. So wird die Bezeichnung „Gallia de- victa" oder „Germania devicta", wenn auch die Möglichkeit der Darstellung einer anderen besiegten Völkerschaft zugegeben werden muß, nach dem zurzeit vorliegenden monumentalen und literarischen Material der Wirklichkeit am nächsten kommen ').

In ruhiger Haltung, mit beiden Fußsohlen fest auftretend, steht eine hochgewachsene Frau von kräftiger Körperbildung vor uns; sie ist in ihren geschlossenen Umrissen einer schlanken Säule oder einem regelmäßig emporgewachsenen Baumstamme vergleichbar und eignet sich in dieser Gebundenheit der Formen vortrefflich zu archi- tektonischer Verwendung. Durch das zum Zeichen der Ruhe über- geschlagene linke Bein und den Wechsel in der Haltung der Arme ist sie in Verbindung mit der kontrastierenden Bewegung der Kreuz- und Querlinien der Gewandung trotz der ruhigen Stellung überaus lebensvoll rhythmisch bewegt. Die Kleidung besteht aus dicksohligen Schuhen und einem die Arme sowie die linke Brust freilassenden Leibrock mit gegürtetem Überschlag, endlich einem chlamysartigen Mantel, der über das linke Handgelenk gelegt und, nach hinten ge- zogen, über die linke Schulter vorfällt, sowie unter dem linken Arm durchgesteckt, nach abwärts hängt. Bewundert wird mit Recht Hal- tung und Ausdruck des Kopfes. Das herrliche, durch Scheitelung mehrfach gegliederte Haar wallt in mächtigen Strähnen nach rück- wärts tief herab, einzelne Löckchen hängen zur Andeutung der durch den Schmerz veranlaßten Vernachlässigung der Haarpflege in die Stirne herein. Das Haupt ist einem häufigen Typus der Trauer entsprechend gegen den rechten, zum Kinne erhobenen Arm geneigt, der auf die linke Hand gestützt zu denken ist. Das feine Oval des Antlitzes zeigt in dem ernsten und festen Blick tiefe Be- trübtheit, stille Ergebenheit in das unvermeidliche Geschick der Besiegung, entbehrt aber nicht einer gewissen Hoheit und Würde des vornehmen, durch die Unterwerfung ungebeugten Charakters,

(„ . . . die Weiber . . . hüllen sich in Linnen . . ., und den oberen Teil des Gewandes verlängern sie nicht zu Ärmeln, an den Ober- und Unter- armen nackt"; der Zusatz: sed et proxima pars pectoris patet („doch auch der zunächstliegende Teil der Brust ist frei") bezeichnet nicht, manchen Monumenten wie der „Thusnelda" entsprechend, die Entblößung einer Brustseite, sondern dem Wortlaute des Textes gemäß die Nacktheit des ganzen oberen Brustkorbs; auch diese Mode scheint sicher z. B. durch die Tracht einer Germanin auf der Marcussäule veranschaulicht zu sein. Die Enthüllung einer Brustseite kann auch allgemein das Motiv der Trauer darstellen.

') Die erwägenswerte Deutung auf eine nichtgriechische Heroine der Tragödie, etwa auf Medea, die als architektonischer oder dekorativer Schmuck ein römisches Theater geziert hat, läßt sich schon infolge der Unkenntnis über die ehemalige Verwendung des Standbilds nicht begründen.

168 HISTORISCHE KUNST DER ROMER

der dem Sieger Achtung geboten haben wird und uns heute noch mächtig ergreift, je länger der Blick auf dem Bilde stiller und edler Trauer ruht.

Die ganze Statue wäre, wenn sie wirklich ein römisches Original- werk vorstellte, ein beachtenswerter Beweis für die Leistungsfähig- keit der römischen Triumphalkunst. Indes das Vorbild derselben läßt sich mindestens bis in die erste Hälfte des vierten Jahrhun- derts V. Chr. zurückverfolgen und zeigt an einem klaren Beispiele den lange wirksamen Einfluß der Tradition eines Typus. Denn auf attischen Grabdenkmälern und, von diesen entlehnt, auf dem berühmten Sarkophag der „Klagefrauen" aus Sidon in Konstanti- nopel kehrt die Gestalt der trauernden Frau in fast völlig gleicher Form wieder. In der hellenistischen Epoche, vielleicht in Per- gamon, wird das Urbild zur Darstellung der Personifikation unter- worfener nichtgriechischer Nationen verwendet und umgestaltet worden sein, um zur Zeit der Römer griechischen oder unter grie- chischem Einflüsse arbeitenden einheimischen Künstlern bei der statuarischen Ausschmückung von Siegesdenkmälern über barba- rische Völker als Muster zu dienen.

TAFEL 48 und 49 RELIEFS DER MARCUS-SÄULE ZU ROM

PIAZZA COLONNA.

Noch heute stehen in Rom zwei mächtige Säulen aufrecht, die von einem erzählenden Reliefbande spiralförmig umschlungen sind. Beide beziehen sich auf die Kämpfe römischer Kaiser mit den kräftigen Völkern, welche das Reich von Norden, von der Donau her, bedrohten. Künstlerisch bedeutender ist die Säule Trajans, welche die Siege dieses Kaisers über die Daker feiert; aber gegenständlich wichtiger für uns Deutsche ist die des Kaisers Marcus, welche den Kämpfen mit den vorwiegend germanischen Völkern an der mittleren Donau, dem sog. Markomannenkriege, gilt.

Aus der langen Serie der Bilder dieser Marcussäule sind hier vier Proben auf zwei Tafeln vereinigt.

1. Das Regenwunder im Quadenlande. Dieses Bild fällt in den Anfang der langen Reihe. Es ist berühmt, und die hier dargestellte Szene wird auch in unserer sonst so kümmer-

RELIEF DER MARCUS-SAULE 169

liehen Überlieferung über den Markomannenkrieg eingehender er- wähnt. Das zuverlässig überlieferte Datum der Begebenheit ist das Jahr 174 n. Chr., woran man mit Unrecht hat rütteln wollen. Es sind somit die Ereignisse des Jahres 174, mit welchen die Säule beginnt. Ihren Endpunkt aber bezeichnet, wie aus verschiedenen Umständen mit Sicherheit hervorgeht, der vorläufige Abschluß des Krieges 175. Die Errichtung der Säule ist höchstwahrscheinlich schon bei dem Triumphe, den Kaiser Marcus 176 über die Ger- manen und Sarmaten feierte, beschlossen und ihr Bilderschmuck entworfen worden.

Das „Regenwunder" von 174 ereignete sich nach der Über- lieferung (bei Dio Cassius 71, 8 ff.) in folgender Weise: Die Römer rückten im Lande der Quaden vor, wurden von den Feinden um- zingelt, vom Wasser abgeschnitten und litten in der Hitze unter entsetzlichem Durste. Da bricht ein gewaltiges Gewitter los, das den Feinden nur Schaden, den Römern nur Nutzen bringt und sie aus der Gefahr der Vernichtung befreit; sie erfechten einen glän- zenden Sieg. Der Kaiser schreibt an den Senat, daß er kein Be- denken getragen habe, da die unverhoffte Hilfe eine göttliche dies bestimmte der Kaiser nicht näher gewesen sei, auch ohne vorherige Genehmigung des Senats die siebente Imperatorenakkla- mation seitens des Heeres anzunehmen. Das Relief der Säule stellt nicht einen helfenden Gott, sondern nur die Naturerscheinung selbst, das mit gewaltigem Platzregen verbundene Gewitter, personi- fiziert dar, wobei als Grundlage der Typus des als Gott gedachten Regenwindes, des Notus, diente'), von diesem stammen die Flügel; mit der Personifikation ist in geschickter Weise die natürliche Darstellung des Regens selbst verbunden, der in Strömen von Haar, Bart und Armen herniederwallt. Notus ist rings vom Naß derart umflossen, daß die ganze Gestalt sich in Wasser aufzulösen scheint. Unten sieht man versinkende Rosse und tote Quaden, links einige

') Ovid Metamorphosen I, 264fF.:

(Juppiter) emittitque Notum, madidis Notus evolat alis, Terribilem picea tectus caligine vultum : Barba gravis nimbis, canis fluit unda capillis. Fronte sedent nebulae, rorant pennaeque sinusque Utque manu lata pendentia nubila pressit, Fit fragor, inclusi funduntur ab aethere nimbi. „Notus allein wird gesandt: und mit triefenden Schwingen entfleugt er, Sein scheusäliges Haupt pechschwarz in Dunkel gehüllet; Schwarz von Güssen der Bart, den greisenden Haaren entströmt Flut; Nebel umlagern die Stirn, ihm taut's von Gefieder und Busen; Und wie in breiter Hand abhängende Wolken er drückte, Donnert es; dicht nun stürzen die Regenschauer vom Äther."

170 HISTORISCHE KUNST DER ROMER

der geretteten Römer. „In engen Felstälern ringen die Pferde noch mit dem Wasserschwall und bereits gewaltsam niedergeworfen vom Unwetter sind die Feinde; das Ganze ist ein mitleiderregendes Bild der furchtbaren Wirkung elementarer Gewalt." Die Figuren rechts gehören zu der folgenden Szene.

Mit Unrecht hat man neuerdings einen Gegensatz zwischen der Überlieferung und dem Säulenrelief gesehen oder gar gemeint, die Überlieferung sei nur aus Mißverständnis der Säule entsprungen. Allein sicher ist, daß sowohl heidnische als christliche Legende sich sofort an jenen oben nach der ältesten Tradition und der Säule berichteten Vorgang angeschlossen hat. Die Christen eigneten das anerkannte, gerade biblisch anmutende Wunder sich und dem von ihnen angebeteten Gotte zu; sie erkannten in dem Gebete christ- licher Soldaten die Ursache des Wunders. Die heidnische Version führt den Regen, durch den das römische Heer von peinigendem Durste erlöst wird, entweder allgemein auf göttliches Eingreifen oder auf die magischen Künste eines den Kaiser begleitenden Ägypters beziehungsweise Chaldäers oder auch auf des Herrschers Gebet zurück.

2. Hinrichtung germanischer Edlen. Sechs Männer werden durchs Schwert gerichtet. Ihre Hände sind auf dem Rücken zusammengebunden. Die Häupter zweier liegen schon am Boden. Auch die Männer, welche die Exekution vollstrecken, sind ihrem Typus nach Germanen. Im Hintergrunde römische Reiter, welche den Richtplatz umstellt haben. Wahrscheinlich ist die Bestrafung aufständischer Germanen gemeint. Die den Römern treu geblie- benen deutschen Stammesgenossen müssen die Exekution ausführen. Der germanische Typus ist hier deutlich ausgeprägt in den edeln, schmalen, hohen Gesichtern mit den langen Barten. Die Tracht der Germanen besteht hier wie immer auf der Säule aus engen Hosen, die aber häufig das einzige Kleidungsstück sind; dazu tritt oft ein kurzer Rock und ein auf der Schulter festgestecktes Sagum.

3. Römische Reiterei jagt berittene Sarmaten in die Flucht. Die Hauptgegner der Römer in diesem Kriege waren neben den Germanen die die Theißebene bewohnenden Sarmaten. Sie werden von den Germanen sehr verschieden gebildet. Sie sind ein flinkes Reitervolk von aufgeregtem, leidenschaftlichem Wesen, aber niedrigen, servilen Manieren; die Köpfe haben einen unedlen Typus mit tief eingesenkter Nasenwurzel ; der Bart läßt die Wangen größtenteils frei, ist aber vom Kinn aus stark und lang. Sie tragen außer den Hosen immer den Rock und zuweilen das Sagum dar- über. Ihre Waffe ist die Wurflanze. Auf diesem Bilde sind sie in eiligster Flucht begriffen. Einer ist vom Pferde gefallen, das

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RELIEFS DER MARCUS-SAULE 171

allein weiter rennt; er wird von einem Römer niedergestoßen. Mit Unrecht hat man in diesem Typus auch Slaven zu erkennen geglaubt.

4. G ermanis che r Für s t gefangen abgeführt. Links oben ist eine hochgelegene Burg angedeutet. Zwei römische Sol- daten führen zwei germanische Männer gefesselt den Bergweg her- unter. Der vordere von ihnen ist vom Künstler besonders sorg- fältig ausgeführt; es ist der schönste, edelste Germanenkopf auf der Säule. Man darf in ihm den König Ariogaesus vermuten, auf dessen Einbringung Kaiser Marcus einen hohen Preis gesetzt hatte (Dio Cassius 71, 14). Ein dritter römischer Soldat treibt die ge- fangenen zwei Söhne des Fürsten vor sich her. Die Bruchstücke von Darstellungen links und rechts betreffen diese Szene nicht unmittelbar.

Der germanische und der sarmatische Typus sind auf der Säule immer deutlich geschieden. Daneben kommen nebensächlich noch einige andere Völkertypen vor, wie die keltischen Cotini.

Von den römischen Soldaten tragen die Legionare den seit Trajan eingeführten Streifenpanzer, die Auxiliar-Kohorten und die Reiterei das Kettenhemd.

Die Figuren sind (wie auch schon an der Trajanssäule) immer so geordnet, daß, was hintereinander gedacht ist, übereinander dar- gestellt wird.

X. GRIECHISCHE UND ROMISCHE PORTRATS

Infolge des im Altertum zu allen Zeiten vorhandenen Bedürfnisses, das Andenken der Verstorbenen durch die plastische Ausschmückung der Gräber den Nachkommen zu erhalten, infolge der schon frühzeitig weitverbreiteten Sit- te, Bildnisse der Sterblichen den Göttern zu weihen und der seit dem vierten Jahrhundert V. Chr. in stets wachsendem Ma(3e üblichen Gepflogenheit, verdiente Persönlichkeiten durch Ehrenstatuen auszu- zeichnen, hat die Porträtkunst von den ältesten Zeiten des griechischen Archaismus bis in die spätrömische Kaiserzeit in einer Mannigfaltigkeit und Vor- trefflichkeit sich ausgebildet, daß sie den Leistungen der übrigen Zweige antiker Kunst als gleichberechtigt an die Seite gestellt werden muß ; bisher aber hat sie in den weiteren Kreisen der Kunstfreunde die gebührende Beachtung noch nicht gefunden. Durch die in dieser Sammlung gebotenen Abbildungen kann sie zwar nicht ganz voll- ständig in ihrer historischen Entwicklung, aber wenigstens in glän- zenden Proben insbesondere aus ihrer Blütezeit gewürdigt werden. Freilich nur bei eingehendem Studium wird die technisch meister- hafte Arbeit und hohe künstlerische Auffassung erkannt werden. Vor allem gewährt es einen fesselnden Reiz, aus den Physiognomien der Dargestellten ihren Charakter, ihre Gesinnung zu ergründen, bei historisch oder literarisch hervorragenden Persönlichkeiten das Aussehen mit ihren Taten und Leistungen zu vergleichen und in

Fig. 57. Altrömer. iWarmorkopf gegen

Ende der Republik

München, Glyptothek

GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

173

Einklangzubringen. Diese Betrachtungs- weise erschließt bei Anwendung der dringend nötigen Vorsicht eine reiche und reine Quelle der Belehrung.

