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Der Türmer

Monatsſchrift für Gemüt und Geiſt

Herausgeber:

Profeſſor Dr. phil. h. c. Friedrich Lienhard

Dreiundzwanzigſter Jahrgang Band II (April bis September 1921)

Stuttgart Türmer⸗ Verlag Greiner und Pfeiffer

Orud von Greiner und Pfeiffer, Stuttgart

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2 aD Onbalts-Berzeichnis

Gedichte Selte Seite Brauer: Sommernacht. . . 229 Kremſer: Ein Gleichnis 255 Eichacker: Schickſalll. 159 Kühn: Dem Führer Ser see. RO Findeiſen: Sonntagnahmittagg . . 89 Lentz: Blühend fteigt ein Rauch ins Blau 80 Forſtreuter: Junge Frau 304 Lienhard: Luther zu Worms .... 17 v. Freytag-Loringhoven, Gunda: Das Luthers Einzug auf die Wartburg 94 G;ͤ; ae he re ae 311 v. Münchhauſen, B.: Freundſchaft. 164 Friedrich: An Deutſchland 251 Paulſen: Stille Stunde 298 Gäfgen: Eliſabee h 92 Reuting: Schaͤlwallld e. 167 Gerbrecht: Wii 381 Schwarz: Qie Flamme 245 Gobineau: Olaf Tryggwaſon . . 236 Verſuchunn gg 309

Krannhals: Die Linde blüht. . . 149

v. Taube: Wie die letzten Goten .. 21

Novellen und Skizzen

Baburin: Doch von morgen an.., . 299

Anton: Für und wider die Paſſionsſpiele 114 Bach: Was müfjen wir für die koͤrperliche

Erſtarkung unferer Jugend tun? . 291 Bähr: Luther- Notgeld 192 v. Berchem: Strategiſche Rückblicke 98 Das Finale des Weltkrieges. 390 Biedenkapp: Männer der Großinduſtrie 183 Bornhak: Bismarck und Bülow als Leiter

der deutſchen auswärtigen Politik. 251 Bouſſet: Karl Friedrich Schinkel. 44 Bülow: Die wirtſchaftliche Lage unferer

Studentenfdaft. . . . . 2... 174 Zwei Bücher der Deutihlunde . . 260 Driesmans: Beſeelte Lebensform. 217

Langsdorff: Erinnerungen 18

Baubiſſin: Der wächſerne Schlüſſel. 367 Naage: Das Gewitter 250

Ourian: Oer weiße Wolf. . . 150 222 Pauls: Ein lübiſcher Zunter .... 8

Finckh: Die Ahnentafel 90 Sachſe: Freude 16

Krannhals: Sonnenaufgang 95 Sperling: Heim 310

Kratzmann: Eulenſpiegels letzte Raft . T Weſtphal: Sehnſu cht. 168 Aufſätze

Francs: Grenzland der Naturwiſſenſchaft 26 Francés: Der Kampf um die Cheops-

pyramiddde. 253 Genähr: Nochmals Kirche und Welt-

verſöhnunn gg 402 Grießinger-Mebger: Beethoven Her-

bart Schumann 412

Grunewald: Stilrichtungen deutſcher Malerei im 19. Jahrhundert. 333 Harten-Hoencke: Die Oeutſchamerikaner und wie ee 104 Deutſche und amerikaniſche Erziehung 395 Haß: Zum 18. April 1921 (Luther) 23 Haug: Das Fehlurteil gegen den dritten

Elſter: Knut Hamfun ....... 41 Bahn ae 29 Wilhelm Spefk 257 Havemann: Das Redentiner Oſterſpiel Finckh: Die Ahnentafel 90 im Dom zu Lübeck 196

521881

IV

Herwig: Oer Geſchichtſchreiber der Stadt i er Heyd: Luther auf der Wartburg . . Weswegen haben wir keine Politik

Hoffmann: Wofür ſtarben ſie? Berufsberatung Holſtein: Allerlei vom Sehen der Dinge Huch: Über die raumbildende Kraft des Geiſ tes Kemmerich: Okkultismus und Myſtik L.: Vier Lebensbilder Allerlei Runftgaben . . . . Kirche und Weltverſöhnung Franz Hein. Ley: Beethovens fpätere Beziehungen zu feiner rheiniſchen Heimat . . . Lienhard: Das Herz Europass Jugend und Geſchlechtsnot Lilienfein: Deutſches Menſchentum in Brieſe n Ludwig: Deutſche Jakobitendichtung Luther: Aus einem Brief an Lukas Cra- nach Moſer: Luther als Tonſetzer 9958 Müller-Freienfels: Eine neue Religions- philoſophie

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Snbalts-Berzeihnis

Beſprochene Schriften

Akademiſche Berufe... l... Alberto (Bernhard Schuler): Divina Comedies Am Scheidewege. Berufsbilder Bach: Die Anpaſſung des Unterrichts- planes an das Klina Baſſermann: Dantes Komödienverdeut- chung ee Baumgarten-Cruſius: Deutſche Heer- führung im Marnefeldzuge 1914 . Bernhardi: Eine Weltreife 1911/12. Berre: Das Klima von Berlin . . Buat: Lubendorffr? c Die deutſche Armee im Weltkrieg. v. Cramon: Unſer öſterreich-ungariſcher Bundesgenoſſe im Weltkrieg Doſtojewski, geſchildert von feiner Tod- ter Aimée Doſtojewsk ili. Eberle: De profundis, Der Pariſer Friede vom Standpunkt der Kultur

249

350

Harnack: Marcion

Seite v. Münchhauſen: Eine neue Art Lite- raturgeſchi chte 108 Peters: go mer 187 Plaßmann: Ein halbes Jahrhundert Milchſtraßenforſ chung 319 Schaal: Dunkle Welten 165 Schellenberg: Diotima . . . .... 190 Anton Bruckner 266 Schmelzer: Spengler und Breyſig. 512 Schoenfeld: Einſam, arm und alt . . 382 Schrickel: Herm. Anders Krüger. 327 Schröder: Gibt es eine deutſche Volks- e T 160 Schuber: Arbeiter und Sozialiſierung. 305 Seeliger: Günſtige Folgen des Welt- krie ges 315 v. Taube: Die Perſönlichkeit Jeſu . 181 Wähler-Erfurt: Das Herz Deutſchlands 171 Wiegk: Johann Michael Sailer . . 244 Zitelmann: Ruſſiſche Erinnerung. 385 Zoozmann: Ein Rückblick auf die Dante- arbeit der letzten Jahre in Deutfch- LANDE ner 329. 407 An Dante (Zu feinem 600. Todes- ag ee ae 361 Engelhardt: Rabindranath Tagore als Menſch, Dichter, Philoſoph 36 Eucken, R.: Lebenserinnerungen . . . 40 Euler: Dantes Göttliche Komödie. 409 Förſter: Graf Schlieffen und der Welt- . ˙· abe is 98. 391 v. François: Marneſchlacht und Tannen- brd. ͤ e 99 Frenſſen: Jakob Albers 115 Freytag-Loringhoven: Heerführung im Weltkrieeggzzgzagg 392 Fuchs: Der Geiſt der bürgerlich-kapi- taliſtiſchen Geſellſ chat. 181 Gaupp: Student und Alkohol.. 177 Geucke: Goethe und das Welträtſel 325 Geyer: Theoſophie und Religion, Theo- ſophie und Theologie 131 Glaſer: Lukas Cranach 266 Gopcevic: Oſterreichs Untergang.. 102

209

Snhalte-Berzeichnis Geite Hedin, Alma: AUrbeitsfreude . . . . . 134 Hefele: Dante 410 Hempel: Dantes Göttlihe Komödie. 332 Holle: Allgemeine Biologie 28 Hönig: Ferdinand Gregorovius, der Ge- ſchichtsſchreiber der Stadt Rom. . 121 Jakubcezyk: Dante. Sein Leben und feme Mete Be 408 Jauch: Zwölf Zeichnungen zu Ludwig Finckhs Jakobsle iter 112 Jellinek: Das Weltengeheimnis 2 Keyſerling: Der Weg zur Vollendung 64 Kohl: Das Ziel des Lebens im Lichte der oberſten phyſikaliſchen und bio- logiſchen Naturgeſetztze 27 König: Dauer des Sonnenſcheins in Europaea 2 294 Krauß: Die Urſachen unſerer Niederlage 99 Kritik des Weltkrieges 98 v. Kuhl: Oer deutſche Generalſtab in Vorbereitung und Ourchfuhrung des Weltkrieges 99 Oer Marnefeldzug 1914 . . 99 Franzöſiſch ⸗engliſche Kritik des Welt- frieges a. s 391 Lambert: Dante Alighieri. Neues Le- ben (Vita Nuova). . ..... 409 Lübbe: Dantes Göttliche Komödie. 380

Maderno: Die deutſchöſterreichiſche Dich-

tung der Gegenwart 355 Mardes, H. v., Brie·r e 118 Meier-Gräfe: Hans v. Mar ses 118 Müller-Löbnitz: Der Wendepunkt des

Weltkrieges 98 Nötling: Die kosmiſchen Zahlen der

Cheopspyramide 254 Ohler: Weimarer Weihgeſchenke zum

75. Geburtstag der Frau Eliſabeth

Förſter⸗Nietzſchhhtteeeeee 349 Olſchki: Dante Alighieri, La Divina

Comedianadꝛ aaea’ 331 Pfiſter: Peter Brueghel 114

Offene Ewige Wiederkunft des Gleichen oder Aufwärtsentwidlung? gs 323

National oder übernational?

Platzhoff: Bismarcks Bündnispolitit . Pochhammer: Dantes Göttliche Romö-

die Rahel: Deutſchland Rembrandt Bibtttttte Rembrandts Handzeihnungen . . . . Rembrandts wiedergefundene Gemälde

Rittelmeyer: Steiners Perſönlichkeit

und . 8 Rocholl: Ein Malerleben Rühlmann: Rulturpropaganda. . . .

Sandro: Fluchtnächte in Frankreich Schemann: Paul de Lagarde Schleiermachers Briefwechſel mit feiner Braut Schöler: Helden der Arbeit Scholz: Religionsphilofophie 8 Schöne: Die wirtſchaftliche Lage der Studierenden an der Univerſität Leipzig Smekal: Altwiener Theaterlieder Speck: Menſchen, die den Weg verloren. Zwei Seelen. Joggeli. Ein Quartett-Finale Spengler: Untergang des Abendlandes Spickernagel: Fürſt Bülow Steinhauſen, G.: Der Aufſchwung der

deutſchen Kultur vom 18. Jahrh. bis

zum Weltkrieg Ste inhauſen, Wilhelm Thode: Paul Thiem und feine Kunſt. Vanderlip: Was Europa geſchehen ift. Viëtor: Hölderlin Wahl: Goethes Schweizerreiſen Wähler: Die Thüringer Bevölkerung.

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S è> èe ò> Ü 1 „„ Ò% 9

Wetzell: Bon Falkenhayn zu Hinden-

burg-Ludendorff Windiſchgrätz: Vom roten zum ſchwar- zen Prinzen Würth: Leiden Chriſti Zwehl: Die Schlachten im Sommer 1918 an der Weſtfront

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Halle a

Nochmals: Kirche und Weltverſöhnung „Was euch nicht angehört.“.

V Seite 251

332 260 265 265 266

54

VI Inhalte -Verzeichnis Literatur

Seite Seite

Der Geſchichtſchreiber der Stadt Rom 121 Homer 187

Deutſche Jakobitendichtung 404 Knut Hamuuͥůn nnn 41

Deutſches Menſchentum in Briefen. 118 Krüger, Herm. Anders 327.

irn ee a drei 190 Sailer, Johann Michael 244

Ein Rückblick auf die Dante-Arbeit der Speck, Wilh eln 257

letzten Fahre in Deutfchland . 329. 407 Strategiſche Ruͤckbli cke 98

Eine neue Art Literaturgeſchichte . 108 Eine neue Religionsphilofophie . . . 262 Für und wider die Paſſionsſpiele . 114

Vier Lebensbilder (Tagore, Ooſtojewski, Lagarde, Eucken) Zwei Bücher der Oeutſchkunde . . 260

Bildende Kunſt

Allerlei KRunſt gaben 112. 264 Luther- Notgeld 192 Cheopspyramide, Der Kampf um die 255 Schinkel, Karl Friedricce 44 Das Redentiner Oſterſpiel im Dom zu Stilrichtungen deutſcher Malerei im p ar ne ae re 196 19. Jahrhunder 335 Franz Hein 411 Mufik Beethoven Herbart Schumann. 412 Bruckner, Anton 266 Beethovens fpätere Beziehungen zu Luther als Tonfeger . . » ..-.. 52 feiner rheiniſchen Heimat 358 Zu unſerer Mufitbeilage . . . . . . 54 Türmers Tagebuch Das Lafter der Ehrlichkeit Deutfchland Knigge in und außer dem Hauſe Die ö nicht ſchuld? Proteſtverſammlung! Möglichkeit einer Sintflut Glüd- Vergebliche Hoffnung auf Segen liche Schuldner, unglückliche Gläu- Leipzig London —Oberſchleſien. 55 biger Der Weg Stinnes“. . 276 Am Grabe Auch Maffe Shinder- Orden und Galgen Das unpolitiſche l hannes und Ordnungsbeſtie. Leipzig „Königliches Schwei- Amerika, der rettende Engel Die gen“ Die Sünden der andern 342 letzte Waff,M2MMedee 0. 125 Oes Bürgerkrieges zweiter Teil? Weltpolitiſche Möglichkeiten Die Beamte und Arbeiter Die Gefahr Sozialdemokratie als Schrittmacherin für Europet 414 des Kapitalismus. „Illuſions- gewinne der Induſtri e 199 | Auf der Warte Amerikaner am Rhein 215 Bloß keine Einigkeitnin: 211 Armes Wien 360 Darmſtädter Idpll, kein 350

Bismarck Englands Eideshelfer . . 142

Der Fall eines Zugendführere . . 66

Inhalte · Verzeichnis Seite

Der Herr Major und die andern 429 Der Wert des Auslanddeutſchen . . 141 „Den Manen Friedrich Niebiches“ . . 349 Oeutſchamerikaniſche Verſöhnungsge⸗

danken 352 Deutfche Geſinnungslumpen 352 Deutfhe Kinderndt . ....... 281 Oeutſchöſterreichiſche Dichtung. . 354 Dieb und Literat 70 Die geiſtige Not der deutſchen Didy-

Agg. ee ae 285 Die Klaſſenverſpöbh ner 211 Die rote Welllle 72 Die ſtillen Oeutſchen 422 „Eine beachtenswerte Unterrichts-

methode 71 Einhämmernn . 136 Einer von der Techniſchen Rothilfe 143 Ein Schrei nach Gerechtigkeit . . . . 426

Ein Vorſchlag zum Thema Studenten-

NOt ett 481 Erwerbsloſenzuͤchtung 142 Gebachtnisfeier für Dr. Karl Storck zu

Olsberg i MMW. 432 Gegen das Zigarettenrauchen der Ju-

GEND: u... uni re . QO Gorki und Haupfemaununn 427 Harnack, Adolktktktkt 2220. 208 Heraus aus der Sadgafie! . .. . . 286 Hetzgeſindel an der Arbeit... . . 360 Huch, Ricarda 421 Im bolſchewiſtiſchen Rußland. . 14 Keyſerling gegen Steiner 64 Kinder und „weißer Schrecken. 216 Kinokultvbuuuu 212 Kommiſſionen bei der Arbeit . . . 142 Lebenszeichen 139 Luthertage am Fuße der Wartburg . 210 Marcionis mus 209 Mehr Bekenntnis 216 Mehr lebendige Anfhauung! . . . 283 Nachdenkliches aus der vierten Klaſſe. 138 Nachklang zum 19. April 1921 207 Nach ſibiriſcher Gefangenſchaßft . . 132 Neudeutſche Gemeinfchaftsitätte . . . 210 Neue Nechtſchreibung !). 214 Nicht vergreiſen, deutſche Jugend. 67

Norwegiſcher Prozeß, Ein

Norwegifhe Studenten und das Ber- welſchungsfeſt der Straßburger Uni- verfität

Pariſer Friede, Der, und das chriſtliche Weltgewiſſen

Produktive Wirtſchaft

Putſch von rechtes.

Rabindranath Tagore und die deutſche Offentlichkeit

Reigen - Unfug, Der

Scherl, Auguſt und die „Woche“

Sibiriſcher Nachklang

Sind die Menſchen durch den Krieg

jchlechter gewordern s

Sollen Frauen Richter werden?

Sozialiſtiſche Jugend

Spengler in Logos Beleuchtung

Stiefkinder der Volſchewiſten, Die.

Sven Hedins Ermunterung

Tagore, GeheimaTet

Tag von Verfailles, Der

Unheimliche Zahlen

Verfũhrung als Betrug

Vergiftung der Kinderſeelen

Verrohte Jugend

Verſagen der Familie, Das

Vom Baldurbund

Vom Heliandkreuz

Vom Lebenswerk Rudolf Steiners.

Wagner, Siegfried

Wahres Ehriftentum . .

Wandervogelgeiſt und Religiofität . .

Wartburg und Katholizismus

Warum ift der Oeutſche unbeliebt? .

Wie man Schundpoſtkarten bekämpft.

Wie ſieht's im Elſaß aus?

Wie wehrt man fih gegen Bühnen- ſchmutz?

Wo bleibt die nationale a Ber- hf .

Wo bleibt die Sühne 2!

Zut Erziehung des Parlaments

Zu unſerer Muſikbeilage

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Zwei Bücher aus der Geiſteswelt Lien-

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VIII Inhalts -Verzeichnis Kunſtbeilagen und Illuſtrationen

Heft Heft

Breuer: Mai abend 8 Gärtner: Heimwärts a. ul

Eichhorn: Schinkels Kgl. Schauſpielhaus Haag: Am Bodenſree 9

Schinkels Skulpturenſaal im Alten Hein: Einſam keit. 12

Muſeum Schinkels Schloßbrücke König: Blick aufs Dort 11

Eingangstor zum Schloß Glienicke 7 Thiemann: Mondnachht. 10

Notenbeilagen

Knab, Armin: Vier Gedichte von Richard Müller-Herrneck: Morgen Bergſee 10

Wehen 7 Briefe

Auf den Beilagen.

Auf den Beilagen.

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Eingeſandte neue Schriftwerke

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7.11174.

RE 111 Herausgegeben von Prof. Dr. h. c. Friedrich es 28. en pe 1921 5 weft 7

Das Herz Europas Eine Rede von Friedrich Lienhard

Am 17. Januar b. Z. ſprachen zu Weimar Rudolf Eucken und der Verfaſſer unmittelbar hintereinander. Während der greife Philo- ſoph über feine Eindrücke in Amerika plauderte, hatte ich meinerfelte das auf ſich ſelbſt geftellte Oeutſchtum als Stoff gewählt. Das = gende ift eine ungefähre Wiedergabe meiner Rebe.

e x) Ki it einem Hohelied auf den Schaffenden, auf das Schöpferifche, bas J Á

Y S O Ewige im Menſchen, hat der verehrte Herr Vorredner geſchloſſen. 3 0 9 Ein ſchöneres Stichwort konnte mir nicht erklingen. Die Ehrfurcht or dem Schöpferiſchen im Menſchen, vor jenem geheimnisvollen A Das in manchen nur als Funke glimmt, in andern jedoch zur vollen Flamme entfacht ift, bildet Kern und Stern der idealiſtiſchen Lebensanſchauung. Seit 1874 hat Rudolf Eucken auf dem Lehrſtuhl zu Jena die deutſch-idealiſtiſche Philoſophie verkündet, hat alſo das Werk durchgeiſtigter Denker wie Fichte, Schelling, Hegel und des geſinnungs verwandten Dichters Friedrich Schiller wieder aufgenommen und in würdiger Weiſe fortgeſetzt. Seit Jahrzehnten, lange vor dem Weltkrieg, hat er den Deutſchen zugerufen: Vergeßt das Beſte nicht! Das Beſte aber in allem äußeren Getriebe ift eben jene innere Leuchtkraft, die wir kurz in das Wort Seele zuſammenzufaſſen pflegen. Wir hatten in Deutſchland, wie überall in der Welt, eine außerordentlich entwickelte Arbeitskultur; doch nicht in gleicher

Weiſe hatte fih entwickelt die Innenkultur, das Reich der Seele. Mit dem volkstümlichen Gebrauch des Wortes „Bdealift“ verbindet ſich nun

allerdings leicht ein geringſchätziger Beigeſchmack. Unter einem Sdealiſten l Dee Türmer XXIII. 7

2 | Lienhard: Das Herz Europas

man im gewöhnlichen Leben meiſt einen etwas weltfremden Plänemacher, einen Utopiften oder Illuſioniſten. Dies aber ift nicht das Weſen des wahren Gdealis- mus. Den Zdealiſten wie den Realiſten zeichnet in gleich ausgeprägtem Maße der Tatſachenſinn aus: jener achtet die Tatſachen der äußeren Welt und ſucht ſie durch Beobachtung zu ordnen, durch Orbnung zu beherrſchen; dieſer ehrt nicht minder die Tatſachen der inneren Welt, die man durch Erlebnis und ſeeliſche Erfahrung zu gewinnen pflegt. Beide können ſich alſo vortrefflich ergänzen. Dagegen ſchließen fih gegenſeitig auf das ſchrofffſte aus Idealismus und Mate- rialismus. Oer letztere hat fidh derartig in die Materie verkrallt, daß er den Rüd- weg zum Gebiet der Seele verloren hat. Hier herrſchen Beſitzgier und Genuk- ſucht. Und dies eben ift in den lekten Jahrzehnten überall in der Welt, leider auch in unſerem deutſchen Vaterlande, eine Hauptgefahr geworden. Mate- rialismus, Mechanismus, Mammonismus haben das Lichtreich der Seele ver- dunkelt. Und dies tobt ſich nun im Schieber und Wucherer-Geſindel aus, das die immer geſteigerten Löhne ber Arbeiter durch noch mehr geſteigerte Wucherpreiſe hohnlächelnd in die eigenen Taſchen lenkt.

Hinter allem Wirtſchaftlichen laftet ein unermeßliches ſeeliſches Elend: der Egoismus in allen Farben und Formen.

Für unfer Deutſchland ift dies ein beſonders ſchweres Verhängnis. Denn obſchon natürlich überall auf Erden Zdealiſten zu finden find: wir Deutſchen mit unſerer Philoſophie und Muſik, mit unſerm Dichten und Denken haben als Kern- zelle Europas ganz beſonders die idealiſtiſche Lebensanſchauung auszu— ſtrahlen und eine vorbildliche Volksgemeinſchaft zu ſein.

Es geht durch die Menſchheit auch heute die alte Zweiheit. Laſſen Sie mich an einem einfachen Beiſpiel dieſen Gegenſatz veranſchaulichen! Ich las einmal eine unſcheinbare Mitteilung, an die der volkstümliche Dichter Heinrich Sohnrey eine eindringliche Betrachtung angeknüpft hat. In einem übervollen Verliner Stadtbahnwagen ſteht ein kleines Mädchen an der ſchlechtverſchloſſenen Tür; diefe ſpringt während des Fahrens auf, das hartbedrängte Kind fällt hinaus, wird zerſchmettert und den Eltern als Leiche nach Hauſe gebracht unmittelbar vor dem Weihnachtsabend. Schmerzlich ergeht ſich nun Sohnrey in dem Gedanken, ob denn niemand in all dieſer Maffe das Kind beachten, feſthalten, befhüßen konnte. And in der Tat: hierbei wird uns der ungeheure Gegenſatz zwiſchen Menſch und Maſſe bewußt. Auch mir drängte ſich der Gedanke auf: So wie diefe Kleine, jo wird in dem unbarmherzigen, egoiſtiſchen, mit Ellenbogen ar- beitenden Maſſentreiben um uns her die Seele hinausgedrängt, das Zarteſte und Edelſte in uns, und bleibt zerſchmettert unter den Rädern liegen.

Vergeßt das Beſte nicht! Wenn wir uns jetzt, wo Deutſchland ſo drangvoll eingekeilt und eingekreiſt ift wie jenes Kind, nicht auf unſer Veſtes und Eigenſtes beſinnen, ſo ſind wir vollends verloren. Der Weltkrieg iſt noch lange nicht zu Ende. Erſt war es ein ſoldatiſcher Krieg: jetzt ift er ſozial und ſeeliſch zu führen. Die Lage, in der wir uns befinden, brauche ich Ihnen nicht zu ſchildern. Eingekreiſt waren wir lange ſchon diplomatiſch, dann durch Waffen- UAbergewalt. Schwere Wolken drohen nach wie vor im Weſten und im Often: dort der Bund, insbeſondere

Lienhard: Das Herz Europas 3

Frankreich, das nur auf einen Anlaß lauert, über uns herzufallen und uns wirt- ſchaftlich vollends zum Sklavenvolk zu machen, indem es den Erdroſſelungsfrieden von Verſailles weiter ausdeutet; und drüben der Volſchewismus, der darauf erpicht iſt, ganz Europa in ein Chaos zu verwandeln, um dann ſeine etwaigen Ideen auf Trümmern aufzubauen. Und bei uns, in der Mitte? Leider Zerriſſenheit!

Dies iſt die Lage. Was aber kann uns allein retten? Ich möchte es in die Worte zuſamnienfaſſen: VBeſonnenheit und Beſeelung. Das erſtere wäre Sache der wirtſchaftlichen und politiſchen Realiſten; das zweite jedoch gehört in das Gebiet des geiſtigen und des ſeeliſchen Idealismus, wo wir Dichter und Schriftſteller, Redner und Erzieher zu arbeiten haben. Wenn es gelingt, aus der gebäffigen Partei-Rechthaberei zur gemeinſamen volkswirtſchaft⸗ lichen Selbſtbeſinnung durchzudringen und die Mammonsfrage zu löſen, ſo werden wir Einheit herſtellen. Oh, bieſer deutſche Parteihader! Heute erſt wieder bekam ich eine tiefbekümmerte Zuſchrift, wie dieſer Parteihaß ſich bis zur niedrigſten Verleumdung zu ſchärfen vermag. Doch wenn es gelingt, aus der ſittlichen Verwilderung emporzuſteigen zur Beſeelung, fo wird uns Reinheit beſchieden fein. Befinnung und Beſeelung Einheit und Reinheit! Das iſt es, was unfer Deutſchland inmitten des Völkerbrandes in einen gleichſam heiligen Hain verwandeln könnte, in eine Felsinſel inmitten der Brandung.

Allerdings ſteht über einem ſolchen Werdegang das altheilige Wort: „Stirb und werde!“ Dieſe Entgiftung geht nicht ohne Opfer ab. Wir müſſen alle, vor allem die Führenden, aus der Eigenſucht emporſteigen in die hinreißende, mit-

reißende ſelbſtloſe Liebe zum Ganzen. | Laſſen Sie mich auch dies an einem Beifpiel beutlich machen! Viele von Ihnen ſahen hier im Theater Wildenbruchs „Lieder des Euripides“, mit der innigen und edlen, ja feierlichen Vertonung von Botho Sigwart. Dort ergreift uns im zweiten Akt eine wundervolle Szene, wenn auch das Ganze etwas un- griechiſch und zu gefühlvoll anmuten mag. Der Oichter Euripides liebt ein junges Mädchen, deſſen Herz aber einem fern in Sizilien weilenden Krieger gehört. Dieſe Kämpfer haben dort eine furchtbare Niederlage erlitten. Der letzte Reſt der Athener iſt in einem Steinbruch gefangen. Sie ſind dadurch am Leben geblieben, daß ſie durch Lieder ihres großen Landsmanns Euripides die Aufmerkſamkeit und Achtung ihrer Sieger errangen. Einer der Athener iſt entronnen, bringt die Kunde zu dem zufällig getroffenen Dichter nach Salamis und hat nun, der einfache Mann, ehe er in fein Dörfchen heimkehrt, den einzigen Wunſch, dieſem großen Sänger und Wohltäter noch perſönlich danken zu dürfen. Als man ihm nun bedeutet, daß er ja eben vor Euripides ſtehe, bricht er in die Knie und ſtrömt erſchüttert . feinen Dank aus: „Sieh, ich bin von deinem Volk nur ein Geringſter! Einmal aber, als deinem ganzen Volke du gehörteſt, Großer, haſt du auch mir gehört! All die Verſchmachtenden, die du getröſtet, ſo wie du mich getröſtet, alle die Toten geben mir den Auftrag: Dichter der Deinen, wir lieben dich!“ Mit ganzer Innig- keit hat der Komponiſt in dieſe Stelle ebenſo ſein Gefühl eingeſtrömt, wie der Dichter ſelbſt, deſſen letzte Sehnſucht wir hier in Erſchütterung mitfühlen. Der tiefergriffene Sänger aber umarmt den „Boten der Liebe“, der ihm feines

4 Aenhard : Das Herz Europas

Volkes lang und heiß erſehnten Dank bringt, und nennt ihn „Bruder“. Er iſt emporgewachſen über fein niederes Ich, emporgewachſen über die eigenfüchtige Liebe zu dem einzelnen Mädchen in die größere und ſelbſtloſe Liebe zu ſeinem ganzen Volke. Mit der Hand zu der atemlos lauſchenden Elpinike hinüber- deutend, ruft er tief ergriffen: „Sagt ihr. ich habe den Weg gefunden zu dem Land, wo Liebe blüht!“ Ja, wo die wahre, die allumfaſſende, die ſchöpferiſche Liebe blüht! Nun zieht er ſelbſt mit ihr nach Sizilien, ſingt die Gefangenen frei und führt die Liebenden zuſammen.

Und hier iſt noch eine Szene, die ſchmerzlich an unſeren eigenen Zuſtand erinnert. Während oben die Sieger in Reigentanz und Feſtgeſang jauchzend ſchwelgen, hört man aus dem Steinbruch den dumpfen Klagechor der Unterlegenen: „Durſt verzehrt, es nagt der Hunger o Attika, ewig verlorenes Land!“ Da vergeht ſelbſt den Siegern der Genuß des Sieges: „Hordt, fie denken an ihre Heimat! Horcht, ſie klagen um Attika!“ Und ſie laſſen ab vom Weingelage. Dann, als dem beſeelenden Dichter die Befreiung der Gefangenen, die Herſtellung ver- ſöhnlicher Stimmung gelungen iſt, dann erſt kann in dieſe gereinigte Luft die himmliſche Macht wieder herabſteigen. Göttin Athene wird ſichtbar. Und alle rufen ihr betend zu: „Göttin, ſegne das Vaterland!“

Wird auch uns Oeutſchen diefer Segen beſchieden fein?

In ſolcher Sorge um das deutſche Vaterland hat Ernſt von Wildenbruch ſchon lange Jahre vor dem Weltkrieg (1889) ein geradezu ſeheriſches en! dem deutſchen Schulverein gewidmet:

„Wenn ich an ODeutſchland denke, Tut mir die Seele weh,

Weil ich ringsher um Oeutſchland Die vielen Feinde ſeh .

Der Gedanke überwältigt ihn: Wie nun, wenn einmal dieſes A nicht mehr wäre?! „Und wenn ich alſo denke, Wird mir ſo weh, ſo ſchwer, Wie wär' die Welt, die reiche, Alsdann ſo arm und leer!“

Denn die Menſchen würden fragen:

„Wie kommt es, daß die Völker Sich heut' nicht mehr verſtehn? Wo iſt ſie hingegangen

Die große, ſtille Macht,

Die eines Volkes Seele

Der andren nah gebracht!?

Und ſie würden klagen:

„Die Welt hat keine Seele, Sie hat kein ODeutſchland mehr!“

Eienhard: Das Herz Europas 5 | 5

Heutſchland und Seele find alſo hier geradezu als gleichbedeutend ange- ſprochen. Und ſo klingt auch Wildenbruchs Gedicht in die Mahnung an das deutſche Volk aus: Bleib’ dir ſelber getreu!“

„Und warte, bis die Menſchheit, Das wird nach langen Jahren Die heut' am Alter krankt, Voll ſtill ertragner Pein Zurück zu ihrer Seele, Deutſch lands Vergeltungsſtunde Zu dir zurückverlangt! An ſeinen Feinden ſein.“

Wahrlich, eine edelſte Vergeltung! Sie beſteht in nichts anderem, als in dem, was auch wir als vornehmſte Aufgabe Deutſchlands auf unſerem ſeeliſchen Gebiete immer wieder betonen. Wildenbruch nennt uns die „Seele der Welt“. Es iſt genau dasſelbe, was wir eingangs als das Schöpferiſche oder das Ewige im Menſchen hervorgehoben haben. Es ift nicht etwas, das im Ber- ſtande ſitzt: dieſe ſchöpferiſche Kraft glüht vielmehr in einem wahrhaft lebendigen Herzen. Und ſo hat man uns oft das Herz Europas genannt. Hölderlin ſpricht im Jahre 1799 in einer feiner Oden von Oeutſchland als dem „heiligen Herzen der Völker“, Graf Stolberg nimmt 1815 in derſelben Strophenform denſelben Gedanken wieder auf: „Ja, Herz Europas ſollſt du, o Deutſchland, ſein! So dein Beruf!“ Mehrere andere Sänger, z. B. Arndt, Hoffmann von Fallersleben und Hamerling, haben den Gedanken geſtreift, beſonders eindrucksvoll Emanuel Geibel (1861): „Macht Europas Herz geſunden, und das Heil iſt euch gefunden!“ Lagarde noch gibt der Empfindung Ausdruck, daß er einſtweilen noch immer glaube, Deutſchland fei das Herz Europas. Eben an diefe Empfindung oder gläubige überzeugung hat Ernſt von Wildenbruch unbewußt angeknüpft, als er uns die Seele der Welt nannte. Dieſen beſeelten Menſchen, die fih der Dichter in Oeutſch- land beſonders zahlreich wünſcht, ſteht immer wieder gegenüber jene unbeſeelte Maſſe, ſei es rechts oder links, oben oder unten, die ein Friedrich Nietzſche in die Worte „Geſindel“, „Vielzuviele“, „Fliegen des Marktes“ zuſammenballte. Und eben darin, in dem Suchen nach dem Edelſten im Menſchen, nach dem Schaffenden, nach dem Schöpferiſchen, was Nietzſche fogar zum „Übermenfchen“ ſteigert, find der große, dichteriſch durchhauchte Kulturphiloſoph und Sprachkünſtler, der auf dem Silberblick erloſch, und der leidenſchaftlich fein Deutſchland liebende Wilden- bruch, der die letzten Sommer ſeines Lebens dort oben am Horn verlebt hat, bei aller Verſchiedenheit herrlich eins. Jetzt erft, in dieſer Beleuchtung zurüdfchauend, verſteht der denkende Deutfche vollends, was der bedeutende Kulturkritiker Paul de Lagarde und der Philoſoph Eucken, was Wildenbruch mit jener Mahnung und Nietzſche mit feinem Ingrimm eigentlich gemeint haben. |

Und richten Sie nun Ihre Blicke auf jene Nachbildung des Euphroſyne⸗ Denkmals, die unfern von Goethes Gartenhauſe ſteht! Dort hat Ernſt von Wilden- bruch gegenüber den antik angehauchten Worten Goethes, aus der berühmten Elegie, ſeinen eigenen Anſchauungen vom Ewigen und von der ee im Menſchen Ausdruck gegeben:

„Sterben iſt nur eines Tages Enden Nie entſchläft, wer einmal wach gelebt. Wache Seelen haben Sonnenaugen,

0 l Lienhard: Das Herz Europas

Sonnenaugen blicken in das Ew’ge, Vor dem Ewigen ift kein Dergangnes ... Alles Gegenwart und ew'ges Heut'!“

Wache Seelen haben Sonnenaugen! Darin immer wieder ſteckt jenes Ge- heimnis, von dem wir ausgegangen ſind: das Geheimnis der Erneuerungskraft. Vermöge dieſer Kraft kann der Menſch „von innen bauen“, wie ſich Meiſter Wagner in bezug auf die beſondre deutſche Fähigkeit einmal ausdrückt. „Es iſt das Weſen des deutſchen Geiſtes, daß er von innen baut“ indem er nämlich, nach Schillers Wort, den „reinen idealiſchen Menſchen“ in ſich zur Entfaltung bringt. Und dies eben ift die große Erkenntnis des Idealismus. Er weiß, daß gleichſam in des Menſchen Mitte eine Sonnenkraft iſt, durch deren Ausſtrahlung die Umwelt erhellt und durchwärmt und verklärt werden kann. Und ſo wie dieſe Sonnenkraft oder dieſes ſchöpferiſche Herz in des Menſchen Mitte leuchtet, fo ſollten wir Deutſchen in Europas Mitte ein Volk der Beſeelung oder der Leuchtkraft ſein. Jene Einkreiſung aber, die erſt diplomatiſch, dann in Form des Weltkrieges und jetzt in wirtſchaftlicher Drangſalierung Deutſchland zu erſticken beſtrebt ift, kann unter geiſtkräftig ausgenützten Umſtänden, wenn wir die rechte innere Kraft entgegenſetzen, geradezu unſer Segen werden. Wie hat doch unſer kämpfendes und hungerndes Volk gegen fo erdrückende Übermacht Herrliches geleiſtet! Laßt uns ſtets dankbar deſſen gedenken! Es ſcheint ja wohl Anlage und Schickſal unferes national inſtinktarmen Volkes zu ſein, daß erſt die Not das beſte Feuer aus uns heraushämmern muß, wie es auch nach 1806 geſchehen iſt.

In dieſem Sinne habe ich einſt verſucht, Schillers Entwurf zu einem großen nationalen Gedicht, dem man den Titel „Deutſche Größe“ gegeben hat, zu voll- enden: grade im Hinblick auf die Einkreiſung und ihre Wirkungen. Auch dort ſind wir die Mitte Europas genannt. Durch die Feinde erſt recht auf die Mitte verwieſen, der Kolonien beraubt, am Ferndrang verhindert, ziemt es uns um ſo mehr, in dieſer Drangſal unſere beſte Kraft, unſre eigenſte deutſche Kraft der Eindeutſchung oder der Beſeelung zu entfalten. And ſo ſchrieb ich damals in zwei Strophen jenes Gedichtes:

„Eingekreiſt hat uns der Brite, Sbonnenhaft, o Volk der Würde. Doch erft recht im Orang der Mitte Trage deiner Sendung Bürde! Lernt ſich kennen deutſcher Geiſt. Sei das Herz und ſei der Kern! Aufgeſchaut in Weltallsferne! Und verwandle flüht’ge Trauer Auch im Kranz der Wandelſterne In ein Leuchtgebild von Dauer: Iſt die Sonne eingekreiſt! Bleib’ der Völker Sonnenſtern!

Mit einem innigeren Wunſch können wir wohl nicht ſchließen, als daß es einem geneſenen Deutſchland der Selbſtbeſinnung und der Befeelungstraft vergönnt ſein möge, in dieſem erhabenen Sinne ſeine Sendung zu erfüllen.

Dec A ES

Kraßmarm: Eulenſpiegels letzte Raft | í

Eulenſpiegels letzte Raft Von Ernſt Kratzmann

n der Herberge zur „Güldenen Gans“ ſcholl an dieſem Herbftabend . N aus der Schankſtube lautes Lachen fröhlicher Zecher. Am langen Tiſch ſaßen wohl an die zwölf behäbige Stadtbürger, jeder vor ſich O den Becher mit goldklarem Weine. Aber nicht wie anſonſten pflogen ſie diesmal ein Geſpräch in politicis oder von Handelsſachen. Denn aller Augen waren auf einen Mann von etwa fünfzig Jahren gerichtet, der am Ende der Tafel ſaß, der einzige, deſſen faltenreiches, verwittertes Geſicht ernſt blieb inmitten der Lachenden. Seine klaren grauen Augen blitzten über die trinkenden Bürger hin wie Spott.

„Hört, Ihr ſeid mir ein ſonderlicher Kauz, Meiſter Till,“ gröhlte der Dicke mit der funkelnden Nafe, „ein ſonderlicher Kauz! Das Tun der Menſchen ſcheltet Ohr all verkehrt und töricht, und Ihr ſelbſt treibet erft recht lauter verkehrte Narren- ſtreich'! Wie reimt tih das?“

„Damit ich das Krumme grad biege“, entgegnete der Fremde ungerührt.

Oa ſcholl eine rauſchige Lache in der Runde, daß die ſchwammligen Bäuche tanzten und die Geſichter ſich ohnmaßen röteten. Dem Oicken rollten die Lach- tränen aus den Auglein. Er ſchlug auf den Tifch: |

„Durch Narrheit wollet Ihr Verkehrtes gradbiegen, ha, ha, ha, Eulenſpiegel, das habt Ihr gut geſagt!“ | | „Den Teufel durch Beelzebub austreiben“, krähte eine dünne Stimme, die dem jungen Kaſpar Sammetbogen gehörte, dem Sohn des reichſten Tuchkaufherrn der Stadt. Er war ein ſchmächtiger Zunge, dem Wein und Liebe ſichtlich beſſer mundeten, als es ſeinem zarten Körperlein zuträglich ſein mochte. Aber unter der niederen Stirn, über die ſein flachsblondes Daar geſtrichen war, ſchien nicht allzu viel Witz zu wohnen.

Behäbig ſchritt die güldene Ganswirtin in der Schankſtube umher. Am Bürgertiſch füllte fie ſelbſt jeden leeren Becher, den ihr flinkes Auge erſchaute. Dabei ſtreifte Eulenfpiegel manch wohlgefälliger Blick.

N Oie Wirtin war eine entſchloſſene, den wirklichen Dingen zugewandte Frau. Auf Kurz weil und Träume achtete fie nicht viel und Eulenſpiegels Schwänke ſchätzte fie nicht hoch. Als Wittib mußte fie ihrer zwei feſten Arme gar wohl ge- brauchen, wollte ſie ihr Schankgewerbe blühend erhalten, ſo wie ſie es vom güldenen Ganswirt überkommen hatte. Und ſie verſtand ſich ſo wohl darauf, daß ihre Her- berge und Gaſtſtube nie leer ſtanden und die Gulden fih ſchwer im Spind häuften. ; Oa kam an einem Herbittag Till Eulenſpiegel zu ihr, der alte Landſtreicher. Er ſchien müde und heimlich krank. Und die Straße ſchien ihn nimmer zu freuen. Er blieb Tag um Tag, der Zeche ward er nicht bang. Die Wirtin aber begann ihm von Stund an freundlich um den Bart zu reden und wollt' ihn zum Bleiben bewegen über den Winter. Nicht etwan der chriſtlichen Nächſtenlileb wegen die ſchätzte ſie bloß des Sonntags in währender Predigt. Aber ihr ſcharfer Verſtand hatte gleich wohl erfaßt, daß ein Mann wie Eulenſpiegel ihrem Gewerbe ein gar guter Lockvogel ſein müßte. wenn er allabends in der Schankſtube mit den Gäſten

8 l | Aratzmann: Eulenſpiegels letzte Rajt

ſeine Kurzweil trieb. Und deshalb überredete ſie ihn zum Bleiben. „Till“, ſagte ſie, „was wollt Ihr doch jetzt noch wandern, da uns der Winter ſchon vor der Türe ſteht? Raſtet doch bis zum Lenz in meiner Herberg und laſſet's Euch wohl- gehn! Und um die Zehrung traget mir nur keine Sorge. Ich ſchlage mir's zur Ehr' an, einen ſo hochberühmten Mann zu herbergen, und meinen Gäſten möget Ihr an langen Abenden gar anmutig die Zeit kürzen!“

Eulenſpiegel lächelte ſchlau. Denn er durchſchaute die Wirtin. Aber zur Letzt willigte er doch ein.

Denn Sill ift alt geworden. Alt und müde. Und wenn er es auch niemalen hätte zugegeben, ſo plagte ihn doch, und ſonderlich im Herbſt, das Zipperlein in den wegmüden Beinen. Und es kam manchmal ein großes Ruheſehnen über den alten Landfahrer, daß ihn ein wohlbeſtelltes Haus ſchier ein irdiſch Paradies dünkte. Die Herberge zur „Güldenen Gans“ konnte es aber auch leicht einem verwöhnteren Mann antun, als er es war. Da lag das alte Haus mit hohem Giebeldach in der engen Waſſertorgaſſe, reinlich und blank. Die grünen Buken- fenſter wehrten dem Blick der Straßengänger. Trat man aber durch das Tor ein, über dem das Wahrzeichen des Hauſes hing, die goldene Gans in einem Kranz von Weinlaub und Trauben, aus Eiſen gar kunſtreich getrieben, ſo empfing den Saft eine große Schankſtube mit brauner, mannshoher Tannentäfelung und einem mächtig großen Kachelofen im Eck. Da ſtunden am Bordbrett Krüge und Becher, ſchön geſchnitzte Bänke und Stühle luden zu beſchaulichem Trunk.

Der Wirtin eigene Stuben aber lagen trepphoch und waren gar vornehm und wohnlich. Denn ſie war reich.

Blickte Till aus dem Fenſter feiner Stube, fo fab er einen ſchönen, wohl- gepflegten Garten mit alten Apfel- und Birnbäumen. Da freute er ſich heut ſchon auf die Zeit der Obſtblüte ..

And fo blieb er in der Herberge wohnen. Des Abends ſaß er unter den Gäſten, meiſt ſtill und faſt mürriſch. Denn ſeine alten Schwänke freuten ihn nimmer. Nur dann und wann ließ er etwan ein Wörtlein fallen, das traf wie ein ſauſender Gertenhieb, und dann brüllte die Gäſteſchar vor unbändiger Heiterkeit. Er ſelber freilich lachte nie.

Die Wirtin war ſeiner wohl zufrieden. Denn nicht allein der Herbſt und die kühlen Abende zogen die Gäſte in ihre Stuben. Sie wußte gut, daß ſie mit Eulenſpiegel richtig gerechnet hatte, daß er die Bürger zur „Güldenen Gans“ lockte, mehr als den Ehefrauen der Ehrſamen mochte lieb ſein.

Da war nun die Ganswirtin recht in ihrem Element, ſo man zu ſagen pflegt. Das Geſinde hatte karge Schlafenszeit, denn die Alte war felber die Rührigſte im Haus. Am liebſten aber weilte ſie in der Vorratskammer bei den geräucherten Schinken und Würſten, die man ihr nicht oft genug bringen konnte. Denn ihre Gäſte machten ſtarke Zehrung.

So ſtund ſie eines Vormittags in der Kammer, als ein leichter Schritt ſie zur Tür aufſehn ließ, in der ihre Nichte Gertraud erſchien, das Töchterlein einer weitverſchwägerten Muhme der Ganswirtin, und eben jenes Kaſpar Sammetbogen verlobte Braut. Böſe Zungen wollten an a der nn der Jungfer Gertraud nicht lieb war f l

Rrakmann: Eulenſpiegels letzte Raft 9

Die Wirtin begrüßte die Jungfrau mit lauten Worten. Gertraud beſtellte eine Bitte der Mutter. nicht eben gar dringlich, wie es ſchien. Dann kam ſie ein wenig unvermittelt auf den neuen Gaſt der Wirtin zu reden. Sie habe vernommen, daß Eulenſpiegel bisweilen ſeltſame Reden führe, die faſt traurig anzuhören ſeien und herbe. Die Wittib lächelte verſchmitzt: „Das weiß die Jungfer von ihrem Liebſten, nicht?“

Gertraud ſchob geringſchätzig ſchmollend die roſige Unterlippe vor.

„Aber wollet Ihr mir nicht in die Stube folgen, liebſtes Nichtlein?“ Gertraud ging hinter der Wirtin über die alte braune Holztreppe empor. Sie trug ein dunkelgrünes, reiches Kleid, aus deſſen Kragen ein ſanftes, kluges Geſicht mit lieben, träumenden Augen ſah. Die langen, ſchwer dunkelblonden Zöpfe aber hingen ihr über den Rücken und waren mit buntem Band zuſammengehalten.

Oben führte die Wirtin ihren Gaſt aber nicht in die eigene Stube, ſondern etliche Türen weiter, zu Tills Gemach.

Die Jungfrau war herzlich erſchrocken, daß die ſchalkiſche Wirtin fie gleich zu Eulenſpiegel führte. Till ſaß in einem weichen Polſterſtuhl ſinnend beim Ofen, in dem das erſte Feuer kniſterte. Er erhob ſich ſogleich, als die Frauen eintraten, und verneigte ſich mit wohlziemendem Anſtand, als ein Mann, der am Hofe des Polenkönigs der Zucht und Sitte wohl wahrgenommen hatte.

Einen Augenblick ſtanden die Jungfrau und der alte Landfahrer in gegen- ſeitigem Anſchaun verloren. Sie hatte ihn ſich ſo anders gedacht! Da ſah ſie einen ſtattlichen Mann mit ſchönen, einfach edlen Zügen, mit großen grauen Augen, die ruhig rein, faſt kindlich fragend in ihre blickten. So ſchön dünkten ſie dieſe Augen, daß ſie nur immer ſie unverwandt anſchauen mußte und ganz des Unziemlichen in ihrem Betragen vergaß. Sein Haar und der kleine Schnurrbart waren ſchon merklich grau und ſein verwittert Geſicht mit Runzeln und Rinnen durchzogen, wie eines alten Seemannes. |

„Will die Jungfrau nicht niederſitzen?“ Er wies mit einladender Hand- bewegung auf einen großen Armſtuhl der Erkerniſche. Gertraud wurde durch ſein Weſen und höfiſches Betragen zutraulich und nahm den Platz ein.

Dann begann die Wirtin den Grund des Beſuches zu erzählen.

Vor etlichen Abenden feien die Gäſte mit Eulenfpiegel wieder beiſammen geſeſſen, unter ihnen auch der Jungfer Bräutigam, der Kaſpar Sammetbogen Eulenſpiegel lächelte unmerklich —; aber als fih die bereits trunkenen Zecher weggehoben hatten, da ſei Eulenſpiegel mit einigen trinkfeſten Bürgern zurüd- geblieben und hätte Reden geführt, die gar nicht ſchalksnärriſch klangen. Und das habe geſtern der

„Nein, gar nicht närriſch waren ſie“, wiederholte er, und ſein Antlitz erſchien

mit einemmal bitter und alt. „Und ſolche Worte dünken Euch wohl ſeltſam im Munde des alten Scaltsnarren?“

„Sprecht nicht fo,“ fiel ihm die Jungfrau faſt zornig ein, „ſeit geſtern weiß

ich's beffer.“

Eine Weile lag Stille über ihnen. Dann wechſelten fie, einige alltägliche

Worte und Gertraud verließ eu Stube. |

*

1

*

10 Rratzmann: Eulenſpiegels letzte Raft

Nun begann der Winter in der Stadt ſein Spiel. Die Sonne lag des Morgens ſchwer und träge am Himmelsrand wie ein trunkener Zecher, und wollte ſich nicht zum mühſeligen Gang über den ſchneegrauen Himmel aufheben. Dann rieſelten die Flocken ſtill und heimlich nieder und dämpften in den Gaſſen der Stadt jegliches

‚laute Geräuſch. Des Landesherrn Standbild am Brunnen hüllten fie in ein

weißes Laken, und auch auf der güldenen Gans in der Waſſertorgaſſe blieben etliche Flocken hängen, ſo daß ſie ſchier ein weißes Gefieder bekommen hatte, wie eine wirkliche Gans. Die Waſſertorgaſſe blieb jetzt ganz in winterliche Schatten gehüllt, denn ſie war ſchmal, und die Sonne nahm ſich nicht mehr die Mühe,

eigens der güldenen Gans wegen über die hohen Giebeldächer zu klettern und in

die Gaſſe zu lugen. Aber in Eulenſpiegels Stube war ſie jeglichen Tag zu Gaſt und malte warmrote Streifen und Lichter an die Wand.

Till lebte nun ſchier gleich einem Einſiedler. Des Tages verließ er kaum ſein Gemach, abends ging er nur mehr ſelten in die Schankſtube zu den Gäſten, ſo daß die beſorgte Wirtin ihn mahnen mußte. Dann aber kam ein grimmer Witz über ihn, dann trieb er tollen Schabernack mit den Gäſten und ſchonte keinen. Aber gerade nach ſolchen Abenden trugen die Zechbrüder das meiſte Verlangen.

Till aber ſchien für einen, der es ſehen wollte, wie ein heimlich kranker Mann.

Daß er, der Wirtin zunutz, in der Schantſtube den Schalksnarren ſollte ſpielen,

das verdroß ihn bitter.

And den ganzen Tag, den ganzen Abend freute er ſich dann insgeheim der Oämmerſtunden, da ſich wieder feine Tür auftun und Jungfrau Gertraud zu ihm in die Stube treten würde.

Denn nach jenem erſten Begegnen war Gertraud bald wiedergekommen, und ſchließlich lief fie beinahe jeden Winterabend im Dämmer zur Muhme Gans- wirtin, um bei Till zu ſitzen und ſeinen Reden zu lauſchen. Und endlich wurden dieſe Stunden für die beiden Menſchen zu einer heimlichen, lauteren Feier.

Wenn aber Gertraud ausblieb, dann pflegte Till ein altes, vergriffenes Büchlein hervorzuholen und andächtig darin zu leſen, als fei es Gottes Wort.

So traf ihn Gertraud eines Abends, als heftiges Schneetreiben die mehreren von den Gäſten am gewohnten Gange zur „Güldenen Gans“ hinderte.

„Was leſet Ihr da, Meiſter Till?“

Er wies ihr das Buch. „Lauter alte Liedlein ſind's. Ein lleber Geſell, mit dem ich lange zuſammen meine Straße fuhr, hat's mir gelaſſen. Sonderlich dies eine da leſe ich gerne im Winter, daß ich mich deſto mehr des Frühlings freuen möge. Wollet Ihr's hören?

„Unter der linden

an der Heide

da unser zweier bette was.

daß er bei mir laege,

weſſes iemen, f

nu enwelle got! ſo ſchamte ich mich. Wes er mit mir pflaege, ; niemer niemen

Kragmann: Eulenſpiegele letzte Raft i H

bevinde das, wan er und ich und ein kleines vogelin, Tandaradei!

das mag wol getriuwe ſin!“

| Dann 8 ſie beide. Leiſe war der ſtille Abend ins Gemach getreten und neigte ibre Herzen zueinander.

„So ſeltſam ift dies: fo lieblich und rein hört ſich das Liedlein, wie Nach- tigallenſang und doch iſt's Günd und Shand...“

„O Jungfer Gertraud, wenn Ihr Euer Tun und Meinen nach dem Glauben der Men ſch en wollet richten und biegen dann wird Euch allzeit ſündhaft und töricht erſcheinen, was einzig rein und gut iſt!“

Er war aufgeſprungen und ſtund mit erhobener Fauſt vor ihr und ſeine Augen funkelten ſie drohend an.

„dch mein’s ja im Herzen nicht fo,“ wandte fie erſchrocken ein, „iſt mir ja fo lieblich und rein erſchienen aber —; ja, wenn wir nur tun dürften, wie uns das Herz treibt!“ Sie ſeufzte ſchwer auf.

„Wie ſaget Ihr da? Wie Euch das Herz treibt?“ Er ſah warm und mild zu ihr nieder. „Armes Kind, dünkt mich, Ihr habet auch einmal ins Sonnenland geſehn IT i | Wieder wob die Stille zwiſchen ihnen heimliche Fäden. Dann ſagte ſie ganz leiſe: „Aber eines hat mich oft wundergenommen, Meiſter Till. Ihr ſeid doch ein weltgewandter, kluger Mann, tennet die Menſchen um und um, vermöget franzöfifch und wällifch parlieren und habet feine Sitte: wie kommet Ihr zu dem Leben, ſo Ihr geführt?“

Er lächelte. „Wenn's die Jungfer nicht beſchwert, will ich's ihr wohl weiſen! Da war ich ein Knabe, droben am Heiderand, und ſah in die Wolken und über das endloſe rotblühende Moor in eine Ewige Ferne. Schon dazumalen ſchien mir all Menſchenwerk klein und ſchwach wie ein Spott an der Schöpfung Gottes. Und da ich mählich aufwuchs, ſahen meine ſcharfen Augen da und dort Unziem- liches und Törichtes und Schlechtes. Und meine Mutter ſah ich manchmal allein ſitzen und weinen, und wenn ich fie fragte, fo ſtrich fie mir wohl ſachte über das Haar und ſagte leiſe: ‚Das verſtehſt du noch nicht, mein Bübel!“ Sie war eine ſtille, blaſſe Frau, meine Mutter... früh geſtorben ift ſie Und fo nahm ich allerorts heimliches Leid, Falſchheit und Verkehrtes wahr. Das quälte mich oft in den Nächten, und ich dachte, ob dies denn ſo ſein müſſet, ob es ſich die Menſchen nicht alle gut machen und einander hilfreich ſein könnten zu eines jeden Luſt und Glück. Und glaubte immer mehr, es müßt' ein Sonnenland ſein irgendwo. Da ich jung war und kindiſch, da vermeinte ich, es müffet dort fein, wo die Sonne niedergeht, wenn fie uns in Nacht zurüdläßt, und lief abends ihr nach durchs Moor. Oenn oft hatte ich meine Mutter des Abends der Sonne zu blicken ſehen und bang ſeufzen. und in der Nacht hörte ich fie dann weinen, wenn es dunkel war ... Aber da ich verſtändiger ward, ſah ich, daß das Land in uns gelegen, daß es unſer eigen Tun und Handeln ſei! So verträumte ich meine Tage in der Heide. Und vermeinte endlich, ich müſſe den Menſchen den Weg in mein Sonnenland weifen.“

- „And was iſt's mit jenem Land?“

12 l Kratzmann: Eulenſpiegels 1561 Raft

„Dort ſind die Menſchen alle frei und dürfen handeln, wie ihnen ihr Herz gebeut. Nicht durch veraltete Satzung und Meinung der törichten Nächſten ſind fie dort gebunden, einzig ift ihnen Maß und Richtſchnur das Herz und die Liebe. Oenn wiſſet: die Menſchen haben noch nicht lieben gelernt! Und daß ſie nicht mehr des Leibes erbärmliche Notdurft für ihres Lebens Ziel und Abgott halten, ſondern ihre Seelen in Schönheit wandeln laſſen, in Schönheit und klarer Har- monia. So hab' ich mich vermeſſen, den übelberatenen Menſchen ein Führer zu werden. Aber nicht als Prediger und gleichwie ein Lehrmeiſter wollt' ich's an- ſtellen! Denn Ihr müſſet wiſſen, von meinem Mütterlein, die ehdem ein gar luftig, fröhliches Ding geweſen, da hatte ich ein Fünklein unbändigen Witzes über- kommen, ſo man den Mutterwitz heißet! Neckten und ſpotteten meiner die übrigen Jungen, ſo zahlt' ich's ihnen allemal bar wieder heim mit gleicher Münz. Und ſo kam's wohl auch, daß ich's den Menſchen durch die Tat wollte zeigen, wie ſie allzeit verkehrt und niedrig handelten, daß ich ihnen ein närriſch Zerrbild und eine Fratze vormachte, daß fie drin ihr eigen wahres Vild erkenneten. Den Spiegel der Weisheit wollt' ich ihnen fürhalten. Und nie ward ich verlegen um neue Streich'. Aber glaubet mir war alles vergebens! Und da zog ich fort vom Haufe, Saß mir wobl von altersher etwas im Blute, das mich in die Ferne trieb. Waren die Menſchen in der Heimat ſo töricht und niedrig ei, konnten ſie nicht anderswo beſſer ſein? Und fo zog ich meine Straße, bald hierhin, bald dorthin, immer weiter ins blaue Unbekannte. Aber ach ſo ſehr ſich auch Berg und Tal wandelten die Menſchen blieben einander ewig gleich ... Gebet, werte Fung- frau, fo ift mir zur Letzt all Treiben der Menſchlein fo verkehrt und niedrig für- kommen, daß ich nur immer mehr hab' höhnen müſſen und ihnen tolle Schwänk' treiben, nur zum Argernis, nimmer zur Beſſerung. Aber die Menſchen lachten und machten den lieben Schalksnarren aus mir, und zum End', da war ich ſo voll der Bitternis, daß ich gar nimmer wußt', was ich einſt gewollt mit meinem Spotten. Oa trieb ich Narrenſtreich', nur mehr der Narrheit willen.“

Er ſchwieg, und fein runzeliges, verwittertes Landſtreichergeſicht fab im roten Glutlicht des aufzuckenden Ofenfeuers auf einmal erſchreckend müde und verfallen aus. „Aber iſt mir nit wohl dabei geweſen, könnet's mir glauben, Jungfrau Ger— traud! Und immer, wenn mich der Menſchen Unverſtand und Bosheit wegtrieben von einem Ort, ſo wandert' ich wieder tagelang und war alleine mit mir. Und ſehet ſo ward ich endlich gewahr, daß ja das Wandern das beſte Teil in uns ift, eine ewige Fahrt nach der blauen, verhüllten Ferne, nach der wir eine un- zähmbare Sehnſucht tragen, ſo wir nicht von Grund aus verderbt und unnütz ſind. Und mählich lernt' ich das Wandern nur des Wanderns willen, daß ich immerdar uuterwegs fei... So ift Till zum alten Landfahrer geworden.“ |

Er ſaß lange traumverloren. Dann war ihm, als hätte ihm jemand ganz ſanft das Haar geſtreichelt, ein leiſer Laut wehte durchs Gemach wie Seufzen oder Schluchzen? oder Weinen? und als er aufſah, war er allein.

* *

2 .

Und es erging ihm feltfam in diefen Tagen. Als er vor mehr als eines Mondes Friſt in die „Güldene Gans“ eingezogen, da war er müde und hatte im Herzen gefroren, obſchon draußen noch hellſtrahlend die Sonne ſchien. Und

arazmanm: Eulenſplegels letzte Rajt | 13 nun, da es rings Winter ward, da glomm in ihm heimlich ein Warmes auf, das in ſeiner Seele wie ein ſtilles Licht großwuchs. Er wußte nicht Rat darum und ſagte es Gertraud. Die lächelte glücklich:

„Kennet Ihr ſelbſt nicht mehr Euer altes Sonnenland?“ |

Er aber ſchüttelte traurig das Haupt: „Daran bin ich lang ſchon irre worden und verzweifelt! Ich kann nimmer dran glauben, Gertraud. Kaum weiß ich, daß ich einmal es in Träumen geſehn ...“

„Ihr ſollet aber dran glauben, Till!“ ſchalt ſie ihn heftig. „Könnet Ihr denn gar nicht verhoffen, daß irgendwo und irgendwann ein Wort von Euch, eine Tat von Euch in eine fruchtbare Seele fiel und dereinſt wird Ernte bringen wer weiß es, und ſei es nach hundert Jahren und Tagen. Tai

Lang ruhten ihre Blicke ineinander und hielten fich ſtand und zudten nicht erdwärts. Dann ſprach Till, und feine Stimme kam weither: „... Wenn ich das glauben dürfte!“ Aber es lag das Hoffen und das Glück eines Lebens in den Worten.

* * x

So verſtrichen diefe Abende, einer für den andern, und der ganze Winter war ihnen wie ein einziger ſtiller Abend, da ſie zuſammen im warmen Zimmer ſaßen und traulicher Reden pflogen. Daß dazwiſchen wohl auch anderes, welt- liches Tun lag, des vergaßen ſie beide ganz und gar. 3

And Sill erzählte ihr von feinen weiten Fahrten: ins Polenland etwa, durch weitträumende, endloſe Ebenen von Sand, mit ſanftwelligen Hügelzügen und mannigfach gekrümmten Flußläufen, von jenen weiten Niederungen, über denen die Sonne in niegeſehener Pracht, in funkelnden, grünrotgoldnen, ſtrahlenden gimmelsfarben auf- und niederging —; er ſagte ihr von den fernen. eisſtromumfloſſe⸗ nen Bergriefen der Alpen, über die er, törichter Pilger ſpottend, in das ewige Sonnenland Italia gezogen bis nach Rom zum Papſt, und wie er fein Sonnenland auch dort nicht gefunden —; und er ſprach von Städten und Landen und ihr ward, als würde die Welt nun erft, da er fie ihr zeigte, reich und ſchwer an einer inneren Schönheit, die aus der Tiefe ſeiner Seele kam. Denn er ſah Schönheit in allen Dingen, an denen jeglich er achtlos vorüberging, fein Sinn erfaßte das Geheim

nis aller Harmonie und inneren Klarheit. | Und wie fie ihm zuhörte an jenem Abend, der Wochen und Monde lang währte, da lag endlich dies ganze reiche Leben vor ihr ausgebreitet wie ein wunder- ſames Bild, dies Leben, das ein einziger großer Hymnus auf die ewige Fernen- ſehnſucht der Menſchheit, auf das Himmliſche im Menſchen war, das ihn aus allem Duft und Unrat aufwärts bebt, jene Sehnſucht, deren ſichtbares Symbolum die blaue, träumende Ferne ift...

Und fie erfaßte es in feinen letzten Tiefen dies Leben eines ewig raft- loſen, nie friedſamen Sehers und Propheten, verkannt von allen engherzigen, dumpfköpfigen Menſchen des ſtaubigen Alltags, von allen, ſo Kaſpar Sammetbogen hießen und ihn für den lachenden, tollen Schalksnarren hielten.

„Was ſuchet Ihr das Sonnenland, Fiii? Seid Ihr doch . mitten drin

.. und fein König!“

1 1 x

14 Kratzmann: Eulenſplegels letzte Raft

Und merkten es beide nicht, wie mäblig die Tage längerten und die Sonne wieder in die Waſſertorgaſſe zu lugen begann, wie dem Schnee auf den Dächern nimmer wohl war und er nur in finſteren, kalten Winkeln hocken blieb. Und wie nächtens der Wind lockende Weiſen ſang, hoch in den Lüften.

Nur eines fühlte Till in dieſer Zeit. Ihm kam dunkel aus fernen Tagen ein Bild heran, das er lange vergeſſen und das ihn nun mit einer weichen, milden Wehmut erfüllte, wie ein Glück, nach dem man die Hand nicht gehoben

Und als er an einem Frühlingsmorgen in den Garten blickte, da ſtand das lichte Wunder vor ſeinen Augen: da waren über Nacht alle Knoſpen geſprungen, und nun waren die alten Bäume in ſchimmernd ſchneeiges Weiß gehüllt, das von der Sonne durchleuchtet ward und nur noch weißer ſchien in ihrem goldenen Glanz, ein rauſchendes, feierliches Weiß, das ganz reglos und ſtumm im Morgen- ſtrahl des aufſteigenden Tages ſchwebte, an das die Lüfte ringsum in fürchtigem Staunen nicht zu rühren wagten.

Das Wunder!

Ein leiſer Schritt ließ ihn zurückſehen. Es war Gertraud, die ſich mit ihm des Blütenſegens freuen wollte. Seine Augen umfaßten ſie mit einem innigen Blick und, ohne vom Fenſter zu gehen, hob er an und ſagte ihr ein Neues, von dem er bislang nie erzählt.

„All die letzten Tage her, da ging von Euch ein dunkles Erinnern aus. Und ich wußte nicht, was es ſei. Aber jetzt, da ich in dieſe Blüten ſehe, ſteht es wieder vor mir: an meine erſte Liebſte erinnert Ihr mich, Jungfrau Gertraud! Sie glich Euch, ſo dünkt mich's heute wie ſich kaum Schweſtern je gleichen, und ihre Stimme klang wie Euere braunen Augen. Und mich lockte das Glück in ihren ſchneeweißen Armen, das Glück des Hauſes und der nährenden Scholle aber dunkel zog mich etwas in mir in die Ferne, eine unſtillbare Sehnſucht nach dem Sonnenland. Und ob mir das Herz mochte brechen, ihr und mir ich mußte dem dunklen Drängen in mir folgen, ich gab Herdglück und Wiegenlied dahin für die unſtete Ferne, für ein irrendes Leben auf den Straßen aller Lande, ließ mein weinendes Lieb um zog fort, das Sonnenland ſuchen und bin Till Eulen- ſpiegel geworden ..

„Und iſt's Euch leid darum?“ Ihre Stimme zitterte unter verhaltenen Tränen, ohne Klang, halb Frage, halb Troſt. |

Er ſah ernſt und ſchweigend auf die weißen Blütenbäume. Dann wandte er

ſich langſam zu ihr, und ein glückliches Lächeln zog wie ein Leuchten über fein Antlitz.

„Luſt und Leid wie's kommt, wie's fällt! Was hätte mir Herdglück und Werkeltag frommen mögen wäre ich glücklich geweſen dabei? So hab' ich tun müſſen, wie es mich trieb, und hab' mein Leben müffen leben, wie ich's getan, fo und nicht anders, und war dennoch und aber doch glücklich genug in all meinem unſtillbaren Sehnen und Leid, fern von Herd und Haus und Hof und Weib und Kind und Menſchen immerdar unterweges in ewiger Fahrt —“

„Und zu Mifericordia iſt mein’ Hochzeit!!“ Wie ein Schrei ſchlug es aus ihr, und in haltloſem Weinen brach ſie auf Tills Stuhl nieder.

Er ſah erſchüttert in tiefſtem Mitleid auf fie. Und als ihr Weinen verfiegt war, hob er ſie ſanft auf und ſah ſie fragend an: |

KRraımann: Eulenfplegels letzte Raft | 15

„Und zürnet Ihr mir, daß ich Euch die Pforten eines Landes aufgetan, das Ihr nur von ferne könnet ſehen, das Euch immerdar verſchloſſen bleiben muß? Daß ih Euch Herrlichkeit gezeigt, die nur euer Sehnen erregt, Euch den Werkeltag nur ſchmerzlicher macht?“

„Nie und nimmer kann ich Euch dieshalb zürnen, Till! Der Blick in Euer Land war meines Lebens Sonnenzeit und Glanz und wird mich wärmen in kalten Tagen. Und ſo ich Kinder haben werde, will ich ſie Euer Land glauben und ſuchen lehren! So ſoll Euere Saat nicht vergeblich geweſen ſein!“

Ein glückliches Lächeln lag auf ſeinem Antlitz. |

„Ich danke Euch, Gertraud“, fagte er. „Ich danke Euch, daß Ihr mich ein letztes Mal hoffen laſſet. Und fo mag ich denn einmal noch mit dem alten Kinder- glauben in die blaue Ferne wandern ins Sonnenland —“

„Ihr wollet fort?!“

Er nickte. „Was ſoll es uns frommen, wenn ich fürder noch weile, Jungfrau? Glaubet, es iſt beſſer ſo, für Euch und mich!“

Sie hatte das Haupt geſenkt. „Ihr möget recht haben,“ ſprach ſie mit ſchwerer Stimme, „beſſer für uns beide.“

Dann hob ſie den Blick zu Eulenſpiegel.

„So lebet wohl, Meiſter Till! Weiß Gott, Ihr ſeid mir der N aller Menſchen geworden!“

Sie trat einen Schritt näher und hob ein wenig die Arme, als wollte ſie ihn umhalſen. Und da legte Eulenſpiegel ganz ſanft den Arm um ihren Nacken und zog ſie an ſich. Sie lehnte das Haupt zurück und ſah ihn lang lang an. Dann aber neigte er ſich ſachte über ſie und küßte ſie auf den Mund.

„Lebet wohl, Jungfrau Gertraud!“

Er ging langſam aus dem Gemach. Unter der Türe ſah er ſich noch einmal i nach ibr um, die bis an die Wand zurüdgewichen war und ſich mit en Händen

an die Zäfelung klammerte. 7 A

R

Des andern Morgens im erſten Dämmer trat Till aus der Herberge zur güldenen Gans und ging gemächlichen Schrittes zum Waſſertor. Niemand hatte ſein acht, noch ſchliefen die Zechkumpane, noch ſchlief die Stadt. Am Tore nickte neben dem Schlagbaum der müde Wächter.

Aber Till wußte nicht, daß ihm Gertraud gefolgt war. Unter der Linde, draußen beim Tore, blieb ſie ſtehen und blickte ihm nach, bis die Tränen ihre Augen umflorten. Nun lag vor ihr der Werkeltag, Haus und Herd und ein lichtloſes, leeres Sein. Und während die Ferne ihn ihren trüben Blicken entzog. fühlte ſie, wie ihres Lebens beſter Teil mit ihm entſchwand.

Und Eulenſpiegel zog fürbaß. Bei der letzten Wegkrümmung hielt er an und fab lange auf die Stadt zurück. Dann aber ging ein leiſes, ein wenig ſchmerzliches Lächeln über ſein Geſicht, er wendete ſich und ſchritt immer feſteren Fußes dahin, in den Runzeln feines verwitterten Antlitzes glänzte ein heimliches, tiefes Glück auf, indes das alte, ewig Junge, graue Auge lächelnd in der blauen Ferne zu ruhen begann.

16 Sachſe: Freude

Freude Von Margarete Sachſe

Ain heller Tag, ein goldener Tag, ein Tag voll blanken Jauchzens!

Du fühlſt eine heimliche, federnde Macht in dir: die Fähigkeit, wieder wie als Kind beſeligt vor einem knoſpenden Baum zu ſtehen, ) oder bei einem verlorenen Muſikklang aus verſchloſſenen Fenſtern her bebend mitzuklingen. Kein Fenſter iſt dir verſchloſſen und keine Tür. Dich erreichen Ton und Licht, fie ſpinnen goldene Brückenfäden zu dem feinen, ſtrah⸗ lenden Lebenskern in deinem Herzen.

Freude iſt Gewalt. Freude iſt Macht. Schmerz läßt ſich verbergen: er arbeitet nach innen, als Förderer im dunklen Schacht, als beladener Herbeiſchlepper neuer Werte, die er dem Geſtein abgerungen hat. Freude ſtrahlt unbehindert nach außen. Sie iſt nicht Mittler des Elements; ſie iſt das Element ſelbſt. Darum wird ſie mißverſtanden und gefürchtet, wie alles Elementare.

Die Menſchen ſind in ihrer Seele ſo dürftig geworden, daß ſie nur atmen, leben, ſich nähren und kleiden wollen. Sie ſind wie die dunklen winterlichen Morgenſtunden. Sie ertragen nur das künſtliche Licht, das ihnen zur Arbeit leuchtet. Oder ſie werfen die Seele in einen Taumel, in dem ſie nicht atmen kann. Wenn die große wirkliche Sonne kommt, verbergen ſie ſich in erſchrockener Scham.

Wäre es nicht an der Zeit, die Fähigkeit zur Freude wieder zu wecken? Den böſen Schutt der Sorgenlaſt und den der materiellen Luft herunterzukehren und das blanke Stück reiner Empfänglichkeit wieder bloßzulegen? Es iſt noch da, iſt in allen denen, die ſich innere Spannkraft bewahrt haben; ſie haben u nur nicht mehr erkannt, weil fie fo lange andere Arbeit tat.

„Spannkraft? Arbeit?“

Ja, auch zur Freude gehört Arbeit: die bewußte, oft ſo ſchwere Einſtellung des Menſchen auf ſein beſſeres Selbſt, auf die Kräfte, die in ihm wirken, auf die Quellen, die in ihm rauſchen. Müde und enttäuſcht kehrt er heim von den größten Wundergaben, die Kunſt oder Natur ihm boten; er hat fie nicht erfaſſen, nicht verarbeiten können; die Vilder ſeiner Not ſind mit ihm gegangen; ſie haben ihn keinen Augenblick verlaſſen; hart wie Felſengeſtein hat ſich ihre Qual vor den Brunnen feines Innern gewälzt. Wohl hörte er etwas wie fernes Brauſen in ſeiner eigenen Tiefe; er fand nur nicht die Kraft, ihm den Weg nach außen zu bahnen.

Von innen aber muß ſtrömen, was von außen empfangen will; es liegt in jedes Einzelnen Macht, den Becher des Glücks nicht ungekoſtet vorüberzulaſſen. Es gibt keinen Mund, zu dem er ſich nicht lockend neigte, aber manch einen, der ſich ihm verſchließt, weil er ſeinen kühlen, hellen Inhalt nicht ſofort erkennt.

Freude wird nicht immer aus Süßigkeit, aus Licht geboren. Sie toird um ſo friſcher rieſeln, je fühlbarer ſie mO den Kältehauch ihres dunklen Urſprungs⸗ an ſich trägt.

Aenhard: Luther zu Worms 17

Verſchüttet, o verſchüttet nicht den Freudenwein! Seid ſtark für ſeine goldne Gabe, ſeid offen für ſeine geſundende Kraft! Seht jeder Stunde an, was ſie von euch will: Könnte ſie nicht euch etwas ſchenken? Könntet ihr nicht ihr etwas geben? Ihr Geſchenk oder euer Geſchenk weiterreichen an die Andern, die noch mit durſtenden dunklen Augen ſtehn?

Nichts ift fo ſchöpferiſch wie die Stunde des Glücks, fo anſteckend nichts wie die tiefe innere Freude, wenn fie die ſpendende Güte des Mitteilens hat. Dieſe Art Güte iſt der heiligſten Offenbarungskraft ſelber verwandt, die unſre Seele Mm reiner Bewegung erhöht:

| „Blühel Und der Wunder darfſt du warten,

die dir wirkt die große Gottnatur.“

&

Luther zu Worms

(18. April 1521) Von Friedrich Lienhard

Einft gab es einen Deutſchen, das war zu Worms am Rhein: Der ftand mit feiner Bibel und ſprach fein wuchtig Nein.

Er wußte wohl: nun geht es ums Letzte, um den Tod,

Wie einſt am Hunnen hofe in jener Nibelunge Not.

Doch eiſern ſtand und einſam der Mönch, gefaßt und bleich.

Im Fackelflimmer prunkten die Herr'n vom röm' ſchen Reih

In fahler Pracht, Geſpenſter, und ſtarrten auf ihn ein

Doch Martin Luther wagte dennoch fein deutſch und trotzig Nein!

Per Farmer XXII, 7 | 2

18 | Langsdorff: Erinnerungen

Erinnerungen Von Sandro Langsdorff

Im Heft 4 (1920) brachte der „Türmer“ die vierte Flucht des inzwiſchen als Buch erſchienenen Werkes „Fluchtnächte in Frankreich“ von „Sandro“ (Stuttgart, Oeutſche Verlagsanſtalt). Die Lefer werden auch die folgenden, bisher unveröffentlichten Erinnerungen mit Dergnügen leſen. Der Türmer

Aller ein Will, da draußen fegt graues Gewölk über die düſtere Land- S l ſchaft, und der Sturmwind zauſt tüchtig an zwei einfamen Kiefern in der Heide, die wie ein Freundespaar aus der Einſamkeit in die Weite blicken. Der Wind ſingt heute ein Lied von Ernſt und Erſchauern, von rätſelvollem Schickſal, das über der Erde noch ſchwebend dahinjagt. und doch blitzt die Sonne ab und zu aus den trüben Wolken, mit ihren Lichtblicken vom kommenden Frübling träumend.

Mit des eiſigen Windes Singen kommt mir ein Zurückfinden zu alten Tagen, die trotz ihrer eintönigen, ernſtgrauen Färbung Sonnenblitze und Sternblicke bargen, weil in unſeren Herzen der nahe Frühling geahnt ward.

Weißt du noch etwas von unſerem Pelz, eigentlich nur einer Pelzweſte, und doch war es ein Pelz mit ſeiner eigenen Geſchichte, ein ganz beſonders feiner Traumpelz. Er war urſprünglich gar nicht einmal mein Eigentum, aber weil Vater ihn ſo gerne trug, wollte ich ihn auch haben, was mir den Namen „Korſar“ eintrug, ſozuſagen die Bezeichnung eines Menſchen, der alles, was ihm gefällt, gerne an ſich reißen möchte. In dieſem Falle aber ſcheiterte der Korſarenwunſch an dem Fels väterlichen Einſpruchs.

Es kam das Schickſal; aus dem Korſaren wurde ein recht kleiner Junge, der hinter franzöſiſchen Gefängnismauern viel Zeit zum Nachdenken und Gid- befinnen hatte, und der im Winter oft erbärmlich fror. Und dann kam „er“ mit einemmal, der gute, alte Pelz vom Vater der Korſarenwunſchpelz —, und mit ihm ſo viel Liebes aus der Heimat, das ein ſtürmiſches Sehnen im Herzen nach Freiheit entfachte. Der Pelz hielt warm wie Mutterarm, ein innig-leiſes Glücksgefühl des Verbundenſeins mit der Heimat durchſtrömte den inneren Menſchen und gab wieder Mut und Hoffnung für das Grau der öden Gefängnistage und trüben Nächte der Hoffnungsloſigkeit und des Bangens. Und doch war die große Einſamkeit auch unter Menſchen und Leidensgenoſſen in mir, jene tiefe, tiefe Sehnſucht nach einer mitſchwingenden, mitleidenden und mit- jubelnden Seele.

Da kreuzteſt du meinen Weg, gerade als ein völliger Stumpfſinn des dämo- niſchen Einerleis mich umnebeln wollte, nahmſt leiſe meine Hand, und zuſammen fanden wir wieder den Weg ins Licht, und die erſtarrten Seelen erwachten und ſchlugen im jubelnden Gleichklang des Sichfindens, der Freundſchaft und Liebe.

Weißt du noch um jene wunderſamen Frühlingsnächte hinter den Gitter- ſtäben in der ſchönen Stadt Avignon, der Stadt mit der hohen Papſtburg und den Sagen inmitten erblühender Landſchaft, die wir nur ahnten, aber nicht ſahen?

Langsdorff: Erinnerungen | 19

Die Natur und ihre Schönheit waren uns verfagt, und doch war es fo frühlingshold in jenen Nächten. Wir lagen zuſammen auf dem weichen Pelz, der unfer Kopf- kiſſen war ringsum ſchlief längft alles —, der Mond geiſterte zu uns herein und am Himmel, dem einzigen für uns ſichtbaren Wahrzeichen Gottes während anderthalb Jahren, leuchteten fo greifbar-klar unzählige Sternenwelten, und es duftete durch die Fenſter herein der Odem des Frühlings. Der Wind harfte um die alten, traurigen Mauern von Sehnſucht und Liebe und ee ſonnige Träume in die Herzen der verhärmten Schläfer.

DOa ſprachſt du zum erſtenmal von deinem innerften, tiefſten Menfchen und erzählteſt und wurdeſt nicht müde der Erinnerungen, die nun wie leuchtende Sonne aus deinem Herzen brachen und auch mich durchglühten. Wir ſchauten ein jeder beim andern in ein weites, ſchöͤnes Land, unfer Jugendland, das ewig im Herzen klingt, und der Frühling da draußen jenſeits der Mauern, den wir ahnend in unſerem Blute fühlten, rührte uns ans Herz. In jenen Nächten offenbarte ſich uns wieder die ewige wunderbare Natur und Gott; der unnennbare Allgeiſt der zeitloſen Ewigkeit brannte in heller Flamme in unſeren Herzen. „Der geſtirnte Himmel über mir und das moraliſche Geſetz in mir“, jenes tiefite Wort des Königs- berger Meiſters, ſagteſt du mir damals, und mit dem Sternenſchimmer da draußen leuchtete unſer Inneres auf.

Diefes Erleben machte uns wieder ſtark und aufgeſchloſſen für die Rame- raden, und abends ſaßen wir dann im Kreis. Die mit Gefahr eingeſchmuggelte verbotene Klampfe ſtimmte an in vollen Akkorden, und wir ſangen ſie alle unſere ſchönſten deutſchen Volkslieder mit dem Erinnerungsklang aus der Wandervogel- zeit. O Volkslied, du tiefſte Offenbarung des deutſchen Gemüts, du Weinen und Lachen in Moll und Dur der ſich im Singen befreienden Seele, welch eine Fülle von Kraft ruht in deiner Tiefe! Und dann träumten ſie wohl wieder alle im

Schlaf von ihrem Heimatland mit glücklichen Geſichtern in der kahlen Ode der Avignoner Gefängnismauern.

Alles Hohe, Edle und Erhabene klang wieder auf in den tiefſten Rätfelgründen der verängſtigten Seelen, die zu ſehnendem, ringendem Leben aus dumpfem Traum erwachten.

Schön und innig waren fie, diefe einſamen Mondnächte der Frühlingsahnung. mit dem ganzen nächtlichen Zauber verſunkener Verträumtheit. Die Sterne leuchteten zu uns grüßend herein, und der göttliche Odem wob um uns im Weſen der Allnatur und erwachte in unſeren wandernden Seelen. Es war trotz Kerker, Hunger und Elend eine freie Zeit des Wachſens in uns.

Alter Korſarenpelz, ſo manch lieber Traum ward uns auf dir geſchenkt; ob der Miftral in den Lüften wühlte, die Sterne blitzten oder der Regen rann, immer war es jener tiefſte Klang göttlichen Weſens, der uns wie ein l liebes Abend- lied der Mutter in den Schlaf ſang.

Es iſt noch früh am Morgen und wir dreſchen. Oben in den Oeckbalken der Scheune hängen dicke, dicke Spinnweben wie in einem verzauberten Schloſſe, und an der Rückwand der Diele leuchten kleine Luftlöcher wie fröhliche Sterne

!

20 Langodorff: Erinnerungen

auf. Die Arbeit ſummt monoton, im Takt tanzen die Staubwirbel, aus denen zwei Lichter ruhig und ſtet leuchten. Da tauchten wieder lebhafte Erinnerungs-, bilder in mir auf: Weißt du, Will, wie uns auch in allem Wirbel und Geſpanntſein der Flucht zwei leuchtende Dinge den Weg erhellten, daß wir kämpften und nimmer ſtille ſtanden!

Wir waren ſchon viele Nächte gewandert, da gelangten wir auf verſchwiegener Furt auf eine von Waſſer umſpülte Inſel. In einem weitverzweigten Weidenbaum ſchnitten wir uns ein Neft für den Tages aufenthalt, und dann träumten wir in den ſonnigen Tag hinein und lauſchten dem Raufchen der Waſſer, die unſer Eiland märchenhaft umkoſten. Wir laſen die wie ein Heiligtum auf allen Fluchten be- wahrten Briefe einer ſonnig-ſtarken Königin, die ſtets bei mir war, und wir ſprachen von der wunderfeinen Weiblichkeit unſerer Mädels, die uns Königinnen waren, hoch und hehr, und die uns doch nach allen Irrfahrten und wanderndem Erleben ſtill und groß ans Herz nebmen würden, in inniger, mütterlicher Gtanenliebe, weil wir noch immer ihre Jungen geblieben. ;

Die voranſchreitende, Runen deutende germanifche Frau und edle Königin war das eine Leuchten tief in unſerer Seele wie Singen des ſehnenden, lauſchenden Frühlings. |

Es kam der Abend und mit ihm ein Alpenglühen alles verzaubernder rot- goldener Glut. Und ſiehe, drüben aus der ſtarren Felswand wuchs es empor, Mauer nach Mauer, Zinne um Zinne, ragende Türme einer hohen Gralsburg. Wir ſprachen von der Heimat, dem Vaterland, und wir erkannten, daß unſer Vaterland der Selbftverftändlichteit nun war ein Vaterland, das in Sehnſucht wieder errungen werden wollte. Das, was uns im Herzen brennt beim Leſen der großen Dichter und Denker, das, was uns bei den Tiefen und Höhen Beethovens und Schuberts ans Herz greift, das Land eines Luther, Thoma und Schwind wo das Volkslied fo aus der Seele klingt und eine ſieghafte Jugend mit dem Heldenfinn ringender Wahrheit in den Frühling eines neuen Geſchlechts und einer neuen, innerlichen Zeit wandert, die Menſchen in Liebe und Treue eint —, das iſt unſer Vaterland.

Fichte ſagt einmal, ſo tief und wahr, dem Sinne nach etwa folgendes: „Vaterland iſt kein Gebilde, das an Zeit oder Raum gebunden wäre, ſondern ein Ewigkeitsklang in unſeren Herzen, ein Geiſtiges!“ Wie jene germanifche Lichtburg im Abendrot vor uns erwuchs, ſo ward unſer Vaterland in uns aus einem tiefen Glühen innerſter Ewigkeitsgewißheit, das geheimnisvoll aus Traumes gründen der Seele ins Bewußtſein emporſtieg.

Deutſchland, das Land der ewigen Sehnſucht! Nietzſche prägte das Wort: „So liebe ich allein noch meiner Kinder Land, das unentdeckte, im fernſten Meere; nach ihm heiße ich meine Segel ſuchen und ſuchen.“

And nun, mein Jung, vorwärts in den Sturm und die Nacht, wir ſind auf der Flucht, auf der Heimkehr ins Vaterland, noch immer wandernd ins Land unſerer ewigen Sehnſucht.

Dr

Taube: Wie die letzten Sten 21

Wie die letzten Goten Von Otto Freiherrn von Taube

1.

Wie vom Bergeshang die letzten Goten,

Am Veſuv geſchlagen, nach dem Strand

Niederzogen mit des Heeres Toten

Und verließen ihres Ruhmes Land

Langſam Abſchied nehmend auf die Schiffe, Die ein rätſelhafter Freund geſandt, Kundige Führer an dem Steuergriffe, Schwanden ſie hinweg nach Thuleland:

In das Land, das nie ein Blick geſehen, Wo kein Ruf hin über Wellen drang;

Und es blieb allein ihr Ruhmeswehen

Und ein niemals ſchwindender Geſang

Alſo wund und alſo weh geſchlagen, Alſo hart geächtet und verkannt, Werden, Oeutſche, wir in dieſen Tagen Aus der Zukunft Lichtgefild verbannt.

So wie ſie ein Anſatz ohne Reife, Ein Verſprechen, unermeßlich groß, Und nach einer kurzen Ruhmesſtreife Schon verfallen dunklem Todeslos.

Und wir ſuchen nächtlich ein Geſtade, Und wir ſuchen nächtlich einen Port: Unerforſchlich winken Gottes Pfade, unerklärlich zieht uns Gottes Ort.

And, den letzten Blick dem Strand entriſſen, Heben wir zum Himmel unſre Hand,

Unfre Segel ſchweigend aufzuhiſſen,

Hin zu ſeinem unſrem Thuleland.

2 2 *

22 Taube: Wie die letzten Goten

9 Wer ftand wie wir? Schaut um, wer hat wie wir Dem ganzen großen Weltkreis widerſtanden, Wer wies ſo vielen Banden So ftandhaft feine Wehr? Und wenn ſie brach Vor Übermacht und wenn wir ließen nach, Euch, Deutſche, frag' ich hier: Wer ſtand wie wir? Jedweder Macht Sind Grenzen zugedacht; Wir find nicht Gott. Drum find wir überwindbar. Doch tiefitens unauffindbar Quillt eine Quelle, die uns nie verſiegt. Was denn verſchlägt es, wo wir heut' beſiegt? Sott helf, wir ſtehen hier. J Wer ſtand wie wir?

Von unſrem Holz

Sind wir, von unſrem Stolz.

Schreit nur den Sieg aus, ſchlächteriſche Horden, Der iſt euch leicht geworden:

Der Überzahl erliegt der beſte Held,

Und wider uns erſtand die ganze Welt.

Trutz, Feinde, beugt euch hier!

Wer ſtand wie wir?

nn ns kn KK

Zum 18. April 1921

FAV eil jenen ſtarken einſeitigen Naturen, welche willig an der Breite ihrer Bildung D, DYI opfern, was fie an Kraft und Tiefe taufendfältig wiedergewinnen! Das find doch

Menſchen, welche den Haß oder die Liebe gebieteriſch herausfordern, ... fie find 7 harmoniſche Charaktere, denn ein ſchoͤnes Gleichmaß beſteht zwifchen ihrer graft und ihrem Streben.“

So leſen wir bei Treitſchke.

Luther war ſolch eine Natur: ſtark, einſeitig und doch barmonifiert. : Es iſt das Geheimnis von der Seelengröße unſerer Geiſteshelden, daß in aller Rauheit des Handelns, des Lebens, der Ideen die „ſchöne Seele“, die Harmonie der ſeeliſchen Kräfte es ift, die ihr Tun durchglüht. Dieſe Harmonie gibt die wahre, innere Freiheit, von der unſere Klaſſiker ſingen, dieſe Freiheit, geboren aus der Zucht des Empfindungslebens. Sie ift befonders deutſch, und durch fie find deutſche Männer große Männer geworden. Die Freiheit war es, welche Luther an jenem 18. April 1521 beſtändig machte. „Eyn Chriſten menſch ift epn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan“, ſo ſchrieb Luther; und er fordert uns auf „den ynwendigen geyſtlichen menſchen zuſehen was dagu gehöre daz er eyn frum frey Chriften menſch fen und heyſſe“. Nur ein Geiſt, der kurz zuvor ſo über die „Freiheit eines Chriſtenmenſchen“ ſchreiben konnte, ein Mann, der ſich völlig geläutert hatte, konnte auftreten, wie Luther an N Tage zu Worms.

Wir aber, die wir hingingen, in Verſailles zu unterfchreiben, täten gut, uns gelegent- lich daran zu erinnern, daß wir eigentlich das Volk dieſer freien Männer, der Luther, Fichte, Bismarck ſind; und der 18. April 1921, der Tag, an dem 400 Jahre zuvor Luther das berühmte „Hier ſtehe ich“ geſagt haben ſoll, böte ſchlechterdings Gelegenheit, ſolches zu tun.

Dergegenwärtigen wir uns jene Sachlage!

Nachdem man durch die Bannbulle im päpſtlichen Lager, durch Verbrennung dieſer Schrift „von wütender Grauſamkeit“ auf Seite des Gegners die feſten beiderſeitigen Geſinnungen tapfer kundgetan, gab es in Worms zwiſchen Kaiſer, Fürften, Rom endloſe Verhandlungen, ob man wohl jenen großen Erzböſewicht zu einer mündlichen Disputation vorlaſſen ſolle. Seine Majeftät, der jugendliche Kaifer Karl V., hintertrieb jede Vermittlung bis Glod’ Zwölf; der fanatiſche Nuntius Aleander, Bibliothekar und Protonotar des heiligen Vaters, der ſtändig vor Mord zitterte, ſchürte deſſenungeachtet mit lobenswerteſter Ausdauer; und nur nach langem Hin und Her gelang es unter beſonderen Bemühungen des weiſen, aber in dieſem Falle vor allem ſchlauen Friedrich von Sachſen, Luther vor den Reichstag zu zitieren.

Sein Zug nach Worms wurde für ihn ein Nieſenerfolg. Er war der große gefeierte Mann ſeiner Zeit, dem alles entgegenrannte, um nur einmal die vielumſchriene Berühmtheit ſehen zu können. In Erfurt gelang es den Univerſitätsprofeſſoren mit Rektor Rubeanus an der Spitze, die Begegnung befonders feierlich zu geftalten. Und wenn ſich dem kühnen Re- formator im letzten Augenblick vor Worms auch noch manches Geſpenſt entgegenſtellte: die

24 gun: 18. Aprit 1921

Idee der Gewiſſensfreiheit, die Kraft der Standhaftigkeit trieben ihn dorthin, wo er beſtehen ſollte. Kurz vor Worms ſuchte der kaiſerliche Beichtvater Glapion den herannahenden Luther vom Wege abzulenken, indem er ihm allerhand Hoffnungen von privaten Beratungen und Verſtändigungen vortäuſchte. Aber Luther blieb davon unbeirrt. Dann lieft er einen öffent- lichen Anſchlag, das Sequeſtrationsmandat, aus dem er erkennen muß, daß von einer Disputa- tion keine Rede ſein könnte, daß er nur gerufen wurde, um zu widerrufen. Ein Schreckſchuß grober Art! Jede Verſtändigung wird ausſichtslos fein, das verrät der Geiſt dieſer lieblichen kaiſerlichen Vorboten. Doktor Martinus erſchrickt heftig, zittert und ift wie vor den Kopf ge- ſchlagen. Doch weiter, weiter, dies ſind nur Mätzchen, die ſeine große Sache nicht beeinträchtigen werden!

Und Luther betrat Worms. Da gibt es ein großes . des Volkes; jeder will ihn ſehen, ihn ſprechen, fragen, begrüßen, oder dem Kämpfer für die evangeliſche Freiheit Glück wünſchen. Ganz bunt durcheinander kommen und gehen Grafen, Freiherrn, Ritter, Adelige, Geiſtliche und Laien. Ein Zeitgenoſſe weiß zu berichten, daß „ihn umbgeben ob den 2000 menſchen bis zu ſeiner Herberg“. Aber Aleander, der päpſtliche Nuntius, bebt, ſchreibt dem Vizekanzler Medici, daß der große Ketzermeiſter feinen Einzug gehalten und mit feinen dä— moniſchen Augen im Kreiſe umhergeſehen habe. In einem kleinen Saal des biſchöflichen Pa- laſtes ſollte nun Luther erklären, ob er der Verfaſſer der vorgelegten Schriften wäre und ob er gewillt, fie zu widerrufen. Für den Reformator gab es natuͤrlich nur eines: Bekennen und Beharren. Aber ſlehe, er zögerte und bat um Bedenkzeit. Die Gelehrten ſtreiten fih darüber, ob Luther bewußt oder intuitiv erkannte, daß dies nicht der gegebene Augenblick wäre, mit Erfolg zu ſprechen. Dieſer kleine Saal konnte nicht die Menge faſſen, die er wirklich brauchte, die ihm Reſonanz bot, vor der Kaiſer und Stände Angſt hatten. Das wußte man ſchlauerweiſe. Aber der Doktor Martinus, den man für ängſtlich hielt, weil er aufgeregt hin und her guckte, machte der ganzen Inquiſitionsverſammlung einen Strich durch die erhabene Rechnung; und Seine Kaiſerliche Majeſtät bewilligte „aus angeboren r Gnade“ einen Tag zur Vorbereitung. Allein am nächſten Tag, am 18. April, wurde die Sache anders. Zuvörderſt muß bemerkt werden, daß man es jetzt doch für gut hielt, Luther in einem größeren Saal vorzuladen. Die Menge benutzte die Gelegenheit, drang in den Raum, um dem wichtigen Ereignis beiwohnen zu können.

Da ſtand nun das Mönchlein und hielt eine Verteidigungsrede, um Verſtändnis für ſeine Schriften wachzurufen. Er legte dar, daß es ihm unmöglich ſel, ſeine Bücher, darinnen er „über chriſtlichen Glauben und Sitten fo einfältig und evangeliſch gehandelt“ habe, feine Bücher gegen das Papſttum und die Papiſten „und damit gegen Leute, die mit elender Lehre und Beiſpiel die Chriſtenheit geiſtig und körperlich verwüſten“, endlich ſeine Bücher gegen ein— zelne „hervorragende“ Leute, die jene römiſche Tyrannei ſchützten kurz, daß er unmöglich alle diefe Schriften widerrufen könne. Demütig bekannte Ooktor Martinus, auch ein irrender Menſch zu ſein und bot ſich damit an, jederzeit aus der Schrift eines Irrtums ſich überführen zu laſſen. Allein den Kampf für die evangeliſche Freiheit, den Streit um Gotteswort vergißt er nicht. Nach Worten der Demut bäumt fih in der Bruſt des Reformators der frühere Trotz um jo mehr auf. Blind gegen alle Gefahr, blind aller Majeftät und Herrlichkeit, vor der er ſtand, kühn nur im Gefühl der Gewiſſensfreiheit, bekennt er fogar, daß es für ihn „das Erfreulichſte von der Welt“ zu ſehen fei, wie man um Gottes Wortes willen ſtreitet; „denn das ijt die Wir- kung des Gottes wortes auf Erden, wie Chriftus ſagt: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu tenden, ſondern das Schwert, denn ich bin kommen, den Menſchen zu erregen gegen ſeinen Vater.“

Das ift die Sprache eines deutſchen Idealiſten. Vedingungslos, gewagt bis zum Außer- ften, aber aufrichtig, unverſtändlich für den Durchſchnittsmenſchen. Die ganze hohe Verſamm— lung mag vielleicht einige Augenblicke vor Erſtaunen den Atem angehalten haben. „Wol hat der Doctor Martinus geredt vor dem herrn Kaiſer und allen furſten und ſtenden in latein

Aus elnem Brief an Lukas Cranach a 25

und deutſch. Er iſt mir vil zu kune.“ So fagte noch am ſelben Abend der weife vorfichtige Kurfürſt Friedrich zu Spalatin. Der Sprecher des Reichstages iſt über Luthers ganze Rede empört und legt in Langem und Breitem dar, daß des Reformators Worte ungenügend feien. Sie wollten ja nur das „Za“ oder „Nein“ hören. Und fo hob denn Luther wieder an und be- müßte fih, eine ſchlichte Antwort zu geben, „die weder Hörner noch Zähne“ habe. „Weder den Papſt, noch den Konzilia allein vermag ich zu glauben, da es feſtſteht, daß ſie wiederholt geirrt und ſich ſelbſt widerſprochen haben fo halte ich mich überwunden durch die Schrift, auf die ich mich geſtüͤtzt, fo ift mein Gewiſſen im Gotteswort gefangen, und darum kann und will ich nichts widerrufen, weil gegen das Gewiſſen zu handeln gefährlich ift. Gott helfe mir! Amen.“ |

Oas find alfo die berühmten Worte des großen deutſchen Mannes. Die Gelehrten haben auch da viel darum geſtritten, ob er das bekannte: „Hier ſtehe ich, ich kann nicht anders“ wirklich geſagt haben foll, aber man iſt ſich jetzt darüber klar geworden, daß dieſer Wortlaut (der wohl in einer zeitgenöſſiſchen Wittenberger Chronik ſteht) ins Reich der Fabel zu verweiſen ſei, wie ja Gelehrte in ſolchen Fällen zu ſagen pflegen. In der Tat aber war feine ganze Rede ein „Hier ſtehe ich“; und wenn der Sprecher des Reichstages nach dieſen Worten ironiſch be- merkt: „Leg Dein Gewiſſen hin, Martinus“, ſo zeigt es deutlich, wie wenig damals, ebenſo wie heute, jedes Handeln nach dem Gewiſſen verſtanden und gewürdigt wird. Man war über die Behauptung empört, daß Konzilien irren könnten. Nie hatten fie begreifen können, daß ein harmloſer Mönch, ein deutſcher Profeſſor der Theologie fih unterfangen könnte, dieſes Riefengebäude, die „fable convenuc“ in Hunderten von Jahren errichtet, Stein für Stein im Gefühl der Übermacht und ſelbſtverſtändlichem Übereinkommen daß ein einziger Menſch dieſe „res publica christiana“ je zu durchbrechen fähig wäre, Man entließ Luther bald nach jenen Worten, weil es dunkel wurde und Unruhe entſtand. |

Das Wormfer Edilt war die Antwort auf feine Kulturtat. Aber es blieb unausgeführt.

Unfer großer Ethiker Fichte, den man in dieſem Zuſammenhang einen der echteſten Männer von Luthergeiſt nennen dürfte, ſagt einmal in ſeiner Sittenlehre von 1812: „Die Wahrheit zu fagen auf jegliche Gefahr, entwickelt im Menſchen unmittelbar das Gefühl und das Bewußtſein ſeines höheren, über alle irdiſchen Folgen erhabenen Selbſt; ein ſolcher kann gar nicht ſo untergehen und verſchmelzen mit der Sinnlichkeit, und an dieſes höhere Selbſt knüpft ſich bald alles Gute und Sittliche an.“

In dieſen Zeilen liegt das lutheriſch-evangeliſche Streben, ſo zu handeln, wie es die innere Stimme, die Idee, das Gewiſſen gebietet. Luther legte durch ſeine Gewiſſenstat, gegen die zu handeln „gefährlich“ ſei, den Grundbau für jede weitere deutſche Geiſteskultur. Er brachte die Formel für das Gedankenwerk von der inneren wahren Freiheit, das Kant, Schiller,

Fichte vollendeten. Er gab die Richtung allen Deutſchen, die aum Handeln e wurden,

8.9 PERN i

Aus einem Brief an Lukas Cranach

Meinen Oienſt, lieber Gevatter Lukas! Ich fegne und befeble Euch Gott: ich laß mich eintun und verbergen, weiß ſelbſt noch nicht, wo. Und wiewohl ich lieber hätte von den

Tyrannen, ſonderlich von des wütenden Herzog Georgen zu Sachſen Händen, den Tod erlitten, |

muß ich doch guter Leute Rat nicht verachten bis zu feiner Zeit.

Man hat ſich meiner Zukunft [Kommens] zu Worms nicht verſehen, und wie mir das Geleit ift gehalten, wiſſet ihr alle wohl aus dem Verbot, das mir entgegen kam. Ich meinte, Kaiſerliche Majeſtät ſollte einen Dottor oder fünfzig haben verſammelt und den Moͤnch redlich überwunden; fo iſt nichts mehr hier gehandelt denn fo viel: „Sind die Bücher dein?“ „Za“

2 | Grenzland der Naturwiſſenſchaft

„Willſt du jie widerrufen oder nicht?“ „Nein!“ „So heb dich!“ O wir blinden Oeutſchen, wie lindiſch handeln wir und laſſen uns fo jämmerlich die Rom miſten äffen und narren!

Sagt meiner Gevatterin, Eurem lieben Weib, meinen Gruß, und daß ſie ſich dieweil wohlgehabe! Es müſſen die Juden einmal fingen: Jo, Jo, 30! [Wie die Juden triumphierten am Karfreitag.] Der Oſtertag wird uns auch kommen, ſo wollen wir dann ſingen Halleluja. Es muß eine kleine Zeit gelitten und geſchwiegen ſein. „Ein wenig ſeht ihr mich nicht, und aber ein wenig fo ſeht ihr mich“ (Joh. 16, 16), ſpricht Chriſtus. Ich hoffe, es ſoll jetzt auch fo gehen. Doch Gottes Wille, als der allerbeſte, geſchehe hierin wie im Himmel und Erden! Amen. Zu Frankfurt am Main, Sonntags Cantate, Anno 1521.

D. Martinus Luther

Grenzland der Naturwiſſenſchaft

ie geſamte naturwiſſenſchaftliche Literatur, fo weit fie ſich an den Leſerkreis der Gebildeten wendet, ſteht heute im Zeichen der Kriſe, der Hilfsbereitſchaft, wenn man ſo ſagen darf. Und darin liegt etwas Rührendes und Tröſtliches zugleich. Es gewährt Beruhigung, fih von dem ſteten Funktionieren des großen Geſetzes zu überzeugen, nach dein jeder Notſtand, jede Disharmonie ſofort eine Entwicklung auslöſt, Bewegungen, welche die Beitrebung haben, das Disharmoniſche auszugleichen und der Not zu ſteuern. Es iſt dabei gar nicht ſo wichtig, daß gleich die erſten Verſuche in dieſer Richtung Erfolg haben; wichtiger und das wahrhaft über die Sorge des Tages Erhebende iſt, daß die Bewegung an- dauert und überhaupt nicht ruht, bis der Ausgleich gefunden iſt. | Das Wiſſen um dieſes Geſetz erklärt es, warum derzeit jedes andere Problem zurüd- getreten und auf einmal eine einheitliche Front in der populärwiſſenſchaftlichen Literatur ent- ſtanden ift, in der jeder mit beſtem Willen auf feine Weiſe beitragen will zur Löſung der fee- liſchen Not, die inſtinktiv von jedem als die Urſache aller anderen Kriſen, unter Denen unfer Volk und mit ihm alle anderen Völker leiden, erkannt wird.

Der großzügigſte letzte Verſuch in dieſer Richtung ſtammt von K. Jellinek, der feine in der Volkshochſchule zu Danzig gehaltenen Vorleſungen unter dem Titel: „Das Welten- geheimnis“ herausgegeben hat. (Stuttgart, Enke, 1921.)

Diefes Werk hat etwas tief Erſchütterndes. Es iſt von einem Enthuſiasmus und einem lauteren Wollen, von einer idealen Geſinnung getragen, die auch dort, wo man nicht mitgehen kann, zu achtungsvoller Aufmerkſamkeit nötigen und freudig im Herzen wiederklingen wird. Noch iſt der deutſche Idealismus nicht ausgeſtorben, es gibt alſo noch die Kräfte, durch die der deutſche Geiſt die Höhen, von denen er herabgeglitten iſt, wieder erreichen kann. So ſagt man ſich in der Freude darüber. |

Der beglüdende Wert dieſer Einſicht ift fo groß, daß daneben der tatſächliche Inhalt des Werkes eigentlich beinahe zurücktritt. Und in der Tat, viel wichtiger noch als das ſofortige Aufſuchen des richtigen Weges iſt es, daß man überhaupt einen ſucht und ſich mit dem Materialismus der Zeit nicht zufrieden gibt. Die Irrtümer laſſen ſich richtigſtellen, eine ſchlechte Geſinnung wird aber ſelbſt Wahrheiten, die in ihre Hände gelangen, mißbrauchen.

Jellinek ſtrebt mit feinen Vorleſungen eine harmoniſche Vereinigung von Natur- und Geiſteswiſſenſchaften, Philoſophie, Kunſt und Religion an. Wieder iſt dadurch in ſeinem Werk an einem äußerſt lebensfördernden Punkt eine entſchiedene Richtung eingeſchlagen. Wenn er es auch nirgends ausdrücklich ſagt, ſo ſchwebt doch ſeinem ganzen Streben als Ideal der harmoniſche Menſch vor und damit wieder eine, ja vielleicht die einzige Möglichkeit, die Übel, welche die Menſchenſeele erfaßt haben, zu heilen. Denn ganz zweifellos iſt die Ein-

Gtenzland ber Natutwilfſenſchaft i | 5 27

ſeitigkeit, mit der ſich der Menſch, und auf Oeutſchland angewandt, mit der ſich unfer Volk feit feinem klaſſiſchen Zeitalter von dem Ideal der Harmonie abgewendet hat, die Urſache des unleugbar eingetretenen Verfalles. Und wieder iſt es zunächſt weit wichtiger, ſich in dieſer Erkenntnis zu vereinigen, als ſich von vornherein zu trennen im Meinungsftreit darüber, ob die Faſſung, die Jellinek gewählt bat: die Hauptübel von Oeutſchland feien heute Militaris- mus, Kapitalismus und Materialismus, zutrifft oder nicht.

Aber in dieſer Faſſung ſpricht ſich bereits das aus, was dieſes Buch nicht zum Gemein- gut, ſondern wieder nur zum Ausdruck der Überzeugungen einer Seite machen kann: es legt ſich auf ganz ne von vornherein gefaßte, von außen an die Erkenntnis herangetragene Meinungen feſt.

In einem großzügigen, von bewunderungswüͤrdig vielſeitiger Beleſenheit zeugenden Aufbau wird verſucht, ein Bild der Welt zu entwerfen, ausgehend von den großen und kleinen Bauſteinen, wie die Geſtirne und die Elektronen genannt werden, über das „Reich des leben- digen Leibes“, bis zu den ſeeliſchen Erſcheinungen und zum Reich des Geiſtes, wie die Kultur- betätigung der Menſchheit genannt wird. Dieſer iſt der größte Teil der Darſtellungen ge-

widmet, in einer Zergliederung einiger Hauptfragen über die Raſſen, Sprachen, das Rechts- leben, Wirtſchaftsleben, Familienleben, den Gottesbegriff und den Begriff einer überindivi- duellen Gottheit, was alles von dem Standpunkt einer Hppotheſe angeſchaut wird, für die der Ausdruck des „Überbewußten“ geprägt wird. Mit der Annahme oder Ablehnung dieſer Hnpotbefe ſteht und fällt die ganze Bedeutung der Zellinetſchen Arbeit, darum fei mir erlaubt, mich nur auf diefe eine Erörterung zu beſchränken. Das berbewußte wird als eine nipſtiſche Tatſache eingeführt, als ein unbeweisbares, ſchlechthin Gegebenes, das nur durch intuitive Kräfte von dazu beſonders Begnadeten, eben den großen Mpſtikern der Menſchheit, erkannt werden könne, deffen Überprüfung unmöglich und der Wiſſenſchaft entrückt iſt.

Damit wird diefe Löfung des Weltgeheimniſſes zur Parteiſache und ift der wiſſenſchaft⸗ lichen Erörterung entrückt. Die Gründe hierfür find feit Kants Kritik der reinen Vernunft zur Grundlage der Wiſſenſchaftslehre ſelbſt geworden, die aufgehoben würde, wollte man beweis- loſen Behauptungen einen Wert als Träger und Stützen eines Gedankenbaues einräumen.

Genau das gleiche gilt für einen zweiten, mit dem gleichen heiligen Ernſt ſubjektiven Aberzeugtſeins vorgetragenen Verſuch, zu einer Lebensregelung auf Grund der Naturwiffen- ſchaften zu kommen, der L. Kohl zum Verfaſſer hat (Das Ziel des Lebens im Lichte der oberſten phyſikaliſchen und biologiſchen Naturgeſetze. München 1921, Georg Müller).

Diefer Name hat allen Anſpruch, beſondere Aufmerkſamkeit für ich zu fordern, ift es doch bekannt, daß fein Träger während des Krieges durch namhafte Erfindungen im Felde hervorgetreten ift. Wie ſollte man da nicht aufhorchen, um fo mehr, als darin von einer „mathe- matiſchen Beweisführung und demzufolge von der Unwiderleglichkeit der gefundenen grund- legenden Satze“ geſprochen wird.

N Auf die einfachſte Form gebracht, ift die Lehre Kohls die folgende: Es gibt in der „Welt“ dreierlei Energien: die phyſikaliſche Energie, deren zahlloſer Verwandlungen ſich die Technik bedient; dann die Energie der lebendigen Natur, die kurz als Formenergie bezeichnet wird, „da ihre am meiſten in die Augen ſpringende Arbeitsleiſtung die der Dar- ſtellung und Erhaltung einer beſtimmten, faſt konſtanten Form iſt“; und die moraliſche Energie, welchen Begriff der Verfaſſer (S. 104) nicht „im ſchwankenden Begriff der Umgangs- ſprache“, ſondern „im eindeutig feſtgelegten der Phyſik“ gebraucht.

Alles übrige in dem Buch ift „Mechanik“ und Rechnung mit dieſen Begriffen, und tat- ſächlich unanfechtbar, wenn es erlaubt iſt, an den Grundlagen dieſer Nechnungen feſtzuhalten.

Aber ich habe mich bemüht, die innere Konſtruktion des Werkchens durchſichtig zu ma- chen, um zu zeigen, wo das Willkürliche liegt. Woher nimmt der Verfaſſer die Berechtigung,

28 Grenzland der Naturwiſſenſchaſt

die moraliſchen Triebkräfte des Menſchen den phyſikaliſchen Energien, alfo dem Licht, der Warme, der Elektrizität ohne weiteren Beweis gleichzufegen? Dieſen Beweis, auf den alles ankommt, ift er noch ſchuldig geblieben; an fidh ift der Beweis, wenn auch von anderen Grund- lagen aus, nicht abſolut unmöglich und einem ſo feinen und gedankenreichen Kopf wie L. Kohl muß es leichter als anderen gelingen, dieſen Weg zu finden.

And ſo kann ſein überaus intereſſantes Werk nur als Abſchlagszahlung hingenommen

werden. Unter der vorläufig vorweggenommenen Vorausſetzung, daß feine Grundlage feft- ſtehe, kann man wirklich zu der Notwendigkeit kommen, daß nur die Vermehrung der mora liſchen Energie das Ziel des Lebens und der Sinn der menſchlichen Welt fei. Aber die Sicher rung der Grundlage iſt noch erſt zu erarbeiten. * Ein dritter Verſuch, den Ringenden, die das Wiſſen der Zeit um Rat fragen, die Not der Seele zu lindern, ſtammt von dem bekannten national gerichteten Pädagogen H. G. Holle (Allgemeine Biologie als Grundlage für Weltanſchauung, Lebensführung und Politik. München, 1921, Georg Müller). Nach dem Myſtiker, dem abſtraͤkten Theoretiker, ift er der Realiſt. Praktiſches, unmittelbares Wirken ſchwebt ihm vor und diefe Ungeduld ſchlägt Brüden, die nicht jeder begehen kann.

Es iſt gar kein Zweifel: es wäre herrlich, wenn unſer Volk, oder, da ein einzelner in einer ihm entgegenwirkenden Umwelt nicht ſein Geſetz befolgen kann, wenn die Menſchheit dieſen Gedanken von der Befeelung und daher Weſenseinheit alles Seins, von den Geſetzen der Organiſation, von innerer und völkiſcher Reinheit, von idealer, aufs Ganze gerichteter Erziehung und Anpaſſung nachleben würde. Es iſt aber ebenſowenig ein Zweifel darüber, daß ſolches die Menſchheit fo lange nicht kann, bevor nicht jedem einzelnen die Notwendig- keit, fo leben und denken und daher handeln zu müjjen, von ſelbſt aufgegangen ift. Und an die Notwendigkeit, dieſe überzeugende Kraft zu entfalten, denkt Holle nicht Wenn er ſagt, das uralte, unſerem Volk vererbte Naturgefühl ſei die naturgemäße Mutter einer Naturphilo- ſophie, die den berechtigten Anſpruch erheben darf, die Führung des Lebens, ſowohl für den einzelnen wie für das Volksganze wiederzugewinnen, dann iſt damit Annahme oder Ablehnung ſeines ganzen Werkes auf einen Satz geftellt, der wohl für die gilt, die einen Reit jenes uralten Naturgefühls noch in der Bruſt haben, aber gar keine Überzeugungskraft für jene beſitzt, die eines ſolchen Gefühles bar find. Und will man auf Wirklichkeit wirken, muß man mit Wirklich- keiten rechnen. Die ebenſo wahre wie betrübliche Tatſache iſt, daß das deutſche Volk nicht. mehr dieſelbe Zuſammenſetzung hat, wie ſeine Vorfahren, daß jenes Volk, das ſich Holle als Leſer vorſtellt, gar nicht mehr da iſt! An dieſem Punkt rollt ſich eine ganz wichtige Frage auf, die weit über den Rahmen einer bloßen Würdigung von Schriften hinausleuchtet und für faſt alle Bücher der Zeit, für ganze politiſche Parteien, Philoſophien, ja beinahe für alles gilt, was an aufbauenden Kräften derzeit bei uns tätig iſt.

Oas iſt die Struktur des Volksganzen, in dem und auf das man wirkt. Ein. Stuck notwendiger Statiſtik, das man kennen muß und von dem aus der Entſcheid fällt, ob auch der befte und idealſte Gedanke wirkungslos verhallt oder fih in wirkende Kraft, eben jene moraliſche Energie umwandelt, deren abfolutes Wirken Kohl vorausſetzt.

And diefe Struktur ift, man mag fie unterſuchen, von welcher Seite man will, im vor- liegenden Fall keine ſolche mehr, daß man im Volksganzen noch „Naturgefühl“ vorausſetzen kann. Nur eine enge Ausleſe und zwar gerade jene, der heute im Zeitalter der unbedingten Mehrheitsbeſchlüſſe weniger denn je die Führung zukommt, iſt ihrer Herkunft, ſeeliſchen Un- verſehrtheit und Bildung nach überhaupt im Stande, ſolchen idealen Erwägungen die Gaprang ihres Handelns zu überlafjen.

Daher müffen alle diefe, auch die aus reinſtem Herzen kommenden und der beiten Ein- ſicht entſpringenden Mahnungen und Winke, wie man wieder den Weg zur Geſundung finden kann, ſich entweder damit beſcheiden, daß ſie nur auf einen ganz engen Kreis beſchränkt bleiben

Das Fehlurtell gegen den dritten Band f 29

und, da die Lebensdauer eines Buches früher erliſcht, als fich dieſer Kreis erweitert, nach einiger Zeit zum Büchereifoſſil und hiſtoriſchen Dokument werden. Oder ſie müſſen zu dem, was fie bringen, noch eine andere Arbeit leiſten. Nämlich eine Beweisführung, welche Hunderttauſenden und Millionen einleuchtet. Eine ſolche kann im e des flacheſten und dbeſten Materialismus freilich nur eine materielle fein.

Die Arbeitermaſſen wurden von der „Brauchbarkeit“ (allgemein verwechſelt Dent- unfähigkeit das momentan „Profitable“ mit dem Richtigen) der Marxſchen Lehren in dem Augenblick überzeugt, als ihre Führer ihnen ſagten, durch Organiſation und Streiks könnte für weniger Arbeit mehr Lohn erworben werden. Die Menſchen werden wieder aufhorchen, wenn die Verkünder neuer Wahrheiten und das gilt nun für die ganze Oreiheit, der dieſe Betrachtungen gewidmet ſind ihnen ſagen: Man könne es probieren, daß ſie recht haben. Wenn man dieſe oder jene ihrer Lehren befolge, werde dieſer oder jener, nicht nur ſubjektiv einbildbare, ſondern objektiv feſtſtellbare Nutzen eintreten. Das iſt die Sprache, die die Welt heute verſteht. Und alle, die ſie ſprechen, haben Erfolg, wenn ihre Worte auf Wahrheit beruhen. So war der Siegeslauf der Naturwiſſenſchaften und der auf ihnen erbauten Technik überhaupt beſchaffen. Und das follten alle jene verſtehen, die mit blutendem Herzen den Ber- fall ſehen und ihre Kraft hingeben, das Gute, das fie erkannt haben, den Menſchen zugänglich zu machen.

In dem Überſehen dieſes Punktes aber ift die wahre Urſache, warum fo viel der beften Leiſtungen brach liegen bleiben wie Samenkörner in einer Erde, die man N fruchtbar macht.

R. H. France © N

Das Fehlurteil gegen den dritten Band

rei Gerichte, zwei Stuttgarter und ein Berliner, haben vorerſt die buchhändleriſche

Verbreitung des verſandbereit vorliegenden III. Bandes von Bismarcks „Se

danken und Erinnerungen“ verboten. Wird fih in den weiteren Inſtanzen dieſes Fehlurteil gegen den dritten Band wiederholen? Die ganze Welt lächelt: Oh diefe Oeutſchen! Oer Oeutſche, ſoweit er ruhigen Bluts ift, zuckt die Achſeln: man kennt fie ja, unſere Zuriften! In Wirklichkeit kommt freilich bei dieſem Gerichtsurteil der Rechtsverſtand ebenſo zu kurz wie der geſunde Menſchenverſtand. Erſchrecke der Lefer nicht, wenn wir dies ihm nachweiſen wollen;

die Sache läßt ſich leicht allgemein verſtändlich und entſcheidbar machen.

Der Einſpruch der Rechtsvertreter des Kaiſers gegen die nunmehrige Veröffentlichung des III. Bandes ftüßt ſich auf das Urheberrecht. Bismarck hat nämlich in dieſen letzten Teil ſeiner Erinnerungen an ihn gerichtete Briefe des Kaiſers ſowie von deſſen Vater aufgenommen, und Briefe find unter Umftänden Schriftwerke, die den Schutz des Urheberrechtes genießen. Für feine eigenen Briefe kommt zutreffendenfalls der Kaifer als Verfaſſer, für die Briefe

ſeines Vaters als Erbe des Verfaſſers in Betracht. Die ſechs Briefe Wilhelms II. wir haben

von ihnen Kenntnis nur aus den Prozeßberichten ſowie aus den ausländiſchen Veröffent- lichungen fallen, abgeſehen vom letzten, der einen Glückwunſch zum Jahreswechſel 1888/89 enthält, in die Prinzen- und Kronprinzentage des Kaiſers in den Jahren 1887 und 1888; die zwei Briefe Friedrichs III. aus den Jahren 1881 und 1886 gehören gleichfalls der Kronprinzen zeit dieſes Kaiſers an. Der Inhalt ſämtlicher Briefe ift politiſcher, ſtaatsgeſchäftlicher Art. Der erſte Brief des Kronprinzen Friedrich Wilhelm (nachmaligen Kaiſers Friedrich) vom 17. Auguft 1881 wendet ſich gegen die damals in der Preſſe erörterte Erhebung Badens zum Königreich, der zweite vom 28. September 1886 gegen die von Bismarck vorgeſchlagene Ein- leitung des Prinzen Wilhelm als künftigen Thronfolgers in die auswärtige Politik. Von den

30 | Das Feyhlurteil gegen den dritten Band

Briefen des Prinzen bzw. Kronprinzen Wilhelm (nachm. Kaiſers Wilhelm II.) beſchäftigen ſich drei mit den politiſchen Bedenken des Reichskanzlers gegen die von Hofprediger Stöcker betriebene Art der Inneren Miſſion und gegen die Beteiligung des Prinzen Wilhelm an diefer Stöckerſchen Agitations-Bewegung; ein Brief ift das Begleitſchreiben zu einem dem Reichs- kanzler unterbreiteten Erlaß, den Prinz Wilhelm für den Fall feiner Thronbeſteigung an die deutſchen Vundesfürſten zu richten beabſichtigte; ein fünfter Brief knüpft an Bedenken an, die Bismarck aus Anlaß von Randbemerkungen des (nunmehrigen) Kronprinzen zu einem politiſchen Vericht aus Wien geäußert hatte, und vertritt gewiſſe militäriſche Anſichten gegen- über den politiſchen Geſichtspunkten Bismarcks. Dieſer Inhalt der Briefe iſt von vornherein zu beachten; man ſieht, es handelt fih in keiner Weiſe um literariſche, ſchriftſtelleriſche Schöpfungen, wie ſie das Urheberrecht allein im Auge hat.

In die beiden erſten Bände der „Gedanken und Erinnerungen“ hat Bismarck gleich- falls Briefe von Kaiſer Wilhelm I., Kaiſer Friedrich III., König Ludwig II. von Bayern aufgenommen. Keinem Menſchen ift es damals eingefallen, biegegen eine Einwendung aus dem Urheberrecht zu erheben. Der lederne Juriſt wird einwenden: Wo kein Kläger ift, ift kein Richter. Der lebendige Juriſt zieht aus dieſem Vorgang einen anderen Schluß. Er fragt ſich: Handelt es ſich bei dem jetzigen Einſpruch überhaupt um den urheberrechtlichen Schutz- Zweck oder foll das Urheber-Recht in dieſem Fall nur als Mittel zu einem ihm frem- den Zweck, nur als Vorwand zur Verhinderung einer politiſch unbequemen Der öffentlichung benutzt werden? Die Antwort kann nach Lage der Sache nicht zweifelhaft fein, und der lebendige Juriſt würde in dieſem Falle ausſprechen: Dazu ift das Urheber recht nicht da, das iſt ein Mißbrauch des Urheberrechts. Daß keines der drei Gerichte ſich mit dieſer Vorfrage auch nur beſchäftigt hat, deutet ſchon den Grundfehler ihrer Ent ſcheidung an.

Dieſe Entſcheidung gründet fih weiterhin auf das an ſich ganz richtige, aber viel mih- brauchte RNeichsgerichtsurteil vom 7. November 1908. Darnach find Briefe als Schrift- werke im Sinn des Urheberrechts nur dann zu erachten, wenn ſie ſich als eine individuelle Geiſtesſchöpfung darftellen, wenn fie dem Erfordernis der literariſchen Bedeutſamkeit genügen, die entweder auf einem originellen Gedankeninhalt oder auf einer beſonderen künſt⸗ leriſchen Formgebung beruhen könne. Das Urteil des Landgerichts Stuttgart fegt an die Stelle der „individuellen Geiſtesſchöpfung“ die „individuelle geiſtige Tätigkeit“ und begnügt ſich damit, daß in den fraglichen Briefen „die Individualität ihrer Verfaſſer in einer Inhalt und Form beſtimmenden, charakteriſtiſchen Form zum Ausdruck kommt“, daß diefe Briefe „nach Inhalt und Form ein durchaus individuelles Gepräge tragen“. Man erkennt auf den erſten Blick die grundſtürzende Abweichung vom Reichsgerichtsurteil. Das geiſtig Schöp- feriſche, die literariſche Bedeutſamkeit entfällt für das Stuttgarter Gericht völlig, entſcheldend iſt nur noch das Individuelle. Aber dann müßte jeder gewöhnliche, alltägliche Brief unter das Urheberrecht fallen. Wenn die Frau Stadtglocke an die Frau Läſterzunge einen Brief ſchreibt, fo entwickelt fie damit zweifellos eine „geiftige Tätigkeit“; dieſer Brief wird auch ein „durchaus individuelles Gepräge“ tragen, und in feinem Inhalt ſowohl wie in feiner Form wird die „Individualität“ der Verfaſſerin „charakteriſtiſch“, ſehr charakteriſtiſch zum Ausdruck kommen. Niemand aber wird den Brief der Frau Stadtglocke wegen ſeines individuellen, charakteriſtiſchen Gepräges für eine Geiſtesſchöpfung erklären und ihm literariſche Bedeutfam- keit zuſprechen. Verfaßt dagegen ein Schriftſteller, ein Satiriker „Briefe einer Stadtglocke“, dann ſind dies literariſche Schöpfungen, ſelbſt dann, wenn ſie ſich an „individuellem Gepräge“ und „charakteriſtiſchem Ausdruck“ mit dem wirklichen Brief einer wirklichen Stadtglocke nicht meſſen können. Ganz das gleiche gilt von den Kaiſer-Briefen im III. Band. Selbftverjtänd- lich find fie das Erzeugnis einer geiſtigen Tätigkeit, ſelbſtredend kommt in ihnen die Individuall- tät ihres Verfaſſers in Inhalt und Form zum Ausdruck, natürlicherweiſe tragen fie ganz

Das Fehlurtell gegen den dritten Band 81

individuelles Gepräge, aber dies alles macht fie nicht zur Geiſtes-Schöpfung, verleiht ihnen keine literariſche Bedeutſamkeit. Vielmehr find diefe Briefe gar nichts anderes als Z wed- briefe, geſchrieben zu einem ganz beſtimmten Zweck politiſcher Klärung, Rechtfertigung, Einflußnahme. Sie ſind nicht in ſich ruhende geiſtige Schöpfungen, ſondern Außerungen zu einem praktiſchen Zweck. Als ſolche können fie niemals unter das Urheberrecht fallen.

Das Landgericht Berlin faßt den Rechtsgrund noch urklarer und noch verzwickter. Danach werden Briefe dann zum urheberrechtlich geſchützten Werke, wenn fie enthalten „die erſichtliche zwedbewußte oder auch nur zweckentſprechende Ausprägung eines durch Überlegung erkannten Inhalts, und zwar insbeſondere dann, wenn fie erkennen laffen, daß fih der Ver- faſſer bemühte, kein Wort mehr oder weniger oder anders zu fagen, als es geſchehen ift, ob- wohl ihm zahlreiche andere Ausdrudsmöglichkeiten zu Gebote ſtanden“, und dies alles findet das Berliner Gericht an den fraglichen Briefen. Bei dieſer Vegriffsumſchreibung müßte man beinahe hinter jedes Wort ein Ausrufungszeichen machen, fie ift ein wahrer Nattenkönig von unzutreffenden Merkmalen. Was zunächſt den mit „insbeſondere“ eingeleiteten Satz an- langt, ſo würde dadurch die Angemeſſenheit und Knappheit des Ausdrucks zum entſcheidenden Grund für die urheberrechtliche Eigenſchaft eines Briefes gemacht. Dies iſt aber eine quaestio facti, eine Tatbeſtandsfrage, die das Gericht gar nicht entſcheiden kann. Wie ſollte der Richter darüber befinden können, ob der Kaiſer in den fraglichen Briefen „kein Wort mehr oder weniger“ gebraucht hat als notwendig war, und daß er keines „anders“ geſagt hat als es gerade; fo gut hätte geſchehen können? Wie will das Gericht nachprüfen, ob dem Briefſchreiber „andere Ausdrucks möglichkeiten“ zu Gebote ſtanden oder ob er mit Überlegung gerade diefen und nicht einen anderen ihm „zu Gebote ſtehenden“ Ausdruck gebraucht hat? Doch der ganze Geſichts⸗ punkt iſt für die urheberrechtliche Frage völlig belanglos und unbrauchbar. Es gibt viele flüchtige, nachläſſige, geſchwätzige, weitſchweifige Schriftſteller, niemand aber wird ihren Briefen den urheberrechtlichen Schutz wegen dieſer ihrer Eigenſchaft abſprechen. Nebenbei geſagt iſt es durchaus unzutreffend, daß den Kaiſerbriefen im III. Band jene Eigenſchaft zutäme, die das Verliner Gericht ihnen andichtet; es ſind darin der Worte gerade genug zu viel und bei nicht wenigen Ausdrücken wäre zu wünfchen geweſen, daß der Kaifer von „anderen Ausdrucks- möglichkeiten" Gebrauch gemacht hätte. Von dem allgemeineren Merkmal, das von dem Berliner Gericht aufgeſtellt wird, gilt dasſelbe, was ſchon oben zu dem Stuttgarter Urteil be- merkt iſt. Eine „zweckbewußte oder wenigſtens zweckentſprechende Ausprägung eines durch Überlegung erkannten Inhalts“ kommt jedem Brief eines beliebigen Briefſchreibers zu, und wenn das Verliner Gericht meint, einige dieſer Kaiſerbriefe insbeſondere ſeien „entfernt von den Briefen des alltäglichen Lebens“, ſo unterliegt das Gericht dabei einer Täuſchung. Über das „Alltägliche“ find diefe Briefe lediglich erhoben durch die Stellung des Verfaſſers und durch die (politiſche, ſtaatsgeſchäftliche) Wichtigkeit ihres Inhalts. Beides find aber keine Meckmale literariſcher Bedeutſamkeit. Sonſt müßte man jeden politiſchen Brief eines Thronfolgers ſchon als ſolchen unter den Schutz des Urheherrechts ſtellen. Ebenſo ſchief ift der weitere Ausſpruch des Berliner Gerichts, dieſe Kaiſerbriefe ſeien „perſönliche politiſche Bekenntnisſchriften“. Selbſtverſtändlich kommen in den Briefen die perjönlichen politiſchen Auffaſſungen des Kaiſers zum Ausdruck, und bekennt ſich der Verfaſſer darin zu feinen po- litiſchen Auffaſſungen zu dieſem Behuf ſchreibt er ja gerade die Briefe. Aber „Bekenntnis“ ſchriften“ find es nicht; nicht das Bekenntnis ift ihr Urſprung und Anlaß, ſondern der praktiſche Zweck, zu deffen Oarlegung und Erreichung es unumgänglich ift, daß der Ber- faffer feine Meinungen „bekennt“. Übrigens ift der ganze Ausdruck „Vekenntnisſchrift“ an- geſichts des vorliegenden Tatbeſtands fremdartig und widerſinnig. Wenn das Berliner Ge- richt meint, der ſachliche Inhalt der Briefe „könnte faſt wörtlich als politiſche Arbeit eines bellebigen Verfaſſers veröffentlicht werden“, ſo drückt es ſich da ungeſchickt aus. Falls es „jeder beliebige“ Verfaſſer ſein könnte, ſo würde den Briefen ja das Individuelle fehlen. Das

32 Das Fehlurteil gegen den dritten Band

Gericht will fagen, der ſachliche Inhalt der Briefe könnte als ſelbſtändige politiſche Arbeit heraus- gehoben und veröffentlicht werden, müffe alfo denſelben Schutz genießen wie eine politiſch— wiſſenſchaftliche Arbeit. Auch hierin greift das Gericht fehl. Von einer „Arbeit“ hat der In halt der Briefe ganz und gar nichts an ſich; vielmehr iſt gerade dies ihr Mangel und wegen dieſes Mangels tritt ihnen ja Bismarck entgegen und dieſes ihres Mangels wegen führt er ſie als Beifpicle an, daß fie gar nichts Gründliches, Ourchdachtes, Überlegtes, Er arbeitetes haben, nichts von allem dem, was eine „Arbeit“ ausmacht. Eine „Arbeit“, die man in der Tat in ein ſtaatsrechtliches Werk übernehmen könnte, ift die lange Belehrung, die Bismarck dem Prinzen über die Grundlagen der Neichsverfaſſung und das Verhältnis des Kaiſers zu den VBundesfürſten angedeihen läßt; der Inhalt der fraglichen Kaiſerbriefe aber iſt damit auch nicht entfernt zu vergleichen.

Das Berliner Gericht wählt ein Beiſpiel. Es ſagt, man könne dieſen Kaiſerbriefen mit noch weniger Recht die Eigenſchaft eines Schriftwerks abſprechen, als dem Briefe Beet- hovens an den Wiener Magiſtrat, welcher Brief die pädagogiſchen Theorien Beethovens entwickle, im weſentlichen aber geſchäftlichen Inhalt habe; trotzdem habe die preußiſche Sach- verſtändigenkammer dieſen Beethoven-Brief unbedenklich als Schriftwerk im Sinn des Ur- heberrechts anerkannt. Gewiß; aber wie konnte die Sachverſtändigenkammer zu dieſem An- erkenntnis gelangen? Weil Beethoven, der Tonſchöpfer, eine literariſche Perſönlichkeit iſt, und weil bei literariſchen Perſönlichkeiten, zumal bei ſo hochgeſchätzten und vielbewunderten wie Beethoven, jede Spur ihrer geiſtigen Tätigkeit mit der Zeit literariſches Intereſſe gewinnt. Kaiſer Wilhelm II. aber iſt keine literariſche, er iſt eine politiſche Perſönlichkeit; auch bei ihm mag vielleicht alles, was von ſeiner Hand ſtammt, Intereſſe gewinnen, aber nur politiſches, geſchichtliches oder ſeelenkundliches, nicht aber literariſches Intereſſe. Politiſche, ge- ſchichtliche, menſchliche Bedeutſamkeit fällt aber nicht unter den Schutzdes Urheberrechts, ſondern nur literariſche Bedeutſamkeit. Zur Verdeutlichung der ganzen Sache bieten ſich andere Vergleiche dar. Angenommen, es wäre nach der Revolution im Königlichen Schloſſe zu Berlin der „Sang an Aegir“ als unveröffentlichte Niederſchrift des Kaiſers aufgefunden oder es wären unter den gleichen Umſtänden Reifebriefe des Kaiſers von feinen Nordlandfahrten angetroffen worden und es hätte dieſe Sachen ein Verlag an ſich gebracht, um ſie zu veröffent— lichen, ſo hätte hiegegen mit Grund und Fug der Schutz des Urheberrechtes angerufen werden können. Denn gleichviel welches der Wert oder Unwert dieſer Niederſchriften geweſen wäre, es wären literariſche Schöpfungen, Erzeugniſſe von literariſcher Vedeutſamkeit geweſen, Schriftwerke, deren literariſche Verwertung nach den allgemeinen Verhältniſſen des ſchrift— ſtelleriſchen Schaffens hätte in Betracht kommen können. Die im III. Band enthaltenen Kaifer- briefe dagegen wären zwar möglicherweiſe gleichfalls um Geld verwertbar geweſen, aber nur weil man ſie politiſch hätte ausſchlachten, geſchichtsſchreiberiſch benutzen oder journaliſtiſche Senſation mit ihnen hätte erregen können oder weil ein Sammler ſie für ein bemerkenswertes „menſchliches Dokument“ erachtet hätte. Um ihres literariſchen Gehalts und Wertes willen aber hätten fie niemals einen Markt gefunden; ihre Bedeutung liegt ausschließlich auf po» litiſchem, geſchichtlichem und allenfalls noch auf menſchlich-ſeeliſchem Gebiet.

Amtliche Schriftſtücke find vom Schutz des Urheberrechts ausgenommen, und die Gerichte hatten zu erwägen, ob die Kaiſerbriefe im III. Band nicht etwa amtlichen Schrift— ſtücken gleich zu erachten feien. Sie verneinen das, und das Berliner Gericht erklärt ausdrüd- lich, die Briefe ſeien vom Kaiſer bzw. damaligen Prinzen Wilhelm als Privatperſon ge— ſchrieben und nicht zu amtlichem Gebrauch. Auch das greift fehl. Wenn ein Prinz, der jede Stunde auf den Kaiſerthron berufen werden kann, mit dem verantwortlichen Staats- mann des Reichs fih über Dinge ausſpricht, die innen- wie außenpolitiſch von größter Trag- weite find oder werden können, fo ift dies keine Privatunterhaltung. Und wenn der Kronprinz des Oeutſchen Reichs (nachmal. Kaifer Friedrich) den Reichskanzler und preußiſchen

Das Fehlurtell gegen ben dritten Band 35

Miniſterpräſidenten auffordert, einer Erhebung Badens zum Königreich entgegenzutreten, oder wenn er es nach dem Weſen ſeines Sohnes für untunlich erklärt, denſelben in die aus- wärtige Politik einzuführen, ſo iſt das kein privater Meinungsaustauſch. Vielmehr liegen in ſolchem Fall Handlungen und Äußerungen vor, die ſich amtlichen Handlungen und amt- lichen Schriftſtücken aufs nächſte nähern. „Amtlich“ im eigentlichen Sinn ſind ſie nur inſofern nicht, als der Briefſchreiber noch keine ſolche amtliche Stellung einnimmt, daß ihm eine unmittelbare amtliche Einwirkung möglich wäre. Aber der Sache nach find dieje Briefe durchaus von amtlicher Bedeutung; man darf ruhig ſagen, es ſind amtliche Schriftſtücke in privater Form. Auch unter dieſem Geſichtspunkt fallen ſie nicht unter das Urheberrecht.

Nach alledem noch der Haupt- und Grundfehler jener gerichtlichen Entſcheidungen. Sie ſetzen ganz außer Augen, daß das Urheberrecht ein Erwerbs-Schutz-Geſetz iſt ganz genau fo wie das Gebrauchsmuſter und das Patent. Nur ſolche Schriftſtücke, denen literariſcher Erwerbswert zukommt, gleichviel ob derſelbe beabſichtigt iſt und nutzbar gemacht wird oder nicht, können unter das Urheberrecht fallen. Nicht aber kann das Urheberrecht gebraucht werden als Notbehelf dur Abwehr anderen rechtswidrigen Mißbrauchs mit fremden Schrift- lichkeiten, geſchweige denn zur Hintertreibung eines ſachlich völlig gerechtfertigten Ge- brauchs ſelbſtempfangener, nicht mit dem Verlangen der Wahrung des Geheimniſſes über- ſandter Briefe. Dieſer Fall liegt aber hier, wie ſchon Eingangs erwähnt, vor. Nicht um dem Kaiſer oder ſeinen Erben ein literariſches Eigentums- und Vermögensrecht und den. Nutzen der etwaigen Verwertbarkeit dieſes Rechts zu wahren, iſt der Einſpruch gegen den III. Band erfolgt, ſondern aus Geſichtspunkten, die außerhalb aller literariſchen Beziehungen und Verhältniſſe liegen. Hier dem Urheberrecht ſtattzugeben ift eine Verkennung des Weſens- grundes dieſes Geſetzes. : aa

Es ift wenig erfreulich, daß in einer fo klar und einfach liegenden Sache Urteile möglich geweſen find, die in jedem Punkt der Rechts-ÜUberlegung und dem Rechts-Verſtand zuwider- laufen. Aber auch unter einem allgemeinen Geſichtspunkt ſind dieſe Urteile zu bedauern. Gewiß kann niemand wünſchen, daß die Gerichte politiſchen Wandlungen Einfluß auf ihre Rechtſprechung geſtatten. Aber wie unter einer Glasglocke abgeſperrt von allen Zeitvorgängen kann ſich der Richter doch auch nicht halten. Es hat etwas Lächerliches, wenn ſelbſt jetzt, da der Kaiſer des Thrones und Reiches verluſtig iſt, das mit ihm ſich beſchäftigende Werk Bismarcks nicht erſcheinen kann um einer Formalität willen. Und die Lächerlichkeit ſteigert ſich ins När- riſche, wenn es außer der Macht der Gerichte liegt, das Erſcheinen dieſes Werks im Ausland und feine Verbreitung innerhalb Deutſchlands im Weg der Nücküberſetzung zu verhindern Und in dieſen vor der ganzen Welt beſchämenden Zuſtand ſind wir geraten: der Schweizer, der Italiener, der Niederländer, der Engländer kann uns kennen lehren, was für uns und in unſerer Sprache geſchrieben, was auch an ſich in keiner Weite anfechtbar oder ſtrafbar ift, trotzdem aber um der unzureichenden Verſtandesſchärfe richterlicher Perſonen willen uns vorenthalten bleibt. Habent sua fata libelli. Aber wer hätte gedacht, daß das Vermächtnis Bismarcks an die deutſche Nation in feinem weſentlichen Schlußteil ſelbſt dann noch begraben bleiben müßte, da die in ihm ausgeſprochene düſtere Vorausſage nur allzu

ſchauerlich ſich bewahrheitet hat? Prof. H. Haug

Der Türmer XXII, 7 3

pas RAKLLLUL ETF

Die hier veröffentlichten, dem freien Meimmgsaustauſch dienenden Einſendungen find unabbängig oom Standpunkte des Herausgebers

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„Was euch nicht angehört...“

G otitisa denkenden und ſorgenden Freunden des Deutſchtums find ernftlihe Be- denken darüber aufgeſtiegen, daß die „Einheitsfront“ der Oeutſchgeſinnten gegen-

über den drohenden Feinden deutſcher Art erſchüttert werden könnte, wenn inner- Halb der deutſchen Chriſtlich-Religiöſen eine Spaltung entſtünde infolge der Veſtrebungen, das Alte Teſtament von ſeiner dogmatiſchen Stellung als chriſtliche Glaubensgrundlage zu verdrängen. Dies ließe ſich noch hören, wenn es ſich dabei nur um Politik oder politiſche Diplomatie des Tages handelte; hier aber geht es um Weſentliches, um das deutſche Chriften- tum ſelbſt, und damit um den eigentlichen Kern deutſcher Art und Kultur Dafür gilt das Wort der Engel im Fauſt: „Was euch nicht angehört, müfſet ihr meiden; was euch das Innere ſtört, dürft ihr nicht leiden!“ Man muß ſich von vornherein darüber klar ſein, daß es eine wahre Einheit ohne ſtrenge Scheidung nicht gibt. Ohne eine Ausſcheidung deſſen, „was uns nicht angehört, was uns das Innere ſtört“, kann eine in der äußern Form etwa erreichte Einheit ihre innere Einheitlichkeit nicht wahren, iſt ſie nur eine Schein-Einheit, die von innen her, durch diefe innere Uneinheitlichkeit, allmählich aufgelöft wird. Einheit muß auf Gemein- ſamkeit beruhen, und Gemeinſamkeit beruht auf Scheidung. „Wer nicht mit mir iſt, iſt wider mich!“ ſpricht Chriſtus.

Es tut nicht gut, einen Kampf gegen das Undeutſche zu führen mit undeutſchen Trup- pen im eigenen Heere. Die Tſchechen haben den Oſterreichern üble Streiche geſpielt, und der Bolſchewismus in den Reihen der Oeutſchen hat unſern Niederbruch beſchleunigt. Es ift aber noch lange nicht ſo arg, wenn man die Torheit begeht, mit Undeutſchen vermiſcht undeutſche Mächte lahmlegen zu wollen, als wenn man im innern Weſen des Deutfchtums ſelbſt, das in der Geſchichte feine Kämpfe zu führen, feinen Geiſt zu bekunden hat, undeutſchen, ja wider- deutſchen Weſenheiten eine maßgebende Macht überläßt. Dabei muß freilich vorausgeſetzt werden, daß die Überzeugung feſtſteht: Kern und Weſen einer Kultur ſei die Religion, und daß für uns Deutſche als Kulturvolk keine andere als die chriſtliche Religion in Frage kom- men kann. Dann ergibt es ſich von ſelbſt, daß wir nie etwas für unfere Art und Kultur zu erreichen hoffen dürfen, wenn nicht der reine Geiſt dieſer unſerer Religion in allen Außerungen, Handlungen, Kämpfen und endlich auch Siegen die beſeelende, beſtimmende, eigentlich füh- rende Macht ift. Alle noch fo glücklichen Teilerfolge von heut oder morgen hätten keine weſent⸗ liche Bedeutung, wenn ſie errungen würden aus einem unreinen, ungefeſteten, unehrlichen Geiſte, der es aus etwelcher „Opportunität“ vermeidet, vor allem das zu ſein, dem er Reich und Sonne in der Welt gewinnen will.

Oder will man ſagen: bis zur Erreichung der Reinigung und Feſtigung unſerer deut- ſchen Religion jei es noch ein weiter Weg; darüber feien die Forderungen des Tages nicht

„Was euch nicht angebärt .. 35

zu verfäumen? Gewiß nicht! Aber noch weniger darf es unterlaffen werden, je weiter der Weg iſt, um ſo eher mit dem Beſchreiten ſehr ernſtlich zu beginnen. Das iſt und bleibt das Hauptgeſchäft, die eigentliche Aufgabe: dies zu fih ſelber Kommen oes Deutſchtums in einem feiner Act religiös entſprechenden Chriſtentum.

Das iſt ja eben das Große an unſerem Voltstum, daß es, um eine ihm rein entſprechende Religion fein eigen nennen zu dürfen, das Chriſtentum felber reinigen muß, daß alſo, damit dies Deutſchtum zu fih ſelber kommen kann, Chriftus ſelbſt für unſere religiöſe Vor- ſtellung zu fi ſelber kommen muß. Wie weit der Weg fein möge, bis dieje Erkenntnis ein völkiſches Kulturgut werde: es iſt wahrlich nicht ſo ſchwer, als Erlebnis menſchlicher Seele, das reine Bild des Heilands ſich vor Augen zu ſtellen und ins Herz zu faſſen. Wer einmal vor ihm geſtanden, wie Fauſt vor der Natur ſtehen wollte: „ein Mann, allein“, ohne alle Vorurteile, Lehrmeinungen, An- und Einbildungen, der wird keinen Augenblick mehr an ein Altes Teſtament denken, deſſen er noch bedürfte, um an dieſe einzige heilige und lebendige Perſönlichkeit zu glauben. Dieſe Stellung hat die deutſche Seele von je geſucht, und in dieſem Suchen nach dem reinen Chriſtus hat ihre tiefe Religioſität beſtanden.

. Es wird überall nicht nutzlos fein, über die Bedeutung der Scheidung für die Einheit

wie der Religion für die Kultur ſich zu verſtändigen; aber in dieſem Falle der Ausſcheidung des Alten Teſtamentes aus den deutſch-chriſtlichen Glaubensgrundlagen ſollte es genügen, nur genau zu wiſſen, was überhaupt damit gememt iſt. Nämlich keineswegs eine gänzliche Verwerfung das wäre ebenſo vermeſſen wie töricht! Nur was darin als eine uns grundfremde Gottesvorſtellung, die des rächenden und rechnenden Gottes, und eine dementſprechende „Moral“ ſich kundgibt, nur das iſt und war von je eine gleich große Gefahr für den deutſchen Geiſt wie für den chriſtlichen Glauben; und nun und nimmer follte das als unſere eigene Glaubensgrundlage gelten. Darüber hinaus aber enthält das Alte Teſtament doch die reiche Fülle pſalmiſtiſcher und prophetiſcher Ausſpruͤche, den religiös- dichteriſchen Gefühlsausdrud überzeitlihen und uͤbervölkiſchen Gottesglaubens, woraus fo unendlich viele fromme Seelen ſich Wohltat, Troſt, Erhebung, Verbindung mit dem Gött- lichen gewinnen konnten. Dies bleibt, nach Ausſcheidung alles „uns nicht Angehörigen“, als eine gewaltige „Einheit“ menſchlicher Religioſität, die man fih febr wohl zu einem unver- gleichlichen Andachtsbuche zuſammengeſtellt denken dürfte; wie ich das ſchon in meinem Auf- fabe: „Altteſtamentliche Heilandsworte“ (Tägl. Rundſchau v. 27./28. 12. 1920) kürzlich aus- geſprochen habe.

Im übrigen beſitzen wir deutſchen Chriften doch noch ein ganz anderes „Altes Tefta- ment“, das wir uns nicht nehmen laſſen wollen: das iſt das Geiſteswerk unſerer großen Mypſtiker. Mit dem lebendigen Chriſtus der Evangelien als perſönlicher Erſcheinung der reinen Gottesidee verbunden iſt dies unſeres Glaubens wahre Grundlage, ganz uns eigen, deutſches Chriſtentum, als Kern und Seele der für unſer Volkstum erhofften Religion der Zukunft.

Bayreuth, 12. 1. 21. Hans von Wolzogen

Vier Lebensbilder

an hat in den letzten Jahren in unſerem deutſchen Geiſtesleben immer wieder N den Namen des Bengalendichters Rabindranath Tagore in rühmlicher Weile

SIR nennen hören, befonders ſeitdem er im Jahre 1913 durch den literariſchen Nobel- preis ausgezeichnet worden. Nun unternimmt es Emil Engelhardt, dieſe ungewöhnliche Erſcheinung insgeſamt den Deutſchen nahe zu bringen: den Dichter und Denker ebenſo wie den Menſchen („Rabindranath Tagore als Menſch, Dichter und Philoſoph“, Berlin 1921, Furche Verlag, geb. 60 4). Es ift für Europäer nicht leicht, ſich auf indiſche Geiſtigkeit ſach⸗ gemäß einzuſtellen; und man tut recht wohl daran, dem gar fo leicht umgefärbten Neubuddhis- mus oder der neuen Theoſophie mit Vorſicht zu begegnen. Es kommen da mitunter Gebilde heraus, die letzten Endes weder indiſch noch europdäifch find, beſonders weil uns nordiſcheren Menſchen die tropiſche Abgeſtimmtheit der Nerven und des Blutes fehlt, die für jene Geiftes- verfaſſung eine Art Vorbedingung ift. Engelhardt hat nicht unrecht, wenn er aus eigener Cr- fahrung vermutet, daß nur ſolche einigermaßen an die großen Inder herankommen, die einige Zeit in den Tropen gelebt haben. Zuletzt hat ja Graf Keyſerling den Verſuch gemacht, die großen Kulturen und Religionen Aſiens mit europäiſchem Denken und Empfinden zu erfaſſen. Es mögen dabei artige und auch geiſthaltige Reifeplaudereien und perſönliche Eindrücke Wert- volles bieten; jedoch der Beigeſchmack des Merkwürdigen und Fremdartigen, auch des Perſön⸗ lichen wird ſich nie völlig überwinden laſſen. Es beſteht darin ſogar der eigenartige Reiz dieſer Art von geiſtiger Einſtellung; angeregt und belebt kehrt der denkende und fühlende Weltfahrer aus ſolchen Fernen in die Kultur und Geiſtesluft der Heimat und an ſeine eigentlich deutſchen Pflichten zurück.

Dies vorausgeſetzt, können wir auch einer Veſchäftigung mit dem bedeutenden ben- galiſchen Dichter (Tagore, verengländert, wird übrigens Tagur ausgeſprochen) Förderung ab- gewinnen. Der deutſche Verfaſſer des vorliegenden Lebensbildes hat ſein Werk zugleich mit reichen Überſetzungsproben durchwirkt, die er kräftig einzudeutſchen bemüht war, wobei er fogar oft den Reim benutzte. Ich wage nicht zu urteilen, da ich die Vorlage nicht kenne, wie weit ihm dies gelungen ift. Es gehört ſchon ein ganz ungewöhnliches ſprachliches Einfühlungs- talent dazu, fo eigenartige Dichtung nachzuſchaffen und deutſchbürgerlichen Unterton zu ver- meiden. Auf alle Fälle find wir aber dem Verfaſſer für dieſe Belebung des Buches dankbar. Auch ſonſt lieſt ſich das Werk ſehr leicht und angenehm, ob er nun vom Leben des feingebildeten Inders, von ſeiner reichhaltigen Dichtung oder von ſeiner tiefgründigen Weltanſchauung ſpricht. Einmal faßt er feine tiefe Verehrung des Dichters in ein paar Sätze zuſammen, die das Wirken dieſes abgeklärten Geiſtes ſehr ſchön kennzeichnen: „Die wahren Dichter haben alle durch ihre Tiefen- und Innenſchau die Kraft zur Heilung der Menſchheit gefunden. So iſt auch Tagore Dichter, Kulturkritiker und Führer zur Höhe in einem, ein Seher und ein Heiler. Dieſer ſchöp⸗ feriſche Menſch iſt ein Prieſter einer reineren Menſchlichkeit, der das Leben kennt und verſteht. Und der auch die Menſchen verſteht mit all ihrem Leid, ihrer Schwäche und Schuld. Das Um-

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faſſende feines Dichtens und Denkens, das Ausſchöpfen aller letzten und feinſten Möglichkeiten in Wort und Ton, das Einfaſſen der innerſten Regungen und ſchattenhaften Empfindungen des Menſchenherzens in Vers und Proſa ſtellt ihn unter die ganz Großen.“ Und ſo möchte Engelhardts Buch auch für unſere aufgewühlte Zeit ein Wegweiſer fein, nicht nur zu Rabin- dranath Tagore an und für ſich, ſondern auch zu den hoheitsvollen Ewigkeitswerten ſchlechthin, die von diefer Perſönlichkeit ausſtrahlen.

Die äußere Erſcheinung des indiſchen Ariers wird in folgender Weiſe gezeichnet: „Oieſe gepflegte Geſtalt mit dem wallenden angegrauten Lockenhaar und dem langen ſchönen Bart, die hohe, faſt verklärte Stirn und die ſtolze edle Naſe, dieſes ſamtene adelige Auge das alles iſt nicht Abbild eines Nogi, der wie ein Halbwilder unter die Tiere und ins Oickicht gegangen iſt. Hier ift ein Vertreter höchſtentwickelter befeeltefter Männlichkeit und Menſchlichkeit Die fchlicht vornehme, ganz außergewöhnlich geſchmackvolle und ftilfichere Einrichtung von Tagores Schule in Schantiniketan verrät einen fo fein gepflegten Geſchmack und einen lebendigen Sinn für Schönheit in der Alltagsübung, daß wir uns nur wünſchen können, alle unſere Schulen und Wobnungen möchten ſo geſchmackvoll eingerichtet ſein wie jene. Und Tagores Kleidung, dem Landes üblichen angepaßt, ift von einer vornehmen und geſchmackſicheren Schlichtheit. Man merkt dem allen an, daß bier ein Menſch ſeine Welt aus ſeiner Seele geſtaltet hat. Nicht im mindeſten aufdringlich, ſondern ganz ſelbſtverſtändlich und wohltuend unmittelbar empfindet man, daß hier eine Perſönlichkeit, ein ausgeglichener Menſch von quellender Innenkraft ſeine Umgebung geprägt bat.“

Wir begreifen ſehr wohl, daß alles, was an Edelſinn jetzt wieder aus dem zuſammen⸗ gebrochenen und verwilderten deutſchen Volk emportrachtet, ſich nach Bundesgenoſſen und ermunternden Vorbildern umſieht. In ſolchem Zuſammenhaͤng ehren wir auch diefe Be- mhung um einen edlen ariſchen Geiſtes verwandten. Doch wollen wir daruber nicht vergeſſen, daß wir doch ſchließlich das Tiefſte aus unſerer ſo überaus reichen deutſchen und germaniſchen Natur und Kultur hervorholen können, wenn wir nur mit dem rechten Blick und den rechten Mitteln in unſere ſeeliſchen Tiefen eintauchen.

Weit gewaltiger war auf unſer deutſches Seelenleben ſchon ſeit gahren die Einwirkung der neueren Ruffen und darunter ganz beſonders eines Doſtojewski. Es ift zu bezweifeln, ob diefe Einflüſſe auf unfer männliches germaniſches Denten auf die Dauer ſegensreich und ſtählend find. Zedenfalls ift es an der Zeit, dieſem Hauch aus Often gegenüber fih mit Selbſt⸗ beſinnung zu wappnen. Wir bewundern die bohrende Psychologie dieſer großen Ruffen; aber ihrer zielloſen ſeeliſchen Zergliederung gegenüber richtet ſich etwas in unſerem deutſchen Weſen endlich doch abwehrend auf. Der Ruffe ift ſehr leidensfähig; er weiß das Weh der Menſchbeit und insbeſondere die Schwermut der ruſſiſchen Seele mit wunderſamer Weichheit nachzu- fühlen und ergreifend zu geſtalten. Nicht in demſelben Maße aber hat er den männlichen Willen, dieſes Leid umzuſchmieden in ſieghafte Zuſtände. So hat auch Ooſtojewski mit feinen not- leidenden Brüdern im Zuchthaus gelebt, hat mit ibnen gegeſſen, geſchlafen, gearbeitet, wie er ſelbſt in ſeiner aufrichtigen und einfachen Art im Tagebuch eines Schriftſtellers (1880) hervor- hebt. Jedoch über dem tiefgründigen Piychologen oder Seelenzergliederer überfehen wir leicht das Religiöſe in dieſem Dichter. Dieſes Religiöſe hinwiederum hat durchaus ruſſiſche Färbung, verbindet ſich auch mühelos mit dem Nationalruſſentum oder dem gläubigen Pan- flawismus dieſes großen Geſtalters. |

Über dies alles hat uns des Oichters Tochter vor kurzem ein Buch vorgelegt, durch das wir recht eigentlich einen lebendigen Begriff von Ooſtojewski erhalten. (Boftojewsti. Ge- ſchildert von feiner Tochter Aimée Doſtojewski. München, 1920, Reinhardt.) Die Verfaſſerin holt ziemlich weit aus, indem ſie mit der Abſtammung ihrer Familie aus Litauen beginnt, wobei fie Wert legt auf das normanniſche Blut. Immer wieder kehrt fie gern auf diefe Abſtammung gura? und ertlärt manche Charakterzüge ihres Vaters aus deffen raſſenhafter Blutmiſchung.

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Man iſt erſtaunt, wenn man z. B. lieſt: „Der Charakter meines Vaters ift ein echt normanniſcher Charakter; febr rechtſchaffen, febr gerade, offen und kühn. Ooſtojewski ſieht der Gefahr ins Geſicht, weicht vor ihr nicht zurück, verfolgt unermüdlich fein Ziel, indem er alle Hinderniffe beſeitigt, die er auf ſeinem Wege findet. Seine normanniſchen Vorfahren haben ihm eine ungeheure moraliſche Kraft vererbt, wie man ſie ſelten bei den Ruſſen findet, dieſem jungen und folglich ſehr ſchwachen Volke.“ Wir ſehen dann im Lauf des Vuches, wie ſich der „Litauer“ oder „Normanne“ immer mehr ins Nuſſiſche hineinentwickelt, wobei zugleich, wenigſtens in der Daritellung feiner Tochter, die rechtgläubige Religioſität mitwächſt. Gegen Schluß nennt fie dieſes von ihrem Vater fo geliebte ruſſiſche Volk „hochgenial und zukunftsreich“, mit Aus- fällen gegen die jetzige Revolution. Das ruſſiſche Volk, ſagt ſie, „fühlt ſich in ſeinem Stolze aufs tiefſte verletzt bei dem Gedanken, von einer Handvoll Träumer und Ehrgeiziger regiert und deren Launen unterworfen zu ſein; es kämpfte gegen die Kadetten und fährt fort, gegen die Bolſchewiki zu kämpfen; es verteidigt ſein Ideal, ſeinen großen chriſtlichen Schatz, den es für die Zukunft bewahrt, den es fpäter der Welt mitteilen wird, wenn die alte, ariſtokratiſche und feudale Geſellſchaft endgültig zuſammenbricht.“

Das Vorwort des Buches iſt aus der Schweiz datiert, wo die Verfaſſerin als Verbannte lebt; ihr ganzes Vermögen ift in den Händen der Volſchewiſten geblieben, und fie ift gezwungen, felber ihren Lebensunterhalt zu verdienen. So können wir Weſteuropäer natürlich nicht fejt- ſtellen, wie weit aus dieſer Darſtellung und bei ſolchen Außerungen perſönliches Empfinden den Tatbeſtand färbt. Das Buch muß demnach mit einigem Vorbehalt geleſen werden. So z. BV. in den Bemerkungen über Turgenjew und feine Gegenſätzlichkeit zu Doſtojewski; auch in ihren Bemerkungen über den vermeintlichen „Snobismus der baltischen Barone“ (Seite 259), der in Rußland angeblich „das größte Unheil“ angerichtet habe. Aus ſachkundigen deutſchen Kreiſen könnte darauf erwidert werden, daß der baltiſche Adel allerdings ſtolz war auf ſeine Unabhängigkeit, oft glänzende Angebote des Kaiſerhauſes abgelehnt und ſich nie vor Titeln und Kapitaliſten gebeugt hat. Anders allerdings waren die ſogenannten „Petersburger Deut- ſchen“, die von den echten Balten ob mancher Geſinnungsloſigkeit im Grunde verachtet wurden, denn ſie waren oft ropaliſtiſcher als der Zar ſelbſt und hatten vom Deutſchen nur den Namen behalten, dem fie etwa ein „off“ anhängten. Doch waren fie keineswegs alle feudalen Ur- ſprungs, viele ſogar germaniſierte Letten und Eſthen und ſtanden dem baltiſchen deutſchen Adel und dem deutſchen Dichten und Denken meiſt feindlich gegenüber. Wie weit auch dieſe Kreiſe, die immerhin noch ein Element der Ordnung und des Fleißes im zerfallenden Chaos des Ruſſentums darſtellen mochten und daher dennoch als unentbehrlich empfunden wurden, ein Gegenſtand des Neides und der Verleumdung der Slawophilen waren, kann natürlich höchſtens vermutet, nicht feſtgeſtellt werden. Und fo ließe fih von fachmiänniſcher Seite her manche Einzelheit des überaus feſſelnden, ſchlicht und wahrhaftig geſchriebenen, doch persönlich gefärbten Werkes beanſtanden.

Das Reinmenſchliche in Ooſtojewskis Weſen bleibt in alledem das eigentlich Anziehende. Ergreifend iſt es, die leuchtende Totenfeier zu leſen. „Es war der wahrhaft chriſtliche Tod, wie ihn die orthodoxe Kirche allen ihren Gläubigen wüͤnſcht, ein Tod ohne Schmerz und ohne Scham“, wie ihn die Verfaſſerin hervorhebt. Ein ungeheures Trauergeleite brachte die Leiche in das Alexander-Newfkikloſter, wo Studenten in lebhafteſter perſönlicher Anteilnahme die ganze Nacht die Trauerwache hielten. Auch in dieſem Schlußkapitel betont die Verfaſſerin noch einmal die religiöſe Aufgabe des Ruſſentums. „Die ruſſiſche Revolution bedeutet das Erwachen ganz Aſiens. Wir werden Schätze des Glaubens dort entdecken, beredte Apoſtel auffinden, die gegen den Atheismus Europas zu kämpfen wiſſen und es von ſeiner tödlichen Krankheit heilen werden.“

Damit wird alſo dem ruſſiſchen Geiſte eine Aufgabe zugewieſen, die mit nicht weniger Recht vom deutſchen Idealiſten für fein eigenes Volk in Anſpruch genommen werden kann.

Vier Lebensbilder | 39

Immer wieder feit Fichte haben ernſte und edle Führer der Deutſchen mehr nationale Würde und ein ſtärker ausgeprägtes Gefühl für unſere beſondere ſeeliſche Sendung verlangt. Zu dieſen Kulturkritikern und unermüdlichen Anregern gehört auch Paul de Lagarde. Es iſt erſtaunlich, daß diefer hervorragende Charakterkopf jetzt erft von Ludwig Schemann eine gründliche Würdigung erfahren hat. Unter dem Titel „Paul de Lagarde. Ein Lebens- und Erinnerungsbild“ hat dieſer bekannte Vorkämpfer Gobineaus nun auch dieſem vielgenannten und wenig gekannten Deutſchen ein ſehr beachtenswertes Tag gewidmet (Leipzig, 1919, Erich Matthes).

Schemann hat eine bewunderungswerte Einfühlungskraft. Er gibt fidh der Perſönlich- keit, die er zu geſtalten unternimmt, nicht nur mit Gefühl und Verſtand, ſondern zugleich mit ganzer Erlebniskraft hin: er lebt mit ſeinem Helden. In der Vorrede betont er ſelbſt, daß ein Anhauch des Helden ſeines Buches auf ihn übergegangen ſei. „Wie nur je im wirklichen Leben, habe ich dieſen als gegenwärtig empfunden; ich fab, ich hörte ihn im Geiſte, wie vor 30 und 40 Jahren, und mein größter Wunſch war es, meinen Leſern von der Wärme, die aus feinem Blick, feiner Stimme auf mich einſtrömte, mitgeden zu können.“ Wir dürfen wohl fagen, daß dies dem Verfaſſer durchaus gelungen iſt. In ſechs Abteilungen betrachtet er Lagardes Leben, den Gelehrten, den religiöfen Denker und Neuerer, den Politiker und Pädagogen, und ſchließt -mit einem zuſammenfaſſenden Kapitel über die Geſamtgeſtalt und den deutſchen Mann das gewichtige Buch ab. Schemann ſteht der alldeutſchen Denkweiſe nahe und macht aus feiner ſcharfen Stellung gar kein Hehl. Auch iſt er geſchult genug, kritiſche Beleuchtungen zaglos und frei in ſein Werk einzufügen, um den oft recht herben Göttinger Gelehrten und Kämpfer zu kennzeichnen. Obſchon nach einer Beſtimmung Lagardes die auf der Göttinger Bibliothek lagernden Briefbeſtände erſt zwei Jahre vor ſeinem hundertjährigen Geburtstage dort an Ort und Stelle dem Benutzer überlaſſen werden dürfen (alſo um 1927), hat Schemann doch recht daran getan, nicht bis dahin zu warten, ſondern durch feinen Hinweis auf dieſen Kultur- denker gerade jetzt die zerriſſene Gegenwart zu befruchten. Und die Freunde und Kenner Lagardes, obenan feine ehrwürdige, inzwiſchen verſtorbene Witwe, haben denn auch dem Verfaſſer ihren vollen Segen mit auf den Weg gegeben.

Oen bedeutenden Gelehrten Lagarde und auch ſeine Geſamtperſonlichteit kennt das große deutſche Volk nur wenig. Verbreitet ſind ſeine „Oeutſche Schriften“, von denen der Verlag Eugen Diederichs eine hübſche Auswahl veröffentlicht hat. Man iſt auf das höchſte erſtaunt, beim Durchblättern dieſes Buches immer wieder auf Sätze zu ſtoßen, die geradezu für die unmittelbarſte Gegenwart geprägt ſcheinen. Es iſt in dieſem Mann etwas vom „ewigen Deutſchen“, das immer wieder in den Zeiten der Not hervorbricht, wo völkiſches und religiöfes Empfinden zuſammenzuwirken pflegen. Lagarde iſt an ſich nicht leicht zugänglich, weil ſich manches zeitlich Begrenztes und gleichſam Schrullenhaftes in feine großzügigen Gedanken und Bekenntniſſe einmiſcht. Auch Schemann ſagt: „Nicht durch ein weit geöffnetes Eingangs- tor, ſondern durch eine Hecke von Gedörn und Geftrüpp gelangen wir in dieſen reichen Frucht; garten; und ehe wir ſein Haus vetreten, haben wir uns über mancherlei Schutt friedliches oder feindliches Herumſchlagen mit abgetanen Zeitgrößen, auch wohl gelegentlich allerperjön- lichſte Odioſyykraſien, den Weg zu bahnen. Was aber drinnen ertönt, ift am allerletzten eitel Harmonie, ganz abgeſehen von dem herb Eigenartigen des Stiles, der nicht ſelten an die alten Tonarten und Schlüſſel erinnert.“

Es ift dieſem gediegenen und gefühlsſtarken Werke Schemanns, deffen Bayreuther Kultur ideale öfters hindurchſchimmern, weiteſte Verbreitung zu wünfchen, obſchon man vorausſieht, daß bei der eigenen Kämpferſtellung des Verfaſſers das Buch in manchen Kreiſen gründlich totgeſchwiegen werden dürfte. Andererſeits iſt dieſe perſönliche Färbung, beſonders im Anhang, für den unbefangenen Leſer ein Reiz für ſich.

Jedenfalls glauben wir auch heute mit Lagarde und halten es in einer Hauptſache genau

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wie er, der einmal ſchreibt: „Ich werde nicht müde werden, zu predigen, daß wir entweder vor einer neuen Zeit oder vor dem Untergang ſtehen. Vorläufig glaube ich noch, daß Deutſch- land das Herz der Menſchheit iſt. Darum glaube ich auch vorläufig noch an die Pflicht, Oeutſch⸗ land über die Lage der Dinge zu orientieren.“

Von hier aus ift nun zu dem freilich ganz anders geſtimmten, doch nicht minder idea- liſtiſchen Philoſophen und Kulturdenker Rudolf Eucken kein großer Schritt. Auch er gehört zu jenen Deutſchen, die ſeit Jahrzehnten, in einer nicht herben, vielmehr freudigen und er— munternden Tonart, die Deutſchen an ihre Seele, an ihre geiſtige Aufgabe erinnert haben. Doch erft feit dem Jahre 1908, als man ihm den literariſchen Nobelpreis zuerkannte, ift dieſer lebensvolle Philoſoph und Ethiker eigentlich in weiteren Kreiſen bekannt geworden. Wir ſind dem Verfaſſer der „Lebensanſchauungen der großen Denker“, die wohl fein bekannteſtes Buch ſein dürften, herzlich dankbar, daß er uns nun in einem nicht ſehr umfangreichen Buche ſeine „Lebenserinnerungen“ geſchenkt hat (Leipzig 1921, Koehler). Wir ſehen den Oſtfrieſen aus feiner Vaterſtadt Aurich hineinwachſen in die Gymnaſial- und Univerſitätsjahre; wir ſehen ibn nach kurzer Wirkſamkeit in Berlin, Huſum und Frankfurt zu Baſel gleichzeitig mit einem Friedrich Nietzſche die Dozentenlaufbahn glücklich aufnehmen und dann jhon im Fahre 1874 zu Sena die Stätte feiner Wirkſamkeit finden, der er treu geblieben ift bis zur letzten Zeit. Dies iſt das perſönlichſte ſeiner Werke, gleichſam eine Einführung in ſein Werden und Wachſen, in fein Ringen um eine der großen idealiſtiſchen Überlieferung zwar getreue, aber doch eigen- artig geprägte Weltanſchauung. Die Darſtellung ift einfach und offen und gibt dem Leſer neben dem Perſönlichen zugleich einen Überblick über die kulturgeſchichtliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte. „Ich kann nicht von großen Taten berichten,“ ſchreibt der hochbetagte Philoſoph, der ſoeben feinen fünfundſiebzigſten Geburtstag feierte; „ich war auch nicht an bedeutenden politiſchen Wendungen beteiligt; aber ich konnte den inneren Lauf des Lebens verfolgen und darüber hinaus für notwendige Forderungen wirken.“ Und darin umgrenzt ſich in der Tat Euckens ſchöne Doppelwirkung: neben dem Aufbau einer eigenen Philoſophie, die etwa auf Fichte zurückgeht, ſtrahlte der Ethiker gleichzeitig feine ſittlichen Forderungen aus und wirkte im Kampfe gegen die Veräußerlichung des Lebens auf ſeine Schüler und auf weite Laienkreiſe ſehr belebend. So zieht ſich durch dieſes Erdenwallen eine Linie von überaus edler Einfachheit. Und das Werk klingt in Tönen der Dankbarkeit aus: „Daß ich aber dazu die nötige Kraft und Friſche beſitze, das verdanke ich an erſter Stelle der glücklichen Geſtaltung meiner perſönlichen Geſchicke. Ich muß es als eine große Gunſt betrachten, daß ich zunächſt durch das Verhältnis zu meiner Mutter eine ſeeliſche Vertiefung erhielt, der auch die Weihe des Schmerzes nicht fehlte, und daß ich dann durch meine eigene Familie und im eigenen Hauſe ein ſchönes, reiches, geiſtig bewegtes Leben führen durfte.“ Wir wünſchen dem Verfaſſer von Herzen, daß ſein vornehm durchgeführtes Leben harmoniſch zu Ende klingen, und daß die deutſche Welt ſich in ſeinem Geiſte weiter bilden möge.

Es wird nun letzten Endes darauf ankommen, ob ſich Neudeutſchland fernerhin von der Fremde her zu ſtark beeinfluſſen oder gar verwirren laſſen wird oder ob endlich jene Be— wegung ſchöpferkräftig einſetzt, die wir alle erſehnen: eine große, kräftig iai Be ſinnung auf unfer eigenftes deutſches Weſen und Vermögen. L

Anut Yamfun | 41

Knut Hamſun Br

eute erft, da des jüngſten Nobelpreisträgers Ehrung einlädt, Umfhau zu halten über die Werke des nach Ibſen größten norwegiſchen Oichters, ift es möglich, 2 Knut Hamſun als Menſchen und Schaffenden gerecht gegenüberzutreten. Denn jede Betrachtung feiner Romane, Dramen, Novellen blieb notwendigerweiſe Stüdwert, weil die Schöpfungen, herauswachſend aus dem unfertigen Leben des Dichters, immer nur einen Teil, einen Abſchnitt feines Seins und Weſens offenbarte. Zetzt, da fih fein Kampf um die Weltanſchauung zum rubevollen Beſitz der Welteinſicht und Weltweisheit entwickelt hat und die Lduterung der Gefühlsſtürme in das rhythmiſche Schwingen eines ewigkeitsverbundenen, alleinheitlichen Gefühlsmeeres vollendet ift, fällt es wie Schuppen von den Augen des Be- trachters dieſem Leben und Werke gegenüber: all dies Werden und Kämpfen erſcheint als eine ſtete Entwicklung fo einfach, klar, ſelbſtperſtändlich, wie die große Natur ringsum.

Eine Urkraft ſtürmte einſt in das Leben hinaus, gegen Leben und Alltag an. Die grenzenlofe Gewalt und zügellofe Wildheit der Leidenſchaften, die feſſelloſen Triebe der Sinn- lichkeit und die Gier, Leben und Weib einzuſaugen, zu umfaſſen in amoraliſcher Fülle und Freiheit, die fiebrifhe Unruhe empfindlichſter Nerven und die immer wache Tätigkeit einer brunſtgeſchwellten Phantaſie konnten den Träger dieſer Kräfte nur im Gegenſatz zur banalen Wirklichkeit, zum Durchſchnittsmenſchen bringen. Dieſer Gegenſatz verbündete ſich mit dem beweglichſten Geiſte, dem ſchärfſten Witze und der maßloſeſten Verzweiflung. Das Sein war ihm nur Wirrſal und Chaos, war in ihm ſo ſehr außer Rand und Vand, daß ihm vor ihm ſelbſt grauſte. Einzige Rettung blieb die Narrenkappe und Narrenſchelle, blieb dem Alltagsmenſchen ins Geſicht zu ſchlagen in Hohn und wahnſinnsverzerrtem Schmerz. Das Sataniſche aus den elementaren Tiefen der menſchlichen Natur mit grauſamer Wolluſt zur Herrrſchaft zu bringen in Bosheit, Tücke und Wüten gegen Liebe und Geliebte, dünkte Aufgabe für die ſchaffenden Kräfte. Hamſun gab ſich in feinen erſten Werken ganz hin den Grimaffenftim- mungen, in denen ſich fein Ich und die Umwelt verzerrt darbietet auf Grund feines ſeeliſchen Zuſtandes, einer Verwirrung in feiner Natur, der chaotiſchen Stürme von Blut und Leiden- ſchaft. Der Mund war, nach Hebbel, im Solde dämoniſcher Gewalten. Vollſtändig ließ ſich dieſe Seele freilich nicht unterdrücken von der Groteske, der Tragikomödie des Kampfes um das tägliche Brot und um Anerkennung. Sie klagte zwiſchen den toll hetzenden Fieberdelirien eines qualvoll gepeinigten und fidh) ſelbſt peinigenden Menſchen aus in lyriſchen Rhythmen, fie gab ſich hin an zarteſte, leuchtende, klingende Träume und verflog ſich ins Land der weiten Schau. Freilich nur, um ſtets wieder aufzuwachen im ſchauerlichen Alltagsgrau. Um dieſen „Widerſpruch zwiſchen Innen- und Außenwelt nur immer wieder als eine ſtetig neue Verwun⸗ dung, Läſterung, Erkrankung, Selbſttötung zu empfinden und ſich an die Lebensenergie, den Selbſterhaltungstrieb zu klammern, weil ſonſt die Verzweiflung und das Chaos der Triebe zur Selbſtvernichtung trieb. ö

Das war der junge Knut Hamſun, der Hamſun der „Myſterien“, deren pſycho⸗ logiſcher Impreſſionismus fein Innerſtes enthüllt als einen blutenden, wundenzerfetzten Kadaver, den einzig noch das Künſtleriſche vor dem Untergang im Nichtmehrbewußtwerden rettet. Dicter Hamſun ſchritt an den Grenzen des Wahnſinns hin. Weil ihm aber die Natur das Vermögen ! der Selbſtbeobachtung und der Geſtaltung gegeben, ward er zum Bändiger aller Triebe, die zur entfeſſelten Auflöſung hinſtrebten, und ward die Viviſektion der eigenen Seele letzten Endes zu errettendem Bekenntnis.

Die Kriſen wandten ſich nun gegen die Umwelt. Has Ich ward abgetan und blieb den zuſtrömenden Entwicklungen, den Befehlen der eigenen Blutquelle überlafien. Der Kampf mit der Außenwelt mußte durchgefochten werden: in maßloſer Polemik, in rachgieriger

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Satire an Heimat, Vaterland, Menſchen und Mitteln, an Chriſtiania, „dieſer ſeltſamen Stadt, die niemand verläßt, ehe ſie ihn gezeichnet hat“. Sein Hohn galt Norwegen und deſſen braven Bürgern. Todfeind ift er in den Romanen „Neue Erde“, „Redakteur Lynge”, in den Dramen „An des Reiches Pforten“ und „Abendröte“ allen Menſchen, die nicht ehrlich und ohne Scheu den Kampf aufnehmen mit dem Welträtſel. Todfeind allen Heud- lern und Cliquenmenſchen, allen Alltagsnaturen, Berufsengherzigen und Naturbeſchränkten, allen Philiſtern in Männer- und Frauentracht. Ohne dabei belehren zu wollen. Er hat es nur zu ſehr erlebt und erkannt, daß dieſer Menſchenmaſſe nicht zu helfen iſt. Alſo bleibt jeder Verſuch, als ethiſcher Prediger zu wirken, lächerlich, und es bleibt nur die von feinem ge- waltigen Talent unterſtützte, hinreißende Offenbarung eines allgemeinen Ekels übrig mit der Fackel der Skepſis oder mit den Nadelſtichen einer hellhörigen Ironie, aus einem vulkaniſchen Temperament heraus und mit dem Willen, nicht vom Streben nach der Eroberung des Alls zu laſſen. N Denn allgemach ſteigt er aus den düſteren Tiefen des „Hungers“ empor zur Be- freiung der Materie Durch die Flucht aus der Stadtwelt in die Natur. Wie immer, wenn rettungsloſe Seelennot das Innere des ſchöpferiſchen Menſchen auseinandertreibt. Und von dieſem Augenblick an beginnt Hamſun zu wachſen, wird ganz Ich und ganz einfam. Die Läuterung beginnt, und fernab verſinken bisherige Bilder. Ablaſſend von Satire und Gefell- ſchaftskritik, vom Brodeln der Widerſprüche, verzichtend auf alle Selbſtanalyſe und Selbft- quälerei gibt er ſich nun nur hin ſeinen reinen Gefühlsmächten, der Muſik ſeines Blutes und ſeiner Sehnſucht ſüßeſten Träumen. Er wirft ſich ganz dem großen „Pan“ in die Arme, nur noch erlebender, liebender Menſch.

Und ſchafft fein ſchönſtes Buch „Pan“, durch das er fih die Grundlage für fein Ber- hältnis zur Welt erobert. In offenbarer Selbſtbiographie findet der Jäger am Waldesrand, ein norwegiſcher Franziskus von Aſſiſi, die Einheit mit dem All, mit der Natur und wenigſtens einen Bezirk im menſchlichen Sein und Ich, der ihm ganz zugehört. Denn taum fegt die Ber- bindung mit den Menſchen neu ein, ſteht auch die Paſſion wieder auf und zerrüttet den ruhigen Gang ſeines Schickſals mit der furchtbaren Laſt einer Doppelliebe: zu der Dame von Welt und dem Kinde der Natur. In dieſen Geſtalten wird die blutende Zerriſſenheit des Dichters lebensvolle Form: zwiſchen der Welt der Kultur und der Einſamkeit der Natur zerrt ihn ſein Leben hin und her. Es bleibt feine ewige Enttäuſchung, die nur die Weisheit des Alters über- winden kann, daß er fih weder in der einen noch in der anderen zu vollenden vermag: weil in ihm ein Blut regiert, das über die einengenden Geſetze der Kultur in entſcheidenden Augen- blicken ſtets hinwegſtürmt, wovon die wunderſüße Geſchichte einer Liebe „Viktoria“ dauern- des Zeugnis ablegt, oder das die Einſamkeit der Natur auf die Dauer nicht erträgt. Der ſcharfe Blick ſieht überall die Grenzen: am furchtbarſten in der Welt der Wirklichkeit, die ihm bis zur gem inſten Trivialität und trivialſten Gemeinheit nahekommt, in der „Königin von Saba“. Solange er abſolut im Banne ſeines Blutes iſt, kann er ſich nicht loslöſen von den Martern der Sinnlichkeit, den Nervenwiderſprüchen. Es bleibt einzig die Flucht in noch größere Einſamkeiten, in noch kulturfernere Natur, als die Heimat bieten kann.

Er beginnt, durch die Welt zu ſchweifen, jagt Illuſionen nach, ſchäumend vor Phantaſie und berſtend vor Sehnſucht. Ein Bruder Gorkis, wandert er hungernd, elend, im Qienſte niedriger Arbeit durch die Länder: Amerika, Texas. Als Fiſcher lungert und quält er ſich auf einem alten Nuſſenſchiff, Kabeljau fangend, in Neufundland herum und löſt fih auf in die grenzenloſe Monotonie des Meeres. Die endloſe graue Ode des Waſſers ruft nach Ergänzung in der Buntheit des Orients, in den Märchen von Tauſend und einer Nacht. Er klettert im kaukaſiſchen Nomadenbergland, zwiſchen den Eisgipfeln des Kasbecks umher und nimmt in zielloſem Umherſchweifen das All in fih auf: da endlich wird er bar aller Bitterkeit. Ab ſinkt von ihm die Widerſpruchsqual moderner Kultur und Ziviliſation, die Paſſionsnot der Weibes-

nut Jamin 45

liebe; er wird innerlich frei und groß. In den Wanderjahren reckt fich der Dichter Hamſun hinaus über ſeine Zeit und Mitmenſchen.

Als er heimkehrt, kann er fih ſtill und zurückgezogen auf einen Hof ſetzen und Land- mann werden, eine Familie gründen, Wurzel faſſen, in Frau und Kindern aufgehen, kann er das Weltleid, das ihn verfolgte, überwinden und zu optimiſtiſcher Weltauffaſſung als jubeln- der Lebenskünſtler durchdringen, der das Dafein dionyſiſch oder apolliniſch, dithyrambiſch oder ſachlich, in voller Weltverbundenheit anſchaut und geſtaltet. Nun nähert er ſich antiken Did- tern: er baut eine Welt auf das „ſinnlich faßlich Schöne“ nach einem Worte Goethes und nicht auf das ſittlich Schöne. Aus ihm ſpricht der griechiſche Gott: alles iſt gewachſen, geworden, geſchaffen, Ausfluß einer großen Natur, nichts iſt erdacht, gekünſtelt, gemacht: in den Romanen „Die Stadt Segelfoß“ und „Kinder ihrer Zeit“ mit der Weisheit des Alternden.

Hgamſun ift nun zum Typus des Dichters an fih geworden. Er kennt kein Urteil, keine Vernunftsbegrenzung, keine Verſtandesbefehle. Er kennt nur die Natur, das All und den Menſchen und weiß einzig, daß er ſich der inneren Gewalt ſeines Erlebens hingeben muß, die ihn zwingt, die Natur, das All, die Menſchen immer wieder zu offenbaren. Er iſt ſo ſehr dem All vergottet, daß er außerhalb des Daſeins ſteht und das Leben wie ein ungeheures Spiel des Augenblicks, das Gott regiert, anſieht. Er ift immer im Banne des Ewigkeitsgefühls der Unendlichkeit, durch und durch univerſal. Darum braucht er nun nicht mehr zu kämpfen. Denn feine Aniverſalität läßt ihn auch in dem, was ihn in früheren Jahren und Werken außer ſich brachte, heute das Welträtſel, das Wunder des Seins fühlen: allüberall iſt Leben, iſt Gott. Und allüberall vermag er fein Ich, fein ſubjektives Sein zu ſpiegeln, zu genießen, zu vertiefen, vermag er zu erleben, daß er lebt. Im moraliſchen Jenſeits von Gut und Böſe, ſo auch allen ſonſtigen Lebenserſcheinungen gegenüber nun „allwiſſend“. Letzten Endes bleibt in allen Daſeinsformen das einzig Wertgebende, wirklich Seiende nur das Menſchliche, der Menſch. Was find Berufe, Charaktere, Nationen? Nichts, wenn nicht Menſchen! Das Menich- liche iſt das Ewiggöttliche, das „unzählige Freuden“ ſpendet. Menſchlich iſt aber nur, worin die Seele lebt: wo er fie ſpürt, ift fein Oichtertum wach. Darum widmet er fein Leben nun beſonders halbdumpfen, unklaren, dunklen Gefühlsnaturen. Die glasklaren Tatſachennaturen, die „wiſſen“, was ſie tun, ſind ihm nur Mechanismen. Natur, Leben waltet nur dort, wo noch Geheimniſſe find. Hier wird er zum Dichter des Unfagbaren, Unausſprechbaren, und hier rührt er an die Grenzen des menſchlichen Wortes, an den Segen des Menſchſeins, den „Segen der Erde“.

Für die Offenbarung dieſer Innenwelt ſteht Hamſun ein außerordentliches Geftal- tungsvermögen und eine feltene Sprachgröße zur Verfügung. Von Haus aus Impreffionift, entwickelte er ſich nach allen Richtungen hin: zum ſubjektivſten Ichton und zur ſachlichſten Objektivität, zur höchften Einfachheit und zur raffinierteſten Koketterie, zu derbſter Natur und graziöſeſter Kultur. Es ift, als ob für ihn, der zuerſt fo überhitzt und in hetzender Auf regung dichtete, keine Grenzen des Handwerks vorhanden wären: die Geſamtheit feiner Werke offenbart jede Art des modernen Oichters vom plaudernden Feuilletoniſten bis zum ftil- ſtrengen Epiker, vom eleganten Salonſchilderer bis zum phantaſiereichen Reiſenden, überall aber Oichter, ganz und gar Oichter. Voll Witz und Geiſt, Humor und Ironie, Ernſt und Schwer- mut, Klage und Verſchlagenheit, Offenheit und Sarkasmus, Tölpelei und Genußſucht. In einem ihm eingeborenen Rhythmus. Bald in heißem Atem, bald in knappſter Prägnanz durch die die Tiefen des Lebens aufbrechen, bald haſtig, überquellend, drängend, unruhig, bald gefeilt, ſchwebend, wellenatmend, viſionär, dithyrambiſch, voll Anſchauung, Plaſtik, innerer Glut und bebender Lebendigkeit, unentrinnbar in ihrer Gewalt: die Welt Knut Hamſuns.

Sie ijt durch und durch modern. Die ſichtliche Verworrenheit heutigen Empfindungs- lebens, die ſuchende Religiofität heutigen Menſchentums, das Grübeln mit dem Gefühl, wie

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heute üblich. erheben auf ſentimentalem Grunde fein Werk zu einer Symphonie der Zeit. Hamſuns Romane ſind aus dem Leben für das Leben geboren, nicht nur Literatur, nicht nur Runft, ſondern fo febr fih der Aſthetiker zu den neueſten Schöpfungen Hanıjuns beiahend ſtellen kann, doch mehr als nur äſthetiſche Sinne zu ahnen vermögen: Weltoffenbarung.

Dr. Hans Martin Elſter =

Karl Friedrich Schinkel

Zum hundertſten Jahrestag des Berliner Königlichen Schauſpielhauſes

eber die weitgreifende und tiefgehende deutſche Bürgerkultur des ſechzehnten Fahr-, © bunderts, deren äußeres Kleid die wuchtigen Nenaiſſancebauten find, waren die Schieckn des Dreißigjährigen Krieges gekommen, und die Kultur war vernichtet. Erſt ein halbes Jahrhundert n d dem Ende des Krieges finden fih neue kulturelle Anſätze. Friedrich I., der erſte preußiſche König, will repräſentieren. Das Kleid ift ihm nicht Leben, aber er will das Leben im Kleide zeigen. Da erſtehen die mächtigen Barodbauten, die Schlüter in Berlin hinſtellt, das Schloß, mit ſeiner breiten Faſſade und ſeinem weiten, hohen Tore und feinen langen Fluchten; ihm ſchrägüber das Zeughaus. Ein Glanzſtück der barocken Bauart. Dann folgt der große König Friedrich II., dieſer ſeltene Menſch, dieſer Halbgott, dieſer Mann der Schlachten, der jahrelang draußen lebt in Hütte und Haus und unter dem Zeltdach und deſſen Geiſt doch ewig bei den Sternen iſt. Deſſen Geiſt in den wil— deſten und ſchwerſten Zeiten des Krieges ſo unendlich viel an Kultur in ſo unendlicher Feinheit zuſammengetragen, in ſich ſammelt und verarbeitet, daß er ein Genius künſtleriſchen Schaf— fens wird. Unter das Zeltdach folgen ihm die Gedanken von Sansſouci, und er errichtet dieſen wunderbaren Park und dieſen Bau, in dem er ſich alle Kulturen des Weſtens, die ihm feindlich waren, unterwarf, in ſich vereinigt, in ſich neu macht. Alles ſpielt und jauchzt in eigenem Erkennen und eigenem Wollen. So und nicht anders muß das Rokoko Friedrichs des Großen verſtanden werden. Dann will der Große repräſentieren, er will der Welt fagen, die ihn nach dem Siebenjährigen Kriege wirtſchaftlich für verloren hält: „Ich bin da, und ich werde es ſchaffen.“ Und da ſetzt er den mächtigen Bau des neuen Palais in den Park von Sansſouci hinein. Nach ihm Friedrich Wilhelm II., der König, der nichts mebr weiß von Feldherrngröße und dem Zeltdach da draußen. Der geheimnisvoll Reichtümer zu erſpüren hofft und Geldmacher und Pfuſcher und ſonſt was beſoldet. Er baut ſich freilich noch das feine Marmor-Palais, aber es ift nachgeboren, Erbteil, das nicht mehr ſelbſt erworben, nicht mehr wahrhaftiges Kleid. Dann iſt es zu Ende. Die Napoleoniſche Zeit und der völlige Zuſammenbruch kommt. Eine Zeit der Armut und Kleinheit, der Sorge und des Sichbeſinnens, der Anſammlung friſcher neuer Kräfte auf die Befreiungskriege hin: eine wunderbare Zeit, denn nach aller Not jetzt wahrhafte innere Erneuerung. Stein, Hardenberg, Vork, ſeid gegrüßt! Der Preußen— könig aber, Friedrich Wilhelm III., und die feinſinnige Königin Luiſe, die Mutter des Landes, ſuchen das ſchlichte Kleid ihrer Zeit und ihres Weſens, und ſie erbauen ſich das Schloß „Still im Lande“, das ſchlichte Landhaus in Paretz. Wie es heute daliegt in ſeiner Schlichtheit, ein hohes Erdgeſchoß und ein Giebelſtock und ein breites, tief auf die Terraſſe niedergehendes Dach. Die ganze Front über und über eingehüllt von dem grünenden Schmuck des Efeus, der zu einem mächtigen Baum geworden. Drinnen aber ſpielen Schlichtheit und Anmut miteinander. Dort hängen die Fähnchen, mit denen die Prinzenkinder ihrer Jugendkompagnie, den Kameraden, voranzogen. Dort wohnt die Erinnerung an die Kornblume, die die Dorf- kinder der Königin zum Geſchenk brachten. Dort wohnt aber auch die Erinnerung an die Tat Friedrich Wilhelms III., der als erſter ſein Land freigab und freie Bauern ſchuf.

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Gilly Vater und Sohn, die Erbauer von Paretz, waren die Lehrer Schinkels. Er, ein Paſtorenſohn aus Neu-Ruppin (geb. 1781), hat ganz früh den Vater verloren, und auch in jungen Jahren dann die Mutter, beſuchte in Berlin das Gymnaſium und war ein mäßiger Schuler. Siebzehnjährig verläßt Schinkel die Schule und wird, durch Gilly bewogen, Architekt. Das Schickſal gab ihm das große Geſchenk, zu den beſten Lehrmeiſtern zu kommen, und der ungeheure Schmerz feines jungen Lebens, der frühe Tod des jungen Gilly, ward für ihn wiederum ein beſonderes Geſchenk des Himmels; denn nun brachten es die äußeren Ver- hältniſſe mit, daß er, obwohl kaum zwanzigjäbrig, die geſamten Gillyſchen Arbeiten übernahm. Der fo früh reifen Perſönlichkeit, der fein außerordentliches Können, fein feſtes und feines künſtleriſches Wollen, ohne Stolz, dennoch frei und frank zur Schau trug, fand Verſtändnis in den weiteſten Kreiſen, vor allen Dingen bei dem König ſelbſt. Und ſo ward er, trotz ſeiner jungen Fahre, der königliche, der Berliner, der deutſche Baumeiſter für eine neue Zeit.

Das war das erſte Beſondere dieſer Zeit, daß fie ganz arm war; und aus ganz ge- ringen Mitteln heraus mußte die Architektur das Kleid dieſes Lebens und Seins zeichnen. Es konnten nicht mehr Schlöjfer gebaut werden wie das Berliner, nicht mehr Bauten errichtet werden wie das Zeughaus; dazu fehlten die Mittel. Aber auch der Geiſt des Barocks war hin, und der Geift des Rokoko war geweſen. Was einſt Friedrich dem Großen Geiſt und Wahr- heit war, das war nun mit all dem Kleinkram, in all dem Goldzierat verſtaubt, überdeckt, plundrig, abgetan, zopfig. Aus dem Reichtum heraus hatte jene Zeit geſchaffen, aus der Armut heraus ſchuf Schinkel; und was mehr iſt: aus der Erkenntnis, daß eine zerbrochene Zeit zurück müſſe zu den allererſten einfachen und reinſten Quellen: zur Schlichtheit, zur Wahsrhaftigkeit.

Schlichtheit, nicht die barocke Form in ihrer Uberfülle, nicht das feingliedrige Bier- werk des Rokoko, ſondern zurück zur ganz einfachen und klaren Linie und Fläche! Das iſt die Leiſtung Schinkels, des Genies. Er geht zurück auf die klaſſiſche griechiſche Form, er lebt und webt in ihr; aber er iſt ſicherlich kein einſeitiger Helleniſt geweſen, er hat griechiſchen Klaſſizismus zum deutſchen gemacht, und dann hat er den freien und offenen Blick behalten für alle anderen Bauſtile; ja, ſeine ganz beſondere Liebe war die Gotik.

Die Gotik kam vor ſiebenhundert Jahren über die Welt als die große Offenbarung, daß alles Niedrige und Lichtgedämpfte des romaniſchen Stiles abgelöſt ſei, daß das Licht fluten dürfe durch die hohen Hallen und die ſchlanten hohen Fenſter, daß die mächtigen Hallen- gewölbe getragen werden könnten von den einzelnen, ſchlanken, himmelſtrebenden Säulen. Das war ein Aufjauchzen in Licht. Es war Schinkel nicht vergönnt, den großen gotiſchen Dom zu errichten, den ſeine nimmermüde Hand wieder und wieder in ſorgſamſt ausgearbeiteten Entwürfen niederlegte. Ganz beſonders wollte er für Berlin und das ganze Vaterland vor den Toren Berlins den großen Erinnerungsdom für die Kämpfer der Freiheitskriege ſchaffen. Der Plan kam nicht zur Ausführung. Doch blieb ihm immer der Gedanke der höchſte, daß gerade da, wo es ſich um das Letzte und Tiefſte handele, um die Verherrlichung des Todes, um die ODarſtellung des Todes in feiner Sieghaftigkeit, die gotiſche Form die einzige fei, die dieſem Gedanken gerecht würde. Mit dem Hades, dem Schattenreich der Griechen, konnte er nichts anfangen, ſein Geiſt wuchs darüber hinaus zu der wahren Freiheit des Gottesmenſchen, des Erlöſten. Das war ihm Gotik.

Faſt allen Berliner Bauten liegt der griechiſche Klaſſizismus, frei übertragen in deut- ſches Empfinden, zugrunde. Und wie er deutſch empfand und auch ſo ganz anders als die von ihm fo hoch geſchätzten italieniſchen Meiſter, das zeigen feine überaus feinen Bauten in Pots- dam und ſonſt draußen, dort, wo ihm Gelegenheit ward, das Bauwerk mit der Natur zu ver- binden und Garten und Haus in eine Form zu bringen. Schloß und Park Charlottenhof, was iſt das für eine Einheit! Schloß Glienicke mit ſeinen laubigen Terraſſen, ſeinen Pavillons und Gartenhäͤuſern!

46 Karl Friedrich Schinkel

Eines der erſten großen Bauwerke Schinkels iſt das Schauſpielhaus. Das Königliche Schauſpielhaus ſtand ſchon immer auf dem Gendarmenmarkt zwiſchen den beiden mächtigen Kuppelkirchen. Aber zweimal brannte es nieder; und im Jahre 1817 bekam Schinkel die Aufgabe des Neubaues. Es iſt errichtet worden im Jahre 1820 und eingeweiht im Mai 1821. Die ungemeine Schwierigkeit, die ſich für den Baumeiſter mit dieſem Bau bot, war die: der König verlangte aus Pietät und aus Sparſamkeitsrückſichten, daß die Überreite des nieder- gebrannten Hauſes benutzt würden und daß doch zugleich viele neue Forderungen einen völlig neuen Grundriß verlangten. Schinkel hatte ſeinerſeits einen ganz anderen Gedanken: er wollte ein Amphitheater bauen, wie es ihm als die befte Verkörperung eines ſolchen Kunſt- tempels erſchien. Er mußte ſeine Pläne fallen laſſen und nun ſeine ſo beſtimmt begrenzte Arbeit neu errichten. Und was hat er trotz all dem geſchaffen! Ein einzigartiges und ganz eigenes Werk, ein Werk, noch heute auch dem modernen Theaterbaumeiſter immer muſtergültig.

Was aber ift nun das wahrhaft Große an dieſem Schinkel- Gebäude? Das erſte weſent⸗ liche Stück nannten wir die Rückkehr zur Einfachheit in Linie und Fläche, und dazu kommt nun das zweite, die volle Zweckdienlichkeit. Kein einzelnes Stück iſt für ſich da und will ſelbſt etwas ſein, ſondern alles einzelne gibt ſich dem Ganzen und ſeinem Zwecke hin, und in dieſem Dienſt am Ganzen wird es wahrhaft ſchön.

Einfachheit und Zweckdienlichkeit und deutſcher Geift der Neugeburt: von diefen Ge- ſichtspunkten ſehen wir auf das Gebäude. Da ſind die Wagerechten der breit anſteigenden Treppe und als Abſchluß des erſten Stockwerkes nichts als die ganz gerade, weit faſſende

Schinkels Rgl. Schauſpielhaus | Gertrud Eichhorn

Karl Friedrich Schinkel | 47

Linie, und fie wiederholt ſich im Giebelwerk zum zweitenmal. Und zwiſchen den Horizontalen ſtehen die Vertikalen, die ſtarken, mächtigen joniſchen Säulen, und in den beiden Giebeln, die einander überragen, findet ſich nun in klaren, ſcharfen Winkeln Horizontal und Vertikal zuſammen. Zu dieſer klaren Linienführung kommt das zweite Schönheitselement, die Ber- teilung der Flächen. Nichts an Schmuck, nichts als unzählige Fenſter, als Löcher, und doch liegt das Ergreifende, Große und Schöne in nichts anderem als in der wunderbaren, þar- moniſchen Verteilung deſſen, was zwiſchen den Dingen liegt, der Fläche.

Erſt nachdem in all dieſer Einfachheit und Zweckdienlichkeit die Form gegoſſen, ruft Schinkel, der Meiſter aller Künſte, nun alle zuſammen und gibt jedem einzelnen den Platz, in Schönheit zu wirken. Da werden die prachtvollen Frieſe in den Giebeln lebendig, da ſtehen die Figuren auf der Treppeneſtrade ſicher und feſt an ihrem Platz und all die einzelnen Figuren auf dem erſten Stockwerk, die Urnen und Schalen bis hin zu dem Pantherwagen und dem Pegaſus, der auf dem Fries die mächtigen Flügel ſchwingt.

Was ſind wir Berliner reich in dieſem einen Gebäude, und wiſſen es kaum!

Treten wir ein in das Schauſpielhaus. Es ift ungemein ſchmerzlich, daß der Theater- ſaal uns keine reine Freude mehr geben kann. Wir haben die Zeichnung des alten Saales und ſehen die Reinheit und Schönheit ſeiner Formen, die aus Armut kam. Als die reiche Zeit gekommen war, ſtieß man ſich an der Schlichtheit, moderniſierte, vertünchte, verzierte: das iſt das heutige Bild. Aber dennoch haben wir im Innern den ganzen Schinkel. Wir haben ihn, wenn wir den Konzertſaal und ſeine Nebenräume betreten. Da iſt er echt, unangetaſtet. Und was iſt das für eine Pracht! Die Feinheit der Maße, die den Raum ſo wohlig macht, in Treppenaufgängen und Umgängen, in Galerien. Die Freudigkeit der Farben, die Ver- bindung des Kunſthandwerks in dem fein gearbeiteten goldenen Gitterwerk der Empore, in den Statuen und Büſten an den Wänden, in den Sitzen. in den Nebenräumen, die fo þar- moniſch gegliedert und in ihrer Farbigkeit ſo bezwingend wirken, das alles klingt zujammen in vollen Akkorden, iſt Eins, ganz Eins.

Das führt nun dazu, Schinkel als den allſeitigen Künſtler kennen zu lernen, als das wahrhafte Kunſtgenie. Er könnte ebenfogut Maler fein. Von ihm ſtammen viele feine Land- ſchafts- und Genrebilder: ich denke an das entzückende „Geſchwiſterpaar mit dem Vogel“. Und dann wieder die handwerkliche Kunſt, die er doch gleich ganz künſtleriſch, ganz ſeeliſch erfaßt. Die Dekorationsmalerei zu wieviel Aufführungen hat nicht Schinkel ſelbſt das ganze Oekorationswerk geliefert! Das Schinkel-Muſeum in Verlin birgt eine Fülle dieſer Schätze. Ganz beſonders aber verſtand er es, das kleine Kunſtwerk, die Handwerkskunſt in feine Dienſte zu ſtellen, neu zu beleben, ihr neue Wege zu weiſen, denn neue Wege mußten gefunden werden, weil man hinausgeriſſen war aus dem alten Material und dem alten Schaffen. Schinkel geftaltete den Eiſenguß, dieje primitivfte künſtleriſche Arbeit zu einem wirklichen Kunſt- werk, er half dem Möbelhandwerk auf und zeichnete ſelbſt die Möbel bis ins kleinſte. Er wandte ſich der Töpferei und Fayencebildung zu. Die Porzellaninduſtrie arbeitete in feinen Muſtern, er lehrte die einfach künſtleriſch ſchönen Gewebe zu ſchaffen. Es war Schinkels Geiſt, Schinkels Zeit ſchlechthin. Alles gediegene Schönheit, einfache und doch perſönliche Formenſchoͤnheit, ob es der Laternenpfahl auf einſamem Platze, der Ehrenſtuhl im Schloſſe oder die Taſſe im Bürgerſchrein war. Man ſehe ſich nur einmal ein einzelnes Werk näher an, folge ihm wirt- lich bis ins kleinſte, in ſeinem zeichneriſchen geiſtigen Aufbau und in ſeiner kunſtgewerblichen gediegenen Ausführung. Das Schönſte, was ich von dieſer kunſtgewerblichen Art kenne, iſt das eberne Tor, das in das Alte Muſeum hineinführt.

Das alte Mufeum im Luſtgarten, dieſen herrlichen Bau, der dem Schauſpielhaus zeit- lich folgte, ſchätze ich in feiner klaſſiſchen Ruhe und feiner klaſſiſchen Schönheit noch höher ein als das Schauſpielhaus. Dort ift dies eiſerne Tor. In den feinen, fo wunderbar ab- gewogenen Figuren, in dem Gerank des Efeulaubes, in der Liniengliederung, die doch feſt

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Schintels Skulpturenzaal im Alten Mujeum in Berlin Gertrud Eichhorn

die Vielheit des einzelnen umſchließt, hält und bannt ein Werk allererſter Größe! Und doch will dieſes Werk nun wieder an fid) nichts fein, es fällt nicht heraus, ſondern es fikt fo bewußt an feiner Stelle, es hat ganz beſcheiden nichts weiter zu fein als das Tor, der Ein- gang zu einem Tempel der Kunſt. Durch dieſes Tor geht es in die große Rotunde, die Kuppel- halle, dort wo im Säulenumgang die Götter und Heldengeſtalten thronen, wo das Geländer werk in feiner feinen durchbrochenen Arbeit die Galerie umſchließt und zurückgelehnt an den Wänden wieder Statuen ſtehen, Götter, Halbgötter, Helden. Die großen Menſchen geſtalteten ahnungsvoll ihre Götter, und die Götter ſegneten die Helden, die zu ihnen emporwuchſen. Das iſt der Gedanke dieſes Bauwerkes.

Einfachheit, Klarheit Zweckdienlichkeit Zuſammenklang aller Künſte und aller Kräfte: man ſehe dieſes Schinkel-Schaffen im Alten Muſeum als die Offenbarung von alle-

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Karl Friedrich Schinkel 49

dem und blicke dann auf den Dom, der dem alten Schinkel Dom folgte! Der alte Schinkel— dom konnte nicht mehr genug repräſentieren, als die Zeit reich geworden war. Die Wil— helminiſche Zeit ſchuf den neuen Dom, dieſen Protzendom, dieſen Bau ſinnloſer Uneinheit— lichkeiten, dieſen Bau mit ſeinen unzähligen Kuppeln, Galerien und Erkern, mit ſeinen hundert Figuren bis hin zu dem Chriſtus, der als der reiche Mann erſcheint. Von dieſem Dome aus denke man an Schinkels Kirchen, an die ganz kleinen, beſcheidenen, unbedeutenden, die kaum einer in Berlin kennt, dort in Moabit, im Norden, am Roſenthaler Tor. Und dieſe anſpruchs— loſen und doch ſo vielſagenden Bauten vergleiche man mit den Kirchen, die uns die letzten Dezennien in Berlin ſchenkten, bis hin zu dem bunten Baukaſtengebilde der Kaiſer-Friedrich— Gedächtniskirche im Tiergarten!

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Elngangstor zum Schloß Glienicke, erbaut von Schinkel Gertrud Eichhorn Der Türmer XXIII, 7 4

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Noch ein Beiſpiel. Dem ſchönen Schloßportal gegenüber ſteht das Begas-Dentmal des alten Kaiſers Wilhelm. Oft dieſes Denkmal fein Kleid? Hat es auch nur eine leiſe Ahnung ſeines Weſens, ſeiner Schlichtheit, ſeiner Größe, die doch in ſeiner Schlichtheit lag? Der alte Heldenkaiſer ſtand an ſeinem Eckfenſter in ſeinem ſchlichten Palais er wohnte nicht im Schloß und ſah die aufziehende Wache, grüßte ſeine Soldaten und grüßte ſein Volk, das ihm zujubelnd vor den Fenſtern ſtand. Das war der alte Heldenkaiſer, das war ihm Pflicht, die er für fih erkannte auch in dieſem kleinen Dienſt Tag um Tag. Da ſtand er im einfachen Militärmantel, und mit dieſer Geſtalt vergleiche man das Bild des Denkmals am Schloſſe! In hundertgeſtaltigen Trophäen, buntſcheckig zuſammengewürfelt, protzend auf Macht, Stolz, Reichtum, wächſt das Denkmal empor. Einzelkram, unzählig viel, ſchön Gearbeitetes, aber geiſtlos beieinander, Kleinkram, der ſich nie zu einem Bilde der ſchlichten Größe des alten Kaiſers zuſammenſchließt! Was helfen da die Arkaden und Säulengänge, was hilft da die Friedensgöttin, die des Kaiſers Pferd geleitet es iſt alles Allegorie und Phantaſie und Aufputz, doch ohne wirkliches Leben. Heute erſt verſtehen wir den tiefen Fehler eines ſolchen Werkes, aber wir empfinden ſchmerzlich, wie wir in dem Überreichtum kapitaliſtiſcher Zeit unfrei und unſchön und unwahrhaftig wurden.

Aber heute verſtehen wir auch, aus der Armut heraus, welch eine Größe in ſolch einem Denkmal wie dem von Schinkel ſteckt, das er Scharnhoͤrſt errichtete. Es ſteht im Norden Berlins auf dem Invaliden-Friedhof. Auf dem ſchlichten zweiteiligen Sockel erhebt ſich far- kophagartig der Oberbau. Wie umwebt iſt der Sarkophag von einem reich figürlichen Fries, dann folgt der ſchlichte Sarkophagdeckel in ganz feinen graden Linien und auf ihm der eherne, ſterbende Löwe. Das iſt Scharnhorſts Geiſt und Scharnhorſts Werk.

Groß iſt die Zahl der Schinkelbauten und der Schinkel-Kunſtſchöpfungen in Berlin und Umgegend und auch in anderen Orten. Ich will in dieſer Erinnerung nur ganz kurz noch auf einige Bauten hinweiſen. Die Schloßbrücke, die von dem Luſtgarten am Schloß zu den Linden führt, mit ihren Statuen. Man achte auf das durchbrochene Geländer, eine ganz hervorragende Eiſenarbeit und auf die harmoniſche Verteilung der Statuen. Die alte Wache unter den Linden das erſte Schinkelwerk in Berlin was kann fold) ein alter Wachkaſten doch zugleich ſchön fein! Und doch ift er nichts als eine kleine Feſtung, ein typiſcher Militär- bau; und dahinter ſo ganz anders, ſo ganz wie ein feines ſeidenes Gewebe, die Singakademie, mit ihrem Giebelfries und dem Schinkelwahrzeichen am Firft, dieſes muſchelartige Zierſtück, das wir ſo oft wiederfinden an ſeinen Bauten. Wir erwähnen noch kurz die beiden Palais des Prinzen Karl und des Prinzen Friedrich Karl auf der Wilhelmſtraße, bzw. am Wilhelms- platz, die Baugewerkſchule, den einzigen ganz großen Bau, der in Ziegelſteinen errichtet iſt. Die Faſſade und Inneneinrichtung iſt auch heute noch ein Muſter für alle techniſchen Erbauer. Und wie reich ift hier der Künſtler in der freien Erfindung des beſonderen Schmuckwerkes, in den feinen kleinen Plaſtiken in Majolika, die die Türe umrahmen und die Abſchlußlinie des erſten Stockwerkes bilden. Dann die Torhäuſer am Potsdamer-Platz, die heute in allem Ge— wirr jenes Ortes und dieser Zeit es ſchwer machen, fih auf Schinkels edeleinfache Gedanken, Pläne und Hoffnungen und auf ſein Werk zurückzufinden. Von auswärtigen Bauten ſeien kurz genannt das Stadttheater in Hamburg, die Wache in Dresden, der Leuchtturm in Arcona, Kirche und Rathaus in Zittau.

Beteiligt war Schinkel ferner an der Reſtauration des Kölner Domes und der Marien— burg. Beiden Arbeiten gab er ſich mit ganz beſonderer Innerlichkeit und feinſtem Verſtändnis für die hiſtoriſche große Aufgabe hin. In ausführlichen Gutachten hat er ſich über dieſe Ar— beiten ausgelaffen, und gerade in unſeren Tagen der Not um die Marienburg dringt uns das ſo ſtark ans Herz, was er damals über dieſen königlichen Bau der deutſchen Ordensritterſchaft ſchreibt. „Der Eindruck der Wirklichkeit hat nun bei mir den früher nur durch Zeichnungen erhaltenen um vieles übertroffen, und als ich, um mein Arteil bei mir feſter zu begründen,

Rarl Friedrih Schinkel 51

diejenigen Werke des Mittelalters in die Erinnerung zurüdrief, die in diefe Gattung fallen, ſo mußte ich bekennen, daß bei keinem wie beim Schloſſe Marienburg Einfachheit, Schönheit, Originalität und Konſequenz durchaus harmoniſch verbunden ſind.“

Wie aber die Größe ſeiner Werke in dieſer Einheit und Konſequenz liegt und in ihr die Schönheit ausſtrahlt, ſo iſt er der Meiſter ſelbſt, in dieſen Linien erbaut. Das Werk und ſein Schöpfer wird ganz eins im innerſten Weſen. Die großen Forderungen, die er an ſein Werk ſtellt, ſtellt er mehr noch an den Schöpfer des Werkes, an ſich. Die perſönliche Klar— heit und Freiheit des Geiſtes iſt es, die aus ihm ſpricht und ihn nun auch zu dem führenden Geiſt macht, ihm den ſtarken Einfluß auf feine Zeit ſchafft: auf feine Zeit und auf die unfrige, die ihr Abbild iſt, nur daß unſer Zuſammenbruch und unſere Not viel größer iſt als die ſeiner Zeit, unſer Ringen viel ſchwerer, in dieſen Tagen oft hoffnungslos. Aber die Arbeit ſoll dennoch Stück um Stück getan werden, in bewußter und ſtiller Rückkehr zu jenen Quellen.

Auf dem Nordfriedhof ſteht Schinkels Fichtegrabmal, eines ſeiner ganz köſtlichen Werke. Wie bei dem Scharnhorſt-Denkmal charakteriſiert der Aufbau den Helden. Da ſteigt ſchlank empor ein eiſerner Obelisk, hart, metallen und doch wie perſönlicher Klang; und in dieſem anſtrebenden Klingen iſt der ganze Fichtegeiſt ſchöpferiſch wiedergegeben. Auf der Vorder— ſeite das kleine Medaillon mit dem Kopfe des großen Philoſophen; um den Obelisk herum das rankende Grünwerk, dann das eijerne Gitter das ift alles.

Nahe dem Fichtegrab ſteht das Schinkelgrab. Auch ſein Stein iſt von dem Meiſter ſelbſt. Das iſt ſo einzigartig wie ſein Schaffen. Es war für jemand anders beſtimmt, aber als dann der

Schinkels Schloßbrüde in Berlin Gertrud Eichhorn

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52 Luther als Tonfeßer

Meiſter ſtarb, glaubte man ihn und ſein Gedächtnis nicht beſſer ehren zu können, als in ſeinem

eigenen Werk. Die ſchlichte grade Stele gibt den Schinkelkopf und oben das Schinkelwahr⸗

zeichen, die Muſchelform, von der ich prah. Ich fhliche mit dem Wort auf Schinkels Grabe:

„Was vom Himmel ſtammt, was uns zum Himmel erhebt, iſt für den Tod zu groß, iſt für

die Erde zu rein.“ Hermann Bouſſet 4 O

Luther als Tonſetzer

es Tages und des Mannes von Worms haben nicht nur die Proteſtanten als Ge- ſamtheit, ſondern insbeſondere auch die Tonkünſtler und alle Freunde der evan- 0 geliſchen Kirchenmuſik in freudiger Dankbarkeit zu gedenken. Hat doch eine alte voltstumliche Überlieferung das herrliche Lied von Gott als der feſten Burg, dieſes klingende Kampfpanier des Proteſtantismus, aus der Heldenſtimmung deſſen entſtehen laſſen, der ſoeben auf dem Reichstag vor Kaiſer und Fürſten mit glühenden Augen und geballter Fauſt gerufen hatte: „Hier ſtehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.“ Dieſer Zuſammenhang iſt dann von der hiſtoriſchen Kritik wieder vielfältig auseinandergeriſſen worden, hauptſächlich mit der Begründung, Melodie und Text ſeien nicht vor 1529 gedruckt worden, und es ſei höchſt unwahrſcheinlich, daß Luther dieſes Lied der Lieder habe volle acht Jahre unbenutzt im Schreibtiſchkaſten liegen laſſen. Dagegen hat Friedrich Spitta (früher in Straßburg, jetzt in Göttingen) den Nachweis zu führen verſucht, daß das Lutherlied trotzdem mi- innerſter Notwendigkeit aus dem Jahr 1521 ſtammen müſſe, und mögen die Theologen diefe Gründe auch anzweifeln jeder künſtleriſch Schaffende wird ſich bei der Lektüre von Spittas einſchlägigen Schriften gewiß ſchon rein gefühlsmäßig auf ſeine Seite ſtellen. Die anderen herangezogenen Anläſſe von 1525 bis 29 waren nicht der Art, dieſen machtvollen Geſang hervorlocken zu können, und daß das wenigſtens im Entwurf vorhandene Lied vielleicht jabre- lang auf die letzte Feilung und die ſchließlich daraufhin gewagte Drucklegung hat warten müſſen, begegnet nicht nur bei Hunderten genialer Kunſtwerke aller Zeiten, ſondern iſt auch gerade für Luther anderwärts belegbar. Mag dem in Einzelheiten fein wie ihm wolle, worauf genauer einzugehen hier nicht der Ort iſt ſo lange die gelehrten Hymnologen nicht den bündigen Beweis geführt haben, daß das Lied nicht 1521 geſchrieben ſein kann, wird die allgemeine Volksſtimmung weiter berechtigt fein, es als den Heldenpfalm von Worms zu fingen.

Wenn Luthet als Dichter dieſes und vieler anderer Kirchenlieder nie angezweifelt worden iſt, ſo iſt die Frage nach der Autorſchaft der Singweiſen ſtark umſtritten und ſchwierig genug zu löſen. i i

Ich war früher (z. B. im Novemberheft 1917 der Süddeutſchen Monatshefte) leider aus mangelnder Kenntnis der weitverbreiteten Auffaſſung gefolgt, Luther als ſchöpferiſchen Tonſetzer gering einzuſchätzen, habe aber dieſe Meinung inzwiſchen völlig geändert und 1920 im Archiv für Muſikwiſſenſchaft den ausführlichen Nachweis zu erbringen verſucht, daß wir in Luther auch den Erfinder der weitaus meiſten Melodien ſeiner Lieder und damit einen der wichtigſten deutſchen Komponiſten überhaupt zu ſehen haben. Daß dieſe Singweiſen untereinander großenteils das gemeinſame Merkmal eines geſchloſſenen, ſehr charakteriſtiſchen Perſönlichkeitsſtils zeigen, war ſchon längſt aufgefallen. Da man alſo einen bedeutenden Melodiker als ihren Urheber annehmen mußte, war man bei der Suche nach einem ſolchen auf Johann Walther, den trefflichen Torgauer Hof- und Stadtkantor ſowie nachmals erſten Dresdener Hofkapellmeiſter verfallen. Nun wiſſen wir zwar, daß Walther dem Reformator 1523 bei der Einrichtung der „Deutſchen Meſſe“ muſikaliſche Sekretärdienſte geleiſtet und gelegentlich der Herausgabe des früheſten evangeliſchen Chorgeſangbuches an den Sing- weiſen noch hie und da geglättet und geputzt hat. Aber gerade Walther ſelbſt, der es am

Luther als Tonſetzer 55

beiten wiſſen mußte, hat ausdrücklich bezeugt, daß der Reformator „unter anderen“ eine der wertvollſten und umfangreichſten Luthermelodien, das deutſche Sanktus „Jeſaia dem Pro- pheten das geſchah“, erfunden habe. Daran ſchließen ſich eine ganze Reihe weiterer, gut be- glaubigter Zeugniſſe anderer Zeitgenoſſen aus Luthers nächſter Umgebung, die des Nefor- mators Komponiſtentum preiſen und ſogar erzählen, daß man im Lutherhauſe in Melanchthons Gegenwart Didos Abſchiedsworte (alfo aus der Aeneis des Vergil) in einer mehrſtimmigen Vertonung Doctoris Martini gefungen habe. In einer gedruckten Wittenberger Schulkomödie hat ſich ſodann ein Tonſatz „Non moriar sed vivam“ ausdrücklich als von Luther herrührend erhalten (neu herausgegeben bei Breitkopf & Härtel und für den praktiſchen Gebrauch der Kirchen- und Schulchöre eingerichtet vom Dresdener Kreuzkantor Prof. O. Richter 1917), übrigens zu einem Text, der auch ſonſt in Luthers Beziehungen zur Muſik eine bedeutende Rolle geſpielt hat, da er ſeine Bekanntſchaft mit dem größten deutſchen Tonſetzer ſeiner Zeit, Ludwig Senfl, 1550 von Koburg aus vermitteln ſollte.

Weiter habe ich kürzlich im Archiv für Muſikwiſſenſchaft ein fliegendes Blatt (Witten berg 1546) veröffentlichen dürfen, auf dem die vierſtimmige Harmoniſierung der altkirchlichen Pſalmodie gelegentlich des 64. Pſalms dem Reformator durch großgedruckte Unterſchrift „Doctor Mart. Luther“ zuerkannt wird; es ſtammt aus dem Zerbſter Archiv.

Weiter erſchien bei der Erörterung dieſer Frage das damals übliche Verhältnis zwiſchen Melodieerfinder, Textdichter und kontrapunktiſchem Bearbeiter als beinahe entſcheidend, und ich habe ausführlich nachzuweiſen unternommen, daß damals die Perſonalunion der beiden erſteren eine allgemein anerkannte Selbſtverſtändlichkeit war, die bei Volksliedern nur höchſt ſelten und dann ausdrücklich verlaſſen wurde. Und um geiſtliche Volksliedtechnik handelt es ſich hier, nicht um die literatenhafte Produktionsweiſe odendrechſelnder Humaniſten. Dieſen beiden ſelbſtſchöpferiſchen Funktionen des Wort- und Tonerfinders, die ſchon bei der Geſtaltung der Strophenform ineinanderfloffen, ſtand damals die mehr reprodultive Kunſt des Poly- phoniſten, der die längſt vorhandene Singweiſe zum Motettentenor reckte und ſtreckte, um ihn dann mit motiviſchen Begleitſtimmen zu umranken, als durchaus andersartige Denkform gegenüber, und auf dieſem Felde allein hat ſich Johann Walther während der in Betracht kommenden Jahrzehnte einen Namen gemacht. Das heute noch Lebendige, Unſterbliche an der Luthermuſik ſind nicht die Kirchenliedmotetten Waltherſcher Prägung (er war übrigens durchaus nicht der Einzige auf dieſem Gebiet, wie etwa ein Blick auf G. Rhaws reichhaltiges Chorbuch von 1544 lehrt, das kürzlich in den Denkmälern deutſcher Tonkunſt neu gedruckt worden iſt), ſondern es ſind die Melodien, wie ſie ſich heute wieder zu ihrer ſchlichtrhythmiſchen, monodiſchen Urgeſtalt zurückentwickelt haben. So hat ſie Luther ſelbſt m. E. zunächſt zur Laute bänkelſängermäßig improviſiert, und der als Muſiktheoretiker wie als antilutheriſcher Theologe gleich bedeutende Joh. Dobneck v. Wendelſtein (Cochlaeus) hat bedeutſam genug die eigentümliche Szene auf uns gebracht, wie Luther 1521 eine große Wirtshausgeſellſchaft durch feine Lauten Stegreifkunſt zur Begeiſterung hingeriſſen habe. Aus ſolcher Umgebung ſtammt ſichtlich fein leidenſchaftliches Liedpamphlet von den Brüſſeler Märtyrern, das als früheſtes von allen Lutherliedern gedruckt worden ift (1523), von hier neben all der herrlichen Erlebnislyrik perſönlichſter Prägung auch das Wormſer Lied „Ein' feſte Burg ift unfer Gott“.

Höchſt merkwürdige Schickſale hat dieſe Melodie durchgemacht. Erſtmals ſtand ſie in einer (heute verſchollenen) Ausgabe des Wittenberger Klugſchen Geſangbuchs von 1529. Schon im Jahr danach ſang man ſie im fernen Riga, alſo muß ſie ſich mit Windeseile verbreitet haben. Lange wurde als früheſte Niederſchrift der ſogenannte Kadeſche Lutherkodex an- geſehen, die Altſtimme einer handſchriftlichen Motettenſammlung, deren Schenkungsvermerk von Joh. Walther an Martin Luther 1530 ſich aber als gefälſcht herausgeſtellt hat. Trotzdem mag der Band zu den „Partes“ gehört haben, aus denen Luther gern mit Freunden und Hausgenoſſen muſiziert hat. In der faſt überall gleichlautenden Frühfaſſung als Motettentenor

54 l Zu unſeter Mufitbetlage

zeigt die Weiſe bereits allerlei kontrapunktiſch - rhythmiſche Abwandlungen und Verkünſtelungen, doch habe ich ihre Urgeftalt im Bachjahrbuch 1917 wiederherzuſtellen verſucht. Eigentümlich ſind darin jene Synkopen, die durch verfrühten Einſatz beſonders leidenſchaftlich betonter Hauptſilben (pathetiſche Vorwegnahmen) entſtanden ſind. Als dieſer Motettentenor aus dem Tongeſpinſt des taktierten Kantoreichors in den Sopran wanderte, um auch von der ganzen Kirchengemeinde mitgeſungen werden zu können, mußten derart verzwickte Rhythmen ſich naturgemãß etwas abſchleifen. So treffen wir die rhythmiſch teilweiſe vereinfachte (iſometrierte) Weiſe in den Cantionalen des beginnenden 17. Jahrhunderts an; der berühmte Leipziger Thomaskantor Seth Calviſius hat ihr 1597 zuerſt die heute übliche melodiſche Glättung im Stollen zuteil werden laffen, und der geniale Nürnberger Hans Leo Haßler ihr zehn Jahre ſpäter eine Harmoniſierung geſchenkt, die mindeſtens ein Jahrhundert lang mit Recht als klaſſiſch gegolten hat. Metriſch vollkommen ausgeglichen wurde fie erft in den Fahren des Weſtfäliſchen Friedensſchluſſes, als an Stelle des harmoniſch begleitenden Chores allgemein die akzentloſe Orgel als einziges Akkordfundament des Maſſenchorals trat. Wir Heutigen verſtehen ihren akkordiſchen Verlauf ungefähr fo, wie fie von Sebaſtian Bach mehrfach inter pretiert worden ift, dem fie ja auch zum Grundgerüft einer feiner gewaltigſten Choralkantaten gedient hat. Dr Friedrich Zelle hat ſich einmal vor 30 Jahren der höchſt lehrreichen Aufgabe unterzogen, alle irgendwie bedeutſamen Bearbeitungen der Melodie aus älterer Zeit zu- ſammenzutragen, und man ſieht dort mit Erſtaunen, welch weitgehende Wirkungen von Luther ſchon als dem Tonſetzer dieſer einzigen Weiſe ausgegangen find. Möge der herrliche Kampf- geſang, den bezeichnenderweiſe Jakob Meyerbeer voreinſt ſo höchſt unfromm und ſinnwidrig für den Pariſer Opernrummel ſeiner „Hugenotten“ mißbraucht hat, künftig wieder in einem glüdliheren Deutſchland gewaltig ertönen. Es heißt dort: „Und wenn die Welt voll Teufel wär'“ nun, fie ift wahrlich voller Teufel ... Trotzdem foll und darf es heißen: „Nehmen ſie den Leib, Gut, Ehr', Kind und Weib, das Reich muß uns doch bleiben!“

Dr. Hans Joachim Moſer ——

Zu unſerer Muſikbeilage

s zunächſt heißt es Kriegsſchulden tilgen, wenn wir nach langer Zeit der Drudihwierig- keiten endlich vier Vertonungen Dehmelſcher Gedichte bringen zugleich als S muſikaliſchen Nachruf an den verſtorbenen Dichter. Dehmel hat ſich ſtets für die Vertonungen ſeiner Gedichte intereſſiert; mit muſitaliſchem Ohr begabt, war er ſehr wähle- riſch und mit Zuſtimmung ſparſam um fo mehr darf es bemerkt werden, daß er die vorliegen- den Kompoſitionen des heute etwa vierzigjährigen Franken Dr Armin Knab perſönlich gut- geheißen hat. Der Komponiſt, der zu Rothenburg ob der Tauber als Amtsrichter lebt, hat in den letzten Jahren durch ſeine Lieder (nach dem Wunderhorn, nach Mombert, nach George) immer mehr die Aufmerkſamkeit auf fih gelenkt. Als Schüler des Würzburgers Meyer-Olbers- leben wurzelt er nicht ſo ſehr auf der von Wolf ausgehenden Schule derer, die in raffiniert geſtaltete Klavierſtücke den Text hineindeklamieren, ſondern er greift auf Schubert mit dem Grundſatz zurück, daß die Geſangsmelodie unbedingt als primäres Element anzuſehen ſei, während das Klavier nur den Stimmungskommentar zu liefern habe. So bleibt Knab bei allem Anteil am harmoniſchen „Komfort der Neuzeit“ ſtets plaſtiſch und leicht verſtändlich. Zumal in den l'tauiſchen Liedern bekunden die feinen Taktwechſel einen heute nicht alltäg- lichen Sinn für rhythmiſche Biegſamkeit und urſprüngliche Melodik.

