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Der Türmer

Monatsſchrift für Gemüt und Geiſt

Herausgeber:

Profeſſor D. Dr. phil. h. c. Friedrich Lienhard

Dreißigſter Jahrgang - J. Band (Oktober 1927 bis März 1928)

Stuttgart Derlagsanftalt Greiner & Pfeiffer

Otuck von Greiner & Pfeiffer in Stuttgart

Inhalts⸗Verzeichnis

Gedichte

Seite Seite

Bate: Sterbender Wald 32 Havemann: Die Jungfrau ............ 5 Vorfrüh ling 426 Krieger: Es waoaoõ rr 100 , ecg eewaeseaniet 424 Quetiens: Reie tee cence 358 Bethde: Winternadflang ............. 445 Mahlke: Dezemder 188 Chriſtians: Kriegskameraden 114 Schimmelpfeng: ñͥe n 191 Colsmann: Der Gottgeeinte .......... 340 Schmitt: Stark und ungeteilt 197 Flotow-Bernſtorff: Weihnachten 180 Schnack: Abend AA Gierke: Ahasver ....... cece eee cenes 352 v. Stern: Das Haus am Meere 22 Hartje-Leudesdorff: Am Totenſonntag 105 Dorfriibling ..............eeeeee 436

Novellen und Skizzen

Banfe: Die Hand des Neiſenden 427 Finkbeiner: Die Wohnmafdine........ 364 Barthel: Entzüdungen des Kloſterbruders Funke: Roſen des Saadee 443 vom Berge Athos 6 v. d. Goltz: Kriegsweihnadt ........ *. 181 Bockemühl: Das kleine Weihnachtslied 187 v. Olfers: Annele, ein Kind aus dem Volke 104 Böhm: Tina Noth .............. 264. 341 v. Rentzell: Am Kleiſt graz 31 Boßhart: Der Friedhof der Heimatloſen 102 Schoenfeld: Zu früher 27 Cuſig: Sonne und Menfchenfeele ...... 101 Tröbſt: Geſpräche mit Türken ......... 438

Dinkelmann: Im Lichte der Adventskerzen 185

v. Wolzogen: Die Ritterſchaft der Reinen 189

Auffage | Abdankung, Des Raifers ............. 376 Meyer: Das Entwidlungsgefe in der Beck: Seeliſche Wiedergeburt 195 Spfiaheee ; 128

Becker: Unverdffentlidte Briefe Ernit Moritz Arndts ................ 271. 359

v. Berchem: Marneſchlacht u. Tannenberg 122

Bonne: Geſchlechtsnot und ihre Be⸗

kampfſunn ses a eee 206 Brandt: Parifer Eindrüde ............ 367 Foelckerſam: Bolſchewismus und Anti-

ſemitism uur: 451 Francé: Der Geiſt über der Natur 205 Rabiumgeheimnis ................ 119 Frene: Auf Aleranders Spuren in Indien 203 Gewallig: Volk in Noel 98 Halfeld: Amerikaniſierung Europas .... 283 Haſſe: Vom weihnachtlichen Frieden . 178

Hoffmann - Tempelhof: Deutſcher Rund- FUNG cents eae omnes rr ee 378 Hotzel: Der Sutunftsdeutfde .......... 338 Kapff: Sollen wir Rapollo verleugnen? 374 König: Profeſſor Dr. Wilhelm Rein. 40 Krauß: Amtsarzt und Raſſenhygiene . 44 Lienhard: Chriſtentum und Idealismus 258 Kirche und Kultuiuãer 285

Neuffer: Nachklang zur Eiſenacher Fröbel- , odewtiwinwane 42

Partecke: Das Jahrhundert der Kirche . 295

Paulſen: Aus Briefen Friedrich Paulſens 192

Oas ruſſiſche Trauerſpieuu 446 Rafputin der böſe Genius bes faifer- lichen Rußlano···· eee 448

Saitſchick: Ariſtokratie und Demokratie 418

Diesfeits und Fenfeits ............ 2

Schoenfeld: Die Gemeinſchaft der e |

8. Sell: J ll, 201

Staal von Holſtein: Das Lächeln Aſiens 425

Ströter: Joſeph Wittig 288

-s-; Dawes, Gilbert und Poincaré .. 353 v. Trotha: Die Schmach der Fremden-

// ⁵ĩð̊ĩ ⁵⁵⁵⁰ 8 369 Randgloffe zur Fremdenlegion 373 Vordemfelde: Weltuntergangsglaube ... 115 W.: Das religidfe Wmerifa............ 296

Walther: Die Farbe im Stadtbild der Gegen waer eee cece 36

IV Inhalte-Derzeihnis Beſprochene Schriften Seite Seite Agoſtini: Zehn Jahre im Feuerland... 170 Grätz: Die Elektrizitlũcq 143 Amtliche Werke des Reichsarchivs über Groener: Das Teſtament des Grafen den Weltkrieg 122 Shlieffen 2... 20.000.242 125 Arrhenius: Erde und Weltall ......... 143 Gurt: Meiſter Edebartt .............. 229 Arfeniew: Oſtkirche und Mpftil ........ 231 9008: Merle y 145 Baader und fein Kreis, Franz 230 Hadina: Werrʒddee wees 146 Bavink: Ergebniffe und Probleme ber Halfeld: Amerika und der Amerikanismus 283 Naturwiſſenſchafrrk kk. 142 Hartmann: Ethiue eee 221 Berg: Wozzekkkkkk cwccceecs 152 Grundzüge einer Methaphnfit der Bernoulli: Die Pſychologie von Carl Gu- Extenn nis 221 Han Carun es , osc e eres eeiak 138 Bircher: Die Kriſis in der Marneſchlacht 125 Hauptmann: Till Eulenfpiegel ........ 408 Brabant: Don Hauſen 127 Hecker: Jahrbuch der Soethegeſellſchaft 410 Brandenburg: Das neue Theater 309 Heilmann: Herrlichkeiten der Seele . 231 Brandler -Pracht: Aſtrologiſche Kollektion 458 Heim: Das Weſen des evangeliſchen Braun: Kunſt der Gelbitheilung ....... 455 Chriftentums ........ cece ee eee 231 Bufoni: Werkeeeeeeee eee 151 Heindel: Botſchaft der Sterne 457 Calderon: Ausgewählte Werke 289 Henſeling: Sternweiſee 458 Danmiloff: Dem Zuſammenbruch ent- Herder: Vom Erlöfer der Menfhen ... 230 p 448 Hindemith: Cardillaw; ᷣccᷣ hh 153 Decſey: Hugo Woll 311 Hoffmann: Tannenberg wie es wirklich Dibelius: Das Jahrhundert der Kirche 295 WAR: use eek 127 Dilthey: Geſammelte Schriften 66 Hoffmann: Das Göttlihe ............ 227 Enking: Menſch und Schrift. 455 Hohlbaum: Werke 147 Ettlinger, und andere: Feſtgabe für Karl Horn: Kultus und Kunft ............. 231 SUD een 285 Horten: Die Philoſophie des Fflams .. . 228 Eucken: Werke 196 Hübner: Das neue Lob der Torheit . . 231 v. Enden: Partiturb ande 399 Hugin (Prinzeſſin Feodora von Schles- Fahrenkrog: Werktdktke 54 wig-Holitein): Werkeeeeee 388 Fleuron: Die Schwäne vom Wildfee ... 466 Hunnius: Erinnerungsbuc ee 472 Flex: Sonne und Schilde 86 Mein Onkel Herrmann ............ 472 Förſter: Kirche und Schule 231 Aus der Zeit der Bolſchewiſtenherrſchaft 472 Foucher: L’Art Graeco bouddicque .... 263 Mein Weg zur Kunft ............. 472 Fricke: Oer religiöſe Sinn der Klaſſik Jakob: Unio mystica ................ 229 r ee 236 Karrer: Meiſter Edebart ............. 229 Friedrich: Werte 61 Neiſter Eckehart fpridt ............ 229 Füldp-Miller: Der heilige Teufel Raſputin 446 Kellner: Vom Ausdrucksgehalt der Hand- Geldner: Die Zoroaſtriſche Religion .... 228 IU eras AA 455 Gerftenberg: Ernſt Moritz Arndt (Aus- Ketty: Die Han 455 W)) 8 230 Kolbenheyer: Wer kde 145 Goethe-Geſellſchaft: Jahrbuch 411 König: Legenden und Märchen 90 Gotthelf: Werrdrte 0 ee 175 Robbe: Metrtrte cs 464 Grätz: Alte Vorſtellungen und neue Tat- Kraaze: Werrddtreeeek 462 ſachen der Phyſ iu 145 Krammer: Die Wiedergeburt aus La- Grätz: Der Ather und die Relativitats- S. 250 i anne 145 Kronprinz Wilhelm: Der Marnefeldzug Die Atomthe orie 145 ö re 127

Inhalte · Verze ichn

Lagarde: Hauptwerfʒdte . Leinveber: Mit Clauſewitz durch die Rät- ſel, Irrungen und Wirrungen des

Weltkriegggesꝶ. 126 Leo: Aſtrologiſche Lehrbücher 457 Leutelt: Werte 147 Libra: Aſtrologie, ihre Technik und Ethik 457 Kosmos und Mikrokosmos 457 Lienhard: Wertrtre 198 v. Lilleneron: Chororbnung ........... 399 Lomer: Die Sprache der Hand 456 Ludovici: Denkfibe el 465 Luͤttge: Chriſtentum und 5 228 Mannhardt: Muſſolin 245 Marr: Marx, Kant, Kirche ............ 231 Mehlis: Die Myſtik in der Fülle ibrer

Erſcheinungsformen in allen Zeiten

und Kulturen 65 Menerhof: Perſiſch-tüͤrkiſche Myftit..... 228 Mihira: Altindiſche Altrologie ......... 456

Miller: Ultramontanes Gdhulbbud .... 231 Moberfohn-Beder: Tagebuchblätter ... 475

Neumann: Der Weisheitspfad ........ 228 Sammlung der Brudftüde aus den Reden Bubdbas ......... cc eee 228 Niedlich: Jahwe oder Fefus? ......... 232 Deutſche Religion als Vorausſetzung deutſcher Wiedergeburt 232 Oeutſcher Religionsunterriht ...... 232 Das Mythenbunõ euer 232 Sterntaler, Rotkäppchen, Bornrös- GG; ˙ AAA 232 Niebergall: Im Kampf um ben Geiſt . 265 Niemann: Revolution von oben Um- ſturz von unteteern 376 Normann: Mythen der Sterne 458 Nowack: Julius Bab als Biologe 470 Obenauer: Hölderlin und Novalis 230 Oldenberg: Die Lehre der Upanishaden und die Anfänge des Buddhismus . 228 Otto: Weft-dftlide Myſtik 232 Parker: Aſtrologie und ihre Verwertung FÜRS eee... dn aek eas 457

Peter Weite

Pichler: Vom Weſen der Erkenntnis 66

Raab: Wiſſenſchaft, Philoſophie und Kul- sur

@eeoteve 010 0 do 0 tr ® „„ „„ „„ „„

V Seite Reinecke: Die deutſche Buchſtabenſchrift 94

Reuter: Vom Kinde zum Menſchen . 474 Aus guter Familllee 474 Reventlow: Tagebuch 475 Ritter -2ulder ne 229 Roberts: Jager und Gejagte 466 Roh: Schlieffen ..... cece eee cece 125 Rofen: Der Ratgeber für den Umgang

mit Menſ chen 229 Roſenſtock und Wittig: Akten und Theo-

logiſch-Kanoniſtiſches Gutachten über

das Schrifttum Joſeph Wittigs . 288 Sadhu Sundar Singh: Das Suchen nad

Goll nenn 228 Saitſchick: Sprühe in Profa ..,...... 465 Wirklichkeit und Vollendung ....... 465 Schleiermacher: Der chriſtliche Glaube . 230 Über Freundſchaft, Liebe und Ehe . 230 Schmitz: Geift der Altrologie .......... 174 Pſychoanalyſe und Yoga .......... 455 Schneider: Die Periodizität des Lebens

und der Kultunnnnn nns 143 Eleonore Duf n 475 Schoeck: Werke 67 Schon Werre 14 Schreyer: Die Lehre Jakob Böhmes .. 230

v. Schroeder: Biographie Chamberlains 169

Schüej Ohaſama: Ausgewählte Stücke des Zen Textes

Schulze Berghof: Neuland der Kunſt und

RUE soon te iced ( 211 zZbſens Kaiſer und Galilder als Zeit-

e ieee cu cgeeiadetoreeas 212 Schulze-Maizier- Myſtiſche Dichtung aus

ſieben Jahrhunderten 229 Schwarz: Auf Wegen der Myſtik 232 Der Gottesgedante in der Geſchichte

ber Menfcbeit ............r..00.. 227 Seibenjtüder: udanagagę.. 228 Seitz: Okkultismus, Wiſſenſchaft und Re-

listen nee atadeds 457 Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit 390 Stählin: Das Gottesjaht ............ 231 Steinmüller: Werkeeeeeeeeeee 217 Störmer: Aus den Tiefen des Weltraums

bis ins Innere der Atome ......... 144

Strauß: Abriß der indiſchen Philoſophie 227 Strauß-Kloebe: Die Aſtrologie des Joh. Kep fle ees 458

VI Inhalts Verzelchnis Seite Seite

Strobl: Werktktktkeee eee 144 Wirth: Julius Stockhauſen, der Sanger Supper: Werte 58 des deutſchen Liedes 235

Seller of Sales (Paris 1917) .......... 167 Wittig: Der Ungläubige und andere Ge- Wali: Wee 145 ſchichten vom Reiche Gottes und der Welt 288 Wegele: Theodor Althaus und Malwida Die Erlòſte n 289 von Meyſenbuorir n 140 Wolf: Das elſaſſiſche Problem 88 Weills: Protagoniſſill 155 Aſtrologiſche Prognooo e 456 Weinhandl: Meiſter Edehart im Quell- Wolff; Werreñĩ 308 punkt feiner Lehrer 229 Wuſt: Die Auferſtehung der Metaphyſik 65 Werdermann: Das religiöſe Angeſicht Naivität und Piet lte 65 Amerikas eitel Were 146

Dffene Halle

BUG, Men ia re 460 Ronnersreuth Jonny fpielt auf 214 Deutſchtum in Südamerika und wir 52 Nietzſche, Der Chriſt inn 211 Frieden, Zum konfeſſio nellen 135 Seelenkunde, Bücher über ............ 455 Geiſtiger Not u. ihrer Überwindung, Von 458 Technik, Stimmen für und wider die 385 Gertrud Bäumer, Zu dem N Die Vorherrſchaft deu 382 Mee. 215 Werksgemeinſchaftsfrage, Zur 304

Ronnersreuth, Die Stigmatifierte von 132 Werksgemeinſchaft, Noch einmal: Dr. Ed. Das Wunder von 299 Otavtlers: s 51

Literatur

Barthel: Gedankenwerke aus ber Gefolg- Krannhals: Ludwig Fabrenfrog ...... 54

ſchaft Goethes 464 Bleibtreu: Perſöͤnliche Erinnerung an

L.: Eine deutſche Fürſtentochter als Dichterin

M. G. Conrad 393 Metz: Neue Wege der ethiſchen Forſchung 221 Böhme: Wilhelm Kotzde 464 Philoſophiſche Bücher. 65 Caſſander: Magazinitis ............... 225 Paulſen: Das neue Theater 309 Faßbinder: Frauenbüher ............ 472 Schellenberg: Bücher zur religiöf. Frage 227 Fuß: Augufte Suppen 58 Paul Steinmiiller ................ 217 Gierke: Paul Friedriococ h 61 Weitöftlihe aoman u 462 Glupe: Oäniſcher Höderfhwan und Ka- Schleicher: Theodor Althaus und Mal-

nadiſcher Singſchwan 466 wida von Menfenbug ............ 140 Golther: Cofima Wagner ............. 216 Seeliger: Naturwiſſenſchaftliche Bücher 142 H. H.: Bũhnenvollsbund und Freie Volks! Wittko: Johanna Wolf w 308

bühne au ee 469 v. Wolzogen: Der neue Goergel ...... 390 v. Hauff: Wilhelm Haufrtk!wMMMP 138 Zuchhold: Sudetendeutſches Dichterland 144

Bildende Kunſt Graf von Hardenberg: Franz Huth .... 478 Soyka: Albin Egger-Lien zzz 395 Kepich- Overbeck: Friedrich Overbed .... 235 Walther: Zu unſern Bildern ......... 148 Krannhals: L. Fabrenfrog............ 54 Muſik Corrodi: Othmar Gdoed ............. 67 Moſer: Zur Reform der evangeliſchen Hernried: Hugo Wolfs „Vier Opern“ .. 311 Kircheinnuſſttetetet 397 Lobſtein-Wirz: Zulius Stodhaufen ..... 235 Teßmer: Die neue Oper ............. 148

Inhalte-Derzeichnis

Zürmers Tagebuch

Geite

Hindenburg Nationale Würde Flaggenſtreit und kein Ende Die Angſt vorm Schiedsgericht und die Hetze von Dinant Die Genfer An- träge Briand der Schönredner Oſtlocarno Und abermals Hinden- d ceN ue meviNen eae 73

Gaspropaganbda und Gasverbot Die Politik des offenen Mundes aber der leeren Hände Jafpar, Barthou und Poincaré Stille Teilhaber bei uns Die litauiſchen Händel der friedfertigen Polen Makedoniſche Wirren Chamberlain auf Reiſen Genfer Jahrmarkts ware 155

Der heimliche Kaiſer Unſere Gläubiger und der Dawes-Plan Nationale Würde, die nicht da ijt Das Reichs- fhulgefeg Das heiße Eiſen des Einheitsſtaates Ha und Hott

ee, 239 Paneuropa, Panamerika und der verpfuſchte Volkerbund⅛F . Auf der Warte Abrüften, Wer follmoraliih .......... 166 Entnordunnnnnn gg Aſtrologie, Geiſt ber... Qu 174 Eucken-Haus, Das Rud ol Bäumer, Aus einem offenen Brief an Eulenſpiegel, Derneue .............. Sand 29 Emil aua... x Bedauerliche Entgleiſung, Eine 352 Feſttag des Buches, Ein 3 a Beleidigte Raftan, Der .............. 415 Flex, Walter, und feine Mutter ....... Befabungsfoften ........... cee eee 168 Gebetbuch, Der Kampf ums ......... Bleibtreu, Kaerln 488 SGeiſtesknechtung in Rußland Burſchenſchaftsfeſſſꝶᷣ iti e eee 247 Seiſtesknechtung in Rußland, Nochmals 487 aioe sahnee ewe irises ee eek 95 Soethegeſellſchaft, Jahrbuch der Chamberlain und Lenbach 169 Sotthelf-Ausgabe, Die neue Jeremias- 175 Conrad, Michael Georrrr g 408 Grabiteine in Tirol Damaſchke, Der „Bolſchewiſt!t h 81 SGroßdeutſche Theatergemeinſchaft, Die 253 Deutſche Bücher im Ausland. 495 Handwerk im Lichte d. Familienforſchung, Deutfhe Drama, Das 490 MG k ee Deutſche gegen Deutihe ............. 407 Harden, Maximilians Deutſche Zugendbewegung in engliſcher Hardy, Thomass Betrachtung, die 246 Horny, Franz Deutſchen Schrift, Verleumdung der. 94 Hindenburgs Geburtstag Ä Oeutſcher Aufſtieee gg. 328 Kirchliche Tagungen, wii Elſaß, Ein Buch aus dem ............. 88 Kleiſt, Armer Heinrich von Ende eines Volkes, S ass 169 Kleiſt ehrten, Wie ſi e

Seite Jahreswende Der Studentenzwiſt

Preußenminiſter und Reichsminiſter Der Eiſenkonflikt Aus der Ab- rüſtungskonferenz Das vielverklagte Polen Oer litauiſche Streit Der

Grundfehler aller Semokratie 318 Die Papiermühle Freundſchaftsver⸗

träge mit Hintergedanken Die la- teiniſchen Schweſtern Oer kluge Briand und der klügere Kellogg Die Philoſophie der Kloſterküche Der Völkerbund gegen den Völkerbund Das Wohlwollen der Schöntuer Gezinkte Karten

Ein Ganzes oder dienendes Glied? Die

Reichskonferenz für Reichserneuerung Streſemann, Briand und der Rhein Franzöfifhe Autonomijten- begünftigung im Rheinland und Autonomiſtenverfolgung im Elſaß

VIII Inhalte -Verzeichnis Se ite Seite Kling Klang Gloria 325 Räteruſſiſ ches 489 König, Legenden und Märchen von Eber- Ratetang, d Oerrurnr cccncs 168 Gr eee asin ae 90 Sacco und Vanzetti, Um ............. 82 Krach in die Welt!in!u eee 256 Schiller preis 35⁴ Rulturvorträge in Eiſenach, Unfere ... 170 Seelen mord 495 Kunſt im Spiegel der Wirtſchaft 494 Sieht's etwa in Frankreich beſſer aus? . 249 , eee ew padsnainainadeuies 165 Stadtrat Schminke und das Lifhgebet . 84 Landesverrat und Volksverleumdung . 327 Studentiſche Schulungs woche 33³ Mann, Thomas, und Max Hölz........ 167 „Treudeutſ ch 3 85 Luther, Martin 162 Überfremdung des deutſchen Schrifttums 486 Mehr Ehrfurcht, meine Herren! ....... 86 Unrecht Gut ...... eee eee eee 79 Memme als Ideal, Die ....... SEE 165 Unterm Sonnenſtrahl der Kultur 335 Mühle als Retlamevermieterin, Die .... 414 Unterminierung der Runft ............ 171 Mien 245 Verniggerung der Kultueu 248 Nachhall von Laufanne .............. 330 Verſpätete Anerfennung ............. 176 Nanleie 6. hans 0 tins eres 410 Wagner, Richard, Bayreuth und die Pfitzner, Hans, Eindrücke vom Jazz- Pfl.; 35⁴ , cde Sea nihiaeeese ee 415 Weltgewiſſen, Das 8 „Politik“ und „Feuilleton“ in den natio- Wer hat dich zu der Tat verleitet? ..... 336 nalen Zeitungen 412 Wohnkultur, Moderne ............... 92 Politiſche Mordta ten 253 Notenbeilage Heft

Neumann: Vom Himmel hoch, da komm ich her

Kunſtbeilagen und Illuſtrationen Heft

Athos (Entzüdungen des Kloſterbruders

vom Berge): 3 Photographien 1 Dürer: Maria mit dem Kind. 3 Egger-Lieng: Der Seemann 5 Die Quelllldadadaq nn 5 CiſchgebeeeeeuMͤ ͤ p ů 5 Vorfrühling in Tirol 5

Fahrenkrog: Der Tempel des Schweigens 1 Die blaue Blu una 1 Gemeinſchaft der Freunde, Die: 5 Photo-

graphlee nan L; Hanner: Tafel aus dem Ehrenmal der

Oreikönigsſchule, Dresden ........ 2 Hein: Kapelle uni er 4

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He ft Heinrichs: Eifeld oer 2 Herbſtſtürme in der Eifel .......... 2 Huth: Am Fenſ ter 6 Kirchen inneren 6 Schloßraäuun--ſſmſe—m m 6 v. Jordan: Goethes Garten im Winter 4 Kleine: Grabreliieegg 2 Overbeck: Der Triumph der Religion in den Kůͤnſee“nnmnmnmd 3 Pfannſchmidt: Simeons Lobgeſang im m cia as pew sana at Rocco: Veter vor bem Kreuz ......... 2 Volz: Kindergruppe 6 de Wall: Schlitten fahrer. 4

Eingeſandte neue Schriftwerke und Briefe

Auf den Beilagen

——— Se See

Die blaue Blume Ludwig Fahrenkrog

Horaus eben ee Dreh ; Jelic dri rer 88 Soanriot Emil Dr.c,Geiese ch Stor

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Wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blaß und unſcheinbar werden, ſo wird der Geiſt, ja, das Genie und ebenfalls Schönheit, überſtrahlt und verdunkelt von der Güte des Herzens. Wo dieſe in hohem Grade hervortritt, kann ſie den Mangel jener Eigen⸗ ſchaften ſo ſehr erſetzen, daß man ſolche vermißt zu haben ſich ſchämt. Sogar der beſchränkteſte Verſtand wie auch die groteske Häßlichkeit werden, ſobald die ungemeine Güte des Herzens ſich in ihrer Begleitung kundgetan, gleichſam verklärt, umſtrahlt von einer Schönheit höherer Art, indem jetzt aus ihnen eine Weisheit ſpricht, vor der jede andere verſtummen muß.

Schopenhauer

COO . . CODED I r

Diesſeits und Jenſeits Von Prof. Dr. Robert Saitſchick

m Diesſeits kommt nur der mittlere Geiſteswert zur Geltung. Bewertung auf

Grund beſtimmter Maße des Fühlens und Wollens iſt diesſeitig; ſie ſetzt Grenzen, Erdgebundenheit, eingeſchränkte Begeiſterungsfähigkeit voraus. Geiſtige Höhe, ſchöpferiſches Hinausragen über irdiſche Gebundenheit ift ſchon Jenſeits. Gott, Geiſt, Liebe find jenſeitig, aber fie wirken auf das Oiesſeits ein, fie ſuchen es zu durchdringen, zu durchläutern. Das Fenfeitige ſollte dem Menſchen näher- ſtehen, als die ſich fortwährend ablöſenden und zerſetzenden Sichtbarkeiten, die ja nur mit Hilfe des Geiſtes richtig geſchaut und erfaßt werden können. Statt eine Verkörperung des Fenſeitigen zu fein, will aber das Diesſeits, in feine Vergäng⸗ lichkeit eingeſchloſſen, ſich ſelbſt genügen.

Gott, Geiſt, Liebe find ja keine Gedanken, keine Abſeitigkeiten, keine blaſſen Be- griffe. Das Fenfeits ſetzt ein höheres, geſteigertes Daſein voraus, wirklichſte Wirk- lichkeit, Geftaltung, Schöpfung, lebendiges Wachstum und duldet die Formlofig- keit nicht. Der Geiſt will und muß ſich verkörpern, ohne jedoch feine Ungebroden- heit einzubüßen. Geſtalt annehmend, ſtrebt er ſtets zu ſeinem Urſprung, zu ſeiner Reinheit zurück. Ohne Gebrochenheit und Trübung iſt die Welt der Erſcheinungen nicht zu denken; aber fie wäre nur ein Konglomerat zuſammenhangloſer Tatſachen ohne die Sinngebung des ſchöpferiſchen Jenſeits.

Wir können vom Diesſeits aus keinen Sinn dem Leben geben, keine Einheit er- ſchaffen, keine Erhöhung bewirken, ſondern nur eine Ausweitung bis zu der Grenze, wo der menſchliche Intellekt nicht weiterkann und dann in ſeinem zwangsläufigen Vorwärtsſchreiten zuſammenbricht. Das FJenſeits in Abrede ſtellen, vernichtigen oder in das Diesſeitige einſchließen, ift eine Utopie der friedloſen, aus jedem Gleich- gewicht geratenen Selbſtüberhebung. Erſt wenn wir uns zum Göttlichen, nicht zum Menſchlichen bekennen, ſehen wir auch das Diesſeits im richtigen Lichte und können die hundertfachen Widerſprüche zuſammenfaſſen. Mit der Sinngebung wird auch jede Verneinung des Fenjeitigen unmöglich, denn als Steigerung des Lebens iſt fie zugleich ſeine Bejahung, Erhaltung, Befeftigung, Verewigung. Das Wort „uns zu verewigen ſind wir ja da“ hat von hier aus ſeine Bedeutung.

Der Turmbau zu Babel iſt das konkreteſte Gleichnis für die Selbſtüberhebung des Diesſeitigen, Stofflichen und Mechaniſchen und der auf ſich ſelbſt geſtellten Fähigkeiten des Menſchen: Ein ſinnloſes Bauen an Werken der Ziviliſation führt notwendig zum Zuſammenſturz ſowohl der Werke als auch der Baumeiſter.

* & *

Die Wirkungen des Zenſeits ergreifen den einzelnen; ſchöpferiſch iſt nur das Ergriffenſein und Erſchüttertſein der einzelnen im Dienſte des göttlichen Geiſtes. Maſſen werden von dieſem nicht ergriffen: ihre Erſchütterungen ſind diesſeitig und bleiben vergänglich und verworren. Nur der einzelne kann ſich prüfen, erkennen und in eine Beziehung zum Willen Gottes und damit zum Sinne des Daſeins treten. Von gotterleuchteten Menſchen ſtrömt Licht in die Welt, unausweichlich

Saltſchi: Diesfeits und Zenfelte 3

trotz allen Hemmungen von außen, eindringlich trotz aller ihnen gegenübertreten- den Stumpfheit. Unausbleiblich ift die Verkörperung des Göttlichen.

Die Erleuchtung der einzelnen, ihre Feuertaufe, ihre Fenjeitigteit iſt das Funda- ment der neuen Schöpfung, des neuen Menſchtums. Ihr Sichbekennen zum Gottes- ſohne, zum Gottmenſchen ijt die feſteſte Bejahung der neuen Schöpfung, der Lebens- fülle und der Menſchenerneuerung von Grund aus. Dieſe Bekenner ſind nach dem Worte geſu nur eine kleine Herde. Aber nicht auf die Vielen kommt es an bei der Begründung der Wahrheit, ſondern nur auf die Wiedergeborenen. Dieſe können jedoch gleich dem Geiſte, aus dem ſie geboren ſind keine Schranken um ſich ziehen; ſie ſind durchaus nicht von der Wirklichkeit abgelöſt: werden ſie doch von dieſer angezogen. Ihr Erkennen, Erfahren und Erleben ſetzt ſich in Wirkung um: ihre Worte und Einſichten find Taten, mit der neuen Wirklichkeit unauflöslich ver- bunden. Ihnen offenbaren ſich die Tiefen und Höhen des Oaſeins, die dem alten Menſchen unzugänglich bleiben mußten: Er wähnte zwar hohe Gipfel kühn zu er- klimmen, es waren aber nur abſtrakte Höhen, Begrifflichkeiten von dem künſtlichen Lichte des Scheinwerfers durchbrochen und zerteilt. Denken über das Denken, Unterhaltung des Denkens mit ſich ſelbſt kann nicht zu Einſichten führen. Wohl können kühne Intellektualitäten in die Wirklichkeit dringen und, ſich zur Leiden- ſchaft geſellend, Taten werden. Aber auf den Schlußfolgerungen abgezogenen Denkens aufgebaut, wird in ihnen das Geſpenſterhafte der Abſtraktion und das Perverſe der vergewaltigenden Folgerichtigkeit nur Verſchiebungen in der ge- gebenen Tatſächlichkeit, nicht aber Erhöhung und Vervollkommnung bewirken. Die Bedeutung des geſunden Menſchenverſtandes beſteht darin, daß er die Mitte nicht überfchreitet, und die Bedeutung des Intellektes beſteht im Erforſchen von Urſache und Folge; zieht er aber Konſequenzen, die der Wille auffängt und deren ſich die Leidenſchaft bemächtigt, ſo ſind zerſtörende Wirkungen unvermeidlich, und die kühnen Schlußfolgerungen werden unter den Trümmern des nur zu bald ein- ſtürzenden Baues begraben.

Die unaufhaltſame Kühnheit im Fortſchreiten dieſes ſich dem Leben einver- leibenden Denkens iſt nicht wahre Furchtloſigkeit. Dieſe kommt aus der Erfahrung der Ganzheit, nicht aus der Willensbetätigung auf Grund erkannter Fragmente, die tyranniſch als Ganzheit dekretiert und zum Range vollen Lebens erhoben wer- den. Einſeitigkeiten find kühn; furchtlos iſt nur die Einſicht in das Weſen des Men- ſchen, in den Sinn feiner Lebenswanderung. Kühn find Utopien des Kopfes oder die Vorherrſchaft des Willens, oder auch die eines anderen Fragmentes unſeres Inneren, furchtlos iſt die Erfahrung der Liebe, das Bekennen des Gotteswillens und die Hingabe an ihn. Dieſe Furchtloſigkeit iſt es, die das Himmelreich ſtürmt, um ſich den Schatz anzueignen, der nach dem Worte Jeſu „nicht ausgeht in den Himmeln“, der, weder Natur- noch Menſchengeſetzen unterworfen, durch keine Macht der Welt geraubt werden kann.

Allen Zielen, die der Menſch verfolgt, liegt etwas zugrunde, das nicht rein materiell genannt werden kann; ſelbſt grobſinnig veranlagte Menſchen, die nur dem Mammon dienen oder ſich ganz dem materiellen Genießen hingeben, würden ſich in ihren eigenen Augen erniedrigen, wenn ſie ſich eingeſtünden, daß ihr ganzes

4 | Saltſchia: Oiesſeits und Fenfeite

Wollen und Streben der dunklen Niederung angehöre. Sie verſuchen wenigſtens, ihm eine Erklärung zu geben, die einigermaßen über den engen Kreis hinausrage. Darin wurzeln ja auch alle Theorien, die den Mammon in den Dienſt des Macht- gedankens oder des Volkswohls ſtellen oder den Genuß äfthetifch ausdeuten. Jeder hat ſein Letztes, ſeinen eigenen Schatz, in deſſen Namen er denkt, lebt und wirkt: auf einer gewiſſen Stufe iſt es die Wiſſenſchaft, oder das Erkennen, oder das Staats- intereſſe. Aber alle dieſe letzten Ziele, auch die weiteſten, beziehen ſich nur auf Teile, kennen die Ganzheit, die innere Erfahrung des auf das Höchſte geſammelten, auf das Jenſeits gerichteten nicht. Chriſtus wendet ſich an den ganzen Menſchen, indem er ihn auf die neue Wirklichkeit des Reiches, „das nicht von dieſer Welt“, hinlenkt. Sobald wir von dem unverſchiebbaren Mittelpunkte abweichen, geraten wir ſchon ins Fragmentariſche.

Chriſtus läßt ſich nur aus dem vollen, ausgeweiteten und erhöhten Lebensgefühl heraus erfaſſen. Er iſt nicht mit dem Verſtande erkennbar, ſondern nur aus der Vereinfachung des Innern heraus, mit dem geläuterten Willen, mit der Hingabe des ganzen Menſchen. Iſt doch auch echtes Denken niemals Selbſtzweck, nicht des Denkens wegen da, ſonſt wäre es ja nur Dialektik, Grübelei, abſeits ſich behauptende Schulweisheit. Wer ſich mit Fragmenten nicht zufrieden geben kann und keinen Selbſttäuſchungen zuneigt, wer das Nichtige, das er in ſich vorfindet, unverhüllten Blickes prüft, aus der zerklüfteten Niederung ſich mit allen Seelenkräften höhen- wärts ſehnt nur zu dem redet das bedeutungsvolle Wort: „Wo euer Schatz iſt,

da iſt auch euer Herz.“ . N

Die Höhenlage unferes Lebenszieles macht uns zu dem, was wir find. Die höchfte Lebenslage iſt die, zu der Chriſtus aufruft: die Richtung unſeres Willens auf Gott überwindet alle Zwiſchenſtufen und iſt Errettung aus dem Fragmentariſchen und Nebenſächlichen, aus der Vielheit gebrochener Gedanken und Meinungen, aus dem Zerfließen im Weltall, aus dem Pantheismus intellektueller oder gefühls- ſeliger Art. Die Einſichten, die wir dann gewinnen, tragen Unergründliches in ſich. Die neue Klarheit überwindet alles Verſchwommene, das ſchwankende Auf und Nieder und gibt unſerem Wollen einfache und große Linien. Tiefſte Demut bewirkt ungeahnte Erhebung zu Gott, Stärke, Ruhe, Helligkeit und Glaubensfreudigkeit, keineswegs einen Abſchluß, ein endgültiges Stehenbleiben, ſondern vielmehr ein Erwarten von etwas, das noch kommen ſoll. Das Schlimmſte, das uns zuſtoßen kann, iſt der Mangel an geiſtiger Wachſamkeit, das Einſchlummern der Liebesfähig- keit, des Zenfeitsgefühls, der Glaubenstraft. Wir werden dann abhängig von unſeren eigenen Gedanken und verlieren den Sinn für die volle Lebenswahrheit.

Könnte man genau beſtimmen, was das Zenfeits ift, fo würde man dem Men- ſchen die Glaubenskraft nehmen. Diefe iſt, wie die Freiheit, keine Formel. Wir find für den Glauben und für die Freiheit geſchaffen: ohne Glaubenskraft wäre der Menſch das unfreieſte Weſen, unfreier als das Tier: „Wenn der Hausherr wüßte, zu welcher Stunde der Dieb kommt, fo würde er wachen und fein Haus nicht durch- wühlen laſſen. So ſeid auch ihr bereit. Der Sohn des Menſchen kommt in der Stunde, da ihr es nicht denket.“ (Luk. 12, 40.) Der Menſch iſt nicht für die Er⸗

ep

Hanemann: Ole Zung frau 5

faſſung des Endgültigen, jondern für den Glauben an Gott und die Erfüllung feines Willens auf Erden. Die Feſtlegung des Gottesreiches wäre ein Abbruch an unſerer beſten Kraft: es kommt nicht auf Jahrhunderte und nicht auf Jahrtauſende an, nicht auf eine beſtimmte Vigilie. In unſerm eigenen Innern tragen wir ja das Senfeits, das Gottesreich. Die ungeahnten Ausblicke laſſen wohl den ungeheuern Abſtand zwiſchen Gott und Menſch erkennen, und doch auch die Gottesnähe, die Annäherung Gottes an den Menſchen. Dieſes Ringen der Nähe mit der Ferne füllt die Weltgeſchichte aus.

Das ungeahnte Eindringen des Fenſeits in das Diesſeits weckt alle Kräfte, bewegt alle Dimenſionen. Solange der Menſch in feinen Trieben befangen ijt, muß er kämpfen: der Veranlaſſungen dazu ſind unzählige. Chriſtus ſah die Verdunkelung ſeiner höchſten Wahrheit voraus: iſt er doch gekommen, den echten Frieden zu bringen, ſeine Verkündigung aber muß heftigſte Kämpfe verurſachen, alle Kräfte der Niederung entfeſſeln. Iſt es doch gar nicht möglich, daß die niedere Lebenswirt- lichkeit ſich gleichgültig gegen die verkörperte Freiheit verhielte. Wir verſtehen uns auf die Erſcheinungen der Natur, nicht aber auf die der jenſeits liegenden Freiheit. Das Ereignis aller Ereigniſſe die Freiheit, die Chriſtus in die Welt gebracht hat, die ſtärkſte Betonung des Fenſeitigen find wir geneigt, gering zu ſchätzen, ja fie ganz von uns zu weiſen. Den meiſten leuchten nur diesſeitige Erfahrungen ein, nicht Erfahrungen der höheren, jenſeitigen Wirklichkeit. Daß ſie ſie nicht anerkennen wollen, darin äußert ſich eine unerklärliche Abneigung gegen Freiheit und volle Lebenswahrheit, eine Grobſinnigkeit, die nur das Stoffliche oder das Verſtandes⸗ mäßige begreift. Um Geiſt und Freiheit zu erfaſſen, dazu gehört ein Entfernen der Schranken, ein Abſtreifen alles Nebenſächlichen, ein Heraustreten aus der früher oder ſpäter uns zum Bewußtſein kommenden Enge des Diesfeits.

Die Jungfrau Von Julius Havemann

Es dämmerte. Ein großer Stern ward hell Und blinzelte nach weißen Uferſtädten.

Des Tempels riefige Bronzetüren drehten Sich lautlos. Auf die Stufen tratſt du ſchnell.

Noch gab des Weftens müder Noſenquell Die letzten Tropfen, wie für dich erbeten, Begoß die Flieſen, die dein Sub betreten, Der beiden Wölfe griinfpangleifend’ Fell.

Schlank wuchs empor die biegſame Geſtalt. Du hobſt die Lampe hoch mit beiden Händen, Als ſprache Sehnſucht ſtumm: O, könnt’ ich bald

Mit meiner Leuchte her ein Schifflein wenden An dieſen Strand, daß ich ihm Ziel und Halt Im Ozean des Lebens möchte ſpeuden !

Entzückungen des

Kloſterbruders vom Berge Athos Von Ernſt Barthel

uf dieſer Erde liegt ein meerumſpülter Berg unter griechiſcher Sonne und im

Geiſte Chriſti. Dort leben aus allen Nationen die freigewordenen Menſchen die kulturloſen. Es ſind Mönche oder Eremiten. Sie haben der ſündhaften Welt abgeſagt. In redlicher Arbeit gewinnen fie leicht dem füdlichen Boden die geringe Nahrung ab ihr Kleid iſt ein einziges bis zu ihrem Tode ihr Leben hat kein Be- dürfnis als das Gebet. So leben fie ihren Werktag im Frieden des Herrn und ab- geſchloſſen von aller Welt. Das ſind die am tiefſten gelebt und gedacht. Des Morgens weckt ſie Gottes Sonne meerentſteigend vom einfachen Lager, Arbeit und Gebet ſind ihnen eins geworden, und nachts verglüht ihre Sonne hinter den Zinnen des heiligen Berges. Dort iſt eine Heimat!“

Dieſe Worte ließ er zuruͤck, als er aus hochkultiviertem Lande, aus feingebildeten Verhältniſſen, aus Amtern und Würden die Fahrt nach dem Oſten antrat, von der er nicht mehr zuruͤckkehren ſollte. Seinen Freunden ließ er ſpäter durch Mittelperſonen die Nachricht zukommen, daß er ein Mitglied jenes Volkes geworden fei, in dem nie- mand geboren werde („Gens aeterna, in qua nemo nascitur“ ſoll fein Ausdruck ge- lautet haben), daß er ſeitdem zum erſtenmal in ſeinem Leben eines vollkommenen Glückes genieße und daß er allen, denen er Gutes zudenke, nichts Beſſeres wünſchen

könne, als daß ſie gleich ihm die Welt überwinden möchten. Nach einigen Jahren ließ er, wieder durch fremde Menſchen, feinem ehemaligen Geſchäftsfreund mit- teilen, daß er feine Meditationen ſchriftlich niedergelegt habe und daß er es für eine Pflicht der Nächſtenliebe halte, die Ergebniſſe ſeines beſten Lebens auch andern Menſchen zugänglich zu machen. Hier folgen ſie. 1.

Wenn ich, meine Freunde, euch zu ſagen gedenke, was ich nach ernſtem und lan- gem Erleben für gut und wahr halte, ſo kann ich euch einige Schilderungen meines Lebens und des Verhältniſſes zu meiner Umgebung nicht erſparen. Denn der Ge- danke iſt nur der Schatten des Menſchen. Losgelöſt von allen Beſtimmungen reiner Menſchlichkeit wird er zur abſtrakten Hieroglyphe, zu welcher der Lebensſinn erſt hinzugedacht werden muß. All unſer menſchliches Denken hat zum letzten Zweck die Verbindung gleichgeſinnter Geiſter und ihre Abgrenzung von den Gegengeiſtern. Und ich, der ich zu euch rede, beabſichtige nur, Menſchen zu ſammeln. Daher aber iſt es auch unerläßlich, euch das Land und die Sonne zu beſchreiben, denen allein die Reifung ſolcher Entzüdungen möglich iſt.

Als ich zum Berge Athos reiſte, ſuchte ich den Frieden. Doch wie viel mehr habe ich gefunden! Der vollkommenſte Staat, den eure Theoretiker vergebens ſuchen hier iſt er in vollem Leben verwirklicht. Die herrlichſte Natur zaubert eine Fülle von Vil- dern hervor, die auf dem Antlitz der Erde ihresgleichen nicht finden. Die ganze Halb- infel iſt ein einziger Tempel, der allein würdig iſt, die erhabenen Lehren des größten

Barthel: Entzüdungen des Rlofterbrubers vom Berge Athos 7

aller Menſchen zu bewahren. Die guten Mönche, meine Brüder, haben nichts getan, was dieſer Schönheit Abbruch tun könnte. Ihre Klöſter ſind Burgen, die ſeit uralter Zeit dem Berg und ſeinen Buchten entſproſſen ſcheinen. Die Menſchen aber, die um mich leben, kennen weder Raub noch Weib: in gütiger Ruhe lebt ihre große Schar dem ewigen Heil niemand verletzend, jedem feine Freiheit gönnend. $m Gottes- dienſt fand ich ſchlichte Harmonie, die den griechiſchen Geiſt dieſes rechtgläubigen Chriſtentums offenbart. Hier fand ich, in einem Wort geſagt, alles vereint, was in der ganzen Welt nur zerſtreut und entſtellt vorhanden iſt: Natur und Freiheit, Griechentum und Chriſtentum, Schönheit und Frieden, wunſchloſes Glück. So wurde mir der Berg Athos zum Inbegriff einer neuen, wahnloſen Welt.

2.

Die Halbinſel Athos ift nicht nur politiſch, ſondern auch phyſiſch eine von der übri- gen Welt ziemlich abgeſchloſſene Einheit. Die Landenge gegen Mazedonien führt in eine wilde und von allem Verkehr abgelegene Gegend, ſo daß die Bewohner der Halbinjel eigentlich nur zu Schiffe erreicht zu werden pflegen. Sie leben auf ihrer Inſel der Seligen ohne notwendige Berührung mit dem Feftlande. Die heimatliche Bergwelt erzeugt mit geringen Ausnahmen alles, was zum beſcheidenen Lebens- unterhalte nötig iſt, und der Fiſchfang liefert weitere Nahrung. So iſt das Oaſein dieſer Menſchen von äußeren Einflüſſen faſt unabhängig. Pilgerſcharen und ſelten einmal neugierige Reiſende oder Handſchriftenſammler unterbrechen allein die gleichmäßige Ruhe des Heiligen Berges.

Aber keine öde Einſamkeit birgt dieſe Inſel, ſondern eine reiche, lebensvolle Ein- ſamkeit. Tauſende von Mönchen der verſchiedenſten Nationen leben in einigen Dutzend Klöſtern, von denen die hauptſächlichſten kleine Stadtburgen genannt wer- den können. Ein anmutiges Städtchen, Karyäs, iſt der Zentralſitz der oberſten Ver- waltung. Zahlreiche Einſiedlerklauſen, zuweilen zu Eremitendörfchen zuſammen⸗ geſchloſſen, find an dem langgeſtreckten Bergzuge verſtreut. So wären die Lebens- formen auf dem Athos ſchon recht mannigfaltig, ſelbſt wenn die großen Klöſter weniger individuell ausgeprägt wären, als ſie es tatſächlich ſind.

Denn der Begriff eines abendländiſchen Kloſters mit feinen nüchternen Rafernen- formen kann auf die Athosklöſter nicht im entfernten angewandt werden. Nicht nur in der Bauart ſind dieſe Burgen recht mannigfaltig geartet, ſondern ſie weiſen auch in der klöſterlichen Verfaſſung ihrer Bewohner überraſchende Unterſchiede auf. Die einen nämlich huldigen der monarchiſchen Unterordnung, die andern der republita- niſchen Freiheit. Jene, die Cönobien, nähern ſich den klöſterlichen Auffaſſungen der römiſch-katholiſchen Kirche, während dieſe, die idiorrhythmiſchen Klöſter, dem einzel- nen Mönch die weitgehendſten perſönlichen Freiheiten einräumen. Alle Klöſter aber, ſeien fie nun monarchiſch oder republikaniſch, find Glieder der großen, freien Repu- blik der weltüberwindenden Brüder vom Berge Athos.

3. Ich ſelbſt gehöre einem der größten idiorrhythmiſchen Klöſter, Vatopädion, an. Es liegt am Nordoſtufer der Halbinſel, wie die meiſten Athosklöſter in herrlicher Um- gebung. Hinter dem Kloſter ſteigt der waldige Berg, der ſich durch die ganze Halb-

8 | Barthel: Entzüdungen des Nloſterbruders vom Berge Athos

inſel erſtreckt und im äußerſten Südoſten die impoſante Pyramide des Athosgipfels trägt. In unſerer Gegend hat der Gebirgszug noch eine maſſige Höhe. Ein angeneh- mer Spazierweg führt durch einen überreichen Wald von Kaſtanien- und Olbäumen, Eichen, Platanen und Buchen bis zur Kammhöhe hinauf, von welcher der Blick weit- hin über beide Meere ſchweift, während er, zur näheren Umgebung ſich wendend, den buchtenreichen Strand mit ſeinen verſchiedenen Kloſterburgen verfolgen mag. Bei meiner Rückkehr durchſchreite ich nahe dem Kloſter ein Vorland, das mit Zy- preſſen und Feigenbäumen maleriſch bepflanzt iſt und trete durch eine Nebenpforte in der ſtarken Mauer in unſer gemeinſames Heim. Nach einigen Winkelzügen durch die alten ſchmalen Gänge und über einige nicht mehr ganz regelmäßigen ſchwachen Holztreppen gelange ich auf den hellen Flur, in den mein Zimmer mündet, und trete ein. |

Das Fenſter dieſes einfach ausgeſtatteten Raumes geht auf das Meer. Des Mor- gens wirft die Sonne bald nach ihrem Aufgang warme Strahlen in den Raum, und ſchon Nachmittags verſchwindet die oftmals allzu Glühende hinter der ſchützenden Mauer des Berges. Ein reiner Himmel von tiefem Blau ſpannt ſich während des größten Teiles des Jahres über dem weiten Meere aus. Nur im Herbſt erleben wir manchmal die Ungunſt der Natur, indem ſie uns ſchwere Stürme ſchickt, die das Meer hoch aufbãumen laſſen und den Fenſterläden übel mitſpielen könnten. Aber wir haben nichts Derartiges. Unfere Burgmauern blicken frei und freundlich mit klaren, allzeit offenen Augen in den Tag hinaus und bieten auch den ſtärkſten Wetterſtößen die Stirn. Die Zimmer auf dieſer Seite beſitzen einen Uberhang, das heißt, fie ragen zu einem Teil ihrer Bodenfläche frei in die Luft hinaus, eine Bauart, die den Athos- klöſtern in Verbindung mit dem ganz regelloſen Bau etwas ungemein Maleriſches verleiht. |

4.

Mein Tagewerk verläuft im allgemeinen, wenn nicht Feft- oder Bußtage eine Anderung erheiſchen, in folgenden Linien: Des Morgens um ſechs Uhr verſammle ich mich mit meinen Mitbrüdern, die faſt alle griechiſcher Abſtammung find, in der Kloſterkirche, welche in der Mitte des von den Wohngebäuden eingeſchloſſenen vier- eckigen, aber nicht eben regelmäßigen Hofes ſteht. Wir ſingen eine Meſſe nach dem Ritus, der ſchon mehr als ein Jahrtauſend felſenfeſt der Zeit widerſtanden hat, und begeben uns nach dem Gebet zur Arbeit. Dieſe kann nun für die einzelnen Klofter- brũder und je nach der Jahreszeit ſehr verſchieden fein. Meiſtens dient fie der Hervor- bringung der Nahrung. Ich beſtelle das Feld oder ſammle wilde Früchte, als da find: Kaſtanien, Zitronen, Oliven, Feigen, oder ich fahre zum Fiſchfang aus, oder ich bin in der Kloſtermühle tätig oder treibe mein Handwerk, das ich hier freiwillig gelernt habe, die Holzſchnitzerei, deren Erträge durch den Verkauf der Gegenſtände an Pilger vom Kloſter zur Beſchaffung von Salz verwandt werden. Andere Brüder beſchaffen Holz zur Winterfeuerung und für die Küche, andere wieder bereiten das Mahl, kurz, jeder iſt in einer nützlichen Weiſe beſchäftigt. Niemand aber arbeitet allein. Stets ſind freie Gruppen von Brüdern zu ihrer Tätigkeit verſammelt, ſo daß der Verkehr mit den Nächften, von denen hier mancher ein ehrwürdiges Lebensſchickſal hat, durch die Arbeit beſonders gefördert wird. Die Sprache meines Kloſters iſt griechiſch, ſo

Barthel: Entzüdungen bes Kloſterbruders vom Berge Athos 9

Riofter Xeropothamos

daß ich mit Hilfe meiner ZJugendkenntniſſe in dieſer Sprache nicht allzu große Mühe hatte, mich mit meiner Umwelt zu verſtändigen. Anders wäre es wohl geweſen, wenn ich genötigt geweſen wäre, in ein ruſſiſches oder ſerbiſches, bulgariſches oder rumäniſches Kloſter einzutreten. Indeſſen kann ich mich heute, nachdem mir der Athos längſt zur trauten Heimat geworden iſt, auch mit den Brüdern aus dieſen Nationen ziemlich gut verſtändigen.

Gegen zehn oder elf Uhr hört die Arbeit auf, da die Hitze meiſtens zu groß zu wer- den beginnt. Ich ziehe mich auf mein Zimmer zurück und pflege die Blumen, die mein Fenſter und andere geeignete Plätze ſchmücken. Oder ich leſe ein Buch der forg- fältig ausgewählten Bibliothek, die mich hierher begleiten durfte. Oder ich notiere mir einige Meditationen. Bald aber tönt das Erz, welches zur Hauptmahlzeit ruft, die von den Brüdern des Kloſters im großen Speiſeſaal gegenüber der Kirchenfront gemeinſam eingenommen wird. Nachmittags herrſcht beſonders im Sommer die tieffte Ruhe in den Athosklöſtern. Ich treibe, was der Sinn mir eingibt, bis gegen Ab end der zweite, kurze Gottesdienſt ruft, den ich gewöhnlich durch einen Spazier- gang in die wunderbare Bergnatur beſchließe.

5:

Von den Mahlzeiten zu fprechen, follte ich eigentlich in einem fo geiſtlich gerich- teten Tagebuch unterlaſſen. Doch iſt für den Frommen auch die Nahrung ein Gei- ſtiges. Sie liegt dem Geiſt am fernſten, muß aber dennoch vom Geiſte durchdrungen werden. Die Fleiſchnahrung iſt auf dem Athos faſt ganz ausgeſchaltet. Nur alten und kranken Brüdern erlaubt man ausnahmsweiſe zur beſonderen Stärkung den Genuß

10 Barthel: Entzüdungen des Rlofterbrubers vom Berge Athos

von Geflügel. Wir andern leben ausſchließlich von Pflanzennahrung, Fiſchen und einigen tieriſchen Erzeugniſſen wie Milch, Eier, Honig. Ein in ſeiner Übertreibung gewiß nicht vernunftgemäßes Verbot ſchließt zwar vom Athos nicht nur die Frauen, ſondern auch die weiblichen Haustiere aus, ſo daß wir eigentlich auch genötigt wären, uns der Milch und der Eier zu enthalten, ſofern man dieſelben nicht vom Feſtland zu uns herüberbrächte. Und fo geſchah es tatſächlich viele Jahrhunderte lang, daß die Brüder in ihrer von weiblichen Tieren ſtammenden Nahrung auf die Milcherzeug- niſſe, meiſtens Käſe, angewieſen waren, die auf den in Mazedonien, der Walachei und Südrußland gelegenen reichen Kloſtergütern hergeſtellt wurden. Doch hat ſich das jetzt geändert, da die mildere Kloſterpraxis gegen kleine Rinderherden und Ge- flügelhöfe bei jedem Kloſter nichts mehr einwendet. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß zu den Faſtenzeiten reine Pflanzennahrung bevorzugt wird.

Wir befinden uns bei dieſer Koſt geſund und wohl. Unſere ſchöne Heimat verſorgt uns reichlich mit allem hauptſächlichen Bedarf, und das fromme Bewußtſein, daß wir das Unrecht, welches mit der Tötung von Tieren verbunden iſt, auf ein äußerſt geringes Maß zurückführen konnten, da wir nur die weniger leidensfähigen Fiſche für unſer leibliches Wohl opfern, erfüllt uns mit der reinen Freude, welche gute Taten notwendig im Gefolge haben. Es iſt uns gelungen, das Unrecht, welches mit unſerem Daſein verbunden ift, auf ein geringſtes Maß zurückzuführen, ohne daß wir dadurch unſer Leben der Kraft und Stärke berauben, die dem Weltüberwinder zum freudigen Leben in Chriſto unentbehrlich iſt.

6.

Aber den Wert des Faſtens gehen die Meinungen der Brüder auseinander. Die Regel des heiligen Baſilius, nach der unſer gemeinſames Leben geordnet iſt, betont die Faſtübungen mit großer Strenge. Demgemäß ſind unſere Mahlzeiten im großen Speiſeſaal in den Faſten auf die notwendigſten Bedürfnifje zugeſchnitten. Die idior- rhythmiſchen Klöſter gewähren jedoch dem Einzelnen auch in dieſem Punkte viel Frei- heit, fo daß es nichts ungewöhnliches iſt, wenn manche Brüder ihre Nahrung neben den Hauptmahlzeiten nach eigenem Ermeſſen ſich beſchaffen. In meinem Kloſter iſt das Privateigentum nicht abgeſchafft. Jeder lebt nach ſeinen Mitteln und Neigungen, ſo lange dieſe nicht gegen das mönchiſche Leben überhaupt verſtoßen. Mir ſcheint es dem Willen Gottes gemäß, daß jedes Lebeweſen ſeine Nahrung in zureichender Menge empfange, und ich ſehe nichts Böſes darin, die allgemeinen Mahlzeiten, welche der Regel des heiligen Baſilius Genüge tun, durch beſondere Vorräte, die ich dem Kloſter abkaufe, zu ergänzen. Für manchen mag es vielleicht gut ſein, den Schlingen der böſen Mächte durch ſtrenges Faſten um ſo ſicherer zu entgehen. Eines aber ſchickt ſich nicht für alle. Dieſem Grundſatze werden die idiorrhythmiſchen Klöſter hier auf das beſte gerecht.

Oft habe ich mich gefragt, ob es nicht weiſer und frömmer wäre, die Sinnlichkeit, die doch auch ein Geſchenk Gottes iſt, nicht allzu ſehr zu verachten, ſondern ihr die harmoniſche Stelle im Mönchsleben zu gewähren. Doch es iſt ſchwer, die richtige Mitte zu finden. Allgemeingültig dürfte hierbei nur die Forderung ſein, daß die Sinnlichkeit nicht zum Mittel werden darf, uns zur Welt zurückzuführen und uns ihr

Barthel: Entzüdungen des Noſterbrubers vom Berge Athos 11

zu verſklaven. Der Chriſt muß feine Freiheit wahren. Und deshalb erachte ich es für gut, daß allen Frauen das Betreten unſeres Eilandes für immer unterſagt iſt. Was aber unſer Leben ſonſt betrifft, ſo ſollten wir immer mehr zu der Einſicht gelangen, daß das Prinzip der perſönlichen Selbſtändigkeit auch im Kloſterleben entwickelt werden müßte, für welches Beſtreben unſere idiorrhythmiſchen Klöſter die beſten Muſterbeiſpiele find. Das Leben hier wäre weniger vollkommen, wenn wir nur Cönobien befäßen. So aber, wie es iſt, iſt es ein vorweggenommenes Bild der Fdeal- welt, die von der großen Welt vergebens erſehnt wird.

7.

Der Gottesdienſt in der ſchlichten kleinen Kirche iſt von ernſter Anmut. Zwar haben wir Griechen nicht denſelben herrlich polyphonen Geſang wie die ruſſiſchen und ru- mäniſchen Klöſter. Unfere Stimmen tönen einfach, monoton, reizlos. In der erſten Zeit meines Hierſeins wanderte ich daher mehr als einmal des Sonntags den Berg hinüber nach Ruffiton, um mich an den unvergleichlich reichen, mit hoher Vollendung vorgetragenen Chören der ruſſiſchen Meſſe zu erbauen. Gewiß, auch hier fehlt die gewaltige Orgel. Aber um ſo ergreifender iſt die Herrlichkeit, welche die alten und jungen Brüder zum Lobe Gottes mit ihren reichen Stimmen hervorzaubern. Man lebt im Banne ihrer ſchlichten Kunſt, deren Wurzeln ernſter Glaube und fromme Liebe zum Höchſten find, und vergißt darüber gern alle weſtliche Künſtelei. Dieſe majeſtätiſchen Bäſſe der Alten und die glockenreinen Tenorſtimmen der Jüngeren fügen ſich mit den reichen Mitteltönen zu einer Symphonie von unbeſchreiblicher Schönheit zuſammen. Ja, es iſt gut, daß nicht alle Athosklöſter unſere griechiſche Reizloſigkeit im Geſange pflegen. So bewahren fie der Zeit eine Kunſt, deren Würde durch weltlichen Tand nicht beeinträchtigt iſt.

Das Schauſpiel der rechtgläubigen Meſſe ſelbſt iſt erhaben und edel. Die Mehrzahl der Brüder weilt im achteckigen Raum der koſtbar erbauten Kapelle, während die Prieſter am Altar und hinter der Vilderwand die Zeremonien des Gottesdienſtes verrichten. Ihre Geſtalt iſt von natürlicher Würde geadelt. Meiſt ſind ſie in koſtbar geſtickte Gewänder gekleidet, tragen ihr langes Haar eigenartig in naturhafter Fülle, während der majeſtätiſche Bart die männliche Pracht ihrer Erſcheinung zur vollen Wirkung bringt. Wir anderen Brüder nehmen nur als Zuſchauer und Miterlebende an den Vorgängen teil. Die Worte der Prieſter und des Chores find ſeit uralten Zei- ten dieſelben geblieben. In ihnen iſt die urchriſtliche Meſſe in reinſter Form erhalten, während die ſymboliſchen Handlungen der Prieſter den altgriechiſchen Urſprung aus den eleuſiniſchen Myſterien nicht verleugnen.

Zu beſonders bußfertigen Zeiten halten meine Brüder vielſtündige Nadtgottes- dienſte ab, in welchen fie ſich an peinvollen Übungen nicht genug tun können. Bei meinem Eintritt ins Kloſter hat man mich von der Verpflichtung, an dieſen Nacht- wachen teilzunehmen, entbunden, da man mir als Weſteuropäer, der erſt in reiferem Alter die Welt zu überwinden begann, manche Vorſchrift glaubte nachlaſſen zu diir- fen. Ich bin den Brüdern für ihre Milde von Herzen dankbar. Denn mein Gottes- dienſt erheiſcht keine Peinigung des Fleiſches. Nach dem Willen Chriſti leben heißt für mich ſo viel wie in Harmonie mit der Natur und in der Anſchauung der göttlichen

12 Barthel: Entzüdungen des Rlofterbrubers vom Berge Athos

Vernunft fühlen, denken und handeln. Ich diene Gott beſſer, wenn ich feine Herr- lichkeit ſchaue und verkünde, als wenn ich meinen ſchuldloſen Leib kaſteie. Unfer Herr Sefus ſelbſt hat den Leib und das Fleiſch nicht verachtet, ſondern veredelt. Daher habe ich die Brüder gebeten, mich von allen Nachtwachen und außergewöhnlichen Übungen loszuſprechen. Nur in der Weihnachtsnacht pflege ich ſeit einigen Jahren hinüber zum Kloſter Karakalu zu wandern, um mit Bruder Theophilos, meinem beſten Freund, die Weihnachtsfeier dort zu erleben.

8.

Meinen ſchönſten Gottesdienſt halte ich, wenn ich im Frühling zu den blühenden Kirſchbäumen des Einſiedlerdorfes Keraſia wandere, oder wenn in heißer Mittags- ſtunde mein Blick vom hohen Gipfel des Athoskegels über die Meere ſchweift, oder in blauer Maiennacht, wenn aus den Lorbeerbiijden das lockende Lied der Nachtigall auf meinen Altan herübertönt. Wenn die Silberſtrahlen des Mondes auf der nadt- lichen Wafferfläche ſpielen, bete ich zu Gott. Wenn der Sturm im Herbſt die Berge erſchüttern möchte, beuge ich mich vor ſeiner Gewalt. Aber am höchſten diene ich ihm, wenn ich mit dem Auge des Geiſtes über die Schöpfung nachdenke und ihre unermeßliche Vernunft bewundere. Da bin ich Gott am nächſten, und für das reine Glück, das mir fo geſchenkt wird, kann ich nur in un vollkommener Weiſe danken, in- dem ich meine Brüder auf dem Athos und weiter draußen an dieſen Entzüdungen teilnehmen laſſe.

Kein Ort der Erde iſt zu ſolchem Gottesdienſt beſſer geſchaffen. Die Worte ver- ſagen, die Begeiſterung läßt mich nicht reden, wenn ich daran denke, mit welcher Fülle die Gaben der Schöpfung hier ausgeſtreut ſind, damit der Menſch den Ewigen lobe. Kein Maler hat je geſchildert, was hier bei jedem Kloſter, auf jeder Berges halde, an jedem Uferftid ſich an Harmonien offenbart. Die menſchliche Kunſt iſt ſelbſt in ihren höchſten Leiſtungen nicht imſtande, die Natur dieſer ſeligen Gefilde zu über- treffen. Jedes einzelne Kloſter iſt eine Symphonie nieerlebter Stimmungen, und die Sonne Homers breitet eine ruhige Klarheit über die Landſchaft. Italien enthält geſegnete Blicke. Aber keiner kommt an Fülle des Inhaltes und an naturgeborener Pracht den lieblichen und wieder großartigen Szenen des Berges Athos gleich.

Suchet auf der ganzen Erde, und ihr findet nicht mehr einen ſo in jeder Hinſicht begnadeten Ort wie die Halbinſel des Heiligen Berges. Auch die Reize der Tropen übertreffen nicht dieſe reichſte Stelle der Natur. So iſt es nicht ohne Grund, daß dieſelbe Stelle auch das älteſte, edelſte und feſteſte Bollwerk des Chriſtentums dar- ſtellt. Dadurch erhält der Berg Athos eine Bedeutung von faſt überirdiſcher Größe. Nirgendwo lebt das geiſtige Erbe des Chriſten, der koſtbarſte Schatz der Menſchheit, in reinerer Geſtalt. Athen und Rom find groß; der Athos iſt größer. Indiſche Pa- goden ſind ehrwürdig; die Athosklöſter ſind es in weit höherem Maße. Konſtantinopel war mächtig, Neapel iſt herrlich, Florenz iſt durch die Kunſt geadelt: doch der Athos hält jeden Vergleich aus. Er iſt in unſerer Zeit ein Weltwunder.

9. Das Kloſter, in welchem ich lebe, Vatopädion, gehört zu den größten und reichſten der Inſel. Es iſt ein am Meere gelegenes, trotzig bewehrtes mittelalterliches Stäbt-

Barthel: Entzüdungen bes Nofterbrubders vom Berge Athos 13

chen, um deſſen Mauern ſich die kleinen Häuſer einiger Handwerker und Fiſcher aus dem Laienſtande maleriſch gruppieren. Die vielen freundlichen Fenſter, die unregelmäßigen Balkone und Überhänge, die Türme der Mauer, das Kirchlein mit der byzantiniſchen Kuppel in der Mitte, das alles verleiht dem umfangreichen Kaſtell einen Zug der traulichen Behaglichkeit. Über die Mauern grünt ein Hain von Obſtbäumen, im Hintergrunde erhebt ſich der gewaltige gochwaldberg der Waſſerſcheide, am Landungsplatz herrſcht des Tages immer reges Leben, da es an ankommenden oder abfahrenden Booten und Schiffen nicht mangelt. Das iſt Vatopädion, meine liebe Heimat. Wie ſehr unterſcheidet es ſich von dem, was man im Abendland unter einem Kloſter verſteht. Da iſt nichts Langweiliges, Odes und Anbehagliches am Bilde, ſondern die ganze Burg iſt ein ſtolzes Schloß der welt- uͤberwindenden ſtarken Freude.

Zurzeit leben über zweihundert Brüder in Vatopädion. Wir haben uns allmäh- lich alle mehr oder weniger kennen gelernt. Welche Lebensſchickſale find hier ver- ſammelt! Meiſt ſind es einfache Leute, doch mitunter findet ſich auch ein Vertreter der gebildeten und mächtigen Welt unter ihnen. In früheren Zeiten kam es mehr als einmal vor, daß die Kaiſer ſelbſt, der Regierung in Byzanz müde, ſich auf dieſen Berg zurückgezogen haben. Unter den Kloſterbrüdern, mit denen ich näheren Ver- kehr pflege, befindet ſich ein Arzt aus Korinth, der in ſeinen früheren Jahren im Dienſt einer engliſchen Schiffahrtsgeſellſchaft weite Reifen unternahm, die ihn bis in die Südfee führten. Mit ihm, dem Bruder Johannes, führe ich oftmals lange Geſpräche über die verſchiedenſten Gegenſtände, die einen gebildeten Mann be- wegen. Ein anderer Bruder, der meine Aufmerkſamkeit beſonders beſchäftigt, iſt der Greis Konſtantin. Er war von feinen reichen Eltern in Smyrna zum Kauf- mannsſtand beſtimmt worden, war aber infolge unglücklicher Liebe in das Kloſter eingetreten. In ihm fand ich einen weiſen Beurteiler der politiſchen Nöte der Menſchheit, und auch mit ihm habe ich manchen Winterabend in ernſtem Geſpräch verbracht.

Die Lebenshaltung in Vatopädion iſt keineswegs engherzig. Da wir als idior- rhythmiſche Brüderſchaft unſern Igumen, d. h. unſern Kloſtervorſteher, alljährlich neu wählen können, dürfen wir uns über unbillige Beherrſchung nicht beklagen. Auch die Nahrung in Vatopädion iſt auf der ganzen Halbinſel als auskömmlich be- kannt. Wir haben eine ſtattliche Rinderherde, einen Geflügelhof mit Hühnern, Truthühnern und Enten. Unſere Weinberge tragen jährlich reichliche Mengen treff lichen Trankes, den wir zum großen Teil verkaufen können. Die großen Olfäſſer in unferen Kellern find ſtets wohlverſehen. Die Haſelnußernte liefert uns ungeheure Vorräte dieſer nützlichen Früchte. Von unſeren ruſſiſchen Gütern beziehen wir Zucker. Bei ſolcher Wohlhabenheit iſt es ſogar möglich, uns ausnahmsweiſe einen gewiſſen Luxus zu geftatten. Wenn Gäſte kommen, und wohl auch bei anderen Gelegenheiten, enthalten auch wir uns nicht des ſüßen türkiſchen Kaffees. Nur das Rauchgefäß bleibt den Gäften allein zugewieſen, da das Rauchen als zu großes Zugeſtändnis an die bloße Sinnlichkeit verpönt bleiben muß. Im ganzen darf aber behauptet werden, daß wir in Vatopädion weder Mangel leiden noch übertrieben kleinlich ſind.

14 Barthel: Entzlickungen des Nloſterbruders vom Berge Athos

10. 7

Die Bibliothek der Bücher und Handſchriften unſeres Kloſters ift eine der größe- ren der Halbinſel, wird jedoch von den Brüdern, wie alle Gelehrſamkeit, wenig ge- ſchätzt. Gelehrſamkeit blähe auf, ſei Eitelkeit, widerſpreche der Demut, ſagen ſie. Sollten fie nicht im Grunde genommen recht haben? Wo findet man mehr und un- berechtigteren Dünkel als bei den Schriftgelehrten? Doch die Abneigung der Brü- der gegen die Bildung geht allerdings zu weit. Sie vergeſſen ganz, daß die Wiffen- ſchaft, welche das Verſtändnis der Schöpfung fördert, eine Art des Gottesdienſtes iſt, die nicht vernachläſſigt werden ſollte. Zwar kann ich ihnen nicht verdenken, daß fie an den bloß hiſtoriſchen oder dogmatiſchen Manuſkripten ihrer Schatzkammern kein Gefallen finden, zumal derartige Dinge nur die Neugierde, felten aber die Ver- nunft befriedigen können. Beklagenswert aber ſcheint es mir, daß man die Schule des Eugenios Bulgaris, deren Trümmer ganz in der Nähe unſeres Kloſters ragen, hat eingehen laſſen. Dieſer gelehrte Mönch hatte ſich bemüht, die Errungenſchaften der damaligen Philoſophie auf den Athos zu verpflangen. Er hat damit zeitweilig große Erfolge gehabt, die aber mangels eines geeigneten Nachfolgers bald wieder untergingen. Mir ſcheint gerade der von europäiſchen Irrlehren unbeeinflußte Athos berufen zu ſein, in der wiſſenſchaftlichen Erneuerung, die einſt kommen muß, eine führende Rolle zu ſpielen. Vorläufig ſchlummert das intellektuelle Gewiſſen dieſer großen Menſchengemeinde noch dem Tag der Auferweckung entgegen. Ein- zelne Brüder find immer zu treffen, deren wiſſenſchaftliche Bildung und Fähigkeiten modernen Anſprüchen genügen. Denn nicht alle find in jungen Jahren hierher ge- kommen. Es gibt nicht wenige, die, genau wie ich, erſt durch reife Einſicht in das Leben der Welt auf dieſe glückliche Inſel geführt worden ſind. So beſitzt denn mancher von den Brüdern gleich mir eine Bibliothek, und einige find ſogar auf gelehrte und allgemeinbildende Zeitſchriften abonniert. Als ich im Kloſter Jwiron ſeinerzeit bei einem Bruder die neueſten Hefte der „Revue des deux Mondes“ vorfand, war ich ſehr erſtaunt. Doch bin ich zu der Anſicht gelangt, daß ſolche Mönche ſich auf dem Athos in immer größerer Zahl finden werden und daß durch fie die geiſtige Ent- wickelung der Gemeinſchaft gefördert werden wird, ſobald die Zeit gekommen iſt.

11.

Die Kunſt auf dem Athos iſt ſchlicht und anſpruchslos. Sie drängt ſich nicht wie künſtliches Menſchenwerk dem Betrachter auf, ſondern ſcheint aus der Natur ſelbſt hervorgewachſen zu fein und iſt innig mit ihr verbunden. Den Europäern am be- kannteſten find ja die byzantiniſchen Malereien und Moſaiken, die in allen Kloſter⸗ kirchen und in den meiſten Speiſeſälen in großer Anzahl vorkommen. Das Bild der Allheiligen und anderer anbetungswürdigen Perſonen find in zahlreichen Variationen in der bekannten unplaſtiſchen Art abgebildet. Die Bilderwand der Kirchen enthält ebenfalls viel edle Kunſt. Zwar möchte ich nicht ſagen, daß dieſe Gemälde mit den Erzeugniſſen italieniſcher Künſtler einen Vergleich aushalten. Sie wirken eben nicht durch Effekte, ſondern durch ihre Effektloſigkeit. Man fühlt aus ihnen die anſpruchsloſe Ruhe eines frommen, klaren Gemütes ſprechen. Sie gehören zu dem Ort, der ſie beherbergt wie das Efeublattwerk zur Kloſtermauer, wie der

Barthel: Entzüdungen bes Riofterbrubers vom Berge Athos 15

ftille Moder der Zeit zu den Türmen und Galerien dieſer Burgen, wie das wandel loſe Gemüt zu den Herrlichkeiten dieſer in ſich beruhigten Natur.

An Erzeugniſſen der Vildhauerei beſitzt der Athos kunſtvoll geartete Ornamente an den Türen und Kloſterbrunnen. Auch dieſe Arbeiten gehören eng zur Sonne, welche ſie beſtrahlt. Der Schlagſchatten, den die erhabenen Linien werfen, gehört mit zur vollen Wirkung der reich gewirkten Figuren. Das vollſtändige Fehlen plaſtiſcher Standbilder iſt nicht bedauerlich, zumal das Abendland den vollen Beweis geliefert hat, daß Heilige und bekleidete Alle- gorien in Stein höchſt un- griechiſch, alſo unkünſtle- riſch wirken. Freuen wir uns, daß der Athos nicht durch die häßlichen Stand- bilder unſchöner Menſchen verunſtaltet iſt. Die ortho- dore Vorſchrift, daß kein Menſch in Stein ausge- hauen werden dürfe, hat der Kunſt, ohne es zu wol- len, einen Dienſt geleiſtet.

Das Beſte unter den Kunſtwerken des Athos ſind die Kloſterkaſtelle ſelbſt, deren Küͤnſtler die Zeit iſt. Was die Zeit hier unbe- wußt an maleriſchen Wir- kungen hervorgebracht hat, überſteigt alle Feinheiten willtürlicher Architektur bei weitem. Im Rahmen der großartigen Natur ſind die meiſten Klöſter Kunſtwerke von unnachahmlicher Ein- zigartigkeit. Die Athosdichtung iſt das Evangelium; die Athosmuſik die vierſtim- mige Meſſe der Ruſſen. An keinem Ort der Erde iſt eine reiche Kunſt ſo eng mit dem Leben verwachſen.

Das Lanbftäbthen Rarpäs

12.

Meine Spaziergänge zu den anderen Klöſtern haben mir die Halbinſel bis ins einzelne erſchloſſen und mir manche der ſtolzen Burgen beſonders wert gemacht. Jeder dieſer Namen birgt eine neue Entzüdung für mich. Da ift vor allem das Serbenkloſter Chilandari, wohl das ſchönſte ſeiner winkeligen Bauart nach, deſſen

16 Barthel: Entzüdungen des Kloſterd rubers vom Berge Athos

zypreſſenbewachſener Kloſterhof mit ſeinen ſtattlich gezierten Brunnen mein immer erneutes Ergötzen erregt. Oder das in Terraſſen vom Meere aufſteigende Kloſter Dionyſiu, das wie ein Schloß an einem oberitalieniſchen See gemutet. Hoch auf ſteilem Felſen liegt Simopetra, das unüberwindlich wie eine Ritterburg über das Meer ſchaut. Die große Lawra im äußerſten Süden der Halbinſel, das älteſte und geſchichtlich berühmteſte aller Kaſtelle, grüßt den Wanderer wie eine befeſtigte Stadt aus der Zeit der Kreuzzüge. Effigmenu, unſer Nachbarkloſter, liegt ſauber und zierlich am flachen Strande. Das Kloſter der Bulgaren, Zografu, lehnt ſich den Berg hinan, ziemlich modern erbaut, nur leider durch die vielen Schornſteine etwas beeinträchtigt. Ruſſikon ſchließlich offenbart mit feinen weitläufigen Rafernen- gebäuden den Willen des mächtigſten Volkes, auch an dieſer Stelle den führenden Einfluß zu erlangen. So zeigt jedes Kloſter die Eigenart ſeiner Beſitzer unbewußt an.

Am Oſtermorgen wandere ich gewöhnlich hinüber nach Karyäs, das auf dem Gebirge in anmutig belebter Naturumgebung liegt. Dort finde ich Verkehr und Handel, der an dieſem Tage allerdings ruht. Aber die Läden und Arbeiträume der Kaufleute und Handwerker, die weidenden Ziegen und Maultiere, die ſorglich ge- pflegten Felder erzählen mir vom Fleiße der Bewohner dieſes fo ruhigen, frauen- loſen Städtchens. Hier lebt die Mehrzahl der Laien, die ſich aus praktiſchen oder Neigungsintereſſen auf dem Athos angeſiedelt haben. Hier reſidiert auch die oberſte Behörde des Heiligen Berges, der große Rat, in welchen jedes Kloſter feinen Ver- treter entſendet. Alles trägt den Stempel eines jahrhundertalten Friedens.

Wenn ich aber in trüberen Tagen der Klarheit und Weisheit bedarf, fo unter- nehme ich eine längere Wanderung zu Bruder David, dem Einſiedler am Weſthang des Berges bei Keraſia. Dieſer Mann lebt von allen Menſchen entfernt, ſeit ich hier bin und länger ſchon, ſeinen ſtrengen Bußübungen. Man ſagt, er habe als Schiffer im Jähzorn eine ſchwere Tat begangen, die er bitter bereut habe. Jetzt lebt er als Heſychaſt. Das heißt, er hat die Fähigkeit entwickelt, im Zuſtand der äußerſten Rube, während er die Augen auf ſeinen eigenen Leib richtet, ſeltſame Schauungen zu erleben, durch die er die göttlichen Dinge und der Menſchen Schickſale erkennen will. Wie dem auch ſei: ich habe mit dem uralten Manne ſchon Geſpräche gehabt, deren Tiefe ich bewundere. Ihm ſcheint zwiſchen dem Diesſeits und der anderen Welt kein unlüftbarer Schleier zu liegen. Er ſpricht von dem Leben vor der Geburt und nach dem Tode ſo ſelbſtverſtändlich, wie von alltäglichen Dingen. Ich habe nie einen Menſchen gefunden, der fo fraglos von feiner Unſterblichkeit überzeugt war. Vom Tode ſprach er als von einem frohen, langerſehnten Ereignis. Auf dem Athos habe ich nicht nur freie Natur, Glück und Frieden gefunden, ſondern auch zum erſten Male in meinem Leben einfache Menſchen, die für geiſtige Probleme Inter- eſſe fühlten. Da draußen in der Welt find die Menſchen fo vielbeſchäftigt, daß ihnen für die wichtigſten Fragen keine Zeit übrig bleibt. Sie hängen mit verderbtem Weſen in den Banden der Sinnlichkeit, aus denen fie nur durch Ruhe und Nady denken befreit werden könnten.

13.

Wir find fo unendlich reich auf dem Athos! Uns fehlt nichts als das Übel ber

Welt. Wir haben Berg und Tal, Waldwieſe und weites Meer, duftende Felder,

Barthel: Entzüdungen bes Mofterdrubers vom Berge Athos 17

rauſchende Bäche, fingende Nachtigallen, und bei allem die große, herrliche Ein- ſamkeit. Wie arm ſind die Kloſterbrüder des Abendlandes, wenn ſie inmitten der verderbten Welt, die nicht zu ihnen paßt, ein freudlos Leben führen! Wahrlich, da iſt es faſt eine Strafe, ins Kloſter zu muͤſſen. Wir aber leben auf eigenem Lande, in eigener Heimat, auf unſerer ſtillen, glückſeligen Inſel, in unſerem lachenden Paradies, von Sonne überſtrahlt. Uns fehlt die traurige Luft des Nordens. Uns fehlt der Zwang einer tyranniſchen Stiefnatur. Uns fehlt die Gier nach Habe. Uns fehlen alle Sünden der unglücklichen Menſchheit. O Sonne des Athos, wer könnte dein vergeſſen, der jemals durch deine Strahlen ſchritt! Gott ſchuf viele Klimate, und alle mögen ihr Gutes haben. Aber um das Nordlandklima beneide ich nicht meine Gefährten, die ich darin zurückließ.

Die Arzte auf dem Athos haben wenig zu tun. Das Land iſt von alters her durch ſeine geſunden Verhältniſſe bekannt. Die meiſten Brüder werden ſehr alt. Das Fieber, das die Europäer hier manchmal befällt, ift mehr auf unpaſſende Maß- nahmen und die Aufregungen der Reife, als auf die Luft des Landes zurückzu- führen. In früheren Jahrhunderten hatten wir allerdings einen ſchlimmen Gaſt im Lande, die Lepra. Dieſe iſt zweifellos aus Konſtantinopel hierhergeſchleppt worden, aber glücklicherweiſe heute verſchwunden. Die Heilkräuter, die in unſeren Wäldern und Wieſen wachſen, genügen dem Arzte meiſt vollkommen, um geringere Beſchwerden zu bannen.

Wenn ich von den kleinen Unannehmlichkeiten unſeres Landes ſpreche, ſo kann ich nicht vorübergehen an der Ungezieferplage, die in den meiſten Klöſtern herrſcht. Dagegen helfen nur die beſtimmteſten Maßnahmen. Es hängt ganz von dem ein- zelnen Mönch ab, ob er die nächtliche Peinigung des Fleiſches auch in dieſer Form ertragen oder mit den unliebſamen Gäſten völlig aufräumen will. In der erſten Zeit meines Hierſeins war ich ſehr bemüht, den Frieden meines Lebens voll her- zuſtellen, und ich darf ſagen, daß mir das nach Wunſch geglückt iſt. Doch damit ſei der Notwendigkeit Genüge getan, die mich von höchſter Begeiſterung zu ſolchen Niederungen herabziehen mußte. Wenn ein Land keine ſchlimmeren Plagen hat als die Giftſkorpione des Athos, fo darf man es glüdlich ſchätzen.

14.

Bei dem vielen Holz, das zum Bau der Klöſter verwandt iſt, nimmt es nicht wunder, daß wir leider nicht ſelten Brände zu beklagen haben. Schon manche maleriſche Ecke fiel den Flammen zum Opfer. Schlimmer aber als die Kräfte der Natur ſcheint mir der Geiſt mancher Brüder, der ſich nicht ſcheut, die Welt in Ge- ftalt des Patriotismus in unſer ſeliges Gefilde hereinzuziehen. So war z. B. wäh- rend des letzten Weltkrieges der Gegenſatz zwiſchen Serben und Bulgaren ein derart ſcharfer, daß man, als im ſchönen Chilandari ein Brand ausbrach, die Bulgaren von Zografu beſchuldigte, das Feuer angelegt zu haben. Ich wünſche zu Gott, daß er meine Brüder vor fo verabſcheuenswerter Tat bewahrt haben möge. Immer hin kann ich nicht leugnen, daß das Verhältnis, das damals zwiſchen den Nationen herrſchte, eine ſolche Verdächtigung nicht als haltlos erſcheinen ließ.

Im übrigen ſind beſonders Ruſſen und Griechen einander gegenſätzlich geſinnt,

wenn auch der Wetteifer zwiſchen beiden Nationen ſich in den Grenzen brüder- Der Türmer XXX, 1 2

18 Barthel: Entzüdungen bes Riofterbrubers vom Berge Athos

licher Liebe hält. Die Ruſſen find mit Macht beſtrebt, mehr Klöſter zu erwerben, weil ihr Anſehen in der ſlawiſchen Welt dadurch ſehr gefördert würde. Iſt doch der Athos für die orientaliſche Kirche dasſelbe wie der Vatikan für die weſtliche das höchſte Heiligtum, auf dem die Blicke aller Gläubigen ruhen. Und welches Heilig- tum! Ein Tempel, den Gott ſelbſt erbaut hat, und gegen welchen alle anderen Heiligtümer der Menſchen verſchwinden. Daher begreift man wohl, daß die Mäch- tigen der Erde an dem Athos großes Intereſſe haben. Doch meinen Brüdern vom Berge ſage ich bei dieſer Gelegenheit, daß das kein Grund für ſie ſein darf, ſich ihrerſeits zur Welt zu bekennen, indem fie ſich einem ſündhaften Patriotismus hin- geben. Wir wollen frei ſein von der Welt und frei von ihren mörderiſchen Begierden. In unſerem Herzen darf kein anderes Vaterland wohnen als der Heilige Berg. Die Cafaren dieſer Welt ſollen aus unſerem Lande und aus unſerem Herzen ewig ausgeſchloſſen ſein. 15.

Haben wir nicht die vollkommenſte aller irdiſchen Staatsverfaſſungen? Sind wir nicht allen Cäſaren ein leuchtendes Vorbild, wie man leben ſoll? Wir beherrſchen niemanden und werden von niemand beherrſcht. Seit die Türken in unſerem Lande keine Oberhoheit beanſpruchen dürfen, zahlen wir niemand eine Steuer. Anſere weltlichen Angelegenheiten ordnen wir ſelbſt, durch den republikaniſchen Rat von Karyäs. Unſere Beſitzverhältniſſe find ſeit Jahrhunderten vollkommen klar. Jedes Kloſter hat ſein Land, ſeine Weinberge und ſeine auswärtigen Güter. Wir bekommen mit niemand Streit, da wir nicht mehr begehren, als wir beſitzen. Uns fehlt ja die Familie, die Schar der ausdehnungsbedürftigen Kinder. Eine Über- völkerung unſeres Berges iſt nicht möglich. So leben unſere Klöſter, die Vereinigten Staaten vom Berge Athos, als ein wenig beachtetes, aber um ſo vollkommeneres Bei ſpiel der menſchlichen Staatsklugheit. |

Ein Stück Mittelalter ſehen die meiften europäiſchen Reiſenden in unſerer ebhr- würdigen Gemeinſchaft. Aber ſie irren ſich. Ein Stück Ewigkeit iſt es, das ſie mit dem Mittelalter verwechſeln. Solange Menſchen atmen, wird das Ideal des Berges Athos in ihren Herzen lebendig werden, und die heilige Inſel wird beſtehen bleiben über allen Irrtümern der Welt bis ans Ende der Tage. O Welt, ſchau nicht hoch- mutig auf den jahrtauſendalten Moder unſerer ſtolzen Burgen denn an ihnen hat die Zeit keine Macht. Sie werden die Wehr des reinen Geiſtes ſein, wenn längſt eure europäifchen Errungenſchaften als ebenſoviel Irrtümer anerkannt fein werden, und wenn längſt eure Menſchen durch die rohe Gewalt eurer habgierigen Kriege zur Verzweiflung an Gott getrieben fein werden. Dann wird der milde Glanz des Hei- ligen Berges die ganze Welt überftrahlen, und ihr werdet auf feine neuen Offen- barungen lauſchen, und ihr werdet ſeine Lehren wie Balſam in euren Herzen fühlen.

Kennt ihr den Sänger des Knappen eee Kein mittelalterlicher Geiſt iſt es, der die Worte gedacht hat:

„O glücklich jenes Eremiten ſelig Leben,

Oer einſam wachend dort vom Athos ſchaut, Oes Blicke von der ſtolzen Höhe ſchweben Weit übers Meer, wo klar der Himmel blaut.

Barthel: Entzüdungen bes Moftecbruders vom Berge Athos 19

Wer jemals länger hier verweilt, ber traut

Kaum feinen Fuß vom Orte fortzuheben

Nur gdgernd geht er, und mit Seufzerlaut

Beklagt der Wandrer ſein verfehltes Leben,

Das ihn dem Haß der Welt ſtatt dieſem Zauber hat gegeben.“

16.

„Die orientaliſchen Klöſter unterſcheiden ſich von den abendländiſchen hauptſäch⸗ lich dadurch, daß ihre Inſaſſen faulenzen, während die Mönche des Weſtens doch wenigſtens ab und zu auch eine nüßliche Arbeit verrichten.“ So wurde mir in meinen Sugendjabren der Athos durch einen Lehrer vorgeſtellt. In der Tat haben die Brü- der vom Athos gegen die Arbeit eine grundſätzliche Abneigung. Sie dienen der Welt in keiner Weiſe, ſondern erkennen außer der frommen Kontemplation nur ſolche Tätigkeiten als zuläſſig an, die uns Gott ſelbſt durch die Notdurft der Natur ge- bietet. Daher erwerben die Brüder redlich ihr Daſein, lehnen aber allen Welt- dienst ab, um ſich voll und ganz der Anbetung Gottes zu widmen.

Die Welt hat Urfache, ſich über ſolches Verhalten zu empören. Denn die Welt will Arbeit, Zwang und Sklaventum. Die Athosbrüder find die größten Revo- lutiondre, die es je gegeben hat. Sie verleugnen das innerſte Prinzip unſerer Gefell- ſchaft, den Zwang, die Arbeit. Sie lehren das Dolce far niente aus religiöſen Grün- den und ſehen in der Arbeit bloß den Dienſt des Teufels. Ob ich ihnen recht geben ſoll, weiß ich zwar nicht. Aber ich freue mich, daß ſie das paradieſiſche Ideal auch in dieſem Punkte verwirklichen. Sie haben keinen Zwang zur Arbeit außer den fanften Nötigungen einer füdlihen Natur. Alles, was fie tun, geſchieht aus freiem Willen. Ihre Tätigkeit iſt nicht ſozial, aber human. Jeder tut, wozu er ſich für be- rufen hält, ohne daß ihn jemand daran hindert. So haben wir auf unſerer glüd- lichen Inſel zwar alle Handwerke und friedlichen Beſchäftigungen, die man in ein fachen Verhältniſſen nur denken kann. Aber wir find alle keine Lohnſklaven, fon- dern im froheſten Sinne des Wortes Dilettanten, da wir unſere Arbeit um der Freude willen verrichten, die fie uns gewährt. Gewiß blicken die zünftigen Ar- beiter von Europa mit Verachtung auf ſolche Menſchen herab. Ich aber lobe mir die freie Exiſtenz als Dilettant auf dem Athos und verzichte gern auf euer un- glückliches Zunftleben, das die beſten Kräfte des Menſchen erſtickt oder verdirbt, und das zu Zwang, Not und Leid führt.

Auf dem Athos iſt alle Arbeit Dilettantismus, das heißt, eitel Glück und Zufrieden⸗ heit. Wir haben Schufter- und Schneider-Dilettanten, Bauerndilettanten, Schreiner- und Schmiede-, Müller- und Fiſcher-Dilettanten, wir werden regiert von Regie- rungsdilettanten, wir haben Dichter- und Philoſophen-Dilettanten. Alle unſere Tä- tigkeit iſt unabhängig vom Zwange der Menſchen und geſchieht in harmoniſcher Weiſe nach dem Willen Gottes. Denn Gott will nicht, daß die Arbeit ein Fluch ſei, ſondern daß in der Arbeit die ſchönen und freien Kräfte des Menſchen ſich ihm zur Luſt und Gott zur Ehre auswirken ſollen. Hier darf jeder werden, was er iſt. Niemand wird zu einer unpaſſenden Arbeit gezwungen, noch wird jemand davon abgehalten, feine eigene Arbeit, die ihm Freude ſchafft, auszuüben. In Europa iſt es ganz an- ders: da werden von 100 Menſchen 99 dazu gezwungen, Arbeiten zu verrichten, zu

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denen fie weder Luft noch Talent haben, während man ihnen zu gleicher Zeit ver- bietet, die Kräfte, mit denen Gott fie beſchenkt hat, auszuüben. Kaufmannsſeelen macht man zu Philoſophen und Dichterſeelen macht man zu Kaufleuten. So werden nicht nur alle Menſchen, ſondern auch alle Berufe verdorben. Wie glücklich find wir doch auf dem Athos, wo in altgriechiſcher Weiſe jeder auf ſeine eigene Art glücklich werden darf!

17.

Auf dem Berge Athos fallen die Masken der Konvention fort. Wenn Seine Hoch- würden ein Prälat am Strümpfeſtricken Gefallen findet, ſo übt er dieſe friedliche Tätigkeit ohne alle Scheu aus und läßt ſich nicht einmal durch einen ankommenden Europäer darin ſtören. Übrigens iſt gute Vorſorge getroffen, daß nicht zu viel Neu- gierige die Ruhe dieſes heiligen Ortes unterbrechen. Denn der Zutritt zur Halbinſel wird auch Männern verweigert, wenn fie nicht durch ein beſonderes Empfehlungs- ſchreiben des Patriarchen von Konſtantinopel den ernſthaften Zweck ihrer Reiſe nachweiſen können. Das iſt gut ſo. Es wäre jammerſchade, wenn der Berg Athos ſich von den müßigen Vertretern einer ihm feindlichen Welt müßte heimſuchen laſſen. „Bleibt draußen, ihr Weltkinder, bleibt draußen“, denkt jeder Athosbewohner von ganzem Herzen. |

Uns fehlen alle Sünden der von Gott abgefallenen Welt. Wir haben keine Frauen, keine Kinder, keine grünende Jugend, keine Fabriken, keine Proletarier, keine Wirts- häuſer, keine Mietskaſernen, keine Habgierpolitik, keinen Krieg und keine Not. Da wir nach dem Willen Gottes leben, kennen wir kein Unglück. Unfer Leben fließt in harmoniſchem Gleichmaß des in ſich beruhigten und heilig gewordenen Geiſtes da- hin. Wir haben weder Laſter noch Verbrechen, weder Raub noch Diebſtahl, weder Polizei noch Gefängniſſe. In vollem Einklang mit Gott und Natur, mit dem Näd- ſten und mit uns ſelbſt leben wir unſere ſeligen Tage. Vor Langeweile ſind wir tauſendfach geſchützt, da die Zahl unſerer Be ſchäftigungen und der Reichtum unſerer Kontemplationen unerſchöpflich find. Unfer iſt die ganze Wunderwelt des harmoni- ſchen Geiſtes. Wenn Dichter und Philoſoph eurer Welt ihre Werke nur ſagen und denken dürfen, fo ijt uns das koſtbare Vorrecht vergönnt, unſere Dichtung und Philo- ſophie zu leben. Ihr in Europa müßt ja ſtets das Leben eurer Zeit leben, wie kühn auch eure Gedanken davon abweichen mögen. Wir aber find zeitlos. N

Nur wer die Welt verläßt, kann glücklich werden. Dieſe Weisheit aller Weisheiten kann nie bewieſen, nie widerlegt werden. Hier ſcheiden ſich die Wege der Menſchen: die einen ergreifen die Welt, die anderen die Seligkeit. Wenn ſie euch aber ſagen ſollen, ob ſie auf ihrem Wege den Frieden gefunden haben, ſo bin ich überzeugt, daß auf feiten der Weltkinder das Unglück und die konventionelle Heuchelei, und nur auf ſeiten der Gotteskinder die wunſchloſe Vollkommenheit gefunden werden kann.

18.

Der Endzweck aller Staats- und Lebensklugheit ijt der Fried e. Friede aber kann nur beſtehen, wenn jeder Menſch an den Ort geſtellt wird, auf dem er die ihm von Gott verliehenen Kräfte ausüben kann. Daher wird der oberſte Staatsgrundſatz allet außeren und inneren Politik in die Worte gefaßt werden: Jedem das Seine. Auf

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dem Athos wird dieſem Grundſatz wie an keiner anderen Stelle der Erde Rechnung getragen. Dieſer Zdealſtaat will ſich nicht weiter ausdehnen, ſondern nur feinen Frieden bewahren. Er lebt auch ohne die Lehren eines Malthus fo, daß er vor Über- völkerung geſchützt iſt. Was aber die inneren Verhältniſſe betrifft, fo gewährt der Berg Athos jedem Menſchen die ausſchlaggebende Stimme über die Tãtigkeit und die Obliegenheiten, deren er ſich annehmen will. So kommt es, daß hier jeder Menſch am rechten Ort ſteht. Denn welcher Staat iſt wohl ſo töricht zu glauben, der innere Friede könne bewahrt werden, ſolange der Berufszwang in ihm herrſcht? Wenn die Natur vergewaltigt wird, fo rächt fie fic früher oder fpäter. Daher iſt als ein Haupt- fehler der Weltſtaaten zu betrachten, daß in ihnen nicht die Fähigkeiten des Menſchen, ſondern der Stand der Eltern den Beruf eines Kindes beſtimmen.

Jeder Stand bleibe, was er iſt, und keiner dünke ſich überflüffig. Aber den jungen Menſchen, welcher mit einer Natur geboren wird, die ſehr oft gänzlich von der ſeiner Eltern abweicht, laſſe man im Gntereffe feiner ſelbſt, des Staates, des Menſchenglüͤcks und der Harmonie ſeinen Beruf ſelbſt wählen. Wenn jede Bauernſeele ein Bauer (Gott bewahre mich, daß ich das Wort je verächtlich ſpreche), jede Handwerkerſeele ein Handwerker, jede Kaufmannsſeele ein Kaufmann, jede Tatſeele ein Tatmenſch, jede Dichter- und Denkerſeele ein Dichter und Denker werden darf, ohne daß die ſozialen Verhältniſſe dadurch weſentlich berührt werden, genau wie auf dem Athos dann wird kein innerer Unfriede mehr in einem Staate herrſchen. Denn ſchön und ehrenvoll iſt es für jeden Menſchen, auf ſeinem eigenen Wege die Schwierigkeiten des Dajeins freudig zu überwinden, während es Qual verurſacht, ſelbſt in erträg- lichen zer, einer Ben en angehören zu müjjen.

Zelfentlofter Gregorio

22 Barthel: Entzüdungen bes Riofterdruders vom Berge Athos

Glaubt ihr Herrſchenden, die Völker würden fich noch für verbeſſerungsbedürftig halten, wenn jeder an ſeinen Platz geſtellt würde? Dann hätten wir den inneren Frieden, der fo lange ausbleiben wird, bis dem Geſetz Gottes und der Natur Genüge getan ſein wird.

19.

Auch der äußere Friede kann nur durch die Erfüllung der Geſetze Gottes erreicht werden. Gott will nicht den Krieg. Der Krieg ift ihm ein Greuel. Er hat auch keines! wegs den Krieg notwendig gemacht. Sondern nur die Unbeſonnenheit der Menſchen führt zu dieſem beklagenswerten Ereignis. Die Erbſünde verurſacht den Krieg, und unſere Sache iſt es, die Erbſünde durch beſſere Erkenntnis zu bekämpfen.

Jedes Volk ſoll einen Staat bilden. Jeder Staat ſoll ein Volk umſchließen. Dieſes Doppelgeſetz des politiſchen Friedens wird aber leider durch die menſchliche Habgier und Gewalttätigkeit allzu oft durchbrochen. Es find durch den widergöttlihen Willen der Menſchen Staaten entſtanden, die mehrere Völker umſchließen. Es ſind durch menſchliche Gewalttat ſtaatloſe Völker entſtanden. Solange nicht dieſe Doppelſünde beſeitigt iſt, kann keine Freiheit und kein Friede herrſchen. Der Staat iſt das Kleid des Volkes. Gott hat die Völker nackt erſchaffen. Wir Menſchen paſſen ihnen erſt einen Staat an. Mögen wir das ſo tun, daß jeder Volkskörper ſein eigen Kleid und jeder Volkskörper ſeine unverſtümmelte Ganzheit erhalte. Die Greuel des Krieges entſpringen nur aus dem kurzſichtigen Willen der Menſchen, die Volkskörper um des Kleides willen zu verſtümmeln und anderen Volkskörpern ihr von Gott zugeſagtes Kleid zu verweigern. Solange es noch unbekleidete Völker und verkrüppelte Völker gibt, iſt die Menſchheit einer Schar von Wilden ähnlich, und wild und erbarmungslos müſſen dann auch ihre Gebräuche werden. Wir auf dem Athos find zur politiſchen Geſittung gelangt, da bei uns jede Menſchengemeinſchaft in unverſtümmelter Schön- heit ihr eigenes Kleid trägt. Daher haben wir untereinander den ewigen Frieden.

20.

Wenn jedes Volk einen Staat bildet und jeder Staat ein Volk umſchließt, ſo iſt bis zum ewigen Frieden nur noch ein einziger Schritt zu vollbringen. Gott nämlich hat jedem Volksſtaat eine beſtimmte Landfläche zugewieſen. Dieſe Fläche kann bei harmoniſcher Arbeit aller Bewohner nicht mehr als eine beſtimmte Anzahl Menſchen ernähren. Hätte nun Gott wirklich befohlen, daß ſich die Menſchen über jedes objet tive Maß vermehren ſollten, ſo hätte er den Krieg befohlen. Iſt doch vollkommen klar, daß ein Volk, deſſen Einwohnerzahl die Ertragsfähigkeit ſeines Bodens überſteigt, entweder zum Teil verhungern oder Krieg führen muß. Gott aber verabſcheut den Krieg. Daher kann er nicht befohlen haben, daß ſich die Menſchen über alle Vernunft hinaus vermehren ſollen. Sondern er hat das Geſetz gegeben, welches er uns durch die Natur fortwährend offenbaren läßt: daß jedes Volk nicht mehr und nicht weniger Menſchen haben ſoll als das Land, welches es rechtmäßig beſitzt, auskömmlich er- nähren kann, ſofern alle Menſchen ſich der harmoniſchen Tätigkeit hingeben, die ihnen durch ihre natürliche Vorbeſtimmung zugewieſen iſt. Daher iſt es Pflicht jedes Staates, fein Volk auf der richtigen Bevölkerungszahl zu erhalten. Er muß Unter völkerung im Gntereffe des Reichtums des Lebens freundlich abraten, Übervölterung

Barthel: Entzüdungen des Rlofterbruders vom Berge Athos 23

dagegen im Intereſſe der leidenden Menſchheit durch ftrenge Gefege verhindern. Der Staat muß ſein Volk zu ſo viel Vernunft erziehen, daß es nicht durch fahrläſſige Übervölterung über ſich und alle feine Nachbarn ungeheures Unglück heraufbeſchwört.

Des weiteren muß jeder Staat verbieten, daß Lebensmittel für Menſch oder Vieh über feine Grenzen ausgeführt werden. Jeder Staat ſoll das, was er durch Gott ge- ſchenkt erhält, für ſich ſelbſt verbrauchen und Gott nicht dadurch beleidigen, daß er ſeine koſtbaren Gaben an andere Staaten verſchenkt. Denn Gold und Fabrikwerte, totes Geſtein und unfruchtbares Metall ſind keine Entſchädigungen für die heilige Nahrung, in der das Leben wohnt. si

Der Handelsverkehr mit Nahrung ift auf das einzelne Volk zu beſchränken. Da- gegen muß der Handelsverkehr mit Erzeugniſſen der toten Natur und des Gewerbe- fleißes zwiſchen allen Völkern vollkommen frei ſein. Dieſer Handel iſt das Bindeglied zwiſchen den Nationen. Durch ihn ſchließen ſich die verſtaatlichten Volksindividuen zur Menſchheit zuſammen, die trotz der Vielheit der Sprachen in Wiſſenſchaft und Kunſt gemeinſame Intereſſen hat. Durch Nahrungsgrenzen entſteht das Volk, der Staat. Durch Freihandel entſteht die Menſchheit. In unſerm Jahrhundert ſind wir endlich ſo weit, davon reden zu können. Wir kennen die ganze Erdoberfläche von Pol zu Pol. Wir haben nicht mehr zu befürchten, daß plötzlich an unſerm Horizont ein aus unbekannten Fernen gekommenes kriegeriſches Volk auftaucht, das durch Waffen- gewalt unſere ſchönen Kulturberechnungen über den Haufen werfen könnte. Wir leben nicht mehr in einem Zeitalter, das die Erdoberfläche noch nicht mit ſeinem Blick zu umfaſſen vermag. Nein, ſonnenklar liegt die ganze Erdoberfläche vor unſerm Geiſt, und wir dürfen daher getroſt das erhabene Wort ausſprechen, das da heißt: Menſchheit.

Die Balter der Menſchheit ſetzen ſich nicht an einen gemeinſamen Tiſch. Sondern ſie wahren ſich ſelbſt und ihre Güter, wenn ſie ihr Haus zu ihrem Schloß machen. Aber ſie tauſchen freundſchaftlich die Ergebniſſe ihres Scharfſinnes aus, durch den die Verkehrsformen unter den Menſchen immer verbeſſert und verfeinert werden. Wahrlich, die Technik hat eine ſchöne Aufgabe im Lauf der Geſchichte: die Menſchen einander immer vollkommener anzunähern. Für den Menſchen iſt in letzter Linie niemand und nichts wichtig als der Menſch. Wir Athosbrüder, die wir in felbit- gewählter köſtlicher Einſamkeit unſere Tage leben, erkennen dieſe Wahrheit viel deutlicher als die Weltkinder, die am Überfluß der oberflächlichen Menſchenbekannt⸗ ſchaft leiden. Menſchenverkehr und inniges Verſtehen, Miterleben, im gleichen Rhythmus mit Brüdern gufamnien atmen, das iſt die köſtlichſte Frucht unſeres Erdendaſeins. Und daß die ganze Menſchheit dereinſt in der Liebe Gottes vereinigt werde, daß das, was man in noch nicht vollkommener Form als Religion bezeichnet hat, ſchließlich die ganze Menſchheit zu einem einzigen großen Rhythmus begeiſtern möge das iſt für mich, den glüdfeligen Athosmönch, der Sinn der Weltgeſchichte.

22.

Eure armen Kinder, wie müſſen ſie ſich verziehen laſſen! Wie die Dachziegel fperrt man fie maſſenweiſe in kahle Zimmer ein und richtet fie zu Dingen ab, die fie oft gar nicht intereſſieren. Dieſer fortgeſetzte Zwang und die Unluſt, die ſich daraus

24 Barthel: Entzüdungen bes Kloſterbruders vom Berge Athos

ergibt, bilden den hauptſächlichſten Lebensinhalt der jungen Menſchen. Da gibt es denn wirklich nur eine Klaſſe von Leuten, die noch bedauernswerter ſind nämlich die Lehrer, die dazu gezwungen werden, die Kinder in ſolcher Weiſe zu behandeln und alle Unluſt mit ihren Begleiterſcheinungen über ſich ergehen zu laſſen. Unſere moderne Schule iſt das Symbol der modernen Kultur.

Eine Schule zu humaner Erziehung müßte ganz anders geartet fein. Vor allem müßte jie jede Möglichkeit eines Zwanges ablehnen. Sie müßte auf der Wahlfreiheit des Schülers und des Lehrers beruhen. Der Stoff einer ausreichenden Menſchen⸗ ſchule müßte viel mannigfaltiger und vielſeitiger ſein als der knöcherne Lehrplan unſerer Schulkaſernen. Jedes Naturell müßte da die Gelegenheit erhalten, ſeine eigenen Kräfte auszubilden. Der Berechtigungsunfug, der das weitere Fortkommen im Leben von einem beſtimmten Maße fruchtloſer Gedächtniskaſteiung abbängig macht, müßte vollſtändig verſchwinden. Ein junger Menſch hätte beim Abſchluß ſeiner Schulzeit keinen anderen Nachweis zu erbringen, als daß er beſtrebt geweſen iſt, gewiſſe Fähigkeiten zu vervollkommnen und daß dieſes Beſtreben von nachweis barem Ecfolg begleitet war.

Jeder Schüler müßte die Fächer, in denen er unterrichtet fein will, ſelbſt wählen. Jeder Lehrer dagegen müßte ſich verpflichten, keinen Schüler anders zu beſtrafen, als daß er ihn von ſeinem Unterricht ausſchließt. Im gegenſeitigen Verkehr von Lehrer und Schüler dürfte nicht das Herrſchen und Beherrſchtwerden eine Rolle ſpielen, ſondern nur der bürgerliche Anſtand von Menſch gegen Menſch. Die Ent- wicklung eines formſchönen Benehmens zwiſchen den Menſchen müßte im Verkehr in der Schule gefördert werden. Die Schule durfte nicht mehr eine Kaſerne fein, aus der alle äſthetiſche Freude verbannt iſt, ſondern fie müßte eine Vorſchule der Welt ſelber werden, in welcher Höflichkeit, gegenſeitige Duldſamkeit und Liebenswürdig- keit mehr gelten als Herrſchen und Beherrſchtwerden.

Hier auf dem Athos find ja pädagogische Probleme ganz unmöglich. Dieſen Fragen wird, da fie zur Welt gehören, auch bei der beſten Löſung immer etwas Unbefriebi- gendes anhaften bleiben. Aber es iſt ſicher, daß fie menſchlich annehmbar gelöft wer- den könnten, wenn der Schüler ſeine Fächer frei wählen und der Lehrer ungeeignete Schüler aus feinen Stunden entfernen darf. Unter dieſen Vorausſetzungen würde das Schulleben für alle Beteiligten mit mechaniſcher Notwendigkeit immer erfreu- licher und fruchtbarer.

23.

Unfere Athoswiſſenſchaft ruht noch im Schoße einer ſchönen Zukunft. Ich ſehe fie im Geiſte vor mir, wie fie edel und tief geartet die Mängel der europäiſchen Aka- demikerwiſſenſchaft vermeidet. Ihre Verkehrsregeln beruhen nicht auf Willkür, ſondern auf einem Geſetzbuch, das alle möglichen Fälle bis ins Einzelne mit weiſer Entſcheidung regelt. Es iſt nicht mehr möglich, daß wertvolle Ideen zu Boden ge- treten werden. Denn das Geſetz [hüßt fie und bewahrt fie vor willkürlicher Aus- nahmebehandlung. Für außergewöhnlich wichtige Fälle haben wir einen oberſten Rat, dem jeder Athosbürger ſeine Angelegenheit vorzutragen das Recht hat, wenn die andern Mittel, um einen als wichtig empfundenen Gedanken vor dem Untergang zu retten, nicht ausreichen.

Barthel: Entsddungen bes Kloſterdrub ers vom Berge Athos 25

Unfere Zeitſchriften beurteilen kein Buch, aber fie geben von jedem Buche eine Inhaltsangabe, aus welcher ſich jeder Leſer ein richtiges Bild von der Sache machen kann. Unſere Fachſchriften find verpflichtet, kein Buch des Faches, das ihnen über- ſandt wird, von dieſer ordnungsgemäßen Inhaltsangabe auszuſchließen. Der um- fang einer Inhaltsangabe ijt zudem auf einen beſtimmten Prozentſatz des Buch- umfanges feſtgelegt. Außer dieſer wichtigen objektiven Orientierung über alle wif- ſenswerten Publikationen haben unſere wiſſenſchaftlichen Zeitſchriften keinen In- halt. Denn wir erwarten von jedem, der eine genügend wertvolle Entdeckung ge- macht hat, daß er dieſelbe als größeres oder kleineres Buch veröffentliche. Wir lehnen alle Publikationen, die nur Kompilationen oder Haarſpaltereien oder nebenfäch- lichen Kram enthalten, grundſätzlich als unwiſſenſchaftlich ab. Es erſcheint uns als beklagenswerter Mißbrauch der Buchdruckerkunſt, wenn Durchſchnittsmenſchen ihre Nichtigkeiten durch fie bekannt machen laſſen. Was bei uns gedruckt wird, iſt groß- zügig, eigenartig und von einiger Tragweite. Daher find unſere Erzeugniſſe alle leſenswert, während von den Kompilationen und Nichtigkeiten der europäiſchen Wiſſenſchaft kaum der tauſendſte Teil leſenswert iſt. Die Menſchheit käme ſchneller weiter, wenn fie dieſen Ballaſt möglichſt bald über Bord werfen würde.