Außerhalb des Bereiches dieser Skizze liegt die Be- handlung der An- fänge griechischer Bildniskunst, die mit der Entwicklung der ältesten griech- ischen Plastik zu- sammenfällt; um an die frühzeitigsten Versuche der Wie- dergabe mensch- licher Gesichtszüge zu erinnern, genügt es, auf die in my- kenischen Gräbern gefundenen Masken aus getriebenem

Goldblech, die in die zweite Hälfte des zweiten Jahrtausends v. Chr. gesetzt werden, hinzuweisen. In viel jüngere Zeit, und zwar in die Wende des siebenten und sechsten Jahrhunderts v. Chr. gehört eine Anzahl nackter Gestalten, welche Jünglinge in strammer Haltung darstellen; im Schema zwar noch ägyptischen Vorbildern sich anschließend, sind sie doch durch die auf ge- nauem Studium der Natur beruhende Gestaltung des mensch- lichen Körpers und durch den lebensvollen Gesichtsausdruck von jenen starren Erzeugnissen nichtgriechischer Kunst gewaltig unter- schieden. Freilich hat man in der Kopfbildung Porträtähnlichkeit noch nicht erstrebt, sondern mit der Wiederholung oder Ausge- staltung überkommener Typen sich begnügt. Als klassisches Bei- spiel dieses Stils gilt mit Recht der sogenannte „Apoll von Tenea" (Tafel 1), ein Werk aus der Schule des Dipoinos und Skyllis, das zur Erinnerung an einen Verstorbenen dereinst auf dessen Grabe aufgestellt war. Wie im sechsten und fünften Jahr-

Fig. 58. Plato, Hermen-Büste. Rom, Vatikan

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GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

Fig. 59. Hellenistischer Feldherr oder Fürst Kopf der Bronzestatue. Thermenmuseum, Rom

hundert v, Chr. die in ihrerEntwicklung vorwärts schreiten- de altattische Kunst treffliche Schöp- fungen frischen Le- bens, freilich ohne individuelles Ge- präge, hervorge- bracht hat, das zei- gen neben anderen Werken die dereinst der Göttin Athena geweihten Frauen- statuen, die vor nicht allzulanger Zeit auf der Akro- polis zu Athen unter der durch die Zerstörungder Bau- ten der Burg 480 v. Chr. entstandenen Schuttschicht zu- tage gekommen sind (Tafel 2, Fig. 1 u. 2), das zeigt die schon längst gefundene

und weithin bekannte Grabstele des Aristion von dem Künstler Aristokles, ein naturgetreues Bild attischer Mannskraft und Tüchtig- keit aus dem Ende des sechsten Jahrhunderts v. Chr.

Als die griechische Kunst im fünften Jahrhundert v. Chr. zu ihrer Höhe gelangt war, ist in der Bildniskunst noch lange jener Idealismus, der auf naturgetreue Nachbildung der Persönlichkeit ver- zichtet und mit der Wiedergabe zwar künstlerisch hervorragender, aber nur allgemeiner Formen sich begnügt, z. B. in den herrlichen attischen Grabreliefs vorherrschend, allmählich aber auch der Nieder- schlag der Individualitäten großer Meister in steigendem Maße erkenn- bar. Vielbeschäftigt und hochberühmt war der Erzgießer Kresilas (zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr.). Für dessen Bedeu- tung bietet die Kopie des Kopfes seiner Statue des P e r i k 1 e s (Tafel 50) eine glänzende monumentale Bestätigung. In ihr ist nach Abstreifung aller unwesentlichen Einzelheiten der äußeren Erscheinung der xaXöq xdyaö'oc ävi'p, der feingebildete Weltmann in vollendeter Form ver-

GRIECH. UND ROM. PORTRATS

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anschaulicht. Kre- silas hat also auf genaue Wiedergabe des Individuums verzichtet und sehr stark idealisierte Porträts geschaffen. Im Gegensatz zu ihm stand der etwas jüngere attische Erzgießer Deme- trios, der gemäß der literarischen Über- lieferung zuerst die Wirklichkeit mit ausgeprägtem Rea- lismus veranschau- lichte und daherden Beinamen „dvltpco- TTO-Toiö:;, Menschen- bildner", erhielt. Leider hat man von seiner Kunstart aus Monumenten eine genaue Vorstellung noch nichtgewinnen können. In den

ruhigen, vornehmen Formen attischer Kunst der letzten Jahrzehnte des fünften Jahrhunderts ist der ehrwürdige Greis Homer (Fig. 72) gebildet. Von der Eigenart des Atheners Silanion, der um die Mitte des vierten vorchristlichen Jahrhunderts tätig war, gewährt die in Nachbildungen erhaltene Büste des Philosophen Plato einen deutlichen Begriff ( Fig. 58) : Einfache, fast etwas nüchterne Auffassung, schlichte, ehrliche Naturwahrheit ohne absichtlichen Ausdruck der geistigen Bedeutung schauen aus den auf ihn oder auf Meister von ähn- licher Kunstrichtung zurückzuführenden Bildnissen hervorragender Persönlichkeiten entgegen (vgl. Sokrates im älteren Typus Fig. 69). Diese Richtung ist deshalb besonders wertvoll, weil sie unverfälschte Treue vor Augen stellt: So steht das schwunglose Porträt des Plato in starkem Kontrast zu der Vorstellung, die man aus den Schriften des ebenso tiefgeistigen, poetisch beanlagten Philosophen wie fein anmutigen Stilisten gewinnt. Eine weitere, in der Folgezeit überaus wirksame Phase der Entwicklung ist unter dem Einflüsse philo-

Fig. 60. Hellenistischer Fürst, Antiochus III. von Syrien genannt. Marmorkopf. Paris, Louvre

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sophischer, auf die Erforschung des inneren Menschen gerichteter Studien bewirkt worden. „Der Bildhauer soll die Tätigkeit der Seele in dem Bilde zum Ausdruck brin- gen" hat Sokrates einem Künstler ge- genüberbetont. Die- se Forderung ist in der Porträtkunst des vierten Jahr- hunderts V. Chr. und der nachfolgenden Zeit erfüllt worden. Vor allem ist es üb- lich gewesen, Dich- ter und Gelehrte zwar nach der Natur oder naturgetreuen Vorbildern , aber ohne die Zufällig- keiten der äußeren Erscheinung so wiederzugeben und frei zu gestalten, wie ihre bleibende geistige Bedeutung, ihr ethischer Gehalt in dem Andenken der Nachwelt fortlebte. Von diesem Gesichtspunkte aus sind die erhabene, phantasievolle Ge- stalt des Sophokles (Tafel 51), die Hermen des philosophisch beanlagten, tiefen Denkers Euripides (Tafel 52), sowie des geist- und gemütvollen Sokrates (Tafel 53) zu betrachten. In ähnlichem Sinne gedacht, aber auf Grund der aus der Überlieferung gewon- nenen Vorstellung von der Persönlichkeit aus der Phantasie völlig frei geschaffen ist das dichterisch begeisterte Antlitz des erblin- deten Sängers Homer (Tafel 56), eine herrliche Schöpfung aus hellenistischer Epoche. Eine neue Richtung gab der griechischen Bildniskunst die lysippische Schule und Zeit. Das Streben nach Naturwahrheit, die realistische Auffassung, der verstärkte Ausdruck innerer Gefühle und Erregungen im Antlitz sind Eigentümlichkeiten dieses Stils, die zusammengewirkt haben, um die Statue des

Fig. 61. Büste aus grünem Basalt, Cäsar benannt,

einst im Besitz Friedrichs des Großen

Berlin, K. Museen

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Demosthenes mit den zerrissenen und durchfurchten Ge- sichtszügen (Tafel 55) zu bilden, die von je- ner idealisierten Sta- tue des Sophokles gewaltig sich unter- scheidet. Zur Zeit Alexanders desGroßen und der Diadochen steht die Persönlich- keit der Fürsten im Vordergrunde. In ihrer Wiedergabe haben die Porträtisten neue Auf- gaben erhalten und glänzend gelöst. Nicht mehr der geistvolle Ausdruck der Gesich- ter, wie bei den Dich- tern und Gelehrten, fesselt in erster Linie das Auge des Be- trachters, sondern das historische Interesse an den einzelnen Physiognomien dieser kraftvollen, zum Herr- schen wie geborenen Fürsten ist es, das beim Anblicke ihrer Bild- nisse in hohem Maße erregt wird (Fig. 59). Eine Vorstufe dieser Entwicklung ist in dem Kopfe des jugendlichen, feurig schwung- vollen Alexander (Tafel 54) veranschaulicht: ein größerer Gegen- satz als der zwischen der vornehmen Ruhe des Perikles und der vorwärtsstürmenden Entschlossenheit Alexanders ist kaum denk- bar. Und dieser gewaltige Unterschied wird auch veranschaulicht durch die Einzelköpfe vom sidonischen Sarkophag (vgl. Fig. 38 und 43), insoweit sie nicht rein ideal gebildet sind. Zurückgehaltene Ener- gie, nüchterne Denkungsart, abgeklärte Ruhe und Besonnenheit sind auf dem vornehm würdevollen Antlitz eines schon durch das Lebens- alter an Erfahrung ausgereiften Königs (Fig. 60) in harmonischer Vollendung ausgeprägt; es wird auf den mächtigen Gegner Roms, Antiochus III. von Syrien, gedeutet.

Fig. 62. Terrakottakopf eines Altrömers, wohl aus der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts. Boston, Museum of Fine Arts

Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl.

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GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

Die hellenistische Porträtkunst hat auf römischem Boden eine unmittelbare Weiterent- wicklung nicht erfahren. Vielmehr trat der grie- chischen Kunst bei ihrem Übergange nach Rom eine verhältnis- mäßig durchgebildete, auf lokaler Tradition gegründete, spezifisch italische Porträtkunst entgegen, die uns heute noch in erster Linie durch die zahlreich er- haltenen etruskischen Bildnisse vergegen- wärtigt wird und für die rücksichtslose Nach- ahmung der Natur in ihrer unverfälschten Ur- wüchsigkeit ohne jeg- liche Verfeinerung maß- gebend war. Freilich die überwiegende Mehr- zahl römischer Bildnisse stellt sich bereits als das Ergebnis der Vereini- gung einheimischer, schon bedeutend vorgeschrittener Kunstübung und des namentlich in der künstlerischen Auffassung und Technik sich offenbarenden griechischen Einflusses dar. Als eines der ältesten Denkmäler dieser Gattung, dessen genaue Datierung bisher leider nicht gelungen ist, gilt wohl mit Recht der bärtige Bronzekopf des Konservatoren- palastes zu Rom (Tafel 57), in dem der Typus des alten Repu- blikaners in verhältnismäßig reiner Form wiedergegeben ist. Ver- schieden von diesem stilistisch bis jetzt alleinstehenden Werke ist eine ziemlich große Reihe von Porträtbüsten unbärtiger Römer aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert bis in die Anfänge der Kaiserzeit, in denen die herbe Realistik des Aussehens infolge des künstlerischen Verdienstes zwar meistens gemildert erscheint, aber das nationale Gepräge des civis Romanus von echtem Schrot und

Fig. 63. Marmorkopf der jüngeren Agrippina, der Gemahlin des Claudius und Mutter des Nero, mit dem psychologisch merkwürdigen, künstlerisch meisterhaften Ausdruck weh- muts- und entsagungsvoller Trauer. Kopenhagen, Glyptothek Ny-Carlsberg

GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

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Korn, seineEinfach- heit und Tüchtig- keit, sein prakti- scher Verstand, sei- ne gewaltigeEnergie unverfälscht zum Ausdruck kommen (vgl. Tafel 60: „Rö- mischer Bürger m i t der T oga be- kleidet", ferner Fig. 57, das Grab- relief mit der Grup- pe eines römischen Ehepaars imBüsten- Zimmer des Vati- kanischen Muse- ums, die „Marius" benannten Köpfe im Museo Chiaramonti ebenda usw.). Von diesen meisterhaf- ten Charakterbil- dern echtrömischen Wesens scheidet sich eine kleine Gruppe von Bildnissen etwa der nämlichen Epoche aus, die andere Physiognomien zeigen. Es sind dies jene intelligenten und geist- reichen, oft eines gewissen sarkastischen Zuges nicht entbehrenden Gesichter, die durch die griechische Bildung, insbesondere durch das Studium der griechischen Philosophie verfeinert erscheinen. Ausge- zeichnete Beispiele dieses Volkstypus sind dieCicero,Cäsar, Marc An- ton u.a.m. benannten Köpfe (Fig. 61). Aus der Büste des Agrippa (Tafel 57) ist jene geistige Durchbildung nur in geringerem Grade zu erkennen, da in seinem Antlitze der Typus des alten Römers überwiegt und die Gesichtszüge in lebhafter, pathetischer Erregung wiedergege- ben sind. Vollendete Harmonie von körperlicher Kraft und innerer Bildung, von Charakter und Geist bringt der wundervolle Terrakotta- kopf (Fig. 62) zur Geltung. In Material und Technik an heimische Tradition anknüpfend, in pathetischer Auffassung und künstlerischer Gestaltung vom Hellenismus beeinflußt, erregt er durch packende Naturwahrheit und Lebendigkeit beim ersten Anblick gewaltiges Interesse. Das Porträt des betagten, indes ungebrochenen Mannes

Fig. 64. AntoninusPius. Panzerbüste mit gefibeltem Paludamentum. Marmor. Neapel, Museo Nazionale

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scheint nach der Wirklichkeit frei modelliert zu sein, ist aber durchaus nicht kleinlich pein- lich ausgearbeitet, erreicht vielmehr in klarer, bestimmter Formengebung, die durch die bildsame Tonmasse begünst- igt wird, bestmög- lichste Ähnlichkeit und löst glänzend die höchste Aufgabe der Bildniskunst auch dadurch, daß im Individuum der Typus veranschau- licht wird. Denn in jenem unbekannten Römer mit vornehm stolz erhobenem Haupte, eisernem Willen, verhaltener Entschlossenheit,

zielbewußtem Blick ist die plastische Verkörperung der virtus, der nobilitas im vollsten und besten Wortsinne meisterhaft gelungen. In der Kaiserzeit waren es vorwiegend die ungemein häufigen Darstellungen der Kaiser und der Mitglieder ihrer Familie, welche die römische Plastik beschäftigt haben. In der ganzen Gestalt der Herrscher, die sowohl über das Menschliche nicht erhaben in der Kleidung des Bürgers oder in militärischer Rüstung, als auch in Heroisierung verewigt worden sind, galt es vor allem, die Majestät des Imperators zur Geltung zu bringen : eine wahrhaft fürstliche Erscheinung ist die Panzerstatue des Augustus aus Prima Porta (Tafel 58), der in würdevoller Stellung als Feldherr vor dem Heere eine Ansprache zu halten im Begriffe ist. Mit dem sitzenden Nerva der Rotunde des Vatikanischen Museums, der nach dem Vorbilde des thronenden Zeus gebildet ist, lassen sich wenige Porträtstatuen an Wahrheit und Größe der Auffassung vergleichen. Marc Aurel auf dem Kapitolsplatze, der hoch zu Roß über besiegte und Gnade flehende Gegner hinwegreitend gedacht