Freunde der Künſt des Komponiſten verſenden übrigens ſoeben einen Aufruf zur Sub- ftription auf fein Hauptwerk „Zwölf Gefänge aus des Knaben Wunderhorn“ (20 H). Näheres erfährt man durch Oskar Lang in München, Wagnerſtraße 2.

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Das Laſter der Ehrlichkeit Deutſchland nicht ſchuld? Proteſtverſammlung! Vergebliche Hoffnung auf Segen Leipzig London Oberſchleſien

bwohl wir in London unſer Gegenangebot um ein Beträchtliches

erweiterten, ſind die im Falle der Nichtanerkennung der Pariſer

Beihlüffe angedrohten ſogenannten Sanktionen gegen uns in Kraft D geſetzt worden.

In dieſer Feſtſtellung drückt ſich knapp umriſſen der Mißerfolg aus, den der deutſche Außenminiſter vom Londoner Konferenztiſch heimgebracht hat. Die Cnt- ſchloſſenheitsſtimmung, für die ſich Dr Simons durch feine füddeutihe Werbereiſe einen Reſonanzboden zu ſichern bemüht war, hat ſich den Londoner Einflüffen gegenüber nicht als ſtichfeſt erwieſen. Die weltpolitiſche Lage wäre, wie an dieſer Stelle dargetan, für geſchickt gefaßte deutſche Gegenvorſchläge zum mindeſten nicht ungünſtig geweſen. Dadurch daß man dieſen Gegenvorſchlägen aus klein- lichen Angſtgründen eine Form gab, die lediglich durch innerpolitiſche Rüdfichten beſtimmt war, wurde die Eröffnungspartie ſo gründlich verpfuſcht, daß es den taktiſch weit überlegenen Gegnern verhältnismäßig ein leichtes war, den deutſchen Partner in wenigen Zügen mattzuſetzen. Es iſt ſchlechthin unverſtändlich, wie Dr Simons, der doch von Lloyd George mit dem lobenden Zeugnis eines in- telligenten Menſchen bedacht worden iſt, ſich zu dem faulen Trick herbeilaſſen konnte, an Stelle des Geſamtwertes der 42jährigen Annuitäten von 226 Milliarden Mark mit der maskierten Ziffer von „nur“ 50 Milliarden Mark Gegenwartswert herum- zujonglieren. Die deutſche Offentlichkeit iſt derart allenfalls einen halben Tag lang über die wahre Höhe unſeres Angebots im unklaren gehalten und regelrecht geblufft worden, außerhalb Deutfchlands aber hat fidh gleichzeitig eine völlig irrige Vorſtellung feſtgeſetzt, indem nun alle Welt rein zahlenmäßig 226 mit 50 in einen für uns äußerſt ſchädlichen Vergleich ſetzte. Eine weit ſchlimmere Nachwirkung aber haben wir für die Folgezeit von jenem unglüdfeligen Proviſorium zu er- warten, mit dem der Außenminiſter, von geriſſenen Einbläſern verleitet, im letzten Augenblick die verfahrene Situation zu retten hoffte. Das einmal ausgeſprochene Wort, ſo gern er's jetzt wohl möchte, läßt ſich nicht tilgen. Mit dieſem übereilten,

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nach dem Urteil der Sachverſtändigen unerfüllbaren Zugeſtändnis hat der Feind- bund für zukünftige Verhandlungen im voraus eine erheblich verbeſſerte Unterlage gewonnen. Legen wir noch etwas zu, ſo ſind wir von der Anerkennung der Pariſer Beſchlüſſe nicht mehr allzuweit entfernt.

Es ift überhaupt ſchwer einzuſehen, wie wir je auch nur zum kleinſten diplo- matiſchen Teilerfolg gelangen könnten, wenn wir unſere Politik nun in der Tat nach der neuteſtamentlichen Weiſung einzurichten gedenken, laut welcher Böſes nicht mit Böſem vergolten werden darf. In einem Spiel, bei dem erfahrungs- gemäß nach Strich und Faden gemogelt wird, zieht der Ehrliche immer den kürzern. Den machiavelliſtiſchen Kampfmethoden der Ententeſtaatsmänner gegenüber hat jedenfalls die Objektivität, die Sachlichkeit, die Rechtsideologie, deren ſich ein redlicher Deutſcher vom Schlage des Dr Simons befleißigt, herzlich wenig Aus- ſicht, ſich durchzuſetzen. Als Lloyd George ein höchſt düſteres Bild von der Lage der Sieger erſtehen ließ, hat er auf des deutſchen Außenminiſters empfindſames Gemüt einen ſo nachhaltigen Eindruck erzielt, daß Dr Simons die tauſendmal viel ſchlimmeren Nöte des eigenen beſiegten, unterlegenen, geſchlagenen Landes vorübergehend ganz vergeſſen zu haben ſcheint. Anders wenigſtens läßt ſich kaum erklären, warum er nicht die Schlagfertigkeit aufbrachte, die Gegenfrage zu ſtellen, wie denn dem bankrotten Gläubiger gar erſt der bankrotte Schuldner wieder auf die Beine helfen ſolle.

Der Ausgang der Londoner Beratung iſt wenig rühmlich für uns. Trotzdem geht es wie ein Aufatmen durch die Bevölkerung. Der ſeeliſche Druck, den die ſtändige Androhung der Strafmaßnahmen hervorrief, iſt endlich gewichen. Die Gefahr, die ſtändig im Dunkeln lauert, übt oft durch ihre lähmende Wirkung einen relativ größeren Schaden aus, als der iſt, den die vollendete Tatſache ſelber ſchafft. Die Volksgenoſſen, auf denen die Fauſt des Unterdrüders laſtet, dürfen gewiß ſein, daß wir übrigen, die wir noch von ihr verſchont ſind, des Opfers volle Schwere zu ermeſſen wiſſen. Mit der Beſetzung der rechtsrheiniſchen Induſtrieſtädte und der Errichtung der Zollſchranke hat der Feindbund ſeinen eigentlichen Haupt- trumpf aus der Hand gegeben. Ob der Gewinn ſich lohnte oder ob, wie der eng- liſche Arbeiterführer Clynes vorausgeſagt hat, in ſpäteſtens ſechs Monaten ſich die ganze Spekulation als ein Fehlſchlag herausſtellen wird, bleibt abzuwarten.

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Ein deutfch-nationales Blatt, die „Süddeutſche Zeitung“, ift gerecht genug,

dem deutſchen Außenminiſter einen Poſten auf das Pluskonto zu verbuchen: „Endlich einmal iſt die deutſche Schuld am Kriege, wenigſtens die alleinige Schuld, ausdrücklich zurückgewieſen worden im Angeſicht der feindlichen Staats- männer, im Angeſicht der ganzen Welt. Es ift freilich nur in ganz korrekter“ Weiſe geſchehen, nur unter Berufung auf das künftige Urteil der Geſchichts— ſchreibung, nur unter Vorbehalt eines ſpäteren Wiederaufnahmeverfahrens gegen- über dem „rechtskräftig“ gewordenen Urteil von Verſailles. Aber unfer Volk ift beſcheiden geworden in den Anſprüchen an ſeine Staatsmänner; man ſchlägt es ſchon hoch an, daß überhaupt einmal ein deutſcher Vertreter auf einer Entente- Konferenz die Lügen-Grundlage des Verſailler Vertrags in Frage geſtellt hat.“

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Nun gibt es aber in den Augen eines richtiggehenden deutſchen Links- radikaliſten kein unerhörteres Vergehen als das, an der ausſchließlichen Schuld Deutſchlands am Weltkriege zu zweifeln. Proteſtverſammlung! In Berlins rauchigen Vergnügungslokalen, in denen abends der tiefſte Nackenausſchnitt und das ſchlankſte Damenbein prämiiert wird, ballen fih die Arbeitermaſſen, durch ſchreiende Plakate der U. S. P. O. herbeigelockt. Es ift lehrreich, eine der typiſchen Aufhetzungsreden feſtzuhalten, in denen das Proletariat zu weltpolitiſchen Be- trachtungen angeregt wird. Folgen wir daher einer telegrammhaft kurzen Bericht- erſtattung der „Deutſchen Tageszeitung“. Emil Barth hat das Wort: „Krieg, Blut, Millionen verweſender Menſchenkadaver und noch kein Ende, Elend, Hunger, Arbeitsloſigkeit die Folgen. Und wer ift ſchuld daran? Der Unterſuchungs- ausſchuß im Reichstag hat erklärt, wir nicht, wenigſtens nicht alleine. Genoſſen, verehrte Anweſende, laßt euch nicht täuſchen, das iſt nicht wahr. Wir allein find die Schuldigen, die unſelige preußiſche Militärkamarilla, das verfluchte Hohenzollerntum und auch du ſelbſt, Proletarier. Wer von euch hat nicht gejubelt, als es losging in den Auguſttagen 1914, wer hat nicht den ſchwarz-weißrroten Jammerlappen herausgehängt, wer hat nicht die Mordgeſänge angeſtimmt ‚Heil dir im Siegerkranz! Die Wacht am Rhein!“ Wer hat nicht gejauchzt, wenn die Sieges nachrichten kamen, wenn ein Unterſeeboot ein Verbrechen begangen, wer von euch hat nicht mitgewirkt an dem Rieſenzerſtörungswerk, wer hat den Beſtien in Menſchengeſtalt den Gehorſam verweigert, als es im Spätſommer 1918 galt, den Zerſtörungen in Nordfrankreich die Krone aufzuſetzen? Und nun jammern wir in erbärmlichſter Weiſe über Unrecht und Vergewaltigung, nun wollen wir nicht zahlen, nun wollen wir wieder Freunde ſein. Das iſt eine neue Heraus- forderung der Entente, und dieſe hat, ſo lange wir nicht unſere Schuld bekennen und den feſten Willen zur Wiedergutmachung zeigen, nicht nur das Recht, ſondern ſogar die Pflicht, uns ſo zu behandeln. Wie herauskommen aus dem Elend? „Krieg“, ſchreien die Deutſchnationalen, mit ihrem Ehrgefühl im dreckigen Preußenmaul, „Anſchluß an Moskau' die Genoſſen von links, die gemeinen, ver- antwortungsloſen, vor Dummheit vergehenden Kommuniſten, dieſe Totengräber des deutſchen Proletariats. Nein, nichts von dem, nur ein Mittel gibt es, neue Verhandlungen mit der Entente, und zwar ſpäteſtens in 14 Tagen, ſonſt haben wir eine Hungersnot, gegen die der Steckrübenwinter 1916 17 ein Waifen- knabe war, eine Arbeitsloſigkeit, wie wir fie noch nicht erlebt haben. Wie aber zu neuen Verhandlungen kommen? Nichts leichter als das, durch neue an- nehmbare Vorſchläge. Die 216 Milliarden in 42 Fahren find gleich 25 Milliarden Goldmark ſofortige Barzahlung. Können wir dieſe zahlen? Jawohl, ſogar das Doppelte und noch mehr. Wie? Mit dem Geld und Gut, mit dem die Henkers knechte des deutſchen Volkes, die Hyänen des deutſchen Wirtſchaftslebens, von Stinnes angefangen bis hinab zu Dernburg, das deutſche Volk feit Jahr und Tag beſtohlen, das ſie nach dem Auslande verſchoben haben. Rieſengeſchäfte ſind mit dem Auslande gemacht, in Oeutſchland ſelbſt ganze Felder, Fabriken, Häu’er- blocks, Straßenzüge an das Ausland verſchachert worden, wo iſt aber das Geld auf den ausländiſchen Banken. Nicht ein Pfennig ift dafür nach Oeutſchland

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hereingekommen, geſchweige denn Rohſtoffe und Lebensmittel. Ausſperrung der Arbeiter, Erhöhung der Arbeitszeit, Herabdrückung der Erwerbsloſenunterſtützung. Deshalb Vorſchlag an die Entente: Für Bezahlung der 25 Williarden deutſcher Wiedergutmachungsſchuld ſtellen wir die auf den neutralen Banken ruhenden Privatguthaben zur Verfügung. Beſchlagnahmt ſie durch den Völkerbund, und wer ſich von Neutralen dieſer Beſchlagnahme widerſetzt, über den verhänge man die Wirtſchaftsblockade. Da könnte der Völkerbund zeigen, ob er wirklich der Völkerverſöhnung dienen wolle. Gleichzeitig damit ein beſonderes Denunzianten- geſetz des Reichstages, deffen Wirkung großartig fein würde. Wer jo verſchobene Gelder zur Anzeige bringt, erhält die Hälfte davon ausbezahlt, wer aber innerhalb 14 Tagen nicht freiwillig ſein verſchobenes Gut anmeldet, dem wird außerdem noch ſein geſamter Beſitz in Deutſchland beſchlagnahmt. Wenn der Reichstag ſich dazu nicht bereit findet, weg mit ihm!“ Dies ſei der einzige Ausweg, der Handel würde einen ungeahnten Aufſchwung nehmen, die Valuta ſteigen, Hunger, Elend und Teuerung wären zu Ende, der wahre Friede wiederhergeſtellt. Die rettende Tat zu vollbringen, ſei Aufgabe des deutſchen Proletariats, aber eines einigen, nicht in ſich zerriſſenen Proletariats. „Erkennt das Proletariat nicht ſeine Aufgabe, verharrt es weiter in Uneinigkeit und Zerriſſenheit, dann iſt es nichts anderes wert, als daß es im Dreck verreckt ...“

Frenetiſcher Beifall. Fäuſte ballen ſich im Tabaksqualm. Die Schädel glühen. Ein rotes Tuch entrollt fih flammend. Und nun auf in den Lufi- garten zur Demonſtration! Natürlich; denn was liegt näher, als zu krakehlen, zu demonſtrieren, ſich gegenſeitig die Köpfe einzuſchlagen, während der Feind immer tiefer ins Land eindringt. Heil Deutfchland dir!

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Der Eiſenbart-Kur, man nehme den Schiebern das Geld ab und zahle die deutſchen Verpflichtungen auf einem Brett, würde auch der anſtändige Bürgers— mann mit freudigem Herzen zuſtimmen, wenn nur zuvor das Preisrätſel gelöſt wäre, auf welche finanztechniſche Art dem Schiebertum beizukommen iſt. Denn leider hat ſich bislang eben dieſes Schiebertum hundertmal geriſſener erwieſen als der plumpe, tapſige, ſchwerfällige Bureaukratentank, den man nach endloſen Ausſchußtüfteleien gegen ihn in Bewegung geſetzt hat. Soeben erſt legt Parvus in der ſozialiſtiſchen Wochenſchrift „Die Glocke“ in aller Deutlichkeit dar, daß unſer ruhmvolles Steuerſyſtem Marke Erzberger dicht vor dem Zuſammenbruch ſteht, und daß darum die Erwartungen der Entente, ſoweit ſie ſich auf einen weiteren Ausbau des deutſchen Steuerweſens, im beſonderen auf die Vermehrung der Verbrauchsſteuern richten, völlig ausſichtslos fein müſſen. Parvus be ginnt mit einer Kritik des großen Steuerwettrennens, das in Oeutſchland ausgebrochen ift, und das jeder finanzwiſſenſchaftlichen Vorausſetzung ſpottet. „Das wirtſchaftliche Leben des Landes iſt von einem komplizierten Netz von Steuern umſponnen, das die wirtſchaftliche Entwicklung ſchlimmer hemmt, als die mittelalterlichen Zollſchranken. Vor allem aber ſind die Steuerſätze ſo außer— ordentlich geſteigert worden, daß der Steuermechanismus verſagt ... Der Zweck der direkten Steuern ift, das Einkommen zu treffen, ohne das wirtſchaftliche Leben

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zu ſtören. Man will den Ertrag der Induſtrie bzw. des geſamten Gewerbefleißes treffen, nicht aber dieſe ſelbſt. Die Sache iſt aber infolge der übermäßig hohen Steuerſätze umgekehrt geworden. Der Induftrielle wie der Kaufmann und der Landwirt berechnen jetzt im voraus die Steuern, die ſie zu zahlen haben werden, und ſchlagen derartig die Preiſe auf, daß ein entſprechend höherer Gewinnertra herauskommt.“ |

Der Kritiker verweiſt auf die Verteuerung der gefamten Erzeugung, zu der auch das direkte Steuerſyſtem zwangsläufig hinführe, und erklärt: „Man würde die Wirkung dieſer Verteuerung durch die überſpannten Steuerſätze leicht wahrnehmen können, wenn nicht noch andere Faktoren der Teuerung da wären, die dieſe Wirkung verſchleiern, die aber zum Teil ſelbſt durch ſie hervorgerufen worden ſind, und wenn nicht vor allem durch den Valutaſturz eine allgemeine Geldentwertung ſtattgefunden hätte.“ Weiterhin kommt Parvus auf die beſondere Tragikomödie unſeres Steuerſyſtems zu ſprechen, nämlich darauf, daß der Staat, um einem großen Teil der Bevölkerung die durch die Steuerpolitik übermäßig verteuerten Lebensmittel bezugsfähig zu machen, Zuſchüſſe zahlen muß. Nach der Denkſchrift, die unſere Delegation in London vorgelegt hat, betrugen diefe Zuſchũſſe für das Jahr 1920 rund 10,8 Milliarden Mark. Da der Ertrag des zehnprozentigen Lohnabzuges nur auf 6% Milliarden Mark geſchätzt wird, ſo ſtellt Parvus feſt, daß der Staat mit der einen Hand nimmt, was er mit der anderen gibt, und daß er außerdem noch vier Milliarden dazuſchlagen muß. Inmitten dieſer Transaktion, die zu nichts führt, ſteckt aber der Steuerbeamte, der bezahlt werden muß, dazwiſchen ſtecken Ärger, Streitigkeiten und bureau- kratiſcher Krempel, mit dem man alle Geſchäfte belaſtet. So kommt Parvus zu der beinahe grotesken, aber leider nur zu berechtigten Frage: „Wer bezahlt alſo die Steuern, die der Staat erhebt? Der Staat ſelbſt!“ Und um nunmehr wiederum die Londoner Hoffnungen auf ihr gebührendes Maß zurück- zuführen, zieht Parvus den Schluß, daß jede weitere Steuererhöhung nur weitere Teuerung und weitere Geldentwertung mit ſich bringen müßte. „Das iſt es,“ fo fagt er, „worauf man in London hätte verweiſen müſſen. Statt deffen ver- wickelte man fih in Widerſprüche, indem man einerſeits die Anerträglichkeit der bereits beſtehenden Steuerlaſt nachwies und andererſeits die Schaffung von neuen Steuern verſprach. Was wir treiben, iſt keine vernünftige Steuerpolitik, es iſt fiskaliſche Schaumſchlägerei. Es iſt dasſelbe verderbliche Verfahren, wie bei der ſchrankenloſen Banknotenemiſſion. Nur daß wir beim Gebrauch der Noten- preſſe auf Grund der früheren ſehr trüben eigenen und fremden Erfahrungen uns wenigſtens bewußt ſind, daß das zu einer Teuerung und Geldentwertung führt, während wir beim ſchrankenloſen Gebrauch der Steuerpreſſe noch nicht uber die Folgen klar geworden ſind. Es ſind aber genau dieſelben: Teuerung und Geldentwertung. Beides wirkt auch zuſammen: Wir erheben hohe Steuern, die uns in Banknoten bezahlt werden, die wir drucken.“

Man wird dieſen Oarlegungen eines ſehr weit links gerichteten Sozialiſten, der, mag man fonft über ihn denken wie man will, in wirtſchaftlichen Fragen einen bemerkenswerten Scharfblick bewieſen hat, in vollem Umfange beipflichten

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müſſen. Die außenpolitiſche Nutzanwendung, die fih unſere führenden Männer leider noch lange nicht eindringlich genug klargemacht haben, läßt ſich erſchöpfend in zwei Sätze zuſammenfaſſen: Wir können unſere Kriegsſchulden nicht mit Steuern zahlen. Wir können ſie nur durch wirtſchaftliche Leiſtungen abtragen.“ * * | è

Weshalb ſtößt man fo häufig auf mißtrauiſche Geſichter, wenn man dem Ausländer gegenüber vom deutſchen Elend ſpricht? Deswegen, weil gerade in den Lebensbezirken, in denen ſich der Ausländer bei uns zu bewegen pflegt, ein Talmiglanz entfaltet wird, der in gar keinem Verhältnis ſteht zu unſerer ſonſtigen wirtſchaftlichen Lage. Wir gleichen gewiſſermaßen einem verlotterten Frauen- zimmer, das unter dem letzten Seidenflitterkleid die Lumpen verbirgt. Von denen aber, die aus dem Ausland zu uns kommen, ſehen die meiſten doch nur die äußere Faſſade und nicht das, was hinter ihr iſt. So entſteht auch bei den Mitgliedern der verſchiedenen Ententekommiſſionen, ſoweit ſie überhaupt ſehen wollen, die Suggeſtion, daß es Deutſchland weit beſſer geht, als es den Anſchein habe, daß es in ſchnellem Aufſtieg begriffen ſei und daß es „alles zahlen“ könne, wofern nur der gute Wille in ihm vorhanden ſei. Und find wir nicht ſelbſt zu einem guten Teil ſchuld daran, daß ſolche verhängnisvollen Eindrücke auch beim neutralen Beobachter aufkommen, regen fich nicht in uns ſchon wieder jene unſeligen Empor- kömmlingsmanieren, die uns in zwei Jahrzehnten aller Welt verhaßt gemacht haben? Gerade in die Londoner Woche hinein fiel die Meſſeſchau von Leipzig. „Es ſind“, berichtet die „Köln. Volksztg.“ in einem Stimmungsbilde, „achtzig Franzoſen nach Leipzig gekommen. Man war ſtolz und ſprach davon wie von einem Erfolg: ‚Deutfche Leiſtungsfähigkeit hat ihren Haß bezwungen. Sie brauchen nicht zu kaufen, fie follen nur ſehen, follen den Eindruck mitnehmen, daß in Oeutſch⸗ land wieder gearbeitet wird. Dann wird auch. .. Nein, dann kam London; kamen Meldungen aus Düſſeldorf, Duisburg, vom Rhein: ein General, zwei- tauſend Mann, ein Dutzend Flieger, entwaffnete Sicherheitspolizei, Zollgrenze .. Man las, las noch einmal, man ſah einander an, begegnete nur gleich ratloſen Blicken. Und man fragte überall in die Menſchenmenge hinein, die von Aus- ländern wimmelte: ‚Was ſagt ihr nun dazu? Zſt denn keiner unter euch, deſſen Nation ſich auflehnt gegen dieſes grauſame Schauſpiel? Ihr ſeid in Leipzig und habt Augen im Kopf und ihr ſchweigt.“ Sie ſchweigen; denn in Muſterkoffern iſt kein Platz mehr für Politik. Sie ſchweigen, zucken die Achſeln und kaufen weiter. Das ift ſeltſam, faft überrafchend: in den Geſchäftsbüchern der Leipziger Ausſteller bleibt London, bleibt der 8. März ohne Notiz.“ Und nun die Schlußfolgerung: Leipzig iſt ein Wahrzeichen dafür, daß wir die Lähmung, die von London kam, überwinden werden. Und man hofft: „daß die achtzig aus Frankreich und die Tauſende aus den anderen Ländern Menſchen ſeien, nicht Advokaten, und daß ſie aus Leipzig den Eindruck mitnehmen: Ein Volk, das ſo viel noch zu leiſten vermag, iſt unentbehrlich für die Welt, iſt nicht zu vernichten auch nicht durch Sanktionen“. ..“ |

Grün ift die Hoffnung trotz Oüſſeldorf, Duisburg und Verſailles. Über ein kleines muß ja der Feind einſehen, was für Kerle wir Oeutſche doch eigentlich

Zürmers Tagebuch 61

find, muß er mit Tränen der Rührung den alten Konkurrenten in uns wieder- erkennen, den er vom Markt zu verdrängen ſich die heilloſeſten Anſtrengungen auferlegt hat

Nein, die gedankliche Verbindung zwiſchen Leipzig und London kann nur dann für uns von Wert fein, wenn wir jegliche Gefühlsſchwärmerei von vornherein ausſchalten. Dann allerdings! Im Handelsteil der „Voſſ. Ztg.“ finden ſich Aus- führungen eines nüchternen Beurteilers, die nicht nur den Vörſianer angehen: „Wer die großartige Schauſtellung deutſcher Induſtrieerzeugniſſe auf der Leipziger Meſſe geſehen hat, wird von den Arbeitskräften in der deutſchen Wirtſchaft auf allen Gebieten einen ſehr ſtarken Eindruck empfangen haben. Aber eine Frage darf bei der Freude über dieſen Eindruck nicht unterdrückt werden: Werden die Arbeitsenergien, deren Zeugniſſe hier in Erſcheinung treten, überall fo ge reitet und ſo angewendet, wie es der Notwendigkeit der deutſchen Wirtſchaft unter dem Druck von London entſpricht? Die Beobachter der Leipziger Meſſe rühmen vielfach ſtolz die ungeahnte Vielgeſtaltigkeit der deutſchen Erzeugung, die fih in den aus- geſtellten Waren dartut. Es ſoll nicht geleugnet werden, daß dieſe Vielgeſtaltigkeit ebenſo imponierend wie verwirrend auf den Beſchauer wirkt. Entſpricht die Biel- artigkeit, mit der wir zahlreiche Artikel des täglichen Bedarfs produzieren, entſpricht die Buntheit der mehr oder minder überflüſſigen Luxusartikel, die nicht nur der Ausfuhr, ſondern auch dem Znlandsbedarf dient, der Okonomie der Kräfte und Stoffe, die der deutſchen Wirtſchaft nach dem Kriege höchſtes Gebot ſein ſollte? Der nüchterne Beobachter wird zur Verneinung neigen müſſen. Damit die wirtſchaftlichen Kräfte, die trotz aller Nöte der Zeit doch vorhanden ſind, aber ſo fruchtbar wie es notwendig iſt, für den Wiederaufbau eines zuſammengebrochenen Landes angewendet werden, bedürfen ſie einer neuen geiſtigen Leitung. Es wird in wirtſchaftlicher Beziehung in der Produktion gerade auf dem Gebiete der Fertiginduſtrie nach der Zuſammenfaſſung der Kräfte gewiſſer Vereinheit- lichungen, der Ausſchaltung von Überflüſſigem bedürfen. Daß für die Ratio- naliſierung der Arbeit das Feld noch ſehr weit iſt, zeigt die Meſſeſchau mit großer Eindringlichkeit. Dieſe Ideen wirtſchaftlicher Neugeſtaltung müſſen immer wieder in den Vordergrund gerückt werden, um ſo mehr, als die Mehrzahl der praktiſchen Geſchäftsleute ihnen heute noch ſehr ſkeptiſch, wenn nicht feindlich gegenüberſtehen. Ein Einwand, der auch von denen, die die Notwendigkeit dieſer wirtſchaftlichen Formen grundſätzlich anerkennen, immer wieder auftaucht. ſoll hier nur ganz kurz geſtreift werden. Man ſagt: Gewiß wäre eine ſolche Rationali- ſierung des wirtſchaftlichen Aufbaues erwünſcht, aber zunächſt würde ſie mit der Zuſammenlegung von Betriebsarbeitskräften einſetzen, die Arbeitsloſigkeit ver- mehren und dadurch ſchwere ſoziale Gefahren heraufbeſchwören. Um der Be— ſchäftigung willen müſſe man vorläufig alles beim alten laſſen. Demgegenüber muß davor gewarnt werden, daß man ſich bemüht, Beſchäftigung an Stelle pro- duktiver Arbeit zu ſetzen. Die Beſchäftigung darf nicht Selbſtzweck werden. Um für den Augenblick die Beſchäftigung von Menſchen zu erleichtern, darf man nicht den Weg zu einer Erhöhung der Produktivität der Arbeit verbauen. Wenn in der Übergangszeit Kräfte freigeſetzt werden durch den Prozeß der Rationali-

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ſierung, jo wird die damit verbundene ſoziale Laft von der Allgemeinheit leichter getragen werden können, als es heute der Fall ift. Auf die Dauer wird die Mög- lichkeit, alle Arbeitskräfte des Landes produktiv zu verwerten, erhöht werden durch die Rationaliſierung der gewerblichen Arbeit.“ * * *

Alle noch ſo ſinngemäßen Anſtrengungen zur wirtſchaftlichen Geſundung aber ſind ſchließlich doch zur Erfolgloſigkeit verdammt, wenn dem Reiche die ihm unentbehrlichen Kraftquellen gewaltſam abgeſchnitten werden. Es iſt auf der Londoner Tagung deutſcherſeits mit höchſtem Nachdruck darauf hingewieſen, daß die Vorausſetzung der deutſchen Zahlungsfähigkeit das Verbleiben Oberſchleſiens bei Deutfchland bedinge. Die Heimattreue der Oberſchleſier hat ſich inzwiſchen durch das Abſtimmungsergebnis auf das eindringlichſte bewährt. Wenn trotzdem in der Südoſtecke dieſes ſeit Jahrhunderten deutſchen Landes eine Reihe wichtiger Induſtriebezirke polniſche Stimmenmehrheit aufweiſt, ſo iſt dabei der unter franzöſiſcher Duldung und Förderung verübte ſchamloſe und wüſte Terror der Polen von ausſchlaggebendem Einfluß geweſen. Die derart gefälſchten Ergebniſſe werden nichtsdeſtoweniger von der Oberſten Kommiſſion zum Anlaß genommen, um eine Regelung der endgültigen Grenze zu Polens Vorteil durch zuſetzen. Dieſer Verſuch muß rechtzeitig und mit aller Entſchiedenheit zurück— gewieſen werden. Das ganze Abſtimmungsgebiet, das geſchichtlich immer zu- ſammengehangen hat, bildet ein untrennbares Ganzes. „Eine Teilung des Induſtriegebietes, ſofern es lebensfähig ſein ſoll, iſt“ führt die „Kreuzzeitung“ aus „eine glatte Unmöglichkeit, nicht allein ſchon wegen der geſchichtlichen, ſondern beſonders wegen der wirtſchaftlichen und techniſchen Zuſammengehörig— keitsfaktoren. Der Felderbeſitz der großen Bergbaugeſellſchaften erſtreckt fih faſt überall auf mehrere Kreiſe; die einzelnen Teile des Induſtriegebietes ſind von der gemeinſamen Verſorgung mit elektriſchen Anlagen, mit Nutz- und Trinkwaſſer abhängig, und ſchließlich ergeben ſich hinſichtlich der Transport möglichkeiten, der Eiſenbahnen, Waſſer- und Landſtraßen die gleichen Bedingungen, die gegen eine Teilung des Abſtimmungsgebietes ſprechen.“

Das, ſollte man meinen, ift jedem einſichtigen Menſchen klar. Aber nach den hinterhältigen Beſtimmungen des Friedensvertrages von Verſailles liegt das letzte Wort beim Oberſten Rat in Paris. Ihm hat die Interalliierte Kommiſſion einen Vorſchlag zu unterbreiten über die in Oberſchleſien unter Berückſichtigung der Willenskundgebung der Einwohner ſowie der geographiſchen und wirtſchaft— lichen Lage der Ortſchaften als Grenze Deutſchlands anzunehmende Linie.

Der Kampf um Oberſchleſien ift alfo keineswegs beendet. Er geht weiter. Darüber aber ſollten ſich bei aller Affenliebe zu Polen die Ententeſtaatsmänner klar ſein, daß Deutſchland die in London vorgeſchlagenen Leiſtungen auf keinen Fall mehr als erfüllbar in Ausſicht ſtellen kann, wofern ſeinem berechtigten Verlangen, Oberſchleſien ungeteilt zu wee nicht ent- ſprochen .

im. = - - ~ e = .

Spenglerin Logos - Beleuchtung

n einem Sonderheft der angeſehenen

Zeitſchrift „Logos“ (Tübingen, Gie- bed, 1921, Heft 2) wird Spenglers „Unter- gang des Abendlandes“ von Fachleuten einer Beleuchtung unterzogen. Der Erfolg dieſes Buches, fo wird im Geleitwort aus- geführt, „hat bewieſen, wie leicht ein kühner Unternehmergeiſt fih deffen bemächtigt, was nur der geweihten Hand des Genies auf- gehoben bleiben ſollte“. Es iſt Pflicht der

Kritit, „die ohnehin gepeinigte Pſyche des

Volkes vor einer Theorie zu bewahren, die geeignet iſt, die Kraft zu lähmen, mit der dieſes ernſte und großartig zuverſichtliche Deutſchland ſich zuſammenzuſchließen ſtrebt in der Idee ſeiner ſelbſt und ſeiner Kultur.“ Die deutſche Wiſſenſchaft darf es nicht dulden, „daß dem Volke, und fei es in noch fo be- ſtechender Form und mit noch ſo glänzender Beredſamkeit, eine Hypotheſe aufgedrängt wird, deren Fundamente einer gewiſſen- haften Prüfung nirgend ſtandhalten.“ Speng- ler erweiſt ſich als ein Schriftſteller, „der ſich allen tiefſten Problemen des Denkens nicht gewachſen und nicht wahrhaft mit ihnen vertraut zeigt“. Sein Buch wird geradezu ein „Blendwerk“ genannt. „Faſt ſieht es ſo aus, als künde ſich in dem „Untergang des Abendlandes“ der Untergang eines Zeitalters an, dus fih von den abſoluten und ewigen Werten zu weit entfernte und deshalb dazu kommen mußte, an ſich ſelbſt zu verzweifeln.“

Dann beginnt der Baſeler Philoſoph Karl Jo sl. Er kommt zu dem Urteil, daß ſich der Derfaffer dieſes „kaleidoſkopiſchen Buches“ von einer „befremdenden Desorientiertheit und in völliger Selbſttäuſchung befangen“ zeigt. Spengler will die Seele und faßt nur

das Tote; er will fauſtiſch ſprechen, aber von ſeinen zwei Seelen ſiegt Mephiſto. „Meinte Goethe wirklich wie Spengler, das Ver- gängliche ſei nur ein Gleichnis wieder des Vergänglichen? Wollte er einen abſoluten Symbolismus lehren, d. h. einen abſoluten Re- lativismus, der ſich im unendlichen Kreislauf ſelber verſchlingt? Nein, alles Vergängliche ift nur ein Gleichnis aber des Ewigen, einer Sonne der Wahrheit, die niemals untergeht.“

Nach dieſer Abhandlung beleuchtet Prof. Eduard Schwartz (München) das Verhältnis der Hellenen zur Geſchichte; und feine kritiſche Betrachtung reicht in der Tat aus, „um nad- zuweiſen, daß die Theſe, der antike Menſch habe kein Organ für die Vergangenheit ge- habt, eine grundloſe Behauptung iſt, auf der nicht einmal eine ſymboliſche Morphologie, geſchweige denn eine hiſtoriſche Ertenntnis der helleniſchen Seele aufgebaut werden kann“.

Der Heidelberger Gelehrte Wilhelm Spiegelberg kommt mit einer ägyptologi- ſchen Kritik zu Worte und faßt fein Gejamt- urteil dahin zuſammen, „daß Spengler, fo- weit die ägyptiſche Kultur in Frage ſteht, ſeiner Aufgabe nicht gewachſen war, weil er dice Kultur nicht genügend kennt“.

Zu ähnlicher Ablehnung kommt aus dem- ſelben Heidelberg Ludwig Curtius in ſeiner Betrachtung „Morphologie der antiken Kunſt“. Er nennt Spenglers Verſuch, den er als ziviliſationsmäßig „ungläubig, fkeptiſch, tief ungluͤcklich“ bezeichnet, „gänzlich geſcheitert“. „Er riß uns ſelber mit, aber kaum erkannten wir die Fahrt feines Gefährts, ſtiegen wir ab und flohen zurück. Eine Welt trennt uns von ſeinem Geiſt.“ i

Es muß dem Lefer überlaffen bleiben, die anderen gründlichen Abbandlungen des ſtattlichen Heſtes ſelber nachzuleſen. Ergeb-

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nis? Spenglers Talent, die entfernteſten Geſtalten und Begebenheiten über Jahr— tauſende hinüber bebende durcheinanderzu⸗ miſchen, bleibt auch nach dieſem gänzlich ab- lehnenden Heft von Fachmännern ein unbe- ſtritten reizvolles Spiel aber doch eben ein Spiel, das Gedankenſpiel eines geift-

vollen Relativiſten. *

Keyſerling gegen Steiner

n einem Heft, das unter dem Titel „Der TI Weg zur Vollendung“ Mitteilungen der Geſellſchaft für freie Philoſophie (Schule der Weisheit) aus Darmitadt bringt (Verlag Otto Reichl), wendet fib Graf Hermann Kepſer- ling gegen Steiners auch im „Türmer“ mit- geteilte Gegenwehr. Seinerſeits ſchreibt er nun: „Daß er mich ſchlankweg einen Lügner ſchimpft, von gelinderen moraliſchen Vor- würfen zu ſchweigen, und dies in einem ſo unqualifizierbaren Ton, daß die Stuttgarter Hauptzeitung fih veranlaßt fab, dagegen „als eine Herabwurdigung des NRednerpults, eine Beleidigung der Zuhörerſchaft, ja eine Ver- giftung der öffentlichen Moral“ Verwahrung einzulegen, beweiſt, daß nur zuviel vom Demagogen in dieſem Manne ſteckt; feine Kampfesweiſe iſt häßlich und ſchlechthin illoyal. .. Steiner deshalb gerichtlich zu be- langen, was ich wohl könnte, lehne ich ab, denn feit dieſer Erfahrung tommt er für mich nur mehr als Unterſuchungsobjekt in Frage. Ich berühre den Fall überhaupt nicht, um mich zu verteidigen oder anzugreifen, denn wie immer Steiner zu mir ſtehe, ich empfinde keine Feindſchaft gegen ihn; wie ich 1919 einem feiner Verehrer erlaubte, ein freund- liches Urteil über feine Dreigliederungsideen, das ein Privatbrief von mir enthielt, in die Zeitung zu ſetzen, fo habe ich auch keinen Ein- ſpruch dagegen erhoben, daß die Darmſtädter Anthrovoſophen ungefähr gleichzeitig mit Steiners Angriffen gegen mich meine wohl- wollende Stellung zur Anthropofophi« in der Preſſe als Reklame ausnutzten, und laſſe mich ſeither durch die gegen mich in Szene geſetzte Kampagne (in Heidelberg wurden, einige Tage nach meinem dortigen Vortrag, große

Auf der Warte

Mengen der ominöſen Oreigliederungs- Num mer unter den Studenten verteilt) nicht ab- halten, für die Sache einzutreten, ſoweit ſie vertretbar ift. Ich berühre den Fall nur des- halb, um an ſeinem Beiſpiel recht deutlich zu

machen, wie reinlich man zwiſchen „Sein“

und „Können“ unterscheiden muß. Von Steiners Sein kann ich unmöglich einen günſtigen Eindruck haben; noblesse oblige; wer auf höhere Einſicht Anſpruch erhebt, ſollte verantwortungsbewußter ſein. Aber als Könner finde ich ihn nach wie vor ſehr beachtenswert und rate jedem kritikfäbigen Geiſt von pſychiſtiſcher Beanlagung, die feltene Gelegenheit des Dafeins eines ſolchen Spezia- liſten auszunutzen, um von und an ihm zu lernen. Ich kenne nicht bloß die wichtigſten Schriften. ſondern auch ſeine Zyklen, und habe aus ihnen den Eindruck gewonnen, daß Steiner nicht allein außerordentlich begabt iſt, ſondern tatſächlich über ungewöhnliche Erkenntnisquellen verfügt. Für den ‚Sinn‘ fehlt ihm jedes feinere Organ, deshalb muß er alle Weisheit abſtrakt und leer finden, die ſich nicht auf Phänomene bezieht: aber was er über ſolche vorbringt, verdient ernſte Nach- prüfung, fo abſurd manches zunächſt klingt und ſo wenig vertrauenerweckend ſein Stil als Offenbarer ſeines Weſens wirkt, weshalb ich es lebhaft bedaure, daß ſein mir völlig unerwartet gekommenes Vorgehen gegen mich mir die Möglichkeit raubt, mit ihm ſelber perfönliche Fuhlung zu nehmen...“

Das Heft zu durchblättern, iſt fördernd: Keyſerlings Urteile über Neu-Erſcheinungen enthüllen fein eigenes Weſen immer deut- licher in feiner merkwürdig ſchillernden Viel- ſeitigkeit. Am Schluß lieſt man Berichte über die Tage der Weisheit in Darmiſtadt, die in Abende von „höchſter Geſelligkeitskultur“ aus- zuklingen pflegen: ſie ſind „auf den Ton der höchſten internationalen Salonkultur abgeſtimmt“ und auf den „böchſten an- weſenden Weltmannstypus“...

Rudolf Steiner ift übrigens am 27. Ge bruar 60 Jahre alt geworden. Pfarrer Rittelmeyer hat ihm eine Feſtſchrift gewidmet. (Münden, Verlag Kaiſer.) Wir hoffen darauf zurückzukommen.

Auf der Warte

Bom Heliandkreuz

u unſrer Bemerkung im letzten Türmer⸗ heft ſchreibt uns der Herausgeber des „Volkserziehers“: | Lieber Türmer! Seit meinen Kinderjahren ringe ich mit dieſer Möglichkeit, die Einheit der zwei verſchiedenen Stufen des „Kreuzes“ in mir herzuſtellen. Ich habe mich im Berſerkerzorn mit allerlei Volk da draußen und daheim, da oben und da unten in Wort und Schrift herumgeſchlagen und habe manchen Schmiß und Denkzettel neben Sieges lorbeer und ehrenhafter Genugtuung davon- getragen; aber ich habe auch ſchon frühe weinend über meine Leidenſchaft und „Zumb- beit“ vor Gott auf den Knien gelegen... Und zwiſchen dieſen beiden Polen und „Kreuzen“ bewegt ſich noch bis auf den heutigen Tag des Silberjahres mein Leben. Sch möchte alle feiſten „Friedens“, Kriegs“ und Revolutionsſchieber aufknuüͤpfen und ihr Hab und Gut an die betroͤgenen Armen ver- teilen; und weiß andererſeits, daß nur völlige

„Abrüftung“ bis auf den letzten Haßgedanken

Menſchheit und Welt „erlöſen“ kann. Sch leſe mit wahrer Wonne Tolſtoj, Doſtojewski und Sorki; Shakeſpeare, Byron und Shelley; Pascal, Michelet und Rolland; Dante, Leonardo da Vinci und Mazzini; Emerſon, Walt Whitman und Thoreau d. h. ich liebe die Seele dieſer Völker um uns herum und „haſſe“ doch dieſe Trotzki, Lenin und Sinowjew, dieſe Lloyd George, Northeliffe und Grey; dieſe Clemenceau, Millerand und Briand; diefe Sonnino, Luzz ati und „Nathan“; dieſe Wilſon, Serard und Morgan: wie iſt ſo etwas nur zu vereinigen? Gewiß, ſie haben es leichter, die mit Friedrich Wilhelm Föoͤrſter, A. H. Fried und Theodor Wolff dem ſtarken Oeutſchtum „ſtolz“ entſagen und fih der „Welt“ der Feinde friedebettelnd an den Hals werfen; oder die mit „Oeutſcher Bei- tung“, „Alldeutſchen Blättern“ und Huntel- Tanzmann Schriften auf Chriſtentum und Menſchenverbruͤderung höhnen und „pfeifen“; aber ich gehöre weder zu jenen „Linken“ des Pazifismus, noch zu dieſen „Rechten“ des Oer Türmer XXIII, 7

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Militarismus. Mir iſt dieſe „bequeme“ Parteiſtraße allzu bequem. Mir liegt mehr die Art des „ſanften“ Nazareners, der das „Otterngezücht“ zürnend von fih wies

(Matth. 3, 7 und Matth. 12, 34), gelegentlich

mit „Geißeln aus Stricken“ zwiſchen die tempelſchänderiſche Händlerbande ſchlug (Joh. 2, 15) und der am Marterholge bat: „Vater, vergib ihnen; denn ſie wiſſen nicht, was ſie tun“ (Luk. 23, 24). Schon vor zehn Jahren habe ich mit Peter Rofegger, der „auch fo Einer“ war, über diefe allerſchwerſte Ger- manen- und Chriſtenfrage ernſte Briefe ge wechſelt der entſcheidende ift im „Licht- ſucherbuch“ S. 79, Sp. 2 zum Abdruck ge- kommen. Aber die letzte Antwort auf die Frage des Heliandkreuzes kann mir wohl nur Einer geben: der mein Herz mit allen feinen Schwächen und Stürmen, feinen Glu- ten und Tränen bis in die kleinſte Falte kennt GOFF Selber. Ihm habe ich im geliandkreuz mich ſelber und damit mein Wert zum Opfer gebracht. Ich hoffe, Er wird es gelten laffen. .. Wilhelm Schwaner

Unheimliche Zahlen!

Noe den neueſten Feſtſtellungen gibt es jetzt in Deutſchland 6 Millionen Ge- ſchlechtskranke. Man könnte geneigt ſein, diefe wahrhaft erſchreckende Zahl anzuzwei⸗ feln, wenn fie nicht von dem Vermerk be- gleitet wäre, daß es ſich um das Ergebnis einer amtlichen Erhebung handele.

Daß nach Kriegen von längerer Dauer die Zahl der Geſchlechtskranken eine ſtarke Aufwärtsbewegung zeigt, ift eine dem Sta-

tiſtiker wohlbekannte Tatſache. Immerhin iſt

die Vorſtellung, daß nahezu jeder zehnte Menſch in Oeutſchland geſchlechtskrank ſei, auch dann im höchſten Grade niederſchmet⸗ ternd, wenn, wie ja wohl anzunehmen iſt, in anderen Ländern ähnliche Verhältniſſe herrſchen ſollten. Rein mechaniſche Abwehr-

maßnahmen, auch wenn fie tief in das ftaats-

bürgerliche Einzelleben eingreifen, werden niemals zu einer Beſſerung führen, ſolange auf der andern Seite um politiſcher Ooktrinen willen die ſittlichen Grundlagen ri Fa-

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milie hartnäckig untergraben werden. In der Stadt Hannover wurden allein der Be- rutungsſtelle 241 geſchlechtskranke Kinder im Alter bis zu 14 Jahren zugeführt. In anderen Großſtädten ergibt fih ein gleiches Bild der Verwilderung. Was aber geſchieht von Staats wegen zur ſittlichen Hebung der Jugend?

Der Fall eines Jugendführers

ir haben im „Türmer“ die Jugend- bewegung um Muck-Lamberty er-

wähnt und ihn gegen eine ſchwere Berleum- dung in Schutz genommen. Ereigniſſe der letzten Zeit zwingen uns nun, dieſen Jugend- führer unzweideutig abzulehnen. Es liegt eine ganze Reihe von geſchlechtlichen Ver- fehlungen gegenüber der ihm vertrauenden Weiblichkeit vor. Und wie im Fall Georg Kaifer entwickelt man auch hier Verſchleie- rungsdünſte, inſofern man für dieſen Ent- haltſamkeits-Apoſtel, der in der Kirche Ma- rienlieder fingen ließ und ſelber gröͤblich un- enthaltſam war, Ausnahmerechte beanſprucht. Aber der Kern der Sache ift das getäuſchte Vertrauen. Hier wurde Znbrunſt mit Brunſt verwechſelt und der unbeherrſchte Trieb mit religiöfen Phraſen verbrämt.

Eine Jugendbewegung iſt ins Herz ge troffen: in der Beziehung der Geſchlech⸗ ter. Es wird lange dauern, bis fidh das Ber- trauen wiederherſtellt. Und es läßt ſich nicht denken, daß fih ed le Weiblichkeit fortan noch ſolchen abenteuerlichen Lebensformen an- vertrauen wird

Wird die „Neue Schar“ mutig und klar genug ſein, zu erfaſſen, worauf es ankommt? Man muß es der Bewegung ſelber überlaſſen.

Unberührt davon bleibt die bereits von andren Wandergruppen neubelebte Freude am altdeutſchen Reigentanz, am Volkslied, überhaupt an Licht und Luft und Rhythmus. Dieſer Lebensverklärung wünſchen wir gutes Gedeihen. |

Und noch eins. Hatte die Bewegung

dieſe Seite ihrer Lebensbetätigung vom

„Wandervogel“ übernommen, fo liegt die andre gleichfalls nicht ſchöpferiſch-ſelb⸗ ſtändige Betätigungsform auf dem Ge-

Auf der Warte

biete der Siedelungsverſuche, die ja jetzt häufig find. Zu beiden an fih fo ſchönen Be- ſtrebungen, zu jenem Frohſinn wie zu dieſer Arbeitsgemeinſchaft, gehört unbedingte Lau- terkeit und Charakterfeſtigkeit des Füh- rers. Und der hat verſagt. |

%

Sozialiſtiſche Jugend

(&;" Aufſatz im ſozialdemokratiſchen „Vor wärts“ über ein Buch, das aus dem weimariſchen Reichsjugendtage der Arbeiter- jugendvereine hervorgegangen iſt, beginnt alſo:

„Aus all den Reden unſerer Partei- genoſſen, aus unzähligen Zeitungsartikeln, aus den Verhandlungen des Parteitages in Kaſſel und den Diskuſſionen der Parteivereine ſpricht eine tiefe Sehnſucht: Wir wollen nicht nur theoretiſieren über ſozialiſtiſche Ziele, ſondern auch ſozialiſtiſch leben, nicht nur eine ſchöne Zukunft erkämpfen, ſondern auch die Gegenwart heller geſtalten. Unſer Ge- meinſchaftsleben ſoll neue, freundliche Formen bekommen, ſoll ein Stück So- zialismus ſein. Das Streben geht dahin, nicht nur politiſche und wirtſchaftliche Dinge zu

ändern, ſondern auch den Menſchen in all

ſeinem geiſtigen und ſeeliſchen Wollen und Bedürfniſſen. Das heißt: bei der Form des Zuſammenlebens, bei der Ge- ſelligkeit des Arbeiters anfangen“...

Das ſind Erkenntniſſe und Wünſche, zu denen wir das Blatt beglückwünſchen. Dies beißt aber zugleich etwas febr Wichtiges er- kennen: daß nämlich eine Partei allein mit ibren Dogmen ſei's rechts oder links nicht ausreicht, um Kultur zu ſchaffen. Denn die Plattform eines edleren Menfchen- tums, das ſich in neuen freundlichen Formen auslebt, iſt allen gemein. Nur heißt die hier fich geſtaltende Wärme nicht mehr Sozialis- mus, ſondern ſchlicht deutſch und ohne Fremd; wort Brüderlichkeit.

Sehr fein und richtig fährt der ſozial⸗ demokratiſche Verfaſſer fort, feine Ungu- friedenheit mit dem bisher unſchöͤpferiſchen Sozialismus auszuſprechen:

Auf der Warte

„Die Befriedigung wurde und wird noch darin geſucht, die Wirtſchaftsein⸗ richtung ein wenig ‚feiner‘ als der Nachbar zu haben, was durchaus nicht bedeutet, daß ſie geſchmackvoller iſt; in der Kleidung ſich ſehen laffen zu können. Dabei wird dem Gebot der Mode gehorſam gefolgt. Die Geſelligkeit der Arbeiterſchaft, ihre Pflege des Schönen, Geſang, Oichtkunſt uſw., hat noch zu keiner beſonderen, veredelten Form geführt. Der Geſellſchaftsball, auf dem keine fee- liſchen Beziehungen geknüpft werden, ebenſowenig. Der künſtleriſche Vortrag, für den man in dem dunklen Orange nach Schönheit und Licht willig ſein Scherflein opferte, wurde nur zu häufig die kühle Ber- ſtandes arbeit eines Künſtlers, zu dem man in keine innere Verbindung kam, den jeder für ſich anhörte, von dem fidh jeder ſtill zuruͤckzog, ohne mit dem Nachbar links und rechts einen Händedruck, einen Blick ge- wechſelt zu haben. Und jeder trug wohl im Herzen das Sehnen nach tiefinnerſter Gemeinſchaft.“ .

Wir drüden dem Verfaſſer die Hand. Er iſt auf dem rechten Wege, zu erkennen und feſtzuſtellen, was grade auch dem Sozialis- mus bisher fehlt: die Seele.

* Nicht vergreiſen, deutſche Zu- gend! |

Ol Zukunft ift nicht das Vereins-

meiertum. Es ſchmerzt, zu ſehen, wie unſere Zungen Jugendringe gründen, die in Landesjugendringe geſchloſſen werden, die wieder den Reichsjugendring bilden. Die Weltjugendliga zerfällt in Landes- gruppen, die ſich in Ortsgruppen glie- dern. Die Ortsgruppen der politiſchen Jugendbünde gehören dem Landes- verband an, der ein Teil des Reichs ver- bandes ift. Wohin man blickt, Nachäfferei des Alters ohne eigene Kraft! Vorſitzende und ſtellvertretende Vorſitzende, Schrift- führer und Kaſſenwacte werden gewählt. Die Mitglieder zahlen an die Gruppen, die Gruppen an die Verbände Geldbeiträge. Der Reichsjugendring hat ein Hauptarbeitsamt,

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das in feiner hauptamtlichen Tätigkeit ... Und fo weiter! |

Sankt Bureaukratius reitet um!

Legt Deutfchlands Jugend damit wirklich den Grund zu neuem Kulturſchaffen? Die Verbãnde beſitzen Geſchäftsſtellen und drucken Briefformulare und Amſchläge aber wo iſt denn hier das wahre, warme, neue Leben? Kann es ein ſichereres Zeichen für die Mecha- nifierung unſerer Kultur geben, als ſolche „Jugendbewegung“? Wann wird unſere Jugend in freien Freundſchaftsbünden die Feſſeln zerbrechen, [höpferifch werden und ſich erheben zur ſeeliſchen und geiſtigen Wiedergeburt? Heinz Burkhardt

*

Wie wehrt man ſich gegen Bühnenſchmutz ?

er anſtändige Teil der Deutſchen iſt jetzt

in peinlichem Zwieſpalt. Man mutet unſrem ohnedies erfchütterten, verwilderten, ſittlichen Gefühl auch auf der Bühne eine noch nie dageweſene Schamloſigkeit in ge- ſchlechtlichen Dingen zu. Auch der Wie- ner Schnitzler hat in dieſer Hinſicht ſeinen Namen befleckt: er hat eine Reihe von Ein- aktern, die alle auf den körperlichen Ge- ſchlechtsakt hinauslaufen, die keineswegs nach der Bühne rufen, die er ſelber einſt zuruck gehalten und die ein Staatsanwalt als Un- zucht bezeichnet hatte in der frecheren Luft der Gegenwart auf die Bühne geſtellt. Nun wehrt ſich das Publikum gegen dieſen Schmutz wie gegen die „Pfarrhauskomödie“, wie gegen Wedekinds Tanz um die Dirne. Man iſt dieſes hündiſchen Gebarens fatt. In Mün- chen. Wien, Berlin und an andren Orten greift man zur Gewalt, da andres nicht

mehr hilft.

Der Berliner Bericht eines Augenzeugen beſagt über eine ſolche Schlacht: „Direktor Sladek ergriff nach dem erſten Zwiſchenfall das Wort und erklärte, daß es ſich um eine Kundgebung nationaler Soldaten, die ſchon unter Kapp (?) gekämpft hatten, handele. Es ſei aber Vorſorge getroffen und 200 Poliziſten ſeien anweſend. Das ganze Haus ſei umſtellt und niemand komme

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heraus. Alle Leute, die nun in den Auf- tritten, die ſich jetzt abſpielten, gegen den „Reigen“ erklärten, wurden verhaftet. Dann ergriff der Direktor Sladek noch einmal das Wort und fagte: „Wer von den bezahl ten Lauſejungens (ö) noch im Saal ift, der verlaſſe den Saal.“ Es meldete ſich ein Herr, der gegen den Ausdruck proteſtierte und herausgelaſſen werden wollte. Der Direktor erklärte: „Nein, Sie werden verhaftet und kommen nach dem Alexanderplatz.“ Die Vorſtellung ging dann weiter. Es war aber ziemlich unruhig, denn fortwährend ver- ließen Zuſchauer unter Proteſt den Saal. Ich ſah vor dem Theater eine Dame, die mit einem Polizeioffizier ſprach und m. E. ganz richtig ſagte: Die öffentliche Aufführung des ‚Reigens‘ fei eine Schweinerei und die Polizei ſollte ſich nicht dazu hergeben, der- artigen Schmutz zu beſchützen. Vor dem Theater hatten fih etwa 100 bis 150 Per- fonen angeſammelt Schutzpolizei und Thea- terangeſtellte ſtellten jeden Ziviliſten feſt, der ſich gegen das Stück ausſprach.“

So wurden an dieſer Kunſtſtätte () 34 Perſonen, darunter fünf Frauen feit- genommen und mußten über Nacht im Polizeigefängnis bleiben, bis ſie am andren Morgen vernommen wurden!

Die R igen-Unzucht aber geht weiter. Sogar für die „Kinderhilfe“ wird das Stück geſpielt! f

Einen eigenartigen Beigeſchmack bekommt die ekelhafte Sache dadurch, daß die Auffüh- rung durch Rechtsbruch erfolgt iſt, während nun dic ſittliche Entrüſtung geknebelt wird! „Wir ſtehen vor der ſonderbaren Tatſache, ſchreibt ein Berliner Kritiker, „daß die Buch- ausgabe des „Reigens“ durch rechtskräftiges Urteil als unzüchtig bezeichnet und bei den Buchhändlern beſchlagnahmt, worden ift, während fie gleichwohl in einem in jeder Be- ziehung öffentlichen Haus allabendlich geſpielt wird! Im Publikum begreift man dieſen Zu- ſtand einfach nicht, hält die Aufführung für unrechtmäßig, glaubt an eine Verhöhnung der Geſetze und greift zur Selbſthilfe, weil niemand anders helfen will. Der juriſtiſche Formelkram liegt nun aber fo, daß die Buch-

Auf der Warie

ausgabe auf Grund eines Paragraphen ver- boten ift, während für die öffentliche Auf- führung ein anderer in Frage kommt, der zur Vorausſetzung hat, daß au der Auffüh- rung Argernis genommen worden iſt. Der Staatsanwalt kann alſo nicht einſchreiten, wenn ſich nicht Leute bei ihm melden, die an der Schmutzerei Argernis genommen haben und ihn zum Einſchreiten auffordern. Wer alſo nicht will, daß ſelbſt Männer und Frauen, die ſich nichts haben zuſchulden kommen laſſen als völlig erlaubte, ent- rüſtete Zwiſchenrufe, von Kriminalbe- amten ins Polizeigefängnis geſchleppt werden und dort die Nacht verbringen müffen; wer nicht will, daß Menſchen ſich polizeilich müſſen feſtſtellen laſſen, lediglich weil ſie ſich vor dem Theater gegen ein hündiſches Stück ausgeſprochen baben, der gebe ſofort auf ſeinem Polizeibureau die ſchriftliche Erklärung ab, daß er an der Aufführung Argernis ge- nommen habe und das Einſchreiten des Staatsanwalts verlange. Kann man die Er- klärung dort nicht entgegennehmen, laſſe er ſich die Adreſſe des zuſtändigen Staats- anwalts nennen und ſetze ſich unmittelbar mit ibm in Verbindung.“

Alfo fo ſteht's jetzt in Deutſchland! Die tollſten Aufruhr- Tumulte genügen noch nicht, der Staatsanwaltſchaft zu beweiſen, daß hier Argernis gegeben wird! Was für „Premierenſchlachten“ hat man einſt in Ber- lin erlebt, als wir noch nicht Freiſtaat waren! Zetzt greifen Schutzmannsfäuſte ein, um Unzucht zu ſchützen. |

Das Publikum wird eine Form finden müͤſſen, ſich gegen dieſen Schimmelpilz der Schamloſigkeit zu wehren.

Wo blelbt die nationale Bühne Berling ?

eshalb tut fih der anſtändige Teil der

Berliner nicht zuſammen und ſichert

ſich eine in ihrem Spielplan durchaus na-

tional und religiös geſtimmte Bübne vor nehmen Stils?

Es iſt in Verlin ſchon ſeit langen Jahren

einer rührigen Gruppe gelungen, eine immer

Auf ber Warte

wachſende Menge Berliner in den Freien Volksbühnen zu ſammeln und Vorſtellungen zu ermöglichen, dle dem Geiſte dieſer großen Theatergemeinde entſprechen. Es mag wohl ſein, daß es weſentlich Geiſt vom Geiſte der Linksparteien ift, was hier zum künſtleriſchen Ausdruck kommt. Das Verdienſtvolle dieſer Leiſtung bleibt davon unberührt. Tatſache ift jedenfalls: es gibt in Berlin zuhleeiche Gruppen und Einzelmenſchen, deren Zufam- menſchluß ſofort die Bildung einer Theater gemeinde ermöglichen würde und, wie jener Vorgang beweiſt, bereits ermöglicht hat. Das gleiche gilt Übrigens von jeder anderen großen Stadt.

Weshalb nun begnügen ſich die national- geſinnten Berliner damit, durch ihre führende Preſſe bloß ſchelten zu laſſen? Weshalb geniigt ihnen die Feſtſtellung, daß völkiſch oder religiös geſtimmte Dichter auf den üb- lichen Bühnen nicht zu Worte kommen und zu unfruchtbarem Schweigen verdammt ſind? Weshalb gehen ſie nicht ihrerſeits zum Angriff über und bilden eine nationale Bühnen- gemeinde?

Muß man etwa darauf antworten, daß in den deutſchgeſtimmten Berlinern gegenüber dem internationalen Volksteil zu wenig kulturbildende Kraft ſtecke? Oder ge⸗ lingt es ihnen nicht, eine wirkungsſtarke Cin- heit herzuſtellen? Oder fehlt es an tat- kräftigen Führern?

Es iſt doch eine Schande, daß es den wahr- haft deutſchen Bürgern Berlins nicht gelingt, auch nur eine einzige Bühne im ganzen großen Berlin zu gewinnen oder zu be- ſetzen, die dem nationalen Gedanken dient!

*

Der Reigen-Anfug un wurde glücklich auch Leipzig von

der Reigenjeuche heimgeſucht. Direktor

Vieweg vom Schauſpielhaus wußte das unter feiner Leitung neu eröffnete „Kleine Theater“ in der Elſterſtraße nicht würdiger einzu- weihen (I) als mit Schnitzlers erotiſchen Seizzen! Allabendlich füllt fih der Theater-

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faal mit Zuhörern aus allen Bevö kerungs- ſchichten ja, dieſe ſcheuen ſich nicht vor dem Zwange, beim Eintritt ins Theater eine Erklärung abgeben zu müſſen, daß ſie wüßten, was ihnen bevorſteht und ſie daher keinerlei Einwendungen erheben würden (und Karten nicht von Perſonen unter 18 Jahren benutzen laffen). Dieſe traurigen Vorſichts⸗ maßregeln vorgeſchrieben und ausgeführt in den Tagen, da unerbittliche Feinde an den Grundfeſten unſeres Reichsbaues rütteln und deutſches Weſen zu zer- ſtören trachten, da hohnvoll einem zer- mürbten und ohnmächtigen Volk der Fehde handſchuh unerhörter Erpreſſungen zu- geworfen wird zeigen mit unverhüllter Deutlichkeit, wie der Charakter des Stückes in Wahrheit und wie unſer Volk beſchaffen iſt! Gegen dieſe Entdeutſchung und Ent- weihung unſerer Bühne hat einer der nam- hafteſten Vertreter der Leipziger Univerfität unter dem Beifall Tauſender in der Pleiße- ſtadt ein mutiges Manneswort geſprochen ein tapferes Zeichen edler Würde im gleißneriſchen Trug dieſer verlotterten Zeit. Geheimrat Volkelt ſchickte den „Leipziger Neueften Nachrichten“ ein Eingefandt, das. in der Nummer vom 23. Januar ds. Js. ver- öffentlicht wurde das aber gegenüber der Seuche genau ebenſowenig Eindruck macht wie die derbſten Lärmſzenen.

Aber die Deutſchen werden fih dies alles merken. Alle diejenigen, die in dleſer trüben Gegenwart noch wagen, deutſchen Edelſinn, echte Würde und gemütstiefe Innerlichkeit ſich zu wahren, werden ſich innerlich zu einer Gegenſtimmung ſammeln, wie bereits am Abend des 10. Februar in Leipzig eine Proteſtverſammlung ftattgefunden hat.

Zenſur und Staatsanwalt ſchwer gen deutſches Volk, wo bleibt die ſittliche Wucht, die oft fo befrelend aus deinen Beſten herausbrach?! Wer ſchafft dir des Reiches wahre Seele, befreit von dieſem Schmutz und dieſer Niedrigkeit einer erbärmlichen Zeit?! Mit des neudeutſchen Dichters ernſter Mahnung ſchließen wir dieſes ſchmerzliche Kennzeichen deutſcher Würde- loſigkeit:

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„Biſt du denn ganz erloſchen, du deutſcher Edeltinn?

Ihr Herzen der Starten Stille, feid ihr denn ganz dahin?

Heraus. du Sonne von innen, zerflamme den üblen Dunſt!

Heraus vor allem wieder, du heil'ge deutſche Kunſt!“

Dr Paul Bülow

*

Dieb und Literat

in Sheatraliter, im Geſchwindſtil des Filmſchauſpiels mehr aus dem Nerven- geflecht arbeitend als aus der Seele, ver- untreut anwertrautes Gut; er betrügt die ihm vertrauenden Freunde um Hundert- tauſende und wird als Dieb vor Gericht ge- zogen. Sofort erhebt fich in der ihm be- freundeten Preſſe ein einſtimmiger Aufruhr! Man rechtfertigt, verſteht alles, verzeiht alles, bedauert den pſychiſchen Zuſtand und tele- graphiert an die Staatsanwaltſchaft, kurz, man verſucht den Fall zu einem pſychologiſchen Problem umzubiegen und läßt es dabei an Dreiſtigkeit nicht fehlen. Vor Gericht wird tühl feſtgeſtellt, daß der unbedenkliche und ſelbſtbewußte Schriftſteller ſehr beträchtliche Veruntreuungen begangen hat, obwohl er von ſeinem Verleger in den letzten zwei Jahren an die zweihundecttauſend Mark be- zogen. Den Richtern gegenüber ſucht der Beklagte in wahrhaft größenwahnſinnigen Worten ſein Verhalten zu rechtfertigen und feine Ausnahme-Vedeutung zu betonen, viel- leicht vom Verteidiger zu ſolchem Phrafen- ſchwulſt ermuntert, damit der Fall patho- legiſche Farbe erhalte. | Es lohnt nicht der Mühe, auch nur mit einem Wort auf defes Geſchwätz einzugehen. Das Gericht hat den Schuldigen auf ein Jahr und ſeine mitſchuldige Frau auf vier Monate ins Gefängnis geſchickt. Dort mag Georg Kaiſer darüber nachdenken, daß es in jeder Lebensgemeinſchaft eiſerne Geſetze gibt, die man nicht zu brechen verſuchen darf, ohne ſelber zu zerbrechen. Dem deutſchen Volk aber muß man aus dieſem Anlaß aufs neue einſchärfen, fih in feinen Grundinſtinkten

Auf der Warte

durch Verſchleierungskünſte und große Worte nicht irre machen zu laffen Da- mit ſei dieſer Fall abgetan. Das an ſich ſo naheliegende reinmenſchliche Mitleid noch be- ſonders auszuſprechen, hat bier gar keinen Zweck, fo lange die Grundbegriffe derart ver- bogen werden.

Wie ſieht 's im Elſaß aus?

Mo ſchreibt uns: „Nachdem ich die Beobachtungen

über „Elſaß- Lothringen“ im 3. Heft des „Türmers“ geleſen hatte, reizte es mich un- gewöhnlich, an Ort und Stelle die Richtigkeit der Beobachtungen des Herrn Alſaticus“ ein wenig zu prüfen. Ich hatte über Weihnachten und Neujahr dazu Gelegenheit. Nach jenen „Beobachtungen“ zu ſchließen [die bedeutend weiter zurüdliegen! D. T.] wäre die Lage im Elſaß etwas ruhiger geworden. Ich habe davon nichts gemerkt. Eher iſt das Gegenteil der Fall. Bauern, Arbeiter, Beamte, Geift- liche, alle erkennen heute, daß ſie anderen Blutes find als ihre „Befreier“. Nicht nur einzelne Stände oder politiſche Parteien ſind oppoſitionell geſtimmt, ſondern (man kann es mit beſtem Gewiſſen behaupten) die große Mehrzahl der Elſäſſer, namentlich in evangeliſchen Orten. Und in katholiſchen Gegenden ſorgt die klerikale Preſſe dafür, daß der Widerſtand gegen alles, was fran- zöſiſch iſt, zuſehends zunimmt. Man braucht nur klerikale Blätter zu leſen, um ſofort zu ſehen, was für ein friſcher (Oft-) Wind weht. Abbé Hägy-Colmar ſchreibt im ‚Elſäſſiſchen Kurier“: ,— Für Lehrperſonen (aus Frant- reich l), welche eine religiös - ſittliche Erziehung den Kindern nicht zu geben vermögen, muß es heißen: Hinaus aus unſeren Schulen! Für ein Schulſyſtem —: Hinaus aus unfe- rem Lande, und zwar ſchleunigſt!“ Pie Sprachenfrage und die Frage des religiöfen Unterrichts hat die Geiſtlichen aller Kon- feſſionen zuſammengeführt, die geſchloſſen gegen das franzöſiſche Syſtem kämpfen. Einig geht mit ihnen in dieſer Frage die ſozialiſtiſche Preſſe.

Auf der Warte

Sanz eindeutig iſt die Stellung der Bauern und Winzer. Die ganze letzhabrige Wein- ernte liegt noch in den Kellern.” Billige franzöfifche Weine überſchwemmen das Land. Die Ausfuhr nach Deutſchland iſt unmöglich (Valuta ). Der Advokat Labergerie hat türz- lich das elſãſſiſche Rebland beſucht und be- richtet in der Nummer vom 6. Januar der ‚Revue de Viticulture“ über die Eindrücke, die er über die Lage im Elſaß geſammelt hat. Ich greife einige Sätze heraus: „Auch im Elſaß beginnt man den Wechſel des Syſtems zu verfpüren. Das Geld kommt nicht mehr zeitig genug an, die Arbeiter können ſogar nicht mehr bezahlt werden. ‚Nehmen wir uns in acht, daß dieſes Syſtem in den wieder- gewonnenen Provinzen nicht zu demſelben Refultate führt und bei der Bevölkerung Klagen zeitigt, die von den dort noch vor- handenen deutſchen Agenten ausgebeutet würden!‘ ‚Während unſerer Durchreiſe durch das Elſaß haben wir ſchon bei unſeren dortigen Freunden ein Vorurteil feſtſtellen können, welches die lebhafte Tätigkeit der deutſchen Agenten beweift. Wenn Herr Lab. zu dieſem Urteil kommt, dann muß es wohl wahr fein. Ein Bürgermeifter eines Reb- ortes fragte mich: ‚Rommft du allein aus Deutſchland?“ ‚Wen hätte ich denn mit- bringen follen? 40000 Preußen! Dann wäre alles wieder gut!“ Dutzende folder Außerungen durfte ich in 14 Tagen hören, beſonders auf der Bahn. Das Theater ift ein anderes Schmerzenskind. Der fo- zialiſtiſche, Republikaner (Muͤlhauſen) ſchreibt: ‚In derſelben Kunſthalle, wo jetzt Bariété- zoten Triumphe feiern, ſoll früher das Publikum Beethoven, Mozart, Wagner, Schil- ler, Goethe belauſcht haben. Soll unſer Muſentempel ein Pariſer Tingeltangel werden? Läuterungsgeiſt tut not! Kampf dieſem frivolen, antielſäſſiſchen Pariſer Bour- geoisgeift mit der bewährten Waffe alt- elſäſſiſchen Geiſtes!“ Am 16. Jan. d. 8. ift in Colmar ein neuer Lehrerverein ge- gründet worden mit dem Ziel: „Sicherung

der erworbenen Rechte, Bekämpfung der

Sonderrechte der Lehrer aus Innerfrankreich“. Die feindliche Preſſe nennt den neuen Verein

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„Amicale B‘, lies: „A. boche‘. Die Frage der Rekrutierung verurſacht am meiſten böfes Blut. In Belfort haben ſich einige meiner Bekannten geweigert, Dienſt zu tun. Folge: 6 Monate Gefängnis. In der Silveſternacht

fangen junge Burſchen in der Straße Mar-

kirchs ein Lied mit dem Kehrreim: „So leb’ denn wohl, du deutſches Vaterland!“

Ich könnte noch viele Beiſpiele aufzählen. Doch wollte ich Ihnen nur zeigen, daß augen- blicklich von einer Beruhigung nicht die Rede fein kann; im Gegenteil: immer ſchärfere Oppoſition. ..“

„Eine beachtenswerte Unter-

richtsmethode“

Die Worte ſtehen unter zwei Bildern in einer Unterhaltungsbeilage des „Vor- warts“. Schulkinder ſtehen vor einer Fahne aufgeſtellt, die eins der Kinder hält; links hebt eine Lehrerin einem wahrſcheinlich widerſpenſtigen Kinde die Hand hoch und lehrt es die republikaniſche Fahne „grüßen“, rechts ziehen grüßende Jungens an der Fahne vorüber. Die Erklärung ſagt dazu: „Die Bildungsbeſtrebungen unſerer Partei gehen, wie wir das an anderer Stelle aus- führlicher darlegen, erfolgreich ihren Gang. Auch in Deutſchöſterreich ſucht man nach Kräften ſo zeitig wie möglich auf, die republikaniſche Anſchauung der Zu- gend ſchon der Schuljugend einzu- wirken. Lehrer und Lehrerin unterweijen die Kinder, in welcher Weiſe fie der Staats- fahne Gruß und Ehrerbietung entgegen zubringen haben: eine höchſt beachtens⸗ werte Unterrichtsmethode, die auch in anderen Ländern Nachahmung finden ſollte.“

Dies wachſende Staatsgefühl freut uns herzlich. Man beachte, wie die Worte „Par- tei“, „republikaniſch“, „Staatsfahne“ ſich hier reizend ineinanderſchlingen, um diefe „höoͤchſt beachtenswerte Unterrichtsmethode“ ſchmack⸗ haft zu machen! Was hättet ihr denn aber wohl früher geſagt, wenn man die Kinder. der Kaiſerzeit zu ſolchen Grüßen methodiſch gezwungen hätte?!

1*

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Butih von rechts 7

& wäre doch wohl ungefähr das Dümmſte, was die Rechtsparteien tun könnten, wenn ſie durch einen Putſch die Entwicklung beſchleunigen wollten. Hoffentlich läßt ſich ſelbſt der hitzigſte Rechtsnationale nicht zu ſolcher verbrecheriſchen Dummheit hinreißen. Es geht eben wieder eine Warnung durch die Blätter. Unferen Feinden draußen und den Radikaliſten im Innern könnte gar kein größerer Gefallen geſchehen.

Es gibt nur eins, was uns wahrhaft fördern kann: das Erſtarken eines edlen Volksbewußtſeins. Dieſe Erſtarkung aber kann duch Putſche nur zerrüttet werden, grade durch Putſche von rechts. Denn bei der Rechten, bei den bürgerlichen Parteien insge- ſamt, ſetzt man ſtärkeres Nationalbewußtſein von vornherein voraus. Der Kommunismus lauert ja nur auf ſolche Anläſſe, auf ſolche Vorwände. Tut ihm den Gefallen nicht!

Etwas andres iſt es mit der ſtillen Samm- lung und Fühlungnahme, wie es einſtmals in den Tagen der „Tugendbünde“ war. Jest iſt für leiderprobte Deutſche die gemeinſame Sorge der beſte Kitt. Nicht zu viel Weſens machen von äußeren „Organiſationen“! Die in uns wirkenden geiſtigen Urkräfte be- leben! Sich ſtärken an großen Ahnen! Auch nicht zu viel Zeit verlieren mit Hader gegen die unaufhaltſame Zerſetzung! Von Zeit zu Zeit eine klare, unzweideutige, wuchtige Außerung reiner Geſinnung und ein wirt- ſamer Aufruf deutſchen Gewiſſens immer mit dem Ziel, die deutſche Sendung in ganzer Kraft und Reinheit herauszuarbeiten!

So werden wir von innen heraus, langſam und ſicher, Herren unſeres Schickſals.

Die rote Welle

ie Sprengung der Giegesjäule gegenüber dem Reichstag ſollte eigentlich das weit- bin hallende Signal zum Losbruch dieſes aber- maligen Bolſchewiſtenaufſtandes geben, der ganz und gar ruſſiſcher Abklatſch ift. Es mutet faft ſymboliſch an, daß lediglich das Verſagen

Auf der Warte

einer verdorbenen Zünd ſch nur, nicht wie uns amtliche Darſtellung weiszuinahen verſucht hat, das Eingreifen der Ordnungsbehörde den fürchterlichen Anſchlag vereitelt hat.

Wenn (wie es im Augenblick, da dieſe Zeilen in Druck gehen, den Anſchein hat) die Aufruhrbewegung in Mitteldeutſch land zum Stillſtand kommt, fo wird dies weit mehr be wirkt durch die innerliche Unzulänglichkeit des ganzen Putſchunternehmens als etwa durch die Abwehrmaßnahmen der Regierung. Wie geradezu jämmerlich erſcheint angeſichts der Rieſengefahr für den Beſtand des Reiches die Haltung eines Hörſing, der aus Schlotterangft vor den kommuniſtiſchen Machthabern das wüfte Verſchwörertum duh Amneſtiever- ſprechungen zu bekehren verſuchte, ſtatt die beiſpiellos verhöhnte Staatsautorität, deren letzter Kredit vor dem Auslande auf dem Spiel ſteht, mit Maſchinengewehren zu verteidigen. Selbſt bei dem größten Teil der Arbeiterſchaft hätte diesmal ein energiſches Eingreifen der Regierung Verſtändnis und, wenn nicht offene, ſo doch geheime Zuſtimmung gefunden. Denn für den Arbeiter zwiſchen 18 und 50 Jahren, der gewaltſam in die Rote Garde geſteckt wird, ift dieſer brüderliche Militarismus doch im Grunde keineswegs erfreulicher als der, um deſſentwillen er die Revolution von 1918 ge macht hat.

Einer politiſchen Organijation gegenüber, die das zunftmäßige Verbrechertum als Stoß- trupp benutzt, iſt irgendwelche Schonung ſo unangebracht wie nur möglich. Oder ſteht der gegenwärtigen Regierung, die doch vor wiegend bürgerlich ift, das Wohl und Wehe der kommuniſtiſchen Partei höher als das pes übrigen Oeutſch lands?

Bei der Verhaftung der Siegesjäuler Attentäter drang ein Kommiſſar mit zwei Mann in das Bolſchewiſtenneſt. Auf ſeinen Donnerruf „Hände hoch, oder wir ſchießen!“ hoben die fünfzehn ſchwar zmaskierten, bis an die Zähne bewaffneten Pikrinhelden die Hände in die Höhe.

Die Moral dieſer berrumpelungsgeſchichte ift lehrreich. Beſonders für die Reichsregie⸗ rung

ſcher und Hauptſchriſtleiter: Prof. Dr. Phil. b. o Friedrich Lienhard, Für den politiichen und wiet

Derantworti ee, Teil: Ronitantin Schmelzer.

Alle Zuschriften, Einfendungen niw. an die Schriftleitung des Tür mer,

Serlin⸗ Wilmersdorf, Nudolſtäbter Strate. 66. Orud und Verlag: Greiner u. Pfeiffer, Stuttgart

THE LIBRARY OF THE UNIVERSITY OF ILLINOIS

Maiabend Karl Breuer

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uszegeben von Prof. Dr h. c. Friedrich ne 28. Jahrg. Mai 1921 Weft 8

Wofür ſtarben ſie? Von Arthur Hoffmann⸗Erfurt

W eeißig, die vor dem Kriege in enger Gemeinſchaft zuſammengehört hatten, feierten nun zehn Jahre nach der Trennung ein erſtes

Treffen. Wir Lebenden noch neunzehn, und mit uns unſere S Toten! Um Worte Fichtes ſammelte ſich der Kreis, und der Geiſt des deutſchen Idealismus erfüllte eine Stunde der Beſinnung. Was dort im Innern lebendig wurde, ſei hier denen bezeugt, die mit auf dem Wege ſind nach dem „neuen Deutſchland“ ...

* * *

Es war im Winter 1807/08, da rang in Berlin ein Kreis ſeeliſch aufge- ſchloſſener, geiſtig tiefer Menſchen darum, die Zeichen der Zeit einer Zeit des äußeren Zuſammenbruches wie heute zu erfaſſen. Dort gab Fichte der Frage nach dem Sinn der Opfer des Krieges die Antwort: „Für eine Ordnung der Dinge, die lange nach ihrem Tode über ihren Gräbern blühen ſoll, verſpritzten ſie mit Freudigkeit ihr Blut.“ Sie gingen auf in der „verzehrenden Flamme der höheren Vaterlandsliebe, die die Nation als Hülle des Ewigen umfaßt, für welche der Edle mit Freuden ſich opfert“.

Dazu ein zweites Bild: Wir ſehen Fichte einer ganz anderen Aufgabe hin- gegeben. In Jena hat er im Sommer 1794 eine Schar junger Menſchen um

ſich verſammelt. Er empfindet tief mit ihnen, wie ernſte Lebensfragen in denen

drängen, die über die Angelegenheiten eines bloßen Brotſtudiums hinaus . Der Türmer XXIII, 8

74 \ Hoffmann: Wofür ftarben fie?

Belange kennen und größere Aufgaben meiſtern wollen. Solchen Lebendigen und „wir Lebenden“ wollen uns zu ihnen rechnen gibt er am Schluſſe einer Vorleſung die Worte mit: Das iſt „der an uns ergangene Ruf, daß wir es ſind, die für die Vervollkommnung anderer zu arbeiten haben. Laſſen Sie uns froh ſein über den Anblick des weiten Feldes, das wir zu bearbeiten haben! Laſſen Sie uns froh ſein, daß wir Kraft in uns fühlen, und daß unſere Aufgabe unendlich iſt!“

In dieſen beiden Worten eines der größten geiſtigen Führer unſeres Volkes iſt alles beſchloſſen, was unſere heutige Beſinnung an letzten und tiefſten Gedanken finden könnte. Es wird nur meine Aufgabe ſein, dieſen reichen und tiefen Sinn ein wenig zu entfalten, ſo daß Tröſtung und Stärkung uns daraus zufließe.

Wo für ſtarben ſie? Auf dieſe Frage, die in Stunden ratloſer Verzweiflung wie in Augenblicken ſtillerer Trauer bei ſo vielen Tauſenden angeklopft hat, die noch heute längſt nicht ſchweigt und noch lange bald ſtärker, bald ſchwächer aus dem Tageslärm und den Tageskämpfen herausklingen wird, auf dieſe Frage die ſchlichte Antwort: „Für eine Ordnung der Dinge.“

Es ift nichts von Grund auf Neues, das der Denter uns mit dieſen Worten aufſchließt. Es liegt ja vielmehr auch das in ihnen, was der religiöfe Menſch nach Stürmen der Verzweiflung als ſeinen Ankergrund findet, und wobei er nach Leid und Schmerzen ausruht und ſich geborgen weiß: das gläubige Vertrauen darauf, daß ein göttlicher Wille das für unſere Augen oft Sinnloſe am Ende doch zum Sinnvollen, zum Guten wendet.

Wir wollen es heute dabei bewenden laſſen, an dieſe Löſung unſerer Frage, die dem religiöſen Menſchen gegeben wird, wenn ſein Ringen ernſt iſt, nur kurz zu erinnern. Es hat ſich ja unſern Gedanken ein Führer beigeſellt, der ſo tief auch er von einem Gotteserlebnis durchdrungen war (Fichte hat uns eine „An- weiſung zum ſeligen Leben“ geſchrieben) beim religiöſen Erleben nicht halt machte, ſondern auch mit einem vertieften „Wiſſen“ darum rang, letzte Lebens- fragen zu erfaſſen. Was ſeine Weltweisheit erſchloſſen hat, davon möge uns etwas aufgehen. Verſuchen wir es fo zu erfaſſen, welcher Sinn darin liegt, daß unſere Toten für uns ſterben mußten, und daß wir nun für ſie leben ſollen.

„Für eine Ordnung der Dinge.“ Es iſt wirklich eine letzte und tiefſte Lebensfrage, die ſich in dieſen Worten ankündigt. Das erfaſſen wir ja alle leicht, daß das verworrene Geſchehen um uns auf eine Geſtaltung hindrängt. Aber welche Ordnung iſt es denn nun, für die die ſchwerſten Opfer eben doch nicht zu groß ſind?

Schauen wir in unſere Zeit hinein, dann ſehen wir Tauſende ſich gefchäftig regen, um eine gewiſſe „Ordnung der Dinge“ mit geſtalten zu helfen. Wir ſtehen alle mitten darin in dieſem Getriebe und haben alle mit teil an dieſem Geiſte, fo. daß eine klare Auseinanderſetzung mit ihm zuerſt nottun wird. Es fehlt nicht an ſolchen, die verkündet haben und auch nach ärgften Enttäuſchungen noch

wirtſchaftlichen Lebens. Es ſoll gewiß nicht verkannt werden, daß es für ein Volk eine ungemein wichtige Aufgabe iſt, wie es ſein Wirtſchaftsleben geſtaltet. Die Unterhaltung unſeres äußeren Lebens die Sorge alſo um Nahrung, Wohnung

Hoffmann: Wofür ftarben fie? 15

und Kleidung, die Förderung der Gütererzeugung und die Regelung des Ber- brauches das ſind Dinge, die mit ihren Auswirkungen weit in die feinſten Verzweigungen des kulturellen Lebens hineinreichen und deren Vernachläſſigung ſich daher bitter rächt. | Aber denken wir nun daran, wie unſer Zeitalter mit ſolchen Aufgaben ſich abgefunden hat. Gewiß, es war ein Aufſtieg, der uns ſtolz machen durfte, als aus dem Volke der Oichter und Denker, das das Ausland ſich gern als Träumer und Schwärmer dachte, eine im Wirtſchaftsleben führende Weltmacht wurde. Als in jeden Winkel unſerer Heimat hinein die neuen Errungenſchaften der betrieb- ſamen „modernen“ Menſchen drangen. Als in jede verſteckte Hütte neuzeitliche „Aufklärung“ hineinleuchtete. Als jeder Kopf anfing, wirtſchaftliche und ſoziale Probleme aufzufangen, klug mitzurechnen, geriſſen mitzumarkten. Aber wiſſen wir denn heute noch immer nicht, was mit ſolcher „Ordnung der Dinge“ letzten Endes über uns kam? Sehen denn heute ſo viele immer noch nicht, wie gute und richtige Gedanken uns zum ärgſten Unheile wurden, als in einer ſchwachen Stunde einer Stunde, die etwa von den Gründerjahren an nach Jahrzehnten zu rechnen iſt unſer Volk ſie hemmungslos ſeine Seele überwuchern ließ? Fühlen wir noch nicht alle, daß es nun, nachdem der wirtſchaftliche Geiſt in ſolcher Entartung wie eine verheerende Seuche unter uns hauſt, ein Frevel ift, die „Ord- nung der Dinge“, für die die Unferen ſtarben, die wirtſchaftliche zu nennen? Wir müffen einmal uns ganz klar werden über die furchtbare ſeeliſche Not, die über uns gekommen iſt, weil unſer Volk ſeine wahre Sendung vergaß. Den jungen Menſchen, die Fichte in Jena durch feine Vorleſungen über ihre eigentliche Be- ſtimmung zu einem neuen Leben aufrütteln wollte, prägte er ein Bild ein, das auch auf uns wirken muß mit der erſchütternden Wucht, die ſolcher ſicheren Er- kenntnis des wahren Weſens einer innerlich verarmten Zeit innewohnt: Fichte zeigte ſeinen Hörern die „Menſchen ohne Ahnung ihrer hohen Würde und des Gottesfuntens in ihnen, zur Erde niedergebeugt, wie die Tiere, und an den Staub gefeſſelt; ſah ihre Freuden und ihre Leiden und ihr ganzes Schickſal, abhängig von der Befriedigung ihrer niedern Sinnlichkeit, deren Bedürfnis doch durch jede Befriedigung zu einem ſchmerzhaftern Grade ſtieg; ſah, wie ſie in Befriedigung dieſer niedern Sinnlichkeit nicht Redt noch Anrecht, nicht Heiliges noch Unheiliges achteten; wie ſie ſtets bereit waren, dem erſten Einfalle die geſamte Menſchheit aufzuopfern; ſah, wie ſie endlich allen Sinn für Recht und Unrecht verloren, und die Weisheit in die Geſchicklichkeit, ſeinen Vorteil zu erreichen, und die Pflicht in die Befriedigung ihrer Lüfte ſetzten; fab zuletzt, wie fie in dieſer Erniedrigung ihre Erhabenheit, und in dieſer Schande ihre Ehre ſuchten; wie ſie verachtend auf die herabſahen, die nicht ſo weiſe und nicht ſo tugendhaft waren, als ſie. Sah ein Anblick, den man nun endlich in Deutſchland auch haben kann fap diejenigen, welche die Lehrer und Erzieher der Nation ſein ſollten, herabgeſunken zu den gefälligen Sklaven ihres Verderbens, diejenigen, die für das Zeitalter den Ton der Weisheit und des Ernſtes angeben ſollten, ſorgfältig horchen auf den Ton, den die herrſchendſte Torheit und das herrſchendſte Laſter angab.“ „Sah Talent und Kunſt und Wiſſen vereinigt zu dem elenden Zwecke, durch alle

76 Hoffmann: Wofür ſtarben fie?

Genüſſe abgenutzten Nerven noch einen feinern Genuß zu erzwingen.“ Das ift eine Abrechnung, die aus der Zeit vor hundert Jahren zu uns herüberklingt, als wäre ſie für dieſen Tag geſchrieben. Nicht der Geiſt maßvoller wirtſchaftlicher Beionnenheit, den auch jeder einzelne von uns betätigen und fih wahren muß, wohl aber der Ungeiſt händleriſcher Verkommenheit, der keine anderen wertvollen Belange kennt als ſolche, um die ſich nach Heller und Pfennig markten und feilſchen läßt, dieſes Unweſen, zu dem ein Volk von ganz anderer innerer Prägung ent- artete, empfängt hier fein vernichtendes Urteil.

Was fordern unſere Toten von uns? Wir ſtünden mit leeren Händen vor ihnen, könnten wir noch ſo tief in klug errechnetem Beſitze wühlen. Wir wären arm auch nach äußeren Siegen und müßten verzweifeln, wenn aus den Augen der toten Brüder und Freunde, der Weggenoſſen, die uns vorausgingen, immer und immer wieder die Frage zu uns ſpräche: „Und ihr?“, könnten wir zur Ant- wort nichts anderes in uns lebendig werden laſſen, als die flinken Gedanken vom beſten Profit, die ſich am Ende doch immer unfruchtbar im Kreiſe drehen, als das öde Geklapper klug berechnender Schlüſſe wäre in uns nichts anderes zu finden als das Begriffsnetz mit den weiten Maſchen, das eine geiſtig ſo überlegene Zeit fih von gefchäftigen Händen hat Spinnen laffen, damit die Bedenken und Einwände anſtändiger und ſauberer Menſchen, die hin und wieder doch nicht ganz zu übertönen find, nur ja nicht einmal irgendwo einhaken könnten und an all den zum Fang ausgelegten Fäden unangenehm zerrten. Denn fiele das Geſpinſt eines Tages zuſammen, dann ſtünde der Menſch unſerer Tage fo nackt und er- bärmlich da, daß auch die hartgeſottenſten unter den „Wiſſenden“ von heute bei dieſer Vorſtellung ſchon ein Grauſen packt und wie müſſen wir erſt ſolch ein hellſehendes Schauen empfinden, wenn wir eben deſſen voll bewußt ſind, daß die Forderung unſerer Toten über unſerm Leben ſteht.

Wie ordnen wir aber die Dinge nun anders, wie geſtalten wir ein ſolches Leben neu? Entſinnen wir uns an dieſer Stelle des „Vermächtniſſes“, das ein anderer Großer im Geiſte uns hinterlaſſen hat:

„Sofort nun wende dich nach innen! Das Zentrum findeſt du da drinnen, Woran kein Edler zweifeln mag. Wirſt keine Regel da vermiſſen, Denn das ſelbſtändige Gewiſſen

Ift Sonne deinem Sittentag.“

Es iſt alſo „nicht draußen, da ſucht es der Tor; es iſt in dir, du bringſt es ewig hervor“. Der Ordnung der Dinge, die fih ihre Grundſätze von der nach außen gerichteten Begehrlichkeit vorſchreiben läßt, tritt eine Lebensgeſtaltung von einem inneren Zentrum aus gegenüber. Haben wir dieſen Punkt nur recht erfaßt, dann ſind wir zu der entſcheidenden Stelle unſerer heutigen Veſinnung auf- geſtiegen. Aber nehmen wir es doch ja recht ernſt mit dieſem Erfaßthaben. Es iſt nichts gewonnen, wenn wir uns der Stimmung unſeret Feierſtunde einmal hingeben und ſchönen Worten mit freundlicher Zuſtimmung lauſchen. Was nun noch auszuführen iſt, um den Gehalt unſeres Fichteſchen Textes auszuſchöpfen,

Hoffmann: Wofür ftarben fie? 77

das will weniger verſtanden und begriffen als vielmehr gelebt werden. „Handeln! Handeln! Das iſt es, wozu wir da ſind.“ Es dreht ſich auch in dieſer Stunde nicht um ein beſinnliches Schauen, ſondern um ein tatkräftiges Aufbauen.

Zeder wird mit ſolcher Neuordnung bei ſich ſelber anfangen müſſen. Wir ſind als Kinder unſerer Zeit vielfältig in die Schlingen verſtrickt, aus denen das Leben gelöſt werden muß. Keinem bleibt es erſpart, daß er ſich immer wieder einmal dabei ertappt, wie ein nüchtern erwogener, auf ſein liebes Ich nur zu genau eingeſtellter Zweck ihm der Maßſtab aller Dinge iſt. Vis in die kleinſten Verrichtungen und bis auf den Verkehr von Bruder zu Bruder hat dieſe geiſtige Verrottung, diefe Verkümmerung jeder Regung ſelbſtloſer Hingabe übergegriffen. In ſolchem Umfange konnte, als wir bei der Scheidung des Weſenloſen vom Weſenhaften verſagten, eine Geiſtesart unſerer Herr werden, die im Grunde uns fremd und vielmehr in den Syſtemen des engliſch- amerikaniſchen Pragmatismus heimiſch iſt, und die von ſinnloſer Verblendung eingetauſcht wurde für edles deutſches Geiſtesgut.

In vielen anderen, die immerhin für ihre Lebensordnung größere Zuſammen— hänge ſuchen, ſpukt der Irrtum nach, daß der Sinn und Wert auch des Menfchen- tums ſich reſtlos begreifen laſſe, wenn wir von dem Zauberworte „Entwicklung“ einen recht ergiebigen Gebrauch machen. Entwicklung aus dem Lebloſen zu den Anfängen des Lebens hin, von der Pflanze zum Tier, vom Tier zum Menſchen, vom Menſchen zum Übermenſchen. Der Menſch, vorwärts getrieben von einer großen rätſelhaften Woge, die ihn emporhebt aber ausgelöſcht alles, was auf innerlich erſchauten Tafeln als Geſetz ſeines Lebens über ihm ſtand. Kann das die neue Ordnung ſein? Wir müſſen die Frage verneinen. Und wenn auch dieſe Zeitkrankheit des deutſchen Denkens ſich beſſer einprägen und dann leichter meiden läßt, wenn wir ihr ein Kennwort geben, fo fei es genannt: Es ift der Viologismus in einer Sonderform: der Monismus —, der an ſeinem Teile geholfen hat, dem deutſchen Geiſte Quellen lebendigen Waſſers zu verfchütten.

Endlich ein weiterer Abweg. Ich nehme hier das Kennwort voraus: Es iſt ſchließlich noch die Geiſteshaltung des Pſychologismus, der wir mit weiten Schichten unſeres Volkes verfallen find. Wir hatten gelernt, in ſeeliſche Zuſammen hänge tief hineinzuſchauen, hatten uns daran gewöhnt, jedes Erlebnis zu zerfaſern und zu zergliedern, kamen ſchließlich dahin, mit pſychologiſchen Methoden es dem Geiſte vormeſſen zu wollen, wie hoch er ſich erheben oder vielmehr nicht erheben könne, weil ja alles durch „Geſetze“ des Naturgeſchehens geregelt ſei. So ſchlich ſich das Mißtrauen und Unverſtändnis des Pſychologismus gegenüber der ſchöpfe⸗ riſchen Tat der großen führenden Perſönlichkeiten ein. Das Wort „Fübrertum“ wurde im Wortſchatze einer Zeit überhaupt geſtrichen, deren Lebensformen dann daran zuſammenbrachen, daß in ihnen alles ſo hohl geworden war.

Ich habe gefliſſentlich hier ein paar. Schlagworte eingeſtreut, habe mich dabei verweilt, die Lehre einiger Modeſtrömungen im Geiſtesleben unſerer Zeit kurz darzulegen, um zu zeigen, wie es dem Suchenden heute gar nicht ſo leicht iſt, ſich zu der wahren Ordnung, die künftig erblühen foll, hindurchzufinden. Es find uns von allen Seiten her ſchon längſt geſchäftig und rührig Hilfsmittel dafür an-

78 Hoffmann: Wofür ſtarben fie?

geboten worden, wie wir mit dem Leben weiterkommen könnten. Hier heißt es ſorgfältig prüfen, damit nicht ein falſcher Lockruf uns täuſche. Entſprechend dem Ernſte unſerer Gegenwart, in der wir an einen neuen Anfang geſtellt ſind, iſt unſere Verantwortung gewachſen für die Wahl des richtigen Weges, für die nach dauernden Hochzielen gerichtete Lebensführung. Und das wird uns in dieſem Zuſammenhange nun beſonders deutlich es iſt im Grunde doch das Bekenntnis dazu, wie wir uns für das neue Werden doppelt und dreifach mit- verantwortlich fühlen, was ſich in dem Leitgedanken unſerer Zuſammenkunft, „Anſere Toten und wir“, ausſprechen ſollte.

Nehmen wir in unfer Bewußtſein zu dem ſtarken Gefühle der Verantwort- lichkeit noch einen zweiten Leitgedanken auf: den der Hingabe, ſo ſind wir ſchon nahe zum Kern der neuen Ordnung vorgedrungen, deren Weſen ein letzter Teil unſerer Beſinnung uns nun erkennen laſſen ſoll. Es iſt freilich ſchwer, ſich über diefe Belange verſtändlich zu machen. Die Schwierigkeiten wechſelſeitiger Ber- ſtändigung liegen hier darin, daß es dem nur noch an realiſtiſche Erwägungen gewöhnten, einſeitig ding- und ſeinsgläubigen Menſchen unſerer Zeit vorkommt, als werde in einer fremden Sprache geſprochen, wenn ihm die ſchlichten Grund- gedanken des deutſchen Idealismus, die Grundzüge einer Sollensgeſetzlichkeit, die letzten Sinn- und Wertzuſammenhänge aufgezeigt werden ſollen.

Und doch: „Es iſt daher kein Ausweg: Wenn ihr verſinkt, ſo verſinkt die ganze Menſchheit mit, ohne Hoffnung einer einſtigen Wiederherſtellung.“ Das „Ihr“ in dieſem Satze meint diejenigen, die ſich der deutſchen Sendung bewußt jind, eine Kultur der Innerlichkeit zu ſchaffen und einen ſolchen Lebensſtil all den tauſendfachen äußeren Hemmungen gegenüber tatkräftig durchzuſetzen, Sie ſind oft ſehr unpraktiſch, dieſe Menſchen im Geiſte. Bringen ſie es doch etwa fertig, mitten im ſchönſten Geſchäfte ein lautes Halt zu rufen, weil ein inneres Geſetz es ihnen verbietet, aus ihrem Handeln einen wüſten Schacher werden zu laſſen. Dann ſpielt das gewaltig überlegene Lächeln um die Lippen der anderen. Wenn es hoch kommt, wenn ſie es überhaupt für eines aufgeklärten Kopfes würdig halten, dann beginnen ſie beredt zu beweiſen, wie es verfehlt ſei, das Leben nach

höheren Leitgedanken zu richten, „weil es ſich nicht ausführen laſſe, und weil

denſelben in der wirklichen Welt, ſo wie ſie nun einmal iſt, nichts entſpreche; ja ſo führt Fichte dieſe Erwägung weiter fort es iſt zu befürchten, daß der größte Teil der übrigens rechtlichen, ordentlichen und nüchternen Leute ſo urteilen werde, denn obgleich in allen Zeitaltern die Anzahl derjenigen, welche fähig waren, fih zu Ideen zu erheben, die kleinere war, fo ift doch ... diefe Anzahl nie kleiner geweſen, als eben jetzo“. Was ſoll nun werden, wenn der Geiſt dieſer vielen,

die Fichte mit jo ſcharfem Spotte die Rechtlichen, Ordentlichen und Nüchternen

nennt, das allgemeine Leben zu beſtimmen ſich anmaßt? Wir haben von dem

Rechte, das den Wucher und das Schiebertum deckt, von der Ordnung, die bheil-

loſeſte Verwirrung organiſiert, und von der Nüchternheit, die furchtbarſte Kälte iſt, doch übergenug als Gift in unſerm Volkskörper fiken, das endlich heraus- heilen muß. Fichte fährt an der zuletzt angeführten Stelle fort: „Wenn es un-

möglich iſt, in dieſen den einmal ausgelöſchten Funken des höheren Genius wieder

Hoffmann: Wofür ftarden fie? 79

anzufachen, muß man fie ruhig in jenen Kreiſen bleiben, und infofern fie in dem- ſelben nützlich und unentbehrlich find, ihnen ihren Wert in und für denſelben ungeſchmälert laffen. Aber wenn fie darum nun ſelbſt verlangen, alles zu ſich herabzuziehen, wozu fie ſich nicht erheben können, wenn fie z. B. fordern, daß alles Gedruckte fih als ein Kochbuch, oder als ein Rechenbuch, oder als ein Dienſt- reglement ſolle gebrauchen laſſen, und alles verſchreien, was ſich ſo nicht brauchen läßt, ſo haben ſie ſelbſt um ein Großes unrecht.“ Dieſes Unrechtes, das von den kalten Verſtandesmenſchen ausgeht und unfere Arbeit an uns ſelber und an den uns an- vertrauten Menſchen hemmen will, müſſen wir uns mit allen Kräften erwehren.

Es gehören zu ſolcher Wehrhaftigkeit natürlich Mut und Selbſtvertrauen. Ja, was als haltlofe Schwarmgeiſterni fo oft mißverſtanden und verſpottet worden ift, der deutſche Idealismus, das hat fih letzten Endes zu bewähren als die rüd- ſichtsloſe Forderung, der unbeugſame Wille, die entſchloſſene Tat, aus dem end- loſen Strome der Vielzuvielen endlich herauszutreten, die dem äußeren Erfolge als dem Trugbilde eines Lebenszieles nachjagen und von dem Scheinweſen des „Fortſchrittes“ ſich getragen und getrieben fühlen. Es ſind oft belächelte und vom modernen Menſchen „natürlich“ längſt „überwundene Dinge“, die eine idealiſtiſche Lebensordnung fo dem bequemen Herkommen entgegen wieder in den Mittelpunkt ſtellt: Das ſelbſtändige, unbeſtechliche Gewiſſen, das dem edlen Menſchen die „Sonne ſeines Sittentages“ iſt; gläubiges Aufſchauen zu dem Ewigen, das im geſchichtlichen Leben ſich ſeine Geſtaltungen ſchafft; maßvolles Sid- beſcheiden den weiten Zuſammenhängen gegenüber, in die der einzelne fidh ein- geordnet weiß; Vertrauen auf das Führertum, zu dem begnadete Menſchen be- rufen find; Ehrfurcht vor kulturſchöpferiſcher Tat, wo immer fie aus dem Alltäg- lichen leuchtend hervorbricht; Hingabe an das, was als der letzte Sinn des Lebens und der höchſte Gehalt alles Geſchehens über uns ſteht und als das Abſolute im Wandel der Zeiten unverrückbar beharrt. All dieſe einzelnen Einſichten, die deutſches Forſchen aus tiefen Schächten zutage förderte und eine nur zu oft vergeſſene und ſchamlos verleugnete Überlieferung uns als Erbe anvertraute, fügen ſich zu dem inneren Kerne zuſammen, zu dem „Zentrum da drinnen, daran kein Edler zweifeln mag“. Haben die Kämpfer draußen uns, die wir es ernſt nehmen mit unſerer Nachfolge und mit dem Verſtändnis ihres Opfers, eine ſolche Gewißheit neu erſtritten, dann eben war, was als ein gewaltiges Geſchehen über Europa hinwegging, für uns eben doch kein Unterliegen, ſondern ein Sieg: und dann wird die Untergangsſtimmung, in die viele ſich jetzt verlieren, einer Morgenröte weichen, die ſtrahlender als je zuvor über dem Abendlande aufgeht.

Das ift die Votſchaft, die wir aus unſerm Thema heraushören können, wenn jeder von uns iſt oder wird, was er werden ſoll. Dazu muß freilich jeder ſein Damaskus erleben; die große innere Entſcheidung für das neue Leben ſetzt ein, wenn jeder deſſen inne wird, daß auch an ihn eine Berufung zu Höherem erging. Es klingt vermeſſen, muß aber doch einmal ausgeſprochen werden: der Niedergang oder Aufſtieg unſeres Volkes hängt auch davon mit ab, wie wir heute auseinandergehen. Bleibt es dabei, daß unſere Feier wieder nur klingende Worte ertönen ließ, denen keine Taten folgen, dann komme das Schickſal

80 l Lentz: Blüpend jteigt ein Rauch ins Blau

über uns, das auch wir ſo ſelbſt als unſer verdientes Los beſtätigten. Dann ſei Jes aber auch das letzte Mal geweſen, daß wir von „unſern Toten“ jprachen, Denn was in dunkeln Stunden verzweifelten Seelen oft ſchon zu drohen ſchien, das wird dann erſt wahr: ſie ſind dann erſt tot für uns, und ſelbſt unſer Leben wird, wofern wir es weiter fo nennen wollen, ein leeres Schauſpiel, deſſen wir uns ſchämen ſollten. Fangen wir aber in dem Augenblicke, in dem ein höherer Gedanke in uns Wurzel ſchlug oder ein Willensantrieb in uns zündete, ſo daß das Feuer der Läuterung und der Begeilterung für unfere Sendung auf unfer ganzes Weſen übergreift beginnen wir in dieſer Stunde damit, an uns ſelber eine neue Lebensordnung durchzuführen, dann ſtehen die Verklärten uns als Weggenoſſen wieder zur Seite und laſſen ihre Hand nicht mehr aus der unſeren. Allerorten bricht dann aus dem, was jetzt fo wüſt darniederliegt, Neues, Lebens- volles, Jugendliches und Starkes durch. Sei es in der Art, wie einer zum andern wieder in reinerem Vertrauen, mit ehrlicherer Achtung und mit Liebe redet; fei es in der ſchlichten Selbſtverſtändlichkeit, mit der wir uns in eine einfachere Lebens- haltung fügen, indem wir alle Nöte durch Beſcheidung unſerer Anſprüche über— winden; ſei es in der Freudigkeit, mit der Blumen in ein Fenſter geſtellt oder Form und Farbe eines Kleides feiner abwägend und unbeirrt durch modiſche Launen gewählt werden. Im Streite politiſcher Überzeugungen ſpricht ſich weniger Haß und mehr Verſtehen aus. Eine Hochzeit wird mit tieferer Anteilnahme als „hohe Zeit“ gefeiert; einem Kinde wird froher entgegengegangen. Im Gebete kreiſen die Gedanken näher und freier und geſammelter um das Hohe über uns. Wo ſoll man anfangen und wo aufhören! Die neue Ordnung, die neue Lebens- haltung wird unerſchöpflich ſein in der Fülle deſſen, was vom „Zentrum da drinnen“ aus geftaltet werden will und neu werden kann. Freuen wir uns deſſen und danken wir es dem Schickſal und mit ibm feinen Wegbereitern, daß wir zur Er- oberung ſolchen Neulandes beſtellt worden ſind, daß die Berufung zu ſolchem Neuaufbau an uns lauter erging als an frühere Geſchlechter. Uns iſt ein neuer Anfang gegeben. Verſtehen wir die Zeichen der Zeit!

Se

Blühend ſteigt ein Rauch ins Blau Von Walther Lentz

Blũ hend ſteigt ein Rauch ins Blau Wie ſich's laut im Walde regt, tief aus Tales Morgengründen. Jubel tönt aus vollen Kehlen,

Alles will ins Lichte münden, höher wird und höher ſchwelen alles ſtrebt zu weiter Schau! Fahne, die ein Wind bewegt

leuchtend um der Berge Wand

und verfließt im Weiterſteigen

keuſch ins uferloſe Schweigen. | ` Aufgeſchlagen liegt das Land. z

Sog

N

Pauls: Ein lũbiſcher Zunke r 81

Ein lübiſcher Junker Novelle von Eilhard Erich Pauls

Cie „Suſanne von Holſtein“ war eine ſchmucke Schnigge geweſen, als va fie im Gefolg der ſtolzen Koggen, der ſchnellen Briggs und breiten ID 4 Kutter ausgeſegelt war, um gegen König Chriſtiern zu kriegen. damals läuteten die Glocken von Sankt Marien ihren Segen frei- gebig den üppig geſchwellten Segeln nach, damals winkten die ſchönen Mädchen vom Ufer her mit bunten Tüchern, und die Ränder der Trave waren beidſeits vom bunten Herbſt ſtrahlend vergoldet. Das Fähnlein war zu früh an die Stange gebunden, ſelbſt die ſchmucke Schnigge, fo leichtfüßig fie auf den blauen Oſtſee- wellen getanzt hatte, war gerupft worden und kehrte trübfinnig heim mit zuſammen⸗ gerollten Segeltüchern und ließ die Flagge am Maſt wie ein zerzauſtes Jungfern- kränzlein hängen. Dezemberregen war da, kalt und unfreundlich, und eine frühe Nacht, hinter der ſich die arme „Suſanne von Holſtein“ ſchamvoll verbergen konnte, und Junker Alf Schwerin ſchaute über. die Bordwand ins graue Waſſer hinein, das ſo unluſtig war wie er, übers ſchwer hängende, verdorrte Schilf hinweg, das fo müde war wie er, zu den Treidlern hin, die feine gute Schnigge am Taue heimzu zogen, langſam, und Junker Alf Schwerin hatte keine Haft, nach Lübeck mit der Prügel in ſeiner Jacke heimzukommen, die König Chriſtiern von Dänemark den Hanſeſtädten bereitet hatte. Aber da kam ein Reiterlein den Treidelſteg geritten, den ſchmalen Steg zwiſchen den ſtinkend moorigen Tilgenwieſen und der trägen Trave, nur die Treidler, gebückt in ihren ſchweren Tauen hängend, die matten Augen vor ſich auf die Füße geheftet, achteten ſeiner nicht. Junker Alf ſah, daß es ein Knabe war, der auf beſinnlichem Eſelein fürbaß ritt und trotz Abend, Negen und Dezemberkälte fröhlich und ſchier übermütig hinausſang. Das konnte freilich ein irdiſch Knäblein ſein, das ſeine Beine in zerriſſenen Hoſen von Eſels Rücken herabbaumeln ließ und nicht fror, weil es aus zu kurzen Jackenärmeln die Hände tief in die Hoſentaſchen vergrub. Das Eſelein trabte allein vergnüglich ſeinen Weg. Es konnte freilich auch in eines ſo etwa zwölfjährigen Menſchenkindes jungen Augen ein helles Leuchten ſein, das wußte alles Junker Alf, welcher aufgeſprungen war und ſich weit über Reeling legte. Aber das wußte Junker Alf auch, obwohl er ſchweren Herzens war, daß keines niederen Sterblichen Augen durch abend- nächtlichen Oezemberregen wie zwei Sterne oder leuchtende Feuer herüberſtrahlten. Nun hörte der Junker auch, was das Reiterlein vom Eſel her ohne eigentliche Melodie, nur fo in einem unendlichen Jauchzen vor fih hin fang, und wenn es Worte waren und nicht bloß Seligkeit, ſo blieb es in des Zunkers Ohren haften: „Weil ich nichts hab', hab' ich alles. Weil ich arm bin, bin ich reich. Denn

ich ſchenke, ſchenke, ſchenke, ſchenke euch mein Himmelreich.“ | Junker Alf Schwerin, dem die Schnigge gehörte, rief die Treidler an, die ſtanden ſofort und reckten ſich auf, langſam und mit tiefem Stöhnen und ließen die „Suſanne von Holſtein“ gleiten, aber der Zunker wunderte ſich nicht, daß keiner von ihnen den Jeſusknaben hatte reiten ſehen. Es war ihm, dem reichen

82 Pauls: Ein lübiſcher Zunter

Adelsmanne einer ſehr reichen Hanſeſtadt, ſchon lange klar geworden, daß da ein falſcher Satz zum wenigſten in der Bibel ſtand, und der war geſchrieben, wenn er nicht wo anders auch noch zu leſen war, bei der Geſchichte vom armen Mann mit Namen Lazarus, und lautete: Es begab ſich aber, daß der Arme ſtarb und ward getragen von den Engeln in Abrahams Schoß. Denn der Junker meinte, es müſſe

der Menſch eine Seele haben, der zur Seligkeit kommen wollte. Und der Junker

meinte, daß Armut die Seele töte auf Erden.

Nur, daß er das aus ſeinen Gedanken heraus hinſpintiſierte. Gedanken aber waren wie die Segeltücher ſeiner Schnigge, die zuſammengerollt an die Rahen gebunden ſchräg gegen den Maſt hingen. Das war jedoch ein ander Ding, wenn die Segel gehißt wurden und das Tuch knatterte, ſchlagend im Winde, und dann warf ſich der Wind in die geblähten Segel und füllte ſie zum Berſten. Dann machte die Schnigge einen Satz, und es gab keinen ſchnelleren Vogel weit über die Oſtſee als die „Suſanne von Holſtein“. Das war dann Leben, und Leben war mehr als Denken. Es ſollte nichts erdacht werden in der Welt, meinte der Junker, es ſollte nur erlebt werden. |

And fo hatte das Eſelreiterlein, das in dem Dunkel dahinten entſchwunden war, in einem hingegoſſenen Jubel geſungen:

„Weil ich nichts hab', hab' ich alles. Weil ich arm bin, bin ich reich. Denn ich ſchenke, ſchenke, ſchenke, ſchenke euch mein Himmelreich.“

Junker Alf blickte auf, als die Treidelknechte wieder anziehen wollten. Aber er fürchtete fih vor der Heimatſtadt. Lübeck lag hinter dem Walde, und noch eine Nacht wollte er zwiſchen ſich und die Heimkehr ſchieben. So ließ er halten und die Schnigge am Ufer vertäuen.

Am anderen Morgen hatte der Junker Schwerin für ſich und zwei ſeiner Freunde, die mit ihm an Vord der „Suſanne von Holſtein“ geweſen waren, von feinem Iſraelsdorfer Hofe her Pferde kommen laffen, und im erſten Frühdämmer ritten ſie ſelbdritt durch den Wald, auf deſſen weichem Boden die Hufe ihrer Pferde lautlos blieben, und in deſſen Nebelfeuchte ihre Leiber geſtaltlos verſchwammen. Denn es wäre dem Junker nicht lieb geweſen, mit der Schnigge im Hafen zu landen, überall und fofort als Veſiegter, Geſchlagener, Geprügelter erkannt. Er ſchämte ſich und wollte ſich ſchier im naſſen Walde verkriechen. =

„Ich wäre nicht heimgekehrt,“ begann der Junker

„Wenn die Demut nicht zu Hauſe wär'“, lachte ſein Begleiter.

„Ich bin nicht ſtolz auf Geld und Gut. Ich bin nicht ſtolz auf Ruhm und Ehre —.“ Der dritte der Reitenden fang, fajt ebenſo ohne eigentliche Melodie wie das Knäblein auf ſeinem Eſel, als die Schnigge am dunklen Ufer entlang geglitten, in einem Spotte bin. „Wenn die Demut nicht wär', wenn die Demut nicht wär'!“

Junker Alf antwortete ſtill hin ohne Empfindlichkeit.

„Die Demut ift mein Mädchen, und es gibt kein zweites wie dieſes auf der Welt.“ B

Es war ihm gar nicht recht, daß die andern beiden lärmend zuſtimmten. Ihm ſchien der Wald von ihrem Schreien in ſeiner morgenfrühen Unberührtheit geſchändet zu ſein, und es ſchien ihm ihr Jubel nicht zu ſeiner Demut zu paſſen.

Pauls: Ein Illbiſcher Zunter | |

Aber die Freunde machten von ſich aus den Vorſchlag, daß ſie am ſelben Abend noch zu ihm in die große Burgſtraße, wo die Demut ihm in ſeinem weiten Hauſe die Wirtſchaft leitete, zum Eſſen kommen wollten.

„Wer wird uns ſonſt in der Heimatſtadt begrüßen?“ ſagten ſie. „Weil wir geſchlagen ſind und ein Stück lübiſche Ehr' haben im Winde zerflattern laſſen. Sie werden uns alle böſe Geſichter ſchneiden, die Ratmannen und Bürgermeiſter und die Fräulein vom Zirkel. Aber die Demut ſchlägt die ſchönen Augen zu Boden und knizt uns einen holden Willkommen.“

Es war ihm nicht recht ſo, dem Junker Alf, der an ſein Mädchen dachte, aber er tröſtete ſich damit, daß ihm bis zum Abend ein langer Tag allein mit ſeiner Liebe geblieben ſei. Und Junker Alf war leicht zur Dankbarkeit geſtimmt.

Auf dem Heiligengeiſtkamp trennten fie fih, und Junker Alf hatte noch einen kleinen Weg, den er allein in feinen Gedanken reiten konnte. In trüben Wetter, auf naſſer Straße, unter ſchwerem Himmel ritt er dahin, er ſtahl ſich heim, ſchaute ſcheu auf, wenn ein Menſch ihm entgegenſchritt und verſteckte ſich in ſeinen Mantel. Es war nicht bloß deshalb, daß er zu den Beſiegten gehörte. Er war freilich dann auch zum Diebe an dem Ruhm ſeiner Vaterſtadt geworden, er hatte ihre Ehre geſchmälert. Und es wäre das nur eine Gerechtigkeit geweſen, wenn er all ſein Hab und Gut nun wegwerfen müßte, damit er ſelbſt arm ſei, der andere arm gemacht habe. Vielleicht doch, daß ſein Geld und Reichtum der Heimatſtadt einen Schaden wieder ausflicken könnte, den ihre Ehre durch ihn gelitten. Er blickte traurig vor fih nieder. Aber er war nicht deshalb traurig, daß er ſich viel- leicht vor der Armut fürchtete. Die Armut hatte ihm ſein Mädchen geſchenkt. Denn Demut kam nicht aus dem Kreiſe der Zirkeldamen, ſondern war eines Land- ſtörzers Tochter geweſen. Aber ſie würde wieder in die Armut hinein müſſen, und er fühlte es wohl, Demut war ein kleines, feines Mädchen geworden in ſeinen ſchützenden Händen, die Demut war ganz gewiß nicht heimiſch, wo heiße Armut war. Es war nicht deshalb, daß er ſich doch ſeines Reichtums ſchämte. Der Jubel der Knabenſtimme klang noch in ſeinen Ohren:

„Weil ich nichts hab', hab' ich alles. Weil ich arm bin, bin ich reich. Denn ich ſchenke, ſchenke, ſchenke ſchenke euch mein Himmelreich.“

Was war ihm denn all ſein Reichtum, daß er den Jubel des Knaben hätte teilen dürfen? Er wußte ſchon, daß ihm aus all ihrem Nichtsſein und Nichtshaben heraus die Demut mehr geſchenkt hatte als er, wenn er ſie mit weichen Tuchen kleidete und um ihren feinen Hals goldene Kettlein hing. Er ſchämte fih auf ein- mal ſeines Reichtums eigentlich nur, weil er überhaupt tief im Gefühl der Scham ſteckte und weil er meinte, daß es ihm mit Recht zugeteilt war, ein all- gemeines Gefühl beſonders tief in ſeiner reizbaren Seele zu empfinden. Und er ſchämte ſich ſeines Reichtums, weil doch weder ihm noch den Hanſekaufleuten das rote Gold geholfen hatte, glücklich zu ſein.

Und er hatte doch Demut und hatte fie lieb. Vielleicht, daß das arme Mäbd- chen glücklich war, weil ſie ihn lieb hatte. |

So ritt Junker Alf durch das Burgtor in die Heimatſtadt ein und ſah den Giebel ſeines Hauſes und ſprang vom Pferde.

34 Pauls: Eln lübiſcher Zunker

Eine kurze Zeit ſtand er allein in der weiten Diele. Beiſchlag und Küche waren leer, graue Flieſen auf dem Boden, weiß gekalkte Wände. Er ſah ſich um und fühlte ein Unbehagen fich ankriechen. Eine breite Treppe wand ſich in die Höhe. Faft hoff- nungslos blickte der Junker hinauf. Warum hing ſchön Demut noch nicht an feinem Halſe? Und ſchluchzte und jauchzte, daß nur er wiederkommen war, und ſchmeichelte und tröſtete, daß aller Rummer verflöge? Und war doch von Anfang an ein warmer Sonnenſchein geweſen, ſtille Wärme, aber die zu Herzen drang. Er blickte durch das weite Gartenfenſter hinaus, beinah in Angſt, denn draußen begann raſch eintretende Dezemberkälte die grünen, blinden Scheiben mit Eisblumen zu überziehen. Es war immer Klarheit um ſchön Demut geweſen von da an, wo ſie den erſten beſcheidenen Schritt in dieſe Diele geſetzt hatte. Ein halb Dutzend Jahre waren es her, und aus einem weichen Jüngling war ein Mann geworden, der in Schande geworfen aus verlorenem Kriege heimkam und mit ſich und dem Seinen nichts anfangen konnte. Und aus einem zehnjährigen Mägdlein, das wie ein verängſtet Vöglein an ſeine Bruſt geflattert war, erblühte eine Jungfrau und nahm von ſeinem Herzen Beſitz.

Er war einſt über die Heide geritten und kehrte müde auf müdem Gaule zur Stadt zurück. Der Hund ließ die Zunge hängen und trottete hinter dem Pferde— ſchwanz. Die Herbſtſonne wollte in Glut verſcheiden, da ſtand das Mägdlein vor ibm, barbeinig und in dürftigem Röckchen mit langen, dünnen Gliedmaßen, und die eckigen Schultern zuckten durch das zerriſſene Kleid, aber das goldene Haar leuchtete durch den Staub der Wanderſtraßen, umſtrahlt vom Heiligenſcheine der Abendſonne. Und die hellblauen Augen waren mit Tränen gefüllt.

„Kommt zum Vater, Herr!“ hatte fie gebeten.

Alſo hatte Junker Alf ſein Pferd an einen Baum gebunden, und abſeits der Straße lag im Heidekraut ein ſterbender Mann, ein Bettler, Schmutz im weißen Barthaar. Junker Alf kniete nieder, als der Bettler Mühe machte, ſich zu erheben, und hörte das ſterbensmüde Flüſtern.

„Das Mädchen! Meine Tochter!“

And die Hände griffen in ſeinen Arm, hielten ſich gekrallt.

Junker Alf hatte hinübergefchaut, einen Blick nach dem Mädchen, und einen Blick in die Angſt ihrer Augen, die ein erſtes Mal den Tod im Menſchenleben er— kannten und fih weiteten, einen Blick, der ſchier erſchrocken war und warm, weich wurde, um den ſchmalen Körper, dann hatte er des Sterbenden Hand aus der Verkrampfung glatt geſchmeichelt.

„Ich forge für das Kind!“

Und der Sterbende ließ ſich ins N een und flüſterte f eufzend den Namen des Mägdleins:

„Demut!“

Das kniete nieder und küßte des alten Mannes matte Augen

In dem Sterbenden war aber mit dieſer letzten Tröſtung der Widerſtand gegen das Sterben verſunken, der Widerſtand gegen alles, was menſchlicher Wille gefangen halten konnte. Eines nur war noch in ihm, kein Erleben mehr und kein Einzelnienſchentum, es war der Reft, der ſchale Neft, der Ertrag eines Menſchen— ſchickſals. Das hatte er noch zu fagen, und Junker. Alf hörte und verſtand:

Pauls: Ein lübiſcher Junter 85

„Du haſt mich betrogen, Gott, und darum fluche ich dir!“

Der Junker machte eine Bewegung, als wollte er den Mund des Sterbenden ſchließen.

„Du biſt verächtlich geworden mit deiner Welt, und darum verachte ich dich.“

Ein haßerfüllter Blick löſte ſich noch einmal aus den brechenden Augen des alten Mannes, das war der letzte, welcher den Junker traf und ſich an ihn heftete.

„Aber du biſt zum Teufel geworden in den Reichen, und darum haſſe ich euch!“

Der alte Mann ſtreckte ſich, und Junker Alf ſchloß ihm die toten, haßerfüllten Augen. Das Mägdlein hatte gehört und in ihrer Seele aufgenommen, was ſie nicht verſtanden hatte. Sie folgte willig dem Junker, weinte, aber ließ die Tränen trocknen, denn eine ſachte Hand führte ſie. Eine ſachte Hand und weckte die Sonne, die ſtill in ihr wärmte.

So hatte es begonnen. Junker Alf ſchreckte zuſammen und warf die Erinne- rung einer kurzen Minute von ſich. Er ſchritt zur Treppe hin, da kam die Demut herab und barg ſich an ſeiner Bruſt.

Es waren auf einmal alle auf der Diele und ſtarrten nach der Treppe, die im Hauſe waren, Stallknecht und Magd und Köchin und Gärtner, und flüſterten miteinander und duckten ſich voll Scheu, wenn des Herren Blick fie traf, und wieſen einander nach den beiden, die auf der Treppe ſich umſchlungen hielten. Und Demut weinte.

Da zog der Junker ſein Mädchen in ein Zimmer hinein und ſchloß die Tür feſt hinter ſich, und das arme Mädchen warf ſich erneut an ihn und verbarg den Kopf auf ſeiner Schulter. Es war ſeiner e eine ſchwere, ſchwere Laſt. Und Demut weinte.

Da wußte der Junker, daß er ſein Mädchen im Wiederfinden verloren hatte.

Einft war es anders geweſen. Einmal hatte er Abſchied genommen von einem kleinen Mädchen, das feit drei, vier Jahren in feinem Haufe aufwuchs, das er ſah, wenn es ſeinen Weg kreuzte, und vergaß, wenn es aus ſeinen Augen war. Er hatte nur einem kleinen, freniden Mädchen die Hand zum Abſchiede reichen wollen. Ein feuchter Blick, ſcheu von unten aufgeſchlagen, fragend, ſuchend, hatte fein Herz getroffen. Da hatte er fie in feine Arme genommen, und fie hatte welten fern gelächelt, als er ſie ein erſtes Mal küßte. Da waren ſie in Jubel ineinander gefloſſen und hatten ihre erſte ſcheue Liebe gekoſtet, ehe der Junker das Pferd beſtieg. Im Abſchied gewonnen, im Wiederſehen verloren. Junker Alf war nicht zornig, nur müde und traurig und ſchüttelte den Kopf, wenn er um ſich Reichtum und Behaglichkeit erblickte. |

Er wollte die Tränen trocknen, die noch immer floſſen.

„Es kommen Gäſte heute abend, Demut“, ſagte er und ergriff ihre Hände, „Richte zum Eſſen.“ |

Ganz verzagt antwortete das Mädchen: „Es kommt auch einer, mich zu ſich zu nehmen.“

Des Junkers Hände zudten doch im Schmerze, und fein Geſicht verzerrte fich zum Zorne. Aber das Mädchen, ohne den Blick aus ihrer Demut zu erheben, bleich im Antlitz und zitternd, ſtrich den Zorn und das Veleidigtſein aus feinem Geſichte.

86 i Pauls: Ein lübifcher Junker

„Nicht ſo, Alf“, flüſterte es. „Ein Prophet iſt aufgeſtanden.“ Aber die Demut floh vor ihm aus dem Zimmer.

Junker Alf erfuhr es von ſeinen Leuten, ehe der Abend kam. Er brauchte nicht danach zu fragen, ſie waren voll davon, und die ganze Stadt war voll davon, daß die Niederlage der Hanſeflotte eindrudslos an ihnen vorübergegangen war. Ein Prophet war aufgeſtanden; von der Rampe vor der Jakobikirche aus predigte er zum Volke. Seit Tagen ſchon und war in dieſes Haus gedrungen. Junker Alf hörte und zuckte verächtlich die Mundwinkel. Er glaubte an alle Wunder, aber darum glaubte er an keine Propheten.

Am Abend kamen die Freunde. Und Demuts Augen, die den Tag über in Betrübnis geweſen waren, taten ſich zu rundem Entſetzen auf. Von draußen brachten ſie die ſcharfe Kälte mit, die jählings über das Land gefallen war, drinnen trieben fie es zu heißem Übermut.

„Sie haben gar keine Zeit für die Prügel, die König Chriſtiern uns aus- geteilt hat“, ſchalt der eine. „Sie haben den Propheten und laufen ihm nach.“

„Drei Roggen find untergegangen,“ antwortete Junker Alf, „und dreimal einhundertundzwanzig Mann find in der Oſtſee ertrunken.“

Schön Demut feufzte tief, aber der Junker lachte de aus,

„Ein Nichts iſt das geweſen“, ſchalt der Freund. „Denn fie toben darüber hin und folgen dem Propheten.“

„Es waren alles Lübecker Bürgerſöhne“, antwortete Junker Alf. „Bring Wein, Demut, wir wollen ſie feiern!“

„Denn wir leben“, antwortete der Freund. „Sie aber ertranken.“

Demut ließ den Wein bringen, aber ſie trank nicht, ſaß abſeits und lauſchte nach draußen, von wo ſie den Propheten erwartete. Gelächter, Lärm und Lieder rauſchten an ihr vorüber, denn nur ein Sang war in ihr, der trieb ſie aus dieſem Hauſe, und das war ein Lied, das von weither fordernd klang. Ein alter Mann lag im Heidekraut, ſterbend, und das Mägdlein kniete vor ſeinen Flüſterworten.

„And weil die Welt verſinkt, verſinkt trinkt, Brüder, trinkt!“ fangen die Freunde.

Einmal ſtand Demut wohl auf, dem Liede folgend, das in ihrer Seele ſechs Jahre lang geſchlafen hatte un wach geworden war, und trat zu des Junkers Stuhl heran.

„Ich höre die Worte des alten Vaters“, flüfterte fie.

Junker Alf ſah kurz zu ihr auf. Dann riß er ſie zu ſich auf ſeine Knie. Die anderen brüllten im beifallenden Jubel, ſchön Demut wagte erſchrocken kaum ſich zu wehren. Mit lodernden Augen, trunken, aber nicht vom Weine, zehrte der Junter an ihrer Geftult. Und flüſterte heifer die Antwort des alten Mannes.

„Du haſt mich betrogen, und darum fluche ich dir!“

Schön Demut ſchüttelte ſchmerzlich den ſtillen Kopf.

„Du biſt verächtlich geworden, und darum verachte ich dich.“

Schön Oemut antwortete ganz leiſe, und wenn Junker Alf es nicht wußte, konnte er ihr Flüſtern nicht verſtehen.

„Ich habe dich lieb gehabt.“

Pauls: Ein lübiſcher Zunter 87

Da lachte Junker Alf. Er prezte nur einen letzten Kuß auf die Lippen des Mädchens.

„Aber du biſt zum Teufel en in den Reichen, und darum haſſe ich dich!“

Und ſprang auf, ſchön Demut flüchtete vor ihm. Und er hob fein Glas, trank und zerſchmetterte es an der Wand.

„Nichts rührt uns die Not der Kleinen,“ ſchrie, er, „denn fie tanzen über ihrer Schande. Wir leben und leben im Beſitze. Darum trinkt, Freunde, trinkt! Ach, es etelt mich, ich habe Uberdruß an dieſem Leben.“

Die Freunde tranken und zerſplitterten wie er ihre Gläſer an den Wänden. Da führte ſchön Demut den Propheten in den Saal. Der ſtand und ſchaute mit grimmig fladernden Blicken gegen die übermütige Freude an. Schüchtern ver- ſchwand Demut an ſeiner Seite. Junker Alf ging ihm lächelnd entgegen.

„Alſo du haſt mir mein Mädchen geſtohlen?“ Er hielt ihm ein Weinglas hin und ſpottete, als jener es ihm aus der Hand ſchlug.

„Das Mädchen,“ antwortete er hart, „habe ich gerettet.“

Aber Junker Alf lachte laut.

„So predige uns, Prophet!“ forderte er verächtlich.

„Komm zu den Armen“, antwortete der andere. „Dem Volke predige ich, nicht den Reichen.“ Und ging und zog das Mädchen mit ſich fort. Es folgte ihm geſenkten Hauptes, und es war dem Junter ein letzter Schmerz, daß fie ſich nicht ein armes Mal nach ihm umſchaute. Aber er lächelte herb. Er wandte ſich den Freunden zu.

„Wir wollen wiſſen, was den Hanſeleuten wichtiger geworden iſt als die Schande ihrer Waffen“, ſagte er. „Wiſſen will ich, was mir mein Hab und Gut verleidet hat“, fügte er leiſer hinzu und forderte die Freunde auf, ihm zu folgen.

Auf dem Koberg vor der Jakobikirche fanden ſie den Haufen Volkes. Im friſchgefallenen Schnee ſtand er, und nur von dieſem Schnee aus ward der abend- dunkle Platz erleuchtet. Die Sterne flimmerten hernieder, und in der Kälte ihrer Lumpen drängte ſich die Maſſe des armen Volkes. Sie achteten nicht auf die paar Vornehmen, die in Pelze gehüllt ſich unter fie miſchten. Sie flüſterten bang mit- einander. Ein paar Weiblein knieten nieder und beteten, die alten Männlein vom Heiligengeiſtſpittel zitterten und waren wie verängſtete Kinder. Ein junger Burid ſtieß einen heiſeren Schrei aus. Aber ihre Augen waren auf die Rampe gerichtet, wo fidh der Rotdornenkranz in der Laft jungen Schnees um den Turm der Jakobi- kirche legte. Ihre Augen brannten und gierten nur nach einer Ecke der Rampe. Und wilde Schreie rangen ſich aus ihrer Bruſt, als der Prophet dort erſchien.

Es ſchnitt dem Junker noch einmal durch das Herz, daß ſchön Demut in ihrer fügen Anmut neben dem Manne ſtand, vor allem Volke ſtand und ſich preis- gab. Denn es war Gier in den Blicken der erregten Männer, es wuchs Haß aus den Augen der wilden Frauen. Sie waren außer Band und Feſſeln gekommen, die Beſitzloſen Lübecks, die Armen und Gehetzten. Die ohne Seele waren, dachte der Junker.

Der Prophet hob die Hand, da legte ſich das Schweigen der Sterne auf die Mäuler der Menge. Ach, Junker Alf ſehnte ſich zur Sterneneinſamkeit hinauf.

88 i Pauls: Ein lübiſcher Junker

„Wehe Sodom und wehe Gomorrha!“ begann der Prophet. „Denn der heilige Gott ift der Welt Sünden überdrüſſig geworden. Und wehe Babylon, der großen Hure am Meer! Ich habe die laute Stimme aus dem Tempel gehört, die zu den ſieben Engeln ſprach: Gehet hin und gießet aus die Schalen des Zornes auf die Erde. Und der Engel Gottes wird die Schale ausgießen in dein Meet, und es wird Blut als eines Toten, und alle lebendige Seele ſtirbt in dem Meere. Heute oder morgen!“

Sie ſtöhnten in Angſt und duckten ſich vor dem Brauſen der Propheten- ſtimme. Der ſtreckte ſeine Hände gegen die Sterne und warf den Fluch Gottes über die Menge. .

„Denn ſie haben Gott nicht die Ehre gegeben, darum ſollen ſie in Schande kommen“, ſchrie der Prophet. „Sie haben zum goldenen Kalbe gebetet, darum werden ſie in den Miſt getreten. Und wenn Gott ihre Koggen vernichtet hat und ihre Flotte zerſchlagen, ſo begann der Tag des Gerichtes. Heute oder morgen!“ ſchrie der Prophet.

And als ein Winſeln der Bangnis ihm antwortete, jauchzte er über die Menge weg: „Sie iſt gefallen, fie iſt gefallen, Babylon, die große Stadt!“

Junker Alf riß ſeine Freunde heftig zuſammen. Und die drei ſchlugen eine gelle Lache an, die peitſchte über den Platz.

Daß ſchön Demut ihr Antlitz mit den Händen bedeckte, fah nur Junter Alf. Aber der Prophet fuhr im Jäbzorn empor, und wütende Fäuſte, wilde Schreie zuckten gegen den Junker. Und der Prophet geißelte die Wut.

„Der Herr iſt grimmig ihrer Unzucht“, ſchrie er und überſchrie ſich, daß fie ihn hören mußten. „Darum hat er beſchloſſen. die Erde zu vernichten. Heute oder morgen! Warum ſeid ihr bange und fürchtet euch vor dem Tode? Ihr ſeid nicht ſchuld —“ Und fein Hohn riß die letzte Bändigung von ihrer Wut. „Ihr gehet in Gott ein, wann die rote Flut euch brennt. Wenn ihr ſterben müßt. ſterbt ihr ihretwegen. Ihr ſeid ja auch ihretwegen geſtorben, wenn es gegen König Chriſtiern ging.“ Und ſein ſchneidendes Lachen hallte in ihren Gellen, ihrem Schreien, ihrem Wüten wieder.

Sie drangen auf Junker Alf ein. Denn Junker Alf ſtand allein, und als er ſich umſah, wußte er, daß ſeine Freunde entwichen waren. Er lächelte kaum. Er ſah ihnen ruhig entgegen und genoß die Verächtlichkeit ihres Wahnſinns. Geifer auf ihren Lippen, Haß in ihren Augen, Meſſer in ihren Fäuſten. Junker Alf wartete noch. Er hörte ein leiſes Weinen in allem Lärm. Ehe der erſte Schlag ihn traf, ſprang er zur Rampe empor und ſtand neben dem erſchrockenen Propheten und neben Demut. Demut ſuchte den Propheten zu ſchützen vor ihm. Das ſah er und das fraß an ſeinem Herzen. Dann ſchrie er gegen das Volk an. .

„Oort fteht mein Haus!“ ſchrie er und wies gegen die Burgſtraße. „Ihr kennt mich. Geht hin, denn ich ſchenke euch meine Habe.“

Und er lachte.

Sie ſtutzten, ſie gierten, ſie brüllten, und ſie liefen übereinander weg, daß fie die Erſten wären beim Rauben.

Junker Alf wendete ſich zum Propheten.

Findeiſen: Sonntagnachmittagg 89

„Ich hab' noch einen Pelz auf dem Leibe, den ſchenke ich Euch“, fagte er. „Da Ihr doch nicht mit den andern um die Wette laufen könnt.“ Sein Verachten konnte nicht herzlicher werden, da jener den Rock nahm.

Schön Demut weinte nicht mehr. Aber ſie ging nicht mit dem Propheten, als der von dannen ſchied. | |

Junker Alf war allein auf der Rampe. Ringsum zertretener Schnee, oben die Einſamkeit der Sterne, aber im Herzen eine Leere, die wehe tat. Ein wenig lauſchte er in die Ferne, wo der Lärm der plündernden Rotte verklang. Dann ſchritt er hinweg, müde, überdrüſſig.

Irgendwo fand er einen Wagen auf der Straße ſtehen. Als er unter ihn kroch, grunzte ihm ein Schwein entgegen.

„Weg da, hier liegt ein lübiſcher Funker“, ſprach er und legte fih zum Schlafen.

Die Sterne tanzten in jäh fallender Kälte, und eiſiger Winter ſtrich durch die Straßen.

Aber auf feinem Eſelein ritt der zwölfjährige Knabe durch die Straßen und ließ die nackten Beine herunterbaumeln, und das ſelige Leuchten ſeiner hellen Augen ſtrahlte durch Nacht und Winterkälte. Und dieſes ſelige Leuchten traf den ſchlafenden Junker und weckte ihn und füllte ſeine Leere mit dem Lichte dieſer hellen ZJeſusaugen. Nun hörte der Junker auch, was das Reiterlein vom Eſel her ohne eigentliche Melodie, nur ſo in einem unendlichen Jauchzen vor ſich hin ſang, und wenn es Worte waren und nicht bloß Seligkeit, ſo blieb es in des Junkers Ohren haften:

„Weil ich nichts hab', hab’ ich alles. Weil ich arm bin, bin ich reich. Denn ich ſchenke, ſchenke, ſchenke ſchenke dir mein Himmelreich.“

Und Junker Alf ſchloß ſeine Augen und ſchlief ſelig ein.

Am anderen Morgen fanden fie feinen erfrorenen Leib.

ur ur:

Sonntagnachmittag Von Kurt Arnold Findeiſen

Und manchmal klingt durch Wände ein Klavier, Gedämpft am Sonntagnachmittag.

Du biſt allein im Haus. Und nur der Pendelſchlag Der Uhr iſt noch bei dir.

Dann ſpielt der fremde Spieler deine Qual,

Und alles Geſtern drängt ſich wieder näher

An dein mit Müh’ zur Rup gebrachtes Herz.

Du lächelſt kahl.

Und deine Wünſche ſpringen auf wie Späher

N

Der Türmer XXII, 8 | 7

90 Finch: Ole Ahnentafel

Die Ahnentafel Von Ludwig Finckh

ie Ahnentafel ift die mathematiſche Feſtſtellung der Unſterblichkeit. Als ich dieſen Satz geſchrieben hatte, ſchlug mir das Gewiſſen. 22 Man hat mir meine Ahnenzahlen nachgerechnet, und mehrere rid- tige Mathematiker bewieſen mir mit algebraiſchen Gleichungen 5 Wurzeln —, daß ſie falſch ſeien; jeder kam zu einem anderen Ergebnis. Mir ſelbſt fiel die Rechnung nicht ſchwer. Ich bin in der Mathematik einmal bei- nahe durchgefallen; ich konnte mich alfo nicht auf meine eigenen ungenügenden Kenntniſſe verlaſſen, ſondern habe einfach, wie früher auch, abgeſchrieben. Die Zahlen ſtehen in dem „Taſchenbuch für Familiengeſchichtsforſchung“ von Friedrich Wecken. Übrigens hat mir ein freundlicher Mathematiker auch ausgerechnet, bei welcher Ahnenzahl wir auf das eine Elternpaar im Paradies zurückkommen. JH will auch gar nicht recht behalten. Wir können zuletzt immer noch Einſtein anrufen. Der wirft uns dann alle miteinander um.

Nein, mit Mathematik habe ich nichts zu ſchaffen.

Aber Schickſal ſteckt in einer Ahnentafel, ewiges Leben der Zelle, Unter- gang und Erneuerung. Alle dieſe Tauſende von Menſchen haben einmal geboren werden müffen, und das war vielleicht gar nicht immer fo einfach. Sie alle mußten irgend etwas lernen und ſich einen Hausſtand gründen; ſie mußten ſich einmal verheiraten, und auch das konnte Schwierigkeiten haben. Glück, Kummer, Leid und Not gingen an keinem vorüber. Und alle mußten ſie einmal geſtorben fein, fie konnten die Summe ihres Lebens ziehen, und nach vollbrachtem Tag- werk hinüberſchlummern. Viele Tränen ſind um alle geweint worden. Jedes war ein Vater oder eine Mutter.

Wenn man dies bedenkt, wird man vorurteilslos; Ahnenforſchung macht frei. Man wird ſo klein dabei vor dem Senſenklang der Zeit, und doch wieder froh und kraftbewußt, und willens, ſelbſt wieder einen guten Weg zu gehen. Es gibt nichts zu protzen dabei. Denn dicht neben dem Ruhmvollen, das dem Ehr- ſüchtigen den Kamm ſchwellen laſſen kann, ſteht das Arme und Traurige, das in Gottes Namen in jedes Menſchen Leben vorhanden iſt. Das macht wieder fein demütig. Auf und ab, Berg und Tal, Wellenbewegung das iſt die Ahnentafel. Und wer fie richtig verſteht, der freut ſich an ihrem Wechſel und ihrer Weisheit. Spiegel des Menſchenlebens!

Nein, es ſind keine toten gahlen, die fo nüchtern mit mathematiſchen Glei- chungen abzutun ſind. Überall ſteht etwas zwiſchen den Zeilen, Arbeit von Händen, Flammen von Hirnen, Zucken von Herzen. Nicht um mich zu brüſten oder um mich zu ſchämen, ſondern um an einem Einzelfall die Vergänglichkeit des Irdiſchen und das Überſpringen des Funkens zu erweiſen, blättre ich in dem lebendigen Buch. Ein greiſer Forſcher, Dr. Gottfried Maier, hat es mir gebunden. Es um- faßt 2200 Ahnen.

Finch: Die Ahnentafel ö 91

Mein ältefter Ahne väterlicherfeits trägt die Zahl 1 128 508. Er hieß Hart- mann Haupt, 1352 felig, und feine Tochter Haile Haupt. Sie heiratete den Fritz Gaisberg, Stammvater der Herren von Gaisberg; und da ſteht auch gleich noch ein anderes edles Geſchlecht, Jakob Walter Kuhorn von Fürftenfeld, Bürgermeiſter zu Stuttgart 1498, ſtiftet mit feiner Frau den Ölberg zu St. Leonhard in Stuttgart.

Alt Sebaſtian Finckh, f 1644, wurde von einem Knaben morgens 8 Ahr an ſeiner Einfahrt mit der Armbruſt durchſchoſſen.

Johannes Brenz von Weilderſtadt, der Reformator Württembergs, gibt ſeine Tochter Agathe dem Kanzler Mathias Hafenreffer von Tübingen zum Weibe.

Der Vogt Konrad Fauth von Cannſtatt wurde 1517 enthauptet.

Der Bürgermeifter Johann Hegel wandert aus Kärnten nach Großbottwar ein und wird der Stammvater des Philoſophen Hegel und des Oichters Karl Philipp Conz.

Johann Valentin Andred, Doktor der Theologie und Abt von Bebenhaufen, finnt auf die Albberge hinüber. Konrad Hartmann von Efferenn, Adelsritter zu Köln, klirrt mit ſeinem Schwert. Eliſabeth Edle von Plieningen, Major von Brecht, die Beſſerer von Ulm, die Kapff von Schorndorf zahlen ihren Sold. Die Seele wandert.

Meine Ahnen mütterlicherſeits ſtehen nahe an meinem Herzen. Sie haben ſich aus engen Verhältniſſen heraufgeſchafft zu ſtarken Menſchen. Viele waren Handwerker. Und da man nichts von ihnen kannte als ihre Armut, ſo grub ich nach. Und grub ihre Wurzeln aus: 52 Bürgermeiſter, Schulzen und Magiſter, darunter die berühmten Bürgermeiſter Joß Wyß von Reutlingen, Philipp Laubenberger, der Meiſterjäger Michael Liſt von Pfullingen, der Stamm- vater Friedrich Liſts, Johann Felder, Burgvogt auf Einſiedeln 1480. Daneben auch viele „kleine Leute“, Weber und Totengräber; eine, Katharina Born, 1578, wird bei ihrem Tod „Badreiberin“ genannt. Einer, Johann Jakob Reiff, Stab- ſchultheiß in Oberhauſen, erhält beim 50jährigen Ehejubiläum 1770 einen Eimer Wein von der Gemeinde. Einer, Urban Fasnacht, genannt Krummhals, wird 1675 wegen Hexerei verbrannt; dasſelbe Schidfal hatte vor ihm fchon eine Ahnfrau, Maria Schmid, erlitten. Eine Unglückliche hat fih 1768 in der Echaz in Pfullingen ertränkt, nachdem ſie drei Tage umhergeirrt.

Ein Vorfahre, Daniel Votteler, Hutmacher, hatte 3 Söhne. Der eine ging 17jäbrig nach Paris zur franzöſiſchen Revolution und ſtarb dort im Spital, im „Gaſthaus zum Herrgott“; man würde ihn heute Edelſpartakiſt geheißen haben. Und, was bezeichnend iſt: er war Nachtwandler. Der andere Sohn wurde Pfarrer zu Neuweiler; der dritte ift mein Urgroßvater.

Dann wieder taucht die Glockengießerfamilie Kurtz auf, welcher der Dichter Hermann Kurtz entſtammte, die adligen Familien von Wernwag und von Mans-

perg, die alten Namen Bantlin, Eiſenlohr, Gayler, Knapp, Laiblin, Fizion, aber

auch die Kindsvatter, Käsbohrer, Windbeer, Sterneißen, Mutſchelbeck, Schreijäckh, Kiefuß und Kübelwein. Und da, halt: Anna Maria Jud von Metzingen.

92 Säfgen: Elifabeth

Man hat mich gefragt, ob ich bei meinen Forſchungen irgendwann auf einen. Juden geſtoßen ſei, und ich mußte antworten: auf keinen einzigen. Und da ſtand eine leibhaftige Jud vor mir, geboren 1601. Aber wie war das: ihr Großvater ſtand ſchon im Kirchenbuch, Hans Jud, Krämer in Metzingen, die Familie war ſchon lange dort anſäſſig Maria, Johannes, Adelheid, Auberlin —, und fie hieß ſchon 1454 fo. Es muß alfo ein Übername geweſen fein, für einen, der kauf— männiſches Talent entwickelt hatte; es gibt ja ſo viele Kaiſer, König, Pfaff und Papſt, von denen nie einer die Würde ſeines Namens bekleidet hatte. | Auch der Bürgermeifter Johannn Georg Göppinger, der 1715 die Schwefel— quelle, den Heilbrunnen von Reutlingen entdeckte, war mein Vorfahr; er ent- ſtammt einer alten Reutlinger Rotgerberfamilie.

Und am Ende der langen Ahnentafel ſtehſt Du, Menſch von heute, allen ſchuldig und verpflichtet für einen kleinen Bauftein, einen Eindruck des Leibes, einen Hauch in der Seele. Was biſt du, was willſt du aus deinem Leben machen? Eines Tages wirſt auch du zur Ruhe gegangen ſein und nur in deinen Kindern fortleben, als Keim, als Funke, als Ahnherr. Wirſt du ein Bereicherer geweſen ſein, ein Halt und eine Pforte oder eine mathematiſche Zahl?

Ar

Eliſabeth Von Hans Gäfgen

In ein Gedicht von ü berird' ſcher Schöne Schloß er Eliſabeth, ſein Weib. Die Verſe ſchmiegten ſich, wie dunkle Mantelfalten, Um ihrer Seele filbermildes Sein, | Und ihre leiſe, leicht verhängte Stimme War in den Worten, die ſein Stift geſchrieben. Der Duft des Abends, der aus Wieſen kam, Die alle Blüten dieſer Erde trugen, Das Leuchten jener erſt en, ſtillverklärten Nacht, All dieſe ſeltſam großen Heiligkeiten, Sie waren eingeſchloſſen in das Lied. Doch als er kam, von ihrem Blick zu ſprechen, Vom märchen haften Auge der Elifabeth, Da ſtockte ſeine Hand, und ihr entfiel der Stift. Er ſaß und ſann, und viele Worte kamen, Doch keines ſchien ihm wert, zu bergen, Was er empfand, wenn ihre Blicke Bene fanten. Er wurde Mann. Er wurde Greis. | Und das Gedicht ward nie vollendet.

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Rranndals: Sermenaufgang . 93

Sonnenaufgang Skizze von W. A. Krannhals S

5 Hanz ſtill iſt's ringsum. Die Blumen ſchlafen und die Bäume atmen \ Em tiefer Ruhe. Dunkel umhüllt die Nacht mit weichem, warmem * À Schleier Wieſen und Wälder und die Wohnungen der Menſchen. 2 Komm, ſetz' dich zu mir unter dieſen Strauch! Sieb, wie e die goldnen Dolden herabhängen, wie matt fie leuchten im Dunkel unſerer Nacht! Goldregen. Ganz weit und leiſe klingt ein feiner Ton, dann iſt's wieder ganz ſtill. Die Erde ſchläft.

Sieh dort! Das Häuschen! Ein feiner Strahl dringt gelblich durch die Fenſterläden in unfer Dunkel. Nun ift er wieder fort Ruhe, tiefe Stille.

Von Oſten her naht ein kühler Hauch; er legt ſich auf Bruſt und Arme, umfächelt dein Geſicht, rührt an den goldnen Blüten, an den Gräſern, und ſtreicht mit linder Hand über die weichen Kuppeln der Bäume. Dann wieder einer. Stärker, kräftiger, wie ein Weckruf: „Wachet auf, es nahet gen den Tag!“ Sieh, wie die Blüten die Köpfchen heben, verſchlafen blinzelnd, hier eins, dort eins. Es iſt ſo kühl! War das nicht ein Vögelchen? Nein, es iſt wieder ganz ſtill. Ganz hoch oben am Himmel kommt eine helle Flut gezogen, langſam erfüllt ſie den Raum, und wie ein feiner Silberregen ſinkt es zur Erde nieder. Es wird licht. Sieh, wie die Gräſer fih dehnen und heben. Zitternd ſtreckt das Eipenlaub _ ſeine Armchen in die kühle Morgenluft. Ganz fern ruft ſchüchtern ein Vöglein; ein anderes antwortet, da wieder eins und wieder, immer lauter und ſchneller hier dort. Aus dem Häuschen wirbelt Rauch auf. Ein Hund ſchlägt an!

Und immer lauter wird es. Die Vögel jubeln und zwitſchern, baden ſich in den kleinen Rinnfalen, pluſtern ſich ihr Federkleid zurecht. Die Bäume neigen ſich und biegen ſich und raunen ſich zu, was fie geträumt. Das helle Licht über- ſtrömt Wieſen und Wälder, und immer lauter klingt es und tönt es, und es iſt ganz hell aber matt und hart. Die Hähne erheben ihre Stimme, man hört Menſchen, die Pferde klirren mit ihren Ketten. Der Tag ift da!

In tönenden Akkorden klingt es und ſummt es, ſchwirrt und jubelt, raſchelt und ſingt und jauchzt es: Der Tag iſt da! Hoch aus den Lüften kommt ein feiner, klingender Ton. Nichts iſt zu ſehen, und doch hörſt du ihn! Lerchen! Und dann iſt es auf einmal ſtill, wie tot. Nur einen Augenblick lang, als ſchöpfe die Natur Atem. Und die Wärme ſteigt, und das Licht, und es tönt wieder und jauchzt, und ein Duften zieht durch die Lüfte.

Auf einmal ſchweigt das ganze klirrende Konzert. Wiederum ein Atem- holen der Natur. Anders als vorher, banger, ſüßer! Du ſelbſt hältſt den Atem an, als käme nun etwas Großes, Gewaltiges!

Ein Windſtoß beugt die Gräſer Da!

Ein goldiger Blitz zuckt durch das klare, ſilbrige Licht des AN Wieder einer wieder einer leuchtender ſieghafter

Deine Hand bebt leiſe in der meinen

94 Lienhard: Luthers Einzug auf die Wartburg

And dann plötzlich bricht eine goldige, rötliche Welle in die erwachte Natur.

Die Sonne, die Sonne! Und ein Leuchten legt ſich auf Feld und Wald, auf Buſch und Strauch, blitzt in den Bächen und funkelt in den Fenſtern der Menſchen, und ſtürmiſch bricht es wieder los in ſchwellenden, jubelnden Tönen, es jauchzt und klingt aus fern und nah, aus Höhen und Tiefen; hoch aus den Lüften jubelt es in der trunkenen Freude des neuen Tages: Sonne, Sonne, goldene, warme

Sonne! | Luthers Einzug auf die Wartburg

(4. Mai 1521) Von Friedrich Lienhard

Der Schmied von Nuhla geiſterte im Forſt Und hämmerte ſein „Landgraf, werde hart!“ Die Schmiedewucht, vor der das Eiſen borſt, Klang in ZJung⸗Siegfrieds donnerſtarker Art. Der Wald war von dem Geiſterklange voll. Da war es, wo am Hang ein Hufſchlag ſcholl, Wo Roffe ſchnoben raſſelnd berghinan Bei Eiſenrittern ſaß ein Kuttenmann.

Die Nacht ſank. Schwer und dröhnend ſchlug ein Tor. Von Fackelflammen quoll's da droben vor Und ſchien unheimlich, ein gef ang' ner Brand, Vom Wartburg hof hinaus ins deutſche Land. Hann hoben fie den Mönch herab vom Noh, Langſam verzog fih Neitersm ann und Troß, Der Burg hauptm ann ſchritt mit dem Haft empor: „Hier Euer Stübchen! Doktor, tretet ein!“

Und Martin Luther war mit Gott allein.

Nun ſaß, was einſt durch manches Herz gebrauſt An ritterlicher Wucht, in Luthers Fauſt:

Sie ballte ſich, doch nicht zu Sport und Spiel,

Sie ballte ſich um einen Federkiel

Und geiſtgewaltig um das Tintenfaß,

Das feſten Wurfes auf dem Teufel ſaß.

Sie ſchuf und ſchuf, es wuchs das Pergament Dann ſtand getürmt das deutſche Neue Teſtament!

Ann nk Ea

Luther auf der Wartburg

Puther in der Einſiedelklauſe auf ber bergenden Landgrafenburg iſt den Oeutſchen m, N pildhafter, volkstümlicher geblieben als der Streiter der Ablaß Theſen im damals doch noch recht zu den Randſtaaten gehörenden Wittenberg. Sicherlich ſpielt die Romantik hinein. Doch wie jo manches Mal zeigt auch die Volkserinnerung naiv ein hiſtoriſch ſehr feines Gefühl. Die zehn Monate auf der Wartburg ſind der biographiſche Punkt, da der noch halblateiniſche Profeſſor ſich in den Reformator der Nation verwandelt, in den e vollen Volksmann, der die deutſche Erneuerung am richtigen Ende anpadt,

Der Wormſer Reichstag mußte es Luther lehren, bei dem chriſtlichen Adel deutſcher Nation, ihren regierenden und oberen Ständen, die objektive Bildung und Oenkgründlichkeit einigermaßen herunterzutaxieren. Nicht, ob der Gebannte ſeine Schriften gegen den Vorwurf der Ketzerei rechtfertige, nicht dies hatte intereſſiert, ſondern der in Luther verkörperte Vorſtoß gegen hierarchiſche und römiſche Autorität. Die Beſuchenden vom Adel und entſandten Ber- trauensperſonen, von denen in Luthers Wormſer Herberge es nicht leer ward, beſagten auch alle nichts anderes, als was auf der Reife hierher über Weimar und Frankfurt das zuſtrömende Volk gezeigt hatte, wenn es das Rollwägelchen aus Wittenberg an dem ſtattlich mittrabenden Reichs- herold erkannte: die ſpannungsvolle Allgemeinerwartung durch den neuernden mutvollen Ketzer. Chriſtlichen Standes Beſſerung! Auch in rechtlicher und weltlicher Beziehung! Kritiken und Deutungen, die über fo vielerlei Ratloſigkeit und Hilfloſigkeit aufleuchten. Die Erregung, die Macht. die für Luther vorhanden iſt, hat er mit Augen geſehn und die er gut tut, in die Hand zu nehmen. Denn fie iſt Ungeduld am Rande des öffentlichen Aufruhrs. Nur ein Teil davon, kaum der heftigſte, ift der Unwille über die kirchliche Habſucht, Entſittlichung und Uppigkeit.

Es iſt wohl kulturgeſchichtlich überaus vielſagend, wenn der päpſtliche Nuntius beim Reichstag, Aleander, die geglückte Reichsächtung des tapferen Ablaßbekämpfers durch ein gutgekanntes ovidiſches Zitat nach Rom ſchreibt: „Singt Triumph, und nochmals Triumph, wir haben fie im Garn, die heißerfehnte Beute!“ aus des Ovidius’ Lehrbuch der ſchlüpfrigen Liebeskünſte. Aber doch nur mit minderer Beleſenheit ift das durchſchnittliche Deutſchland reichlich ebenſo entartet, von materieller Gier verflacht und mittelbar entſittlicht. Während die Oeutſchen zur ſtaufiſchen Mittelalterzeit die edelſte Standesverpflichtung und eine hochgeſinnte ſchöne Oichtung aus ſich entwickelt hatten, verdankten ſie ihr ſeitheriges Herunterkommen dem platten Materialismus, der nun einmal fo einſeitig nicht in die deutſche Veranlagung hinein- paßt und der daher immer bei uns zur zerfreſſenden Krankheit wird. Schmählicher, als andere Nationen fo haltlos entarten, waren die Oeutſchen ihres Beſten verluftig geworden und hatten ſich ringsum verachtet und verhaßt gemacht, nicht allein nur in den von der Hanſe, wie man beute ſagt, „wirtſchaftlich erſchloſſenen“ Ländern. Luthers Schrift (1524), worin er „Kauf⸗ handel und Wucher“ auseinanderhält, gibt nur gemilderte Vorſtellung von dem maßgebenden Ausbeutungsgeiſt, von der „gewiſſenloſen“ und „liebloſen“ Erdrüdung der nichthändleriſchen Stände, wobei es Luther noch an mancherlei Kenntnis fehlte, u. a. wie politiſch gefügig das

96 Luther auf der Wartburg

Kaiſertum den monopoliſtiſch die täglichſten Bedürfniſſe bewuchernden patriziſchen Truſtgeſell- ſchaften geworden war, welche auch die Wahl Karls V. finanziert und gemacht hatten. Das damalige Geſamtbild führt uns hier zu weit. Man entnimmt es ſich annähernd aus den letzten Entwicklungen neuerlich bei uns, da die Verſchiedenheiten gering ſind; ſie ſind eher Parallelen, z. B. den tüchtigen, gebildet regen Kräften, die heute vorzugsweiſe in der Technik ſind, welchem um 1500 das noch ſelbſtachtungsvolle Handwerk entſprach, wohin auch die Künſte noch gehörten. Auch damals gab es die gutſinnig redliche deutſche Mehrheit. Aber dieſe war in ſich ſelbſt lahm, bedeutungslos, vertretungslos, ſeit die reichsfürſtliche Anbahnung politiſch-ſozialer Beſſerungen (i. J. 1500) baldigſt von der geſchädigten Plutokratie wieder mittels des kaiſerlichen Hebels unterdrückt worden war. Bis auf einzelne Inſeln der Bildung, die auch im ſüddeutſchen Patriziat nicht fehlten, war in dem Ganzen dieſer deutſchen Oberfläche die Geiſtes- und Herzensbildung gleichermaßen erloſchen, wie Dichtung und edlere Literatur. Das Gemeingültige find Geld- machen und üppiges Geldzeigen, find genüßliche Lchensideen, leer bis zur Verblödung der Moden und Vergnügung, bis zur Verzotung des Witzes und der Myſterienbühne. Und über dem rohen Getriebe waltet der Haß und Entrechtungskampf aller Stände wider alle, worin ſich die vollſte materialiſtiſche Auflöſung der politiſchen und nationalen Gemeinſchaftsethik darſtellt. Keine „Sammlung der Geiſter“, weil dafür Bildung, Entſchlußkraft, Einigkeit zu weitgehend zerftört waren. Spintiſierende Quadfalber aus den unteren Ständen genug, predigende Sack pfeifer und Bauernhirten; buͤrgerliche Vereinsmeierei in Fülle, Myſtiker und Theoſophen, und wenn die Konventikel fromm gebliebener Laien ſich verzichtvoll zurüͤckziehn, fo will die Ideen- brüderei, in der Art der bekannten Zwickauer, um fo zuverſichtlicher helfen. Aber nun in dieſen Jahren des Wormſer Reichstags ziehn fidh die größe ren Bewegungen der Unzufriedenheit auch ſchon zuſammen, verſchiedene zur gleichen Zeit, nur bezeichnend unter fidh zerſpalten, unverbun- den losſchlagend: die Ritter des Sickingenſchen Aufruhrs, der große Aufſtand der Bauern, des ländlichen Bundſchuhſtandes, nicht mit den übelſten fozial- und reichspolitiſchen Reformgedanken, ferner die bilderſtürmeriſchen, wiedertäuferiſchen, kommuniſtiſchen Bewegungen, dieſe mit dem typiſch tih entwickelnden Macht- und Blutrauſch und der ſultaniſchen Lüſternheit der Führer.

Zwiſchen dem allen iſt es von gar nicht abzuſchätzender ſegensvoller Wichtigkeit, daß die eine Perſönlichkeit, die dem Chaos gewachſen war, während der Friſt der noch unfertigen Gärungen jene Wartburgzeit gehabt hat. Erſtaunlich bleibt uns doch immer dieſer Ourchbruch der überlegenen, allſeitigen Vollnatur. Zu Worms der zwar innerlich Sichere, vor großen Herren doch noch Befangene, auch Ungeſchickte; weltlich das Mündel der kurſächſiſchen Amts- herren, an deren Inſtruktionsfäden er ſorgſam fo bugſiert wird, daß er mit dem hellen Nicht- widerruf, der ſein Teil iſt, durch die ſachlich zweckloſe Veranſtaltung hindurchkommt. Noch iſt er das mutige „Mönchlein“, welches Teilnahme, Achtung, doch nicht gerade ſtarken Eindruck abgewinnt. Zwei Tage haben Luther geſagt, was er iſt, was die anderen ſind, bis zu Kaiſer und Kurfürften hinauf, fo auch jener anſtändig mit ihm verhandelnde Trierer, der, wenn Luther einlenkt, mit kräftigen Pfründen und gutem Schutz ihn gegen die enttäuſchte Öffentlich keit verſichern will. Die Sicherheiten ſind nunmehr in Luther allein: Entſcheidung, ſelbſt— gewiſſe Haltung, herrenartiges Befehlen. Den Reichsherold, der ihn von Wittenberg holte, ſieht er auf der Rückfahrt nun auch mit anderen Augen an, fertigt ihn als Briefboten an den Kaifer ab und läßt ihn rechtzeitig umkehren. Er ſelbſt ift fortab Inftanz und Macht; die geiftlichen und weltlichen Inſtanzen find nicht mehr ihm zu Häupten. Begreiflich ift, wie dieſes Herrſchafts- gefühl in ſeiner Neuheit etwas Hochbetontes annimmt, zumal er auf der Wartburg niemanden um ſich hat, mitberatend und an ihm feilend. Aus Wartburgfchriften, welche die Wittenberger Freunde lieber nicht zum Orud geben, ſieht die Ekſtaſe dieſes Kraftgefühls heraus, auch aus Aufkündungen des heimiſchen landesherrlichen Schutzes, welcher doch wahrſcheinlich Luther bis in dieſes Aſyl bewahrt hatte. „Ich halt, ich wollt Ew. Kurfürſtlichen Gnaden mehr ſchützen, denn Sie mich ſchuͤtzen könnte.“ Solche Sachen müſſe Gott allein ſchaffen.

Luther auf der Wartburg E . 97

Aber auch das war geſchichtljch unerläßlich, daß er jo an Kurfürſt Friedrich ſchreiben mußte. Von da ab war er der Obere, beginnt er Reformator über den fürſtlichen Landes- herren zu fein. Über Kämpfern gleich ihm dürfen keine höchſten Kriegsherren ge— ſchont und zuſtändig bleiben. |

Die Bedeutung der wichtigſten Wartburgtat neben dem übrigen Fleiß —, daß er den Laien das Neue Teſtament in die Hand gab, kann hier nur geſtreift werden. Es war nicht die erſte Uberſetzung, welche entſtand. Aber es war diejenige Entſchließung und war die Verdeutſchung, die aus dem Auftreten eines Wittenberger Theologen die Reformation im deutſchen Volke, und mit dieſem zuſammen, gemacht haben. Auf das Leſen des Volkes hin hat er dort in der Wartburgklauſe die Heilige Schrift zu übertragen begonnen. Nicht auf die exakte Wiedergabe der helleniſtiſchen oder hebräiſchen Münzen, Maße und Gewichte.

Und hat in ihr gezeigt, wo die deutſche Sprache zu finden fei. Im kraftvollen Reichtum des mündſichen Gebrauches, im tragenden Rhythmus der Sätze, in dem feinhörigen Gefühl der mündlichen Formenſprache. Nicht bei den „Kanzleien und Puppenſchreibern“.

Wer 1520 in dem Kranachſchen Kupferſtich ſich Luthers Bild betrachtete, der hätte gewißlich am wenigſten gedacht, dieſer lateiniſche verſtudierte Prediger in der Mönchskutte, mit den eckigen Backenknochen im hohlen Geſicht und mit den auf ihren Gedankenkreis eingeſtellten Augen, der werde ein Jahr fpäter als ein unraſierter Junker Jörg durch die Wartburgwälder ſtreifen! Es war ihm nötig. Das jahrelange Abermaß an Gedanken- und Schreibtiſcherregung machte körperliche Folgen geltend. Es kam zur rechten Stunde; auf der Bergburg konnte es gelinde überwunden werden. In dieſen Exilmonaten kam Luther zur neuen Feſtigung ſeiner von einfachen Eltern mitgegebenen Geſundheit. Wenn Hans von Berlepſchs, des Burgamt- manns, Küche dem bohlen Mönch die Wangen rundete, ſo hat auch dies Jahr den inneren Luther gerundet. Das Frohmännliche, die wundervolle Verbindung der zornigen Kraft mit Freundlichkeit, Ruhe und ſcherzendem Humor beginnt ſich heranzubilden, nebſt jener vor- trefflichen Nervenpolitik. welche für all ſolche, die ihn nur aufhalten weniger Gegner, als halbzufriedene Mitganger, Benörgeler feiner Schriften, feiner Bibel, feines Deutſch uſw. das Stereotypwort „die Eſel“ feſtſetzt, fie kurzfertig grob in dieſen Sack zuſammentut und drinläßt. Aus den Sinnen des Junker Jörg kommt in feine Schriften eine neu erfriſchte Bildlichkeit, der Vögel klingender Schall, die rauſchenden Zweige, die ſchwälenden Kohlenmeiler in den Wäldern.

Dann entſchließt er fih zum Abſchied. Die Reichsacht, auch die Rückſicht, daß niemand Luthern atzen, hauſen und ihm Vorſchub leiſten darf, bei Güterverluſt, wiſcht er, wie man mit der Hand durch die Luft ſtreicht, von fih weg. In Wittenberg ift aus dem Dilettantismus der Zwickauer und Karlſtadts Prophetentum der ideenmäßige Unfug geworden und bald die randalierende, kirchenſchänderiſche Roheit. Orum ift Zeit, daß er wieder ſichtbar werde. In Hofen und Wams des reifenden Ritters, mit flotter roter Kappe, die Hand mit Vorliebe auf den Schwertknauf ftügend, hinter fih den Reitknecht, fo kommt das Mönchlein nach Wittenberg zurück.

Zu Worms war die befreundete Sorge geweſen, daß der Uberzeugungsmann nur nicht gar ſo unpolitiſch ſich und das begonnene Werk verderbe. Zu Wittenberg, als er unter die aufgerührte Bürgerſchaft tritt, ift er mit ruhiger Hoheit derjenige, von dem nun das Weitere hier erfolgen wird. Eo ſtiftet er wieder Ordnung und Vernunft, geiſtlich und weltlich; und über die frohaufatmenden mitteldeutſchen Fürften weiter pflanzt ſich bis ans Reichsregiment die rück ſichtsvolle Erkenntnis fort, daß von dem amtlichen ⸗Neichsächter erheblich wohl auch das Weitere im Reich abhangen wird. In jenen Wartburgmonaten, da er das Neue Teſtament überſetzte, ſcheiden f ch zeitlich die zwei deutſchen Lebenswelten: die in ihrem „nur-wirtſchaftlichen“ Mate- rialismus ſittlich und ſozial bankerott gewordene, und die durch Luther wieder zu Ernſtlichkeit, Ehrbarkeit, Geiſtigkeit und zu neuem öffentlichen Gemeinſchaftsſinn hinangeführte, auch von uns ſo tieferſehnte Welt der edlen deutſchen Ordnung. Prof. Dr. Ed. Heyd

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98 Strategiſche Nüdblide

Strategiſche Rückblicke

in ausgezeichnetes Buch „Kritik des Weltkrieges“ (Leipzig 1920, Verlag von a K. F. Koehler, Preis 20 4), deffen ungenannter Verfaſſer ein wuͤrttembergiſcher Generalſtäbler ſein ſoll, hat in Fachkreiſen berechtigtes Aufſehen erregt, wenn man auch mit den Urteilen des Verfaſſers nicht durchweg einverſtanden fein kann. In ſchwung⸗ voller Sprache geſchrieben, gibt es auf 243 Seiten einen knappen und guten Überblick über die militäriſchen Operationen der ſchweren 4 Kriegsjahre und ermöglicht es auch dem Laien, ſich ein Urteil über die kriegeriſchen Vorgänge zu bilden.

In weiten Volkskreiſen war bisher die Meinung verbreitet, daß während des Welt- krieges nur die politiſche Leitung verſagt habe, daß aber die Heerführung ihrer Aufgabe in vollem Umfange gewachſen geweſen ſei. Dem iſt leider nicht ſo. Ausgezeichnet und über jedes Lob erhaben waren nur die Leiſtungen unſerer braven Truppen. Auch die Armeeführung hat teilweiſe Vortreffliches geleiſtet. Es fei hier nur an Tannenberg erinnert. Die Oberſte Heerführung dagegen hat vielfach verſagt, nicht nur in den erſten Kriegswochen, die zur Marne ſchlacht geführt haben, ſondern auch noch fpäter unter Falkenhayn. Bei Übernahme des Ober- befehls durch Hindenburg war unſere militäriſche Lage bereits derart ſchwierig geworden, daß auch ein Hindenburg nicht mehr viel daraus machen konnte. Bei der letzten entſcheidenden Offenfive im Frühjahr und Sommer 1918 hat aber auch er nicht das Höchſte zu erreichen ver- mocht. Sie bietet der Fachkritik viele und berechtigte Angriffspunkte. |

Es find nunmehr bereits 3 Jahre verfloffen, feit wir mit banger Hoffnung dem Ergebnis dieſer letzten entſcheidenden Offenfive, die Rettung oder Untergang bringen mußte, entgegen- geſehen haben. Wir haben ſeitdem einen gewiſſen Abſtand zu den Ereigniſſen des Welkrieges gewonnen und können hieraus die Berechtigung ſchöpfen, uns, wenn auch noch kein abfchließen- des Urteil, ſo doch kritiſche Gedanken über die Geſchehniſſe zu machen. Eine wahre Hochflut militäriſcher Literatur ift ſeitdem erſchienen. Sie entſpringt teils dieſem Bedürfnis, teils dient ſie der Rechtfertigung eigener Handlungsweiſe. Hindenburg, Falkenhayn und Ludendorff haben geſprochen, eine Anzahl von Armeeführern oder deren Generalſtabschefs oder ſonſtige an hervorragendſter Stelle tätig geweſene Offiziere haben ſich geäußert. Es iſt für den Laien nicht leicht, ſich in dieſer Hochflut zurechtzufinden und die Spreu vom Weizen zu ſcheiden. Denn auch viel Wertloſes iſt vorſchnell auf den Markt geworfen worden. Vieles hat auch nur für den Fachmann Zntereſſe und ermüdet den nicht fachmänniſch vorgebildeten Lefer, der ſich nicht in militäriſche Einzelheiten verlieren, ſondern ein in möglichſt knappen Strichen gezeich- netes Bild in ſich aufnehmen will. (Sehr empfehlenswert ift übrigens hiezu: Jungmann und Schwarz. Der Weltkrieg in ſprechenden Bildern, Selbſtverlag. Karlsruhe, Leffing- ſtraße 28.) Es fei nun in nachſtehendem der Verſuch gemacht, auf jene Erſcheinungen der neueſten Kriegsliteratur aufmerkſam zu machen, die dieſem Zwecke dienen können und die teilweiſe noch nicht gebührende Beachtung gefunden haben.

Hier ſeien vor allem genannt „Graf Schlieffen und der Weltkrieg“ von Oberft- leutnant Förſter (Berlin 1921, Verlag Mittler & Sohn, I. Teil 10 &, II. Teil 13 4). Oer erſte Teil behandelt in geradezu meiſterhafter Weiſe den Schlieffenſchen Operationsplan und die deutſche Weſtoffenſive 1914 bis zur Marneſchlacht, der zweite Teil unterzieht die Oſtoffenſiwe 1915 in Galizien und Rußland einer eingehenden Würdigung und kommt hiebei zu einem aller- dings ziemlich vernichtenden Urteil über den General v. Falkenhayn. Ein dritter Teil wird ſich mit der Jindenburgſchen Heerführung beſchäftigen. Man wird ihm mit Spannung ent- gegenſehen dürfen. Beſonderes Intereſſe hat in den weiteſten Kreiſen begreiflicherweiſe die Marneſchlacht erregt. Wird fie doch nicht fo ganz mit Unrecht als der Wendepunkt unſeres Kriegs; glücks betrachtet. Das Beſte hierüber ift von Oberſtleutnant Müller-Löbnitz, einem Württem- berger, „Der Wendepunkt des Weltkrieges“ (Berlin 1920, Mittler & Sohn, 10 ). Eine

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nicht minder treffliche Darſtellung bringt General v. Kuhl, der Generalſtabschef Klucks, in feinem „Oer Marnefeldzug 1914“ (Berlin 1921, Mittler & Sohn, 35 M). Die glänzende Führung der 1. Armee durch Generaloberſt von Kluck findet hiebei beſonders eingehende Würdi- gung. Eine außerordentlich klare, knappe und überſichtliche Schilderung der Marneſchlacht findet ſich endlich in dem I. Teil des Buches von General v. François „Marneſchlacht und Tannenberg“ (Berlin, Verlag Auguft Scherl, 50 ), während der 2. Teil Tannenberg ſich mehr in Einzelheiten verliert, die vorwiegend den Fachmann feſſeln werden. Über die Einleitung des rumäniſchen Feldzuges hat Oberſtleutnant Wetzell eine kleine, ſehr intereſſante Studie „Von Falkenhayn zu Hindenburg-Ludendorff“ geſchrieben (Berlin 1920, Mittler & Sohn, 4 M), bei der Falkenhayn gleichfalls ſchlecht wegkommt. Zu erwähnen und ſehr zu empfehlen ſind endlich noch „Der deutſche Generalſtab in Vorbereitung und Durchführung des Weltkrieges“ von General v. Kuhl (Berlin 1920, Mittler & Sohn, 15 40) ſowie das ganz ausgezeichnete Werk des öſterreichiſchen Generals Alfred Krauß „Die Urſachen unferer Niederlage“ (München, Lehmanns Verlag, 16 ), ein treffliches Buch, das insbeſondere die Zuſammenhänge von Politik und Kriegführung in geradezu muſterhafter Weiſe beleuchtet und im übrigen auch intereſſante Einblicke in öſterreichiſche Verhältniſſe ge- währt. Wer ſich für letztere intereſſiert, Näheres über die Perſönlichkeiten der öſterreichiſchen Generalſtabschefs Conrad und Arz und ihr Verhältnis zur deutſchen Oberſten Heeresleitung, das leider, beſonders unter Falkenhayn, nicht ungetrübt war, erfahren will, dem fei das Buch des Generals v. Cramon „Unfer öſterreich-ungariſcher Bundesgenoſſe im Welt- krieg (Berlin, Mittler & Sohn, 16 4) warm empfohlen. Von den Stimmen unſerer Feinde wird das Buch des Generals Buat „Ludendorff“ (Koehler & Volkmar, Leipzig, 18%) zweifel- los berechtigtem Intereſſe begegnen. Die Perſon des Generals erfährt dort eine zwar nicht gerade wohlwollende, aber immerhin in manchem nicht ſo ganz unzutreffende Beurteilung, die fih bemüht objektiv zu bleiben, ſoweit dies bei einem Gegner möglich ift, und der man Sach- kenntnis und gutes Urteil nicht abſprechen kann. Die Verhimmelung Fochs und ſeiner Strategie dagegen iſt übertrieben und abzulehnen.

Wenn ich in nachſtehendem nun verſuche, in knappen Umriſſen jene Hauptmomente kurz hervorzuheben, die nach meiner Meinung in erſter Linie unſere ſchließliche militäriſche Niederlage herbeigeführt haben, ſo bin ich mir wohl bewußt, daß eine erſchöpfende Behandlung im Rahmen dieſes kurzen Aufſatzes unmöglich iſt. Hierüber könnte man dicke Bücher ſchreiben. Ich muß mich daher darauf beſchränken, diefe Hauptmomente nur kurz anzudeuten.

Es liegt in der Natur des Stoffes, daß hiebei die trefflichen, teilweiſe glänzenden Lei- itungen unſerer Heerführer, die ja allbekannt find, außer Betracht bleiben, und nur jene Mo- mente hervorgehoben werden, denen eine Mitfhuld an unſerem ſchließlichen militärischen Zuſammenbruch beigemeſſen werden kann. Sie laſſen ſich in fünf knappe Worte kleiden: Marneſchlacht, Oſtoffenſive 1915, Saloniki, Verdun und Weſtoffenſive 1918. Hiezu kommt noch das Verſagen der Sſterreicher. Die anderen, zweifellos ausfchlag- gebenderen Gründe unſeres Zuſammenbruchs find bekannt. Sie brauchen daher nicht weiter erörtert zu werden. Hier foll nur von militäriſchen Dingen, ſoweit fie fih auf die Leitung der Operationen beziehen, die Rede ſein.

| Zuerſt die Marneſchlacht. Sie war letzten Endes das Ergebnis eines falſchen Auf- marſches. „Fehler im erſten Aufmarſch laſſen ſich im Verlauf eines Feldzuges nur ſelten wieder gutmachen“, ſagte ſchon der alte Moltke. Der Schlieffenſche Aufmarſch und Opera- tionsplan war ausgezeichnet. Er war im höchſten Grad genial, klar, einfach und folgerichtig. Er bezweckte mit dem Ourchmarſch durch Belgien und Verlegung des Schwerpunktes auf den rechten Flügel die Uberraſchung des Feindes, die uns denn auch in vollſtem Maße gelungen iſt, im weiteren Verlauf die Einkreiſung und Vernichtung des feindlichen Heeres. Er hätte folgerichtig durchgeführt nach menſchlichem Ermeſſen zu einem ſchnellen, durchſchlagenden

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und kriegsentſcheidenden Sieg im Weiten führen müffen und auch tatſächlich geführt. Hier- über iſt ſich die geſamte militäriſche Fachkritik ſo ziemlich einig. Den wenigen anderslautenden Stimmen, insbeſondere den Verfechtern einer Oſtoffenſive, die ſich hiebei auf den alten Feld- marſchall Moltke berufen, fehlt jede Beweiskraft. Es würde zu weit führen, dies hier näher zu begründen Man leſe bei Förſter oder Kuhl nach. Noch auf ſeinem Totenbette ſoll der alte Schlieffen, zu dem alle, die ihn kannten, das unumſtößliche Vertrauen hatten, daß er uns un- fehlbar zum Sieg geführt haben würde, gerufen haben: „Macht mir nur den rechten Flügel ſtark!“ Gerade das Gegenteil hiervon iſt 1914 geſchehen. Schon im Frieden iſt ſein genialer Aufmarſchplan von ſeinem Nachfolger, dem Generaloberſt v. Moltke, ſtark verwäſſert worden, indem der linke Flügel (6. und 7. Armee) in Elſaß-Lothringen auf Koſten des rechten über- mäßig ſtark gemacht wurde. Dies war der Urgrund allen Abels, das in der Folge daraus ent- ſprang. Anſcheinend konnte man ſich nicht dazu entſchließen, Elſaß- Lothringen und eventl. Suͤddeutſchland vorübergehend einem feindlichen Einfall preiszugeben. Nach Anſicht Schlief« fens war der beſte Schutz Süddeutſchlands ein voller Sieg über die Franzoſen und Engländer. (Denn auch mit dieſen als Gegner hatte Schlieffen bereits gerechnet.) Und darin hatte Schlieffen ſicher recht. Betört durch ſtrategiſch belangloſe Anfangserfolge der 6. und 7. Armee und durch eine allzu optimiſtiſche, unrichtige Beurteilung der Lage beim Oberkommando der 6. Armee unterließ jedoch die Oberſte Heeresleitung die ſpäteſtens Ende Auguſt unbedingt gebotene Verſchiebung ſtarker Kräfte von dort zu Klud an den rechten Flügel. Nicht genug, daß dies unterblieb, wurden auch noch 2 Armeekorps, ausgerechnet vom rechten ftatt vom linken Flügel, gerade in den kritiſchen Tagen Ende Auguſt nach dem Oſten verſchoben, wo ſie weder verlangt noch notwendig waren. Denn Tannenberg wurde vor ihrem Eintreffen und ohne ſie geſchlagen. So kam es, daß Kluck vor Paris angelangt, viel zu ſchwach war, um die ihm durch den Schlieffen- ſchen Plan zugedachte Rolle einer Umfaffung und Zertrümmerung des franzöſiſch-engliſchen linken Flügels durchzuführen. Er kam vielmehr, durch Maunoury aus Paris in der Flanke angegriffen, ſelbſt in eine ſchwierige Lage, die er jedoch durch ein ausgezeichnetes Manöver zu meiſtern und in einen vollen Sieg über Maunoury umzuwandeln im Begriffe war, als ihn wie ein Oonnerſchlag aus heiterem Himmel der durch Oberſtleutnant Hentſch, Abteilungs- chef im Generalſtab des Feldheeres, überbrachte Befehl zum Rückzug traf.

Wie kam das? Was war geſchehen? Klud war genötigt geweſen, zur Abwehr des An- griffs aus Paris Kräfte, die bisher im Anſchluß an die Nebenarmee Bülow ſüdlich der Marne gefochten hatten, herauszuziehen, und ſie an ſeinen rechten Flügel nach Norden, in die Gegend weſtlich des Ourcq, zu werfen. Hierdurch war zwiſchen ihm und Bülow eine klaffende Lücke von etwa 30 km Breite entſtanden, die nur von Kavallerie und ſchwachen Detachements not- dürftig geſchützt war. In diefe Lücke begannen die Engländer, wenn auch nur febr zögernd und vorſichtig, allmählich einzudringen. Die Führung der Engländer in den erſten Kriegs- wochen und im Marnefeldzug war nebenbei beinerkt überaus kläglich. Klut hatte recht, wenn er vor ihnen keinen allzugroßen Reſpekt hatte. Anders Bülow. Er hielt den rechten Flügel ſeiner Armee und, in unrichtiger Einſchätzung der Lage bei Kluck, auch deſſen Armee für derart ge- fährdet, daß er die Geſamtlage beider Armeen für unhaltbar anſah und ſich infolgedeſſen trotz günſtiger Fortſchritte des eigenen linken Flügels, der einen vollen Sieg über die Armee Fod errungen hatte und fid) eben anſchickte, die franzöſiſche Front zu durchbrechen, zum Rückzug entſchloß. Nückzugsentſchluß und RNückzugsbefehl in der Marneſchlacht gingen. von General v. Bülow aus. Das ſteht unbeſtreitbar feſt. Bülow, der im Frieden hohes Anſehen genoß und auf deffen Urteil die O. 9. L. viel gab, befand fidh allerdings in ſchwieriger Lage und ſcheint die Nerven verloren zu haben. Über feiner Armeeführung ſchwebte von An- fang an kein günftiger Stern. Vielfach wird der Oberſtleutnant im Generalſtab Hentich, der den Rüdzugsbefehl an Kluck überbrachte, als Urheber des Marneunglückes bezeichnet. Dies iſt unrichtig Hentſch handelte im Rahmen ſeines Auftrages. Allerdings hätte er auf Grund

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feiner Weiſungen Bülow den Rückzug ausreden follen. Anſcheinend war er aber durch die überragende Perſoͤnlichkeit Bülows beeinflußt. Nachdem Bülow zurückging, konnten die anderen Armeen auch nicht mehr vorne bleiben. So nahm das Verhängnis ſeinen Lauf und damit war der Marnefeldzug endgültig verloren.

Es beſteht heute kein Zweifel mehr, daß der Rückzug in der Marneſchlacht unnötig war, daß dieſe vielmehr zu einem vollen Sieg über die Franzoſen ausgeſtaltet werden konnte, zwar zu keinem Sieg in durchſchlagendem, feldzugsentſcheidendem Schlieffenſchem Sinne, dazu war man vom Plan des Altmeiſters von Anbeginn an zu ſebr abgewichen aber immerhin zu einem recht reſpektablen „ordinären“ Sieg, der unſere Lage weſentlich verbeſſert und uns vielleicht einem baldigen Frieden näher gebracht hätte. Ein einwandfreier Zeuge, der fran- zöſiſche General Bajolle, äußert fih. hiezu wie folgt: „Aber was wäre geſchehen, wenn Kluck den Vormarſch gerade auf Paris fortgeſetzt hätte, wie ihm aufgetragen war? War Paris in der Lage fih zu verteidigen? Sicherlich nein! Es wäre eine politiſche und militärifhe Rata- ſtrophe geworden, die einen entſcheidenden Einfluß auf den Ausgang des Krieges gehabt hätte.“

Ein vollgerüttelt Maß von Schuld, daß es nicht fo kam, trifft die Oberſte Heeresleitung. Sie war unzulänglich von Anbeginn bis zum Ende des Marnefeldzuges und zwar in einem Maße, das man nicht für möglich gehalten hätte. Nicht nur, daß fie aus noch nicht ganz auf- geklärten Gründen in Koblenz und Luxemburg viel zu weit hinten blieb und infolgedeſſen gerade in den kritiſchen Tagen jede Überſicht und Leitung verlor, ſondern auch ihre fpär- lichen Anordnungen ſtellen eine Reihe ſchwerſter Fehl- und Mißgriffe dar und waren zudem durch die Ereigniſſe meiſt überholt. In den kritiſchen Tagen der Marneſchlacht ließ fie die Hügel völlig ſchleifen und war „iné xistante“ (nicht vorhanden), wie ein franzöſiſcher Kritiker boshaft, aber treffend bemerkt, obwohl eine Reihe ſchwerwiegendſter Anordnungen zu treffen geweſen wäre. Dem General v. Moltke, deſſen edler und vornehmer Charakter über jeden Zweifel erhaben daſteht, darf man hieraus keinen Vorwurf machen. Er war vor eine Aufgabe geſtellt worden, die feine Kräfte weit überjtieg, und war zudem krank. Daß aber in feinem engeren Stabe ſich kein einziger fähiger Kopf befand, war ein geradezu tragiſches Verhängnis. Denn an fähigen Köpfen hat es im deutſchen Generalſtab keineswegs gefehlt. Dies haben die ſpaͤteren Ereigniſſe bewieſen. Ein ſchwächlicher Rechtfertigungsverſuch des damaligen Chefs der Opera- tionsabteilung ſtrotzt von Unrichtigkeiten und kann als mißlungen angeſehen werden.

Nach dem Zuſammenbruch Moltkes übernahm Falkenhapn mit feſter Hand die Hügel der Oberſten Heeresleitung. Er hat ſich hierzu nicht gedrängt. wie vielfach angenommen wird, ſondern iſt vom Kaiſer beſtimmt worden. Das Erbe, das er zu übernehmen hatte, war auch nicht gerade verlockend. Seine Wahl hat fih in der Folge als nicht gerade glücklich erwieſen. Der Gedanke liegt nahe, wie ganz anders alles hätte kommen können, wenn Hindenburg da- mals ſchon mit der Oberleitung betraut worden wäre, Nach Erſtarrung der Weſtfront im Stellungskrieg galt es nun, die Entſcheidung im Often zu ſuchen und unverzüglich vorzu- bereiten. Falkenhayn hat ſich nicht raſch genug hierauf umgeſtellt. Viel junges Blut iſt bei Ypern und auf franzöſiſchem Boden noch unnütz geopfert worden. Daß dort vorerſt keine Feldzugsentſcheidung mehr zu erhoffen war, ift zu ſpät erkannt worden. Als man fih dann endlich, viel zu fpät, zur Oftoffenfive 1915 entſchloß, wollte Falkenhapn die Ruffen nur „lä h- men“, während Hindenburg fie zu vernichten und im Often reinen Tiſch zu machen beſtrebt war. Ein höchſt. unerquicklicher Streit Hindenburg-Falkenhayn war die Folge, bei dem Falten- hapn mit Hilfe des Kaiſers ſchließlich geſiegt hat. Die Folge davon war, daß auch im Often die Front ſchließlich im Stellungskrieg erſtarrt iſt und daß man auch über die Ruſſen nicht jenen durchſchlagenden Erfolg erzielt hat, der ſie zum Frieden geneigt hätte machen können. Ein ſolcher Erfolg lag im Bereiche des Möglichen, wenn man Hindenburg gefolgt wäre. (Näheres hierüber ſiehe Förſter II. Teil!) Statt deffen waren die Ruffen nur zeitweife allerdings „ge lahmt“, kamen aber 1916 bei Luzk febr zur Unzeit wieder und brachten faſt alles ins Wanken.

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102 Strategiſche Nüdblide

Auch mit Conrad wußte ſich Falkenhayn nicht zu ftellen, was nicht zum Vorteil der gemein- ſamen Sache ausgeſchlagen iſt.

Falkenhayn war mit dem Ergebnis der ruſſiſchen Frühjahrsoffenſive 1915 zufrieden. Die von ihm beabſichtigte „Lähmung“ des ruſſiſchen Gegners war erreicht. Seine endgültige Niederwerfung und Zertrümmerung hatte er im Gegenſatz zu Hindenburg für unmoglich er- achtet und nicht angeſtrebt. Nun ging es gegen Serbien, ein Lieblingsplan Falkenhapns, mit dem er ſich ſchon lange getragen hatte. Falkenhayn gebührt das Verdienſt, das Bündnis mit Bulgarien zuſtande gebracht zu haben. Der ſerbiſche Feldzug verlief zwar erfolgreich. Das letzte und höchſte Ziel Schlieffenſcher Strategie, die Vernichtung des Gegners, wurde aber auch hier nicht erreicht. Der Gegner entkam, wenn auch ſchwer geſchädigt, um ſpäter neu ge-

kräftigt bei Saloniki wieder aufzutauchen. Es hat vielfach befremdet, daß die verbündeten

Armeen nach der Eroberung Serbiens an der griechiſchen Grenze haltgemacht haben, anſtatt reinen Tiſch zu machen und Saraill ins Meer zu werfen, was damals wohl moͤglich geweſen wäre. Man hat dahinter politiſche, höfiſche und verwandtſchaftliche Rückſichten vermutet, um König Konſtantin keine Ungelegenheiten zu bereiten. Dieſe Gründe mögen immerhin mit- geſprochen haben, allein ausſchlaggebend waren fie nicht. Es haben auch gewichtige militärische Gründe mitgeſprochen, denen eine gewiſſe Berechtigung nicht abgeſprochen werden kann. Falkenhayn macht geltend, daß die bulgariſche Armee außerhalb des Balkankriegsſchauplatzes nicht zu verwenden geweſen wäre. Hierin mag er recht haben. Durch ihre Anweſenheit wur- den aber bei Saloniki immerhin 2— 500000 Mann Ententetruppen gebunden, die dann auf

dem Weſtkriegsſchauplatz fehlten. So brachte die bulgariſche Armee wenigſtens einen indirekten

Nutzen für die Geſamtoperation, während fie andernfalls nutzlos geweſen wäre. Dieſe Gründe find ſtichhaltig und nicht von der Hand zu weiſen. Andererſeits blieb die Peſtbeule Saloniki aber doch andauernd eine große Gefahr. Es hat ſich 1918 nach dem ſchmählichen Verrat der Bulgaren ſchwer gerächt, daß bei Saloniki ſeinerzeit nicht ſchon 1915 reiner Tiſch gemacht worden iſt, wie Conrad gewollt hatte. Mit dem Zuſammenſturz der bulgariſchen Front vor Saloniki ift unſere militäriſche Lage erft völlig hoffnungslos und unhaltbar geworden. Es war alſo doch ein Fehler, 1915 vor Saloniki haltzumachen. Nicht allgemein bekannt iſt übrigens, daß ſowohl Graf Gopcevic in feinem intereſſanten Buch „Oſterreichs Untergang uſw.“ (Verlag Karl Siegismund, Berlin, 15 K), das allerdings viel Klatſch enthält, als auch Prinz Windiſchgrätz in feinem nicht minder feſſelnden „Dom roten zum ſchwarzen Prinzen“ (Ullſtein, Berlin, 20 4) den Zaren Ferdinand von Bulgarien ganz offen eines ſchmählichen Doppelſpiels und infamen Verrats der Mittelmächte bezichtigen.

Dann kam 1916 Verdun! Die Wahl dieſes Operationszieles wird zwar von Hinden- burg in feiner milden Art gebilligt. Man kann aber doch wohl auch anderer Meinung fein, die Mehrzahl der Kritik ſteht heute auf letzterem Standpunkt und verurteilt dieſe Operation aufs ſchärfſte. „Die Hölle von Verdun“ war eine nutzloſe Menſchenſchlächterei. Vor Verdun iſt der gute Reſt unſerer unvergleichlichen Armee, der uns von 1914 noch geblieben war, unnütz geopfert worden. Seitdem war das Inſtrument des Feldherrn ſchartig geworden. Falkenhapn ſucht in feinem Buch Verdun zu rechtfertigen, vermag bierbei aber nicht zu überzeugen Bern- hardi macht in feinem ausgezeichneten Werk „Eine Weltreiſe 1911/12“ (Hirzel, Leipzig, 65 MA), das eine Fülle tiefer Gedanken und treffender Beobachtungen enthält, in feinen etwas temp eramentvollen Tagebuchnotizen eine leiſe Andeutung, als ob Liebedienerei gegen den Kronprinzen bei Verdun im Spiele geweſen fei. Oies wäre überaus ſchlimm und ift ſelbſt⸗ redend unbewieſen. Recht geben muß man wohl Bernhardi, wenn er am Schluß ergrimmt ausruft: „Falkenhayn und Bethmann ſind unſer Unglück.“ Auch General Buat bezeichnet die Operation gegen Verdun als „ungeheuren Mißgriff“. Die „Ausblutungstheorie“ Falten- hayns führte nur zu unſerem eigenen Verbluten. Der Angriff auf Verdun mußte ſpateſtens Ende März eingeſtellt werden, nachdem fih herausgeſtellt hatte, daß es nicht im etſten Anlauf

Strategiſche Rüdblide | 105

wie Lüttich oder Antwerpen genommen werden konnte. Die Fortſetzung des Angriffes über dieſen Zeitpunkt hinaus war ein Hohn auf alle Regeln der Kriegskunſt und hat uns nie wieder gutzumachenden Schaden gebracht. Aber Verdun und den nicht rechtzeitig vorausgeſehenen Eintritt Rumäniens in den Weltkrieg ift Falkenhayn dann auch zu Fall gekommen. Als Armee- führer hat er dann Beſſeres geleiſtet, denn als Oberfeldherr.

Nun kamen Hindenburg-Ludendorff und mit ihnen ein neuer Geiſt. Freilich aus den überall erſtarrten Fronten ließen ſich keine Operationen im Geiſte Schlieffens formen. Man hatte Mühe genug, das Beſtehende zu halten Vielverheißend begann die Offenſive in Italien 1917. Doch auch hier wurde dank der Unfähigkeit des Führers der öſterreichiſchen Iſonzoarmee, des Feldmarſchall Boroevic, das ſtrategiſche Endziel, die Vernichtung des italieni- ſchen Heeres, nicht erreicht. Näheres hierüber bei Krauß, der ſelbſt hervorragenden Anteil am Gelingen dieſer Operation hat. Wenig bekannt iſt die Tatſache, daß damals bei richtigem Verhalten Boroevies der König von Italien mitgefangen worden wäre. Die vom ungenannten Verfaſſer der „Kritik des Weltkrieges“ an die richtige Durchführung der Offenſive geknüpften Folgerungen, die ſchon von einem Vormarſch der Deutſchen über die See- Alpen nach Süd- frankreich träumen, ſind doch wohl etwas zu weitgehend und phantaſtiſch. Immerhin wäre von einem durchſchlagenden Erfolg in Italien auch eine günſtige Rückwirkung auf die Gefamt- lage zu erwarten geweſen, insbeſondere wenn die Offenfive nach dem Vorſchlag des baperiſchen Generals v. Krafft, des damaligen verdienten Generalſtabschefs Otto v. Belows, mit dem Hauptnachdruck von Tirol aus eingeleitet und durchgeführt worden wäre. Doch hiezu erklärten ſich die öſterreichiſchen Bundesbrüder damals außerftande, um ſpäter 1918 dieſes Manöver mit einem völligen Fiasko dank verfehlter Durchführung zu wiederholen.

Wir nähern uns dem letzten Akt jenes weltpolitiſchen Dramas, der großen Weft- offenſive 1918, deren Vorbereitung und Durchführung in den Händen Hindenburg-Luden- dorffs lag. Zum erſten Male feit den Auguſttagen 1914 war es wieder gelungen, eine zahlen mäßige Überlegenheit an der Weſtfront zu verſammeln. Oer letzte entſcheidende Schlag mußte gelingen, wenn er richtig geführt wurde. Leider iſt er nicht richtig geführt worden. Anſtatt die Kräfte zu einem großen einheitlichen Schlag und in einer Richtung vorzuführen, die ftrate- giſche Auswirkung bot, verzettelte man die Kräfte und trieb Bermürbungsitrategie, wo nur ein großer einheitlicher Schlag in operativ wirkſamſter Richtung d. i. in Richtung Lens und St. Pol gegen Calais und die Somme Mündung zum Ziele führen konnte. Dem herben Urteil, das ſowohl der ungenannte „Kritiker des Weltkrieges“ als auch General Buat über die Art und Weiſe fällen, wie damals die Operationen auf deutſcher Seite geführt worden ſind, muß man leider zuſtimmen. Buat bemängelt vor allem das Fehlen jedes höheren ſtrategiſchen Gedankens. Oer Geiſt Schlieffens ſchwebte nicht über den Angriffen. Sie wurden durch ihre Häufigkeit nicht beſſer und endeten ſchließlich bei Reims mit einem ſchrillen Mißerfolg. Die von Luden- dorff in ſeinen Erinnerungen vorgebrachte Begründung ſeiner Anordnungen klingt nicht gerade überzeugend. Mit einem abſchließenden Urteil wird man aber vorerſt noch zurüdhalten müffen, bis alle Umſtände, die einer richtigen Durchführung angeblich im Wege ſtanden, reſtlos geklärt ſind. Soviel dürfte aber heute ſchon feſtſtehen, daß das Ziel des 1. Angriffes im März 1918 falſch gewählt war und ſchwerlich zu dem angeſtrebten durchſchlagenden Enderfolg hätte führen können. Auch iſt es befremdlich, daß nicht auf der ganzen Weſtfront gleichzeitig angegriffen wurde, um den Gegner am Verſchieben feiner Reſerve zu verhindern, wie dies Fodh ſpäter uns gegenüber richtig gemacht hat. Statt deſſen ließ man ihm ſchön Zeit, ſeine Reſerven ſtets an die bedrohten Punkte zu ſchieben, und ſchaltete zwiſchen den einzelnen Hauptangriffen unzeitgemäße Operationspauſen ein. Nach dem Mißlingen des 2. Angriffes auf Calais war zu erwägen, ob es nicht zweckmäßiger geweſen wäre, jede Hoffnung auf Erzwingung einer günftigen Entſcheidung aufzugeben, die Angriffe abzubrechen, um wenigſtens das Kriegs- infterument noch möglichſt intakt zu erhalten. Auf eine ſiegreiche Beendigung des Krieges war

104 l Die Deutſchamerikaner und wir

kaum mehr zu hoffen. Die Überlegenheit des Gegners wuchs mit jedem Tage. So kam denn, was kommen mußte: der Zuſammenbruch! Seit 18. Juli 1918 mußte jedem ſachverſtändigen Militär klar ſein, daß der Endſieg nicht mehr zu erzwingen war.

Franz Freiherr von Berchem

Die Deutſchamerikaner und wir

2 Zíma Jedin, die Schweſter des berühmten Weltfahrers, die jüngſt ihr Amerikabuch D À herausgebracht hat, kommt zu der gleichen Erfahrung mit den Schwediſch-Ameri— kanern, wie wir Deutſche mit den Amerikanern deutſchen Stammes. „Mit den Schweden in Amerika hat es eine merkwürdige Bewandtnis. Sie lieben Schweden, aber fie find vor allem anderen amerikaniſche Bürger. Vielleicht verletzt es uns Schweden, und man ift verwundert über gewiſſe politiſche Geſichtspunkte. Aber man muß diefe Schweden nach den Verhältniſſen beurteilen, unter denen ſie leben.“

Schon wenn man kurze Zeit in den Vereinigten Staaten gelebt hat, geht es einem auf, eine wie verwickelte, ſchwierige Frage das Verhältnis von Reichsdeutſchen und Deutſchameri— kanern iſt. Bleibt man längere Jahre drüben, ſo wird dieſe Frage immer tiefer und brennender. Die ganze Tragik des Zuſammengehörens und doch Getrenntſeins geht einem auf. Man leidet ſich durch alle Zuſtände von dem erſten Schmerz an durch raſtloſe Verſuche zum Aus- gleich, zum Wiederzuſammenfügen, durch den ohnmächtigen Zorn des Verzichts durch bis zur Dreinergebung und endlich zum Anfang einer bejahenden Annahme der Tatſache hin.

Und dann kommt man heim und findet, daß man im Vaterland kaum eine Ahnung von dieſem Weltproblem hat!

Wenn in unſerm erſten Winter in Neupork (1911—12 eine Oeutſchamerikanerin auf Engliſch ſagen konnte: „O, alle deutſchen Frauen ſind dumm“, ſo empörten wir uns und wunderten uns ebenſoſehr, wenn man uns fragte, warum wir Denn nach Amerika gekommen wären, wenn wir doch unſre „Papiere nicht herausnehmen“ wollten, d. h. uns um die ameri- kaniſche Bürgerſchaft bewerben. In allen den Jahren unfres Aufenthalts drüben haben wie ganz ſelten Deutſchamerikaner getroffen, die verſtanden, daß wir gekommen waren, um Land und Leute zu ſtudieren und zwar gründlich, durch Mitarbeit und Mitleben. Meiſtens lächelte man zu ſolcher Erklärung und glaubte uns nicht.

Dieſe ſcheinbar kleinen Zeichen find nun doch von allergrößter Bedeutung und Trag- weite. Deshalb ſind auch weder Empörung noch Staunen angebracht, ja, man kann ſo weit gehen, zu ſagen, daß wir Deutſchen letztlich dieſen Krieg verloren haben, weil wir uns beides nicht abgewöhnt hatten, vielmehr weil wir über beides nicht hinausgekommen waren.

Die Frau, die da alle deutſchen Frauen für „stupid“, dumm, hielt, war aus der zweiten oder noch wahrſcheinlicher ſchon dritten Generation, das heißt, ihre Großeltern waren aus Deutſchland eingewandert, ihre Eltern radebrechten noch einiges Deutſch, fie ſelbſt wußten noch, was Ja und Nein heißt und die Worte Sauerkraut und Frankfurter waren ihr geläufiger als Amerikanern anderer Abſtammung. Oeutſche Frauen kannte fie nur von Neueingewander— ten, die meiſtens aus einfachen Verhältniſſen kamen oder als vom Leben Ülbelbebandelte, jedenfalls nicht als ſichere, elegante, weltgewandte und vor allen Dingen engliſchſprechende Damen. Deshalb der falſche Begriff, der aus vielen falſchen Urteilen und Darſtellungen in der engliſchen Preſſe, ſowie der meiſtzugänglichen Literatur ergänzt wurde. Gewandte, ſich gut anziehende deutſche Frauen hält man für Ausnahmen. Tatſächlich iſt uns Oeutſchen ja auch das, was der Amerikaner „smart“ nennt und was er von allen menſchlichen Vorzügen am höchſten einſchätzt, nicht oder eben nur ausnahmsweiſe gegeben. Der „smartness“, einer

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Die Oeutſchamerikaner und wir 105

Miſchung von Klugheit, Schlauheit, Schnelligkeit und Energie haben wir eine Reihe von Eigen- ſchaften entgegenzuſetzen, die wir mit Recht höher bewerten, die der Amerikaner aber nach ſeiner Veranlagung und ſeinen Verhältniſſen nicht ſo gebrauchen und deshalb auch nicht ſo verſtehen und anerkennen kann.

„Am Hlinmelswillen,“ ſagte unfer iriſch-amerikaniſcher Briefträger um 1915 herum, „wenn bloß die Oeutſchen hier nicht herüberkommen! Dann müßten wir alle gruͤndlich und ordentlich werden. Das gibt ein Unglück!“

Und viele Volkskreiſe hatten vor dieſem „Unglück“ eine ſehr wirkliche und anhaltende Angſt. Mit „smartness“ läßt es ſich ſo gut leben. Dabei reißt man ſich nicht ab, das paßt zu dem ganzen Riefenland mit feinen in ungeheure materielle Weiten gehenden Aufgaben. Man ſieht das auch vollftändig ein, wenn man nicht rettungslos in eigenen Ideen verbohrt ift, fon- dern andern Gegenden und Leuten Gerechtigkeit widerfahren laſſen will. Die Amerikaner find anders, müffen und ſollen anders fein und in ihrer Eigenart erkannt und geachtet werden.

Ja, die Amerikaner die Angelſachſen drüben Aber die Oeutſchamerikaner? Die doch nicht. Die gehören doch nicht dazu. Die müffen doch uns Oeutſche verſtehen, ſich nach allen deutſchen Werten recken, ſich das volle deutſche Weſen erſehnen!

So glauben wir Reichsdeutſchen. Und daß es nicht fo ift, daß es fo etwas gibt wie dieſes deutſchſprechende oder ſchon nicht mehr deutſchſprechende Amerikanertum, das ift unfäglich ſchwer für uns zu begreifen, und dann als Tatſache zu verarbeiten. Immer wieder rennt man fih zuerſt den Kopf ein, täufcht fidh, wiegt fih von neuem in Illuſionen. Man ſchuͤttet einem langjährigen Bekannten über irgend etwas Deutſches oder Amerikaniſches fein Herz aus und glaubt ſich nach wie vor auf gemeinſamem Boden; da wird plotzlich ſein Geſicht lang und länger, ein ſeltſames Kältegefühl überſchleicht einen Aha! Oer Amerikaner! Noch zweifelnd trotz mancher gleichen Erfahrungen ſchaut man das bekannte Antlitz an. Es iſt ameri- kaniſch. Das Oeutſche ift momentan wie ausgewiſcht, ſelbſt die angelſächſiſchen herabgezogenen Mundwinkel erſcheinen. Man hat den einen Punkt berührt, bei dem alles Gleichfühlen und Miteinandergehen aufhört. Amerikaner drüben, Deutſcher hüben.

Geſpräch im Herbſt 1914. N

„Unerhört! Oieſe Lügerei, diefe Engländer —“ j

„Ja, und die Franzoſen uſw.“ $

„Es ift einfach nicht zu glauben uſw.“

„Und diefe Unverſchämtheit hierzulande!“

Das andere Geſicht wird lang. „Anverſchämt? Da gehen Sie denn doch zu weit —“

„Wieſo? Warum machen die deutſchen Elemente hier nun nicht den Mund auf —“

Das amerikaniſche Geſicht iſt da.

„Sie meinen, wir eee follten —? Was können wir jetzt tun? Wir müffen uns nur ruhig verhalten —“

Geſpräch 1919 im Mittelweſten.

Frau N. N. und ich über Kriegsurſachen, Waffenſtillſtands- und Friedensbedingungen, allgemeines deutſches Leben und Weſen. Ich ſchon ſehr vorſichtig. So verſtehen wir uns eine Weile ſehr gut. Aber dann kommt es.

„Die deutſche Erziehung! Ja, da gehen eben unſre Wege auseinander. Hier in Amerika erziehen wir unſre Kinder zu ſelbſtändigen Menſchen. Jedenfalls iſt es unrecht, wenn man wie B.s die Kinder hier noch durchaus deutſch erzieht.“ |

„Aber wie können reichsdeutſche Eltern ihre Kinder anders als deutſch erziehen?“ „Reichsdeutſche? Haben B.s es denn verſäumt, zu rechter Zeit ihr erſtes Papier . zunehmen? (Während des Krieges ging das nicht mehr.) „Soviel ich weiß, iſt es nie ihre Abſicht geweſen, Amerikaner zu werden.“ Frau N. N. richtet ſich auf. Das amerikaniſche Geſicht iſt längit- da. Oer Türmer XXIII, 8 8

106 Die Deutfcamerltaner und wir

„Sie follten jedenfalls die Abſicht haben. Wenn man lange Jahre in diefem Land lebt und feine Vorteile genießt, ſoll man auch Bürger werden.“

Die alte Geſchichte! Zum wievielten Male ſetze ich der Sache wegen jetzt mit ſehr viel mehr Ruhe als vor 7, 8 Jahren auseinander, warum ich es nicht für nötig, ja unter Umſtänden für unehrenhaft halte, ſelbſt bei langjährigem Aufenthalt in einem Land deffen Bürger zu werden.

„Wir genießen doch nicht nur die Vorteile des Landes, ſondern geben ihm auch unfre Arbeit, unſer Wiſſen und verbrauchen unſer Geld hier. Wie viele amerikaniſche Zahnärzte z. B. leben in Deutſchland und denken nicht daran, Deutſche zu werden, noch denkt Deutſch⸗ land daran, ſie dazu zu bewegen.“

„Wir ſind ja auch hier nicht Deutſchland. Wir haben hier ganz andere Verhältniſſe uſw.“

Und das ift richtig. Amerika mit feiner Einwanderung aus aller Herren Länder mußte das Problem der Bürgerſchaft anders auffaſſen und anfaſſen als wir. Ob es nun richtig geht oder falſch —: jedenfalls gibt es keine deutſchen Maßſtäbe für drüben. Ebenſowenig freilich iſt der Amerikaner berechtigt, wie wir es in unendlichen Abwandlungen hörten, zu ſagen: „Wenn man es in Deutſchland machte wie wir uſw.“ Der Fehler liegt alfo auf beiden Seiten. Aber in der klaren Erkenntnis der Fehler nähert man ſich ſchon der Behandlung und möglichen Löſung der eigentlichen Frage: was fangen wir nun mit den Deutſchamerikanern an und ſie mit uns?

Was wir voneinander erwartet und verlangt haben, ſtimmt nicht, hat auch nie geſtimmt, obgleich es vor dem Kriege für viele oberflächliche Beobachter danach ausſah. Wir im Bater- land dachten, drüben verſprengte, nach deutſchem Geiſtesleben hungernde Volksgenoſſen mit deutſcher Kultur beglücken zu müſſen. Die aus deutſchem Stamm in der „neuen Welt“ glaub- ten, ihren zurückgebliebenen Brüdern Demokratie, Freiheit, Großzügigkeit vermitteln zu ſollen. Beide erwarteten voneinander Verſtändnis für diefe ihre Ideen und Veſtrebungen und ver- langten Treue und Dankbarkeit. Und das wäre ſchließlich auch das Natürlichite in der Welt und könnte einen idealen Austauſch und Ausgleich geben.

Wir müſſen es beiderſeits aufgeben, einander anzuprahlen oder abzukanzeln und zwiſchendurch in aufflammender Brüderlichkeit zu umarmen. Solange wir Oeutſchen nicht nüchtern und würdig fein können in Urteil und Behandlung anderer Völker, ſchwanken wir mit unſrer Geſchichte ruhig weiter wie bisher himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt. So- lange wir die Oeutſchamerikaner nicht in aller Klarheit aus ihrer Veſonderheit heraus he- trachten lernen, kommen wir zu keinem richtigen Standpunkt ihnen gegenüber. Mögen wir dann vernünftige Kritik üben, uns auch energiſch gegen falſche Auffaſſungen oder Zumutungen ihrerſeits wehren, wie ſie das Recht ebenſo gegen uns haben. Wir müſſen uns aber zunächſt einmal in klarer Weiſe trennen, um danach auf neuer Grundlage ſo viel Gemeinſames zu pflegen wie möglich.

Die Deutfchamerifaner find verfchieden genug von den Engliſch- Amerikanern oder allen den übrigen Bindeſtrichlern. Sie werden uns ſtets näher bleiben. Aber fie ſtehen außen. Wenn wir damit ſcharf und klar gerechnet hätten, wäre es uns und ihnen beſſer gegangen.

Vielleicht klingt das alles ein wenig hart für die treuen Helfer drüben, die Tauſende von Deutjchamerifanern, die jetzt jahrelang unermüdlich für das alte Vaterland gewirkt und alle die ſchweren an ſie geſtellten Aufgaben ſo tapfer erfüllt haben. Die Einſichtigen aber wiſſen ſelber, wie es ſteht und wie es gemeint iſt. Klarheit über Tatſachen iſt im Grunde das Liebevollſte, was es gibt An der Entwicklung der Deutſchamerikaner im allgemeinen läßt ſich nichts mehr ändern. Wir Deutſchen werden gut daran tun, unfre Kraft geſammelt und geſchloſſen zu halten und uns aus eigenem Volk und Boden erneuernden Erſatz zu ſchaffen.

Toni Harten-Hoencke n

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Die dier derofſentlichten, dem freien Meimingsausꝛauſch dienenden Einſendungen jind unabdãngig vorn Standpunkte des Herausgebers

National oder ÄÜbernational?

ach einer Predigt von Pfarrer X. hatte ich eine Ausſprache mit ihm, da er gehört ZU hatte, daß ich anderer Meinung fei über feine darin ausgeſprochene Anficht. 2 Er ſagte etwa: Wir Oeutſche ſollten uns nicht auflehnen gegen das uns von den Feinden auferlegte Joch; erſtens hätte es keinen Sinn, da wir ja machtlos ſeien (das iſt natürlich richtig) und dann ſei es einfach der uns von Gott auferlegte Opfergang, den wir ſchweigend und duldend antreten müßten; Gott ſelbſt habe uns ja kurz vor dem Sieg das Schwert aus der Hand geriſſen! (Gegen dies letztere könnte man freilich einwenden: Nein, wir waren nicht „getreu bis an den Tod“, ließen die Waffen fallen, als es ans „Letzte“ ging, drum konnten wir auch die Siegeskrone nicht. erreichen.) Wir ſollten auch nie wieder nach äußerer Macht ſtreben, ſondern nur noch nach Verinnerlichung, da darin unſere Sendung beſtünde.

Kann das nun richtig fein? Darf man von einem ganzen Volk als bewußte Tat verlangen, wozu immer nur die einzelnen reif und fähig find? Und wird eine ſolche Unterwerfung eines ganzen Volkes, ein ſolches doch erzwungenes Opfer und infolgedeſſen eine innere Unwahrheit nicht viel eher Schlappheit, Feigheit und Ehrloſigkeit im Gefolge haben, wie es ſich auch ſchon bei uns zeigte ſtatt Verinnerlichung?

Clauſewitz ſagt: Eine feige Unterwerfung eines Volkes, das nicht bis ans Letzte ging, wirkt wie Gift zerſetzend in deſſen Adern durch viele Generationen. Und hat nicht Paul Ernſt recht, der kürzlich im „Gewiſſen“ ſagte: Nur die Reifen werden beffer durch Unglück und Niederlagen, die Gemeinen (Kleinen) aber ſchlechter —? Kann und darf ein ganzes Volk ſich nur Verinnerlichung als Ziel ſetzen? Muß es nicht, um kräftig und lebensvoll zu bleiben, auch nach außen hin gedeihen und wachſen wollen? Wird es nicht zugrunde gehen, wenn es kein Ziel des äußern Hochkommens hat, und heißt es nicht lähmend auf das Volk wirken, wenn man es abhält, alle ſeine Kräfte anzuſtrengen, um wieder hochzukommen?

Wird ein guter Familienvater, auch wenn er noch ſo ſehr davon durchdrungen iſt, daß die Seelen feiner Kinder das Wichtigſte find, nicht ihnen trotzdem auch ein irdiſches Haus bauen? Dürfen und müffen wir dieſen gefunden Gedanken des Wachſen- und Blühenwollens, auch nach außen, nicht auch auf das Volk anwenden, ſtatt immer gleich von „Weltmachtgedanken“ verwerfend zu ſprechen? |

Pfarrer X. ſagt mir noch, er habe ſich allerdings in ſehr ſchweren Kämpfen zum übernationalen Denken durchgerungen. Sollte uns da nicht Fichte ein beſſeres Vorbild fein, der fih in den Zeiten von Oeutſchlands tiefſter Erniedrigung vom Kosmopoliten zum nationalen Oenker gewandelt und dieſe Wandlung nicht als eine Rüdwärts-, ſondern als eine Aufwärtsentwicklung anſah?

Johannes Müller ſagte einmal das gute Wort: Nach dem e kommt erft fein Volk und dann erſt die Menſchheit, ſonſt überfpringt er eine Stufe. Und dies Wort half ſchon vielen einen richtigen Standpunkt gewinnen. J. M.

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Eine neue Art Literaturgeſchichte

nſere Literaturgeſchichten find Geſchmacks- Urteile ihrer Herausgeber. Sie geben © alfo, mit Ausnahme der kurzen Angaben über Leben und Buchtitel, keine ob-

Niettiven, ſondern ſubjektive Werte. Ze nach dem Urteilsvermögen ihrer Heraus- geber iſt demnach ihr Wert höchſt verſchieden, und wir haben törichte und kluge, verärgerte und begeiſterte, kurz- und langlebige. Aber auch die letztgenannten haben nur ein kurzes Leben und müſſen nicht nur der Nachträge wegen, die den inzwiſchen aufgetauchten Sternen gelten, ſondern vor allem auch wegen des dauernden Geſchmackswandels ihrer Herausgeber und der Leſerſchaft bei jeder neuen Ausgabe umgearbeitet werden. Es wird keinem verſtändigen Menſchen einfallen, ihren oft außerordentlich hohen Wert herabſetzen oder ihren Nutzen, ja ihre Notwendigkeit beſtreiten zu wollen. Der Gebildete macht bei ihrer Benutzung ſchon von ſelber die Abſtriche, die ihm nötig ſcheinen, um ein ſeiner Überzeugung nach objektives Urteil zu erhalten.

Aber fie haben einen tiefgehenden Mangel, der zunächſt am Beiſpiel der auffallenden Neu-Erſcheinung aufgezeigt werden foll. Nehmen wir an, ein Dichter „entdeckt“ irgend- eine neue Art des Vers-Aufbaus, er ſchreibt etwa die Worte feiner Gedichte mit lauter Groß- buchſtaben und ſetzt den Reim ſtatt ans Ende des Verſes an den Anfang. Niemand, der die zeitgenöſſiſche, auf das Verblüffen ausgehende Neigung aller Kunſtbetätigungen verfolgt, wird leugnen, daß ſo etwas jeden Tag auftauchen kann. Wenn dieſer ausgedachte Fall ein— tritt, und der Dichter nur folgerichtig zehn Jahre lang bei ſeiner Narrheit bleibt, ſo kann es gar nicht ausbleiben, daß er zunächſt wenige und dann mehr Nachfolger findet. Und auch das iſt in Deutſchland ſelbſtverſtändlich, daß er Gelehrte findet, die in fremdwortſeligen und von dunkelen Worten ſtarrenden Aufſätzen dieſe neue Dichtung als die große Erfüllung preiſen. Immer wieder wird die, von der Angſt rückſtändig zu ſcheinen gejagte Leſerſchaft in die neue Lehre „eingeführt“, und je verkrampfter die ſchwulſtigen Sätze der Propheten, je unſinniger die Wortbreie des Dichters ſind, um ſo eſoteriſcher leuchten die feierlichen Geſichter der Kenner. Nirgends dringt die Mode ins Volk, keinem Leidenden trocknet fie die Träne, keinem Fröh- lichen entbindet ſie die Seligkeit ſeiner Seele, kein wandernder Student ſingt das Zeug, es iſt lediglich für einen kleinen Kreis da, und zwar für einen Kreis von Feinſchmeckern, die nach Ablauf der zehn Jahre ebenſo gierig eine neue Mode aufnehmen. Man wird zugeben müſſen, daß wir ähnliche Erſcheinungen gehabt haben und noch haben.

Keine Literaturgeſchichte, auch die ernſt zu nehmende nicht, kommt um die Auffallende Neu-Erſcheinung herum. Und da diefe fih nicht in den Rahmen der gerubigen und ge ſunden Entwicklung einfügt, ſo muß ein beſonderes neues Kapitel ihretwegen eingebaut werden. Nun wird den Gründen nachgeforſcht, die zu dieſer Seltſamheit möglicherweiſe die Erklärung geben könnten, man gräbt in der Geſchichte des Schrifttums nach und entdeckt natürlich jedes- mal „Vorläufer“, um vollſtändig zu ſein, müſſen die Propheten des neuen Lichtes genannt

Eine neue Art Lteraturgeſchlchte £ 109

und ihre orphiſchen Deutungen angezogen werden, müſſen die Schüler aufgeführt, vielleicht auch die (felten fehlende!) Zeitſchrift beſprochen werden.

Und fo hat ſich die Auffallende Neu-Erſcheinung ſchließlich einen breiten Platz in allen Literaturgeſchichten erzwungen, lediglich auf Grund eines pſychologiſchen Geſetzes, das all dieſem zugrunde liegt. Scheinbar gleichberechtigt wenn der Schreiber die Mode auch noch fo lebhaft ablehnt —, ſteht die eitele Narrheit weniger Dutzend Aleiblades- Naturen neben der ſtillen großen Kunſt der Zeitgenoſſen verzeichnet. Wer aufmerkſam Literatur- geſchichten der letzten 20 Jahre lieſt, wird um Belege kaum in Verlegenheit kommen.

Dies Beiſpiel der auffallenden Neu-Erſcheinung zeigt alfo, wie das Wert- Urteil des Schrifttum-Darſtellers beinahe gegen ſeinen Willen umgebogen werden kann ins objektiv Unwahre. Denn es foll fih ja in unſerem Beiſpiel nicht um eine Entwicklung der lebendigen Dichtung, ſondern um eine Verblüffungs-Mode einzelner Verſtiegener handeln, an der nicht nur das Volk, ſondern auch alle großen Schaffenden der Zeit in freundlicher Nicht- achtung vorübergegangen find. Und die nach weiteren zehn Jahren ohne irgendwelche Spuren hinterlaſſen zu haben vergeſſen iſt. Die unechte Art, die ſich nicht fortpflanzen konnte und nur eine krankhafte Zufallsbildung war, iſt von den Literaturgeſchichten jahrelang verkannt und als neu gefundene neben die lebendigen echten Arten geſtellt worden.

Oas Volk in ſeiner Mehrzahl iſt ganz gewiß nicht fähig, gute und ſchlechte Kunſt zu unterſcheiden, ja, es iſt vielleicht nicht einmal fähig, gute Kunſt wirklich reſtlos zu genießen. Immerhin hat es aber doch einen gewiſſen Inſtinkt für das Geſundwüchſige und lehnt wider- natürlich Entwickeltes ab. Mindeſtens aber ift fein Urteil in höchſtem Maße wertvoll für die Geſchichte feiner eigenen inneren Entwicklung! Ich glaube deshalb, daß neben den eingangs erwähnten Literaturgeſchichten, die uns den Geſchmack ihrer Herausgeber bieten, auch eine neue Art dringend nötig wäre, die uns den Geſchmack des ee der breiten Maſſe der mehr oder minder Gebildeten zeigt.

Bft es nicht ein Unding, daß unfere Literaturgeſchichten, die den wii Tauſend Käufern und Leſern irgendeiner fih literariſch gebärdenden Mode gewichtige Kapitel widmen, bie am meiſten geleſenen Schriftſteller unſerer Tage überhaupt nicht einmal mit Namen nennen! Wer es nicht glaubt, der fuhe einmal Courths- Mahler oder Wothe oder Eſchſtruth oder =. im Namensverzeichnis irgendeines dieſer Werke!

l Diefe Schriftſteller wären nicht literariſch wertvoll genug?

Wie würden Sie über eine Botanik denken, die das Gänſeblümchen als zu gemein und die Erle als forſtlich zu wertlos nicht behandelte? Würden wir uns nicht mit Recht einen Gelehrten verbitten, der uns eine Ausleſe von Pflanzen nach ſeinem Geſchmack als Botanik darböte!l Nicht viel anders aber ift dies hier. Das Schrifttum ift eine Geſamtheit, in der feine und vielfältige Übergänge vom Wertvollen zum Wertloſen, vom Kleinen zum Großen vorhanden ſind, und man kann aus dieſer organiſchen Maſſe, in der jede Zelle die andere trägt, jede von jeder getragen wird, nur gewaltſam Teile herauslöſen und als „wichtig“ beſprechen. Im Ge- wordenen ſollte es für die Wiſſenſchaft keine Wert-Urteile geben, „was iſt, iſt vernünftig“, lehrte Hegel, und das Schlechte hat ſeinen „zureichenden Grund“ nicht weniger als das Gute. In dieſer Geſamtheit ift, entwicklungsgeſchichtlich geſprochen, jeder Teil gleichberechtigt dem anderen.

Eine wiſſenſchaftliche Darſtellung dieſer Seſamtheit kann gleichzeitig eine Geſchmacks⸗ ausleſe geben, irgendwie notwendig iſt das jedoch keineswegs. Und wenn ſich die Arbeit zur Aufgabe ſtellt, neben den Arten die Menge des Vorkommens, neben der Würdigung durch den Verfaſſer die Aufnahme im Volk, neben den Inhalten auch die Auflagenzahlen zu nennen, fo wäre das, wie ich glaube, ein wiſſenſchaftlicher Gedanke von gewiſſem Wert.

Dieſem Gedanken möchte ich hier Schritt machen. Zunächſt wollen wir höchſt literariſchen Leute doch recht vorſichtig in dem Glauben an die Unfehlbarkeit unſerer Wert-Urteile fein. In

110 Ene neue Art Literaturgeſchichte

einer pikanten kleinen Zeitſchrift höchſter geiſtiger Prägung finde ich einige der eben genannten Namen faſt in jeder Nummer mit allerböſeſter Verachtung gebrandmarkt. Und neulich ſtand dort der Satz: „Sie fragen, ob ich von den Genannten einmal etwas geleſen hätte —, Gott ſoll mich davor bewahren!“ Aber ſie als Peſt des Schrifttums hinſtellen ja, davor bewahrte den Herausgeber der Gott der Ehrlichkeit nicht!

Nun, ich habe einige Bände dieſer „Peſt“ geleſen und kann verſichern, daß ſie recht mäßig waren, aber doch eigentlich mehr unbedeutend als böſe, ſchlecht, geſchmacksverderbend. Mit allem Gewicht meines Urteils aber und im Bewußtſein, damit heute etwas Ungeheuerliches auszuſprechen, will ich dies ſagen: Sie waren an dichteriſchem Wert durchaus nicht ge- ringer als ein Dutzend der allergeprieſenſten Modegötter des literariſchen Marktes! Sie ſind nur unliterariſch, ſie wirken ein wenig unbeholfen, ſie ſind etwas Mode von vorgeſtern. Sie machen die Verkrampfungen und gequälten Wortſtellungen nicht mit, die heute unbedingt dazu gehören. Sie haben die alte Dichterfreude am Fabulieren, am JIntereſſanten beibehalten, und ſie lieben es, einen Knoten nicht nur zu ſchürzen, ſondern auch freundlich zu löſen. Das hat gewiß nichts mit ihrem Wert zu tun, ebenſo gewiß darf ihnen aber daraus doch auch kein Unwert zugeſprochen werden.

Aber dies iſt kein weſentlicher Teil meiner Darlegungen, und ich erwähne es nur, um die Allzuliterariſchen irrezumachen im Glauben an ihren Geſchmack. Wer die Geſchichte der literariſchen Würdigung etwa Shakeſpeares im Laufe der Jahrhunderte kennt, wird ohnehin zur Beſcheidung neigen. Wenn aber ſelbſt ein ſo überragendes Genie von ganzen Geſchlechtern überſehen werden konnte, wie ſchwierig mag es dann ſein, dieſe unbeträchtlichen Leutchen mit ihrer unglaublich fruchtbaren Tätigkeit zu beurteilen!