Unſere Bücher verfolgen einen ganz neuen Grundſatz nach einer ganz neuen Me- thode. Der Grundſatz lautet: Möglichſt prägnante Tiefe in möglichſt einfacher Form auf möglichft geringem Raum. Die neue Methode aber heißt: ehrlicher Menfchen- verſtand, grundſätzliches Verbot aller Hypotheſen, philoſophiſche Anſchauung.

24,

„Ihr ſollt euch nicht widerfegen dem Übel.“ Dieſe Lehre des Chriſtentums und Tolſtois ijt die größte, aber den meiſten Menſchen auch unerreichbarſte Wahrheit der moraliſchen Welt. Die negativen Mittel des Widerſtandes ſind die einzigen, aus denen nicht neues Übel hervorgeht. Sie find außerdem die einzigen, die zum Ziele führen können. Solche „Schwäche“ iſt die gewaltigſte aller Mächte. Wenn der Chriſt angegriffen wird, fo ſetzt er der Gewalt keine Gewalt entgegen denn das würde Anerkennung der Gewalt bedeuten und zudem meiſt die Folge haben, daß der Chriſt durch eine ſtärkere Gewalt beſiegt wird. Sondern der Chriſt wehrt ſich durch Ganft- mut und durch fromme Befolgung der Gebote Gottes. Das Schlimmſte, was ihm die Welt zufügen kann, ift der Tod, welcher ihm nach kurzem Leiden die ewige Freude ſchenkt. Niemals darf aber der Chriſt ſich durch die Umſtände zwingen laſſen, den Geboten Feſu und der Vernunft entgegenzuhandeln. Denn dadurch entſteht taufend- faches Leid und ſchwere Gewiſſensqual.

Die einzige Sünde iſt das Verurſachen körperlicher und ſeeliſcher Schmerzen. Der Chriſt ſoll Ehrfurcht haben vor dem Leiden der Kreatur. Er ſoll kein Blut vergießen bei Menſchen und Tieren. Alle andern Tätigkeiten ſind ſündlos. Es iſt niemals Sünde, wenn ein Menſch feinen Nächſten liebt. Es iſt keine Sünde, wenn der Menſch um der hohen Ziele des Geiſtes willen harte Worte und Handlungen über Menſchen ergehen läßt, die durch ihren böſen Willen oder ihr Unvermögen dieſen Zielen im Wege ſtehen. Das Chriſtentum iſt kein ſchläfriger Friede, ſondern ein großer Kampf gegen die Finſternis. Doch muß der Chriſt kämpfen mit dem Wort, das die Gewiſſen aufpeitſcht. Er muß mahnen und predigen der Welt zum Trotz.

2 Stern: Oas Haus am Meer

Die guten Taten des Chriſten ſind Hilfe der leidenden Kreatur und Predigt gegen die Sünden der Welt und für die Herrlichkeit des Geiſtes. Wer kranken, alten und ſchwachen, hilfsbedürftigen Menſchen hilft, iſt ein guter Chriſt. Wer die Erkenntnis der Wahrheit fördert und die moraliſchen Begriffe der Menſchheit zu klären unter- nimmt, ift ebenfalls ein rechter Chriſt. Anchriſtlich ift die Intereſſeloſigkeit am großen Leid der Menſchheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Schickſal des Geiſtes. Wer nicht für Gott wirkt, der wirkt gegen ibn...

Das Haus am Meere

Von Maurice Reinhold von Stern

Die Sonne neigt ſich. Lichte Wolken ſchweben Wie roſ'ge Inſeln, ſchwimmend durch das Licht, Das ſelig wie aus Herzenstiefen bricht, Hinftrömend wie ein ſtolz verſchenktes Leben.

Ein leiſer Hauch bewegt die Myrtenbäume, Die rot beglänzt im Abendpurpur ſtehn. Vom Meere her erwacht ein würziges Wehn Und läßt am Ufer kleine Wellen ſchäumen.

Verſunken in verlaſſ' nen Noſenlauben, Auf Marmorfäulen ſchimmert der Palaft. Bis an das Dach rankt ſich ein Noſenaſt Und um den Giebel flattern weiße Tauben.

Ein Tauber gurrt. Schneeweiße Schwingen glänzen. Im Athergriin erglimmt der Abendſtern.

Noch iſt er kühl und blaß und weltenfern.

Bald wird der Himmel ſich mit Sternen kränzen.

Dann wölbt fid in des Raumes tiefer Leere

Ein Schild, von goldnem Zierat überſät.

Und in verlaff’ner, ſtiller Schönheit ſteht

Und träumt im Sternenliht das Haus am Meere.

Zu frühe Von Hans Schoenfeld

Iſm 28. April 1809 erſchien vorm Pirnaiſchen Tor zu Dresden gegen drei Uhr

nachmittags ein aufgeregter Herr. Nachdem er ſich rings umgeſchaut hatte, fragte er barſch und in hartem Berliniſch den Torpoſten nach dem Verbleib einer Eilpoſt des Grafen von Buol-Schauenſtein. Aus dem gemütlichen ſächſiſchen Tor- ſoldaten brachte er nach längerem Hin und Her die Tatſache heraus, daß die Reife- kaleſche des öſterreichiſchen Herrn von der Geſandtſchaft ſchon vor länger als zwei Stunden davongefahren ſei, nachdem Seine Exzellenz offenſichtlich ungeduldig auch ſo ringsum Ausſchau gehalten hätte, wie der Herr eben ſelber. Man habe wohl rechte Unannehmlichkeit?

Kleiſt brummte ein Schimpfwort und ließ den Schwätzer ſtehen. Da war guter Rat teuer. Das kam von den Auseinanderſetzungen und Abhaltungen, die grade auf guter Letzt ſich wie Verſchworene einem unabänderlichen Vorhaben in den Weg ſtellten. Dem biederen ſächſiſchen Grenadier preſſierte es freilich nicht, aber denen, die das Schickſal ruft, iſt eine Stunde Aufenthalt zu viel.

Kleiſt machte ſich kurzerhand auf Schuſters Rappen gen Böhmen auf. So ging es immer: entweder faul und vornehm in herrſchaftlichem Gefährt oder wie der ärmfte Wandersmann per pedes apostolorum durchs Leben gewalzt. Ein Mittel- ding gab es nicht.

Der Morgen ſah den hitzigen Reiſenden ſchon hinter Pirna im Gehege der Sächſiſchen Schweiz. Er pilgerte nicht allein; hatte einen mit, der ihn noch zu guter Letzt auf der Marienbrücke in Dresden anſprach und ſich als ſtiller Ver- ehrer des Dichters der Penthefilea, des Amphitryon und des „Oorfrichters Adam“ ausgab. Das kam Kleiſten wahrhaft böhmiſch vor, denn viel ſolch unterrichteter Kenner feines eingegangenen „Phoebus“, der die beſagten Dramen ſtückweis ge- bracht hatte, kannte er nicht. Der junge Mann nannte ſich Dahlmann aus Wismar. Oa er kein Sachſe und ein erſtaunlich ſtudierter Kopf bei ſo jungen Jahren war, dazu ein echt norddeutſcher Grübler, der ſchon hiſtoriſche Abhandlungen in bekannten Almanachen geſchrieben haben wollte, fo hatte Kleiſt nichts dawider, feine Be- gleitung anzunehmen und einen Schickſalswink in dieſer neueſten Dresdner Bekannt- ſchaft auf die letzte Minute zu ſehen: Auch unſer Dahlmann wußte in ſolcher Zeit nichts mit ſich anzufangen. Es blieb ſich ja fo gleichgültig, was junge, in ſich ge- kehrte Menſchen trieben und wo ſie ihren Wanderſtab hinſetzten. Wenn ſie nur ihre Welt und ihren Plan in ſich trugen.

Und fo fand es Dahlmann wie Kleiſt ganz natürlich, daß der lange bedächtige Wismarer, ſtatt mit der Kutſche des Fräulein von Kleiſt, die heimwärts nach Frank furt fuhr, ein Ende Weges gen Mecklenburg bequem und koſtenlos befördert zu werden, nun mit Felleiſen und Ziegenhainer mit einem gleichgeſtimmten Geſellen ins Böhmiſche fürbaß zog, der Weltgeſchichte entgegen, die mit Wettergewölk grol- lend dem alten Kampfgefild der Donau zuſtrebte.

Laut redend, heftig geſtikulierend ſtiefelte das abſonderliche Paar der erſehnten Stätte irgendwo da unten entgegen, wo im Kanonendonner die neue Zeit und

28 Säoenfeld: Zu früde

die neue Freiheit des unterjochten Europas klirrend anbrechen mußte. Denn in Erz- herzog Karln von Öfterreich ſchien allen Patrioten der geknechteten deutſchen Lande und des zertrümmerten heiligen Römiſchen Reichs deutſcher Nation eine Hoffnung erftanden; ein Feldherr, dem Korſen am eheſten ebenbiictig.

Zu Prag harrte der Kreis eifrig tätiger Männer, die, nur den Eingeweihten be- kannt, als gute Meiſter der Stille die Neugeſtaltung Preußens vorbereiteten. Zu den Arndt, Frhr. von Stein, Götzen, Kollowrat, Humboldt ſtieß das ſchwungvoll begeiſterte Paar der Flüchtlinge aus Sachſens muffiger und verdroſſener Luft, die preußiſchen Patrioten übel anſchlug. Buol, der Dresdener Geſchäftsträger Öfter- reichs, den Sachſens unfreiwillige kriegeriſche Bündnisfolge zur Abreiſe unter Pro- teſt veranlaßt hatte, nahm Kleiſt lachend in Empfang und führte ihn unter den Männern ein, die achtunggebietend die Füngeren in ihre Mitte nahmen.

Im Jabot kniſterte Kleiſten der Entwurf zur neuen Zeitſchrift der Deutfchen, die, mit Buol zu Dresden ſchon beſprochen, nun zu Prag von ihm herausgegeben wer- den ſoll: „Germania“ wird ſie heißen; wird in glühenden Worten und gehämmerten Satzen allen Vaterlandsfreunden das Kainsmal auf der Stirn erglühen laffen: Auch du! Alle Lauen wird fie wachrütteln, das junge Preußen unaufhaltſam ums neue Panier ſich ſcharen machen.

Der Aufruf für die Zeitſchrift iſt ſchon fertig und aus einem Guß. Hingeſchrieben faft in einem Zug, ohne die quälenden Verbeſſerungen und Neuanfänge der poetiſchen Werke. Dahlmann hatte den Aufruf unterwegs zu hören bekommen und mit ſtummem Händedruck gedankt das ſchönſte Lob dieſes Einfilbigen und Skeptikers.

Von der Prager Runde war Kleiſt bald enttäufcht. Seinem glühenden Taten drang erſchienen dieſe Meiſter viel zu gedämpft. Ihre Bedenken, ihr Abwarten forderte ſein edles Draufgängertum heraus. Taten wollte er ſehen, Taten! Da ſagte er Valet auf gute Wiederkehr und ſetzte ſeinen Wanderſtab weiter; immer jüdwärts, der Donau entgegen.

In Stockerau, das die Wiener im Lenz durchſchwärmten, kehrte er ein, die Dinge zu erforſchen. Die Luft ſchwirrte von Alarmgerüchten. Die Spannung wuchs un- heimlich.

Das Spiel der Könige, Schach, lenkte ab. Dahlmann war ein kluger Gegner. Das kurioſe Paar der Schlachtenbummler aus tiefſtem Drang trägt im kleinen den Kampf der Großen aus, der ſich entfeſſelt hat.

Mitten ins Spiel platzt der Krugwirt mit der Kunde: „Aber hören die Messieurs denn nicht den Kanonendonner? Die Schlacht iſt im Donau-Inſelgelände ent- brannt.“

Da laſſen die Strategen Schach Schach ſein und ſtürmen davon, Aſpern zu. Ein ſtundenlanger Marſch. Am Spätnachmittag treffen fie am Weichbild des Kampf- gefilds ein; erhitzt, ermattet, doch frohgemut.

Das Dorf iſt totſtill, der Kampflärm verſtummt, die Bataille zu Ende. Von Trupven nichts zu ſehen. Nur auf dem Felde, wo der Kampf getobt, treffen fie Menſchen an: Gebüdte Geſtalten im Bauernkittel, die den Boden nach Bleikugeln, Heeresgerät und Wertſachen abſuchen. Die Aſperner Bauern bei unguter Arbeit.

Schoenfeld: Zu frühe 29

Kleiſt ſpuckt aus: Ranaille! Und haftet weiter mit den kurzen, ſtrammen Beinen, daß der lange, ſchmächtige Dahlmann kaum zu folgen vermag.

Das Bild wird bewegter: Biwakierende, ziehende Truppen. Alles Ofterreicer. Aber wo find die Franzoſen? Wie ging die Schlacht? Wo bringt man Gefangene ein?

Keiſt richtet haſtig Frage um Frage an die erſten beſten. Wird erſtaunt angeſehen, in ſeinem fremdartigen Idiom kaum verſtanden.

Man weiſt die zwei ſonderbaren Fremden zu einem Stab. Die Herren ſtehen ſchwatzend, ſchmauchend beiſammen, muſtern die bürgerlichen Ankömmlinge un- verhüllt mißtrauiſch. Ein Oberſt verlangt Auskunft, was man hier mitten unter den Militärs, am Kampfort, zu ſuchen habe.

Kleiſt ſprudelt mit feiner ungelenken Zunge Erklärungen hervor. Iſt überglüd- lich in Gewißheit des erfochtenen Sieges. Kniet in Gedanken vor dem Helden des Tages: Karl von Öfterreih, dem neuen Arminius; dem großen Oeutſchen. Im Vertrauen auf dies militäriſche Genie hat er Erzherzog Karln ſchon die Dankesode der Oeutſchen geſchrieben. Verſe, die im Rhythmus der Bataillone marſchieren und ein einziger großer Zubel- und Erlöſungshymnus find.

Jetzt zieht er das Blatt hervor, das ſeine großen ſchwungvollen Federzüge in ſauberer Reinſchrift bedecken. Er beginnt den Herren die Verſe pathetiſch vorzu- deklamieren.

Die Offiziere ſchauen ſich an: Ringsum Geſichter, die von Spott, verſtecktem Arger und eitel Unintereſſiertheit ſprechen: Der Kerl iſt verrückt. Was, ein preußi- ſcher Adeliger, ſagt er? Der? Schaut fo ein preußiſcher Gardeoffizier aus? Merci! Was iſt der? Ein Spion wohl gar? Führt den Filou doch ab!

Eiſigkalte Mienen, ertötendes Schweigen antworten dem erhitzten Verſeſchmied. Man verlangt ſeine Ausweispapiere.

Kleiſt beruft ſich auf das Prager gremium, deutet die heikle Miſſion an, für die es offene Legitimationen nicht gibt. Er nennt Buol-Schauenſtein feinen Freund und Gönner.

Haha! Alles Schwindel. Ein zweifelhaftes Subjekt alſo der Menſch.

Das Unglaubliche geſchieht. Kleiſt wird verhaftet. Dahlmann wirft ſich ins Mittel. Seiner knappen, eindrucksvollen Darftellung gelingt es ſchließlich, den Unglüds- menſchen freizubekommen.

Man läßt den überſpannten Kerl ſamt ſeinem Geſellen mit einer Verwarnung laufen und von einer Patrouille wie einen Gefangenen durch ein Spalier höhnen- der Soldateska aus dem Gefechtsbereich entfernen.

Kleiſt iſt gräßlich ernüchtert. Er hat kein Wort für die üble Szene und feinen kläglichen Abgang. Aber das Papier zerknüllt er mit unbeſchreiblichem Ausdruck. Das unſterbliche Dokument, darauf das jtürmifcheite Herz Deutſchlands feurige Dan⸗ kesworte hingeworfen hat. Er lacht ſchneidend auf; ſieht ſich mit Dahlmann irgendwo in einer Schänke ſitzen und verbringt eine wiifte Nacht.

Aber dies geht vorüber. Die Gewißheit ſteht ja felſenfeſt: Der Sieg iſt Deutfch- lands! Mögen die Einzelheiten und Auswirkungen menſchlich unzulänglich, ja widerlich fein was hat dies alles mit Karln von Aſpern zu ſchaffen? Der ſteht tieſengroß über den Pöbeleien der Unteren.

30 Schoenfeld: Zu frühe

Nun wird alles gut. In Prag werden ſie ſich umarmt haben und fieberhaft am Werke ſein. Werden endlich aus dem Dunkel heraustreten vor die Nation.

Nun muß die Zeitſchrift heran, das Banner entfalten über dem eee beglückten Deutſchland.

Kleiſt kennt kein Halten mehr. Zurück nach Prag, was die Füße und Pferdebeine hergeben wollen!

Dahlmann bremſt, rät zum Abwarten. Spricht von „zu Ruhe und Klarheit kom- men; die Dinge ſich konſolidieren laſſen“. Die Schlacht, gewiß, iſt ein Erfolg, das gibt er zu. Aber keine Entſcheidung. 's iſt ſchon durchgeſickert, wem Öfterreich feine Gloria verdankt: dem empörten Donau Weibchen, das mit wilden Fluten einher- donnerte und dem Korſen feine Schiffsbrücken zerriß, alfo daß er mit dem Haupt- teil ſeiner Macht auf der umbrandeten Donau-Inſel wutſchnaubend zuſehen mußte, wie feine Vorhut-Diviſionen drüben von der Übermacht bedrängt wurden.

Nein, jagt Dahlmann, fo leicht iſt der Bonaparte nicht abgetan. Das Schwerfte ſteht noch bevor. Gott ſchenke Erzherzog Karl und den Fahnen Ofterreids den großen, ehrlichen Sieg der Waffen! Dann wird Bahn frei.

Kleiſt hört all das und hört es nicht. Beuge einer dieſen Willen. Er eilt eben nach Prag.

Dann kommt der Tag von Wagram, und alle Hoffnungen welken wie frühe Blumen, die Winterhauch traf.

Znaim kommt und der ſchimpfliche Waffenſtillſtand. Es wird ſtill in Oſterreich. In Preußen fchüttelt man betrübt die Köpfe. Die Patrioten verkriechen ſich. Im klugen Sachſen brüjtet man ſich: Seht ihr wohl! Wer hat's denn geſagt? Mit dem Napoleon bändelt man nicht ungeſtraft an.

In Prag ereilt Kleiſt die letzte Kunde: Zu Schönbrunn ward der jämmerlichſte Friede geſchloſſen, den man ſah. Die Stein und Arndt, die Scharnhorſt und Buol drücken ſich ſtumm die Hände und gehen in Hoffnung auf eine beſſere Zeit aus- einander.

Nur Kleiſt bleibt. Allein mit den Papierfetzen ſeiner Zeitſchrift. Ein hitziges Nervenfieber umfängt ſeine verzweifelten Sinne in wohltätiger Ohnmacht. Er ſinkt aufs Krankenlager. Die Mittel gehen zu Ende, die letzten hundert Taler aus der Erbſchaft der Tante von Maſſow, die er am Tage des Fortgangs von Dresden der warnenden, zürnenden Schweſter abrang.

Nun muß er zu allem ſeinem Stolz den ſchmählichen Reſt geben und an die gute einzige Retterin in Not ſchreiben. Zum vierten Male macht ſich das Fräulein von Kleiſt auf den bitteren Weg, den unglaublichen, hoffnungsloſen Menſchen heimzu- holen. Sie findet einen hohläugigen, halbverhungerten und abgeſtumpften Kranken, der nur langſam der Geneſung entgegengeht, in ſeinem Hoffen auf deutſche Er- hebung im Tiefſten erſchüttert ..

31

Am Kleiſtgrab

Zu ſeinem hundertfünfzigjährigen Geburtstag am 18. Oktober Von Marga von Rengell

n heiterem Frieden liegt der Wannſee. Segel blähen ſich, und Nachen fließen 1 auf ſprühender Bahn dahin. Sonnendurchglutete Fichtenſtämme verſtrömen Harzduft, am Firmament verfliegt Roſenhauch, fern verdämmern die Ufer.

Da jah wird das Auge gebannt, der Fuß ſtockt ... dort, wo der Fels ſich ſchroff zur blauenden Flut ſenkt, träumt, im Föhrenhain, von Eichenblätterſang umrauſcht ein Grab! Gn weiheernſter Schlichtheit, efeuüberwuchert Mahner der Ewigkeit! Das Kleiſtgrab! |

An jener Stelle trank Heimaterde das Herzblut des heldiſchen Sängers, ſank er im Freitode dahin.

Wundquellen ſprudeln neu, Gramſchleier umſchatten die Lider.

heinrich von Kleiſt! Ich grüße dich! Unerhörte Tragik hieß deines Erdenwallens bittres Los! Schickſalsgebunden, in dionyſiſcher Trunkenheit warfeſt du dich dem Tode in die Arme, als deinem Befreier und Begnader. Im herriſchen Aufbäumen, willensgewaltig zerbrachſt du die Form, weil das Leben dir erbarmungslos den

Trank der Erfüllung von den Lippen geriſſen.

Wer hat dich je erfühlt oder ermeſſen? Der allumfaſſende Genius, zu mächtig einem Epigonengeſchlecht, rang in herzzehrender Einſamkeit um Erlöſung, ſuchte die Seele ſeiner Seele und erſtarrte zuletzt in der Gefühlskälte der Verſtändnisloſigkeit.

Von Qual zur Verzückung, vom Wahn zur Erleuchtung, taumelt der Titan, in vulkaniſchen Ausbrüchen ſich jäh befreiend. In die Ketten tragiſcher Naturanlagen, einer ausſchweifenden Phantaſtik, eines weltumſpannenden Grüblergeiſtes ge- ſchmiedet, an denen er verblutend reißt, ſtrebte er nach Selbſtbefreiung. Er ſuchte ſie in Freundſchaft, Liebeserfüllung, Erkenntnistiefe, Natur, und fand ſie einzig im Schaffen. In ſeinen Werken raſt er die Leidenſchaft ſeiner Triebe, die Gluten ſeiner Seele aus. Er iſt immer er ſelbſt, nie Nachſchöpfer oder Echo, eigenwillig, ſelbſtherrlich ſchafft er aus der Fülle ſeines Sehertums. Hineingewühlt in die Phantaſieſchauer ſeines Genius, verbiſſen in ſeine Schaffensträume, lebt er ſeinen Geſtalten, ſie durchſeelend und mit ſeinem Herzblut ſie tränkend. Er iſt Robert Guiskard, der Gigant, Achill, der Schlachtengott, Graf Wetter vom Strahl, Hermann, der deutſche Retter.

Und dann weher Mißakkord! die Wirklichkeit! Von kleinlichſten Sorgen zerfreſſen, ſieht er das Ideal feines Weltbildes zur Fratze ſich verzerren. Sein Dater- land jagt dem Abgrund zu, ohne daß er den Roffen der Vernichtung in die Zügel zu fallen vermag, ſeine Nächſten ätzen ihm die Seele mit Gift, und zuletzt muß er den bitterſten aller Marterkelche bis auf den Grund leeren; die Kronjuwelen ſeines Geiſtes, dem deutſchen Volk geſchenkt, werden von dieſem Volk verachtend zur Seite geworfen.

Da ſchlägt die Flut qualgeſättigter Schickſalstragik über dem Ertrinkenden zu- ſammen. Ein Starker, Stolzer, Freier ſtreift er die irdiſche Feſſel von ſich! Doch nicht einſam geht der Einſame den letzten Weg. Ein Weib geleitet ihn!

52 Bate: Sterbender Walb

Kleiſt, der Weibfremde, von Frauengunſt Ungetrangte, hat mit der Fackel dichte riſchen Sehergeiſtes tief in die Geheimſchächte der Frauenpſyche geleuchtet. In Pentheſilea und Käthchen von Heilbronn ſchildert er das Weib als Urtyp, die Frau in ihrer echteſten Weſensart. Er formt und ſpaltet, durchſeelt und verſchmilzt! Pentheſilea und Käthchen Herrin und Magd, Mänade und Träumerin, jene den Geliebten im Rachetaumel zerſchmetternd, dieſe hingebend vor ihm niederſinkend fie find eins. Aus ihnen weint die Tragik des Weibſchickſals. Aus Urgründen in- tuitiver Begabung ſchöpft der Dichterprometheus, und er ſelbſt erträumt ſich, nach bangen Enttäuſchungen, in Henriette Vogel ſein Seelenideal zu ſehen. Eine erhabene Sendung zu erfüllen war die Totgeweihte erwählt. Aber, anſtatt als letzte Ver- klärung ihres Erdentages über die Schwächen ihres Weibstums hinauswachſend, den niederſinkenden Mann zu begnaden, ward fie fein Dämon. Als feine Todes- braut wirft ſie ſich mit ihm in den Abgrund.

In märkiſcher Erde ruht Heinrich von Kleiſt! Heimatboden kühlt feinen müden Leib. Wie er es heiß gewünſcht, reckt aus ſeinem Grabe eine Eiche, ſtark und lebens- ſtrotzend ihre Zweige zum Firmament. Sein Geiſt rauſcht aus ihren Blättern, im Sturmeswehen und Lohen, wenn Winterwind ſie durchpeitſcht, den Sang der Hermannſchlacht!

Als das Hohelied dämoniſchen Feindhaſſes ragt das granitene Heldenwerk in unſere Zeit.

. . Oh, könnten wir

Des Krieges eh'rnen Bogen ſpannen,

And mit vereinter Kraft, den Pfeil der Schlacht zerſchmetternd, So durch den Nacken hin des Römerheeres jagen,

Das in den Feldern Oeutſchlands aufgepflanzt.“

In dem unſterblichen Weihedenkmal des Oeutſchtums wirkt heldgeborene Oichtertat. Hinter märchendunklen Kiefernwäldern verblutet die Sonne. Abendwind flüſtert Geheimniſſe. Einſam träumt das Grab am Wannſee

Sterbender Wald

Von Ludwig Bäte

Einmal noch Farben und Gluten, Nauſchend ſtrömendes Gold, Und dann in ſchweren Fluten

Der königliche Mantel niederrollt.

Am ee om tid, : Legt e Sonne gu Ein sen leuchtet im Harme: Wie wohl das tut!

Sann klimmt in grauer Ag Ser 33 wine f und Reit. Mit hartem elſchlage Streichen die Krähen zum Neſt.

Der Tempel des Schweigens Ludwig Fahrenkrog

IR und) cha u Die Gemeinſchaft der Freunde

(Das Problem Wüftenrot)

it Ende September ſtellte die gemeinnützige Bauſparkaſſe der Gemeinſchaft der Freunde

an uͤber 1800 ihrer Bauſparer über 30 Millionen Reichsmark zur Verfügung. Zur Zeit bat dieſes Unternehmen einen Hypothekenbeſtand von rund 20 Millionen Mark, einen Bar- beftand von über 10% Millionen Mark. Von Tag zu Tag ſteigt die Zahl der dem Werk ange- ſchloſſenen Bauſparer, von Halbjahr zu Halbjahr vermehrt ſich bis heute andauernd die Summe des herausgegebenen Geldes.

Daß einem ſolchen wirtſchaftlichen Faktor im kritiſchen wie zuſtimmenden Sinne die Offent- lichkeit und die amtlichen Stellen nicht gleichmütig gegenũberſtehen können und daß dieſer Faktor über das Gebiet der Vaufpartatigteit zur gefunden Löſung der Wohnungsnot hinaus noch in das Kultur- und Wirtſchaftsleben der Nation eingreifen wird, iſt kaum zu bezweifeln.

Die raſche und genügende Schaffung von Wohnungen für deutſche Menſchen iſt vielleicht das deutſche Rern problem. ge- denfalls ein Hauptproblem der Nachkriegszeit und die har Vorbedingung für die Gene; > fung und den Wieberaufftieg |, des deutſchen Volks. Ob mit oder ohne Verſchulden der ſtaatlichen und kommunalen Stellen die Löfung des Problems geht viel zu lang- ſam vor ſich und das Volk muß ſelber mithelfen.

Der Tatgedanke der ide; alen, alſo gemeinnützigen Selbſthilfe durch Sufammen- ſchluß vieler Gleich und Gut; geſinnter lag alſo nahe. Wer Kraft und Mut, alſo Perfön- lichkeit und Verantwortungs- gefühl genug beſaß, der wagte des Echos gewiß den Ruf ins Volk hinein.

Georg Kropp, ein grund- gütiger, grundkluger volks- wirtſchaftlicher Autodidakt, lange in Süddeutfchland hei; miſch und in feinen Volks- kalendern ſchon ſeit Zahren für die Schaffung wohlfei- ler Eigenheime eintretend, machte ſich zum Sprecher für

der Turmer XXX, 1 3

1

34 Die Gemelnſchaft der Freunde

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Das Olirektions- und Verwaltungsg ebäude der G. d. F. in Wüſtenrot

die gute Sache. Der Widerhall war ſelbſt für dieſen kühnen Optimiſten überraſchend. Gleich nach der Markfeſtigung ſtrömten die Sparwilligen aus der näheren Umgebung Stuttgarts herzu. Schon im Februar 1925 zahlte man die erſten fünfundzwanzig Bauſparer mit einer Viertel- million Mark aus. Schon damals ſchrieben ſich viele Geiſtliche (die zu einem Pfarrertag eigens nach Wüſtenrot kamen) als Sparer ein. Aber die Maſſe der Gefolgſchafter ftellt doch der kleine Mittelſtand: viel Handwerker, Gewerbetreibende, Angeſtellte, Arbeiter und untere Beamte. Alles kleinſte, aber geduldigſte Sparer, die begriffen haben, daß einer den andern mitnimmt und daß die vielen Wenig zuſammengelegt ein größeres Viel geben als jeder für ſich. Volks- wirtſchaftler und Wiſſenſchaftler kennen die erſtaunliche Macht geballten, aus vielen Röhren in ein Becken geſpeiſten Geldes: hier aus den bis zur vollen Auszahlung zu treuen Händen hin- gegebenen Raten, aus den Zins- und Tilgungsquoten der Reſtſummen, aus dem Zinſeszins dieſer zuſammenſtrömenden Maſſen. Aus dieſen nimmt die Wüſtenroter Bauſparkaſſe das un- gemein flüſſige Geld (im September 1927 ſind über 10 Millionen greifbar), das erlaubt, etwa alle zwei Monate gegen zweihundert Zweckſparern den vollen Betrag ihrer abgeſchloſſenen Bau- ſumme bereitzuſtellen. Aus der Spanne von zwei v. H., die ſie derzeit den Einlegern und Mit- helfern auf Zinſeszins gewährt, und den fünf v. H. (vier Zins, mindeſtens ein Prozent Tilgung der Reſtſumme) leitet fie in der Hauptſache ihre Zahlungsfähigkeit her.

Im Einverſtändnis mit der Regierung ijt das Verhältnis von Einlage und Vollaus zahlung fo geregelt, daß mindeſtens 16½ v. H. (bei kleinſten Ratenſparern von 2 v. H. der Bauſumme an) eingezahlt fein und der Gemeinſchaft haben eine beſtimmte Zeit dienen müſſen, ehe an die Er- langung der vollen Bauſumme zu denken iſt. Auch die großen Einleger, die gleich mehr als 16 v. H. einbringen, müſſen nach dem Grundſatz der Gemeinnützigkeit ihre Zeit abwarten. Im allgemeinen kommt wohl kein Bauſparer vor dritthalb Fahren zu ſeiner Bauſumme.

Es mögen jetzt einige und zwanzigtauſend Gemeinſchafter ſich zur großen Selbſthilfe zu- ſammengeſchloſſen haben, davon mehr als ein Zehntel in Oſterreich, das den Widerſtand gegen die neue Form des Selbſthilfe- Unternehmens aufgegeben hat, nachdem die württembergiſche Regierung im Einvernehmen mit dem Reichswirtſchaftsminiſterium und der Reichsbank die nach einigem Hin und Her geſchaffene rechtliche und wirtſchaftliche Solidität der Wüſten roter Bauſparkaſſe durch Verleihung des Depoſitenrechts anerkannt und ihr damit den Charakter eines öffentlich- rechtlichen Bank- Inſtituts verliehen hat.

Dem Volkswirtſchaftler ſtellt ſich in ſeiner jetzigen Form das eigenartige und hochbedeutſame Unternehmen des feinen Feuerkopfes Georg Kropp als ein glückliches Gemiſch von Lebens-

Die Gemeinſchaſt der Freunde 35

verſicherungs-, Hypotheken- und Sparbank dar. So geſichert, fo ftändig gut beraten und ge- führt von verantwortungs vollen Männern, und von einem Aufſichtsrat getragen, dem Abge- ordnete, Bürgermeifter, kurz Männer angehören, die im offentlichen Leben geachtet daſtehen, marſchiert die Wuͤſtenroter Aufbaukaſſe mit ihren Zehntauſenden vertrauender und ernſthaft zu ben Fragen des privaten und öffentlichen Lebens eingeſtellter Gefolgſchafter in eine fegens- reiche Zukunft hinein. Georg Rropps beſonderes Ziel, den Beſten feines Volkes ein Eigenheim auf freier eigener Scholle zu ſchaffen, das frei iſt von ewiger Pacht, iſt erreicht und ſichert ihm ſchon damit den Dank feiner und ſpäterer Zeit. a 5 > Wiiftenrot ſteht, materiell geſichert und noch ſtark erweiterungsfähig, noch im erften Teil feiner Geſamtentwicklung. Iſt aber die breite Grundlage geſchaffen, von der aus erſt die höheren Aufgaben des gewaltigen Geld- und Willens zentrums denkbar find, dann muß fic der eigent- liche Sinn, die Nehrſeite des im Grunde hochgeiſtigen Problems auszuwirken beginnen. Daß darauf von den Gemeinſchaftern ſelbſt ein wachſames Auge behalten wird, erſcheint geboten. Denn ſehr leicht könnte das urfprünglich lebendige Geſicht der Wuͤſtenroter Willens - und Ver- trauensgemeinſchaft zu der kalten, ſeelenloſen Gebärde eines mechaniſierten Nurgefchäfts-Unter- nehmens entſtellt werden, und von dem Begriff der kameradſchaftlich eingeſtellten Phalanx der „Freunde“ bliebe nichts übrig als ein hohler Name. Gründer und erſte Mitarbeiter find zum Teil jahrzehntelang in ſozialer Arbeit ſtehende, erprobte Männer und Frauen aus den Kreiſen der Enthaltſamkeits- und der Gemeinſchafts- bewegung. Sie haben Kraft, Zeit unb Geld drangegeben, um dem Gedanken ihres Führers Kropp in der Zeit des nach der Inflation herr; ſchenden allgemeinen gegen; feitigen Mi ßtrauens und Ge- geneinanberarbeitens zum Durchbruch zu verhelfen. Nur durch das Vertrauenskapital, daß dieſe Männer und Frau- en je in ihrem Kreiſe beſaßen, und nur dadurch, daß das Werk in einem kleinen Ort ins Leben gerufen wurde, wo alle Verhältniſſe jedermann Mar zutage lagen und mühe- los kontrolliert werden tonn- ten, konnte es ſich durchſetzen. Von der Großſtadt und von vorhandenen Geldinſtituten aus, zu denen damals das Vertrauen in weiteſten Krei- fen geſchwunden war, wäre. das nie und nimmer moglich geweſen. Mag daher auch das innige, patriarchaliſche Ver- hältnis, das Herrn Kropp mit feinen erſten Mitarbei- Eigenheim eines Arbeiters

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36 Die Farde im Stadtbild der Gegenwart

tern verband, das teilweife bis zu Tiſch- und Wohngemeinſchaft ging, und ohne das der Auf- bau des Werkes ſchon rein aus finanziellen Gründen nicht möglich geweſen wäre, der fortfchrei- tenden ſtarken Entwicklung nach und nach ee fein: Der Geiſt von Wüftenrot muß und wird erhalten bleiben.

Denn die Gemeinſchaft der Freunde ſteht und fällt mit ihrem Ethos. Sie wird eine Fanfare in die Zeit ſein oder ſie wird wie ein Strohfeuer verlöſchen. Lebenskraft hat ſie unerſchöpflich unerſchöpflich wie jeder Anruf des Vertrauens, jede Erweckung edlen Vorſatzesſinns zum Sparen, zum Sich verſagen für edelſte Lebensziele iſt.

In der Zeitſchrift der Gemeinſch aft „Mein Eigenheim“ hält der Willensbund von Wüſtenrot ein vortreffliches Sprachrohr. Bis jetzt freilich iſt der Inhalt über wirtſchaftliche und volts- hygieniſche Betrachtungen und „praktiſche Ratſchläge“ noch nicht hinausgekommen.

Die Aufnahme der Verbindung mit Gemeinſchaften, die in den großen Fragen menſchlicher Unterkunft und Seßhaftwerdung ähnliche Wege gehen, gehört zu dem Aufgabengebiet von Wuſtenrot. Hier iſt das Nötige geſchehen und eine erfreuliche Arbeitsgemeinſchaft mit den Bodenreform und Siedlungs vereinen herbeigeführt. Die Bodenreformer ſetzen ſich für die Beſchaffung billigen, reichlich greifbaren Wohngeländes ein. Die Wüͤſtenroter übernehmen die Finanzierung des Eigenheimbaues durch Organiſation der Bauſpartätigkeit.

Wir wollen nicht vergeſſen, daß Schwaben die Keimzelle dieſes aus Menſchenſehnſucht und Menſchenwillen hervorgegangenen Tatwerkes iſt. Wir fühlen das deutſche Herz in Schwaben, den klaren, kräftigen Kopf im norddeutſchen Tief. Georg Kropp, der Sechziger, iſt Ropfmenſch als Sohn der Waterkant und Herzensmenſch als langanfäffiger Süddeutfcher aus Neigung. Das iſt bezeichnend. Sinnbild wird alles im Schöpferiſchen. Daß hier ein ſchöpferiſcher Vorgang vorliegt, der aus feinen Fäden weither und langher ſich ſtill zuſammengewoben hat, wird nur der banauſiſch eingeſtellte Menſch der „aufgeklärten“ Gegenwart in Abrede ſtellen.

Hans Schoenfeld

Die Farbe im Stadtbild der Gegenwart

er unermeßliche Wert jahrhundertealter Tradition wird erſt dann in feiner vollen Be-

deutung erkannt, wenn ſie unmerklich langſam entſchwunden iſt und an ihrer Stelle eine klaffende Lücke gähnt. So geſchah es mit der Überlieferung des farbigen Hauſes, die im 19. Jahr- hundert unter dem Einfluß der klaſſiziſtiſchen Lehre von der farbloſen Antike verloren ging. Das Emporſchie ßen gewaltiger Fabriken und Großſtädte feit den Gründerjahren beſchleunigte den Untergang und förderte den Bau unzähliger Mietskaſernen, die grau in grau ein Abbild der immer gefühlsärmeren Zeit wurden. Der zur unumſchränkten Herrſchaft gelangte Intel- lektualismus verdrängte alle Gemuͤtswerte. So ſchwand die Farbe, die mächtigſte Anregerin des Gefühles der Freude und der Erhebung, aus Stadt und Straße. Schmucke Bauernhäufer blieben als ſchwache Erinnerung an eine vergangene farbenfrohe Baukunſt, ebenſo wie noch manche Volkstrachten an den erloſchenen Sinn für farbige Kleidung gemahnen.

Das menſchliche Auge iſt gewohnt, in der Natur ein immer wechſelndes Spiel farbiger Er- ſcheinungen zu beobachten. Es braucht die Abwechſlung des Farbeneindrucks, um friſch und auf- nabmefabig zu bleiben, die „Totalität“, wie Goethe in feiner Farbenlehre ſagt. Wer längere Zeit dem Anblick einer einzigen Farbe ausgeſetzt iſt, wird gar bald inne werden, daß dies für das Auge unerträglich iſt. So war es nicht denkbar, daß die Entwickelung moderner Großſtädte zu endlos grauen Steinwüſten nicht eines Tages energiſchen Widerſpruch finden mußte.

Bis zum 18. Jahrhundert kannte man faſt ausſchließlich nur eine farbige Bauweiſe. Der Aaſſizismus im 19. Jahrhundert mit der irrigen Meinung von der grauen und ungefärb- ten Antike war es, der die Farbe nicht nur von den Haus-Faſſaden verbannte, ſondern auch

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Die Farbe im Stadtbud der Gegenwart 37

aus den Innenräumen und ſelbſt aus der Kleidung vertrieb. Bei aller Wertſchätzung der hohen kulturellen Verdienſte jener Zeit muß doch geſagt werden, daß ein falſch verſtandenes Element in deutſche Verhaltniſſe übertragen wurde, das der Folgezeit des Materialismus entſprechend zum Ausdruck der Farbloſigkeit des Gefühlslebens wurde. Die Sucht nach Geld, Reichtum und Genuß machte die Menſchen haſtig und nervös, beſinnliche Gemüter muß- ten im Kampf um den Mammon erliegen. Die intellektualiſtiſche Bildung ließ den praktiſchen Sinn und die Urteilsfähigkeit den Zeiterſcheinungen gegenüber verkümmern. Durch die Über- ſchätzung des Verſtandes wurde eine Vernachläſſigung des Gemütes bedingt. Im Zeitalter des Intellekts mußte alles das zurüdtreten, was an farbigen Werten zum Gemüte der Menſchheit ſprach.

Der Materialismus hat abgewirtſchaftet. Die wirtſchaftliche Verarmung weiter Rreife hat einer neuen geiſtigen Kultur den Boden bereitet, die nach harmoniſchem Ausgleich ſucht. Hinzu kommt das lebhafte Streben nach Sachlichkeit in Kunſt und Literatur, in Politik und Wirtſchaft. Die Gegenwart ift alles andere als eine gefühlsbetonte Zeit. Hart auf hart iſt der Exiſtenzkampf geworden, durch den Weltkrieg haben die Menſchen gelernt, der Not und dem Grauen trotzigen Widerſtand entgegenzuſetzen. Das Gefühlsleben wurde unterdrückt in einer Flut von Alltag und Widerwartigteit. Aber wie in aller hiſtoriſchen Entwicklung, zeigt fi auch hier die erfreuliche Tat; ſache, daß neben dieſer harten, unerbittlichen Zeit eine neue, freundlichere einherſchreitet. Mitten in einer abklingenden Epoche wird die kommende nicht nur geboren, ſondern bereits ſo in ihren Weſensmerkmalen geftaltet, daß fie die vergangene eigentrdftig abzulöfen vermag. So ſtehen wir bereits jetzt unter den Vorzeichen einer nahenden gefühlsreicheren Zeit, mag man ſie als eine neuerſtehende moderne Romantik bezeichnen, die auch mit neuem Gehalt erfüllt fein wird, oder mag man ein anderes Wort für den gleichen Sinn finden. Literatur und Runft künden be- reits den Einzug dieſer Romantik.

Wie die gefamte moderne Malerei durch eine ſtärkere Betonung der Farbe gekennzeichnet wird, ſo beobachten wir auch auf anderen Gebieten die gleiche Tendenz. Form und Linie ſind Mittler der Vorſtellung, des Intellekts, während die Farbe den Ausdruck der Stimmung, des Gefühls darſtellt. Dieſen Gefühls- und Gemütswert der Farbe wiedererkannt zu haben, iſt das Verdienſt unſerer Zeit, die ſich damit bereits in ihrem grundſätzlichen Charakter weſentlich ab- wandelt. Wir ſtehen vor einer äußerft wirkungsvollen, bedeutſamen Veränderung des Geſichtes unſerer Städte und damit der Seele unferes Volkes.

Der Ruf nach Farbe ertönte ſchon zu Anfang des Jahrhunderts, aber er blieb vereinzelt. Erft die Nachkriegszeit ſchuf Wandel. Die Zuſammenfaſſung der gleichgerichteten Beſtrebungen er- folgte durch die Gründung des „Bundes zur Förderung der Farbe im Stadtbild“, der unter Leitung des Hamburger Oberbaurats Hellweg nun ſchon ſeit zwei Jahren eine überaus fruchtbare Tätigkeit entfaltet. Da der Bund alle intereſſierten Rreife faſt ausnahmslos um- ſchließt und über ein von Dr. Meier -Oberiſt vorzüglich geleitetes Organ, die Monatszeitſchrift „Die farbige Stadt“ verfügt, find die wichtigſten Vorausſetzungen für ein erfolgreiches Wirken gegeben. Zahlreiche Behörden, insbeſondere die Bauämter, haben ſich in richtiger Erkenntnis der Bedeutung dieſes privaten Vorgeh ns zu jeglicher Unterftigung und Förderung bereit er- klärt. Der Rat der Stadt Dresden verteilt Jahres prämien für die beſten farbigen Häuſer. Städte wie Berlin, München, Hamburg, Weimar, Frankfurt a. M. und viele andere haben bewährte Beratungsſtellen. Anfängliche Widerſtände auf ſeiten des Publikums, wie fie ſich z. B. in Eife- nach gegenüber den trefflichen Bemühungen des Bauamtes bemerkbar machten, find im wefent- lichen bereits überwunden.

Der Sinn für die farbige Behandlung der Architektur bedarf einer neuen Belebung. Die ver- lorene handwerkliche Tradition muß neu geſchaffen werden. Nicht nur die farbentechniſche Seite des Problems erfordert gründliche Studien, ſondern auch die künſtleriſche Frage verlangt neue Löſungen. Maltechniſche Inſtitute, wie das an der Münchener Techniſchen Hochſchule von Prof.

38 Die Farbe im Stadtbild der Gegenwart

Cibner muftergültig geleitete, dienen der ſtändigen Forſchung. Aufklärung der Maler und Bau- meiſter durch kuͤnſtleriſch geſchulte Fachleute iſt eine der wichtigſten Aufgaben, welche die junge Farben bewegung ſtellt.

Es iſt eine natürliche Forderung, die an einen Architekten geſtellt wird, daß er ein Bauwerk einfügt in feine Umgebung. Dazu aber gehört nicht nur die Berüdfichtigung des Gleichgewichts der Maſſen oder der richtigen Linienführung, ſondern auch die Beachtung der Farbenwirkung Die Natur, unſere große Lehrmeiſterin der Anpaſſung, der Einordnung und des Ausgleichs ver langt Angleichung menſchlicher Werke an die ihr eigene Wefensart, fordert unerbittlich d ie Beobachtung ihrer Geſetze. Rahle Felſen verwittern, Flechten und Mooſe ſchaffen in ihren wechſelvollen Farben den Zuſammenklang mit den Farben akkorden der umgebenden Landſchaft. Die Natur duldet keine häßlichen Farben, fie überzieht fie angleichend mit neuen Farb- ſchichten. So ſind auch Fehler und Mißgriffe in der Behandlung farbiger Architektur nicht allzu bedenklich. Im Anfang der Farben bewegung werden fie unvermeidlich fein. Aber in wenigen Jahren bereits haben die Einflüffe der Atmoſphäre dafür geforgt, daß Diſſonanzen und ſchreiend grelle Farbtöne gemildert find und das Auge nicht mehr zu beleidigen vermögen. Jahrelange Beobachtungen haben mir gezeigt, daß Farben der frei waltenden Natur mit den Harmonie geſetzen in denkbar beſtem Einklang ſtehen.

Die klare Gliederung unſerer neuzeitlichen Bauweiſe erlaubt eine durchaus unkomplizierte An · wendung der Farbe, deren praktiſcher Zweck die Betonung der Architektur ijt. Die großen Wand- flächen erhalten erſt ihre eigentliche Wirkung durch die farbige Hervorhebung. Fenſterumrah⸗ mungen, Türfüllungen und einzelne Bauglieder werden durch die Farbe in reizvollen Gegen ſatz zu den Flächen gebracht. Von größter Bedeutung iſt jedoch die harmoniſche Einordnung des Einzelhauſes in die Straßenzeile. Hierbei iſt die Art der Häuſer von beſtimmendem Einfluß. Mietskaſernen find anders zu behandeln als Patrizierhäuſer. Ferner ergibt der Unterſchied zwi · ſchen offener und geſchloſſener Bauweiſe verſchiedene Anwendungsmoͤglichkeiten der Farbe. Die Größen verhältniſſe und viele andere Dinge find zu berüdfichtigen. Das find jedoch rein fachliche Fragen, deren Beantwortung in einer allgemeinen Erörterung unmoglich iſt. Eines aber interef- ſiert den Laien, nämlich der farbige Schmuck, den er ſelbſt ſeinem Hauſe zu verleihen vermag. Efeu und wilder Wein waren früher eine beliebte Zierde mancher Hausfront. Heute verzichtet man im allgemeinen darauf, einmal aus hygieniſchen Gründen, zum andern aber wegen der Gefahr des Eindringens von Feuchtigkeit in das Mauerwerk. Dagegen iſt eine gute alte Sitte, die Fenſter rnit Blumenkäſten zu verſehen, deren prächtig leuchtende Pflanzen in den bunteften Farben den Vorbeieilenden erfreuen. Gut gepflegte Vorgärten üben die gleiche reizvolle Wir- kung aus.

Nicht nur das Wohnhaus, fondern auch das Induftrie- und Verkehrsgebäude der Stadt muß, unferer Zeit entſprechend, vom troſtloſen Grau des vergangenen Jahrhunderts befreit werden. Manches moderne Fabritgebdude liefert den Beweis, daß auch die Stätten der Arbeit ein freund licheres Geſicht zu zeigen vermögen, als das früher der Fall war. Ebenſo werden Bahnhöfe, Ver; waltungsgebäude und Rathdufer nicht zurüditehen. Schwierig iſt die Frage des Anſtrichs oder Verputzes bei Bauten aus dem letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts und der Zeit des ſogenannten Zugendftils. Die Flächen find hier in unſinnig viele Glieder aufgelöft, fo daß eine farbige Unterſcheidung unmöglich wird. In dieſen Fällen kann die Farbe jedoch mildernd wirken, indem fie einfach auf die Unterſcheidung verzichtet und zahlreiche Einzel- heiten, die das Auge überlaſten, in ihrer Wirkung zuſammenfaßt. Alte Bauwerke dagegen zeigen häufig eine wundervoll klare und ſchlichte Architektur, fie find urſprünglich farbig erbaut. Eine ſpätere Zeit hat ihnen das ſchmutziggraue Gewand verliehen. Hier gilt es, den urfprünglichen Anſtrich oder Putz aufzudecken und zu erneuern. In faſt allen Fällen iſt die urſprüngliche Farbe auch die wirkungsvollſte. So hat der Direktor des Goethe Nationalmuſeums, Prof. Hans Wahl, das Weimarer Wohnhaus des Altmeiſters deutſcher Dichtung, welches man 50 Jahre lang in

Die Farbe tm Stadtbild der Gegenwart 39

un vorteilhaft ſchmutzig gelber Farbe zu ſehen gewohnt war, wieder mit dem früheren Hellorange- Ton geſchmückt, den Goethe ſelbſt einſt beſtimmt hatte. Tür- und Fenfterfillungen find mit ſtumpfem Grau abgeſetzt, während die Lar und das Tor mit tiefgrünem Anſtrich verſehen wurden. Früher erfreuten ſich im allgemeinen die gelben und roten Erdfarben großer Beliebtheit. Unfere neuzeitliche Farbentechnik aber gibt dem bauenden Architekten eine Fille erſtklaſſigen Materials in die Hand. Der farbige Anſtrich genießt heute noch eine ſehr weite Verbreitung. Durch die Erfindung farbiger Srockenmörtel (Terranova) wird er jedoch mehr und mehr verdrängt, da die Putzbehandlung der Hduferfaffaden mancherlei bedeutende Vorteile gegenüber dem An; ſtrich bietet. Deshalb hat man in Malertreifen bereits erwogen, ob es ſich empfiehlt, ſich diefen neuzeitlichen Anforderungen entſprechend umzuſtellen und neben den rein maltechniſchen Auf- gaben auch dieſe Putztechnik zu übernehmen und auszuüben. Eine genaue Kontrolle durch kuͤnſtleriſch geſchulte Fachleute iſt dann aber unerläßlich. Der Rohziegelbau hat gegenwärtig eine neue Belebung erfahren. Es wird vor allem in Norddeutſchland angewandt. Fachwerk bauten, deren tiefſchwarzes oder dunkelbraunes Gebdlé zu den weißgetuͤnchten Feldern in äußerft geſchmackvollem Gegenſatz ſteht, gehören der Vergangenheit an, fo ſehr auch das Verſchwinden dieſer Bauart in küͤnſtleriſcher Hinſicht zu bedauern iſt.

Das Haus in allen feinen verſchiedenen Formen, von der Mietskaſerne an bis zur Vorortvilla, vom Rathaus bis zum Induſtriepalaſt, bildet den weſentlichſten Beſtandteil des Stadtbildes. Das geſamte Stadtbild, das „Antlitz der Stadt“, wird entſcheidend beeinflußt durch die farbige Wir- kung des Hauſes. Immer bedarf es einer geſchmackvollen Einfügung in dieſes Geſamtbild, deſſen charakteriſtiſche Merkmale durch die landſchaftliche Beſchaffen heit des Bodens und der Umgebung gegeben find. Parkanlagen, Wafferläufe oder Seen, inmitten einer Stadt, bieten einen Rahmen. Die Farben bewegung darf deshalb nicht bei dem einzelnen Haufe ſtehen bleiben, ſondern muß durch organiſatoriſche Maßnahmen beſtimmenden Einfluß auf die farbige Geſtaltung ganzer Straßenzeilen, Stadtteile, ja der ganzen Stadt überhaupt erlangen. Dabei iſt auf die Schaffung von Grünflächen und Wafferanlagen, von Platzen und Alleen ebenſo ſehr Rüdficht zu nehmen, wie auf die Prüfung einzelner Hausanſtriche. Die wirkſame Forderung der Farbe im Stadtbild ift nur dann moglich, wenn fie in enger Zuſammenarbeit aller Beteiligten geſchieht. Baubehörden und Architekten, Rünftler und Malermeiſter müfjen in einheitlichem Vorgehen an der Ldfung dieſer gemeinſamen Aufgabe mitarbeiten. Sie alle ſind verantwortlich für das Antlitz der Stadt.

Die hohe ſoziale Bedeutung der neuzeitlichen Farben bewegung wird von weiten Kreiſen er- kannt. Das troſtloſe Grau der Großſtadt wirkt lähmend auf das Gemüt des Menſchen. Die Sehn ſucht nach Ausgleich, der Hunger nach Licht und Farbe treibt den modernen Großſtadtmenſchen hinaus in die farbenbunten Fluren der Natur.

Die Farben bewegung hat allenthalben eingeſetzt. In allen deutſchen Gauen erſtehen in ein- zelnen Städten Haus an Haus farbenfrohe Straßenzeilen, die erfriſchend auf den Beſchauer wirken und dem Anwohner, der tagsaus, tagein dort vorübergeht, immer wieder Anregung und Aufmunterung bieten. Mit Recht ſagt Goethe in ſeiner Farbenlehre: „Die Menſchen empfinden im allgemeinen eine große Freude an der Farbe. Das Auge bedarf ihrer, wie es des Lichtes bedarf.“

Wer die Frankfurter Altſtadt mit ihren winkligen Gaſſen durchwandert, deren Häuſer in den verſchiedenſten Farben dem Fremden entgegenleuchten, oder wer einen neuerſtandenen Sied ; lungs vorort Berlins betrachtet, und ſich dann in das Arbeiterviertel einer rheiniſchen oder fadfi- ſchen Induſtrieſtadt begibt, wo ihn ſchauerlich graue Wohnkäſten anſtarren, der wird überrafcht fein von dieſem Gegenſatz und die ungeheuere Gemütskraft erkennen, die von der Farbe am Haufe ausgeht. Dieſe Kräfte vor allem der werktätigen Arbeiterbevölkerung zugute kommen zu laſſen, follte eine der vornehmſten Aufgaben aller führenden Rreife fein. Was dem Großftadt- menſchen an eigener Scholle fehlt, wird dadurch, wenn auch nur zu einem geringen, fo doch wirk⸗ ſamen Bruchteil ausgeglichen.

40 Prof. Dr. Wilhelm Nein

Die einheitliche Zuſammenarbeit aller Fachkreiſe in künſtleriſcher, techniſcher und organifato- riſcher Hinſicht bietet die beſte Gewähr dafür, daß die Beſtrebungen zur Wiedererwedung der Farbe im Stadtbild von Erfolg gekrönt fein werden und nicht nur zur Hebung der Lebens; freude beitragen, ſondern auch den Sinn für Farbenſchönheit wachrufen, der im Gemüte des Menſchen wurzelt. Die Gemuͤtskräfte aber find geeignet, die Schaffenskraft anzuregen und zu beleben. Karl Auguſt Walther

Profeſſor Dr. Wilhelm Rein

Nachklang zu ſeinem 80. Geburtstag

in biologiſches Wunder nannte auf dem diesjährigen Ferien kurs in Jena Dr. Damaſchke

den deutſchen Mann, den Lehrer und Erzieher des deutſchen Volkes, den Weltpad- agogen Profeſſor Dr. Rein. Und in der Tat, voll Bewunderung und Staunen umſtanden Freunde und Schüler den hoch verehrten Meiſter, der in ſeltener Friſche des Leibes, des Geiſtes und der Seele am 10. Auguſt d. Js. das Zeit ſeines 80. Geburtstages begehen durfte.

Wo iſt das Geheimnis ſeiner jugendfriſchen Leiſtungsfähigkeit bis in dies ſelten hohe Alter zu ſuchen? Sicherlich liegt ein Grund, der Hauptgrund, in feiner zu harmoniſcher Vollreife aus- gemeißelten Perſönlichkeit. Profeſſor Rein iſt eine ſeltene Erſcheinung im Chaos der heutigen Einfeitigen, der Parteigebundenen, der Zämmerlinge, der Charakterkrũppel. Unermüdliche Selbſtzucht und freudiger Kampf formten ihn zu einer kraftvollen und würdigen Perfdnlid- keit. Nicht als ob fein Weſen auf Kampf eingeſtellt fei. Der Grundzug feines Weſens iſt vielmehr Güte. Aber ein ſtark ausgeprägtes Pflichtbewußtſein riß ihn immer wieder aus feiner ſtillen Gelehrten klauſe, trieb ihn hinein in die wilden Sturzwellen der Tageskämpfe. Nicht um Haß zu predigen und das Chaos zu mehren oder um Ruhm zu gewinnen, ſond ern als Ründer der Gered- tigkeit, der Wahrheit, der Güte, Als Mann ſtand er feſt und aufrecht im Strudel der Gegenfäße, der wilderregten Zeitlämpfe.

Der Grundakkord dieſer Perſönlichkeit ſingt das Ewigkeitslied der Religion. Durch fein Leben ſchritt und ſchreitet die hehre Himmelsgeſtalt des Chriſtus. In ihm verehrt er das Bild empor - ziehender Vollkommenheit. Wohl find ihm, wie fein herrliches Buch über Ethik zeigt, die fitt- lichen und religidfen Idole und Ideale aller Zeiten vertraut, und meiſterhaft umſchreibt fein Wort, was feine Seele und fein Forſchergeiſt erſchaut und erlebt hatten; aber wenn er ſich zeit- lebens zu Her barts Sittenlehre bekannt hat, fo war es ihr abſoluter Charakter, der ihn anzog, dieſer abſolute Charakter, den die Sittenlehre Zeſu in fo unüͤbertrefflicher Schöne zeichnet.

Nicht als ob er glaube, der Logik und Aſthetik entraten zu können. Wer feine Bücher und Auf- ſätze lieſt, der vermag ſich, auch wenn er ſich nicht allen Schlußfolgerungen anſchlie zen kann, doch nicht der Kraft und Ourchſichtigkeit feiner logiſchen Gedankenführung zu entziehen, der verweilt oft ſtaunend vor der Rein heit, Feinheit und Größe feiner küͤnſtleriſchen Geſichte und Formungen. Aber aus feinen religiöfen Grundanſchauungen mußte er zu der Erkenntnis kommen, der Hddft- wert eines Menſchen beruht in der Höhe ſeiner Sittlichkeit, und zu der anderen, Reinheit, Kraft und Größe der Sittlichkeit iſt abhängig von der Tiefe ihrer Verbundenheit mit der Religion. Darum durchzieht aud fein pädagogiſches Syſtem, deſſen leuchtende Klarheit und harmoniſche Geſtalt dem Wiſſenſchafter und Rünftler gleich ſehr Bewunderung abnötigen, der lautere Strom eines hochgemuten Chriſtenglaubens. Profeſſor Rein waͤre kein moderner Menſch und er marſchiert doch auch heute noch mit feſtem Schritt und Tritt mitten im ſturmhaft vorwärts - drängenden Leben der Zeit wenn er in feinem Lehrplan den Naturwiſſenſchaften nicht einen weiten Spielraum gelaſſen hätte; aber den Ehren platz räumt er den Gefinnungsfächern und in erſter Linie der Religion ein.

Prof. Dr. Wilhelm Rein Al

Seine religiöfe Grundeinſtellung führte ihn zu der Forderung der Gewiffensfreibeit. Rein Wunder daher, daß er in den Schulkämpfen der Gegenwart eine feſte Stellung einnimmt, un- bekümmert um der Parteien ſelbſtiſches Gezänk. Er ſieht in der Schulgeſetzvorlage der gegen; wärtigen Reichsregierung, nach Abzug einiger Schönheitsfehler, eine bedeutſame Löſung der Schulfrage vom Standpunkt der Gewiſſensfreiheit aus. Jedem das Seine, dem Staat, der Kirche, der Gemeinde, der Familie. Wohl erkennt er dem Staate, als einem Rechts- und Rultur- ſtaat, die Oberaufſicht über die Schule zu; aber er beſtreitet ihm das Recht der Gewiſſens ver- gewaltigung. Die Aufrollung des Für und Wider im Streit der Meinungen um die Gemein-

ſchaftsſchule, um die Bekenntnisſchule und um die bekenntnisfreie Schule, die er ſeinen Zuhörern im diesjährigen Ferienkurs bot, war in ihrer Sachlichkeit und Uberzeugungskraft eine Meijter- leiſtung der Einfühlungsfähigkeit, der fachlichen Kritik, der Vorurteilsloſigkeit.

Dieſe innere Vornehmheit feines Weſens zog im Verein mit der Reife feiner Erziehungswiſſen⸗ ſchaft und der Kraft und Zeinfühligteit feines Lehr- und Erziehungsgeſchicks Schüler aus allen Teilen Oeutſchlands, ja der ganzen Welt in feinen Hörſaal, in fein Seminar, in feine Übungs- ſchule in Jena, rief ihn in die Vortragsſäle der meiften deutſchen Städte und in viele Großſtädte des Auslandes bis hinüber nach Amerika. Und viele feiner früheren Schüler verwirklichen heute in hervorragenden Stellungen die Gedanken ihres hoch verehrten Meiſters.

Vohl wuchteten Gegenfluten gegen fein pädagogiſches Syſtem, das in den Herbartſchen Ge- dan kenkreiſen wurzelte, heran. Aber unentwegt hält er bis heute den Stürmen ſtand und vertei- digt feine Erfahrungen, Einſichten und Erkenntniſſe in mann hafter Ruhe und feſter Überzeu- gungskraft. Wer Reins Lehren in Wort, Schrift und Tat verfolgt, der erkennt als einen der hervorſtechendſten Züge ſeines Veſens ſeine Seelenoffenheit für Fremdweſigkeit und Andersartigkeit. Mit bewundernswertem Feingefühl dringt er in die Tiefen dieſer Andersartig- keit ein, aber er verliert ſich nicht in fie, er beſinnt ſich immer wieder auf fic ſelbſt. Und dieſe Fein- fühligkeit, die ihm den Grundcharakter der pädagogifchen Probleme aller Zeiten und Zonen er- ſchloß, und dieſe Selbſtbeſinnung, die ihn in den Wirrniffen der Gegenwart ſich nicht ſelbſt ver; lieren ließ, die führten ihn zu der Höhe, auf der wir ihn heute ſtehen ſehen.

Allerdings verlor ſich feine Anerkennung nicht in die Auslandsvergötzung Fr. W. Forfters. Das verbot ihm fein klarer Tatſachenblick, der neben dem Licht auch die Schatten jab, das machte ihm die Erkenntnis der pädagogiſchen Entwicklungsgeſchichte unmoglich, die ihm die große Ab- hängigkeit der modernen Auslands pädagogik von Oeutſchland zeigte. Fremden vergötzung ver; bot ihm vor allem ſein nationales Gewiſſen; denn wenn der erſte Grundpfeiler ſeines Weſens und feines paͤdagogiſchen Spitems echtes, lichtklares Chriſtentum iſt, fo iſt der zweite frohes und ſtarkes Oeutſchtum. Profeſſor Rein lebt und lehrt ein vorbildliches Deutſchtum.

Aber er beſchränkt fein deutſches Fühlen nicht auf die Schule und die Geſtaltung feines päb- agogiſchen Syſtems; die brennende Liebe zum deutſchen Vaterlande und den deutſchen Geſchicken zwang ihn frühe ſchon, in Vorträgen, Büchern und in der Preſſe Stellung zu allen deutſchen Schickſalsfragen zu nehmen. Geradezu ſtaunenswert ijt die Fülle, Mannigfaltigkeit und Güte feiner Ausführungen über nation ale Belange. Sie alle offenbaren den hellſichtigen Sachkenner.

Wie ſehr ihm klarbewußte Vaterlandsliebe die Wege wies, das zeigt fein vorbildliches Ver- halten gegenüber Elſaß- Lothringen, dem er eine tiefe, unausrottbare Liebe geſchenkt hat. Schon bevor er 1868 zum erftenmal die Schönheit des Straßburger Münſters eingeſogen hatte, gehörte ein gut Teil ſeines Herzens dem Elſaß, und viele Jahrzehnte hindurch beſuchte er Jahr für Jahr, Freunde werbend und Freunde findend, das herrliche Land an der Fil und der Moſel.

Und noch ein dritter Pfeiler trägt Profeſſor Reins Wefen: fein ſoziales Fühlen, fein ſoziales Pflichtbewußtſein. Dies Sicheinswiſſen mit allen Gliedern ſeines Volkes, den Hohen und Niedrigen, den Vornehmen und den Geringen iſt ein Ausfluß ſeiner religiöfen und voͤlki⸗ {hen Grundeinſtellung. Alle Beſtrebungen, die eine Ausfüllung, eine Aberbruͤckung der ſozialen Abgründe bezweckten, fanden von jeher Reins tatkräftige Unterftigung. Der Volksſchule galt vor-

42 Ragtlang zur Eifenader Fedde

nehmlich fein Sinnen und Trachten, an ihrer inneren und äußeren Höherentwidiung arbeitefe er fein ganzes Leben hindurch in heifer Liebe. Aber auch den Erwachfenen der unteren Volksſchichten tat er die Schatzkammern feines Wiſſens und feiner Güte auf und teilte ihnen mit froher Hand in Einzel vorträgen und Vortragsreihen feine Gaben aus. Allerdings wagte er es auch, ihnen mit feſter Ent- ſchloſſenheit in offener Debatte entgegenzutreten, wenn es galt, fie von ihren Irrwegen abgu- bringen. Aber auch wenn es dabei oft gar heiß herging und ſein reines Wollen nicht erkannt wurde, er blieb feinen Grundfdgen gebender Liebe treu und arbeitete weiter an der Weitung und Vertie ; fung ihres Blickes. Denn um ihretwillen verbreitete er mit beredtem Wort den Volks hochſchulge⸗ danken und arbeitete er unermüdlich an feiner Verwirklichung. Um ihretwillen iſt er in den letzten Zahren ein unermüdlicher Verfechter des Gedankens der Verkgemeinſchaft geworden, deren Weſen er ja auch im Tuͤrmer dargelegt hat.

Doch ich muß zum Schluſſe eilen. Nur in großen Umriſſen konnte ich ein Bild dieſer ehrwuͤr⸗ digen und doch fo jungfriſchen Geſtalt zeichnen, feine Wirkungsweite und Wirkungstiefe nur an- deuten. Ein dickes Buch könnte nicht erſchöpfend darſtellen, was er feinen Schülern, was er der Schule, was er dem deutſchen Volke, was er der Menſchheit an Erfahrungen, Erkenntniſſen, Willens antrieben geſchenkt hat. Das herrlichſte aber, was er uns gab, das ift feine reife und opfer; frohe Perſönlichkeit, die in ſeltener Harmonie Chriſtentum, Deutſchtum und Sozialismus in ſich einte. Ein Vollmenſch edelſter Art. Ihm, einem unſerer größten Zeitgenoſſen und einem der beiten Deutſchen ſendet auch die Türmergemeinde zu feinem 80. Geburtstag innigſte Grüße und Wünmſche. Und Oank! | Rarl König

Nachklang zur Eiſenacher Fröbeltagung

s war ein Erlebnis, dieſe Fröbelwanderung von ungefähr 1800 Menſchen, faſt ausſchließlich E Frauen und Mädchen, die alle dem einen Ziele dienten: der Arbeit an der Jugend! Der deutſche Fröbel verband hatte nach Eiſenach gerufen zur 23. Hauptverſammlung, die gleichzeitig zur Gedächtnisfeier des 75jährigen Todestages ihres großen Meiſters ausgebaut werden ſollte. Und die grünumwaldete Vartburgſtadt öffnete ihre Tore, um die Gemeinde des Thüringer Schutzheiligen aller Kinderpflege in ihren Mauern gaſtlich aufzunehmen. In ſonntäglicher Abenddämmerung zogen die jugendfrohen Scharen durch den Laubwald zur Veſte empor; über die Zugbrücke ſtrömte es in den Burghof, und unter den Klängen des Tannhäuſer- marſches ſammelte ſich die Menge zu andachts vollem Schweigen. Mit warmen Worten begrüßte der Oberbürgermeifter Dr. Zanfon die feſtlich verſammelte Frdbelgemeinde und wünſchte, daß fie von dieſer Stätte taufendfältige Anregung und Feſtigung mit hinausnehme, um dem neuen Aufblühen des Vaterlandes im Herzen der Zugend die Stätte zu bereiten. Wartburglieder, von den glockenreinen Rnabenſtimmen der Rurrende geſungen, umrahmten die Feſtanſprache Fried · rich Lien hards. Es war ein eigener Anblick, feine vergeiſtigte Erſcheinung auf hohem Altane fteben zu ſehen, umweht von den ſtürmenden Winden, die durch die Baumkronen fuhren wie dunkle Orgelklänge. Seine klare Stimme lieh ihnen aber die ſieghafte Obermelodie, die weithin vernehmbare Runde gab von der Thüringer Fürftin, der heiligen Eliſabeth, die in ihrer grenzen · lofen Menſchengute ein echtes Vorbild aller ſozialen Fuͤrſorgearbeit geweſen fei. Und ihr zur Seite ſtellte er Luiſe Scheppler, das einfache Mädchen aus dem elſäſſiſchen Gebirgsland Ober- lins, von deren Großtaten der Welt nur wenig bekannt fei und die doch in gleich freudigem Opfer willen ihr ganzes Leben der hilfsbedürftigen Menſchheit, beſonders den Rindern, gewidmet hat. Sie hat durch ihr großes Erzählertalent und ihre frohe Singekunſt ſchon vorahnend den erſten Kindergarten im Fröbelſchen Sinne geſchaffen. Zwei wunderſame Beiſpiele, die den auf⸗ horchenden Frauen und Madchen für ihre Lebensarbeit aufmunternd hingeſtellt wurden und

Nahtlang zur Eiſenacher Froͤbeltagung 45

unter deren Eindruck fie dann zu Tal zogen durch die ſinkende Nacht, die den Sturm zur Ruhe gebettet hatte.

Ein heller Sonnenmorgen folgte. Der Riefenfaal des Fuͤrſten hofes füllte ſich bis in die letzten Winkel. Aus Pflanzengruppen überſchaute die roſengeſchmückte Fröbelbuͤſte die große Gemeinde, unter denen ſich die Vertreter des Thuͤringer Miniſteriums und Stadtverbandes, des deutſchen Land kreistages und unzählige Organiſationen des Erziehungsweſens und der Sozialbewegung, ſowie Abgeſandte aus Oſterreich, Danemark und Amerika befanden, die gekommen waren, um

Grüße und Glidwiinfde zu übermitteln. Lili Dröfcher, die Führerin des ganz Oeutſchland um- faſſenden Verbandes, ſprach mit der ihr eigenen anmutigen Würde und klugen Liebenswürdig⸗ keit nach jeder einzelnen Anſprache ihre ganz befondere Freude, ihren immer wieder aus- geprägten Dank aus. Dann leitete ſtimmungsvolle Rammermuſik über zu dem Feſtvortrag Profeſſor Eduard Sprangers: „Natur und Heimat in Fröbels Gedankenwelt.“ Schnell verſtand es der Redner, Herz und Geiſt der Zuhörer dem Alltag zu entheben und ihnen einen Blick in Fröbels tiefſte Innenwelt zu gewähren. Er erzählte, wie ein Beſuch auf der Wartburg in Fröbel das Verlangen erregt habe, Luthers Werk weiterzuführen und durch die Natur einen Weg zu Gott und der Religiofität zu finden. Es fei kein Zufall, daß Fröbel feine Erziehungs- heime ſtets in landſchaftlich ſchöne Umgebung zu legen bemüht war; er wollte „die Kinder der Gnade der Schau“ teilhaftig werden laſſen. Wer aber die Rinder lehrt, die Sprache der Heimat zu verſtehen, weckt in ihnen zu gleicher Zeit das Heimatgefühl, das Verbundenſein mit der Scholle, aus dem das Nationalbewußtfein feine tiefften Wurzeln zieht, gepflegt und gefördert in dem Nährboden eines glidliden Familienlebens. Heimat und Natur! zwei wichtigſte Fat- toren der Menſchheitsbildung nach Fröͤbels Empfinden, der auch im Pflanzendaſein, in dem „ich eins fühlen mit der Natur und ihren ewigen Geſetzen“ ein Sinnbild des Menſchen erkennt:

„Willſt du das Höchſte, das Größte? die Pflanze kann es dich lehren. Was ſie willenlos iſt, ſei du es wollend, das iſt's.“

Wie aber die Natur nur einer Gottheit, einer geiſtigen Kraft, die das Weltall beſeelt zur Hülle dient, ſoll auch jeder Menſch zur Form eines Gottesgedankens werden, der zum Be⸗ wußtſein des Univerfums, zum Mitſchwingen des Rosmos kommen will. In der Nnoſpe des Kindes liegen alle Möglichkeiten eingeſchloſſen. Diefe zu pflegen und zur glidlidften Entwick- lung zu bringen, ift die Aufgabe, die Fröbel in die Hände der Frau bettet, in deren Seele er eine Weltkraft wirkend glaubt. Und nun ruft Spranger die Züngerinnen und Erbinnen Fröbel ſcher Geſinnung auf, ſich allen denen entgegenzuſtemmen, die in unſerer Gegenwartsepoche den gefühlsmäßigen Zuſammenhang mit Gott und der Natur verloren haben, damit der hohe Glaube Fröbels an die Frau nicht zuſchanden würde; und frohe Hoffnung erfüllt ihn, daß fie alle aus der Wartburgſtadt erneuten Willen und erneute Kraft mit ſich fortnehmen für ihre Ar- beit, mit der ſie in gleichem Maße dem deutſchen Volke, der Menſchheit und Gott dienen.

Nach langem, nicht endenwollenden Beifall ertönte abermals Muſik und ließ alle Saiten, die der Redner zum Schwingen gebracht hatte, noch einmal im Herzen leiſe nachklingen, ehe der geräufchrolle Ton der Feſtſtimmung fie uͤberbrauſte.

Und auch heute noch, nachdem alle die Vorträge über Fröbelideen von Nindergärten und Mütterbilbung und die Führungen durch die ſtädtiſchen Kindergarten und Gedächtnisſtätten den Eindruck der Tagung erweitert und vertieft haben, klingt ſtark und voll in den Seelen unfre Sendung nach. Die Mädchenſchar war in ihrer Tracht der kurzgeſtutzten Mode unſerer Tage ebenſo fremd wie der zielbewußte Ausdruck ihrer frohgemuten Geſichter den blaſierten Mienen unferer Großſtadtjugend. Eine ſchöne Woche! Es klang und fang darin von echtem Frauen- tum und liebender Froͤbelweis heit und bildet manch verheißungs vollen Grundakkord zu einer belitinenden Zukunftsmuſik.

Hildegard Neuffer · Stavenhagen

Amtsarzt und Raſſenhygiene

Zn der Münchener mediziniſchen Vochenſchriſt veröffentlicht Dr. Krauß unter dem obigen Titel einen höͤchſt eindrucksvollen Vortrag, aus dem wir einen Teil hler wiedergeben. D. T.

Da Raſſenhygiene oder Eugenik iſt als Erfahrungswiſſenſchaft fo alt wie die Menſchheit, als ſtrenge Wiſſenſchaft im Sinne der Erbforſchung dagegen zählt fie erſt nach Jahr zehnten. Darum hat Schallmeyer recht: „Es iſt bisher kümmerlich wenig, was wir vom menſch⸗ lichen Erbin ventar kennen. Der künftigen Forſchung bietet ſich hier noch unendlich viel un- bekanntes Land, deſſen Erſchließung uns mehr intereſſieren dürfte als die des Nord poles.“

Alle Fragen der Raſſen hygiene find mit der Tätigkeit des Arztes und zumal des Amtsarztes aufs engſte verknüpft.

Können wir den Amtsarzt nicht als den eigentlichen Vertreter der angewandten Raffen- hygiene bezeichnen? Streben nicht alle Bemühungen der Seuchen bekämpfung, Nran kheits ver; hütung und Volksaufklärung nach dieſem Ziele? Trachten wir nicht immer mehr darnach, unſere Arbeit am Volkswohl weiter zu vertiefen, weil es uns nicht genügen könnte, nur Bazillen zu bekämpfen und nur alles geiſtige und körperliche Rrüppeltum unſeres Volkes zu befürforgen?

Volkswohlfahrt war nie gleichbedeutend mit Fuͤrſorgepolitik. Das haben alle großen Staats; männer noch immer erkannt. Mit Eifer waren ſie beſtrebt, ihre Staatsgrundſätze auf den ihnen bekannten Naturgeſetzen und damit auf einer ſicheren biologiſchen Grundlage aufzubauen.

Am betannteften aus dem Altertum find in dieſer Richtung die Vorſchläge Platos in feinem Werk über den Staat. Der ſpartaniſche Geſetzgeber Lykurg machte fie ſich zu eigen und verbot das Ledigbleiben und fpäte Heiraten. Er trennte kinderloſe Ehen und ließ mißgeftaltete und ſchwächliche Neugeborene ausſetzen. Geſundheit galt dem Griechen als Tugend und Rörper- pflege als Gottesdienſt. Aber das Griechen volk vergaß ſchon nach wenigen Jahrhunderten die Gebote feiner Führer und erſtickte im Sumpfe der Paderaſtie.

Von Moſes, dem großen Führer und Hygieniker feines Volkes wiſſen wir, daß er Eheverbote bei Ausſatz und Epilepfie aufſtellte. Er lehrte fein Volk das Glüd in ſicherem Grund beſitz und einer großen Ninder zahl ſuchen: „Zähle die Sterne; kannſt du fie zählen? Alſo foll dein Same fein,“ Der Zude durfte mit 13 Jahren heiraten und mußte mit 18 Zahren verheiratet fein!

China hat eine Kulturnation, an der Jahrtauſende ohne Schaden vorübergegangen find. In China herrſcht eine Moralreligion, vermengt mit allgemeiner Lebensphiloſophie, als deren Gründer Konfuzius gilt. Er fordert das ſtändige Opfer vor den Altären der Ahnen. Um dieſe Opfer nicht zum Erlöfchen zu bringen, darf auch die Reihe der Opfernden nie erlöſchen. Darum iſt die Erzeugung von Nachkommenſchaft das wichtigſte Gebot. Manche Chineſen familie kann ihre Ahnen durch 2 und 3 Zahrtauſende zurückverfolgen und wir keine 3 Jahrhunderte! Lebensglück und Familienglück ift in China gleichbedeutend. Ronfuzius wußte, daß ein Volk ohne Familien zum Treibſand wird und handelte danach. Jeder Chineſe hat fein un verlierbares „Zuhauſe“, denn das Haus und ein Teil Ackerland bleiben Familienbeſitz. Die Grundfteuer- tegifter in China find nach Familien, nicht nach Perſonen angelegt. Noch heute iſt die gelbe Raſſe lebensfriſch und zukunftsbewußt, während der bleiche, müde Weiteuropäer ſchon mit dem Untergang des Abendlandes liebäugelt.

Bekanntlich hat vor kurzem Stalien eine Zunggefellenfteuer eingeführt. Das iſt die Wieder bolung einer Steuer, die ſchon in der römiſchen Raiferzeit Geltung beſaß, aber doch nicht den erwiinfdten Erfolg hatte. Rom hatte durch auswärtige Kriege und ſchlechte Boden politik feinen Bauernſtand vernichtet. Die großen Rittergüter wurden mit Sklaven bewirtſchaftet. Zu ſpät erkannte man den Schaden, da half keine Anſiedlungspolitik mehr, es half auch nichts mehr, daß man jeder Sklavin mit der Geburt ihres dritten Kindes die Freiheit verſprach.

Die raſche Zuſtiz des Mittelalters erſcheint im Gegenſatz zu unſeren jetzigen Rechts verfahren beinahe als eine unbewußte Selbſtreinigung der Völker in raſſehygieniſchem Sinne.

Amtsarzt und Raffenbpgiene 45

Eheverbote beſtehen auch jetzt bei vielen Völkern, fo in Rußland für Geiftestrante, in Bul- garien für Geiftestrante, Epileptiker und Syphilitiker; Armenien fordert ein Geſundheitszeug nis bei der Eheſchließung zwecks Verhuͤtung der Geſchlechtskrankheiten und der Tuberkuloſe. In Schottland wurden fruher die Epileptiker, die Geiſteskranken und auch die Gichtkran ken kaſtriert.

Sn Schweden beſteht ein Eheverbot für Geiſteskranke, Geiſtesſchwache, Epileptiker und Geſchlechtskranke.

Frankreich hat angeblich den Weltkrieg gewonnen, aber es kann ſeines Sieges nicht froh werden, es fehlt ihm die Zukunft, das Kind! „20 Millionen Franzoſen zu wenig“, ſo muß es heißen, nicht „20 Millionen Oeutſche zu viel“! Darum ruft Auburtin: „Entweder tötet Frank- reich die Entvölkerung oder die Entvölkerung tötet Frankreich.“ In Frankreich iſt nach einer Mitteilung des dortigen Rriegsminifteriums jeder 4. Menſch, jeder 2. Erwachſene ſyphilitiſch. Sm 1. Halbjahr 1924 ſtarben in Frankreich 50000 Menſchen mehr, als geboren wurden.

„Es gibt keine Gatten mehr unter dem ſchöͤnen Himmel Frankreichs,“ klagt Gilles Normand, „es gibt nur noch Liebhaber. Daß die Todesfälle die Geburten überwiegen, ſtört niemandem die Nächte, Wir ſteuern dem Null entgegen. Mit Rieſenſchritten laufen wir darauf zu. Das Kind, das heute in Frankreich geboren wird, riskiert, wenn es nicht der Sklave eines anderen Volkes wird, einſam zu ſterben, auf einem verödeten Gebiete, das ſich Frankreich nannte!“

Auch Clemenceau iſt völlig im klaren über dieſes Verhängnis feines großſprecheriſchen und doch ſo lebensfeigen Volkes: „Wir können die Früchte des Sieges nur ernten, wenn wir die Geburtenfrage in geſundem Sinne gelöſt haben. Alles Unglück, das wir haben, rührt davon her, daß uns die Führerſchicht fehlt!“ Das dürfte zutreffen, denn: der Präfident der Republik ijt Junggeſelle, der Miniſterpräſident hat keine Kinder, der Vizepräsident desgleichen, der Unter- richtsminiſter, der Marineminiſter, der Wiederaufbauminiſter find Junggeſellen. Poincaré hat keine Rinder und Clemenceau ſelbſt ebenſowenig! Die elſaß-lothringiſche Bluttransfuſion kann den ſiechen Körper auch nicht mehr jung machen, nun läßt man wahllos durch Polen und Portu- gieſen, durch Chineſen und Neger die große Nation vergrößern, die ſchwarze Schmach wird längſt nicht mehr als Schmach empfunden! Aber all dieſe Mittel reichen nicht aus, und mit Entſetzen im Blicke errechnet der Franzoſe, daß er im Jahre 1935 nur noch 34% Millionen Sol daten ins Feld ſtellen könne gegen 12 Millionen Deutſche!

Darum hat eine nationale Vereinigung zur Vermehrung des franzöfifhen Volkes einen Preis von 50000 Franken ausgeſetzt für die beſte Arbeit über die Gefahren der Geburtenabnahme und die Mittel zu ihrer Bekämpfung. Darum wird die Fruchtabtreibung mit hohen Strafen be- droht, darum fördert man anderfeits mit großen Geldmitteln den zur Fruchtabtreibung auf- fordernden „Bund der Tätigen“ in Deutſchland!

Wir können dem franzöſiſchen Volke nur von Herzen Erfolg bei feinen raſſehygieniſchen Be- ſtrebungen wüͤnſchen, um unſer ſelbſt willen! Denn der bei uns geltende gute Ton kommt aus Frankreich!

Auch dem engliſchen Volksfreund wird bange, wenn er an feine Raffe denkt. Galton, der erſte Raſſenhygieniker Englands, ſagt: „Wenn überhaupt eine Heilung möglich iſt, fo kann fie nur durch eine Umgeftaltung in der relativen Fruchtbarkeit der einzelnen Bevölkerungsgruppen herbeigeführt werden.“ Dieſer Satz wird grell beleuchtet durch die Forſchungsergebniſſe Pear- ſons: Die Hälfte der geſamten nächſten Generation wird in England von nur 12% der Ge- ſamtbevölkerung erzeugt. In der 4. Generation machen dieſe 12 % ſchon 96 % der Gefamt- bevölkerung aus. In England kommen auf je eine Ehe der Geiſtesarbeiter 1,6 Rinder, der Schwachbegabten 6,6 und der Verbrecher 7 Kinder.

Galton wußte, daß mit einzelnen Geſetzen und Verboten allein der Wille zum Kinde nicht gefördert wird. Er wußte, daß es ſich hier um Weltanſchauungsfragen handelt. Darum war fein ſehnlichſter Wunſch, daß die Raſſen hygiene zur Religion der Zukunft werden möchte. Denn „diefer eugeniſche Glaube“, fo ſagt er, „erjtredt die Aufgabe der Menſchenliebe auf die künftige

46 Mmntsaragt und Raffenbpgiene

Generation, er macht ihre Taten weiter reichend als bisher, dadurch, daß er Familie und Gefell- ſchaft als Einheit behandelt.“

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben mit einer Energie, die wir Europäer bewundern miffen, den Rampf gegen den Alkohol aufgenommen. Das iſt eine raſſenhygieniſche Tat von größter Bedeutung. Allerdings bleibt abzuwarten, ob das amerikaniſche Volk das Verſtändnis und den Willen hierzu weiter aufbringen wird oder ob die vielen Widerſtände die Trocken legung wieder zu Fall bringen werden.

Dies Beiſpiel beweiſt deutlich, daß der Amerikaner nicht, wie der Deutſche, in der Theorie ſtecken bleibt, ſondern daß er der Überlegung die mutige Tat folgen läßt.

Der Amerikaner Madiſon Grant ſchreibt in dem während des Veltkrieges verfaßten Buche: „The passing of the great race“: „Der Weltkrieg iſt der Peloponneſiſche Krieg im großen. Vom Raſſenſtand punkt aus iſt der gegenwärtige europälſche Krieg im weſentlichen ein Bürger- krieg und faſt alle Offiziere und ein großer Teil der Mannſchaften auf beiden Seiten find An- gehörige der nordiſchen Raffe. Es iſt das alte Trauerſpiel gegenſeitigen Hinſchlachtens und Ver⸗ tilgens zwiſchen nordiſchen Menſchen. Sobald die wirkliche Bedeutung der Vererbungstat⸗ ſachen von den Geſetzgebern gewürdigt fein wird, wird unvermeidlich eine vollitändige Derdnde- rung im politiſchen Aufbau eintreten und die derzeitige Vertſchätzung des Einfluſſes der Ex⸗ ziehung wird überholt werden von neuen, auf Raffewerten beruhenden Einrichtungen.“

Ein amerikaniſcher Geiftlider, Dekan Summer in Chtago, hat ſchon im Jahre 1912 erklärt, in feiner Kirche würden nur nod ſolche Paare getraut, die ſich durch ärztliche Zeugniſſe als ge- fund ausweiſen könnten. Im Anfang rief dieſe Erklärung einen Sturm der Entrüftung ber- vor; nach 2 Jahren aber waren ſchon 3500 Geiſtliche dieſem Beiſpiele gefolgt.

Zn 44 amerikaniſchen Hochſchulen iſt die Raſſenhygiene Unterrichtsfach. Durch Seitungsauf- ſaͤtze und Vorträge wird das ganze Volk auf die hohe Bedeutung der Eugenik, race betterment genannt, hingewieſen. Selbſt die Volksfeſte werden dieſem Gedanken dienſtbar gemacht und fie verlaufen anders als bei uns, wo der Alkohol meiſt alle anderen Freuden erjäuft.

Die Vereinigten Staaten find verfaffungsgemäß „ein Land für freie weiße Menſchen“. Die Rothaut ift dort faſt völlig ausgerottet, aber der bevorſtehende Rampf gegen Schwarz und Gelb wird ein ſchwerer werden und ſein Ende iſt nicht abzuſehen.

Daher die ſtrengen Einwanderungsgeſetze, daher die Forderung, alle Minderwertigen abzu- ſondern oder unfruchtbar zu machen; daher in einzelnen Staaten das Geſetz, das den Gefchlechts- verkehr mit Schwarzen mit Gefängnis bis zu 10 Jahren beſtraft.

Unfere Reichsgeſundheitswoche hat ihr Vorbild in Amerika; der Zürforgerinnenberuf iſt dort viel weiter ausgebaut als bei uns. Ja, es gibt dort auch erbkundliche Hilfsarbeiterinnen, Field workers, welche über Familien und Bevölkerungsgruppen Erhebungen pflegen und dann an die Sammelſtelle Bericht erſtatten. Die Lebens verſicherungsgeſellſchaften laſſen dort ſeit Zahren auf Verſicherungskoſten jeden Verſicherten nachunterſuchen und veranlaſſen dadurch den letzteren zur Vermeidung geſundheitlicher Schädigungen.

Das amerikaniſche Ehe verbot erſtreckt ſich auf Schwachſinnige, Epileptiſche, Geſchlechts kranke und Gemeindearme.

Wenn das amerikaniſche Rind morgens in die Schule kommt, iſt fein erſtes die Begrüßung der Nation alflagge und das Abſingen des Flaggenliedes. Auch hier heißt es: beiner glorreichen Nation biſt du es ſchuldig, daß du dich an Korper und Geiſt geſund erhältſt.

Daß leider auch die Nordamerikaner keine Edelraſſe find, beweiſt ihre ganz ungenuͤgende Geburtenziffer und die Tatſache, daß 10 % der Bevölkerung ſyphilitiſch, 50—50 % gonorrhoiſch ſind! Die Neger ſind fünfmal ſo ſtark verſeucht wie die Weißen.

Wie ſteht es nun in Deutſchland? Wir haben den Weltkrieg verloren. Von den 13 Millionen, die wir ins Feld ſchickten, find 4 Millionen als krank und verwundet zurückgekehrt, 2 Millionen find im Feld geblieben. Der fog. Friedensvertrag von Verſailles nahm uns 13% des deut-

Amisarzt und Raffenhpgierte 47

iden Bodens und 9 % des deutſchen Volkes; er nahm uns auch das Recht der Selbſtbeſtim⸗ mung und machte uns für unabſehbare Zeiten zum willenloſen Ausbeutungsgegenſtand des Friedensbundes. Der dadurch bedingte Staatsbankerott machte unſere Lage noch troſtloſer.

gaben wir unter ſolchen Umftänden ein Recht, an eine wirkliche Raſſen verbeſſerung zu den; ten? Muͤſſen wir nicht froh fein, wenn wir nur einigermaßen den Beſtand des Volkes wahren innen und nicht im Fieberwahn der Revolutionen uns ſelbſt zerfleiſchen?

Es gibt müde Menſchen, die ſagen: „Laßt den Dingen ihren Lauf, ihr könnt ihn doch nicht andern!“ Aber ift es nicht unſer Vaterland, dem wir Treue geſchworen haben, find es nicht unfere Rinder, denen wir ein menſchenwüͤrdigeres Dafein ſchaffen möchten, iſt es nicht unſer Beruf, der uns die Volksaufwertung auf die Fahne ſchrieb? Mußten unfere Vorfahren nicht auch im Laufe der Geſchichte viel Schlimmes erdulden und hielten doch den Kopf hoch! Darum ſollen auch wir treu auf unſerem Poſten aus harren und kämpfen, ſolange uns noch warmes Blut in den Adern rollt.

Schon der Militärdienft der Friedenszeit hatte ſich zu einer Gegenausleſe ungünftiger Art, u einer Verzögerung von Berufsausbildung und Heiratsmöͤglichkeit entwickelt und veranlaßte gar oft eine für das ganze fpätere Leben zum Verhängnis werdende Geſchlechts krankheit.

Während des Krieges wirkte die körperliche und geiſtige Minderwertigkeit wie eine Lebens; verſicherung und mit der Dauer des Rrieges wurde auch bei Gefunden die Flucht in die Krank- heit immer häufiger. Wie leicht konnte man ſich mit ein paar Gonokokken vom Frontdienſt los- laufen. In einer galiziſchen Stadt wurde ein Arzt von einem Zungen angeſprochen: „Mein gert, wünſchen Sie ein Mädchen, ein geſundes oder ein krankes?“ Wir ſehen, das Stahlbad des Krieges iſt kein ganz richtiges Bild, und zumal der moderne Rampf mit Schützengraben, Sas und Zerſtörungsmaſchinen jeder Art hat ſich zu einer raſſenhygieniſchen Gegenausleſe ſchünnmſter Art entwickelt. Haben wir es nicht mit erleben müͤſſen? „Denn Patroklus liegt be-

graben und Therſites kehrt zurück.“

die verbreitetiten Volksgifte der Gegenwart find Alkohol und Nikotin.

Nikotin wirkt vor allem auf die Blutgefäße, deren Erſtarrung es beſchleunigt. Ob Nikotin als Keimgift an zuſehen iſt, ſcheint fraglich. Aber es muß uns doch nachdenklich ſtimmen, daß das deutſche Volk für Tabak jetzt mehr als doppelt fo viel ausgibt als vor dem Kriege, jetzt, wo wir von den bei anderen Nationen zu machenden Schulden leben. Allein mit dem Geld, das wir in Zigaretten anlegen, könnten wir unſere ganzen Reparationen an den Feind bund be- dahlen. am Jahre 1881 {don ſchrieb Paul de Lagarde: „Oer Tabakgenuß ift ein Mittel, den Hunger zu beſchwichtigen, ein Mittel, ſich über die eigene Gedantenlofigteit durch den Schein einer Latig- keit und fiber das Unglüd des Vaterlandes durch eine Narkot'ſierung des Empfindens hinweg; zuhelfen. Wenn Oeutſchland noch ein neues Leben beginnen kann, wird das Symbol des- ſelben der Mut ſein, dem Nikotinduſel den Rücken zu kehren.“

Und Leo Tolſtoi ſchrelbt: „Die Befreiung von den furchtbaren ÜUbeln: Alkohol und Tabak, wird in dem Leben der Menſchheit eine Epoche bilden. Ze mehr ſich der Menſch betäubt, deſto weniger ſchreitet er ſittlich vorwärts!“

Endlich noch ein Wort von Goethe: „Das Rauchen macht dumm, es macht unfähig zum Den- ten und Dichten. Und was koſtet der Greuel? Rein Hungriger wird gefättigt und kein Nackter gekleidet. Was könnte mit dieſem Gelde geſchehen ?1“ |

Vir fehen, man kann das Rauchen auch nach anderen als rein perfinliden Geſichtspunkten beurteilen.

Ein noch größerer Schädling aber iſt der Alkohol.

Wir Magen über Nahrungsmittellnappheit und bebauen nicht weniger als 18000 qkm deut- ſchen Bodens mit Alkohol! 18000 qkm find mehr als ein Viertel des ganzen rechtsrheinifchen Bayern!

48 Amtsarzt und Naffenbyglene

Nah Feſtſtellung der Leipziger Ortskrankenkaſſe kommen auf je 2 Krankheitstage der Nicht⸗ trinker 5 Krankheitstage der Trinker!

Die Gothaer Lebens verſicherungsgeſellſchaft hatte bei einer Durchſchnittsſterblichkeit von 100: bei den Brauern 121, den Brauereibeſitzern 141, den Gaſtwirten 147, den Schankwirten 155 und bei den Brauereiangeſtellten 162 Todesfälle.

Gewiß, wer nicht trinkt, ſtirbt auch, er wird auch meiſt in valide, es fragt ſich nur wann!

Die Häufung von Epilepſie und Schwachſinn bei den Alkoholikerkindern iſt bekannt. Faſt wäre man geneigt, ſchon die Erſcheinung des ſog. Bierphiliſters auf das Konto des alkoholiſchen Schwachſinns zu ſetzen.

In Bayern wurden im Jahre 1921 384 Perſonen verurteilt, die im Zuſtand der Trunken- heit eine ſtrafbare Handlung begangen hatten, 1922 waren es 1160, dreimal ſo viel, darunter 16 Fälle von Mord und Totſchlag! Bayern hat nicht ein Zehntel der Bevölkerung der Ver⸗ einigten Staaten. Da bringt es nun das Alkoholkapital fertig, unter der Überfchrift „Die Men- ſchenmorde der Prohibition“ folgende Zeitungsnotiz zu verbreiten: In Amerika wurden ſeit In- krafttreten des Alkoholverbotes 49 Beamte getötet, 500000 Perſonen verhaftet, 124000 Automo- bile und über 800 Schiffe, ſowie 5,5 Millionen Gallonen Alkohol beſchlagnahmt.“ Wir könnten uns glücklich ſchaͤtzen, wenn unſere Alkoholſchäden im Vergleich nicht größer wären als die amerikaniſchen Prohibitionsſchäden.

Dabei ſprechen wir nicht der Prohibition das Wort, aber wir verurteilen den Kampf mit vergifteten Waffen. Dazu gehört auch die törichte Redensart, als ob das Gemeindebeftimmungs- recht zwangsweiſe zur Trockenlegung führen müßte. Die Einführung dieſes Rechtes in Schott; land, Polen, Bulgarien, Auſtralien und Neuſeeland hat ja auch nicht zur Trockenlegung geführt. In England beſteht feit 1911 ein Schankſtätten verminderungsgeſetz, auch ohne nachfolgende Trockenlegung! Zft es nicht faſt widerſinnig, daß die Gemeinden keinen Einfluß auf die Zahl ihrer Schankſtätten haben ſollen? Empfinden doch die vernünftigen Wirte ſelbſt das Unbalt- bare der ſich mehrenden Schankſtätten konzeſſionen!

Von jeher gilt der Alkohol als Kuppler zum außerehelichen Geſchlechts verkehr.

Anna Pappritz ſchreibt: „Einzelmaßnahmen gegen die Proſtitution können nicht zum Erfolge führen. Hebung des geſamten Rulturniveaus iſt nötig. Dem ſtellt ſich der Alkohol als ſtärkſter Hemmſchuh entgegen. Proſtitutionen und Alkohol find eng verknüpft.“

Daß die Geſchlechts krankheiten Raſſenſchädlinge ſchlimmſter Art find, wird allgemein zu- gegeben. 75% der kinderloſen Ehen find Gonorrhoikerehen, ebenfalls die Mehrzahl der Ein; kinderehen!

In Berlin gilt die Hälfte aller Männer für ſyphilitiſch. Die erbſyphilitiſchen Kinder ſollen in beſonderen Heimen geſammelt werden. Ob der Staat an den Ergebniſſen dieſer menſchlichen Pflanzgärten Freude haben wird, iſt mehr als zweifelhaft. Mit Aufklärung allein, ohne Willensbeeinfluſſung, wird auf dieſem Gebiete des außerehelichen Geſchlechtsverkehrs ſchwer etwas zu erreichen fein. Gilt doch heute noch bei einer großen Zahl der großſtädtiſchen Be- völkerung die Behauptung Bebels als richtig, der ſagt: „Wie einer feine geſchlechtlichen Be dürfniſſe befriedigt, das geht niemanden etwas an!“ Vor ſolcher Weisheit muß jede Raffen- hygiene die Segel ſtreichen!

Die Roften, die durch die Geſchlechtskrankheiten entſtehen, betragen allein für Preußen im Jahre 100 Millionen Mark.

Dak 3/19 aller ſyphilitiſchen Anſteckungen auf extragenitalem Wege erfolgt, iſt eine Tatſache, die auch für den rein geſelligen Verkehr bedeutſam erſcheint.

Der Erfolg des neuen Geſetzes zur Bekämpfung der Geſchlechts krankheiten bleibt abzuwarten. Aber es kann wohl ſchon jetzt behauptet werden, daß das Geſetz bei ſtrenger Durchfuhrung auf die geſchlechtliche Enthaltſamkeit vor der Ehe hinarbeitet. Denn faſt jeder, der dieſe Forderung nicht erfüllt, verſtrickt ſich früher oder (pater in den Maſchen dieſes Geſetzes. Darum kann das

Ants arzt und Raffenhpgiene 49

Geſetz gewertet werden als Fortſchritt zur Erreichung einer fittlicheren, geſünderen Lebensauf- faſſung auf dem Gebiete des Geſchlechtslebens.

Die Tuberkuloſe wird nicht wie die Syphilis von der Mutter auf das Rind übertragen, aber die Veranlagung zu der Krankheit, die Dispoſition, iſt doch in hohem Grade erblich.

Wie not unſerm Volk eine wirkliche Hygiene auch auf dem Gebiete der geiſtigen Erbver- faſſung tut, das beweiſt uns ſchon allein die Verbreitung des Schwachſinnes. Der Schwach- finnige ift es, deſſen Rinderergeugung von keinerlei Bedenken gehemmt wird. Darum haben die Hilfsſchüler nocheinmal foviel Geſchwiſter wie die geiſtig Gefunden.

Sn Münden hatten die Schüler mit Note II je 2,32 Geſchwiſter, mit Note III je 2,89 Ge- ſchwiſter, mit Note IV je 5,41 Geſchwiſter, mit Note V je 5,95 Geſchwiſter. Die Roftoder Hilfs- {chiller hatten je 5,4 Geſchwiſter. / der dortigen Schüler ſtammten von ſchwachſinnigen Eltern. In der badiſchen Füͤrſorgeanſtalt Flehingen fand Gruhle als Grund zur Einweiſung: bei 41 % die geiſtige Anlage allein, bei weiteren 41 % die Anlagen und Umwelt, nur bei 18 % die Am- welt allein.

Sei / aller geiſtig Minderwertigen ſchlagen alle Erziehungsverſuche fehl. Darum iſt auch die ſchlechte Wirtſchaftslage dieſer Familien zumeiſt erblich bedingt; auch bei veränderter Umwelt erzeugen die Landſtreicher, Zigeuner, Keſſelflicker und Gewohnheits verbrecher wieder ihres! gleichen.

Man hat berechnet, daß in Deutſchland 30000 Geiſteskranke und 300000 Schwachſinnige ver- heiratet ſind.

Welch eine Belaſtung für die Allgemein heit ſolche Familien Minderwertiger bedeuten, hat man beſonders klar durch Stammbaumforſchungen erkannt; ſolche wurden angeſtellt in Amerika von Soddard über die Familie Kalikak, von Dugdale über die Nachkommen der Ada Zuke und von Davenport über die Name Family und das Hill Folk. In Schweden hat Lund borg über die Bauernfamilie Pehrsdotter und in der Schweiz der Irren arzt Zörger über die Familien Zero und Markus berichtet. Die von ihnen geſammelten Tatſachen erfhüttern den Lefer noch weit mehr, als die von Zbfen in feinen Geſpenſtern dramatiſierte Schickſalstragödie, welche auch zeigt, wie die Rinder büßen muͤſſen für die Sünden der Väter.

Die Aufzucht eines Minderwertigen koſtet noch einmal fo viel als die eines Vollwertigen. Zu den Roften der Fürforgezöglinge tragen deren Eltern 1,5 % bei, das übrige zahlt der Staat, d. h. die Eltern der geſunden Kinder und die Menſchen, die ſich um die Frage der Zukunft ihres Volkes herumdrüͤcken.

Nietzſche ſagt: „Wer vom Pöbel iſt, der will umſonſt leben; wir andern aber, denen das Leben ſich gab, wir ſinnen immer darüber nach, was wir am beſten dagegen geben.“

Vas wollen wir geben? |

Lenz klagt mit Recht: „Die ungenügende Fortpflanzung der ihrer Veranlagung nach zur geiftigen Führung geeigneten Volksgenoſſen iſt von verhängnis vollſter Bedeutung für die Zu- kunft der Raſſe.“

Bei einem Heiratsalter des Mannes von 25 Jahren ſind 3,5 Kinder, bei 29 Jahren ſind 3,2 Kinder, bei 34 Jahren find 3,0 Rinder, bei 44 Jahren find 2,2 Kinder, darüber 1,1 Rind zu erwarten,

Hat aber der Staat nicht ſelbſt durch feine verhängnisvollen Prüfungsporfchriften mit ſchuld, daß der junge Mann viel zu fpät zur Ehe kommt und, fofern er überhaupt heiratet, gar oft eine Geſchlechtskrankheit in die Ehe mitbringt?

MV aller Studenten iſt geſchlechtskrank.

Solange es ferner dem Staate nicht ernſt iſt mit der Bekämpfung des Alkoholgiftes, ſolange werden auch ſeine Diener bei ſich und ihren Kindern nicht Ernſt damit machen. Trinkfeſtigkeit gilt heute noch als eine erſtrebenswerte Geiſteseigenſchaft! Die Trinkſitten des Studenten ſind heute noch dem Mann aus dem Volke ein unerreichtes Vorbild.

Ser Türmer XXX, 1 4

50 Amts arzt und Raffenbpgiene

Führer fein, heißt Pflichten haben, nicht nur feiner Familie, ſondern aud dem Volke gegen- über. Die Vernichtung des eigenen Stammes ift eine Pflichtvergeſſenheit, iſt Sünde wider das Blut! Der Akademiker hält auf Ehre, aber in feiner Veiſe, und während er es ſich reiflich über- legt, in weſſen Hände er feine Viſiten karte legt, trägt er kein Bedenken, die lebendige Bifiten- karte feiner ganzen Ahnenreihe mit jedem geiſtig und körperlich minderwertigen Geſchöͤpf gegen Roften und Spirillen dunkelſter Herkunft auszutauſchen und fo den eigenen Stammbaum, auf den er fo ſtolz war, der Verſeuchung und dem Bazillenfraße zu überliefern.

Das iſt die Selbſtachtung der Gebildeten, das die Perſönlichkeitskultur der führenden Schicht!

Wäre es nicht zweckmäßig, dem Studenten das Wörtchen „Wohlgeboren“ dahin zu deuten, daß aud feine Nachkommen ein Anrecht darauf haben? Wäre die Raſſen hygiene als Lehrfach nicht eine Möglichkeit, dem haltloſen jungen Manne durch die Erkenntnis der Naturgeſetze eine zukunftsbewußte Weltanſchauung zu übermitteln?

Dr. med. Hans Krauß (Lichtenfels)

Oyye N Halle

Die le Hier veröffentlichten, bem scale Meinungsaustaufep bienenben ee ngen ſind unabhängig vom Stanbpunkt des Herausgebers

Noch einmal: Dr. Ed. Stadtlers Werks⸗ gemeinſchaft

(Antwort an die Schriftleitung des Deutſchnationalen Hand lungsgehilfen- Verbandes)

eine Ausführungen über Dr. Stadtlers Wirken im Wiederaufbau Oeutſchlands und der nachdruͤckliche Hinweis auf feine Werksgemeinſchaftsideenwelt waren von dem Gedanken ausgegangen, eine breitere Offentlichkeit auf das Problem ſelbſt aufmerkſam zu machen und dabei der ſtillen und aufopferungs vollen Kleinarbeit Dr. Stadtlers um die Verwirklichung der Werksgerneinſchaftsidee zu gedenken. Wenn der Gedanke der Werksgemeinſchaft an ſich geſund iſt, wird er auf unſer ganzes Wirtſchaftsſyſtem Anwendung finden können. Die Frage der Be- triebsgröße berührt die Zdee als ſolche nicht, wenn die Idee richtig iſt, ſondern höchſtens die For; men der Verwirklichung. In einer Zuſendung des Deutſchen Handlungsgehilfen Verbandes wird auf den Gegenſatz der chriſtlich nationalen Gewerkſchaften zu den marxiſtiſchen Gewert- ſchaften hingewieſen. Gleichzeitig wird die Gegnerſchaft zum Werksgemeinſchaftsgedanken dann wieder betont. Das würde darauf ſchließen laſſen, daß die chriſtlich-nationalen Gewerkſchaften gegenüber dem Marxismus und feiner Gewerkſchaftsart einerſeits und gegenüber der Werks- gemeinſchaftsideenwelt Dr. Stadtlers andererſeits eine eigene, das wirtſchaftlich und gefell- ſchaftliche Leben betreffende Werksgemeinſchaftsidee und berufsſtändiſche Idee vertritt. Bis jetzt wußte man nur, daß die chriſtlich nationalen Gewerkſchaften ſich von den marxiſtiſchen Sewerkſchaften in der Frage des „Chriſtentums“ und der national-ſtaatlichen Gedankenwelt unterſcheiden, daß fie aber in bezug auf Stellungnahme zur Werksverfaſſung, zum berufs- ſtändiſchen Ai fbau der Wirtſchaft, ſowie in der entſcheidenden Frage der rechtlichen Bergliede- tung der Arbeiterſchaft und des Unternehmertums die gleiche klaſſenkämpferiſche, auf den Streik zugeſpitzte Haltung einnehme. Ganz abgeſehen davon, daß die chriſtlichen Gewerkſchaften durch die politiſche Verquickung mit der Zentrumspartei auch nation al- politiſch enger mit den marxiſti- ſchen Sewerkſchaften zuſammengehen, als es der Deutſchnationale Handlungsgehilfen verband in der obigen Zuſchrift wahr haben will. Wenn ich aus den Schriften des Herrn Dr. Stadtler und aus anderen Schriften von Vorkämpfern der Werksgemeinſchaftsidee das Weſentliche heraus- geleſen habe, dann handelt es ſich bei der Werksgemeinſchaft gerade darum, aus chriſtlich natio- nalen und politiſchen Grundfägen heraus eine neue geſellſchafto - organiſatoriſche Idee zu ent- wickeln, die den Marxismus dort trifft, wo er ſich am verhängnisvollſten ausgewirkt hat, näm- lich in der Aufrichtung eines für Volk und Staat ſchädlichen Nlaſſenkampfdualismus. Wenn die chriſtlichen Gewerkſchaften dieſen Klaſſendualismus als Tatbeſtand abbauen und die Rlaffen- kampfideenwelt des Marxismus praktiſch bekämpfen wollen, dann ergibt ſich logiſch die Forde- tung, daß gerade die chriſtlichen Gewerkſchaften von ſich aus den Werksgemeinſchaftsgedanken und den berufsſtändiſchen Gedanken aufnehmen, geiſtig weiter entwickeln und praktiſch durch- führen müffen. So wie ich Herrn Dr. Stadtlers öffentliches Wirken kenne und zu beurteilen in der Lage bin, würde gerade er ſich über eine ſolche geiſtige Wandlung der chriſtlichen Gewerk ſchafts bewegung freuen. Ä W. Rein-Jena

Deutſchtum in Südamerika und wir

Gu bem Auffak Dr. A. Wirthei m Zulipeft bes Türmers“: Oeutſchtum in Südamerika, ſchickt uns ber „Verein für das Deutfhtum im Auslande“ folg ende ergänzende Ausführungen.

m Schluſſe feiner Ausführungen über das Deutſchtum in Südamerika im Zuliheft des „Türmer“ wirft Herr Dr. Wirth die Frage auf: „Wie können wir das Deutſchtum Süd⸗ amerikas wenigſtens kulturell wieder mit der Heimat verknüpfen?“ Es muß darauf hingewieſen werden, daß längſt Kräfte am Werke find, die ſich dieſer Frage mit allem Nachdruck widmen, und zwar nicht nur theoretiſche Unterſuchungen und Forſchungsarbeiten, ſondern praktiſche Hilfe und Kulturarbeit im Sinne der von Herrn Dr. Wirth berührten Probleme. Seit 47 Zahren arbeitet der Verein für das Deutſchtum im Ausland daran, bei uns im Reich die Renntnis vom Weſen und Wert des Auslanddeutſchtums zu verbreiten und im Auslande für eine Zufammen- faffung und kulturelle Unterftügung des Deutſchtums auf den mannigfachſten Gebieten zu ſorgen. Der Deutſche Volksbund in Argentinien iſt dem BOA, angeſchloſſen, ebenſo der Deutſch⸗ Chileniſche Bund; die meiſten deutſchen Lehrer ſtehen in engſter Fühlung mit ihm, da er ja als Schulverein mit den Schulen und Lehrerverbänden der ganzen Welt Verbindung ſucht und ihnen mit Rat und Tat bei Seite ſteht. Die kulturelle Verknupfung des ſüdamerikaniſchen Oeutſchtums mit der Heimat iſt alſo längjt in die Wege geleitet, und wenn fie noch viel zu ſchwach iſt und große Aufgaben noch zu löfen find, fo liegt das nur daran, daß der ältefte und ein zige wirklich praktiſch arbeitende kulturelle Schutzverein der Deutſchen, eben der DOA, noch immer nicht genügend Unterftigung im Reich ſelbſt findet. Wenn feine Mitgliederzahl und damit feine Einnahmen ſich von Jahr zu Jahr weiter ſteigern, fo kann man nur hoffen, daß nicht nur feine umfangreiche Unterſtuͤtzungstätigkeit in Europa fortgeſetzt werden kann (der heute {don Hun- derte von Schulen und ſonſtigen Kultureinrichtungen ihr Beſtehen verdanken), ſondern auch in Aberſee.