Fig. 65. Marmorbüste des Caracalla Berlin, K. Museen

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ist, gilt mit Recht als eines der groß- artigsten Reiter- standbilder aller Zeiten. In das Ge- biet des Idealen er- hoben erscheinen einige Statuen rö- mischer Damen et- wa aus der auguste- ischen Epoche, die in den Formen griechischer Mei- sterwerke des fünf- ten und viertenjahr- hunderts v.Chr. wie- dergegeben sind : die auf dem Lehn- stuhl sitzenden Frauen (in den Of- fizien zu Florenz und in mehreren Museen Roms), die in ihrer bequemen Haltung Anmut und Würde vereinigen, sind vermutlich Nachbildungen at- tischer Grabsta- tuen; die unter dem Namen der „Herkulanenserin" bekannte, leider nicht sicher gedeutete Statue in Dresden (Tafel 59), die vielleicht als ein in der Heimat errichtetes Ehrenstandbild aufzufassen ist, geht in ihrem Typus auf ein Werk praxitelischer Zeit und Richtung zurück. In der Wiedergabe des Antlitzes der Kaiser, kaiserlichen Prinzen und Damen (Fig. 63) hat die römische Skulptur bis in die späteste Zeit bewundernswerte Beherrschung der Technik, höchste Meisterschaft in der wirkungsvollen Hervorhebung des Charakters der Darge- stellten betätigt. In der Epoche des julisch-claudischen Hauses prägt sich bis auf Claudius in den Gesichtern meist ruhige Ge- schlossenheit, vornehm höfischer Adel aus (Tafel 58), während von da ab die Physiognomien mannigfach wirksam im guten und schlim- men Sinne hervortreten, dem wechselvollen Wesen der Herrscher

Fig.66. Bronzekopf des Kaisers Maximinus Thrax München, Antiquarium

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gemäß, ihrer verschie- denen Abstammung und Herkunft entsprechend, psychologisches Inter- esse stets mächtig er- regend. Als edle Er- scheinungen allbekannt sind Trajan, Hadrian, Marc Aurel. Ein treffen- des Bild des eigenen Charakters ebenso wie des vielfach trockenen Bildungsniveaus der Zeit und der damals wohl akademisch sorg- fältigen, doch der Ge- nialität ermangelnden Plastik bietet die aus- gezeichnete Büste des Antoninus Pius{Fig.64), noch eindrucksvoller durch die leichte Wen- dung des Kopfes. Mild, leidenschaftslos, frei- lich recht nüchtern sind die Züge des würdigen, schon durch die Lebens- jahre zur Ruhe abge- klärten Fürsten (vgl. auch Julius Capitolinus, Kap. 2). Welche Schaffenskraft noch in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts n. Chr. die römische Kunst bewahrt hat, bezeugt der treffliche Charakterkopf des Caracalla (Fig. 65), der Inbegriff des Cäsaren- tums in seiner schlimmsten Bedeutung. Eine gleich meisterhafte Schöpfung ist der Kopf des Maximinus Thrax (Fig. 66). Durch den Lorbeerkranz wird er als Herrscher gekennzeichnet. Er stammte wohl aus der Gegend nördlich von Thrakien, von der unteren Donau, der Sohn eines Goten und einer Alanin; er war der erste Germane auf dem römischen Kaiserthron, hervorragend durch Riesengröße und Riesenstärke. In seiner unverfälschten Naturwahrheit ist das Bildnis von ganz gewaltig wirksamer Kraft. Fast möchte man in den derb ausgeprägten, aber ehrlich biederen Zügen , in dem schlichten, geraden Wesen echte Germanenart wiedererkennen. Maximinus Thrax, der schon ziemlich gealtert

Fig. 67. Marmorkopf einer Römerin. Wende

des zweiten und dritten Jahrhunderts n. Chr.

Kopenhagen, Glyptothek Ny-Carlsberg

PERIKLES 183

erscheint, schaut uns wie lebendig an. „Der geradeaus gerichtete Blick aus den großen , weit oPFenen Augen, ernst, streng und sorgenvoll zugleich, dient der Charakteristik der Person in eminen- tem Maße ebenso wie der böse, nach der Seite gerichtete Blick beim Porträt des Caracalla". Auch unter den Frauenbildnissen hat gerade diese Spätzeit in den Plautilla, Julia Domna benannten Köpfen reizvolle Porträts geschaffen; zu diesem Kreise und dem- gemäß um die Wende des zweiten und dritten Jahrhunderts n. Chr. gehört nach der Haartracht und dem Stile das lebensfrische Bild einer vornehmen Römerin von unsicherer Deutung (Fig. 67), worin der unwiderstehlich bannende Zauber jugendlicher Weiblichkeit in feinen und zarten Formen sich ausprägt, so daß jedes empfäng- liche Auge immer von neuem gefesselt wird.

TAFEL 50 PERIKLES

HERMENBÜSTE AUS MARMOR. LONDON, BRITISH MUSEUM.

Diese nur wenig verletzte Herme, die gute Kopie eines grie- chischen Werkes des fünften Jahrhunderts v. Chr., ist im Jahre 1781 unter den Trümmern einer südöstlich von Tivoli gelegenen antiken Villa gefunden worden und kam später in das British Mu- seum. Daß Perikles dargestellt ist, sagt die antike griechische In- schrift ') unten am Schafte. Bei Plinius dem Alteren, naturalis historia 34, 74, ist überliefert, daß ein Zeitgenosse des Staats- mannes, der aus dem kretischen Kydonia stammende, in Athen tätige Erzgießer Kresilas, dessen Bronzestatue gefertigt hat. Die längst geäußerte Vermutung, daß dieselbe mit der von dem Perie- geten Pausanias 1, 25 und 28 ohne Künstlerbezeichnung in der Be- schreibung der Akropolis von Athen erwähnten, unweit der Athena Promachos des Pheidias und in der Nähe der Propyläen aufge- stellten identisch sei, hat kürzlich vielleicht eine Bestätigung ge-

') Der Buchstabencharakter fünrt nach dem Urteil von Epigraphikern vielleicht in die erste Hälfte des zweiten oder gar schon in das Ende des dritten vorchristlichen Jahrhunderts; demgemäß würde diese Nachbildung aus griechischer Zeit stammen. Doch muß man sich bei der Unsicherheit der Datierung derartiger Inschriften vorerst mit der Tatsache begnügen, daß Schriftform und Arbeit der Herme jedenfalls auf eine für Kopien auf- fällig frühe Entstehung hinweisen.

184 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

funden : unter den unerschöpflichen Marmortrümmern der Burg ist das Bruchstück eines Blocks zum Vorschein gekommen, das in zwei Zeilen die unvollständige Inschrift . . . txXeo^ | . . . iXaq etioxe trägt; diese nun wurde freilich nicht sicher zu n8p]ixAeoc KpEc]\\aq ^TToie ergänzt '). Eine Nachbildung jenes Werkes des Kresilas ist in der hier wiedergegebenen Marmorkopie erhalten. Denn die Be- trachtung des fast noch ein wenig archaischen Stils führt auf die Zeit des Künstlers, die knappe, feste Formengebung auf ein Bronze- original, endlich läßt das Vorhandensein von Wiederholungen des- selben Kopfes auf ein berühmtes Vorbild schließen. So hat sich in der Tat eine zu Lebzeiten des Mannes wohl etwa zwischen 440 430 gearbeitete Darstellung erhalten, indes ist sie keineswegs ein Porträt im modernen Sinne, das die Physiognomie genau wiedergibt, sondern erscheint stark beeinflußt von der Kunstrichtung des Meisters und bietet dem Geschmack und der Kunstübung der Zeit entsprechend ein Idealbild, das unter Abstreifung aller Zufälligkeiten des Äußeren den vornehmen und feingebildeten Athener vergegenwärtigt. Trotz- dem zeigt sich in der Gesamterscheinung und in einzelnen Zügen noch so viel Individualität, daß man daraus von dem großen Staats- mann eine zwar phantasievolle, indes das Wesen des Perikles allgemein charakterisierende Vorstellung gewinnen darf.

Das längliche Oval des edlen, regelmäßig gebildeten, mäßiger Fülle nicht entbehrenden Gesichtes ist von einem kurzgeschorenen, wohlgepflegten Vollbarte umrahmt. Unter dem hohen, ein wenig nach rückwärts geschobenen Helm quillt üppig das Lockenhaar zu beiden Seiten des Gesichtes hervor. Den Helm hat Perikles wahr- scheinlich nicht, wie in der vita des Plutarch 3 berichtet ist, des- halb auf dem Kopfe, um die von den gleichzeitigen Komikern ver- spottete Spitzform des Schädels zu verbergen, sondern, wie andere erhaltene Porträts von Feldherrn lehren, nur der Sitte der Zeit ge- mäß zur Bezeichnung des Strategenamtes, das er fast fortdauernd bekleidete und unter dem er den maßgebenden Einfluß gewann. Die Haltung des etwas zur Seite geneigten Kopfes hat Kresilas vielleicht im Leben an Perikles selbst als Eigentümlichkeit seiner Erscheinung beobachtet und durch die Wiedergabe derselben in der Statue die lebendige Vorstellung, die man von der Persönlich- keit des großen Staatsmannes noch heutzutage aus der Büste zu ge-

') „Perikles. Kresilas ist der Verfertiger". „IleptxAROi;" steht für „riepixXf'ouc;" und „kjxoif," für „eTioiex" nach der älteren attischen Schreib- weise. Dem Sinne nach ist zu „riepixAeoui;" „ei)ni" zu ergänzen und wört- lich zu übersetzen: „ich gehöre dem Perikles". Die knappe Form der Ab- fassung ist immerhin ungewöhnlich und schon deshalb die Ergänzung zweifelhaft.

PERIKLES

LONDON, BRITISH MUSEUM

F. BRUCKMANN A.-G.. MÜNCHEN

SOPHOKLES 185

winnen glaubt, bedeutend gesteigert'). Man erblickt einen schönen Mann im besten Lebensalter, in voller Schaffenskraft, der auch auf das Äußere etwas gehalten hat. Schon die leicht gewölbte Stirne und der Einschnitt über der regelmäßig geformten Nase, die scharfum- rissenen, geschwungenen Brauen, vor allem aber der Träger des Gei- stigen, das tiefliegende,hochumränderte Auge offenbaren den gedanken- reichen, besonnenen Ernst des großen Staatsmannes. Aber frisches Leben gewinnt der Marmor durch die Bildung des Mundes. Die vollen, breiten, fast etwas weichlichen Lippen sind ein weniggeöffnet: So glaubt man den reichen Fluß der Worte, die dem Munde entströmen, zu ver- nehmen. Man gedenkt unwillkürlich des Lobes, das von den alten Schriftstellern-) der Beredsamkeit des Perikles gespendet worden ist, und erinnert sich der herrlichen Leichenrede auf die im ersten Jahre des Peloponnesischen Krieges Gefallenen'). Wenn man aber den Gesamteindruck, den die Büste macht, festhält, versteht man wohl, wie der Staatsmann in der Volksversammlung die leiden- schaftlichen und aufbrausenden Massen gelenkt hat, bei aller Volks- tümlichkeit unerschütterlich fest und bestimmt, den Angriffen der Feinde mit kalter Ruhe entgegnend '). Hoheit und Kraft, ruhiger und klarer Verstand , feine geistige Bildung, Milde und heiterer Friede sind in wunderbarer Harmonie auf den Gesichtszügen aus- gebreitet. Der Beiname des Olympiers, dessen die Bronzestatue ebenso wie der Dargestellte selbst im Altertum gewürdigt worden ist, behauptet in dem Abglanze der Marmorkopie volle Geltung. Auf diesem vornehmen Antlitz zu ruhen wird das Auge nicht müde.

TAFEL 51 SOPHOKLES

MARMORSTATUE. ROM, LATERANISCHES MUSEUM.

Die Zierde der Sammlung des Lateranischen Palastes ist dieses etwas überlebensgroße Standbild, das 1839 in dem heutigen Ter-

') Freilich besteht auch die Möglichkeit, daß durch die uns nicht überlieferte Situation der Statue, etwa in der Auffassung eines Redners, die seitliche Neigung des Hauptes gegeben war und von dem Kopisten in der Herme beibehalten worden ist.

-) Eupolis und aus ihm z. B. Cicero Brutus 9, 38. Vgl. Comicorum Atticorum fragmenta ed. Kock I. 281, 94 und III. 718, 94.

^) Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges 2, 35 ff.

•») Vgl. Thukydides a. a. O. 2, 65, 8, Piutarch Perikles 5.

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racina, der alten Volskerstadt Anxur '), ans Licht gekommen und von der dort ansässigen Familie Antonelli dem Papste Gregor XVI. zum Geschenke gemacht worden ist. Mehrfach gebrochen, aber im wesentlichen glücklich erhalten, ist das treffliche Kunstwerk von dem Bildhauer Tenerani nach antiken Mustern ergänzt worden -). Die Deutung ist durch eine kleine Marmorbüste des Vatikans ge- geben, auf welcher der Name des Dichters in griechischer Inschrift zum Teil zu lesen ist. Da des Sophokles Sohn, lophon, seinem Vater nach dessen Tode eine Statue hat errichten lassen ^), war der Nachwelt wohl ein getreues Abbild des großen Dichters über- liefert. Daß in der lateranischen Statue eine Nachbildung dieses Werkes zu erkennen ist, scheint aus stilistischen Gründen unwahr- scheinlich ; die Beziehung auf das Erzbildnis, das von dem athenischen Volke auf Antrag des Redners Lykurg zwischen 350 und 330 v. Chr. dem Dichter gestiftet worden ist ^), kann in Ermanglung einer Be- schreibung desselben nicht bewiesen werden, dem Stile und der Komposition nach gehört das Original der lateranischen Statue etwa in die Mitte des vierten Jahrhunderts und stammt von einem attischen, praxitelischer Kunstart nahestehenden Meister. Da nun jenes zweite vor aller Augen stehende, populär gewordene Werk am ehesten kopiert wurde, ist die Rückführung sehr plausibel.

Unser Bildnis ist ein Idealporträt. In frischer Kraft männlicher Jahre steht der Dichter da, den linken Fuß wie zum Ausschreiten vorgesetzt und so in leichter Bewegung, durch die bequeme Haltung der Arme aber in das richtige Maß ruhiger Stellung gebracht, eine elastische Gestalt, die über sich selbst fast hinauszuragen scheint und der eigenen Würde sich bewußt ist, indes bei aller Vornehm- heit ohne Stolz und ungezwungen, das Musterbild des xaXöq xctya^oq dvTp, des feingebildeten Weltmannes des fünften Jahrhunderts v. Chr., der auch auf das Äußere viel gehalten hat. Vorwiegend die zarte Behandlung des Marmors an dem weiten, reichlich bemessenen Mantel, der den größten Teil des Körpers bedeckt, läßt auch in dieser ausgezeichneten Kopie die Hand eines großen Künstlers er- kennen ; denn man zweifelt, ob die ruhiger gehaltenen Teile, an denen die edlen Körperformen mehr durchscheinen als verhüllt

') Sie hieß auch im Altertum schon frühzeitig Tarracina.