Eine Geſchichte des Schrifttums, wie ich ſie hier fordere, hätte als Maßſtab die Volksgeltung zu nehmen, es wäre alfo eigentlich eine Geſchichte der Auflagenzahlen. Hat man nie daran gedacht, etwa die Volksgeltung Shakeſpeares graphiſch darzuſtellen durch eine Linie, die durch ein Syſtem anſteigt und abfällt, deffen Stufen je ein Tauſend Neu- auflage bedeutet? Mich will bedünken, daß das wertvoller wäre als manche gelehrte Unter- ſuchung über die Druckfehler-Unterſchiede der einzelnen Folio-Ausgaben. Vielleicht wäre es auch möglich, die Zahl der Aufführungen in gewiſſen Zeitabſchnitten feſtzuſtellen und auf dem gleichen Blatte die Zahlen der Aufführungen etwa Goethes und Schillers, ebenfalls in Linien neben den Shakeſpeareſchen herlaufen zu laſſen. Und wie wertvoll müßte etwa ein Blatt fein, das ähnlich die Auflagenzahlen der geleſenſten Romane von 1800—1832, die der Gedichtbände von 1880 1920 aufzeichnete! Ich glaube, daß manche dieſer Seiten geradezu Offenbarungen bringen könnten über die Entwicklung des Schrifttums und der Volts- bildung.

Selbſtverſtändlich nicht über den literariſchen Wert. Ich wiederhole das, um nicht etwa den Gedanken aufkommen zu laffen, als ob dieſer neue Ausbau der Literaturgeſchichte die bis- herigen überflüffig machen oder irgendwie erſetzen könnte. Bei manchen Dichtern wird geradezu die Geſchichte ihrer Auflagen eine Darſtellung des Ungeſchmacks ihrer zeitgenöſſiſchen Lefer- ſchaft ſein, wie denn überhaupt dieſe ganze Wiſſenſchaft durchaus ein doppeltes Geſicht zeigt, ein literarhiſtoriſches und ein volkspſychologiſches.

Nun würde aber die Unterſuchung nicht bei der gewiß oft mühſam feſtzuſtellenden Auf- lagenzahl und ihrer bildlichen Darſtellung haltmachen dürfen. Wichtiger noch ift es, die Ur- ſachen aufzudecken, weshalb das Volk in ſeiner Geſamtheit heute einen Dichter aufnimmt, den es vor einigen Jahrzehnten ablehnte, heute einen ablehnt, der der Liebling ihrer Eltern war. Mannigfache Einflüffe können da mitſpielen, und mit der Wendung vom „Wandel des Ge- ſchmackes“ ift es nicht getan. Vielleicht hat ein anderer Dichter als Vermittler die Brücke zu dieſer ſchwierigen Kunſt geſchlagen, vielleicht ein Kritiker fih dauernd und laut für ihn ein- geſetzt. Für dieſen hat eine Zeitſchrift, eine Geſellſchaft geworben, jenem hat ein verlorener

Eine neue Art Literaturgefchichte | 111

Krieg oder der Umſturz den Boden der Wirkungsmöglichkeit entzogen, einem dritten wurde es zum Verhängnis, daß der Fürſt ihn bevorzugte, ein vierter iſt gar durch eine Oper über ihn auf der Leiter der Volksgeltung wieder hinaufgeſtiegen. Oft wird auch der Titel eines Buches ſtark mitbeſtimmend fein oder die Schlüpfrigkeit des Inhalts oder die Langweiligkeit der Fabel. i l

a Oiefer Literaturgeſchichte wird es nicht unterlaufen, daß fie etwa das weitaus ver- breitetſte Volksbuch überhaupt nicht kennt, wie das mit dem „Münchhauſen“ tatſächlich in einer ganzen Reihe der bisherigen der Fall ift. Sie wird Beſcheid um den Geſchmack des Volkes wiſſen wie ein Leihbibliothekar. Sie wird den ungeheueren Anteil der Jugendlichen am Schrifttum, der ſich etwa in der Verbreitung der Grimmſchen Märchen ausſpricht, auf- decken und nicht wie die bisherigen die Kinderbücher als unliterariſch beiſeite ſchieben. Sie wird aufräumen mit den Modegötzen, die mit Lärm ihre ſpärlichen Auflagen vertreiben. Sie wird aufzeigen, wie ungeheuer lebendig noch heute die (ach, fo totgeſchlagenen !) Geibel und Scheffel und Schiller ſind, während von den hochgelobten Dichtern der Moderne nicht ein Lied auf Kneipen und Wanderfahrten geſungen wird, nicht ein Zitat im Volke lebendig iſt. Sie wird die Überlegenheit der natürlichen, der heiteren und der erhebenden Kunſt (Baum- bach, Wilh. Buſch, Schiller) über die gekünſtelte, unbefriedigende für die Seele des Volkes in überwältigenden Oarſtellungen zur Anſchauung bringen. Und ſie wird überhaupt erſt eine Scheidung zwiſchen der lebendigen, d. h. der von den Gebildeten und Halbgebildeten des Volkes in ihrer Mehrzahl aufgenommenen, und der toten Kunſt, d. h. der von literariſchen Kakteenzüuͤchtern gepflegten, möglich machen. Wie vieles wird uns durch eine ſolche Darſtellung unbeträchtlich werden, was heute auch der Ablehnende nur mit würdiger Vorſicht ablehnen darf, wie manches wird wertvoll werden müffen durch feine Wirkung.

Denn das möchte ich zum Schluß ausſprechen: Dichter, die eine fo tiefe und breite Wirkung ausübten, wie etwa Karl May oder Julius Wolff, kann man doch nicht mit den billigen Spottworten „Indianerſchmöker“ oder „Butzenſchelbenromantiker!“ abtun. Oer- artige Urteile mag die literariſche Wiſſenſchaft den politiſch-literariſchen Parteien und Cliquen überlaſſen, die ein Intereſſe am Totſchlag der genannten haben. Wich dünkt eine ſtarke Wir- kung immer die Folge einer ſtarken Urſache, und eine ſolche in der Kunſt dieſer Männer oder in der Zeitſtimmung der damaligen Leſerſchaft aufzudecken, kann nur bereichernde Erkenntniſſe bringen. Vielleicht iſt das Volk gar nicht ſo dumm, wie die nichtgekauften Dichter glauben!

Der übelſte Geſchmacksverderber der Leſerſchaft zu Goethes Zeiten war Kotzebue, er war gewiß literariſch ebenſo minderwertig, ja vielleicht noch tieferſtehend, als unſere Biel- ſchreiber. Daß Goethe ihn aufs lebhafte bekämpfte, verſteht ſich von ſelber. Und doch lehnt er das Schelten einiger literariſchen Zünglinge auf dieſen Mann kühl ab: „Nur nicht gleich das Kind mit dem Bade ausgeſchüttet!“ Und zu Eckermann ſagt er über Kotzebue die höchſt merkwürdigen Worte, die ich der Lite raturgeſchichte der Volksgeltung als Leitwort vorſetzen möchte: Was zwanzig Jahre ſich erhält und die Neigung des Volkes hat, das muß ſchon etwas fein! | Ich habe ein tiefes Mißtrauen gegen die berühmte Nachwelt, die den von feiner Zeit völlig verkannten Dichter plötzlich ausgräbt und in leidenſchaftlicher Liebe lieſt. Mir iſt kein Beiſpiel aus der Geſchichte des Schrifttums bekannt, daß ein Oichter, der ſeiner Zeit gar nichts zu geben hatte, nach 100 Jahren allgemein geleſen worden wäre. Dazu veralten ſchon die Sprache und die äußeren Formen der Dichtung viel zu ſchnell. Ich habe im Gegenteil dies gefunden: Jeder Dichter, den die Nachwelt als ewig pries, hatte auch ſchon bei Lebzeiten einen ſtarken Widerhall in feinem Volke. Wie ſollte es auch anders fein, wenn Kunſt etwas Lebendiges und auch der Künſtler ein im tiefſten ſeinem Volke eng verbundener lebendiger Menſch, ja, nur die Steigerung aller Eigenſchaften ſeiner Zeit und ſeines Volkes iſt! Wer ſeiner Zeit nichts gibt, wird auch der Nachwelt nichts zu ſagen haben, und wer das Ohr ſeines

112 Allerlei Runſtgaben

Volkes bei Lebzeiten nicht hat, wird, wenn man ihn einmal wieder entdeckt, immer nur eine Kurioſität fein. Gene vielgeprieſene Nachwelt wird ebenſo ungerecht fein wie die Gegenwart, und wird ihre Nöte und Freuden, ihre Kunſt und ihre Dichtung fo haufenweis haben, daß fie wohl zum Ausgraben Leute haben wird denn es gibt immer Tore von Beruf aber ganz gewiß keine überflüſſige Zeit und Luſt und Fähigkeit zum Lebendigmachen!

So ſtellt ſich mir alſo der berüchtigte „Publikums-Erfolg“, den alle Erfolgloſen ſo laut beſpötteln und fo leidenſchaftlich insgeheim erſehnen, doch ein wenig wertvoller dar, als er ge meinhin auch von der literariſchen Wiſſenſchaft gewertet wird. Wohl hat das Volk eine Menge Lieblinge, die vor dem Urteil der Gebildeten und der Nachwelt keinen Beitand haben das Volk iſt unerſättlich in ſeinem Leſehunger, und da es ſeinen guten Magen kennt, kann es ſich gelegentlich auch geringwertige Nahrung in Mengen zumuten. Aber es lehnt unerbittlich das Widernatürliche, das Geſuchte, das Verſtiegene, das Unorganiſche ab.

Und es liebt neben den Unwürdigen in aller Naivität gleichzeitig auch jedesmal die großen Dichter ſeiner Zeit!

Von dieſem Geſichtspunkte aus würde eine literaturgeſchichtliche Darftellung, wie ich ſie oben vorſchlug, doch auch eine wertvolle Ergänzung der bisherigen in dem Sinne ſein, daß ſich Urteile dauernden Wertes aus ihr ergeben müſſen.

Börries, Freiherr von Münchhauſen

Allerlei Kunſtgaben

N legt uns ein annoch unbekannter 1 Namens Paul Jauch allerliebſte „Zwölf Zeichnungen zu Ludwig Finckhs Jakobsleiter“ (Stuttgart, Deutſche Derlagsanitalt) für den billigen Preis von nur 10 Mark zu Beurteilung vor. Man vergißt das ae vor dieſen duftigen, verſonnenen Blättern aus der ſchwäbiſchen Landſchaft. Finckh leitet ſein kurzes Vorwort mit den Sätzen ein: „daß man mit dem ſchwarzen Bleiſtift Luft und Farbe wiedergeben kann, iſt keine neue Entdeckung; daß man aber mit einem Bleiſtift malt, das iſt Paul Jauchs Eigentum“. Wir wollen dieſes „malt“ nicht zu eng faſſen; man könnte vielleicht beſſer ſagen: daß man mit dem Bleiſtift beſeelt und durchſonnt, daß man Fernduft um die Berge ebenſo einfängt wie die ſtille Seele einiger Lilien oder einer Fenſter⸗ ecke, das verſteht dieſer feine Künſtler, der nur mit einer Reihe von Bleiſtiften aller Härte grade arbeitet. Ein Landsmann Mörites ſtrahlt hier feine goldklare Seele aus, weltfern, ver träumt, wie dieſe zarte Stimmung über der Sommerlandſchaft, deren Wipfel und Blumen er fo leicht und licht mit dem durchgeiſtigten Gelände vermählt.

Um die kräftigen, ja leidenſchaftlichen Zeichnungen „Leiden Chrifti“ von Peter W arth (München, Patmosverlag, 13 M) zu würdigen, müßte man fidh über die Auffaſſung der Geſtalt Chriſti verſtändigen, worüber eben die inneren Vorſtellungen auseinandergehen. Wir über- ſehen nicht das gleichſam Oramatiſche dieſer kraftvoll angepackten Geſtalten und Vorgänge, wenn uns auch diefe Menſchen um den Heiland her oft gar zu vertiert, zu verbrecherhaft ab- ſtoßen. Die Ausdruckskraft des Künſtlers hat ſich an einem Dürer und Grünewald geübt; und diefe einfach-kräftige Schwarzweißkunſt hilft der glutvollen Innerlichkeit nach. Doch das Grauen und die Verrenkung des dramatiſch bewegten Pathos überwiegt zu febr die ſieghaft leuchtende Ruhe, die vom Geſicht des Heilands ausgehen und die Gegenkraft bilden müßte.

Aber wer kann das heute? Der Furche-Verlag (Berlin 1921) ſchenkt uns ein febr hübſches Werk über Wilhelm Steinhauſen mit 36 ein- und mehrfarbigen Bildtafeln nach teilweiſe

bisher unveröffentlichten Gemälden (Halbleinenband 60 K). Oieſer greife, mit Hans Thoma.

Allerlei Kunſtgaben 113

befreundete und geijtverwandte Maler hat fih öfters der Chriſtusgeſtalt gewidmet. Man findet in dieſer vorliegenden Kunſtgabe eine Reihe von Motiven aus der heiligen Geſchichte. Es ift ſeltſam auch hierbei, wie ſich das eigene Ich in der Geſtaltung der Heilandszüge wider- ſpiegelt nicht nur bei Albrecht Dürer. Zeder ſucht hier unwillkürlich auf den Grund feiner Seele zu tauchen und fein Beftes veredelt und durchgeiſtigt wiederzugeben oder zum über- perſönlichen Typus zu erheben. Steinhauſens Selbſtbildnis hat einen feinen Leidenszug: dieſen Zug findet man auch in Miene und Haltung feines Heilands. Niemand wird die Innig⸗ keit und Seelenhaftigkeit dieſer künſtleriſchen Selbſtbekenntniſſe beſtreiten; doch möchte man Steinhauſens einſamer Herzensfrömmigkeit etwas von der Kraft und Gefundheit unfres zu- gleich gemeinſchaftsfrohen großen Johann Sebaſtian Bach hinzuwünſchen. Mit unbeeinträchtig⸗ ter Freude läßt man immer wieder des edlen Künſtlers Familienbildniſſe, diefe läßlich- ruhigen, in ſich geſchloſſenen Köpfe und Geſichter, auf ſich wirken; und ſelbſt im farbigen Nachdruck kommen hier allerlei Landſchaften zu eindrucksvoller Wirkung. Zu alledem hat Dr Oskar Beyer eine ebenſo ausführliche wie liebevolle Einführung gegeben, wobei es zu begrüßen iſt, daß er grade dem Künftler und feinen Ausdrudsmitteln beſondre Aufmerkſamkeit zugewendet hat. Es ift eine gute, dreiteilige Auswahl (Bildniſſe, bibliſche Stoffe, Naturbilder); und die technifche Wiedergabe dieſer tiefernſten Kunſt ift äußerſt lobenswert.

Ganz in das niederdeutſche Gelände, an die frieſiſch-ditbmariſche Waſſerkante, verſetzt uns Guftav Frenſſen mit feinem Werk über Jakob Alberts (Berlin, Groteſcher Verlag 1920, Halbleinenband 50 M). Das ift niederdeutſche Kunſt, die fih über Düſſeldorf, München und Paris erdkräftig zu fid) felber heimgefunden hat. Der Künſtler, an der Mündung der Eider geboren, beſonders von der großen, ſtattlichen Mutter mit prachtvollem Erbteil ausgeſtattet, erfährt hier von dem bekannten Erzähler eine fein charakteriſierende Darſtellung, die ſchon durch ſich felber feſſelt. Eingeführt hat ſich der Eiderftedter Maler einſt durch fein Gemälde „Beichte auf Hallig Oland“, das bei der erſten Sezeſſion jener ſogenannten Vereinigung der Elf (worunter Max Liebermann, Ludwig von Hofmann, Leiſtikow, Klinger, Skarbina) ver- treten war. Man empfand fie natürlich zunächſt als trocken; doch zwei Jahre fpäter ſchon ſagte derſelbe Kritiker, es wäre merkwürdig, das Bild bekäme etwas Stilles, Vornehmes, Altes, wie eine edle Patina. Dies könnte von dem ganzen Schaffen dieſes Nordſeekünſtlers gelten, von den fatten ſtillen Farben feiner Innenbilder oder Moorlandſchaften wie von den Bild- niſſen dieſer herben Geſichter mit den ſchmalen, geſchloſſenen Lippen, dieſer Halligbewohner, denen man die Schweigſamkeit und Schwerblütigkeit von weitem ſchon anſleht. Was für ein kräftiges, im Kampfe gegen die Natur zäh beharrendes Volkstum! Man mag einerſeits an Leibl, andrerſeits an die Holländer denken, doch Alberts iſt ein Eigener, „ein Mann von guter, nordiſcher Art, ehrlich, friſch, klug und demütig vor dem, was wir nicht wiſſen können“.

Derfelbe Verlag veröffentlicht faſt gleichzeitig die Gabe eines meiſterhaften Kunſt- ſchriftſtellers: Henry Thode, der im vorigen Fahre zu früh verſtorben ift, hat „Paul Thiem und ſeine Kunſt“, als Beitrag zur Deutung des Problems deutſcher Phantaſtik und deutſchen Naturalismus, ausführlich gewürdigt (Berlin, Grote 1921, geb. 60 K). Haben wir es bei Alberts weſentlich mit niederdeutſchen Stoffen und Geſtalten zu tun, ſo begegnen ſich in dieſem andren neudeutſchen Vollkuͤnſtler mehrere Strömungen, die zugleich verſchiedene Seiten ſeines Weſens beleuchten. Kaum glaubte man in einer märchenhaften Phantaſie ſein Weſen als mit Böcklin verwandt feſtſtellen zu können, fo ſpringt er uns mit dämoniſchen, humoriſtiſchen und burlesken Gebilden dazwiſchen; und kaum haben wir uns mit dieſer übermütigen maleriſchen Sprache befreundet, ſo taucht unſer Blick in Landſchaften unter, die weiter nichts ſein wollen als hingegebene Freude an Form, Farbe, Stimmung eines beſeelten Stücks Natur. Es ſteckt in dieſem Maler zugleich ein Muſiker und ein Dichter. Sein Sinn für das Unheimliche, für das Heroiſche, für das Komiſche hat fih an der Realität geſchult, uͤberſpringt aber diefe zugleich in uͤbertreibendem Spiel der Einbildungskraft und erzielt nicht nur in der Linienführung,

114 Für und wider die Paſſioneſpiele

ſondern auch im Kolorit eigentümliche Wirkungen. Wir legen auf Thodes Prägung „im- preſſioniſtiſch-phantaſtiſch“ nicht viel Wert; künſtleriſche Individualitäten pflegen ſolche Be- nennungen zu ſprengen. Hier iſt eine ſtarke Perſönlichkeit, die ſich übrigens auch in Dichtungen und äſthetiſchen Betrachtungen geäußert hat; das vorliegende Buch teilt, zwiſchen zahlreichen Bildern, auch Aphorismen und ſonſtige Gedanken reichlich mit. Vei Thodes meiſterhafter Art, ſich in die Seele eines ſchaffenden Menſchen zu verſenken und den Stoff klar zu gliedern, bedarf es über dieſes letzte Werk des hervorragenden Kunſtbetrachters keines befondren Lobes.

Was aber Phantaſtik der Geſtaltung betrifft, ſo kommt doch keiner dieſer Modernen dem Niederländer Peter Brueghel nahe, dem Kurt Pfifter im Inſelberlag eine Ausgabe widmet (mit 78 Vollbildern, in Halbleinen 24 A). Dieſer ältere der bekannten Maler aus dem 16. Jahrhundert im Dorfe Brueghel bei Breda geboren hat einen fo verſchwen— deriſchen Übermut im Erfinden und Geſtalten, daß man aus dem Staunen über ſolche ver- wegene Ausdruckskraft gar nicht herauskommt. Dabei dieſe ſaftige Bauerngeſundheit und ſpaßhafte Vauernderbheit! Er läßt mit überlegenem Humor feine Menſchen tanzen und ſtampfen, eſſen und zechen und freien, vollblütig wie ſie und gleichwohl über ihnen ſtehend, als ob er ſich über dieſes ganze animaliſche Behagen mit philoſophiſchem Ingrimm luſtig machte. Es ift nicht nur Freude am Geſichtsausdruck, den er mit murfiger Charakteriſierungs- kraft herausarbeitet, es ift zugleich Freude am Gewimmel und an deſſen Bändigung und Glic- derung. Er war nach außen „ein ſtiller und vernünftiger Mann, der nicht viel Worte machte“, wie fid Carel van Manders ausdrückt, doch in feiner Phantaſie muß es ſpukhaft genug aus- geſehen haben. Pfiſters gedankenvolle Einleitung, zu febr die ſeeliſche Zwieſpaͤltigkeit betonend, endet in Moll; ſie hätte daneben des Künſtlers Ausdrucksfreudigkeit ſtärker hervorheben können.

Wir werden im nächſten Heft noch auf einige andre ſchöne Gaben hinweiſen.

A n Für und wider die Paſſionsſpiele

> 85 fördert durch den „Bühnenvolksbund“ eine hſittlich und entſchieden religiös Ay gerichtete Vereinigung“ weſentlich wohl katholiſcher Teilnehmer —, tritt zur- A zeit die „Große deutſche Volkspaſſion“ in die breitere Öffentlichkeit. Dies „Unter- nepen oer Herren Faßnacht“ hat den Zweck, das alte Oberammergauer Paſſionsſpiel in allen größeren Städten, ſpäterhin auch in den kleineren zur Aufführung zu bringen. Die Vorbereitungen dazu führen jeweils die Ortsausſchüſſe des genannten Bundes aus. Eben werden hier in Mannheim Vorbereitungen in allergrößtem, an Reinhardt gemahnendem Stile getroffen, um „in beſonders großem und würdigem Rahmen eine Reihe Aufführungen des Paſſionsſpieles zu veranſtalten“. Seit längerer Zeit ſchon dazu berufen, aktuelle Ereigniſſe künſtleriſcher Art breiteren Volksſchichten wobei gar nicht etwa nur an untere Schichten des Volkes gedacht iſt durch Preſſeartikel, Vorträge oder Flugſchriften in ihrer Bedeutung nahe zu bringen und zur rechten Einftellung und Erlebnismöglichkeit Hilfe zu leiſten: ſahen wir uns veranlaßt, auch anläßlich der Aufführung der Paſſionsſpiele eine Einführung in deren Weſen zu geben. Da die Spiele vielerorts noch ftattfinden werden, fo dürfte jene auch für weitere Kreiſe von Intereſſe ſein. Eine kritiſche Betrachtung wird ſich daran anreihen.

Wie hier bei ſtarkem Andrang fo wird auch anderenorts die „Große Deutſche Volkspaſſion“ als „Novität“ angeſehen werden. Und in der Tat handelt es ſich dabei auch um etwas, was in dieſer Art und Weiſe noch nie ſo dargeboten wurde.

Doch nur ſcheinbar ift dies ein Neues. In Wirklichkeit ijt es ja nur Wiederbelebung von etwas ſehr Altem. Neu daran iſt lediglich der Rahmen, innerhalb deſſen ein altes Bild neu erſcheint. Ob dieſer dazu paßt, d. h. wie das Neue die Darbietungsform mit Aus-

Für und wider dle Paffionsfplete | 115

nutzung aller Errungenſchaften moderner Bühnen und Saalkunſt mit dem Inhalt in Ein- klang gebracht wird, der im alten Rahmen früherer Jahrhunderte ſo einzigartig zur Geltung kam, muß die Aufführung erweiſen. Wir wollen uns jedenfalls einmal Weſen und Wirkung der Paſſionsſpiele vergegenwärtigen, um zur rechten Einſtellung ihnen gegenüber zu gelangen. Dies geſchieht am beſten durch einen tieferen Blick in die Geſchichte ihrer Entſtehung und Ent- wicklung. Was wir an klarlegenden Arbeiten darüber haben, find meiſtens größere Werke, die den wenigſten der Leſer zugänglich find, noch auch ihres ſchwierigen Stoffes wie der ge- lehrten Sprache wegen ihnen willkommene Lektüre böten. Es ſei nur erinnert an Autoren wie Milchſack, Lange, Hartmann, an Wundts Ausführungen allgemeinerer Art im 2. Band ſeiner Völkerpſychologle oder an ſolche unſres unvergeßlichen Albrecht Dieterich, des genialen Heidelberger Erforſchers der Entſtehung von Tragödie, Myſterienſpiel u. a. So dürfte eine allgemeinverſtändliche, geſchichtliche Vetrachtung nicht unwillkommen ſein.

Einen gewiſſen Weltruf haben ſich die Oberammergauer Paſſionsſpiele erworben. Sie ſind neben den Brixlegger und Erler Paſſionsſpielen, die jedoch nie zu größerer Bedeutung gelangten, die einzigen, die ſich aus alten Zeiten in das 19. und 20. Jahrhundert herüber⸗ gerettet haben. Ehemals war das anders. Da gab es kaum einen Ort bis in den entlegenſten Waldwinkel hinein —, wo nicht in der Paſſionszeit ſolche Spiele aufgeführt worden wären. Es handelt ſich alſo dabei nicht nur um eine hier oder dort auftretende Erſcheinung (wie man etwa vermuten könnte, wenn man hört und lieſt vom Alsfelder, Heidelberger Splel oder von Oberammergauer, Augsburger, Weilheimer oder Freiburger Texten), ſondern um einen damals faſt überall anzutreffenden „Brauch“, der mehr iſt, als nur das, was man Brauch, Sitte, Mode, Zelterſcheinung zu nennen pflegt.

Wann entſtanden nun dieſe Paſſionsſpiele und wie? Das alteſte uns erhaltene Stück ſtammt aus dem 14. Jahrhundert. Es iſt die ſogenannte Frankfurter Dirigierrolle mit Spiel- anweiſungen und Stichworten der in ihrer Reihenfolge aufgeführten Perſonen, ſamt der vollſtändig erhaltenen Faſſung des Paſſionsſpieles, allerdings aus jpäterer Zeit als der Regie- tert. Gerade dieſer zeigt uns aber, daß es fidh dabei um eine ſchon zur Blüte gekommene Er- ſcheinung handelt. Wo ift ihr Anfang zu ſuchen? Es erhebt fidh für uns die gleiche Frage wie an- geſichts des antiken Dramas. Während aber für die letztere trotz Nietzſche und Dieterich die Antwort immer noch ausſteht, iſt dieſe für die unſre als gegeben zu betrachten. Es iſt erwieſen, daß ſich das Paſſionsſpiel aus dem Kultus des Mittelalters, aus der katholiſchen Meßliturgie heraus entwickelt hat, und zwar aus jener des erſten Oſtertags, die hierfür die nötigen dra- matiſchen Keime enthielt. Seit dem zehnten Jahrhundert läßt fih allgemein der „Brauch“ feſtſtellen, bei der Matutin (Frühgottesdienſt) des Oſterſonntags ein beſonderes Stück einzu- ſchalten, das den Gang der drei Marien zum Grabe und deren Oſtererlebnis dabei zum Inhalt hatte. Es war zunächſt nur für den Vortrag durch Liturg bzw. Rezitator (Evangeliſt) und Chor bzw. zwei Halbchöre in Form von Frage und Antwort beſtimmt. Bald ſchritt man jedoch, ganz und gar darin der Volkseigentümlichkeit, alles zum äußeren Ausdruck, zur Darſtellung zu bringen (Expreſſionismus der Gotik) natürlich Folge leiſtend, dazu, dieſen Einſchub als Szene zu behandeln. Man dramatiſierte ihn. Damit hatte man zugleich auch den erſehnten „frommen Erſatz“ für die von den Prieſtern der Kirche auegetilgten heidniſch-germa— niſchen Frühlingsſpiele. Das bibliſch-chriſtliche Drama, wie es im Paſſionsſpiel in feiner ausgeprägteſten Form vorliegt, nimmt feinen Anfang alfo im 10. Jahrhundert mit der ſzeniſchen Darſtellung des Ganges der drei Frauen zum Grabe Jefu, das in der Kirche hergerichtet war. Dabei wurde von Anbeginn Muſik verwendet zunächſt Geſang, der dem Choralſchatz der Kirche entnommen war. Dann wurde auch Unftrumentalmufit herangezogen, zur Unter- ſtreichung des Charakteriſtiſchen, wie es die Handlung verlangte: Flöten, Poſaunen, Orgel u. a. Damit war zugleich, wie ſpäter bei Bachs Kantaten, der Anfang zum Hinaustreten des Stückes aus der Kirche i in die „Welt“ gegeben und ſeine Erhebung zu einem, vom „eigentlichen“ Kultus

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116 f Für und wider die Paſſtonsſpiele

losgelöſten, ſelbſtändigen Gebilde. Die liturgiſche Szene ward Drama, das urſprünglich kirch⸗ lich fixierte Kultusgebilde ein Kunſtgebilde, freilich eines mit ganz beſonderem Gepräge. Im Kerne kultiſch, war es doch jenſeits von Kirche wie Welt, rein religiös, rein menſchlich— göttlich und damit kosmiſch, wie es das Weſen der großen Kunſt überhaupt iſt. Dies gilt für Frankreich, Italien, England, Holland, Spanien genau fo wie für die deutſchen Lande.

Der Paſſionstext der vier Evangelien bot Möglichkeiten der Dramatiſierung genug; und fo entſtand nach und nach bezeichnenderweiſe der immer größer werdenden, bis zur Prunk- haftigkeit fidh ſteigernden Inſzenierung nach von Frankreich ausgehend das Paſſionsdrama, das die geſamte Leidensgeſchichte Jeju darſtellt. Als wollte die Kirche jener Zeit das zu ſelb— ſtändiger Ausbildung zum Kunſtwerk hinſtrebende Kultusdrama mit aller Gewalt in den Mauern der kirchlichen Regie halten, fo mutet es uns an, wenn wir hören, daß in dieſen alten Spielen die „Kirchenſprache“, d. h. das Lateiniſche herrſchte, und daß der „Prozeß der Umſetzung in die Volksſprache überaus zögernd vor ſich ging“. Langſam erreichte das feiernde Volk, daß an das lateiniſche Spiel eine gereimte ÜUberſetzung in „feiner“ Sprache angefügt wurde. Dieſe wurde ſchließlich zum Mittelpunkt der Aufführung, der fremd empfundene lateiniſche Teil fiel weg. Das Paſſionsſpiel war damit „verweltlicht“. Es wird fortab unter freiem Himmel auf geführt wie einſtens das antike Drama. Damit war weiterer Ausgejtaltung z. B. der Einführung größerer Maſſen, grotesker Geſtalten, analog den antiken Poſſenreißern oder allegorifierender „Moralfiguren“ die Möglichkeit gegeben, aber auch dem Einſchleichen zer— ſtörender, entweihender Elemente. Mehrfach mußte denn auch gegen das „rohe Spiel“, das oft mehr Poſſe denn Paſſionsdrama war, vorgegangen werden. Es war das in den Zeiten, davon weltliche wie kanoniſche Urkunden klagen, daß Volk und Klerus einem unglaublichen Zynismus verfallen waren.

Die Entwicklung, die eingeſetzt hatte, war nicht mehr aufzuhalten. Die Gefahr der Verweltlichung lag in der Heimſzene ſelbſt. H. J. Moſer macht beſonders aufmerkſam auf die „Weltlichkeit der Maria Magdalena, die in Wiener liturg.-lat. Oſterſpielen des 13. Zahr- hunderts (1) ſchon die reinen Operettenſchlager ſingt, und auf die Späße des Salbenkrämers, der den Frauen die Spezereien verkauft“. So bildete ſich das Drama jenſeits der Kirche her- aus. Es verweltlichte ſich raſch, griff nichtbibliſche Stoffe auf. Das Theater forderte ſein Recht und zog nun ſeinerſeits der Kirche gegenüber feine Grenzen. Wo ſollte nun da das Paſſlons- ſpiel ſeine Stätte haben? Für die „Bühne“ war es zu ausgeſprochen religiös, kultiſch; für die Kirche war es ſchon zu febr Drama, inszeniertes, gemimtes, „verweltlichtes“ Stück ge worden. So war es auf Schaffung eigener Aufführungsſtätten angewieſen. Sie ſchaffen zu können, hing ab von allerlei Geſichtspunkten, zumal von dem äußeren wie inneren Intereſſe der Umwelt. Dieſes ſich dauernd zu erhalten, war ſchließlich von kleineren unbedeutenden Erſcheinungen abgeſehen nur den Oberammergauer Paſſionsſpielen beſchleden. Im Beſitz eines eigenen, Jahrhunderte alten Spieltertes hat dieſe Gemeinde feit alters her in ihren Gemeindegliedern von Geſchlecht zu Geſchlecht die Pflege dieſes Spiels als edle Uber- lieferung gepflegt. Und die aus Stolz und Begeifterung kommende Trefflichkeit der Dar- ſtellung wie die herrliche Natur, die dem Ganzen zugute kommt, hat auch immer von aus- wärts, vom In- und Ausland, Menſchen zu den Paſſionsſpielen zuſtrömen laſſen, die finanziell das Unternehmen immer wieder ſicherſtellten.

gest wird alfo, vom Volksbühnenbund veranſtaltet, ringsum im Reich das Oberammer— gauer Paſſionsſpiel zur Aufführung gebracht. Einem ernſten Betrachter können Bedenken dabei kommen. Es entſteht doch zunächſt nicht, feinem eigentlichen Arſprung und Weſen nach, aus eigenem Kultusleben heraus, fondern wird jeweils von auswärts als ein „Unter- nehmen“ der „Herren Faßnacht“ dargeboten. Indeſſen kommt einem aber ja zum Bewußt— ſein, daß heutzutage alles umgekehrt iſt; daß vor allem aber zu ſolchen Spielen ſchließlich doch nur die kommen, die von ſich aus das Bedürfnis dazu haben. Mit anderen Morten: daß ſolch

Für und wiber die Baffionsfpiele 117

ein wahrhaft rieſiges Unternehmen möglich ift, beweiſt, daß es unbedingt auf ſichere Teilnahme rechnen kann. Geſicherte Teilnahme iſt aber ſtets Ausdruck für vorhandenes Bedürfnis nach dem Dargebotenen. Somit kommt dieſem Paſſionsſpiel in gewiſſem Sinne ein vorhandenes örtliches kultiſches Leben entgegen. Es fragt fih nur, ob es ihm entſpricht und genügt?

Weder der Kirche zugehörend noch dem Theater, gehören ſolche Spiele zu den Dingen, die dem Menſchen das Höchſte und Innerſte in allgemein kultiſcher Form veranfchau- lichen, und die er hin und wieder braucht, um des Zuſammenhangs mit jenem, den das rohe Leben oftmals zu zerreißen droht, erneut gewiß zu werden. Es wird da dem Frommen, der niemals den Theaterraum betritt, in gleichem Maße wie dem Freigerichteten, der nicht zur Kirche geht, ein Dienſt erwieſen. Verſöhnung der Gegenſätze oder doch wenigſtens beſſeres Verſtehen mag der Segen ſolcher Tat fein, vorausgeſetzt, daß die Aufführung unſre durch Betrachtung von Geſchichte und Weſen der Fallen bedingte Forderungen erfüllt.

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Dies war jedoch nicht der Fall. Unfre Bermutung, daß das alte Bild nicht in den neuen Rahmen paſſe, beſtätigte ſich. Es ſtellte ſich das Gebotene nur allzuſehr dar als ein „Unter- nehmen“, das „ſechshundert Mitwirkende“ auf die Rieſenbühne bringt, wie es auf den Plakaten hieß. In nichts, aber auch in nichts unterſchied ſich die Aufmachung, einſchließlich Reklame, im allgemeinen wie die Darbietung im beſonderen von der unſerer Kinos oder Zirkuſſe. Vieles z. B. die Gethjemane- und Oſterſzene, die modern filmartig aufgeputzte Maria Magdalena und die ganz abſcheulich geſchminkte Mutter Maria wirkten tatſächlich als Kitſch war angeſichts des Stoffes noch ſchlimmer als das, was man fo nennt, war auf gröbſte Maffen- wirkung berechnet, die je doch ſelbſt den Maſſenmenſchen zuletzt anwidern muß. Das ſprach ſich denn auch in vorzeitigem Verlaſſen des Saales durch viele wie in der Ablehnung durch die kuͤnſtleriſch gut beratene Hauptpreſſe aus. Es wurde darin hingewieſen auf die „Außer achtlaſſung des Wichtigſten: des myſtiſchen Moments“ und daß „diefe Spiele in der kraſſen Naturaliſtik der Aufführung auf den Erwachſenen als Kitſch, auf das Kind und es waren Hunderte von Kindern da wie ein ſchlechter Film oder Schundliteratur wirken“. Das At ein Starter Vorwurf aber er trifft zu. Er beitätigt unſre Wahrnehmung.

Wir bedauern, daß der Deutſche Bühnenvolksbund fidh in einer Theaterſtadt wie Mann- heim nicht beſſer einzuführen gewußt hat.

Angſtlich wurde auch die Muſik deſſen gemleden, der einzig und allein dazu berufen geweſen wäre, bei einer ſolchen großen Paſſionsaufführung zu Worte zu kommen: Joh. Seb. Bachs Paſſionsmuſik. Statt deſſen eine kaum erträgliche, ſiberlange Pauſen füllende und Szenen melodramatiſch () begleitende ſacharinſüße Orgelmuſik und einige Chöre welſchen Gepräges; alles ohne Saft und Kraft, auf Effekte angelegt, nicht einmal techniſch einwandfrei. Inmitten ſolchen Treibens dann der Chriſtus, von Faßnacht dargeſtellt, anfänglich zu weich, dann aber ſtark und ergreifend, durch und durch echt erſcheinend, ohne Pofe (nur leider ge- ſchminkt), ſichtlich ganz innerlich. Unmittelbar dachten wir an Haas -Berkow und feine immer noch nicht genug bekannte und anerkannte Schauſpielerkunſt.

Nur in ſolchem Geiſte können wir uns die Aufführung eines Paſſionsſpiels vorſtellen, die unſren Forderungen, zu denen uns Geſchichte und Weſen des Paſſionsſpieles berechtigen, genügt, ſofern dies überhaupt möglich ift. Nötig ift ja folh eine Paſſionsaufführung überhaupt nicht: das wirklich religiöfe Gemüt, das feinen Gott im Geiſt und in der Wahrheit anbetet, braucht fie nicht; der „noch nicht religiöſe“ Menſch fühlt ſich viel mehr abgeſtoßen als „zur Be- kehrung geneigter“, wie die hinter der großen Deutſchen Volkspaſſion ſtehenden Kleriker meinen; der künſtleriſch gerichtete Menſch hat in Bachs Paſſionen alles, was er braucht, und erlebt erfchüttert in dieſen Tonbildern all die Begebniffe, die, bühnenmäßig dargeſtellt, ihn ent- täufhen. Aufführungen von Paſſionsſpielen oder ähnlichen Spielen, wenigſtens in der Art des beſprochenen Unternehmens, haben wir als Sehende abzulehnen. Dr. Karl Anton

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118 Deutfhes Menſchentum In Brieſen

Deutſches Menſchentum in Briefen

Ves ift in dieſen Jahren des äußeren Zuſammenbruchs oft und laut genug geſagt wor- den, daß nur die innere Erneuerung die äußere herbeiführen könne. Das Wort

Verinnerlichung“ ſteht in Gefahr, ein Schlag- und Tagwort zu werden, das mit dem = ſich abnützt und vergeht. Verinnerlichung ift Tat, nicht Rede. Die „bewegte Unner- lichkeit“, die ein Kierkegaard forderte, ift jene raſtloſe Arbeit des einzelnen an fih, für die das längſte Menſchenleben zu kurz ift. Das Weſen ſolcher Arbeit, ihre unerbittliche Schwere und nie zu erſchöpfende Schönheit, veranſchaulicht ſich am eindringlichſten im Vorbild. Brei Selbft- zeugniſſe von ganz verſchledener Art, von Menſchen vergangener, ganz verſchiedener Genera- tionen liegen vor mir: während fie ſcheinbar der Zufall aneinanderreiht, wird ihre tiefe Gemein- ſamkeit die Arbeit am inneren Menſchen offenbar werden.

Das bildneriſche Lebenswerk von Hans von Marsöes, in der Schätzung der Gegen- wart noch immer im Wachſen begriffen, gehört der Kunſtwiſſenſchaft an. Der beſte Kenner des Meiſters, Julius Meier-Gräfe, hat feinem umfaſſenden dreibändigen, nicht jedem zugäng- lichen Marées-Werk ſchon 1912 eine gedrängte, zur Einführung ausgezeichnete Darſtellung folgen laſſen (3. Auflage, 1920, bei R. Piper, München). Dieſer Studie tritt jetzt (im gleichen Verlag) ein Briefband zur Seite, der auf 250 Seiten eine Auswahl von hohem Wert bietet. Die große Mehrzahl der Briefe ift an Konrad Fiedler gerichtet, der feit 1868 das äußere Daſein des Künſtlers ſicherte; wenige Briefe im Eingang der Sammlung gelten dem Baron Schack, mit dem es eben 1868 zum Bruch kam; andere vorzugsweiſe dem Bildhauer Adolf Hildebrand und dem Bruder Georg. Mit geringen Ausnahmen datieren die Zeilen aus Italien, aus Rom, das die zweite Heimat des 1837 in Elberfeld geborenen, aus einem alten, in Oeutſchland, Frant- reich und den Niederlanden weitverbreiteten Ritter- und Kaufherrengeſchlecht ſtammenden Künjtlers wurde. Ex fide vivo aus Treue leb’ ich: felten ift der Wappenſpruch eines Ge- ſchlechts in einem ſpäten Sproß fo zur finnfälligen Verkörperung geworden, wie in Hans von Mares. Faft jede Seite dieſer, ſprachlich oft ungelenken, aber inhaltlich ſtarken und ergreifenden Bekenntniſſe iſt ein Zeugnis ſolcher Treue. Von Natur kränklich, der Anlage nach reizbar und ſchwierig bei großer Zartheit des Empfindens, bis an ſein Lebensende ohne jeden wirtſchaft⸗ lichen Erfolg feines Strebens, erſteht dieſer „Rembrandt, der durch die füdliche Welt hindurch ging“, aus ſeinen Briefen als ein unermüdlich Ringender, der an keinem Tag dem Menſchen und dem Werk genug tut. Werk und Perſon, Künſtler und Menſch ſind ihm eins. „Adel der Geſinnung“ ift ihm „für Kunſttreibende und Kunſtfördernde die conditio sine qua non“. „Die Geſinnung ift es, die das Tun des Menſchen lenkt, und in dieſer kann man ſich vervollkomm⸗ nen“; immer von neuem wiederholt er es fih und anderen, „daß der Künftler auf feine menig- lichen Eigenſchaften die größte Aufmerkſamkeit verwenden ſoll“; daß er ein Menſch iſt, macht es ihm fo ſchwer, ein Künſtler zu fein, und doch ift das eine ohne das andre nicht möglich: „So kann er ſich auch unmöglich der Aufgabe entziehen, ein ganzer, womöglich durchläuterter Menſch zu werden“. Stets hält er ſich gegenwärtig: „jede Regung zum Wahren und Guten foll man ſorgfältiger hüten, als irgend eine andere Sache“, denn er glaubt „unerſchütterlich an die Lebenskraft alles deſſen, worin nur ein Körnchen des Echten und Guten enthalten ift“. Damit war ihm auch der Leitſatz für ſein geſamtes Schaffen gegeben. Sehen lernen iſt alles dieſe für einen bildenden Künſtler wichtigſte, für einen Deutſchen beſonders ſchwer in die Tat umzuſetzende Erkenntnis war fein Lieblingsſpruch. Sein heißes Bemühen, dem er in immer neuen Schöpfungen Erfüllung zu geben ftrebte, bleibt es, „Vorſtellung und Oarſtellung in eins zuſammenfließen“ zu laffen. Aber er weiß: „Künftlerftand“ ift „der wahre Stand der Unzufriedenheit mit ſich“; ſo unabläſſig er erſehnt, „das Beſte und Feinſte“, was er empfindet, „auszudrücken“, „das Empfundene und Erkannte rein von Seele und Hand abzulöſen“ es

Deutihes Menſchentum in Brie fen 119

gibt kein Genug, kein reſtloſes Zufriedenſein, und mitten in einem „Arbeitsſturm“ wie nie nimmt der Tod dem noch nicht Fünfzigjährigen den Pinſel aus der Hand. Über Menſch und Werk ſteht das wundervolle Wort, das er wenige Jahre vor dem Ende beſcheiden-ſtolz nieder- ſchrieb: „Ein gewiſſer Zuſammenhang mit dem Beſten und eine wenigſtens große Geſinnung wird dem Verſtändigen aus dieſen Sachen entgegenleuchten“. Der Maler und Zeichner, zumal der werdende, wird aus Mardes Vriefen Anſchätzbares für feine Kunſt lernen können; nicht minder werden es alle jene, dle wiſſen, was es bedeutet, mit Recht von ſich ſagen zu dürfen: klar und ehrlich fein, fich felbft offen zeigen dieſes Beſtreben war „der ganze Vorgang meines Lebens“ . |

In einem Briefe Marées vom Januar 1833 findet fih die Stelle: „Vor einer dauernd ruhig innerlichen Beſchäftigung ſchrecken die meiſten Menſchen heutzutage zurück und ſehen nicht ein, daß ſie dadurch das kurze Daſein noch mehr verkürzen.“ Eigentümlich bedeutſam wird diefe Bemerkung im Hinblick auf eine zweite Veröffentlichung, deren im gleichen Zu- ſammenhang gedacht ſein möge: die zweite Auflage von „Friedrich Schleiermachers Briefwechſel mit feiner Braut“ (Verlag Friedrich Andreas Perthes, A.-G., Gotha). Mit Bewunderung ſieht man aus dieſen Blättern einen Reichtum, eine Tiefe, eine Zartheit ſeeliſchen Beſitzes fih entgegentreten, der wahrhaftig kraft innerlicher Beſchäftigung menſch⸗ liches Dafein nicht nur nicht verkürzte, ſondern recht eigentlich verlängert und vervielfacht zu haben ſcheint. Ein bald vierzigjähriger, in mannigfachen Herzensſchickſalen gereifter Mann verlobte ſich Schleiermacher im Sommer 1808 mit der um 20 Jahre jüngeren Henriette von Willich, der Witwe ſeines nach kurzer Ehe verſtorbenen Freundes. In Landsberg hatte der jugendliche Student für die Tochter des Paſtors Schumann geſchwärmt; während der Schlo- bittener Hauslehrerzeit hatte die anmutige, ſiebzehnjährige Gräfin Friederike Dohna ſein Herz gefangen genommen; in Berlin, wo er als Geiſtlicher an der Charité feine Wirkſamkeit beginnt, verbindet er ſich in leidenſchaftlicher Freundſchaft mit der geiſtreichen „Anempfinderin“ Henriette Herz; in Eleonore Grunow endlich, der unglücklichen Gattin eines Berliner Predigers, glaubt er die Gefährtin fürs Leben gefunden zu haben. Der Kampf um diefe in Gewilfens- pein ſchwankende Frau, Verzicht und tiefſte Niedergeſchlagenheit werfen ihre Schatten über die erſten Briefe zwiſchen ihm und Henriette von Willich, die, glücklich an der Seite ihres Mannes, zu dem doppelt fo alten, ſchon berühmten Verfaſſer der „Reden über die Religion“ und der „Monologe“ wie eine Tochter aufſchaut. Außerlich unter dem Einfluß eines ſchweren Schickſalsſchlages, innerlich unmerklich, in feinſter Abwandlung ändert ſich das Bild. Henriette ſieht ihrer Entbindung entgegen; aus bewegtem Zeitgefühl heraus ſchreibt ihr Schleiermacher: „Wenn . . . Bitten etwas über dich vermöchten, fo möchte ich dich bitten, gib uns jetzt einen Knaben: die künftige Zeit wird Männer brauchen, Männer, die eben in dieſer Periode der Zerſtörung das Licht erblickt haben, und Söhne, wie ich ſie von dir und Ehrenfried erwarte, mutig, froh, beſonnen, das Heilige tief ins Herz begraben, werden ein köſtliches Gut ſein“; im nächſten Brief meldet die jäh und hart getroffene junge Frau den Tod ihres Mannes. „Du mußt mein Vater ſein in dem größten Sinne,“ ruft ſie in ihrem faſſungsloſen Schmerz, „du kannſt es ganz ich gebe dir meine ganze innere Liebe aus Herzensdrange ich lehne mich ganz auf dich.“ Und er, der mitfühlende Tröſter, der hinreißende Verkünder der „ewigen und heiligen Ordnung Gottes“, der treue Berater in der Erziehung der kleinen Willichſchen Kinder wird mehr als Henriettens Vater: die Freundſchaft wird zur Liebe, die dem auf langer Irr- fahrt ſuchenden Mann Erfüllung, der niedergebeugten jungen Frau ein neues Leben voll ungeahnten Glückes bringt. Es hieße die Zartheit der immer inniger werdenden Herzens- gemeinſchaft, die einen Toten als unverlierbaren Dritten in ſich aufnimmt, entweihen, wollte man die Worte, in denen fie fid entfaltet, in Bruchſtücken wiederholen oder ihr Weſen an- deutend zu umſchreiben ſuchen. Man muß das ſelber leſen. Dieſe Henriette, „die kleine Pajto- rin“, die in ſchlichter Demut neben den „großen Schriftſteller“, den „berühmten Profeſſor“

120 | Oeutſcheo Menſchentum in Briefen

tritt in ihrer, wie er felber fie kennzeichnet, „herrlichen Verbindung von Lieblichkeit und tiefem Gefühl mit leichtem Frohſinn, Stärke und Herzhaftigkeit“, und dieſer männliche Mann, in dem feurige Kraft und unſchuldige Innigkeit ſich paaren wir verdanken ihnen ein Denkmal der Liebe, in dem zwei Menſchen in ihren feinſten ſeeliſchen Regungen ſich offenbaren und immer reiferem Menſchentum ſich entgegenbilden. „Schleiermacher iſt ein Menſch, in dem der Menſch gebildet ift, und darum gehört er für mich in eine höhere Klaͤſſe“ dies Urteil Friedrich Schlegels findet im vorliegenden Vriefwerk feine volltönende Beſtätigung; eben- bürtig ſteht daneben das verehrungswürdige Streben der geliebten Frau: „wahrhaft lebendig zu ſein in allen Teilen (ihres) Weſens“. Vergegenwärtigt man ſich mit den beiden Menſchen, die im Mittelpunkt ſtehen, den Kreis gleichgeſtimmter Freunde, mit dem fie in ſteter Wechſel— beziehung des inneren Gebens und Nehmens ſtehen; vergegenwärtigt man ſich die Zeit der unſrigen, ach, jo ähnlich —: „in welcher nichts, durchaus nichts ficher ijt als der gegenwärtige Augenblick“ fo ermißt man mit dem Zdeal der Verinnerlichung unſeren Abſtand davon...

Der Blick des Malers Hans von Mardes war inbrünſtig nach außen gerichtet, um ſehen zu lernen und das Geſehene zu geſtalten; ganz nach innen geſenkt, in die Tiefe des Gemüts der Schleiermachers und Henriettens, um das eigene Ich durch die Liebe immer reicher und belebter zu machen. Des Innen und Außen gleich mächtig, beide Welten in feiner Perſönlich— keit und in ſeinem Werk zur Einheit meiſternd, begegnet uns in dieſem Zuſammenhang ein letzter und zugleich größter: Goethe. „Goethes Schweizerreiſen“ betitelt ſich ein Buch“ in dem Hans Wahl, der verdiente Direktor des Goethe Nationalmuſeums in Weimar, ſammelte, was Goethe aus der Schweiz ſchrieb, was er dort in ſein Tagebuch aufnahm, dichtete und zeichnete (Verlag Friedrich Andreas Perthes, A.-G., Gotha). Ein glücklicher Gedanke läßt uns hier nacheinander den faſt ſechsundzwanzigjährigen, den dreißigjährigen und den acht- und vierzigjährigen Goethe durch die Schweiz begleiten und gibt uns damit eine Entwicklungs- geſchichte im Querſchnitt, von der Schwelle bis zur Höhe des Mannesalters. Lili, Charlotte, „Chriſtiane find die drei Erlebniſſe der Liebe, die in die drei Reifen hineinklingen. Jünglings- haft, von der Gewalt der Natureindrüde überwältigt kämpft der Goethe von 1775 darum, das Geſchaute und Empfundene in Wort und Zeichnung zu faſſen. Vier Jahre ſpäter und der Oreißigjährige zieht ſelbſt mit ſtaunenswerter Klarheit die Summe von damals und jetzt: . wenn wir einen ſolchen Gegenſtand zum erſtenmal erblicken, fo weitet fih die ungewöhnte Seele erſt aus und es macht dies ein ſchmerzlich Vergnügen, eine Überfülle, die die Seele be wegt und uns wollüſtige Tränen ablockt; durch diefe Operation wird die Seele in ſich größer, ohne es zu wiſſen, und iſt jener erſten Empfindung nicht mehr fähig; der Menſch glaubt ver- loren zu haben, er hat aber gewonnen; was er an Wolluft verliert, gewinnt er an innerem Wachstum... Gefühl und Ausdruck, der naturſelige Menſch und der geſtaltheiſchende Künſtler haben ihr wunderbares Gleichgewicht gefunden. Der Goethe endlich von 1797, der in Italien war, ſeine Farbenlehre entdeckt, mit Schiller ſich begegnet hat, ordnet mit überlegener Ruhe die Eindrücke von Land und Volk in ſein unermeßliches Weltbild. Was dieſes weltweite Auge ſchaut, vom Kleinſten zum Größten, vom Lebloſen zum Belebteſten; wie der geiſtmächtige Wille das Geſchaute in der Perſönlichkeit und im Kunſtwerk bändigt und verklärt dies nie fertige und doch in fih immer vollendete Wachſen ſteht, nicht mehr nur Vorbild, ſondern ebr- furchtgebietendes Symbol außer allem Maß und über aller Zeit. Wie ſchrieb doch Goethe vom Regenbogen, der über den ſtürzenden Waſſern des Rheinfalls fid hob? „Er jtand mit ſeinem ruhigen Fuß in dem ungeheuren Giſcht und Schaum, der, indem er ihn gewaltſam zu zerſtören droht, ihn jeden Augenblick neu hervorbringen muß.“

Heinrich Lilienfe in

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der Geſchichtſchrelber der Stadt Ront 121

Der Geſchichtſchreiber der Stadt Rom

A Ç urz vor dem Kriege veröffentlichte Johannes Hönig die literarhiftorifhe Studie a 28775 nand Gregorovius als Dichter“ (Stuttgart 1914), und, auf der Grundlage dieſer Arbeit hat er jetzt den Bau der Biographie des oſtpreußiſchen Romfahrers errichtet. (Ferdinand Gregorovius, „Der Geſchichtſchreiber der Stadt Rom“. Mit Briefen an Cotta, Franz Rühl und andere. Von Johannes Hönig. Stuttgart und Berlin, J. G. Cottaſche Buchhand- lung Nachfolger, 1921.) Hönig betont, daß er Gregorovius vom Standpunkt des Literar- hiſtorikers betrachte, wenn er auch die Abſicht habe, ein Bild der Geſamtperſönlichkeit zur hundertſten Wiederkehr des Geburtstages dieſes ſeltenen und imponierenden Mannes zu geben. Er hat ſicher eine fleißige und notwendige Arbeit geleiſtet und beſonders das Dunkel, in das Gregorovius feine Jugend abſichtlich hüllte, aufgehellt. Es ift auch kaum etwas da: gegen zu fagen, daß er Gregorovius vorzugsweiſe als Dichter ſieht, dem Weltgeſchichte den epiſchen Stoff lieferte; ebenſo könnte ein Hiſtoriker vorzugsweiſe den Fachgenoſſen ſehen, der mit beſonderer dichteriſcher Einfühlungskraft geſtaltete. Aber mir ſcheint, als bliebe immer ein Reft, ein weſentlicher und ausſchlaggebender Reſt, ungelöſt und als bedürfe es wiederum eines Dichters, um den tragiſchen Helden Gregorovius zu erfaſſen und wiederzugeben. Über jede fachliche Einordnung wird der Geſchichtſchreiber der Stadt Rom immer hinausragen, immer hinausſehen mit einem fremden, geweiteten, tragiſchen Blick, ſehnſuchtsvoll und er- ſchütternd. Man ſieht meiſt bei einem bedeutenden Menſchen nicht die beſtimmende Wirkung der geiftigen Welt, der er entſtammt, den Einfluß der Zeitideen, die er in feiner Jugend entſch eidend aufnahm. Natürlich wird ein tuͤchtiger Biograph, indem er fleißig fein Material zuſammenträgt, auch auf den Grund ſtoßen, in dem ſein bedeutender Mann wurzelte, das tut auch Hönig, fr ili als Wiſſenſchaftler, der nur das Nachweisbare ſieht. Aber er kann mit ſeinem Material nichts anfangen, die geiſtige Schau, die intuitiv erkennt, fehlt ihm, wie die ſchöͤpferiſche Kraft, die aus Stoff ein Lebendiges macht. Das ift kein Vorwurf, ſondern nur eine feſtſtellende Bemerkung, die, wie die Dinge heute liegen, der Wiſſenſchaftler ſich ſogar als Lob anrechnet. Ferdinand Gregotonlus erwachte in der von Fortſchrittsideen erfüllten Luft der vierziger Jahre zum Bewußtſein. Er war zum Theologen beſtimmt, brachte es auch zum Kandidaten und ſtand ſogar zweimal predigend auf der Kanzel. Innerlich aber war er ſeinem Amt ſchon gänzlich entfremdet. Nicht war es der expreſſioniſtiſch- revolutionäre Trotz, der ihn beſeelte, das Vorrecht eines jugendlichen Genies, das, geſchwellt von unſagbaren Zukunftswerten erſt zerſchlägt, ehe es die Bindung an das Überkommene findet und zum organiſchen und freien Schaffen anhebt, ſondern es war eine Infizierung mit Zeitideen, eine Durchſetzung des Ge- fuͤhls mit ſatiriſchem Intellektualismus. Politiſch Demokrat, religiös liberal oder gänzlich Freigeiſt, als Schriftſteller ſatiriſch und kritiſch, äußerlich einfacher Privatlehrer ohne Ausſicht auf Amt: ſo lebt er inmitten ſeiner Königsberger Freunde und kaum vor ihnen ſich irgendwie auszeichnend. Adel, Offizierſtand, Geiſtlichkeit, Staat gegen alles ſteht er in Oppoſition, unfruchtbar und belanglos. In dieſer von giftiger Luft erfüllten Wüſte vegetiert er, irgend- wie aufrecht erhalten von einem dumpfen Gefühl, daß ihn irgendein Weg ins freie oaſenreiche Land führen müſſe, wo die großen beſeelenden Dinge des Lebens offenbar werden. Nun gerät er (durch einen Zufall von außen geſehen) nach Italien es war die Flucht von Mekka nach Medina, die jeder große Menſch in ſeinem Leben ausführen muß und nun kommt er in die heroiſche Natur Korſikas und feiner Bewohner, jetzt ſofort ſchlägt fein Herz in den- großen Kurven der Berge und geſchichtlichen Ereigniffe in dem Werk „Korſika“ ift dieſer Herzſchlag. Eine größere Offenbarung wird ihm bald darauf: Rom. Auf dieſem „tragiſchen Theater“, wie er Rom einmal nennt, ſieht er Weltgeſchichte ſich auswirken, der singeln wird Oer Elrmer XXIII. 8

122 Der SGeſchichtſchrelbet der Stadt Rom

klein, die Ideen ſtehen auf und handeln. Der Plan zu einer Geſchichte der Stadt Rom im Mittelalter ſteht deutlich im blendenden Licht des zeugenden Blitzes: fajt zwei Jahrzehnte ſchafft er an jenem Werk, das ebenſoſehr Rom wie ihn ſelber zum Mittelpunkt hat.

Die weltgeſchichtlichen Schauer, die ihn umwehten, die ungeheuren Hintergründe, die ſich ihm auftaten, fanden aber keinen freien und jungfräulichen Geiſt, ſondern das Feld, auf dem die Ernte reifen ſollte, war unheilbar durchſetzt mit den unſchöpferiſch vernünftigen Fort- ſchrittsideen; er konnte, ſeiner durch die Zeit beſtimmten Natur nach, in der Weltgeſchichte wie in der Geſchichte Roms nicht das Auswirken einer göttlichen Idee ſehen, eines Schöpfer- willens, ſondern wollte durchaus nur das Geſetz der Kauſalität erkennen, einen vernünftigen Kreislauf von Urſache und Wirkung Geduldig und ſtoiſch ging er dieſem vorgeſtellten Kreis lauf Schritt für Schritt nach und doch zuweilen innehaltend und verzückt auf die dunklen und geheimnisvollen Ströme lauſchend, die unter feinen Füßen mebddiſch erklangen. Ein tragiſcher Zwieſpalt zerriß ſein Weſen, der Ausdruck dieſes perſönlichen Zwieſpaltes iſt die Geſchichte der Stadt Rom im Mittelalter: Weltgeſchichte als Selbſtbekenntnis.

Keiner der Freunde hat ihn je lachen ſehen. Gregorovius konnte nicht lachen. Die Menſchbeit, unter dem Joche der Notwendigkeit keuchend, er ſelber fih als Menſchheit unter dem Joche fühlend wie konnte er anders als ein tragiſcher Held leben? Die Heiterkeit, die nur den Menſchen befeelt, der als Kind Gottes am Herzen des Vaters liegen durfte und das rhythmiſche Spiel dieſes Herzens, das man Weltgeſchichte nennt, erlauſchte dieſe Heiterkeit mußte Gregorovius fremd fein. Ihm ziemte der heroiſche Ernſt, die ſtoiſche Pflichterfüllung; er konnte nur gehoben und getragen ſprechen, als Menſch, Dichter und Philoſoph. Die Briefe an Cotta, an den Jugendfreund Rühl und andere, Briefe, die in Hönigs Band mehr wie drei- hundert Seiten umfaſſen, find alle von jener tragiſchen Gehobenheit erfüllt, trotzdem fie kaum tiefere Dinge, ſondern lediglich Fragen des praftifchen Lebens erörtern. Gregorovius hatte das ſtatuariſch-ſtrenge Selbſtbewußtſein des tragiſchen Helden; es prägt den kleinſten Dingen, die es durchdringt, ihren beſonderen Stil. Selbſt wo er Iyrifch empfindet, ift dieſes Empfinden auf tragiſchem Grund erblüht, ift leuchtende Wehmut, wie etwa bei Leopardi. Dadurch aber hat alles, was er ſingt, einen hallenden, geheimnisvollen Unterton, Hinterton, es ſchwingt wie Abendläuten noch lange nach, und namenloſe Gefühle hüllen den Leſer wunderbar ein.

Dieſer, fait jeden Satz feines Lebenswerkes, wie der übrigen Bücher, begleitende hallende Klang, macht die Lektüre der Geſchichte der Stadt Rom zu einem zauberhaften Genuß. Dic Hiſtorie iſt gleichſam nur der Reſonanzboden; man hat nie den Eindruck, Geſchichte zu leſen. ſondern eine Dichtung. Die Geſchichte Roms im Mittelalter mag ſo oder ſo ſich abgeſpielt haben: der Dichter iſt immer wahr; in Gregorovius' dichteriſchem Ingenium konnte ſich die Geſchichte nur fo ſpiegeln als eine zwiſchen der Eroberung Roms durch Alarichs Horden und dem Sacco di Roma eingeſpannte weltgeſchichtliche Tragödie, eine der vielen, die die Menſchheit auf ihrem Leidenswege durchmachen muß, ſeufzend unter dem Joch des Kauſalitäts- geſetzes. Franz Herwig

Am Grabe. Auch Maffe Schinderhannes und Ordnungsbeſtie

Amerika, der rettende Engel Die letzte Waffe

Aw aiſerin Auguſte Viktoria, die fern der Heimat die Augen ſchloß, F . iſt keine „politiſche Frau“ geweſen wenn die „Rote Fahne“ und IE der Franzoſe Pertinax es übereinstimmend verfichern, muß es wohl RE wahr fein. „Sie war eine Nebenperſon“, bemerkt ein englifches Blatt mehr im wohlmeinenden als herabſetzenden Sinne. Wirklich? Ereigniſſe und Geſtalten erfahren im Licht ſpäterer Forſchung oft eine überraſchende Um- deutung. Zur ſteilen Höh', auf der Fürſten ſtehn, dringt des Untertanen Blick nur felten empor, und im Dunſtkreis des Höfiſchen erſcheinen die darin wandelnden Perſönlichkeiten unſcharf und verſchwommen. Gewiß, es ſind an ſich durchaus charakteriſtiſche Züge, aus denen ſich das Porträt der Kaiſerin zuſammenſetzt, wie es im Volke lebt und wie der Fernerſtehende es zu überprüfen bisweilen Gelegen- heit hatte. Wir wiſſen, daß die Kaiſerin eine treue Gattin, eine ſorgende Mutter, eine durchaus häuslich veranlagte Natur und frommer Werke Stifterin geweſen iſt. Aber was verrät das alles von dem inneren Weſen der Frau? Sie ſtarb, und Haß, Parteigezänk und niedriger Klatſch kamen auch über ihrer Leiche nicht zum Schweigen. Im Hohlſpiegel unterliegt jedes Ding der Verzerrung, und es bedarf nur einer kleinen Verrückung der moraliſchen Perſpektive, um aus der Tugend ein Laſter zu machen. Ein radikales Arbeiterblatt ſuchte die Tote, die ihrer Zeit als Muſterfrau im beſtbürgerlichen Sinne galt, dem menſchlichen Mit- gefühl feiner proletariſchen Leſer durch die Kennzeichnung „bigott und beſchränkt“ zu entrücken, und eine demokratiſche Zeitung gar wußte ihr Andenken heimtückiſch zu verunglimpfen dadurch, daß es aus einem Pariſer Boulevardblättchen einen Abſchnitt der Memoiren der Prinzeſſin Luiſe von Koburg übernahm, in denen es u. a. heißt: „Als fie Kaiſerin geworden war, fap fie in ihrem Gatten in über- triebenem Maße den summus episcopus. Anſtatt daß man Unſinn über Rom, die chriſtliche Ziviliſation und das Altertum ſchwatzte, hätte fie ihren Gatten auf- klären und ihn von ſeinen unſinnigen Vorſtellungen befreien müſſen, die mit Anrufen von Wotan und des Gottes Thor vermengt waren. Es war nicht leicht,

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Gnade vor den Augen der Kaiſerin zu finden. Ihre Anforderungen an die Voll— endung der deutſchen Tugenden waren ſo groß, daß ſie eine Art von wohl— wollender Polizeibeamtin aus mir machte. Peſſimiſtiſch und ſitteneifrig, ganz eingenommen von ihren häuslichen Pflichten und ihren Forſchungen auf dem lutheriſch-religiöſen Gebiete, denen ſie mit Eifer und mit Feindſeligkeit gegen andere Religionen diente, glaubte fie Deutſchland erziehen zu können.“

Dias dem franzöſiſchen Geſchmack entſprechende Geſchwätz der eitlen, leidt- ſinnigen und maßlos eingebildeten Koburgerin, die freilich keine gelehrige Schü— lerin für die Erziehung zur Tugendhaftigkeit geweſen fein dürfte, vermag die von Gewährsleuten unvergleichlich vertrauenswürdigeren Grades wiederholt an— gedeutete Tatſache nicht zu verdunkeln, daß der ſeeliſche Einfluß der Kaiſerin auf ihren Gemahl ſich mit den fortſchreitenden Jahren erſichtlich verſtärkte. Im Großen Hauptquartier war man ſich klar darüber, welchen Halt der Kaiſer an ihr hatte, und man fürchtete Anfang 1918, als die Kaiſerin infolge eines Schlag- anfalles wegzuſterben drohte, einen Nervenzuſammenbruch des Monarchen. Ihren wachſenden Einfluß politiſch auszunutzen, lag ihr völlig fern. Rein frauenhaft veranlagt und ohne jeden Ehrgeiz, eine Rolle zu ſpielen, war ſie lediglich darauf aus, wo es nur anging, Härten zu mildern, Schroffheiten auszugleichen, ver— ſöhnend zu wirken. An ſich unbedeutende Züge laſſen die Vermutung berechtigt erſcheinen, daß fie mit ihrem gefunden und ungetrübten Inſtinkt mitunter Fehler ſah, die der Umgebung verborgen blieben und die ſie nicht verhindern konnte, da ſie des Talentes zu intrigieren ermangelte. Sie war keine Kaiſerin Friedrich, die auf jedem Gebiete mitraten, mittaten und bahnbrechen wollte. Auguſte Vik— torias ſympathiſches Unvermögen, einer abweichenden Auffaſſung anders als auf frauliche Art Geltung zu verſchaffen, äußerte fih fein und rührend bei Bismarcks Entlaſſung, als ſie dem Fürſten nach der ungnädigen Verabſchiedung durch den Kaiſer einen Strauß Rofen überreichte. Eine mit intimeren Vorgängen offen- bar vertraute Perſönlichkeit beſtätigt in der „Südd. Ztg.“, daß fie die politiſche Lage bisweilen mit praktiſchem Blick überſchaute. „Wohl als erſte hat ſie in den hinter uns liegenden Jahren die Gefahr erſchaut, in der das Reich und das Hohen— zollernhaus ſchwebten, hat mit ſchwerer Sorge ſchon im Herbſt 1914 die Dinge im Hauptquartier beurteilt und in ihrer Art aber ganz anders, als 1870 die Bismarck verhaßten fürſtlichen Damen eingegriffen. Intuitiv erkannte ſie Bismarcks Größe, durchſchaute fie die Fämmerlichkeit der Bethmann und Müller und der übrigen „Lenker“ unſerer damaligen Geſchicke. Im April 1915 ließ fie in Charleville Tirpitz zu ſich kommen, der er kannte ja die Kaiſerin ihr ganz ungeſchminkt die Lage ſchilderte und es beklagte, daß der Kaiſer hier umgeben und eingeſchloſſen fei in einer weichen Maffe. Da wehrte fie nicht etwa ab, da ſpielte fie nicht etwa die beleidigte Majeſtät, ſondern ſagte: „Ja, leider ift es fol‘ und verſprach, alles, was ſie könne, für Heranziehung Hindenburgs und für größere Energie der Kriegführung zu tun. Sie hat ihr Verſprechen gehalten, ſie hat die berühmte Zuſammenkunft des Kaiſers mit Hindenburg in Poſen zujtande gebracht, hat die beiden dann auch, wie fie da im Geſpräch beieinander jtanden, photographiert und dafür geſorgt, daß das Vild Millionen von Deutſchen vor

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Augen kam; denn diefe einfache Frau wußte beffer als mancher Minifter, was Propaganda ſei und wonach das bang ſchlagende Herz des Volkes frage.“

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Über der toten Kaiſerin hat ſich die Gruft geſchloſſen, und in dem kleinen Tempel, den der alte Fritz als Pantheon für ſeine antiken Statuen in einem verſteckten Winkel von Sansſouci errichten ließ, ſchlummern nun auf immer die Aberreſte eines Menſchenlebens, das in Glanz begann und in Gram und Trübſal endete. „Widerliche Lobhudeleien“ hat das führende Kommuniſtenblatt zu- ſammenfaſſend all die Kundgebungen der Trauer und des Schmerzes genannt, die der weitaus größte Teil des bürgerlichen Oeutſchland zum Ausdruck brachte. Wie anders als mit einem ohnmächtigen Schimpfwort hätte auch das Leiborgan des Herrn Hölz feiner Wut über die unverkennbar tiefe, nicht nur zahlen, ſondern mehr noch gefühlsmäßige Teilnahme des Volkes an dem Hinſcheiden der ehe- maligen Landesmutter Luft machen follen, an deren Perſönlichkeit auch der ärgſte Haſſer des dynaſtiſchen Gedankens in den mehr als dreißig Jahren, während deren ſie der öffentlichen Kritik ſtandhalten mußte, keinen Fleck und keinen Makel hat aufweiſen können. Seit der Revolution haben wir ſo häufig den Aufmarſch der Arbeiterbataillone erlebt, ſo ausſchließlich beherrſchten ſie allein das politiſche Straßenbild, daß damit der Begriff „Maſſe“ erſchöpft zu ſein ſchien. Was aber am Begräbnistage der letzten Königin von Preußen nach Potsdam pilgerte, war keineswegs nur die offizielle Welt des verſunkenen Kaiſerreichs, ſondern auch Maſſe, und zwar ein endloſer Zug von Graumelierten, die doch irgendwie auf einen politiſchen Generalnenner zu bringen ſein müſſen. Sie insgeſamt dem deutſchnationalen Parteibeſtande zuzuſchreiben, wäre bequem, aber höchſt ober- flächlich. Mancher demokratiſche, mehrheitsſozialiſtiſche, vielleicht gar kommu- niſtiſche Häuptling würde am Ende bei näherem Zuſehen ſein blaues Wunder erlebt haben. Und lediglich Neugier hat ſicherlich auch nicht diefe Maſſen in Be- wegung geſetzt, die doch ihrerſeits auch nur wiederum ſymboliſch ein gewaltiges unſichtbares Deutſchland verkörperten. Der Tod der Kaiſerin war in die ſem Betracht nur der äußerliche Anlaß, ein Gefühl zum Durchbruch zu bringen, das ſeit den Novembertagen bis jetzt in immer ſteigendem Maße ſich bemerkbar gemacht hat. Nicht als ob in der ſtummen Oemonſtration einer Anteilnahme, die ſelbſt die Seelen der unteren Schichten vorübergehend mitſchwingen ließ, nun etwa der Wille zur Monarchie ſich greifbar deutlich bekundet hätte. Dies anzunehmen wäre ein Trugſchluß und eine verhängnisvolle Täuſchung, vor der nicht genug und eindringlich gewarnt werden kann. So ſchnell verharſcht im Volksempfinden nicht der Zwieſpalt zwiſchen Schein und Sein, unter dem wir im Kaiſerreich Wilhelms II. gelitten haben. Aber wie ſich im Gedächtnis der Hinterbliebenen die Vorzüge eines Verſtorbenen länger und friſcher erhalten als deſſen Nachteile und Fehler, fo ift bei noch fo ſcharf kritiſcher Einſtellung mit dem Rückblick auf das vorrevolutionäre Oeutſchland doch gleichzeitig die Erinnerung an unendlich vjel Wertvolles verknüpft, das wir als etwas Selbſtverſtändliches hinnahmen, deſſen Verluſt wir heute aufs bitterlichſte verſpüren und demgegenüber die „Er-

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rungenfchaften der Revolution“ auch vom Standpunkt des Arbeiters aus be- trachtet vorläufig nur einen recht mäßigen Erſatz bedeuten. Der dumpfe, mehr oder minder bewußte, unbezwingliche Drang, der die Bevölkerung an den Bahn- damm trieb, auf dem der Totenzug der Kaiſerin dahinrollte, der innere Impuls, der unterſchiedsloſe Scharen von Deutſchen nach Potsdam zog, ift im Kern als das erſte hoffnungszarte Anzeichen eines wiedererwachenden Bewußtſeins deffen zu deuten, was wir verloren haben. Nicht der Talmiprunk des alten Kaifer- reichs iſt es, nach dem die Sehnſucht der Stillen im Lande geht. Damit, daß wir Bettler geworden find, daß wir den Sturz aus ſtrahlender Höhe in fchauer- liche Tiefe taten, könnten wir uns abfinden. Daß wir aber ethiſch ſo auf den Hund gekommen ſind, daß ſich in dem Charakterbild unſeres Volkes alle diejenigen Züge faſt ſpurlos verflüchtigt haben, die bei allen Emporkömmlingsmanieren uns doch jahrzehntelang die Achtung der Welt in hohem Maße ſicherten, das iſt, was den quälenden Zweifel aufkommen läßt, ob wir des nationalen Aufſchwungs überhaupt noch fähig find. Wenn auch fernerhin Treue und Redlichkeit, Pflicht- gefühl, Ordnungsſinn und Unbeſtechlichkeit ein leerer Wahn bleiben im neuen Deutſchland, wenn von der oberſten Spitze der Staatspyramide her nicht bald der Anfang gemacht wird, nach unten hin die ethiſche Hebung durch das praftifche Beiſpiel zu propagieren, dann wird der Verfall unaufhaltſam ſein. Tauſende und aber Tauſende quer durch alle Parteien empfinden dies mit größter Ein- dringlichkeit, ohne daß die Machthaber der Republik eine Ahnung davon zu haben ſcheinen. Die Huldigung, die das unſichtbare Deutſchland der toten Kaiſerin darbrachte, war im Grunde ein Bekenntnis zum Friderizianiſchen im Hohen- zollerntum.

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Eine Woche bevor die deutſche Kaiſerin ihre letzte Fahrt antrat, bewegte ſich durch den Norden Berlins ein anderer Trauerzug: der Kommuniſtenführer Sylt wurde im Zeichen des Sowjetſterns zu Grabe getragen. Er gehörte zu den Männern der „Aktion“, von denen erwieſenermaßen einige hundert genügen, um Oeutſchland von heute zu morgen regelrecht auf den Kopf zu ſtellen. Die theoretiſch einwandfreie Feſtſtellung, daß der Putſch in Mitteldeutfchland im Gegenſatz zur vorjährigen Aufſtandsbewegung im Ruhrgebiet nicht als politiſche Handlung, ſondern als ein „räuberiſches Privatunternehmen“ zu betrachten und daher rein kriminaliſtiſch zu bewerten fei, läßt die weit wichtigere praktiſche Frage unbeantwortet, was denn nun eigentlich für die Zukunft geſchehen ſoll, um eine Wiederholung derartiger Vorkommniſſe zu verhindern. Daß die Sonder- gerichte abſchreckend wirken werden, erwartet kein Menſch. Die meiſten Mord- brenner ſind entkommen, und eine Gelegenheit, die Verurteilten zu begnadigen, wird ſich ſchon finden. Ungeniert verkündet die „Rote Fahne“: „Formiert euch neu zum Kampf. Steht gerüſtet. Bald heißt es wieder: Sturmriemen unters Kinn!“

Paul Levi, noch vor kurzem Vorſitzender der kommuniſtiſchen Partei, iſt mit Schimpf und Schande davongejagt worden, weil er ſich Moskau gegenüber nicht bis zur Hundedemut unterwürfig gezeigt hat. Aus Levis Anklage; und

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Verteidigungsſchrift geht unzweideutig hervor, daß es der Abgeſandte des ruſſiſchen Exekutivkomitees geweſen ift, der den Anſtoß zu dem Putih ge- geben hat. Radeks Plan, der „über den Kopf des hirnloſen Deutſchland hinweg die Weltrevolution nach den Ententeſtaaten tragen“ möchte, findet ſeine ſtärkſte Stütze in der lauen Haltung der Regierung, die es ſtillſchweigend duldet, daß ein Netz von Hetzzentralen das Land durchwuchert, daß Sprengſtoffe aufgehäuft werden, daß ganze Heereshaufen ſich auf ein Signal der Berliner Zentrale hin zuſammenrotten und ſo das Vorgefecht der Weltrevolution auf deutſchem Boden eröffnet wird.

| Statt dieſer allezeit latenten Gefahr offen ins Auge zu ſehen und die ent- ſprechenden Abwehrmaßnahmen zu treffen, betrachtet die Regierung die ganze Angelegenheit als erledigt, ſobald es unter ſorgfältigſter Schonung der Aufrührer gelungen iſt, einen der periodiſch immer wieder aufflackernden Teilbrände zu löſchen. Eine Regierung, die ernſt genommen ſein will, muß in jedem Putſch, von welcher Seite er auch komme, das ſchwerſte Verbrechen gegen den Staat erblicken. „Die Motive zu einer Umſturzbewegung“, legt R. v. Ven- tivegni überzeugend im „Tag“ dar, „können unmöglich vom Staat berückſichtigt werden, wenn er nicht von Aufruhr zu Aufruhr taumeln will. Die Beweggründe zu derartigen Handlungen beruhen auf Werturteilen, über die unter politiſch verſchieden Denkenden eine Einigung ſchlechterdings nicht möglich iſt. Für den Staat genügt es, daß man ihn vernichten will, um feinen Gegner niederzufchlagen, wobei es praͤktiſch belanglos ift, welche Gründe den letzteren zu der Tat ver- anlaſſen. Die Tatſache, daß ein Staatsgebilde aus einer Revolution hervor- gegangen iſt, erklärt zwar etwa folgende Revolutionsverſuche, kann ſie aber in den Augen der Staatsgewalt nicht entſchuldigen. Der Staat kämpft hier um fein Dafein und ift nicht unparteiiſcher Richter; logiſcherweiſe find dieſem Oaſeins- kampf alle anderen Aufgaben nterzuordnen. Soweit muß Übereinſtimmung herrſchen zwiſchen allen politiſchen Parteien, die nicht den gewaltſamen Umſturz des Staates fordern, und ſelbſt die letzteren nehmen nur inſofern eine Sonder- ſtellung ein, als fie diefe Grundſätze zwar nicht für den beſtehenden, ſondern erft für den von ihnen erſtrebten Zukunftsſtaat anerkennen.“

Die überzeugten Demokraten und alle diejenigen, die ihre Verfaſſungstreue ſo gerne betonen, ſollten daher eigentlich im Kampf gegen den Umſturz die ſchärfſten Kämpen abgeben. „Hier aber tritt deutlich das große Rätſel in der modernen deutſchen Demokratie zutage; ein Rätſel, das nicht feine Löſung im Weſen der Demokratie an fih, ſondern in der Pſychologie ihrer Anhänger findet, die von der pazifiſtiſchen Gedankenbläſſe angekränkelt ſind. So iſt die ſchwächliche Unentſchloſſenheit im Kampf gegen den Kommunismus zu erklären, die dieſem den Mut gibt, auch in ausſichtsloſen Fällen die Aufruhrfackel zu entzünden. Mit- läufer, grüne Burſchen, Geſindel findet ſich leicht zuſammen, wo die Autorität des Staates fehlt. Es ſcheint eben u allzuviel riskiert, mu diefem Staat Schind- luder zu treiben.“

Was nützt es, wenn ſelbſt in Kreiſen, die der Regierung nahe ſtehen, die Erkenntnis dämmert, daß mit der bisher geübten Taktik der Duldſamkeit der

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bolſchewiſtiſchen Hydra nicht beizukommen ift! Die ſozialdemokratiſche Neben- regierung verlangt, daß der Proletarier geſchont werde, auch wenn er ein Plün- derer und Mordbrenner ift. „Wir find die letzten,“ fo ſeufzt das Zentrumsc rgan, die „Köln. Volksztg.“ aus tiefſter Not und händeringend, „die politiſche Mei— nungen mit Maſchinengewehren austreiben möchten, aber gegen den Fana- tismus des Verbrechens hilft nur der Fanatismus der Ordnung; da die Kommuniſten es nicht anders wollen, mag denn die Parole lauten: Hie Schinderhannes! Hie Ordnungsbeſtie! Sie berührt nicht nur bei uns, ſondern auch in allen andern Kulturſtaaten den Kern des Problems, ob und wieweit der Sozialismus zu praktiſcher Politik tauglich ift. Immer wieder ift an dieſer Stelle darauf hingewieſen worden, daß der Zwang unſerer Notlage Sozialiſten und Bürgerliche mit der Nafe darauf ſtößt, gemeinſam die Ordnung zu ſchaffen und gemeinfam die Ruinen wieder aufzubauen. Dieſem Zwange verjagen ſich die Sozialdemokraten auch heute noch; fie fühlen fih dem kommuniſtiſchen Räuber- hauptmann geiſtesverwandt, dem bürgerlichen Ordnungsfanatiker weſensfremd; ſie möchten ſozialiſtiſche Familienpolitik treiben, finden aber nicht die Autorität, ſich gegenüber den jüngern Geſchwiſtern durchzusetzen, und hemmen ſo jeden geſunden Fortſchritt.“

Das ſind Ausführungen, die den Nagel auf den Kopf treffen. Sie ſind ſicherlich auch zahlloſen Anhängern des Zentrums aus dem Herzen geſprochen. Aber glaubt die „Köln. Volksztg.“ im Ernſt, daß ihre Partei jemals gewillt ſei, den „ſtarken Mann“ gegenüber dem Kommunismus herauszukehren, wenn ſie ſich durch die Übernahme dieſer Rolle die Ausſicht auf eine gelegentliche nutz— bringende Koalition mit der Sozialdemokratie verſcherzen würde?

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Die Reichsregierung hat die innere Gefahr mit halben Maßnahmen bis zum nächſten Emporflackern dämpfen können. Vor dem Unheil aber, das ſich finſterdrohend von außen her gegen das Reich heranwälzte, iſt ſie einfach ins Mauſeloch gekrochen. Das Bittgeſuch an Harding bedeutet wohl die ungeheuerlichſte Belaſtungsprobe, die jemals das Nationalempfinden eines Volkes zu tragen gehabt hat. Daraus, daß trotz der trüben Erfahrungen mit Wilſon in unſerer verzweifelten Lage noch einmal Amerikas Vermittlung zu er— langen verſucht wurde, foll ſchließlich den Urhebern dieſes Schrittes kein Vorwurf gemacht werden. Der Ertrinkende greift ſchließlich ſelbſt nach einem Strohhalm. Aber die Form, der die Regierung Simons-Fehrenbach ihrem Hilferuf gab, war ſchmählich und kaum wohl jemals iſt der erſtaunten Welt ein Schauſpiel von ſo vollkommener nationaler Selbſtaufgabe geboten worden. Wenn die Leiter der deutſchen Angelegenheiten, wie es doch offenbar der Fall geweſen iſt, einfach nicht mehr wußten, was ſie tun ſollten, wenn ſie gänzlich ratlos den kommenden Entſcheidungen entgegenſahen, dann war es ihre verfluchte Pflicht und Schuldigkeit abzutreten. Niemals unterm „perſönlichen Regiment“ iſt fo ins Blitzblaue hinein Politik getrieben worden. Das ſelbſtherrliche Bor- gehen der Simons und Fehrenbach über die Köpfe des Volkes und des Par-

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lamentes hinweg ftellt alle jene ſpontanen Kundgebungen Wilhelms II., die feiner- zeit das Toben der Demokraten und die Misbilligung aller Vaterlandsfreunde hervorriefen, weit in den Schatten. Und nun komme noch einer daher und be- haupte, daß wir in der Republik und unter der Demokratie vor politiſchen Über- raſchungen befier gefhüst feien als früher!

Aber Amerikas Herzmuskel wacht das Hirn. Von dieſer einfachen Erwägung hätte Oeutſchlands Vermittelungserſuchen an den amerikaniſchen Prä- ſidenten zum mindeſten ausgehen müſſen. Amerika als Kontinental-Kom— miffionär das ift die Formel, die ſich als günftigenfalls für uns erreichbar aus dem Wuſt der heillos durcheinandergeratenen weltwirtſchaftlichen Intereſſen heraus- wirren ließe. Das will beſagen: „Aus ureigenſtem Untereffe ſtellen fih die Ber- einigten Staaten zwiſchen die europäiſchen Gegenkontrahenten, um über die wirtſchaftliche Brücke hinweg eine Entſpannung der politiſchen Lage zu ermöglichen.“

Das wäre nicht Phantaſie, ſondern, wie Treutler im roten „Tag“ des näheren auseinanderſetzt, „greifbares Gebild realer Tatſachen inſoweit, als Amerika mit biefer. Aufgabe die Chancen in die Hand bekäme, einerſeits die Gewähr für die pünktliche Bezahlung der von den Weſtmächten eingegangenen Schulden zu er- höhen dadurch, daß es die mitteleuropäiſchen Staaten in den Stand ſetzte, die Forderungen der Alliierten zu erfüllen, andererſeits ſeinem eigenen Handel in der geſamten alten Welt friſchen Auftrieb zu geben. Und da nun einmal in der Weltgeſtaltung von heute die Wirtſchaft den Gang der Politik in ihren letzten Ausſtrahlungen beſtimmt, wäre Amerika ſo auch befähigt, dieſe maßgebend zu beeinfluſſen, ohne ſich direkt einzumiſchen. Hardings Hauptgrundſatz in ſeiner Botſchaft, ſich nicht in die Angelegenheiten der Alten Welt verwickeln zu laſſen, bliebe mithin beſtehen, und Amerikas Europahandel wäre nicht nur geſichert, ſondern könnte ſich zu höchſter Blüte entfalten. Damit erreichte der republikaniſche Präſident bis zu einem gewiſſen Grade wenigſtens was Wilſons Phan- taſtereien nie gelingen konnte, ‚Weltrichter‘ zu fein.“

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Wenn aber nun alles verſagt, wenn keinerlei Hemmung irgendwelcher Art diejenigen zurückzuhalten vermag, die in der endgültigen Vernichtung Oeutſch⸗ lands das Ziel erblicken? Dann. fo antworten die „Grenzboten“, ift die einzige Waffe, die einem Volk in unſerer Lage noch verbleibt, die paſſive Reſiſtenz. Völker, denen eine ſolche Lage weniger neu ift, haben fie längſt mit Erfolg an- gewandt, fo neuerdings erft die Inder. „Man möge kommen und uns ver- walten. Es wird eine bittere und ſchädliche Aufgabe für den Feind fein... Die Induſtrie und der Zentralverband des deutſchen Großhandels, auch eine Reihe örtlicher Wirtſchaftsfaktoren find der Regierung mit gutem Beiſpiel voran- gegangen, indem fie zum Boykott aller nicht unbedingt notwendigen feind- erzeugten Waren aufriefen. Die Geſellſchaft hat hier den Staat zu erziehen. Verſagt die Geſellſchaft nicht, ſo iſt ein großer, vielleicht der entſcheidende Schritt aufwärts von der tiefſten Lage deutſcher Geſchichte getan. Bleibt Deutſchland diesmal feft, jo wird fih die ‚Reparationsbill' als ein Schlag ins Waſſer er-

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weiſen. Allerdings müſſen wir bereit fein, zu leiden. Aber der Feind, der uns jetzt nicht mehr goldene Berge verſpricht, ſondern Leiden ſo oder ſo, macht uns den Entſchluß leicht, wenigſtens fo zu leiden, daß er mitleide... Der Rheinzoll, d. h. im weſentlichen eine der deutſchen Wirtſchaft auferlegte Kohlen- ſteuer, wird unfer Wirtſchaftsleben ebenſo ſchwer belaſten, wie die Ausfuhr- pfändung ihm Lebensadern verſtopft. Wir ſind weit entfernt, das Ertragen dieſer Unannehmlichkeiten als leichtes Werk hinzuſtellen. Bluten aber müſſen wir fo oder fo. Dieſer Weg aber hat den Vorteil, daß für den Feind dabei ſich kein wirkliches Plus ergibt. Er ernährt vielleicht einige Schergen mehr auf deut- ſchem Boden. Aber er erhält nichts, was ihm die eigenen Vollzugskoſten des Wirtſchaftskrieges, der ſtets zweiſchneidig iſt, erſetzte, geſchweige denn darüber hinaus einen Überſchuß abwürfe. Er wird vermehrter Gläubiger in Papier- mark, die fih ganz entſprechend entwertet, und zerrüttet dafür mit dem euro- päiſchen ſein eigenes Leben.“

Daß ſich die engliſche Geſchäftswelt bei den eigenartigen Wirkungen der Sanktionen keineswegs ſonderlich wohl fühlt, tritt immer deutlicher zutage. Die „Daily Mail“ warf vor kurzem die Frage auf, wer der Ubermenſch fein werde, der das Ruhrgebiet mit feinen zwei Städten mit über einer halben Million Ein- wohner und mit ſeinen ſechs Städten von über hunderttauſend Einwohnern, mit ſeinen hunderten Kohlenbergwerken und ſeinen vielen tauſenden Fabriken ver— walten werde. Dieſe Aufgabe würde eine ungeheure fein, um fo mehr, als die deutſchen Direktoren, Ingenieure und Arbeiter ihre Mithilfe dabei verweigern würden. Das Blatt verſicherte, daß kein Engländer die Serwa dieſes Gebietes zu übernehmen Luſt haben werde...

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Es ſind fünfzig Jahre her, daß wie heute Simons für das unterlegene Deutſchland, Thiers im Namen der beſiegten Franzoſen Milderungen verlangte. „Niemals“, rief er, „werde ich in dieſe Forderungen einwilligen, niemals. Sie wollen unſer Land in ſeinen Finanzen und in ſeinen Grenzen ruinieren. „Oann nehmen Sie es ganz, verwalten Sie es, ziehen Sie die Steuern ein. Wir werden uns zurückziehen und Sie werden das Land regieren, ſoweit dies die Welt zugibt.“

Belfort wurde auf dieſe Art für Frankreich gerettet. Zweifellos war die politiſche Lage für die Franzoſen 1871 in Anbetracht der engliſchen Rückendeckung nicht fo ungünſtig, wie fie umgekehrt für uns Deutſche heute ift.

Aber die mannhafte Sprache des franzöſiſchen Unterhändlers iſt es, die uns mit Neid erfüllt. Uns Sieger von damals, die wir heute bekleckert die Hinter— treppe heraufſchleichen, wenn man uns die Vordertür vor der Naſe zuſchlägt.

Vom Lebenswerk Rud. Steiners

s ijt unter obigem Titel zum 60. Geburts- ö

tag des vielumfehdeten Anthropoſophen (27. Februar) ein gehaltſchweres Sammelwerk erſchlenen (München, Verlag Chr. Kaifer, 354 S., geh. 28 ). An dieſem von dem bekannten Berliner Pfarrer Lic. Dr Friedrich Rittelmeyer herausgegebenen Huldigungs- buche kann fortan weder Feind noch Freund vorübergehen. Es ſind nicht nur Mitglieder des engeren Kreiſes, die hier das Wort er- greifen. Der Nürnberger Hauptprediger D. Dr Chriſtian Geyer ift z. B. kein Anthropo- ſoph, weiß aber doch äußerft bedeutſam über „Steiner und die Religion“ zu ſprechen. „Wer die Geſchichte Swedenborgs kennt, weiß, wie verhängnisvoll ſchnell feine theologiſchen und philoſophiſchen Zeitgenoſſen mit ihm fertig geworden find. Ein gleiches droht jetzt gegen- über Steiner. Auch hier beginnt das Reden über und gegen ihn, bevor man ihm auf- merkſam zugehört hat. An dieſer Verſün⸗ digung gegen die Vorſehung möchte der Ber- faſſer dieſer Zeilen nicht Anteil nehmen. Darum hat er, obwohl er nicht zur anthropo- ſophiſchen. Geſellſchaft gehört und aus eigen- ſter Erfahrung all die Hemmungen kennt, die einem modernen Theologen den Zugang er- ſchweren, in Wort und Schrift (D. Dr Geper, Theoſophie und Religion, Theoſophie und Theologie, Nürnberg, Fehrle & Sippel, 2. Aufl. 1919) auf die Bedeutung Steiners für Religion und Theologie hingewieſen, und benüßt mit Freuden die Gelegenheit dieſes Buches, um es wieder zu tun.“ Und Pfarrer Rittelmeyer bittet: „Nicht um eine Steiner- mode heraufzuführen, haben wir geſchrieben, ſondern um die Beſten, Freiſten, Ernſteſten auf allen Gebieten zur Prüfung herauszu-

fordern.“ So ſchreibt er ſelbſt denn über „Steiners Perſönlichkeit und Werk“, auch über feine Stellung zum Deutſchtum; der norwegiſche Dozent Dr Richard Erikſen über „Steiner und die Philoſophie“, Prof. Dr Hans Wohlbold über „Steiner und die Natur- wiſſenſchaft“; Dr Erich Schwebſch, Berlin, betrachtet Steiners Verhältnis zu Goethe, Prof. Dr Hermann Bedh zum Morgenland, der Schweizer Dr Roman Boos zur Politik; während Lehrer Michael Bauer Steiners Beziehungen zur Pädagogik, Ernſt Uepli ſeinen Einfluß auf die Kunſt darlegt und der Breslauer Stadtbibliothekar Dr Richard Dedo mit einem Überblick über das literariſche Werk des Gefelerten das Ganze abſchließt.

Für dieſe Männer war wie auch für den Dichter Chriſtian Morgenſtern die Begegnung mit Steiner ein Erlebnis. Etwa wie es an einem Beiſpiel Ernſt Uehli ver- anſchaulicht, dem der Beſuch im Atelier zu Dornach „ein künſtleriſches Ereignis von Lebensbedeutung“ geworden. „Ungefähr 50 Menſchen, den verſchiedenſten Nationali- täten angehörend, hatten ſich im Atellerraum verſammelt. Steiner im ſchlichten weißen Bildhauerkittel ſprach einiges über die (dort der Vollendung entgegengehenden) Gruppen. Außer den einzelnen Teilen befanden ſich noch eine Anzahl Modelle und Vorarbeiten im Atelier, Zeugniſſe eines jahrelangen Ringens nach endgültiger Geſtaltung. Alle dieſe Ar- beiten einem Leben abgerungen, das neben der ungeheuren Arbeitslaſt, die der Bau mit fih bringt, eine unerhörte Fülle von wiffen- ſchaftlicher, ſchriftſtelleriſcher, ſozialer und Vortragstätigkeit in ſich ſchließt. Was er als Künſtler ſprach, war bis in jedes Wort hinein markant und geiſtdurchformt, aber von einer Einfachheit, hinter der alles Perſönliche zurüd-

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trat. Mitten im Anblick dieſer Werke erhielten feine Worte eine tief ergreifende Reſonang Das Werk gab einen unauslöſchlich haftenden Hintergrund“.

So kommt jeder dieſer Mitarbeiter dazu, von einem beſondren Ende her Steiner als eine „epochale“ oder „phänomenale“ Erſchei- nung zu verehren, wobei natürlich andre Beit- genoſſen oder Meiſter der Vergangenheit leicht ein wenig neben dem Helden des Feſttags verblaſſen.

Die „Dreigliederung des ſozialen Organis- mus“ hat viel Staub, viel häßliche Fehde aufgewirbelt. Vielleicht bahnt dieſes Buch eine mehr ſachliche Beſprechung an.

Siegfried Wagner

wird auf unſren Bühnen gröblich vernad)- läſſigt, während der „Reigen“ feine Unzucht tanzt. Das Publikum hat alſo gar keine Möglichkeit, fich über dieſen Tonkünſtler ein feſtes Urteil zu bilden. Immerhin dringt auch durch die Berliner Kritik anläßlich eines von ihm dirigierten Konzertes etwas wie eine Ahnung durch, was hier hätte werden können, wenn man diefe Begabung nicht von ihrem Wirkungsfeld abſchlöſſe. In der gewiß unbefangenen „Welt am Montag“ lieſt man, in berlinerhaftem Tone freilich, bereits fol- gendes: l

„Als einft einer meiner Studiengenoſſen den Triſtan-Schöpfer, von der gewährten Ehre beglückt, in feiner Vaterſtadt herum- führte, geſchah es, daß der Meiſter feinen jungen Anbeter unterbrach: „Ach was, ich bin ja nur der Wotan. Der Siegfried kommt erſt noch nach.“ Sollte dieſe beſcheidene, ſo unwagneriſch erſcheinende Regung nicht ſtärkſt bei der Geburt des ſpäteren Bayreuther Thronerben aufgetaucht fein? Die Vor- namenswahl und das „Siegfried- Idyll“ fprä- chen dafür. Trifft dies zu, fo war ſolche hold- naive Hoffnung natürlich eine Utopie. Denn daß der Hochbau einer Geiſtesgröße juſt von ihrem Sohn übertrumpfend mit einem Turm gekrönt werden könnte, verneint alle Erfah- rung. Freilich iſt umgekehrt die Annahme der alles behufs hirnlicher Handlichkeit in eine

Auf der Varte

Nußſchale quetſchenden Klotzköpfe, daß Genie- ſöhne insgeſamt Nullen ſeien, gleich irrig. Ein wie gegenteiliges Beiſpiel bietet allein die Famille Bach! Doch unter dieſem Bor- urteil hat ſo mancher lebenslang zu leiden gehabt. Auch Siegfried Wagner. Dieſer unterbreitete in der Philharmonie mit dem Saalorcheſter und dem Tenoriſten Walter Kirchhoff, der Sachlage nach als Dirigent (was er von Natur nicht ift), allzu kleinmütig fein Programm mit Vater Richard und Groß- vater Liſzt (die ihn ſelbſt nur ſchädigten) auf- zuputzen trachtend, Bruchſtücke aus eigenen Bühnenwerken: Wittichs Sonnengeſang aus „Vanadietrich“ und Vorſpiele zu dem Märchen— ſpiel, An allem ift Hütchen ſchuld“, zu, Sonnen- flammen“, „Friedensengel' und zum ‚Schmied von Marienburg“. Wer mit aufmerkſamen, durch Anverſtändigkeit unverdrehten, gut- willig eingeſtellten Kennerohren da hinein- lauſchte, wird mir beiſtimmen: Ein durchaus berufener, trefflich geſchulter, lob— würdigem Ziel zuſtrebender Kompo— nift?! Volkstümliche Thematik, logiſches Sin- nen und Spinnen, durchſichtig-feines Or- cheſterfiligran! Vor allem angenehm mode feindliche Melodienblüte! Allerdings auch Fehler. Zwei. Ererbte. Längenliebe, libret- tiſtiſcher Sprachſchwulſt. Erwürbe er einen Freund, der ihm das Rotitifteln und das Vers— feilen beibrächte, ſonſt auch feinem in dem ein- famen, engen, Wahnfriedlichen (friedlichen!) Treibhauſe gehinderten Naturwuchs noch nade träglich aufhülfe, fo ſchüfe er uns vielleicht die lang erſehnten Volksopern im Stil, in der Linie, im Wert etwa wie ſeines Meiſters Humperdinck ‚Hänfel und Gretel“ ...“

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Nach ſibiriſcher Gefangenſchaft

Wenn man Sandros packende, von Ari- fang bis zu Ende feſſelnde „Flucht— nächte in Frankreich“ (Stuttgart, Oeutſche Verlagsanſtalt) lieſt, möchte man ein neu— deutſches Heldenbuch wünſchen, das die Leiſtungen dieſer im Dulden wie im Trotzen gleich zähen und wagemutigen jungen Oeut- ſchen ſammelnd feſthält. Ahnliche Gedanken wecken die Betrachtungen eines ſibiriſchen

Auf der Warte

Gefangenen des Lehrers Martin Müller der im vorigen Jahre zurüdgelehrt ift und im „Volkserzieher“ ein paar ſehr ernſte Töne anſchlägt. Wie anders fanden manche dieſer leidgereiften Helden ihr Vaterland, als ſie ſich's auf ihren Leidensſtationen erträumt hatten!

.Ich darf eigentlich nicht ſprechen von der Knute der Koſaken, von den Arreſtſtunden im Leichenhaus zwiſchen Toten, von dem ab- ſichtlichen Zugrunderichten- Wollen unſres Blutes, von dem großen Sterben, das durch uns ging... Aber wir haben uns nicht unterkriegen laſſen! Achtung haben wir unfe- ren ruſſiſchen Vorgeſetzten doch abgezwungen. Wenn wir nachts draußen auf den Trümmern unſerer Arbeit in den ſternefunkelnden Himmel die Veethovenſche „Heilige Nacht“ fangen, dann ſchlichen ſie beſchämt wie die Hunde von dannen. Und wenn ich ſie am anderen Tage traf, ſo konnten ſie meinen Blick nicht ertragen und wurden beim Sprechen ver- legen. Unter ſich haben ſie uns ſeit jener

Zeit die ſtolzen ſteinernen Germanen

genannt. Und wenn wir bebürdet zur Arbeit zogen, ſo blickten ſie ſcheu hinter den Fenſtern hervor.“

Diefer Heimgekehrte nach fünfjähriger Gefangenſchaft! überhört auch im Ruffen- tum nicht den Schrei nach Liebe und gedenkt mit tiefem Dant einer edlen Wohltäterin wie der Schwedin Elfe Branditröm.

„Ich dachte des einfachen Ruffen, den ich mir von der Straße Moskaus nahm und mir Führer fein ließ in dem himmelſtrebenden Prachtbau der Erlöſerkirche: wie er vor dem Gemälde der Abendmahlſpende aus der Seele von Millionen ſprach. mit der Hand auf die Zwölfe weiſend: „Siehe, das find die un- blutigen Kommuniſten.“ Und ich verſtehe bieſes Verlangen nach Liebe, das im ruſſiſchen Volke ringt und Wahrheit werden will, aber nicht durfte und nicht darf, da

allzuviel Volksfremdlinge und Eindringlinge

am Werke Und was mich die erſten deutſchen Worte und Blicke fühlen ließen, das weiß ich jetzt: Ich hatte die deutſche Lichtburg nur geträumt Oer Schrei der Liebe geht auch hier wie drüben ungehört vorüber. Der große Naza-

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rener ſteht noch immer vor der Tür; und wo er durch die Straßen ſchreitet, weichen ſie gar ſcheu ihm aus und meiden feinen Weg.

Und wenn man auch das Bildnis der Schwedin Elſe Brandſtröm in Silber graben läßt es iſt ja doch nur Sötzendienſt. Es tat mir vor vierzehn Tagen fo weh, als ich ihr Bild da drüben an der Wand im Kaſten neben einer amerikaniſchen Straßenſignale ſtation hängen ſah. Der Heldin ſelbſt wohl auch; denn ihr Geſicht iſt gar ſo trübe. Hat gar nichts mehr an ſich von dem Glanz, der auf ihm lag, da ſie durch die Typhusreihen ſchritt PR we

Ich febe fie noch, wie fie am Stamme

ſaß bei uns dahinten in der Barade, in der

es nie hell wurde. Ich ſehe noch den Lager- älteſten der deutſchen Offiziere, wie er ſie abhalten wollte, zu uns hereinzukommen und ſelber draußen blieb, da ſie doch ging. Und wenn ich weiß, daß in Stolp jener Frau, die ſich ebenſo geopfert wie die Elſe Brandſtröm, die in Sibirien die Kranken ge- pflegt wie ihr eigenes Kind, das ſie bei ſich hatte, die ſich in unſeren Reihen die Pocken, den Typhus geholt, und doch nicht mũde ward, die nach ihrer Heimkehr drei Monate in Oeutſchland umhergereiſt, um Wege ſchnellerer Hilfe zu öffnen, die bereit iſt, noch einmal hinüberzugehen, wenn es gilt: wenn jener Frau, nachdem ſie endlich eine Bleibe gefunden, am erſten Tage verboten wird, in die Küche der Hauswirtin zu kommen, daß ſie genötigt iſt, in die Kneipe zu gehen, um ihren Ourſt zu löſchen: und wenn das noch dazu die Vorſteherin des Stolper Wohltãtig ; keitsvereins ift... | Dann klingt uns wahrlich viel nach Hohn. Dann werden's auch manche verſtehen können, wenn in unſern Herzen eine ferne Sehnſucht nach Sibirien klingt. Mag's auch wie halber Wahnſinn ſcheinen. Das iſt die Tragik aller Heimkehrer, die die Gefangenſchaft bis zum letzten Tropfen haben auskoſten müſſen.“ Nicht doch! Das ift nur vorübergehende Tru; bung. Oeutſchland iſt jetzt euer Arbeitsfeld! Dieſer Heimkehrer bekennt einmal, daß er, trotz alledem, „an des Eismeers Küſte ein Reich Gottes geſehen“ weil ſie alle, dieſe

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Schickſalsgenoſſen, in Liebe und Treue feſt zuſammenhielten. Wird er einmal in Deutjch- land dieſes Reich Gottes erleben?

Sven Heding Ermunterung

B' F. A. Brockhaus, Leipzig, erſcheint ein Buch von Alma Hedin, „Arbeits- freude“ (Was wir don Amerika lernen können). Dem Buch ſeiner Schweſter ſchickt Sven Hedin ein Vorwort voraus, worin er „mit uner- ſchütterlicher Überzeugung zwei Prophezei— ungen auszuſprechen“ wagt:

„Zum erſten: Wenn die Politik der Entente noch längere Zeit von demſelben unverföhn- lichen Haß beſtimmt wird wie jetzt, ſo treiben wir in Europa einer Kataſtrophe entgegen, mit der verglichen der Weltkrieg ein Kinder- ſpiel geweſen iſt.

Zum anderen: Unter allen Umſtänden wird Deutſchland einmal ſich wieder erheben, ſich erholen und ſeine alte Größe und Macht wiedergewinnen.

Das deutſche Volk beſitzt alle Voraus- ſetzungen, um in der Welt eine führende Rolle zu ſpielen. Seine Arbeitsfreude, feine Gründlichkeit, ſeine Ehrlichkeit, ſein Handel und ſeine Induſtrie, ſeine Wiſſenſchaft und Kunſt ſtehen ſo hoch oder höher wie die aller andern Völker. In Organiſation und Diſziplin aber waren die Oeutſchen fo weit gelangt, daß ſie vier Jahre lang der ganzen Welt ſtandbalten konnten, und daß fie erft zu be- ſiegen waren, als die Übermacht ſich nach deutſchem Muſter organiſiert hatte und die Deutſchen durch ihren Selbſtmord dem Feinde zuvorkamen. Der ganze Weltkrieg drehte ſich um Deutſchland.

Ein zerſchmettertes und vernichtetes Deutſchland würde in der Mitte Europas einen leeren Raum zurüdlaffen, der wie eine Krebskrankheit den ganzen Erdteil in Fäulnis verſetzen und die chriſtliche Kultur dem Unter- gang entgegenführen würde. Ein Volk, das eine ſo unerhörte Prüfung wie den Weltkrieg überlebt hat, das gleichzeitig mit Fronten nach allen Richtungen gekämpft hat, und das am Ende noch von ſeinem eigenen verbluteten Bundesgenoſſen im Stich gelaſſen wurde

Auf der Warte

ein ſolches Volk iſt berufen, zu einem viel höheren Grad von Entwicklung emporzu- ſteigen, als es vor den Tagen der Prüfung beſaß

Den Deutſchen ruft Spen Hedin zu: „Hört auf mit der fchändlihen und feigen Verleumdung der Armee und der militäriſchen Führer, die euch von Sieg zu Sieg führten! . . . Ih möchte jedem Deutſchen zurufen: Schweige, arbeite und erſetze durch fel- ſenfeſtes Zuſammenhalten den Partei- bader!“

*

Norwegiſche Studenten und das Verwelſchungsfeſt der Straßburger Univerſität n dem ſonſt fo feierlich ruhigen alten Feft-

faal der Univerſität Kriſtiania fand im

Oktober 1919 eine ſehr erregte Akademiker;

verſammlung ftatt, wo die Geiſter des kalten

Nordens mit ſüdländiſcher Leidenſchaft auf

einander platzten. Die franzöſiſche Studenten-

ſchaft hatte ihre Kommilitonen in Norwegen zum Verwelſchungsfeſt der Straß burger Univerfität eingeladen.

Trotzdem Norwegens öffentliche Meinung von Northcliffe und Alliance Française mit bewundernswürdiger Beharrlichkeit bearbeitet worden waren, hatte der norwegiſche Stu- dentenausſchuß doch fo viel Beurteilungs- vermögen, daß er ſagte: „Aus Neutralitäts- gründen iſt es uns unmöglich, dorthin zu gehen.“ Eine Minderheit, allerdings eine ſehr einflußreiche, war aber anderer Meinung. Ihr geiſtiger Führer war der Polarforſcher Prof. Dr Frithjof Nanſen. Er hielt auf jener Verſammlung auch die Hauptrede. Er führte darin aus, daß es nicht ein Siegesfeſt jei, zu dem die norwegiſche Studentenſchaft nach Straßburg eingeladen ſei, ſondern es ſei ein Feſt, auf welchem Elſaß-Lothringens Wiedervereinigung mit Frankreich gefeiert werden ſoll, ein Feſt, wodurch der Sieg des Rechtes über den preußiſchen Militarismus zum Ausdruck gebracht werden ſoll! (Der berühmte Polarforſcher war damals wohl noch nicht zur Erkenntnis gelangt, daß es z. B. auch in Frankreich ſo etwas wie Militarismus

Auf der Warte

gibt?) Weiter führte er aus: Die Gefahr, welche der deutſche Militarismus für die Frei- heit der Nationen war, iſt nun abgeſchlagen; die franzöſiſche Jugend zog in den Kampf gegen ihn und ſiegte deshalb hegt die große Mehrzahl des norwegiſchen Volkes fo ſtarke Gefühle für Frankreich. Wir find ein- geladen und wollen dabei ſein, mitzufeiern den Sieg der franzöſiſchen Lebensauffaſſung über den deutſchen Militarismus.

Nach Profeſſor Nanſen ſprach Nils Collet Vogt, der berühmte lyriſche Dichter; er meinte, in Straßburg würde ein Auferſtehungsfeſt (I) gefeiert werden und Frankreichs Siegestag ſei auch Norwegens Siegestag, deshalb müß- ten ſie abſolut nach Straßburg!

Hierauf beſtieg ein junger Hiſtoriker

Worm-Müller das Podium; aber er kam nicht weit, denn es gab einen gewaltigen Skandal: die „Neutraliſten“, die bis daher aus Reſpekt vor den zwei Großen Nanſen und Collet Vogt ruhig waren, ſchlugen nun einen gewaltigen Krach. Nachdem die ger- maniſchen Parteigänger Frankreichs ſich der „Neutraliſten“ etwas geräuſchvoll entledigt hatten, konnte Worm-Müller ſeine Rede zu Ende bringen, man war dann hübſch unter ſich. Auf Vorſchlag von Prof. Chr. Collins wurde zunächſt folgender Gruß an die fran- zöͤſiſche Studentenſchaft geſchickt: „An Frant- reichs, in Straßburg zur Feier der Befreiung verfammelte Studenten ſenden wir älteren und jüngeren Akademiker unſeren warmen Glückwunſch und die Verſicherung unferer tiefen Sympathie. Wir teilen Eure Freude, da wir die elſaß; lothringiſchen Brüder wieder vereint mit Frankreich ſehen, wir hiſſen unſere dreifarbige Flagge, deren Farben uns an Frankreich erinnern, zu Ehren von Frankreichs Jugend, dankerfüllt für deren Heldenmütig- keit im Kampf für Freiheit und Recht.“ Man ſieht, die galliſche Advokaten Dialektik ging nicht ſo ſpurlos an unſeren nordgermaniſchen Brüdern vorüber,

Zuletzt wurde einem Ausſchuß noch das

Recht übertragen, eine Abordnung für das Straßburger Verwelſchungsfeſt zu ernennen. Dann ging man auseinander, fühlte ſich ganz als Gallier, denn beim Scheiden ſangen dieſe

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„Germanen“ () ſtehend die Marfeillaife und brachten ein neunfaches „Vive la France!“ aus!

Nun, die Abordnung der Minderheit, an deren Spitze der Hiſtoriker Worm-Müller und ein Herr Meyer-Mykleſtad ſtanden, reiſte nach Straßburg.

Von elſäſſiſcher Seite war der Hiſtoriker Worm-Müller vorher auf die altdeutſchen elſäſſiſchen Klaſſiker, Erwin und Goethe, nebſt Seſenheim aufmerkſam gemacht worden, mit der Bemerkung, daß dieſe Reife der Nord- germanen zu dem Verwelſchungsfeſt der Straßburger Univerſität auf die germaniſch fühlenden elfaß-lothringifchen Kommilitonen, und es ſeien deren nicht wenige, einen bitteren Eindruck machen müßte. Stolz überreichten die Norweger eine ſeidene Flagge dem Strak- burger welſchen Studentenausſchuß und ent- ſchuldigten fih, daß es beileibe nicht Boche- Freundlichkeit der Mehrheit geweſen ſei, die keine Abordnung ſenden wollte.

Meyer-Mykleſtad ſchrieb dann einen Pan- egyrikus über dieſe Tage des Freudenrauſches in Straßburg, drei lange Artikel, in „Aften- poſten“, einem vielgeleſenen norwegiſchen Blatt franzöſiſcher Richtung (Nr. 55 und 60, 1920). Es wurde von altelſaſſiſcher Seite (Realdirektor Dr Beyer) verſucht, „Aften- poſten“ zu veranlaffen, einen Kommentar zu eben jener Meyer-Mykleſtadiſchen Proſa über „Strasbourg“ zu bringen, der ſich in völlig ſachlicher Weiſe mit dem befaßte, was die Norweger in Straßburg nicht geſehen und nicht gehört hatten. „Aftenpoſten“ konnte dies aber nicht gut tun, denn einer ſeiner Hauptſchriftleiter war gerade zum Ehren- legionsritter ernannt worden und ſchwieg alſo die Arbeit tot. Des Rechtes der ger- maniſch fühlenden Elſaß- Lothringer ſowohl Alt-Elſaß- Lothringer als auch neue ſcheint fich leider auch niemand in unſerem Oeutſch⸗ land ſo recht annehmen zu wollen. Als „Aftenpoſten“ nichts weiter von ſich hören ließ, wurde der Verſuch gemacht, beſagten Kommentar dem norwegiſchen Studenten- ausſchuß vielleicht durch Vermittlung der deutſchen Studentenſchaft zu unterbreiten.

Die Meinung, daß der „Allgemeine deutſche Studentenausſchuß in Göttingen“

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diefe Aufgabe mit Freuden tun würde, war aber irrig: die Göttinger meinten nämlich, dies könnte ausgerechnet das Berliner Auswärtige Amt tun. Nun wurde dieſer Kommentar direkt an den norwegiſchen Studentenausſchuß in Kriſtiania geſchickt. Es iſt nicht bekannt geworden, was aus dieſem Schriftſtück geworden iſt. Verleſen wurde es aber wahrſcheinlich nie in einer Studenten ausſchußverſammlung ebenſowenig gedruckt.

Die erwähnten Hauptereigniſſe ſpielten ſich im Oktober und November 1919 ab. Der Dezember kam, und da geſchah ein Wunder: aus dem leidenſchaftlichen Parteigänger Frankreichs und Freund der Verwelſchung der Straßburger Univerſität Frithjof Nanſen wurde im Dezember, als es gegen das liebe Weihnachtsfeſt ging, ein Deutſchenfreund.

Der rührige Brodhaus-Derlag übermit- telte damals unſerem Volk Nanſens „Freiluft- Leben“ und extra für den lieben deutſchen Leſer hatte der gute norwegiſche Onkel eine Troſtpredigt als Vorwort geſchrieben! Bft das nicht rührend?

Nehmen wir vergleichsweiſe einmal an, die Ruffen hätten ſeinerzeit die Nuſſifizierung der Univerſität Helſingfors feſtlich begangen, und eine Minderheit deutſcher Studenten hätte ſich dort vertreten laſſen und der ver- rußten Univerfität eine deutſche Flagge über- reicht: was hätten wohl Nanſen und all feine norwegiſchen Verwelſchten dazu ge ſagt? G. H.

*

Einhämmern!

as war's, was der feindliche Zeitungsſtab

ſo großartig verſtanden hat: die ganze

erreichbare Welt in den Bannkreis ihrer Vor-

ſtellungen zu zwingen, derb und unbedenklich!

Und das iſt's, was der mehr vernünftelnde als wollende Deutſche nicht verſteht.

Ach, die verderbliche Temperamentloſigkeit des Durchſchnittsdeutſchen! Oer nicht ein- mütig-großpolitiih zu denken vermag! In Berliner Zeitungen wurde mehrmals darauf bingewiefen, fo von W. v. Maſſow, wie raſch der durchſchnittliche deutſche Leſer wichtige, politiſch äußerſt verwendbare Tatſachen zu

Auf der Warte

vergeſſen pflegt. „Überall ſchon reckt die Wahrheit, die wir ſchon verſunken glaubten, aus der Flut ihre Hand empor, und wir er- greifen fie nicht! Gewiß, es ſteht ‚in der Zeitung“ und wird allgemein geleſen. Wenige Tage ſpãter iſt es von den meiſten vergeſſen. Das Ausland horcht einen Augenblick auf und wartet, was der Nächſtbeteiligte, Deutſchland, dazu ſagt, und da es nicht viel iſt, was es Darüber zu hören bekommt, fo endet die Sache mit Achſelzucken. Bald werden wir wohl fo weit fein, daß es ſchon mit Achſel- zucken anfängt. Was hätten unſere Gegner aus dem Suchomlinow-Prozeß gemacht, wenn ſie die Sache ſo zu ihren Gunſten hätten verwenden können, wie das Ergebnis in Wahrheit für uns ſprach! Noch nicht ein: Vierteljahr ift es her, feit der ehemalige Hafen- kollektor von Neuyork, Dudley Field Malone, mit wichtigen Enthüllungen über die von ihm amtlich geprüfte Ladung des Dampfers „Luſitania“ hervortrat und in öffentlichen Reden die damaligen amtlichen Lügen der Wilſon-Regierung brandmarkte. Auch das wurde in allen deutſchen Blättern gewifjen- haft vermerkt, auch zum Teil ausführlicher erläutert. Wer weiß heute noch etwas von dieſem wichtigen Zeugnis über die Irre führung des amerikaniſchen Volkes in einem Falle, der für den ſpäteren Eintritt der Ver- einigten Staaten in den Krieg gegen uns grundlegend geworden ift? Neuerliche be- deutungsvolle Urteile über die Schuldfrage aus dem Lager der ehemaligen Neutralen und auch Amerikas finden in Deutſchland nur geringen Widerhall. Als der Engländer Morel ſeine Landsleute über die Schändung der weißen Raſſe durch die ſchwarzen Franzoſen im Rheinlande aufklären wollte, mußte er bittere Klage erheben, daß er durch die öffentliche Meinung in Deutſchland nicht unterſtützt werde. Als mir im Auguft 1920 amtlich beglaubigtes Material über die Un- taten der Schwarzen im Rheinlande an deutſchen Frauen und Mädchen zur Ver— fügung geſtellt worden war, lehnte eine an- geſehene Zeitſchrift eine Veröffentlichung darüber mit der Begründung ab, daß ſie das Thema ſchon einmal im Mai () behandelt

Auf der Warte

babe...“ Und noch ein Beiſpiel zu dieſer kleinen Blütenleſe! Vor einiger Zeit hat Herr Paléologue, der ehemalige franzöſiſche Botſchafter in Petersburg, ſeine Erinnerungen aus der Zeit des Kriegsausbruches veröffent- licht. Sie ſind an ſich nicht viel wert. Nach dem Urteil eigener Landsleute ift er mehr „Romancier“ als Hiſtoriker, und fein deut- ſcher Kollege aus jenen Tagen, Graf Pour- talss, hat ihm nachgewieſen, daß er mehr als kräftig geflunkert hat. Aber es ift doch gerade recht bezeichnend, daß dieſer Mann, dem es auf eine Handvoll freie Erfindungen nicht ankommt, um feine Erlebniſſe und Ber- dienſte in bengaliſcher Beleuchtung ſpielen zu laſſen, offenbar im Eifer des Geſchäfts vergeſſen hat, einen Schleier über eine Tat- fahe zu breiten, die die franzöſiſche Re- gierung ihrem Volke bisher ängſtlich zu ver- ſchweigen und zu verhüllen befüfjen war: es iſt die Tatſache, daß die ruſſiſche Mobil- machung der deutſchen vorausging und dies der franzöſiſchen Regierung be kannt war. Wo bleibt die Ausbeutung dieſes Geſtändniſſes in der deutſchen Preſſe?“ . In einer ähnlichen Betrachtung ſchreibt Dr Herbert Stegemann: „Wir Deutſchen

haben noch imnier nicht das Weſen der

Propaganda recht begriffen. Wir ſtecken noch . in den Kinderſchuhen eines weltfremden Idealismus, der da glaubt, das Gute und Echte werde ſich ſchon von ſelbſt durchſetzen“ ja, oder wir gehen ſo plump ins Zeug, daß man ſchon von weitem die Abſicht merkt. Man muß bei Paul Rühlmann („Kultur- propaganda, grundſätzliche Darlegungen und Auslandsbetrachtungen“, Charlottenburg, Deutſche Verlagsgeſellſchaft für Politik und Geſchichte) nachleſen, „in wie vorbildlicher Weiſe die einzelnen europäiſchen Großſtaaten dieje kulturpropagandiſtiſchen Aufga- ben gelöſt haben. Allen voran Frankreich, dem die alte Tradition von der Überlegenheit der franzöſiſchen Kultur, des lateinifchen Genius dabei zuſtatten kam, und das in zähem Selbſtdewußtſein und in unerjchütter- lichem nationalen Willen feine geiſtigen Fang- arme über ganz Europa, über Amerika, über die geſamte zugängliche Welt ausſtreckte. Der Türmer XXIII, 8

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Unter dem Schlagwort des ‚Genie Latin‘ ward Südamerika, ward Spanien, Belgien mit einem Netz von wiſſenſchaftlichen, künſt⸗ leriſchen und ſonſtigen geiſtigen Beziehungen alier Art überſponnen, und die reifen Früchte dieſer mit Geldopfern, Klugheit, Umſicht und Takt durchgeführten Propaganda fielen Frant- reich im Weltkriege als reife Früchte in den Schoß.

Aber nun ſehe man ſich einmal das Weſen der franzöſiſchen Schule an: wie da na- tionales Empfinden von früh an eine ſelbſtverſtändliche Grundlage des ganzen Unterrichts bildet, beſonders in Geſchichte und Volkskunde!

Sind die Menſchen durch den Krieg ſchlechter geworden?

ine Frage, die heute manchen bewegt! Hat Spengler recht? Sind wir im Untergang?

Vergleichen wir äußerlich die Handlungen oder Sinnesart der Menſchen vor dem Kriege und heute, ſo müſſen wir allerdings urteilen: ja, durch den Krieg iſt die Menſchheit von der erreichten Kulturhöhe heruntergeſtürzt; das deutſche Volk ſcheint wie einſt durch den Dreißigjährigen Krieg in verworrene Ber- hältniſſe zurückgeſunken. Lug und Trug be- herrſchen die Welt, wild wirbelt der Tanz um das goldene Kalb, Genuß ohne Maß iſt das Scheinglück, nach dem jeder einzelne mit allen Kräften ſtrebt; jedem iſt das niedete Ich die Gottheit, der er alles opfert. Die Kräfte, die ſich ſelbſt befreiten, werden zu einem tobenden Meer, das gegen die Deiche brandet. Die Oeiche bröckeln, ſtürzen und hemmungs- los ergießen ſich die Fluten über das Land.

Das iſt die Sachlage. |

Aber wie das Meer bas gleiche ift, ob es friedlich glatt in leichten Wellen ans Ufer ſchlägt oder ob es aufgepeitſcht als Sturm- flut die Deiche zerreißt und fih ins Land er- gießt fo ift der Menſch der gleiche, ob er im Schutze friedlicher Ordnung ſein Feld beſtellt oder ob er entfeſſelt die Schranken niederreißt, in die ihn das Gemeinſchaft- leben zwang. Übermächtige Naturkräfte find

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es, dort wie hier, die beide zum Überwallen bringen. Mit gleicher Bewunderung und mit gleicher Betrübnis ſehen wir die Ver- heerungen, die beide anrichten.

Das Meer bleibt immer das gleiche. Aber der Wind verwandelt ſein Außeres bis zur Unkenntlichkeit. Der Menſch bleibt immer der gleiche: aber der Geiſt, von dem er ſich treiben läßt, macht ihn zum Schöpfer oder zum Vernichter.

Nach Freiheit ſtrebt der Menſch als nach dem höchſten Gut; doch die Lebensgemein- ſchaft mit andern fordert für jedes Nehmen ein Geben, zwingt alſo zur Beſchränkung. Leicht fügte ſich der Menſch dieſer Notwendig- keit im Frieden, als Freiheit und Beſchrän⸗ kung ſich in ausgeglichenem Ebenmaß die Wage hielten. Doch als der Krieg zur Wah- rung der Freiheit die größte Beſchränkung erforderte, verwandelte ſich das ruhige Mit- einander beider Kräfte in ein aufgeregtes Widereinander. Und ſchließlich, nach der langen Kriegsſpannung, brach die Zchſucht ungehemmt heraus.

Und doch: die Menſchen ſind durch den Krieg nicht ſchlechter geworden. Nur die not- wendigen Feſſeln find nacheinander ge- fallen, fo daß die Ichſucht zur ungehemmten Herrſchaft kam. Was können wir tun, um unſer Volk emporzureißen aus den Tiefen?

Der Wind iſt es, der das Meer bewegt: der Geiſt iſt es, der den Menſchen treibt. Laßt uns die ganze Kraft ſammeln auf den rechten Geiſt! Was iſt der rechte Geiſt? Es iſt der Geiſt freiwilligen, ſelbſtloſen Dienſtes, der dort aufbaut, wo der Geiſt ſelbſtſüchtiger Zügelloſigkeit niedergeriſſen hat. Der Geiſt ſei rein, ihr Zungen, der im neuen Vaterlande herrſchen foll! Dieſer ſittliche Stolz muß der Jugend in Fleiſch und Blut übergeben! Es gilt, den reinen Geiſt zu ftär- ken und zuſammenzufaſſen zu ſchöpferiſcher Kraft. Es gilt den Geiſt der Selbſtloſig— keit, den Geiſt des Idealismus, den heiligen Geiſt der Wahrheit zu ermutigen. Er wirkt ſchon in den verſchiedenſten Formen, Grup- pen, Gemeinſchaften aber ſie alle ſollen fth eins fühlen als die zum Aufbau Be- rufenen! Zetzt ift not, über die Verſchieden⸗

Auf der Varte

heiten hinwegzuſehen, ſich zuſammenzuſchlie⸗ ßen zum Geiſteskampf gegen den einen Feind. Jetzt muß reine Liebe gegen Selbft- ſucht, Geiſt gegen Stoff, Aufbau gegen Zerſtörung wachgerufen werden. Laßt uns nie vergeſſen, daß wie Kampfgenoſſen ſind; und zwiſchen Kampfgenoſſen gibt es nur Wetteifer in Liebe.

Dieſe Liebe, die Tod und Leben zu- ſammenkettet: ſollte die nicht gleichſtrebende Bewegungen zueinanderziehen? Es muß ſo ſein! Ich ſage nicht: es iſt Pflicht des Chriſten dafür zu ſorgen, daß es ſo ſei; denn was heißt Pflicht gegenüber der alle Gebote verdunkelnden Liebe! Aber räume jeder Chriſt in ſich die Hinderniſſe aus dem Wege, die der kräftigen Ausſtrahlung dieſer Liebe entgegenſtehen! Dann wird der Edelmenſch alle Mitſtrebenden mit feinem heiligen Feuer anſtecken. Mehr Feuer! Der Proteſtant darf den Katholiken nicht mehr als Gegner be- trachten, nicht mehr der Katholik den Prote- ſtanten mit Ungläubigen auf eine Stufe ſtellen. Ich weiß, es gibt in beiden Lagern viele, die in dieſem großen heiligen Kampfe ein Miteinander ſtatt des Gegeneinanders wollen. Dieſe ſollen ſich die Hände reichen. Sollte der heimliche Bund aller Chriſten und Idealiſten nicht ſtärker fein als die Untergangs- Stimmung?! Werner Leopold

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Nachdenkliches aus der vierten Klaſſe

s iſt während des Sommers. Im ſelben

Abteil „vierter“ Wagenklaſſe ſind ein paar Geſchäftsreiſende, die alſo offenbar noch keine Schiebergewinne erzielten (diefe Gat- tung kommt gelegentlich noch vor), ferner ein paar Frauen und Mädchen von einfachem Außeren, ein paar Gemüſebauern, die mit ihren Körben in die nächſte Großſtadt wollen, einige Arbeiter und dann noch drei oder vier Geſtalten von nicht ganz vertrauen- erweckendem Ausſehen.

Bei einem bekannten Badeort ſteigen ein alter Herr in förſterähnlicher Kleidung und zwei Damen ein. Eine von ihnen wird von der anderen als Frau von So und So an-

Auf der Warte

geredet. Darob überraſchte Geſichter der Amſitzenden! Man muſtert die Neuantömm- linge; allerlei Empfindungen ſpiegeln ſich auf den Geſichtern. Dem alten Herrn wird ſofort Platz gemacht, die Damen finden ſchließlich auch noch Sitze. Der Greis iſt kränklich; er fängt in der redſeligen Art alter Leute als- bald eine Unterhaltung an; die eine Dame ijt ſtill und erſichtlich bedrückt; die andere da- gegen, Frau von So und So, lebhaft und energiſch. Sie fikt aufrecht da, ohne fih an- zulehnen, aber ſie tut keineswegs fremd; bald leitet ſie die ganze Unterhaltung, als ob ſie niemals anderswo als in der vierten Klaſſe heimiſch geweſen wäre. Die Lebensmittel- preiſe geben einen Anknũpfungspunkt für das gemeinſame Intereſſe. Manche Mienen, die

zuerſt dieſe Angehörige „der anderen Klaſſe“

beargwöhnt hatten, hellen ſich auf; eine Atmoſphäre des Verſtehens iſt geſchaffen.

Und während die Unterhaltung, geführt von dieſer Dame, die früher nicht in dieſe Klaſſe, will fagen Wagenklaſſe, gehörte, offen- ſichtlich zu allſeitiger Zufriedenheit weiter geht, ſteigen im Stampfen des Zuges Gedanken über Gegenwart und Zukunft auf...

gt nicht die vierte Klaſſe ein Symbol für unſer jetziges Deutſchland? Oder könnte ſie es nicht ſein? Deutſchland fährt jetzt vierter Klaſſe unter den Nationen. Vom Ausland her bemüht man ſich, uns zu denjenigen Völkern zu ſtellen, die zum vierten Stande gehören, d. h. die von der Hand in den Mund leben müſſen. Aber erftaunlicher- weiſe iſt bei uns dieſe Sachlage keineswegs erkannt; man redet ſich krampfhaft ein, es wäre wohl nur halb fo ſchlimm, wenn man auch wohl jammert darüber, daß dieſes und jenes an gewohnten Außerlichkeiten fehlt. Vor allem aber haben leider weiteſte Kreiſe des deutſchen Volkes nicht genug innere Haltung und Würde, ein ſchweres Ge- ſchick willig auf ſich zu nehmen und dadurch zu überwinden ſo wie Frau von So und So hier im Wagenabteil.

Aber die Zeit der Valutagewinne wird einmal aufhören; viele Leute, die jetzt als „neue Reiche“ aufgebläht „zweiter“ fahren, werden wieder beſcheidener werden. Und

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die „vierte“ wird dann der Ausdruck der all- gemeinen wirtſchaftlichen Lage ſein. Dann wird es als unumgänglich erkannt werden, Gemeinſchaft in der Notlage zu lernen. Eins iſt ja freilich klar: allein durch die Tatſache des Vierter-Klaſſe-Fahrens wird die nötige neue Geſinnung nicht entſtehen. Aber dieſe iſt doch ſchon da, wenn auch einſtweilen nur in kleinen Kreiſen, von denen die lär- mende Offentlichkeit nichts merkt. Wenn äußere Umftände die Berührung mit weiteſten Kreiſen fördern, dann kann und wird dieſe vorhandene Geſinnung fidh ausbreiten. Ge- reifte und geläuterte Naturen, wie Frau von So und So, können und werden dann die Führer ſein; ſchon bei dieſer Unterhaltung hier im Wagenabteil war das ja zu beob- achten. Denn die Mehrzahl der Menſchen braucht Führer. | Wer inneren Gehalt hat, braucht das Zuſammenkommen mit Menſchen, die, nach Fichtes Ausdruck, nur von Furcht und Hoff- nung getrieben werden, nicht zu ſcheuen. Denn auch in der „vierten“ und gerade in ihr bieten ſich reiche Möglichkeiten, für den Neuaufbau zu wirken. Nämlich für den ſeeliſchen Neuaufbau der einzelnen Menſchen, der die grundlegende Voraus- ſetzung für alles andere iſt, was die Zukunft zu ſchaffen fordert. Dr W. Richter

*

Lebenszeichen

ls ich vor nahezu dreißig Jahren A. O a- maſchke in Berlin kennen lernte, galt derſelbe noch als eine Art Kurioſität und war neben Vegetariern und Naturmenſchen nur mehr wie ein wunderlicher Sektenheiliger an- geſehen. Und doch hat er ſchon damals ver- kündet, was er heute noch tut, heute, wo Saufende es ihm begeiſtert nachtun: das Evangelium vom deutſchen Bodenrecht. Aber auch andere Pfadfinder kommen nach der Herrſchaft intellektueller und materieller Aberſtiegenheit, die uns moderne Söhne Babylons entarten ließ, nur erft ſpät, viel-

leicht zu ſpät zu Wort. Einer der kühnſten

iſt zweifellos S. Geſell, welcher der geſamten Unnatur unſeres Geldweſens zuleibe geht,

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das er auf einen gefunden, volksorganiſchen Boden zu ſtellen verſucht. Freiland und Frei- geld! Dieſer Schlachtruf wird im neuerftehen- den Oeutſchland nicht mehr verſtummen, wie man ſich auch zu ihm ſtellen mag. Überall entſtehen und mehren ſich Vereinigungen, deren Loſung die innere Volkseinheit iſt und die ſich um den Namen wahrhaft deutſch- fühlender Männer großen Andenkens ſcharen, denen der völkiſche Geiſt viel ſchuldig ge- blieben ift. Im Mittelpunkt all dieſer Strö- mungen ſtehen Namen wie 3. G. Fichte, P. de Lagarde und K. Chr. Planck. An Fichte, den Vertreter eines gefeſtigten Nationalbegriffs, lehnt ſich W. Stapels vornehm gehaltene Zeitſchrift „Oeutſches Volkstum“ an. Auch die „Jungdeutſchen Stimmen“ gründen auf Fichtes völkiſcher Bedeutung im Sinne ſeiner ſpäteren aus der ſchlechtweg univerſellen Formel herausgetretenen Volksgeſtalt. K. Ch. Planck hat außer in Sohn und Tochter in F. Schöll einen beredten Anwalt gefunden. Der letztere hat in einer trefflichen Schrift: „Karl Chriſtian Planck und die deutſche Auf- gabe“ ein klares Weſensbild des gerade auch für die Gegenwart bedeutſamen ſchwäbiſchen Denkers gegeben. Freilich überhebt uns all das Gute und Wahre an den Gedanken- gängen Plancks nicht der Aufgabe, uns für eine ungewiſſe Zukunft das anzueignen, was von Raum und Zeit noch lange nicht über- holt ſein dürfte und was uns von jeher am meiſten fehlte: den Inſtinkt für nationale Selbſterhaltung.

Wenn wir uns aber von Grund aus vor- bereiten wollen auf eine abermalige Er- ſtarkung des deutſchen Namens in der Welt, dürfen wir an nichts vorübergehen, was unſere reichsinnere Einheit? herbeizu- führen vermag. In diefer Hinſicht enthält die Schöllihe Schrift, welche freilich die jetzt vielempfohlene Steinerſche „Dreigliederung des ſozialen Organismus“ ablehnt, eine Reihe ſachlicher Vorſchläge, die an fajt alle in dieſer Richtung marſchierenden Reformbeſtrebungen anklingen. In dieſem Zuſammenhange darf denn auch der „Deutſche Arbeitsbund“ nicht unerwähnt bleiben, welcher fih. die Forde- rung aller Siedlungsgenoſſenſchaften nach

Auf der Warte

dem Vorbild der Kolonie Völpke, über wel— cher der Name des Hauptmanns a. D. Detlev Schmude ſteht, zur Aufgabe gemacht hat. Auch in der „Arbeitspartei“ wird die berufs- ſtaatliche Forderung einer biologiſch begrün- deten, rein deutſchen Reichs- und Rechts- ordnung erhoben und damit die Überwindung unferes innerhäuslichen Parteielends ange- ſtrebt. Mit ähnlichen Arbeitszielen meldet ſich auch die Genoſſenſchaft „Bergfried“ an,

unter dem Motto: „Liebe zur Tat“. Ihre

Siedlungspraxis will angewandtes Denken fein, weshalb fie auch ihrerſeits die Landfrage als entſcheidenden Verſuchsboden an den An- fang aller volksverjüngenden Neformmöglich— keiten ſetzt. So kann die Abkehr von der zer- ſetzenden Großſtadtatmoſphäre als ein ge meinſames Merkmal aller im Vordergrund ſtehenden Erneuerungs triebe bezeichnet wer- den. Mündet doch ſelbſt G. Stammlers vornehme und nicht leicht zugängliche An- ſchauungspädagogik in ſeinem „Haus Bühler— berg“ in den Siedlungsgedanken aus. Mit Stammlers geiſthaltigem Spruchwerk „Worte an eine Schar“ begegnet fidh freilich näher auf Raum und Zeit eingeſtellt M. $. Böhms „Ruf der Jungen“, ein Ruf, der in weiteſten Kreiſen unſeres Volkes gehört zu werden verdient. Auch die von hohem ſitt— lichen Ernſt getragene Schrift Th. Bertrams „Der Frontſoldat, ein deutſches Kultur- und Lebensideal“ fügt ſich dem vaterländiſchen Chor beherzigenswerter Mahn- und Richt- worte glücklich ein. Daß Bertram, gegenüber jenen Bauleuten der Revolution, welche fo manchen Eckſtein verwerfen zu dürfen glaub- ten, im „Feldgrauen“ ein für Gegenwart und Zukunft bedeutſames Symbol erblickt, iſt erfreulich, und es hätte dabei keineswegs der Parole bedurft: „Los von Altweimar!“

Im Hinblick auf unſere leider in manchem Belang unerquicklich gewordene Volksſeele wie auch auf unſere im Vordergrund ſtehende materielle Not wird jetzt von nicht wenigen das, was J. Popper-Lynkeus in feiner Schrift: „Die allgememe Nährpflicht als Löſung der ſozialen Frage“ zum unfehlbaren Heilmittel macht, ernſtlich in Erwägung gezogen. Popper-Lynkeus' ſoziale Auskunft,

Auf der Warte

welche ſich zunächſt vom Pegelſtand wijfen- ſchaftlichen, techniſchen und moraliſchen Fort- ſchritts nicht weiter abhängig macht, nimmt in feiner „Nährarmee“ eine geradezu mili- täriſche Geſtalt an und zeigt, daß man auch auf dieſer Seite nicht ohne den vielgefhmäh- ten Geiſt von Potsdam, ohne den tate- goriſchen Befehl durchkommen zu können

glaubt. Ganz auf die ſeeliſche Umwälzung ge-

ſtimmt, mit der jeder Einzelne bei fih anzu- fangen hat, iſt der „Volkskraftbund“. Seine philanthropiſche Weitmaſchigkeit iſt ſchön ge- meint; und ſoweit nicht unerläßliche völkiſche Notwehr in und außer dem Reichshauſe in Betracht kommt, wird man feiner Friedens- predigt gerne beipflichten. Auch der „Oeutſche Volkshausbund“, der ſich gegen den zur Zeit lebhaft aufblühenden Organifationsfanatis- mus wendet, ſtellt uns vor allem vor den umfaſſenden Glauben an Menſchen und Menſchenliebe. Vergeſſen wir aber auch hier nicht, daß wir nur inſofern dem Menſchen⸗ tum dienen können, als wir in der Lage ſind, unſer Volkstum, auch wenn es nottut. in rückhaltloſer Gegenwehr zu behaupten! Heinrich Schäff-Hallwangen

Der Wert des Auslanddeut⸗ ſchen .

urch den Friedensvertrag hat Deutich- land feinen kaufmänniſchen Kredit ein- gebüßt. Schon durch den Verleumdungsfeldzug iſt uns während des Krieges unſer moraliſcher Kredit genommen worden: dann durch die Aufbürdung des „Schuldbekenntniſſes“, gegen das wir nicht durch Gegenbeweis ankämpf- ten; endlich durch Schiebertum, Wuchertum, Raub und Oiebſtahl, die in unerhörter Weiſe bei uns ihr Spiel treiben.

Leider haben fih auch in das Auslands- geſchäft zweifelhafte Sitten eingeſchlichen: der einſt ſo geachtete deutſche Kaufmann hat auch da an Kredit verloren Damit droht uns der letzte Halt zu weichen, wenn wir nicht Gegenkräfte ſpielen laffen. Wir müſſen die Welt wieder an uns glauben machen!

Haben wir nun Perſonen, die Mittler des deutſchen guten Leumunds ſein können?

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Haben wir Perſonen, die befähigt find, uns den hochwertvollen Kredit des Anſehens zu- rückzugewinnen? Wir beſitzen fie und zwar in unſeren Auslandsdeutſchen. Die Aus- landsdeutſchen find zum größten Teile ge- willt, erneut in das Ausland zurückzukehren. Sie kennen nicht nur die Märkte dieſer Länder, ſie kennen auch die Sitten dieſer Völker und wiſſen am eheſten, wie der Weg des Vertrauens zu uns wieder gangbar zu machen iſt. Sie können gewiſſermaßen eine lebende Beweisführung für die guten Sitten Deutſchlands ſein.

Wie jedoch die Auslandsdeutſchen ſo zu den Trägern des guten Rufes Deutſchlands werden können, ebenſo können fie natur- gemäß zu einer ſchweren Gefahr für den moraliſchen Kredit Deutſchlands werden, wenn ihnen nicht die gute kaufmänniſche Sitte geläufig iſt. War vor dem Kriege der

Auslandsdeutſche in feinem Tun und Unter-

laſſen ſchon ein entſcheidender Faktor für unſere Handelsanknüpfungen, ſoweit das Vertrauen in Frage kam, ſo iſt heute ſeine Verantwortung außerordentlich.

Nun ſind aber leider die Auslandsdeutſchen in ihrer Heimat teilweiſe in einer Weiſe be- handelt worden, die aller nationalen Weis- heit und völliſchen Bruderliebe widerſpricht. Das ſagt, nebenbei bemerkt, ein Nicht- auslandsdeutſcher. Es war oft nicht möglich, den Auslandsdeutſchen Wohnungen zu ver- ſchaffen; es war auch nicht möglich, ihnen die ihren Kenntniſſen zukommenden und die ihnen erwünſchten Beſchäftigungen zugäng- lich zu machen. Nicht anders ſteht es mit der Entſchädigungsfrage. Hier hat man den Auslandsdeutſchen teilweiſe mit einer Härte

behandelt, die in ihm die Stimmung er-

wecken konnte, daß er als Ausländer und nicht als Deutſcher bewertet werde. Noch ſchlimmer ſteht es mit der Steuerfrage. Die Beſteuerung des Auslandsdeutſchen ift leider ſo zugeſchnitten, daß man es keiner der in Frage kommenden Perſönlichkeiten ver- übeln kann, wenn ſie mit ſchmerzlich wenig Vaterlandsgefühl und außerordentlich viel Verbitterung den Staub der Heimat von den Füßen fchüttelt. Auf diefe Weiſe gewinnt

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man jich wirklich keine willigen und freudigen Streiter für den Kampf um den deutſchen, moraliſchen Kaufmannskredit, der uns ſo bitter nötig iſt. An dem Vermögen der Auslandsdeutſchen will der Staat kleine Erſparniſſe machen und dafür vernichtet er Millionenwerte; und was noch ſchlimmer ijt: Werte, die fo koſtbar find, daß jie nicht mit Geld zu verwerten find. Denn Auslands- erfahrungen, das auf perſönliche Bekanntſchaft beruhende Vertrauen der Fremdſtaatler zu einem Oeutſchen, das find Dinge, die nur durch Jahre erlangt werden; das ſind Werte, die noch gerettete Bruchteile aus der bänd- leriſchen Großmachtſtellung Deutſchlands find.

Wir brauchen neu: Vertreter deutſcher, noch immer vorhandener Wohlhabdenheit im Auslande. Wir brauchen die Stimmen der materiell bis zu gewiſſen Grenzen geſicherten Deutſchen im Auslande, die dem Fremd- ſtaatler durch ihr Tun und Handeln be— weiſen: das ift Deutſchland!

Sollen wir verbitterte und mittelloſe Aus- landsdeutſche hinausſenden? Das wäre dann ein zweiter verlorener Handelskrieg.

G. Buetz

*

Kommiſſionen bei der Arbeit

&;" Bild macht die Runde durch die illuſtrierten Blätter: „Inbetriebſetzung“ irgendeiner Anlage durch eine Regierungs- kommiſſion.

Man ſieht einen Schacht. Darin einen Arbeiter. Einen. Am Rande des Schachtes ſtehen an die zwölf Herren mit den bekannten Aktenmappen unterm Arm die Kom- miſſion. Die Kommiſſion ſteht und guckt dem einen Arbeiter zu.

Früher, als wir noch ein wohlhabendes Volk waren, arbeiteten zwölf und einer führte

die Aufſicht

Bismarck Englands Eides⸗ helfer | ie „Times“ veröffentlicht Stücke aus

Vismarcks 3. Band in offenbar voll- kommen tendenziöſer Entſtellung und mit Zu—

Auf ber Warte

ſätzen, die als ſolche vom Urtext nicht zu unterſcheiden, dagegen ganz auf die engliſche Geſchichtseinſtellung zugeſchnitten ſind.

So wird das geiſtige Erbe des größten deutſchen Staatsmannes mißbraucht, um die engliſche Politik vor der Welt zu rechtfertigen! Dieſer haarſträubende Fälſchertrick ift nur möglich gemacht worden durch das Verbot deutſcher Gerichte, das die Veröffentlichung des Werkes im Wortlaut unterſagte.

*

Produktive Wirtſchaft

ie Einrichtung des Wohlfahrtsmini-

ſteriums mit feinen zahlloſen „Kom- miſſariaten“, Wohnungs- und Micteinigungs- ämtern hat bisher an zwei, nach amtlicher Berechnung „nur“ anderthalb Milliarden ver- ſchlungen!

Ein Leſer richtet an die „Voſſ. Ztg.“ eine Zuſchrift mit der ſchüchternen Anfrage, ob es nicht am Ende beſſer geweſen wäre, wenn man dieſe unerhörte Summe zum Bau von Wohnungen verwendet hätte.

Statt Wohnungen beſchert man uns Amter, die ihrerſeits wieder Unterkünfte haben müffen. Statt durch Belebung der Bautätig- keit neue Arbeitsmöglichkeiten zu ſchaffen und dadurch die Erwerbsloſenziffer herabzumin- dern, ſtampft man immer neue Beamten- ſcharen aus dem Boden.

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Erwerbsloſenzüchtung

S der Gefamtheit der Erwerbslofen nichts als den „Bürgerſchreck“ zu ſehen, iſt un- gerecht. Man ſollte ſich auch hier vor Ber- allgemeinerungen hüten. Das Los der Volks- genoſſen, die von ehrlichem Arbeitswillen beſeelt find und keine Beſchäftigung finden können, iſt denkbar bitter, denn wenn die Anterſtützung, die der Staat gewährt, auch relativ hoch erſcheint, fo genügt fie doch kaum, um bei den heutigen Preiſen auch nur das nackte Leben zu friſten. Wie ſehr der Hunger die ſeeliſche Widerſtandskraft zermürbt, haben wir alle mehr oder weniger in den Blodabde- jahren erfahren.

Auf der Warte

Die Schuld daran, daß viele ernſtlich Arbeitswillige trotz aller Bemühungen keine Beſchäftigung erlangen können, trifft in zahl- loſen Fällen die ſogenannten Arbeitsämter, deren Praxis nur zu oft an die der Kriegs- geſellſchaften gemahnt. Fälle, in denen einem Arbeitgeber binnen vierzehn Tagen acht bis zehn „Arbeitswillige“ zugewieſen werden, die gar nicht daran denken, die Arbeit aufzu- nehmen, ſie im Gegenteil ſofort unter den nichtigſten Vorwänden wieder niederlegen, etwa weil kein „Kino“ am Orte ift (), und die dann ohne weiteres wieder in den Genuß der Arbeitsloſenunterſtützung treten, find all- täglich und in Maffe quellenmäßig nachzu- weiſen. Die „Deutihe Tagesztg.“ macht fidh erbötig, mit einer Fülle von Beweiſen auf- zuwarten und ein Arbeitsamt zu nennen, wo ſeit Wochen ein Dutzend von Angeſtellten aus einem Veſtande von etwa tauſend Er- werbsloſenunterſtützungsempfängern nicht in der Lage iſt, einen einzigen Handlanger zu dauernder Arbeit anzuhalten. „An vielen Orten macht es ſo den Anſchein, als würden Erwerbsloje mit vollem Vorbedacht gezüchtet, um eine verläßliche Armee von Deſperados unter denen aufzuziehen, die gern arbeiten möchten. In derſelben Richtung liegt es, daß ruhige Arbeiter aus den Betrieben ge- drängt und durch aufſäſſige Elemente erſetzt werden, wie es z. B. in der Berliner Metall- arbeiterſchaft planmäßig geſchehen iſt und geſchieht. Den Gipfel dieſer unerträglichen Unmöglichkeiten bildet ſchließlich die Forde- rung der örtlichen Betriebsräte, auswärtige Arbeitswillige nicht eher zu beſchäftigen, als bis der letzte Arbeitsloſe des eigenen Ortes eingeſtellt iſt. Damit wird tatſächlich erreicht, daß der arbeitswillige Familienvater aus dem Nachbarorte feiern muß, ohne daß die Arbeits- loſenunterſtützungsempfänger des eigenen Ortes ſich bequemen, zur Arbeit zu gehen, ſo daß dieſe einfach liegen bleibt.“?

Durch derartige Zuſtände wird künſtlich für einen Reſervebeſtand geſorgt, dem die kommuniſtiſchen Parteien je nach Bedarf das Kanonenfutter für ihre Putſche entnehmen

können. | *

145

Einer von der Techniſchen Not- hilfe

ein Oberprimaner des Schiller-Gymnaſiums zu Charlottenburg, Karl Albrecht, hat in einem Gedicht die Empfindung dieſer jungen Leute, die helfend in den Tagen des ver- brecheriſchen Streiks einſpringen, zum Aus- druck gebracht („Die Räder“):

Nächtliche Heimkehr

O, angſtvoll, diefe Luft des nächtlichen Nach- hauſegehens!

Wir ſind ſo müde vom vielen Herumhantieren,

vom Schlackenziehen, Kokslöſchen, Mafchinen- ſchmieren.

Wir wachen nur, daß etwas Fürchterliches geſchehe, unverſehens!

Uns hat die Arbeit zu Brüdern gemacht.

Als wir antraten, ſagten wir zueinander: Sie!

Wir trugen weiße Kragen und bewegten uns in fein gezirkelten Geſten.

Dann aber ziſchten Leuchtraketen, und Schüſſe peitſchten l

und Schreie ſchlugen durch die Nacht.

Wir mußten ſchaffen und zitterten vor Luſt

und ſchwitzten wie ſonſt nie!

Da packte Ekel uns vor langerträumten, blumengeſchmückten Feſten.

Anſere Arme bewegten ſich hart, und unſere Augen brannten. Wir zogen die Zaden aus und ſtanden tief- atmend mit offenen Brüften, wir ſchufen! während die Stadt nun ſchlief und die Menſchen ſich ſchaukelten an des Traummeeres Küſten. Und nach Stunden war uns, als ob wir ſchon jahrelang uns kannten

Als wir nach dem Schichtwechſel dann aus- einandergingen,

taten wir nicht wie andere, die beim Abſchied ſich noch viel Liebes ſagen.

Anſere Arbeit hatte in uns die immer heu- chelnden Worte zerſchlagen!

Und wir hörten nur immer das Werk, das Werk in uns ſingen.

*

144

Im bolſchewiſtiſchen Rußland

an vergißt es zu leicht wieder in

Deutſchland, wie furchtbar das ge- peinigte Rußland dahinſtirbt unter ſeiner terroriſtiſchen Räterepublik. Im Wochenblatt „Licht und Leben“ finden wir einen Brief, der aus der Gegend von Odeſſa im Auguſt 1920 geſchrieben iſt und Anfang 1921 hier ankam. Da heißt es:

. . Wir im Lande der ſogenannten Frei- heit ſind gebunden mit Ketten, mehr als Sklaven. Anſer Leben ift eine täglich auf- reibende Angſt. Ihr habt keine Vorſtellung, wie es hier in der lügneriſchen Freiheit zu- geht! Alle Tage müſſen wir auf das Ver- teilen gefaßt fein. Kommuna“ (Beſitzgemein- ſchaft)! Das Land gehört der Regierung. Die Bevölkerung muß es bearbeiten. Die Regierung gibt den Bedarf an Nahrungs- mitteln, Kleidern ufw. Aber wie wird das ſein! Die Frau iſt für frei erklärt. Es gibt keine Ehe mehr. Die neugeborenen Kinder werden der Mutter nach einem Monat ab- genommen und in Kleinkinderanſtalten er- zogen, wo wahrſcheinlich auch die Wöchne⸗ rinnen aufgenommen werden ſollen. Es ſoll alſo kein Familienleben meht geben. Die Kinder follen alle nach ihrem, dem bolſchewiſti- ſchen, Programm erzogen werden. Es wird in allen Schulen eingeführt. Die Waifen- kinder in Odeſſa dürfen nicht mehr in die Kirche gehen, auch beten dürfen ſie nicht. In unſrer Nähe iſt es auch verboten worden im Waiſenhaus. Die Sprüche im Betjaal ſollen von den Wänden entfernt werden. Ein Kindergarten iſt aber eingeführt. Drei jüdiſche Lehrerinnen unterrichten die Kinder von 3—7 Jahren, damit fie von den Eltern entwöhnt werden. Viele behaupten, man wolle ſie alle entführen! Welche Angſt! Ach ich kann euch nicht alles ſchreiben. Ein Grauen ohne Ende befällt einen beim bloßen Gedanken an dieſes Elend. Der alte, liebe Gott iſt verworfen. Verehrt werden ihre Oberſten Lenin und Trotzki. Das ſind die jetzigen Weltregenten, die hier ſtatt des alten Gottes verehrt werden. Auch andere ver-

Auf der Warte

ehren fie noch, die ſchon tot find: Noja Luxem- burg, Liebknecht und Bebel. Ihr werdet fie ja kennen. Wir gehen einer Glaubensverfol— gung entgegen, die ſchon begonnen hat, wo- von es heißt, daß die Menſchen geſichtet wer- den wie der Weizen. Ich kann euch ja nicht alles ſchreiben. Es ſind nur Bruchſtücke, die ich ſo herausgreife. Faſt jeden Tag wird

Weizen, Gerſte, Hafer, Welſchkorn uſw. ge

liefert, ohne Ende, ohne Geld. Meines Wiſſens hat die Gemeinde 5 Schachteln Wagenſchmiere, eine Kanne Schmieröl, einen halben Sack grobes Salz und etwas Tabak bekommen. So wird es fortgehen, und das iſt nur der Anfang. Arbeit und kein Eſſen! Eine ewige Abhängigkeit! 2 Pfund Butter muß man in der Woche von der Kuh abgeben, das macht bei 6 Kühen 12 Pfund wöchentlich. Dabei iſt die Weide trocken und nur wenig Milch. Von der Henne muß man 2 Eier wöchentlich abgeben. Mich trifft es 40 in der Woche. Wie lange noch, dann legen die Hühner nicht mehr, was dann? Aber das iſt alles noch das Wenigſte. Nun ſollen auch die Kleider beſchlagnahmt werden. Da könnt ihr euch denken, wo man die paar guten Fetzen aufbewahrt, die noch vorhanden ſind: verſteckt oder vergraben ſind ſie. Manche Leute ſahen nach, da waren ſie zermürbt. So geht es, dort zernagen ſie wahrſcheinlich die Mäuſe, und da will man ſie uns nehmen. Ein Leben, daß Gott erbarm'! Auch die Betten, ja ſogar die Möbel will man uns nehmen, und die kann man nicht verſtecken. In Odeſſa hat man alle reichen Leute geplündert und ihre Sachen nach Großrußland fortgeſchafft. Viele Eiſenbahnwagen voll Frauen und Mütter, höherer und mittlerer Stände, wurden an die Front geſchickt. Dort haben ſie Chineſen und viel anderes Volk, die brauchen Frauen. Bald brachte man viele wieder zurück, die meiſten unheilbar geſchändet. Die Spitäler ſind voll, und Medizin iſt keine da. Nun leben wir auch in dieſen Sorgen. Es heißt, die ſtädtiſchen Frauen ſind alle zuſchanden, man muß vom Lande nehmen... Ich trage Schürzen von Zuckerſäcken, unſere Kinder haben Kleider gleichfalls von Zuckerſäcken.

Verantwortlicher und Hauptſchriftlelter: Prof. Dr. phil. h. o. Friedrih Lenhard. Für den politiſchen und wirt- ſchaftlichen Tell: Konſtantin Schmelzer. Alle Zuſchriften, Einſendungen uſw. an die Schriftleitung des Türmers, Berlin⸗Wilmersdorf, Rudolſtädter Straße 69. Orud und Verlag: Greiner u. Pfeiffer, Stuttgart

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eesedben v von Prof. DE K c. Friedrich Lienhard

23. Fuhrg. Suni 1921 Heft 9

Jugend und Geſchlechtsnot Von Friedrich Lienhard

n zwingt uns, noch einmal auf den vielzuviel beſprochenen Fall eines Thüringer Zugendführers zurückzukommen. Ich nehme die Anregung hiemit auf; vielleicht ergeben fich fruchtbare Geſichts— x punkte.

War es nötig, daß Eugen Diederichs, der Jenenſer Verleger, in ſeiner Zeit— ſchrift „Die Tat“ (Mai) den folgenden Satz ſchrieb? „Darum möchte ich öffentlich und hoffentlich weithin vernehmbar ein perſönliches Zeugnis gegen all die ge- meinen Verdächtigungen ablegen, die bewußt gegen Muck und ſeine Schar aus— geſtreut ſind, und all denen, die ſich ſittlich entrüſteten, und nicht zum letzten Fried— rich Lienhard ſagen, worum es ſich eigentlich handelt.“

War dieſer Ton wirklich nötig? Die Worte „gemeine Verdächtigung“ und „bewußt“ nebſt „ſittlich entrüſteten“ ſind in ſolcher Verflechtung mit meinem Namen in einen Satz zuſammengekoppelt, daß die Verfilzung kaum zu löſen ift. Nicht ſchön, Herr Nachbar! Außerdem trübt es die Sachlage.

Wie iſt dieſe Sachlage? Wir waren im „Türmer“ für jene Bewegung ein— getreten, zurückhaltend freilich in bezug auf die weitere Entwicklungs-Möglichkeit, und hatten ſie gegen die nichtsnutzige Verleumdung, ſie könnte mit dem Mord im Haufe Scheer zuſammenhängen, kräftig in Schutz genommen. Admiral Scheer wohnt nur ein paar Schritte von meinem Hauſe entfernt, ich konnte ihn perſönlich

ſprechen. Doch eine ſehr gewichtige Mitteilung aus vertrauenswürdigem Munde

Der Türmer XXIII, 9 11

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146 Lienhard: Jugend und Geſchlechtsnot

ließ mich dann aufhorchen; der Fall des Erfurter Mädchens kam hinzu; das Ärger- nis ward allgemein. Dennoch ſchwieg ich, bis ich in der „Täglichen Rundſchau“ öffentlich zum Sprechen aufgefordert wurde, worauf ich meine unzweideutige Ablehnung dieſes Jugendführers ausſprach („Tägl. Rundſchau“, 28. Febr. 1921). Ahnlich äußerten wir uns im „Türmer“. Und dazwiſchen wurden Gerüchte nach- geprüft oder Tatſachen geſammelt, um möglichſt Klarheit herzuſtellen.

Es hieß in jenem knappen Aufſatz: „Wird nun die Neue Schar fähig ſein, zu erfaſſen, worauf es ankommt? Wird ſie Kraft und Mut genug haben, in aller Beſtimmtheit zwiſchen ihre unbezweifelbaren Ideale und den bisherigen Führer einen Trennungsſtrich zu ziehen und die Unverletzbarkeit des Sittengeſetzes um jo ſtärker zu betonen? Oder wird fie nach moderner Methode verſchleiernd ent- ſchuldigen und alles verſtehend alles verzeihen? Das muß man der Bewegung ſelber überlaſſen. So könnte trotz allem das Lebendige, das in dieſer ſchwer er- ſchütterten Gruppe und in ihren einzelnen Mitgliedern ſteckt, doch noch Zukunft haben. Obwohl man ſich ſchwerlich denken kann, daß nach dieſen hanebüchenen Vorkommniſſen irgendwie edle Weiblichkeit oder gar Mütterlichkeit fih fortan noch dieſen abenteuerlichen Formen des Zuſammenlebens anvertrauen könnte. Grade hierin, in der gegenſeitigen Beziehung der Geſchlechter, iſt die Sache ins Herz getroffen. Das Vertrauen iſt dahin.“ Und die Verſuche abweiſend, in öffentlichen und brieflichen Außerungen die verlorene Sache zu retten (ohne daß man die Tatſachen nachprüfte), ſchloß ich: „Wir gehen auf dieſe Verſuche, den naturhaften, in Wahrheit unbeherrſchten Führer zu rechtfertigen, nicht mehr ein. Was zu jagen war, ift geſagt. Wir müſſen es ablehnen, über Grundgeſetze menſch— licher Sittlichkeit, vor allem über Wahrhaftigkeit und über Ritterlichkeit, an irgendwelcher Erörterung teilzunehmen. Eine Jugendbewegung ift zufammen- gebrochen. Vielleicht wird es den Beſinnlichen unter den jungen Leuten beil- ſam ſein.“

And nun will uns Eugen Diederichs fagen, „worum es ſich eigentlich handelt“. Als ob wir andren, die wir ſeit dreißig Jahren durch das ſtillere Buch wirken, bisher geſchlafen oder gefaſelt hätten, ſpricht er: „Drum iſt es an der Zeit, zu euch, deutſche Jugend, zu reden.“ Haben wir andren wirklich kein Herz und keinen Blick für die Not? Haben wir nicht mit der gleichen Not gekämpft nur ſtiller, als es jetzt Brauch iſt? In zahlreichen Stellen meiner Werke (man wird ſie nächſtens in einem Buch geſammelt finden), etwa im „Thüringer Tagebuch“ (Abendgeſpräch mit einer Mutter) oder im „Oberlin“ (Viktors Ausſprache mit dem Steintalpfarrer) uſw. habe ich in meiner Art meine Auffaſſung von wahrer, veredelnder, aus dem Trieb in den Geiſt emporführenden Liebe zu prägen geſucht. Bekanntlich redet aber der moderne Menſch am Mitmenfchen vorbei, der ihn dann hinwiederum zu belehren trachtet über Dinge, die wir längſt ſelber gedacht und gejagt und ver- mutlich nicht ſchlechter geſagt haben.

Worum alſo handelt es ſich? Diederichs ſagt es uns: „Als ich in der Stunde jener inneren Auseinanderſetzung zu der Neuen Schar ſagte, kein geiſtiger Menſch, mag er in bürgerlicher Ehe oder in frei gewählten Beziehungen leben, lebt ſich ſexuell aus, war ein allgemeines Staunen. Ich ſah tief in das Denken all jener

Lienhard: Zugend und Geſchlechtsnot 147

hinein, die da glauben, wenn ſie die Triebhaftigkeit ihrer Gefühle in natürlicher Geſtaltung lebten, ſeien ſie auf dem Wege zur Harmonie mit Gott und den Geſetzen des geiſtigen Lebens ... Aber alles geiſtige Leben will Hemmung des Triebes durch Erkenntnis ... Çs ift die tragiſche Schuld Mucks, daß er letzten Endes zu dem Geiſt, der vom Unendlichen herkommt, noch kein Verhältnis hat und in der Triebhaftigkeit ſeiner polygamen Veranlagung ſtehenbleibt.“

Nun, wir haben dies unſrerſeits im obengenannten Aufſatz folgendermaßen zuſammengefaßt: „daß ein mehr triebhafter als geiſtesſtarker Fanatiker und Ekſtatiker hier wieder einmal Inbrunſt mit Brunſt verwechſelt hat...“

Emil Engelhardt, der jetzt auf Schloß Elgersburg eine durchgeiſtigte Sommer- friſche auftut, hat ſoeben in einem leſenswerten Büchlein „Erlöſerin Liebe“ in diefelbe Richtung gewieſen. Auch er will über das Steckenbleiben im Gefchlechts- Geſchwätz empor in die Hauptſorge jedes Menſchen, der aus dem Dumpfen ins Helle trachtet: in die Sorge um Veredelung der Seele. |

Es iſt einfach nicht wahr, daß „die Frau“ weſentlich „das Kind“ will. Diefer naturaliſtiſche Geſichtspunkt iſt eine unrichtige Verallgemeinerung. Die Frau freut fich ſelbſtverſtändlich am Kind, doch ebenſo ſehr wie der Mann am Werk. In tauſenderlei Formen ſtrahlt ſich der Liebesdrang und die Mütterlichkeit der Frau in das Werk aus: am Krankenbett, in Fürſorge, in Schule, Kunſt, Garten- bau, Haushalt und dergleichen mehr, wobei wir der Frau weitherzig Spielraum laſſen, wie ich ſchon in dem Kapitel „Die vergeſſene Königin“ (Thüringer Tage- buch) vor Jahren ausgeführt habe. Liebe will ſie freilich, ja; doch Liebe, die Zauberin, nimmt viele Formen und Farben an; und ihre reifſte Form iſt die Güte, ihre zarteſte Form ift die ritterliche Verehrung. Und fo verteilt fidh das Geſchlechthafte gleichſam in alle Poren, quillt in das Seeliſche empor, vor allem in das Herzliche, und verwandelt ſich in Geiſt.

Wahre Liebe! Ach, wie wundervoll und ſelten iſt ausgereifte, wahre Liebe! „Nichts iſt heiliger und größer“ ich laſſe nun meinen Oberlin ſprechen (S. 155) „auf Erden und im Himmel als die wahre Liebe. Das haben Sie vielleicht oft gehört; aber wenige erleben dies hehre Geheimnis. Mein großer Swedenborg hat recht: nichts iſt ſeltener. Es fehlt hienieden gewiß nicht an edlen Freundſchaften, an guten bürgerlichen Ehen, an zärtlichen oder noch mehr an ſinnlichen Regungen und Leidenſchaften. Aber die wahre eheliche Liebe ift von Urbeginn her im Himmel beſchloſſen und ſtellt alles andre in Schatten. Wer nicht von ihr berührt und ge- weiht worden verſtehen Sie mich wohl: ich meine den ſeeliſchen Vorgang, nicht die bürgerliche Ehe an und für ſich der behält in allem ſcheinbaren Glück ein Suchen in ſich ſein Leben lang. Bedenken Sie, was das liebende Weib dem ebenbürtig liebenden Gatten gibt: auf Tod und Leben den ganzen Körper und die ganze Seele! Welch ein Bund! Und da fie aus der rechten Liebe find, fo lieben beide mit vereinten Kräften Gott und ihre Mitmenfchen, denen Gutes zu tun ihre größte Wonne iſt. Und ſo berühren ſich Himmel und Erde in einem wahrhaft bis in die tiefſte Seele liebenden Ehepaar; und es zittert ein Strahl von ihrer Liebe durch das ganze Univerſum hindurch bis mitten in das Herz Gottes, der ſolcher Liebe Urſprung ift.“

148 Lienhard: Zugend und Seſchlochtsnot

Zerſtört mir dieſes kosmiſch gegründete Geheimnis nicht, dieſe Heiligkeit wahrer Ehe, wahrer Liebe, ihr Zungen! Und wenn ihr von der Heiligkeit der Mutterſchaft ſprecht, fo ſetzt unmittelbar daneben die Heiligkeit der Vaterſchaft!

Im Ring des Hauslehrers, in dem eben genannten Roman „Oberlin“, ſteht ſein Loſungswort: „Durch Reinheit ſtark“; und die Loſung des ideal geſtimmten Kreiſes um den Oichter Pfeffel heißt: „Vereint, um beſſer zu werden“. Man könnte hinzuſetzen: „und um beſſer zu machen“. Arbeit genug, edelſte Arbeit! Wenn du, mein junger Freund, einem Mädchen in die Augen ſchauſt, das mit, dir in tiefſtem Verſtändnis an ſich arbeitet und für andere das Erworbene aus— ſtrahlt, das durchglüht iſt wie du von Sehnſucht nach dem Gral oder nach dem erblühenden Noſenkreuz: fo feid ihr ja eins, weil ihr im Göttlichen eins feid, in der Wanderrichtung nach dem Reich der Meiſter der Weisheit und der Liebe. Ein Schein von den ewigen Zinnen iſt im Glanz eurer Augen: und wenn ihr ein- ander anſchaut, erblickt ihr nicht in euch das Tier, ſondern einen Abglanz der ſeligen Stadt, in die wie Beatrice mit Dante Hand in Hand zu wandern die tiefſte Seligkeit und aller wahren Liebe letzte Erfüllung bedeutet.

* * l +

Ich las dieſer Tage ein kühnes und kluges Buch einer dichteriſch geſtimmten Seele: „Hermann Löns und die Swaantje“. Das weibliche Weſen, das dieſes Buch wagte, hat viel von der eigenen Seele preisgegeben, indem ſie zugleich Ein— ſicht ſchuf in des Dichters Weſen. Aber der Grundgedanke iſt in ihr mächtig ge— blieben, und das ift das Erhebende an dem Büchlein: entſage, verſag' ihm den Leib, um ihm die Seele zu ſchenken und ſeine eigene, durch Begehren zerrüttete Seele zu retten, zu kräftigen, daß ſie ſchöpferſtark werde!

Das iſt herrlich gedacht, Swaantje! Schöpfer ſoll der Mann am Weibe werden. Es beweiſt, daß dieſe ebenſo weibliche wie dichteriſche Natur aus ſeeli— ſchem Feinempfinden ſeheriſch das Rechte geahnt hat. Aus ſolchen Wunden blühen Rofen auf.

Alle Achtung vor zeugender Vaterſchaft!, Aber es ift nur eine der Formen des Schöpfertums. Vaterſchaft iſt nicht immer Väterlichkeit, ſo wenig wie tier— hafte Mutterſchaft bereits Mütterlichkeit bedeutet. Und ein Weib kann durch und durch mütterlich ſein, ohne leibhafte Mutterſchaft durchgemacht zu haben.

Das nun abgelaufene Zeitalter, hinter dem der Weltkrieg donnernd die Eiſentore zugeſchlagen, wußte wenig von wahrer Liebe und ſceliſcher Schöpfer- kraft. Sein Trachten war auf Macht und Beſitz gerichtet. Namen wie Wede- kind oder Strindberg, auch Sudermann, Schnitzler, Dehmel doch wozu Namen! ſpiegeln im Schrifttum den „Kampf um das Weib“ wider. Was heißt das? Es heißt nichts andres, als was überhaupt durch jenes Zeitalter ging und jetzt noch nachgrollt: Beſitzgier auf dem Gebiete der Erotik wie Beſitzgier durch das wirtſchaftliche Leben und durch die Politik der Völker ging. Die damit verbundene Trauer, Reue, Qual, und vor allem der Ekel und die „Weiberverachtung“, heben den Grundzug ſinnlicher Begierde nicht auf. |

Will fich die Jugenbewegung eine große Aufgabe ſtellen, ſo überwinde ſie dieſen Materialismus auch in der Erotik! So ſchreibe ſie über den Tor—

atannhals: Die Linde blüht l 1409

bogen zur neuen Zeit: Ehrfurcht vor der Seele des Weibes! So helfe das kameradſchaftliche Weib dem ritterlich verehrenden Mann in der Entfaltung der ſchöpferiſchen Gemüts- und Geiſteskräfte! So überſchätze man nicht die Zeugung, die wir wahrlich achten, ſchätze jedoch um ſo mehr das Schöpfert um!

Die Entfaltung ſolcher Edelkräfte ſetzt Kampf voraus. Kämpft ihn zuſammen! Genüßlinge auch wenn der Genuß in der Gier nach dem Kinde beſteht, wo Schickſale das Kind verſagen! ſterben den Strohtod und kommen nicht nach Walhall. Es muß das edelſte Ziel jedes rechten Menſchen ſein, ob Mann oder Weib, das Leben heldiſch zu führen, ſei's als Mutter oder Hausfrau, ſei's als Helferin und Heilerin oder in andren Formen der liebenden Betätigung. Das Leben iſt voll von Opfern, Wunden, Beſchämungen, Niederlagen aber dem treu Beharrenden wird es doch zuletzt ein Siegesfeld.

Das rufen wir allen Jungen zu, die in geſchlechtlicher Not find. Die Ghid- ſale wie die Naturelle ſind auf dem Geſchlechtsgebiet verſchieden: doch das Ziel iſt Sieg des Geiſtes und Vorherrſchaft des Herzens.

Es hat den kinderreichen Bach nicht gehindert, Deutſchlands größter Muſiker zu fein; doch das andre große B der Tonkunſt, Beethoven, hatte weder Weib noch Kind. Parzivals nächſt dem Gral über alles von ihm geliebtes Weib Kondwiramur ſchenkte dem Gatten Zwillinge; Ifolde, die Luſtverlorene, hatte zwei Männer und keine Kinder. Es mag in mancher leidvollen Geſchlechtsgemeinſchaft Schickſal ſein, auszuhalten; in andrer falſcher und verlogener Ehe aber befreit und erlöſt der gordiſche Knotenhieb des großen Alexander. Sehe jeder, wo er bleibe wenn nur Geiſt und Gemüt doch zuletzt den Sieg behalten, fo daß die Seele, die Kern— zelle, das höhere Ich in alledem wächſt und reift, nicht verkümmert.

SSS EEE SIKZIETIERIE LITE

Die Linde blüht Von W. A. Krannhals

Die Linde blüht. Ihr ſonnenſchwerer Duft Läßt tauſend goldne Bienen trunken ſingen In aller lichtdurchfloſſenen Sommerluft, Daß heimlich faſt die Bäume ſelber klingen Ein Lied der Freude und der Sonnenluſt. Nun trink auch du vom herben Trank des Lebens Und ſei gewiß: Lebt nur in deiner Bruſt Der Sonnenglaube, hoffſt du nie vergebens! Die Linde blüht, | Die harten Schatten weichen, Bald wirft auch du mir felig deine Hände reichen.

S-

150 Durian: Der weiße Wolf

Der weiße Wolf Von Wolf Durian

Der Verfaſſer, der das Trapperleben aus eigener Anſchauung kennt, hatte im Preis ausſchreiben des Türmers einen Preis ge- wonnen, jedoch jene gekrönte Novelle auf eigenen Wunſch zurüd- gezogen und durch die folge nde erſetzt. D. T.

m Herbft war das Fräulein Conſtantia Mac Pherſon nach Fort Nelſon gekommen. Und als Zofua Clark mit feinem Freund die Treppe zum Trinkſalon heraufſtieg und mit dem Nagelſtiefel die Tür auf-

den Holztiſch ſcheuerte. Er blieb ſtehen und ſtarrte ſie an, denn er war auf dieſe Begegnung durchaus nicht gefaßt.

Weil er nun in ſeinem Erſtaunen alſo die Tür verſperrte, blieb Soames, ſeinem Freund, nichts übrig, als auf der Treppe ſtehen zu bleiben. Dies tat er in Gelaſſenheit und ſpuckte nur einmal mißbilligend aus, denn er war ein ſehr ruhiger Menſch und hieß unter den Trappern in Columbia allgemein Sam, der Türke, eben weil er ſo ruhig war. In dieſem Land ſtellte man ſich unter einem Türken einen ſehr ruhigen Menſchen vor.

Aber Sam, der Türke, beliebte, bei Gelegenheit einen guten Spaß zu machen. And jetzt, als er auf der Treppe warten mußte und nichts fab, als vor fid) die dicke Wolfspelzjacke ſeines Freundes und neben ſich die Bretterwand des Stiegenhauſes, fiel ihm ein beſonders gelungener Spaß ein. Er zog den Coltrevolver aus der Taſche, fpannte den Hahn und tat einen Schuß über Joſuas Schulter weg gegen die Schenkſtube.

Dieſer Schuß hatte eine Wirkung, die Sam, dem Türken, ziemlich mert-

würdig erſchien. ö Die Kugel war dicht am Ohr des Fräuleins vorbeigepfiffen und hatte die Fenſterſcheibe zertrümmert. Da hatte das Fräulein laut aufgeſchrien, denn ſie war eine zarte Natur und ſolche Art Gruß nicht gewohnt. Endlich und dies ſchien Sam, dem Türken, fo merkwürdig hatte Zofua fih auf den Schuß hin blitzſchnell umgewandt, mit einem Geſicht, in dem der Zorn durch jede Muskel zuckte, und den Arm mit der geballten Fauſt erhoben, als wollte er zuſchlagen. Nach dem Freund ſchlagen ..

Erſt als Sam in der Tür ſtand, begriff er. Und er fagte, indem er den Re- volver langſam in die Taſche ſteckte:

„Om, Jo, das Frauenzimmer hat wohl Eindruck auf dich gemacht.“

Dabei ließ er die Blicke erſt zu dem Fräulein, dann nach dem Freund hin ſchweifen, der verlegen am Armel ſeiner Pelzjacke zupfte. Spuckte aus und ſetzte ſich auf die Bank vor dem Kamin, in dem behaglich das Feuer praſſelte. Zog eine Stummelpeife aus der Taſche, ſtopfte fie mit Tabak, und widmete fidh einer ein- gehenden Betrachtung der Perſon des Fräuleins Conſtantia Mac Pherſon. Und nachdem er ſie von oben bis unten und von den Schuhen wieder bis oben beſehen hatte, wandte er ſich ab, nahm die Pfeife aus dem Mund und ſpuckte ins Feuer.

Durian: Der weiße Wolf 151

Connie war did, und zwar unangenehm dick. Es lag in ihrer Dicke etwas Schwammiges. Ihr Geſicht war farblos, aufgedunſen, ohne greifbaren Ausdruck. Der Mund war breit und dumm, die Lippen wulſtig wie bei einer Negerin aus dem Süden. Ihr Haar war fettig und roch nach Küche; es fab aus, als ob fie ſich den toten Pelz eines Tiers mit Leim auf den Kopf geklebt hätte. Dazu die ſchlechten Kleider, die fie trug, die dicken roten Arme und Hände, die aufgeſchlagenen Röcke, die plumpen Beine, die darunter ſichtbar waren.

So ſah Fräulein Conſtantia Mac Pherſon aus. Und doch war etwas an ihr, was vielleicht darin ausgedrückt war, daß man ſie „Fräulein“ nannte. Als ob ſie von einem Dunſtkreis umgeben wäre, der die Sinne der ſchwerblütigen Männer erregte wie elektriſcher Strom.

Sie wußten von Frauen ſo gut wie nichts, waren gar nicht eingeſtellt auf fie, von denen man ſagt, daß fie den Sinn des Daſeins bedeuten. Jo und Sam lebten ohne Sinn, ähnlich den Tieren, die nur leben und nicht fragen und poo in manchen Dingen an Größe uns übertreffen.

So war die Art dieſer Männer, daß ſie, was ſie taten, langſam taten iie von Grund auf, daß fie ganz davon erfüllt wurden und nicht vergeſſen konnten, ſondern immer tiefer ſich einbohrten, bis ſie ans Ende gelangten. Sie ſaßen ſtumm und ließen den geheimnisvollen Strom auf ihre Sinne wirken, wie er von dieſer Frau ausſtrahlte. Langſam begannen ſie ſich zu erwärmen; von innen heraus.

Das Fräulein hatte ſich indes von ihrem Schreck erholt und fühlte ſich be- wogen, eine Unterhaltung anzuknüpfen.

„Nein, Sie ſind aber einer!“ ſagte ſie. „Einen ſo erſchrecken!“

In Sams, des Türken, Geſicht verzog ſich keine Miene.

Regloſe Stille. |

Connie betrachtete ihre roten wulſtigen Hände und ließ fie wieder ans Kleid fallen. Dabei wurde fie gewahr, daß ihr Rock noch aufgeſchürzt war, und bückte ſich und löſte die Nadeln. Nachdem auch dies geſchehen war und noch immer keine Veränderung der Lage eintrat die Männer ſaßen da und ſchwiegen beharrlich fiel ihr nichts mehr ein, womit ſie ſich beſchäftigen könnte. Verlegen lehnte ſie am if, trat von einem Fuß auf den andern und verbarg ſchließlich die Hände auf dem Rüden. Dabei ſchielte fie heimlich nach den Männern hin. Sie war die Männer ſo anders gewohnt von der Stadt her, aus der ſie kam. Sie rang mit fidh, was fie dieſen da fagen könnte; aber ihr fiel nichts ein. Da wurde ihr unheim- lich. Sie zögerte noch und blickte prüfend auf Joſua Clark, der in ſeinem Pelz am untern Ende des Tiſches ſaß und ſie unverwandt anſtarrte. Und er erſchien ihr wie ein hungriger Wolf, der nur auf den Augenblick wartet, um ſich auf die Beute zu ſtürzen. Plötzlich bückte ſie ſich, faßte klirrend den Waſſereimer, in dem die Waſchbürſte ſchwamm, und lief aus der Tür.

* *

Geſprochen wurde erſt am nächſten Morgen über ſie. In Nebelſchwaden ſchwamm die Sonne wie ein großer roter Pilz, und der Nelſonfluß floß dampfend am Fort vorbei durch die Schlucht. Das Kanu lag am Steg bereit und ſchaukelte auf dem Waſſer. Da öffnete ſich die Tür des Hauſes, und Jo und Sam, die Trapper,

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traten heraus und hinter ihnen der Landlord des Forts, ein vierſchrötiger Nor- weger, der in einer roten Wolljacke ſteckte und die Büchſen mit Pemmikan auf dem Arm trug, den die Hudſonbai-Kompagnie den Trappern zur Wegzehrung gab. Langſam ſchritten die drei Männer zum Steg, wo das Kanu lag. Jo ſtieg dann als erſter ins Boot und verſtaute die Pemmikanbüchſen, die der Landlord ihm zureichte. Darauf unterhielten ſie ſich noch ein wenig.

„Mit Zobel ſoll's heuer nichts ſein,“ ſagte der Landlord, „'s iſt Luchsjahr.“

„Wollen zuſehen“, brummte Sam, der Türke.

„Haltet euch an die Füchſe. Ich ſag' es jedem. Für die reinen Silber zahlen fie jetzt zweihundert bis dreihundert Dollar. Im letzten Frühjahr hat einer zwei Stück vom Creek gebracht. Beim See oben hat er ſie geſchnappt, oder war's am Schwarzen Fluß? Ich weiß nimmer.“

„Werden Kreuzfüchs geweſen ſein“, lachte Sam.

And er ſtieg nun auch ins Boot.

„Habt ihr alles?“ frug der Landlord.

„Warum follten wir's nicht haben?“ ſagte Sam. Und dann, indem cr lang- ſam die Kette abwand, die das Kanu am Steg hielt, ſagte er noch:

„Habt da 'ne Neue eingeſtellt, Knoddy, hm?“

„Ne Neue?“

„Das Fräulein“, erklärte Jo.

„Ach ſo, das Fräulein“, lachte der Landlord. „Ja, die toat von der Stadt.“

„So fo, von der Stadt“, brummte Sam und ſpuckte ins Waſſer.

Da trieb die Strömung das Kanu davon, und FJoſua Clark ſetzte die Ruder ein.

* * %

Im Blockhaus am Schlangenfluß lohte ein mächtiges Feuer im Kamin und ſtrahlte Wärme und Behaglichkeit aus. Der Teekeſſel hing in den Flammen, pfiff und ſang und ſtieß Wolken von Waſſerdampf aus. Sam, der Türke, ſaß vor dem Feuer auf einem Holzklotz. Über den Knien hielt er ein friſches Biberfell und ſchabte mit ſtumpfem Meſſer die Haut- und Fleiſchreſte von dem weißen Leder. Er rauchte feine kleine Pfeife dazu und ſummte das Lied vom Feuerwehrmann vor ſich hin. Das tat er, weil er guter Dinge war. Draußen trieb der Schnee, und der Novemberſturm heulte und rüttelte an der Tür der Hütte und trieb hohe Schneewehen an der Bretterwand auf. Überall lag der Schnee knietief, und zu ihren Gängen legten die Trapper die Schneereifen an. Der Fang war gut. Viele Biſam, elf Nerze, ſiebzehn Biber betrug die Herbſtausbeute am Fluß. Jetzt war es vorbei mit den Fallen unter Waſſer. Geſtern waren die Männer draußen ge— weſen am Fluß und hatten die Eiſen geborgen; die beim Biberdamm und auch alle Otter- und Biſameiſen, die fie da und dort am Grund des Fluſſes und in den Uferhöhlen liegen hatten. Denn ſchon lag wie eine feine Haut die erſte Eisdecke über dem langſam fließenden Waſſer. Über Nacht konnte es einfrieren. Dafür lagen jetzt die Fuchseiſen aus zum Winterfang. Und auch zwei ſchwere Bären— haken waren feit geſtern geſpannt; einer am Grißlybaum, an dem feit drei Tagen ein friſches Wetzzeichen war. Den andern hatten die Männer über dem Fluß drüben an der Kahlen Halde gelegt und um einen ſtarken Baumſtumpf verankert. Dort

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waren fie geftern auf einen Grißly geſtoßen, der aber wie toll den fteilen Hang hinaufgaloppierte, als er die Männer eräugte, und im Waldesdickicht verſchwand, noch ehe Jo, der die Büchſe mit hatte, feinen Schuß anbrachte. Es war ein Fremd- bär, denn die vom Revier lagen jetzt in den Winterhöhlen verſtaut und ſchnarchten.

Jetzt erft ſah es heimlich aus in der Hütte und begannen die Trapper ſich behaglich zu fühlen im Neſt. Es war noch in jedem Winter fo geweſen: wenn fie ankamen, nachdem fie zwei Tage lang vom Nelſonfluß her durch den Wald ge- ſtampft, war es öde und kalt in der Hütte am Schlangenfluß. Fingerdick lag der Staub auf Fangeiſen und Gerätſchaften, und es ſah fremd und aufgeräumt aus in der Bude. Dabei pfiff der Wind durch die Fugen ins Haus, und die Tür hatte ſich vielleicht in den Angeln geſenkt, oder der Kamin war eingefallen. Die Arbeit begann. Alle Schäden wurden geflickt. Dann ging's in den Wald, und war viele Tage zu tun, bis nur das Brennholz zur Stelle war für die lange Winterszeit. Dazwiſchen hinein zogen die Männer wohl aus und nahmen die Büchfen mit und ſchoſſen den erſten Hirſch ab im Jahr. Denn nach einer Woche Pemmikan ge- mahlenem Rindfleiſch in Fett hatten ſie ehrlichen Hunger nach friſchem Wildbret. War Holz und Fleiſch in der Hütte, lagen die Eiſen für den Herbſtfang im Fluß, dann fing das Leben erſt an. Aber es war noch keine rechte Häuslichkeit in dieſem Leben im Herbſt. Die beiden Männer wechſelten ab mit dem täglichen Rundgang bei den Fangplätzen. Und in dieſer Zeit nahm, wer guten Tag hatte, feine Büchſe vom Nagel und ſtreifte die Wildwechſel ab im Revier. Vereinzelte Grißly liefen noch, und es gab genug Cariboos, Elche und Wapitis. Erft wenn in den Nächten der Wolf heulte und der Schnee reichlich fiel, wenn die Eiſen aus dem Fluß ge- zogen wurden und die Fuchsfallen ausgelegt waren, begann das trauliche Leben in der Bude. Jetzt erft fab es nach etwas aus darin Jo fagte: „Die Bude hat Leben bekommen.“

Sam, der Türke, war mit dem Biberfell fertig geworden und warf es in die Ecke. Er griff nach dem Haken und ſchürte das Feuer an, daß die Funken im Kamin hochwirbelten. Dann warf er einen friſchen Holzklotz darein, reckte die Arme und ließ die Finger knacken. So verſank er ins Brüten, ftemmte breit die Ellbogen auf die Knie und ſtützte das Kinn in die Hände. Stundenlang konnte er daſitzen, ins Feuer ſtarren und ſeinen Gedanken nachhängen. Früher hatte er ſchon fo getan, aber in dieſem Jahr war es ihm Gewohnheit geworden. Gierig erfaßten die Flammen die friſche Nahrung und loderten auf, daß das Waſſer im Keſſel ratterte und ziſchte. Feuerſchein erleuchtete den Raum und vertrieb ae zuckenden Schatten. Die Bude lebte

Bündel von Pelzen hingen überall an den Wänden. Biſamhäute, die beim Abſtreifen umgeſtülpt auf Reifen von Weidenholz gefpannt worden waren und nunıausfahen wie aufgeblaſene Mondfiſche. Hirſchſtangen und ausladende Schau- feln von Eichen ragten ſparrig zur Dede auf. Skibretter, Eishacken, Stöcke lehnten umher, an Holzpflöcken aufgereiht hingen Fangeiſen in allen Größen, dabei Pelz- jacken, indianiſche Leggins für die Zeit der grimmigen Kälte und eine Menge Riemenzeug. Von einer rieſenhaften Wapitiſtange pendelte Sams Büchſe herab und der Patronengurt, den er nie trug, weil er die Patronen immer in der Taſche

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hatte. Grißlyfelle und Hirſchdecken lagen am Boden umher und über der Bank an der Wand. Und was da alles umhergeſtreut war: Tierſchädel, Riemenzeug, Kugelzangen, Tragſchlaufen, Tabaksbeutel, eine breite Doppelaxt, Eifenfeilen, Fallenſchlüſſel und Spannhebel, Kleidungsſtücke, Waſchbecken, Waſſerſtiefel, ſogar eine Ziehharmonika, die Jo einmal herausgebracht hatte. In der Ecke beim Kamin lag ein Haufen Bären- und Wolfsdecken übereinander; bier ſchliefen die Männer. Bei der Tür, in einem flachen Korb aus Weidengeflecht, ſchlief Puck, ein dunkel- brauner kleiner Pelz, der ſich von all den Pelzen, die anderswo umherlagen und hingen, kaum unterſchied, nur daß er ſich atmend leiſe hob und ſenkte. Ein kleiner zahmer Zobel, der den Trappern Hauskatze und Spielzeug war. Über feiner Schlafſtelle hingen Bündel von Angelleinen; Rute und Fangnetz ſtanden dabei. Daneben Weidengerten und eine unvollendete Flechtarbeit, die hilflos die Ruten von fidh ſpreizte. Es war kein Ende der Dinge, die im Lauf von ſechs Wochen in dem einen Raum ſich aufgeſtapelt hatten, in dem zwei Männer einen kanadiſchen Winter lang nebeneinander hauſen ſollten. Und doch war da nur ein Ding, das Zierat fein follte: der kahle Schädel eines Grißly mit dem ſchimmernden Räuber- gebiß, der auf dem ſteinernen Sims des Kamines ſtand und den Kram des All- taglebens umher beherrſchte in ſeinem fahlen Weiß mit dem ſtummen Blick aus den ſchwarzen Augenhöhlen. So ftand der Schädel da oben, bleich, totenſtarr, un- heimlich ein gewaltiges Zeichen. Über all dem lag ein dicker Nebel von Rauch und Tabaksqualm und Waſſerdampf und durchſetzte ſich mit dem Gemenge der Gerüche: Moſchus der Biſamfelle, Pelzgeruch verſchiedener Art, Faulgeruch der verweſenden Fleiſchreſte, die von den friſchen Bälgen geſchabt und niemals auf— gekehrt wurden. Düfte von gedörrten Fiſchen und geſchmorten Wildbraten, Tabat- geruch und Geruch von Stiefelfett, Schneeſchuhwachs, Teer und ſchmelzendem Tannenharz, das in goldgelben Tränen aus den Holzſcheiten perlte, Geruch von naſſen Kleidern, die da zum Trocknen hingen, von den Bärenfellen, unter denen die Männer ſchliefen, von dem kleinen Zobel, der wie jeder Marder roch, endlich Geruch der Männer ſelbſt, die ſich weder häufig noch gründlich wuſchen. Geheizt wurde ſtets, gelüftet nie. Die Bude lebte.

Und Sam, der Türke, ſaß da vor dem Feuer in ſich verſunken und träumte. In verſchwimmenden Umriſſen ſtieg die Geſtalt einer Frau vor ihm auf, und fein Herz begann zu pochen. Es zog ihn dahin, dumpf, mit unwiderſtehlicher Macht. Es war, als ſei ihm die Haut zu eng geworden. Nimmer ſatt konnte er werden von dem weltfernen Leben hier außen. Es füllte ihn nimmer aus. Er war gar nicht bei der Sache wie früher; ſeine Gedanken verloren ſich oft. Daſitzen und träumen ... und wenn er fo daſaß, erwachte eine unbeſtimmte Freude in ihm: daß er wußte, wohin gehen, um ſatt zu werden. Und daß er eines Tages heimlich ſich dahin aufmachen würde. Er zitterte vor Erregung, wenn er daran dachte. Ihn verließ der kühl abwägende nüchterne Verſtand, wenn er die ſüße Begier des einen geheimen Gedankens ſchlürfte. Er vergaß den Freund, die gemeinſame Arbeit, daß Winter war und Eiſeskälte wurde, daß der Fluß gefror, daß die Schnee- ſtürme lauerten und die Wölfe heulten in der Nacht. Nie dachte er daran, wie er dahin kommen ſollte. Eines Tages würde er eben dort ſein; er und das Fräulein

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würden dort fein. -Und er würde fagen: „Verzeihen Sie, Fräulein, daß ich Sie damals erſchreckt habe mit dem dummen Revolver.“ Und: „Gerne will ich Ihnen den Revolver ſchenken. Aber nur, wenn es Ihnen Spaß macht, Fräulein.“ Oder er würde ſagen: „Fräulein, wie ſchöne Haare Sie haben!“

Vieles fiel ihm nun ein, was er ihr ſagen wollte, wenn er erſt dort ſein würde. Und dann dachte er darüber nach, wie er ſich bei ihr in gutes Licht ſetzen könnte. Rafieren wollte er fih und die Haare aus dem Geſicht kämmen; dann fah er beinahe ſo gut aus wie der Manager der Kompagnie, der im Frühjahr immer nach Fort Nelſon kam. Die Biberjade würde er anziehen und den Patronengurt umſchnallen und die Büchſe loſe über der Schulter tragen; das machte einen flotten Eindruck. And in die Pelzmütze wollte er einen Flügel vom Blauhäher ſtecken. So fiel ihm manches ein.

Dann ſtarrte er trübe vor ſich hin in die Glut und empfand dies Daſein in der Hütte wie ſchwere Laſt. Tag um Tag ſchob er die Laſt vor ſich her und tat feinen Teil der Arbeit. Die Zeit floß dahin. Immer mehr verdryß ihn die Arbeit und die Tatſache, wie ein Tag um den andern verging, ohne daß er ſchlüſſig wurde, wann und wie das getan werden ſollte, was er tun mußte. Es wuchs gegen ihn an wie Gewitterwolken. So ſaß er beim Feuer und dachte im Kreiſe und fiel von einer Stimmung in die andre.

Draußen war es Abend geworden. Das kleine Fenſter der Hütte ſtand blaß im Dunkel. Sam, der Türke, bückte ſich und warf ein Holzſcheit auf die Glut. Als die Flammen aufzuckten, knirſchten Schritte durch den Schnee heran. Mit einem Fußtritt wurde die Tür aufgeſprengt, und Joſua Clark trat ein, verſchneit und durchfroren, die Büchſe über der Schulter und in der Hand ein ſilbergraues Bündel. Eine Wolke friſchkalter Winterluft trug er mit ſich herein. Und er lachte vergnügt und hielt das Bündel hoch: | „Hallo, Sam! Der erſte Fuchs!“

„Well“, knurrte Sam, der Türke, und ſchob die Pfeife in den andern Mund- winkel. Das war alles.

Der kleine Zobel im Korb erwachte, entrollte ſich, blinzelte und ſchnupperte mit der kleinen feuchten Schnauze umher. Darauf ſtreckte er ſich lang und gähnte, ſteckte den ſpitzen Kopf wieder unter den Leib, rollte fih ein und ſchlief.

* *

i *

Der fremde Grißly ließ die Männer nicht ruhen. Nun hatte er in der ver- gangenen Nacht einen Stein in das Eiſen auf der Kahlen Halde gewälzt. Und als es zugeſchnappt war, hatte er den Köder gefreſſen eine ſaftige Hirſchkeule.

„Der kennt ſich aus“, ſagte Sam, der Türke. Sie waren zuſammen ausgezogen, um nach dem Bären zu ſehen. „Beſſer als du bei den Frauenzimmern“, meinte Jo. „Kennſt du dich bei denen ſo gut aus?“ frug Sam kalt. „Beſſer als du ſchon.“ „Hab' nichts davon bemerkt.“ „Haft ja dein Schießeiſen los gebrannt wie 'n beſoffener Cowboy am Zahltag. Re „Und wie fie dich geſehen hat, ift fie davongelaufen.“

156 Durian: Der weiße Wolf

Es geſchah zum erſtenmal, daß ſie unter ſich von dem Fräulein ſprachen. Nun erkannte jeder, daß der andre noch „daran“ dachte, und das war es, was jeder im geheimen wiſſen wollte. Oder lieber nicht wiſſen wollte. Es trat eine leichte Verſtimmung zwiſchen ihnen ein.

„Wollen ihn hetzen“, ſagte Jo. Er meinte den Grißly.

„All right,“ brummte Sam, „ins Eiſen tritt der nicht.“

Alſo gingen ſie daran, „ihn zu hetzen“.

Sam, der Türke, ſtieg den Berg hinauf bis zum Wald und ſtellte ſich dort an. Jo wollte das Unterholz an der Kahlen Halde durchſtöbern und den Bären, wenn er da irgendwo ſteckte, nach dem Wald zu treiben. Es wurde aber nichts daraus, weil der Bär nicht da war. Dafür begann es zu ſchneien; bald fiel der Schnee ſo dicht, daß man kaum drei Schritte weit ſehen konnte. Jo erſtickte faſt vor Schnee. Schnee fiel vom Himmel, Schnee ſtäubte von den Büſchen auf ihn, durch die er ſich zwängte, und ſeine Füße ſteckten im Schnee. Eine Weile tappte er aufs Geratewohl umher. Aber das Geſtrüpp zwang ihn oft zu Umwegen. Bald kannte er ſich nicht mehr aus und glaubte, die Richtung verloren zu haben. Er blieb ſtehen und rief laut: „Hallo!“

Doch der Zufall hatte ihn richtig geführt. Als er rief, jtand er keine zehn Schritte weit von Sam, des Türken, Platz entfernt. Sam hörte ihn rufen, gab aber keine Antwort.

Seit er da oben am Waldrand ſtand, ließ der Gedanke nicht von ihm ab, daß Jo ſich um das Fräulein bekümmerte. Und wie er nun ſo damit groß getan hatte, als ob er Sam der Geprellte wäre, und er ſelbſt der Hahn im Korbe, „Sich beſſer auskennen“ „beſoffener Cowboy“ da ſteckte etwas dahinter. Sollte der verd.. Sam wies den Verdacht weit von fidh. Seine Eitelkeit wollte um keinen Preis daran glauben: er, Sam, der Türke, jollte fo im Hand- umdrehen abgetan und übertölpelt werden können? Er ſtellte ſich vor, daß er tiefern Eindruck auf das Fräulein gemacht haben müſſe als Jo, dieſer aufgeblafene Laffe und Grünſchnabel. Ja, das war ja alles dummes Zeug, was er ſich da ein— bildete. In der Dummheit hatte Jo ſo dahergeredet. Aber wie er ſo ſtand und der Schnee auf ihn fiel, krochen wieder die ſchlimmen Gedanken an ihn heran: wenn nun doch zwiſchen Jo und ihr ein Einverſtändnis ... Hols der Teufel!

Nun war es vorbei mit dem ſchönen Traum. Verdacht und Erbitterung lähmten die Gedanken. Ja, nun würde er nicht mehr an das Fräulein denken können ohne das verfluchte Gefühl, daß ſie mit Jo im Einverſtändnis ſei. Wenn ihm Jo Hab und Gut geſtohlen hätte, Sam würde es leichter verſchmerzt haben als dies, daß er ihm ſeinen Traum geſtohlen hatte. Und nun er ſich ſchon mit dem Verdacht beſchäftigte, malte er ſich ihn in kraſſen Farben aus und verbohrte ſich darein. Der Widerſtand erhöhte die Begierde. Jetzt wurde das Fräulein zum Engel und Jo zu einem Teufel an Bosheit und Verſchlagenheit. Ein Dieb war er, ein Schuft, der ihm in heimlicher Tücke das Teuerſte auf Erden geraubt hatte. And Sams, des Türken, bemächtigte ſich plötzlich maßloſe Erbitterung. Das war

dem Augenblick, als Jo aus dem Dickicht rief.

„Schrei dich heiſer, du ...“, knirſchte Sam vor fidh hin.

Ourian: Der weiße Wolf ` 157

Aber als Jo nun in 955 Not ſeine Büchſe abſchoß, rief er ihm doch. . trat auf ihn zu und fragte:

„Warum haſt du denn nicht gleich Antwort gegeben?“ |

„Hab' keine Luft gehabt“, ſagte Sam, der Türke, kurz, warf die Büchſe über die Schulter und ſchritt durch das Schneetreiben davon.

Jo ſtand verblüfft. Aber da ging ihm ein Licht auf. Und er pfiff durch die Zähne und ſagte laut vor ſich hin: „Alſo darum.“ Obwohl dies keinen Zweck hatte, denn niemand hörte ihn. Nun ging plötzlich eine Wandlung in ihm vor: mit ein- mal erſchien ihm das Fräulein von Fort Nelſon überaus begehrenswert.

Jo war von leichterer Art als Sam. Das kam vor allem daher, weil er ein Dutzend Jahre jünger war als Sam, der Türke. Das Fräulein hatte tiefen Eindruck auf ihn gemacht, und er hatte dies nicht vergeſſen. Aber ſo ſchwerfällig war er nun doch nicht, um aus ſich ſelber eine Folgerung aus dieſem Eindruck zu ziehen. Jo war jung und ließ ſich beeinfluſſen. Wäre Sam, der Türke, nur ein wenig Diplomat geweſen aber er hatte ſo wenig Anlage dazu wie ein Grißlybär —, hätte er es über ſich gebracht, bei dem kurzen Wortwechſel eine kleine ſpöttiſche Bemerkung über das Fräulein hinzuwerfen, fo wäre für Jo der Fall erledigt ge- weſen. Nun war das Gegenteil eingetreten. Jo erkannte, wie wichtig das Fräulein Sam, dem Türken, war, und er ſagte fih deshalb, daß fein Gefühl ihn damals richtig geleitet hatte, daß das Fräulein in Wahrheit begehrenswert war und da begehrte er ſie plötzlich mit Feuer und Flamme. Nichts hätte ihn jetzt davon abbringen können. An Starrköpfigkeit war er dem Freunde ebenbürtig. Nicht aus Neid auf Sam begeiſterte er ſich ſolches lag ſeiner ſchlichten Seele fern —, er fühlte ſich nur bekräftigt in dem, was in ihm ſchlief. und nun wurde Jo mit einmal froh zumut. Ihn ſtörte es nicht, in Sam den Nebenbuhler zu wiſſen. Für ihn waren keine Gewitterwolken vor dem Himmel geballt. Zeit und Raum behinderten ihn nicht, zu ſchwärmen. Er war noch jung.

In dieſem Augenblick löſte ſich ein Schatten aus dem Oickicht und glitt im Schneetreiben wenige Schritte von Jo entfernt vorüber.

Es war der Grißly.

Jo ſah ihn, und ſein Herz zitterte. Er hob die Büchſe an die Wange. Der Bär wurde aufmerkſam, ſtand ſtill ... Da krachte der Schuß. Ein kurzes wütendes Aufbrüllen. Der Grißly nahm an. Jo riß aus, ſo ſchnell er konnte, und lief durch den Wald. Und der angeſchoſſene Bär brüllend und heulend hinter ihm drein. Jo verlor die Beſinnung nicht. Sich ſtellen und wieder ſchießen konnte er nicht, denn der Bär ſaß ihm dicht auf. Alſo wählte er im Laufen einen geeigneten Baum, erfaßte den nächſten Aſt und ſchwang ſich hinauf. Es war höchſte Zeit. Der Bär lief gleich an, richtete ſich auf und führte mit der Brante den Schlag nach Jo. Und ſchlug ihm ſo die Büchſe weg, die Jo recht gerne mit auf den Baum genommen hätte. Er hatte fie über den Arm gehängt; von da hing fie ihm während des Klet- terns herunter, und ſo hatte der Bär ſie erwiſcht. Nun, Jo dachte, es iſt beſſer, er ſchlägt mir die Büchſe weg als das Bein, und ſtieg empor bis zu einer Stelle, wo der Stamm ſich teilte, und in der Gabel machte er es ſich bequem.

And dann ſah er ſich in aller Ruhe den Bären von oben an. Der Bär ſaß

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auf ſeinem Hinterteil und blickte ſeinerſeits zu Jo hinauf. Er ſchien nicht begreifen zu können, wie der Mann ſo ſchnell da hinauf gelangt war. Darauf erhob er ſich, lehnte ſich gegen den Baum und verſuchte, ob er den Mann nicht mit der Brante erreichen könnte. Dies war verfehlt, und der Bär ſah es auch ein. Zudem ſchmerzte ihn beim Strecken des Körpers die Schußwunde im rechten Hinterſchenkel empfind- lich. Mit lautem Zaulen fuhr er haſtig zurück und begann die Wunde zu lecken. Nachdem er ſich damit eine Weile beſchäftigt, ſetzte er ſich hin und überlegte, und da fiel ihm wieder der Mann auf dem Baum ein. Er erhob ſich nun und umſchritt den Baum brummend und hinkend, um zu unterſuchen, ob er dem Mann vielleicht von der andern Seite beikommen könnte. Jo ſah, daß er es mit einem Altbären zu tun hatte. Eben war er dabei, ſich die Pfeife zu ſtopfen, als der Grißly ſich auf der andern Seite des Stammes aufrichtete und in grimmiger Sehnſucht zu ihm aufblickte. ö

„Hallo, Jack“, ſagte Jo und hielt das Zündholz über die Pfeife. „Mmmmm“, machte der Bär und ſetzte ſich am Stamm nieder. Jo wartete ab und rauchte. Das Schneegeſtöber ließ indeſſen nach.

Er will mich belagern, dachte Jo. Der Grißly hatte ſich am Stamm nieder- getan und ſchien in Gedanken verſunken. Doch hob er von Zeit zu Zeit den dicken Kopf und ſah zu dem Mann empor, nur um ſich zu vergewiſſern, ob er nicht in- zwiſchen fortgeflogen fei. Denn er hatte ſchon mehrmals in feinem Leben mit den zweibeinigen Tieren zu tun gehabt und wußte, daß man ihnen jede Schledtig- keit zutrauen mußte. Jo gab die Hoffnung auf, daß der Bär ihn vergeſſen würde. Eine Stunde verrann, und der Bär war noch immer da.

Da geſchah eine Wendung der Lage. Jo fiel nämlich ein, daß er ſeine Piſtole in der Taſche hatte. Er zog ſie heraus und betrachtete ſie liebevoll. Es war eine automatiſche Piſtole mit acht Patronen im Magazin. Aber wie nun ſchießen, da der Bär dicht beim Baumſtamm lag? Jo nahm die Pfeife aus dem Mund, ftedte fie in die Taſche und ſpannte die Piſtole. Rrratſch! ... das Einſchnappen des Verſchluſſes machte den Bären aufmerkſam, und er ſah am Stamm empor, als wollte er ſagen: was für eine Teufelei haſt du jetzt wieder vor?

„Hallo, Jack!“ ſagte Jo freundlich. Der Bär brummte und rührte ſich nicht. Da hatte Jo einen Einfall. Er nahm die Mütze vom Kopf und warf fie vom Baum herab und zwar ſo, daß ſie einige Schritte weit ſeitab zu Boden fiel. Sogleich erhob ſich der Bär und lief darauf zu. Dreimal knallte die Piſtole; der letzte Schuß traf. Der Bär brüllte auf und fuhr mit dem Kopf nach der neuen Wunde herum. 90 gab die übrigen fünf Schüſſe ab, von denen vermutlich mehrere trafen. Nun wurde der Grißly erſt wild...

Als Sam, der Türke, in ſeinem Groll von der Kahlen Halde abſtieg, hörte er Jos Büchſenſchuß und ſtand ſtill. Er dachte an den Bären, und daß es ein aus- gewachſener und ſtarker Bär ſein müßte, ſonſt hätte er nicht das Eiſen mit dem Stein entſpannt. Junge Bären kennen ſolche Liſten nicht. Und da kamen Sam, dem Türken, Gewiſſensbiſſe. Das Gefühl der Kameradſchaft ſiegte über den Groll. Er durfte den Freund da oben nicht hängen laffen, trotz allem nicht. So kehrte er um und ſtieg den Berg empor. Aber er fand Jo nicht und lief lange

Eihader: Schidfal 159

Zeit im Schneegeftöber umher. Er durchquerte die Büſche und ſuchte. Schnee fiel auf ihn. Oft brach er bis an die Knie ein. Aber er achtete es nicht. Das Ge- wiſſen ſchlug ihm.

„Ich muß ihn finden“, ſagte er ſich. Und er arbeitete ſich eine Stunde lang durch Schnee und Buſchwerk. Vergeblich. Schon ermattete er unter der übergroßen Anſtrengung. Er mußte im Schnee die Richtung verloren haben. Dieſer verdammte Schnee, der jede Spur verwehte! Er überlegte, ob er einen Schuß abgeben ſollte zum Zeichen. Da vernahm er Piſtolenſchüſſe; erſt drei, dann fünf. Er fuhr auf und ſtürzte durch dick und dünn vorwärts dahin, woher der Schall der Schüſſe kam..

Der Grißly ſah ihn kommen und nahm ihn wütend an. Sam, der Türke, kniete ſich hin, ſetzte gelaſſen die Büchſe ein und ſchoß den Bären auf fünf Schritte durchs Herz. JFäh ſtand der Bär. Klappte das Maul auf, neigte den dicken Kopf zur Seite und fiel ſchwer in den Schnee. Er war tot.

Sam, der Türke, ſchob eine neue Patrone in den Lauf der Büchfe und ging zu dem Bären, Jo war vom Baum geſtiegen. Man fällt ſich in dieſem Land nicht gerührt um den Hals. Was ſie nun fühlten, äußerte ſich bei den Männern in einer leichten Verlegenheit, als ſie ſich da bei dem toten Bären begegneten.

„n guter Bär“, ſagte Jo ſchließlich.

„Zu viele Löcher in der Decke“, knurrte Sam, der Türke.

Dann ſtreiften ſie ihm das Fell über die Ohren.

(Schluß folgt)

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| Schickſal Von Reinhold Eichader

Ich weiß, daß einft die dunkle Stunde naht, Wo du die Hand erhebſt, um uns zu trennen. Wo matt zu Boden flattern wird mein Nat, Und deine Wünſche mich nicht wiederkennen.

Ich weiß, daß dich ein Nauſch mir rauben wird, Um dich auf trügeriſche Höh'n zu führen,

Haß deine Seele einſt froſtzitternd irrt

Vor längft vergeßnen, längſt verſchloßznen Türen.

Ich weiß, es naht! Nun feh’ ich Tag für Tag Den Glanz in deinen Augen mir erblaſſen,

Nun harre ich auf jener Stunde Schlag,

Wo ich dich machtlos muß ins Dunkel laffen!

160 Schröder: Gibt es eine deutſche Volksseele?

Gibt es eine deutſche Volksſeele? Von Dr. A. Schröder

möchte fih dabei auf das Tiefſte und Innerſte echten deutſſhen Volkstums beſinnen. Man will, daß ein gewiſſes großes Etwas ſein hohes, ureigenſtes Lebenslied ſinge: die deutſche Volks— feele. Aber gibt es denn das überhaupt? Ift es nicht möglich, wahrſcheinlich, faſt ganz ſicher, daß nur ein R Gedankenſpiel hinter dieſer Volksſeele ſteht?

Seele! Wir fagen: Ich glaube, hoffe, liebe aus tiefſter Seele! Wir ſprechen von einem Erfülltſein der Seele, ſei es, daß eine jubelnde Freude oder ein trüber, drückender Schmerz den Inhalt bringt. In den Zeiten der Empfindſamkeit ge- hörte es zur geiſtigen Bildung, das Seelchen unter ſanften Tränen gar oft zu ſtreicheln, und heute, unter der verwirrenden Laſt einer politiſch düſteren Gegen— wart, lockt es wohl auch ſo manches Mal, ſich ſtill beſinnlich und weich entjagend auf das ſeeliſche Selbſt zurückzuziehen. Freilich, wir wiſſen es längſt, unſere Seele iſt keine einheitliche Subſtanz, die in beſtimmter Vollprägung in irgendeinem Teile unſeres Körpers zu ſuchen wäre. Wir haben zwar nur ein Ich, ſo ſehr ſich auch Körperliches und Geiſtiges im Laufe der Jahre wandeln mag, aber dieſes Ich bezeugt ſich in verſchiedentlichen ſeeliſchen Funktionen, in einer Fülle von Ausſtrahlungen, Reizſamkeiten, Gefühlen und Strebungen. Wir können dieſes Mit-, Neben- und auch Widereinander kurz als Seele benennen, aber es iſt und bleibt ein Wort mit ſchwebenden und ſchwankenden Werten, ein ſchillerndes, flackerndes, vieldeutiges Wort.

Auch bei der deutſchen Volksſeele wird niemand im Ernſte behaupten können, daß ſie ein ganz greifbar beſtimmtes einheitliches und eindeutiges Gebilde ſei. Wenn man einen ihrer Lobredner fragen würde, was und wo und wie ſie denn eigentlich iſt, ſo würde er wohl nicht gleich eine knappe und treffende Formel zur Verfügung haben. Und dennoch, es gibt manche deutſche Eigenart oder manchen deutſchen Lebensſtil, wir können von einem deutſchen Volkstum reden, wir haben gewiſſe deutſche kulturſeeliſche Rhythmen und Schwingungen. Sie ſind zu beobachten und feſtzuſtellen, mag es fih um das Deutſchland Karls des Großen handeln, oder fei es im Reformationszeitalter geweſen, möge die Trübſal— welle des Dreißigjährigen Krieges darüber geflutet fein oder habe die Ara Bismarcks den zeitgeſchichtlichen Hauptton abgegeben. Deutſche Grunditiininung ſpricht auch jetzt, wo wir ein armes, niedergebrochenes Deutſchland ſind. Wir haben nun einmal das Gefühl, es gibt ein innerſtes, geiſtig-ſeeliſches Deutſchland, ein un- verwüͤſtliches Geſinnungsdeutſchland als ein wirkliches deutſches Edelgut.

Will man dieſes innere Beſitztum genauer beſchreiben, ſo kann wohl von dem bekannten Satze Richard Wagners ausgegangen werden, deutſch ſein heiße eine Sache um ihrer ſelbſt willen tun. Natürlich zeigt uns der Alltag eine be— ängſtigende Fülle von brutalen, oft rein egoiſtiſchen Nüßlichkeitsabjichten, von

an redet heute gern von Vereinfachung und Verinnerlichung. Man

Schroder: Gibt es eine deutſche Doltsfeele? | 161

mehr oder weniger verſteckten Neben- und Hintergedanken; aber man darf doch nicht ſagen, daß eine bloße konſequente Nützlichkeitsphiloſophie ein deutſches Ideal ſei. Es wird doch von den Beſten und Edelſten aller Stände und Berufe als nicht deutſchgemäß und darum als nicht richtig empfunden, daß ſich jene allzu praktiſche Tagesklugheit als höchſte Lebensweisheit ſpreizt. Höher ſtellt man beiſpielsweiſe den Geiſt von 1815 und 1914, den Geiſt der ſelbſtloſen, opferfreudigen Hingabe an einen großen Gedanken, in dieſem Falle alſo an die gemeinſame Vaterlandsidee. Oder es iſt die Idee der reinen tiefen Wiſſenſchaft. Es iſt alte, gute deutſche Ge- pflogenheit, daß der Gelehrte ein halbes und faſt ganzes Leben daranſetzt, um ſein Sonderproblem zu wälzen und einigermaßen zu löſen, auch wenn es dem nächſten Tagesbedürfnis ſo fern liegt, daß manche über ſolch heißes Bemühen lächeln, das fo herzlich wenig einbringt. Der Idealismus deutſcher Wiſſenſchaft iſt eine zarte, aber zähe deutſche Gewiſſensſache. Ganz ähnlich liegt es beim deutſchen Künſtlertum. Es wird als Sünde wider den heiligen Geiſt der Kunſt empfunden, wenn jemand um des materiellen Gewinnes willen ſeine künſtleriſchen Aberzeugungen wandelt oder gar preisgibt. Friedrich Hebbel hat ſich lieber beinahe zu Tode gehungert, als daß er auch nur eine Zeile ohne die volle Zuſtimmung ſeines inneren künſtleriſchen Menſchen hätte ſchreiben mögen. Er it feine ver- einzelte Erſcheinung.

Man hat gemeint, den deutſchen Idealismus zu Tode ſpotten zu können. Er hat ja auch feine wunderlichſten Überftiegenheiten und Weltfremdheiten gehabt. Aber das Zerrbild iſt nicht das wahre, gute, ſchöne Urbild. Geſunder, lebenswarmer Idealismus iſt Kraft und Freude. So ſieht und erlebt es bewußtes deutſches Menſchentum. Darum iſt Schiller immer noch der Liebling der Nation, und Fichte hat es ungezählten Menſchen aus der Seele geſprochen, aus einer lebensſtarken deutſchen Seele, wenn er ſagt: „Die Kraft des Gemütes iſt es, welche Siege erkämpft.“ Dieſer Idealismus iſt glühender Wille zum Recht, nicht zum formalen, buchſtäbelnden Juriſtenrecht, ſondern zu einem innerſten ſeeliſchen Recht, ein Wille zum ſieghaft Guten, der ſich auch dann nicht unterkriegen läßt, wenn er, nach ſeinen ſichtbaren Mißerfolgen bemeſſen, zunächſt tatſächlich zu unterliegen ſcheint. Es iſt kein Zufall, wenn im deutſchen Märchen die Tugend ſchließlich doch ihren Lohn und das Laſter feine Strafe findet. Rührende Züge zartſinniger Nüdficht- nahme durchweben das alte deutſche Recht. Wo eine arme Wöchnerin iſt, da dürfen die Zinshühner nicht geholt werden, und der „arme Sünder“ oder „arme Menſch“, dem ein hochnotpeinliches Verfahren droht, kann durch einen Fürſprech allerhand Erleichterung, wohl gar einen vollen Freiſpruch bekommen. Dem weg- mũden Wanderer ſteht es frei, aus einem Obſtgarten zur augenblicklichen Hunger- ſtillung einige Früchte abzubrechen, und der arme Teufel, der nichts zu heizen hat, ſoll ſich ruhig am lichten Tage das unbedingt nötige Quantum holen aus dem Gemeindewalde. Der echt deutſche Gedanke ſolcher volkstümlichen Rechtsſitte gipfelt in einem wie ſelbſtverſtändlichen Auf Treu und Glauben. Man darf hier auch an den berühmten mythologiſchen Seidenfaden denken, der feſter hält und abgrenzt, als Steinmauer und Eiſengitter. Auch das großzügige, „fröhliche Un- gefähr“ des Abmeſſens, z. B. durch Hammerwurf nach rückwärts, mag einem in

Oer Türmer XXIII, 9 12

162 Schröder: Gibt es eine deutſche Volksſeele?

den Sinn kommen. Die Zeiten und die Verhältniſſe haben ſich geändert, aber noch immer lebt das Ideal deutſcher RNechtsgeſinnung, mit dem Zuge zum eigent- lichen Rechtsgeiſte, der im beſonderen Falle auch das in gewichtigen Anſchlag bringt, was man mildernde Umſtände nennt.

Oft hing das Rechtliche gerade bei den Deutſchen mit dem Religiöſen zu- jammen. Mit Ehrfurcht beugte man fih den ſeltſamſten Gottesurteilen. Alt- germaniſche Gedankenkreiſe und chriſtliche Glaubensmotive gingen harmlos neben- und durcheinander. Die Germania des Tacitus erzählt von germanifch-religiöfern Feingefühl, und der große Geſchichtſchreiber Heinrich von Treitſchke betonte, die Deutſchen hätten in religiöſem Betrachte wohl niemals auf der Bank der Spötter geſeſſen. Niemals aber konnte ſich deutſches Empfinden auf die Dauer an nur eine Deutung des Religiöſen binden. Mittelalterliche Myſtik gehört ebenſo zur deutſchen Frömmigkeit wie der aufkläreriſche Rationalismus des 18. und 19. Jahr- hunderts; deutſch iſt der lutheriſche Proteſtantismus, deutſch aber auch die ganz undogmatiſche Religioſität unſerer modernen Moniſten und Pantheiſten. Selbit- verſtändlich ändert das nichts an einem gewiſſen übernationalen Charakter des Religiöfen; aber der Oeutſche ſchaut es mit feinen Augen, vernimmt und ver- arbeitet es mit feiner Seele. Und da nun deutſche Frömmigkeit ein ſehr viel- ſtimmiges Inſtrument war und iſt, ſo klingt als weſentlicher Grundton eine religiöſe Duldſamkeit. Mag fein, daß ein Nichtungsfanatismus gelegentlich unliebſam von ſich reden macht; es werden zuletzt doch immer wieder diejenigen Stimmen gehört und geſchätzt, die der Auffaſſung find, es ſei ein Greuel und Ärgernis, wenn man ehrfurchtslos in das ſeeliſche Heiligtum eines anderen hineinrenne.

Der Deutſche liebt es, von Zeit zu Zeit einen bewußten, ſelbſtſicheren Blick in das eigene Volkstum zu tun, und natürlich erklärt ſich da manches aus den längitvergangenen Tagen. Die gute alte Zeit malt hübſche Stimmungsbilder, und ſehnſüchtig blickt man auf die ſtillen Gaſſen und alten Neſter zurück, in denen noch keine Automobile ſauſten und wo alles ſo friedlich, behaglich, gemächlich war. Nach dieſer Seite hin hat ja Wilhelm Raabe viel Liebes und Gutes gedichtet. Überhaupt wendet ſich der Deutfche gern von der allzu gegenwärtigen Gegenwart ab, beſonders in politiſch trüben Zeiten, und baut fid) feine freie, ſinnige Idealwelt, zieht ſich ganz aufs innere Wünſchen und Sehnen zurück und errichtet Luftſchlöſſer für die Zukunft, wenn ihn eben nicht gerade die Poeſie des Vergangenen ganz gefangennimmt. Eine liebenswürdige Tagträumerei kann entſtehen, die vielleicht gar der nächſten Tagespflichten vergißt, und die von den Nichtdeutſchen in ihren letzten Gründen und Schwingungen einfach nicht verſtanden wird. Dafür eignet aber dem Deutſchen ein eifriger, freundlicher Wille, das Nichtdeutſche zu verſtehen, d. h. es nach Kräften zu idealiſieren und daraufhin möglichſt hoch einzuſtellen. Deutſcher Stolz und weltbürgerliche Fremdtümelei find oft einen Bund ein- gegangen, zumeiſt einen recht unguten. Aber deutſches Heimgefühl ſiegte fo manches beſſere Mal. Heimatklänge haben etwas Erregendes, Gewiſſenſchärfendes. Scheffel prägte das Wort „heimwehbewältigt“, und die Leſer des „Ekkehart“ nicken verſtändnisinnig. „In der Heimat iſt es ſchön!“ Das kann für den richtigen Deutſchen gar nicht anders fein. Wäre es die eintönigſte oder die bunteſte Land-

Schroͤber: Gibt es eine deutſche Boltsfeele ? 165

ſchaft, man legt Gedanken und Gefühle hinein, um fie dann verklärt wieder zurück- zunehmen. An manchen Punkten des deutſchen Vaterlandes haften beſondere Semütswerte: der Rhein, die Wartburg überall, wo geſchichtliche Erinnerungen mitreden und wo Frau Sage ihren hold geheimnisvollen Zaubermantel ſchlägt, da pulſiert auch wie von ſelbſt der Herzſchlag deutſchen Weſens.

Der Zug zum romantiſch Sinnierenden wird ergänzt durch ein, man möchte ſagen, kraftvoll techniſches Wollen und Können. Das Volk der Dichter und Oenker hat für Handel und Wandel, Induſtrie, Handwerk und Landwirtſchaft anerkannt Großes geleiſtet. Deutſcher Erfindungsgeiſt hat die Welt in Staunen geſetzt, deutſche Organiſationstüchtigkeit iſt auch von den Feinden gewürdigt worden. Etwas von deutſcher Seele war auch in dem vielgeſchmähten Militarismus, und fie lebt nach wie vor im deutſchen Beamtentum, trotz vereinzelter Rorruptions- erſcheinungen, denen durch den Geiſt des Ganzen ſofort die verdiente Mißbilligung wird. Praktiſches Raten und Taten kennzeichnet den modernen deutſchen Schul- und Erziehungsbetrieb, und unbeſchadet jenes wiſſenſchaftlichen Idealismus iſt man redlich und reichlich bemüht, eine geſunde Verbindung von Wiſſenſchaft und Leben zu pflegen und immer weiter auszugeſtalten. Der Rhythmus der täglichen Arbeit in Fabriken, Werkſtätten, Kontors, Bureaus, auch wenn es kleine, unfchein- bare ſogenannte Fronarbeit wäre, iſt für deutſches Seelenleben vom Hauche des Pflichtgedankens umweht und trägt darum ein gewiſſes Glücksmotiv in ſich.

Ein deutſches kulturſeeliſches Etwas wird man alſo ſchon feſtſtellen können, wenn es auch, wie bereits angedeutet wurde, nicht immer in idealer Reinkultur auftritt. Der Rechtsgedanke hat zur Kehrſeite eine öde Rechthaberei. Das Perfön- lichkeitsſtreben läuft nicht ſelten in der Richtung einer ſtarren Eigenbrödelei. Die deutſche Gemeinſamkeitskraft verzettelt ſich ſo ſchnell in den Sonderbeſtrebungen der Parteien, Gruppen, Verbände, Vereine. Um eines ſchönen Prinzips willen werden leicht die Alltagswirklichkeiten und Alltags möglichkeiten vergeſſen. Dem forſchen, geraden Zugreifen fallen theoretiſche Zweifel und Bedenklichkeiten in den Arm. Sentimentalitäten machen ſich breit, wo nur ganz realiſtiſche Nüchtern- heit entſcheiden ſollte. Und jo könnte man noch manches Aber anfügen. Goethe tat es einmal in ſehr zugeſpitzter Form, indem er ſagen zu müſſen glaubte, das deutſche Volk fei „jo achtbar im einzelnen und fo miſerabel im ganzen“. Gelbit- verſtändlich iſt's ein ungerechtes Urteil, begreiflich nur, wenn man die damalige politiſche Jammerlage berückſichtigt und heute würde Goethe vielleicht erft recht auf ſolchen Ausſpruch geſtimmt ſein; immerhin liegt das Korn Wahrheit darin, daß dem deutſchen Volksganzen nicht zu jeder Zeit die gleiche Wucht und Würde eignet, d. h. daß ſeine Geſamtſeelenkultur auch einmal dem eigentlichen Ideale herzlich wenig nahekommt. Doch das Ideal ſelbſt ift unverwüſtlich! Und ſo mag man ruhig weiter von deutſcher Kraft und Treue reden, von deutſcher Rechtlichkeit und Gründlichkeit, von all dem Innerſten des deutſchen Volkstums, das die Dichter beſungen und die Gelehrten ſozuſagen noch beſonders bewieſen haben. Es ſind viele Töne und Farben, aber zuletzt iſt's doch eine große Melodie und ein großes Vild, ſofern man ſich nur eben auf ein deutſches Hören und Sehen verſteht. Kulturbetrachter wie Riehl, Freytag, Scheffel, Raabe, Wagner lauſchten

64 | Münchhauſen: Freundſchaft

den lauten und leiſen Klängen des immer und allzeit Deutſchen, und viele andere haben es auch getan, wenn fie es auch nicht fo bewußt deuten und darſtellen konnten.

Alfo man braucht keinem Deutſchfanatismus das überlaute Wort zu reden und man darf doch erfüllt fein von der ſchlichten, hohen Wirklichkeit einer deut- ſchen Volksſeele. Sie iſt keine bloße Phantaſie, auch wenn manche phantaſtiſch von ihr geſchwärmt haben. Sie iſt quellfriſches Innenleben, das auch dann gelebt wird, wenn etliche nichts davon zu ſpüren ſcheinen. Sie läßt ſich nicht in eine kurze Formel preſſen, denn ſie iſt eine wahre Fülle von Leben.

IE

Freundſchaft Von Börries, Freiherrn von Münchhauſen

Geruhig Leben, lieber Freund, mit dir:

Wie wachſen ſacht und freundlich uns die Stunden, Gleich früchteſchweren Ranken am Spalier

Ganz klarer Freundſchaft gütig aufgebunden!

Teilnahme da, wo du ein Herz begehrſt, Mitarbeit dort, wo dir ein Kopf mag nützen, Achtung, wenn ſchweigend du ein Tor verwehrſt, Zuſpruch, wo dich ein Wort vermag zu ſtützen.

In allem Weſentlichen brudergleich,

So daß kein Wörtlein nötig mehr uns beiden, Und jeder doch an Eigenem ſo reich,

Daß die Geſpräche immer neu ſich kleiden.