Um nun zu zeigen, wie die von Herrn Dr. Wirth geftellte Frage verfolgt wird, führen wir nachſtehend einen Abſchnitt aus dem letzten Jahresbericht des Vereins für das Deutſchtum im Auslande an:

Die Aufgabe des VS A- Vertreters in Südamerika, des Herrn Probſt Hübbe, ift in erſter Linie eine Zuſammenfoſſung und Kräftigung des febr zerſplitterten Deutſchtums im Sinne einer ſyſtematiſchen Durchdringung mit den Erziehungs- und Rulturwerten unferes Volkstums. Von beſonderer Bedeutung für dieſe vor allem auf das geſamte Brafilien fic erſtreckende Tätigkeit war die bereits im vergangenen Jahresbericht geſchilderte Einberufung der Direktoren konferenz. Ihre erſte wirkliche Arbeit begann dieſe aus den führenden Schulmännern des braſilianiſchen Deutſchtums beſtehende Vereinigung auf Grund einer Zuſammenkunft in Curityba im Januar 1926. Die dort gegebenen Anregungen hatten den Erfolg, dof ſeitens der Reedereien feds be- duͤrftigen Lehrern je eine halbe Freifahrt in die Heimat gewährt werden konnte, um nach lang; jäbriger Tätigkeit in Braſilien die nötige körperliche und geiſtige Erholung und Auffriſchung wieder erlangen zu können. Auch die Geſandtſchaft hat für dieſen Zweck Mittel zur Verfügung geſtellt. Weiterhin hat die Direktoren konferenz die Fibel und Leſebuchfrage auf Grund einer vorhergegangenen regen Rorrefpondeng entſchieden, eine Frage, mit der ſich alle bisherigen Schultage vergeblich befaßt haben. Es kam eine Einigung, erfreulicherweiſe auch unter den katholiſchen und evangeliſchen Teilnehmern, dahingehend zuſtande, daß ſich die anweſenden Direktoren ſämtlich verpflichteten, die beiden Bücher, die nach gewiſſenhafter Umarbeitung in einem Sabre verlagsfertig werden, einzuführen. Weiterhin wurde erreicht, daß die Gefandt- ſchaft allen Lehrern, die der beſtehenden Ruhegehalts- und Hinterbliebenenkaſſe nicht beitreten konnten, weil ihr Einkommen zu gering iſt, um die Beiträge zu zahlen, dieſe Beträge erſtattet. Damit iſt den deutſchen Lehrern die Alters- und Hinterbliebenen verſorgung geſichert.

dauſchtum in Sübamertta und wie 53

Die Direktoren konferenz hat ſich dann aufgeldft, weil der Landesverband deutſch-braſilianiſcher Lehrer inzwiſchen in Taͤtig keit getreten iſt. Die Direktoren bleiben aber im Rahmen des Landes- verbandes als Arbeitsgemeinſchaft zuſammen. Weiter wird nun unter ſtändiger Förderung und Anregung auch ſeitens des Herrn Probſt Hübbe verſucht, der geſamten deutſchen Schularbeit in Braſilien ein gemeinſames Ziel zu geben: Es ſoll gemeinſam dahin geftrebt werden, daß die begabten Schüler durch fortwährende zweckentſprechende Anregung dazu veranlaßt werden, die nͤchſt höhere Schulgattung zu beſuchen; aus der Nolonieſchule ſollen fie in die Stadtſchule übertreten und aus der Stadtſchule in eine höhere Schule, die dann zum letzten Abſchluß, zum Abitur, führt. Da Rio gerade feine Abſicht, feine Schule bis zum Abitur durchzuführen, auf- gegeben hat, kommt nur Sao Paulo in Betracht, das ſich gerade jetzt dieſes Ziel geſetzt hat. Der Schultag hat nun beſchloſſen, die Olindaſchule in Gao Paulo als die Schule anzuſehen, in die man die beſten Schüler führen muß. Auch dieſe Pläne werden noch viel Arbeit machen.

Zu erwähnen find die bereits erfolgreichen Bemühungen Hübbes, die unierte und lutheriſche Arche einander zu nähern, Es wurden bereits in Santa Catharina wie in Espirito Santo Ron- ſerenzen in freundſchaftlichem Sinne abgehalten.

durch einen Lehrvikar ließ Probſt Hübbe das Innere von Sao Paulo bis nach Matto Groſſo mein befuchen, um vor allem den auf den Kaffee pflanzungen vereinſamten Deutſchen ndber- gutreten, In Santa Catharina konnte auf der Paſtoralkonferenz im Auguſt vergangenen Jahres die Verbindung zwiſchen Geiſtlichen und Lehrern evangeliſcher Ronfeffion neu geknüpft wer- den. zn Rio Grande do Sul war das Hauptereignis die Zuſammenlegung der beiden evange- lichen Seminare von Sao Leopoldo. Um die Brüde zwiſchen Pfarrer und Lehrer weiterzu- ſchlagen, hat Probſt Hübbe es durchgeſetzt, daß der Vorſitzende des ev. Lehrervereins, Dir.

Rangelsdorf, in den Synodalvorſtand gewählt wurde. In Sao Leopoldo nahm Probft Hübbe an der Abſchlußprüfung des Proſeminars teil. Eine vorhergegangene Deutſchlandreiſe vom Januar bis April hatte erneuter Fuͤhlungnahme mit den für alle dieſe Fragen im Reiche zu- Händigen Stellen gedient.

In Porto Alegre hatte Probſt Hübbe Gelegenheit, an einem für Dr. Luther veranftalteten Feſtabende in der Feſtrede ten ehemaligen Reichskanzler zu begrüßen. Für den Anfang des Jahtes 1928 iſt eine genau vorbereitete Reife nach Chile in Ausſicht genommen. Beſondere Er- wähnung verdienen noch Probſt Hübbes Berichte Aber die Auswandererfrage, die an anderer Stelle im Jahresbericht Verwendung finden.

So hat auch das vergangene Jahr gezeigt, daß ſich der Verein, feiner alten Überlieferung entſprechend, im Rahmen feiner Moglichkeiten des zwar räumlich entfernteren, aber in gleicher Veiſe unter den Begriff der geſamtdeutſchen Kulturgemeinſchaft fallenden Uberſeedeutſchtums angenommen hat

Literatur, ne Nunſt,

Ludwig Fahrenkrog Ein] Künder deutſcher Seele

Urfeuer, felig reiner Liebe Bild,

Du ledſt und leuchteſt nur, indem bu ſtirbſt

Unb deiner Sehnſucht deiner Seele Gluten ſpenbeſt,

Lebſt nur, indem du dich vollendeſt

3m Ewigen um ein Derwehen wicht. N

un da es Nacht ift um uns und wir in der Tiefe des Tales wandeln, da Not die Ketten

N um uns legt und Sumpfboden unſere Schritte taſtend macht, werden unſere Augen wach. Als wir noch im Lichte wandelten und der Sonne Glanz uns Gold nicht von Blech, Hohes nicht von Niederem ſcheiden ließ, als wir tändelnd über die ſcheinbaren Gipfel unſeres Lebens glitten und der Schätze in den Brunnen unſeres Volkes vergaßen, war uns Kunſt billige Unterhaltung, zierender Schmuck, reizvolle Gabe.

Nun, da wir wie Blinde die Augen auftun zum Inneren unſeres Seins, nun, da wir Um- ſchau halten in unſerem Volke nach Händen, die rein find, nach Augen, in denen unſeres Volks- tums Seele leuchtet, nach Armen, die ſich zum Lichte breiten voller Sehnen, wie wir ſie alle wohl breiten möchten, wenn wir unſeres Lebens Kraft noch in uns trügen, ſehen wir hier und da beglüdten, hoffenden Herzens Flammen leuchten, die da brennen im Urfeuer unferes germaniſchen Volkstumes.

Viele, und das iſt glüdhaftes Wiſſen, wuchſen und wachſen aus der Kraft unſeres Volls· tumes, denen wir eine Strecke Weges innere Bereicherung, inneres Erfühlen unſeres Selbſt verdanken, Rünftler, Schaffende, Schöpfer, die dieſem oder jenem Lebensgefühle in uns ge prägte Form liehen: Eduard von Gebhardt und Uhde, die unſerem volklichen Leben des Erlöͤſers Sein verflochten, Hans Thoma, der uns das deutſche Land erſchloß zum lebenden Ausdruck unferer Seelenheimat, Max Klinger, der Berg und Tal unſerer ſinnenden Gedanken tiefgrün-

digen Ausdruck lieh, ſie alle ſind ſolche Wegbegleiter und Führer, und ein Teil von ihnen

allen eint ſich in einem, dem nun auch ſchon des Lebens Winter den Silberreif in die Haare drückt, in Ludwig Fahrenkrog, dem Maler und Oichter.

Wie ſehr wir, widernatürlid genug, von der eigentlichen Seelen - und Lebenslinie unſeres Volkstumes abgewichen ſind, davon zeugt allein der Umſtand, daß vielen unter uns von ihm geſprochen werden muß wie von einem Fremden, ja wie von einem Neuen, ihm, der nun am 20. Oktober ſeinen 60. Geburtstag begeht, deſſen Sinnen, Dichten und Schaffen, ja deſſen Leben nichts anderes iſt als ein bewußtes Deutſchſein, als ein Erfüllen feines dautſchen Volkstumes, das Menſchentum iſt. Man kennt ihn wohl aus manchen ſeiner Bilder: „Oer Väter Land“, „Chriſti Höllenfahrt“, „Luzifers Abſage an Gott“, „Allvater“ find vielleicht Blätter, die vielen vertraut find, fein „Baldur“ iſt Volksvorſtellung des Lichtgottes geworden, ja, und es gab ſogar einen Streit um ihn die treuen Lefer des „Türmer“ werden ſich deſſen erinnern —, der das gewöhnte Bild Chriſti, des Leidensmannes, wie einſt Michelangelo, zu Chriſtus dem Kämpfer, dem bartloſen, wandelte. Aber, daß er eigentlich der deutſche Künſtler und infonder- heit der deutſche Maler und Geſtalter der ureigenen Seele unſeres Volkes iſt, wer weiß das? Wer weiß es, daß er es nicht nur als Maler iſt, ſondern als Denker und noch mehr als Oichter? Als ein OQramendidter, deſſen Werke nicht nur Bücher find voller Tiefe und Schönheit, ſondern

1 }

Qubwig Fabrentrog 55

Bühnendramen von urgewaltiger Rraft und großem Bau. Aber freilich, unſere Bühne von heute, fie verträgt wohl ſolche Werke nicht! Das Größte aber an ihm iſt, daß er alles, was er ift, nur ſeinem Selbſt verdankt, daß er Selbſtmenſch iſt, daß er nur lebt, indem er ſich vollendet, in einer ſteil aufgerichteten Lebenslinie, die aus der Jugend aufſteigt bis zum Heute, da er in der Vollkraft ſeines Schaffens ſteht.

Künftlerſein iſt Geſchenk, iſt Ausdruck des Voltstumes, deſſen ſchöpferiſche Kräfte ſich in dem einzelnen Menſchen, der von der Sehnſucht zum Licht gezogen wird, gleichſam wie in einer Zinfe ſammeln und nun von ihm wieder in die Weite ſtrahlen. Denn nichts als eben dieſe tiefe Verwurzelung in das germaniſche Volkstum war dem Rnaben gegeben, der ſchon in feinen kindlichen Spielen in der Enge des Vaterhauſes zu Rendsburg im Helſteiniſchen die Wege zu ſich ſelbſt fand, dem ſich Spiel und Runft zu Einem formten, dem ſich innere Bewegtheit in Farbe und Form umſetzte und der als nabe wohl noch unbewußt, aber eben getrieben von den ſtarken Kräften germaniſchen Seelentumes ſicher und unbeirrt den Weg zur Selbſtent faltung ging. Und war es damals, daß er, wie er launig ſelbſt erzählt, gleichſam die Olmalerei neu für ſich ſelbſt erfand, oder fpäter, als er feine Spargroſchen, nicht wie Rinder es tun, in dieſem oder jenem verzettelte, ſondern fie zum Hamburger Gidertrddler trug und als ein eifriger Kunde dieſer „fliegenden“ Buchhändler mit erſtaunlicher Treffſicherheit das Wertvollſte herauszufinden wußte, was heute noch feiner Bücherei Zierde iſt, oder, mag es in bewußter Zielſetzung dem Rnaben, der einen Beruf ſuchte, die Wahl des Dekorationsmalers, die ihm den Weg vom Handwerklichen zur Kunſt eröffnete, fein, immer iſt es der Weg zum eigenen Fd, mit dem er ſich durch Schule und Leben zur Perſönlichkeit aufrang.

» * »

Laß uns mit nackten Sohlen vor bein Antlitz treten Und unſere Herzen heiligen vor deiner Nahe,

Auf daß bein Feuer uns erleuchte und erſtehe

Unb werde wie ein Zuſichſelber Beten.

Sehnen allein aber iſt noch nicht Leben. Leben iſt Tat; und ſolche Tat gebar ſich in Ludwig Fahren krog aus der Kunſt und durch die Kunſt. Das germaniſche Gottesſuchertum, jener fauſtiſche Menſch, der aus der Tiefe des Gefangenſeins in die Welt der Erſcheinung zum Lichte aufftrebt mit Mühe und Not, hat in ihm, taſtend zunädjft und ſuchend, dann immer klarer jenen Weg genommen, der ähnlich vielleicht, wie es das Lebensgeſetz alles Lebendigen iſt, des Volkes Weg im einzelnen wiederholt. Denn weder gab ihm die großſtädtiſche Umwelt Ham- burg, in die die Eltern 1870 überfiedelten, Anlaß zu Abwegen von fic ſelbſt, noch vermochte die Schule, das Handwerk, ja die Akademie und ſpäter der Aufenthalt in Stalien, als er ſchon Schaffender war, ihn von dieſer inneren Lebenslinie, die die Tat gebiert, abzubringen. Denn das ift es, was ihn zum Rlünder, zum Spiegelhalter und zum Führer werden ließ, daß er bewußt ſeiner deutſchen Sendung, die eigentlich in einem jeden von uns Oeutſchen leben ſollte, ſich durch Mühe und Arbeit das Können ſchuf, das ihn befähigt, ſolch Brennſpiegel des Volkstumes zu ſein. Hier aber iſt es Ehrfurcht, die auf nackten Sohlen vor das Geheimnis des Seins tritt, die Verbundenheit des Menſchen mit dem Ewigen, kindliche Schauer in der Bruſt, erfühlt und nun des Gottes voll die ſtrahlende Wahrheit kündet.

Hier auch iſt es wie immer, ſofern ſich Lebensinhalt und Seelen prägung mit der ſchaffenden Runft, oder beſſer in der ſchaffenden Kunſt zur Form einen, daß ſich das kosmiſche Form- prinzip unmittelbar in das künſtleriſche Formprinzip umſetzt. Fahrenkrog hat dieſes Form- prinzip und damit zugleich die unmittelbare Eindruckskraft feiner Werke neben der faſt natur; haften Leuchtkraft feiner Farben in der Gegenüberftellung der Wagerechten, der Linie des Erdgebundenen, des Liegenden, des Flachen, des nicht über die eigene Ebene Hinauskönnens, zur Senkrechten, zur Linie des Aufſteigenden, zur Richtung der Flamme, zum Lichte hin gefunden. Dieſer Formgrundſatz findet ſich faſt in all ſeinen Werken, von denen ein großer Teil

56 Lubwig Fahrentreg

bier im „Türmer“ im Laufe der letzten Jahrzehnte veröffentlicht wurde. Er ift mehr als nur ein Formqrundſatz, eben weil er zugleich der idealiſtiſch erfaßte kosmiſche Grundſatz, das kosmiſche Geſetz it, er iſt Tat, die aus dem Dunkel zum Lichte aufſtrebt. Daraus ergibt ſich für Fahren · trog faſt wie eine naturliche Forderung, den menſchlichen Korper, den Aufrechten, den im Gegen; ſatz zum wagerecht organiſierten Tiere ſenkrecht ftebenden Menſchenleib zum Träger faſt all feiner idealiſtiſchen Geſtaltungen werden zu laſſen. Es iſt das nicht nur von kunſtpſychologiſchem Intereſſe, ſondern deutet auf ein allgemeines Lebensgeſetz, deſſen Nachforſchung in der Runft aller Zeiten dankbare Aufgabe für eine Monographie wäre.

Das Landſchaftliche tritt in Fahrenkrogs Bildern faſt ganz in den Hintergrund; nicht daß es Kuliſſe würde, eher ſchon Rahmen, den er oft aus dem Bilde heraus wachſend im rein Linearen findet, ift es der unterſte Träger des zumeiſt tiefgedanklichen Gehaltes feiner Werke. Es iſt immer ein M. ßliches, über einen bildenden Rüünftler zu ſprechen, ohne zugleich feine Bilder dem fchauen- den Auge nahezubringen. Wer aber Bilder von ihm, wie die aus der Runftmappe „Stimmen der Sehnſucht“ oder die in dem neuen Werk der Fahrenkrog-Geſellſchaft „Das goldene Tor“ vereinten farbigen Wiedergaben betrachtet, wird nicht nur das oben erwähnte Runft- prinzip ſtreng gegliedert finden, ſondern er wird vor allen Dingen aus der zwingenden unmittel- baren Geſtaltung heraus in ſich ſelbſt die gleiche zum Licht drängende und zum Licht hebende innere Einſtellung erfahren, die Fahrenkrogs Gemälde zu einem Erlebnis werden laſſen, das einem Lebenserlebnis gleicht. Das gilt auch von den Bildbeigaben, die in dieſem Hefte zur Veröffentlichung gelangen, dem älteren „Eooe homo“, das zu den ſtärkſten Werken deut- ſcher religiöfer Malerei gehört, und dem wundervollen neuen Gemälde „Die blaue Blume“. Dort die durch alles Leiden hindurch zur leuchtenden Majeftät erhobene, erhabene Geſtalt Chrifti im königlichen Purpurmantel, alle Linien noch verſtärkt durch die Säulen im Hintergrunde in der ſtrengen Senkrechten, daneben man beachte ſchon die raſſiſchen Unterſchiede des ſchmalen Langſchaͤdels und des Rund kopfes —, die Schräge in der Geſtaltung des Pilatus und das wirre Gezack des dumpf-haffenden Volkes. Welch wundervoller Lichtruf aber wieder ift „Die blaue Blume“! Diefes Bild, das mehr iſt als Bildnis, das die ganze Reinheit und Safe, die ganze Kraft und das Eingeſponnenſein in den Zauber des eigenen Lebens dieſes jungen deutſchen Mädchens kündet. Wo ſehen wir denn gerade heute fold leuchtende lichte Narheit, wie dieſe Mädchenſtirn, die ſelbſt Aber die blauflammenden Blüten den Sieg davonträgt, die ſelbſt „blaue Blume“ iſt im Leuchten ihrer Augen!

Das iſt es, was Fahrenkrog, der Dichter, in feinen Urfeuer-Berfen, die dieſe Betrad- tungen führend leiten, wie ein „zu ſich ſelber Beten“ empfindet und geftaltet. Es iſt Seelen; geſtaltung und iſt Andacht, denn alle wahre Runft iſt Andacht und alles Ringen nach Wahrheit ijt Gottesdienft. So iſt Fahrenkrog, eben weil er in ſich gleichſam dle fleiſchgewordene Naffen- ſeele des ariſchen, des germaniſchen Volksſtammes verkörpert, Sottſucher. Wie er ihn ſucht, wie ſich allmählich, gedanklich und gefühlsmäßig das Dunkel im Menſchen zum Lichte hebt, das zeigen feine Bilder, die gleichſam eine ſich aufrichtende Linie von der Wagerechten über die Schräge, die Kurve, die Parabel zur Senkrechten aufweiſen, wenn man etwa ſeine Bilder von „Der erſte Tod“ über „Das Schickſalsroß“, „Der Menſchheit Woge“, „Das Ereignis“, „Sehn- ſucht“ zum „Tempel des Schweigens“, zum „Heiligen Feuer“, zum „Goldenen Tor“ verfolgt. Was aber der Maler ſchweigend geftaltet, der Dichter kündet es im Wort.

* * * Gib mir bie Hand, du Urgeheimnis meines Lebens, Dah ich in dir ergieße und vollenbe Mein ganzes Sein und all mein Glühen wende Aus Erdentiefe heim zur Himmels höhe.

„Aus Erdentiefe heim zur Himmels höhe“, in dieſem Satz iſt nicht nur Fahren krog ſelbſt um- ſchloſſen, ſondern die wahre Seele unſerer Volkheit. Es iſt dem naheſtehend, was Goethe, der

Zubwig Fahrenkrog 57

jenes Wort prägte, das ein anderes iſt wie Doltstum, ſeherlſch als den Ginn des Alls und des Menſſchen in ihm erfaßte, denn in ihm liegt die tätige Mitarbeit des Menſchen am All. So hält es auch den fauſtiſchen Menſchen und Bildner Fahren krog nicht allein bei der Geſtalt ung der einzelnen Seelenregungen der Stufen gleichſam, die zum Lichte und zum Leuchten führen, ſondern er wird Schauender; Schauender, der die Einsheit von All und Menſch, von Gott und Natur aus fühlendem Exahnen zu tatvollem, ſiegendem Beſitze hebt. Solch tätige Eins heit aber iſt fo gewaltig, daß fie nicht allein der Griffel oder der Pinſel, nicht allein Linie und Farbe zu erfaffen vermögen, ſondern daß der denkende Geiſt, die ſeheriſche Dichtung, das Hingende Wort der bildenden Runft die Hände reichen müſſen auf dieſem Wege zur SGelbft- vollendung, zur Selbſtentfaltung, zur Heimkehr.

So wird Fahren krog, in der Sehnſucht ebenfalls aus früheſter Jugend aufwachſend zum Dichter, und, wie er immer ganz iſt, ganz Maler, ganz Oen ker, fo wird er in feinen Dramen gleich ganz Dramatiker, der Werke von einem Guß, in einem Wurf voller Rraft und Bühnen- größe hinſtellt, die ſich den beſten unſeres Schrifttumes zur Seite fügen. In all dieſen ſeinen Oramen, im „Wölund“, im „Nornegaſt“, im, Baldur“ und in der „Godentochter“ (früher Schuld und Schickſal“ genannt) iſt es wieder der Befreiungsged anke, der aufſteigend aus germaniſchem Wurzelboden voll urwüuͤchſiger Kraft und Ewigkeitswert ſich mit dem Menſchen und feinem Wege zum Licht ausein anderſetzt. Mag es hier die Schuld des Mannes in ihrer Naturgebundenheit, dort die des Veibes fein, mag dort das Schickſal zu äußerem Untergang, bier die Liebe zu innerer, zur Selbſterlöͤſung führen, und endlich aus prometheiſch geſtaltetem Chriſtustume, Erlöfertume, ſich Bald ur der deutſche Lichtgott, als der zum Gott erlöfte Menſch in unſterblicher Schöne zum Lichte heben: immer iſt es dieſe fteil aufgereckte Flamme, die aus dem Unten zum Oben hebt und das Urgeheimnis alles Lebens erfüllt. Wann wird die Zeit kommen, da das deutſche Volk, wie ſeinerzeit die Griechen zu ibren erhabenen ſakralen Feft- ſpielen allenthalben, zu dieſen Werken wandert, deren tiefe Gewalt einem jeden ans Herz greift, der fie, wie etwa bei den Uraufführungen im Harzer Bergtheater, gehört, geſehen und erlebt bat? Dann wird deutſche Zeit fein!

Schon in feinen den keriſchen Büchern „Luzifer“ und „Geſchichte meines Glaubens“ war der Weg beſchritten; ein Werk aber von gewaltiger Tiefe, von erhabener Höhe und form- vollendeter Geſchloſſenheit, das das Gottſucherſein des Menſchen von den Zeiten her, da er ſich löfte vom Tier bis zum Heute, ergründet und darſtellt, blieb dem Schöpfer auf der Höhe feines Schaffens vorbehalten. Es iſt dies das noch unvollendete Buchwerk: „Gott im Wandel der Zeiten.“ Der Titel, gleichſam das Thema einer großen Symphonie Gottes, iſt zugleich der Titel einer Geſchichte der Gottheit in der Menſchenbruſt. Der erſte Band „Jas Grauen vor dem Unbekannten“ bringt die Geburt des Gottgedankens aus dieſem Grauen vor den un- bekannten Machten im Menſchen. Der zweite Band „Feuer und Sonne“ iſt eine wunder- volle Ausſchoͤpfung der Edda und des Muspilliliedes, mit der ſich in künſtleriſcher Neuſchöpfung die Urfpriinge der germaniſchen Mythologie zu einem Akkord vereinen, der in Glodendröhnen den Aufſtieg des nordiſchen Geiſtes aus den dunklen Gewalten des Unbekannten tönt. Prome- theiſche Tat, zweifelgeboren zur Höhe ſtrebend, trägt noch den Reim der Not, der Dämmerung in ſich, wie jede Tat, die Erlöſung zur Höhe gebiert. Baldur, goͤttlicher Weihe voll, wird Gott, er, der Menſch war. Menſchheit ſcheidet ſich in Volkheit; und wie ein Volk iſt, fo iſt fein Gott. Mit ſicherem Blick für das Typiſche greift Fahren krogs feſte Hand in dieſes glut volle Geſchehen und ſtellt einen Ausſchnitt jener Zeit im dritten Bande „Der Sötze“ vor das innere Auge, da aus dem menſchlichen Sehnen, aus der menſchlich bedingten Gottvorſtellung der Götze ſich zum Geiſtgott zu verklären beginnt. Der Kampf der Aſſyrer mit Juda, der Kampf der Iſchtar mit Jahwe in feiner zwiefpältigen Form wird hier in tiefer Einfühlung in jene blutheiße und darum auch blutige Zeit, in der die Beſtie im Menſchen erſt vereinzelt die Macht des Geiſtigen zu ahnen beginnt, aber auch in das Triebhafte gefangen iſt, geſtaltet. Hier iſt es allein die Runft,

58 Auguſte Supper

die als Fuͤhrerin und Wegbahnerin der Religion das über das Menſchliche Hinausgehen ahnend erfaßt, und der Begriff des Opfers ſich aus der Verſöhnungsgabe zur erlöfenden Lie best at wandelt. Die neuerklommene Höhe öffnet das Tor neuer Frage! Iſt in dem Alleinen alles, fo iſt in ihm Gut und Böſe. Sittliche Forderung aber verlangt Antwort, welchen der beiden großen Gewalten, Altruismus und Egoismus, der Menſch folgen ſoll. Das aber iſt der vierte Satz dieſer Sottesſymphonie Ludwig Fahren krogs, und er trägt den Namen „Oſchain Mahavira“. Er iſt das Lied der fuchenden, ſehnenden, nach Erkenntnis drängenden Menſchenſeele. Wir wan; deln durch die Gefilde Indiens, ſteigen auf zu den ewig ſchneebedeckten Häuptern der Mütter, durchleben die Wandlung zum Innern, die Löſung vom Weltfein, die Strahlung der Liebes kraft, die Feſſelung der Schlingen der Welt, hier lichtverklaͤrt, dort glutverbunden, und ſtehen am Ende doch vor der ewig bangen Frage: Vas iſt erreicht? Die Symphonie, bie ſich immer mehr und mehr in lichtverklärte Höhen verliert, läßt aber ſchon die Tone erklingen, die wie Heimatklänge find, fo daß wir in Ungeduld der kommenden Bände warten: „Der ge- opferte Gott“ und den Aufſchwung der Symphonie zur harmoniſchen Krone in den beiden Schlußbänden erſehnen.

Nur ein Deutſcher kann ein ſolches Wert ſchaffen; das iſt ein zuverſichtliches Wiſſen, iſt ein Licht im Schneegeftöber der Winternacht, das führend und leuchtend zur Höhe weiſt, das unſerer Volkheit den Spiegel vorhält, das fie zu den un verſieglichen Quellen ihrer Nraft zurüdführt; denn eine Seele lebt im Ganzen, fie erkennen, iſt das Glück. So fühlen wir Ludwig Fahren krog als den Unſern, dem wir nahe ſein ſollten, wenn unſer Herz an die Himmelstore pocht, denn er iſt es, von dem Goethes Wort gilt:

Was kann der Menſch im Leben mehr gewinnen, Als daß ſich Gottnatur ihm offenbare, Wie ſie das Feſte läßt zu Geiſt verrinnen, Wie ſie das Geiſterzeugte feſt bewahre! Dr. W. A. Krannhals

Auguſte Supper Nachklang zu ihrem 60. Geburtstag

2 ugufte Supper, die GOjdbrige, iſt weit über die Grenzen ihrer engeren ſchwäbiſchen Heimat | hinaus bekannt geworden; ihr Schaffen wird in immer weiteren Rreifen als wertvolle Er- ſcheinung unſeres zeitgenöͤſſiſchen deutſchen Schrifttums anerkannt. Dies iſt ein erfreuliches Zeichen dafür, daß ein kerngeſundes, von inneren Werten lebendes und ſolche vermittelndes dichteriſches Werk auch heutzutage ſich durchzuſetzen vermag, wo ſpieleriſche Geiſtesakrobatik und „form vollendete“ Stil- Eleganz gemeinhin höher gelten, jedenfalls aber größeren äußeren Erfolg haben als naturnahe Friſche und ſtilles Gottſuchertum.

Das ſchwäbiſch- alemanniſche Volkstum, aus dem Auguſte Supper hervorgegangen, zu dem ſie ſich mit dem leidenſchaftlichen Nachdruck eines ganzen Lebenswerkes bekennt, zeichnet ſich dadurch aus, daß in ihm die zerſetzenden und nivellierenden Einflüffe der modernen Großjtadt- ziviliſation ſich noch nicht ſo tief eingefreſſen haben. Eine gewiſſe patriarchaliſche Tradition iſt noch lebendig, beſonders im Bauerntum, das von je zähe am überkommenen Kulturgut feft- hält, ſich nicht fo raſch von allen möglichen „Exrungenſchaften der Neuzeit“ einfangen läßt, mit didtdpfigem Mißtrauen freilich manchmal auch gefunden Neuerungen entgegentritt.

Neben dem oberſchwäbiſchen Land ift es im Bereich alemanniſcher Erde deſonders der Schwarzwald, wo ſolch alteingeſeſſenes, kerniges Bauerntum noch lebt: feſt verwurzelt in der Scholle, arbeitſam, nüchtern und doch aud verſonnener Grübelel, ja gelegentlicher Schwär-

Zugufte Supper 59

merei nicht abhold, was ſich beſonders in feiner Religiofität ausdrückt, in der fic altteſtamentliche Serbheit und apokalyptiſche Zenſeitigkeit ſeltſam miſchen. Die Dichterin dieſer Schwarzwald bauern iſt Auguſte Supper.

Schon einmal gab es eine Zeit der „Literaturfähigkeit“ dieſer Bergwelt: als Berthold Auer-

bach mit feinem „Barfüßele” und anderen rührenden Sachen (doch fei ihm fein , Diethelm von Buchenberg“ unvergeſſen !) die deutſchen Lefer eroberte. Auerbach iſt heute „erledigt“: die unwahre Sentimentalität feiner Perſonen ſtößt uns ab. Wie fo ganz anders geſtaltet die Supper ihre Bauern und Bäuerinnen: in ihrer ungeſchlachten Schwerfälligkeit, ihrer fdlau- pfiffigen Nüchternheit, die Geld und Gut nach echt bäuerlicher Weiſe gebührend einſchätzt, in ihrer handfeſten, tnorrigen Frömmigkeit. Erſtaunlich unſentimental kann die Oichterin fein. So find dieſe Menſchen des Schwarzwalds, fo leben und ſterben fie. Ohne Schoͤnfärberel ſchildert die Dichterin auch das Harte, Derbe, Unſchöne, Rohe des dörflichen Lebens, freilich auch mit Genugtuung manche verſteckte Schönheit aufzeigend, die ihre gütige Warmherzigkeit hinter den Masken von Grobheit und Plumpheit entdeckt. Denn hier iſt das Land der Originale, der verſchrobenen Räuze, und ihnen gehört die beſondere Liebe der Dichterin: den Schafhirten, bie dem Weltenrätfel oft näher als mancher Pfarrer, den Vunderdoktoren und „Hexen“, die babern und in Sympathiekuren machen, den Dorflumpen, die ein Schickſal aus der Bahn ge- worfen, den Mühſeligen und Beladenen auch, die unter den Laſten des Alltags doch nicht kapitulieren.

„Oahinten bei uns“ und „Leut“ nannte fie ihre beiden erſten Geſchichtenbuͤcher, in denen uns dieſe baͤuerliche Umwelt am anſchaulichſten und fchönften entgegentritt, in denen auch ſchon die ganz perfinlide Note der Rünftlerin deutlich zum Ausdruck kommt, wie fie ſich auch in allen folgenden Büchern in erfreulichſter Weiſe offenbarte. Will man die Grundzüge ihres Schaffens herausarbeiten, fo möchte man formulieren: Frömmigkeit und Humor beſtimmen ihr Werk. Vielleicht verblüfft dieſe Verbindung zweier anſcheinend heterogener Stimmungen, aber ſie entſpeicht durchaus dem Charakter ſchwaͤbiſch⸗alemanniſchen Volkstums. In feinen Künſtlern fpiegelt ſich ein Volkstum am reinſten, und da mögen wohl Namen wie 3. P. Hebel, Zuſtinus Kerner, Eduard Mörike, Friedrich Theodor Viſcher für die Richtigkeit obiger Behauptung

deugen.

Die Gefühlswelt der Schwarzwaldbauern ſelbſt iſt, wie ſchon angedeutet, ſtark religiös gefärbt. Bodenftändiges Bauerntum ift immer „fromm“: abhängig in feiner Exiſtenz von den allwirkenden Naturgewalten, entwickelt es eine ſtark mit Aberglauben durchſetzte Naturmyſtik, die von ſelbſt ins Religidfe übergeht und ſich der Formen und Formeln der überlieferten, geliebten chriſtlichen Religion, in unſerem Falle pietiſtiſch gefärbten Luthertums, bedient. Wetter und Wind, Valdes rauſchen und Sterngefunkel find dem Bauer, wenn auch wohl meiſt unbewußt, mehr als metereo- logiſche und aſtronomiſche Angelegenheiten, denn ſie bedeuten ihm Schickſal. Und ſo iſt ihm Religiofitat, Frömmigkeit, d. h. Bejahung und Unterordnung unter übernatürliche Gewalten, Halt und Stütze in einem Leben voller Arbeit, iſt geradezu ein Grundelement, ein Stilprinzip ſozuſagen, feiner Exiſtenz.

Mit der glänzenden Beobachtungsgabe und dem ausgeſprochenen Talent der Charakter- geſtaltung, die Auguſte Supper auszeichnen, geht fie dieſen Regungen, dieſen Unterwürfig- keiten und Aufbaͤumungen bäuerlicher Religiofitat nach „tongenial“ ſozuſagen in ihrer eigenen Neigung zu religiöſer Auffaſſung und Ourchdringung des Geſchehens. So iſt es wohl auch kein Zufall, daß ihre Kunſt am meiſten triumphiert, wenn ſie Sterbeſzenen geſtaltet: Der Tod als Sinn frommen Lebens, als unerbittlicher Richter, als Prüfer des Charakters das war ja noch immer einer der lockendſten Vorwürfe zu kuͤnſtleriſcher Geſtaltung. Velch eine Wucht liegt z. B. gleich in der erſten Erzählung ihres erſten Buches „Wie d'r Adam ſtarb“! Und kein fchöneres Stuck weiß ich unter den vielen köͤſtlichen Gaben ihrer Kunſt als „Vater und Sohn“, wo, in unerhörter Knappheit herausgemeißelt, das Erlöͤſchen eines armſeligen Tagelöhnerdaſeins uns

60 Augufte Supper

aufs tieffte erſchüttert, wo mit ein paar herben Strichen nicht nur ein Einzelleben, ſondern eine ganze Welt dörflichen Seins umriſſen wird.

Zn allen moglichen Situationen und Stimmungen führt uns die Dichterin ihre Bauern vor in der Verſchiedenartigkeit ihrer Charaktere. Es iſt ihre beſondere Runft, mit ein paar kräftigen Linien Menſchen und Schickſale zu geſtalten, fo daß fie leibhaftig und klar vor uns fteben. Rein Zufall auch, daß ſich die Dichterin fo gerne der Maske von Pfarrern, Lehrern und Land ärzten bedient, um durch deren Mund die Wahrſcheinlichkeit und Cindridlidteit ihrer Beobachtungen und Erkenntniſſe ſich beſtätigen zu laſſen. Denn Pfarrer, Lehrer und Arzte ſehen den Bauern am tiefſten ins Herz, ihnen erſchließt ſich am eheſten die Seele dieſes tnorrigen und knurrigen Volkes. Welch eine Köſtlichkeit iſt z. B. die Erzählung „Die neue Methode“! Da kommt ein Vikar, ein jugendlicher Feuergeiſt, auf eine Schwarzwaldſtelle, findet natürlich von der erhabenen und gelehrten Höhe feiner „Stifts“ Pfſychologie aus alles reformbedürftig, allem zuvor feinen alten milden Pfarrherrn; er will „durchgreifen“ in feinem ſeelſorgerlichen Eifer, der wohl echt und {don ift, aber kein Augenmaß kennt, und erhält nun vom Schickſal die niedlichſte Lektion: daß es gelernt fein will, Schwarzwaldbauern anzufaſſen, daß hier ein Seelſorger ſich einzufügen hat in einen gewiſſen patriarchaliſchen Gang der Dinge, will er überhaupt an die Seelen dieſer Menſchen herankommen. Auch der Roman „Lehrzeit“ betrachtet dörfliches Leben aus der Pfarrhausperſpektive. Da ſchildert eine Pfarrfrau in Tagebuchform ihre zerfallende und fi wieder zufammenfügende Ehe, aber aus dem Mofail dieſer privaten Erlebniſſe erſteht vor uns ein überaus lebendiges, klug und klar geſchautes und von fraulicher Güte durchleuchtetes Bild des ganzen Dorfes mit einem Gewimmel von eigenwilligen Figuren.

Auch in den anderen Romanen „Die Mühle im kalten Grunde“ und „Oer Herrenſohn“ zerflattert mitunter die Handlung, aber dafur werden wir reichlich entſchädigt durch die glanzende Wiedergabe der Umwelt ſowohl wie durch die problembefruchtete Inbrunſt der Darftellung.

Am ſchönſten ſpiegelt ſich das Künſtlertum dieſer wahrhaft zum Wort berufenen Frau in ihrem letzten großen Werke, dem „Hölzernen Schifflein“. Wundervoll, wie hier, wieder im Rahmen dörflicher und pfarrhaͤuslicher Umwelt, das Schickſal zweier Menſchen, Chaos und Läuterung, mit den Mitteln einer adeligen, reifen Erzählkunſt geſtaltet wird! Alle guten Geiſter dichteriſcher Eingebung umſpielen dieſe Geſchichte von Forſtmeiſters Eva, dem Findelkind aus Baltenland, und Pfarrers Heinz, dem gediegenen Sproß alter gelehrter Familie.

In dieſem Werke wie auch in ſehr vielen ihrer kleineren Erzählungen (vgl. die Novellenbaͤnde „Holunderduft“, „Oer Beg nach Dingsda“, ‚Der Mann im Zug) tritt nun der religiöfe Grundzug ihres Schaffens in einer ganz beſtimmten Färbung auf. Vielleicht geht man nicht fehl in der Annahme, daß die liebevolle Vertiefung in baͤuerliches Sein, die ſtändige Beſchäfti⸗ gung mit der religidfen Vorſtellungswelt naturnaher Menſchen eine ſchon in der Dichterin ſchlummernde Anlage verſtärkt hat: wir finden nämlich in ihrem Werke eine beſondere Vorliebe für jene Dinge, die wir, verwaſchen genug, mit „okkult“ zu bezeichnen pflegen. Gerade in den religidfen Vorſtellungen des Bauern vermiſchen ſich ja unauflöslich Glaube und Aberglaube aber in vielem, was der „Gebildete“ als Aberglauben ablehnt, iſt doch wer wagt das zu leugnen? ein Stück, ein Abglanz jener Geheimniſſe lebendig und offenbar, an die ſich die offizielle Wiſſenſchaft eben erſt herantaſtet. „Ich danke jedem, der Himmelreich und Erdenreich ein Schrittlein näher zueinander bringt. Wir ſind ja doch alle Amphibien“, läßt Auguſte Supper einmal einen ſtrafverſetzten Foͤrſter ſagen, der dahinten in feinen Wäldern Sinn und Geſetz des Lebens ndbertommt, |

Es gehört zum Reizvollſten im Schaffen der Auguſte Supper, daß ſich ihre ausgeprägte Religiofität mit feinem Humor paart, der fo volkhaft und volkstümlich echt iſt wie die „dunkle Seite ihrer ſchöͤpferiſchen Gabe. Hat nicht das „Volk“ angft vor dem Teufel, den es noch wahr haftig, geſchwänzt und gehörnt, umgehen ſieht liebt es nicht dennoch, ihn zu foppen ? Zit nicht alle Sage grotesk gemiſcht aus unheimlichem Spuk und derbfrohem Schnurrantentum 7

‘Paul Nriedrich 61

Auch unſere Didterin, dieſe typiſche Vertreterin, dieſe Ründerin und Oeuterin ſchwaͤbiſchen Bauerntums, hat dieſen ſeltenen, aus dem Herzen quellenden volkstümlichen Humor. Herrlich verträgt ſich das mit ihrer Frömmigkeit, die fo gar nichts konfeſſionell oder dogmatiſch Gebun- denes oder gar Salbungs volles an ſich hat. Gerade ſalbungs voller Korrektheit und dogmatiſcher Engſtirnigkeit geht fie energiſch zu Leibe. Wie tief demütigt fie dieſen ſelbſtgerechten Pfarrer Moſeroſch in „Lehrzeit“; wie ſchelmiſch führt ſie etwa Muckertum ab in „Sein Damaskus“! Achtung und Liebe empfindet fie für alle frommen Naturen, wenn ihr oberſtes Geſetz edle und bilfebereite Menſchlichkeit iſt Achtung auch vor einer gewiſſen Hölzernheit des Glaubens, wie ſie ſich gerade in altwürttembergiſchem Pietismus mitunter auswirkt, denn ſie weiß, wie oft hinter ſcheinbarer Nüchternheit und Kälte der Funke idealiſtiſcher Warmherzigkeit glimmt. Aber ihr Haß gilt aller falſchen Frömmigkeit, die mit krachledernem Starrſinn auf Buchſtabe und Formel verſeſſen iſt ohne den Geiſt wahrer nächftenliebender Tatbereitſchaft. Ihr iſt der Baga- bund, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, lieber als der tadellofe „Ehrenmann“, der nur die Krawatte auf dem rechten Fleck hat! Solche Kerle erledigt fie mit der Waffe ihres bisweilen wahrhaft göttlichen Humors, der in allen Schattierungen ſpielt. Sch führe als Beifpiele an: „Die Wunderkur“, „Oer Heß und fein Buch“, „Strafverſetzt“, „Der Zerlumpte“, „Johannes Oiepolds Vermächtnis“.

Es fehlte ein weſentlicher Zug im Bilde der Dichterin, gedächten wir nicht noch beſonders ihrer ausgeſprochenen Liebe zur Kreatur. In wie vielen Geſchichten treten etwa Hunde und Pferde, als „Neben perſonen“ ſozuſagen, auf, als treue Rameraden der Menſchen, die ihren Sinn haben in Gottes Welten plan. Die Stellung des Menſchen zu den Tieren iſt eine Charakterprobe doppelt lieben muͤſſen wir die Dichterin, die mit ſolcher Inbrunſt die Rreatur umfaßt.

Diel (Hones und adeliges Dichtertum kam ſchon aus Schwabenland. Abhold der Phraſe, ohne Ehrgeiz, den Runftlärm unferer Tage zu überſchreien, für ſich einnehmend und werbend durch die inneren Werte ihres Schaffens: fo gehen auch die heutigen ſchwͤbiſchen Dichter und Didte- rinnen unbeirrt ihren Weg. Vielleicht es iſt ja viel verhocktes und verftodtes Blut in Schwa- ben ift es ihnen nicht gegeben, „Stimme der Zeit“ zu fein, was man oft als Aufgabe des Künſtlers bezeichnet. Aber iſt das Geſetz der Kunſt nicht ſchöner erfüllt, wenn die Dichter ſich bemühen, Stimme der Ewigkeit zu fein?

Dr. Karl Fuß (Eſſen)

Paul Friedrich Zum 50. Geburtstag

tof. Georg Wehrung hat einmal in einem geiſtvollen Aufſatze, anknüpfend an R. Eucken,

von der Bedeutung des „Werkes“ im Leben des geiſtig Schaffenden geſprochen: „Das Streben und der Aufftieg zum Werk iſt ein Ringen um die Weiterbildung, Befeſtigung und Vollendung des eigenen Weſens. Als Werk kann nur anerkannt werden, was aus der geiſtigen Selbſterhaltung entſpringt, was durchaus und durchweg auf unſere Gelbittätigleit gegrün- det iſt.

Wenn wir von diefer Seite aus an den Dichter, Rulturtrititer und Literarhiſtoriker Paul Fried; rich herantreten, der am 2. Oktober feinen 50. Geburtstag feiert, fo muͤſſen wir es bedauern, daß nicht ſein ganzes Werk Gemeingut unſeres Volkes geworden iſt, ſondern daß er nur mit feinen letzten Werken, dem Grabbe- Roman und den Novellen „Ewige Mächte“, tiefer in das literariſche Leben der Gegenwart ein gegriffen hat. Dabei ſoll nicht geſagt fein, daß die früheren Dichtungen Paul Friedrichs belangloſer geweſen ſeien. Der Mann, der den „Kampf um den neuen Menſchen“ führte, wußte uns immer auf allen liter ariſchen Gebieten Eigenes zu ſagen. Aber die „Zugheringsherde“, um ein Wort Zean Pauls zu gebrauchen, plätſcherte in ſeichten

62 Paul Feledrid

Ziteraturtümpeln, Der Mann, der mit Huttenſchem Mut harte Hiebe gegen literarifche Gift- miſcher männlich austeilte, der mit Klopſtockſchem Deutſchtum und Schillerſchem Idealismus gegen den ſeelenloſen Maſchinismus zu Felde zog, um eine „Deutfche Wiedergeburt“ zu bringen, ein ſolcher Mann wurde in eine Abſeitsſtellung gedrängt, und ſein Werk, das Sammlung im höchſten Sinne und reinfte ethiſche Kultur wollte, blieb in feinem Feinſten nur wenigen bekannt.

In feinem Buche „Oeutſche Renaiſſance“ (1911), einem Werke, in dem auf jeder Seite eng · gepackter Reichtum zu finden iſt, leſen wir: Wir ſtehen an der Schwelle eines neuen Jahrzehnts. Das letztverfloſſene hat uns auf techniſchem und induſtriellem Gebiet neue ſtaunenswerte &- folge gebracht; es hat eigentlich die letzten Ronſequenzen des Maſchinenzeitalters gezogen Man hat ein großes Geſchrei um die Wettflüge der Aeronauten gemacht. Daß auch fie nicht den Mond vom Himmel holten, war an ſich ganz natürlich; aber daß auch auf dieſen Gebieten ein Ruͤckſchlag eintreten wird, iſt ganz ſelbſtverſtändlich.

Nein, es ift nicht ſelbſtverſtändlich geweſen, und Paul Friedrich ruft es in einem Gedicht an den Ozeanflieger Lindbergh (Ausgew. Gedichte 1927) ſelbſt aus. Wir find nicht vorangekommen. Alle, die eine tiefe Sehnſucht nach einem „heimlichen Deutſchland“ in ſich tragen, ſtehen betrübt vor der Tatſache: Wir, alle die Sehnenden und Suchenden, ſind eine kleine ſtille Semeinde geworden. Der Bizeps triumphiert; das pöbelhafte Geſchrei, das heute jeden „Star“, jeden „Rekordläufer“ zu einem „Matador der Kultur“ machen möchte, betäubt jede feine Seele. Denn daß man jedem Aviatiker Denkſteine errichtet und Ehrungen entgegenbringt, wie ſie einem Dichter, Muſiker, Maler, Gelehrten nie zuteil wurden, iſt ein Abſtieg unſerer Kultur. zn dieſe Zeit des erfchütterndften Zuſammenbruchs der Ethik, des wild triumphierenden Materialismus, fällt Paul Friedrichs 50. Geburtstag, der uns zur Selbſtbeſinnung über dieſen Dichter zwingt, weil er, ein Einſamer, für deutſche ſittliche Zdeale jahrzehntelang gekämpft hat, Pfadſucher für edles Menſchentum.

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Wer die dichteriſche Entwicklung von Paul Friedrich verfolgt, wird immer ernſte und ſchwere Tone vernehmen. Der am 2. Oktober 1877 in Weimar geborene Dichter, Sohn des bekannten Malers und Illuſtrators Woldemar Friedrich, der u. a. das Reichsgericht und die Buchhändler börſe in Leipzig [hmüdte und ein wundervolles Bild der „Heiligen Eliſabeth“ ſchuf, fpäter als Profeſſor an der Akademie der Künſte in Berlin 1910 ftarb, empfing aus feiner thüringifchen Umgebung, aus Weimar im tiefſymboliſchen Sinne, die reichſten Anregungen. Schiller iſt ihm noch in fpäten Jahren der großer Erzieher zu ſittlicher Stärke und edelſtem Mannestum ge weſen. In Berlin legte der junge Studioſus der Muſik, der dann fpäter umfaſſendſte geſchichtliche und philoſophiſche Studien trieb, den Grund zu einer Bildung im allerhöchſten Sinne des Wortes, die ſeinen Schriften und Arbeiten auf dieſem Gebiet kräftiges Mark geben. Gedichte („Sonnenblumen“) erſcheinen, in denen Gedanke und Wort ſich oft ganz durchdringen und frühe Selbſtändigkeit verraten. Ein religions-philoſophiſches Epos, „Chriſtus“, folgt, von Adel- bert von Hanſtein wegen feiner Tiefe warm begrüßt. 1901 wird von der Berliner Fin kenſchaft die Trilogie „Napoleon“ mit größtem Beifall vorgeleſen. Es iſt ſehr zu bedauern, daß dieſes lebhafte und eigenartige Jugendwerk nicht zur Aufführung gelangte. Wer Büchner und Grabbe kennt, weiß, daß der ſehr temperamentvolle Dichter tiefe Studien getrieben hat. Diefe drei Sugendwerte geben den Grundattord, der durch das ganze weitere Schaffen Friedrichs hell und ſtark klingt.

Hermann Löns ſchrieb einmal recht bitter, daß es ihm bei ſeinem Feuilletonſchreiben recht „gut“ ginge; aber daß es ihm furchtbar ſei, wenn große und ſchöne Stoffe, ausgereift, nach Form ſchrien. Dieſe Fronarbeit hat auch dem Oichter Paul Friedrich günſtige Stunden des Schaffens geraubt, und er konnte, in der ihm verhaßten Großſtadt, mit Lienhard der Berliner

Paul Friedrich 63

Jahre erbittert ausrufen: „Da draußen war id ein ſtolzer Sohn meiner Wälder und Verge, bier frone ich um Lumpenlohn im Gewimmel der Zwerge.“ Wenn er nod heute fchreibt: „Armes Deutidland und arme deutſche Schöpfer, die ihre Worte in eine echoloſe Pdbelwiijte fenden“, fo könnte dies Bekenntnis auch ſchon vor 20 Jahren ausgeſprochen fein, da es den Schmerz des Dichters ausdrüdt, der wegen feines Alltagswerks nicht zur ſchöpferiſchen Gejtal- tung kommen konnte. Der immer Tätige gibt 1903 bei Pierſon die Monatsſchrift „Hochland“ heraus. Ein Jahr ſpäter beginnt fein Rampf gegen die „Moderne“ in einem wichtigen Büͤch⸗ lein, „Der Rampf um den neuen Menſchen“, dem Rudolf Eucken und Oskar Weißenfels febr ſympathiſche Beſprechungen brachten, während Joſeph Ettlinger ſchrieb: „Er ſchlug die Tiſche und Stühle tot, die Vögel litten große Not.“ Mit welchem Gedankenreichtum ftürmte diefer Dichter ins Leben! Heilige Begeiſterung dieſer Jugend, die ganz im Zdealismus wurzelte, Plane Machen, Suchen und Kämpfen!

Alle drei oben angedeuteten Richtungen finden ſich in der Gegenwart wieder: Der Lyriker gibt weiter heraus „Zm Lebensſturm“, „Tiefe Feuer“, „Zrion“, die alle den Stempel ur- eigenfter Perſonlichkeit tragen und alle eine tiefe und reiche Erkenntnis der Werte des Lebens aufweiſen. Das letzte Werk erſchien 1910 und die gegenwärtig vorliegenden „Ausgewählten Gedichte“ laſſen die ganze Innerlichkeit Friedrichs erkennen, der nicht nur manch harten Feder- krieg aus focht, ſondern auch, aus Seelenwunden blutend, ſchmerzvolles Leid mit tiefer Sehn · ſucht nach feiner Rinderheimat klagt; ein wehes Schluchzen oft:

„Wie kalt der Wind im welken Laube pfeift,

Die Flocken ziehen Schleier um mich her,

Vergebens meine Sehnſucht nach dir greift

Du kleiner Falter gauteljt niemals mehr.

Zerfallen, mit zerriſſ'nem, ſtaubigem Flügel

Schlaͤfft du den langen Schlaf. Ruh’ ſanft, mein Kind! Novemberfloden ſchneien auf den Hügel

Die Nacht iſt lang und eiſig weht der Wind.

„Es war ein grauer Tag. Der Regen rann.

Ans Fenſter ſchlug der Baum mit naſſen Zweigen Wir ſaßen beide ſtumm in tiefem Schweigen,

Und keines brach der Oammerftunde Bann.

Und als dein Mund zu reden dann begann,

Da ſah ich dich dein liebes Köpfchen neigen.

Du mochteſt mir den tiefen Schmerz nicht zeigen, Der äh die Herrſchaft über dich gewann.

In wehen, dumpfen, zitternden Akkorden Erklang die Laute, die der Schmerz berührte, Und klagte, daß es in dir Nacht geworden

Da fühlt’ ich, wie das Mitleid in mir fchürte Gewaltig neu die Flamme meiner Liebe, Und wie ich in mir alte Wunden ſpürte.“

Aber dieſe Schmerzen Friedrichs ſetzen wir ein Wort Lien bards: „Über manche Kämpfe gibt es keine Ausſprache, auch nicht zum beſten Freunde. Sie ſind ſo zarten Geſpinſtes, daß keine Sprache dafür ausreicht.“

64 Paul Friebel

Auch der Dramatiker hat ſich fortgebildet: dem „Napoleon“ der Frühzeit folgten bis 1910 die Werke „Prometheus“, „Das dritte Reich“, „Heinrichs Krönung“ (im Harzer Bergtheater erfolgreich aufgeführt, wie auch das vorhergenannte Werk, ein Nietzſche- Drama, ganz Nietzſches Geiſt atmend, einen ſtarken inneren Erfolg hatte), zuletzt „Odyſſeus“. Es würde hier zu weit führen, auch dieſe Tätigkeit des Dramatikers eingehend zu würdigen, wie auch die nimmer müde Arbeit des Herausgebers wichtiger Werte, z. B. Grabbes. Wir wollen nur noch ein Doppel- tes betrachten, den Kulturkritiker und den Romanſchriftſteller.

Hatte Paul Friedrich in feiner Studie „Oer Fall Hebbel“ vor einer ftarten Hebbelüberſchätzung gewarnt und ſich als durchaus einſichts voller tiefjhürfender Kritiker exrwieſen, war er in dem Buch „Schiller und der Neuidealismus“ (1909) als Herold deutſcher ſittlicher Kultur aufgetreten (Schiller, der, wie Eugen Rühnemann trefflich bemerkte, nicht nur ein Dichter der Zugend, ſondern erſt recht ein Erzieher zum reifen Mannestume ſei), ſo brachten doch erſt die beiden Bände „Oeutſche Renaiſſance“ (1911) und das Buch über Paul de Lagarde (1912 das tieſſte Bekenntnis des Dichters zu den hoͤchſten ethiſchen Fragen der Gegenwart. Es iſt ein grund- ernſtes Buch, was die deutſche Wiedergeburt will. Mit blitzblanker Waffe kämpft er gegen alles Undeutſche an, gegen Modeſenſation mit aller unperſönlichen Verwaſchen heit, gegen jeden zähen Sumpf ohne inneren Willen zur Vergeiſtigung. Man merkt überall den Rampf um den neuen Menſchen, um den Menſchen voll Innerlichkeit, Gewiffen und reinſter Seele. Er zeichnet mit ſtraffer feſter Hand den Weg, der uns aus dieſer Rulturzerfahrenheit herausführt, die in letzter Linie nur Schäden der modernen Amerikaniſierung ſind. (Vgl. „Oer Tod der Weltſtadt“, 1923). Er zieht in einer Rahe von Artikeln, von denen einige hier angeführt fein ſollen, gegen jeden faulen Literaturzauber, den die heutige Großſtadtpreſſe mit ihrem geiſtreichelnden, aber oberflächlichen Feuilletonismus und Journalismus, ihrem Haſchen nach immer neuen extra- vaganten literariſchen Senſationen, „deren Publitum beiſpielsweiſe in der Reichs hauptſtadt das kulturell jaͤmmerliche und geſinnungsloſe Berlin W ijt“, mutig, kenntnisreich und oft ſehr witzig zu Felde, fo in den Eſſays: „Die Gebildeten und die Runft“, „Die Problematiſchen“, „Hebbels und Wagners Frauengeſtalten“, „Deutſchlands Kulturaufgaben“, „Der Wille zur Freiheit“, „Vom Geiſt unſerer Zeit“ und anderen Aufſätzen.

Und wenn er bemerkt, nachdem er das Kaſſikerunweſen, d. h. die in gold gebundenen „Rlaf filter“ rügt und dabei ſchreibt: „So gibt es heute viele, die Gerhart Hauptmann den jüngſten deutſchen Rlaffiter nennen“, fo erkennen wir aus dieſen Zeilen feine Stellung zu dem über ſchätzten Hauptmann ganz genau.

Friedrichs Sehnſucht iſt ein neues geiſtiges Führertum aus deutſchem Geiſt; gegen den ſcham; loſen Materialismus, den ekelhaften Liberalismus mit ſeiner bewußten Artzerſetzung, gegen den blöden und ungeiſtigen Amerikanismus. Kein „Zurück nach Weimar“, ſondern ein „Hin auf in eine neue deutſche Rulturgemeinfchaft mit neuer Heimatinnigkeit“, großer Ehrfurcht vor dem ewigen Deutſchland der Minneſänger und Kaiſer, der Reformation und des großen Alt- Preußentums (Friedrich der Große und Kant, Fichte, Schiller, Kleiſt und Grabbe, Hebbel, Lagarde, Wagner und Nietzſche). Gewiß iſt er Tradition aliſt. Aber nicht Reaktion är. Er iſt Vor- läufer hoffentlicher Nationalerſtarkung und dadurch eine Brücke zu Artur Moeller van den Brucks erſehntem „Dritten Reich“.

Und damit wollen wir von dem alten ritterlichen Rämpfer mit echtem Händedruck zu feinem Geburtstag Abſchied nehmen, mit einem ehrlichen „Glückauf“ im Leben und dichteriſchen Schaf⸗ fen. Er hat in den letzten Jahren durch feinen unvergeßlichen Dichter Roman „Grabbe“, der zu den wenig großen Büchern der Gegenwart gehört, höchſte Anerkennung gefunden, wie auch feine Rünftlernovellen „Ewige Mächte“ zu den wenigen Büchern gehören, die man als äußerſt gehaltvoll in feiner Bibliothek nicht miſſen möchte. Wer bisher von Friedrichs größeren Werken nichts las, wird immer zu dieſen wertvollen Büchern ein inneres Verhältnis finden müſſen, ſofern er ein geiſtiger Menſch iſt. Dr. W. E. Gierke

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Philoſophiſche Bücher

n einem früheren Aufſatz in dieſer Zeitſchrift (. Sanuarheft 1922, S. 282 ff.) haben wir von der „metaphyſiſchen Erneuerung in der Philoſophie der Gegenwart“ gehandelt und die Türmerleſer damals ver allem auf eine Schrift von Peter Wuſt hingewieſen, welche den fo ehr bezeichnenden Titel „Die Auferſtehung der Metaphyſik“ führte und auch in ihrem In⸗ dalt ſymptomatiſch war für gewiſſe nach dem Weltkrieg neu aufkeimende und der Philoſophie friſches Leben zuführende Strömungen des Denkens. Jene Schrift beſtand im weſentlichen aus einem kritiſchen, mit leidenſchaftlichem Bekennermut geführten Waffengang mit den Haupt- vertretern der zeitgen öͤſſiſchen Schulphiloſophie und ſuchte ſich dadurch einen Weg zu bahnen aus den ausgefahrenen Gleiſen überlieferten und alt gewordenen Denkens aufs freie Feld der vielgeſchmaͤhten und fo oft ſchon zu Tode bewieſenen und totgegiaubten Metaphyſik. Nunmehr hat uns der Verfaſſer jenes vortrefflichen philoſophiſchen Erſtlings ein neues Werk beſchert, das recht eigentlich dem Aufbau feiner eigenen Gedankenwelt gewidmet ift und die früher nur leiſe an; geſchlagenen Töne zu kräftigeren Akkorden zuſammenfaßt. „Naivität und Pietät“ (Verlag 3. C B. Mohr, Tübingen 1925) ift, wie wir aus dem Vorwort erfahren, das erſte präludierende Stuck einer großangelegten Metaphyſik des Geiſtes, deren Kernſtück die „Dialektik des Geiſtes“ und deren Aus klang die „Philoſophie des Diaboliſchen“ bilden werden.

Zn ſchoͤnen und ſinn vollen, aus tiefem Erleben geborenen Analyſen entwickelt Wuft das metaphyſiſche Doppelphdnomen von Naivität und Pietät, das gleichſam nur eine von den vielen Straßen darſtellt, die in das weite Reich der metaphyſiſchen Zentralprobleme hineinführen. Wie eine Schlingrofe windet es ſich am metaphyſiſchen Stamm empor und führt alsbald in die Diefe der Probleme hinab: die Stellung des Menſchen als des perſonalen Geiſtes in der Mitte zwiſchen dem dumpfen Triebreich der Natur und dem göͤttl ichen Allgeift; das rätſelhafte Auf- blitzen des Geiſtes aus dem Reich der unbewußten Natur; die Bedeutung des Bewußtſeins, die Rolle bes Intellekts im Zuſammenhang der Erkenntnis funktionen; das Verhältnis von Natur und Geift; das mit Raͤtſeln verwobene Problem der Individuation oder des Heraustretens des Individuums aus der Allein heit; die metaphyſiſchen Urgeſetze von der Kohärenz des Seins und vom Prinzip der Beſonderung; ſchließlich geſchichtsmetaphyſiſche Fragen, wie Fortſchritts⸗ bewegung und Kreislauf des Geſchehens. Es ſind alſo, wie wir ſehen, die dem Menſchengeiſt von alters her aufgegebenen und immer wieder den Forſchertrieb anregenden philoſophiſchen Urprobleme, die der Verfaſſer ſich von neuem ſtellt. Und wie alle echte Metaphyſik aus dem platon iſchen Eros geboren wird, fo mündet fie ſchließlich in eine Sphäre ein, die auf der Grenz ſcheide von Glauben und Wiſſen liegt. So find auch Wuſts philoſophiſche Spekulationen ein- gebettet in eine durchaus religidfe, von gläubiger Ehrfurcht erfüllte Geifteshaltung.

Noch näher als die Metaphnfit ſteht die Myſtik dem religiöfen Gebiet. Sie iſt eine Form des teligidfen Exlebens, die eben falls häufig aus dem ſpekulativen Geiſt des theoretiſchen Bewußt; fens erwddft und im gläubigen Erfaffen und in der Hingabe der Seele an die Gottheit ihren Ruhepumkt findet. Eine ſehr feine, innig beſeelte und durch die perſöͤnliche Nähe zu ihrem Gegen ftand ausgezeichnete Studie über „Die Myſtik in der Fülle ihrer Erſcheinungsformen in allen Zeiten und Kulturen“ hat Georg Mehlis veröffentlicht (Verlag F. Bruckmann A. S., München 1926). Ausdrücklich erklärt der Berfaffer im Vorwort, daß fein Buch nicht fo ſehr an die gelehrten Fachkreiſe als vielmehr an die gebildete Laienwelt gerichtet ſei. Es handelt ſich alſo nicht um ein mit gelehrtem Ballaſt beſchwertes und mit dem Rüftzeug des wiſſenſchaft⸗ lichen Begriffs ausgeſtattetes Werk, ſondern um eine feinſinnige, aus echtem Mitſchwingen der Seele heraus geborene Deutung der myſtiſchen Phänomene. In einem mehr allgemein ge- haltenen 1. Teil ſucht Mehlis das Veſen der Myſtik zu ergründen, ihren Geltungsbereich gegenüber den anderen Rulturfphären und Lebensbezügen abzuſtecken und ihre Stellung im ganzen der philoſophiſchen Difziplinen zu beſtimmen. Hiernach iſt die Myftit „eine Form des

der Türmer XXX, I 5

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religidfen Bewußtſeins, in welcher die Überwindung der Trennung zwiſchen der irrationalen Gottheit und der reinen Seele ſchon in dieſem Leben bis zur vollkommenen Weſens vereinigung erſehnt und gefordert wird“. Im weiteren Verlauf werden die geſchichtlichen Höhepunkte des myſtiſchen Denkens zur Darſtellung gebracht, und beſonders eingehend und liebevoll verweilt der Verfaſſer bei der religiöfen Myſtik, die er von ihren Anfängen im Griechentum und im frühen Chriſtentum bis in die Gegenwart verfolgt und an einigen typiſchen Vertretern jeweils die beſonderen Ausſtrahlungen des myſtiſchen Geiſtes uns lebendig macht. Am reinſten und ſchönſten tritt dieſer in der herrlichen Geſtalt Meiſter Eckharts in die Erſcheinung, die recht eigentlich die Erfüllung der myſtiſchen Sehnſucht aus den Tiefen des deutſchen Geiſtes heraus bedeutet. Ein weiterer Abſchnitt handelt von den philoſophiſchen und metaphyſiſchen Syſtemen, der zweiten Form des Rulturbewußtfeins, in der die Myſtik beheimatet iſt. Den großen religiöfen Myſtikern, wie Plotin und Meiſter Eckhart, ſtellt Mehlis hier Philoſophen wie Platon, Auguſtin und Schelling gegenüber, in deren Lehre das myſtiſche Erlebnis ebenfalls Bedeutung gewonnen hat. Und ſchließlich führt der Verfaſſer ſeine Unterſuchung auf das Gebiet der Kunſt und zeigt uns an einigen Beiſpielen, wenn auch nur auswählend und andeutend, wie in Dichtung und Malerei das myſtiſche Erlebnis zum Ausdruck drängt. Auch dieſes Kapitel, das von erfchöpfen- der Behandlung weit entfernt iſt, enthält eine Fülle von feinen und ſinnigen Anregungen, die für den weiteren Ausbau des Gegenſtandes einmal fruchtbar werden können. Geradezu meifter- baft iſt die Art und Weiſe, mit der uns Mehlis das myſtiſche Erlebnis in der Malerei nahebringt, indem er Raffaels berühmtes Gemälde „Die Verklärung Chriſti auf dem Berge Tabor“ und Correggios „Himmelfahrt Mariä“ in prachtvoller Sinndeutung an uns vorüberziehen läßt. Hier leiſtet das einfühlende Verſtehen des ganz mit feinem Gegenſtand eins gewordenen Deu- ters mehr, als umſtändliche theoretiſche Erörterungen je zu leiſten imſtande wären. Leider hat ung Mehlis über diejenige Form der großen Runft, die, wie er ſelbſt fagt, der Myſtik am nächſten ſteht, über die Muſik, nichts mitgeteilt, Wir möchten wünſchen, daß Mehlis' tiefempfundenes Werk recht vielen Leſern zum Erlebnis deffen würde, was er in fo feiner Weife uns gedeutet und nahegebracht hat. |

„Bom Wefen der Erkenntnis“ handelt eine zwar kurze, aber äußerſt gehaltvolle Schrift des Greifswalder Philoſophen Hans Pichler (Verlag Kurt Stenger, Erfurt 1926). Unſer Er- kennen iſt ein wagemutiges Vertrauen; nur wagend gewinnen wir Erkenntnis. Wir müffen uns der Gefahr des Irrtums ausſetzen und mit un vollkommener Gewißheit vorlieb nehmen. Die Stufenfolge des Wiſſens durchläuft viele Grade, und erſt auf der höchften Stufe der vollbegrün- deten Gewißheit erreicht fie die Wahrheit. So führt uns der Verfaſſer von der Erfaſſung der Anſchauungsgegenſtande zur Erfahrungserkenntnis, dann zu den Leiſtungen des logiſchen Den- tens, um ſchließlich vor dem Unergründlichen als dem Zenfeitigen aller Erkenntnis Halt zu machen. Die vollendete Form der ſprachlichen Darſtellung, die in kurzen lapidaren Sätzen dahin; ſchreitet und in wundervoll gebauten Antitheſen die Gedanken durchſcheinen läßt wie die run- den Riefel in einem tiefen kriſtallklaren Bergſee, iſt vor allem bewundernswert.

Schließlich machen wir noch auf die ausgezeichnete Ausgabe der Geſammelte Schriften von Wilhelm Dilthey aufmerkſam, die neuerdings um zwei weitere Bände vermehrt worden iſt und damit ihrem Abſchluß entgegengeht. Wir haben bereits früher an dieſer Stelle (ſ. Auguſtheft 1925, S. 445 ff.) Diltheys philoſophiſches Schaffen im allgemeinen und die bis dahin erjchie- nenen Bände der Gefamtausgabe im beſonderen eingehend gewürdigt und können bezüglich des Sachlichen auf unfere früheren Ausführungen verweiſen. Nunmehr find der ſchon lange erwartete 3. Band, der die „Studien zur Geſchichte des deutſchen Geiſtes“, und der 7, Band, der den „Aufbau der geſchichtlichen Welt in den Geiſteswiſſenſchaften“ enthält, neu hinzu- gekommen; jener iſt von Paul Ritter, dieſer von Bernhard Groethuyſen in geradezu mufter- gültiger Weiſe herausgegeben (Verlag B. G. Teubner, Leipzig und Berlin 1927). Es fehlt jetzt nur noch der 8. Band, der die Abhandlungen zur Weltanſchauungslehre bringen wird.

Othmar Shoe 67.

Dilthey ift einer unferer hervorragendſten Hiftoriter auf dem Gebiete der Philoſophiegeſchichte, die ſich ihm zur allgemeinen Geiſtesgeſchichte erweitert; ſeinem tiefdringenden hiſtoriſchen Blick, feiner ſeltenen Gabe, ſich in große geiſtige Zuſammenhänge und Perſöoͤnlichkeiten in liebe vollem Verſtehen einzufühlen und fie uns in anſchaulicher Bild haftigkeit zu künden und zu deuten, verdanken wir wertvolle Überblicke und Analyſen des deutſchen Geiſteslebens ſeit Renaiſſance und Reformation. Zm 3. Band ſehen wir den Hiſtoriker Dilthey auf der Höhe feines reifſten Schaffens. Bon den drei großen Abhandlungen, die er enthält, iſt der 1. „Leibniz und feinem Zeitalter“ gewidmet; der 2., den ich ganz beſonders hervorheben möchte, behandelt „Friedrich den Großen und die deutſche Aufklärung“ und gehört ſicherlich zum Beſten, was über die Stel- lung und Bedeutung des großen Königs im Geiſtesleben feines Jahrhunderts geſchrieben wor- den iſt; der 3. hat ebenfalls das „Achtzehnte Jahrhundert und die geſchichtliche Welt“ zum Gegenſtand. Der 7. Band zeigt uns die ſyſtematiſche Seite dieſes bedeutenden Gelehrten, bei dem ſich die hiſtoriſche Erforſchung der Vergangenheit ftets wieder mit der philoſophiſchen Be- ſinnung über dieſelbe verband und der in unermüdlichen, nie zum Abſchluß geführten Unter- ſuchungen das Wejen und die Methode der Geiſteswiſſenſchaften und der gefchichtlich-gefell- ſchaftlichen Welt zu ergründen und ihren Eigencharakter gegenüber der fo ganz anders ge- arteten Welt des mathematiſch naturwiſſenſchaftlichen Den kens herauszuarbeiten verſuchte. Das Rernftüd dieſes Bandes bildet die berühmte, ſchon 1910 veröffentlichte Abhandlung über den „Aufbau der geſchichtlichen Welt in den Geiſteswiſſenſchaften“, um die ſich ergänzend eine Reihe bisher meiſt un veröffentlichter Studien, Skizzen und fragmentariſcher Aufzeichnungen aus dem Nachlaß über dasſelbe Thema gruppiert. Sie geben uns einen lebendigen Einblick in das tra- giſche Ringen dieſes Mannes mit einem Problem, das für die „Kritik der hiſtoriſchen Vernunft“ dasſelbe leiften ſollte wie Rants bahnbrechende Dentarbeit für die „Kritik der reinen Vernunft“, und an dem ſeine ſyſtematiſche Kraft ſchließlich erlahmte. Prof. Dr. Rudolf Metz

Othmar Schoeck

Ein ſchweizeriſcher Muſikdramatiker

er Name des ſchweizeriſchen Lyrikers Othmar Schoeck (geb. 1886 in Brunnen am Vier-

waldſtätter See) hat ſeit Jahren auch in Deutſchland guten Klang; die Schweiz erkennt in ihm heute ihren bedeutendſten Komponiſten, vielleicht den einzigen, der über die Grenzen der Schweiz hinaus eine führende Stellung beanſpruchen darf und berufen iſt, in die Ent- wicklung einer muſikaliſchen Gattung beſtimmend einzugreifen: in die des Liedes. Während im allgemeinen das „textempfindliche“ Lied Hugo Wolfs in der Folgezeit durch Übertreibung der literariſchen Tendenzen zum textmaleriſchen Klavierſtück mit nebenhergehendem, oft in un- ſangbaren Intervallen herumtaumelndem Sprechgeſang, ja zum Klavierſtück mit bloßer Rezi- tation entartete, ſchlug Schoeck mit dem Inſtinkt des geborenen Lyrikers die entgegengeſetzte Richtung ein: er ſchuf eine Art Syntheſe des Schubertſchen und Wolfſchen Liedes. Er über- nimmt von Wolf das Schwergewicht des Klavierparts, gibt ihm in feiner polyphoner Veräſte⸗ lung und phantaſievoller harmoniſcher Durcharbeitung ſelbſtändige Werte; er übernimmt auch Wolfs Nunft der muſikaliſchen Ausdeutung des Didterwortes, der engen Anſchmiegung der Gefangslinie und der harmoniſchen Färbung an den Text; es iſt ihm, wie Wolf, die Fähigkeit gegeben, fuͤr jeden ſeiner Dichter einen eigenen Ton, eine der Lebensſtimmung des Oichters entſprechende Aangatmoſphäͤre zu finden; dazu gibt er aber dem aus der Seele des Wortes berausgeborenen Geſang eine fo lyriſch geſättigte und befreit ſchwebende Linie, daß er ſich wieder dem Reiz, der Beſchwingtheit, der Einmaligkeit der Schubertſchen Melodie annähert. Dabei iſt aber Schoecks 8 ſo durchaus perſönlich, hat es ſo ſehr ſein eigenes Geſicht, ſeinen eigenen

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Ton, daß es die Zahl der Schoeckſchen Lieder überſchreitet das zweite Hundert als eine neue und ſelbſtändige Erſcheinung in der Entwicklung des deutſchen Liedes gefaßt werden muß.

Seit der erfolgreichen Uraufführung feiner Muſik zu Kleiſts Tragödie,, Pentheſilea“ an der Dresdener Staatsoper (am 8. Januar 1927) findet auch Schoecks Schaffen für die Bühne ver- mehrte Beachtung. Verhaltnismäßig ſpät, nachdem er ſchon eine große Zahl von Liedern, Chor- und Rammermuſikwerken geſchrieben hatte, wandte Schoeck ſich dem Theater zu. Zwei Gründe mögen das erklären: einmal drängte der Strom lyriſchen Empfindens vorerſt alle ob- jektive Geſtaltung zurück; die Überfülle dieſes echten Mufiterherzens mußte fic zuerſt in einem Hundert von Zugend helle überglänzter Lieder entladen. Dann aber fehlte Schoeck der Unter; bau für ſein Muſikdrama. Seine Muſik, die durchaus Syntheſe, Linie, Ausdruck iſt, ſtand im ſchärfſten Gegenſatz zu der analytifhen, illuſtrierenden Mufit des entarteten Muſikdramas, zu der Tupfentechnik der Impreſſioniſten. Schoeck knüpfte denn auch nicht an eine vorhandene Form an, ſondern kam auf dem Umweg über die Lyrik zur Bühne und zu feiner mufitdrame- tiſchen Form. Hingeriſſen von der in den Proſatext eingeſtreuten, echt goetheſchen Lyrik ging Schoeck an die Kompoſition des kleinen Schauſpiels mit Geſang „Erwin und Elmire“, das Goethe in den erſten Monaten des Jahres 1775, in den Tagen des jungen Liebesglüdes mit Lili Schönemann vollendet hatte und indem er gleichſam die kommende Entwicklung, feine Flucht von der Geliebten hinweg in die Schweiz (Sommer 1775), vorausgeſtaltete. Als Lieder · komponiſt trat Schoeck an die Aufgabe heran; ohne einen ausſichtsloſen Verſuch zu machen, den Proſatext des kleinen Schauſpiels in ein muſikaliſches Gewand zu zwaͤngen, d. h. zu einem ſich ſelbſt genügenden, auf verſtandesmäßige und ſachliche Mitteilung beſchränkten Dialog eine notwendigerweiſe überflüffige, beſten Falles illuftrierende, ſicher aber die Verſtändlichkeit der Mitteilung ſtörende Muſik zu ſchreiben, hielt er ſich an die goetheſche Lyrik, in der ſich die durch die Handlung erzeugten Gefühlsſpannungen löſen. Aber unter der Hand wuchſen ihm dieſe Lieder zu Arien aus: die muſikaliſche Linie wurde größer, weiter, gefeſtigter; was fie an Zn; timität und Detailzeichnung einbüßte, gewann fie an Fluß, an rhythmiſcher Beſchwingtheit. Aufs ſchönſte offenbarte ſich jetzt Schoecks Runft der Individualiſierung. Wie er in feinen Lie dern für jeden feiner Dichter eine eigene Rangatmofphare gefunden hatte, fo traf er nun für jede feiner Perſonen einen individuellen Ton. Das Vorſpiel, ein reizvolles Scherzo voll köft licher, raſch vorüberhuſchender Einfälle, malt Elmires Launen und Kaprizen, die Erwin zur Flucht in die Einſamkeit treiben; die verlaſſene Geliebte aber zeichnet Schoeck mit Tönen ſchwer ; mutiger Trauer, langen, von Liebe und Demut getragenen Linien. Für Erwin findet er den echten Vertherton: heiß, unruhig, ftürmifch zwiſchen uͤberſchäumender Leidenſchaft und tiefem Verzagen auf- und abirrend. Bernardo endlich, der die getrennten Liebenden wieder zufammen- führt, ift als humorvoll überlegene, echt männliche und kraftvolle Perſönlichkeit gezeichnet durch kernig dunkeln Ton und prägnante, munter fließende Rhythmen. In einem großen Schluß terzett vereinigt Schoeck die drei Stimmen zu einem breit und reich dahinſtrömenden Stück Muſik, das beweiſt, daß ihm auch die von der Bühne geforderten größeren Formen nicht ver- ſagt ſind. Eine beſondere Note erhält das kleine Werk noch durch das tiefe Naturgefühl, das ſich hier wie in den Liedern des in der wundervollen Gebirgslandſchaft des Vierwaldſtaͤtter Sees aufgewachſenen Schweizers ausſpricht; ein erquickender Hauch, wie aus einer von Gewittern erfriſchten Waldesdämmerung und Wieſenlichtung durchſtrömt es, fo beſonders das von Sonnen; ſtille erbellte und von Vogelzwitſchern erfüllte Intermezzo (für Orcheſter). Schoecks Buhnen erſtling fand, trotz der „Anzeitgemäßheit“ ſeines Wertherſchen Textbuches bei der Uraufführung in Zürich (November 1916), wie bei der deutſchen Erſtaufführung an der Goethetagung des Jahres 1921 im Landestheater in Weimar und in verſchiedenen andern Theater und Konzert; aufführungen ungeteilten Beifall.

Damit hatte Schoeck den Weg zur Bühne gefunden. Er griff nun zunächſt eine Romoͤdie Holbergs, des däniſchen Moliere auf, den „Don Ranudo de Colibrados“, der, 1723 entſtanden,

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in der Bearbeitung Kotzebues ſchon zu Beginn des 19. Jahrhunderts ſich einer gewiſſen Popu- larität erfreut hatte. Bei Holberg ein ziemlich robuſtes Luſtſpielmotiv: Don Ranudo iſt ein ebenſo laͤcherlich hochmuͤtiger wie kläglich in Armut und Moder lebender ſpaniſcher Grande, der feine Tochter einem reichen, aber nicht ebenbürtigen Edelmann verſagt. Dieſer Freier ver- kleidet ſich nun als äthiopiſcher Prinz und wird als folder in Gnaden als Schwiegerſohn an; genommen. Nach der Unterzeichnung des Ehevertrages aber entpuppt ſich der Negerprinz als verkleideter Liebhaber und der proteſtierende Grande wird für das Irrenhaus reif erklärt. Eine derbe, ganz nur auf Realiſtik, Handlung, Witz und Lachen geſtellte Komödie, die der Muſik ſcheinbar wenig Angriffsflächen bietet. Hier griff die Umarbeitung ein, die Armin Rieger in ſtetem Ein vernehmen mit dem Komponiſten durchführte. Aus dem halb blödſinnigen Narren Don Ranudo wurde ein Seitenſtüͤck zu Don Quichotte, eine bei aller Laͤcherlichkeit dem Tiefer ſehenden tragiſche Figur: nicht ein ſtupider Dunkel, ſondern eine dämoniſche Leidenfchaft, ein an die Grenze des Wahnſinns gefteigertes Standesbewußtſein läßt dieſen Granden jeden Rom- promiß mit der ſchnöden Wirklichkeit verſchmähen; aus der vermoderten Herrlichkeit feines ver- armten Hauſes und gepfändeten Beſitzes reckt er ſich zu ſtoiſcher Größe und Verachtung auf, nie ſtarrer und ſtolzer, als da die Schlinge zugezogen wird und er als betrogen er Vater da- ſteht: ſchauerlich tönt das Lachen der Menge in den tragiſchen Schmerz eines unterlegenen, aber ungebrochenen Willens. Schoeck umtleidet dieſe Geſtalt mit Rlängen von vermoderter Herrlichkeit, doch prachtvoll feierlicher Geſte, läßt ihn, an der Grenze des Wahnſinns irrend, in ſtarren, fixen Rhythmen vor ſeinen Ahnenbildern ſich drehen und recken, um zuletzt dem Schmerze des Überwundenen in glashart ſchneidenden Diſſonanzen Ausdruck zu geben. Und während das Liebespaar im Glüde ſich findet und die Menge es jubelnd umtanzt, ertönt aus dem Orcheſter in erzenem Glanze das ſtolze Motiv des betrogenen Helden.

Schoecks Ranudo ijt eine muſikaliſche Charakterkomödie. Die Figur des betrogenen Vaters ſteht durchaus im Mittelpunkte; die eigentliche Liebeskomödie iſt in den Hintergrund geſchoben. So iſt denn dieſes Werk eines geborenen Lyrikers merkwürdig unlyriſch geworden. Von reiz⸗ tollen Themen ausgeſprochen rhythmiſchen Charakters begleitet, fließt die Handlung raſch

dahin, um nur in ihren Höhepunkten anzuhalten und breiten Gefühlsentlabungen in gefchloffe- nen muſikaliſchen Formen Raum zu geben. Schoeck ſetzt feinen Granden mit deſſen gleich; geſinnter Gattin in der gaäͤhn enden Leere des völlig ausgeräumten Ahnenſaales unter den franz ihrer Ahnenbilder, um fie in einem ebenſo lächerlich wirkenden, wie muſikaliſch kühnen Kanon das Lied von ihrer vergangenen Herrlichkeit herunterleiern zu laſſen; im gleichen (dritten) Akt legt er Bon Ranudo einen großen Monolog in den Mund, der tief in die Abgründe dieſer von dämoniſcher Leidenſchaft verwirrten Seele hinunterleuchtet. In dieſen Momenten ſteht die Handlung ftill, es redet die Muſik. Das iſt nicht im engſten Sinne des Wortes „dramatiſch“, aber es iſt im vollen Sinne des Wortes dichteriſch. Schoeck nennt ſein Werk eine „Oper“, doch erfüllt er zugleich die Hauptforderung des Muſikdramas: pſychologiſche Wahrheit der Charaktere und der Handlung. Aber er erfüllt fie mit rein muſikaliſchen Mitteln; er charalteriſiert feine Perſonen, in dem er den muſikaliſchen Ausdruck ihres ſeeliſchen Lebens individuell geſtaltet. Er verfällt nicht in den Fehler fo vieler Muſikdramatiker, die ein ſelbſtaͤndiges Literaturdrama komponieren und das, was das dichteriſche Wort bereits eindeutig ausgedruckt hat, in ihrer Muſik vieldeutig wiederholen. Das Textbuch des „Don Ranudo“ iſt denn auch ein Libretto, das nur die Kon- turen der Charaktere und der Handlung gibt und fie auszufüllen der Muſik überläßt, unabhängig von dieſer alſo gar nicht beurteilt werden darf. Die Uraufführung des „Don Ranudo“ fand im April 1919 am Stadttheater Zürich mit durchſchlagendem Erfolge ſtatt, die deutſche Erſtauf⸗ führung im November des gleichen Jahres unter Fritz Buſch am Landestheater in Stuttgart.

Sdhoeds naͤchſtes Bühnenwerk bedeutete einen kleinen Abſtecher ins Artiſtiſche: er komponierte die Mufit der Szene und Pantomime „Das Wandbild“ von Ferruccio Buſoni. Ein Hoff- mannſcher Vorwurf: ein Jüngling verliebt ſich in einem Pariſer Antiquitätenladen in das

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Porträt eines jungen Mädchens, ſtürzt in das Wandbild hinein und findet ſich neben dem Mädchen in einer exotiſchen Tempellandſchaft wieder. Ein Riefe in goldener Rüftung (die vor- her im Laden geſtanden hat), entführt ihm das Mädchen, dem er ſich liebend gejellt hat unb er erwacht wieder im ſelben Laden in der Rue St. Honoré, Wachen und Traum ſeltſam gemiſcht, eine exotiſch märchenhafte Atmoſphare.

Und gerade dieſer Hoffmannſche Grundton, dieſe verſchwimmenden Grenzen zwiſchen Wirl⸗ lichkeit und Traum, das Weben und Flimmern der Märchennacht mochten den Kom poniſten zu dieſem Stoff hingezogen haben: er goß einen ſchimmernden Sprühregen von farbigen Melo; dien über die kleine Dichtung, ließ exotiſche Lieder aufblinken und in ſchattenhaften Klängen verbämmern, geftaltete das Groteske mit einer Wucht, wie man es bei ihm noch nicht kannte. Aber trotz dieſer Inſtrumentierungskünſte kein Sichverlieren an die Tupfentechnik der Zm- preſſioniſten; alles bleibt Zeichnung, Linie, Melodie. Und Schoeck ſchreibt zu der Liebesſzene nicht jene bekannte Brunſtmelodik vorgeſtriger Mode; er wirft im Gegenteil einen Schleier darüber, die Muſik ſcheint den Atem anzuhalten, taucht hinunter in ein myſtiſches Baͤmmern und Weben der Urkrafte eine Muſik voll Ehrfurcht vor den Wundern der Liebe. Es war be- reits ein Vorklang aus Schoecks neuem Bũhnenwerk „Venus“, dem Hohelied der ſchöpferiſchen Liebe.

Eine mittelalterliche Sage, die der engliſche Chroniſt Wilhelm von Malmesbury im 12. Jahr- hundert aufſchreibt, liegt zugrunde; fie berichtet, wie ein roͤmiſcher Züngling einer antiken Venus; ſtatue einen Verlobungsring, der ihn beim Ballſpiel hinderte, an den Finger ſteckte; daß aber, als er ihn wieder an ſich nehmen wollte, die Statue den Finger gekrümmt hatte, worauf die Venus ihm in der Hochzeitsnacht erſchien und die Vereinigung mit ſeiner Braut hinderte, bis ſie durch einen Zauberer vertrieben wurde. In neuerer Zeit mehrfach behandelt, hat die Sage, die im Mittelalter auch als Marienlegende ins Symboliſche gewendet auftaucht, in Mörimses Novelle „La Venus d' Ille“ ihre klaſſiſche Formung erhalten. Mérimée legt um das myſtiſche Ereignis, das er in geheimnisvolles Dunkel zurüͤckſchiebt, einen Rahmen von erftaunlicher Realiftit und Anſchauungskraft, gleichſam einen geſchloſſenen Ring von Indizien beweiſen, und zwingt fo den Leſer, an Möglichkeiten zu glauben, die der Erzähler ſelber auszuſchließen ſcheint. In dieſem Rahmen lernte Schoeck den Stoff kennen, gab ihm aber, ohne die alte Sage zu kennen, deren einfache Linien wieder: Am Morgen ihres Hochzeitstages bringt ein Antiquar dem jungen Paar Horace und Simone eine kurzlich entdeckte Venusſtatue als Geſchenk dar; fie wird im Parke aufgeſtellt, wobei ſie durch ihre hölliſche Schönheit das ſenſible Gemüt des Bräutigams fo verwirrt, daß er über ihr feine Braut vergißt. (1. Akt.) Am Abend, als Geigenklang, Feft- trubel und Maskentreiben das Haus durchrauſchen, miſcht ſich die hohe Geftalt einer Un- bekannten unter die Säfte, von niemand beobachtet als von Horace, der ihr folgt. Die Leiden ſchaft reißt ihn hin, er ſteckt der Unbekannten den Ring feiner Braut an den Finger, fie de maskiert ſich ... Er taumelt zurück, von Schauern durchzittert: er hat in ihr die Venus erkannt. An der in Ohnmacht fallenden Braut vorbei ftürzt er ihr nach in den hallenden Donner eine Gewitternacht hinaus. (2. Akt.) Er findet die Statue im nächtlichen Parke vor wetterleuchten dem Himmel und naht ſich ihr in tödlichem Entſchluſſe. Vergebens ruft ihn der Bruder det Braut zur Pflicht und Ehre zurück; geheimnisvolle Geiſterſtimmen, die aus fernen Welten herüber zu klingen ſcheinen, rufen ihn: er befiegt den Mahner, in einem Anfall von dämoniſchet Raferei peitſcht er feine Stimme über einem Orgelpunkt von geſpenſtig hallenden Schlägen des Orcheſters höher und höher, in Geiſterhöͤhen empor, fingt er die Statue lebendig, die et” wachend ihre Arme zum tddliden Kuſſe öffnet, unter dem er feine Seele aushaucht.

So wagt es Schoeck, das Unerhörte, das Mérimée in geheimnisvolles Dunkel gehüllt hatte, das Erwachen der Statue, den Todeskuß, ins Licht der Bühnenrampe zu ſtellen. Und er darf des wagen, aus zwei Gründen. Erſtens hat bei ihm der Stoff ſymboliſche Bedeutung er halten: Sein Hotace iſt nicht mehr der befchräntte, rohe, betrunkene Jüngling der Novelle

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Mexrimees, fondern ein Mann, der, im Tiefſten ergriffen, bewußt die Grenzen des bürgerlichen Lebens überſchreitet und ſich dem Götterbilde in der Raferei der höchſten Wolluſt und tiefſten Qual vermählt: „Vollendung, wer dich ganz empfunden, den treibt die Sehnſucht an dein göttlich Herz... Die Venusſtatue aber bedeutet nicht mehr eine niedrige, verderbliche Liebe, ſondern erſcheint als Symbol aller Vollendung, aller göttlichen Schönheit. Go wird Horacens Schickſal zum Abbild des Lebens ſo manchen Feuergeiſtes, dem Seele und Leib im Dienſte des tdeals vorzeitig verglühten. Was auf der Bühne geſchieht, iſt Symbol dieſer Wahrheit und Wirklichkeit. Dann aber durfte Schoeck es wagen, weil es ihm gelingt, das Unerhörte mufita- liſch wahr zu machen. Eine Beſchreibung vermag keinen Begriff zu geben von den unirdiſchen Lichtern und ſchattenhaften Klängen, die das Auftreten der Unbekannten begleiten, von der Macht der Sehnſucht, die aus den Geiſterſtimmen lockt. Die myſtiſchen Mächte ſind hier, in dieſer Muſik, nicht mehr Märchen, ſpieleriſche Phantaſie, ſondern furchtbare Nähe, unentrinn- bare Allgegenwart, in der ſich ein Menſchenleben zu Tode ſingt.

Schoeck hat mit feiner „Venus“, auch was die äußere Wirkung anbelangt, feine fruheren Bühnenwerke übertroffen, Immer verblüffte er ja durch den Reichtum feiner Erfindung: in dem lpriſchen Liederſpiel von Erwin und Elmire durch die Fülle von ſchwellenden, gefühlsgefättigten Melodien, in der muſikaliſchen Charakter komödie des Don Ranudo durch die Folge prägnanter thythmiſcher Motive: in der ekſtatiſchen Dithyrambe „Venus“ aber zieht er muſikaliſche Linien von berauſchender Pracht und Größe, Geſangslinien von ſtrömender Ausdruckskraft. Was in Ranudo humorvoll, überlegen, beſchwingt, zierliches Filigran war, iſt in der Venus leidenſchaft⸗ glühend, klangberauſcht, ekſtatiſch und von kühner Spannweite. Freilich find das nun keine „Melodien“ im alten Sinne mehr, d. h. ſtarre, fertige Geſangslinien, die, zwiſchen den einfachſten Grundklängen hin- und herpendelnd, auch im ungebildeten Ohr fofort haften bleiben und gegebenenfalls auch zu einem andern Text geſungen werden könnten —; dieſe Melodien find aus dem Wort herausgeboren, in ihnen tritt gleichſam die Seele des Wortes in klingende Er- ſcheinung. Und dieſe Geſangslinie iſt nicht ftarr, fie entwickelt ſich, ſchwillt an, blüht auf, ſteigert ſich, erglũht, ſtrebt der Ekſtaſe, dem Erguß ins Grenzenloſe zu! Auch die Harmonik des Werkes wirkt überraſchend neu, un verbraucht und zukunfts verheißend. Sie ift die konſequente Weiter- entwicklung des intenſiven Alterationsſtiles der romantiſchen Harmonik, den Schoeck von Wolf

ũbernommen hatte. Aber Schoeck begnügt ſich nicht mehr mit der Alteration einzelner Tone, mit Vorhalt und Vorausnahme einzelner Stimmen; er ſchiebt ganze Akkorde ineinander, ſtellt Harmonien aus fremden Tongebieten übereinander und führt ſie parallel, dadurch mag nicht zum wenigſten die ſeltſam zwiſchen Wirklichkeit und Myſtik ſchwankende Atmoſphäre des Stückes beſtimmt, das Spiel der irdiſchen und uͤberſinnlichen Mächte charakteriſiert werden.

Die Uraufführung des Werkes fand am 10. Mai 1922 anläßlich der Eröffnung der Inter- nationalen Feſtſpiele in Zürich ftatt, mit einem in Züricher Verhaͤltniſſen unerhörten Erfolg für den Romponiften und den Darſteller des Horace, Kurt Taucher von der Dresdener Oper.

Don Ranudo und Venus liegen in einer geraden Linie und laſſen Schoecks Stellung zum Problem Oper oder Muſikdrama klar erkennen. In beiden Werken geht Schoeck auf die Gejtal-

tung eines dämoniſchen, überlebensgroßen Charakters aus; fein letztes Ziel iſt alſo (wie bei Wagner) ein dichteriſches. Aber er erreicht dieſes Ziel nicht mit literariſchen Mitteln, ſondern allein mit den Mitteln der Oper: er charakteriſiert feine Geſtalten, indem er den muſikaliſchen Ausdruck ihres Seelenlebens individuell geſtaltet.

Scheinbar verſchieden liegen die Dinge in Schoecks neueſtem, zu Anfang dieſes Jahres an der Dresdener Staatsoper zur Uraufführung gelangten Bühnenwerk, der „Pentheſilea“. Schoecks letztes Ziel allerdings bleibt unverändert: allem Verismus und Naturalismus fern, ftrebt er die Geſtaltung einer Uberwirklichkeit an; wieder ſtehen Geftalten von mythiſcher Größe unter den Lichtern feiner Muſik, wieder iſt ihm Kunſt nicht Abklatſch der „wirklichen“, ſondern Bild der geſchauten, geglaubten, wahren Welt Sie iſt ihm, um mit Nietzſche zu reden, nicht

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„Nachahmung der Naturwirklichkeit, ſondern gerade ein metaphyſiſches Supplement der Matur- wirklichkeit, zu deren Überwindung neben fie geſtellt“. Aber diesmal waren die Geſtalten über menſchlichen Formates durch die Dichtung gegeben, durch Kleiſts grandioſe Tragödie, von det er ſelber bekannte: „Mein innerſtes Veſen liegt darin ... Der ganze Schmerz zugleich und Glanz meiner Seele.“ Was ſollte Muſik zu dieſen Verſen, die eine berauſchende innere Mufit durchflutete, die in ihrer Wucht und Fülle der Bilder faft ohnegleichen find? Schoeck, der Der- toner erleſenſter deutſcher Lyrik konnte nicht in Verſuchung geraten, alle Verſe Kleiſts (ab- geſehen natürlich auch von den großen Strichen, welche die Umarbeitung zum Muſikdrama ohnehin erforderte) in eine muſikaliſche Zwangsjacke zu ſtecken, die beſtenfalls ihren Rhythmus gelähmt, ihren Eigenklang zugedeckt, ihre Verſtändlichkeit erſchwert hatte. In , Penthefilea™ hat Kleiſt das Wort und behält es! Alles, was Erzählung, Gedanke, ſachliche Mitteilung ift, wir geſprochen; Schoeck bettet dies geſprochene Wort aber auf einen klingenden Untergrund, in · dem er mit dem Orcheſter die ſeeliſche Atmofphdre ausdeutet, der es erblüht. Die Muſik it in dieſen Partien gleichſam der Kontrapunkt zur Melodie des Wortes; die mächtigen Akkorde und melodiſchen Linien find die Pfeiler und Bruͤckenbogen, die den Zug der herrlichen Kleiſtſcher Verſe in lichte Höhen erheben. Nur wo die Woge des Gefühls das Wort durdflutet und es in lyriſchem Schwunge oder in dramatiſcher Spannung erhebt, gewinnt Schoeck in wundervolle Selbſtverſtaͤndlichkeit die Höhenlinie ſtrömenden Gefanges, und nur in dieſen Partien fühlen wi uns in unmittelbarer Nähe des Schöpfers der „Venus“. Wo aber Geſang aufblüht, kommt die Muſik nicht zur Dichtung hinzu, ſondern fie tritt aus ihr heraus. Schoeck bleibt unberührt vos der neueſten Modetorheit, ſchreibt keine Fugen und Paſſacaglien, die unbekümmert um alle Geſchehen auf der Bühne ihre eigenen Wege und an allem vorbeigehen, was das Theate von der Muſik erfordert; feine Muſik iſt im tiefſten Grunde, trotz aller Romplizierung, trotz aller Stimmen veraſtelung, ja trotz ſtellenweiſer Polytonalität homophon; es iſt in ihr die Wort- melodie der Kleiſtſchen Verſe zur muſikaliſchen Melodie, zum Hauptlinienzug des muſikaliſchen Stromes geſteigert. So ergibt der Tonfall des Wortes Pentheſilea eines der Hauptmotive det Oper genau wie im „Don Ranudo“ —, eine Melodie von beſeligtem Glanze, die einem für immer im innern Ohre mit jenem Namen verbunden bleiben wird. Kleiſts Wort wird nicht muſikaliſch überdeckt, ſondern in Muſik gelöſt, es wird nicht vergewaltigt, ſondern ihm die höchſte Ausdrucksgewalt abgerungen. Alles, was Kleiſts Figuren unfaßbar und unſagbar umglüßt, gewinnt tönend Geſtalt, das Vetterleuchten einer erhabenen Dämonie, die Atmoſphäre einer überwirklichen Welt, der Glanz mythiſcher Geſtaltung.

So ijt Schoeck ohne jede Spekulation oder Berechnung zu einer neuen muſikdramatiſchen Form gelangt, genötigt einerſeits durch feine dichteriſche Vorlage, geführt anderſeits durch bes muſikaliſchen Inſtinkt des geborenen Lyrikers. Die völlige Einheit von Dichtung und Muß von innerem und äußerem Geſchehen und deſſen muſikaliſchem Reflex iſt wohl nie in höheren Grade erreicht worden.

Das Problem der Oper iſt wohl überhaupt nicht allgültig lösbar; es gibt nicht ein e Löfung, ſondern viele, bedingt durch den Stand des Theaters, die Stufe der muſikaliſchen Entwicklung, die Ausdrucksfähigkeit der Muſik, das dichteriſche Schauen und literariſche Wollen einer Zeit. Das lyriſche Singſpiel „Erwin und Elmire“, die muſikaliſche Charakterkomödie „Don Ranudo“, die ekſtatiſche Dithyrambe „Venus“, die von dramatiſcher Spannung durchpulſte, die höchſten Akzente mit unerhdrter Wucht einſetzende muſikaliſche Tragödie „Pentheſilea“ find ſolche Löſungen, die, zur Einheit gebunden durch die Perſönlichkeit ihres Schöpfers, doch auf weit voneinander abliegenden Wegen dasſelbe Ziel erreichen: dichteriſche Geſtaltung uͤberwirklichen Lebens und feiner Träger mit den Mitteln der Muſik. Dr. Hans Corrodi-Zuͤrich

Hindenburg Nationale Würde - Flaggenſtreit und kein Ende

Die Angſt vorm Schiedsgericht und die Hetze von Dinant

Die Genfer Anträge Briand der Schönredner - Oftlocarno Und abermals Hindenburg

b Jove principium musae ! $ft’s nicht fein, daß unſren neuen Türmer-Jahr- gang Hindenburgs achtzigſter Geburtstag eröffnet? Der Sieger in den größten Schlachten der Weltgeſchichte, der Unbeſiegte im vierjährigen Anſturm viel- facher Übermacht war ja ftets der Türmer-Gemeinde geliebter Held. Denn der Menſch iſt in ihm ſo groß wie der Heerführer. Von wie wenigen Feldherren läßt ſich dies ſagen! Er aber ward uns Vorbild, wie man den Wandel des Geſchickes gelaſſen trägt im unbeugſamen Glauben an beſſere Zukunft.

Sie reden jetzt ſo viel von nationaler Würde. Seltſamerweiſe ausgerechnet die, denen es früher nie einfiel, beim Kaiſerhoch aufzuſtehen und auch jetzt noch nichts ausmacht, mit Arthur Criſpien zuſammenzuſitzen, der ja kein Vaterland kennt, das Oeutſchland heißt.

Und welcher Art ift der Verſtoß gegen die nationale Würde, der fie fo in Harniſch bringt? Oaß ihrer noch recht viele ſind, die das Weimarer Grundrecht ſo hoch nicht ſchätzen, um am 11. Auguſt ihr Haus zu flaggen. Und obendrein ſogar ſchwarz⸗ rotgolden.

Es iſt aber noch nicht einmal der Kanzler, der ſich darüber aufregt. Vielmehr der preußiſche Miniſterpräſident Braun, den die Reichsſache doch gar nichts an- geht. Er hat es abgelehnt, Gaſthöfe zu betreten, die ſolcher Unterlaſſungsſünde bloß ſind. Mit ihm die anderen Miniſter Preußens und der geſinnungstüchtige Magiſtrat Berlins. Letzterer wägt ſogar den Plan, alle ſeine Mietswohnungen mit

Reichsflaggen auszuſtatten und jedem Mieter zu kündigen, der keinen Gebrauch davon macht. Ein Gedanke, ſo faſchiſtiſch, daß ihn Muſſolini erſonnen haben könnte.

Und ein Gebot ging aus vom Wehrminiſter Geßler, daß Bewohner ehemaliger Kaſernen nur ſchwarzrotgold flaggen dürften. Hat nicht jeder Deutſche das Recht, feine Meinung „durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in ſonſtiger Weiſe“ zu äußern? Alſo ſchreibt Artikel 118 der Weimarer Verfaſſung, um deren Geburtstags- feier es ſich handelt. Mit dem Bujak ſogar, daß niemand den benachteiligen dürfe, der ſich dieſes Rechtes bediene. Weiß man das nicht im Beraterkreiſe Geßlers? Herr Braun behauptete gar, ſchwarzweißrot gehöre ins Muſeum. Dem Herrn Ehrendoktor von Köln war wohl im Augenblick nicht geläufig, daß der Artikel 3 eine ſchwarzweißrote Reichshandelsflagge vorſieht. Wie allen anderen Bekenntnis ſchriften ſo wäre auch der von Weimar nur förderlich, wenn ſie weniger erhoben, aber eifriger geleſen würde.

Trotzdem freute ſich die geſamte Linkspreſſe dieſer verfaſſungswidrigen Tat- kräfte. Sie ſchickte am 11. Auguſt Aufpaſſer durch die Stadt und übte tags drauf

74 | | | Taemers Tages

an dem Straßenbild eine Zenſur, die ſich von Anpetzerei nicht unterſchied. Jene Bank hatte nicht geflaggt, „obwohl ſie durch die Republik guten Verdienſt hat“. Ein Verwaltungsgebäude wird getadelt, weil ſeine Reichsflagge nur klein war und ins Nebengäßchen hing. „Das iſt eine Herausforderung der Republik.“ Ein Konſi⸗ ſtorium, das die violette Kirchenfarbe mit dem Kreuz gehißt hatte, erhielt die Be lehrung, daß man dem Reich nur auf ſchwarzrotgold Ehre antue. Dieſe ndtigende Überheblichkeit geberdete ſich, als ob ein Mehrheitsbeſchluß Gefühlswerte auf- zwingen könne.

Sft dies nationale Würde? Wenn ich wiſſen wollte, was dieſe von mir fordert, dann habe ich noch nie nach denen geſchaut, die ſie heute im Munde führen. Wohl aber nach unſrem achtzigjährigen Geburtstagskinde, und da war ich allemal auf das Beſte beraten.

Vor zwei Jahren wurde gegen feine Wahl zum Reichspräſidenten eiferwoütig gehetzt. Sein Alter blüht wie greiſender Wein, und wir freuen uns deſſen. Damals jedoch unterftanden fic, die da Herrn Braun durchſetzen wollten, ihn einen Mummel⸗ greis zu nennen und einen preußiſchen Gamaſchenknopf.

Sie ſind ſtille geworden. Es iſt weniger die jetzige Stellung Hindenburgs, die ſie entwaffnet; ſeine Klugheit iſt's vielmehr, ſein ritterlicher Sinn und ſein ſicherer Takt. Man vergleiche das Auftreten Brauns und freut ſich dann doppelt, daß nicht er auf des Reiches höchſten Poſten berufen wurde.

Auch mit dem Ausland wurde damals bange gemacht. Was wohl Frankreich und England ſagen würden, wenn wir einen ſolchen echten Imperialiſten an die Spitze riefen? Gefällige Pariſer Blätter leiſteten verſtändnisvollen Treiberdienſt; in der Tat, ſo was dürfe man ſich nicht bieten laſſen. Als der dennoch Gewählte ſein Amt antrat, verabredeten ſich die Verbandsmächte, und keine übte die diplomatiſche Höf- lichkeit eines Glückwunſches.

Dritthalb Jahre iſt's her; ſchon aber hat das Blättchen ſich gewendet. Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß man auch ſeinen achtzigſten Geburtstag ſchneidet. Engliſche Blätter überlegten ſogar ſchon eine Einladung nach London. Sie malten aus, wie's wäre, wenn der Sieger von Tannenberg mit dem Admiral Beatty, dem Com- mander in chief von Skagerrak durch die Straßen Londons führe und die Uni- verſität Oxford ihm den Doktorhut Blüchers auf die Stirn drüde. |

So wird die Kriegspſychoſe der vier Sturm- und Drangjahre allgemach über- wunden. Wenigſtens in England. Aber keineswegs durch Förfters angeberiſche „Menſchheit“ oder Löbes köſtlichen Vorſchlag eines Drückebergergeſetzes, daß nie mand gezwungen werden dürfe, gegen Angehörige eines anderen Landes zu fämp- fen, ſondern gerade durch den, der im Kriege eine fo ſcharfe Klinge ſchlug.

Denn um dieſen Helden ohne Furcht und Tadel beneiden ſie uns insgeheim; ſie wiſſen, daß den uns keiner nachmacht.

Schauen wir Foch. War es ritterlich, daß er den Brief, den ihm Hindenburg ſchrieb, als es ſich um die Auslieferung des Kaiſers handelte, unbeantwortet ließ? Iſt es ritterlich, daß er jede Verſtändigung durchkreuzt unter Hinweis auf Rüftunge- märchen, wie ſie allenfalls ein Dr. Förſter anbringen, nie aber ein Foch glauben kann? Welche Rante wurden geſponnen, um jeden Truppenabmarſch aus den

Zürmers Tagebuch 75

Rheinlanden zu hintertreiben! Wenn nicht England feine Bataillone brauchte und doch auch wieder nicht den lieben Freund ohne Aufſicht am Rhein ſtehen laſſen wollte, nie wäre es zu einer Verminderung gekommen. Nun ſollen ja 10000 Mann abziehen, aber es dauert vier Monate. Mehr als eine Kompagnie täglich zu ver- laben überſchreitet offenbar die Leiſtungsfähigkeit des franzöſiſchen Linienkommiſ⸗ ſars. So was wird aber gar noch von der Pariſer Preſſe als ein neuer Beweis unge- wöhnlicher Hochherzigkeit bengaliſch beleuchtet. Ich wüßte nicht, was daran hoch- herzig wäre, wenn ein Schuldner auf wiederholte Mahnung einen ſchmalen Bruch- teil deſſen abträgt, was er ſeit zwei Jahren ſchuldig blieb.