2) Unter den bedeutenderen Ergänzungen sind vollständig erneuert die Basis, der Schriftenkorb, die Füße.

3) Vita Sophoclis 11, abgedruckt in Sophoclis Electra edidit Otto Jahn Michaelis.

'') Leben der zehn Redner 841 F, womit Pausanias, Beschreibung Griechenlands I, 21, 1 mit Recht in Verbindung gebracht wird; demgemäß stand das Werk im Dionysostheater zu Athen.

SOPHOKLES

ROM, LATERANISCHES MUSEUM

SOPHOKLES

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werden, oder der reiche Wechsel in der Linien- führung, die trotz der rhythmischen Mannig- fahigkeit ein einheit- liches Bild darstellt, größere Bewunderung verdienen. Die mächtige Wirkung der Statue wird erhöht durch die Be- trachtung des regel- mäßig gebildeten, edel geformten Hauptes, wel- ches, mit einem Bande geschmückt, etwas er- hoben ist (Fig. 68). „Der Ausdruck des Gesichtes, das von wohlgepflegter Lockenfülle des Haares und Bartes umkränzt wird, an dem die hohe Stirne erhabene Weis- heit und die feine Bil- dung des Mundes be- zaubemdeBeredsamkeit

ahnen lassen, ist ebenso heiter und klar als ernst und tiefgeistig; das Seherische des Dichters bei etwas nach oben gewandtem Blicke verbindet sich mit der verständigen Durchbildung des reichsten und tätigsten Geistes. Dadurch ist es möglich, im An- blicke dieses Bildes sich in den Geist des Dichters und das Ei- gentümliche seiner vollendeten Bildung zu versenken, sich ihrer gewissermaßen im Anblicke der Person selbst zu vergewissern" (Welcker). So erregt das Antlitz den Eindruck der reinen Harmonie des geistigen und leiblichen Daseins, wie sie höher kaum gedacht werden kann, und steigert den Wert des ganzen Werkes, das mit Recht als die schönste aus dem Altertum erhaltene Porträtstatue, als ein für die ganze gebildete Welt schätzbares und teures Denk- mal gepriesen wird.

Fig. 6S. Kopf der Marmorstatue des Sophokles Rom, Lateran

188 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

TAFEL^52 EURIPIDES

HERMENBUSTE AUS MARMOR. NEAPEL, MUSEO NAZIONALE.

Unter den in nicht unbeträchtlicher Anzahl vorwiegend aus der römischen Kaiserzeit erhaltenen Porträts des Euripides, die neben literarischen Nachrichten ein monumentales Zeugnis für seine Popu- larität in späterer Zeit abgeben, ist die hier abgebildete, bis auf die teilweise ergänzte Nase fast unversehrt erhaltene Büste von feiner Arbeit das beste und bedeutendste ; sie wird in ihrem Werte ge- steigert durch die unten am Schafte angebrachte antike griechische Inschrift, die in unregelmäßigen, aber deutlich lesbaren Buchstaben die Person des Dargestellten nennt und so auch für andere Bild- werke zuerst die sichere Deutung ermöglicht hat'). Bereits gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts als Eigentum der römischen Familie Farnese erwähnt, ist sie nach dem Aussterben dieses Hauses zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit weltberühmten Antiken in den Besitz des damaligen Königs von Neapel und von ihm in das dortige Museum gelangt.

Euripides ist in reiferen Jahren, fast an der Schwelle des Greisen- alters dargestellt, indes von der Schwäche des Alters noch nicht berührt. Der Kopf ruht in leichter Neigung auf dem Hermen- schafte auf, an dem das um die Schulter sich legende und auf der linken Seite nach vorwärts herabhängende Mantelstück die Vor- stellung einer ganzen Statue erleichtert. Von dem Wirbel hängen nach rückwärts und in gleicher Masse nach beiden Seiten lange, freigearbeitete Locken, die bis in den Nacken reichen, sowie Schläfe und Ohren völlig bedecken, fast wie eine schwere Last herab, während in die Stirne nur einzelne dünne Strähnen hineinreichen. Unmittel- bar an das Haar schließt sich auf beiden Seiten der ziemlich lange, nicht allzu sorgfältig gepflegte Vollbart an. Der Grundcharakter der Züge des breiten, mageren Gesichtes ist hoher Ernst, Ge- dankenreichtum und Gedankenschwere, die in dem gesenkten Blicke, den tiefliegenden, hochumränderten, von geschwungenen Brauen beschatteten Augen, der mächtigen, gewölbten Siirne, endlich den

') Die Kopie gehört in verhältnismäßig frühe Zeit, vielleicht noch in das erste vorchristliche Jahrhundert; mit dieser Datierung scheinen Cha- rakter und Buchstabenform der Inschrift nicht im Widerspruch zu stehen.

TAFEL 52

EURIPIDES

NEAPEL, MUSEO NAZIONALE

EURIPIDES 189

bezeichnenden Einschnitten über der Nase sich kundgeben und durch die eingefallenen Backen mit den vorstehenden Knochen noch deut- licher zum Ausdrucke gebracht werden. Indes ist auf dem ganzen Gesichte Ruhe und Milde des gereiften Alters ausgebreitet, die durch die Fülle des Haares und Neigung des Hauptes noch ver- stärkt wird und einen vertrauenerweckenden, sympathischen Ein- druck gewährt.

So finden die Nachrichten der Schriftsteller über das Aussehen und den Charakter des Dichters in der Büste nur teilweise Be- stätigung. Denn „er erschien", wie überliefert ist, „mit mürrischem Antlitze, gedankenvoll, streng. . ."') und „hat nicht einmal beim Weine heiter zu sein gelernt" -). Doch darf ma.n vermuten, daß einige dieser Eigenschaften und Eigentümlichkeiten von der gleich- zeitigen Komödie, wenn auch nicht völlig erdichtet, so doch zu stark betont worden sind, und annehmen, daß die Gesichtszüge in vorgeschrittenen Jahren sich abgeklärt und gemildert haben. Ein Zusammenhang der Hermenbüste mit der Bronzestatue, die auf An- trag des Staatsmannes Lykurg von dem athenischen Volke errichtet worden ist-'), kann ebenso wie bei der lateranischen Statue des Sophokles in Ermanglung einer Beschreibung derselben weder be- wiesen noch widerlegt werden ; er erscheint aber wahrscheinlich in Hinblick darauf, daß zahlreiche der erhaltenen Büsten auf den näm- lichen Typus zurückgehen und daß das an berühmter Stätte er- richtete Standbild gewiß kopiert worden ist. Jedenfalls ist das Ur- bild der Büste, die ohne scharfe Betonung von Einzelheiten die Persönlichkeit des Dargestellten zwar zu einem Charakterbild ver- klärt, aber in bezeichnender Individualität ausprägt, kein etwa nach dem Tode des Dichters aus der Phantasie frei geschaffenes Ideal- porträt, sondern kann nur nach der Natur oder einem naturgetreuen Muster gebildet worden sein. Besonders schätzbar ist das Bild- werk auch darum, weil in ihm die Eigentümlichkeit der von den Lehren der Philosophen beeinflußten, gedankenreichen, sittlich tief- ernsten Dichtung, welcher Euripides den Namen des Philosophen der Bühne verdankt^), eine Erklärung und Bestätigung findet, ebenso wie die Statue des Sophokles gleichsam als Verkörperung seines geistigen Wesens, wie es in den Tragödien zum Ausdruck kommt,

') Vita ed. Nauck vor der Teubnerschen Te\tausgabe I. Zeile 64 ff.

2) Alexander Aetolus bei Gellius, noctes Atticae 15, 20.

3) Leben der zehn Redner 841 F, womit Pausanias, Beschreibung Griechenlands 1, 21, 1 mit Recht in Verbindung gebracht wird; demgemäß stand das Werk im Dionysostheater zu Athen.

^) Athenaeus, Tischgespräche 158e und561a; Vitruv, dearchitectura VIII praefatio u. a. St. m.

190 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

erscheint. Auch neben diesem vornehmen, erhabenen, heiteren Standbilde, das in seiner unerreichten Vollendung unmittelbar fesselt und mächtig begeistert, wird das Auge auf den einfacheren und schlichteren, aber edlen und ehrwürdigen Zügen der Büste des Euripides mit steigendem Interesse und wachsender Befriedigung ruhen. Sie ist zugleich eine der bedeutendsten Leistungen antiker Porträtkunst.

TAFEL 53 SOKRATES

HERMENBÜSTE AUS MARMOR. ROM, VILLA ALBANL

Diese ein wenig überlebensgroße Herme, eine zwar recht gute, aber etwas harte Kopie wohl noch der ersten römischen Kaiser- zeit, wurde 1735 bei dem alten Tuskulum unter den Trümmern eines antiken römischen Landhauses gefunden, das noch heutzu- tage ohne jede Begründung als die ehemalige Villa des Cicero be- zeichnet wird, und kam alsbald in den Besitz des großen Kunst- sammlers und Kunstkenners Kardinal Alessandro Albani. Abge- sehen von dem ergänzten Schafte vortrefflich erhalten, gilt sie mit Recht als die eigenartigste unter den zahlreich erhaltenen Büsten des Sokrates und erregt durch die Originalität des Dargestellten und der Darstellung wie kaum ein anderes Porträt der hervor- ragenden Persönlichkeiten der Glanzzeit Athens das Interesse der ganzen gebildeten Welt.

Der in leichter Neigung auf dem Schafte ruhende Kopf stellt den großen Philosophen in reiferen Jahren dar. Der mächtige, über der ge- falteten Stirne steil aufsteigende und in langgezogenem, flachem Bogen sich wölbende Schädel ist größtenteils vom Haare entblößt und nur rückwärts von leise gekräuselten Locken nicht allzu dicht bedeckt. Unmittelbar an das Ohr schließt sich der große Vollbart an, der in ein- zelnen, gewellten Strähnen nach abwärts fällt und überragt wird von dem ungewöhnlich langen, im Bogen wulstartig gedrehten Schnurr- barte. Was sofort das Auge des Betrachters auf sich zieht, ist die hornartig gebogene, in einen dichten Knollen endigende Stumpfnase mit den aufgeblähten Flügeln. Damit steht in Einklang die dicke Unterlippe des leise geöffneten Mundes, sowie die brettartig auf der Stirne aufgelagerte Fett- und Hautmasse, die, nur unterbrochen

SOKRATES

ROM, VILLA ALBANI

F. RRIJCKMANN A.-G.. MÜNCHEN

SOKRATES 191

durch den tiefen, dreieckförmigen Einschnitt über der Nase, in der ganzen Ausdehnung des unteren Teiles der Stirne sich ausbreitet und in den aufgequollenen Teilen über den schmalen Augen ge- wissermaßen sich fortsetzt ; gerade durch den Gegensatz zu den etwas eingefallenen , fast welken Backen mit den vorstehenden Knochen wirkt sie um so bezeichnender und eigentümlicher. Es bedarf gar nicht der inschriftlichen Beglaubigung einer Büste in Neapel, um die Person des Dargestellten beim ersten Anblicke zu erkennen. Denn das Bild, das von Sokrates Aussehen in der zeit- genössischen Literatur') überliefert ist und insbesondere aus den platonischen Dialogen in strahlendem Lichte hervorleuchtet, tritt in der Büste lebendig vor Augen. Es ist bezeichnend für den Wert derselben, daß man nicht lange an den silenartigen Formen des Gesichtes Anstoß nimmt, sondern in Erkennung des geistigen Gehaltes die Häßlichkeit vergißt, und wenn sie in Erinnerung bleibt,

') Plato, Symposion 215: v'l,"' (Alkibiades) öfxovoTaTov aütöv eivai tote oiXqvoT^ . . . ÖTi uev oüv ye eifioc öf-ioiot; f:i toutoic, ch Zcoxpaiei;, oüb' avxbc civ bqnor ctficpicßiiTiioai; („ich behaupte, er sei den Silenen sehr ähnlich . . . daß du diesen im Aussehen ähnlich bist, Sokrates, möchtest du wohl selbst nicht leugnen . . .").

Die Glatze ist durch Aristophanes, Wolken Vers 146 f. bezeugt, vgl. Schol. zu Vers 146.

ci\uuc („stumpfnasig") nennt Sokrates sich selbst Theätet 209; vgl. Xenophon, Symposion 5, 6.

E^or^O^aXiao:; („mit hervorstechenden Augen ') desgleichen Theätet a. a. O. 'OrpO^aXuoi trti-töXaiui („an der Oberfläche liegend"), wie beim Krebs, also auch klein, Xenophon a. a. O. 5, 5. Man bezieht diese Bezeichnungen auf die Lage der kleinen Augen weit vorn im Schädel und flach im Gesicht, wie sie besonders z. B. in der Neapler Büste (Fig. 69) hervortreten. Auch der scherz- hafte Vergleich im Menon 80 A mit der Narke, dem Zitterrochen, wird zum Teil auf die winzigen Augen, die vorn auf dem scheibenartig ge- formten Fische dicht nebeneinanderstehen, bezogen, wie auch das ganze Gesicht beider eine drollige Ähnlichkeit dem phantasiereichen Betrachter darbieten soll. Bei Phädon 117: Monep eicöOki latipi^böv vTToßXt'iba:; („nach- dem er seiner Gewohnheit entsprechend ihn stier von unten angesehen hatte") ist die dämonische Gewalt des Blicks gemeint.

Xenophon a. a. O. 5, 7: tüü ye f.iT|v OToj^iaxo:;, k(|)h o KpiTö|5oviXoi;, ti(^>ieuai.

El yt'tp TOI* Ü-HibciKVEU fc'vEXa 7IE:Jto{TlTai, -JtuXl) civ CV [.lElIüV f| E^Ct) ÜTiobäy.oic,. biü bk

Tta/Ktt k;^eiv tu /e{Xi] oux oVei y.a\ uaXaxo'jTepcn aov i^Eiv cpiX)^|ua; Eoixa, erpq (Sokrates\ Eyw y.axu töv ööv Xöyov v.ai tiüv hncov aiayiov öT()|ua e/eiv („was freilich den Mund anlangt," versetzte Kritobulos „so bescheide ich mich. Denn wenn er zum Abbeißen gemacht ist, so möchtest du bei weitem ein größeres Stück abbeißen als ich. Glaubst du aber nicht, daß, weil deine Lippen dick sind, auch dein Kuß weicher ist?" „Nach deiner Rede scheine ich," sagte Sokrates, ,, einen häßlicheren Mund als die Esel zu haben"). Ein Vergleich der ganzen Stelle 5, 3—7 mit der Albanischen Büste ist interessant; fast meint man, daß jene dem Schöpfer des Originals vor Augen schwebte, da man auch beim Anblick der Plastik an das ausführ- liche literarische Porträt unwillkürlich sich erinnert.