Mir ift, als ob ich jede Stunde brád’

Wie eine reife Frucht von tiefen Zweigen,

Wie ſchmeckt mit dir behaglich das Geſpräch,

Wie ſchmeckt behaglich auch mit dir das Schweigen

So gehn wir durch die Tage, und die ſind Um uns wie Nanken Weines an der Laube, Und jede wiegt die Traubenbruſt im Wind Und drängt zur Lippe jedem eine Traube.

Schaal: Hunkle Welten 165

Dunkle Welten Von Fr. Schaal

riedſam leuchten die Sterne herein in unſere Erdennacht. Jeder der zahlloſen Lichtpunkte hat feine beſondere Klarheit. Woher dies Wunder des ewigen Glanzes, des Leuchtens aus Fernen, die kein Maß erreicht? Wenn das Dämmerungsdunkel ſich über die Erde breitet und die Rojenglut am Abendhimmel erblaßt, dann flammen fie nachein- ander auf, die lieblichen Sterne, wie Lichtlein, die eine unſichtbare Hand entfacht. Überwältigend iſt der Eindruck, den unſer Gemüt empfängt, wenn wir in der feierlichen Stille der Nacht zum ſtrahlenden Sternengewölbe emporblicken.

Sternenlicht wie überaus zart flimmert es am Nachtdom! Ein Außerirdi⸗- ſches offenbart ſich uns in der ſilbernen Pracht. Sind dort nicht die leuchtenden Pfade, die nach dem Lande der Ewigkeit, nach der ſeligen Allheimat führen? Ein alter ehrwürdiger Glaube ſieht dort die Stätten, da die Verklärten wandeln und da in einem Meer von Licht die Gottheit wohnt. Hier unten Kampf des Lebens, Blutvergießen, Kriegsgeſchrei, Unraſt, Sorge, Krankheit, Furcht und Tod dort oben ſtille Klarheit, ewiger Friede, heiliger Schimmer, Abglanz des Un- endlichen.

Woher das wunderbare Leuchten? Die Nacht ſenkt ſich hernieder, wenn die Sonne am Abendhimmel unter den Geſichtskreis tritt. Dieſe allein iſt es, die uns das Licht des Tages ſpendet. Würde ſie erlöſchen, dann würde ewige Nacht den Erdball decken und alles würde in Kälte und Eis erſtarren. Ein ungeheurer Glutball iſt die Sonne, und ſo gewaltig iſt die Fülle ihres Lichtes, daß es uns auf der 20 Millionen Meilen entfernten Erde die Augen blendet. Und glühende Rör- per, von leuchtenden Gasmaſſen umhüllt, ſind alle die viel tauſend, ja die vielen Millionen Sterne, die in der außerordentlichen Entfernung uns nur als Lichtpunkte erſcheinen. Ein Heer flammender Welten, die kein Sterblicher zählt, hat alſo der Schöpfer in das endloſe All hinausgeſtreut, und er hat jeglicher dieſer Welten den lichten Pfad durchs Sternenreich gewieſen.

Dunkle Körper, Planeten genannt, umkreiſen die Sonne in ewigem Wechſel und weichen nicht aus ihren Bahnen. Auch unſere Erde iſt eine dieſer dunklen Welten. Von ſich aus könnte ſie weder Licht noch Wärme auf ihrer Oberfläche erzeugen. Sie iſt da einzig auf die Sonne hingewieſen, und dieſe iſt eigentlich die Spenderin des irdiſchen Lebens. Unter all den zahlloſen Welteninſeln kennen wir nur eine, und zwar eine dunkle, die lebende Weſen beherbergt, gerade unſere Erde. Unter ihren Bewohnern iſt einer, der die Welt in ſein Bewußtſein faßt und der denkend zum Himmel emporblickt der Menſch.

Manche Gelehrten behaupten, die Erde ſei überhaupt der einzige unter allen Weltkörpern, auf dem Leben vorhanden ſei; auf allen übrigen fehle es an den notwendigen Bedingungen, an Luft, Waſſer, einem gewiſſen Maß der Wärme uſw. Aber, möchten wir fragen: Wer kennt alle Bedingungen und alle möglichen Formen des Lebens? Gibt es nicht ſchon hier auf Erden niedere Lebeweſen, die ohne den

166 g Schaal: Huntie Welten

Sauerſtoff der Luft leben können? Kann nicht der Gedanke auch in einem Organ wohnen, das anders beſchaffen iſt als der halbkugelige Markklumpen unſeres Ge- hirns? Die Bedingungen, unter denen wir leben, ſind wohl auf keinem anderen Körper des Sonnenſyſtems vorhanden. Damit iſt aber noch nicht geſagt, daß nicht unter weſentlich anderen Bedingungen Geſchöpfe von völlig anderer Be— ſchaffenheit exiſtieren könnten, und es iſt die Möglichkeit vorhanden, daß jeder Planet die Stätte eines beſonders gearteten Lebens iſt.

Daß die Sonne ſelbſt lebende Weſen beherbergt, kann allerdings nicht an- genommen werden, denn in einer Glut, die das Eiſen zu Dampf verflüchtigt, kann fidh kein organiſches Gebilde geſtalten. Iſt fie auch nicht der Sitz des Lebens, fo ſpendet ſie doch in verſchwenderiſcher Fülle die lebenſchaffenden Kräfte Licht und Wärme, denen außer uns Erdenbewohnern vielleicht unzählige, unſeren Blicken verborgene Geſchöpfe auf anderen dunklen Welten ihr Daſein verdanken. Acht große Planeten mit einem Gefolge von insgeſamt 27 Monden und mehr als 800 kleine Planetoiden wandeln um die Sonne, und alle erwärmt und beleuchtet ſie.

Eine ſolch ftattlihe Zahl von dunklen Begleitern hat die eine Sonne. Sollten ihre Millionen Schweſtern einſam ihre Straßen ziehen? Wir werden wohl nie imſtande fein, ihr Planetengefolge wahrzunehmen, da ſchon der nächſte Fixſtern, a Centauri, vier Lichtjahre von uns entfernt iſt (250000 mal ſo weit als die Sonne). Wohl ſehen wir mit Hilfe des Fernrohrs eine Menge Doppelſterne, ja drei- und vierfache Sterne, fogar im Sternbild des Orion eine Gruppe von ſechs zuſammen⸗ gehörigen Himmelskörpern, aber das ſind ſelbſtleuchtende Sonnen, die um den gemeinſamen Schwerpunkt kreiſen. Planetariſche Körper, die ihr Licht von dem Geſtirn empfangen, deſſen Begleiter ſie ſind, konnten bis jetzt noch nicht beobachtet werden. Und doch hat man Beweiſe dafür, daß einzelne Fixſterne ſolche dunkle Begleiter beſitzen.

Der Stern Algol im Sternbild des Perſeus macht innerhalb dreier Tage (69 Stunden) einen ganz merkwürdigen Lichtwechſel durch. 59 Stunden hindurch leuchtet er als Stern 2. Größe, ohne an Licht zu- oder abzunehmen. Dann aber ſinkt feine Helligkeit binnen 5 Stunden auf die 3½. Größenklaſſe, um dann in demſelben Zeitraum ſich zur urſprünglichen Lichtſtärke zu ſteigern. Nachdem alſo der Stern 59 Stunden in Ruhe verharrt iſt, wechſelt er ſein Licht innerhalb der 10 weiteren Stunden. Dieſe ganz eigentümliche Erſcheinung rührt nach der Anſicht unſerer Sternkundigen daher, daß der Stern von einem für uns unſichtbaren Be- gleiter umkreiſt wird, der beim Beginn des Lichtwechſels vor den Algol tritt und jene 10 Stunden zum Vorübergang gebraucht, wobei er einen Teil der Oberfläche des leuchtenden Hauptſterns verdeckt. Es findet ſomit alle 3 Tage eine teilweiſe Algolverfinſterung ſtatt, deren Zeuge wir auf der über 50 Lichtjahre entfernten Erde ſind. Nahe ein Dutzend weitere Sterne zeigen einen ähnlichen Lichtwechſel wie Algol. Andere Fixſterne, wie y in der Leier, wechſeln ſogar mehrere Male in der Lichtſtärke. Daraus kann geſchloſſen werden, daß ſie von zwei oder mehr dunklen Körpern begleitet ſind.

Es müſſen ganz gewaltige Maſſen fein, die imſtande find, den Hauptkörper fo zu verdunkeln, daß wir den Vorgang in der ungeheueren Entfernung wahrzu⸗

Neuting: Schälwald 167 nehmen vermögen. Wenn ſämtliche Planeten gleichzeitig vor die Sonne treten würden, was allerdings ganz ausgeſchloſſen iſt, ſo würde auf dem nächſten Fixſtern kaum etwas von einer Verdunklung bemerkt. Verdeckt ja der gewaltige Jupiter nur etwa ein Hundertſtel der Sonnenoberfläche! So können wir es auch niemals wahrnehmen, wenn kleinere dunkle Körper vor die Fixſterne treten, und wir er- fahren nichts davon, wenn ſie von ganzen Scharen von Planeten umkreiſt werden.

Unter den Millionen dunkler Welten, die durch das weite Univerſum hin- geſtreut ſind, mag manche ſein, die in vielen Stücken unſerer Erde gleicht und Licht und Wärme in demſelben Maße wie ſie empfängt. Warum ſollten dort nicht Veſen von menſchenähnlicher Beſchaffenheit leben können? Und wenn unter dem Planetengefolge jedes Fixſterns nur eine Heimſtätte geiſtbegabter Geſchöpfe wäre, ſo wären dies ſchon Millionen bewohnter Welten, und auf allen würden unſere Brüder wandeln. Vermeſſen wäre es von dem Menſchen, wenn er behaupten wollte, er auf ſeiner kleinen Erde ſei das einzige vernünftige Weſen im endloſen All. In dem großen himmliſchen Vaterhauſe ſind viele Wohnungen, und die Erde iſt nur eine derſelben. Nicht die Glutbälle, die ein Lichtmeer umwogt, ſondern die dunklen Welten, in deren Nacht die Geſtirne hereinblicken, die von außen her Licht und Wärme empfangen, find die Wohnſtätten des Lebens, das fih aus dem Dunkel

zum Licht durchringt.

Schälwald Von F. Reuting

Mich zog Muſik hinan die ſteile Halde

Wie holder Zwang, der mir im Traum geſchah Was ich dort oben, jäh erwachend, ſah,

Das Letzte war's vom jungen Eichenwalde.

Wahllos geworfen, bleichend lagen da

Viel hundert junge Stämme, die das kalte Metall gefällt, bevor noch mancher alte Baumrieſe fiel, dem Tod vertraut und nah.

Hoch eh', entmarkt, entſeelt die Hülle fprang, Da löfte unter harter Hände Streichen Sich los der feine, erdenfremde Klang.

Die Halde tönte, und wie über Leichen Die Weiſe ihre warmen Wellen ſchwang, hlt' ich, mitſchwingend, allen Kummer weichen.

168 Meftphal: Sehnſuchl

Sehnſucht Von Helene Weſtphal

m eines Menſchen Sehnſucht wiſſen, heißt ſeines Weſens Tiefen kennen. Da iſt einer, der läßt ſie frei und hell ſchreiten durch einen leuchtenden Tag. Und da ift einer, in dem liegt fie dumpf und un- erlöſt, und er leidet an ihr wie unter einem Fluch.

Ich kannte ein Mädchen aus dem Volk, nicht jung mehr und nicht ſchön. Breit und ſtark die Geſtalt, voll ungeweckter Mutterkräfte, und im Antlitz erd- ſchwere Anerlöſtheit. Ihre Augen waren wie verhangen. Das Lächeln hatte Mühe, durch ſie hindurchzukommen, und kam dann und war verirrt und fremd. Und der Gedanke ſtieg nur langſam in ihnen auf. Sie war eine von den Dienenden, deren Kräfte man braucht in den Häuſern. Die Stunden und Tage von ihrem Leben, viele Stunden und viele Tage, verkaufen um fremdes Geld. Nichts will man von ihnen als ihr willig Tun. Nicht webt ſich ihres Weſens Wärme und ihrer Hände friſche Freude in das Leben des Hauſes, darin fie dienen. Nur jen- ſeits der innerſten Türen ſchaffen ſie. Kein Platz für ſie iſt an der Stätte, da des Hauſes Seele in Königskleidern geht. So Stunden hier und Stunden da. So ausgefüllte, unerfüllte Stunden gaben ihren Tag.

Manchmal ſtand ich bei ihr und wollte von ihrem Leben wiſſen, und horchte hinter ihren Worten in ſie hinein und ſuchte ihre Sehnſucht. Aber ich ſtand vor ihren Augen wie vor einer Wand. Wofür ſchaffte ſie? Nur um die Stillung ihres Hungers? Nur um den Schlaf der Nacht? Nur um des Lebens bloßeſte Nacktheit? Ob fie nicht Feierabendſtunden hatte, darin die Sonne rot in fie hinein- ſchien? Kaum! Ihr Zuhauſe war nur ein Winkel in der Stube der böslaunigen Wirtsfrau, und war nur ein Bett und war kein Zuhauſe. War kaum ein Winkel noch zum Verkriechen; denn die heimliche Scheelſucht der Schlafgenoſſen in dumpfiger Stube machte auch vor Träumen nicht halt. Ein Tier, das ſich die Wunden leckt, hat dazu fein heimlich Plätzchen. Sie nicht. Aber hatte fie Wunden? And brauchte ſie mehr als nur den fleißig erſchafften Schlaf? Hatte ſie Sehnſucht?

Einmal glaubte ich es zu wiſſen. Da kam ſie, und es ſchlug ein Scheinen aus ihr, das war wie Freude. Sie hatte ein Heim. Eine Kammer mit Bett und Stuhl und Ciſch, und eine Küche mit einem Herd. Erſchafft, erdient mit der Kraft ihrer Arme und hundert hingegebenen Stunden! Und ich füllte in Gedanken die Wände mit rotem Abendſchein. Ein Heim, darin ihre Sehnſucht ſich erlöſen konnte oder auch nur ein Winkel zum Verkriechen. Ich wußte es nicht. Aber das Bett in der Wirtin Stube war billig geweſen. Und nun war es Winter. Um die Kammer warm zu haben für Sonntag und Abendſtunden, reichte nicht ihr Verdienſt. Da ſpannte ſie ihre Kraft und reckte den Tag noch mehr und zerlegte ihn noch mehr in Stunden für fremden Dienſt. Aber es war nicht genug. Und ſie kam ſpät heim und müde, und trug ihr Bett in die Küche. Da war die Wand warm von der Nachbarin Herd. So ſchaffte ſie und ſchlief an ihrer Sehnſucht vorbei, und trieb die Tage an ſich ſelbſt vorüber, und wußte es nicht.

Beftphal: Sehnſucht | 169

Aber manchmal kam etwas wie ein leifes Strömen in ihr Weſen, jo als gingen heimliche Quellen. Dann klang ihre Stimme anders als ſonſt: „Am Sonntag muß ich nach Hauſe!“ Und ich lauſchte den Quellen nach und fühlte, daß dieſes Muß aus Tiefen kam. Nach ſolchen Sonntagen tat ſie ſich wohl ein wenig auf, und aus ihren ſpärlich tropfenden Worten baute ich mir das Bild. Der Vater war Nachtwächter in einem Oorf, drei Wegſtunden fort. Ein Invalide mit hölzernem Bein, aber mit ſtählernem Willen. Oer ſtraffte ihn, daß er ſchaffte, als wäre er geſund. Drei Stunden Schlaf dann holte er dem Bauern ſein Mehl aus der Mühle und fuhr ſein Gemüſe zu Markt. Ich ſah den lahmen Mann durch die Mondnacht gehen, wie ein Schatten die Häuſer entlang. Ein Hund ſchlug an und bellte ſich in Wut, und wurde müde an der immer wiederkehrenden Geſtalt. Wohl konnte der Lahme ihren Schlaf nicht hüten, und doch waren die Dörfler voll Ruhe, wenn ſein heiſeres Horn vor ihren Fenſtern klang. Wenn die Sterne gingen, ging auch er.

Von der Mutter ſprach ſie nicht viel. Nur daß ſie wuſch bei Fremden, und ſich die alten Finger noch zerrieb. Manchmal lag ein Paket in der Küche. „Das iſt für die Mutter“, ſagte ſie kurz, und ich wußte, es ſteckte ein Wochenlohn darin. Aber einmal kam ſie und war wie zerſtört. Die Mutter war krank. Da nahm die Angſt alle Dumpfheit von ihrem Geſicht, und ich ſah zum erſtenmal durch ihre Augen tief in ſie hinein. Tief und ſtand doch wie ſie ſelber fremd vor der innerſten Tür.

Die Mutter wurde geſund, und alles war wieder, wie es geweſen. Nur daß der Frühling kam. Es war ein Weiches in der Luft, etwas, das locken wollte und löſen. Draußen, wo ſie wohnte, waren die Gärten voll Frühlingsblumen. Und die Fenſter taten ſich kaum mehr zu. Die Nächte kamen ſpät. Wie ein Band lag der Wald um die Vorſtadt. Die Tannen waren voll Kerzen. Weiße Birken ſtanden in Schleiern und die Buchen im hellen Feſtkleid. Sah ſie es? Und rief ſie der Abend hinaus und der Sonntag? Aber der Wald hatte keine Stimme für ſie, weil ſie ihre eigene Stimme nicht kannte, und ſie wußten nichts voneinander. Sie ſaß am Fenſter, bis die Sterne kamen und der Mond rund überm Wald ſtand. Und horchte, wie ein Kind im Nachbarhauſe ſchrie und die Waldleute heimkamen vom Stadtgang. Und ſtand auf und war müde und ohne Gedanken.

Einmal brachte ſie mir ein Bild. Aus Drang nicht. Sie dachte, es würde mich freuen. Es ſtand auf ihrem Zifd), weil fie glaubte, es müßte da ſtehen. In ihrem Leben ſtand es nicht. War nur eine verwiſchte Spur, die ſie nachzog in hündiſchem Gehorſam. Und in der Schublade lag ein Päckchen umbundener Briefe. Die nahm ſie heraus, wenn der Sonntag vor ihrem Fenſter ſtand, und las ſie und band ſie wieder zuſammen. Und die Hände waren nicht wärmer und die Augen nicht naß. Briefe, die an ihr vorübergeſchrieben. Doch ſtumpfe Gewohnheit löfte allſonntags das Band. Ich ſtaunte, was fie mir ſagte, und wie fie es tat. Als ſpräche fie von Alltag und Alltagstun. Der Mann war gefallen im Kriege, und ſie hatte noch ſeinen Ring. Das Bild und den Ring und die Briefe nicht mehr. Ich fab feine harten Züge und den kantigen Kopf, und fühlte den harten, kantigen Willen. Er hatte ſie nicht erlöſen können, und ſie las ſich an ſeinen Briefen

170 | Kühn: Dem Führer

nicht frei. Was ſoll ein Menſch mit dem andern, wenn feine Sehnſucht an ihm nicht ſchreiten lernt!

Aber von dem Tage an wartete ich auf ihre Stunde, und die Stunde kam.

Das war, als die Gefangenen heimkehrten aus den Ländern der Feinde. Da war einer, der war ein Nachbarsſohn geweſen in ihrem Dorf und war Ciſchler. Den hatten fie zum Krüppel geſchoſſen im Krieg. Aber mit dem heilen Arm richtete er ſich die Werkſtatt, und mit dem heilen Arm holte er des Nachtwächters Kind in ſein Leben, und ſie wurde ſein Weib. Seltſam war das, als ſie es mir ſagte. Es kam wie ein Staunen aus ihr, ſo, als lauſchte ſie auf ſich ſelbſt. Da ſtand ein Menſch vor ſeines Lebens Stunde.

Ich ſah ſie dann lange nicht. Aber einmal, an einem Herbſttag voll letzter Sommerwärme, kam ich vom Wald her der Stadt zu. Ich ging an den Häuschen vorbei mit den ſchrägen, freundlichen Dächern. Und die Herbſtblumen ſtanden bunt an den Zäunen. Ein Hobel klang durch den ſpäten Tag. Da ſchaffte noch einer und pfiff, als dächte er fröhlicher Dinge. Und war doch ſchon Feierabendzeit. Ich ſtand am Zaun und ſah ein Stück von einer Wiege werden, und wußte um die ſtarke, reife Freude, die um dies Kind ſein würde. Da ſtand am Saus ein Kirſchbaum und trug noch heimlich einen Blütenzweig. Seltſam ſchaute der in den werdenden Herbſt und war wie ein Gebet. Ich wies darauf und ging, und wandte mich, als ich den Hobel ſchweigen hörte. Da ſtand der Feiernde am Baum und hatte die Pfeife im Mund. Und der Mann und alles um ihn war voll Abend- glück. Vom Haus her rief es ihn. Weich war die Stimme und warm, und der Mann und die Stimme wußten tief voneinander. Die Frau ſtand auf den Stufen, und ich fab in ein Geſicht, das ich zu kennen glaubte und doch niemals gekannt. Da war ein Menſch, der von ſich ſelber wußte und wach geworden war zu freudiger Erlöſtheit. Die Augen waren offne Türen. Ich ſah hinein in ihres Weſens Tiefen, daraus die Stimme geſtiegen und all die ſtrömende Stille um ſie her. Und ich wußte, daß ſie in Reife ſtand.

Da wandte ich mich und rief nicht hinein in ihr Leben, und ging und fühlte um mich die ſtarke Ruhe des Abends. Und ich kam heim und war voll Feierfreude, und wußte um eines mehr von aller Dinge endlicher Erfüllung.

S

Dem Führer! Von Julius Kühn

Balle deinen Willen

zu unwiderſtehlicher Wucht:

Schleudre ihn in die haltloſen Bündel

der ſchwächlich Geſcharten

und pflanze dein Weſen wie eine Standarte auf die brüchige Zinne der Zeit!

Das Herz Deutichlands

Eine Charakteriſtik der Thüringer

n

C Y iſt kein Zufall, daß die revolutionären Führer in der letzten Zeit hauptſächlich | D 7 das Gebiet zwiſchen Harz und Thüringerwald, das wir allgemein Thüringen SE, Nennen, wählten, um Unruhen und Anarchismus hervorzurufen und von hier aus ganz Deutſchland in den Strudel des Umſturzes hineinzuziehen. Sie wiſſen nicht bloß, daß Thüringen wegen feiner blühenden Induſtrie und ſtark belegten Bergwerke ein wirt- ſchaftlich bedeutſames Land iſt, ſondern ſie rechnen vor allem mit den Bewohnern, mit ihrem Charakter. Und in der Tat erklärt der Stammescharakter zu einem guten Teil, warum Mittel- deutſchland zum Tummelplatz der bolſchewiſtiſchen Elemente genommen wird. | Die Bildung des Thüringer Stammes und feine Geſchichte iſt eigenartig verworren; aus der Zuſammenſetzung der Bevölkerung Thüringens ift ihr Weſen, ihr Charakter zu ver- ſtehen. Wie ich in meiner Schrift „Die Thüringer Bevölkerung“ (Langenſalza, Wendt & Klauwell, 1920) näher erörtert habe, bildete ſich der Stamm der Thüringer ungefähr um 300 nach Chriſti Geburt aus Cheruskern, die im weſtlichen Thüringen feit Chrifti Geburt ſiedelten, und Angeln und Warnen, die aus Norddeutſchland gekommen waren. Mit ihnen vermiſchten ſich in den folgenden Jahrhunderten Schwaben (Sueben), Franken, Frieſen, Flamen und vor allem auch Slawen. Desſelben Schlages ſind die Bewohner des Landes öſtlich der Saale, das urſprünglich nicht zu Thüringen gehörte, jetzt aber politiſch mit dem Thüringer Staate und der Provinz Sachſen verbunden ift, da dieſes Gebiet am Anfang des zweiten Jahrtauſends von dem Stamm der Thüringer koloniſiert und durch dieſe Beſiedelung zum thüringiſchen „Oſterlande“ geworden iſt. | Es ift natürlich, daß dieſe Miſchung der verſchiedenen Stämme, die zu Thüringern geworden find, im Herzen Oeutſchlands einen Ausgleich der Eigenarten der verſchiedenen Volksſtämme in körperlicher und geiſtiger Hinſicht herbeigeführt hat. Durchſchnittlich ſind die Thüringer Menſchen von mittlerem Höhenmaß. Sie werden zwar im allgemeinen den nord- weſtlichen Germanen zugerechnet, die den germaniſchen Langgeſichtstypus überwiegend zeigen, aber gerade unter ihnen findet ſich doch ſehr häufig auch das breite Geſicht, das Kennzeichen der Slawen. Denken wir bloß an den großen Thüringer Martin Luther, deſſen Geſtalt dieſen breitgeſichtigen deutſch-ſlawiſchen Typus widerſpiegelt! Vielleicht ift aus der Art der Bildung des Thüringer Stammes, der Miſchung der verſchiedenen Stammesgruppen, auch die Sehn ſucht nach Zuſammenfaſſung aller deutſchen Stämme, nach deutſcher Einheit und Stärke zu erklären, die in den Thüringern von jeher ſehr wach war. Es iſt wohl kein Zufall, daß gerade auf thüringiſchem Boden, im Kyffhäuſer, der „gute Kaiſer Friedrich“ (urſprünglich Kaiſer Friedrich II., nicht Friedrich I. Barbaroſſa) ruhte, der hier neu erſtehen und Deutfch- land zu neuer Einheit und Größe führen ſollte. Von Thüringen aus ift dieſe Kaiſerſage weiter über deutſche Lande getragen und verbreitet und gemeindeutſcher Gedanke geworden. Rudolf Zacharias Beckers „Nationalzeitung der Deutſchen“, die in Gotha herausgegeben wurde,

172 Das Herz Seutſchlande

verfolgte mit Geſchick und leidlichem Glück um 1800 herum dieſelbe Tendenz, die Gegenfäße zwiſchen Nord und Süd zu überbrücken, das deutſche Volk zu einen.

Nun ift dabei nicht zu üͤberſehen, daß die weſentliche Vorarbeit des politiſchen Zu- ſammenſchluſſes gerade von Thuͤringern geleiſtet worden ift, nicht äußerlich, ſondern innerlich, ſeeliſch. Den Thüringern als Bewohnern der deutſchen Mitte war ein vermittelnder Trieb eigen. Wenn heute Evangeliſche und Katholiſche fih in religiöfen Fragen zuſammenfinden, dann geſchieht es wohl am eheſten in der Myſtik eines Meiſter Eckehart, der in Thüringen geboren ift und länger hier gewirkt hat. Vielleicht ift aber als beſtes, tiefſtes ſeeliſches Einigungs- mittel für uns Deutſche, die wir uns zum guten Teil nach unſerem Gefühl entſcheiden, die Muſik anzuſprechen. Die deutſche Muſik iſt doch erft mit Johann Sebaſtian Bach geboren worden, der ein Kind der thüͤringiſchen Stadt Eiſenach war und deffen Vorväter ſechs Menſchen⸗ alter hindurch als tüchtige Organiſten und Kantoren in Thüringen gewirkt hatten. Und wieviel Muſiker zweiter und dritter Größe, von den Tagen der Reformation bis in die Gegenwart hinein, ſind nicht im Herzen Deutſchlands dem ganzen deutſchen Volk geſchenkt worden!

Sicherlich haben die Thüringer von allen Oeutſchen am meiſten weiblichen Charakter. Sie ſind außerordentlich lenkbar, beeinflußbar. Auf ihr Gemüt, ihre Stimmung iſt von größtem Einfluß die Natur des Landes geweſen, die Mittelgebirge im Norden und Süden, die be— waldeten Hügel und die grünen fruchtbaren Täler und Auen. Nicht minder jedoch iſt die Eigenart der Thüringer auf die Beſiedelung des Landes durch die verſchiedenen Stammesteile zurückzuführen. Ihr Stammescharakter bildet ein Gemiſch von nord- und ſüddeutſchem Weſen, er wirkt auf Nord und Süd ausgleichend und vermittelnd. „Mitteldeutſche“ find die Thüringer auch in dieſem Sinne, nicht bloß äußerlich der geographiſchen Lage nach. Süddeutſche Heiter- keit und Gutmütigkeit, auf dem Lande mit etwas Derbheit im Ausdruck gemiſcht, nordiſche Regſamkeit und Arbeitsfreudigkeit, allerdings ohne alle preußiſche Schneidigkeit und Steifheit, ſlawiſche Lebensluſt und Freude am Schmauſen und Zechen, am Tanzen und Muſizieren finden hier eine fruchtbare Stätte. Es wird in deutſchen Gauen, abgeſehen von den ober— deutſchen Gebirgsgegenden, kaum ſo viel und ſo gut geſungen wie in Thüringen. Das ſcheint vor 700 Jahren auch Walter von der Vogelweide zum Überdruß erfahren zu haben, ſonſt würde er kaum warnend ſeine Stimme erhoben haben: „Wer das Unglück hat, an den Ohren zu leiden, dem rate ich, Thüringen fern zu bleiben, ſonſt wird er närriſch (taub).“ Und wie Walter, fo klagt Wolfram von Eſchenbach über das laute, lärmende Treiben an dem Hofe des Thüringer Landgrafen Hermann. In der Thüringer Heimatliteratur (Anton Sommer, Auguft Ludwig, Otto Kürſten u. a.) bildet ein Hauptthema das „Freſſen und Saufen“; wie man ſonſt vor dem Weihnachtsfeſte einen „heiligen Abend“ feiert, ſo begeht man in manchen Gegenden Thüringens und das ift bezeichnend! vor dem Schweineſchlachten den Vorabend als „Schweinsabend“.

Bewahrt aber haben fih die Thüringer von jeher ihre geiſtige Negſamkeit, ihre begeiſterte Teilnahme für alle Fragen des wirtſchaftlichen und kulturellen Lebens. Von Thüringen aus iſt ja auf politiſchem Gebiete die freiheitliche burſchenſchaftliche Bewegung ausgegangen, hier hat ſpäter die liberale, demokratiſche und vor allem ſozialiſtiſche Politik in allen Schattierungen, auch der radikalſten Art, den beſten Nährboden gefunden. Hier iſt im Mittelalter die Refor— mation beſonders freudig begrüßt worden und teilweiſe über Luthers Ziel hinausgeſchoſſen in Thomas Münzers und Karlſtadts kirchlich-ſozialen Verſuchen; noch heutzutage gilt die theologiſche Fakultät der Thüringer Univerfität zu Jena als eine der liberaliten. Im Bauern— kriege rotteten fidh viele Tauſende von Thüringer Bauern zuſammen, um fid) wirtſchaftliche Freiheit zu erkämpfen, um die alten Laſten, die ſie zu Knechten machten, abzuſchütteln. In Jena verwirklichten zuerſt Ernſt Abbes Schöpfungen, die Zeißwerke, ſozialen Geiſt in der Wirtſchaft. Auf die Erziehungsweiſe des ganzen deutſchen Volkes übten zahlreiche Thüringer einen außerordentlich großen Einfluß aus: nach dem Oreißigjährigen Kriege der gothaiſche Herzog Ernſt der Fromme, fpäter Salzmann, der Gründer der Erziehungsanſtalt Schnepfen—

Das Herz Deutihlands 173

thal, und Friedrich Fröbel, der Begründer der Kindergärten und der Erziehungsanſtalt Keilhau bei Rudolſtadt. An den Weimarer Muſenhof Karl Auguſts, der den literariſchen und künft- leriſchen Größen feiner Zeit aus ganz Deutſchland eine gaſtliche Stätte gewährte, braucht kaum erinnert zu werden. Überall und allezeit nehmen wir in Thüringen ein freies Leben und Streben wahr.

Indeſſen, das allzu ſtarke Stammesgemiſch hat mit der Natur des Landes zuſammen auf das Gemüt mehr eingewirkt als auf den Willen. Das Gemütsleben ift außerordentlich entwickelt, nicht tief, ſondern oft recht flach, fo daß man mehr von Gemütsduſelei reden muß. Ausgelaſſene Heiterkeit wechſelt ſehr raſch mit Ausbrüchen von Zorn und Wut; ebenſo findet ſich häufig Dickköpfigkeit, die aber nichts mit niederſächſiſcher Zähigkeit zu tun hat. Was wir ſchlechthin Charakter nennen, haben die Thüringer im allgemeinen nicht. Viederen Nord-

und Süddeutfchen fällt immer wieder auf, wie gerade die radikalſten Arbeiter in den Fabriken

vor den Meiſtern und ſonſtigen Leitern kriechen, jedenfalls wenig Selbſtbewußtſein an den Tag legen. In allen Fragen des Lebens, politiſchen, geſellſchaftlichen, religiöſen, beobachten die Thüringer wenig Feſtigkeit, laffen fih vielmehr, der eigenen Stimmung und ebenſo der fremden Stimmungsmache äußerſt unterworfen, hierhin und dann wieder dorthin treiben, da ihre Beurteilung im großen und ganzen dem Gefühl entſpringt. Klare Überlegung, Be-

ſonnenheit geht ihnen gänzlich ab. Die März- Unruhen im vorigen und in dieſem Jahre find von hier aus zu verſtehen: die ſonſt gutmütigen, gemütsdufeligen Thüringer find hauptſächlich

von Nichtthüringern, die infolge des Weltkrieges in die Waffeninduſtrieorte und Bergwerke Thüringens geſtrömt waren, angeſtachelt und von dieſen mitfortgeriſſen worden, ebenſo wie in dieſem Jahre von den geriebenſten deutſchen und ruſſiſchen Hetzern; nur dem Gefühle, nicht dem kühlen Verſtande folgend, haben ſie ſich teilweiſe zu Grauſamkeiten hinreißen laſſen, für die letzten Endes doch nur wenige verantwortlich gemacht werden können.

Und wie gerade nach dem Kriege trotz aller Schwierigkeiten, ein eigenes Heim zu gründen, hier in Thüringen „ins Blaue hinein“ von allzu jungen Menſchen geheiratet wird, dafür erbringt die Statiſtik den betrüblichen Beweis. In dieſer Charakterloſigkeit und Ber- antwortungsloſigkeit, zum mindeſten Unzuverläſſigkeit, liegt die bedenklichſte Schwäche der Thüringer. Naturgemäß iſt damit auch eine gewiſſe Formloſigkeit verbunden. Norddeutſche. die klipp und klar ihre Meinung fagen und auch von den Thüͤringern ein kurzes Sichentſchließen erwarten, gelten als „ungemütlich“. Knappe Formen in der Ausdrucksweiſe, Korrektheit im geſellſchaftlichen und öffentlichen Verkehr ſind unbekannt, ja teilweiſe verhaßt. Z. B. kann man beim Reiſen in Thüringen immer wieder beobachten, wie wenig die Vorſchriften der Eiſenbahn verwaltung beachtet werden, fei es, daß es ſich um Einhalten der Wagenklaſſen oder um die Rauchbeſtimmungen handelt. Das vertrauliche Du bietet man allzu leicht an. Die Vereinsmeierei iſt bei dem regen, vielſeitigen, wenn auch nicht immer tiefen Intereſſe arg ins Kraut geſchoſſen.

Vielleicht hat auch Luther, der feiner Herkunft nach doch ſicher ein Thüringer war ob mehr ein thüringiſch-fränkiſcher oder thüͤringiſch-ſlawiſcher Miſchling, ift nicht ohne weiteres zu entſcheiden —, eine ſtarke Abneigung gegen diefe geringe Feſtigkeit und die Un- zuverläſſigkeit feiner Landsleute empfunden. Er hat einmal geäußert: „Ich bin kein Shüring, gehöre zun Sachſen“, und ein andermal: „Ich bin ein harter Sachſe.“ Und von den Be- wohnern des ihm wohlbekannten Erfurt, der Hauptſtadt Thüringens, ſagt er, ſie lebten nur dem Genuß und ließen es an Tatkraft und Weisheit fehlen.

Die gefühlsmäßige Einſtellung der Thüringer hat aber auch ihre Vorzüge. Ihre gemüt- volle Art hat fih liebevoll mit all ihren Beſchäftigungen verwoben: mit Liebe und Freude pflegen fie, beſonders auf dem Lande und in den Kleinſtãdten, ihre Blumen vor dem Fenſter oder im Vorgarten. Trotz geringer Bezahlung arbeiten die Thüringer „Wäldler“ mit Luſt und Liebe an Puppen und Spielſachen für die Kinder; in Fröhlichkeit und Ausgelaſſenheit

174 Die wirtſchaftliche Notlage unferer Stubentenſchaft

fingen fie ihre innigen, oft gefühlsſchwülſtigen Lieder, beſonders wenn am Abend die Burſchen und Mädchen durch das Dorf ziehen. Sie haben Sinn für Romantik. | a =a Freilich die Tiefe des Geiftes und Gemütes, die ſich in der Einſamkeit und Abgeſchloſſen⸗ heit nicht nur des einzelnen Menſchen, ſondern des ganzen Stammes ausbildet, geht den Thüringern zum guten Teil ab. Johann Sebaſtian Bach aus Eiſenach und Richard Wagner, deſſen Mutter eine thüringiſche Müllerstochter war, mögen den Thüringer Typus noch am meiſten und in ihren Höhepunkten vertreten, jedoch der Meiſter Eckehart, der in Hochheim bei Gotha geborene mittelalterliche Myſtiker, Martin Luther, Goethe, deſſen Vorfahren in Berka bei Sondershaufen, in Sangerhauſen und Artern wohnten, mit ihrer tiefen, eindring- lichen Art bilden doch mehr eine Ausnahme und beſtätigen ſomit die Regel. Es iſt geradezu ein Unfug, Männer wie Meiſter Eckehart, den Sproß einer ritterbürtigen Familie, über deren Herkunft wir gar nichts wiſſen, und Goethe, deſſen nichtthüringiſche Mutter auf den Sohn den beſtimmenden Einfluß ausgeübt hat, als echte Thüringer anzuſprechen. Bei ſeiner Lage iſt der Thüringer Stamm nach außen nie abgeſchloſſen geweſen, wie z. B. zu ſeinem Glück der frieſiſche, er wird auch nie dieſe Ruhe finden, er wird ſtets ein Zummel- und Vermiſchungsplatz aller deutſchen Stämme fein; denn Thüringen war und iſt das Durchgangsland, das Bindeglied nicht nur zwiſchen Nord- und Süddeutſchland, ſondern auch zwiſchen dem nördlichen und ſüdlichen und neuerdings auch dem öſtlichen Mitteleuropa. Die Flüchtlinge und Vertriebenen von Deutſchlands Oft- und Weſtgrenze ſuchen nach der Beſetzung deutſcher Gebiete durch Franzoſen und Polacken ihre Zuflucht hauptſächlich im Herzen Oeutſchlands; die Folge wird ſein, daß das Thüringer Völkchen noch untermiſchter und bunter wird als bisher. Dr. Martin Wähler-Erfurt

©

Die wirtſchaftliche Notlage unſerer Studentenſchaft

or kurzem habe ich im „Türmer“ dem Thema „Student in Not“ in einem Alarmruf

A Ausdruck verliehen. Die Notlage unferes jungakademiſchen Nachwuchſes ver- = 2 ſchlimmert ſich von Tag zu Tag. Erſchüttert ſehen die berufenen Stellen dieſem nicht wieder gutzumachenden wirtſchaftlichen und geiſtigen Verfall im hoffnungsvollſten Zeil unſerer Jugend entgegen. Leider ift die breite Öffentlichkeit über die bitterernſte Wirklichkeit der troſtloſen Lage unferer Studierenden nicht genügend unterrichtet. So mag es kommen, daß nicht nur Semeſter für Semeſter trotz der ſchweren wirtſchaftlichen Verhältniſſe und der verzweifelten Zukunftsmöͤglichkeiten in den akademiſchen Berufen die Zahl der Studierenden zu bislang nie erreichter Höhe anſchwillt, ſondern daß auch vor allem die Offentlichkeit noch nicht für ein wirklich durchgreifendes und Hilfe leiſtendes Liebeswerk an dieſem Teil unſerer gugend gewonnen wurde.

Sehr ſachlich über alle einſchlägigen Fragen zur Notlage unſerer Studentenſchaft unter- richtet die kleine Schrift von Dr Walter Schöne: Die wirtſchaftliche Lage der Studie renden an der Univerſität Leipzig. Bearbeitet nach einer Erhebung des Allgemeinen Studentenausſchuſſes im Zwiſchenſemeſter 1920, Leipzig 1920 (Verlag von Alfred Lorentz). Aus ihrem Inhalt ſoll das Wichtigſte und für die Allgemeinheit Wiſſenswerte mitgeteilt werden. Wir wollen zunächſt ein möglichſt objektives Bild jener betrübenden Notlage zu gewinnen ſuchen, um dann Wege zur Hilfeleiſtung zu zeigen.

Unter welchen Entbehrungen, ſeeliſchen Kämpfen und Enttäuſchungen lebt heute die Mehrzahl der deutſchen Studentenſchaft! Dieſe Gruppe von 60 bis 70 000 jungen Menſchen

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Sie wlirtſchaftliche Notlage unferer Stubentenfchaft 175

bildet gegenwärtig einen Kreis für ſich inmitten unferes nationalen Lebens. Das von ihnen in heißer Schlacht bewieſene ſoldatiſche Heldentum hat ſich auf dem Boden der Heimat in ein ſtillſtark duldendes, ſeeliſch-wirtſchaftliches Heldentum gewandelt. Es iſt daher tief zu be- klagen und aufs ſchärfſte zu verurteilen, wenn ein neues „Singſpiel“, betitelt: „Es zog ein Burſch hinaus“, in unechter Romantik und weichlicher Rührſeligkeit deutſches Studententum vollkommen entſtellt breiten Maſſen allabendlich vor Augen führt. Dieſes Studententum gibt es in Oeutſchland nicht mehr. Es hat fih im Gegenteil nach dem Kriege ein ganz neuer, ich möchte wohl fagen: tragiſcher Typus entwickelt, dem die Mehrzahl unſerer Jung- akademiker jetzt angehört: es ift derjenige, der zwar in der Berufsvorbereitung begriffen, aber nebenberuflich tätig iſt und oft auch wegen ſeiner wirtſchaftlichen Bedrängnis das Studium, des Nebenerwerbs wegen, auf eine längere Reihe von Jahren ausdehnen muß. Alſo Studium und nebenberufliche Tätigkeit gehen hier zufammen eine verzehrende, unbefriedigende Halbheit hier wie dort, die ſchwere ſeeliſche und körperliche Schädigung nach ſich ziehen muß. Über dieſen gegenwärtigen Ourchſchnittstyp auf unſern Univerſitäten (beſonders in Groß- ſtädten) ſind gewiß einige Angaben aus Schönes Schrift willkommen. Wenn dieſe Ergebniſſe zunächſt auch nur lokale Bedeutung haben, ſo werden ſie doch in ihren weſentlichſten Punkten

für die geſamtdeutſchen Verhältniſſe in unſerer Studentenſchaft zutreffen, wie aus folgenden

beiden Beiſpielen zu erſehen iſt.

Nach einer Mitteilung im Innungsamte der Stadt Halle hat ein Halleſcher Bauunter- nehmer im vorigen Jahre vierzig Studenten als Handlanger (Il) beſchäftigt. Bei allen Hand- werksmeiſtern in Halle laufen fortwährend Geſuche um Beihäftigung von Studenten ein. Zu einer Art Selbſthilfe iſt die Univerſität München geſchritten. Sie plant die Gründung einer eigenen Oruckerei für wiſſenſchaftliche Arbeiten, Diſſertationen uſw., um das Erſcheinen der vielen ungedruckten wiſſenſchaftlichen Abhandlungen zu ermöglichen. Es ſoll zu dieſem Zwecke die Oruckerei des früheren Miniſteriums pachtweiſe mit den Beamten und Werkfuͤhrern übernommen werden. Das techniſche Perſonal werden Studenten ſein, die ſich neben dem Studium täglich vier Stunden in der Druckerei beſchäftigen, um ſich ein Exiſtenzminimum zu ſichern.

Sehr lehrreich iſt die Dauer des Kriegsdienſtes bei unſerer ſtudierenden Zugend. Sie betrug nach Schönes Angaben bei 6,44% der Studierenden bis zu 12 Monaten, über 12 bis 14 Monate bei 14,06%, über 24 bis 36 Monate bei 17,76%, über 36 bis 48 Monate bei 21,10% und über 48 Monate bei 34,80% der Studierenden. Bei den übrigen rund 6% fehlten entweder die Angaben hierüber, oder es kam Kriegsdienſt überhaupt nicht in Frage. Das werden hauptſächlich ſolche Studenten geweſen fein, die durch Abſperrung oder Inter- nierung, Dienſt im Grenzſchutz oder in einem Freiwilligenverband mehrere Semeſter verloren haben. Wir ſehen alfo: mehr als die Hälfte jener zum Zwiſchenſemeſter zugelaſſenen Stu- dierenden hat durch den Krieg mehr als drei Jahre verloren. Dies wird auch, allgemeiner Schätzung zufolge, für die geſamtakademiſche Kriegsteilnehmerſchaft die Ourchſchnittszahl fein. Was allein liegt alles in dieſer Tatſache!

Auf eines foll hier nachdrücklichſt hingewieſen werden. Beim Geſamtüberblick über die wirtſchaftliche Lage der Studenten ergibt ſich, daß die Ausländer durchweg günſtig geſtellt ſind. Dieſe Tatſache hat in der Offentlichkeit ſo gut wie keine Beachtung gefunden, und doch bedeutet das Ausländerſtudium bei uns wenigſtens in dieſer Hinſicht cin ſchreiendes Unrecht. Durch den traurigen Stand unſerer Valuta iſt es ausländiſchen, in ihrem Lande wirtſchaftlich nicht gerade gut geſtellten Studenten trotzdem ermöglicht, auf unſern Hoch ſchulen recht beſchaulich und ſorglos ihren Studien obzuliegen. Das iſt doch trotz der Bezahlung des Kolleggelds in Goldwährung eine durch nichts gerechtfertigte Bevorzugung unſerer hei- miſchen Jugend gegenüber. Angeſichts unſerer außenpolitiſchen Lage müßten die deutſchen Univerfitäten den Ausländern die Koſten des Studiums bei uns ausnahmslos zu recht be-

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176 Die wirtſchaſtliche Notlage unſerer Studentenihaft

trächtlicher Höhe in Form einer „Kulturabgabe ausländiſcher Studenten“ ſteigern. Hier ſollte endlich einmal mit der verhängnisvollen deutſchen Nachſicht und Gutmütigkeit Schluß gemacht werden. 8

Es iſt weiterhin bemerkenswert, daß der größere Teil unſerer Studentenſchaft noch immer aus minderbemittelten Familien ſtammt; die Mitglieder des neuen Reichtums werden fich wohl hüten, ſich durch ernſte, entſagungsvolle Arbeit zu einem ehrenvollen wiſſenſchaft— lichen Ziel durchzukämpfen. Unter den Leuten dieſer Art findet ſich meiſt der ſchieberähnliche Typ des Nur-Vergnügungs- und Bummelſtudenten, mit all der abſtoßenden Aufmachung aus der Dekadenz des gegenwärtigen Zeitalters.

Erſchüͤtternd find die Erhebungen über das Geſamteinkommen, d. h. in fait allen Fällen über den verfügbaren Betrag des Monatswechſels. Etwa 30% der Leipziger Studenten- ſchaft müſſen mit weniger als 200 Mark monatlich ihren Lebensunterhalt be— ſtreiten. 32% verfügen. über Zuſchüſſe von 200 bis 300 &, und 16% über 300 bis 500 &. Nur etwa 4% verfügen über ein höheres monatliches Einkommen. Wie jollte das auch anders ſein, da es ſich bei unſern Studenten in der Mehrzahl um Söhne von Beamten und Lehrern ſowie Rentnern und Penſionären handelt, die bekanntlich durch den Krieg am meiſten gelitten haben. Was aber beweiſen dieſe leidkündenden Zahlen? Daß etwa 90% der Studie renden in der Lebenshaltung weit hinter dem ungelernten Arbeiter im Alter von 19 bis 21 Jahren zurückſtehen. Was dem Arbeiter an Steuern und Beiträgen vom Arbeitseinkommen abgeht, wird kaum das weſentlich überjteigen, was der Student an Kolleg- geldern und wiſſenſchaftlichen Hilfsmitteln braucht. Bei der Mehrheit der Studierenden be- trägt das monatliche Einkommen etwa die Hälfte oder ein Drittel des Einkommens eines jüngeren ungelernten Arbeiters. Die Mehrheit der Studierenden hatte vor dem Kriege etwa einen Monatswechſel von 100 bis 150 K, der als knapp ausreichend bezeichnet werden konnte. Im Zwiſchenſemeſter betrug das häufigſte monatliche Einkommen gerade das Dop- pelte (über 200 bis 300 HM), während die Koſten der Lebenshaltung etwa auf das Behn- bis Elffache gegenüber der Zeit vor dem Kriege geſtiegen find (Schöne). Die wirtſchaft— liche Lage der Mehrheit unſerer Studierenden ift nur noch mit derjenigen der Arbeits- loſen zu vergleichen, wobei letztere wenigſtens die ihnen ſichere jtaatliche Unterſtützung er- halten. So ſind Studentennot und Arbeitsloſennot zwei ernſte innerpolitiſche Probleme unſerer Zeit.

Seiner verzweifelten Notlage kann der Student am wirkſamſten nur durch Neben- erwerb ſteuern, und in welcher Art dies geſchieht, habe ich in dem Artikel „Auf der Warte“ an beſonders bezeichnenden Beiſpielen verdeutlicht. Stockt einem nicht das Herz, wenn dieſe jungen Menſchen in der Vollkraft ihrer Jahre fih als Kaffeehausgeiger, Filmſtatiſt, Bücherei- aushelfer, Abendkaſſierer einer Theatergeſellſchaft, Kinoportier, Kellner, Zeitungsverkäufer, Meßfremdenführer oder Handarbeiter im Handwerk und in der Induſtrie verdingen müſſen? Um dabei nur auf neuen Widerſtand zu ſtoßen: denn meiſtens tritt die organiſierte Arbeiter- ſchaft dazwiſchen und vereitelt auch diefe Abſicht um kärglichen Erwerb bei der gegenwärtigen Lage des Arbeitsmarktes nicht einmal ohne begreifliche Gründe. Beſchämend, das ſei hier nochmals ausdrücklich hervorgehoben, iſt die Entlohnung dieſes Nebenerwerbs, der, wie Schönes Erhebungen zeigen, in den meiſten Fällen eine ſchamloſe Ausbeutung der Notlage dieſer Studierenden ift. „Privatſtunden kommen in allen Preislagen vor; am häufigſten wurden hiefür 2 bis 3 M gezahlt. Der Zeitaufwand betrug hiefür einſchließlich Vorbereitung und Weg bis zu 75 und mehr Stunden im Monat. Für kaufmänniſche Tätigkeit wurden zweimal je 1 bis 2 & und 2 bis 3 K, einmal 4 bis 5 K bezahlt; der Zeitaufwand betrug in vier Fällen über 50 Stunden. Für die Tätigkeit in Univerſitätsinſtituten wurde in einem Falle 1 , im anderen 3 bis 4 & bezahlt; der Zeitaufwand betrug in einem Falle über 50 bis 75 Stunden, im anderen über 75 Stunden, der monatliche Ertrag hiefür belief

Die wirtſchaftliche Notlage unferer Studentenſchaft ö 177

fih in einem Falle auf 50 bis 95 K, im anderen auf 75 bis 100 K. Dieſe Beiſpiele zeigen deutlich, wie dringend nötig eine Organiſation des Nebenerwerbs für Studierende iſt.“ Und daneben noch nun die Bewältigung der eigentlichen fachwiſſenſchaftlichen Auf-

gaben; es gilt für den Studenten eben die Auf bietung aller Kräfte im ſchweren Konkurrenz- kampf der Zeit. So herrſcht und das ift ein Troſtblick in dunkler Zeit auf unſern Hoch- ſchulen ein Geiſt ernſter, hingebungsvoller Arbeit, der ſich allen Zeitnöten zum Trotz fejt behaupten will.

So kämpft und darbt die Mehrzahl unſerer Studenten ſich durch die Vitterniſſe des Studiums, in Oürftigkeit und Knappheit geht man hier den dornenvollen Weg zum künftigen Beruf. Wer dann glücklich in zäher Arbeit ans Ziel gelangte, geht in der meiſt entſchädigungs⸗ loſen praktiſchen Vorbereitungs- oder Wartezeit in einer Reihe von akademiſchen Berufen neuen Kämpfen und Mühen entgegen. Hiebei darf auch eine betrübliche politiſche Folge- erſcheinung nicht vergeſſen werden, auf die Prof. Dr Robert Gaupp in feinem febr beachtens- werten Hefte „Student und Alkohol“ (Berlin-Dahlem 1921) mit Recht hinweiſt: die wirt- ſchaftliche Notlage ſchafft jene unglückliche Stimmung der Verärgerung unſerer akademiſchen Jugend, die hoffnungweckende junge Geiſter mit den Ideen radikaler Zeitſtrömungen erfüllt und ſie damit gänzlich aus der Bahn ernſter und ſachlich-wiſſenſchaftlicher Arbeit drängt.

Was foll und muß geſchehen angeſichts der erſchütternden und ſchier hoffnungsloſen Notlage unſerer Studentenſchaft? Zur Beantwortung dieſer ernſten Frage iſt zunächſt einmal eine grundſätzliche Entſcheidung notwendig. Es kann nicht allen geholfen werden; das ift nach Lage der Dinge ausgeſchloſſen. Welchen aber ſoll nun geholfen werden? Wie ich glaube, kann darüber die Meinung aller übereinſtimmend lauten: nämlich denjenigen, die ihr Leben und ihre Geſundheit im Kriege eingeſetzt haben. Nicht um den „Dank des Vaterlandes“, nicht um ein Geſchenk handelt es ſich dabei, ſondern um die ſelbſtverſtändliche Pflicht, die Nachteile nach Möglichkeit auszugleichen, die den Kriegsteilnehmern durch ihre Pflichterfüllung unverſchuldeterweiſe erwachſen find. Ich muß es mir verſagen, die Leiden und Nöte dieſer jungen Menſchen zu ſchildern, die nach den furchtbaren Eindrüden und nervenzerrüttenden Erlebniſſen des Krieges nun ihr ſchuldlos aufgehaltenes und verteuertes Studium mühſam beenden müſſen. Eine unſagbare Tragik liegt über dem Oaſein dieſer jetzt ſtill duldenden Helden. Ihnen muß die helfende Hand der Offentlichkeit und maßgebender Behörden zuerſt entgegengeſtreckt werden. Hier hat bisher ſo gut wie alles verſagt, vor allem auch in den an ſie geſtellten wiſſenſchaftlichen Leiſtungen bei den Prüfungen. Was für unſere Schule gilt, ſollte hier noch weit mehr beachtet werden: wir können von der Jugend einer ſchwer ringenden Gegenwart nicht dasſelbe verlangen wie in glücklichern Tagen unſeres Volkes. Echter Wille und treue Arbeit wird etwaige Mängel und Lücken auch fpäterhin tapfer und recht nady- zuholen wiſſen. Dies Vertrauen können wir auf die Kämpfer der Weltkriegsſchlachten wahr; lich ſetzen!

Vom übrigen Teil der Studentenſchaft kommt für das von mir gedachte Hilfswerk nur die beſcheidene Zahl von hervorragend Vegabten und Fleißigen in Frage, deren wiſſen⸗ ſchaftliche Befähigung und Würdigkeit außer allem Zweifel ſteht. Darin aber vor allem gebe ich Schöne recht, wenn er ſagt: „Wenn von der Beſſerung der wirtſchaftlichen Lage der Stu- dierenden geredet wird, fo iſt es ſehr wohl am Platze, zu überlegen, ob manchem nicht beſſer geholfen wird, wenn er ſtatt unzureichender Stipendien die Erkenntnis mitnimmt, daß es unter Umſtänden kein Unglück für ihn oder ſeine Familie iſt, wenn er auf dieſen Leidensweg mit dem zweifelhaften Ausblick auf Erfolg verzichtet und ſich damit begnügt, der nächſten Generation dieſen Weg gangbar zu machen.“ Und dieſe wichtige Entſcheidung müffen künftig Elternhaus und Schule im rechten Augenblick nach reiflicher Überlegung und Erwägung aller maßgebenden Umſtände zu fällen imſtande ſein. Wirkliche Männer, kraftvoll waltende und ſchaffende Perſönlichkeiten braucht Deutſchland jetzt überall; möge alfo die Jugend ihre

Ser Türmer XXIII. 9 15

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178 Die wirtſchaſtliche Notlage unſerer Stubentenſchaft

Blicke nicht zu einſe itig und blind vertrauend nur auf die akademiſchen Berufe lenken. Be- achtlich erſcheint mir auch der Vorſchlag, ſich für einige Zeit zunächſt ins praktiſche Leben zu begeben und dann erſt, wenn noch immer der feſte Wille zum Studium n iſt, zur Univerfität zu gehen.

Alſo ſtatt der Vermehrung des geiſtigen Proletariats lieber eine wenn auch noch ſo beſcheidene Exiſtenz im außerakademiſchen Leben, die nach anfänglichem Widerſtreben manchem ſchließlich doch Zufriedenheit und Segen ſchenkt. Das iſt der erſte erfolgverſprechende Weg zur Verminderung der ſtudentiſchen Notlage.

Der zweite Weg aber wird Sache weiteſter Kreiſe unſerer Öffentlichkeit fein. Ich möchte ihn anregen unter dem Namen einer „Altakademiker-Spende für die not— leidenden Studierenden der deutſchen Univerſitäten“. Da es in Oeutſchland etwa 21, Millionen Akademiker gibt, würde bei Zeichnung eines Mindeſtbeitrages von einer Mark (der in den meiſten Fällen wohl überſchritten würde) eine namhafte Summe für dieſes Hilfs- werk zur Verfügung ſtehen. Die Organiſation dieſer Akademikerſpende (die auch in eine Dauerorganiſation mit feſtem Jahresbeitrag der Beteiligten umgewandelt werden könnte) müßte von den Univerſitätsbehörden ausgehen und ſelbſtändig von der Geſamtheit der Stu- dentenſchaft praktiſch verwirklicht werden. Jeder Student opfert täglich eine oder mehrere Stunden für die Eintragung der Altakademiker auf die amtlich beglaubigten Zeichnungsliſten; die Eltern und Verwandten unterſtützen die Sammlung in den jeweiligen heimatlichen Be- zirken. Die akademiſchen Berufsvereinigungen werden dieſem Hilfswerk jede Unterſtützung gern zuſagen und dieſe Sammelarbeit erleichtern. Sehr wichtig iſt es, daß ſich an dieſem Hilfswerk auch Handel, Induſtrie und Technik beteiligen, ſchon um ihrer ſelbſt willen, denn ſie würde die Verödung und Vernichtung unſerer höheren Kultur am empfindlichſten treffen. Solche Hilfeleiſtung im Augenblick der höchſten Not iſt nicht allein von rettendem Gegenwarts- wert, ſondern zukunftwerbendes Kapital. Der deutſche Student wird es ſein, der mit ganzer Kraft zu ſeinem Teil den wirtſchaftlichen, techniſchen und geiſtigen Getrieben unſeres nationalen Daſeins wieder Lebensmöglichkeiten verſchaffen ſoll. Volkswirtſchaft und Studentenſchaft ſchließen ſo den engſten und hoffnungsvollſten Bund. Fehlt das eine Glied, ſo geht auch dem andern der Lebensatem aus. In dieſem Zuſammenhang möchte ich eines anregen: eine Bücherſpende des deutſchen Verlags- und Sortimentsbuchhandels an die Studenten- ſchaft. Sie wäre ein wichtiges Bollwerk gegen die erſchreckend zunehmende Proletariſierung der Kultur in allen Schichten. Wie viele Studenten darben nicht nur an leiblicher Nahrung, ſondern auch an Büchern! In den Bibliotheken und Inſtituten find die begehrteſten Bücher jetzt ſtets verliehen; und die wirtſchaftliche Lage erlaubt es dem Studierenden nicht, ſich aus gekauften Büchern über die Großtaten deutſchen Geiſtes zu unterrichten. Wieviel geiſtiges Edelgut geht da unſern Jungakademikern verloren!

Drum auf! Ans Werk! Alte Herren und Burſchen heraus! Hände und Herzen auf es geht um Deutſchlands heiligſte Güter! Auf unſerer gebildeten Jugend ruht unſere Hoffnung, dem politiſch zertrümmerten, geiſtig und ſittlich entwürdigten Deutſchland wieder rettende Kräfte zuzuführen. Ja, wir brauchen ein entſchloſſenes und im Dunkel der kommenden Tage willenskräftiges Geſchlecht, das gegen die Feindſchaft einer ganzen Welt den germaniſchen Geiſt wird verteidigen müſſen. Wenn's gelingt, ſo wollen wir Miterlebende dieſer großen een Not ſtolz ſein auf alle Opfer zum Segen deutſcher Geiſteskultur.

Dr. Paul Bülow

Riche und Weltverföhnung 179

Kirche und Weltverſöhnung

A 75 u Anfang des Jahres 1919 ſtand in einem kleinen katholiſchen Schweizer Blatt eine bedeutſame Mitteilung. Die Berner proteſtantiſche Landeskirche hatte beim s F Genfer Kirchenregiment angefragt, ob man fidh einer Aktion des Verbandes der We evangeliſchen Kirchen zugunſten einer Weltverſöhnung anſchließen wolle und hatte eine ſcharfe Abweiſung erhalten. Merkwürdigerweiſe war dieſe Mitteilung in den großen Schweizer Blättern nicht zu finden.

Schreiber dieſes wollte ſich darüber Klarheit verſchaffen. Denn er hielt es nicht für möglich, daß die Kirche Calvins, die immer noch in Genf, einem soidisant Schweizer Kanton, ihren Hauptſitz hat, fo wenig von chriſtlichem Geiſte erfüllt fein ſollte. Ich drückte daher der Genfer Kirch enregierung, falls fie ſich Bern gegenüber fo ſchroff und ablehnend verhalten haben ſollte, mein größtes Bedauern und Erſtaunen aus, unter Hinweis auf die Leiden des deutſchen Volkes, auf die Zurückbehaltung der Gefangenen, auf die Fortſetzung der engliſchen Hungerkur und dergleichen mehr.

Auf einem amtlichen Briefbogen, mit Genfer Staatswappen, lief nun folgende Ant- wort ein, die in Überfegung alfo lautet:

Proteſt. Nationalkirche von Genf f Genf, 15. April 1919.

In einem an das Konſiſtorium der Genfer Nationalkirche gerichteten Brief beklagen Sie, daß es in feiner Antwort an die Synodal-Kommiſſion der Berner reformierten Kirche die deutſchen Kirchen angeklagt habe, im Laufe des Krieges Verzicht darauf geleiſtet zu haben, das Gewiſſen ihrer Nation zu ſein. ö

Die Leitung unſerer Kirche wird Ihnen keineswegs amtlich antworten. Aber erlauben Sie dem ftellvertretenden Schriftführer derſelben ehemaligem Pfarrer, altem Mitglied und Dizepräfident des Konſiſtoriums, ehemaligem Moderator der Pfarrergeſellſchaft, ehe- maligem Vorſitzenden des Ausſchuſſes zur 4. Calvinjahrhundertfeier in Genf, einer Feſtlichkeit, der viele Deutſche beiwohnten erlauben Sie ihm, Ihnen zu antworten.

Er wird dies in aller Offenheit tun und ohne etwas von den Gefühlen zu verhehlen, die ſich in den Herzen von vier Fünftel der Chriſtenheit äußern. |

Als Oeutſchland, durch die Anſtrengung zweier Generationen bis an die Zähne be- waffnet, ſich ſicher glaubte, zu ſiegen und die Welt zu erobern, und einen ungerechten Krieg erklärte, hätten die proteſtantiſchen Chriſten, zum mindeſten einige unter ihnen, proteftieren ſollen. Es wurde nichts daraus, und die Mobilmachung geſchah unter allgemeiner Begeiſterung, ohne widerſtrebende Stimmen. Die Kirchen nahmen an dieſem verbrecheriſchen Akt teil durch den Mund ihrer Vertreter und mit großzügigen wiederholten Kundgebungen.

Als die deutſche Armee, indem ſie unterſchriebene Verſprechen mit Füßen trat, wie einen gewöhnlichen Fetzen Papier den Vertrag zerriß, der die Neutralität Belgiens garantierte, zum Argernis aller, und dieſes edle und unglückliche Land verheerte, bewahrten die deutſchen Kirchen ſchandvolles Schweigen und ſchienen ſelbſt dieſer ſchandhaften Übeltat Beifall zu zollen.

Welches war aber die Haltung der deutſchen Kirchen, als dieſelbe Armee ſich anſchickte, die barbariſchen Befehle ihrer Generäle, die dadurch nur zu berühmt geworden find, aus- zuführen: als ſie auf ihrem Wege ohne Rückſicht auf die Zivilbevölkerung alles niederwarf, brannte und ſengte, die Zivilen zu Hunderten niederknallte, ohne eine Spur von Vorwand hierzu zu haben, einzig um die Völker zu terroriſieren und um leichter zum Ziel zu gelangen?!

Da noch hatten die deutſchen Kirchen die Feigheit, zu ſchweigen oder, trotz erdrückendſter Beweiſe, die Unverſchämtheit, zu leugnen. Wer unter dieſen ſogenannten Chriſten hatte den Mut, feine Stimme zu erheben, als der ſcheußliche Gebrauch der Verſchleppung anfing, als

180 Kirche und Weltverſöhnung

man die Väter ihren Frauen und Kindern entriß, die Söhne ihren Müttern ohne Rückſicht auf Menſchlichkeit als das ſchauderhafte Syſtem der Torpedierungen anhub und mit un- erhörter Grauſamkeit fortgeſetzt wurde, mit Verſenkung ſowohl von einfachen Kauffahrtei— ſchiffen, Verkehrsſchiffen, angefüllt mit Reiſenden beiderlei Geſchlechtes, und Hoſpitalſchiffen als auch Kriegsſchiffen als die Verwendung von Giftgaſen Tauſenden von jungen Leuten unerhörte Leiden und einen ſchrecklichen Tod brachte! Einmütig hätten alle, zum mindeſten aber die Befferen unter ihnen, ihren Ruf erheben müſſen mit: Das ift ſchlecht, das ift grauſam, das ſchändet das deutſche Volk, das beſpritzt mit einer Schande das Chriſtentum, dem anzu— gehören wir uns rühmen. Das muß aufhören! Aber wo war in Oeutſchland dieſer Gewiſſensruf? | Die Chriſten dieſes Landes haben N varej verzichtet, das Licht, das Salz, die Stimme Chriſti zu ſein.

Wie in der Erzählung der Verſuchung hat ihnen Satan zugerufen: „Ich gebe dir alle Reiche der Welt und ihren Ruhm, wenn du mich anbeteſt“ und im Gegenſatz zu dem, was der Herr tat —: da ihnen nach den Reichen der Erde gelüſtete, konnten fie nicht der betrüg— lichen Verſuchung widerſtehen und haben ſich dem Verſucher zugeneigt; ſie haben, ſoviel es an ihnen lag, das Werk des Teufels vollendet, ſie haben jenen Beifall gezollt, die es ver— richteten, unter dem Fluch der Chriſtenheit, zum Erſtaunen der Nachwelt, zur Entrüſtung der Engel und Seligen im Himmel, zum Schmerze Chriſti, der ſie von ihm ſich entfernen ſah, und zur Freude aller Mächte der Sünde, die im Weltall in Tätigkeit ſind

Haben wir da nicht das Recht gehabt, zu ſagen, daß die deutſchen Kirchen Verzicht geleiſtet haben, das Gewiſſen ihres Volkes zu fein? Daß fie einen großen Teil der Berant- wortlichkeit haben am Maſſenmord mehrerer Millionen junger Leute, die ſeit Auguſt 1914 gefallen ſind, und daß ſie, ehe ſie wieder in die Gemeinſchaft der Chriſtenheit aufgenommen werden können, aus der ſie ſich freiwillig entfernt haben, ihr Unrecht einſehen, den Weg der Demut gehen und helfen müſſen im Maße des Möglichen, das Schlimme wieder gutzumachen, das unter ihrer Mittäterſchaft geſchah?

Was find die Leiden der Deutfchen, von denen Sie in Ihrem Brief ſprechen, verglichen mit jenen, die fie anderen Völkern beibrachten? Deutfchland leidet an Knappheit der Lebens- mittel und an Teuerung! Wir leiden auch daran, und die Völker, die es mit Füßen getreten hat, leiden darunter noch mehr wie es. Seine intereſſierten Klagelieder rühren uns keines wegs; und übrigens haben wir aufgehört, zu glauben, was es ſagt. Die Berichte, die an uns von über dem Rhein kommen, ſtimmen nicht ganz mit den Schreien ſeiner Herzensangſt. In Deutſchland gibt es heute Leute, die fih nicht ſcheuen davor, gegenüber ihren eigenen Volks- genoſſen zu den barbariſchen Methoden ihre Zuflucht zu nehmen, die man ſie gelehrt hatte gegen den äußeren Feind anzuwenden, und ſich auch den Praktiken des Bolſchewismus þin- zugeben, im übrigen ein etwas gemilderter, übertragener und auf alle Weiſe unterſtützter Bolſchewismus, den Oeutſchland erfunden hat und deſſen ſchmerzvolle Erfahrung es jetzt macht. Für Oeutſchland macht ſich das Sprichwort geltend: Du haſt den Stein in die Luft geworfen, und er fällt dir jetzt auf die Stirne zurück.

Im ganzen wir beklagen Ihr Volk, das jetzt die Strafe für ſeine Verfehlungen trägt, um nicht zu ſagen für ſeine Verbrechen, aber wir erwarten, ehe wir ihm wieder unſere Achtung und Freundſchaft zuwenden, einiges von en wozu es, wenigſtens für den Augenblick, wenig geneigt erſcheint, einzuwilligen.

Empfangen Sie, mein Herr, meine ergebenen Grüße.

Alexandre Guillot, Pfarrer.

Meine Antwort fiel kurz aus. Denn ich mußte nach des ehrwürdigen Herrn Paſtors eigenen Worten annehmen, daß er meinen Worten, als eines Deutſchen, wenig oder keine Glaubwürdigkeit beimeſſen würde. Dies ſagte ich ihm denn auch und drückte mein Erſtaunen aus, daß ein Geiſtlicher einer neutralen Republik ſolchen Standpunkt einnehmen konnte.

Die Perſönlichteit Zefu | | 181

Bei einem Franzoſen könnte man ja dieſen einfeitigen Erguß begreiflich finden. Ich verwies auf den Schweizer Ernſt Sauerbeck: „Die Schuldfrage vom Standpunkt eines Schweizers“, und auf das Werk Bernhard Shaws: „Peace Conference Hints“. Ich machte ferner darauf aufmerkſam, daß ihm als Pfarrer Matth. 7, 1 nicht unbekannt fein dürfte, und bezüglich des Hungermordes an uns lenkte ich die Aufmerkſamkeit des Genfer Herrn auf den Bericht der ſkandinaviſchen Arzteko mmiſſion unter Führung von Prof. Johannſon, Stockholm, Prof. Berg- marg, Upfala und Prof. Brandt, Kriſtiania, worin zu tlefen. ift: „Am wenigſten zu beklagen ſind die Toten, mehr zu beklagen ſind enen welche durch die ‚engliihe‘ Krankheit ſiech für ihr Leben wurden“, i

Zum Schluß bemerkte ich noch, daß die, 5 nach Reue und Demütigung eines Volkes, das ſich tapfer gegen ein Abermaß von Feinden wehrte, eine vollſtändige Neuheit in der Geſchichte ſei. Die Erfüllung ſolcher Forderung hieße unſere a verleugnen und entehren.

Es ſei noch bemerkt, daß die Berner Kirchenbehörde, der ich den ganzen Handel mit- teilte, mich vollſtändig ignorierte. G. H.

Nachwort des Türmers. Dieſer Brief eines Geiſtlichen aus der franzöſiſchen Schweiz, den unfer Mitarbeiter hier der Offentlichkeit übergibt, ift in feiner leidenſchaftlichen, ganz und gar widerchriſtlichen Feindſeligkeit ein Muſterbeiſpiel, wie es in den verhetzten Seelen des gegneriſchen Auslandes und der von ihm beeinflußten Völker ausſieht. Von den Gift- gafen, Verſchleppungen, Kriegsverbrechen und was ſonſt auf feiten der Feinde Deutſch- lands gegen uns geſchah kein Wort! Für dieſen Vertreter des Chriſtentums ſind nur wir Deutfche die Teufel die andren aber, einſchließlich der Schwarzen, die Rächer und Retter alles Edlen in der Welt. Da iſt kein menſchlicher Zugang möglich, keine Erörterung; das ift Erkrankung der Sehorgane und des Urteilsvermögens, wobei ſich das Geſchehen im: Reiche der Welt heillos durcheinandermiſcht mit den Dingen des Gottesreiches. £,

DN 2 . 2 2 Die Perſönlichkeit Jeſu

08 der Auffaſſung des Chriſtentums ſind einige ſeiner heftigſten Widerſacher mit einem großen Teile ſeiner Anhänger, gewiſſe Meinungen betreffend, einig. Beide 2 ſebhen darin die Religion der Niedrigkeit, der fih niedrig haltenden Demut. Der

5 liegt nur darin, daß die einen dies gut heißen, die anderen es ablehnen. In der Feſtſtellung des Tatbeſtandes weicht Nietzſche durchaus nicht von einer landläufigen Art Paſtoren ab. So haben Gegner und Bekenner beide zur heute eee Zuffaſſung des Chriften- tums beigetragen.

Wir vermochten nie, uns ihr zu unterwerfen. Allein: ſo lehrten Diener am Wort mit. Lobe, lehrten Weltweiſe mit Tadel; es war ſchwer, andere von dem zu überzeugen, was einem vorſchwebte und ſich nach unmittelbaren Eindrücken gebildet hatte; nach den Wirkungen der evangeliſchen Worte im Kinderſinne. Allerdings wiſſen wir auch: es gibt noch andere, die uns. gleich empfinden und es ausgeſprochen haben. Nirgends jedoch und darum mit ſolchem⸗ Aufatmen haben wir in jüngſter Zeit die uns richtig dünkende Auffaſſung ſo klar bis ins Letzte geſtaltet gefunden wie im Abſchnitt „Die Perſönlichkeit Jefu“ des Werkes „Der Geiſt der bürgerlich-kapitaliſtiſchen Geſellſchaft —Eine Unterſuchung über feine Grundlagen und Voxausſetzungen“ von Bruno A. Fuchs . und Berlin, Verlag Oldenburg, 1914.

Dies Buch ift eine der vielen wichtigen Unterfuchungen, die von Max Webers Aufſatz: „Die proteſtantiſche Ethik und der Geiſt des Kapitalismus“ angeregt wurden (im Archiv für

182 Dic Perſönlichteit Zefu

Sozialwiſſenſchaft und Sozialpolitik, Bd. XX und XXI). Es verlangt eine Fortſetzung, da es jene Grundlagen nur bis in die Zeit des heiligen Auguſtinus verfolgt. Die Frage, inwiefern das Bekenntnis zur chriſtlichen Lehre ſich mit einem „aktiven Leben in der Welt“ verbinden laſſe, hat den Verfaſſer zum Verweilen bei ihrem Urheber beſtimmt; und er verſucht „auf Grund der Evangelien, zumal der eigenen Worte Jefu“ ein Bild von feiner Perſönlichkeit zu gewinnen. Als „Zentrum von Jefu religiöſem Erleben“ ſtellt ſich dar: „das innige Be- wußtſein feiner Einheit mit Gott“. Gott iſt ihm „der liebende Vater; die Menſchen feine Kinder; ſie und die Welt eine Schöpfung Gottes aus Liebe“. So tritt denn bei Jeſu die Liebe in den Mittelpunkt des Seins und des Lebens; darin ſcheidet ſich ſeine Gottesauffaſſung von der jüdiſchen, der furchtbeſtimmten, vor dem willkürlich ſchaltenden. heiſchenden „Willensgott“. Die Liebe Jeſu hat aber auch nichts gemein mit dem antiken „Eros“, den wir bei Plato am beſten kennen lernen. Eros iſt Sehnſucht nach Höherem; dem Eros wohnt das Streben nach Höherem inne; damit zugleich auch „die Furcht, fih an Unedles, Tieferſtehendes zu vergeuden“. It ferner das Erſtrebte erreicht, fo ift es zugleich verbraucht; es tritt Sättigung ein oder Weiterſtreben; das Verhältnis zwiſchen Liebendem und Geliebtem hört mit der Vereinigung auf. Bei Jefus dagegen ift die Liebe etwas, wobei „das Ich Kern und Zentrum alles ſeeliſchen Geſchehens iſt, etwas, wobei ſich das Ich in ſeiner ganzen Totalität einſetzt, etwas, was den ganzen Menſchen ergreift und umformt“. Vom Ich beſtimmt, ift fie nicht beſtimmt vom Ge- liebten, unabhängig von deſſen Beſitz und Art. „Sie zielt nicht“ wie die Liebe der Antiken „auf die Bereicherung des Ichs, ſondern ſtellt ſich als eine aus eigener Fülle ſiegreich auf die Umwelt übergreifende, in der Aktion ſtets wachſende Seelenkraft dar.“

Hätte Nietzſche anders geſehen, wir meinen, hier gerade hätte er „ſchenkende Tugend“ gefunden, die nur königlichem, reichem, ſicherem und freiem Gemüt entſtrömen kann. Und gerade dem entſprechen Jeſu Handlungen und Worte, von denen Fuchs die weſentlichſten beleuchtet. Er weiſt auf fein Verhalten zu den Phariſäern, zu Zöllnern und Sündern; beim Worte „Gebet dem Kaiſer, was des Kaiſers iſt“ darauf, wie ſehr er „die äußeren Inſtitutionen der Welt auf ſich beruhen ließ“ als etwas, das innere Freiheit gar nicht berühre. Er faßt zuſammen: „Eine Welt, in der Macht und Reichtum, Stand und Beſitz die faſt allein norm- gebenden Faktoren waren (auch in der heutigen Welt ſind ſie's zum überwiegenden Teile noch), ſucht er mit aller Macht darauf hinzuweiſen, daß ihre Güter, ihre Werte im Vergleich zum Finden des eigenen Ich völlig irrelevant find.“ Die Darlegung gipfelt in folgendem: So ift „der Standpunkt Jeſu der der ſelbſtgewiſſen Kraft, der feft in ſich ruhenden Perſön— lichkeit, die von dieſem unerſchütterlichen Zentrum aus voll echter erbarmungsvoller Liebe und mit einer wundervoll erhabenen, fo ganz und gar nicht reſſentimentsmäßigen Ironie auf dieſe Welt herabblickt. Das iſt eben der Standpunkt des Menſchen, der Gott in ſich und ſich in Gott gefunden und die tiefſten Werke des Lebens in der eigenen Bruſt entdeckt hat. Aus dieſem Plus an Kraft, die aus ſolcher Konzentration des eigenen Ich überreich hervorquillt, kann er ſich auch zum Verachtetſten, Armſten, Niedrigſten herabbeugen, ohne irgendwie fürchten zu müſſen, ſich damit an das Niedere zu verlieren.“

Wir möchten frohlocken, wenn wir anſchauen, was für ein triumphierend er, er hebender Stolz aus ſolch einer Perſönlichkeit ſpricht. Im Mittelalter war übrigens dieſe Auffaſſung nicht unverbreitet: Stolz mit Chriſtentum mochte ſich wohl vertragen; es gab chriſtlichen Stolz. Was find nicht Bernhard von Clairvaux, Ludwig der Heilige von Frankreich und andere katho- liſche Größen für ſelbſtſichere Menſchen bei wunderbar beſcheidener Demut! Wie ſicher iſt Franz von Aſſiſi! Wie ſtrahlt in deutſcher Auffaſſung das bis an die Grenze der Recht- gläubigkeit kühne Freiheitsbewußtſein Meiſter Eckeharts! Oer hier beſprochene Abſchnitt des Fuchsſchen Werkes hilft, meinen wir, alter Anſchauung wieder auf.

Otto Freiherr von Taube

Männer der Großinduſtrle 183

Männer der Großinduſtrie

S N vethes fauſtiſcher Held Findet die letzte Lebensbefriedigung darin, dem Meere Land R abzugewinnen und Menſchen Wohnſtãtten zu bereiten, alfo Gelegenheit zur Unter- W bringung überſchüſſigen Volkszuwachſes zu ſchaffen. Der Induſtriegründer ift in Ber on Lage. Er Schafft Verdienſtgelegenheit für Tauſende von Händen. Er gehört zu den Vätern, die von den Söhnen erzeugt werden müſſen. Auch hier müſſen Beiſpiele mehr fruchten als Worte, die Beiſpiele aber müſſen der Jugend nahegebracht werden. Allbekannt, aber auch faſt nur allein als Beiſpiel bekannt iſt der Schöpfer der Kruppwerke. Schon ganz unbekannt ift die Tatſache, daß der Schöpfer der damit vereinigten Gruſon werke ein hervor- ragender, verkannter Phyſiker und Aſtronom geweſen ift. Aber es gibt, wenn auch nicht gleich wuchtige, fo doch mehr ermutigende VBeiſpiele zu Dutzenden. Mehrmals haben im deutſchen Sprachgebiet einfache Arbeiter ganze Städte geſchaffen, in Öfterreih z. B. der Tuchmachergeſelle Liebing, der ob ſeiner Verdienſte um die Induſtrie geadelt wurde. Unter den deutſchen Induſtriegründern (vgl. auch „Helden der Arbeit“, Lebensbilder großer Männer des deutſchen Wirtſchaftslebens, von Syndikus Hermann Schöler. Otto Elsner, Verlagsgej., Berlin. Geb. 12 K) haben wir geiſtvolle Männer, die unter die nationalen Erzieher zu rechnen ſind. Im folgenden geben wir zwei Beiſpiele, die wir auch um deswillen hierher ſetzen, damit man Waffen habe gegen das Gerede, als ob das Bürgertum nur aus Kapitaliſtenkanaille beſteh e.

Neben Friedrich Liſt und Johann Jakob Sturz ſteht als einer der edelſten Vorkämpfer des deutſchen Volkes, als Förderer ſeiner gewerblichen und geiſtigen Anlagen Fritz Harkort. Hätte er nur allein das Verdienſt, in Deutſchland die erſte Dampfmaſchinenwerkſtatt begründet zu haben, fo müßte man ihm dafür größten Dank wiſfen. Es war keine Kleinigkeit, Deutfch- land im Dampfmafchinenbau von England unabhängig zu machen und überhaupt ein Unter- ` nehmen zu wagen, vor dem Bekannte und Verwandte nicht genug glaubten warnen zu müſſen. Auf der Burg Wetter an der Ruhr ſchuf Harkort eine Werkſtätte für eiſerne Knechte, genannt Feuer- oder Dampfmaſchinen. Außerdem gründete er ein Kupferwerk, ein Puddel- und Walzwerk, einen Hochofen, eine Oampfkeſſelſchmiede. Er hat das erſte größere Flußdampfboot gebaut und den Rhein hinab durch die Nordſee in die Weſer geſteuert. Im Jahre 1825 baute er die erſte Probe-Eiſenbahn, um ſie den Behörden zur Nachahmung vorzuführen. Bedenkt man, wie umwälzend der Dampf auf die Entwicklung aller Verhältniſſe im vorigen Jahr- hundert gewirkt hat, fo begreift man, wie verdienſtlich und folgenreich Harkorts Gründung einer Dampfmafchinenfabrit auf deutſchem Boden geweſen ift. Auch dachte er gar nicht daran, ſich eine Alleinverkaufsſtellung zu ſchaffen. Er war weit davon entfernt, feine Geſchäftserfahrung ängjtlich zu hüten, obwohl er ein Recht dazu gehabt hätte. Mußte er ja doch Arbeiter und Techniker für ſchweres Geld aus England herüberholen, und manchen derſelben mußte er fid vom Galgen herunterſchneiden. Denn infolge der drüben gezahlten hohen Löhne bekam Harkort meiſt nur ſolche Leute, die infolge eines Vergehens Grund hatten, ſich aus dem Staube zu machen. Trotzdem aber gönnte Harkort jedem Landsmann Einblick in ſeinen Betrieb und war mit Rat und Tat behilflich, wenn andre ſein Beiſpiel nachahmen wollten, obgleich ſie in abſehbarer Zeit ſeine Nebenbuhler werden mußten. Die Natur habe ihn zum Anregen, nicht zum Ausbeuten geſchaffen, ſagte er; ähnlich wie Friedrich Liſt von ſich bekannte, ein unwiderſtehlicher Trieb feines Herzens dränge ihn, den Armen und Bedrüdten beizuſtehen.

Harkort war aber nicht nur gewerblicher, ſondern auch ſozialer Bahnbrecher. Mitten im gewerblichen Leben ſtehend, täglich mit Arbeitern verkehrend, wußte er, was außer den Verdienſtgelegenheiten dem deutſchen Volk noch mehr nottat. Den Unterricht nannte er das höchſte Gut eines Volkes. Er kämpfte für den Fortſchritt und für den Rechts- und Volksſtaat. Aber er wußte auch, daß Volksbildung und Hebung des Volksbildnerſtandes, alſo der Lehrer,

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unerläßliche Vorbedingungen dazu waren. Er felber hatte weder höhere noch Hochſchule bejucht. Gleichwohl wurde er durch ſeine ungemein volkstümlichen Schriften zur Hebung des Arbeiter— und Lehrerſtandes einer unfrer größten Volkserzieher. In feinen „Bemerkungen über die preußiſche Volksſchule und ihre Lehrer“ ſchrieb Harkort 1842: „Der Verfaſſer ijt weder Ge- lehrter, Lehrer noch Staatsdiener, ſondern ein in gewerblichen Unternehmungen ergrauter Gewerbsmann; doch find ihm die Zeichen der Zeit nicht fremd geblieben, und unter allen Volksgütern hat er gediegenen Unterricht als das Höchſte erkannt.“ Zur Schaffung guten volkstümlichen Schrifttums verweiſt Harkort auf engliſche und amerikaniſche Vorbilder: „Man zeige mir einen deutſchen Gelehrten, welcher ſchreibt und lehrt wie Franklin.“ In Roßmäßter und Heribert Rau traten bald ſolche Männer auf. Im Fahre 1843 rief Harkort in Dortmund den „Verein für die deutſche Volksſchule und für Verbreitung gemeinnütziger Kenntniſſe“ ins Leben. Geiſtlichkeit und Bureaukratie machten dem Verein ſchwer zu ſchaffen, aber er ſetzte ſich durch.

Als bemerkenswerteſte von Harkorts Schriften erſchien 1844 „Bemerkungen über die Hinderniſſe der Geſittung und Befreiung der unteren Klaſſen“. Darin fordert Harkort für die Fabrikanten ein Syſtem der wechſelſeitigen Unterſtützung, ſowohl in Krankheitsfällen als wie in Invalidität, und deffen ſtaatliche Unterſtützung zugunſten der Arbeiter, allgemeine Verſicherung zur Unterſtützung in Krankheitsfällen für die unteren Klaſſen, eine Höchſtarbeits— zeit, Verbot der Kinderarbeit in Fabriken, Sorge für billige Nahrungsmittel und Wohnungen, Schaffung von Verkehrsmitteln, Gründung von Siedlungen und eine nach der Mündung der Donau und Kleinaſien gerichtete Auswanderungspolitik, wie fie ſpäter Lagarde und Zentſch befürwortet haben. Auch Erzählungen und geſchichtliche Abhandlungen hat der vielſeitige In duſtriebegründer geſchrieben.

Im Sommer 1919 ſtarb 94jährig in Frankfurt a. M. der Begründer einer aütgeheriben Gerberei, Martin May. Ihm wurde ein ausgezeichnetes Verhältnis zu feinen Arbeitern und Angeſtellten nachgerühmt. Der Mann hat aber nicht nur Verdienſtgelegenheit für viele Hände geſchaffen, nicht nur als Stadtverordneter politiſch und ſozial gewirkt. Er war auch wiſſenſchaftlich bis ins hohe Alter tätig. Sprachforſchung und Sterne feſſelten ihn am meiſten. Er ſchrieb „Beiträge zur Stammkunde der deutſchen Sprache“, ein höchſt fleißiges, urwüchſiges und verdienſtliches Buch, ferner: „Sind die fremdartigen Ortsnamen in der Provinz Branden- burg in Oſtdeutſchland flawifch oder germaniſch?“ Den in der Hauptſache richtigen Satz, Römer, Griechen, Perſer und Sanskritleute (d. h. ariſche Inder) feien aus dem Schoße der Keltgermanen hervorgegangen und aus Europa gekommen, vertrat er ſchon zu einer Zeit, als man in Fachkreiſen darüber nur mit mitleidigem Lächeln quittieren zu müſſen glaubte. Martin May kämpfte mit Leidenſchaft dagegen, daß man die Germanen als Barbaren hin— ſtellte, die alle Kulturwerte erſt aus dem Süden bekommen hätten. Viele Worte, die man als römiſch oder griechiſch erklärte, leitete er aus dem Germaniſchen ab. Die hochmütige Behandlung, die ihm ein Univerſitätsprofeſſor wegen feiner wiſſenſchaftlichen Anſichten zuteil werden ließ, war durchaus ungerechtfertigt. Martin May war ein ſeltener Vollmenſch, Induſtriegründer, Geſchäftsmann, Politiker und Gelehrter. Auch als Volkserzieher muß man ihn anſehen, denn durch Vortrag und Schrift wirkte er für Verdeutſchung der himmelskund— lichen Gelehrtenausdrücke.

Deutſchland ift das Land, das die größten Muſiker hervorbrachte. Schon im 2. Jahr- tauſend vor Beginn unſerer Zeitrechnung konnte man hier, wie die Funde poſaunenähnlicher Luren beweiſen, Muſik machen jo gut wie in Babylonien, das in äußerer Kultur ſicher viel weiter voraus war. Wundern wir uns alfo nicht, daß auch aus Deutſchland im 18. Jahr- hundert die erſten künſtlichen Künſtler, die Muſikautomaten, gekommen ſind und ſich die Welt erobert haben. Johann Gottfried Kaufmann wurde 1751 in Siegmar bei Chemnitz geboren. Erſt lernte er bei einem Strumpfwirker, dann bei einem Uhrmacher. Ohne je Unter-

Männer der Großinduftrie | 185

richt in der Muſik genoſſen zu haben, machte er fih mit Erfolg an die Herſtellung von „felbt- handelnden“, d. h. automatiſchen Muſikinſtrumenten. Vei Jean Paul, Goethe, M. M. v. Weber finden wir die Ausdrücke der Bewunderung für die Kaufmannſchen Muſikmaſchinen. Um das Jahr 1800 hatten Muſikautomaten aus dem in Dresden gegründeten Geſchäft bereits ihren Weg nach Öfterreih, Italien und Rußland gefunden. In feinem Sohn erhielt Rauf- mann einen Geſchäftsgehilfen und Miterfinder. Mit ihren Muſikautomaten machten Vater und Sohn Kunſtreiſen. Oer Erfindungsgeiſt des Enkels brachte das Dresdener Haus zu weiterer Blüte. Die Dresdener „Akuſtiker“ beſuchten mit ihren künſtlichen Künſtlern Rußland, Eng- land und Schottland. Ihre Muſikmaſchinen eroberten fih den Erdball; die Dresdener Muſik- induſtrie gab vielen Händen Arbeit. Das Haus beſteht heute noch. Erſt Ediſons Erfindung des Phonographen ſcheint ihm argen Wettbewerb bereitet zu haben. Auch der Begründer des Dresdener Hauſes war alſo als Induſtriebegründer, wie man ſieht, mehr als ein gewöhn- licher Menſch. Und fo könnten wir hier noch manch andere Induftriebegründer als vorbild- liche, bewunderns werte Männer vorführen, z. B. die Oechelhäuſer in drei Geſchlechtern.

Der Arbeiter, der heute auf das Schlagwort von der Sozialiſierung eingeſchworen iſt, muß ſich endlich einmal klar machen, was Hirnarbeit bedeutet und wie die Gründung von erdballbeliefernden Geſchäften und Induſtrien doch auch eine aufreibende Sache iſt. Kommt dies Verſtändnis nicht beim Arbeiter zum Durchbruch, bildet er fidh ein, das Kapital mache alles, und wenn das Kapital ſozialiſiert werde, fo gehe die Geſchichte auch, dann ift keine Rettung. Der gewerbliche Arbeiter neigt nur zu leicht dazu, ſich allein für den Schöpfer, den Geſchäftsherrn aber für den Schröpfer zu halten. Das ift aber nur felten der Fall, ſicherlich nicht bei den Induſtriebegründern.

Die Tagesarbeit des Wilhelm Siemens, des Bruders unfres Werner Siemens,

der in England zum „Induſtriekapitän“ geworden war, wird uns von einem, der täglich mit ihm in Berührung kam, folgendermaßen geſchildert. „Um 9 Uhr morgens trat fein Sekretär bei ihm an. Da gab es Arbeiten für einen oder den andern wiſſenſchaftlichen Verein zu er- ledigen. Dann waren Korrekturen zu leſen, Briefe und Anſichten über wiſſenſchaftliche Gegen- ſtände, genaue Veſchreibungen neuer zum Patent anzumeldender Erfindungen zu diktieren, dann, nach einem Spaziergang, der aber mehr ein Rennen war, die Geſchäfte zu erledigen, die ihm ſeine Stellung als Vorſitzender zweier induſtrieller Geſellſchaften auferlegte, dann Arbeiten vorzunehmen, die mit feinen Ofen und metallurgiſchen Verfahren zuſammenhingen. Darnach wurden Beſucher und Auskunftſucher vorgelaſſen. Nachmittags wohnte er den Vor- ſtandsſitzungen gelehrter Geſellſchaften oder den Direktorenverſammlungen ſeiner verſchiedenen Induſtriegründungen bei. Die Abende wurden wiederum in einem oder dem andern wilfen- ſchaftlichen Verein verbracht. So verlebte Wilhelm Siemens ſeine Tage, Monate und Jahre.“ Was das Nerven koſtet, jetzt wiſſenſchaftliche oder techniſche Probleme, dann Fragen der Löhne und Preiſe, dann Berechnungen, Lizenzen, Patentſchriften vorzunehmen, Beſucher abzu- fertigen, während im Vorzimmer ein halbes Dutzend weiterer Beſucher darauf wartet, vor- gelaſſen zu werden, wie das aufreibt, Herz und Hirn krank macht, davon macht fih der Hand- arbeiter und techniſche Angeſtellte keinen Begriff. Wilhelm Siemens erlag daher auch ver- hältnis mäßig früh einem Herzleiden. Er wurde nur 61 Jahre alt. Schon 17 Jahre vor feinem Tode hatte er einmal völlig alle Arbeit ausſetzen müſſen. Sein Bruder Werner, der Elektriker, ſchrieb ihm damals und das iſt auch belehrend: „Vor etwa ſechs Jahren, alſo etwa in deinem Alter, fing auch bei mir das ‚Oberjtübchen‘ an ‚aufzumudfen‘, wie der Berliner jagt! Seit der Zeit muß ich meinen Kopf ſchonen.“

Wie ſchaute doch der alte Krupp auf ſein Leben zurück? „Von meinem vierzehnten Jahr an hatte ich die Sorgen eines Familienvaters und die Arbeit bei Tage, des Nachts Grübeln, wie die Schwierigkeiten zu überwinden wären. Bei ſchwerer Arbeit, oft Nächte hindurch, lebte ich bloß von Kartoffen, es Butter und Brot, ohne Fleiſch, mit dem Ernſte eines

186 | Männer der Großinduſtrie

bedrängten Familienvaters, und fünfundzwanzig Jahre habe ich ausgeharrt ... Meine letzte Erinnerung aus der Vergangenheit iſt die fo lange drohende Gefahr des Untergangs“...

Wenden wir unſern Blick vom Eiſengewerbe zur Herſtellung geiſtiger Hilfsmittel, etwa zur Herausgabe fremdſprachlicher Wörterbücher und Anterrichtswerke! Auch Verleger find ja Brotgeber. Der Name Langenſcheidt iſt allgemein bekannt. Der Gründer des großen Verlagshauſes, kaufmänniſch gebildet, wanderte nach ſeiner Lehrzeit zunächſt ein Jahr lang zu Fuß durch Deutjchland und vervollkommnete währenddem feine franzöſiſchen Sprach- kenntniſſe. Heimgekehrt, beſchloß er, ein neues Unterrichtsmittel für dieſe Sprache zu ſchaffen. Nach vierjähriger Nachtarbeit (die Tagesſtunden mußten größtenteils andern Zwecken dienen) gab er feine heute wohlbekannten „Unterrichtsbriefe zur Erlernung der franzöſiſchen Sprache“ heraus. Einen Verleger hatte er dafür nicht finden können, ſo wurde er ſein eigener Verleger. Langenſcheidt hat dann verſchiedene großangelegte Wörterbücher herausgegeben, die Jahr- zehnte allein an Vorbereitung, über eine Million Mark an Auslagen, einen ungeheuren Briefwechſel mit Gelehrten und Mitarbeitern und eine kaum vorſtellbare Arbeitsverteilung erforderten. Wie aber war nun der Arbeitstag eines ſolchen Mannes? „Seine Arbeitszeit begann nachts um zwei Uhr und dauerte bis morgens neun Uhr, dann einige Stunden der Ruhe und Wiederaufnahme der Tätigkeit von nachmittags zwei Uhr bis abends um neun oder zehn Uhr. Als Sprechſtunde ſtand lange Zeit im Berliner Adreßbuch die Stunde von ſechs bis ſieben Uhr früh angegeben; er wollte fich dadurch läftige, ihm die koſtbare Zeit raubende Beſucher fernhalten. Von dieſer Sprechſtunde wurde auch niemals Gebrauch gemacht bis auf einen Fall, wo ein polniſcher Student früh um ſechs Uhr um ein Zehrgeld vorſprach.“

Wie kamen wir aber denn auf diefe Schilderungen aus dem Tagewerk von Hirnarbeitern, insbeſondere aber Induſtriebegründern? Der Arbeiter ſollte begreifen lernen, daß andere Leute, die nicht Handarbeiter find, noch ganz anders ſchaffen als er, daß ohne ſolche Niejen- leiſtungen einzelner Millionen und Abermillionen von Arbeitern ſchlechterdings keine Verdienſt— gelegenheit noch Dafeinsmöglichkeit gefunden haben würden. Und die Arbeitsleiſtungen allein, obwohl weit über das Maß hinausgehend, was ein Handarbeiter ſchon für größte Zumutung halten würde, ſchaffen noch keine Induſtrie. Ideen müſſen da ſein, beſondere Begabungen, die man durch keine Sozialiſierung herbeizaubern, leicht aber wegekeln kann.

Die Verbeamtung aller Betriebe bedeutet Austreibung des heiligen Geiſtes. Eine Million, eine Billion Ourchſchnittsmenſchen ſchafft nicht das Neue, das der einzelne Begabte hervorbringt. Gleichſtellung des Begabten im ſozialiſierten Betriebe mit allen anderen be- deutet aber nicht freie Bahn dem Tüchtigen, ſondern deffen Unterdrückung, denn er ift allenthalben in der fürchterlichſten, zum Hohn einladenden Minderheit. Von der Maſſe geht keine befruchtende Geiſteskraft aus. Dr. Georg Biedenkapp

ö kann, hat auch der klaſſiſchen Philologie einen wunderbaren Aufſchwung gebracht. Das Charakterzeichen dieſer neuen Blüte ift die Kritik, und dieſem kritiſchen Beſtreben iſt es zu verdanken, daß die Philologie zu einer hiſtoriſchen Wiſſenſchaft wurde. Das flächenhafte Bild der Antike gewann dadurch erſt die wahre plaſtiſche Anſchaulichkeit, und der ungeheure Reichtum der alten Kultur offenbarte ſich darin, daß immer neue Seiten ihres Weſens entdeckt wurden, und daß ſie auf die veränderte Frageſtellung neue und überraſchende Antworten gab. Allein es dürfte heute keinem Zweifel unterliegen, daß die kritiſche und hiſtoriſche Methode im Vollgefühl ihrer Kraft die ihr von der Natur geſteckten Grenzen weit überſchritten hat. Wir bezeichnen diefe Erſcheinungen mit den Ausdrücken des Kritizismus und Hiſtorizismus: in den Worten liegt der Urſprung ausgedrückt. Die Kritik foll und darf immer nur ein Durch- gangsſtadium fein, wie es der Zwivel für den Parzival des alten deutſchen Gedichtes iſt. Sobald ſie zum Selbſtzweck wird und ſobald über der zerlegenden und trennenden Tätigkeit die große Einheit des Kunſtwerkes und noch mehr die große Einheit der Perſönlichkeit verloren geht, ſchlägt der Segen in ſein Gegenteil um.

Ein Muſterbeiſpiel für die Hyperkritik unſerer Wiſſenſchaft ift der „Atheismus des Genies“, wie er in der Behandlung der großen Werke und Männer des Altertums zum Aus- druck kommt. Weder die Evangelien noch Jeſu Perſönlichkeit, weder das Alte Teſtament noch die Hiſtoriker ſind davon verſchont geblieben. Das eigentliche Urbild aber iſt doch immer noch Homer. Wie ſich an dieſem Oichter einſt die ganze philologiſche Methode in der alexandriniſchen Gelehrtenſchule entwickelt hat, ſo hat ſeit F. A. Wolfs Prolegomena auch die Entwicklung der modernen Philologie an dieſen Stoff angeknüpft. Bezeichnend iſt es, daß man heutzutage in wiſſenſchaftlichen Werken kaum noch von Homer redet, ſondern nur von der homeriſchen Frage, und daß der Titel „Ilias“ den „Liedern oder Gedichten der Ilias“ Platz gemacht hat.

Die ſogenannte homeriſche Frage dreht fich letzten Endes darum, ob ein Dichter Homer, wie ihn der naive Leſer annimmt, gelebt hat oder nicht. Die Anſichten ſtehen ſich ſchroff gegenüber, mögen auch im einzelnen noch fo viele Kompromiſſe aufgeſtellt fein. Auf der einen Seite ſteht die Wiſſenſchaft. Sie lehnt den einen Oichter als Verfaſſer der Ilias ab. Bezeichnend für dieſen Standpunkt ſind die beiden letzten großen Werke über Homer von Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff und Erich Bethe, die zwar, dem Zuge der Zeit folgend, der Einheit eine gewiſſe Bedeutung einräumen namentlich Bethe hat in dieſer Beziehung ſehr feinſinnige Beobachtungen gemacht —, die aber dennoch die alte Methode und den alten Grundſatz des kritiſchen Zerlegens durchaus anwenden. Die Hauptſtützen für diefe Theorie find die unzweifelhaften Widerſprüche, die fih in Ilias und Odyſſee finden. Sie find nicht zu leugnen, z. B. kann keine Interpretationskunſt die Tatſache verbergen, daß Pylaimenes, ein Führer der Paphlagonier, im fünften Geſange ſeinen Tod findet, und im dreizehnten hinter der Bahre ſeines Sohnes einhergeht. Zu den ſachlichen Differenzen treten ſprachliche

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Anterſchiede, die zweifellos beobachtet find; alles aber findet feine Krönung in den Unter- ſchieden des Stiles, auf die man beſonderen Nachdruck gelegt hat, da man den verſchiedenen Stil als das untrügliche Kennzeichen verſchiedener Dichter anſieht.

Im anderen Lager ſtehen, man darf wohl ſagen, faſt ohne Ausnahme, die Poeten und Literaten unſerer Zeit. Ich nenne nur Namen wie Herman Grimm, Friedrich Lienhard, H. St. Chamberlain, Theodor Zell, Willi Paſtor. Sehr mit Recht hat Lienhard an einer Stelle ſeiner „Wege nach Weimar“ die Verteidigung des wiſſenſchaftlichen Standpunktes durch Wilamowitz gereizt genannt; allerdings hat er an derſelben Stelle ebenſo klar erkannt, daß es für den Laien unmöglich iſt, den Fachmann zu widerlegen. Auf jeden Fall erkennen wir auch in der homeriſchen Frage eine bedauerliche Differenz zwiſchen Wiſſenſchaft und Leben.

Prinzipiell dürfte es nun einleuchten, daß die Homerkritik niemals mit denſelben Mitteln, die ſie anwendet, geſchlagen werden kann. Mag der wackere Sancho Panſa ſeinen Eſel in dem einen Kapitel verlieren und ihn im anderen unbekümmert darum in rührender Treue doch wieder zur Hand haben, was der Hütor ſelbſt entſchuldigt, mag Hauff in feinem „Lichten— ſtein“ es mit der Chronologie der Tage noch ſo unbekümmert nehmen, ohne daß wir es merken, mag Thakeray in dem Roman The Newcomes die Mutter des Bräutigams auf der einen Seite ſterben und auf der andern wieder leben laſſen, mag ein Dichter wie Heyſe durch die blaue Brille, die er neben ſich auf dem Tiſch liegen hatte, in die Landſchaft hinausſehen, mag du Bois-Reymond auf feinen eigenen Schultern ſtehen, das und hunderterlei gleicher Art wird niemals einen überzeugten Gegner bekehren. Das Urteil über die Widerſprüche iſt und bleibt ſubjektiv. Die Rückkehr zu dem einen Oichter Homer kann nur geſchehen, indem zu— nächſt ſein Werk als eine einheitliche Kompoſition klargelegt wird. Dann wird im weiteren Verlauf hinter dem Werke auch der Schatten des Mannes immer deutlicher aufſteigen und von dem belebenden Blute des Odyſſeus trinken.

Man hat im Altertum für die Ilias 51 Tage berechnet und fidh feit Jahrhunderten über einzelne Zeitbeſtimmungen wacker die Köpfe zerbrochen und zerſchlagen. Die mathe- matiſche Rechnerei ift natürlich Unſinn, aber der übertriebene Gedanke verhindert nicht die Richtigkeit des Grundſatzes, daß zeitliche und örtliche Veränderungen die Szenen und Akte der Ilias ſondern. Man muß dabei nur das Zuſammen gehörige zuſammenfaſſen. Die Ilias erzählt vier Schlachttage, davon ſind der erſte und vierte für die Griechen ſiegreich, der zweite und dritte unglücklich. Als Einleitung geht das erſte Buch voran, als Schluß folgt das vier- undzwanzigſte. Während die beiden umrahmenden Tage an Ausdehnung nicht allzu ver— ſchieden find (Geſang 2—7 und Geſang 19—23), find dagegen die beiden mittleren Tage nach dem Prinzip gegenſätzlicher Länge gehalten: zwei Geſänge (3—9) ſtehen neun Geſängen (10—18) gegenüber. Wie ſchon aus dieſer Überficht hervorgeht, halte ich die Einteilung der Ilias in 24 Geſänge durchaus nicht für ſpät, ſondern für ein Werk des Dichters. Der Parallelis— mus einzelner Geſänge gibt dafür ganz beſtimmte, m. E. unwiderlegliche Beweiſe. Auch treffen die alten Überſchriften faſt durchweg den Kern des für die Handlung wichtigen Inhalts, und der Schluß der Geſänge iſt überall ein tiefer Einſchnitt. Ligaturen liebt Homer dabei hier im Großen wie ſonſt im Kleinen.

Es ift nun offenbar, daß der Dichter die beiden einrahmenden Teile in gleicher Weiſe disponiert hat und ebenſo das Mittelſtück der beiden mittleren Tage. Unwillkürlich wird man an die Kompoſition eines griechiſchen Tempelgiebels gemahnt. So umfaſſen, um nur einige Punkte herauszugreifen, das erſte und das letzte Buch jedesmal einen längeren Zeitraum von 12 +9 Tagen. Der erſte und der vierte Kampftag haben den gleichen unterbrechenden Schluß, hier in der allgemeinen Beſtattung, dort in der Beſtattung des einen Patroklos. Da- gegen ſind die beiden mittleren Tage wirklich nur einfache Tage. Man ſpürt an dieſem Zeit— umfang, wie aus dem großen, weiten Meer des troiſchen Krieges die gewaltige Epiſode von dem Zorn Achills langſam und allmählich emportaucht, um ebenſo langſam und allmählich

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wieder zu verſinken. Ferner hat der erſte Schlachttag einen großen Zweikampf am Anfang (Menelaos Paris) und ebenſo einen bedeutenden Zweikampf am Ende (Ajas Hektor). In der Mitte aber ſteht Diomedes’ Ariſtie, deren Gipfelpunkt der Sieg über die Götter ift. Genau ſo iſt der vierte Schlachttag, nur mit Konzentration auf den einen Helden Achilles, eingeleitet durch ſein Zuſammentreffen mit Aeneas, und ſchließt mit dem Sieg über Hektor. In der Mitte aber ſteht der vielberrufene 21. Geſang, deffen Höhepunkt deutlich der allgemeine Kampf der Götter gegeneinander iſt. Man greift die Gleichheit und die Steigerung mit Händen. Liegt aber im erſten Schlachttag der Akzent auf dem Anfang, denn Menelaos’ Sieg mit den feierlichen Opfern ſoll entſcheiden, ſo iſt natürlich in Achills Siegeszug der Triumph über Hektor der entſcheidende Schluß. Wie am Anfang das erſte Duell unterbrochen wird durch die berühmten Helena -Szenen, fo ſtehen bei Hektors Tod am Ende die Bitten und Klagen der Eltern von der Mauer herab. Wird im zweiten Buche bei dem erſten Auszug der griechiſchen Armee die Parade abgenommen, wobei die Regimenter und ihre Oberſten charakteriſiert werden, ſo zeigt uns das 28. Buch in ähnlicher Ausführlichkeit die Halden noch einmal, aber diesmal nicht bei dem Auszug zum kriegeriſchen Werke, ſondern bei den feſtlichen Leichen- ſpielen nach ſiegreicher Schlacht. Ich erwähne dies beſonders, weil faſt alle Kritiker den fo- genannten Schiffskatalog als ſpät anſehen, nur Grimm hat hier das künſtleriſche Gefühl be- wahrt. Wer ihn aber eliminiert, bringt im Grunde den ganzen Bau der Ilias zum Einſturz, denn es ift hier fo wie bei einem künſtlichen Gewölbe, daß die Lockerung einer Säule oder eines Steines die Symmetrie und Feſtigkeit des Ganzen gefährdet.

Es iſt eine alte Weisheit, daß bei Homer die direkten Reden eine ſo große Rolle ſpielen, daß man an der Zugehörigkeit des Werkes zu der Klaſſe der Epen zweifeln könnte. Aſchylus, der den entſcheidenden Schritt zur Tragödie tat, nannte feine Dramen „Broſamen von dem reichen Mahle Homers“, und Plato nannte Homer den „Gipfel der Tragödie“. Man kann ja mit Leichtigkeit dieſe Worte in moderner Art nur ſtofflich und übertragen auffaſſen, ſie find aber auch formal durchaus zutreffend. Beſſer als viele Worte dürfte hier ein praktiſches Exempel wirken, und ich hoffe, in der nächſten Zeit Szenen aus Homers Ilias vorlegen zu können, bei denen auch nicht ein einziges Wort hinzugeſetzt oder verändert iſt, und die trotzdem ein ſo lebendiges dramatiſches Leben zeigen, daß des Wunderns kein Ende ſein wird. Wir vergeſſen ja heute allzu leicht, daß die homeriſchen Epen für den lebendigen Vortrag der Rhapſoden beſtimmt waren. Daß diefe dabei die Worte durch Geſten und andere ſchauſpiele⸗ riſche Mittel unterſtützt haben werden, liegt auf der Hand, und es iſt kein Zufall, daß ein Schauſpieler wie Kainz die Ilias fo liebte.

Für die Perſon eines Oichters ſpricht allein ſchon der merkwürdige Miſchdialekt der homeriſchen Sprache. Als charakteriſtiſch führe ich aber noch einige beſtimmte individuelle Züge an, z. B. feine Vorliebe für Neſtor. Es kann keine Frage fein, daß Homer einzelne Helden mit größerer oder geringerer Vorliebe behandelt, ſo kommt zum Exempel der große Ajas trotz feiner Tapferkeit und Bedeutung oft ſchlecht weg, dagegen hat der Dichter aus eigener Weſensart und Weisheit dem alten Pylier ficher vieles in den Mund gelegt. Wenn der anfängt, von der alten guten Zeit zu erzählen, wenn der fo niedlich und gewaltig fein Jagd- und Kriegslatein zum beiten gibt, dann meint man den alten Vater Homer ſelbſt zu hören. Ein zweites ift der peſſimiſtiſche Zug Homers. Der populärſte Gebrauch ſeines Namens verbindet ſich mit dem Ausdruck des Lachens, aber Burkhardt und Nietzſche, zwei gleich poetiſche Naturen, haben auf den trüben Zug des griechiſchen Gefühlslebens hingewieſen. „Die Griechen waren un- glücklicher, als die meiſten glauben.“ Für Homer ift ganz befonders fein Verhältnis zu den Göttern hier anzuführen, das fo unendlich verſchieden beurteilt worden ift,- Es ift: für jeden unbefangenen Betrachter durchaus individuell, nur verſchwommenes Gerede von Volks- auffaffung und Volksdichtung kann das verkennen. Die Götter leben dort droben im ewigen Lichte, ſie zanken, ſtreiten und verwunden ſich, ſie weinen und teilen Ohrfeigen aus und ſpinnen

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Intrigen, aber ſie bleiben immer die Götter. Keine menſchliche Befangenheit bindet ſie, faſt ſind ſie jenſeits von Gut und Böſe. Und drunten wandeln die armen Sterblichen und tragen Leid und Sorge. Achilles ſpricht es im 24. Geſange am ſchönſten aus: „Alſo beſtimmten die Götter der elenden Sterblichen Schickſal, a Bang in Gram zu leben; allein fie felber find ſorglos.“ ö

Wem käme nicht unwillkürlich Hyperions Schickſalslied in den Sinn? Man könnte auch noch als charakteriſtiſch auf die deutlich erkennbare Abneigung Homers gegen den Krieg hinweiſen, jo merkwürdig dies für den Dichter der Ilias erſcheinen mag.

Aber zum Schluß ſtehe noch ein Hinweis auf die lebendige Friſche der Ilias, die ſelbſt allermodernſten Gepräges nicht entbehrt. Das Bild der Volks- oder Soldatenverſammlung des zweiten Geſanges könnte aus unſerer Zeit ſtammen. Die Diſziplin im griechiſchen Heere iſt durch den zehnjährigen Krieg untergraben. Achill ſelbſt iſt dafür ein Beiſpiel. Bei dem Befehl zu einem entſcheidenden Angriff ſteht die Militärrevolte in bedenklicher Nähe. Sie wollen nach Haus. Was gehen fie die Könige und deren Liebeshändel an? Wie da Therſites ſich zum Wortführer aufſchwingt, wie er, der lahme, bucklige Kerl mit der ſcharfen Zunge, den Offizieren das beſſere Eſſen und die höheren Bezüge vorwirft, wie er, der natürlich immer in der Etappe fih aufgehalten hat, nun der erſte Mann im Schimpfen ift und mit feinen Helden- taten prahlt, wie er die inneren Konflikte der oberſten Heeresleitung geſchickt auszunutzen weiß, all das wird einem wie eine neue Welt aufgehen, wenn man es nur einmal fertig bringt, die blaue Brille der Philologie oder die ſchwarze Brille unangenehmer Schulreminiſzenzen abzulegen.

Goethes Wort ſoll der Schlußſtein ſein, man kann es nie genug zitieren: „Oer für dichteriſche und bildneriſche Schöpfungen empfängliche Geiſt fühlt fidh dem Altertum gegen- über in den anmutigſt ideellen Naturzuſtand verſetzt; und noch auf den heutigen Tag haben die homeriſchen Geſänge die Kraft, uns wenigſtens für Augenblicke von der furchtbaren Laſt zu befreien, welche die Überlieferung von mehreren tauſend Jahren auf uns gewälzt hat.“

Dr. Peters aeaa Diotima

Qi ie man lange ſchon verloren gewähnt, die Briefe der Suſette Gontard find gefunden und veröffentlicht worden. Und zwar hat Frida Arnold, die Großnichte Hölder- N lins, die Enkelin feines Halbbruders Karl, die vergilbten und zum Teil verblaßten Papiere, die in ihren Beſitz übergegangen waren, dem Herausgeber Dr Carl Viëtor anver- traut, der nun im Inſelverlag zu Leipzig eine muſtergültige Ausgabe veranftaltet hat. Was man bisher nur vermuten und ahnen durfte, ift nun zu ſüßeſter Gewißheit geworden —: ja, es war eine reine, ſchmerzliche Liebe, und Diotima erwiderte ſie mit der ſpät erſchloſſenen Seele einer zu früh Verehelichten, die an der Seite ihres geſchäftsgewandten, aber leeren Gatten durch arme Tage wandelte. Erſt als der ſchlanke, milde, verſehnte Hölderlin als Erzieher ihr Haus betreten, erwachte der verhaltene Frühling ihres Herzens, und ſchimmernde, keuſche Blüten taten ſich auf mit einem wehen Lächeln, als ahnten ſie einen Froſt, der ſie niederbrechen würde. Hölderlin ſchied Ende September 1798 er war im Dezember 1795 eingetroffen nach einer offenbar ſcharfen Auseinanderſetzung mit dem mißtrauiſchen, eiferſüchtigen Haus- herrn und wandte ſich nach Homburg v. d. Höhe zu feinem getreuen Freunde Sinclair. Und nun beginnen die Briefe, die uns hier überliefert ſind; freilich fehlen ihrer eine bedauerliche Anzahl, und Hölderlins Schreiben find ſicherlich nach Suſettes frühem Dahinſcheiden vernichtet worden aber der Gewinn, der uns aus dieſen alten, wehſeligen Blättern emportaucht, iſt ein ſo reger und bleibender, daß man dem Schickſal dankbar iſt, das uns dieſe Zeugniſſe be— wahrt und überliefert hat.

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Seitdem der Geliebte das Haus verlaffen, iſt Ode und Trauer gekommen, Leere und Schwermut. „Man begegnet mir, wie ich vorher ſah, ſehr höflich, bietet mir alle Tage neue Geſchenke, Gefälligkeiten und Luſtpartien an; allein, von dem, der das Herz meines Herzens nicht ſchonte, muß die kleinſte Gefälligkeit anzunehmen mir wie Gift fein, fo lange die Empfind- lichkeit dieſes Herzens dauert.“ Aus dieſen wenigen Worten ſteigt das Bild des Gatten empor: ein wenig ſchlau, ein wenig hart, ein wenig ungeduldig kein Ganzer und Echter. „Du weißt, daß ich leicht trübſinnig bin“ man glaubt es der Verlaſſenen willig. Und dann eine hohe Triſtanempfindung, unendlich ergreifend in ihrer plötzlichen Aufwallung: „Die Leidenſchaft

der höchſten Liebe findet wohl auf Erden ihre Befriedigung nie! Fühle es mit mir: diefe ſuchen wäre Torheit —. Miteinander ſterben! Doch ſtill, es klingt wie Schwärmerei und iſt doch ſo wahr iſt Befriedigung.“

And fie kann nicht fern dem Geliebten weilen; fo ſucht fie Wege und Mittel, wenigſtens kurze Zufammentünfte zu bewirken und einen flüchtigen Briefaustauſch; immer wieder denkt ſie auf neue Pläne und Verſuche. Und ſie findet rührende Worte der Entſchuldigung, um ſich zu entlaſten; echt weibliche Scheu flüſtert aus den Zeilen: „Deine zarte Seele ſtößt ſich gewiß daran, und Du leideſt mit mir. Aber verdenken kannſt Du mir es nicht, weil ich es nur aus edler Abſicht tue, das Schönſte und Beſte unter den Menſchen nicht zugrunde gehen zu laſſen.“ Ihre einſamen, geſcheuchten Gedanken ſammeln ſich nur um dieſes eine: dem Geliebten helfen und raten zu dürfen. Immer und immer wieder beteuert ſie ihre reine, unlösliche Zuneigung, ihr letztes, innigſtes Fühlen und Glauben: „Du kennſt mich ja und Du haft tauſend Beweiſe, wie mein Herz Dir hingegeben ift; und Du weißt, daß wenn man gegen die Liebe fehlt, man ſich ſelbſt am meiſten verwundet.“ „Und fo mit mir verwebt biſt Du, daß nichts Dich von mir trennen kann. Wir find beiſammen, wo wir auch find, und bald hoffe ich Dich wiederzu- fehen... Sei nur noch glücklich (wie wir es meinen).“ Und dann wieder der ſchwermütige Verſuch einer Entſagung, eines rettenden Verzichtes, kaum ſelbſt begriffen und voll zitternden Leides: „Meine Zeit war ſchon vorbei; aber Ou ſollteſt jetzt erſt anfangen zu leben, zu handeln, zu wirken; laß mich kein Hindernis ſein, und verträume nicht Dein Leben in hoffnungsloſer Liebe.“ Sie wünſcht ihm vor allem einen ratenden, rettenden Freund, denn „Du biſt zu reich an Kräften und immer zu voll, um für Dich zu bleiben und nur auf Dich zu beruhen“. Und ferner: „Deine edle Natur, der Spiegel alles Schönen, darf nicht zerbrechen in Dir. Du biſt der Welt auch ſchuldig zu geben, was Dir verklärt in höherer Geſtalt erſcheint, und an Deine Erhaltung beſonders zu denken.“ O welche Unſchuld und werbende Treue! Wahrlich, dieſe Frau war Hölderlins würdig; man fühlt, daß ihm in ihrer milden Nähe Schönheit und Er- füllung entgegenkeimte. Einmal findet ſie Troſt und Ermunterung in beinahe hymniſchen Worten, die an Hyperions letzte Offenbarungen erinnern: „Und wir follten nicht vertrauen? Wir, die wir täglich Beweiſe der herrlichen auch uns belebenden Natur haben, die uns nur Liebe zeigt, wir ſollten Kampf und Uneinigkeit in unſerer Bruſt hegen, wenn alles uns zur Ruhe der Schönheit ruft?“

Und dann wieder bangt ſie vor dem ſeligen Wunder der erneuenden Liebe, das ſich in ihr und durch ſie offenbart: „Ich erſtaune oft über mich, daß ich ſchon ſo weit in die Jahre der Vernunft fortgerückt bin und doch fo jung mir ſcheine.“ Und es ſtimmt köſtlich zu ihrer ſchmiegſamen Ruhe und jungfräulichen Zartheit, wenn ſie ſich gern in Lila und Weiß kleidet, „ganz nach Deinem Geſchmack“. So ſehen wir fie in ihrer Stille, den „Hyperion“ in der Hand, und noch einmal durchlebend, was ihrem Daſein Fülle und Erfüllung gegeben; ſie ſucht ſich Ruhe und Sammlung zur Lektüre, denn „Gute, ſchöne Bücher in einer dazu nicht paſſenden Stimmung zu durchblättern und nicht mit ganzer Aufmerkſamkeit zu leſen, halte ich für Cnt- weihung; ſie gehören nur dem, der ſie ganz fühlt und verſtehen kann“. Und noch ein reifes, nachdenkliches Wort dieſer einſamen, edlen Dulderin, das fo ganz ihr vertrauendes, gläubiges Herz enthüllt und ihre tiefe Erkenntnis des letzten Weltgrundes: „Ich kann das Wort Zufall,

192 Luther-Notgeld

welches ich geſchrieben, nicht wieder aus dem Kopf bringen, es gefällt mir nicht, klingt ſo klein und kalt, und doch finde ich kein anderes. Könnte man nicht auch ſagen, die geheime Ver— kettung der Dinge bildet für uns etwas, das wir Zufall nennen, was aber doch notwendig iſt? Wir können wegen unſerer Kurzſichtigkeit davon gar nichts vorherſehen und erſtaunen, wenn es anders kommt wie wir meinten. Doch gehen die ewigen Naturgeſetze immer ihren Gang, fie find uns unergründlich, und eben d ar um tröſtlich, weil auch das uns noch geſchehen kann, was wir nicht einmal ahndeten und entfernt hofften.“

Übrigens bietet dieſe Heine Briefſammlung auch dem Hiſtoriker einiges Neue, inſofern Diotima über ihre Reife nach Weimar Bericht erſtattet und über ihre Beſuche bei Schiller und Wieland. (Als ſie damals in Jena dem Schützer und Verater ihres trauten Freundes, den jie doch verſchweigen mußte, gegenüberſtand, wie haftig und dankbar muß ihr gequältes Herz geſchlagen haben!) Das Weſentliche und Entſcheidende aber bleibt doch jener volle, reine Klang der Lie be, vor dem wir uns ehrfürchtig und hingegeben beugen. Wir blicken auf die Büſte Diotimas, welche dem Buche beigefügt iſt, auf dieſe klaren, unverhüllten Züge (Heinſe rühmt einmal ihren „reinen, ſchönen, tizianiſchen Teint“), und wir begreifen, daß dieſem Leben ein raſches Ziel geſetzt war. Innerlich ausgeglüht von geheimer Sehnſucht, fo ift fie dahingegangen, von der Hölderlin geſungen: „Du ruhſt und glänzeſt in deiner Schöne wieder, du ſüßes Licht!“ And man erinnert ſich jener anderen Verſe, aus denen eine Abwehr tönt gegen alle diejenigen, die mit ſchielender Ungeduld, mit befleckten Händen zu dieſen frommen, bebenden Bekennt—

niſſen greifen wollen: ſſen greif ; „An das Göttliche glauben Die allein, die es ſelber ſind.“

Luther⸗Notgeld

RR chnitt mal Stein gleich Geld! Dieſer rätſelhaft erſcheinende Rechnungsanſatz findet N 7700) feine Erklärung durch die junge Ehe zweier altbewährter graphiſcher Verviel— 828 fältigungsverfahren. Sie ift berufen, der Gebrauchsgraphik eine neue, blühende Provinz zu erobern. Die edle Griffelkunſt, die fid) feit jeher willig in den Dienſt des täglichen Bedarfes geſtellt hat, wird in ihren künſtleriſchen Entfaltungsmöglichkeiten allzuhäufig durch Forderungen geſchmacklicher Unkultur gehemmt. Ein Beiſpiel ſtehe für zahlreiche andere.

Als die Hartgeldnot, eine der traurigen Kriegsfolgen, über das metallverarmte Oeutſch— land hereinbrach, regte ſich in den Gemeinden der Wille zur Selbſthilfe. In Form von kleinen Geldſcheinen wurde Papierſcheidemünze geſchaffen. Gold-, Silber-, Nickel-, Kupferſtücke ver- ſchwanden aus dem Geldverkehr. Aluminium- und Eiſengeld können infolge Beſchränkung der dem Reiche zur Verfügung ſtehenden Mittel nicht in ausreichendem Maße geſchlagen werden. Auf der Suche nach einem geeigneten Erſatzzahlungsmittel entſtand das Porzellangeld, das als wertvoller Ausfuhrgegenſtand in die Hände meiſt ausländiſcher Sammler wanderte. Im Inlande haben es die Wenigſten geſehen.

Der ins Rieſenhafte angewachſene Bedarf an Scheidemünze mußte alfo von den Ge- meinden gedeckt werden, trotz aller Unzuträglichkeiten, die in der damit verbundenen Wieder- kehr vorväterlich kleinſtaatlicher Währungszerriſſenheit zu erblicken ſind. Aus Gründen der Wohlfeilheit überragt im Ortsgeld der Papierſchein die Metallmünze. Wer ſogleich gehofft hatte, mit dem Papiernotgeld einen gewaltigen Aufſchwung des graphiſchen Gewerbes zu erleben, ſah fih zunächſt enttäuſcht. Die Eile, mit der das Notgeld die Druckpreſſen verlaſſen mußte, die not-

geborene Forderung allerniedrigſter Herſtellungskoſten, ermöglichten in den erſten Monaten zumeiſt Geldſcheingebilde der Art, die einem geläuterten Geſchmack ein Dorn im Auge war.

E. L. Schellenberg

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Luther- Notgeld 195

Später, nachdem die ungebeſſerten Zeitver— hältniſſe die Notwendig- keit längerer Beibehal— tung des Erſatzgeldes zwingend dartaten, auch als fid die Sammler fei- ner als eines begehrten Gegenſtandes in jteigen- dem Maße bemächtigten, wurde größere Sorgfalt auf die Verwendung künſtleriſcher Entwürfe gelegt. Es entitanden bunte Geldbildchen, auf denen ein oft entzücken der Humor ſich auslebte, die auch einem verwöhn- 55 teren Geſchmack entgegen- (Schriftſelte auf allen Scheinen gleich) kamen. Immer aber noch wirkten die kleinen Raumabmeſſungen der wenigen Zentimeter im Geviert einem großzügigen Bildeindruck ſelbſt dort entgegen, wo der Entwurf zu ihm emporgeſtrebt hatte. Hinzu kam die weicher Wirkung zuneigende Linienführung und Farbgebung des reinen Steindruckverfahrens. Das Liebigbild blieb immer noch in gefährliche Nachbarſchaft gerückt, das Spieleriſche des beſchränkten Formats ließ ſich auf dieſem Wege nicht überwinden.

Wie ſo oft im Gange der Entwickelung, kam auch hier ein äußerer Anlaß der bedrängten Kunſt zu Hilfe. Am 7. April des Jahres 1521 wurde der Begründer der proteſtantiſchen Kirche, der Reformator und Bibelüberſetzer Doktor Martin Luther auf der Reiſe zum Reichstage nach Worms, woſelbſt er für ſeine neue Lehre den Rechtfertigungskampf in eigener Perſon führen ſollte, von ſeiner lieben und getreuen Stadt Er— furt mit feſtlichem Ge- pränge empfangen. Die Feier dieſes Tages von weltgeſchichtlicher Bedeu- tung beſchloß der gegen— wärtige Stadtmagiſtrat durch Herausgabe eines eigenartigen Jubiläums- Luther-Notgeldes beſon— ders denkwürdig zu ge— ſtalten. Die Ungunſt der Zeiten verbot die Prä— gung jeder äußerlich toft- bar gearteten Schau— Begrüßung Luthers in Erfurt am 7. April 1521 münze. Was lag näher (Roter Unterdruck, Nr.-Bezeſchnung L) Her Türmer XXII, o 14

= goju

»Luther in Unterredung mit Staupitz im Auguſtiner Kloſter zu Erfurt (Gelber Unterdruck, Nr. Bezeichnung U)

Luther Notgelb

als der Gedanke, zum Papiergeldſchein zu grei- fen? Der bekannte Cr- furter Maler und Gra- phiker Alfred Hanf er- hielt den Auftrag, fünf Begebniſſe aus dem Le ben Luthers im Bilde feft- zuhalten. Im Schwarz- weißverfahren finden ſei⸗ ne inzwiſchen geldgewor- denen Entwürfe hier Wie- dergabe.

Es ereignete ſich das unerwartet Neue, das in feiner verblüffenden Ein- fachheit überraſchte und in Fach- und Sammler- kreiſen ſogleich begeiſterte Aufnahme fand. Oer Künſtler ging in ſeinen

Entwürfen auf den Holzſchnitt zurück. Er brachte dieſe lange hintangeſetzte ältefte graphiſche Ausdrucksform wieder zu Ehren. Den Holzſchnitt fertig auf die kleine Form anzuwenden, unterſagte ſich von ſelbſt, infolge der verhältnismäßig baldigen Abnutzung, der die Holzplatte unterworfen iſt. Er fand einen Ausweg in der Ehe zwiſchen Holzſchnitt und Steindruck. Die auf den Stein in der Größe von 7 zu 9 em mechanifch übertragene Holzplatte lieferte Abzüge von ſtarker, urwüchſiger Bildhaftigkeit, die großzügige Wirkung auf engſtem Raume deutlich

erkennen läßt. Des Rätſels Löſung war gefunden.

Luther bei der Bibelüberſetzung (Grüner Unterdruck, Nr. Bezeichnung Th)

Von der. ftörenden Unruhe der früheren Bildchenfpielerei ift nichts mehr zu bemerken. In Flächen aufgeteilt, ſtehen Licht und Schatten in gefättigter innerer Ruhe zueinander. Eine Welt im kleinen wirkt groß und tief. Jeder der Scheine, 50 Pfennige an äußerem Wert geltend, erweckt den Eindruck eines Urbildes. Eine von kleinlichen Son- derwünſchen unbevor⸗ mundete Künſtlerhand grub mit ſicherer Meffer- führung den Span aus der Platte, ließ ſtehen, was ſtand, beſſerte nichts nach, glättete nicht, feilte

Zuther-Notgeld

nicht aus. Die Formen- ſprache ift flächig und tan- tig, nicht geziert und nicht gerundet. Eine in Einzel- heiten fid verlierende Be- ſchreibung der bildlichen

Oarſtellungen erſcheint

unnotwendig. Sie [pre chen wirklich für ſich ſelbſt. Wie zwiſchen mächtige Säulenpaare find fie zwi- ſchen kernige Lutherworte in ſenkrechter Aufreihung quadratiſch eingeſpannt. Daß ſparſamſte Aus- drucksmittel vollauf þin- reichen, Kraft und Stärke tiefer Empfindung zu ver- mitteln, zeigt jener Schein in erhöhtem Maße, auf dem der Bibelüberſetzer

195

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Ant AIE jund EN

Luther in der Auguſtiner Kirche zu Erfurt predigend (Blauer Unterdruck, Nr. Beze ichnung €)

aus dem Dämmer der Wartburgzelle der hereinſtrahlenden Sonne zugekehrt iſt.

Die Entſtehungsart der den Bildern beigegebenen Schriftworte rechtfertigt einen be- ſonderen Hinweis. Nicht in der Starre toter Satzſchrift beigeſetzt, wurde fie bildgleich hand- geſchnitten, ſo wie es dem ſchaffenden Künſtler der Augenblick eingab. In der Anordnung der Punkte, Zeichen und Raumfüllungen ſich von der Enge der Handwerksregel löſend, wuchs der einzelne Buchſtabe vom Kern nach dem Rande, nicht etwa vom Umriß nach dem Innern hin, wie es bei gewöhnlichen Schriftzeichnern des Landes leidiger Brauch iſt. Nach dem Entwurfe

ſelbſt, nicht nach einer Durchpauſung erfolgte der Schnitt in die Platte, jedem einzelnen Teile das wurzelechte Gepräge gebend.

Die Vildhaftigkeit der Vorderſeiten wurde durch die Anbringung des den Verwendungszweck dar- tuenden Textes auf die der ganzen Reihe ge- meinfame Rückſeite weiter verſtärkt. Die auf ihr kräftig hervortretende gotiſche 50 des Mittel- feldes, Luthers Wappen und das Erfurter Rad in den Strahlenkränzen der kleineren Seitenfelder links und rechts, bezeugen

Luther als Reformator (Violetter Unterdruck, Nr.⸗ Bezeichnung R)

1% Das Redentiner Oſterſpiel im Dom zu Lübeck

die geſchickte geometriſche Raumaufteilung, die durch den ferneren unerläßlichen Beſtimmungs— text ergänzt wird. In der Reihenbezifferung wurden ſtatt der Zifferzeichen 1 bis 5 die Buch- ſtaben L, U, Th, E und R zuſammengeſtellt den Namen Luther ergebend geſetzt. Die Druckausführung erfolgte ſchwarz auf ſattfarbigem Grunde: rot, gelb, grün, blau und violett. Durch welliges Waſſerzeichen und Wertpapiermaſerung auf der Rückſeite find Fälſchungen erſchwert. Der Prägeſtempel iſt im Ton des Unterdruckes ausgeführt.

So wurden als Schlußglieder einer Kette äußerer Zufälligkeiten, ein künſtleriſch voll- wertiger Gelderſatz, und in der Verbindung von Holzſchnitt und Steindruck ein geeignetes Mittel gefunden, geſchmacklichem Niedergang der Gebrauchsgraphik zu wehren und das Anwendungs- gebiet dieſes wichtigen Zweiges der Griffelkunſt fruchtbar zu erweitern.

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Das Redentiner Oſterſpiel im Dom zu Lübeck

Or gm unferen ehrwürdigen Dom, Heinrichs des Löwen hehres Denkmal in unſerer Stadt, hängt der Frühling eben ſeine grünen Schleier, und Auferſtehungsgedanken

2 weben durch dieſes vornehmſtille Seitab, mag auch das kirchliche Oſterfeſt längſt vorüber fein. Heute hat fich drinnen alles zuſammengefunden, was am geiſtigen Leben deutſcher Art bei uns noch Anteil nimmt vom Bürgermeiſter bis zum Schuljungen alles, was ſich noch ein Herz bewahrt hat für die jungfriſchen Vorſtöße zur Verinnerlichung und zur Heim- führung unſeres Volkes zu feinen wahren unzerſtörbaren Schätzen durch künſtleriſche Dar- bietungen. Die Jugend, die auf den Schlachtfeldern den Lohn nicht fand, im Reiche der Kunſt wird ſie ihn finden. Hier gibt es nur Aufbau und ehrfürchtiges Streben bei frohem Geben. Geſchäftstüchtigkeit, planmäßiges Irrefuͤhren und gewiſſenloſe Kräftevernichtung im Gegen- einanderwüten der Parteien haben keinen Kurs.

Die Mitglieder der Gümbel-Seiling-Truppe der Frau Maria Haide aus Starnberg, einer Truppe von Laien -Schauſpielern, dabei junge Studenten und Schüler, wollen uns, nad- dem das Schauſpiel an die 500 Jahre aus den Kirchen verbannt war, auf geweihtem Boden das alte Redentiner Oſterſpiel vorſpielen.

Ich habe ſchon am Abend vorher an einer köſtlichen Aufführung Hans Sachſiſcher Komö— dien und Faſtnachtsſpiele durch die Truppe in der Aula eines unſerer RNealgymnaſien meine Freude gehabt. Die Geſtalten des ſelig duſelnden und haltlos ſchmunzelnden Petrus, der ſich auf Erden ungehörig vergnügt hat, und des fahrenden Schülers, der einträgliche Aufträge ins „Paradies“ übernimmt, ſtehn mir noch in ihrer draſtiſchen Komik, wie fie der kindlich künſtleriſchen Freude an den irdiſchen Gebrechen auch der Heiligen, der Einfältigen und Selbſt— gerechten entſpringt, vor Augen. Es war da eine fo friſchzupackende Keckheit in der holzſchnitt— derben Charakteriſierung zum Ausdruck gekommen, daß ſie uns alle erquickt und mitgeriſſen hatte. Die übermütige Laune, mit der dieſen Einfällen ohne alle anſpruchsvolle Umrahmung plaſtiſchſte Geftalt gegeben worden war, hatte fo zündend gewirkt, daß wir allen Elends umher hatten vergeſſen können und wieder an das unverwüſtlich ſchöpferiſche Leben unſeres Volkes zu glauben anfingen. Man ſpürte etwas von jenem Genie, das die Zeitgrößen auf der Welt— bühne fo ganz vermiſſen laffen. Gottlob! fo gab es doch noch unverrottetes Leben, das nicht vor dem Erfolg der geiſtigen Armut am Boden kroch und winſelte; ſo gab es noch deutſches Gut, an das kein Franzos mit feiner hohlfrechen Triumphatorlaune und feiner kulturloſen Sucht, zu zerſtören oder zu beſudeln, herankonnte.

Wie werden dieſe jungen Künſtler fih wohl im Rahmen eines Kircheninnern mit einem bibliſchen Stoff abzufinden wiſſen? Die Frage beſchäftigte mich, wenn ich auch nicht einen Augenblick zweifelte, daß ihrer hingabefähigen Jugend auch dieſes Werk gelingen werde. Ganz

Walter Bähr

Sas Rebentiner Oſterſplel im Som zu Lübce l 197

neue Kräfte mußten ſich hier offenbaren. Hier konnte ein Heiliger ja nicht mehr durch fein Allzumenſchliches intereſſieren. Es galt hier, ſelbſt Menſchen, ja Teufel dem Eindruck des Heiligen dienſtbar zu machen. Nur eigenes religiöſes Fühlen vermag Herzen zum Himmel zu erheben, vermag im künſtleriſchen Geſtalten einem religibſen Drange des Aufnehmenden genug- zutun und verſchuͤttete Empfindungen felbft da wieder zum Leben zu erwecken, wo man fid auf feine glaubensloſe Vernünftigkeit etwas zugute zu tun liebte. Solche Kräfte der Seelen aber follten uns nun mit den geringſten Mitteln ein gewaltiges Geſchehen in ſtilvoller Ab- rundung und Durchdringung ſo vor die Sinne ſtellen, ſollten Licht und Schatten, Humor, Tragik und Erhabenheit in wechſelnden Bildern ohne Sentimentalität fo ineinander verweben, daß der Eindruck ein der Bedeutung des Vorwurfs entſprechender wurde.

Das Bild der nächtlichen Kirche mit dem verſammelten „Volk“ war der würdigſte Rahmen für ein Werk lebensvoller und ſtarker Volkskunſt von der niederdeutſchen Art dieſes Oſterſpiels. Das primitive Bretterpodium füllte das Mittelſchiff unter der Orgel der Breite nach ſo ziemlich aus. Dieſe Bühne empfing ihr Rampenlicht von einer Reihe Kerzen, die auf einem Brett in halber Höhe des Podiums befeſtigt und von einer hinter jeder aufgehängten Papierfahne gegen das Publikum abgeblendet waren. Der Zugang zur Bühne geſchah über Treppen rechts und links von einer Kapelle rechts her. Als einziges Bühnenrequiſit bemerkte man eine dreiſtufige Erhöhung im Hintergrund, die als Grab, Eingang zur Hölle und Sockel für einzelne Gruppen- bildungen dienen konnte. Rund um diefe Bühne herum hatten die Zuſchauer es fidh in Kirchen- ftühlen und Bänken, wie auf allem was eine erhöhte Sitzgelegenheit bot, bequem gemacht. Der Balkon im Nücken der Schauſpieler unter der Orgel war ebenſo beſetzt wie ſeitwärts davon eine noch höhere Galerie dicht unter den Wölbungen der Dede, Die Hauptmenge füllte das lange Mittelſchiff der Kirche, das, von nur wenigen Kerzen durchſchimmert, wunderſam in rötlichgelber Dämmerung verſchwamm, aus der geiſterhaft das rieſige Kreuz vor dem Altar ſich loslöſte. Wer ſich nicht ſehr frühzeitig eingefunden hatte und doch nach vorn vorzurücken wünfchte, mußte ſich vor denen, die ſich bereits eingeniſtet hatten, als erfindungsreicher und verwegener Turner produzieren und über Bühne und hohe Stuhllehnen hinwegklettern. Auch ließ es fih die Nächſtenliebe nicht verdrießen zwar nicht eben Gichtbruͤchige durchs abgedeckte Kirchendach herabzulaſſen, aber doch alte Mütterchen und würdige Gelehrte aus grauenvollem Gedränge über den Feuerkreis der Rampen hinweg in die friedlichen Gründe unter die zum Schauen Beſtellten hinunterzubugfieren. Sicher ſtimmten alle diefe kleinen Vorgänge vor- trefflich zum Geiſt der wackeren Nürnberger Meiſterſinger wie des Dichters unſeres Oſterſpiels und auch zur Auffaſſung und Ausgeſtaltung dieſes Spiels durch die Starnberger Truppe, die endlich, nachdem Orgel und gemeinſamer Geſang die een eingeleitet hatten, ipee Engel vorſchickte. Was foll ich von dem Werke jagen? Dieſes 1464 auf dem zum Kloſter Doberan ge- hörigen Hofe Redentin bei Wismar in Mecklenburg wahrſcheinlich von einem Geiſtlichen ur- ſprünglich plattdeutſch niedergeſchriebene Oſterſpiel ift jedem zugänglich. (Dat öllſte Mätel- börger Oſterſpill von Peter Kalff up Redentyn in heutiges Mäkelbörger Platt överdragen von Guft. Struck, Roſtock 1920. Außerdem Ausgaben von Frybe, Bremen 1874, C. Schröder, Norden und Leipzig 1893 u. a. Der der Aufführung zu Grunde gelegte Text: Ausgabe von Gümbel-Seiling. Leipzig, Breitkopf u. Härtel.) Es gilt als ein Werk, das in bezug auf die kraftvolle Charakteriſierung der Figuren in ſeiner Zeit kaum ſeinesgleichen hat. So wie es hier zur Darſtellung gebracht wurde, übte es eine ſichtlich febr ſtarke Wirkung auf die Gemüter aus. Es war ein Gottesdienſt, wie er eindringlicher nicht wohl gedacht werden kann. Gar manchem werden dieſe Geſtalten unvergeßlich bleiben. So die edelſchlanke des auferſtand enen bartloſen Chriſtus mit dem hoch emporgeſchwungenen langen ſchmalen Kreuz, mit dem weißen Untergewand und dem purpurroten Mantel. Welch ein leidenſchaftlicher Ausdruck hohen Ernſtes und reinſten Wollens glänzte aus ſeinen Augen! Welch eine geiſtige Kraft belebte und

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bändigte feine ſicheren Bewegungen! Wie hell leuchtete dieſe Jugend! Und wie herrlich in Klarheit hintönend war fein Pathos! Die gemeſſenen Bewegungen und Deklamationen der Erzengel, das unbewegliche Hinausſchauen ihrer Blicke, das keine Starrheit war, vielmehr ein Verſunkenſein in ewige Herrlichkeiten verkündete das alles rührte dadurch, daß es wohl an Kirchenſtatuen und Gemälde erinnerte und doch mehr war als fie gegenwärtiges Leben und entzüdte zugleich durch den inneren Adel der ſchönen weißen Geſtalten. Und das um fo eigener, da die kleineren Engel neben ihnen in weißen Kleidern, mit roten Bäckchen, wohl- gekämmt, ganz den ſtumpfen, eigenſinnigen Ausdruck kleiner Bauernmädels hatten, die zu hohen Würden gelangten. Geradezu wundervoll aber wirkte unter den zur Heiligkeit Erlöſten Adam. Ich werde mir den erſten Menſchen künftig als beſeeltes Weſen kaum noch anders als fo vorſtellen können. Michelangelos Verkörperung in der Sixtina ift doch eben nur die Ber- körperung eines Gottesgedankens; hier war alles zum Sichbewußtwerden ringendes Eigen- leben in der Erſcheinung. Die in dieſem ſchweren inneren Ringen etwas vorgekrümmte, noch ungelenke und gleichſam in ihrer Kraft ungelöfte ſtattliche Geſtalt im lila Gewand, die trampf- haft ſich ballenden Hände, die unter einem Heben der Schultern ſich verſteifenden Arme, die ganze in ihrer Derbheit und Herbheit ſchöne und innige Jugendlichkeit des Spielers und dazu dieſe gläubig leuchtenden Augen das alles machte die Heiligung, die Entlaſtung von aller Sünde, eine Seligkeit, die an ſich ſelbſt noch nicht zu glauben wagt, geradezu ſichtbar. Die Stimme aber tönte fo ſonor wie dunkle Feierglocken einfach faſt einfältig. Auch die anderen Heiligen waren ſchön und kraftvoll charakteriſiert. Vor allem noch Jeremias mit dem Theologen- eifer des Propheten und die feingliedrige, durchgeiſtigte Geſtalt Johannes des Täufers, kein Grübler, aber der Aſket in der Wüſte, der große Abner und frohe Verkünder, der fein Blut überwunden hat, der Vorläufer ſeines Herrn.

Und um das Lichte durch die ſchwärzeſten Schatten zu heben, rafte das Höllifche Volk des gefährdeten Luzifer über die Bühne, eine Herde grotesker Fratzen. Er ſelbſt, der Fürft des Böſen, in ſeiner fahlen Häßlichkeit faſt beängſtigend neben dem kleinen in ſeiner keifenden Bösartigkeit poſſierlichen Satan. Und um beide herum das übrige polternde und fauchende Gelichter, geſchwänzt, mit Molchskämmen und ſchwarz wie die Abgründe der Sünde. Selbſt hier aber gab es nirgends zur Manier Gewordenes. Wort, Gebärde, Bewegung muteten überall an wie unmittelbar aus dem Erleben entſprungen.

Zwiſchen den beiden Gruppen aus dem Fenſeits bewegten fih die erdigen Geſtalten der Grabwächter, des Pilatus und der Hohenpriefter, ſcharf und kantig umriſſen, in ihrem Fühlen am Boden flatternd, in ihren Gedanken in das Triviale verſtrickt. Auch die Vertreter dieſer Rollen halfen mit vielem Geſchick das Ganze zum harmoniſchen Kunſtwerk abzurunden.

Es ward wohl jedem Zuſchauer offenbar, daß bei einer Aufführung wie dieſer jede Kuliſſe, als von der Umrahmung durch Kirche und Zufchauer abtrennend, nur als eindruck zerſtörend hätte empfunden werden können. Die Bildhaftigkeit des Menſchenmaterials in ſeinen wechſelnden Gruppierungen genügte für die Verlebendigung der Dichtung völlig.

Als ich durch die Nacht heimging, erfüllte mich eine große hoffnungsvolle Freude. Kann deutſche Jugend die Herzen ſo erheben, ſo braucht uns um ein Wiedergeſunden des Volkes nicht gar ſo bange zu ſein. Eine Durchgöttlichung wird immer nur in wenigen Menſchen vor ſich gehn. Wendet ſich aber eine Kunſt an alles Volk, wie dieſe, ſo wird ihre Segnung wenigſtens allen zuteil werden, die berufen ſind, und ſie wird damit imſtande ſein, dieſe vom Tage zu reinigen und zu erlöfen. Und da bin ich des frohen Glaubens, daß deutſcher Geiſt, der fo erſt einmal geweckt wurde, jeden niederen Feindes endlich Herr werden muß, wälze er ſich nun gierig draußen an den Grenzen auf den billigen Lorbeeren oder drinnen im ſchweißlos er- worbenen Papiergeld herum. Man öffne nur getroſt überall im Lande dieſen Schauſpielern die Gotteshäuſer! | Julius Havemann

| Weltpolitiſche Möglichkeiten Die Sozialdemokratie als Schrittmacherin des Kapitalismus „Illuſionsgewinne der Induſtrie“

n der Nacht vom 10. auf den 11. Mai hat ſich der Reichstag für die IE Annahme des Altimatums entſchieden. Die Begleitumſtände diefes N 2 S hochpolitiſchen Vorganges ſollten fo bald nicht vergeſſen werden. Es

8 war eine Falſtaffiade, wie fie ſelbſt im parlamentariſchen Leben Neudeutſchlands noch nicht geſchaut worden ift. „Schon die Tage vor dem Ent- ſchluß“, ſchildert Dr E. Jenny im roten „Tag“ feine Eindrücke, „boten ein er- bärmliches Schauſpiel. Wo ein Heros reckenhaft hätte emporwachſen müſſen, da machte ſich ein klägliches Gewimmel der Parteizwerge breit. Seit Wochen dauerte es, ohne daß eine Regierung zuſtande kam. In der letzten Nacht vollends ging's zu wie in einem Ameiſenhaufen. Kopflos war das Volk, denn es beſaß keine Regierungsgewalt mehr. Ratlos, hilflos, ohnmächtig lief das Gewimmel durcheinander, das ſich zu einem Entſchluß hätte aufraffen ſollen. Wie auf einer Flimmerleinewand tauchten neue Reichskanzler und neue, bunt zufammen- gewürfelte Miniſterien aus dem Dunkel und verflogen wieder. Ein ausländiſcher Berichterſtatter meldete ſeinem Blatt höhniſch, alle Stunde gäbe es ein neues Kabinett. Niemand wußte mehr aus noch ein.“ ... And dieſes Geſchiebe hin und her, dieſes Aufſtehen und Wiederumfallen, dieſes Gewiſper und Köpfe- zuſammenſtecken in geheimen Klauſen, dieſes Fangballſpiel mit der Verantwort- lichkeit von Partei zu Partei währte ſo lange, bis der Präſident der Republik mit Fahnenflucht drohte und der Außenminiſter andeutete, daß bei weiterem Zögern die von der Entente geſtellte Friſt verpaßt ſein würde. Da endlich, unter dieſem äußerſten Drucke, kam jenes klägliche Ja zuſtande, aus dem die ganze heilloſe Zerfahrenheit unſeres gegenwärtigen Regierungsſyſtems herauszitterte. Denn das konnte ja eine blinde Frau mit dem Krückſtock fühlen: nicht die Sorge um das Reich, ſondern um die Wählergefolgſchaften hat den Geſalbten des Volkes die Entſcheidung ſo graufam ſchwer gemacht. |

Nun ift fie gefallen, und die liebe deutſche Seele wird, wofern keine Zahlungs- ſtockung eintritt, wenigſtens in der Neparationsfrage für das nächſte halbe Jahr Ruhe haben. Es wäre nutzlos vergeudete Zeit, nachträglich über die Gründe des

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Für und Wider zu ſtreiten. Auffallend iſt, daß bei der Erörterung, ob Annahme oder Ablehnung das kleinere Übel ſei, der wirtſchaftliche und ethiſche Ge— ſichtspunkt den weltpolitiſchen ſo völlig in den Hintergrund drängte. Immer und überall ſtand im Mittelpunkt die bange Erwägung: Können wir gegebenenfalls das Diktat erfüllen? Es ſoll hier gewiß nicht für die politiſche Immoral eine Lanze eingelegt werden, aber daß eine Überſpitzung des ethiſchen Gefühls in der Politik ganz und gar unangebracht ift, wird außerhalb der deutſchen Grenzpfähle kein Menſch bezweifeln. Adolf Grabowsky bezeichnet es in der Zeit— ſchrift „Das neue Deutſchland“ ſehr mit Redt als einfach widerſinnig, wenn man bei uns mit Vorliebe deshalb auf England ſchimpft, weil es nur auf ſeinen eigenen Vorteil bedacht ſei. „Eine entſetzlich egoiſtiſche Nation, ſo ſagt man. Als ob die Außenpolitik eines Staates darin beſtände, den Vorteil der anderen wahrzunehmen! Im übrigen ſind es weniger unklare Pazifiſten, die derart reden, als ſtramme Alldeutſche, die für Deutſchland ſelber eine Machtpolitik ſogar zu einer Zeit empfehlen, wo wir gar keine Macht mehr einzuſetzen haben. Vermeine ich, einen Staat zur Vernachläſſigung des heiligen Egoismus bringen zu können, ſo bin ich wahrſcheinlich ein ſehr guter Menſch, aber ſicher ein ſehr ſchlechter Politiker. Die Aufgabe kann vielmehr nur ſein, eine Lage herzuſtellen, in der mein heiliger Egoismus mit dem heiligen Egoismus des anderen übereinſtimmt.“

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Dieſe Aufgabe ift es, an der ſich die deutſche Diplomatie wieder aktions— fähig machen könnte. Zeit dazu wäre es. Denn langſam beginnt ſich der Nebel über dem weltpolitiſchen Chaos zu zerteilen und gewiſſe fejte Umrißlinien treten deutlich erkennbar auf dem bisher verſchwommenen Bilde hervor.

Den Angelpunkt der internationalen Lage bildet die Flottenrivalität zwiſchen England und Nordamerika. Sie drängt, wenn keine Einigung auf ein die Machtverhältniſſe der beiden Wettbewerber ausgleichendes Bauprogramm erfolgt, mit natürlicher Zwangsläufigkeit auf eine gewaltſame Entladung des Intereſſegegenſatzes hin. Die auswärtige Politik Englands ſowohl wie Amerikas zielt darauf ab, ſich durch Bündniſſe für den Kriegsfall zu ſichern. Frankreich als die nunmehr ſtärkſte Militärmacht des Kontinents kommt hierfür in. erſter Linie in Frage. Das Kabinett Clémenceau war bereit, um den Preis der Aus— lieferung Deutfchlands unters engliſche Ehejoch zu kriechen, d. h. den Bündnis— vertrag mit England zu unterzeichnen. Der franzöſiſchen Eitelkeit erſchien aber die Rolle einer Buhlerin begehrenswerter, die ſich ohne feſte Bindung von zwei Kavalieren zugleich aushalten läßt. Ein ſolches dreieckiges Verhältnis, wie Briand es als Nachfolger Clemenceaus als einen rocher de bronze zu ſtabiliſieren ver- ſuchte, liegt aber keineswegs in Englands Sinn. Daher Lloyd Georges graziöſe Fußtritte. Die Zuwendungen aus dem deutſchen Konto werden in dem Augenblick eingeſtellt, wo die Dame Frankreich ernſthafte Neigung zu einem Techtelmechtel mit Waſhington verrät. Es gehört die ganze kleinbürgerliche Einfalt eines Bahl- abendpolitikers dazu, wenn der „Vorwärts“ ſich das Eintreten Lloyd Georges für Oberſchleſien fo auslegt, als habe die mannhafte Haltung der deutſchen Sozial-

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demokratie in der Ultimatumsfrage den engliſchen Staatsmann zu der Einſicht bekehrt, daß es nunmehr an der Zeit ſei, den „Weg der Gerechtigkeit“ zu beſchreiten.

Die Beſetzung des Ruhrgebiets, Frankreichs ſehnlichſtes Ziel, ift durch die Annahme des Ultimatums fürs erſte verhindert worden. Aus dieſer Situation ergeben ſich für die nächſte Zukunft der franzöſiſchen Politik drei Möglichkeiten, die Dr Öftreich, der während des Krieges auf einem Außenpoſten in Südamerika tätig war, knapp und klar wie folgt kennzeichnet:

„Die Franzoſen entſchließen fih, entweder allein gegen Deutſchland vor- zugehen, ohne ſich um die Zuſtimmung Englands, Nordamerikas, Italiens, Bel- giens und Japans zu kümmern, ſich die deutſche Beute zu ſichern und ſich ſo ſchnell wie irgend möglich ſtark gegen jeden Einſpruch der anderen Alliierten zu machen. Der engliſch-nordamerikaniſche Gegenſatz käme ihnen dabei zu Hilfe. Nordamerika würde wohl niemals zugeben, daß England Frankreich zur Ohnmacht herabdrüdt. Andererſeits hätte England ein übermäßiges franzöſiſches Erſtarken zu befürchten und müßte für die Zukunft vorbauen, indem es fih auf dem europäiſchen Feft- lande nach anderen Stützen, und zwar auch gegen Frankreich, umſähe: in erſter Reihe kämen dafür Deutſchland und Rußland in Betracht.

Die zweite Möglichkeit wäre, daß die Clemenceau-Partei ans Ruder käme und das von England vorgeſchlagene Bündnis einginge, das ſeine Spitze gegen Nordamerika richtet. Dann würde Nordamerika genötigt ſein, ſich an Englands und Frankreichs Gegner anzuſchließen, in erſter Reihe außer China an Deutſch— land und Rußland, und fie fo ſchnell wie möglich noch vor der Kataſtrophe aktions- fähig machen. | 5 | Die dritte Möglichkeit wäre, daß Frankreich für Amerika optiert: dann würden wieder England und Italien ſich andere Verbündete ſuchen müſſen, und wieder in erſter Reihe Deutſchland und Rußland.“

Die ganze zukünftige Politik der übrigen Mächte, vornehmlich alſo Japans, Italiens, Belgiens hängt von der Löſung ab, die der engliſch-nordamerikaniſche Gegenſatz und der engliſch-nordamerikaniſche Wettkampf um Frankreich finden. Deutſchland aber, das Ausgleichsobjekt, wird wie ein Seismograph alle Kurven- ſchwankungen dieſes unterjrdifchen Geſtaltungsprozeſſes vorweg an fih verſpüren wie es nun einmal deutſche Art iſt: bald himmelhoch jauchzend, bald zu Tode betrübt. pi z

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Iſt es wirklich richtig, angeſichts der kritiſchen, auf unabſehbar wichtige Entſcheidungen zutreibenden weltpolitiſchen Lage bei unſern Entſchlüſſen immer nur faſt ausſchließlich die wirtſchaftliche Seite der Dinge zu berückſichtigen? Heißt das nicht, mit Inſektenaugen in die Zukunft blicken? Durch das fortwährende angſtvolle Hinſtarren auf den Rieſenberg übernommener Laſten verkümmert das Sehwerkzeug und verſperrt ſich ſelbſt den Ausblick über des Stromes Weiten. Dem Führer der Volkspartei, Dr Streſemann, hat ganz offenkundig das welt- politiſche Gewiſſen geſchlagen und er hat unverkennbar bis zum letzten Augenblick geſchwankt, ehe er ſich unter dem Drud der wirtſchaftstheoretiſchen Ratgeber der Partei zögernd entſchloß, einem verkappten Erzberger-Kabinett die Führung des

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Staatsſchiffes zu überlaſſen, deſſen Steuerung nach feſtem außenpolitiſchen Kurs damit wieder einmal auf lange Zeit hinaus vereitelt iſt.

Die Annahme des Ultimatums ftellt uns nach faſt dreijähriger Verhandlungs- periode vor feſtgefügte, vollendete Tatſachen. Damit ſchwindet aus der öffent- lichen Diskuſſion der Streit um das „Annehmbar“ oder „Unannehmbar“, der die Gemüter ähnlich erhitzt hat wie die Auseinanderſetzung über die Schuldfrage am Kriege. Die Entgiftung der innerpolitiſchen Luft hat alſo einen weiteren Fortſchritt gemacht. Fehlt nur noch, daß wie die Gefolgſchaft der Extremiſten von links auch die derer von rechts zugunſten einer ruhigeren Auffaſſung der Sach- lage abbaut. Der Rechtsradikalismus nährt fih von der Hoffnung, daß wir durch

ein gewaltſames Aufbäumen das Joch der Entente abſchütteln könnten. Die

„Alldeutſchen Blätter“ rieten dem „deutſchen Volke“ noch vor kurzem, es ſolle ſich aufraffen, „den Verſailler Friedensvertrag in Fetzen reißen und den Feinden vor die Füße werfen“. Was foll nun folh unſinniges Beißen in die eiſerne Kette, das dieſer nichts, wohl aber den eigenen Zähnen ſchadet? Ahnliche, faſt ſchon mehr pathologiſch anmutende Äußerungen finden ſich indeſſen immer wieder auch in ſonſt ganz vernünftigen nationalen Blättern. Von der Politik gilt noch mehr als von anderen Gebieten, daß die gute Geſinnung nicht den Mangel an Talent entſchuldigt. Wem das pſychologiſche Augenmaß für die Dinge ringsum ſo ganz abgeht, dem ſollte wenigſtens die Gelegenheit genommen werden, noch andere anzuſtecken. In einer Plauderei „Eine Stunde bei Ludendorff“ berichtet Kurt Borsdorff in der „Oeutſchen Zeitung“ über eine Unterredung mit dem Feldherrn, der dringend vor allen Unbeſonnenheiten innerhalb und außerhalb des Staates warnt. „An Krieg ift nicht mehr zu denken .., auch ein Auflehnen gegen die Entente zwecklos ...“, fo gehen feine Gedankengänge. „Die Sanktionen werden hingenommen werden müſſen, vielleicht bergen ſie den Anfang unſerer nationalen Wiedererweckung.“

Ludendorffs Zeugnis ſollte doch eigentlich genügen. Und im übrigen: die Weltgeſchichte läßt ſich ihren Lauf nicht auf Generationen hinaus vorſchreiben. Das darf uns ein Troſt ſein.

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Der Raditalismus beider Richtungen ſcheint endlich den Höhepunkt feines Erfolges hinter ſich zu haben. Die Maffen find einfach des unholden Treibens phantaſtiſcher Heißſporne müde. Es finden ſich immer weniger Dumme, die gewillt find, illuſioniſtiſche Kaftanien aus dem Feuer zu holen. Ein erfreuliches Zeichen der Geſundung, aber man täuſche ſich nicht darüber, daß der große inner— politiſche Konflikt, der Machtkampf zwiſchen Sozialismus und Kapitalismus, des- wegen noch lange nicht einer Löſung oder auch nur einem Ausgleich näher gebracht ift. Das Ultimatum haben neben dem Zentrum vor allem die Sozialdemo— traten mit ihrer verantwortlichen Unterfchrift gedeckt. Wieweit die übernommene Verpflichtung praktiſch durchgeführt werden kann, bleibe hier unerörtert. Sicher iſt, daß die Sozialdemokratie alles tun wird und muß, um die Verpflichtung zu erfüllen. Dr Paul Lenſch, ein Sozialdemokrat, gegen den zurzeit ein Ausſchluß⸗ verfahren ſchwebt, unterſucht nun in der „Oeutſchen Allg. Ztg.“ die Frage, wohin

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die Sozialdemokratie durch die ihrer harrende Aufgabe geführt wird. Leue die man aus einer Partei entfernt, ſind gewöhnlich weniger von des Gedankens Bläſſe angekränkelt, als es dem hohen Bonzentum um feiner Gläubigen willen lieb ift. Und wirklich verdient, was Lenſch darlegt, Beachtung: „Daß durch ein noch ſo phantaſtiſches Steuerſyſtem, durch deffen Ausbau die Sozialdemokratie hoffen dürfte, die Hauptlaſt von den Schultern der Arbeiterklaſſe abzuwälzen, die Entente- forderungen nicht annähernd erfüllt werden können, darüber iſt ſie ſich ſelber natürlich völlig klar. Wodurch denn aber ſonſt? Nun, durch nichts anderes, als durch einen ſyſtematiſchen Ausbau des Kapitalismus. In der Tat kann nur die rationelle Ausgeſtaltung dieſer Produktionsweiſe, als deren hiſtoriſche Eigenart Marx die unerhörte Steigerung der geſellſchaftlichen Produktivkräfte pries, die Möglichkeit wenigſtens in Ausſicht ſtellen, den übernommenen Ber- pflichtungen gerecht zu werden. Die Einverleibung der modernſten techniſchen und wiſſenſchaftlichen Errungenſchaften in den Produktionsprozeß, die bisher das Zwangsgeſetz nur der Konkurrenz waren, wird in Zukunft auch das Zwangsgeſetz der Politik bilden. Normenbau und Typenweſen, Pſychotechnik und Taylorſyſtem, Dinge, die in letzter Zeit dem deutſchen Wirtſchaftsleben ſich zu nähern begonnen hatten, werden ihm in Zukunft das Gepräge aufdrücken. Und alles das unbeeinflußt von ſozialiſtiſchen oder ſozialiſierenden Eingriffen, ſondern lediglich geſtellt unter den einen Geſichtspunkt: Steigerung der Produktion, und zwar nicht um den geſellſchaftlichen Reichtum in Oeutſchland, ſondern um ihn in den Gebieten der Landesfeinde zu heben.“

Dieſe trübe Vorausſage, deren Erfüllung eine tiefe geſchichtliche Ironie bergen würde, hat viel Wahrſcheinlichkeit für ſich.

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Sollen wir uns darüber freuen, die Sozialdemokratie in einen tragiſchen Zwieſpalt gedrängt zu ſehen, dem ſie eigentlich nur durch ihren Rückzug aus der Regierung entrinnen kann? Wem nicht das Wohl der Partei über das des Reiches geht, wem die Überwindung des inneren Haders und das Verwachſen zur Volks- gemeinſchaft ſehnlichſtes Ziel ift, und wer da wünſcht. daß Deutſchland dermaleinſt wieder nach außen hin bündnisfähig werde, der wird dieſe Frage aus vollem Herzen verneinen. In der ſoeben beendeten Phaſe des Ringkampfes hatte der ſozialiſtiſche Gegner das Übergewicht; in der kommenden wird vorausſichtlich das großkapitaliſtiſche Unternehmertum die Vorteile auf ſeiner Seite haben.

Der Handelsteil der Blätter bietet gerade jetzt in den Abſchlußberichten des verfloſſenen Geſchäftsjahres ein Spiegelbild der geradezu wüſten Profitorgien, die ſich auf den Trümmern unſerer Wirtſchaft ausgetobt haben. Die Nutznießer all dieſer Rieſengewinne auf Koſten der Allgemeinheit ſind doch leider nicht nur in den Geſinnungskreiſen des „Berliner Tageblatts“ zu ſuchen. Auch innerhalb der Rechtsparteien machen ſich mächtige Gruppen und Kliquen breit, die ihren Sonderbeſtrebungen mit naiver Selbſtverſtändlichkeit das nationale Mäntelchen umzuhängen wiſſen. Nur ſo iſt es auch zu verſtehen, wenn der Arbeiter ſtets geneigt iſt, in jedem Angehörigen der nationalen Parteien ſo etwas wie einen Kapitaliſten zu ſehen, obwohl die kapitaliſtiſche Oberſchicht an ſich ziffernmäßig

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nur einen geringen Bruchteil der Parteien darftellt. Im direkten Mißverhältnis

hierzu ift feit der überhaſteten Neugeſtaltung des Rechtsflügels in den November

tagen der Einfluß dieſer Gruppe auf den Geſamtapparat ſtändig gewachſen, ſie iſt es, die mehr oder minder offen unter fortwährender Hervorkehrung des wirtſchaftlichen Momentes die allgemeine Marſchroute regelt. Es läßt ſich recht wohl denken, daß bei andersartiger, gerechterer Machtverteilung Poſi— tiveres, eine wirkliche Aufbauarbeit, hätte geleiftet werden können. Das beſitz— loſe Bürgertum, ohne deſſen Stimmenzahl die Wirkungsmöglichkeit der Nechts- parteien auf ein Nichts zuſammenſchrumpfen würde, hat ſich dieſen doch nur angeſchloſſen im Vertrauen auf die zielbewußte Innehaltung einer wahrhaft „deutſchen“ und „nationalen“ Politik, und ſicherlich auch ohne zu ahnen, daß von Partei wegen jemals das Geſamtwohl des „Volks“ zugunſten der Erſtarkung einer Oligarchie von Geldſacks Gnaden hintenangeſtellt werden könnte. Unter dem ſkrupelloſen Ausbeutungsſyſtem des Unternehmertums während der Verfalls— zeit hat das nichtkapitaliſtiſche Mitglied der Rechtsparteien genau ſo zu leiden gehabt wie der Sozialdemokrat, und es iſt nur erſtaunlich, mit wieviel größerer Lammesgeduld der „Bürger“ dieſem ſchädlichen Treiben bis heute zuſchaute. All- mählich freilich beginnt es denn doch in den Köpfen zu dämmern. Warum alſo nicht offen ausſprechen, was iſt? Es ſei aus einer Anzahl von Zuſchriften nur eine er— wähnt, die typiſch für alle dem hier berührten Zwieſpalt Ausdruck verleiht: „Die Porzellanfabrik Fraureuth A.-G.“, ſchreibt uns ein Leſer, „hat im letzten Jahre (in Klammern ſtehen die Zahlen des Vorjahres) einen Bruttogewinn von rund 1900000 (465000) erzielt. An Abſchreibungen wurden gebucht 695000 M (147700). Der Reingewinn betrug rund 1 206000 & (320000), die Dividende 55% (25%). Von einer anderen Porzellanfabrik wurde mir glaubhaft berichtet, daß fie 55 nu verteilt, dazu noch eine Aktie zu 1000 S6 geſchenkt habe.“ And er fährt fort: „Solange unfer Volk bei Gegenſtänden des täglichen Bedarfs in dieſer ſchamloſen Weiſe bewuchert und ausgeräubert wird, haben wir kein Recht, in den Forderungen unſerer Feinde etwas Angewöhnliches, Ungeheuerliches, Ber- brecheriſches zu erblicken.“

Der Schreiber meint offenbar, es handle ſich um Ausnahmefälle. Er irrt. Wenn der Raum zur Verfügung ſtände, könnten wir Hunderte ähnliche oder noch viel ſchlimmere Dividendenergebniſſe aufzählen, wie fie die Hochflut der Geſchäfts— berichte noch täglich heranſpült. Überall das gleiche: trotz Einſchränkung der Pro- duktion ſind durch ungeheuerliche Preiserhöhungen größere Gewinne erzielt worden, als es relativ ſelbſt vor dem Kriege bei voller Ausnutzung der Betriebe der Fall war. Unzählige Firmen befinden ſich offenſichtlich in tödlicher Verlegenheit, wo ſie überhaupt mit ihren phantaſtiſchen Gewinnen bleiben ſollen. Die Schiffswerft und Maſchinenfabrik C. Tecklenborg A.-G., Bremerhaven beiſpielsweiſe hätte etwa 50% Dividende verteilen müſſen. Um dies zu verſchleiern, erhielten die Stamm— aktionäre dividendenberechtigte Genußſcheine in Höhe von 3 Willionen nominal geſchenkt. Danach verblieben nur noch 25 % Dividende. Die Berlin— Subener Hutfabrik A.-G., Berlin, verteilte eine Dividende ſamt Bonus mit 46 9%. Das erſchien den Herren Aktionären zu wenig, weil nicht in Einklang ſtehend mit

Tuͤrmers Tagebuch 295

dem Reingewinn! Sie bekamen daher ein Pfläfterhen in Form einer Kapital- erhöhung von 5 Millionen Mark. Die neuen Aktien werden zu pari, alſo zum Nennwert, den Aktionären angeboten. Da der Kurs der alten Aktien am 30. März auf 858 ſtand, können fie alfo zu ihren 46% Dividende fih ebenfalls noch die Möglichkeit verſchaffen, weitere Tauſende von Mark durch Verkauf der neuen Aktien an der Börſe „hinzuzuverdienen“. Sämtliche Maſchinen, die 4 Gebäude und die 2 Grundſtücke ſamt Geräte und Fuhrwerk ftehen nur mit 1 zu Bud, Die Firma kann infolgedeſſen Abſchreibungen überhaupt nicht vornehmen... Aber das alles find ja „Illuſionsgewinne der Induſtrie“, belehrt uns der Göttinger Profeſſor Felix Bernſtein in der „Voſſ. Ztg.“. „Sie ſind zum großen Teil Zerſetzungsgewinne einer kranken Volkswirtſchaft. Sie ſind der Niederſchlag einer teilweiſen Rückſtrömung in den großen Verluſtſtrom, welcher infolge der fortſchreitenden Geldentwertung die Subſtanz unſeres Volksvermögens zu un- wiederbringlichen Teilen ins Ausland hinausſchwemmt.“ Zerſetzung ja, hingegen Illuſion? Will uns der Herr Profeſſor Bernſtein etwa weismachen, daß die ge- bündelten Tauſender, die in den weiten und geheimnisvollen Taſchen eines Drohnen- heeres nichtstuender Aktionäre verſchwunden find, ins Reich der „Illuſionen“ gehören? Nein, dieſe Auslegung verſchleiert den klaren Sachverhalt, trübt und

verwäſſert ihn. j P x

%

„Obwohl ich Anhänger der Mittelpartei, alfo deutſch- national bin, kann ich nicht ſelten den Kampf der Linksparteien gegen den Kapitalismus verſtehen.“ So ſchließt die oben zitierte Zuſchrift. Viele, die gern in Lumpen gehen würden, wenn ſie der „deutſchnationalen“ Idee dadurch auf die Beine helfen könnten, denken das gleiche. Allein ſie ſind ja nur Stimm- vieh, auf das der Rat der Großen überlegen herabſieht. Das beſitzloſe Bürgertum ift lange Zeit hindurch der geduldige Schleppenträger. des Kapitalismus geweſen. Es hat ſich ſeit der Revolution mit Recht den wilden Sozialiſierungsbeſtrebungen der Arbeiterſchaft als einer für unſer Wirtſchaftsleben höchſt bedenklichen Pferdekur widerſetzt. Andererſeits aber hat es keinerlei Veranlaſſung, den kapitaliſtiſch en Zug zu unterſtützen, den ein kleiner aber mächtiger Kreis der Politik der Nechtsparteien immer nachdrücklich er aufzwingt.

ne

Wahres Chriſtentum

n andrer Stelle dieſes Türmerheftes hat der Leſer Gelegenheit, in die verhetzte Seele eines weſtſchweizeriſchen Geiſtlichen einen Einblick zu tun. Hier laſſen wir nun, aus dem Munde amerikaniſcher Quäker, wahres Chriſtentum, das Chriſtentum helfender, ſchöpferiſcher, tatkräftiger Liebe, zum Ausdruck kommen. Der Brief diefer für Deutſchland ſo hilfstätigen Quäker (Verfaſſerin: Joan Mary Fry) ſteht in der „Frankfurter Zeitung“. Es heißt darin: „Wir ſtreben nicht danach, Anhänger für ein beſtimmtes Glaubensbekenntnis zu ge- winnen oder jemand zum Anſchluß an unſere beſondere religiöfe Gemeinſchaft zu ver- anlaſſen; vielmehr wollen wir die Menſchen davon überzeugen, daß das Chriſtentum praktiſche Geſinnung iſt und in ſie dringen, nach dieſem Glauben zu handeln. Wir ſtreben nach der Erfahrung und finden ſie durch dies beſtätigt, daß es möglich iſt, in dieſer Welt unter der Vorausſetzung zu leben, daß Liebe ſtärker iſt als Haß und daß alle Menſchen in Wahrheit Söhne eines Vaters find, deffen Weſen Liebe ift... Weil Jefu Leben und Lehre für uns die einzige prat- tiſche Löſung der Schwierigkeiten des Daſeins in der materiellen Welt bedeuten, wünſchen wir allen Menſchen innig die Er- fahrung der individuellen Verbindung mit dem Urquell aller Liebe, die man ‚Bewußt- fein der Gottes- Gegenwart“ nennen könnte. Dieſes Bewußtfein, welches wir auch als ‚das innere Licht‘ bezeichnen, iſt jeder Menſchenſeele erreichbar. Dies zu erfahren, heißt eine neue Stellung im äußeren Leben einnehmen, neue Macht darüber gewinnen, und ift ein ſtarker Anſporn, diefe zur Offen-

barung göttlicher Liebe und Schönheit zu verwenden.

„In einer Welt jedoch, wo wir tatſächlich eng mit unſern Mitmenſchen verbunden ſind, genügt es nicht, dieſe Erfahrung bloß als Einzelweſen zu machen: ſie muß und kann vielmehr in Gemeinſchaft gewonnen wer- den, und wir halten es für die wahrſte An- dacht, wenn ſich eine Gruppe von Perſonen bereithält, zuſammen zu warten, um dieſe gemeinſchaftliche Verbindung mit Gott zu finden. Wir glauben, daß es dazu nicht der Vermittlung eines Prieſters oder geſchulten theologiſchen Lehrers bedarf; eher würde eine ſolche Einrichtung die Wirkung des göttlichen Geiſtes hindern; allerdings aber müſſen wir uns in einen Zuſtand ſchweigender Auf- nahmefähigkeit verſetzen. Dieſe Andacht, im beſten Fall, ſtellt eine ſeltſame Verbindung äußerer Ruhe und tiefinnerlicher Aktivität dar, die fih nicht leicht beſchreiben läßt und die nicht ohne ſtarke Seelenanſpannung er- reichbar ift. Ein jeder andächtige Teilnehmer muß danach ſtreben. Denn ſie iſt etwas weit anderes als eine Gruppe von Einzelerfah- rungen in Gemeinſchaft: es ift keine mecha- niſche Vermengung, ſondern eine organiſche Verſchmelzung geiſtiger Erfahrung, ein kor- poratives Empfinden des Söttlichen, wobei menſchliche Unterſchiede in einer tieferen Ein- heit untertauchen, wo menſchliches Wollen eins wird mit dem Willen des Geiſtes und die ganze Verſammlung zu einem Inſtrument für den Gebrauch der erlöſenden Kraft der Liebe ſelbſt wird. Die Kraft einer ſolchen geiſtig verſch molzenen Genoſſenſchaft zu [höp- feriſcher Arbeit ift von weit größerer Inten- fivität als die Kraft einer Anzahl unver- bundener Perſönlichkeiten.

Vielleicht ift es eben diefe Art von An-

Auf ber Warte

dacht, deren Sie hier in Deutfchland bedürfen und die Sie ſuchen ſollten als einen der mächtigſten Faktoren jenes neuen geiſtigen Lebens, welches ſich gerade jetzt in Ihrer Mitte entfaltet, noch kaum ſeiner Kraft bewußt. Vielleicht bedarf es gerade jenes Sinnes der Hing abe an die Liebe, der die notwendige Vorbedingung iſt zur Erfahrung der Führung durch die Liebe. Ein Akt des Willens, des Glaubens, des Hoffens iſt erforderlich, damit die Kinder des Lichts in Ihrem Land fih nach ihrer Weiſe ver- binden zu einer gemeinſamen Erfahrung weltüberwindenden Lebens. Der Ruf, den wir hinausſenden möchten, heißt nicht, ſich einer Sekte anſchließen, nicht eine neue Kirche gründen, ſondern jene Mittel an- wenden, welche die Seele zum Bewußtſein ihrer wahren Beziehung zu Gott und Menſch führen können und das Chriſtentum nicht zu einem Glaubensbekenntnis ſondern zur freudigen Verwirklichung ‚bes Weges, der Wahrheit und des Lebens“ machen.

„Viele Leute fragen oder haben gefragt, warum die Quäker vor andern aus den fo- genannten feindlichen Nationen nach De utſch- land gekommen ſeien. Die Antwort iſt eine doppelte: Einmal, weil es ja’ eine unſerer Grundanſchauungen ift, daß in allen Men- ſchen, welcher Naſſe oder Nation auch an- gehörend, der Same des göttlichen Lebens von dem Vater der Liebe eingepflanzt iſt, daß darum alle Menſchen Brüder und als ſolche zu behandeln ſind, nicht bloß in der Theorie, ſondern wirklich in der Praxis, daß darum kein Menſch als Feind angeſehen werden darf oder als außerhalb des Bereichs der Hilfe und des Dienſtes der andern Mit- glieder der Brüderfchaft ſtehend. Und zwei- tens, weil das Weſentliche der Brüderlichkeit eben darin beſteht, denen zu Hilfe zu kommen, die in Not ſind, und eben da, wo es an Liebe und nötiger Oienſtleiſtung fehlt, eine Fülle davon auszugießen.

„Mit ſolchen Gedanken etwa reichen wir unſern deutſchen Freunden die Hand. „Freunde“ ſagen wir, nicht in einer engen kirchlichen Umzäunung, von Glaubensbekennt- niſſen umgeben, ſondern draußen in der großen

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weiten Welt Gottes, wo ſein Geſetz der Liebe immer weiterwirkt, ſobald die Menſchen ſich dieſer tragenden Kraft anvertrauen wollen, wie der Schwimmer ſich dem tragenden Ozean anvertraut“

In dieſem Briefe amerikaniſcher Chriften - ſteckt in aller manchmal befremdlichen Aus- drucksweiſe nicht nur religiöſe Weisheit, ſondern auch praktiſcher Sinn, der ſich einmal ſogar an einer hier nicht mitgeteilten Stelle in den Ausdruck „Methode Jeſu“ verdichtet. Der Pfarrer aus dem „neutralen“ Genf ſollte dieſes Schreiben aus dem uns politiſch feindlichen Ausland durchdenken.

*

Nachklang zum 19. April 1921

De deutſche Kaiſerin ward unter der Teil- nahme aller Volkskreiſe im Park von Sansſouci beigeſetzt. Und jener trauer- umflorte Sonnentag bedeutet den erſten öffentlichen Schritt zum Wiederaufſtieg eines königlichen Deutſchlands der Herzens- einheit, eines Herzogtums der neuen euro- päiſchen Mitte vorausgeſetzt, daß die von rechts und die von mitten den Anſchluß nach links finden können. f

Der 19. April hat die ganze Geelen- barbarei unſerer Parteiregierung enthüllt. Kein amtliches Wort der Teilnahme und erſt recht kein Erlaß über die innere Teilnahme der führenden Männer des „Volkes“ und Staates! Sogar Hemmungen und offenbare Verhöhnung: kein ehemals königliches Ge- baude in Potsdam und Berlin, wo doch die tote Landesmutter dreißig Jahre lang zu Hauſe war und wo ſie viel Gutes, nie Böſes an ihrem geliebten deutſchen Volk getan, kein Schloß trug Fahne halbmaſt oder Trauerflor! Diefe Gefühlsroheit iſt nicht auszudenken. Die Verantwortung trägt Herr Lüdemann, derſelbe Herr, der durch ſeine Leute den Glinicker Zollernprinzen für geiſtes⸗ krank erklären laſſen wollte, um für „ſeinen“ Staat Rieſenlandbeſitz zu enteignen.

Kultusminiſter Häniſch verbietet die öffent- liche Teilnahme der Schulen Großberlins an den Leichenfeierlichkeiten in Potsdam. Er

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verbietet es ſogar zweimal und fordert vollen Unterricht am 19. April! Auch auf Schulen dürfen Fahnen nicht halbſtock geſetzt werden. Keine Anweiſung an die Schulen über ein Wort der Andacht, etwa zu Beginn oder zum Schluß des Unterrichts! Abends wird in der Staatsoper die ehemals königlich war und in der ſich nun feiſte Schieber auf den Fürften- ſitzen wälzen „Cavalleria rusticana“ und „Bajazzo“ gegeben! Das ift dasſelbe Bild wie am Abend des 9. November 1918, wo die „befreite“ Jugend über die Leiche Deutjch- lands tanzte, dasſelbe Bild wie in Weimar, wo der Zyniker Erzberger ſein Sprüchlein über den Zuſammenbruch niederſchrieb: „Erſt tu dein’ Gady’, dann trin? und lady 1“ (Oder ſchrieb er's umgekehrt?)

Am 19. April wallfahrteten ungezählte Tauſende nach dem Trauerpark von Sans- fouci wo einſtmals der Große Fritz gelebt, gedacht, geſorgt und groß gehandelt —, zogen in endloſem ſchwarzen Zug der Dankbarkeit und des frommen Glaubens an der toten Kaiſerin vorüber: es war ein tief ergreifendes, erſchütterndes Bild. Und ebenſo ergreifend, wie die alten ſiegreichen Feldmarſchälle und Generale geehrt wurden ſelten ſind ſoviel Tränen der Trauer und der Hoffnung in- einander gefloſſen ... Dieſe Tränenſaat wird gute Ernte tragen.

Die Regierung des Interregnums, die bei Liebknechts Totenfeier alle Räder in Berlin ſtehen ließ, hätte ſich geehrt und hätte ihre Stellung gefeſtigt, wenn ſie am 19. April einfachſte Anſtands- und Menſchen— pflicht erfüllt, wenn ſie Achtung vor Leid und Tod geoffenbart hätte.

Der 19. April bedeutet nicht etwa die Hoffnung auf einen neuen Hohenzollernkönig der Traum ift wohl vorläufig ausgeträumt. Auch wir von „rechts“ ſehnen uns weder nach einer Wiederholung des Geſtrigen, ſondern wir verlangen nach einer ſeeliſch reinen und ſtarken, innerlich könig haften Per- ſönlichkeit als „Repräfentation“ der Volksidee. Die Tote im Park von Sansſouci war ſolch eine mütterliche Königin; und zu ihr wallfahrtet in ſolcher Erkenntnis ſeit dem

19. des Oſtermonds in langen Zügen das

Auf der Warte

dankbare deutſche Volk und offenbart damit feine geklärte Königsſehnſucht. Wilhelm Schwaner

Adolf Harnack

feierte dieſer Tage (7. Mai) ſeinen 70. Ge— burtstag. Dieſer Sohn eines Theologie— profeſſors aus Dorpat begann ſeine Laufbahn als Kirchenhiſtoriker an der Univerjität Leip— zig, kam 1879 nach Gießen, 1886 nach Mar- burg und gleich danach (1888) nach Berlin, wo er zu den höchſten Stellen emporſtieg. Soll man ſeine Titel und Ehrungen alle auf— zählen? Er wurde Doktor der vier Fakultäten, Mitglied der Akademie der Wiſſenſchaften, Generaldirektor der Staatsbibliothek, Präſi— dent der Kaiſer-Wilhelm-Geſellſchaft zur För- derung der Wiſſenſchaften, Wirklicher Ge- heimer Rat mit dem Titel Exzellenz, Kanzler des Ordens Pour le mérite für Wiſſenſchaft und Künſte und erhielt den erblichen Adel... Nach diefer Seite hin alfo ein echter Vertreter des glänzenden kaiſerlichen Deutjchlands, einer unfree wahrhaft bedeutenden Gelehrten von europäiſchem Weltruf. Ihn zeichnet, neben dem raſtloſen Fleiß und Sammeleifer, vor allem die Fähigkeit des denkenden Geſchichts— ſchreibers aus: die Fähigkeit, ſich in große Zuſammenhänge hineinzufühlen und ſie mit entſprechender Klarheit großzügig und feſſelnd darzuſtellen. Sein dreibändiges „Lehrbuch der Dogmengeſchichte“, das feinen Ruf be- gründete, iſt juſt in den Jahren erſchienen, da das Wilhelminiſche Zeitalter begann (1886—1890). Und man verzeichnet dabei gern: es iſt noch ein Verdienſt Bismarcks, daß der große Gelehrte auf das Berliner Arbeitsfeld gerufen wurde. Durch dieſe Be— rufung wurde der Streit um das Apoſtolitum in den neunziger Jahren unter Harnacks Mit- wirkung beſonders lebhaft und fruchtbar; fein vermittelnder Liberalismus ſuchte bejtimmen- den Einfluß nach rechts und links auszuüben. Das Apoſtolikum beſteht noch in der preußi- ſchen Agende, hat aber mehr liturgiſchen Cha— rakter als dogmatiſchen Zwang.

Am meiſten geleſen von Harnacks Büchern iſt ſein „Weſen des Chriſtentums“. Es iſt

Auf der Warte

merkwürdig, daß dieſes Werk, das weit bis in die Laienwelt hinein verarbeitet wurde, grade um die Jahrhundertwende erſchienen iſt. In jenen Jahren wirkten neben Harnacks

Vorleſungen noch zwei Bücher in ähnlichem

Sinne: ganz links Häckels „Welträtſel“, ganz rechts Chamberlains „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“.

So iſt Exzellenz von Harnack, der zugleich ein hervorragender Organiſator oder Ord- nungsmeiſter und geiſtvoller Redner iſt, als Fachmann wie als Perſönlichkeit ein wahrhaft würdiger Vertreter deutſcher Wiſſenſchaft und Weisheit. Die ſchematiſche Entlaſſung vom Amte („Altersgrenze“) hat auch dieſen be- rühmten Mann getroffen; aber er hat noch Arbeit und Würden genug. Seine For- ſchungen aus dem Gebiete des Urchriſtentums hat er ſoeben gekrönt durch ein umfangreiches Werk über Marcion (Leipzig, Hinrichs), deſſen Stoff ihn lebenslang beſchäftigt hat.

Wenige Laien ermeſſen, wie ſchwer es iſt für einen theologiſchen Forſcher erſten Ranges, ſeine Schüler zwiſchen Orthodoxie, Pietismus und Liberalismus, zwiſchen Naturwiſſenſchaft

und hiſtoriſcher Kritik, zwiſchen Religion des Herzens und kirchlicher Politik und Dogmatik ſicher hindurchzuführen. Dazu gehört ſtarke menſchliche und ſynthetiſche Kraft. Und Harnack gehört zu den wenigen Bedeutenden, die jeder in ſeiner Art dieſe vielfältige Aufgabe in ein Ganzes zu vereinigen wußten.

*

Marcionismug

as ift das? Scheinbar eine ketzeriſche

Religion der erſten chriſtlichen Jahr- hunderte. Aber in Wirklichkeit iſt das Problem, das dabei im Mittelpunkt ſtand, gerade heute wieder lebendig.

Im Anſchluß an Harnacks neues Buch ſpricht darüber in der „Chriſtlichen Welt“ (Nr. 18) Adolf Jülicher:

„Worin beſteht nun die religiöfe Eigen- tümlichkeit des Marcionismus? Er ift die ſchroffſte Reaktion gegen den jüdiſchen Geiſt, der im Chriſtentum der Großkirche zurüdgeblieben war; eine Reaktion, die nicht

Der Türmer XXIII, 9

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bloß mit dem wirklichen Paulus das jüdifche Heilsprinzip: „Aus gerechten Werken“ zu- gunſten eines neuen: „Aus Glauben“ oder „durch Gottes Gnade allein“ verwirft, ſondern keine Außerung jüdiſcher Frömmigkeit, auch nicht die der herrlichſten Pfalmen oder der größten Propheten als Frömmigkeit mehr gelten läßt. Nicht nur die Religion des Neuen Teſtaments iſt eine andre als die des Alten, ſondern der Gott des Neuen iſt ein andrer als der des Alten, die Moral iſt eine andre; und immer liegt nicht bloß ein Unterfhied der Stufen vor, ſondern ein Gegenſatz im Weſen. Der Gott des Evan- geliums iſt gut, er iſt die Güte, die Liebe, und nichts als dies; der Gott des Geſetzes ift gerecht, d. h. die Gerechtigkeit des Ber- geltens nach dem Grundſatz „Auge um Auge. Zahn um Zahn‘, eine Gerechtigkeit, die aus Selbſtſucht ſtammt und dem Eigennutz dient, wie bei dem altteſtamentlichen Gott jo bei feinem Lieblingsvolk, den Juden. Dieſe Gerechtigkeit ſchlägt notwendig bald in Grauſamkeit um, bald in willkürliche Be- vorzugung von Lieblingenz erlaubt doch der Judengott feinem Volk, Agypter und Kana-

aniter zu beſtehlen trotz feines eignen ſiebenten

Gebotes!“

Kurz: der Lefer wird mit Erſtaunen feft- ſtellen, daß hier bereits (um 150 n. Chr.) Forderungen erhoben werden, die jetzt im ſogenannten „Deutſchchriſtentum“ wieder le- bendig ſind. Bei Marcion aber er war ein reicher Schiffsreeder aus Sinope am Schwar- zen Meer geſchah dies merkwürdigerweiſe im Anſchluß an Paulus. Für ihn und ſeine Anhänger iſt der Heiland etwas völlig anderes als der von den Juden erwartete Meſſias: „Er iſt der Erlöſer ſchlechthin; er erlöſt ſie nicht wie der JFudenmeſſias, für einen Gottes- ſtaat, wo ſie wieder ein Ausbeutungsobjekt für ihren Schöpfer Souverän ſein würden, ſondern für ein Dafein, das in allem, auch in den ſittlichen Idealen, dieſem irdiſchen entgegengeſetzt, nicht einmal mit dem Worte „Geiſt“ richtig umſchrieben, nur als gut fein, Güteſein, Liebeſein wo der gute Gott alles in allen iſt bezeichnet

werden kann.“ So kommt Marcion zu einer 15

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Art Mythos: der Schöpfer der irdiſchen Welt (der Demiurg) ift nicht der eigentliche all- umfaffende große Gott, von dem der Hei- land herkommt, ſondern ein untergeordnetes Weſen

Doch wir brechen ab. Ein Hinweis auf jene fernen Gedankenſtröme bei Marcion, im Manichäismus, im Gnoſtizismus iſt nur inſofern für die Allgemeinheit wichtig, als wir ſelber jetzt wieder in religionsphiloſophiſchen

Kämpfen ſtehen und neue Reinheit religiöfen .

Empfindens aus dem Materialismus heraus-

zuarbeiten ſuchen. *

Luthertage am Fuße der Wart- burg |

in glänzendes, großzügiges Programm!

Glockenläuten, Feſtzug auf die Wart- burg, Gruß eines Bläſerchors vom Bergfried herunter, Kurrendegeſang auf den Plätzen, Feſtreden am Denkmal, in den Kirchen und in feſtlich übervollen Sälen, und am Abend Lienhards Feſtſpiel „Luther auf der Wart- burg“. Dazu Tagung des Evangeliſchen Bundes und der Luthergeſellſchaft, geiſtgefüllt alles, voll Sehnſucht alles nach reineren, ſtärkeren Zeiten, Menſchen und Völkern, in denen wieder das Gotteswort eine Kraft be- deutet, und vor allem nach einer genialen Führerperſönlichkeit. Dieſe eigenartige Miſchung von hiſtoriſcher Rückſchau, betender Emporſchau und hoffender Ausſchau gab dem Ganzen eine wuchtige Geſamtbedeutung, wobei freilich der Himmelfahrtstag ein wildes Schneegeſtöber herabwirbeln ließ, als wollt’ er andeuten: Es ift noch nicht Zeit zum Feſte⸗ feiern, ihr Deutfchen!...

Um 11 Uhr abends, zur ſelben Zeit, als vor 400 Jahren Luther die Burg betrat, leuchtete das Kreuz in die Nacht, und die Glocken der Stadt Eiſenach wurden geläutet. . . . Und in Berlin, in denſelben Tagen, das Ultimatum der Entente und im zerriſſenen Parlament tobendes Geſchwätz! Haben wir zweierlei Deutſchland? Welches wird ſiegen?

*

Auf der Warte

Neudeutſche Gemeinſchaftsſtätte

OL" Schloß Elgersburg i. Thür., mitten im Herzen Deutſchlands, umrauſcht

vom ragenden Tannenwalde, umweht von

heilender Bergesluft, hat fidh die „Neudeutſche Gemeinſchaftsſtätte“ ihr Heim geſucht. Auf der alten Elgersburg, die ihm in verſtehender und hochherziger Weiſe von dem jetzigen Be- ſitzer, Herrn General v. Welck, zur Verfügung geſtellt wurde, hat der ehemalige Pfarrer Emil Engelhardt, bekannt durch ſeine treffliche Fichte-Ausgabe und neuerdings durch ſein Werk über Tagore, den Verſuch gewagt, ein Familienaſyl zu ſchaffen, d. h. einen Ort, wo alle diejenigen, welche der Rube und Erholung bedürfen, wirklich daheim und geborgen ſind, wo ihnen durch Aus- und Anſprache, durch Kunſt und religiöfe Führung eine Richtung und ein Ziel gegeben werden ſoll. Die großen, lichten Räume des prächtigen Schloſſes ſchon verleihen der weltmüden Seele eine innere Helle und ſammelnde Einkehr. Alkohol und Tabak werden nicht geduldet, das Rauchen wenigſtens nur in beſchränktem Maße; auch neigt die Richtung dem Vegetarismus zu. Die Hauptſache aber bleibt der innere ſeeliſche Wert, der Mut des Bekenntniſſes und der Abſeitigkeit.

Am 1. Mai, während über Deutjchland drohende Wolken hingen, fand die Burgweihe

ſtatt. Abends zuvor wurden die Gäfte im

großen Saal empfangen. Es gab Muſik für Violine und Klavier, Lieder zur Laute, ge- meinſchaftliche Volkslieder. Emil Engelhardt legte ſodann in teilweiſe treuhumoriſtiſcher Form Rechenſchaft ab von den Zielen, die er bereiten möchte, ſchilderte die Entſtehung des Planes und das Glück des Findens einer Heimſtätte. Der Schloßherr übergab dem neuen Mieter die Burg in bewegten Worten für ſein neues gutes Werk unter dem Segens— wunſche, der am Eingang zum Hofe prangt: Treu dem Herrn!

Der 1. Mai wurde durch eine Morgenfeier begonnen, in welcher Engelhardt ſeine reli— giöſen Ziele darlegte, welche hingerichtet ſind auf ein Erwachen der inneren Kräfte, auf ein Hinneigen zum Ewigen und Alleinen, auf

Auf der Warte

Erweckung der Ehrfurcht und Zuverſicht alles im Sinne Fichtes, den fih die Burg- gemeinde zum Paten erkoren hat. Späterhin gab ein kurzer Vortrag über „Deutſchlands SGeiſtesaufgang“ noch weitere Aufſchlüͤſſe, namentlich auch im Hinblick auf ein neues, gefeſtigtes, verinnerlichtes Deutſchtum, das ſeiner großen Sendung bewußt werde: zu beſeelen, zu verbinden, zu reinigen, geiſtig zu erſtarken.

Nachdem am Vorabend ſchon Lulu von Strauß und Torney durch Vorleſung einiger ihrer ſtarken Balladen erfreut hatte, ſprach der bekannte Schriftleiter der „Täglichen Rundfchau“, Dr Manz, verſchiedene Dichtungen neuer Poeten (Ina Seidel, Münchhauſen, Lienhard, Flex, und ein humoriſtiſches Kapitel aus „Jürn Jacob Swehn, der Amerika- fahrer“), während draußen der Abend über die Berge kam und in die hohen Balkonfenſter dunkelte. Dazu wieder Lautenlieder und eine Violinſonate von Händel. Kerzen brannten auf den Tiſchen, und man fand Menſchen, die in den Pauſen auch ſchon miteinander ſchweigen konnten

Möge das edle und verheißungs volle Werk, das ſich hier bereitet, ſich entfalten und zu ernſter und früchteſchwerer Reife gedeihen! Der Anfang war voll Ertrag und Hoffnung. 2 E. L. Schellenberg

Bloß keine Einigkeit!

D- Tiroler Volk hat ſich faſt einmütig zu dem Anſchluß an das Reich bekannt. Aber auch außerhalb der Tiroler Grenzpfähle erhält fih der Anſchlußgedanke lebendig, ob- wohl die ſtaatlichen Stellen unterm Druck der Entente die Bewegung eher dämpfen als fördern. Ernſtlich gefährdet wird ihre Stoß- kraft leider durch die innere Uneinigkeit. Hier handelt es ſich nun doch wirklich um ein ü berparteiliches Ziel. Macht nichts! Be- zeichnend ift, was der ſozialdemokratiſche Führer Ludo M. Hartmann gelegentlich einer Kundgebung in Wien ſchrieb: „Bürgerliche Kreiſe ſind in der Regel kein gutes Material für Straßendemonſtrationen. Nichtsdefto- weniger war der große Platz vor dem Rat-

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hauſe in Wien am letzten Sonntag vormittag ſchwarz von Menſchen, welche die Organi- ſationen der Berufsſtände unter der ſchwarz⸗ rot- goldenen Fahne zu einer großen Anſchluß⸗ demonſtration aufgeboten hatten. Die So- zialdemokraten haben an dieſer Kund- gebung nicht teilgenommen, natürlich nicht aus Gegnerſchaft gegen das Ziel, fon- dern um der reinlichen Scheidung willen.“ ()

Alſo: mit dem Herzen fühlen wir uns eins, aber um „der reinlichen Sonderung“ willen verſagen wir unſere Teilnahme! Führer anderer Parteien denken leider ebenſo. Es wäre ja auch gar zu ſchrecklich, wenn einmal „Proletarier“ und „Bürgerliche“ ein Stückchen Wegs zuſammengingen und ſich als ein einig Volk von Brüdern fühlten!

Die Klaſſenverſöhner s iſt natürlich ironiſch gemeint, und der

E Vorwärtsartikel, der diefe Überſchrift trägt, ſucht die Arbeiter ſcharf zu machen gegen die Bürgerlichen und ihre Bemühungen, eine Klaſſenverſöhnung anzubahnen. „Zählt einmal die Worte Klaſſenverſöhnung „Aber“ brüdung der Kluft“, „Verſchmelzung der Völker im Volke“, die tauſende in Bro- ſchüren und Programmen, in Aufrufen und Satzungen, in Volkshochſchulreden, Vor- trägen und Entſchließungen und Geſprächen: es ift eine Sintflut von Geſchwätz und Salbe. Seine Prediger find die ‚Geiftigen‘ im Oienſte des Kapitalismus, find Geiſtverwandte in allen Berufen. Zumal in der Volksbildung,

die nun der Gaul ſein ſoll vor dem Narren

im Sumpf, gehen die Klaſſenverſöhner um, die ehrlich - unehrlichen Naivlinge. Sie verſöhnen nicht, weil fie verföhnen wollen, weil fie fid herablaſſen, weil fie fih erft eine andere Jacke anziehen, wenn fie zu den Arbeitern gehen, weil ſie eine geiſtige Treppe nötig haben, weil ſie trotz allem nie und nimmer heraus können aus ihrer vernagelten Welt... Der Geiſt Gottes iſt hungrig über den Waſſern,

der brauſende Wind geht über die Bürger-

wildnis, und die lugenden Trockenplätzchen

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grüßt der Frühling. Grüßt die Boten und Zeugen des neuen Weltreiches der Arbeit, ſtreut das Blühen und die Hoffnung in den Wind: Alle müſſen Hände werden an einem Werk, Arbeiter an deinem Werk.“ Alle? Alſo doch wohl auch die verhaßten Bürgerlichen? Dann wären wir ja mitten im Verſöhnungsproblem Oder ſchwebt dem Verfaſſer etwa ein Bild vor: wie keuchende Sklavenmaſſen des Bürgertums die Steine ſchleppen zum Tempelbau der Arbeiterfchaft? Wie kommen ſolche Pharaonenträume in das Haupt eines Sozialiſten?

*

Kinokultur

as Kino iſt eine Macht geworden. Es

hat Freunde und Feinde, wobei die Gegnerſchaft überwiegt. Das liegt nicht eigentlich an der Sache ſelbſt, denn das Kino kann eine Einrichtung werden, die ſich neben dem Theater ſehen laſſen dürfte. Es gibt ſchon heute Lichtſpieltheater von ſolchem Wert und Einfluß, daß manches Schaufpiel- und Opernhaus, von Luſtſpiel-, Komödien und Operettentheatern gar nicht zu reden, nicht mehr damit wetteifern kann. Aber was manches Theater auf den Hund gebracht hat, das hat auch viele Kinos auf ein erbärmliches Tiefmaß hinuntergedrückt: der geld hungrige Nur-Geſchäftsmann. Hier wäre einzu- ſetzen, wenn an eine Kinokultur gedacht werden ſollte.

Ein Mithelfer könnte dabei die Kon- kurrenz ſein. Es iſt ein Fehler, wenn eine Behörde der „Kinoſeuche“ (von der in ge— wiſſem Sinne hinſichtlich mancher Volks- ſchichten geſprochen werden muß! dadurch glaubt entgegenwirken zu können, daß ſie die Neueröffnung von Kinos erſchwert oder ver- hindert. Denn wer ins Kino gehen will, der wird das tun, auch wenn er ein paar hundert Meter weiter zu wandern hat. Darüber muß man ſich von vornherein klar ſein, daß man weder ein geſetzliches noch ein moraliſches Necht wird finden können, das Kino ganz zu beſeitigen; es kann alſo nur eine Veredlung des Kinos in Betracht kommen.

Auf der Warte

Das Theater als Geſamtbegriff ſteht in- ſofern freilich höher als das Kino, weil dieſes nur ſelten erſt die Höhe einer Kunſtſtätte erreicht. Das liegt mit darin, daß es ſeine wahre Aufgabe noch nicht erkannt hat, denn ſonſt würde es ſich nicht mehr dazu verſtehen, liter ariſch gedachte „Dramen“ darzubieten und ſo aus einer Dichtung ein Zerrbild zu machen. Es gibt allerdings eine dramatiſche Kinokunſt für das Auge, aber ſie iſt durchaus vom geſprochenen Bühnendrama verſchie⸗ denz nicht nur graduell, ſondern grundſätzlich. Hier muß alſo eine Umkehr und Einkehr erfolgen. Schon heute wenden ſich viele Kinos von jenem verzwitterten „Orama“ ab und echter wirkenden kinematographiſchen Dar- ſtellungen zu, wobei großartige Naturauf- nahmen, hiſtoriſche Ereigniſſe, Maſſenſzenen uſw. im Vordergrunde ſtehen. Um das Ge- ſagte an zwei Beiſpielen einigermaßen ttar- zumachen, ſei erinnert an „Roſe Bernd“, nach dem Drama von Gerhart Haupt- mann, und an „Cabiria“, nach einem italieniſchen Entwurf d'Annunzios. Als dra— matiſcher Film war „Rofe Bernd“ für jeden auch nur einigermaßen künſtleriſch und äſthetiſch empfindenden Menſchen, ja ich möchte behaupten: für jeden Kulturmenſchen das Unerträglichſte und Widerwärtigſte, was auf dieſem Gebiet verbrochen werden kann; dagegen wies „Cabiria“ den Weg an, den das Kino gehen muß, wenn es ſich zu ſeiner Bedeutung entwickeln will. Ich betone: ent- wickeln. Es wäre in Erwägung zu ziehen, ob man nicht gerade jetzt, wo viele Theater in der Verſenkung zu verſchwinden drohen, fih dazu entſchließen ſollte, ſtädtiſche Licht- ſpielhäuſer zu errichten. Das Kino iſt und wird es mehr und mehr eine öffent- liche Angelegenheit geworden in demſelben Maße, wie es die Theater ſind oder geweſen ſind. Da wäre es Sache der Gemeinden, ſich darum zu kümmern.

Aber welches Mittel hat Gemeinde oder Staat, hier wirkſam vorzubeugen? Die Po- lizei ſcheidet heute ja, wie es ſcheint, faſt völlig aus. Auch die Gerichte üben auf dieſe Dinge keinen Einfluß aus. Die Konkurrenz verſpricht gewiß manches, aber nicht alles.

Auf der Warte

Der gute Wille der Kinobeſitzer und -leiter? In ratlofer Verzweiflung klagte mir einmal der Direktor eines Lichtſpieltheaters, wie er mit allen ſeinen Verſuchen, Kunſt zu bieten, geſcheitert ſei. „Ich leide ſeeliſch geradezu furchtbar unter dem ſchlechten Geſchmack des Publikums, das mich zwingt, Schund zu bringen und Schmarrn auf Schmarrn zu bieten. Mich ekelt dieſe Ware, aber ich muß ſie führen. Bring' ich Gutes, bleibt mir das Haus leer. Die Maſſe will Senſation, Schauerdramatik, verlogene Romantik, Miſt.“ Er wies auf die Singſpielhallen hin und auf die Operettentheater, die den Geſchmack des Publikums auf ein ſo erbärmlich niedriges Maß herabgedrückt und die Leute innerlich

ſo vollkommen entwertet hätten. Aber wenn

er auch mit den Variétés und den Operetten- kitſchen recht haben mag, ſo ſind ſie doch nicht die Arſache der Geſchmacksverderbnis und Kulturverwilderung; ſie ſind vielmehr auch nur eine Frucht der Zuſtände im allge- meinen. Wenn man ſchon einen Schuldigen braucht, ſo möchte ich mit geziemender Achtung auch die Preſſe nennen. Eine Mitſchuld trifft ſie ganz beſtimmt. Weil ſie die Kinos ebenſowenig wie die Bariétés und Operettenbühnen bisher für ganz voll ge- nommen hat. Es iſt eine alte Erfahrung, daß ſolche Inſtitute, die von der ernſten Kritik nicht beachtet und im allgemeinen nur mit einer wohlwollenden Waſchzettelempfehlung

abgetan werden, ſehr ſchnell auf die ihnen

zuerkannte künſtleriſche Bedeutungsloſigkeit herabſinken und dort feſtwachſen; ja fie ent- arten mehr und mehr, weil ſie in der ernſten Kritik keinen Züchtiger zu fürchten, keinen mittätigen Helfer zu erwarten haben. Selbſt die hervorragendſten Lichtſpielhäuſer Deutich- lands haben die Anerkennung der Preſſe als ernſt zu nehmende Kultur- und Kunſtſtätten noch nicht gefunden; auch fie werden be- waſchzettelt, aber nicht kritiſch begutachtet; ihre Aufführungen werden nebenher im „Lo- kalen“ oder unterm „Vermiſchten“ abgetan, während manches Schundtheater ſeine Taten im Feuilleton nachgeprüft und nachgewogen ſieht. Dieſe Nichtachtung wirkt ſchädigend. Es würde manches anders werden, wenn man

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den Kinos die Berechtigung, für voll genom- men zu werden, zuerkennen und ſie einer ebenſo ernſten, unbeſtechlichen, ſachlichen Kritik unterwerfen wollte, wie man ſie bisher den Bühnen hat zuteil werden laſſen. Hier hat die Preſſe eine dem Volksganzen, der deutſchen Kultur ſchuldige Pflicht noch zu

erfüllen. Leonhard Schrickel Wandervogelgeiſt und Religio- ſität

n der Zenenſer Zeitſchrift „Die Tat“ (Maiheft) kommt Elſe Stroh im Anſchluß

an die Vorgänge in der „Neuen Schar“ zu beachtenswertem Ergebnis. Sie faßt die Be- wegung als einen verſtärkten Vorſtoß des Wandervogelgeiſtes in die Maſſe und zuden Erwachſenen auf; wobei wir hinzufügen, daß die zweite damit verbundene Idee der Sie de⸗ lungsgedanke iſt, der ja auch an allen Enden neue, edlere Lebensgemeinſchaft ſucht. Eige- nes ſteckt alſo nicht in der „Neuen Schar“. Und das „Eigene“ (Chriſtus-Vorläufer und dergleichen Täufertum und Zeugertum) iſt bedenklich. „Naturhaftigkeit und No- mantik, das iſt der Wandervogel“, ſchreibt die Verfaſſerin. „Nicht nur die Herbheit und

der Stolz eines ſelbſtgewählten harten Lebens

liegt den Fahrten und dem einfachen Lebens- ſtil des Wandervogels zugrunde, ſondern es ijt auch viel Zugendphantaſtik und Rauſch dabei, jo wie im Ind ianerſpiel der Jungen kindlicher Idealismus und ſpieleriſche Über- treibung liegt.“ Und ſo ſind auch die Fahrten, Tänze und Handwerke der „Neuen Schar“ und ihres früheren Führers „Romantik und können kein Heilmittel für den heutigen Zu- ſtand des Volksganzen ſein, falls ſie mit dem Anſpruch auftreten wollen, Kulturarbeit zu leiſten und Pioniere eines neuen Lebensftils zu bedeuten, denn ſie weichen den Tatſachen, die uns jetzt zunächſt unabänderlich beſtimmen, einfach aus, ſie überwinden ſie nicht durch Durchdringung und Läuterung“... Die Ver- faſſerin bezweifelt, ob das wahrhaft Gute im Wandervogel bereits „religiös“ zu nennen fei. „Religiös iſt der Wandervogel nur in dem

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Sinne, wie alles ſtark und innerlich voll ge- lebte Leben an ſich ſchon religiös iſt. Dieſe Art von Religioſität allein ift es, die jener Schar zugeſprochen werden kann, die aber im weſentlichen Sinne noch nicht wahre Religiofität bedeutet, denn eine ſolche kann niemals von der Körperlichkeit ausgehen, ſondern muß von geiſtigen Forderungen her beſtimmt ſein. Doch es ſpricht ein noch viel ſtärkerer Einwand gegen Mucks wahres teligiöfes Führertum: das ift feine erotiſche Haltloſigkeit“ .

Alſo darin ſcheint man nun auch im Kreiſe von Eugen Diederichs einig zu ſein. Die folgenden Ausführungen freilich, daß Neli- gioſität (auch die echte) und Sexualität „aus gleicher Quelle“ fließen, ſind zu beanſtanden. Wir wiſſen von manchen Heiligen, daß ſie durch gärenden Sexualismus hindurchgingen, bis ſich die religiöfen Gegenkräfte geſtärkt hatten; wir hören von einer Maria Magda- lena, kennen das milde Chriſtuswort von jener Sünderin, die viel geliebt hat und der viel verziehen iſt, haben auch Kenntnis von ſchwärmeriſch-erotiſchen Orgiaſten, dieſen Stümpern und Zerrbildern echter Religion im grotesken Stil eines Knipperdolling. Doch viele andre religiöfe Menſchen, voll von Liebestatkraft, ſind nicht durch ſexuelle Wüſteneien hindurchgegangen, ſondern haben gleich von vornherein in der Herzgegend, im Gemütsbezirk ihre weſentlichen Zeu- gungskräfte gefammelt.

Elſe Stroh ſchließt mit den Sätzen: „Darum müſſen wir es ablehnen, Muck als religiös begnadet und ſchöpferiſch anzuſehen, ſondern wir müſſen ihn als einen Menſchen der jungen Generation erkennen, in dem der Wandervogelgeiſt beſonders lebendig gewor- den iſt und die Gabe empfing, ſich noch viel ſichtbarer für andere Menſchen darzuſtellen in Rede und Gebärden, als es der neuen Jugend des Wandervogels ſonſt gelingt. So erſcheint in Muck auch die erotiſche Haltlofig- keit der neuen Jugend ſymboliſiert jene Hemmungsloſigkeit“ ... die, mit alten For- men und Überlieferungen brechend, zunächſt in chaotiſche Formloſigkeit gerät. Und indem fie ihm die „religiöſe Glorie“ nimmt, fügt

Auf der Watte

fie hinzu: „Mag er für andere den Heiligen- ſchein des Täufers noch weiterhin behalten wenn es jene fördert, ſo mögen ſie an ihn glauben —, aber uns übrigen ſteht es nicht an, die ſtarke Lebendigkeit eines Men- ſchen der neuen Generation, der geiſtig die primitive Religioſität eines Mom monenhäuptlings entfaltet, mit echter

Religion zu verwechſeln.“ ;

\ *

Neue Rechtſchreibung ?!

ſt es der Sorgen und der Drohungen

ringsumher noch nicht genug? Muß der Unfug es ift in dieſer Zeit Unfug! eines Amſturzes der Rechtſchreibung uns auch noch aufgehalſt werden? Hat wirklich der deutſche Geiſt, belaſtet bis an die Grenze der Leiſtungsfähigkeit, jetzt nichts Lebens- wichtigeres zu verarbeiten?

In einer Zeitungsnotiz lieſt man:

„Aus dem Reichsminiſterium des Innern wird mitgeteilt, daß die Vorberatungen im Reichsminiſterium des Innern nunmehr zu beſtimmten Ergebniſſen geführt haben, die zurzeit den Unterrichtsverwaltungen der Länder zur Prüfung überfandt worden find. Lehnen fie dieſe Vorſchläge ab die Entſcheidung hat der Reichsſchulausſchuß in ſeiner nächſten Sitzung Anfang Zuni zu treffen —, ſo iſt damit die Frage einer Neu— ordnung der Rechtſchreibung vorläufig verneint. Stimmt der Reichsausſchuß da— gegen den Vorſchlägen zu, jo ift der Zeit punkt gekommen, ſowohl weitere behöͤrd— liche Stellen als vor allen Dingen auch die weiteſte Offentlichkeit zur Stellungnahme zu veranlaffen. Das Reichsminiſterium des Jn- nern plant für dieſen Fall die Herausgabe einer Denkſchrift, die einen ausführlichen Bericht über die bisherigen Verhandlungen ſowie die wiſſenſchaftlichen Gutachten der Sachverſtändigen und ihre endgültigen Yor- ſchläge enthalten würde“...

Wir hoffen, daß Schriftſteller, Verleger und die ganze wiſſenſchaftliche wie wirtſchaft- liche Welt ſich einmütig dieſer aufdring— lichen Reformwut widerſetzen. Das geht

Auf der Warte

nicht nur die Schule, das geht uns alle an. Deutſchland ſteht am Abgrund und es reformiert feine Rechtſchreibung!

*

Amerikaner am Rhein

in Mitarbeiter der „Rader“ plaudert über feine Eindrücke, die er von den ameri- kaniſchen Truppen am Rhein empfangen hat: „Diefe Vankees find gewiß nicht die ſchlechteſten Truppen des bunten Völker- gemiſches, das von der bayriſchen Pfalz bis nach Cleve die , Wacht am Rhein“ hält. Große breitbrüftige Geſtalten find es, alle im erft- klaſſigen Kleid (den Meter Stoff dürfen wir mit 550 bis 600 Mark bezahlen), die hohe Schildermũtze viel zu tief ins wunderbar glatt- raſierte Geſicht gezogen, energiſch und ziel- bewußt im Auftreten, jeder einzelne bis zum Pferdepfleger herab im vollen Bewußtſein, Vertreter einer bevorzugten Nation zu ſein. Unendlich ziviliſiert find diefe Leute, wenn man etwa von dem chaving gum (Kau- gummi) abſieht, der unabläſſig von dem tadellos plombierten Gebiß bearbeitet wird. Nur der Alkohol iſt imſtande, die guten äußeren Formen bisweilen zu verwiſchen. Eine Flaſche Wein mit Verſtand zu trinken, iſt der Amerikaner überhaupt nicht fähig. Er ſtürzt einfach alles ohne Genuß hinunter. Sekt iſt das Lieblingsgetränk, das ſich ſchon vormittags der common soldier bei dem hohen Stand der Dollarvaluta leiſten kann. Die hierbei vorkommenden Ausſchreitungen wer- den aber ſofort mit einer für uns unbegteif- lichen Rigorofität durch den allmächtigen M. P. (Military policeman) eingedãmmt. Es ift keineswegs eine Seltenheit, daß ein dough- boy (Schlammjunge, ein Spitzname für die Amerikaner aus der Schützengrabenzeit), der, von den luſtigen Sektgeiſtern erfaßt, dem M. P. nicht augenblicklich Folge leiſtet, talt- blütig niedergeſchoſſen wird. Die Diſziplin, die abfolute Unterordnung, ift bei den Ber- tretern der Nation, die ſich auf ihre „Freiheit“ ſo unendlich viel einbildet, auf die Spitze getrieben. Der ganze Menſchenſchlag iſt viel fpon- taner als wir geſchichtlich ſo ſehr belaſtete und

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bedãchtig gewordene Europäer. Das zeigt fih im Gerichtsweſen, wo ohne große Unter- ſuchungen ſofort das Urteil nach Gutdünken geſprochen wird, das zeigt ſich an der Geiftes- gegenwart, mit welcher bei allen Unglüds- fällen die flinken Burſchen eingreifen, an dem raſchen Tempo der Regimentsmuſik, an dem enorm geſteigerten Automobilismus. Selbſt der deutſche Wachtmeiſter, der am Goebenplatz in Koblenz ſteht und die Laſtautos und ratternden Motorräder mit den ſeitlich an- gehängten bathtubs (‚Badewannen‘) vorbei- läßt, ift ſchon halb amerikaniſiert: die Zriller- pfeife im Munde muß er die Arme wie Schlagbäume nach links und rechts ſchwenken und ſo den Autoverkehr regeln, genau wie fein Kollege in Neuyork.

Das find fo die Äußerlichkeiten, wo man dem amerikaniſchen Weſen immerhin noch nachgehen kann. Verſucht man aber irgendwie geiſtig mit ihnen in Fühlung zu kommen, ſo erlebt man große Überrafchungen. Der Ame- rikaner verſteht uns nicht. Wie ein Schachbrett hat er die rieſige Fläche des neuen Kontinentes aufgeteilt. Da gibt es keine ſorgfältige Be- ruͤckſichtigung von allerhand organisch heraus; gewachſenen Geltungswerten (man denke an unſere diverſen bayriſchen, rheiniſchen uſw. „Eigenarten“). Er hat keinen Sinn für das zeitlich Sewordene, weil er ſelbſt keine Ge- ſchichte hat, und keinen Sinn für Zahl und Mag, weil er ſelbſt ſchrankenlos fih ausdehnen konnte. Und wir verſtehen den Amerikaner nicht. Die für uns widerſprechendſten Eigen-

ſchaften ſind harmoniſch in ihm vereint. Der

kalte Fanatismus der alten Puritaner mit dem Prinzip der Notwendigkeit der Arbeit verbindet fi mit dem ſchrankenloſen Egois- mus und dem Streben nach Glückſeligkeit, d. h. nach dem Beſitz eines moͤglichſt hohen Bankkontos, daneben wieder eine eigenartige Naivität mit der Oberflächlichkeit einer reich- lich optimiſtiſchen Lebensauffaſſung, die ſchrankenloſe Unterordnung unter die öffent- liche Meinung bei abſoluter Unfähigkeit eines eigenen perſönlichen Urteils... Höchfte Ziviliſation bei völligem Mangel jeglicher Geiſteskultur.“

*

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Kinder und „weißer Schrecken“

n der „WMitteldeutſchen Zeitung“ findet ſich folgendes Stimmungsbildchen aus Erfurt:

„Nieder mit dem weißen Schrecken!“ So ſtand in dicken Lettern auf einem der vielen Schilder, die am Sonntag mit zur Maifeier in den friſchgrünen Buchenwald hinauszogen, und der es trug, war ein Knopf von höchſtens acht Jahren. Sehr ernſt ſchien er ſein hohes Amt gerade nicht zu nehmen, denn ein paar- mal, als er mit dem gleichaltrigen Mädel an ſeiner Seite über (hoffentlich!) kindhafte Dinge ſchwatzte, verlor das Schild das Gleich- gewicht, und der Kampfruf gegen den weißen Schrecken neigte ſich in den Straßenſtaub. Aber es ging ein Mann den Kindern zur Seite, der machte ein gar grimmiges Geſicht und ſeine Augen glühten Haß und Zorn auf lächelnde Zuſchauer .

Spät nachmittags führte mir ein glücklicher Zufall den Schildträger in den Weg. Ich rief ihn an. Er guckte mißtrauiſch zu mir herüber, blieb aber ſtehen. Mit ihm einige kleine Genoſſen, die auf roten Papierfähnchen be- haupteten, daß mit ihnen Volk und Sieg ſei. „Sag' einmal, mein Kleiner,“ fo redete ich den achtjährigen Kommuniſten an, ‚du warſt doch heute früh mit dabei und haſt das Schild getragen?“ „Ja“, gab er zu und kam nun etwas näher. Ich legte recht viel väterlichen Ton in meine Stimme und fragte: „Was heißt denn das eigentlich, was da auf deinem Schild ſtand?“ „Ich weeh nich“, wehrte der Kleine ziemlich deutlich ab. Aber ich ließ nicht locker und fragte weiter: „Nanu, weißt du denn gar nicht, was das iſt, ein weißer Schrecken?“ „Nee“ (der radikale Oreikäſehoch wurde etwas verlegen). „Haben fie denn das zu Hauſe nicht geſagt?“ fragte ich dringender. „Nee!“ ‚Aber ich weiß,“ rief plötzlich ein kleines Mädel dazwiſchen, ‚das find die Reichen!“ Da drehte ſich der achtjährige Politiker lang-

Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: Prof. Dr. phil. h. c. Friedrich Lienhard.

Auf der Warte

ſam zu der Zwiſchenruferin um, und in feinem Geſicht lag unendlich viel Gering- ſchätzung, als er jetzt langſam ſagte: „Du dummes Luder, das heeßt doch Vorſchaſie!“ Da überließ ich die hoffnungsvolle deutſche Jugend ihren politiſchen Auseinanderſetzungen und Schritt dem Wald zu. Aber kein Sonnen- ſtrahl drang durch das dunkle Gewölk, und vom Himmel kam ein leiſes Weinen“...

*

Mehr Bekenntnis

F Saen Geſpräch greifen wir aus einer Tageszeitung heraus.

„Sie waren doch, wie mir Ihr Prinzipal erzählte, während des Krieges lange Zeit als Offizier im Felde?“

„Gewiß, vier Jahre lang.“

„Haben Sie auch das Eiſerne Kreuz be- kommen?“

„Jawohl, bereits im Jahre 1914.“

„Verzeihen Sie, aber dann verſtehe ich nicht, daß Sie nicht das ſchwarzweiße Band tragen. Ein jeder deutſche Mann müßte doch ſtolz darauf ſein, in dieſem größten aller Kriege für ſein Vaterland mit der Waffe in der Hand eingetreten zu ſein. Ich würde mich an Ihrer Stelle jedenfalls nie ohne jene Auszeichnung ſehen laſſen.“

Dieſe Unterredung ſpielte ſich im beſetzten Gebiet zwiſchen einem engliſchen General- ſtabsmajor und einem früheren königlich preußiſchen Offizier ab. Allerdings ſei ge rechterweiſe bemerkt, daß letzterer fein ſchwarz- weißes Band regelmäßig zu tragen pflegte. Er hatte es nur zufällig an jenem Tage nicht angelegt.

Immerhin mag fih ein großer Teil deut- fher Kriegsteilnehmer jene Worte des Eng- länders hinter die Ohren ſchreiben. Denn ſie treffen ſchließlich einen der Grundfehler des nationalen Bürgertums: den ſchläfrigen Mangel an Bekennermut.

Für den politiſchen und wirt-

ſchaftlichen Teil: Konſtantin Schmelzer. Alle Zuſchriften, Einfendungen njw. an die Schriftleitung des Türmers, Berlin⸗ Wilmersdorf, Rudolſtädter Straße 60. Orud und Verlag: Greiner u. Pfeiffer, Stuttgart.

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nee. von Prof Dr. h. c. Friedrich Lienhard

28. Harp. Futi 1921 Melt 10

Geſeelte Lebensform Von Heinrich Driesmans

1 der einen Art erblicken überall nur Unvollkommenes, Mig- bildetes, Widerſtreitendes, Häßliches und Niedriges, und gelangen O damit zur reſtloſen Verachtung alles Lebens, an dem fie nichts Gutes und Schönes mehr gelten laſſen. Die Menſchen der anderen Art dagegen erkennen jede Lebenserſcheinung ihrem Oaſeinszweck angemeſſen und vollendet in ſich, fie ſehen überall ſchöpferiſches, werdendes Leben am Werke, das fih naiv entfaltet. und darſtellt wie es kann; und die Unvollkommenheiten und Mißbildungen erfchei- nen ihnen nur als die Folgen der Schranken, welche widrige Verhältniſſe, Not- durft und Niederdruck dem Wachstum auferlegen. Das macht, weil die Menſchen dieſer Art ſelbſt ſchöpferiſchen Lebens voll ſind, darum leuchtet ihnen das ſchaffende Leben der Natur ins Auge, in deren Wachſen und Werden ſie ſich liebe- voll verſenken und deren heilſam ſchaffende Gewalt ſie anſpricht, während die andern nur die kalte Teufelsfauſt gewahr werden, die ſich allem Lebensdrang entgegen tückiſch ballt., Weil das Auge der Schöpferiſchen „ſonnenhaft“ ift, ver- mag es überall das Licht zu erblicken, und weil in ihnen des Gottes hohe Kraft, vermag fie Söttliches zu entzücken, wo andere nur wirres Durcheinander

und rohe Lebensgier ſehen, die fih im wilden Kampf ums Dafein verzehrt. Es liegt alſo immer an dem, was der Menſch dem Leben entgegenbringt,

ob es ihm ſein Füllhorn ausſchüttet oder nur die leeren Hülfen ſehen i Der Zürmer XXII, 10

218 Oriesmans: Beſeelte Lebensform

Der größte Lehrmeiſter darin, das Leben in ſeinem ſchöpferiſchen Werden zu erkennen und ſich liebevoll hineinzuverſenken, war Goethe, als er, am Strande des Lido bei Venedig während der Ebbe ſich an der „Wirtſchaft der Seeſchnecken, Patellen und Taſchenkrebſe“ erfreuend, in die Worte ausbrach: „Was iſt doch ein Lebendiges für ein köſtliches, herrliches Ding! Wie abgemeſſen zu ſeinem Zuſtande, wie wahr, wie ſeiend!“ Als feinen negativen Gegenpol aber erkannte er in fpäteren Jahren feinen Jugendfreund Fr. H. Jacobi, der gar nichts von der Natur erwartete, weil fie ihm feinen Gott verberge. „Als wenn die Außen- welt dem, der Augen hat, nicht überall die geheimſten Geſetze täglich und nächt- lich offenbarte! In dieſer Konſequenz des unendlichen Mannigfaltigen“, ſchließt Goethe, „ſehe ich Gottes Handſchrift am allerdeutlichſten. Die andern aber kom- men mir vor wie Menſchen, die ſämtlich eine Sprache ſprechen, aber in den ver- ſchiedenſten Dialekten, und jeder glaubt, auf feine Weiſe drücke er fih am beiten aus; von dem, worauf es eigentlich ankäme, weiß aber einer ſo wenig zu ſagen als der andere: fie tanzen mit wenigen Ausnahmen alle am Hochzeitsfeſte, und niemand hat die Braut geſehen.“ Beſieht man es genau, ſo gründet ſich nach Goethe doch zuletzt nur ein jeder auf ein gewiſſes inneres Behagen an feinem Da- ſein. Der Glaube, die Zuverſicht auf das Bißchen, was man iſt oder ſein möchte, beſeelt einen jeden, und ſo möcht' er ſich auch den andern machen, eigentlich dem andern fih gleich machen, und dann, denken fie, wäre es getan. Erſt bekomplimen⸗ tieren ſie ſich von der Seite, wo ſie ſich gerade nicht abſtoßen; zuletzt aber, wenn jeder ehrlich wird und ſeine Individualität herauskehrt, fahren und bleiben ſie

auseinander. Von Gott dem Vater ſtammt Natur,

Das allerliebſte Frauenbild; Der Menſchengeiſt ihr auf der Spur, Ein treuer Werber fand ſie mild.

Die Deutſchen haben von Natur wenig Sinn für Schönheitskult und ſchöne Form, die ihnen zu weich und kraftlos erſcheinen. Das Markige, Derbe, Eckige, ſelbſt Zerrbild und Karikatur reizen ihr Auge mehr, alles was zu Widerſtand und Kampf herausfordert. So mangelt ihnen auch die Liebe zur Harmonie unter— einander, und Zwiſt und Zwietracht ſind ihr Lebenselement, aus dem ſie im furor teutonicus immer erſt rechtes Feuer und Kraft gewinnen. Dem gegenwärtigen Geſchlecht aber insbeſondere iſt der liebende Geiſt abhanden gekommen, wie er unferen großen Dichtern und Denkern, den Uberdeutſchen Kant, Herder, Schiller, Goethe eigen war, welche jede Erſcheinung des Lebens als ihrem Zuſtand an- gemeſſen, in ſich vollendet und ſchön empfanden, und forderten, den Menſchen nie als Mittel, ſondern als Zweck an fih zu werten und zu achten. Unſeren Beit- genoſſen dagegen gilt der Mitmenſch faſt nur noch als Mittel zu ihren Zwecken. Sie pflegen einander wie Tiere bloß noch auf den Nutzen abzuſchätzen, den ſie bringen können. Einer bemerkt am andern vor allem das Fehlerhafte, Läſter- liche und Häßliche, an dem man ſich ſtößt und ärgert, oder das Komiſche und Mib- bildete, über das man ſich erluſtigt. Das Gute aber in jedem, auch dem Geringſten und Unwertejten, findet kein gütiges und liebevolles Auge mehr. Wie wenige

Driesmans: Beſeelte Lebensform 219

haben die zartfühlende Überlegenheit, wenn fie ihren Mitmenſchen in widerwär- tigem Zuſtand antreffen, die gute ftatt die böſe Ader in ihm anzuſchlagen und ihn ſo von ſich ſelbſt zu erlöſen, wie ein Arzt den Patienten!