60000 bleiben auch ſo noch ſtehen. Trotz Locarno und Thoiry. Einen glatten Vertrauensbruch hat dies Lloyd George genannt. Einer iſt's obendrein, der gar nichts nützt, nur ein Mütchen kühlt, Deutſchland kränkt, den Frieden vergiftet und bisher ſchon über ſechs Milliarden gekoſtet hat.

Aber räumen? Auf keinen Fall! Als die interparlamentariſche Union in Paris tagte, wurde auch über das bei ſolchen Zuſammenkünften beliebte Thema der deutſch-franzöſiſchen Annäherung ſalbadert. Löbe rief den Franzoſen zu: „Räumt bis Neujahr den Rhein, und fie iſt da.“ Ein wüſtes Geſchrei entſtand. In feinen heiligſten Gefühlen verletzt, erklärte Paris-midi, es ſei taktlos, eine derartige Rede zu halten als Gaſt auf der Rednertribüne des franzöſiſchen Senates. Es hätte gerade noch gefehlt, daß Löbe auch noch die Herausgabe Elſaß- Lothringens verlangte. So wird fogar ein verſtiegener Pazifiſt für galliſche Uberempfindlichkeit zum deutſchen Revancheſchreier.

Auch der Senator de Jouvenel rannte gegen Löbe an. Derfelbe, der feinen Sitz beim Völkerbund preisgab, weil ihm Briands Politik zu ſchmachtlappig erſcheint. Die beſte Friedensſicherung ſei das Kriegsheer. Keine Räumung ohne Oſtlocarno! Ein Belgier verlangte ſogar ein Scherbengericht und Verdammungsurteil über Oeutſchlands Neutralitätsbruch.

So enden aber alle derartigen internationalen Verbrüderungstage. Sobald nur irgendeiner von unſren Anbiederern verſichert, die Deutſchen ſeien gar nicht fo ſchlimm, wie fie gemacht würden, dann ſchrillt der Mißklang. Hören will man nur das Bekenntnis, uns ſei recht geſchehen und wir dankten für die gnädige Strafe.

Verſailles ſoll ein Denkmal bleiben, aere perennius. Hat es belgiſche Freiſchärler gegeben: Leute, die ohne Soldaten zu fein, doch unſren Einmarſch aus Hinter- halten bekämpften? Gft es fo, dann haben unſre meuchlings überfallenen Feld- grauen ihnen mit vollem Fug die Standrechtskugel durch den Kopf gejagt. An- derenfalls wäre es Mord geweſen, und unſre Feinde behaupten dies. Der belgiſche Miniſter Vandervelde ſchlug ein neutrales Schiedsgericht vor, und wir ſtimmten ſofort zu. Allein Poincaré legte ſich ins Mittel, und das belgiſche Kabinett nötigte feinen Kollegen zu nachträglicher Abſage. Unter der Ausrede fogar, man müſſe zum Beſten der Friedfertigkeit eine Sache ruhen laſſen, die nur alte Leidenſchaften aufwühle. Wie verlogen fie war, das zeigte ſich gleich darauf in Dinant. Man ent- hüllte nämlich dort jenen angeblich von uns hingemordeten unſchuldigen Bürgern ein Denkmal. Dabei überboten ſich der Erbprinz Leopold von Belgien, der Biſchof von Arras, franzöſiſche und belgiſche Miniſter, franzöſiſche und belgiſche Generale

76 TArmere Toga}

in rohen, gerade die alten Leidenſchaften blindwütig aufwühlenden Reden gegen uns. Die Nationaliſtenpreſſe behauptet aber frech, die deutſchen Kriegsgreuel ſeien eine cause déja jugée, und dagegen gebe es keine Reviſion. O doch, und wem ihr euch heiſer ſchreit! Das deutſche Volk wird ſie durchzuſetzen wiſſen. Einmütig weiſt es die Lüge zurück, die nicht dadurch Wahrheit wird, daß Prinzen, Marſchälle, Biſchöfe und Miniſter ſie ſtarmatzenmäßig wiederholen. Mit reinem Herzen iſt unſer Heer ausgezogen und mit reiner Hand hat es fein Schwert geführt. So be kundete Hindenburg auf dem Schlachtfelde von Tannenberg, und wir wiſſen, daß fein Zeugnis wahrhaftig iſt. Dort drüben ergeht ſich das böſe Gewiſſen in Bor wänden. Es will nicht, daß aus den Grundfeſten des Verſailler Vertrages auch nut ein Stein gelöſt werde; aus Angſt, daß dann kein Halten mehr iſt vielmehr das ganze Gemäuer krachend zuſammenſtürzt. |

Jouvenels Wort vom Oſtlocarno fand verdächtigen Widerhall. Es war, wie wem eine Truppe im Verſteck lauert. Löſt ein Vorwitziger den erſten Schuß, dann folgt ſofort herausballerndes Schüßenfeuer und verrät die gelegte Falle. Dem Senatot ſchloß ſich ſofort die Pariſer und Warſchauer Preſſe an; in Genf tauchte der polniſche Antrag auf und ſtand bald im Mittelpunkt der Herbſttagung.

Er gab ſich gleißneriſch wie alles, was von der Weichſel kommt. Der begehrlichſte Neuſtaat Europas ſpielte den friedfertigſten. Über Maß und Mittel aufgerüſtet, bekundete er ſeine heiße Liebe zur Abrüſtung. Wenn man nur nicht die Nuß wäre im Rachen des Nußknackers! Möglich wird der Abbau der Wehrkräfte leider erft, wenn man anders und ausreichend geſichert ift gegen den Überfall räuberifcher Nady barn. |

Ziel ift die europäifche Bürgſchaft der polniſchen Grenzen; geiftiger Vorbehalt, aud dann nicht abzurüften. Frankreich hat ja beim Weſtlocarno fo flott dargetan, wie man Vorausſetzungen einſteckt, aber den Folgerungen ſich entzieht.

Dieſe Hinterhaltigkeit wurde natürlich durchſchaut. Die Kleinſtaaten des Völker bundes taten ſich zuſammen. Woran den Polen gar nichts liegt, daran ſetzt ihre Wehrſchwäche alles. Ihnen iſt daher bitter ernſt mit der Rüſtungskonferenz, und über das durchſichtige Gaukelſpiel der Großmächte dabei ſind ſie aufgebracht. Nun wollten ſie zeigen, wie guter Wille den Stier bei den Hörnern packt.

Das Wort führte Holland. Wenn jeder Staat ſich ſicher fühlt, dann rüſtet er von alleine ab. Der ruhige, weil Notwehr nicht mehr nötig, der grapskrällige, weil Angriff ausſichtslos. Dieſen Frieden auf Erden denen, die guten Willens ſind, ſo behauptete der holländiſche Außenminiſter, ſchaffe aber das Genfer Protokoll von 1924. & verbietet alle Kriege als Menſchheitsverbrechen; es unterdrückt jedes Gelüft durch Drohung mit der wirtſchaftlichen, finanziellen und militäriſchen Weltacht gegen den Angreiferſtaat.

Beide Anträge, der polniſche wie der holländiſche, ſtießen auf Chamberlains ſchroffes „Nein“. England bindet ſich nicht. Noch weniger haben ſeine Dominions Luft, den Büttel Europas zu ſpielen, wenn irgendein gleichgültiger Winkelſtörenfried den Koller bekommt. Zn anderen Fällen, bei denen mehr zu holen, gibt man ſich freilich nur zu gern zum Policeman der Welt her.

Aber das Foreign Office ſchaut weit. Wie lang iſt's her ſeit dem Burenkrieg?

Tl *

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zZürmers Tagebuch 77

Wie wäre es geworden, wenn er unter dem Genfer Protokoll ausbrach? Wer war denn damals der Kriegsverbrecher und der Anwärter auf die Acht und Aberacht der Welt? England verſpricht nie, daß jo was nicht wieder vorkommt.

Ahnlich denkt Frankreich über den kleinſtaatlichen Plan. Der polniſche beſitzt das

herzliche Wohlgefallen Poincarés. Hingegen ſoll Briand nichts davon gewußt haben und mißmutig fein über dies Einrühren fremder Gewürze in feinen Brei. Dieſe Pfuſcher mußten ſich doch ſagen, daß es mit England fo nicht gehe. Auf einen Entente bruch aber läßt ſich der kluge Ariſtide nie ein. Weil kleine Geſchenke die Freundſchaft erhalten, hat er ſoeben erft dem durchreiſenden Chamberlain den Ehrentrunk kre- denzt und Frankreichs Goldenes Buch überreicht als Ehrengabe ſeines Volkes an das briti ſche. Demgemäß hielt er auch den Genfer Kurs in omnibus sicut Anglia und ſprach ebenfalls gegen die Warſchau-Pariſer Machenſchaft.

Die Haltung der Großen verſtimmte die Kleinen erſt recht! Chamberlain aber iſt geriffener, als man gemeinhin glaubt. Er erkannte daher, daß etwas geſchehen müſſe. Tun dürfe man natürlich nichts, aber es müſſe doch fo ausſehen, als ob man tate. So kam eine dritte Entſchließung zuſtande, die der Großmächte. Nicht Fleiſch, nicht Fiſch, noch nicht einmal Eidotter; hingegen allerlei Eiweiß tüchtig zu Schaum ge- ſchlagen. Auf geheimnisvolle Weiſe gefiel ſie dem Polen derart, daß er ſie ſich zu eigen machte.

Briand aber feierte ſie in einer Rede, die das äſthetiſche Ereignis der Tagung wurde. Alle übrigen 21 anweſenden Außenminiſter bekannten ſich als erbärmliche Stümper angeſichts dieſes Schwunges der Gefühle, dieſes Wohllauts der Stimme und Zaubers der Form. Wie die vollen Regiſter einer Orgel braufte des Redners eindringliche Mahnung: „Denken Sie an die blutigen Schreckniſſe des Krieges und ſchreien Sie Frieden!“ Alle Welt ſtand erſchüttert, verzaubert, berauſcht; ganz un- geheuer war der Augenblickserfolg. „Voll Kraft, Weisheit und Vertrauen“, ſo pries Kollege Chamberlain dieſe franzöſiſche Beiſteuer zu dem Problem der Weltbeftie- dung. Erſt ſpäter fragten ſich einige bei weitem nicht alle Hörer, was der Red- ner, der fo {hin ſprach, denn eigentlich geſagt und namentlich gegeben habe. Be- ſchämt kamen fie darin überein, daß er eine volle Stunde lang mit meiſterhafter Be- redſamkeit um alle ernſten Fragen herumgeſchwatzt hatte. Kein Wort des Tadels über die ſchamloſen Hetzereien des Marſchalls Petain, des Altkriegsminiſters Magi- not; noch weniger eins zur Räumung der Rheinlande. Dafür aber mit tränen ſchwerer Gerührtheit: „Kindlein, liebet euch auf der Baſis des Verſailler Diktats!“

Wenn ich die Weiſen von Genf arbeiten ſehe, dann fällt mir immer eine Stelle aus „Soll und Haben“ ein. Veitel Itzig geht bei dem abgeſetzten und verkommenen Notar Hippus in die Lehre. Wegen der Kenntniſſe, wie man fie braucht zum Ge- ſchäft. So treiben ſie denn jeden Abend zuſammen die Kunſt, Schuldſcheine zu ſchreiben, die zu nichts verpflichten, und Quittungen, die nichts beſcheinigen. Sind denn dieſe Schacherer auf der Weltbörſe von Hotel Beaurivage etwas anderes als auf die Höhe äußerlicher Sauberkeit gehobene Hippuſſe?

Freilich haben auch wir den Verbändlerkniff mitgemacht. Es ging nun einmal nicht anders.

Was Polen tut, das reitet ſtets auf des Teufels Buckel. Sein Antrag war geboren

78 Zürmers Tagebug

aus der Angſt des böſen Gewiffens wegen des himmelſchreienden Unrechts an Ober- ſchleſien und dem Korridor. Der holländiſche wollte ihn verbeſſern, aber verböſerte ihn nur. Er ſagte kurz ab: Frieden um jeden Preis; Gerechtigkeit iſt Nebenſache.

Ganz verneinend durften wir aber auch nicht daſtehen. Wie damals int Haag hätte man uns ſofort kriegeriſche Hintergedanken untergeſchoben.

So mußten wir uns für jenes Phlegma begeiſtern, das in der Retorte blieb, nachdem die Locarnomächte den Spiritus des Abrüftungsgedantens weggedünſtet hatten. Streſemann tat es in der Hoffnung, damit die Rheinlande trotz alledem früher freizubekommen. Daher auch unſere Unterſchrift zum Haager Schiedsproto⸗ koll, wodurch wir Englands gerühmte Friedensliebe um eine Ropflänge ũberholen. Das iſt ein ſtarker moraliſcher Druck. Nützen wird er aber ſchwerlich. Denn nun ar beiten unſere Gegner erſt recht an einem Oſtlocarno. Chamberlain hat ja erklärt, ſolches ſei ihm einerlei, wofern es nur keine engliſchen Bürgſchaften fordere. Damit hatte er uns wieder einmal fallen laſſen, wie das britiſcher Brauch ſo iſt.

Um ſo entſchiedener fordern und fördern wir die Abrüſtung. Graf Bernſtorffs zielſicheres, tatkräftiges Auftreten wird uns immer mehr zu dem Führer der Klein ſtaaten gegen die Großmächte und deren Anhang machen. Sie ſind durch Maſſe ſtark. Man hat's erkannt, als fie Belgien aus dem Völkerbundsrat hinausſtimmten. Das wird dieſen verbeſſern, Frankreichs guten Willen aber noch weſentlich weiter verſchlechtern.

Wie mag’s in Hindenburgs Seele ausſehen, ſooft ihm der heimgekehrte Strefe- mann den vertraulichen Bericht erſtattet? Ihn ſelber einmal in das Getriebe im Reformationsſaale hineingeſchneit, iſt es nicht reizvoll, fic dieſes Phantaſiebild aus zumalen? Es käme fo etwas zutage wie Platons Gerechter inmitten einer Welt von Trug und Hinterliſt.

Und doch: woran anders könnte der Völkerbund der Briands, Paul-Boncours, Beneſchs, Sokals geneſen, als an Hindenburg? Sein Auftreten wäre eine Schild erhebung des Gradſinns, und die Wohlmeinenden, die jetzt nicht durchdringen, flögen ihm zu. Wie der Viscount Cecil, der Gavonarola des Bundes, der das Ka⸗ binett Baldwin verließ, weil er nicht länger ertrug, auf deſſen Weiſung in Genf

immer nur laut klappernd Waſſer im Mörſer zerſtampfen zu müſſen.

Dünn ſind ſie freilich im politiſchen Leben geſät, dieſe Männer des Gradſinns. Um jo mehr dürfen wir uns unferes Oberhaupts freuen, an deſſen ritterlicher Seele die Gemeinheit, die ſonſt alle bändigt, in Ohnmacht zerſchellt. Seine Wahl war das Geſcheiteſte, was das deutſche Volk ſeit dem Umfturz getan hat. Da lag wirklich na- tionale Würde drin. In feinem Beſten hat der Oeutſche ſich ſelber geehrt, und Hinden- burgs Ehrentag iſt drum Deutſchlands Ehrentag. Er iſt ja unſer, und glaubt mir, Freunde, ich wiederhole: ſie beneiden uns alle darum!

Dr. Fritz Hartmann, Hannover

(Abg eſchloſſen am 22. September)

Unrecht Gut

ie die Raubvögel fielen fie in Ver⸗

failles über uns ber. Go viel fie uns auch wegnahmen, keinem ſchien's genug. Zeder hätte gern noch mehr geramſcht, wenn ihm nicht der Neid der anderen auf die Finger getlopft hätte. Nicht nur an unſer Hab und Gut gingen fie heran, nicht nur belegten fie unſern Fleiß und Schweiß auf Menſchenalter

hinaus mit ihrem Dawesplan; ſelbſt deutſcher

Scharfſinn und deutſcher Exfindergenius foll- ten in ihre Fron.

. Denn den Zeppelin z. B. hätten fie uns nicht

nachmachen können. Daher verlangten fie die Auslieferung aller vorhandenen Luftſchiffe und darüber. hinaus gar noch den Neubau von einigen zum gleichen Zweck. Dann aber ſollte die Luftwerft zerſtört werden. Was der Deutſche erfonnen, wurde dem Deutſchen unterſagt.

Sch ſprach damals mit einem der Friedrichs hafener Männer über die auferlegten Aus- lieferungen. Ex nahm ſie erſtaunlich leicht. „Laß fahren dahin, ſie haben's kein Gewinn. Zu deutſchen Luftſchiffen gehören deutſche Kuftſchiffer, ſonſt malhörts.“

Das war richtig vorausgeſagt. Frankreich wird demnddft feine. „Méditerranée“ ver- ſteigern; den im Zuni 1921 abgelieferten „Nordſtern“. Einen einzigen Flug hat er unter der Trikolore gemacht, und auch dieſer ging beinahe ſchief. Seitdem verroftete das glei- ßende Ungeheuer im Flugzeughafen von Tou- lon. Jetzt ift es zum Zerhacken reif und zum Verkauf des Schrotthaufens an den Alt- handler.

Stalien gewinnt feine Kriege dadurch, daß es klug verbündet ſeine Schlachten verliert. Als „MNitſiegerſtaat“ bekam es daher für die deut- ſchen gſonzohiebe zwei deutſche Zeppeline. Zurecht kam es mit ihnen auch nicht; die Dinger wurden ihm unheimlich; ſie liegen abgetatelt, und. der italieniſche Luftſchiffer vertraut ſich nur den eigengebauten an. Dieſe find zwar minderwertiger, ſtellen aber dafür

auch nicht ſolche ungebiibrliden Anſpruͤche an ſeine minderwertigere Kunſt.

L 37 ging nach Japan. Zu dieſem Behufe mußte er zerlegt und verpackt werden. Man ſcheint ihn dort nicht mehr zuſammengebracht zu haben, denn in das dünne Element ſtieg er nimmermehr.

England bekam feinen Beute Luftdrachen am 30. Zuli 1920. Es gebrauchte ihn aber bloß als Modell für eigene Verſuche, und auch dieſe gelangen nur wie alles Abgeguckte. |

Am bekannteſten iſt jener Z III geworden, den Eckener in 81 ſtündiger Fahrt fiber das Weltmeer am 15. Oktober 1924 nach Amerika ablieferte. Der deutſche Jubel, der dieſe Tat umbrauſte, hallt heute noch an. Der Denkende verſteht ihn ſchwer. Das Fahrzeug hätte viel- mehr ſchwarz geſtrichen fein müjſen; ſchwarz, wie die Segel jenes attiſchen waren, das den jährlichen Zungfrauentribut an den Minotaur ablieferte. Dort drüben taufte man es „Los Angeles“, und ſeitdem hört man nichts mehr davon.

Sie haben vor dem fliegenden Deutſchen dieſelbe Angſt, wie die Teerjacken vor dem flie- genden Holländer. Sie fürchten, daß unſer darein verbauter Erfindergeiſt ſich als Rlabau- termann betätigen würde.

So find ihnen unſere Luftſchiffe nicht nutz- licher geweſen, wie die bei Scapa Flow ver- ſenkten Seeſchiffe. Sie haben's kein Gewinn, weil unrecht Gut nicht gedeiht. Wir feben’s hier, wir ſehen's an all den übrigen Räube⸗ reien von Verſailles. So bei kleinem pendelt ſich doch alles wieder aus. F. H.

Aus einem offenen Brief an 1 Bäumer

uch der „Tüͤrmer“ achtet Gertrud Bau-

mer ob ihrer Klugheit, Kraft und ihrer hohen Ziele. Sie gehört zu den Beſten der Demokratiſchen Partei, das ſoll wahr bleiben. Aber das, was fie im Zuniheft der von ihr ge- leiteten Mon atsſchrift „Die Frau“ unter der Aberſchrift „Mai über Verdun“ ſchreibt, zeigt,

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daß fie zwar eine ſehr verſtandeskluge Frau ift, zeigt aber auch gleichzeitig, daß ihr jene Tiefe des Empfindens, jene Schwungkraft des Ge- mũtes fehlt, die wir an vielen deutſchen Frauen lieben. Laſſen wir eine von den letzteren zu Worte kommen. Frau Hindenburg ⸗-Delbrük nimmt in einem Offenen Briefe Stellung gegen beſagten Artikel und ſchreibt u. a.:

Als Ergebnis Ihrer Autoreiſe zum „un geheuerſten Schlachtfeld der Geſchichte“ ſtellen Sie feſt: „Es lohnt nicht es lohnt in einem letzten Sinne nicht!“ Das Maſſenopfer der Heldenleben habe nicht gelohnt; das Ringen derer, „um deren Stirn irgendein leidenſchaft⸗ licher Wahn ein ehern Band ſchmiedete“, ſei ein „finnlofer Anachronismus“ geweſen. Einige nädfte hochgeſinnte Menſchen dächten wohl noch dieſer Gefallenen, „das Leben der Völker“ aber habe ſich „doch von ihnen ab- gewandt, mit dem Zwang und dem Recht des Lebens“. „Die Wucht des Vergeſſens“ treibe von denen fort, „deren Mitwirken hier zu Ende ging... Wer gibt Ihnen, Gertrud Bäumer, das Recht, in dieſem Tone vor aller Welt zu verleugnen und herabguwirdigen, was mit dem Gottesglauben und der Zukunft unſerer Kinder, beiden innigſt verbunden, unſer höchftes Frauenheiligtum, unſer Volks- beiligtum iſt, das Gedenken an unſere Ge- fallenen? ...

Voher nehmen Sie den kalten Mut, Ihren Schweſtern, die die Kraft zum Tragen ihrer Kriegswunden aus dem Glauben an den bei- ligen Ginn des Todes fürs Vaterland ſchöp⸗ fen, dieſen Glauben mit ſolchen Worten zu bemakeln? Selbſt wenn Sie recht hätten, darf man fo zum Veinenden ſprechen an den Gräbern derer, die ihr Leben waren? Redet man laut vom „Wahn“ an Altären, wo Trauernde ſich Troſt und Kraft holen? Zt

das die neue „Menſchlichkeit“, die „Humani-

tät“, die Sie lehren wollen .. Nun denn, dieſen Weg zum Frieden gehen wir nicht mit Ihnen, Gertrud Bäumer, fo wenig ihn edle Frauen anderer Völker gehen werden. Als Mütter, die das Leben mit Schmerzen und mit Seligkeit ſchaffen und pflegen, ſind wir Frauen freilich beſonders tief und ernſt durch; drungen von feiner Heiligkeit .. Als Mütter

Auf der Watte

aber wiſſen wir, daß, wie der Weg der Rinder zum Leben uns an der Todespforte vorbei- führt und uns Blut und Lebenskraft koſtet, fo am Wege alles Lebens, wenn es ſich be baupten, wenn es fruchtbar fein ſoll, immer die Bereitſchaft feiner Schöpfer, Träger, Pfleger und Hüter ſtehen muß, eigenes Leben zu opfern, damit höheres ſich erhalte oder werde... Der Tod für große Gedanken iſt wahrlich mehr als „eine erhabene Folie“ für das Leben, mehr auch als der Eingang zur Un- ſterblichkeit im Sinne von Ruhm er iſt der Eingang zur Unſterblichkeit im Sinne von fortzeugendem, ewigem Leben. Führer zu ſolchem höheren Leben werden uns Deutſchen immer nur Menſchen ſein, denen ſich dies angeſichts des Todes offenbarte. Daß Sie es nicht ſchauten, macht Sie uns fremd. Daß Sie uns zwingen, deutſches Her ligtum gegen eine deutſche Frau zu vertei⸗ digen, macht Sie ſchuldig! Dr. G. S.

Armer Heinrich von Kleiſt!

„Er war ein Dichter und ein Mann wie Eine,

Er brauchte ſelbſt dem Höoͤchſten nicht zu weichen,

An Kraft ſind wenige ihm zu vergleichen,

An unerhörtem Unglüd, glaub’ ich, Reiner.”

cm? beginnt Friedrich Hebbels wunder volles Sonett auf einen der größten dramatiſchen Genien, die das deutſche Voll beſeſſen, auf unſeren Heinrich von Kleiſt, der an ſich ſelbſt und an feiner Umwelt zer brach. Wahrlich, das deutſche Volk hat viel an feinem Heinrich von Keiſt gutzumachen. Und wer, ſo ſollte man wenigſtens meinen, könnte berufener fein, das geiſtige Erbe Hein rich von Kleiſts zu verwalten, als die Organi- ſationen, die ſich nach ihm nennen, alſo die Kleiſt-Geſellſchaft und die Rleift-Stiftung! Die Kleiſt-Geſellſchaft tut das auch mit dem ganzen Ernſt, den die hohe Aufgabe erfordert; die Kleiſt-Stiftung aber iſt ein trübes Ra pitel für ſich. Von dem deutſchen Geiſt, der in Heinrich von Kleiſt verzehrend lohte, iſt in ihr betrüblich wenig zu fpüren. Kennzeichnend für fie find ſchon die Leute, die in ihr den Aus ſchlag geben: moderne Feuilletonleiter det

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Huf der Warte

Lin ksrichtung. Bei dem ternpreufifden Kleiſt! Borfitender iſt der Feuilletonredakteur Fritz Engel vom „Berliner Tageblatt“. Preis- vert eilex waren 1925 der ehemalige Feuilleton; redatteur der „Voſſiſchen Zeitung“ Dr. Paul Fechter, der das tendenziöſe Machwerk Karl Zuckmayrs „Der fröhliche Wein berg“ er- türte (gewiß Geſchmack des Rurfürftendam- mes, aber nicht des deutſchen Volkes), 1926 der Feuilletonredakteur der „Frank- furtet Zeitung“ Dr. Diebold; für 1927 wählte man, wie kurzlich durch die Preſſe ging, den Feuilletonredakteur der „Voſſiſchen Zeitung“ Dr. Monty Jacobs, Muß ſich denn das der herbe Dichter Kleiſt gefallen laſſen? Oieſe Herrſchaften, die unſere tern- deutſchen Belange derart in Beſchlag nehmen, find unt er ſich, aber fie find keine Vertretung Deutſchlands; ihre „Kleiſt-Stiftung“ iſt für jeden, der das ganze deutſche Volk überblickt, eine Angelegenheit der demokratiſch⸗jüdi⸗- ſchen Aſphaltpreſſe.

Mit unmißverſtändlicher Deutlichkeit tritt dieſe Tendenz nun in dem Beſchluß der Rleift- Stiftung hervor, zum Preisrichter für 1928 Hanns Henny Jahnn zu ernennen, alfo ausgerechnet den Sudler, deſſen vor einiger Zeit in Berlin aufgeführter „Richard III.“ eine Haufung ſämtlicher nur denkbarer Ger- brechen, Scheußlichkeiten und Perverfitaten iſt. Diefer Beſchluß iſt geradezu ein Skandal, eine Herausforderung des Deutſchtums, wie man ſie ſich zyniſcher nicht denken kann. Gibt es leinen geſetzlichen Schutz gegen ſolchen Miß brauch eines vornehmen Namens? Schützt den toter Dichter kein Schutzverband? Daß bei dieſem Gefchäft der tragiſch· ernſte Name Heinrich von Kleiſts geſchändet wird, dagegen mit allen Mitteln ſich auszuſprechen, ift Recht und Pflicht aller Deuſtchen.

Dr. Albrecht

Der „Bolſchewiſt“ Damaſchke

er „Türmer“ ſchließt den ebenſo betitel- ten Aufſatz in ſeinem Auguſtheft (Seite 431) mit der freundlichen Frage: „Was ſagt Damaſchte dazu? nämlich zu der Behaup-

tung medienburgifher Grund und Haus- der Former XXX, 1

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beſitzer, daß die Bodenreform ein „Zeichen der drohenden kommuniſtiſch-bolſchewiſtiſchen Flut“ fei?

Was foll ich dazu fagen! Sch fages Kommt und geht mit mir durch Frankfurt a. d. Oder, durch die 1200 Heimſtätten, die eine bewußt bodenreformeriſch eingeftellte Stadt in den letzten ſechs Jahren errichtet hat! Seht euch die geſunden Kinder an, die dort in den Gärten ſpielen, und die Männer und Frauen, die in ihrem geſicherten Heim ein geſundes Familien- leben führen und fragt, ob fo „tommuni- ſtiſch-bolſchewiſtiſche“ Rekruten ausſehen?

3m den ke an das Wort eines früheren Kom- muniſtenführers, nachdem er feine Heimſtätte gewonnen hatte: „Wie doch die Welt anders ausſieht, wenn man fie durch eigene Fenſter; ſcheiben betrachten kann!“

3m denke an das Wort, das mir einmal in Remſcheid entgegengehalten wurde, als die Kommuniſten den Saal bei der von uns ein; berufenen Verſammlung beſetzt hatten, nach meinem Vortrag: „Gewiß, auch für uns wären geſicherte Heimſtätten etwas Großes; aber wir können nicht mehr daran glauben, daß diefe Parteien und dieſe Geſellſchaftsordnung uns und unferen Rindern ſolche Heimſtätten ſchaf⸗ fen wollen und können! Wir find durch viele Enttäuſchungen zu der Überzeugung gekom- men, daß wir fie nur im Nampf erzwingen konnen!“

Aus der evangeliſchen Kirche ſei nur ein Führer der äußerſten Rechten genannt, der Generalſuperintendent von Weſtfalen, Wirkl. Geheimer Oberkonſiſtorialrat Zoellner, der an mich ſchrieb: „Ihre Beſtrebungen ſind nach meiner Auffaſſung von allem, was an äußeren Einrichtungen geſchaffen werden kann, das Allerwichtigſte. Die Löſung der Wohnungsfrage iſt zu einem ſehr großen Teil die Löſung der ſozialen Frage, und die Woh- nungsfrage kann ohne Bodenreform mei- nes Erachtens nicht zu einem befriedigenden Ende gebracht werden.“ |

Und aus der katholiſchen Kirche nur das Wort ihres Primas in allen deutſchſprachigen Län; dern, des Zürfterzbifhofs Riedel, als ich in Salzburg zum erſtenmal unſere Wahrheit vertrat: „Vertrauen Sie darauf: wer fo opfer-

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freudig dafür kämpft, daß auch den Armſten unferer Brüder eine geſicherte Heimftdtte hier in ſeinem Vaterlande zuteil wird, der darf auch darauf hoffen, daß ihm dereinſt eine Heim- ſtätte bereitet ſein wird im ewigen Vaterland!“ Und endlich, was Adolf Wagner, der nicht nur der größte Nationalökonom des taifer- lichen Deutſchlands, ſondern auch Ehren prä- ſident des Evangeliſch-ſozialen Kongreſſes war, auf feinem letzten Krankenbett als „Der- mächtnis“ diktierte: „Wir müſſen zu einem neuen ‚beutfchen Frieden“ kommen, der hof- fentlich ein beſſerer wird als der, der bisher auf der Erde geherrſcht hat, und in dem zuletzt auch die wahren Intereffen der anderen vertreten ſein werden. Das kann aber nie Wahrheit werden ohne feſte ethiſche Grundſäãtze auch im Wirtſchafts leben, wie fie die Bo- denreform zur Geltung bringen will! An ihr muß deshalb helfen, wer eine Mitverant- wortung für unſeres Volkes Zukunft fühlt!“ Die Menſchen, die eine Verantwortung tragen in Staat und Kirche und das ſind wir ſchließlich durch unſer Vahlrecht alle, Mann und Frau werden nun wählen müffen, wem fie folgen, den eben genannten Zeugen oder den mecklenburgiſchen Grund; und Hausbeſitzern, die ihrerſeits doch nur irgendwelche Schlagworte kritiklos nachſpre⸗ chen. Was hat der ſeßhafte ſolide Hausbeſitz wohl zu fürchten, wenn recht viele feiner Volks; genoſſen auch ein geſichertes Heim gewinnen? Allerdings, „Terrainintereſſenten“ und Miet- kaſernen händler können ſich getroffen fühlen, Wer alten tiefen Schaden überwinden will, kann eben nicht jedermanns Freund ſein. Adolf Damaſchke, Ehrendoktor der Theologie, der Rechte, der Medizin.

Um Sacco und Vanzetti

ieder muß es klar und weithin geſagt

werden: es iſt gewaltſam Sen- ſation gemacht worden! Sieben Zahre liegt der Fall zuruck; die meiſten der Zeitungs; leſer werden ſich überhaupt des Vergehens nicht mehr entſinnen können, das in Frage kommt aber mit einem Male find alle Blät-

Auf der Maude

ter (auch die nationalen) voll Notizen in Sperr- und Fettdruck; es werden Proteftver- ſammlungen einberufen, man ſtürmt öffent- liche Gebäude, verprügelt die Schutzleute, er- eifert ſich in lärmenden Reden über Zuftiy mord, als ob die Welt darum aus den Fugen brechen müffe. Mag nun die amerikaniſche Ge richtsbarkeit wirklich geirrt haben, mag ihre Prozeßarbeit zu verwerfen ſein haben wir in dem bedrängten armen Deutſchland nichts Beſſeres zu erledigen, als uns um zweier zum mindeſten recht zweifelhafter Individuen mit fo ungemäßem Geſchrei zu entriiften?

Man überlege: wenn irgendein „bürger- licher Deutſcher, Herr Müller oder Meier, in Amerika wegen Mordes, Diebſtahls oder Holt vergebens beftraft würde, hätte man dann die amerikaniſche Zuftiz durch Vorwürfe und wi- tende Angriffe bebelligt und bloßgeſtellt? Vermutlich würde ſich keine Feder rühren. Aber da es ſich um An archiſten handelt der „Keichswart“ betont in Fettdruck, daß Sacco Jude iſt —, kann man ſich nicht genug tun und hüllt einen Glorienſchein um die Mär- tyrer ihrer Geſinnung. Beſonders die kommu- niſtiſche Partei iſt wie ein Ameiſen haufen in Aufruhr und Wirrnis. Als die Bande des Rän- berhauptmanns Holz, für deſſen Befreiung jetzt nach Kräften gewirkt wird, unſchuldige Frauen und Männer und Kinder ſchlachtete wo war die Entrüftung jener Kreiſe, die ſich heute in Verwünſchungen nicht erſchöpfen können? Als die Tſcheka in Rußland, wie die Statiſtik von 1922 feſtſtellte, 28 Biſchöfe, 1215 Geiſtliche, über 6000 Profeſſoren und Lehrer, faft 9000 Arzte, über 54000 Offiziere, 260000 Soldaten, beinahe 11000 Polizeioffiziere, 58000 Schutzleute, 12950 Gutsbeſitzer, 355250 Angehörige der Intelligenz, 192350 Arbeiter, 815 100 Bauern umbrachte: wo waren die Zeitungen der Rommuniſten, um dieſem ent- ſetzlichen Raſen Einhalt zu gebieten? Waren es jene, die heute für Sacco und Vanzelti fo ungeheucrlich lärmen, daß auch die burger!

liche Preſſe dieſer widerlichen Suggeſtion er-

liegt 71.

Unfere Gegenwart ijt dermaßen ridtungs- los, ohne Vergleich und wirr, daß dem Einfid- tigen nichts übrig bleibt, als abwehrend, ver-

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Auf der Warte

zweifelt abſeits zu bleiben, denn hier kämpfen die Götter ſelbſt vergebens. Untergang des Abendlandes 7... E. L. Schellenberg

Das Weltgewiſſen

s iſt der Schutz und Trutzheilige der Pagi-

fiſten: das Weltgewiſſen. Auf nichts (hauen fie hoffnungsvoller. Wenn es erft durchdringe, dann habe all’ Fehd ein Ende und der Himmel fteige hernieder auf die hoch; beglüdte Welt.

Das Weltgewiſſen ! Es müßte die ethiſche Auswirkung der Weltſeele fein; der unbeitech- liche Richter über Gut und Boͤſe, zugleich aber auch der ſtahlharte Durchſetzer feiner eigenen Urteilsſprüche.

Sibt es denn etwas dieſer Art? Beim Fall Sacco Vanzetti las man immer wieder, das WVeltgewiſſen“ habe ſich geregt. Zit das wahr?

Der Yankee kann ſehr empfindſam fein, wer aber ſeinen Staat und ſeinen Geldbeutel trantt, der hat ihn zum kalten Tod feind. Im „Boston Herald“ ſchrieb ein Richter, nach feiner Einſicht ſeien jene Italiener die Mörder keineswegs, allein es ſei beſſer, man töte zwei Anſchuldige, als das Vertrauen zur Rechts; pflege! Bei den maßgebenden Kreiſen ſtak alfo ein hemmender Eiszapfen in dem Uhrwerk des Weltgewiſſens. Oder dieſes regte ſich zu ſpat. Exft jetzt heißt es, daß Richter Webſter Thaper einen Nervenſchock erlitten habe. Und auch hier fragt man noch: Aus Reue oder bloß aus Angſtꝰ

Aber hat nicht gerade in dieſem Fall die Welt aufbegehrt wie nie zuvor?

Wahr ift, daß eine Proteſtbewegung ein- ſetzte, die um den ganzen Erdball lief. In Boſton drohte man die Sterbezelle zu ſtürmen; in Philadelphia ſprengte man Kirchen, in Neu- york Untergrundbahnhöfe, und ameritanifche Gefandte wurden in aller Welt fleißig an- geſchoſſen. Im Genfer Völkerbundes palaſt er- litten die Scheiben klirrenden Bruch. In Paris baute man auf dem Boulevard Sebaſtopol Barrikaden und zertrümmerte in den Cafés von Montmartre Glas, Spiegel und Marmor-

tiſche. Gist es ein ſchnurrigeres Quidproquo?

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Hundert franzöfiihe Polizisten wurden nieder- gehauen, weil die Amerikaner zwei Italiener abgetan hatten. In Clichy aber gibt es fortan einen Sacco Vanzetti-Platz.

Nur Ftalien blieb ſeelenruhig, das doch der nächte zum Proteſt geweſen wäre. Aber da es ſich um Anarchiſten handelte und außerdem eine amerikaniſche Anleihe in Ausſicht ſteht, hatte Muſſolini dort dem Weltgewiſſen alle Gemütsbewegung verboten. Und es ſtoppte gehorſam ab.

Aber dies beiſeite. Fft nicht das ſonſtige Auf- pochen ein ſchönes Zeichen wachſenden Gemein; buͤrgſchaftsgefuhls der Menſchheit? Ach, der Schein trügt. Man müßte ſich freuen, könnte ſelbſt den ruheſtöreriſchen Uberſchwang ent- ſchuldigen, wenn wirklich ſittliches Emp- finden dahinter ſteckte. Aber die deutſchen Larmſchlaͤger, die da gegen die Todesſtrafe wetterten, haben ſoeben noch für die deutſchen Fehmer von der Schwarzen Reichswehr den Tod sans phrase verlangt. Die Liga für Menſchenrechte, die Herren Loubet, Herriot, Caillaux, Loucheur, Pertinax, die Pariſer Chefredakteure, die da tönenden Proteſt ein- legten mit der Frage: „Gibt es denn keinen Chriftus über den amerikaniſchen Altären?“ wo ftedte denn deren feiner Rechtsſinn, wo der Chriftus über den Altären Frankreichs, als Poincaré vertragsbridig in das Rubrland einfiel und Schlageter an die Wand ftellte?

Sie waren alle nur die Hampelmänner der Komintern, und das machte jede Kundgebung zum verlogen verbrecheriſchen Rummel. Denn auch deren heißes Veltgewiſſen hat bloß einen ausſetzenden Pulsſchlag. Er ſtockte völlig, als ſie die Zarenfamilie, als ſie Hunderttauſende aus dem ruſſiſchen Adels-, Offiziers - und Ge- lehrtenſtande abmeuchelten! Und wird im vormals heiligen Rußland nicht auch heute noch drauf los geſtandrechtet: nicht etwa weil die Opfer ſchuldig wären, ſondern um bloß ein Exempel zu ftatuieren?

Was lag ihnen überhaupt an den beiden Italienern? Sie wußten, daß ihr blutiger Firlefanz denen gar nicht das Leben retten, ſondern erſt recht das Leben koſten würde, Denn der Dantee läßt ſich nichts abtrotzen, er verſteift ſich vielmehr bei jedem ſolchen Ver-

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ſuch auf das „Nun grade“. Sie taten’s aber dennoch, wollten ſogar die Leichname in Glas- ſärgen zur Schau durch die Welt führen, weil das heuchleriſch vorgeſchũtzte Weltgewiſſen eine Probemobilmachung zum Welt- umſturz verſchleierte. |

Damit beantwortet fid die Eingangsfrage. Es gibt ſo viele Gewiſſen wie Menſchen, aber fie ordnen ſich wieder, je nach Anlage, Er- ziehung und Sitte, nach Familien, Stämmen, Parteien, Völkern und Raſſen. Das macht fie ſehr verſchieden gegenwirken auf die Dinge dieſer Welt. Der Vorteil entſcheidet. Man ſagt nicht: „Ich ſoll, was recht iſt“, ſondern: „Recht ift, was ich will.“ Niemand betrügt ſich leichter in der Welt als das Gewiſſen.

Es müfjen Zeiten wie die heutigen geweſen fein, in denen die Manidderfette entſtand. Es liegt Tiefe in deren Mythus von dem Kampfe des Lichtgottes mit dem Satan der Finſternis um die von dieſem verſeuchte Menſchheit. Nur ganz langſam und unter ſteten Nüd- ſchlägen dringt jener, „der erſte Herrliche“, wie fie ſagten, vor. Der Silberſtreifen am Hori- zont, der dieſen Fortſchritt zeigt, das ſind kein eswegs die Schreier, die da fremde Un- rechtsmücken ſezieren, aber Kamele voll eigner Untat verſchlucken. Das ſind vielmehr die Stillen im Lande, die bekümmert ſchauen, wie arg es immer noch zugeht in der foge- nannten Rulturmenfdbeit. Erſt wenn das Licht geſiegt hat, erſt dann gibt es ein Welt; gewiſſen. F. H.

Geiſtesknechtung in Rußland

uſſiſche Schriftſteller haben nach der Ri „Auf der Warte“ (Nr. 36) auf geheimen Wegen eine Kundgebung ins Ausland geleitet, aus der man ſieht, in welch geradezu empdrender Weiſe die Geiftes- freiheit im Sowjetſtaate geknebelt wird. Es heißt darin u. a.: „Oer Idealismus, dieſe mächtige Strömung der ruſſiſchen Lite- ratur, wird als Staats verbrechen ge- brandmarkt. Unſere Klaſſiker diefer Rich- tung ſind von allen öffentlichen Bibliotheken verbannt. Die gegenwärtigen Schriftſteller, die als idealiſtiſch Geſinnte verdächtig erſchei⸗

Auf der Warte

nen, find jeder Möglichkeit, ſogar jeder Hoff · nung beraubt, ihre Schoͤpfungen jemals herauszugeben. Und ſie ſelbſt werden als Feinde und Zerſtörer der geltenden Staats ordnung von allen Ämtern verſtoßen und kommen ums tägliche Brot. Der Genehmi- gung des Zenſors ſind alle Werke, ſogar auf dem Gebiete der Chemie, der Aſtronomie und Mathematik, unterworfen. Ohne Genehmi- gung der Zenſur, ohne langes Warten, bis der mit Arbeit überhäufte Zenſor zur Prüfung übergeht, kann unter kommuniſtiſcher Serr⸗ ſchaft keine Viſiten karte gedruckt werden. Zur Eröffnung eines privaten oder öffentlichen Verlages ift eine amtliche Genehmigung er forderlich. Nichtſtaotliche Verlage bilden über- haupt eine Seltenheit. Gedruckt wird nut, was von der für alle obligatoriſchen tommuni- ſtiſchen Weltanſchauung nicht abweicht. Das übrige kann nicht herausgegeben werden und muß verborgen bleiben; das bei Hausſuchun- gen Vorgefundene führt zur Verhaftung und Verbannung, ſogar zum Erſchießen.“

Die Kundgebung ſchließt: „Dies Schreiben wirkt wie aus einem verborgenen Kerker ent- ſendet. Unter großer Gefahr wurde es ab- gefaßt, mit Lebensgefahr brachte man es über die Grenze. Auch wiſſen wir nicht, ob unſer Schreiben erſcheinen wird. Sollte dies aber gelingen und unſere Grabesſtimme euch er tönen, fo flehen wir euch an: Höret, leſet und überlegt das Schreiben! Der Herzensſchrei unſeres großen verſtorbenen Leo Tolſtoi, der ſeinerzeit ſein „Ich kann nicht ſchweigen“ det ganzen Welt zurief, wird dann auch die Richt- ſchnur für euch ſelbſt werden.“

Stadtrat Schminke und das Tiſch⸗ gebet

in kommuniſtiſcher Stadtrat in Berlin

Neukölln Schminke heißt der Edle beſucht als Dezernent für das Gefundheits- weſen das Neuköllner Krankenhaus in Buckow. Das Mittageſſen kommt; die Schweſtern ſtehen um die Tiſche und warten, daß die Oberin das Tiſchgebet ſpreche. Es geſchieht nicht; dafür wird kund: der Stadtrat hat das Lifd- gebet ein für allemal verboten! „Amt-

Auf der Warte

liche“ Begründung: das Eſſen gehöre zur „Dienftleiftung“, worüber er als Dezernent Vorſchriften zu machen habe. Perſönliche und alſo wirkliche Begründung: Herr Schminke äußerte ungeſchminkt, er habe es zu feiner Lebensaufgabe gemacht, Chriften- tum, Judentum und alles, was Religion beißt, zu bekämpfen. So weit wagt ſich alſo der Kommunismus in Oeutſchland vor! Die Sache hat außer- ordentliches Aufſehen erregt. Die „Tägl. Rund- ſchau“ z. B. ſchreibt dazu: „Unter den Schwe- ftern des Neuköllner Kranken hauſes herrſcht nach wie vor größte Empörung. Über den Stand der Oinge iſt im Hauſe ſelbſt aus be⸗ greiflichen Gründen nur wenig Poſitives zu erfahren. Die Schweſtern werden vom Be- zirtsamt angeftellt und find der Willkuͤr des Herrn Schminke ausgeliefert. Es iſt verjtänd- lich, daß die Schweſtern in dem Augenblick, wo ſie offen und ehrlich ihre Anſicht über dieſen unerhoͤrten Willtüralt jenes Rommunijten Ausdruck verleihen, ſich in ihrer Exiſtenz ge- fährdet fühlen. Das Bezirksamt iſt dadurch in der Lage, einen ſehr ſtarken Gewiffens- zwang auszuüben, ein Zuſtand, der allen Geſetzen der Menſchlichkeit Hohn ſpricht. Das Verbot des Tiſchgebets bedeutet einen durch nichts berechtigten Eingriff in die perfön- liche Freiheit der Schweſtern. Wenn es mehr als 200 Schweſtern für gut und richtig halten, vor Tiſch zu beten, dann gibt es kein Rechtsmittel, ihnen dieſe von ihrem Gewiſſen und ihrer religiöfen Überzeugung geforderte Handlung zu unterſagen.“

Das Bezirksamt wird über den Fall ent- ſcheiden. Und wie? In jener Gegend ſcheinen ja Kommuniſten genug zu figen... Und fie haben ſich inzwiſchen für den Stadtrat ent- ſchieden! |

Treudeutſch

o ſteht das Deutſchland von heute? Welches ift feine Weltanſchauung?

Auf der Straße, wo es laut und geräufch- voll zugeht, dürfen wir es nicht ſuchen, ſonſt hätten all die Werte, die wir heut’ wieder haben, nicht geſchaffen, all die Keiſen, die

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wir durchmachen mußten, nicht überwunden, all die Abgaben an den Feindbund und die ungeheure Laſt der Arbeitslofenunterftüßung nicht aufgebracht werden konnen. Aber an den Arbeitsſtätten, wo das Schlagwort keine Macht, wo Beharrlichkeit, Ausdauer und liebe volles, fein fühliges Vertiefen in die zu arbei- tende Sach e Regel ſind: da iſt des Deutſchlands von heute eigentlicher Kern und ſein Weſen.

Welcher Lebensauffaſſung wird hier nun unbewußt nachgelebt? Auf welches Ziel geht dies Streben zu?

Sichtbar jedenfalls dahin, all den Nöten der Zeit trotz ſchwerſter Bedrängnis nach der Väter Art zu widerſtehen, fie zu über- winden und dabei wieder neu aufzubauen. Der Weg, der hierbei eingeſchlagen wird, liegt auf dem Gebiet, wo Gemüt und Seele herr; ſchen, denn die Not hat alle, die dieſem Ziel nachſtreben, feſt in gegenſeitiger Opfer bereit- ſchaft zuſammengeſchweißt, ſie allen Hader und Haß, der früher die Herzen vielleicht ein- mal entfremdete, vergeſſen laſſen, dem ein- zelnen die Einſicht gegeben, daß feine hddjte Kraftentfaltung durch eine auf vollkommenes, gegenſeitiges Vertrauen gegründete Ehe erreicht wird. Einer Ehe, wo es gilt, deutſche Chriſten menſchen in ſich ſelbſt und den Nachkommen heranzubilden und diefen beſſere Dafeinsbedingungen zu ſchaffen, als man fie ſelbſt hatte.

Daraus ergibt ſich, daß, ebenſo wie der einzelne auf die ſorgſame Pflege, Erhaltung und Mehrung feines Familien gutes be- dacht iſt, er auch bei dem Staat, in dem er lebt, eine geſunde Hebung und Stärkung erſtrebt; denn nach ſeinem Fühlen iſt der Staat die natürliche Verbreiterung der Familie, indem er die beſonderen Stammeseigentüm- lichkeiten, die aus dieſer heraus entwickelt ſind, wahrt.

Und ebenſo wie in der echten deutſchen Cbriſten familie, die dieſen Zielen lebt, noch Ideale eine Stätte haben bei den Wedfel- fällen des Lebens lernt man durch das innige Verknüpftſein mit dem Leben durch die Nach- kommen den Wert der geiftigen Güter kennen und fchäßen, fein eigen es Ich hintenan; ſtellen —, ſo werden auch ideale Züge mehr

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und mehr bei dem Ganzen, dem Volk, wieder durchdringen, wenn auch die ſichtbaren Zeichen der Zeit mit den vielen betäubenden Feſten und anderen Ablenkungen vorläufig das ftille, emſige Wirken dieſer noch verdecken.

Aber der Tag, wo dieſes ftille, der Über- lieferung der Väter treue und hochſtehenden Männern und Frauen nacheifernde Oeutſch⸗ land ſich durchſetzen und führend ſein wird: er kommt zu feiner Zeit, mögen Feindbund und die niederſtrebenden Machte im eigenen Land auch mit noch foviel Lift und Tücke da⸗ widerſtehen! Denn nur die, denen die Fa- milie heilig, denen Liebe, Treue, Glau- ben keine leeren Begriffe ſind, können das hoͤchſt Menſchenmoͤgliche vollbringen: find bereit, fi voll für ihre Sache ein - und durch- zuſetzen, weil ſie hierbei auf keine fremde Hilfe, ſondern allein auf ſich und ihr Ehegemahl vertrauen und den größten Fährniſſen ruhig und geſchloſſen die Stirn bieten.

Weltanſchauung gegen Weltanſchauung, wie einft Baldur gegen Hödur! Über den Ausgang dieſer Auseinanderſetzung kann auch in unſerer Zeit kein Zweifel mehr ſein. Treudeutſch heißt die Loſung!

Georg Schäfer

Mehr Ehrfurcht, meine Herren!

Zur „Entgiftung“ der Rriegsgefänge von Walter Flex

ie neue Ausgabe der berühmten Ge- Dice auf feinſtem weißen, holzfreien Papier“, ſo leuchtet es uns entgegen vom Umſchlag von Walter Fler’ „Sonne und Schild“. Es iſt das 45.—47. Tauſend. Gefallen „bei den ſiegreichen Kämpfen“ auf Oeſel ſtand auf dem Titelblatt der früheren Ausgaben. Heute weiß man nichts mehr „von fieg- reichen Kämpfen“. Wozu ſoll man das auf dem Titelblatt leſen? Oder iſt das ſchon die erſte inhaltliche Verbeſſerung „auf feinſtem weißen, holzfreien Papier“ gegenüber den früheren holzhaltigen Ausgaben? Wir wiſſen aus dem Exinnerungsbuch der Bernita-Maria Moebis („Wer Gottesfahrt gewagt“), was Walter Flex ſeinem Elternhaus verdankt, wir wollen eines ſeiner ſchönſten Muttergedichte:

Auf der Warte Durch meine Träume, Mutter, gebit du ſacht So Nacht um Nacht.

noch einmal hören, das in den früheren Aus · gaben die Rriegsgefänge abſchloß und zu dem zweiten Teil, den „Gedichten aus der Stille überleitete. Wir ſuchen vergebens. Sollte das möglich fein? Sft das Politik oder Ge ſchäft, daß dieſes Zeugnis des Sohnes für die Mutter nur fortfällt um der an das Raifer- bild gerichteten Worte willen:

Fur dich, Herr, gab ich meinen Liebling bin,

Er hat die Sonne meiner kleinen Welt,

Die Sturmnacht deines großen Bolts burd- hellt.

Baht’ er zu allerletzt ! an did? an mich?

3 weiß es nicht und darum lieb’ ich dich.“ 2!

ait es darum, weil zum Liebesliede wird das Kaiſerlied“? Soll uns der Mutterſchmerz „Der heilige Traum“ nicht mehr entgegen- treten, fürchtet ja, wer? „man“, daß un- jere Liebe zu Walter Flex irgendwie dadurch berührt wird, daß feine gläubige, ihn bis ins Letzte erfüllende Hoffnung nicht erfüllt worden iſt, meint man (wer 7), daß die derzeitige politiſche Stellung der heute Walter Fler le ſenden Menſchen durch des Dichters Glaube verletzt würde? Man hätte Luft, das ganze Gedicht hier abzudrucken, das Zeugnis für Mutter und Sohn, das in unſere Leſebücher gehörte, doch einige Verſe mögen genügen:

Ams liebe Haupt webt dir ein Lichtglanz her;

Allnächtlich wird des frommen Leuchtens mehr.

Erſt war's im ſchwarzen Haar ein Silberftreif,

Nun liegt's auf deinem Haupt wie weißer Rei

Die Silberkrone, die dich rührend ſchmuück, Hat dir dein Kind im Tod ins Haar gedruckt. In ihrem heiligen Glanze ſchreiteſt du

Durch dunkle Träume, Mutter, auf mich gu...

Als Schildwach fteh’ vorm Feind ich Nacht um Nacht,

Mein Herz hält ſtill vor deinem Herzen Wacht.

Und werf’ ich mich aufs Stroh zu kurzer Ruh,

Treibt meine Seele ihrer Heimat zu.

Staff Der Warte

Durch meine Träume, Mutter, rauſcht dein Aeid,

Durch meine Seele rauſcht und rauſcht dein Leid 9000

Unb Nacht um Nacht rührt mich der gleiche Traum: Du gehſt durch deines Zimmers Nate Raum, Still, Schritt um Schritt ... Der Glanz der weißen Krone wandert mit, Zum Exter gehſt du, wo im Dämmerſchein Du e uns ſpannſt in deine Marden ein

Alſo dieſes Hohelied der Mutter fehlt in der neuen Ausgabe „auf feinſtem weißen dolzfreien Papier“. Zebt ſehen wir uns das Buch genau an, auch der Schildſpruch fehlt: „Vor Gott ohne Recht. Reins andern Rnedht*. Wer hat den Schild heruntergeholt? ſo fragen wir am Oichtergrab von Oeſel. Noch iſt die neue Ausgabe „Ein Ehrendentmal für meinen für Raifer und Reich gefallenen lieben Bruder, den Leutnant Otto Fler (Inf.-Reg. Nr. 160)*, aber wie lange noch? Denn ſchon wird das Gedicht „Bruders Heldentod“ ent- giftet. Noch beginnt es:

Es liegt ein Held begraben In Kaiſers Mantel gehüllt, Des Herz und Hände haben Die letzte Pflicht erfüllt. Von meines Bruders Ende Sh tapfer fingen will,

Des Herz und liebe Hände Nun liegen tief und ſtill.

Roch heißt es in der Mitte des Liedes:

Oeutſch war ich aller Stunden, Nun bin ich ganz erkauft Ourch Blut aus Bruders Wunden, Oeutſch bis ins Mark getauft. Ich ſchwoͤr's bei Gottes Sternen, Sd will fein Erbe fein, Wir können das Lachen verlernen, Ooch nicht das Tapferſein.

Aber des Bruders Name iſt jetzt unter; drückt! Man könnte ja Anſtoß nehmen man? wer? an dem Vers:

Dein Name iſt gefungen,

Ein Reim auf Wilhelm Rex, Oer Reim iſt hell verklungen, Herr Leutnant Otto Flex.

Aber noch mehr Gedichte fehlen, da- von eines, das nicht ſchlimmer iſt d. h. poli- tiſch gefährlicher als andere Kriegsgeſänge, die jetzt noch in dieſem Band enthalten find. Es iſt das Lied, das nach der Weiſe „Der Gott, der Eiſen wachſen ließ“ zu ſingen war (in Kriegspſychoſe 7):

„Mein deutſches Volk, mein deutſches Land, Oich will ich kindlich preiſen,

Gold ohne Ehre gilt dir Tand,

Mein heil' ges Volk in Eiſen.“

Oder iſt es Beſchaͤmung vor der Wirklichkeit, vor dem Heute, das den Abſtand von des Dich; ters Glauben uns ſo erſchreckend erkennen läßt („Trutz England!“ iſt dieſes Lied über- ſchrieben), dagegen „The Germans to the front!“ das ließ man ſtehen und ſogar auch „Geburtstag der Raiferin in Viéville“, ohne daß die Republik dadurch erſchüttert wurde. Aber weshalb fehlt jetzt das in den früheren Ausgaben „Nach dem Sieg von Tannenberg“ gedichtete und geſungene „Oftdeutſche Kin- derlied“ mit dem Schluß:

Es iſt der arme Nikolaus,

Watet durch die Sümpfe,

Er hat ein graues Roͤcklein an,

Trägt nicht Schuh noch Strümpfe, Gen ral Hindenburg

Schwapp, ſchwapp, ſchwapp,

Fängt das Männlein, klapperd ieklapp Sn den deutſchen Sümpfen,

Eine Hoffnung haben wir, daß die 3000 Exemplare dieſer entgifteten Ausgabe von Walter Flex recht bald von der deutſchen Zu- gend und von der Brüder Otto, Walter, Mar- tin Fler’ Kriegskameraden ſchnell verbreitet wird, damit dann wieder das ungekürzte Buch oder eine offen und ehrlich als Auswahl be- zeichnete Ausleſe der zeitloſen Dichtung uns geboten werde. Wolf Ziegler

Nachwort der Schriftleitung. Auch wir halten es für notwendig, daß in dieſem Fall

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Walter Fler einmal feftgeftellt wird, aus wel- chen Urſachen diefe Reinigung und Entgiftung eines Dichters ſtattfindet, der ein fo ſcharf ge- prägtes Geſicht hat. Es iſt zumindeſtens ein Mangel an Ehrfurcht vor dem Geiſt, wenn wir mit dem Rotftift in den Werken eines Dich- ters berumfahren. Bisher hat man diefe „Der- beſſerungen“ wohl nur bei den frei gewordenen Schriftſtellern beobachten können es ſei hier an die merkwürdige Reinigung der Rlaf- ſiker und die ebenſo merkwuͤrdigen KRuͤrzungen von Freytags „Soll und Haben“ erinnert! Bisher war eine ſolche Handlungsweiſe gegen über einem gejhüßten Buch vor 12 Zahren erſchien die erſte Auflage von Walter Flex „Sonne und Schild“ im deutſchen Buch- handel nicht üblich. Wenn ein lebender Dichter an einem Auswahlband oder auch an einem Roman bei Neuausgaben ändert, iſt es etwas ganz anderes. Aus dem Schrifttum der letzten Jahre iſt uns mancher Fall bekannt, daß durch ſpätere Überarbeitung durch den Verfaſſer die Romane an innerem Gehalt und an feſter Form gewonnen haben. Der uns heute be- ſchäftigende Fall Walter Flex iſt aber von fo grundſätzlicher Bedeutung, daß die Öffentlich- keit, und zwar in gleicher Weiſe Leſer wie Schriftſteller, Buchhandel und Wiſſenſchaft, zu fragen haben: Wer ſchüͤtzt das geiſtige Cigen- tum vor der Vergewaltigung? ©, T.

Ein Buch aus dem Elſaß

as Handeln der Menſchen zu beobachten

iſt oft ſehr unerfreulich. So hat es mie damals ins Herz geſchnitten, als ich die Schilde; rung vernahm, mit welcher Begeiſterung unſere Elfäffer Volksgenoſſen nach beendetem Weltkrieg die Franzoſen empfangen haben. Wie ein Rauſch war es über fie gekommen, als der Friede verkündet ward. Man kann ſich die Motive dieſes Raufches verſtandesmäßig zu- rechtlegen und eine ausreichende Entfduldi- gung hierfür finden; und doch bleibt in der Seele das Gefühl eines Mißbehagens zurück, das um ſo tiefer frißt, je mehr die Stimme auf Verurteilung ſolchen Handelns verzichtet. Nun aber ift es überwunden. Nach fiebenjähriger Franzoſenherrſchaft im Wasgau und Deutfd-

Auf der Warte

Lothringen dringt neue Runde handelnder Eilfäffer zu uns und löſt herzliche Freude in uns aus, um ſo mehr, als wir im Reich durch die Lektüre der Straßburger „Zukunft“ auf den Umſchwung der Stimmung hoffen konn- ten. Dies ließ mich ſofort auch zu dem vorlie genden Buch greifen (Georges Wolf, Daz elſäſſiſche Problem. Leipzig, Fernau 1926.), zumal ich den Verfaſſer bei Gelegenheit der Tagung des ev.⸗ſoz. Kongreſſes in Straßburg kennengelernt hatte, wobei allerdings ein Mik: ton ſich einſchlich. Für uns Altdeutſche er- ſchien es damals unverſtändlich, daß Herr Wolf, der Verfaſſer des neuen Buches, mahnte, den bekannten Nationalölonomen Ad. Wagner Berlin in der öffentlichen Abend- verſammlung nicht ſprechen zu laſſen, da er unter den Elſäſſern Anſtoß erregen könnte Nachdem id fein Buch geleſen habe, verſtehe ich ſeine Warnung. Er war damals noch nicht deutſch, fo wie er heute noch nicht Franzoſe ift, obwohl er ſich heute Georges, ſtatt des früheren Georg nennt.

Somit vertritt er einen Typus, wie ihn die Grenzlandtragik hervortreibt. Von hier as geſehen, gewinnt fein Buch ein beſonderes Ir- tereſſe, und man begreift, wie der Verfaſſer in ſeinen Urteilen oft in die Irre geht. Einige Beiſpiele ſeien dafür angeführt: „Ein Typus des ganz zum Franzoſen gewordenen Eifäffes iſt Job. Fr. Oberlin, der ſoziale Reformer des Steintals“ (S. 5)! Der Verfaſſer mag im „Türmer“ oder in Lienhards ſachgetreuem Roman nachleſen, wie grundverkehrt dieſe Charakteriſierung iſt. Der nationale Mythos, ſchreibt Georg Wolf auf derſelben Seite, habe im Oeutſchen Reich Polen und Dänen zu ver ſchlingen geſucht. Er hat keine Ahnung davon, wie weitherzig die Minderheiten im Reich behandelt wurden; es ſei auch an die franzdfifh redenden Breuſchtäler im Wes- gau erinnert, deren Schulen ich beſucht habe. Und wie geſchichtswidrig malt ſich im Kopf des Herrn Georg Wolf der Urſprung des Welt- kriegs ab, wenn er S. 10 ſchreibt: „Oaß er (der Weltkrieg) feinen Arſprung in Rußland hatte und Frankreich nur kraft feiner Sind niſſe hineingezogen wurde, ändert an det Sache nichts.“ Heute weiß jedermann im gr

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Auf der Warte

und Ausland (die Franzoſen natürlich aus- genommen), daß der zum Krieg treibende Faktor Poincaré war, ſeit die unglaubliche Dummheit der deutſchen Außenpolitik den Seheimvertrag mit Rußland aufgab. Und das Ende? „Zoch hatte über Ludendorff geſiegt. Noch einmal erfüllte ſich das Geſetz unſerer Seſchichte. Der Sieger von 1918 nahm einfach zurück, was ihm der Sieger von 1871 geraubt.“ So ſteht S. 11 geſchrieben! Welche Entitel- lung! Frankreich hat nicht geſiegt, ſondern die techniſche Abermacht der Amerikaner und die

Sungerblodade Englands. Das war kein Hel-

denftüd: 26 Staaten darunter die mächtig⸗

ſten gegen einen, der über vier Jahre ſtandhielt! Und dann der weitere Satz, deſſen dirette Umdrehung zur Wahrheit wird. Er

muß lauten: Oer angebliche Sieger von 1918

nahm zum zweitenmal das Elſaß, was der Sieger von 1871 zurückgenommen hatte. Auch der Satz S. 14 enthält eine Torheit: es wird gefagt, daß das Oeutſche Reich nach der An- nexion von 1871 das Elſaß „germaniſieren“ wollte. Als ob das nötig geweſen wäre in einem Lande, das in den breiten Schichten deuiſch geblieben war! 3m Reidsland mußten die deutſchen Inſtinkte, die unter 200jähriger Franzoſenherrſchaft eingeſchlafen waren, wie der geweckt werden. Das war das Ziel, das ohne Zweifel gut und geſund war. Ob die ein; geſchlagenen Wege die rechten waren, kann in Zweifel gezogen werden, aber ſchließlich fan; den die Wiinfde der Bevölkerung doch Erfül- lung: Ein Elſaͤſſer wurde Statthalter, ein El- faffer Staatsſekretär, der ſich fein Miniſterium aus Elfäffern zuſammenſtellte. Im Landtag war das Volk vertreten; die Gemeinden be- ſaßen weitgehende Selbſtverwaltung, alles Errungenſchaften, die ber germaniſchen Volks- ſeele entſprechen. Und heute?

Wenn Herr Georg Wolf glaubt, in größter Objettivitat feine Feder angeſetzt zu haben, fo befindet er ſich in größtem Irrtum, von dem wir ihn gern befreien möchten. Aber es wird ſehr ſchwer ſein, da ſeine Seele geſpalten iſt. Sein deutſches Gefühl läßt ihn S. 112 ſchrei- ben: „Oarum war es eine weltgeſchichtliche Fügung, daß in letzter Stunde Deutſchland unſer Volkstum gerettet und unfer elf af-

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ſiſches Stammesbewußtſein aufs neue geweckt und ſtärker gemacht hat, als je zuvor in unſerer Geſchichte.“ Ganz deutlich tritt die Geſpaltenheit feiner Seele auch in der Stellung hervor, die er zur Heimatredts- bewegung und zur Autonomiebewegung ſeines Heimatlandes einnimmt. Zu erſterer bekennt er fic rückhaltlos, zu letzterer geteilten Herzens. Darin ſind ihm die Hintermänner der „Zukunft“ weit überlegen, welche die Auto- nomie des alten Reichslandes fordern mit der einzigen Einſchränkung, die von den poli- tiſchen Verhältniſſen geboten wird, „im Rah- men Frankreichs“. Sie bringen die Gedanken eines Vorkämpfers der Heimatrechte, Camille Oahlet, zu voller Klarheit. Georg Wolf nennt ihn den elſäſſiſchen Franzoſen, der in ſeiner Perſon eine Verbindung zwiſchen franzdfi- ſchem Fühlen und elſäſſiſchem Empfinden dar- ſtelle, wobei freilich ganz dunkel bleibt, welchen Unterſchied Georg Wolf zwiſchen „Fühlen“ und „Empfinden“ macht (S. 115). Seite 117 heißt es dann: „Unfere Forderung (Wahrung der Heimatrechte) aber wurzelt nicht nur im Gefühl, ſondern in einer ernſthaften Über- legung kultureller und rechtlicher Natur. Wir ſind alemanniſchen Stammes und ſprechen einen alemanniſchen Dialekt, und die deutſche Schriftſprache ift unſere KNulturſprache. So find wir ein Minderheits volk gegenüber dem Mehrheits volk Frankreich mit feiner franzö⸗ ſiſchen Sprache und Kultur.“

Diefes Minderheitsvolk verlangt „Verwal- tungsautonomie“ im zntereſſe des Landes und zugleich der franzöſiſchen Geſamtrepublik, von der ſich Georg Wolf ſo viel verſpricht. Er vertraut dem „Genius Frankreichs“ (Seite 112). „Er zeigt uns den Weg zur Rettung, in- dem er unſern Genius aufruft zur Mitarbeit am Werk der Voͤlkerverſöhnung.“ Das ift aber doch wohl Utopie. Der „Europäiſche Geiſt“ iſt ein Gedankending, dem der Geiſt von Ver- ſailles hohnlacht. Denn dieſer herrſcht noch, trotz Locarno. Georg Wolf geſteht dies Seite 134/55 auch zu, ohne feine Hoffnung auf Frankreich aufzugeben. Möcht er darin nicht enttãuſcht werden! Denn wie Frankreich feine Herrſchaftspläne nicht aufgeben will, ſo denkt es nicht im entfernteſten daran, dem Elſaß

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Verwaltungsautonomie zu gewähren. Das zentraliſtiſche Syſtem, das die politiſche Starke des Staates entwickelt hat, iſt jeder Degen- traliſation abhold und ſchickt ſich eben auch an, den „Elſaß-Lothringiſchen Heimatbund“ mit Polizeigewalt zu unterdrücken.

So weit iſt es alſo im alten Reichsland ge- kommen. Wie es geſchehen konnte, Darüber gibt das Buch von Georg Wolf eine gute, erſchöp⸗ fende Überſicht. Deshalb kann es empfohlen werden abgeſehen von der ſchwankenden Haltung, die der Demokrat, gebunden durch Rüͤckſichten auf feine Partei, einnimmt im Ge- genſatz zu den Kommuniſten, die ganz offen volle Autonomie des Landes fordern, im Ge- genſatz auch zu den Sozialiſten, die gänzliches Aufgehen in Frankreich fordern und ihre demokratiſchen Grundſätze grdblidh verleugnen.

Wird der alemanniſche Oickkopf ſtand halten gegenüber den Maßregelungen, denen er durch Frankreich ausgeſetzt iſt? Bas führende Blatt der Heimatbewegung iſt die „Zukunft“. Man bezieht das Wochenblatt durch den Zeitungs- vertrieb Vanderhertz in Baden, Leopold platz.

Prof. Dr. W. Rein.

Legenden und Warden von Eber⸗ hard König

berhard König, deſſen Wohnung neulich

das große Brandunglüd erlitten hat, iſt einer jener wenigen Erzähler, die ſchreiben wie fie ſprechen, vortragen würden: unmittel- bar ſtrömt die Erzählung daher, plötzlich wird die Handlung aufgehalten, um durch das helle Licht weisheits voller Exkenntnis überjtrahlt zu werden, oder aber um durch den prachtvoll urwiidfigen und herzwärmenden Humor ein Gleichgewicht, einen Ausgleich zu ſchaffen zum Ernſt des angeſchlagenen Themas. Immer aber ift die Sprache ein aſthetiſch mu; ſikaliſches Erlebnis für ſich, ein unendlich aus- drucksreiches Inſtrument im Geifte dieſes deutſchen Künſtlers. In feinen weitverbrei- teten Legenden offenbart ſich Königs Art be- ſonders eindringlich als ein Rinftlertum, das ſich zutlefſt Gott verpflichtet und verantwort- lich weiß, das von wahrhaft germaniſchem Weistum erfüllt iſt. Die innere Schwere der

Auf Ser Werte

geiſtigen Idee innerhalb jedes Werkes wird aber nie zur dußeren Schwere: jeder fib- lende Menſch wird dieſe Legenden, Geſchichten und Märchen aufnehmen können um ge packt, ergriffen, innerlichſt berührt, von ihnen als Freund zu ſcheiden.

gm Tarmerverlag, Stuttgart, erſcheint fe- eben in zweiter Auflage „Die Seſchichte von den hundert Goldgulden“ (Preis 4 2.80). Auch in dieſem Buͤchlein ein erneutes Erlebnis deutſcher Geiſtigkeit, deutſcher Her- zensweisheit eine Didtung der Ehekame radſchaft, reif und zart und hinuüͤberreichend in das Licht letzter Erdenntnis. Die Sprache voll und toͤnend und vielfältig beziehungsreich. Der Humor kern haft und mannhaft in det großen Linie unſerer wenigen großen Humo- riſten. Hier fei auch auf die erfolgreiche, vor zwei Jahren erſchienene und jetzt in 4. Auflage vorliegende „Legende vom verzauberten König“ hingewieſen. (Cirmerverlag, K 2.20.) Echtes, aber ich und eigenſuͤchtiges Herren; tum wird in biefer kraftvoll hochgereckten und wiederum innerlich reich durchſtrömten Ge ſchichte geläutert zu wahrem Rönigtum, das wahres Menſchentum iſt. Was aber macht die Sprachorgel Rönigs, was machen das Leuch ten des Gemütes, die Fille der Phantaſie aus dieſem Thema! Die Geſchichte „Wenn der Alte Fritz gewußt hätte“ hat als Haupt geſtalten den großen Friedrich und den fehle ſiſchen Berggeiſt Rübezahl bedeutend iſt bier der dichteriſche Einfall: Der in den Tiefen der Berge ſeit einem Jahrhundert ſchlafende Rübezahl erwacht und hört über ſich kriege! riſchen Lärm. Friedrichs Soldaten ziehen durch Schleſien, in Kämpfen mit den öſter⸗ reichiſchen Heeren. Und was der alte Men; ſchen verachter von den Taten, vom Weſen die fea alten Fritzen, dieſes großen Rönigs und Menſchen hört, beſtimmt ihn, ſich ſelbſt zu überzeugen, ob es unter Hundsfotts und klei nen Seelen tatfddlid königliche Menſchen gibt. Rübezahl verwandelt ſich in einen Re kruten, läßt fid zu den Truppen Friedrichs an“ werben und erlebt fo in der nächften Nähe des Großen deſſen ganze Größe als Feldherr, als König, als Menſch. Und die haarftrduben- den Abenteuer, die luſtigen Epiſoden, die feine

as der Warte 91

Windologie der ſeeliſchen Vorgänge im un- gläubigen Rübezahl, der gläubig wird, im Verein mit den hochbedeutſamen Szenen der Zuſammenkunft Friedrichs mit dem präd- tigen Abt von Kamenz, die meiſterhaft ftia- zierte Lebensſtimmung dieſes größten beut- ſchen Fuͤrſten ergeben eine literariſch be; deutende und dichteriſch reiche Schöpfung von

Solleder eine Galerie berühmter Handwerker und Handwerkerſöhne eingerichtet. Die nach unterſchiedlichen Vorlagen von Runftmaler Kajetan Oreißer gefertigten 60 Bilder offen- baren ſich als Charattertipfe beſonderer Art, die uns von großen Jahrhunderten unſeres Volks erzählen. Neben Sebaſtian Brant, Peter Fiſcher, Peter Henlein, dem Erfinder

padendem geiſtigen und zeitgeſchichtlichen Ge; dalt. (Erſchienen bei Erich Matthes, K 2.50.)

Hier ſei ferner auf die in 6. Auflage, im 16. Tauſend und in finer neuer Gewandung vorliegenden „Legenden von dieſer und jener Welt“ hingewieſen in welcher Sammlung ſich die drei großen Runftwerte befinden, „Die Geſchichte von der filberfar- benen Wolfenfaummeife~ und die beiden Epen „Hermoders Ritt“ und „Von Satans Bangen und Lachen“ Oichtungen, auf die dereinſt die Nation ſtolz ſein wird. Aber auch die wunderfeine Märe „Oer Waldſchratt“ fei nicht vergeſſen. (Verlag Erich Matthes, Leipzig, K 4.—.)

Die lange vergriffenen Märchen „Von Hollas Rocken“ erſcheinen vermehrt neu in der Neihe der ausgezeichneten und billigen Zweifaͤuſterdrucke des Verlages Exich Matthes in überaus reizvoller Ausſtattung mit ſchönen Siluftrationen von Hans Schroedter. Rönigs herbe, deutſche Geiſtigkeit, der Reichtum an Gemüt, fanden in dieſen Märchen einen oft son Humor überſonnten, lebendigen Aus- druck. Mit ihrer heimlichen Weisheit, in der Schon heit der Sprache ſind dieſe deutſchen Märchen eine wertvolle Bereicherung unſerer Volks muͤͤrchen und nicht nur für die Zugend, ſondern auch für die erwachſenen Freunde des Rinigihen Schaffens beſtimmt. Das [Hine Büchlein hat den Vorzug, den Beutel nicht zu 8 es koſtet & 2.50.

F. A. Gayd a

Das Handwerk im Lichte der Fa⸗ milienforſchung

J Rahmen der Münchner Ausſtellung

„Das Bayeriſche Handwerk hat der Lan- des verein für Familien kunde auf Anregung des verdienſtvollen Forſchers Dr. Fridolin

der Taſchenuhr, und dem Nürnberger Golb- ſchmied Wenzel Famniger, Hans Sachs und Albrecht Dürer, der Reformator Melanchthon und der Erſchließer der ſchwarzen Kunſt, Gu- tenberg. Der bayeriſche Hiſtoriker Aventin, Turmair genannt, Jakob Fugger, ein Weber ſohn und fpater der größte deutſche Raufmann, und der Nürnberger Bildner Adam Krafft. Und an der Schwelle zur neueſten Zeit ſtehen der Wirt und Freiheitsheld Andreas Hofer, der Univerſitätsprofeſſor Ringseis, der an der Verlegung der Univerfität Landshut nach Minden verdienſtvollen Anteil gehabt, ferner der Bamberger Arzt Johann Lukas Schönlein, der Begründer der naturhiſtoriſchen Schule, und endlich der Bierbrauersſohn Johannes Scharrer, jpäterer Buͤrgermeiſter von Nürn- berg und Schöpfer der erſten deutſchen Eijen- bahn. „Er ſah im Handwerk die Quelle alles Fortſchritts.“ Karl Spitzweg war ein Wirts- ſohn, Lenbachs Vater war Maurermeiſter, Georg Ohm ſtammt aus einer Schloſſerfamilie, Andreas Schmeller, der Sermaniſt, von Korbflechtern, Goethes Großvater war Schnei- dermeiſter, Schillers Ahnen Bäcker und Wirte, gaydns Vater übte das Wagnergewerbe, Kants Vater die Sattlerei aus. Und ſo geht die Reihe dieſer eindrucksvollen Galerie weiter, und mit jedem dieſer uns noch heute lebendigen Namen iſt ein Handwerk des Vaters oder Großvaters verbunden. Bei Georg von Rei- chenbach, dem Optiker, und Nikolaus von Oreyſe, dem Erfinder des Zündnadelgewehrs, das Schloſſerhandwerk, Balthaſar Neumann, der Erbauer der Würzburger Refidenz, lernte bei ſeinem Vater, einem Glockengießer, die Er zgießernamen Miller und Stiglmayer füh- ren auf Hufſchmiede zuruck, Philipp Reis, der Erfinder des Telephons, auf die Bäckerei, der Urgroßvater unſeres Seehelden Grafen Lud- ner, Nikolaus Graf von Luckner, Sohn eines

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Bierbrauers in Cham in der Oberpfalz, wurde Marſchall von Frankreich unter Napoleon I., und Gerhart Hauptmann gewann als Sohn eines ſchleſiſchen Gaſtwirts die erſten Vor bilder feiner fpäteren Dramen. Und Auguſt Borſig, der Sohn eines Zimmermeiſters, wurde der große, in allen Weltteilen aner- kannte Lokomotivbauer, der Nürnberger Bütt- nerſohn Sigmund Schuckert ward der Be- gründer der elektrotechniſchen Großinduſtrie in Bayern, Ferdinand Schichau, der Gelbgießer- lehrjunge, erbaute den erſten Schrauben dampfer, und aus dem Schuhmacherſohn wurde der Biſchof von Regensburg Johann Michael Sailer. Hebbel kam aus der Familie eines Maurers, Storm aus einer Mühle und Peter Noſegger lernte die Miſere eines Dorf- ſchneidergeſellen kennen. Gottfried Kellers Vater betrieb die Drechſlerei, und der Tape zierſohn W. Heinrich Riehl ſteht heute als großer Kulturhiſtoriker im Buche der Ge- ſchichte. Als vorletztes Bild Wilhelm Röntgen, deſſen Vater und Großvater als Rupferfchläger ſchufen.

Diefe intime Sammlung lebendiger Namen zeigt den Aufſtieg des wahrhaft Tüchtigen aus eigener Kraft durch Paarung von Bega- bung und Energie und kündet von den un- verſiegbaren Kräften, wie ſie im deutſchen Volke ſchlummern und, wenn geweckt, zu höchſter Entfaltung führen. Freilich, ein aller- letztes Bild, es iſt fehl am Ort. Denn es ſtellt einen Mann dar, der ſein tuͤchtig betriebenes Handwerk verlaſſen und als einer der Führer der duͤſtren Novembertage von 1918 zur partei; politiſchen Macht und zur hidjten Stelle des Staats gelangte. Und da ein bayeriſcher Rir- chenfürſt die Novemberereigniffe von 1918 als Meineid und Hochverrat feſtgelegt hat, darf der Namensträger dieſes allerletzten Bildes in der hiſtoriſchen Gemeinſchaft kulturell ſchaffender Köpfe großer Deutſcher als höchſt unerfreulich bezeichnet werden. Dr. Eduard Scharrer

Moderne Wohnkultur

us dem Flugzeug ſieht man heute inter nationale Großſtädte liegen wie ein kleines Gebirge: Hochhäuſer ſtufenförmig hin

Auf der Barte

geklotzt, Arbeitskon zentration, abends ein Springbrunnen von Licht auf tiefem Schat · ten. Dies Bild iſt unſern Augen wohlgefällig wie die ſcharf hinfliehende Kurve einer Bahn; linie oder das Mammuttier einer modernen Fabrik: Technik iſt uns menſchlicher Aus- druck.

Unfere Zeit iſt Polarität: Zwei, wie das Altertum weiſe Einheit war und das Mittel- alter Oreieinheit. Wir müffen neben dem gochhaus das leichte Wohnhaus hin bauen: Hütten, Zelte mit Gärten der Semiramis, Spiele unſeres Lebensausdrucks. Das will unſer Wille. |

Das Gegebene ift fo, dak in London heute auf ein Haus 8 Bewohner kommen, Chitage 55, Neupork 15. Röln, eine der ausgedehn- teſten deutſchen Städte, ſteht fo wie Neuyorl. Das Bremen der Einfamilienhäuſer ſo wie London. Berlin aber hat 76, Hamburg 39, Breslau 52 Menſchen auf ein Haus!

Das Gegebene ift, daß heute in Hamburg auf 2,7 Eheſchließungen ein neuer Haushalt und auf einen Haushalt 0,9 Wohnungen kommen, alle früher unbewohn baren Woh nungen eingerechnet.

Das Gegebene ift, daß eine. fosialbemotre- tiſche Regierung in Wien heute den Fuchſen feldhof gebaut hat, der von weitem wie ein Schloß ausſieht, in feinem Innern abe 25000 meift Zweizimmerwohnungen enthält: So elend war die Wohnungsnot in Wien, daß Stube und Riche in einem Sechsſtockwerk haus golden ſind gegen das Oach, das ſonſt den größten Teil der Bevölkerung bloß vor der Witterung ſchüͤtzte.

Trotzdem wird der Wille, der Flugzeuge, Schiffe und Fabriken geſchaffen hat, den Unterbau für dieſes alles ſchaffen: das Wohn- baus. Die Fülle des Spieltriebs will dazu: Gymnaſtikhalle und Sonnenbad, Kinder“ heim und Werkſchule, Funk und Film im Hauſe. Der Menſch aber will Wohnräume perſönlich und abgeſchloſſen, feſtlich von Farbe und wohltuend von Raumperhdltniffen; das Gegenteil der Technik, antiſachlich. Der Wohn“ ſiedler iſt kein Bauer und kein Schrebergärtnet,

Auf Der Warte 93

dieſer Dortruppler eines Ausrüdens aus der Gro fftadt, ſondern der moderne Menſch, den die Stoßſtadt morgens anſaugt und abends wieder entläßt. Er kann bie City nicht erfaſſen, wenn er ſie nicht von einer weiten Ebene aus ſieht, wohin ihr Getriebe nicht dringt. In

Etwa daß man fo malen muß, daß der Ge genſtand nicht mehr zu erkennen iſt, daß der Beſchauer ſich über die Erſcheinung lediglich den Kopf zerbrechen ſoll, daß die Uranfänge taſtender Bildnerei der Zdealzuſtand ſeien, zu dem wir zurüdftreben müßten? Die teuf-

beiden Velten iſt er zu Hauſe. Beide ſind die Wohnſtätte der heutigen Seele, ihre Spann- kraft und das mavens ihrer Fülle und Ls- fung. E. B.

Chaos Sedanken zu einer Ausſtellung

n der Großen Berliner Kunſtausſtellung ind jetzt einige Säle neu gefüllt worden. So kamen neben den Schleswig-Holſteinern und den jungen Dänen die Abſtrakten zu Worte.

Wollte man nun von den Deffauer” Profeſ-

ſoren Lionel Feininger, Waffily Kan- dinſky und Paul Klee auf die geiſtige Atmo; Iphäre dieſer Stadt, ihr Runftleben und ihren künſtleriſchen Nachwuchs ſchließen, fo könnte man techt mutlos werden und ſich ſchwoͤren, um Deffau für alle Zeit einen großen Bogen zu machen.

Was dieſe drei Schwärmer, denen ſich noch A. von Zawlenſty in Wiesbaden zugeſellt, unter Malerei verſtehen, iſt fern aller Kunſt, iit dewußtloſes Spiel mit dem Zufall, traum- verlorene Ausgeburt einer Laune oder klügelnd errechnete Mache, iſt Krampf und Unnatur, Hie in willkürliche Perfpettiven und Licht- ſchnitte zerlegten Bilder Feiningers, die wap- penförmigen, beliebig abgegrenzten grün- grau- violetten Felder mit überſpannten Be⸗ zeichnungen, wie „Vom Glück“, „Verſöhnung“ uſw., wie fie. Jawlenſkty zuwege bringt, die trigonometriſchen Gebilde Nandinſkys, wie etwa zwei eng ineinander gelegte farbige Rreife, darunter ein gleichſchen kliges Dreieck mit aufwärts gerichteter Spitze und horigon- taler Aufteilung in kleine Oreieckfelder, das Ganze als „Schluß“ bezeichnet, oder fchli: glich die erzwungen primitive beileibe nicht naive Art von Nee: was > folk damit 6 be- wieſen werden? i. a Sess

liſche Austilgung aller Natur, die rafende Sucht, jede Tradition, jedes organiſche Ge- wordenſein zu leugnen, und die bösartige Luft an der Zerſetzung der Elemente künftle- riſchen Schöpfens das iſt der Geiſt, das iſt die Seele dieſer Abſtrakten, die ſich vom Erd- boden löſen, um in fiebriger Verzückung, zu⸗ meiſt aber in kalt ausprobierter Manier die Dummen zu ſuchen und zu finden, die urteils- los genug ſind, um an der Verwüſtung der Kunſt ihre Freude zu haben. Das iſt der gleiche Geiſt, der in der Dichtung das Häßliche roh hervorkehrt, weil der kraſſe Naturalismus und die Zerſchlagung der Form fein Evange- lium ſind, der gleiche Geiſt, der in der Muſik die Reinheit der Harmonie, die ſtrahlende Schönheit eines Tongebäudes, den Adel ihrer freien Geſetze ſchändet, und nochmals der gleiche, der an die Wurzeln der Familie die Axt legt und die Brandfackel an die Grund- feſten des Staates hält. Es iſt ein Wille, ein Gefühl, ein Haß, der fie alle verbü det. Die Macht der Natur aber läßt ſich nicht brechen. Sie iſt Anfang und Ende. Die bil- dende Runjt der letzten zehn Jahre beweiſt es klar in ihrem Wandel. Die Abſtrakten in Deſſau und die Kommuniſten in den Straßen von Wien fechten auf verlorenen Poſten. Das entfeſſelte Chaos iſt ihre Leidenſchaft. Dort, meinen fie, werde ihr Weizen auf man- cherlei Art blühen. Aber ihre Revolutionen mögen ſchmerzhaft und blutig ſein, ſie ſind Zuckungen in einer Welt, die fie ablehnt. Und wenn ſie auf ihre Fahnen die Vernichtung von jeder Art von Überlieferung geſchrieben haben, ſo wird dieſe ihre eigene Parole es immer wieder fein, die ihnen ſelbſt das Grab gräbt. Denn das organiſch Gewordene kann nicht ausgetilgt werden, aber das Vurzelloſe ſtirbt ab. a Dr. Robert Volz

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Verleumdungen der deutſchen

Schrift brachte unlängft die geſamte Ullſtein-Preſſe. Die franzoſenfreundliche „Voſſiſche Zeitung“ eröffnete den Reigen. Ihr folgten die „B. Z. am Mittag“ und die „Berliner Morgen poſt“. Die „Berliner Flluftrierte Zeitung“ bildete den Schluß mit einem maßlos gehaͤſſigen Vor⸗ ſtoß gegen den früheren Poſtminiſter Dr. Stingl wegen feines Oeutſchſchriſt⸗Erlaſſes. Es ſcheint ſich um einen planmäßig angelegten Gefamt- vorſtoß gegen die deutſche Schrift zu handeln. Es iſt nichts Neues, daß die Vertreter jener Richtung voͤlkiſche Güter und Anwaͤgbarkeiten unferes Volkes verhöhnen, „madig“ machen und uns zu verekeln ſuchen. Die Hetzaufſätze der Ullſtein Blätter, beſonders das Machwerk der „ZUufteierten“, zeichnen ſich obendrein durch die Un ehrlichkeit der Harlegung und die Unwiſſenheit ihrer Verfaſſer aus. Der Erguß der „Zllufteierten“ arbeitet mit zwei grundlegenden Unwahrheiten. Er behauptet erſtens, die deutſche Schrift ſei eigentlich eine frangdjifhe Schrift und könne zweitens von Ausländern nicht geleſen werden.

1. Die deutſche Bruchſchrift geht auf die fraänkiſch- merowingiſche und angelſächſiſche Schrift zurück. Feder Schüler weiß, daß die Franken nicht Romanen, ſondern Germanen waren. Es liegen altdeutſche Handſchriften vor, in denen die Anfänge der Brechung er- ſichtlich ſind, die aus Zeiten ſtammen, in denen ein „franzöſiſches“ Volk noch nicht vor- handen war, genauer, in denen die volle Ver; ſchmelzung der romaniſchen, galliſch-keltiſchen und fränkiſch-germaniſchen Bevdlterungsteile noch nicht erfolgt war. (Vgl. die 200 Schrift- proben ſeit 777 aus althochdeutſcher und mittel hochdeutſcher Zeit in meinem Buche „Pie deutſche Buchſtabenſchrift“, Leipzig 1910.) Noch ums Jahr 1000 wurde im öſtlichen und nord; öſtlichen Frankreich überwiegend fraͤnkiſch ge- ſprochen, und ſelbſt Paris war zu jener Zeit eine vorwiegend fräntifche, alſo deutſch ſpre⸗ chende Stadt, was daraus hervorgeht, daß der Papft im Jahre 1000 einem an die Pariſer Bevölkerung gerichteten Sendſchreiben aus; druͤcklich zum beſſeren Verſtaͤndniſſe der Be-

Auf der Warte

völterung“ eine deutſche Überſetzung beifügen ließ. Die Schriftbrechung wurde durch ger maniſche Mönche weitergeführt. Man darf fie deswegen nicht als „Mönchsſchrift“ herab- ſetzen; denn zu jenen Zeiten waren alle Schreiber eben Mönche. Zn die Köſter und Stifter des Abendlandes wurden zudem zu merowingiſcher und karlingiſcher Beit, alſo durch viele Jahrhunderte, bis etwa 1 120, nur Oeutſche als Mönche aufgenommen (For- ſchungen von Prof. Schulte Bonn). Diefem Umftande und da die deutſchen Mönche über die deutſch ſprechenden Gebiete weit hinaus kamen, ift es zuzuſchreiben, daß die gebrochene germaniſche Schrift auch in den übrigen Län- dern des Abendlandes Eingang fand.

2. Oa ſich die deutſche Bruchſchrift nur im Stile von der lateiniſchen Schrift unter ſcheidet, können fie alle angelſaͤchſiſchen und romaniſchen, d. h. alle Lateinſchrift verwen ; denden Ausländer, auch minder Gebilbete, auch Kinder, glatt leſen, ohne ſie beſonders erlernt zu haben, wie durch verſuchs mäßige Erhebungen feſtgeſtellt worden ift. und Angel ſachſen in allen Teilen der Erde, wie auch alle romaniſch ſprechenden Volker verwenden ge brochene Oruckſchrift in reichlichem Maße in ihren Sprachen, und zwar nicht nur zu Titeln und Überſchriften (3. B. Zeitungs Titeln), ſon - dern auch zu kürzeren und längeren Texten, und nicht nur die beſondere gotiſche Spielart, ſondern alle Spielarten unſerer Oruckſchrift. Aber dieſe Tatſache liegt erdrüdender Beweis ftoff aus allen Teilen der Erde vom äußerften Oftafien bis Südamerika vor. Andere Be hauptung iſt Wahrheits-Fälſchung. (Siehe di: Abbildungen in meinem Buche , Die deutſche Buchſtabenſchrift.) Aus Rüdfichten der deut- iden Bücher- Ausfuhr die vor dem Welt kriege trotz unſerer beſonderen Schrift größer war als die von Nordamerika, England und Frankreich zuſammengenommen wurden ſeinerzeit in den Vereinigten Staaten, in China und Japan unter den ein heimiſchen Ge bildeten Umfragen veranſtaltet, ob man für deutſche Bücher die Wahl lateiniſcher Schrift für empfehlenswert halte. Diefe Umfragen wurden bezeichnenderweiſe durchweg ver ; neint. Die deutſche „Pariſer Zeitung“ ver

Auf ber Warte

anlaßte 1911 eine Umfrage unter ihren Lefern, ob fie die Abſchaffung der deutſchen Schrift für die deutſche Sprache befürworteten. 81 % aller Antwortenden, darunter meiſt franzoͤſiſche und eine Anzahl engliſcher Leſer des Blattes, traten mit Wärme für Beibehaltung der Bruchſchrift ein. Dann nod perſoͤnliche Er; fahrungen. Ich wohnte in Paris mehrere gahre in einem großen Fremdenheim am Boulevard St. Germain, deſſen Beſitzer ein franzöſiſcher Schriftſteller war. Zch führte in der erſten Zeit immer das kleine Fellerſche Taſchen wörterbuch bei mir in der Taſche, um beim Fehlen eines franzoͤſiſchen Ausdruckes bei den Unterhaltungen ſchnell nachſchlagen u können. Mein Wirt ließ ſich manchmal das Vöorterbuch reichen, da er in feiner Jugend etwas Deutſch gelernt hatte, und fagte mir ters: das Wörterbuch fei für ihn unüber- ſichtlich, da auch die deutſchen Wörter lateiniſch (en caractéres romains) gedrudt ſeien. Er leſe, wie viele Franzoſen, Oeutſchſprachliches lleber und leicht er in deutſcher Schrift. & hat ſich zu mir noch öfters geradezu be- wundernd über die Rlarheit und kuͤnſtleriſche Schönheit deutſcher Oruckſchrift geäußert.

Da die deutſche Schrift nur einen anderen Stil als die lateiniſche aufweiſt, iſt es un- chtlich, fie für Ausländer als ebenſo unlefer- lich, wie die neugriechiſche, tuͤrkiſche, ruſſiſche uſw. Schrift zu bezeichnen. Die Behauptung groͤßerer Lesbarkeit von lateiniſchem als deut; idem Oruck für unfere Sprache iſt laienhaft, befangen. Phyſiologiſche Wiſſenſchaftler ( Pro⸗ feſſor Dr. Nirſchmann, Prof. Dr. Schackwitz, Lobfien, Dr. Lay) haben durch verfuhsmößige Prüfungen die beſſere Lesbarkeit der deut- iden Schrift nachgewieſen. Diefe Tatſache kann jeder nachprüfen, wenn er gleich guten deutihen und lateiniſchen Druck während der Eiſenbahnfahrt lieſt.

Auch was der OeutſchſchriftBeſchimpfer über die deutſche Schreibſchrift ſagt, ift gänz- lich verftändnisios und befangen. Tatſache iſt,

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daß man bei deutſcher Schreibſchrift die Wörter in einem Zuge, ohne Abſetzen, ſchreiben kann, während man bei lateiniſcher Schrift wieder; holt in den Wörtern abſetzen muß. Tatſache iſt, daß in früherer Zeit, da mehr deutſch ge- ſchrieben wurde, die Handſchriften deutlicher, charaktervoller als heutzutage waren. Die heutigen lateiniſchen Handſchriften find meiſt entſetzlich undeutlich, charakterlos, ſchluder⸗ haft. Vor einigen Jahren haben ſich Fach treife des Oruderei-Gewerbes gutachtlich da- bin geäußert, daß lateiniſche Handfchriften für die Setzer vielfach eine reine Qual bedeuten, während deutſche Handſchriften, ſelbſt flüchtig geſchrieben, immer noch viel klarer und lefer- licher ſeien.

Der Wortkämpfer der _ Flluftrierten® iſt in vielem furchtbar unwiſſend, je vorlauter er ſich gebärdet. Seine verrofteten Waffen ftam- men aus der alten Rumpelkammer des ſeligen „Altſchrift“ Vereins. Er hat ſeitdem nichts hinzugelernt. Nicht die Brüder Grimm haben ſich für die Lateinſchrift eingeſetzt, ſondern nur Satob Grimm; nicht Dürer hat die Latein- ſchrift bevorzugt, ſondern er iſt im Gegenteil der eigentliche Ausgeſtalter der beſonderen, jetzt Fraktur im engeren Sinne genannten Spielart. Drudbudjtaben aus dem Kopfe zu malen, iſt ja nicht nötig. Die deutſche Schrift iſt eine kümſtleriſche Schrift, keine kahle Latten · ſchrift wie die lateiniſche. Wem wird es ein- fallen, Wörter in lauter deutſchen Großbuch⸗ ftaben zu drucken? Für derartigen Oruck iſt übrigens lateiniſche Schreibſchrift ebenſowenig geeignet REICHSTAG. Daf ech der in Lateindruck weiterhin lesbar ſein ſollen, als ſolche in deutſchem, ift noch niemals be- wieſen worden.

Sch glaube, Herr Dr. Stingl wird ſich über den gaſſenmäßigen Ton und die zotigen Bilder, mit denen die Unwiffenheit und Un- ehrlichkeit dieſes Erguſſes verbrdmt find, nicht entrüftet, eher beluſtigt haben.

Ad olf Rein ecke

Herausgeber: Prof. D. Dr. Friedrich Lienhard

Verantwortliche

Scheiftleiter: Dr Gerhard Schmidt nnd Karl Auguſt Walther. Einfendungen find allgemein a beſtimmten Namen) Un die Schriftleitung des Tarmers, Weimar, Karl

ee 4, zu richten.

Alexander All Foe wnvetangte ne befteht keine Haftpflicht. Far RAdjendung iſt Poftgebühr beizulegen. Dru und erlag: Greiner & pfeiffer in Stuttgart

Der Türmer Monatsſchrift für Gemüt und Geiſt im dreißigſten Jahrgang

Mit Ottober tritt der Türmer in den dreißigften Jahrgang ein. Was er in den verfloſſenen Jahren geweſen ift, wird er auch in Zukunft bleiben:

Ein Freund, ein Helfer, ein Berater.

Als der Türmer vor 30 Jahren von Zeannot Emil Freiherrn v. Grotthuß gegründet wurde, beſtand noch das alte deutſche Kaiſerreich, lebte noch in uns allen der Gedanke deutſcher Raijer- herrlichkeit und deutſcher Größe. Ihm diente der Tuͤrmer in feiner Weiſe, nicht mit knechtiſchem, unterwürfigem Sinn, ſondern mit dem Stolz des freien Mannes. Mächtig und gewaltig fuhr der Weckruf des Türmers ins deutſche Land. Er ſammelte die Gutgeſinnten, die Aufrechten und Wahrheitsſucher zum Treubunde deutſcher Art. Alle Fragen der Nation und vor allem das, was tiefer in der Seele des deutſchen Volkes ruhte, fand im Türmer Darſtellung und Ausdrud. Oer Widerhall blieb nicht aus: nach Zehntauſenden zählten ſeine Getreuen.

Der Türmer ließ feinen warnenden Ruf erſchallen, als in den Tagen des Glüds in weiteren Schichten fi allzu üppig Düntel und Selbſtſucht regten und dem Abgrund zuführten, Der Tür- mer warnte, wies aber zugleich den Höhenweg.

Der Weltkrieg iſt über uns hinweggebrauſt und hat Werte vernichtet. Wild brodeln noch die Leidenſchaften in einem Hexenkeſſel. Der Läuterungsprozeß iſt noch nicht beendet, noch immer lodert um uns die Flamme, ſie läutert das Edelmetall von der Schlacke. Reingold von Truggold zu ſcheiden, iſt von je des Türmers Aufgabe geweſen!

Als dann Friedrich Lienhard in ſeiner ſtillen, beſinnlichen Art neue Ziele wies, die ewig junge blaue Blume des Zdealismus dem deutſchen Volke reichte, geſchah es im echten Türmergeiſt, det unſer Volk emporziehen will aus Zchfucht und Materialismus. Treu wacht der Tuͤrmer auch heute über des Vaterlandes Geſchick.

Hell und klar erklingt des Türmers Weckruf, groß und ſchön iſt ſeine Aufgabe. Um es noch einmal

kurz zu faſſen: Was will alfo der Zürmer?

In klarer Form die Verbindung wahren amifden deutſcher Vergangenheit und deutſcher Gegenwart.

Träger ſein einer Weltanſchauung, die im Getümmel des Alltags nach ewigen Werten ſtrebt und in froher Lebensbejahung einem Geſchlechte dient, das ernſten Sinnes nach Verinnerlichung und Vertiefung trachtet.

Nuͤchternen Sinnes eine ſcharfe Trennungslinie zieben zwiſchen wahrem Sein und en Schein.

Nicht entmutigen will er und klagen über Vergangenes, nein, ermutigen will er zu fiche, froher Mannestat!

Wir haben den Glauben an unſer Werk, das eng mit Vaterland und innerer Wahrhaftigtet verbunden iit.

Wir glauben an den Sieg des Türmers, weil wir an des deutſchen Volkes Zukunft glauben!

————

—— ——2—̃

Eifeldorf Heinz Heinrichs

=

—— . . ne, Te, Se .

ET u Gemüt und Geist

ZUM SEHEN GEBOREN ZUM SCHAUEN BESTELLT

* von Prof. Dr h.c. Friedrich Licribard

Grinders Geannot Emil Freiherr von Grotthuß

30. Jahrg. Wovember 1927

Heft 2

OF OF IF TI TI FF TO TI I UI I FO I I CI POT LW

Diejenigen Kräfte, auf deren Erhaltung es vorzugsweiſe, man dürfte faſt jagen, allein ankommt, find die einzelnen Seelen; jie erhalten ſich nur dadurch, daß fie andren Seelen, je nach ihrem Vermögen, dienen. Diamanten werden nur durch Diamanten geſchliffen, Kinder Gottes nur durch Rinder Gottes gebildet. Alle Kraft der Erde liegt in den Kindern Gottes, das heißt, in den Menſchen. Die menſchen als Kinder Gottes erhalten, heißt konſervativ im höchſten Sinne ſein.

Lagarde

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Volk in Not! Von Dr. Wilhelm O. Gewallig

8 gab einmal 14 Punkte“ ... fo werden viele deutſche Großväter ihren auf- horchenden Enkeln die Geſchichte vom deutſchen Leid und vom größten Betrug, welder je an einem Volke begangen wurde, beginnen und werden dann weiter- fahren: „Der fünfte Punkt aber war der verlogenſte! Er ſicherte Deutſchland eine weitherzige, unbedingt unparteiiſche Schlichtung aller kolonialen Anſprüͤche zu.“ Präſident Wilſon, der in Vertretung des mächtigſten, freieſten und „gerechteſten“ Staates, Amerika, die Garantie für dieſe Zuſicherung übernommen hat, hatte in feiner Botſchaft vom 18. Januar 1918 außerdem erklärt: „Wir wünſchen Oeutſch⸗ land einen gleichberechtigten Platz unter den Völkern der Welt.“ Dieſe Botſchaft des Präſidenten Wilſon mit Einſchluß des Punktes 5 der 14 Punkte iſt vor Abſchluß des Waffenſtillſtandes ſowohl von Deutſchland wie von den Ententeſtaaten aus- drücklich und feierlich als Grundlage des Waffenſtillſtandes und des Friedens an- genommen worden. Wie iſt es nun aber in Wirklichkeit gegangen? Unter Bruch dieſer feierlichen Zuſage iſt die gewaltſame Wegnahme unſerer geſamten Kolonien von der Entente

mit der Erklärung begründet worden, Deutſchland habe durch ſeine Kolonialpolitik

und insbeſondere durch die Eingeborenenbehandlung dauernd den Anſpruch auf Mitwirkung in der Kulturarbeit und der Ziviliſation verwirkt und müͤſſe daher mit dem Verluſt ſeiner Kolonien an fortgeſchrittene Nationen beſtraft werden.

Welch unvergängliche Verdienſte ſich Deutſchland allein durch die vorbildliche Bekämpfung der Tropenkrankheiten, insbeſondere der unheimlichen Sdlaftrantheit ſowie der Viehſeuchen erworben hat, iſt allgemein bekannt.

Die Beſchuldigungen, die Eingeborenen ſchlecht behandelt zu haben, werden wohl am treffendſten durch das rührend treue Aushalten der eingeborenen Soldaten bei General von Lettow-Vorbeck während der jahrelangen entſagungsreichen helden haften Verteidigung Oeutſch-Oſtafrikas widerlegt.

Die „fortgeſchrittenen Nationen“ haben dann Deutſchlands geſamten über ſeeiſchen Beſitz als „Mandat“ unter die Siegerſtaaten wie das Fell des erlegten Bären verteilt und viele tauſend Deutſche von der ihnen zur Heimat gewordenen fremden Scholle vertrieben und um den Preis ihrer Lebensarbeit gebracht.

Sie hängten ihrem tatſächlich auf Annexion hinauskommenden Vorgehen ſchlauer

weiſe das Mäntelchen der ſogenannten „Mandatsverwaltung“ um. Vor allem

konnten ſie von keinem unſerer Kolonialgebiete behaupten, daß wir es uns mit dem Schwerte oder ſonſt auf gewalttätige und unrechtmäßige Weiſe verſchafft hätten. Es war nämlich bezeichnend für Deutſchlands Kolonialpolitik und für die Art des Erwerbs ſeiner Kolonialbeſitzungen, daß, im Gegenſatz zu anderen Nationen, nicht politiſcher Machthunger, ſondern feine wirtſchaftlichen Bebürfniſſe dabei ausſchlaggebend waren. Dem Erwerb faſt aller deutſchen Kolonien gingen Landerwerbungen deutſcher Kaufleute voraus, die dann im friedlichen @inver nehmen mit den dort anſäſſigen Eingeborenen ihre Neuerwerbungen unter den Schutz des Deutſchen Reiches ſtellten, das dann durch beſondere Verträge mit den

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Gewallig: Volk in Not! og

Eingeborenen dieſer Gebiete auch dieſe unter feinen Schutz nahm. So erwarb Deutſchland nacheinander im Jahre 1884 Südweſtafrika, Oſtafrika, Kamerun und Togo, 1885 Kaiſer-Wilhelms-Land, den Bismarck-Archipel ſowie benachbarte In- ſeln. 1897 Kiautſchou und 1899 von Spanien durch Ankauf die Karolinen und Marianen. Endlich erwarb es 1903 noch durch eine friedliche Auseinanderſetzung mit England und Amerika die Inſel Samoa.

Wilſons Vertrauter, Lanſing, hat verraten, daß der Mandatsweg ein Schachzug der Entente war. Hätte man die deutſchen Kolonien ohne weiteres weggenommen, ſo hätte man ihren Wert von der ungeheuren Kriegsentſchädigungsſumme in Abzug bringen müſſen, wurden ſie dagegen als Mandat betrachtet, ſo hatten ſie mit den Kriegsſchulden nichts zu tun. Die deutſchen Kolonien waren aber ſoviel wert, wie die Staatsſchulden ganz Europas betrugen. Allein die Gebiete, welche England bekam, find auf 20 Milliarden Reichsmark geſchätzt worden.

Das deutſche Volk kann aber für ſeine politiſche, kulturelle und wirtſchaftliche Bedeutung eines Kolonialbeſitzes nicht entraten, denn Kolonien find die natür- lichen Rohſtofflieferer und Abſatzgebiete ihrer Mutterländer. Die Volkswirtſchaft eines Staates, der Kolonien hat, iſt je nach deren Leiſtungsfähigkeit ſo gut wie unabhängig. Nicht nur daß er durch verbilligten Rohſtoffbezug im Vorteil iſt, ſondern die Beträge hiefür bleiben im eigenen Wirtſchaftsgebiet, kommen alſo ſeiner Bilanz in doppelter Hinſicht zugute. Rohſtoffe aus fremden Ländern ſtellen immer einen Tribut an dieſes dar. Hiedurch wird das eigene Volksvermögen geſchädigt und das

ftemde dagegen geſtärkt. Schon deshalb find Kolonialländer im Wirtſchaftskampfe der Völker ſtets überlegen. Heute find wir auf dem Weltmarkte vielfach tonturreng- unfähig, weil wir die Rohſtoffe zu teuer einführen müſſen. Das würde ſich ändern, ſobald wir in eigenen Kolonien, auf eigener Scholle herſtellen könnten, was wir an tropiſchen Rohſtoffen gebrauchen. Die Exportziffern würden anſchwellen und durch geſteigerten Verdienſt der Volksmaſſen auch die Abſatzverhältniſſe des inner- deutſchen Marktes verbeſſern, denn Kolonien heben nicht nur den Reichtum des Mutterlandes im allgemeinen, der durch ſie geſteigerte Wohlſtand dringt auch, wie das Beifpiel Englands beweiſt, in weitere Schichten und zeigt ſich in der befferen Lebenshaltung aller Volkskreiſe. Ein Volk, das große Kolonien ſein eigen nennt, wird ſich leichter im Kampfe um ſeine Exiſtenz behaupten. Seine Volkswirtſchaft ift weniger Störungen ausgeſetzt, fein Einfluß auf die Weltwirtſchaft um fo größer, damit auch ſeine Weltgeltung. In Erkenntnis dieſer Tatſachen wußten unſere Gegner im Weltkriege, von denen England, Belgien und Frankreich über einen Kolonial- beſitz verfügen, der rund 120mal, SOmal und 20mal fo groß ift als das betreffende Mutterland, warum fie uns im F. iedensdiktat von Verſailles zu einem Verzicht auf unſere Kolonien zwangen. Es war ihnen nicht nur um Landerwerb und damit um Machtzuwachs zu tun, ſondern fie wollten Deutſchland zu dauernder wirtſchaft- licher und damit auch zu politiſcher Ohnmacht verurteilen.