192

GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

mit der Vorstellung von dem Wesen des Dargestellten in Einklang bringt. Denn was sie über den Typus jenes Halbgottes gewaltig erhebt, ist der vor- trefflich zur Gel- tung kommende Ausdruck des Ant- litzes, der ruhige,

nachdenkliche Blick, der klare, be- sonnene Verstand, die milden, väter- lichen Züge, das einfache, edle We- sen des Mannes, welches unserAuge heutzutage unwi- derstehlich gebannt hält und der Per- sönlichkeit in dem gleichzeitigen Krei- se ihrer Freunde und Feinde sieg- reiche Überlegen- heit verschafft hat. Es ist in der Tat in rauher Schale ein goldener Kern oder, wie Alkibiades bei Plato ') sinnig und fein es ausdrückt, ein göttliches Bild in der äußeren Hülle der Silenherme verborgen.

Das Original der Büste, die vielleicht in manchen Betrachters Auge als ein völlig individuelles, realistisches Bildnis erscheint, ist nicht zu Lebzeiten des Sokrates gearbeitet worden. Denn wenn auch bereits im fünften Jahrhundert v.Chr. eine Richtung der Porträt- kunst, welche die Wirklichkeit mit allen Zufälligkeiten wiedergibt, durch literarische Nachrichten bezeugt ist, so lehrt doch ein Ver-

Fig. 69. Marmorbüste des Sokrates Neapel, Museo Nazionale

•) Symposion 215 A f., vgl. auch 216 ff.

SOKRATES 193

gleich mit anderen ganz getreu oder wenigstens viel getreuer der Natur nachgebildeten. Büsten, z. B. mit der Fig. 69 abgebildeten des Neapolitaner Museums, daß in der Herme der Villa Albani zum Zwecke der Schöpfung eines ausgeprägten Charakterkopfes die literarisch und zweifellos auch monumental überlieferten Züge zu stark betont und in dem Ausdrucke des hellenistischen Silen- typus geradezu übertrieben worden sind. Ein Zusammenhang mit der von den Athenern im Pompeion, einem für die Vorbereitung der Festzüge bestimmten Gebäude, errichteten Erzstatue von der Hand des Lysipp ') ist aus stilistischen Gründen unmöglich; das Original des Typus der Villa Albani ist eine Schöpfung des Helle- nismus, dem Homer vergleichbar, für eine der großen Bibliotheken derDiadochenzeitim dritten bis zweitenjahrhundert v.Chr. entworfen. Wenn nun auch die ebenso schlichten als durchgeistigten Züge des großen Philosophen aus unserer Büste nicht in voller Wahrheit ent- gegenschauen, ist doch dadurch der Wert des Werkes nur wenig geschmälert. Denn Charakter und Geist des Dargestellten sind in klarer und reiner Form zum Ausdruck gebracht. So ist die Auf- gabe, die Sokrates selbst der Porträtkunst einem Künstler gegen- über in hochbedeutender Auseinandersetzung gestellt hatte, wie durch einen Zufall viel später gerade in seinem eigenen Bildnisse gelöst worden: Aei tov ctYbpiavTo:JToi6v xv\q \\>vy^r\q epya tw ei'bei TipoqEixaCEw -) („der Bildhauer soll die Tätigkeit der Seele in dem Bilde zum Ausdruck bringen"). Es ist ein physiognomisches Meister- werk geschaffen, das noch heute dämonische Gewalt ausübt.

') Zu einem Zweifel an der allein von Laertius Diogenes, Leben der Philosophen II, 43 überlieferten Nachricht liegt kein zwingender Grund vor. Denn wenn auch die ebenda erwähnte Bestrafung der Ankläger des Sokrates als erdichtet gilt und die Errichtung der lysippischen Statue so- fort nach dem Tode des Philosophen zeitlich unmöglich war, so stand doch der späteren Ehrung seitens der Mitbürger nichts im Wege. Auch erscheint der Aufstellungsort, ganz abgesehen von anderen in der Nähe befindlichen Erzstatuen hervorragender Persönlichkeiten, auch deshalb ge- eignet, weil im Pompeion selbst ein gemaltes Porträt des Redners Iso- krates nachweisbar ist. (Pausanias, Beschreibung Griechenlands, I, 2, 4, Leben der zehn Redner 839 C; vgl. auch Plinius der Ältere, naturalis historia 35, 140).

2) Xenophon, Memorabilien, 3, 10, 8.

Denkmaler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl.

194 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

TAFEL 54

KOPF DER STATUE ALEXANDERS DES GROSSEN')

MARMOR. MÜNCHEN, GLYPTOTHEK.

Diese etwa lebensgroße Statue, deren Fundort nicht ermittelt ist und die schon Winckelmann als im Palazzo Rondanini zu Rom befindlich erwähnt hat, ist eine gute Kopie aus römischer Zeit. Trotz der Erneuerung des rechten Beines mit der Erhöhung und der unrichtigen Ergänzung des größeren Teils der Arme-) ist die Erhaltung glücklich zu nennen, da der fast völlig unversehrte Kopf niemals von der Statue getrennt war. Der rückwärts als Stütze dienende Panzer, über dem oben ein Gewand aufliegt, weist, ebenso wie die Andeutung eines Schildes auf der Plinthe, auf die mili- tärische Stellung der Persönlichkeit hin, falls beide nicht erst von dem Kopisten beigefügt sind. Die seit langer Zeit gebilligte Deu- tung der in heroischer Nacktheit gebildeten Statue auf Alexander den Großen bleibt trotz des erhobenen Widerspruchs in voller Geltung; sie wird durch literarische Nachrichten über das Aus- sehen des Königs begründet und insbesondere durch die Ähnlich- keit mit den auf Münzen des Königs Lysimachos von Thrakien geprägten Köpfen Alexanders gestützt, konnte aber durch statua- rische Werke bisher nicht bekräftigt werden.

Der jugendliche, etwa 20 Jahre alte Prinz hat den rechten Fuß auf eine Erhöhung aufgesetzt, steht indes in kaum vorge- beugter Haltung da. Die überaus kräftig entwickelten Körper- formen sind durch starke Muskelbildung ausgezeichnet. Die ganze Erscheinung ist im Vorgefühle jugendlicher Kraft auch in der be- quemen Stellung fürstlich erhaben, ungezwungen vornehm. Aber erst durch den Typus des Kopfes wird das Porträt einer außer- ordentlichen Persönlichkeit in ihrer ganzen Bedeutung erkannt und gewürdigt. Auf dem kräftig modellierten Halse ruht der wunder-

') Die ganze Statue ist Fig. 70 abgebildet.

2) Bei Ergänzungsversuchen hat man in Rücksicht auf die antiken, parallel laufenden Oberarme der Figur ein Schwert so in die Hände ge- geben, daß es quer auf dem rechten Oberschenkel liegt und die Rechte den Schwertgritf, die Linke die Scheide faßt. Andere vermuten, daß beide Hände am rechten Bein festangepreßt waren, um das Übermaß innerer Lei- denschaft zu bezähmen.

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ALEXANDER DER GROSSE

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bar schöne, in Über- einstimmung mit der Körperhaltung zur rechten Seite gewendete und et- wasgehobene Kopf, der durch den Zau- ber ebenso kraft- voller als zarter Jugendlichkeit den Beschauer fesselt und begeistert. Die üppige Lockenfülle, die über der Mitte der Stirne in ein- zelnen Strähnen ge- rade emporragt') und Schläfe sowie teilweise das Ohr bedeckend, über den Hals in edlem Flusse herabwallt, ist wohlgeeignet, die großartige Schön- heit und Erhaben- heit des Gesichts- ausdruckes zu stei- gern. Das breite, mäßig volle, bart- lose Oval, das von einem runden Kinn abgeschlossen wird, ist in ruhigen Flä- chen ungemein re- gelmäßig gebildet, aber kraftvoll belebt durch die gebogene Nase; auch dringt die Stirne nach unten vor. Der zartgebildete, leise geöffnete Mund zeigt einen fast herben Zug, der durch den sinnenden, träumerisch in die Ferne gerichteten Blick der von geschwungenen Brauen be- schatteten, weitgeöffneten Augen-) mit dem aufgeschwollenen Un-

') Plutarch, vita des Pompeius cap. 2, Älian, varia historia 12, 14. -) Über den Ausdruck der Augen vgl. auch Plutarch, vita cap. 4 und de Alexandri Magni fortuna aut virtute II, 2.

Fig. 70. Marmorstatue Ale.vanders des Großen München, Glyptothek

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196 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

terlide beinahe zu einem leisen Anflug von Melancholie gesteigert erscheint. Der Kopf erweckt, von vorne gesehen, den Eindruck bedeutender Begabung und eines nachdenklichen Charakters so- wie einer gewissen zurückgehaltenen Energie, in der Seitenansicht aber ist mehr die gewaltige, stolze Kraft, das vorwärts drängende, feurige Wesen, die fast übermenschliche Schönheit und Erhaben- heit des Dargestellten, ') trotz weiser Maßhaltung des Künstlers, trotz ruhiger Situation der Statue zu voller Geltung und Klar- heit gebracht. So findet die Schilderung der Persönlichkeit des jugendlichen Prinzen, wie sie besonders in den Eingangskapiteln der vita des Plutarch gekennzeichnet ist, seiner besonnenen, philosophisch beanlagten und philosophischen Studien zugewandten Natur einerseits und seines selbständigen, schwer zu leitenden Charakters anderseits sowohl in der ganzen Gestalt, als auch ins- besondere in der Büste Bestätigung und Bekräftigung. Zugleich erinnert die Statue unwillkürlich an das Musterbild jugendlicher Stärke und Schönheit, an das Vorbild des gewaltigen Ehrgeizes, den Heldenjüngling Achill, von dem mütterlicherseits seine Ab- stammung hergeleitet wurde -) und dem er von früher Jugend an eine durch die Lektüre des Homer genährte glühende Verehrung und Begeisterung entgegenbrachte. ^)

Der Schöpfer des Originals, das vor des Königs Auszug nach Asien gefertigt ist, hat sich durch die Darstellung des jugend- lichen Alexander als ganz hervorragenden Porträtkünstler gezeigt. Seine Lebenszeit fällt aus stilistischen Gründen gewiß mit der des Dargestellten zusammen, sein Name aber kann weder durch literarische Nachrichten, noch durch kunsthistorische Erwägungen ermittelt werden, wahrscheinlich gehört der Meister zu dem sogenannten attischen Kreise, jedenfalls nicht zu lysippischer Kunstrichtung^).

') 'AXeHavbpov i\ 9-ep|iiöTi\c; toü cw|LiaTO^, wc, eoixev, . . . 9-ruoeibf( TiapeT/Ev („den Alexander machte die Hitze des Körpers, wie es scheint, feurig") (Plutarch, vita cap. 4), aüioü döpevcDTtöv xai XeovTcobEc; („sein mannhaftes und löwenähnliches Wesen") (Plutarch, de Alexandri Magni fortuna aut virtute II, 2), diipay).u'>vcoc; wpaiov yevf:a9-ai Xt:yotiön („er soll ohne Beihilfe der Kunst ein schöner Mann gewesen sein") (Älian, varia historia 12, 14).

2) Curtius Rufus, historiae Alexandri Magni 4, 28. Plutarch, vita cap. 2 und de Alexandri Magni fortuna aut virtute II, 2.

3) Cicero, oratio pro Archia poeta 24, Plutarch, vita cap. 5, 8, 15. *) Neben anderen Künstlern hat man an einen jüngeren Zeitgenossen

des Praxiteles und Skopas, an Leochares, gedacht, auf den auch das Original des Apoll vom Belvedere zurückgeführt wird. An diese Götter- statue erinnert allerdings etwas das lockenumwallte Haar.

DEMOSTHENES 197

TAFEL 55 DEMOSTHENES

MARMORSTATUE IM BRACCIO NUOVO DES VATIKANISCHEN

MUSEUMS ZU ROM NACH DER ERGÄNZUNG DES ABGUSSES

IM GIPSMUSEUM ZU MÜNCHEN.

Unter den zahlreichen aus römischer Zeit erhaltenen Porträts des Demosthenes nimmt dieses etwa 2 m hohe Standbild einen hervorragenden Platz ein, da es neben einer in englischem Pri- vatbesitze befindlichen, im Typus identischen Statue allein den großen Redner und Staatsmann in ganzer Gestalt darstellt. Wäh- rend der Fundort nicht ermittelt ist, weiß man bestimmt, daß das Werk bereits 1709 in der Villa Aldobrandini zu Frascati aufgestellt war und 1823 vom Papste Pius VII. für die Sammlung des Va- tikans angekauft worden ist. Zwar mehrfach gebrochen, ließ sich die Statue aus den einzelnen Teilen im wesentlichen sicher wieder- herstellen. Daß Demosthenes dargestellt ist, wird durch eine seit langer Zeit im Museum von Neapel befindliche kleine Erzbüste aus Herculaneum bewiesen, auf deren Brust der Name in grie- chischer Schrift zu lesen ist. Die vielfach erörterte Frage, ob die vatikanische Statue ein Nachbildung der Bronzestatue ist, welche die Athener ihrem großen Mitbürger gemäß des Antrages seines Neffen Demochares 280/79 auf dem Marktplatze der Stadt errichtet haben und welche der Erzgießer Polyeuktos gefertigt hat '), ist vor zehn Jahren in ein neues Stadium getreten. Denn damals sind zu Rom in der Nähe des Palazzo Barberini unter einer Anzahl von Marmorfragmenten ein rechter, mit Sandale bekleideter Fuß und zwei herabhängende, fest ineinandergeschlos- sene Hände zutage gekommen, die zu einer dritten Replik ge- rechnet werden, da in jener Statue des Polyeuktos die Hände zum Zeichen innerer Erregung in gleicher Weise gefaltet waren'). So können jetzt auch die Vorderarme der beiden fast vollständig erhaltenen Standbilder sicher wiederhergestellt werden und deren Rückführung auf den Erzgießer Polyeuktos ist zur Gewißheit ge- bracht, da ihr Urbild dem Kunststile nach sehr wohl in die erste

') Leben der zehn Redner 847 A und D, Plutarch, Demosthenes 30, Pausanias, Beschreibung Griechenlands 1, 8, 2 u. a. St. m.

-) Plutarch a. a. O. 31 KmiixK tov^ baxTÜXov;; avxt/oiv bi' dXXt|\o)v <nämlich Demosthenes).

198

GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

Hälfte des dritten Jahr- hunderts gehören kann und an einer so be- rühmten Stätte aufge- stellt, sicher kopiert worden ist. Die For- mengebung der Bronze prägt sich in der aus- gezeichneten Replikdes Kopfes (Fig. 71) beson- ders deutlich aus.