Denn Patienten, das iſt Leidende, ſind wir heute alle, und wir Deutſche mehr denn je in unſeren gedrückten und verfahrenen Verhältniſſen. Wir, die von einer ganzen Welt Mißwollender und Feindſeliger umringt find, hätten es wahr- lich viel mehr nötig, gute Seiten aneinander aufzuſpüren und zu ſtärken, um uns gegenſeitig daran aufzurichten. Wie kalt und lieblos, abfällig und gehäſſig pflegt man dagegen nur immer über ſeine Mitmenſchen abzuurteilen, wo ſie irgendwie Mängel verraten und ſich Blöße geben; und man findet in der Schadenfreude das reinſte Vergnügen, einander mit verletzenden Bemerkungen zu bedenken, ſtatt durch liebevolles Eingehen und zartſinniges Verſtehen ſich gegenſeitig innere Hilfe zu leihen. Aber wie Taumelnde auf verlaſſener Straße ſtößt man ſich noch ge- häſſig in den Graben, während ein ganzes Volk wankt, das überall Feſtſtehende und Pfeiler brauchte, ſich daran zu halten, um nicht vollends dahinzuſtürzen. Alle edleren und vornehmeren Triebe und Handlungen werden verdächtigt und ihnen gewöhnliche, ſelbſtiſche oder gar verborgene niedrige Beweggründe unterſtellt. Man will durchaus nicht mehr gelten laffen, daß fih etwas irgendwie über die All- täglichkeit erhebt, und ruht nicht, bis man jeden Menſchen ganz gemein gemacht hat, einen wie den andern. Irgendwelche „Größe“ erträgt man nicht mehr, und ſo müſſen auch unſere Großen daran glauben, als Menſchen völlig auf die Ebene der Gewöhnlichkeit herabgezogen zu werden. „Wie felten ift noch wahre Freund- ſchaft,“ ſagt Gräwell, „wie ſelten zieht ſich jemand von einem anderen auf eine ſchöne Art zurück! Statt ihm, wenn er glaubte Anlaß zu haben, das Verhältnis zu brechen, dies in ausführlicher Ausſprache begreiflich zu machen, zieht er es vor, ihn auf einmal zu ſchneiden. Geſtern war er noch ſein intimſter Freund, heute kennt er ihn nicht mehr. Wenn man zurückblickt, ſieht man mit Schmerz, wie wenige Menſchen wirklich ſittlich und ſchön handelten, wie wenig das Zartgefühl bei ihnen ausgebildet war.“ Das Weib galt dem alten Oeutſchen als etwas Ge heimnisvolles, Heiliges, Göttliches, und unſere großen Dichterdenker empfanden in ihm das Ewig-Weibliche, das uns hinanzieht. Die Zeitgenoſſen aber pflegen faſt nur noch zyniſch vom Weibe zu ſprechen als bloßem Geſchlechtsweſen und Gegenſtand gewiſſer Luſtinſtinkte; und die Zote bildet die Würze ihrer Unterhaltung.

Es ſcheint heute gar nicht mehr in Frage zu kommen, daß der Menſch auch eine Seele habe. Man fragt nicht mehr, welches ſeeliſch-geiſtige Erlebnis man an einem Mitmenſchen haben kann, ſondern nur noch, ob er ein guter Unterhalter und Geſellſchafter iſt, mit dem man ſich die Zeit angenehm vertreibt, oder welche anderen äußerlichen Vorteile er bietet. Wer dagegen ſeeliſcher Kultur obliegt und ſeine materiellen Intereſſen darüber verſäumt, verfällt der Vereinſamung. Von „Seele“ pflegt man überhaupt faſt nur noch mit einer gewiſſen Ironie zu ſprechen wie: das iſt eine „gute Seele“ oder eine „Seele von Menſch“, wenn nicht mit rohem Spott und Hohn wie von einer Angelegenheit für alte Weiber. Es gilt geradezu für unmännlich, weichlich und weibiſch, „Seele“ zu zeigen. In der guten Geſellſchaft wird alles, was ſeeliſche Stimmung geben könnte, als

220 | Oriesmans: Beſeelte Lebensform

abgeſchmackt vermieden; und die üblichen, mehr oder weniger witzigen und geiſt— reichen Tiſchreden bei wohlbeſetzter Tafel ſorgen dafür, daß keine derartige Stim- mung aufkommen kann. Man unterhält ſich über alltägliche Angelegenheiten, über das Neueſte in Kunſt und Mode, über die Fortſchritte der Wiſſenſchaft und Tech- nik, aber man hütet ſich ängſtlich, ein Thema zu berühren, das zur Verinnerlichung des Lebens führen könnte, aus Furcht, ſich lächerlich zu machen. Man läßt ſich dabei von erſten Künſtlern die beſte Muſik machen, von Sängerinnen Arien und Lieder vortragen, die man mehr oder weniger aufmerkſam, läſſig oder gelang— weilt über fih ergehen läßt. Aber wo findet man fih einmal zu einer ſolchen Ge- ſellſchaft zuſammen, die ſich ſelbſt ein ſtimmungsvolles Gedicht vornimmt, um Stimmung daran zu gewinnen und ein ſeeliſches Erlebnis zu haben, oder in ſeeliſchem Austauſch den Menſchen im andern zu erleben und ſich beim Aus— einandergehen als Menſchen, an denen man ſich innerlich erhoben hat, die Hand zu drücken, und nicht bloß als kalte Geſellſchafter, die ſich nur zum Zeitvertreib zuſammengefunden? Wer auch nur eine ſolche Anregung geben wollte, würde etwa mit der ironiſchen Bemerkung abgetan: „Ach ja, Seelenkultur haben wir alle ſehr nötig“, und dann würde man lachend darüber hinweggleiten?

In ſeiner „Schule der Weisheit“ zu Darmſtadt betreibt Graf Keyſerling eine Art „Seinskultur“, die doch wohl auf unſere Seelenkultur hinausläuft. Nehmen wir an, daß er dabei nicht bloß ein Konventikel für einen kleinen aus— erleſenen Kreis im Auge habe, ſondern Sendboten in die Welt ſchicken wolle, um ſeeliſche Kultur in die große Geſellſchaft zu tragen, etwa wie die Bußprediger des Mittelalters in Zeiten ſchwerer Not den Gläubigen zu Herzen redeten und ſie vor Gott auf die Knie zwangen. Nehmen wir an, die Prediger der Seins— kultur des Grafen Keyſerling redeten den Leuten der gebildeten Kreiſe in ähnlicher Weiſe ins Gewiſſen, um ſie vor der Menſchenſeele als dem Geheimnisvollen, Heiligen und Göttlichen in uns auf die Knie zu zwingen, in Ehrfurcht vor dem höchſten Sein und Weſen, das wir kennen, etwa mit Goethes Worten aus dem „Meiſter“, wo er vom „Menſchen des Geheimniſſes und der Kraft“ ſpricht, daß der Menſch ein göttliches Geheimnis iſt. Ein ſolcher Seelenprediger ſollte ſich einmal in einer Geſellſchaft erheben, um die Gäſte aufzufordern, von ihrem oberfläch— lichen geſellſchaftlich-konventionellen Geſchwätz abzulaſſen und fih als Menſchen zu fühlen, rein nur als Menſchen, abgeſehen von allem Wiſſen und Können, vom Anterſchied der Fähigkeiten, von Rang, Titel und Stand, das Ewig-Menſchliche ineinander zu erleben! Dann würden die einen über folches tatt- und gejchmad- loſe Anſinnen die Miene verziehen, während die andern durch Scherze darüber die Geſellſchaft zum Lachen brächten. Sollte man aber wirklich die Sache ernſt nehmen und ernſt dabei bleiben, und gar den Verſuch machen wollen zu einer ſeeliſchen Ausſprache, dann würden die meiſten hilflos und verlegen wie Kinder voreinander ſtehen, und keines würde mit der Seele des andern etwas anzufangen wiſſen. Der Seelenprediger aber dürfte ſchließlich als taktloſer Störenfried der guten Geſellſchaft mit ſanfter Gewalt hinauskomplimentiert werden; und dies unter heutigen Verhältniſſen nicht einmal ganz mit Unrecht, da die Geſellſchaft ſich auf den leichten, gefälligen äußeren Ton eingeſtellt hat, der alles Seeliſch—

Oriesmans: Beſeelte Lebens form 221

Perſönliche als ſtörend und ſtimmungverderbend ausſchließt. Damit wäre aber die Miſſion des Grafen Keyſerling geſcheitert, da der guten Geſellſchaft mit „Seele“ nicht beizukommen iſt, bzw. da ſie an ihre Seele nicht herankommen läßt, und ihr alſo nicht zu helfen iſt. Worin unterſcheidet ſich noch eine ſolche gute Geſellſchaft von einer gewöhnlichen Schiebergeſellſchaft? Dort verkehrt man mit beſſerem Takt und Anſtand und unterhält ſich fein und geſchmackvoll über Kunſt und Mode, während man hier nur rohen materiellen Genüſſen bei lärmender Unterhaltung und Paukmuſik frönt. Aber dort wächſt die Seelenſtimmung ſo wenig von innen heraus, wie hier; und ſomit unterſcheidet ſich die gute von der üblen Geſellſchaft nur dem Grade und der äußerlichen Kultur, nicht dem Weſen nach. Zur Zeit unferer großen Oichterdenker gab es auch tüchtige Praktiker und Geſchäftsgrößen, aber ſie verſäumten nicht, zugleich ſeeliſche Kultur in ihrem Hauſe zu pflegen, was damals von vornherein und aus dem ganzen Zeitalter heraus zum guten geſellſchaftlichen Ton und feiner Sitte gehörte. Wollen wir heute wieder dazu kommen, fo muß eine ganze Amgeſtaltung der Erziehung vorausgehen.

Die äußerliche Entwaffnung des deutſchen Volkes iſt auf Gebot unſerer Segner durchgeführt worden. Innerlich aber ſtehen unſere Volksgenoſſen einander noch bis an die Zähne gerüſtet und feindſelig gegenüber; nicht nur politiſch in den Parteien, ſondern auch innerhalb aller dieſer und überall Menſch gegen Menſch voll Mißtrauen und Argliſt. In der Hochflut der Rüſtungsbewegung der neunziger Jahre forderte der damalige religiöſe Sozialreformer M. von Egidy „innere Ab- rüftung“ als erſte und alleinige Vorbedingung für den endlichen Völkerfrieden, ohne welche alle äußeren Rüſtungsbeſchränkungen verlorene Liebesmüh ſeien. Die Deutfchen haben diefe innere Abrüſtung nötiger als die anderen Völker unſerer Gegnerſchaft, die in ſich einig und geſchloſſen daſtehen. Es iſt etwas Zentrifugales n der Natur der Oeutſchen, das fie immer von ihrer Art hinwegtreibt, in der Fremde nach anderer vermeintlich höherer Art zu ſuchen, die ſie daheim vermiſſen. Sie mögen einander am wenigſten leiden, der Deutſche kann den Oeutſchen nicht recht vertragen, vielleicht weil er an ihm immer wiederfindet, was er flieht: die Formloſigkeit, und vermißt, was er ſucht: beſeelte Form. Weil wir keine abgeklärte Lebensform, keinen deutſchen Lebensſtil miteinander haben, wie die andern Natio- nen in ihrer Art, zieht es deshalb vielleicht den Deutſchen nach der Fremde? Die gegenwärtige Abſchließung und Einkreiſung, die allgemeine Achtung von der übrigen Völkerwelt ſcheint aber wie vom Schickſal darauf berechnet, das zer- fahrene und zerſplitterte, in ſich verfeindete deutſche Weſen zu zwingen, endlich zu lernen, liebevoll und verſtändig aufeinander einzugehen und Seele gegen Seele zu erſchließen, um ſo miteinander beſeelte Lebensform zu gewinnen und aus dem deutſchen Volke eine einmütige, ee deutſche Gemeinde zu machen.

222 Durlan: Der weiße Wolf

Der weiße Wolf Von Wolf Durian

(Schluß)

hielt nicht an zwiſchen den Freunden. In Einſamkeit floſſen ihre Tage hin. Einer ſaß zu Hauſe und ſchürte das Feuer, und der andre

>, war draußen im Schnee und las die Füchſe auf, die in den Eifen hingen. Noch nie war der Fang ſo ergiebig geweſen. Schnee fiel täglich, und die Kälte ſetzte ein. Der Fluß war gefroren. Die Wölfe heulten in den Nächten vor Hunger. Da ging das kleine Raubzeug, vom Hunger getrieben, in Menge ins Eiſen. Rot- und Silberfüchſe, langhaarige Skunkſe, vor allem Nerze, ſeit das Eis im Fluß Fiſche und Fröſche verwahrte. Die Pelzbündel häuften ſich an den Wän— den der Bude. Aber die Männer hatten keine Freude daran. In der Einſamkeit ihrer Wege dachte jeder an die Frau. Und wie ſie ſich immer mehr in ſie verſenkten, wuchs ſie empor zwiſchen ihnen zu einer dämoniſchen Macht. Und die Männer kehrten ſich ab voneinander, denn die Macht der Frau überwog die Gefühle all— täglicher Freundſchaft. In der Not wäre einer für den andern geſtanden, immer noch; aber, da keine Not war, in der Gleichform der Tage der Arbeit ſtrebten die Gedanken der Männer auseinander. Sie wurden ſich Laſt und ſchwiegen ſich aus. So war der neue Zuſtand, in den ihre Krankheit eintrat: ſtundenlang ſaßen ſie abends in der Hütte beiſammen und ſprachen kein Wort. Wer an der Reihe war, erhob ſich morgens ſchweigend vom Lager und ging aus der Hütte ohne ein Wort. And wenn er kam, trat er ein ohne Gruß, und der andre wandte ſich nicht nach ihm um. Jeder nahm ſchweigend ſeinen Teil an der Beute des Tages in Arbeit und verzog ſich damit in einen Winkel der Bude. Jede Reibung zwiſchen ſich ver- mieden die Männer, um Worte zu ſparen. Keiner ließ ſich gehen. Mit ſoldatiſcher Pünktlichkeit wickelte fidh die tägliche Arbeit zwiſchen ihnen ab bis ins Kleinſte ohne ein Wort. Jeder wußte, wann er an der Reihe war, den Rundgang zu machen, jeder wußte, wie groß ſein Anteil war an der Arbeit mit dem Fang des Tages. Jeder hatte ſein eigenes Gerät. Wer an der Reihe war, kochte das Eſſen, goß Tee auf, ſpaltete Holz, holte Waſſer. .. Es war ein unerträglicher Zuſtand. Und die Männer fühlten das wohl.

Sam, der Türke, war zu einem Entſchluß gekommen. Wie Jo eines Abends in die Bude trat, wandte Sam, der Türke, ſich um und fagte: „Hallo!“ Jo er- ſchrak ſo, daß er den Fuchs fallen ließ, den er über der Schulter trug. Sogar der kleine Zobel fuhr erſtaunt aus dem Schlaf. So ungewohnt war das ausgeſprochene Wort in der Bude geworden.

„Gib ihn her den Fuchs“, ſagte Sam. „Bläſt 'n friſcher Wind draußen. Wirſt 'n heißen Tee mit Rum verdauen können.“

Dabei rückte er auf dem Klotz vor dem Feuer zur Seite, daß Jo da Platz haben ſollte. Jo war noch immer ſprachlos. Aber er bückte ſich und hob den Fuchs auf und ſetzte ſich neben Sam zum Feuer. Sam, der Türke, nahm den Fuchs

Gie Einigung, in Schweigen über dem erlegten Bären geſchloſſen,

Durlanı: Der weiße Wolf 225

übers Knie, drehte ihn hin und her, befühlte die Dichte des Pelzes, blies die Haare auf...

„oft auch 'n Kreuzfuchs. Aber 'n hübſches Stück“, meinte er und zog mit dem Meſſer den Querſchnitt über die Kehle des Tieres.

„Ja“, ſagte Jo und ſchlürfte aus der blechernen Taſſe.

Schweigen. Sam ſtreifte dem Fuchs die Decke über den Rumpf. Er hatte ſie um die Fauſt gewickelt und zog daran, während er über dem nackten Fleiſch in leichten Meſſerſtrichen die Haut zerteilte.

„Hm,“ fagte er dann, „ich wollte dir etwas fagen, Jo.“

Und er erhob ſich und warf den entkleideten Tierkörper in weitem Schwung aus der Tür. Da würden ihn ſich die Wölfe ſchon holen in der Nacht. Als er zum Feuer zurückkam, trafen fih die Blicke der beiden Männer. Sam blieb ſtehen und ſagte: |

„Wir wollen uns trennen.‘

„Gut“, ſagte Jo trotzig.

An dieſem Abend wurde nichts mehr zwiſchen ihnen geſprochen.

Früh legten fie ſich ſchlafen. Als Jo am andern Morgen erwachte, lag der kleine Zobel neben ihm unter den Fellen und ſtreckte ſich voll Behagens, denn er liebte die Wärme. Sam, der Türke, war verſchwunden. Mit ihm feine Büchfe und ein Paar Schneeſchuhe. Jo überlegte nicht lang. Er machte ſich fertig und trat aus der Hütte. Da lief die Spur der Schneeſchuhe in zwei blauen Strichen über die Schneedecke hin, floß in der Ferne zuſammen und verlor ſich dem Walde zu. In dieſem Augenblick dachte Jo nicht an die Frau, ſondern nur an den Freund. Er ſagte ſich: ich will hier nicht ohne ihn leben. So hing er die Büchſe um, band ſich die Schneeſchuhe unter die Füße und lief der Spur nach in weit ausholenden Zügen. Er war ein geſchickter Läufer. Dort, wo der Berg abfiel, verſchwand er wie ein Pfeil in einem Schweif hoch aufſtäubenden Schnees.

Er hatte Glück. Gleich im Wald war Sam, dem Türken. ein Riemen der Bindung gebrochen. Viel Zeit verging, bis er mit froſtſtarren Fingern aus dem Riemen der Büchſe ein neues Stück Leder geſchnitten und die Bindung inſtand geſetzt hatte. Und als er eben die Bretter wieder unter den Füßen hatte, ſah er 30 kommen. Er erwartete ihn in vollkommener Ruhe. Als er Sam erreicht hatte, ſagte Zo nur:

„Kehr mit mir um, Sam. Es iſt ſo leer in der Bude.“

Und mit einem Blick auf die geflidte Bindung: : |

„Ich dachte ſchon immer, daß dir noch mal die Bindung zum Teufel gehen würde. Du mußt dir neue Riemen ſchneiden.“

Sam, der Türke, kehrte mit ihm nach der Bude zurück.

* * *

In der Nacht war die große Kälte eingetreten. Die Wölfe kamen bis vor die Tür der Bude und heulten. Die Trapper ließen ſie heulen und ſchliefen. In früheren Jahren hatte Sam, der ein guter Schütze war, durchs Fenſter auf ſie geſchoſſen, wenn der Mond ſchien. Oft hatte er zehn und mehr auf die Dede gelegt

224 Ourian: Oer weiße Wolf

in einer Nacht. Aber jetzt konnten die Wölfe heulen und gegen die Tür ſpringen, daß ſie in den Fugen krachte. Sam, der Türke, ſchlief.

Die Krankheit der Männer hatte ihren Höhepunkt erreicht. Vergeſſen war die Freundſchaft. Und der Geiſt der Frau ſtand rieſenhaft zwiſchen ihnen. Sie bewachten ſich jetzt. Sie ſchlichen umeinander herum, wie Berberlöwen um einen gefallenen Hirſch ſchleichen. Es war ein furchtbares Leben.

Eines Abends ſchnitt Sam, der Türke, aus einer Hirſchhaut die neue Bindung für ſeine Schneeſchuhe. Jo ſah ihm zu und ſagte höhniſch:

„Machſt dich wohl reiſefertig?“

„Mag fein“, ſagte Sam, der Türke.

„Laufen manche ſchneller als du.“

„Ich ſchieße beſſer als manche“, ſagte Sam in eiſiger Ruhe.

„Ich fürchte dich nicht“, ſchrie Jo. „Ich folge dir doch!“

„Hüte dich!“ ſprach Sam, der Türke.

So ſtand es zwiſchen den Männern. Da gab es keine Heilung mehr. Einmal, als Zo vom Rundgang kam, war kein Feuer im Kamin, und die Bude lag in Nacht und Eiſeskälte. Er entſchloß ſich ſofort. Warf die beiden Rotfüchſe ab, die er trug, ſchnallte die Schneeſchuhe an und ſchritt zur Tür hinaus. Es war eine mondhelle Nacht. Wie ein Band von Silber ſchimmerte weithin der vereiſte Fluß. Und unter den Schneeſchuhen ſplitterte kniſternd der gefrorene Schnee zu feinen Kriſtallen. Aber nirgends eine Spur. Jo traute den Augen nicht. Er lief um die Hütte und ſuchte überall. Keine Spur. Aber das war ja nicht möglich! Selbſt wenn Sam auf Schneereifen gegangen wäre, da müßten doch Abdrücke ſein. .. Jo holte fi Schneereifen aus der Hütte, legte fie an und tat ein paar Schritte damit. Die Ab- drücke waren deutlich erkennbar. Kopfſchüttelnd band er fih die Schneereifen wieder ab und ging in die Hütte zurück. Da klang aus einem Winkel höhniſches Lachen.

„Hüte dich du!“ ſprach Sam, der Türke, trat zum Kamin und ſchlug Feuer. Seit dieſer Stunde haßten ſie ſich.

Am andern Morgen erhob ſich Sam, zog ſeinen Pelz an, hing die Büchſe um, band fih die Schneeſchuhe unter die Füße und verließ die Bude offenkundig. Jo richtete ſich auf und ſah durch die offenſtehende Tür, wie Sam den Stock in den Schnee ſtieß und ablief. Da ſtand er auf und warf die Tür laut ſchallend ins Schloß. Zwei Stunden darauf ſchloß er die Bude zu und folgte Sams Spur. Den ganzen Tag über lief er hinter ihm her und erreichte ihn abends bei der Wald- ſchlucht, wo die beiden Arme des Schlangenfluſſes ſich vereinigen. Sam, der Türke, hatte dort haltgemacht und war eben dabei, über einem kleinen Feuer in ſeinem Blechkeſſel Schnee zu ſchmelzen, um Tee zu kochen. Jo ſah von weitem den glimmenden Punkt des Feuers und war auf der Hut. Diesmal kam er ja nicht, um den Freund zu holen, weil „es ſo leer in der Bude war“. Es ging um die Frau. Es ging ums Leben. Jo war ſich darüber klar. ö

Sam, der Türke, ſah ihn kommen. Er ſtellte den Blechkeſſel ab, nahm die Büchſe auf und ging ihm entgegen. Als er noch etwa fünfzig Schritte von ihm entfernt war, kniete er fih hin und legte die Büchſe an. Jo ſtand ſtill und ſchrie: „Schieß zu, du feiger Hund!“

Durian: Der weiße Wolf | d 225

So hatte Sam es nicht gemeint. Er ſenkte die Büchſe und ließ den andern herankommen. „Was willſt du hier?“ fragte er, als Jo ihm gegenüberſtand. „Well,“ ſagte Jo, „wir wollen zuſammen zu dem Fräulein gehen.“ . *

K

Es war, als ſollte in dieſer Nacht die Freundſchaft wieder erwachen. Das Feuer verglomm. Aus der Aſche ſchwelte ein fahles Band zum tiefen blauen Himmel der Sterne. In der Ferne heulte ein Wolf. Die beiden Männer ſaßen da und redeten zueinander. Sie ſollten Loſe ziehen, ſchlug Jo vor. Aber es wurde verworfen, und ſie nahmen ſich ernſthaft vor, zuſammen zu dem Fräulein zu gehn, ihr zu ſagen, wie es um ſie ſtand, und ihr zu überlaſſen, zwiſchen ihnen zu wählen. Und dann ſprachen fie über das Fräulein. Wie ſchön fie fei, und welche guten Eigenſchaften ſie habe. Im Lauf der Zeit hatte ſie zahlloſe gute Eigenſchaften angenommen in der Phantaſie der Männer. Jeder hatte ſeine eigene Legende um ſie gedichtet. Die Männer kamen in Stimmung. Sie erzählten ſich von den Plänen, die jeder ausführen wollte, wenn die Wahl des Fräuleins auf ihn fallen ſollte. Sie verabredeten, daß dem Zurückgewieſenen die Bude mit allem Pelz- werk und Gerät gehören ſolle. So großmütig waren ſie geſtimmt und ſo ſicher jeder ſeines Siegs über den andern. Ja, ſie wollten gute Freunde bleiben und einander nichts nachtragen. Es ſei nicht ausgeſchloſſen, daß das Fräulein eine ihr ähnliche Schweſter habe. Da wollten fie ſich ſpäter gegenſeitig mit ihren Fa- milien beſuchen. Vielleicht könnten ſie alle zuſammen einmal einen Winter in der Hütte verleben. Dann würde erſt Betrieb in der Bude ſein.

So ſprachen ſie miteinander. Aber daß ſie ſprachen, war verdächtig; Leute ihrer Art ſchweigen fih aus, wenn fie wahrhaft fühlen, oder reden von neben- ſächlichen Dingen. Keiner traute dem andern. Sie wagten nicht, zu ſchlafen. Als das Geſpräch zwiſchen ihnen verſiegt war, und ſie ſich zum Feuer gelegt hatten, um zu ſchlafen, beobachteten ſie ſich heimlich. Jo überlegte, wie ſie morgen früh über die Schlucht gelangen ſollten. Über der Schlucht lag nämlich ein Baumſtamm, auf dem für einen nur Platz war. Wer ſollte zuerſt hinüber?

Als der Morgen graute, erhob er ſich lautlos vom Boden. Nach langem Bedenken war er auf den Einfall gekommen, den Stamm zu überſchreiten, während Sam noch ſchlief. Jenſeits der Schlucht wollte er ihn erwarten. Vorſichtig nahm er Schneeſchuhe und Büchfe auf und ſchlich fih auf den Zehenſpitzen zum Ab- grund hin, wo der Baumſtamm lag. Aber Sam, der Türke, ſchlief nicht. Er ſah, wie 30 ſich heimlich fortſchlich, um in Fort Nelſon der Erſte zu fein. Und blinde Wut kam über ibn.

Er richtete fich auf, ergriff die Büchſe. 80 ſtand auf dem Stamm und ſchritt vorwärts. | 2

Da krachte der Schuß...

* *

An dieſem Tag erhob ſich der Schneeſturm. Es begann ein wildes Heulen unter den Geiſtern des Waldes. Die Stämme bogen ſich krachend und ſplitternd, ihre Wipfel peitſchten gegeneinander, Aſte brachen, und viele Stämme hoben ſich

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226 Durian: Der weiße Wolf

aus den Wurzeln und ftürzten. Der Schnee fegte in raſenden Wirbeln über den Boden her vor dem Sturm. Darauf war nichts mehr zu ſehen vor Schnee und Sturm. Es war unmöglich, dagegen anzukämpfen.

Der einſame Mann, der da ſchritt, wurde vom Sturm erfaßt und zu Boden geſchleudert. Seine Schneeſchuhe zerbrachen. So lag er da und konnte nichts tun als am Boden ſich anklammern und alles über ſich ergehen laſſen. Tag und Nacht raſte der Sturm. Die Kraft des Mannes erlahmte; zur Hälfte lag er im Schnee verſchüttet, ſeine Glieder erſtarrten. Er verſuchte, vorwärts zu kriechen, um Schutz zu ſuchen. Da ergriff ihn der Sturm von neuem und rollte ihn den Berghang hinab. Rücklings fiel er auf einen geſtürzten Stamm und blieb da liegen, halb bewußtlos. Seine Kleider waren zerfetzt, die Büchſe zerbrochen, der Beutel mit Lebensmitteln verloren, die Mütze auch. Der Sturm riß es fort, und der Schnee begrub es. Dazu ein ſtechender Schmerz im linken Fuß, der ſich beim erſten Sturz in der Bindung des Schneeſchuhs überdreht hatte, Schmerzen im Rücken und an den Knien, Naſenbluten. Aber er lag hier ſicher und fand Schutz vor dem Sturm. Er wagte ſich nicht zu rühren und lag dicht an den Baumſtamm gepreßt den Reft der Nacht hindurch.

In den Morgenſtunden ließ der Sturm nach. Aber das Schneien hielt an, und die gelbgrauen Schneewolken ballten fih fo dicht, daß der Tag kaum durch- dringen konnte. Sam, der Türke, ſtand auf und fluchte. Keine Büchſe mehr, keine Schneeſchuhe, nichts zu eſſen, kein Keſſel! Da fiel ihm ein, daß er noch Tabak hatte. Er zog die Pfeife aus der Taſche und ſtopfte fie in Gelaſſenheit. Sechs Streich- hölzer verlöſchte ihm der Wind nacheinander, aber er ſtrich geduldig das ſiebente an, und da brannte die Pfeife. So ſtand er in der Einöde und rauchte, und Fluten von Schnee fielen über ihn.

Er ſah zum Himmel auf und ſtellte die Richtung zum Nelſonfluß feſt. Und in dieſer Richtung arbeitete er ſich durch den Schnee. Sein Fuß ſchmerzte ſo, daß er hinken mußte. Aber er hinkte vorwärts.

Stundenlang ſchleppte er ſich, ohne zu ruhen. Und wo er zuſammenbrach, blieb er liegen. Es war um Mittagszeit. Er fühlte ein heftiges Stechen in dem verrenkten Knöchel und zog den Stiefel aus. Es tat ihm wohl, den entzündeten Fuß auf Schnee zu legen. Er fühlte Hunger, holte die Pfeife aus der Taſche und rauchte. Nach zwei Stunden wollte er weiter und verſuchte, den Stiefel anzuziehen. Kaum brachte er ihn über den Fuß, ſo ſtark war der inzwiſchen angeſchwollen. Als es ihm endlich gelungen war, fühlte er ſolche Schmerzen, daß ſich ihm eine ſteile Falte in die Stirn grub. Er verſuchte, zu gehen. Es ſchien unmöglich. Da ſtand er ſtill und fluchte. Und biß die Zähne zuſammen und ging vorwärts durch den Schnee. Mit jedem Schritt verſank er bis an die Mitte der Waden im Schnee. Oft brach er ein bis ans Knie, und die Falte in der Stirn grub ſich tiefer vor Schmerz. Manchmal taumelte er wie ein Betrunkener, zuweilen blieb er ſtehen und fluchte. Bis zum Abend hielt er durch. Dann brach er wieder zuſammen und lag eine Weile bewußtlos. Ei

Er wandelte auf einer Wieſe voll flammender Alpenveilchen. Es war Abend, und die Luft wehte lau, und die Droffeln flöteten aus dem dunkelnden Geſträuch.

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Ourian: Der weiße Wolf ; 227

Fernher wehten die Klänge einer Ziehharmonika. Er horchte hin: es war das Lied vom Feuerwehrmann. Da wurde er luftig, weil er das Lied vom Feuerwehr- mann hörte. Es war ſein Lieblingslied. Und er begann ſich im Takt ber Melodie zu wiegen und fang:

„l am the Firefighter jo-ho-ho-hoo

I am the Firefighter jo-ho-ho-hoooo.“

Plötzlich fiel ihm ein, daß es Jos Ziehharmonika war. Er erkannte ſie wohl, weil ſie beim Luftholen immer keuchte und pfiff. Und wie er daran dachte, kam Jo ſelbſt über die Wieſe gegangen. Er ſah ſtattlich aus. In der Mütze hatte er einen Flügel vom Blauhäher ſtecken und um die ſchimmernde Biberjade lag der Patronengürtel. Die Büchſe trug er loſe über der Schulter.

„Willſt du zu effen haben?“ frug ihn Jo.

„Natürlich“, ſagte er. „Hab' verdammten Hunger nach dem weiten Weg. Ich gehe nämlich zu dem Fräulein.“

Auf einmal war eine Menge guter Dinge da; Hirſchfleiſch und Tee und auch zwei Pakete Oreiſterntabak. Sie aßen und rauchten. Jo ſagte:

„Ich hab' ein kleines Loch in der linken Schulter; ſeitdem hab' ich falſche Luft.“

„Das kommt daher,“ erklärte er Sam —, „weil du das Fräulein haben wollteſt.“

„Aber es iſt ja nicht ausgeſchloſſen, daß das Fräulein eine ibr ähnliche Schweſter hat“, meinte 30.

„Nicht ausgeſchloſſen“, gab er zu.

Plötzlich galoppierte der Bär über die Wieſe. Zo ſchrie:

„Laß mich! Laufen manche ſchneller als du.“

Aber er hielt Jo bei der Hand und ſagte:

„Ich ſchieße beſſer als manche.“

And er kniete ſich hin und ſetzte die Büchſe ein, da merkte er erſt, daß die gute alte Wincheſter zerbrochen war. Der Bär warf ſich auf ihn und ſtieß ihm die kalte Schnauze ins Geſicht. Er wehrte ſich, ſo gut es eben ging. Aber der Bär war ſtärker als er und big

„Teufel!“ Sam fuhr auf. And ſtarrte in die grünlich funkelnden Augen eines großen weißen Wolfs.

Er riß den Revolver aus der Taſche und feuerte. Als der Pulverdampf ſich verzog, waren die grünlich funkelnden Augen verſchwunden. Wildes Geheul erſcholl von allen Seiten. Es war Nacht. Hinter zerfetzten Wolken ſchwamm der Mond. Sam, der Türke, richtete fih auf und zog den Stiefel auf. Der Knöchel war blut- unterlaufen und pulſte erhitzt; Sam legte Schnee darauf und band ſein Halstuch darum. Dann lehnte er ſich mit dem Rücken gegen einen Baumſtamm, holte die Pfeife vor und rauchte, denn er mußte fih wach erhalten. Nach einiger Zeit taud- ten über der Waldblöße die Schatten einiger Wölfe auf. Sie ſtanden beiſammen und ſchienen zu beraten. Dann ſetzten ſie ſich wie auf ein Zeichen gleichzeitig in Bewegung und liefen auf den Mann zu. Ein ſtarker Wolf von weißer Farbe führte. Sam gab drei Schüſſe ab. Da ſtoben ſie auseinander und tauchten lautlos ins Dunkel des Waldes. Im nämlichen Augenblick liefen von der entgegengeſetzten

228 Durian: Der weiße Wolf

Richtung in langen Sätzen zwei ſtarke Wölfe gegen Sam an, aber er ſah ſie zu rechter Zeit und ſchoß. Der vordere brach zuſammen und heulte laut auf. Dann ſchleppte er ſich hinkend und klagend davon. Der andre Wolf hatte ſchon beim Knall des Schuſſes das Weite geſucht. Noch eine Patrone ſteckte im Revolver. Sam fühlte bleierne Müdigkeit; aber er brachte es über ſich, zu wachen, bis der Morgen graute. Da ſank ihm der Kopf hintenüber, und mit dem Revolver in der Hand ſchlief er ein.

Das Fräulein glitt über den Schnee auf ihn zu und neigte ſich über ihn.

„Welch ſchönen Revolver Sie da haben! Nein, Sie ſind aber einer!“ ſagte ſie.

And ſie ergriff ſeine Hand, in der der Revolver lag, und hob ſie ſanft empor. Er wollte etwas fagen, aber die Stimme verfagte ihm.

„Sie ſchießen fo gut, Herr Soames“, ſprach das Fräulein. Sie ſagte aus- drücklich: „Herr Soames.“ Und dabei verſuchte ſie, den Schuß abzuziehen, indem ſie auf Sams Finger drückte, der im Abzugsbügel der Waffe lag. Ihm trat der kalte Angſtſchweiß auf die Stirn. Er durfte die letzte Patrone nicht verlieren.

„Fräulein!“ ſchrie er, „Fräulein, laſſen Sie los! Es iſt mein letzter Schuß.“

„Oh,“ lächelte fie, „ich zeige Ihnen das Ziel, Herr Soames. Wir werden gut treffen.“ Und mit leiſer Stimme ſagte ſie:

„Nun ſehen Sie über den Lauf!“

Er blickte über den Lauf und ſah Jo auf dem Baumſtamm über der Schlucht. Da krachte der Schuß.

Sam ſchreckte auf. Es war etwas geſchehen. Aber er brachte ſeine Gedanken nicht mehr zuſammen. Um ihn drehte fich alles: Bäume, Schnee, Himmel ... er ſchien auf einer Orehſcheibe zu ſitzen. Plötzlich ſtand wie mit fühlbarem Ruck die Welt um ihn ſtill. Er fand ſich langſam zurecht und entdeckte, daß er im Traum den Revolver abgeſchoſſen hatte. Mit verächtlicher Gebärde warf er die Waffe von ſich. Der Schnee ſchluckte ſie auf. Er wollte den Stiefel anziehen, aber es gelang ihm nicht. Dick geſchwollen und erſtarrt lag der Fuß vor ihm, als gehörte er nicht mehr zum Körper. Er mußte ihn erſt mit Schnee reiben, bis wieder Leben in ihn floß. Aber den Stiefel brachte er nicht mehr darüber. Da warf er den Stiefel dem Revolver nach. Grimmiger Hunger nagte in ihm. Er fühlte ſich matt und willensſchwach. Er wollte doch nun aufſtehen und konnte nicht. Schließlich gelang es ihm. Er wand das Tuch um den kranken Fuß und taumelte gedankenlos vor— wärts wie ein Betrunkener. Eigentlich war ihm nun leichter zumut. Er fühlte die Schmerzen im Fuß nur dumpf und ärgerte ſich nimmer, wenn er in den Schnee einbrach. Ihm war, als ginge er im Traum. Manchmal drehte fih der Boden unter ihm ein wenig, aber er ging ſicher. Er konnte gar nicht fallen und auch nicht ſtill ſtehen. Immer weiter mußte er gehen, Tag und Nacht, immer weiter immer weiter Aber er konnte nicht mehr denken. Seine einzige Empfindung war: Hunger, furchtbarer Hunger. Immer weiter ging er wie ein Uhrwerk, das jemand aufgezogen und dann vergeſſen hatte, und das nun lief, ſolange noch Kraft in ihm war, lief bis ans Ende. Gegen Abend ſah Sam den weißen Wolf wie ein Geſpenſt durch die Ebene jagen. „Sieh, der iſt nun hinter dir her“, jagte er ſich, aber es

Brauer: Sommernacht 8 229

berührte ihn weiter nicht. Nur immer gehen, immer weiter bis ans Ende Da brach er in die Knie. Und wie er lag, war es, als hielte der Schnee ihn feſt. Es gelang ihm nicht mehr, ſich aufzurichten. Aber noch immer war die Kraft in ihm. Auf allen Vieren kroch er vorwärts, wühlte ſich durch den Schnee. Weit ſchleppte er fich fo. Mit einmal ſah er fih den grünlich funkelnden Augen gegen- über. Da ſtieß er einen heiſern Schrei aus und fiel mit dem Geſicht in den Schnee.

Der Wolf umkreiſte ihn langſam, ſtand dann ſtille und beobachtete. Wie der Mann ſich nicht rührte, glitt er in zwei lautloſen Sprüngen an ihn heran und duckte ſich in den Schnee. Da wälzte Sam, der Türke, ſich auf die Seite, öffnete die Augen weit und ſtarrte in die grünen Augen des Wolfes. Und ſein Antlitz wurde fahl, wurde zu einer Fratze übermenſchlichen Grauens. Er blickte in einen Ab- grund von grünlich gleißendem Licht. Und in dem Licht ſtand ein ſchmaler Schatten. Und der Schatten wuchs und ſchwoll, glühte wie didmantenes Feuer und ſenkte ſich langſam durch ſeinen Blick bis auf den Grund ſeiner Seele. Da ſchnellte mit letzter Kraft der Mann vom Boden auf und ſtürzte fih auf das Tier. Die Meffer- klinge blitzte; der Wolf ſtieß ein wildes Knurren aus und N ſich feſt. Schnee ſtäubte uͤber den zuckenden Knäuel der Leiber.

. N ,

Sommernacht Von Helene Brauer

Noch ſteht des Turmhahns Schattenriß Auf blaſſen Himmel hingetuſcht,

Die Kirche, Fledermaus-umhuſcht, Wächſt auf, ein Berg von Finſternis.

Aus müden Fenſtern blinkt es ſchwach, Doch von den Noſenbüſchen bricht |

Ein Leuchten her von weißem Licht

And hält des Partes Steige wach.

Die Kronen ragen ſchattenreich,

Sie wogen nicht und atmen kaum,

Ein Lauſchen ſchleicht von Baum zu Baum; Schwer ſinkt der Tau auf Blatt und Strauch.

Die Nacht hebt an, die reif und ſtark Sem Tage Glanz und Prunk entreißt, Mit Blüten wie mit Lichtern gleißt And ſilbern überrauſcht den Park.

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250 Naade: Das Gewitter

Das Gewitter Bon M. Naacke

7 fühl's noch immer.

Es war eine Stunde gut nach Mitternacht. Da holte mich die Mutter aus warmem Bett. „Komm, komm, mein Kind, wir müſſen 2 bereit ſein! 's kann ſein, der feurige Wagen du weißt, vom Pro-

pheten Elias kommt uns holen.“

Och hatte ſchon reichlich geſchlafen; jetzt aber war ich ganz munter und atmete dem entgegen, was werden ſollte. Veſchuht und in einem Mäntelein, ſaß ich auf einem Stuhl zwiſchen Vater und Mutter und fühlte mich: Perle im Golde!

Zu ſchön war's: Das Zimmer ſchwarz und dunkel und dann ſo ein Blitz: ſchneeweiß und alles hell! Taghell!

Durch die Glastür ſah man die Bäume, die ſtanden erwartungsvoll. Wie meine Seele!

Da leuchtet es wieder ſo weit und weiß. „Das geht noch all in die Breite,“ ſagte mein Vater und zählte: „Eins, zwei, drei, vier“ es rollte ein ſchwerer Donner —, „das iſt nun etwa in Leipe, die haben dort ſicher ſtarken Regen.“

Dann aber kam ein Heulen, ein Achzen, ein Krachen und Klirren: die Glas- tür ſprang auf und herein brachen Sturm und Donnerhall und Regenflut!

Der Vater ſtand auf, ſchalt ein Weniges, daß wieder die Riegel nicht ein- geſtellt ſeien, machte Ordnung und kam naß überſtäubt zurück. Und kaum, daß ich den feuchten Flauſch ſeines Rockes wieder in meiner Linken fühle die Rechte hatt' ich im Schoß der Mutter und meinen Kopf in ihrem Arm da wurde es draußen ganz groß und gewaltig: das Rauſchen, das Achzen, das Rollen und Toben dann alles rot; man ſah kein Möbel, keinen Vater, keine Mutter, nur rot alles rot und nochmals rot und immerzu heulendes Krachen —!

War das der Wagen?

Nun, dann reiſen wir zuſammen, Vater und Mutter und ich, denn meine Hände hielten feft. Ich war ohne Angſt, ganz bereit, ja voller Neugier, was nun würde

Doch da ward es langſam ſtill ſtill ſtill und dunkel.

Dann Vaters Stimme: „Mach' Licht!“

Dann Mutters Hände am raſchelnden Zündholz und dann, nach all dem großen Flammen und Leuchten, folh ein kleiner, erbärmlich werächtlicher Licht- ſchein! Und ich ſchier heulend: „Ift alles aus?!“

Da kam wieder ein weißes Blitzen vom fernabziehenden Wetter; der Vater ſagte: „Läppiſches Geflacker“, und löſchte das Licht.

Da ſah ich die Bäume draußen nun wieder ſtill, ganz ſtill im mildweißen Wetterleuchten. Jetzt Vaters Griff um meinen Mantel; und alsbald ſaß ich auf feinem Arm; ganz feſt. Und bei den ſanften, immer wieder fallenden Lichtern von draußen ging er zur Tür und hinaus, ſtand auf der Schwelle und atmete

grledrich: An Heutſchland 231

tief: „Nun trinke, mein Kind, trinke den Gottesodem! Es ging ein Mächtiger hier vorüber.“

Der Vater trat über die Stufen hinab, eilende Waſſer liefen um ſeine Stiefel. „Frau,“ rief er, „komm doch heraus; 's iſt alles vorbei, der e der Sturm und die Not.“

Er nahm die Mütze vom Kopf:

„Du Großer, der du hier gingſt, man ſpürt deinen heiligen Odem. Viel Macht iſt dein viel Macht! And ſiehe: du biſt uns gnädig geweſen.“

War je ein Menſch „bereit“, ſo war's dies Kind im ſpiegelnden Widerſchein zweier goldener Herzen...

An Deutſchland Von Paul Friedrich

Deutſchland, du lebſt in meiner Seele wie ein Lied, Wie eine unverwundne Totenklage,

Wie eine tiefe, dunkle Schickſalsfrage, N Deutſchland, du lebſt in meiner Seele wie ein Lied!

Deutfchland, du biſt in meiner Seele nur ein Traum Don einer Welt, die mir im Innern lebt

Und die allein in gläubigen Herzen hebt

Zum Licht die grünen Aſte wie ein Baum.

Deutſchland, wann wirſt du einmal wirklich ſein? Nicht mehr Orplid und nicht mehr Avalun? Wann wirft du feft im Grund der Dinge ruhn, Im Reif der Schöpfung als ihr lichtſt er Stein?

Deutſchland, mich ſchreckt heut nicht dein rauh Gewand, Und nicht des armen Aſchenbrödels Leben,

Die Stricke nicht, die deinen Leib umgeben

In deiner Trauer demutvollem Stand.

Denn ſieh, ich fühle mächtig mich umweihn Künftigen Geiſt es Sturm, der mich umkreiſt.

Sei unverzagt die graue Hülle reißt

Mein Land, du wirft einft doch vollen det fein!

232 Holſtein: Allerlei vom Sehen der Dinge

Allerlei vom Sehen der Dinge Plauderei von Chriſtine Holſtein

TS. s muß um das Sehen in der Kindheit etwas unbeſchreiblich Zauber- A À haftes fein, gleichſam als ob ein friſcher Morgenglanz über allen | Dingen ruhe. Immer fand ich Bilder oder Gegenſtände, die als SIE) Kind mein helles Entzücken erregten und ſich mir unauslöſchlich ein- prägten, ärmlich und unbedeutend, wenn ich ſie im ſpäteren Leben wieder ſah. Meine Seh-Erlebniſſe machten das größte Glück meiner Kindheit aus. Einige will ich hier erzählen.

An einem grauen Spätherbſttage ging ich mit meiner Mutter auf den Kirchhof. Wir gingen einen ſteinigen Feldweg hinan; das Gras an den Rainen war fahl, der Himmel farblos trübe, Nebel über den geſtürzten Ackerſchollen. Plötzlich ſah ich durch das Grau der Landſchaft eine blaue Blume leuchten. Ich ſtand wie gebannt, ein unbeſchreibliches, märchenhaftes Glücksgefühl überkam mich. Die blaue Blume war ein verſpätetes Stiefmütterchen. Ich nahm es mit nach Hauſe, pflanzte es in einen Blumentopf und habe das kleine Erlebnis nie vergeſſen.

Ein andermal ſtand ich vor der Tür eines Kramladens und wartete auf meine Mutter, die drin etwas einkaufte. Die Mutter blieb lange, und ich ſtand und blickte gelangweilt auf den Kirchturm, der ſich gerade mir gegenüber erhob; und allmählich feſſelte der Kirhturm meine Aufmerkſamkeit mehr und mehr. Meine Kinderaugen maßen den Turm vom Erdboden bis zum goldenen Knopf in der blauen Luft, er erſchien mir auf einmal ſo rieſengroß, weiter umſpannte mein Blick die Rundung des grünen Helmes, heftete ſich auf die runde Uhr, forſchte durch die Schallöcher ins Innere, wo man die Glocken ſchweben ſah alles Dinge, über die ich bisher hundertmal hinweggeſehen, ohne fie ausdrücklich in mein Be- wußtſein aufzunehmen. Aber in dieſem „Bewußtwerden“ lag wohl jenes eigen— tümliche neue Glück, das mich jetzt erfüllte. Das Gefühl, daß es mir mit andern Dingen wahrfcheinlich ebenſo gehen würde wie hier mit dem Kirchturm, daß ich wohl noch nichts „richtig“ geſehen, daß es die ganze Welt noch neu zu entdecken gab. Mit dem Bewußtwerden meine ich freilich nicht das erſte bewußte Sehen, ſondern das erſte Sichklarwerden über die Beſchaffenheit eines Dinges. Es gibt verſchiedene Grade des Bewußtſeins.

Ich glaube, daß ſich die Fähigkeit des Sehens beim Kinde ſehr allmählich und gleichlaufend mit dem Erwachen des Bewußtſeins entwickelt. Das Kind ſtarrt zunächſt mit leerem Blick auf feine Umgebung, ohne ſich ihrer bewußt zu werden. Wahrſcheinlich, daß fie ihm wie ein ungegliedertes buntes Chaos erſcheint, welches aber doch einen leiſen, leiſen Eindruck des Vekanntſeins in ihm hinter- läßt, und dieſen immer deutlicher. Das erſte klar bewußte Sehen iſt ſicher nichts Plötzliches und Sprunghaftes, ſondern ein fließender Übergang von einem Be— wußtſeinszuſtand in den anderen. Wenn aber einen Menſchen bis in feine er wachſenen Jahre tiefes Dunkel umgab und er dann plötzlich in unſere Welt der

7 =

Holſtein: Allerlei vom Sehen der Dinge 233

Formen und Farben verſetzt wird, fo find feine erſten Empfindungen nicht freu- diger Art. Ich hörte von einem blindgeborenen jungen Mädchen, dem durch eine Operation das Augenlicht geſchenkt wurde. Ihr erſter Eindruck war Furcht und Entſetzen vor ihrem Arzte, dem erſten Menſchen, den ſie ſah. Sie war zunächſt förmlich unglücklich. Alles erſchien ihr ſo rieſig, ſo unheimlich, allein den Anblick von Kindern und Blumen konnte ſie ertragen, bis ſie ſich endlich in die Welt fand. Von dem geheimnisvollen Kaſpar Hauſer, der feine Kinder- und Jugend- jahre in einem finſteren Gefängnis zugebracht hatte, ſagt der Bericht: Als man ihm die Welt zum erſten Male vom Turm aus zeigte, habe er das Geſicht mit den Händen bedeckt und erklärt, es ſei ihm zumute, als wären ihm alle Dinge ſo furchtbar nahe, daß ſie ſeine Augen berührten. Intereſſante Beiſpiele für eine geiſtige Entwicklung ohne Geſichtseindrücke. Als Kaſpar Hauſer zum erſtenmal in die Welt ſah, erblickte er ſie nicht mit dem dämmernden Bewußtſein eines Kindes, dem fih zuerſt nur einzelne glänzende oder bunte Gegenſtände heraus- heben, ſondern die Fülle der Bilder ſtürzte über ihn herein und berührte ihn deshalb ſo unheimlich nah, weil ja das perſpektiviſche Sehen, das Erkennen der Abſtände und Tiefen des Raumes erſt allmählich entwickelt wird. Bei dem jungen Mädchen aber rührt das anfängliche Entſetzen wohl daher, daß es ſich in den Jahren feiner Blindheit aus Gehörs- und Taſteindrücken eine Seelenwelt geſchaffen hatte, der die wirkliche nicht entſprach.

* K

Als was ſich die Dinge dem Auge darſtellen, abgeſehen von ihrer praktiſchen und ſinnvollen Bedeutung, einfach als Licht- und Farbeneindrücke im Raum, das können nur die kleinen Kinder wiſſen. Sie verbinden noch nicht wie wir mit jedem Ding einen feſten ſprachlichen Begriff, der es begrenzt und einengt. Ein Baum etwa iſt für ſie etwas ganz anderes als für uns etwas ſo Großes, Rau- ſchendes, Wogendes, Grünes. Aus der Tiefe unſerer Kindheit ſteigt uns noch manchmal ein Erinnern auf, unbeſtimmt, zerflatternd, wenn wir es feſthalten möchten, als ob da rieſenhafte ſchwankende Geſtalten und ſeltſame Ungeheuer geweſen ſeien, züngelnd, farbenleuchtend. Aber ein ſolches ſchrankenloſes Sehen iſt nur einem Kinde möglich, das noch nichts von der Sprache weiß. Die Sprache hat Ordnung in die Welt gebracht und gleichſam den Dingen feſte Umriſſe, frei- lich auch eine gewiſſe Starrheit gegeben. Wohl ift etwas von den Dingen in die Worte gefloſſen, unter denen wir ſie uns vorſtellen, etwas von dem Gefühl, das ihr Anblick in uns erregte. Bei dem Wort Rofe berührt uns etwas von dem Duft und der Lieblichkeit einer Roſe, und ſo bei allen Worten: Wald, Wind, Korn, Gras, Wolken. Aber etwas von der Starrheit des feft umgrenzenden Wortes hängt doch auch den Dingen an. Wir betrachten ſie nicht mehr vorausſetzungslos, ſondern immer unter den herkömmlichen Begriffen, ſehen „Wälder“, „Felder“, „Häuſer“. Manchmal aber ergreift uns irgendein Anblick, etwa der einer zauber ſchönen Landſchaft, ſo tief, daß uns die überkommenen Worte ſo unzureichend ſo hart, ſo ſchwer, ſo arm, ſo nüchtern dafür erſcheinen; dann iſt es uns ſo eng, als ob wir in unſerer Sprache gefangen ſeien. Dann möchten wir ſie ſprengen, möchten ganz neue Formen finden, um das Weſen eines Dinges .

Ser Türmer XXIII, 10

234 Holſtein: Allerlei vom Sehen der Dinge

und können es doch wiederum gar nicht anders ſehen, als unter den über- lieferten Begriffen. |

Freilich würde wohl ohne dieſe Verankerung der Welt mit der Sprache unſer Gedächtnis viel unbeſtimmter, undeutlicher, ſchwankender ſein. Wenn man ſich einen Eindruck feſt einprägen will, ſo muß man ſich während der Winuten des Betrachtens über die ſprachlichen Bezeichnungen ſeiner Einzelheiten klar werden. Eindrücke: Landſchaften, Bauten, Bilder, Waffen, Geräte, für die wir keinen ſprachlichen Ausdruck zur Hand haben, laſſen ſich kaum annähernd getreu ins Gedächtnis rufen. Reine Licht- und Farbeneindrücke ſchwanken ſehr in der Erinnerung, beſonders auch in den Größenverhältniſſen. Worte wie Baum, Blume, Haus, Turm enthalten in ſich ein gewiſſes Maß der Dinge. Ohne ſie kann die Phantaſie ins Ungeheuerliche vergrößern und verändern.

Aber vielleicht ſtammen aus der taſtenden Erinnerung an die früheſte Kind- heit der Völker wo das Wort noch nichts feſt machte, wo alles Gedächtnis noch ſchrankenloſe Phantaſietätigkeit war jene ſeltſamen, phantaſtiſchen Geſtalten, Rieſen, Drachen, Faune, Nixen, wie fie die Mythologien und Sagen der Menfch- heit bevölkern.

k * x

Auge und Ohr ſind die geiſtigſten Sinne, ja fie find es fo ſehr, daß fie die Logik einer materialiſtiſchen Weltanſchauung ſprengen, denn ſie weiſen mit ihrer Freude am Schönen rätſelvoll über das Stoffliche hinaus.

Der ſtreng durchgeführte Materialismus muß alles abweiſen, was ſich dem ewigen Kreislauf des Stoffes nicht als notwendig und ſinngemäß einfügt. Ge- wiffe Sinnesreize, etwa die Luft an Speiſe und Trank, entſprechen dieſer Forde- rung, denn ſie dienen der Aufrechterhaltung des Stoffwechſels im menſchlichen Körper, ebenſo wie andere der Erhaltung des Menſchengeſchlechtes dienen. Auge und Ohr fügen ſich auch in die materialiſtiſche Weltanſchauung, inſofern fie einen Feind erſpähen, Gefahren wittern. Aber nun kommt etwas, das mit der Auf rechterhaltung der ſtofflichen Welt gar nichts zu tun hat.

Woher dieſe geheimnisvolle Freude an der Schönheit, an den Bildern der Welt, dem Goldglanz der himmliſchen Geſtirne und den Formen und Farben der irdiſchen Dinge, eine ſo unſchuldige, tief beruhigende Freude, bei welcher der Menſch gleichſam aus der engen Hülle ſeines Körpers heraustritt und in den Dingen ausruht, wunſchlos, ſelig, wo ſein armes, kleines Ich ihm verſinkt und er ſelbſt zur großen, weiten Welt wird! Dies nicht nur bildlich gemeint! Denn die Welt mit der Fülle ihrer Bilder läßt ja wirklich eine Spiegelung im menſch— lichen Geiſte zurück, daß er ſie nun als Welt der Vorſtellung in ſich trägt. Nun erſt, durch das Unterſcheiden, ift das Denken möglich. Und wie ſeltſam, daß der Menih manche Dinge als ſchön, manche als häßlich empfindet, etwa daß ihm Schmutz und Mißgeſtaltung Ekel und Pein erregen, daß er mit aller Kraft nach Reinheit und Schönheit ſtrebt! Und daß der Anblick der Sonne mit ihrem ſtrah- lenden Licht in allen Völkern die erſten Gottesvorſtellungen weckte! Und daß der Anfang aller Kunſt, des ſchöpferiſchen Nachbildens der geſchauten Dinge, fid zuerſt Vilder der Götter zu geſtalten ſtrebt! Und ſchließlich, daß dieſe geſchaute

Kremfer: Ein Gleichnis j 235

Welt mit ihren Kämpfen und Gegenſätzen von Licht und Finſternis, Schmutz und Reinheit, Sturm und Stille ihr Widerſpiel findet in einer zweiten „ſeeliſchen“ Welt, deren ſich der Menſch nun erſt bewußt wird und die er ſich nun in tiefer Sehnſucht „ſchön“ geſtalten möchte!

| Wie bringen wir aber diefe Freude, Sehnſucht und immerwährende Steige- rung unter in der nach beſtimmten Geſetzen von Zahl, Maß und Gewicht ewig gleichförmig ſich abwickelnden Weltmaſchinerie des Materialismus?

Bereits im Schauen entfliegt die menſchliche Seele den engen Schranken der mechaniſchen Weltanſchauung und ſchwingt ſich ahnungsvoll in Höhen, wohin kein Materialismus ihr folgen kann. |

—— Ein Gleichnis

Von Werner Kremſer

Es fuhr der Blitz ins glaſtendheiße Sommerfeli Don ſchwũ ler Wolken ballung lang umdũft ert. Und wo ein Fünklein eben erſt gekniſt ert, Steht rings in Flammen ſchon die Welt.

Wo ſichelfroh die Garbe ſtand,

Brauſt rote Lohe durch das Land

Und iſt ein grauſam Bild enthüllt, Draus Weltgeſchehens tieffte Lehre quillt:

Die Spreu zerſtiebt in Flammenſchmerzen Stahl wird, was edel war und erzen.

Die Flamme loſch in eiſigkaltem Strahlz In dunklen Trümmern taſt en heiße Sorgen; Nun, Deutſchland, ſinkt dein Abend Oder graut dein Morgen?

Nun wirſt du Aſche oder du biſt Stahl!

236

Gobineau: Olaf Tryggwaſon

Olaf Tryggwaſon

Vom Grafen Gobineau. Verdeutſcht von Hans von Wolzogen

5 Mannen, junges Blut, mit heller Haut und blonden Haaren, ſchön, heiter, ſtolz und voller Mut,

ſo waren wir vom Land gefahren. Jedwer verdankte, was er war,

der hohen Aſen Ahnenſtamme,

der Helden, Kön'ge, Götter Schar;

und Odins Blut, in heller Flamme glüht' es aus jedem Augenpaar.

In unſern Händen ihre Kraft

wallt auf zum Kämpfen, zum Gewinnen, und keine Rinde hemmt den Saft, berauſchend durch die Welt zu rinnen. Wir rührten mit der Sohle kaum

der Erde Grund, uns drängt' es nur bis in den höchſten Atherraum

ob aller Wetter Donnerſpur. Gradaus den kühnſten Weg gegangen, niemals zurück, allzeit vorauf

ein einzig Streben und Verlangen:

wir nahmen jauchzend unſern Lauf.

In unſern Herzen lebte nie

Furcht vor des Schickſals Widerſchlägen, Verachtung hatten wir für ſie,

Trotz trat dem Wandel kühn entgegen. Im Grund der Seele hatten wir

den Schatz des Selbſtvertrauns geborgen, die Hoffnung riſſen wir mit Gier griffſcharf aus allem Grau der Sorgen. In unſern Hirnen klang und ſang es, und lachend wie bei Feſtes Glanz

zum Jubel hellen Schellenklanges vollführte Leichtſinn ſeinen Tanz. Selbſt unſre hohen Götterpäter

auf ihrem Thron im blauen Ather boten das ſtolze Bild nicht dar,

das unſer jedem eigen war.

Wir fuhren aus auf vierzehn Schiffen, von Seehundsfellen wohlbedeckt,

und holzgeſchnitzte Drachen griffen um jeden Bug, wild aufgereckt.

An ſtarken Maſten, nach der Regel des Tauwerks, eines hier, dort zwei, wie Flügel ſpannten ſich die Segel

dem Hauch der Winde weit und frei. Rings um die ſchwanken Kiele hieben die Ruder ſtetig in das Meer: aufſchäumt die Flut, und Tropfen ſtieben in loſem Wirbelflug umher.

Wir hatten Bogen, Pfeile, Speere, Armbrüſte, Schleudern, Kriegers Gut, und jede Waffe, jede Wehre

bereit, zu trinken Heldenblut.

Uns waren ſtarke Schwerter eigen, Rundſchilde von getriebnem Stahl,

und Dolche auch, nicht für die Feigen! Was dir gefällt du haſt die Wahl! So Leib an Leib, trotz Tod und Wunden, je dichter, deſto beſſer geht's!

Nicht einer ward bei uns gefunden, der nicht gelobte, feſt und ſtets,

im Kampfe, nackt auch, ohne Waffen, den Tod in ſeinen Arm zu raffen! Im Bauch der Schiffe bargen wir, was uns die lange Zeit vertreibe:

in großen Fäſſern gutes Vier,

die ſchönſte Stärkung mattem Leibe, und daß man heitre Hilfe hätte,

um abzulenken unſern Sinn,

verlodten uns zum Spiel am Brette Turm, König, Narr und Königin. Kaum löſten wir vom Land das Tau, wie lag das Meer ſo klar und heiter, wie war der Himmel hell und blau, wie trägt die Woge ſanft die Streiter gleich Schwänen durch die Fluten weiter, die Lüfte wehen lind und ſchön, nur gute Zeichen, die uns grüßen:

die Tiefe ſingt zu unſern Füßen,

die Sonne lacht von lichten Höh'n. Frei durch das Grün kriſtallner Wellen taucht bis zum farb'gen Grund das Aug', Delphine aus dem Schaume ſchnellen, die Nüſtern ſprühen feuchten Hauch, und zarter Muſcheln bunte Scharen, ſie ſchwimmen, mit uns im Verein, und ſenden all im Weiterfahren

ihr Lebewohl uns hinterdrein.

Doch wie? Was ſag' ich? Meeresgötter,

Gobineau: Olaf Tryggwaſon

Seegeiſter, Agirs Kinder ja!

ich fab ich ſag's und ſchwör's: ich fap Sirenen, lockend ſüße Spötter

ich ſah ſie, nicht in irrem Wahn,

mit Bruſt und Armen hold im Spiele dicht angeſchmiegt an unſre Kiele:

ſie ziehn uns durch den Ozean! Wir führten unſre Ruder kräftig,

der günft’ge Wind, er war gefchäftig, die Wimpel, die vom Maſte wehn, wie Flammen hin und her zu drehn. O treib uns, Wind, treibt uns, Zephyre! Treibt uns, ihr Fluten, allgeſellt,

daß keiner ſeinen Pfad verliere

zum höchſten Ruhmesziel der Welt! Wir riefen uns: „Ihr Brüder, eilet! Er, der uns nachfolgt, nahe ſchon,

daß er mit uns den Ruhm nicht teilet: nichts bleibe Olaf Tryggwaſon!

Ein Tag zwei Tage kaum noch drei, und er iſt da, er iſt dabei!

Auf! Zwiſchen zweien Morgenröten erringen wir den Sieg im Streit! Nicht als der Helfer aus den Nöten zu nahen, laſſen wir ihm Zeit:

ſein Name wird den unſern töten,

wir ſinken in Vergeſſenheit!“

So ſchauten wir zurück in Bangen, wir ſähen ſchon ihn angelangen,

das kleinſte Segel fern im Meer,

wir dachten, daß es ſeines wär',

und unſre fleh' nden Rufe drangen

zu allen Mächten der Natur:

„Verirrt, verwirrt ihm Weg und Spur!“

Da, eines Morgens um die Stunde, wenn ſeine blaſſe Stirn verhüllt

der letzte Stern der nächt'gen Runde horch, was „der Wölfe König“ brüllt (das ſchnellſte Boot trug dieſen Namen): „Hie Frieſen oder Skyren!“ Ja! Wohl zehn gewalt’ge Schiffe kamen

auf uns heran ſchon näher nah! Wir richten uns auf raſche Zeichen

in Doppelſtellung Rand an Rand.

Das ſind nicht mehr die ſchwanengleichen, find gier'ge Möven, kampfentbrannt fo warfen wir uns mit Hurra

auf unſrer Beute dichten Haufen.

2

Zum Lachen war es, wer uns ſah

wie Kinder gegen Rieſen laufen!

Die Maſten, berghoch aufgetürmt,

ſie ſchienen droh'nde Todesgeiſter

und doch und doch: es wird geſtürmt! Geentert wird! Wir werden Meiſter! Feſt unſre Schnäbel in die Flanken vergebens ſtießen ſie zurück

die Schwerter ſauſten, Schwerter ſanken gerungen ward mit Wechfelglüd

den Tag hindurch, in langen Stunden, allein ihr Schickſal war beſtimmt:

gepackt, geſchleppt, gefällt, gebunden der letzte Glanz des Ruhms verglimmt! Wie trunken waren wir vor Luſt:

dies meine erſte Heldentat,

der erſte Schritt auf kühnem Pfad!

Ein Heilruf drang aus jeder Bruſt:

„O großes Glück! Du heller Stern!

Und Olaf Tryggwaſon war fern!“

Der Tag darauf o welch ein Tag! Und dann die Nacht Nacht ohnegleichen! Ja, glaubt mir nur, wer's glauben mag: die Sterne ſelbſt, die ſilberbleichen,

wie ſie uns drunten trinken ſahn,

ſie zogen heller ihre Bahn,

und jeder leuchtet, jeder lacht erſtrahlend durch die dunkle Nacht.

Die Toten ſchliefen, blutbedeckt,

auf ihres Ruhmes Bett geſtreckt,

und auch auf ihren kalten Stirnen welch Lichtglanz wie von hohen Firnen! Sie opferten ein kurzes Sein

dahin für ein unſterblich Leben,

und als verklärte Geiſter ſchweben

ſie über uns in ſel'gem Schein.

Um ihre Leiber keine Klage,

wie Siegesſang vom Schlachtentage miſcht ſich's in unſern Jubel ein.

Die Wunden ſchleppen ſich heran

und heben ihre vollen Becher.

Des Meeres Woge wiegt die Zecher

im Glück, wie nimmer ſich's gewann. Als dann der Morgen, roſig jung, lächelnd entſtieg der Dämmerung,

da blid? ich über Schiffesbord,

und mit den Lüften haucht mein Wort: „O Wolke, ſchöne Wandrerin,

258

du weiße Wolke, goldumglüht,

du Himmelsblüte, hold erblüht,

o löſe dich und zieh dahin,

ſoweit des Ozeans Fluten rinnen,

zieh zu der Einen, fern von hinnen, und ‘ag’ o fag’ ihr, ſüß und leiſe, ſing ihr dies Wort und dieſe Weiſe:

„O du der Seele liebes Eigen,

die deiner Seele Eigen iſt

vernimm ihr Wort, ſie kann nicht ſchweigen: du Traumbild, das ſie nie vergißt,

du Götterweſen, das mich leitet

zum Gipfel meiner Ruhmbegier,

das vor mir her im Kampfe ſchreitet, als meine Fahne, mein Panier! Gedenke mein! Ach hör' mein Bitten! Gedenke, wenn der Tag beginnt, gedenke, wenn mit leiſen Schritten

dich Nacht in dichte Schleier ſpinnt, gedenke mein zu allen Zeiten,

in jeder Stunde denke mein,

laß kein Verlangen dich verleiten,

kein Sinnen, das nicht würdig dein! Die wie durch Zauberkraft der Feen mich feſt an meinem Schwertgurt hält: gedenke mein o laß dich flehen! Nur mein, nur mein in aller Welt!“

Du weiße Wolke, roſ'ge Wolke,

zu ihr, zu ihr, daß ſie's erfährt:

der Sieg ward mir und meinem Volke, und bald bald bin ich ihrer wert! Sie ruft nach dir! Fort ohne Weile! Doch nein! Ich brauche dich nicht mehr: ſieh da, das Schwälbchen! Fliege, eile, o flattre, gleich dem ſchnellſten Pfeile, du Schöne, faß all mein Begehr

in deine zarten Flügel ein:

ſag' ihr —: gedenke, denke mein!“

Ein Leu, der noch kein Blut geleckt, der jung ſich ſelber noch nicht kennt, das Feuer nicht, das in ihm brennt, nicht weiß, was ihm die Glieder reckt, wonach ſich ſcharf die Klaue ſtreckt. warum der Zunge rote Glut ' ihm kalt und dürr im Rachen ruht doch ſah er, wie vor ſeiner Kraft

ein Angeſicht im Schreck erblich,

und hat ihn erſt der Wunderſaft

Gobineau: Olaf Tryggwaſon

des Bluts berauſcht dann kennt er ſich! Und wieder will er wiederſehn

den flücht'gen Feind, fo bleich und bang, will noch einmal den Kampf beſtehn, will wieder trinken, was er trank.

Er geht umher, er ſucht und giert

im Felſengrund, im Wüſtenſand,

er ſteht und lauſcht, er lugt und ſtiert, im Spüren, Lauern gleich gewandt, er birgt ſich, und im Augenblick

mit einem jähen Sprunge fliegt

er feiner Beute aufs Genick;

doch wenn er im Verborgnen liegt,

zu zähmen weiß er ſeine Wut,

und wie ſein glühend Auge ſpäht,

hält er der Stimme Kraft in Hut,

daß ſein Gebrüll ihn nicht verrät.

Er kriecht am Quellenrand geduckt, wenn er den ſcheuen Hirſch beſchleicht, die gift'ge Natter nimmer zuckt,

wenn ſeine Tatze ſie erreicht,

der Wüſte Fluͤgelroß, der Strauß,

ein Gurgelgriff er atmet nicht.

Das Nashorn haucht ſein Leben aus,

dem ſein Gebiß die Knochen bricht. Der Rüſſelſchwinger Elefant

fühlt ſeinen Rücken ſchwer umſpannt; auch über Panther, über Tiger

bleibt er der königliche Sieger.

Doch auch ſein Prüfungstag iſt nah: Ein Büffel dort ein Büffel da der ſenkt das Haupt in grimmem Zorn, der andre nimmt ſich ſcharf in acht,

ein dritter ſteht ſchon auf der Wacht,

Rein vierter dräut mit ſpitzem Horn,

vorſichtig rückt ein fünfter an

der Löwe blickt ihn grollend um:

ein Kreis von Lichtern ringsherum, grauſamer Augen Zaub erbann:

an hundert Büffel! Siehſt du das? Das iſt der mitleidloſe Haß!

Das iſt das Ende, das dir droht!

Das iſt des großen Helden Tod!

Was iſt ein Büffel? Schmutzig Vieh in Sümpfen heim, ein feiger Wicht: nur wiederkäuen können fie

und brüllen ODümmres fah man nicht. Der erſte beſte Flegel mag

ihn zwingen, feinen Karr'n zu ziehn

Gobineau: Olaf Tryggwaſon

und treibt mit einem Stachel ihn

durch heiße Straßen Tag für Tag. Doch wird er Viele, wird er Maſſe, vergißt er Niedrigkeit und Scheu, wahnſinn'ge Wut entflammt dem Haſſe und vor dem Büffel ſinkt der Leu! Ach, dieſe Maſſe, dieſe Zahl! Schmachvollſte aller Schickſalsgaben den Faulenden im tiefen Tal, die Wert nicht in ſich ſelber haben! Wuͤrmer zerfreſſen Eichenwälder, Mäuslein beſchäd' gen reiche Felder, im Kerker der gefangne Mann erliegt dem ſchändlichen Gewimmel des Ungeziefers, das kein Himmel aus Todesgrüften ſcheuchen kann. Was fagt ihr? Seelengröße gehe als Sieger aus dem Kampfe? Wehe! Ein ſtinkend Waſſer, ſumpfentſtammt, verlöſcht, was rein in Gluten flammt, und Edelart muß jeden Tag, gekettet in verfluchtes Eiſen, gehetzt von frecher Peitſche Schlag als der Gemeinheit Sklav fih weiſen.

Nun fanden Kampf auf Kämpfe ſtatt vor jedem Strand des Kattegatt:

all unſre Gegner ſanken jäh,

an vierzig Segel, in die See,

in Fetzen flog ihr Heldentum,

mit ihren Flaggen auch ihr Ruhm da plötzlich, rings, in Gier nach Rache kommt uns ein neuer Feind gefahren: ſeht: Bauern, Hirten ſind's in Scharen! Sie mengen ſich in unſre Sache. Aus allen Weilern ihres Landes,

aus allen Buchten ihres Strandes, ein Nebel, häuft es ſich und fällt fällt über uns, umfaßt und ſtellt

uns dicht auf allen freien Wegen

mit ſchwarzem Groll und ſchweren Schlägen:

Laſtſchiffe, Barken, Galeaſſen

und ob wir hundert tödlich faſſen,

zu hundert kehren fie zurück.

Wahrhaftig, kein vergnüglich Stück,

mit ſolchem Pöbel fich zu ſchlagen,

ſein Blut, ſein Glück daran zu wagen! Wohl manches ſtumme Auge ſpricht: „Und Olaf Tryggwaſon kommt nicht!“

Die nächſten Tage waren arg,

und unſer Schickſal fuͤrchterlich;

von unſern vierzehn Schiffen barg

nur eine arme Dreizahl ſich,

wir waren nur noch hundert Mann,

und jeder wund, und all in Not,

das Glück zerging, das Blut verrann,

und ach und unſre Ehre tot!

Wie? Geben wir es auf, das Spiel? Getroſt! Wir machen's wieder gut!

Nur Rache! Rache unſer Ziel!

Was Olaf Tryggwaſon nur tut? Auf! Sen wir klug! Noch einen Stoß, nur einen durch den Schreckenskreis

ein Todesopfer reißt uns los:

ich brach hindurch! Nichts hält mich mehr: „Ich ſchwör' euch blut'ge Wiederkehr!“ Und ich war heil! Ich mußte lachen,

ſo ganz verlaſſen ſah ich mich!

So menſchenleer mein lecker Nachen?

Am Bug mein Orache windet ſich

in roter Glut, in rotem Blut,

ſchier ſchlägt er wie der Pfau ein Rad, hei ja, ſo ſtolz auf ſeinen Mut,

auf ſeine Ehre, ſeine Tat!

Ein karges Spiel nur bleibt uns noch, doch ſicher iſt die Wiederkehr.

Fand Olaf Tryggwaſon ich doch

auf meinem Wege durch das Meer!

Nicht ahn ich, was da werden foll?

Nur Hand und Herz ſind hoffnungsvoll: was mir das Schickſal heut verſagt,

wer weiß, ob mir's nicht morgen tagt?! Indeſſen ſank das Schiff und ſank „Hebt's, Leute, hebt's auf glatte Bahn!“ Ein hartes Werk war da getan,

das rege Meer lag leer und blank

doch nun wer ſieht's? Wir alle ſahn ein weißes Segel ſehn wir nahn —: | „Ach! Unſer Stern! Sc kenn' ihn ſchon! Zu uns kommt Olaf Tryggwaſon !“ Er war es nicht! Mein Auge drang zum fernſten Horizont hinaus.

Die Stunde dehnt ſich dehnt ſich lang wer hält was bannt dich doch zu Haus? Warſt du es nicht, der uns verſprach: „Olaf Tryggwaſon folgt euch nach“? Drauf wir: „Nur eine kurze Weile

gönn' uns allein den Waffengang!

240

Wir willen ja, du kommſt in Eile

und nimmft die Ehren in Empfang.

Sie feien dein, nur eins gewähre:

laß unſrer Götter Augen ſchaun,

daß wir den Heldenkampf im Meere

für Leib und Leben uns getraun!“ Wo weilſt du? Wo nur? Schwer beladen von Schmach und Unheil ſink' ich hin! Du zauderſt, ahnſt nicht meinen Schaden, gefällt vom Stärkern, als ich bin!

O zweifle nicht an meinem Mute! Glaub' nicht, ich könne neidiſch ſein! Kein töricht Graun in meinem Blute und neidiſch dir? O nein nein nein! Ich rufe dich nur, daß mitſammen

wir treu verbunden und bewährt

dem Feind den Rachebrand entflammen, der ihn ſo ſicherer verzehrt.

O komm, von meinem Ruf gezwungen, die weite Luft erfüllt der Ton,

beherrſcht die Wogen, ſprengt die Lungen: „Komm, komm doch, Olaf Tryggwaſon!“

So bang erſpäht auf fernem Pfad,

das Schiff dort, ſeht, es wächſt es naht nun biegt nun fliegt es ſtürmt im Nu auf unſern armen Trümmer zu:

„O ſchaut! Erkennt ihr, was ihr ſaht?“ Es war ein ſächſiſcher Pirat!

Es ſtößt auf uns, ein Blitz in Wettern,

als wollt' es uns zu Staub zerſchmettern. Was? Dulden wir den erſten Stoß? Gewiß nicht! Nein! Gerad drauf los! Was noch um ſcheue Vorſicht ſorgen? Zum Ruhm der letzte Augenblick!

Wir fallen eher heut als morgen

im Sturm erfüllt ſich mein Geſchick.

„Ha, Falken, Falken ihr von Norge,

des Nordens Falken, kühn beſchwingt:

nur ums Gefolge traget Sorge,

das mit uns in den Abgrund ſinkt!“ Leichtfüßig ſtießen wir das Schiff,

das morſche, in die Fluten fort

und ſprangen auf des andren Vord,

daß Schreck und Furcht den Feind ergriff. Ein Wirrgedräng, ein Wutgetriebe,

nicht viel Geſchrei, doch Hieb auf Hiebe! Nach allem greifen raſche Hände: Fangmeſſer, Axte, Ruderſtangen,

Gobineau: Olaf Tryggwaſon

das Schwert ftößt zu, der Dolch macht Ende aus Fäuſten werden Eiſenzangen. Göttliche Wut! Sie ſchwillt und ſchäumt hei, wie zu Wogen ſie ſich bäumt!

Der wilde Tod, was aufrecht ſtund,

er ſchmettert's nieder auf den Grund. Hirnſchalen krachen jach entzwei,

und Zähne brechen juſt im Schrei,

und immer rinnt und rinnt das Blut

und rieſelt nieder in die Flut.

Das ift des Eiſens heil' ge Zeit,

der Höllendrachen Feſtlichkeit!

Man raſt, und mordet, und vergißt,

was man dem Leben ſchuldig iſt.

Ein Rätfel iſt's des wirren Geiſtes:

nur „töten töten töten“ heißt es. Im Anblick unſrer kleinen Zahl,

dicht vor dem Ende ohne Wahl,

bereit, ins Schattenreich zu tauchen,

mit manchem, der es nicht gedacht,

wer fragt noch, welche Wehr zu brauchen? Pechfeuer, glühend angefacht,

entbrannter Seelen Widerſchein,

fliegt es ins fremde Schiff hinein!

Es zuckt und wogt im Wirbeldampf,

es ſchwankt und ſpringt im Flammenkampf von Glut Erſtickte würgen ſich,

die Letzten fallen noch ſteh' ich:

in weher Todesſeufzer Glut

werf' ich mich mit Verzweiflungsmut, zerſchlage, ſtürze und vernichte,

was noch lebendig ich erſichte

da plötzlich fühl' ich mich gepackt: ein Sachſenrecke iſt's, halbnackt,

geziert mit einem Bernſteinſchmuck,

er drängt mich an des Schiffes Planken ich ſtoße zu mit einem Ruck

im Waſſer lagen wir und ſanken!

Los reiß' ich mich vom toten Leibe

ich komme hoch ich treibe treibe von breiter Woge Macht geſchwächt,

ward ich ihr Spielball, bin ihr Knecht.

Ich keuche ringe dort: ein Trümmer! Ein ſchmaler Balken! Letzte Kraft umklammert ihn: ein Halt, ein Haft! Mut! Mut noch einmal, matter Schwimmer! Im ſelben Augenblick, ſieh dort:

die Flamme überwallt den Bord,

und der Vernichtung Krallen greifen

Gobineau: Olaf Tryggwaſon

ins Spruͤhrad roter Feuerreifen,

in alle Fugen gierig dringt

die graue See das Schiff verſinkt:

ein Nu! Und nichts mehr rings umher als ich mein Balken und das Meer!

*

Da war ich nun, fern allen Zielen

in blinder Unermeßlichkeit

die Wogen hoben ſich und fielen, gefühllos trugen ſie mich weit:

auf meine Planke ſtarr geſtreckt,

ſo lag ich, ein verlorner Mann,

ans Holz geklammert, blutbedeckt,

nur ein Gedanke in mir: „Wann wann gleiteſt du, mein Leib, hinab machtlos ins kalte Wellengrab?“

Wie langſam langſam ſchlich die Zeit! Allmählich ſinkt die Nacht hernieder fo ſchwer das Haupt, fo ſchwach die Glieder ſie fühlen nimmer Schmerz und Leid. „O traurig Opfer!“ haucht mein Mund: „Odin, fei gnädig, mach“ ein Ende,

daß endlich ich im Meer verſchwände und fände Ruh' auf ſeinem Grund!“ Das Auge ſchloß ich war mir's doch, als ob ich eben leis entſchlief?

Da weckt mich ein Gefühl, das tief

in meiner Seele ſich verkroch:

ich blicke um ich hebe mich

das Haupt emporgereckt zur Schau: was fep ich? Proben breitet ſich

ein Himmel, ſchleierlos und blau,

und tauſend Sterne, ſtrahlend ſchön,

ſie leuchten mir aus ihren Höh'n.

Und dort, der Stern mitleidig mild ſchaut er auf meines Leidens Bild mein Herz denn ſprechen konnt’ ich nicht aus ſeiner Tiefe will's erklingen:

„ch kenne dich, du reines Licht!

zu dir empor, o laß mich dringen!

Ich kenne dich, du gibſt zuruck

mir jener Tage ſüßes Glück,

da ich an ihrer Seite ſaß,

in ihren holden Augen las,

da ihren Lebenshauch ich ſog,

mich auf ihr Blond haupt niederbog

und ihre ſeidig weichen Locken

mit meinen Händen zärtlich ſtrich

241

und vor dem Worte ſchier erſchrocken, doch mutig fragte: „Liebſt du mich?“ Ach, all die Qualen, ſo vergebens,

die Schwüre, ach, die Seligkeit!

Du liebſter Stern, am Ziel des Lebens woran erinnerſt du mein Leid?

Nein, vor dem nahen Tode nicht verhülle mir dein Angeſicht!“

Ein Schimmer überfloß die Wellen:

der Mond, da ſteigt er glänzend auf! In ſeinem Silberlicht erhellen

die dunklen Fluten ſich und ſchwellen

zu hehren Leuchten, ſchwank im Lauf. Ich aber ſchwamm die lichten Bahnen, zuruͤckgelehnt die bleiche Stirn,

ach, ohne Hoffen, ohne Ahnen

was war's? Mir ſchwindelte mein Hirn! Die Wirklichkeit, ſo grau geſtaltet,

erloſch im Dunkel, flammengleich,

und meine Seele weit entfaltet

die Flügel in des Traumes Reich: vergeſſen war, was ſie geſchadet,

die Flut, die mich in Not gebadet!

Da ſah ich uber aller Weite

den ganzen Himmel neu belebt,

als ob ein Feuer ihn durchgleite,

das ſich aus fernen Tiefen hebt.

Er ſchmüͤckt' fein Kleid mit Scharlachbändern, und Wölkchen, wandelbar im Tanz,

wie Muſcheln weiß mit roſ'gen Rändern, erglühn vor ihm in goldnem Glanz.

Die Morgenröte war's, die holde:

der Nebel ballt ſich, wogt und weicht, er öffnet ſich dem Strahlengolde

und ſenkt ſich wieder und verbleicht. Das Dunkel ſchwindet. Hell und munter

taucht nach der leichten Kinder Art

die frohe Nixe auf und unter,

Seeroſen licht um ſie geſchart.

Ich ſah das Schilf im Schaumgewelle, wie, von der Lüfte Hauch bewegt,

es taumelnd in der friſchen Helle

die zarten Häupter ſenkt und regt.

Ich ſah ich hör': ein Vöglein ſingt, ein Vöglein fliegt es flieht iſt fort! Wie luſtig ſchwebt's und zwitſchert dort! Frei ſchwimmt mein Körper auf den Wogen ich lauſche luge fühle kaum:

mein Auge folgt, wo mir's entflogen

242

dem Vöglein folgt es iſt's ein Traum? Auf einem Giebel läßt ſich's nieder, auf eines Hauſes mooſ'gem Dach das meine iſt's, ich kenn' es wieder! Es iſt ganz nah und ich bin wach! Die Blüten feh’ ich's ganz umranken, als wie zum Feſte ſteht's geſchmückt. Am Zweig die Roſe ſeh' ich ſchwanken: wie mich des Lieblings Gruß beglückt! Ach, alles grüßt! Wie glaub' ich's gern: das Haus erwartet ſeinen Herrn.

Die goldnen Ahren ſeh' ich ſprießen auf meinem erntereichen Land,

und Glöckchen klingen von den Wieſen an meiner Stiere Nackenband.

Die ſtarke Färſe, die nach mir

mit ihren ſchönen Augen ſchaut,

bis an die Kniee ſteht das Tier

im duftig fetten Weidekraut.

Weit durch das Tal dahin verteilt

iſt meiner Knechte Schar am Werk, und meine Renntierherde weilt

unter den Eichen dort am Berg.

Ich aber ja, wo bin denn ich?

Wo zart das Laub der Virke ſchwebt, in ihren Schatten lage’ ich mich,

des Bildes froh, das vor mir lebt

Und wie ich lieg', und wie ich ſchau', was fühlit du, wellenkalte Hand?

Die weichen Finger einer Frau,

die halten zärtlich dich umſpannt.

Die liebe Hand, die treue Hand,

ach, ihre Hand! Kannſt du's verſtehn? Die Stimme, mir ſo traut bekannt,

ſie ſpricht: „Du wirſt nicht untergehn! Ein feſtbeſtimmter Platz iſt dir

für Kommezeiten aufgeſpart.

Der Tod hält ſeiner Senſe Gier

zuruck vor deiner Edelart.

Er ſcheut der hohen Götter Sinn: nicht was zu blühen erſt beginnt,

nur ſolche Ahren mäht er hin.

die reif für feine Ernte find.

Und wenn einmal ein junger Sproß dem frühen Schlage fiel zu Raub, war's, weil nur matt das Blut ihm floß, und ſeine Seele füllte Staub.

Du aber, der in ſeinem Sein

der großen Ahnen Seele trägt,

Gobineau: Olaf Tryggwaſon

berufen, daß noch hellrer Schein

des Ruhmes um dein Haupt ſich legt,

du, ſelbſt ein königlicher Held,

der du zum Vater auserſehn

Helden, Erobrern, Herrn der Welt: gewiß, du wirſt nicht untergehn!“

Sie jagt’ es kaum, fie ſchwieg noch kaum, ach, was verſcheuchte mir den Traum? Verſinken ſah ich Land und Strand,

der Weiher mit den Rofen ſchwand,

in Zufalls Armen ſchwamm ich hin ob ich im Reich des Todes bin?

Mein Leben glich der Biene, die

den Stock umflog und fand ihn nie! Doch nein! Mein Auge öffnet ſich,

noch hört mein Ohr, noch fühl' ich mich, umgeben noch von Licht und Schall,

am Rand des Nichts und doch im All! Unglücklicher, ſo biſt du wieder

Spielball der Winde und der Flut,

ein Sandkorn in der Wogen Wut?

Ich ſteig empor, ich ſinke nieder,

ein ew'ger Abgrund drunten ruht,

und Klänge tönen aus den Tiefen,

als ob mich Horn und Zimbel riefen ſo rauſcht mein letztes Lebensblut!

Ein Augenblick wie ein Gedanke! Geſchleudert an den Rand der Planke wend' ich das Haupt, mein Aug’ erfaßt

im Oſt was? eines Schiffes Maſt?!

Nicht weitab zieht es ſeinen Pfad

ich ruf ich fore? es wendet naht! Es hört mich feb’ ich's? Glaub’ ich's? Za!

Es kommt zu mir! Es iſt mir nah!

Die Woge fällt T ich ſtürz' hinab Enttäuſchung! Unheil! Tod und Grab! Oh, einmal noch ich taud? empor,

die Flut in ihrem grünen Flor,

nun trägt ſie höher mich denn je:

ich überſchau' die ganze See

ich ſchrei' ich brüll', aus aller Kraft ich wink ich ſchwing', im Nu gerafft von meinem Leib, ein Gürtelband,

es flattert fliegt mir aus der Hand auffahr' ich, jah emporgeſchnellt:

das Meer, der Himmel, alle Welt,

rührt ſie mein brennend Angeſicht,

mein Rafen und mein Ringen nicht?!

Schwarz: Die Flamme 245

So chauf auf meines Trümmers Holz: Nur zu! Nur zu! Die Sinne ſchwinden „Sier bin ich!“ Toll vor Hoffnung ich! endlich am Steven hab' ich ihn?

Das Meer, um meine Füße rollt's Bezwungen iſt das Meer! Sie winden und grollt und heult und windet ſich: ein Seil hinab, ſie ziehn und ziehn: „Dier bin ich!“ meine Arme breit’ ich es hält mich, hebt, ich ſchweb', ich fliege, Das Schiff! Es fab mich ſicherlich! den Bord, den Boden fühl’ ich ſchon

Es fintt es ſteigt gleich ihm begleit' ich ich fte ich ſeh': zwei Augen lohn ſein wogend Nahn, und näher gleit ich: mir lachend ins Geſicht ich liege „Hier bin ich! hier!“ Bin. wieder ich! im Arm des Olaf Tryggwaſon!

* * *

Nachwort des Türmers. Es iſt uns eine Freude, dieſen glutvollen Heldenſang des Grafen Gobineau in Wolzogens lebensvoller Verdeutſchung bringen zu dürfen. Die Dichtung erinnert an Lord Byrons lyriſche Epen; und etwas vom Heroismus jenes Dichters iſt ja auch im Heldeninſtinkt des franzöſiſchen Schriftſtellers und Denkers, der ſeinen Stammbaum auf den Normannen Ottar Jarl zurückzuführen beſtrebt war. In der Stockholmer Zeit hat er das Gedicht geſchrieben (vgl. Schemanns Lebensbild II, S. 3691), das ſoeben übrigens noch in einer andren Verdeutſchung erſcheint (Hartenſtein, Erich Matthes). Es iſt ein wertvoller Beitrag zu

Gobineaus durchaus heldiſcher Lebensauffaſſung, die auch den Leſern meiner „Wege nach Wei-

mar“ bekannt ift, wo fih gleich der erſte Band („Gobineau auf Djursholm“) neben der größeren Betrachtung im ſechſten Bande („Gobineaus Amadi ) mit dieſer Seite des tapferen und liebens- werten Mannes beſchäftigt. L.

—— on ne JRA STRAE IRELE

Die Flamme - Bon Hans Schwarz

Ich fuhr hernieder vom Wolkenſitz,

Die Nacht meine Mutter, mein Vater der Blitz, Muß all meine Tage in Farben ſprühn,

Ich bin eine Flamme, blau, rot und grün!

Ich darf nicht raſten, ich weiß nicht Halt,

Ich bin nur Glut, ich hab' nicht Geſtalt,

Und ſah mich wer ſterbend heut niedergeduckt, So bin ich ihm morgen entgegengezuckt.—

Ich bin eine Flamme es raft mit mir fort, Die. Hand, die mich hielte, ift bald verdorrt, Das Haus, das mich bärge, iſt bald verzehrt, In mir ift ein Durft, der begehrt und begehrt, In mir iſt ein Gluten, ift Einſamſein,

Bin ewig ſtumm, bin nur flackernder Schein, Wer mir begegnet, dem geb' ich mich hin, Keiner, der jemals mich ſah, wie ich bin!

Ich bin die Flamme, die keinem gehört,

Die Waſſer nicht bändigt, die Fluch nicht beſchwört, Mein Vater der Blitz, meine Mutter die Nacht, Die haben ſo unſtet und wild mich gemacht:

1

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Johann Michael Sailer

RS lo habe ihn nie klein, nie fich ungleich, nie ſtolz oder eitel, nie gereizt, nie entmutigt, AS nie erzürnt oder verdrießlich, und wenn auch zuweilen tief verletzt und betrübt, Z doch nie außer Faſſung, nie leidenſchaftlich bewegt, ftets feiner ſelbſt würdig ge- 3 habe ihn ſtets als ein Muſterbild vor mir ſtehen ſehen, an dem man ſich erheben, er bauen und lernen konnte, ein Mann, ein Chriſt zu ſein.“

Der das ſchrieb, war ein Mann, deffen Zeugnis wuchtigſter Beweis ijt: der Rardinal- Fürſtbiſchof Diepenbrock; und der, dem dieſe verklärenden Zeilen gelten, war Johann Michael Sailer, der Schuſterſohn aus Areſing bei Schrobenhauſen im Bayernlande. Dies reine,

große, fröhliche, gottſelige Kinderherz hat alle erwärmt, erleuchtet, gebeſſert, die in ſeine Nähe kamen, und nur die kalten, engen, niedrigen, hochmütigen Phariſäer und Philiſter blieben

dieſer Leben und Liebe weckenden Sonne unzugänglich. Wie der hitzige Diepenbrock ſelbſt

bekehrt wurde, ſo wurde auch der wild-geniale Brentano und ſeine unruhige, geiſtſprühende und flammenherzige Schweſter Bettina, der ſchroffe Görres, König Ludwig J., Chriſtoph

von Schmid und unzählige andere von Sailer bezaubert; und das Merkwürdige iſt, daß er

von den Proteſtanten ebenſo geehrt und geliebt wurde wie von den eigenen Bekenntnisgenoſſen.

Wie heißt die Kraft, die ſolche Wunder wirken kann? Es gibt nur eine; ſie heißt: wahres Chriſtentum. Und dieſer gute Chrift war ein ebenſo guter Oeutſcher. Eine gänz— lich unzeitgemäße Erſcheinung, wie man ſieht; und gerade die Unzeitgemäßheit Sailers macht

ihn zu einem guten Arzt für die kranke Seele unſeres Volkes. In ihm ſteckt etwas von der

Volkstümlichkeit Luthers; und wenn er nicht ein ſo vortrefflicher katholiſcher Seelenhirt ge— worden wäre und ſein heiliges Amt über alles geſtellt hätte, würde er ſich als ein zweiter Peſtalozzi und ſogar nur als ausgezeichneter Schriftſteller einen großen Namen haben machen können. Nun ift er uns aber gerade als katholiſcher Prieſter fo wert, denn er gibt uns den Glauben an die Möglichkeit eines nicht nur kühl-höflichen, ſondern herzlich-zutraulichen Zu— ſammenlebens der ſeit mehr als 400 Jahren bekenntnismäßig getrennten Chriſtenbrüder im alten gemeinſamen deutſchen Vaterhauſe.

Die Duldſamkeit Sailers entſprießt nicht dem ſandigen Boden eines rationaliſtiſch pantheiſtiſchen Allerweltsglaubens oder ſogenannter Naturreligion und Auch-Chriſtentums, ſondern ſie iſt eine herrliche, duftige Blume des warmen, geſegneten Erdreichs der vollen, tiefen, apoſtoliſchen Bekenntnistreue. Die Duldſamkeit Sailers gilt dem Recht des Anders denkenden und hat nichts zu tun mit jenem verwaſchenen Agnoſtizismus, der jede Anſicht und jede Überzeugung gelten läßt, weil er ſelbſt es zu keiner eigenen feſten Anſicht und Über- zeugung zu bringen vermag. Sailer wurde von den einen (wie z. B. dem damaligen Rron- prinzen Ludwig) für einen argen Römling gehalten; und der Berliner Nicolai donnerte gegen den verkappten Jeſuiten, der mit feinem anſteckenden Peſthauch noch das ganze proteſtantiſche Deutfchland verderben werde. Die anderen wiederum ſahen in Sailer einen geheimen Srei- maurer, Sektierer, Illuminaten und halben Proteſtanten, der den Weg der Boos, Goßner,

gohann Michael Sailer 245

Lindl uſw. gehe. Es war den Strengen ein Ärgernis, daß er feine Vorleſungen und feinen Unterricht in deutſcher Sprache abhielt; daß er ſeinen Schülern Schriftſteller wie Herder, Campe, Leſſing, Klopſtock, Lavater, Klaudius, Gellert uſw. empfahl; daß er am Silveſtertage 1786 den Tod des großen Friedrich alſo eines nichtkatholiſchen Fürſten erwähnte; daß er den Erzengel Gabriel ohne Flügel malen ließ uſw. In der Anklageſchrift gegen Sailer heißt es: „Unaufhörliches Schreuen von der Liebe des Allvaters und Jefus dem Sünden- freund dadurch wird die Liebe zum Guten nicht bezwecket und die Furcht für die Strafe gehemmet, die nach Zeugnis der Schrift und Tradition ſo heilſam iſt.“ Sailer trug in frommer, mild- heiterer Gelaſſenheit alle Verleumdungen und Verketzerungen und ließ fidh auch durch ſeine Verabſchiedung nicht irremachen. In dieſen Tagen der herbſten Prüfung überſetzte er den Thomas von Kempen; und man kann auch heute noch ſagen, daß kein anderer Überſetzer ſo ſehr Geiſt vom Geiſt des großen Myſtikers vom Niederrhein war; wer Sailers deutſchen Thomas von Kempen kennt, will nicht wieder von ihm laſſen.

Sailer iſt ſein Leben lang ein überzeugter Katholik geblieben und iſt nicht in einem einzigen Punkt den wahren und weſentlichen Lehren ſeiner Kirche untreu geworden. Aber er wies jeden „Verketzerungs- und Verfolgungseifer“ weit von fih, und als giftigſtes Unkraut auf dem Acker Gottes erſchien ihm „der Eifer für die Wahrheit, der arm an Licht und reich an Bitterkeit den Herrn ſelbſt verfolgt wie Saulus ... Ein andermal ſagte er, es fei des Chriſten Art, verfolgt zu werden, aber niemals, ſelbſt zu verfolgen. Verfolgen ſei ſtets Spur des Antichriſtentums! Immer wieder kommt Sailer in ſeinen Schriften (die 41 Bände füllen!) auf dieſe erſte Chriſtenpflicht: Liebe und Duldſamkeit zu ſprechen. Beſonders ſchön und ausführlich ſchreibt er darüber im letzten Teil feines „Vollſtändigen Leſe- und Gebet- buchs“. Über das Verhalten zu nichtkatholiſchen Mitchriſten heißt es da: „Erſtens ſollen wir recht oft die große Wahrheit bedenken, daß ein Gott alle Menſchen erſchaffen hat, daß ein Chriſtus für alle ohne Ausnahme geſtorben iſt, daß alle Menſchen als Menſchen unſere Brüder ind... Zweitens müſſen wir unfer Herz und unſeren Mund ſorgfältig bewahren, daß wir keinen Andersglaubenden richten oder gar verdammen. Dem, der Herz und Nieren durch- forſcht, müſſen wir das Urteil über unſere und fremde Seligkeit heimſtellen ... Wir Geſchöpfe wollen unſere Mitgeſchöpfe, wir Schuldigen unſere Mitſchuldigen, wir Erlöſten unſere Mit- erlöften richten? Drittens, wenn wir nun gar keinen Menſchen richten und verdammen dür- fen, um wieviel weniger follen wir über unſere Mitchriſten das Verdammungsurteil aus- ſprechen, über ſie, die an einen Chriſtus mit uns, an eine Taufe mit uns, an ein Evangelium mit uns glauben, ob fie gleich in vielen Dingen das Evangelium anders verſtehen als wir?. Ich ſage nicht: Ihr müßt gegen eure Religion gleichgültig werden. Bleibt eurer Religion, bleibt der Wahrheit getreu und haltet euch feſt an ſie; aber diejenigen, die ſie nicht erkennen, müßt ihr nicht verdammen ... Viertens: nährt in eurem Herzen keine Abneigung gegen die Nichtkatholiken und auch kein verachtendes Mitleiden, ſondern betet zum Vater des Lichts, daß alle, die irren, den rechten Weg finden. Ihr könnet eurer Religion keinen ärgeren Schand- flecken aufheften, als wenn ihr denen, die nicht daran glauben, mit Verachtung und liebloſem Spotte begegnet. Wie ſoll es chriſtlich- gerecht ſein, diejenigen, die ſich nicht zu unſerer Kirche bekennen, heidniſch zu haſſen! Fünftens: in Handel und Wandel mit den Andersglaubenden hütet euch, fie auch nur um einen Heller zu betrügen. Betrug ift Betrug. Sechſtens: Wenn ein Elender auch von einer anderen Religionspartei an eure Tür anklopft, jo denkt, es ſei euer Nächſter und helft ihm, fo gut ihr könnt. Sehet ihn nicht mit dem Auge des kalt vorüber- gehenden Leviten an, ſondern gießet mit dem warmen Herzen des Samariters Ol in ſeine Wunden. Der Vater im Himmel, der es im Verborgenen ſieht, wird es euch hundertfältig vergelten, daß ihr das Fünklein eurer Barmherzigkeit vor fremdem Elend nicht ausgelöſcht habt.“

Ganz beſonders lieb und wert wird uns Sailer durch die Anklage gemacht, er habe in ſeiner Verteidigung des Chriſtenglaubens zu ſehr jene Überzeugungen und Gefühle betont,

246 l Zobann Michael Galler |

die allen Chriſten gemeinſam find. Das heißt alfo in der Sprache der katholiſchen Theo- logie geredet: die demonstratio religiosa und die demonstratio christiana nimmt bei Sailer einen größeren Raum ein als die demonstratio catholica, Das natürliche religiöfe Empfinden und Erfaſſen des Dafeins und Wirkens Gottes, der Unſterblichkeit unſerer Seele, der ſittlichen Freiheit und ſodann des Weſens der bibliſchen Offenbarung alles das iſt von Sailer breiter und eindringlicher behandelt als die Beweiſe für die Alleingültigkeit und Alleinwahrheit der katholiſchen Trennungslehren. Sailer predigt eine Herzens religion und feine ſcharfe Stellung-

nahme gegen allen Nationalismus oder wie man heute fo gerne jagt: Intellektualismus

erklärt auch feinen Kampf gegen Kant und andererſeits ein gewiſſes Zuſammenklingen der Sailerſchen Religion mit Rouſſeau- Tönen und mit Herder-Goethe-Schleiermacher-Harmonien. Dabei bewahrt ſich Sailer gerade in ſeinen apologetiſchen Schriften eine wunderbare Friſche, Anſchaulichkeit und Eindringlichkeit der Sprache.

Die Neigung Sailers zur Myſtik verführt ihn nie zu Dunkelheit und Aberſchwang. Das Grübeln verſchleiert die natürliche Wahrheit: „Wenn du den Spiegel anhauchſt, daß er deine Geſtalt nicht mehr zeigen kann, ſo lege die Schuld weder auf den Spiegel noch auf deine Geſtalt, ſondern wiſch' die Dünfte weg und halte in Zukunft den Odem zurück.“ Der echte Sailer ſpricht in folgenden Sätzen zu uns: „Wenn der Herr ſelber käme, ſeinen Tempel zu

reinigen, wovon würde er ihn reinigen? Erſtens von den Tierhändlern und Geldwechſlern;

zweitens von den Spinnwebenkrämern; drittens von den kleineren Heuchlern, die die

Religion zur Larve, und von den großen, die ſie zum bloßen Kappzaume des Volkes machen.“

Dieſen Mißbrauch der Religion zur politiſchen Unterdrückung hat unſeres Sailers ganze Ente

rüſtung erregt. Mit Recht denn nichts hat auch in unſeren Tagen der chriſtlichen Kirche fo geſchadet wie die napoleoniſche Auffaſſung der Biſchöfe und Pfarrer als „heiliger Gendarmerie“.

Von den philoſophiſchen Syſtemen hielt Sailer nicht viel: „Im Grunde find es nur alte Komödien und neue Komödianten.“ Den Ariſtotelianern ſeien die Karteſianer, dieſen die Leibniz-Wolfianer und dieſen wieder andere „Aner“ gefolgt; und nach den heutigen Anem werden in Zukunft immer neue Aner auf der Zeitbühne ſpielen, „bis alle Flüſſe im Meere werden verſchlungen ſein“. Was würde erſt Sailer zu unſerem heutigen Überangebot von „Anern“ und „Iſten“ und „Ismen“ fagen? Allen Religionsfeinden hält Sailer den Satz entgegen, daß zwar die äußeren Religionsgeſtalten zertrümmert und begraben werden kön— nen, aber niemals der Gottesglaube ſelbſt: ... „das Religionsgefühl erwacht wieder in einem ſchöneren Morgen, und alle Herzen, die mit ihm den Himmel verloren haben und die Größe des Verluſtes fühlen, jauchzen dem Aufgange der Sonne entgegen.“ In ſeinen „Übungen des Geiſtes“ predigt er den Chriftus der Liebe, den Chriftus, der das einzige Heil der Schuld- und Schmerzbeladenen, der Frieden und die Zuflucht für alle gelehrten und ungelehrten, reichen und armen, großen und kleinen Ruheloſen iſt. Das Herz ſpricht mit überwältigender

Macht für die Wahrheit des Evangeliums was wollen dagegen alle zweifleriſchen Spitzz

findigkeiten des menſchlichen Verſtandes ſagen? Dem bitteren Problem des Übels in der Welt nimmt Sailer die ätzende Spitze mit dem Troſt, daß Gottes Führungen wunderbar und unerforſchlich ſind. „Wenn wir gleich nicht begreifen, wie es zugehe, daß bei dieſer Alliebe Gottes ſoviel Irrtum und Sünde und Elend in der Welt fei, fo ijt es doch gewiß, daß Gott alle ſelig haben wolle. Für das ‚Daß‘ wollen wir danken und bei dem ‚Wie‘ anbeten.“ Wenn uns Gott eine ſchwere Burde auflegt, ſo legt er ſeine Hand unter, damit die Bürde nicht zu ſchwer drücke. Und dann: ift nicht das Leid dieſes Dafeins der befte Todestroſt? „Die Armen, Bedrängten, die nie ein weiches Leben und auch kein müßiges geführt haben, leiden am ge duldigſten und ſterben am froheſten.“

Die Überzeugung, daß ohne Gott die Welt, das Leben, der Menſch unlösbare Rätſel find, daß ohne Gott die Menſchen ins Tieriſche zurüdverfallen, daß ohne Gott keine Wahr- beit, keine Sittlichkeit, keine Güte denkbar find dieſe Überzeugung iſt auch der Ausgangs

Berufsberatung Ä 247

punkt der Erziehungslehre Sailers. Die Moral ohne Gott ift ein Uhrzeiger, der die Stun- den zeigen foll, aber die ſchwerſten Gewichte, die das Uhrwerk treiben ſollten, hat man aus- gehängt! Die Liebe erzieht das war Sailers A und O in feinen vielen pädagogiſchen Wer- ken. Sei erft ſelbſt das, was andere durch dich werden follen! Dem wiſſensſtolzen und bücher gelehrten Jüngling ruft er zu: „Viel weiſer als du, iſt die dich gebar!“ |

Fern lag unſerem Sailer eine Unterſchätzung der Wiſſenſchaft und Kunſt und gerade

der Geiſtliche, ſo meinte er, kann die Wiſſenſchaft nicht entbehren. Aber die Aberhebung und

Unduldſamkeit der Gelehrſamkeits-Protzen war ihm ein Greuel. Einmal ſcherzt er: „Die Jäger find toleranter als unſere Gelehrten. Jene lächeln nur, wenn ich von des Hafen Ohren, die bei ihnen Löffel heißen, rede; dieſe ſchelten mich einen Narren, wenn ich nicht zu allen ihren Löffeln ſchwöre und wie könnt' ich das?“ Und dann wieder: „So wenig man auf einem gemalten Pferde, und wenn es ohne Fehl gezeichnet wäre, Kurier reiten kann, ſo wenig man Myrons Kuh melken kann und bis an Myrons Kuh und die Zeichnung ohne Fehl iſt noch weit hin —, jo wenig kann auch das aufgeklärteſte Wiſſen durch fih allein das Menſchen⸗ herz in Ordnung bringen.“

Mit ſeiner Sammlung „Die Weisheit auf der Gaſſe oder Sinn und Geiſt deutſcher Sprichwörter“ hat Sailer im Sinne der Grimms gearbeitet und ein wahrhaft deutſches Werk zuſtande gebracht. „Man möchte meinen, die deutſche Vernunft hätte von den frheſten Zeiten bis zu uns herab nichts getan, als Sprichwörter gemacht: ſo reich iſt unſer Vaterland daran.“ Wir Oeutſche ſind noch Genoſſen der einen Sprache dies eine Band bindet uns noch alle... Was kein Koloß, was kein Marmor retten konnte, hat uns ein Sprichwort, das von Mund zu Munde ging, aufbewahrt.“ Als „köſtliche Reliquien des alten deutſchen Sinnes“ preiſt Sailer mit Recht diefe Sprichworte. Solches Deutſchgefühl kennzeichnet auf Schritt und Tritt dieſen katholiſchen Prieſter, der in feinem Buch „Über Erziehung für Erzieher“ die Forderung ſtellt: „Der Erzieher muß ein deutſcher Mann ſein, um ſeinen jungen genh zum deutſchen Mann heranziehen zu können.“

In jeder Schrift Sailers finden ſich Sätze, die für unſere Tage geſchrieben zu ſein

ſcheinen. Was wir ſeit dem November 1918 erlebt haben, iſt ein Beweis für des alten Sailer Worte: „Der lebendige Glaube an Gott, an das ewige Leben, an die ewige Gerechtigkeit iſt die letzte Stütze der öffentlichen Sittlichkeit. und wenn ein Volk, eine Nation demoraliſiert werden foll, fo braucht es nichts, als diefe letzte Stütze der Sittlichkeit umzuwerfen.“ Und wie er in feinem herrlichen Jubelruf auf die Ewigkeit des Chriſtentums die aus dem Schutt des Umſturzes neu entſtehende Kirche begrüßt, fo hätte er auch, von der Unzerſtörbarkeit feines deutſchen Volkes begeiſterungsvoll durchdrungen, jedes Anzeichen neuen deutſchen Lebens in der Wüſte unſerer Jammertage geprieſen. „Nicht Worte bilden den reinen Patriotismus; er muß geboren werden von innen heraus und iſt nur da geboren, wo die Pietät lebt, die in ihrer Richtung gegen Gott on heißt und in ihrer Richtung gegen das gemeine Weſen: Vaterlandsliebe.“ Franz Wugk

N Berufsberatung

< ay ine der dringendſten Aufgaben der Jugend- und Volkserziehung und der fozialen 0 8) Arbeit iſt die Berufsberatung. Sie ſtellt ein großes volkswirtſchaftliches Kapital dar. Ein Staat, der wie der unſere nach einem verlornen Kriege den erheb- lichſten Teil feines Volks vermögens eingebüßt hat, muß fih daran gewöhnen, in den Händen und Köpfen der ihm verbleibenden Bewohner fein Volksvermögen zu ſehen. Schon aus dieſem Grunde muß die Berufsberatung eindringlich behandelt werden, damit jeder den rich; tigen Beruf ergreife und ſo ſein Scherflein zur Hebung des Ganzen beitrage.

248 Berufsberatung

Einſt war die Berufswahl einfacher als heute. Der Beruf des Jägers, des Fiſchers, des Landmanns, des Kriegsmanns u. a. m. wurde von Geſchlecht zu Geſchlecht vererbt. Die enggeſchloſſenen Zünfte regelten den Zuſtrom neuer Kräfte ſelbſt. Jedoch die immer ſtärker hervortretende Arbeitsteilung ſchuf eine ſich ſtetig vermehrende Zahl von Berufen. So wurde es für den einzelnen immer ſchwieriger, fich ſelber einen Überblick über das Ganze des fein veräftelten Berufsſyſtems zu verſchaffen oder auch nur über eine einzelne größere Berufs- gruppe. Daraus ergab ſich die Notwendigkeit einer organiſierten Berufsberatung.

Durchgeſetzt hat ſich jedoch die Erkenntnis dieſer Notwendigkeit erſt in den letzten Jahren, beſonders infolge der durch den Krieg und ſeine Nachwirkungen ſich zeigenden Störungen im ſozialen Organismus. Die erſten bemerkenswerten Schritte zur Schaffung einer planmäßig ausgebauten Berufsberatung find: die Entſchließung des deutſchen Handwerks- und Gewerbe- kammertages vom Jahre 1917 und der am 15. November 1917 vom Abgeordneten Hammer im Preußiſchen Abgeordnetenhauſe eingebrachte Antrag. Preußen ſchreibt durch Verordnung vom 18. März 1919 die Einrichtung einer Berufsberatungsſtelle in jeder Gemeinde vor. Das Reich hat in der Abteilung für Berufsberatung im Reichsamt für Arbeitspermittlung eine or- ganiſatoriſche Spitze für die Berufsberatung im ganzen Reiche geſchaffen. Es würde zu weit führen, hier Einzelheiten zu ſchildern.

Nicht allein ſoll das Berufsamt die Berufsberatung ausüben: die Schulen ſind ihm als wichtigſte Helfer beigegeben. Das Material liefert ihnen (in Preußen) das „Zentral- inſtitut für Erziehung und Unterricht“. Für Preußen iſt die Mitwirkung der Schulen bei der Berufsberatung geregelt durch den Miniſterialerlaß vom 28. März 1918 und ſeine Ergänzung vom 26. Februar 1920. In dieſen Geſamtbau der allgemeinen Berufsberatung muß natur- gemäß auch die akademiſche Berufsberatung organiſch eingegliedert werden. Gewiß gehört zum Arbeitsgebiet der allgemeinen Berufsberatungsſtellen auch die akademiſche Be— rufsberatung, die wie eben jede Berufsberatung ſchon in der Volkschule beginnen muß. Es dürfte ſogar „nach den vorliegenden Erfahrungen angezeigt ſein, das ganze letzte Schuljahr“ des Volksſchülers „in planmäßiger Umgeſtaltung in den Dienſt der Berufsberatung zu ſtellen“. (Prof. Dr Aloys Fiſcher-München in feinem höchſt leſenswerten Buche: „Über Beruf, Berufswahl und Berufsberatung als Erziehungsfragen“. Verlag: Quelle & Meyer, Leipzig 1918.) Wenn nun aber für die akademiſchen Berufe beſondere Einrichtungen ge— fordert werden, ſo gründet ſich dieſe Forderung hauptſächlich auf die Tatſache, daß die Be— ratung bei der akademiſchen Berufswahl beſonders ſchwierig iſt. Gerade dieſe Berufsgruppe ijt am weiteſten verzweigt, am feinſten veräftelt. Lage und Ausſichten find ſtändigem Wechſel unterworfen. Die Vorſchriften für die Ausbildung in Schule und Praxis werden ſehr oft geändert. Und vor allem ift bei einem akademiſchen Berufe die Umſtellung auf einen anderen Beruf noch ſchwieriger als in anderen, etwa in den handarbeitenden Berufen.

Gerade dieſe letztgenannte Schwierigkeit trat beſonders klar hervor, als der „Akademiſche Hilfsbund“ den Akademikern helfen wollte, „die infolge ihrer im Krieg erlittenen Beſchädi— gung der Beratung und Unterſtützung für ihre weitere Fortbildung oder künftige Erwerbs- arbeit bedürfen“. (Dr Hugo Böttger in der Gründungsverſammlung des A. H. B. am 8. April 1915 im Gebäude des Deutſchen Reichstages zu Berlin.) Wie follte nun aber all den zum Berufswechſel gezwungenen kriegsbeſchädigten Akademikern geholfen werden: dem gelähmten Theologen, dem tauben Oberlehrer, dem einarmigen Mediziner, dem Erblindeten? Hier waren mit einem Male Fragen geſtellt, Probleme, deren Löſung gefunden werden mußte! Und der Akademiſche Hilfsbund hat fie gefunden, indem er gemeinſam mit dem „Deutſchen Studentendienſt von 1914“ die „Oeutſche Zentralſtelle für Berufsberatung der Akademiker“ gründete. Die Berufsberatungsftellen des A.. B. und des D. St. O. bildeten mit ihrer bis- her geleiſteten Arbeit den Grundſtock, auf dem die D. Z. B. ihre Tätigkeit aufbauen konnte.

Als Zentralſammel- und Forſchungsinſtitut ift fie gedacht. Schon im erſten Jahre

Berufsberatung | 249

ihres Beſtehens hielt fie einen Berufsberatungskurſus ab (in Berlin im September 1918). Durch dieſen Rurfus ſollte zunächſt einmal eine Fühlungnahme aller beteiligten Kreiſe ermög- licht werden; ſodann ſollte denen, die Berufsberatung ausüben, durch die Vorträge des Kurſes Material verſchafft werden. Die Mitarbeit weiter Kreiſe hat es denn auch ermöglicht, die damals gehaltenen Referate über die einzelnen akademiſchen und halbakademiſchen Berufe in Form von kurzen Merkblättern (4 bis 8 Seiten) herauszubringen. Bisher find 44 ſolcher Merkblätter erſchienen, die zum Preiſe von 0,40 K von der Deutſchen Zentralſtelle für Be- rufsberatung der Akademiker (Berlin NW 7, Georgenſtr. 44) bezogen werden können.

Welche Großtat der Berufsberatungskurſus und die Merkblätter für die Berufsberatung darſtellen, erhellt am deutlichſten daraus, daß der A.. B. und der D. St. S. und mit ihnen dann auch die D. Z. B. A. bei Beginn ihrer Tätigkeit auf den faſt völligen Mangel an be- rufskundlichem Material für die akademiſchen Berufe ſtießen. Und das vorhandene Material ſetzte ſich in der Hauptſache aus Wegweiſern für das akademiſche Studium in den einzelnen Fakultäten zuſammen. Welche Arbeit da nun inzwiſchen geleiſtet werden mußte, kann man als Außenſtehender nur einigermaßen ahnen. Ein Bild bekommt man erſt, wenn man das im Furcheverlag, Berlin, jetzt erſchienene Sammelwerk der D. Z. B. A. „Die akademiſchen Berufe“ in die Hand nimmt. Es iſt wie in der Einleitung geſagt wird „ein erſter Verſuch, das Ganze der akademiſchen Berufsberatung planmäßig zu bearbeiten“. Es liegen dieſem feds- bändigen Werke die Vorträge jenes erſten Verufsberatungskurſes zugrunde; fie find aber naturgemäß fo umgearbeitet worden, daß die ſeither eingetretene Entwicklung überall berüd- ſichtigt worden iſt.

Welche Fülle von Material ſteckt in dieſem Werke! Das läßt ſich ſchon erkennen, wenn man einen Blick über das Inhalts verzeichnis wirft. Es enthält Band I: Die akademiſche Be- rufsberatung. Die Ethik der Berufsberatung. Berufsberatung und Berufsberater. Schule und Berufsberatung. Die pſychologiſche Analyſe der höheren Berufe. Akademiſche Studien- und Bedarfsſtatiſtik. Die amtlichen akademiſchen Auskunftsſtellen. Der Akademiſche Hilfs- bund. Der Oeutſche Studentendienſt von 1914. Band 2: Der Berufskreis des evangeliſchen Theologen im Oienſte der heimatlichen Kirche und Gemeinde, im Dienſte der inneren Miffion, _ der chriſtlichen Liebestätigkeit und der ſozialen Wohlfahrtspflege, im Dienfte der äußeren Mif- fion und der Auslandsgemeinde. Der Verufskreis des katholiſchen Theologen im Dienfte der heimatlichen Kirche und Gemeinde, der chriſtlichen Liebestätigkeit und der ſozialen Wohl- fahrtspflege. Band 3: Der akademiſch gebildete Lehrer. Der Berufskreis des Naturwiſſen- ſchaftlers außerhalb des Oberlehrerberufs. Der Bibliothekar. Der Archivar. Der Mittel- ſchullehrer. Band 4: Der Arzt. Der Zahnarzt. Der Tierarzt. Der Apotheker. Band 5: Der Richter. Der Rechtsanwalt. Der höhere Verwaltungsbeamte. Der mittlere Verwaltungs- beamte. Der Kommunalbeamte. Der Volkswirt. Der Akademiker als Beamter der ſozialen Fürſorge. Der Akademiker als Verwaltungsbeamter in der Induſtrie. Der Statiſtiker und der Verſicherungsbeamte. Der akademiſch gebildete Kaufmann. Der Fournalift. Der Aka- demiker im Auslandsdienſt. Der akademiſch gebildete Landwirt. Band 6: Der Ingenieur. Der Techniker als Verwaltungsbeamter. Der Architekt. Der Maſchineningenieur. Der Bau- ingenieur. Der Hütteningenieur. Der Bergingenieur und der Geologe. Der Chemiker. Der Landmeſſer.

Dieſe von erſten Fachmännern geſchriebenen Arbeiten ſtellen nun ein mit größter Sorg- falt zuſammengetragenes Material dar, mit dem die akademiſche Berufsberatung jetzt ihre ſo beſonders ſchwierige und verantwortungsvolle Aufgabe auszuüben imſtande iſt. Angeſichts der troſtloſen Lage der akademiſchen Berufe iſt es aber auch notwendig, die Behauptung von der ungünftigen Lage des einzelnen in Frage kommenden Berufes mit Beweiſen zu bekräftigen. Vor dem Kriege war faſt keine Warnung von denen gehört worden, an die ſie ſich wandte. Die Warnung des preußiſchen Juſtizminiſteriums vor dem Studium der Rechte, die War-

Der Zürmer XXIII, 10 : 18

250 Berufsberatung

nungen vor dem Oberlehrerberufe, vor dem mediziniſchen Studium was haben fie ge- holfen? Nichts! Und die Folge?

Mit den vorhandenen Kandidaten und Studierenden der Schulwiſſenſchaften iſt unter Berückſichtigung von Abgängen der Bedarf an Oberlehrern für dreißig Jahre ge- deckt! Der Beruf der Juriſten war ſchon längſt überfüllt und bleibt es, trotz der neugeſchaffe— nen Finanzbeamtenlaufbahn! Schon ſeit vielen Jahren warnt der „Verband der Arzte Deutſchlands zu Wahrung ihrer wirtſchaftlichen Intereſſen“ vor dem mediziniſchen Studium. And der Erfolg? Während im Jahre 1905 die Zahl der Arzte 31 041 und die der Medizin- ſtudierenden 6310 betrug, lauten die Zahlen für das Jahr 1918: 32 832 Arzte, 18 168 Medi- zinſtudierende. (Nach Emil Sardemann: „Der Arzt“, in Band 4 des erwähnten Werkes.) Es wird ſich alſo „in nicht ferner Zukunft eine Flutwelle von Arzten heranwälzen, die alles Bisherige hinter ſich läßt“. Wer ein Bild von der Lage des „Akademiſchen Arbeitsmarktes“ geben will, muß ſchwarz in ſchwarz malen. Es gibt nur einen akademiſchen Beruf, bei dem man zurzeit noch nicht von Überfüllung zu reden braucht: das ift der des Theologen. Und nicht ganz ungünſtig ſind die Ausſichten für Chemiker, namentlich in der Landwirtſchaft. Aber ich muß jedem, der in ſich Neigung für dieſen Beruf ſpürt, dringend raten, die vorzügliche Arbeit von Prof. Dr Hans Goldſchmidt-Verlin in Band 6 zu ſtudieren.

Es kann hier nur hingewieſen werden auf die bisher geleiſtete Arbeit. Alle, die irgend- wie mit Berufsberatung zu tun haben, werden dankbar das von der D. Z. B. A. dargebotene Material benutzen. Alle Volksſchichten, alle Berufe müßten Intereſſe an dieser Arbeit zeigen, die allen Berufen überhaupt zugute kommt. Vielleicht würde dies inneren Frieden ſchaffen, volkswirtſchaftliche Einſicht herſtellen und die Klaſſengegenſätze überbrücken.

Hier müſſen auch noch die Berufsbilder „Am Scheidewege“ erwähnt werden, die im Verlag Hermann Paetel, Berlin, erſcheinen. Dieſe Schriftenreihe ſoll nach dem Geleit— wort des Herausgebers, Prof. Lic. Vollmer bringen „kurze, friſche und feſſelnde Dar- ſtellungen der verſchiedenen Berufsarten aus der Feder von Fachvertretern, die ihre Aus— führungen aus eigener reicher Erfahrung heraus mit lebendigen Schilderungen aus der Praxis zu würzen vermögen“. Der Verſuch, der hier gemacht wird, iſt an ſich nicht neu. Die deutſche Zentralſtelle für Berufsberatung der Akademiker hat als Ergänzung ihrer „Merkblätter“ und des oben beſprochenen ſechsbändigen Werkes auch „Berufsbilder akademiſcher Berufe“ ver- öffentlicht. Sie ſind in der „Hochſchule“ (Blätter für akademiſches Leben und ſtudentiſche Arbeit. Jahrgang 1920, Heft 4 ff.) erſchienen und auch als Sonderdrucke vorhanden.

Was den Neuerſcheinungen des Verlages Pagetel ein charakteriſierendes Merkmal gibt, ift die Tatſache, daß fie das Gute und Vorteilhafte der „Studienführer“ mit einer Darjtellung des Berufes verbinden. Da aber nur wenige der Bändchen (Preis 6 //) Prüfungsordnungen, ſtatiſtiſche Angaben über Berufsausfichten uſw. enthalten, fo können fie nicht ohne Ergänzung benutzt werden. Als erſte Einführung in die Anforderungen eines Berufes und als Schilderung des Berufslebens aber ſind ſie eine höchſt anerkennenswerte Bereicherung unſerer Berufs— beratungsliteratur. Da ſie ſich in erſter Linie an die Jugend wenden, ſo darf ihre Anſchaffung jeder Schulbibliothek empfohlen werden. Für den Berufsberater genügt das hier dar— gebotene Material allerdings keineswegs. Als beſonderen Vorzug dieſer Sammlung möchte ich noch erwähnen, daß ſie alle Berufe behandeln will. Unter den bisher erſchienenen Bänd— chen finden wir: Oberlehrer, Apotheker, Arzt, Juriſt, Zeitungsſchreiber, Landwirt, Schloſſer, Friſeur; Kindergärtnerin, Hortnerin und Jugendleiterin.

Das Untereffe an der Berufsberatung, das auch durch dieſe Bändchen dargetan wird, beweiſt eine immer größere Erkenntnis ihrer Notwendigkeit. Möge es auf dieſem Wege weiter— gehen: zum Nutzen des Staates, des Volkes, zum Wohle des einzelnen!

Felix Hoffmann

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LAI

Bismarck und Bülow als Leiter der deutſchen auswärtigen Polltik 251

Bismarck und Bülow als Leiter der deutſchen auswärtigen Politik

9), * don der trüben Gegenwart wendet fih der Blick gern der glänzenden Vergangen- 95 N

heit zu, um aus ihr zu lernen, wie alles fo hat kommen können oder müſſen. Über 5 allem ſteht die glänzende Geſtalt Bismarcks, und von der dreißigjährigen Regierung Kaiſer Wilhelms II. bedeutet das mittlere Jahrzehnt der VBüͤlowſchen Reichskanzlerſchaft nach den taſtenden Verſuchen des neuen Kurſes und vor dem raſchen Niedergange der Bethmann Hollwegſchen Zeit den Höhepunkt der Entwicklung. |

Da find es vor allem zwei neuerdings erſchienene Schriften, die uns jenen Zeiten wieder näher führen. Die kleine Schrift von Walter Platzhoff, Bismarcks Bündnispolitik (Kurt Schroeder, Bonn und Leipzig 1920), beſchäftigt fih auf 23 Seiten allein mit jenem Syſtem von Bündniſſen, durch welches Bismarck nach 1871 das neu begründete Reich zu ſchützen ſuchte. Viel weitere Ziele ſteckt fich das Buch von Dr Wilhelm Spickernagel, Fürſt Bülow (Aljter- Verlag, Hamburg), das auf 264 Seiten eine eingehende Würdigung der Perſönlichkeit und Wirkſamkeit des Fürſten Bülow einſchließlich feiner römiſchen Sendung während des Krieges und bis zur Kanzlerkriſis von 1917 gibt. Die Grundlagen der Darſtellung find dabei dem Ber- faſſer augenſcheinlich zum Teil vom Fürſten Bülow ſelbſt geliefert worden. Denn er berichtet Dinge, die kein anderer wiſſen konnte. Wert und Zuverläſſigkeit des Buches werden dadurch natürlich weſentlich erhöht. Der Briefwechſel zwiſchen Bülow und Baffermann, Berichte des deutſchen Militärattaches in Rom, v. Schweinitz, während des Krieges und Außerungen des Fürſten Bülow über die politiſche Kriegführung bieten weiter wertvollen Stoff.

Da die Politik der letzten dreißig Jahre ſich auf der Bismarcks aufbaute, mußte das Bülow-Buh auch den Gegenſtand der erſten Schrift behandeln. Inſoweit decken fidh beide fachlich, wenn ſie auch in der Beurteilung der Verhältniſſe weit auseinandergehen. Die Schid- ſalswende des Oeutſchen Reiches bildete, das ſtellt fih immer mehr heraus, die mit Bismarcks Entlaſſung Hand in Hand gehende Preisgabe des ruſſiſchen Rüdverficherungsvertrages im Jahre 1890. Platzhoff hält dieſe Preisgabe mit Hamann, dem publiziſtiſchen Vorkämpfer des neuen Kurſes, für gerechtfertigt, da nur ein ſo geſchickter Spieler wie Bismarck das ſchwierige Spiel mit den fünf Kugeln habe durchführen können, übrigens auch Bismarck außerſtande geweſen wäre, die Entwicklung der Dinge, die auf ein ruſſiſch-franzöſiſches Bündnis hintrieb, zu hindern. Wie manche Dinge gekommen wären, wenn manche andere Dinge geweſen oder nicht geweſen wären, kann man nun freilich nicht wiſſen. Aber mit Recht weiſt Spickernagel darauf hin, daß gerade in den erſten Jahren des neuen Kurſes, als die ruſſiſche Politik ſich nach Oſtaſien wandte, das Spiel mit den fünf Kugeln unendlich viel einfacher war, als für Bismarck in der Zeit des Battenbergers. Dieſes Spiel hätten ſelbſt Diplomaten zweiten oder dritten Ranges fortführen können. Und wenn die Entwicklung der Dinge wirklich auf ein ruſſiſch⸗ franzöſiſches Bündnis ging, fo lag doch deutſcherſeits gewiß keine Veranlaſſung vor, alle Hemm- niſſe fortzuräumen, die einer ſolchen Entwicklung im Wege ſtanden. Die Preisgabe des Rüd- verſicherungs vertrages, die übrigens nicht ſowohl im öſterreichiſchen als im engliſchen Intereſſe lag, durchbrach daher das Bismarckſche Vündnisſyſtem und ermöglichte mit dem ruſſiſch-fran⸗ zöſiſchen Bündniſſe die fpätere Einkreiſung Oeutſchlands.

Von politiſchen Perſönlichkeiten ſelbſt neuen Stoff für die geſchichtliche Harſtellung zu erhalten, iſt gewiß von Wert. Aber es liegt darin auch eine gewiſſe Gefahr, es trübt den ſreien Blick und läßt uns Menſchen und Dinge durch die Brille der betreffenden Perſönlichkeit fehen. Zwei Dinge geben zu dieſer Bemerkung Anlaß, die Frage eines deutſch-engliſchen Bünd- niſſes um die Jahrhundertwende und die TOND ee eee In der Beurteilung beider weiche ich vom Verfaſſer ab.

252 Bismarck und Bülow als Leiter der deutſchen auswärtigen Politik

Ein deutſch-engliſches Bündnis war ſchon von Bismarck als Ergänzung des Dreibundes heiß erſtrebt. Um die Jahrhundertwende war es zu haben, und nur die deutſche Ablehnung führte zu der engliſch-franzöſiſchen Entente. Die Gründe, welche Fürſt Bülow in feiner deut- ſchen Politik für die Ablehnung anführt, die engliſchen Anerbietungen ſeien nicht beſtimmt genug geweſen, und man hätte ſich durch eine ſolche Verbindung in einſeitige Abhängigkeit von der engliſchen Politik begeben, glaube ich in meiner deutſchen Geſchichte unter Kaiſer Wilhelm II. widerlegt zu haben. Der Verfaſſer wiederholt die Bülowſchen Ausführungen. Doch wenn zwei dasſelbe ſagen, iſt es nicht dasſelbe. Dem Diplomaten iſt vielfach die Sprache gegeben, um die Gedanken zu verbergen, der Geſchichtſchreiber ſoll ſagen, wie es eigentlich geweſen iſt. Dem Fürſten Bülow iſt weder aus ſeiner Ablehnung ein Vorwurf zu machen, obgleich die Ablehnung verhängnisvoll war, noch aus feinem verfehlten Rechtfertigungsver⸗ ſuche. Denn er hatte keine völlig freie Bahn. Er hatte die Leitung der auswärtigen Politik übernommen unter der Verpflichtung, die kaiſerliche Flottenpolitik zu ermöglichen, und dieſe wäre bei einem deutſch-engliſchen Bündniſſe unmöglich geworden. Die Flottenpolitik hatte ſich zum Selbſtzweck entwickelt und ſtand einer freien politiſchen Entſchließung der auswärtigen Leitung entgegen.

Ebenſo folgt der Verfaſſer in der Darſtellung der Blockpolitik und der damit eng verſchlungenen Daily-Telegraph- Angelegenheit Bülowſchen Spuren, d. h. dem, was der Diplomat Bülow ausſprach und der Geſchichtſchreiber Spickernagel deshalb als geſchichtliche Wahrheit hinnahm. Demgegenüber habe ich ſchon unmittelbar nach der Bülow-Kriſis in der „Konſervativen Monatsſchrift“ und neuerdings in meiner „Deutfhen Geſchichte unter Kaifer Wilhelm II.“ den Nachweis verſucht, daß der Sturm über Daily Telegraph vom Fürſten Bülow abſichtlich herbeigeführt war, um der allmählich immer unerträglicher werdenden Betätigung des perſönlichen Regiments durch die kaiſerlichen Reden ein Ende zu machen. Der Kaiſer hatte aber das Spiel ſeines Kanzlers durchſchaut und gedachte ihn nach Durchführung der Reichsfinanzreform zu entlaſſen. Deshalb nahm der Kanzler die Ablehnung der Reichserbſchafts— ſteuer zum Vorwand, um aus parlamentariſchen Gründen zurückzutreten. Der Indizien— beweis, der für einen ſolchen Sachverhalt ſpricht, wird durch die eingehende Darſtellung des Verfaſſers noch verſtärkt, und jeder unbefangene Beurteiler wird zu demſelben Ergebniſſe gelangen. Dem Fürſten Bülow ſoll damit durchaus kein Vorwurf gemacht werden. Im Gegenteil bleibt es allein ſein Verdienſt, den kaiſerlichen Redeſtrom während der letzten zehn Jahre im weſentlichen unterbunden zu haben, wenn er auch ſelbſt darüber ſtürzte. Daß er ſelbſt dieſen Sachverhalt nicht zugeben kann, ift ſelbſtverſtändlich. Und wenn ich bisher das Bedenken erhoben hatte, der Anlaß ſei ſchlecht gewählt geweſen, weil der Kaiſer gerade hier vor der Veröffentlichung ſtreng konſtitutionell verfahren fei, fo verſchwindet auch dieſes Be- denken, da der Kaiſer bei der Mitteilung an den Reichskanzler unbedingt auf der Veröffent- lichung beſtand. Alſo warum ſollte der Kanzler dem Kaiſer nicht den Willen tun und ihn ſich einmal endlich die Finger verbrennen laſſen, wenn ſeine Warnungen doch nichts gefruchtet hätten?

In einem Briefe an Baſſermann vom 17. November 1911 ſchreibt Fürft Bülow: „Dabei möchte ich in Parentheſis einſchalten, daß es irreführend iſt, wenn in der Magdeburgiſchen Zeitung Profeſſor Bornhak meint, ich würde zurückgetreten fein, auch wenn ich die Reids- finanzreform in der von mir vorgeſchlagenen Form durchgeführt hätte. Wäre die Reichs- finanzreform nach meinen Vorſchlägen durchgeführt worden, ſo hätte ſich S. M. ſchwerlich von mir getrennt.“ Den Beweis für meine Behauptung habe ich in meinem Buche geführt. Er liegt in der lange vor Scheitern der Blockpolitik abgebenen Erklärung des Kaiſers, der Kanzler werde nach Durchführung der Reichsfinanzreform gehen. Im Gegenteile, das Scheitern der Block- politik kann als eine Folge davon betrachtet werden, daß der Kanzler das Vertrauen des Kaiſers nicht mehr beſaß. Sonſt hätten die Konſervativen die Erbanfallſteuer nicht abgelehnt.

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Der Rampf um die Cheopspyramibe | 253

Nach feinem Rücktritte hat Fürſt Bülow ftets große Zurückhaltung beobachtet. Doch die Verurteilung der Marokkopolitik feines Nachfolgers leuchtete ſchon aus feiner 1916 er- ſchienenen „Oeutſchen Politik“ hervor. Erſt das beiſpielloſe Verhalten von Bethmann Hollweg, der in ſeinen Erinnerungen den Anſchein zu erwecken ſuchte, als ſei es das übele Erbe der Bülowſchen Zeit geweſen, das den Zuſammenbruch herbeigeführt habe, veranlaßte ihn, mit dem auch in dem Spickernagelſchen Buche abgedruckten Briefe an den Schriftleiter des „Ham- burger Fremdenblattes“, v. Eckardt, aus feiner Zurückhaltung herauszutreten und die Beth- mann Hollwegſche Politik zu brandmarken als das, was ſie wirklich war, als das frivole Spiel eines fataliſtiſchen Pedanten mit den höchſten Gütern ſeines Volkes.

Immer klarer hebt ſich auch aus der vorliegenden Darftellung das Bild des Fürſten Bülow ab als des größten deutſchen Staatsmannes der nachbismarckſchen Zeit. Und ein Jam- mer war es, daß, abgeſehen von der kurzen römiſchen Sendung, die zu ſpät kam und dann auch noch nach Möglichkeit von Berlin behindert wurde, ſolche Kräfte während des Weltkrieges brachliegen mußten. Prof. Dr. Conrad Bornhak

*

Der Kampf um die Cheopspyramide

N K ler kennt es nicht, das phantaftifch köſtliche Werk des M. Eyth, an dem fih immer S) Ex wieder unzählige Knabenherzen entzünden und erfüllen mit brennenden Sehn-

eiſchten, die großen Weltgeheimniſſe zu durchdringen, die daraus fo ſchimmernd, ſcheinbar zum Greifen nahe und doch wieder magiſch unerreichbar die Seele zu alten, trüge- riſchen Wolkenriſſen der Phantaſie verlocken!

Ich geſtehe es offen, der Eythſche Roman war ein febr weſentlich beſtimmender Faktor meines Entſchluſſes, nach Agypten zu gehen. Und zu den ganz unvergeßlichen Momenten meines Lebens gehört jener Augenblick, an dem ich die Pyramiden zum erſtenmal ſah.

Nüchterner, beläſtigender, Ideale raubender Alltag war es. Glühende Hitze im Eifen- bahnzug, Staub und üble Gerüche und moderne Menſchen ringsum und das öde, ermüdende Bild, wie es jede Bahnſtrecke begleitet. Auf einmal aber ſagte jemand: „Die Pyramiden“. und das Herz ſtand für den Augenblick ſtill. Ganz draußen am Himmelsrand, hinter der ver- worrenen Silhouette von Lehmhütten und Palmen und gleichgültigen Dingen ſtanden ruhig in feinem Grau die drei großen Dreiecke ... Wie viele Menſchen haben fie geſehen, fo wie ich ſie ſah, in den viertauſend Jahren, ſeitdem die älteſten Baudenkmäler unſerer Kulturwelt ſtehen! Herodot hat ſie geſehen und vor ihm wohl Pythagoras; Kambyſes ſtand vor ihnen und Julius Cäſar, und ſchon ihnen erſchienen fie unermeßlich alt. Und allen waren fie rätfel- haft und eine der höchſten Offenbarungen menſchlicher Kraftentfaltung und eines tiefen Wif- fens, ohne das ſchon rein techniſch ein ſolches Monument niemals hätte errichtet werden tön- nen. Im Innern bergen fie alle eine Grabkammer, in der ein Granitſarkophag ſteht. Man kennt viele Dutzend Pyramiden, Lepſius, der Leiter der preußiſchen Expedition von 1842, hat allein an 30 entdeckt. Und alle find fie im Prinzip gleich gebaut. Stets ſteht in der licht- loſen Königskammer ein Sarkophag. Allerdings ſind die Grabkammern der zwei größten Pyramiden von Gizsh leer, aber in der dritten es ift die des Mykerinos, wie fie Herodot graeciſiert nennt lag ein Holzſarg und darin noch die königliche Mumie. An der VBeſtimmung als Grabdenkmal läßt ſich demnach nicht zweifeln.

Düſter, unheimlich, ohne Inſchrift, unter der erſtickenden Wucht eines ganz aus Granit umlegten Gemaches ſteht in der größten Pyramide der des Cheops ein leerer und be- ſchädigter Granitſarg ohne Deckel. Niemand könnte beweiſen, daß diefe Pyramide das Andenken

254 Der Kampf um die Cheopspyramide

des Königs Chufu fei, wenn nicht feine Hieroglyphe, die Königsſchlange, die zwei Vögel und der Mond, in den Hohlräumen ober dem Grab eingemeißelt wäre.

Dieſer Granitſarg iſt nicht mehr intakt. Er war ſchon vor 130 Jahren beſchädigt, als die franzöſiſche Expedition ihn zuerſt vermeſſen hat. Niemand kann daher ſeine wahren Maße auf den Millimeter genau heute mehr angeben; er unterſcheidet ſich in gar nichts von den vielen anderen Granitſärgen, in denen die anderen Könige, die Apisſtiere, die Großen des Alten Reiches beigeſetzt wurden. Ich habe Dutzende ſolcher Sarkophage geſehen; ſie waren verſchieden groß, denn auch die Menſchen und die Pyramiden ſind verſchieden groß. Es gibt keine denkbare Urſache, aus welcher der Steinſarg des Cheops ſich von den anderen unter- ſcheiden ſollte. Und dennoch dichtet die Menſchheit gerade dieſer Steinmetzarbeit feit einem Menſchenalter beſondere Geheimniſſe und Eigenheiten an.

Ein deutſcher Geologe, der badiſche Hofrat Dr F. Nötling (F. Nötling, Die kosmiſchen Zahlen der Cheopspyramide, der mathemat iſche Schlüſſel zu den Einheitsgeſetzen im Aufbau des Weltalls. Stuttgart 1921, Ferd. Enke) veröffentlicht ſoeben ein ausführliches Werk darüber, das Aufſehen erregt und viele Leſer findet und auch Glauben mit der Behauptung, in dieſer Steintruhe ſeien unergründliche Geſetze des Weltenbaues und des Menſchenlebens ausgedrückt.

Man traut feinen Augen nicht, wenn man die abgeſchlagene Granitwanne geſehen hat

und ſolches lieſt.

ö Nötling hat ſie weder geſehen noch gemeſſen; er kritiſiert nicht einmal die vorhandenen Meſſungen anderer, ſond ern beſchränkt fih darauf, den Roman von Max Eyth zur Grund- lage zu wählen. Er ſagt: nach Eyth iſt diefe Kiſte 77 - 85 ägyptiſche Zoll lang. Er ſagt aber zugleich, daß von den vielen Meſſungen, die man zu verſchiedenen Zeiten machte, keine zwei übereinſtimmen. Er nimmt auch die von Eyth gegebene Zahl nicht an, ſondern meint, ſie enthalte „wahrſcheinlich“ e inen Druckfehler, denn fie „ſollte“ 78. 75 Zoll heißen. Wenn der Sarkophag nämlich fo lang wäre, dann käme er der Länge von 25 x x gleich.

ar ift die bekannte Ludolffſche Zahl, durch die man in der Geometrie den Inhalt eines Kreiſes feſtſtellen kann. Für praktiſche Zwecke ausreichend ift die Feſtſtellung, daß zz den Wert von 3,1428 beſitze, für aſtronomiſche und rein wiſſenſchaftliche Aufgaben aber iſt es nötig, fie weit genauer zu berechnen; und der deutſche Mathematiker Richter hat denn auch 500 Dezi- malen dieſes Bruches, Ghants fogar 700 Oezimalen beſtimmt.

Nötling begnügt fih mit dem Wert r = 3, 1415926535; da er damit die Kreiſe des Weltalls mißt, muß er ſich den Vorwurf gefallen laffen, daß er nicht mit der menſchenmög— lichen Genauigkeit arbeite, alles, was er errechnet, alſo bewußt nur relativen Wert habe.

Aber wie follte er auf ſolche Exaktheit Wert legen ſagte er doch ſelbſt, die Stein- trube fei 77 » 85 (oder 78 - 757 Zoll lang, nach der Zahl x follte fie 78,5598 165597 Zoll lang ſein. Und ſetzt nun ganz beruhigt

77.85 alias 78 75 = 78 » 539, denn von nun an baut er alles, was er folgert, darauf, daß die Steintruhe ein Maß iſt, welches die Zahl r ausdrücken und der Welt erhalten foll

Mit anderen Worten: zuerſt gibt er den handgreiflichen Beweis, daß die Steintruhe in der Cheopspyramide nichts mit der Zahl * zu tun hat, und dann ſagt er: weil fie alfo ein Symbol dieſer merkwürdigſten aller Zahlen iſt, geht daraus hervor, daß die alten Agypter ſie gekannt haben; ſie wollten alſo mit dieſem Sarg eine tiefe mathematiſche Weisheit ausdrücken für die Kundigen und verraten damit, daß ſie die Erdbahn genau kannten, auch das ſpezifiſche Gewicht der Erde, auch alle Elemente der Planetenbewegung, die der Atembewegung, ſie errichteten ſogar die ganze Cheopspyramide nur, um damit die ſinnliche Darſtellung eines allgemeinen und grundlegenden Weltgeſetzes zu geben, aus dem man das geſamte Wiſſen von heute über Natur, das Geheimnis der Chriſtologie, der Kabbala, und der tiefſten innermenſchlichen Beziehungen ableiten kann, was alles demnach den Agyptern vor 4000 Jahren bewußt geweſen fein muß.

Der Rampf um die Cheopspyramide T 255

Diefe Ableitungen in Form gewaltiger und emfiger Rechnungen find der weitere In- halt des Werkes, das auf ſolcher Grundlage gleich weitere Hypotheſen über die Entſtehung des Sonnenſyſtems, die Exiſtenz eines neuen Planeten zwiſchen Saturn und Uranus und dergleichen mehr aufführt.

. Und diefes Buch hat im Deutſchland von heute Erfolg, es erlebte binnen kurzem eine

Neuauflage und findet Beachtung auch bei ernſten Männern. | l Ich habe deswegen mich und den Lefer bemüht, die Grundlagen, auf denen feine Folgerungen ruhen, möglichſt genau zu beleuchten. Es iſt alſo heute möglich, daß jemand, der behauptet, ein beſtimmtes Ding ſei das Wichtigſte in der Welt, ſich gar nicht die Mühe nimmt, dieſes Ding wirklich kennen zu lernen! So papiergläubig iſt die Welt geworden, daß einer über die Cheopspyramide ein ganzes Buch ſchreibt, ohne ſie geſehen zu haben, ohne ſelbſt gemeſſen und geforſcht zu haben, bloß auf die Autorität eines beliebigen anderen hin, noch dazu auf eine Dichtung, die ſich als ſolche der exakten Verantwortung entzieht. Aber nicht, daß ein Menſch auf ſolches verfällt er hat die Entſchuldigung, daß er auf dieſe Beſchäftigung in der entſetzlichen Seelenqual eines Kriegsgefangenenlagers verfiel, unentſchuldbar iſt nur, daß er das auch in dieſer Form veröffentlicht —, iſt das Merkwürdige, ſondern daß in einem ganzen großen Volke man derartiges als Offenbarung und geiſtigen Fortſchritt anſtaunt.

Damit beginnt erft der Kampf um die Cheopspyramide ein öffentliches Intereſſe zu werden. Wie krank und wunderſüchtig muß doch die Seele unſeres Volkes geworden ſein, daß ſolches fidh ereignen kann! Welche Gefahren ſchlummern in einer ſolchen ſeeliſchen Ber- faſſung! Ift das ſchon der Anfang des Unterganges? Oder ift ein Volk fo etwas Großes und Lebensfähiges, daß es auch ſolche Biffen aſſimiliert, ohne daß es ihm weſentlich ſchadet? Es hat im Laufe der Zeiten ſo viele wunderliche Bücher gegeben. Hat nicht Aug. Comte, den die Franzoſen als einen ihrer größten Philoſophen verehren, eines geſchrieben, in dem ſteht, daß ſich einſt das Weib auch autogam befruchten würde, habe ich nicht ſelbſt ein Werk in meiner Bibliothek mit der genauen Anleitung, wie aus Maientau Fröſche hergeſtellt werden können, hat nicht Cardanus, den ſeine Zeitgenoſſen als den größten aller Männer bezeichneten, die ſonderbare Abhandlung De Somniis geſchrieben, in der er bekennt, nach feinen Träumen als Arzt ſeine berühmten Kuren ausgeführt, ſeine Lebensgefährtin gewählt, ſeine philoſophiſchen Abhandlungen geſchrieben zu haben?! Und dennoch hat die Menſchheit das alles aufgenom- men, das Gute aus den großen Männern und Ideen benutzt und die Irrtümer und Wahn vorſtellungen unfruchtbar gemacht.

Das ift das Problem und das ift das Wunderbare daran. Das Richtige und das Gute in der Welt hat eine ſo göttliche Kraft, daß es wie Licht auch durch den dunkelſten Raum, durch alle Irrtümer und Niedergangsepochen dringt. Schreibe einen dicken Band voll Unrichtigem, in dem nur eine Wahrheit des Herzens oder des Verſtandes ſteht nach einiger Zeit ſind alle Irrtümer weggeblaſen, als ob ſie nie geweſen wären, aber die neue Wahrheit liegt ſtrahlend und für immer wirkſam vor aller Augen, wie wenn ſie ein Diamant wäre, der als Inhalt einer vermoderten Truhe übrig bleibt!

And ſo ſteht etwas Dauerndes und Schönes auch in dem armen und verwirrten Werk über das Geheimnis der Cheopspyramide.

Sein Verfaſſer hat recht mit allen ſeinen weſentlichen Folgerungen und Behauptungen, |

ohne daß er es weiß. Die Cheopspyramide iſt wirklich ein Symbol der kosmiſchen Geſetze und ein Monument der ewigen Wahrheiten, und ich halte es nicht einmal für ausgeſchloſſen, daß das wenigſtens den weiſeſten der ägyptiſchen Prieſter ſogar bewußt war.

Ich wünſchte mir dieſes Buch noch einmal geſchrieben, und nur zwar in folgender Form:

Das ehrwürdige Monument einer Baukunſt und Menſchenkultur, die blũhte, als noch in unſeren Wäldern Ur und Elch gejagt wurden von Hallſtattmenſchen und Bronzezeitjägern, verrät durch ſeine inneren und äußeren Proportionen die Kenntnis des „goldenen Schnittes“,

256 | Der Kampf um bie Ehcopspyramibe

d. h. des Harmoniegeſetzes der Teile, das eine Gewähr für längſte Dauer iſt. (Das iſt auch Nötling bekannt. Er rechnet, daß die Teilungen in allen Einzelheiten der Pyramide unter

Zugrundlage des Wertes (7) ſtattfinden, was dem Geſetz des goldenen Schnittes entſpricht.

Auch fekt er ausdrücklich die Harmonie ſynonym mit dem von ihm geſuchten Weltgeſetz.) Tat- ſächlich ift die Cheopspyramide (fo wie alle Meiſterwerke, die aus der Hand des Menſchen her- vorgingen, genau ſo wie die Kunſtwerke der Natur) die ſinnliche Darſtellung des oberſten aller Weltgeſetze und inſofern das Abbild der Weltgeſetze ſelbſt, die ſich dann logiſcherweiſe darin finden und daraus ableiten laſſen müſſen. Denn bei der geſetzmäßigen Verknüpfung des Alls müffen, wenn man nur erft irgendwo eine „kosmiſche Zahl“, d. h. eine der im Bau des Welt- alls begründeten Beziehungen richtig erfaßt hat, dann aus ihr alle anderen Beziehungen des Weltalls berechnet werden können.

Es iſt daher ganz logiſch und wird keinen tiefer denkenden Kopf verwundern, wenn man aus der Zahl die großen Beziehungen des Erdballs, des Sonnenſyſtems, ja des Welt- alls, überhaupt die ganze wunderbare Harmonie der Schöpfung findet, wie es als „Geheim— nis der Cheopspyramide“ nun ſoeben verraten wird. Das Weltſyſtem ift nun einmal ein har- moniſch ausgeglichenes Syſtem, daher muß man von der Harmonie zur Welt ebenſo kommen, wie bereits die Antike aus der Betrachtung der Welt die Idee der Harmonie entdeckte.

Das gleiche Reſultat hätte man freilich finden können, wenn man von der Vetra- tung des Doryphoros, des Polyklet oder der mediceiſchen Venus oder der Akropolis zu Athen ausgegangen wäre.

Das Bewundernswerte an den alten Agyptern ift, daß fie diefe Idee der Harmonie, die größte Weisheit, die dem Menſchengeiſt je klar geworden iſt, bereits hatten. Sie drücken ſie tatſächlich ſchon in der älteſten aller Pyramiden aus und ſo iſt es auch glaubhaft, was die Legende von Pythagoras, dem Philoſophen der Harmonie, erzählt, daß er ſeine Weisheit von den Prieſtern im Lande des Nils geholt habe. Man hätte fie um das Jahr 500 v. Chr. von dort jedenfalls holen können, denn der uralte ſteinerne Berg am Nande der Wüſte verrät, daß ſchon Jahrtauſende früher dieſes Wiſſen ſich in Taten umgeſetzt hat.

And auch das iſt richtig, daß dieſes Wiſſen allmählich wieder verloren ging. Schon der Weiſe von Samos mußte es neu erwecken, und ſeine Schule rieb ſich in einem Menſchen— alter an der Stumpfheit und Disharmonie der Umwelt wieder auf. Und ſeitdem hat der Har- moniegedanke einen Leidensweg durch die Menſchheit beſchritten; immer gekannt und gelebt von einigen, immer verkannt und mißachtet von der großen Menge, bis er erſt in unſeren Tagen wieder feine Auferſtehung die wievielte ſchon, ſeitdem Menſchen an der Dishar— monie leiden! feiert in dem Denten, vielleicht um wieder das Schickſal zu teilen, das auch dem älteſten Symbol dieſes Weltgeſetzes zuteil wurde, der Rieſenpyramide, die einſam von Jahrhundert zu Jahrhundert ragt in einer weiten Wüſte .

Das ift meiner Anſicht nach das wahre Geheimnis der Cheopspyramide. Nötling hat es erraten und mißverſtanden zugleich, als richtiges Kind feiner Zeit: irregehend, über- kompliziert, wunderſüchtig und doch wieder als der Träger des göttlichen Lichtfunkens, der durch jeden Berg der Irrtümer hindurchſchimmert. Raoul H. France

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Wilhelm Speck

Zu ſeinem 60. Geburtstag (7. Juli)

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2 icht viele wiſſen es, daß der heſſiſche, der deutſche Dichter Wilhelm Speck von der URS Sprit her feinen Weg zur Profa fand. Und doch werden alle, die feine Werke in E nachgeſtaltender Hingabe gelefen haben, auch von dem Gefühle durchdrungen ſein, daß nur ein Lyriker, ein Dichter des Empfindens, ein Dichter der Seele Novellen und einen Roman ſchreiben kann wie „Menſchen, die den Weg verloren“, „Zwei Seelen“, „Joggeli“, „Ein Quartett-Finale“ (ſämtlich bei Martin Warned in Berlin). Ein Dichter der Menſchenſeele, der Naturbeſeeltheit und der Gottsinnigkeit iſt der einſtmalige Berliner Pfarrer am Zuchthaus, deffen Lebensweg immer haltmachte an den Stätten, wo das Dunkel allen Seins und Wirkens am tiefſten auf die beſonnte Erde herabhängt. Speck lernt die Menſchenſeele kennen, wie nur ein Paftor der Verbrecher und ein Dichter fie ergründen kann; wenn fie voll- kommen einſam und verloren iſt, ohne Hilfe und ohne Zuflucht in die Irre ſchwankt und in die Höhe ſich ſehnt, wenn die Fülle der Dafeinsqualen, die Größe der Lebenswiderſtände auf ihr laſten, wenn ſie getrieben wird, ſie weiß nicht wohin, folgend unterirdiſchen Mächten. Dann eint ſich dieſes Dichters Kunſt mit ihr und lebt in ihr den Tag, den ſie lebt, die Nacht, die ſie atmet. Es ſind Abgründe, in die Speck hinabſteigt, Abgründe, aus deren Finſternis auch der Verworfenſte noch emporſtrebt; Sehnſucht iſt der Ton, der in jedem Worte dieſes Dichters ſchwebt, Sehnſucht iſt die Harmonie, in der alle Wildheiten des Lebens ſich finden.

Wir erleben an Wilhelm Speck wieder einmal den unnennbaren Zauber, den jede Kunſt ausſtrömt, die auf einer Weltanſchauung gegründet iſt. Hier iſt nicht die Form das Herrſchende, ſondern der Gehalt, und weil er bei Speck das Weſen ſeiner Werke ausmacht, darum nannte ich ihn einen deutſchen Dichter; mit dieſem Namen darf man ja Schaffende einer Formkunſt faſt nie bezeichnen. Am meiſten läßt ſich deshalb auch bei Speck einwenden gegen die Form: die beiden unter der Überſchrift „Menſchen, die den Weg verloren“ ver- einten Novellen „Die Flüchtlinge“ und „Urſula“ liegen zwölf Jahre 1894 und 1906 auseinander, und fie zeigen, wie Speck fortſchritt von einer noch nicht reſtlos geſtalteten Wirk- lichkeitsnachbildung zu der verinnerlichten Formung eines Lebens, beffer gejagt, Geelen- ausſchnittes. Dort: „Die Flüchtlinge“, der Weg eines Wohlbehüteten aus treuen Eltern- armen auf die Bahn des Verbrechens unter landſtreichenden Heimatloſen; hier „Urfula“, die SGeſundung einer einmal verwundeten, ſcheu gewordenen Seele durch die Liebe eines Man- nes; beide Male will Speck nichts weiter geben als die Entwicklung, als: „wie alles kam“; dort gibt er nur die Entwicklung, hier aber ſchon mehr: ſeine Weltanſchauung helfender Liebe und zarten Erbarmens, weichen Mitleidens und mannhafter Lichtfuͤhrung.

Mit unendlichem Reichtum, in ſteter Neuheit gibt Speck immer wieder ſich ſelbſt. Seine vier Novellen und ſein einziger Roman bleiben nicht mehr Werke der Phantaſie, ſondern ſind Bekenntniſſe. Und fie ergreifen. Nicht weil fie Schwerzuertragendes erzählen, nicht weil

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ſie beweinte Schickſale dartun, ſondern weil ſie vom Einzelnen ins Ganze hinüberdringen: Tat twam asi, „Das biſt du“, klingt es leiſe, aber vernehmlich aus den Zeilen; das ſubjektive Sein, die Fſoliertheit des Körpers verſchwimmt in eine Allheit des Fühlens; die Seele des einſamen Ichs ift ein Teil der Allſeele, an der jeder Menſch teilhat; religiöſe Einheit im höchſten Sinne dieſes Wortes zwingt uns hinein in dieſe Welt, die unſer iſt, zu uns gehört; Schuld und Unſchuld werden Gleichniſſe, und das Leben wird ein Bild, ein Klang; gültig iſt allein das Erlebnis; und weder die Schuld noch die Unſchuld, weder das Leben noch das Schickſal wird letzten Endes erlebt, ſondern erlebt wird nur die Sühne der Schuld, die Wir- kung der Unſchuld, erlebt wird nur die Seele! So iſt religiöfe Myſtik der Untergrund, auf dem ſich Specks Weltanſchauung aufbaut; jene Myſtik, die ſich geklärt hat am Chriſtentum, die das Wertvolle des Pantheismus nicht leugnen mag, und die fih in der Welt der praktiſchen Tat hindurchrang zum idealen Sozialismus: vor Gott ſind wir alle gleich.

Infolgedeſſen ſchaut Speck die Verbrecher, die aus der menſchlichen Geſellſchaft Aus— geſtoßenen ganz anders an, als es ſonſt von Männern zu geſchehen pflegt, die ihre „Stoffe“ auch aus der Luft der Zuchthäuſer und Gefängniſſe holen. Speck gibt keine hetzende, ſpan— nende, Conan ODoyleſche und Hans Hpanſche Kriminaliſtik, Speck hat keine „Phantaſie“ für Entſetzen erregende Grauſamkeiten, Morde, Diebſtähle, Scheußlichkeiten, Speck will ja nicht die „Beſtie“ im Menſchen ſchildern. Sondern er ſchildert den Menſchen in der „Beſtie“, ja noch mehr: für ihn gibt es eigentlich keine „Beſtie“, für ihn gibt es nur die qualvolle Not- wendigkeit alles Geſchehens, das den Menſchen zu Taten treibt, deren Herkunft nur aus einer Beſtie zu ſtammen ſcheint, für die der Menſch aber im letzten Grunde doch nicht verantwort— lich zu machen iſt, für die nur höchſten Grades er ſelbſt ſich verantwortlich zu machen hat! Dieſe Verantwortung iſt nicht die der weltlichen Gerechtigkeit; Speck verneint dieſe auf keine Weiſe; aber für ihn gibt es noch höhere Verantwortung; jedem Menſchen iſt eine Seele anvertraut, und für ſie iſt er vor Gott verantwortlich! Frieden für eine Schuld findet der Menſch nur, wenn er ſeine Tat ſühnt vor der Welt und vor ſich ſelbſt! Fehlt dieſes zweite, ſo iſt alle weltliche Sühne ein leeres Nichts ohne Wirkung. Beſſerung kommt allein aus der Seele.

Der Roman „Zwei Seelen“ weckt dieſe Gedanken. „Zwei Seelen wohnen, ach, in

meiner Bruſt!“ heißt es in Goethes Fauſt. Der Dualismus allen Seins wird von Speck über

tragen ins Seeliſche: der Körper hat ſeine „Seele“ Triebe, Begierden wie Selbſterhaltung, Hunger, Durſt, ſexuelle Not uſw. erfüllen fie; und der Geiſt hat feine Seele Sehnſucht nach Harmonie, Frieden mit Welt und Gott, nach Glück und Liebe iſt ihr Leben. Der Knabe Heinrich, der Schneiderlehrling, der Geſelle kämpft den ewigen Kampf der zwei Seelen; und je nach den Einflüſſen, die er empfängt, irrt ſein Weg bald in das Dunkel der Täler oder in das Höhenlicht der Gipfel. Schon früh lernt der Vierzehnjährige das Verbrechen, den Diebſtahl, kennen, bald auch das Gefängnis; als er zum zweiten Male eingekerkert iſt, läßt er ſich zur Flucht verleiten; der Selbſterhaltung Not treibt ihn zum Mord ſeines Gefährten; nun hetzt ihn die Qual des Gewiſſens durch die Lande, bis er in einem Dorfwinkel in den Alpen äußer— lich Ruhe findet; doch als die Reinheit der Liebe in Geſtalt einer zu ihm ſtrebenden Frau ihm naht, da erkennt er abermals, wie ſchon zuvor, als er zweimal in der Liebe einer Jugend— geſpielin und Freundin auszuruhen hoffte, daß es keinen Frieden für ihn gibt: nur in der Sühne, in der Ausſchließung von der Geſellſchaft der Menſchen; und er geht hin, ſich der Gerichtsbarkeit zu überantworten; ein Menſchenalter Schuld und Sehnſucht umfaßt ſein Sein, das er im Zuchthaus aufzeichnet und endet.

„So habe ich denn erreicht, was die meiſten Menſchen vergeblich erſtreben: Um nichts habe ich mehr zu ſorgen, meine Zukunft iſt ſichergeſtellt für mein ganzes Leben, und die Frage nach dem, was wir effen und trinken follen und womit uns kleiden, dieſe große Frage, die das Menſchenvolk fortwährend in Bewegung hält, hat für mich alle Bedeutung verloren, ſie wird

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mir nie mehr Kummer bereiten.“ In einer Einfachheit von grenzenloſer Eindruckskraft be- ginnt und vollendet fih das Werk. Ein außerordentlicher Dichter und ſeltener Künſtler ſchrieb es. Eint ſich das hohe Niveau mit der autobiographiſchen Form? Kann ein Schneidergeſelle ſo ſchreiben? Diefe Mißlichkeit, die Speck durch eine Aneignung von guter Bildung bei feinem Helden zu verſtecken ſucht, ift letzten Endes ganz gleichgültig: dies Bekenntnis ift von ſolcher Geelen- größe, daß es ſich weit hinaushebt über alle gemeine Realität, daß es ſich hinaufſteigert zu einer Welt für fih, wie jedes große Werk. Und in dieſer ſelbſteigenen Welt wohnt das Glück; die Seligkeit des Erlebens und des Schauens blüht in goldener Klarheit, und die Fülle der Poeſie ift groß; es gibt nichts für Speck, woraus er nicht die werdende und vergehende Un- endlichkeit alles Schönen entnähme; feine Menſchen, feine Naturſchilderungen find von fub- jektivem und typiſchem Reiz; man lefe nur auf den letzten Seiten die Beſchreibung des Sonnen- aufganges: da iſt alles ſtrahlende Neuheit, glanzvolle Friſche. Speck kam ja nicht vom Schreiben zum Dichten; in ihm ruhte die Poeſle wie ein zweites Leben, und früh wurde fie geweckt. Damals etwa, wie er als Kind von Kaſſel aus, wo er das Gymnaſium beſuchte, über den Meißner in die alte Vaterſtadt Großalmerode wanderte und ſein Blick über die Wälder und Berge ſchweifte, das Gold der Morgenſonne, das Blut der Abendſonne aufnahm; wie ſeine Mutter mit Wunderblicken auf das Werratal von alten Sagen und Mönchen ſprach und alte Lieder ſang und der Ton des Volksliedes in ſein Ohr drang, damals wachte die Poeſie in ihm auf, die voll innerlicher Schlichtheit, voll ſeeliſcher Einfachheit ift, und deren leiſe No- mantik blauen Duft und ſilbernen Schimmer noch über das Häßliche breitet. Eine ſüße Traum- welt umfing ihn, und fie läßt ihn, wie feine Helden, nicht wieder los. Verträumte Oeutſche find der Dichter und feine Kinder. Sie wandeln durch das Leben voll tiefen Sehnens, fie find glücklich auch in der Not, und um fie breitet ſich ein DBämmerungsſchein, ein Nebel, der verſchönt und der verhüllt. Volle, naturaliſtiſche Klarheit, brutale Wahrheit wollen ſie nicht beſitzen im Leben; ſie ſpinnen ſich ein in die Wohnungen ihrer Seele, Sonnenlicht ſoll hinein; und mögen ſich auch finſtere Wolken davor lagern, ſie beſeitigen ſie, ſei es auch mit Aufgabe ihrer körperlichen Freiheit. Ein feiner Schleier liegt deshalb auch auf allen Erzählungen Specks; ſtoffliche Deutlichkeit fehlt; aber fie atmen eine Stimmung aus, die voller Segen ift... Stimmung, wehmütige und doch ſtarke, frauenhaft und doch männliche, ſpricht aus der Erzählung: „Der Joggeli“. Dieſer arme Bauernſohn wollte in einer reichen Heirat Glück ſuchen und fand es in einer armen; er verlor alles Glück wieder und fand ſich zur Tat zurück aus ſelbſtaufgebender Verlaſſenheit; als ſein Leben zu Ende iſt, hat er drei Heimaten, die eine, die heſſiſche, in der er lebte und liebte, die andere, Amerika, in der ſeine Tochter glücklich iſt und ſeine Zukunft blüht, und die dritte, in der ſein Weib und ſeine Kinder ſelig find; als er zwiſchen den drei Heimaten wählen ſoll, entſcheidet er ſich für die dritte... „So war ſein Leben vom Morgen bis zum Abend eine ſtille Freude. Er wandelte in der köſtlichen Abenddämmerung des Lebens, die das Nahe in die Ferne rückt und das Ferne in einem warmen Schimmer wieder nahebringt ...“ „Die Buchenwälder der Heimat rauſchen ihr trauliches Lied in die Ereigniſſe dieſes Lebens, dieſes Dorfes. Es läßt ſich nicht wieder- geben, wie dies Lied klingt.“ | Ein Stadtſchickſal umfaßt die Rahmenerzählung „Ein Quartett-Finale“, Specks letztes Werk. Ein Pfarrer erzählt ſeinen drei Muſikfreunden das Erlebnis einer Frau, die einmal im Leben die Zügel ihre Willens verlor und dafür büßte in treueſter Pflichterfüllung. Es ift wunderbar, wie Speck dieſes Thema: dle Frau eines Gelehrten erliegt nur einmal der Leidenſchaft eines Knaben und geht faſt daran zugrunde, nur des Pfarrers Spruch: Aushalten! läßt ſie ihre Verfehlung ſühnen es iſt wunderbar, wie Speck dieſen Vorwurf meiſtert. Die Keuſchheit ſeines Sinnens, Denkens und Empfindens, die Tiefe ſeiner moraliſchen Erkenntnis und die Reinheit ſeines menſchlichen Herzens werden hier offenbar. Und das alles, ohne daß Speck tendenziös würde. Er, der chriſtliche Pfarrer, verrät niemals eine tendenziöfe, didaktiſche

260 Zwei Bücher der Dcutichtunde

Neigung, moraliſiert niemals; er ijt immer Dichter, immer Künſtler, niemals d Er ift ein religiöſer Menſch und ein menſchlicher Dichter.

Möge das Schickſal ihm gütig ſein und ihm, dem Leidenden, bald alle Kräfte wieder- geben, damit er weiter ſchaffen kann. Seine Werke, mögen fie nun ausgehen von Raabe oder von Heyſe, von Stifter oder von Mörike, ſeine Werke ſind nicht Tagesware. Sie werden dauern, wie eben nur Werke dauern können, die aus der Quelle einer großen dichteriſchen Natur, einer Perſönlichkeit ſtammen. Dr. Hanns Martin Elſter

nn SUR Zwei Bücher der Deutſchkunde

m dem Sturm der gegenwärtigen weltgeſchichtlichen Erſchütterungen ſtandzu— C halten, bedarf unfer Volk einer klaren geſchichtlichen Einſicht und innerlichſt ſich zu eigen gemachten Kenntnis der wichtigſten Tatſachen ſeiner geſchicht— lichen Vergangenheit. Dazu leiſtet die Schule das ihre ob genügend und immer nach den gegenwärtig beſonders erforderlichen Geſichtspunkten, mag dahingeſtellt bleiben; aber wie ſteht's beim Durchſchnittsdeutſchen mit der geſchichtlichen Weiterbildung nach dem Ber- laffen der Schule? Geſchichte und Politik am Bier- oder Skattiſch dürfen unserer bitterernſten Gegenwart nicht genügen. Dieſe Dinge müſſen wahrlich eindringlicher im Sinne eines echten und tiefſchöpfenden Wiſſensdranges zu erwerben geſucht werden. Ift es nicht tiefbeſchämend, daß Hindenburgs herrliches Lebensbekenntnisbuch bei vielen Sortimentern als Ladenhüter liegen blieb, während Schnitzlers „Reigen“ in kurzer Zeit eine Maſſenverbreitung wenn ich nicht irre: in 80 000 Exemplaren zu verzeichnen hat?! Man komme nicht mit dem zu hohen Preis! Für Hindenburgs Lebensbuch ſollte jeder Deutſche die geforderte Summe übrig haben! Freudig würde ich's begrüßen, der Verlag entſchlöſſe ſich zu einer möglichſt billigen Volksausgabe dieſes Werkes, das vor allem in die Hand unſerer reiferen Jugend ge- hört! Hat nicht der verhältnismäßig billige Preis der deutſchen Geſchichte von Einhart den Weg ins deutſche Haus geebnet?

Für eine äußere Wiedergeburt unſerer Volksgeſamtheit iſt eine der allerwichtigſten Vorausſetzungen eine vertiefte, gründlich haftende deutſchkundliche Bildung und Ge— ſchichtskenntnis. Wir müſſen zur klaren Einſicht der Fehler, aber auch aller großen, kraftvoll erkämpften Errungenſchaften und Großtaten unſerer wahrhaft froherhebenden Vergangen— heit kommen, um dann „getroſt in Tat und Werk“ an den Neubau unſeres inneren und äußeren Reichs zu ſchreiten. Wahre geſchichtliche Bildung würde unſerm Volk auch mehr nationale Würde ſchenken, die wir jetzt im wirren Zeitgetriebe jo ſchmerzlich vermiſſen. Zwei wert- volle Bücher, die an dieſem Zukunftswerk mitzuarbeiten berufen find, liegen mir vor. Fried- rich Ratzels Buch „Deutſchland“ (Verlin und Leipzig 1920, Vereinigung wiſſenſchaftlicher Verleger; Preis geh. 20 K, geb. 26 M) hatte vor dem Kriege mit der dritten Auflage das zwanzigſte Tauſend erreicht, jetzt liegt es in vierter Auflage vor und ſei als Hilfsmittel echter Deutſchkunde allen vaterländiſche Kenntnis Suchenden warm empfohlen. Hier wird uns von ſachkundiger Hand gezeigt, was wir an unſerem Land beſitzen. Möge dieſes Buch im Schul- unterricht der Vaterlandskunde nicht vergeſſen werden und vielen Erwachſenen in ſeiner be— lebenden und anregenden Schilderung der deutſchen Lande und Meere, unſerer Seen und Flüſſe, unſerer Pflanzen und Tierwelt, der Weſensart unſeres Volkes, Staates und der heimiſchen Kultur ein ſtets zuverläſſiger Führer bleiben. Hier wird unſer Land gezeigt, „wie es war und wie es ſein kann und wie es ein großer Oeutſcher mit ſeiner tiefen Liebe zu ihm geſchaut!“ Vor allem der Abſchnitt „Volk und Staat“ iſt eine eindrucksvolle Darlegung und Begründung geſchichtlicher Tatſachen auf Grund der geographiſchen Verhältniſſe Deutſchlands,

Zwei Bücher der Oeutſchkunde r 261

die wir in dieſer Weiſe in unſern Geſchichtslehrbüchern kaum merklich hervorgehoben finden. Ja, „wir müſſen wiſſen, unſer Land iſt nicht das größte, nicht das fruchtbarſte, nicht das ſonnig heiterſte Europas. Aber es iſt groß genug für ein Volk, das entſchloſſen iſt, nichts davon zu ver- lieren; es iſt reich genug, ausdauernde Arbeit zu lohnen; es iſt ſchön genug, Liebe und treuſte Anhänglichkeit zu verdienen; es iſt mit einem Worte ein Land, worin ein tüchtiges Volk große und glückliche Geſchicke vollenden kann, vorausgeſetzt, daß es fih und fein Land zuſammen- halt.“ Wir werden in Zukunft den Geſchichtsunterricht in den Schulen auf das weitgeſpannte Gebiet deutſchkundlichen Wiſſens einzuſtellen haben, um zum Zdeal einer wirklichen jtaats- bürgerlichen Erziehung zu gelangen.

Das Ratzelſche Buch ift vorwiegend eine Einführung in die geographiſch⸗-wirtſchaftliche Heimatkunde und bedarf der Ergänzung einer kulturgeſchichtlichen Darftellung unſerer deutſchen Vergangenheit und Gegenwart, wie ſie meiſterhaft in dem Werke von Georg Steinhauſen: Der Aufſchwung der deutſchen Kultur vom 18. Jahrhundert bis zum Weltkrieg (Bibliographiſches Inſtitut, Leipzig und Wien 1920) geboten ift. Knapp, ſachlich und anſchau- lich geſchrieben wird dieſes Buch jedem eine Quelle edelſter Belehrung fein. Sein erſter Ab- ſchnitt behandelt die „Begründung einer nationalen Kultur durch einen gebildeten Mittel- ſtand und die geiſtige Vorherrſchaft Deutſchlands in Europa“, der zweite den „Beginn eines völlig neuen, auf naturwiſſenſchaftlich-techniſche Umwälzungen gegründeten Zeitalters äußer- lich- materieller Kultur“. Wir finden bei Steinhauſen unſere zu Beginn des Aufſatzes er- hobene Klage über den Mangel wahrer geſchichtlicher Bildung in unſerm Volk in bemerkens- werten Sätzen beſtätigt: „Freilich herrſcht auch im Volke meiſt die heute in den oberen Klaſſen überwiegende praktiſche Auffaſſung der zu erlangenden Bildung als äußeres Können und Mittel guten Fortkommens wie der Schätzung nur der „nützlichen“ Wiſſenſchaften vor. Die Mißachtung z. B. der geſchichtlichen Betrachtungsweiſe iſt ſehr bezeichnend.“ (S. 162.) Sehr erfreulich iſt das Eintreten für die deutſchkundliche Bedeutung und Sendung unſerer Muſik: „Die Muſik ift das eigentliche Kunſtgebiet der Deutſchen. Auf ihm kann fidh die Innerlichkeit in ihrer ganzen Fülle ausgeben, hier hat auch die Einfachheit und Schlichtheit des Gefühls ihre Stätte“ (S. 53; vgl. meinen Aufſatz „Verſunkene Schätze“ im Februar-Heft des „Türmers“). Als weitere Einzelheit aus dem überreichen Inhalt dieſes wertvollen Buches ſei das Wort über Fichtes Bedeutung für das Deutſchtum hervorgehoben: „Niemals find einem Volke fo edle, aus ſeiner Eigenart erwachſende Aufgaben zugewieſen worden wie den Oeutſchen von Fichte.“ (S. 117.)

Es ift frohermutigend, wie gegenwärtig die deutſche Kultur in ihrer edelſten Aus- prägung ſich wieder auf Fichte beſinnt.

Beſonders empfehlen wir die Schlußſeiten des Steinhauſenſchen Buches zu nad- denklichem Studium. Die herbe Wahrheit, die hier der Verfaſſer ausſpricht, darf nicht fort- dauern: „Der deutſche Philiſter kennt überhaupt kein wirkliches Intereſſe am Staat, er weiß nichts Genaues von der Verfaſſung uſw.“ (S. 165.) Ich möchte dann noch hinweiſen auf die Darſtellung des Wiederauflebens deutſcher Innerlichkeit in der Gegenwart, wobei wir leider eine Erſcheinung wie Lienhard nicht erwähnt finden, obgleich die hier gegebenen Gedanken- gänge dem Weimarer Dichter ſehr weſensverwandt find. Der von ihm erſtrebten „Reichs- beſeelung“ ſind hier edelſte Worte geſprochen. Ich hebe dafür folgende Sätze hervor: „Der Materialismus der Gegenwart weicht langſam einem neuen Idealismus. Gegenüber dem gleichmacheriſchen Maſſengeiſt, der Herrſchaft der Technik, Methode und Routine, kurz gegen- über der Zerſtörung des Perſönlichen gibt fih das brennende Sehnen nach einer Berfön- lichkeitskultur immer deutlicher kund. Gegenüber dem Fachmenſchentum regt ſich wieder der deutſche Drang nach Univerfalität. Gegenüber dem allzu ſelbſtbewußten Intellektualis- mus wird man ſich wieder der Anerklärlichkeit der „Welträtſel“ bewußt.“ Ferner an anderer Stelle: „Man empfindet heute jene Nachteile der techniſch-induſtriell-großſtädtiſchen Kultur

262 l T Eine neue Neligionsphiloſophie

immer allgemeiner. Man ſieht keine wirkliche Verbeſſerung, keine Verſchönerung des Da ſeins, ſondern nur Einbuße. Man findet, daß dieſe Kultur trotz aller ihrer wunderbaren Leiſtungen dem Innern keine befriedigenden Werte bietet, daß mit ihr eine innere Leere, ein Mangel an Freude und echtem Leben, auch an Freiheit verbunden iſt. Man ſehnt ſich nach der innerlich geſichert erſcheinenden Welt der Vorfahren.“ (S. 169.)

Im Sinne dieſer Edelart deutſchen Weſens und deutſcher Lebensführung ſei nun auch die Arbeit am Zukunftsbau der deutſchen Kultur zu geſtalten: „Die Hauptaufgabe muß doch die innerliche Art der Oeutſchen bleiben. Der höhere deutſche Lebensſtil wird kommen, wenn wir ein dem ganzen Volk gemeinſames Kulturideal beſitzen werden. Möge es eine nahe Zu— kunft erſtehen laffen.“ (173.) Dieſe wenigen Proben mögen den Wert dieſes trefflichen Buches beleuchten. Es wird neben dem Natzelſchen Werk ein ſtets zuverläſſiges, in ehrlicher Begeiſte⸗ rung und unerſchütterlichem Vertrauen geſchriebenes Hilfsmittel ſein im Kampf gegen die geſchichtliche Un- und Verbildung unſerer Zeit. Möge die ernſte Lehre feiner Schlußſätze in recht viele Herzen dringen: „Gerade die ſchwere Not der Zeit wird vielleicht die Kraft zu der faſt unmöglich ſcheinenden Wiederaufrichtung deutſchen Weſens wecken. Eines aber ſoll man begreifen. Die deutſche Kultur wird niemals eine Weltkultur ſein in dem Sinne, wie es lange die franzöſiſche Geſellſchaftskultur war. Sie iſt eine herbe Kultur, nicht gewinnend wie jene. So viel Verſtändnis der Deutſche für fremde Kulturen hat, ſo ſchwer findet ſeine Kultur gerade in ihren beſten Seiten Verſtändnis und Liebe bei den fremden Völkern, ob— wohl ſich bis zum Kriege die bewundernden Stimmen ſtändig gemehrt hatten. Wir wollen uns nicht wie Iſrael als das auserwählte Volk Gottes betrachten. Aber wir beugen uns auch vor keinem anderen Volk, nicht aus Überhebung, N im Vollbewußtſein der Kraft unſeres Geiſtes, unſerer Kultur.“ (S. 176.)

Unter dem Eindruck der jüngſten Ereigniſſe unſeres politiſchen Lebens mögen beide Bücher den Deutſchen ein Labſal fein! Dr. Paul Bülow

Eine neue Religionsphiloſophie

er Begriff der Religlonsphiloſophie ſcheint bei oberflächlichem Hinſehen einen tiefen inneren Widerſpruch zu enthalten, und oft genug hat man deshalb jeden Verſuch * dieſer Art als töricht oder gar als unredlich gebrandmarkt. Als Torheit erſcheint das Unternehmen, die Religion mit philoſophiſchen Denkmitteln zu erfaſſen, meiſt jenen Gläubigen, denen jedes begriffliche Haſchen nach dem religiöſen Erlebnis ſchon eine Entweihung dünkt, die gerade in der Nichtbegreifbarkeit des Religiöſen einen Beweis ſeiner Wahrheit ſehen, die da ſprechen: Credo quia absurdum est. Für dieſe iſt eine Philoſophie der Religion überflüſſig; denn das Bedürfnis danach fekt ein Bedürfnis nach Vereinigung aller Kultur-

werte und aller Erkenntniſſe voraus, ein Bedürfnis, das man oft ein „intellektuales Gewiſſen“

genannt hat, und das auch vom ftrengreligiöfen Standpunkte aus zwar nicht als unentbehrlich, aber doch ſicher nicht als verächtlich gelten ſollte. Als unredlich dagegen erſcheint das religions- philoſophiſche Bemühen jenen, die aus der Philoſophie eine ſtrenge Wiſſenſchaft machen wollen, die nur exakte Erfahrung oder rationales Denken als berechtigte Methoden anerkennen wollen, und alles, was dieſen Netzen entgeht, einfach als nicht vorhanden oder gar als erlogen anſehen. Für dieſe Köpfe iſt eine Philoſophie der Religion ſo überflüſſig wie eine Harmonielehre für einen Taubgeborenen.

Nun iſt jedenfalls ſicher, daß eine Philoſophie, die auch die Religion zu begreifen ſtrebt, mehr fein muß als rationale Wiſſenſchaft, was Philoſophie in der Tat bei allen großen Philo- ſophen auch geweſen ift. Sie braucht fih darum nicht in Gegenſatz zu Vernunft und Wiſſen⸗

Eine neue Religionsppilofophle | 5 263

ſchaft zu ſetzen, nein, fie wird ftets bemüht fein, deren Methoden und Ergebniffe in fih ein- zubeziehen; ſie wird aber zugleich ſich bemühen, auch dasjenige, was ſich dieſen Methoden entzieht (und das tun ohne Zweifel viele bedeutſame Erlebniſſe), damit zu vereinen, um ſo zu einem vertieften und möglichſt allſeitigen Welterleben zu gelangen. So etwa faßt ein jüngerer Denker, der mit einer neuen ſtattlichen Religionsphiloſophie ſoeben hervorgetreten ift, feine Aufgabe, und fo kann jedem, der die Religion als eine lebendige Macht verſpürt und daneben ein empfindliches intellektuales Sewiſſen hat, dies neue Werk, das den Kieler Uni- verſitätslehrer Heinrich Scholz zum Verfaſſer hat, eindringlich empfohlen werden. (Heinrich Scholz: Religionsphiloſophie. Berlin 1921, Verlag von Reuther & Reichard.)

In tiefbohrender kritiſcher Auseinanderſetzung widerlegt Scholz zunächſt die verſchiedenen philoſophiſchen Lehren, die in der Religion eine menſchliche Schöpfung ſehen, ſei es der theoretiſierenden Phantasie (wie bei Comte und Spencer), fei es des emotionalen Denkens (wie bei Feuerbach), fei es der Vernunft (wie bei Kant). Nach Scholz muß die Religion mehr als menſchliche Schöpfung fein, fie ift Erfaffung des Göttlichen. Unter dem „Göttlichen“ aber wird ein Tatbeſtand begriffen, der durch die drei grundlegenden Kategorien des Un- irdiſchen, des Machtvoll-Erhabenen und des ewig Begehrenswerten beſtimmt iſt. Dieſes Söttliche erſchließt ſich uns in einer beſonderen religiöſen Erfahrung, die ſich um einen eigentümlichen, nicht unbedingt glücklichen Begriff nnſeres Denters heranzuziehen auf „akos miſtiſchen“ Erlebniſſen aufbaut. Mit reicher Beleſenheit weiſt Scholz das Beſtehen dieſer Erlebniſſe nach. In ihnen ergänzt fih das irdiſche Wirklichkeitsbewußtſein durch herz- erhebende Eindrücke von transſubjektivem Charakter. Das gewöhnliche Weltbewußtſein er- ſcheint durchbrochen, das ganze Lebensgefühl wird beſtimmt durch das Gottesbewußtſein. Vor dem Verſtande mag, ja muß dieſes religiöfe Urphänomen als ein Wunder erſcheinen. Aber zum Weſen der Religion gehören eben ſowohl das Wunder wie das Geheimnis. Der Rationalismus, der es verſucht, die Religion aus der Nachbarſchaft des Geheimniſſes und des Wunders zu entfernen, tötet die Religion genau fo, als wenn man ein lebendes Weſen aus der Atmofphäre, die es zum Atmen braucht, herausverſetzt. Dem reinen Verſtandes- menſchen mag hier ein Mangel vorzuliegen ſcheinen, dem Philoſophen, der die Geſamtheit des Erlebens zu umſpannen ſucht, weitet ſich gerade hier der Blick in unendliche Fernen.

Nicht die hiſtoriſch gewordene, nur die erlebbare Religion will Scholz unterſuchen, d. h. diejenige, die noch heute mit ernſtlich diskutierbaren Wahrheits- und Geltungsanſprüchen aufzutreten vermag. Deshalb müht er ſich nicht mit einer Ordnung und Rangordnung der empiriſchen Religionsſyſteme, ſondern ſtrebt zu einer Erfaſſung der Lebensformen der vollwertigen Religion hin, d. h. derjenigen allgemein-menſchlich bedeutſamen Geſtaltungen der Religion, die in deren Weſen begründet find. Er müht ſich daher nicht mit einer Klaffi- fizierung von tauſenderlei Mythen und Kultformen ab, ſondern ſucht zu ergründen, welchen Einfluß Charakter und Temperament auf die Religionsgeſtaltung haben. Was fo erzielt wird, iſt nicht eine billige und bequeme Toleranz, ſondern ein tiefgehendes Verſtändnis der religiöſen Mannigfaltigkeit, wie es zuerſt der bedeutende amerikaniſche Forſcher James angebahnt hat, und wie unter andern ich ſelbſt es in meinem Buche „Perſönlichkeit und Wc auch für die Religion verſucht habe.

Wie aber ſteht es, wenn ſo viele Lebensformen der Religion anerkannt werden, mit der Wahrheit? Darf man überhaupt von Wahrheit reden, wenn jede Form der Religion ſcheinbar eine eigne kündet? Auch dieſen ſchwierigen Fragen weicht Scholz nicht aus. Und was er antwortet, ift vielleicht nicht jedem ausreichend, am wenigften denen, die auf irgendein Dogma eingeſchworen find; aber es ift ehrlich und überzeugend. Er gibt zu, daß eine abſolute Bedeutung der religiöſen Erfahrung nicht zukommt, und doch kann man eine „transſubjektive“, wenn auch relative Bedeutung ihr zuſprechen. Gewiß ſind die religiöſen „Erkenntniſſe“ nicht Abbildungen des Söttlichen, aber fie find ſinnvolle Hindeutungen auf deffen Weſen

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Der Gehalt der religiöfen Erfahrung ift irrational und geht deshalb niemals ein in die Be- griffsſchemata der rationalen Logik. Aber das Leben ift tiefer als der Verſtand, und die Welt reicht weiter als die Vernunft. Und das eben iſt die echte Aufgabe der Religionsphiloſophie, daß fie die Vernunft zur Anerkennung eines ſolchen irrationalen Erlebens und deſſen tranfzen- denten Urgrundes führt. Die Philoſophie kann das Göttliche nicht beweiſen, wie die Geometrie den pythagoreiſchen Lehrſatz beweiſt, aber ſie kann und auch das iſt ein edles Ziel den Gottesglauben vor den Anſprüchen eines charaktervollen Denkens rechtfertigen.

Das Scholzſche Buch will nicht Proſelyten machen, noch will es eine beſtimmte Lehre gegen ihre Feinde verteidigen. Es will weniger und zugleich mehr. Es ift erwachſen aus der tiefen Selbſtprüfung eines ehrlichen Denters, der die geſamte Philoſophie der Vergangenheit und Gegenwart überſchaut, und dem fich jeder, der gleiche Not verſpuͤrte und gleiche Sehnſucht kennt, anvertrauen kann. Es ift bei fachmänniſcher Beherrfhung des Stoffes nicht bloß für Fachleute geſchrieben, ſondern wird jedem ernſten Leſer ſich erſchließen. Es geht durch die Zeit ein tiefes Mißtrauen gegen den Verſtand, man ſpürt feine Begrenztheit und fpürt doch zugleich, daß jenſeits dieſer Grenzen nicht das bloße Nichts iſt, ſondern daß uns Menſchen Wege geöffnet ſind, mit dieſem Jenſeitigen in Verbindung zu treten. Solche Wege will dieſes Buch rechtfertigen, nicht indem es anleitet, ſich im Rauſch oder in Selbſttäuſchung nach Art mancher moderner Theoſophen hineinzuſchwindeln und blauen Dunſt für Ewigkeitstiefen zu halten, ſondern indem es a für Schritt die Sicherheit des Bodens prüft, auf den es den Fuß ſetzt. Richard Müller-Freienfels

Allerlei Kunſtgaben

n II. (Vgl. Heft 8)

er Schlachtenmaler Theodor Rocholl hat uns ein Erinnerungsbuch beſchert, wobei man kaum weiß, was man mehr loben und lieben ſoll: die zahlreichen Bilder (wor- unter viele Farbendrucke) oder den feſſelnden Inhalt dieſer Lebensbeſchreibung („Ein Malerleben“, Verlag der „Täglichen Rundſchau“, Berlin 1921). Das ſtattliche Werk beweiſt, daß Nocholl nicht nur die angeborene Leidenſchaft zum Zeichnen und Malen beſitzt, ſondern auch als Erzähler und Schilderer zu feſſeln weiß. Als Sohn eines rühmlich bekannten Geiſtlichen (Verfaſſer des „Chriſtophorus“) in waldeckſchem Gelände geboren (am 11. Zuni 1854), ſtieg er über Dresden, München, Düſſeldorf aus gefunden Jugendverhältniſſen empor in fein eigentliches Reich: das Lebendige raſch und ſicher feſtzuhalten, gepackt von der Lebensbewegung, ſei es Menſch oder Tier (Pferd), und zugleich mit einem Blick begabt für das Weſentliche der Landſchaft wie der Gattung. So trieb es ihn von den ſoldatiſchen Bildern der Heimat, etwa aus den Manöverfeldern, hinaus in die Ferne, wo wirklicher Krieg alles in ſtärkere Spannung und Erregung brachte, nach der Türkei, nach Theſſalien, Albanien, Kleinaſien, ja nach China, und endlich noch in den Weltkrieg, wo er am Kemmel ſeinen Sohn dem Vaterland zum Opfer gab. Kunſt, Krieg, Vaterland: darin umgrenzt ſich ſein Arbeitsgebiet.

Und grade dieſem Manne, mit dem Schnurrbart jener Zeit etwas an einen Offizier gemahnend, war ein eigentümliches Schickſal beſchieden, das vielleicht bezeichnend iſt für das damalige Oeutſchland. Er ſelbſt ſchreibt: „Etwas in mir war damals geknickt worden und hat fih nie wieder aufrichten können. Eine gewiſſe Scheu vor neuen wichtigen Bekanntſchaften hat mich ſtets außerordentlich gehindert und mir den Weg zu wertvollen Beziehungen verbaut. Und wenn ich mich dann mal zwang, fo kam nur zu leicht ein überreiztes Selbſtgefühl zum Vorſchein, das mich in ganz falſches Licht brachte.“ Was war dies Ereignis? Wir erinnern uns noch; es hat damals (1881 und ſpäter) Aufſehen gemacht. Er ſelbſt üÜberfchreibt es: „Der Unglücksabend im Malkaſten“. In ſpäter Stunde, unter dem Einfluß des genoſſenen Weins,

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verſetzten fih Rocholl und ein andrer Düffeldorfer Maler ein paar Beleidigungen, wobei das „Lausbub“, das gegen Rocholl herausflog, dem bis dahin ruhig und harmlos fröhlich dahin fließenden Leben des Künſtlers eine jähe Wendung geben ſollte. Denn Rocholl war Rejerve- leutnant, ging den üblichen Weg, forderte den Berufsgenoſſen zum Zweikampf heraus, zog aber ſpäter, als man ihm feinen Gegner als nervöſen, kranken Menſchen, der am leiſeſten Streif- ſchuß verbluten müßte, zu Gemüte führte, edelmütig feine überſtürzte Forderung zurück. Folge? Er wurde als Offizier kaſſiert, d. h.: auf Befehl Seiner Majeſtät „aus der preußiſchen Armee entfernt“, war alfo fortan in jeder Geſellſchaft, in der fih Offizere oder Reſerve- Offiziere be- fanden, geächtet und verfemt. Der Künſtler hat in dieſen „allerſchwerſten Tagen feines Lebens“ bitterlich gelitten. Nach zehn Jahren wurde der ehrloſe Abſchied, infolge dringlicher Eingaben ſeiner Freunde und Gönner, in einen ſchlichten Abſchied, ſpäter ſogar in einen freiwilligen Abſchied verwandelt. „Aber mein Leben in den vergangenen zehn Jahren! Wer da oft mein Herz und Hirn hätte ſehen können! Konnte Rehabilitation dieſe Zeit wieder gutmachen?“ Übrigens bekundete ſpäter Wilhelm II. lebhafte Teilnahme für Rocholls kräftig-geſunde Kunſt; und der Künſtler rühmt des Kaiſers guten Blick.

Mit ſchönen Worten ſchließt dieſer echt deutſche Malersmann ſein reichhaltiges Buch: „Nun will ich die Feder hinlegen und wieder zu meinen Pinſeln greifen. Sollte es möglich ſein, daß meine Feder das Werkzeug war, junge deutſche Herzen eindringlich hinzuweiſen auf Gottes ſchöne Welt, auf die Freuden eines einfachen Lebens, ſie hinzuführen zu ſelbſtloſeren Zielen, ſo wäre das eine Belohnung für mich, wie ich ſie mir ſchöner nicht denken kann.“

Jedermann kennt Rocholls Bilder von Vionville, Mars la Tour, Sedan; doch erft aus dieſem reichen Buche erſchaut man ſeine Vielſeitigkeit und ſeine Kraft, in raſchen Strichen das Weſentliche eines Geſichtes eindrucksvoll feſtzuhalten. Nebenbei iſt er bemüht, ſeinem Weſen auch darin getreu, ein fremdwörterfreies Deutſch zu ſchreiben.

Zwei bedeutende ältere Meiſter mögen dieſen Rundblick beſchließen: Cranach und Rembrandt! Wir zählen ja den letzteren, in deſſen Zeichen („Rembrandt als Erzieher“) vor einigen Jahrzehnten ein ſtark wirkendes Buch erſchienen iſt, ganz zu den Unſeren. Und es iſt merkwürdig, daß gleich drei Deröffentlihnngen die Anteilnahme der Kunſtfreunde heraus- fordern: der Verlag Hermann Freiſe (Parchim i. M.) läßt in zweiter vermehrter Auflage den erſten Band von ſämtlichen noch erhaltenen Handzeichnungen Rembrandts erſcheinen ein ebenſo ſchönes wie kühnes Unternehmen, dem man Beachtung wünſchen darf. Es ſollen in zwangloſer Folge in fih abgeſchloſſene Einzelbände ausgehen, die jedesmal eine Sammlung von Rembrandtzeichnungen in guten Abbildungen enthalten, wobei der Preis ſo niedrig wie möglich bemeſſen werden ſoll. Ohne ſeine Handzeichnungen, die ja gut wiedergegeben werden können, iſt Rembrandt gar nicht mehr denkbar; ſie gehören zu ſeinem eigentlichſten Weſen. Zum Studium des Künſtlers wie z. B. aus ſolcher Handzeichnung nach und nach ein Bild ins Klare heraustrat ſind dieſe Blätter unentbehrlich. Wer aber will nach Amſterdam etwa ins Rijksprentenkabinett reifen oder fidh eine der febr teuren Pracht oder Luxusausgaben an- ſchaffen! Da iſt denn dieſes graphiſche Werk, das vom verſtorbenen Dr Kurt Freiſe angelegt und von Dr Karl Lilienfeld eingeleitet und mit kritiſchem Verzeichnis ee iſt, von äußerſt praktiſchem Wert.

In kleinerem Format bietet ſodann der Verlag Hugo Schmidt, München, die erſten Bändchen einer „Rembrandt-Bibel“: Abbildungen des fruchtbaren Meiſters nach Beidh- nungen, Gemälden und Stichen. Seltſam, wie ſich dieſer germaniſche Niederländer befon- ders zum Alten Teſtament hingezogen fühlte! Wir bewundern in jeder flüchtigen Hand- zeichnung ſeine herbe Charakteriſierungskraft und bedauern oft, daß er ſie an ſolche Stoffe wandte. Was für Schandtaten von Evas Apfelbiß bis zu Lots Töchtern, Thamar, Potiphars Weib, Zofephs Brüder, Bathſeba und wie die Sünder alle hießen, die Rembrandts Stift und Pinſel aus dem uralten Bihelbud in das Anſchauungsfeld zauberte! Der ganze Text

Der Zürmer XXIII, 10 | 19

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iſt beigegeben. E. W. Bredt ſchrieb eine kunſtwiſſenſchaftliche Einleitung. (Die vier Bände zuſammen koſten etwa 54 K.)

Den glänzenden Veröffentlichungen „Klaſſiker der Kunſt“ fügt die Deutjche Verlags- anſtalt, Stuttgart, eine weitere hinzu: Rembrandts wiedergefundene Gemälde (1910 bis 1920). Das Werk des Meiſters umfaßt insgeſamt etwa 600 Bilder: nun wurden im Laufe der letzten zehn Jahre etwa 100 bisher unbekannte Gemälde hinzuentdeckt, wobei Forſchungs- drang und Gewinnſucht Hand in Hand gingen. Der Kunſthändler iſt einem ſo begehrten Gegenſtand gegenüber oft findiger als der Kunſthiſtoriker. Beim Beſtimmen der Echtheit der entdeckten Bilder haben dann die beiden Herausgeber des großen RNembrandtwerkes, Wil- helm von Bode und Cornelis Hofſtede de Groot, das Hauptverdienſt gehabt. Wilhelm R. Yalen- tiner hat ſchon vor einem Jahrzehnt in den „Klaſſikern der Kunſt“ die Nembrandt-Gemälde faſt vollftändig herausgegeben; er ergänzt nun jenes Werk durch dieſe 120 Abbildungen. Unter den Bildern dieſes erſtklaſſigen Könners fällt uns eine breit angelegte „Landſchaft mit der Taufe des Kämmerers“ (bibliſcher Stoff) beſonders auf; das Gemälde gehört vier Londoner Händlern gemeinſam und koſtet 100 000 Pfund Sterling (alſo etwa 35 Millionen Mark unſerer Währung)! Die ſehr unterrichtende, den Kenner bekundende Einleitung wird durch ein ge— naues Verzeichnis wertvoll abgerundet.

Man ift immer wieder erſtaunt, was unfer Buch- und Kunſthandel trotz notwendiger- weiſe erhöhter Preiſe (das letztgenannte Werk koſtet 100 M) wieder zu leiſten wagt. So bringt der Inſelverlag, Leipzig, einen ſchönen Band Lucas Cranach, eingeleitet von Kurt Glaſer, mit 117 Abbildungen heraus (Halbleinen 60 M), eine lebendige Schilderung des Geſamt— werkes dieſes lange unſicher eingeſchätzten Wittenberger Meiſters. Wir möchten dieſes Buch febr empfehlen. Gewiß, Cranachs betriebſame, etwas unperſönliche Art reicht nicht an Dürers und Holbeins Ausdruckskraft heran (die übrigens in derſelben Monographien-Reihe erjcheinen); auch darf man nicht an die Erlebniswucht eines Grünewald denken; aber es iſt doch eine überaus leuchtkräftige Kunſt, die in feiner Frühzeit von Kraft und Leidenſchaft ſtrotzt. Glaſers feſſelnde Darſtellung ſucht den ſtilſicheren ſpäteren Meiſter und den jungen Cranach mit gleicher Sach— lichkeit zu behandeln; und das iſt der rechte geſchichtliche Standpunkt, nicht jene kunſtkritiſche

Einſeitigkeit, die den jungen gegen den alten ausſpielt. Freilich empfindet auch er dabei „die,

unauflösbare Problematik“. Sollte denn aber der Weg vom wilden Individualijten bis zum Wittenberger Hofmaler weiter ſein als bei Goethe von „Götz“ und „Werther“ zu „Taſſo“

und „Iphigenie“? Alles in allem ift Cranachs Kunſt durch und durch deutſch. Der weih-

bärtige Greis, der im Herbſt 1555 zu Weimar ſtarb, gehört zu den Meiſtern der Lutherzeit.

s

Anton Bruckner

Kir leben und ſchmachten im Zeitalter der Bücher. Man wähnt, daß Gelehrten— tum auch Wiſſen bedingen müſſe. Und ſo hat man ſich dem Leben entfremdet,

und auch die Kunſt glitt allgemach ins Leere, Techniſche, Gewollte. Ehemals war es anders. Viktor Hugo ſagt einmal in ſeinem Roman „Notre Dame de Paris“, man habe früher, ſtatt in Büchern, in Steinen geredet, in ſtolzen, bleibenden Kathedralen. Und auch in der Muſik gab es eine Zeit, wo man noch unkundig war alles deſſen, was jetzt als not— wendig erachtet wird für einen jeden „gebildeten“ Menſchen. Johann Sebaſtian Bach hat in Tönen feine Dome errichtet, ſtrebend und hoch, erfüllt von ſtarker, ſelbſtſicherer und doch demütiger Inbrunſt, voll Hingabe und deutſcher, aufrechter Treue. In unſeren Tagen aber ſingt man Literatur; komponiert den Zarathuſtra und Don Juan, das Gefilde der Seligen

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und die Hunnenſchlacht; man kennt Gott nur als ein Ding, über das man reichlich ſprechen und philoſophieren müffe, nicht mehr als Andacht, als Abſolutes und Überzeitlihes. Und fo hat namentlich die Tonkunſt ſich immer tiefer und weiter entfernt von ihrem reinen, unantait- baren Urſprunge; fie kündet nicht mehr von dem Andinglichen, Sternenhohen und Ewigen; ſie ſtürzte ſich in die Niederungen alles Bedingten, Gefeſſelten, menſchlich Beſchränkten und ward zufällig, programmatiſch, falſch und verächtlich.

Anton Brucker war ein „Ungebildeter“. Außer feinem Gebetbuche und den theoretiſchen Werken, aus denen er lehrte und lernte, hat er wenig geleſen; er hatte für Dichtkunſt nur in- ſoweit Verſtändnis, als er fie zur Kompoſition verwenden wollte und entgegnete dem Ver- faſſer des „Germanenzugs“, als dieſer ihm die vielen Wortwiederholungen verweiſen wollte: „Was, was? Wiederholungen? Hätten's mehr dicht'!“ Auch für die bildende Kunſt fehlte ihm jegliches Verſtändnis. Die Opern ſeines verehrten Meiſters Wagner hörte er nur um der Muſik willen; über den Inhalt der Werke hat er ſich niemals irgendwelchen Grübeleien hingegeben. Alſo ein Tor, ein Dummkopf? O nein: er war ein Muſiker! Nicht ein ſolcher, der im Grunde durch Zufall und Willen zur Tonkunſt gekommen; ſondern aus Berufung,

aus Zwang und Beſtimmung. And fo hat er all fein Fühlen und Glauben, fein reines, hoch-

gemutes, demütiges und ſtolz vertrauendes, der Muſik geſchenkt und nur der Muſik. Er ift wirklich ein „abſoluter Muſiker“ geweſen, wie vor ihm vielleicht nur Bach und Schubert. Denn ihm galt Muſik noch als die Sprache des Unausſprechlichen, als die Rede Gottes ſelber, als das Klingen der Sterne und das Schimmern der Wolken, als das Aufgehen im Letzten, Ungemeinen.

Er iſt fromm geweſen. Ein treuer, fragloſer Sohn ſeiner katholiſchen Kirche. Er hat ja, wie ſattſam geſpöttelt worden iſt, ſeine letzte Symphonie dem lieben Gott zueignen wollen. Im Grunde freilich war all ſein Schaffen Gottesdienſt, muſikaliſche Theologie. Aber niemals dogmatiſch, konfeſſionell, befangen. Dieſer ehemalige Dorfſchulmeiſter erhob fih über Zeit und Zufall, ſobald er zu ſingen anhob; dann wußte er nur eines: Dank und Lob, Anbetung, Ehrfurcht und Jubel. Und dieſe Myſtik verirrte ſich niemals ins Vage, Hohle, Aufgetriebene; da iſt kein verzückter Augenaufſchlag, kein Weihrauchdunſt nur Klarheit und die Gnade eines reinen, kinderſeligen Herzens. Sicherlich findet man bei Bruckner das am wenigſten, was fein neuer Biograph Decſey fo häufig mit einem Modeworte als „Gebärde“ preiſt. Nie- mals hat ſich Bruckner ſelbſt belauſcht und in Poſe geſetzt; es iſt überall die große Einfachheit, welche allein befähigt erſcheint, die Verſchlingungen und Verkettungen des Irdifchen zu ent- wirren und in der ſtillen, vollkommenen Einheit des Göttlichen zu löſen. „Selig ſind, die da geiſtig arm ſind, denn das Himmelreich gehört ihnen.“

And ein anderes Heilandswort: „So ihr nicht werdet wie die Kinder...“ Was hat man doch gelächelt über den wunderlichen Unmodernen, der fo fremd und hilflos durch feine Gegenwart dahinſtolperte; der einem Bauernmädchen, mit dem er getanzt und das fein Wohl- gefallen erregt, nichts Beſſeres zu bieten wußte, als das Adagio ſeiner ſiebenten Symphonie. Der dem Kapellmeiſter Hans Richter, nach der Aufführung einer Symphonie, aus glühender Dankbarkeit einen Taler in die Hand drückte! Der einem jüdiihen Schüler die Hand auf den Kopf legte mit den beweglichen Worten: „Kannſt du wirklich nicht glauben, daß der Hei- land zur Erlöfung unſerer Sünden auf die Erde gekommen iſt?“ Wer wagt es, zu lächeln über d ieſe Einfalt der Seele? Höret ſeine Symphonien und dann verſucht es, zu ſpotten und die Achſeln zu zucken! Denkt an jene erhabenen Steigerungen in den Adagios der ſiebenten und achten Symphonie, an jene weitausholenden gotiſchen Wölbungen, jene himmelanſtrebenden, ſicheren, niemals ſchreienden oder pathetiſchen Triumphe wer müßte nicht erkennen, daß hier eine Inbrunſt aufbrauſt, die nicht von dieſer hinfälligen Erde iſt, die geradezu die Gottheit niederzwingt in den gewaltigen Umfang ſolcher Spannungen? Und man erinnere fih der Ausklänge jener beiden Adagios an dieſe wiſſende, zufriedene, dankbare Erfüllung, und

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man wird begreifen, was Goethe meinte: „Die Menſchen ſind nur ſo lange produktiv (in Poeſie und Runft), als fie noch religiös find.“ Darum eben ift Bruckners Werk fo neu, fo unverbraucht, weil der Geiſt, der es ſchuf, neu war und un verbraucht. Denn, wie Hermann Preindl in einem Aufſatz, der im übrigen manchen Widerſpruch fordert, aber doch von echter Bewunderung durchpulſt iſt, deutlich genug erklärt (Hochland, Dezember und Januar des 18. Jahrgangs): „Der techniſche Apparat wird immer mehr erweitert und kompliziert, und man überſieht, daß dadurch nur ein Grad-, nicht ein Weſensunterſchied erzielt werden kann. Ein markantes Bei- ſpiel dafür ſind Schönbergs Gurrelieder. Sie ſind bei aller techniſchen Kompliziertheit ganz bürgerliche Muſik, veraltete, wenn man will. Ihr Komponiſten von heute, ihr findet den Weg ins Freie nicht, wenn ihr euch um die Neugeftaltung unſeres Tonſyſtems etwa durch Einjchal- tung von Viertelstönen oder durch Einbeziehung der Ganztonleiter oder durch Wiederein— führung alter Kirchentonarten bemüht; ihr findet ihn nicht, wenn ihr wieder nach geſteigerter, harmoniſch ungebundener Polyphonie oder nach immer größerer rhythmiſcher Freiheit und immer weiter getriebener Unabhängigkeit von der Tonart ſtrebt. Eure Verſuche gehen die Kunſt unmittelbar kaum etwas an. Sie gehören der Muſikwiſſenſchaft an und ſind zum Teil graueſter Hiſtorismus, der der ärgſte Feind alles lebendigen Kunſtſchaffens iſt. Nur der neue Geiſt wird eine neue Muſik erzeugen.“ Man kann nicht etwas formen, was nicht da iſt; und wenn man es dennoch verſucht, ſo wird die lächerliche Seifenblaſe zerplatzen beim leiſeſten Lüftchen Gottes.

Anton Bruckner, der mit 45 Jahren feine erſte Symphonie geſchrieben, war ein Reifer, als er begann. Man vergeſſe es niemals, und man verſuche es nicht, die Eigenheiten in der Struktur ſeiner Werke auf Unkenntnis oder Unkultur zurückzuführen. Wer ſo emſig gerungen, wer fo lange als Lehrling gedient, der wird nicht aus Leichtſinn die Form mißhandelt haben. Wagen wir es lieber, aus dem Geiſte des Schöpfers zu fühlen, nicht mit unſeren kleinen Maßen! Die innere Spannkraft bedingte breitere, gedehntere Ausführungen; dieſe einfache Tatſache foll man endlich begreifen lernen. Und alle diejenigen, die fo willig den unſinnigſten Gemäch- ten modernſter Programm-Muſik entgegenkommen und Verſtändnis heucheln, weil es fid um etwas Neues handelt ſie ſollten verſuchen, ſich zunächſt in dieſer ſo klaren Linienbildung zurechtzufinden, ehe ſie ſchelten und die eigene Ohnmacht zu verbrämen ſuchen. Aber man hat die Gläubigkeit verloren und neigt lieber jedwedem Experimente zu, einem muſikaliſchen Hädelianismus! Seid einmal frei von aller Tradition, vergeßt einmal Schema und Vud- weisheit lauſchet nur und vernehmt! O dieſe wundervollen, aus innen wachjenden Themen, die ſo ſicher aus den Grundintervallen erblühen! Wie hat Bruckner uns die Quinte erſchloſſen (vierte Symphonie) und als etwas Neues dargebracht! Dieſe Themen haben nichts an ſich von keuchender Anſtrengung, von geballter Fauſt; ſelbſtverſtändlich ſteigen fie hinan, entwickeln und offenbaren ſich und erſcheinen gewöhnlich am Schluß des Satzes in ihrer einfachſten und ſtolzeſten Geſtalt. Und dann vergeſſe man niemals, daß es ein anderes ift, ob man das Thema aus vier Takten bildet oder, wie in der zweiten und ſiebenten Symphonie, aus einigen zwanzig! Man kann nicht Fresko mit Aquarell malen. Hier ſind wirklich und in vollendetſter Form ſymphoniſche Themen dargeſtellt, nicht wie faſt überall in der modernen Mujit nur embrponiſche Motive, nur Einfälle, Anfänge ein Nichts. Das ift „geprägte Form, die lebend ſich entwickelt“. Und das Weſentliche: dieſe Themen ſind nur muſikaliſch! Sie wollen nichts darſtellen, nichts erklären und deuten; fie ift nur Idee, und darum wirklicher als die vergäng- lichen Erſcheinungen menſchlicher Tage; ſie iſt wechſellos, beſtändig und frei. Und hieraus erwächſt das andere: Bruckner ſchildert niemals er gibt die Dinge an ſich. Die Modernen erzählen von Kampf und Leid, von Wut und Sehnſucht; Bruckner ſelbſt iſt Kampf und Leid und Sehnſucht; er ſelbſt geſchieht und läßt mit fih geſchehen, wiſſend, daß Gott in ihm lebendig und weſenhaft geworden. Seitdem eine ſchleichende und ärmliche Hermeneutik in den blüben- den Gärten der Muſik verwüſtend umgeht und durch Worte erklären zu müffen glaubt, was

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gerade der Worte ſpottet (denn Muſik iſt eben darum Muſik, weil fie nur aus ſich ſelber keimt, weil fie allein ift und beſonders!) ſeitdem gilt die muſikaliſche Geſtaltung nichts vor all dem „Tiefſinn“, den man hinter den Tönen wittert oder will. Das „Sujet“ iſt alles, die Ausführung nichts. Das iſt Fluch und Verdammnis unſeres naturaliſtiſchen Zeitalters. Verſtand kann wohl kritiſch-wiſſenſchaftlich wirken; die wahrhaft ſchöͤpferiſchen Gaben aber quellen nur aus dem ungetrübten Quell des Herzens!

Dieſe ganz undekorative, urſprüngliche Kunſt muß freilich heute noch immer auf Un- verſtändnis und Bosheit treffen. Decſey jagt mit richtiger Weiſung: „Nietzſche lebt die moderne Einſamkeit, Bruckner die mittelalterliche des Klausners, welche da Wärme hat.“ Sicherlich: er redet niemals über ſich ſelbſt wie die Modernen, die im Grunde doch immer nur bei ſich ſelbſt verweilen, bei ihren Krämpfen und Nervenzuckungen, bei ihrer Hyſterie und Einbildung. Dafür war Bruckner eben zu „ungebildet“! Aber er konnte etwas anderes, was die Neutöner von heute nicht mehr verſtehen, die ſchweren, pathetiſchen, verlogenen: er konnte tanzen. Frei- li ch nicht auf dem Parkett eines Salons nach den buhlenden Klängen eines Operettenwalzers; draußen in der Dorfſchenke, unter der Linde, dort erwuchs ihm feine Fröhlichkeit, die harm- loſe und fo urgeſunde. Da tollt und lacht und ſchäkert er, bald wie der ſchwerfällige John Fal- ſtaff, bald aber auch ganz hingegeben dem belauſchten Spiele der Elfen und Nöcke. Und dann träumt er ins beſonnte Land hinaus wie in dem weitaufgetanen Trio der achten Symphonie, wo der ergriffene Blick hinausgleitet über goldene, wogende Felder, die fih der Ernte ent- gegenneigen. Man betrachte ein ſogenanntes Scherzo von Reger, etwa ſeine Ballettſuite, und dann kehre man zu Bruckner zurück ich fage nichts weiter.

„Ich bin kein Orgelpunkt-Puffer und gebe gar nichts drum. Kontrapunkt iſt nicht Genialität, ſondern nur Mittel zum Zweck.“ Der Mann, der dies geſchrieben, brauchte nicht zu fürchten, auf Abwege und Hohlheiten zu kommen. Er wußte, was er durfte und wollte. Und als er das gewaltigſte Finale, das wir haben, das der fünften Symphonie, auftürmte, in dem all der gotiſche Aberſchwang fih fo machtvoll und erhaben auswirkt, als er dort in dem kunſtvollen Geflecht der Doppelfuge alle Themen verknüpfte und hinanführte zu dem braufen- den, ſchmetternden Chorale, dieſem Non confundar in aeternum da baute er wie jene alten Meiſter der gotiſchen Dome —: Gott entgegen. Man kann wohl fagen: Bruckner hat eine mufita- liſche Kosmogonie verwirklicht. Aus den Urgründen herauf beginnt er eine neue Welt, ein beſtändiges Morgen und Übermorgen. Er ſchuf in aller Unſchuld, dankbar dem Geweſenen und gläubig dem Kommenden. Denn es iſt Liebe, Liebe, die am Werke war und die da währet ewiglich. Und die Schamhaftigkeit der wahrhaft großen Seele, die fich nicht gewaltſam empor- ſchraubt, ſondern hinnimmt, was ihr gegeben wird; ſie wartet, wie Suſo ſagt, bis die Dinge ſie begreifen.

Der Symphoniker Bruckner leuchtet wie ein aufdämmernder Gebirgskamm hernieder in die kleine Gegenwart. Noch umbrauen Wolken des Unverſtändniſſes feinen Gipfel; aber die Sonne ſteigt, die fröſtelnden Nebel beginnen ſich zu zerſtreuen und der Tag iſt nicht mehr ferne. Mögen dann alle, die ſich zu dieſem treuen und innigen Künſtler finden, in dem Bekenntnis Zuverſicht und Tröſtung und Gewißheit finden: „Selig ſind, die reines Herzens find, denn fie werden Gott hauen!“ Ernſt Ludwig Schellenberg

Knigge in und außer dem Hauſe Die Möglichkeit einer Sintflut Glückliche Schuldner, unglückliche Gläubiger Der Weg Stinnes

dm in der Schweiz weilender Oeutſcher wendet fidh an feine Lands-

leute mit folgenden Warnungszeilen: „Wer heute im Auslande ein Dutzend extremer deutſcher Parteiblätter lieſt, hat das Empfinden, das Stimmengewirr aus einem Haufe zu hören, in dem ſonſt weniger

normale Menſchen wohnen. Es ift nicht etwa der Inhalt der Blätter, der fo über-

raſchend und ſo fremdartig wirkt, es iſt vor allem die Sprache, der Ton. Der Parteihaß überſchlägt ſich. Er ſcheint ſo groß, daß die Tinte nicht mehr ſein adäquates Ausdrucksmittel ift. Seit zwei Jahren wird ein großer Teil des deutſchen Volkes nur noch mit Superlativen gefüttert, feit zwei Jahren ſieht es morgens und abends nur noch die Worte vor ſich, die aus einem vor Haß ſchäumenden Munde zu ſtammen ſcheinen. Das hält kein Menſch und kein Volk auf die Dauer aus, ohne dadurch an ſeiner Seele Schaden zu nehmen, ohne dadurch roh, ab— geſtumpft und ſchließlich moraliſch vollkommen unempfindlich zu werden. Seid gewarnt! Wenn ihr das deutſche Volk auf dieſem Wege weiterführt, beſteht die Gefahr, daß es ſich von dem Kulturempfinden der übrigen Welt weiter entfernt, als gut iſt.“

Hier wird der Finger an eine Wunde gelegt, deren Eitergift ins Innere zu ſchlagen droht. Es iſt wirklich kaum noch möglich, im Oeutſchland von heute ſachlich über Gegenſätze zu verhandeln. In der Politik ifs natürlich am ſchlimmſten. Für den Kommuniſten gilt jeder Deutfchnationale von vornherein als ein aus— gemachter Halunke, und umgekehrt. Dabei liefert das gedruckte Wort noch längſt nicht ein Spiegelbild deſſen, was ſich hinter den Beratungstüren der kleinen und großen Parlamente abſpielt, zumal wenn auch noch die Tribüne ſich mit an— feuernden Zurufen am Kampf der „Geiſter“ beteiligt. Von der Schimpfkanonade zum Fauſtſtoß, vom „Schlag“ wort zur ausübenden Tätigkeit ift es nur ein Schritt. Aufgabe der Parteidiſziplin wäre es in erſter Linie, das üppig wuchernde Unkraut des politiſchen „Knotentums“ vor allem einmal im engſten Umkreis auszurotten. Leute, die ihr Temperament nicht zügeln können, deren Gehirn nicht Herr ift über Mund und Hand, gehören nicht, und ſei ihr Affekt noch ſo aufrichtig und ehrlich,

Tſirmers Tagebuch | 271

an öffentliche Stellen. Nichts ift dem Anſehen irgendwelcher Zweckgemeinſchaften fo abträglich wie das Radaugebaren einzelner Zugehöriger. So hat, um nur ein Beiſpiel anzuführen, das Wirken des „Drefchgrafen“ Pückler die antiſemitiſche Bewegung bei allen anſtändigen Menſchen beinahe bis auf den heutigen Tag in Verruf gebracht. Der Typ des politiſchen Polterers, der bei jeder Gelegenheit herumſkandaliert, gedeiht heute mehr denn je und überall: rechts, links und in der Mitte. Und entſprechend den veränderten Ausmaßen hat die „Revolver-

ſchnauze“ von ehemals es zu einer Fertigkeit gebracht, die füglich mit der Leiſtung

eines Maſchinengewehrs verglichen werden könnte...

Man kann arm ſein und braucht deswegen noch lange nicht zum „Proleten“

herabzuſinken. Ein ausgepowertes Volk wird ſein beſchädigtes „Preſtige“ in der Welt um ſo eher wieder herſtellen, je mehr es ſich bei aller Erniedrigung von Manieren freizuhalten weiß, die aus der Goſſe ſtammen. Über die richtige Art, „nationale Würde“ zu wahren, ließen ſich Bände ſchreiben. Es iſt leider nicht ſo, daß ſtets gerade die denen das Wort von der nationalen Würde ſtändig auf den Lippen ſchwebt, ſelbſt durch ihr Verhalten das Vorbild geben, deſſen wir bedürfen. Der Grundſatz, den gelegentlich der Herr von Oldenburg-Januſchau bei einer heftigen Auseinanderſetzung mit einem auch nicht gerade ſanften Sozialdemokraten verkündete, nämlich, daß auf einen „groben Klotz ein grober Keil“ gehöre, erfreut ſich allgemeiner Beliebtheit. Darin aber liegt, ſo wohlgefällig es dem Ohre klingt, das Bekenntnis von der Macht des Phyſiſchen über das Geiſtige. Dem, der über die lauteſte Stimme, das erleſenſte Stück Unflat, die größte Handſchuhnummer verfügt, dem winkt der Preis. Nicht jeder aber iſt ein Adolf Hoffmann oder ein Fanuſchauer ... Ach, und es gibt doch eine viel wirkſamere Art, den Gegner bis aufs Blut zu ärgern und dabei doch die Würde zu wahren: das Schweigen. Wir ſollten lernen, zu ſchweigen. Das gilt nicht nur für den Hausgebrauch, ſondern mehr noch im Verkehr mit unliebſamen Gäſten, denen wir allerorts begegnen. Nicht das ängſtliche Schweigen der Geduckten iſt natürlich damit gemeint, ſondern das eiskalte, unnahbare, wortlos verächtliche Hinwegſetzen über Dinge und Men- ſchen, deren Vorhandenſein allein ſchon genügt, die Galle anſchwellen zu laffen. Es gewährt zweifellos Erleichterung, dem verhaßten Eindringling die Fauſt unter die Naſe zu halten, und auch Mut gehört dazu. Aber der Vorteil bleibt doch ſtets auf der Seite desjenigen, der die Macht hinter fih hat. Außerdem gibt es Unter- ſchiede. Wer nach reichlichem Sektgenuß in einem Schlemmerlokal oder einer Tanzbar „Oeutſchland, Deutſchland über alles“ ſpielen läßt, nur um eine zu- fällig anweſende Ententegeſellſchaft durch Gewaltandrohung zum Aufſtehen zu veranlaſſen, legt damit nicht das Zeugnis von Mut, ſondern übelſter Gefhmad- loſigkeit ab. Vor Jahresfriſt riß ein junger Arbeiter die zur Feier des fran- zöſiſchen Nationalfeſtes auf der franzöſiſchen Botſchaft in Berlin gehißte Trikolore herunter. Das war mehr als eine ſportliche Bravourtat, und doch nur die un- überlegte Handlung eines reinen Toren. Denn der Stadt Berlin wurde eine ſchwere Kontribution auferlegt, die Neichswehr mußte der neuen Fahne die Ehre erweiſen, und der junge Burſch, dem das Herz durchging, büßt es heute noch im Gefängniſſe. |

272 Türmers Tagebuch

Kühle Abweiſung aller Anpöbeleien rabiaten Volksgenoſſen, ſtummer, ſteif— nackiger Trotz dem fremden Gewalthaber gegenüber wie wäre es, wenn einmal abwechſlungshalber nach dieſem Rezept verfahren würde?

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„Dulde, dulde, mein Herz, ſchon Hündiſcheres haft du erduldet“ ſo lautet der grimmige Seufzervers, an dem ſich der griechiſche Sagenheld Odyſſeus in einer der vielen Verzweiflungslagen ſeiner Irrfahrt aufrichtet. Es tönt daraus die Zuverſicht des ſturmerprobten Mannes, der fih in aller Bedrängnis die Hoff- nung zu wahren weiß, daß einmal doch das Höchſtmaß der Leiden erreicht ſein werde. Der gleiche Troſt bleibt auch in den Tagen deutſcher Ohnmacht unge— ſchmälert erhalten. Das furchtbare Schickſal, das wir gleichſam mit gebundenen Händen an Oberſchleſien ſich vollziehen ſehen, bedeutet vielleicht die ſchwerſte Belaſtung für unſer nationales Empfinden. Es iſt, als ob ein Glied gewaltſam und mit grauſamſter Rohheit vom Körper gezerrt wird. Die Defaitiſten haben wieder einmal Oberwaſſer. In unſerer heutigen beklagenswerten Lage habe es überhaupt keinen Zweck mehr, Politik zu machen, verkünden ſie. So kaputt und ſo kaputt. „Argerer Fehlſchluß“, hält dem die „Köln. Volksztg.“ entgegen, „iſt nicht denkbar. Politik ift ja in vorzüglichem Sinne die Waffe des Beſiegten. Der Sieger kann es ſich zur Not leiſten, eine gewiſſe Zeitlang ſchlechte Politik zu machen, er macht häufig ſchlechte Politik. Wenn dagegen für uns Deutſche aus unſerer Niederlage etwas zu erhoffen iſt, dann gerade das, daß fie den bisher ver- kümmerten Keim der politiſchen Anlage in uns entfalte. Geſchichtsphiloſophiſch betrachtet, iſt dies der tiefſte Sinn unſerer Niederlage. Es heißt einem platten Materialismus ſondergleichen huldigen und jeden Sinn für geiſtige Faktoren und Unabwägbarkeiten verleugnen, wenn man meint, daß wir mit dem gegenwärtigen Verluſt der Kanonen aufgehört haben, eine Macht in der Welt zu ſein. Nur Oeutſche neigen zu ſolcher Anterſchätzung der deutſchen Bedeutung und Kraft, eine Reaktion auf die Selbſtüberſchätzung während des Krieges. Die ſchmerzen— reiche Erfahrung hat uns gelehrt, daß der Beſitz der Kanonen allein nicht rettet. Ebenſowenig führt ihr Verluſt notwendig zum Untergang.“

Leider hat fich keiner der Außenminiſter, die wir feit der Revolution durch— probiert haben, als ein Talleyrand erwieſen, dem es gelungen wäre, unbemerkt ſeinen Einfluß bei den Handlungen außerdeutſcher Staatsmänner mitſpielen zu laffen, Aber einen andern unſichtbaren Mitſpieler gibt es, der im Kriege gegen uns war, jetzt für uns iſt: die Zeit. Je länger ſich die unſinnigen Beſchlüſſe der Sieger auswirken, um fo unerwarteter find die Folgen, die fie wachrufen. Man denkt zu ſchieben und man wird geſchoben. In der modernen Völkergeſellſchaft iſt die Stellung des Schuldners, ſobald es ſich um eine großinduſtrielle Macht handelt, völlig abweichend von früher. Anfangs lediglich Objekt ſeiner mächtigen Gläubiger, wird ein ſolcher „Weltſchuldner“ alsbald Subjekt, und es zeigt ſich, daß ihm die feindlichen Sieger das Geſetz des Handelns nur haben vorſchreiben dürfen, um es über ein kleines um ſo draſtiſcher und faſt ohne eigenes Zutun von ihm zu empfangen.