Die erdrückende Enge, die Übervölterung, die dauernde Erwerbsloſigkeit vieler Hunderttaufender treibt für Volk und Vaterland gleich wertvolle Menſchen in die Fremde. Ströme deutſchen Blutes ergießen ſich in alle Welt. Seit Kriegsende ſind ſchon mehr als 400000 Oeutſche ausgewandert, und zwar in der Hauptſache nach

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Nordamerika, dem großen Schmelzbecken der fremden Nationalitäten. Diefe 400000 deutſche Landsleute ſtärken aber die Konkurrenz der ſchwer ringenden deutſchen Wirtſchaft, ja fie verſchleppen ſogar manchmal ganze, früher jahrzehntelang für einzelne Landſtriche charakteriſtiſche Spezialinduſtrien, wie dies bei der weltberühm- ten Sonneberger Puppenfabrikation in letzterer Zeit jo erſchreckend in die Erſchei⸗ nung trat, ins Ausland. Dazu kommt, daß dieſe ausgewanderten Landsleute in künftigen Kriegen in der Mehrzahl in den Reihen unſerer Gegner auch mit den Waffen in der Hand gegen uns kämpfen, wie wir dies im Weltkrieg in fo erfchüttern- der Weiſe erlebt haben. Daß unſere Auswanderer in der Hauptſache nur Kultur- Dünger für andere Völker abgeben, da fie mangels Anſiedlung in eigenen gefdloffe- nen Siedlungsgebieten von ihnen aufgeſogen werden, zeigt ſich am beſten, wenn wir uns vor Augen halten, daß es im Jahre 1750 neun Millionen Angelſachſen und 20 Millionen Deutſche, anno 1920 aber 180 Millionen Angelſachſen und insgeſamt 80 Millionen Deutſche gab. Während wir in unſeren, fo kurze Zeit in unſerem Beſitz geweſenen Kolonien, die einen Raum von der ſechsfachen Größe des heutigen Deutſchlands einnahmen, erſchloſſenes Siedlungsgebiet für Hunderttauſende von Deutſchen beſaßen, müſſen heute auf dem geſchmälerten Mutterboden einige Millio- nen mehr als im Frieden Arbeit und Nahrung finden. Die Landnot unter einem, auf ein zu enges Gebiet zuſammengedrängten 70 Willionen-Volke, deſſen Aus- dehnungsdrang ſich mit elementarer Wucht geltend macht, fordert aber für feine willkuͤrlich eingeengten Volksmaſſen neue Siedlungsgebiete als Kulturnotwendig⸗ keit. Daß Deutſchland ſeine geraubten Kolonien zurück erhält oder ſonſtwie unter die Kolonialmächte wieder eingereiht wird, wächſt ſich nachgerade zur Schickſalsfrage für das „Volk ohne Raum“ aus, denn nur dann kann der Weg zum Wiederaufftieg geebnet werden.

Während unſere Regierung in der Bekämpfung und Widerlegung der kolonialen Schuldlüge nicht erlahmen darf, muß jeder einzelne von uns dazu beitragen, dem Kolonialgedanken im deutſchen Volke zum Siege zu verhelfen, damit möglichſt bald unſer gemeinſam erſehntes Ziel erreicht wird: Der Wiederaufſftieg Deutſch⸗ lands! |

Es war

Don Arnold Krieger

Mancher, der ins leere Dunkel ftöhnt, Mancher, der im Schmelz von Firnen ſchweift, Harſch und harmhaft und von Groll verwittert, Hell und heilhaft und im Schwung geläutert, War doch einſt von wildem Glück verſchönt, Hat ſich eben noch durch Schlamm geſchleift, Das im Grab nun bröckelt, dürr umgittert. Gegen feinen Gottestern N

Aber ſeinem Haupt ſchwelt unſichtbar, Über feinem Haupt ſtrahlt unfichtbar,

Nie erfaßt das Moberwort: Es war! Nie erfaßt das Gnadenwort: Es war!

Wenn die Welt einmal zerſtoben iſt,

Letztes Lebensrad ſich abgerollt hat, Bringt die Eine Kraft, die oben iſt

Und die Luſt und Leiden ſo gewollt hat, Oieſen Schmerz ſich ſelbſt zum Opfer dar: Das verſchollene Häuflein Welt es war!

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Sonne und Menfchenfeele

Von V. Cufig

Se ſie kommt! Eine filberne Helle, ein weiches, ſchmiegſames Licht kündet fie an. Rot in allen Tönen zuckt auf! |

Die Gipfel und Grate, die hochragende, einſame Föhre auf dem Felſenvorſprung werden von Purpur umhaucht.

Und weiter ſchwingt die Farbenſymphonie Purpur flammt ſprüht Gold fiutet über ihn bin... |

Es ijt, als ob die Natur ihren Atem anbielte, weil Ungeheures ſich ereignet! Dort ein Reh, das ruhig Aſung ſucht ... Nun hebt es den anmutigen Kopf .. ich glaube in feinem ſchwermuüͤtigen Auge Begeiſterung und Staunen zu leſen mein Herz klopft ſtärker die Nebelfrauen in den Wieſen ducken ſich erſchauernd, denn

Sie kommt! Sie ſteigt empor! Sie ift leuchtend da! ...

O du Urquell allen Lebens Licht Sonne!

Unbeſchreiblich Wunder!

Aberallhin ſtrömt jetzt dein kraftvoll Königtum! Dein Feuer durchdringt den Raum deine Pracht und Macht ſtreut in unſere Erde das Werden in unſere Seelen den Willen zum Leben! Durch dich ſind wir, ſind Baum und Strauch, ſind Blume und Tier!

Tägliches, nie ausgeſchöpftes Wunder! ...

Hingeriſſen von deiner Herrlichkeit ſtand ich einſt mit meinem Sohn vor deinen Morgenflammen, mächtige Spenderin des Lebens! Angeflammt wir beide vom allbelebenden Geſtirn! Nun deckt ihn längſt das Schlachtfeld! Ou aber leuchteſt!

Du ſchufſt Welten und ſaheſt fie verſinken und gehſt deinen gewaltigen Gang jeit Jahrmillionen! Du ſaheſt Urmenſchen dich anbeten und ſaheſt Scharen von Seſchöpfen werden und vergehen! Wahrlich, du Wiſſende, kennſt das erhabene Myfterium „Stirb und Werde!“

Sewohnheit konnte die Geſchöpfe dieſes Sternes deine Geſchöpfe nicht gegen dich abſtumpfen. Immer neues Staunen vor deinem Schaffen, deiner Götter flamme, deinem ſiegreich die Finſternis durchdringenden Licht beugt uns immer wieder in Ehrfurcht vor dir. Und jeder neue Lenz weckt neue Lebensluſt, und jeder

Froſt läßt uns dir nachtrauern! Wunder, heiligſtes Wunder! ...

Durch dich Same und Keim, Blüte und Frucht

Ohne dich Froſt ſtarrende Kälte Qual Nichts!

Ich bin den Menſchen, den Städten entflohen .. . und ich denke an meinen dabin- gegangenen Sohn. Auch er eine Sonne, ein leuchtend Herz wie du!

Auf dem Gipfel des Berges grüße ich dich, und grüße meines gefallenen Sohnes lebendige Seele und danke dir und ihm für allen Segen

Sonne auch er!

Meine liebende Seele fühlt dich und ihn baut Brücken zum Al...

Und in dieſem unbegreifbar Immer- Lebendigen ahne ich das Myſterium der Gottheit, die dich flammend Wirkende ſchuf, und die des Menſchen ſonnenhafte Seele ſchuf!

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Der Friedhof der Heimatlofen Von Robert Boßhart

ine kleine rohgezimmerte Bank mitten im ſüßduftenden Heidekraut und gelben

Honigtlee. Ich ſchließe die Augen, um mich ganz an die große Stille hinzu- geben. Mir iſt ſo frei um die Bruſt wie auf einem der letzten Felsgipfel, der, von Eisluft umſtrichen, in der Flut des Weltäthers ſchwankt. Rings rauſcht die Muſik des Meeres. Sie iſt das tönende Geheimnis dieſer Stille, die in ungeheuren Breiten liegt. Den Kreis des Meeres um ſich geſchloſſen zu wiſſen: wie beruhigend, wie beſeligend iſt dies Bewußtſein! Ein ewiger Gürtel der Einſamkeit zwiſchen der Welt und mir. Das iſt die Inſel. Wie ſeltſam, daß der Menſch, der doch an den Mit- menſchen durch ſichtbare und unſichtbare Bande gebunden iſt, immer wieder dieſe Zurückgezogenheit nötig hat, um in der Seele atmen zu können. Was für eine Arſehnſucht liegt in dieſem Bedürfnis nach Alleinſein verſchloſſen? Wer ſich ge funden hat, braucht die Einſamkeit, immer wieder. Sie iſt ihm Erfüllung eines Zuſtandes, der Verbundenheit mit dem Ewigen bedeutet.

Der Friedhof der Heimatloſen liegt auf dem höchſten Punkte der kleinen Inſel. Über die Inſelbreite hinweg ſchweift der Blick nach der offenen See, die hinter weißen Dünenketten lockend ſchimmert, während ſich in entgegengeſetzter Richtung das Watt hindehnt, dunkel und traurig. Wenn auf dem offenen Waſſer noch der Purpur der zur Rüſte gehenden Sonne ausgebreitet liegt, dann iſt das Watten- meer ſchon in kaltblaue Farben verſenkt und droht mit dem Geheimnis der herauf ziehenden Dunkelheit. Kaum iſt die Nacht angebrochen, fo füllt ſich das ganze Watt mit einem Gewirr unheimlicher Stimmen und Rufe, die wie ein böſes Frage- und Antwortſpiel anmuten. In lichtloſen Nächten habe ich oft ein häßliches Gelächter, wie von Menſchenſtimmen weit draußen vernommen. Das Gurgeln der Ebbe iſt dann ſchrecklich und erinnert an die letzten Augenblicke eines Sterbenden. Das Ge heimnis des Todes, der Quell allen Grauens, atmet auf den dunklen endloſen Weiten dieſes Meeres, und oft find in wilden Nächten Ertrunkene von ihm an Land ge trieben worden.

Einmal, fo erzählte mir ein junger frieſiſcher Fiſcher, war auch eine fold licht- loſe Sturmnacht draußen. Er lag mit ſeinem Bruder in derſelben engen Kammer der kleinen Fiſcherhütte. Plötzlich hörte er es laut an die Tür pochen und erwachend, erinnerte er ſich, daß er eben im Traum ein Geſicht gehabt hatte, das ihm bedeutete, er ſolle mit feinem Bruder an eine beſtimmte Stelle des Strandes am Wattenmeer gehen; dort ſeien zwei Leichen angeſpült worden. Er weckte alſo ſeinen Bruder, der ſich widerwillig in die Kleider warf und mit ihm in die einſame Sturmmadt hinausſchritt. Mit ſicherem Inſtinkt fanden fie in der völligen Schwärze der Dunkel- heit den Ort. Zu ihrem Schrecken mußten ſie erkennen, daß der Traum die volle Wahrheit verkündet hatte. Sie ſchleppten die triefenden Körper an Land und be- gruben ſie am folgenden Tag im hellſten Sonnenſchein oben auf dem kleinen Friedhof der Heimatloſen.

Ja, das Watt hat ſein beſonderes Geheimnis; das wiſſen alle Fiſcher da oben. Und dieſes iſt nur zu ſehr verbunden mit dem Geheimnis aller Geheimniſſe dem Tod.

Partje-Leudesdorff: Am Totenfonntag 103

Und doch: wie friedvoll iſt dieſer kleine Kirchhof, der mich fo oft in feine Stille zog. Ich habe noch keinen Ort auf der Welt gefunden, der einen tieferen Frieden ausgeſtrömt hätte. Da liegen die Gräber, eines neben dem andern. Und auf jedem ſteht ein ſchlichtes kleines Holzkreuz, ohne Namen, nur mit der Bezeichnung des Tages, an welchem der hier Begrabene angeſchwemmt worden iſt. Um die Kreuze blühen in fröhlicher Luſt die kurzen und unterſetzten Blumen und Sträucher der Inſel, dieſelben, die auf den kleinen Wieſen rings herum auch blühen und die mit ihrem Duft und würzigen Hauch nicht nur die Bienen, ſondern auch die Tag und Nacht weidenden Schafe anlocken.

Vielleicht iſt der Friede diefes Ortes gerade darum ſo groß, weil keine Namen auf den Kreuzen ſtehen, weil nichts, gar nichts dieſe Schläfer zurüͤckzieht in die Welt des Tages, wie es auf den gewöhnlichen Friedhöfen die goldenen Lettern tun, die den Verſtorbenen im Banne ſeines bürgerlichen Lebens halten. Hier aber iſt der Tod in ſeiner Urkraft am Werke: Namenlos, aus dem beengenden Kreis des armen kahlen täglichen Lebens herausgeriſſen ſind die, die hier begraben liegen; und wenn ein Menſch fie aufſucht und für fie betet, weiß er nicht, für wen er es tut. Hier find Tod und Liebe in ihrer urſprünglichen befreienden Weite beieinander. Menſch kommt zu Menſch, Menſch liebt den Menſchen aus jener Liebe, die nicht nach Gründen und Namen fragt, die in ſich das unendliche Rauſchen, das ewige Strömen der Flut beherbergt, das die Muſik der Allverbundenheit iſt.

Fürwahr, dieſer kleine Friedhof ift das Heiligtum der Gnfel, ein größeres Heilig- tum als die kleine Kirche, die eine Viertelſtunde Weges davon entfernt herüber⸗ ſchaut. Das fühlen auch dieſe ganz einfachen Menſchen der Fnfel. Lieben fie auch ibr trautes Kirchlein innig, von deſſen Decke das bekannte Segelboot berunter- hängt, beten ſie oft darin in Sturmtagen inbrünſtig um ihre Lieben, die draußen den wilden Waſſerwüſten preisgegeben find: dies letzte Geheimnis, das zur Chr- furcht zwingt, das heilig iſt wie das Leben, wie Tod und Liebe dies letzte Ge- heimnis, das auch auf der wandernden Woge liegt, das der Atem dieſer ſtillen Inſel iſt, es ergreift ſie am mächtigſten auf dem kleinen unſäglich einfachen Friedhof der Heimatloſen. |

Es wird Zeit, daß ich aufbreche. Das einförmige traurige Rufen der weidenden Schafe iſt immer häufiger vernehmbar. Die Dunkelheit iſt nicht mehr fern.

Am Totenſonntag

Von Irma Hartje⸗Leudesdorff

oh, ſuche deine Lieben nicht im Grab And frage dich, ob es ein Sterben gibt, Dort liegt ja nur ein abgelegtes Kleid, Wenn das Geliebte immer in uns lebt, Aus Staub gewoben und aus Erdenleid! Wenn uns ſein Weſen Tag und Nacht umſchwebt ? y deine Seele ſteige tief hinab, In Freud und Leiden wird uns ſein Geleit rt blieb lebendig, was du tren geliebt. Zu einer lieben Selbſtverſtändlichkeit.——

Verſonnen ſtand ich an des Hügels Nand, Mit grünem Efeu ſpielte meine Hand. ch in den Zweigen flüſterte der Wind: te find geftorben, die vergeſſen find!

104 - Annele, ein Kind aus dem Volke

Aus dem Nachlaß Hedwig v. Olfers, mitgeteilt von Margarete v. Olfers

Vorbemerkung. Hedwig v. Olfers geb. v. Staegemann, Tochter des bekannten Staaterates Friedr. Aug. v. Staegemann, vermählt mit dem Diplomaten und fpäteren Generaldirektor der Muſeen Ignaz v. Olfers, bildete, dichteriſch und ſchriftſtelleriſch tätig, Jahrzehnte hindurch den Mittelpunkt eines erleſenen Kreiſes Berliner Geſelligkeit. Sie ſtarb im dreiundneunzigſten Le⸗ bensjahr 1891 zu Berlin. Ihre geiſtvolle Perſönlichkeit und der bekannte Olfersſche „Gelbe Saal iſt oft von bedeutender Feder geſchildert worden. (gl. Treitſchke, Herm. Grimm, Wildenbruch, Erich Schmidt, ebenſo Hedwig v. Olfers Memoiren, erſchienen bei Mittler u. Sohn.) Imgahre 1852 wurde ein armes Kind, Anna Richter (geboren 1851, geſtorben 1879) im Olferſchen Haufe aufgenommen und erzogen. Von ihr handelt nachſtehender Aufſatz Hedwig v. Olfers’.

Marg. v. Olfers

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arum erzählen wir, was niemand freuen kann? Woher der Trieb, unſer Herz

zu erleichtern, indem wir Fremde zu Vertrauten machen deſſen, was uns erſchüttert? Es hat nur Sinn, wenn es Gefahren und Segnungen einer Tat be- leuchtet, welche zu Leid oder Luft führen kann.“

Mit dieſen Worten beginnen die fragmentariſchen Erinnerungen, welche meine Großmutter damals ſchon eine Achtzigjährige nach dem Tode Anneles nieder- ſchrieb und die mir kürzlich unter alten Papieren in die Hände fielen. Sie ſucht in ihnen die Entwicklung zu ſchildern, die dieſes Kind, aus ärmſten und verkommenſten Verhältniſſen ſtammend, in ihrem Haufe genommen. Sie ſucht die Tat zu moti- vieren, die ihr von anderen oft zum Vorwurf gemacht und als Experiment bezeichnet worden war: Ein Kind des Proletariats aus ſeiner Heimat hinaus in die kultivierte Erde der eigenen Familie zu verſetzen, um es dort als gleichberechtigtes Glied auf- wachſen zu laſſen.

Gewiß eine erſtaunliche und weitherzige Tat, da das Olfersſche Haus zu jener Zeit ſo ſehr Mittelpunkt der Berliner Geſelligkeit und meine Großmutter durch die vielfältigſten Verpflichtungen, auch den eigenen Kindern gegenüber in Anſpruch genommen war.

„Warum erzählen wir, was niemand freuen kann?“ Ich glaube aber doch, daß ſich viele, trotz des traurigen Ausklanges, den ſchwere Krankheit und früher Tod in das Leben Anneles bringen, dieſer Aufzeichnungen meiner Großmutter „freuen“ werden! Zeigen fie doch, wie die reine und klare Luft geſunder Häuslichkeit, das einfache „Werden-laſſen“ unter hochſtehenden edlen Menſchen, ein Kind armſeligſten Urfprungs, das wir heute gewiß als „erblich belaſtet“ mit Mißtrauen betrachten wür- den, beeinfluſſen und zu einem Menſchen bilden kann, welcher feiner gangen Um- gebung zum Segen gereicht und noch heute unvergeſſen iſt.

„Sie war der Elendeſten eines. Die Mutter krank am Typhus, in einem arm- ſeligen Inſthaus mit mehreren anderen Familien zuſammengedrängt, deren Kinder ein gemeinſchaftliches Bett teilten. Die Schwächeren und Jüngeren, zu denen fie gehörte, oft herausgeworfen von den Alteren und Stärkeren. Gewartet wurde ſie über Tag von einem vierjährigen Bruder geſchickt genug, wenn er fid nicht gegen

Olfers: Annele, ein Mind aus dem Volke 105

andere Zungen zu wehren hatte, wo er fie dann als Schild gebrauchte, das die Schläge auffing. So lernte ich fie kennen [in Klein-Oels in Schleſien, der Be- ſitzung ihres Schwiegerſohnes, des Grafen Yord v. Wartenburg], in Lumpen ein Kind von zehn Monaten, abgezehrt aber mit ſchönen, ſtrahlenden Augen und luftiger Miene jauchzte es mir zu, die ich traurig einherging, denn mein erſtes Enkel chen [Graf Maximilian Bord v. Wartenburg, geboren zu Klein-Oels 1850, geſtorben in China 1900 als Oberſt im Generalſtab, der Verfaſſer der „Weltgeſchichte in um- riſſen“ u. a.] war ſchon lange ſehr krank. Der Gedanke, ob mir Gott fein Leben viel- leicht ſchenken würde, wenn ich ein anderes rettete, flog durch meinen Kopf.

Nimm es! Nimm es!“ riefen die jüngeren Schweſtern [vor allen war es ihre zweite Tochter, Marie v. Olfers, bie ſpäter fo bekannte Künſtlerin, welche die An- nahme Anne les dringend wünſchte und mit dem kranken Kinde auf den Armen die Reiſe von Breslau nach Berlin machte, wohin die übrige Familie ſchon zurückgekehrt war. Sie betrachtete ſeitdem Annele als ihr beſonders angehörend] meiner verheira- teten Tochter. ‚Nimm es‘, ſagte ihr bedenklicherer Vater,, doch nur, falls es deinen Etat nicht vergrößert; denn ſieh! mit Vereinen und Unterſtuͤtzungen aller Art gehe ich ſchon bis an die Grenze meiner äußerſten Möglichkeit.“ Und ich fab es ein. Allein in meinem Leichtſinn dachte ich: Etat vergrößern? Die paar Taſſen Milch für ſolch ein Wurm, das bißchen Zeug wird ſich doch noch finden. Nur, Mädchen, Ihr müßt mir helfen, einer Wärterin überlaſſe ich das arme kleine Ding nicht, und ich ſelbſt bin nicht mehr jung genug, es allein zu pflegen. „Ja! ja! ja!“ verſprachen fie.

Mir leuchtete es ſehr ein, mich auf dieſe Weiſe mit der Wohltätigkeit abzufinden, weil mir mein Gewiſſen vorwarf, nicht tätig genug in der Armenpflege zu ſein. Mein Haushalt gab mir vollauf zu tun, Geld hatte ich nie übrig. Um dieſes arme Kind aufzuziehen, genügte es, ihm die Mutter zu erſetzen: Payer de sa personne“ nennt der Franzoſe das Opfer, welches ich zu bringen geſonnen war.

Indeſſen erhob fi in unſerem Kreiſe eine lebhafte Erörterung über den Fremd- ling, und die Meinungen teilten ſich in zwei verſchiedene Parteien. Die eine inter- eſſierte ſich für das Unternehmen, die andere mißbilligte es; die eine wollte gleich Patenſtelle vertreten und ſich hilfreich beweiſen, die andere ſchüttelte den Kopf, weisſagend nur Enttäuſchung und Verlegenheiten infolge dieſer großen Unbefon- nenheit!

Mein älteſter und aufrichtigſter Freund gehörte zu dieſen letzteren., Geben Sie acht,“ ſagte er, ‚Sie verpflanzen das Weſen in einen Boden, für den es Gott nicht beſtimmt hat, und indem fie feinem Ratſchluß vorgreifen, verwirren Sie das Schid- ſal des Kindes und Ihr eigenes. Sie merken das vielleicht nicht in den erſten Jahren, allein die angeerbte Roheit ſeiner Natur wird ſchon wieder zum Vorſchein kommen, und dann werden Sie es bereuen!“ ‚Nun, wenn Sie es vernünftig erziehen,“ meinte ein anderer, „ihm keine Illuſionen über feine Erwartungen machen, warum ſollte es ſich nicht zu einem ſehr nützlichen Mitglied jedes Haushaltes als Kinder- mädchen oder Kammerjungfer ausbilden laſſen?!“ „Ach,“ dachte ich, ‚ob unſer Heim- weſen wohl die richtige Vorſchule für fold einen Beruf iſt? Zwar in dieſem Augen- blick ſpielten wir alle drei Kindermädchen, und unſere eigenen Kammerjungfern waren wir immer geweſen!

106 Olfers: Annele, ein Kind aus bem Bolte

Denke ich zurück an die Raſchheit meines Entſchluſſes, fo möchte ich doch noch auf die Knie fallen, um für die göttliche Gnade zu danken, welche mich vor den ſchlimm⸗ ſten möglichen Folgen bewahrt hat. Ich bin doch nicht foviel dümmer als andere, fiel es mir denn gar nicht ein, was für Strafen über meinen Vorwitz hätten verhängt werden können?

Jede ordentliche Familie iſt ein geſchloſſenes Ganzes, und ein neues Glied im häuslichen Leben macht ſich ſogleich wahrnehmbar wie ein Tropfen fremder Flüſſig⸗ keit in einem Getränk. Wer weiß voraus, ob Sympathie hier zur zweiten Natur wird? Die Liebe iſt ein Gnadengeſchenk wie der Glaube, niemand kann fie er- zwingen! Und waren wir die Leute, das Kind gleichmütig wieder fortzuſchicken in ein Armenhaus, in eine Erziehungsanſtalt, wenn es ſich uns unleidlich machte? Und ſchloſſen wir es in unſer Herz, welch ein neuer Herd von Sorgen und Schmerz konnte dieſer Liebe mitgegeben ſein? Mochte ich es für mein Teil wagen, durfte ich meinen Kindern die Laſt auf die Schultern legen?

Ach, man denkt nach über einen Anzug, über einen Pudding, baſtelt wer weiß wie lang an einem Sonett, und in der wichtigſten Lebensfrage handelt man ohne Über- legung wie ein Kind!

Die einzige Vorſichtsmaßregel, welche ich traf, war die, meinen Schützling vom Arzt unterſuchen zu laſſen, ob vielleicht die Kleine ſchon unheilbar krank, eine Ver- längerung ihres Lebens keine Wohltat und ihre Pflege für uns gefahrbringend ſein könne! Selbſt das wäre mir ohne den Rat meines Schwiegerſohnes nicht ein- gefallen, ſowenig wie die gerichtliche Entſagung der Mutter, welche er verlangte. Sie war nur zu glücklich, zu dankbar, das Kind in unſere Hand zu geben! Meine eigenen Kinder waren ſo friſch, ſo voll gedeihlichen Wohllebens geweſen dieſer Fremdling atmete noch den ganzen Jammerdunſt des Elends! Hätten wir jie einem Kindermädchen überlaſſen, fie nicht gleich tapfer entſchloſſen ans Herz ge nommen, ſie ſelbſt morgens und abends gebadet, gekleidet und gefüttert, wir wären nicht ſo raſch über den niederſchlagenden Eindruck fortgekommen und hätten gewiß nicht die leidenſchaftliche Zuneigung des Kindes, wie fie immer nur feiner perjön- lichen Wohltäterin zuteil wird, gewonnen. In wenig Familien wird das möglich fein, ſelbſt für die eigenen Kinder, aber dieſe haben doch das inſtinktive Gefühl der Angehörigkeit, das nur durch die ſüße Gewohnheit einer hilfeleiſtenden Gegenwart, dieſer mächtigen Unterſtützerin der Anhänglichkeit, erſetzt werden kann. Wo dieſer Ausgleich fehlt, wird der Fremdling bald ſich ſeiner unſicheren Stellung bewußt, und daher die vielen Beiſpiele von dem Undank und dem Mißraten angenommener Kinder.

Gleich in den erſten Tagen wurde uns klar, daß der Ausſpruch des Arztes, dem Kinde fehle nichts als Nahrung und Pflege, ein voreiliger war, und daß wir fuͤrs erſte nur um die Geſundheit des Kindes zu ſorgen hatten. Die ſchönen, ſtrahlenden Augen erkrankten, mit zehn Monaten hätte man ihm dem Ausſehen nach kaum fünf gegeben. Das hautwunde Körperchen bedurfte täglich zweimaliger Bäder, ſchmerzhaft, wie ſehr man ſich auch in acht nehmen mochte, ihm weh zu tun. Unausſprechlich war der Ausdruck von Wonne in diefer erſten Zeit, mit dem es jedes mal ſeinem Bettchen die Arme entgegenſtreckte, wohl im Bewußtſein, noch nie ſo weich und rein gelegen zu haben.

Olfers : Annele, ein Rind aus dem Volke 107

Diefelbe frühreife Anerkennung zollte es einem Mäntelchen, das man ihm um- hing, wenn es auf die Straße getragen wurde. Sie hielt es über der Bruſt zuſammen, als könne es fortfliegen oder ihr abgeriſſen werden. Stumm blieb ſie lange, doch daß fie verſtand, merkten wir bald; als der Portier einmal nicht gleich die Tür öffnete, während wir nach dem Spaziergang davorſtanden, ſagte ich im Scherz: „Nun kom- men wir am Ende gar nicht wieder hinein“, und das ſonſt ſo ſtille Kind begleitete

dieſe Worte mit einem angſtvollen Klagegeſchrei: Es hatte ſchon gelernt, ſein neues Seim und Wohlleben zu lieben! Kriechen und Laufen lernte ſie viel ſpäter als andere Kinder; ſtundenlang ſaß ſie ſtill auf der Decke und ſchaute umher mit den Mugen Augen, denn fie ſpielte damals nicht. Wir vertrauten fie keines anderen Ob- hut, und ſo gewöhnte ſie ſich, überall mit dabei zu ſein und ſtörte nicht, weil ſie nicht verlangte, daß man ſich mit ihr beſonders beſchäftige; es wurde gearbeitet, ge- zeichnet, muſiziert, Beſuch empfangen. Wenn ich's mir jetzt überlege, erſtaunt mich's, wie wir das durchſetzten, und wie gütig unſere Freunde dieſe Prüfung ihres Wohl- wollens für uns beſtanden; ja, Annele war wie ein Talisman, an dem wir die Echt- heit ihrer treuen Geſinnung für uns erkannten.

Am Bett meiner jüngjten Tochter ſtand das von Annele, und wir lachten ſehr, als uns plötzlich die Prophezeiung eines alten Weibes einfiel, welche uns vor mehreren Jahren wahrſagte und nicht mit der Sprache herauswollte, da die Reihe an das Schickſal meiner Jiingften kam. ‚Reden Sie nur,“ verlangte ich; „wenn's auch ein Anglück iſt, wir glauben doch nicht daran.“, Ich ſehe bei dem Fräulein eine Wiege am Bett ſtehen vor der Hochzeit, ſagte die Alte kopfſchüttelnd und erregte damit große Seiterkeit. ‚Nun iſt's doch wahr geworden!“ rief ich, überraſcht von der Erinnerung an dieſes Orakel!

Die Augenkrankheit der armen Kleinen war ſehr langwierig. Wir mußten fürchten, Daß fie ganz erblinden würde. Mit genauer Not lernte fie buchſtabieren und leſen in Den beſſeren Zwiſchenzeiten. Bis zum ſiebenten Jahr blieben faſt nur Gedächtnis- übungen möglich. Mit unermüdlicher Geduld ſaß meine jüngſte Tochter vor ihr, um ſie geiſtliche und andere ſchöne Lieder nachſagen zu laſſen, auch in fremden Sprachen: Fabeln von La Fontaine und allerliebſte engliſche Kinderverschen. Eine freundliche Ruhe zeichnete die junge Lehrerin aus, und das feine Gehör der kleinen Schülerin war, unzerſtreut durch die Augen, um ſo geſchickter zur Auffaſſung fremder Akzente. Sie lernte Skala ſpielen und Akkorde greifen; Freude an Tönen war die erſte lebhafte Regung ihrer Seele. Schon ehe ſie ſprach, jubelte ſie auf der Straße und ſchlug in die Händchen, wenn wir der Regimentsmuſik begegneten. Ihr Talent zeigte ſich im Zuſammenfinden von Melodien auf den Taſten; allein zu bloßen Fin- gerübungen hatte fie keine Luft.

Endlich hatten wir die Genugtuung, daß ihre Geſundheit ſich befeſtigte, der Schleier allmählich von den ſchönen Augen wich, und nun begann eine Zeit der reinſten Lebensfreude für unſeren Schützling. Zu jung, um das Hindernis auf ihrer künftigen Bahn zu verſtehen, freundlich aufgenommen, wohin wir ſie brachten, Religions- und anderen Unterricht mit meiner Enkelin teilend ohne ein Gefühl von Zurückſetzung, wie hätte ſie nicht glücklich ſein ſollen? Als Annele frug: „Warum kann ich nicht heißen wie ihr?‘ erklärten wir ihr das. Sie hörte gern erzählen von dem

108 Oiſers: Annele, ein Rind aus dem Bene

kleinen Häuschen, von dem wilden Bruder, der fie auf dem Viehhof herumgeſchleppt, der kranken Mutter. Wir wollten ihr kein Geheimnis aus ihrer Herkunft machen, ſoweit ſie es verſtehen durfte. Sie hatte natürlich keine Erinnerung aus der Zeit und war kaum ſchon in dem Alter, es zu empfinden, als wir ihr ein ſchwarzes Bändchen umbanden, nachdem wir erfahren hatten, daß die Mutter geſtorben war. Doch ſchien es ihr einen Eindruck zu machen.

Annele war das Dorfkind nicht anzuſehen, wenigſtens nicht, wie man es fic ge wöhnlich denkt, plump und blühend; doch erinnerte etwas im Blick der ſchwarzen Augen an einen wilden Waldvogel und in den raſchen, knabenhaften Bewegungen an Zigeunerblut. Der tadelloſe Wuchs hätte der Skulptur zum Modell dienen können, Hände und Füße ſeltſam gelenkig und geſchmeidig, zum Erſtaunen ſelbſt ihres Tanz- lehrers. Auch das Köpfchen war damals ſchön, denn die an den Schläfen zu ſehr ein- geſunkene Stirn, welche fie ſpäter ganz frei trug, wurde von den nußbraunen Locken halb verſteckt. Der ſchlanken Sylphengeſtalt hätte man die Muskelkraft nicht zutrauen können, deren ſie fähig war. Sie fand eine Art Genuß darin, ſie zu üben, und wo es etwas zu heben, zu tragen, zu laufen gab, tat fie es der tüchtigſten Magd zuvor. In weiblichen Handarbeiten wurde ſie bald flink und geſchickt, ſoweit es ihre Abneigung gegen ſitzende Lebensweiſe geftattete, daher fie ſich bald der galoppierenden Näh⸗ maſchine bemächtigte; hatte dieſe Launen, ſo wußte niemand beſſer, woran es lag und verſtand geſchwinder, dem abzuhelfen. Überhaupt war fie eigentümlich begabt

für Mechanik und Zuſammenhang der Dinge. Sie hatte eine natürliche Logik im Kopfe, ein Kombinationsvermögen, das im menſchlichen Leben oft nützlicher iſt als manch andere Kenntniſſe.

Glaube man doch nicht, daß Krankheit ein Kind immer in weſentlichen Dingen zu- rüdbringt; es lernt ſelbſtdenken mehr als in der Schule. Still reift der Geiſt weiter und tiefer fällt jeder Eindruck in den nach Nahrung dürſtenden Boden. Eine vor- treffliche Lehrerin gab ihr ſchon ſehr früh den erſten Unterricht im Geſang. In Anneles Charakter entwickelte ſich ein ſeltſamer Kontraſt von Keckheit und zurück haltender Beſcheidenheit, und der kam auch bei dieſer Gelegenheit zur Erſcheinung. Das Sprachorgan war laut und herriſch, die Singſtimme glockenrein und von filber- nem Klang in der Höhe, doch leiſe wie das träumeriſche Erwachen eines Vögelchens am Morgen. Ich hörte ſie gar zu gern. Sie ſah dabei ſo anmutig aus, ihr ganzes Weſen veredelte und verklärte ſich, wenn ſie ihre Lieder ſang.

Indeſſen brachte ein ſchweres Nervenfieber meiner Töchter große Sorge über unfer Haus; es war der Anfang vieler Unglücksfälle, die das fonft fo frohſinnige, glückliche betrafen! Hier erkannten wir zuerſt die ganze Kraft der wiedervergel- tenden Liebe des heranwachſenden Mädchens. Mit einem ſtillen Ginn, der ihrem ſonſt lauten Weſen kaum ähnlich ſah, übernahm ſie Pflege und Haushalt; Tag und Nacht ſorgte fie für die Gefunden und Kranken. Sogar als ich mich ſelbſt legen mußte, wußte fie ſich zu helfen. Jeder von uns ſcheute ſich vor fremder Wartung, gewöhnt einander zu pflegen. Nun erſetzte Annele, was die Mutter den Kindern, die Kinder der Mutter geweſen waren. Sie hatte die Schlüſſel, fie beſtellte in der Küche, fie ſchickte den Bedienten. Damals ſchien uns das ſo natürlich. Wir verließen uns auf Annele. Jetzt bewundere ich es. Der gute Wille, dergleichen zu leiſten, mag wohl mit

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Offers: Annde, ein Rind aus dem VDolte 109

dreizehn Jahren ſchon zuweilen da fein, allein die Überlegung, die Kraft und das Geſchick ift in fo früher Jugend gewiß felten.

Je mehr wir fie liebgewannen, um fo dringender wünſchten wir, ihr ganz die Stellung einer Tochter des Hauſes zu verſchaffen. Manche unſerer Bekannten aber betrachteten ſie wohl mit kritiſchen Augen, ob uns darin zu willfahren ſei, denn ſie verſtand nicht, in ihren äußeren Formen darum zu werben. Wie notwendig einem Mädchen der Trieb zu gefallen iſt, ſahen wir an ihr, der er fehlte. Nicht weil fie un- empfindlich gegen Schönheit und Eleganz geweſen wäre fie ſchwärmte für An- mut und Liebenswürdigkeit, ſie verſtand den Putz und wußte Geſchmackloſes von Schicdlichem zu unterſcheiden doch für ſich ſelbſt Beifall erregen, Eindruck machen,

fiel ihr nicht ein. Ihr Selbſtgefühl beſtand einzig in der Wichtigkeit und Geſchäftig- keit, die fie ſich für andere beimaß. Bedurfte fie vielleicht mehr der Dreffur, als ich ihr, treu meinem Reſpekt vor der Eigenart jedes Weſens, zukommen ließ? Wir drech- felten wohl an ihr herum, da wir ſahen, daß fie fic) ſchadete durch die Rnabenbaftig- keit ihrer Manieren, die man dem Kinde hingehen ließ und die bei dem Erwachſenen mißfiel. Doch wer darauf zählte, dieſes eigentümliche Geſchöpfchen in eine gewöhn- liche Schablone zu preſſen, der hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ihre an- geborene Keckheit und Selbſtändigkeit war unbeugſam. Sie wurde viel geſcholten, wenn ſie ſich nicht zu ihrem Vorteil zeigte ach, was hatte ſie ſo hartherzig gegen ſich ſelbſt gemacht?

In dem Mühlengeklapper des täglichen Lebens überhört man fo oft, was dicht neben uns empfunden und gedacht wird, beſonders bei Kindern. Ich erkannte erſt ſpäter, welch ein ſtolzes und verſchloſſenes Gemüt da feinen Kampf ſtill und vielleicht halb un bewußt mit ſich geführt haben mochte, als ihm feine ſcharfe Beobachtungs- gabe verriet, daß es nicht von Natur bei uns zuhauſe war. Unfere dreifache Mutter- liebe konnte Annele wohl darüber täuſchen, allein eine gewiſſe herablaſſende Teil- nahme oder auch Gleichgültigkeit im Benehmen fremderer Leute denn die nabe- ten Freunde waren immer liebreich für fie klärte fie auf. Nachdem meine jüngfte Tochter [Hedwig, geboren 1827, geſtorben 1919; vermählt 1866 mit dem Wirkl. Geh. Legationsrat Heinrich Abeken] geheiratet hatte, fand fie im Haufe derſelben eine zweite Heimat, wo ſie immer erwünſcht und willkommen war. Sie lief nun zwiſchen uns hin und her, teilend beider Wirtſchaften Sorgen, Mühen und Freuden. Mit wärmiter Anhänglichkeit dankte fie der Güte und Großmut meines Schwiegerſohns Abeken, der fic) ihrer väterlih annahm. Das war für fie eine gute Zeit des Ver- gnügens und Unterrichts aber leider fand dieſelbe durch den Tod Abekens ein nur zu frühes Ende.

Ich ſehe noch Annele die Treppe hinunterſpringen, dem Wagen nachſtuͤrzen, der den geliebten blumenbedeckten Sarg trug, um einen fehr ſchönen verſpäteten Kranz mit ſicherem Schwung hinaufzuwerfen, als gelte es ein Ringſpiel! So war ſie! Die Augen überſtrömend von Leid, aber die Hand tat, was fie für ihre Schuldigkeit hielt.

Ihre Aufnahme in Joachims Hochſchule für Muſik war die größte Freude ihres Lebens. Sie konnte da in Enthuſiasmus für den edlen Meiſter und für die Meifter- werke, welche fie dort erſt in weiterem Umfange kennenlernte, ſchwelgen. Enthufias- mus war ihr Lebenselement, und ſogar der geliebten Haͤuslichkeit wurde fie während

110 Olfers: Annele, ein Rind aus dem Dole N

dieſer Studienzeit ein wenig untreu. Wahre Bildungsmittel: Rezitation, General- |

baß, Italieniſch, die ihr da noch geboten, machte fie fich fleißig zunutze. Es lag nicht in unſerer Abſicht, ſie zum Konzert ausbilden zu laſſen, ihre Stimme war zu klein,

doch hätte ſie zu großer Vollkommenheit entwickelt werden können für den einfachen

Vortrag eines tiefen Affekts. Der Klang ſtieg dann zu wunderbarer intenſiver Kraft, wie ein ſtilles, im Vertrauen offenbartes Geheimnis.

nn

Der gewöhnliche Tummelplatz kleiner Stimmen im Genre der Opera buffa oder

tändelnde, witzige, ſcherzhafte Lieder waren ihr antipathiſch, und ſtürmiſch bewegte,

dramatiſche Leidenſchaft, eine gewiſſe Bravour, hätte ſie nie zur Geltung gebracht.

Allein ſie ſang immer intereſſant. Oft hörte ich ihr zu bis tief nach Mitternacht, und meine Tochter begleitete ſie unermüdlich ernſte, ältere Muſik, deutſch, italieniſch, auch Schubert, Schumann. Einige dieſer melancholiſchen, zärtlichen Weiſen ſind mit unvergeßlich. Noch klingt dem ſüß gewöhnten Ohre ein jeder Laut, ein jeder Ton, und nie werde ich ihn jemals von anderen Lippen ſo vernehmen!

Als ihr Lehrkurſus in der Hochſchule nach drei Jahren geſchloſſen, war es iht größter Troſt, mit der geliebten Lehrerin in Beziehung zu bleiben, von ihr als eine Art Adjunkt in mehreren von uns wohlgekannten und verehrten Häuſern eingeführt zu fein. Annele war Feuer und Flamme für dieſe Gelegenheit, ſich ihrer Kunſt, und zwar hinter der Kuliſſe, zu weihen. Für ihre Anlage zum Hero- und Heroinen-wor ship traf es fic) glücklich, daß es die holdeſten jungen Frauen aus der vornehmen G- ſellſchaft waren, denen fie dicfe Übungsftunden zu geben hatte. Dabei keine mufite liſche Quälerei, begabte Naturen und Stimmen, an denen ſie ſich aufrichtig freute, mehr machen zu können als aus der eigenen.

Allein gerade zu der Zeit, wo wir am meiſten für ſie hofften, ging plötzlich eine Veränderung mit ihr vor. Ihre Haltung wurde nachläſſiger, ihre Laune ernſter, ver änderlicher; die Energie für ihre Kunſt, inſofern fie ihre eigene Ausbildung betraf, erſchlaffte. Sie mußte darüber, wie über ihren langen Morgenſchlaf, manchen Bor- wurf hören, denn in ihrer Geſundheit konnten wir den Grund nicht vermuten, da ſie faſt nie klagte, vielleicht weil ſie nicht krank ſein wollte. Meine Aufmerkſamkeit wurde um ſo mehr davon abgezogen, da eine ſehr ſchmerzhafte Krankheit, eine roſenartige Entzündung, mich faft ein halbes Jahr ganz hinfällig machte.

Wie hätte mir einfallen können, daß fie ſelbſt leidend fei? Die freundliche Geſtalt, wie ſie nächtlich vor meinem Bette ſtand, um mir die heißen Kompreſſen zu reichen, welche allein einige Linderung gaben?

Oft hieß ich fie ſich niederlegen, bewachte dann ängſtlich mein Achzen, um ihr Rube zu gönnen, allein ſowie ich die Augen öffnete, ſah ich ſie wieder auf meinen großen Lehnſtuhl gekauert! Leiſe war ſie aus dem Nebenzimmer hereingeſchlichen, die ſonſt behauptete, nicht gehen zu können, ohne ſich des Geklappers ihrer hohen Hacken zu freuen, welches den Mädchengang von dem der Knaben jetzt kaum unterſcheiden läßt.

Meine Tochter war lang im Zimmer, um ſie abzulöſen, ehe ſie ſich entſchloß zu gehen. Und doch, ich bin überzeugt, trug fie ſchon damals den Todeskeim in ſich, det ſie ſo früh fortraffen ſollte. In dem Augenblick hatte ich keine Ahnung davon! Aber ſchon in den Zeiten ihrer größten Munterkeit beſchlich mich ihr gegenüber eine Emp-

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Olfers: Annele, em Kind aus dem Doite 111

findung, die mich ſelten getäuſcht hat. Wenn meine Töchter ſoviel überlegten, wie ſie es anzufangen hätten, um ihr ein kleines Erbteil zu hinterlaſſen, ſagte mir die innere Stimme: ‚Warum forgen fie ſich? Das Kind überlebt fie nicht!“ Indeſſen war ſie es, die bis zuletzt alles auf ihre Schultern aus eigenem Antrieb nahm, was uns zu ſchwierig oder unangenehm zu bewerkſtelligen war und worin ſie offenbar mehr Geſchick hatte. ‚Annele, das Paket für die Poſt!“ ‚Annele, die Witwen- penfion holſt du für mich!“ ,Annele, ſprich ſelbſt mit dem Kutſcher, daß uns der Wagen nicht im Stich läßt!“ ‚Gib her, Mama, ich hefte dir die Ärmel ein und ſchuͤrze die Tunika, damit kommſt du doch nicht zuſtande!“ „Figaro qua, Figaro la‘ lachte ſie oft.

Wir brachten jährlich ein paar Sommermonate auf einem Gut meines Sohnes in Oſtpreußen zu. Er war vor der Übernahme desſelben zwei Jahre Arzt an dem St. Hedwigs krankenhaus in Berlin geweſen. Annele zeigte ihm eine kleine Balg- geſchwulſt im Genick, die wir nie bemerkt, von der ſie zum erſtenmal ſprach und die ſie entfernt haben wollte, weil ſie ihr im Schlafen hinderlich war.

„Ich rate dir, nichts daran tun zu laſſen, bis du wieder zuhauſe biſt,“ entſchied er, denn obgleich eine Balggeſchwulſt die harmloſeſte Operation von der Welt iſt, verlangt ſie doch hinterher Ruhe und Vorſicht wegen der Stelle, an der ſie ſitzt. Alſo in Verlin und durch die erſte Autorität!“ Das hätte uns bedenklich machen können, allein wir hatten unter unſeren Bekannten ſoviel derart mit dem leichteſten Verlauf kennengelernt, daß wir kein Arg daraus hatten. Als wir nach Berlin zurück- kehrten, wagten wir nicht, dieſer ſcheinbaren Kleinigkeit wegen, die erſte chirurgiſche Autorität zu bemühen. Meine Tochter ging mit Annele zu einem der geſchickteſten Aſſiſtenzärzte.

Von dieſem Augenblick an begann unſer Martyrium. Mit zitternden Knien und bleichem Geſicht verkündete mir meine Tochter Marie, als das arme Opfer abnungs- los, wie wir glaubten, in ihr Zimmer lief, um Hut und Mantel abzulegen, den Ur- teilsſpruch: „Verloren! Ein bösartiger Markſchwamm [eine krebsartige Erkran- tung] der Tod in wenig Monaten gewiß, Operation ganz unnütz!“ Da Annele die große Beftürzung meiner Tochter auf dem Heimweg gewahr geworden, rief fie: ‚Warum hat er es mir nicht lieber geſagt: ich kann mehr ertragen. Aber nicht wahr! Du gehſt mit mir bis an das Ende der Welt, bis wir einen Arzt finden, der es unter- nimmt.

Es war zu grauſam! Ich konnte es nicht glauben. Arzte können irren! Ich ſchrieb nun ſogleich, als ich aus meiner Verſteinerung erwachte, eine flehentliche Bitte an die erfte Autorität der Stadt und des Landes, den warm verehrten Lehrer meines Sohnes [Prof. v. Langenbed]. Ich hatte ihn bisher nur zuweilen als vornehmen Mann mit Orden und Stern im Geſellſchaftsanzug geſehen. Jetzt lernte ich ihn kennen in feiner höchſten Eigenſchaft. Dem Blick der Dichter- und Künſtleraugen merkt man wohl etwas Befonderes an, doch am deutlichſten verrät ſich das Genie in dem eines großen Arztes. Hier war der beobachtenden Schärfe noch ein Ausdruck ſanfteſter Güte zugeſellt, ein Balſam für unſere armen Seelen!

Die Möglichkeit einer Rettung, die Gewißheit eines minder qualvollen Endes deſtimmten ihn, unſer Geſuch zu erhören. Annele war fröhlich und dankbar, als ſei

112 Olfers: Annele, ein Rind aus dem Volke

ihr ein großes Glüd widerfahren. Verhehlte fie uns ihre ſchweren Gedanken, wie wir ihr die unſeren?

Weihnachten war vor der Tür. Nicht fo ganz verzweifelt, nicht fo ganz hoffnungs⸗ los gingen wir dem Feſt entgegen. Gleich nach den Feiertagen ſollte die Operation fein. Annele lief wie eine Gefunde mit uns, alle Beſorgungen zu machen. Sie war noch erfüllt von der kindlichen Luft am Geheimnisvollen, an den Überraſchungen, die älteren Leuten vergeht, weil die Wichtigkeit dieſer Dinge ihnen verſchwindet vor dem Gefühl mangelnder Körperkräfte und mangelnder Geldmittel, um herbei⸗ zuſchaffen ſo vieles und ſo ſchönes, als man ſchenken möchte! Schenken das war nun Anneles Leidenſchaft. Ein Erbteil ihrer Mutter, von der man ſagte: es nützt nichts, ſie zu unterſtützen, die Frau kann keinen Pfennig in der Taſche behalten! Wie geſchickt wußte das Kind ſich auszudenken, was nützlich und erwünſcht ſein könnte, wie ſinnreich war ſie, kleinen Unbequemlichkeiten abzuhelfen, die man aus Trägheit und Stupidität erträgt, ohne ſich's beikommen zu laſſen, wie es geändert werden könnte!

Weil Kinder unſerem Kreiſe dieſes Mal fehlten, fiel es ihr, als der Jüngſten, zu, das Weihnachtslied vor dem Chriſtbaum zu ſprechen. Mich überraſchte der ernſte, ſeelenvolle Klang ihrer Stimme, deſſen ſie ſonſt in der Rezitation minder mächtig war als im Geſang, und mir wurde plötzlich klar dabei: ſie weiß um ihre Gefahr ſie denkt, daß ſie vielleicht zum letztenmal vor einem Chriſtbaum ſteht! Ach und nun dieſe Heuchelei von heiterer Umarmung, das Überwinden der grauſamen Erfchütte- rung, die Freude über die Geſchenke!

Den Abend vor dem verhängnisvollen Tage muſizierte fie noch mit meiner Tochter, die ſie begleitete, bis tief in die Nacht und konnte kein Ende finden: Mozart, Gluck und Beethoven, Schumann, Schubert und Rubinſtein. Meine rührenden Lieblinge: „Wär' ich geblieben doch auf meiner Heide, da hätt' ich nichts gewußt von all dem Leide! ‚Tre giorni son che Nina in letto se ne sta ! Wenn mir dieſe Noten wieder in die Hand fallen, wenn mir dieſe Melodien nachklingen, möchte ich vergehen!

Den folgenden Morgen wurde die Operation in unſerem Haufe vollzogen. Ich hörte nur noch einen der drei Arzte erſtaunt fragen: „Wer war das?“ als ein bril- lantes Stück Solfeggio aus Anneles Zimmerchen berüberllang, wie man tut, um ſeine Kehle vor einer großen Arie zu verſuchen. Und dann kam ſie zu uns herein, hatte ſich noch ein paar Maiblumen in den Gürtel geſteckt und umarmte uns zärtlich. Ich wurde mit meiner jüngſten Tochter in meine Schlafſtube verbannt. Allein Marie [Marie v. Olfers, Malerin und Dichterin, geboren 1826, geſtorben 1924] durfte Annele in dieſen ſchweren Stunden hilfeleiſtend naheſein.

Alles blieb ſtill. Wir hörten nichts, ſprachen anfangs hin und wieder miteinander, dann fiel ich mit dem Kopf auf mein Geſangbuch und flehte ohne Worte zu Gott.

Drinnen ging es hart am Tode vorbei, der Puls ſtockte, die Betäubung des Chloro- forms mußte aufgehoben werden und ſie nun bei voller Beſinnung ſtillhalten und alles über ſich ergehen laſſen, Schmerzen, welche ſelbſt das leid kundige, geftählte Gemüt der Männer erbarmte. Ihr letztes Zeichen von Bewußtſein war, daß fie die kunſtbegabte, ſanfte Retterhand küßte, die ſie ſo grauſam behandeln mußte.

Es ſchien eine Ewigkeit, die Zeit wird maßlos, wenn ein Seelenzuſtand alles

—— —— —— Per * 25 4 Zu cop 187 eae

Olfers: Bnnele, ein Kind aus bem Volke 113 Nebenwerk des Lebens verſchlingt! Doch es dunkelte kaum, als Annele verbunden auf ihr Bett getragen wurde und die Warterin die Weiſung erhielt, fie keinen Augen- blick aus dem Geſicht zu verlieren. Es war nicht ſchwer, ſie unbeweglich zu erhalten, ſie war tobesmatt, jedes Wort, jeder Laut in ihrer Nähe verboten. Der Arzt erſchien in der Nacht und gab Hoffnung. Mich beugte die Sorge nieder, nicht nur um die Kranke, ſondern auch um meine eigene Tochter Marie, welche weder körperlich noch ſeeliſch den Anſtrengungen und Schrecken gewachſen war, die ſie ſich zumutete. Anneles erſtes Lebenszeichen war, daß fie frug, ob auch für den nächtlichen Kaffee der Wärterin geſorgt ſei? Mir fiel dabei die alte Wirtſchafterin meiner Mutter ein, die ſterbend die Augen ſchloß und ſagte: „Ach, wer wird nun die Schlüffel nehmen?!“

Doch glaube ich, daß Gott an Goldes Statt die Münze nicht zurückweiſt, Treue in

Heinen Pflichten!

Eine Krankenſtube kann dem Herzen ſehr lieb werden, ſolange die Hoffnung nicht aufgegeben iſt. Die Sonne ſchien freundlich in die unſere hinein; Annele ſelbſt hatte, ehe fie ſich gelegt, alles in die gemütlichite Ordnung gebracht. Die Binden um den Kopf entſtellten fie nicht. Sie erinnerte mich an das Töchterlein Zairi von Richter. Sie war nicht nur geduldig, ſie konnte heiter ſein! Wie freute ſie ſich über jedes Zeichen von Teilnahme, das ſie empfing. Nie war das Tiſchchen neben ihr von ſchoͤnen Blumen leer mit leuchtenden Augen, mit Entzücken atmete fie den Duft ein, wenn die lieben Namen der Spender dabei genannt wurden! Faſt täglich kamen erquidende Sendungen, von denen fie zwar nicht viel, aber doch etwas ge- nießen durfte, und wie ſtolz und dankbar waren wir für fie!

Den Schmerz, die Angſt konnte uns niemand nehmen, aber es war doch ſüß, foviel Güte, foviel Mitleid in der Welt zu wiſſen wie es vom Monde heißt:

Breiteſt über das Gefild Lindernd deinen Blick,

Wie des Freundes Auge mild Über mein Geſchick.

Oft müffen wir im Glück erfahren, daß Freundſchaft uns verläßt, Kleinigkeiten unſere Laune verderben, Mißgunſt, vielleicht ſogar Verleumdung unſeren Erfolgen nachhinken, und wären es nur Wunden wie Nadelſtiche, fie laſſen uns nicht zum Vollgenuß kommen. Das ſchlimmſte dabei iſt, auch wir erkalten dann im Vertrauen, in der warmen Menſchenliebe! Das Band der gemeinſamen Freude iſt ein ſehr reizendes, allein es hält nicht ſo feſt, es iſt viel lockerer, als das der gemeinſamen Trauer. Niemand geht fo unangefochten durchs Leben, daß er im fremden Leid nicht etwas vom eigenen wiedererkennt, und ein großes Unglück entwaffnet die Schärfe, die uns ſonſt wohl begegnet. Es weckt die liebenswürdigſten Eigenſchaften der Menſchheit, die beiden unſterblichen Grazien eine ſo ſelten wie die andere: teilen zu wollen und danken zu können. |

Oft habe ich verſucht, die letzten Tage unſeres Lieblings, den Schluß des Trauer- ſpiels zu ſchildern, und immer ſchauderte ich zurück vor dem Jammer der Erinnerung an jene Zeit vollkommener Hoffnungsloſigkeit, als ich fie kaum mehr ſprechen, nie mehr lachen hörte, als jie jede Speiſe zurückwies. Nur von der zärtlichen Fürjorge um

andere ließ ſie nicht: wie ſie unruhig nach dem geöffneten Fenſter winkte, ap Vor- der curmer XXX, 2

114 Shriftians: Keriegekameraben

bang folle geſchloſſen werden, Mama könnte ſich erkälten“, wenn ich mich an ihr Bett ſetzte.

Die Freude, mit ber ſie noch das Abendmahl aus der geweihten Hand empfing, die fie eingeſegnet hatte, war der letzte Lichtblick in dieſem traurigen Chaos qual- voller Stunden.

Weh mir, des Blickes zu gedenken, da ſie die ſchönen Augen nur noch klagend in die geliebten der über fie Geneigten verſenkte und die teuren Pflegehände immer feſt und feſter hielt, als wollte fie ſagen: ‚Nicht wahr, du bleibſt bei mir, bu gehſt nicht fort von mir, bis ans Ende!“ Denn fie mochte wohl hören, daß meine Tochter Marie von der guten Grauen Schweſter aufgefordert wurde, ſich eine Stunde Schlafs zu gönnen.

Dagegen ift Erlöfung, unferen armen Liebling unter dem Grabhügel ſchlummernd zu wiſſen! —“

Mit diefen Worten ſchließen die Aufzeichnungen meiner Großmutter. Doch erinnere ich mich, daß meine Tante Marie v. Olfers mir oft erzählte, wie Annele, die einſt als elendes Würmchen in ihren Armen die Reife in die neue Heimat an- getreten, nun auch in der Morgenfrühe eines ſtrahlenden Frühlingstages in ihrer ſtützenden Umarmung verſchied. Es war am 16. Mai 1879.

Alljährlich Jahrzehnte ſpäter noch gingen meine Tanten, die getreuen Pflegemütter, an dieſem Tage auf den Matthäikirchhof, legten Kränze von Vergiß meinnicht und Maiblumen auf des geliebten Anneles Grab!

Kriegskameraden Von H. F. Chriſtians

Nicht einer ift unter uns,

Der nicht den letzten Biſſen Brot

Mit dem andern geteilt hat,

Nicht einer, der nicht dem Kameraden

Die blutende Wunde verbunden.

Nicht einer iſt unter uns,

Der nicht gefühlt hätte: Bruder,

Nicht einer, dem nicht mit dem Freunde

Ein Stück ſeines Herzens zerriß.

Nicht einer ift unter uns,

Den nicht das Heimweh gebrannt hat

Nach feinem Vaterhaus, der Mutter, dem Kind, der Geliebten, Nicht einer, den nicht Hunger und Durſt gequält hat wie alle

Kameraden des Krieges, des immer drohenden Todes, Blutsbrũderſchaft tranken wir alle.

Wir alle ſind immer noch eins mit dem Herrn der Toten, Und ewig fchlägt unſer Herz den Takt:

Kameraden!

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Weltuntergangsglaube

pengler ſagt einmal im zweiten Bande ſeines Buches vom Untergang des Abendlandes, es fei eine für den Verſtand unerklärbare Tatſache, daß das Aufkeimen eines neuen Weltgefühls ſtets begleitet fei von einer gewaltigen Angft, und daß dieſe Angſt und die Geburt der neuen Rulturfeele ein und dasfelbe ſeien. So erklärt er die eschatologiſche Erregung der vorderaſiatiſchen Welt, in die das Wirken Zefu und die Entſtehung des Chriſten tums mitten hineinfallen, aus dem Erwachen der „magiſchen“ Seele, das um jene Zeit vor ſich gegangen ſei.

Ob dieſe Theſe in vollem Umfange richtig iſt, ſei dahingeſtellt. Aber auch, wenn man den

Rahmen enger fpannt als Spengler, der Eindruck bleibt jedenfalls beſtehen: In all den felt- ſamen Phantaſien und Viſionen des apokalyptiſchen Geiſtes birgt ſich das Bewußtſein, daß eine alte, vielfach ehrwuͤrdige, aber morſch gewordene Welt ſich dem Untergange zuneigt und daß hinter dieſem Untergange ein neuer Aufgang dämmert.

So geraten weite Kreiſe von Menſchen, ja Völkern in einen Fieberzuſtand eschatologiſcher Erwartung [Weltuntergangs-Erwartung], der feinen ftärkften Ausdruck in dem apokalyptiſchen Schrifttum gefunden hat. Auf den Apokalyptiker jener Zeit kann vielleicht mit noch größerer Berechtigung das Wort bezogen werden, das Konrad Ferdinand Meyer von Luther gefagt hat: „Sein Geift ift zweier Zeiten Schlachtgebiet.“

Oie eschatologiſche Hoffnung hat im Laufe der Jahrhunderte noch häufig die Gemüter erregt. Oft glimmt ſie ganz ſchwach, nur gepflegt von kleinen, verachteten Kreiſen; und plötzlich lodert fie, mit grellem Lichte alles überſtrahlend, weithin ſichtbar auf. Dann iſt wohl ſtets zu beob- achten, daß die Entwicklung des Volkes oder der Gemeinſchaft, die fie bewegt, vor einer ent- ſcheidenden Wende ſteht, daß etwas Altes zuſammenbrechen und etwas Neues ſich gebären will. Ein vortreffliches, in dieſer Hinſicht viel zu wenig beachtetes Beiſpiel für eine ſolche Deu- tung der Eschatologie iſt die germaniſche Apokalyptik, die am Ende des nordgermaniſchen Heidentums ihren ſtärkſten Ausdruck in den Liedern der Edda, namentlich in dem großartigen Welten twicklungsgedicht, das am Anfang der Liederedda ſteht, der Voluſpa, empfangen hat.

Um dieſes Gedicht und den ganzen eschatole giſchen Vorſtellungskomplex der Edda find be- tanntlid in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den Rreifen der Germaniften und Mythologen heftige Kämpfe entbrannt, die im Grunde bis heute noch keine endgültige Eritſcheidung gefunden haben. Namhafte nordiſche Gelehrte (Gophus Bugge, Bang), die von Oeutſchen (E. H. Meyer) zum Teil noch überboten wurden, glaubten wie manches andere, fo auch dieſen Mythenkreis der nordiſchen Dichtung völlig als eine Frucht chriſtlicher Spekulation werten zu müffen. Nach Bang ijt die Voluſpa eine ins Nordiſche übertragene chriſtliche Sibnllen- dichtung. E. H. Meyer deutet fie bis in die kleinſten Einzelheiten hinein als eine ſkaldiſche Ver- Heidung einer driftliden Summe. Heute weiß man, daß dies ſtarke Ubertreibungen find. Wenn auch ein chriſtlicher Einſchlag nicht abgeleugnet werden kann und wenn auch andere Kulturen, 3. B. (wie Olrik vor allem gezeigt) das Relten tum, Baufteine zu den nordgermaniſchen Ragnarot- moti ven geliefert haben, fo iſt doch im weſentlichen der inhaltliche Rern und die Form der Vor- ſtellungen dem nordiſch-germaniſchen Denken entſprungen.

Anders wird freilich das Urteil, wenn wir einmal, was über der Frage nach der Herkunft der Einzelmotive zu wenig geſchieht, die Srundſtimmung der nordiſchen Eschatologie und vor allem der Dolufpa ins Auge faſſen. Auch in der nordiſchen Apokalyptik lebt als treibende Kraft das Gefühl, daß ein großes, vertrautes, aber mit der Zeit zermürbtes Lebenselement verſinken will und etwas Fremdes heraufdämmert: daß die eigenwüchſige, von den Vätern ererbte und

116 Weltuntergangegtaube

ſelbſtändig fortgeftaltete heimiſche Religion einem neuen, von draußen kommenden überlegenen Geiſte weichen muͤſſe. Die am Ende des Heidentums auftauchende nordiſche Apokalyptik iſt der dunkle Schatten, der das Kommen des weißen Kriſt in der alten Götterwelt an kündigt. Das zeigt beſonders deutlich die Weisſagung der Seherin. Der volkstümliche Motive geſtaltende, unbekannte, „philoſophiſche“ Dichter, der ohne Frage als einer der bedeutendſten Geiſter des altgermaniſchen Schrifttums zu werten iſt, ſcheint zu fühlen, daß das Ende ſeines heimiſchen Glaubens nahe ift und zeichnet darum in weiter Schau ein Bild von der Götter Werden, von ihrem Glüd, ihrer Schuld und ihrem und der Welt Untergang, aus dem eine neue Welt mit einem neuen Götter- und Menſchengeſchlecht hervorgeht. Der Ausklang dieſer Prophetie iſt alſo wie der in den jüͤdiſch-chriſtlichen Apokalypſen hoffnungsvoll. Und doch liegt eine andere Stimmung über dieſer nordgermaniſchen Eschatologie. Es fehlt hier der Ton der jubelnden Freude und ftürmifhen Erwartung. In zwar dichteriſch ſchönen Bildern, aber ruhig, ja kühl, ſpricht die Seherin von der neuen Welt. Und wirken dieſe Strophen nicht geradezu etwas blak nach der wuchtigen, von atemloſer Spannung getragenen Schilderung von der „Soͤtterdhnme⸗ rung“, die der räumlich ausgedehnteſte und dichteriſch ſtärkſte Teil des Liedes iſt? Gewi ß, der germaniſche naturhafte Dualismus, der die göttlichen Beſchuͤtzer der Menſchenwelt in einem ſteten Rampf mit dem älteren Rieſengeſchlecht, in dem ſich die ungezügelten wilden Natur kräfte verkörpern, verflochten ſieht, verlangt, wie der ethiſche Dualismus der Perſer, eine Ent- ſcheidung dieſes Rampfes. Er findet ſie gemäß der tragiſchen und peſſimiſtiſchen Weltauffaſſung des Nordgermanen in der gegenſeitigen Vernichtung der ſich bekämpfenden Mächte. Aber die Glut, mit der der apokalyptiſche Dichter in dieſe religiöſen Vorſtellungen feines Volkes ein- dringt, ſpricht auch dafür, daß ein ſtarkes, aus der Wirklichkeit der Zeit erwachſenes Gefühl in ihm und feinen Hörern lebendig ijt. In dem von fern geſchauten „Gottesreich“ wird ein anderes neues Geſchlecht leben. Das Symbol dieſer apokalyptiſchen Stimmung ift die wankende, bis in die Wipfel erzitternde Welteſche Yggdraſill, die (wie dies in einem anderen Eddalied ge ſchildert wird) zur Hälfte bereits verfault ift, die an Wurzeln und Zweigen von ſchädigendem

Getier, von Würmern und Hirſchen, angenagt wird und, ſo ergänzt man, täglich und ſtündlich

zuſammenbrechen kann.

Auch in der ſpäteren Geſchichte des Chriſtentums laſſen ſich das Gefühl der Weltangſt und die Hoffnung auf Welterneuerung, wenn weite Kreiſe von ihnen ergriffen werden, als Vor; zeichen einer Wende deuten, eines Sterbens und Werdens, das die Geiſter der unter dieſem Schickſal Stehenden mit Furcht und Freude zugleich erfüllt. So die eschatologiſche Stimmung der abendländiſchen Chriſtenheit um das Jahr 1000, in einer Zeit, in die nach Spengler das Exwachen der fauſtiſchen Seele fällt. Oder beſonders deutlich die exaltierten Hoffnungen auf den bevorſtehenden Anbruch des Gottesreiches in der Gärungszeit der Reformation. Hier pulft das neue Lebensgefühl bekanntlich bis zum Überſchäumen ſtark als apo kalyptiſcher Geiſt in den „Schwärmern, Rotten und Sekten“, den viel verketzerten und verkannten Täufern, deren enthuſiaſtiſche, auf chriſtlich kommuniſtiſcher Grundlage aufgebauten Reichsgottesgründungen zwar nur kurzlebig waren, deren religidfe Bedeutung aber erſt in neuerer Zeit erkannt worden iſt. In einer mehr negativen Form zeigt ſich dagegen der apokalyptiſche Geiſt bei Luther ſelbſt. Der auf dem feſten Boden des Wortes wurzelnde, dem religiöfen Subjektivismus der Schwärmer abholde Reformator lehnt in ſeiner Jugend auch die ſubjektiven und vielfach unklaren Schauungen und Geſichte der Apokalyptik ab. Das beweiſt die bekannte freimütige Kritik, die er in einem Vorwort ſeiner erſten Ausgabe des Neuen Teſtamentes an dem klaſſiſchen Buch der chriſtlichen Apokalyptik, an der Offenbarung Johannis geübt hat, wenn er von dieſem Buch ſchreibt, daß er „aller dinge nicht ſpuren kan, das es von dem heyligen geyſt geſtellet ſey“ und feine geringe Wertſchätzung damit begründet, „das Chriſtus drynnen widder geleret noch erkandt wird, wilds doch zu tun fur allen dingen eyn Apoſtel ſchuldig iſt“. Dagegen war der alternde und vielfach enttäuſchte Luther der Tiſchreden der eschatologiſchen Stimmung weit zugänglicher. Und zwar

Weltuntergangsglaube | 117

fpürt man mehr einen wegmüden, nach Rube ſich ſehnenden Peſſimismus als eine bas Heran- Dämmern eines neuen Morgens fpürende und dem neuen Licht trotz Not und Tod entgegen- jauchyende Hoffnung, wenn er fpricht: „Sch hoffe je, es fei der jüngfte Tag nicht fern, und wir wollen ihn nod erleben.“ |

Eine Fülle von apokalyptiſchen Ängften und Hoffnungen ift endlich in unferer Zeit der Zer⸗ ſtörungen, Zrrungen und Gärungen wach geworden. Wir erleben fie in den verſchiedenartigſten Ausprägungen. Neben Formen und Vorſtellungen chriſtlich-bibliſcher Enderwartung ſolche, die ſchein bar jedes chriſtlichen und religiöfen Anſtrichs entbehren. Neben müdem Peſſimismus auch hier jubelnder Enthuſiasmus. Zum großen Teil als ein Ausfluß peſſimiſtiſcher Stimmungen iſt die Enderwartung in manchen pietiſtiſch-bibliziſtiſchen Rreifen zu bewerten, wie fie etwa in den Reihen der kirchlichen und außerkirchlichen Gemeinſchaftsleute oder verwandter Gruppen lebendig iſt. Dort iſt fie bekanntlich in den letzten Jahren außerordentlich ſtark geworden. Wie ſehr ſie, in der Form eines ſtrengen Biblizismus dargeboten, in den verſchiedenartigſten Schichten Widerhall findet, beweiſt der Erfolg, den die kürzlich zu uns hereingekommene ausländiſche Sette der „ernſten Bibelforſcher“ bei uns aufzuweiſen hat. Deren Chiliasmus hat allerdings vorwiegend enthuſiaſtiſches Gepräge. Sonſt aber ſcheint die eschatologiſche Strömung pieti- ſtiſcher Rreife Verallgemeinerungen find natürlich auch hier vom Übel pſychologiſch weithin aus einem Gefühl der Ratlofigteit gegenüber dem gegenwärtigen Weltgeſchehen und aus der Sehnſucht, endlich vor dem Wirbelſturm der Zeit in einem ſicheren Hafen Ruhe zu finden, geboren zu ſein. Ehrlich betrachtet iſt es doch oftmals ſo, daß man letztlich mit einer gewiſſen Refignation eine Welt verſinken fühlt, in der man ſich trotz allem Peſſimismus zu- recht gefunden hatte, und daß man im Grunde des Herzens mit gedämpfter Freude der als unmittelbar bevorſtehend erwarteten radikalen Anderung und Neuwerdung aller Dinge durch Gott entgegenſieht. Iſt nicht vielleicht auch der Umftand ein Argument für dieſe Auf- faſſung, daß dieſe Menſchen, ſoweit ſie politiſche Intereſſen verfolgen, zum weitaus größten Teile ſich zu Parteien bekennen, deren Zdeal in der Vergangenheit liegt und die es ſich als Ziel geſetzt haben, einen verlorenen Zuſtand der Vergangenheit wiederum ins Leben zurück- zuführen?

Am ſchärfſten ausgeprägt ift der peſſimiſtiſche Grundton der Enderwartung in jener welt- lichen Form, die der Weltuntergangsglaube durch Spengler gewonnen hat, der an die Stelle des kosmiſchen Weltendes den Untergang der Kultur, den Untergang des Abend- landes ſetzt. Der ungeheuer ſtarke Eindruck, den jenes Buch in den Kreiſen der Gebildeten gemacht hat, iſt doch darauf zurückzuführen, daß es mit einer Fille geiſtreicher Beobachtungen und Vergleiche wiſſenſchaftlich unwiderleglich die Hoffnungsloſigkeit zu beſiegeln ſchien, mit der der Rulturmenſch eine Welt ſtuͤrzen ſieht, die er durch die Energie von Jahrhunderten erbaut hatte und unter deren Trümmern er ſelbſt gerichtet zuſammenbricht, ohne den einzig möglichen Ausweg des religiöſen Menſchen zu finden, der in dieſem Untergang das Gericht Gottes anerkennt, der ſich unter den Gotteswillen ſtellt und doch der Hoffnung lebt, daß trotz allem aus Abſterben und Tod ein Auferſtehen, ein neues Leben auch für ihn erwachſe.

Nur angedeutet werden ſoll hier die ganz anders geartete und weit ſchwächere eschate logiſche Stimmung der anthropoſophiſchen Nreiſe. An die Bewußtſeinslage der Eschatologie erinnert bier der ftart ausgeprägte Glaube an eine bevorſtehende radikale Welterneuerung durch die immer ſtärker werdende Einwirkung des anthropoſophiſchen Geiſtes. Da aber Rudolf Steiner eine gejegmäßige Aufeinanderfolge einer Reihe verſchiedener Weltzuſtände annimmt, da über- haupt in dem anthropoſophiſchen Syſtem der Gedanke der Entwicklung eine außerordentlich große Bedeutung hat er hat hier eine noch größere Ausdehnung als in der gegenſätzlichen moniſtiſch-materialiſtiſchen Weltanſchauung, die durch ihn beherrſcht wird —, fo fehlt dieſer Form eschatologiſcher Gemütsgeſtimmtheit die düftere Untergangsſtimmung, die dem „echten Apokalyptiker“ geradezu das Mark und die Kraft zu feiner Zukunftshoffnung gibt.

118 Weltuntergangsglaube

Ein ſtarker eschatologiſcher Zug iſt aber unverkennbar bei den Anhängern ganz neuer, in unferen Tagen entſtandener religidfer Strömungen, die dadurch einen ſcharfen Gegenſatz zu der Religiofitdt der Vorkriegszeit bilden. Dieſe war in ihrem Grundcharakter diesſeitig. Sie hatte in dieſer ſchoͤnen Welt, in der alles fo wohl geordnet ſchien, ein wie vermeintlich unzer- ftörbares Fundament für ihr ſtolzes Gedan kengebäude gefunden. War für fie doch die Welt eine ewige Größe, die in unendlicher vorwärtsichreitender Entwicklung in gerader, ununter brochener Folge von Stufe zu Stufe immer herrlicher ſich geſtaltet und ſich ſelbſt genug iſt. Sott wurde weſentlich als die die Welt vorwärtstreibende und in ihr, wie fie iſt, ſich auswirtende Kraft empfunden. Die Grenze zwiſchen ihm und der Welt iſt alſo fließend. Za die Welt iſt recht eigentlich, fo wie fie iſt, die unmittelbare Ausſtrahlung des Göttlichen. Sie kann gar nicht voll kommener ſein und iſt darum mit nichten wert, zugrunde zu gehen. „Sie haben ſich Gottes bemächtigt, als ob man ſich Gottes bemächtigen konnte!“ (Turneyſen, Doſtojewſki.) Und in den Mittelpunkt dieſer diesſeitsfreudigen religiöfen Stimmung trat recht eigentlich der Menſch, die höchſte Blüte der Gottheit, der eigentliche Herr der Welt. Auch ihn ſah der Moderne der Vorkriegszeit im Lichte des Entwicklungsgedankens. Sein ſtetes Vorwärtsſchreiten „vom Gorilla zum Übermenfchen“ preifend fang dieſe Frömmigkeit das hohe Lied von der Kraft des freien und guten Menſchen, der des Söttlichen Ebenbild iſt. Wie weit iſt dieſe religiöſe Stimmung, die eine beſonders ſchöne und gemütvolle Ausprägung etwa in der warmherzigen, pantheiſtiſchen Myſtik eines Jatho gefunden hat, von aller apokalyptiſchen Ahnung entfernt, daß dieſe ſchoͤne Welt einmal zuſammenſtuͤrzen könnte! Za, wer ahnt, daß fie ganz nahe vor dem Sufammen- bruch ſtehe, der wie eine Sintflut, den meiſten unerwartet, mit dem Weltkrieg über fie herein · brach!

Aus dem Erleben des Krieges und der Nachkriegszeit erwächſt aber jene der ſkizzierten ſchroff entgegengeſetzte Frömmigkeit, die namentlich in dem jüngeren, heranwachſenden Theologen; geſchlecht und in Laienkreiſen eine zahlenmäßig vielleicht noch weniger bedeutende, dafur aber an innerem Wert um fo ſchwerer wiegende Anhäͤngerſchaft gewonnen hat. Und es iſt bezeichnend, daß eben auch dieſe religidfe Neubildung ausgeſprochen eschatologiſche Merkmale aufweiſt. Eine eschatologiſche Färbung hat in dieſer Gegenwartsfrömmigkeit auch die Geringſchätzung und bewußte Abkehr von der Geſchichte. Suchte gerade die wiſſenſchaftliche Theologie der letzten Jahrzehnte durch geſchichtliche Erforſchung und Sichtung der Quellen dem Menſchen der Gegenwart einen feſten Boden für ſeine Religioſität zu ſchaffen, ſo lehnen viele Jünger der „neuen Theologie“ dieſen Weg entſchieden ab, da aller „Hiſtorizismus“ und der mit ihm verbundene Relativismus ein Irrweg ſei, der im Menſchlichen ſtecken bleibe.

Wie in aller eschatologiſchen Frömmigkeit erſcheint eben hier die Lage von Welt und Menſch als hoffnungslos. Es gibt für fie nur eine Rettung: Gott. Und eschatologiſch ift auch die Zu; verſicht, daß die Welterneuerung von Gott aus kommen und alles unverdient verwandeln wird. Go wird das Verhalten des Frommen, das aus dieſer Problematik erwächſt, wie im älteften Chriſtentum ein Warten auf das Kommen Gottes in die Welt, Und fein Tun beſteht nur noch in den vielen tauſend beſcheidenen Schritten und Schrittlein, die einſtweilen auf Erden noch getan werden müffen (Turneyſen, Ooſtojewſki). In ſolchen Zügen geſtaltet ſich, auch wenn nicht an ein plötzliches kataſtrophales Eingreifen gedacht wird, eine neue Eschatologie, die nicht die äußeren Formen der bibliſchen trägt, wohl aber ihre Kraft und ihren Geift atmet.

Nur am Rande eschatologiſchen Seinsempfindens liegen zwei Erſcheinungen, auf die wir hier nicht näher eingehen können: Sozialismus und Zugendbewegung. Wenn man in der neuen Jugend einen ſcharfen Trennungsſtrich zwiſchen ſich und den Trägern und Verteidigern der gleißenden aber wurmſtichigen Kultur zieht, der vor allem in der Schroffheit des Gegenſatzes zwiſchen Jung und Alt zum Ausdruck kommt, erinnert dies nicht an die Art, wie in der Welt der Apokalyptik die Schar der Seligen, „Verſiegelten“, den Heiden, den „Königen, Ravfleuten und Schiffsleuten“ gegenüuͤbergeſtellt wird? Und ebenfo iſt das Gefühl der neuen Jugend, in

Redhangebetmnts 119

einer ſterbenden Welt der Anfang eines werdenden Neuen zu fein, „Mit uns zieht die neue geit verwandt mit dem Lebensgefühl der „Seligen“. Wenn eschatologiſche Angſte und Hoffnungen in einem Volk oder anderen großen Gemein;

ſchaften aufwachen und dieſe von heftigen Fieberſchauern durchſchuͤttelt werden, dann iſt dies

nicht ohne Gefahr. Das Fieber kann ſo ſtark ſein, daß der Kranke daran ſtirbt. Meiſt aber ſteht am Ende der apokalyptiſchen Phantafien und Träume ein nüchternes, graues Erwachen. Denn die Angſte und Hoffnungen apokalpptiſcher Zeiten haben ſich ja unmittelbar bisher ſtets als

“+ ittig erwieſen. Die alte Chriſtenheit mußte lernen, daß das Rommen des Herrn nicht fo nahe war, wie fie gehofft; und fie verſtand es, ſich ſchnell, allzuſchnell, auf dieſer Erde einzurichten.

Auf das Zeitalter des Geiſtes folgte die langdauernde Periode nüchterner Organiſation der ſich

8 7 2 e fe 1 3 8 . 5 1 WE ———— 2 ——

entwickelnden Reichs kirche. Die chiliaſtiſchen Träume des Reformationsgeitalters und ihre Ver- wirküchung in den kommuniſtiſchen Gründungen der Schwärmer fanden unter den Feuerkugeln und Gäbeln fuͤrſtlicher Lands inechte ein jähes und unrühmliches Ende. Aber in einem tieferen einne waren dieſe ſeltſamen Angſte und Nöte dennoch wahr. Sie find, wenn fie in großer Starke, gewiſſermaßen epidemiſch, auftauchen (das war das Ergebnis des religionsgeſchichtlichen Streifzuges), Vorboten und Begleiterſcheinungen einer Zei ten wende.

Mit der Deutung eschatologiſcher Frömmigkeit als Ausdruck des Vorgefühls einer Welten wende iſt ihr Weſen natürlich nicht erſchöͤpft. Sie birgt in ſich ſtarke irrationale Züge, die nicht auf eine einfache Verſtandes formel gebracht werden können. Das Wertsvollſte ift vielleicht dies, daß in ihr ein Einſtrömen neuſchaffender tranſzendenter Kräfte in die Welt der Wirklichkeit ſpürbar wird, durch die das erſtarrende Leben einen neuen Pulsſchlag, einen anderen Rhythmus erbält. Wenn aber die eschatologiſche Stimmung als Ausdruck der Wende aufgefaßt werden kann, dann liegt in ihrem Aufkeimen eine ſtarke Tröſtung und Verheißung.

Dr. Hans Vordemfelde

Radiumgeheimnis

ibt es heute noch einen Menſchen, der nichts vom Radium weiß? Ich glaube kaum, obwohl

ich mich noch gut an die erſten Zeitungsnachrichten erinnern kann, wonach es einem franzoſiſchen Naturforſcherpaar gelungen fei, ein Element aus einem Geſtein rein herzuſtellen, das ununterbrochen von ſelbſt leuchte und ſtändig zerfalle. Wegen der Strahlen, die einen Nenſchen töten können, erhielt es ja den Namen Radium. Ganz behutſam angewendet aber nüßt dieſe „Beſtrahlung“ bei allerlei Geſchwülſten, im erſten Stadium der Krebserkrankung im Einne einer Heilung, und fo iſt Radium, von dem, feiner ſchwierigen und koſtſpieligen Her⸗ ſtellung halber, auf der ganzen Welt nur etwa 50 Gramm vorhanden find, in den Heilſchatz der Balter eingezogen. Fit das alles? Nein, die Hauptſache kommt noch.

Ein berühmter engliſcher Naturforſcher (Rutherford) hat uns die Strahlungstatſache aus- gedeutet als eine Zufallserſcheinung, als eine Stoffexploſion. Seitdem man die kleinſten Teile des Stoffes für winzige Sonnenſyſteme hält, hat man den „Sonnen“ in ihnen beſondere Be- achtung geſchenkt. Und gerade von ihnen iſt man der Meinung, daß fie explodieren. Bei dem Gement Radium fortwährend und ohne weiteres, bei den anderen Elementen nur manchmal und unter Bedingungen, die wir noch nicht in der Hand haben.

Zn allen Rulturländern hat der Staat eine cffene Hand gehabt und hat Inſtitute zur Ex- forſchung der Radioaktivität gegründet, trotzdem fie ſehr koſtſpielig einzurichten und zu unter- halten find. Warum tat man das? Aus Idealismus für das Wiffen? Ach, der Idealismus ſteht eben nicht mehr hoch im Kurs, es ſteckt ſchon etwas anderes dahinter. Wer ein Motorrad oder ein Auto hat, weiß einen Exploſionsmotor zu ſchätzen. Erplofionen liefern Kraft, viel Kraft, und der Mann, der die Exploſionen der Atomkerne, mit anderen Worten die Radioaktivität

1% | Rablumgebeimrile nutzbar zu machen verftände, der wäre der Herr der Welt. Er könnte nicht nur ein Element in das andere verwandeln, z. B. Eifen oder auch den Sauerſtoff der Luft in Gold, ſondern er hätte auch eine nicht auszudenkende Kraftquelle in der Hand. Geht alſo bei den Radiuminftituten ganz hochachtungs voll vorüber, denn dort baut man an unſerer Zukunft, von dort aus kann ſich alles mit einem Schlage ändern.

Dorläufig hat es leider noch feine guten Wege damit, aber und das iſt das Wichtigſte die Sache iſt nicht mehr bloß Annahme, ſondern der praktiſche Anfang iſt ſchon gemacht. Schon ift es gelungen, ein paar gasförmige Elemente ineinander überzuführen und andere „aufzu- ſpalten“, alſo etwas von den Träumen der Soldmacher zu verwirklichen. Leider hat ſich ja die Nachricht, daß man aus Queckſilber Sold gemacht habe, noch nicht verwirklicht. Aber des kann ſchon morgen kommen, es wird jedenfalls auf das ernſtlichſte daran gearbeitet.

Schon ſind wir ſo weit, daß wir nicht mehr an die Exiſtenz von 92 Elementen glauben, welche die uns bekannte Welt zuſammenſetzen, ſondern nur mehr an einen einheitlichen Stoff, an ein Ur element, wenn man das fo nennen will. Ja ſogar der Glaube an den Weltenftoff kommt immer mehr den Naturforſchern abhanden, und bei allen verſchwindet immer mehr die ſcharfe Trennung von „Stoff“ und „Kraft“. Eine ganz andere Naturauffaſſung zieht allmählich herauf, denn durch das Radium iſt man zu der Überzeugung gekommen, die Materie fei zerftörber, fie fei keineswegs ewig, wie das noch unſere Eltern felfenfeft geglaubt haben.

Materie kann verſchwinden und ſich in Energie auflöſen. Energie muß demgemäß auch unter Umſtänden als Maſſe erſcheinen. Es iſt alſo denkbar, daß ſich die Steine ſcheinbar ſpurlos im Weltall auflöfen, nämlich ſich in Energie verwandeln, und was wir als Sonne bewundern, lieben und fo taufendfältig brauchen, das iſt ein folder, in radioaktivem Zerfall begriffener Stern. Die Abereinſtimmung zwiſchen Atom und Sonnenſyftem wird dadurch nur noch ſchlagen · der; jetzt befchräntt fie ſich nicht nur auf äußerliche Ähnlichkeiten, ſondern greift auch auf innere Wirkſamkeit über.

Natürlich wird nun niemand, der auch nur ein wenig in Zuſammenhängen denken kann, glauben, daß die Energien des radioaktiven Zerfalls ein für allemal zerſtreut und verloten find. Sie zerſtreuen ſich wohl im Weltenraum, aber erfüllen ihn immer mehr, bis fie wieder in materielle Erſcheinung treten. Mit anderen Worten, aus Sonnenenergien werden wiede neue Sonnen.

Solcher Art iſt das neue Weltbild, an dem die nächſten dreißig Jahre bauen werden und das aller Dorausfidt nach berufen fein wird, das alte Weltbild zu erſetzen. In bieſem neuen Bild gibt es kein Weltenende und keine Weltenſchöpfung, ſondern nur ein Sein, das ſich in Kreiſen bewegt und raſtlos von Energie in Materie und umgekehrt hin und wieder geht.

Beſtechend erſcheint das, und man glaubt zunädft, um einen großen Schritt weiter gekommen zu ſein. Aber man vergeſſe nicht, auch dieſes Weltbild iſt grober Materialismus, ſo wie das Kan tſche ein folder iſt. Denn es bezieht das Seeliſche, alfo das Eigentliche, was uns an der Welt intereſſiert, in keiner Weiſe in ſich. Das Seeliſche iſt keine Energie im phypſikaliſchen Sinn, man kann nicht Elektrizität oder Licht in Intelligenz umwandeln und nicht mit Ma- ſchinen Seelen erzeugen. Wer darüber hinweghuſcht mit allgemeinen Phraſen vom „ener- getiſchen Weltbild“ an Stelle des „materiellen“, der treibt Falſchmümzerei. Die Energie dieſer Phyſiker iſt genau ſo ſtofflicher, wägbarer Natur wie der alte Stoff.

Das neue Weltbild wäre demnach in bezug auf Weltverſtehen gar kein weſentlicher Fort⸗ ſchritt, nur innerhalb der reinen Naturwiſſenſchaft hat es feine Vorzüge. Da zertrümmerten ſich allerdings viele alte Vorſtellungen, die nicht mehr mit der Erweiterung der Kenntniſſe ver einbar waren. Zum Beiſpiel die vom glutförmigen Erdinnern und vom Exkalten dieſer, altern · den“ Kugel.

Man nehme nur die naturwiſſenſchaftliche Exbauungsli teratur vor fünfundzwanzig und noch vor zehn Jahren zur Hand. Was werden darin für rührfelige Lieder geſungen von dieſer armen,

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Stabtınngeheimnis 121

fogufagen greiſenhaften Erde, der niemand mehr helfen kann, die jetzt, ſeitdem fie ihre Glut verlor, nun fchnurftrads einem unſeligen Welten tod entgegeneilt. Jene Generation glaubte manchmal allen Ernſtes, ein gelegentlich naßkalter Sommer hinge ſchon mit diefem Erkalten und Abſterben der Erde zuſammen. So erinnere ich mich, daß im Jahre 1888, einem wahrhaft ſommerloſen Jahr, ſolche Betrachtungen angeftellt wurden.

Vorbei find tiefe Einbildungen heute im Zeitalter der Radiumgeheimniſſe. Nachdem ſich derausgeſtellt het, daß alle Erdſchichten von Radium durchſetzt ſeien, konnte man berechnen, daß, nachdem doch dadurch in Wärme überleitbare Strahlungen abgegeben werden, die Erde nichts an Hitze verlieren kann. Im Gegenteil: es ſtellte ſich das geradezu verblüffende Ergebnis heraus, daß bei dem berechneten Radiumgebalt dieſer Stern ſich ſogar eher erwärmen als abkühlen müßte,

Sormen haft müßte danach die Erde werden, ſich immer mehr in eine Meine Sonne um wandeln. Ihre Glutzeit wird dadurch nicht in die Vergangenheit, ſondern in die Zukunft verlegt.

Aber das ſtimmt doch nicht mit den beobachtbaren Tatſachen, ſagt der geſunde Menſchen⸗ verſtand, und er hat recht. Wenn wir auch wirklich nicht mit Sicherheit ſagen können, ob es einmal auf der Erde als Ganzes genommen wärmer war als heute, fo deutet mit noch größerer Sicherheit alles darauf hin, daß es, ſeitdem es eee gibt, aber auch nicht kälter ge- worden iſt.

Wer die Tropen bereiſt hat, weiß, daß auf ganz unermeßlichen Land- und Seeſtrecken, im Norden wie im Silden vom Aquator beiderſeits, etwa bis zum dreißigſten Breitegrad, die Erde eine wahre Gluthöͤlle iſt. Worte reichen gar nicht hin, um die Leiden zu ſchildern, welche Tag und Nacht dort dem Menſchen durch die immerwährende Hitze zugefügt werden. Faſt ftets ift die Grenze hart angenähert, die dem Leben von Pflanze und Tier das Ende bereiten würde. Immer wieder hat man in dieſen Glutftunden, da alles Leben lechzt und in Hitzeſtarre verſunken iſt, den Eindruck: noch fünf Grad heißer, und es geht nicht mehr. Aber da das Leben auch in den hei zßeſten Gegenden der Erde, im Roten Meer, auf Ceylon, im Schwarzinſelland, im dquatorialen Afrika und Amerika beſteht und wie üppig beſteht, da gerade dort die alter; tümlichften Lebensformen, die Farnbdume und Kaurifichten, die großen, plumpen Säugetiere und Rieſenechſen beweiſen, daß ſich das Leben in jenen Gegenden feit den älteften Zeiten der Erde erhalten hat, ijt damit auch der Beweis geliefert, daß jene verhängnisvollen fünf Grad mehr niemals, auch in den Urzeiten nicht, eingetreten waren, mit anderen Worten, daß ſich die Erde ſeit der Urzeit nicht abgekühlt haben kann.

Andererſei ts aber find die der Hitze angepaßten Eidechſen, die Farnbaumwaͤlder, die Rorallen und Palmen, von denen manche ſchon ſterben, wenn die Temperatur auch nur unter zwanzig Grad im Schatten, alſo die eines ſchönen Sommertags ſinkt, auch in den älteſten Zeiten der Erdgeſchichte quicklebendig und fortpflanzungsfroh dageweſen, die Erde war alſo auch da- mals nicht kühler als heute.

Es kann ſomit ſchon aus dieſem einen Beweisgrund, weder die Rantfche Abkühlung, noch die Radiumerwärmung zu Recht beſtehen. Kurz gejagt: irgend etwas ſtimmt auch in der Radium rechnung nicht. Die ganze Welt mutet fo an, als fei fie im großen ganzen immer fo geweſen, wie fie derzeit ift, und das Radiumgeheimnis bleibt nach wie vor beſtehen. Ich glaube aber trotzdem, daß dieſer ſonderbare Zuſtand eine ſehr einfache Deutung hat. Wir find eben erſt am Anfang unſerer Renntniffe und wiſſen noch zu wenig von den Bedingungen, Urſachen und Wirkungen des Stoffzerfalles, wie man die ganze Radioaktivität auf gut deutſch nennen ſollte. Wollte man heute ſchon auf die vorhandenen wenigen Kenntniſſe ein Weltbild errichten, ſo hätte man zu voreilig gebaut. Darum die Widerſprüche, wenn man es probeweiſe verſucht. Alſo Geduld! Man vertraue den Radiumforſchern. Sie find an der Arbeit, uns nicht nur die techniſche Umwälzung, ſondern auch das neue Weltbild zu bringen, das die Rantide Lehre von der Weltentwidlung erſetzen wird. R. H. Francé

Marneſchlacht und Tannenberg

großen Geſchehen des Weltkriegs zeichnen ſich deutlich zwei Höhepunkte ab, die zugleich Wendepunkte unferes Schickſals wurden: die Marneſchlacht 1914 und die große Schlacht in Frankreich im Frühjahr 1918. Beidemale ſtand es auf des Meſſers Schneide und hing es, wie ſelbſt unſere Feinde zugeben, nur an einem Faden, daß wir den Sieg errungen hätten. Es iſt daher begreiflich, daß die militäriſche Kriegsliteratur ſich mit beſonderer Vorliebe dieſen beiden Feldzügen zuwendet; aber auch das deutſche Volk will wiſſen, warum wir trotz glänzende Siege ſchließlich fo kläglich zuſammengebrochen find. So ift denn auch über den Marnefeld zug und die Marneſchlacht ſchon viel geſchrieben worden ich nenne nur die vortrefflichen Dar- ſtellungen von Ruhl, Baumgarten-Cruſius, Müller-Löbnitz —, fo daß man meinen möchte, daß ſich über dieſen Gegenſtand kaum noch Neues fagen ließe. Und doch bringen die im ver- gangenen Sommer erſchienenen zwei neuen Bände (5 und 4) des Amtlichen Wertes des Reichs archi vs über den Weltkrieg (Mittler & Sohn, Berlin, 427 und 576 S., geb. 22 4 und 26,50 ) noch manches Neue, berichtigen irrtümliche bisherige Anſchauungen und geben reft- loſe Aufklärung über die inneren Zuſammenhänge. Die beiden, mit Karten reich ausgeſtatteten Bände ſchließen ſich den früheren Veröffentlichungen des Reichsarchivs würdig an. Sie leſen ſich ſpannend wie ein Roman, ergreifend wie eine Tragödie und bieten nicht nur dem Militär reichſte Belehrung, ſondern werden auch den Nichtfachmann von Anfang bis Ende feſſeln. Beſonders gelungen iſt die eingehende Charakteriſtik des unglidliden Feldherrn Moltke, der rein menſchlich gewiß ein edler, vornehmer Charakter war, dem aber zum Feldherrn ſo ziemlich alles fehlte.

3m habe mich ſchon in früheren Aufſätzen darüber ausgeſprochen, daß der Urgrund zum Derluft der Marneſchlacht in der Derwäfferung des genialen Schlieffen planes zu ſuchen iſt, indem [don im erſten Aufmarſch viel zu ſtarke Kräfte in Elſaß-Lothringen, einem Neben; kriegsſchauplatz, unnütz feſtgelegt wurden und dadurch der rechte Flügel, der die Entſcheidung bringen ſollte, nicht ſtark genug gemacht werden konnte. Nach ſtrategiſchen Geſetzen kann der Entſcheidungsflüͤgel gar nicht ſtark genug fein. Noch auf dem Sterbebette rief Graf Schlieffen im Delirium aus: „Macht mir nur den rechten Flügel ſtark!“ Diefe Mahnung eines Sterbenden ſollte ungebört verhallen. Während bei Schlieffen das Stärke verhältnis vom rechten zum linken Flügel 7: 1 war, wurde es von Moltke, der ein volles Drittel der Kräfte in Elſaß-Lothringen auf- marfdieren ließ, auf 3:1 herabgedrüͤckt. Man kann ſich dies nicht anders erklaren, als daß fid Moltke den genialen Grundgedanken des Schlieffenplans, der in feiner wundervollen Einfach- heit, Klarheit und Folgerichtigkeit uns unfehlbar zum Sieg geführt haben würde, zumal bei dem törichten Aufmarſch und Operationsplan der Franzoſen, der unſeren Wuͤnſchen nur ent- gegenkam, innerlich überhaupt nie zu eigen gemacht hat. Ihm ſchwebte ein entſcheidender Sieg in Lothringen vor; andererſeits wagte man es aber doch nicht, ſich ganz vom Schlieffen- plan loszuſagen, und ſo kam ein übles Kompromiß zuſtande. Wenn auch vor der Geſchichte Seneraloberſt v. Moltke zweifellos formell die Verantwortung für den verfehlten Aufmarſch 1914 zu tragen hat, ſo wäre es doch nicht ganz unintereſſant, zu wiſſen, wer denn eigentlich der geiftige Urheber dieſer Verhunzung des Schlieffen plans geweſen iſt, da man wohl annehmen darf, daß der Aufmarſchplan nicht der geiſtigen Werkſtatt Moltkes ſelbſt entſprungen, ſondern von ihm nur angenommen und gebilligt worden iſt. Der Betreffende hat ſich bis jetzt noch nicht zum Vort gemeldet.

Weitere Todſuͤnden gegen den Schlieffenplan waren das Verſchieben von zwei Armeekorps, ausgerechnet noch dazu vom rechten Flügel, nach dem Often, wo fie weder verlangt noch be- nötigt waren und für die Entſcheidung von Tannenberg doch zu ſpät kamen, ferner die Bu- führung von 85 Vataillonen als Verſtaͤrkung des linken ftatt rechten Flügels. Daß unter dieſen Umftänden die am aͤußerſten rechten Fluͤgel befindliche 1. Armee Kuck ihrer ſchwierigen Doppel-

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Autneſchlacht und Tannenberg 123

| aufgabe Flankenſchutz und Umfaſſung des feindlichen Flügels unmoglich mehr genügen konnte und in immer ſchwerere Gefahr kommen mußte, je mehr fie ſich dem Bereich der Feftung Paris näherte, iſt Mar.

Nach der ſiegreichen Schlacht in Lothringen, etwa am 22. Auguſt, wäre es noch Zeit und - möglidy gewefen, ſtärkere Kräfte aus der 6. und 7. Armee heraus zuziehen und nach dem rechten - Flügel zu verſchieben. Das Eiſenbahnmaterial hiezu ſtand bereit. Kron prinz Rupprecht hatte dies auch erwartet und fogar bei der Oberſten Heeresleitung (O. H. L.) angeregt. Statt deſſen trieb

die O. H. L. am 27. Auguſt die 6. Armee noch weiter gegen die Moſelbefeſtigungen vor und

+ trug damit den Schlieffenplan endgültig zu Grabe. Die Armeen 1—5 aber erhielten in unbe-

gteiflicher Überfchägung der in den Grenzſchlachten bisher errungenen Erfolge reine Ver⸗

folgungs aufträge. Der Chef der Operationsabteilung äußerte am 25. Auguſt frohlockend: „In

6 Wochen ift die ganze Geſchichte erledigt!“ Es ſollte anders kommen. dess iſt natürlich völlig unmöglich, im Rahmen eines kurzen Aufſatzes die Tragikomödie der Marneſchlacht mit ihren zahlreichen Irrungen und Wirrungen auch nur einigermaßen

| eihöpfend zu behandeln. Nur wenige Hauptpunkte können herausgegriffen werden. Die l. Armee Rud war in ihrem Beſtreben, den linken Flügel der weichenden Engländer doch noch N zu faſſen, vor Paris angelangt, nach Südoften abgedreht worden und hatte mit den vorderſten

Truppen die Marne bereits überſchritten. Die Armee hatte hierbei in bewußter, aber trotzdem > Shit leichtfertiger Mißachtung der aus der Zeitung Paris immerhin drohenden ernſten Ge- fahren diefer die nahezu ungefhüßte Flanke dargeboten und war denn auch von der franzoͤſiſchen 6. Armee Maunoury aus Paris überraſchend angegriffen worden. Die Art und Weiſe nun, | wie Mud und feine Unterführer die äußerft ſchwierige und bedrohliche Lage zu meiftern und in

kühner Operation in einen vollen Sieg zu verwandeln wußten, war ein Meifterftüd und bildet einen erhebenden Lichtblick in dem ſonſt in Bezug auf Führungskunſt nicht gerade erfreulichen Rapitel der Marneſchlacht. Durch das Herausziehen der bereits an der Marne mit Front nach Suden eingeſetzten Korps, die in eine neue Front nach Weiten am Ourcq herumgeworfen wurden, war aber zwiſchen der 1. und 2. Armee eine Lüde von etwa 50 km Breite entſtanden. Und dieſe Lüde ſollte noch eine große Rolle fpielen und ſchließlich der Anlaß zum Abbruch der Marneſchlacht werden.

Inzwiſchen hatte die O. H. L. am 5. September neue Anweiſungen ausgegeben, in denen der letzte Reft des Schlieffen planes fallen gelaſſen wurde; an deſſen Stelle trat ein ziemlich unklarer und verworrener neuer operativer Gedanke, der ſich ſehr bald als von den Exeigniſſen überholt und völlig undurchführbar erwies. Die Armeen waren daher in der nun am 6. Sep- tember auf der ganzen Front von Paris bis Verdun entbrennenden Marneſchlacht wieder ohne Führung und auf ſich allein angewieſen. Von zündenden Worten Zoffres angefeuert, waren die Franzoſen zum Angriff vorgegangen, während für die deutſchen braven Truppen, die bisher ſchier Übermenfchliches geleiſtet hatten, Moltke kein aufmunterndes Wort fand. Anſtatt an den Itennpunkt der Ereigniffe vorzueilen, ſaß er von trüben Ahnungen erfüllt in Luxemburg und dachte ſchon an Rückzug. Dem Raifer war dies nicht entgangen, und er gab ihm am 7. September den ebenſo klaren wie beſtimmten Befehl: „Angreifen, ſolange es geht unter keinen Umftänden einen Schritt zurück!“ Gerüchte, die dem Raifer die Schuld am Rückzug von der Marne zuſchi eben möchten, find tendenzidfe Lügen. Wie es am rechten Flügel ſtand, davon hatte man weit hinten in Luxemburg noch immer keine Ahnung, und ſo entſchloß man ſich endlich am 8, September, den N. Sächſ. Oberſtleutnant im Generalſtab Hentſch zu den Armeen zu ent- ſenden, um Aarheit zu gewinnen. Dieſe Sendung Hentſch ſollte von ſchickſalsſchwerer Be- deutung werden; ſie iſt darum beſonders eingehend behandelt. Manche Fragen werden hierbei freilich niemals geklärt werden können, da Hentſch und Moltke tot find. Hentſch erhielt den Auf- trag, einen Rückzug der Armeen des rechten Flügels nach Moglichkeit zu verhindern, wenn er aber bereits eingeleitet fein follte, ihn in Abereinſtimmung zu bringen und insbeſondere für die

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124 Marneſchlacht und Canmenderg

Schließung der bedrohlichen Lüde zwiſchen 1. und 2. Armee Sorge zu tragen. Hentfh war nun von der fixen Zdee beſeſſen, daß die bisherige Operation mi ßlungen fei und daß die Armeen infolgedeſſen erſt vom Feinde „abgeſetzt“ werden müßten, um ſich zu neuer Operation zu grup- pieren. Diefer Gedanke entbehrte nicht einer gewiſſen Berechtigung bis zum 4. September, ſolange man nicht in unmittelbarer Berührung mit dem Feinde ſtand; nachdem aber die Schlacht voll entbrannt war, war er undurchführbar geworden. Zm Banne diefer fixen Idee bearbeitete Hentſch den ohnedies gleichfalls von peſſimiſtiſchen Anwandlungen befallenen Generaloberſt v. Bülow fo lange, bis dieſer endlich, wenn auch widerſtrebend, in den Rückzug einwilligte, zumal er über die Derhdltniffe bei der 1. Armee und deren Abſichten unbegreiflicher Weile gar nicht unterrichtet war und wegen der Lüde die Verhältniffe ſowohl für feinen rechten Flügel als auch für die 1. Armee für aͤußerſt bedrohlich hielt. Ich habe bisher den Generaloberſt v. Bülow für den Hauptſchuldigen am Marnerüdzug gehalten; dieſe Meinung kann nach der Darſtellung des amtlichen Werks nicht mehr aufrecht erhalten werden. Hiernach erſcheint Hentſch in höherem Maße belaſtet. Am 9. mittags bei der 1. Armee angelangt, fand Hentſch zu feinem nicht geringen Erſtaunen dort eine dugerft günftige Lage vor. Die Armee war eben im Begriff, einen vollen Sieg über Maunoury davonzutragen, und lehnte jeden Gedanken an Rüdzug energiſch ab, fo daß ihr Hentſch, der von ſeiner Auffaſſung nicht abging, zumal er wußte, daß die 2. Armee nun zurückgehen würde, den Rückzug im Namen der O. H. L. „befehlen“ mußte! Kluck blieb gar nichts anderes übrig, als, wenn auch zähneknirſchend, zu gehorchen, zumal Hentſch die Lage bei der 2. Armee unrichtiger Weiſe in den düſterſten Farben geſchildert hatte. Sie fei nur noch „Schlacke“. So wurde denn das weltgeſchichtliche Ringen an Ourcq und Marne am 9. mittags, gerade in dem Augenblick abgebrochen, als ſowohl der rechte Flügel Ruds als auch der linke Flügel Bülows mit den Sachſen Hauſens den ſicheren Sieg in Händen hatten!

Im Gegenſatz zur Anſicht des amtlichen Werkes und der meiſten Fachkritiken vertritt General v. Moſer die Auffaſſung, daß trotz der errungenen Teilſiege der Rüdzug der Oeutſchen ſchließlich doch unvermeidlich geweſen wäre, und weiß gute Gründe hierfür anzuführen. General v. Borries tritt in Nr. 34 der Zeitſchrift „Oeutſcher Offz.-Bund“ (Oob-Verlag, Berlin) dieſer Auffaffung entgegen, und ich möchte mich dem anſchließen.

Oer von den Oeutſchen widerwillig, aber in größter Ordnung eingeleitete und durchgeführte

Kückzug kam den Frangofen und Engländern fo unerwartet, daß fie ſich erft am 10. bewußt

wurden, daß ihnen der Sieg in den Schoß gefallen war, den fie mit Recht das „Marnewunder“ hei ßen. Wenn man zurüdblidend fragt, wer denn eigentlich die Schuld an dem Marneunglüd trägt, fo kommen hierfür ſowohl einzelne Perſöͤnlichkeiten als auch das ganze Syſtem Woltkeſcher Kriegführung in Frage. An Perſönlichkeiten in erſter Linie Moltke mit feinem engeren Stab, der ihm nicht die Unterftügung hat zuteil werden laſſen, auf die dieſer peſſimiſtiſch angehauchte, energie- und entſchlußloſe Mann wohl Anſpruch erheben durfte, dann in zweiter Linie Hentſch und Bülow. Moltke II war ſich trotz ſeiner menſchlichen Beſcheidenheit ſeiner Unzulänglichkeit nicht voll bewußt und liebte es, einen gewiſſen Gegenſatz zu feinem genialen Vorgänger Schlieffen berauszukehren, worüber fein Briefwechſel lehrreiche Auffchlüffe gibt. Es iſt auch eine Legende, daß er den ihm angetragenen Poſten eines Chefs des Generalſtabes anfänglich ausgeſchlagen habe.

Oer einzige hell ſtrahlende Lichtblick beim Studium des Marnefeldzugs ift die un vergleich liche Leiſtung der braven Truppe, die ſchier Übermenfdliches geleiſtet und über jede Lob erhaben war. Die Tatenfreudigkeit, ber Opfermut und die Tapferkeit dieſer braven Truppe waren fo groß, daß fie trotz fehlender Oberleitung von Sieg zu Sieg eilte und auch trotz allet Mängel der oberſten Führung in der Marneſchlacht den Sieg an ihre Fahnen heftete, der ſich weitreichend auswirken konnte, hätte nicht die im ungeeignetſten Moment aus ihrer Paffivitäl erwachende O. H. L. die Armeen aus ihrem Siegeslauf zurüuͤckgeriſſen.

Aarneſchlacht und Eannenderg 125

Eine äußerft wertvolle Ergänzung des amtlichen Kriegswerks bildet das kürzlich erſchienene Buch „Das Teſtament des Grafen Schlieffen“, operative Studien über den Weltkrieg von Generalleutnant a. D. Wilhelm Groener (Mittler & Sohn, Berlin 1927, 244 S. Geh. 12 4, geb. 15 4). Meine Einftellung zu General Groener iſt aus früheren Auffägen bekannt. die Gerechtigkeit gebietet mir aber, zu bekennen, daß hier ein in jeder Hinſicht hochbedeutendes Werk vorliegt, und ich ſtehe nicht an, zu erklären, daß es vielleicht das beſte iſt, was wir an Rriegs- literatur neben dem amtlichen Werk bis jetzt beſitzen. Insbeſondere wer ſich über den Schlieffen- plan und die Gedankenwelt dieſes genialen Strategen näher unterrichten will, dem fei dieſes Verk aufs angelegentlichſte empfohlen. Die Oarftellung iſt äußerft klar, lichtvoll und auch für den Nichtfachmann anregend und leicht verſtändlich. Beſonders wohltuend berührt die warme Ver- ehrung, die der Verfaſſer dem Grafen Schlieffen entgegenbringt. Aus den Ausführungen Groeners entnehmen wir, wie Schlieffen mit Sehergabe alles gleichſam vorausgeahnt hat, auch unſere Fehler und unfer Unheil, und welches Erbe an Weisheit er uns in feiner Oenkſchrift vom Jahre 1905 kurz vor feinem erzwungenen Abgang als Vermächtnis hinterlaſſen hat. Dieſes Teſtament eines Geiſtesrieſen, den ich in feiner Größe einem Bismarck gleichſtellen möchte, blieb unbeachtet im Schreibtiſch Moltkes liegen und iſt im Generalſtab kaum bekannt geworden. die Furcht vor dem Durchbruch, die 1914 an der Marne zu falſchen Maßnahmen geführt hat, kannte Graf Schlieffen nicht, da er ſich bewußt war, daß der Durchbrechende in Flanke und Rüden mehr gefährdet iſt, als der Durchbrochene, wenn dieſer nur auf dem Flügel noch ſtark genug iſt, um den Durchbrechenden von außen anzugreifen. Dies war aber in der Marneſchlacht der Fall, und wir dürfen daher wohl annehmen, daß die in der Lücke ohnedies nur zögernd, langſam und uͤberängſtlich vorrückenden Engländer ſchleunigſt wieder umgekehrt wären, ſobald fie von den Siegen über Maunoury und Foch erfahren hätten. General Groener legt feiner Studie bie Kräfte zugrunde, die Graf Schlieffen bei Ausarbeitung feines Planes vorgeſehen hatte. Hieſe Kräfte waren 1914 tatſächlich aber nicht vorhanden, da wir es in Verkennung unferer politiſchen Lage und der uns von allen Seiten drohenden Gefahren in fträfliher Weife verab- fäumt hatten, unſere Vehrkraft entſprechend anzuſpannen. Die Schuld, daß dies nicht geſchah, trifft in gleicher Weife Volksvertretung, RNeichsſchatzamt und preußiſches Kriegsminiſterium. goͤhn end rechnet uns General Buat vor, daß wir mit 600000 Mann mehr ins Feld hätten ziehen können. Wäre auch nur die Hälfte hiervon an der Marne zur Stelle geweſen, fo war an einem glatten Sieg der Deutſchen trotz ſchlechteſter Führung gar nicht zu zweifeln.