Einfach und schlicht steht Demosthenes da, indem er von den mit Sandalen bekleideten Füßen den linken als Hauptträger der Körper- last fest aufgestützt, den rechten ein wenig vor- gesetzt und zur Seite gestellt hat, bekleidet mit dem knapp zuge- messenen Mantel, des- sen Falten in einfachen, langgezogenen Linien verlaufen und der den größeren Teil der schmalen Brust und die mageren Arme freiläßt, so daß der schwächliche Körper sichtbar wird'). Mit der ganzen Gestalt steht die Bildung des Kopfes, der von kurzgeschorenem Barte und ziemlich kurzgehaltenen Locken umrahmt ist, in vollem Einklänge. Demosthenes tritt dem Beschauer als ein Mann entgegen, der die besten Jahre überschritten hat und nicht allzuweit von der Grenze seines Lebens entfernt ist. Das ernst sinnende, mürrische und verbitterte Gesicht mit der hohen, faltenreichen Stirne und den ciefliegenden, von Brauen beschatteten Augen trägt, von Furchen durchzogen, die Spuren eines arbeits- und kampfesreichen Lebens, scheint fast auch die düstere Furcht für die Zukunft des Vater- landes ahnen zu lassen, offenbart aber zugleich in seinen Zügen die unerschütterliche Überzeugungstreue und beharrliche, in hartem

Fig. 7L Demosthenes. Marmorkopf

Kopenhagen, Glyptothek Ny-Carlsberg

(Büste modern)

') Vornehm elegant ist dagegen das Himation an der lateranensischen Statue des Sophokles (Tafel 51) um den Körper gelegt.

DEMOSTHENES ROM, VATIKANISCHES MUSEUM. NACH DER ER- GÄNZUNG IM MÜNCHNER GIPSMUSEUM

F. BRUCKMANN A.-G, MÜNCHEN

HOMER 199

Kampfe gestählte Willenskraft, Die verschränkten Hände, wie sie jetzt statt der Schriftenrolle in der Ergänzung beigefügt sind, ver- stärken den Eindruck inneren Kummers, verhaltener Resignation und lassen zugleich die ganze Gestalt in fest umschlossenen Um- rissen um so ergreifenderwirken. Die berühmten Verse:

Ei'^tep iöt\\ Yvcü,ui\ 6c6,ur|v, Ati|Uöo&eve^, ei/zc, '), ouTiox' UV 'EWqvcDv i^p^Ev "Apqj; Maxebcov

(„wäre, Demosthenes, dir, wie der Geist, so die Macht auch geworden, nie makedonischem Schwert hätte sich Hellas gebeugt"),

welche die Athener unter jenes auf dem Markte zu Athen auf- gestellte Standbild des Demosthenes als treffliche Zusammen- fassung des Ergebnisses seines Lebens und Strebens gesetzt haben, finden in der Kopie offenbare Bestätigung. Das Vorbild eines so bezeichneten Bildnisses muß, wenn es auch erst 42 Jahre nach dem Tode des Redners errichtet worden ist, doch sicherlich nach einem lebensgetreuen Muster gefertigt sein. Denn man fühlt im Anblicke der Statue, daß Demosthenes mit seiner schwachen Na- tur hat ringen müssen; man hat sogar an dem Munde mit der zurückgezogenen Unterlippe eine Andeutung seines Sprachfehlers finden wollen, gewinnt aber zugleich aus der ganzen Erscheinung eine Bestätigung und Befestigung des mächtigen Eindrucks, den die Lektüre der Reden des großen Staatsmannes von seinen Charaktereigenschaften und seiner öffentlichen Tätigkeit hinterläßt, und dadurch wird der hohe Wert der überaus eindrucksvollen Porträtstatue noch gesteigert.

TAFEL 56 HOMER

MARMORHERME. SCHWERIN, GROSSH. BIBLIOTHEK.

'" ^ Durch zahlreiche römische Kopien kennen wir eine bedeutende Schöpfung der spätgriechischen Kunst und zwar der hellenistischen Zeit, welche mit Zuversicht als eine Darstellung Homers betrach- tet werden darf. Zwar fehlt leider ein inschriftliches Zeugnis da- für, allein die unzweifelhaft angedeutete Blindheit, die Greisen- haftigkeit, der würdige Charakter des Kopfes mit dem Reif in dem lockigen Haar, und vor allem der deutliche Ausdruck dichterischen

') Plutarch, Demosthenes 30 u. a. St. m.

200 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

Schauens lassen die Erklärung des Kopfes als Homer als die einzig zutreffende und demnach hinlänglich gesicherte erscheinen.

Unter diesen verschiedenen Kopien ist die hier wiedergegebene eine zwar wenig bekannte, aber durch die fast vollständige Erhaltung und die Arbeit hervorragend gute, ja zur Vergegenwärtigung des Ganzen von allen am besten geeignete. Einige Einzelheiten mögen an diesem oder jenem anderen Exemplare besser und treuer kopiert sein, das Ganze gibt sie am vorzüglichsten wieder.

Die Herme wurde 1868 bei Terracina gefunden und befindet sich jetzt in der Großherzogl. Bibliothek zu Schwerin. Der Kopf sitzt ungebrochen auf der antiken Herme auf, so daß hier dessen richtige Haltung geboten wird, was z. B. bei den bekannten Exem- plaren in Sanssouci und dem Farnesischen in Neapel nicht der Fall ist, die überdies auch sonst viel schlechter erhalten, mehr erneuert und von geringerer Arbeit sind. An der Schweriner Herme ist die vordere Hälfte der Nase die einzig nennenswerte Ergänzung.

Mit demjenigen Realismus, den die griechische Kunst erst in der Zeit nach Alexander erreichte, ist ein blinder Greis dargestellt. Sowohl das Greisenalter wie die Blindheit sind gleich meister- haft zum Ausdruck gekommen. Die verfallene, welke Haut mit ihren virtuos wiedergegebenen zahlreichen Falten und Runzeln, sowie die Haarbekleidung des Kopfes, wo die Reste der einstigen Lockenfülle nach vorn gekämmt sind, ohne daß dadurch die Kahl- heit über der Stirne bedeckt würde, sind die Anzeichen des Greisen- alters, während die Blindheit in der besonderen Bildung der Augen angedeutet ist. Die Augäpfel sind wie verkümmert, zusammen- geschrumpft, in auffallender Kleinheit und tief in die Augenhöhlen zurückgesunken gebildet, deren Fettpolster völlig geschwunden er- scheint. Überdies ist auch die Lidspalte ganz klein, indem das obere Lid sich schwer über den Augapfel legt. Dies alles hat die Wirkung, uns den erloschenen, leeren Blick eines blinden Auges zu vergegenwärtigen. Dazu kommt noch die Stellung der Augen- brauen ; ihr innerer, der Nase zugewendeter Teil ist stark nach unten gezogen, um den Augapfel zu beschatten ; damit im Zusammen- hange stehen die vertikalen Falten der Stirne über der Nase. Es ist von augenärztlicher Seite nachgewiesen worden, daß die Ver- kleinerung der Augäpfel, sowie eben diese Stellung der Brauen und Stirnfalten den Erblindungsformen eigen ist, welche aus einer Erkrankung der vorderen Augapfelhälfte hervorgehen, solange noch eine Spur von Lichtempfindung vorhanden ist. Dagegen ist nun aber die gehobene Haltung des Kopfes und das Emporschauen, das durch die im Gegensatze zu der inneren stark emporgezogene äußere Hälfte der Brauen angedeutet ist, und durch welches auch

HOMER

SCHWERIN, GROSSHERZOGLICHE BIBLIOTHEK

F. BRUCKMANN A.-G., MUNCHE^4

HOMER

201

die bogenförmigen Stirnfalten bedingt werden, gar nicht in der Art jener Blinden, welche den Kopf viel- mehr gesenkt zu hal- ten pflegen. Diese ge- hobene Kopfhaltung mit welcher auch der wie zum Singen oder Sprechen leicht geöff- nete Mund zusammen- hängt — ist vielmehr nur als das charakte- ristische Ausdrucks- mittel für die dichte- rische Begeisterung gewählt. Es ist so das innere Schauen des entzückten Dichters in einen feinen, gesuch- ten Kontrastmit seinem körperlichen Leiden gesetzt. Als Vorbild für das Leiden hat dem Künstler wahrschein- lich einer der im Sü- den so häufigen, durch vorangehende sog. ägyptische Augen- krankheit Erblindeten gedient. Aber die Haltung und den geistigen Ausdruck hat er frei nach dem Bilde geschaffen, das er sich von dem begeisterten Dichter gemacht.

Die nächsten stilistischen Analogien zu dem Homerkopfe bieten die bekannten charakteristischen Werke der Diadochenzeit, wie der wenigstens im Geiste der Epoche dargestellte, freilich später ent- standene Laokoon, der geschundene Marsyas oder der bärtige Ken- taur, dem der Eros auf dem Rücken sitzt, unter den Porträts Asop und Sokrates in der Villa Albani zu Rom. Auch der Homerkopf bekundet jene Neigung der hellenistischen Kunst, bis an die Grenze des Darstellbaren zu gehen ; auch er zeigt jene Neigung, an das Pathologische zu streifen. Den Verfall des Alters und die Blind- heit hat der Künstler so eingehend und wahrheitsgetreu geschil-

Fig. 72. Kopf des Homer. Marmor Rom, Vatikan (Büste modern)

202 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

dert, daß wir, hätte er nicht zugleich dem Kopfe auch einen Funken göttlicher Begeisterung zu verleihen gewußt, nur das Jammerbild eines kläglichen Greises vor uns haben würden. Ganz anders sind die Bilder Homers zu denken, welche die ältere griechische Kunst vor der Diadochenzeit geschaffen; da kam gewiß vor allem das Ehrwürdige des alten Dichterfürsten zur Geltung. Eine Bestätigung bietet der in mehreren Exemplaren repräsentierte Typus des ehr- würdigen Greises (Fig. 72) mit fließendem, langem Bart und mit einem runden Reif im wohlgeordneten, nur wenig gewellten Haar. Die Blindheit ist durch die friedlich über die erloschenen Augen- sterne gesenkten Lider charakterisiert. „Die feine, edle Formen- gebung, das ruhige, in großen Flächen gebildete Gesicht, nicht zu- letzt Haar- und Bartbehandlung, weisen auf die letzten Jahrzehnte des fünften Jahrhunderts v. Chr. In feierliche, friedliche Stimmung ver- setzt der tiefergreifende Anblick der Büste, die uns die Vorstellung wiedergibt von dem Vater der Dichtkunst, von dem weisen Sänger und Seher, wie sie in der Glanzzeit hellenischer Kultur populär war." Doch der Typus des Schweriner Kopfes war im späteren Alter- tum weit berühmter. Geschaffen wurde er wahrscheinlich für eine der großen Bibliotheken der Diadochenzeit, etwa die zu Alexandrien oder die zu Pergamon, in der Zeit der Blüte der Homerstudien im dritten bis zweiten Jahrhundert v. Chr. ; aller Wahrscheinlichkeit nach war auch das ursprüngliche Werk nur eine Herme, nicht eine Statue.

TAFEL 57 ZWEI RÖMISCHE PORTRÄTS

BÜSTE DES AGRIPPA. MARMOR. PARIS, LOU VRE. BRONZEKOPF EINES UNBEKANNTEN. ROM, KONSERVATORENPALAST.

Die beiden auf einer Tafel vereinigten Porträts, die zwei hin- sichtlich des Charakters der Dargestellten und der künstlerischen Auffassung sehr verschiedene Bildnisse wiedergeben, sind wohl- geeignet, von der in weiten Kreisen viel zu wenig gewürdigten Leistungsfähigkeit der römischen Porträtkunst eine hohe Vorstellung zu gewähren. Während ersteres durch die inschriftlich beglaubigten Darstellungen des Agrippa auf Münzen bestimmt ist und demgemäß mit größter Wahrscheinlichkeit in die letzten Jahrzehnte der vor- christlichen Zeit') gehört, ist Deutung und Datierung des letzteren

') Agrippa wurde 63 v. Chr. geboren und starb 12 v. Chr., 51 Jahre alt.

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ZWEI ROMISCHE PORTRATS 203

durchaus unsicher; denn die seit alter Zeit weitverbreitete Bezeich- nung als Bildnis des L. Junius Brutus, die auf eine flüchtige Ähnlich- keit mit Darstellungen dieses Gründers der Republik und ersten Kon- suls auf Münzen späterer Zeit sich gestützt hat, entbehrt jedes Bewei- ses, die kunstgeschichtliche Zeitbestimmung') ist in Ermanglung stili- stisch verwandterund chronologisch feststehender Porträts leider bis- her nicht gelungen. Doch scheint die Trefflichkeit der bis ins einzelne meisterhaft ausgeführten Bronzearbeit eines griechischen oder wenig- stens unter griechischem Einflüsse stehenden einheimischen Meisters, ebenso wie die künstlerische Auffassung und der physiognomische, den altrömischen Typus in ausgezeichneter Weise wiedergebende Gesamtausdruck des Kopfes auf eine ziemlich frühe Zeit der Republik, vielleicht noch das zweite vorchristliche Jahrhundert hinzuweisen. Die trefflich gearbeitete und bis auf die ergänzte Nasenspitze vorzüglich erhaltene Büste des Agrippa ist 1792 an der Stelle der alten östlich von Rom gelegenen Stadt Gabii bei Gelegenheit der von dem Fürsten Borghese veranstalteten Grabungen nebst anderen vorzüglichen Antiken zutage gekommen und 1808 mit diesen Bild- werken von Rom nach Paris gebracht worden. Vielleicht war sie dereinst in jener Landstadt zum Dank für erworbene Verdienste als Ehrendenkmal geweiht. M. Vipsanius Agrippa, der Sieger von Aktium und einflußreiche Berater des Augustus, der große Wohltäter des Volkes, dessen Andenken insbesondere zu Rom durch ausgedehnte bauliche Anlagen im Campus Martius noch heutzutage fortdauert, ist in reifem Mannesalter zwar mit bezeichnender Individualisierung, aber unter Abstreifung unbedeutender Zufälligkeiten getreu nach dem Leben dargestellt. Die der Mode der Zeit entsprechende Bart- losigkeit sowie der kurze Haarschnitt stimmen mit vielen Bild- nissen von Mitgliedern des augusteischen Kaiserhauses-) überein; was aber den Kopf von diesen ruhigen, in sich geschlossenen Por- trätzügen gewaltig unterscheidet und ihm ein überaus lebendiges Gepräge verleiht, ist der feste, durchbohrende Blick der tiefliegenden und tiefbeschatteten Augen, der durch die zusammengezogenen Brauen und die Einsenkung über der etwas gebogenen Nase, sowie durch die seitliche Wendung des Hauptes eine um so größere Wir- kung erzielt. Eiserne Willenskraft und unerbittliche Energie, eine nur durch den praktischen Verstand zurückgehaltene vorwärtsstürmende Tatkraft, ein starres Wesen treten als bezeichnende Eigenschaften

') Anklänge an späthellenistische Bildnisse glaubte man bisweilen in der Bronze zu bemerken und hat sie, freilich nur vorübergehend, dem Römertum abgesprochen.