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Cürmers Tagebuch 273

Man muß, um diefe Entwicklung zu begreifen, fih beſtändig vor Augen halten, daß der Verſailler Vertrag von zwei ganz entgegengeſetzten Geſichtspunkten aus zuſammengeſtellt worden iſt: Frankreich wollte durch ihn den machtpolitiſchen Nebenbuhler des Kontinents, England den wirtſchaftlichen Konkurrenten für alle Zukunft vernichten. Beide Mächte häuften Paragraphen, die ihnen das verſchieden- artige Ziel am ſicherſten zu verbürgen ſchienen, wahllos aufeinander, ohne vorerſt zu berückſichtigen, ob denn die einzelnen Punkte unter ſich im Einklang ſtünden. Wie wenig dies der Fall iſt, welche Fülle von Widerſprüchen und Sinnloſigkeiten zwiſchen den Zeilen des Diktats ſtecken, tritt erſt jetzt, da es mit der Ausführung ernſt werden ſoll, deutlich zutage. Die Dinge ſtehen, ſetzt Paul Lenſch in der „Deutſchen Allg. Ztg.“ auseinander, bereits ſo: „Man glaubte, in Verſailles einen Dolch zu ſchärfen, den man bequem und gefahrlos Oeutſchland ins Herz ſtoßen könnte. Jetzt ſieht man, daß, wenn Oeutſchlands Herz aufhört zu ſchlagen, auch England nicht mehr am Leben bleiben wird, daß es in der Zeit des Hochkapitalismus und der Weltpolitik eine knabenhafte Illuſion ift, den engen Zuſammenhang zu verkennen, der die Wirtſchaftskörper der kapitaliſtiſchen Grob- mächte umſchließt. Das deutſche Wirtſchaftsleben ift genau fo ein Teil des eng- liſchen, wie das engliſche ein Teil des deutſchen. Wird der eine verkrüppelt, ſo ſiecht auch der andere dahin. Dieſe ſtarke wirtſchaftliche Solidarität des geſamten internationalen Kapitalismus, auf der anderen Seite ſcharf kontraſtiert von den tödlichen Gegenſätzen der einzelnen kapitaliſtiſchen Staaten untereinander, Gegen- ſätzen, die ſich in Kämpfen um den Weltmarkt, wütenden Konkurrenzen und ſchließlichen Weltkriegen und Weltrevolutionen austoben, dieſes enge Beieinander unvereinbarer Gegenfäße von Solidarität und Feindſchaft, bildet ja gerade eine der weſentlichſten hiſtoriſchen Eigenarten des kapitaliſtiſchen Syſtems.“ Daraus folgt: „Ein hochkapitaliſtiſches Land zu ungeheuren Tributen zwingen, heißt nur, dieſes Land zur Vormacht des techniſchen Fortſchritts, der wirtſchaftlichen Organi- ſation und der Überſchußproduktion zu machen. Arbeitet erft einmal diefe un- geheure Maſchine mit allen Potenzen, als hätt’ fie Lieb’ im Leib, dann find ver- nichtende Rückwirkungen auf die Länder, in die Tribute fließen, nicht auf- zuhalten.“ Deutſchland trägt zur Beſchleunigung des Prozeſſes bei, je mehr es in der nächſten Zeit die ihm auferlegten Bedingungen zu erfüllen trachtet. Auf dieſe Art verderben wir auch am beſten dem franzöſiſchen Nationalismus ſein Spiel. „Es iſt nicht wahr,“ ſchreibt Adolf Grabowsky in der Zeitſchrift „Das neue Deutſchland“, „daß Frankreich auf jeden Fall einmarſchieren wird. Wer das behauptet, der vergißt das Intereſſe Englands am europäiſchen Kontinent, der vergißt aber vor allem die Weltmeinung, die heute namentlich in den neutralen Ländern ſich formt. In dem Reparationskonflikt haben wir die Weltmeinung gegen uns gehabt: wir erſchienen böswillig, weil wir zu wenig boten und weil unſere Regie zu ſchlecht war. Deshalb mußten wir nachgeben. Die Weltmeinung kehrt fih immer gegen den, der als der Böswillige betrachtet wird. Bricht Frant- reich trotz allen unſeren guten Leiſtungen einen Streit mit uns vom Zaune, ſo wird es die Weltmeinung gegen ſich haben. Es wird nachgeben müſſen, wie wir jetzt nachgegeben haben. Ohne Zweifel ſucht Frankreich eine Gelegenheit, um

274 Türmers Tagebuch

uns den Genickſtoß zu geben. Wir ſind nur erſt halbtot, es will uns ganz tot machen, es glaubt, daß der Verſailler Friede noch allzu günſtig für uns war. Die zwanzig Millionen Boches zuviel liegen ihm im Magen, das iſt der Kern ſeiner Politik. Es will Ruhe haben, Sicherheit vor uns, endgültige Sicherheit. Dies Spiel müſſen wir ihm verderben, indem wir pünktlich erfüllen.“

* * %

Ein amerikaniſcher Finanzmann, Frank A. Vanderlip, der 1919 das Europa nach dem Kriege beſuchte, ſah ſchon damals mit ſcharfem Blick die Entwicklung voraus, deren kataſtrophale Gefahr allmählich auch die Sieger zu erſchrecken be- ginnt. In einem Buche „Was Europa geſchehen ift“ (Drei-Masken Verlag, München 1921) hat er die Ergebniſſe ſeiner Reiſe niedergelegt und unverhohlen von der „Möglichkeit einer Sintflut“ geſprochen. Dieſem Amerikaner, der ſich übrigens durchaus als Bundesgenoſſe der Alliierten gibt, iſt ſofort und in aller Klarheit das aufgegangen, wofür auf unſerem haßzerriſſenen Erdteil noch ſo viele, und die Lenker der Völkerſchickſale am meiſten, blind ſind: die Einheit Europas, feine Schickſals- Verbundenheit durch die gemeinſame Not, die nur die Wahl zwiſchen gemeinſamer Rettung oder gemeinſamem Untergange läßt. Die Tragödie, die mit bitterer Gewißheit herannaht, könnte, ſo meint er, vielleicht abgewendet werden, „wenn die Staatsleute weiſe genug ſind und wenn Amerika weiſe genug iſt; denn Amerika iſt Europas letzte Hoffnung“. Worauf Vanderlip letzten Endes abzielte, das war der Vorſchlag, durch amerikaniſche Initiative eine internationale Anleihe für Europa ins Werk zu ſetzen. Es iſt nichts daraus geworden und heute ſtöhnt die ganze Welt, ſtöhnt insbeſondere auch Amerika unter der weltwirtſchaftlichen Kriſe.

Lord Churchill, der immer dann in die Erſcheinung zu treten pflegt, wenn es gilt, unverbindlich etwas laut werden zu laſſen, was die Leiter der engliſchen Politik insgeheim denken, hat als erſter der Ententemänner das Wort vom „auf- richtigen Frieden“, von einer ſyſtematiſchen Zuſammenarbeit Englands, Frant- reichs und Oeutſchlands fallen laffen. Gewiß nicht, wie eben nur harmloſe Deutiche das annehmen konnten, in der ſentimentalen Anwandlung eines Verbrüderungs— bedürfniſſes, ſondern aus tiefſter Not heraus. Es geht England ſchlecht. Die Arbeitsloſenzahl von 4 Millionen, die höchſte der eden Staaten, beſagt ſchon genug. Daher der Schrei nach einer allgemeinen Laſtenerleichterung, nach einer „gigantiſchen Operation“, wie Churchill es ausdrückt. Oder mit andern Worten: ein alle Mächte An wirtſchaftliches Aktionsprograßm muß kommen.

Ein ſolcher Plan zur Geſundung des Weltwirtſchaftskörpers iſt natürlich nur mit Hilfe Amerikas ausführbar. Die Amerikaner würden ſelbſtverſtändlich nicht das geringſte Bedenken tragen, Europa Sieger und Beſiegte im eigenen Fett ſchmoren zu laſſen, wenn, ja wenn fie das ohne Schaden für das eigene liebe Vaterland tun könnten. Allein Amerika und hier erreicht die Groteske den Höhepunkt unterliegt genau den ſelben peinlichen Zwangsläufigkeiten Europa gegenüber, wie die Entente in bezug auf Deutſchland. Glückliche Schuldner, un-

Türme Tagebuch 275

glüdlihe Gläubiger! Bis zu welchem Grade auch Amerika an dem europäiſchen Schickſal beteiligt iſt, hat Churchill mit dürren Worten, aber treffend dargelegt: „Die Vereinigten Staaten würden, wenn ſie das alles erhielten, was man ihnen ſchuldet, ihren eigenen Ausfuhrhandel zerſtören, ihr Volk vieler weſentlicher Induſtrien berauben und ihr inneres wirtſchaftliches Syſtem ſchädigen. Eines Tages werden dieſe einfachen Tatſachen dem Geiſt der großen Weltvölker klar werden, und an jenem Tage werden fie, wenn fie vernünftig find, fidh be- mühen als Teil einer gigantiſchen Operation, die allen von Nutzen iſt —, ihre wechſelſeitigen Schulden auf Grenzen herabzuſetzen, die mit dem Gedeihen des Handels, mit normalem Austauſch und angemeſſenen Arbeitsbedingungen ver- einbar ſind.“ |

Sehr ſchön. Aber feit Verſailles war es ftets fo, daß das wirtſchaftliche Denken von dem politiſchen Andersdenken durchkreuzt wurde. Die Sicherungs- und Abwehrbündniſſe, um die gegenwärtig die Weltmächte ringen, weiſen politiſche Tendenzen auf, die denen rein wirtſchaftlicher Art zum Teil durchaus entgegen- geſetzt gerichtet find. Gegen das Relativitätsgeſetz, das menſchlichem Pfuſchwerk eine Grenze ſetzt, vermag auch die Entente nichts auszurichten. Sinnwidrige Vorteile, die ſich der ententiſtiſche Politiker verſchafft, regulieren ſich ſelbſttätig durch Derlufte auf der wirtſchaftlichen Seite, und umgekehrt. Die Abtretung des oberſchleſiſchen Induſtriegebiets an Polen, die nur durch ein politiſches Schacher-

geſchäft zwiſchen England und Frankreich zuwege gebracht werden könnte, würde

zunächſt zwar Deutjchland treffen, ſehr bald aber die geſamteuropäiſche Wirtſchaft, inſonderheit die Englands und Frankreichs. Ein wirtſchaftliches Zuſammenarbeiten, wie Churchill es von ganz fernher andeutet, ift ausgeſchloſſen, ſolange man Deutfch- lands ſtaatlichen Beſtand durch immer neue Sabotagen gefährdet. Die Kuh, der man das Futter entzieht, kann keine Milch geben. Eine großzügige Aktion zum Wiederaufbau Europas hat zur unerläßlichen Vorbedingung die Abkehr von den bisher geübten Methoden der Entente. Und nur durch eine ſolche grund- ſätzliche Umorientierung ift die „Sintflut“, die Herrn Vanderlips Spürnaſe ſchon vor zwei Jahren in der Luft witterte, aufzuhalten.

* * *

Politik und Wirtſchaft in den Staatsmaſchinen der Vorkriegszeit betätigten fich beide Kräfte wie zwei Räder, deren Zähne ineinander griffen und fo das Werk im Gang erhielten. Dieſe Harmonie iſt nicht nur innerhalb des Weltbetriebes geſtört, ſondern mehr oder minder auch wieder in deſſen Einzelgliedern. In den zwei Jahren des Friedensfeilſchens wurde in Oeutſchland abwechſelnd nach dem „Sachverſtändigen“ und dem „Diplomaten“ gerufen. Der eine ſollte jedesmal das wieder ins rechte Lot bringen, was dem andern vorbeigelungen war. Man ſtolperte übereinander, ſtatt fih zu ſtützen. Die offiziöfe Mitwirkung der führenden Wirtſchafter fekte bei den Friedensverhandlungen ein und wurde bei den Nach- friedensverhandlungen in Spaa und Brüſſel mit geſteigertem Nachdruck fortgeſetzt. Schon bei der Londoner Tagung trat ſie jedoch ſtark zurück, und ſeit dem Londoner Angebot bis zur Annahme des Entente-Ultimatums übernahm der „Nur-Politiker“

& EBEN,

276 l Türmers Tagebuch

wieder die Führung. Seitdem macht ſich eine Gegenbewegung geltend, die un— mittelbar an den Namen Stinnes anknüpft. Das „Gewiſſen“, das ſich ſelbſt mit Vorliebe als das Organ der „Jungen in der Politik“ bezeichnet, hält ſogar die Zeit für gekommen, um die Rettung des deutſchen Volkes vertrauensvoll in die Hände des Unternehmertums zu legen:

„Es iſt etwas im Werden, das von einem Manne geführt und geleitet wird, der vor Jahr und Tag nicht daran dachte, über fein Geſchäft hinaus eine Un- gelegenheit öffentlicher Verantwortung in die ſchon damals ſtarke Hand zu nehmen. Heute ſteht es anders. Die Gebilde, von denen Stinnes ſagt, daß ihre wirtſchaft— liche Selbſtbehauptungskraft ſo ſtark ſein muß, daß ſie vom Wetter nicht weg— geriſſen werden können, ſind im Entſtehen. Und es iſt notwendig, daß dadurch unſerer Wirtſchaft die Kraft erhalten bleibt, weiterzugehen, was auch ſonſt im Staat an einzelnen Stellen geſchieht.

So entwickelt ſich auch durch die Not der Zeit aus dem geſchäftlichen Unternehmer der politiſche Unternehmer. Wir begrüßen ihn an jeder Stelle, wo er Geſtalt gewinnt. Dieſer Entwicklung gegenüber ſollte die geiſtige Kraft unſeres Volkes wach ſein und willensbewußt werden. Sie ſollte von ihrer Seite aus einen Zwang ſeeliſcher Art dahin ausüben, daß die politiſche Verant— wortungsloſigkeit des vorkriegszeitlichen und des kriegszeitlichen Unternehmers in die gemeinwirtſchaftliche Verantwortung hineinwächſt. Einer muß heute vorangehen, um das lebendige Beiſpiel des politiſchen Unternehmers zu beweiſen, und die Herrſchaft des Kriegs- und RNevolutionsgeſchäftsgeiſtes, der über dem Sumpfe unſeres Staatsbankerottes ſchwebt, durch die Tat der verantwortungs- bewußten Perſönlichkeit zu brechen.

Aber viele müſſen folgen. Viele Unternehmer. Alle Arbeiter. Schließlich das ganze Volk.“

Man ſoll der Jugend ihren Optimismus nicht rauben. Aber daß ſich die Phyſiognomie des Unternehmertums von heute auf morgen ſo grundſätzlich ge wandelt haben foll, erſcheint reichlich unwahrſcheinlich. So ſchnell konumt man denn doch nicht aus dem alten Adam heraus. Kein Zweifel, Stinnes ſtellt eine Macht dar. Er gebietet über Hunderttauſende von Arbeitern, das Netz ſeiner Unternehmungen ſpannt ſich über ganz Deutſchland, und ein großer Teil der Preſſe unterliegt, direkt oder indirekt, ſeinem Einfluß. Die Quellen, die unter— irdiſch für ihn wirken, brechen auf an Stellen, wo wir ſie kaum ahnen. Hat doch fogar der Weiſe von Darmſtadt, Graf Keyſerling, den man dem Kampf des Tages fo gänzlich abhold glaubte und der gelegentlich Politik für eine ſubalterne Ange- legenheit erklärte, den Weg Stinnes als den einzig gangbaren für das neue Deutſchland empfohlen. Verbirgt ſich in Herrn Stinnes wirklich der Führer der Zukunft? Der Elefant ift das gewaltigſte Geſchöpf im ganzen Tierreiche, aber man ſieht ihn deſſenungeachtet nicht gern im Porzellanladen. Die „Kölniſche Zeitung“, das leitende Blatt der Deutſchen Volkspartei, deren Reichstagsfrattion Herr Stinnes bekanntlich als Abgeordneter angehört, hat vor nicht zu langer Zeit der Stinnes-Begeiſterung Begeiſterung war noch nie fo ſehr Her ingsware wie heute bei uns in Oeutſchland einen Dämpfer aufſetzen müſſen:

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Zürmers Tagebuch , 277

„Herr Stinnes iſt zweifellos ſehr klug und geſchäftstüchtig, und das deutſche Volk darf ſtolz darauf ſein, einen Mann von ſo kühn ausſchauendem induſtriellen unternehmungsgeiſt zu den Seinen zu zählen; daß er aber die politi- ſchen Eigenſchaften habe, die ihn befähigten, maßgebend in Deutſchlands Geſchick einzugreifen, hat er bisher nicht bewieſen. Er hat im Gegenteil bei feiner bis- herigen politiſchen Betätigung keine glückliche Hand gezeigt; was in der Be- ziehung von ihm in die Offentlichkeit drang, waren mehr brüste Demonſtrationen als Handlungen, die in politiſcher Beziehung nach Urſache und Wirkung ſorgfältig abgemeſſen geweſen wären. Vielleicht fehlt es ihm in dieſen Dingen noch an Erfahrung, vielleicht auch an dem Verſtändnis für Imponderabilien, das für den Politiker unentbehrlich iſt. An dieſer Klippe ſind Männer von der Genialität eines Ludendorff geſcheitert, und niemand hat Luſt, im Frieden wiederholt zu ſehen, was uns im Kriege zum Schaden ausgeſchlagen iſt. Jedenfalls finden weite Kreiſe wenig Gefallen daran, daß man, übrigens im Ausland noch mehr als im Inland, bei jeder paſſenden und unpaſſenden Gelegenheit den Namen Stinnes als den des ſchwarzen Mannes an die Wand malt, der als ein ungekrönter König die Geſchicke Deutſchlands beſtimme. Das ift nicht fo, darf nicht fo fein und liegt vermutlich auch gar nicht in den Abſichten des ſo viel genannten Herrn Stinnes. Jeder Deutfche wird ihm Dank wiſſen, wenn er feine von niemand bezweifelten hervorragenden Kenntniſſe als Sachverſtändiger in den ODienſt feines Landes ſtellt, die politiſche Leitung mag er andern überlaſſen.“

Die Sprache der Zwerge wider den Rieſen mag dem entgegengehalten werden. Wie dem auch ſei: das fortwährende Suchen nach dem „großen Mann“ an ſich iſt ein Unfinn. Das Genie wird nicht „entdeckt“, es iſt da, ehe wir Neunmal- klugen es merken. Natürlich wäre es das angenehmſte, wenn ein einziges Gehirn uns alles Denken abnähme. Wollen wir bis dahin nicht unter den Schlitten geraten, ſo werden wir uns wohl oder übel ernſtlich mit dem Problem abgeben müſſen, wie mit den vorhandenen, gegebenenfalls auch nur mittelmäßigen Kräften die außer Rand und Band geratene Staatsmaſchine wieder in einigermaßen geregelte Tätigkeit geſetzt werden kann. Dazu iſt vor allem einmal nötig, daß die politiſchen und wirtſchaftlichen Funktionen ſich nicht hemmen, ſondern fördern.

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Rabindranath Tagore und die deutſche Öffentlichkeit

erlin hatte feine „Senſation“. Nabin- dranath Tagore, der bengaliſche Did- ter, hat ſich perſönlich zur Schau geſtellt und zu Gehör gebracht. Das ergab einen üblen

Maſſenandrang. „Schon Stunden vor Be— ginn“ leſen wir in einer Tageszeitung „hatte ſich vor dem Portal der alten König- lichen Bibliothek eine nach vielen Tauſenden zählende Menſchenmenge eingefunden, die lärmend Einlaß begehrte. Damen kamen zu Fall, wurden geſtoßen und getreten, ſo daß es nur mit Mühe gelang, die ohnmächtig Ge- wordenen aus dem Gewühl zu befreien. Als Tagore in einem Automobil ankam, mußte für ihn mit Gewalt der Weg durch die an- geſtaute Menſchenmenge gebahnt werden. Das Einlaßtor wurde ſchließlich geöffnet, die Menge ſtürmte die Treppen zu der Aula hinauf, wobei fih unglaubliche Szenen ab- ſpielten. Im Saale herrſchte ein Chaos. Ge- heimrat v. Harnack, der die einleitenden Worte zu ſprechen hatte, konnte ſich kein Ge- hör verſchaffen. Der Rektor forderte ſchließ- lich die Studentenſchaft auf, den Mittelgang der Aula zu räumen; als dieſer Weiſung nicht entſprochen wurde, mußte Schutzpolizei geholt werden. Rabindranath Tagore erſchien dann ſchließlich im Saal, von Schutzpolizei geleitet. Die Aufregung war ungeheuer. Die Vor- leſung verlief unter fortgeſetzten Störungen. Der Vortrag ſelbſt blieb vollkommen unver- ſtändlich.“ .

So entweiht man alſo einen Meiſter der Stille! Und ſo ſetzt ſich ein Meiſter der Stille der jetzigen deutſchen Offentlichkeit aus, die alles verunedelt, was ſie nur anfaßt! Wer hatte dieſen unſeligen Einfall? Glaubt man

auf dieſe Weiſe die uns ſo bitter notwendige Innerlichkeit und Stille in unfer Bolt zaubern zu können? Hätte ſich ein Mann

dieſer Art anders zeigen dürfen als vor einem

erwählten, geladenen Kreiſe? Und lernt Tagore auf dieſe Weiſe wirklich das ſtille, das wertvollere Deutichland kennen?

Und dann: was hat denn die Menge nun von dieſer orientaliſch-fremdartig gekleideten Erſcheinung und ihrem ſingenden Engliſch? Sit denn das etwas anderes als ein ganz äußerlicher Geſichts- und Gehörs Eindruck?!

Aber das iſt ja das Weſen der Senſation. Nicht Herz noch Geiſt, doch Nerven und Sinne wollen ihr Erlebnis.

Graf Keypſerling fördert diefe Schauftel- lung: er leitet die Welle nach Darmſtadt in feine „Schule der Weisheit“. Im „Tag“ (22, Mai) ſchreibt er in höchſter Tonart: „Was er ift und bedeutet, weiß die Welt ... Noch keiner hat bei Lebzeiten gleich weit— verbreiteten Ruhm und fo allgemeine Ber ehrung genoſſen ... Auch in Deutſchland ſchlagen ihm mehr Herzen entgegen als irgendeinem andern Vertreter des Geiſtes, denn es gibt heute keinen zweiten, deſſen Herz fo von Menſchenliebe überſtrömt“ ... Kennt Keyſerling ſein Volk ſo genau, daß er derart den Inder beleidigend gegen das Edle im Oeutſchtum ausſpielen darf? Und traurig genug, daß die großen Deutjchen febr oft bei Lebzeiten nur Verkennung einheimſten!

Die Werbung ſelbſt lautet: „Nach kurzem Aufenthalt in Berlin wird Tagore auf eine Woche nach Darmſtadt kommen, als Gaſt des Großherzogs von Heſſen, und in deſſen Gärten und den ſtillen Räumen der Schule der Weis- heit allen denen zugänglich ſein, die nicht als Neugierige kommen [wer will die ſich— ten!], ſondern mit dem Weiſen über feine

Auf der Warte

Menſchheitsziele und die Annäherung zwiſchen Oſt und Weſt ernſt-ſachliche Zwie- ſprache halten wollen. Als echter Inder gibt er ſich ganz nur in der Intimität. Im ver- trauten Kreiſe, wo nichts ihn ſtört oder ver- grämt denn er iſt ſenſitiver als irgendein Dichter, den ich je fab [Keyſerling hätte dort in der Nähe z. B. Stefan George ſehen können!], überdies vornehm bis in die Finger- ſpitzen und überaus empfindlich gegen Zu- dringlich- und Taktloſigkeit —, tritt feine menſchliche Größe ſtill und rein zutage, und ſo allein. Ich kenne keinen, den ich als Menſchen Tagore auch nur annähernd vergleichenkönnte. Mögen nun alle, denen es ernſt iſt, die zu empfangen und zu geben fähig find, in der Zeit dieſer Woche, deren ge- nauer Zeitpunkt noch veröffentlicht werden wird, nach Darmſtadt kommen. Die Ber- mittlung, die ganze Organiſation liegt in den Händen der Geſellſchaft für freie Philoſophie. Ich perſönlich werde erforderlichenfalls den Aberſetzer ſpielen“

Nur mit ernſter Wehmut leſen wir dieſe Verſuche, unſerm Volk einen fremden Helfer und Heiland vorzuſtellen. Selber tief durch- drungen vom Glauben an Deutſchlands euro- päifche Sendung“, haben wir immer wieder der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß aus uns ſelber aus dem Volk eines Wolfram und Walther, eines Goethe und Schiller, eines Luther und Dürer und Vach, eines Meiſter Eckehart und Böhme und Fichte die Erneuerung unferes Menſchentums her-

vorgehen müſſe. All unſre Lebensarbeit geht.

dahin, dieſes Vertrauen zu ſtärken und dieſe Schöpferkraft zu wecken. Und immer wieder lenkt man nach außen ab diesmal nun in ein öſtliches Gedankenſpiel!

Und ferner: wieder wird hier wie bei manchen ÜUber-Verehrern eines Rudolf Stei-

ner oder Stefan George auf eine Perſon

abgelenkt, wo wir unſererſeits mit ganzer Kraft und Leidenſchaft immer wieder zu reft- loſer Hingabe an die Schönheit und Hoheit der Sache auffordern.

Die Freunde des indiſchen Dichters muͤſſen ſich jetzt doch wohl ſagen, daß dies nicht der Weg iſt, wie man Innerlichkeit und Stille

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ich bitte: Innerlichkeit und Stille! an unfer zerrüttetes und zerriſſenes Volk heran- bringt. .

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Geheimrat Tagore |

Vie dieſem neckiſchen Titel findet ſich win den „Münchener Neueſten Nach- richten“ (9. Juni) eine febr leſenswerte Plau- derei:

„Es gibt bekanntlich einen Geheimrat Goethe. Nun hätte es faſt auch einen Ge- heimrat Tagore gegeben. Wenn es nämlich, was Berliner Blätter meldeten, ſich beſtätigt hätte, daß die bayeriſche Regierung dem Send- ling der indiſchen Weisheit Rabindranath Ta- gore den Geheimratstitel verliehen habe. Sie hat es leider nicht getan.

Tagore hätte es wahrhaftig verdient, ohne vorher der junge Goethe oder fo etwas ähn- liches geweſen zu ſein, Geheimrat zu werden

Denn er iſt ein ſanfter und milder Herr, ein

Vorbild und überhaupt ein Bild, vor dem man ſich gerne verbeugt. Vor dem man ſich lieber und eher verbeugt als beugt! Ein Ge- heimrat alſo! Ein Geheimrat, weißhaarig und abgeklärt, von Dingen träumend, die wir alle wiſſen, und Dinge wiſſend, von denen Europa ſchon immer und ſeit Jahrhunderten geträumt hat. Ein Vermittler der Weisheit, die alle freudig und weich macht. Wer konnte ihm böfe fein, der fo gut und gütig ift.. .?

In Gedicht, Drama, Roman und Eſſay flößt er uns ſein feines Gemüt und einen ſtillen Reſpekt vor ſich ein ein leiſer ge- mäßigter Bekenner des Wahren und Guten. Ein bißchen langweilig und, wie Orientalen meiſt ſind, langſtilig, verſchwenderiſch mit Zeit und Wort.

Er iſt zu uns gekommen als Freund aller Menſchen und alfo auch als unfer, der Deut- ſchen Freund. Er bringt uns eine Weisheit,

die wir ſchon haben. Er lehrt uns, was in

den Geſprächen des Meiſters Ekehardt, in Taulers Predigten oder in den Schriften Seuſes ſteht. Auch was in dem Büchlein des Deutſchherrn vom vollkommenen Leben in dem fröhlichſten und ſeligſten Oeutſch zu leſen ift! Natürlich hat, da die Weisheit über Jahr;

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hunderte hin zwar andere Formen, aber nicht andere Inhalte hat, auch der Geheimrat Goethe Gleiches und Ahnliches gemeint und geſagt. Geheimrat Tagore aber kommt aus In- dien, trägt ein fremdes Gewand, einen frem- den Namen und ſpricht eine fremde Sprache. Literatur, Horatio: man ernennt ihn zum apoſtoliſchen Vertreter der Weisheit für die Welt der Oruckerſchwärze, zum Fünfminuten- Heiland, zum Heros der Verlags- und Weis- heitsſchulenproſpekte. Er wird, unrationiert,

dem Maſſenkonſum überantwortet. Und blin- zelnd ſpricht oder denkt man ſogar: er wird's ſchon richten zwiſchen Deutſchland und In- dien zittre, Albion!

Es zittert leider nicht. Es gönnt dem Tagore ſicherlich den Nobelpreis und die deut- ſche Gunſt, und es gönnt auch der deutſchen Kunſt und Weisheit den Tagore. Er iſt ja nicht mehr als ein feiner, zarter Künſtler von jener Art, die man in Oeutſchland, wenn ſie im eigenen Lande wachſen, erft feiert, wenn

ſie verhungert ſind.“ *

Wo bleibt die Sühne d!

Se ruft der bekannte ſüddeutſche Dichter und Arzt Dr Ludwig Finckh in einem flammenden Anklagewort in der „Täglichen

Rundſchau“ (10. Juni). Warum follen nur

wir Oeutſchen, wie es jetzt in wahrhaft be- ſchämender Weiſe geſchieht, unſre Kriegsver- brecher aburteilen: Warum nicht auch die andren da draußen?! Treibt denn dieſe feige Duckmäuſerei, zu der wir laut „Frie- dens“ Vertrag gezwungen find, nicht jedem anſtändigen Europäer die Schamröte in die Wangen?! Finckh ſchreibt:

„Ich war während des Krieges Arzt in einem deutſchen Reſervelazarett in Konſtanz. Wir hatten Franzoſen unter unſeren deut- ſchen Verwundeten liegen, und ſie wurden mit derſelben Sorgfalt, Liebe und Freundlich- keit behandelt wie die Deutſchen. Sie wurden oft zweimal des Tages verbunden und fühlten ſich trotz ihrer Schmerzen ſo wohl, daß wir nach ihrer Entlaſſung noch überſtrömende Oant- briefe aus Frankreich von ihnen erhielten.

Auf der Warte

Eines Tages wurde uns ein deutſcher Leutnant aus einem franzöſiſchen Lazarett eingeliefert. Es war ein Gerippe voll Eiter und Geſtank. Nie noch iſt ein Chriſtus am Kreuz ſo martervoll dargeſtellt worden. Er hatte einen Schuß durch die Lunge und den Arm, der rechte Arm war an den Leib feſtgebunden, und er huſtete ſich bei jedem Huſtenſtoß den Eiter aus dem Arm. Wir haben ihn gerettet. Er lebt noch, und fein Name ſteht zur Ber- fügung. Er und die vielen taujend anderen Ausgetauſchten erzählten uns, wie Oeutſche in franzöſiſchen Lazaretten behandelt wurden. Ich kann Ihnen verſichern: wie die Hunde. Es ſteht in unſeren deutſchen Akten. Von Deutihen in franzöſiſchen Lazaretten ſtarben bis zu 85 v. H. Von Franzoſen in deutſchen Lazaretten nur ein geringer Bruchteil dieſer Zahl.

Wir brauchten Weißbrot, Verbandmaterial, Gummi für unſere Verwundeten. Aber Eng- land hatte, unter Billigung von Amerika, Ge- treide und Gummi für Kriegskonterbande erklärt unter Aufhebung der anerkannten Gee- rechte, und unſere Verwundeten hungerten und darbten.

Im Jahre 1917 begegnete ich in Heidel- berg häufig Geſellſchaften gefangener eng- licher Offiziere, die auf den Höhen ſpazieren gehen durften, unter Begleitung einiger deut- ſcher Offiziere, in fröhlichſter Stimmung, um fih an der herrlichen Natur zu weiden. Wäh- rend unſere deutſchen Offiziere in England binter Stacheldrahtgittern ſchmachteten!

Gegen das Völkerrecht ſchloß uns Eng— land, Frankreich, Amerika durch eine vollſtän— dige Blockade von der Nahrungszufuhr ab. Zehnmal hunderttauſend verhungerter Frauen, Kinder und Greiſe habt ihr auf dem Gewiſſen! wohlverſtanden: ver- hungert! Nicht im ehrlichen Kampf getötet, ſondern abſichtlich, mit kalter Berechnung, durch Hunger langſam ermordet! Wäh— rend Amerika im Überfluß ſchwelgte und alle anderen Kriegführenden mit Lebensmitteln reichlich belieferte. Ich hatte in Konſtanz oft Gelegenheit, Gefangene zu empfangen. Die geſamte Bevölkerung ſtand voll Mitleid und Ehrerbietung am Wege, obwohl es Franzoſen,

Auf der Warte

Engländer, Belgier waren. Aber ich weiß aus dem Mund unſerer deutſchen Gefangenen, wie oft ſie in Frankreich vom Volke mißhandelt, geſchlagen und angeſpien wurden.

Ich frage: Wo bleibt die Sühne? Ich klage an, Herr Generalſtaatsanwalt, und ich verlange von England, Frankreich, Belgien, Amerika und allen unſeren dreißig Feindes- mächten: Aburteilung ihrer Kriegsver— brecher!“

So ſchreibt ein geſund und mutig empfin- dender Deutſcher und wir alle ſtimmen ihm bei. Jeder Anſtändige, jeder, der nicht in jener ungeheuren Lüge und Heuchelei mit drin ſteckt, weiß, daß er recht hat. i

Deutſche Kindernot

in ernſtes Wort über diefe eruſte Sache ſpricht Schulrat König in dem von ihm herausgegebenen gehaltvollen Erziehungsblatt „Die Saat“ (Stuttgart, Greiner & Pfeiffer): „Was unſere Kinder zu leiden haben, iſt fürchterlich. Nur die allerwenigſten wiſſen Beſcheid über den ſchrecklichen Feind, der feinen Umzug in Deutſchland hält und trium- phierend immer neue Opfer fordert. Wenn es ſo fortgeht, wird der Wunſch des grimmen Deutſchenhaſſers Clémenceau bald in Erfül- {ung gehen, und wir werden 20 Millionen Menſchen weniger haben. Mit allen Mitteln müſſen wir gegen die heimlich ſchleichenden Krankheiten ankämpfen. Allein wie können wir dies, wenn uns die Hände gebunden ſind, wenn immer neue Drangſale uns auferlegt werden? Wie können unfere Kinder zu Kräf- ten kommen, wenn der Unterſchied in der Milherzeugung immer noch fo klaffend bleibt wie bisher? Statt 27 Milliarden Liter Milch, wie im Fahre 1915, erzeugt unſere deutſche Milchwirtſchaft immer noch nur 8 Mil- liarden. Kein Wunder, daß immer noch ſo viele Kinder ſtatt Milch nur Rübenſaft er- halten und daß der Würgengel Tod ſo viele an Unterernährung dahinrafft, daß die Kinder den anſteckenden Krankheiten gegen- über jo wenig Widerſtand zeigen. 5 Wohl wollen wir das Liebeswerk der

Amerikaner nicht herabſetzen. Im Gegen- Oer Türmer XXII, 10

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teil. Der Dank des Himmels möge all denen

zuteil werden, die dies Werk unterftüßen. Und wir wollen nicht ſagen, wie wenig es iſt, was Amerika tut, um die Schuld, die

es auf ſich geladen hat, wieder reinzu-

waſchen. Ob's ihnen jemals gelingt, fei dahin; geſtellt. All diefe bitteren Gedanken feien zu- rüdgedrängt, wir wollen vielmehr auf alle die, die ernſtlich an der Förderung dieſes Liebeswerkes mitarbeiten, Gottes Dank herab- flehen. Aber was iſt all dieſe Liebestätigkeit mehr als ein Tropfen auf einen heißen Stein?

Was vor allem nötig iſt, das iſt, daß die Stimmung unter unſern Feinden und den Neutralen bearbeitet werde, daß allen Ernſtes der Verſuch gemacht wird, den Nachweis zu erbringen, daß die deutſche Schuld am Welt- krieg verſchwindend klein iſt gegenüber dem, was unſere Feinde getan haben, und dann, daß die wahren Barbaren nicht bei uns ſitzen, ſondern ganz wo anders: dort wo heute noch mit der Hungerblockade ge— droht wird, geheim und offen, dort wo die Zeitungen immer noch Photographien brin- gen von beſonders gut ernährten Kindern aus Deutfchland, um die Gewiſſen zu be- ruhigen, die anfangen, ſich zu regen. Es würde ganz anders werden, wenn es viele ſo mutige Frauen gäbe, wie die Amerikanerin Miß Ray Beveridge, die im Auftrage des Roten Kreuzes von Amerika Oeutſchland be- reiſt und ſich nicht ſcheut, offen und ehrlich die Wahrheit aufzudecken, auch wenn ſie den Millionengewinnlern Amerikas nicht ange- nehm iſt und ihnen den Schlaf des Gerechten auf ihren Goldſäcken vergällt.“

Verrohte Jugend

S*. meiner Rückkehr aus Oſtaſien, nach zehnjähriger Abweſenheit, hat mir kein Erlebnis in der alten Heimat ſo tief ans Herz gegriffen, wie das vom Pfingſtmontag abend. Meine Frau und ich hatten eben unſere Plätze in einem 3.-Rlaffe-Wagen ein- genommen, als ine Art Wandervogelſchwarm Abzeichen AJ, foll wohl heißen Arbeiter- Zugendverein?? wie Heuſchrecken in unſere Wagen einfielen. Es waren Mädel und Bu- f 2)

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ben von 15—16 Jahren. Ihr Betragen war zum Teil ſchon mehr als ausgelaſſen, trotzdem unter der Wagentür zur Plattform ein etwa 40jähriger Mann ſtand, anſcheinend Leiter oder Führer, und trotzdem im Abteil eine zu- gehörige Anſtandsdame ſaß. Sofort wurde das „Jugend-Liederbuch“ fo ſtand es nebſt entſprechender Zeichnung in brennend roter Farbe darauf herausgeholt und nicht etwa mehrſtimmig geſungen, ſondern einſtimmig geſchrien. Soweit hätte ich mich noch mit allem abgefunden. Aber der Text der Lieder, beſſer Gaſſenhauer, ſpottete aller Scham. Zum Beiſpiel lautete der eine Wiederholungs- vers „. .. hab acht, du wirft nur dumm gemacht“, oder das Lied vom „Bauer, der ins Heu fuhr“, oder aus einem Soldaten- marſchlied (verſchandelt) „und ich ſchob mit ihr nach Haus“, oder „... und wenn ich tot im Sarge bin, dann trample hinter drein“. So ſteht es ſchwarz auf weiß in dieſem Jugend- .. buch! Leider konnte ich keines erſtehen. Dem Ganzen wurde aber die Krone aufgeſetzt, als ein ſolch 14jähriger Jüngling, auf dem bloßen Haupte einen Kranz von Stechpalmenblättern, ſich durch das Kinder- gedränge den Weg bahnte mit den Worten: „Einen Augenblick! Der Chriſtus will durch!“ Ehe ich einſchreiten konnte, war der Sprecher durch die Tür verſchwunden. Doch merkten die Kinder an unſerem Mienenſpiel, daß wir alles gehört, und flüſterten miteinander unter Seitenblicken auf uns. Aber das Betragen wurde nur ſchlechter.

Z3oiſchen L. und E. mußte ich einen an- gehenden Jüngling in guter Kleidung zwei- mal energiſch an ein rückſichtsvolles und an- ſtändiges Betragen meiner Frau gegenüber mahnen.

Und in E. abends zehn Uhr angelangt, mußten wir auf dem Nachhauſeweg anhören, wie vier ſchulpflichtige Bürgermädchen, in der Mitte einen Jüngling, untergehakt vor uns her gingen, das alte Lied von der Schwieger- mama: Trikot-, Trikot-, Trikottaille hat fie an... immer wieder ſingend.

Nach dem, was ich ſeit unſerer Rückkehr im vorigen Jahr gehört, geleſen und erlebt habe in der von Natur ſo ſchönen deutſchen

Auf der Warte

Heimat, mußte ich alle Hoffnung auf einen Wiederaufſtieg aufgeben, wenn ich nicht in der fünfjährigen Kriegsgefangenſchaft im ſchlechteſten japaniſchen Lager Gelegenheit gehabt hätte, feſtſtellen zu können, welch guter Kern in unſerm Volksdurchſchnitt ſteckt.

Aber von einer Befürchtung kann ich nicht loskommen: daß unſere heutige edlere Jugend lange nicht genügend gegen die jede Sitte, Zucht und Anſtand zerſetzende Wirkung des Schlechten gewappnet iſt. Solches Benehmen dürfte ſich nicht öffentlich breitmachen! Sit das ſozialiſtiſche Jugend? Nun, dann wird in der ſozialiſtiſchen Jugend jede gute

Regung, jedes aufkeimende heilige Gefühl,

jede Freude an edlerem Genuß erſtickt durch dieſe frühzeitige, auf die niederen Triebe ſich ſtützende, daher leichtere Hinab-Erziehung zu roten Soldaten und Soldatinnen. Wir erwarten aber vom neuen Deutjchland eine entſprechend ſtraffe Hin auf-Erziehung. J. G.

o

Sollen Frauen Richter werden?

Des iſt das Neueſte, womit man uns be— glücken will. Die Frau, ausgezeichnet auf allen Gebieten der helfenden Tätigkeit, ſoll nun auch richten! Die Regierung wird dem Reichstag einen Entwurf vorlegen, das weiblichen Perſonen den Zugang zum Amte des Schöffen und Geſchworenen eröff— nen ſoll. Die Verteidiger des Entwurfs ver— ſprechen ſich von der Zuziehung der ſo leicht gefühlsbeſtimmten, von körperlichen Hem— mungen oft heimgeſuchten Frau keine Ver— beſſerung der Rechtspflege; aber ſie glaub-

ten halt einem auf die Artikel 109, 128 der

Reichsverfaſſung gegründeten Verlangen auf abſolute Gleichſtellung der Frau mit dem

Manne nicht widerſtehen zu follen! Ob wirk-

lich aus den angeführten Beſtimmungen der— gleichen Forderungen hervorgehen? Das iſt ſehr zweifelhaft; es heißt: „entſprechend ihrer Befähigung und ihrer Leiſtung“. Man wird doch wohl nicht auch in der Reichswehr und Sicherheitspolizei Frauen einſtellen und inzwiſchen den Mann zu Hauſe kleine Kinder warten und ſäugen laſſen?!

Auf der Warte

„Ich gehöre zu den Optimiſten“, ſchreibt uns ein Amtsgerichtsrat, „die an eine deutſche Zukunft glauben. Deshalb will ich nicht ſtill das Nahen dieſer Gefahr mitanſehen. Dies iſt ein Attentat gegen die Frauenwelt. Wir Deutſchen empfinden das Richteramt als etwas durchaus Männliches. Die Frau würde dadurch ihrem ureigenen Berufe noch mehr entfremdet.“

Das iſt auch unſere Auffaſſung. Die Frau kann gelegentlich als Beraterin, als Sachver- ſtändige, hinzugezogen werden, aber ſie ſoll nicht Richterin ſein.

*

Mehr lebendige Anſchauung!

as im deutſchen Volkstum und im herr-

lichen deutſchen Lande geiſtig lebendig

ift mit unſren Strömen und Wäldern, unſren Schlöſſern und Burgen, unſren ſagenumwobe⸗ nen Bergen und all den Stätten, die ein gro- ßer Menſch betrat ja, dieſe Kulturkräfte, diefe Grundkräfte müſſen wir wieder her- ausholen und in der Jugend wirkſam machen. Der Unterricht in der Schule tut's nicht allein. Lebendige Anſchauung muß an ſeine Seite treten. Und da komme ich zu einer Sache, die mir ſeit langem am Herzen liegt für unſere deutſche Jugend. Die Jugend muß hinausgeführt werden ins deutſche Land in Wanderfahrten, die Deutjchlands Größe und Herrlichkeit untilgbar in ihre Herzen graben. Freilich, Wanderfahrten hat man ſchon immer gemacht, waren es nun Wandervogelfahrten

oder Turnfahrten. Aber ſie müſſen meines

Erachtens anders geſtaltet werden, wenn die nationale Erziehung fruchtbringend werden ſoll. Wir müffen unſere Jugend hinführen durch deutſches Land zu den großen Kultur- ſtätten der Deutſchen, zur Wartburg und nach Weimar, nach Nürnberg und Bayreuth und wie ſie alle heißen; wir müſſen dieſe Fahrten planmäßig vor- bereiten nach allen Richtungen hin, damit die Jugend wohlgerüftet an die heiligen Al- täre des deutſchen Geiſtes herantritt, wir müſſen an den Stätten ſelbſt den Geiſt des Großen, der dort lebte, wieder lebendig zu machen ſuchen und dadurch neben der körper-

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lichen Ertüchtigung, neben der Liebe zum Volkstum und zur ſchönen Heimat auch die Ehrfurcht vor deutſcher Geiſtesgröße und tieferes Verſtändnis der deutſchen Mei- ſterwerke in unſerer Jugend fördern und erziehen. Sollte es nicht von wunderſamſter Wirkung ſein, wenn wir, am Abend beim Schein der untergehenden Sonne auf der

Wartburg lagernd, erzählen von der heiligen

Eliſabeth als der erſten ſozialen Wohltäterin, oder einige der herrlichen Lieder Walthers von der Vogelweide leſen und die ſchönſten Stellen aus Wolframs „Parzival“? Oder wenn wir oben auf dem Kickelhahn bei JI- menau ſtehen und an der Wand der ſchlichten Bretterhütte Goethes wunderbar inniges und tiefes Gedicht lefen: „Über allen Gipfeln iſt Ruh“ . .. Oder wenn wir im Park von Weimar bei Goethes Gartenhäuschen ſeine lyriſchen Gedichte fingen und fagen, feinen Fauſt beſprechen und vielleicht ein paar Sze- nen aus irgendeinem feiner Dramen auffüh- ren: ſollte das nicht von unglaublich leben- digerer und nie vertilgbarer Wirkung ſein, als wenn wir das alles in der Schulſtube erörtern? Und wenn das alles wohlvorbereitet iſt, dann muß dadurch das im Herzen der Jünglinge entflammt werden, was wir ent- flammen wollen: das Feuer der Liebe zu Deutſchland und feinen Geiſtesſchätzen. So etwa denke ich mir dieſen Weg zu nationaler Erziehung. Und weil ich den feſten Glauben habe, daß ſich ſolche Pläne dank der freudigen Opferwilligkeit der Freunde unſerer Jugend und unſerer Schule werden verwirt- lichen laſſen: deshalb blicke ich trotz aller Schwere der Zeit doch getroſt in die Zukunft. Unſerer Liebe zu unſerer deutſchen Jugend wird und muß es gelingen, einen neuen Früh- ling des deutſchen Volkes heraufzuführen. * Dr H.

Wartburg und Katholizismus

Er weſtdeutſcher Symnaſialdirektor ſchreibt uns: „Auf einem Elternabend hielt ich einen kurzen Vortrag über das Thema „Wege zur nationalen Erziehung“, deſſen Zweck es war, in eine Erörterung über das Thema einzu-

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treten, die, wie ich hoffe, recht lebendig wer- den ſollte. Dieſer Vortrag iſt unter anderem angeregt durch Ihren wundervollen Aufſatz in Heft 2 des laufenden Türmer-Jahrgangs über „Weimar und Wartburg als Feſtſtätten deutſcher Kultur“. Der Abend und der kleine, anſpruchsloſe Vortrag wären ohne jede Be- deutung, und ich würde es nicht wagen, Ihre Zeit damit in Anſpruch zu nehmen, wenn ſich nicht ein kleines Nachſpiel daran ange- ſchloſſen hätte, das Sie vielleicht intereſſiert als ein Beitrag zu dem, was auch Sie dauernd an unſerm Volk beklagen: der Zerriffen- heit. Neben die politiſchen und ſozialen Spaltungen tritt ja noch vor allem die ton- feſſionelle, die hier beſonders in unſern Gegenden recht fühlbar zutage tritt. In mei- nem aus 34 Herren beſtehenden Lehrkörper iſt die Hälfte evangeliſch und die Hälfte tatho- liſch. Die katholiſche Hälfte war am Morgen nach dem betreffenden Elternabend mertwür- dig verſtimmt; und da ich merkte, daß da etwas nicht in Ordnung war, holte ich mir den Füh- rer dieſer Gruppe, fragte ihn, was los ſei, und erfuhr denn nun zu meinem grenzenloſen Erſtaunen, daß meine Worte am Abend vor- her die Katholiken verſchnupft hätten. Der Name „Wartburg“ allein genüge ſchon, um den Zorn der Katholiken hervorzurufen. Daß ich nun aber fogar Luthers Namen er- wähnt habe, fei das allerſchlimmſte geweſen! Ein „einfacher Mann aus dem Volke“ habe dieſelben Empfindungen gehabt wie der Herr Profeſſor und fie dieſem gegenüber in folgen- des klaſſiſche Gewand gekleidet: „Da fehen Sie, Herr Profeſſor, was für ein Geiſt an dieſer Schule herrſcht. Da wird von Luther geſprochen und von der Wartburg den hl. Bonifatius aber hat niemand erwähnt.“ Ich entgegnete darauf, mit voller Abſicht hätte ich bei der Wartburg nicht die Tatſache erwähnt, die doch für einen Evangeliſchen nicht nur, ſondern auch für die Katholiken von großer Vedeutung ſei, daß nämlich Luther dort die Bibel überſetzt und dadurch dem deutſchen Geſamtvolk eine Schriftſprache gegeben habe, deren fih ja auch die Ratho- liten bedienten; ich hätte das vermieden, weil ich die Empfindlichkeit der Katholiken gekannt

Auf der Warte

hätte aber daß ich in deutſchen Landen Luthers Namen und ſogar die Wartburg überhaupt nicht ſollte nennen dürfen, um die Katholiken nicht zu reizen, ſei eine un- erhörte Zumutung, die ich mit aller Entjchie- denheit ablehnen müſſe. Damit war die Sache für mich erledigt.

Aber meinen Sie nicht auch, daß ſo etwas entſetzlich ift? Iſt es denn überhaupt denkbar, daß wir jemals wieder groß werden können, wenn in jetziger Zeit ſolche Anſichten bei den Gebildeten unſeres Volkes herrſchend find? If da nicht all Ihr Wirken und Ihr Kampf um die Wiedergeburt der deutſchen Seele vergeblich?!

Nun, im Juli ziehe ich mit meinen Jun- gens nach Weimar zu den Nationalfeſtſpielen und von da zur Wartburg und es machen auch gern und freudig katholiſche Schüler und Lehrer mit!“...

Soweit der Direktor. Daß deutſche Katho— liken die Burg der heiligen Eliſabeth und der Minneſänger nicht ebenſo lieben wie wir andern Oeutſchen es iſt ſchwer faßbar und hoffentlich in dieſem Falle eine ſehr verein- zelte Ausnahme.

*

Zwei Kabel

ie nationale Hamburger Zeitſchrift „Deut-

ſches Volkstum“ hatte ſich mit der Kir— chenſpaltung beſchäftigt, worauf in der tatho- liſchen Zeitſchrift „Das heilige Feuer“ Pater Edelbert Kurz ablehnend antwortete und den Katholizismus mit einem längeren, den Pro- teſtantismus mit einem kürzeren Kabel ver- glich: „nur das eine, das längere, hat die Verbindung mit der Stromquelle, das kürzere reicht gar nicht bis dorthin“. Darauf antwortet der Herausgeber des „Deutfhen Volkstums“ (Stapel):

„Das heißt: nur der Katholik hat die Verbindung mit Gott, nicht der Proteſtant. Deshalb war Luther, obwohl ein ‚bochbegab- ter Menfch‘, nur „wirkſam zum Unheil“. Und da aljo nur die katholiſche Kirche eine ‚gott gegebene Pflicht“ ift, fo ift die Volksgemein⸗ ſchaft auch nur inſoweit gottgebunden, als ſie nicht mit jener Kirche in Widerſtreit kommt. Nehmen wir das Gleichnis von

Auf der Warte

den beiden Kabeln auf. Wer entſcheidet dar- über, welches von beiden Strom hat? Allein Sott. Sein Geiſt wehet, von wannen Er will. Es gibt nun ſowohl unter den Katho- liken wie unter den Proteſtanten Seelen, welche die Verbindung mit der Stromquelle haben, welche von Sott ergriffen ſind, aber es gibt in beiden Kirchen auch ſolche, die dieſe Verbindung nicht haben. Es mag einem un- angenehm ſein, aber es iſt eine unbeſtreitbare Tatſache, daß Gott ſich durchaus nicht um die kirchliche Zugehörigkeit kümmert. Ich weiß, daß man das mit logiſchen Begriffsbeſtim- mungen und Z zirkelungen zurechtzuruͤcken ſucht, aber es iſt frommer, Gottes Walten unbedingt anzuerkennen, als es nur unter

der Bedingung anzuerkennen, daß es zu un-

fern Begriffen paßt. Man lefe das Gleich- nis vom barmherzigen Samariter und ähn- liche Gleichniſſe Jeſu! Der Samariter hatte die Verbindung mit der Stromquelle, der Prieſter und der Levit nicht. Dieſes Gleich- nis war den Pharifdern ein Greuel, denn fie , wußten“ es und bewieſen“ es jedermann aus der Heiligen Schrift „klar“, daß fie allein das wohlerworbene Patent auf die funktio- nierende Verbindung innehatten. Lieber Mit- bruder in Chriſto, ich hoffe, Eure Zuſtimmung zu haben, wenn ich ſage: Gott ſelbſt ent- ſcheidet aus Seinem unergründlihen Willen, welche Herzen Er in heiligen Brand verſetzen will. Nur der Phariſäer, nicht der Fromme, maßt ſich an, den einzig berechtigten Herd des heiligen Feuers zu beſitzen. Wer es nicht auf Erden lernen mag, ſich Gottes unbegreiflichen Entſcheidungen zu beugen, wird es beim Juͤngſten Gericht lernen mũſſen. Darum forge

ein jeglicher, daß er alsdann nicht mit ſeinem

behaupteten Richtigwiſſen ins unheilige Feuer

geworfen werde.“ *

Die geiſtige Not der deutſchen Dichtung

einrich Lilienfein, der Generalſekretär der Oeutſchen Schillerſtiftung, läßt ſich im „Lit. Echo“ über den zerfahrenen Zuſtand unſerer Literatur aus: „Und unſere Literatur?

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Scheuen wir das offene Bekenntnis nicht: ſie iſt ein Chaos. Man malt uns häufig den Bankerott des Staates an die Wand. Der Bankerott unſerer Literatur iſt da, wir ſtehen mitten darin. Das kluge Wort von der „An- archie im Drama“ darf ohne Übertreibung auf den Bereich unſerer ganzen Dichtung aus- gedehnt werden. Es gibt ein untrügliches Symptom für die Wahrheit dieſes Urteils: die kurze, ruhmloſe Geſchichte der jüngſt ver- ſtorbenen deutſchen Kunſtrichtung des Er- preſſionismus. Niemals iſt eine literariſche Strebung mit gefunden Anläufen und inner- lich berechtigten Zielen ſchneller und gründ- licher in ſich zuſammengebrochen. Und war- ' um? Weil die „Literatur“ ſie aus ſich gezeugt hat, ſtatt daß ſie aus den Lenden des Volkes entſprang; weil Papier nur Papier und nicht Leben zeugen kann! ... Und was nun? Sch ſehe vor mir eine ungeheuerliche Kluft: dies- ſeits ein in allen Tiefen aufgewühltes Volk, nach Dichtung wie nach aller Schönheit heiß und ſehnſüchtig verlangend, doch ebenſo willig, weil ungeleitet, zur Kunſt wie zur Unkunſt; jenſeits eine hochnäſige, durch und durch un- volkstümliche ‚Literatur‘, die in fremden Zun- gen lallt und in myſtiſchen Verzückungen ſchmilzt eine „Literatur“, die ſich anſtellt juſt wie die Berge, die zu kreißen kommen, und lächerliche Mäuſe gebiert eine „Lite- ratur‘, die überfließt von unendlicher Menich- heitsbeglückung und im Grunde kein Herz hat für das dumme Volk, das drüben ſteht, drüben und drunten. Und ich ſehe auch das muß ausgeſprochen werden in ratloſem Schwe- ben über der Kluft eine Kritik, die, jedes ſicheren Maßſtabes bar, die Verwirrung voll-

endet..“ | 2

Auguft Scherl und die Woche“

m Grunewald iſt dieſer Tage Auguſt Scherl geſtorben. Dieſer Mann, ein Zeitungsunternehmer von zweifelloſen Fähig- keiten, war wohl ein überzeugter Anhänger des deutſchen Kaiſertums und insbeſondere Wilhelm II. treu ergeben. Das deutſche Volk kannte ihn am meiſten aus der von ihm ge- gründeten „Woche“, weniger aus dem „Tag“,

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welcher der „Woche“ folgte. Heute darf man ſagen, die „Woche“, die zur Kräftigung des monarchiſchen Gedankens gedacht, gegründet und in dieſem Sinne geleitet wurde, ift eben- dieſem monarchiſchen Gedanken verderblich geworden. In jeder Nummer der „Woche“ ſtanden die Bilder aus dem höfiſchen Leben Berlins und der anderen deutſchen Reſidenzen ſtets an der Spitze. Sie zeigten, bis zur Indiskretion, die deutſchen Monarchen ſchutz⸗ los den Zufällen und Bosheiten der photo- graphiſchen Linſe preisgegeben und brachten mit den Perſönlichkeiten zugleich den Ge- danken, der in ihnen ſich auswirkte, unter alle kritiklüſternen Augen und in alle klatſch⸗ lüſternen Mäuler. Die Abgeſchloſſenheit, in der früher die Regierenden lebten und die ihr Menſchliches-Allzumenſchliches wohltätig ver- barg, wurde zugunſten einer ungeſchickten Reklame durchbrochen; und ſo kam es, daß Hinz und Kunz dank der „Woche“ und ihren Nachahmern mit den Unzulänglichkeiten der hohen Herrſchaften bald Beſcheid wußten und fie belächelten.

Unfeligerweife kam dem Bedürfnis der „Woche“ die Eigenart des Kaiſers entgegen; kein Menſch, von Film- und anderen Schau- ſpielern, deren Beruf dies ja ſchließlich mit ſich bringt, abgeſehen, hat ſich wohl ſo oft photographieren laſſen wie Wilhelm II. Und jede dieſer Photographien trug eine Spur Achtung vor der Monarchie von dem alt- überkommenen, wirklich ſehr anſehnlichen Hügel der Ehrfurcht ab; jedes dieſer „Woche“ Hefte machte den monarchiſchen Gedanken gemein und nahm ihm etwas von der Weihe. Man beſah ſich zuerſt den Kaiſer, dann auf der nächſten Seite einen Jockei und ſchließlich etwas weiter hinten einen Hochſtapler, alles in demſelben Heft. Erwiſcht man jetzt z. B. beim Zahnarzt ein paar Nummern der „Woche“, die nur um ein Jahrzehnt zurück- liegen, ſo befällt einen ſchlechthin ein Grauen vor der Unkultur und dem Ungefchmad, die einem aus dieſen Seiten entgegengrinſen. Scherls Abſicht iſt gründlich fehlgeſchlagen und hat ſich in ihr gerades Gegenteil verkehrt. Man kann es am beſten ſo ausdrücken: im alten Reich gehörte wohl ein Kaiſerbild in

Auf der Warte

jede Stube, ſei es auch nur ein ſchlichter oder gar ſchlechter Oldruck Zeitſchriften wie die „Woche“ aber machten durch die Häufigkeit ihrer Bilder die ganze Sache zur Karikatur.

Das Kaiſertum liegt am Boden. Aber jene Mode blüht weiter. Es gibt in Deutſch⸗ land nicht gar jo viel Ehrwürdiges mehr; aber was noch vorhanden ift, das wird ge- bildert auf Tod und Leben und dem lieben Leſer noch druckfeucht ins Haus geſchickt, damit er es ſich nur gleich früh mit dem Kaffee einverleiben kann.

Könnten wirklich keine gehaltvolleren Sachen an die Stelle dieſer gedankenloſen Bildchen gedruckt werden?

Franz Adam Beyerlein

Heraus aus der Sackgaſſe!

Een wächſt im Bürgertum die Zahl derer, die des unfruchtbaren Haders müde find, die fih aus der Verſumpfung des politiſchen Lebens herausſehnen und an die Stelle wohlfeiler Verneinung die poſitive Leiſtung geſetzt ſehen möchten. Dieſe Be- wegung reicht weit hinein bis in die Wäbler maffen der Rechtsparteien. Und wenn H. Klöres im „Tag“ ſcharfe Kritik an dem bisherigen Wirken der einen dieſer Parteien

übt, fo gilt, was er ihr zum Vorwurf macht,

in mindeſtens dem gleichen Maße auch für die andern. „Es bedarf“, ſchreibt der Ge nannte, „einer gründlichen Neuorientie- rung der Partei. Die ſchon jetzt wieder fid regende Taktik der Oppoſition aus Prinzip gegen eine Regierung, die nur aus den Fehlern ihrer Vorgängerin geboren wurde, fängt nachgerade an, kind iſch zu wirken. In einer Zeit, da das Wohl und Wehe des Vater- landes von der Einigkeit feiner Bürger ab- hängt, darf die Deutſche Volkspartei ihre bereitwillige Mithilfe keiner Regierung ver- ſagen, die je vaterländiſche Intereſſen zu ver- treten berufen iſt, auch wenn ſie nicht Sitz und Stimme in ihr hat. Die Probleme der Innen- und Außenpolitik find mehr denn je identiſch. Die kommende, in ihrem Ernſt kaum geahnte Entwicklung des deutſchen

Auf der Warte

Volkes ift nicht nur eine rein wirtfchaft- liche Zahlenrechnung. Weit ſtärker werden ſeeliſche und moraliſche Imponderabilien ſich geltend machen ... Noch ift das deutſche Volk dort zu packen, wo ſein Gefühl ſpricht. Aber gerade auf dieſem Gebiete verſagten die Männer, denen die Leitung der Oeutſchen Volkspartei oblag. Der Egoismus des Be— ſitzes zog ihrem Denken und Wollen eine unũberſteigbare Schranke, und die Zeichen der Zeit wurden von ihnen nicht verſtanden. Die großen moraliſchen Werte, die in der Wählerſchaft dieſer Partei enthalten ſind, blieben daher ohne Wirkung, ja es wurde, was ſchlimmer iſt, dieſer für die politiſche Geſundung des Volkes höchſt wert- volle Teil des Bürgertums geradezu matt geſetzt, weil er nicht mehr weiß, für welche Ziele er ſtreben fol.“

Es liegt im Intereſſe der rechtsgerichteten Parteien, die das natürliche Sammelbecken des ideal geſinnten Bürgertums bilden, „daß neue Männer ſie leiten, die durch die Ver- gangenheit nicht belaſtet find“. Der febr dehn⸗ bare Begriff „national“ verlangt gebieteriſch nach einem neuen, allgemeingültigen Inhalt.

*

Sibiriſcher Nachklang

Wi hatten im Maiheft, in der Abteilung „Auf der Warte“ (S. 132), ernſte Worte eines nach fünfjähriger Gefangen- {haft aus Sibirien heimgekehrten Kriegs- gefangenen aus dem „Volkserzieher“ nach- gedruckt. Der Verfaſſer, Lehrer Martin Müller, ſchreibt uns im Anſchluß an unſren Zuruf „Deutfchland iſt euer Arbeitsfeld“ ein ſchönes Ergänzungswort.

. . . „Freilich: Deutſchland ift unfer Ar- beitsfeld. Und wir wollen nicht die Letzten ſein, die ihre Hand an den Pflug legen. Wir taten es alle ſchon. Haben keine Stunde ver- fäumt. Wenn es auch wehe tat, unſere Kraft wieder in einer parteihadernden Welt einzu- ſetzen. Schmerz aber gebar noch immer rechte Freude |

Dies ſchreibe ich um die zweite Stunde

nach Mitternacht am Fieberbette eines kranken

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Mitſchulmeiſters. Seit zehn Tagen tun wir doppelten und dreifachen Dienſt. Und mit der Jugend ziehen wir in Freizeiten weit über die Berge und erziehen wandernd. In den Kindern finde ich meine Brüder und Schwe- ſtern, finde in ihnen auch unſer verloren ge- gangenes „ſibiriſches Paradies“.

Mag nach unſerer Heimkehr Trübung über uns gefloſſen ſein wir mußten alle durch, obgleich der Heimgekehrten Täuſchung gar zu groß war, ſo daß noch heute viele ringen unter dem Druck der ſeeliſchen Schmerzen. Was in dem Brief des einen ſpricht, der mir geſtern gebracht wurde, klingt auch in allen andren wider: „Mir fehlen die Worte, um zu ſagen, wie wahr und ſtark in der Fremde das Gött- liche war, und wie ſchmerzlich das Leben in der gefühlsfremden Heimat iſt. Manchmal wird deshalb dein Ruf zu mir ohne Echo ver- hallen. Gern würde ich dir antworten, doppelt gern, weil uns durchs Sorgental die gleichen Sterne den gleichen Weg leiteten. Aber das alles wirbelt fo wild wie Nebel- geſtalten durch den Kopf, und ich kann es zu keinem Bilde formen, kann es nicht mit- teilen‘... Und es klingt faſt hart, wenn ein anderer ſchreibt: „... und gar niemand ver- ſteht uns, ſelbſt die Mutter nicht‘! Und alle Antworten, die kommen von Nord und Süd, ſind durchzittert vom leiſen Weh um unſer verlorenes Reich Gottes.

Wir werden aber nicht ſtehen bleiben: klagend, zagend. In mir wurde es zur Zeit der Licht- und Jahreswende Klarheit, nach vier Monden ſchweren Ringens“...

Wir brechen hier ab. Dieſe leidgereiften jungen Deutſchen haben die große Stille, und in der großen Stille die ſchweigend zu- greifende große Liebe gelernt. Euch braucht Deutſchland noch!

*

Die Stieftinder der Bolſche⸗ wiſten

N nur in Arbeiterkreiſen, auch unter unfern Gebildeten iſt die Nuffen- begeiſterung noch groß. Dieſen allen ſei das ſehr aufſchlußreiche Buch Arthur Holitſchers:

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„Drei Monate in Sowjet- Rußland“

(S. Fiſcher, Berlin) empfohlen. Vielleicht

wirkt die erſchütternde Schilderung des Ber- faſſers über feinen Beſuch im Peters- burger „Schriftſteller- und Gelehrten- haus“ doch etwas abkühlend:

„Ich hatte mir unter dieſem Gelehrten haus ſo etwas wie ein weltliches Kloſter, ein Refugium vor den Nöten und Enttäufhungen des harten Daſeins vorgeſtellt, ein geiſtiges Aſ yl.

Wie wir die Zimmerflucht betreten, erhebt ſich von einem kleinen, halbkreisförmigen Seidenſofa, das früher in irgend einer Galon- niſche geſtanden haben mochte, ein kleiner, blaffer Greis, der dort geſchlafen hat, ſtellt fidh beſcheiden vor uns hin, und der Führer präfentiert mit einer Handbewegung den be- rühmten Phyſiker ... Wir gehen vorüber.

Im nächſten Zimmer, das in bemertens- werter Unordnung iſt, denn der Beſitzer ſoll nach einem beſſer heizbaren gebracht werden, hauſt der berühmte Geograph, Mitglied vieler europäiſcher gelehrter Geſellſchaften. Er breitet vor uns die großen Landkarten aus, die er gezeichnet, und auf denen er ſeine Theorie der Golfſtrömungen des Meeres und der Luft durch farbige Linien anſchaulich ge- macht hat. Ein italieniſcher Genoſſe befindet ſich in unſerer Geſellſchaft. Der Geograph ergeht ſich in Lobpreiſungen der alten Zeit der Kongreſſe, er hat in Rom, in Florenz geſprochen, man kennt ihn dort, gewiß, man fragt ſich, was ift aus X. geworden, lebt er noch?

Wir gehen vorüber. Tür an Tür hauſen die größten Gelehrten des Landes. Ift dies ein Heim, ein Gaſthof zu kurzem Verweilen, oder ein Gefängnis? Hier hauſen ſie Zimmer an Zimmer, Biologen, Mediziner, Juriſten. Gierig werden wir nach dem Neuen befragt, das ſich in Deutfchland, in der Welt dort draußen abſpielt ...“

Von derſelben Regierung, die ſo die Geiſteselite des Landes elend zugrunde gehen läßt, wird einige Seiten vorher be-

Auf der Warte

richtet, daß ſie Willionen für glanzvolle

Ballettaufführungen hinauswirft. Trog-

dem hält Holitſcher unentwegt an dem Glau- ben feft, daß Moskau das kommuniſtiſche Ideal verwirklichen werde! Immerhin iſt er ehrlich genug, einzugefteben: „Die Künſtler und Dichter Rußlands, die zu ſprechen ich Gelegenheit fand, waren unglücklich. Man- chem ſchrie der Kummer und Zorn aus der Kehle heraus, andere würgten ihn hinunter, aber ihre Augen floſſen vor Verzweiflung über...“

*

Zu unſerer Muſikbeilage

ntonio Müller-Herrneck, deffen Qie-

der unfere Mufitbeilage wegen der be- drängten Zeitumſtände erſt heute bringen kann, obwohl ſchon Karl Storck fie noch für den „Türmer“ ausgewählt hatte, iſt unſern Leſern vermutlich ein Unbekannter. Der Künſtler iſt 1880 als Sohn des bekannten Nervenarztes C. W. Müller in Wiesbaden geboren und hat feine muſikaliſche Ausbil- dung zumeiſt an der Berliner Muſikhochſchule unter Max Bruch erhalten. Nebenbei ſtudierte er an der Univerſität Berlin Philoſophie und neuere Sprachen, wurde dann Theaterkapell— meiſter und lebt jetzt auch ein Zeichen der Zeit! als Enſemblepianiſt in München. Müller-Herrneck hat vor allem zahlreiche Lieder vertont, ein Violinkonzert geſchaffen und war- tet darauf, daß irgendwer ſich einmal ernſtlich mit feiner einaktigen Oper „Der Paria“ (Text von R. Vatta) befaſſen möchte, über die günſtige Sachverſtändigenurteile vorliegen. Im Oruck erſchienen ſind bisher zwei Balladen für Tenor und acht Lieder für Alt bei Fr. Hof- meiſter in Leipzig, eine Klavierſonate op. 4 und ſechs Lieder op. 5 beim Mitteldeutjchen Muſikverlag in Berlin. An den Liedern unfe- rer Beilage wird der dramatiſche Zug der Melodieführung, eine farbige Harmonik und der klangſchöne, reiche Klavierſatz zu weiterer Beſchäftigung mit dem Komponiſten einladen.

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Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: Prof. Dr. phil. h. c. Friedrich Lienhard. Für den politiſchen und wiet- ſchaftlichen Teil: Konſtantin Schmelzer. Alle Zuſchriften, Einſendungen uſw. an die Schriftleitung des Türmers, Berlin⸗ Wilmersdorf, Rudolſtädter Straße 60. Druck und Verlag: Greiner u. Pfeiffer, Stuttgart

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iii von Prof. Dr. h. c. Friedrich Lienhard

28. Juhrg. Auguſt 1921 Weft 11

Was müſſen wir für die körperliche

Erſtarkung unſerer Jugend tun? Von Dr. Hugo Bach S rübjahr übergab ich der entlichkeit einen Aufſatz: as OR hjahr 1916 übergab ich der Öffentlichkeit einen Aufſatz: „W

können wir für die körperliche Erſtarkung unſerer männlichen Jugend tun?“, um in weiteren Kreiſen auf die unſerer Jugend drohende, O durch den Krieg deutlich gewordene Gefahr des geſundheitlichen Rückgangs aufmerkſam zu machen und beſtimmte Forderungen für die Abhilfe zu ſtellen. Die von mehreren Zeitſchriften gewünſchte Veröffentlichung bewies, daß die behandelten Fragen von größtem Intereſſe für die Allgemeinheit waren. Heute, fünf Jahre ſpäter, nach den Leiden des Hungers und den ſonſtigen Nöten des Krieges handelt es fih nicht mehr darum, was wir für unſere Jugend tun können, ſondern was wir für ſie tun müſſen, um ſie vor dem erſchreckend nahe gerückten körperlichen Niedergang zu retten. Die Frage iſt heute zur Zukunfts- frage unſeres Volkes geworden. Es iſt über dieſes Thema eine umfangreiche Literatur entſtanden, die eine nur zu deutliche Sprache redet. Nach den heutigen Berichten des Reichsgeſundheitsamtes und aller mit der Sorge für die Bolts- hygiene betrauten amtlichen Stellen läßt ſich leider nicht mehr daran zweifeln, daß die geſundheitlichen Verhältniſſe bei unſerer Jugend recht ſchlecht find, und daß wir nur mit größter Sorge an die Zukunft auch der nächſten Generationen denken können. Von Jahr zu Jahr hat während des Krieges die Sterblichkeit

N

292 Bach: Was mülfen wir für die körperliche Erſtarkung unſerer Zugend tun?

unter den jüngeren Altersklaſſen mehr und mehr zugenommen und weiſt eine ſtete Steigerung beſonders unter den Tuberkuloſen auf.

Will man nicht gleichgültig die Weiterentwicklung der Dinge abwarten und unſer Volk ſeinem traurigen Schickſal entgegentreiben laſſen, ſo heißt es mit ganzem Nachdruck diejenigen Einflüſſe auszuſchalten, die als geſundheitsſchädigend und für die körperliche Entwicklung unſerer Jugend hemmend gelten müſſen. Die Kriegs- erfahrungen haben nun gelehrt (Prof. Dr Brauer, Eppendorf- Hamburg), daß nicht das Maß der Anſteckungsmöglichkeiten, ſondern in erſter Linie die disponierenden, den Körper ſchwächenden Vorbedingungen, alſo die Schädigung der körperlichen Widerſtandsfähigkeit, das Hauptmoment für die Auslöſung bzw. Eindämmung der Volksſeuche und ihrer mannigfachen Anfangserſcheinungen ſind. Neben dem weſentlichſten Faktor hierbei, der Ernährung, muß der ſonſtigen Lebensweiſe unſerer Jugend, ihrem täglichen Anteil an friſcher Luft, Sonne und Bewegung, ihrer Ab- härtung und Erhöhung der körperlichen Widerſtandsfähigkeit, die Hauptaufmerkſam— keit gelten. Hier auf offenſichtliche Nachteile in der Lebensweiſe unſerer ſchulpflich— tigen Jugend zu verweiſen und Abhilfe zu verlangen, iſt die Aufgabe dieſer Zeilen.

Schon vor dem Kriege machten ſich die Schäden der durch die Schulpläne bedingten Lebensweiſe bei unſerer Jugend bemerkbar. Als Leiter und Lehrer der deutſchen Auslandsſchule Fridericianum zu Davos, die in ihrem Jugend- ſanatorium Knaben und Fünglingen zur Wiedererlangung ihrer Geſundheit ver- hilft, habe ich in mehr als zwanzigjähriger Tätigkeit reichliche Gelegenheit gehabt, umfaſſende Erfahrungen zu ſammeln; Erfahrungen, die gerade für die vorliegende Frage von größter Bedeutung find. Und da die Anſtalt in den 45 Jahren ihres Wirkens von tauſenden Knaben aus allen Teilen des Reiches beſucht wurde, dürfen ſie eine allgemeine Gültigkeit beanſpruchen.

Die auffälligſte, ſich ſtets wiederholende Erſcheinung war: die weitaus meiſten Zöglinge hatten die Grundlage für ihre Erkrankung im Win— ter gelegt. Die Erklärung hiefür iſt einfach genug. Es fehlte ihnen an dem für ihren Körper Notwendigſten: Bewegung, friſche Luft und Sonne. Man vergaß, daß unſer mitteleuropäiſcher Winter ſowie die Frühlings- und Spätherbſtmonate, ohnehin die Zeit der Erkältungen, eine größere Widerſtandsfähigkeit und Abhärtung des Körpers erfordern. Anſtatt dieſe durch eine entſprechende Anpaſſung des Stundenplanes zu ermöglichen, machte man den Schülern durch einen Tagesplan, der allenfalls für den Sommer paßt, den Aufenthalt in freier Luft fajt unmöglich. Die Schuld muß alſo hier in den Vorſchriften für die Verteilung des Unterrichts geſucht werden.

Wenn der Unterricht einer Großſtadtſchule um 1, 1½, ja gelegentlich fogar um 2 Ahr ſchließt, wird der Schüler unter Berückſichtigung der oft weiten Ent— fernungen kaum vor 2 Uhr zu Hauſe ſein. Somit wird in den Monaten kürzeſter Tagesdauer nach Erledigung der Mittagsmahlzeit keine Zeit mehr übrig bleiben, vor Einbruch der Dämmerung einen längeren Spaziergang außerhalb der Stadt, abſeits vom Dunft und Getriebe derſelben zu unternehmen. Dabei ift vorausgeſetzt, daß der Umfang der Hausaufgaben und die durch geiſtige Ermüdung eines fünf— bis ſechsſtündigen Unterrichtes bei vielen erzeugte körperliche Unluſt ein längeres

Bach: Was müffen wir für die körperliche Erſtarkung unferer Fugend tun? 293

Verweilen im Freien noch möglich machen. In vielen Fällen liegen die Verhält- niſſe leider auch heute immer noch fo, daß die häusliche Vorbereitung das mit- beſtimmende Moment iſt. Ein Schüler, der eine geiſtige Arbeit von zwei bis vier Stunden vor ſich hat, wird ſich oft nur ungern entſchließen, mit der Ausſicht auf eine ſo umfangreiche Arbeitszeit mehrere Stunden der Erholung zu widmen.

b Bei manchem ſchwächlichen Zungen war es geradezu überraſchend, wie ſchnell er ſich bei einer den natürlichen Bedürfniſſen des jugendlichen Körpers angepaßten

Lebensweiſe im Fridericianum, mit ſeinem ausgiebigen Freiluftaufenthalt von

11 bis 4 Uhr, körperlich und dann auch geiſtig erholte. Außer Zweifel iſt es, daß

es bei vielen gar nicht zu körperlichen Niederlagen gekommen wäre, wenn den

Jungen durch eine zweckmäßige Tageseinteilung die Möglichkeit gegeben wäre, mehrere Stunden des Tages im Freien zu verbringen.

Dieſes Kapitel kann nicht übergangen werden, ohne der täglichen Arbeitszeit gerade der Schüler in den Oberklaſſen unſerer höheren Schulen zu gedenken. Sie bedarf beſonderer Beachtung. Die in fo weiten Kreiſen als Höchſtmaß für Er- wachſene anerkannte achtſtündige Arbeitszeit kommt bei unſeren Söhnen noch nicht durchweg zur Anwendung. Wir ſtehen hier vor der genugſam bekannten, aber darum nicht minder verwunderlichen Tatſache, daß ſie gerade in den Jahren ihrer Entwicklung, die den Grund für ihr ganzes ſpäteres Leben legen, nicht weniger als acht bis neun Stunden, in vielen Fällen gewiß noch mehr geiſtig tätig ſein müſſen, ohne daß man ihnen im Winter die Möglichkeit gibt, durch Bewegung im Freien ihren Körper genügend zu kräftigen und Gegengewichte gegen das viel zu lange Sitzen in der Stube zu ſchaffen. So iſt die im Schulſanatorium Fridericianum gewonnene Erfahrung der geringeren Widerſtandsfähigkeit der jugendlichen Körper im Winter nur zu verſtändlich.

Es muß demnach die dringende Forderung aufgeſtellt werden, die während des ganzen Jahres unterſchiedsloſe Verteilung des Unterrichts unter Berüdfich- tigung der klimatiſchen Eigenſchaften des Winters zugunſten eines genügenden Aufenthaltes im Freien in dieſer Jahreszeit aufzuheben. Daß dies nicht ſchon längſt geſchehen iſt, muß in gerechtes Erſtaunen ſetzen. Haben doch langjährige gewiſſenhafte meteorologiſche Aufzeichnungen und die bahnbrechenden Unter- ſuchungen der Sonnenſtrahlung im letzten Jahrzehnt ſowie unſere eigene Erfahrung uns längſt klar gemacht, daß dem Winter eine beſondere Stellung zuzuerkennen iſt.

Ein, Zweifel hieran wird auch kaum beſtehen. Aber erſt bei einem, wenn auch nur kurzen Einblick in die für unſere Erwägung in Betracht kommenden Klimatabellen zeigt ſich, wie groß tatſächlich die Unterſchiede ſind, wie ſehr unſer mitteleuropäifcher Winter die bei weitem am wenigſten begünſtigte Jahreszeit ift.

Da der Sonnenſchein der wichtigſte Klimafaktor von hygieniſcher Bedeutung iſt und ſeine Verteilung im Laufe des Tages zudem einen Schluß auf die meteoro- logiſche Beſchaffenheit desſelben zuläßt, die Stunden der Dämmerung oder Dunkel- heit außerdem für den Freiluftaufenthalt der Schüler ohnedies nicht in Frage kommen, ſo wurde die durchſchnittliche tägliche Menge des Sonnenſcheins als Grundlage der Betrachtung gewählt. Damit ſoll jedoch keineswegs geſagt ſein, daß nur Tage ohne Bewölkung der Wanderfreude unſerer Jungen dienlich ſind.

. 294 Bach: Was müſſen wir für die körperliche Erſtarkung unſerer Zugend tun?

Als Vertreter deutſcher Großſtädte wurde das zentral gelegene Berlin ge— wählt (Otto Berre „Das Klima von Berlin“. Verlag O. Salle, Berlin 1908) und zum Vergleich noch Hamburg herbeigezogen. (Helmuth König, „Dauer des Sonnen— ſcheins in Europa. Nova acta. Abhandl. der Leop. Carol. Deutſchen Akademie der Naturforſcher, Halle, und Bach, „Die Anpaſſung des Anterrichtsplanes an das Klima und ihre Bedeutung für die Geſundheit der Schüler“. Beilage zum XXXVI. Jahresbericht des Fridericianums zu Davos 1914.) Bezeichnend ift, daß die Hälfte aller ſonnenloſen Tage allein auf den Winter entfällt. Im meteoro— logiſchen Winter (Dezember, Januar, Februar) verzeichnen die Sonnenjchein- autographen 145 Stunden, im Sommer (Juni, Juli, Auguſt) 728, in Hamburg bzw. 115 und 448 Stunden. Die drei Wintermonate haben alſo nur den fünften bis vierten Teil des Sonnenſcheins der drei Sommermonate. Dieſe Unterſchiede find fo gewaltig, daß man ſich mit Recht fragt, warum die geſundheitſpendende Kraft der Sonne im Winter, wo fie uns fo viel ſpärlicher zugeſtraͤhlt wird, nicht wenigſtens nach Möglichkeit durch eine zweckentſprechende Zeiteinteilung ausgenützt wird. Daß dies in weit größerem Umfang als bisher geſchehen könnte, zeigt die Tabelle der Verteilung des Sonnenſcheins auf die Tagesſtunden.

Täglicher Gang des Sonnenſcheins in Berlin im Mittel der Fahre 1891—1900.

Okt. Nov. Dez. Jan. Febr. März

9—10 11,6 6,1 3.2 2 42 11.8

10—11 13,1 8,6 5,7 5,4 8,5 13,0

11-12 13,4 10,0 6,8 6,2 10,1 15,2

12—1 13,5 10,5 7,2 7,3 10,1 15,9

1—2 14,0 9,9 7,4 6,9 9,8 15,8

2—5 12,5 9,5 5,9 5,8 8,5 13,0

3—4 10,6 5,1 0,7 1,9 6,8 10,5

4—5 5,4 0,5 2,0 5,8 Die Stunde, in der die Sonne am längſten und im Durchſchnitt aljo auch am häufigſten ſcheint, ift die von 12—1 bzw. von 1—2 Uhr. Im allgemeinen hat der Nachmittag überhaupt mehr Sonnenſchein als der Vormittag. Es iſt dies eine Folge der größeren vormittäglichen Bewölkung während der falten Jahreszeit. Wie traurig es dann mit unſeren armen Zungen beſtellt ift, denen Licht und Sonne für ihr Gedeihen ſo bitter nötig ſind, lehrt die folgende Aberlegung. Unter der Vorausſetzung, daß der Unterricht um 1 Uhr ſchließt und der Schüler ſich nach dem Mittageſſen ſchon um Uhr außerhalb der Stadt befindet, wo er allein Erholung finden kann und ſoll, würde er doch nur im ganzen Dezember und Januar 3,6 bzw. 4,8 Sonnenſtunden genießen können. Das find täglich durd- ſchnittlich 6—9 Minuten, falls er wirklich unter Benutzung der zur Verfügung ſtehenden Verkehrsmittel zu dieſer Zeit ſchon an ſeinem Ziel iſt. In Wirklichkeit

werden die Verhältniſſe jedoch in vielen Fällen wegen der oft weiten Wege und

aus den früher angegebenen Gründen noch ungünſtiger liegen.

Würde jedoch der Stundenplan den ungünſtigen Bedingungen des Winters mit Schulſchluß etwa um 11½ Uhr angepaßt werden, ſo käme wenigſtens im Mittel eine halbe Stunde Sonnenſchein auf jeden Tag. Man ſoll dieſe halbe

Bach: Was müffen wir für die körperliche Erſtarkung unferer Zugend tun? 295

Stunde nicht zu leicht anſchlagen. Wer aus dem Qualm der Großſtadt kommend die Körper und Gemüt erfriſchende Kraft auch nur einer halben Stunde reinen Sonnenlichtes an ſich ſelbſt erprobt hat, wird gewiß auch ohne die gewichtigen, für ihre Ausnützung ſprechenden Argumente unſerer Hygieniker und Phyſiker ihren Wert richtig einſchätzen. Nicht viel günſtiger liegen die Verhältniſſe in den Über- gangsmonaten. Obwohl im Oktober die Sonne in Berlin durchſchnittlich täglich 3,1 Stunden, im März fogar 3,4 Stunden ſcheint, kann ein Berliner Schüler nur 40 oder 45 Minuten dieſer Zeit täglich im Freien ſein. Es geht ihm alſo der weitaus größte Teil des lebenſpendenden Sonnenſcheins verloren.

Dieſe Betrachtungen ließen fih unter Ausnützung der noch nicht abgeſchloſſe- nen wichtigen Unterſuchungen der letzten Jahre über die Beſchaffenheit der Sonnen- und Himmelsſtrahlung und ihre Ausnützung im Dienſte der Medizin noch über- zeugender und bedeutſamer geſtalten. Mit aller Deutlichkeit geht aus denſelben hervor, daß auch in der Zuſammenſetzung des Sonnenlichtes zwiſchen Winter und Sommer gewichtige Anterſchiede beſtehen, die nicht minder für die Not- wendigkeit der Berückſichtigung des Winters für unſere Jugend ſprechen. Eine der weſentlichſten Erfahrungen dieſer Unterſuchungen iſt vielleicht die Anteilnahme des Himmelsgewölbes auch an nicht klaren Tagen an der für das Befinden des Menſchen wichtigen Strahlung. Dem ſich im Freien befindlichen Menſchen werden auch bei nicht wolkenloſem Himmel wertvolle, die Geſundheit fördernde Kräfte zugeſtrahlt. Es kann hier nicht eingehender auf jene vielſeitigen Forſchungen, die das geſamte Gebiet des Sonnenſpektrums umfaſſen, eingegangen werden. Sie lehren jedenfalls, daß bis jetzt viel zu wenig geſchehen iſt, um die uns von der Natur zur Verfügung geſtellten Kräfte für unſere leidende Jugend auszunützen. Nimmt man ihr in unſerem Winter die an ſich gegenüber dem Sommer geringeren Schutzmittel durch mangelnden Aufenthalt in freier Luft, ſo liefert man ſie eben dem Einfluß der Tuberkuloſe und anderer Krankheiten aus und macht ſie wehrlos.

Daher bleibt keine andere Möglichkeit. Die Stundenpläne unſerer Schulen müſſen fo umgeftaltet werden, daß der Unterricht im Winter nicht fpäter als um 11½ Uhr vormittags fein Ende findet. An kleineren Orten, wo größere Schulwege nicht ins Gewicht fallen und wo der Schüler in kurzer Zeit auf freiem Felde ſein kann, könnte der Schulſchluß auch auf 12 Uhr gelegt werden, wie es bei manchen Schulen ſchon heute geſchieht. Über die Mög- lichkeit ſolcher Umgeſtaltung auch in ſchultechniſcher Beziehung foll ſpäter ge- ſprochen werden.

Sft mit der Erfüllung dieſer Forderung der der gugend auch im Winter un- bedingt nötige Aufenthalt in freier Luft ermöglicht, ſo iſt damit noch nicht die Gewähr einer regelmäßigen und gründlichen Ausnützung dieſer Möglichkeit ge- geben. Die heutigen Gefundheitsverhältniffe bei unſerem Nachwuchs find jedoch ſo ernſt und erheiſchen ſo konſequente Ausnützung aller zu Gebote ſtehenden Mittel, daß wir ihre Verbeſſerung nicht dem Belieben des Einzelnen anheimgegeben wiſſen möchten. Der Staat möge ſich, wie es mit der Wehrhaftmachung unſe— rer Jugend während der Kriegszeit der Fall war, der körperlichen Erſtarkung der Jugend annehmen, entſprechend ihrer Bedeutung

296 Bach: Was müſſen wir für die körperliche Erſtarkung unferer Zugend tun?

für das Volkswohl. Nur ſo kann gründliche Abhilfe erwartet werden. Eine zweckentſprechende Organiſation ſollte um ſo leichter durchzuführen ſein, als dem Staat die Sorge für ein großes ſtehendes Heer abgenommen iſt. Dieſer Gedanke mahnt aber auch zugleich, die Wiedererſtarkung unſerer Jugend als eine heilige Pflicht zu betrachten. Für ſo manchen Jüngling war die Zeit ſeines Wilitär— dienſtes die Zeit der Ertüchtigung ſeines Körpers. Heute, wo dieſe Schule für die Erziehung zur Mannhaftigkeit fehlt, ſollte auch aus dieſer Erwägung heraus an einen Erſatz gedacht werden, ſoweit die geſundheitliche Seite in Frage kommt. Nicht auf dem bisherigen Wege mit den üblichen 1—2 Turnſtunden, den 1—2 dem freiwilligen Sport gewidmeten Nachmittagen, die keineswegs eine überall beſtehende Einrichtung ſind, dürfen wir das Heil erwarten. „Täglich ſoll der Knabe und Jüngling in der Lage ſein, ſich in friſcher Luft zu bewegen, ſeinen Körper zu kräftigen und geſchickt zu machen. Und regelmäßig, wie der Schulunterricht, müſſen dieſe Ubungen ſein.“ Das Weſentliche hierbei iſt unzweifelhaft der Aufenthalt im Freien und die Körper— bewegung. Ob es Wanderungen, ob Sport oder Spiel fein follen, ift nicht aus- ſchlaggebend. Am beſten wird ein verſtändiger Wechſel aller der Körperbildung dienenden Möglichkeiten fein, wobei geſundheitliche Rückſichten auf den Einzelnen und ſeine Neigung mitbeſtimmend ſein können. All dieſe Erwägungen ſind jedoch der Hauptforderung gegenüber von untergeordneter Bedeutung. Was ausſcheiden müßte, wären ſportliche Auswüchſe mit dem bloßen Ziel der Rekordleiſtung. Man hat hier und da die Frage aufgeſtellt, ob der Staat wirklich die Pflicht hat, für das körperliche Wohl der Jugend auch außerhalb der Schulräume zu ſorgen bzw. über demſelben zu wachen. Der aus der Not der Zeit ſich ergebende Zwang gibt die Antwort ſelbſt und wirft alle Bedenken über den Haufen. Wenn der Staat ein Intereſſe daran hat, die zu ihm Gehörenden nicht in Unwiſſenheit aufwachſen zu laffen, ſondern ihren Geiſt zu ſchöner Blüte zu bringen, fo muß ſein Intereffe an dem körperlichen Gedeihen ein ungleich größeres fein; denn es betrifft eine Exiſtenzfrage des ganzen Volkes. Und ein geiſtiges Gedeihen ift zudem nur auf geſunder körperlicher Grundlage möglich. Auf die ſich hier auf— drängenden Parallelen aus der geſchichtlichen Überlieferung anderer Völker, denen die körperliche Tüchtigkeit der Jugend höchſtes Ziel war, ſei hier nicht eingegangen. Es will uns aber ſcheinen, daß fchon die Tatſache des Schulzwanges auch die Ber- pflichtung der Sorge für das körperliche Wohl in ſich birgt. Wenn mit der Reife prüfung ſich die Tore der Schule hinter unſern höheren Schülern ſchließen, ſo haben ſie einen anſehnlichen Teil ihrer Lebenszeit in voller Abhängigkeit von jener verbracht. Denn mit ganzem Nachdruck beſtimmte die Schule auf Grund ſtaatlicher Verordnungen die Lebensweiſe des Schülers bezüglich der Einteilung des ganzen Tages. Ein Mitbeftimmen des Elternhauſes war im weſentlichen ausgeſchaltet. Bedenkt man, daß die Schuljahre aber gerade die Zeit der körper—

lichen Entwicklung find, die ausſchlaggebend für den geſundheitlichen Werdegang.

des weiteren Lebens ſind, ſo drängt ſich die Schlußfolgerung der ſtaatlichen Für— ſorge auch als einer moraliſchen Pflicht von ſelbſt auf. Damit die Entwicklung des jugendlichen Körpers durch die einſeitige geiſtige Tätigkeit, durch das fünf- bis

Bach: Was müffen wir für die körperliche Erſtarkung unſe rer Zugend tun? ö 297

ſechsſtündige tägliche Sitzen in den Schulräumen mit den dazu gehörenden häus- lichen Vorbereitungsſtunden nicht gehemmt wird, ſind Gegengewichte zu ſchaffen. Schon vor dem Kriege fehlte es nicht an gewichtigen Stimmen auch aus dem Lager der Anterrichtsverwaltungen ſelbſt, die für die Regelung aller der körper- lichen Entwicklung der Schuljugend dienenden Unternehmungen durch die Schule ſelbſt eintraten. Heute ſind dieſe Forderungen unabweislich geworden.

Zum Schluß noch einige Worte über die Anpaſſung der Schulpläne an die klimatiſchen Bedingungen unſeres Winters. Dieſelben ſollen jedoch nur Hinweiſe fein. Der eingehenden Durchprüfung bliebe es vorbehalten, im einzelnen feft- zuſtellen, auf welchem Wege man am beſten ans Ziel gelangen kann. Man möge fich jedoch ſtets vor Augen halten, daß die Geſundung und Erſtarkung unferer Jugend wichtig genug ift, um auch einige Unbequemlichkeiten oder Verzichte in den Kauf zu nehmen. Und wenn ſchlimmſten Falles der Unterrichtsſtoff im Winter

zugunſten eines vermehrten Aufenthaltes im Freien etwas beſchnitten wird, ſo

wäre dies auch kein Unglück. Unſere bisherige Auffaſſung, den Winter als die Hauptarbeitszeit des Schülers anzuſehen, war eben falſch und für feine Geſundheit höchſt nachteilig. Im übrigen iſt noch nicht einmal geſagt, daß eine ins Gewicht fallende Einbuße an Wiſſen nötig iſt. Wir ſchleppen noch immer ſo manchen Vallaſt in unſern Lehrplänen mit, deſſen Wegräumung höchſt ſegensreich und als wert- voller Zeitgewinn zu begrüßen wäre.

Ebenſo würden ſich die vorzunehmenden Anderungen der Tagespläne wahr- ſcheinlich gar nicht einmal als ſo weſentlich herausſtellen. Bei einem Beginn des Unterrichts um 8 Ahr morgens würde man unter Einhaltung von Fünfminuten- pauſen und einer Hauptpauſe von 10 Minuten 4 Kurzſtunden von je 45 Minuten Sauer auf den Vormittag legen können und dabei einen Schlußtermin von 11 Uhr 20 Minuten erzielen. Der fo entſtehende Verluſt an Stunden müßte unter tun- lichſter Einſchränkung der Klaſſenpenſen durch Nachmittagsunterricht an zwei oder drei Tagen von 4 Uhr an ausgeglichen werden. An dieſen Tagen ſollte alsdann die häusliche Vorbereitung ausgeſchloſſen fein, was fih durch Verzicht auf Haus- aufgaben für den folgenden Tag ermöglichen ließe. Im Sommer machen die günſtigeren klimatiſchen Bedingungen und die längeren Tage beſondere Maß- nahmen zur Erzielung eines genügend langen Aufenthalts im Freien kaum nötig, wenn man nicht mit dem ungeteilten Unterricht überhaupt brechen will.

Läßt man die Anregungen und Beſchlüſſe mehrerer großer Gymnaſiallehrer- vereine während der Kriegszeit zur Richtlinie dienen, ſo wäre man bereits auf dem beſten Wege, etwaige Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen. „Die wiſſenſchaftliche Ausbildung betrachtet als ihre Hauptaufgabe die Erziehung zum zeiſtigen Arbeiten, nicht die Aneignung eines umfangreichen Wiſſensſtoffes.“ Dieſes Ziel iſt auch unter Einſchränkung der Hausaufgaben zu erreichen. Eine geiftige Verflachung iſt nicht zu befürchten, wenn der Unterricht ſelbſt mit allem

Nachdruck ausgenützt wird, und eine Erhöhung der Anforderungen an die geiſtige

Betätigung des Schülers in der Unterrichtsſtunde wäre nur zu begrüßen. Um diejenigen, die ſolchen vermehrten Anforderungen nicht gewachſen ſind, weil ihnen die für ihre mühſelige Vorbereitung nötige Zeit fehlt, wäre es nicht ſchade. Es

208 Pauljen: Stille Stunde

wäre keineswegs bedauerlich, wenn die Ziffern des Schulbeſuches in den oberen Klaſſen unſerer höheren Schulen etwas zurückgingen. Schließlich wird die Güte des Unterrichts auch von ſelbſt gewinnen, wenn die qualvolle Länge von fünf bis ſechs hintereinander liegenden Schulſtunden aufhört und einer Einteilung Platz macht, die auf die Leiſtungsfähigkeit jüngerer Menſchen Rückſicht nimmt. Aus langjähriger Erfahrung kann ich feſtſtellen, daß die Leiſtungen der Schüler bei einer Verkürzung der Schulzeit am Vormittag weit hochwertiger werden. Unter Anwendung des Grundſatzes einer Zweiteilung des Unterrichts auf den Vor- und Nachmittag hat das Fridericianum zu Oavos bei gleichzeitiger voller Ausnützung des Klimas in den 43 Jahren feines Beſtehens auch die offenſichtlichſten geiſtigen Erfolge erzielt, obwohl die weitaus meiſten ſeiner Zöglinge es bereits erkrankt oder körperlich geſchwächt aufſuchten.

Anſere Zeit iſt arm an Hoffnungen, und tiefes Dunkel laſtet nicht nur auf der Gegenwart, ſondern auch auf der Zukunft. Eine Beſſerung können wir nur von einem ſtarken künftigen Geſchlecht erwarten. Zu dieſem unſere Jugend zu erziehen, ſei unſere heiligſte Aufgabe.

S

Stille Stunde Von Rudolf Paulfen

Ich möchte mein Ohr nun legen Ans Herze der Natur

Und horchen feinen Schlägen Und leſen Gottes Uhr.

Ich möchte dem Atem lauſchen, Der in der Erde dröhnt,

Des Meeres tiefſt em Nauſchen Und was es Heiliges tönt.

Ich möchte das All befragen Nach Lebens und Todes Sinn; Es ſoll mir Mutterworte ſagen, Mir ſagen, wer ich bin.

Ich möchte hinũbergehen

Leife und ſchön wie ein Kind, Ich möchte ganz ſanft verwehen Wie ſingender Abendwind.

Baburin: Hoc von morgen an 299

Doch von morgen an | Von Paramon Baburin

1. Rückgrat

Goch von morgen an ſoll es anders werden.

Die halbe Nacht hatte er wieder wach gelegen und gehaßt, 740; den Mann gehaßt, den zu lieben er fchon feit einer Reihe von Jahren | ſich vergeblich bemühte.

Es mußte anders werben. Lieber draußen in der Provinz ein beſcheidenes Amt verwalten, als täglich dieſen eiskalten Hochmut, dieſen in karikiert vollendete äußere Formen gekleideten Sarkasmus, dieſes unbeſiegbare Beſſerwiſſenwollen, dieſes gottesgnadentümliche Gehaben, diefe jämmerliche haarſpaltende Kleinlich- keit, dieſe ſtierköpfigen ſchulmeiſternden Wortſchindereien, dieſe geradezu läppiſche Logik zu ertragen, die auf Schrauben noch Stelzen ſtülpt und nicht zufrieden iſt, ehe ſie nicht jede Frage hundertmal beſpeichelt und durchgekäut hat, um ſchließlich, nach ſchmählich vertanem Aufwand, mit einer Zwangsidee, die ſtets den Nagel neben den Kopf trifft, den lahmen Ausſchlag zu geben.

Als Arbeit vieler Tage und mancher durchwachten Nacht hatte er dem Miniſter den Entwurf vorgelegt. In kurzen packenden Sätzen war die verwickelte Sachlage mit Auffaſſung und Gegenauffaſſung, Beiſpielen und Gegenbeiſpielen vorgetragen und akademiſch und praktiſch gezeigt, welche Entſcheidung getroffen werden müſſe.

Schon nach einigen Stunden ſtellte der Chef ihm das Schriftſtück wieder zu, ſprachlich durchkorrigiert wie ein Schulheft, mit Randbemerkungen verſehen und mit dem Erſuchen um gefällige Rückſprache. Genau das Gegenteil wollte der Miniſter. Die ganze Arbeit war für die Katze. Der Referent hatte ſich auch diesmal, wie ſo oft, wieder zu fügen. Nicht einer höheren Einſicht ſich zu beugen galt es, dies hätte er gern getan. Nein, den Windungen einer Rabuliſtik ſollte er folgen, an der nicht ein einziger echter Faden war. Und dies in einer Angelegen- heit, die er feit langem durchaus beherrſchte, während fie dem Minifter bis vor kurzem ganz und gar fremd war.

Von einer ſachlichen Erörterung keine Rede. Niemals. Völlige Verſchloſſen⸗ heit. Stahlpanzerung. Ein dicker Schädel, von dem alles abprallte. Hauptwaffe brütendes Schweigen, zum Schluß die Brutalität eines beſchränkten Werkmeiſters.

Doch diesmal ſollte es anders kommen! Diesmal wollte er nicht, wie ſo oft, wie ſo viele ſeiner Kollegen, den von allen mit Inbrunſt gehaßten Mann, der ſich auf Gerechtigkeit und Sachlichkeit ſoviel zugut tat und beides nicht beſaß, diesmal wollte er ihn nicht mit kaltem Schweiß auf der Stirn, mit zitternden Händen, Zornestränen in den Augen und Schmach der Ohnmacht im Herzen verlafjen. Diesmal wollte er fih endlich, endlich entladen.

Zur befohlenen Stunde fand er ſich beim Miniſter ein. Man nahm Platz. Der Miniſter ſchwieg. Den im Schweigen liegenden Vorteil pflegte er niemals

500 Baburin: Doch von morgen an

zu verſäumen. Dies zwang den Referenten, ſich auszubreiten. Kleine Pauſen im Vortrag ſollten dem Miniſter Gelegenheit zur Stellung geben. Doch der ſchwieg. Mit Wärme und Überzeugungstraft verteidigte der Referent feine Poſition. Der Miniſter ſchwieg.

Nach Beendigung des Vortrages ſchob der Minifter den Unterkiefer ſchräg empor und ſagte mit hohler Stimme:

„Sie haben geſagt, eine andere Entſcheidung als die von Ihnen angegebene könne nicht getroffen werden. So haben Sie auch in Ihrem Entwurf geſchrieben. Ich nehme an, daß Sie mit dieſer Außerung der Entſcheidung, die ich zu treffen haben werde, nicht haben vorgreifen wollen. Meine Entſcheidung iſt der im Ent— wurf vorgeſehenen entgegengeſetzt. Die hierfür obwaltenden Gründe in über— zeugender Weiſe darzuſtellen, ift die Sache des Referenten, alfo die Ihrige. Sch will Ihrem fo ausgeſtatteten neuen Vortrag bis morgen nachmittag um fünf Ahr entgegenſehen, da ich um ſechs Uhr auf zwei Tage verreiſe. Guten Abend!“

„Exzellenz!“ ſagte der Referent und trat dem Winiſter einen Schritt näher. Jetzt war die Stunde da oder nie. „Exzellenz!“

„Haben Sie noch etwas?“ fragte der Minifter, der ſchon unter der Tür feines Arbeitszimmers ſtand.

„Exzellenz! Ich ich ich ich werde den neuen Entwurf beſtimmt ſchon bis morgen mittag zwölf Uhr vorlegen können.“

Doch von morgen an

2. Der Nerzpelz

Doch von morgen an ſoll es anders werden.

Ein unnütz Leben iſt ein früher Tod. Schlafloſe Nächte hatten ihm dieſe Erkenntnis gebracht.

Soweit er zurückdenken konnte, war er ein Egoiſt geweſen. Ich, ich, ich war ſein zweites Wort. Nur ſich ſelbſt hatte er gelebt. In der Verödung. Dies ſollte anders werden. Wonnig, wonnig ſollte es werden. Genau ſo wie er es heute nacht geſehen und geſchrieben hatte. Er holte die Blätter und las mit tiefer Befriedigung:

„Eiſig kalt war es Unter den Linden. Der Wind ſchnob in Stößen und jagte blitzende Kriſtalle durch die Luft. Der Schnee knirſchte und ächzte. Der Abend dämmerte heran. Die erſten Laternen leuchteten auf. Alles Leben ſchien von der Straße geflohen zu ſein. Nur zwei Schutzleute in rieſigen Mänteln, mit Oderkähnen von Stiefeln. Da und dort ein tiefpermummter Paſſant, der einem unbekannten Ziel eilend zuſtrebte. Vor Kranzler heulte ein Hund nach dem verlorenen Herrn.

In den Nerz gehüllt, den Kragen hochgeſchlagen, die Fellmütze über den Ohren, den Hals mit ſeidenem Foulard verwahrt, Hände und Unterarm mit ge— fütterten Handſchuhen, Pulswärmern und langen Überhandſchuhen geſchützt, fo ſchritt Edwin unbekümmert dahin, dem Reſtaurant Hiller zu, wo die Freunde ihn zum Diner erwarteten.

In die Pforte des Eckhauſes geniſtet, die ſchmächtige Geſtalt eines zwölf— jährigen Knaben, zitternd vor Kälte, in dürftigen Kleidern, Geſicht und Hände

Baburin: Hoch von morgen an 301

froſtblau. Das Kind hielt Edwin eine Schachtel Streichhölzer entgegen und ftam- melte Unverſtändliches. Die verklamten Beinchen taumelten. In dieſem Augen- blick verhüllte eine wirbelnde Schneewolke alles Sichtbare, den Knaben, die Häuſer, die kahlen Bäume, die Laternen, deren Lichter nur noch zu glimmen ſchienen.“ | Und er las weiter, wie Edwin dem Knaben den ganzen Vorrat von elf Schachteln abkauft. Wie er nicht zu den Freunden geht, ſondern zurückkehrt nach Haufe mit dem kleinen Mann. Wie die Haushälterin auf fein Geheiß den Knaben atzt und tränkt mit Butterbrot und Wilchkaffee. Wie ſie das Kerlchen auskleiden und ſchlafen legen. Wie Edwin ſeinen Schützling von dem rohen Vormund befreit. Wie er ihn zu einem tüchtigen Menſchen erziehen läßt. Wie Edwins Hunger, Gutes zu tun, immer größer wird. Wie der ererbte Mammon ihm und vielen zum Segen gedeiht. Wie aus dem Brachfeld Lebenswerte hervorſprießen und Glück und unendliche Befriedigung. Dieſer Edwin war er kur Dieſem Edwin wollte er gleichtun. Und heute beginnen.

Solchen Vorſatzes voll verließ er das Haus.

Eiſig kalt war es Unter den Linden. Der Wind ſchnob in Stößen und jagte blitzende Kriſtalle durch die Luft. Der Schnee knirſchte und ächzte. Der Abend dämmerte heran. Die erſten Laternen leuchteten auf. Alles Leben ſchien von der Straße geflohen zu fein. Nur zwei Schutzleute in rieſigen Mänteln, mit Oder- kähnen von Stiefeln. Da und dort ein tiefvermummter Paſſant, der einem un- bekannten Ziel eilend zuſtrebte. Vor Kranzler un ein Hund nach dem ver- lorenen Herrn.

In den Nerz gehüllt, den Kragen hochgeſchlagen, die Fellmüße über den Ohren, den Hals mit ſeidenem Foulard verwahrt, Hände und Unterarm mit ge- fütterten Handſchuhen, Pulswärmern und langen Überhandſchuhen geſchützt, ſo ſchritt Edwin unbekümmert dahin, dem Reſtaurant Hiller zu, wo die Freunde ihn zum Diner erwarteten.

In die Pforte des Eckhauſes geniſtet, die ſchmächtige Geſtalt eines zwölf- jährigen Knaben, zitternd vor Kälte, in dürftigen Kleidern, Geſicht und Hände froſtblau. Das Kind hielt Edwin eine Schachtel Streichhölzer entgegen und

ſtammelte Unverſtändliches. Die verklamten Beinchen taumelten. In dieſem |

Augenblick verhüllte eine wirbelnde Schneewolke alles Sichtbare, den Knaben, die Häuſer, die kahlen Bäume, die Laternen, deren Lichter nur noch zu glimmen ſchienen.

Fetzt das neue Leben beginnen wollen hieß: einen Aberhandſchuh und Handſchuh mühſam ausziehen, fünf Knöpfe des Pelzmantels öffnen, das über die Bruſt gekreuzte Foulard entknoten, den Geldbeutel ziehen, blind eine paſſende Münze ertaſten und während aller dieſer Handlungen und bis zum Wiederaufbau der ganzen Herrlichkeit die Eleganz und die Geſundheit den Atmoſphärilien preis- geben, der Kälte, dem Schnee, dem wirbelnden Wind.

Dies war zu viel. So hatte er nicht gewettet. Er ſah an dem Knaben vorüber und ging ſtracks weiter. Gleich darauf bugſierte ihn der aufmerkſame Pförtner durch das Drehkreuz ins helle und warme Zimmer.

Doch von morgen an l

502 Baburin: Doch von morgen an

3. Nachtgedanken

Doch von morgen an foll es anders werden. Er wird arbeiten.

Wundervolle Gedanken waren ihm in der Nacht gekommen, hatten ihn förmlich überſtrömt.

Da ſaß er jetzt am Schreibtiſch.

Erſt Sammlung! Sammlung!

Mit Genuß zündete er eine Zigarette an. In der unbewegten Luft ſtieg der bläuliche Rauch auf und legte fih als ſchmale Wolke in Kopfhöhe vor den großen Bücherſchrank. Eine ſeltſame Erſcheinung, des Nachdenkens wert.

Wie erwachend endlich griff er nach dem Papiermeſſer, ſchnitt ſorgſam auf— geſchichtete Bogen in Hälften und ſchichtete von neuem. Ein Häuflein ſchwand, das andere wuchs.

Dann ſpitzte er ſechs Bleiſtifte. Das mußte reichen für den erſten Tag, ohne Wiederholung der Prozedur.

Darauf numerierte er die Blätter. Es waren, wie er gewollt, genau hundert. Als er ſie durchſah, entdeckte er, daß einigen Zahlen Punkte beigeſetzt waren. Andere hatte er mit Haken unterſtrichen. Er ſtellte Gleichmaß her, Blatt für Blatt, ſchichtete wieder und nahm einen Bleiſtift in die Hund,

Halt! Zuerſt noch eine Zigarette!

Plötzlich empfand er eine Störung. Geordnete Gedanken waren nur möglich, wenn ringsum Ordnung herrſchte. Die Platte des Schreibtiſches war beladen in buntem Wirrwarr mit Büchern, Broſchüren, Zeitungen, Zeitſchriften, Briefen, Notizblättern, Photographien, Schachteln, Schalen, Käſtchen, Tand. unmöglich! Er räumte auf und verteilte den Überfchuß der Dinge auf anderen Möbeln.

Jetzt an die Arbeit!

Eine Weſpe kreuzte durchs Zimmer. Ihr Summen bereitete ihm Schmerz. Er öffnete ein Fenſter und jagte ſie hinaus. Dies dauerte lange. Als er endlich das Fenſter ſchloß, waren etliche große Fliegen eingedrungen, die draußen in der prallen Sonne geſpielt hatten.

Und die Jagd wiederholte fih. Es wurde ihm voller Erfolg. Doch der kleine Schuh von Meißener Porzellan verlor den Abſatz. Er beſſerte den Schaden mit Syndetikon aus. Ein Tropfen des hartnäckigen Klebers fiel fadenziehend auf die grüne Decke des Schreibtiſches. Das abſchabende Meſſer vergrößerte den Fleck. Er klingelte heißes Waſſer herbei und bearbeitete Dede, Meſſer und Hände, um alle Spuren des Unfalles zu vertilgen.

Dies gelang ihm nur halb. Wie ſahen ſeine Hände aus! Er holte aus dem Schlafzimmer das inhaltreiche Behältnis für Exterikultur und brachte ſeine Finger mit Nickel- und Elfenbeininſtrumenten und Kaloderma wieder in menſchenwürdige Verfaſſung.

Dann nahm er den Bleiſtift zur Hand

So oft die Haustür zugeſchlagen wurde, rüttelte der Luftſtoß an ſeiner Tür. Es ſtörte ihn unſäglich. Nach längerer Unterſuchung konnte er den AÜbelſtand durch Einſchieben von Papierbäuſchen in den Türanſchlag abſtellen.

or

Baburin: Doch von morgen an 50

Endlich an die Arbeit!

Zweimaliges Klingeln kündete die Ankunft der Mittagszeitung.

Schon ſo ſpät? Er holte die Zeitung herauf. Das eingeklemmte Papier fiel herunter. Er brachte es mit vieler Mühe wieder an. Er durchflog die Zeitung. Nichts Neues.

Den Stift zur Hand i

Der Gong rief zu Tiſch. Der Vormittag war hin. Heute nachmittag aber Nach anderthalbſtündiger Mittagsruhe ſaß er wieder am Schreibtiſch. Er ſetzte den Bleiſtift an

Kinder fuhren auf Nollſchuhen über den Bürgerſteig. Nicht am Haus vor- über, ſondern hin und her. Das rollte, rollte, rollte. Natürlich wieder die drei Mädel von nebenan. Wie fie zwitſcherten! Anerträglich! Unmöglich fih zu konzentrieren! Er wartete. Nach einer Stunde verzogen fih die Wiſſetäterinnen.

Endlich an die Arbeit!

Friſche Luft war ihm nötig. Er öffnete das Fenſter. In breiten Schwaden drang Dunſt und Rauch kochenden Aſphalts zu ihm herein, denn drüben wurde eine neue Straßendecke gelegt. Zu mit dem Fenſter! Doch der Geruch blieb und die bittere Störung ſeines Gemütes.

Er brach eine neue Schachtel Zigaretten an. Es klopfte. Der Tee wurde gebracht und Zwieback. Er ſchlürfte und knabberte. Dann klemmte er die Papier- bäuſche wieder ein und ergriff den Bleiſtift.

Ehe er ihn anſetzte, ſchaute er fih um. Etwas ftörte ihn noch. Glückſelig entdeckte er ſchon nach einer halben Stunde, daß einer der Kunſtdrucke ſchief an der Wand hing. Er verbeſſerte den Fehler. Jetzt war das Nachbarbild übereck. Immer das eine oder das andere. Nie ſtimmte die Achſe. Er holte den Maßſtock und begann zu meſſen. Es war zum Verzweifeln. Er hing alle Bilder um und holte zur Nagelung Hammer und Beißzange. Ein ſeinem Hausfleiß entſtammendes Loch in Tapete und Wandverputz flickte er mit zuſammengeknetetem Brot und tönte die Stelle mit Paſtellſtiften. Der Fleck verſchwand.

Mit dem Hammer ſchlug er ſich heftig auf den Daumen. Es blutete. Mit Leukoplaſt, Verbandwatte und Leinwand wurde der Finger verſorgt. Feier- abend! Die Aſphaltarbeiter verſchwanden. Es wurde Ruhe draußen. Endlich!

Er ergriff den Bleiſtift

No Na Ko Ko Nowa Kowa— Ro— tni—ski wie hieß doch die Dame in Aroſa? Ach was, das iſt doch gleichgültig! An die Arbeit!

Na No Ko—, war's nicht Kowalski? Nein! Doch! No— Na—, ich hab's: Nowotny! Famos, jetzt iſt die Seele frei. Nein, Nowotny iſt's nicht. Alſo von neuem No— Ra— Na- Na Ka So So Sto Smo—, allmählich kommt's: Bo— Ba, endlich: Swoboda! Triumph!

Der Gong rief zum Abendeſſen.

Dann war er wieder am Schreibtiſch. Er zog die Fenſtervorhänge dicht zu. Wie war's mollig, daher eine Zigarre.

Die elektriſche Lampe leuchtete nicht recht. Er wechſelte die Glühbirne. Jetzt ging's beſſer. Im Bücherſchrank gähnte eine Lücke. Ein Band Grillparzer

304 oritreuter: Junge Frau ge &

fehlte. Er ſuchte ihn. Erſt nach geraunier Zeit fand er den Flüchtling bei Calderon. Wer hatte da wieder gekramt? | Der Fleck an der Wand erſchien aufs neue. Stifte her zur Retuſche! Kalte

Füße ſtellten fih ein. Dagegen half die Reiſedecke. Bald war ihm wieder behaglich.

Endlich war's erreicht. Er begann zu ſchreiben.

Fünfunddreißig Jahre ſpäter fanden die Erben im Schreibtiſch des teuern Mannes einen Umſchlag, auf dem in feſten Zügen geſchrieben ſtand: Literariſcher Nachlaß. |

Mit Wehmut und Andacht öffneten fie. Der Umfchlag enthielt hundert mit Seitenzahlen verſehene halbe Bogen in Kanzleiformat.

Auf dem erſten Bogen ſtand, mit Bleiſtift geſchrieben und doppelt unter— ſtrichen das Wort:

Nachtgedanken!

Im übrigen waren ſämtliche Blätter leer.

EEE

Junge Frau Von Hedwig Forſtreuter

Sie geht nicht mehr mit leichtem Schritt, Lockt Leben, warm und ſonnbeglänzt, Bleibt oftmals müde atmend ftehn, Schon Oaſein, das noch träumend ruht, Dem Schmetterlinge nachzuſehn, In ihr die zagen Schläge tut,

Der ſpielend um die Weide glitt. : Vom Urgeheimnis dicht umgrenzt?

An manchem Beete ſtockt ihr Fuß, O Wunder, hochgeweihtes Sein,

Und ihre Lider ſinken tief So blühend durch die Welt zu gehn, War das ein Vogel, der da rief, Vertraut mit jeder Ahre Wehn,

Wie einer Geiſt erſt imme Gruß? Mit jedem Blatt am Straßenrain.

Zu wiſſen, wenn die Schwalbenbrut Sich wagt von dem vertrauten Neft, Hält ſie ihr Kind im Arme feſt Und atmet Frieden, lind und gut.

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Schuder: Arbeiter und Sozlalifierung 305

Arbeiter und Sozialiſierung Von Kurt Schuder

Wir erleben nun heute den hiſtoriſchen Augenblick, deffen Trag- weite jid noch gar nicht überblicken läßt, daß der Kapitalismus ernſtlich anfängt, auch ſeinerſeits um die Seele des Arbeiters zu werben. Wenigſtens beginnt er einzuſehen, daß dieſes von ihm vernachläſſigte Gebiet vielleicht ſein wichtigſtes Arbeitsfeld für die Zukunft wird. Der „wiſſenſchaftliche“ Sozialismus verſpricht dem Arbeiter goldene Berge, die er nicht ſchaffen kann, verheißt ihm Erfüllung von Idealen, in deren Weſen es liegt, daß fie nie erfüllt werden können, kurz, lockt ihn in ein Nichtwirklichkeitsland. Der Kapitalismus, die erfolgreichſte und zugleich wirklichkeitsſtrengſte Weltanſchauung, hat keinen Platz für idealiſtiſche Traumgeſpinſte. Er wird daher dieſelbe Strenge und Nüchternheit auch an die Arbeiterſchaft heranbringen.

Wie ſteht nun der Arbeiter den Betrieben gegenüber, die „ſeinetwegen“ ſozialiſiert werden ſollen, und was iſt ihm die Sozialiſierung? Der Arbeiter hatte bis jetzt das Gefühl des Ausgebeutetwerdens; der Betrieb und der Betriebsinhaber iſt ihm heute noch der Feind, den er in ſeiner jetzigen Geſtalt vernichten muß. Der deutſche Betriebsleiter, für ihn der Kapitaliſt, iſt ihm ein verhaßterer Feind als der franzöſiſche Genoſſe, der ihm eine Kugel durch den Kopf ſchickt oder ihn arbeitsunfähig macht. Denn er denkt, daß ſein franzöſiſcher Genoſſe dies nur auf den höheren Befehl des Kapitalismus tut, und daß der Genoſſe trotzdem ſein Freund iſt. Er hat zu dem Betrieb meiſt nur das Verhältnis als zur Futterkrippe; dazu kommt das Gefühl der Verbittertheit, zu den Beiſeitegeſchobenen zu gehören, das Gefühl der proletariſchen Exiſtenz, die nichts ihr eigen nennt. Zu alledem tritt die Einpeitſchung durch die ſozialiſtiſche Lehre und ihre Agitatoren, die vom echten Sozialismus überhaupt nichts wiſſen. Dem Durchſchnittsarbeiter erſcheint daher die Sozialiſierung als der Hauptſchlag gegen den verhaßten Kapitalismus, den er dadurch in ſeinem Herzen zu treffen glaubt, ſodann als das Hauptmittel, ſeine wirtſchaftliche Lage zu verbeſſern, alſo als Lohnkampf. Er bleibt demnach an der allergröbſten Oberfläche hängen, was ja auch durchaus erklärlich iſt; den Kern des Problems ſieht er nicht.

Und hier ſetzt nun die Arbeit ein. Zwei Aufgaben find es, für die Löſungen gefunden werden müſſen, eine ideelle und eine materielle. Sie münden ein in eine Geſamtaufgabe: Wie iſt die feindliche oder gleichgültige Stellung des Arbeiters zum Betriebe abzulöſen in eine intereſſierte? Es ſteht heute ſo: der Betrieb vermag dem Arbeiter nur ſeine Handarbeit abzugewinnen;

alle anderen Kräfte in ihm liegen brach. Dieſe Kräfte gilt es zu gewinnen und

nicht nur für den Betrieb dienſtbar zu machen. Ser Türmer XXII, 11 22

506 Schuder: Arbeiter und Sozlaliſierung

Eine der ſtärkſten Triebfedern im Wenſchen, vielleicht die ſtärkſte, iſt das „Intereſſe an der Lieferung“. Dieſes Intereſſe zu wecken, iſt die Hauptſorge aller Sozialiſierungsausſchüſſe. Einerſeits ſoll der Betrieb den Arbeitern nicht als ihr Eigen überantwortet werden, andrerſeits ſoll die ſeelenloſe Gleichgültigkeit Platz machen einem inneren Intereffe für den Betrieb. Es foll alfo jemand für etwas, was ihm nicht gehört, ebenſo intereſſiert werden, als ob es ihm gehörte. Wie ſoll das ermöglicht werden?

Man will die Kleinaktie ſchaffen. Glaubt der Kapitalismus wirklich, daß er hiedurch die ſeeliſche Haltung des Arbeiters dem Betriebe gegenüber derart umgeftalten kann, daß der Arbeiter nun als für „feinen“ Betrieb das Intereſſe des Mitbeſitzers betätigt, daß er ſich nun als Witbeſitzer fühlt? Zunächſt kommt als ein febr erſchwerender Umſtand in Betracht, daß die Kleinaktie unter dem Zwange geboren ift und zu ſpät erſcheint (ähnlich wie es auch mit dem Dreiklaſſen- wahlrecht war). Sie hat alſo allen ſittlichen Wert verloren, der nur in dem frei- willigen Anerbieten liegt; ſie wird mithin nicht den geringſten Eindruck auf den Arbeiter machen, iſt ja wohl auch ziemlich einmütig von ihm abgelehnt worden. Der Arbeiter überlegt, daß, wenn der Kapitalismus unter Zwang ein bisher ſtrenges Vorrecht aufgibt, es dieſem wirklich ſehr ſchlecht gehen muß; und man muß zugeben, daß hier der Kapitalismus, der ſonſt die Möglichkeiten recht fein abwägt, lediglich eine Verbeugung gemacht, die Dinge rein von der Außenſeite geſehen hat. Der Arbeiter ſagt fih ferner, daß mit einer ſolchen Aktie der Kapi- talismus feine eigenen Geſchäfte beſorgt; er foll auf diefe Weiſe, da er nun ſelbſt Kapitaliſt wird, mit dem Kapitalismus ausgeſöhnt werden, andrerſeits mit ſeinem Gelde eine fremde Sache ſtützen. Dieſe fo künſtlich geſchaffene Kleinaktie wird ſtets ein äußerliches Mittel bleiben, da hauptſächlich der pſychologiſche Moment verpaßt iſt. Der Arbeiter wird die in dieſem Sinne gegebene Kleinaktie ſtets als Geſchenk von Kapitalismus' Gnaden empfinden. Sie würde alſo das Gegenteil der Sozialiſierung bedeuten. Der Kapitalismus muß mit ganz anderen Mitteln arbeiten, wenn er die Einſtellung des Arbeiters zum Betrieb umſchalten will.

Eine ſolche Umſchaltung kann überhaupt nur gelingen auf dem Umweg kultureller und ideeller (nicht wie bisher rein wirtſchaftlicher) Vorausſetzungen. Vm dieſer Aufgabe gegenüber dem Proletariat gerecht werden zu können, wird der Kapitalismus der Zukunft freilich als Weltanſchauung bedeutend umlernen und fih erweitern müſſen. Bei der jetzigen Behandlung der Sozialiſierungsfrage wird geſündigt gegen die Natur der Dinge, des Betriebes ſowohl wie der Menſchen. Beides läßt ſich auf die Dauer nicht vergewaltigen.

Was wir zunächſt als feſten Unterbau brauchen, das ift eine neue Wirt- ſchaftsethik und eine neue Arbeitsethik. Die Wirtſchaftsethik läßt ſich auf eine ganz kurze Formel bringen: Im Mittelpunkt der alten Wirtfchaftspraris und Wirtſchaftstheorie ſtanden die Wirtſchaftsgüter, die Konjunktur, der Handels- gewinn, alſo Sachen. In den Mittelpunkt der neuen Wirtſchaft muß der Menſch geſtellt werden, inſonderheit die Schicht, die faſt ausſchließlich wirtſchaftlich ar- beitet ich ſage ausdrücklich wirtſchaftlich, nicht produktiv, da jede Arbeit pro- duktiv ift die Arbeiter. Ich meine dies fo: Der Menſch lebt in echter Symbioſe

Schuber: Arbeiter und GSozialifierung 307

mit den Gütern. Die Güter ſind nämlich nicht ſchlechthin etwas Starres, Totes, ſondern erwachen, wenn auch unter der Hand des Menſchen, zu wirklichem, ihnen eigentümlichem Leben. Andrerſeits wäre der Menſch ohne die Güter nicht lebens- fähig. Nun wurde den Gütern vor dem Kriege eine maßloſe Überſchätzung entgegen- gebracht, den Menſchen eine ebenſolche Unterſchätzung. Dieſes Mißverhältnis hat der Krieg unbedingt zugunſten des Menſchen zurechtgerückt; wir nähern uns wieder der richtigen Auffaſſung: das Wichtigſte, was es gibt, iſt der Menſch. Dieſe Auffaſſung muß ebenſo in der Wirtſchaft durchgreifen; zuerſt ſtehen in der Wirt- ſchaft wie an allen anderen Stellen Menſchen mit menſchlichen Bedürfniffen und Anliegen; und diefe menſchlichen Angelegenheiten müſſen unter allen Umſtänden ſachgemäß und liebevoll behandelt werden. Es iſt erſtaunlich, welche ſachgemäße und liebevolle Behandlung den Gütern zuteil geworden iſt und was durch dieſe Arbeit aus ihnen herausgeholt worden ift. Mit einem um fo gröberen Dilettantis- mus iſt der Menſch behandelt worden. Alle Beteiligten werden jetzt merken, daß unter den vielen Nöten, die jetzt aufſchreien, trotz vieler Verzerrtheiten tiefe menſchliche Nöte der Grundton aller Verwirrungen find, der politiſchen, wirt- ſchaftlichen und ſozialen. Es kommt alfo zuerſt der Menſch, dann der Betriebs- leiter und Arbeiter, und zuletzt das Wirtſchaftsgut.

Auf dieſem Boden wächſt von ſelbſt eine neue Arbeitsethik empor, von der ſich leiſe Anfänge bereits bemerkbar machen. In der alten Wirtſchaft wurde dem Arbeiter feine Arbeit rein äußerlich abgekauft, fie wurde alfo rein äußerlich ver- richtet, oft mit Groll. Dazu wurde die Handarbeit in Deutſchland beſonders ſtark unterwertet, Hand- und Fabrikarbeiter wurden recht von obenher angeſehen. Dafür rächt ſich jetzt der Handarbeiter, indem er ruhig zuſieht, wie die Wiſſenſchaft, für die er angeblich immer Intereſſe hatte, zugrunde geht und der Geiſtesarbeiter verhungert. Dieſe äußerliche Bewertung ſeiner Arbeit hat neben anderem den Handarbeiter wurzellos gemacht. Arbeit iſt weſentliche Eigenſchaft des Menſchen, gehört zu ſeiner inneren Natur. Die Arbeit im richtigen Sinne packt den Menſchen in feinem innerſten Sein an, ift geradezu dieſes innere Sein, er ift mit ihr ver- wachſen oder ſollte es wenigſtens ſein, auch wenn es „niedere“ Arbeit iſt. Wo iſt dies dem Fabrikarbeiter gegenüber beobachtet? Wo hat man überlegt, daß die Arbeit ſo bewertet werden muß, daß auch der Menſch in Anſpruch genommen wird, nicht bloß die Hand? Dieſes innere Sein wünſchte man gar nicht, es war läſtig, man wünſchte nur die Arbeit, die man kaufte und entlohnte, ohne zu be- denken, daß Arbeit und Menſch eine Einheit waren, daß, wenn man die Arbeit verlangte, man auch den Menſchen dazu nehmen mußte. Der Arbeiter gab nicht bloß Arbeit, ſondern eine ſittliche Leiſtung; das Werk hätte mit ſittlicher Gegen- leiſtung antworten müſſen.

Mit dieſen Gedanken treffen dann andere zuſammen: Wie iſt auf dieſer Grundlage die Arbeit überhaupt zu bewerten, insbeſondere die Handarbeit? Ganz abſtrakt, ganz ideal gedacht, wie es der theoretiſche Sozialismus tut und es wird ſich zeigen, daß der Sozialismus ſich auch hier nur um die Theorie kümmert alſo ohne daß man auf den Erfolg der Arbeit ſieht, iſt es tatſächlich gleich, was

einer arbeitet, wenn er nur arbeitet, und jede Arbeit, ob es die höchſte geiſtige iſt

308 Schuder: Arbeiter und Sozialiſlerung

oder die niedrigſte, obwohl ſolche Werturteile ſchon gar nicht ausgeſprochen werden dürften, iſt gleichviel wert. Jeder verrichtet die Arbeit, der er gewachſen, die ſeinen Kräften gemäß iſt. Die mir angeborenen Kräfte ſind kein Verdienſt von mir; alſo iſt es weder ein Verdienſt, ob ich mit ſchlechten Kräften ſchlechte Arbeit verrichte, noch mit hohen Kräften hohe Arbeit. Theoretiſch iſt jede Arbeit gleich. Gegen dieſe Theorie kann nichts eingewendet werden. Trotzdem iſt ſie ein Irrtum, ſo lange man bei der Theorie ſtehen bleibt. Hinzu kommt ein großer, ſchwerer Punkt: die angeborenen Kräfte ſind nicht das einzige, ſondern das zweite iſt: „Wer immer ſtrebend ſich bemüht.“ Und hier bekommt jede Arbeit Perſönlichkeitswert. Nicht alle bemühen fih ſtrebend in gleicher Weiſe; die Arbeit wird Grad meſſer der Perſönlichkeit. Denn die Menſchen find nun doch Perſönlichkeiten, die ihre Arbeitskraft individuell ausbeuten und mit ihr wuchern, der einzige Wucher, der nicht beftraft wird, fo lange die Arbeit ſelbſt nicht als jtrafbares Vergehen angeſehen wird; es gilt alſo bei der Arbeit das Werturteil, gilt Lob und Tadel, und mit Recht werden für beſonders hohe Arbeiten entſprechend hohe Kronen verliehen. i

Was aber aus der Theorie zu lernen ift, ift das: Die Arbeit iſt tatſächlich Weſenseigenſchaft des Menſchen, und es iſt niemand vorzuwerfen, wenn er ein geringes Weſen hat und danach geringe Arbeit verrichtet. Auch bei dieſer Arbeit ijt Streben und Bemühen da, ſtarkes und ſchwaches, wie bei den hohen Kräften; auch die geringe Arbeit hat ihren Adel und ihre ſittliche Größe, zumal ſie ſich oft nur in engen Verhältniſſen auswirken kann. Und darum ſollte dieſe Arbeit gerade von den Kreiſen der Bildung nicht unterwertig angeſehen, es ſollte nicht bloß die eigene höhere Arbeit, an der unendlich viel andere Kreiſe mitgearbeitet haben, nicht bloß die eigene Kraft für wertvoll gehalten werden. Andrerſeits iſt hier der Platz, der Handarbeit die ihr gebührende Stellung anzuweiſen. Handarbeit, ſtreng genommen, gibt es überhaupt nicht; es iſt in allen Fällen der Kopf, der arbeitet; die Hand ift bei der Handarbeit nur das Hauptorgan, das ausführende Organ, wie bei der Kopfarbeit der Kopf das ausführende Organ ift. Der Handarbeiter ift heute der Anſicht, daß ſeine Arbeit ſchlechthin die wichtigſte und wertvollſte iſt. Dieſer Anſicht ſcheinen ebenfalls viele Kreiſe zu ſein, die nicht die Konjunktur verpaſſen wollen. Demgegenüber ift zu erwidern, daß die Anhänger des „wiſſen— ſchaftlichen“ Sozialismus damit ihrer eigenen Theorie untreu werden, die jede Arbeit für gleichwert hält. Im übrigen iſt zu bemerken, daß ohne Geiſtesarbeit Handarbeit überhaupt nicht möglich wäre, daß die Geiſtesarbeit ein weſentlicher Beſtandteil der Handarbeit ift, während diefe für die Geiſtesarbeit nur eine äußer— liche Notwendigkeit bedeutet.

Zunächſt müſſen alſo dieſe nicht leichten Vorausſetzungen erfüllt werden, ehe überhaupt von einer Sozialiſierung der Güter geſprochen werden fann; die Sozialiſierung muß aus dem politiſchen Fahrwaſſer geleitet, das wirtſchaftliche Gebiet zu einem kulturellen erweitert werden. Das erſte iſt alſo: Umſtellung der Anſchauungen.

Beide Parteien, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, müſſen ſich über die Grenzen ihres Könnens klar werden. Wenn der Arbeitgeber erkannt bat, daß feine Macht

Schwarz: Berſuchung 309

4

nicht hemmungslos ift, und wenn der Arbeitnehmer einſieht, daß keineswegs alle Räder ſtillſtehen, ſobald ſeine Stärke es will, und daß ſowohl dieſe Stärke wie dieſer Wille ebenfalls nicht hemmungslos und unbegrenzt ſind: wird hieraus die wirkliche Arbeitsgemeinſchaft erwachſen. Der Arbeiter wächſt in „feine“ Fabrik hinein, und es gilt nun, dieſem neuen Verhältnis äußeren Ausdruck zu verleihen. Die äußere Sozialiſierung, nach der heute allein gerufen wird, wäre dann nur die natürliche Folge ſeeliſcher Umorientierung.

In der Anwendung dieſer äußeren Mittel darf dann freilich nicht kleinlich verfahren werden; es muß der Mut aufgebracht werden, neue, kühne Wege zu gehen, auch wenn ſie gelegentlich einmal in die Irre führen.

| STAFICTRFIESLTREIE

Verſuchung Von Hans Schwarz

Wenn man des Abends durch Ebenen geht

Und der graue Weg mit dem Licht verweht,

Das ein wolkenſchwerer Himmel erſtickt

Und ſoweit man blickt:

Nur Dunkel voraus,

Man denkt nicht der Stunde, n man denkt nicht nach Haus Nur die Finſternis wählt im Gelände;

Schmale Büſche hat fie wie Wächter geſtellt,

Die haben an hundert Hände

Und die Brombeeren drängen wie Tiere ſo dicht Und dann winkt wo ein Licht:

Kann ſein, daß einer den Schritt verhält

Und dem Schein fih gefellt...

Doch es kann auch ſein,

Einer flog wie die Motte ſchon mitten hinein. Und geht nun wieder im dunklen Land Der grüßt nur ſtill das Licht mit der Hand Und die ſich drum ſammeln, die andern Und bleibt Geſelle von Nacht und Wind So troſtreich iſt es, dunkelwärts zu wandern, Bis Himmel und Erde zuſammenrinnt Und alle Wege ein Ahnen ſind.

510 Sperling: Heim

Heim Von P. Sperling

Min kleines Erlebnis möcht' ich feithalten...

Neulich wartete in einem kleinen Bodenſeeort eine Kutſche mit zwei zottigen Bauerngäulen auf die Ankunft des Dampfers. Der OKutſcher hatte die Inſaſſen, drei luſtige, kleine Mädelchen, die wie serbio Ausgaben eines Werks, aber aus etwas feinerem Holz als durchſchnitt⸗ lich Bauernkinder waren, ſich ſelbſt überlaſſen. Da ging es nun recht heiter her in der Kutſche. Ich fragte die kleine Geſellſchaft, wen ſie erwarteten. „Die Mutter!“ hieß es. Nun hätte ich noch gerne erfahren, wo ſie zu Hauſe ſeien, und fragte, wo ſie nachher hinführen. Aber ſoviel ich fragte, immer bekam ich nur die eine Antwort: „Heim“. Und fie ſchienen maßlos erſtaunt zu fein, daß ich nicht wiljen ſollte, wo denn dieſes „Heim“ fei. Ihr ſtattlicher Hof im Wald, den ich ſpäter kennen lernte, war ihre Welt, die alles umfaßte, wovon ihr Kinderherz erfüllt war.

Heim! Das Wort gab mir zu denken. Geht es uns Großen eigentlich nicht ebenſo? Auch wir leben ein jedes in einer Welt, die nur ein Ausſchnitt aus der großen Gotteswelt der Schöpfung iſt, aus jener unergreifbar großen, über alle unſere Begriffe reichen und weiten Welt der Sonnenſyſteme und belebten Erden, der Billionen und Willionen Lichtjahre, Wärmeenergien, Lebeweſen. Eng wie der Hof der übermütigen Mädchen pflegt auch unſere Welt zu ſein, in der wit leben, ſchaffen, hoffen, leiden, uns mühen, trachten, die unfer Blick umſpannt, aus der die Seele ihre Kräfte zieht. Ein jeder lebt in einer Welt, die nach Alter und Geſchlecht, nach Land und Volk, nach Stand, Beruf, Anlagen und Umgebung verſchieden iſt. Ein jeder iſt eine Welt. Dieſe Welt iſt ſein Leben mit ſeinen Erfahrungen, Zielen und Schickſalen. Wie wenig denken wir doch daran, wenn wir mit Menſchen zuſammenkommen! Wir würden viel mehr Achtung vor einander haben, wenn wir es täten. Denn alle dieſe Welten der Einzelnen ſind auf natürliche Weiſe geworden. Sie ſind ehrwürdig wie der alte Baum, der Jahrhunderten getrotzt hat, wie jedes Denkmal vergangener Zeiten. Sie ſind lebendige Denkmale des Lebens, ob ſie uns gefallen oder nicht. Wer nicht im tiefiten Herzen für alles Menſchliche Achtung empfindet, mag es noch fo febr als Entartung oder Fluch, als entſetzlich und gemein erſcheinen, der kennt das Menſchen⸗ los nicht.

Heute verſtehen ſich die verſchiedenen Welten nicht mehr. Mt alle haben aber doch einen gottgewollten Mittelpunkt, um den wir kreisen ſollten: das Seeliſche, die innere Sonne, die allem Leben Bahn und Richtung weiſt und aus den Welten eines Volks und ſchließlich aus der Menſchheit ein Sonnenſyſtem zuſammenklingenden Lebens machen möchte. Die Welten, in denen wir heute leben, haben die innere Schwerkraft verloren. Sie irren immer weiter ab von ihrer Seelenſonne ins dunkle Ungewiſſe. Wir find nicht meht „daheim“.

Werden wir uns wieder auf uns ſelbſt beſinnen?

Freytag ·Loringhoven: Das Ziel 311

Die Liebe macht uns erſt zu Menſchen und bindet uns in lebensvollem Hin und Her, in Geben und in Nehmen. Die Welten finden ſich in ihre Bahn zurück und, ſchwingend um die gleiche Sonne, erkennen ſie den tiefſten Gleichtakt ihres Seins.

Laſſen wir doch die tolle, trunken-geile Jagd nach dem Glück, nach dem Geld! Es iſt ja alles Wahnſinn. Es iſt der falſche Weg, er verläuft in der Leere. Es ift wirklich wahr, daß die Schätze, die nicht Noft und Motten freſſen, allein das Glück verbürgen: das reine Glück der inneren Wärme, das ruhige und unergründliche, das ſchickſalüberlegene, heldiſche, herbe Glück. Alle wahrhaft Großen fagen uns das, die Gottſeher, die das Weltgeheimnis ſpürten. Und die Tauſende von Einfachen und Stillen haben es erlebt, aus deren Mienen es ſpricht.

Suchen wir doch wieder ganz gute Menſchen zu werden vor allem anderen! Darauf kommt es an. Dann wird ein Frühling über uns kommen, und es wird in uns ſproſſen, grünen, wachſen, rein und klar werden. Und wir werden reich ſein, denn jetzt erſt werden uns die Augen geſchenkt, den glutenden Geiſt des Lebens und der Schönheit hinter den Erſcheinungen zu ſchauen. Dann werden wir ſtill und ehrfürchtig und voll des Wunders ſein.

Die Liebe ift der Atem Gottes. Und felig ift, wer foldes þei- liges Feuer in Liebe andern ſchenken kann!...

Das ſind die Gedanken, die das Heim des kleinen Mädchen in mir wach-

gerufen hat.

Das Ziel Von Gunda von Freytag⸗Loringhoven

Einſt ſuchte ich das Ziel, das meinem Leben Die ſtete Nichtung gibt, Und glaubte feſt, es würde ſich mir geben, Wenn meines Lebens Frũ hlingstage kämen, Und aus den flarten Händen würd' ich's nehmen Des Mannes, der mich liebt.

Jetzt weiß ich es, ich darf nicht länger warten, Derträumend Tag und Zeit. Ich nahm mein Ziel mir aus des Lebens harten Und guten Händen Pflichten kamen Pflichten, Die all mein Denken fordern und mein Dichten, Und finden mich bereit.

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5 a5 EG ED JE ad, N JUrg)

Spengler und Breyhſig

as Verfahren, das Spengler anwendet, um zu feiner Untergangspropbezeiung zu G a gelangen, ift die morphologiſch vergleichende Betrachtungsweiſe des Menſchheits—

ggeſchehens. Spengler preiſt fie als eine neue, von ihm entdeckte Errungenschaft der Geiſtesforſchung. Hier ſchon hätte die Kritik energiſch einſetzen müſſen. Denn dieſe Be— hauptung, wie oft und herausfordernd ſie Spengler auch aufſtellt, iſt erweislich unzu— treffend. Die Methode, deren er ſich bedient, war längſt vor ihm vorhanden. Fertig und griffbereit, von der zünftigen Wiſſenſchaft allerdings gefliſſentlich beiſeite geſchoben, lag ſie ſeit Jahren da. Spengler, muß man demnach wohl annehmen, kannte ſie nicht. Was eine ſolche Feſtſtellung für ſeine Einſchätzung als Forſcher bedeutet, leuchtet ohne weiteres ein und iſt gleichzeitig in hohem Grade ausſchlaggebend für die Geſamtbewertung ſeines Buches, das dem geiſtigen Oeutſchland mit aller Gewalt als ein „Standard-Werk“ der Wiſſenſchaft aufgeredet wird.

Die Idee einer andersgearteten Vetrachtungsweiſe der Menſchheitsgeſchichte gibt, fo wird und zwar am lauteſten und öfteſten von Spengler ſelbſt behauptet, erft feinem Werke die entſcheidende Bedeutung.

Als erſter rühmt ſich Spengler entdeckt zu haben, daß ſo wie der Einzelmenſch auch eine jede Volkskultur, jeder Organismus die bekannten Altersſtufen durchlaufen. Aus ſolchem Geſichtspunkte heraus läßt ſich, das iſt die weitere Folgerung, überhaupt erſt die Struktur der Kulturen erkennen, und dieſe ſeine angeblich neu entdeckte Methode bezeichnet Spengler als den Limrig einer Morphologie der Weltgeſchichte, und er, Oswald Spengler, ſchreibt der zukünftigen Geſchichtsforſchung mit diktatoriſcher Geſte als ihre eigentliche und höchſte Aufgabe vor, die einzelnen Kulturen einer ſolchen Anleitung gemäß morphologiſch vergleichend zu betrachten.

Als Spengler mit feiner ſenſationellen Entdeckung einer „neuen“ Forſchungsmethode vor die Offentlichkeit trat, ſchrieb man das Jahr 1919. Spenglers Behauptung, er ſei bereits 1917 mit der Niederſchrift fertig geweſen und die Drucklegung habe ſich lediglich durch die Angunſt der Kriegsverhältniſſe verzögert, foll ohne weiteres geglaubt werden. Dieſe Feft- ſtellung ändert indeſſen nichts an der erſtaunlichen Tatſache, daß Spengler mit der Verkündung „ſeines“ Syſtems längſt eroberten und abgeſteckten geiſtigen Beſitzſtand ſelbſtherrlich für ſich in Anſpruch nimmt. Hätte er es für der Mühe wert erachtet, ſich von dem damaligen Stande der Geſchichtsforſchung zu überzeugen, wie es eine ſelbſtverſtändliche, gemeinhin für jede Doktorarbeit unerläßliche Vorarbeitungspflicht iſt, ſo würde er ohne große Schwierigkeiten gefunden haben, daß der Ideengang, den er 1919 mit prahleriſcher Gebärde der deutſchen Öffentlichkeit unterbreitete, ſchon mehr als zwanzig Jahre vor ihm durch den Berliner Hiſtoriker Profeſſor Kurt Breyſig nicht nur bereits in allem Weſentlichen erſchaut und durchdacht, ſondern in Wort und Schrift gelehrt und fortdauernd entwickelt und ausgeſtaltet worden ift. Ein augenfälliger Anterſchied freilich kennzeichnet beider Vorgehen: während der geiſtvolle Dilettant Spengler fein vornehmlich auf Faſſadenwirkung berechnetes Geiſtesgebäude

Se

Spengler und Breyſig 313

mit fröhlicher Unbekümmertheit ins Blaue hochtürmt und fih nicht ſcheut, läſtige Konſtruktions- hemmungen hinter prunkvollem Stuckwerk zu verbergen, fügt Breyſig mit der Gründlichkeit unbeſtechlichen Gelehrtentums, immer von neuem wägend, abmeſſend, die Tragfähigkeit er- probend, Quaderſtein auf Quaderſtein zum feſtſchließenden Fundament, auf dem langſam und maſſig fein Lebenswerk emporwächſt. Die Etappen des Weges, den er unter ſorgſamer Berück- ſichtigung des in gleicher Richtung bereits Geleiſteten, planmäßig durch das Urwalddickicht geiſtigen Neulands fid) hindurcharbeitend, in ſtets wiederholten mühevollen Vorſtößen inner- halb des Zeitraums von 1896 bis 1908 bewältigte, find für jedermann erkenntlich und nach- prüfbar abgepflockt durch die drei Werke, in denen er feine von Spengler lediglich umetikettierte und zum Zwecke einer tendenziöfen, allerdings höchſt effektvollen Schlußfolgerung der Untergangsprophezeiung benutzte oder vielmehr mißbrauchte Methode einer neuen Ge- ſchichtsforſchung den Grundſätzen nach feſtgelegt hat: Kulturgeſchichte der Neuzeit (1900); Der Stufenbau und die Geſetze der Weltgeſchichte (1905); Geſchichte der Menſchheit (1907).

Das zielbewußte VBeſtreben dieſer Buchfolge (Verlag Bondi, Berlin) ift darauf gerichtet, mit der bisherigen engſtirnig ſtarren Ordnung des weltgeſchichtlichen Stoffes zu brechen und an deren Stelle eine völlig veränderte Sehweiſe zu ſetzen. In der „Kulturgeſchichte der Neu- zeit“, deren erſter Teil den bezeichnenden Untertitel „Aufgaben und Maßſtäbe einer allgemeinen Geſchichtsſchreibung“ trägt, wird dem gewaltigen Problem, deffen Aufrollung freilich dem her- kömmlichen Mißtrauen eines in feiner Beſchränkung ſich Meiſter fühlenden Zünftlertums begeg- nete, die erſte Formung, gleichſam die Rohmodellierung im Ton, gegeben. Der „Stufenbau“ bringt ſozuſagen das Syſtem bereits im Gipsabguß. In dieſer knappen Abhandlung werden die drei ſeither benutzten Methoden weltgeſchichtlicher Zuſammenfaſſung (der zeitlichen Ordnung, der räumlichen Einteilung und der Gruppierung nach Naſſen) für unzureichend erklärt, und es wird eine von überlieferten Vorurteilen befreite vergleichende Betrachtung der Völkerkulturen gefordert. Der Inhalt der „Weltgeſchichte“ ſtellt ſich demgemäß dar als eine Folge von Zu- ſtänden, die ſich bei allen Völkern und Völkerteilen im gleichen Nacheinander aufweiſen läßt, von der nur die einzelnen Völker ſehr ungleich lange Strecken durchlebt haben. Und als leiſe anklingenden, von Spengler fpäterhin gröblich ausgeſchlachteten Vergleich zieht Breyſig das Symbol der Lebensalter heran: Kindheit, Jugend, Manneskraft, Vergreiſung. An anderer Stelle und gleichfalls zu einer Zeit, da noch kein Lüftchen unter den morphologiſchen „Offen- barungen“ Spenglers erzitterte, hat Breyſig die Geſchichtsphiloſophie, wie fie ihm vorſchwebte, in kurzen Strichen umriſſen als die Wiſſenſchaft von dem Weſen und den Regeln des Werde- ganges und der Verlaufsabfolgen der Geſchichte der Menſchheit. „So wie ſchon feit Jahr- zehnten neben der Länderkunde eine allgemeine Erdkunde beſteht, die, losgelöſt von den räumlichen Zuſammenhängen, eine Formenlehre der Gebilde der Erdoberfläche darſtellt, ſo muß eine Entwicklungslehre, eine Phyſik, eine Kinematik der Geſchichte, losgelöſt von den zeitlichen Zuſammenhängen, geſchaffen werden, um die Richtung und das Fortſchreiten der Entwicklungen menſchlichen Geſellſchafts- und Geiſteslebens, ihre gegenſeitigen Beeinfluſſungen, Kreuzungen, Störungen und Zerſtörungen zu beobachten, den Ertrag dieſer Beobachtungen unter Regeln zu bringen, Geſetze der Geſchichte zu finden.“ Mit dem ſtreng ſyſtematiſchen Aufbau einer ſolchen übereuropäiſchen „Geſchichte der Menſchheit“ ift dann im Jahre 1907 der Anfang gemacht worden, und zwar ganz folgerichtig von der unterſten Stufe der Pyramide her durch eine um uns der Vokabel des Herrn Spengler einmal zu bedienen „Morpho⸗ logie“ zunächſt der Urzeitvölker roter Raffe.

Muß man nicht ſtaunen, wenn Spengler, der wegen ſeiner allumfaſſenden Kenntniſſe geradezu mit Überfhwang Gefeierte, angeſichts dieſer Tatſachen ohne Heiterkeit zu erregen aller Welt verkünden darf: „Ich habe noch keinen gefunden, der mit dem Studium dieſer morphologiſchen Verwandtſchaften Ernſt gemacht hätte.“ Ift ein Mann, der eine fo haarſträubende Unwiſſenheit gerade innerhalb des Hauptgebietes feines Wirkens be-

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tundet, überhaupt als Forſcher zu bewerten? Zum ganz beſonderen Verdienſt rechnet es Spengler ſich an, wenn er, wie er glaubt oder doch zu glauben vorgibt, die Betrachtung der Weltgeſchichte aus dem einſeitig abendländiſchen Geſichtsfelde herausgerückt wiſſen will. Aber auch in dieſem Kardinalpunkte iſt er nichts als der geſchmeidige Nachbeter einer längſt erhobenen Forderung, die darauf hinausläuft, nicht lediglich einen weſtaſiatiſch-nordafrikaniſch-europäiſchen Ausſchnitt aus der Geſchichte der Menſchheit, ſondern dieſe ſelbſt“ zu geben. Seit über zwei Jahrzehnten hat Breyſig immer und immer wieder gegen das zäh eingewurzelte, freilich überaus bequeme Vorurteil ganzer Gelehrtengeſchlechter angekämpft: „daß nämlich nur die Vorgeſchichte unſerer heutigen Geſittung Gegenſtand der Weltgeſchichte ſei.“ Das geiſtige und handelnde Erleben aller Völker, ſoweit es von allgemeiner Bedeutung iſt, erſcheint vielmehr gleich hingebender Berückſichtigung wert, ſoll nicht das Bild des Ganzen ins geradezu Fälſchliche verſchoben werden. Denn ſo wenig man eine Tierkunde nur für Säugetiere oder Amphibien rechtfertigen würde, ſo wenig eine ſolche Teilgeſchichte der Menſchheit. „China, Japan, Alt-Amerika ausſchließen iſt ebenſo richtig, als wenn man einem Aſtronomen zumuten wollte, ſich nur mit unſerem Sonnenſyſtem, nicht aber mit den Fir ſternen zu beſchäftigen.“ Oder dasſelbe nun einmal in die poſenhafte Rhetorik des um zwei Jahrzehnte ſpäter, aber deſto anmaßender mit der gleichen Erkenntnis aufwartenden Herrn Spengler übertragen: „Ich nenne dies dem Weſteuropäer geläufige Schema, in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen um uns als den vermeintlichen Mittelpunkt alles Weltgeſchehens ziehen, das ptolemäiſche Geſchehen der Geſchichte, und ich betrachte es als die koperni— kaniſche () Entdeckung im Bereich der Hiſtorik, daß in dieſem Buche ein neues Syſtem an feine Stelle tritt ...“

Es mangelt an Raum, um im einzelnen aufzudecken, bis zu einem wie bedenklichen Grade der Verfaſſer des Unterganges, der ſich allen Ernſtes als ein hiſtoriſcher „Kopernikus“ gebärdet, in all dem, was das wirklich Wertvolle, Poſitive, kurz den eigentlichen Ideengehalt ſeines Werkes ausmacht, in ſtärkſter geiſtiger Abhängigkeit ſteht von einem Vorgänger, deſſen Namen ſein ſonſt ſo redſeliger Mund nicht über die Lippen bringt. Oder ſoll man wirklich und wahrhaftig Spengler fo wenig Beſchlagenheit zutrauen, daß ihm Breyſigs jahre lange Forſchungen ganz und gar entgangen ſind? Breyſig ſelbſt iſt ritterlich genug, ihm bewußte Entlehnung nicht vorzuhalten. Zum allermindeſten bleibt dann jedenfalls der jchwer- wiegende Vorwurf beſtehen, daß fid Spengler von Anregungen hat befruchten laffen, deren Herkunft nachzugehen fträflicherweife von ihm vermieden worden ift. Gewiß, er hat viel geiitvoll Eigenes in fertige fremde Formen gegoſſen, aber gerade diefe Miſchung „dichtende Wilfen- ſchaft“ nennt er's in aufblitzender, allerdings gleich wieder verflackernder Selbſterkenntnis einmal ift von fo unerquicklicher Art, daß es in feiner Wirkung auf den zunächſt entzüdten Genießer nicht unähnlich iſt der eines Naufchgiftes, deſſen wunderbare Gaukelbilder in der Nüchternis des Erwachens zu grauer, öder, ſchaler Leere zerrinnen. Man muß demgegenüber die ruhige Sachlichkeit bewundern, mit der Breyſig als der in dieſem Betracht wohl Berufenſte feines Faches es unternimmt, die ganze virtuoſe Spiegelfechterei des Untergangspropheten Zug um Zug zu enthüllen (Velhagen & Klaſings Monatshefte, 35. Jahrg., Heft 9), indem er ihm die gröbſten Mißverſtändniſſe, ärgſten Fehlſchlüſſe, Irrtümer und Verworrenheiten fonder Zahl nachweiſt. Es ift im übrigen bei dieſer Gelegenheit auch für das größere Publikum viel- leicht nicht unintereſſant, zu erfahren, daß ſelbſt die düſtere Rulturbotichaft Spenglers dom bevorſtehenden abendländiſchen Untergange ſchon im Jahre 1900 in einer Sonderabhandlung von Breyſig ins Auge gefaßt, die verfängliche Parallele zwiſchen der heutigen und der grie chiſchen Spät- ſowie der römiſchen Kaiſerverfallszeit indeſſen durch den ſehr einleuchtenden Einwand abgetan worden iſt, daß die antiimperialiſtiſche Gegenbewegung unſerer Epoche ſich fo unvergleichlich viel ſtärker äußere als die ganz kraftlos ſchwache der entſprechenden antiken Erſcheinungsfolgen.

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Günſtige Folgen des Weltkrieges 315

Es handelt ſich bei alledem, das einzuſehen wird nach dem Geſagten nicht ſchwer fallen, um mehr als etwa nur einen Rivalitätsftreit. Wie, fo muß man fih fragen, war es möglich, daß der ungemein klare Tatbeſtand nicht unverzüglich und mit aller Entſchiedenheit von der Stelle aus, die in erſter Linie nicht nur dazu befugt, ſondern doch eigentlich ſchon mit Rückſicht auf ein unkundiges Publikum verpflichtet geweſen wäre der zunftmäßigen Wiſſenſchaft nämlich dargetan und fo der verwirrenden Wirkung des Spenglerſchen Werkes von vorn- herein die Spitze abgebrochen wurde? Der Eingeweihte freilich, der die Gepflogenheiten unſerer ewig Geſtrigen aus der Nähe kennt, hat ſeine Erklärung für ein ſolches Verhalten, aber er verſchweigt ſie lieber, um das Anſehen der Wiſſenſchaft vor der Offentlichkeit nicht gar zu tief herabzuſetzen. „Die Neigung der Gelehrten unſerer Tage“, ſchrieb Breyſig bereits 1907 auf Grund bitterer Erfahrungen im Vorwort ſeiner Menſchheitsgeſchichte, „iſt ſo weitem Wollen gänzlich abgewandt. Viele Jahre daranzuſetzen, gilt nicht als Beweis wiſſenſchaftlicher, ſondern als Zeugnis unwiſſenſchaftlicher Geſinnung.“ Hat man vielleicht das Unrecht, das hier durch jahrzehntelanges ſyſtematiſches Totſchweigen belangreichſter For— ſchungsergebniſſe geübt worden iſt, durch die um ſo wohlwollendere, ja geradezu befremdende Duldſamkeit wieder gutmachen wollen, die man den haltloſen Verſuchen eines phantafie- begabten Amateurs vom Schlage Spenglers entgegenbrachte? Wahrlich, es ſcheint, daß heute mehr denn je im Gebiete der Forſchung poſitive Leiſtung, ſtille Arbeit, mühſeliges Ringen ohne das Fanfarengeſchmetter aufdringlicher Reklame zur Unfruchtbarkeit verdammt iſt. Schon raſſelt für Spenglers zweiten Band, der im Herbſt erſcheinen foll, weithin ſchallend die Werbe- trommel über die Lande. Neue „Überrafhungen“ ſtellt die rührige Geſchäftspropaganda in Ausſicht. Schade um eine zweifellos hervorragende Begabung, deren ganze Kraft in einem Brillantfeuerwerk von Geiſtreichigkeiten verpufft! Konſtantin Schmelzer

Günſtige Folgen des Weltkrieges

N S on den ungünftigen Folgen des Weltkrieges zu ſprechen, ift überflüffig; denn fie treten N AG immer furchtbarer zutage. Es wird lange Zeit vergehn, bis alle Deutſchen begriffen 4 . haben werden, was der 9. November 1918 für das Schickſal Oeutſchlands bedeutet.

Aber alles hat ſeine zwei Seiten; ſo auch dieſer entſetzliche Krieg. Zunächſt wird er rein militärifch,: alfo ſtrategiſch und taktiſch, fo lange es denkende Geſchichtſchreiber geben wird, als eine deutſche Ruhmestat erſten Ranges verzeichnet bleiben. In allem Unglück und Herzeleid wird ſich jeder denkende Deutſche ſagen dürfen, daß kein anderes Volk der Erde dem deutſchen Volke dieſe gewaltige Leiſtung hätte jemals nachmachen können: nämlich einem Bündnis von 25 Völkern oder etwa einer Milliarde Menſchen, die kriegeriſch und politiſch glänzend geleitet wurden, ſiegreich bis zum letzten Augenblicke und zwar außerhalb der Reichsgrenzen ſtandzuhalten. Eine unerſchöpfliche Quelle der Tröſtung und Selbſtermutigung fließt aus dieſer Erwägung.

Der Krieg wird uns und unſeren Nachfahren ein unvergleichlicher Lehrer und Mahner bleiben. Wir haben für ſeine Lehren bisher unmöglich ſcheinende Opfer zahlen müſſen; nun, einem ſolchen Lehrgelde muß notwendig auch ein entſprechender Wert innewohnen.

Beginnen wir mit den mehr materiellen Werten. Da bemerken wir mit Genugtuung, daß unſere Landwirtſchaft trotz aller Schwierigkeiten und Nöte der Kriegsjahre fih gekräftigt hat: ſie iſt ſchuldenfrei geworden, ſie hat ihre Hypotheken weitgehend abzahlen können. Was das bedeutet, iſt kaum auszuſagen. Denn bedenkt man, daß die Landwirtſchaft, trotz aller Gegenäußerungen kurzſichtiger oder böswilliger Feinde, die Quelle der Erneuerung und Ge-

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ſundung des ganzen Volkes iſt, daß ſie im Gegenſatze zu den Knochenmühlen und grauſigen Schädelſtätten der neuzeitlichen Großſtädte den unerſchöpflichen Jungbrunnen des deutſchen Blutes darſtellt, dann erkennen wir deutlich den Gewinn für unſere Zukunft. Nach den Lehren der Marxiſten und anderer überwiegend materiell gerichteter Volkswirte zerfällt das Volk in Erzeuger und Verbraucher. Die unfelige Entwicklung der Vorkriegsjahre bat die Zahl der Erzeuger furchtbar gelichtet, die der Verbraucher und Verzehrer unerträglich geſteigert. Trotz unſerer glänzenden Waffenleiſtungen wurden wir um den Siegespreis betrogen, weil die Verzehrer die Zahl der Erzeuger fo un verhältnismäßig überſtiegen. Das wird in Zukunft anders ſein; denn wenn auch zwei Millionen deutſcher Männer auf den europäiſchen, aſiatiſchen, afrikaniſchen Schlachtfeldern gefallen ſind, ſo werden ſie auf dem hypothekenfrei gewordenen Lande wieder erſetzt werden.

Es gab in der wiſſenſchaftlichen Frauenheilkunde und Geburtshilfe ein Syſtem zur Vermeidung jener Fälle von Totgeburten oder Zangengeburten, welche durch zu enge mütterliche Geburtswege oder zu ſtarke körperliche Entwicklung des Kindes verurſacht werden. Dieſes Heilſyſtem beſtand in ſyſtematiſchem Hungern vor der Entbindung. Der Krieg und die durch ihn bewirkte Abmagerung von Mutter und Kind haben dieſes Syſtem unnötig gemacht. Die Geburtszange wird viel ſeltener ſeit dem Kriege angewandt, und es kommen aus dem gleichen Grunde viel weniger Totgeburten zur Welt. Bedenkt man nun, daß dieſe Fälle meiſtens Erſtgeburten und zwar Knabengeburten waren, ſo überſieht man eine weite Fernſicht von bedeutſamen Möglichkeiten und Folgen; denn eine der ſchlimmſten Urſachen unſerer Volks— entartung war und iſt die unterſchiedsloſe Frauenemanzipation. Dieſe wird ſtets in erſter Linie damit begründet, daß es mehr Frauen gibt als Männer, und daß daher ſo und ſo viele Frauen ſich ihr Brot infolge erzwungener Eheloſigkeit ſelber verdienen müſſen. Nun iſt zwar inſofern etwas Richtiges daran, als es tatſächlich mehr Frauen gibt als Männer. Aber dies brauchte nicht der Fall zu ſein; denn es werden in deutſchen Landen ſtets ungefähr 106 Knaben auf je 100 Mädchen geboren. Es müßten alſo entſprechend mehr Männer am Leben bleiben als Frauen. Leider iſt dem in Wirklichkeit nicht ſo; denn von den 106 Knaben kommen viele nicht lebend zur Welt, weil fie ſtärker entwickelt find, vor allem größere Kopf- durchmeſſer haben als die Mädchen und daher ſchwerer die mütterlichen Geburtswege durch— dringen können. Zudem ſind die Erſtgeburten in der Mehrheit männlichen Geſchlechts. Ander— ſeits haben die erſtgeborenen Knaben nach Anſicht bedeutender Denker die verhältnismäßig größte Begabung. Es ſterben alſo nicht nur unzählige Knaben bei der Geburt, ſondern und das iſt das Schlimmere die Beſten. Dieſe vielen Beſten werden nun, folange das erzwungene Hungern und Darben anhält, dem Leben erhalten bleiben. Wie viele Helfer und Retter mögen unter ihnen heranwachſen? Die Wege der Vorſehung find meiſt dunkel und ſchwer zu über- ſehn. Hoffen wir, daß hier ein Weg zur Rettung führt!

Eine andere vielleicht noch beſſere Wirkung des Weltkrieges haben wir darin zu ſehn, daß infolge der gründlichen Entziehung des Alkohols während der letzten Kriegsjahre, in der Gegenwart und der nächſten Zukunft ganze Geſchlechter deutſcher Menſchen „alkoholfrei“ erzeugt wurden und werden. Ein großer Teil der Aufgaben aller vier gelehrten Fakultäten wird dadurch hinfällig. Denn da die „alkoholfrei“ erzeugten jungen Deutſchen ein wahrhaftes „Ver sacrum“, einen heiligen Völkerfrühling, darſtellen, haben die vier Fakultäten eigentlich nichts mit ihnen zu tun: die Arzte nicht, weil jene geſund erzeugt wurden; die Zuriſten nicht, weil eine Fülle erblichen Verbrechertums fortfällt; die Gottesgelehrten und Weltweiſen nicht, weil jene ohne „Erbſünde“, wenigſtens ohne Verdummung und Widerſtandsloſigkeit gegen die Sünde, in dieſe Welt gekommen ſind. Dies darf man in vollem, tiefem Ernſte ſagen, ohne daß man einen muckeriſchen „Abſtinenzler“ darſtellt und die Gottesgabe eines Bechers edlen Weines ablehnt. Der ausgeſprochene Alkoholismus zerſtört nicht nur die individuelle Widerſtandskraft gegen geiſtige und leibliche Sünde, ſondern er läßt vor allem die Keimdrüſen entarten, Er he—

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wirkt Unfruchtbarkeit oder fördert wenigſtens die Neigung zum Wahnſinn, zum Verbrechen, zur Mißgeburt. Werden demnach ganze Geſchlechter „alkoholfrei“ erzeugt, ſo bedeutet das ganz unzweifelhaft biologiſch und moraliſch eine Erſtarkung und Auffriſchung des Keimplasmas und damit des ganzen Volkes; es bedeutet Stärkung der Wehrhaftigkeit und kriegeriſchen Tüchtigkeit, der Tatkraft, Entſchloſſenheit, Mannhaftigkeit, edler Weiblichkeit, Reinigung und Läuterung des Leibes und der Seele, Erhöhung der geiſtigen Fähigkeiten, der urſprünglichen Fröhlichkeit und Neigung zu allem Hohen und Adligen, zu Gott!

Die Geſundung unſeres Leibes und unſerer Seele wird auch dadurch gefördert, daß ſich Millionen Raucher den Tabakgenuß haben abgewöhnen müſſen, weil die in dieſem Sinne wohltätige feindliche Blockade unſerer Küſten die Einfuhr des Tabaks verhinderte. Die Ver- hinderung wird gegenwärtig und vorausſichtlich noch lange Zeit durch die infolge des Krieges ſo ſtark geſunkene Valuta fortgeſetzt. Die durch den langen Krieg erzwungene Enthaltung von Kaffee und Tee wirkt ähnlich ſegensreich.

Weiterhin haben ſich Millionen deutſcher Männer durch das jahrelange Kampieren unter freiem Himmel abgehärtet und fih ein geſundheitsgemäßes Leben angewöhnt, indem ſie früh aufſtehn und früh zu Bett gehn lernten. Die ungeheuren Preiſe für Gas und Brennöl wirken in gleicher Richtung, man ſchafft bei Tage und meidet das koſtſpielige Ar- beiten bei der Lampe. |

Alle dieſe und ähnliche Wirkungen auf materiellem Gebiete werden aber übertroffen durch geiſtige und ſeeliſche Wirkungen erfreulicher Art. Der Krieg hat unſer Volk in unmenſchlich ſtrenge Zucht genommen. Er hat gleichſam wie der „Stab Wehe“ gewirkt. Und wir wollen ihm dieſe ſegensreichen Wirkungen danken. |

Wir find arm geworden an irdiſchen Gütern und darum zur Einkehr, inneren Läute- rung, Buße gezwungen. Und dies TR uns von unausſprechlichem Nutzen fein. Die Armut und das Hungern haben unſer Volk wieder beten gelehrt. Wie viele haben vor dem Kriege, wenn ſie überhaupt gebetet haben, ſich etwas Ernſtliches gedacht bei dem Gebete: „Gib uns unſer tägliches Brot?“ Hand aufs Herz: man hat ſich wenig dabei gedacht. Das Brot war ja ſo überaus billig; in den öffentlichen Wirts- und Gaſthäuſern pflegte es überhaupt nichts zu koſten. Wie oft haben die Studenten und ſicher unzählige andere in den letzten Tagen des Monats in dem Wirtshaus mit dem nichts koſtenden, zur allgemeinen Verfügung ſtehenden Brote den Hunger geſtillt und das übrige Mittageſſen erſpart! Man erwies ſich darum nicht ſchlecht oder unehrlich; denn man blieb dankbar und treu gegenüber dem gaſtlichen Wirtshauſe und gab ihm nach dem Erſten um fo mehr zu verdienen. Aber im vollen Ernſte: die furcht- bare Senkung unſerer ganzen Lebenshaltung hat mehr gute als böſe Folgen. Wir müſſen eben weiter arbeiten, ſehr ſchwer arbeiten, wirklich im Schweiße des Angeſichts! Und das bedeutet Schaffung neuartiger Werte. Die Abſchaffung des Dienſtmädchens läßt viele bisher Wohl- habende ſich ſelber die Schuhe putzen, die Zimmer reinigen, Feuer anmachen, wenn man über- haupt Holz und Kohlen dazu hat. Manche verwöhnte Hausfrau geht nun ſelber einkaufen und lernt, den papierenen, zerfetzten Groſchen fo und fo oft umdrehen, bevor fie ihn auszu- geben wagt. ;

Der Bürger lernt wieder das ehrliche Handwerk und die ehrlich wirkende Hand ſchätzen.

Dadurch entſteht eine wohltätige Ausbalanzierung der Werte, eine organiſche Rangordnung

der Kräfte. Man erinnert ſich nunmehr viel anſchaulicher, daß der tiefſinnige „Philosophus teutonicus“ Jakob Böhme ein Schuſter war, ebenſo wie der herrliche Meiſterſinger Hans Sachs, oder der Philoſoph Spinoza ein Glasſchleifer. Hat ihnen gar nichts geſchadet oder

an der ſittlichen Würde Abbruch getan! Ebenſowenig wie dem Meiſter Sokrates die vermut-

lich ſehr handwerksmäßig ausgeübte Bildhauerei, ſeiner berühmten Mutter die Hebammenkunſt oder dem Antiphon, den Platon ſeinen tiefſinnigſten Dialog, den „Parmenides“, aus der Erinnerung herſagen läßt, die Pferdezucht und alles damit Zuſammengehörige. Dem einen

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318 Günftige Folgen des Weltkrieges

und andern fällt hierbei wohl ein, daß der Weltapoſtel Paulus feines Zeichens ein Zelt- weber war.

Dieſe Einfachheit der Lebenshaltung hat die Gaſtlichkeit ſchwieriger, aber infolgedeſſen auch edler und vor allem durchgeiſtigter gemacht. Man überlädt den Magen des Gaſtes gegen- wärtig wohl nur äußerſt ſelten mit üppigen Speiſen und Getränken; man ähnelt hierin mehr der gar nicht fo üblen Biedermeierzeit. Zur Zeit der Klaſſiker und des Weimaraniſchen Olym- piers gab es beim Abendeſſen für die Gäſte nur dünnen Tee, aber ungemein ſtarke geiſtige Ge- ſpräche. Und die geiſtige Kultur jener Weimariſchen Klaſſiker funkelt heut heller und jtrablen- der in unſerer Geiſteskrone denn je.

Unſer Vorkriegsreichtum hemmte die Entwicklung der Vaterlandsliebe ungemein; denn wer es dazu hatte, der mußte ſein Geld ins Ausland tragen, er mußte ſich Jahr für Jahr das Ausland auf Reifen anſehn und vergaß, daß zu Haufe das ſchönſte und herrlichſte Land der Welt war, ift und bleibt: unfer teures, unglückliches und trotz allem gottgeliebtes Deutſchland!

Wenn wir heut noch reiſen demnächſt wird es wohl durch die Miniſter „gegen“ den Verkehr gänzlich verhindert werden —, dann reiſen wir in deutſchen Landen. Oder noch beffer, wir wandern wie unfere Vorfahren, wie unſere Wandervögel und ſonſtigen Sturm- geſellen. Da ſehn wir den deutſchen vielgrünen, einzigartigen Wald, unſere Berge, die dampfenden Täler, die glühenden Höhen. Wir fingen wieder die unvergleichlichen Wander- lieder von Wilhelm Müller und Jofeph von Eichendorff, mit Schubertſcher, Schumannſcher, Löweſcher Vertonung. In den Wäldern und auf den Feldern und Bergen entladen wir Seele und Leib von allem trockenen Schulſtaub. Wir ſingen mit Scheffel von den Bergen: „Sie ſtehen unerſchütterlich auf ihrem Grunde da und lachen über Türkenkrieg und über Cholera.“ Wir fügen hinzu: über Parlament und alle Schwätzer und Hetzer drinnen und draußen. Wir gedenken des Anzengruberſchen Wurzelſepps und ſeines unſterblichen Wortes: „Es kann Dir nix geſchehn!“ Freilich kann uns nichts Feindliches geſchehn, wenn wir unſerm teuren Dater- lande und unſerm alten Gott treu bleiben.

Das äußerlich armſelige Reiſen meiſt in der vierten Klaſſe hat köſtliche Folgen. Das ganze deutſche Volk wird nunmehr im edeldemokratiſchen Sinne durcheinandergerüttelt und geſchüttelt, daß uns das Herz im Leibe lacht. Das Reiſen in vierter Klaſſe war ja eigentlich niemals eine Schande. Ich fuhr ſeit meiner Schulzeit nur deshalb vierter Klaſſe, weil es keine fünfte gab. Und ich bin weit herum gekommen in der Welt und habe unermeßliche Landſchafts- ſchönheit geſehn. Aber immerhin gehörte es eigentlich nicht zum äußerlich guten Tone, in der vierten Klaſſe zu reifen. Für den Studenten und Offizier war diefe Klaſſe nicht „couleurfähig“.“ Sehr zu ihrem und des ganzen Volkes Schaden! Das iſt nun anders geworden. Nicht nur der königlich bayeriſche Hof fährt grundſätzlich vierter Klaſſe von Reichenhall bis Berchtes— gaden, ſondern überhaupt viele Beſten unſeres Volkes. Sie lernen das „Volk“ beſſer kennen als früher, und vor allem: das „Volk“ lernt ſeine Beſten kennen. Der höchſt überflüſſige Parlamentarier fährt verfaſſungsmäßig erſter Klaſſe und hat ſomit wenigſtens auf der Eijen- bahn keine Gelegenheit, Schaden zu ſtiften. Der Schieber und ſonſtige verbrecheriſche Kriegs- gewinnler kommt in der erſten und zweiten Klaſſe ebenſowenig mit dem wirklichen „Volke“ in Berührung. Aber Gelehrte, Arzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Geiſtliche, Schriftſteller, Offiziere fahren heute vierter Klaſſe und werden dort dem „Volke“ bekannt. Dieſes lernt in ihnen ehrliche, vornehme und anſtändige Menſchen kennen. Es erhält durch ſie gute Blätter, nachdem ſie von ihren Beziehern ausgeleſen worden ſind, und ſtudiert ſie eifrig und mit frohem Er— ſtaunen, daß es noch anſtändige Blätter gibt. Und das alles zur gegenſeitigen Unterhaltung, Belehrung und Geiſtesbereicherung. Der Arbeiter, ſoweit er heut überhaupt noch vierter Klaſſe fährt, merkt, daß die beſten Arbeiter der Nation, eben jene Leſer guter und ernſter Blätter, nicht nur acht Stunden täglich arbeiten, ſondern tatſächlich ſehr viel mehr. Daß ſie bei äußerlich karger Lebenshaltung und innerlich vornehmer Geſinnung ununterbrochen arbeiten: an

Ein halbes Jahrhundert Milchſtraßenforſchung 519

ſich ſelbſt und am Wiederaufbau des teuren Vaterlandes. Ihnen klingen jene herr- lichen Worte des Freiherrn von Schenkendorf im geiſtigen Ohre:

„Sch will das Wort nicht brechen, noch Buben werden gleich!

Will predigen und ſprechen vom heiligen Oeutſchen Reich!“

And mit dieſer heiligen Geſinnung ſtrömt eine Fülle von Segen hinaus ins Land, hinein in die Herzen. Es bildet ſich durch unſere Armut und durch edle, einfache Lebenshaltung eine hohe Auffaſſung von Ehre, Freiheit und Vaterland. Es entſteht eine heilige unſichtbare Burſchenſchaft, ein ſtolzes geiſtiges Korps, eine allumfaſſende deutſche heilige Landsmannſchaft. Es fallen allerlei trennende Schranken und Grenzen, und es wächſt eine unſichtbare, aber ſturmfeſte Ge iſt es mauer um unfer ganzes Volk, die es zuſammenfaßt zu einem lebendigen, durchgeiſtigten, kraftvollen Ganzen, an dem Gott feine Freude haben wird und das er über-

fchütten wird mit Huld und Gnaden. Dr. Alfred Seeliger Ein halbes Jahrhundert Milchſtraßenforſchung

Ji. er chlagen wir einen jener alten Himmelsatlanten auf, die als Schauftüde in den Wo, Bibliotheken prangen, fo ſcheinen zunächſt die künſtleriſch liebevoll behandelten Tier- und Menſchengeſtalten, nach denen die Sterngruppen benannt zu werden pflegen, die Hauptſache zu ſein. Die einzelnen Sterne, die man etwa am Himmel beobachtet hat und nach ihrer Zugehörigkeit zum Syſtem jener Bilder ermitteln will, muß man manchmal ſchon ſorgfältig auf der Karte ſuchen, obſchon ſie eigentlich die Hauptſache wären. In noch ſchlimmerem Maße iſt jedoch meiſtens die Milchſtraße zu kurz gekommen, indem wir anſtatt eines ſtrukturreichen ſchimmernden Bandes von ſehr wechſelnder Lichtſtärke einen einförmig oder gar, in geradem Gegenſatze zur Wahrheit, an den Rändern ſtärker als in der Mittelachſe ſchattierten Streifen ſehen, an dem von dem ganzen Gefüge höchſtens die ſchon dem ungeübten Auge leicht erkennbare große Gabelung im Schwan angedeutet iſt.

Es war Eduard Heis, der mit feinem im Jahre 1872 erſchienenen Atlas coelestis novus den Bann brach Das Werk iſt zunächſt bekannt durch die ſehr große Anzahl dem freien Auge ſichtbarer Sterne, die es enthält; allerdings nur den allerſchärfſten Augen, die, ſchon an ſich ſelten, noch ſeltener mit dem nötigen wiſſenſchaftlichen Eifer und Bildungsgange zufammen- treffen. Da die Sterne und das Gradnetz ſchwarz gedruckt find, die Figuren aber und die Grenzlinien ihrer Gebiete rot, fo find die Karten beſonders bei ſchwachem Lampenlicht leicht

zu benutzen. Ihr größter Schmuck ift aber die Milchſtraße, die hier zum erſten Male feit den

Zeiten eines Ptolemäus, der im zweiten nachchriſtlichen Jahrhundert eine gute Beſchreibung in Worten lieferte, genau dargeſtellt erſcheint, und zwar in fünf verſchiedenen Stärkegraden, von denen die beiden letzten wohl nur wenigen Beobachtern zugänglich ſind.

Allerdings nicht die ganze Milchſtraße, die als ein geſchloſſenes Band die Himmels- kugel umgibt und ſo weit nach Süden geht, daß in Europa die ſüdlichſten Teile überhaupt nicht beobachtet werden können. Heis ſtellte den in Münſter, d. h. in der nördlichen gev- graphiſchen Breite von 52°, ſichtbaren Himmel dar; da jedoch die Teile, welche ſich hier günftigen- falls noch gerade über den Horizont erheben, zu ſehr unter den atmoſphäriſchen Dünſten zu leiden haben, hat er dieſe teils ſelber auf dem Rigi aufgenommen, teils durch einen ſeiner Schüler bei Aden aufnehmen laſſen.

Es handelt ſich bei der Milchſtraße, wie man auch für das Folgende esche wolle, im allgemeinen nicht um ein teleſkopiſches Objekt. Das Fernrohr löſt, wie zuerſt Galilei im 17. Jahrhundert gezeigt hat, das galaktiſche (das auch nachher benutzte Adjektiv geht auf

das griechiſche Wort für Milch zurück) Band in eine Unzahl von Sternen auf, aber der Schimmer

520 Ein halbes Jahrhundert Wilchſtraßenforſchung

geht dabei verloren, wird wenigſtens ſehr geſchwächt, da ein unabänderliches Geſetz lehrt, daß jede Flächenhelligkeit beim Abbilden durch Spiegel oder Linſen nur vermindert, nicht vermehrt werden kann, wie denn auch die Oberflächen der Sonne, des Mondes und der Planeten ſelbſt bei der geringſten Vergrößerung geſchwächt erſcheinen. Indem das Fernrohr den Schimmer in einzelne Sterne verſchiedenſter Helligkeit verwandelt, gewährt es ein Mittel, um durch Abzählungen derſelben und nachherige ſorgfältige Denkarbeit ein Urteil über den Aufbau des Kosmos zu bilden. Es find die Namen W. Herſchel, Seeliger, Celoria, Eaſton, die hier mit der Erinnerung an weſentliche Fortſchritte verknüpft ſind. Die Weltinſel, der wir an— gehören, und von deren Witte unſere Sonne, die nur einen von vielen Millionen Sternen darſtellt, nicht allzu weit entfernt iſt, dieſe große Inſel im Ozean der Welten hat die Geſtalt einer Linſe, d. h. eines febr ſtark abgeplatteten Umdrehungskörpers. Blicken wir in der Richtung ihres Aquators, dann treffen unſer Auge die Strahlen von viel mehr Sternen, als wenn wir in der Richtung der Achſe blicken. Und das reiche Gefüge des galaktiſchen Gürtels, feine Durch- ſetzung einesteils mit auffallend dunklen, wohl als Kohlenſäcke bezeichneten Gebieten, anderer- ſeits mit beſonders hellen Flecken und Streifen, legt den Gedanken nahe, daß die Weltinſel aufgebaut ſei wie die ſogenannten Spiralnebel, die, ehedem als beſonders merkwürdige Fälle betrachtet, nach dem heutigen Stande der Forſchung zu vielen Taujenden am Himmel zu finden ſind. Die Frage allerdings, ob wirklich die Spiralnebel ferne Weltinſeln von der Größen- ordnung unſerer eigenen darſtellen, und nicht vielmehr Bejtandteile derſelben, die ihre Geſtalt im kleinen wiederholen, dieſe Frage iſt noch unentſchieden und ſoll uns hier nicht weiter beſchäftigen.

Wenige Jahre nach dem Erſcheinen des Heisſchen Wilchſtraßenwerkes benützte der Belgier Houzeau einen Aufenthalt in den Tropen, um den ganzen Wilchſtraßengürtel nach und nach aufzunehmen. Am Aquator der Erde gibt es keine Zirkumpolarſterne, aber auch keine, die man niemals zu ſehen bekäme. Jeder Stern ift dort in der einen Hälfte des vierund— zwanzigſtündigen Tages über, in der anderen unter dem Horizont, und dieſe Hälften nehmen im Jahreslaufe zu Tag und Nacht die verſchiedenſten Stellungen ein. Houzeau hat ſeine Arbeit, die Uranometrie generale (1880), in der auch für günſtige klimatiſche Bedingungen auffallend kurzen Zeit von etwas mehr als einem Jahre vollendet, wogegen Heis in Aachen und Münſter der Frucht feiner Beobachtungen eine Reifezeit von ſiebenundzwanzig Jahren gegönnt hatte. Weil aber die Zeichnung von Houzeau das ganze galaͤktiſche Gebiet darſtellt und fidh alfo vorzüglich zu ſtatiſtiſchen Vergleichungen mit den Sternzaͤhlen eignet, ift fie für Arbeiten dieſer Art vielleicht häufiger als alle anderen Darftellungen benutzt worden. Vergleicht man fie mit der von Heis, fo zeigt ſich an manchen Stellen befriedigende Übereinftimmung, während an anderen große Unterſchiede auffallen. Heis hat, wenn man es kurz ſagen will, ein Moſaik von hellen und ſchwächeren Flecken, während Houzeau reliefartig zeichnet. Eine beſonders helle Stelle erhält bei ihm einen länglich runden Umriß, und es folgen weitere Umriſſe für die ſchwächeren Stufen, fo daß das Bild eines Hügels oder Buckels vor uns entſteht. Jeder Beobachter ſcheint ſeinen Stil zu haben, und doch hat jeder das Beſte geben wollen. Die Bilder ſtimmen, auch wenn man alles abzieht, was auf Rechnung der äußeren Umſtände kommt, nicht einmal ſo überein, wie etwa zwei Darſtellungen desſelben Landſchaftsbildes, von zwei unabhängigen Beobachtern entworfen, übereinſtimmen müſſen. Gewiß iſt die Gewalt dieſer äußeren Umſtände nicht gering anzuſchlagen, da in Deutfchland einzelne Abſchnitte nur in mäßiger Höhe beobachtet werden können, andere aber gelegentlich dem Zenit nahekommen. Daß fih jeder Zeichner gehütet hat, ſelbſt bei leichteſter Störung durch den Mond, das Dämmer oder Tierkreislicht zu beobachten, ift ſelb ſtverſtändlich.

An der vom Earl of Roſſe begründeten und eine Zeitlang durch das große Spiegel- fernrohr berühmten Sternwarte zu Birr Caſtle in Irland beobachtete der Deutſche Otto Boeddicker in den achtziger Jahren die Milchſtraße, natürlich auch wieder mit freiem Auge.

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Seine Darftellung (The Milky Way. London 1892), die mit Rüdjiht auf das Klima nicht fo weit wie die von Heis nach Süden durchgeführt ift, unterſcheidet ſich höchſt auffällig von ihren beiden Vorgängerinnen durch ein vorherrſchend ſtrahliges Gefüge. Von der Mittel- achſe gehen zahlreiche leuchtende Streifen aus, ſo daß hie und da eine größere Ahnlichkeit mit organiſchen Gebilden entſteht, etwa mit Teilen eines Fiſchgerippes oder mit dem Adernetze eines Buchenblattes, woraus die Weichteile entfernt ſind. Vielfach folgen die Strahlen den Richtungen nach beſtimmten Sternen, und es erhebt ſich die Frage, ob das reell und wie es in dieſem Falle zu erklären iſt, oder ob ſich der Zeichner die Feder von den Sternen hat führen laſſen. Sogenannte Sternketten, die ſich an ſo vielen Stellen des Himmels finden, daß ſie kein bloßes Zufallsergebnis ſein können, ſind hier beſonders verführeriſch. Und auch dieſer Zeichner hat jedenfalls das Beſte geboten, das er bieten konnte.

Nur ein Fahr ſpäter tritt C. Eaſton, ein Holländer mit engliſchem Namen, auf den Plan, deffen Darftellung (La voie lactée dans !’h&misphöre boréal) zwar auch Strahlen enthält, im übrigen aber der von Heis wieder etwas näher kommt. Ein ſehr ausgiebiger Text, erläutert durch Tafeln gleicher Helligkeit, gibt Zeugnis von der Sorgfalt, mit der dieſer auch durch theoretiſche Arbeiten vorteilhaft bekannte Liebhaber-Aſtronom die wahre Verteilung der Licht- ſtärken über die galaktiſche Zone zu ermitteln gefucht hat. Dürfen wir von eigenem Erleben in dieſer Sache reden, fo fei geſagt, daß die Darftellung von Eaſton und darauf die von Heis

dem Eindruck, den wir ſelbſt in guten Veobachtungsnächten erhalten, am nächſten kommt. |

Zu den mächtigſten techniſchen Hilfsmitteln der heutigen Himmelsforſchung zählt die Photometrie, die Meſſung der Lichtſtärken. Vorzüglich braucht man die photometriſchen Methoden zum Feſtſtellen des Lichtwechſels der einzelnen Sterne. Könnte man hier einfach wie der Phyſiker arbeiten, ſo wäre es ein leichtes, die Helligkeit einer genau beſtimmten irdiſchen Lichtquelle, z. B. der ſogenannten Hefnerkerze, als Einheit zu wählen und die von Tag zu Tag, manchmal in Stunden und ſelbſt in Minuten raſch wechſelnde Helligkeit des Sternes auf ſie zu beziehen. Da jedoch die Geſtirnſtrahlen durch die Lufthülle zu uns kommen, in der ſie, je nach dem Klima und nach ihrer Winkelhöhe, mehr oder weniger ſtark geſchwächt werden, ſo iſt es beſſer, Stern mit Stern zu vergleichen, d. h. den veränderlichen Stern mit einem nicht weit davon ſtehenden und alſo denſelben Einflüſſen unterliegenden beſtändigen Geſtirn, wobei dann die künſtliche Lichtquelle nur als Vermittlerin dient. Das geſchieht auf verſchiedene, hier nicht weiter zu beſprechende Arten. Auch wo es ſich um Flächenhelligkeiten handelt, ift, wie Graff an der Hamburger Sternwarte in Bergedorf erkannte, dieſes Ber- fahren das gegebene. Er baute ein kleines Inſtrument, in welchem ein leuchtendes Flächenſtück des Himmels, z. B. ein galaktiſcher Fleck, von einem durch eine elektriſche Lampe und geeignete Glãſer erzeugten breiten Lichtringe umgeben erſchien, der ſich in meßbarer Weiſe ſo abſchwächen ließ, daß der Unterſchied verſchwand. Auf dieſem Umwege die einzelnen Milchſtraßengebiete miteinander vergleichend, konnte er, beffer noch als Eaſton, die geſamte Helligkeitsverteilung durch Zahlen ausdrücken. (Aſtronomiſche Abhandlungen der Hamburger Sternwarte in Berge- dorf, II 5. Hamburg 1920.) Leider hat das Material noch nicht vollſtändig veröffentlicht werden können. Immerhin ift die Skelettkarte der Jſophoten, d. h. der Linien gleicher Licht ſtärke, erſchienen; fie nähert ſich in ihrem Geſamteindrucke den Darſtellungen von Heis und Eaſton, obſchon die genauere, objektive Feſtſtellung der Helligkeiten, die den großen Vorzug des ber uns im Sommer gut ſichtbaren Teils vom Schwan bis zum Schũtzen gegenüber dem im Winter auftretenden Gebiet von der Caſſiopeia bis zum Großen Hund erkennen läßt, einen merklichen Fortſchritt beſonders gegenüber Heis bedeutet.

Eine noch auf anderer Grundlage ruhende Milchſtraßendarſtellung, die gleichfalls in Hamburg erſcheinen ſoll und hauptſächlich auf den photographiſchen Aufnahmen von Wolf in Heidelberg beruht, ift anſcheinend durch widrige äußere Verhältniſſe noch etwas verzögert

worden. Es ſei hiebei bemerkt, daß die Platte nicht etwa, wie ein auf die Technik Schwörender Der Türmer XXIII, 11 25

322 Ein halbes Zabrhundert Mllchſtraßenforſchung

ohne weiteres annehmen möchte, an ſich ein beſſeres Milchſtraßenbild liefert als die Netzhaut, ſondern zunächſt nur ein anderes. Im Auge verſchmelzen die Eindrücke zahlreicher ſchwacher Sterne, weil die Netzhaut aus einzelnen lichtempfindlichen Teilen aufgebaut iſt. Das Auge hält ferner, im Gegenſatze zur Platte, die Eindrücke nicht feſt. Dafür werden die Scheibchen der ſchwächſten Sterne auf der Platte ungebührli groß. Man darf fih alſo nicht wundern, wenn die Photogramme, die den Schmuck unferer populär-aſtronomiſchen Bücher bilden, von den Zeichnungen fo auffallend abweichen, ein wenig auch untereinander. Eng- und weit winkelige Apparate, empfindliche und träge Platten, lange und kurze Belichtungszeiten wirken zuſammen, um die Photographien verſchieden zu geſtalten. Und da andererſeits die Netzhäute, noch mehr vielleicht die Seelen der Beobachter, ſich unterſcheiden, wird die beobachtete und gezeichnete Milchſtraße geradezu ein Forſchungsgegenſtand der Phyſiologie und der Pfychologie.

Nun hat das Jahr 1920 noch eine Darſtellung gebracht, deren Urheber der holländische Aſtronom A. Pannekoek ift. (Die nördliche Milchſtraße. Annalen der Sternwarte zu Leiden.) Dieſer bietet nicht nur das Bild feiner eigenen Auffaſſung, das in drei Sternkarten weiß auf ſchwarz und außerdem in drei auf genauen Schätzungen beruhenden Jſophoten-Karten nieder- gelegt iſt, ſondern er hat auch eine Mittelbildung aus den Auffaſſungen der einzelnen Beobachter verſucht. Da ſeine Helligkeitsſtufen gleich denen von Eaſton ein Syſtem darbieten, das in ſich einwurfsfrei aufgebaut iſt, ſtellt er für die einzelnen kleinſten Himmelsſtücke Zahlen als Mittelwerte aus den beiden holländiſchen Darſtellungen auf (E + P). Nun ift ihm noch ein koſtbarer Schatz zugänglich geworden in Geſtalt der Beobachtungen von Julius Schmidt, einem deutſchen Aſtronomen, der, zu Eutin im Fürſtentum Lübeck geboren, fein großes Be- ob achtertalent unter dem herrlichen Himmel von Athen betätigt hat, wo er 1884 geſtorben ift. Seine Handſchriften, die die verſchiedenſten Objekte betreffen und von einer ſtaunenswerten Ausdauer im Beobachten zeugen, werden in Potsdam aufbewahrt; noch vor wenigen Jahren haben ſeine einfachen Beobachtungen des Polarſterns im Anſchluſſe an neuere ſpektrographiſche Arbeiten plötzlich große Wichtigkeit erhalten. Pannekoek hat die Schmidtſche Milchſtraße ſtudiert und, in derſelben Weiſe wie aus den zwei holländiſchen Arbeiten allein, auch aus den vier ihm am würdigſten erſcheinenden, nämlich den Zeichnungen von Schmidt, Boeddider, Eaſton und ihm ſelbſt, ein zahlenmäßiges Geſamtbild dargeſtellt, das nun auch noch durch drei Iſophoten⸗ karten erläutert wird und das beſte mittlere Geſamtbild des Phänomens darſtellen ſoll, ſoweit dieſes in Deutfchland und den Nachbarländern ſichtbar ift. Man wird hier den Aus- ſchluß der Houzeauſchen Karten verſtändlicher als den der Heisſchen finden, denen fih, wie geſagt, die hamburgiſche Darſtellung, die Pannekoek übrigens nicht mehr verwerten konnte, wieder ſehr nähert. i ,

Sollte nunmehr ein Experimentalpſychologe die Frage anſchneiden, wie das Mildh- ſtraßenbild im Auge zuſtande kommt, ſo würde er jedenfalls recht viel Merkwürdiges finden und dabei feſtſtellen können, daß hier, wie auf ſo vielen anderen Gebieten, es ſei nur an die veränderlichen Sterne und die Fadendurchgänge im Fernrohr erinnert, feiner jungen Wiſſen ſchaft die älteſte Schweſter in großem Umfange vorgearbeitet hat. Oder wagt ſich noch einmal ein deutſcher Freund der Wiſſenſchaft an die Zeichnung ſelber, die kein Fernrohr, ſondern nur eine gute Sternkarte, dabei allerdings gute Augen und hingebenden Fleiß erfordert?

Prof. Dr. J. Plaßmann

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Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustaufh dienenden Einſendungen find unabhängig vom Standpunkte des Herausgebers

Ewige Wiederkunft des Gleichen oder Aufwärtsentwicklung?

(Vergleiche den früheren Aufſatz der gleichen Aberſchrift in Heft 5)

Miele ſchon früher von mir, im Juni / Juli-Heft 1914 des weimariſchen „Weckrufs“, s 27 in meiner Abhandlung „Goethe und das Welträtfel“ angeſchnittene Frage

eit 1018 auch in Buchform bei der Concordia, Deutſche Verlagsanſtalt, vorliegend) wird unter der obigen Überſchrift von Rudolf Paulſen im Februarheft des Türmers in beachtenswertem Aufſatz behandelt, der in der Hauptſache meine Ausführungen beftätigt und nur in wenigen Punkten, wo er abweicht, zur weiteren Klärung des Gegenſtandes einer Er- örterung bedarf. Daß es Paulſen unterlaſſen hat, meine Schrift in feinem Aufſatze als Quelle oder eine ſeiner Quellen namhaft zu machen, obwohl er ſie gut gekannt und ſogar (unterm 2. April 1920 in der „Deutſchen Zeitung“) überaus warm und zuſtimmend beſprochen hat, will ich ihm nicht allzuſehr übelnehmen. Um fo weniger, als er worauf es hier nur ankommt gerade dem Teile meiner Schrift, der ſich mit dieſem Problem beſchäftigt: meiner „Wieder- holung (7 des Nachweiſes, daß die ‚ewige Wiederkunft des Gleichen“ Nietzſches ethiſch un- fruchtbar iſt, ein Nachweis, der nicht ſchwer zu führen iſt, aber leider nicht genug beachtet wird“ nach dieſen feinen Worten ein beſonderes Verdienſt nicht beizumeſſen ſcheint. Um ſo erfreulicher, daß er deſſenungeachtet nun doch auch ſeinerſeits dieſen Nachweis wiederholte und dabei im weſentlichen zu den gleichen Ergebniſſen kam wie ich.

Zum Verſtändnis der wenigen Einwände gegen feine Ausführungen, die eine weitere Durchleuchtung des Problems entzünden möchten, iſt es erforderlich, die kritiſchen Sätze meiner Schrift hier anzuführen. Nachdem ich an einer eingehenden Analyſe des Goetheſchen Gedichtes „Selige Sehnſucht“ den Nachweis zu führen geſucht, und durch zahlreiche anderweite ge- wichtige Ausſprüche des Dichters zu beſtätigen gemeint habe, daß auch Goethe, wie fo viele große Dichter und Denter vor und nach ihm, ein tief überzeugter Anhänger der Lehre von der Präexiſtenz und Wiedergeburt geweſen iſt, komme ich auf dem Wege über Leſſing, Kant, Fichte, Schopenhauer ſchließlich zu Nietzſche und fahre fort:

„Allerdings nimmt Nietzſche in feiner Vorſtellung von der ewigen Wiederkunft, die er ſich, in der Endloſigkeit der Zeit, nach Erſchöpfung aller Variationen und Kombinationen gewiſſermaßen kaleidoſkopiſch als eine wandelbildartige Wiederkehr des Gleichen denkt, eine merkwürdige Sonderftellung ein. Er kettet die Urvernunft der Vorſehung an die Unvernunft des Zufalls. Er ergreift den Weltgeiſt wie einen planlos wandernden Landſtreicher und pfropft ihn in das Zwangsbett eines blinden Ungefährs, das ſich in den Wirbelſpielen der kreiſenden Ewigkeit, an einem ganz beſtimmten Punkte des Ringes () immer wieder einmal, meint er,

524 | l Ewige Wiebertunft des Gleichen oder Aufwärtsentwidlung?

unter denſelben Umftänden wiederfinden muß. Er vergißt dabei, daß mit dieſer Annahme, die die Welt als einen bloßen Mechanismus ſetzt und den Mechanismus wieder als ein Spiel des Zufalls (), die Entwicklung des Menſchen zum höheren und „Übermenſchen“ wieder auf- gehoben wird. Die zwangsmechaniſche Wiederkehr des ewig Gleichen iſt ein Widerſpruch zu der Aufwärtsweiſung ſeiner Lehre, ihrem Macht- und Willensprinzip, und widerſtrebt auch dem unverbrüchlichen Weltgeſetze der Entwicklung, die ſich nicht in einem ‚Ringe‘, lineariſch, fondern in ungezählten Richtungen, ſtrahlenförmig, vollzieht. Die Entwicklung kann und braucht deshalb keineswegs ein Biel’ zu haben, d. h. einen Abſchluß ihres Vorganges zu finden, denn die Staffel des letzten Horizontes, die äußerſte Thule des Gottesideals, ift nie erreichbar. Sonſt wäre es ſchon erreicht, in der Unendlichkeit der Zeiten. Entwicklung ift Kraftumwandlung: gebundene Kraft wird zur lebendigen Kraft. Die Kraft aber iſt unendlich wie Raum, Zeit, Stoff und Geiſt. Sie wird nicht mehr, fie wird nicht weniger, denn fie ift grenzenlos. Bft felbjt die dreieinige Welt: Stoff, Geiſt und Bewegung. Eine Welt leere ift undentbar. Ebenfo wie die körperliche Welt als eine Inſel undentbar ift, die im Nichts [hwinmt: ein Tropfen im Weſenloſen! Eine im Großen begrenzte, d. h. endliche Welt, wie fie Nietzſche amummt, wäre auch im Kleinen endlich und begrenzt, d. h. wäre dem Tode und der Erſtarrung verfallen. Es gibt keinen Bretterzaun um die Welt. Entweder iſt alles Welt, d. h. erfüllter Raum, oder aber alles ift nichts. Das letztere widerlegt die Erfahrung. Mithin muß es unzählige Kraft- zentren geben, die auch eine unendliche Entwicklung verbürgen und notwendig machen. Daher kaun die Entwicklung weder rückläufig noch begrenzt fein, ſondern einzig nur ewig. Womit auch alle Schlüſſe von dem , Längſterreichtſeinmüſſen“ eines Weltzieles entfallen und ein Ausblick ſich auftut, wie er ungeheurer nicht vorzuſtellen iſt. Die gegenteilige Annahme verliert ſich in ein Labprinth der Widerſprüche, in deren letztem Gange der Minotaur lauert, der fie ver- ſchlingt. Auch die geſtorbenen Sonnen find keine Totenzeugen für eine Nüdläufigteit der Entwicklung, denn ihre Erſtarrung bedeutet ja nur eine kurze Phaſe im ewigen Werdegange; ganz abgeſehen noch, daß die leibentkleidete welthafte Seele, wenn jie günſuge Dertörperungg bedingungen nicht mehr findet, keineswegs an einen ſterbenden Stern gefeſſelt iſt. Auch hat eine jede Entwicklung ihre Hemmungen, und ein Schritt zurück bedeutet noch nicht den ganzen Weg zurück. Viel eher und erſt recht: eine ab und zu notwendige Anlaufsmöglichkeit für einen Doppelfprung voraus. Träfe es zu, daß die menſchliche Seele im Kreiſe ginge, jo müßte fie, in den zu unbedingt gleichen Zuſtänden rückführenden Abwandlungen der Ewigkeit, auch immer wieder in die alten Mängel, Überwindungen und Verderb niſſe zurückfallen und würde letzten Endes, ſeelenwanderiſch, auch wieder einmal beim Tiere anlangen. Damit aber wären dem Ewigkeitsgange der Entwicklung und jeder Aufwärtsbewegung überhaupt Riegel und Falltüren vorgeſchoben. Die ‚Entwidlung‘, die wieder Rückentwicklung würde, wäre eine Widerſinnigkeit: die in Ewigkeit geſetzte Inkonſequenz! Wollte man tatſächlich die geſchloſſene Kurve als die Bahn einer ſolchen, Entwicklung“ annehmen, fo müßte auch die ewige Wiederkehr vollſtändig ihren Wert verlieren und zu einem müßigen, dummen Zufallsſpiele herabſinken ...“

Schon hieraus ift die völlige Übereinſtimmung Paulſens mit mir in der Kern- und Weſensfrage zu erſehen: Nicht Kreislauf und Wiederkunft des Gleichen, ſondern die weltgeſetzlich verbürgte, in alle Ewigkeit ſteigende Aufwärtsentwicklung ohne Abſchluß und Ende! Ob nun diefe Anendlichkeitsentwicklung, wie Paulſen meint, in einer Spirale verlaufe, oder ob fie, wie ich ſagte, in ungezählten Richtungen, etwa ſtrahlenförmig ſich vollziehe, dabei von Ablenkungen und Hemmungen ſowohl wie auch von neuen Anlaufsmöglichkeiten beeinflußt fei, iſt letzten Endes eine Kärrnerfrage. Das Entſcheidende ift: Fortentwicklung oder Rück läufigteit? Wenn Paulſen, ebenſo wie ich, der in fih zurückbiegenden Kreisbahn Nietzſches die ewige Unendlichteitsbahn entgegenhält, nur daß er mit der Annahme eines Spiral— ganges dieſer wiederum, wie auch Nietzſche, an dem er es tadelt, eine mathematiſche Figur unterlegt, ſo ſpricht er damit wohl mehr eine Phantaſievorſtellung als ein untergründetes

Ewige Wieberkunſt des Gleichen oder Aufwärtsentwicklung? 325

Urteil aus. Im unendlichen Weltganzen. wo es kein Oben und kein Unten, keinen Mittelpunkt und keinen Grenzbalken gibt, ift die angelloſe, zwangsläufige Spirale genau fo ein zurecht⸗ gezirkeltes „mathematiſches Gedankending“ wie die Kreisbahn Nietzſches, und die Mabrſchein⸗ lichkeit ihrer Zugrundelegung als die äußere Gleisbahn für die Fortentwicklung iſt nicht arößer als die der Annahme einer cum grano salis zu verftehen! geradlinigen Entwicklung. Bedenklicher als die Spiralvorſtellung, die immerbin erörterbar ift und nicht außer dem Bereiche der Möglichkeit liegt, erſcheint mir Paulſens Annahme eines „wachſenden“ Gottes, der „deſto größer wird,“ je mehr wir ihn „in und mit unferem eigenen Machstum erleben“. Als ich die Stelle las, glaubte ich zunächſt, daß fie bi“ iich gemeint fei, in Hindeutung auf die bekannte optiſche Täuſchung. daß die Größe einer weftalt oder eines Gegenſtandes, je nach der zu- oder abnehmenden Entfernung vom Befchauer, zu ſchwinden oder zu wachſen ſcheint. Aber ſchon der nächſte Satz, der das „Wachstum“ Gottes nicht als ein ſinnbildliches Gleichnis, ſondern als logiſches Beweismittel, als ein gedankengeſchliffenes Geſchoß auf die gegneriſche Überzeugung anwendet, widerlegte diefe Meinung. Paulſen ſchreibt: „Menn Gott wachſenbd ift, dann ift die Karuſſellphiloſophie der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ abgetan. Eine Verwandlung von gleich zu gleich iſt überhaupt nicht als Leben anzuerkennen.“ Und weiterhin: „Diefe Lehre iſt nicht darum fo ſchwer erträglich, weil etwa es nicht erträglich wäre, die gleiche Mühſal noch einmal auf fidh. zu nehmen, ſondern weil der Weg bei keiner Wieder- holung weiterführt.“ ö ö In dieſem Punkt tut er Nietzſche unrecht. Nietzſche denkt gar nicht daran, zu lehren, daß ein Leben dem andern gleiche, ohne jedwede „Weiterfübrung“ und Steigerung. Im Gegenteil: er zeigt uns ja den Weg über uns felbft hinaus und lehrt uns den Übermenſchen. Nur daß er ſich dabei widerſpricht, widerſprechen mußte. Er konnte gar nicht anders, weil er und das ift das Tragiſche an dieſem großen Oenkergeiſte! feinen Pfadſucherweg in dle ſternerfüllte Unendlichkeit hinein von einer falſchen Vorausſetzung aus angetreten hat. Und auch dieſe falſche Vorausſetzung muß begriffen werden nicht als ein Oenkfehler, den er ſelbſt verſchuldet hat, ſondern als das Oanaergeſchenk feiner Überlieferung, in die auch noch der freieſte Denker verwurzelt iſt. Dieſe falſche Vorausſetzung war die unphiloſophiſche, aber wiſſenſchaftlich verbreitete Annahme, daß die Welt etwas Endliches, Begrenztes fei eine Inſel im Nichts. Und gekommen ift er zu dieſer Annahme, er, der ariſtokratiſche Dichter philoſoph, ZIdealiſt und Individualiſt wie die Poſitiviſten, Hume, Comte u. a. vor ihm, wie die Neurelativiſten, fo auch Einſtein z. V. nach ihm durch die Lehre von der Größen- welt: die Mathematik. | | Da ift es ausgeſprochen. Es ift ein Widerſpruch in fih ſelbſt, die Maßſtäbe der ſinnlichen Erfahrungswelt, die abſteckend, ſcheidend, ſcharfumführend aus unſeren räumlichen Begren- zungen hergenommen ſind und die auch nicht anders als eben nur den Zwecken der Begrenzung dienen können, nun als Werkzeuge zur Erforſchung und Ermeſſung des Überfinnlichen, unbegrenzten (!) anzunehmen. Das heißt einem Behelf, der endlich ift, Aufgaben über ſich hinaus, denen er nicht gewachſen ift, zuzumuten: Unendliches! Das heißt dem Welt- ganzen mit einem armfeligen Rechenerempel beikommen zu wollen! Nein, die Schneider rechnung ſtimmt nicht. Auch die Elle der neuen „Relativiſten“ iſt nicht die Zauberrute, die uns die Pforten der Ewigkeit entriegeln kann. Die Metaphyſik, wie ſchon der Name ſagt, liegt doch wohl jenſeits des Ufers. And kein noch fo ſchön geſpitzter Zollſtab eines Arm- bruſtſchützen wird den dunklen Strom überſpringen. Das müſſen ſchon andere Geſchoſſe ſein! Die Mathematik alſo iſt hier Schuldträgerin: das heißt natürlich nur in ihrer falſchen, unzuftändigen Anwendung! Oaher die Verwechſlung des irdiſchen, erfahrungsweltlichen, geometriſchen Raumes mit dem nur philoſophiſch zu erſchließenden metaphyſiſchen, überfinnlihen Raume ohne Zentrum und Peripherie, deffen „empiriſche Realität“ (neben der „tranſzendentalen Idealität“) auch Kant nicht leugnet. Daher der Widerſinn, daß der Welten-

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raum ebenſo wie die Sinnenräume etwas Endliches, Begrenztes, zu Errechnendes, durch einen Bretterzaun oder Schlagbaum gegen das Nichts Abzugrenzendes ſei. Daher auch die durch- aus logiſche, unausweichliche Schlußfolgerung Nietzſches, daß in einer endlichen Welt wie in einem Kaleidoſkop eine jede Kombination in der Unendlichkeit der Zeit mit mathematiſcher Sicherheit ſich wiederholen müſſe.

Aber auch noch andere Argumente als mathematiſche werden für die Endlichkeit der Welt ins Feld geführt. Die neue Votſchaft der Relativiften ſagt: Wenn es eine ſternerfüllte Unendlichkeit gäbe, ſo müßten wir, da das Licht „nicht verſchluckt werde“, elend verbrennen. Als ob nicht zu ſolchem Autodafé die Handvoll Sterne, die an unſerm Erdenhimmel glüht, gerade ſchon genügte, wenn nicht eben die gute Mutter Natur dagegen vorgeſorgt hätte! Und dann das Licht der Sterne auf feiner langen Wanderſchaft zu uns wird nicht „ver ſchluckt“? Nicht zu Ather zerſtreut? Nicht an kosmiſchen Staub gebunden? Nimmt nicht ab mit der zunehmenden Entfernung der Geſtirne? Wo dann z. B. verſteckt ſich das Licht des Sirius auf unſerer Erde? Oder das des Nigel und der Beteigeuze aus dem Orion? Alles Sterne, deren Leuchtkraft die der Sonne um ein Vielfaches übertreffen und die wir doch nur als Sterne und nicht als Sonnen wahrnehmen. Und die Sonne ſelbſt? Wären wir nicht längſt zu Aſche und Wind verbrannt, wenn das ganze Licht ihrer der Erde korreſpon— dierenden Fläche uns erreichte, träfe? Wird ſie den Uranusſöhnen noch ebenſo hell erſcheinen und warm leuchten wie uns Kindern der Erde? Sollten die ungeheueren Raumwüſten, die zwiſchen den unzähligen Weltſyſtemen gebreitet liegen, nicht den Zweck iſolierender Ringe erfüllen, die jede Kunde und Botſchaft, frohe und feindliche, von Welt zu Welt verhindern? Die nur Flügeln Gottes und der Seele zugängig find? Und gleichen fih die Kräfte zwiſch en ſterbenden und gebärenden Sonnen nicht ununterbrochen aus „ein ewiges Meer, ein wechſelnd Weben“? Nein, mit dieſem „Beweiſe“ für die „Endlichkeit der Welt“ iſt es wohl ebenſowenig etwas, und ſo bald brauchen wir's noch nicht zu fürchten, daß wir uns an den Feuern der Unendlichkeit die Augenbrauen verſengen. i

Nur die Unendlichkeit der Welt verbürgt uns den Sinn des Seins: die unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeit des Aufſtieges zu Gott. Kurt Geucke

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Herm. Anders Krüger (Zum 50. Geburtstag am 11. Auguſt)

LIE in halbes Jahrhundert ift noch kein Zeitraum, der berechtigte, unter das Leben A 2 und Schaffen eines Künſtlers von den Frühvollendeten abgeſehen einen V/ktrich zu ſetzen und das Ergebnis zuſammenzurechnen. Aber Weg und Ziel des Künſtlers laffen ſich von einer Fünfzigjahreswende aus febr wohl überſchauen. Hermann Anders Krüger hat ja übrigens auch in feinen Werken ſchon ſelbſt zu feinem Werden und Wachſen Stellung genommen. Wenn er dabei in ſeiner noch unveröffentlichten „Lebensrechenſchaft“ auf die Frage: „Was iſt wahr daran?“ (nämlich an dem, was er z. B. in feinem Roman „Sirenenliebe“ ſchildert), antwortet: „Alles iſt wahr, denn es iſt alles erlebt, zum mindeſten in Gedanken, und nichts iſt wahr, denn nichts davon iſt ſo geſchehen“, ſo laſſen ſeine Werke doch mehr als bei anderen Oichtern ein ziemlich naturgetreues Bild des Lebens- und Werde- ganges ihres Verfaſſers erkennen.

Wichtig war bei H. A. Krüger das religiöſe Element ſeiner herrnhutiſchen Abſtammung, Umgebung und Erziehung. Obſchon auf feine Art, iſt er doch ein typiſches Beiſpiel für das Ringen und Reifen eines deutſchen Dichters feiner Zeit, ja vielleicht eines Oeutſchen überhaupt. Seine trotz aller Armut bewahrte unerbittliche Treue gegen ſich ſelbſt, bei ſtrengſter Beachtung eines ihm in Fleiſch und Blut übergegangenen Sittengeſetzes, und ſein faſt bis zur grauſamen Selbſtzerſtörung treibender Trotz gegen jedes Unrecht; die inwendig drängende Lebensluſt und das Aufbäumen gegen die üblichen Gelegenheiten, ihr genug zu tun; der eiſerne Wille, ſich aus all dieſen Klippen und Engen, Nöten und Hemmniſſen herauszuarbeiten auf die Höhe weiter Lebensbeherrſchung und ſtarker Selbſtſicherheit: beweiſen den deutſchen Charakter. Auch die Teilnahme an gewiſſen politiſchen Strömungen, die ſogleich mit der ganzen Kraft des deutſchen Zdealiſten aufgenommen und voll inbrünſtigen Glaubens an die Menſchheit verteidigt werden, bezeugt den Deutſchen.

| Geboren am 11. August 1871 in Dorpat, verlebte H. A. Krüger als Sohn eines Predigers der Herrnhuter Brüdergemeinde feine Jugend zunächſt in Altona, Königsfeld (Baden) und Gnadenfrei (Schleſien). Unter der Obhut einer ſtillen, feinen und ſchönen Mutter und in der Zucht eines ernſten, ſtrengen, bis zur Selbſtverneinung pflichttreuen Vaters wuchs er neben mehreren Geſchwiſtern heran, beſonders gehegt und gepflegt von feiner über alles geliebten Großmutter. Aber die durch manchen luſtigen Streich ausgefüllte Zeit in Gnadenfrei lief ſchnell ab; im Progymnaſium zu Niesky gab es ſchon ernſtere Tage und ſchwerere Auf- gaben, die ihm ins Innere griffen. In Gnadenfrei endlich, wo der stud. theol. ſehr bald zu entſcheidenden Kämpfen gedrängt wurde, ſtellte ihn fein beſorgter und erzürnter Vater; es kam zu heftigen Auseinanderſetzungen, und das Ende vom Lied war, daß Herm. Anders Krüger der Theologie ſchließlich doch den Abſchied gab, um ſich dem Lehrfach zuzuwenden. Über Dresden, wo er den durch einen Briefwechſel mit ihm bekannt gewordenen und ihm freund- lich geſinnten Literarhiſtoriker Adolf Stern beſuchte, reiſte er, Heidelberg bewundernd,

328 Herm. Anders Krüger

nach Königsfeld (Baden), wo er eine magere Lehrerſtelle fand. Der Verdienſt war karg, aber der junge Lehrer ſparte doch noch. Zwar die kleine Schweizerreiſe, auf der er ſein Herz ſchleunigſt an eine Oſterreicherin verlor, bezahlte die von ihm begleitete Tante, aber die Reiſe nach Leipzig (1895) beſtritt er aus eigenen Mitteln. In Leipzig nämlich begann er nun mit allem Eifer zu ſtudieren. Von Adolf Stern freundlich empfohlen, fand er in Karl Lamprecht und Erich Marcks treue Förderer. Leider zehrte das Soldatenjahr alsbald ſeine letzten, äußerſt feft zuſammengehaltenen Spargroſchen auf, fo daß er, ohne fein Studium abſchliaßen zu können, wieder eine Lehrerſtelle ſuchen mußte. Er fand fie in Genua an der deutſchen Schule. Hier entſtand manches Gedicht, hier wurde „Die ſchöne Mailänderin“ erlabt; hier lernte Krüger auch den inzwiſchen fo bekannt gewordenen Profeſſor Francesco Nuffini kennen. Aber wichtiger als all das blieb ihm ſein Studium. Und als er wieder ein Sümmchen zuſammen— geſpart, ging es nach einer Rundreiſe über Rom, Neapel, Meſſina und Venedig nach Leipzig zurück. Nicht lange und der Doktor summa cum laude war gemacht, was auch den Vater endlich verſöhnte. In Leipzig kam (1897) auch „Ritter Hans“ zur Aufführung. In demſelben Jahre erſchien ferner die ſchöne Mailänderin unter dem Titel „Sirenenliecbe“ und fand gute Aufnahme; die erſte Gedichtſammlung „Simple Lieder“ wurde gleichfalls veröffentlicht. Was aber für H. A. Krüger vielleicht wichtiger wurde, war der Verkehr bei den „Stalaktiten“, der ihn mit Max Klinger, Hans Meyer, Bruno Eelbo u. a. in Berührung brachte, und feine Liebe zum Kabl, einem ſchlichten, aber in feiner fraulichen Feinheit und Reinheit rührenden Mädchen.

Es iſt ohne weiteres klar, daß für einen Mann wie H. A. Krüger eine Stadt wie Dresden von Bedeutung ſein mußte, und ſo finden wir ihn denn auch 1898 in Elbflorenz, wo er erſt als Lehrer an einer ſogenannten „Preſſe“, dann als Königl. Unterbibliothekar fein Brot ver- dient. Dieſe Dresdener Fahre find für Krüger außerordentlich reich, und er weiß in feiner „Lebensrechenſchaft“ gerade von ihnen prächtig zu erzählen. Nicht nur ſeine künſtleriſche Um- gebung, auch ſeine Beziehungen zu geiſtig hochſtehenden, ſtark kultivierten Menſchen und ſein Umgang mit feingebildeten und liebenswürdigen Frauen fördern ſeine innerliche Entwicklung ganz bedeutend. Wenn auch fein Drama „Väter“ noch kein voller Erfolg war und fein Roman „Der Weg im Tal“ ſein Beſtes noch nicht gab, wenn auch ſeine 1894 erſchienenen kleineren Streitſchriften „Pſeudoromantik“ und „Kritiſche Studien über das Dresdner Hoftheater“ weniger den Reifenden als den Ringenden zu Worte kommen ließen, jo war doch nun der nach Krügers kühn durchgeführter Verheiratung veröffentlichte Roman „Gottfried Kämpfer“ ein reifes Werk des ſich vollendenden Dichters. Dieſer inzwiſchen weithin bekannt gewordene „Herrnhutiſche Bubenroman“ verdankte feinen Erfolg nicht nur ſeiner eigenartigen herm- hutiſchen Gewandung, ſondern weit mehr noch feiner künſtleriſchen Kraft. Dieſe Lebens- . geſchichte des Knaben, der in jenem eigenartigen herrnhutiſchen Weſensele ment lebt und leidet, iſt vom Lebensblut des Dichters durchſtrömt, mit Dichteraugen geſehen und durchſchaut. Das eigene Erlebnis, das fih hier enthüllt, ift ſymboliſiert. Die Idee der Selbſtzucht und Selbſt— erziehung wird ins Menſchheitliche hineinprojiziert und gewinnt für jedes Leben Bedeutung, ohne daß die Tendenz den künſtleriſchen Eindruck des Werkes irgendwie trübte. Das Buch darf, von innen her geſehen und gewertet, als der Höhepunkt ſeines Schaffens gelten, wenn ihm auch die ſpäteren Werke, die der Dichter als Hochſchulprofeſſor in Hannover ſchrieb, nicht viel nachſtehen. Es ſei nur an das Drama „Der Kronprinz“, an die Tragödie „Der Graf von Gleichen“ und den nach einer Vortragsreiſe durch Nordamerika herausgegebenen Roman „Rafpar Krumbholz“ erinnert.

Während des Krieges ſtand Krüger im Felde, wo er fih ſchon 1914 vor Gpern das Eiſerne Kreuz I. Klaſſe erwarb. Heute wirkt er als thüringiſcher Staatsrat, eine Tätigkeit, die es, fo nützlich fie fein mag, doch hoffentlich dem Dichter nicht unmöglich macht, feinem eigentlichen höheren Berufe treu zu bleiben. Das iſt es, was wir Herm. Anders Krüger zum

50. Geburtstag herzlich wünſchen. Leonhard Schrickel Sr

Ein RÜüdslie auf bie Oante-Atbeit ber letzten Zahre in Oeutſchland 329

Ein Rückblick auf die Dante⸗Arbeit der letzten Jahre in

© ir Ungunſt der Zeiten zum Trotz > das Fahr 1921, in dem wir die ſechshundertſte SY Wiederkehr von Dantes Todestag feiern, eine ziemliche Anzahl von bemertens- E AA, werten Werken geliefert. Ich beginne meinen, die letzten zwei Jahre umſpannenden Rüd- und Überblick mit Alfred Baffermann, wohl dem bedeutendften Oanteforſcher hinter Karl Voßler. Baffermanns Komödienverdeutſchung erftredt ſich über volle dreißig Jahre. Die Hölle erſchien 1891, der Fegeberg 1909 und das Paradies noch rechtzeitig zum Dantejahr 1921 (München und Berlin, R. Oldenbourg). Er hat! alſo ein kleines Menſchenlͤ ben hindurch mit der Bewältigung des Stoffes gerungen. Ein altes Scherzwort ſagt, daß Über- ſetzungen und Frauen darin einander gleichen, daß die ſchönſten nicht die treueſten und die treueſten nicht die ſchönſten find. Baſſermanns Überfchung ift nun zumal fie in ihrem beliebigen Wechſel zwiſchen männlichen und weiblichen Reimen die allerleichteſte und bequemſt zu handhabende Form aufweiſt freilich eine der allertreueſten. Wenigſtens was die durch- gereimten betrifft. Denn unter den reimloſen gebührt dem alten Arzte Karl Bertrand noch immer die Palme. Auch im Paradies iſt Baſſermann ſeinen alten Grundſätzen hartnäckig treu geblieben. Er vermeidet alfo nicht Gewaltſamkeiten und Härten im Ausdruck und Satzbau, Aberfrachtung der Verſe mit Worten, Fremdartigkeit und Verwegenheit der Reime, Ver- wendung entlegener mundartlicher und altertümlicher (auch altertümelnder) Ausdrücke“. Ob immer zum Vorteil ſeiner Arbeit, und ob nicht doch Wohllaut und ſprachliche (nicht ſachliche) Klarheit allzu oft unter dieſen harten Bedingungen leiden, iſt eine andere Frage. So fielen mir gar manche Verszeilen als unſchön oder unklar auf. Hölle 1, 94; 9, 46, 62; 15, 1—3; 19, 64; 23, 133; 24, 20; 32, 39. Fegeberg 5, 98; 6, 4; 27 (Schluß). Paradies 14, 97 ff.; 16, 132; 30, 28; 88—90 und viele ſonſt. Daß Hekuba „wie 'ne Hündin boll“ (30, 21) ift in der

Dichtung als kräftig und alt wohl erlaubt, obſchon es fremd anmutet; ebenſo wie ſchrob ſtatt ſchraubte, gehrt und zirkt, das fih alles mehrmals wiederholt. Ein Beifpiel für „Gewaltſamkeit

und Härte im Ausdruck und Satzbau“ bildet Fegeberg 14, 140: Da ließ ich / Zurück den Schritt getan, nicht vorwärts fein (vgl. dazu 26, 156: Vor zum Bezeichneten nahm ich mein Schreiten). Ferner 24, 4: Und dieſen zwier verblich' nen Schatten / Floß Staunen zu durch ihrer Augen Gräben / Von mir; oder 27, 104: Doc Schweſter Rahel mag fih nie entſchlagen / Des Glas- blinks (ſoll heißen: Sie ſitzt gern vor ihrem Spiegel), ſowie 29, 49: Da fand die Kraft, die Stoff

leiht unſrem Schließen (die uns über Unterſchiede belehrt), und Paradies 8, 12: Der Stern

(Venus) / Oer Nacken bald, bald Brau' der Sonn' umfreit (bald vor, bald hinter der Sonne ſteht). Und ſolcher Zwangswendungen und Anſchönheiten find zahlreiche. Verwegene Reime (wie fie B. nennt) finden ſich ſehr häufig. Ein Beiſpiel genüge! Gleich lieberfülltem Weibe ſingend tat da / Sie ihrer Rede noch hinzu das Wort: / Beati, quorum teota sunt pecoata (Fegeberg 29, 1—3). Von den zahlreichen unreinen Reimen (die B. ja förmlich gefliſſentlich ſucht), will ich nicht reden, da er ſich auf Goethe (Ein reiner Reim wird wohl begehrt) ſchon 1891 berief und mit noch größerem Recht Heine (Leiſe zieht durch mein Gemüt das nur unreine Reime enthält) zur Entſchuldigung hätte anführen können. Beſonders auffallend ſind aber doch: nächſte und ſechſte, Felſen und wälzen, Folge und Solche, vierte und gürte

und zahlreiche derartige, die ſchon mehr als nur „unrein“ ſind. Altertümliche und daher oft

fremd anmutende oder gar ſchwerverſtändliche Worte ſind: Gehren, raiten (ſieben), gemeint (bewogen), wüjten (verwüſten), fih fegen (Reinigung der Seelen), Braſt, brüdt; jemand etwas unter die Füße bieten (hinlegen, ausbreiten, Par. 22, 129), briefen (verbriefen), in Stäten (beſtändig), Washeit (Weſenheit), Rank (Krümmung), zirkt, zeilt, pfahten. Die Altertümelei

330 Ein Rüdblid auf die Dante-Arbeit der letzten Zahre in Se utſchland

erſtreckt fih fogar auf die Schreibweiſe (Arzeney, Sääle, Göthe); auch fpricht er von Brettern und Schwellen (Leiterſproſſen) und Kreuzeshörnern (ſtatt Armen). Dante ſpricht freilich von den corni della croce; aber muß man fo wörtlich überſetzen? Baſſermann ſagt: Ja! Weil Dante gewaltſam gerungen hat mit Stoff und Inhalt ſeiner Dichtung, daß man oft ſogar das Knirſchen und Brechen der Sprachgelenke hört, ift der Überſetzer verpflichtet, alle Nauhig⸗ keiten, Sprödigkeiten uſw. nachzubilden. An ſolcher Knauplichkeit (Akribie) haben vielleicht die Danteforfher und Kommentatoren ihre Freude. Aber für die ift der große Aufwand ſolcher Peinlichkeit eigentlich ſchmählich vertan: die leſen ihren Dante in der Urſprache und bedürfen keiner Verdeutſchung.

Hat auch Baſſermann mit der Paradiesüberſetzung keinen großen Fortſchritt gegen die früheren Teile gezeigt den meiſten Überſetzern ſcheint es umgekehrt wie den Oantiſchen Sündern zu gehen, die es immer leichter haben, je mehr ſie vorſchreiten und damit nicht viel neue Blättlein feinem Dichterkranze hinzugefügt, fo hat er feiner Hauptfähigkeit als Dante- menſch, feinem Forſchergeiſte, durch die neuen Unterſuchungen und Feſtſtellungen wiederum das ehrenvollſte und verdienſtlichſte Zeugnis ausgeſtellt. So verdanken ihm denn die Dante-

gelehrten und -überjeger, die jetzigen wie die kommenden, Aufhellung und Sicherſtellung vieler

ſtrittigen Punkte. Z. B. Hölle 1, 63 und 105 (wo eine alte Frage wohl endlich richtig be— antwortet wurde), 4, 36; 5, 64; 18, 72; im Fegeberg 5, 133; 6, 96; 14, 62; 17, 51; 30, 15; 30, 15; 33, 35; und beſonders im Paradies, das von den drei Teilen den umfangreichſten Anhang hat, aus dem ich faſt alles als bemerkenswert und lehrreich erwähnen könnte. Daß einiges minder wichtig oder überflüſſig erſcheint, anderes Widerſpruch herausfordert oder wenig- ſtens keine Zuſtimmung erfahren kann, z iſt bei Schriftauslegungen ſelbſtverſtändlich. Aber ſolche Stellen gerade regen zum Nachdenken an und wirken befruchtend für den Danteader (Hölle 5, 64; 8, 41; Fegeberg 20, 119; 21, 19; 31, 116. Paradies 1, 9 (im Sinne von zurück: poetiſcher); 4, 63; 8, 61; 9, 46; 13, 50; 15, 6; 16, 63 und 103 u. a. m. Neu und überraſchend iſt die Fülle der hier nachgewieſenen Beziehungen zwiſchen Dante und Albertus Magnus. Alſo alles in allem iſt trotz den erwähnten kleinen oder größeren Ausſtellungen Baſſermanns Komödienübertragung ein Achtung heiſchendes und Dank verdienendes Werk für alle, die Dante nicht leſend genießen, ſondern ſtudieren wollen.

Dante, Göttliche Komödie, übertragen von Axel Lübbe (Erich Matthes, Verlag, Leipzig 1920). Die erſte (2) deutſche Übertragung mit wie im Urtext klingenden Reimen! Eine Beſchwörung alter Viſionen in neuem Bild und Klang! Lübbes Verdeutſchung ſtellt dar: eine Wiedergeburt aus dem Geiſte unſerer Zeit! Für die wir ihm nicht dankbar genug fein können. Dies alles ſchreibt Herr Matthes und ſchließt: Der Verleger glaubt ein Werk fördern zu müſſen, das, im ganzen genommen, etwas iſt wie eine göttliche Offenbarung! Axel Lübbe legt Wert darauf, zu betonen, daß nicht ſein Verdienſt, ſondern Gnade eines Größeren hier am Werke geweſen iſt. In neun Monaten wurde aufgezeichnet, was der nicht weichen wollende Geiſt diktierte.