Die Beſchäftigung mit Perſönlichkeiten wie Graf Schlieffen, der der geborene Führer war, bietet einen ganz beſonderen Reiz. Sie iſt uns Troſt und Erhebung; dem Beiſpiel folder Männer nachzueifern, an ihnen zu lernen und ſich aufzurichten, tut unſerem Volke not. Es iſt daher er- freulich, daß die von mir ſchon früher (Zürmer, Juli 1923) warm empfohlene Biographie „Schlieffen“ von Hugo Rods (Voſſiſche Buchhandlung, Berlin 1926, 124 S. Geb. 5 K, geb. 6.50 0) kürzlich in neuer Auflage (3. und 4.) erſchienen iſt. Auf das vortreffliche Büchlein, das ein wohlgetroffenes Lebens- und Charakterbild des großen Mannes und eine volks tuͤmliche Darſtellung feines Operationsplanes bietet, fei biermit erneut empfehlend hingewieſen.

Mit der Perſönlichkeit und Armeeführung des Generalfeldmarſchalls v. Bülow, dem be- kanntlich im Frieden ein großer Ruf voranging und zu dem Moltke beſonders Vertrauen hatte, beſchäftigt ſich ein Buch betitelt: „Die Kriſis in der Marneſchlacht“ von Oberſtleutnant Eugen Bircher (Verlag Ernſt Bircher A.-G., Bern und Leipzig 1927, 304 S. Geh. 4.80 0), dem die Militärliteratur ſchon mehrere wertvolle Bücher verdankt, denen ſich das vorliegende Bert würdig anſchließt. Es unterzieht die Führung der 2. und 3, deutſchen Armee in der Marne; ſchlacht einer eingehenden Würdigung und gelangt bezüglich der Armeeführung Bülows zu einem geradezu vernichtenden Urteil. Nach Bircher liegen die erſten Keime zum Mißerfolg an der Marne nicht zum geringſten Teil, abgeſehen von der ſchlechten oberſten Führung, auch in der ſchier unbegreiflichen, unzulänglichen Armeeführung Bülows, der nichts tat, um die ihm

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fo gefährlich dun kende Lüde zu ſchließen, obwohl im 7. Armeekorps und den beiden Rav.-Rorps Krafte hierfür verfügbar waren. Auch gegen den Generalftab der 2. Armee werden ſchwere Dorwürfe erhoben, denen leider nicht widerſprochen werden kann. Das Buch enthält eine eingehende Schilderung des Schlachtverlaufs und die meiſten Befehle im Wortlaut. Wer biefür kein Intereſſe hat, mag dieſe Seiten ruhig überfchlagen und ſich mit den geiſtreichen und treffen · den Schlußfolgerungen des Verfaſſers begnügen. Dr. Bircher iſt Schweizer und gewiſſermaßen ein Phänomen, denn er ift ein vielbeſchäftigter Arzt, namhafter Chirurg, Vorſtand eines großen Kran ken hauſes, außerdem aber noch Kommandant des 24. Inf.-Regts., war jahrelang im Schweizer Generalſtab in verantwortungsvollften Stellungen und findet dabei noch Muße, ſich mit eingehenden kriegsgeſchichtlichen Studien zu befaſſen. Wir erfahren von feinem ärzt- lichen Stand punkt aus, daß Moltke ein ſchwer herzkran ker Mann war, der ſchon allein auf Grund dieſes Leidens für ſein Amt untauglich war. Bülow hatte Arterien verkalkung und war dadurch in feiner Leiſtungsfähigkeit und Entſchlußkraft entſcheidend gehemmt; Lauenſtein, Bülows Generalſtabschef, litt an Baſedowſcher Krankheit, einer Krankheit, die das Nervenſyſtem derart angreift, daß ſie nach Bircher zur Truppenführung völlig ungeeignet macht. Hentſch, ein kluger, hochbegabter und gebildeter Mann, war an Gallen blaſen entzündung erkrankt, ein Leiden, das außerordentlich heftig auf den Gemütszuftand einzuwirken vermag und die peſſimiſtiſche Grund- ſtimmung dieſes Offiziers und deſſen zahlreiche ſchweren Fehlgriffe während ſeiner Sendung erklärt. Und endlich General Stein, der als Generalquartiermeifter Moltke beigegeben war, im Frieden viel galt und ihm eine Stütze hätte fein ſollen, war ein herzkranker Mann, dadurch den Aufregungen und Anſtrengungen des Krieges nicht mehr voll gewachſen, dazu durch ange ſtrengteſte Generalftabstdtigteit im Frieden zermürbt und verbraucht, fo daß auch er in jenen entſcheidenden Tagen völlig verſagte. Von den führenden Männern geſund war alſo eigentlich nur der Chef der Operationsabteilung, Tappen, der eine große Arbeitskraft und eiſerne Nerven beſaß, womit feine guten Eigenſchaften aber fo ziemlich erſchöͤpft fein dürften. Wie er mit diefer Stelle, für die der Beſte gerade gut genug war, betraut werden konnte, iſt un verſtändlich, wie fo manches andere in jenen Zeiten. Bircher ſchließt feine ebenſo eingehenden, wie feſſelnden Unter- ſuchungen auf dieſem Gebiet mit den Worten: „Venn ſolche durch körperliche und ſeeliſche Leiden geiſtig gebundene Menſchen zu Fehlern und Mi ßgriffen in der Heerführung neigen, fo kann Kritik und Geſchichte ihnen die Verantwortung für die Folgen nicht aufbinden, ſondern es trifft dieſe in vollem Ausmaße diejenigen, die fie in dieſe Stellungen unbeſehen kommen ließen, im Marne fall das Militärkabinett“. Dem kann man wohl zuſtimmen.

Mit dem Marnefeldzug und den Urſachen unſeres Verſagens beſchäftigt ſich auch General Lein veber, ein in der Militärliteratur bisher noch nicht bekannter Name, den man ſich aber wird merken müffen. In feinem ausgezeichneten Werk „Mit Clauſewitz durch die Ratfel, Irrungen und Wirrungen des Weltkriegs“ (B. Behrs Verlag, Friedrich Fedderſen, Berlin · Steglitz 1926, 236 S. Geb. 4 K, geb. 5 4) wird das Problem von einer anderen Seite aus, der philoſophiſchen, angepackt. Das Buch bietet weniger und mehr als der Titel verſpricht, weniger indem nur die Ereigniſſe im Weſten bis zur Marneſchlacht einer kritiſchen Beleuchtung unterzogen werden, mehr indem der tief ſchürfende, ungemein beleſene Verfaſſer ſich nicht nur darauf beſchränkt, an der Hand von Chauſewitz den Dingen nachzugehen, ſondern auch aus Eigenem recht viel dazu zu ſagen weiß. Man wird der Fortſetzung des bedeutſamen Werkes mit Spannung entgegenſehen dürfen. Der Verfaſſer will beweiſen, daß wir vor dem Krieg die Lehren unfres großen Kriegsphiloſopben Clauſewitz nicht verftanden und im Krieg nicht befolgt haben. Diefer Grundgedanke wird unter Anführung zahlreicher Zitate aus Clauſewitz klar und in geiſtreicher Weiſe durchgeführt. General Lein veber ſieht die Urſachen unſeres Verſagens nicht fo ſehr bei den einzelnen Perſonen, als im ganzen Geiftder Zeit, womit er in gewiſſem Sinne ſicher recht hat. Aus Mangel an geiſtigen Kräften, an denen wir im Oeutſchland der Vor⸗ kriegszeit fo arm waren, haben wir den Krieg verloren, und auf diefe Wunde den Finger gelegt

Marne ſchlacht und Tannenderg 127

zu haben, möchte ich dem Verfaſſer zum beſonderen Verdienſt anrechnen. Jh mochte hiebei allerdings nicht einmal fo weit zurückgreifen wie General Lein veber, glaube vielmehr daß es genügt hätte, wenn wir uns nur die Lehren des alten Moltke und das Vermächtnis Schlieffens, die ja beide auf Clauſewitz fußen, ſo recht innerlich zu eigen gemacht hätten. Der Aufmarſch 1914 und der Marnefeldzug find kein Ruhmesblatt für den preußiſchen Generalſtab; nicht nur bei der O. 9. L., ſondern auch bei den Armeeoberkommandos find ſchwere Verſtöße vorge- kommen. Fragt man fich, wie es kam, daß der Generalſtab in einzelnen Perſönlichkeiten in diefer Weiſe verſagt hat, fo bietet das vorliegende Werk hiefür gewiſſe Anhaltspunkte. Auch der General- ſtab war ein Rind feiner Zeit, und der Geiſt der Zeit war im Zeitalter des kraſſen Materialismus und der dadurch bedingten Entgeiſtigung auch an ihm nicht ſpurlos voruüͤbergegangen. Zur Ent- ſchuldigung des Generalftabs möchte ich aber anführen, daß dieſer im Frieden mit Arbeiten und Aein kram aller Art vielfach derart überlaftet war, daß ihm die nötige Muße und nach ange ſtrengteſter Tages- und auch Nachtarbeit vielfach auch die nötige geiſtige Spannkraft fehlten, um ſich in kriegs philoſophiſche Probleme zu vertiefen. Auch eine Folge unſeres gänzlich verkehrten Sparſamkeitsprinzips. Schreibt doch ſchon Dr. Brabant in feiner anziehenden Lebensbe- ſchreibung des Generaloberſten von Haufen, des Führers der 3. Armee, der vielfach zu Un- recht angefeindet und als Sündenbock für den Verluſt der Marneſchlacht hingeſtellt worden iſt, daß deſſen Nerven als Ia (erſter Generalſtabsoffizier) beim Generalkommando einen Stoß be- kamen, der lebenslang wirkte. Und ſo iſt es auch manchem andern, der ſich im Weltkrieg in hoher Fübrer- oder Generalſtabsſtellung befand, ergangen, und manches Verſagen mag hierin eine gewiſſe Entſchuldigung finden.

Das Erſcheinen des amtlichen Rriegswerts über den Marne-Feldzug, das nach meinem Ge- fühl Moltke zugunſten ſeines unfähigen Generalſtabes vielleicht etwas zu ſehr belaſtet, hat die ganze Tragik dieſes Kriegsabſchnitts von neuem enthüllt und zahlreiche militäriſche Federn in Bewegung geſetzt. Zu den beiten Abhandlungen hierüber gehört „Der Marnefeldzug 1914“ von Kronprinz Wilhelm (Oob-Verlag, Berlin 1926, 96 S. Geh. 2 4). Wer keine Zeit hat, um die obengenannten, umfangreicheren Werke zu leſen, möge getroſt zu dieſem Büchlein greifen, das ihn über die Hauptgeſchehniſſe in genügender Weiſe gut unterrichten wird. Die vom Kronprinzen an den Führerentſchlüͤſſen geübte Kritik iſt maßvoll, klar und treffend und läßt ein gutes Urteil über militäriſche Dinge erkennen.

Nach dieſen wenig erfreulichen Betrachtungen, zu denen Marnefeldzug und Marneſchlacht ſo reichlich Veranlaſſung geben, iſt es eine wahre Freude, ſich den Operationen zuzuwenden, die etwa um die gleiche Zeit im Oſten unter der Führung unſeres Hindenburg ſtattgefunden und ihre Krönung in der Schlacht von Tannenberg vom 25.0. Auguſt gefunden haben. Tannenberg iſt die einzige Schlacht im Weltkrieg, die ganz im Geiſte Schlieffens geſchlagen wurde. Das amtliche Rriegswert des Reichs archi vs hierüber iſt bereits vor zwei Jahren erſchienen und von mir im Februarheft des Türmers 1926 beſprochen worden. Wenn ich nochmals darauf zurüdlomme, fo geſchieht es, weil General Hoffmann, der als Ia des Oberkommandos an der geiſtigen Leitung der Schlacht in hervorragendem Maße beteiligt war, unter dem Titel „Tannenberg wie es wirklich war“ (Verlag für Kulturpolitik, Berlin 1926, 94 S.) eine kleine Schrift herausgegeben hat, die immerhin Beachtung verdient. General Hoffmann will vor allem mit verſchiedenen Legenden und Märchen aufräumen, die ſich an den Namen Lannen- berg tniipfen, als ob die Schlacht nach im voraus genau feſtgelegtem Plane geſchlagen worden fei, und den Nachweis führen, daß die Vorbereitung und Bereitſtellung zur Schlacht bereits vom Oberkommando Prittwitz getroffen worden ſeien, ſo daß Ludendorff nach Eintreffen eigentlich nur noch „Ohne Tritt marſch“ habe zu befehlen brauchen. Dieſer Auffaſſung wird von Oberft- leutnant und Oberarchivrat v. Schaefer in Nr. 17 des „Oeutſchen Offz. Bunds“ 1926 (Dob- Verlag Berlin) ſcharf entgegengetreten, und es werden dem General Hoffmann verſchiedene Irrtümer nachgewieſen. Die Schlacht von Tannenberg hat ſich nicht jo glatt und einfach abge-

128 Das Entwidlungsgefeg in ber Gyrache

fpielt, wie man in Laientreifen vielfach glaubt; es gab aud dort zahlreiche Irrungen und Wirrungen, Mißverſtändniſſe und Reibungen, die aber ſchließlich überwunden wurden, weil eine kraftvolle, zielbewußte Fuͤhrung da war, die wußte, was fie wollte. Die auch von Hoffmann an- geſchnittene Frage: Wer war der Sieger von Tannenberg? kann nur beantwortet werden mit: Hindenburg. Oas ſchließt nicht aus, daß auch noch andere Männer Anteil haben an dem Ber dienſte dieſes Sieges: Ludendorff, Hoffmann, General v. Francois, General v. Morgen u. a. m., jeder innerhalb ſeines Wirkungskreiſes.

Daß uns auch im Weſten ſolche Generale nicht gefehlt haben, beweiſt das Verhalten der Generale v. Auck, v. Gronau, v. Quaft und von Zwehl während der Marnefchlacht. Daß aba andrerfeits unſre oberſte Führung und auch andere Führer während des Marnefeldzugs in beklagenswerter Weife verfagt haben, kann wohl nicht mehr beſtritten werden. Es iſt betrüblich, feſtſtellen zu müffen, daß auf der Gegenſeite die franzöſiſchen Generale, Joffre, Salli ni, Garrail, Dubois und vor allem Zoch pſychologiſch brillant durchgehalten haben. Ihre Strategie war js nicht weit her, aber ihr Optimismus, der fie auch in den ſchwerſten Bedrängniſſen keinen Augen- blick verlaſſen hat, ihr unverwüͤſtlicher Wille zum Siege, ihre Aktivität waren bewundernswet und haben ihnen ſchließlich den Erfolg gebracht. Sie haben die Nerven eine Viertelſtunde lange behalten als wir. Genau ſo war es dann nochmals 1918.

Man mag hieraus erſehen, wie wichtig die richtige Ausleſe der Führer im Kriege iſt. Die Frage ob es in dieſer Hinſicht in der Republik beſſer beſtellt fein wird als unter dem „verruchten alten an wird erſt die Zukunft beantworten. Mancher wird es vielleicht bezweifeln.

Franz Freiherr von Berchem

Das Entwicklungsgeſetz in der Sprache

Deer in feiner „Entſtehung der Arten“, wird nicht müde, immer wieder eindringſich hervorzuheben, welch ungeheure Verſchiedenheiten der organiſchen Weſen durch langjame, ſtufenweiſe Veränderungen hervorgebracht werden, wie nur unſer Geiſt nicht die ganze Größk der Wirkung auf einmal zuſammenrechnen und begreifen kann: „Die Haupturſache, weshalb wir von Natur nicht geneigt ſind zuzugeſtehen, daß eine Art eine andere verſchiedene Art erzeugt haben könne, liegt darin, daß wir immer behutſam in der Zulaſſung einer großen Veränderung ſind, deren Mittelſtufen wir nicht kennen.“

Dieſe Wahrheit, die ſchon Goethe intuitiv erkannt und u. a. in der „Metamorphoſe der Pflen- zen“ zu vollendetem dichteriſchen Ausdrucke gebracht hat, gilt auch für das Reich der Sprache mit ihrem gleichfalls unermeßlichen, vielgeſtaltigen Formenreichtume. Wie dort die Mannig faltigkeit der Tier- und Pflanzenformen auf eine einfache Einheit infolge unendlicher Variation, auf Grund einer reichen Tatſachenfülle von dem engliſchen Naturforſcher zurückgeführt und fe dieſes „Wunder“, das heute als fertige Tatſache vor uns ſteht, in ſeiner Entſtehung und Ent wicklung begreiflich gemacht wird, ſo kann auch der das Auge zunächſt verwirrende Reichtum der Sprachformen nur nach dieſem die Natur beherrſchenden Geſetze der Variation begriffen werden, obwohl wir heutigen Kulturmenſchen als Träger der Sprache umgekehrt gewohnt ſind, Sprachformen, die wir als überkommenes Gut tagtäglich im Munde führen, als etwas Fertiges, Feſtgeprägtes anzuſehen.

Woher ſind ſie denn letzten Endes, dieſe zahlloſen Sprachgebilde, in die wir von n Kindesbeinen an unſere Wünſche, Empfindungen und Gedanken kleiden? Wie kam der Menſch dazu, mit dieſem Lautbilde gerade dieſe Vorſtellung, mit jenem jene andern dauernd zu verknüpfen? Oieſe höchſte Frage aller Sprachwiſſenſchaft, die ſchon vor mehr als zweitauſend Jahren der größte Denker des Altertums, Plato, in einem beſonderen Dialoge Kratylos auf rein fpetulativem Wege zu löfen ſucht, gewinnt ihre Beleuchtung im Lichte dreier großer Grundgeſetze, nach denen

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Tafel aus dem Ehrenmal der Dreikönigsschule, Dresden Hanns Hanner

des Entwidlungegefes in der Sprache 129

jener ſprachliche Urbeſtandteil, den man ſchlechthin als Sprach wurzel bezeichnet, aus ſich dle Vielheit der Formen hervorgebracht hat. Den in feiner äußeren Wirkung überraſchen dſten Ein- druck übt auf uns das Geſetz der Lautumlagerung aus, das Beiſpiele veranſchaulichen mögen wie B.d-e und Kitz e oder Zieg-e und Geiß, das hochdeutſche Topf und das niederdeutſche Pot, die Form, in der es auch die franzöͤſiſche Sprache als le pot übernommen hat, fern er laſch und ſchal, Kahn und Nach- en, unſer taufd-en und das Fritz Reuterſche Schut- eri (Tauſch) mit fchut- ern, unſer tig-eln gegenüber dem engliſchen tick-le, unfer Rab-eliau gegenüber dem holländiſchen bak-eljauw, unſer Laub und das lateiniſche fol- ium wie unſer lieb; en und das griechiſche phil-ein (in Phil-anthrop erhalten), unſer Form, das lateiniſche form-a und anderſeits das griechiſche morf-e (Geſtalt) uſw. Noch durchgre. fender hat das Geſetz des Lautwechſels im Leben der Sprache gewirkt, indem die Selbſtlauter wie in Gitt-er und Gatt- er, zwid-en und zwad-en, Hahn und Huhn, matt und müd-e, Blatt und Blit-e, ftarr, ſtier und dem Reuterſchen ſturr ebenfo gewechselt haben wie die Mitlauter in ſchein- en, ſchimm-⸗ ern, ſchill- ern, in unſerem Sonn- e und dem lateiniſchen sol, unſerem Wald und dem lateiniſchen salt us, unſerem Vorwort mit gegen über dem engliſchen with, unſerem naß gegenüber dem ſchwediſchen vat, dem engliſchen wet. Wie hier auch noch der Selbſtlauter wechſelt, fo iſt es auch bei unſerem dunk-el gegenüber dem engliſchen dark oder bei unſeren Zeitwörtern brennen: brat- en: brod-eln: brau- en: brüt-en. Benn wir nun unſer ſprech-en im Eggliſchen als speak, unſer Buſch als engliſch brush oder bas engliſche aunt als franzöſiſch tant-e (Tante) wie unſer achtzig als holländiſch tachtig, das lateiniſche em- ere als unſer nehm- en vor uns feben, fo iſt hier ein drittes großes Grundgeſetz der Sprache, das Geſetz des Lautzuwachſes, wirkſam geweſen. Schwieriger wird die Er- kenntnis des Zuſammenhanges, ſobald auch noch das Lautumlagerungsgeſetz gleichzeitig um- geſtaltend gewirkt hat wie in unſerem löf-en und dem lateiniſchen solv-ere, dem litauiſchen lap-e (Fuchs) und dem lateiniſchen vulp-es, unſerem deutſchen Wolf, oder unſerem wende, dem lateiniſchen vert o und dem griechiſchen trep-o, in deren Bund auch unfer dreh-e (das angel ſächſiſche thraw- an) und in wieder anderer Geſtalt das ſchweizeriſche trüll-e (drehe) nebſt Orall gehören. Wir ſehen hier ſchon, wie die Fäden, die zunächſt nebeneinander herliefen, unter der gleichzeitigen Wirkung jener drei Grundgeſetze der Sprache ſich wie in einem kunſtvollen Gewebe derſchlingen, wo jede Einzelerſcheinung in einen größeren organiſchen Zuſammenhang tritt.

Im Lichte dieſes Entwicklungsgeſetzes, unter dem man alle drei Variationsgeſetze zu- ſammen faſſen kann, finden fic zu einer natürlichen Verbindung die Sprachformen zuſammen, die heute ſich äußerlich oft gar nicht mehr ähnlich ſehen und doch ihrem inn erſten Weſen nach Rammverwandt find. So gehen nicht nur das lateiniſche spec- io, unfer ſpäh-e und die um- gelagerten griechiſchen Zeitwörter akep-tomai (erhalten in Skepſis) und skop- eo (erhalten in Mikroſkop) auf einen Urſprung zurück, ſondern auch unſere deutſchen feb-en und ſchau- en, das gotiſche saihw-an und das althochdeutſche akouw-an, bei denen zu der Umlagerung noch der Konſon anten wechſel p: w hinzukam wie oben in dem Verhältnis von trep-o: vert · o (wende) oder don unſerem wüjt und dem pust- as (wüft) der litauiſchen Sprache. Derſelbe Lautwechſel tritt uns in der ſprachlichen Oreiheit zer- ſchell- en, zer- ſpell- en und dem ze-swell-en der mittelhoch- deutſchen Zeit entgegen, durch Lautzuwachs treten in dieſe Reihe ſpalt- en und mit gleichzeitiger Umlagerung ſplitt- ern nebft dem noch lautreicheren engliſchen splint- er (Splitt- er) ſowie die oberdeutſchen Formarten ſpleiß- en und fpreiß-en mit Spreiß (Splitter), anderſeits ſchleiß- en, das ſchriftdeutſch noch in ver- ſchleißen weiterlebt, mit der bayriſchen Variation ſchreiß; en, und endlich auch ſchlitz- en, fo daß unſere ſchriftdeutſchen Spalt und Schlitz nach Bedeutung und Her- kunft eins ſind.

Welche Fülle der verſchiedenartigſten Formen derſelbe Wurzelkern durch Variation je nach der Entwicklung in den einzelnen Sprachgenoſſenſchaften hervorzubringen vermag, zeige für un- zaͤblige Beiſpiele die Wurzel unferes Wortes lin-k, in dem der Auslaut k ſchon durch Zuwachs

angetreten iſt wie in dunk- el gegenüber dem engliſchen dun, in Funk- e gegenüber dem gotiſchen det Zümer XXX, 2 9

150 Das Entwidlungagefes in ber Eptache

fun- ins (des Feuers): neben ling ſteht das althochdeutſche win-istar, das noch in mittelhod- deutſcher Zeit als win- ster die VBorherrſchaft vor link hat, und zwar mit demſelben Lautwechſel wel wie in lateiniſch vibrare und librare (ſchwingen) oder Ge- wuͤrme und bayriſch Ge Arme; und genau fo, wie unſerem Wald das lateiniſche salt- us entſpricht, fo jenem win-istar das lateiniſche sin- ister, das im engliſchen sinister fortlebt, und dem ſich das altindiſche sav-yas anreiht mit jenem Lautwechſel n:w wie oben in nat: ſchwediſch vat und wie in unſerem lin; und dem lateiniſchen laev- us; anderſeits tritt mit Lautzuwachs an die Seite von sav-yas das lateiniſche scaev-us (unſterblich geworden durch Mucius Stäpola) mit dem griechiſchen akai(v)-os, dem wieder das litauiſche kair-e (die Linke) ohne anlautendes s wie in dem Neben ein ander von litauiſch tyl- us (ſtill) und unſerem ſtill naheſteht, und dieſes kair-e leitet uns unmittelbar zu dem vair- yastara (links) der heiligen Bücher des Aveſta hinüber, das ſich einerſeits mit dem ſprachlich eng verwandten vam- as (links) der alten Inder, anderſeits dem deutſchen win - istar berͤhrt, fo daß hier der Ning ſich gleichſam wieder ſchließt.

Ein eigenartiger Zufall hat es gefügt, daß wir dieſe reiche Formenabwandlung, wie ſie in vorgeſchichtlicher Zeit ſich abgeſpielt und zu den über die verſchiedenen indogermaniſchen Spra⸗ chen ausgegoſſenen Formarten geführt hat, noch einmal bei unferem link auf deutſchem Sprach- boden im Lichte der geſchichtlichen Entwicklung vor unſeren Augen ſich abſpielen ſehen, und das iſt zugleich die beſte Beſtätigung für die Richtigkeit unſerer Anſchauungen: das ſchriftdeutſch ge wordene link erſcheint im Bayriſchen als tent und lerk (vgl. oben dunk-el und engliſch dark), auch als lerz, und mit Lautzuwachs im Anlaut finden wir im 15. Jahrhundert die oberdeutſche Formart glint und noch heute bie rheiniſche Form flink.

Es iſt ja auch ganz natürlich, daß dieſelben Kräfte, die in der geſchichtlichen Entwicklung der Sprachformen beſtimmend ſind, auch von Anbeginn bei ihrer Entſtehung wirkſam geweſen ſind. Gar zu gern hat man immer wieder die unbeſtimmte Vorſtellung von einen geheimnisvollen Urzuſtan de der Sprache gepflegt, deſſen Schleier nie zu lüften fei und der nun der Ausgangspunkt aller Entwicklung fein ſoll. Der Sprachwiſſenſchaft iſt es damit ergangen wie vor hundert Jahren der geologiſchen Wiſſenſchaft, die zuerſt auch ganz wunderbare Kräfte z. B. für die Entſtehung der Gebirgs- und Talbildung annehmen zu müffen glaubte, bis Charles Lyell die neuzeitlichen Veränderungen der Erdoberfläche als Erklärungsprinzip auch für die Umgeſtaltungen in ber Vorzeit in ſeinem grundlegenden Werke „The modern changes of the earth as illustrative of geology“ nachwies. Und für die Entſtehung und Entwicklung der Tier- und Pflanzen formen hat ja Darwin ſelbſt mit demſelben einfachen und großen Gedanken Ernſt gemacht und in feine Lehre von der natürlichen Zuchtwahl den Glauben an große plötzliche Veränderungen in dem Bau organiſcher Weſen für immer verbannt.

Auch in der Sprache haben ſich ftufenweife aus den einfachſten Anfängen die mannig- faltigſten Gebilde entwickelt; und zu der Erkenntnis der tieferen Sprachzuſammen hänge können wir nur ſchrittweiſe gelangen, indem wir von den laut- und bedeutungsgleichen Sprachgebilden über alle Grade der Ahnlichkeit hinweg zu den äußerlich verſchiedenſten vordringen und fo die Einheit ihres Weſens ſogar noch an den duferften Endpunkten begreifen lernen. Für meine Be hauptung, daß z. B. unſere Zeitwörter hören und lauſchen aus einer ſprachlichen Quelle fließen, kann ich zunächſt keinen Glauben beanſpruchen, bis ich dann die vermittelnden Zwiſchenglieder aufweiſe, wie ſich ſtufenweiſe der Wurzelkern unferes Wortes Ohr, des gotiſchen aus- o durch Zuwachs zu hör- en, dem gotiſchen haus - jan entwickelt hat, wobei das anlautende h aus k infolge der germaniſchen Lautverſchiebung wie in Horn gegenüber lateiniſch corn - u entſtanden iſt, wie fid dann durch weiteren Lautzuwachs das litauiſche klaus-yti, das althochdeutſche hlos-en (hören) ſich gebildet hat, das noch heute im Munde des Schwarzwälders oder Schweizers als loſen weiterlebt, und wie endlich durch abermaligen Lautzuwachs das altengliſche hlyst-an, das heutige to list en und unſer lauſch- en entſtanden find. Wir ſehen: ein mühſamer, aber allein zur &- kenntnis der Wahrheit führen der Weg!

Dos Entwidiungegefes in der Sprade 131

So ſagt denn auch Darwin aus der Beherrſchung feines Stoffgebietes heraus, was genau für das Formenreich der Sprache gilt: „Es mögen zwei Formen nicht einen einzigen Charakter gemeinſam haben, wenn aber dieſe extremen Formen noch durch eine Reihe vermitteln der Sruppen miteinander verkettet find, fo dürfen wir doch ſofort auf eine gemeinſame Abftam- mung ſchließen.“ Die Sprache iſt darin der übrigen Natur gleich: ſie iſt einheitlich, keines ihrer Gebilde ſteht allein da, und in dieſer Einheitlichkeit unendlich einfach, aber anderſeits zeigt ſie wieder in ihren Formen die vielverſchlungenſte Mannigfaltigkeit, ſo gilt auch von ihrem innerſten Weſen, was Goethe von der Natur ſagt: „Sie iſt einfacher, als man begreifen, und zu- gleich verſchränkter, als man ſagen kann.“

Uns iſt es eben nicht vergönnt, in die Uranfänge der Entſtehung und erſten Entwicklung der menſchlichen Sprache hin ein zuleuchten. Ein ſchwacher Abglanz davon ſchimmert uns noch in den Mundarten entgegen, in denen die Sprache im Munde ihrer Träger ein noch nicht fo ſehr durch Konvention und Überlieferung gebundenes, freieres Leben führt, wo wir alſo am lichten Tage die Erſchein un gen ſich wiederholen ſehen, die bei der Entſtehung der Sprache einſt wirkſam ge- wejen: fo erſcheint unſer ſchriftdeutſches ſolch im Munde des Schweizers als ſolig: ſonig: ſorig, unſer Lorbeern im Munde des Thüringers als Norbeln umgelagert, wie im Mun de des Ztalien ers der telegrafo als telefrago, oder mit Lautzuwachs im Munde des Hefjen unſer Ameiſe als Amentſe: Ramentſe: Gramentſe, wie ein ſt auf franzöſiſchem Sprachgebiete aus dem lateiniſchen rana (Froſch) ſich die heutige Form gren-ouille entwickelte.

Und dieſelben Geſetze wiederholen ſich noch einmal am lichten Tage vor unſeren Augen oder vielmehr Ohren in der Sprachentwicklung des Kindes, die Sprachentwicklung jedes einzelnen Menſchen iſt ein Abbild der Sprachentwicklung der Menſchheit; nur gehen die meiſten von uns Erwachſen en an dieſem „Wunder“, das ſich da täglich vollzieht, wie fo oft achtlos vorüber, und nur die Mutter empfindet ein hohes Glücksgefühl, wenn wie auf einmal die dunklen Hüllen von der Seele ihres Kleinen fallen, die im Sprechen ihre geiſtigen Schwingen zu entfalten ſtrebt. Dem aufmerkſamen Beobachter aber offen bart ſich hier die dem Menſchen ein geborene Genialität. Her ſehen wir wirklich die Sprache von den einfachſten Anfängen des Lallens bis zur Bildung mehrlautiger Sprachgebilde im Werden mit all den Erſcheinungen von Lautwechſel, Um- lagerung und Lautzuwachs, während uns in der älteften überlieferten Sprache des Menſchen⸗ geſchlechtes, im Altägyptiſchen, bereits das Übergangsftadium von flüjfiger Bewegtheit der Laute zu feſterer Normierung entgegentritt. Zwar finden wir hier noch verſchiedene Formarten der- ſelben Wurzel für denſelben Begriff nebeneinander wie mer und rem (Menſch), teb und bet (Feige), ab und ba (Stein, Mauer). In den fortgeſchritten eren Sprachen der indogermaniſchen Völker dagegen iſt im allgemeinen mit der lautlichen Differenzierung auch die geiſtige derart feſt geworden, daß ein beſtimmtes Wortindividuum ein beſtimmtes Sachin dividuum bezeichnet.

Dir Kulturmenſchen übern ehmen daher die Sprache und ihre Formen als fertiges Erzeugnis, Seidfam als feſtgeprägte Münzen des Denkens, und verlieren damit den Blick dafür, daß dieſer vidgeftaltige Formenreichtum aus einer urſprünglichen einfachen Einheit nach Bildungsgeſetzen, die durch unſere Natur bedingt ſind, ſich erſt entwickelt hat. Auch für die Erkenntnis der tiefſten Sprachzuſammen hänge gilt es, von der Analyſe, von der jede Wiſſenſchaft ausgehen muß, zur Sptnheſe fortzuſchreiten, die die Dinge durch die Erkenntnis des fie einheitlich beherrſchenden Seſetzes verbindet und zugleich nach Goethes Wort „von der ewigen Harmonie des Dafeins die ſeligſte Verſicherung gibt“; auch für die Sprache gilt nach der Seite ihrer Entſtehung und Ent- wicklung jene beglückende und erhebende Erkenntnis, wie fie Darwin für das Formenreich der Tier- und Pflanzenwelt am Schluß feiner „Entſtehung der Arten“ in die Worte zuſammenfaßt: „Es iſt wahrhaftig eine großartige Anſicht, daß der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat, und daß aus ſo ein fachem Anfange ſich eine en dloſe Reihe der ſchöͤnſten und wun dervollſten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt. Prof. Dr. Ernſt Meyer

O F Fo ne Halle

Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustauſch dienenden Einfenbungen ind unabhängig vom Standpunkt des Herausgebers

Die Stigmatiſierte von Konnersreuth I.

ch ſetze voraus, daß die Vorkommniſſe und Erſcheinungen, die zu der Stigmatiſierung de

Thereſe Neumann geführt haben, aus den Zeitungen bekannt ſind. Vor mir liegt en Artikel, in dem man dieſe Geſchehniſſe als ein allgemein menſchliches Problem bezeichnet, des einer die Allgemeinheit befriedigenden Löſung durch ſtrenge wiſſenſchaftliche Kontrolle ent- gegengeführt werden muͤſſe.

Oer Fall ſcheint neu und einzigartig, iſt es aber nicht; denn man kennt ja in der Rirden- geſchichte mehr als ein halbes Hundert folder und ähnlicher Fälle. Sie kennzeichnen ſich durch eine gewiſſe Gleichartigkeit. Stigmatiſation oder Bezeichnung mit den Wundmalen Chriſti hat als Vorausſetzung eine längere, mit tiefſtem Mitleiden verbundene Betrachtung der Leidens tage und Leidenswege des Herrn und ſtrenge Frömmigkeit. Typiſch iſt eine Chriftus-Difion, in welcher der in Verzückung verſunkenen Perſon eine Blumen- und eine Dornen krone zu Mahl gezeigt werden wie zur Steigerung des E.ıtfagen- oder Leidenwollens. Es wird felbit- verſtändlich die Dornenkrone gewählt, als Einleitung der Stigmatiſation; es ift das plaſtiſche Bild der E itſcheidung. Überhaupt muß die Seele eine Einbildungskraft von beſon ders ple ftifher Stärke beſitzen; denn nur hierdurch vermag fie das normale Verhältnis in dem Leibe aufzuheben.

„Das ekſtatiſche Individuum ſieht die Wunden des von ihm vifiondr geſchauten Chriftusbildes leuchten und glänzen; die hingebende Liebe, welche mitzuleiden begehrt, hat den höchiten Grad ihrer Intenſität erreicht da fahren plötzlich gegen ſie feurige Strahlen und nun erſcheinen unter brennenden und durchbohrenden Schmerzen am Körper die Wunden. Und zwar in feht verfh.edenem Grade je nach der Energie und Vollkommenheit des Prozeſſes; fo erſcheinen blutende Flecke rings um den Kopf als Wirkung der Dornenkrone, oder die Nägelwunden an den Händen und Füßen ohne oder mit der Seitenwunde, manchmal auch Wunden am Rüden als Wirkung der Geißelung.“ Diefe Darſtellung gibt ein nicht unbekannter Erforſcher dieſet Gebiete in den ſiebziger Jahren; und er fährt in feinen klaren und intereſſanten Ausführungen folgendermaßen fort: „Diefe Wunden haben eigentümliche Charaktere: fie heilen nicht zu, oder nur nach Jahren wenn der geiſtige Zuſtand der Perſon ſich ändert und dieſe mehr oder weniger bewußt es will.“ Alſo völlige Abhängigkeit der Erſcheinungen vom Villen (Glauben) und Geiſte⸗zuſtand des Menſchen ſelbſt. „Sie gehen auch nie in E.terung (die Wunden) oder Brand über und bluten jedoch nur bei den weiblichen Stigmatiſierten meiſt alle Freitage, weil an dieſen Tagen der myſtiſche Prozeß immer neu aufflammt.“ Alſo ganz das gleiche wie bei der Neumann. Derſelbe Forſcher findet es ſelbſtverſtändlich, daß durch dieſen Zuſtand eine Anderung im Bluttreislaufe herbeigeführt werde, wenigſtens bei den Frauen, weil dann die Blutbewegung ſich periodiſch nach den Stigmen richte. Wie ja auch jede große Aufregung die Blutbewegung beſtimmt. „Da die Metaſtaſe nur unter heftiger Entzündung der betreffenden Stellen zuſtande kommt und weiter beſtehen kann, fo iſt das ganze Verhältnis mit großen Schmerzen, beſonders um die Tage der Blutung, verbunden.“ Außer in ſeltenen Ausnahmefällen findet die Stigmatiſation nur bei Perſonen weiblichen Geſchlechts ſtatt. die erſte bekannt gewordene Stigmatiſierung fand übrigens bei einer männlichen Perſon ſtatt belm heiligen Franz von Aſſiſi. Es iſt ferner intereſſant, daß die Stigmatiſation ſozuſagen ihre klimatiſche Grenze hat; das nördliche Europa iſt vollkommen frei von dieſer Erſcheinung, we

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Die Stigmatiſierte von Ronnersreuth 133

gegen der Süden, namentlich Ztalien, die weitaus meiſten Fälle aufweiſt. Mein Gewährsmann ſpricht bei der Erklärung einzelner Fälle von religiöſem Ourſt nach Auszeichnung und Be- gut adigung, von ſp elender Nonnen phantaſie, die nur möglich fei, wo das Leben ganz der Wirk⸗ lichkeit entfremdet fei. Bei manchen dieſer Perſonen ſollen ſich Bilder aus der Leidensgeſchichte Des Herrn auch an inneren Organen manifeftiert haben; unwiderlegbare Beweiſe liegen hier- über nicht vor; die Möglichkeit dieſer Erſcheinungen wird aber gar nicht in Abrede geſtellt, weil Die dauernde gedankliche Beſchäftigung mit dieſen Vorſtellungen Veränderungen in den be- treffenden Organen zweifellos hervorrufen können. Irgendwo faßt er kurz dieſe Erſcheinungen in den Satz zuſammen: „Die Macht der exaltierten Pſyche über die körperliche Subſtanz.“

Bei allen dieſen Stigmatiſierten findet man die äußerſt geringe Nahrungsaufnahme bis zur zei tweiſen gänzlichen Verweigerung von Speiſe und Trank.

Maria Dommica Lazzari, eine Stigmatifierte zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, ſoll jahrelang ſich der Nahrungsaufnahme enthalten haben, ohne eine ſonderlich zunehmende Ab- magerung zu zeigen; alſo auch bier wieder eine parallele Exſcheinung mit der an der Neumann.

Diele Unglidliden als beſondere Gefäße der Gnade zu bezeichnen, dürfte wohl religidfer

Irrtum fein. Wir haben hier ein unnatürlich geſteigertes religidfes Empfindungs und Gedanken- leben vor uns, das in ekſtatiſcher Verzüdtheit und Weltabgewandtheit ſeeliſche Kräfte in Be- wegung und Entfaltung bringt, die einem gefunden religiöfen Leben nur tiefſtes Mitleiden einfldgen können.

Man könnte eine Zeit denken, in der eine derartige Steigerung der Seelenkräfte Allgemeingut der Menſchheit geworden wäre ſicherlich aber nicht infolge eines überjteigerten, von krank; haften Vorſtellungen erfüllten Seelenlebens.

Zn der Stigmatifierten von Ronnersreuth vermag ich weder eine rätfelhafte Erſcheinung noch ein von der Wiſſenſchoft zu löjendes Problem zu ſehen. Wohl aber iſt es eine ernſte Mahnung, fein Gefühls und Verſtandesleben nicht an einſeitige Vorſtellungen zu verlieren. v. G.

NB. Wir haben dieſem und dem folgenden Einſender in der „Offenen Halle“ das Wort ge- geben. Hier find wir Laien fo wenig zuftändig wie die einzelne „Wiſſenſchaft“; denn es iſt ein Grenzbereich, wo koͤrperliche Merkmale auf das engſte mit Seeliſchem zuſammenhängen, fo daß eben ſowohl ein reli gi öſes wie ein mediziniſches Phänomen vorliegt. Nur glaubten wir, an dem Fall von Konnersreuth nicht vorübergehen zu dürfen. D. T.

II. Das Wunder von Konnersreuth im Erleben eines Sehers

Carl WeitifhH dat im dekannten Otto Reichl Verlag Der Leuchter, Darmitabt, unter dem Titel „Verg eiſtigung“ feine Erledniffe und Erkenntniſſe veröffentlicht. Er teilt uns hler ſeine Beobachtungen

mit. O. C. er Arzt mag die rein naturgeſetzliche Erklärung für alle ungewöhnlichen Erſcheinungen an der Stigmatiſierten Thereſe Neumann in tem Wirken ihres unbewußten Willens ſehen, indem er insbeſondere die Stigmata auf die Fähigkeit des Unbewußten, den Blutſtrom des Rörpers in gewiſſen Grenzen noch Willkür zu lenken, zurückführt. Und ſichere Erfahrungs- tatſache iſt, daß der unbewußte der ſeeliſche Wille des Menſchen grundſätzlich imſtande iſt, beſtimmte außergewöhnliche Veränderungen am Rörper hervorzurufen und wieder zum Ver- ſchwinden zu bringen. Im Fall von Ronnersreuth aber handelt es ſich um mehr als das Wirken eines un terbewußten ei gen en Willens. Wenngleich der eigene Wille ſich auch hier ohne Zweifel wirffam auf das Hervorrufen der in Frage ſtehenden Erſcheinungen zu richten vermag, fo bedeutet dies im vorliegenden Falle doch nicht mehr als eine befondere ſeeliſch- körperliche Eignung. Entſcheidend wirkſam find, wie id ſehr deutlich wahrnehme, andere Mächte: Mächte geiſtiger Reiche oder, wie ruhlg geſagt werden darf: Mächte des Himmels.

134 Die Stigmatifierte von sConmersceslt

Neben Geiftern mittlerer Entwidlungshöhe, die an dem Hervorrufen der Stigmata unmittelbe: beteiligt find, erkenne ich fehr hohe geiftige Weſen am Werke. Sie laſſen die Erſcheinungen nicht nur zu, ſondern unterſtützen fie und verleihen der Stigmatiſierten und dem an ibr ſich offenbarenden Geſchehen den Ewigkeitshauch höchſter himmliſcher Sphären.

Es iſt, wenn ich dieſe geiſtigen Weſen, dieſe hohen Engel wahrnehme, als ob die ganze Welt vor ihnen ſtille ftebt (nicht unähnlich dem Eindrucke des minutenlangen Ruhenlaſſens allet Arbeit, wodurch die Menſchen das Dentwürdige und Erbabene eines beſtimmten Weltereigniffes zu feiern pflegen). Eine ganz ungewöhnlich hohe geiſtige Sphäre gibt ſich nach meinen Er⸗ fahrungen in dieſer Sonderart von geiſtigem Einfluſſe kund. Dieſe Tatſache beweiſt, daß Theres: Neumann bei aller ſcheinbaren Enge ihres kirchlichen Bekenntniſſes von tiefem Empfinden und echter Frömmigkeit beſeelt iſt denn fie könnte ſonſt einen fo hohen geiſtigen Einftuj nicht aufnehmen und leiten; und ihr Verbundenſein mit ſolchen Sphären gibt dieſen Erſchei⸗ nungen, die in ihrer blutigen Greifbarkeit für das Empfinden mancher frommen Seele wenis anziehend fein mögen, einen auch für den von vornherein Verſtehenden unerwartet hohen un ernſt mahnenden Sinn.

Ich erkenne das außerordentlich Bedeutende der Vorgänge nicht zuletzt an der Weſensert der an und durch Thereſe Neumann geoffenbarten überſinnlichen Heilkräfte. Diefe find war haft geiſtiger Art, eine ſtrahlende Auswirkung jener ſehr hohen Weſen, mit denen Th. R. ver bunden iſt. Körperſtofflich fühle ich dieſe Kräfte als eine auffallend ſtarke Wirkung auf die Knochen. Das iſt bezeichnend für den Wert dieſer Kraftwirkung. Denn im Innern der Knochen iegt, wie ich im Laufe von Jahren geiſtig-körperlicher Wahrnehmungen feſtſtellen konnte, de Geheimnis des Lebens. Im Wahrnehmen dieſer heilenden Wirkungen erſcheinen Geift und Körper bis zu einem gewiſſen Grade in der höheren Ordnung des Geiſtes geeint. Die Himmels, die Gebetskraft wirkt ſich nach geiſtigem Geſetz felbftverftdndlid und ſichtbar im Gebiet des Re rperſtofflichen aus.

Daß bei alledem das ſichtbare Geſchehen auch natürliche Urſachen erkennen läßt, daß der Arzt hyſteriſch bedingte unterbewußte, naturhafte Kräfte feſtſtellt, wo der Fromme den Himmel und das Gebet am Werke ſieht, iſt nur ein Zeichen für das Nabebeieinander und Inein ander übergehen von natürlicher und geiſtiger Ordnung. Und es liegt in der Erkennbarkeit natürlicher Urſachen auch noch ein anderer Sinn verborgen: Sie gibt allen denen, die nur mit natürlichem Auge feben und ſehen wollen, einen zwangloſen, die Freiheit des Willens nicht beſchrän kenden Ausweg. Denn ſelbſt das den Begutechtern des Falles fo rätſelhafte Nahrungsphänomen und dieſes vielleicht mehr als ein anderes läßt ſich auch dem Verſtandesmenſchen zwanglos, d. h. ohne daß er eine weſenhaft höhere Welt anzuerkennen genötigt wäre, erklären. Nur eine ſtrahlende Kraft der menſchlichen Körperzelle müßte er annehmen und warun ſollte ſich hierzu auch der Materialiſt nicht verſtehen, da er doch ſelbſt in Stein und Metall Radio aktivität, alſo eine Strahlkraft anerkennt?! —, um den Strahlungsaustauſch zu begreifen, in dem die Organismen untereinander ſtändig ſtehen, und in dem unter Umſtänden beträchtliche Mengen feinſtofflicher Nahrung von einem menſchlichen Organismus auf den anderen über- tragbar ſind. Beſtätigt und vielleicht erwieſen würde er ſeine Annahme ſehen, wenn er von meiner bedeutſamen Erfahrung aus geiſtkörperlichem Feingefühl hörte: daß mir mehr als ein- mal am Krankenlager, während eines durch Operation gebotenen Faſtens des Kranken, Nah- wungsfeinftoffe aus Blut, Lymphe, ja Knochenmark fühlbar entzogen werden. Noch nicht ohne weiteres verſtehen freilich würde er die andere Seite meiner Wahrnehmung: das in ſclchen Fällen ſtets beobachtete Mitwirken geiftiger Weſen. Die Strahlungswiſſenſchaft bietet Menſchen gegenſätzlichſter Veranlagung und Geiſtesrichtung die Möglichkeit einer G- klärung über-, d. h. feinerſinnlicher Phänomene, weil ſie der Ausdruck des Lebens im Geiſtigen wie im Natürlichen iſt, weil es eine niedergeiſtige, geiſtig- un perſönliche, in den niederen Reichen der Natur wirkende Lebensſtrahlung und auf der anderen Seite eine höhergeiſtige, geift-per-

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Zum tonfeffionelien Frieden 135

ſönliche, nur dem Menſchengeiſte eigene Ewigkeitsſtrahlung gibt. So ift die Strablungslehre dem Verſtande des einen vielleicht eine Ejelsbrüde, dem des anderen aber ijt fie der Weg zum Himmel, indem er in ihr die ewige Innen- und Außen-, Eigen- und Umwelt verbindende ſtrahlende Geift- und Lebenskraft erkennt, in deren geſetzmäßigem Wirken geiſtiges Empfinden und natürlich-ſichtbares Geſchehen zuſammenklingen und als Sinn und Ausdruck des Lebens ihre Deutung finden. Carl Welkiſch

Zum konfeſſionellen Frieden

eder von uns hat gewiß in ſeinem Bekanntenkreiſe Perſönlichkeiten, die er liebt und hoch

ſchätzt, die aber einer anderen Konfeſſion angehören. Sind wir nun ſelbſt religiös ver- anlagt und dabei konfeſſionell eingeſtellt, fo werden wir, je länger wir in dieſen gemiſcht ton- feſſionellen geſellſchaftlichen und menſchlichen Verhältniſſen leben, die konfeſſionelle Scheidung als unnatürlich und nicht dem Weſen der chriſtlichen Lehre entſprechend empfinden. Denn ſie richtet Scheidewände zwiſchen den Chriſten auf, die gewiß nicht im Sinne des Stifters unſrer Religion ſind.

Durch dieſe konfeſſionelle Scheidung entſteht ganz mechaniſch und den meiſten unbewußt eine geiſtige Rampfſtellung gegen die andere Konfeſſion, die manchmal in die ärgſte Unduldfam- keit ausartet, und leider auch oft von den Führern auf beiden Seiten offen oder geheim ge- ſchũrt wird. „Wir“ find naturlich im Beſitze der „reinen Lehre“, während die „anderen“ mehr oder weniger im Irrtum leben, und im beiten Falle mit nachſichtiger Milde und Mitleid be- trachtet werden. Dabei glauben wir doch alle an denſelben Chriſtus, beſitzen das gleiche Edangelium und ſprechen das gleiche Glaubensbekenntnis, das gleiche „Vaterunſer!“

Bei einem Verſuch, einen Aufſatz, der unter dem Titel: „Mehr gegenſeitige Toleranz“ ähnliche Gedanken wie die oben angedeuteten enthielt, in einer von einem Pfarrer geleiteten proteſtantiſchen Zeitſchrift in der Schweiz unterzubringen, ſchrieb mir der Herausgeber die folgenden Bedenken gegen die Veröffentlichung in feiner Zeitſchrift. Da dieſe Bedenken grund- ſätzlich religiöfe Unterſchiede in der Auffaſſung der Heilsgewißheit zwiſchen katholiſcher und proteſtantiſcher Lehre betreffen, ſo will ich die betreffenden Worte des Pfarrers hier anführen, da ſie mir erſt zeigten, welche theologiſche und dogmatiſche Schwierigkeiten einer Einigung zwiſchen den Ronfeffionen im Wege ſtehen.

Die betreffenden Stellen im Briefe des Pfarrers lauten: „Ich zweifle an der Wirkung (er meint die Wirkung meines Aufrufes zur Toleranz. D. Ref.) aber auch deswegen, weil in Ihrer Darftellung die Dinge fo einfach dargeſtellt find, wie fie es in Wirklichkeit nicht find und wie fie auch derjenige nicht gelten laſſen kann, der für äußerfte Toleranz und gegenfeitige Achtung eintritt. Wer die Glaubensunterſchiede ſo anſieht wie Sie, müßte eigentlich auch den ganzen gewaltigen Kampf der Reformatoren doch nur mit Kopfſchütteln betrachten, als einen Streit, der ſich nicht lohnte. Es handelt ſich nun eben doch um den rechten Weg zu Gott, der nicht ſo ins individuelle Belieben geſtellt werden kann, wie Sie es tun. Es gibt eben doch Wahrheit und Unwahrheit, Wege, die zu Gott führen und ſolche, die von ihm wegführen, und ich glaube, daß unſere Reformatoren nicht wegen nichts eine ſolche Gefahr in der Werk- und Gatramenten- gerechtigkeit geſehen haben. Das ändert nichts an der Richtigkeit Ihrer Aufforderung, doch ja das Einigende nicht zu vergeſſen. Aber der Rampf um die Wahrheit darf deswegen nicht er- weicht werden.“ Soweit der proteſtantiſche Pfarrer, der vom Stand punkt der proteſtantiſchen Glaubensauffaſſung, die auch ich teile, durchaus recht hat. (Der Aufſatz iſt dann in der Zeit- ſchrift: „Die Hochkirche“, Monatsſchrift der hochtirchlichen Vereinigung e. V., Nr. 5, Mai 1926, erſchienen.)

136 Zum konfeſſionellen Friede

Dadurch wäre dann aber die Einigung zwiſchen den Ronfeffionen das, was wir als dringend fo im Sinne der chriſtlichen Brüderlichkeit und Liebe empfinden, grundſätzlich immer ſchwieriger, ja ſcheinbar ganz unmöglich für beide Teile geworden? Denn weder werden die Proteſtanten die „Gewiſſensfreiheit“ aufgeben können und wollen; und ebenſo werden die Katholiken nicht von ihren Kirchendogmen laſſen. Ze mehr man ſich in das Studium dieſer grundſätzlichen Unterſchiede in der Auffaſſung der Heilsgewinnung vertieft, um fo mehr muß man erkennen, daß aus dieſen Geſichtspunkten eine Einigung nicht moglich ijt. Alle VBeftre- bungen, eine Einigung auf der dogmatiſchen Ebene zu erreichen, find von vornherein inſofern ausſichtslos, als das für den Proteſtanten bedeuten würde, nicht mehr Proteſtant zu fein, und für den Katholiken, nicht mehr Katholik. Auf die theologiſche Formulierung der grundlegenden dogmatiſchen Unterfd'ede kann ich hier gar nicht eintreten und iſt das auch für meinen Swed nicht nötig. Denn ich glaube und weiß aus perſönlicher Erfahrung, daß man die Frage der Vereinigung im Sinne Ehrifti auf eine andere Weife löfen kann.

Paſtor Wachsmann, Berlin, verſah im Winter 1915/14 die gottesdienſtlichen Handlungen für die deutſch-evangeliſchen Wintergäſte in Rapallo. Einmal ſprach er dort auch über den Text Lukas 9, 51—56, in welchem von der Weigerung der Samariter die Rede iſt, Chriſtu bei ſich Herberge zu gewähren, weil er „fein Angeſicht gewendet hatte nach Ferufalem zu wan- deln“, und von der Empörung der Jünger Jakobus und Zohannes, die zur Strafe dafür Feuer auf die Samariter vom Himmel herabrufen wollten. Zeſus aber bedrohte fie und ſproch: „Wiſſet ihr nicht, welches Geiſtes Rinder ihr ſeid? Des Menſchen Sohn iſt nicht gekommen, der Men- ſchen Seelen zu verderben, ſondern zu erhalten.“ Paſtor Wachsmann erläuterte dieſe Stelle dahin, Zefus habe damit ſagen wollen, daß deswegen, weil die Samariter Gott in ihrem Lande anders anbeteten als die Zuden in Serufalem, er fie aus ſolchem Grunde nicht verdammen wolle. Paſtor Wachsmann dehnte dieſen Gedanken auch auf das heutige Verhalten der Ron- feſſionen zueinander aus; nämlich daß wir die andere Ronfeffion, die Andersgläubigen der wegen nicht für geringer vor Gott halten dürften, weil fie Gott anders glauben verehren zu müſſen, als wir es für richtig halten. Das war wahrhafte chriſtliche Brudergeſinnung. Wo blieb aber das Dogma? Und damit komme ich zu der perfinliden Erfahrung, von der ich ſchon oben ſprach.

Trotz grundſätzlicher proteſtantiſcher Einſtellung gegenüber den katholiſchen kirchlichen Sog · men (Meſſeopfer, Beichtzwang, Abſolution durch den Prieſter, Statthalterſchaft Chrifti auf Erden und Verkörperung des Reiches Gottes in der ſichtbaren Kirchenorganiſation, Unfehlbar⸗ keit des Papſtes, ſowie der ganz anderen Auffaſſung von der Heilsgewinnung und der aus alle dieſem entſpringenden ganz anderen äußeren Kultformen, Symbolen und Riten) kanm ich durchaus ohne innere Störung und mit Andacht einem katholiſchen Gottesdienſte beiwohnen wenn der Prieſter in würdiger Form und Holtung am Altar feines Amtes waltet. Das Bewußt fein und Gefühl, daß bier Menſchen, unſere Brüder und Schweſtern, denſelben Gott, den ſelben Chriſtus anbeten und verehren; daß hier Menſchen mit den gleichen Gefühlen der Demut und Andacht ihre Herzen zu der göttlichen Reinheit und Vollkommenheit zu erheben ſuchen, wie auch mir Proteſtan ten iſt für mich jedesmal rührend und zeigt mir immer wieder, daß trotz verſchiedener Oogmen, Rultformen und Riten, die myſtiſche Vereinigung aller Gläubigen im Gebet mit Gott und untereinander moglich iſt und ſtatthat, ganz unabhängig von der äußeren Form und den verſchiedenen Lehrmeinungen. Daher ſtört es mich auch gar nicht, daß das, was der Prieſter dort am Altar vollführt, für mich abſolut nicht den Inhalt oder di e Bedeutung hat, die die anweſenden katholiſchen Chriſten in dieſe Handlung hineinlegen. Der fromme Glaube iſt es, der rührend wirkt und von ausſchlaggebender Bedeutung iſt.

3d meine alſo, daß es eine ſeeliſch-religiöſe Einſtellung zu der anderen Ronfeffion gibt, in welcher der Menſch ſich myſtiſch völlig eins im Gebet mit den Andersgläubigen fühlt weil er empfindet und weiß, daß auch in den andern, trotz verſchiedener äußerer Formen, die

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ſelbe Sehnſucht, diefelbe Liebe, das gleiche Verlangen nach Erlöfung von Sünde und nach Seligkeit vorhanden iſt. Es muß einem doch wie Schuppen von den Augen fallen, wenn man das einmal gefühlt und begriffen hat. Zch weiß nicht, ob ein Ratholit oder ein griedifd-ortho- dorer Chriſt dieſelben Gefühle religiöſer Verbundenheit, religidfer Andacht und Erhebung er- lebt oder erleben kann, wenn er unſerem äußerlich fo einfachen und anſpruchsloſen evangeliſchen Sottesdienſte beiwohnt. Es werden ihm wahrſcheinlich viele der liebgewordenen Symbole und ſichtbaren Formenzeichen, die für ihn einen weſentlichen Teil des kirchlichen Gottesdienſtes ausmachen, fehlen; aber gerade die evangeliſche Einfachheit, die das Schwergewicht mehr auf das innerliche Erfaſſen und Erleben der chriſtlichen Glaubenswahrheiten verlegt, könnte auch hier für ihn den Ausgleich ſchaffen.

Ourch die obigen Ausführungen will ich nun durchaus nicht behaupten, es fel nötig, daß die Proteſtan ten anfangen, die katholiſchen Kirchen zu beſuchen, und umgekehrt die Ratholiten die proteſtantiſchen Kirchen, um den konfeſſionellen Ausgleich herbeizuführen. Nützlich für beide Teile wäre es gewiß allein ſchon, um ſich beſſer kennen zu lernen. Das aber wollte ich zeigen, daß es eine geiſtige oder beſſer ſeeliſch religiöbſe Einſtellung der Angehörigen der ver- ſch.edenen Ronfeffionen zueinander gibt, die ganz unabhängig von den Lehrmeinungen und dem Streit um die Dogmenridtigteit, alle Gläubigen als die Kinder des gleichen Va— ters, als Jünger des gleichen Chriſtus empfindet, und daß daher der wahren inner- lichen Vereinigung der Chriſten durch die Liebe kein Hindernis im Wege ſtehen kann. Alles andere iſt nebenfädhli in Beziehung zu Gott und Chriſtus.

Nun werden mir die ftrengglaubigen Anhänger des kirchlichen Oogmas erwidern ebenſo, wie es auch der proteſtantiſche Pfarrer getan, den ich eingangs erwähnte —, daß es gewiß eine allgemein e brüderlich; chriſtliche Einſtellung zu den Angehörigen der anderen Konfeſſionen geben könne und dürfe, die durchaus im Sinne des göttlichen Liebegebotes liege; daß aber das die Tatſache nicht aus der Welt ſchaffe, daß die Wahrheit in den religiöſen Beziehun- gen des Menſchen zu Sott nur eine fein könne, und man daher ſich nicht auf den laren Standpunkt ſtellen dürfe, daß es gleichgültig fei, welches grund ſätzliche Dogma man hierüber metkenne. Auf dieſer Grundlage behauptet dann jede Ronfeffion, daß i br Qogma das richtige, das der anderen aber das falſche ſei. Und die Einigung kommt nicht zuſtande. Nun glaube ich aber, daß auch hier von einer höheren Ebene aus eine Verſtändigung moglich iſt.

Die Wahrheit über die notwendige Beziehung des Menſchen zu Gott kann natürlich nur eine ſein. Aber ebenſo, wie wir in dem Begriff des Geldes eine ganz eindeutige Feſtlegung | der Wertbeziehung von menſchlicher Arbeit zur Ware und umgekehrt befigen, und dennoch das Geld in verſchiedener Form als Papier-, Rupfer-, Silber- und Goldgeld exiſtiert und jede dieſer verſchiedenen Formen durchaus in ſich den Begriff (die „Wahrheit“) des Goldes an ſich repräſentiert fo verhält es ſich auch mit der Wahrheit der Religion. Sie kann in den verſchiedenen Formen gefaßt erſcheinen, iſt es auch in den verſchledenen Konſeſſionen, und enthält dennoch immer die gleiche Grundwahrheit von der notwendigen Beziehung des Menſchen zu Gott. Wo dieſe Beziehung des Menſchen zu Gott mit Ehrfurcht und Liebe

im Sinne Chriſti geübt wird, da kann es keine grundſätzliche Trennung durch kirchliche Dogmen zwiſchen den Gläubigen mehr geben. „Denn Einer iſt euer Meiſter, Chriſtus; ihr aber feid Alle Brüder“ (Matth. 23, 8).

Paul v. Rechenberg-Linten (Astona)

Literatur, Bildende Runjt, Musik |

Wilhelm Hauff

Zu feinem hundertſten Todestag am 18. November

er Dichter des Lichtenſtein iſt wie die Burg, die ſeiner „romantiſchen Sage“ den Titel D gegeben hat, durch und durch ſchwäbiſch. Seine Vorfahren waren allerdings in der erſten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Öfterreich anſäſſig, aber das war nur vorübergehend. Die Familie Hauff hat ſeit dem 13. Jahrhundert Erbbeſitz in dem Pfarrdorf Beuren, das auf einer Hochfläche der Schwäbiſchen Alb nahe bei der bekannten Burg Neuffen liegt. Dieſe Güter gingen in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges verloren, nachdem die Familie 1604 von Kaiſer Rudolf II. in den Adelſtand erhoben worden war. Von 1650 an find die Vorfahren des Dichters Beamte, namentlich Juriften und Pfarrer, und der Sitte der Zeit folgend führten die letzteren den Adel nicht, ſo daß er infolgedeſſen erloſchen iſt, bis ihn einige Glieder der Familie im Anfang unſeres Jahrhunderts erneuern ließen. Das Wappen iſt ein naturfarbener, fpringen- der Hirſch.

Wilhelm Hauff wurde am 29. November 1802 in Stuttgart geboren, verlor aber feinen Vater, der ein feingebildeter Zuriſt war, {don 1809, worauf die Mutter mit ihm, dem zwei Fabre älteren Hermann und zwei Mädchen zu ihrem Vater nad Tübingen zog, der dort ebenfalls eine höhere juriſtiſche Stelle bekleidete. Hier kümmerte fid der zukünftige Dichter mehr um die zahl- reichen Bücher feines Großvaters und die maleriſchen Winkel der ſchönen alten Univerfitats- ſtadt, als um die lateiniſche und griechiſche Grammatik, die überdies auch durch ſeine leidende Geſundheit etwas in den Hintergrund gedrängt wurde. Dies veranlaßte die Mutter, Wilhelm, der weit hinter dem älteren Bruder zurückſtand, in die ſtrenge Zucht der Kloſterſchule zu geben, wo er mit einer Verſpätung von einem Jahr als einer der letzten feinen Renntnifjen nach im Jahr 1817 Aufnahme fand. Es find in Württemberg vier alte Rlöfter: Blaubeuren, Maulbronn, Schön thal und Urach, in deren jedem immer nur eine der Klaſſen von Unterſekunda bis Ober- prima für das Tübinger Stift, d. h. alſo den Pfarrberuf, vorbereitet wird, weshalb die alten Sprachen, einſchließlich Hebräiſch, durchaus im Vordergrund ſtehen. Ein Konkurrenzexamen, das ſogenannte Landexamen, öffnet die Pforten der vom Staat in Schulen verwandelten Klöſter, wo rund dreißig Zöglinge nicht nur Unterricht, Wohnung und Eſſen frei haben, fon- dern auch ein fo reichliches Taſchengeld bekommen, daß fie davon die Schulbücher und die Reife koſten zu Beginn und Schluß der Ferien beſtreiten können.

Wilhelm Hauff kam nach Blaubeuren, das 1817 mal wieder mit der Unterſekunda anfing, und hier wachte ſein Ehrgeiz auf, ſo daß er den auf vier Jahre berechneten Lehrſtoff in drei Jahren bewältigte, das in Tübingen verlorene Jahr einholte und 1820 in das Tübinger Stift zog, um Theologie zu ſtudieren. |

1817 begann in Blaubeuren auch der ſpätere Begründer der hiſtoriſch-kritiſchen, ſogenannten Tübinger Schule, Ferdinand Chriſtian Baur als 25jähriger Profeſſor feine Lehrtätigkeit; er ſcheint auf den Dichter keinen Eindruck gemacht zu haben, denn er redet nie von ihm. Da Hauff aber feinen Tübinger Lehrern in den Memoiren des Satan ein wenig rühmliches Denkmal ſetzt und auch dem Leiter der Kloſterſchule in ſeinen Briefen kein gutes Zeugnis ausſtellt, ſo dürfen wir annehmen, daß er doch einen Hauch von Baurs Geiſt verſpürt hat; und vielleicht verdankt er dieſem ganz außergewöhnlichen Mann weit mehr, als man auf Grund feines Schwei⸗ gens annehmen möchte.

Wtihelm Hauff 139

In Tübingen verlebte der Dichter den größten Teil feiner Zeit in feiner Familie, nicht im Theologiſchen Stift, war aber ein friſcher, fröhlicher Student, der nach ſchwäbiſchem Brauch feinen Spitznamen Bemperle von einem älteren Verwandten erbte, obwohl er gar nicht zu ihm paßte. Er war ein ſchöner, ftattlider Menſch mit prachtvollen blauen Augen und dunkel- blondem Haar, kein kleiner, dicker Stöpfel, dem man den Koſenamen für ein Kind gibt. Aber er führte ihn mit dem ihm eigenen Humor auch über die Studentenzeit hinaus.

Auf einer Ferienwanderung lernte der junge Student im Pfarrhaus in Roßwag bei Vaihingen die mehrere Jahre ältere Nane Klaiber kennen, die infolge eines ſchweren ſchleichenden Leidens in hohem Grade vergeiſtigt, tiefen Eindruck auf ihn machte. Eineinhalb Jahre ſpäter ſtarb ſie, nachdem ſie dem Dichter, der noch einen Ferienbeſuch in ihrem Elternhaus machte, mehrere Briefe geſchrieben hatte, die auf eine überaus feine Seele ſchließen laſſen. Das reife und kluge Mädchen teilte feinem jungen Freund die Erlebniſſe eines ftillen Rrantenlagers mit, und fie haben bei ihm reiche Früchte getragen.

Oſtern 1822, kurz vor Nanes Tod, hielt Wilhelm Hauff ſeine erſte Predigt in Bondorf bei Herrenberg, und im Herbſt führte ihn eine Rheinreiſe zum erſtenmal über Württemberg hinaus. Seine Eindrücke in Mainz ſpiegeln ſich im Anfang der Memoiren des Satan wieder.

Vilhelm Hauff gehört zu den Schwaben, die bei aller Liebe zu ihrer engen Heimat den Drang in die Ferne haben und ſtets in Gefahr find, irgendwo zwiſchen Nord- und Südpol hängen zu bleiben. Er ließ es daher auch im Herbſt 1823 nicht bei einer beſcheidenen Ferien wanderung innerhalb Württembergs bewenden, ſondern ſtieß wengiſtens bis Nördlingen vor, wo er eine Verwandte gleichen Namens, eine Hofratswitwe beſuchte. Er führte die heranwachſende Tochter in das Spiel feines Lieblingsinſtrumen tes, die Gitarre, ein, und die Neigung zu dem lieblichen Mädchen ließ ibn nicht mehr los, fo daß er ſich ſchon Oſtern 1824 mit ihm verlobte. Wenige Monate danach beſtand er die erſte theologiſche Prüfung untz hatte begründete Ausſicht, ein Zahr fpäter eine patronatiſche Pfarrſtelle zu bekommen, fo daß er vermutlich mit 23 Jahren Pfarrer und Ehemann geweſen wäre, wenn er nicht das geſunde Gefühl gehabt hätte, zu beidem zu jung zu ſein.

So erwarb ſich Hauff zunächſt noch die philoſophiſche Doktorwürde und wurde Erzieher bei dem General Freiherrn v. Hügel in Stuttgart, wo er viele Zeit für ſich hatte und reichliche Gelegenheit, Menſchen kennen zu lernen.

Zetzt brach feine Schaffenskraft wie ein lange geſtauter Waldbach los; es erfchien fein Märchen; almanach für Söhne und Töchter gebildeter Stände auf das Zahr 1826 und bald darauf der erſte Teil der Memoiren des Satan, die den jungen Dichter bereits in weiteren Kreiſen belannt machten.

Im Winter 1825 auf 1826 ſchrieb er auch noch den Mann im Mond, und es iſt nicht ganz klar, ob er von Anfang an beabſichtigt hat, den Modeſchriftſteller Narl Heun zu karrikieren, oder ob er nicht vielmehr ganz ernſthaft zeigen wollte, daß er dasſelbe könne wie der beliebte Romanfchreiber. Wenn Hauff der Verſuchung, auf ſolche Weiſe ſchnell bekannt zu werden, wirklich eine kurze Zeit erlegen ſein ſollte, ſo beweiſt die Kontroverspredigt, in der er Heun auf das ſchärfſte verurteilt, daß er ſich bald wieder zurechtgefunden hat. Und die Novellen, die er jetzt erſcheinen ließ, zeigen, daß er mit Heun nicht das geringſte gemein hatte.

Nachdem auch noch der zweite Teil der Satansmemoiren erſchienen war, machte ſich Hauff an den Lichtenſtein, und man hat den Eindruck, daß er die Zeit gar nicht mehr erwarten konnte, und deß er deshalb die Memoiren nicht mit der Sorgfalt zu Ende führte, die der erſte Teil

erwarten ließ. In der Tat iſt ja auch gerade der Anfang des Lichtenftein fo meifterbaft, daß man wohl begreifen kann, daß daneben kein Raum für eine Vertiefung in die Abenteuer des Herrn Natas blieb. Das Romantiſche im Lichtenſtein läßt uns wahrſcheinlich einen tieferen Blick tun in die Liebe zu ſeiner Braut, als die Briefe, die er ihr geſchrieben hat, die aber von ſeinen Freunden aus Zartgefühl der Öffentlichkeit vorenthalten worden find.

140 Theodor Althaus und Malwida von Mepyfendug

Die genannten Schriften brachten dem jungen Dichter fo viel Honorar, daß er im Frühjahr 1826 feine Erzieherſtelle aufgeben konnte und eine Rundreife über Paris, die Hanſeſtädte, Berlin und Oresden machte. Überall wurde er mit großer Herzlichkeit und Achtung aufgenommen; und aus feinen Briefen ſpricht der Stolz und die Freude über feinen raſchen Erfolg. Herbſt 1826 iſt er wieder in Stuttgart, aber erſt ein Jahr fpäter erſchienen die Phontaſien im Bremer Ratskeller.

Ourch die Übernahme der Schriftleitung des Morgen blatts für gebildete Stände hotte Hauff eine regelmäßige gute Einnahme neben feinen Honoraren, fo daß er ſich im Februar 1827 nach faſt drei jaͤhriger Verlobungszeit verheiraten konnte. Es iſt bezeichnend für ſeine Vorſicht in praktiſchen Dingen, daß er trotz der guten Stellung nicht aus dem Rirdendienft austrat, ſondern ſich nur für drei Jahre beurlauben ließ, fo daß er jederzeit die Moglichkeit gehabt hätte, ſich um eine Pfarrſtelle zu bewerben.

Die jungen Eheleute richteten ſich nun in Stuttgart ein echtes Dichterheim ein, aber die Freude über fein Glüd hemmte die Schaffenskraft des unermüdlichen keinen Augen blick. Der große Erfolg ſeines Lichtenſtein ermutigte ihn zu einem zweiten geſchichtlichen Roman; und um den Schauplatz feines Helden, Andreas Hofer, kennen zu lernen, reiſte er im Auguſt über München nach Tirol. Im Oktober bekam er Hals- und Bruſtſchmerzen, die ſich langſam aber ſtetig ſteigerten, ohne daß der Arzt imſtande war, die Art der Krankheit mit Sicherheit zu et; kennen. Am 10. November gebar ihm feine Frau unter großer Lebensgefahr eine Tochter, und mit Aufbietung aller Kraft kam der Kranke an dos Bett der jungen Mutter. Oann ſteigerte ſich das Fieber fo, daß er am 18. November einſchlief. Er wußte, daß er ſterben mußte, denn er bereitete fish ſelbſt auf feinen Tod durch das leicht geänderte Jeſuswort vor: „Vater, in deine Hande empfehle ich meinen unſterblichen Geiſt.“ Seine Frau überlebte ihn um vierzig Sabre, während die Tochter nur ein Alter von ſiebzehn Fabre erreichte.

An einem Sonntag iſt Wilhelm Hauff geboren, an einem Sonntag iſt er geſtorben, und er war fein ganzes Leben lang ein Sonnen kind. Ihm fiel das Los auf das Lieblichſte, und er hat die Nachtſeiten des Lebens nie kennen gelernt, bis der Tod die Hand nach ihm ausſtreckte. Dem mit überreiher Phant / ſie Begabten floß das Oaſein ſchlicht und einfach dahin. Das verleiht feinen Schriften den eigentlichen Zauber, den man nur ftört, wenn man fragt, ob er mefe von Sean Paul oder von Scott oder von T. A. Hoffmann beeinflußt worden fei. Noch ftdrendet iſt die andere Frage, wie er ſich wohl entwickelt hätte, wenn er achtzig Zahre alt geworden wäre. Solchen Fragen bricht der Nachruf Ludwig Uhlands die Spitze ab, der mit den Worten

e „Die Whe ruht der Geift entfleucht auf Bahnen Des Lebens, deſſen Fülle wir nur ahnen, Wo auch die Kunſt ihr bimmliſch Ziel erreicht Und vor dem Urbild jedes Bild erbleicht.“ Walter v. Hauff

Theodor Althaus und Malwida v. Meyſenbug

ls einen Bauſtein in dem großen Gebäude des ewig neuen Fragen komplexes nach dem

engen Zuſammenhang zwiſch en der religikſen und ſoziolpolitiſchen Welt dürfen wir das ſoeben erſchienene Buch von Dr. Dora Wegele über Theodor Althaus und Malwida von Meyſenbug (N. G. Elwertſche Verlagsbuchhandlung, Marburg 1920 betrachten und werten. Wie die Verfaſſerin dieſes Grundmotiv ihrer Studie an den zwei genannten Se ftalten des Vormärz entwickelt, ift von hohem Reiz; denn ausgerüftet mit gründlicher Kenntnis der damaligen Zeit, ihrer geiſtigen Strömungen, Kampfe und Hoffnungen geht fie an ihte Aufgabe heran, und dieſem feſten Fundament geſchichticher Treue tritt warm pulſierendes

Theodore Althaus und Malwiba von Mepfenbug 141

Leben an die Seite. Denn überall ſpürt man ihren Worten an, wie fie aus der ähnlichen Span- nung unſerer Tage heraus ſtarken inneren Anteil nimmt an den behandelten Problemen.

Die zwei jugendlichen Kämpfer, deren Werden und Ringen fie verfolgt, ſind am bekannteſten geworden durch die weltberühmten „Memoiren einer Ideallſtin“. Vom Allgemeinen zum Per- ſoͤnlichen übergehend, fett ſich Dora Vegele zum Ziel, verſtehend auszugleichen, was ihr in der Althaus-Ep.ſode der Memoiren ungereimt erſcheint und die Geftalt des Mannes ins Licht zu rüden, gegen den fie Malwida nur in ihrem Handeln, nicht in ihrem Wort gerecht findet ein ſeltener Vorwurf, der nur großen Naturen gemacht werden kann. Denn nur große Naturen ftellen durch ihr Tun ihre eigenen Worte in den Schatten. Die Beſonderheit der Aufgabe bringt es mit ſich, daß die Verfaſſerin, von Theodor Althaus ausgehend, bei aller Schätzung Malwidas doch ihm vollere Gerechtigkeit widerfahren läßt als ihr. Der Stoff war ja auch ſchwer abzu- grenzen, da von den beiden Perſönlichkeiten die eine früh und unausgereift hinweg mußte, der andern ein langer, weiter Erdenweg befchieden war und eine Vollendung, wie fie ſelten Menfchen zuteil wird. Rnapp und klar, mit ſicherem Blick fürs Weſen tliche gibt uns Dora Wegele ein B.ld von dem Werdegang ihrer Helden und beleuchtet die gemeinſamen Ausgangspunkte, die feinen Abſtufungen und Verzweigungen ihrer beiderſeitigen Entwicklung in der Gebunden- heit der damaligen Verhältniſſe.

Wir wiſſen aus den Memoiren, wie vieles in den Anſchauungen des Freundes bei der Be- gegnung mit ihm auf Malwida wie eine Beſtätigung eigenen inneren Erlebens wirkte. Ge- meinſam find beiden die Grundgedanken der Humanität, die ethiſchen Ziele, die ihnen maß- gebend find für die geſchlchtliche Entwicklung, die kühn vorausgreifenden Pläne und Forde- rungen, die alle aus ihrem heiligen Drange der Menſchenliebe geboren find. Bei beiden iſt die Rouſſeauſche Gleichheitsidee aus religiöfen, chriſtlichen Grundelementen herausgewachſen. Auf die einfachſte Formel gebracht: ihr geſchichtsphiloſophiſches Denken iſt von Hegel, ihr ethifch- teligidjes Gefühl von Zichte und Schleiermacher beeinflußt.

Ein Quellpunkt ihres Denkens und Fühlens iſt ihnen der ſtark ausgeprägte Freiheitsbegriff, dem fie beide alles zu opfern bereit find aber eine Freiheit, die, in Goetheſchem Sinne ge- faßt, ftrengftes Geſetz bedeutet. Was fie einander zu danken haben im gemeinſamen Suchen nach Zuſammenfaſſen der Menſchen zu neuer Einheit der inneren Überzeugung ohne dogma- tiſche Bindung, ift ſchwer genau abzuwägen.

Verſchieden iſt ihre Stellung zu Chriſtus; verſchieden auch ihre Begründung des Rechtes auf Subjektivität. In den Fragen der Frauenbewegung, in denen ſie wieder einig gehen, iſt Ralwidas Entwicklung naturgemäß kampfreicher als die feine. Und gerade auf dieſem Gebiet zeigt ſich am meiſten, wie ſchwer es iſt, Malwida ganz gerecht zu werden, wenn man ſie nur aus ihren Werken kennt. Denn in ihren Schriften, namentlich jenen der früheren Zeit, über wiegt manchmal das Bewußte und Zntellektualiſtiſche. Erſt das Leben bringt den vollen Klang hinzu, und keiner hat dieſe harmoniſche Verbindung von Geiſt und Herz mit einem fo einfach- ſchönen Wort charakteriſiert wie Richard Wagner, der ihr einmal ſchreibt: „Sie find die Güte und Treue ſelbſt, dazu der herzlichſte Verſtand, den ich kenne!“

on der ausgeſprochen politiſchen Zdeenwelt ift Althaus“ Einfluß auf Malwida vielleicht am ftärkſten nachweisbar. Bezeichnend für ihr echt weibliches Empfinden find ihr die ſozialen Ideen immer weit wichtiger als die politiſchen. Doch finden feine Gedanken ihre begeifterte Zuftim- mung. Die deutſche Einheit iſt ihm Kern der Revolution und Hauptziel der Zukunft; in richtiger Einſicht des deutſchen Volkscharakters will er fie mit weitem Spielraum für die Einzelſtaaten, nicht in der ſtraffen Zentraliſation des franzöſiſchen Beiſpiels, verwirklicht ſehen. Sie iſt ihm

Vorftufe zu einer umfaſſenden mitteleuropaifden Union auf völkerbundmäßigen Grundlagen. Die Pläne gipfeln in hochgeſpannten weltökonomiſchen Zielen, alles frei und weit gefaßt,

moͤglichſt unbüͤrokratiſch, mit Berge verſetzendem Zukunftsglauben.

Venn im allgemeinen Malwidas Entwicklung einen langſameren Schritt aufweiſt als die

142 Naturwiffenfhaftlihe Bader

ihres vorwärts ſtürmenden Freundes, wenn fie an Menſchen und Zdeen länger feſtbält als er, jo liegt eine Erklärung dafür in dem ganz abſichtsloſen Zwiſchenſätzchen von den ihn umdränger- den mannigfachen Bildern des Lebens, das Dora Wegele einmal in bezug auf Althaus ein- ſchaltet. Er ſteht früh ſchon tätig im Kampf der Geiſter, wo Malwida, durch die Enge der herr- ſchenden Zuſtände gehemmt, ſich langſam Schritt um Schritt den neuen Boden erobern muß In ihrer ſpäteren Entwicklung iſt ihr Verhältnis zu den Dingen nirgends und politiſch am allerwenigſten ein einſeitig parteiiſches. Wenn die geiſtigen Siege der Deutſchen ihr am wichtigſten find und fie zu denen gehört, die ſich beim Gedanken an Weimar und Bayreuth am innigften ihrer Zugehörigkeit zum Oeutſchtum freuen, fo kennen wir doch auch ihre Se wunderung für den gewaltigen Staatsmann, der dem deutſchen Volk eine großartige Form geſchaffen hat. Aber über der Form nicht den Inhalt, das Beſte, den ureigenſten Geiſt zu vergeſſen was fpdter Lienhard die Reichsbeſeelung nannte —, das iſt ſchon 1875 in ſeheriſcher Sorge ihre ernſte Mahnung.

Das letzte Kapitel des Buches kehrt zum Ausgangspunkt zurück: dem Zuſammenhang de politiſchen und religidfen Ideenwelt, in Malwida und Althaus beſonders ſtark ausgeprägt, faßt Althaus“ Wachſen und Reifen noch einmal zuſammen und gibt einen ſchönen Fernblid auf die erreichte Höhe in Malwidas Leben, wo unerſchöpfliches Liebegeben und Liebenehmen- dürfen in dem beſeligenden Verhältnis zum Kinde ihrer Wahl ihrer Natur die volle Harmonic und ſeeliſche Vollendung ſchenkt.

Einen unmittelbaren Eindruck von den reichen Möglichkeiten, die Althaus“ Natur in ſich barg, vermittelt die kleine Auswahl feiner Gedichte am Schluß des Buches. Eines der an mutigſten aus den an Malwida gerichteten Zyklen das liebliche Bild der malenden Freundin feftbaltend ſchließt mit den uns wehmütig ergreifenden Zeilen:

„Ich wünſchte faſt, ſie wüßte nichts von mir: So in ſich ſchön vollendet iſt ihr Leben!“

Das heiße Suchen und Taſten, Glauben und Hoffen der jungen Kämpferſeele ſtrebt in den Dichtungen allgemeinen Inhalts zum Licht und läßt uns das ſchuldloſe Verurteiltſein ſolch hoch begabter Geiſter zum bitteren Geſchick der Tatloſen doppelt tragiſch erſcheinen.

Der Verlag hat das Buch ſorgfältig und geſchmackvoll ausgeftattet und mit ſchönen Bild beigaben bereichert, die den Kennern von Malwidas Memoiren beſonders willkommen ſein

werden. Berta Schleicher

Naturwiſſenſchaftliche Bücher

mmer mehr machen ſich die ernfteren Forſcher und Gelehrten auf dem Gebiete der Natur-

wiſſenſchaft frei von dem geiſttötenden, kulturfeindlichen Banne des Materialismus. Pie ſehen wir am beiten in dem Buche von Bavink, Ergebniffe und Problene der Natur’ wiſſenſchaft (Leipzig, Verlag Hirzel 1925), das eine wohlgeordnete Heerſchau über dieſen Befreiungskampf der Naturwiſſenſchaft bietet. Bavink fordert eine neue, gründliche, logiſch br griffliche Ourcharbeitung unſerer geſamten naturwiſſenſchaftlichen Didaktik, beſonders det chemiſchen. Er geht den wichtigſten naturphiloſophiſchen Fragen auf den Grund. Schon rein aͤſthetiſch find die Abſchnitte über den Raufalbegriff oder die Urſachenverkettung, über die Geltung der phyſikaliſchen Begriffe und Geſetze, über die Einheit des phyſikaliſchen Weltbildes äußert feſſelnd. Das Einzige, was dieſem ausgezeichneten, ernſten Forſcher und Denker vorgeworfen werden kann, iſt die Tatſache, daß er dem Materialismus immerhin noch viel zu viel Radfichten widmet. Dies iſt ein völlig unnützer Reibeverluſt, denn der „wiſſenſchaftliche“ Materialismus verröchelt elend auf der ganzen Linie.

MNaturwiſſenſchaftliche Bücher 143 Grätz, Leo: Alte Vorſtellungen und neue Tatſachen der Phypſik (Leipzig, Ak.

Verlag 1925). In dieſem kleinen Buch findet fic viel bedeutender Inhalt. Es gibt eine treff-

üche Aberſicht über die „Fortſchritte“ der phyſikaliſchen Forſchung. Dieſe beſtehen vielfach in einer fröhlichen Auferſtehung alter, längſt totgeglaubter Lehren und Meinungen. Dies bezeugt

1

zum Beiſpiel prachtvoll der ausgezeichnete Abſchnitt Aber die Theorie des Lichts. Stoffliche Aus-

ſendung und Wellenbewegung ringen um die Herrſchaft. Platons Bildausſendung von den .. Gegenftänden in unſer Auge, Newtons „Emiſſion“ und des großen Huyghens Wellenbewegung

ſtehen heut nicht trotz ſondern wegen der ernſter gewordenen Forſchung wieder in einer

„Front“. Dem tiefer Schürfenden gewährt der Abſchnitt über Elementargeſetze und Statiſtik hohen Genuß. Das Buch von Grätz iſt dem von Bavink geiſtig verwandt: es mahnt zur Vorſicht in der Wertung neuer Theorien.

Srätz, Leo: Die Elektrizität. Die Atomtheorie.— Der Ather und die Rela- tivitätstheorie (Stuttgart, Verlag Engelhorn 1925). Es iſt recht ſchwer zu jagen, welchem dieſet drei ernſten Werke der Vorzug gebührt. Allen dreien gemeinſam iſt die Flüͤſſigkeit und lebendige Anſchaulichteit. Grätz iſt ein geſchickter Lehrer. Er gibt Vieles und trotzdem das Meiſte kurz und gut“, Immerhin könnte er noch mehr in den Vordergrund rüden, daß alle Vorſtellungen von dem Bohrſchen Atommodell, von den Elektronen, „Emiſſionen“, Schwingungen, Wellen- bewegungen eben doch nichts anderes ſind als Bilder und immer wieder Bilder! Das gilt in ganz befonders hohem Grade gegenüber der Einſteinſchen Relati vitätstheorie. Es wäre nicht nur nichts gegen Einſteins Lehre und gegen alle ähnlichen Lehren zu ſagen, wenn ihre Väter eingeftünden, daß dieſe Lehre „Verſuche“ find, alfo nur Frag würdigkeiten. Aber weil fie abſolute Heeres folge fordern, müſſen fie ſtark kritiſiert werden.

Schneider, K. C.: Die Periodizität des Lebens und der Kultur. (Leipzig, Ak. Ver- lag 1926). Wenn Pythagoras ſagte: Die Zahl iſt das Weſen der Dinge, fo hat er ſelten oder nie · mals auch nur entfernt ſolche Anerkennung gefunden wie bei vielen Denkern und Forſchern der Gegenwart. Goethe, Schopenhauer gingen voran; Swoboda, Rudolf Mewes, Fließ, Kemmerich, Stromer v. Reichenbach, Spengler und andere folgten. Der Wiener Univerſitätsprofeſſor Karl Camillo Schneider bietet nun in dem vorliegenden Werke eine ſtrategiſche Generalüberſicht des geſamten ungeheuren Problems. Schneider wirkt tief und bedeutend. Aber er würde noch tiefer, noch bedeutender wirken, wenn er die deutſche Mutterſprache mehr und herzlicher berüdfichtigen würde. Er ſchreibt ſehr ſchwerfällig, langperiodig, gewunden, fremdartig. Jedoch der Inhalt und bie Stoffbeherrſchung find hoͤchſt feſſelnd. Brei gewaltige Einheiten ballt er zufammen und gliedert er in ſorgfältiger Trennung: Periodizität oder Rhythmus der Natur, des Lebens, der Kultur. Das Ganze läßt Schneider gipfeln in feinem tiefgründigen Schlußkapitel: Periodizität und Finalität in der Geſchichte. Es iſt köſtlich, daß dem alles beherrſchenden, niederdrückenden, ja zermalmenden Urſachenbegriff, dem Kauſalnexus, der Zweckbegriff der „Finalität“ entgegen- geſetzt wird. Wenigſtens geht Schneider ſehr anerkennenswert auf dieſe andere Seite des Prob- lems ein. Zweck und Urſache erſcheinen uns meiſt nur ſo entgegengeſetzt, ſo widerſprechend, ſo einander ausſchließend; wer an Heraklit und Parmenides und ihren gewaltigen Vereiniger und Noerwinder: Platon denkt, dem fällt es wie Schuppen von den Augen, daß Urſache und Zweck einander nicht im geringſten ausſchließen, daß ſie beide die ſelbe Sache ſind, einmal von vorn, einmal von rüdwärts geſchaut. Nicht das iſt verwerflich, daß die Wiſſenſchaft, beſonders die Natur; wiſſenſchaft den Urſachenbegriff ſo überaus ernſt nimmt, ſondern daß ſie ihn allein gelten laffen will, Das iſt einfeitig und unhaltbar, unphiloſophiſch das heißt im höchſten Sinne: „unwiſſenſchaftlich“. Das ungeheure, uralte Problem „Religion oder Wiſſenſchafr“ ſchrumpft zu- ſammen zu einem Maren Einheitsbild, für denjenigen, der Urfahe und Zweck richtig wertet. Schneiders Buch iſt recht wertvoll und leſenswert. Das Regiſter am Schluß erleichtert das Stu- dium des Buches außerordentlich.

Svante Arrhenius, Erde und Weltall. (Leipzig, Ak. Verlag 1926.) Der große ſchwe⸗

144 Sudetend eutſ es Oidteriond

diſche Forſcher ſchenkt uns hier ein prächtiges Wert, daß feine früheren berühmten Werke: „Das Werden der Welten“ und „Oer Lebenslauf der Planeten“ überſichtlich und organiſch gufammen- faßt. Wer alſo dieſes Buch erwirbt, beſitzt beide früheren aber in weſentlich rerbefferter Geſtal und den neueſten Forſchungsergebniſſen Rechnung tragend. Svante Arrhenius iſt ein wahrhaſter Naturforſcher hohen Ranges. Er nimmt ſorgfältig Renntnis von allen neuen Nachrichten aus den Lagern der verſchiedenen Naturforſcher; aber übernimmt nichts ohne ſcharfe Prüfung und ſtrenge Gewiſſenhaftigkeit. Er erinnert ſtark an unſere ernſten Naturforſcher: Lenard, Gtard, Gehrke und andere, die nicht ſo ohne weiteres der Einſteinſchen Relativitätstheorie Heeresfolge leiſten und daher ſchweren Angriffen aus deren Klüngeln ausgeſetzt find. Svante Arrhenius, Charles Dayton Miller, Michelſon, Lenard, Starck, Gehrke und andere ſtrenge, gewiffenbafte Denker beweiſen als eine geiſtig fernwirkende „Fleet in being“, daß in germaniſchen Landen noc nicht aller Tage Abend iſt, daß ſie vor allem den Relativitätsgedanken gegenüber der Einſteinſchen Relativitätstheorie ſelber anwenden. Und dies muß ſich die Relativitätstheorie troß ihres heftigen Strdubens ſchon gefallen laſſen. Denn, wenn fie alles relativiert auch die uns angeborenen biologiſchen „Formen der Anſchauung“: Zeit, Raum und Urſachenverkettung, dann iſt beim beften Willen nicht einzuſehen, warum der Forſcher bei ihrer eigenen äußerft fragwuͤrdigen Vot⸗ ausſetzung Halt machen ſollte? Gvante Arrhenius iſt ein echter Germane, zeigt in jeder Faſer das Gepräge feines uns fo überaus nahe bluts verwandten Volkes. Er ſchreibt gewiſſenhaft, feſſelnd, anſchaulich, vorſichtig und doch überall mit wohltuender Wärme. Es iſt nicht leicht zu ſagen, ob mehr das rein phyſikaliſche oder das rein aſtronomiſche Element ſeines prachtvollen Werkes feſſelt. Der Glanzpunkt des Ganzen ift der Abſchnitt über die Sonne, wie es ja dieſem glanzvollen Geſtirn auch völlig gebührt.

Carl Störmer, Aus den Tiefen des Weltraums bis ins Innere der Atome. (Leipzig, Brockhaus 1925.) Oer Norweger Carl Störmer ijt ein Geiſtes verwandter von Soante Arrhenius: in der germaniſchen Gediegenheit, Anſchaulichkeit, Univerſalität. Man tut gut, das Schlagwort „Fortſchritt“ mit gebührendem Mißtrauen zu behandeln; aber ein wirklicher Fort ſchritt unſerer Naturforſchung liegt inſoweit vor, als es heut ganz organiſch erſcheint, den un geheuren Makrokosmos und den unermeßlich kleinen Mikrokosmos unter dem gleichen Gefidls- winkel der untrennbaren Zuſammengehdrigkeit zu betrachten. Atom und Stern und Weltnebel ſind einander völlig verwandt, unterliegen den gleichen geheimnisvollen Geſetzen, laſſen die gleiche metaphyſiſche Strategie einer ewigen, fernwirkenden Geiſtesmacht ahnen. Im Einzel atom entſprechen die elektriſchen Kräfte der kosmiſchen Gravitation, der poſitiv geladene Atom- tern der kosmiſchen Zentralſonne. Im gleichen ewigen Rhythmus ſchwingt das Kleinſte unt Größte. Unverkennbar ftügen derartige Betrachtungen des Univerſums die idealiftifche, mete phyſiſche, religidfe Weltanſchauung. Dr. Alfred Seeliger

Sudetendeutſches Dichterland

Wi ſchon einmal im ausgehenden Mittelalter, fo tritt das Deutſchtum zwiſchen Böhmer wald und Sudetenwall, in den tſchechiſchen Staat eingeſchloſſen, heute mit reicher Betätigung dichteriſcher Kräfte hervor, und es ſind meiſt die Fabulierer und Erzähler unter ihnen, die über die Grenzen ihrer Heimat hinaus in allen Gauen Deutſchlands ſich Freunde erworben haben.

Einer, der fruchtbarſten und bekannteſten unter ihnen, Iglauer Rind, alter Handwerkerfamilie dort entſtammt und über das fünfzigſte Lebensjahr eben hinausgegangen (1877), iſt Karl gane Strobl. Seine letzte Erzählung „Oer Goldberg“ iſt eine goldreiſe Frucht meiſterlichen Könnens. Aus dem Dämmern der Volksſage erwächſt hier ein erſchütterndes Menſchengeſchick, in dem

Grabrelief (Bronze) Marcel Kleine

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Gubetendeutfches Oichterland 145

Haß und Liebe fic) verflechten, und in legendenhafter Verklärung vergeht es. Aus Gagengut

der Heimat hat die reiche Phantafie des Dichters oft gefhöpft, Schwankhaftes, Wunderbares, Stauen volles, Spukhaftes hat er in vielen feiner kleinen Erzählungen packend oder ergößlich

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dargeitellt, in den Novellen: „Die Wunderlaube“, „Bedenkſame Hiſtorien“ und anderen. Denn in feiner Seele iſt beides, die Luft, ins Land des Geheimnisvollen, Dämoniſchen hineinzufpüren, und die Neigung, den grauen Tag mit Lachen zu vergolden, er hat von E. T. A. Hoffmanns At ebenſo viel in feinem Dichtertum als von dem Weſen Wilhelm Raabes. Die ſtärkſte Leiſtung im phantaſtiſchen Roman ſchuf er im „Eleagabal Ruperus“ (1910), in dem die tragiſchen Um- waͤlzungen der folgenden Zeit ſchon wetterleuchtend drohen; feinen bald nachdenklichen, bald übermütigen Humor offenbart die neue Romantrilogie (Die alten Türme, Wir hatten gebauet, Erasmus mit der Wünſchelrute), die Tragikomödie des Bürgertums, nach der einen Seite,

und „Die drei Geſellen“ oder auch „Die vier Ehen des Matthias Merenus“ nach der andern

Seite. Als Vertreter des hiſtoriſchen Romans hat Karl Hans Strobl neben dem „Dunklen Strom“, der das Thorner Blutbad von 1725 darſtellt, den großen dreiteiligen Bismarckroman geſchaffen, deſſen Abſchluß gerade mit der Tragödie von 1918 zuſammenfiel. Auch aus den Kriegs jahren heraus iſt ibm mancher Roman und manche Novelle erwachſen (Krieg im Alpenrot, Seide Borowitz). Und es iſt kein Zweifel, daß Karl Hans Strobl, der neben ſo vielen Erzählungen auch noch dramatiſche Werke, Lyriſches und Balladen haftes („Holzſchnitte“) geſchaffen hat, bei feiner ungebrochenen Friſche und Kern haftigkeit uns noch Freude machen wird mit neuen Verken.

Gleichen Alters iſt der Egerländer Rudolf Haas, deſſen ſehr vergnügliches Novellen buch „die brei Ruppelpelze des Rriminalrats“ zujüngſt allen, die den Dichter ſchon mit feinem „Matthias Triebl“ Roman liebgewonnen haben, eine Herzenserquickung gewefen fein muß,

ſolche egerländifche Deutſchheit, fold glüdhaftes Glauben an das Lichte und Edle im Leben, ſolch kraftvolles Lachen iſt darin. Die Welt des Dichters Rudolf Haas ijt nicht ſehr vielgeſtaltig,

wenn ſchon auch er ſich dann und wann an fogiale und politiſche Fragen der Zeit heranrückt („Der Volksbeglücker“, „Oiktatur“) und die völkiſche Not der Stunde einmal packend ſchildert in dem Roman „Volk in Ketten“ (1924). Am prächtigſten gelingt ihm immer wieder das Lob des Lebens ſelbſt, mag er das in den Wanderfahrten des Matthias Triebl tun oder in den Er- lebniſſen jenes oben genannten Rriminalrats oder in der Schilderung der Rleinftadtwelt im Egerlande, in den Romanen: „Die wilden Goldſchweine“ und „Michel Blank und feine Lieſel“. Wie ein Trunk aus dem Bergquell ſind ſeine Schilderungen, die Augen werden wieder hell, und die Welt wird Geſang in feinem neuen Roman der Zugendbewegung: „Kamerad, komm mit!“

Um ein Jahr jünger als er iſt der aus Sudetendeutſchland entſtammte E. G. Kolben heyper; er ſchuf in dem Spinozaroman „Amor dei“ ein Bild des politiſchen und geiſtigen Lebens der Rembrandtzeit, wie man es fic) liebevoller empfunden und künſtleriſcher gemalt kaum denken kann; er vollendete danach 1925 ſeinen „Parazelſusroman“, in dem wiederum die Sphäre dieſes großen Geiſtes mit ſolcher Darſtellungskraft, Farbenfülle, Gedankentiefe gegeben wird, daß hier einem etwas von jenem Gefühl auffteigt, welches der Zuſchauer etwa vor dem Ham- burger Bismarckdenkmal empfinden mag, das der atembeklemmenden Größe. Dieſer langſam ſchaffende und tief ſchürfende Dichter hat klaſſiſchen Rang. Es gehört ein edler Geſchmack, es gehört Reife und Ernft und Andacht dazu, fein Werk zu würdigen. Von feiner goldreinen Lyrik, bisher in Zeitſchriften verſtreut, fehlt eine gute Sammlung. Kolbenbeners Werk gleicht einem hohen ſteilen Gipfel, den nur ernfte Steiger erklimmen. Soeben erſchien fein neueſtes Werk, der Roman: „Das Lächeln der Penaten“.

Ein Starker und Großer ift auch der nicht viel jüngere, 1879 im Böhmerwolde geborene und dort noch weilende Hans Vatzli k. Er iſt das Rauſchen aller Wälder, das Träumen aller Seen, das Trotzen aller Felſen trümmer im Böhmerwald zwiſchen Offer und Arber und Rachel. Er

iſt die Stimme ſeiner Heimat, das Singen ihres Bluts, verwachſen mit ihrer Erde. Wie biegſam Der Türmer XXX, 2 10

146 Sudetendentihes Oichterland

ift feine Sprache, wie blüht ihm Bild um Bild aus der Seele! Ob er mit Eichendorffiſcher Schall · haftigkeit die „Abentever des Florian Regenbogner“ erlebt, ob er auf den Spuren der Ge- ſchichte und Volks kunde Bilder der Vergangenheit ſeines Volkes malt, der Urbarmachung des Waldgebirges in „Aus wilder Wurzel“ oder in „Sankt Gunther in der Wildnis“ (Münchener Zugend buͤcherei, Röfelverlag, Bd. 2) oder der Kämpfe ber Vorfahren gedenkt und ihrer Heimat- treue in feinen Novellenſammlungen, in den Romanen „Phönix“, „ums Herrgottswort* (1926) oder der nationalen Frage ſich annimmt in „O Böhmen“, ob er alten Volksſagen und Legenden nachſinnt, immer ift Hans Watzlik ein ganzer Dichter, In einer bilderreichen, bald ſchwertblanken und bald lerchenliedſeligen Sprache ſteigt ſeines Waldvolkes Leben empor, hier hart und dort herrlich, hier ſchaurig und dort lieblich. Voll heißer Heimatliebe iſt ſein Herz, ſeine Gedichte flammen davon, fein dramatiſches Märchenſpiel „Rotflat“ ift ein Walpurgisnachttraum im Böhmerwald, in dem fein Kobold „Oer Stilzel“ umgeht (Oeutſche Volkheit, Diederichs), und ſelbſt fein Nordlandsbild „Nordlicht“ (1926, Verlag „Blaue Blume“) trägt Züge von dem Grau- gemäuer des Offers, der über Vatzliks Heimat ſtarrt. Auch „das Gluck von Ouͤrenſtanden“ if eine Böhmerwald -Dorftragòdie.

Wie es aber neben dem ſtolzen Oſſergipfel noch manch andern Berg in dieſem Waldgebirge gibt, den zu erſteigen es lohnt, fo kennt das Deutſchböhmervolk auch neben Watzlik noch andere Poeten des Böhmerwalds. Zephyrin Zettel, 1876 unter dem Offer in Stadeln geboren, Verfaſſer mundartlicher Schnurren, Lieder und Geſchichten, der „Waldgſangla“ und „Vold⸗ gſchichten“, vom Schloge Holteis, iſt ein Liebling feiner Heimatdörfer, und im vollſten Sinne ift er volkstümlich. In der Dorfherberge, in der Mühle, im Einddhaufe, überall find feine ſchall⸗ haften Verſe zu Haufe. Um zehn Fabre älter iſt Anton Schott, der aus derſelben Landſchaft ſtammt, ein Rojegger ähnliches, aber noch weit härteres Lebensſchickſal gehabt hat imd ihm als Schilderer heimatlichen Volkstums, als treuer realiſtiſcher Zeichner der Dörfler, Hirten, Holz fäller und Hütten arbeiter feiner Heimat verwandt iſt. „Notwebers Gabriel“, „Nur ein Leinen weber“, „Bauernkönig“, „Gottestal“ find einige feine Art bezeichnende Erzählungen dieſes ſehr fruchtbaren Schriftſtellers, der, in ſeiner Form ein wenig fpröde, wegen der ſchlichten Kern; baftigteit feines Weſens, der Lebenswahrheit feiner Darjtellung von Volk, Brauch und Sitte, doch als Dichter feiner Heimat Beachtung verdient, wie etwa vor ihm der Schöpfer der Bauern- geſchichte im Böhmerwald, der leider heute vergeffene Zoſeph Rank (1816-1896) und der 1858 geborene Johann es Peter, der Begründer der Zeitſchrift „Der Böhmerwald“, der Ver⸗ faſſer vieler Dorferzählungen, wie „Es war im Böhmerwald“ und „Oer Richterbub“.

Ein großer Sprung über die von den Tſchechen beſiedelte Land platte führt hinüber an den Abfall des mähriſchen Geſenkes, nach der deutſchen Stadt Troppau. Da ift Emil Hadina zu Hauſe, den die Deutſchen im Reiche am beſten aus feinem Stormroman: „Die graue Stadt „Die lichten Frauen“ und „Nampf mit den Schatten“ kennen. Ex erlebte ſchon die 26. Auflage bei Staakmann, deſſen Verlag die ſudetendeutſchen Erzähler am eifrigſten vertritt. Wie Hadina hier liebevoll und zart und ergreifend ſich bei Th. Storm in die Zuſammenhänge feiner Schick ſale mit ſeinen Dichtungen verſenkte, ſo gelang es ihm danach, in dem Roman „Madame Luzifer“ in die wunderbare Welt der Romantik, in die ſeltſamen Lebenswandlungen ber feffelndften Frauengeſtalt jener Epoche, der Karoline Schlegel Schelling, hineinzuleuchten. Wenn der Dichter in den „Dämonen der Tiefe“ (Stiepelverlag) und „Ihr Weg zu den Sternen“ (Reisnerverlag) uns mit der Tragödie G. A. Bürgers und mit dem Frauenloſe der Schillerfreundin, Char- lotte von Kalb in „Sötterliebling“ mit W. Hauffs Geſchick vertraut macht, fo bekunden alle dieſe Arbeiten gemeinſam die Neigung und Fähigkeit Hadinas, ſich ganz in einen Menſchen und ſeine Geiſteswelt hineinzufühlen und ſein Schickſal neu zu erleben und mit ſeinem Gefühl darin zu ſchwingen. Darum kann es auch nicht wundernehmen, daß von dieſem Didter mehrere lyriſche Sammlungen herdortraten, die neben einem zarten Naturempfinden ein treues deutſches Herz offenbaren, das ſchwer unter der Orangſal ſeiner Volksgenoſſen leidet.

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Subetend eut ſches Oichterland | 147

Die reiſſte Frucht feiner Lyrik gab Hadina 1926 in dem Sonettenkranz: „Himmel, Erde und Frauen.

Um ein Zahr jünger (1886) und der gleichen Landſchaft entſproſſen ijt Ro bert Hohlbaum. Aber wie in ſeinem Bergwinkel der Wind herber iſt als in der Stadt, in der Ebene, ſo iſt auch in feinen Dichtungen eine härtere Luft. Seine Verſe find rauſchende Hymnen auf deutſchen Geiſt, deutſche Kraft und Größe. Seine Romantrilogie: ,, Die deutſche Paſſion“, „Oer Weg nach Emmaus“, , Die Pfingſten von Weimar“ find geſtaltenzuſammenballende Freskenzüge in Groß; format, in denen vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur hohen Zeit von Weimar alle Wogen geiſtigen Lebens deutſcher Kultur durcheinanderbrauſen, in denen die Geſtalt des foge- nannten Helden des Romans immer nur mitgeriſſene Welle in der großen Flut iſt. Aus ſeiner Freund ſchaft mit der Muſik heraus ſchuf Hohlbaum die reizvollen Geſchichten „Unſterbliche“, „HAmmlifhes Orcheſter“, „Frühlingswalzer“, aus feiner nibelungentreuen Oeutſchheit den Ro- man „Das Vorſpiel“, der ein feingemaltes Bild Wiens um 1866 gibt, den Roman „Grenzland“, der den traurigen Zuſammenbruch der Hoffnungen ſeines Heimatbezirks nach dem Weltkriege (Hilbert, und den Roman „Zukunft“, der den Glauben an die beutſche Jugend entwickelt. Iſt gadina der Vertreter des li terariſch-biographiſchen Romans, fo erſcheint Hohlbaum als Schöpfer des Kultur und Zeitromans der Oſtgruppe der Sudetendeutſchen, beſonders auch mit feinem lezten Roman „Oie Raben des Kyffhäuſers“.

Nicht fo bekannt geworden im Oeutſchen Reiche wie dieſe beiden iſt ein dritter Erzähler, der jener Ortsgruppe zugezaͤͤhlt werden kann, es iſt der 1860 im Siergebirge geborene und mit ihm durch fein Leben verbunden gebliebene Guſtav Leutelt. Der heimliche Zauber dieſes ſtillen ſchwermütigen Waldgebirges liegt über allen feinen Werken, über den „Erzählungen aus dem gſergebirge“, den „Rönigshäufern“, dem „Zweiten Geſicht“, „Oer Hüttenheimat“, dem „Glas- wald“. Sie find Heimatromane im rechten Sinne, Landſchaft und Menſchenart zeichnet Leutelt mit großer Liebe und feiner Beobachtung mit ſorgſamen Strichen, und wer das Ffergebirge kennt und liebt, findet in dieſem Dichter den unmittelbaren Ausdruck des Weſens der Welt, die hier dargeſtellt iſt. Nie brach Guftav Leutelt unreif eine Frucht vom Baum, ſchwer iſt fein Schaffen und bedachtſam, und etwas von der grüblerifhen Art, die drüben im Lande Jatob Söhmes und Hermann Stehrs häufiger erſcheint, findet ſich auch in einzelnen Zügen feiner dichtungen. Die draufgängeriſche Friſche und das Aufſprühen des Zorns oder das Aufblühen eines goldenen Lachens, das fo viele der ſudetendeutſchen Menſchen und auch ihre Dichter kennzeichnet, hat Leutelt nicht, er iſt ernſt und ſtill wie feine Wälder und ihre nebelumſchleierten, felsblockumwi tterten Hochmoore. Im jung voͤlkiſchen Verlag „Blaue Blume“ erſchien zuletzt eine kleine Erzaͤhlung von ihm: „Oer Einzieher“ (1926).

So reihen ſich den großen Schilderern deutſchen Weſens in Böhmen und Mähren, A. Stifter und M. Ebner ⸗Eſchenbach, mehr oder minder bedeutſam, neue Künder ihres ſudetendeutſchen Dolkstums an. Es iſt nur eine Auswahl der bekannten Erzähler, und wer auch die als Lyriker und Oramatiker gekennzeichneten Dichter betrachten wollte, dürfte den Brünner Richard Schaukal, den Teplitzer Oietzenſchmidt und den eben uns durch den Tod entriſſenen Rainer Maria Rilke (Prag) nicht vergeſſen, müßte auch der neuen Erzähler, B. H. Wittets, Adolf Wild- ners, gedenken.

Aber auch ohne dies leuchtet ein, daß alle Tſchechendrangſal die Lebenskraft der Deutſchen im Boͤhmerlande und ihrer Dichter Schaffensluſt nicht gebrochen hat, daß der Glaube an die Zukunft bei ihnen lebt und volkserhaltend wirkſam bleibt! Oas ſoll auch unſer Glaube ſein!