-I Beispielsweise sei hingewiesen auf den Kopf der Statue des Augustus von Prima Porta, Tafel 58.

204 GRIECH. UND ROM. PORTRATS

des Mannes aus seinen Gesichtszügen entgegen, die im wirklichen Leben auf jedermann zwingende Gewalt ausgeübt haben müssen und noch heutzutage im Bildnisse trotz der trefflichen künstle- rischen Auffassung und Arbeit den Betrachter wenigstens beim ersten Eindrucke eher zurückzustoßen als zu befriedigen geeignet sind. Dagegen wird unser Blick durch das Antlitz des unbekannten Mannes unwiderstehlich gefesselt, der in dem trefflich erhaltenen und vorzüglich ausgearbeiteten Bronzekopfe wiedergegeben ist. Von unbestimmtem Fundort, ist derselbe schon im sechzehnten Jahr- hundert in der Sammlung von Antiken des als Kunstmäcen be- kannten Kardinals Rodolfo Pio di Carpi nachweisbar; er war der Stadt Rom vermutlich wegen der schon damals üblichen Deutung von dem Besitzer testamentarisch zugesprochen worden und wurde demgemäß nach dessen Tode 1564 Eigentum des römischen Magi- strats. Seitdem im Konservatorenpalast als eines der hervor- ragendsten Stücke der auserlesenen Sammlung aufbewahrt, hat er wohlverdienten Ruhm erlangt. Die Persönlichkeit des Dargestellten erregt das Interesse des Betrachters beim ersten Anblicke. Sie ist von dem Künstler mit den Zufälligkeiten der äußeren Erscheinung in allen Teilen des Kopfes getreu wiedergegeben. Denn die auf- fallend großen Ohren, die wildgewachsenen und nicht gepflegten Brauen, der länglich zugeschnittene, kurzgeschorene Spitzbart, die hohe, in ihrem Unterteile stark vortretende Stirne, der eigentüm- lich herbe Zug um den langgestreckten Mund und zu beiden Seiten der langen Nase sind ebenso wie die welken und mageren Züge des nach unten sich verjüngenden Gesichts und der düstere, tief- traurige Blick der Augen ') mit genauer, verständnisvoller Beobach- tung der Natur gebildet. Trotzdem ist das Gesamtbild zu einem über das Zufällige erhabenen Charakterkopf umgestaltet und er- hoben worden. Der Dargestellte, der in vorgerückterem Alter steht, zeigt zwar in seinem Äußern keine höhere geistige Durchbildung und Belebung, aber klaren und kalten Verstand, unerschütterlichen Ernst, beneidenswerte Nüchternheit und Vorsicht. So darf in der Tat dieser Bronzekopf auch hinsichtlich der künstlerischen Auf- fassung als ein ikonographisches Meisterwerk bezeichnet werden, das, mit den durchgeistigten und pathetisch erregten Gesichtszügen des Agrippa verglichen, durch die vornehme Ruhe und würdevolle Strenge der Erscheinung tiefe, nachhaltige Wirkung erzielt. In jenem ist der Typus des Republikaners von echtem Schrot und Korn, in diesem der durch höhere geistige Bildung verfeinerte Vertreter einer neuen Epoche plastisch verkörpert.

') Sie sind eingesetzt; die Hornhaut ist aus einer weißen, die Pupillen sind aus einer braunen Masse.

AUGUSTUS 205

TAFEL 58 AUGUSTUS

BEMALTE MARMORSTATUE IM BRACCIO NUOVO DES VATIKANISCHEN MUSEUMS ZU ROM.

Diese berühmteste unter den erhaltenen Statuen des Kaisers und eine der schönsten römischen Porträtstatuen überhaupt ist etwas über die natürliche Größe gebildet, Sie wurde 1863 neun Millien von Rom an der alten via Flaminia bei der heutigen Ortschaft Prima Porta unter den Trümmern des ehemals prächtigen Land- hauses gefunden, das, von Augustus Gemahlin Livia erbaut, villa Caesarum oder villa ad Gallinas geheißen hat '); dort hatte sie der- einst in einer Nische Aufstellung gefunden. Gut erhalten, konnte sie von dem Bildhauer Tenerani im wesentlichen richtig ergänzt werden. Die Arbeit des Standbildes, welches das Werk eines un- bekannten Meisters vergegenwärtigt, ist hervorragend und wohlge- eignet, von der Kunstübung im augusteischen Zeitalter einen hohen Begriff zu geben. Aus mehrfach erhaltenen Farbenspuren läßt sich die ursprüngliche Bemalung der Haare und Gewandung sowie des Panzers feststellen, während an den nackten Körperteilen abge- sehen von den Augen keine Farben zu erkennen sind; von der Gesamtwirkung der bunten Pracht läßt sich aus den geringen Resten eine sichere Vorstellung nicht gewinnen.

Eine majestätische, wahrhaft fürstliche Gestalt -) von starken Körperformen steht in der Blüte des kräftigen Mannesalters vor uns, indem sie das linke Bein in Schrittstellung zurücksetzt, das rechte als den Träger der schweren Körperlast fest aufgestellt hat. Der Kaiser ist durch die Rüstung als Imperator bezeichnet; in der Nacktheit der Füße hat man eine Andeutung der Heroisierung ver- mutet, doch scheint der akademisch klassizistische Künstler nur älteren, schon in griechischer Kunst nachweisbaren Traditionen gefolgt zu sein; auch das Standmotiv ist hellenischem Vorbild, dem Doryphoros des Polyklet, entnommen. Über die nicht ganz bis zu den Knien reichende Tunika sind Lederkoller und Panzer gelegt, und darüber war das Paludamentum geworfen, das, von dem Rücken und den Schultern herabgeglitten, in großartig schwungvoller Linie und wirkungsvollem Faltenwurfe um den mitt-

') Plinius der Ältere, naturalis historia 15, 137. Sueton, Galba 1. 2) Vgl. auch Sueton, Augustus 79.

206 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

leren Teil des Körpers sich legt und, von dem linken Arm ge- halten, gerade nach abwärts fällt. Die linke Hand hatte in Über- einstimmung mit der sonstigen kriegerischen Rüstung wahrschein- lich den Speer und nicht das Szepter, das ergänzt ist, gefaßt. Durch die gebieterische Bewegung des hocherhobenen rechten Armes, dessen Richtung die ganze Haltung des Körpers und der Blick der Augen folgen, befiehlt Augustus als Imperator dem vor ihm versammelt zu denkenden Heere Ruhe, um eine feierliche Ansprache zu halten'). Unten zur rechten Seite weist der auf einem Delphin in lebhafter Bewegung reitende Amor auf die Abstammung des julischen Hauses von Venus hin-). Man erkennt durch kühne Kombination in den allerdings etwas individuellen und realistischen Gesichtszügen des etwa zweijährgien Bübchens den gerade im Jahre des parthischen Erfolgs geborenen Gaius, den Sohn der Julia und des grippa; inA diesem Falle wäre er eben einer auch sonst nachweisbaren Gepflogen- heit gemäß gar sinnig im Bilde des Knaben Amor dargestellt. Mehr als eine geistreiche Vermutung darf dieser Deutungsversuch nicht gelten.

Der vortreffliche Porträtkopf, der auf dem starken Halse ruht, zeigt die auch an anderen Bildnissen des Kaisers erkennbare schlichte Haartracht mit einzelnen kurz abgeschnittenen Büscheln und trägt in dem runden, völlig bartlosen Gesichte mit den vorstehenden Backenknochen die nämlichen Züge, die in der weitbekannten und hochgeschätzten Büste des jugendlichen Oktavian im Vatikanischen Museum so bezeichnend hervortreten. Während die schwache Ge- sundheit, die in dieser Büste wahrnehmbar ist, in der dem kräf- tigen Körper entsprechenden kraftvollen Physiognomie kaum noch zu ahnen ist, wird der Ausdruck, der belebt ist durch den etwas geöffneten Mund, vorwiegend bestimmt und gekennzeichnet durch den scharfen, sicheren Blick-^) der tiefliegenden Augen, deren Pupillen mit dem Meißel leicht umrissen sind und durch Bemalung noch mehr hervorgehoben waren ; er läßt einen ebenso bestimmten und energi- schen als vorsichtigen und leidenschaftslosen Charakter erkennen, wirkt aber in seinen kalten und berechnenden Zügen nicht sym- pathisch und beinahe etwas unheimlich.

Was den Wert der Statue unersetzlich macht und das Auge von der erhabenen Majestät des großartigen Gesamtbildes ablenkt

') In ähnlicher Weise sind andere Kaiser vor den Truppen auf histo- rischen Denkmälern wie der Trajanssäule und auf Münzen dargestellt; auf diesen wird die Anrede durch eine Beischrift adlocutio benannt.

-) „Clarus Anchisae Venerisquesanguis" („des Anchises und der Venus berühmter Sprößling") singt Horaz von Augustus im Carmen saeculare 50 (vgl. auch Oden IV, 15, 32 „Almaeprogeniem Veneris canemus", „wir werden den Nachkommen der segenspendenden Venus besingen").

^) Vgl. Tacitus, Annalen 1, 42. Sueton, Augustus 79.

AUGUSTUS

ROM, VATIKANISCHES MUSEUM

AUGUSTUS

207

und auf sich zieht, ist der Panzer mit seinen Verzierungen, der einen aus Metall getriebenen Harnisch getreu nachbildet und in den Reliefs ein charakteristisches Beispiel der gerade in jener Zeit neuaufbliihenden Toreutik bietet (Fig. 73); an diesen schließen

Fig. 73. Reliefs vom Panzer der Augustusstatue

sich befranzte, die Schulterblätter und den Unterleib, sowie einen Teil der Oberschenkel bedeckende Lederstreifen an; sie gehören zum Koller. Oben geschlossen durch zwei mit je einer Sphinx verzierte Schulterklappen, ist der Harnisch auf der ganzen Vorder- fläche mit streng symmetrisch geordneten Reliefs geschmückt. Den Mittelpunkt nimmt eine auch durch größere Bildung der Figuren her- vorgehobene Gruppe ein, welche die 20 v. Chr. freiwillig erfolgte Rück- gabe der seit den Niederlagen des Krassus und Antonius in dem Be-

208 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

sitze der Parther befindlichen römischen Feldzeichen darstellt: Ein Krieger, in Tracht und Bewaffnung eines römischen Feldherrn, der früher vielfach recht unnatürlich als Mars Ultor, von dem diesem Gotte heiligen Hund begleitet, gedeutet wurde, streckt den rechten Arm weit aus, um von einem bärtigen, behosten Barbaren von etwas kleinerer Körperbildung einen Legionsadler in Empfang zu nehmen. Ganz neuerdings erkennt man in dem jugendlichen Krieger als stark idealisiertes Porträt den 22jährigen Prinzen Tiberius, der als Bote seines Stiefvaters die Signa holt') und vom Kriegshund als Wächter an der Grenzwacht begleitet ist; der Parther vor ihm soll durch das Diadem als König Phraates IV.-) charakterisiert sein. Doch scheint in den beiden Figuren nur allgemein die Vertretung der römischen Militärmacht und des gedemütigten Partherkönigtums repräsentiert zu sein. Umgeben sind beide von zwei weiblichen, in trauriger Haltung dasitzenden Personifikationen, von denen die auf der linken Seite ein in einen Vogelkopf endigendes Schwert hinhält und hinter sich ein Tropaeum stehen hat^^), die rechts eine große, in einen Drachenkopf auslaufende Kriegstrompete sowie eine Schwertscheide trägt und vor sich den oberen Teil eines mit einem Eber verzierten Feldzeichens sieht. Es sind Vertreter der jüngst überwundenen, noch trauernden Provinzen Hispania und Gallia, der Keltiber, gegen die Agrippa 21 v. Chr. erfolgreich kämpfte, sowie der gallischen Völker, die 27 v. Chr. von Messala geschlagen worden waren und 19 v. Chr. jenem großen Feldherm des Kaisers zu schaffen machten ^). Nach unten schließen sich die Schutzgötter des julischen Hauses, Apollo mit der Leier auf dem Greif und Diana mit der Fackel auf dem Hirsch, an, und unter diesen ist die allnährende Erdgöttin gelagert, von zwei sich anschmiegenden Kindern begleitet; mit der rechten Hand faßt sie ein in ihrem Schoß stehendes, großes Füllhorn, zwei undeutliche, für Tympanon und Mohnkopf erklärte Gegenstände sind neben ihr. Es entspricht der Erdgöttin oben die aus Wolken sich er- hebende Halbgestalt des bärtigen Caelus, der ein Gewand wie die Himmelswölbung mit beiden Händen über seinem Haupte aus- breitet. Darunter zügelt der jugendliche Sol auf einem Viergespann in der gebückten Haltung und langen Gewandung eines Wagen- lenkers die ungestümen Sonnenrosse, begleitet und geführt von den dahinschwebenden Göttinnen des Morgentaues und der Mor- genröte, die in der anmutigen Gruppe eines bekleideten und be-

') Sueton Tiberius 9.

2) Vgl. Horaz Episteln I, 12, 27.

^) In der Abbildung nicht mehr sichtbar.

■») Cassius Dio 54, II; 19—25.

FRAU AUS HERCULANEUM 209

flügelten Mädchens mit dem tauspendenden Kruge und einer auf dessen Schultern sitzenden Frau mit bogenförmig wallendem Schleier und der lichtverbreitenden Fackel dargestellt sind. Das Verständnis des Ganzen wird erschlossen durch die Hauptdar- stellung in der Mitte des Panzers: Der große, weithin wirksame Parthererfolg ist in erster Linie zum Ausdruck gebracht, zugleich aber die nach langwierigen Kriegen erreichte ruhmvolle Beruhi- gung des Weltalis im Osten und Westen, die dadurch gewonnene Beglückung seiner Bewohner versinnbildlicht. Die historischen Ereignisse führen vielleicht auf die Zeit bald nach der Heimkehr des Princeps aus dem Orient, etwa auf 18 v, Chr. Das Alter des da- mals Mitte der vierziger Jahre stehenden AugUbtus entspricht der ganzen Gestalt wie den Gesichtszügen. Dann fällt die Errichtung des polychromen Marmorbildes im Landhause der Livia fast gleich- zeitig mit der Entstehung des Carmen saeculare von Horaz, das bei den 17 v. Chr. zur Erinnerung an die Gründung von Rom ver- anstalteten Festlichkeiten von einem Knaben- und Mädchenchor ge- sungen wurde. Es kann aber auch durch Hispania und Gallia sehr passend auf des Kaisers persönliche Neuordnung der beiden Länder angespielt sein, woher er nach langer Abwesenheit 13 v. Chr. endlich nach Rom heimkehrte. Nicht nur mehrere Darstellungen des Panzers erinnern unmittelbar an jenes Festlied, sondern auch die gehobene, freudige Stimmung des römischen Volkes über die Beruhigung des Erdkreises und die Segnungen des Friedens, die durch den Gesang durchklingt und in anderen berühmten Oden des Dichters ') widerhallt, findet in den Reliefs der Panzerstatue monumentalen Ausdruck: Bild und Lied werden durch gemein- same Betrachtung wechselseitig erläutert.