Nach dieſen Fanfarenſtößen aus Oantiſchen Poſaunen wollen wir uns das Ne unmonats— kind einmal daraufhin betrachten, ob es wirklich ein von der Überſetzungsmuſe voll und ehrlich ausgetragenes Kind iſt. Ich behaupte, um die Sache kurz zu machen: daß es keine göttliche Offenbarung, ſondern eine in Purzelbaumreimen von einem Nachfahr Friederike Kempners zuſammengeſtoppelte Perſiflage des Erdundhimmelsliedes iſt. Und zum kürzeſten und ſpre— chendſten Beweiſe führe ich einige Stellen an:, Ich bin im dritten Kreis... wo Schnee ſchlamaſſelt (S. 26 jüdiſcher Jargon im Dante !). Ich fab an jeder Seite Leibverleiher (S. 301 foll Schatten heißen!). Das Tier ... / Des Schwanz fidh in die Wunde ſchiebt wie Riegel (). Der Skorpion ift gemeint (S. 213.) An Qual hier nicht mehr klopfe (S. 158 frage mich nicht länger). Durch Gras und Blumen kam der ſchlimme Streifen (S. 211 die Schlange! S. 209 das Qualtier genannt). Mit einem Blick, der kurz wie ein Handballen

Ein Rückblick auf die Dante-Arbeit der letzten Jahre in Oeutſchland 331

(S. 441 ſpannenkurzer Blick!). Er hieß einſt Ottokar, in Säuglingspellen / War beſſer er, als Wenzeslaus, fein Sproſſe / Im Bart, der müßig lag auf üppigen Fellen (S. 206). Jedoch die Spur Vergils war ſchon verwittert (S. 323, foll heißen: Doch hatte fih Vergil ſchon fort- begeben). So räͤch dich an dem Arme, der verwegen / Umarmte unſre Tochter, Piſiſtrato! / Der Herrſcher aber gab mild wie im Segen / Zur Antwort ihr mit Mienen, die nicht ſchadfroh: .. . Was tun wir dem denn, der uns Liebes tat fo? (S. 247.) In dieſer Art Reimen ift unfer Dichter von unerſchöpflichem Erfindungsreichtum: Mädchen, beſtät'gen, unflät'gen (S. 9), meineſt, Bein feft, Stein-neft (S. 91), Zufall, ſchuf all, Ruf hall (S. 121), Prahl-Haſt, Ballaft, Schwall faßt (125), Schnurband, Spur fand, Kurhand (13, Antlitz, Hand flitz, geb annt ſitz (148), Sordell hier, Hotel ſchier, Bordellgier (200), ließ fie, Oderiſi, Paris fie (225). Die Eigennamen hat er beſonders aufs Korn genommen: Ziehn, wo erſchien, oh Aquino (395); getan. Oh Oamiano Adriano (455); Schar da Piccarda ftare da (290). Dieſen Reimen verwandt find folgende: ſtet nie, gedreht hie, Petri (267); zuſchrie, Ruh lieh, tibi, oui (419), und die häufigen Zuſammenkoppelungen von nie die ſie die wie die hie nie für die Tür nie ſpür, wie und ähnliche. Auch auf Antwort wird unzählige Male gereimt: Hand dort, Brand fort, ſchwand fort, Standort, Land fort, kannt dort uſw. Dante hat ſich einmal im Paradies 24, 16 einen Reim durch Unterbrechung eines langen Wortes erlaubt. Dies hat Lübbe fünfmal oder öfter nachgeahmt: Rieſen-hundartigen (was noch verzeihlich ift). Aber: Mit erwidern der Miene (318), mit Reim auf Lichtumfriedern, und: Die den ſcheiden- den Teil trifft (auf kleiden und beiden gereimt, S. 507) iſt ſelbſt im Baſſermannſchen Sinne ein zu verwegener Reimunfug. Von Baſſermann ſcheint Lübbe (der wohl ein Mecklenburger iſt) auch die Vorliebe für entlegene oder mundartliche Worte entlehnt zu haben. Man findet neben ſtur (ſtolz) und kriſch (kreiſchte) auch bräuchte, Schwatte, zergen, ähnen (ähneln), ſchroben (ſchrauben) und jug für jagte, ſtachen für ſteckten (viel hundert Geiſter ſtachen drin). Auch die falſche Beugung von Herz (Da kam dem Herz, ſtatt Herzen) hat ihm Baſſermann (Hölle 32, 39) vorgeahnt ſowie die Verwendung der Einſilberverszeilen, darin Lübbe ihn noch übertrifft.

Der große Geiſt, der ihm diktiert hat, ſcheint alſo nicht Dantes antiker Geiſt geweſen zu ſein. Und doch, und doch und trotz alledem: Lübbe hat eine ſtarke dichteriſche Ader. Denn es begegnen Worte und Bildungen, geſchickte Wendungen, die Anſchauungskraft und poetiſches Vermögen zeigen (S. 157, 165, 200, 216, 309, 312, 324, 457 und wohl noch öfter). Mir ſcheint, Lübbe ift ein Opfer feiner Originalitätsſucht geworden. Vielleicht arbeitet er feine Komödie noch einmal um; nicht in neun, ſondern in neunzehn Monaten. Und ohne auf den diktierenden Geiſt zu hören, der ihn diesmal ſo ſcheußlich hineingelegt hat, wie es meiſtens die Geiſter tun, die man zitiert und nicht wieder los wird. Drei Titelbilder ſind dem Buch beigegeben: die zu Hölle und Paradies ſcheinen miteinander verwechſelt zu fein; das zum Fegefeuer hat einige in der Luft zerplatzende Granaten. Der Oeckel zeigt in Golddruck einen die Naſe rümpfenden Dante: er tut's mit Recht! So ward noch nie über Dante gelacht wie hier...

Was uns lange gefehlt hat, brachte der Heidelberger Univerſitätsprofeſſor Dr Leonardo Olſchki: Dante Alighieri, La Divina Commedia, Vollſtändiger Text, mit Erläuterungen, Grammatik, Gloſſen und fieben Tafeln (Heidelberg, Julius Groos, 1918). Es ift alfo eine mit deutſchem Kommentar verſehene Textausgabe. Sein Vorläufer in gewiſſem Sinne! vor länger als dreißig Jahren war Alberto (Bernhard Schuler) mit ſeiner Divina Comedia di Dante Alighieri. Italieniſcher Text mit deutſchem Kommentar. Skizzen und grammati- kaliſche Hilfstabellen (Zweibrücken, M. Ruppert, 1889). Da dieſe Ausgabe, die ſeinerzeit Hettinger warm empfohlen hat, längſt vergriffen iſt und nicht wieder aufgelegt wurde, iſt dieſe von einer höheren Warte aus zu bewertende Olſchkiſche Ausgabe wärmſtens zu begrüßen. Der Text iſt der der Vulgata. Der Kommentar ſtrebt nach knapper Faſſung und verfolgt den doppelten Zweck, den Anfänger mit Dantes Gedicht vertraut zu machen und den Kenner über die Auslegung vieldeutiger Stellen anſpruchslos zu unterrichten. Zur Entlaſtung und Er-

332 Ein Nüdblie auf bie Sante -Arbelt der letzten Zahre in Heutſchlanb

gänzung des Kommentars dient die höchſt lobenswerte Grammatik, an die ſich ein ausreichender Gloſſar anſchließt, eine kurze, aber genügende Abhandlung über die Metrik, ein Namenregiſter mit eingefügten Erklärungen und eines zur Grammatik. Sieben Tafeln (darunter zwei vom Beſprecher) helfen das Verſtändnis erleichtern. Bemerkenswert im höchſten Maße iſt die Geſchicklichkeit, mit der Olſchki die große Schwierigkeit überwunden hat, bei der Knappheit des Kommentars einander widerſprechende Deutungen nach ihrem höchſten Wahrfchr inlichkeite- grade zu prüfen. Es koſtete dem Gelehrten ſicherlich in vielen Fällen eine Überwindung, das dogmatiſch feſtzule gen, was eigentlich zweifelhaft ift. Im übrigen hat er es ſich zur dankens— werten Regel gemacht, den Lefer nicht allzu febr vom Texte abzulenken, ihm aber ausreichende Mittel für deſſen Verſtändnis zu bieten. So kann der Leſer dem Herausgeber überall das weiteſtgehende Vertrauen in feine Gewiſſenhaftigkeit entgogenbringen. Trotz den Nöten der Zeit hat der Verlag dem wertvollen Werke eine würdige Ausſtattung gegeben. Die Dünn- druckpapierausgabe ift ungeachtet ihres Umfanges von 640 Seiten ein handliches Büchlein geblieben, das die ſtudierende Jugend bequem in der Taſche mit ſich führen kann.

Als Band 181 der Oeutſchen Schulausgaben, die im Verlage von Velhagen & Klaſing (Bielefeld und Leipzig) erſcheinen, legt Profeſſor Otto Hempel Dantes Göttliche Komödie im Auszuge vor. Und zwar auf Grund der Streckfußſchen Überfegung. Dieſe Schulausgabe enthält eine ſehr gute Einleitung. Viell icht wäre es beſſer geweſen, jtatt nur die Streckfußſche Uberſetzung (mit ihren vielen Übertragungsmängeln und Farbloſigkeiten) anzuführen, auch andere Verdeutſcher zu Worte kommen zu laſſen; z. B. Graul, den leider fo unbekannten meiſterlichen Höllen-Verdeutſcher, Gildemeiſter und Bertrand. Die einzelnen Geſänge find mit Geſchmack aus- gewählt und gekürzt. Daß die Franzeska-, die Ugolinofzene und Sordellos W. pruf über. Italien fehlen, ift kein Unglüd; obwohl der letztere lehrreiche Ausblicke in Deutjchlands Gegen- wart ermöglicht hätte. Aber von den Cacciaguidageſängen hätte ein Teil gebracht werden müſſen.

Wenn Paul Poch hammer im Merkur wo nach ſeiner Anſicht Dante feine Forſcher und Verdeutſcher um ſich verſammelt von dem großen und wohlverdienten Erfolge hört, den feine Nachdichtung in unverminderter Weiſe erfährt, fo ſchlägt er im himmliſchen Feuer- werk vor Freude gewiß ein prächtiges Sonnenrad! Die dritte Auflage der kleinen Ausgabe und die vierte der großen ſind ſchnell aufeinander gefolgt (Dantes Göttliche Komödie in deutſchen Stanzen frei bearbeitet. Mit einem Oantebild nach Giotto von E. Burnand, Buch- ſchmuck von H. Vogeler-Worpswede und zehn Skizzen. Leipzig und Berlin, B. G. Teubner, 1920 und 1921. Große Ausgabe XCVI und 462, Kleine XVI und 400 Seiten; dieſe mit 3 Bildern von Staſſen). Veide durch kurze, warmempfundene Geleitworte von Frau Margarete eingeleitet. Wenn öfter die Frage aufgeworfen wurde, warum Pochhammer bei feiner hohen dichteriſchen Begabung das Originalversmaß verlaſſen und die italienischen Oktaven für ein deutſcheres Versmaß erklärt hat, als die gleichfalls italieniſchen Terzinen, ſo glaube ich den Grund zu kennen. Er hat mir mehrmals verſichert, daß es ihm unmöglich geweſen, „den kunſtvollen, dreifach verſchlungenen Bau der Oanteverſe nachzubilden, weil ihm bei dem ewigen Geſchaukel der eintönigen Terzinen ſeekrank zumute geworden“. Er verkannte dabei, daß die Oktave das der Terzine innewohnende Zuſammenhangsgefühl, ich möchte fagen: den roten Faden zerſtört. So hat er denn als alter Soldat, barſch und kurz-reſolviert, die geſchloſſenen Dantiſchen Terzinenregimenter umkommandiert und in einzelne Pochhammerſche Oktaven— kompagnien aufgelöſt. So mußte bei dieſem ſtrikten Marſchbefehl die Dantiſche Komödie Order parieren und zur Pochhammer-Komödie werden. Überhaupt ſteht Pochhammer feinem Dichter allzu ſehr als Soldat und Waffenbruder gegenüber, ſo daß er den Tag von Campaldino für den wichtigſten im Oanteleben erklärt (2) und die Vorrede unterzeichnet: Berlin-Lichter⸗ felde-Weſt (Begonienplatz) am 623. Gedenktage der Waffentat Durante Aldigers ... Pod- hammer, Oberſtleutnant z. O., zugeteilt der Generalinſpektion des Ingenieur- und Pionier

Stilrichtungen deutſcher Malerei im 19. Jahrhundert 333

korps und der Feſtungen, Dr. phil. h. c. und Profeſſor. Die geſchmackvolle und eine feine Feder führende Hand Frau Margaretens müßte hierin Wandel ſchaffen; vor allem das komiſch wirkende Notenblatt zur Komödie endlich ſtreichen und den Proſatext überhaupt durcharbeiten oder von einem berufenen Danteforſcher kürzen laffen. Es finden fih hierin gar zu viele Abſonderlichkeiten und Fehlgriffe, Widerſpruch hervorrufende unhaltbare Behauptungen, die einem feiner Verantwortlichkeit bewußten Forſcher nicht gut zu Geſichte ſtehen. Pod- hammer beweiſt damit, daß man ein vortrefflicher Dantenachdichter und ein anfechtbarer Danteforſcher fein kann wie dies auch umgekehrt häufig genug der Fall ift. Ebenſo verſagen die als Kommentar gedachten Überſichten und Rückblicke. Was man ſucht, findet man ſchwer oder gar nicht; und das einmal durch Zufall Entdeckte entzieht fih der Wiederauffindung durch die mangelnde Überſichtlichkeit. Aber das find kleine, unter Umftänden leicht zu beſeitigende Mängel (fie find des öfteren gerügt worden), und fie tun der prächtigen, von wärmſter Begeiſte⸗ rung durchpulſten Nachdichtung keinen Abtrag. Ich ſtehe nicht an, Pochhammers Oktaven nach wie vor an die Spitze aller freien Bearbeitungen zu ſtellen; fei es nun Krigar, Berneck, Braun, Haſenclever oder auch Kohler (Berlin, Köln, Albert Ahn, 1901—03), der in feiner ſtellenweiſe allerdings geiſtreichen und poetiſchen Danteumdichtung der Heiligen Reife gar zu oft den Oantiſchen Geiſt durch eigenen erſetzt und auch ſonſt ohne Bedenken von Dantes Pfaden abweicht. Pochhammers Arbeit zeichnet fih durch Adel der Sprache und wahre Be- geiſterung für den Dichter in jeder Zeile aus. Eine Begeiſterung, die ſich auch auf den Leſer überträgt! Daß bei der Oktave die paarweise gereimten Schlußzeilen eine Klippe find, die ſchon beſſere Dichter zu matten Verſen verführten, muß man eben mit in den Kauf nehmen, obwohl fie bei Dante beſonders ſchwer wiegen. Jedenfalls vertiefe ich mich ab und zu immer wieder gern in den ſchönen, vornehmen Fluß der Pochhammerſchen Verſe. Es weiß auch wohl kaum einer ſo gut wie ich, mit welcher Sorgfalt er jede Neuauflage durcharbeitete und wie er allen berechtigten Vorſchlägen ein geneigtes Ohr lieh: von etwa dreihundert Ber- beſſerungsvorſchlägen, die ich ihm ſeinerzeit machen durfte, hat er fünf Sechſtel in ſeine zweite Auflage übernommen. Unſaub ere Reime, falſche Konjunktive (wie bei Stefan George), häß- liche Apokopen (wie bei dem ſonſt trefflichen Gildemeiſter), Wechſel der Zeiten, Unklarheit oder Geſchraubtheit und andere Kainszeichen des Dilettantismus wird man bei unferem Oberſt⸗ leutnant nicht finden. Wenn unſere Oanteverdeutſcher von jeher mit Pochhammers Liebe und Sorgfalt an ihre Arbeit gegangen wären und die gleiche Achtung vor der Mutterſprache gezeigt hätten, fo könnten wir ſchon fünfzig Jahre länger begeiſterte Oanteleſer in Oeutſchland haben.

Richard Zoozmann „#00 i

Stilrichtungen deutſcher Malerei im 19. Jahrhundert

8 NEIN s ift Aufgabe der Wiſſenſchaft, geſchichtliche Erſcheinungen nach beſtimmten Gefichts- G KO » punkten zu ordnen, um Einſicht in die treibenden Kräfte des Werdens zu erleichtern, v2. 00So geſchieht es auch in der Kunſt.

Aber den Abteilungen der Kunſt des 19. Jahrhunderts leſen wir gewöhnlich die Titel: Kaſſiziſten, Romantiker, Nazarener, Biedermeier, Wirklichkeitsmaler ufw. Solche Namen haben ihre Berechtigung. Indeſſen ift es nicht nur ein Geſichtspunkt, der die Teilung beftimmt. Einmal bezeichnet der zuſammenfaſſende Gedanke gemeinſame Formabſichten, ein andermal eine ſeeliſche Stimmung, die mehreren Rünftlern in gleicher oder ähnlicher Weiſe innewohnt. Es wäre für die Betrachtung fruchtbar, wenn man neben die übliche Faſſung, die nicht um-

334 Stilrichtungen deutſcher Malerei im 19. Jahrhundeti

geſtoßen zu werden braucht, eine andere, übergeordnete, nur nach formlicher Eigenart be- wertende ſetzte. Die Überficht würde dadurch gefördert, der Gruppen werden weniger. Der Zuſammenhang mit der Vergangenheit und der Gegenwart iſt deutlicher herzuſtellen. Ja, es bleiben eigentlich nur zwei Richtungen übrig, die das Jahrhundert beherrſchen: die Körper- und die Lichtmalerei. Als Vertreter der erſten wären zu nennen: Cornelius, die Nazarener, Schwind, Feuerbach, Böcklin, Marées. Zur zweiten Gruppe gehören: Spitzweg, Menzel, Leibl, Liebermann.

Die Maler der erſten Richtung geben die dargeſtellten Gegenſtände in feſten Umriſſen. Da dieſe Art des Geſtaltens einſt in Ftalien ihren Höhepunkt erreicht hatte, fo wird der An- ſchluß an die italiſche Nenaiffance und ihr Vorbild, die Antike, geſucht. Doch ift die Bindung nicht bei allen Künſtlern der Gruppe gleich ſtark. Böcklin verurteilt ausdrücklich die italiſche Malerei und nimmt die frühen Niederländer als Vorbild. Es mögen feine diesbezüglichen, von Flörke mitgeteilten Worte erwähnt werden. „Diefe Florentiner! Wenn man von den Niederländern kommt Nacht wird's. Kinder ſind ſie. Beobachtungen machen gibt's nicht. Nach 50 Jahren hat Ghirlandaje noch nicht geſehen, daß gewiſſe Farben immer vortreten, daß z. B. gewiſſe Rot in verſchiedenen Entfernungen verſchieden wirken. Er aber ſetzt das- ſelbe hinten und vorn hin. Kein Raum daher, keine Ruhe folglich. Und nun: nicht einmal eine künſtleriſche Rechnung, eine größere, haben fie machen können. Nirgends fällt ihnen etwas ein zur Sache. Vo ein leerer Raum bleibt, wird ein Gewandſchnörkel oder ein Blumentöpfchen hingemalt. Eine Virkung, z. B. die mit dem Teppich, mit der Mauer uſw., einmal entdeckt, wird unerbittlich weiterbenutzt als das A und O.

„Nie haben ſie etwas zu erzählen, etwas mitzuteilen: die Niederländer ſind bis in die Heinften Fingerſpitzen voll. Kinder find die Florentiner in der Kunſt, ärmliche hohle Geſellen find diefe Botticelli uſw. Während fo ein van End-Schüler durchempfunden ift bis ins kleinſte, und doch all dies Kleine nur wieder aus der liebevoll durchempfundenen, alles belebenden Idee, aus dem Großen heraus, als mit dem Ganzen Eins er- und empfunden iſt.“

„Nein, dieſer Rogier van der Wenden z. B. Bis ins letzte, kleinſte hinein alles belebt, alles durch und durch verſtanden, alles künſtleriſch, nirgends gepfuſcht. und womit und wie das gemalt iſt, iſt nun vollends ein Rätſel. Gemalt ſcheint es überhaupt nicht. Man ſieht keine Arbeit, kein Sichabmühen mit widerſpenſtigem Material. Mit Ol, Firnis, oder was wir ſonſt haben, iſt das nicht gemalt.

„Daneben nun die beiten Staliener als Maler. Gleich hört's auf, überall ſetzt das Können aus und nun gar an Stellen, wo ſie ſich unbeobachtet glauben! Nehme man ſelbſt jedes Bild von Tizian, z. B. gleich die liegende Venus“ (Uffizien) und ſehe ſich den grünen Vor— hang an. Meinetwegen hatte Tizian ſich ſchon ausgeſprochen und wollte fih nun nicht mehr unnütz mit Nebendingen aufhalten. Aber er brauchte, bei der andeutendſten Behandlung, nicht zu zeigen, daß er nicht wußte, wie ſolcher Stoff in der Ferne wirkt, wie er fällt uſw. Er konnte das mit ebenſowenig alles machen, und zwar richtig. „Aber nein, dahinten pfuſcht er eben.“

„Wir haben da einen Perugino mit feinen ganz gewöhnlichen, gemeinen Ateliergewand— kniffen und wenn gleich darauf Fra Bartolommeo fih eine Bettdecke hinlegt und fie nad- malt, wird der Kohl auch nicht fetter.“

„Ich kann diefe Kerle von Stalienern nicht leiden, aber ich möchte doch wieder hin. Die Italiener waren ſtets frech, wie jeder, der unfehlbar, alſo kritiklos, lächelnd von ſich über- zeugt iſt. Und der Majorität imponiert ein ſicheres Auftreten immer. Danach wird einer beurteilt. Zudem ſagten und ſchrien ſie's von jeher ſelbſt. Daher die Rolle, die ſie in Europa und beſonders in dem ſchwerfälligen, derben oder beſcheidenen Deutſchland ſpielen konnten.“

Die Abneigung gegen italieniſches Geſtalten und Vorliebe für germanische Auffaſſung zeigt ſich deutlich. Böcklins Sehnſucht nach Stalien ift nur in feiner Freude an der ſüdlichen Natur gegründet. Als ſtoffliche Erſcheinung ſieht er jene Natur durchaus mit germaͤniſchen

Stilrichtungen deutſcher Malerei im 19. Jahrhundert 335

Augen. Er hat viel von den Niederländern gelernt. Er weiß das Seidige, Leuchtende ſchöner Haare, den weichen Perlmutterglanz menſchlicher Haut, feuchtes Grün, im Wind bewegte Bäume u. a. trefflich herauszubringen, eine Vortragsweiſe, die Cornelius, den Nazarenern, Schwind fehlt. Da er aber ſolche, durch Luft und Licht bedingte Erſcheinungen nur in dem Maße gibt, wie es einſt die Niederländer des 15. Jahrhunderts taten, fo bleibt der Umriß der Gegenſtände doch noch faſt ungelöſt. Und wenn wir an unſerer Einteilung feſthalten und die großen Zuſammenhänge vor allem beachten wollen, müſſen wir ihn näher zu Feuerbach als zu Menzel ſtellen. Auch find feine menſchlichen Körper im Aufbau italieniſcher Kunſt ver- wandter als germaniſcher. Im ganzen aber wirkt feine Naturauffaſſung bedeutend boden- ſtändiger als diejenige der andern Vertreter der Gruppe.

Ganz völkiſch bedingt ift feine Vergöttlichung des Erdenſeins in menſchen- und tier- ähnlichen Weſen. Warum nennt man ſolche Geſchöpfe Tritonen und Nereiden? Oeutſche Meeresfrauen ſind es, Rheintöchter, Nixen, ſelbſt wenn ſie in ſüdlichen Meeren ſich tummeln, der Nöck, der Schratt, Lichtalben, Waldweſen. Es ift die alte, deutſche, Götter- und Natur- geiſter ſchaffende Phantaſie, die in dieſem Schweizer von neuem lebendig wird. Erdhafter noch ſind ſie empfunden als griechiſche Götter, wie verwachſen mit dem Mutterboden des Alls, ungelöft, ſeeliſch eingebunden in die all-eine Urkraft. Das lebendurchglühte Naturgefühl der Oeutſchen jauchzt in ihnen auf mit göttlichem Tiefſinn und dämoniſcher Gewalt. Ganz ablehnen muß man die trockene Auffaſſung Meier-Gräfes und Schefflers, die in jenen Ge- ſtalten nur Staffage und Theater ſehen.

Eine eigene Stellung nimmt Schwind innerhalb der laſſiziſtiſchen Richtung ein. In feinen Werken ift zunächſt der Anſchluß an Stalien weniger zu ſpüren, weil er feine Menſchen in das Kleid deutſcher Vergangenheit oder Gegenwart ſteckt. Was ihn aber formlich in die Reihe der Stalianiſten bringt, ift feine klaſſiziſtiſche Körperbehandlung und die trockene Malerei, die gleichſam ohne Licht und Luft oder vielmehr nur im modellierenden Licht darſtellt, ohne die lebendigen Werte der Farbe zu beachten. Seine Gemälde wirken meiſt ſchöner in ein- farbigen Drucken als im Urbild, und die feinſte Kunſt gibt er in Zeichnungen. Vie trocken ſeine Malerei iſt, erkennt man namentlich bei einem Vergleich mit Böcklin. Man beobachte das Ausſehen von Haaren, Haut, Blättern, Waſſer: und man wird das ſchöne, ſaftige Leben Böckliniſcher Darſtellung um ſo tiefer empfinden.

Nun gilt aber Schwind gerade als einer der deutſcheſten Maler, der ſinnige Deuter unſerer Märchen. Was an ihm deutſch iſt, das iſt die ſeeliſche Stimmung, der Sinn für das Holde, Märchenhafte. Auch offenbart er in Zeichnungen manchmal eine wunderbare Natur- innigkeit, ein Verſtehen verwachſenen, dichten, deutſchen Waldes, ein Empfinden für die zauber; hafte Verwunſchenheit in ſchimmernden Fiederformen breiter Farnblätter, hängender Zweige. Nur geht in großen Gemälden durch die italiſierende Formung und den Mangel an Farben- ſinn die Stimmung leider verloren.

Schwind ift ein bezeichnender Vertreter des „Biedermeier“. Der Biedermeierſtil ent- ſteht in der Kunſt durch Verdeutſchung italieniſcher Art. Das große, erdkräftige, germaniſche Naturerleben der Dürer, Grünewald, Rembrandt ift vergeſſen. Als höchſtes Vollkommene erſcheint die geometriſierende italiſche Schönlinigkeit. Die Klaſſiziſten und die ſogenannten Deutſch-Römer ſchließen bewußt an jene an. Schwind aber und die Bildnismaler: Wald- müller, Krüger u. a. möchten deutſch fein, wenden fih der Darftellung unſerer Märchen oder der Gegenwart zu. Dennoch ſchwebt auch ihnen, bewußt oder unbewußt, jene Schönheits⸗ linie und die italiſch ſtarre Rörperbegrenzung als Ziel vor. Sie beleben die Form mit deutſchem Gemüt, mit einem Einſchlag deutſchen Naturempfindens, und daraus wird der „Biedermeier“. Eine deutſche Seelenſtimmung der Weichheit, Träumerei, Anmut. Entzüdend deutſch, aber nur eine Seite unſeres Weſens betonend, in einer gewiſſen Enge befangen. Vor der Größe und Kraft eines Grünewald wären dieſe Biedermeier umgefallen.

330 N Stilrichtungen deutſcher Malerei im 19. Jahrhundert

Das Aachahmen der klaſſiſchen Schönheitslinie hat auf uns immer entweder erkältend oder verweichlichend gewirkt. Cornelius und Feuerbach, die das Große der italiſchen Form erfaſſen, werden dadurch kalt. Schwind und Krüger ſehen in ihr das Anmutige und werden weich. Es ſoll noch einmal betont werden: liebreizend, anmutig, friſch iſt die Auffaſſung Schwinds in feinen Märchen, Krügers in wundervollen Heinen Aquarellbildniſſenz die um- mittelbare Gewalt und Größe der Natur, die im 15. und im Anfang des 16. Jahrhunderts unſer Eigentum war, wird von ihnen nicht erreicht. Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, daß es einſt in Oeutſchland holdeſte, tiefbeſeelte Anmut gab, auch ohne italiſche Glätte: bei Riemenſchneider.

Seeliſch ziemlich nahe, formlich von Schwind weit verſchieden iſt Spitzweg. Er iſt vor allen Dingen Maler. Er ſieht das ſchwebende Licht im Raum, die tonige Abwandlung der Farbe. Er lockert die harte Umgrenzung der Gegenſtände. Das ift eine Auffaſſung der Seh- welt, die geradezu eine Grundlage germaniſcher Malerei bedeutet. Schon Jan van Eyck, Dirk Bouts, Geertgen von Haarlem beobachten Lichterſcheinungen feiner als gleichzeitige Italiener, und nie hat man in Stolien das erreicht, was Rubens und Rembrandt geſeben und geſtaltet haben. Im 18. Jahrhundert wird das große Ergebnis niederländiſcher Lichtmalerei in leichter und anmutiger Weiſe im Rokokoſtil verwertet. Der Klaſſizismus vom Anfang des 19. Jahr- hunderts iſt gleichſam ein rückſchrittlicher Einbruch in die gerade Linie der Entwicklung. Mit Spitzweg und Menzel in Oeutſchland (auch Rapski wäre zu nennen), mit der Schule von

Fontainebleau in Frankreich wird jene wieder aufgenommen. Und nun iſt es merkwürdig

oder vielleicht ſelbſtverſtändlich, wie mit der eingeborenen, altgermaniſchen Lichtbeobachtung auch die Freude an der urgermaniſchen, bewegten Lebenslinie wieder erwacht und die klaſſiſche Glättung der Form überwindet. So iſt Spitzweg ein herrlicher Vertreter bodenſtändiger, völkiſcher Sehgewohnheit. |

Ebenſo Menzel. Bei ihm namentlich kommt neben feiner Lichtbeobachtung das Leben— dige natürlich gewachſener Eigenart in der Auffaſſung einzelner Perſönlichkeiten ſcharf zum Ausdruck.

Als Vorgänger Menzels wird oft der ebenfalls in den Berliner Kreis gehörige Krüger genannt. Als einer der Begründer der Lichtmalerei auch der Wiener Waldmüller, Man kann beides gelten laffen., Ganz ſcharf läßt fih das Schaffen freier Perſönlichkeiten nie unter be- ſtimmte Begriffe einreihen. Bei Waldmüller und Krüger finden wir Anſätze zur Lichtbeobach— tung. Wenn man aber ihr Geſamtwerk in Betracht zieht, ſo wird man ſie ſchließlich doch mehr den Stalianiſten als den Lichtmalern zurechnen. Vielleicht könnte man überhaupt eine zwar dünne, aber ununterbrochene maleriſche Unterſtrömung in der Zeit des Klaſſizismus annehmen. Dadurch wäre die Verbindung mit der Vergangenheit hergeſtellt. Auch Feuerbach und Marees zeigen in ihrer Zugend ſtarke Neigung zur Lichtmalerei und unterliegen erft ſpäter dem taffi- ſchen Einfluß. Das Kennzeichen der in aller Stärke neu erwachten maleriſchen Richtung würde die Wiederaufnahme ſelbſtändiger, kräftiger Naturbeobachtung ſein, wie ſie in der großen Zeit Germaniens üblich war, an Stelle der Routine des 18. Jahrhunderts.

Wundervoll naturſtark, echt germaniſch ift Le ibl ſeeliſch und formlich. Seine Bäuerinnen haben etwas Gewachſenes, Erdhaftes, find ſtrotzende Urkraft des Volks. Mit Liebermann ſollte man ihn nicht in einem Atem nennen. In deffen Werk ift die Technik die Hauptſache und der raſch und ſcharf denkende Geiſt. Er iſt geſchickt und geiſtreich. Es fehlt ihm aber die Seelenkraft bodenſtändigen Volkstums.

Außer dem Gegenſatz der eben beſchriebenen Richtungen bahnt ſich im 19. Jahrhundert ſchon früh ein anderer an. Oder anders ausgedrückt: es macht fih ſchon früh die Neigung zu

einem neuen Stil bemerkbar. Bereits Böcklin fagt, er fege feine großen Farbflächen auch in

ſtimmunggebender Abſicht. Wie herrlich im Ton iſt z. B. ſein Bild „Meerfrau und Nöck“, im Beſitz von Simrock⸗Berlin! Die roten Haare, das gelbe Gewand des Weibes brennen. Grau

Stilrichtungen deutſch er Malerei im 19. Jahrhundert 337

zieht der bewölkte Himmel zur Ferne, die Träumerei der großen Augen des Mannes mit ein- fangend. Adelig und erdhaft ſchmiegen ſich gelbe Haare zu dem Graublau der Wolken und dem matten Braun der Haut. Die Töne gehen nicht ſtark auseinander, geben die Stimmung von etwas Keuſchem, Ewigkeitsſehnen, während unten groß empfundene Leidenſchaft glüht.

In Feuerbachs Werken beſtimmt die Farbe durchaus die ſeeliſche Wirkung. Sie hat einzelne, nervös und ſcharf aufreizende, leuchtende Töne und zugleich beherrſchend ein Grau mißmutiger, bitterer Kälte. Marees iſt ſehr empfindlich für Tonwirkungen und Zufammen- ſtellungen und erzielt durch fie lebendigen Ausdruck. Die Bildniſſe des Hamburgers Was- mann, der älter iſt als die beiden eben genannten, ſind unendlich farbenſchön, ganz auf den Eigenwert des Farbentums gearbeitet. Die darſtelleriſche Bedeutung der Töne uls Haut, Haar, Kleidung, Himmel tritt ſehr zurück gegen ihren Bildwert. Ausdruck und Anordnung der Töne beſtimmen vor allem die Wirkung. Seeliſch gehören feine Bildniſſe in die Biedermeier- Auffaſſung, farbig überragt er bei weitem alle Künſtler, die in dieſem Stil ſchufen. Böcklin ſteht er auch noch inſofern nah, als er, wie er ſelbſt berichtet, in ſeinen Bildniſſen an altdeutſche Auffaſſung anſchließt. Sie erinnern in Auftrag und Farbenſchönheit an Holbein.

Aus alledem ergibt ſich, daß die Ausdruckskunſt (Expreſſionismus) der Gegenwart von jenen Meiſtern bereits eingeleitet wurde. Den Gegenſatz würde eine Malerei bilden, in der die Farbe vor allen Dingen natürlich wirkt, als Kennzeichen der dargeſtellten Gegenſtände, ohne ſich in ihrem Eigenwert beſonders bemerkbar zu machen. Spitzweg, Menzel, Leibl haben einen ſehr feinen Farbenſinn, aber ſie ſteigern die Töne nicht. Der Gegenſatz, der ſich hier auftut, iſt eine Scheidung von Natur und Kunſt. Spitzweg, Menzel, Leibl ſind feine Geſtalter der Wirklichkeit; Wasmann, Böcklin, Feuerbach, Marées betonen den Kunſtwert der Farbe.

Trotzdem die neue Richtung in Oeutſchland ſo früh auftrat, hat ſie doch erſt in Frankreich die für Europa ausſchlaggebende Stoßkraft erhalten. In Oeutſchland verband ſie ſich mit klaſſiziſtiſcher Form und Malweiſe, und das war die Hemmung. In Frankreich baute fie auf der Lichtmalerei (Impreſſionismus) auf. Dieſe Tatſache gab der Technik neue, unbegrenzte Möglichkeiten. Auf Grund der Freilichtbeobachtung hatten namentlich Manet und Monet die Form aufs äußerſte gelockert. Und in freier Steigerung der gelöſten Gegenſtändlichkeit ſchufen Cézanne und der Holländer van Gogh ihre Farben- und Formenausdruckskunſt. Für uns ift van Gogh als reiner Germane der wichtigere. Er vereinigt tiefſtes deutſches Natur- gefühl, Lichtempfindlichkeit und ſtärkſte Farbenausdruckskraft.

Da in obiger Ausführung der völkiſche Geſichtspunkt betont worden iſt, ſeien über die Beziehung der neueſten Kunſt zu unſerer Vergangenheit einige Worte angefügt. Die Steige- rung der Formen und Farben im Dienſte ſeeliſchen Ausdrucks iſt nicht eine Erfindung der Gegenwart. Namentlich in der gotiſchen Zeit tritt fie in Germanien auf, aber auch vorher und nachher. Indeſſen fehlt fie nicht bei anderen Völkern. Unſere Ausdruckskunſt wird boden- ſtändig fein, wenn die Seele, die fidh in ihr ausſpricht, volklich ſtark gewachſen ift. Leider ſcheint das bei den meiſten Modernen nicht der Fall. Auch entnehmen ſie ihre Vorbilder häufiger dem Ausland als der eigenen Vergangenheit. Da jedoch gerade jetzt ein großes Erwachen deutſchen ee einſetzt, darf man vielleicht auf die Zukunft hoffen.

Dr. Maria Grunewald

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Der Tücmer XXIII, 11 94

338 Beethovens ſpãtere Beziehungen zu feiner rheiniſchen Helmat

Beethovens ſpätere Beziehungen zu ſeiner rheiniſchen Heimat

1 DIR n den erſten Novembertagen des Jahres 1792 trat der junge Beethoven zum zweiten- y 2 mal die Reife nach Wien an, die ihn diesmal feiner rheiniſchen Heimat für immer entführte. Die Poſt ging von Bonn über Andernach nach Koblenz, und von hier über den Rhein landeinwärts; in Ehrenbreitſtein hat er alſo vermutlich den vaterländiſchen Strom zuletzt geſehen. Zweiundzwanzig Jugendjahre, in der ſchönſten Gegend des Rhein— landes zugebracht, reichen wohl hin, eine immerwährende Erinnerung nicht nur, ſondern auch eine dauernde Sehnſucht im Herzen zu hinterlaſſen; und zumal Beethovens Briefe aus den erſten Jahren nach feinem Abſchied find voll von Erinnerungen an die Heimat und an die dortigen Freunde und Genoſſen. Die Variationen, die er genau ein Jahr nach ſeiner Abreiſe aus Bonn an ſeine Jugendfreundin Eleonore v. Breuning ſendet, ſollen ihr bedeuten „eine Wiedererweckung jener Zeit, wo ich ſo viele und ſo ſelige Stunden in Ihrem Hauſe zubrachte“, und ſchon hier wird die Möglichkeit ſpäterer Rückkehr angedeutet. Im nächſten Jahre ſchreibt er an Simrock, den Bonner Muſiker und Verleger: „Sind Ihre Töchter ſchon groß? Erziehen Sie mir eine zur Braut; denn wenn ich ungeheiratet in Bonn bin, bleibe ich gewiß nicht lange da.“ Und das war keineswegs nur das in der erſten Zeit fih noch ſtärker regende Heimweh: im Grunde ift diefe treue Anhänglichkeit an die alte Heimat Beethoven bis an fein Ende ge- blieben. Beſonders in einem Briefe an ſeinen älteſten Freund, Franz Gerhard Wegeler, kommt fie trotz eines gewiſſen Angeſchicks der Worte faſt ergreifend zum Ausdruck (29. Juni 1801)! „Daß ich Dich und überhaupt Euch, die Ihr mir einſt alle fo lieb und teuer waret, vergeſſen könnte, nein, das glaubt nicht; es gibt Augenblicke, wo ich mich ſelbſt nach Euch ſehne, ja bei Euch einige Zeit zu verweilen wünſche. Mein Vaterland, die ſchöne Gegend, in der ich das Licht der Welt erblickte, iſt mir noch immer ſo ſchön und deutlich vor Augen, als da ich Euch verließ; kurz, ich werde dieſe Zeit als eine der glücklichſten Begebenheiten meines Lebens betrachten, wo ich Euch wiederſehen und unſern Vater Rhein begrüßen kann.“

Es iſt natürlich, daß alles, was in Wien im Lauf der Jahre Beethoven an die Heimat erinnerte, bei ihm die freudigſten Gefühle auslöſte und daß beſonders rheiniſche Landsleute auf die herzlichſte Aufnahme rechnen konnten. Die Gemahlin eines ſeiner Bekannten, Frau Halm, eine geborene Triererin, redete er mit Vorliebe als Landsmännin an; dem Verleger Artaria nicht von der Wiener Firma kam es zu ſtatten, daß er ſich bei Beethoven als Landsmann einführen konnte; er ſchreibt einmal in einem der bei dem tauben Meiſter ge— brauchten Konverſationshefte: „Ich bin ſtolzer, ein Rheinländer zu ſein, da ich höre, daß auch Sie einer ſind.“ Auch Karl Maria v. Weber, der ſich eines ungewöhnlich herzlichen Empfanges bei Beethoven zu erfreuen hatte, wird Gelegenheit gehabt haben, ihn an feine Jugendjahre zu erinnern, denn Webers Gattin Karoline war eine Tochter des Violiniſten Brandt, mit dem Veethoven einſt in der kurfürſtlichen Kapelle zuſammengeſeſſen hatte. Der Sohn des oben genannten Simrock beſuchte den Meiſter im Jahre 1816 häufig; und als Lenné der ſpätere Direktor der königlichen Gärten in Potsdam ihn mit Briefen und Grüßen alter Bonner Bekannten aufſuchte, rief er erfreut: „Dich verſteh' ich, du ſprichſt Bönnſch du mußt Sonntags immer mein Gaſt ſein im Weißen Schwan.“ Beethovens eigene Sprechweiſe verriet ſogleich den Rheinländer: als er noch nicht lange in Wien war und mit mancherlei Widerſtänden zu kämpfen hatte, lieferte u. a. auch ſein Dialekt den Gegnern Stoff zu übler Nachrede; in den ariſtokratiſchen Kreiſen, in denen er fih von Anfang an bewegte, fiel feine dialektiſche Aus ſprache auf; und noch aus ſeinen letzten Jahren berichtet einer ſeiner nähern Bekannten, in Beethovens Sprache ſei die rheiniſche Mundart noch zu erkennen geweſen. Auch an Einzel

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beiten wußte man fih zu erinnern: daß er „ſchwätzt“ ſtatt „ſchwatzt“ ſagte und den Namen des Dichters Tiedge immer in der Form „Tiedſche“ ausſprach.

Viele Erinnerungen an Bonn und feine Naturſchönheiten mußte bei Beethoven die Umgebung Wiens wecken; bei der Schilderung wenigſtens, die Schindler von einem Spazier- gang mit Beethoven durch das Waldtal bei Grinzing macht, wird der Ortskundige unwillkürlich ähnlicher Punkte gedenken, wie ſie bei Bonn ſich finden und von Veethoven, deſſen Naturliebe ſchon früh ſich regte, wohl oft genug aufgeſucht worden ſind. Auch die Gegend bei Krems an der Donau, die Beethoven bei feinem Aufenthalt auf dem Gute ſeines Bruders aus der Ferne ſah, ſoll in manchem an die rheiniſche Landſchaft erinnern. Charakteriſtiſch iſt noch der Vergleich, der ihm ungeſucht in den Mund kommt, als er in der Zeitung lieſt, der Hofrat Moſel ſei wegen ſeiner Verdienſte um die Muſik in den Adelsſtand erhoben worden: „Die Moſel fließt trüb in den Rhein“ mit dieſen Worten kommentierte er lachend die Zeitungsnachricht.

Nur der rheiniſche Wein wurde durch Beethoven in Wien nicht gerade hervorragend vertreten. „Die Preiſe“, heißt es, „mußten einen anſtändigen Rang behaupten; er ſchien den Wert des Weines im Grunde mehr nach dem Tarif als nach der Zunge zu beurteilen. Er, ein geborener Rheinländer, zog die ungariſchen Gattungen allen andern vor,“ wußte auch, wie man ergänzend hinzufügen kann, das Echte vom Falſchen nicht hinreichend zu unterſcheiden, was gelegentlich einer Einladung die beiden Sängerinnen Henriette Sontag und Karoline Unger zu ihrem Schaden erfahren mußten.

Auf muſikaliſchem Gebiete wurde die Verbindung mit dem Rheinland vor allem durch die Niederrheiniſchen Muſikfeſte erhalten, auf denen Franz Ries ſich der großen Werke ſeines Meiſters annahm. Er erfüllte damit eine Pflicht der Oankbarkeit; denn von den jungen Bonnern, die Beethoven in Wien aufſuchten, hatte keiner ſolche Förderung durch ihn erfahren, keiner freilich durfte auch mit größerer Berechtigung ſie erwarten. Denn als Beethovens Mutter ſtarb, hatte der kurfürſtliche Violiniſt Franz Ries die Familie in ihren dürftigen Verhältniſſen nach Kräften unterſtützt, und dem dankte es jetzt der Sohn, daß der allem Unterrichtgeben aufs äußerfte abgeneigte Beethoven ihn zum Schüler annahm und ihm in dieſer Eigenſchaft öffentlich aufzutreten geſtattete. Der junge Landsmann ſeinerſeits half ihm bei ſeinen Arbeiten, war vielfach mit ihm in Geſellſchaften und Konzerten, begleitete ihn auch häufig auf langen Spaziergängen; und hier werden ohne Zweifel die Erinnerungen aus der Bonner Zeit nicht ſelten den Gegenſtand des Geſpräches gebildet haben, denn niemand konnte beſſer als der Sohn des kurfürſtlichen Muſikus über das muſikaliſche Leben der Vaterſtadt und die Geſchicke der alten Genoſſen aus der Hofkapelle und vom Theater Auskunft geben.

Die perſönlichen Erinnerungen belebten ſich in Beethovens letzten Jahren aufs neue, feitdem er die eine Zeitlang unterbrochenen Beziehungen zu feinem Bonner Jugendfreunde Stephan v. Breuning wieder aufgenommen hatte. Man kann wohl fagen, daß dieſer und deſſen Schwager Franz Gerhard Wegeler Beethovens Herzen allezeit am nächſten geſtanden haben. Der erſtere lebte lange Fahre mit Beethoven in Wien, zeitweilig fogar in häuslicher Gemeinſchaft, und ift dann in Beethovens und feinen letzten Lebensjahren er ſtarb nur wenige Wochen nach ſeinem großen Freunde in faſt täglicher Verbindung mit ihm geblieben, da fie ſozuſagen Tür an Tür wohnten. Wegeler aber, der als hervorragender Arzt und Re- gierungs-Medizinalrat in Koblenz lebte und dem Beethoven gelegentlich durch Noten, durch ſein Porträt, durch ein böhmiſches Glas ſich in Erinnerung brachte, hat durch zwar ſeltene, aber um ſo herzlichere Briefe die alten Beziehungen aufrecht erhalten; ſie geben einer aus dem Herzen kommenden Freundſchaft in ſo gemütvoller und inniger Weiſe Ausdruck, daß ſie wenigſtens nach dieſer Seite hin zu dem Beſten in der deutſchen Briefliteratur gehören. „Mir iſt“, ſo ſchreibt er am 28. Dezember 1825 an ſeinen „lieben alten Louis“, die Bekanntſchaft und die enge, durch Deine gute Mutter geſegnete Zugendfreundſchaft mit Dir ein ſehr heller

Punkt meines Lebens... Gottlob, daß ich mit meiner Frau und nun ſpäter mit meinen

340 Beethovens fpätere Beziehungen zu feiner rheiniſchen Heimat

Kindern von Dir ſprechen kann! ... Sage uns doch auch einmal: Ja, ich denke Eurer in heiterer und trüber Stimmung. Ift der Menſch, und wenn er fo hoch ſteht wie Du, doch nur einmal in feinem Leben glücklich, in feiner Jugend; die Steine von Bonn, Kreuzberg, Godesberg uſw. uſw. haben für Dich Haken, an welche Du manche Idee froh anknüpfen kannſt.“ Es folgen Mitteilungen über alte Bekannte und dann die Frage: „Wirſt Du nie den Stephans- turm aus dem Auge laffen wollen? Hat Reifen keinen Reiz für Dich? Wirſt Du den Rhein nie mehr ſehen wollen?“ Den Brief ſchließen die liebenswürdigſten Zeilen von Frau Wegeler: auch fie fragt, ob er gar kein Verlangen habe, den Rhein und feinen Geburtsort wiederzuſehen; „Sie werden uns zu jeder Zeit und Stunde der willkommenſte Gaſt ſein und Wegeler und mir die größte Freude machen ... Sie können ſehen, in welch immer dauerndem Andenken Sie bei uns leben.“ Beethovens Briefe aber ſtehen denen der Freunde an Innigkeit der Empfindung nicht nach. „Ich erinnere mich“ an Wegeler 7. Oktober 1826 „aller Liebe, die Du mir ſtets bewieſen haſt, z. B. wie Du mein Zimmer weißen ließeſt und mich ſo angenehm überraſchteſt. Ebenſo von der Familie Breuning. Kam man voneinander, fo lag das im Kreislauf der Dinge; jeder mußte den Zweck ſeiner Beſtimmung verfolgen und zu erreichen ſuchen; allein die ewig unerſchütterlichen Grundſätze des Guten hielten uns dennoch immer feft zufammen verbunden. Von Deiner Lorchen hab' ich noch die Silhouette, woraus zu erſehen, wie mir alles Gute und Liebe aus meiner Jugend noch teuer iſt.“ Und er ſchließt: „Mein geliebter Freund, nimm für heute vorlieb; ohnehin ergreift mich die Erinnerung an die Vergangenheit, und nicht ohne viele Tränen erhältſt Du dieſen Brief... Ich bitte Dich, Dein liebes Lorchen und Deine Kinder in meinem Namen zu umarmen und zu küſſen und dabei meiner zu gedenken. Gott mit Euch allen!“

Den Gedanken, feine Heimat noch einmal wiederzuſehen, hatte Beethoven ſchon wieder- holt erwogen; in den Briefen an Simrock iſt öfters davon die Rede, auch einzelnes war ſchon ins Auge gefaßt, „Station zu machen bei Wegeler in Koblenz und bei Vater Ries und Simrock in Bonn“; ja auch daran hatte er gelegentlich gedacht, ſeinen Sorgenneffen Karl nach Bonn zu geben. Ergreifend aber iſt es, dieſe Reiſepläne von Wegeler wieder aufgenommen zu ſehen, wie es zu ihrer Verwirklichung endgültig zu ſpät iſt. Als Beethovens letzte Krankheit bereits hoffnungslos geworden, da ſchildert ihm der alte Freund ob er nun den Ernſt von Beethovens Zuſtand nicht kannte oder, was bei der brieflichen Verbindung mit ſeinem Schwager v. Breuning wahrſcheinlicher ift, ihm Troſt geben wollte den Reiz des Wiederſehens in hellen Farben: „Keiner würde Dich fo in Deine Jugendjahre zurückgeführt, Dich an hundert Begebenheiten luſtiger und trauriger Geſtalt haben erinnern können als ich, beſonders da meine Frau meinem Gedächtnis durch Erzählungen von Fräulein Weſterholt, Jeannette Honrath und wie die et caeteras alle geheißen haben, treu nachhilft.“ Er verſichert ihm dann, von ſeiner Krankheit werde er in den erſten Monaten geneſen, ſchlägt ihm eine Nachkur in Karlsbad vor, wo er ihn treffen wolle, „und dann ſollen vaterländiſche Luft und Jugendbilder und die Beſorgung meiner Familie ... das Fehlende ergänzen und das Gewonnene ſtärken. Es ift mir dieſes ein liebliches Bild, mit dem meine Phantaſie ſich gar gern beſchäftigt.“ Und wieder Frau Eleonore: „Kommen Sie, und ſehen Sie erſt, was vaterländiſche Luft vermag.“ Noch einmal antwortete der todkranke Beethoven dem alten Freunde: „Wieviel möchte ich Dir heute noch ſagen, allein ich bin zu ſchwach; ich kann daher nichts mehr, als Dich mit Deinem Lorchen im Geiſte umarmen. Mit wahrer Freundſchaft und Anhänglichkeit an Dich und die Deinen Dein alter treuer Freund B.“ Der Brief iſt nicht mehr eigenhändig, Beethoven hat ihn auf dem Krankenlager einen Monat vor ſeinem Tode diktiert.

Der letzte Gruß aber aus dem Rheinlande ift dem ſterbenden Meiſter durch edeln rhei- niſchen Wein vermittelt worden. Am 8. März 1827 ſchrieb ihm ſein Verleger Schott heute ſchreiben Verleger wohl korrekter, aber ſchwerlich gemütvoller —: „Von einem unſerer ſehr guten Freunde haben wir einen koſtbaren Rüdesheimer Berg-Wein von 1806 und von den-

Beethovens fpätere Beziehungen zu feiner rheiniſchen Heimat ö 341

ſelben ſelbſt gezogen und ganz rein erhalten für Ihnen gewählt und bereits in einem Kiſtchen per Fuhrgelegenheit an Ihnen abgeſandt. Damit Ihnen jedoch früher eine kleine Labung gereicht werden kann, ſo ſandten wir heute per Poſtwagen ein kleines Kiſtchen ſowie ein kleines Fäßchen mit Ihrer Adreſſe ab... Zwei Bouteillen von dem Wein find mit Kräuter angeſetzt, welche nach Vorſchrift genommen für Ihre Krankheit als Arznei dienen ſollen ... Es ift unfer ſehnlichſter Wunſch, daß er auch Ihnen radikal kurieren mögte.“ Der Wein kam unmittelbar vor Beethovens Hinſcheiden an. „Ich ſtellte ihm“, fo berichtete Schindler nachher dem Ge- ſchenkgeber, „die zwei Bouteillen Rüdesheimer und die zwei andern Bouteillen mit dem Trank auf den Tiſch zu feinem Bette. Er ſah fie an und ſagte: ‚Schade ſchade zu ſpät!“ Dies waren ſeine allerletzten Worte. Von Ihrem n Wein genoß er noch löffelweiſe bis zu ſeinem Verſcheiden.“

Man möchte gern wiſſen, wie die Nachricht von bém Tode des Meiſters im Rheinland, in Bonn beſonders, aufgenommen worden. Wenig iſt darüber bekannt. Eine rührende Urkunde indeſſen entdeckte ich vor einigen Fahren im Jahrgang 1827 des Bonner Wochenblatts, die danach fpäter in einem neuern Beethovenwerk veröffentlicht worden iſt. Es iſt die „Einladung zu Beethovens Todtenfeier. Dem Andenken des verewigten großen Meiſters der Tonkunſt, Ludwig van Beethoven, iſt von den Muſikfreunden ſeiner Vaterſtadt in Verbindung mit der Junggeſellen-Bruderſchaft ein feierliches Seelenamt veranſtaltet worden, welches durch die Aufführung von Mozarts meiſterhaftem Requiem verherrlicht, morgen, Freitag den 13. Juli, um 10 Uhr Vormittags in der hieſigen Jeſuitenkirche Statt finden wird. Freunde, Bekannte und Verehrer des Verewigten, welche deſſen Andenken und dieſer, einzig feiner würdigen Feyer einen frommen Augenblick widmen wollen, werden hierzu ergebenſt eingeladen von Seiten des muſikaliſchen Zirkels und der Junggeſellen-Bruderſchaft.“

Der muſikaliſche Zirkel wollte wohl mehr das Andenken des Fürſten der Tonkunſt ehren; unter den Junggeſellen aber und denen, die ſonſt in der Kirche ſich zuſammenfanden, hat gewiß mancher des Jugendgenoſſen gedacht, mit dem er bis zu ſeinem Weggang aus der Vaterſtadt Freuden und Schmerzen der Jugend teilte. Stephan Ley

Orden und Galgen Das unpolitiſche Leipzig „Königliches Schweigen“ Die Sünden der andern

2 nſer Gedächtnis ift erſchreckend kurz. Die wenigſten werden fih heute Z noch erinnern, daß die deutſche Regierung bereits am 50. November 1918 eine „Kommiſſion zur Unterfuchung der Anklagen wegen völker— 5 rechtswidriger Behandlung der Kriegsgefangenen“ in Oeutſchland er- nannt und ſomit ſchon damals kurz nach der Revolution aus freien Stücken die Verpflichtung zur Sühnung etwaiger Verbrechen auf ſich genommen hat. Daß in einer Armee von 12 Millionen Mann während eines vier Jahre dauernden. Krieges Übergriffe, Mißbrauch der Dienſtgewalt, auch Verbrechen vorgekommen ſind, wird niemand beſtreiten. In Deutſchland zum mindeſten iſt dieſer Einſicht, zu der ja eine auch nur oberflächliche Kenntnis der menſchlichen Natur ſehr bald führt, von keiner Seite ernſtlich entgegengetreten worden. „Schon im Frieden“, wird in den „Südd. Monatsheften“ mit nüchterner Sachlichkeit feſtgeſtellt, „enthält eine ſolche Maſſe, die lediglich nach Geſichtspunkten der militäriſchen Brauchbarkeit ausgewählt iſt, auch Miſſetäter. Um wieviel mehr im Kriege, mit ſeinen im Frieden kaum geahnten Möglichkeiten des Hervorbrechens dunkler Inſtinkte. Menſchen im Kriege ſind zu allem fähig, und die Erſchütterung der moraliſchen Feſtigkeit ſcheint nun einmal zu den unabänderlichen Begleiterſcheinungen des Krieges zu gehören, Das gilt für alle Völker. So gibt es keine Nation, die nicht während des verfloſſenen Krieges eine Reihe von Verbrechen, die von Armeeangehörigen begangen waren, abzuurteilen gehabt hätte.“

Es hätte einen vielleicht entſcheidenden Schritt zur Völkerverſöhnung be— deuten können, wenn nach Abſchluß des großen Ningens ſämtliche Staaten, die am Kriege beteiligt geweſen waren, ſich auf die Formel verpflichtet hätten: Wir wollen wenigſtens die ſchlimmſten, die offenkundig gemeinſten unter den zahlloſen und auf allen Seiten verübten Verbrechen durch einen internationalen Gerichtshof aburteilen laffen. Ein ſchöner Gedanke die irdiſch-überirdiſche Gerechtigkeit an der Pforte einer neuen Zukunft. Freilich, ſelbſt in dieſem Falle gab es ein Hinder- nis, an dem die ganze Judikatur von vornherein zerſchellen mußte. Die Staats- autorität ſelbſt hatte ja mit dem Augenblick des Kriegsbeginns die geltenden Moral— geſetze aufgehoben. Deren höchſtes: „Du ſollſt nicht töten!“ war außer Kurs ge— ſetzt, die „Beſtie im Menſchen“ von ihrer Friedensfeſſelung befreit worden. Da, wo einmal die diſziplinariſche Hemmung ausſetzte, wo nichts mehr die dunklen

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Inſtinkte zurückdämmte, kamen jene Handlungen des Blutrauſches zur Auswirkung, die in das niederſchmetterndſte Kapitel der Menſchheitsgeſchichte gehören. Aber ſelbſt der Schandbarſte unter allen Übeltätern hätte einen Milderungsgrund für ſich in Anſpruch nehmen können: eben den Krieg.

Indeſſen das Traumgeſpinſt von einem internationalen Gerichtstag, wie es vorübergehend in den Köpfen pazifiſtiſcher Schwarmgeiſter ſpukte, ift ſelbſt auber- halb aller Erwägung geblieben. Der Paragraph 288 des Verſailler Friedens- vertrages hat die Veſtrafung deutſcher Kriegsverbrecher verfügt, ohne daß die Entente ſich zur Sühne der in ihren Reihen begangenen Verbrechen irgendwie bereit erklärt hätte. In den ganzen Wahnſinnsabgrund einer ſolchen einſeitigen Behandlung des Problems leuchtet das Blatt der belgiſchen kommuniſtiſchen Partei „L’Exploite“ hinein, und man wird zugeben müſſen, daß die ſchonungsloſe Kritik, die hier an einer durch und durch heuchleriſchen und verlogenen Weltordnung geübt wird, den eigentlichen Kern der Sache mit aller nur wünfchenswerten Klar- heit bloßlegt:

„In den Ländern der Entente betrachtet man den iriſchen Patrioten Roger Caſement als Verräter und iſt der Anſicht, daß er zu Recht beſtraft worden iſt; aber man billigt das Betragen jener Elſäſſer, die fahnenflüchtig wurden, um im franzöſiſchen Heer gegen Deutſchland zu kämpfen. In den Augen der Verbündeten verdient der Zeichner Hanſi einen Orden und Caſement den Galgen. Ein Neutraler wird wahrſcheinlich anders denken. Typiſch ijt der Foll Dorten. Der Mann von der rheiniſchen Republik ift ein Aktiviſt, ein deutſcher Borms. Ihn hebt die franzöſiſche öffentliche Meinung zu den Wolken, weil er den annerio- niſtiſchen Plänen dient. Aber von den Behörden Deutſchlands wird er als Verräter behandelt. Er iſt von ihnen feſtgeſetzt und erſt auf Befehl der Beſatzungsarmee

freigelaſſen worden, genau ſo wie die Mitglieder des Rates von Flandern von

unſeren Behörden eingekerkert worden ſind und auf Anordnung des deutſchen Gouvernements in Freiheit geſetzt wurden. Wenn Deutſchland ſiegreich geweſen wäre und die Züchtigung der Schuldigen gefordert hätte, ift es wenig wahrfchein- lich, daß ſich franzöſiſche Richter bereitgefunden haben würden, die Flieger zu verurteilen, die am Fronleichnamstage 80 an einer Prozeſſion teilnehmende Kinder in Karlsruhe in Stücke ſchoſſen, oder die Offiziere der Kolonialregimenter, die ihren Senegalnegern väterlich erlaubten, deutſche Gefangene totzuſchlagen oder zu ver- ſtümmeln, oder aber die Untergebenen Jonnarts oder des Generals Sarrail, die in Saloniki Griechen, welche nicht Anhänger von Venizelos waren, niederſchießen oder nach Frankreich deportieren ließen, Vorgänge, über die die Ententepreſſe unter der Rubrik „Reinigung Griechenlands“ berichtet hat. Ebenſo zweifelhaft iſt es, ob Deutſchland von einem ruſſiſchen Gericht eine Verurteilung derjenigen erlangt hätte, die verantwortlich wären für die Inbrandſetzung von mehr als 30 000 Häufern, für die gänzliche Zerſtörung einer Reihe oſtpreußiſcher Orte. In Belgien hat man ſich über diefe Heldentaten der Köſaken in jenen glücklichen Stunden gefreut, wo die Druckwalze in Tätigkeit war, und hat nur bedauert, daß nicht das ganze „Boche-Land“ das Schickſal von Oſtpreußen und Galizien erlitten hat. Niemand hat etwas davon gehört, daß Lord Kitchener, der in ſeinen Zuſammenziehungslagern Tauſende von Burenfrauen und kindern umkommen

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ließ, vor Gericht geſtellt worden ift. Im Gegenteil: er ift von feinem König mit Ehren überhäuft worden und hat beim engliſchen Volke ein Anſehen genoſſen, das Shakeſpeare bei ſeinen Lebzeiten niemals gekannt hat.“

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Das Reichsgericht in Leipzig, das einſtmals nicht bloß in Oeutſchland, ſondern in der ganzen Welt das größte Anſehen genoß, hat ſich unter dem eiſernen Zwange, den die eingegangenen Verpflichtungen uns auferlegten, an ein Problem wagen müſſen, das von vornherein unlösbar war. Denn niemals und unter keinen Umftänden konnte ein Gerichtshof geſchaffen werden, der überhaupt imjtande geweſen wäre, über wirkliche oder vermeintliche Kriegsgreuel gerecht zu urteilen. Die Mentalität, aus der heraus die ſogenannten Kriegsverbrechen begangen worden ſind, mit zivilrechtlichen Maßſtäben zu meſſen, iſt ein Ding glatter Unmöglichkeit, und der unbeugſamſte Wille zum Recht mußte an dieſer Aufgabe ſcheitern. Gerade der U-Boot-Prozeß liefert den ſchlagendſten Beweis dafür. Mancher Deutſche wird erſchrocken geweſen ſein, als er aus den Leipziger Verhandlungen von der Tat des Kapitänleutnants Patzig erfuhr, der das Hoſpitalſchiff „Llandovery Caſtle“ verbotswidrig torpedierte und was kaum einen Verteidiger in Deutſch land finden wird auf Rettungsboote ſchießen ließ, um alle unliebſamen Zeugen des Vorganges aus der Welt zu ſchaffen. Allein ſelbſt diefe ihrem nackten Sat- beſtande nach gewiß verdammungswürdige Handlung wird ſattſam verſtändlich, wenn man, wie die „Berliner Volkszeitung“, vom tendenziöſen Unterton abge— ſehen, das pſychologiſch ſicherlich zutreffend ausführt, dreierlei bedenkt: „Erſtens, es hatte ſich bei uns die Meinung feſt eingeniſtet, unſere Gegner befördern grund— ſätzlich auf Hoſpitalſchiffen Truppen und Kriegswerkzeuge. Ferner war bei uns die Anſchauung maßgebend geworden, die Feldmarſchall von Hindenburg im November 1914 äußerte: „Mit Sentimentalität kann man keinen Krieg führen. Ze unbarmherziger die Kriegführung, um ſo barmherziger iſt ſie in Wirklichkeit, denn um ſo eher bringt ſie den Krieg zu Ende.“ Die Befolgung des hier proklamierten Grundſatzes hat fih allerdings als verhängnisvoll erwieſen. (2 O. T.) Sie hat eine raſende Erbitterung gegen uns erzeugt, die fih in einen unbeugſamen Kriegs- willen umſetzte. Und da auf der anderen Seite außerdem noch die weitaus größere Zahl und die mächtigeren Mittel waren, unterlagen wir ſchließlich. Endlich muß man bei der Beurteilung des Falles Patzig-Boldt-Dithmar berückſichtigen, daß bei uns einflußreiche Kreiſe tätig waren, die die Regierung als zu ſchlapp, als huma— nitätsduſelig angriffen und deren Maßnahmen als zu unentſchloſſen und zu weich verſchrien. Iſt es da ein Wunder, wenn ſich Patzig über die Beſtimmung hinweg— ſetzte, die es ihm verbot, die „Llandovery Caſtle“ an dem Ort, wo er fie traf, zu torpedieren? Vielleicht war er ſich auch infolge des nervenaufreibenden Dienſtes der Tragweite des Entſchluſſes nicht voll und klar bewußt. Hatte er aber erſt einmal eigenmächtig ſeine Inſtruktionen in einem ſo kardinalen Punkte verletzt, dann war es zwar nicht menſchlich, aber wenn man die grenzenloſe ſittliche Verwilderung und Verwahrloſung, die der Krieg notwendigerweiſe mit ſich bringen mußte, bedenkt immerhin verſtändlich und logiſch, daß er die Überlebenden (ſeine zukünftigen Ankläger) zu vernichten ſuchte, die dienſtliche Meldung der Torpedierung unterſchlug und die Eintragung der Reiſeroute fälſchte.“

Türmers Tagebuch 345

And nun erft die beiden Offiziere, die in Leipzig für die Tat ihres Vor- geſetzten, der ſich der Aburteilung durch die Flucht entzogen hat, einſtehen mußten! Was wirft ihnen das Gericht vor? Daß fie verſäumt haben, durch entſchloſſenen Widerſtand die Handlung des Kommandanten zu verhindern. Das heißt auf deutſch: Gehorſamsverweigerung. Zu welchen ungeheuerlichen Folgerungen eine ſolche die Kriegsverhältniſſe völlig außer acht laſſende Auslegung führt, das legt ein militäriſcher Mitarbeiter der „Tägl. Rundſchau“ in dieſem Blatte des näheren dar: „Die Beſtimmungen des Militär- Strafgeſetzbuches machen den Untergebenen zum Mitſchuldigen, wenn er einen Befehl ausführt, der bewußt ein Verbrechen bezweckt, vorausgeſetzt, daß er das Bewußtſein des verbrecheriſchen Zweckes bei dem Vorgeſetzten vorausſetzen muß. Bekanntlich enthalten die eng- liſchen und franzöſiſchen Wilitärſtrafgeſetze diefe Beſtimmung nicht. Der eng- liſche und franzöſiſche Untergebene iſt daher in allen Fällen durch die Gehorſamspflicht gedeckt, der deutſche nicht... Somit tritt der ſchwere Fall ein, daß deutſche Kriegsteilnehmer eine Verantwortung tragen nach Rechts- normen, die dem Friedenszuſtand entnommen ſind und von den Gegnern nicht geteilt werden. Welche ungeheuere Ungerechtigkeit darin liegt, und wie von der eigenen Staatsgewalt verlaſſen der deutſche Kämpfer gegenüber denen des Gegners daſteht, bedarf keiner Betonung. Ift nun aber die deutliche Emp- findung für das ‚Verbrecheriſche“ einer Kriegshandlung auf ſolche Weiſe ſchon von dem verantwortlichen Vorgeſetzten, der ſeine Kräfte voll in den Dienſt ſeiner Kriegsaufgaben ſtellt, nur ſchwer zu verlangen, wieviel ſchwerer noch vom Unter- gebenen, der entſcheiden ſoll, wo der Befehl des Vorgeſetzten jene labile Grenze überfchreitet und wo feine eigene Gehorſamspflicht aufhört. Daß dieſe Grenze labil iſt, muß jeder empfinden, der ſich heute aus dem Kriege ähnlicher Situationen erinnert und der ſich freimacht von der trockenen Atmoſphäre der analyſierenden Gegenwart.“ Oder wie ein alter Frontkämpfer das mit wenigen Worten in einer Zuſchrift an die „Oeutſche Zeitung“ ausdrückt: „Wenn man einen Leutnant ver- urteilt, weil er ſeinen Kommandanten nicht gehindert hat, ſeine Geſchütze ſpielen zu laſſen, dann haben wir Soldaten dafür kein Verſtändnis mehr. Im Kampf befiehlt nur einer, und alles andere gehorcht.“

Und dann und dies muß immer wieder in die Welt hinausgeſchrien werden —: das Verbrechen, das da in Leipzig verurteilt wurde, erinnert allzu lebhaft an ein ähnliches, das durch den Namen „Baralong“ gekennzeichnet iſt. Im Falle „Baralong“ waren es ebenfalls Seeleute aber engliſche die deutſche Hilfeſuchende ohne die mildernden Begleitumſtände, die Patzig für ſich in Anſpruch nehmen kann, erbarmungslos totſchlugen. Hat man bisher vernommen, daß die Mörder von der „Baralong“ vor engliſchen Rich—

tern geſtanden haben? =

R

Aber die Entente gelüſtet ja gar nicht nach irgendeiner allgemeinen Form der Gerechtigkeit. Ihr iſt und von Frankreich gilt das in erſter Linie im Grunde an der Beſtrafung einzelner Perſonen verhältnismäßig wenig gelegen. Sie will das deutſche Syſtem der Kriegführung zur Verurteilung bringen. Dieſes Syſtem foll als beſonders verbrecheriſch, barbariſch und roh

346 Türniers Tagebuch vor aller Welt und in alle Ewigkeit gebrandmarkt werden. Man leugnet nicht ohne weiteres, daß der Krieg in allen beteiligten Ländern die ſchlechten Eigen- ſchaften im Menſchen vielfach zur Auslöſung gebracht hat. Aber die Deutſchen ſie ſollen als die wahrhaften Ausgeburten des Hunnentums in beſonders erleſe— nen Exemplaren am Pranger der Weltgeſchichte zur Schau ſtehen.

„Dieſem Sinn und dieſer Richtung der Ententeprozeſſe gegen deutſche Soldaten und Heerführer wird aber die Prozeßführung durch das Reichsgericht in Leipzig in keiner Weiſe ſachlich gerecht, aus Gründen echt deutſchen Mangels an politiſchem Gefühl. Oberreichsanwalt, höchſte Richter und Verteidigung in Leipzig führen die Kriegsprozeſſe ſo traditionell, ſo nüchtern und ſo abſolut im Rahmen des üblichen und gewöhnlichen Strafprozeſſes durch, als wenn ſie damit etwas beſonders Großartiges leiſteten. Sie ſind ganz offenbar beſonders ſtolz auf dieſe Gerechtigkeit, die von der Gerechtigkeit des üblichen deutſchen Straf— prozeſſes gegen landläufige Verbrecher nicht um ein Haar abweicht. Das geht alles ſo langweilig korrekt, wie wenn es ſich um eine gleichgültige Auswahl der vielen Verbrechensfälle handelte, die leider alljährlich als Erzeugniſſe unſerer Wirtſchaftsordnung, ihrer Krankheiten und ihrer Opfer an deutſchen Schwur— gerichten vorüberziehen müſſen und oft ebenfalls ſozial verſtändnislos erledigt werden! Mit anderen Worten: Es fehlt nicht bloß dem Leipziger Ankläger, nicht bloß den Leipziger Richtern, ſondern auch der wechſelnden Ver— teidigung der Angeklagten und den Angeklagten jelbit faſt jeder Sinn für die beſondere politiſche Art dieſer Kriegsprozeſſe. Sie ſehen wahrſcheinlich recht gut, daß die Franzoſen ein Syſtem auf die Anklagebank ſetzen wollen, daß fie auch nachträglich noch die Deutſchen als ausgeſuchte Kriegs barbaren ſtempeln möchten, mit denen ein ziviliſiertes Volk eigentlich keine Ge— meinſchaft haben kann, und die deshalb auch noch lange vor der Tür des Völker— bundes zu ſtehen haben und ruhig darauf warten müſſen, bis man ſie ins Zimmer herein läßt. Aber die Leipziger Gerichtsinſtanzen ſamt der Angeklagten verteidigung tun praktiſch und prozeſſualiſch auch innerhalb der geſetzlichen Möglichkeiten gar nichts oder wenig, um bei der Beweiserhebung und bei der Beweiswürdigung auf diefe Hauptſache einzugehen und einwandfreies Prozeßmaterial dafür zu ſchaffen, daß ſich die Urteile auch über dieſen tieferen politiſchen Sinn der Anzeigen ausſprechen können. Sie fürchten, von ihrem beſchränkten Standpunkt aus manchmal vielleicht mit gutem Grund, das Meer der weitausſchauenden poli— tiſchen Vergleiche. Das deutſche Volk aber gelangt dabei nicht zu ſeinem Rechte!“

Die vorſtehend wiedergegebenen Zeilen, die weitgehende Beachtung ver dienen, finden ſich im „Vorwärts“, und zwar an leitender Stelle, wenn auch mit der Einſchränkung verſehen, daß die internationale ſoziale Preſſe berufener ſei als das Reichsgericht, das Sündenregiſter der anderen ans Licht zu ziehen. „Berufen“ wäre fie ſchon aber fie wird ſich fein hüten, denn die Arbeiterſchaft der feindlichen Länder hegt, wie ſich genugſam erwieſen, eine Auffaſſung von Nationalismus, die von derjenigen unſerer deutſchen Sozialdemokratie grund— verſchieden ift. Erwartet der „Vorwärts“ und feine Anhängerſchaft wirklich von dieſer Seite her eine Unterſtützung, fo wird er ſich wohl bis zum Sankt Nimmer- leinstag getröſten müſſen! Eine ganz andere und, wie uns bedünken will, höchſt

CTürmers Tagebuch | 347

eindringliche Bedeutung kommt dem Vorſchlage zu, den Mar Quard in dem oben erwähnten Artikel der Öffentlichkeit unterbreitet: „Ebenſo wie die Entente beſonders flagrante Fälle auszuſuchen verſtanden hat, die nach ihrer Meinung die deutſche Kriegsroheit beweiſen müſſen, ebenſo müßte Oberreichsanwalt und Verteidigung ſich über die knappſte Auswahl ganz beſonders hervorſtechender Tatſachen aus der Praxis der gegneriſchen Ge— fangenenlager einig werden und ſie an einem oder zwei Tagen der Leipziger Verhandlungen unter dem Geſichtspunkt behandeln können: Hier der von den Franzoſen angezeigte deutſche Tatbeſtand, dort drei oder vier charakte- riſtiſche Vorfälle in den Gefangenenlagern der Entente. Schlußfrage: Kann vergleichsweiſe von einer beſonders rohen und ausgeſucht barbariſchen Behandlung der Kriegsgefangenen gerade in deutſchen Gefangenenlagern die Rede fein?“

In das geſamte tatſächliche Material brauchte natürlich nicht hineingeſtiegen zu werden. Das würde den Rahmen der Verhandlungen ſprengen und iſt ja auch nicht Sache des Reichsgerichts, ſondern der Regierung. Was aber ift von Regierungs wegen und dieſe Gewiſſensfrage ſoll nicht nur an das Kabinett Wirth, ſondern auch an deſſen Vorgänger gerichtet werden im Verlauf von mehr als zwei Jahren geſchehen, um der beabſichtigten Leipziger Brandmarkung zielbewußt vorzubeugen? Nichts! Nicht das geringſte! Wahrhaftig, ein unerhörter Vorgang. Man hat Gegenbeweiſe die Hülle und Fülle und wagt nicht, mit ihnen heraus- zurücken. Mehrere hundert Bände ſoll nach der Verſicherung Eingeweihter das febr zuverläſſige, febr belaſtende Material über Kriegsgreuel und Völkerrechts- verletzungen unſerer Feinde ausmachen, das ängſtlich behütet unbenutzt in den Archiven vermodert! „Königliches Schweigen“ hat der Herr Reichswehr- minifter als Richtſchnur unſeres Verhaltens geraten. Und fo ift es denn auch ge- halten worden. Bis heute. |

Die „Voſſ. Ztg.“ weiß von einer Szene aus den Leipziger Verhandlungen zu berichten, die ungemein bezeichnend für die Haltung unſerer Reichsämter iſt. Oer Vorſitzende hatte auf die Bemerkung eines Verteidigers hin Gelegenheit genommen, zu erklären, daß das Urteil des Reichsgerichts weder von der Kritik irgendwelcher Miniſter, noch vom Lob oder Tadel anderer Stellen irgendwie beeinflußt werden könne. Die ausführliche Wiedergabe dieſer würdigen und wirkungsvollen Erklärung in der Preſſe hätte zweifellos zum Anſehen der deutſchen Juſtiz nicht unerheblich beigetragen. Ganz anders aber dachte der in Leipzig an- weſende Vertreter des deutſchen Auswärtigen Amtes. Er ging bei der Leipziger Preſſe umher und bat, die Erklärung des Senatspräfidenten doch nicht wiederzugeben, da ſie im Ausland politiſch ſchaden könne. „Wie malt ſich“, fragt mit Redt das genannte Blatt, „in einem ſolchen Kopf die Welt, und welche Begriffe hat dieſer Beamte des Auswärtigen Amtes von Politik und von den Aufgaben feiner Behörde?“

Nun, in dem Umfange, wie die maßgebenden Kreiſe es wünſchen, läßt ſich die Wahrheit auf die Dauer doch nicht niederhalten. Sie marſchiert. Augenzeugen, ehemalige Gefangene und Kriegsteilnehmer haben geſchildert, was ſie ſchaudernd

erlebt und gelitten haben. Beſonders verdienſtvoll ift die „Gegenrechnung“, die

Dr Auguft Gallinger in einem Sonderheft der „Südd. Monatshefte“ ( 4.50)

* *

548 | Türmers Tageßuch

in eindrucksvollſter Zuſammenfaſſung aufmacht. Hier find nicht einzelne Greuel— taten unſerer Feinde ausgewählt, ſondern nur typiſche Vorgänge, die durch unzählige, übereinſtimmende Ausſagen belegt werden, zum größten Teil eidlich oder an Eidesſtatt bekräftigt. „Während es ſich bei der Liſte deutſcher Kriegs— verbrecher um vereinzelte Übergriffe handelt, ſehen wir hier, namentlich auf Seite der Franzoſen, den Sadismus eines ganzen Volkes ſich austoben, erblicken wir hier ein Syſtem zur moraliſchen und phyſiſchen Was Deutſchlands.“ * *

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Der Gerechtigkeit im höchſten Sinne, damit dem Gedanken der at, ſöhnung, wäre gedient worden, wenn die Entente die Leipziger Prozeſſe kaſſiert hätte, wie das mit dem Kaiſerprozeß geſchehen iſt. Nach einem regelrechten Krieg wirkt das Schauſpiel von Leipzig wie eine Farce. Eben erft ift den polniſchen Inſurgenten, die fih gegen die Autorität der Interalliierten Kommiſſion erhoben, Begnadigung zuteil geworden. Dabei haben dieſe Banden, die ſicher nur zu einem Bruchteile aus lauteren Gründen handelten, in dem einſtmals blühenden Ober- ſchleſien auf eine Weiſe gehauſt, daß ein Italiener, der Berichterſtatter des „Corriere della Sera“, von Oberſchleſien als von einer „europäiſchen Schande“ ſprach. „Es gibt jetzt“, ſtellt er feſt, „in Oberſchleſien regelrecht eingerichtete Folterkammern, wie der Ewaldſchacht bei Myslowitz, der Ring in Ruda und die Küche der Stadt- kommandantur in Zalenze. Das ſind alles Orte, die von Blut ſtrotzen. In einem Gaſthauſe an der Peripherie der Stadt Kattowitz ſpielen die Inſurgenten auf dem Klavier die polniſche Nationalhymne „Noch iſt Polen nicht verloren‘, während ſie einen jungen Arbeiter durch Kolbenſchläge auf den Kopf ermorden. Sie ſpielen, damit man in den benachbarten Häuſern nicht die verzweifelten Schreie des Unglüdlichen hört. Ich klage nicht an, ich verwünſche nicht, ich habe auch keinen Gefühlsduſel, ich will nur dieſe Fälle als Dokument anführen, damit ſie zur Beleuchtung der Geſchichte eines berühmten Verbrechens dienen ſollen.“

Die Stadt Beuthen namentlich wurde zu einem Schauplatz blutiger franzö— ſiſcher Gewalttaten. Der Einzug der Franzoſen ſollte nach einem Bericht der „Mitteldeutſchen Ztg.“ eine Art Triumphzug bilden und ein niedriges Rachegelüſt an der Einwohnerſchaft befriedigen, die den Franzoſen mit eiſigem Schweigen, den Engländern (aus Trugſchlüſſen) mit lebhaften und dankbaren Zurufen begeg— nete. Die Franzoſen, die faſt zu gleicher Zeit von dem amerikaniſchen Botſchafter in Paris als die Hüter der Ziviliſation geprieſen wurden, gingen mit Kolben und Gummiknüppeln gegen die Menge, die die Straßen füllte, vor. Als Vorwand mußte die Behauptung herhalten, es ſeien von deutſcher Seite Schüſſe auf die Truppen abgegeben. Die Unterſuchung hat dann hinterdrein ergeben, daß polniſche Inſurgenten geſchoſſen haben

Inzwiſchen tagt der Gerichtshof in Leipzig weiter. Ketten klirren und Ge— fängnistüren tun ſich auf. Die Liſte der deutſchen Kriegsverbrechen iſt bei weitem noch nicht erſchöpft, und „ſo lange der Vorrat reicht“, haben die hohen Herren der Entente es alſo leicht, ihre Völker bei angenehmer Stimmung zu erhalten.

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„Den Manen Fried. Mietzſches“

o heißt ein vornehm wirkendes Buch, das ſoeben im Muſarion- Verlag, München, an die Öffentlichkeit kommt, herausgegeben von Max Ohler, mit dem Untertitel: Wei-

marer Weihgeſchenke zum 75. Geburts-

tage der Frau Elifabeth Förſter-Nietz— ſche“. Ein perſönliches Buch alſo und doch von allgemeiner Bedeutung. Es iſt das ein edlerer Brauch, des Geburtstags einer geiſtig be achtenswerten Perſönlichkeit zu ge- denken, als wenn man etwa mit Prunkmahl und Luxusgeſchenk feiern würde. Hier gilt die Ehrung ebenſowohl der Welt Nietzſches wie der tapfren und treuen ſchweſterlichen Hingabe an ſein Werk.

Der Jenenſer Philoſoph Bruno Bauch

ſpricht über Nietzſches ariſtokratiſches Ideal: „Gerade der Vornehme, der Führer arifto- kratiſcher Geſellſchaft alfo lebt Goethes, Stirb und Werde!“ dem Ganzen der Geſellſchaft vor, und allein dadurch kann er dieſe mit emporheben“ ... Ihm folgt Ernſt Bertram der ſich durch fein glänzendes Nietzſche- Buch in den Vordergrund geſtellt hat mit einigen Rheingedichten: tief und ernſt auch als Poet, wenn auch etwas ſpröd; wonach Kurt Breyſig in tiefſchürfender Anterſuchung dem „Ge- ſchlecht der Triebe: Selbſtbereicherung und Selbfterweiterung“ nachſpürt. Die alpha- betiſche Reihenfolge ſetzt ſich, in angenehmer Abwechſlung, durch ein „erdachtes Geſpräch“ von Paul Ernſt fort: „Das Ende des Lebens“ (Schillers Tod): gehaltvoll und durchgeiſtigt, wie alles, was Ernſt ſchreibt, wenn auch in Wahrheit Schiller wohl ſchlichter dahinſchied. Dann bringt Altmeiſter Rudolf Eucken einige perſönliche Erinnerungen an Nietzſche (Baſel). Der temperamentvolle, immer kampfbereite

Ludwig Gurlitt ergeht fih über „Die Erkennt- nis des klaſſiſchen Altertums aus dem Geiſte Friedrich Nietzſches“, mit der ſcharfen Zu- ſpitzung: „Ich behaupte abſchlie ßend: erft Nietzſche hat uns den Blick zur wahren Er- kenntnis des klaſſiſchen Altertums frei ge— macht.“ Walter von Hauff weiſt im Unter- ſchied von den üblichen Stufen auf die „Einheitlichkeit der Gedankenwelt Nietzſches“ hin; Martin Havenſtein erweiſt dem Erzieher Nietzſche ſeine uneingeſchränkte Anerkennung; und in anſprechender Plauderei, ausgehend von einem Gruß an die Gefeierte, verknüpft Karl Kötſchau Goethes Welt mit der Gegen- wart: er ſpricht über drei Widmungen des großen Dichters an die damaligen Fürftinnen von Weimar: Anna Amalia, Luiſe, Maria Paulowna, denen bekanntlich fein „Windel- mann“ (1805), die „Farbenlehre“ (1808) und „Philipp Hackert“ (1811) gewidmet iſt. Ri- chard Ohler betrachtet „Anſre Zeit im Spiegel von Nietzſches Kulturphiloſophie“; Otto von Taube unterbricht die Proſa wieder mit feier- lich geſtimmten Gedichten, die an Stefan George gemahnen, doch ſelbſtändigen Tones nicht entbehren. Und dann ſteuert Hans Vaihinger, der Philoſoph des „Als- ob“, eine beſonders wichtige Betrachtung bei: eine Aus- einanderſetzung mit dem Fachgenoſſen Adickes. Man braucht nicht auf ſeinem bekannten Standpunkt des „Fiktionalismus“ zu ſtehen und wird doch von ſeiner Behandlungsweiſe gefeſſelt. Nachdem ſchon W. von Hauff den Dionyſos-Charakter von Nietzſches Philoſophie betont hatte, überſchreibt Friedrich Wüͤrzbach feinen Vortrag unmittelbar „Dionyſos“ (mit einem Ausfall gegen „dieſe Chamberlains, Mauthners, Spenglers und Keyſerlings“, die den „David Straußſchen Typus“ darſtellen); und Thomas Mann der ſo ſchön geſchloſſen

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erzählen kann (S. 221), um gleich hinterher wieder das Erzählte zu zerlegen! macht mit einer feiner geiftvoll-gelaffenen tagebuch artigen Plaudereien den Beſchluß.

Der Herausgeber des „Türmers“ iſt bei dieſer Huldigung mit einem Gedicht beteiligt: „Nietzſches Ausklang“. l

Ein Darmſtädter Idyll

beſchloß Rabindranath Tagores Rund- fahrt durch Deutſchland. Der Under hielt Anſprachen, beantwortete Fragen, empfing Einzelne; Keyſerling überſetzte. Am Sonntag wanderte die Bevölkerung auf den waldigen Herrgottsberg; dort fang ein Chor und folie- lich die Menge dem Gaſt Volkslieder vor, be- ginnend mit „Ich weiß nicht, was ſoll es be- deuten“. Es folgte Lied auf Lied; der Groß- herzog ſchlug den Takt dazu. Dann zog der

Edle weiter, herzlich erfreut, endlich im Lied

etwas von der deutſchen Seele verſpürt zu haben

Hat er nun Deutſchland kennen ge- lernt? Oder das ſtille Deutfchland ihn? Es bedarf keiner Antwort.

An Rudolf Eucken ſchrieb der Dichter einen Brief; darin heißt es: „Europa hat gelitten, und die Welt wartet geſpannt darauf, zu ſehen, ob es aus ſeinen Leiden lernt. Wenn es die Beſtimmung Oeutſchlands ift, den Leidensweg bis zum Ende zu durch- ſchreiten, um der modernen Zeit Günde willen, und wenn es rein und ſtark daraus hervorgeht, wenn es das Feuer entzün- det hat, als ein Licht auf dem Pfade in eine große Zukunft, zum Aufſchwunge der Seele zu wahrer Freiheit, dann wird Oeutſchland in der Geſchichte der Menſchheit geſegnet.“

Genau das hat mehr als einer der ſtilleren Deutſchen eindringlich geprägt. Aber dieſe Herausarbeitung reinen Menſchentums wird durch keine Maſſenandränge bei indiſchen Beſuchen gefördert ſondern nur durch Willensruck, durch Entſchluß, der aus uns Deutſchen ſelber in deutſcher Form kommen muß.

Übrigens reiſte Rabindranath Tagore von dort nach Frankreich und wurde von den

Auf der Warte

franzöſiſchen Studenten der Univerſität Strak- burg verherrlicht, die ihm die franzöſiſchen Klaſſiker ſchenkten. * Der Pariſer Friede und das chriſtliche Weltgewiſſen

ls Kaiſer Theodoſius der Große 390 die

aufrühreriſche Stadt Theſſalonike allzu herb beſtrafte die Ermordung des kaiſer— lichen Statthalters wurde mit der Tötung von 7000 Einwohnern gerächt; der Kaifer hätte den erſten Nachebefehl allerdings gern wider- rufen, doch kam der Widerruf zu ſpät per- wehrte der Biſchof Ambroſius dem Kaiſer den Eintritt in den Som von Mailand ſo lange, bis er aufrichtige Buße getan hatte. „Wie willſt du die Hände, die noch von dem Blute der Gemordeten triefen, zum Gebet auf— heben? Wie kannſt du mit ſolchen Händen den hochheiligen Leib des Herrn in Empfang nehmen, wie fein koſtbares Blut an deinen Mund bringen? Entferne dich von hier, der Kirchenpforte, und vermiß dich nicht, Frevel auf Frevel zu häufen!“ Erſt nachdem der

„Kaiſer acht Monate in Gebet und Tränen

Buße getan hatte, wurde der Kaiſer vom Biſchof wieder zur Kirchengemeinſchaft gu- gelaſſen. So manche Generale und Politiker der Entente ſchwören auf Herz-Jeſu-Fahnen, drängen fid zur Kommunionbank, gehen nach Lourdes und Mont-Martre, obwohl ihre Rad- ſucht und ihr Vernichtungswille größer als die weiland des Kaiſers Theodoſius. Warum werden ſie von den Nachfolgern des Ambroſius nicht weggeſchickt vom religiöfen Ort? Warum nicht zur Selbſtbeſinnung, zum Aufgeben der Werke der Rache und Vernichtung gezwungen?“

So heißt es in dem leidenſchaftlichen An- klage- und Aufrüttelungsbuche des deutſch— öſterreichiſchen Katholiken Dr Jofeph Eberle („De profundis, Der Pariſer Friede vom Standpunkte der Kultur und Geſchichte“, 1921, Verlagsanſtalt Tyrolia, Innsbruch. Packend ſetzt er in den erſten Kapiteln die ganze vernichtende Wucht dieſes Wahnſinns— „Friedens“ auseinander; Zahlen um Zahlen, Laſten um Laſten ziehen an uns vorüber,

Auf der Warte

durch ſich ſelber wirkſam. Doch der Verfaſſer

hätte beſſer getan, die Anklage gegen das

untrennbar auch von ihm miteinander ver- quidte Judo -Plutokratie-Freimaurertum in dieſem Falle beiſeite zu laſſen und einen Satz nicht zu ſchreiben wie dieſen: „Von Bismarck, Treitſchke, Bernhardi wurde die deutſche In- telligenz tatſächlich weitgehend vergiftet.“ Dies und einiges andre wirft ja alles wieder um, was der Verfaſſer ſonſt an Sünden der Hungerblockade und dergleichen Frevel gegen die Feinde auftürmt. Schade! Er follte das Buch kräftig an Glaubensgenoſſen im Feind- bund verſenden, z. B. an den Kardinal Mer-

cier... j *

Der Tag von Verſailles

mmer wieder muß man das Stichwort ð antönen laffen: Der Schmachfrieden von Verſailles iſt das Unglück der Zeit und dieſer wieder das Waſſerſtandsze ichen für den dahinterſtehenden Imperialismus und Groß- kapitalismus. Ein Mitglied der damaligen Abordnung, Freiherr von Lersner, erinnert in der „Tägl. Rdfch.“ an jenen Tag der Unter- zeichnung (28. Juni), wo wir andren Deut-

ſchen ein wuchtiges Nein erwartet hatten:

„Fürchterliche Wochen waren vergangen während der ſogenannten Friedensverhand- lungen; fürchterliche Ereigniſſe waren gefolgt. Für uns, die wir in Verſailles waren, noch furchtbarer durch die uns unverſtändliche, un- faßbare Zerriſſenheit, die die Reichsregierung, die Weimarer Nationalverſammlung und das ganze deutſche Volk beherrſchte. Nichts hat das deutſche Volk ſo wehrlos gemacht, ſo ſeinen Feinden ausgeliefert, als die entſetzliche Tatſache, daß Deutfchland in dieſen Schidfals- tagen, die feine Zukunft auf Jahre, Jahr- zehnte, vielleicht viele Jahrzehnte feſtlegen ſollten, eine innere Einheitsfront gegen unſere Feinde nicht hat zuſtande bringen können.

Gewiß, das deutſche Volk war durch den Weltkrieg, durch Revolution und Waffenftill- ſtand tief erſchöpft und bedurfte dringend der Ruhe. Gewiß mag in manchem unklaren Hirn der Gedanke einer Trennung von Nord- und

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Suͤddeutſchland als letzte Rettung aufgetaucht ſein. Gewiß mag drohend die Gefahr eines

bolſchewiſtiſchen Gewaltregiments über uns

geſchwebt haben. Aber wir und kommende Geſchlechter werden nie verſtehen, daß nicht in jenen Tagen ein Schrei, ein einziger Schrei durch ganz ODeutſchland gehallt iſt: Ein millionenſtimmiges Nein!

Ein ſchöner, warmer Sommertag. Die Sonne ſchien freundlich auf die zahlloſen fran; zöſiſchen Truppen aller Waffengattungen, die in höchſtem Waffenglanze zu dem Trauerſpiel der Unterzeichnung aufgebaut waren. Die deutſchen Reichsminiſter hatten fih zur Unter- zeichnung in den Spiegelſaal begeben, in dem vor fait 50 Jahren das Oeutſche Reich ge- gründet worden war.

Tropfenweis verrannen uns im Hotel „des Reservoirs“ Zurüdgebliebenen die Minuten. Endlos dünkte dieſe Stunde. Fühlbar, greif- bar legte der „friedenbringende“ Würgengel feine Hand an die Kehle unſeres armen, tob- wunden Vaterlandes. Bittere Zweifel an der göttlichen Gerechtigkeit und Recht ſtiegen in unſerer Bruſt empor, und jeder Nerv ſpannte ſich in tiefem Schmerz.

Gegen 4 Uhr dröhnten die franzöſiſchen Geſchütze. Eine neue Zeit brach an: der „Frieden“! Deutſchland hatte unterzeich- net! Oeutſchland war zur Sklaverei ver- urteilt!“

Wohl wähnte man damals, dumpf und müde vom Weltkrieg, die „Zeit“ würde ſchon von felber für uns wirken. Aber dieſer Glaube hat getrogen. „Im Gegenteil! Wo unfre Gegner konnten, haben fie oft unter offe- nem Bruch des Friedensvertrags uns neue ſchwere Beſtimmungen aufer- legt.“ Heute iſt Frankreich, das angeblich unſren „Militarismus“ bekämpfte, das ein- zige in Waffen ſtarrende Volk der Welt.

„Deutſchland wird nie mals hochkommen, wenn es ſich nicht auf ſich ſelbſt beſinnt, wenn es ſich nicht, anſtatt den ſtändigen Er- preſſungen nachzugeben, mit aller Kraft gegen die Rechtsbrüche unſerer Gegner ſtemmt und ohne Küͤckſicht auf die Folgerung das Nein ausſpricht. Eine Politik des ftän- digen Nachgebens, des Sich mit · Fuͤßen Tre;

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ten-Laſſens kann nur dazu führen, daß eines Tages eine furchtbare Exploſion aus dem tiefſten Innern unſeres geſamten Vol- kes erfolgt. Wer jene Stunde von Ber- ſailles vor zwei Jahren dort oder hier fühlend miterlebt hat, der wird ſie nie vergeſſen. Der wird ſich auch inzwiſchen klar geworden ſein, daß es nicht nur für uns, für Deutſchland, die Lebensfrage iſt, ſondern für Europa, ja für die ganze Welt:

Völlige Reviſion des grauſamen Friedensdiktates von Verſailles!“

Deutſche Geſinnungslumpen

m preußiſchen Maſurenlande ſo wird

in der „Ermländiſchen Zeitung“ mit- geteilt hatten zwei Landwirte, ehemalige Reſerveoffiziere, verabredet, zwei Flugzeuge zu verſtauen. Dieſe landeten auch am Abend in dem beſtimmten Wäldchen und wurden von Vertrauensleuten verpackt und in einer Scheune verſteckt. Drei Wochen fpäter er- ſchien ein franzöſiſcher Major mit Begleitung, ließ die geſamte Arbeiterſchaft nebſt den beiden Gutsbeſitzern zuſammenkommen und ſtellte an letztere die Frage: „Haben Sie Flugzeuge auf Ihren Gütern verſteckt?“ Die Gutsbeſitzer antworteten ſofort: „Jawohl! und Sie als Offiziere werden es verſtehen, daß wir als ehemalige Offiziere richtig gehandelt haben.“ Darauf der franzöſiſche Major: „Ich und meine Offiziere hätten genau ebenſo gehandelt, wir verſtehen das. Die zwei Flugzeuge können uns, wenn es ſpäter einmal wieder losgehen ſollte, keinen Schaden zu- fügen, da ſie bereits durch neue Erfindungen und Verbeſſerungen überholt find. Wir tom- men auch ſehr ungern hierher, es iſt aber eine Anzeige eingelaufen!“ Auf die Frage des einen Beſitzers, wer die Anzeige erſtattet hätte, teilte der franzöſiſche Major mit: „Die Arbeiter beider Güter.“ Er wendete ſich dann gegen die Arbeitergruppen, ſpuckte aus und rief: „Pfui ſolchen Deutſchen! So etwas würde kein Franzoſe tun. Pfui!“ Ein zweites Bild: Generalfeldmarſchall von Hindenburg darf auf ſeiner Fahrt in der Stadt Nordhauſen, deren Ehrenbürger er

Auf der Warte

ist, nicht ausſteigen, weil deutſche Arbeiter ſein Leben bedrohen! Entrüſtet erhebt ſich zwar die ganze Bürgerſchaft und veranſtaltet einen öffentlichen Umzug; aber die Parteiwut der andern antwortet mit einem Gegenzug und hat die Schamloſigkeit, dem Retter des Vaterlandes, der nie Politik trieb, folgendes Telegramm zu fenden: „Über 10 000 Nord- hauſer Arbeiter und Arbeiterinnen erheben Proteſt gegen die Revanche politik, das Treiben von neuem Krieg, das unter Ihrem Namen getrieben wird (2). Nur eine Politik fördert Deutſchlands Wohl, das iſt die ſozialiſtiſche Friedenspolitik.“

Wie ſagte jener franzöſiſche Major? „Pfui ſolchen Deutſchen! So etwas würde kein Franzoſe tun. Pfui!“

*

Deutſchamerikaniſche

nungsgedanken er „Geſellig-Wiſſenſchaftliche Verein“ zu New Vork hat ſich durch ſeine großartige Spende an die deutſche Schriftſtellerwelt auch bei uns Dankbarkeit erworben. Nun gab er zu ſeinem fünfzigſten Gründungsjahr (1920) ein Album heraus („Thoughts on reconcili— ation“), das eine reiche Anzahl von kennzeich- nenden Stimmen über die Möglichkeit einer Völkerverſöhnung ſammelt. Der Herausgeber Friedrich Michel eröffnet die Sammlung und ſtellt „im Dienſt der Drei-Einheit von Herz und Haupt und Hand“ den Wunſch nach einer „neuen und beſſeren Humanität“ an die Spitze feines Vorworts, worin er die Rund- frage mitteilt: „Was können die Intellek— tuellen aller Länder zur Verſöhnung der Völker beitragen?“ , Die Befragten antworteten meiſt in der Sprache ihres Landes; eine engliſch-ameri— kaniſche Überfegung ſteht darunter. Bei flüch— tigem Durchblättern bleibt man ſchon zu Be- ginn an einem franzöſiſchen Beitrag haften (Prof. Bernard): er atmet Haß gegen die „barbarie allemande“. Seite 36 (Simonin) derſelbe haßvolle Gedanke, vom Anblick des Schlachtfeldes ausgehend: alle dieſe Ver— wüſtungen feien verurſacht vom „Geiſt der Zerſtörung und der Barbarei eines Volkes,

Verſöh⸗

Auf der Warte

das jeden menſchlichen Empfindens entbehre“; wer dies geſehen, der könne ein „Gefühl des Ekels“ gegen die Urheber dieſer ſyſtematiſchen Verwüuͤſtungen nicht unterdrücken und müffe jeden Gedanken an Verſöhnung zurückweiſen. Die Franzoſen wiſſen genau als Lands- leute Napoleons —, daß ein Kampfplatz zwiſchen großen Völkern nicht ausſehen kann wie ein Pariſer Damengemach; und wiſſen, daß ſich das ſchwer umſtellte Deutfchland, wenn es verwüſtet hat, durch die bittre Not dazu gezwungen ſah. Aber man kann mit dieſem wüften Nordfrankreich fo huͤbſch die Haßſtimmung gegen Oeutſchland wachhalten! Nicht minder unverföhnlich ſchreibt ein dritter Franzoſe, Stephan Lauzanne, Herausgeber des „Matin“: wonach wir Oeutſche als die alle in ſchuldigen Verbrecher beſtraft werden müffen,. Ebenſo verzerrend Reinach (Paris). Wenn auch einige andre franzöfifche Stimmen ruhiger find (z. B. Rebour): hier ift der Ver; ſöhnungsgedanke ausſichtslos.

Gelaſſener und freundlicher ſind die wenig vertretenen Engländer und die Amerikaner; erft recht natürlich die Deutſch⸗ amerikaner. Hier kann man wirklich den ehrlichen Wunſch nach mehr Menſchlichkeit und Brüderlichkeit deutlich geprägt finden. „Glaube an den Herrn Jefus Chriſtus und ſetze ſeine Lehren in Tat um!“ iſt die ganze Antwort von James R. Day (Aniverſität Syracuſe). Und man ift erſtaunt, mitten in dieſen Stimmen auch ein mildes Wort des „Major of Tokyo“ (Quajiro Tajiri) in eng- liſcher Sprache zu vernehmen: daß wohl die meiſten Verwirrungen in der Welt durch Miß verſtändniſſe kämen: „Wenn wir unſres Herrn (Lord) Lehre befolgen: tue andren, was du willſt, daß man dir ſelber tue, ſo gibt es keine Wirrniſſe mehr in der Welt; man ſehe ab vom Egoismus und folge Gottes Willen, und Ihre Frage ift unmittelbar gelöſt“ ſagt dieſer Japaner. Auf der gegenüberſtehenden Seite

meint der New Yorker Schriftſteller George

Sylveſter Viereck, die germaniſchen Völker

ſollten ſich mit England und den Vereinigten

Staaten zuſammentun, und wendet ſich gegen

die Schändung Oeutſchlands durch Frankreichs

Neger und gegen Englands antideutſche Pro- Der Türmer XXII, 11

355

paganda. Andrew White empfiehlt hiſtoriſche und literariſche Studien in Oeutſchland, um die Beziehungen enger zu geſtalten. „Lebt ihn, den Geiſt der Brüderſchaft!“ ruft Benig- nus (New Pork). Aus den Stimmen der Deutſchamerikaner klingt ganz beſonders ein- drucksvoll eine längere Anſprache von Dr Otto Glogau hervor: „Hätte Kolumbus nicht Amerika entdeckt, die Menſchheit hätte es künſtlich ſchaffen muͤſſen. Denn Amerika iſt nicht bloß ein Land: es iſt eine hiſtoriſche Notwendigkeit, eine Inſtitution, eine dee. Die Menſchheit hoffte in Amerika das Jenſeits von Haß und Hader zu finden, wo... alle religiöſen Glaubensbekenntniſſe, alle politi- ſchen Überzeugungen, alle Sprachen, alle Träume, alle Wiſſenſchaften, alle Kulturen eine liebevolle Heimat finden“... „Das Cin- greifen Amerikas in die Geſchicke Europas ſchmiedete um alle in dieſer amerikaniſchen Schutz- und Trutzeinheit lebenden Völker die Kette der Zuſammengehöͤrigkeit. Auch die deutſchen und öſterreichiſchen Abkömmlinge wurden, wenn auch blutenden Herzens, ſich deſſen bewußt, daß fie vor allem Ameri- kaner find“... Das wollen wir Europäer nicht unterſchätzen; wollen aber auch die fol- genden deutlichen Worte Glogaus hinzu- nehmen: Amerika verſetzte den Zentral- mächten „durch die Stoßkraft friſcher Heere, mehr aber durch das Gift der Feder, durch die Hoffnungen und Verſprechungen auf einen ehrenvollen, gerechten Frie- den den betäubenden Schlag. Als der ver- blendete Präſident Amerikas die Unge- heuerlichkeiten des Verſailler Friedens für immer hinter die Eiſenſtäbe ſeines von England

Bloß? O. T.] ummodellierten Machwerkes

der Liga der Nationen preſſen wollte und ſo für immer den wahren Frieden zwiſchen den ehemaligen Feinden, die wirkliche Ber- ſöhnung und das richtige Verſtändnis zu ver- hindern drohte, erhob ſich das amerikaniſche Volk, nein, erhoben ſich die Stammesgenoſſen der ſich kurz vorher im Kriege gegenüber- geſtandenen Völker wie ein Mann, ſtürzten den Menſchheitsverräter in den Abgrund politiſcher Vergeſſenheit und hiſtoriſcher Lå- cherlichkeit und ſchufen ſo Raum A das

554

Fundament der von Amerika ausgehenden Doppelbrücke der Verſöhnung “..

Unter den deutſchen Stimmen verzeichnen wir mit Mißbehagen eine Entgleifung: Arno Holz begeht die Geſchmackloſigkeit, fein per- ſönliches Schriftſteller- Elend vorzujammern, über ſein Werk lobende Stimmen anzuführen und um Unterſtützung zu betteln! Knapp formuliert Otto Ernſt ſeine Antwort: „Kein ehrenhafter Oeutſcher will Verſöhnung ohne Recht. Wir wollen zunächſt und vor allem von einem unparteiiſchen Gericht unfer Recht empfangen; erſt wenn uns das geworden iſt, wollen wir Verſöhnung.“ Eucken: „Ohne gründliches Sichverſtehen ift eine volle Ad- tung und eine echte Liebe unmöglich.“ Hein- rich Lilienfein: „Kein Verſtändnis ohne Liebe.“ Daß fih auf unſrer Seite die Em- pörung gegen den Verſailler Schandfrieden bemerkbar macht, wird nicht verwundern. Ludendorff: „Nach dem unter Führung der Vereinigten Staaten geſchloſſenen Verſailler Frieden kann von keinem Oeutſchen verlangt werden, daß er an eine Verbrüderung der Menſchheit glaubt.“ Südekum: .. „daß der ſogenannte Friedensvertrag von Verſailles das größte und ſchimpflichſte Verbrechen iſt, von dem die politiſche Geſchichte der Menſch- heit zu berichten hat.“ Tirpitz: „Niemals zuvor in der Weltgeſchichte hat die Lüge und Verleumdung eine fo entſcheidende Rolle ge- ſpielt, wie in dem Kriege, der zu ungunſten der Kultur und der Freiheit der Völker des europäiſchen Kontinents entſchied.“ Macke n- ſen: „Oie Intellektuellen aller Länder können in der alltäglichen Wirklichkeit zu einer ſolchen Verſöhnung beitragen, wenn ſie die Preſſe ihrer hehren Aufgabe, die Völker zu belehren, nicht aber zu belügen und zu verhetzen, wieder zuführen“...

Ja, die Het- und Lügenpreſſe aller Völker! . . . Mit einem Seufzer brechen wir ab.

Deulſchöſterreichiſche Dichtung

eutſchöſterreich iſt namentlich in den Stammlanden der Habsburger uralter deutſcher Kulturboden, auf dem Walther von der Vogelweide geboren wurde und das

Auf der Warte

Nibelungenlied entſtand; und an dem Hofe der Babenberger, des erſten Herrſcher- geſchlechtes der Oſtmark, blühte der Minne- fang. Auch an dem Klaſſizismus hat Deutfch- öſterreich mit Franz Grillparzer ſchönen An- teil, während gleichzeitig mit dem Wiener Hofburgtheater eine Bühne ſich aus dem Nationaltheater Kaiſer Joſefs II. heraus bildete, die noch bis tief in die ſiebziger Jahre des verfloſſenen Jahrhunderts hinein unbe- ſtreitbar an der Spitze des deutſchen Theater- weſens ſtand. Auch die deutſchen Oichter, die im neunzehnten Jahrhundert in der habs- burgiſchen Monarchie geboren wurden, Nito- laus Lenau, Bauernfeld, Anaſtaſius Grün, Ferdinand Kürnberger, Adalbert Stifter, Robert Hamerling, Ludwig Anzengruber und Peter Roſegger, um nur die allerbekannteſten Namen zu nennen, ſtellen ſich den zeitgenöffi- ſchen erſten Dichtern des Reiches würdig zur Seite. |

Uns fehlt eine Literaturgeſchichte, die er— ſchöpfend und tief ſchürfend die Entwicklung des deutſchöſterreichiſchen Schrifttums aus ſeiner hiſtoriſchen, politiſchen, raſſiſchen und kulturellen Umwelt heraus darlegt, eine Ar- beit, wohl des Schweißes eines Edlen vom Geiſte wert. Überſehen wir doch die Mechjel- wirkung zwiſchen den dreizehn Nationalitäten Oſterreich- Ungarns nicht, der ſich auch das Deutſchtum nicht entziehen konnte, wenn es auch bis zum Zerfall des Reiches der Primus inter pares blieb. Ganz unverkennbar ent- halten die Werke der deutſchöſterreichiſchen Dichter und Schriftſteller ſlawiſche, madja- riſche und italieniſche Elemente, was ſich auch in dem Sprachſchatze der Wiener Mundart zeigt. Dazu kam der Orud einer unglaublich albernen Zenſur, unter der ein Grillparzer und Lenau vor 1848 genau ſo zu leiden hatten wie ein halbes Jahrhundert ſpäter ein Hamerling, Anzengruber und andere. Stand die Zenſur des Vormärz im ODienſte des allem Fortſchritte gleich abholden Metternichſchen ſtarr konſer- vativen ſchwarzgelben Staatsgedantens, fo richtete ſie ſich nach 1866 mit beſonderer Spitze gegen die Arbeit der Deutſchöſterreicher, die man der „Preußenſeuchelei“ verdächtigte. Da ſie ſo ſchwere Laſt zu tragen hatten,

Auf ber Warte

erklärt es ſich auch, daß ihr Schrifttum ſich immer enger in heimatliche Zuſtände einſpann, um in Wien ſelbſt ſchließlich nur noch als Kaff eehaus-Literatur hinzuvegetieren.

Alles dieſes, mit ein paar Strichen ſkizziert, müßte eine deutſchöſterreichiſche Lite- raturgeſchichte gründlich ausführen. Nun er- ſchien neulich im Buchhandel (Verlag Theodor Gerſtenberg, Leipzig) ein über 300 Seiten dickes Buch „Die deutſchöſterreichiſche Dichtung der Gegenwart“ von Alfred Maderno, einem in Mannheim lebenden Oeutſchöſterreicher. Da der Verfaſſer ſelbſt bekennt, daß er eigentlich nur ein Nachſchlage⸗ werk liefern wollte, ſo ſei es auch von dieſem

Geſichtspunkte aus eingewertet. Es bietet in

der Tat eine nach den verſchiedenen Dichtungs- arten und Ländern geordnete, faſt vollſtändige Aufzählung aller in Oſterreich- Ungarn leben- den Oichter und Schriftſteller deutſcher Zunge. Einige, wie Peter Roſegger, Franz Keim, Himmelbauer und Hagenauer, find inzwiſchen geſtorben. Eine ſtattliche Anzahl zieht an uns vorbei, ein kriegsſtarkes Bataillon! Und wenn der Verfaſſer ſich durch die rieſige Papiermaſſe, die von dieſen rund tauſend Federn beſchrieben wurde, halbwegs gewiſſen⸗ haft durcharbeitete alle Achtung vor ſolcher Leſerei, um die ich ihn allerdings nicht be⸗ neidet

Über die Werturteile, die der Verfaſſer jedem Namen anhängt, wird man natürlich nicht immer ſeiner Meinung ſein. Er verfolgt damit jene altmodiſch gewordene Art der Kritik, die fid bemüht, auch dem unbedeutend; ſten Farbenverſchmierer, wenn er nur ein Buch veröffentlicht oder ein Bild ausgeſtellt hat, gerecht zu werden. Als reines Nach- ſchlagewerk dagegen wird der umfangreiche Band jedem Fachmann gute Dienſte leiſten.

Eine andere Aufgabe ſtellte ſich Richard Smekal in ſeinem Buche „Alt-Wiener Theaterlieder“ (Wienĩr Literariſche An- ſtalt G. m. b. H., Wien-Berlin). In einer trotz aller Kürze erſchöpfend klar dargeſtellten Einleitung gibt er uns ein Bild von der. Ent- wicklung des alten Wiener Theaters vom ganswurſt bis Raimund und Neſtroy, wie es aus dem Volke hervorging und für das

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Volk ſpielte. Er zeigt uns, daß alle die Lieder, die ſpäter Gemeingut der ganzen deutſchen Nation wurden (Ich bin der Schneider Kakadu, Wer niemals einen Rauſch gehabt, Kimmt ein Vogerl geflogen, So leb' denn wohl, du ſtilles Haus uſw.), aus dem Wiener Theater ihren Weg in die deutſchen Gaue fanden; und der reichsdeutſche Leſer, der von der großen Blütezeit der Wiener Bühnenkunſt,

die mit der Negierung Maria Thereſias be-

gann und bis zur Achtundvierziger Revolution andauerte, kaum eine blaſſe Ahnung hatte, wird bei Smekal genügend Belehrung und Anregung finden. Nur der Name Karl Ditters von Sittersdorf, deffen „Doktor und Apotheker“ heute noch ab und zu gegeben wird, iſt noch geläufig; aber wer kennt einen Umlauf, Johann Schenk und Wenzel Müller, von dem unter vielen anderen die vorhin genannten Lieder herrühren! Dabei war dieſer Komponiſt von ſolch unerſchöpflicher Fruchtbarkeit, daß er in einem Zeitraume von 1783 bis 1834 nicht weniger als 256 Textbücher mit Muſik ausſtattete, alſo auf das Jahr es durchſchnittlich auf fünf Erſtaufführungen brachte! Neben ihm wirkten noch Emanuel Schikaneder, der Schauſpieler, Theaterdirektor und Dichter zugleich war und feine eigenen Bůhnenwerke gelegentlich ſelbſt mit der nöti- gen Muſik verſah; ferner Ferdinand Kauer, der Komponiſt des einſt viel gegebenen „Donauweibchens“, und endlich Joſef Weigl, dem auch manche volkstümlich gewordene Weiſe gelang. Alle überragte weit das Genie Mozarts, deſſen Opern eigentlich Singſpiele ſind und zu ihrer Zeit auch als ſolche betrachtet wurden.

Von dieſem längſt vergeſſenen Erbgut zehrt die moderne Wiener Operette, die nur Fabrikware liefert, und es ijt höchſt unterhalt; ſam, in den von Smekal geſchickt ausgewählten Alt-Wiener Theaterliedern immer wieder die Vorbilder der ſogenannten „Schlager“ unſerer

zeitgenöſſiſchen Operettentext- Lieferanten zu

entdecken, wie denn auch die Muſikmacher dazu fleißig aus den verſtaubten Partituren ihre „Einfälle“ beziehen. 9. Stolzing

&56

Ein norwegiſcher Prozeß

nde April d. J. fand in Kriſtiania wir würden fagen, vor dem Schöffengericht ein intereſſanter Beleidigungsprozeß ſtatt, der dort die literariſche Welt nicht ſchlecht in Atem hielt. Es handelte ſich darum, ob in Norwegen ein politiſcher Schriftſteller von einigem Ruf in nicht- ententiſtiſchem Sinne ſchreiben darf, ohne im Konverſationslexikon das Beiwort „fanatiſch“ zu erhalten!

Beklagter war der Schriftleiter Dr Krog- vig, unter deffen Leitung das von dem an- geſehenen Verlag Aſchehoug in Kriſtiania herausgegebene norwegiſche Konverjations- lexikon (unferem Meyer oder Brockhaus ent- ſprechend) erſcheint. unter dem Namen des Klägers Dr Aal wurden in dieſem Nachſchlage⸗ werk, außer ſeinen übrigen Werken, ſeine meiſt während des Krieges von ihm verfaßten ſelbſtverſtändlich in Eigenverlag erſchiene⸗ nen (da fich kein norwegiſcher Verlag aus nahe- liegenden Gründen dafür fand) politiſchen Broſchüren wie: „Die Gefahr für Standi- navien“ (1915), „Das Schickſal des Nordens“ (1916), „Gegen den Abgrund“ (1917), „U- Bootskrieg und Weltkrieg“ (1918) angeführt und an dieſe die Bemerkung geknüpft: „Alle geſchrieben mit fanatiſcher Parteinahme für Deutſchland und deutſche Kriegs- methoden“.

Um dieſen Satz drehte ſich der Prozeß. Der Rechtsbeiſtand des Klägers führte aus, daß wenn das Wort „fanatiſch“ in einem Zeitungsartikel geſtanden, ſein Klient ſich wohl nicht darüber aufgeregt hätte etwas anderes fei es aber in einem Konverſations- lexikon, einem Buche, das als Quelle der Belehrung zu achten ſei. Von einem ſolchen Handbuchartikel müſſe man mit Recht eine ſtreng ſachliche Darftellung erwarten; der be- klagte Satz müſſe deshalb als beleidigend an; geſehen werden. Der Beklagte Dr Krogvig fabh ſelbſtverſtändlich jene Außerung als nicht beleidigend an. Er führte unter anderem aus, daß das gebrauchte Wort „fanatiſch“ auch verwendet werden könne, um mangelnde Begabung feſtzuſtellen. An dem Beiſpiel eines von Aal verfaßten Dramas wies er auf

Auf der Warte

die von ihm behauptete Talentloſigkeit des Klägers hin und meinte, das gäbe eine ſchöne Geſchichte, wenn jeder Dümmling mit Erfolg gegen unbequeme Kritiker klagen könne! Er bat deshalb, die Klage abzuweiſen.

In feiner Gegenrede ſetzte Dr Aal, Dozent an der juriſtiſchen Fakultät der Univerfität Kriſtiania, auseinander: Falls die beklagte Stelle im Konverſationslexikon ſtehen bliebe, muͤſſe er feine Zukunft als Staatswiffenfchaft- ler als gefährdet anſehen; durch jenen Aus- druck würde er ja geradezu als ungeſchickt ab- geſtempelt, einen Lehrſtuhl für rechtswiſſen⸗ ſchaftliche Grundſätze zu bekleiden, wozu ein objektiwer, ungetrübter Blick beſondere Bor- ausſetzung iſt. In ſeinen Büchern habe er es nicht als ſeine Aufgabe betrachtet, Partei zu ergreifen; er habe nur hingewieſen, welchen völkerrechtlichen Grundſätzen man in Nor- wegens Politik folgen müſſe. Dazu war naturlich notwendig, gegen den einſeitigen außenpolitiſchen Standpunkt Norwegens zu polemiſieren. Er perjönlich habe kein geldliches Intereſſe daran gehabt, zu ſchreiben, wie er es getan habe. Im Gegenteil! Dieſe Schrift- ſtellerei habe ihm viel Geld gekoſtet.

Von den Zeugen gab der norwegiſche Generalkriegskommiſſar Bratlie ſein Urteil dahin ab, daß Aals Schriften das Ergebnis eines ernſthaften Studiums ſeien und Zeugnis für das ehrliche Beſtreben eines Mannes der Wiſſenſchaft ablegen, der Wahrheit zu dienen.

Dr Adr. Hanſen mußte trotz ſeiner per— ſönlichen engliſchen Sympathien geſtehen, daß er Aals Schriften nicht alis „fanatiſch“ tenn- zeichnen könne.

Noch beffer war das Zeugnis des Ober- bibliothekars Orolſum, der ausſagte, daß Aals Bücher auf rein ſachlichen Unterſuchungen beruhen und einer ſtreng wiſſenſchaftlichen Methode folgen. Man habe von Aal geſagt, er ſei „prodeutſch“, er wolle lieber ſagen, er fei „pro- norwegiſch“.

Von den Zeugen der Gegenſeite war Schrift- leiter S. C. Hammer von „Verdens Gang“ der Anſicht, daß Aals Bücher mit keinerlei wiſſen- ſchaftlicher Methode geſchrieben ſeien; er meinte, Aals Wirken als Schriftſteller ſei in jenem Lexikonartikel richtig dargeſtellt und es

Auf der Warte

fei nichts Außergewöhnliches, ſolche Urteile über Perſonen in Handbüchern aufzunehmen.

Ein weiterer intereſſanter Zeuge war der Kollege des Klägers Frankreichs Ehren- legionäe Dozent Dr Worm Müller. Der fand natürlich die unter Klage geftellte Charat- teriſtik Aals für abſolut richtig! Diefer Gallier (vgl. Maiheft des Türmers !) ſprach den Werken Aals jeden wiſſenſchaftlichen Wert ab und hielt ihn nicht nur für wiſſenſchaftlich ein; äugig, ſondern auch für ganz blind. In feinen

hiſtoriſchen Arbeiten fälle er Urteile, die ent-

weder auf Fanatismus oder Dummheit zurüd- zuführen ſeien. Beſagter Herr führte dann ſo mancherlei Begebenheiten aus dem Krieg auf, wo eben Dr Aal nicht ententiſtiſch ge- urteilt hatte, z. B. bezüglich des belgiſchen Neu- tralitätsbruches oder bezüglich Lichnowskys. Dem Helden des Straßburger Ausflugs hatte es auch einen großen Kummer bereitet, daß Aal einmal von dem vollftändig deutſchen Elſaß⸗ Lothringen geſprochen hatte. Mit Pathos fragte hierbei dieſer Degen Galliens: „Ift das die Außerung eines Mannes der Wiſſenſchaft?!“

Als Worm-Müller zu Ende war, bemerkte der Kläger, daß zur Zeit, als ſeine Schriften erſchienen, Norwegens öffentliche Meinung ſtark einſeitig beeinflußt war (was wir mit Ingrimm beſtätigen: unſre deutſche Zenſur bat uns ja alle Beziehungen zum neutralen Ausland erbärmlich erſchwert!).

Hierauf tauchte ein anderer Parteigänger der Entente auf. Der Herausgeber von „Tidens Tegn“, einer in Norwegen weitver-

breiteten Kriſtianiaer Zeitung. Während des

Krieges nahm ſich dieſes Organ wie ein fran- zoͤſiſches Provinzblatt in norwegiſcher Sprache aus. In Vergottung von Frankreich wett- eiferte es mit „Aftenpoſten“. Selbſtverſtänd⸗ lich fand Herr Thomeſſen die unter Klage geſtellte Charakteriſtik Aals vollkommen be- rechtigt. Er ſprach auch Dr Aals Schriften jeden wiſſenſchaftlichen Wert ab. Auf eine Frage des klägeriſchen Advokaten Sjerdum bekannte Thomeſſen, daß er niemals deutſchfreundliche Artikel aufgenom- men hätte. (Das ſtimmt haarſcharf mit den Erfahrungen des Verfaſſers dieſer Zeilen; daß Thomeſſen keine deutſchfreundlichen Ar-

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tikel aufnahm, mochte hingehen: er war aber auch nicht zu bewegen, handgreifliche Lũgen der Entente richtigzuſtellen.) Von der Art von Fournaliſtik, die dieſer ehrliche Deut- ſchenfeind trieb, ſei hervorgehoben, daß z. B. Tidens Tegn ſeinerzeit die aufſehenerregenden Ergebniſſe des Suchomlinow-Prozeſſes nicht gebracht hatte und auch nicht zu bewegen war, es zu tun.

Zuletzt wurde noch der Oberſtleutnant Schnitler vernommen, der fein Urteil über Deutſchlands Kriegspläne abgab. Man ſieht:

der Prozeß behandelte nicht wenig Fragen;

und den Richtern wurde die Sache nicht leicht gemacht.

Der große Prozeß, der mit gewaltigem Apparat mehrere Tage dauerte, endete mit einem Vergleich. Herr Krogvig gab die

Erklärung ab, daß er mit der beklagten Cha-

rakteriſtik keine Ehrenkränkung des Klägers beabſichtigte und daß er bei der erſten Ge- legenheit den beanſtandeten Satz ändern werde. Beide Teile übernahmen ihre Koſten.

Ergötzlich find die Bemerkungen, die Nor- wegens bedeutendſter literariſcher Kritiker, Dr Hjalmar Chriſtenſen (Morgenbladet Nr. 146) zu dieſem Prozeß machte. Er ſagt, wenn man diefe perſönlichen Charakteriſtiken in der Art, wie ſie Dr Aal im Konverſationslexikon bekam, noch weiter durchführen wollte, ſo käme z. B. heraus für Worm-Müller: „Fran- zöſiſcher Feueranbeter. Heult, wenn er nur die Marſeillaiſe hört“; für S. C. Hammer: „War verknũpft mit einem großen engliſchen Unter- nehmen. Ganz ungeeignet zur Beurteilung deutſcher Verhältniſſe. Stil alles andere als unangreifbares Norwegiſch“ uſw.

Auf die Gemüts- und Geiſtesverfaſſung der Norweger warf dieſer Prozeß ein bezeichnendes Licht. Es wirkte ſehr fym- pathiſch, daß Aal auf die teilweiſe recht un- ſachlichen perjönlihen Anrempelungen von gegneriſcher Seite nicht einging.

Noch gibt es bei unſeren nordgermaniſchen Brüdern allzuviel Gebildete, die unter dem Einfluß der Kriegspſychoſe und der Phra- ſeologie Northeliffes oder der Alliance fran - çaise ſtehen. Es ift dies bedauerlich, denn Norwegen hat nach dem Kriege unſeren Kin-

s

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dern viel Gutes erwieſen. Übrigens: Welches Licht wirft dieſer Prozeß auf die Kollegialität unter der Dozentenſchaft der Univerfität Kriſtiania! G. H.

1

Vergiftung der Kinderſeelen

D fährt ein Wagen der S. P. O. im Feft- zuge der Berliner „Maifeier“; in der Beilage der „Voſſ. Ztg.“ iſt's im Bild feft- gehalten. Er iſt rund herum bekränzt und bekränzte Kinder in weißen Kleidern, ganz kleine Geſchöpfe darunter, ſitzen auf dem Wagen, lachen vergnügt, winken und tragen ein großes Plakat „S. P. O.“ (Sozialdemo- kratiſche Partei) und daneben ein andres Pla- kat: „Nieder mit der Reaktion!“

Schon dieſe Kinder alſo, mit allen äuße- ren Zeichen reiner Feſtfreude, werden ver- giftet, müſſen ein Wort des Parteihaſſes hinauspiepſen mit ihren Kinderſtimmchen: „Nieder mit der Reaktion!“ Wobei fie na- türlich keine Ahnung haben, was „Reaktion“ ift, keine Ahnung haben können.

Noch geſchmackloſer die Kommuniſten! Sie veranſtalteten neulich eine „Internatio- nale Arbeiterkinderwoche“; auf dem Berliner Schloßplatz verſammelten fid mehrere hun- dert Kinder unter Führung einiger Erwach- ſener und „demonſtrierten“. Sie führten viele rote Fahnen mit ſowie Tafeln, auf denen unſere Jüngſten die „Abſchaffung der rohen Prügelſtrafe und die Einführung der welt- lichen Schule“ forderten und der Mitwelt verſicherten, daß ſie weder die „Orgeſch“ noch die Reichswehr oder die grüne Polizei fürch- teten. Nach Abſingen revolutionärer Kampf— lieder kam eine Anzahl jugendlicher Redner im Alter von 10 bis 17 Jahren zu Wort, die die kommuniſtiſche Jugend zum Kampf gegen die „reaktionäre Lehrerſchaft“ aufforderten und davor warnten, an den „Schwindel von Gott und einer Obrig— keit“ zu glauben!. |

Die Sozialdemokratie ſpricht neuerdings viel von Kultur und veranſtaltet Kulturtage. Will ſie nicht dadurch Kultur beweiſen, daß ſie vor dieſem widerlichen Unfug ihre Kinder bewahrt?

Auf der Warte

Das Verſagen der Familie

Ene Mutter ſchreibt uns: „Ich gönne den jungen Leuten von Herzen das Glück, das ihnen in Jugend- Vereinigungen zuteil wird, aber ich muß fragen: warum werden wir Eltern ſo ganz und gar übergangen? Es wird wohl von uns angenommen, daß wir reif genug ſind, uns unſer Innenleben ſelbſt zu geſtalten und zu bereichern, ſo daß wir keiner Anregung von außen bedürfen. Das mag bei vielen der Fall ſein; aber bei viel mehr andren wird wohl der graue All- tag die Herrſchaft haben. Beſonders uns Eltern des früheren Wittelſtandes laffen oft die dürren Nöte des Lebens, die Sorge um die Zukunft unſrer Kinder keine Zeit und keine Spannkraft, um der Seele ihr Recht werden zu laſſen. Und doch, meine ich, wären wir Eltern zuerſt berufen, unſren Kin- dern Sonne und Freude zu geben und ihre Herzen mit Liebe für alles Gute, Wahre und Schöne zu erfüllen. Wenn wir aber geiſtig und ſeeliſch verkümmern, dann ſuchen die Kinder andere Gemeinſchaften und werden der Familie, der eigentlichen Gründerin eines gefunden Staates, entzogen“ ...

Dieſe Hausfrau ſpricht es richtig aus, daß fie „zuerſt berufen“ wäre, ihren Kindern Sonne, Seele, Freude zu geben geſteht aber zugleich ihr Unvermögen, alfo den Banker rott der Familie. Denn wenn in einer Familie der „graue Alltag die Herrſchaft“ hat, wenn alfo die Verklärungskraft aus der Familie gewichen ift: ſtrömt ja eben das junge Volk hinaus und ſucht anderswo. Warum alfo werden ſolche Eltern „übergangen“? ...

Ein ernſtes Geſtändnis! Denn die Familie iſt und bleibt dennoch die Kernzelle jedes gefunden Gedeihens einer Volksgemeinſchaft.

Verführung als Betrug

ie Worte über „Jugend und Geſchlechts— not“ im Zuniheft des Türmers regen mich zu den folgenden Gedanken an. Jeder deutſche Mann, jede deutſche Frau und nicht zum wenigſten unſre deutſche Jugend ſollte fid jene Worte gewiſſenhaft zu Herzen nehmen.

Auf der Warte

Wie viel unabſehbares Menſchenleid iſt in dieſen Kriegs- und noch ſchlimmeren Nach- kriegsjahren aus der Teufelei erzwungener oder erliſteter Luſtaugenblicke auf Jahre und Jahrzehnte ausgeſtreut worden! Jedem jungen reinen Menſchenkinde wohnt eine na- türliche Scheu und Scham inne; diefe Scham wird aber vom Verführer mit liſtigem und lüſternem Geſchwätz unter Umſtänden mit religiöfem Geſchwätz unter die Füße getreten. Wie verworren und ehrlos hier die Vorſtellungen ſind, zeigte mir die kürzlich erlebte Außerung eines jungen reichen Bau- ern, der mit der Behauptung herumprahlte, „er bringe jedes Mädchen herum“, d. h. um ihren Willen zur Keuſchheit, er könne alſo jede verführen! Auf die Frage, wie er das erreiche, antwortete er ebenſo plump wie frech: „Ich ſage ihr, daß ich ſie heiraten will.“ Auf die Entgegnung: „Das iſt alſo Betrug!“ machte er ein blödes Geſicht Es wurde ihm dann gründlich die Niederträchtigkeit ſolcher Geſinnung zum Verſtändnis gebracht. Daß die Willenslähmung eines Mädchens durch Bier und Wein zum Zweck ihrer Verführung auch nichts weiter ift als gemeinſter Be- trug, den der Staatsanwalt ſchärfer verfolgen müßte als den Betrug um einige tauſend Mark, das dämmert vielen erſt auf, wenn ein tatkräftiger Bruder oder Vater der Verführten die Beweisſchrift in blauer Farbe guf den Rüden des Betruͤgers eingezeichnet hat oder das Gericht ihn in ſtiller Zelle zum Nachdenken zwingt, nachdem eine Tragödie erfolgt iſt.

Das iſt keine deutſche Jugend, die auf dieſem Gebiet nicht von jener natuͤrlichen Scheu und Ehrfurcht durchdrungen ift, die unſren germaniſchen Altvordern der Frau gegenüber innewohnte. Zeugung ift eine allerperjön- lichſte Sache: die Vaterſchaft genau ſo ernſt und verantwortungsvoll heilig wie die Mutter- ſchaft. And die Vorſpiegelung der „Heilands- zeugung“ oder verwandten Geſchwätzes ilt genau ſo grober Betrug und genau ſo verbrecheriſche Suggeſtion auf ein weib- liches Gemüt wie irgendein andrer Zugang zur Wolluſt und noch dazu eine geiſtige Irreführung eines ſchutzlos und vertrauens- voll zum Mann aufblickenden Mädchens.

Der Herausgeber des „Türmers“ hat der

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Jugend das befreiende und erlöſende Wort gegeben: „Will ſich die Jugendbewegung eine große Aufgabe ſtellen, fo übe rwinde fie den Materialismus auch in der Erotik! So ſchreibe ſie über den Torbogen zur neuen Zeit: Ehrfurcht vor der Seele des Weibes! So helfe das kameradſchaftliche Weib dem ritterlich verehrenden Mann in der Entfaltung der ſchöpferiſchen Gemüts- und Geiftes- kräfte!“

Denn mit dem Gemüt beginnt der Menſch der Edelmenſch, nicht der Trieb menſch. Dr, H. G.

*

Vom Baldurbund

war einmal im „Türmer“ die Rede, als von einem der Verſuche, von kleinen Zellen aus wieder etwas wie feſtliche Geſtimmtheit oder Beſinnung auf das Große in der Jugend zu wecken und wachzuhalten. Dieſe Beſtrebungen ſetzen ſich erfolgreich fort.

Mit einer „Lutherfeier“ wurden dort neu- lich Gedenkworte zu Ehren der dahingegange⸗ nen Raiferin verbunden. Ein kräftig und ſchön geſtaltetes Blatt verzeichnet, nach einem Prä- ludium von Bach, Chöre und Arien und da- zwiſchen die Luther-Feſtrede des Profeſſors Lio. Dr. Reinhard. Lutherworte, im großen, feſten Druck jener Zeit, füllen die nächſte Seite. Und ſo wirken bei dieſen feſtlichen Veranſtaltungen immer Wort und Ton zu- fammen, fih oft ergänzend durch das Bild. Auch die Gäſte, die nicht unbedingt auf die Grundgeſinnung eingeſtellt ſind, müſſen die vornehme Geftaltung ſolcher edel abgeftimm- ten Abende anerkennen.

Zur Sonnenwende fand ein „Heldenabend“ ſtatt: eine Gedenkfeier auf unſere Gefallenen, und zwar an einem Hünengrab, vorbereitet durch eine Saalfeier innerhalb der Stadt. Dabei kam ein kurzes „Schwertweiheſpiel“ Lienhards, des Schutzherrn dieſes Bundes, zur Aufführung.

Inzwiſchen find die Satzungen dahin er- weitert worden, daß auch „Schweſtern“ und „Freundinnen“ des Bundes mitaufgenom⸗ men werden können.

Bei alledem ift natürlich Vorbedingung, daß der feſtliche Geiſt wirklich von innen

360

heraus wächſt: aus einem erſtarkenden Seelenleben. Nur fo dürfen wir Deutjche uberhaupt auf abſehbare Zeit Feſte feiern: keine Luxusfeſte, ſondern Weihetage, bei denen man ſich Kraft und Mut holt, das Leben edel zu führen, in der ſtärkenden Ge- wißheit, daß man nicht allein ſteht. So will auch dieſer von Willi Ludewig gegründete Bund, der ſeinen Sitz in Hamburg hat (Schlüterftr. 20), alle deutſchen Zunglehrer und ihre Freunde erziehen, ſammeln, entflammen zur Wiedergeburt des deutſchen Volkes.

Armes Wien! |

ir leſen in Roſeggers „Heimgarten“: „Die Namen der dem Wiener Landes- gericht eingelieferten Tab akſchie ber, die uns um Hunderte von Millionen betrogen haben, lauten: Salomon Reiß, Joſeph Diamant, Samuel Weißmann, Benjamin Wohlmann, Markus Tuchmann, Bernhard Günzberg, Chaim Silber, Mofes Kammerling, Siſſel Spargel, Abraham Iſrael Grüner, Berta Aſchkenaſy, Juda Seftel. Trotz der Woh- nungsnot find alle diefe ſympathiſchen Ge- ſtalten aus dem Oſten in Wien wohnhaft. Damit die Falotten Platz haben, müſſen die Alteinheimiſchen enger zufammenrüden, wenn ſie ein Wegſterben nicht vorziehen.“

Wir leſen ferner in einer Tageszeitung: „Oas große Kinderſterben in Wien. Die neueſten Statiſtiken der Zentralkommiſſion für Bevölkerungsſtatiſtik zeigen, daß im Zeitraume von 1910 bis 1921 Wien 10 v. H. gleich 190000 Seelen ſeiner Bevölkerung verloren hat. Das Bemerkenswerteſte an dieſer Zahl ift der Am- itand, daß der Bevölkerungsrückgang am ſtärk⸗ ſten bei den Jugendlichen ſich erkennbar macht. Von den 190000 Geſtorbenen ſind nämlich 130000 Kinder und Jugendliche“.

Hetzgeſindel an der Arbeit

jene gewiſſenloſen Vergifter nämlich, die durch das Mittel des gedruckten Wortes ſo viel Haß und Elend verbreiten! Da fchreibt

Auf der Warte

ein Seelenmörder dieſer Art in der „Roten Fahne“ (13. Juli) über eine Veranſtaltung in Homburg, wobei er hartnäckig von der „Orgeſch“ ſpricht, die bekanntlich aufgelöſt iſt:

„Die Orgeſch hat am Sonntag in Bad Homburg ihren Triumphzug gehalten. Das ganze Mördergeſindel der Orgeſch mit den Marburger Mordſtudenten an der Spitze demonſtrierte, von ihrem Sammelplatz, dem Hirſchgarten kommend, in der Luiſenſtraße, der Hauptverkehrsſtraße Homburgs. Die frei- willige Feuerwehr angeblich politiſch neu- tral ſtellte wie am Pfingſtſamstag zum Orgeſch-Regimentsfeſt, nicht nur eine, ſondern zwei Muſikkapellen, die abwechſelnd die Klänge des monarchiſtiſchen Parade— klüngels dem Zuge vorantrugen. Wie lachte doch dabei jedem Geldſackpatrioten, den feiſten, ſich von dem Kitzel der Nackttänze erholenden, Kurkranken“ dieſem Kriegs- gewinnler- und Schieberpack das Herz. Die heilig geprieſene Ordnung der Prole— tariermörder, die Ordnung der täglich immer ſcham- und rückſichtsloſer werdenden Unterdrückung und Ausbeutung, die Ordnung der Fuſtizſchande, des weißen Terrors, marſchierte hier leibhaftig in einer machtvollen protzenden Parade mit we- hendem ſchwarzweißroten Banner, auf dem einerſeits ein mächtiges Orgeſchkreuz prangte und andrerſeits das verlogene Schlagwort der Hakenkreuzler: Das Vaterland geht über die Partei! zu leſen war. Aufgeblaſen und ſiegesbewußt warfen ſich die grünen Studentenlümmels als die mordenden Retter der Nation in die Bruſt. Der Rum mel bewegte ſich nach dem Bahnhof, wo nach einem Erguß von monarchiſtiſch-überſchweng⸗ lichen Anſprachen mit gebührender Verhöh— nung der gefeierten demokratiſchen Republik die Homburger Orgeſchhäuptlinge rührend Abſchied von den Marburger Mördern und anderen auswärtigen Banditen nap- men“...

Man tann fid) vorſtellen, wie es im Gehirn eines deutſchen Arbeiters ausſieht, dem Tag für Tag dieſe Tonart eingehämmert wirbt

Verantwortlicher. und Hauptſchriftleiter: Prof. Dr. phil. h. c. Friebrich Aenhard. Für den polltiſchen und wirt Ichaſtlichen Teil: Konſtantin Schmelzer. Ulle Zuſchriften, Einſendungen uſw. an die Schriftleitung des Türmerd, Derlin⸗ Wilmersdorf, Nudolſtädter Straße 69. Orud und Verlag: Greiner u. Pfeiffer, Stuttgart

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Franz Hein

Beilage zum Türmer

Einſamkeit

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8 von Prof. Dr. h. c. Friedrich Lienhard

28. Sabre. ‚September 1921 %2eft 12

An Dante

[(Zu feinem 600. Todestage am 14. September) Von Richard Zoozmann

{ ante! Als dich das harte Los traf der Verbannung, weil du „als

SS, IN Fälſcher, Betrüger und Amtsverkäufer“ den friedlichen () Zuſtand S

zerſtörteſt deiner Heimatſtadt Florenz und der Partei der Guelfen, als man eine entehrende Strafe von fünftauſend Goldgulden über dich verhängte, als man dieſes erſte Urteil verſchärfte durch ein zweites mit An- drohung des Feuertodes, und die Verbannung auf zwei Jahre in eine ewige umwandelte —: da ſchüttelteſt du, ein Weiſer, und im Bewußtſein deiner Anſchuld ein Starker, den Staub deiner undankbaren Vaterſtadt von den Füßen.

Du drehteſt deiner Mitwelt ſtolz und verachtend den Rücken zu und ſchufeſt ein Werk für die Nachwelt. Du machteſt deine kleinen, beſtochenen Richter ver- ſtummen und riefeſt dir laute und lautere, unbeſtechliche Nichter für die Ewigkeit auf, die bei allen Bildungsvölkern für dich zeugten und zeugen werden, ſolange die Poſaunenklänge deines Erdundhimmelsliedes noch einen Widerhall finden in den erſchütterten Herzen deiner Hörer und Jünger.

Ruhe und Wohlſtand waren dir verloren. Du ſuchteſt nur den Frieden mit dir und der Welt, o mein Dante. Und nun ſetzteſt du den Griffel an zu deinem unſterblichen Werke. And führteſt es in titaniſchem Ringen mit Wort und Ge- danken zu ſiegreichem Ende. Oft verzagteſt du, ob deine ſterbliche Schulter auf die Dauer der Rieſenlaſt gewachſen ſei. Sie war es; der ſchwache Körper brach

26

Der Türmer XIII, 12

362 Zoozmann: An Dante

nicht unter der Laſt zuſammen, weil ihn ein großer, ein geſunder Geiſt bewegte und beſeelte. Für Verachtung gabſt du Größe, für Undank gabft du deinem Vater— lande un vergänglichen Ruhm.

Möglich, ſehr möglich, o Dante, daß dir dein unſterbliches Lied, an das Erde und Himmel mithelfend die Hand legten, nicht gelungen wäre in bürgerlicher Ruhe, im ſanften Schoße der Familie oder im Wohlſtand eines ſtillen Lebens und als beamtetem Staatsmann. Als du arm und unſtet, heimatlos, gleich Romeo faſt bettelnd von Ort zu Ort zogeſt, da geſellte ſich die Muſe dir zu als Führerin und Tröſterin: eine kluge, ſtrenge, felten lachende, aber mütterlich-wachſame Mufe. Die Anſicherheit der Zukunft, die Schmach der Vergangenheit, die Sorge um die Gegenwart von heute zu morgen, der flüchtige Aufenthalt, wechſelnd von Jahr zu Jahr, oft von Mond zu Mond, ja von Woche zu Woche —: dies alles, o großer Dante, trieb und drängte dich, die Hand nicht abzuziehen von dem gewaltigen Gedicht, von der göttlichen Offenbarung deines Geiſtes, ſondern fertigzuſtellen das Werk in weniger Jahre Friſt, ehe das Eiſen im Feuer glühender Begeiſterung erkaltete.

Wie aus einer nüchternen Ebene urplötzlich ein mächtiger, ſchöngegliederter Berg aufbäumt, ſo, Dante, erhebt ſich nach einer troſtloſen Wegſtrecke, die in tauſend Jahren die Geiſtesgeſchichte der Menſchheit durchlief, dein gewaltiges Werk empor. Das erſte Gebirg in der chriſtlichen Dichtung. So ſtehſt du da, ein chriſtlicher Olympos, ragend über die Gegenwart hinweg in ferne Zukunft hinan.

Wir grüßen dich, Durante Aldiger, harter Speergewaltiger, wir grüßen dich als einen Verwandten unſeres Blutes und nennen dich den Unſeren kraft dieſes Bandes der Natur und kraft unſerer Liebe, die dein Werk bis in die feinſten und veräſteltſten Lebensadern durchforſcht hat. Wir nennen dich den Unſeren kraft derſelben Liebe und mit demſelben Recht wie den andern gewaltigen Speer- ſchüttler, in deſſen Adern gleichfalls Blut von unſerm Blute rinnt! William und Dante zwei Sterne am Himmel der Weltliteratur und am Himmel des deutſchen Schrifttums!

Dein ſiebenhundertſtes Gedächtnisjahr, Durante Aldiger, fällt für unſer Deutſchland in eine Zeit, die es uns beſonders geboten erſcheinen läßt, dir als Verkünder ſtrenger Gerechtigkeitsliebe, dir als eindringlichem Prediger ſittlichen Ernſtes dankbar zu huldigen, wenn ſich auch die dichteriſche Offenbarung deines Geiſtes an alle Bildungsvölker wendet. Nicht nur als Dichter kannt du uns ein Sinnbild ſein. Du, der Mann, der gleich uns die ſorgenvollſte und trübſte Zeit ſeines Vaterlandes mit durchleben mußte, du, der trotz Armut, Schande und Verbannung feſthielt an der erhebenden Hoffnung auf einen Retter und Wieder herſteller, du, o Dante, ſollſt uns auch als Perſönlichkeit ein leuchtendes Vorbild ſein und mußt als Menſch gefeiert werden. Dein ewiges Gedicht werde dem Deutſchen von heute neben Bibel und Fauſt ein Troſt- und ein Stärkungsbuch!

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Huch: Über die raumbildende Rraft des Geiſtes 363

Alber die raumbildende

Kraft des Geiſtes Von Ricarda Huch

Die rühmlichſt bekannte Pichterin, die zugleich als Senke rin an den ſeeliſchen Sorgen und Fragen der Gegenwart mitarbeiter, rückt hier das jetzt viel erörterte Raum- und Zeitproblem (Enftein, Spengler) in eine beſondre religids-philofophifche Beleuchtung. L.

G einem kurzen Zeitungsartikel fand ich eine Gegenüberftellung der

Kantſchen und der Einſteinſchen Ideen über Zeit und Raum: daß nämlich nach Kant Zeit und Raum das Primäre feien, eine An- ſchauungsform des Geiſtes, innerhalb welcher alle Dinge verflöſſen, nach Einſtein vielmehr das Sekundäre, von den Dingen Abhängige. Es mag im allgemeinen unerlaubt ſein, nach einem Zeitungsbericht zu einer Frage das Wort zu ergreifen, die man nicht an der Quelle ſtudiert hat; da ich aber die nun folgende Betrachtung ohnehin ſeit geraumer Zeit geſchrieben hatte, mag es angehen, daß ich fie mit dem eben Geleſenen in eine Verbindung bringe, die fih mir dabei auf- drängte, und die vielleicht auch für andere nicht ohne ZIntereſſe iſt.

Die Ewige Zeit oder Ewigkeit man kann ſie auch Innere Zeit nennen iſt allerdings das Primäre. Sie umfaßt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, fo daß diefe drei zuſammenfallen, wodurch fie von unſerer meßbaren Zeit durchaus verſchieden iſt. Die Zeit oder der Geiſt, welches beides eins iſt, denn der Geiſt, die lebendige Kraft, iſt zeitlich, oder die Zeit iſt lebendige Kraft, die Zeit alſo iſt an ſich raumlos, aber ſie hat raumbildende Kraft. Sie bildet den Raum durch den Stoff, der aus ihrer Ruhe entſteht; denn die Ewige Zeit iſt abſolute Bewegung und wird erſt durch das Aufhören der Bewegung, welches mit dem Entſtehen des Stoffes zuſammenfällt und gleichſam die Kehrſeite des Geiſtes ift, zur rhyth⸗ miſchen, meßbaren Zeit. Die meßbare Zeit umfaßt nur die Vergangenheit und die unmittelbare Gegenwart, nicht die Zukunft, obgleich der Begriff Zukunft erſt mit ihr entſteht. Raum, Stoff, Individualität, Welt, Tod und Teufel hängen unzertrennlich zuſammen; ohne Stoff und Raum wäre nichts Einzelnes, wäre nur Gott, das Ganze, welches für uns ſo gut wie nichts wäre.

Wir erleben die Ewige Zeit im Traume, wo weder Stoff noch Raum iſt und wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zuſammenfallen. Es kommt allerdings vor, daß die Träume ſich in irgendwelchen Räumlichkeiten abſpielen, daß wir Landſchaften und Gebäude ſehen, was Raum und Stoff vorauszuſetzen ſcheint; allein wenn wir, einen Traum ſchildernd, ſagen, wir hätten etwas geſehen, uns überhaupt der Ausdrücke bedienen, welche einem ſinnlichen Leben im Raume entſprechen, fo tun wir das nur, weil uns eine dem Traum angemeſſene Sprech- weiſe nicht zu Gebote ſteht; eigentlich können wir nur ſagen, daß wir im Traume etwas wiſſen oder fühlen oder erleben, und indem wir uns oder andern davon Rechenſchaft ablegen wollen, übertragen wir den im Beit- und Raumloſen oder in der Ewigkeit fih abſpielenden Traum ins Käumlich-Zeitliche. Ebenſo hört

564 Huch: Aber die raumbildende Kraft des Geiftes

auch das individuelle Leben im Traume auf, obwohl wir als Individuen und ob- wohl andere Individuen darin auftreten. Beſinnen wir uns aber recht, fo muß uns klar werden, daß die Grenzen der Perſonen beſtändig ineinander zerfließen, und daß wir unſer eigenes Fühlen und Wollen ſehr oft mit einem anderen Namen und einer anderen Perſon verknüpfen, wie auch, daß Bekannte, die im Traume mitſprechen, anders ausſehen als in Wirklichkeit, und daß alle in einem und dem— jelben Traume ihr Äußeres und Inneres mehrfach wechſeln. Die RNaum-Zeit aber, die wir im Wachen erleben, iſt individuell und mit dem Stoffe, alſo den Dingen, verbunden.

Wenn nun aber auch die Ewige geit oder Ewigkeit das Primäre iſt, ſie iſt ja Gott- Vater ſelbſt, und wenn auch die Naum-Zeit mit dem entſtandenen und vergänglichen Stoffe, mit Tod und Sünde zuſammenhängt, ſo iſt doch die Ewige Zeit für ſich nicht das Höhere und Vollkommenere, woraus man ja folgern könnte, daß der Traum höher einzuſchätzen ſei als das Wachen. Das Ganze iſt zwar das Primäre, der Vater, aber das Einzelne hängt unzertrennlich mit dem Einzelnen zuſammen: Gott iſt ein dreieiniger Gott.

Das Reich Gottes iſt inwendig in uns, heißt es. Die Ideen ſind in uns, aber nicht als eine bloße Vorſtellung, ſondern als ein Gefühl, eine Kraft, die ſich äußern will; wie ſie dem Einzelnen von außen kommen, drängen ſie auch wieder nach außen. Wenn wir uns Gott, der doch Geiſt, lebendige Kraft iſt, unwillkürlich in erhabener menſchlicher Bildung vorſtellen, iſt das eine kindliche Auffaſſung, vielleicht ſogar ein Irrtum oder Fehler?

Nein, wir tun damit im Gegenteil das Natürliche und Richtige; denn Gott wird Fleiſch, er will ſich als Menſch offenbaren. Gott iſt Geiſt, ſeinem Weſen nach ewig-zeitlich; aber er offenbart fih räumlich-zeitlich, er hat die Neigung und Kraft, ſich einen Raum zu bilden, in dem er erſcheint. Die raumbildende Kraft iſt alſo dem Geiſte weſentlich, obwohl er ſelbſt ewig-zeitlich, nicht räumlich ift. Das Skelett, welches wir als Bild unſeres individuellen Todes in uns tragen, überdauert uns aber nur räumlich, als etwas Erſtarrtes, an dem die Bewegung des Geiſtes als an einem Negativ abzuleſen ift; unfer Unfterbliches hängt nicht damit zuſammen, Dennoch iſt der Tod, den wir in uns tragen, unſere Stütze, die wir nicht entbehren können, wie überhaupt Tod und Leben unlöslich verbunden ſind. Wir müſſen uns bewußt bleiben, daß im Raume, wie Schiller fagt, das Erhabene nicht wohnt, da es vielmehr in der Geſinnung liegt; daß aber dieſe ohne eine ſtofflich- räumliche Welt ſich nicht offenbaren kann.

Nicht alle Menſchen und nicht alle Völker haben dieſelbe vaumbildende Kraft. Bei den orientaliſchen und ſüdlichen ift fie im allgemeinen ſtärker als bei den nordiſchen, und die Griechen und Römer hatten ſie mehr als die Juden und die Germanen. Wenn die Juden ſoweit gingen, zu verbieten, daß von Gott ein Bildnis oder Gleichnis gemacht werde, fo bewieſen fie damit ein tiefes Verſtändnis für die Gefahr, die mit jeder räumlichen Oarſtellung des Göttlichen verbunden ift, indem der Menſch, mit feinen Sinnen überhaupt am Räumlichen haftend, immer geneigt iſt, das Geiſtige entweder ganz vom Räumlichen abzuſondern oder es dem Räumlichen gleichzuſetzen. In der Bibel tritt uns das ewige Weſen Gottes

Huch: Über die raumbildende Kraft des Geiſtes | 305

und feine raumbildende Kraft zugleich entgegen. Hier ift nicht nur gejagt, daß Gott Geiſt fei, ſondern wir fühlen ihn wehen, hoch über allem Räumlichen, aber auch im Räumlichen ſich erfreuend, ihn gewaltig durch feinen Willen wölbend. Auch in der antiken Legende von Orpheus finden wir die Tatſache von der raum- bildenden Kraft des göttlichen Geiſtes dargeſtellt; allein die geſtaltenfrohe Antike legt, beſonders in ſpäterer Zeit, den Ton auf die vollendete Geſtalt, während wir in der Bibel vor allem den unbegreiflichen Hauch ſpüren, von dem alles ausgeht und zu dem alles zurückkehrt. Gefühl ift alles; dennoch ift das raumbildende Weſen des Geiſtes auch in der Bibel fo febr wirkſam, daß wir uns das Zenſeitige nicht außerhalb des Raumes vorſtellen können. Es war eine erſchütternde Tat von Luther, daß er in einer ſeiner Theſen ausſprach, Himmel und Hölle ſeien nicht außer uns im Raume, ſondern in uns, unfer Gewiſſen. Deſſenungeachtet werden wir, wenn wir von Gott oder von unſeren Toten oder von himmliſchen Mächten ſprechen, unwillkürlich nach oben blicken, wie man fidh die Hölle ſtets unterirdiſch vorgeſtellt hat. Wir blicken nach einem Ort, wo kein Ort mehr ſein ſoll, als wäre es kein Ort.

Von allen Künſtlern ift es der Muſiker, der nur zeitlich fih äußert, aller- dings ſo, daß der Raum als Zahlenverhältnis in ihm enthalten iſt. Aus dieſem Grunde wirkt wohl die Muſik am gewaltigſten auf das Gefühl. Der Oichter, ſelbſt der lyriſche, ſchafft eine Handlung und einen Raum, in welchem dieſe ſich darſtellt. Auch wenn der Dichter fih vorgenommen hat, ein überirdiſches Geſchehen vor- zuführen, ſo finden wir ſeine Phantaſie geſchäftig, uns ein Schlaraffenland, ein Oſchinniſtan, ein Walhalla oder Himmelreich nach Analogie irdiſcher Gegenden aufzubauen. Ein bekanntes Beiſpiel haben wir in Dantes Hölle, die er ſo genau beſchrieben hat, daß Grundriſſe davon entworfen werden konnten. Oer beſonders mit raumbildender Kraft begabte Geiſt der Italiener tritt uns hier überzeugend entgegen. Für einen dichteriſchen Vorzug halte ich das nicht; ein unbeſtimmter Amriß wirkt großartiger, geheimnisvoller, charakteriſtiſcher für das Unirdiſche. Wie dem aber auch ſein mag, jedenfalls halte ich es für ſehr überflüſſig, ſich mit der Räumlichkeit von Dantes Hölle eingehend zu beſchäftigen, und für febr töricht, Schlüſſe daraus zu ziehen auf feine Auffaſſung vom Zenſeits.

Jeder Menſch iſt nur allzu geneigt, ſeine Nebenmenſchen für dumm zu halten, namentlich ſeine Vorfahren und Nachkommen ſtellt er ſich gern im Zuſtande eines nichtsahnenden Embryo vor. Dantes Geiſt mußte einen Raum für die Handlung ſeiner Dichtung ſchaffen, die ſich ohne einen ſolchen überhaupt gar nicht hätte entfalten können. Weshalb er Himmel und Hölle gerade ſo geſtaltete? Man hat gefunden, daß die Werkzeuge, die der Menſch erfindet, unbewußte Nach- und Weiterbildungen feiner Organe find; etwas Ähnliches kann ja in bezug auf die Schaffensart des dichteriſchen Geiſtes ſtattfinden. Hat die Oanteſche Landſchaft keine Ahnlichkeit mit irgendwelchen Erdenräumen, Bergen, Schluchten und Laby- rinthen, ſo hat ſie es vielleicht mit den Höhlen und Labyrinthen des Schädels und Gehirns. Wozu aber das? Nicht darauf kommt es an, wohin die jeweilige Phantaſie des Menſchen Himmel und Sölle verlegt, ſondern wie ihr Weſen, Schuld und Verklärung, ihn ergreift und erſchüttert.

366 Huch: Über die raumbildende Nraft des Geiftes

Dem ſüdlichen Geiſte liegt wegen feiner vorzüglich raumbildenden Kraft die Gefahr nahe, das Äußerliche für das Weſentliche zu nehmen; der deutſche wie der jüdiſche Geiſt neigen dazu, das Geiſtige als etwas für ſich Beſtehendes von der ſich im Raume entfaltenden ſinnlichen Natur loszutrennen. Daher iſt das Feld des Okkultismus im Abendlande hauptſächlich der Norden. Wenn man an die raumbildende Kraft des menſchlichen Geiſtes glaubt, ſo müßte man, könnten manche ſchließen, auch an die ſogenannten Materialiſationen der Spiritiſten glauben. Meine Anſicht darüber iſt folgende: Ideen werden Fleiſch im neugeborenen Menſchen, das find die natürlich organiſchen, oder in Kunſt (wozu ich natürlich auch Sprache und Heilkunſt rechne) und Handlung, das find die geiſtig-organiſchen. Ein anderes unmittelbares Inkrafttreten von Ideen kann wohl auch ſtattfinden; doch handelt es ſich dabei um Ausnahmen, die wir als krankhaft bezeichnen, wenn fie unter die Idee des Menſchlichen herabgehen. Bei der mittelalterlichen Unter- ſcheidung von weißer und ſchwarzer Magie kann es durchaus ſein Bewenden haben. Menſchen, die dazu berufen find, können Wunder tun, das heißt uns Unerklärbares bewirken; was in der Art willkürlich hervorgerufen wird, kann nur Schaden ſtiften und verwirren, der beſte Fall iſt noch der, daß es zu nichts führt. Zum Kosmos gehören nur diejenigen Erſcheinungen, die ſich organiſch fortpflanzen oder die eine fortdauernde Wirkung ausüben. Die okkulten Erſcheinungen gehen von ab— geſonderten Individuen aus und bleiben iſoliert. Für Geiſtererſcheinungen jeder Art iſt es charakteriſtiſch, daß nur einer ſie ſieht. Fleiſch werden können ſie nicht; denn alles organiſche Leben beruht auf der geiſtig-körperlichen Beziehung von zwei polar entgegengeſetzten Individuen. Aus dieſen Gründen bleibt der Okkultis— mus in Zeiten der Dekadenz, wo Überzentralifation und Oezentraliſation einander entgegenſtehen, ohne Möglichkeit, naturgemäß ineinanderzuwirken.

Die Einſteinſche Auffaſſung von Zeit und Raum (die ich, wie ſchon geſagt, nur aus einem Zeitungsbericht kenne) wäre alfo die unſerer wiſſenſchaͤftlichen Kultur durchaus entſprechende, die damit begann, die Natur (in der ja Gott ſich offenbart) dem Menſchen zu unterwerfen. Sie geht vom Einzelnen aus, während die bis dahin herrſchende religiöfe Kultur vom Ganzen ausging. Die Wiſſenſchaft hat es allerdings nur mit der Raum- Zeit zu tun, welche meßbar ijt und von den Dingen abhängt. Daß die Raum-Zeit die durch den Stoff oder das Individual- Bewußtſein geteilte Ewige-Zeit iſt, das zieht die Wiſſenſchaft nicht in Betracht. Sie könnte ebenſo wie Newton von einer Zeit (der Ewigen Zeit) ſprechen, die hoch über Menſchen und Dingen hinfließt, ohne ſich um irgend etwas zu kümmern; aber Gott weht nicht gleichgültig über der Welt hin, ſondern neigt ſich zu ihr, die er geſchaffen hat, herab, das Zeitliche mit dem Ewigen verſchlingend, das Einzelne

im Ganzen bewahrend. (SSD DDS e

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Baubiffin: Oer wächſerne Schluͤſſel 367

Der wächſerne Schlüſſel Von Eva Gräfin von Baudiſſin

angſam, Schritt für Schritt, gleichmäßig wie der tropfende Regen, ging die Prozeſſion bergauf. Unten an der Bahnſtation hatten ſich O die Vereine mit ihren in ſchwarzen Wachstuchbehältern ſteckenden Fahnen hinter dem Geiſtlichen aufgeſtellt und die übrige, von Ge- höften, Almen und Oörfern zuſammengeſtrömte Menge ſich wieder hinter dieſen gereiht. Das Weibervolk war überwiegend. Die weiten, bunten Röcke und ſeidenen Schürzen waren emporgeſchlagen, unter dem dicken roten Unterrod kamen kräftige Beine in weißen Strümpfen und derben Lederſtiefeln zum Vorſchein. Um die verarbeiteten Finger der Linken hing der Noſenkranz, die Rechte hielt den großen Familienſchirm, unter dem auch noch die geputzten, laut mitbetenden Kinder Schutz fanden; die kleineren Mädchen in modiſchen, aus Warenhäuſern ſtammenden Kleidchen, die größeren ſchon in Tracht, den ſteifen, goldgeſtickten Hut auf den feſtgeflochtenen Zöpfen.

„Schade, daß ſich doch ſchon ſo viel ſtädtiſch Gekleidete in den Zug miſchen“, meinte eine Sommerfriſchlerin. Sie hatte trotz des Unwetters den Lodenkragen nicht geſchloſſen und bot die volle Pracht ihres Anzuges dar: ein geblümtes, vier- eckig ausgeſchnittenes Dirndlkleid, von einer goldfarbenen Seidenſchürze in feiner Farbenfreudigkeit unterſtützt, dazu roſa Strümpfe, hohe Stöckelſchuhe und auf dem Haupte eine leuchtend blaue Zipfelmütze. Dieſe Gewandung verlieh ihr in ihren Augen volle Berechtigung, an der Stilloſigkeit der vor ihr Vorbeiziehenden Kritik zu üben. |

Den ruhigen Blicken und den monoton fortbetenden Lippen der „Wallfahrter“ hätte niemand es angemerkt, daß auch fie innerlich Stellung zum Außern der Stadt- leut’ nahmen. Sie waren ſeit langem an allerhand gewöhnt. Nur gerade beim An- blick dieſer Dame fuhr es wohl jedem einzelnen unbewußt durch den Sinn: „Jeſſes jeſſes, na!“ ohne daß dadurch die Andacht im mindeſten geſtört worden wäre,

Als der Zug mit der buckligen Schneiderin Elis aus Waldmoos ſein Ende erreicht hatte, ſchloſſen fih ihm die Stadtleute an. Aber fie gingen in ungezwunge⸗ nen Gruppen und ließen die Kinder rechts und links von der Landſtraße auf die Wieſen ſchwärmen, um nicht den Verdacht zu erregen, daß auch ſie wallfahrten wollten. War man auch ein guter Chrift, der allſonntäglich die Meſſe beſuchte an ſolch einer bäuerlichen Prozeſſion teilzunehmen, widerſprach ihrem Geſchmack. Man zog mit hinauf und wohnte eine Weile dem Gottesdienſt im Freien vor der reizvollen kleinen Votivkirche bei, bis es zu naß wurde. An ſchönen Tagen mußte es ja ſehr ſtimmungsvoll wirken können: die Kanzel unter dem leis zitternden Laub der alten Birke, der Hochaltar mit brennenden Lichtern auf der Holzaltane der Kirche, die Girlanden und Fahnen am Haus des Dekans und des Nonnen- kloſters und davor die andächtigen Bauersleute in ihren Trachten. Heute war es nichts. Man nahm es dem Wetter übel, daß es einem den Genuß verdarb und verteilte ſich bald wieder in die Sommerwohnungen.

568 Baudiſſin: Der wächferne Schlüſſe

Nur die beſonders auffallend gekleidete Dame blieb ſtehen. Was galt es, wenn Kleid und Schürze durchnäßt wurden und die Schuhe am Ende die Stöckel verloren —? Jeden Sommer war fie hier draußen und fühlte von Jahr zu Fahr tiefer, wie nah ſie innerlich dieſen Menſchen ſtünde und ihre Art und Lebensauf— faſſung begriffe. Sie kam ſich vollkommen bodenſtändig vor, auch ihre Sprache wurde den Eingeborenen durch gelegentliche „feis“ und „gelt's“ ſchon verſtänd— licher. „Ich gehöre zu ihnen“, dachte ſie mit einiger Rührung über ſich ſelbſt. Manch einen konnte fie bei Namen nennen und wußte um feine Familienverhält— niſſe Beſcheid; das war auch ein Band, in das ſie durch jedes wohlwollende Ge— ſpräch einen neuen, haltbaren Knoten ſchlug. Mechaniſch folgte ſie deshalb auch den äußeren Geboten der heiligen Handlung, kniete im Schmutz nieder, wenn ſich die Wandlung vollzog und bekreuzte ſich beim Aufſtehen. Dabei beobachtete ſie aber genau ihre Nachbarinnen und die paar Feldgrauen, die als Auszeichnung die Fahnen tragen durften. Sieh! der Kramerer Toni war auch wieder da, genau wie im vorigen Jahr zur Ernte; nicht weit von ihm ſtand im Kreiſe ihrer großen Kinderſchar wie eine richtige Gluckhenne ſeine Mutter, die in Tonis Abweſenheit die Ökonomie allein beſorgte, denn fie war Witwe und das Füngſte erſt nach ihres Mannes Tode geboren. Man konnte ſie einmal beſuchen und ſich vom Toni er— zählen laſſen, wie's ihm ſeit dem Vorjahr draußen ergangen war und was er erlebt hatte. Das war etwas andres als die Beſchreibungen in den Zeitungen

Dicht an ihrer Seite ſtöhnte jemand. Die bucklige Elis war's, und ſie ſah nicht grade ſchöner aus, als fie fih haſtig einmal übers andere bekreuzigte und ihr dabei der hochgehobene Rock und der Schirm abwechſelnd entgleiten wollten.

Die Dame rückte etwas näher auf ſie zu. „Geben's nur den Schirm her, Elis ich halt' ihn für Sie!“ |

Aber die Angeredete entgegnete nur verwirrt und leije: „Jeffas die Frau Doktor grüß Gott“ und bekreuzte fih weiter, in offenbarer Angſt, hinter den religiöſen Pflichten zurückzubleiben. Sie trug auf ihrem ſchweren Kopf einen hellen Strohhut mit vier, fünf hochſtehenden Bandſchleifen und war mit zabt- reichen Ketten und Schmuckſtücken behangen, als wolle fie dafür entſchuldigen, wenn ihr verunſtalteter Körper die Aufmerkſamkeit der Mitwelt erregte. Und wie eine ſtete Entſchuldigung, daß fie einen Platz im Dafein einnähme, der wahrſchein— lich einer weit Schöneren und Klügeren gebühre, lag es auf ihrem ſpitzen, kleinen Geſicht.

„Dies iſt Volksſeele“, dachte die Frau an ihrer Seite. „Unverfälſchte Volks— ſeele! Sie ſoll ſich mir enthüllen!“

Als die Meſſe vorüber war und der Zug in aufgelöſten Reihen bergab zog, wieder alle vom ſelben Orang erfüllt, nämlich nun im Gaſthof zur Poft eine Leber- knödlſuppe zum mitgebrachten G'ſelchten zu löffeln, jtand die Elis noch lange ſchweigend mit gefalteten Händen da, ſo gut Nock und Schirm es zuließen. Dann fab fie vorſichtig nach rechts und links und ſchob fih vorwärts, nicht ins Dorf zurück, ſondern der Grotte zu, in die auf der Rückſeite der Kirche ein paar Stufen hinunter- führten. Die Beobachterin wußte gleich: die Elis will ein Gelübde tun. Denn man verlobte fih der wundertätigen Heiligen dieſer Kapelle und dankte ihrer Hilfe,

Baudiſſin: Der wähferne Schlüffel ; | 369

indem man in Wachs opferte, was fie geheilt hatte. Da hingen am Gitterwerk, das die heilige Geſtalt vorm zu nahen Herantragen des menſchlichen Leides hütete, allerlei feine, durchſichtige Gebilde: Arme, Beine, Hände, Kühe und Pferde. Denn die Not des Herzens übertrug ſich auf die Haustiere. Das „Maria, hilf!“ ſtand in bunten Buchſtaben auf Karten und Bildern, war an die Wände geheftet und der Heiligen zu Füßen gelegt, damit ſie bei Tag und Nacht daran gemahnt würde, wieviel Sorgen man auf ſie abgeladen habe. Sie durfte nicht müde werden.

Die Elis kniete nieder und ließ den Rock wie eine Glocke um ſich her fallen, darin ihre Geſtalt ſich zu verflüchtigen ſchien, ſo daß nur der Buckel und der große Kopf von ihr übrigblieben. Den Regenſchirm lehnte fie ſich unters Kinn und faltete über ihm von neuem die Hände. Lang und ausführlich mußte ihre Aus- ſprache mit der Mutter Gottes ſein die Wartende draußen wurde faſt ungeduldig. Trotzdem geſellte fie ſich wohlwollend-mitteilſam zu der Beterin, als diefe aus dem Schein des ewigen Lichts zum fahlen Glanz der Tagesſonne hinaustrat und begann das Geſpräch mit einer Aufforderung, in der nächſten Woche einen oder zwei Tage bei ihr Kleider auszubeſſern. Auch Schlafgelegenheit fände ſich für die Elis in ihrem Quartier, der weite Weg nach Waldmoos hin und zurück fiele da- mit fort.

Die kleine Näherin hörte fie nachdenklich an, ohne ſich jedoch durch eine be- ſtimmte Zuſage zu verpflichten. Als die Frau Doktor dringender wurde, geſtand ſie, ihr Kommen hänge noch von einigen Ereigniſſen ab, deren Wirkung auf ihr Schickſal wie auf ihre Nähtage noch nicht zu überſehen ſei.

„Was haben's denn, Elis? Wollen's gar heiraten?“

Die Elis kicherte und überlief rot: nein, davon könne keine Rede ſein und gar mit ihrem Wuchs! Wenn nun die Kinder ſo mißgeſtaltet zur Welt kämen wie ſie!

Das vererbe ſich kaum, erklärte ihr die Frau Doktor, während fie zwiſchen den Oorfhäuſern bergab ſchritten und der fröhliche Lärm aus der „Poſt“ feine Netze nach ihnen auswarf. Denn in ſolcher Geſtalt geboren würde die Elis doch kaum ſein? Das verneinte die Waldmooſerin auch. Aber wann und wodurch ſich das Unglück ereignet habe, das wüßte ſelbſt ihre Mutter nicht anzugeben. Wer hatte in einem Taglöhner-Haushalt dazu Zeit?! Den größeren Geſchwiſtern wurden die kleineren anvertraut; wer einen beſonderen Schutzengel beſaß, kam

lebend und geſund aus der Kindheit heraus; für wen es keine Extra-Fürſprach' gab,

der tat ſich oft einen Schaden an. „Wir kommen vom Thema ab, ſie entgleitet mir“, dachte die Stadtfrau. Und da die bunten Schlingen aus den geöffneten Gaft- ſtubenfenſtern jetzt gerade über ſie herfielen, bat ſie die Elis, bei einem Teller Suppe und einer Maß Bier ihr Gaſt zu ſein.

Die Schneiderin zögerte. Die Einladende legte ſich auch dieſe Regung auf ihre Weiſe aus und verſicherte, man könne ja im ſtilleren Wee Platz nehmen ſtatt in der überfüllten Gaſtſtube.

Die Elis hatte inzwiſchen den kleinen Kampf: ob fih ſolche profane Unter- brechung ihrer Wallfahrt mit ihrer Überzeugung vertrüge, ausgefochten. Eſſen um Trinken war etwas Leibliches, von dem der Geiſt nicht berührt wurde.

370 Ä Baudiſſin: Der wächſerne Schlüſſel

Sie aßen eine gute Suppe miteinander, und da die Elis von der Bäuerin, bei der ſie derzeit auf „Stöhren“ war, das heißt, im Hauſe nähte, nur etwas Brot und ein paar harte Eier als Wegzehrung erhalten hatte, lud die Fremde ſie noch zu einem tüchtigen Schmarrn ein. Dazu trank die Schneiderin langſam ihre Maß und berichtete dabei, was und wo ſie in den letzten Monaten geſchafft habe. Die Frauen in den Dörfern und Okonomien hatten jetzt zwar noch weniger Sinn für Kleidung als ſonſt, aber die alte Kundſchaft ließ ſie nicht im Stich, und war man noch dazu mit einer fo großen Kinderſchar geſegnet wie die Kramerin, brachten’s die eignen, von der Feldarbeit ſteifen Hände auch gar nicht mehr fertig, all die Hoſen und Röcke in Ordnung zu halten.

So! Bei der Kramerin war die Elis grad! Auch der Toni, ihr Alteſter, war ja wieder daheim. Auf Urlaub ?

Die Elis nickte und ſchob einen großen Brocken Brot in den Mund.

Auf längeren Urlaub ?

Die belaſteten Schultern zuckten; zugleich verſchluckte ſich die magere Kehle und die grauen Augen ſahen zum Küchengarten hinaus.

Aha! Oas war ihr Geheimnis, und um das drehte ſich wohl auch ihr Gelübde: der Toni! Schnell zu durchſchauen, folh eine Liebesgeſchichte auf dem Dorfe. Arme, kleine Elis, ein mitleidiger, wehmütiger Blick ſtreifte fie: ſich jo hoch zu wagen! Vis da hinauf trug ihre kümmerliche Geſtalt ſie nicht. Denn der Toni würde einmal den Hof erben und „bräuchte“ eine Bäuerin dazu, die nach etwas ausſchaute und auch Einiges mitbrachte, um ihrer Perſon noch mehr Gewicht zu verleihen. Bei aller Leidenſchaft behielten die Burſchen den Kopf klar; und ver- loren ſie ihn, ſo nahm die Familie den Unvernünftigen gegen ſich ſelbſt in Schutz.

Es war viel Gutes dran, daß der Beſitz zuſammengehalten wurde; nur fo konnte der Bauernſtand, in dem fo viel echt Deutiches, Urwüchſiges, Unverdorbenes ſtecke, erhalten bleiben und ſeine hohe Aufgabe in der Welt: immer neuen, tüchtigen Nachſchub in die Städte zu liefern, erfüllen, belehrte die Stadtfrau die Elis. Denn ſie war der Meinung, wenn man nur zu ſeinem Schmerz eine etwas entferntere Stellung einnähme und ihm vom Perſönlichen ins Allgemeine übertrage, fo müſſe er ſtark gemildert werden. Wenigſtens das Leid der N ſuchte ſie durch dieſe höhere Weltanſchauung zu beheben.

Ob die Elis ſie vollſtändig verſtand und den richtigen Trost] ſchöpfte, ließ ſich nicht genau feſtſtellen. Sie hob und ſenkte dann und wann den ſchweren Kopf, nicht unähnlich dem Ackerpferde, das auch auf der Weide die Bewegungen bei— behält, die der mühſamen Arbeit in den Sielen entſprechen. Ein „woll, woll“, ſtieß ſie von Zeit zu Zeit aus, blickte ernſthaft in die Bierneige und wickelte langſam den Reft Brot in eine Nummer des Kreisblattes.

Die Tür wurde aufgeſtoßen, und die Kramerin, hoch, voll und blühend, von Kindern aller Größen umdrängt, wie ein Berg von Frühlingsbäumen, ſtand auf der Schwelle.

„Gehſt heim mit uns, Elis?“ ſchrie ſie fröhlich. Das Witwentum drückte ſie nicht. Ihr Bauer war ein Unwirſcher geweſen, der ihr und den Kleinen an Brot und Sonne abgegeizt hatte, ſoviel er konnte.

Baudiſſin: Der wähferne Schlüfiel 371

Die Elis hob ſich halb vom Stuhl, fiel aber gleich wieder zurück. Dunkelrot war fie geworden; „über fo viel Ehr!“ dachte die Städterin. Undeutlich hörte fie neben ſich ſagen, daß die Elis über Feldſtein wandern, wo ihre Schweſter im Dienſt ſei und nachher mit der Poſt heimkommen wolle.

„Mir gehen zur Station und fahr'n mit'm Zug, gell?“ befragte die Bäuerin die Ihren. Die drolligen Miniatur-Ausgaben ihrer eigenen Perſon nickten ebenſo dazu wie die noch kindlich gekleideten Mädchen und die Buben in den Lederhoſen aller Formate. Die Städterin bekam die Aufforderung, einmal vorzuſchauen, und nachdem die Schwelle leer geworden war und nach dieſem Überfluß von Menfchen- tum das Zimmer doppelt einſam ſchien, bemerkte die Frau Doktor, nun faſt eine Angehörige dieſer Familie:

„Des is fei g'ſcheidt, Elis, daß Sie der Verſuchung ausweichen! Wer ſich ſelbſt überwindet, der foll...“

Za um Gottes willen, was ſollte der doch?! Geſtern, heute morgen noch, hätte fie ſicher den Spruch gewußt, jetzt mußte er ihr entfallen. Merkwürdiger⸗ weiſe ſchien die Elis ihn dem Sinne nach verſtanden zu haben, denn ſie ſeufzte leiſe und geſtand, daß ſie grade darum gebetet habe, in der Grotten droben.

Der Städterin ſchwoll das Herz: nein, wie ſie ſich verſtanden! Nur hinneigen brauchte man ſich und gleich entfaltete ſich aus den weißen Blättern die einfache Seele wie der ſchlichte Goldſtern aus der Kamille. Sie nannte ſonſt alle Blumen dieſer Gattung, ob mit Recht oder nicht, Margerithen, aber das hätte nicht in den Volkston gepaßt. Sie rief nun die Kellnerin, zahlte und gab in der befriedigten Stimmung, die ſie nur ihrer eignen Anpaſſungsfähigkeit verdankte, ein reichliches Trinkgeld. So ſah man ihrem Fortgang nicht ohne Wohlwollen nach aus den Fenſtern der Gaſtſtube rief man ihr allerdings einige derbe Neckworte zu. Wer aber das Volk lieb hat, nimmt ſeine kleinen Eigenheiten mit in den Kauf.

Sich noch eindringlicher zu dieſer Theorie zu bekehren, wäre der Städterin Veranlaſſung gegeben worden, wenn ſie nach dem Abſchied von der Elis rückwärts geſchaut hätte. Denn da bog von ungefähr beim erſten Fußweg, der ſich ſelbſtändig von der Mutter Landſtraße trennte, auch der Kramerer Toni vom graden Pfad. ab und geſellte ſich zur Elis. Ein ſeltſames Paar waren die beiden, und wer ihre Silhouetten von fern ſah, wie ſie da am Höhenkamm entlang ſchritten, eilig und doch wie getragen von einer feſten Zuverſicht, der hielt ſie anfangs für Vater und Tochter, bis in der Nähe Tonis Jugend und der Wuchs der Schneiderin darüber aufklärte, daß es ſich um eine andere Art der Kameradſchaft handle. Der Toni warf auf kecke, nicht gerade zartfühlende Anſpielungen im weiten Bogen Worte zurück, die er draußen gelernt hatte und die wie fertige Kugeln zwiſchen ſeinen geſunden Zähnen hervorflogen. Die Gefühle der Elis waren vermengt. Stolz, neben ihm geſehen zu werden und Anlaß zu Oeutungen zu geben, die ſie eigentlich hätten beleidigen ſollen, behielt ſchließlich aber doch die Oberhand.

Angelogen hatte die Elis die Kramerin nicht, wenn ſie auch die geplante Begleitung des Tonis verſchweigen mußte. Ja, ſie trat ſogar in Feldſtein einen Augenblick in den Hof hinein, in dem ihre Schweſter bedienſtet war. Aber es hieß, die Zenzi fei zu einem Beſuch auf eine benachbarte Alm gegangen: „zur' a Alplerin“,

372 Baudiſſin: Der wächſerne Schlüffel

wie mit treuherzigen Augen und heimlich lachendem Munde verſichert wurde. Die Elis tat auch, als glaube ſie's und hinterließ der Schweſter keine weitere Bot— ſchaft, als daß ſie bereit ſei, ihr Näharbeit zu leiſten. Denn dieſe Sommerausflüge der Zenzi endeten ſeit Jahren regelmäßig mit einem Frühlingsbeſuch im alten Elternhaus und der Vermehrung der dort heranwachſenden zweiten Generation um einen blonden Kopf. Jedesmal verſchwor ſich die Zenzi, daß der Kindsvater fie heiraten würde und jedes Mal tröſtete die Elis ſie über den Treubruch fort, indem ſie die ſchönſte, bunteſte Kindswäſche für ſie bereit hielt.

Der Toni mußte wohl in diefe Familienverhältniſſe eingeweiht fein, denn als er mit der Elis weiterſchritt, einem neuen, nur ihnen bekannten Ziele zu, meinte er aufmunternd, ſie ſolle nur den Kopf nicht hängen laſſen, ſonſt verdrucke er ihr noch die Bruſt; und gäb's daheim keinen Platz mehr für ſie, indem daß die Zenzi alle Stühle belege, ſo ſolle ſie gewiß ſein, auf dem Kramererhof ſtets eine Ecke für ſich zu finden: „weil's überhaupt auch gar vui zu nähen geben werde“, wie er nicht ohne Schalkhaftigkeit hinzufügte.

Die Elis wurde rot unter ſeinem Scherz. Er ſah es mit Verwunderung: wo fie doch an derlei Dinge durch ihre Schweſter gewöhnt fein müſſe

„Der Sägmüller Kaverl heirat's nachher, wenn er heimkimmt aus 'm Krieg“, ſpielte fie nun einen Trumpf aus. Und er folle nicht denken, die Bengi fei „eine arg Schlechte —“

Bewahre! Ein ganz a liab's Mädel ſei's, ſagte er gutmütig. Aber zum Schatz hätt' er ſie nicht mögen | Die Elis lachte: der Kramerer Toni und ein arm's Dienſtmädl! Die Stander-

unterſchiede ſchloſſen doch ſchon ſolche Annäherung aus. - „Na weißt“, ſchob er ein. Und fie ſchwieg betroffen. Da hatte fie unabſicht— lich eine Kränkung ausgeſprochen und wußte in ihrer Ungewandtheit nicht recht, wie fie abzuſchwächen fei. Ihr Herzenstakt gab ihr endlich das Richtige ein. Schwer— fällig bemerkte ſie, daß der Pfarrer aus der Bibel geleſen habe, daß wer ſich ſelbſt erniedrige, erhöht werden ſolle. Auch die Stadtfrau habe heut' ſolch einen ſchönen Spruch gewußt, von Selbſtüberwindung habe er gehandelt und ſo gut gepaßt, aber im Grunde genommen fei das nach ihrer Anſicht wohl faſt dasſelbe wie die Selbſt— erniedrigung. .. Der Toni konnte ihrem Gedankengang jo wenig folgen wie fie dem der Städterin. Es war auch einerlei, denn nun tauchte auf einem ſanften grünen Abhang ein nettes, weißgetünchtes Haus auf, nicht unfern einer alten, aus Feldſteinen errichteten Kirche, die eine der älteſten des Landes ſein ſollte. Der Toni ſtieß einen halblauten Schrei der Freude aus und maͤrſchierte in langen Sätzen davon, ohne ſich noch um die Elis zu kümmern. Der war die Selbſtſucht der Menſchheit und der Mannsleut' im beſonderen nichts Überraſchendes mehr; ſie ſchritt an dem ſaubern Haus vorbei, achtete nur auf die Katze und die Hennen, die ſich zuſammen an der Wand ſonnten und betrat durch eine niedere Pforte zwiſchen den weißen Mauern den Friedhof. Gräber und Kreuze gab's nicht mehr, nur ein paar Grabſteine, auf denen ein gewöhnliches Auge kaum noch ein paar Linien, das der Künftler und Gelehrten aber den Ausdruck einer hohen untergegange— nen Volkskunſt herausleſen konnten, waren außen in die Kirchenmauern eingefügt.

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Saubiffin: Oer wächſerne Schlüſſel | 373

Dafür waren wundervolle Linden aus dem mit edlem Mark gedüngten Boden emporgewachſen, und die Elis hockte ſich unter einem Baum ins Gras nieder und lauſchte auf das Inſektengeſumme in den Zweigen. Der Weg war weit geweſen, und ihre kurzen Beine trugen fein Auf und Ab noch in fih. Aber zum langen Ausruhen kam fie nicht. Bald erſchien der Toni, neben ihm ein langes, ſchlankes Geſchöpf mit einem Neſt rotblonder Zöpfe im Nacken. Ihre weiße Haut war von Goldtupfen geſprenkelt und ihre Augen hatten ſeltſamerweiſe denſelben Ton, ſo daß die Elis, die ſonſt die allgemeine Abneigung des Volkes gegen die Roten teilte, ſie lange anſchauen mußte, nachdem ſie einander vorgeſtellt worden waren und ſich mit Handſchlag begrüßt hatten. Die Kuni trug einen großen Schlüſſel in der Hand, ſchloß die Kirchentür auf und forderte die Beiden mit ſtumm einladender Bewegung auf, in das feuchtkalte, dämmrige Innere zu treten.

„Gib Obacht, jetzt kimmt's“, ſagte der Toni leiſe und ſtolz. |

Die Elis ſchauerte es nach der warmen Sommerluft. Sie ſah auch nur ein dunkles Altarbild, von zwei Sträußen gemachter Blumen in häßlichen Vaſen flankiert, und einen Glasſchrank mit

„Dies iſt eine Kanne von vermutelich alter Nürnberger Goldarbeit“, ſagte die Kuni langſam, jede Silbe ihrer Worte trennend wie ein Kind, das leſen lernt, und zeigte auf ein ſchwarz belaufenes Gefäß hinter den Scheiben. „Das iſt eine Blume, ſogenannte Rameli—a, kunſtvoll aus Vogelfedern hergeſtellt, die in Bra- ſili-en gefunden werden und von einem Weltreiſenden aus Afrika mitgebracht worden iſt. Das iſt ein Sammelbuch, zu Leipzick im Anno des Herrn eintaufend- fünfhundertfünfundzwanzig gedruckt, enthält unter anderem das Erasmi Rotero- dami doppelte Copia ſamt Commentari—“, fie mußte ſchlucken, ſetzte dann aber noch gewiſſenhaft das zweite „i“ nach, was den Toni und die Elis mit faſt ehr- fürchtigem Erſtaunen erfüllte, wies auf die ſchönen Randleiſten der aufgeſchlagenen Seite, erklärte ſie für gotiſch im Gegenſatz zu den romaniſchen Preſſungen des Pergamenteinbandes, pries die kräftigen klaren Lettern des Druckes und beſchied ihre Zuhörer, daß auch noch des Ariſtophanis' comici nubes wie des Caciti illu- strissimi Hystorici des populis Germani—e nebſt manchem anderen Schatz in dem dicken Buche enthalten ſei. Beim Wort Schatz, das angenehme Begriffe in ihm auslöſte, warf der Toni der Elis einen Blick zu, was der Kuni nicht entging. Doch vorläufig ſagte fie nichts dazu, denn ihre Aufgabe war noch längſt nicht er- ledigt. Es gab im Schrank noch einen geſtickten Seidenſtreifen aus Japan, eine Moſaikplatte aus Venedig, die Herrlichkeit der Markuskirche in winzige flimmernde Steinchen auflöſend, etwas, das ſich Inkunabeln nannte und von dem ſich nicht erkennen ließ, ob es ein Kaſten oder einfach ein verſteinertes Stück Holz ſei, und in den zwei tiefen Fenſterniſchen rechts und links des Altars einige bunte Glas- ſtückchen, die Reſte ehemals berühmter Bilder eines noch berühmteren Malers, deſſen Namen jedoch nicht mehr aufzufinden war. „Denn aller Welt Glanz ver- gebet und nur das Ewige muß be —ſte—hen“, ſchloß die Kuni, ſtellte ſich an die offene Kirchentür und hielt die Hand halbgeöffnet vor ſich hin, wie ſie's immer tat, wenn fie Fremde in den vergänglichen Glanz dieſer Sehenswürdigkeiten ein- geweiht hatte. Gewöhnlich gingen dann dieſe Fremden, betäubt und eingeſchüchtert,

374 Baubiſſin: Der wächſerne Schlüffel

auf den Zehenſpitzen hinaus, raunten ſich vor der Kuni etwas ins Ohr und legten darauf die ſchnell vereinbarte niedrige Abfindungsſumme in ihre Rehte. Heute geſchah das nicht. Die Kuni zog die Stirne kraus und flüfterte leiſe endlich den beiden zu: „Außigeh'n müßt's jetzt!“

Erſchrocken ſtolperten fie hinaus und ſtießen draußen ſchon auf Kunis Bäuerin, deren Gepflogenheit es war, das Trinkgeld abzuheben, ehe es unrechtmäßiger— weiſe geſchmälert wurde.

„Nixen“, ſagte das Mädchen heute. Die Bäuerin ging verdrießlich fort, die i

Gittertür hinter fih zuwerfend.

Die Drei ſtanden noch eine Weile verlegen voreinander, ohne eigentlich zu

reden. Der Toni blickte düſter vor ſich hin, und auch die Elis litt unter der geiſtigen Überlegenheit der Kuni, wenngleich ſie äußerlich in der ſchmutzigen Schürze, mit nackten Füßen, wie ſie grad aus dem Stall gekommen war, beſcheiden genug wirkte. Aber da ſah man's wieder: das Geiſtige machte es! Von dem wurde der Hochmut des erbeingeſeſſenen Bauern zerbrochen, und die arme Dienſtmagd er— höht. Ahnlich ſprach ſie ſich dann Toni gegenüber aus, der endlich kurz entſchloſſen mit einem „Alsdann“ der Kuni die Hand zum Abſchied geboten hatte.

Die Elis war langſam voraufgegangen, um den Liebesleuten noch eine Friſt zu einer Erklärung zu vergönnen. Aber der Toni überholte fie bald mit ſtarken Schritten, ſeufzte und ſagte, daß es ihm und den Seinen wohl gelingen möchte, über die äußeren Unterſchiede fortzukommen, daß bis jetzt aber die Kuni wenig von einem Nachgeben zeige. Und gar einer andern den Kirchentürſchlüſſel zu über— laſſen, „das könne ſie net über's Herz bringen“.

Beſorgt ſahen fie vor fih hin auf die dämmerige Landſtraße wie in die un- gewiſſe Zukunft.

„Daft ihr gefagt, daß d' nimmer kimmſt, weilſt d' wieder ’naus mußt?“

„Woll, woll“, gab der Toni zurück. |

Alſo auch die Weichheit, zu der eine Trennung ein weibliches Gemüt leicht ſchmelzen kann, verſagte. Die Kuni mußte wirklich eine Stolze und Hoffärtige ſein. Wie konnte man der nur beikommen?

Dieſe Frage beſchäftigte fie beide, bis fie im Dämmern des Sommerabends vorm Kramererhaus ſtanden. Nur der Kettenhund nahm gleichgültig von ihrer ſpäten Heimkunft Notiz. Die frohe Bäuerin war mit groß und klein ſchon unter die Deckbetten geſchlupft.

Der Toni trug ſchwer an ſeinem Leid, der Abgewieſene zu ſein; die Elis ſah es. Und nachdem fie einmal feine Kamerädin geworden, ihr es nach Frauenart auch keine Ruh' ließ, nicht helfen zu dürfen, machte ſie ſich am nächſten Sonntag wieder zur Kuni auf, ohne den Umweg über die Wallfahrtskirche zu nehmen.

„Alleweil mußt a Gaudi ham“, ſagte allerdings die Kramerin mit leichtem Spott, als ſich die Elis für's Mittagseſſen abmeldete. Aber am Sonntag brauchte ſie nicht zu nähen, bekam allerdings auch keinen Lohn, und ſo war es ihre Sach', wie und wo ſie den Tag verbringen wollte. Der Toni war ſeit dem Freitag fort, und ihr leiſes Wort beim Abſchied: „J werd's noch amal verſuchen“, war fein Reife- troſt geworden.

Baudiſſin: Oer wächſerne Shlüffel 375

Diesmal traf fie die Kuni in ſchlechter Laune. Beim andauernden Regen- wetter der letzten Woche waren wenig Fremde in die Kirche gekommen, und die angenehme Unterbrechung der häuslichen Arbeiten durch das Amt der Führerin ſamt dem Trinkgeld, von dem fih doch ſtets ein kleiner Teil bergen ließ, war aus- geblieben. So ſtand ſie den Beſchreibungen der Elis, die ihr ein großartiges Leben als zukünftige Kramerbäuerin ſchilderte, zwar noch immer zweifelhaft, aber doch nicht mehr im Prinzip ablehnend gegenüber,

„Geh, mir ſchreib'n dem Toni einen Feldpoſtbrief“, ſchlug die kleine Schnei- derin ſchließlich überredend vor und nahm Bogen und Bleiſtift aus ihrer großen ſchwarzen Satintaſche, in der ſie ſonſt ihr Handwerkszeug mit ſich führte. Sie war nicht ungewandt mit der Feder; beſtellte fie doch die Zutaten zu ihrer Arbeit fchrift- lich in Roſenheim und verrechnete aufs genaueſte mit den Bäuerinnen. Mit glatter Schrift ſetzte ſie drum das Datum oben in die Ecke, ſah die Kuni an und begann: N

„Lieber Toni! Da wir wieder einmal gemütlich in der Kirchen beiſammen ſitzen, wollen wir Dir einen Brief ſchreiben. Wir hoffen, daß Du eine ſehr glück- liche Reife gehabt haft. Der Feind ſoll ſich vor Dir in acht nehmen müſſen.“

„So, jetzt kannſt du ſchreiben“, damit ſchob ſie der Kuni den Bogen zu.

Die Angebetete des Toni zog die Stirn kraus, ſtarrte vor ſich hin und leckte lange und nachdrücklich an der Bleiſtiftſpitze. Die Elis machte ſie endlich darauf aufmerkſam, daß dies Verfahren dem Bleiſtift ſchädlich und dem Brief auch nicht dienlich ſei.

Da kam eine dunkle, faſt unheimlich dunkle Röte aus der blauweißen Jacke der Kuni gekrochen und ſtieg über Hals und Geſicht hinauf, daß fogar die Gold- tupfen verſchwammen und die hellen Augen an Glanz über dieſem roten Meer verloren.

„Schreib' nur du's“, ſtieß ſie aus. Irgendein Argwohn brachte die kleine Schneiderin dazu, dies Anſinnen mit Entſchiedenheit abzulehnen. Sie ſei doch nicht dem Toni fein Schatz, und gar nicht glauben würde er, daß der Brief gemein- fam fei, wenn nicht auch die Handſchrift der Kuni ihm deutlich zeige

Daß man noch röter werden könne, hätte die Elis nie für möglich gehalten. Die Kuni brachte es fertig.

Vorm inneren Auge der Buckligen tauchte plötzlich die Wallfahrtskirche auf und das gütig lächelnde Antlitz der Mutter Gottes: half ſie nicht ſchon gab nicht ſie es ihr ein, den Bitten der Kuni immer ſichrer auszuweichen? Faſt als ſpräche die Heilige ſelbſt aus ihr, forderte ſie ſchließlich geradezu, daß die andre dem Toni perſönlich und eigenhändig ſchreibe. Es kam heraus, die Kuni fürchtete ſich. Sie konnte nicht mehr ſchreiben, war ſeit Jahren, feit ſie mit kaum dreizehn als ſchlechte und faule Schülerin die Schule verlaſſen hatte, jedem Verſuch, auch nur einen Buchſtaben zu malen, klug aus dem Wege gegangen. Kaum ein „i“, das ſie doch neulich ſo deutlich und extra ausgeſprochen, brachte ſie zuwege.

„Jeſſas, des derfſt als Kramerbäuerin fei’ ſchon können“, meinte die Elis lächelnd und fühlte ſofort, wie ſtark der Toni, der ſchöne Briefe aus dem Felde ſchrieb, nun Oberwaſſer haben würde. Sie forſchte weiter und entdeckte, daß man

376 Baudiſſin: Der wächſerne Schlüffel

der Kuni ſorgſam „eingelernt“ habe, was fie herſagen müſſe und daß dies mit Jugend, Schönheit und roten Haaren begabte Geſchöpf weder ahne, was Erasmus von Rotterdam eigentlich wolle, noch ob der „Inkunabeln“ ein Kaſten oder ein Stück Holz ſei; denn ſo lange die Kuni die Stellung verſah, hatte man den Schrank noch nicht aufgeſchloſſen.

„Der Toni wird ſich arg wundern“, dachte die kleine Schneiderin mitleidig. Aber dann: brauchte er es erfahren? Blieb dieſe geiſtige Überlegenheit, vor der fich fein ſtarrer Bauernſinn gebeugt hatte, nicht das einzige Gut des armen Dienſt— mädchens? Freilich, die Elis ſah ſie nachdenklich an: Jugend, Schönheit und rote Haare hatte ſie außerdem. Aber ihr war doch, als hätten nicht die allein, ſondern eben ihre Ausnahmeſtellung die Hauptwirkung ausgeübt. Und der Toni liebte ſie; etwas Weiches, Mütterliches, was ſie in dem Maße kaum den Kindern ihrer Schwe— ſter Zenzi gegenüber beſaß, ließ ſie das Rechte für ihn und ſeine Liebe tun. Dazu freilich ſollte auch die Kuni ihr Eigenes hinzufügen: ſie mußte den Kirchentür— ſchlüſſel hergeben, ſich ſelbſt überwinden und erniedrigen, um in anderer Hinſicht wieder erhöht zu werden. Daß man als Kramerbäuerin aber ſchreiben und leſen könne, das meinte die Elis in Tonis Namen verlangen zu dürfen!

Für heute ſchrieb ſie den Brief allein zu Ende und führte der Kuni die Hand, um ihren Namen drunter zu ſetzen.

Dann ſprach ſie mit Kunis Herrin, die nicht ungut war und wohl einſah, daß eine zukünftige Großbäuerin um mehr wiſſen müſſe, als nur ums Stallausmiſten. Nicht lange, ſo war die Kuni in Elis' Dorf beim Herrn Lehrer im Dienſt. Der hatte eine Freude an der ſchönen Handſchrift feiner Kindsmagd, die freilich der der kleinen Schneiderin aufs Haar glich. Er ließ fih deshalb herbei, ihre Briefe, die ins Feld an einen gewiſſen Herrn Kramerer Toni gingen, auf Stil und Redt- ſchreibung durchzuſehen. So fand der Toni immer von neuem beſtätigt, daß ſeine Wahl auf eine gar Feine, Extrae gefallen ſei. Auch war es, als ob die heimlichen Schreibübungen den letzten geiſtigen Hochmut in der Seele der Kuni übertünchten, obgleich fie in den Augen der Dörfler das Anſehen einer ungemein gebildeten Perſon behielt, vor deren Nede ſogar die Fremden den Mund gehalten hatten.

Die Elis aber hing einen feinen Schlüſſel aus Wachs in der Grotte bei der heiligen Mutter Gottes auf.

Was mochte der bedeuten? Zu weſſen Seele öffnete er den Zugang?

Die Frau Dottor betrachtete ihn nachdenklich die Elis hatte zu ihrer Frage nur gelächelt und etwas von Selbſtüberwindung angedeutet. So kam der wächſerne Schlüſſel allmählich der Städterin wie ein Symbol dafür vor, daß es doch eines Beſonderen bedürfe, um die Volksſeele zu erſchließen; und daß kein fremdes, fon- dern nur das allumfaſſende Herz der Mutter Gottes drum wiſſe, welches Geheimnis hinter ſeiner durchſichtigen und doch ſo feſten Form läge.

Heyd: Weswegen haben wir keine Politit? 377

Wesbwegen haben wir keine Politik? Von Prof. Dr. Ed. Heyck |

. (GN K ine ſchweizeriſche Zeitung ſprach kürzlich von Untererziehung. Kun- ilDdiger geſagt: wir hatten Übererziehung. Viel zu viel Abrichtung, = O JB Verſchulung, Akademiſierung, Organiſierung auf allen Gebieten! Infolgedeſſen Lähmung der Selbſtentfaltung, mit Einſchluß des frei- menſchlichen Benehmens, der einfachen taktvollen Gutſinnigkeit, die doch ſo ſehr dem natürlichen Deutſchen angeboren ift. Der Selbſtantrieb, ſowohl in der Er- ziehung und Bildung als auch in der politiſchen Durchdenkung, erſtickte verhältnis- mäßig erſichtlicher nach rechts hin, in den ſicherſten Bereichen der Geſinnungs- treue. Hier reichte die Kraft nicht aus, gegenüber der geiſtigeren Regſamkeit des Liberalismus oder der „Intellektuellen“ wie ſich die Gebildeten jetzt nennen die ganze Wucht und Würde der deutſchen Geſchichtlichkeit wirkſam entgegen- zuſtellen. Der Liberalismus war in vormärzlichen Zeiten der Träger des feurigſten volksdeutſchen Gefühls geweſen; nur ſtand er mit der Deutfchheit in dem Mig- verhältnis, daß von Anfang feine öffentlich-politiſchen Vorſtellungen den trüge- riſchen Formulierungen Frankreichs entnommen waren. Der Freiherr vom Stein, der tiefgründige Durchdenker bodenſtändiger deutſcher Verjüngungen, blieb bei den Liberalen ebenſo unverſtanden wie bei den Konſervativen. Die ganze Reichs- entwicklung hätte glücklicher verlaufen können, wenn ſich frühzeitig eine genügend gebildete, unanfechtbar volksſinnige Großpartei der deutſchen Denkart aufgerafft haben würde, gruppiert durch die monarchiſch-geſchichtlichen Stände, eine ſolche, womit auch Bismarcks innere Staatskunſt hätte rechnen können. Bei der geringen Selbſttätigkeit des rechtsnationalen Denkens ward es faſt achtlos hingenommen, daß die Politik des Reiches ſeit 1890 aufhörte, Politik im diplomatiſchen Sinne zu ſein. Einflußreiche Maßgebende wollten keine ſolche und verhinderten ſie als die Gedankenbildner der Regierung. Jetzt nach dem Verſailler Frieden ift das Schlagwort ausgegeben worden: „In Zukunft bedeutet in Deutidh- land die Wirtſchaft alles, die Politik nichts mehr!“ Das iſt jedoch nur die umſchweifloſe Wiederholung des ſchon längſt Beſtimmenden.

Unmöglich iſt es da, nicht an Karthago zu denken, wo ein ſiegreicher Krieg verloren ward und endlich nach Bama, nach dem Diktatfrieden, die Geldoligarchie den Hannibal auch noch in die Verbannung trieb, der über die Wiederaufrichtung ſeines Heimatſtaates weiterſann. Förmlich entlaſtet, daß keine Ehre und ſelbſtändige Politik es mehr beeinträchtigten, machten ſich dieſe Kreiſe wieder neu an das Reichwerden, durch vermehrte innere Auspreſſung und Handelsbetriebſamkeit nach außen, zwiſchen politiſch belebten Nachbaren, die dem karthagiſch-afrikaniſchen Reſtgebiet ein Stück nach dem anderen entwandten. Als einer der römiſchen Uberwachungskommiſſare war Cato in Karthago ſelbſt geweſen. Der männliche Altrömer nahm von da fein Ceterum censeo mit, daß ein fo ſchauderhaftes Staats- weſen, als Erſcheinung und Miasmenherd, beffer mit Stumpf und Stiel auszu-

tilgen ſei. Es ließe ſich wohl denken, daß Ähnliches in der Seele eines Marſchall Der Zürmer XXIII, 12 27

378 Send: Weswegen haben wir keine Politik?

Foch vorgehe oder der in Deutichland ſtehenden franzöſiſchen Generäle. Wie wird die Aufregung angefacht über das induſtriell wichtige Oberſchleſien! Wie- viel ſtumpfer dagegen läßt die Frage, ob Frankreich im rein deutſchen Rheinland zu ſeinen Annexionszielen kommen wird!

Angeblich haben wir nun ein Volksreich, jede der Parteien hat die Bolts- befliffenheit in ihren Namen aufgenommen. Aber unendlich mühſam gelangen die Punkte, die die Volksgeſamtheit als allerwichtigſte angehen, ins öffentliche Augenmerk. Der Widerſinn beſteht weiter, daß die „Schuld am Weltkrieg“ auf Deutfchland genommen bleibt, worauf fih die ganze Erniedrigung und Wehrlos- machung gründet, der ſchimpfliche Anſchnauzungston, den die Pariſer Machthaber zwei Jahre lang übten, die angeblich vorbeugende Beſetzung deutſcher Gebiete, die Aufjochung von Laſten, deren Auswirkung namentlich den wiſſenſchaftlichen und ſonſtigen minder materiellen Betätigungen in Oeutſchland die Lebensluft entzieht. In der linksſtehenden Wochenſchrift „Oeutſche Politik“, im letzten Heft vom 4. Juni, fegt der feit 1919 an den archivaliſchen Arbeiten über die Schuld- frage beteiligte Graf Montgelas auseinander, weshalb diefe Richtigſtellungen vor der Weltöffentlichkeit nicht herzhaft angefaßt werden dürfen. Es könnten dadurch die wirtſchaftlich-induſtriellen Verſtändigungspläne beunruhigt werden, dieſe hauptſächlich nach Frankreich zielenden Illuſionen kapitaliſtiſcher engerer Kreiſe!

Da Spekulationskreiſe und Geſchäftskreiſe mit dem Tiefſtand des Mark geldes ganz zufrieden ſind, erſcheint es für ſie nicht ſo verzweifelt, daß das Ver— mögen aller Übrigen um ebenſoviel entwertet bleibt und daß ſich die Zahlungen, welche Oeutſchland abgefordert werden, entſprechend multiplizieren. Geringe Kunde hat noch die Volksgeſamtheit davon, daß die Zerſtörung von gewerblichen und Verkehrsanlagen im Kampfgebiet und in Belgien weniger aus Heereszwecken erfolgte, als auf induſtrielle Deranlaffung, planmäßig nach den Liften eines wohl- organiſierten „Abbaukonzerns“, mit dem Zweck, auf lange hinaus den fran— zöſiſchen und belgiſchen Mitbewerb lahmzulegen. Die „Wiedergutmachung“ aber muß von der Volksgeſamtheit bezahlt werden. Von deren innerer Auswucherung durch heimiſche Induſtrien iſt in Türmers Tagebuch, im Juniheft, Triftiges mit- geteilt worden.

Folgenlos machten bei dem Bukareſter „Petroleumfrieden“, der für die Truft- einflüſſe kraß kennzeichnend war, Sehende darauf aufmerkſam, daß man die ele- mentarſten kriegspolitiſchen Rückſichten (Bulgarien!) mißächtlich und verhängnis— voll mit Füßen trat, zuliebe noch weiterer Dividendenjägerei im reicheren Ru- mänien. Im Lechzen der Finanzkreiſe nach dem „wirtſchaftlichen Aufbau“ Ruß- lands und Frankreichs unterblieb ein gehöriges diplomatiſches Billardſpiel, welches kraft unſerer Siegeserfolge und weithin beherrſchten Ländergebiete die Entente wohl hätte auseinandergruppieren können. Statt daß die erlangten wirtſchaftlichen Ausſichten Selbſtzweck ſein durften, das „Kriegsziel“ illuſioniſtiſcher Spekulanten, wäre man der kämpfenden Nation es ſchuldig geweſen, mit Hilfe jener einen politiſchen günſtigen Frieden zu gewinnen. Dafür beſagte die Bethmannſche leere Friedensbettelei den Gegnern lediglich, daß ſie als einzelne weder zu ihren Un—

Hend: Weswegen haben wir keine Politit? 379

gunſten noch Gunſten mit einem diplomatischen Mehr-als-Null zu rechnen hatten. Als das zariſche Rußland zum Abſpringen von der Entente neigte, erſchien zu einleitenden Beſprechungen in Stockholm unmittelbar der deutſche Bankier. Dem ins Ausland telegraphierenden Wolffſchen Bureau entſchlüpfte gelegentlich die offenherzige Wendung: „Einflußreiche Kreiſe“ würden die Reichsregierung „veranlaſſen“, dem damals noch unterliegenden Frankreich einen Bruchteil feiner elſäſſiſch-lothringiſchen Ziele zuzugeſtehn! Verbündete wurden mißmutig gemacht, Gegner politiſch ermutigt. Die „Einflußreichen“ waren Verliner und Hamburger Finanzleute, die ſich mit franzöſiſchen Kreiſen an einem neutralen Ort be- ſprochen hatten.

Kurz und deutlich geſagt: es handelt ſich hier um eine großkapitaliſtiſche Nebenregierung. Von der Scheinherrlichkeit Wilhelms II. wurde dieſer Rapi- talismus zwar umkleidet, doch nicht mehr verhüllt. Angebahnt hatten ſie aber bereits die Frühjahre des Deutſchen Reiches. Zunehmend kamen alle Beſtrebungen unter die zentraliſtiſche Obmacht des Erwerbs, wurden ihr eingeordnet und mechaniſiert, und zwar am meiſten in Preußen. Die Baſis einer ſelbſtachtungs- ſtolzen Beamtenſchaft ging verloren, vollends die militäriſche Laufbahn wurde mit Geldheiraten im Rang erhalten. Die geiſtigen und künſtleriſchen Betäti- gungen fanden fih abhängig von der Reklame und dem Aufſehn; die gute allgemeine Bildung um ihrer ſelbſt willen ſchwand hinweg; Eintägigkeit und Kulturſchwatz traten an die Stelle jener wirklichen Kultur, die ihren Namen nicht unnützlich im Munde führt. Gemäß einem platt verſtandenen Amerikanismus ergab fih Neudeutſchland der allverwandelnden „business“,

So wie ich dies hier, von der Unterordnung unter den Erwerb an, ungefähr wörtlich nachgeſchrieben habe, trug es großſeheriſch vorausblickend bald nach dem ſiebziger Kriege Jakob Burckhardt in Baſel in feine Notizen zur Weltgeſchichte ein. Schon vor ihm (1871) fab ein anderer Geiſtes verwandter der höchſten deutſchen Bildung, Amiel in Genf, daß das 19. Jahrhundert, welches von den Höhen der freiheitlich-ſittlichen Imperative herunterkam wie ein edler Quellſtrom, ſeine Ausmündung nehmen müſſe im Obſieg des Bodenſatzes, „de la lie et de u platitude“.

Die Dogmen der franzöſiſchen Nevolution waren zu ſchnellfertig für die Verwirklichung. Sie haben die wertvolle Seite, daß ihre Ideale unvergänglich abſtrakt zu dauern vermögen, und die verderbliche: daß fie der Menſchheit ver- kündeten, ſie ſolle alles Wohlergehen und alle Rechte geſchenkt erhalten, ohne die Pflichtbedingungen und die erzieheriſchen Vorausſetzungen der Kantſchen Freiheit. Dieſer Grundirrtum ſteckt auch in der Lehre der Sozial- demokratie, die ein franzöſiſches Kind iſt. Sie ſelbſt hat keine andere und beſſere Ethik als die Bourgeoiſie, die flott und flugs ſeit dem Thermidor aus der fran- zöſiſchen Revolution erblühte. Sie darf ſich nicht ſelbſt erkennen; dann bliebe nur der zerſtörende Teil übrig, die Erſchlaffung, ſamt der Diktatur des aufgeſtachelten Begehrens. Die Eigenſucht der Bourgeoiſie überwinden, ſie fähig beſiegen kann nur eine männliche und erkenntnisklare Ethik, die tiefere Wurzeln hat als alle die Franzoſenlehren. So hat auch die demokratiſch-ſozialdemokratiſch deutſche

380 $ Heyd: Weswegen haben wir keine Politit?

Revolution von 1918 nur die materialiſtiſche Herrſchaft vollendet, die das willenloſe Deutſchland in Händen hat, hat fie von den reſtlichen Nüdfichten demaskiert, angeſichts des herbeigeführten ungeheuren Wirrſals. Aber auch ſchon die Loſung der vorhergehenden deutſchen Jahrzehnte war geweſen: Die Wirt— ſchaft bedeutet alles, nichts die Politik. „Nur wirtſchaftliche Ziele!“ echoten die Staatsmänner ohne Politik, brachten ſie England und allen fortgeſetzt tolpatſchig zu Gehör. Was die im Auswärtigen Amt aus und ein gehenden Bankherren wünſchten und rieten, war die mechaniſche Beſchäftigung unſerer Diplomatie, und wer damit nicht zufrieden war, nahm beſſer ſeinen Abſchied. Die Nation ging mit, kritiklos und leicht bereit, fich renommiſtiſch zu begeiſtern. Die Doppelgeſich— tigkeit des finanz- internationalen, induſtriell- nationalen Merkantilismus er- hielt ihm die freudige Gefolgſchaft unſrer Deutſchgeſinnten. Sie ward noch be— ſonders vermittelt durch die monarchiſche Geſinnung, durch den Flottenſtolz, auch als militariſtiſche Verbindung; und nicht zu wenigſt ward fie aufrechterhalten durch den publiziſtiſchen Aufwand, der die Unternehmungen der Großbanken, die anatoliſche Bahn, die Renommierdampfer Ballins, die Anleihen der Chineſen und Ruſſen zu vaterländiſchen Herzensangelegenheiten machte. Es ward auch zur Regel, wenn nationale Gründungen, z. B. Zeitungen und Zeitſchriften, von etwas macheriſchen Leuten geplant wurden, mit den Zuſchüſſen von Ballin, Krupp und anderen Geſchäftsmagnaten zu rechnen, gleichſam als wären es Schweigegelder.

England, welches wohlweislich ſehr ungern die Karten der Einkreiſung in ſein Spiel ſteckte, bot ſeit zwanzig Jahren wiederholt uns Politik, die von dem Zuſammenſtoß mit ihm hätte ablenken können, kontinentale Geſichtspunkte und Ziele, Gewinnung nationaler Siedlungsgebiete, Mehrung der Landwirtſchaft, Ventilöffnungen der Induſtrialiſierung. Dieſe Richtungnahmen wurden zum Teil aus Rechtlichkeit und Friedensliebe nicht gewollt, vor allem wurden fie aber vorweg nicht gewollt. Bereits der durch Vorträge „Sachverſtändiger“ ſich unterrichtende Caprivi verkündete Deutſchlands Beſtimmung zum Znduſtrieland, unter miß- ächtlicher Erwähnung von „Ar und Halm“.

Das politiſche Erlebnis des Krieges, das größte der Weltgeſchichte, ift faſt ſpurlos an den lenkenden deutſchen Maßgeblichkeiten vorübergegangen. Zwar iſt die Illuſion nun abgekühlt, daß Arm in Arm mit uns Nordamerika die gemeinſame wirtſchaftliche Weltherrſchaft, unter Entthronung Englands, übernehmen werde. Indeſſen mit dem hartnäckigen Aberglauben, der auch dem Schaͤtzgräber und dem Spieler eigen iſt, erneuert die goldene Blendung ſich in der Form einer wirtſchaft— lichen Kartellierung mit Frankreich, die wiederum ihre Spitze gegen England: richten ſoll. Dafür mögen wohl in Frankreich einige mit unſeren Finanzgrößen artverwandte Kreiſe zu haben fein, denen die journaliſtiſche Ausſtattung auch nicht fehlt. Aber ſo kindiſch und lenkbar die Franzoſen ſind, niemals werden ſie als Geſamtheit ſich von Wirtſchaftspolitik entſcheidend beſtimmen laſſen. Niemals wird ihre gehäſſige Abneigung gegen die Deutſchen, welche feit ſieben Jahrhunderten das Rückgrat ihres Nationalſtolzes und ihrer Impe— rialismen ift, fih deswegen mindern, weil Oeutſchland ihnen die Gelegenheit gibt, es reſtlos zu verachten.

Gerbrecht: Wir l 381

In den Zeiten vor der lutheriſchen Reformation waren in Oeutſchland am mächtigſten die patriziſchen, namentlich ſüddeutſchen Handels- und Wucher truſte. Sie hatten an dem tief entſittlichten und verzoteten Zuſtand, am gegen- ſeitigen Haß aller Stände und Schichten, an der inneren und äußeren Lähmung geſunder Politik, an dem Abbröckeln der Reichsgrenzen eine Hauptſchuld, am meiſten durch die mittelbare Weiterwirkung und dadurch, daß fie die Reichsregierung des fahrigen, wohlredneriſchen Maximilian, ebenſo noch Karl V. durch ihre Finanz macht in der Hand hatten. Auch Luther hat ſich beteiligt an dem Kampf gegen dieſe Wucherherrſchaft, deren Zurückdrängung eine der Vorbedingungen war für die ſoziale und ſittliche Wiederherſtellung der Volksgemeinſchaft und der deutſcheren Geſinnungsweiſe. N oo.

Die Menſchen im heutigen Deutſchland verlangen zueinander, durch die elende Politik hindurch. In vielen Punkten ähnlich wie um 1500 kommt es darum an auf die entſchiedenere Erkenntnis, daß fih die Rettung, das Wieder- aufkommen der Nation und die erträglichere Lebensgeſtaltung großer Teile von ihr in erſter Linie mit der Eigenſucht begrenzter Kreiſe auseinanderſetzen muß.

ENTE ENTE

Wir Von Guſtav Adolf Gerbrecht

Wir haben nicht Satzung noch Jahresbericht Wie ſonſt Vereine Selbſt einen Namen führen wir nicht In unfrer Gemeine.

Wir rufen keine Verſammlungen ein

An Abendſtunden,

Weil wir bei Sonnen und Sternenſchein Immer verbunden.

Weil wir an allen Orten ganz dicht Zuſammen wandern

And kennt doch ſelten von Angeſicht Einer den andern

Wie weit wir reiſten noch jeder war Zu Haus zu ſehen.

All unſre Wege find unſichtbar,

Darauf wir gehen.

Y =

582 Schoenſeld: Einſam, arm und alt

Einſam, arm und alt Von Hans Schoenfeld

it einem Kameraden kam ich unlängſt auf einen verehrten Kriegsſchul— lehrer zu ſprechen. Er war damals ein älterer Hauptmann. Ich

hörte, daß er ſchon feit acht Jahren im Ruheſtande lebte. Danach konnte ich mir ungefähr ein Bild machen, wie es um dieſen Alt- penſionär bei heutiger Notzeit beſtellt ſein müſſe. Die Angaben, die mein Kamerad

machte, zeigten, daß meine Befürchtungen noch hinter der Wirklichkeit zurüdblieben.. Der bejahrte Offizier a. D. bewohnt in einem pommerſchen Neft ein Zimmer

beim Kantor. Verwandte beſitzt er nach dem Tode ſeiner Frau, mit der er in kinderloſer Ehe glücklich gelebt hatte, nicht mehr. Er beſorgt ſich, da die Kantorsfrau mit ihrer zahlreichen Kinderſchar ſtark beſchäftigt iſt, Zimmer und Verpflegung

allein. Denn zu dauernder Wittagsmahlzeit im Dorfkrug langt jeine winzige.

Vorkriegspenſion nicht. Mein Bekannter bemerkte auf meine erſchütterten Außerungen über dieſes unverdiente Schickſal eines ehrenwerten Volksgenoſſen, der redlich das konnten

wir bezeugen für fein beſcheidenes Offiziersgehalt dem Lande und der wehr

fähigen Jugend alle Kräfte Leibes und der Seele gewidmet hatte: „Die wirt- ſchaftliche Not ift das Schlimmſte noch nicht. Die furchtbare Einſamkeit und Los- gelöſtheit aus aller geiſtigen Gemeinſchaft und liebgewordenen Gewohnheit des Umganges mit gleichgeſtimmten Menſchen macht dem geiſtig regen alten Herrn ſein Los faſt unerträglich. Ihm fehlen die Mittel, durch eine anregende Großſtadt— zeitung ſich über die brennenden Reichs- und Tagesfragen auf dem laufenden zu erhalten. Die Beſchaffung von Büchern verbietet fih noch viel mehr. Unſer lieber alter Oberſtleutnant verfällt alſo langſam dem ſeeliſchen Tod. Noch wehrt er ſich gegen den Alltag und die geiſtige Bedürfnisloſigkeit ſeiner dörflichen Umwelt. Aber der Ausgang erſcheint ihm nicht zweifelhaft: Sein Unterliegen. In ſchwachen Stunden, dies hat der alte Mann mir mit zitternder Stimme geſtanden, hat er fih ſchon den Tod herbeigewünſcht, da er fih überflüſſig und verlajjen fühlt. Nur ſein Stolz, ſein Gottvertrauen und jene Hoffnung, an die ſich vaterländiſch denkende, in Zucht und Ehren grau gewordene Volksmitglieder mit letzter Kraft klammern (weil fie für ſich nichts mehr begehren, für die Volksgemeinſchaft dafür um fo mehr), haben ihn von einem Schritt abſtehen laſſen, der als unmännlich und undeutſch empfunden wird.“

Ich ſchied von meinem Waffengenoſſen mit der betrübten Feſtſtellung, daß man dieſen ſtillen Märtyrern unſeres Volkes, wenn man ihnen denn materiell nicht helfen könne, geiſtig um ſo nachhaltiger und unſchwer beiſpringen müſſe; daß dazu wir Männer auf der Höhe des Lebens unſere Mitwelt drängen ſollten: vor allem die Jugend.

In der Tat ſcheint unter den Aufgaben völkiſchen geiſtigen Aufbaus das Erwecken des Ehrfurchtsgefühles vor den alten, kampfmüden und vereinſamten Volksgenoſſen obenan zu ſtehen. Daß dieſe Anſchauung in den jugendlichen Kreiſen

Schoenſeld: Einfam, arm und alt 383

unſeres Bürgertums erſt zum Bewußtſein gebracht werden muß, iſt eine von den bedauerlichen Tatſachen, über deren Urſache und Vorhandenſein hier zu grübeln nicht der Platz ift. Vielmehr kommt es auf die Mittel an, mit denen dies völkiſche Ehrfurchtsgefühl, das untrennbar ift vom Gedanken freiwilliger Ein- und Unter- ordnung, von jener Frömmigkeit, die das Walten höherer Mächte fühlt und demütig anerkennt, bald und allgemein wieder ins Leben zu rufen wäre.

Mehr noch als die zeitlich und räumlich gebundene öffentliche Ehrung in Form eines Veteranentages oder ähnlicher Veranſtaltungen muß die Werbung und Wirkung von Mund zu Mund und Menſch zu Menſch bei jedem ſchicklichen Anlaß im täglichen Leben dafür Sorge tragen, dem jungen Deutſchland Augen und Herz zu weiten für die ungeheure Tragik, die für ein redlich hingebrachtes, durch kämpftes Menſchenleben darin liegt, auf guter Letzt, wenn das Fazit gezogen wird, erkennen zu müſſen, daß alles Mühen, Glauben und Wollen umſonſt getan ſcheint. Daß nicht auf Fels, ſondern auf Sand gebaut war, was ohne weiteres als feſtgefügt galt. Erſt wenn unſere jungen Landsleute ſich ganz hineinverſetzen in die Gedankenfolge eines ſolch alten Menſchen, der an Gott und Welt irre zu werden droht und in der Schwerfälligkeit und Unluft des Alters neuen Unter- grund ſich nicht mehr geſchmeidig wie ein jüngerer Lebenskämpfer zu ſchaffen vermag, wird ihnen mit Furcht und Mitleid des Ariſtoteles und dem Menetekel des künftigen eigenen Schickſals jene Ehrfurcht vor dem Geſchehen und der Schwere eines langen treuen Menſchendaſeins voll aufgehen und fie als Einzelperfön- lichkeit wie als Glied eines Ganzen reifer machen.

Umgekehrt muß diefe neudeutſche Jugend erfahren, welch unendlichen Troſt es für ſolch einen greiſen Menſchen bedeutet, ſein eigenes Tun und Trachten in einer aufſtrebenden Geſchlechterſchar ehrenvoll anerkannt und als Vorbild befolgt zu ſehen. Solche Alters -Erkenntnis was fag’ ich: Erlebnis! beſtärkt in der Gewißheit, gut geglaubt und recht gehandelt zu haben. Es iſt das Fazit des eigenen Lebens: das Urteil der Jugend, die ſich zur Richtſchnur nimmt, was der Altere mühſam fih erkämpft, geklärt hat.

Im wechſelſeitigen Austauſch von Erfahrung und jungfriſchem Wagemut liegt das Geheimnis eines in fih geſchloſſenen Menſchenkreislaufes von der Familie bis zur Volksgemeinſchaft. Indem ein jeder Teil gibt der reifere bewußt, der andere unbewußt —, nimmt er und ergänzt ſich, friſcht ſich auf.

Jugendverbände, Ireundſchaftsbünde und all die Gemeinſchaften, zu denen ſich lebensfrohe Jugend zuſammentut, ſollten darum viel öfter, als es bisher ge- ſchieht, bejahrte Menſchen, die noch Verlangen und körperliche Rüſtigkeit zeigen, in ihre Mitte bitten. Es ergibt ſich ein Geſprächsſtoff im Nu, aus dem ſich eine Fülle von Nebenbetrachtungen abzweigt. Oft iſt ſolch altem Menſchenkind auch die Gabe des Erzählens in ungewöhnlichem Maße verliehen. Und welch unver- bildete Jugend hörte nicht gern erzählen, vor allem aus dem reichen Schatz eigener Schickſale und Erfahrungen! Alt und jung nimmt beim Nachhauſegehen einen „ganzen Sack voll“ Freude und Nachdenklichkeit mit, der auf eine Weile vorlangt. Die Nachwirkung, das Weiterausſpinnen und Verallgemeinern, das iſt's, worauf es ankommt. And die Köſtlichkeit dieſes ſchönſten Menſchenerlebniſſes, bei dem

384 Schoen ſeld: Einſam, arm und alt

äußerlich nichts, innerlich alles geſchieht, ijt ſchöner und bleibender als äußere Sinnenreize.

Es gibt mir kaum Höheres, ſymboliſch andächtig Stimmendes als ein Freund- ſchaftsverhältnis zwiſchen einem alten und einem jungen Menſchen, gegründet auf Zutrauen, Unbefangenheit, Ehrfurcht und Liebe zu den ſchönen Dingen des Lebens und der Geiſteswelt.

Wir werden die Alten um fo weniger entbehren können, je ärmlicher es äußer- lich mit uns wird; je weniger rauſchend und lärmend die Geſelligkeit ſich geſtaltet.

Mit dem Alter geht es wie mit der echten Kunſt: der Umgang mit dem reifen Menſchen, über deſſen Lebensbahn der Abendglanz ſcheidender Sonne liegt, ſtimmt andächtig, feierlich. Er zerſtreut nicht; er erhebt, bringt Sammlung ſtatt Anregung.

Unfere Greiſe und Greiſinnen könnten eine gar wichtige Rolle im inneren Bereicherungs- und Geſundungsgange unſeres Volkes haben. All diefe wartenden Alten mit ihren Schätzen an geiſtigen Gütern zu überſehen und einſam im Winkel ſitzen zu laſſen, heißt die Mittel verkennen, deren wir uns bedienen dürfen, ohne daß der Steuererheber dahinter ſitzt; ohne daß ein Ententegeneral hintritt und Abgabe oder Zerſtörung verlangt.

Dieſe unſichtbaren Schätze im Winkel („verſtaubt“ wie alle goldenen Schätze) gehören zu Oeutſchlands Nibelungenhort, den kein Fafner, kein tückiſcher Alberich uns wehrt. Wir brauchen nur zuzufaſſen, ſo haben wir ſie.

Ich möchte nicht ſchließen, ohne einen Vorſchlag den deutſchen Freunden zur Erwägung unterbreitet zu haben. Er hat den Vorzug, einfach und lösbar zu ſein, wenn er vorerſt auch nur einem kleinen Teile unſerer Alten und da wieder jenen ärmſten alten Volksgenoſſen, die als Flüchtlinge vor argen Gewalthabern

eines fremden Volkes, dem ſie einverleibt wurden, ins Reich gekommen ſind und

nun ohnehin auf fremde Hilfe angewieſen bleiben, zugute käme: Es ſollte in den nationalen und Kulturverbänden, den Arbeits- und Siedlungsgemeinſchaften jedem zur Ehrenpflicht gemacht und auf alle Weiſe dafür geworben werden, daß, wo nur immer künftig eine Siedlung erſteht, da ein würdiger und bedürftiger alter Mann, eine greiſe Frau von der Gemeinſchaft „auf Gnadenbrot“ mit übernommen wird. Das Ideal wäre, ihnen von der künftigen Dorfgemeinde aus ein eigenes Altenhäuschen zu bauen. Doch wird es auch ganz gut gehen, wenn rüſtige Alte reihum in kürzeren oder längeren Zeiträumen in dem neuen Hausweſen wohnen und ſich da auf ihre Art verdient machen. Denn zu tun gibt es in ſolch neuer Menſchengemeinſchaft auch für zwei alte Hände und ein graues Haupt genug: zu mildern, zu betreuen, aufzuwarten und achtzugeben und zu erzählen.

Von den vielen Hunderten von Millionen, die das Reich und die Länder für kommende Siedelungen bewilligt haben und noch auswerfen, müſſen für die Alten, die uns das Reich auf ihren Schultern durch die guten Zeiten zur Höhe getragen haben, einige beſcheidene Mittel abfallen. Eben indem man ihnen weniger von Reichs als von Volks wegen eine Wirkungs- und Ruheſtätte bietet, wo ſie inmitten einer Gemeinſchaft ihre Tage beſchließen können:

Alt zwar, doch einſam nicht und nicht arm.

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Ruſſiſche Erinnerung

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2 Ruffen haben mir ruſſiſche Verhältniſſe und Charaktere fo nahe gebracht, daß ich fie richtig zu beurteilen glaube, ſoweit das überhaupt für einen Ausländer moglich ift.