Dr. gans Zuchhold

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Zu unfern Bildern

Die Farbenklänge der Eifelbilder von Heinz Heinrichs wecken herbſtliche Weiſen, ſie a laſſen ernſtgeſtimmte Lieder vom Werden und Vergehen, vom Leben und Sterben in uns erklingen. Raftlos jagen die Novemberwolken über die Landſchaft dahin. Hier und da lugt der blaue Himmel hindurch, ein Gruß aus ewigen Bezirken. Die Luft iſt klar und rein, mit Feuchtigkeit geſättigt. Das verwelkte Laub der Bäume wird vom Sturmwind zerzauft. No- vemberſtimmung laſtet ſchwer und duͤſter auf den Gemiitern der Menſchen. Der Totenſonntag naht. Alte Wunden werden aufgeriſſen. Wir gedenken der Opfer des Weltkrieges. Wohl kaum eine Familie blieb verſchont. Eine Hochwaſſerkataſtrophe, die fünfzig Menſchenleben vernichtet, oder ein Erdbeben, welches Dörfer und Städte verſchlingt, will nichts bedeuten gegenüber dem Hinſterben von Millionen Männern, die in der Blüte ihres Lebens ſtanden. Sie ſanken dahin; Gras und Heide wuchern auf den Gräbern. Unmündige Kinder blieben daheim. Hilflofe Frauen ſahen der Not heroiſch ins Antlitz. Wie ein Wall von rieſigen Ausmaßen lagern rings um Oeutſchlands Gaue die Grabhügel. Die Mütter können keine Roſen dort pflanzen, die Frauen keine Gebete bort ſprechen. Darum werden Oen kmäler und Ehrentafeln, heilige Haine und Gedenkhallen errichtet, die allen Hinterbliebenen eine geweihte Stätte ſtiller Andacht geben.

Aus dem Ehrenmal der Dreikönigsſchule zu Dresden, welches die Geſtalt eines Altarbildes bat, fei eine Tafel wiedergegeben, die ſymboliſch den Tod des Kriegers darſtellt. Dieſes Ge- mälde ſchuf Hanns Hanner, einer unſerer edelſten und reinften Künſtler, mit vollendeter Meiſterſchaft. In den Armen der Mutter, der fein letztes hinſterbendes Wort gegolten, ruht der Tote, beſchattet vom Zeichen des Kreuzes, welches fic ſchwer und ernſt vom Hintergrunde abhebt.

Der Weimarer Bildhauer Marcel Kleine idealiſierte die Geſtalt des Gefallenen, der in ſeiner rechten Hand eine geknickte Roſe hält. Wie in tiefen Schlaf traumhaft verſunken, deutet er die kommende Auferſtehung an. Dieſe aber überftrahlt das Kreuz von Golgatha, welches der Chriſtenheit wichtigſtes Sinnbild wurde. Werner Rocco, ein junger aufſtrebender Künſtler mit ungewöhnlicher Begabung, hat eine Holzſchnittmappe geſchaffen, deren erſtes Bild „Beter vor dem Kreuz“ dieſen Ausblick eröffnet. Unter dem Geheimnis des Todes knien zwei wuchtige betende Geſtalten. Der Sinn dieſer Handlung kann nur in der kommenden Erlöſung liegen,

die allein der Menfchbeit Hoffnung ift, Karl Auguſt Walther

Die neue Oper

an könnte ein bekanntes Wort Nietzſches dahin variieren: daß das Moderne in der Mufil M etwa das ſei, was den Zeitgenoſſen ſelbſt nicht als ſolches zum Bewußtſein komme. Aber dann wären wir ſchon am Ende unſerer Betrachtung, dann gäbe es keine „Moderne Muſik. Denn nichts wird in unſeren Tagen von denen, die öffentlich die Muſik vertreten, lauter, auf- dringlicher, verzweifelter verteidigt als das „Moderne“; nichts wird von denen, die ſich in viel fältiger Art zur Muſik bekennen, intereſſierter, in leidenſchaftlicherer Überfhägung oder mit ener giſcherer Abwehr hingenommen als eben dieſes „Moderne“, und es bleibt uns zu fragen nötig: Was iſt bei allem Geſchrei um das Thema praktiſch-künſtleriſch für die Oper herausgekommen? Es iſt üblich geworden, der Runftgattung „Oper“ mehr oder weniger die innere Berechtigung und die äußere Lebenskraft abzuſprechen. Oskar Bie z. B. ſtellt an den Anfang ſeines Buches über die Oper geradezu den Satz: „Die Oper iſt ein unmögliches Kunſtwerk.“ Indeſſen, fo beſtechend dieſer Satz in feiner Kürze iſt, fo deutlich er von allem Anfang an das unglückliche Konglomerat der Künſte in der Oper betont, das Gegenteil davon iſt mindeſtens genau ſo beſtechend: die Oper ift das Kunſtwerk der unbegrenzten Möglichkeiten. Der Beweis hierfür liegt in der bisherigen Geſchichte der Oper, meine ich, die uns zeigt, daß zwei Genies von völlig

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Werner Rocco

Beter vor dem Kreuz (Nach einem Holzschnitt)

die neue Oper 151

gegenfägliden Exkenntniſſen aus, jedes in feinem Sinne und nach feinem küuͤnſtleriſchen Ber- mögen, eine Erfüllung des Buhnen kunſtwerks der Mufit gaben: Mozart, der für die Oper verlangte, daß die Poeſie die „gehorfame Tochter“ der Muſik fei und Wagner, der die Muſik in den Sienſt des Dramas befahl, Dieſer Rontraft ift faft bis ans Ende des vorigen Jahrhunderts im Opernſchaffen offenſichtlich geblieben, und felbft des greifen Verdi Annäherung an gewiſſe Stilgrundſaͤtze Wagners hat den italieniſchen Genius durchaus davor bewahrt, feine Eigenart, fein Perſönlichſtes, feine Suͤdlichkeit auch nur im geringſten zu verleugnen.

Wenn wir nun von dieſem grundſätzlichen Ausblick uns der Betrachtung der Lage zuwenden, in der die Opern produktion unſerer Tage ſich befindet, fo ergibt ſich ein ziemlich eindeutig klares Bild. Von den Opern komponiſten, die heute auf der Höhe ihrer beſonderen und eigen -

, timliden Lebens arbeit ſtehen alſo etwa, ohne eine vollſtändige Lifte geben zu wollen: »Kichard Strauß, Hans Pfitzner, Ermanno Wolf-Ferrari, Leos Fanacet —, von dieſen abgeſehen, unterſcheiden fic) deutlich zwei Gruppen von Opern komponiſten: die Epi- gonen und die Experimentator en. Wir haben Epigonen Wagners, Epigonen des Verismo,

der Leoncavallo, Mascagni, Puccini; Epigonen der Märchen- und Volksoper, Epigonen Richard Strauß’ und ſicherlich noch manche andere; allen gemeinſam iſt ſtets das negative Ergebnis des nur Nachgeahmten, Nachempfundenen, des Nichtweitergekommenen, des innerlich Un- eignen, das hinter oft pratentidfen äußeren Wirkungen mühſam die leere Unechtheit, Unlebendig- keit feiner blut- und ſeelenloſen Erſcheinung verbirgt. Das Epigonentum wandelt überdies in ſchickſalhafter Erfüllung feiner vollkommenen Bedeutunsgloſigkeit für die Kunſt gern auf aus- getretenen Pfaden; denn dieſe ſind bequem vorgezeichnet, und ſie liegen der Mentalität des Epigonen am näͤchſten. |

Dem Opernſchaffen dieſer Art find diejenigen Tondichter, die man zunächſt als Erperimen- tatoren auf ihrem Gebiet bezeichnen kann, immerhin ideell überlegen; fie arbeiten ernftlich an einer Erneuerung des Begriffes „Oper“, fie ſuchen dem von der heilloſen Verwirrung der nachwagneriſchen Epoche diskreditierten Ideal neuen Boden und neue Ziele zu gewinnen. Daran ift kein Zweifel; und ebenſo wenig daran, daß viel Talent, viel aufrichtige künftlerifche Bemuͤhung dahinter ſteckt. Die Frage iſt: Wo iſt das Ziel und mit welchen Mitteln verſucht man es zu erreichen? Der große Anreger der heutigen Komponiſtengeneration, Ferruccio Sufoni, war es, der auf der Höhe eines an Widerfprüchen reichen Schaffens ſich eindeutig zum mozartiſchen Opernideal bekannte (in dem Eſſay „Einige Betrachtungen über die Möglich keiten der Oper“, der in Buſonis Schriften „Von der Einheit der Muſik“ enthalten iſt). In feiner Stellungnahme zum Thema „Oper und Orama“ kommt er zu einer haarſcharfen Trennung beider Begriffe voneinander und gewinnt aus eben dieſer Scheidung die notwendig auch eine Scheidung von Wagner fein mußte feine theoretiſch-aͤſthetiſche Grundlage für eine Erneuerung der Oper aus alten Idealen diefer Runftgattung. Er hat dieſe Erkenntnis natürlich in feinen muſikaliſchen Bühnenwerken praktiſch überzeugend darzutun verſucht und dies ganz beſonders in der nachgelaſſenen, von feinem Schüler Philipp Jarnad vorbildlich beendeten Oper „Doktor Fauſt“. Dieſen Fauſt dachte ſich Buſoni ohne es direkt fo auszuſprechen als einen Prototyp der neuzeitlichen Oper. Reine Pſychologie, kein „Drama an ſich“, ſondern: Situationen, Bilder, lockeres Wortgefüge die Hauptſache bleibt die Muſik, mit ihren inneren Beziehungs-, ihren äußeren Wirkungsmöͤglichkeiten: das waren Buſonis Leitſätze in feinem Opernſchaffen. Zür dieſe Muſik ſtellt Buſoni, der einſtige Führer der „Moderne“ in der Mufit, ebenfalls klare Forderungen: die nach Melodie, die „über allen kompoſitoriſchen Mitteln ſteht“, und die nach Formen: „Vorzüglich war es mir darum zu tun, muſikaliſch ſelbſtändige Formen zu gießen, die zugleich dem Worte, dem ſzeniſchen Vorgang ſich anpaßten, die jedoch auch losgelöft vom Worte, von der Situation, ein eigenes und ſinn volles Beſtehen führten. Anfall iſt Begabung, Gefinnung, Sache des Charakters, aber erſt das Formen macht den, der jene erften Eigenſchaften beſitzt, zum Rünftler.“

152 Die neue Oper

Soweit der Meifter, der wahrhaft in feiner Art ein Meiſter war; ſoweit das Vorbild, das wahrhaft eines iſt. Aber was wurde daraus, wie wirkte es ſich im Schaffen derer aus, für die es beſtimmt fein konnte? Es war vor allem ein Ausgangspunkt für Experimente, und das augenfälligſte Experiment ſcheint mir eine vielfältige Literariſierung der Oper zu ſein. Nicht ſo ſehr das in gewiſſem Sinne einfältig Stoffliche, wie Buſoni es meinte, iſt entſcheidend, ſondern die literariſche Behandlung des Stoffes (wie es ſich etwa ganz beſonders in den er- preſſioniſtiſchen Opern erweiſt). Die Folge davon ift, daß wir manchmal ſehr „intereffante” Textbücher leſen, von denen nur nicht einzuſehen iſt, warum fie unbedingt in Muſik geſetzt werden mußten (z. B. Hindemiths, von ihm ſelbſt längſt überholter Einakter „Mörder, Hoff- nung der Frauen“, mit dem Text von Kokoſchka, deſſen Sinn von der Opernbühne herab traurig dunkel bleibt). Ein Gegenbeiſpiel hierzu: Bellini ſprach unumwunden aus, daß, je ſchlechter ein Libretto, dies um ſo beſſer für die Muſik ſei, was bei aller paradoxen Einſeitigkeit doch eine tiefe Wahrheit im Sinne der Muſik enthält. Und wie viel herrlichſter und größter Muſik ift zu den ſchlechteſten Libretti erfunden worden! Damit ſoll nicht etwa dem wert- und ſinnloſen Textbuch das Wort geredet, wohl aber die Verbindung von dem Paradoxon Bellinis zu der Opernäfthetit des neuzeitlichen Künſtlers Buſoni angedeutet fein. Und andererſeits: iſt denn etwa der Text zum „Mörder, Hoffnung der Frauen“ ſinnvoller als das Libretto von Webers „Euryanthe“ oder Verdis „Troubadour“? Ein anderes „Mittel“ der Oper von heute betrifft den Geſang, der oft gar nichts mehr mit Geſang als ſolchem zu tun hat. Vielmehr hören wir in den Opern der „Züngften“, daß mit dem letzten Aufgebot von Stimmkraft Tonreihen hervor- gebracht werden, die ſich zwiſchen Sprechen und Schreien bewegen zugunſten eines „neuen ſeeliſchen Ausdrucks“, wie fo was gern genannt wird, jedoch gänzlich zuungunſten des natür- lichſten ſeeliſchen Ausdrucks auf der Opernbühne: des Geſanges. Doch die Verwirrung iſt groß; hören wir, was ein Geſangspädagoge, E. Maud, in einem ſehr wohlüberlegten Artikel „Der Sänger und die moderne Oper“ (im „Neuen Weg“ vom 1. April 1927) ſchließlich dazu ſagt: „Die moderne Oper braucht keine Sänger und Sängerinnen, womit ich die arien- behafteten Schönfänger meine (sio), fie braucht einen neuen Sprechgeſang-Vortragsſtil, und ſolange dieſer Stil nicht geſchaffen iſt, werden ſich unſere, Sänger und Sängerinnen“ fruchtlos abmühen und keine Mittelsperſonen ſein können, die dem Werke den Weg zum gerzen der breiten Maſſe ebnen.“ Das klingt ganz plauſibel. Aber wie iſt es denn mit der Vorausſetzung hierzu: war es nicht die menſchliche Stimme, der ausgeprägte, möglichft techniſch vollkommene und dabei beſeelte Geſang, der die Oper überhaupt erſt moglich machte? Ft Maucks Forderung nicht etwa ähnlich einer gleichen, die vom Geiger moderner Muſik verlangen würde, fem In- ſtrument ſo zu handhaben, daß die Töne „wie geſprochen“ erklängen? Oder, noch grotesker, daß man Klavierkonzerte von Poſauniſten auf ihrem Inſtrument ausführen laſſen wollte? Ohne nun im eng geſpannten Rahmen dieſes Aufſatzes eingehende Beſprechungen neugeit- licher Opernwerke geben zu können, ſeien doch wenigſtens ein paar Beiſpiele erwähnt, deren Umſchreibung zu einer ungefähren Erklärung des Weſentlichen in der heutigen Opern produ- tion dienen mag. Ein Prototyp mit ſehr ſtarkem Untergrund der Beherrſchung aller mufi- kaliſchen Mittel und Formen und gleichzeitig höchſt ſpürbarem küuͤnſtleriſch-ethiſchen Willen iſt Alban Bergs „Wozzek“. Typ zunächſt der „literarifierten Oper“; Büchners Drama, das heute genau fo gedichtet fein könnte wie zu feiner Zeit, iſt geſchickt auf die für die Oper vor allem notwendigen Szenen zuſammengedrängt; Lyrik und dramatiſch ſich zuſpitzender Konflikt, Ruhe und Bewegung fügen ſich in gutem Wechſel, und für die Füllung und Bindung ſtehen die von Büchner wundervoll typiſierten Nebenerſcheinungen auf der Muſikbühne genau ſo am rechten Platz wie auf der Sprechbũhne. Berg hat das alles ſehr klug und überlegen erfaßt, und feine Muſik iſt im rein Theatraliſchen mindeſtens, in Steigerungen, Kontraſten, Stim- mungen ſtark und dem Drama adäquat gleichgültig, ob fie tonal oder „atonal“ iſt; und im Melodiſchen ftüßt fie ſich zum Teil deutlich auf den charakteriſtiſchen „Sprechgeſang“ des Wag

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Die neue Oper 153

nerſchen Muſikdramas, zum Teil aber enthält fie wirklich Elemente eines neuartigen Opern; geſanges ganz im Sinne des ſeeliſchen Ausdrucks. Die Partien des Wozjek und der Marie vor allem enthalten ſolche Strecken, in denen zwei Menſchen, die an Affekten aus unſeren Tagen leiden, die unſere Daſeinsgefährten find, auf primitive und quälend erſchütternde Art ihre Seelenlage offenbaren, und zwar im Geſ ange offenbaren. Dieſem Eindruck wird ſich kaum jemand entziehen können, der unvoreingenommen den „Wozzek“ von der Bühne herab (nicht aus dem Klavierauszug!) auf ſich wirken läßt. Ein anderes Beiſpiel: Paul Hindemiths pielbefprochener, ſehr zwieipältig aufgenommener „Cardillac“. Das Textbuch (von Ferdinand Zion) iſt eine höchſt unſympathiſche Miſchung von Romantik und Aſthetentum (mit einem gruſeligen Schuß von „Expreſſionismus“). Der Muſikant und Formbeherrſcher Hindemith kümmert ſich indeſſen herzlich wenig darum; er ſchreibt geſchloſſene Nummern, erreicht hie und da eine gewiſſe innere Übereinſtimmung mit den Bühnenereigniffen, führt fein Heines Orcheſter im linearen Kontrapunkt und iſt erſichtlich um Meifterung der Formen bemüht, Er wandelt auf Buſonis Spuren wobei wir hier gar nicht über Werte oder Unwerte ſeiner Muſik diskutieren wollen. Aber: ſo deutlich er nach der „Oper“ als Ziel ſtrebt, ſo wenig kann et es mit dem Text erreichen; und der Text wieder kann mit der Muſik kein „Muſikdrama“ werden es fei denn, daß man irgendein Geſchehen auf der Bühne unter Begleitung irgend- einer Muſik ſchon als ſolches anſprechen wolle. Ein Dilemma alſo; nein: ein Experiment. Und noch ein Beiſpiel: Kurt Weills Einakter „Der Protagonift“, nach dem Stück von Georg Kaiſer. Ein glänzendes Talent für die Bühne ſpricht aus dem Werk des Fünfund⸗ zwanzigjährigen, für den manches gilt, was über Buſoni und Berg geſagt wurde. Das Melo- diſche freilich erſcheint noch dürftig; fein, wie bei Hindemith, kleines Orcheſter tobt fic) in Rato- phonien von grauen voller, oft ekelerregender Häßlichke't, von bedrückender Aufdringlichkeit, ohne innere Uberzeugungskraft aus. Aber der Protagoniſt ift ein Kerl, und feine Schweſter ift ein leidendes Weib, und das groteske Spiel im Spiel ift wirklich grotest, und das Ganze iſt kontraſtreich, wirkungsvoll, iſt Theater; nicht ohne „Literatur“, nicht ohne Georg Raifer. Und fo könnten wir etwa noch von Schönberg und Egon Wellesz ſprechen; von Stra- winfty und Prokofieff, die aus Rußland mit Verſuchen einer neuartigen Phantaſtik auf- warten; oder von Ravel, der in Frankreich mit blaſſen Mitteln impreſſioniſtiſche, von Debuſſy über kommene Ideale zu verewigen verſucht; oder von dem Staliener Zldebrando Pizzetti, der erſichtlich darunter leidet, daß das eigentlich Italieniſche in ihm ſich mit Elementen der deutſchen Muſik vermiſcht (wie überhaupt die heutige italieniſche Muſik an der Aufnahme von Elementen krankt, denen fie ihrer Geneſis nach gar nicht gewachſen iſt). Aber es kommt hier, wie geſagt, nicht auf Vollſtändigkeit an, ſondern auf einige typiſche Beiſpiele. Und dieſe lehren uns, daß bei allem Talent und küͤnſtleriſchen Willen, der aus ihnen ſpricht, von einer Weiter; entwicklung der Oper über die großen Erſcheinungen der Vergangenheit oder gar auch über die bedeutendſten Stationen des Opernſchaffens nach Wagner hinaus keine Rede ſein kann. And dies wird fo lange nicht fein können, ſolange die Opernkomponiſten der neuen Generation dabei bleiben, ihr Werk abhängig vom „Zeitgeiſt“ zu machen, ſolange ſie daran feſthalten, daß die Oper (und die Muſik überhaupt) dazu da ſei, „Ausdruck der Zeit“ zu ſein. Man ſieht dieſe dumme Phraſe immer wieder von denen verfochten, die in der Offentlichkeit als Träger oder Propagandiſten der „Moderne“ gelten. Dieſe fragen bei der Beurteilung eines neuen Werkes nicht: Was bedeutet es für die Kunſt? ſondern: Was bedeutet es für die Gegenwart? In den großen Epochen der Muſik aber kannte man dieſe Frage und deshalb auch die dazugehörige Phraſe nicht; und wenn ſchon einmal ein ſchaffender Rünftler von überragender Größe, alfo etwa eine der letzten großen Nulturperſönlichkeiten: Richard Wagner, ſich vor eine für ihn in ſeinem Verhältnis zur Zeit aktuelle Frage geſtellt ſah, ſo war es die: Bedeutet mein Werk etwas für die innere Entwicklung der Muſik, der Oper? Und wohin muß dieſe Entwicklung führen?

154 Pie neue Oper

Aber heute ift die „Zeitgebundenheit“ Trumpf; und die Logik der in ihr vereinigten Zeit- genoſſen gipfelt etwa in folgender „Erkenntnis“: Wenn die Zeit nun einmal voll von häßlichem Geſchrei, don grauenhaften Erſcheinungen, voll von Abſurditäten aller Art iſt wie kann man da erwarten, daß die Muſik voll Schönheit, innerer Exrhabenheit, voll Gemüt und Zdealität ſei 71? Ooch dies ift ein Trugſchluß. Wohl wird jede Kunſt, jede Muſik Zeichen der Zeit in ſich tragen, aus der fie emporſteigt; wir hätten ja ſonſt keine Stile. Aber je größer und bedeut⸗ ſamer eine Runft iſt, deſto mehr iſt fie Ausdruck des inner ſten ethiſchen Gehalts einer Epoche, deſto mehr wird fie wo es nötig ift über der Zeit ſtehen, wenn deren äußere Gebärden nicht der Kunſt zugetan ſind, wenn deren Chaos das Göttliche im Menſchen, den fruchtbaren Boden für die Kunſt: die Seele zu verſchlingen droht. Gibt es einen grandioſeren Beweis hierfür als die ungeheure Erhebung der klaſſiſchen Muſik in der Zeit der ſchrecklichſtenn Zer⸗ Hüftung der europaͤiſchen Menſchheit in Kriegen und Revolution?! Und iſt der energiſche Strich durch die Widmung der EroicaPartitur an Napoleon nicht ein tief ſymboliſcher Vorgang?! Denn mit diefer zornigen Handlung wendete ſich der große Genius nicht allein gegen den Er- oberer, der ſich ſelbſt zum Imperator erhob er wendete ſich gegen ſeine Zeit, die dieſen Imperator geboren hatte und ihn trug, gegen ſeine Zeit mit der ihn nichts verband, als daß er in ihr lebte. |

Und noch ein anderes ift es, wodurch die Oper der „Züngften“ keinen biologiſch begründeten und notwendigen Fortſchritt verheißt. Hören wir, was ein ſehr erfahrener Muſiker, H. W. von Waltershauſen, der Komponiſt der einſt viel geſpielten Oper „Oberſt Chabert“ (in einer Theater Sondernummer der Magdeburger Tageszeitung vom 15. Mai 1927) ſagt: „Es wird vergeſſen, daß das Theater eben zu allen Zeiten Theater ſein wird und nichts anderes, und daß dieſes wahre Theater einfache Stoffe, eine einfache und eingängliche Behandlung des Stoffes, mit einem Wort: einen großen und klaren Al-fresco- Stil vorausſetzt, der auf ein großes Publikum, in dem die Fachleute in der Minderzahl ſind, zu wirken vermag. Alle echte dramatiſche Nunſt ift für die Auffaſſungsfähigkeit des großen Publikums geſchrieben und bat ſich doch nie von der Tagesſenſation ins Schlepptau nehmen laſſen.“ Man mag gegen dieſe Sage, die Walters hauſen kurz danach noch ausdrücklich auf die Oper bezieht, Einwände erheben; der Grundgedanke jedenfalls iſt wohl unbezweifelbar. Er ſpricht pofitiv das aus, was uns in der jungen Opern produktion als deutlicher Mangel entgegentritt: die Oper von heute iſt nicht mehr für ein Publikum da, ſondern für die Fachleute, und zwar nicht immer nur aus mufi- kaliſchen, ſondern auch aus ſtofflichen Gründen. Und über dieſe Tatſache kann auch kein noch fo lauter Premierenerfolg hinwegtäuſchen; denn: daß und wie heute ſolche „Erfolge“ „ge macht“ werden können, das iſt nicht allein in fachlich intereſſierten Kreiſen bekannt.

Wir ſehen die Bewegungen in der Opernproduktion unſerer Tage: Epigonentum, Verſuche zur Schaffung neuer Stile, Rückkehr zur Oper ſchlechthin nichts iſt ganz klar, eindeutig, gefeſtigt; nichts führt hierhin oder dorthin, ſondern alles kann überallhin führen. Am aller- wenigſten ſcheint die glatte „Kückkehr zur Oper“ Ausſicht auf Erfüllung zu verheißen; es müßte denn ein „heutiger“ Verdi kommen. Vorläufig aber iſt Verdi immer noch „heutiger“ als alle Fortſchrittler zuſammen, deren Werke unter einem tragikomiſchen Geſetze zu ſtehen ſcheinen: daß fie mit all ihrem „Zeitausdruck“ uff. (und trotz allem, was in einzelnen von ihnen an Wefent- lichem und Wahrhaftem ſteckt) abhängig vom „Heute“ oder „Morgen“, daß die heute „Modernen“ morgen ſchon ſehr leicht geftrig fein können. Und fo iſt nichts begreiflicher als z. B. die Renaiffance der Handel-Oper, die vor ſieben Jahren von Göttingen ausging und einen nicht mehr unterſchãtz baren Faktor in der Gegenwart des Operntheaters darſtellt. Die „neue Oper“ aber iſt noch lein Faktor, ſie iſt vielleicht noch nicht einmal da, und es werden noch viele Jahre vergehen, ehe man ſagen kann, ob unſere Epoche nicht nur eine ſolche der Verſuche, ſondern ſchon eine ber Dorbe- reitung, eine Zwiſchenſtufe in einer Weiterentwicklung der Oper war. Hans Teßmer

Gaspropaganda und Gas verbot Die Politik des offenen

Mundes aber der leeren Hände - Jaſper, Barthou und Poincaré

Stille Teilhaber bei ung Die litauiſchen Händel der fried-

fertigen Polen · Makedoniſche Wirren - Chamberlain auf Reiſen Genfer Jahrmarktsware

ie Warſchauer hatten neulich einen Werbetag für den Gaskrieg. Militärflieger

kreiſten; ſie nebelten die Zuſchauer neckiſch ein und beſchoſſen ſie dann mit Tränengas. Da ſetzte es luſtige Zwiſchenfälle. Denn jedermann weinte und ſuchte auf der Flucht wie Mignons Maultier im Nebel feinen Weg. Zweck der Übung war aber neben Didtun der Schreckſchuß. Wie wenn der Spaß Ernſt würde? Wenn's deutſche wären! und wirkliche Giftgaſe blieſen? „Kein Pole daher ohne Gas- mas ke!“ Ä

Ein echter Bluff ſarmatiſcher Redlichkeit. Denn uns ift ja Herftellung und Einfuhr don Giftgaſen unterſagt. Nach Artikel 171 des Diktates deswegen, weil deren kriege; riſchem Gebrauch ohnehin ein völkerrechtliches Ende geſetzt werden ſolle. Unſere Reichswehr darf ſie daher nicht mehr führen, die gefürchteten Granaten mit dem blauen, grünen oder gar gelben Kreuz. Die anderen dürfen es, aber ſo ſagt der Patriarch nur bis zum allgemeinen Verbot.

Ein Waſhingtoner Kongreß führte dann auch 1922 bereits zu einem gefinnungs- tüchtigen Beſchluß. Die Signatarmächte erklärten den Gaskrieg für einen Abſcheu der Welt. Ä

Nach dieſem fittliden Bekenntnis gingen fie jedoch hin und bildeten ihre eigene Technik Für dieſen Weltabſcheu nur deſto umſichtiger aus. Der engliſche Premier, im Unter hauſe ob dieſes Widerſpruches geſtellt, zuckte die Achſel. Solange alle übrigen nod gaſen, fei der Verzicht des einzelnen Staates doch glatter Irrſinn. Er dergaß, daß dieſen glatten Frrſinn die einmütige Weisheit aller alliierten und affo- zierten Mächte ohne Bedenken uns auferlegt hat.

Die durchgebildetſte Einrichtung beſitzt Frankreich. Es iſt jetzt derart auf der Höhe, daß es nicht weniger als 800 Gasoffiziere nebſt entſprechendem Unterperſonal dem lieben Freunde an der Weichſel ausleihen konnte. Dieſer war bisher noch ein bißchen im Ridftand und um an jenem jüngſten Tage des allgemeinen Verbotes ordentlich abrüſten zu können, muß man doch zunächſt einmal aufgerüſtet fein. Die Lehrmeiſter haben denn auch gut gedrillt; jener Werbetag lieferte das Probeftiid.

Andere Folgen hatte der menſchenfreundliche Beſchluß von Waſhington nur für Deutſchland. Damals beftand ja noch die liebe Kontrollkommiſſion. Dieſe ſagte ſich, wo ſo ernſthafte Vorſätze gegen den Gaskrieg beſtünden, da brauche doch unſere Reichswehr überhaupt gar keine Gasmasken mehr. In Polen ſoll alſo jeder Bürger eine haben, bei uns iſt ſie ſogar der Landesverteidigung unterſagt.

Der ganze Völkerbund liegt in dieſem Beiſpiel. Das einzige, was dort, freilich

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mit Meiſterſchaft, gepflegt wird, das ift der zielbewußte Widerſinn, die Politik des vollen Mundes und der leeren Hände.

Gleich nachdem Ariſtide Briand in Genf fein Preislied auf den Frieden ge ſchmettert, feierte Raymond Poincaré auf dem welſchen Belchen bei Gebweilet den Krieg. Auf keinen Fall dürften den Franzoſen die kriegeriſchen Tugenden des Opfergeiſtes, der Uneigennützigkeit, der Hingabe ans Vaterland abgewöhnt werden. Beide Redner gehören demſelben Kabinett an; beide find Erkorene desſelben Mehr⸗ heitswillens. Aus welchem von beiden ſpricht denn nun eigentlich die franzöfifche Volksſeele?

Wir haben das Greuellügengeſchrei von Dinant gehört. Es hat Hindenburg am Tannenbergtage zu der Bemerkung veranlaßt, daß wir mit reinem Herzen und reinen Händen den Krieg geführt hätten. Im Gegenſatz zu der Schoͤnrednerei von Genf verriet das ſofortige Echo die wahre Stimmung der Feindeswelt Nur die

Amerikaner Borah und Owen bekannten fic zu der deutſchen Unſchuld. Der eng- ie liſche Geſchäftsſinn hingegen deutete fofort an, Deutſchlands Entlaſtung dürfe ſchon

deshalb nicht geduldet werden, weil es dann die ſo ſchätzbaren Reparationszahlungen

einſtellen würde. Deutſchland muß ſchuldig ſein, damit es Schuldner bleibt. Dieſe 5

nüchterne Berechnung wurde dann nach britiſcher Weiſe auf die Höhe einer mora

liſchen Formel gebracht. „Wir können vergeben, aber nicht vergeſſen!“ Das iſt an N

ſich ſchon ein phariſäiſches Wort. Denn wer wahrhaft vergibt, der vergißt auch; wer

aber nicht vergeſſen will, der hat auch nicht vergeben. Doppelt heuchleriſch wird es 8

jedoch gegen uns. Denn wir verlangen weder Vergeben noch Vergeſſen, ſondern unſer Recht; dieſes juft weigert man uns mit der Gebärde der Hochherzigkeit.

Als ein Mann, dem die Politik nicht nur den Charakter, ſondern ſogar die Kinder-

ſtube verdarb, erwies ſich der belgiſche Miniſterpräſident Jaſper. Er beſchimpfte uns in dem Stile eines politiſierenden Hafenarbeiters, fo daß unſere Regierung zu amt- licher Beſchwerde genötigt war. Vermutlich ſprach der Ärger mit, daß Belgien aus dem Völkerbundsrat hinausgekugelt worden iſt. Dem kleinen Gernegroß geſchieht ſchon recht mit ſeiner feigen Fußtrittspolitik unter dem Schutze des großen Bruders. Es wird der Tag kommen, da er als das Pferd aus der Fabel dafteh*, das, um ſich am Hirſch zu rächen, ſich vom Menſchen ſatteln und beſteigen liek. Als jener aber zur Strecke gebracht war, zerrte es der Menſch in den Stall und machte es mit Zaum, Sporn und Peitſche zu ſeinem Reittier auf ewige Zeit.

Auch der franzöſiſche Juſtizminiſter Barthou trat auf, ein zweiter Amtstollege des glühenden Friedensapoſtels Briand. Er gab eine Rede von ſich, deren giftiger Jähzorn den hellen Jubel aller Camelots weckte. Unfere reinen Hände ſucht er mit Spott zu beſudeln. Es gebe Dementis, die keine Geſchichte anerkenne. Die Wahr- heit fei durch das Verſailler Diktat unwiderleglich feſtgelegt. Für einen Zuftiz miniſter iſt dies ein arger Sauhieb; denn er verwechſelt die Ausſage des Anklägers erſter Inſtanz mit dem Urteil des Richters letzter Kammer. Jeder Gerichtsfchreiberei- anwärter würde dafür durchs Examen fallen. „Bedingung für die deutfch-fran- zöſiſche Ausſöhnung iſt Stillſchweigen, wie es ja von unſerer Seite beobachtet wird. Daß zuviel Reden ſchadet, iſt ein ausgezeichnetes Sprichwort.“ Die deutſchen Staatsmänner als große Schwätzer hinzuſtellen, die franzöſiſchen hingegen als große

ae ——

Tütmers Tagebuch a 157

Schweiger, das ift beinah ein Wik. Es follte auf Hindenburg gehen, prallt aber grell zurück. Denn unfer greiſer Präſident hat in dritthalb Jahren ein einziges Denkmal enthüllt. Poincaré hingegen zieht von Dorf zu Dorf und ohne drei Denkmalsreden zwiſchen Frhſtück und Abendbrot ifts ihm allemal ein verlorener Sonntag. Freund Barthous Auftreten aber zeigt, mit welcher Sachkunde, mit welcher Unbefangen- heit und Wahrheitsliebe die franzöſiſchen Miniſter in ihrem Volke arbeiten an der Ausbreitung des Locarnogeiſtes.

Bald nach der Tannenbergfeier beging unſer Hindenburg feinen achtzigſten Ge- burtstag. Mit ihm tat es freudig erregt die ungeheure Maſſe ſeiner begeiſterten Verehrer. Überall flatterte die ſchwarzweißrote Fahne; die ſchwarzrotgoldene hin- gegen nur auf den Staatsgebduden. Reihsbanner und Linkskorporationen hatten nämlich jede Beteiligung abgelehnt. Das Gefühl für nationale Würde, das fie fo beweglich rechts forderten zugunſten der neuen Reichsfarben, verſagte völlig bei ihnen ſelber, ſobald es den Reichspräſidenten zu feiern galt.

Die Folge iſt, daß das feindliche Ausland erklärte, es habe ſich um nichts anderes gehandelt als um eine gewaltige Kundgebung des deutſchen Militarismus.

In denſelben Tagen bereitete jedoch Frankreich 15000 amerikaniſchen ,, Legiond- ven“ einen überſchwenglichen Rummel. Dieſe Frontkämpfer aus der Neuen Welt haben ſolchen Narren am militariſtiſchen Schmiß, daß ſie ihn in ſtraffſter Organi- ſation aber mit viel Trara und Koſtümphantaſtik weiter pflegen. Die franzöſiſche Regierung hatte ſie eingeladen, ſich auf den Schauplätzen ihrer Heldentaten erneut zu ſonnen. Man tat dies, um drüben 15000 begeiſterte Werber einzufangen. Erſtens für das edle, gaſtfreie, friedliebende, franzöſiſche Volk; zweitens gegen die raub- gierigen, greuellüfternen Boches; aus beidem jedoch in logiſcher Folgerichtigkeit für den amerikaniſchen Kriegsſchuldenerlaß an Frankreich.

Man gab alſo Millionen aus, um Milliarden geſchenkt zu bekommen. Nachts leuchteten die Umriſſe des Eifelturms von unzähligen Glühbirnen aufgehöht, um den Triumphbogen und die ſpringenden Waſſer des Eintrachtsplatzes ſpielten blen- dende Scheinwerferkegel. Für den Feſtzug und die Parade hatte das Miniſterium den Nationalfeiertag erklärt. Die Pariſer kehrten ſich freilich nicht daran und der Himmel auch nicht. Er gab jenen leiſen fadendünnen aber hartnäckigen Regen von ſich, der bis auf die Haut durchnäßt und alle Stimmung zu kaltem Brei zerweicht.

Auch nach Verdun wurden die Legionäre geſchleppt. Dort empfing fie Poincaré „auf dem Glacis der Zitadelle des Ideals und des Rechtes“. Freilich bekundete er auch hier ſofort die vollendete Taktloſigkeit des Eigenbrötlers. Nämlich, indem er ihnen ebenſo pomphaft wie wahrheitswidrig erzählte, der Endſieg der Verbündeten fi ausſchließlich ein Erfolg franzöſiſchen Heldentums. Unmutig liefen die Hörer aus dem Saal, und als er auf die unvergängliche Freundſchaft zwiſchen Frankreich und Amerika trank, taten ihm kaum fünfzig noch Beſcheid.

Die ganze Mache wurde alſo zur verdienten Pleite. Die Legionäre kehren trotz allen Klimbims enttäuſcht nach Hauſe zurück. Sie haben genug von einem Lande, wo ihnen die Rechtſer „Shylock“ nachriefen und die Linkſer „Sacco-Vanzetti“. Ja, wo ſogar Verſuche gemacht wurden, ihre Sonderzüge zum Entgleiſen zu bringen. In Frankreich ift der Bolſchewismus ſtärker, als man glaubt. Die Reſerviſtenunruhen

158 Zürmers Tagebuch

und Matroſenmeutereien verraten es; ebenſo ein Geheimbericht der dritten Inter- nationale über bolſchewiſtiſche Schulen in Toul und Cherbourg, ſowie über deren erfolgreiche Arbeit. Das Kabinett hatte alle Urſache, Ratowfti den ſchlichten Abſchied zu erteilen.

Der denkende Nachpruͤfer politiſchen Geſchehens weiß, aus welchen Gründen der Weltfrieden nicht kommt und auch gar nicht kommen kann. Er durchſchaut auch jetzt ſchon vollkommen klar, wo die Wahrheit liegt. Nicht bei denen, die uns, die wir unſer Recht ſuchen, den Mund verbieten wollen. Nicht bei denen, die es nicht wagen, ihre Archive zu öffnen. Nicht bei denen, die ein unparteiiſches Schieds- gericht ſcheuen wie der Verleumder den Staupenſchlag. Nicht bei denen, die jedes Verſprechen brechen und auch jetzt wieder ſtatt der feierlich gelobten 10000 Mann unter ſchoflen Vorwänden nur die Hälfte aus dem Rheinland abberufen wollen. Am 1. Januar 1930 muß die zweite Zone geräumt werden. Ich wette, die erften Rechtsverdreher Frankreichs haben heute ſchon den amtlichen Auftrag, einen Schein grund zur Nichterfüllung auszutüfteln.

Auf den Artikel 231 haben ſie genau ſo viel Anſpruch wie der Straßenräuber auf die Legitimationspapiere, die er dem Wanderer mit vorgehaltener Piſtole abnahm. Sie fürchten unſer Reden, ſchwatzen aber ſelber unaufhörlich; beides aus dem gleichen Grunde: weil die Scheu vor der Wahrheit, weil die nagende bohrende Angſt Feiglinge aus ihnen allen macht.

Sie haben übrigens Genoſſen auch in Oeutſchland. Da ift Hermann Wendel zum Beiſpiel. Ein paar Monate vor Kriegsausbruch war ich Ohrenzeuge, wie er von der Redekanzel des Oeutſchen Reichstags dem ach fo friedfertigen Frankreich ein geſchmackvolles „vive la France“ ausbrachte. Seitdem rechnet er unter die großen Propheten der Sozialdemokratie.

Diefer Hermann Wendel hat ſich im „Vorwärts“ über den Feldzug gegen die Schuldlũge ausgelaſſen. Er halte nicht viel davon. Es liege bloß die geheime Ab- ſicht zugrunde, die frühere Monarchie weiß zu brennen. Das deutſche Volk er meint natürlich die deutſche Sozialdemokratie habe aber gar keine Urſache, mit- zuarbeiten bei dieſem „Verſuch der monarchiſtiſchen Bankerotteure, nachträglich die Bilanz zu fälſchen und der gelöſchten Firma neuen Kredit zu fdaf- fen“.

Auch hier ſucht eine innere Bangigkeit nach Ausflüchten. Es wurde ſchon früher an dieſer Stelle darauf verwieſen, aber erſt durch Wendels Mund begeht ſie offen den törichten Gelbftverrat. Man kennt Deutſchlands Unſchuld und glaubt ſelbſt daran. Aber je entlafteter das Reich daſteht, um ſo größer die Sünde des Um- ſturzes. War die Monarchie unſchuldig, ſtanden wir in gerechter Abwehr, dann iſt er tatſächlich ein verruchter Oolchſtoß von hinten geweſen; zugleich aber ein blöder Reinfall auf die frechen Lod- und Hetzverſuche des Feindes.

Das darf nicht zutage kommen; beileibe nicht. Daher die ſtille Teilhaberſchaft an der ausländiſchen Verleumdung. Daher wurden die belgiſchen Dinant-Lügen den Leſern der ſozialdemokratiſchen Preſſe aufgetiſcht unter der Überſchrift: „Greuel des kaiſerlichen Deutſchlands“. Hier wird dem ausländiſchen Anwurf noch ein beſonderer inländiſcher Dreh gegeben. Denn nicht die deutſche Regierung befchul-

Tarmers Tagebuch 159

digen die Feinde, ſondern das deutſche Heer. Soviel ich weiß, handelt es fid um ſaͤchſiſche Regimenter. Das ſächſiſche Volk, das dieſe bildete, war aber damals ſchon - weit überwiegend ſozialdemokratiſch. Gerade Leute wie Wendel hätten alſo zwin- genden Anlaß, am fchärfften dagegen anzukämpfen.

Statt deſſen das Abwiegeln der Herzensangſt. „Wühlt nicht in der Vergangen- heit!“ fo wird mit erkünſtelter Abgeklärtheit gepredigt. Schweigt ſtille, ſonſt be- kommen wir die Rheinlande niemals frei! Man verlangte ſogar, Streſemann ſolle : „die rhetoriſche Entgleiſung Hindenburgs“ einrenken, und war empört, als der MNMiniſter nach Pflicht und Gewiſſen dem greifen Feldherrn zur Seite trat. Überdies noch dieſes feige Abſchieben auf die Hohenzollern. Was wollt ihr von uns, den edlen Republikanern? kokettiert man nach draußen hin. Das hat ja die Monarchie : getan, die verderbte, fluchbeladene Monarchie. „Wir“, fo ſagt Hermann Wendel, dphaben mit dieſem Leichnam nichts zu ſchaffen; wir find die Republik.“

Uns anderen liegt die Republik nicht ganz fo ſehr am Herzen. Defto mehr das deutihe Volk. Böſe Leumundmacherei von ihm abzuſchütteln, das iſt und bleibt uns Ehrenpflicht. Daher treten wir dem verdienten Herausgeber der deutſchen Aten bei, der übrigens Demokrat iſt. Dieſer Dr. Thimme verlangt nun erſt recht verdoppelten Kampf gegen die Kriegslüge. Den diplomatiſchen Vorkriegsakten müßten jetzt die militäriſchen folgen. Dann werde ſich ja erweiſen, ob Frankreich den Mut zur Nachfolge hat.

Er wird ihm fehlen. Fest und immerdar. Aber es zittert vor dem Augenblick, da KRäterußland feine Archive auspadt. Gelingt es im Weſten nicht, fo ſetzen wir im Oſten den Hebel an: Acheronta movebimus

Zn Genf ging bekanntlich Speiſe vom Freſſer aus; das heißt ein Friedens vorſchlag von den Polen. Das erinnerte ein wenig an jenen Verſchwender, der aus dem Schuldgefängnis heraus dem engliſchen Parlament einen ſäuberlichen ~ Plan zur Tilgung der Nationalſchuld vorlegte. Aber der Vorſchlag hörte ſich gut an. Angriffskrieg iſt verboten; jeder Streit durch friedliche Mittel zu ſchlichten. Man

piies ihn ſehr und fiel ihm einſtimmig bei. So friedfertig ift man in der Theorie.

In der Praxis hingegen war es richtig der Antragſteller ſelber, der die erſten Händel bekam.

Litauen iſt freilich auch kein beſonders liebenswürdiger Zeitgenoſſe. Sein Treiben im Memellande ſtellt ſich dem polniſchen in Oberſchleſien, dem italieniſchen in 1 oder dem rumäniſchen in Siebenbürgen als würdiges Gegenſtück zur

ite.

Auch im Innern herrſcht dicke Luft. Zwar mißlang der Tauroggener Putſch, aber die meiſten Teilnehmer fanden in Polen wohlwollenden Unterſchlupf. Das reizte die Leute von Kowno zu etlichen Nadelſtichen. Sie beriefen die polniſchen Lehrer ihres Bereiches zu einer litauiſchen Sprachprüfung ein. Es wurde eine fürchterliche Mufterung daraus. Von je zehnen fielen neun durch. Nach der polniſchen Preſſe hätte man aber die Ourchgefallenen ſogar auch noch, wie man faule Jungens nach- ſitzen läßt, auf die Feſtung geſchickt. Die litauiſche beſtreitet es. Sie hat allerdings ee die Unwahrheit gefagt; die polniſche freilich jedoch noch nie die

beit.

160 Zürme:s Tageucg

Defto mehr ſchlug fie Lärm. Man iſt ja bekanntlich felber gegen deutſche Lehrer

und Schüler von engelhafter Duldſamkeit. Pilſudſkis Oittaturregiment vergalt da } her, indem es alle litauiſchen Schulen auf feinem Gebiete ſchloß und alle litauiſchen Lehrer in ein Sammellager verſtaute. Das verſtieß gegen das Minderheitengeſetz,,

allein wogegen verſtößt denn Polen nicht?

Es hat ſchon 1920 das Wilnaabkommen gebrochen. Der 9. Oktober, an dem es damals die Stadt beſetzte, ijt ſeitdem litauiſcher Volkstrauertag. Eigens deshalb hat

an ihm Polen diesmal in Wilna eine lärmende Gieges- und Befreiungsfeier ver

anſtaltet. Edle Nationen rauben nie; fie befreien bloß. Mit ſittlichem Feuer ver F- urteilte daher General Haller Hindenburgs Tannenbergrede, in der die Hydra deut-F - ſcher Raubſucht ihr Haupt erhebe und die Welt mit neuer Brandſtiftung bedrohe.

Demgegenüber find die Polen ſtillzufriedene, geſättigte Leute; peinliche Ber folger des neunten und zehnten Gebotes. Es iſt nur ein Problema, wenn ihre Preife } - das Beſtehen des litauiſchen Staates ein düſteres Verhängnis nennt. Ein litauiſches Volk gebe es erſtens überhaupt nicht; zweitens fei es auch gar nicht zur Herrſchaft ; über fich ſelber reif. Und drittens werde in den Randſtaaten dann erſt Ruhe, wenn .

das alte Sagellonenreid wieder hergeſtellt, alſo Litauen mit Polen vereinigt fei.

Daß Kowno ob folder Sprache aufhorcht und feine Regimenter verſchiebt, wer] kann es den um Wilna Beſchwindelten verdenken? Man plänkelt auch gelegentlich! auf dem Grenzrain laut knallend hin und her. Der friedliebende Litauer macht den!

friedliebenden Polen, dieſer natürlich umgekehrt den friedliebenden Litauer dafür

verantwortlich. Somit beweiſt ſchon dieſer erſte Fall, wie ſchwer es iſt, den An- greifer feſtzuſtellen, den bekanntlich Acht und Aberacht des Völkerbundes zu tref·

fen hat. Ä

Wo einer der Pariſer Vorortfrieden fein Unwefen trieb, da herrſcht Spannung,

Haß und Kampf. Auch in Makedonien. Es müßte bulgariſch ſein, wenn nicht in Neuilly wie in

Verſailles, St. Germain und Trianon alle vernünftigen Grundſätze wären mit!

Schmierſtiefeln niedergetrampelt worden.

Das Land am Wardar iſt das Elſaß- Lothringen Bulgariens. Wohl miſchen ſich die Völker dort noch weit ſtärker; immerhin kommen auf acht Bulgaren je zwe Griechen, zwei Mohammedaner und nur ein Serbe. In Makedonien gab es die

erſte bulgariſche Druckerei, der erſte Geſchichtſchreiber Bulgariens war Makedoniet,

und wer die führenden Kreiſe Sofias kennt, der weiß, wie ſtark fie mit feinen Lands; leuten durchſetzt ſind. Ich bin während des Krieges einmal dort unten geweſen. Mit wem ich auch

ſprach, ich hörte immer nur, oft mit ausbrechender Leidenſchaft, den heißen Wunſch,

endlich einmal mit dem Mutterlande vereinigt zu ſein. Im Rilokloſter zeigte man mir deſſen Gäſtebuch mit einem Eintrag Deſchanels aus dem Fahre 1908. „Ce foyer de la conscience bulgare“. (Diefer Herd des bulgariſchen Gewiſſens.) So nannte er damals Makedonien. Unter feiner tätigen Mitwirkung wurde es dabet zehn Jahre ſpäter den Serben zugeſchanzt.

Dieſe machten es wie alle, denen das Diktat Bürger fremden Geblütes über antwortete. Ein ſchamloſes Regiment der Willkür enteignete und vertrieb oder nahm

Timers Tagebuch 161

feſt und folterte einen jeden, der nicht ſein Stammesgefühl zu verleugnen bereit war.

Nimmt’s wunder, daß da das Komitatſchiweſen aus türkiſcher Zeit wieder auf- tam? Es find wilde Kerle mit echten Balkangeſichtern, Falkenaugen und hängenden Schnurrbärten; im Gürtel die Piftole und den Yatagan. Ich ſprach einen hageren Greis, der dies Handwerk ſeit fünfzig Jahren betrieb. Er war einige zwanzigmal verwundet, doch nie erwiſcht worden. Primitiv in ihrem ſittlichen Empfinden find dieſe Menſchen doch unerſchütterlich in ihrer Geſinnung. Gewalt weckt nur Gegen- gewalt, und wenn der ſerbiſche General Kowatſchewitſch ermordet wurde, dann war dies nur die landesübliche Antwort auf eine Kette von ſerbiſchen Scheußlichkeiten.

Iſt hier nicht eine dankbare Aufgabe für den Völkerbund? Er könnte Frieden ſchaffen durch unbefangenes Prüfen und gerades Urteil, wenn ja, wenn es nicht der Völkerbund wäre. Aber Jugoſlavien wird von Frankreich geſtützt; hinter dem Komitatſchitreiben ſoll Italien ſtehen, daher läßt man in Genf die Dinge laufen aus Furcht vor einem Zuſammenſtoß der beiden Großmächte. Man wird nie Gas- gtanaten bei den Mächtigen verbieten, wohl aber Gasmasken beim Schwachen.

Der größte Lobpreiſer des Völkerbundes bleibt Chamberlain. Allein allemal, ſobald et Genf den Kücken gekehrt, treibt er die durch die Satzung verbotene Geheim- politik. Voriges Jahr traf er ſich mit Muſſolini, diesmal mit Primo de Rivera, dem Diktator Spaniens. Im Hafen von Palma war's, angeſichts jenes Tibidaboberges, der fo heißt, weil Jeſus auf ihm verſucht fein ſoll. Rivera iſt aber kein Heiland. Ein Hebe dich weg“ hat er nicht geſprochen, hingegen das „dies alles will ich dir geben“ gern gehört. Er rühmt, was Chamberlain für eine Großmacht aus Spanien zu machen gedenke. Man rät nun herum, ob es ſich um Marokko handle oder ein Locarno des Mittelmeers. Genaues wird ſchwerlich zu erfahren ſein. Denn wer glaubt denn, daß ein ſolches Abkommen nach Vorſchrift in Genf zum Regiftrieren vorgelegt würde?

Der Völkerbund ift ein Jahrmarkt. Schöne Sachen ſtehen in den Buden feil. Das Kind hat einen Gummiballon erſtanden. Stolz trägt es das himmelanſteigende Ding nach Hauſe. Am nächſten Tage aber läßt die Triebkraft ſchon nach und auf der prallen Hülle zeigen ſich Runzeln. Am dritten kriecht der Ballon geduckt am Voden und am vierten ift die ganze Herrlichkeit zu einem winzigen Häuflein leerer Gummi- haut verſchrumpft. Mit allen Genfer Errungenſchaften geht es ebenſo.

Dr. Fritz Hartmann-Hannover

(Abg eſchloſſen am 21. Oktober)

Der Turmet XX I. 2 11

Auf öder Warte

Hindenburgs Geburtstag

mit ſeinen 4000 Telegrammen, 12000 Zu- ſchriften und zahlloſen Aufmärſchen war ein erhebendes Zeichen dafür, wie ſtattlich jenes andre Deutſchland fein kann, das des Reids- prdjidenten Geſinnung ehrt. Zedenfalls hatte das Ausland einen ſtarken Eindruck von dieſer einmütigen Kundgebung.

darf man von Einmütigkeit ſprechen? Etwa weil ſich die anders Eingeſtellten verbdltnis- mäßig zurüdhielten? Wir wagen es nicht aus; zuſprechen. Ein Blick in die links und ganz links gerichteten Blätter beleuchtet die ſeeliſche und geiſtige Denkrichtung dieſer Kreiſe auch bei dieſem Anlaß.

Wir meinen zwar nicht das Volk. Diefes, foweit es unbefangenen Gefühlen noch zu- gänglich iſt, hat eine eingeborene Achtung vor einer konſervativen, in ſich geſchloſſenen Per ſönlichkeit, wie es Hindenburgs Geſtalt iſt. Dieſe Perſönlichkeit iſt ein Symbol für das ewige Deutidland mit feinem Pflichtbegriff und mit feinen Gemütsträften, für jenes ruhige und ſtete Oeutſchland, wie es ſich etwa auf künſtleriſchem Gebiet in einem Hans Thoma ausdrückte, der in Hindenburgs Nähe Geburtstag hat, oder im Septemberkind Wil- helm Raabe. Wenn ſich die Wogen der Nach- kriegszeit gelegt haben, wird ſich in Deutſch⸗ land ein neuer Ronjervatismus großen Stils herausbilden, zu dem man die Grund- züge ſchon in Lagarde findet. Dieſe groß- tonfervative Stimmung ift weit genug, um ein gut Stück Zukunft zu umſpannen und ſich an der Vergangenheit zu unterrichten, wohin der Weg geht.

Auch in dieſem Sinne iſt Hindenburg ein zukunftverheißendes Symbol. L.

Martin Luther

Gedanken zum Reformationsfeſt

er Mann iſt von ſeinem Werke nicht zu trennen. Mit dem Namen Luther iſt das Zeitalter der Reformation fo eng ver-

bunden, wie wohl keine andere gefchidttide Epoche, keine andere Zeitenwende ſich an den Namen eines einzelnen Mannes knüpft. Wie konnte es geſchehen, daß die Perſönlichkeit Luthers ſeiner Zeit ſo deutlich den Stempel aufdrüdte, das beſondere Weſen Luthers das Weſen und den Geiſt der Reformation fo fidt- bar beeinflußte? Wenn irgend etwas in der Geſchichte die Tatſache erhärtet, daß der große, tatkräftige Mann den Gang der ge ſchichtlichen Dinge maßgeblich beeinflußt, ſie mit feiner Wefensart durchdringt und auf be ſondere, ganz perſönliche Pfade führt, ſo liefert die Geſchichte der deutſchen Reforme- tion den Beweis hierfür. Natürlich iſt Voraus- ſetzung, daß die Begabung und der Zdeen⸗ kreis des großen gottgeſandten Menſchen in der Richtung des großen Zeitgedankens liegt. Die deutſche Seele harrte damals der &- löſung; bringen konnte fie nur ein Menſch, der fic ſelbſt durch das Einſetzen für die all gemeine Not die Seele löfte von den Bin- dungen und Sklavenketten der Zeit und der alten, unfreien Kirche. Der klare, blaue Himmel und die bunte, üppige Landſchaft des Südens befähigte feine Söhne, der mittel alterlichen Kunſt eine Wiedergeburt zu geben in Weltfreudigkeit und Freiheit. Deutſcher Gelehrtenfleiß und Gründlichkeit konnten ſich nicht mit der kirchengebundenen Wiſſenſchaft begnügen und ſchöpften in Ablehnung det Scholaſtik aus den Quellen der Heiden Doch was frommte dies alles der deutſchen Seele? Was kümmerte den einfachen Mann aus dem Volke, den ſeine Seelenangſt zu bizarrer Myſtik trieb, der alle irdiſchen Güter dahingab und doch nicht die Freiheit der Seele erlangen konnte, Künſtlerruhm und Gelehrten ehrgeig? Dem unentrinnbaren Drang, vor dem eigenen Gewiſſen beſtehen zu können, der in jeder deutſchen Seele ſchlummert, mußte Genüge geſchehen. Ein vor der Hand dunkles Ahnen ging durch das Volk und rang ſich langſam zum Lichte empor, daß äußere Werte, erkaufte Meſſen und Seelenmeſſen im tieſſten Grunde unſittlich ſeien. Der Staͤdter, dem zu

Auf der Warte

jener Zeit der praktiſche Blick für geſchäftliche Oinge nicht fehlte, ſah mit Oeutlichkeit, daß die Kirche ein inneres Bedürfnis geſchäftlich nutzte und mit der deutſchen Gewiſſensangſt einen ſchwunghaften Handel betrieb. Doch der Anſtoß zur Reformation kam nicht von jener praktiſchen, materiellen Seite, ſondern von Luther, dem innerlichen, in feiner Seele ge- aͤngſtigten Mönch. Welche Kräfte befähigten Luther zu ſeinem Werk? Es iſt klar, daß der Mann, dem die Maſſe der deutſchen Bürger und Bauern zulief, aus ihrer Mitte hervorge- gangen fein mußte und ihre Nöte kannte. gans Luther, der Vater, war nicht kirchen komm geweſen, und der Streit mit dem Sohne, als ſich dieſer dem geiſtlichen Berufe wandte, beweiſt uns klar, daß in ihm die Abneigung der meiſten arbeitsfrohen Bürger gegen Rutte und Pfaffen tum wohnte. Martin Luther, dem Sohne, lag die geſunde bürger- liche Auffaſſung von Arbeit und Lebensfüh- rung im Blute. Und doch entſchloß ſich der junge Rechtsſtudent, in Erfurt ins Avguftiner- Hofter einzutreten. Er kam nicht aus den Reifen der Humaniſten, deren Endzweck die Pflege der Wiſſenſchaften war, und die öfters die Kutte nahmen, um innerbelb der ruhigen Aoſtermauern ein beſchauliches, der Wiffen- [daft gewei htes Daſein zu führen. Ihm war vielmehr Humanismus und Gelehrſamkeit Mittel zu dem Zweck, zu ſeinem Gott in ein erträgliches Verhaltnis zu kommen. Sein Geift krankte an dem offenen Widerſpruch, deſſen ſich die Kirche ſchuldig machte, indem fie

der Zeitſtrömung folgend, den weſensfremden

gumanismus in ſich aufnahm. Seine Seele litt unter ärgeren Widerfprühen: kann der dchmenſch mit feinen nur egoiſtiſchen Trieben ſich zu einem gottnahen und Gott wohlgefäl- ligen Leben aufſchwingen? Sind die äußeren Werte, die die Kirche verlangt, nicht ein ver- werfliches Mittel, die von Gott verordnete Gewiffensnot zu erſticken? Aus Selbſtqual und Kaſteiungen riß ihn nur feine im Grunde urgeſunde Natur heraus. Einem Humaniſten wären die Zweifel nicht angeflogen, eine weniger ſtarke mönchiſche Natur wäre unter ihrer Laft zuſammengebrochen. In Luther wohnte deutſche Bürger- und Bauernart.

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Das Leben, von Gott gegeben, um es Gott wohlgefällig zu geftalten, dem irdiſchen Pflichten kreis zu genügen mit himmelwärts gerichtetem Blick, das zu lehren, ſchien ihm eines Dafeins wert. Steckt nicht etwas Ur- deutſches, etwas Fauſtiſches in Martin Luther, der nach der Erkenntnis: „Es irrt der Menſch, ſolang er ſtrebt“ ſich zu der Gewißheit durch; ringt: „Ja dieſem Sinne bin ich ganz ergeben, das iſt der Weisheit letzter Schluß, nur der verdient die Freiheit und das Leben, der täg- lich fie erobern muß?“ Dod Luther war nicht wie Fauſt der einſame Gottſucher, dem nach langer Irrfahrt am Lebensende der Weisheit letzter Schluß aufgeht. Mit der ganzen Seelen; angſt feiner Zeit, die eine Zeitenwende be-

deutet, mit der großen Kindlichkeit feines Ge-

mites und der Kraft feines Charakters löſt er die Aufgaben, die eines Mannes harren. Er löſt ſie ſeinem Weſen gemäß: einfach, ſchlicht und deutſch und für das deutſche Volk. Dr. Gerhard Schmidt

Lagarde

er hundertjährige Geburtstag dieſes deut- ſchen Propheten gibt uns Anlaß, ihm unfren tiefen Dank auszuſprechen für fein Ge- ſamtwirken gleichviel ob wir in allen Ein- zelheiten mit ihm übereinſtimmen oder nicht Denn ſeine Gedanken ſind erlebt, ſind aus feinen Sorgen um Deutſchland herausgewach- fen. Er fab ein verhängnisvolles Teil deſſen voraus, woran wir heute ſchwer kranken. Man kann ſagen, ſeine Sorge galt gerade dem, was jetzt im Mittelpunkt unſrer Türmer-Arbeit ſteht: der deutſchen Seele oder auch der Reichsſeele, ſofern ſie von den Einrichtungen des völkiſchen und ſtaatlichen Lebens gefördert oder gehemmt werden kann. Hier war er ge- radezu religiös geſtimmt. So fagt er einmal: „Es wird notwendigerweiſe zu ſinnen ſein auf eine Verbindung aller derer, welche vor Got- tes Augen leben wollen, welche auf die durch des höchſten Meiſters Hand in Angriff ge- nommene Bildung ihrer Seele achten und ihr danken. Alles Geiſtige muß auf der Erde einen Leib haben, um in der Geſchichte tätig fein zu können ... In tiefer Leib-Geiſtigkeit ging bei Lagarde Irdiſches in Ewiges über:

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feine erzieheriſche Arbeit im deutſchen Staat und Volke war zugleich Reichgottes arbeit. „Finden ſich die Menſchen für dieſen Verſuch in Deutſchland nicht und nicht bald,“ fährt er fort, „io können wir auf die Zukunft unfres Vaterlandes verzichten; Deutſchland wird dann noch eine Weile exiſtieren zu leben wird es bald genug aufhören.“

So ernſt ſtand Lagarde ſeinem Zeitalter gegenüber. Seine Beſorgniſſe ſind durchaus die unſeren. Er ſpuürte genau, daß man in der Bismarck-Zeit zwar den Reichs körper baute, aber die Reichsſeele mithineinzubauen unter- ließ. Oder vielmehr: daß dies eine beſond ere Aufgabe ſei, die nicht durch die Politik zu löͤſen war, auch nicht durch die genialſte Außen; politik.

In dieſe Hauptſorge, die ſich durch ſein ganzes Leben bedeutſam zog, wiſſen wir uns als Lagardes Mitarbeiter. Er war nicht nur großdeutſch, er war auch edeldeutſch, ſofern Lauterkeit der Geſinnung ſein Leitmotiv war. „Fromm ſein heißt, das eigene Leben und die Geſchichte als ein zu einem Ziel dringen des Ganze verſtehen.“ Darin berührt er ſich mit Fichtes idealer Forderung; und nicht ſeine gelehrten Arbeiten, ſo wertvoll ſie ſind, ſondern ſeine „Deutſchen Schriften“ berühren uns heute ſo unmittelbar, als wären ſie für die Gegenwart geſchrieben.

Lagarde ift am 22. Dezember 1891 in Göt- tingen geſtorben, nach einem Gelehrtendaſein voll Mühe und Arbeit, voll Kampf in ſeinen Beziehungen zur damaligen Öffentlichkeit. Er iſt ganz und gar nicht veraltet. In ihm ſteckte ein Künſtler: er wollte auch fein Deutſchland als Kunſtwerk ſehen und ſuchte an deſſen Meißelung mit allen guten Kräften mitzu- arbeiten. Den Götzen der Zeit trat er ſchroff entgegen, da er ſeine Kraft aus dem Ewigen bezog. Und vom Ewigen aus ſuchte er auch das Deutſche Reich zu beſeelen und durch dieſe religiöfe Läuterung wahrhaft zur Ein- heit zu führen.

Er iſt wenig gehört worden im Materialis- mus des Zeitalters. Wir müſſen ſein Werk fortſetzen.

Abrigens weiſen wir bei dieſem Anlaß wieder auf einige Hauptwerke von und über

Auf der Barte

Lagarde hin. Eine ſchöͤne Auswahl mit Bildern erſchien im Verlage Eugen Diederichs, Jena (eingeleitet von Friedrich Daab); eine Aus- gabe feiner „Oeutſchen Schriften“ (geh. 5 N., geb. 6,50 M.) in 3.5. Lehmanns Verlag, Münden; ebendort und zu demſelben Preife „Ausgewählte Schriften“. Ein Auswahlbänt- chen mit Lebensbild veröffentlicht auch Rare Boeſch (Augsburg, Bärenreiter Verlag). La- gardes Bücher gehören in jede deutſche Bücherei,

Entnordung?

8 die deutſche Forſchung an Derfel- gungswahn ? Gobineau hat von der Der nichtung der weißen Raffe geſprochen, Speng ler vom Untergang des Abendlandes und Günther droht mit der Gefahr der „Ent nordung“. Die Antiſemiten ibrerfeits fpre chen von der jüdiſchen Weltherrſchoft“. Schäkt man die über uns waltenden unſichtbaren Meiſter und Mächte ſo gering ein? Vertrauen wir fo wenig der göttlichen Weltlen kung?

Anknüpfend an Günthers Raffenlehre, die er in ihrer Art würdigt, macht der kluge Wil helm Stapel im „Oeutſchen Volkstum“ ein paar Einwendungen, die wir uns durchaus aneignen. Er ſchreibt:

„Es ift ein trübfeliger Anblick: die Natur führt immer und überall in den Kulturen durch ,Gegenauslefe’ (ein nicht hinreichend geklärter Begriff) zu weiterer ‚Entnordung. Und jetzt nun ſoll der menſchliche Wille die Natur korrigieren. Günthers Mittel? Ein Verein für raſſiſche Gattenwahl und Ge burten vermehrung. Förderung der Rinder produktion und Eheberatung ein ſcheußlich rationaliſtiſches Auskunftsmittel. Wenn die nordiſche Raſſe nur fo erhalten werden kann, ſoll man fie lieber zugrunde gehen laſſen. Bas ſtark ift, muß ſich ſelbſt Raum ſchaffen. Wie oft ſeit 1918 waren bei uns herrliche Gelegen heiten zu großen „Wikinger“ taten! Warum haben die nordiſchen Menſchen weder in Ber lin noch in München noch in Hamburg noch vom platten Lande aus einen neuen Staat zuſtande gebracht? Oa murren ſie über die „Oſtiſchen“ und werden von ihnen regiert. Oer nordiſche Held ſetzt ſich aufs Altenteil,

Auf der Warte

denkt Kinder und Ahnen und ſchüttelt das Haupt, würgt ſich kleinbürgerlich mit Ehe- ſorgen und Kinderkriegen herum und iſt im Herzensgrunde froh, daß er ‚angefichts der ſchwierigen Lage‘ der politiſchen Tat ent- hoben ift, „weil's ja doch nichts nutzt“, ehe, wir nicht wieder nordiſcher geworden ſind . Wenn der nordiſche Menſch als politiſcher Führer dem deutſchen Volke Lebensraum ſchafft, dann wird er wieder maßgebend ſein und das Leben beſtimmen. Wenn er ſich aber an einen raſſekundlichen Stammtiſch zurückzieht und ſtatt durch Taten und Leiſtungen im Staat durch Hilfe für fich ſelbſt gedeihen will, wird er in Lächerlichkeit ſterben. Hammer oder Amboß! Wer ſich nicht mehr verſchwenden kann, ſtirbt.“

Die Memme als Ideal

s ift Vorrecht der Maſſe, durch Stim-

mung bald ſo bald anders aufgepeitſcht, in naiven Gegenſätzen des Denkens zu irr- lichtern. So zieht das Reichsbanner zu pazi- fiſiſchen Kundgebungen aus mit Trommeln, Pfeifen und militariſtiſchem Gleichſchritt, ohne id bes Wi derſpruchs irgendwie bewußt zu fein. Und wenn die Beſchlußerklärung: „Nie wieder Krieg!“ angenommen ijt, dann rückt es gedanke nlos ab unter dem Gefang des Liedes: „Schwarz das Pulver, rot das Blut, golden flackert die Flamme.“ Daß auch der Frömmſte nicht in Frieden bleiben kann, wenn es dem boͤſen Nachbar nicht gefällt, das iſt zu klar, zu logiſch, zu erfahrungsbewährt, als daß es verſtanden würde. Daher ein ewiges Nör- geln an der Reichswehr, weil ſie ihre Leute zum Maſſenmord abrichte. Nach wahrhaft demokratiſchen Grundſätzen hätte fie mut- maßlich mit Pralinen zu ſchießen und Plum- pubdinge in die Geſchuͤtze zu laden; auf dem Seitengewehr müßte ſtehen: „Du ſollſt nicht töten!“ und auf dem Stahlhelm: „Gib Frie- den, gerr, in unſern Tagen.“

Militäriſche Intereſſen zu wecken, das wird bereits als ein Verbrechen an unſerer Jugend gebrandmarkt. Der pommerſche Oberpräfi- dent Lippmann hat daher Schulausflüge ins Mandvergelände unterſagt. In Paris rühmt

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man ihn dafür als einen verſtändigen För- derer der moraliſchen Abrüftung Deutſchlands, geht indeſſen ſelber ans Werk, die eigene Ju- gend ſchon auf der Schule in Waffen auszu- bilden. Und dieſer écolier soldat findet in allen Vaſallenſtaaten emſige Nachfolge.

Wir hingegen ſtellen uns immer noch höher. Schon wird gefordert, unſere Jungens ſollten grundſätzlich zur Memme erzogen werden.

Herr Fritz Gottfurcht tut es und zwar in der „Weltbühne“: „Wir brauchen, ſo verkündet er, Abbau des Mutes und Anerkennung der Feigheit Sport als Kriegserſatz iſt, auch abgeſehen von den Wehrvereinen, eine akute Gefahr —. Es war in dieſen Tagen ſehr ſchwer, für die Feigheit Propaganda zu ma- chen es hilft nur eins: unbedingte lebensbejahende Feigheit. Wo Lebensgefahr iſt, keine Freiwilligen!“

Der „Fridericus“ zieht daraus eine Folge- rung, an die der Erzieher zur Memme offen- bar nicht gedacht hat. Es gibt nämlich Fälle, wo die lebensbejahende Feigheit des einen auf den nddjten höchſt lebenverneinend wirken muß. Wie z. B. wenn Fritz Gottfurcht ins Waſſer fällt und kläglich um Hilfe ſchreit? Laßt ihn doch erſaufen! Wo Lebensgefahr, teine Freiwilligen! Ich glaube, in ſolchem Falle würde Fritz Gottfurchts letztes Wort ein Fluch auf die Memme fein, die er jetzt als den ÜUbermenſchen der Zukunft preiſt.

F. H.

Beſatzungskoſten

er ſpricht denn bei uns viel von den

Beſatzungskoſten? Und doch belaufen ſich dieſe völlig unnützen Ausgaben auf ganz beträchtliche Höhen. Im „Rheiniſchen Beob⸗ achter“ erfahren wir darüber:

Oer Verſailler Vertrag hatte beſtimmt, daß Deutſchland neben den Reparationen famt- liche Roften, welche durch die Beſetzung ent; ſtehen, zu tragen und mit Vorrang vor den übrigen Schulden zu zahlen habe. Deutſchland mußte alſo den Sold für die Beſatzungs- truppen, ferner die Roften für ihre Aus- rüſtung, Verpflegung und Unterbrin- gung an die Alliierten entrichten, und zwar entweder direkt durch Barzahlung oder in-

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direkt durch Auszahlung von Quartiergeldern und Entſchädigungen an die Einwohner des beſetzten Gebietes, bei denen die Truppen Wohnungen oder ſonſtige Gegenſtände requi- tiert batten. Da die Alliierten anfangs die Zahlungsfähigkeit Deutſchlands für uner- ſchöpflich hielten, und da die Zahlungen für die Beſatzung auf die Reparationsſumme nicht angerechnet wurden, hatten die Alliierten zunächſt wenig Neigung, zu ſparen. In den erſten ohren find für Errichtung von Ka- fernen, Beſchlagnahme von Quartieren, Ein- richtung von Flug- und Ererzierpläßen, für die Beſoldung der Truppen und für fonftige Hee- resbedürfniſſe geradezu fabelhafte Sum- men verbraucht worden. Der Geſamtaufwand an Beſatzungskoſten für die Zeit vom 11. No- vember 1918 bis 30. April 1921, alfo für die erſten Fahre, belief ſich auf 3763 Mil- lionen Goldmark, alſo mehr als F/, Mil- li ard en. Auch in den folgenden Jahren waren die Koſten noch außergewöhnlich hoch. In der Zeit vom Mai 1921 bis 31. Auguſt 1924 be- tragen die Geſamtkoſten 1705 Millionen Goldmark. Von der Zeit des Waffenftill- ſtandes bis zum 31. Auguſt 1924 hat man alſo insgefamt 5468 Millionen Goldmark ausgegeben, das iſt erheblich mehr als die ge- ſamte franzöſiſche Kriegsentſchädigung nach dem Kriege 1870/71. Dieſe ganze Summe ijt für Deutſchland und die Reparations- gläubiger verloren, da fie nicht zu Entſchä⸗ digungszwecken, ſondern lediglich zur Deckung der völlig un produktiven Ausgaben der Beſatzungstruppen verwendet wurde.

Nach dem 1. September 1924 (Oawesplan) wurde dieſer Brotkorb zwar den Alliierten etwas höher gehängt, doch beliefen ſich die Koſten noch auf 214 Millionen Goldmark (1924/25), im zweiten Jahr auf 197 Mil- lionen; im laufenden dritten Jahr werden ſie vorausſichtlich auf 250 Millionen ſteigen, da noch rückſtändige Beſatzungskoſten zu zah⸗ len ſind.

So wird Oeutſchland geſchröͤpft. Man fragt ſich erſtaunt und ergrimmt, wie lange denn dieſer Aderlaß fortgehen ſoll?!

*

Auf der Warte

Wer ſoll moraliſch abrüften?

237 mir liegen einige Lehrbücher, die in den Gpmnafien Frankreichs und der franzoͤſiſchen Schweiz verwendet werden. In dem kleinen engliſchen Lefebud „Teller of Tales“ (bei Hachette, Paris 1917 erſchienen, finde ich neben Gullivers Reiſen, Peter Simple, Tom Brown’s schooldays und ande ren alten Bekannten drei Lefeftüde, die fid mit Deutſchland befchäftigen. Das iſt ibe raſchend, denn man erwartet von einem fol: chen Buche zunächſt doch die Schilderung eng liſcher Menſchen und Verhältniſſe. Zudem wird keinem anderen der europäiſchen Lande die gleiche Auszeichnung zuteil. Bei näheren Eindringen ſehen wir jedoch, daß wir keinen u Grund haben, uns darüber zu freuen. Oa ift t zum Beiſpiel ein Stück, betitelt „About Ger man Polioemen“, das dem liebenswürdigen Buche des deutſchfreundlichen engliſchen Sr moriſten, Jerome K. Jerome, „On the Burr mel“ entnommen iſt. Der Verfaſſer gefällt fie von Anfang bis Ende in grotesken Ülbe- treibungen, die da und dort ein Krümchen Wahrheit enthalten. Nicht nur über die Deut- ſchen macht er ſich luſtig, ſondern auch übe ſich ſelbſt und feine engliſchen Reiſegefährten. Er will gar nicht, daß man ihn ernſt nimmt, ſondern nur die Lachmuskeln in Bewegung ſetzen. Profeſſor Rancès jedoch, der Urhebet des Leſebuches, verfolgt andere Abſichten. & hat ein Kapitel herausgegriffen, das bei we- tem nicht zu den luſtigſten und geiſtreichſten gehört. Dadurch, daß man es aus dem Br ſammenhang löſt, bekommt es eine Be deutung, die ihm urſprünglich fehlt, und & gelingt, den deutſchen Schutzmann und im weitern Sinne die geſamten deutſchen Gin- richtungen lächerlich zu machen.

Aber es kommt noch ſchlimmer. Nur wenige Seiten entfernt finden wir eine Epiſode aus dem Oeutſch-Franzöſiſchen Kriege des Jahres 1870. Das Brudftüd ſtammt aus einem Roman von Ouida, doch wird mit keiner Silbe angedeutet, daß es ſich um eine er dichtete Erzählung handelt. Die Begeben beit ein roher preußiſcher Offizier läßt in ruchloſer Weiſe ohne jede moraliſche Recht

Auf der Warte

fertigung einen edelmütigen franzöfifchen Landmann und Familienvater erſchießen iſt vielmehr ſo dargeſtellt, als handle es ſich um eine verbürgte geſchichtliche Tatfache !

Das dritte Lefeftid „Ein Wirtshaus des Mittelalters“ verdient eingehendere Betrach⸗ tung. Der Titel klingt harmlos, die bei- gegebene Erklärung ift es ſchon weniger. Sie lautet: Gerhard reiſt zu Fuß von Holland nach Rom. Das Folgende iſt die Beſchreibung eines deutſchen Gaſthauſes, in welchem er die Nacht verbringt:

Zn dieſem Gaſthauſe alſo geht es äußerſt ſchmutzig zu. Die von draußen hereintommen- den Männer nehmen eine Reinigung vor, deren Sinn ſchwer verftdndlid iſt. Nachdem fie ſich in der Wirtsſtube die langen Haare ge- tammt haben, ſchaben fie mit ihren Zafchen- meſſern den Schmutz von ihren Schuhen auf den Stuben boden und benützen dasſelbe Meſſer, um ſich Brot vom gemeinſamen Laib abzufhneiden. Das Waſſer, das zum Hände waſchen her eingebracht wird, iſt fo efel- aregend, daß Gerhard entruͤſtet ausruft, es hätte ſelbſt nötig gewaſchen zu werden. Daß die Luft in dem Raume jeder Beſchreibung ſpottet, daß die Betten, von denen je eines

zum Gebrauch von zwei Gäſten beſtimmt iſt, von Schmutz ſtarren, verſteht ſich nach dem Vorhergefagten von ſelbſt.

Zufällig habe ich auch den umfangreichen Roman gelefen, dem dieſes Idyll entnommen iſt. Er hat den Titel „The Cloister and the Hearth“, und der Verfaſſer, Charles Reade, erzählt darin die Geſchichte des Erasmus von Rotterdam und die feines Sohnes. Die Be ſchreibung deutſchen Landes nimmt einen verſchwindend kleinen Raum darin ein. Wenn man weiß, wie der Franzoſe Michel de Mon- taigne, der etwa um die gleiche Zeit wie jener Serhard Oeutſchland bereiſte, die Sauberkeit, Ordnungsliebe und Freundlichkeit feiner Be⸗ wohner rühmte, fo kann man nur lächeln über die wildumherſchweifende Phantaſie des eng- liſchen Schriftſtellers und feine unwahrfchein- lichen Schilderungen, denen jede geſchichtliche Unterlage fehlt.

Die jungen franzöſiſchen Lefer jedoch, denen man dergleichen vorſetzt, muͤſſen glauben, ein

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Sittengemãlde vor ſich zu haben, nach der Art etwa von Freitags „Bildern aus der deutſchen Vergangenheit“. |

Es iſt bekannt, wenn auch vielleicht noch lange nicht genügend, daß man feit 1870 Bü- cher und Schulhefte in Frankreich in den Dienſt chauviniſtiſcher Propaganda geſtellt hat. Aber vielleicht iſt es nicht unwichtig dar- auf hinzuweiſen, wie raffiniert dabei zu Werke gegangen wird.

Wenn man im neutralen Ausland von die; fen Dingen ſpricht, fo wird einem ſtets geant- wortet, man müffe bei den Franzoſen vieles mit ihrem leidenſchaftlichen Temperament entſchuldigen. Derartige Methoden können jedoch nicht als ſpontane Ausbrüche der Lei- denſchaft gelten. Sie find mit kalter Berech ; nung ausgedacht und von einer Hinterbhdltig- keit, die geradezu teufliſch anmutet.

Bũcher von der oben geſchilderten Art wird man in der ganzen deutſchen Schulliteratur vergeblich ſuchen. In Frankreich aber und in der franzoſiſchen Schweiz find fie noch überall an der Tagesordnung, und es kann wohl an- geſichts dieſer Tatſachen kein Zweifel darüber beſtehen, wer von den beiden Ländern es am nötigften hat, moraliſch abzurüften !

Th. Lehnert

Thomas Mann und Mar Holz

acco und Vanzetti und kein Ende!

Die Kommuniſten blaſen weiter in das ſachte verglimmende Feuer, auf dem ihr Süppchen eine Zeit lang fo [hin kochte. Daß der Unhold Max Hölz, deſſen Name mit dem trübſten Rapitel der deutſchen Nachkriegszeit verknüpft iſt, wie fein Verteidiger Dr. Apfel berichtet, ſeeliſch zuſammengebrochen ſei, als er von dem „Zuftiamord in Boſton“ erfuhr, läßt uns völlig kalt. Als brave deutſche Men- [hen den Raub und Mordzügen dieſes Der- brechers zum Opfer fielen, zeigte er keine Spur menſchlichen Mitgefühls. Recht fonder- bar muß es berühren, daß dieſer edlen Seele in der Perſon des Dichters Thomas Mann ein Helfer und Herold entſtanden iſt. In einem Briefe an Hölyz’ Anwalt ſchreibt dieſer: „Max Hölz die Ehre abzuſprechen und ihn rechtens

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zum lebenslänglichen Tode zu verurteilen, war eine wülte und blöde Tat, die gut zu heißen oder achſelzuckend hingehen zu laſſen, kein freier und gutwilliger Geift ſich über- winden kann. Gibt es denn an den oberſten Stellen des Reiches kein Gefühl dafür, daß es ſich empföhle, daß es ſich dringend emp- föhle, dem im Volke um ſich freſſenden Miß trauen gegen die Reinheit der Juſtizpflege durch das mutige Eingeſtändnis geſchehener Mißgriffe und durch ihre hochherzige Wieder gutmachung Einhalt zu tun?“ ... Wir raten Thomas Mann, dem Verfaſſer der „Betrach- tungen eines Unpolitiſchen“, dringend von politiſchen Betrachtungen ab. Sie muß uns nachdenklich ſtimmen ... dieſe Freundſchaft zwiſchen Thomas Mann und Max Holy! ... Dr. Gerhard Schmidt

Der Räãtetanz

ndlich wieder einmal ex oriente Ter-

psichore. Polonaiſe und Krakowiak find ja längft überwundene Errungenſchaften aus der Polenſchwärmerei der Biedermeierzeit. Seitdem be ziehen wir unſere Tänze faſt aus- nahmslos aus dem Weſten, die meiſten ſogar aus der Neuen Welt. Ihre Namen verraten's ſchon: Waſhingtonpoſt, Cakewalk, Foxtrott, Blues, Charleſton, Blackbottom. Auch der Tango macht keine Ausnahme; er ſtammt ja gar nicht aus Peking, ſondern aus den Chine- ſenvierteln San Franciscos.

Nun will aber der rüſtige Oſten wieder an die Führung heran. Räterußland ſtrebt nach neuem Ruhm und neuer Reklame.

Lenin verbot alle Ballokale. Nicht etwa aus Gründen der Sittlichkeit. Das wäre verwerf- liche Beſchränkung des perſönlichen Trieb lebens; alſo rätewidrig. Nein, vielmehr, weil dieſe neuen Tänze alle ſo amerikaniſch, alſo „bourgeoiſe“ und kapitaliſtiſch ſind.

Allein der Ruſſe tanzt raſend gern. Selbſt der bärtige Muſchik in feinen Langſchäftigen wird ganz Rhythmus, ſobald die Balalaika klimpert.

Das Politbuͤro erwog. Tanz iſt Kurzweil, Tanz macht froh. Der Frohe ſchimpft aber nicht, noch weniger brütet er Umjturz. Es gibt

Auf der Warte

alfo gar keine feſtere Stütze der Räterepublik als das geſchwungene Tanzbein. Wo hatte bloß der ſonſt fo weitſichtige Lenin feine Ge- danken, als er ihm eine Galeerentugel an- band?

Somit wurde der Tanz an ſich wieder frei. Nur für die ſeuchen verdächtige Einfuhr aus Dollarien gab's keine Gnade.

Wohl jedoch bemühte ſich eine weltkluge Regierung um Erſatz. Alle Fachleute wurden zum Erfinden neuer Tanzarten angeregt. Na- türlich mußten es proletariſche ſein; will ſagen ſolche, die ſich abkehren von dem ſinnloſen Geſchrittel des Bürgertums und ſelbſt im Der gnügen nur eine Verherrlichung der Arbeit ſind.

Der Wettbewerb hatte Erfolg. Ein Ballett meiſter reichte fünf neue Weiſen ein, die alle ſamt als geſinnungstüchtige Prolettänze das behördliche Plazet fanden. Von Sichel und Bammer, den gekreuzten Wahrzeichen des Rate wappens befeuert, ſchuf eine Dame einen Reigen, der die Verbrüderung der Bauern und Arbeiter verfinnbilblidt. Sehr beliebt wurde eine zukunftsfrohe Allegorie, worin ſich das rote Rußland den Sieg über das kapita⸗ liſtiſch blaue Weſteuropa ertangt.

Den Preis jedoch trug eine andere davon. Schon darum, weil kein Einzelgeiſt ſie erſann, ſondern echt kollektiviſtiſch ein Ausſchuß von Muſikern und Tanzlehrern. Überdies füllt fie eine ſchmerzliche Lücke. Denn fie überfeßt die Lehre von Karl Marx endlich auch ins Choreo- graphiſche. Da der Menſch erſt beim Fabrik arbeiter beginnt, heißt fie „die Maſchine“. Der Körper des Tanzenden ahmt nämlich die rhythmiſche Unermüdlichkeit des gleitenden Maſchinenkolbens nach, derweil die Fife ſich im Takte der Dampfhämmer bewegen. 9a mit iſt das ganze wirtſchaftliche Denken wie das religidfe Fühlen des Rãteſtaates ſchlicht und ſinnig auf die Formel Lamettries zurüd- gebracht: „Lhomme machine“.

Für die bolſchewiſtiſche Propaganda ver- ſpricht man ſich Wunderdinge von dem ge nialen Tanz. Gelingt's von oben nicht, da fängt man eben von unten an. Laſſen ſich die Köpfe fo raſch nicht zum Rateideal bekehren, die Füße tun's gewiß. F. H.

Auf ber Warte

Chamberlain und Lenbach

GG ber den jüngſt verftorbenen Houfton Stewart Chamberlain find bereits mehrere Schriften erſchienen, z. B. neuer- dings von Georg Schott (München, Lehmann), die des bedeutenden Anregers Lebenswerk beleuchten. Durch die Tagespreſſe gingen bei dieſem Anlaß Meldungen über Chamberlains Zuſammenkunft mit Lenbach, an die wir in „Deutſchlands Erneuerung“ erinnert werden. Eines der letzten Bildniſſe, welche Lenbach geſchaffen hat, iſt das von Chamberlain. Ze öfter Lenbach ihn betrachtete, um fo nach- denklicher wurde er. Chamberlain mußte ihm ſeine Hände zeigen, er prüfte ſeinen Kopf mehrmals von allen moglichen Seiten, und eines Tages rief er ihm faſt heftig zu:

„Sagen Si e mir, Herr Chamberlain, find Sie Ihrer Abſtammung nach wirklich ein echter Engländer?“

„ga,“ antwortete Chamberlain, „mein Vater iſt Eng länder, meine Mutter Schottin, meine Großmutter war eine Waliſerin, ich ten mich alſo mit Recht als einen Vertreter der großbritar miſchen Hauptinſel betrachten!“

Lenbach aber ſagte weiter: „Nein, dieſe Schlafen, dieſ e Hände, dieſes Verhältnis vom Oberkopf zum Geſicht, und vor allem dieſer Schnurrbart!“

Darauf hol te er ein Bild von Nanſen und zeigte es Chasnberlain mit den Worten: „Das it Ihr Verwandter, des iſt Zor Typ! Sie haben keinen rein engliſchen Typus!“

Chamberlain ſchrieb dieſes Gefprdd an ſeine 1815 geborene Tante und bekam die ſiberraſchende Antwort: „Lenbachs Scharf finn ift bewundernswert. Beine Urgroßmutter Maria Katharina Böckmann ſtammte aus Lübeck und pflegte mir mit beſonderer Vor- liebe von ihrem norwegiſchen und auch ſchwediſchen Stammbaum zu erzählen!“

Diefe Urgroßmutter iſt alfo das ver- mittelnde Glied, welches uns für das von Lenbach entdeckte germaniſche Außere Cham- berlains den nötigen Aufſchluß gibt. Daß Chamberlain von Jugend auf auch innerlich ih dem Oeutſchtum verwandt fühlte, ift betannt, Zum Beweis fei hier noch eine Brief

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ſtelle aus der Biographie Chamberlains von L. v. Schroeder (Verlag von 3. F. Lehmann) angeführt, die er bereits in feinem 20. Lebens- jahre geſchrieben hat: „Bei den Deutſchen empfinde ich, als ob ſie mich verſtünden und ich fie, ein Gefühl, das ich bei Englän- dern noch niemals gehabt habe. Tatſächlich bin ich ſo gänzlich unengliſch geworden, daß ſchon der bloße Gedanke an England und an Engländer mich unglücklich macht!“

Bemerkenswert iſt noch, daß Chamberlain das engliſche „th“ nicht richtig ausſprechen konnte. Er ſelbſt bringt dies mit der Tatſache zuſammen, daß ſeine Großmutter Waliſerin war. Liegt es nicht näher, dabei an Cham- berlains germaniſche Abſtammung zu denken? Dieſes „th“ iſt für die deutſche Zunge ja von jeher ein Stein des Anſtoßes geweſen. Zu- treffendenfalls hätten wir die Vererbung eines Raſſenmerkmals über mehrere Gene- rationen hinweg vor uns.

Das Ende eines Volkes

uf Veranlaſſung der Stiftung des Mu-

ſeums für Indianerkunde machte der Volksforſcher Lothrop in New York eine Er- kundungsreiſe nach der Süͤdſpitze Amerikas. Als Darwin im Zahre 1831 dieſe Gegenden beſuchte, ſchätzte man die Zabl der Eingebore- nen auf etwa 20000. An Stelle der vier großen Indianerſtämme, die damals jene Ge- genden bevölkerten, fand Lothrop nur noch zwei Stämme mit zuſammen 50 Köpfen.

Mit den Eingeborenen des Feuerlandes kam zuerſt eine argentiniſche Erkundungsfahrt von 1886 in unmittelbare Berührung. Als der Führer einer großen Anzahl Eingeborener be- gegnete, ließ er fie verfolgen, um fie zu Ge- fangenen zu machen. Da ſie ſich wehrten und ihre Pfeile abſchoſſen, befahl der argentiniſche Rapitän Liſta ſcharf zu ſchießen und in wenigen Minuten bedeckten 28 Tote und viele Ver- wundete, darunter auch Frauen und Rinder, den Boden.

Auf das Gerücht von den Reihtümern dieſer bis dahin für unfruchtbar gehaltenen Land- ſtrecken erſchienenen Goldſucher und Vieh- züchter, meiſt aus Argentinien, nahmen das

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Land der Eingeborenen ohne weiteres in Be- fig und drängten fie nach Süden in die un- durchdringlichen Wälder und gefährlichen Sümpfe zuruck, wo viele an Hunger oder

Krankheiten ſtarben.

In feinem merkwürdigen und ſpannenden Buche „Zehn Jahre im Feuerland“ (Leipzig bei Brockhaus, 308 Seiten mit 123 Bildern und Rarten) berichtet der italieniſche Pater Agoſtini über die Taten unmenſchlicher Grau- ſamkeit durch die eingedrungenen Weißen, die ohne weiteres eine harmloſe lebenskräftige Raſſe ausrotteten. Forſcher, Viehzüchter und Soldaten knallten die Indianer nieder, wo ſie ſie trafen, als wenn es ſich um irgend ein Wild handelte. Erbarmungslos entriß man Männern und Vätern die Frauen und Töchter, ſetzte ſie jeder Schmach aus und ſchleppte ſie vom heimiſchen Herd im Namen der „Wiffen- ſchaft“ nach fernen Ländern, wo man ſie als die niedrigſten Vertreter des Menſchen- geſchlechts öffentlich zeigte. Um dieſe Ro- heiten zu rechtfertigen, erdichteten die Mörder Schauermären und erzählten von blutigen Angriffen und grauenhaften Metzeleien der Eingeborenen, die nicht kriegeriſch geſinnt waren und nur ihre Habe, Siedlungen und Familien verteidigten. Chileniſche Truppen machten Jagd auf die Indianerſtämme und ſchleppten ſie nach Punta Arenas. Um die Eingeborenen als Beſitzer des Landes un- ſchaͤdlich zu machen, weil fie die Ausdehnung der Viehherden verhinderten, ſetzten die chile leniſchen und argentiniſchen Viehzüchter für jedes Paar Menſchenohren, das ihnen ge- bracht wurde, 20 Mark als Prämie aus! Und da die Eingeborenen, um ihren Hunger zu ſtillen, auch tote Tiere, die ſie auf dem Felde fanden, ohne Ekel aßen, vergiftete man große Fleiſchſtücke mit Strychnin, um raſcher zum Ziele zu kommen. Das ganze Vergehen der Eingeborenen beſtand darin, daß ſie nicht zwiſchen Guanako und Schof unterſcheiden konnten, daß ſie auf ihrem Grund und Boden jedes Tier für jagdfrei hielten

Zu den Gewalttaten trat der ſchaͤdliche Ein; fluß der weißen Raſſe in Geſtalt von Schwind- ſucht, Maſern, Röteln und geſchlechtlichen Krankheiten, nicht zuletzt durch den Schnaps.

Auf ber Warte

Naheres darüber berichtet Agoſtini in feinem Buch und bebt die Verdienſte des Paters Fagnano hervor, der den Indianern, als nie- mand ein menſchliches Mitgefühl mit ihnen hatte, ſich als Beſchuͤtzer zur Seite ſtellte, ihre Sache im Namen der wahren Kultur und der Religion verteidigte, die grauſamen Ver folgungen einzudämmen ſuchte und den ar men abgehetzten Indianern auf der Znſel Dawſon im Februar 1889 eine chriſtliche An ſiedlung als ſichere Zufluchtsſtätte erbaute. Da die Zahl der Eingeborenen beſtändig abnahm, mußte die Anſiedlung 1912 aufgegeben wer- } - den. Doch verblieben noch kleinere Siedlungen am Rio Grande und am Fagnanoſee, wo die :: Indianer Pflege und Unterkunft erhalten, bis! die ganze ſonſt geſunde und ſympathiſche Raſſe ausgeſtorben ſein wird. P. O. Ä

Unſere Kulturvorträge in Eiſenach

es Türmers Ruf war eine ſtattliche Ge meinde gefolgt, nicht nur aus Eiſenach,

ſondern auch von fern her waren unfer .

Freunde herbeigeeilt, um den Worten eine Weltweiſen zu lauſchen, der wie kaum ein anderer befähigt iſt, die Wege zur Höhe zu weiſen, zur inneren Erneuerung Oeutſchlands. Friedrich Lienhard hat ſeit Jahrzehnten in feinen Werken die Beſeelung Deutſchlands gefordert. Sein Freund Robert Saitfhid wirkt vor allem durch das geſprochene Wort in glei · chem Sinne. So verſprach der Gedanke, die Arbeit des Türmers durch perſönliche Zu⸗ ſammenkünfte zu ergänzen, auf fruchtbaren Boden zu fallen. Die Unmittelbarkeit der Sprache im Gegenſatz zum Schrifttum ver- mag den Weg zum Herzen leichter zu finden. Und die Herzensträfte zu wecken, das iſt die wichtigſte Aufgabe der Gegenwart. Unfere Vorträge waren zunächſt nur ein Verſuch, und wir können fagen, daß er gelungen iſt.

Profeſſor Saitſchick hatte für feine vier zehntägige Vortragsreihe das Geſamtthema gewählt: „Der Sinn des Oaſeins, ge deutet durch Dantes Gdttlide Komdͤdie. Dieſes geniale Kunſtwerk deckt in einzigartiger Weiſe die Tragödie des menſchlichen Dafeins auf und zeigt zugleich den Weg zur Erlöfung

Auf der Warte

aus allen Gebundenheiten des Lebens in fei- nen mannigfachen Schickſalen. In Kunſt und Literatur der Weltgeſchichte gibt es nur we⸗ nige ſolcher Werke von Ewigkeitswert. Sie offenbaren dem Einſichtigen den Sinn des Dajeins. Philoſophien, Begriffe und Defini- tionen verſagen gegenüber den tiefſten und höchſten Fragen der Menſchheit. Hier kann nur das Symbol, die bildhafte Ausdrucksform des genialen Runjtwerts Antwort geben. Kunſt und Religion ftehen in unmittelbarer Be- ziehung zueinander. Wahre Kunſt iſt nicht Selbſtzweck, ſondern muß notwendigerweiſe durch Erfaſſung der Wirklichkeiten des menfd- lichen Daſeins und ſeiner Tragik den Weg der Erlöfung zeigen. Der künſtleriſche Menſch wird zum Chriſtenmenſchen. Das Chriſtentum ift die Erfüllung der tiefſten Erlöſungsſehnſucht des Menſchengeſchlechtes.

Wir müſſen es uns verſagen, an dieſer Stelle auf den Inhalt der in jeder Hinſicht meifterhafterr Vorträge Saitſchicks einzugeben, ſondern verweiſen auf unfere ausführlichen Berichte in d er „Eiſenacher Zeitung“ vom 17., B. und 28. September. (1. bis 3. Teil „Kul- turvorträge in Eiſenach“.)

die freundliche Mithilfe der Stadt Eiſenach, deren Oberb ürgermeiſter Dr. F anſon an der Spitze des Kuratoriums unferer Rulturvor- träge ſteht, ſowie das Entgegenkommen des Herm Auguſt Röder, des Beſitzers der „Elifa- bethenruhe“ ermöglichten die Teilnahme an den Vorträgen zu den günſtigſten Bedingungen.

der Oberburghauptmann von Cran ach batte die Teilnehmer zu einer Beſichtigung der Wartburg, der Stätte Luthers und der Heiligen Eliſabeth eingeladen. Er ließ den Gäſten die ſonſt verſchloſſenen Räume der Burg zeigen, in denen mancherlei koſtbare Schäße der Vergangenheit aufbewahrt wer- den. Im Abenddämmern erklang der Geſang der Eiſenacher Rurrende: „Ein“ feſte Burg iſt unſer Gott“.

Nicht weit von Eiſenach liegt im Werratale die Schweſterburg der Wartburg Schloß Ereuz- burg, deſſen Hof ein gewaltiges Kreuz be- derrſcht an der Stelle, wo einſt Bonifazius das Kreuz des Chriſtentums errichtete. Der Sefiger der Burg, Kommerzienrat Georg

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Koſſenhaſchen, hatte die Teilnehmer zu einem Beſuche gebeten, aus dem ein großartiges Creuzburgfeſt wurde, verſchönt durch mufi- kaliſche Darbietungen von Frau Koſſen haſchen und Profeſſor Wilhelm Rinkens.

In ſeinen Abſchiedsworten am letzten Abend dankte Profeſſor D. Dr. h. e. Friedrich Lien- hard vor allem Profeſſor Dr. Robert Sait- ſchick, der in feinen tieffhürfenden und ergrei- fenden Vorträgen die Herzen aller Hörer ge- wonnen hatte und der in feiner begeifternden Art eine große Zahl neue Freunde fand, die künftig jeder zu feinem Teile mitwirken werden im Pienfte an der deutſchen Seele. Das ijt Türmer-Geiſt, der eine große un- ſichtbare Gemeinde vereint! Oberbürgermei- ſter Dr. Zanfon bat die Teilnehmer, ſich dem tiefen Dante anzuſchließen, der jeden bewege. Man erhob ſich von den Sitzen, um Profeſſor Saitſchick zu ehren, der in ſeiner vorbildlichen Schlichtheit, die ſtets mit wahrer Größe ver- bunden iſt, jede äußere Erfolgwirkung ablehnt, und ſtill und ernſt von ſeinen Schülern Ab- ſchied nahm. Karl Auguft Walther

Unterminierung der Kunſt

ie planmäßig von gewiſſen Schichten I an der Vernichtung der europdifden Kultur der Überlieferung des Abend- landes gearbeitet wird, zeigt das Belennt- nis, das Erwin Piscator, der Leiter der neuen Piscator-Bühne am Nollendorfplatz in Berlin, als Darlegung feines Vorhabens abgibt. j Da dieſe Bühne des äußerſten Raditalismus die Öffentlichkeit ſtark beſchäftigt, teilen wir dieſe Darlegung hier mit.

„Unſer Theater,“ ſchreibt Piscator in der Magdeburgiſchen Zeitung (R.-A. Nr. 442/45 vom 1. 9. 27.), „das nun ohne unſer eigenes Zutun, aus den Verhältniſſen heraus, unter meinem Namen ſteht, hat eine Aufgabe. Wir ſehen im Theater genau ſo wie im Buch oder in der Zeitung nichts als ein Mittel, um eine beſtimmte Idee zu vertreten oder zu pro- pagieren. () Daß wir gerade das Theater be- nutzen, liegt in unſerem perſönlichen Tempe- rament und vielleicht in einem beſonderen Sinn für dieſes Mittel. Die Idee, die wir ver-

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treten, iſt eine politiſche. Einer Generation, die im Augenblick, da ſie ihr Leben beginnen wollte, in den ungeheuerlichſten Sujammen- bruch der Weltgeſchichte hineingeriſſen wurde, können weder Sexualethik noch Individual- pſychologie Inhalt und Antrieb ihrer Kunſt ſein. In den fürchterlichen vier Jahren, in denen wir erlebten, daß im Zntereſſe einer kleinen Schicht (?) alles zerſtampft und zer- ſtört wurde, was man uns als die heiligſten Kulturgüter der Menſchheit angeprieſen hatte, in denen die armen und ausgebeuteten Maſſen der Erde mit einem Schlagwort, hinter dem ſich die ſehr realen Intereſſen von Aktien- geſellſchaften und Syndikaten verbargen, in den Tod geſchickt wurden, haben wir erkannt, daß unſere Schickſalsmächte Politik und Wirt- ſchaft heißen. Mit ihnen müſſen wir uns aus-

‚einanderfegen; indem wir ihre Bedeutung

zeigen, ihre Kräfte analyfieren, helfen wir an der Aufgabe, die unſerer Generation geftellt iſt: Überwindung dieſer Welt des Haſſes, des Hungers und der Zerſtörung.

„Dieſes Bewußtſein, dieſer Wille iſt unauf- hörlich in uns lebendig und empfängt neue Nahrung mit jedem Tag feit 8 Jahren. Alle Mittel, die ich auf der Bühne anwende, haben ſich organiſch aus dieſem Zweck ergeben, den das Theater für uns erfüllen ſoll. Nicht aus Senſationsluſt oder Effekthaſcherei laſſe ich den Film auf der Szene ſpielen; für mich iſt jedes Ereignis untrennbar verbunden mit dem geſamten Leben der Menſchheit. Der Film ſoll die nãhere oder weitere Umwelt der Szene zeigen, er iſt das gegebene Mittel, um Aus- löfungen oder Einflüffe außerhalb des darge- ſtellten Einzelfalles dem Zuſchauer zu zeigen. Dasſelbe bedeutet für mich das Radio. Am liebſten möchte ich in jedes Stück die wirklich letzten Meldungen der ganzen Welt hinein- bringen laſſen. () Jedes Stück müßte fo aktuell und lebendig in ſeiner Problem- ftellung fein, daß es das aushält. ()

„Auf die ſtärkſte Wirkung in das reale Leben hinein kommt es uns an. Wenn die Be- ſucher unſeres neuen Hauſes das Haus be- treten, fo ſoll die Welt hinter ihnen nicht ver · ſinken, ſondern ſich auftun. Nicht die Welt des „Dichters“, die Welt von Geſtern oder von

Auf der Barte

Vorgeſtern mit ihren überlebten (7) Schi falen und Meinungen, ſondern unfere Welt in ihrer ganzen Unerbittlichkeit, Härte und Grauſamkeit, fo wie fie iſt. Wir kennen den Begriff der Kunſt, ſoweit ihn die bürgerliche Epoche der letzten 50 Jahre formuliert hat, und wir erkennen ihn an, fo wie er unſerem Zweck dient, aber wir diſtanzieren uns be wußt von ihm, wenn er uns hindert unmitte. bar in unſerer Wirkung zu fein. Wir woller nicht die Reihe der guten Unterhaltungs theater in Berlin um ein neues vermehren.

„Die Literatur, die wir brauchen, ift erſt in Entſtehen. Wir hoffen, daß unſer Theater ik einen mächtigen Antrieb geben wird. Manche an dramatiſcher Produktion wird denned gerade in der erſten Zeit aus den Bedingungen unferes Theaters ſelbſt erwachſen. Die leber digſten Kräfte der jungen internationale Literatur, ſoweit fie uns ideelich verbunde find, werden in Gemeinſchaft mit uns das ur- geheure Weltbild unſerer Zeit dramatiſch + geſtalten verſuchen. Wir ſehen im Autor einen Mitarbeiter, () der von der Entſtehung te Stückes bis zu feiner Aufführung das Arbeits‘ leben des Theaters teilt und aus ihm lemt. Es gibt für uns bis zur Premiere tein „fertige“ Stück. (1)

„Nicht perſönliche Eitelkeit, nicht der Macht wille Einzelner, ſondern lediglich der Geiſt de Sache, der Bewegung, der das Theater un jeder Mitarbeiter vom erſten bis zum letzten dient, wird die Haltung unſeres Theaters be ſtimmen.“

Dazu iſt zu ſagen: Wenn Piscator das Theater, deſſen Leitung ihm ein Geldmann (Herr Katzen ellenbogen) anvertraut hat, zu einem Mittel der Propaganda machen will, und zwar für politiſche (kommuniſtiſche) Sdeen, fo beweiſt dies, daß er keine Ahnung davon hat, was Kunſt ift beweiſt er, wie berechtigt Nietzſches Warnruf war, das Theater möge nicht Herr über die Kun werden. Wenn er ſagt, daß „im Zntereſſe einet kleinen Schicht“ in den vier Jahren des Well krieges alles zerſtampft und zerftört wurde, was man uns als die heiligſten Rulturgilet der Menſchheit angeprieſen hatte, ſo fragen wir: ob der Krieg je etwas anderes war alt

Auf der Warte

Zerſtörer, Erfciitterer, gerade deshalb aber Begründer neuer Entwicklungen? Ob Herr Piscator fo naiv iſt, zu glauben, daß Aktien- geſellſchaften und Syndikate, die nur im

Frieden gedeihen können, einen Grund hatten,

einen Krieg von unberechenbarem Ausgange

herbeizuführen? Das glauben, heißt denn doch

1

Karenz

die mannigfachen Kräfte verkennen, die unge-

beuren Spannungen, die den Ausbruch eines ſolchen Erdbebens, wie es der letzte Volker krieg war, bewirkt haben. Und wähnt Herr

Piscator, daß er dieſe Kräfte, welche auch

immer fie fein mögen, durch die Propaganda einer Bühne bannen könnte? Wenn er nun gar Film und Radio, die Errungenſchaften der Technik, am liebſten die letzten Meldungen der ganzen Welt in jedes Stüd hinein bringen möchte, fo zeigt das deutlich feine Abſicht, die Kunſt von Grund aus zu zerſtören. Er mißachtet ja die Welt des „Dichters“, als

die Welt von Geſtern oder Vorgeſtern mit

ihren überlebten Schickſalen und Meinungen; er ſieht, nach feinen abſchließenden Aus-

führungen, im „Autor“ einen „Mitarbeiter“, leineswegs den ſchöpferiſchen Geift, dem ih die Bühne völlig un ter zuordnen hat. & derkennt, daß die Weltdramatiker Aſchylos, Sophokles, Shakeſpeare, Calderon, Lope, Roliere, Goethe, Schiller mit ihren ewigen Verten noch leben werden, wenn fein Zeit- theater vergeſſen und verſunken iſt. Hochmut kommt vor dem Fall. Aber dies Bekenntnis, dieſe Sründung in der Hauptſtadt des Reiches iſt lehrreich als ein Beiſpiel dafür, daß die Vernichtung der Rultur (wie die Ber- nichtung des Staates durch die Revolution des dugerften Radi kalismus von Moskau aus- ging) jetzt ihre Vorpoſten mitten in Oeutſch- land ausftellt, in dem Volke, für deſſen Runft und Literatur ein Herder, Goethe, Richard Wagner, Nietzſche, Kralik und Benz wirkten.

Inzwiſchen ift die Piscator-Bühne mit ernſt Tollers Zeitrevue „Hoppla wir leben!“ eröffnet worden. Die Preſſe aller Schattierungen hat einmütig das völlige Siasto nicht nur dieſes Stückes, ſondern auch des Theaters feſtgeſtellt.

Dr. Ernſt Wachler

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NB. Aber die klerikale „Germania“ lobt Herrn Piscator! Was für ein gottverlaſſener Kritiker hauſt denn an dieſem Blatt?! Im Programmheft der Piscator-Bühne lieſt man: „Die Kirche in der Karikatur, eine Sammlung antitleritaler Karikaturen ... Jahrhunderte lachen über die Kirche. Lachen Sie mit!“ Schöne Bundesgenoſſen! D. T.

Paul Ernſt

in erſchütterndes Kapitel, das über den

Dichter und Denker Paul Ernſt! Fragt man den Theaterbeſucher nach ihm, fo ver- beſſert er wohl und ſpricht von Otto Ernſt, dem „Flachsmannerzieher“, während der Dichter Paul Ernſt auch von fogenannten Höchſtgebildeten nicht gekannt iſt. Das fiel mir bei einem Rundſchreiben, ein „Paul Ernft-Bud“ betreffend, im ganzen Umfange ein. Welche Künſtlertragik! Ein Dichter ſchreibt Werk auf Werk, ſteigt immer höher und kann kaum gedruckt werden; von Auf- führungen ſeiner Werke ganz zu ſchweigen. Da iſt die feſtgeformte Tragödie; da iſt das wirkliche Luſtſpiel; da find eine Reihe philo- ſophiſcher und äſthetiſcher Bucher; da wächſt ein Reichtum und eine Schönheit an Novelliſtik auf, wie wir ſie lange kaum ſo groß erlebten; da liegt hohe deutſche Vergangenheit tunft- voll geſtaltet: nein! das kennt der Serr Berater des Kultusminiſters nicht, der in ſeine ſogenannte Akademie den unerſchöpflich-täti- gen, an wechſelnden Motiven überreichen Dichter nicht aufnehmen konnte, weil Paul Ernſt zu groß und zu wuchtig eben für dieſe Akademie wäre, in der neben Dichtern eine üble Mittelmäßigkeit emporwuchert.

Sch ſage es auf Grund eines umfangreichen Briefwechſels: „man“ kennt dieſen ſtolzen Dichter nicht, der ſich als Landwirt in die Steiermark zurückgezogen hat und ebenſo un- ermüdlich tätig iſt, wie feine Nichtkenner ſich im „glorreichen Sommer“ ſonnen und nichts zuſtande bringen. „Man“ kennt ihn nicht. Mag diefer Geſinnungspöbel ihn nicht kennen, den Mann mit dem Leſſingſchen Ton, den großen Novelliſten, den Dramatiker, vor dem jeder kritiſch Eingeſtellte den Hut zieht. Wenn er als

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Figur eines Romanes in feinem Ringen und Kämpfen dargeftellt wäre: wie würde man nach dieſem Buche greifen. Doch er lebt unter uns, aber wie mir Max Jungnickel in einem längeren Gedicht ſchrieb:

„Ein freies Licht! Ein wahres Licht!