TAFEL 59

MARMORSTATUE EINER FRAU AUS HERCULANEUM

DRESDEN, ALBERTINUM.

Diese trefflich erhaltene und gut gearbeitete Statue etwa aus augusteischer Zeit ist zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts ge-

') IV, 2, 4, 5, 14, 15. - Auch die Weihung der Ära Pacis (vgl. S. 164» bietet einen monumentalen Ausdruck dieser Gefühle.

Denkmäler griech. u. röm. Skulptur, 3. Aufl. 14

210 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

meinsam mit zwei im Stile eng verwandten, etwas kleineren Frauen- statuen zu Herculaneum bei Gelegenheit der vom General Prinz von Elbouf veranlaßten Grabungen ans Tageslicht gekommen. An seinen Onkel, Prinz Eugen von Savoyen, mit jenen beiden anderen Werken gesandt und zu Wien in dessen Palast aufgestellt, wurde sie 1736 nach dem Tode des Besitzers von dem als Kunstsammler bekannten Könige August III. von Sachsen angekauft und bildete unter dem Namen der „großen Dresdener Herkulanenserin" eines der kostbarsten und berühmtesten Bildwerke der Sammlung „Augu- steum"; nunmehr befindet sie sich in der Königlichen Skulpturen- sammlung, dem Albertinum. In beiden Städten, zu Dresden ins- besondere in dem Winckelmann nahestehenden Kreise, sind die drei Statuen von Künstlern und Kunstkennern als wahre Vertreterinnen der reinen griechischen Antike erkannt und gepriesen worden ; so haben sie zu einer Läuterung des Kunstgeschmackes im Gegensatze zu dem damals herrschenden Barockstile wesentlich beigetragen.

Eine jugendliche Frauengestalt von lebenswahren und lebens- warmen Formen steht vor uns in ruhiger, würdiger Haltung, doch mäßig bewegt durch das linke vorgesetzte Bein, sowie den Gegen- satz des rechten halberhobenen und linken gesenkten Armes, weiter- hin durch die Neigung des Kopfes. Den feingefalteten Chiton, der teil- weise bis über die Füße hinabreicht und nur den kräftigen Hals frei- läßt, deckt zum größten Teil der weite Mantel, der, schleierartig über den Hinterkopf gezogen, in wunderbar mannigfaltigem Wechselspiel der Falten „mit edler Freiheit und sanfter Harmonie des Ganzen" umgelegt ist. Von den beiden Enden des Himations, die sich auf der linken Seite vereinigen, ist das eine in der Form eines Drei- ecks über den Oberkörper geschlagen und fällt über die linke Schul- ter und den linken Arm herab.

Den höchsten Genuß gewährt die Betrachtung des Kopfes, der sich aus dem durch den Schleier gebildeten Hintergrunde präch- tig abhebt. Das Haar, das reizvoller Mode entsprechend in ein- zelnen nach rückwärts laufenden Wülsten geordnet ist, war vermut- lich durch goldene Färbung noch mehr hervorgehoben, da Spuren roter Bemalung als der Grundlage für das aufzutragende Gold noch heute erkennbar sind. Dem nach unten sich verjüngenden, von einem runden Kinn abgeschlossenen Oval des Gesichts verleihen die zarte Bildung der Wangen, an dem kleinen, leise geöffneten Munde die geschwungene Ober- und aufgeworfene Unterlippe, die regelmäßige Form der Nase, endlich die tiefliegenden, schmalen Augen einen wunderbar anmutigen Ausdruck echter Weiblichkeit, der stillen Ernst, leises Sinnen und Sehnen empfinden läßt und durch die Neigung des etwas zur Seite und nach vorwärts gerich-

MARMORSTATUE EINER FRAU AUS HERCULANEUM

DRESDEN, ALBERTINUM

FRAU AUS HERCULANEUM 211

teten Kopfes, sowie die zierliche Haltung der rechten, das Himation leicht fassenden Hand noch stimmungsvoller wirkt. Vor allem in diesen Zügen offenbart sich der Künstler, in dessen Zeitalter und vielleicht unterdessen Einflüsse das Urbild entstanden ist: der Geist der Kunst des Praxiteles lebt in dem Werke (vgl. auch Fig. 22). Bezeichnend für die unmittelbare Wirkung der Statue auf den Beschauer ist es, daß er, von der Schönheit des Werkes einge- nommen, nach der Deutung zunächst nicht fragt. Doch ist sie selbstverständlich seit der Entdeckung oft besprochen worden, frei- lich ohne daß ein sicheres Ergebnis erzielt werden konnte. An- fangs auf Grund der Kleidung für eine römische Vestalin gehalten, wurde das Werk hinsichtlich seines Typus unu aus stilistischen Gründen sehr bald als griechisch betrachtet und eine Göttin, De- meter oder Köre, auch ein stark idealisiertes Porträt, eine Ehren- und Grabesstatue erkannt. Es läßt sich nicht leugnen, daß für Demeter und Köre das Gesicht mit dem Ausdrucke leiser Sehn- sucht geeignet ist, und es ist Tatsache, daß unserem Bilde ähn- liche Typen bei Darstellungen dieser Gottheiten verwendet worden sind. Allein der Mangel eines bezeichnenden Attributes läßt über eine bloße Vermutung nicht hinauskommen. Wenn schon die drei Originale dereinst eine Gruppe gebildet haben '), ist ihre ursprüng- liche Bestimmung als Porträts der Glieder einer Familie etwa zum Schmucke eines Grabes wahrscheinlich, zumal die Gesamterschei- nung und der Ausdruck des Gesichtes unserer Statue für diesen Ort besonders passend erscheinen, und da der Mangel unverkenn- barer Porträtzüge durch die gleichzeitigen Grabreliefs genügend er- klärt wird. Die Verhüllung des Kopfes findet sich insbesondere auch auf diesen gemäß der für die Straße üblichen Mode häufig wieder, wie auch die sonstige Form der Kleidung bei Porträtstatuen der Tracht des täglichen Lebens entsprechend vorkommt. Die Be- stimmung der drei zu Dresden befindlichen Bildwerke läßt sich erst durch genaue und klare Feststellung der Fundumstände, die bis- her noch nicht ermöglicht wurde, mit einiger Sicherheit entscheiden. Die Vermutung, daß sie dereinst zum Andenken dreier Herku- lanenserinnen gestiftet waren, erscheint wohl erwägenswert. In die- sem Falle würden die Bildnisse einer auch sonst bei Frauenporträts aus römischer Epoche nachweisbaren Gepflogenheit entsprechend, nach griechischen Vorbildern aus der Blütezeit der Kunst in ideali- siertem Stile wiedergegeben sein. Aber auch die Möglichkeit, daß

') Erwägenswert erscheint es, ob nicht die drei Herkulanenserinnen erst in römischer Zeit aus griechischen Einzeltypen zusammengestellt wurden.

14«

212 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

die drei Figuren in Herculaneum zum Schmucke eines Platzes oder Hauses als Kopien der Darstellungen griechischer Göttinnen oder sterblicher Frauen aufgestellt waren, bleibt immerhin bestehen. Mit der Äußerung dieser Vermutungen muß man sich be- scheiden. Doch auch ohne sichere Deutung werden Klarheit und Bestimmtheit der Körperformen, Geschlossenheit der Umrisse, Voll- endung des Rhythmus der Draperie, ungezwungene Vornehmheit und reizende Anmut, vor allem der feierliche Ernst des ganzen Bildes, die „edle Einfalt, stille Größe" auf jeden Beschauer einen mächtigen Zauber ausüben und den Namen des „göttlichen", durch welchen Winckelmann „dieses Meisterstück griechischer Kunst" für alle Zeiten geadelt hat, vollkommen rechtfertigen.

TAFEL 60

RÖMISCHER BÜRGER, MIT DER TOGA BEKLEIDET

MARMORSTATUE. LONDON, BRITISH MUSEUM.

Diese überlebensgroße Statue, deren Fundort und Herkunft nicht gesichert sind, gehört wegen der guten Arbeit und des Kopf- typus vielleicht noch in die republikanische Epoche oder doch wenigstens in die Anfänge der Kaiserzeit; mit dieser Datierung scheint die Art, wie die Toga um den Körper gelegt ist, nicht im Widerspruch zu stehen. Abgesehen von kleineren Ergänzungen sind Nase und Ohren, der größere Teil des Halses mit einem Stückchen der Tunika, endlich die linke Hand mit der Rolle er- neuert; der in die Statue eingesetzte Kopf dagegen wird gemäß einer am Originale angestellten Untersuchung als zu der Statue gehörig angesehen.

Dargestellt ist ein unbekannter Römer von reiferen Jahren in der Tracht des einfachen Bürgers; er trägt, abgesehen von der Tunika und den calcei, die unverzierte Toga. Vermutlich war die Statue zu seinen Ehren etwa auf einem öffentlichen Platze seiner Heimat oder auf seinem Grabe errichtet. Er steht in ruhiger, aber überaus stolzer Haltung mit etwas erhobenem Kopfe da und gewährt von der gravitas des civis Romanus eine plastische Vorstellung. Das volle, faltendurchzogene Gesicht mit ganz kurzem

RÖMISCHER BURGER, MIT DER TOGA BEKLEIDET

LONDON, BRITISH MUSEUM

F. BRUCKMANN A.-G., MÜNCHEN

ROMISCHER BÜRGER 213

Barte gibt die Wirklichlceit mit allen Zufälligkeiten getreu wieder und reiht sich jenen ziemlich zahlreichen überaus charakteristischen Römerköpfen an, die durch ihre bezeichnende Individualität und lebensvolle Darstellung das Interesse des Beschauers mächtig er- regen und seinem Gedächtnisse sich tief und dauernd einprägen. Die zusammengezogene, durchfurchte Stirne, in welche das Haar wie in der Form eines Dreiecks etwas hereinreicht, der tiefe Ein- schnitt über der Nase, auf den Backen die schräg abwärts ge- richteten Falten, die geschwungene, gegen das Kinn sich fort- setzende Linie des festgeschlossenen Mundes, endlich der scharfe und sichere Blick der Augen bestimmen den Ausdruck dieses Por- träts: feste und zielbewußte Willenskraft, klarer, praktischer Ver- stand, nicht geringes Selbstgefühl, zugleich aber eine gewisse feinerer Geistes- und Gemütsbildung ermangelnde Urwüchsigkeit des Äußeren sind die Eigenschaften der Persönlichkeit, welche sie mit der Mehr- zahl ihrer Mitbürger vorwiegend aus der republikanischen Zeit ge- meinsam hat und welche wesentliche Grundzüge des Charakters des römischen Volksstammes überhaupt gewesen sind. Indes die vornehme Erscheinung des Gesamtbildes wird durch die feierlich imponierende Tracht der Toga erreicht, die den Körper in wechsel- voll drapierten, tiefbauschigen, großartig schönen Faltenmassen um- hüllt und der Gestalt ein volles, stattliches, reiches Aussehen ver- leiht. Über Form und Anlegung dieses Gewands und vor allem die Entstehung des besonders an der rechten Vorderseite des Kör- pers gebildeten Umschlages, des sogenannten sinus, sind ganz ge- sicherte Ergebnisse der Forschung noch nicht erzielt worden. Was als feststehend oder wahrscheinlich betrachtet werden kann, ist etwa folgendes: Die Toga, ein wollenes Tuch von schwerem Stoff und weißer Farbe, war zu der Grundform eines Ovals zugeschnitten und ungefähr dreimal so lang als die Schulterhöhe des Mannes; zu einem Doppeltuche zusammengenommen, wurde sie zuerst von rückwärts mit einem Drittel ihrer Länge über die linke Schulter nach vorn geworfen, so daß sie bis zur Erde hinabgereicht hat; hinten aber wurden die beiden anderen Drittel um den Rücken gelegt, unter dem rechten Arme durchgeführt, quer über die Brust gezogen und wiederum über die linke Schulter zurückgeworfen. Diese Form der Toga ist hier in einem hervorragenden Muster klar zu erkennen, abgesehen von einzelnen Abweichungen vom Gewöhnlichen; so ist die rechte Schulter samt Arm und Hand von dem Tuche umhüllt. Zugleich sind einzelne Vorschriften, die Quintilian') über die Tracht des Gewandes gegeben hat, gewisser-

') Institutio oratoria XI, 3, 137 ff.

214 GRIECH. UND ROM. PORTRÄTS

maßen im Bilde veranschaulicht: man sieht deutlich die runde Form') an den Rändern des Tuches, der sinus reicht bis zum rechten Knie herab^), der als balteus bezeichnete, quer über der Brust liegende obere Teil des Umschlages erscheint weder zu eng noch zu weit^), der linke Arm ist etwa bis zu einem rechten Winkel gebogen^). Dadurch ist unsere Statue auch im einzelnen besonders lehrreich. Doch der Wert des Werkes liegt vor allem darin, daß ein Römer von echtem Schrot und Korn in der Nationaltracht der gens togata entgegentritt. Erhöhte Bedeutung gewinnt es durch eine Gegenüberstellung und Vergleichung griechischer und insbe- sondere attischer Porträts aus der Blütezeit dieses Volkes: denn nicht nur der Gegensatz der weiten, feierlichen Toga und des den Formen des Körpers sich anfügenden, einfachen Himations, sondern auch die große Verschiedenheit der ganzen Erscheinung des würde- vollen, stolzen Römers und des leichtbeweglichen, heiteren Griechen, vor allem aber der Ausdruck des Römerkopfes, der vorwiegend für das praktische Leben Sinn und Verständnis offenbart, im Vergleiche mit den feinen, durchgeistigten Zügen des Antlitzes eines Hellenen sind wohl geeignet, die bezeichnenden und unterscheidenden Indi- vidualitäten der beiden großen Nationen des Altertums auch durch die monumentale Kunst zu veranschaulichen.

') Ipsam togam rotundam esse et apte caesam velim („ich möchte, daß die Toga selbst rund und passend zugeschnitten ist").

2) Sinus decentissimus, si aliquo supra imam togam fuerit, nunquam certe sit inferior („der , sinus' ist am schicklichsten, wenn er ein Stück oberhalb des untersten Teiles der Toga ist, niemals wenigstens sei er unterhalb derselben"). (Für das handschriftlich überlieferte „togam" ist in den Ausgaben meist „tunicam" eingesetzt).

3) nie (sinus), qui sub umero dextro ad sinistrum oblique ducitur velut balteus. nee strangulet nee fluat („jener [der sinus], welcher unter der rechten Schulter zur linken in schräger Linie wie ein Gurt geführt wird, soll weder spannen noch schlaff herabhängen").

■•) Sinistrum bracchium eo usque adlevandum est, ut quasi normalem illum anguium faciat („der linke Arm ist so weit emporzuheben, daß er gewissermaßen einen rechten Winkel bildet").

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