Zuerſt trat ich in einer Pariſer Penſion noch vor meinem Aufenthalt in Rußland mit verſchiedenen, allen Geſellſchaftskreiſen angehörigen Ruſſen in Beziehung und befreundete mich ſehr eng mit einer Dame, die ich für eine der begabteſten und von Gemüt beften Frauen halte, mit denen mich das Leben zuſammengeführt hat. Eine lange Freundſchaft folgte dieſer erſten Begegnung und nur der Krieg hat uns vorläufig getrennt. S

Oaß Maria Alexandrowna die Urentelin deutſcher evangeliſcher nach Rußland eingewanderter Paſtoren war, erregte mein Intereſſe noch beſonders. l

Mir ſchien ihre deutſche Herkunft ein gewiſſes Anrecht an meine Freundſchaft zu geben Erſt die Heirat ihres Großvaters mit einer Ruſſin und ebenſo die ihres Vaters hatte ihr die flawiſche Erſcheinung und den Charakter der fremden Raſſe vererbt. Merkwürdig genug ift es, daß fih faſt immer das Deutſchtum im Wettſtreit mit anderen Nationen als der ſchwächere Teil erweiſt. | |

In Sibirien am Baikalſee war fie geboren, wo ihr Vater Direktor der Silberbergwerke war. Ihre ruſſiſche Großmutter war die Beſitzerin eines großen Gutes geweſen, das ſich auf ihre Mutter vererbt hatte. Und als die Enkelin 12 Jahre zählte, verließ die Familie Sibirien und ſiedelte auf das Gut über, das der Vater ſelbſt zu bewirtſchaften für geboten hielt. Schon die Kindheitserinnerungen Maria Alexandrownas waren außerordentlich intereſſant für mich: die Schönheit der Natur, der wundervolle See, weit wie ein Meer, von Schneebergen überragt, die unentweihte tiefe Einſamkeit; dann die alte ruſſiſche Großmutter mit ihren Vögeln und Hunden, ihren Märchen und ihrer ſeltſamen Frömmigkeit endlich die Reiſe, die viele Wochen währte, die Ankunft auf dem Gute das alles war fremdartig und feſſelnd und verſetzte mich ganz in das weite Zarenreich, von dem wir trotz der Nachbarſchaft ſo unendlich wenig wiſſen. Die nächſten fünf Jahre waren die glücklichſten im Leben Maria Alexandrownas. Es folgte ihre Heirat mit einem doppelt fo alten Mann in hoher Stellung, der fie ſchon auf der Hochzeits- reife betrog und unendlich unglüdlih machte. Sie gebar ihm 3 Kinder und fuchte fih mit ihrem Loſe abzufinden. Ihre Liebe zu einem andern Mann gab ihr dann endlich die Kraft, ſich auf eigene Füße zu ſtellen und von ihrem Gatten zu trennen.

Inzwiſchen war ihr Vater geſtorben und ſie Beſitzerin des Gutes geworden, auf dem fie nun mit ihrer Mutter und ihren Kindern lebte. Da lernte fie das ruſſiſche Volk tennen und von ganzer Seele lieben. Die Zuſtände, unter denen es ſeufzte, waren derart traurige, daß Maria ftark ſozialiſtiſch zu denken begann und ihre ganze Tätigkeit der Verbeſſerung der länd- lichen Derhältniffe widmete. Als die Kinder indes heranwuchſen und die Schule in Petersburg beſuchen mußten, ergriff fie die Gelegenheit, zugleich Medizin zu ſtudieren, um fpäter auf ihrem

386 Aulfifhe Erinnerung

Gute und in der Gegend ärztliche Hilfe ſpenden zu können; denn weit und breit war kein Arzt zu finden. Da lag ein Feld ſegensreichen Wirkens für fiel Nachdem fie das Examen, das fie zur Ausübung ihres Berufes berechtigte, abgelegt, lebte fie den größten Teil des Jahres wieder auf dem Gute und übte den neuen Beruf aus. Sie beſaß ein Stück Erde, deſſen Flächeninhalt ungefähr brei deutſchen Nittergütern entſprechen würde. Aber was nutzte ihr der Boden, zu deſſen Bearbeitung es ihr an Kräften fehlte? Gab es doch in jener Gegend Rußlands, die 12 Stunden von der nächſten Stadt entfernt ift, keine anderen Bewohner als die bei Aufhebung der Leibeigenſchaft auf dem Grund und Boden des Gutes angeſiedelten Bauern, die als Ent- gelt dafür einen Tag in der Woche für die Gutsherrſchaft arbeiten mußten. Andere Arbeits- kräfte waren dort nicht zu haben, oder wären doch nur mit ſo gewaltigen Koſten zu beſchaffen geweſen, daß es ſich nicht gelohnt haben würde, ſie kommen zu laſſen. So blieb der Boden brach liegen. Nur die Wieſen brachten der Beſitzerin Gewinn, da die Bauern ſelbſt das Heu kauften oder die Wieſen pachteten. Ein bedeutender Teil des Gutes beſtand in Wald, doch auch er war ein toter Beſitz, da er nicht durch regelrechte Forſtwirtſchaft gewinnbringend er- halten wurde, und die Bauern das Recht hatten, ihr Vieh auf beſtimmten Strecken weiden zu laffen. Da es nun aber an allem Aufſichtsperſonal fehlte und die Entfernungen febr groß waren, ſo benutzten die Bauern den Wald, wie und wo es ihnen beliebte, ja ſo wenig Wert beſaß er in ihren Augen und achteten ſie das Eigentumsrecht der Gutsherrſchaft, daß ſie den Wald einfach abbrannten, wenn die zu dicht ſtehenden Bäume das Vieh zu weiden hinderten. Dieſe Waldbrände find eine ſtehende Erſcheinung in Rußland, und ungezählte Summen gehen da- durch verloren. Zum Glück iſt die Natur noch mächtiger als die Berheerungen durch Menſchenhand. Friſches Grün bricht aus den unverſehrten Wurzeln der Bäume, neue Stämme ſproſſen auf und allmählich füllt ſich die Lücke wieder. Maria ſelbſt aber war genötigt, ein Stück Wald abſchlagen zu laſſen und zu verkaufen, wenn ſie bares Geld gebrauchte. Später, als ſie im Auslande lebte, mußte ſie alljährlich nach Hauſe reiſen, um dieſes Geſchäft zu beſorgen und ſich Geld zu holen.

Mit welcher ſchwermütigen Bewunderung, mit welchem Neid, ſchaute die ruſſiſche Gutsherrin auf ihren Reifen in Oeutſchland das überall beſtellte Land. Bei unſeren gemein- ſamen Ausflügen von Paris aus waren es weniger die äſthetiſche Schönheit der Landſchaft und die Poeſie der Natur, die ſie begeiſterten und beſchäftigten, als die grünen Saaten, die goldenen Felder, die blühenden Obſtbäume, die üppigen Gemüfebeete. Jeder Baum und Strauch intereſſierte ſie; am meiſten aber taten das die Menſchen. Stets ſuchte ſie mit den Landleuten in Berührung zu kommen, ihre Art des Lebens kennen zu lernen, mit ihnen zu plaudern, von ihnen zu lernen.

Wenn wir dann heimwärts fuhren durch den dämmernden Abend, dann war fie ein- ſilbig und in ſich gekehrt, bis eine teilnehmende Frage nach ihrer Heimat, ihrem Lande, ihren perſönlichen Verhältniſſen der ſonſt jo zurückhaltend und kühl erſcheinenden Frau das Herz erſchloß. Dann brach es hervor, ihr leidenſchaftliches Temperament, dann offenbarte ſich ihr wahres, innerſtes Weſen. And während ſich die ſonſt fait unſichtbare Falte zwiſchen ihren Brauen tiefer und tiefer grub, erzählte ſie unaufhaltſam, ſtundenlang. Und wie erzählte ſie! Sie ſchilderte uns, wie troſtlos es vielfach in Rußland ſtehe, wie der ſtärkſte und redlichſte Wille Schiff— bruch leide an der Macht der Verhältniſſe, an den Entfernungen, an dem Mangel an Kapital und Arbeitskräften, wie jeder Fortſchritt ſcheitere an der Anwiſſenheit, der Unbeweglichkeit und dem dumpfen Fatalismus des Landvolkes, und welche herrlichen Eigenſchaften doch dies Volk beſitze, welche reichen Kräfte in ihm ſchlummerten. Sie führte uns mitten hinein in dieſe weltfernen Dörfer, in ihre Häuſer und Hütten; fie zeigte uns deren Bewohner, wie fie lebten und litten. Ich glaubte Maria Alexandrowna ſelbſt zu erblicken, wie ſie, Arzt und Apotheker zugleich, zwiſchen den Leidenden ſtand, die hergekommen waren, ihre Hilfe zu erbitten, oder wie ſie auf ihrem Pony allein auf einſamen Straßen durch das Land ritt, die Schwerkranken zu beſuchen, die den Weg zu ihr nicht machen konnten.

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RNufliſche Erinnerung 387

„Da gibt es eine Krankheit in Rußland, die ſibiriſche Peſt genannt,“ erzählte fie einmal, „die bald in vereinzelten Fällen, bald epidemiſch in unſeren Gegenden auftritt, das Vieh er- greift und von ihm, wahrſcheinlich durch Fliegen, auf die Menſchen übertragen wird, die faſt ausnahmslos dem Tode verfallen, wenn nicht in den erſten zwei Tagen die mit einem kleinen Bläschen auf der Haut beginnende Krankheit bemerkt und die Stelle ſofort operiert wird. Geſchieht das nicht, ſo ſchwillt der unſcheinbare Punkt an, die Entzündung ergreift das Glied und den Körper, und unter heftigem Fieber und ſchrecklichen Qualen tritt der Tod ein. Der wohlhabendſte Bauer in einem mehrere Meilen entfernten Dorf, den ich wohl kannte und der in ſeiner Gemeinde großes Anſehen genoß, ließ mich eines Tages zu ſich bitten. Er hatte mir einen Wagen geſandt, und ich erfuhr von dem Bauernburſchen, der ihn führte, daß der einzige Sohn des Bauern von der ſibiriſchen Peſt ergriffen worden, nachdem in der vergangenen Woche ſein ſämtliches Vieh gefallen ſei. Da unſere Bauern faſt nie, weder gegen Feuer, noch gegen ſonſtige Schäden verſichert find, wußte ich, daß dieſes letztere Unglüd die Vernichtung des Wohlſtandes, ja die Verarmung des reichen Mannes bedeute. Ich langte endlich an meinem Beſtimmungsorte an. Der Bauer empfing mich vor der Tür und führte mich ruhig und ernft in die Stube, wo der Kranke lag. Eine Menge von Leuten umſtand das Bett laut klagend und jammernd, daß der junge Mann nun ſterben müſſe, woraus fie dem heftig Fiebernden kein Hehl machten. Das erſte war, daß ich die teilnehmenden Nachbarn zur Tür hinaus- komplimentierte und der ſchluchzenden Bäuerin, die am Fußende des Bettes ſaß, befahl, niemand einzulaſſen. Der Bauer ſtand ſtarr und anſcheinend gleichmütig am Ofen. Ich trat an das Bett und erkannte ſofort, daß es ſehr ſchlimm ſtehe um den armen jungen Menſchen. Die Krankheit hatte ſich, wie das öfters geſchieht, ganz unbemerkt entwickelt und zwar an einer Stelle des Halſes, wo eine Operation ſehr ſchwierig war. In letzter Nacht war plötzlich Schüttel- froſt und Fieber eingetreten, und da erſt war man der Gefahr inne geworden.

Och wollte den armen Eltern nicht alle Hoffnung rauben, vielleicht aber las mir der Bauer doch meine wirkliche Meinung aus den Augen. Ich operierte ſofort und wartete felbft ein paar Stunden am Bette die Wirkung der Operation ab, die leicht hätte den ſofortigen Tod herbeiführen können. Endlich mußte ich an den Heimweg denken. Als ich mich von dem Vater verabſchieden wollte, merkte ich erft, daß er das Zimmer verlaſſen hatte. Man ſuchte ihn ver- gebens durch das ganze Haus und in der Nachbarſchaft. Mir ward bange. Es hatte etwas in den ſtarren Zügen feines Geſichts gelegen, das mich ängftigte und auf den Gedanken brachte, der Unglüdliche könne fih ein Leid angetan haben. Der Sohn, der hier mit dem Tode rang, war ſein Einziger, ſein Stolz und ſeine Hoffnung, der Erbe ſeines Namens, die Stütze ſeines Alters. Nun war die Frucht jahrelangen Fleißes dahin, ſein Wohlſtand vernichtet und der Sohn ging auch, um den allein es ſich noch zu leben gelohnt hätte. Wie nahe lag es, an eine Tat der Verzweiflung zu glauben.

Meine Unruhe hatte mich auf den Hof hinaus getrieben, wo man bereits zehnmal jeden Winkel durchſucht hatte. Da, ich weiß auch nicht, wie ich dazu kam, öffnete ich die niedrige Sür eines Verſchlages am Schafſtall, welcher zur Aufbewahrung des Futters für die Tiere beſtimmt war. Und dort im Dunkeln fab ich eine Geſtalt am Boden liegen, das Geſicht nach unten, den breiten Rüden, die Schultern ſich hebend und ſenkend, in wildem Schluchzen. Wie der zum Tode wunde Hirſch ſich im tiefſten Oickicht verbirgt, ſo dieſer Mann, der ſo kalt und gleichgültig erſchienen war. Hier in dem vergeſſenen Winkel hatte er feinem Jammer Luft gemacht. l

Ich wollte, tieferſchüttert, die Tür wieder ſchließen, mich ſtill zurückziehen, allein das einfallende Licht hatte ihn ſchon aufgeſchreckt; er wandte den Kopf und bemerkte mich. Mit faſt übermenſchlicher Selbſtbeherrſchung faßte er fih gleich und richtete ſich auf. Ich druckte ihm in tiefem Mitleid die Hand. ‚Gottes Wille geſchehe“, ſagte er feierlich und ich fühlte, daß es ihm heiliger Ernſt ſei mit ſeinem Worte. Er hatte ſich in ſein Schickſal ergeben. Ich

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hätte niederknien mögen vor dieſem Mann, ſo groß, ſo verehrungswürdig BE er r mir Dieſe Kraft der Ergebung in den Willen des Höchſten, dieſe Gemütstiefe und Selbſtbeher Mon ing find Charakterzüge des ruſſiſchen Volkes, die ich oft zu bewundern Gelegenheit hai 2 „Und der Sohn?“ fragte ich, „mußte er wirklich ſterben?“ „Nein,“ daes Mari, „wider alles menſchliche Ermeſſen ſtarb er nicht. Zehn Tage lang rang er mit dem Tod 8 ;tä g lich fuhr oder ritt ich zu ihm, mit der Furcht ihn verſtorben zu finden. Es war ein fd chwere Kampf, den er zu kämpfen hatte, aber das Leben ſiegte. Seine ſtarke, geſunde Na ur ward 0 Herr über die Blutvergiftung.“

„Gott ſei Dank!“ rief ich erleichtert. „Wie unendlich dankbar müſſen die eu e Sf hne 1

geweſen fein! Sie waren es doch, die den Kranken retteten.“

„Es hängt wohl mit feiner tiefen Religioſität zuſammen, daß der Ruffe auch für de Gute, das ihm geſchieht, lieber Gott als den Menſchen dankt“, meinte Maria. „Dielleie cht: wird ihm auch nur der Ausdruck des Dantes ſchwer. Was fragte ich aber auch nach Dank i t einen ſolchen Fall, wo ich mich ſelbſt über die Geneſung des jungen Mannes freute, a = mein naher Verwandter geweſen wäre.“

„Und doch,“ fuhr ſie nach einer Weile fort, „einmal habe ich Dank empfang gen; e s war nur ein kurzes Wort, ein Blick, aber ein Blick, der mir in die innerſte Seele dran ng u ind mich glücklich machte, ein Blick, der mich für alle Mühe meines Berufes reichlich entſch chäd igte. kam ein Menſch zu mir, ein armer Geſelle, mit einer Wunde am Bein, die durch De ernachlé ft gung in einen ſchrecklichen Zuſtand geraten war. Ich ſpare Ihnen die Schilderung d s g grauer haften Anblicks und Geruchs; der freundloſe Landſtreicher war unter dieſen! B. erh thältniffer wie ein Hund von den Schwellen der Bauern gejagt worden. Ich ließ ihm in der Scheune eir Lager herrichten und unterſuchte die Wunde, die vor allen Dingen gereinigt wer d en mußt Ich kniete nieder und wufc fie. Da blickte der Mann mich mit ſchier erſchrockene 3 Augen und fagte: „Das tuft du?“ Als ich ihn nach Wochen geneſen entließ, und ihm ı mit freun lichem Wort die Hand reichte, da fand auch er kein Wort des Dantes, aber et 5 ni an mit ſolcher grenzenloſen Hingebung und Verehrung, daß ich mich beſchän tfernt Und als ich die Haustür öffnend, mich noch einmal umſchaute, ſtand er nech Pe Ji am Scheunentor und ſtarrte mir nach wie einer himmliſchen Erſcheinung. Wer n Sie einmal auf meinem Gut beſuchen, werden Sie bemerken, daß ich mich über ein en Mang an Dankbarkeit nicht zu beklagen habe“, fuhr Maria Alexandrowna lachelnd fe ort. „Ru

nimmt auch dieſe bei uns ein wenig andere Formen an als im übrigen ropa. 195 Volk ift noch fo unwiſſend, fo in religibſem Wahn aller Art befangen, daß ihm! . te liche Dinge übernatürlich erſcheinen. Es hat mir zeitweiſe ſchwere Sorgen gem St, baf ic

wie eine Heilige verehrt und meine Kuren für Wunder angeſehen wurden. och n nupi te mit dem Popen unſeres Kirchſpiels in Verbindung ſetzen, um den Frauen re n Sedanter einigermaßen auszutreiben. Und noch in anderen ſeltſamen Erſcheinungen ge le n fig Leute. Sie haben unendliche Ehrfurcht vor etwas ‚Geſchriebenem“ und find übe zeugt einer ſchriftlichen Bitte eine Erfüllung gewährende Kraft inne wohne. So war en ft eine fe ſeh ſchlimme Epidemie der ſibiriſchen Peſt in einem benachbarten Dorfe ausgebrochen eine fe ſchlimme, daß die Regierung endlich Maßregeln zu ihrer Bekämpfung ergreifen mußte. Unt anderem ließ man ſchleunigſt zwei Arzte aus Petersburg kommen, die in einem Bo uernhaut deſſen Einwohner geſtorben waren, ein Lazarett einrichteten. Wäre man nur in er J: Wahl d Herren glücklicher geweſen! Doch Mißgriffe mögen wohl unvermeidlich ſein. Der eine war ein Salonpflänzchen, das in die Bauernſtube paßte, wie die Fauſt aufs Auge, der nder ein ganz unwiſſender Menſch. Von der Krankheit, die ſie zu behandeln hatten, wußte E vom Hörenſagen, fie hatten noch nie einen Fall geſehen oder erlebt. Die hohen! äte e die Regierung zahlte, hatten ſie veranlaßt, ſich um den Auftrag zu bemühen, und irge nde ir einflußreichen Verbindung verdankten ſie ihre Wahl. Das erſte 2 daß ſie in tol er Furch

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Ruſſiſche Erinnerung | 389

vor Anſteckung und im Ekel vor der Krankheit ſich Drahtmasken vor die Geſichter banden, und Handſchuhe auf die Hände zogen. Als ſie endlich das Lazarett eingerichtet hatten, war es ihnen gelungen, ſich derart verhaßt und lächerlich zu machen, daß die Kranken nur mit äußer- ftem Widerſtreben fidh an fie wandten und bald gar nicht mehr dazu zu bewegen waren. Nach wie vor riefen ſie mich, die ich aber nicht imſtande war, allein alle die Arbeit zu leiſten, zumal die Entfernung zu jenem Dorf zu groß war. Nie aber habe ich heißer als in jenen Wochen gewünſcht, ein eigenes Krankenhaus auf meinem Gute erbauen zu können. Welch ein Segen hätte das fein können! Da ſtanden die Kranken morgens in Scharen vor meiner Tür und er- klärten, daß ſie bei mir bleiben, daß ſie nicht fortgehen würden, lieber wollten ſie hier im Freien auf der Erde ſterben, als ſich den Stadtdoktoren übergeben. Ich räumte meine Scheune aus, ſieben Leute fanden Platz; mehr Raum gab es nicht und weit und breit war nicht ein Gelaß vorhanden, wo ich die Kranken hätte unterbringen können.

Da überraſchte mich eines Tages eine meiner Mägde mit der Meldung, daß auf der Straße ein ganzer Zug von Wagen und Fußgängern nahte. Die Nachricht ſchien um fo un- glaublicher, als die Regierung die Wege für Fuhrwerk hatte abſperren laſſen, um den Krankheits- herd zu iſolieren und nicht durch möglicherweiſe kranke Pferde die Anſteckung weiter tragen zu laffen. Dennoch war es, wie mein Mädchen berichtete. Alle Männer des Dorfes erſchienen bei mir, um mir eine vom Popen verfaßte und in feierlicher Sitzung beſchloſſene Bittſchrift zu überreichen, in der ich unter Anrufung Gottes und aller Heiligen aufgefordert wurde, meinen Wohnſitz in ihrem Dorfe zu nehmen. Sie hatten die Schranken umgeriſſen und zerſtört, un- bekümmert um die Strafe, die auf Übertretung jenes Gebots ſtand. Triumphierend ſchlugen fie alle meine Einwände und fogar Vorwürfe nieder, indem fie mir ihre Bittſchrift entgegen- hielten. Und gleich, ſofort, ſollte ich mitkommen. Es koſtete mich ſchwere Mühe, ihnen meine ablehnende Antwort klarzumachen. Wenn ich ihnen ſagte, daß ich auch gegen mein eigenes Anweſen, gegen meine Söhne, die gerade in den Ferien bei mir weilten, Pflichten hätte, hielten fie mir ihre Bittfchrift entgegen. Es ſtände ja da auf dem Papier, daß ich mitkommen müſſe. In Rußland hat das geſchriebene Wort noch andere Bedeutung als in Oeutſchland! Die Arzte waren nach dieſen Vorgängen neugierig geworden und beehrten mich endlich mit ihrem Beſuch. Ich ſtellte mich ſo freundlich zu ihnen, wie es mir möglich war, und es gelang mir mit einigen Ratſchlägen und Winken den Leidenden nützlich zu ſein, ſo daß ihre Anweſenheit doch nicht ganz fruchtlos blieb. Nach drei Monaten erloſch die Epidemie allmählich, und die Herren ver- ſchwanden wieder, glückſelig, dieſem Bauernvolk entronnen zu ſein.“

Es fiel mir auf, daß die vortreffliche Frau nicht mit mehr Freude auf ihre Tätigkeit blickte. Zwar verſtand ich, daß ein Leben, wie ſie es geführt, andere Naturen bilden müſſe, als die es find, welche im Sonnenſchein glücklicher Verhältniſſe ihres Daſeins froh werden. Allein, daß ſie faſt nur Trauriges zu erzählen hatte, ſchien mir doch nicht ganz gerechtfertigt.

Kaum jemals hatte ich ſie lachen ſehen. Sie war ſelbſt wie ihre Geſchichte; auch mein Lachen verſtummte in ihrer Nähe. Ihr Weſen legte fih oft wie ein Druck mir auf die Seele.

Sie ſelbſt empfand das zuweilen und ſprach es aus. „Sie ſind die Geſunde neben mir, der Kranken“, meinte ſie, und ſie ſenkte die Stimme, damit der helle Ton mich nicht verletze. „O bitte, ſprechen und lachen Sie nur, wie es Ihnen ums Herz iſt. Ich höre Ihnen ſo gern zu.“ „Es iſt, als ſtaunten Sie, daß man lachen könne!“ „Ja, trotzdem freue ich mich deß. Wir Ruffen find alle krank, wir haben das Lachen verlernt, und ich bildete mir ein, die alternde Welt hätte das überall verlernt. Nun ſehe ich, daß es in Oeutſchland noch glückliche Menſchen gibt.“ „Glücklich?“ erwiderte ich, „was wiſſen Sie von meinem Glück oder Anglück?“ Sie lächelte überlegen. „Wer noch fo gläubig und vertrauensvoll in die Welt ſchaut, der ift glücklich.“ Ich bat um nähere Erklärung. „Sie glauben noch an das Gute in der Welt und haben das Talent, es überall zu entdecken. Sie vertrauen den Menſchen und find überzeugt, überall welche zu finden, die Ihr Vertrauen rechtfertigen.“ „Gott ſei Dank ja!“ rief ich, „ich möchte

590 Das Finale bes Weltkrieges

nicht leben ohne Glauben und Vertrauen.“ „Einſt dachte ich wie Sie. Das Leben hat mir die Augen geöffnet.“ „Sie gerade in dem Bewußtſein Ihrer Nützlichkeit müßten glücklich fein.“ „Wie weit bleibt das Können hinter dem Wollen zurück“, meinte fie ſchwermütig lächelnd. „Das iſt Menſchenlos.“ „Damit tröſten Sie ſich. Ich kann das nicht. Nun quält mich meine Pflichtvergeſſenheit, daß ich hier weile, nicht daheim, wo ich ſo nötig bin.“ „Sie haben mir ja ſelbſt erzählt, daß Sie dringender Familienangelegenheiten wegen ins Ausland gehen mußten. Genießen Sie doch nun die kurze Freiheit und ſammeln Sie recht viele Freuden ein, damit Sie reich an ſchönen Erinnerungen heimkehren in Ihre Einſamkeit.“ | -

Ich merkte wohl, daß ich fie nicht überzeugt hatte. Aber ich tat das Meinige, um ihr neue Intereſſengebiete zu erſchließen. Zum Beiſpiel hatte fie gar keine Kenntniſſe von Kunſt- geſchichte und kaum Intereſſe für Kunſt. So blieb fie völlig kalt, wenn ich ihr die ſchönſten Gemälde des Louvre nahezubringen verſuchte. Da fie Talent für Muſik hatte, begriff ich das nicht. Sie antwortete mit einem leidenſchaftlichen Erguß, daß ſie die Kunſt von ſich ſtieße, da ſie durch ſie ihrer wahren Aufgabe abtrünnig werden könne. Als ich ihr entgegnete, daß alles, was unſere Bildung, unſer Verſtändnis erweitere und vertiefe, nur ein Gewinn für uns ſein könne, lehnte ſie das für ſich ſelbſt ab, für mich möge es paſſen. „Wiſſen Sie, wie mich in meiner Einöde die Sehnſucht nach Muſik faſt verzehrt hat? Ich vermied ſchließlich, das Klavier nur anzuſchlagen, um mich zu heilen. Ich habe keine Zeit für die Kunſt, und es macht mich krank, ihrer nur zu gedenken.“

„Ihr habt eine unglückliche Natur, Ihr Ruſſen“, ſagte ich kleinlaut. und doch hatte ich das Gefühl, daß Maria ihre trübe Lebensauffaſſung weit höher ſchätzte, als den ungebrochenen Mut, den fie uns Oeutſchen nachrühmte. Sie überließ fih nicht unmittelbar ihrer Empfindung und das glaubte ich an vielen Ruffen zu bemerken —, fondem ſie reflektierte über alles und kritiſierte es und das ſchien mir der Grund der Krankheit, von der fie ſprach. Die hochgebildete, bedeutende Frau war nicht imſtande, jih ſelbſtvergeſſend einem Genuſſe hinzugeben. Sie ſtellte an alles die höchſten Anforderungen, und die Wirk- lichkeit entſprach denſelben niemals.

War dieſe Richtung ein Erbteil ihrer Raſſe? Oder waren es ihr Studium und ihre Berufstätigkeit, welche diefe Seiten ihres Weſens fo ſtark entwickelt hatten? Daß die Leiden- ſchaft des Fühlens durch eine ſtarke Ausbildung des Verſtandes nicht geſchädigt ward, bewies mir das Wiederſehen mit ihrem Sohn, deſſen Zeuge ich war. Die Macht des Gemüts, die ſich mir hier offenbarte, überraſchte mich faſt. Sie war ganz Mutter, ganz Hingabe, und ein Lächeln verklärte ihr ſchönes Geſicht, das ich früher nie an ihr geſehen.

Katharina Zitelmann Das Finale des Weltkrieges

ie noch immer wachſende Zahl kritiſcher Betrachtungen über den Weltkrieg beweiſt das zunehmende Intereffe weiter Volkskreiſe an den militäriſchen Ereigniſſen dieſes J gewaltigſten aller Kriege. Sie bieten nicht nur Fachleuten Intereſſe. Insbeſondere die Frage, ob und wie der Krieg noch zu einem guten Ende zu führen war und ob und in— wieweit Fehler und Verſäumniſſe der militäriſchen Führung zu dem unglücklichen Ausgang mit beigetragen haben, findet allſeitige Anteilnahme.

In verſchiedenen Zeitſchriften iſt neuerdings ein heftiger Kampf entbrannt, ob die Art und Weiſe, wie unfer Generalſtab den Krieg geführt hat, richtig war oder nicht. Ein Haupt- rufer im Streite iſt hiebei der bekannte Kriegshiſtoriker Hans Delbrück. Die Schlagworte

Das Finale des Weltkrieges 391

Ermattungsſtrategie und Niederwerfungsſtrategie ſpielen dabei eine große Rolle. Delbrück ift leidenſchaftlicher Verfechter der erſteren und beruft fih hiebei auf den großen Preußenkönig Friedrich II. Oer deutſche Generalſtab als treuer Sachwalter des geiſtigen Erbes ſeines großen Lehrmeiſters Schlieffen ſteht auf dem Standpunkt der Vernichtungsſtrategie. Nur Falkenhayn gilt in gewiſſem Umfang als Vertreter der Ermattungsſtrategie und findet daher in Delbrüds Augen Gnade, während Ludendorff als typiſcher Vertreter der Vernichtungsſtrategie von ihm ſchärfſtens bekämpft und verurteilt wird. So findet denn der Streit der Meinungen ſeinen Ausdruck in dem Schlachtruf: Hie Falkenhayn hie Hindenburg-Ludendorff! Die militärifche Fachkritik, ſoweit ihr irgendwelche Bedeutung zukommt, ſteht hiebei faſt einhellig auf Seite Ludendorffs und lehnt die von Delbrüd gegen Ludendorff erhobenen ſchweren Vorwürfe nach- druͤcklichſt ab. Beſonders ſchlagend und treffend wird Oelbruͤck von Oberſtleutnant Szezepanski im Maiheft von „Deutſchlands Erneuerung“ abgefertigt. Auch Major Eggert beweift im Grenzboten Nr. 20/21 die Unhaltbarkeit Oelbrückſcher Auffaſſung. Profeſſor Delbrüd hat ſich zwar um die kriegsgeſchichtliche Forſchung große Verdienſte erworben und beſitzt auf dieſem Gebiete auch ein großes Wiſſen. Von Strategie hat er aber offenbar keine Ahnung. Wäre der Krieg auf deutſcher Seite nach ſeinen höchſt ſonderbaren Vorſchlägen geführt worden, fo wäre er unzweifelhaft mit Sicherheit verloren worden, während bei dem Verfahren nach dem „Rezept des toten Schlieffen“ wenigſtens die Möglichkeit beſtand, ihn ſiegreich zu be- enden. Wie nahe wir tatfächlih mehrmals dem Endſieg geweſen find, beweiſen die inzwiſchen bekannt gewordenen Außerungen unſerer Feinde. Das außerordentlich leſenswerte Buch des Generals v. Kuhl, „Franzöſiſch-engliſche Kritik des Weltkrieges“ (Berlin, Mittler & Sohn, 1921, 10 4) gibt hierüber bemerkenswerte Aufſchlüſſe. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß bei der leidenſchaftlichen Polemik Delbrüds gegen Ludendorff zum guten Teil politiſche Gründe mitſprechen. Delbrück will als Parteipolitiker den verhaßten Mann unmöglich machen.

Unter den Wilitärſchriftſtellern über den Weltkrieg find in erſter Linie zu nennen Oberft- leutnant Foerſter, General v. Kuhl und General v. Zwehl. Die Schriften dieſer Männer ge- hören unſtreitig zu dem Beſten, was auf dieſem Gebiete geſchrieben worden iſt. Sie bieten dem gebildeten Militär Stunden ungetrübten Genuſſes; aber auch kein Laie, der ſich über die kriegeriſchen Ereigniſſe raſch und gut informieren und ein Urteil bilden will, wird es bereuen, ſie zur Hand zu nehmen. Infolge ihrer klaren Ausdrucksweiſe ſind ſie auch dem Nichtmilitär leicht verſtändlich. Zuerſt ſei genannt der III. Teil von Foerſters „Graf Schlieffen und der Weltkrieg“ (Berlin, Mittler & Sohn, 1921, 20 4), ein ausgezeichnetes Buch von be- ſtimmtem Urteil und klarſter Auffaſſung. Es behandelt Verdun 1916, den Feldherrn Ludendorff und die große Schlacht in Frankreich vom 21. März bis 4. April 1918. Auf die beiden erſten Teile dieſes trefflichen Werkes habe ich bereits früher empfehlend hingewieſen (Zürmer 1921, S. 98). Die nun vorliegenden drei Teile bilden ein abgeſchloſſenes Ganze. Sie bieten einen zuſammengefaßten Überblick über die Operationen des Weltkrieges und eine meiſterhafte Unterſuchung darüber, inwieweit diefe im Sinne und Geiſte Schlieffens geführt worden find. Man wird den kritiſchen Betrachtungen des Verfaſſers meiſt zuſtimmen können. Die Be- urteilung Ludendorffs iſt vielleicht etwas zu wohlwollend. Denn auch dieſer zweifellos be- deutende Feldherr iſt nicht frei von Fehlern geweſen. Das Buch Foerſters ſchließt mit dem April 1918 ab. N |

Über die fpäter folgenden kritiſchen Tage vom Juli und Auguft 1918 unterrichtet am beſten die Schrift des Generals v. Zwehl: „Die Schlachten im Sommer 1918 an der »Weſtfront“ (Berlin 1921, Mittler & Sohn, 6,50 M), die auch eine feffelnde kritiſche Würdigung des Marſchalls Foch als Feldherrn enthält. Sehr intereffante Beurteilungen der franzöſiſchen und engliſchen Heerführer im Weltkriege aus der Feder des Generals v. Kuhl finden ſich in den Nummern 6, 9, 12 und 15 des Oeutſchen Offizierblatts. Am beſten ſchneidet hiebei noch

392 | | Das Finale des Weltkrieges

Marſchall Joffre ab. Wenn auch fein erſter Aufmarſch und Operationsplan gänzlich verfehlt war, ſo hat er ſich doch bei der Marneſchlacht gut aus der Affäre gezogen und der damals ũber alle Maßen jämmerlichen deutſchen Oberſten Heeresleitung entſchieden überlegen gezeigt. Marſchall Foch, zweifellos ein tüchtiger General, hat keine Gelegenheit gehabt, im Weltkrieg ſeine ſtrategiſche Befähigung zu erweiſen. Eines darf er aber, wie Foerſter ſagt, für ſich in Anſpruch nehmen: „Er iſt der Retter ſeines Volkes und der Verbandsmächte geworden durch unbeugſame Tatkraft und eiſenharten Willen. Darin ſteht er Ludendorff nicht nach.“ Daß er darob bei ſeinem Volke vergöttert wird, kann bei der Überſchwenglichkeit der Franzoſen nicht wundernehmen. Eine von einem anonymen Kriegsakademiker verfaßte Studie: „Foch, Essai de Psychologie Militaire (Payot, Paris 1921, 6 Fr.), verdient lediglich als Ausdruck dieſer Geiftesverfaffung der Franzoſen Beachtung. Im übrigen ift fie eine abgeſchmackte Lob- hudelei und militäriſch wertlos. Einzelne Anekdoten und Einzelzüge aus dem Leben Fochs werden vielleicht intereſſieren.

Die Schriften des franzöſiſchen Generals Buat ſind dagegen durchaus ernſt zu nehmen und zeichnen ſich durch Sachlichkeit und ein gewiſſes Streben nach Objektivität aus. Überall wird letztere allerdings nicht erreicht. Beſchämend für unſer verhetztes Volk iſt, daß der fran- zöſiſche General den gewaltigen Leiſtungen und Verdienſten unſerer Heerführer und des alten Heeres beſſer gerecht wird als manche Volksgenoſſen. Das neueſte Werk des Generals iſt be— titelt: „Die deutſche Armee im Weltkriege“ (Wieland-Verlag, München 1921, 10 ). Nur 79 Seiten ſtark, enthält es nicht das, was mancher fih auf Grund des Titels vielleicht erwartet haben mag, iſt aber gleichwohl leſenswert. Denn es enthält intereſſante Angaben über die beiderſeitigen Kräfteverhältniſſe während des Krieges und überſichtliche Zuſammen— ſtellungen der Truppenverſchiebungen von einem Kriegsſchauplatz zum andern. Staunen muß man hiebei, wie gut der franzöſiſche Generalſtab andauernd hierüber unterrichtet war, noch mehr über die gewaltigen Leiſtungen der Eiſenbahnen im Kriege. Neben dem Stellungskrieg und der Materialſchlacht iſt dieſe ausgedehnte, ungeahnte Ausnutzung der Eiſenbahnen zu operativen Zwecken eines der hervorſtechendſten neuen Momente, die der Weltkrieg in die Kriegführung gebracht hat. Ihre virtuoſe Ausnutzung auf deutſcher Seite war über jedes Lob erhaben und wird auch von dem franzöſiſchen General voll anerkannt. Von 240 deutſchen Diviſionen haben 115 an dieſen Verſchiebungen auf der inneren Linie teilgenommen. Mit

Schmerz und Empörung muß man dagegen von Buat hören, daß die Deutſchen, bei ent⸗ .

ſprechender Anſpannung ihrer Volkskraft vor dem Kriege, mit 600 000 Mann mehr 1914 in den Krieg hätten eintreten können. Damit wäre, wie auch Buat zugibt, den Oeutſchen der Sieg in der Marneſchlacht ſicher geweſen. Was dies bedeutet hätte, habe ich in meinen „Stra- tegiſchen Ruͤckblicken“ bereits früher erörtert (Türmer S. 98). Fürwahr, rückblickend eine furcht- bare Verantwortung für jene, die in unglaublicher Kurzſichtigkeit aus parteipolitiſchen Rück— ſichten oder kleinlichen finanziellen Bedenken dem Reiche ſeinerzeit verweigert haben, was es zu feiner Rüſtung bedurfte, aber auch für jene ſchwächlichen Staatsmänner und den un- fähigen Kriegsminiſter v. Heeringen, die dieſen Einflüſſen nur allzu willig nachgaben!

Zum Schluß fei noch auf den zweiten Band der „Heerführung im Weltkrieg“ des Altmeiſters der Kriegsgeſchichte, General Freiherr v. Freytag-Loringhoven (Berlin 1921, Mittler & Sohn, 25 M) hingewieſen. In feſſelnder Weiſe werden Vergleiche mit früheren Kriegen gezogen und hieran in geiſtvoller Weiſe die verſchiedenen Probleme der Kriegführung erörtert. Um das Buch mit Genuß zu leſen, iſt ein nicht unbeträchtliches kriegsgeſchichtliches Wiſſen erforderlich. Wer eine eingehende Beſprechung der Ereigniſſe des Weltkrieges erwartet, wird ſich enttäuſcht ſehen. Sie werden vielfach nur kurſoriſch geſtreift. Eine kritiſche Beurteilung der deutſchen Maßnahmen im Weltkriege findet fidh erft im letzten Abſchnitt'des Buches und iſt der vornehmen Denkungsart des Generals entſprechend äußerſt maßvoll und zurückhaltend geſchrieben. Gleichwohl kommt auch General v. Freytag nicht darüber hinweg, die deutſche

Das Finale des Weltkrieges 393

Oberſte Heeresleitung zu Beginn des Krieges und den Angriff auf Verdun zu verurteilen. Bezüglich Verduns ſagt auch Foerſter: „Verdun konnte nur ſchnell fallen, oder es fiel nie“. Dem kann man nur zuſtimmen.

Die Ereigniſſe des Weltkrieges ſchälen ſich auf Grund der neueſten Veröffentlichungen mit immer größerer Klarheit heraus. Man erkennt deutlich zwei Höhepunkte: Die Marne- ſchlacht und die deutſche Weſtoffenſive 1918. Was dazwiſchen liegt, ift nur Zwiſchen⸗ ſpiel, das dazu dient, die letzte große Kriegsentſcheidung vorzubereiten.

Das Arteil über die Marneſchlacht kann ſo ziemlich als abgeſchloſſen gelten. Auch das neueſte, ausgezeichnete Buch des Generals Baumgarten Cruſius: „Deutſche Heerführung im Marnefeldzuge 1914“ (Berlin 1921, Auguft Scherl, 20 ) ändert hieran nichts mehr. Ich habe dem früher Geſagten (Türmer S. 99) daher nichts hinzuzufügen. Ebenſo ift ſich die militäriſche Kritik über Verdun und die wenig glückliche Heerführung Falkenhayns ziemlich

einig. Oberſtleutnant v. Szezepanski urteilt hierüber wie folgt: „Bei Falkenhayn ſehen wir

nur ein ſtrategiſches Umhertaſten auf der inneren Linie, ein Beginnen und Aufgeben, eine ſprunghafte, von Teilerfolgen lebende Kriegführung ohne feſte kriegeriſche Ziele. Er hat eben das Mögliche nicht gewollt. Den ihm fehlenden, ja von ihm geradezu gefürchteten Siegeswillen brachte Ludendorff mit, als er neben Hindenburg an die Spitze der Oberſten Heeresleitung trat.“

Diefer unbeugſame Siegeswillen iſt für jeden Feldherrn unerläßlich, der Großes an; ſtrebt. Er gehört mit zum Beſten an Ludendorff. Über feine Strategie zu Kriegsende find dagegen die Meinungen geteilt. Ich habe in meinen „Strategiſchen Rüdbliden“ (S. 103) bereits darauf hingewieſen, daß man mit einem abſchließenden Urteil vorerſt noch zurückhalten müffe. Auf Grund der neueſten Veröffentlichung Foerſters, der ſich im allgemeinen zum Verteidiger Ludendorffſcher Strategie 1918 aufwirft, wird man das über die gewählte Au- griffsrichtung gefällte herbe Urteil etwas mildern müſſen. Auch General v. Freytag hält die im März 1918 gewählte Angriffsrichtung für die befte. Gleichwohl hat mich auch Foerſter nicht ganz zu überzeugen vermocht; auch er hat an der Frühjahrsoffenſive 1918 verſchiedenes auszuſetzen, wenngleich dies in ſehr milder Form geſchieht. Um zu dem gewünſchten Endſieg zu kommen, mußte man 1918 möglichſt frühzeitig und überraſchend angreifen und den errungenen taktiſchen Sieg möͤglichſt raſch zu einem ſtrategiſchen Erfolg auszugeſtalten ſuchen. Dieſe Vorausſetzungen ſeien nur bei der gewählten Angriffsrichtung auf Amiens gegeben geweſen. Weiter nördlich auf Hazebrouck— St. Pol feien infolge des Geländes die taktiſchen Schwierigkeiten ſo groß geweſen, daß auf den unbedingt nötigen ſchnellen Anfangserfolg nicht zu rechnen war. General Buat beſtreitet dies. Die Führung eines dem Hauptangriff voran- gehenden Ablenkungsangriffes in Schlieffenſchem Geiſte fei infolge Kräftemangels nicht möglich geweſen. Tatſächlich hatten aber die Deutſchen im Frühjahr 1918 194 Oiviſionen gegen 167 Oiviſionen der Verbandsmächte verſammelt. Das Übergewicht war alfo zu Beginn auf deutſcher Seite. Der vielfach gegen Ludendorff erhobene Vorwurf, daß er nicht alle Kräfte zur Hauptentſcheidung herangezogen habe, wird ſowohl von Kuhl wie auch von Buat ent- kräftet. Beide ſind der Meinung, daß aus dem Oſten keine weiteren brauchbaren Truppen mehr verfügbar gemacht werden konnten. Zwehl iſt allerdings der Meinung, daß „mangelnde Verſammlung unſerer Kräfte auf dem entſcheidenden Kriegstheater, die Jagd nach militäriſchen

Phantomen ein weſentlicher Faktor für unſer Unglück waren“.

Richtig war zweifellos, daß man 1918 in einer letzten großen Offenſive die Rriegs- entſcheidung ſuchte. Darüber beſteht in der militäriſchen Fachkritik bei Freund und Feind keine Meinungsverſchiedenheit. Ob die gewählte Angriffsrichtung auf Amiens richtig war, darüber kann man geteilter Meinung fein. Unzweifelhaft dagegen ſcheint mir, daß die Art der Durch- führung wenig gluͤcklich war und daß der Angriff, als deffen Ausſichtsloſigkeit fich immer mehr herausſtellte, nicht rechtzeitig abgebrochen worden ift. Beides muß auch Foerſter zugeben. Als

man mit der 17., 2. und 18. Armee exzentriſch nach allen Seiten wie mit den . Fingern Der Türmer XXIII. 12

394 l Das Finale des Weltkrieges

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der Hand in Richtung St. Pol Amiens —Compiegne vorſtieß, wiederholte man den Fehler, den die Sſterreicher 1914 in Galizien gemacht hatten. Auf diefe Weiſe konnte man kaum hoffen, zum entſcheidenden Endſieg zu kommen. Man wollte zuviel auf einmal und erreichte dadurch nichts. Man konnte nicht gleichzeitig die Engländer aus den Angeln heben und die Franzoſen aufrollen. Beſchränkung auf ein klares Ziel wäre beffer geweſen. Der urſprüngliche Gedanke, die Engländer aus den Angeln zu heben und zu zertrümmern, war ——— zweifellos gut und rich- una N, | Bi- a tig. Die Hauptrolle war Ze A hierbei der 17. Armee Mg Ñ zugedacht. Dieſe Armee

e, N Ipern a 2 war von einem unſerer e Mesut MEg 7 beſten Armeeführer, : dem General Otto von Below, befehligt, dem einer unſerer tuͤchtigſten Generalſtabschefs, der General Krafft v. Dell- menſingen, beigegeben war. Warum hat dieſe Armee die ihr geſtellte Aufgabe nicht gelöſt?

Abbeville e J en, Abert 5 Combles

AMIENS

5 Aus welchen Gründen S “Marle e hat ſie und teilweife , auch die 2. Armee bei fethe den entſcheidenden An-

griffen im März 1918 verſagt, nachdem doch das Übergewicht der Zahl bei uns und alles bis aufs kleinſte vorbe- reitet war? Auch Foer- fter ſchweigt fih hier- Moarmirail | wo über aus. Die Urſachen unſeres Mißerfolges in der Marneſchlacht wif- Aus „Foerſter, Graf Schlleffen und der Welterleg fen wir heute. Weshalb

(Verlag von E. S. Mittler & Sohn in Berlin) uns aber in der März-

offenſive 1918 der er—

hoffte durchſchlagende Erfolg verſagt geblieben, iſt noch nicht genügend aufgeklärt. Und doch

liegt hierin der Schlüſſel zum Verſtändnis unſeres ſchließlichen militäriſchen Zuſammenbruchs. Wie im November 1914 bei Bpern und im Sommer 1916 bei Verdun viel zu lange

der vergebliche Verſuch gemacht worden war, doch noch die Entſcheidung zu erzwingen, ſo

auch 1918 bei Amiens. Das Erkennen des richtigen Zeitpunktes für den Abbruch der Schlacht

war freilich ſchwierig. Auch war das Ziel Amiens ſchon eines letzten hohen Kräfteeinſatzes

wert. Denn der Verluſt von Amiens bedeutete für unſere Feinde den Verluſt des

Krieges. Nach der freiwilligen Einſtellung der Operation auf Amiens mußte nunmehr an

anderer Stelle der Front ſo bald als möglich eine neue entſcheidungſuchende Offen—

Deutfche und ameritaniſche Erziehung 395

five unternommen werden. Dies ift denn auch Anfang April bei Lille und Ypern geſchehen. Doch auch ihr ift der entſcheidende Endſieg verſagt geblieben, denn die Kräfte zur Verwirk⸗ lichung des Schlieffenſchen Gedankens (Vernichtung des Feindes) waren nicht vorhanden. In den folgenden Monaten und bei den folgenden weiteren Angriffen verſchlechterte ſich das beiderſeitige Kräfteverhältnis infolge der amerikaniſchen Hilfe für die Deutſchen immer mehr. Was uns ſchließlich den militäriſchen Endſieg verſagt hat, war, wie auch Buat hervor- hebt, der eintretende Mangel an ausreichend ſtarken, frei verfügbaren Führungs- reſerven. Wenn Ludendorff in unbeugſamer Energie und in ungebrochenem Siegeswillen gleichwohl den Kampf nicht aufgegeben hat, ſo darf er darob nicht allzu ſehr getadelt werden, denn auch für ihn gilt Treitſchkes Wort über Gambetta: „Für die Rettung des Vaterlandes das Unmögliche verſuchen, bleibt immer groß!“ Die Kriegsgeſchichte aller Zeiten lehrt, daß der Vernichtungswille des Gegners nur durch ſeine Niederwerfung gebrochen werden kann. Ich ſchließe mit den treffenden Worten Foerſters: „Nicht Schlieffens großer Gedanke hat im Weltkriege verſagt. Er ift zu Beginn nur unzulänglich in die Tat umgeſetzt worden, war dann lange Zeit gänzlich aufgegeben und wurde nach ſeiner ſpäteren Wiedergeburt unter unendlich gefteigerten Schwierigkeiten feiner Vollendung nahe gebracht. Ihn voll zu ver- wirklichen, iſt der operativen Form aus Kräftemangel auch dann nicht mehr gelungen.“

| Franz Freiherr von Berchem

Deutſ che und amerikaniſche Erziehung

er Grundgedanke der deutſchen und amerikaniſchen Erziehung iſt ſo verſchieden

wie der Charakter der beiden Völker. Im Oeutſchen heißt er: du ſollſt; im

AAmerikaniſchen: ich will. Der Oeutſche wird zur Pflichterfüllung erzogen. Der Amerikaner lernt ſeinen Willen entwickeln und richten. Selbſtverſtändlich geraten dieſe Linien häufig nahe aneinander, ja laufen ſtreckenweiſe ineinander, verwiſchen ſich wohl auch be- trächtlich. Im ganzen bleiben fie dennoch klar unterſchieden. Dem Amerikaner ift dieſer Leit- gedanke feiner Jugendbildung als unüberbrüdlicher Gegenſatz zur „alten Welt“ bewußt. Er fühlt ſich als den wahrhaft ſelbſtändigen, den Europäer als den ſtets abhängig bleibenden Menſchen. Hie Freiheit hie Knechttum. Als den Tiefpunkt des ihm entgegengeſetzten Weſens hat er (durch die ſtändige, ſchon lange vor dem Krieg einſetzende Propaganda) die deutſche Autokratie, die deutſche Sklaverei anſehen gelernt. Der geſchickt zur rechten Zeit geſäte Samen konnte dann durch die Kriegshetze zur furchtbaren Saat aufſchießen. Was war von einem Volk bei der Erziehung anders zu erwarten? Es gab maſſenweiſe Artikel mit Be- weiſen von der Gräßlichkeit der deutſchen Jugendbildung in der amerikaniſchen Preſſe. So- gar unſre armen lieben Märchen mußten herhalten, und das Aufwachſen mit Geſchichten von Ritter Blaubart, dem Unhold im kleinen Däumling und ähnlichen menſchenmordenden Un- geheuern wurde zur Quelle deutſchen Blutdurſtes und deutſcher Weltbedrohung.

Dieſe Übertreibungen einer kriegskranken Zeit werden wieder überwunden werden bis zu einem gewiſſen Grade. Eine Verſtärkung des Gegenſatzes wird bei der Volksmaſſe nach- bleiben. Von den manchen Einſichtigen, die ſachlich geblieben ſind und bleiben, reden wir nicht. Sie werden ſich von ſelbſt wieder mit zum Wort melden, wenn erſt die Möglichkeit dazu gegeben iſt.

Daß wir Deutſchen unſrerſeits uns dem amerikaniſchen Ideal überlegen fühlen, daß wir das oft mit ebenſo viel Verſtändnisloſigkeit und Unkenntnis tun wie die Gegenſeite, wird niemand leugnen. Wir haben die allgemeine, wenn auch vielſeitig abgetönte Auffaſſung, daß die amerikaniſche Erziehung zur Rüdfichtslofigkeit und Selbſtſucht führt und die Menſch⸗ beit nicht auf ihrem Wege zur Veredlung und Vergeiſtigung fördert.

596 , Oeutſche und ame rikaniſche Erziehung

Sjt es möglich, zwiſchen dem deutſchen und amerikaniſchen Standpunkt zu einer fad- lichen Einſchätzung beider verſchiedenen Grundſätze zu kommen? Wie ſieht es mit der An— wendung im Leben aus?

Amerika:

Johnny iſt 3 Jahre alt und hat keine Luft, mit der Mutter ſpazieren zu gehen.

Die Mutter: „O, Johnny, Liebling, willſt du gar nicht mit Mutter ausgehen?“

Johnny (beſtimmt): „Nein.“

Die Mutter: „Aber Johnny, es wäre fo gut für dich, in die friſche Luft zu kommen. Sieh doch, wie ſchoͤn die Sonne ſcheint!“

Johnny: „Ich mag nicht ausgehen.“

Die Mutter: „Du magſt nicht, Herzblatt? Willſt du Mutter dann ganz allein gehen laſſen?“

Johnny (beſtimmt und nervös): „Ja.“

„Johnny hatte heute keine Luft zum Spazierengehen“, bemerkt die Mutter ſpäterhin zu einer ihr begegnenden Freundin.

Deutſchland:

„Hans, komm raſch her! Wir wollen ausgehen!“

„Ach, Mutter, ich mag nicht, ich will hier lieber ſpielen.“

„Anfinn! Du kommſt ſchnell her und läßt dich anziehen. Du mußt an die Luft.“

Das geht noch vielleicht eine Weile weiter, ebenſo wie es in Amerika mit Zohnny noch weiterging, meiſtens bis zu Tränen auf einer, zuweilen auf beiden Seiten. Die eine Mutter ſucht dem Kind klar zu machen, daß es gehen muß, die andre, daß es den Willen hat, mitzu— gehen. Ob ſie nun Erfolg hat oder nicht, ob ſie ſchließlich Gewalt gebraucht oder nicht: die Kinder ſind in beiden Fällen und auf beiden Seiten nicht viel beſſer dran. Johnny wird nervös von dem ewigen Fragen, ob er nicht will. Er fühlt unbewußt die vorzeitige Verant— wortlichkeit, die darin liegt, daß er beſtändig ſelbſt wollen und entſcheiden ſoll. Es iſt ihm eine Laſt. Amerikaniſche Kinder ſind in bedenklichem Maße nervös überreizt. Hans dagegen empfindet es als etwas Unerträgliches, daß er „immerlos“ „muß“. Mehr oder weniger dunkel lehnt er ſich gegen das Joch auf. Er grollt und bockt. [Hier kann der „Türmer“ die Zwiſchen— bemerkung nicht unterdrücken, daß es in unſrer Erziehung zu Haufe Grollen, Boden oder längere Verhandlungen in ſolchen Fällen ſelten gab: Vater befahl und wir gehorchten, nicht indem wir uns „unterdrückt“ fühlten, ſondern kraft jenes magiichen Vertrauensverhält— niſſes, das Eltern und Kinder in geſunder Wechſelwirkung miteinander verbindet. D. T.]

Zwei Dornenwege zum gleichen Ziel. Denn das Müſſen und Wollen richtet fih doch letzten Endes auf denſelben Punkt: das Gute. Beide Wege könnten nun gleich richtig oder gleich falſch ſein, inſofern ſie nämlich beide das geſteckte Ziel erreichen, wenigſtens ſoweit es ſich erreichen läßt, oder nicht. Beide könnten auch inſoweit gleichwertig ſein, als ſie ungefähr gleichviele Schwierigkeiten und Schattenſeiten aufweiſen. Und das ſcheint mir nach jabre- langen, ernſten Studien im Vaterland, dann in Nordamerika, dann wieder im Vaterland zuzutreffen. Wenn ſich mir in der Neuen Welt immer noch die Wage zugunſten unſrer deutſchen Erziehung neigen wollte, fo wurde fie feit meiner Rückkehr in die Heimat feft und ſchwankt nicht mehr nach der einen noch der anderen Seite. Für beide Seiten aber wünſchte ich als Ideal eine Verſchmelzung der Ideen. Die Übel des einen Wegs könnten mit den Vorzügen des anderen behoben werden und umgekehrt. Womit ich nicht ſagen will, daß dieſe Einſicht neu wäre. Bewußt oder unbewußt ſind die allgemeinen Kräfte des Menſchengeiſtes dabei, auszugleichen, anzugliedern, damit die Menſchheitsentwicklung immer hübſch beieinander bleibt. Aber grade, weil das ſo iſt und ſein wird und muß, iſt es gut, daß wir uns möglichſt klar darüber ſind und möglichſt bewußt zum Wohl unſres Volkes mithelfen können. Das iſt beſonders notwendig auch im Angeſicht der unzähligen gewaltſamen und ungeſchickten Ver—

Oeulſche und ame rikaniſche Erziehung | 597

ſuche in unſerm ganzen deutſchen Erziehungsweſen, in Schule und Haus. Es iſt wie ein un-

geheures, ungewiſſes Wogen im deutſchen Leben überall. Etwas Neues ſoll es geben, etwas

unbedingt und durchaus Neues. Nun gerät das Ganze in eine bedenkliche ſchwere Schwan- kung nach der Gegenſeite alles Geweſenen. Da ſind Schulen und einzelne Lehrer, die das alte „Du ſollſt“ in ein „Ich mag“ oder „Ich mag nicht“ umkehren. Da ſind Mütter, die ihre Kinder amerikaniſcher anfaſſen, als die ausgeſprochenſte Amerikanerin. unberechenbare Schä- den entſtehen auf diefe Weiſe der Volksſeele, die wie verloren umherirrt. Sie kann ihr Innerſtes nicht einfach umdrehen, fie bleibt nun einmal deutſch, Gott fei Oant, deutſch. Und fie muß und wird alle die Auswüchſe wieder abſtoßen, damit ſie in ihrer ruhigen, tüchtigen Art ſich weiterentwickeln kann. N

Was der Amerikaner in Zukunft mit ſeinem Grundſatz „Ich will“ anfängt, geht uns

zwar febr viel an, läßt fih aber von uns wenig beeinfluſſen. Die Zeiten des deutſchen Ein- fluſſes in Nordamerika find vorläufig fo gründlich vorüber, als ſollten fie niemals wieder- kommen. Dieſes Wiederkommen hängt natürlich zumeiſt von uns ab. Jedes Volk muß auf die ganze Welt einen erziehlichen Einfluß haben, wenn es auch nur in irgendeinem wefent- lichen Punkt der Weltentwicklung voran iſt. Der Verluſt eines ſolchen Einfluſſes bedeutet allemal ein Zurückbleiben, einen Niedergang, wenn nicht beſondere Kriſen im Innern. Wenn der Amerikaner immer wieder von einer einſeitigen Durchführung feines Er- ziehungsgrundſatzes abweichen muß, um nicht gänzlich von einem Vorwärtskommen abgedrängt

zu werden, ſo haben wir Deutſchen noch ebenſo viel zu tun, um unſrerſeits das eigentliche

Ziel im Auge zu behalten. Schießt der Wille ins Kraut, ſo iſt er ebenſo unfruchtbar, als wenn er in ſeiner Entfaltung gehemmt wird. Die unheilvollen Folgen ſolcher Hemmung haben wir Deutſchen an unſerm jüngſten Zuſammenbruch erlebt. Mit Sollen und Müſſen ſind wir in einen Drill hineingeraten, in eine Überentwicklung gehetzt worden, bei der die innere Ge- ſundheit litt, der eigene Wille verkümmerte und von einer geiſtigen Selbſtändigkeit kaum mehr die Rede war. „Was wißt ihr Oeutſchen überhaupt noch anderes als Gehorchenmüſſen?“ hörten wir oft drüben in Amerika; noch vor dem Krieg. „In der Schule den Drill, zu Haufe vom Vater den Stock, im Beruf, im Militär wieder Drill man möchte wiſſen, wann der Deutſche einmal Menſch iſt!“ Als wir ſolche Ausſtellungen vor Jahren hörten, wollten wir

noch nicht viel davon wiſſen. Man nimmt ins Ausland zunächſt noch ſo viel von eigener Luft

und eigener Hülle mit, daß man gar nicht imſtande iſt, daraus durchzudringen, um wirklich an die andere Weſensart ſehend und fühlend heranzukommen. Später wird das dann mög- lich, wenn man ſich wahrhaft die Mühe dazu gibt. Dem Amerikaner wird dieſes Einfühlen in fremdes Weſen noch unendlich viel ſchwerer als uns Deutſchen, ja, man könnte oft denken, es wäre ihm überhaupt unmöglich. Der Weg vom „Du ſollſt“ ſcheint doch beträchtlich leichter dazu als vom „Ich will“. Wir haben das mit Staunen und Entſetzen an der Tatſache bewieſen geſehen, daß die allermeiſten Amerikaner, die in Deutſchland gelebt, ſtudiert, ſich vielleicht gar verheiratet hatten, dennoch ſo wenig vom innerſten deutſchen Weſen und Leben begriffen hatten, daß fie von 1914 an oder bald nachher deutſchfeindliche Stellung nahmen und die un- möglichſten Dinge des Lügenfeldzugs glaubten. Die Betonung des Grundſatzes „Ich will“ hat eben die große Gefahr in fih, das Ich-Gefühl derartig zu verſtärken, daß es nicht mehr von ſich ſelbſt abſehen und aus ſich herauskommen kann.

So ſehen wir immer wieder, daß die deutſche wie die amerikaniſche Erzie hungsidee ſich auf ihrer einfeitigen Bahn ſelbſt die größten Schwierigkeiten bereitet und nur durch gegen- ſeitige Abtönung und Durchdringung gewinnen könnte. ,

T Toni Harten-Hoencke *

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. 398 Ottultismus und Mpftit

Okkultismus und Myſtik

N KAZ es läßt ſich nicht mehr leugnen: Okkultismus und Myſtik haben über den im ver- RS BD gangenen Jahrhundert herrſchenden Rationalismus geſiegt. Kein Salon, in dem nicht von Aſtrologie geſprochen würde, kein Stammtiſch, an dem nicht dieſer oder jener merkwürdige Erlebniſſe zu berichten hätte, die er noch vor wenigen Jahren im tiefſten Schreine ſeines Herzens verborgen haben würde. Der eine weiß von der Voranmeldung eines Sterbenden, dem Stillſtehen einer Uhr in der Todesſtunde, der andere von Vorahnungen aller Art, der dritte erlebte einen Spuk, wieder einer will einen Doppelgänger oder gar einen Geiſt geſehen haben. Sind denn alle verrückt geworden? denkt der wiſſenſchaftlich Gebildete, und wenn er auch die Frage vielleicht nicht ohne gewiſſe Hemmungen bejahen mag, ſo erklärt er doch dies und manches andere mit der berüchtigten Kriegspſychoſe und ihren Nachwirkungen.

Es dürfte ſich verlohnen, den Urſachen der Erſcheinung nachzugehen.

Am bequemſten iſt es zweifellos, alle angegebenen Phänomene glatt zu leugnen. Der Skeptizismus der Ignoranz Schopenhauer prägte dieſen treffenden Ausdruck im gleichen Falle beſitzt ja das nicht ohne Einſchränkung beneidenswerte Vorrecht der Ablehnung ohne Prüfung. Es erinnert dies Verhalten an ein niedliches Wort, das von einem Friſeurgeſellen aus der franzöſiſchen Revolution überliefert wird. „Wenn ich auch“, meinte er, „nur ein ein- facher Gefelle bin, fo habe ich darum doch nicht mehr Religion als irgendein anderer.“ Mutatis mutandis denkt jeder Ladenſchwung, der auf feine Bildung ſtolz ift, dem. Überfinnlichen gegen- über ebenſo. Dies ift ſozuſagen für ihn der wiſſenſchaftliche Befähigungs nachweis oder doch der für ſeinen Anſpruch, ſich unter die Gebildeten zu zählen. Leider finden wir aber auch in andern Kreiſen, ſpeziell an unſern Hochſchulen, die gleiche Denkweiſe, ein Umſtand, der es entſchuldigen mag, wenn ich an dieſer Stelle ein Thema behandle, deſſen Erörterung in Amerika, England oder Frankreich etwa ebenſo unmöglich wäre, wie das der Drehung der Erde oder der Entdeckung Amerikas. Denn dort iſt man längſt über den „Skeptizismus der Ignoranz“ hinausgewachſen, nicht trotz, ſondern gerade durch die erſten Gelehrten und Forſcher der betreffenden Länder.

Daß man während des Krieges den brennenden Wunſch hegte, etwas über die eigene, oder die Zukunft geliebter Angehöriger zu erfahren, liegt auf der Hand. Man konſultierte alfo, zunächſt nicht ohne Bangen und Zweifel, Aſtrologen, Hellſeherinnen und Kartenſchläge⸗ rinnen, und erfuhr dort gar manches, was ſich ſpäterhin wunderbar beſtätigte. Dadurch wurde in weiteſten Kreiſen der Überzeugung zum Siege verholfen, daß die genannten Perſonen wohl nicht allwiſſend ſind, denn ſie irrten auch manchmal, immerhin aber über Fähigkeiten verfügten, für die der bisherige Materialismus oder Nationalismus, die mechaniſtiſche Weltanſchauung, keine Erklärung hatten. In meinen „Prophezeiungen“ (Verlag Albert Langen) war ich ſchon bei ſtrengſter Kritik zu dem Reſultat gekommen, daß es tatſächlich eine Kraft des Fernſehens gibt, wozu ich noch hinzufügen möchte, daß diefe fih durchaus nicht mit der heute noch herr⸗ ſchenden Weltanſchauung verträgt. Der Tübinger Univerfitätsprofeffor Oſterreich, ein weißer Rabe unter feinen Fachgenoſſen, ift in feiner vor wenigen Monaten erſchienenen höchſt lefens- werten Schrift „Oer Okkultismus im modernen Weltbild“ zu demſelben Schluß gekommen. Da bei uns trotz der Revolution erſt dann eine Wahrheit als ſolche anerkannt wird, wenn eine ſtaatliche Autorität fie beſtätigt, fo datiert eigentlich erft von dieſem Buche ab die Dis- luſſionsfähigkeit der okkulten Phänomene. Vorher wußte jeder Geſchäftsreiſende, vorausgeſetzt, daß er niemals bei Sitzungen zugegen war und die einſchlägige Literatur nicht kannte, mehr als die erſten Phyſiker und Chemiker der Erde, etwa Crookes, Lodge, Nichet, Fechner, Zöllner, Myers, die jenem Studium Jahre ihres Lebens gewidmet hatten.

Man wies auf die Erfahrungstatſache hin, daß die Folgeerſcheinungen großer Kriege und Maffenunglüde ſtets ein Anwachſen des metaphyſiſchen Vedürfniſſes geweſen ſeien. Das iſt zum guten Teile richtig, inſofern ſolche gewaltigen Erſchütterungen die Menſchheit in ihre

Ortultismus und Myſtik 399

\ natürlichen Beſtandteile zerlegen: die Sancho Panſas und die Don Quichottes. Während ſich die erſteren in den Taumel möglichſt materieller Vergnügungen ſtürzen, beſinnen die andern ſich auf ihr höheres Selbſt und ſuchen hinter der Welt der Erſcheinungen die des Seins. So rief etwa die furchtbare Peſt des 14. Jahrhunderts bei uns neben einer außerordentlich geſteigerten Lebeſucht auch den Flagellantismus hervor. So war es zu allen Zeiten und iſt es naturlich auch heute, weil das Menſchenherz fih in hiſtoriſchen Zeiten nicht verändert hat.

Doch noch ein anderes Moment ſpielt neben dem Gemütsbedürfnis, das aus dem labilen Gleichgewicht des Alltags durch große Erſchütterungen feiner wahren Beſtimmung zugeführt wird, hier dem Fraß und der Völlerei, dort der Religion und dem Myſtizismus, eine ausſchlaggebende Rolle. Die Erfahrung lehrt, daß nur Leiden uns zur Perſönlichkeit reifen laſſen. Auch in dieſem Sinne kommt der Lehre von der Erbſünde ein tiefer Sinn zu. Für jedermann ift ein beſtimmtes, nur individuell verſchiedenes Leidensquantum zur Reife erforderlich. Vorher ift er Dutzendware, Erz und Schlacken find in ihm kunterbunt vermiſcht. Durch Prüfungen, Verſuchungen und Selbſtüberwindungen mannigfacher Art erſt wird das edle Metall herausgeſchmolzen. Dieſe zur Reife unentbehrlichen Leiden nun kann man ſich ſehr wohl als eine „Schuld“ oder „Sünde“ vorſtellen, die wir bei der Geburt mitbekommen und im Leben abzutragen haben, bis der Zweck unſeres Erdendaſeins, dieſe Reife eben, erreicht wurde. Denn mit unendlicher Weisheit hat die Vorſehung es ja ſo eingerichtet, daß Genuß und Glück uns befriedigen, das Leid allein, richtig aufgefaßt und verwertet, uns zur edlen Frucht am Menſchheitsbaume werden läßt. ,

Die Sonne des Leidens nun ſcheint brennender in ſturmbewegten Tagen, wie den jüngftvergangenen. Die notwendige Folge ift, daß weit mehr Menſchen, als dies ſonſt der Fall wäre, unter ihren Strahlen zu einem höheren Menſchentum heranreiften. Dieſes liegt Ja ſelbſtverſtändlich auf ethiſchem Gebiete, trotzdem führt der Weg dorthin durch die Regionen des Okkultismus und der Myſtik.

Denn Leiden reifen nicht nur zur ſittlichen Perſönlichkeit, fie machen uns auch empfäng- licher für Reize, die unter normalen Umftänden zu ſchwach find, um wahrgenommen werden zu können. Es iſt etwa ſo wie beim Zahn, der an einer Stelle ſeinen Schmelz verloren hat. Hier empfindet er Wärmedifferenzen und Süßigkeit ſogar als Schmerz, während er an andern, gefunden Stellen gänzlich unempfindlich dagegen bleibt. Der glückliche Beſitzer kerngeſunder Zähne wird geneigt ſein, den Schmerz für Einbildung zu halten und die objektive Urſache desſelben zu leugnen, weil ſie auf ihn überhaupt keine Wirkung ausübt. Der Beſitzer des angegriffenen Zahnes aber wird ſeine Überempfindlichkeit gerne zugeben, nur wird er mit Recht beſtreiten, daß die äußere Urſache ſeines Schmerzes fehle. Genau ſo verhält es ſich den meiſten okkulten Erlebniſſen gegenüber. Wenn wir von beſonders disponierten „Medien“ abſehen, werden wir finden, daß jedes tiefe Leid bei jedem Menſchen gewiſſe okkulte Fähig- keiten weckt. Hierauf beruhen die feit Jahrtauſenden bekannten Experimente der Magie: Hellfehen, Telepathie, Gedankenleſen, Ausſendung des ſogenannten Aſtralleibes uſw. Man kann faſt niemals ſagen: Wenn du dieſes oder jenes Experiment machſt, wird mit Notwendig- keit dieſe oder jene überſinnliche Fähigkeit ſich einſtellen, ſondern man kann nur ganz allgemein feſtſtellen, daß eine ſolche geweckt werden wird.

So kann man etwa durch lange, mit großer Selbſtüberwindung verbundene ſexuelle Abſtinenz ſich zum Hellſehen erziehen, und zwar zum ſpontanen, während die Heranbildung des willkürlichen Hellſehens von den beſonderen Dispoſitionen abhängt. Dies ift die Urſache, daß ſich bei alten Jungfern, Witwen, in Klöſtern ſo häufig hellſeheriſche Phänomene einſtellen. Was ich hier verrate, iſt durchaus kein Geheimnis. Die Inder, die ihren Körper ſtudierten und feine Fähigkeiten durch höchſt ſchmerzhafte Konzentrationsübungen ausbildeten, oft zu einer ſtaunenswerten Vollendung, während wir in chemiſchen Laboratorien arbeiteten und Luftſchiffe konſtruierten, wiſſen dies und noch vieles andere feit Urzeiten.

400 Okkultismus und Myſtik

Der Sinn der Aſkeſe liegt eben im weſentlichen neben der Stählung der Willenskraft in der Tatſache der durch Leiden geweckten übernormalen Fähigkeiten. Denn Aſkeſe iſt un- trennbar verbunden mit einer ungeheuren Willenszucht und mit großen Schmerzen. Um jedem Mißverſtändnis vorzubeugen: nicht Halluzinationen werden dadurch hervorgerufen, ſondern die Senſibilität wird geſteigert, die ſchwächſten Reize werden empfunden und ſonſt brach liegende Fähigkeiten geweckt. |

Eines der ſchwierigſten, aber in feinen Wirkungen auch durchſchlagendſten Experimente verrät Chriſtus mit der Formel: „Liebet eure Feinde, ſegnet, die euch fluchen.“ Es handelt fih hiebei darum, derjenigen Perſon, die uns am meiſten Übles zugefügt hat, die unfer Leben zerbrach, nicht nur zu verzeihen, d. h. ſich nicht damit zu begnügen, das durchaus natürliche und gerechte Gefühl der Rache und Wiedervergeltung zu unterdrücken, ſondern fidh zu zwingen, ihr etwas Gutes zuzufügen. Dieſe Selbſtüberwindung ift überaus ſchmerzhaft. Den Verſuch kann jeder Leſer machen, indem er ſich anfänglich zwingt, einen kleinen Arger über eine Kränkung zu unterdrücken, um dann zu ſchwierigeren Aufgaben überzugehen. Er wird dann wenigſtens fühlen, wo das Problem liegt. Die Wirkung des gelungenen Experimentes nun beſteht nicht nur in einem überaus intenfiven, ſüßen, durchbohrenden Glücksgefühl, ſondern auch in aller- hand überſinnlichen Erlebniſſen, deren Aufzählung hier zu weit führen würde.

Hiemit ſind wir bereits unmerklich auf ein zwar verwandtes und auch ſehr häufig mit dem Okkultismus identifiziertes, aber doch durchaus weſensverſchiedenes Gebiet geraten: in die Myſtik! !

Der Okkultismus hat es ausfchlieglich mit ſozuſagen phyſikaliſchen Phänomenen zu tun. Ob ein Gegenſtand vom Medium ohne Berührung bewegt zu werden vermag, ob man ohne die Augen ſehen, ohne Ohren hören kann, ob Dinge, die ſich auf Hunderte von Kilometern von uns abſpielen, oder gar erſt in der Zukunft liegen, wahrgenommen werden können, das und noch vieles andere gehört in das Bereich des Okkultismus oder der Metapſychik, zu dem man früher auch Hypnotismus und Suggeſtion zählte. Da niemand mehr an der Tatſächlichkeit dieſer Phänomene, deren Realität noch Virchow beſtreiten konnte, zweifelt, gelten ſie heute nicht mehr als okkult, d. h. verborgen. Über ihr Weſen weiß man natürlich genau fo viel oder fo wenig wie früher, aber das ftört durchaus nicht. Häufig verleiht ja ſchon die Prägung eines neuen Namens einer Erſcheinung Bürgerrecht in der Wiſſenſchaft.

Ganz anders ſteht es um die Myſtik. Sie intereſſieren derartige, letzten Endes doch ireliſche Dinge, durchaus nicht. Es iſt ihr ganz gleichgültig, ob es ſpukt, weil Geiſter ihr Un— weſen treiben, oder weil das Medium Kräfte ausſtrahlt, oder weil wie man neuerdings anzunehmen ſcheint die phyſikaliſche Beſchaffenheit des Ortes die Phänomene begünſtigt oder gar erzeugt. Was ſie ganz allein intereſſiert, iſt die Seele, die von alledem ja gänzlich unberührt bleibt. Es ift das Verhältnis der Seele zum Höchſten, zu Gott, den fie in ſich wad- zurufen trachtet.

Nachdem der Rationalismus der Scholaſtik abgewirtſchaftet und man ſich allgemein davon überzeugt hatte, daß das Oenken eine inferiore Funktion iſt, wohl geeignet, Irrtümer aufzudecken, aber unfähig, die letzten Wahrheiten zu ergründen, da warf ſich die Gotik der Myſtik in die Arme. Das Himmelanſtrebende der gotiſchen Dome mit ihren Fialen, Wimpergen und Kletterblumen, die jedem Stein die Erdenſchwere zu nehmen ſcheinen, um ihnen den ge— waltigen Auftrieb himmelwärts einzuhauchen, verſinnbildlicht aufs deutlichſte das Streben der Gemüter dieſer Jahrhunderte: den Zug nach oben!

Nicht im Grübeln über die letzten Nätfel unſeres Daſeins, nicht im Aufſuchen neuer Erdteile und den Entdeckungen im Laboratorium oder unter dem Ultramikroſkop ſieht der Myſtiker ſeine Aufgabe, ſondern in ſich ſelbſt ſucht er ſie, in der Erſchließung ſeiner Seele. Zu allen Zeiten und bei allen Völkern findet ſich dieſes Streben. Der Inder ſagt dasſelbe wie der Perſer, ein Plotin unterſcheidet ſich nicht nennenswert von einem Meiſter Eckehart,

Deutſchen ergehen t b

Ottultismus und Mpftit 401

weder in der Grundanſchauung vom höheren Erleben noch in der Oarſtellung des e Geſchauten, ſoweit dies überhaupt mitteilbar iſt.

Denn das iſt das Weſentliche: die Überzeugung von der Kraft zu höherem Erleben, von einem Verzücktſein, das uns innerlich mit einem Ruck vorwärts bringt. Gewig kann dies nicht jeder, bei der qualitativen Verſchiedenheit der Menſchen, aber niemand kann es ohne große Leiden.

Hier ſchließt ſich der Kreis; vom Leiden gingen wir aus. Es iſt der Grund ſowohl für das Gemütsbedürfnis, ſich mit Höherem, über die Alltagsintereſſen Hinausgehendem zu be- ſchäftigen, als auch die Urſache für eine Verfeinerung unſerer Aufnahmeorgane, wenn man ſich ſo ausdrücken darf, die ſie befähigt, ſonſt Verborgenes phyſiſcher Art zu erblicken, endlich aber ſchenkt es uns das religiöfe Erlebnis mit m abſoluten ſubjektiven Aberzeugungskraft und Unwiderlegbarteit.

Es wäre ganz zwecklos, von den verſchiedenen ede myſtiſchen Erlebniſſ en zu ſprechen, da nur der fie verſtehen würde, der fie ſelbſt an ſich erfuhr. Darum iſt tiefſte Weisheit Schweigen. Das Letzte und Höchſte, die Visio Dei, zerreißt die Schleier, die über der Welt der Erſcheinungen lagern, und geſtattet einen kurzen, aber für das ganze fpätere Leben entſcheidenden Blick in die des Seins. Denn alles Vergängliche iſt für den Myſtiker nur ein Gleichnis, und er lächelt über die Verſuche der Wiſſenſchaft, ſich mit Reagenzglas und Spektralanalyſe den letzten Ur- ſachen zu nähern. Für ihn iſt Gott Geiſt und kann nur durch den Geiſt erſchaut, aber nicht durch Vermeſſen und Abwiegen feines Mantels erfaßt werden. Ebenſo lächelt er felbftver- ſtändlich über das naive Stammeln der Pſychologen und Pſychiater, für die das Geigenſpiel ein Scharren von Roßhaaren auf Schafdärmen bleibt und ihrer Veranlagung und Unter- ſuchungsmethode nach auch immer bleiben muß. Denn ſie ſpielen ſich auf einer weit tieferen Ebene ab. Der Glauben aber, den die Wiſſenſchaft fordert, iſt nicht um Haaresbreite kleiner, als der von irgendeiner Religion oder Sekte oder vom niederſten Volksaberglauben beanſpruchte. Oder gilt dies etwa nicht von der Zelle, die ſich zum Menſchen oder Mammuth ausgewachſen haben ſoll? Oder vom ſogenannten Unterbewußtfein, dem die fabelhafteſten Leiſtungen von denſelben Kreiſen heute zugeſchrieben werden, die noch vor ganz kurzer Zeit aus Hochmut oder Feigheit ungeprüft alle über ihren, ach fo engen, Horizont hinausgehenden Tatſachen leugneten? Der weſentliche Unterſchied zwiſchen dem Gelehrten und dem Myſtiker iſt der, daß erſterer Proſelyten machen will, was dieſem gänzlich fern liegt, ſo fern, daß es ihn die größte Überwindung koſtet, von feen tiefſten Erlebniſſen und darauf begründeten Kenntniſſen auch nur zu reden.

Wenn eine Nation ſich auch nicht lediglich aus der Summe der gerade lebenden Indi- viduen zuſammenſetzt, wie der Nominalismus annimmt, ſondern noch eine geiſtige Tradition, Ideen hinzutreten, und zwar als febr weſentliche Beſtandteile der Univerſalismus meint fogar, als das Ausſchlaggebende und ſieht in den gerade Lebenden nur Repräſentanten dieſer Ideen —, ſo iſt doch ſicherlich die lebende Generation von größter Bedeutung für die Nation.

Run wurde und wird unſere Zeit vom tiefſten Leid aufgewühlt. Dadurch werden viele, die ſonſt mehr oder minder gedankenlos und willensſchwach in den Tag hineingelebt hätten, aufgerüttelt bis in die Grundfeſten ihres Weſens. Sie lernen es, die Quellen ihrer Kraft nicht im zerſtörbaren Leib zu ſuchen, den einſt die Würmer freſſen werden, ſondern in großen, tranſzendentalen, unzerſtörbaren Ideen. Sie fühlen ſich als gebrechliche Werkzeuge eines ewigen Meifters, der fih in der unſterblichen Energie ihres Volkes offenbart. Sie ver- lernen es, ans kleine Ich zu denken, wenn es fih darum handelt, große, üb erperſönliche Auf- gaben zu löſen. Das verleiht ihrer Seele die Schwungkraft des Adlers und die Furchtloſigkeit des verwundeten Ebers. Die Nation aber, die viele ſolche Perſönlichkeiten in ſich hegt, wird nicht vom Unglück zerrieben, ſondern zu Stahl geſchmiedet. Und ſo ſoll und wird es uns © Dr. Max Kemmerich (München)

Die hier veröffentlichten, dem freien Meinngeaustaufh dienenden Einſendungen find unabbängig vom Standpunkte des Herausgebers

Nochmals: Kirche und Weltverſöhnung

Em Juniheft des „Türmers“, S. 179 ff., fand fidh ein kurzer Artikel über Kirche und Weltverſöhnung, oder vielmehr ein Briefwechſel Ihres Korreſpondenten G. 9.

O mit Pfarrer Alexandre Guillot von der Proteſtantiſchen Nationalkirche von Genf über dieſes Thema, zu dem Sie mir einige Worte geſtatten wollen.

Daß ich mit dem Nachwort des „Türmers“ vollſtändig einverſtanden bin, verſteht ſich von ſelber. Dieſelbe leidenſchaftliche, ganz und gar widerchriſtliche Feindſeligkeit gegen Deutfch- land und alles Oeutſche, wie fie der Brief Alexandre Guillots offenbart, finde ich auch hier- zulande in weiteſten Kreiſen unter den „Vankees“. Sie haben recht: „Da ift kein menſchlicher Zugang möglich, keine Erörterung; das ift Erkrankung der Sehorgane und des Urteilsver- mögens, wobei fih das Geſchehen im Reiche der Welt heillos durche inandermiſcht mit den Dingen des Gottesreiches.“ Und doch eine Aktion des Verbandes der amerikaniſchen Kirchen zugunſten einer Weltverſöhnung? Nun, darüber braucht man fih weiter nicht zu wundern, Amerika iſt ja „das Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Warum ſollte da eine ſolche Aktion nicht auch möglich fein? Sie ift tatſächlich vorhanden. Man follte aber, und das ift der Zweck meines Schreibens, zurückhaltend ſein mit ſeinem „größten Bedauern und Erſtaunen“ darüber, daß z. B. die Proteſtantiſche Nationalkirche von Genf einer Anfrage, ob man ſich dieſer Aktion anſchließen wolle, eine ſcharfe Abweiſung erteilt hat. Wir können dieſer Kirche nur dankbar ſein für dieſe Abweiſung, auch wenn wir ihre Beweggründe dafür nicht teilen und billigen.

Weiß man in Oeutſchland etwas Genaueres über den Verband der amerikaniſchen Kirchen, der ſich „Federal Council of the Churches of Christ in America“ nennt? Weiß man 3. B., daß dieſer Verband nach Friedensſchluß dem Präſidenten Poincaré und ſeinem Helfers- helfer Clémenceau eine Ergebenheitsadreſſe überreicht hat, in der dieſen Unmenſchen von den evangeliſchen Kirchen Amerikas gedankt wurde für ihre Verdienſte um den Frieden und die ganze Welt? Weiß man, daß Präſident Wilſon von dieſem Verband eine Kaplans-Kriegs⸗ medaille erhalten hat und zwar „als Ausdruck der Anerkennung ſeitens der Kirchen für feine ausgezeichneten Verdienſte um die Kirchen und für die Welt infolge ſeiner Führung, durch welche der Weltkrieg gewonnen und der Welt die Ideale gebracht worden find, die ſich in der Völkerliga verkörpern“? Beſagte Medaille iſt ihm von dem Methodiſtenbiſchof William F. M' Sowell durch den Sekretär Baker feierlich überreicht worden.

Weiß man drüben, daß derſelbe „Verband“ dem frechen Gottesleugner Biviani, der fih öffentlich gebrüſtet hat damit, daß Frankreich für alle Zeiten die Lichter am Himmel aus- gelöſcht habe, während feiner kürzlichen Anweſenheit in dieſem Lande, in Neupork ein Feft- mahl gegeben und ſich nicht geſcheut hat, auch dieſes Mannes „Verdienſte“ um den Weltfrieden zu preiſen? Nebenbei bemerkt, haben die geiſtlichen Herren, die dieſem Bankett beiwohnten,

Nochmals: Kirche und Weltverſöhnung | 403

es ſtillſchweigend mit angehört, als der eitle Franzoſe von einer „Kreuzigung Frankreichs für die Welt“ im Kriege redete!

; Im vorigen Jahre fand in Chikago cine Verſammlung des Interchurch World-Movement ſtatt, bei der freundliche Töne auch Deutſchland gegenüber angeſchlagen wurden und von Welt- verſöhnung die Rede war. Anweſende deutſch-amerikaniſche Paſtoren, die das alles für Ernſt nahmen, ſtellten damals den Antrag, oder vielmehr fie richteten an die Verſammlung die Bitte, dahin zu wirken, daß die deutſche Miſſion gerechter behandelt würde von den Alliierten uſw. Ihre dahingehende Bitte wurde aber glatt abgelehnt, weil die Verſammlung nicht maßgebend ſei für derlei Fragen, ſie dürfe ſich nicht in Politik miſchen! | Genau genommen, muß man unterſcheiden zwiſchen diefer Verſammlung und dem

Verband der amerikaniſchen evangeliſchen Kirchen. Bei Licht beſehen, find es aber dieſelben Leute hier wie dort, nur unter anderem Namen, die ſogenannten „Führer“ dieſes Landes in kirchlichen Dingen. Sobald es fih um ein Wort der Fürſprache für Deutſchland handelt, dann heißt es: wir dürfen uns nicht in politiſche Dinge miſchen, handelt es fih dagegen um Deutfch- lands Feinde ja Bauer, das ift etwas ganz anderes, dann ſchweifwedelt man vor den Fran- zoſen und miſcht das Geſchehen im Reiche der Welt heillos durcheinander mit den Dingen des Gottesreiches!

Bei einer ſolchen Stellung dieſes Verbandes und ſeiner Geſinnungsgenoſſen in anderen Verbänden ift es begreiflich, daß weite Kreiſe deutſch-amerikaniſcher Kirchen in dieſem Lande nichts von einem Anſchluß an dieſen Verband wiſſen wollen, ihn vielmehr grundſätzlich ab- lehnen, weil er einen „anderen Geiſt“ hat als ſie. Eine „Weltverſöhnung“ auf Koſten Deutſchlands ift keine Weltverſöhnung. Eine andere will auch der Verband der ameri- kaniſchen Kirchen nicht. Die Kirche Calvins in der Schweiz hat darum recht daran getan, ſich dieſem Verband gegenüber ſchroff und ablehnend zu verhalten, wobei es dahingeſtellt fei, ob ſie ſich bei ihrer Abſage vom chriſtlichen Geiſte hat leiten laſſen. Sollte einmal die evangeliſche Kirche Deutfchlands in die Lage kommen, Stellung zu der Aktion dieſes Verbandes nehmen zu müſſen, dann hüte fie ſich vor einer weltverſöhnlichen Stimmung, die nie und nimmer zu einer wahren Weltverſöhnung führt. Auch wenn nicht die Forderung nach Reue und Demü- tigung uns gegenüber erhoben wird, haben wir als Deutfche nichts mit einem Verband zu tun, der das Geſchehen im Reiche der Welt ſo heillos durcheinandergemiſcht hat mit den Dingen des Gottesreiches, wie vom Federal Council of the Churches of Christ in America nicht ein- mal, ſondern zu wiederholten Malen geſchehen iſt. Wir ſind auch für eine Weltverſöhnung, aber auf einer ehrlichen, wahrheitsliebenden, wahrhaft chriſtlichen Grundlage. „Ein Chriſt iſt ein Menſch, der warten kann.“

Mit vorzüglicher Hochachtung und der ergebenen Bitte, vorſtehende Zeilen durch den „Türmer“ per Öffentlichkeit zu übergeben, verbleibe ich Ihr ergebener

D. Immanuel Genähr, Präfes der Rheiniſchen Miſſion in China (z. Zt. auf einer Vortragsreiſe in den Vereinigten Staaten).

Deutſche Jakobitendichtung

Sieben Söhne gab ich dem Kavalier, Sieben grüne Plätze ſind blieben mir, Ihrer Mutter Herz iſt gebrochen vor Weh König Jakob, daß ich dich wiederſäh!“ Qie Strophe Fontanes fagt, was mit Jakobitendichtung gemeint iſt: das Jahr 1688 hatte den Engländern ihre „glorreiche Umwälzung“ gebracht, der letzte Stuartkönig batte weichen müſſen von Thron und Land aber die Hoffnung, wieder einzuziehen in den Londoner Königspalaſt, gab er deshalb nicht auf. Wenn er die Überzahl des engliſchen Volkes in den Städten, auch des füdenglifchen Landadels gegen fih hatte, in Nordengland, vor allem in der alten ſchottiſchen Heimat, ſchlugen genug Herzen für das Herrſchergeſchlecht, deſſen Söhne; lange bevor ſie Englands Krone trugen, im ragenden Schloſſe zu Edinburg gehauſt hatten, die verwachſen waren mit der Geſchichte des Landes, umrankt von der Sage, verklärt von der volkstümlichen Liederdichtung wie nur irgend eine der großen ſchottiſchen Familien. Darum fand jeder Verſuch, den der geſtürzte König Jakob, ſein gleichnamiger Sohn, der „Kavalier“, oder endlich der Enkel, der „junge Kavalier“, Prinz „Charlie“, machten, die verlorene Herrſchaft mit den Waffen zurückzuerobern, Unterſtützung bei den Getreuen. Der Eindruck aber, den die Exeigniſſe dieſer Aufſtände, die Perſonen der letzten Stuarts, ihrer Freunde und ihrer Gegner, auf die Phantaſie machten, rief eine reichhaltige jakobitiſche Dichtung hervor: die Lieder bejubelten jeden Erfolg, jede friſche Tat der Rebellen, ſie überhäuften die Gegner mit Hohn und Spott, fie verklärten den König „jenfeits des Waſſers“ und die Seinen mit dem Schimmer idealiſierender Poeſie. Und ſelbſt als jede Hoffnung aufgegeben werden mußte, als niemand mehr daran denken konnte, das Haus Hannover wieder heimzuſchicken nach Deutſchland, verſtumnite dieſe Jakobitenlyrik nicht; natürlich hatte ſie nun keine politiſche Bedeutung mehr: eine gefühlvolle dichteriſche Romantik gefiel ſich darin, die Stimmung ver— gangener Tage von neuem zu erwecken; wenn ſich dabei die Gelegenheit ergab, die Abneigung gegen beſtehende Derhältniffe durchſchimmern zu laffen, fo ſchadete das nichts. „Die Jakobiten machen unſere Lieder, die Hannoveraner unſere Geſetze“, ſo hieß ein Witzwort jener Tage; zuletzt war man beiderſeits mit dieſer Rollenverteilung ganz zufrieden.

Aber was geht uns das an? Von den engliſchen Königen aus dem Hauſe Stuart iſt keiner, für den wir von vornherein eine beſondere Zuneigung empfänden, keiner, der ſie ver— diente, kühl bis ans Herz hinan ſtehen wir ihnen als geſchichtlichen Perſönlichkeiten gegenüber. Und doch: wollte man all die Dichtungen fammeln, die in deutſcher Sprache von Glück und Fall des Hauſes Stuart fagen, es gäbe einen gar ſtattlichen Band.

Dabei macht freilich die Jakobitendichtung im engeren Sinne nur einen Teil aus, der ſich von der Hauptmaſſe ſcheidet. Dieſe gruppiert ſich um Maria Stuart und Karl I. Die Schottenkönigin lockte durch den Ruf ihrer Schönheit und den romantiſchen Reis ihres tragiſchen Schickſals, durch Schillers Drama wurde ſie überdies dem deutſchen Gemüt beſonders nahe

Deutfche Zatobitendichtung 405

gebracht; nimmt man noch den Einfluß Scotts hinzu, jo hat man genug beiſammen, um zu wiſſen, was immer wieder unſere Dichter in Queen Marys Bann zog. Bei ihrem Enkel bezeugt aber ſchon die Tragödie des Andreas Gryphius von der „Ermordeten Majeſtät oder Carolus Stuardus“ den Eindruck, den das gewaltige geſchichtliche Ereignis feines Sturzes auf die Beit- genoſſen machte, und der hat für fpätere, politiſch ganz anders als unſer ſiebzehntes Jahrhundert teilnehmende Geſchlechter vorgehalten. Aber geſchichtliche Bedeutſamkeit und perſönlicher Reiz den Verſuchen des letzten Stuartkönigs und ſeiner Nachkommen, die verlorene Krone wiederzugewinnen, ſcheinen fie, zunächſt wenigſtens, zu fehlen. Darum find auch Verſuche, ihr Geſchick im Drama zu behandeln, zwar gemacht worden, aber geſcheitert; von ihnen zu ſprechen, lohnt nicht.

Die kleineren Formen aber, Ballade und Lied, tönnen v von dem Gefühl, dem Eindruck des Loſes der geſtürzten Größe, ausgehen und dadurch unſere Teilnahme in ihrem engeren Bezirke auch für die Perſönlichkeit, die ſolch Geſchick getroffen hat, gewinnen und wachhalten. So wirkt ſchon die, ſoweit mir bekannt, früheſte deutſche Jakobitenballade Wolfgang Müllers von Königswinter, „Jakob von England“ (gedruckt 1842). Da betrachtet der Vertriebene von den Uferdünen bei Calais die Seeſchlacht, in der ſeine franzöſiſchen Verbündeten der engliſchen Flotte erliegen; ſeine eigene Sache iſt es, die da den ſchwerſten Schlag erleidet aber er preiſt den Heldenmut des Volkes, das ſeine Sprache ſpricht, ſein Herz iſt da, wo Englands Banner wehen; fein letztes Wort iſt der Segenswunſch: „Das erſte Volk zu Land und Meer Seid Briten alle Zeiten!“ Das iſt natürlich rein aus idealem deutſchen Gemüt geſchöpft, nur möglich bei vollkommenem Verzicht auf Wiedergabe des geſchichtlichen Cha- rakters: dem leidenſchaftlichen, düſteren Selbſtherrſcher dürften in Wirklichkeit ſolche Stim- mungen ſehr fremd geweſen ſein. a |

Wurde hier noch verfucht, mit den Mitteln einer etwas billigen Rührung empfindſame Gemüter für eine ins Lichtblaue idealiſierte Phantaſiegeſtalt zu gewinnen, ſo bildet eine Jakobitenballade ganz junger Vergangenheit einen merkwürdigen Gegenſatz in Stil und Auf- faſſung. Auch in Agnes Miegels „Marie“ erſcheint das Bild des Stuarts, aber nicht in Perſon, ſondern wie es ſich im Sinn einer nach Recht und Unrecht nicht fragenden Anhängerin ſpiegelt. Am Seegeſtade ſteht ſie, die ſchöne Marie, deren Ahnin einſt König Charlie gut war, und über die Wellen ſchweift ihr Blick in die Ferne. Nie hat ſie ihn geſehen, den geſtürzten König; nur ihr Oheim hat ihr erzählt

„Von ſeinen Augen dunkelblau,

Schrecklich dem Feinde, ſchrecklich der Frau, Von dem Stuartlächeln, ſtolz und heiß, Das nichts von Güte und Mitleid weiß“,

und ſeitdem iſt es um ſie geſchehen, im Wachen und Traum, wo ſie geht und ſteht, e ſie

das Bild des Königs: „Ich dachte deiner harten Hand, König du über Engelland, König über mein heißes Herz, Mit der weißen Stirn, mit der Stirn von Erz.“

So wartet ſie denn, wartet die Tage und die Wochen, nichts als die eine Frage im Sinn: „Stuart, wann werd' ich dein Segel ſehn?“

Hier taucht nun zum Greifen deutlich etwas auf, was unfere Dichter doch auch per- ſönlich zu den Stuarts zog: es war das Erbe der Ahnin, der ſchönen Marie. Ihr dankten ſie alle einen Zauber, der den Bourbonen etwa abgeht; mit all ihren Fehlern und Schwächen, den Sünden, die ihr politiſches Schickſal genugſam rechtfertigen, ein Etwas war an ihnen, das die Herzen in: den Bann ſchlug. Wir begreifen es ohne weiteres bei den zahlreichen Mapia- Stuart-Gedichten (ſie finden ſich bei Geibel, Fontane, Dahn, Agnes Miegel und wer

406 De utſche ZJakobitendichtung

weiß noch wo), aher auch noch im unbedeutendſten Träger des Namens lebt etwas von dieſer Romantik. Fontane hat ſie ſeinen James Monmouth als die Summe ſeines Weſens und Geſchickes ausſprechen laſſen:

„Das Leben geliebt, die Krone geküßt,

Und den Frauen das Herz gegeben,

Und den letzten Kuß auf das ſchwarze Gerüft

Das ift ein Stuartleben.“

Solche Naturen bleiben Herrſcher im Sinne der Ihren, auch wenn ihnen die ſtaatliche Macht entglitten iſt; wenn fie nichts mehr zu geben haben, ihnen wird noch immer entgegen- gebracht, was ſie nicht verlieren können: die Treue bis in den Tod, die gar nicht fragt, ob der, dem ſie gilt, auch des Opfers wert ſei. Und dieſe Jakobitentreue iſt nun das zweite, was unſere Dichter gewonnen hat, vor allem Fontane. Eine echte und rechte Stuartballade find „Die Hamiltons“, die Geſchichte der trotzigen Adelsfamilie, in der mit der Locke der Königin Marie die Treue zu ihrem Hauſe ſich von Geſchlecht zu Geſchlecht vererbt. Sie ſind dabei, weil ſie dazu gehören: in allen Tagen des Jubels und der Trauer, ſeit König Jakob auf „milchweißem Zelter“ in London einritt, bis zum düſteren Ende von Culloden, wo das Diſtelbanner für immer in den Staub ſank, und auch dann noch iſt für ſie der wahre König nur der „jenſeits des Meeres“. Der letzte Stuart ſtirbt in der Ferne den Hamiltons bleibt als Schatz ihres Geſchlechtes die Erinnerung an das, wofür die Väter gelitten und geſtritten haben:

„Die Stuarts ſind geſtorben, Doch die Treue kennt kein Grab.“

Und nun müßten wir nicht Oeutſche, das große Überſetzervolk fein, wenn wir nicht auch zur engliſchen Jakobitendichtung gegriffen hätten, um aus ihr Töne und Farben für uns zu holen. Denn ſehr charakteriſtiſcherweiſe handelt es ſich nicht immer bloß um Über- tragungen. Fontanes Gedichte enthalten eine Abteilung „Lieder und Balladen frei nach dem Engliſchen“ faſt ihren Schluß machen elf Jakobitenlieder aus. Ihre unmittelbare Quelle vermag ich nicht feſtzuſtellen: die größere Hälfte ſteht in den Ausgaben der Werke des jchottifchen Dichters Robert Burns, die kleinere in engliſchen Sammlungen der Jakobitenlyrik; ob Fontane alſo neben Burns eine ſolche Zuſammenſtellung benutzt hat oder alle ſeine Vorlagen irgendwo beiſammen fand, iſt zweifelhaft, für uns aber von geringerem Belange. Die Hauptſache iſt, daß Fontane feine Texte teilweiſe ſtark umgeſtaltete; das befte Beifpiel iſt das Gedicht, deſſen deutſche erſte Strophe am Anfang dieſes Aufſatzes ſteht. Im Engliſchen geht ihr eine etwas rührſelige Schilderung des Sprechenden voran; dadurch daß fie weggelaſſen iſt, wirkt nun das Lied als freier Gefühlsausbruch, um fo mehr, als Fontane noch die Strophen umſtellte. Anders als die Vorlage beginnt er mit dem perſönlichen Opfer von Weib und Kind, dann folgt die Klage über den Zuſtand des Landes und der trotzige Schluß; in alledem iſt an die Stelle etwas weichlichen Jammers männlicher Zorn, eine verbiſſene Entſchloſſenheit getreten. Wie anders klingt doch der ſchottiſche Kehrreim „Und Frieden gibt's nimmer, bis Jakob daheim“ gegenüber dem leidenſchaftlichen „König Jakob, daß ich dich wiederſäh!“

Dasſelbe gilt von mehreren der andern Gedichte. Von dem JZubellied, das den Prä- tendenten 1745 grüßte, iſt nicht viel mehr geblieben als der kecke Kehrreim: „O Charlie iſt mein Liebling, der junge Kavalier!“ Die tragikomiſche Geſchichte von der Schlacht bei Sherif- muir, in der jeder den andern befiegte, ift in ein paar ſchlagkräftige Strophen zufammen- gedrängt. Doch zu Einzelheiten ift hier nicht Raum. Im ganzen wird man jagen können, daß dieſe Lieder z. T. ein ganz anderes Pathos bekommen haben, als ſie in ihrer Urform beſaßen. Was ihnen darum vielleicht an Echtheit abgeht, haben ſie für uns an Wirkung gewonnen.

Fontane ift nicht etwa der letzte, den jakobitiſche Stoffe lockten. Von Agnes Miegel war ſchon die Rede, in Led Sternbergs „Kleinen Balladen“ findet fich eine Übertragung

Ein Rüdblie auf die Oante-Arbeit der letzten Zahre in Deutfchland 407

eines übermütigen Liedes vom Siege der „hundert Pfeifer“, Alice von Gaubp preift den

Heldentod eines Trommlers in Charlies Sold, und mehr wird wohl noch zu finden ſein. Aber hier handelt es fih nicht um Vollſtändigkeit, ſondern darum, eine beſondere Er- ſcheinung hervorzuheben: iſt es nicht ſonderbar, daß deutſche Dichter zu einer Zeit, da ihnen ſolche Stoffe allem Anſchein nach recht fern liegen mußten, ſich hingezogen fühlten zu dieſen ropaliſtiſchen Trutzliedern? Daß Theodor Fontane, der Sänger preußiſcher Helden, ihnen einen Schwung gab, der uns faſt vergeſſen läßt, daß es ſich um unſerm Volke fremde Schickſale handelt? War's nur die Freude am alten romantiſchen Lande der Percy und Douglas? Aber dort am Ufer der ſchottiſchen Seen war ihm auch einſt die Erkenntnis aufgegangen, daß im brandenburgiſchen Sande ebenſogut die blaue Blume blühe, als der märkiſche Wanderer war er aus England in die Heimat zurückgekehrt. Und vielleicht klangen aus den ſchottiſchen Jakobiten- liedern doch Töne, für die man in Preußens Konfliktszeit Verſtändnis hatte: auch König. Wilhelm redete einmal in bedrückter Stunde zu Bismarck vom Schickſal des Grafen Strafford, der für einen Stuart auf dem Schafott geſtorben war. Wie dem fei wir wollen nicht ſpeku- lieren über Dinge, die ſich nicht entſcheiden laſſen. Aber eins iſt ſicher: den letzten Stuarts iſt kein ſchlechtes Los gefallen in unſerer Dichtung, und hatten wir nicht mehr denn ſie?

Dr. Albert Ludwig

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Ein Rückblick auf die Dante⸗Arbeit der letzten Jahre in 3

tue, II.

EN . x till und heimlich, gleichſam über Nacht, hat ſich wieder eine kleine Gemeinde von Dante- 9 OJ freunden zu einem neuen Danteverein zufammengetan und nach 43 Jahren den lß„füünften Band des Dantejahrbuches erſcheinen laffen (Jena 1920, Eugen Diederichs).

Hatte 1870 der Krieg Schuld, gab er wenigſtens den erſten Anſtoß dazu, daß der von Witte 1865 gegründete Danteverein wegen Teilnahmloſigkeit eines ſanften Todes verblich, ſo wurde auch die Gründung der neuen Geſellſchaft (wovon unter Kraus und Scart azzini ſchon 1893 die Rede war) und das Erſcheinen dieſes bereits für September 1914 geplanten Jahrbuches durch den Weltkrieg bis zum Jahre 1920 verzögert. Die Teilnahme für Oante hat in dieſen vier Jahr- zehnten in Oeutſchland durchaus nicht geruht; das Gegenteil ift der Fall. Denn es find niemals ſoviel Verdeutſchungen und andere Arbeiten über Oante erſchienen wie in dieſem Zeitraum und beſonders in den letzten zwanzig Jahren. Konnte ich in meiner kleinen Bibliographie (Leipzig 1907) bis zum Jahre 1865 nur dreizehn vollſtändige Komödienübertragungen auf- führen, ſo waren bis 1907 ſchon dreiundzwanzig zu verzeichnen, zu denen bis heute noch fünf (Baſſermann, Zuckermandel, Lübbe und zwei vom Beſprecher) zu zählen ſind. Weitere ſind unterwegs, teils in der Preſſe, teils noch in Handſchrift. Dazu kommen noch mehrfache Neu- auflagen und teilweife Neubearbeitungen (Streckfuß, Witte, Philalethes). Rechnet man aber noch die Überſetzer hinzu, die nur Teile der Komödie oder andere Werke des Florentiners übertrugen, fo blicken wir feit 1555 im ganzen auf die ſtolze Zahl von reichlich hundert Köpfen zurück, die fih mit Dante beſchäftigten. Dr Hugo Daffner, auch als Kammermuſikkomponiſt wie als Sinfoniker bekannt, der Präſident der neuen Dantegefellihaft und Herausgeber des Jahrbuches, ſpricht in der Einleitung über Entſtehung und Verlauf der alten Geſellſchaft in anſchaulicher Weiſe. Er ſteuert auch einen lehrreichen Aufſatz über Dante und die Muſik bei, deſſen zweite Hälfte aus Platzmangel für das nächſte Jahrbuch zurückgeſtellt werden mußte, ſowie eine kleine Abhandlung über Dante bei Roffini und endlich eine Unterſuchung über die Zuſammenhänge von Dantes Komödie mit chriſtlichen Legendenbildungen

408 Ein Rückblick auf die Oante- Arbeit der letzten Fahre in Seutſchland

und über Goethes Beziehungen zu Oante, eine Abhandlung, die nichts Neues bringen will und kann. Joſeph Kohler ſpricht über Dante und die Willensfreiheit in ſeiner bekannten, manchmal etwas weitſchweifigen und trockenen Weiſe. Baſſermann bringt aus der oben beſprochenen Paradiesübertragung Geſang vier und acht nebſt Erläuterungen, und zeigt ſich in zwei kleinen Gedichten als ſelbſtändiger Dichter vorteilhafter denn als Nachdichter. Gleich ihm vertreten Sofie Gräfin v. Waldburg-Sprgenſtein, A. v. Gleichen-Ruß— wurm und A. Leverkühn das Iyriihe Element in Form von Anwidmungen. Zwei ſehr bemerkenswerte Beatrice-Studien ſteuern Karl Federn und Engelbert Krebs bei. Paul Alfred Merb ach glänzt durch eine vortreffliche Arbeit: Dante in Oeutſchland. Sehr dankens— wert iſt die Wiedergabe der Paradiesüberſetzung von Seligmann Heller, von deſſen im Nachlaß vorgefundener trefflicher Übertragung mir ſchon vor Jahren einige Geſänge durch Federns Güte handſchriftlich mitgeteilt wurden und nach deren Kenntnisnahme ich ſchon damals bedauerte, daß dieſe Arbeit im Verborgenen bleiben ſollte. Nun iſt ſie ans Licht getreten. Sie iſt in durchgereimten Terzinen, nach dem Beiſpiel von Streckfuß, Kohler und Gildemeiſter in ſtreng wechſelnden männlichen und weiblichen Reimausgängen gehalten, lieſt ſich leicht und flüſſig, trifft Dantes Ton febr oft aufs glücklichſte und enthält nicht allzu viel Fehler in Auf- faffung oder Überſetzung, zumal wenn man bedenkt, daß ihre Entſtehung gewiß faft fünfzig Jahre zurückliegt. Nach dem Lefen bedauert man, daß Heller nicht dazu kam, die ganze Komödie zu überſetzen. Der Tod nahm dem fleißigen und gewandten Schriftſteller ſchon im 59. Jahre die Feder aus der Hand. Im zweiten Geſang fehlen übrigens die Verſe 34 bis 125. Sollte diefe Lücke nicht in der Handſchrift, ſondern nur als Umbruchfehler vorhanden fein, fo wäre es wünſchenswert, daß diefer ausgefallene Satz im nächſten Jahrbuch mitgeteilt wird. Zwei warmempfundene Nachrufe werden Richard M. Meyer und Pochhammer gewidmet, der mit einem Aufſatz: Dante als Schöpfer neuer Werte, vertreten ijt und der, wie vieles, was P. ſchreibt, manchen Widerſpruch herausfordern wird. Eine umfangreiche Bücherſchau, liebevoll und gerecht, vom Herausgeber Daffner, mehrere Verzeichniſſe und die Satzungen der Neuen Dantegeſellſchaft machen den Beſchluß dieſes reichhaltigen, anregenden und für die Folge vielverſprechenden Jahrbuches. Es ift auf gutem Papier klar gedruckt und bei der Fülle des auf 375 Seiten in Lexikonformat gebotenen reichhaltigen Inhaltes billig zu nennen. Für 15 K Jahresbeitrag (an Diederichs zahlbar) erwirbt man Buch und Mitgliedichaft.

Vor einem möge ſich die neue Geſellſchaft hüten: allzu reinwiſſenſchaftlich (auf gut deutſch: langweilig), alſo zum Tummelplatz der Herren Kommentatoren zu werden. Ver— ſchiedene Zuſchriften an mich (und gerade von Danteleutcn) ſprechen die Befürchtung aus, daß es nach dieſem erſten Buch ganz fo fheine, als ob man in den Fehler der alten Gefell- ſchaft verfallen wolle, wo es doch Pflicht ſei, nicht nur Dantekenner und Überſetzer, ſondern das weiteſte Laienpublikum zu Mitgliedern zu werben. Videant consules !

Eine prächtige Feſtgabe zum fünfzigſten Geburtstage des Philalethes-Enkels, des Prinzen Johann Georg, Herzogs zu Sachſen, hat die Verlagsbuchhandlung Herder zu Freiburg im Breisgau erſcheinen laffen. Zu Dante. Von Dr Adolf Dyroff. Die Dantezeichnungen der Prinzl. Setundogeniturbibliothet zu Dresden im Rahmen der neueren deutſchen Kunſt. Von Alfred Hadelt. Erlebnis und Allegorie in Dantes Commedia. Von Dr Engel- bert Krebs. Dieſe drei ſich mit Dante befaſſenden Aufſätze bilden Schmuck- und Zierſtücke dieſer Ehrengabe deutſcher Wiſſenſchaft, dargeboten von katholiſchen Gelehrten und heraus— gegeben von Franz Feßler. (Mit 34 Bildern. Lex. 8 XX und 858 S., 7 Bildertafeln.)

Im gleichen Verlag erſchien ein Büchlein von Karl Jakubezyk, Domvikar in Breslau, Dante. Sein Leben und feine Werke. (XII und 292 S.) Es kommt gerade recht zum Jubiläumsjahr des großen Florentiners. Bietet es doch in gedrängter, aber alles Weſentliche l bistender Form das, was jeder Gebildete heute über Dante als Menſch und Dichter, über ſein künſtleriſches Schaffen, ſein geiſtiges Weſen, ſeinen äußeren und inneren Lebensgang

Ein Rüdblid auf die Dante-Arbelt der letzten Jahre in Oeutſchland 409

wiſſen möchte, um die Komödie mit Genuß und Verſtändnis zu leſen. Bei dieſer Gelegenheit möchte ich noch auf ein Buch hinweiſen, das in gewiſſem Sinne auch ein Oantebuch genannt werden kann. Es iſt der Franziskus. Ein Friedensſang von M. Mages (Herder, Freiburg 1920). VII und 247 Seiten. In 36 kleinen Geſängen ſchildert es poetiſch und anſchaulich das wunderbare Leben und Wirken dieſes vorbildlichen Mannes, dieſes von Dante ſo hoch geſchätzten und geliebten Heiligen, der dieſen Namen mit ſo viel Recht verdient wie wenig andere. Es ift eine Dichtung, die feſſelt und erbaut, die auch dem Nichtkatholiken Freude machen kann.

Von dem kleinen Büchlein Dantes Göttliche Komödie, die Otto Euler nach ihrem weſentlichen Fuhalte dargeſtellt hat (Volksvereins-Verlag G. m. b. H., München-Gladbach 1918, 197 Seiten) iſt jetzt bereits das fünfte Tauſend erſchienen, ein erfreulicher Beweis für die zunehmende Teilnahme, die Dante auch in den breiten Volksſchichten findet. Euler faßt den un vergänglichen, vom Zeitenwechſel unberührten Inhalt des vielſeitigen Gedichtes, ſofern dieſer Inhalt bei ſeinem Publikum der Teilnahme ſicher ſein kann, in fortlaufender Darſtellung zuſammen, wobei er den Dichter in den Übertragungen von Witte und Philalethes meiſt ſelber zu Worte kommen läßt. Eine gute, verſtändliche Einleitung und eine Auswahl charakteriſtiſcher Geſänge in Bruchſtücken geben dem Oanteneuling den Weg an, der ihn am angenehmſten zu dem gewaltigen Dichter führen kann. Aus Oantes Zeit ſtammt auch das kleine, im felben Verlage erſchienene Buch De eruditione principum, das unter die kleineren Schriften des heiligen Thomas gerechnet wird, aber vermutlich von einem Ordensgenoſſen geſchrieben iſt, der dem Fürſten der Theologie an Hoheit und Tiefe des Geiſtes würdig zur Seite ſteht. Profeſſor Dr Karl Bone hat die Schrift unter dem Titel Von guter Erziehung neu heraus- gegeben. Ein huͤbſches Franziskusbuch ift auch das von Emil Oimmler ſchon im zehnten Tauſend vorliegende Werkchen Franz von Aſſiſi. >

Dante Alighieri. Neues Leben (Vita Nuova). Überſetzt und erläutert von Franz A. Lambert. Einhornverlag, Dachau bei München, 141 Seiten, mit zwei ganzſeitigen Holz- ſchnitten von Otto Wirſching. Der verdienſtvolle Oanteforſcher legt uns mit ſeinen ſiebzig Jahren eine neue und gute Übertragung des Dantifhen Liebesfrühlings vor, und zwar feit der Friedrich Beckſchen (München 1900) die erſte ungereimte. „Denn“, ſagt Lambert, „in der Reimnachbildung gehen oft weſentliche Beſtandteile (Momente) der Oanteſchen Wort- begriffe verloren.“ Er hält ſich nicht für den Meiſter (der auch ſchwerlich kommen wird), der in der Verdeutſchung des ganzen poetiſchen Teiles der Vita Nuova etwas Vollkommenes, dem italieniſchen Text an Form und Inhalt annähernd Ebenbürtiges zu ſchaffen vermochte. Es ift erfreulich, wenn ein Überſetzer die ihm von Natur geſteckten Grenzen erkennt und fid lieber der ſchlichten Proſa zuwendet, als ſich zu Reimen verſteigt, denen er nicht gewachſen iſt. So lieſt ſich denn Lamberts Übertragung der Gedichte glatt und angenehm; dabei iſt ſie ſo treu wie nur möglich. Aufgefallen iſt mir, daß donna in den Proſateilen mit Dame, in den Verſen mit Frau wiedergegeben wird; einige Ausnahmen abgeſehen. Wenn Lambert ſagt, er lege die neunte Übertragung des Neuen Lebens vor, fo irrt er: es iſt die elfte. Denn er überſah die von Adolf Rüdiger (München 1905) und meine Leipziger von 1906, die von der Freiburger (1908), die er anführt, gänzlich abweicht. Die Überſetzung von Michael Gino- witz (D. Cleener, Zürich 1905) will ich nicht hinzurechnen, da ſie ſich zum großen Teil auf die Förſterſche (Leipzig 1841) ſtützt.

Wertvolle Abhandlungen bietet Lambert im Anhang. Und zwar iſt es die alte, nimmer ruhende Beatrice-Frage. Seine Unterſuchung zerfällt in vier Teile: Beatrice Dantes erſte Geliebte Beatrice die Heilige Dantes zweite Geliebte. Der Raum verbietet es mir, auf die geiſtreiche Unterſuchung allzuſehr einzugehen. Schon im Jahre 1908 hat Adolf Dyproff die Anſicht vertreten, daß Beatrice eine Schweſter Gemmas geweſen fein könne. Doch Lamberts Meinung, daß es Piccarda Donati fei, teilt er nicht. (Vgl. darüber S. 530 ff.

in Dproffs Artikel „Zu Dante“ in der oben erwähnten Ehrengabe katholiſcher Gelehrter, Der Türmer XXII, 12 29

410 Ein Rückblick auf die Dante-Arbeit der letzten Zahre in Oeutſchland

Herder 1920.) Lambert ſagt (S. 96 ff.), daß Beatrice nach Kap. 29 des Neuen Lebens als eine Neunheit aufzufaſſen fei, d. h. als ein Wunder, deffen Wurzel einzig und allein die wunder- bare Dreieinigkeit ſei. Er begegnet ſich in dieſer Zerſpaltung mit dem erwähnten Rüdiger, der S. 15 gleichfalls behauptet, daß Beatrice der Name für eine (aus neun Stücken beſtehende) Vielheit ift. Dante will das Wirken dieſer neunfachen Vielheit in ihrem einheitlichen Zu- ſammenhange ſchildern. Zu dieſem Zwecke ſtellt er ſie ſich als eine Perſon vor, die durch ihr Wirken in neunfach verſchiedener Weiſe zu den Menſchen in Beziehung tritt, und er gibt dieſer perſonifizierten Neunheit, wie viele andere im gleichen Falle auch tun würden, den Bedeutungs- namen Beatrice, die Seligmachende. Oyroff ift der Anſicht, daß nicht Piccarda, ſondern eine andere frühverſtorbene Schweſter Foreſes, Piccardas und Gemmas namens Beatrice die Geſuchte fei. Daher erkläre ſich auch der Amſtand, daß Dantes ältefte Tochter nach dieſer Tante Beatrice genannt worden fei. Genug von dieſer Sache! Sch verweiſe nochmals auf die Beatrice-Artikel im Oantejahrbuch, auf den von Engelbert Krebs, der in einem Nachtrag gegen A. Rüdigers „Einzig mögliche Deutung“ (nämlich: Beatrice als Gatra- ment der Taufe aufzufaſſen) ſcharf zu Felde zieht (Seite 93), und auf den kurzen, aber ſehr leſenswerten von Karl Federn (S. 65). Zu dem Krebsſchen Beatrice-Artikel ift übrigens noch fein Aufſatz: Erlebnis und Allegorie in Dantes Commedia gegen Schluß (S. 548) in der Ehrengabe katholiſcher Gelehrter zu vergleichen. |

Ein hoher Genuß wird den Dantefreunden bereitet durch Hermann Hefeles Dante (Fr. Frommanns Verlag, H. Kurtz, Stuttgart 1921. Mit einem Dantebild nach Andrea L' Or- cagna aus dem Jüngſten Gericht und mit farbigen Initialen. 274 Seiten, 1.—5. Auflage). Hefele erregte vor einigen Jahren durch ſein tiefgründiges Werk: Oas Geſetz der Form berechtigtes Aufſehen, das eine Wandlung vom Menſchen forderte; nämlich den ſchwierigen Schritt vom Ich zum Du, als deſſen Ergebnis das Wunder des Objektiven ſteht. Mit derſelben Künſtlerſchaft in der Sprachformung wie in der Klarheit und Folgerichtigkeit ſeiner Gedanken ift auch dieſes Oantebuch gefchrieben, das von Anfang bis Ende durch Scharfſinn feſſelt, durch Arteilskraft überzeugt. Die Betrachtungsweiſe Hefeles (die leider durch ein Dorngeheck üppiger Fremdwörtelei umzäunt ift) fegt die Kenntnis der geſamtgeſchichtlichen und kunſtwiſſenſchaft⸗ lichen Fragen voraus und ſieht ihr Ziel hauptſächlich im inneren Entwicklungsgang der Erſchei- nung. So wird das Buch in beſonderer Weiſe der heute geltenden Auffaſſung entſprechen, die in dem Florentiner den großen Weltbürger der geiſtigen Ordnung verehrt, den tiefſinnigen Denker, den Seher des Überſinnlichen. Es iſt Tempelluft, die den Leſer umweht.

Künſtler, die über ihre Kunſt ſprechen follen, werden oft einfeitig oder perſönlich. So find auch Dichter (ſelbſtändige und Nachdichter) keine ſehr objektiven Beurteiler. Ihre An- ſichten gipfeln faſt immer in einer Verteidigung ihres Eigenweſens, werden Erklärung ihres eigenen Stils, verſchärfen ſich zur Behauptung ihrer Kunſt, fo daß fie ſelbſt in ihrer Bewunde- . rung mitunter ſtreitluſtig oder einſeitig wirken. Aber ſchließlich iſt ja auch jedes Lob nur eine Anerkennung der eigenen Anſichten. So mögen es mir die hier Beſprochenen denn zugute halten, wenn ich mich als Selbſtdantedichter der undankbaren Aufgabe unterzogen habe, meine dichtenden Mitbrüder unter die Lupe und das kritiſche Meſſer zu nehmen. Ich hoffe, daß ihnen meine Schnitte nicht zu wehe getan haben. Sie geſchahen nicht in dieſer Abſicht: nicht um zu verwunden, ſondern um mehr oder minder leicht zu heilende Schäden aufzudecken. And das iſt Pflicht jedes gewiſſenhaften Kritikers, der fachlich bleibt. Die angekündigten Über- tragungen von Hans Geiſow, Auguſt Vezin, Stefan George, von Puttlitz und anderen ſind beim Abſchluß meines vorliegenden Aufſatzes noch nicht erſchienen.

| Richard Zoozmann

Nachwort des Türmers Im Anſchluß an dieſen Bericht unſres Mitarbeiters ſei auf deſſen eigene umfaſſende Arbeit an Dante hingewieſen. Seine erſte Übertragung erſchien im Jahre 1907; er legt nun im Verlag Heſſe & Becker, Leipzig, als Jubiläumsausgabe die

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zehnte Umarbeitung ſeiner bekannten Eindeutſchung des gewaltigen Epos vor: in ſchönem großem Orud und würdiger Ausſtattung (519 Seiten, Halbleinen 45 K) Im Herderſchen Verlag, Freiburg i. Baden, erſcheint gleichzeitig die dritte und vierte Auflage einer wort- wörtlichen Überſetzung. Zoozmanns Nachſchöpfungen befleißigen ſich neben Reimreinheit und Klarheit der erdenklichſten Treue. Näheres über ſeine Geſichtspunkte lieſt man in einem kurzen Nachwort der neuen Heffe-Bederfhen Ausgabe und in der Einleitung zu feiner Leip- ziger Gefamtausgabe (40. Tauſend 1). Wahrlich, eine bewundernswerte Summe von Fleiß und Hingabe an ein großes Werk! >

Franz Hein NN)

ls im Herbſt 1918 Deutſchland zuſammenbrach und das Elſaß verlor, ging mir eines Tages ein wehmütiger Gruß aus der entſchwundenen Heimat zu: eine farbige E cSteinzeichnung von Franz Hein, die Burgruine Fleckenſtein im unteren Elſaß. Das breite freundlich - helle Wieſental des Vordergrundes geht in dunkleres Waldgebirge über; und in deſſen Mitte erhebt ſich die Sandſteinburg, die einſt faſt ganz in Felſen gebaut war.

Franz Hein, der Norddeutſche, hat in einem Abſchnitt ſeines Lebens als Künſtler grade jener ſtillen Landſchaft gehuldigt. Ein andres Bild aus jener Gegend, ein Birkental, hing in Straßburg an unſrer Wand und hielt die Erinnerung an unfre engere Heimat, an das nördliche und mittlere Elſaß wach. Von Karlsruhe aus, wo der Künſtler damals wirkte, kam Profeſſor Hein oft ins Steinbachtal, angezogen von jenem ſaftigen Wiefengrün, von jenen friſchen Forellen; bächen, von den weiten Wäldern und verträumten, wenig vom Wandervolk berührten Burg- trümmern. Teils mit Burgen, teils mit Birken bring' ich ſein dortiges Schaffen in Verbindung: es iſt ſtark und zart zugleich.

Franz Hein, geb. am 30. November 1863 in Altona, wandert nun langſam dem 60. Ge- burtstag entgegen. Einſt vom Märchen ausgehend, auch dichteriſch veranlagt, wirkt er jetzt in Leipzig und hat fih ganz beſonders den graphiſchen Künſten gewidmet. Im Verlag R. Voigt länder, Leipzig, ſammelten fih mehrere Mappen Holzſchnitte. Auch hier, ob er nun die Jahres- zeiten oder den deutſchen Wald oder neueſtens den Wasgenwald mit ein paar kennzeichnenden Strichen feſthält: auch hier ſpüren wir feinen tiefen, ſtarken Naturſinn, mit dem er ſich be- ſonders in Waldſtimmung einträumt.

Das iſt das Oeutſche an ihm: dieſe gradlinige Art, mit der ſein Griffel die Sache ſelbſt anpackt, den Grundgehalt, die Grundſtimmung, ohne fih in Mätzchen zu verlieren. Die Holz- ſchnitte, die er dem Wasgenwalde widmet, find ernſt, faſt düſter, gleichſam überſchattet von der Wehmut um das Verlorene. Da iſt der altberühmte Wasgenſtein, wo Walther um Hilde- gunde kämpfte, die Ruine Schöneck, wo die Grafen von Dürckheim hauſten, die Burg Lützel- hardt, eine wolkenüberſchattete Hochwaldkuppe und immer hat man die Empfindung: echt deutſches, alt- deutſches Land!

Wald und Märchen dieſe beiden ioii doch wohl auf das innigſte zuſammen. Beides kommt in Franz Heins Kunſt zur Auswirkung. Wir begrüßen es, daß er in Holafchnitt- bildern von ſchlichter Technik den Geſamteindruck und den Poeſiegehalt einer Landſchaft feft- zuhalten beſtrebt iſt. Wir können gar nicht einfach genug werden, wir neudeutſchen Menſchen und Schaffende: einfach, edel, gehaltvoll. Es ift eine äußerſt reife Kunſt, die mit wenigen Strichen oder Worten viel ſagt, weil ſie das Weſentliche ſagt. Grade die graphiſche Kunſt hat hier noch manche Möglichkeit.

Dieſe wenigen Worte wollen nur ein Gruß ſein: ein Gruß an einen Künſtler, der nicht nur deutſche Landſchaft im allgemeinen, ſondern das Elſaß noch insbeſondre liebt und die Seele jener verlorenen Landſchaft in Bildern feſtzuhalten bemüht war. L.

REIT

. 412 Beethoven Herbart Schumann

Beethoven Herbart Schumann 1770—1827 1776—1841 1810—1856 Kulturpädagogiſcher Beitrag für die Unterrichtsfäher an der künftigen = deutſchen Oberſchule IJ chumann zu verſtehen, ihm in feinem Gedankengang zu folgen, ift nicht jedermanns Sache, da das Geiſtesleben ſeiner Zeit den Mittelpunkt ſeines Schaffens bildete. Schumann ift nicht nur der Poet, ſondern auch der Philoſoph unter den Romantikern, und es beſteht für uns kein Zweifel, daß Schumann von Herbarts Philoſophie ſtark beeinflußt wurde, wie umgekehrt Herbart in feinen muſikäſthetiſchen Bemerkungen nicht nur an feinen großen Zeitgenoſſen, den Titanen Beethoven, ſondern auch an den jugendlichen Schumann dachte.

Herbart war ein vorzüglicher Klavier- und Celloſpieler; er hat auch komponiert. „Seiner äſthetiſchen Einſicht kam das aber nicht zugute; was ſich bei ihm von muſikäſthetiſchen Be- merkungen zerſtreut vorfindet, iſt nicht nur widerſpruchs voll, ſondern in der Haupttendenz geradezu gefährlich und hat denn auch jahrzehntelang irreleitenden Einfluß geübt“, meint Paul Moos in feiner Muſikäſthetik (Seite 74). Dem können wir nicht beiſtimmen. Der vor- nehme Charakter Herbarts, der exakte, ſtreng nüchterne, jedem Schein und Prunk fremde Charakter ſeiner Forſchung läßt das nicht zu. Herbart betont, daß nicht das körperliche Ohr, nicht einmal das Hören wirklicher klingender Töne die Entſcheidung treffe, ſondern die Phan— taſie, die geiſtige Vorſtellung; das Schöne exiſtiert außer der Vorſtellung nicht; es iſt als Schönes nur vorhanden im Bewußtſein des reproduzierenden oder auffaſſenden Subjektes. Das Kunſtwerk hat feinen Wert in ſich und für ſich (II, 112).

Auch mit dieſen Ausführungen find viele Muſiker und Muſikäſthetiker nicht einver- ſtanden. Aber dieſe Auffaſſung Herbarts iſt einerſeits die Konſequenz ſeines philoſophiſchen Syſtems, andererſeits die einzig richtige Auffaſſung von dem Werte eines echten und wahren Kunſtwerkes in der Muſik. Als Beethovens Gehör ſchwand, als er ſein Spiel nicht mehr durch ſein Gehör kontrollieren konnte, als er nur noch mit dem geiſtigen Ohr hörte, richtete ſich der Titane noch einmal empor, gewaltiger und größer als je. Ze mehr ſein Leiden ihn zwang, ſich von der Außenwelt abzuſchließen, je hilfloſer er äußerlich dem Leben gegenüber— ſtand, deſto ſtärker, unerbittlicher hielt er an ſeiner Art und ſeinen Forderungen feſt. So baute er ſich in ſeinem Inneren eine neue Welt auf. Neue Klangwirkungen vernehmen wir, und Beethoven ſchenkte der Welt neben den herrlichen letzten Sonaten und Quartetten noch jene beiden Wunderwerke, die immerdar als Gipfelpunkt der muſikaliſchen Kunſt und als höchſte Offenbarungen des Genius gelten werden: die Missa solemnis und die Neunte Symphonie. Das iſt durchgeiſtigte Muſik im höchſten Sinne des Wortes, und hier berühren, treffen und einigen ſich die beiden großen Meiſter: Beethoven und Herbart.

Herbart erklärt, daß die Muſik Stimmungen, Leidenſchaften, Affekte zeichnet, wenn auch nicht Handlungen, nicht Gründe der Überlegung, nicht Fronie und Satire, obgleich ihr der Witz nicht ganz fremd iſt. Er ſpricht der Muſik die Fähigkeit zu, ſchöne Sittlichkeit aus- zudrücken, Erhabenes, Wunderbares, Religidjes, Liebe, Grazie, Naives, Sentimentales, Komiſches und Humoriſtiſches zu ſchildern (I, 583). Und wenn eben dieſer Herbart, der in der Muſik einerſeits Affekte, Leidenſchaften, Stimmungen ausgedrückt findet, andererſeits das Muſikaliſch-Schöne durch Zahlenverhältniſſe bedingt fein läßt, fo ſtoßen fid daran wieder manche Muſikäſthetiker und finden das einſeitig und irreleitend. Za, ein beſtimmtes Zahlen— verhältnis muß in der Harmonie, im Rhythmus und ſelbſt in der Form eines muſikaliſchen Kunſtwerks vorhanden pein. Auch in der Inſtrumentation ſpielt das Zahlenverhältnis eine Rolle. Manche Muſikäſthetiker ſprechen von „Naivität“, wenn Herbart behauptet, daß die Muſik unter allen Rünften die größte äſthetiſche Oeutlichkeit beſitze; der Überblick über die Partitur, die alle Stimmen in reinlicher Scheidung zeigt, iſt ihm gleichbedeutend mit dem

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Erfafjen des Schönen. Gerade unfere großen Muſiker und Dirigenten, die es mit der Kunſt ernſt nehmen, werden hier Herbart vollſtändig beipflichten. Ein „Sichverſenken“ in die Par- titur eines großen Muſikwerkes iſt für jeden echten Muſiker der größte Genuß, ſicher ein höherer Genuß als eine mittelmäßige Aufführung des Muſikwerkes ſelbſt.

Bedeutſam iſt, was Herbart unter Perzeption und Apperzeption in der Kunſt verſteht. Perzeption iſt die Auffaſſung, Apperzeption die Aneignung eines Kunſtwerkes. Wenn der das Kunſtwerk Genießende noch eine „ergänzende Zutat“ dazu macht, wenn er fih das Werk deutet und erklärt, fo ift das Apperzeption. Im anderen Falle ift der Betrachtende und Ge- nießende der Perzeption allein überlaſſen und damit fehlt das ſtärkſte Intereſſe; es muß in jedes Kunſtwerk Unzähliges hineingedacht werden. Und hier berühren fih Herbart und Schu- mann zunächſt. Schumann beeinflußt doppelt nachhaltig feine Epoche, als Kom poniſt und als Schriftſteller. Eine feine Poeſie durchzieht feine Mujit, eine klare Herbartſche Philoſophie ſein Schriftſtellertum.

Die von ihm 1834 begründete und 10 Jahre hindurch geleitete „Neue Zeitſchrift für Muſik“ bekämpfte energiſch die Verflachung im damaligen Kunſtleben, die ſchreckhaft überhandnehmende Mittelmäßigkeit in der Produktion, das Virtuoſenunweſen, Zopf und Perücke, ſowie das mattherzige Kunſtphiliſtertum in der Kritik. Mit Begeiſterung wurden neue Genien begrüßt; dabei verwies fie nicht minder beharrlich auf die un vergänglichen Lei- ſtungen früherer Meiſter, vor allem Bachs, als unerſchöpfliche Quelle tüchtiger Belehrung für den höher ſtehenden Künſtler. Der in der, Zeitſchrift auftretende „Davidsbund“ war eine humoriſtiſche Idee des Poeten und Philoſophen Schumann. Er teilte feine eigene Perſön- lichkeit in verſchiedene fingierte Geſtalten, unter deren Namen er die Kritiken und oftmals Kritik und Gegenkritik veröffentlichte. Den Charakter dieſer vorgetäuſchten Perſonen führte er mit ſo großem Geſchick und ſo richtiger Konſequenz durch, daß ſie wirklich den Eindruck von lebenden Perſonen erweckten. Unter dieſen fingierten Kritikern ſind Floreſtan, der leidenſchaftliche und rückſichtsloſe Anhänger des Fortſchrittes, und der milde jünglinghaft ſchwärmeriſche Euſebius, der an jedem Werk die guten und ſchönen Seiten liebevoll her- vorſucht und beleuchtet, die wichtigſten. Zwiſchen ihnen vermittelt Meiſter Naro, der Mann des gereiften und abgeklärten Kunſtverſtändniſſes. Schumanns Beiträge als „Ge- ſammelte Schriften über Muſik und Muſiker“, 1854 in vier Bänden erſchienen, find eine der be- deutendſten Erſcheinungen unſerer Muſikliteratur. Jedem Künſtler, jedem ernſten Kunſtfreunde, jedem Muſikäſthetiker und Muſikphiloſophen ſollten ſie immer zur Hand ſein zur Erquickung und Erhebung. Spitta ſagt in ſeinen muſikgeſchichtlichen Aufſätzen: „Sie geben Zeugnis von einem Reichtum an Beobachtungen des Seelenlebens, einem Tiefblick in die Vorgänge inneren künſtleriſchen Werdens, einem Hochflug der Gedanken, die erſtaunlich find... . Es gibt kein Buch, das gerade für den Muſiker ſo reich an Anregungen wäre zum Weiterſpinnen der Gedanken und keines, das ihm die Freude inniger Zuſtimmung häufiger bereitete. Denn das Talent, muſikaliſche Totaleindrücke hervorzurufen, tritt hier mit einer Kraft auf, die alles weit hinter ſich läßt, was vor und neben Schumann in dieſer Art verſucht worden iſt.“

Und nun Schumanns Verhältnis zu Beethoven! Schumann wurde nicht beunruhigt durch das Neue, das Andersgeartete, wie z. B. Mendelsſohn, im Gegenteil: er ſuchte es auf

mit faſt nervöſer Haſt, und die ſtärkſten und eigenartigſten Talente begrüßte er mit froher Begeiſterung. Schon fein Verhältnis zu Beethoven ift ein anderes: „Er blickte nicht in der ſcheuen, halbängſtlichen Ehrfurcht, ſondern mit ſchwärmeriſcher Liebe zu dem größten Meifter empor.“ Er war unter ſeinen Zeitgenoſſen der erſte, dem das Verſtändnis für des Titanen ganze Größe aufdämmerte. Er bewunderte nicht nur die Werke Beethovens, ſondern drang auch in ihren Geift ein, er verehrte in Beethoven nicht nur den Käünſtler, ſondern auch den Menſchen. Das Verhältnis zu Beethoven aber iſt der Grad- und Wertmeſſer für die Be- urteilung der beſten Tonkünſtler des 19. Jahrhunderts. Dr. Grießinger-Metzger

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Des Bürgerfrieges zweiter Seil? Beamte und Arbeiter Die Gefahr für Europa

ie vereinigten, alſo alle Parteirichtungen umfaſſenden deutſchen y, Sewerkſchaftsverbände haben Anfang des Jahres den Verbands— (FT, mächten zur oberſchleſiſchen Frage eine ODenkſchrift überreicht, in ! der ſie das Verhältnis der Arbeiterſchaft zum Entſchädigungsproblem Be lesie Es wird darin febr treffend geſagt, daß das geſamte deutſche Wirt- ſchafts leben diefe Bürde einheitlich zu tragen habe und daß fie durch Mehr- leiſtung der werktätigen Bevölkerung aufgebracht werden müßte. Die deutſche Arbeiterſchaft ſei der Anſicht, daß ſelbſt beim Verbleiben Oberſchleſiens bei Oeutſchland Arbeitsleiſtungen zu vollbringen feien, die über das hinaus— gingen, was nach dem Sinne des 13. Teiles des Friedensvertrages billiger- weiſe der Arbeiterſchaft zugemutet werden könne. Sie halte es für ihre Pflicht, auf das dringendſte darauf hinzuweiſen, daß eine weitere Herabdrüdung der Lebenshaltung der deutſchen Arbeiterſchaft eintreten müſſe und der 13. Teil des Friedensvertrages in Deutſchland nicht durchgeführt werden könne, wenn ein ſo überaus wichtiges Gebiet wie das oberſchleſiſche von Deutſchland losgelöſt werde. Inzwiſchen iſt die Entſcheidung über Oberſchleſien noch immer nicht ge- fallen, noch immer muß Oberſchleſien als „Neizkarte“ unter den Partnern am Nänkeſpiel um die Weltmacht herhalten. Aber die Folgen, die in der oben erwähnten Oenkſchrift von den Führern der deutſchen Arbeiterſchaft ſorgend und warnend angekündigt worden find, wetterleuchten bereits in der Ferne und wer- den binnen kurzem ſtürmiſch in die Erſcheinung treten. Prompt wird die äußere Kriſis, die durch die Annahme des Ultimatums einen gewiſſen Abſchluß erreicht hatte, durch die innere abgelöſt. Wir ſollten nach den reichlich geſammelten Er- fahrungen der letzten Jahre deren Verlauf einigermaßen kennen. Zunächſt pflegt das Wirtſchaftsleben von der Fieberwelle ergriffen zu werden. Die ungeheuren Zahlungsleiſtungen, die uns aus den Reparationsverpflichtungen erwachſen, zwingen das Reich, an den Weltbörſen fremde Zahlungsmittel, in der Hauptſache Dollars, einzukaufen. Dadurch hebt fih der Wert der fremden Oeviſen, während ſich gleich- zeitig der Markkurs abwärts neigt. Da die bisherigen Einkünfte des Reiches kaum herlangen, um den Staatshaushalt zu beſtreiten, werden neue, unerhörte Steuer-

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laſten dem Wirtſchaftskörper auferlegt. Eine Verteuerung der Produktion ift die notwendige Folgeerſcheinung. Der Erzeuger aber Induſtrie und Landwirt- ſchaft ſucht abzuwälzen. Der Abnehmer ſeinerſeits ſetzt ſich zur Wehr und fordert, ob Arbeiter, Angeſtellter oder Beamter Lohn- und Gehaltserhöhung. Abermals ſchnellen die geſamten Warenpreiſe in die Höhe. Und fo geht es weiter, Zug um Zug. Die Schraube ohne Ende, die kurze Zeit zur Ruhe a war, dreht ſich und dreht ſich.

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Das Betrübendſte an der wirtſchaftlichen Kriſis, der wir entgegengehen, iſt, daß ſie die politiſchen Gegenſätze im Lande erneut aufwühlt, und zwar zu einer Zeit, wo wir nach außen hin feſteſter Geſchloſſenheit bedürften, um langſam wie- der die erſten, ſchüchternen Vorausſetzungen einer Bündnisfähigkeit zu ſchaffen, die heute ſchon nicht mehr ſo nebelhaft fern erſcheint wie vor Jahresfriſt. Jedes neue Finanzprogramm ruft den Klaſſenkampf auf den Plan. Ze rückſichtsloſer der Raubzug auf die Taſchen des Steuerzahlers, deſto heftiger deffen Widerſtand. Kein Wunder, daß heute bei den vielen Schwächen, Ungerechtigkeiten, Lücken unſerer überhaſteten Steuergeſetzgebung das Ringen um die Verteilung der Laſten, aus der Vogelſchau betrachtet, als ein ſinnloſes Wüten aller gegen alle erſcheinen muß. Der Arbeitnehmer begnügt ſich nicht mehr damit, feine Forderungen zeit- lich dem Wachſen der Teuerungswelle anzupaſſen, er treibt vorbeugende Politik, er macht ſich das zu eigen, was man in der Rechtſprechung als Putativnotwehr bezeichnet: wenn ich nämlich befürchten kann, daß mir jemand eine Ohrfeige gibt, jo haue ich zuerſt zu. Dieſes Verfahren, auf das Volkswirtſchaftliche über- tragen, ſteigert die Kriſis ins Heilloſe. Auf die Kunde hin, daß der Brotpreis um 40 % erhöht werden müffe, verlangen die Arbeiter der Höchſter Farbwerke eine Lohnerhöhung von 100 % und 2000 / einmalige Beihilfe. Solche maß- loſen Anſprüche, die aus der Notlage des Vaterlandes ſogar noch einen Verdienſt herauszuſchlagen ſuchen, können nur als der Ausfluß einer Seelenpanik gedeutet werden, an deren Zuſtandekommen die Regierung ſelbſt mitſchuldig iſt. Sie hat durch ihre Blätter und Nachrichtenbureaus zwar ſeit Monaten die Notwendigkeit einer Erhöhung der wichtigſten Lebensgegenſtände ankündigen laſſen, nicht aber gleichzeitig unterſucht, ob der Beamte, Angeſtellte, Arbeiter überhaupt imſtande ſein wird, die auf ihn entfallenden Mehrbelaſtungen durch Einſchränkung ſeiner Lebenshaltung zu tragen. Sie, die Reichsregierung, als der größte Arbeitgeber in Deutfchland, hätte durch eine weit vorgreifende Regelung der zukünftigen Be- ſoldungsverhältniſſe ihrer Beamten der allgemeinen Lohnkampfbewegung die Richtlinien weiſen, fie von Anfang an in ein ruhigeres, nicht allen wilden Agi- tationsſtürmen ausgeſetztes Fahrwaſſer hineinleiten können.

Soll ſich nun wirklich tauſendfältig wiederholen, daß die Unzufriedenheit irgendeines Grüppchens ſich auf ungezählte Bezirke des Wirtſchaftslebens er- ſtreckt, zu Generalſtreiks auswächſt und letzten Endes den abgeklapperten kom- muniſtiſchen Mühlen friſch Waſſer auf die Schaufeln liefert? Die Arbeiterſchaft hat ſich den Ausbau des Streikſyſtems ſo angelegen ſein laſſen, daß ſie zeitweilig in der Tat ganze Städte, ganze Landſtriche unter Druck, mitunter ſogar recht

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fühlbar den Daumen an der Kehle des Staates hielt. Sie hat, ſehr umſichtig, ſehr geſchickt, auch große Verbände der Angeſtellten und Beamten mit in das Syſtem einzuordnen verftanden, aber bei alledem hat fie eins nicht bedacht, näm- lich daß ſie auch auf der andern Seite gelehrige Schüler finden könnte. Nun aber ift in dieſen Tagen ein Plan des Reichslandbundes ans Licht gekommen, der mit wahrhaft ſozialdemokratiſcher Umſicht und ohne Gefühlsduſelei einen Lieferungsſtreik der Landwirte zur Abwehr neuer Steuerpläne vor— ſieht. „Jeder Kreis“, heißt es da, „iſt durch Streikpoſten abzuſperren. Keinerlei landwirtſchaftliche Erzeugniſſe hinauslaſſen. Bahnhöfe abſperren gegen jede Liefe— rung aus Kreis. Zugkontrolle auf Durchgangsſtation. Wagen mit landwirtichaft- lichen Erzeugniſſen anhalten. Bewachung und Abſperrung von Kornhäuſern, Mühlen, Produktenlagern. Alle Städte im Kreis zunächſt abſperren, bis ihre Solidarität mit Landwirtſchaft geſichert. Dann reichliche Belieferung an ein zu— verläſſiges Komitee in der Stadt. Wenn Landarbeiter Streik ſabotieren, Zu— weiſung von Hilfe durch Streikleitung. Soweit möglich, muß Beſitzer in kritiſcher Zeit zwei Lohnraten flüſſig halten. Bei längerer Streildauer Lohnzahlung in Naturalien (reichlich). Vorteilhafte Abſchlüſſe bzw. Lieferungen, um den Qand- wirt für den während des Streiks entgangenen Verdienſt zu entſchädigen. Vor— heriges Ausbrechen einzelner durch Zwang verhindern.“

Man ſieht, es ift alles vorhanden, was das Herz eines ſtreikerfahrenen Sozial- demokraten höher ſchlagen laſſen könnte. Aber ſiehe da, der radikalen Linkspreſſe geht plötzlich der Atem aus. Ein Blatt ſelbſt wie die unabhängige „Freiheit“ findet höchſt entrüſtete Worte über dieſen „ſchamloſen“ Verſuch, die wichtigſten Lebensbetriebe zu unterbinden. Erſtaunlicher Geſinnungsumſchwung eines Blattes, das noch am Tage zuvor in einem wutſchnaubenden Artikel erklärte, daß das Prole- tariat mit den „ſchärfſten Kampfmaßnahmen“ die neuen Laſten abwälzen und es unter allen Umſtänden „durchdrücken“ werde, daß der Beſitz den weſent— lichſten Teil der Bürde zu tragen habe. Die Geſinnungsprobe, die hier der Ar— beiter, dort der Landwirt von feiner ſtaatsbürgerlichen Pflichtauffaſſung ablegt, findet ihre treffende Ergänzung durch das offenherzige Bekenntnis eines weſt— deutſchen Unternehmerorgans, der „Bergiſch-Märkiſchen Zeitung“, von der die Steuerflucht beinahe als eine „nationale Tat“ geprieſen und empfohlen wird. „So unmoraliſch, wie unter den früheren ſchönen Verhältniſſen, iſt heute jedenfalls die Steuerflucht nicht. Schwerwiegende volkswirtſchaftliche Gründe laffen fogar eine Kapitalflucht unter Umſtänden nützlich erſcheinen. Gar nicht geſprochen werden ſoll über die Tatſache, daß auch andere Gründe perſönlicher Art, wie z. B. die ausgeſprochene Unternehmerfeindlichkeit und höchſt einfeitige Orientierung der deutſchen Steuer- und Wirtſchaftspolitik, das Unternehmertum nicht gerade dazu veranlaſſen können, durch große Steuer— zahlungen das gegneriſche Lager zu ſtärken.“

Wer täglich die Zeitungen verſchiedenſter Richtung lieſt, ſpürt förmlich, wie der vergiftende Klaſſengedanke, unausrottbarem Unkraut gleich, wieder an allen Ecken und Enden aufwuchert. Auf ſämtlichen Seiten fehlt es an gutem Willen, die Auseinanderſetzung, wie die Leiſtungen entſprechend der Leiſtungsfähigkeit zu

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bemeſſen ſeien, ſachlich und mit parlamentariſchen Mitteln zu löſen. So berechtigt die Einwände fein mögen, die gegen die Neichsfinanzgebarung erhoben werden, mit Ellenbogengewalt kommen wir dem gerechten Ausgleich nicht näher. Solange dieſe Erkenntnis ſich nicht auf allen Seiten Bahn bricht, werden wir das Schreckgeſpenſt eines Bürgerkrieges auf wirtſchaftlichem Gebiete nicht aus

dem Hauſe bannen. 1 a 4

Von erheblicher Bedeutung für unſer aller und des Reiches Zukunft iſt die Frage nach der Entwicklung des Verhältniſſes zwiſchen Arbeiterſchaft und Beamtentum. Vor der Revolution gab es da ſcharfe Grenzen und nur wenige Punkte, an denen fih das beiderſeitige Intereſſe berührte. In der Zeit der Ar- beiter - und Soldatenräte konnten dann namentlich die Unterbeamten es in den poli- tiſchen Verſammlungen häufig erleben, daß ihnen der ſozialdemokratiſche Red- ner, von jungrepublikaniſchem Machtgefühl durchdrungen, nicht ohne Hohn vor- hielt, wohin denn nun die alte Beamtenherrlichkeit entſchwunden ſei. Zielbewußt wird darauf ausgegangen, in dem Beamten das Gefühl zu ertöten, als wäre er „etwas Beſonderes“. Das Solidaritätsgefühl innerhalb der Beamtenſchaft, ſo weit es ſich vom alten Staat her noch erhalten hat, iſt den ſozialdemokratiſchen Seelenfängern natürlich ein Dorn im Auge, es von der Wurzel aus zu beſeitigen, lohnendſte Aufgabe der Agitatoren. Die raſtloſen Bemühungen der ſozialiſtiſchen Gewerkſchaftsrichtung, das geiſtige Band enger zu ſchlingen, find daher ſtets auf den Satz eingeſtellt, daß ein eigentlicher Unterſchied zwiſchen Arbeiter und Beamten nicht beſtehe. Ift dem wirklich fo? Der Staat ift freilich Arbeitgeber, aber doch in einem weſentlich anderen Sinne, als bei einem beliebigen privaten Unternehmen. Die Beamten wie töricht von ihnen, wenn ſie ſich dieſes Wertes begäben ſtehen in einem bevorzugten Verhältnis zum Staat. Dienſteid, unkündbare, lebenslängliche Anſtellung, geſetzlich gewährleiſtetes Gehalt und deſſen Fortbezug bei Krankheit, geſetzliche Penſionsberechtigung, geſetzliche Hinter- bliebenenfürſorge in welchem privaten Unternehmen findet man ſolche Merk- male? Aber das allein iſt's auch noch nicht. F. Huſſong geht im „Tag“ den Zu- ſammenhängen noch tiefer auf den Grund: „Die Beziehungen zwiſchen Arbeit- gebern und Arbeitnehmern find bürgerlich en Rechtes; die Beziehungen zwiſchen Staat und Beamten ſind öffentlichen Rechtes. Für das Kampfmittel des Streikes, auf das alle Organiſation der Arbeiterſchaft zugeſchnitten iſt, iſt in den Beziehungen zwiſchen Staat und Beamtentum kein Raum und keine Möglichkeit. Es fehlt dafür jede rechtliche Handhabe, jede ſittliche Entſchuldigung und jede ſachliche Notwendigkeit. Die organiſierte Beamtenſchaft hat würdigere und wirkſamere Möglichkeiten, ihre Intereſſen gegenüber dem Staate wahrzunehmen. Sft es ja doch auch für den Staat ſelber von vornherein lebenswichtig, dieſen Intereſſen der Beamtenſchaft bis zu den Grenzen des Möglichen gerecht zu werden, nament- lich zu einer Zeit, wo ja tatſächlich die grundſätzliche Vorzugsſtellung der Beamten zum Staat praktiſch vielfach und bedenklich entwertet iſt durch die revolutionäre Umwälzung aller Verhältniſſe. Aber das iſt bedingt durch einen e des Staates ſelber ſo gut wie der Beamtenſchaft.

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Wo will man eine Grenze ziehen zwiſchen dieſer und jenem? Zſt doch die Beamtenſchaft die Staatsmaſchine ſelber. Hat alfo der Staat ein aller- unmittelbarſtes Intereſſe daran, die Beamtenſchaft in Ruhe und Ordnung zu halten, fo auch die Beamtenſchaft daran, die Staatsmaſchine nicht in ihren Grund- feſten zu erſchüttern. Das tut ſie aber, wenn ſie ſich zu ihm in das Verhältnis eines drohenden Kämpfers ſetzt. Der Beamte hat das einſeitige Recht, dem kein entſprechendes Recht des Staates gegenüberſteht, ſeinen Dienſt zu quittieren. Aber eine Arbeitsniederlegung der Beamtenſchaft als ſolcher, wie fie die Ultima ratio eines vom Allgemeinen Gewerkſchaftsbund aufgeſchluckten Beamtenbundes wäre, wäre geſetzlos und unſittlich, wäre eine Aufhebung des Staates und eine Selbſt- aufhebung der Beamtenſchaft.“

Wenn der Gedanke eines „Einheitsteuerungszuſchlages“, wie er jetzt von den Spitzenorganiſationen der gewerkſchaftlichen Beamtenverbände für die künftige Beamtenbeſoldung angeſchlagen iſt, zur Tatſache werden ſollte, dann wäre ein großer, vielleicht der entſcheidende Schritt zur „Aufſchluckung“ des Be- amtentums in die Sozialdemokratie geſchehen. Denn hier haben wir ja in mas- kierter Form wieder jenen unglüdjeligen Grundſatz der Gleichmacherei, die keinen Anterſchied der Leiſtungen kennt, die gelernten und ungelernten Arbeiter in einen Topf wirft, die von Qualitätsgraden nichts wiſſen will und die letzten Endes daran ſchuld iſt, daß die Arbeit als ſolche entſeelt und zu ſtumpfſinnigem, achtſtündigem Zwang herabgewürdigt wird. „Jeder,“ ſo führt Poſtrat Bergs (Bremen) in der „Tägl. Rundſchau“ treffend aus, „der hinter den Kuliſſen Beſcheid weiß, kann beſtätigen, daß er die höheren und mittleren Beamten, ja auch ſchon die unteren Beamten in gehobenen Stellungen, um es draſtiſch auszudrücken: über den Löffel balbiert. Er ift der erſte Schritt zum Einheitsgehalt überhaupt. Ift erſt einmal dieſe Bahn beſchritten, dann gibt es kein Halten mehr, dann verwiſchen ſich die ſozialen Unterſchiede, die nun einmal zwiſchen den Beamtenſchichten be- ſtehen und in einem geordneten Staatsweſen erhalten bleiben müſſen, und die Walze der ſogenannten „Gleichheit“ rollt über alles hinweg, was höher ſtand. Es gibt in dieſer Frage nur zwei Standpunkte: entweder behauptet man, alle Men- ſchen find gleich und haben die gleichen Bedürfniſſe und Rechte; dann müfjen auch ſämtliche Beamte vom Miniſter bis zum Pförtner das gleiche Einkommen erhalten. Oder man erkennt die ſozialen Abſtufungen in den verſchiedenen Beamtenſchichten nach Vorbildung, Leiſtung und Stellung im Volksganzen an und gibt zu, daß dem- entſprechend ihre Lebensnotwendigkeiten verſchieden geartet ſind; dann werden die Bedürfniſſe für ihre Familien auch im Verhältnis zu ihrem Geſamteinkommen gleichmäßig von den Schwankungen des Wirtſchaftsmarktes betroffen, und man muß den Teuerungszuſchlag auch nach dem gleichen Hundertſatz vom Einkommen bemeſſen. Dieſen volkswirtſchaftlich allein zu rechtfertigenden Standpunkt hat bisher auch die Negierung eingenommen, als fie im neuen Beſoldungsgeſetz den Teuerungszuſchlag als Gehaltsteil einführte. Sehr richtig wies’ fie in der Be- gründung dazu darauf hin, daß eine allgemeine Geldentwertung die verſchiedenen Gehälter nicht um denſelben Betrag, ſondern rein verhältnismäßig verringert... Jetzt verlangen die Gewerkſchaften über den Kopf der meiſten Beamten hinweg

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einfach Befeitigung des gerechten Prinzips des Hundertſatzes und Einführung eines Einheitsſatzes von 3600 jährlich für Beamte, Angeſtellte und Arbeiter, und zwar nicht nur für die planmäßigen Beamten, ſondern auch für die Diätare, Ein Oberregierungsrat, ein Oberſekretär, eine Gehilfin und ein ſiebzehnjähriger Hilfsbote ſollen alſo über einen Kamm geſchoren werden.“

Und von der andern Seite her wird demſelben Ziele zugearbeitet. In allen Fragen der Verſicherungen ift es die Sozialdemokratie, die durchaus im Wider- ſpruch zu dem hier geübten Grundſatz, das prozentuale Verhältnis der Beiträge zu den durchſchnittlichen Gegenleiſtungen mit den ſteigenden Gehaltsklaſſen immer höher zu geſtalten ſucht. Es liegt Syſtem in der Sache. Der heilige Zweck iſt:

einzuebnen. á 3 *

FJ. M. Keynes hat jüngſt vorausgeſagt, daß Deutſchland an einem Zeitpunkt, der zwiſchen Februar und Auguft 1922 liegen wird, unter den Laſten der Re- paration wirtſchaftlich zuſammenbrechen müſſe. Trotzdem ſtellt Frankreich dieſes Deutſchland unentwegt als eine Gefahr für Europa hin. Warum? Deswegen, weil es eine extrem militariſtiſche Politik treibt, deren Ziel es ift, die fran- zöſiſche Vorherrſchaft über Europa unter allen Umftänden zu behaupten, und auf ſeine Machtſtellung in Europa geſtützt, in der Weltpolitik eine entſcheidende Rolle zu ſpielen. |

In der Tat ift es Frankreich gelungen, ein politifches Syſtem in Europa auf- zubauen, mit dem es ſich gegen jede denkbare Koalition erfolgreich behaupten kann. Die „Grenzboten“ warten mit Zahlen auf: Das franzöſiſche militär politiſche Syſtem ſtützt ſich auf das Bündnis mit Belgien und Polen. Frank- reich und Belgien unterhalten in Zukunft zuſammen ein Friedensheer von rund 900 000 Mann, Polen hat rund 600000 Soldaten. Frankreich und, Polen ſind die ſtärkſten Militärmächte der Erde. Japan und England folgen mit 300 000 und 294 000 Mann in weitem Abſtand. Selbſt Rußland iſt Polen zurzeit nicht überlegen. Das franzöſiſch-belgiſche Bündnis hat nach den Angaben der franzöſiſchen und belgiſchen Regierungen das Ziel der Sicherung gegen einen Angriff Deutſchlands. Alfo eine Streitmacht von vielfacher Überlegenheit, die bei einer Mobilmachung ſofort auf 4 Millionen Streiter gebracht werden kann, für die Waffen und Ausrüſtung in reichſtem Maße vorhanden ſind, gegen ein Heer von 100 000 Mann, das allein ſchon dem belgiſchen Friedensheer von 113000 Mann unterlegen ift, aller modernen Waffen entbehrt, keine Reſerven an Waffen und Ausrüſtung beſitzt und im Oſten von 600 000 Polen bedroht iſt. Und nun vergleiche man: Stalien hat ein Friedensheer von 220 000 Mann, die Meine Entente ein ſolches von rund 590 000, Tſchecho- Slowakei 190 000, Zugo- ſlawien 170000, Rumänien 230 000, Spanien 215000 Mann. Die übrigen europͤiſchen Staaten haben Armeen, die infolge ihrer Schwäche der franzöſiſchen Machtpolitik kein Hindernis bilden können. „Und wo ſich, wie im Südoſten Euro- pas in der kleinen Entente, Machtgruppierungen mit dem Ziel einer unabhängigen Politik bilden, da bemüht ſich Frankreich, dieſe mit dem gleichen Mittel von ſich abhängig zu machen, mit dem es ſeine Rüſtungen vor der Welt begründet, mit

420 Türmers Tagebuch

dem Geſpenſt der deutſchen Gefahr. Wenn dieſes Schreckmittel nicht mehr ver— fängt, iſt die franzöſiſche Politik um Auskünfte nicht verlegen: neue Gegenſätze werden geſchaffen, ſelbſt der Kaiſer Karl muß wieder auf der politiſchen Bühne auftreten, teile und herrſche! Staaten aber, die, wie Polen und Belgien, ſich willig vor den franzöſiſchen Siegeswagen ſpannen laſſen, werden großmütig auf Koſten Deutſchlands oder anderer Frankreich nicht genehmer Länder belohnt: Eupen und Malmedy, Oberſchleſien und jüngſt Litauen! Selbſtbeſtimmungs- recht und Freiheit der Völker die gelten nur für Frankreichs Trabanten, nie- mals für Oeutſche. Oſterreich!“

Es iſt notwendig, ſich die großzügige Machtpolitik Frankreichs klar vor Augen zu halten, um richtig das heißt vom praktiſchen, nicht Gefühlsſtandpunkt zu verſtehen, aus welchem Grunde Englands Zntereſſe an Oberſchleſien und an der Erhaltung eines Neftes deutſcher Kraft bei der Pariſer Tagung des Oberſten Rates ſtärker als je hervorgetreten iſt. Die „Süddeutſche Zeitung“ trägt die ſchmalen Hoffnungen, die der deutſchen Politik aus Englands natürlich ganz un— ſentimentaler Parteinahme für die deutſchen Anſprüche auf Oberſchleſien er— wachſen, auf einem Häufchen zuſammen: „Der Brite kann nur mit ſcheelem Auge zuſehen, wie Frankreich mit der Verwirklichung ſeiner oberſchleſiſchen Pläne ſeine auf Kohle und Erz geſtützte Wirtſchaftsmacht gewaltig verſtärken würde. Auch regt fich in England wieder der alte Grundſatz des europäiſchen Gleichgewichts; man weiß doch nicht, ob man Oeutſchland nicht auch wieder als Rontinental- degen braucht; da darf es nicht ganz entkräftet werden, es iſt jetzt geſchwächt genug. Es find ſtändige Grundlagen der britiſchen Politik, aus denen Deutſchland ſachte einen gewiſſen Schutz gewinnt, aber die Erwägungen, die es England rat— ſam erſcheinen laſſen, noch an der Entente feſtzuhalten, ſind für jetzt doch noch ſtärker. So hat fich eine gewiſſe engliſche Betreuung Oeutſchlands herausgebildet, aber ihr Grad bemißt ſich nach den jeweiligen Bedürfniſſen und Schwankungen der britiſchen Politik. Deutſchland unter ſeiner jetzigen Regierung ſieht keine andere Wahl, als ſich in dieſe engliſche Schutzherrſchaft einzuſchmiegen. Daß wir Deutichen, die wir uns keinen eigenen Schirm mehr halten können bei dieſem Anterſtehen unter das britiſche Regendach immer noch gehörig naß werden, zeigen die Pariſer Beſchlüſſe des Oberſten Rats.“

Aber es bleibt uns eben vorderhand nichts anderes übrig, als mit unter— zukriechen. Es gibt im Auswärtigen Amt zu Berlin Leute, die diefe Wendung der Dinge benutzen, um darauf hinzuweiſen, daß ſie ſtets auf der richtigen Fährte geweſen feien und daß die Offiziöſen Deutfchlands ja bewußt und eifrig, vor allem in den letzten ſieben Jahren (einſchließlich des Krieges) die Annäherung an Eng- land betrieben hätten. Abgeſehen nun davon, daß jeder Tipp periodiich wieder- kehrt, iſt man doch ſehr verſucht, dieſen Herrſchaften ein Wort Bismarcks mit be— ſonderer Geltungskraft für die nächſte Zukunft entgegenzuhalten: „Selbſt wenn ihr wißt, was gemacht werden muß, ſo wißt ihr noch lange nicht, wie es

gemacht werden muß!“

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Ricarda Huch

tritt in ihrem neueſten Werk „Entperfön- lichung“ (Leipzig, Inſelverlag, geh. 15 K, geb. 24 M) wieder als dichteriſche Denkerin vor ihre Gemeinde wie im „Sinn der heiligen Schrift“. Man braucht nur ein Dutzend Sei- ten mit einer gleichen Anzahl in Oswald Spenglers neueſtem Schriftchen „Peſſi— mismus?“ (Berlin, Stilte, 1921) zu ver- gleichen: und man fpürt ſofort, wie ſich ſchöpferiſches Denken von mechaniſierendem Verſtand unterſcheidet. Man legt enttäuſcht Spenglers ſelbſtgefällige Herausforderungen aus der Hand. „Menſchheit iſt für mich eine zoologiſche Größe. Ich ſehe keinen Fortſchritt, kein Ziel, keinen Weg der Menſchheit außer in den Köpfen abendländiſcher Fortſchritts- philiſter. Ich ſehe nicht einmal einen Geiſt und noch viel weniger eine Einheit des Stre- bens, Fühlens und Verſtehens in dieſer Be- völkerungsmaſſe“ uſw. kurz, er ſieht nur jene Menſchheits-Ausſchnitte, die er „Kul- turen“ nennt. Das klingt ja verblüffend, iſt aber nahezu eine Plattheit. Denn niemals hat früheres Denken, wenn es ernſthaft den Begriff „Menſchheit“ handhabte, etwa nur zahlenmäßig oder zoologiſch an Zulukaffern nebſt Eskimos und ſämtliche anderen Gat- tungen gedacht, ſondern man ließ immer etwas wie einen Idealbegriff mitſchwingen: etwas wie Menſchlichkeit, Edelmenſchlichkeit, Humanität. Schon unter uns Europäern, in der weißen Raſſe ſchon, ſchieben fih gleichſam verſchiedene Kulturen durcheinander: hoch- entwickelte Menſchlichkeit neben tierhaft un- reifen Seelen. Und fo darf man auch das be- ſondre Reich der Kunſt, wie es Spengler höhniſch tut, nicht dem Reich der Politik gegenüberitellen. „In der Kunſtgeſchichte

iſt die Bedeutung Grünewalds und Mozarts nicht zu überſchätzen; in der wirklichen Ge- ſchichte des Zeitalters Karls V. und Lud- wigs XV. denkt man gar nicht an ihr Vor- handenſein“ ein grobes Denken, wahrlich, das die Begriffe „Kunſtgeſchichte“ und „wirt- liche“ Geſchichte gegeneinander ausſpielt! Und dann polemiſiert er in demſelben Atem- zug wieder eine ganz andre Ebene! gegen „die Notwendigkeit, die Tauſende von ſchreibenden, malenden, weltbetrachtenden Bewohnern unfrer Großſtädte als echte Künft- ler und Denter zu bezeichnen“. Kurz, man erſchrickt über dieſes flüchtige Schriftchen! Frau Ricarda Huch kann organiſch denken, kann Gedanken wirklich wachſen laffen, lang- fam, von innen heraus; fie hat den Unftintt für das Lebendige. Ihr ganzer Einſatz gilt der ſchaffenden Perſönlichkeit; ihr ganzer Kampf der Entperſönlichung, Entſeelung, Mechaniſierung. „Der produktive Menſch zerbricht Tempel in jedem Augenblick, wo er Neues ſchafft. .. Gott ift ein Gott der Leben digen und nicht der Toten. In der natürlichen Schöpfung gibt es nichts Totes, ſondern fort-

währende Verwandlung... Das Ziel der

Schöpfung aber iſt der Gottmenſch, das Ebenbild Gottes, dem wir durch Kampf näher- kommen, zerſtörend und neubildend, frei-

willig ſterbend, um reifer zu erſtehen. „Große

Taten und Werke alſo und die Heroen, die ſie vollbrachten, ſind die Mittler der Gottheit, die Vorbilder, welche immer neue Jünger in das Reich Gottes emporziehen.“ ..

Kurz und gut: hier iſt heroiſches und ſchöpferiſches Denken, ausgehend vom Sinn der Seele, die kosmiſcher Herkunft iſt. Spengler jedoch ſteckt mehr, als er ahnt, im mechaniſchen und mechaniſierenden Ber- ſtandes-Denken. |

422

Von beſondrem Reiz bei Frau Huch ift der Verſuch, Francis Baco als Ausgangs- punkt des modern-mechaniſchen Denkens zu nehmen, mit ſtark ungünſtiger Herausarbei- tung feines Charakters. Die Baconianer wer- den ihr grollen. Die neueſte Wendung hierin iſt bekanntlich die Annahme (Deventer von Cunow bereitet darüber ein Werk vor, das man bereits aus Vorträgen kennt), daß Baco und Eſſex Brüder waren: heimliche Söhne von Leiceſter und Königin Elifabeth. Reiz- voll iſt es, daß Ricarda Huch grade dieſe beiden gegeneinander ausſpielt als gegen- ſätzliche Menſchentypen: dem kaltvernünftigen, zäh an Leben und Vorteil hangenden Baco ſtand gegenüber der feurige, zu Opfer und Tod bereite, mittelalterlich geſtimmte Eifer. ..

Doch wir brechen ab. Das Buch der Dichterin, Geſtalterin, Denkerin hat perjön- lichen Charakter. Ob man ihr in Einzelheiten widerſpreche, verſchlägt nichts. Es lohnt ſich für gehaltvolle Menſchen, ſich mit dem Werk zu befchäftigen.

Zwei Bücher aus der Geiſtes⸗ welt Lienhards

wei Sammelbücher aus der Welt Lien-

hards, von mir ausgewählt und ein- geleitet, darf ich als Mitarbeiter des „Tür- mers“ hier vielleicht ſelber den Leſern zur Anzeige bringen. Das eine iſt der deutſchen Frau gewidmet, das andere der deutſchen Jugend. Jenes Buch erſcheint im Verlag Max Koch, Leipzig Stötteritz, unter dem Titel „Von Weibes Wonne und Wert“, Worte und Gedanken von Friedrich Lienhard, heraus- gegeben von Dr Paul Bülow (Pappb. 25 K. Leinen 30 K, Ganzleder 150 ); das andere unter dem Titel „Deutſcher Aufftieg, Worte für Neudeutſchlands Jugend“ von Friedrich Lienhard, ausgewählt und cin- geleitet von Dr Paul Bülow (Stuttgart, Greiner & Pfeiffer; 6 M).

Überall bei Lienhards Auffaſſung von der Frau fühlen wir uns aus den Niederungen ſinnlichen Genießens erhoben in die Sphären der tröſtenden, helfend aufrichtenden Liebe,

Auf der Warte

der Treue, der Muttergüte, der Würde und Anmut; ihm gilt die Frau als Symbol des Hohen und Reinen. Mögen wir durch ihn die königliche Macht reinen Frauen- tums, die an Neudeutſchlands Seele mitbaut, wieder ehren lernen!

In dem Heftchen der Worte für Neu- deutſchlands Jugend das durch eine für die Jugend beſtimmte Spruchkarten Auswahl aus Lienhards Werken noch ergänzt werden ſoll ſuchte ich unſerer Jugend zunächſt eine bequem zugängliche Einführung in das Schaffen und Lebensziel des Weimarer Dichters zu geben. Die Einleitung würdigt in aller Kürze Lienhards Lebensgang und dichteriſches Wirken; es folgen dann Worte an Neudeutſchlands Jugend, aus ſämtlichen Werken des Dichters ausgewählt, und zwar nach folgenden Überfchriften geordnet: Des Dichters Glaube und Wunſch, An die neu- deutſche Jugend, Deutſches Weſen, Idcalis- mus, Edelmenſchentum, Gott und Menſch- heit. Der Abſchnitt „Edeljugend“ aus dem Roman „Weſtmark“ durfte in dieſem Hefte nicht fehlen. In der lyriſchen Auswahl habe ich einige in Zeitſchriften verſtreute, in der Geſamtausgabe der Lyrik Lienhards nicht enthaltene Gedichte aufgenommen; vom übrigen Inhalt des Heftes fei noch der Ab- ſchnitt „Von Weibes Wonne und Wert“, die Szene des Sängerwettſtreits aus „Heinrich von Ofterdingen“ und das Schwertweihe⸗ ſpiel zur Sommerſonnenwende 1921 ge- nannt. Dieſes bisher un veröffentlichte Spiel, dem Baldurbund zu Hamburg gewidmet, wurde dort im Rahmen einer Helden-Gedent- feier aufgeführt: einmal in einem ſtädtiſchen Saal, das andere Mal an einem Hünengrab. Möge nun dieſes Heft, das in feinem Taſchen⸗ format in jedem Ruckſack mitgeführt werden kann, zu Tauſenden in Oeutſchlands Jugend wirken! Dr Paul Bülow

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Die ſtillen Deutſchen

Gedenuber den zahlloſen und oft fo auf- dringlichen Rettungsverſuchen deutſcher Kultur fällt ein Wort von Altmeiſter Hans Thoma wohltuend ins Ohr. Wir erinnern

Auf ber Warte

an ſeine drei kleinen Schriften, worin er Stellung zur Zeitnot genommen hat (Jena, Diederichs): deren erſtes (1917) lautete „Die zwiſchen Zeit und Ewigkeit unſicher flatternde Seele“, deren letztes (1919) „Wege zum Frie- den“. In letzterem lieſt man:

„Als das Deutſche Reich in ſeinem Glanze ſtand, da war es leicht, ſich ſtolz als Deutfcher zu bekennen; dies artete vielfach in Hochmut aus. Zest, wo Deutſchland elend und krank in Fieberwahn liegt, von allen Seiten mit Zertrümmerung bedroht jetzt iſt die Stunde der ſtillen Oeutſchen gekommen, derer, die ohne es zu wiſſen und zu wollen, nicht anders ſein können als deutſch, die bereit ſind, in duldender Treue mit ihrem Vaterland durch dick und dünn zu gehen, der frommen Deutſchen, die gar nicht wijfen, daß es fremde, von den Gierigen angebetete Götter gibt, der Armen im Geiſte, der Un- gebildeten, die wunſchlos zufrieden mit ihren kleinen Lebensfreuden ſpielen, deren Wiſſen nur darin beſteht, daß jeder Sterbliche ſein Kreuz durch Freud und Leid des Lebens tragen muß, die in ihrer Genuͤgſamkeit fröh- lich ſein können, weil ſie die wahre Heimat

der Seele in ahnungsvoller Sehnſucht er-

kennen. Wenn Deutfchland in Schmach und Schande liegt: fie werden ſchweigend ar- beiten, werden Gott Mammon verachten und den Tanz um das Goldene Kalb nicht mitmachen, dann wird das zinſenfreſſende

Ungeheuer ſeine Macht verlieren. Sie haben

auch die ſtärkſten Mittel in der Hand, daß unſer Volk wieder beſſer wird, da jeder davon erfüllt iſt, ſich ſelber zu verbeſſern, be- ſtrebt, in ſeinem eigenen Weſen gut deutſch zu ſein, d. h. aufrichtig zu wandeln vor Gott und Welt.“

Wohlgeſprochen, lieber Meiſter! Doch mit dem Einſetzen dieſer ſtillen und frommen Arbeit find diefe Deutſchen zugleich Wiſſende geworden und ſehen der Gefahr ruhig und tätig ins Auge. Nicht Unbildung oder Armut im Geiſte iſt ihnen eigen: ſondern das große Geheimnis der inneren Ruhe.

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423 Zur Erziehung des Parlaments

ei der Reichstagsabſtimmung über „Schwarz-Weiß Rot“ wurden die alten Reichsfarben für die Handelsmarine trotz der dringenden Anträge aller ſeefahrenden Kreiſe, auch der ſozialdemokratiſchen Seemannsver- einigungen, mit 1 (einer) Stimme Mehrheit

abgelehnt.

Wie war das möglich?

Weil die bürgerlichen Parteien, die über eine ſichere Mehrheit in dieſer Frage ver- fügen konnten, derartig ſchwach vertreten waren, daß es den ſozialdemokratiſchen Par- teien mit Hilfe einiger Bürgerlicher aus den Kreiſen des Kanzlers gelang, den Antrag wie geſagt mit einer Stimme Mehrheit zu Fall zu bringen.

Eine Zufallsmehrheit alſo in einer wichtigen nationalen und wirtſchaft⸗ lichen Frage!

Es iſt immer das gleiche Elend.

Radau und Tumult oder gähnende Leere. Vierzig, dreißig, oft noch weniger Abgeordnete im Saal. Durchpeitſchung von Geſetzen, deren Durcharbeitung die größte Sorgfalt erfordert hätte und die demnächſt wieder ge- ändert werden müſſen; Maſſenerledigung von Abſtimmungen im Hetztempo und wieder ſtunden-, ja tagelange Debatten zum Fenſter hinaus, ſtunden-, ja tagelange öde Partei- oder perſönliche Zänkereien. Dann Zufalls- mehrheiten bei wichtigſten Abſtimmungen.

So ſieht unſer Parlamentarismus aus. Das nennt fih „Demokratie“, d. h. Bolts- herrſchaft. |

Da werden Ströme von Tinte verſchrieben, Ballen von Papier bedruckt, da wird dem deutſchen Volke in Wort und Schrift ge- predigt: Nur Arbeit kann uns retten, Arbeit und nochmals Arbeit! Zurüd zum alten Pflichtbewußtſein, zur Gewiſſenhaftigkeit, zur Pünktlichkeit und Ordnung, zur Treue im Kleinen wie im Großen!

Und das Vorbild die Vertretung des deutſchen Volkes?!

Ich nehme keine Partei aus, weder rechts

noch links noch die Mitte. Ich nehme nicht

Reichstag, nicht Landtag, nicht Stadtparla-

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ment aus. Sie find allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den ſie haben ſollten. Man möchte verzagen an dem deutſchen Volk, das ſolche Vertreter wählt und duldet.

Aber wie der Herr, ſo das Geſcherr. Wie der Mähler, ſo der Vertreter.

Ja, meine lieben Wähler, feid ihr zu faul zur Wahl zu gehen oder feid ihr zu ſelbſtiſch, ein kleines, perſönliches Opfer zu bringen für eine ſtaatliche Pflicht: wie könnt ihr ver- langen, daß die Gewählten fleißig, pflicht- bewußt und opferwillig ſeien! Und ihr, die ihr euer Wahlrecht ausgeübt, iſt eure Pflicht damit abgetan, daß ihr einen Zettel in die Urne geſteckt habt? Warum zieht ihr eure Vertreter nicht zur Rechenſchaft? Warum fordert ihr nicht Aufklärung von ihnen über ihre Tätigkeit? Wozu iſt den Herren die Ehre zuteil geworden, ſich Vertreter des deut- ſchen Volkes nennen zu dürfen, wenn ſie es nicht vertreten können oder wollen?! Wozu bekommen die Herren ihre Diäten, wenn fie die Arbeit nicht leiſten mögen oder können?!

Ihr Wähler, warum erklärt ihr euren Vertretern, die ihre Pflicht nicht erfüllen, nicht einfach durch eure Parteiorganiſationen, daß ſie euer Vertrauen verloren haben und zwingt fie zum Rücktritt?

Ich rede keinen Ketzergerichten das Wort da ſei Gott vor! Sein Urteil muß ſich der Abgeordnete frei bilden und ſeine Stimme

nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen abgeben,

wie der Richter im Talar. Sonſt erniedrigt ihr ihn zum Stimmvieh. ,

Aber daß er feine Pflicht tue, das z kontrollieren iſt eure verfluchte Pflicht und Schuldigkeit. Tut ihr es nicht, ſo ſeid ihr eben Stimmvieh!

Ich gebe zu, daß es kein Vergnügen iſt, Stunden und Stunden den oft recht lang- weiligen, oft recht langatmigen Ausführungen zu folgen, daß es ermüdend ift, drei- und viermal dasſelbe anzuhören. Aber zum Ber- gnügen ſitzen die Volksvertreter auch nicht da, ſondern zur Arbeit: und es gibt viele Arbeiten, die zu leiſten kein Vergnügen ift, ſondern eben einfach Pflichterfüllung.

Ich gebe zu, daß das etwaige Partei- gezänk widerlich iſt, daß die Radauſzenen ab-

Auf der Warte

ſtoßend wirken. Aber hat das Haus es nicht in der Hand, da Abhilfe zu ſchaffen? Und wenn nicht, ſo muß auch das eben ertragen werden als eine Pflicht gegen Wähler und Vaterland. Wer es nicht zu ertragen vermag, der mache ſtärkeren Nerven Platz.

Und nun, was iſt zu tun?

Zunächſt und vor allem: Selbſtzucht jedes Abgeordneten, Selbſtzucht der Parteien, Selbſtzucht des Hauſes zur Pflichttreue, zur Arbeitſamkeit und leider muß man es heute fagen! zu geſellſchaftlichem Anſtand.

Dazu ſtrenge, nie cinjchlafende, unerbitt— liche Kontrolle der Abgeordneten durch die Mählerſchaft, die zu vertreten der Abgeordnete die Ehre hat.

Genügt das nicht, fo ſchlage ich vor als Hausordnung bzw. als Geſetz:

1. Veröffentlichung der Namen aller Ab- geordneten, die in einem beſtimmten Beit- raum, bzw. bei der Beratung eines beſtimm- ten Geſetzes, mehrmals unentſchuldigt gefehlt haben.

2. Weſſen Name dreimal veröffentlicht worden iſt, der verliert ſein Mandat;

3. desgleichen, wer bei drei Abſtimmungen unentſchuldigt gefehlt hat.

4. Wer ein Mitglied des Hauſes gröblich beleidigt (Lump, Schuft, Strolch, Kanaille, Zuhälter ſind ja heute an der Tagesordnung), wird ſofort von der Sitzung ausgeſchloſſen.

5. Wer die Aufforderung des Präſidenten zum Verlaſſen der Sitzung nicht Folge leiſtet, verliert ſein Mandat;

6. desgleichen, wer dreimal von Sitzungen ausgeſchloſſen worden iſt.

(Der Verluſt des Mandates bedeutet in allen Fällen nur eine perſönliche Strafe. Die Partei und die Wähler werden nicht geſchä— digt; auch entſtehen keine Koſten, da Neu- wahlen nicht nötig ſind. Es wird einfach, wie bei freiwilliger Mandatsniederlegung, der Nachfolger der Liſte einberufen.)

7. Beſchränkung der Rededauer. Jeder erſte Parteiredner erhält eine ausgiebige Redezeit, die ſpäteren erhalten eine be— ſchränkte. (Die ſtenographiſchen Berichte lieſt doch kein Menſch, weil er keine Zeit dazu hat; er begnügt ſich mit den Auszügen in den

Auf ber Warte

Zeitungen.) Es würden dadurch folgende Vorteile erreicht: Die Schönrednerei, das Parteigezänk, die perſönlichen Angriffe wür- den eingeſchränkt werden; es würde Zeit zu

nützlicher Arbeit gewonnen; die Nerven der

gewiſſenhaften Abgeordneten würden nicht zwecklos abgenützt, und es würde ſo Kraft für die Durchberatung der Geſetze gewonnen; die Reden würden konzentrierter, damit gehaltvoller und ſomit wirkungsvoller werden; die Auszüge in den Zeitungen würden mehr von dem Inhalt der Reden bringen können, und der Leſer würde ein weit eingehenderes Bild der Ausſprache erhalten, beſonders wenn er ſeine Naſe in die Parlamentsberichte mehrerer Zeitungen ſteckte.

Bleibt alles, wie es heute iſt, ſo geht der Parlamentarismus zum Teufel.

| H. Roquette

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Warum iſt der Deutſche unbe⸗ liebt?

ie rühren diefe Frage nicht anklagend,

ſondern mahnend wieder auf, wollen auch nicht unterſuchen, ob der Deutſche in der Verallgemeinerung wirklich im Aus- land nur unbeliebt war und iſt. Doch eine Zuſchrift von beachtenswerter Seite knüpft zuſtimmend an die Betrachtung von Heinrich Driesmanns „Beſeelte Lebensform“ (Juli- heft) an und empfiehlt, die vorgeſchlagene

Umgeftaltung der. Erziehung weiter zu ver-

folgen und in Tat umzuſetzen. „Jedenfalls wäre es verdienſtvoll, wenn der Türmer dieſes wichtige Kapitel: die Abſtoßung der Deutfchen untereinander, die deutſche Form- loſigkeit, den Mangel an Takt unentwegt wei- ter im Auge behielte. Auch unfer Kultus- miniſterium müßte in dieſer Hinſicht vor- wärts gedrängt werden. Ich habe dies bei dem neuen Miniſter bereits in feiner vorher gehenden Stellung verſucht; allein bei der Fülle feiner Geſichte hat er dieſen grund- legenden Punkt einer Erziehung unfres ganzen Volkes jedenfalls noch nicht in feiner vollen Bedeutung erkannt..“

Von derſelben Seite wird auf einen gehalt-

vollen Aufſatz im Buche eines feingeſtimmten Der Türmer XXII, 12

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Deutſchen aus der Welt der Technik hinge- wieſen: wir haben auch im „Türmer“ ſchon auf die ſoeben in 2. Auflage erſcheinenden geſammelten Aufſätze von Wilhelm von Ochelhäuſer „Aus deutſcher Kultur und Technik“ (München, R. Oldenbourg) aufmerk- fam gemacht (Dezember 1920). Im Schluß kapitel heißt es dort:

„.. „Dazu kommt allerdings noch eine verblüffende und traurige Erkenntnis: daß wir die unbeliebteſte Nation auf der ganzen Welt ſind. An dieſer Tatſache, als einer der wichtigſten für unſeren Wieder- aufbau, follten wir nicht mehr fo neben- ſächlich wie bisher vorübergehen! Es war ein verhängnisvoller Fehler der meiſten Deutſchen, unſere Unbeliebtheit lediglich auf das Konto unſeres unbequemen und unſeren Feinden gefährlich gewordenen Handels- wettbewerbs zu ſetzen. Auch der Zickzack⸗ kurs der hohen und höchſten diplomatiſchen Stellen kann dafür nicht allein verantwortlich gemacht werden. Es hat ja allerdings unſere wetterwendiſche, indiskrete und oft brutal auftretende Politik die alten Tugenden unſeres Volkes ſcheinbar in ihr Gegenteil verkehrt,

die Tiſza bei Ausbruch des Krieges noch mit

den Worten kennzeichnete: ‚Das, was die Deutſchen fo groß gemacht hat, ift ihre Ehr- lichkeit, Zuverläſſigkeit und Treue.“ Diefe waren und find auch heute noch Grundzüge unſeres Volkscharakters, die, wie beſtimmt zu hoffen, nur vorübergehend durch den furchtbaren Zuſammenbruch unſeres Volkes verdunkelt worden ſind. | Aber hierzu traten noch alte Fehler unſeres Volkscharakters, die in ihrer Tragweite ſeit Jahrhunderten nicht genügend beachtet wur- den. Denn ſchon zu Luthers Zeiten und noch früher wurde unſere große Unbeliebtheit unter den Nationen feſtgeſtellt. Unzählige Male, auch während des Krieges, iſt von deutſchen Autoritäten aus den verſchiedenſten Kreiſen auf unſeren Mangel guter und höflicher Formen hingewieſen. Es handelt fih zu- nächſt um die rauhe Außenſeite, die man- gelnde äußere Perſönlichkeitskultur, die an ſich ſchon viel weſentlicher und wichtiger ift als die meiſten ahnen, die mit dem Aus- 30

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lande nicht in häufige Berührung kommen. Dahinter ſteckt aber auch ein Mangel an innerer Kultur, an Liebenswürdigkeit, Herzensfreundlichkeit und Takt. Nach Georg Brandes (Miniaturen) mißt der be- deutendſte Schriftſteller des modernen China, Ku-Hung-Min, ein Kenner und Verehrer Goethes, fogar die Schuld am Kriege bei aller Bewunderung für das Rechtsbewußtſein der Deutſchen ihrem mangelnden Takt- gefühl bei. Ein bekannter franzöſiſcher Akademiker denn auch von ſeinen Feinden muß man lernen ſpricht bei uns u. a. von einem Mangel an ‚Nuancen‘ im perfön- lichen Verkehr. Das ſcheint mir richtig und der tiefere Grund für manche Taktloſigkeit zu ſein. Wir kennen im großen und ganzen nur Extreme im Empfinden, in Auffaſſung und Ausdruck. Die verbindenden Übergangsſtufen fehlen. Daher auch die ungewollten Schroff heiten, Rechthaberei, die deutſche Eigen- brötelei und die Schärfe der ſozialen Gegenfätze. Manchmal ein von anderen Kulturvölkern als brutal empfundener Na- tionalſtolz, und ein anderes Mal Bedienten- haftigkeit ſowie kritikloſe Bewunderung und Annahme ausländiſchen Weſens. Einem großen Teil unferes Volkes, gerade auch unter unſeren Pionieren im Auslande, fehlt zwi- ſchen den Extremen das nationale Gleich- gewicht und es fällt ihnen ſchwer, nationale Würde zu bewahren. Feinfühligkeit und Takt ſcheinen uns durch den materiellen Wett- bewerb immer mehr verloren gegangen zu ſein und liebenswürdige, höfliche Formen immer noch als nebenſächlich behandelt zu werden. Berufliche Tüchtigkeit allein und ſonſtige nationale Tugenden erſetzen jene Mängel aber keineswegs.

Welches Kapital beſitzen ſelbſt heute noch die Franzoſen in dem guten Ruf ihrer Per- ſönlichke itskultur, obwohl die franzöſiſche Ritterlichkeit, abgeſehen von gelegentlichen Paradegeſten, immer mehr zur Legende ge- worden iſt und die geradezu pathologiſche Eitelkeit, Selbſtberäucherung und Anmaßung ihre höflichen und liebenswürdigen Formen ſchon ſeit längerer Zeit bedenklich überſchatten. Der gute Ruf ihrer früheren Tugenden, die

kürlichen Verhaftungen zu lenken,

Auf der Warte

offenbar in der Verbindung mit kaum halb ziviliſierten Kolonialtruppen noch ſchneller entarten, wirkt gleichwohl noch heute im Aus- lande fort, auch noch bei manchen Oeutſchen, ſoweit ſie keine perſönliche Friedens- oder Kriegserfahrung haben..

Es iſt höchſte Zeit, daß im deutſchen Volke hierüber nicht nur gelegentlich einige lite- rariſche Bemerkungen gemacht werden, fon- dern eine Aufklärung von der Schule aus, und zwar in jeder Schule und Schulart, bei der jetzt mit Recht fo viel betonten ftaats- bürgerlichen Erziehung ſtattfindet. ..“

Ein Schrei nach Gerechtigkeit

nter dieſer Überſchrift veröffentlicht „La Presse libre, Sozialiſtiſches Organ für das Departement des Niederrheins“ in Straß burg einen offenen Brief der Vereinigung der in Frankreich interniert geweſenen Elſaß-Lothringer. Dieſer Brief, ſo ſchreibt das ſozialiſtiſche Blatt mit Recht, ſtellt „ein trauriges Kapitel über die Behandlung unſrer beim Kriegsausbruch in Frankreich anfäffiger Landsleute dar“. Man lieſt in dieſem Briefe: Maſe vaux (Masmüniter), 28. April 1921. „Sehr geehrter Herr Député!

Wir haben die Ehre, Ihre werte Auf- merkſamkeit auf die Verfolgungen und will- denen Tauſende von Elſaß-Lothringern fran- zöſiſcher Abſtammung unſchuldig beim Aus- bruch des Krieges 1914 zum Opfer fielen. Es dürfte Ihnen nicht entgehen, daß große Irrtümer und Ungerechtigkeiten in jener ſehr aufgereizten Zeit begangen worden ſind. Die Militär- und Zivilbehörden ließen plan- und ziellos bedauernswerte Elſaß- Lothringer von vieille souche als Spion oder Verdächtige feſtnehmen, oft auf eine verle umderiſche Anzeige oder einen lügenhaften Be— richt hin, wogegen die Spione ganz wo anders zu ſuchen waren als unter den ver- hafteten Eljaß-Lothringern. Dieſer Mißgriff zeitigte ſehr bedauerliche Folgen, die man mit der Antwort abzutun ſuchte: „Man hat Böcke geſchoſſen, doch kann man nichts daran ändern.“

Auf der Warte

„Dieſe unſchuldigen Elfaß-Lothringer wur- den von einem Gefängnis ins andere geſchleppt, um ſchließlich in berüchtigten Konzentrationslagern im Znnern inter- niert oder nach Inſeln an den Küſten Frank- reichs (Friaul, Tatihou, Groix uſw.) abge- ihoben zu werden, wo fie den häͤrteſten Entbehrungen ausgeſetzt waren. Sie unter- ſtanden einem ekelhaften und unzu- reichenden Ernährungsregime. Sie wa- ren genötigt, auf einem Häuflein Stroh zu ſchlafen ohne Dede oder auf glatten Stroh- ſäcken mit einer abgenutzten Dede, die mit Ungeziefer überfüllt waren. Dieſen Un- glũcklichen wurden die grauſamſten Erniedri- gungen zuteil, und zwar im vollſten Gegenſatz zu den von der Regierung gegebenen Ver- ſprechungen. Die internationalen Ber- einbarungen, die unter den Kriegführenden abgemacht waren, wurden mit einem em- pörenden Zynismus verletzt.

„Ohnmächtige Greiſe, kranke oder fchwan- gere Frauen, Kinder, die noch an der Mutter- bruſt lagen, wurden erbarmungslos in Ge- fangenſchaft geführt. Viele ſtarben in der Verbannung und viele andere ſtarben nach ihrer Freilaſſung an den Folgen ihrer Inter- nierung...“

Manche Gefangene, ſo heißt es weiter, wurden an die berittene Begleitmannfchaft gebunden: „vor Müdigkeit nicht mehr im- ſtande zu gehen, wurden dieſe Unglücklichen mit Lanzen geſtochen, bis fie vor Er- ſchöpfung umfielen.

„Unterwegs warf der gegen fie aufge- peitſchte Pöbel mit Steinen nach ihnen, mit Flaſche n. Es gab unter ihnen einige, die mit Keulen geſchlagen wurden, andere wieder erhielten Meſſerſtiche. Eine große Anzahl wurde in den Gefängniſſen und Konzentra- tionslagern mißhandelt, hauptſächlich im Arreſthaus in Belfort, wo der Oberauf- ſe her fie mit einem Knüttel bearbeitete oder ihnen mit einem großen Schlüſſel ſo lange auf den Kopf hieb, bis ſie im eige- nen Blute badend umfielen. In anderen Gegenden, wo die Frauen ſich der Luſtbarkeit ihrer Wächter nicht unterſtellen wollten, wur- den ſie genotzüchtigt.

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„Die internierten Elſaß-Lothringer, die unmenſchlich behandelt wurden, find zu Be- ginn ihrer Inhaftierung wie Sträflinge zur Arbeit gezwungen worden. Viele ſtarben an den Folgen der Krankheiten, die ſie ſich während der Tage in dem Gefängnis und in den Konzentrationslagern zugezogen hatten. Viele kehrten in ihr ausgeplündertes und zer- ſtörtes Heim zurück, die Geſundheit für immer verloren, mit Tuberkuloſe behaftet, ohne alle jene zu zählen, die ihre Stellung verloren haben und ohne irgendwelches Einkommen find. Unglüdlicherweife zählen wir unter den unglücklich Verſchleppten auch ſolche, die un- heilbar verrückt geworden ſind, und die in Irrenanſtalten untergebracht werden mußten.

Wir haben Gendarmen, Poliziſten und Beamte geſehen, die ſich Wertſachen, Geld, das unſeren Brüdern gehörte, aneigneten.

Wir unterbreiten Ihnen gern die Akten der Internierten.

Das Regime der niederen Polizei und der Verleumdung während des Krieges laſtet ſchwer auf den unſchuldigen Elſaß-Lothringern. Dieſe Märtyrer, welche Furchtbares gelitten haben, zeigen, wie gerecht ihre Anſprüche auf eine moraliſche und pekuniäare Entſchädigung find...“

Der ganze furchtbare Anklagebrief unterzeichnet vom Präſidenten E. Nußbaum ift u. a. in den „Münchner Neueſten Nach richten“ (9. Juli) abgedruckt: ein hervor- ragendes Gegendokument gegen die

Nationen, die unſre „Kriegsverbrecher“ ver-

trags mäßig zu richten wagen!

Gorki und Hauptmann

Der ruſſiſche Dichter Maxim Gorki hat an den deutſchen Dichter Gerhart Hauptmann einen offenen Brief gerichtet: einen Hilferuf an Deutſchland für das ver- hungernde Rußland. Hauptmann hat mit allgemeinen Worten von Vöoͤlkerverſöhnung zuſagend geantwortet ohne einen Schatten irgendwelchen großpolitiſchen Gedan— kens, wie man ihn bei ſolchen Hochmomenten von einem Sprecher der Nation erwarten müßte. Vom geſamtpolitiſchen Problem iſt

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aber jene ruſſiſche Not nun einmal nicht zu trennen. Wir wiſſen leider, daß deutſche Gaben vor allem in die Taſchen der Somjet- Herren fließen würden, deren Mordkommiſ⸗ ſionen über Tauſende und aber Tauſende von Leichen ſchritten und die nun, nach all dieſen Blutbädern, das Mitleid anrufen. Wo- bei man übrigens von mehreren Seiten hört, daß die Notſchilderung übertrieben ſei.

Man erinnert nun, angeſichts jenes Hilfe- rufs des bekannten ruſſiſchen Schriftſtellers, an folgende Tatſache. Im Januar dieſes Jahres veröffentlichte das „Berliner Tage- blatt“ ein von D. S. Mereſchkowskij an den Engländer Wells gerichtetes Schreiben, in dem Mereſchkowskij Anklage gegen Maxim Gorki erhebt. In dem Schreiben ſagt D. S. Mereſchkowskij von Maxim Gorki: „Als ich ſo dumm war oder ſo ſchwach, ihm zu ſchreiben, daß ich Hungers ſterbe, ant- wortete er mir nicht, ſondern ließ mir durch einen Gehilfen fagen, daß er mir eine Rot- gardiſtenration bewilligen werde. Maxim Gorki hat ſich mit einem ganzen Hofſtaat von Schmeichlern umgeben. Die andern ſtößt er nicht einmal von ſich, er läßt ſie bloß fallen, und die Menſchen ſtürzen in die ſchwarze Grube von Hunger und Kälte. Maxim Gorki weiß, daß man mit einem Stück Holz alles aus Hungernden und Frierenden machen kann, und er macht auch alles aus ihnen. Die beiden Häuſer Gorkis für die Wiffen- ſchaften und Künſte find zwei Maſſe n- gräber, in denen die ruſſiſchen Schriftſteller, Dichter und Künſtler in langſanier Agonie ſterben. Es wäre beſſer, ſie an die Mauer zu ſtellen und niederzuſchießen. In Moskau hat man eine neue Todesſtrafe erfunden. Man ſetzt einen Menſchen in einen Sack mit Läuſen. In einen ſolchen Sack bat Maxim Gorki den Geiſt Rußlands geſetzt.“

Inzwiſchen hat derſelbe ruſſiſche Dichter Dimitri Mereſchkowskij an Gerhart Haupt- mann einen offenen Brief gerichtet: „Gorki ift kein Freund, ſondern ein Feind, ein þeim- licher, ſchlauer, heuchleriſcher, aber der ſchlimmſte Feind des ruſſiſchen Volkes. Haben Sie denn die Worte aus feinem Hym- nus ‚an den größten planetarifchen Helden

Auf der Warte

der Menſchheit“ Lenin vergeſſen? ... Lenin hat dem ruſſiſchen Volke die Schlinge um den Hals gelegt, und die andren Völker haben ſie zugezogen. .. Ehe man die Rätegewalt nicht geſtürzt hat, kann man den Millionen der au- grunde gehenden Menſchen ebenſowenig hel- fen wie einem Erhängten, ehe man ſeinen Hals aus der Schlinge befreit bat... Die Wahrheit iſt, daß nicht nur dieſe Willionen von Ruſſen Hungers ſterben, ſondern auch das ganze ruſſiſche Volk mit ihnen, ja, das ganze! Der Hunger iſt der Dolch in den Händen der Bolſchewiſten. Sie morden, ſengen und herrſchen durch den Hunger. Sie geben ihren Leuten zu eſſen und halten alle andren an der Grenze des Hungertodes.“ ...

Dazu nehme man noch Folgendes:

Im Tagebuch der Gattin des oben Ge— nannten, der ruſſiſchen Schriftſtellerin Zinaida Hippius-Mereſchkowskij mitgeteilt in der

Stuttgarter Wochenſchrift„Dreigliederung“

finden ſich folgende furchtbare Sätze über die ruſſiſchen Zuſtände:

„Es ift eine abſolute Idiotie ſeitens Eu— ropas, Kommiſſionen und Einzelperſonen zwecks „Informationen“ herzuſchicken. Man ſchickt ſie doch den Bolſchewiſten in die Arme.

Und dieſe ‚informieren‘ fie. Sie bauen für

fie Theaterdekorationen, verpflegen fie in der

Aſtoria, überwachen ſie ganz offen bei Tag

und Nacht und machen ihnen jede Berührung mit der Außenwelt unmöglich. Soll nur ſo ein Kommiſſionsmitglied verſuchen, allein auf die Straße zu treten! Vor jeder Tür ſteht ein Wachtpoſten ... Wir find regungslos und ſtumm, wir ſind mit unſerm ganzen Volk nicht wert, Menſchen genannt zu werden. Aber wir leben noch, und wir wiſſen, wiſſen ... Hier iſt die genaue Formel: Wenn in Europa im 20. Jahrhundert ein Land mit einer ſo phänomenalen, in der Weltgeſchichte noch nicht dageweſenen allgemeinen Sklaverei exi- ſtieren kann und Europa es nicht verſteht oder es hinnimmt, ſo muß Europa zugrunde gehen. Und es wird ihm recht geſchehen ... Ja, es ift Sklaverei. Eine phyſiſche Ab- tötung des Geiſtes, des Denkens, jeder Perſönlichkeit, aller Merkmale, die den Menſchen vom Tier unterſcheiden. Die

Auf der Warte

Zerſtörung, der Zuſammenbruch der ganzen

Kultur. Zahlreiche Leichen weißer Neger.

. . . Es gibt ein grauenhafteres Grauen. Die ſtumpfe Angſt, das menſchliche Antlitz zu verlieren. Mein eigenes Antlitz und alle Antlitze ringsum ... Wir liegen da und lallen wie der Tolle bei Doftojewsti die ſinnloſen Worte: Bobot... Bobot...“

Die elementare Hungersnot nebſt Völker- wanderung iſt ein ergreifendes Schauſpiel und Problem für ſich. Niemand wird ſich des Mitgefühls erwehren. Aber das andre Problem, der Sowjet-Alp über Rußland, hängt lähmend damit zuſammen. Und davon bätte man in der farb- und kraftloſen Antwort G. Hauptmanns etwas vernehmen ſollen.

Der Herr Major und die

andern

delmanns- und Lumpen-Geſinnung be-

ginnen ſich zu ſcheiden. Wir verzeichnen

mit Vergnügen ein Stimmungsbildchen aus

der „Frankfurter Zeitung“, die doch wahrlich

der Parteinahme für einen alten Soldaten

und gegen die modernen Lohnerpreſſer nicht verdächtig ſein dürfte:

„Nach einer kleinen Landſtadt zog im Herbſt vorigen Jahres ein Major. Das heißt, er war als Major im Kriege wieder eingeſtellt worden, nachdem er im Frieden viele Jahre vorher als Hauptmann um die Ecke gegangen war und dann ein bis zwei Jahrzehnte lang als nicht eben hervorragender Journaliſt feine ſchmale Penſion aufgebeſſert hatte. Ohne indeſſen aus den Schulden zu geraten. Den inzwiſchen über die Sechzig Gekommenen hatte nun nach dem Kriege die würgende Teuerung ſchließlich in das Landſtädtchen ge- trieben. Er hoffte, hier noch „Vernunft“ zu finden. Aber er fand auch hier nur noch „Unvernunft“. Das erſtemal, als ihm die Re inmache frau 3 & für die Stunde und 25 M für Beſen und Bürſte, die er aber nicht er- hielt, zuſammen 81 M, abnahm. Der Herr Major ſchlug die Hände überm Kopf zu- ſammen; die Reinmachefrau aber beeilte ſich, das Städtchen über den Gewinn zu unter- richten, den es mit feinem Herrn Major ge-

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macht habe. Erfahrungen der gleichen Art

häuften ſich in dem neubezogenen Häuschen ſehr ſchnell. And da ſtand es bei dem, zuletzt doch wieder nur bei ſich ſelbſt zur Vernunft Gekommenen mit rapider Plötzlichkeit feſt: hinaus für immer und mit allem, was auch nur entfernt Bedienung heißt! Er, der ver- mögenslofe Major, rangiert ja jetzt auf der gleichen Stufe mit der Dorfmagd, die zweitaufend Mark Jahreslohn und jeden

Mittag Fleiſch erhält. Konſequenz darum:

er iſt jetzt nicht mehr zu gut für die dergeſtalt im Wert geſtiegene Arbeit einer Magd. Mit ſeinem kleinen Fixum aber wird er gegen die ihn noch darunter wertende Umkehrung aller Werte kämpfen bis zum Austrag. Es muß gehen, er wird oben bleiben. Eines Morgens eröffnet er der Frau Majorin, daß er ihr von jetzt ab ſelbſt früh fünf Uhr die Milch holen, danach die Dielen aufnehmen, den Teppich fegen, Holz klein machen, Kartoffeln ſchälen, den Aufwaſch beſorgen, ja, daß er alle ſechs Wochen die große Wäſche waſchen werde. Die Frau Majorin, durch manche Prüfung hindurchgegangen, war doch ſehr betroffen. Er aber ſetzte ihr auseinander, daß ſchon ein großer, griechiſcher Weiſer erklärt habe, keine Arbeit ſei Schande. Nur Nichtarbeiten ſei Schande, und die überlaſſe er den ‚mo- dernen“ Kommuniſten, die fih zwar auch Ar- beiter nennen, aber ſchandenhalber, da ſie ſich nur bei recht viel Lohn von der Arbeit drücken. Er dagegen, die Provenienz des preußiſchen Militarismus, werde die Arbeit zu Ehre und

Anſehen bringen. Er ſetzte der Frau Majorin

weiter auseinander, daß kein England und kein Frankreich mehr nötig ſeien, das deutſche Volk zu erwürgen; das beſorge dieſer, die Arbeitsehre entwertende Preiswucher im eigenen Lande, und gegen ſolchen ſtärke- ren Feind rufe ihn nun von neuem Pflicht, Volk und Vaterland auf: ‚Unterkriegen laffen wir uns nicht, Altchen!“ Und ſchon über ein halbes Jahr durch führt der Herr Major jetzt fein fo gewonnenes Programm fröhlich aus, ..“

Nun ein Gegenſtück dazu aus dem „Holz- markt“: |

„Der Reichsverkehrsminiſter will das Ehr- gefühl der Eiſenbahndiebe nicht verletzen und

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erließ folgenden Utas: „Aus Abgeordneten- kreiſen ift darüber geklagt worden, daß die in den monatlichen Diebſtahlsüberſichten enthaltenen Angaben über Eifenbahndieb- ſtähle unmittelbar oder durch die Amtsblätter der Eiſenbahndirektionen in die Preſſe ge- langt ſind und dadurch dem Anſehen der Eiſenbahnbedienſteten Abbruch getan haben. Die nur für innere Zwecke beſtimmten Dieb- ſtahlsüberſichten ſind für die Bekanntgabe in der Öffentlichkeit nicht geeignet und dem- gemäß zu behandeln. Die Beſtimmung, wo- nach die Zahl der wegen Diebſtahl uſw. Ent- laffenen ohne Angabe von Namen zur War- nung durch die Amtsblätter bekanntzugeben iſt, wird hiervon nicht berührt.“ Wenn der Eiſenbahnminiſter ſagt, daß die ‚amtlichen Diebſtahlsüberſichten für die Bekanntgabe in der Öffentlichkeit nicht geeignet find‘, dann hat er in einer Beziehung wirklich recht, denn wenn man dieſe Überfichten ſieht, kann man das Grauen bekommen. Daß ſich in Deutſchland aber Abgeordnete finden, die den Reichseiſenbahnminiſter erſuchen, die Überfihten geheimzuhalten, iſt ein Zei— chen unſerer Zeit. Wir meinen, man könnte, ſofern man die Betrügereien wirkſam bekämpfen will, gar nicht öffentlich genug vorgehen, und kein ehrlicher Bahnbeamter kann in ſeiner Ehre ſich verletzt fühlen, wenn durch Statiſtiken gezeigt wird, wieviel unehr- liche Bahnbeamte es leider gibt. Aber warum ſorgen die ehrlichen Bahnbeamten nicht dafür, daß die Diebe ermittelt werden? Dazu iſt wohl niemand fo gut in der Lage wie die Eifenbahn- beamten ſelber durch Scharfe Beobachtung ihrer Kollegen. Dieſer Erlaß in Verbindung mit der Zumutung der Eiſenbahnbeamten und der Tatſache, daß ſich zu ſolchem Kram Abgeord- nete finden, zeigt den ganzen Tiefſtand der heutigen Moral in erſchreckender Weiſe.“

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Gegen das Zigarettenrauchen der Jugend

wagte ſich ein Leipziger Schüleraufruf zu

richten. In der Unterhaltungsbeilage der

„Tägl. Rundſch.“ (Nr. 170) wird über das Schickſal dieſer Anregung berichtet:

Auf der Warte

„Wenn man die ungeheure Verbreitung der Zigarette bei der heutigen Jugend be- denkt, konnte das Leipziger Unternehmen von vornherein zur Erfolgloſigkeit verurteilt fhei- nen, und es verſteht ſich wohl ohne weiteres, daß es keineswegs überall auf fruchtbaren Boden gefallen iſt. Ja der Aufruf hat ſogar gewiſſe Reflexbewegungen ausgelöft, die deut- lich erkennen laffen, wie ſtark die Rauch- leidenſchaft ſchon in weiten Kreiſen unſerer Jugend eingewurzelt ift, zum großen Schaden ihres körperlichen, geiſtig-ſittlichen und wirt- ſchaftlichen Wohles. So ſchrieb ein Schüler aus einer thüringiſchen Stadt nach Leipzig, daß man in ſeiner Klaſſe geradezu beſchimpft werde, wenn man nicht rauche. Aus einer anderen Schule erhielt der Leipziger Pri- maner, der den Aufruf unterzeichnet hatte, eine anonyme Poſtkarte, auf deren Anſchrift er als ‚stud. rauch. et sauf. in spe“ bezeichnet wurde und auf der es hieß: „Wir richten uns nach dem Motto: „Trinke, liebe, rauche Bis zum letzten Hauche! und empfehlen es gleich- zeitig zur fleißigen Nachahmung.“ Die Unter- ſchrift lautete: ‚Baron von Trinkheim auf Rauchburg.“ Geradezu roh war eine natürlich auch anonyme Zuſendung, in der dem Wort— laute des Aufrufes allerhand pöbelhafte Rand- bemerkungen angehängt waren. Aus ſolchen Außerungen, denen man noch andere an— fügen könnte, erſieht man deutlich, wie ſchwer die zu überwindenden Hinderniſſe waren und daß der ganze jugendliche Idealismus der

Leipziger Oberprimaner erforderlich war, um

mit dem Unternehmen vor die Offentlichkeit zu treten. Daß ſich aber auf dieſen Aufruf hin weit über 5000 Schüler und Schülerinnen unterſchriftlich zum Verzicht auf die Zigarette für die ganze Dauer der Schulzeit bereit er— klärt haben, iſt zweifellos eine hocherfreuliche

Tatſache, und befonders verdienen die An-

ſtalten, in denen die Schülerſchaft Mann für Mann unterſchrieben hat, um des erziche- riſchen Geiſtes willen, der aus ſolchem Ergebnis ſpricht, die höchſte Anerkennung. Die größte, abfolute Zahl von Anterſchriften, die ein- gelaufen ſind, iſt aus der Oberrealſchule von Fürth gekommen, wo ſich 523 von 662 Schü- lern beteiligt haben, d. h. alfo 77 v. 9. Im

Auf der Warte

allgemeinen ſtehen die Ergebniſſe in den großſtädtiſchen Schulen weit zurück hinter den kleinſtädtiſchen, wo die Verführung zum Rauchen doch nicht fo ſtark ift. Viele Diret- toren haben die Zuſendung des Aufrufes mit wärmiten Worten und herzlicher Anerkennung für die Leipziger Schüler beantwortet, und der preußiſche Kultusminiſter hat ihm ſogar die Ehre erwieſen, daß er ihn wörtlich im „Zentralblatt für die geſamte Unterrichts- verwaltung Preußens“ zum Abdruck gebracht hat. Verdiente Ehre, denn in erſter Linie war für die Leipziger Schüler der nationale Gedanke beſtimmend, und ſchon lange, ehe in Hamburg und anderweit der Boykott gegen die Waren des Feindbundes einſetzte, hatten fie ſchon zum Kampfe, zum Boykott gegen die hier vor allem gefährliche Zigarette auf- gerufen, die ja bekanntlich ſtets ausländiſchen Tabak enthält... .“

Zahlreiche Lehrer begrüßten den Aufruf lebhaft. Auch wir meinen, daß die alte Verbotspädagogik heute nicht mehr ausreicht, ſondern einem mehr pſychologiſch begründeten Verfahren Platz machen muß, wobei der Schwerpunkt in die denkende, begeiftrungs- fähige Jugend ſelbſt zu legen iſt.

*

Wie man Schund poſtkarten be-

kämpft | erzählt Lydia Eger, die Leiterin eines „Ju- gendrings“, anſchaulich in der „Chriſtlichen Welt“. Gegen den Schmutzfilm, gegen das Schundbuch, gegen den Schmutz auf fo- genannten „Volksfeſten“ kämpft diefe Jugend- bewegung, die „durch Liebe, Wahrheit und Reinheit zu Arbeit und Einheit“ empor will.

„In Dresden“, ſchreibt Lydia Eger, „hatte ſich die Schundpoſtkarte in etwa 20 Läden breit gemacht, und die Polizei, die zwar den ehrlichen Willen hatte, hier für Abſtellung zu ſorgen, war machtlos, da ihr für die Halb- millionenſtadt nur ein einziger Wachtmeiſter an einigen Tagen des Monats zur Verfügung ſtand. Innerhalb 14 Tagen aber gelang es der Jugend, die Karten zum Verſchwinden zu bringen: dadurch, daß die Jugend die be- treffenden Geſchäftsinhaber das Schämen

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lehrte. Wie geſchah das? Kaum war früh

der Laden geöffnet, kam auch ſchon der erſte Jugendliche herein: ‚Guten Morgen, Frau X. Eigentlich wollte ich noch etwas bei Ihnen kaufen, aber wenn Sie draußen die Poſtkarten hängen haben, kann ich es nicht tun.“ Zehn Minuten fpäter der Nächſte: „Guten Morgen, Frau X. Wiſſen Sie, wenn man an Ihrem Schaufenſter vorübergeht und die Poſtkarten ſieht, muß man ſich ja ſchämen.“ Zehn Minuten ſpäter wieder einer; und ſo ging es fort bis zum Abend, ſo daß in einer Woche über 500 junge Menſchen in einem einzigen Geſchäft waren! Die Wirkung blieb nicht aus. Hilfeflehend kamen die Inhaber in unſere Geſchäftsſtelle: „Schaffen Sie mir bloß die Leute vom Hals, ich will ja gern diefe Poft- karten nicht mehr führen!“ Und Dresden war von dieſem Schmutz geſäubert.“

*

Ein Vorſchlag zum Thema Studentennot

iederholt iſt im „Türmer“, zuletzt im Juniheft, über die Not unſerer Stu- dierenden geſchrieben worden. |

Ich möchte einen Vorſchlag machen, deſſen Ausführung vielleicht geeignet wäre, wenig- ſtens etwas dieſer Not zu ſteuern. Als ich im Jahre 1914 durch Jena kam, ſah ich dort eine Reihe prächtiger Häufer, die Verbindungs- häuſer der ſtudentiſchen Korporationen. Ähn- liches findet man in allen Univerſitätsſtädten.

Dieſe Häuſer werden in der Hauptſache von den alten Herren der Verbindungen erhalten und bilden für viele, heute nicht auf Roſen ge- bettete Familienväter eine ſchwere Belaſtung. Ich habe darüber manche Klage gehört.

Sind dieſe Häuſer notwendig?

Der Ernſt der Zeit und die furchtbare Lage unſeres Volkes erfordern höchſte Spar- ſamkeit und äußerſte Einſchränkung. Wenn man dieſe Häuſer verkaufte oder wenigſtens vermietete, ſo würden ſich daraus drei Vor- teile ergeben. | |

Erſtens würden erhebliche Mittel er- ſchloſſen, mit denen mancher Not in der Stu- dentenſchaft geſteuert werden könnte.

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Sodann würden viele, heute ſchwer ringende Familienväter entlaſtet.

Drittens würden Wohnungen frei, an denen es heute bitter mangelt.

Wird die Not der Studierenden dadurch auch nicht beſeitigt, ſo doch ſicher in etwas gemildert. Etwas aber iſt beſſer als nichts. Es iſt ein Vorſchlag. H. Roquette

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Gedächtnisfeier für Dr. Karl Storck zu Olsberg i. W.

FH ihn gekannt hat und wem fein Volk vertraut iſt, weiß, was wir an ihm

verloren. Ganz beſonders weiß das die Türmer-Gemeinde, deren Mentor in Fragen der Muſik und bildenden Künſte Karl Storck jahrelang war. Nun ruht er ſchon über ein Jahr in kühler Erde, mitten in den Bergen des Sauerlandes, wo ihn in Olsberg ein jäher Tod überraſchte. Im Schatten dunkler Tannen liegt ſein Grab, das ein mit ſeinem Bronzerelief geſchmückter Oenkſtein ziert, von Prof. Ernſt Müllers Meiſterhand geſchaffen. Aber iſt auch tot, was an ihm ſterblich war, fein Andenken lebt fort. Das hat die Ge- dächtnisfeier an ſeinem Grabe am 9. und 10. Juli in Olsberg i. W. wiederum bewieſen. Von fern und nah waren die Verehrer Karl Storcks zuſammengekommen, um zu ſeinem Gedächtnis eine würdige Feier zu begehen.

Sie begann am Sonnabend, den 9. Juli, mit einem Konzert im benachbarten Bigge. Zu Beginn desſelben wies Dr K. Hoeber- Köln in einer Gedächtnisanſprache auf die Bedeutung Karl Storcks hin. In kurzen, lebenswarmen Zügen entwarf er ein Bild des Mannes, der in raſtloſer Arbeit all ſein reiches Wiſſen und Können, ſeine künſtleriſche Begabung und Arteilskraft den Gedanken dienſtbar machte, daß wahre und gute Kunſt der Allgemeinheit, dem Volke gehören ſoll und daß nur völliſches Selbſtbewußtſein zu echter Kunſt führen kann. Die Worte des Redners waren eine ſeelenvolle Einſtimmung in den zweiten Teil des Abends, der ernſter

Auf der Warte

Kunſt gewidmet war. Es war eine Stunde weihevoller Andacht, die uns der bewährte Storsberg-Chor aus Gelſenkirchen und die Soliſten O. Hecke-Düſſeldorf (Tenor), Frau Hecke-Reißmann Oüſſeldorf (Alt) und G. Bunk-Oortmund am Flügel bereiteten. Der Geiſt des Verſtorbenen, deſſen eichenlaub- umkränzte Büſte ernſt und ſinnend auf die andächtig lauſchenden Zuhörer herabſah, wal- tete über dem Ganzen und klang in den Tönen der Meiſter wieder, für deren Geltung und rechte Würdigung er ſo viel getan.

Nach einem feierlichen Gottesdienſt am Sonntag morgen verſammelte ſich die Schar der Verehrer Karl Storcks zu einer Ge— dächtnisfeier an feinem Grabe auf dem Friedhof zu Olsberg. Die glühend brennende Sonne hatte eine große Menge Einheimiſcher nicht abhalten können, an der erhebenden Feier teilzunehmen. Fahnenabordnungen von Vereinen und Schulen hatten am Grabe Aufſtellung genommen. Als erſter ſprach Aniverſitätsprofeſſor Geh. Rat Dr Oyproff— Bonn. In ausführlicher Rede gedachte er der hohen Verdienſte Karl Storcks, all des Guten und Edlen, das er in ſeinem Leben gründete zur Förderung einer geſunden Kunſt und zum Wohle des ganzen Volkes. Profeſſor Fahrenkrog- Barmen widmete ſodann dem Verblichenen tiefgefühlte Worte der Erinne- rung und der Treue, eine Huldigung der Kunſt an den Geiſt deſſen, der im Leben ihr Ver— mittler und Deuter geweſen. Im Auftrage des Oeutſchen Schriftſtellerverbandes gedachte Landgerichtsrat Haendler-Koblenz des Ver— ſtorbenen in Worten herzlichen Dankes. Ein zweites, aus allen Kreiſen der Bevölkerung ſtark beſuchtes Konzert, deſſen Grundnote das Volkslied war, beſchloß die Feier.

Das Erbe, das uns Karl Storck hinter- laſſen, wird nicht verloren ſein, ſondern immerfort Früchte tragen im Sinne und nach der Meinung des Verewigten, von dem der Wahrſpruch feines Oenkſteins kündet, daß er

für das Wahre und Schöne kämpfte.

Dr Th. Heinermann

Verantwortlicher und Hauptſchriftleiter: Prof. Dr. phil. h. o. Friebrich Lienhard. Für den politiſchen und wirt- ſchaftlichen Teil: Konſtantin Schmelzer. Alle Zuſchriften, Einſendungen uſw. an die Schriftleitung des Türmers,

Berlin⸗ Wilmersdorf, Rudolſtädter Straße 69.

Prud und Verlag: Greiner u. Pfeiffer, Stuttgart.

April 1921

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Der Türmer

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Geſang 1. Kräh -ten kaum die = ften mun⸗tern Häh- ne, 2. Stand das fanf -te Mäd⸗chen ſchon im Gar- ten, | 5. Stürz- te auch die gan- ze Welt zu - ſam- men, was tet auch in 4. Steht das Mäd-hen an der Ab-jchieds-brük - ke, blickt ent lang die j 5. War- um ſollt ich denn nicht wie - der - Reh - ren? Hun- soek atO 11 6. Wird mein Mäd-hen mir das Blut ab- wa- ſchen, wirds mit ih Fe Klavier

1. Knabe ſchon am Hof- Steh auf, mein mMäd - hen, du zar te 2. wei⸗ nend das Ge lei - te. O bleib, mein Una be, du 7 n 3. Blut jed - we- der nig, Sol - da = ten la - chen, Sol = kers

4. lan -ge grau= e Stra = Be. Leb wohl, mein Kna - be, du

5. Reh. ren heim als Sie ger! Ceb wohl, mein Mäd- hen, ðu Hr

6. hei- ßen Trä- nen wa - ſchen. Wird Mut - ter kom - men, das Eh ren

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1. Nel - ke! Sol-ðat jet werd ich! N00 ſchön iſt das Sol ⸗da⸗ ten

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ſchauungen denen des „Türmers“ nahekommen. Vielleicht

zu lauterer Freude, zum Helfen Fund Retten verleihe mir Segen, allgütiger Gott! Gott, gib meinem Ringen aus Gnade Gelingen! Und wenn einſt ermüdet mein Pilgerherz bricht, laß glücklich mich ſchauen die himmliſchen Auen, die ewige Heimat im ſeligen Licht!

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Töchterheim Amersbach-Philippe

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weg 9 Haus für Töchterbildung Theoretische und praktische Ausbildung in allen Zweigen des Hauswesens, in Wissenschaften u. vornehmer Gesellig- keit. Unterricht in Weissnähen, Schneidern, allen ein- fachen und Kunsthandarbeiten. Fortbildung in Sprachen, Literatur, Kunst- und Musikgeschichte, Vortragskunst, Malen, Musik, Gesang. Turn- u. Tanzunterricht. Besuche von Theater, Konzerten, Kunstsammlungen unt. Leitung.

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Frau Direktor M. Hoffmann.

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Nach unserer altbewährten Methode kann sich jeder unter Garantie zu einem logischen, ruhigen Denker, zum freien, einflußreichen Redner und fesselnden, interessanten Gesellschafter aus- bilden. Redefurcht und Menschenscheu werden radikal beseitigt und das nach Brechts System geschulte Gedächtnis erlangt seine höchste Leistungsfähigkeit ohne Rücksicht auf Schulbildung. Wissen und Alter.

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auftreten, ob Sie in Vereinen oder in Diskussionen das Wort ergreifen, ob Sie auf der Kanzel oder im Gerichtssaal oder im Parlament stehen, ob Sie als Geschäfts. oder Privatmann sich äußern, immer und überall werden Sie nach dieser Ausbildung imstande sein, über jeden Gegenstand in schöner, schmuckvoller und überzeugender Weise frei zu reden und die Hörer für Ihre Ideen zu gewinnen.

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den Berufsredner gehört ihr Werk jedenfalls zu den interessantesten und besten Lehrwerken. Meine ständige Empfehlung derselben möge lhnen beweisen, welchen großen Wert ich auf die “Verbreitung ihres Werkes lege.

Herr Fabrikbesitzer W.: Es ist mir ein Bedürfnis, Innen den Erfolg des Studiums in einem kurzen Salz zum Ausdruck zu bringen: Mit dem Fortschreiten der Durcharbeit von Band zu Band fühlte ich ein Wachsen meiner ganzen Persönlichkeit und, am Ende des letzten Bandes angelangt, bin ich in der Tat das geworden, was Sie versprechen: ein Mensch, der sich durch Ihr großartiges Werk bis in die letzte geistige Faser hat kennen gelernt! Meine Empfehlung ist Ihnen deshalb s’cher, wo ich sie nur anbringen kann.

Herr Chefredakteur G. schreibt: Durch Ihren Kursus ist es mir möglich gemacht worden, selbst stunden- lange Vorträge frei zu halten und mir dadurch eine angesehene Position in der Gesellschaft zu erringen. Ich werde nie verfehlen, Ihren Kursus bei jeder schicklichen Gelegenheit in meinem Bekanntenkreise weiter zu empfehlen.

Herr Direktor Felschow: Leider bin ich gezwungen, infolge meiner Dienstreise nunmehr die interessanten Abende in Ihrer Akademie abzubrechen. Ich möchte nun nicht von Ihnen scheiden, bevor ich Ihnen nicht noch einmal allerherzlichst gedankt hätte. Die Fülle des Gebotenen war für mich derartig anregend, daß ich wohl für das ganze Leben mit großer Dankbar- keit an Ihr Institut zurückdenken werde. Nicht nur dal ich die ganze Art und Ihr System für so vorzüg- lich halte, daß es über jedes Lob erhaben ist, so bin ich auch entzückt darüber, was Sie den Menschen als solche bieten.

Herr Prokurist K.: Ein ul Teil meines Vorwärts-

kommens seit mehreren Jahren bin ich Prokurist eines ersten hiesigen Handelshauses —, habe ich

nis ohne die Fähigkeit, ihr das richtige und über- zeugende Gepräge geben zu können,

Herr Lehrer D.: Gestatten Sie mir, Ihnen für die wunderbare geistige Hilfe, welche Sie nur durch Ihre einzigartigen Werke geleistet haben, herzinnigen Dank zu sagen. Ihr Kursus ist {tatsächlich geeignet, den Nervösen gesund, den Feigen mutig, den Grübler zum klaren Denker und den zaglıaften Wortestammiler zum erfolgreichen Redner zu machen. Das tägliche Studium Ihrer genialen Unterrichtswerke ist mir zur liebsten Beschäftigung geworden.

er studierte |

zZ | Brechts Redekunst © | Ane ras

24 Minister, Botsch., 485 Mililärs u. Marine | 907 ite 301 Privatiers 10 Konsuln 310 Apoiheker etc 44 Rei chs- und Land 426 Geistliche tacsabgcordnete 512 Assessoren u. Re Polizi i ferendare Komtmerzienriüte 671 Offiziere 6S Postdirektoren 720 Direktoren Forstbeanite 766 Studenten 85 Professoren 010 Aerzte 00 Sel ret, 917 Schuldirektoren u 02 R ed takini Lehrer 114 chisri ite etc 1011 Fabrikbesitzer ) ine Stel 1218 Baumeister u. In- 3 Künstler genieure htsa l 7 Gewerbetreibende Handwerker und Gehilfen

05 Ii telbesitzer etc. 2419 Beamte 16 Damen 5622 Kaufleute und Tausende andere.

Alle rühmen diese Bildungsmethode! |

mene *

Aus Himmelfahrt I.

wig wandelnd in der Helle Nimmt die Sonne ihren Lauf, Und sie taucht an jeder Stelle An dem Himmelsbogen auf; Wenn sie in des Widders Zeichen

Voller Strahlenkraft erwacht, Wenn sich frühlingsahnend gleichen

In der Länge Tag und Nacht,

Wenn aus harter Knospenhülle Jauchzend jung das Grüne bricht, Und des Lebens reichste Fülle

Sich entfaltet in dem Licht,

Wenn des Schöpfers großes „Werde!“ Neu den vollen Reichtum schafft, | Gießt die Sonne auf die Erde

Ihre stärkste Formenkraft.

Schaffend, bildend und entfaltend Strahlt sie Leben weit und breit,

Alles Zeitliche gestaltend

Zu dem Bild der Ewigkeit.

Auf unsre Erde zog die schwarze Nacht, Der Abend deckte sie mit mũder Schwere, Dort droben war der junge Tag erwacht, Und silbern glitzerte die Atmosphäre;

Da hat die hohe Frau ihr Angesicht

Zur Sonne, zu der steigenden, gewendet; Die Göttin meines Lebens trank ihr Licht, Das reine Auge sah es ungeblendet. Kein Adler hat den Blick so frei und klar Lichtdurstend in das reine Blau gehoben, Als sie ihr strahlenvolles Augenpaar

Zur junggebornen Himmelsglut da droben. Der Strahl, der niederfährt, der Sonnenblick, Um in der Klarheit Fluten sich zu spiegeln,

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Wer wait, gewinnt! |

Niemals darfst Du stille stehn, willst Du die Vollendung sehn! Nur wer sich ständig ein- seht mit seiner ganzen Persönlichkeit, kann auf Erfolge im Leben redınen. Der Skrupellose und Gewalttätige hat vorübergehende Scheinerfolge, Dauererfolge sind nur der Lohn des rechllichen Fleißes. Wer also vorwärtskommen will, muß unaufhörlid an der Vervollkommnung seiner Geisteskräfte arbeiten. Wie man diese zu schönster Harmonie ausbildet, einen starken Willen, um- fassendes Gedächtnis, reiches Wissen und die praktische Anwendung desselben, nämlich zielbewußtes Können, erwirbt, zeigt durdi individuellen brieflichen Ulnterrict Poehlmanns Geistesschulung und Gedächtnislehre, der einzig sichere Weg zu innerem Gleidigewidi und zu äußerem Wohlstand.

Wer wagt, gewinnt wagen Sie es, sih der erprobſen Führung eines Mannes änzuver- trauen, dessen Methode Weltruf genießt, und Sie werden bald aus den Niederungen des Daseins zu den schönsten Höhen gelangen.

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