Und manches Licht, das ſtolz auf dem Tiſch des Hauſes ſteht,

Wird klein

Und duckt ſich.

Und flackert nur noch vor ſich hin“

Wir werden uns des Dichters wieder er- innern. Dieſes ſollte nur ein Hinweis ſein, daß es ſehr übel um das Volk der Dichter und Denker ſteht, wenn es ſeine wahrhaften Führer vergißt. Es ſollte dem lebenden Dichter nahe treten (wie es in Italien durch Muſſolini gefhah!), und nicht dem toten Feiern bringen. Wie in ſolchen Angelegen- heiten des deutſchen Geiſtes das Kultus- miniſterium verfährt: das wird einem ermen Privatdozenten vielleicht in einer Unterſuchung zur a. o. Profeſſur verhelfen

Dr. W. E. Gierke

Geiſt der Aftrologie

ichts gewiſſer, als daß Sonne und Mond

von ungeheurer Einwirkung auf alles Leben find. Die Sonne ſchafft unſern Tag: ſie ſpendet Licht, Frohſinn, Wärme, Nahrung; ihr Verſchwinden bringt Dunkel, Schauer, Kälte. Der Mond bewirkt Ebbe und Flut; die Zeit feines Umlaufs entſpricht dem Rhythmus des Blutes im weiblichen Körper. Seit ur- alten Zeiten hat man die Macht dieſer beiden Geſtirne, der „Lichter des Himmels“, erkannt. Aber auch von den andern Geſtirnen, zumal den Planeten, mußten Wirkungen ausgehen. Welcher Art waren ſie? Auch ihr Stand, ihre Bewegungen ſchienen bedeutungs voll. We- nigſtens haben dies alle Sternkundigen bis auf Kepler und Tycho de Brahe angenommen. Es war der religiöſen Denkart früherer Welt- alter unfaßbar, ſich vorzuſtellen, daß all dieſe erſtaunlichen Bewegungen ohne Sinn und Be- deutung für den Menſchen feien, in deſſen Be; reich fie ſich abſpielten. Erft der Materialismus der Wiſſenſchaft des neunzehnten Jahrhun-

Auf ber Warte

derts hat dieſe Anſicht zerſtört und damit den Menſchen herausgenommen aus der Schoͤp⸗ fung, von der er doch ein Teil iſt. Aber der Mikrokosmos iſt vom Makrokosmos nicht zu trennen. Neuerdings hat man eingeſehen, daß dies Verfahren falſch iſt und irreführt.

Anders Goethe, nicht weniger groß als Na- turforſcher denn als Dichter. Er ſtellt fein Ge burtshoroſkop an den Anfang feiner Lebens- beſchreibung und zeigt dadurch die Bedeutung, die er ihm beimißt. Seine Autorität iſt von nicht geringem Schwergewicht für ein Urteil über dus Problem.

In der Lat find die Aufſchlüſſe, welche die Lebensdeutung auf Grund des Geburtshore- flops gibt, fo erſtaunlich, daß man fie nicht ohne weiteres als leere Phantaſtereien ab- lehnen kann. In dieſen Studien ſtecken die Beobachtungen und Erfahrungen von Zahr ; tauſenden. Es liegt Weisheit darin verborgen. Wir lernen durch ſie zwar nicht die Zukunft kennen; aber wir kommen, durch Vertiefung in fie, dem Ratfel unſeres Lebens näher und beginnen, feine Gebeimniffe zu verſtehen.

Der Geiſt der Geſtirnwelt, deren wunderbaren

Einwirkungen und Einflüffen wir unterworfen zu fein ſcheinen, iſt ein tief religiöfer und fitt- licher. Er lehrt Ehrfurcht vor der Gottheit, Andacht bei Betrachtung des Univerſums, Einordnung. Was täte unferer zerfahrenen, zerftüdten Zeit mehr not? Die Betrachtung der Geſtirne, die Frage nach ihrer Bedeutung für unſer Dafein iſt vielleicht ein Weg, um ein ſeeliſch verarmtes, verrohtes und entgöttertes Geſchlecht zu innerem Reichtum, zu Hoch- jinn, zu Gott zurückzuführen.

Zu dieſem Behufe ſind Führer vonndten. Und da bietet ſich dem Gebildeten in Os kar A. H. Schmitz' Werke „Geiſt der Aftrolo- gie“ (München, bei Georg Müller), ein Buch dar, das ihn, unterhaltend und feſſelnd genug, in die Geheimniſſe dieſes Wiſſenszweiges ein führt. Es wird Uberzeugten wie Zweifelnden Nutzen, Anregung, Belehrung, Erbauung geben. Es bringt Literaturnachweiſe und vermag Wißbegierigen weiterzuhelfen. Es iſt anziehend geſchrieben, voll Geiſt, und zeigt, daß kluge Leute ſich nicht bloßſtellen, wenn ſie ſich mit der Aſtrologie abgeben. Die Wendung

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Auffder Warte

zu ihr, gerade nach den ungeheuren Schidjals- ſchlägen des Weltkriegs, iſt bezeichnend für die Amkehr der erſchütterten Menſchheit: fie kündet vielleicht den umſchwung vom öden Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts zu einem erneuten Zdealismus an.

Dr. E. W.

Die neue Jeremias Gotthelf⸗Aus⸗ gabe

ie überragende Bedeutung des großen ſchweizeriſchen Erzählers, des Liikel- flifer Bauern pfarrers Albert Bitzius, hat ſich durch die Menſchenalter nach ſeinem Ableben immer darin bekundet, daß die Neu- Ausgaben ſeiner Werke ſeit dem Tode im Jahr 1854 nicht abbrachen. Waren es zumeiſt neue Auswahl- Ausgaben (1885 gleich zwei: bei Julius Springer in Berlin und bei Cotta in Stuttgart, dann 1898 die grundlegende textkritiſche Detteriſche Volksausgabe in 10 Bänden [Sern], 1886— 1888 die Neclamſchen Uni- verſalbibliotheks⸗ Bändchen und 1908 die Adolf Bartelsſche Gotthelf Ausgabe in 10 Bänden dei Max Heſſe in Leipzig: der ſchmucken Kite in der Ausgabe der Wiesbadener Volks- dücher nicht zu vergeffen) fo genügt all dies nicht, um der völligen Auswirkung des großen geiſigen Erbes Gotthelfs gerecht zu werden. denn noch heute hat der bedeutende deutſche Vollsfreund und treue Gottesmann, deſſen Leben in Arbeit und Enge geſegnet und klar wie je eines Menſchen irdiſches Daſein nur zu ſchnell verrann, längſt nicht feinen Ein- gang ins Volk gefunden. Man führt ſeinen „Uli den Rnecht“ und von den Erzählungen „Elfi die ſeltſame Magd“ oder allenfalls den »defenbinder von Rickiswyl“ an und glaubt damit für die literariſche Beleſenheit und das Belen Gotthelfſcher Dichtung das Nötige bewiefen zu haben. Feinere „Renner“ tun den weiteren Gotthelf etwa mit dem Bemerken ab: „Die anderen Schriften find Tendenzarbeiten und zeitlich wie örtlich gebundene Schweizer Stücke, die heute als überholt gelten müffen.“ Don einem Buchkritiker hörte ich einmal das überlegene Wort: Ein Band und man hat den ganzen Sotthelf. 's iſt halt immer das- ſelde: Bauernleben und Moralpauke.

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Sollte es nicht nachdenklich ſtimmen, daß Adolf Bartels, der hochkritiſche, eine ganze Monografie dem lange toten Schweizer widmete (2. Auflage, München 1904)? Daß Ricarda Huch ſeine Weltanſchauung in einer großen Abhandlung würdigte und daß ſeit 1920 der ausgezeichnete Kenner Sotthelfs, Rudolf Hunziker, zuſammen mit Hans Bloeſch im Verlage von Eugen Rentſch in Erlenbach Zürich eine auf 24 Bände angeſetzte tert- kritiſche Geſamtausgabe (zuſammen mit der Familie Bitzius, einem alten Berner Patri- ziergeſchlecht) herausbringt? Nein! Zere⸗ mias Gotthelfs deutſche Miſſion beginnt erſt eigentlich, denn ſein dichteriſches Werk iſt eine der Säulen, beſtimmt das neue gewaltige Gerüſt des geiſtigen, großen Deutſchlands mit zu tragen. Solange die Geſamtausgabe nur zum kleineren Teile vorliegt (davon allein zwei Bände dem auf Verlangen der Familie ſeinerzeit un veröffentlicht und unvollendet ge- bliebenen und erſt 1913 entdeckten „Eſau“ ge- widmet) ſcheint die neue Herderſche Gott- helf Ausgabe durchaus berufen, die hohe Aufgabe der Auswirkung des Gotthelfſchen Volkserbes zu übernehmen und als wohl- feile, dabei in vier umfangreichen Bänden die beiten Stücke aus den Romanen und Er- zählungen bringende Auswahl neben der Ge- ſamtausgabe im Volke heimiſch zu werden. Sohannes Mumbauer beſorgte die Auswahl und gibt in einer klaren, erſchöpfenden Vorrede ein Bild von Weſen und Werk des Oichters.

Man freut ſich, neben den in Einzelaus- gaben bekannten Erzählungen unvergleichliche Stücke wie „Die ſchwarze Spinne“, „Das Erdbeer-Marrili“ und „Barthli der Korber“ zu finden. „Geld und Geiſt oder die Ver- ſöhnung“ und „Käthi die Großmutter“ müffen als die gelungenſten aller Gotthelfſchen Romane (neben dem „Uli“ gelten. Und doch ſollte der „Bauernſpiegel“ nicht fehlen, jene erſte Schöpfung, mit der 1837 der Vierzig- jährige fertig an die Offentlidteit trat und der er den Namen feines Helden Jeremias Gotthelf als eigenen ſchriftſtelleriſchen Deck- namen entlehnte. Ohne Zweifel iſt dieſe in der Ich Bekenntnisform gehaltene Geſchichte

eines verwaiſten Bauernbuben zu Ende des

176

18. Jahrhunderts, der von der Gemeinde in Armenpflege vergeben, ſich durch viel Unge- rechtigkeit und Hohn zu der Lebensaufgabe hinaufquält, als Armenpfleger wenigſtens anderen armen Teufeln ihr Los erträglicher zu geſtalten, der ſtofflich das Geſamtgebiet Gotthelfſcher Schaffenskunſt umfaſſende Ro- man mit dem Grundmotiv: Kampf dem Anrecht und der Unſitte! Er bringt in ſeiner gewaltigen Anlage eine fo lebens- und tampf- gefättigte Kulturſphaäre zur Geltung, daß zu allen weiteren Romanen ausreichte, was zu einzelnen Kapiteln hier nur geftreift war. Albert Bitzius bleibt ein Phänomen: Kraft und Form feiert in der auf knapp achtzehn Schaffensjahre beſchränkten Rieſenleiſtung Triumphe, und es iſt ein Zeichen des Genies, daß dieſer werktätige Dorfhirte nur ungern ſich an den Schreibtiſch ſetzte und entfernt nicht aus Liebe zur Kunſt und zum Fabu- lieren, ſondern lediglich aus frommem und humanem Eifer, feine Schweizer und nament- lich fein Land volk auf Nrebsſchäden der Volks- entwicklung warnend hinzuweiſen, ſich ge- nötigt fühlte. Aus dem Streben, höchſt an- ſchaulich und peinlich getreu dem Leſer die lebenden Vorbilder hinzumalen, entſtand dann jene unerreichte Darſtellungsart von Land und Leuten. Der epiſche Strom floß dieſem begnadeten, in ſeinem Lebensgang von keiner inneren und äußeren Unbill beſchwerten Mann ſo unaufhaltſam und ſchön gemachſam aus der Feder wie ein ruhiger, hier breit ausladender, dort munter ſpringender oder ſtill verhaltender Landfluß. Der Vergleich mit Homer iſt nicht unangebracht; das deutſche Gegenſtück „Hermann und Dorothea“ drängt ſich immer wieder vergleichend auf. Freilich: Vom künſtleriſchen Nachfeilen mochte Gotthelf

Aut der Barte

nichts wiſſen. Er war heilsfroh, tagtäglich fem Penſum heruntergearbeitet zu haben unk einen langen Wälzer bald unter die Preſſe laſſen zu können, damit die jeweils heruntet gekanzelten Sünder: der Gaſtwirtsſtand, die Armenpfleger, das radikale Jungvolk, bi: Intellektuellen und wen immer er unter dit Lupe nahm, bald ihre Litanei vor Augen be kämen und ſich an die Bruſt ſchlugen. Beſonders ſympathiſch und deutſch einigen berührt es, daß der ſtreng katholiſche Verla; Herder das im beſten Sinne fromme un deutſche Lebenswerk des evangeliſchen Oo pfarrers feinen Klaſſiker-Ausgaben in eine jo würdigen wie ſchönen Form eingegliedert hat. Hans Schoenfeld

Verfpatete Anerkennung

elegentlich betätigt ſich die Nachwel

freigebig für einen Künſtler oder Dichtes, der die Anerkennung der Mitwelt nicht ode: nicht genügend fand. Bilder berühmter Male: find erſt lange nach ihrem Tode gewertet un! mit Zehntauſenden bezahlt worden, währen: die Meiſter zu Lebzeiten kaum jo viele Hur- derte dafür erhielten. Eine Handfdrift ven Kleiſt erzielt heute einen höheren Preis, ab er an Honorar für feine ſämtlichen Werte a hielt. Edgar Allan Poe (f 1849) bekam vicrsis Mark für ein Manuſkript nebſt Oruckrecht, de unlängſt ein Amerikaner für 200000 Matt erwarb! Poes Erben beziehen nichts von dem geiſtigen Eigentum ihres Ahnen um? erleiden das Schidfal der Erben wie die Satin Richard Wagners, die Schweſter Nietzſches u . Benötigt das geiftige Eigentum nicht min deſtens denſelben Schutz wie das Eigentum an Beſitz? N. O.

Herausgeber: Prof. D. Dr. Friedrich Lienhard Verantwortliche Schriftleiter: Dr. Gerhard Schmidt und Karl Auguſt Walther. Cinfendungen find allgemein (ohne beſtimmten Namen) An die Schriftleitung des Türmers, Weimar, Kari ⸗Alexander⸗Allee 4, zu tichten. Für unverlangte Einſendungen beiteht keine Haftpflicht. Für Rückſendung iſt Postgebühr beizulegen. Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer in Stuttgart

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Maria mit dem Kind

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Brich au, un jchäues Morgenlicht! Das iff der alte Morgen nicht, Der lüglich wiederkehret,

Es ift ein Ceuchten aus der Fern, Es ift ein Schimmer, iff ein Stern, Bon dem ich kängft gehöret.

ö Fe mar von Schenkendorf

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Sezwungen iff Die tote Nacht. | & Hum Ceben iff die Cieb' erwacht, | Der alte Gott blickt lächelnd drein, K Das laßt nus froh nud frählich fein? Weihnacht! Weihnacht?

E. von Mildenbruc

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Vom weihnachtlichen Frieden Von Elſe Haſſe

lljährlich um die Weihnachtszeit hören wir wieder das Wort vom Frieden.

Wir vernehmen es als Engelsbotſchaft! Daß himmliſche Heerſcharen es ſind, die das Wort verkünden, das will ſagen, daß der Friede ein überirdiſches Gut iſt, ein Seelenbeſitz derer, welche auf unſichtbarer höherer Lebensebene Be⸗ gnadungen genießen, die wir Menſchen nur ahnen können und doch erſehnen ſollen. Wir würden nie und nimmer in unferer kampfdurchtobten Welt die Kühnheit auf- gebracht haben, vom kommenden Frieden zu reden, wenn nicht fo etwas wie Engels- zuverſicht über unſern bangen Zweifeln ſchwebte.

„Friede auf Erden!“ Wie aber ſoll ſich dieſe Verheißung je verwirklichen? Durch Befolgung des Gebots, das ihr vorausgeht: durch wahre Ehrung Sottes in der Höhe und durch das Beſtreben, in uns ſelber und unter den Mitmenſchen alle Friedloſigkeit durch liebende Gelaſſenheit und kraftvolle Sanftmut zu überwinden.

Wir ehren den Höchſten, indem wir ihn durch alle Wirbel unſeres chaotiſchen Lebens hindurch als den Gott des Friedens zu begreifen trachten, ſo unverſtändlich uns ſelber auch der Friede iſt und fein muß: denn der aus dem menſchlichen Ver- ſtand entwickelte Begriff des Friedens iſt falſch. Der Verſtand wähnt von ſich aus, daß, wenn er käme, der Friede das Widerſpiel der Gegenſätze aufheben, mithin die Weltbewegung hemmen und Stillſtand und Erſtarrung herbeiführen müſſe; er meint, der Frieden könne nicht anders als öde und langweilig ſein, den Menſchen faul und tatlos machen und ihn in Dämmerſchlaf verſenken, ja feine Schöpferkraft ertöten.

In der „Söttlichen Komödie“ wird Dante, auf feiner Himmelfahrt, fo oft er aus bloßer Vernunft heraus nach dem Frieden fragt, in noch höhere Bereiche empor verwieſen, wo göttliche Erfahrungen feiner warten. Erſt folle fein Geiſt geſtärtt, vergrößert, aufgeklärt über ſich ſelber ſich hinausringen, dann werde er einfehen lernen, was kein Verſtand der Verſtändigen ſieht. Als ſein Auge ſchon hoch ins Jenſeitige eingedrungen ift, weiſt der hl. Benedikt feinem Schauen den Weg zum höchſten Himmel, der „ewig unbewegt, das All bewegt“, und Maria leitet ſeinen Blick hinan zu jener Liebe, die, in ſich ſtille, dennoch alle ſchöpferiſche Regſamleit und alſo den lebendigen Frieden in die Welt hineinſtrahlt. Bon Welt zu Welt hat er ihn geſucht und nicht erkannt; nun gewahrt er mit dem Ewigkeitsblick, daß der Frieden der Liebe kein bloßes Ruhen, ſondern mit immerwährendem Tun verbunden iſt. Die Dichterſeele, die in eine höhere Lebensordnung eingewandert iſt, erlebt jetzt in ſich ſelber die Einheit der Gegenfäße, die einander nun nicht mehr widerſtreiten: die ungeheuerſte Bewegung mordet nicht die Ruhe, und der tieſſte Frieden tötet nicht die Schaffenskraft. Nein, eines ruft das andere hervor: je meht bewegte Kraft, deſto tiefer die Friedensſtimmung, und je mehr ſchaffens“ ſelige Liebe, deſto ſüßer das Ruhen in Gott.

Den Frieden hat nur, wer ihn gibt; und ſpenden konnte ihn vor allen anderen derjenige, in dem die Liebe Gottes war: Chriſtus. „Oen Frieden gebe ich euch, mein en Frieden laffe ich euch!“ Warum nahm man die hohe Gabe nicht?

Halfe: Dom weihnachtlichen Frieden 179

Den Völkern wie ben meiſten Einzelmenfchen" fehlt alle gnadenvolle Klarheit darüber, was Frieden iſt und wie man ihn erwirbt und woher er kommt. Weil fie ihre Begriffe aus unteren Verſtandesräumen herholen, aus den Regionen des Irrtums und des Zweifels, verzagen und ermüden ſie an der Vorſtellung des Friedens als einer flauen Verträglichkeit. Dennoch. weil alles nach Frieden ſeufzt erſtreben fie ihn aus ſelbſtſuͤchtiger Furcht vor dem Kriege. Sie trachten ihm mit allem Eigennutz nach: keine Nation möchte auch nur das geringſte von ihren Sonderanſprüͤchen, ihren Vorrechten, ihrer Überordnungsfucht, ihrem Machthunger aufgeben, ſo diplomatiſch dies Wollen auch verhehlt wird, jede meint den Frieden durch Entrechtung und Unterdrückung anderer zu ſichern. Friede durch Sicherungen? Ein ängſtlich hochgeſtapeltes Sicherungsſyſtem wird zum babyloniſchen Turm, und fo viele Mauerkränze man da auch aufſetzt: der Himmel des Friedens wird doch nicht erreicht, und das Ende iſt die Sprachen verwirrung, die Unmöglichkeit gegenfeitiger Verſtändigung aus bloßer Selbſtſucht heraus!

Der Friede iſt kein mit nur irdiſchen Mitteln und allein vom Diesſeits aus zu

löſendes Problem. Es gibt nur einen Gottesfrieden, keinen Weltfrieden. Der

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: Sottesfrieden ift der einzige Frieden ohne Furcht, wobei die Welt zur Ruhe kommen Rund die Menſchen ſich zu gemeinſamem Schaffen vereinen könnten. Wer die von : überwärts geoffenbarte Gabe will, muß im Hinblick auf Chriſtus tätig liebend

über fein Ich hinaus und zu feiner wahren Weſenskraft gelangen, deren Lebens ſicherung darin beſteht, daß ſie nach Vollendung im Vater, nach Ergänzung in den Brüdern ſucht und in ſchöpferiſcher Verbundenheit Frieden hat und hält.

Auch wo ein Volk zu feinem Eigenweſen hingelangt und es in nationalem Selbit- bewußtſein werthält, kommen diejenigen Kräfte hoch, die ſchließlich nur in fried- lichem Austauſch mit dem Geiſte anderer Völker leben und gedeihen können. Der Nationalismus, fo ichfüchtig, ungeiſtig und friedenſtörend fein Trachten anfangs zu ſein pflegt, iſt dennoch ein erſter fehltappender Schritt in der Richtung, die zur Selbſterfaſſung des völkiſchen Geiſtes führt. Die Pazifiſten ſehen das nicht ein und bekämpfen das Emporſtreben nationaler Eigenart und damit ein urwuͤchſig [höp- feriſches Leben, welches nach dem Frieden verlangen muß, wie Dante, ber erft, nachdem er im Geiſte leben lernte, den Frieden „ſich zum Ziel erkoren“ hat.

Aber auch die im Geiſte Lebenden, Schaffenden kommen erſt durch Gott zufam- men, den Vater und Dereiner aller! Wird der Gottesfrieden nur ein Weih- nachtstraum bleiben? Nur hie und da ſtundenweiſe unter uns verwirklicht, ver- möge der am Chriſtfeſt tätigen, ſelbſtloſen, menſchlich-göttlichen Bruderliebe? Chriftus, der Friedefürſt, wollte ihn doch aber allen und für immer bringen und wirbt ſich durch taufende von Jahren zu Friedenshelfern alle jene Tatkräftigen, die mit ihrem Ich fertig werden, ihre eigne und ihres Volkes Geiſterhöhung an- ſtreben, das Füreinander allen ſchöpferiſchen Lebens wollen und zur Liebe Chriſti reifen. Sie allein, die den verſtehenden Sinn für die Engelsbotſchaft vom Frieden haben und im Gemüte Engelszuverſicht empfinden, find imſtande, die himmliſche Sabe in ihr Inneres aufzunehmen und in alle Welt hinauszuſtrahlen.

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181 Kriegsweihnacht Von Joachim von der Goltz

m Fahre 1920 feierte ich Weihnachten in dem Hauſe eines Arztes. Das Feſt wurde als eine Familie, beſtehend aus den Angehörigen, Freunden, Patienten und dem Hausgeſinde begangen, und obgleich nur Erwachſene zugegen waren,

fand es ſtatt mit allen ſchönen Bräuchen der Vorzeit und unſerer Kindheit, mit

Bibelworten, die der Hausvater ſprach, und Geſängen und volkstümlichem Schau- ſpiel, und es war Eintracht zwiſchen jung und alt, Dienenden und Befehlenden, Deutſchen und Fremdländern, kirchlichen und freien Menſchen.

In dem Augenblick, als eben das gemeinſchaftlich geſungene Lied ausgeklungen war, zupfte mich mein Nachbar, ein ruſſiſcher Herr, ehemaliger Gardeoffizier und Adjutant des Zaren, der mit knapper Not aus den Blutkammern der Sowjets entronnen war und das ausgeſtandene Entſetzen mit gelegentlichen epileptiſchen Anfällen büßte, am Armel und ſagte in gebrochenem Deutſch und mit einer vor Rührung ſtammelnden Zunge: „Solange Ihr dies Weihnachten haben, Sowjets nicht über Euch kommen

Dies Wort bewegte mich ſeltſam, vor ſeiner naiven Gläubigkeit verblaßten die noch friſchen Eindrücke von meines Volkes Elend und Ohnmacht, die Geſpenſter pur- zelten in den Abgrund, aber aus dem Reich der Erinnerung ſtiegen tröſtliche Bilder auf, wahrhaft weihnachtliche! |

Es war im Felde, im fünften Monat des Großen Krieges. Unfere Batterie war aus den Weihnachtsſchlachten Joffres zurückgezogen und lag als Bereitfchaft un- weit des Dorfes Sallaumines bei Lens in einer Kohlenzeche. Als Raum für die Feier am 24. war die Maſchinenhalle der Zeche auserſehen, das einzige größere Ge- baude, das nur wenig angeſchoſſen war. Man war im Bereiche der engliſchen Schiffs- gefhüge auf der Lorettohöhe, und die Pferde ſtanden Tag und Nacht unterm Sattel.

Cine kleine Schar Auserwählter rüſtete das Feſt. Und wie immer in dieſem Kriege, ſobald ein wenig Ruhe eintrat, regte ſich allenthalben ein künſtleriſcher Trieb, der mich anfangs begeiſterte und in der Folge tief beglückte. Die uniformierten Feldgrauen entpuppten ſich als Dichter, Maler, Spielleute, Komödianten, Deko- tateure, und dieſelben Hände, die über Nacht draußen in Souchez Munitionskörbe ausgeladen, zimmerten nun, froh des für Eintagslänge geretteten Lebens, die Bühne! Sie erhob ſich auf der gußeiſernen Plattform der Maſchinenhalle. Eine Heine Kanzel, von der herab ein Gefreiter Seminariſt feine Jungfernpredigt halten ſollte, war, da der Raum in die Breite nicht ausreichte, in eine Ecke innerhalb des Bühnenfeldes geſetzt worden, was zu allerlei Scherzen Anlaß gab. Weit mehr aber und herzhafter wurde gelacht in einer anderen Sache.

Es war nämlich als Glanzpunkt des Feſtes eine lebende Krippe unter dem Ehrift- baum geplant. Nachdem die erſten Schwierigkeiten bei Verteilung der Rollen überwunden waren und ein bärtiger Landwehrmann ſich mit dem braunen Pferde- woilach, den er als heiliger Joſeph tragen follte, unter der Bedingung einverſtanden erklärt hatte, daß man ihm das Haar weiß pudere, ſtieß man auf ein bedenkliches Hindernis. Der Gedanke nämlich, nach dem Vorbild der Antike und der Aſiaten

182 | Solz: Rriegemeihnadt

die Mutter Gottes durch einen paſſenden Kanonier zu perſonifizieren, erſchien den Kameraden es waren zumeiſt katholiſche Landleute ein Greuel. Da man zu jener Zeit von Helferinnenheimen und ähnlichen Dingen noch nichts wußte, was blieb übrig, als den Einfall eines Schalks anzunehmen, der riet, eine Fran- zoſenfrau zu wählen. Nach langem Sträuben und vielem Hinweis unſererſeits auf den heiligen Zweck, und nachdem man ihr verſprochen, daß kein Landsmann von ihr Zutritt haben werde, gab die blondhaarige Frau eines Mineurs vlämiſcher Ab- ſtammung, der im Auguſt geflüchtet war, ihre Einwilligung. Der Gedanke, die Sainte Vierge vor den ſchrecklichen Boches zu verkörpern, wurde ihr außerdem verfüßt durch das Geſchenk eines Stückes Tuch, feiner himmelblauer Voile, welches ein reitender Bote binnen weniger Stunden auf ein billet de réquisition réligieuse aus der Stadt Lille beſorgte. Und, was das beſte war: fie verſprach, ihr einjähriges Knäblein mitzubringen.

Es wurden damals viele und mitunter auch derbe Späße gemacht, und ich weiß nicht, ob die junge Frau eine treue Gattin war. Eines iſt gewiß, daß wohl ſelten ein Weib ehrfürchtigere Empfindungen ausgelöſt hat, als es dieſer petite ouvriére beſchieden war, die am 24. Dezember 1914, bei anbrechender Nacht, das Gefidt ängſtlich verhüllend und das Kind auf ihrem Arme wegen der in geringer Ent- fernung einfallenden Granaten leiſe beruhigend, in die Maſchinenhalle der Fosse treize eintrat. | Ich fehe fie vor Augen, dieſe Halle! An den Längsſeiten des weiten eifenge- panzerten Raumes find mächtige Feuer entzündet, offene Feuer aus Gruben- hölzern und Kohlenſchlacke. Der Qualm, der von ihnen ausgeht, beißt die Augen der hundertköpfigen Männerſchar, die auf rohgezimmerten Bänken mäuschenftill daſitzt. Durch die zahlloſen blinden Fenſterrähmchen dringt eiskalter Wind herein und treibt den Qualm des ſchwälenden Holzes empor, fo daß im Rüden der Schar die gewaltigen ODynamomaſchinen wie geduckte Rieſenleiber mattblank leuchten. Die Geſichter, dieſe mir aus vielen Kämpfen und frohen Raftitunden vertrauten gutartigen Geſichter, bekommen jetzt, durch den ziehenden Rauch geſchwärzt und von dem flackernden Glanz der Scheiterhaufen beſchienen, ein beinahe dämoniſches Ausſehen. Ab und zu platzt draußen ein Geſchoß. Die Lorettogeſchuͤtze ſtreuen das Hinterland ab. Bei jedem Schuß dröhnt der ganze eiſengepanzerte Saal, und aus den hohen vierteiligen Fenſtern die Fenſter einer modernen Induſtriewerkſtätte gemahnen eher als die modernen Kirchen an ein Gotteshaus ſpringt bei jedem Schuß ein Glas oder mehrere ab und klirren auf den Boden.

„Stille Nacht, heilige Nacht ..“ Der Geſang kam von einer Brücke, einem ſchmalen eiſernen Steg, welcher ehemals dem Maſchiniſten diente, der die Dynamos zu verſorgen hatte. Hoch über den Köpfen der Wartenden, in dem Qualm verborgen, ſtanden die Sänger. Ein Klingelzeichen ertönt, und der aus den ſchlechten Teppichen einer zerſchoſſenen Ingenieursvilla zurechtgeflickte Vorhang teilt ſich.

Mit ernſten, ſtaunenden Kinderaugen ſchauen die Kämpfer von Sainte Barbe, La-Baffée, von Souchez und Ablain, ſchaut die Siedlerſchar aus dem Schmalltal und von der Totenwieſe Lorettos auf ein hellſtrahlendes Bild. Was iſt es weiter? Eine junge blonde Frau ſitzt an einer Krippe, die der Batteriezimmermann ange

Golgs ferlegswelhnacht 18

fertigt hat. Das Kindlein in der Krippe leuchtet magiſch, doch wir wiſſen es alle, das kommt von der Taſchenlampe des Vize her, die in dem Stroh zu feinen Haͤupten verſteckt iſt. und St. Joſeph und die heiligen drei Könige mit den goldenen Kronen, die aus dem Bücherbordbelag in der Hütte der ſchwarzen Germaine geſchnitten find, und die Hirten und die hölzernen Tierlein, was iſt an alldem, daß ihr darum weinen folltet?

Laſſen wir den Qualm der offen brennenden Feuer dicht Die bis die ruhenden Maſchinen, jene Dynamos im Hintergrund des eiſernen Saales, kauernden Sphinxen gleich ſehen und die Bühne, daneben der Lichterbaum brennt, in einen Oammer- ſchein getaucht iſt gleich den Bildern des vielahnenden Rembrandt. Keiner von den fromm dreinblickenden Soldaten denkt noch daran, daß jenes Weib eine Frangofen- frau iſt, eine arme Maria Magdalena des Pays Noir. Keiner von ihnen, die ſeit fünf Monaten Weib und Liebchen entbehren, richtet einen einzigen begehrlichen Blick auf die ſchlanke Geſtalt in dem blauen Voilekleide. Es iſt Maria, die Mutter des Gottesmenſchen! Wie iſt der Stern eurer Geſichter ſo zart, ihr grauen Männer! Losgeriſſen von der Heimat, der Mutter, eng zuſammengedrängt in dieſer eiſernen Halle, eine Nußſchale inmitten einer Welt, die ein einziges Kriegsgetümmel ift, du arme, ſtolze Schar, du furchtbar einſame, du vielduldende! Kein Maler hat ſolche Münder gemalt, durch die ein gottſeliger Atem aus- und einfährt, ein und aus, ruhevoll bewegt, eine winzige Welle aus dem Atem der Ewigkeit! Schauet, da ift Vater, Mutter und Kind. Heilige Oreiheit. Anfang und Ende allen Menfden- tums. Heimat. Friede. Friede auf Erden!

Seht die rotbackigen Apfelchen, wie ſie in dem Lichterbaum glänzen! Ach, die ſchwieligen Hände, die geſchützdonnerlöſenden, regen ſich, langen aus, als wollten fie die Apfel des Lebens von jenem anderen Baume pflüden, der im Paradieſe, in dem Garten unſerer Kindheit ſtand.

Leis fällt der Vorhang. Verſchwunden das liebliche Bild, Hirten und Könige, Kindlein, Mutter Maria und aller Glanz.

Was iſt? Weshalb werden die Mienen ſtarr und krampfen ſich die Hände. Was bedeutet der Trotz in euern Geſichtern plötzlich?

Es ſind Soldaten, Kämpfer. Die heucheln nicht, wie das Zeitalter. Die wiſſen, daß das Schwert in der Welt iſt. Daß Glaube und Zweifel, Neid und Anbetung, Liebe und Haß in der Welt find. Und vor ihren traurig dunkelnden Augen ringelt ſich um den Baum des Lebens die glitzernde Schlange, der gefallene Stern: Luzifer. Und die Heilige Nacht, in welcher abermals der wunderbare Stern an dem Himmel aufging und wartend ſtehen blieb über dem winzigen Stall zu Bethlehem, die Nacht der Verheißung, verfinſtert ſich, jetzt ſind alle Sterne erloſchen, die Erde erbebt (draußen bebt fie wirklich), der Baum, deſſen Zweige ſchon durch die Lichter ſtrahlen ins Unendliche verlängert gleich Yggdraſil die Welt zu decken ſchienen, ſchrumpft zuſammen, verdorrt, ſeiner himmelanſtrebenden Macht legt ſich ein Riegel, ein Querbalken vor, und an dem Kreuze hängt, rücklings angenagelt, der Sottesmenſch. Weib, was habe ich mit dir zu ſchaffen, ſprach er zu der Schmerzens-

frau, die an dem Stamme ſitzt, und jetzt ſprechen ſeine weißen Lippen: Sott, mein Gott, warum haft du mich verlaſſen!

184 Soltz: Ariegsweihnadt

Warum haft du uns verlaffen!! Wo bift du, Vater im Himmel, zu deſſen Al- macht die Mutter uns lehrte, die Hänblein zu erheben? Biſt du überhaupt, und was ſind deine Wege, daß du uns ſo leiden läſſeſt, daß wir aus Not und wider unſer Herz Menſchen töten müſſen, gekreuzigt mit allen Banden der Liebe an unſer Vaterland? Unſer Vater, der du biſt im Himmel ... wer glaubt Dich? Wer, ohne Züge, betet fo... -

„Stille Nacht, heilige Nacht ..“

Auf dem ſchmalen eiſernen Steg, hoch über den Köpfen der grauen Schar, in Rauch und Qualm gehüllt, ſtehen die Sänger, zart erdröhnt die eiſerne Halle.

Maſchinenhalle der Fosse treize im Pays Noir, was mag aus ihr geworden ſein? Hat man fie wieder aufgebaut? Sind die gotiſchen Fenſter geflickt und ſprühen wieder Funken aus den metalliſchen Bürſten bei der Umdrehung der blanken Stahl- leiber? Zieht am Abend die Schar Mineure mit ihren Grubenlampen an der Halle vorbei und grollt ein Lied von acht Pfennigen Stundenlohnerhöhung, das dem Generaldirektor in ſeiner Villa als ein Tropfen Eſſig in die Schildkrötenſuppe fällt? Steigt und fällt der Korb von der Höhe des Förderturms in den tiefen Erdſchacht wie vordem, und jubelt in den Spalten der Pariſer Zeitungen wie ehedem und überall in Europa die nierenkranke Marſeillaiſe von dem Fortſchritt der Menſchheit, unbekümmert um das finſterſchöne Lächeln Balzacs, den das ſchwere Denkmal von Rodin hindert, aus dem Grabe zu ſteigen?

Stille Nacht, du heilige Nacht in der eiſernen Halle zu Lens, fei mir beinahe und umfange meine Seele, die nach Glauben dürftet !

Jetzt iſt der Baum im Verglimmen. Noch einmal teilt ſich der Vorhang. Schlum- merlicht füllt die kleine Bühne. Zart flimmert der Stern von Bethlehem, es glänzen die Apfel des Lebens in der nordiſchen Tanne, es ſchimmern die goldenen Kronen auf den Köpfen der Kanoniere, welche die heiligen drei Könige aus dem Morgen- lande darſtellen. Die Könige knieen vor dem Kindlein.

Die grauen Männer blicken furchtlos. Sie hören nicht einmal die todbringenden Exploſionen draußen. Was kümmern uns die Granaten des Königs von Groß- britannien und Kaiſers von Indien, da vor unſeren Augen drei gekrönte Könige vor dem Feſulein knieen? König der Könige auf dem Schoß der Menfchenmutter!

So ihr nicht werdet wie die Kindlein ... Was redet er da, der kleine blaſſe Ge freite Seminariſt auf ſeiner Kanzel, dem vor Erregung die Worte im Munde ſtecken bleiben? Glaube, Liebe, Hoffnung. Iſt Hoffnung? Friede auf Erden. Freude. Freude? Auf dieſer Erde?

Sa, auf dieſer Erde, die unſer iſt. Tragen wir nicht Himmel und Hölle in unſerer Bruſt?

Laſſet uns beten!

Die grauen Männer beten.

Aus dem ſchwälenden Rauche, von der eiſernen Dede herab erbrauſt es: „O du

fröhliche, o du ſelige ...!“

185

Im Lichte der Adventskerzen Von Elifabeth Dinkelmann

un hängt er wieder in der breiten Flügeltür, die vom Zimmer des Hausherrn

in das kleine gemuͤtliche Wohnzimmer führt. Aus duftendem Tannengrün iſt er gewunden, mit roten Bändern umſchlungen und acht weißen Lichtchen be- ftedt. Nun hängt er wieder dort, wie jedes Jahr, der Adventskranz, und in allen Vaſen ſtehen die grünen Zweige mit feinen Lamettafäden behängt. Advents- zeit! Durch die ſonntägliche Stille der Heinen Stadt Aingen die Kirchen glocken. Ein wenig dumpf und müde klingen ſie ſo, als hätten ſie es ſchwer, durch den Nebel und Regendunſt des Dezembertages hindurchzudringen bis zu dem kleinen Haus, in dem der Adventskranz hängt. Es iſt Spät nachmittag... Auf dem Diwan des wohldurchwärmten Wohnzimmers liegt Frau Rita Wendtland. Das Zimmer iſt matt erleuchtet, nur von dem gelben Schein der kleinen Adventskerzen erhellt. Durchſichtig blaß iſt das Geſicht der ruhenden Frau. Sie hat die Augen feſt geſchloſſen, als ſchliefe ſie, aber die ſchmalen, weißen Hände irren unruhig auf der ſie umhüllenden Decke, und ihre Gedanken kämpfen einen ſchweren Kampf. Geftern hat ihr Mann fie heimgeholt aus dem Sanatorium eines berühmten

Arztes, in dem fie monatelang weilte heimgeholt, nicht weil fie geſund ge- worden iſt, nein, nur um daheim zu fterben. Sie weiß es feit Stunden, daß fie ſterben muß! Leiſe Worte, zwiſchen ihrem Mann und dem Hausarzt im Neben- zimmer gewechſelt, haben ihr dieſe Gewißheit gegeben: „Das Frühjahr wird ſie mitnehmen.“ Nein, niemand hat es ihr geſagt, und ſie wird auch niemand darnach fragen. Allein will fie ſich hindurchkämpfen durch das Unfaßbare, das nun immer naͤher kommen wird, lang ſam und faſt unmerklich.

Allein! wie iſt dies kleine Wort doch ſo recht zum Leitmotiv ihres Lebens geworden. Sie iſt allein geweſen in dem herben Leid um den Tod ihres Kindes nicht daß ihr Mann herzlos, ohne tieferes Gefühl wäre ... aber feiner fröhlichen, tatkräftigen Natur liegt ein langes Trauern nicht, und dann haben ihn die langen Kriegsjahre mit ihrem grauenhaften Leiden und Sterben, das er hundertfach ge- ſehen, doch wohl abgeſtumpft. .. Allein, unendlich allein iſt fie auch geweſen in den beiden letzten Jahren, ſeit ſich ihr Lungenleiden meldete und das wechſelnde Befinden der jungen Frau von dem geſunden, faſt ein wenig robuſten Mann ſoviel Rüdfihtnahme und zartes Behüten forderte. Ein bitterer Zug gräbt ſich um den ſchmalen Mund, wenn fie daran denkt, mit wieviel Selbftüberwindung er an ihrem Lager geſeſſen, wenn ſie ſeine Gegenwart immer und immer wieder begehrte, in den freien Stunden, die ihm fein Beruf ließ. Jedesmal hat fie dann mit dem über- feinen Empfinden der Kranken gefühlt, wie er aufatmete, wenn ſie ihm ſagte „nun geh“. Wie hat fie heimlich geweint, wie hat fie gelitten, als er ihr langſam entglitt und ſie einander fremder wurden.

So lieb hat fie ihn gehabt ... fo lieb!

Und als dann ihre junge Schweſter ins Haus kam, geſund und blühend, wie ſie ſelbft geweſen, um ihr, der Leidenden, die Sorge um das Hausweſen abzunehmen,

ory u ar Sa ote Se

186 Dintelmann: Im Lichte der Abventsteryen

da ift in ihr der Wunſch fo heiß und flehend geworden, all das Kranke und Zehrende von ſich abzuſchütteln. Mit brennenden Augen hat Frau Rita ihr nachgeſehen, wenn ſie mit leichten, federnden Schritten an der Seite des Mannes durch daz kleine Gartentor hinaus ins Feld ſchritt, nachdem beide die Kranke ſorgſam auf der Veranda gebettet hatten.

Und dann hat fie ſich trotz der bohrenden Unruhe und Angſt in ihrem Innern entſchloſſen, das Sanatorium des berühmten Arztes aufzufuchen. . .

Monatelang hat ſie dort gelegen ſo ſtill und einſam in der großen Liegehalle unter den rauſchenden Tannen. Neben ihr lagen andere Kranke, ſchweigſam wie fie... nur ein junges Mädchen weinte oft haltlos in ſich hinein, und das Schluchzen konnte Frau Rita hören ... Sie hat alle ihre Willenskraft zuſammengenommen, um geſund zu werden! An vielen. Tagen war fie ganz voller Hoffnung und Zu- verſicht doch dann kamen immer wieder die grauen Stunden mit quälendem Huſten und der tiefen Müdigkeit, mit den fieberhaften Träumen, in denen fie den geliebten Mann ſah und an ſeiner Seite nicht mehr ſich ſelbſt, immer und immer nur die blühende, blonde Schweſter. Wie furchtbar war dies Kämpfen gewefen, wie elend hatte es fie gemacht! War nicht ſchließlich doch im tiefſten Unterbewußt- ſein der Wunſch aufgewacht nach Ruhe und Stillewerden? Sich ſelbſt vielleicht noch uneingeſtanden? Konnte denn Sterben grauenhafter, ſchwerer fein als dieſe Qual? ... Sah fie nicht oft das ſchmerzverzerrte Geſichtchen ihres Kinde; vor ſich, das im Tode fo ruhig und klar geworden war? Sterben, wie tdftlid konnte es fein, wenn es einen hinaushob aus all dem Leid

Wenn alles aufhörte: der quälende Huſten und die Schmerzen, das Heimweh nach dem toten Kind, und auch das eiferſüchtige, fieberhafte Lauſchen auf Worte, Bewegungen und Gebärden der liebſten Menjden. ..

Frau Rita öffnet ihre Augen und ſieht hinein in den Schein der immer Heiner werdenden Adventskerzen. Sie werden verlöfchen, aber dann wird ein leuchtenderes, helleres Weihnachten erſtehen ... auch für fie! Ein paar Verſe fallen ihr ein, die ſie einmal gefunden hat, kurz nach dem Tode ihres Kindes:

„Nun beug dein Haupt in Demut, Trag' deine Schmerzen ftill... Das tiefite Leid wird Wehmut, Wenn Abend werden will!

Ward müde auch dein Hoffen, Von Tränen dein Auge faft blind, Nacht halt die Arme offen

Wie eine Mutter dem Kind

Nun ift es ja Abend geworden und die Nacht nicht mehr fern...

Eine große Ruhe kommt über fie ... ausgekämpft! ... Ihre Augen hängen unentwegt an dem ſtillen Leuchten der Kerzen.

Behutſame Schritte Aber weiche Teppiche

Und wie ſie nun zu ihr treten, der große geſunde Mann mit den klaren Augen und die blonde junge Schweſter, rein in Gedanken und Empfindungen und doch eigentlich ſchon ſo ganz ſein eigen, da vermag es Rita Wendtland über ſich, den beiden, den Lebenden, entgegenzulächeln.

Fe eee eee

187

Das kleine Weihnachtslied Von Erich Bockemühl

eil es mir Freude macht, deshalb ſchreibe ich es hierher. Am Sonntagmorgen,

als die Glocken eben verſtummt waren, in der Zeit, da der erſte Rauhreif weiß auf den kleinen Bäumchen des Gärtchens lag und der Kirchturm und der alte große Tannenbaum nur wie dunkle Silhouetten in dem Nebel ſtanden, in der Stille der behaglich durchwärmten Stube, da fang die kleine Sechsjährige dies Lieb... das erſt mich ſtörte, dann mich aber vom Leſen aufhorchen ließ und mich ſo erfreute, daß ich es gleich auf die Nüdfeite des Briefes, der gerade vor mir lag, hinſchrieb. Ganz wie es war und wirkte, läßt ſich fold ein Kinderlied ja niemals wieder- geben. Wenn auch die Worte dieſes Liedes faſt genau find, fo iſt doch der Rhythmus, Der fie trug, die Stimme, das Auf und Nieder der leiſen faſt monotonen, liturgiſch ſakralen Melodie kaum feſtzuhalten. Die Freude auch der kleinen Kinderſeele, das ftill Beſchauliche, Andächtige iſt immer wieder etwas fo ganz Einmaliges, daß man es eben nicht wiederholen kann. Eine Blume, die ſtill erblühte wie ein Röslein in kalter Winternacht .. Eines Vögleins Geſang im Traum der Stunde, deren Wachen wäre Trauer geweſen ... Als wenn die Stille felber in aller Schönheit, Lieblichkeit, in ihrem, den feinen Ohren immer vernehmbaren, zarten Vibrieren, Geſtalt geworden wäre in eben einer Stimme Geſang, ſo war dies Lied, allein ſeinen Worten nach, als wenn Harfen es begleiteten, wie ein Bild irgendeines mittelalterlichen Malers: Meiſters Bertram, Meiſters Francke ... oder eines frühen Italieners: Ouccio, Giotto oder des kindergleichen Fra Angelico ...

Da iſt ein Stern heruntergefallen

In Kindlein ſein Bettchen.

Und die Engel waren da und hatten weiße Flügel, Und alle ſpielten ſie da die Geige,

O, das iſt fo fchön, fo ſchön:

Die lieben Engelein, die lieben Engelein...

O du ſchönes Kind, tu deine Augen auf.

Da bringen fie dir ein weißes Lammiein... Und zwei Engel kamen da noch,

Oer eine ſteckte die Rerzen an,

Und der andre tat beten.

O, die ſchöͤnen Engel und das weiße Lämmchen Und das ſchöne roſa Lämpchen

Und die ſchönen Blumen all!

So war das Lied. Gewiß, manche Erinnerung aus Gehörtem und Geſchautem iſt in ihm, und dennoch iſt's geworden aus dem ſtillen Traum einer Seele, dennoch iſt's eine Einheit ſchönen Schauens ... Bild und Bilder, die die Seele ſah, in Rhythmus und Melodie vereint

Und es iſt, daß eine Seele aus dem Innerſten des Erlebens ihre ſtille andächtige Freude offenbart. Eine Kindesſeele nur? Sind es nicht immer nur die Kinder- ſeelen, die dies tun, die den Glauben, das unendliche Vertrauen an die Welt und

188 Mabite: Degemte

Menſchen haben, daß fie eben ihr Innerſtes ihnen jagen, daß fie es geftalten ... für ſich ſelbſt? Für andere, die Menſchen ... Sie geftalten es, weil es fie drängt, weil die Stunde größer iſt als ihr Wollen, weil ſie ſich in Traum und Stille ſo verlieren, daß fie wie willenlos dem folgen, was innerft in der Geele ,,wifl* ... Immer aus dieſer Stille wird das Lied und jedes Lied, aus der Stille, die da iſt Unendlidteitsverbindung, die da iſt: das große Sein der Welt, darin eine Seele ganz verwoben ift, das Vibrieren der Stille, der großen Ferne .. das dann irgend wie in Geſtalt und Form ſich verdichtet.

Und dieſes Kindes Lied, das kleine Weihnachtslied? Es iſt doch nur ein ſo ganz kleines, unſcheinbares Lied, wie es immer wieder Kinder fingen in der ſtillen Selbſt⸗ vergeſſenheit .... und dennoch hat es mich fo tief ergriffen und würde es jeden tief ergriffen haben, der es in Rhythmus und Geſang hätte hören können. So ganz aus Naivität geſungen, ſo abſichtslos und nur, weil es ſo ſtill in warmer Stube war, fo in ſtiller Freude, fo im Ausgleich des Erlebens war es hingefummt faſt ſtatt geſungen .. . und war doch in der einfachen Echtheit viel, viel ſchöner als fo viele Weihnachtslieder, die heute geſungen werden, die gedichtet werden, damit die Kinder „etwas aufzuſagen haben“ ...

Was in dieſem Lied ſo tief ergreift? Daß es abſichtslos aus jener Stille ward, die keine äußere Wirklichkeit, die nur die Angelegenheit einer Seele iſt. Dieſe Stille aber iſt Unendlichkeitsverbindung. Und iſt das Lied auch noch fo Hein: Die Beziehung mit der Ewigkeit (wenn eine Seele ganz in Traum und unbewußtem Schauen verſunken iſt), eben dieſe „Stille“ iſt es ja doch nur, die in dieſem Liede wie in jedem ſo beglückt. Denn ſolch anbetende Freude iſt aus Gott, iſt Sottes Wirklichkeit in einer ſtillen Stube des Sonntagmorgens. In kalter Winterzeit, wenn alle Welt mit Nebel dicht verhangen iſt (ift das nicht auch ein Wunder J, vermag aus eines Kindes Seele dies kleine unſcheinbare Lied zu blühen.

Dezember Von Franz Mahlke

Das Volk der Föhren ſteht nun eisverſteint Und um kriſtallbeperltes Riedgras raunt Herzkalter Winterwind, der mißgelaunt Auch durch die lieben Heimatgaſſen weint.

Weinlaubberaubte weiße Giebel ſchau'n

Schwermũtig lãchelnd nach dem Tannenſchlag .Einft tanzten Finkenlieder durch den Tag

Und Heckenroſen lachten durch den Zaun.

Waldwieſen breiteten ſich ſommerbunt;

Die Falter hielten tãglich Hochzeits mahl. Nun geiftern Nebel frauen durch mein Tal Mein Liederherz wird mir ſo winterwund.

Die Ritterſchaft der Reinen

Von Ernſt von Wolzogen

eutſchland hat doch noch eine Hoffnung nein, mehr denn eine Hoffnung:

Deutſchland hat eine Zuverſicht, denn ein neuer Adel iſt im Werden. Einen neuen Adel zu ſchaffen aber iſt das Hochziel jeder guten Revolution. Es iſt richtig, daß das deutſche Reich Bismarckſcher Prägung noch kein endgültiges Ge- bilde, es iſt richtig, daß das Imperium des zweiten Wilhelm ſamt feiner Prunt- faſſade von kleineren und kleinſten Vaſallendynaſtien zum Abbruch reif war; aber der Umſturz, den wir erlebt haben, wurde von Unbefugten beſorgt und darum konnte es nicht ausbleiben, daß er den hohen Zweck eines notwendigen Gewalt- aktes gänzlich verfehlte. Der alte Adel (worunter natürlich nicht nur die Betitelten, ſondern die ganze damals herrſchende Oberſchicht der Machtteilhaber zu verſtehen ift) war vom ſtändigen Kriechen und Bücken kreuzlahm geworden. Seine blühende Jugend, die durch das Erlebnis des großen Krieges zu Kraft und Reinheit ſich hätte läutern können, war abgeſchoſſen worden, und die zitternden Hände der Alten vermochten keine Waffe mehr zur Verteidigung zu führen. Das Feldgeſchrei jenes Umſturzes war der Klaſſenhaß, und Klaſſenhaß iſt nur ein beſſerklingender Name für Neid, Mißgunſt, Rachſucht, Raffgier kurz für alle niedrigſten menſch⸗ lichen Leidenſchaften.

Nun aber wächſt ein neues Geſchlecht heran von jungen Männern, die zu Kriegs- beginn noch Mutterkinder waren, und die Seelen dieſes neuen Geſchlechtes be- ginnen reif zu werden für die Erkenntnis der Schmach, die ihrem Volke wider- fahren ift durch den verpfuſchten Umfturz von 1918. Es find unter ihnen einige wenige Nachkommen der früher herrſchenden Oberſchicht, zum großen Teil aber Söhne der gefallenen Helden des Weltkrieges und ſchließlich auch Sprößlinge der früher ganz bedeutungsloſen niederen Volksſchichten zu finden. Es iſt alſo nicht, wie bei der großen franzöſiſchen Revolution eine neue, bisher unterdrückte Volks- ſchicht, die ſich mit Gewalt über die andere emporringen möchte, ſondern das Volk in ſeiner Geſamtheit ſtellt die Rekruten zur künftigen Armee der Befreier, die Kandidaten für die Regierungspoften im erſtrebten jugendſtarken Volksſtaate. Dieſe Jugend hat wieder Ehrerbietung für alles, dem Ehre gebührt. Dieſe Jugend hat wieder Scham, hat wieder Würde, hat wieder den Stolz der Pflichttreue, die Freudigkeit zur Arbeit und zum Gehorſam gegen die zum Befehlen Berufenen. Kein Wunder, denn ſie ſind ja Heldenſöhne oder Söhne von Ausnahmemenſchen, die ſchon zu ihrer Zeit die Fäulnisanzeichen klar erkannten und ſich von tönenden Schlagworten nicht die geſunden Sinne umnebeln ließen. Sie ſind alſo glückliche Erben. Und ſoweit fie das nicht find, beziehen fie ihre eigenwüchfige Kraft aus den tataftrophalen Erlebniſſen ihrer Jugend. Die ſchwere Not iſt ein harter Lehrmeiſter. Aber nur für die Wohlgeborenen. Auch der Tſchandala, der Übelgeborene, vermag wohl durch Schaden klug zu werden, aber nicht ſtark und rein. Im nun zieht die Not den Übelgeborenen nur noch mehr herab.

Dieſe wohlgeborenen glücklichen Erben haben nun ebenſo wie die aus eigener Kraft ſehend Gewordenen klar erkannt, was uns nottut. Reinheit tut uns not

190 Wolzogen: Ole Mitterfchaft der Neinen

und Zucht. Glauben tut uns not und Ehrfurcht und Würde. Aus diefer Erkenntnis heraus fliehen fie die Sumpfluft der Großſtädte, enthalten fie ſich freiwillig der Rauſchgifte und aller entnervenden Zeitvergeudung durch Vergnügungen, die einen ſchalen Nachgeſchmack hinterlaſſen. Und weil ihnen der gegenwärtige Staat die ſoldatiſche Oienſtpflicht genommen hat, unterwerfen fie ſich freiwillig der Zucht, die ihnen die Wehrverbände und ſonſtige, meift aus der Jugendbewegung ſelbſt hervorgegangene Organiſationen zu geiſtiger und körperlicher Ertüchtigung bieten. Ihren Gott haben ſie ſich erwandert. Dadurch haben ſie auch wieder ein inniges

Verhältnis zur Natur erworben. Sie haben ſich die Ehrfurcht vor den ewigen

Wundern zurückerobert, und nur ſolche Ehrfurcht vermag das Gefühl für wahre Menſchenwürde zu erwecken. Dieſes „Zurück zur Natur“ nicht im Sinne Rouffeaus, ſondern im Sinne des reinen Wandervogelideals, iſt als Loſung ger nicht hoch genug einzuſchätzen, denn nur durch das Wiedervertrautwerden mit der Natur, durch dieſes Wieder-Gott-nahekommen, ihn hören und ſehen von Ange ſicht, nicht auf den verzwickten Wegen der Spekulation, ſondern auf dem direkten Wege der triebhaften Hingabe, vermag allein den zerſtörten animaliſchen Fnftint wieder friſch lebendig zu machen.

Nur auf dieſem Wege kann auch allein die Züchtung magiſcher Menſchen ge lingen. Denn was iſt der magiſche Menſch, von dem heutzutage ſo viel geredet wird, anders als der natur-, d. h. gottnahe, inſtinktſichere und darum zur Be herrſchung der Natur, feiner ſelbſt und aller minderwertigen Mitmenſchen Be rufene! Die deutſchen Reichsbürger, gegen die der Rembrandtdeutſche vom Leder zog, waren im Bildungshochmut befangen. Ihr Typus war der Snob, der eifrige Vor- und Nachbeter aller neuen Schlagworte, der Mitläufer aller Moden und Narreteien. Unferer neuen Jugend ift diefer Typ zum Gelächter geworden. Sie will nicht mehr nur Bildungsſtoff hamſtern, fie will ſchauen und erkennen lernen und das heißt ungefähr dasſelbe wie magiſche Kräfte gewinnen. Dieſe neue Jugend freut ſich ihres Leibes und mutet ihm viel zu, um ihn zu ſtärken. Sie betet vielleicht ſogar die Schönheit an, aber fie verachtet das nervöſe Aſthetentum und den blöden Rekordtaumel der amerikaniſchen Sportfexerei. Sie hat auch wieder jene edel jünglingbafte ſcheue Verehrung natürlich gefunden Weibtums gelernt, und die wird fie davor ſchützen, auf die Lockungen des modernen leeren Pläfier- weibchens hineinzufallen. Wenn auch unter der weiblichen Jugend unſerer Zeit jene ſtarke Bewegung noch nicht ſo viele erfaßt hat wie unter der männlichen, ſo ift doch zu erwarten, daß die neugewonnene Inſtinktſicherheit die gröbſten Miß griffe bei der Gattenwahl feltener machen und ſomit die Aufzucht der neuen Arifte- kratie erleichtern wird.

Ja, es iſt wirklich eine neue Ritterſchaft im Entſtehen begriffen. Ihre Lehr⸗ meiſter hat fie ſich geſucht unter den übriggebliebenen Frontſoldaten des Welt- krieges und unter den Führergeſtalten, welche die Kampfjahre nach dem Umſturz emporgetragen haben. Und wenn fie ſolche gefunden, haben fie ſich zu den mannig- faltigſten Bünden und Konventikeln zuſammengetan. Wohl mag da neben frucht bringender Arbeit und erſprießlicher Selbſtzucht auch mancherlei närriſcher Unfug liebenswuͤrdiger oder auch bedenklicher Art verübt werden. Die Hauptſache aber

Echunmeipſeng: Ehen 191

iſt vorhanden: der reine Wille, fid die Ritterſchaft gu erdienen. Unſere neue deutſche Zuverſicht aber beruht darauf, daß die wangenroten Knappen von heute ſich das Ziel ihres Ehrgeizes höher geſteckt haben, als nur mit den Sporen zu raſſeln E ſie werden ihr Rittertum im Oienſte an Volk und Vaterland zu bewähren wiffen. Ein ganz deutſcher und ſtarker Oichter, Eberhard König, hat unſern Jungen in ſeiner Mär vom „Thedel von Wallmoden“ die leuchtende Idealgeſtalt fold deutſchen vunverſehrten“ Rittertumes hingeſtellt: den reinen Toren, den ſtreitbaren Helden ohne Furcht und Tadel, den feines Gottes ſicheren wachen Traumwandler, der es wagen darf, den leibhaftigen Satan in Roffesgeftalt bis vor die Himmelstür zu reiten und ihn von da mit einem Fußtritt zur Hölle zu befördern

Ehen Von K. A. Schimmelpfeng

Dom Berge ſeh ich zweier Giitergiige Schlangen Sich lautlos faft und nah zuſammenſchieben Und ſcheinbar eng gekoppelt und verbunden Die Flanken knirſchend aneinander reiben, Indes den Nüftern Luſthauch weiß entſtrömt.

Doch fieh! Nach ein ger Zeit

Entwickelt ſich das Rnduel.

Die eine und die andre Schlange ringelt ſich Dahin mit hellem gift gen Pfiff,

Enttãuſcht ob der fo lange ungenutzten Zeit, Die hinſchwand ohne innige Vereinung.

Sind nicht auch fo Derbindungen der Meuſchen? Luft und Geſchrei, Geſchwätz und Unterhaltung. Und plötzlich das entſetzende Gefühl:

Nie hat das Leben uns in eins geformt.

u

—— Lu u Se

192

Aus Briefen Friedrich Paulſens Von Rudolf Paulſen

s iſt immer ein ſonderbares und ſchwieriges Ding, wenn der Sohn die Wege,

die der Vater gebahnt hat, verläßt und auf eigene Fauſt ſich neue Pfade ſucht.

Das gibt Anſtöße und Schwankungen in dem vielleicht bis dahin ung etrübten Ber- hältnis. N

Mein Vater, der Philoſoph Friedrich Paulſen, Bauernſproß und einziges Kind,

hätte nach Gewohnheit und nach Wunſch ſeiner Eltern deren Hofſtelle in Langen

horn übernehmen ſollen. Aber der Trieb zur Wiſſenſchaft war ſo ſtark in ihm, daß er als 15 jähriger dem ererbten und bis dahin geübten Beruf als Landmann untreu wurde und unter mühſam erlangter Einwilligung meiner Großeltern von dem Oorfpaſtor im Lateiniſchen unterwieſen wurde. Nachdem er dann, raſch vorbe⸗ reitet, das Altonaer Gymnaſium bezogen hatte, ſtand es für die Eltern feſt, er würde nun Paſtor werden und das Wort Gottes von der Kanzel lehren. Meine Großeltern waren beide ausgeſprochen fromme Leute und gehörten zu den vom Paftor Zverſen Erweckten. Wenn alſolder Sohn ſchon ftudierte und den Familien⸗ beſitz in fremde Hände übergehen ließe, dann war es zumindeſt ſelbſtverſtändlich, daß er Theologe würde.

In der Tat hat mein Vater auch dieſer elterlichen Vorſtellung gerecht zu werden verſucht. Aber nach einigen Semeſtern theologiſchen Studiums warf er das Steuer vollkommen herum und ward Philoſoph. Sehr begreiflich, daß die braven Bauern, die ſeine Eltern waren, ſich unter Philoſophie nichts Rechtes vorſtellen konnten. Aber durch die Zähigkeit ſeines Wollens, durch die Energie, mit der mein Vater die philoſophiſchen Studien betrieb, auch daheim in den Univerſitätsferien, über- zeugte er allmählich die alten Leute, daß ihr Kind auch auf ſeine Weiſe den rechten Weg finden könnte.

1871 promovierte Friedrich Paulſen, 1875 wurde er Privatdozent in Berlin.

Sein Vater war damals ſchon 70 Jahre alt. Nun ſah er mit Freuden, daß ſein Sohn

ſich doch „gemacht“ hatte, daß es zum Univerſitätsdozenten ausgereicht hatte.

Der Großvater ijt 1889, faſt 84 jährig, geſtorben, ein Jahr nach der Großmutter. Ich habe beide perſönlich noch gekannt und hege einige deutliche Erinnerungen an die aufrechten wackeren Menſchen, deren einzige Koſt außer der Arbeit die Heilige Schrift (und allenfalls ein Predigtbuch) war. Mein Vater, der auch als Philoſoph aus dem religidfen Brunnquell zu ſchöpfen nie vergaß, hat feine Eltern alljährlich beſucht und in dauerndem brieflichen Verkehr mit ihnen geſtanden. Seine Briefe bezeugen die kindliche Anhänglichkeit und unauslöſchliche Dankbarkeit, die er den Eltern darbrachte, in dem Bewußtſein, ihrer frommen Erziehung und vorbildlichen Arbeitstreue das Beſte ſeines Weſens zu ſchulden. Ich teile einige Proben mit.

Zum Jahreswechſel 1887/88 ſchreibt mein Vater:

. . . „Der liebe Gott ſchenke Euch Frieden und Geduld, daß Ihr die Schwächen des Alters überwindet und ein fröhliches Herz auch in trüben Tagen bewahret. Die Jahre des rüſtigen Schaffens ſind ja dahin, die Jahre der Ruhe gekommen, und Ihr dürft ſie ja mit gutem Bewußtſein annehmen, Ihr habt es Euch manchen

Pautien: Aus Bciefen Friedrig Paulfens 195

Tag und manches Jahr fauer werden laffen. Ich denke oft mit Dank daran, wie Ihr mir den Weg bereitet habt. Und oft denke ich auch mit Dank daran, wie gut und rechtſchaffen Ihr meine Jugend geleitet habt. Ich ſage manchmal: unter beſſeren Verhältniſſen, als ich aufgewachſen bin, kann niemand aufwachſen: unverwöhnt, bei tüchtiger Acbeit und ehrlicher Frömmigkeit, und dabei herzlicher Liebe und Treue gewiß.“

Und als die Mutter ſchwer erkrankt, ſchreibt er an deren Schweſter, Agatha Margarethe Ketelſen:

.. „mit ſchmerzlicher Bewegung haben wir ... Deinen Brief geleſen. Gott wolle der lieben Mutter zu feinem ewigen Frieden und himmliſcher Freude hin- durch helfen. Und uns allen gebe er Gnade, daß wir dereinſt ihr dorthin nachfolgen. Mir iſt in dieſen Tagen oft ein kleines Gebet in den Sinn gekommen, das ſie me als Rind gelehrt hat:

Chriſti Blut und Gerechtigkeit

Das iſt mein Schmuck und Ehrenkleid. Damit will ich vor Gott beſtehn,

Wenn ich zum Himmel werd’ eingehn.

Sie erinnert ſich vielleicht auch noch, daß wir es zuſammen gebetet haben. Mir iſt manches aus der Kindheit recht lebendig geworden, das mich mit ihr für immer verknüpft. Sag ihr, (daß) wir Alle, fo lange wir leben, ihr Andenken in Treue feſthalten und ehren werden, bis wir drüben alle wieder vereinigt werden .. .“

In einem andern Brief aus dieſer Zeit heißt es:

. . . „In Gedanken bin ich viel bei Euch, ja beſtändig. Sag der guten Mutter, daß wir betend ihrer gedenken. Ich weiß, daß fie lange bereit iſt zum Heimgang; ſie wartet ja ſeiner ſeit vielen Jahren. Sag ihr auch, daß ich ſie um Vergebung bitte für alles, womit ich ſie je gekränkt habe. Ich weiß, ich hab ihr viele ſchwere Stunden gemacht; ſie ſoll ihrer nicht gedenken, ſondern des Lieben und Guten, das Gott uns mit einander hat genießen laſſen. Dafür wir ihm von Herzen dankbar find. Ich werde es nie vergeſſen, was ich ihr zu danken habe; und ihr Segen ſoll auch auf unſere Kinder vererben. Leit Ihr wohl einmal miteinander die Leidens

geſchichte? Wir wollen es auch tun und uns miteinander der Gemeinſchaft in Jeſu

tröften. Der Friede Gottes bleibe in Eurem Haufe .. .“

Und nach dem Tode der Mutter ſchreibt mein Vater am 21. März 1888:

. . . „Nun iſt das Ende doch noch unerwartet gekommen, ich hatte gedacht, ſobald Du ſchriebeſt, zu kommen, um fie noch einmal zu ſehen.

Die liebe gute Mutter, wir wollen ihr die Erlöſung von allem Schmerz und Leiden von Herzen gönnen und ihr Andenken unter uns in Liebe und Treue lebendig halten, bis auch unſer Stündlein kommt und wir wieder mit ihr vereinigt werden Ich werde, ſolange ich lebe, nicht aufhören, mit der innigſten Dankbarkeit ihrer zu gedenken. Wie hat fie mit Ernſt und Liebe das Kind gehüͤtet, den Knaben gezogen und damit die Grundlage zu dem Weſen des Mannes gelegt.“

Nach der Rückkehr von der Beſtattungsfeier in Langenhorn ſchreibt mein Vater der Tante:

„Mir iſt, als ich allein nach Altona fuhr, Vergangenheit und Ben viel der Tütmer XXX, 3

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194 eqmitt: Start und ungeleil

durch den Kopf gegangen und Pir wird es jetzt, wo Ihr allein ſeid, auch fo gehen. Gott fei Dank, daß das Bild der verklärten Mutter fo rein und lieb uns vor der Seele ſteht, daß wir gern uns immer wieder zu ſeiner Betrachtung wenden. So können wir auch jetzt in der Trauer um ihren Hingang doch mit Freude und Bank an fie denken..“

Und in einem Briefe nach meines Vaters Geburtstag 1888 an dieſelbe Tante, die nun mit dem Schwager die Einſamkeit teilte, leſen wir:

. . . „Das iſt das erſte Jahr, wo die liebe Mutter des Tages meiner Geburt nicht mehr gedenkt, hier auf Erden wenigſtens nicht, denn die Gemeinſchaft unſeres Lebens iſt ja, fo hoffen wir, nicht durch den Tod abgebrochen. Ich denke manchmal mit Oank daran, daß ſie doch ſo viele Jahre mit uns gelebt hat, daß ſie doch mich noch hat zum Mann heranwachſen ſehen. Was hätte es für eine Wendung des Lebens gegeben, wenn fie in jener ſchweren Krankheit 1854 geftorben wäre

In der Folge wird in jedem Briefe an die wackere Tante der Mutter gedacht.

Des Großvaters Sterben war ein langſames trübfeliges Erlöſchen. Aber meines Vaters Gedanken gingen doch in Treue zu ihm, auch wenn fie nicht mehr das alt- gewohnte Echo fanden. In einem Briefe zum Geburtstag 1888 ſtehen die Worte, an die Tante gerichtet:

.. . „So oft hab ich ihm an dem Tage Geſundheit und Gottes Segen gewünfcht, nun kann ich ihm nur noch Eines wünſchen: daß ihm Gott die Tage nicht zu ſehr verlängere. Möge er ihn bald aus allem Jammer in ſeinen Frieden aufnehmen

Als ſein Vater im 84. Lebensjahre durch den Tod erlöſt wurde, ſchrieb Friedrich Paulſen am 2. Mai 1889: |

. . . „Alſo mein guter Vater ift nun aud heimgegangen. Wir können ja nur Gott danken, daß er die Tage der Trübſal verkürzt hat ... Mir iſt er wahrlich ein treuer und geduldiger Vater geweſen. Seiner nimmer müden Sorge und Arbeit verdanke ich es, daß ich zu freierer und größerer Thätigkeit mich vorbereiten konnte. Ich hab es ihm oft gedankt im Stillen. Gott lohne ihm ſeine Treue und Arbeit, die er in gefunden Tagen an mir und anderen gethan hat.“

Man ſieht aus all dieſen Außerungen meines Vaters, daß er es an Pietät und echter Frommheit nicht hat fehlen laſſen, auch wenn er den Eltern ihren heißen Wunſch, ihn auf der Kanzel zu ſehen, nicht erfüllen konnte.

Stark und ungeteilt Von Chriſtian Schmitt

In der Stille ſammle deine Kraft, Glaubend laß den Blick nach oden gehn, Daß fie freudig wirkend ſtrebt und ſchafft! Wenn mit deinem Werk du willſt beſtehn! Dod umgrenze weislich auch ihr Ziel: Schau nicht in die Ferne, nicht zuruck!

Meide das Zuweit und das Zuviel! Auf den Tag, der jetzt tft, ſetz dein Glut! Nichte fo dein Herz, das unzerſtreute, Den, der dieſen feguet, laß du ſorgen Ganz aufs Heute! Auch für morgen!

Seeliſche Wiedergeburt

Ein Beitrag zur Würdigung der Führer Eucken und Lienhard

es Menſchen Kern und Weſen iſt geiſtiger Art. Wenn äußerer Zwang Freiheit und Geiſt überwuchert hat, dann wird die Wiedergeburt der Seele zur wichtigſten Lebens- aufgabe des Menſchengeſchlechts.

Die naturwiſſenſchaftliche Oenkweiſe, die als Segenſtrömung zu der vernünftelnden Welt- Betrachtung der nachkantiſchen Denker entſtand, ſchuf das wiſſenſchaftliche Weltbild des modernen Lebens, das ſich erſt um das 20. Jahrhundert voll auswirken konnte. Die naturwiſſenſchaftliche Forſchungsart ift eine beſondere Art wiſſenſchaftlicher Arbeit. Sie hat dieſen Grenzbereich weit überfchritten, fo daß Eduard v. Hartmann zu Beginn des 20. Jahrhunderts feiner ſyſtematiſchen Philoſophie das Kennwort vorausſchicken konnte: „Spe kulative Refultate nach induttiv-natur- wiſſenſchaftlicher Methode.“ Er erkannte dabei leider nicht, daß er ſich mit ſolcher Arbeit in einen gefährlichen Widerſpruch ſetzte mit den Tatſachen des geiſtigen Lebens, die er nat urwiſſen- ſchaftlich erforſchen wollte.

Oer Einfluß der neuen wiſſenſchaftlichen Arbeitsart blieb nicht auf das Gebiet des Denkens beſchränkt, ſondern erfaßte auch Gefühl und Willen, den ganzen ſeeliſchen Menſchen. Dadurch entwickelte ſich ein neues Lebensgefühl, eine neue Weltanſicht und Lebensanſchauung. Oieſe Be- wegung griff weit über das Gebiet der Fachgelehrſamkeit hinaus, wurde im modernen Menſchen überhaupt zu einer Art Lebensoffenbarung. Theoretiſch führte ſolche Ledensbewegung zur Lö⸗ ſung des Menſchen von der geiſtigen Welt, zum Aufgeben ſeiner ſeeliſchen Innerlichkeit. Den inneren Werten der Lebensanſchauung eines Luther und Kant konnte ſich eine ſolche Zeit nicht mehr verbunden fühlen, da das Schwergewicht des Le dens fortan auf der Außenſeite lag.

Durch den Mangel an geiſtiger Lebensbewegung verliert die Seele ihren Le bensge halt; denn die fremdartigen Beſtandteile der Natur können niemals ihr geiſtiges Eigentum werden. Die deutſchen Myſti ker, unter ihnen vor allem Seuſe, Tauler, Ecke hart und Böhme, haben aus dem Gefühl der Unmöglichkeit einer Lebensanſchauung des reinen Denkens das Leben, die Mit- und Umwelt nicht vernünftelnd durchdacht, ſondern haben das Leben zuerſt gelebt. Das Lebensgefühl der modernen Welt mit feinem Bewußtſein ſtolzer Beherrſchung des ge- ſamten Daſeins hat den inneren Menſchen geiſtig und ſeeliſch einſam gelaſſen. Weil dieſe Tatſache nicht allen finnfällig vor Augen ſteht, weil die meiſten dieſe ſee liſche Leere nicht einmal als innere Not erleben, deshalb können wir die Gefahren der modernen Lebensbewegung für den inneren Menſchen nicht hoch genug ſchaͤtzen.

Dieſe Gewalt der naturlichen Notwendigkeit über die ſchoͤpferiſche Selbſtändigkeit bezeichnen wir als Naturalismus. Es iſt für viele die Lebens bewegung, bas Lebensgefühl, und für faft alle leider der Lebensinhalt und Lebenswert. Theoretiſch und prattifd, im Senken und Handeln iſt er nichts anderes als aus ge prägter Materialismus. Er wirkt ſich aus in der Teilnahms- lofigteit gegenüber geiftigen Lebenserſcheinungen, weiter aber ſogar im Kampf gegen die großen geiſtigen Lebensoffenbarungen, vor allem im Kampf gegen die größte geiſtige Macht, die Religion.

So war die notwendige Folge der Mechaniſierung der Natur die Me chaniſlerung der Seele. Oas iſt das Bild des modernen Menſchen der Arbeit, dem man Brot reichen wollte und Steine gab. Daß dieſer ſeeliſche Zwang alle echte Lebensfreude, die aus dem berechtigten

Stolz am Geſchaffenen und Geſtalteten entſteht, erdroſſeln mußte, daß es in ſolchem Leben nur ein Streben nach Lebens genuß im Sinne eines groben ſinnlichen Gefühls geben kann, iſt

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196 Secliſche Wiedergeben

deutlich, wenn man nur den Grundzug und die alles erfaſſende Macht des Naturalismus begrefit. Zn ſolchem Oaſein hat das Leben feinen Sinn und Wert verloren, Die geiſtigen Ziele unferes Lebens, große Seele und innere Freiheit, reine Gefinnung und ſtarke Perſönlichkeit, find natür- lichen Zwecken geopfert. Die Rettung unſerer Seele, unferes geiſtigen Lebens iſt deshalb

eine dringende Notwendigkeit. Ri a *

Große Lebensbewegungen und vor allem Bewegungen geiftiger Art find ohne ſtarke Per- ſönlichkeiten nicht denkbar, weil in der Menge der Einzelweſen nicht die ſtrenge innere Gamm- lung erreicht werden kann, wie im einzigartigen Leben einer großen Perſönlichkeit. In den großen Perſönlichkeiten offenbart ſich ein Teil des Frrationalen, jenes Undeutbaren und Unerllär⸗ lichen, das weit über eine natürliche Auslegung hinausgeht. Wenn wir in der Zeichnung der geiſtigen Lage der Gegenwart die Notwendigkeit einer ſeeliſchen Wiedergeburt durch Führung großer Perſönlichkeiten nachgewieſen haben, dann iſt es unſere Pflicht, in dieſem Zufammen- hange auf das Schaffen Rudolf Euckens und Friedrich Lienhards hinzuweiſen. Beide haben ihre Kraft dieſer Lebensaufgabe einer ſeellſchen Erneuerung und geiftigen Erhöhung unferes Lebens gewidmet: der Frieſe Rudolf Eucken als Lebensphiloſoph im alten, geiſtig belebten und geſchichtlich reichen Jena, der Altelfaffer Friedrich Lienhard als Dichterdenker in Weimar, dem geiſtigen Mittelpunkt des deutſchen Klaſſizismus.

Mit dem Begriff des Philoſophen verbinden wir den Begriff des Wiſſenſchaftlichen. So ent- ſpringt die Philoſophie nach der bisherigen Auffaſſung und nach ihrem bisherigen Begriff einem logifchen Erkennen. Oer Philoſoph ſoll alſo letzte Wahrheitsurteile herausſtellen, der Dichter da- gegen geſtaltet innerſtes Erleben, feine Arbeit iſt Wahrheit nicht aus logiſchem Erkennen fon- dern aus intuitiver Schau. Wir find als rationaliſtiſche Menſchen fo eingeſtellt, dieſe Klaſſifitation durchzuführen. Dann aber können wir die Arbeit Euckens und Lien hards nicht zuſammenbringen. Hier aber werden wie bei aller echtgroßen Leiſtung ſolche fachlichen Grenzen mit innerer Rot- wendigkeit überſchritren. Jedes große Werk, mag es nun einen philoſophiſchen oder kuͤnſtleriſchen Gehalt befigen, entſpringt nicht einer beſonderen Art des Menſchen, nicht einer Individual gciftigteit, ſondern dem Letztgeiſtigen überhaupt, dem unmitt lbaren Lebensgrunde, der geiſtigen Lebenseinheit. Dieſes Schaffen allein führt zur Geiftesipnthefe, weil es aus dem ſynthetiſchen S. iſt fließt. So gibt es zwiſchen wirklichen, überra zend großen Geiftestaten keinen grundſaͤz lichen Gegenſatz: Euckens Philoſophle des Geiſteslebens iſt ebenſo metalogiſch, fo grundgeiſtig, wie Lien hards grundgeiſtige Didtung nicht alogiſch, widervernuͤnftig iſt. Oer Geift umipannt beides, faßt allein das ganze L. ben und kann es in ſeiner inneren, ſeeliſchen Größe auch allein wiedererſt hen laſſen. Wenn Ausgangspunkt und Ziel geiſtiger Schöpfungen gleich ſind, dam werden auch die verſchledenen W. ge nicht trennen können. Vielmehr beweift folder individuelle Gehalt, wie er in der verſchiedenen Formung der Lebensgelſtigkeit durch Eucken und Lien hard zum Ausdruck kommt, die abiolute Unendlichkeit in der Oarſt llungsfähigkeit des Entſchöͤpferiſchen.

Die belebende geiftige Kraft, die von dem Werk Rudolf Euckens ausgeht, ſchildert uns Jos mit klarem Blick für das Große und Bleibende; dabei zeichnet er uns auch die Perſönlichkeit des weltberühmten Philoſophen: „Eine lebendige Perſönlichkeit, wie fie heute unter den akademiſchen Sachdenkern faft ausgeſtorben ſcheint ., ein Lebensphiloſoph ..., auch hier endlich wie der einmal ein Weiſer, der ſich von dogmatiſchen Formeln und Stoffmaſſen befreit und Wiſſen im Oenken, Oenken in Leben, Leben in Streben, Wollen und Wirken aufſog, auch er ein ſonniger Geift, der aus dem Herzen heraus lebt, aber dabei ebenſowenig blind iſt gegen die dunklen Wollen der Zeit, die ihr den Aufblick zu Idealen, ja zu einer Weltanſchauung rauben, gegen den geiftigen „Not ſtand“ unferer Tage. Eucken, ein Kämpfer und Prophet, der vorwartsdringend Mut, Energie und Tat des Geiſtes erweckt, ein Mann des Ethos, der fic über ſozlales Gluͤcksſtreben zu heroiſcher Gefinnung aufſchwingt.“ (Tatwelt“, Aug. -Sept. 1926; vgl. Beck, Im Philoſophenheim Rudolf Euckens: „Eine phlloſophiſche Ruhe bei der Betrachtung ernſter Fragen und eine feurige Erregung

Seelifhe Wiedergeburt 197

bei ber Aufzelgung des Allzumenſchlichen in unferem Lebensſtande, ein hoher Ernſt und ein hei- liges Verantwortungsbewußtſein gegenüber dem Schickſal der Menſchheit, eine geiftige Univer- falität von undenklichem Umfang, bei dem Mannigfaltigſten des Erkannten und Erlebten eine flare innere E. nheit, ein Zurüdgehen auf den letzten geiſtigen Grundcharakter des Lebens, im ganzen eine Kampfnatur voll Friſche und Urſprünglichkeit, voll Glauben und Mut, eine ganze, große geiſtige Perſönlichkeit das iſt Rudolf Eucken, der Achtzigjährige, der Führer des Fdealis- mus.“) Oer umfaſſende Seiſt Euckens hat mit tief eindringenden und überzeugenden Arbeiten immer wieder auf die Notwendigkeit einer Reformation im Sinne einer ſeeliſch-geiſtigen Ourd- dringung unferes Lebens hingewieſen. „Dieſe Aufgabe überſchreitet den Bereich der Philo- ſophie ..., aber auch bie Philoſophie kann dazu helfen, auch fie darf ſich den dringenden Menſch⸗ heitefragen nicht verſchlie ßen.“ (Menſch und Welt.“) Trotzdem Eucken dieſe Grenzen in feinem Fachgebiet klar erkennt, hat er der inneren Vertiefung unſeres Oaſeins ſeine geiſtig bedeutende Kraft geopfert. „Dabei bekenne ich mit aller Oeutlichkeit, daß das Weſentliche des Noologismus (Das iſt bie fachwiſſenſchaftliche Bezeichnung der Euckenſchen Grundrichtung. O. VB.) nicht die „Lehre“ (d. h. das von Eucken in feinen Schriften entwickelte Gedantengebdude) iſt, fondern bie von dieſer Lehre aufgewieſene Kraft und lebendige Seiſtigkeit ſelbſt. Die , Lehre“ iſt hier die Sinn; deutung und Rechenſchaftsablage einer wirklichen und lebendigen geiſtigen Welt, die als Tat; ſache, das heißt als Sache der Tat das Grundlegende darſtellt“ (Jordan, Die Grundfrage der Religion). Darin liegt der große, unübertrefflide Wert Euckens für eine geiftige Reformation unferes Lebens. Darin ift er im beſten Sinne den deutſchen Myſtikern verwandt, die das Leben nicht allein logiſch zergliedern und verſtandesmäßig deuten wollen, die vielmehr das Geheimnis des Lebens wahrten, im Leben eine geiſtige Tatſache erlebten, indem fie durch die T at offen; barten, daß unſer Leben nicht im bloßen Oaſein aufgeht, fondern einen geiſtigen Grund- gehalt beſitzt, den man allein finden kann, wenn man das Leben nicht zuerſt vernuͤnftelnd zer; gliedert, ſondern in feiner Ganzheit erlebt. Euckens Schriften ſammeln fid in ihrem gedant- lichen Ge halt alle um dieſe Tatſache und Forderung: „Kampf um einen geiſtigen Lebens- inhalt“, „Grundlegung einer neuen Lebensanſchauung“, „Zur Sammlung der Geiſter“, „Menſch und Welt“ ſind die für unſere Aufgabe bedeutendſten Werke. Es erhebt ſich gunddft für uns die Frage: warum bedarf unfer Leben einer ſeeliſchen Wieder; geburt? Ser Naturalismus ift die Le bensbewegung, die den weitgehendſten Einfluß im mo- dernen Leben ausgeübt und auch die ſtärkſte Kraft entfaltet hat. Das Weltbild, das Galilei und Descartes entworfen hatten, ſieht die Natur als ein feelenlofes Getriebe. Nirgendwo iſt ein Überfchreiten dieſer Gebundenheit möglich. „Alles Seeliſche wird dabei ausgeſchaltet, auch die Frage nach einem Zweck und Sinn des Geſchehens iſt In dieſem Reiche der Tatſächlichkeit fremd“ (Srundlegung). Pie Natur iſt die ganze Welt, die Welt ſchlechthin, es gibt nur einen großen, alles umfaſſenden Weltme chanismus. Es iſt erſichtlich, daß eine ſolche Bewegung wegen ihret Einfachheit, einleuchtenden Klarheit und wegen ihrer kleinmenſchlichen moraliſchen Forde; rungen die Gemüter an ſich bringen konnte. Diefe Betrachtung der Dinge hat dabei im äußeren Daſein viel erreicht, die Natur ift erobert und dem menſchlichen Willen ſcheinbar vollends unter; worfen. Oer Naturalismus geht hier noch nicht fo weit, alle Innerlichkeit an ſich zu zerſtören. Aber er vermag auch nicht, aus dem Dilemma herauszukommen, die geiſtigen Größen aus der Natur auszutreiben und gleichzeitig das Seeliſche nicht zum ftarren Mechanismus und das Mo- raliſche nicht zum Nützlichen werden zu laſſen. Gegen allen naturaliſtiſchen Zwang offenbart ſich im menſchlichen Leben ein Streben, das ſich gegen Zwang und bloßen Nutzen wendet. „Oer Menſch ift einer Lie be fähig, die den anderen nicht deswegen ſchätzt, weil fie dieſen oder jenen Nutze n von ihm hofft, ſondern weil er ihr mit dem Ganzen ſeines Seins einen Wert gewinnt. Welcher Armut verfiele die Menſchheit, wuͤrde aus ihrem Beſitz eine derartige echte Lie be ge- ichen! Kann aber der Naturalismus ein ſolches inneres Weitwerden des Herzens, ein ſolches Stirb und Werde‘, um mit dem großen Dichter zu ſprechen, irgentwie verſte hen und wuͤrdigen?

198 Seeliſche Wiedergeburt

(Grundlegung.) Das Erzeugnis ſolchen entſeelten Lebens ift eine weſenloſe Ziviliſation; alle echte Kultur als geiſtige Lebensdurchdringung iſt unmoglich. So bleibt der innere Menſch leer, unbefriedigt inmitten eines haſtenden Getriebes unaufhörlicher Arbeit. So ergibt fic trotz Aufwendung aller Kräfte „keine Erhöhung des ganzen Menſchen, kein Verhältnis zum All, keine Teilnahme an einem urfpriingliden Schaffen, kein mutiges Vordringen bei den Gebieten, wie Religion und Philoſophie, Kunſt und Moral ſie bieten, ſie ſchiebt die inneren Probleme der Menſchenbildung weit von ſich“. („Menſch und Welt.“

Das Argſte in dieſem Leben ift nicht das Leid, das den Menſchen erfchüttert, ſondern die ſeelenloſe Leere, die den inneren Menſchen heimatlos und einſam läßt. Es iſt offenſichtlich, daß hierin der letzte und tiefſte Grund unferer fogialen Verhältniſſe liegt, daß nur von hier aus eine Neugeſtaltung erreicht werden kann. Soziale und wirtſchaftliche Maßnahmen können die Seele nicht retten.

Für uns Deutfche erwachſen aus der feelifch-geiftigen Notlage beſondere Forderungen. Zu; nddft muͤſſen wir die Schwierigkeit und den Ernſt der Frage erſt erkennen lernen; ſodann muß uns die Einſicht leiten, daß der Naturalismus mit ſeinen Begleiterſcheinungen (vor allem der Materialismus im Denken und der Utilitarismus im Wollen) unſerem Leben niemals einen Sinn geben kann. Die neue Innerlichkeit fällt dem Menſchen jedoch nicht zu, fie muß er kämpft werden. Zum Schluß aber bedarf der neue geiſtige Lebensgrund einer aktiviſtiſchen und ethiſchen Geftaltung. Der Menſch darf das neue Leben nicht weltfremd und traum verloren betrachten, ſondern muß es geſt alten und meiſtern.

Neben dieſer von unerſchütterlichem Mut und ſtarkem Glauben zeugenden Behandlung des inneren Lebensproblems iſt die Führung wertvoll und hochbedeutſam, die uns Friedrich Lienhard gibt. Eenſt v. Wildenbruch hat in einem Briefe die Bedeutung Lienhards für unſere Aufgabe kurz und klar gekennzeichnet. Wildenbruchs Brief enthält das Urteil über Lienhards „Wege nach Weimar“, jenes tief innerliche Werk, deſſen Aufgabe es iſt, einer Beſeelung und Vergeiſtigung unferes Lebens zu dienen: „Das find divinatoriſche Worte, hervorquellend aus einer Seele, die ich um ihre tiefgründige Sammlungsfähigkeit wahrhaft beneide. Ihnen Gutes wünſchen, heißt unſerem Volke Gutes wünſchen.“ Die bedeutendſten Werke Lienhard, die in der Richtung einer ſeeliſchen Renaiffance den neuen Weg zum inneren Menſchen zeigen. find vor allem die „Wege nach Weimar“, das „Thüringer Tagebuch“, die „Wasgaufahrten“, die „Zeifter der Menſchheit“ und das „Hausbuch“ (Unter dem Rofentreuz), dann der Roman aus dem Elſaß der Kriegs- und Nachkriegszeit, der ſich ausſchlie zlich mit dem Gedanken der Reichs; beſeelung befaßt: „Weſtmark“, weiter neben dem „Oberlin“ und „Spielmann“ eine Reihe tuch tiger und tiefer Auffdge.

Unſere heutige Zeit iſt nach Lienhard ſeelenlos und innerlich arm geworden. Oeshalb iſt unſere Gegenwart kein wahres großes Leben mehr. „Es ift das eigentümliche Kennzeichen großer Zeitalter, daß ſie die ſtaatliche Gemeinſchaft zu beſeelen wiſſen durch die eindringliche Mitarbeit der Männer des Geiſtes und der Mächte des Herzens.“ (Weimarge danke.) Schon lange vor dem Kriege hat Lienhard den Kampf gegen die Veräußerlichung und „Verholzung“ (vgl. Eucken und fein Zeitalter) unferes Lebens begonnen. „Was in zahlreichen Büchern und Außerungen jener Jahre immer wieder zutage drängte: es war der Ruf nach Edelmenſchen, es war die Sorge um die deutſche Seele, um die Seele der Menſchheit.“ („Hausbuch.“) In dem Roman „Weftmart” führt der Pfarrer von LAgelbronn in feinem Lebenskreiſe den Kampf um die ſeeliſche Durch dringung des Daſeins durch. Die ſeelenloſe Ziviliſation aber läßt das ſtolze Reich, dem er in Treue und Liebe angehört, zuſammenbrechen:

„Das unbefeelte Reich zerbrach,

Wir ſtehn vor aller Welt in Schmach; Nun bleibt uns aufzubau’n aus Licht Ein Seelenreich, das nie zerbricht.“

Seelifche Wiedergeburt 199

Für einen Oichter find Erlebniffe bedeutſamer und entſcheidender als für den Gelehrten. Wir durfen deshalb das perfönliche Leben hier nicht fortlaffen, um die ſeeliſch aufbauende Arbeit Lienbards voll zu werten. Lienhard hatte um fein Elſaß ge kämpft; nun hat er feine Heimat und auch den jahrelangen Kampf verloren („Hausbuch“). Doch über ſolchen ſchickſalsſchweren Erleb- niſſen ſteht die tapfere Bejahung der großen Lebensaufgabe. Sie findet in den angeführten Zeilen, die als Einleitung zu dem Roman „Weſtmark“ gehören, deutlichen und beſtimmten Aus- druck. Die Hoffnung auf Rettung aus dieſem ſeelenloſen Zeitalter brauchen wir gerade in der Gegenwart nicht aufzugeben, da die jüngſte Vergangenheit durch die gewaltigen Ereigniſſe alle Menſchen erfchüttert habe. „Schmerz reift den Menſchen. In einer Stunde der Erſchuͤtterung kann die Seele mehr erſtarken als in ſechs dürren Jahren.“ („Weſtmark.“) Es iſt hier derſelbe Sedanke vom aufbauenden Wert des Leides und der äußeren Hemmungen, wie ihn Rudolf Eucken in der „Grundlegung einer neuen Lebensanſchauung“ ausführt. Zunächſt gilt die Aufgabe einer Beſeelung für unſeren deutſchen Lebenskreis, eine Aufgabe, die mir gelegentlich auch Eucken in derſelben Richtung während eines Beſuchs in Jena aufzeigte. So haben die beiden Perſönlichkeiten, der Dichterdenker und der Lebensphiloſoph, beide dieſelbe Srundſtimmung in ihrer Lebensanſchauung. Oer Pfarrer von Ligelbronn, dieſer tiefinnerliche, wahre und große Menſch, iſt das Vorbild der beſeelten Perſönlichkeit, das Bild eines lebensſtarken Menſchen, das Lienhard ſeinen deutſchen Brüdern mit großer Meiſterſchaft und warmem Herzen gezeichnet hat. Er klagt an: „Wo bleibt denn eure Kraft, euer Einfluß, ihr deutſchen Gralsſucher? ! Ich muß euch anklagen, ihr kurzſichtigen Deutſchen ..., ihr ſeid Knechte eines ſeelenlos verrömerten Staatsbegriffs geworden. Wo habt ihr eure einft führende Gemütsmaht? Wo habt ihr eure Liebe? Ihr habt fie für das Linſengericht äußeren Fettwerdens verkauft!“ („Weſtmark.“) Was bülfe es dem Menſchen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an feiner Seele?! „Die Seele aber, das höhere „Selbſt“, wie man damals fagte, ift ein Funke aus dem Lebenslichtmeer Gottes, und ihr Wachstum iſt deshalb von unermeßlichem Wert.“ („Weimar- gedanke.) Dieſe „Seele“ kann man ſich nicht erobern wie ein irdiſches Gut, man muß fie in ſich erleben. Dazu gehört vor allem der Glaube an die ewige, göttliche Beſtimmung des Menſchen. „Animal metaphysicum es iſt in uns Menſchen ein jenſeitiges Gefchöpf, das feine Geſetze jenſeits der Phyſik aus höheren Sphären holt.“ („Thüringer Tagebuch.“) Deutſchland hat zwei Kraftquellen. Beide haben ihre ſchöͤpferiſche Kraft in das deutſche Leben ausgeſtromt: in Norddeutſchland Gansfouci-Potsdam und in Mitteldeutſchland Weimar -Wartburg. Die Gegen- wart aber hat die Verbindung zwiſchen dieſen beiden großen Lebensquellen verloren, ſie iſt durch die weitgreifende Bewegung des Naturalismus zum Materialismus heruntergekommen. Weimar und Sansſouci tiefe Lebensinnerlichkeit und treues Pflichtbewußtſein gegenüber der ſtaatlichen Lebensgemeinſchaft haben ſich nicht wieder zufammenfinden können. „Oeutſchland braucht Seele. Sehen Sie, lieber Freund, dort liegen Stöße von ſchriftſtelleriſchen Arbeiten, die alle aus der Gelehrſamkeit in die Schlichtmenſchlichkeit Aberfest fein wollen.“ („Weſtmark.“ Das trifft vor allem die deutſche Philoſophie, die mehr ſein ſoll als bloße Fachgelehrſamkeit, die vielmehr an ihrem Teile der geiftigen Lebensreformation dienen muß (Eucken, „Menſch und Welt“). Dazu aber bedarf fie nicht nur eines ſpekulativen Vermögens, das Begriffe ertinftelt, ſondern es wird von ihr ein Zurüdgeben auf den letzten geiſtigen Gehalt des Lebens gefordert. „Ich geſtehe Ihnen, daß ich von dem lauten, würbelofen, meuternden und ſtrelkenden Deutſchland angewidert bin. Oieſes hadernde Volk iſt auch geiſtig keine Einheit mehr. Alles haben fle in Geſchwätz und Vernünftelel aufgelöft, auch Chriftus und das Reich Gottes. Sie gehorchen nicht Gott, fondern dem Zeitgeiſt ... Nun hoffe ich noch auf eine Ausleſe, auf das heimliche Oeutſchland, auf jene Großmacht der Herzen, deren Weisheit aus Märchen, Mythos und einzelnen Meiftermenfchen uns entgegenleuchtet. Diefer Großmacht will ich in aller Stille zu dienen ſuchen. Nicht alſo dem Papier, ſondern dem königlichften Stoff, den dieſer Planet beher⸗ bergt: der gottſuchenden Menſchenſeele.“ (Lienhard, „Weſtmark“.) Innerllche Menſchen find

200 Seeſiſche Wiedergeburt

heute einſam, die „gottſuchende Menſchenſeele“ hat zwiſchen Maſchinen und Werkzeugen, zwiſchen Geſinnungslumperei und nationaler Wuͤrdeloſigkeit auch in unſerem Leben keine geiſtige Heimat mehr. „Oft überkam es mich, etwa in ſpaͤter Nacht, wenn ſich nach tagelanger Geiftesarbeit das innere Ohr geöffnet hatte, als hört’ ich draußen das Weinen einſamer, verlaufener Seelen, die nach einem Heim der Liebe rufen, wie ein Kind nach der Mutter.“ („Hausbuch.“) Lienhard gibt dem neuen Lebensideal, der Aufgabe einer ſeeliſchen Lebenserneuerung, einen feſten Ge- halt in der Forderung, in der Semeinſchaft „das Verantwortungsbewußtſein für das Ganze zu beherrſchendem Bewußtſein zubringen“. („Goethe -Geſellſchaft und Akademie · Gedanke.) „Ich geftebe offen: es iſt mir nicht um äußere Einzelre formen zu tun, fondern um das Sichtbarmachen des Lebensproblems höherer Ordnung. Wenn eine Nation wahrhaft Nation, d. h. Volksgemeinſchaft ſein will, muß ihr dieſes ſeeliſche und geiſtige Einheitsgefühl und Verantwortungsgefühl für das Sedeihen des Ganzen auch in ihren Schaffenden zum Bewußtſein kommen und vorgeſtaltet werden.“ (a. a. O.) Organifationen, Verbände, Vereine können dieſe ſeeliſchen Kräfte nicht wecken. Sie veräußerlichen die geiftigen Werte, die ſich eben nicht durch einen Mechanismus begreifen und einfangen laſſen. Eine ſeeliſche Gemeinſchaft mit den Lichtkraͤften der Weisheit und Liebe iſt etwas anderes als ein natürlich praktiſcher Zweckverband. Auch in dieſem Gedanken wieder elne tiefinnere Ubereinſtimmumg Friedrich Lienhards mit dem Lebensideal des Jenenſer Philoſophen, der in feiner deutſchen Philoſophie fo eindringlich „Zur Sammlung der Seiſter“ gemahnt hat. Führer können dem Leben nicht abgetrotzt werden, fie find Geſchenke aus einem naturüberlegenen göttlichen Leben. „Mit ihnen beginnt das Reich des Grrationalen; in ihnen wirkt die „Lebe von oben“. Sie find nicht von unten her zu deuten, nicht naturwiſſenſchaftlich zu erklären, ſondern gleichſam kosmiſch aufzufaſſen: fie find dem Licht verwandt ... unfere Sache iſt die ſtille Vorne hmheit der Treue zum Guten, Großen und Schönen; das iſt uns auch in äußerer Verſklavung nicht verſagt. Hier if heiliges Feuer zu hüten, und fei es in ſeiner Wirkung auch nur ein Flämmchen. Das Flämımnden kann wieder Flamme werden. Hoͤchſtes Glad der Erdenkinder ift die vollausgebildete Perfön- lichkeit.“ („Weimargedanke.“

Wir haben den Mut zur Rettung der Seele aus ber knechtiſchen, daͤmoniſchen Gewalt des Zeitgeiſtes, weil wir die Gewißheit in uns tragen, daß die beſeelte n das mechan ierte Dafein beſiegen wird:

Es wuchs eine Schar aus dem knechtiſchen Troß,

Eine Schar, die eln ſchimmernder Panzer umſchloß,

Eine heldiſche Schar, Genoß an Genoß

Die erneuerte Seele der Oeutſchen.“ (Aenhard, Söhne ber Sonne“.

Wir müſſen das neue Zeitalter vorbereiten durch den deutlichen Hinweis auf die Ge fahren des Naturalismus, durch die Weckung naturüberlegener ſeeliſcher Bedürfniffe, durch den Hinweis auf die weltüberlegene, göttliche, ewige Art des Menſchen. Im Schopen- hauerſchen Sinne find Volk und Menſchheit der Gegenwart eine Geſellſchaft von Philiſtern ge- worden, Menſchen, die aus Sorge um ihr äußeres Daſein ihren geiſtigen Lebensgehalt, ihre Seele aufgegeben haben. Solches Leben iſt, weil es inhaltlos iſt, auch wertlos.

Nur aus innerſtem Erleben erwachſen aufbauende ſeeliſche Kräfte. Dann beginnt die Erneue- rung; der Menſch ftirbt dem Niederen ab, die Seele aber wird wiedergeboren. Solche Wieder

geburt iſt das letzte und höchfte Ziel des Lebens. Dr. Friedrich Alfred Beck

201

Sul

Nordiſche Weihnachtsbräuche

nfere germaniſchen Voreltern ſetzten den Jahresbeginn in die Zeit der Winterſonnenwende.

Eben ſo rechneten fie den neuen Tag von der vorhergehenden Nacht an. Als Erinnerung daran hat ſich die Sitte erhalten, einen kirchlichen Feſttag am Vorabend ein zuläuten. In Schwe⸗ den feiert man noch heute nicht nur den Weihnachtsabend, ſondern auch den Oſter abend (Kar⸗ ſonn abend), den Pfingſt(vot)obend und beſonders den Mittſommerabend, den 25. Zuni (Mitt- ſommertag ift der 24., Zohannistag).

Das Zulfeſt war eins der nach der Inglingaſage von Odin felbft eingeſetzten drei großen Opferhochfeſte. Die chriſtliche Kirche ließ im Norden ſogar den Namen Zul für ihr Winterfeſt, Chriſti Geburtstag, beſtehen. Der 13. Dezember galt als der tirgefte, der Neujahrstag. Bis zu dieſem mutzte alle Arbeit mit der Winterſaat beendet ſein. Natürlich ſtammt die noch jetzt in Schweden gebräudliche Feier dieſes Tages aus heidniſcher Zeit. Heut heißt er Lucia- oder LKLuſſitag und leitet gewiſſermaßen die Weihnachtszeit ein. Früher wurde ſchon der Vorabend mit geſelligem Beiſammenſein und Spielen gefeiert. Die Nacht nannte man „Mutternacht“, weil fie das neue Jahr gebar. Am Morgen des 13. „beim erſten Hahnenſchrei“ erſchien ein junges Mädchen des Hauſes, weiß gekleidet, eine Rrone mit brennenden Lichtern auf dem Kopf,

an den Betten der noch Schlafenden. In den Händen trug fie eine Schale mit ſtarkem warmen Bier oder Glühwein, den fie den Erwachenden bot. Zu etwas ſpaͤterer Morgenſtunde tritt nod deute in vielen ſchwediſchen Hdufern eine ebenſo geſchmuͤckte Lucia an die Betten mit einem KAaffeebrett. Getrdn? und Ruchen werden dann im Bett verzehrt. Lucia, die Lichtbringerin nach Dante eine der vornehmſten Heiligen des Himmels Ift wohl auch an dle Stelle einer altnordiſchen Göttin geſetzt worden. In alten Zeiten zündete man ihr zu Ehren an verfchiedenen Orten Feuer im Freien an und beleuchtete die Häufer feſtlich; im übrigen wurde der Tag durch überreichliches jen und Trinken gefeiert. Es hieß: je üppiger man den Luffitag begehe, um jo fruchtbarer würde das neue Zahr werden. Die Verſtorbenen, die Unterirdiſchen, die man ja vielfach in Zuſammenhang mit den Ackerbaufeſten brachte, ſollten an dieſem Tage die Erde befuchen dürfen.

Wiederum deutet eine alte, auch in den Städten noch nicht ausgeſtorbene ſchwediſche Weih- nachtsſitte auf die Opfermahlzeiten des Zulfeſtes hin: das In- den- NRochtopf - tunken (dopp igrytan). Man verſammelt ſich am heiligen Abend in der meiſt mit Tannengrün, roten Papier- Blumen und Bändern ausgefhmüdten Ride, wo ein großer Kochtopf mit Schweinefleiſch auf dem gerd brodelt, und jeder muß ein Stück Brot in die Brühe tunken und verzehren. Der Weih- nachtsbaum, jetzt hier allgemein im Brauch, ift bekanntlich zuerſt im Anfang des 17. Zahr- hunderts in Straßburg im Aſaß nachweisbar; nach Schweden kam er etwa hundert Jahre ſpaͤter. Aber einen Vorläufer hatte er hier ſchon in ganz alter Zeit. Da zogen die jungen Burſchen auf dem Lande von Hof zu Hof und ſteckten Zulſtangen auf. Die Zulftange beſtand aus ein em Tannenſtamm, an dem man die oberſten Zweige ſitzen ließ, ober aus einem Stock, an deſſen Spitze ein Stern oder Rad aus Tannenreis befeſtigt war. Die Stange mußte ſehr lang fein, dann ſollten im neuen Jabr die Kornhalme hoch wachſen. Auch in der Zulzeit durften die Ber- ſtorben en ihre alte Heimftätte beſuchen. Man rüftete alles zu ihrem Empfang. Auf dem die ganzen Zultage über gedeckten und mit Speiſen beſetzten Eßtiſch ſtanden ſtets beſondere Gerichte und Bier für fie bereit, dle kein anderer anrühren durfte. Solange man in den Bauern häuſern Lehmfußboden hatte, wurden dleſe am 24. Dezember mit Stroh bedeckt, das nach gewiſſen Regein fo gelegt werden mußte, daß es beim Ein- und Ausgehen nicht zerftreut wurde. Die hierzu verwendeten Garben fonderte der Haus vater bereits aus, wenn im Herbſt der letzte ern tewagen herein kam. Auf dem ſtrohgedeckten Fußboden ſchlief in den heiligen zwölf Nächten die Familie oder zum mindeften die Zugend und das Geſinde, ihre Betten für „die Gafte” frei

202 Sul. Norbiſche Weipradtsbräug

laffend. Zu dieſen rechnete man auch die Engel und den Heiland (das Zefustind) als Begleiter der Abgeſchiedenen. Auch wurde die Badeſtube für fie noch einmal geheizt, nachdem alle Has- bewohner ihr Zulbad genommen hatten. Durch den Gedanken der Anweſenheit der Seiſtet fühlte ſich niemand beängjtigt oder in der Weihnachtsfreude geſtört. „Die Gäfte“ gehörten einmel dazu. Am dreizehnten Tage kehrten fie in ihr Reich zurück. Von dem aufgehobenen Zulſtroß ſollten die Ochſen etwas freſſen, ehe fie zum erſtenmal im Fruͤhling zum Pflügen geführt wur- den; das machte fie ſtark. Als man in den Bauernhäufern mehr und mehr Holzfußböden en- führte, kam die Sitte des Julſtrohs ab. Auch der Glaube an die „Gäſte“ ſchwand allmählich Venn man nun auch kein Eſſen mehr für fie hinſtellte, fo ſetzte doch die Bauersfrau bis weit ins 19. Jahrhundert hinein am Veihnachtsabend ein Schuͤſſelchen mit Grüße für den Tomte zurecht: für den Hausgeiſt, das Heinzelmännchen, auch Niſſe genannt. Noch heut wird in gar; Schweden in der Zulzeit faſt ausſchließlich Schweinefleiſch gegeſſen eine Erinnerung a Sahrimner, den Walhalla-Eber. Zu trinken gibt es ſehr ſtarkes, dunkles Zulöl (Malzbier). Auch füße Grüße mit Milch darf nicht fehlen; wie man annimmt, war auch dieſe ein heidniſche; Opfergericht. Die weihnachtliche Ausſchmuͤckung bevorzugt überall neben dem Grün die rote Farbe, die Farbe der aufgehenden Sonne. Früher wurde eigenes Zulbrot in beſonderen Forma (Ringe, Rader, Hakenkreuze ſowie Tier- und Menſchengeſtalten) gebacken. Auch dies weiſt auf Opfergaben hin.

Früh am erſten Feſttag in alter Zeit um 4 oder 5, jetzt um 7 oder 448 findet der erſte MM Weihnachtsgottesdienſt ftatt, Zulottan genannt. Man fuhr und fährt noch auf dem Lande in . Schlitten zur Kirche, früher mit Fackeln, die auf dem Platz vor dem Gotteshaus zuſammen - geworfen wurden. Die Leute, die am Nirchweg wohnen, ftellen Lichter in ihre Fenſter. Hier in Stockholm ift es noch in einigen Gemeinden Sitte, daß wenigſtens die zur Nirche gehörigen . und meiſt benachbarten Gebäude (Paftoren- und Gemeindehaus) ihre Fenſter illuminierten, wenn die Menſchen zur Zulotta kommen. Was denn z. B. bei der hoch auf einem Felſenhuͤgel . thronenden Engelbrektskirche, wenn der Lichtſchein Aber die hinaufführenden, beſchneiten Weg und Treppen und die dunklen Geſtalten fällt, ein wunderbar ſtimmungsvolles Bild gibt. x

Sn alter Zeit machte man zu Weihnachten Puppen oder Tiere aus Stroh. Im Nordiſchen Muſeum werden deren überlieferte Muſter aufbewahrt und auf dem Zulmarkt, der alljährlich in dem einen Teil des Nordiſchen Muſeums bildenden Freiluftmuſeum Skanſen ſtattfindet kann man u. a. fog. Julböcke kaufen, die immer ſchnell abgehen. Aber zur Zeit der Großeltern und Urgroßeltern erſchien auf dem Land am Weihnachtsabend der Zulbod in Perſon. Es war ein in langhaarigen Pelz getleideter Mann; aus feiner zottigen Umhüllung ſah ein Holsited heraus, deſſen Spitze ein geſchnitzter Bockkopf bildete. In der Hand trug er eine Rute, auch wohl einen Hammer (Thorshammer). Er ſchlug die Anweſenden mit Rute oder Hammer und ſtieß mit den Bodhörnern nach ihnen, teilte aber auch aus einem mitgebrachten Sack Apfel und Nüffe aus. Die Verwandtſchaft mit dem deutſchen Weihnachtsmann, St. Nikolaus oder Knecht Ruprecht, iſt unverkennbar. In manchen ſchwediſchen Landesteilen und Familien hat ſich die Sitte erhalten, daß die Geſchenke durch einen Weihnachtsmann überbracht werden. Oder durch einen Tomte (Niſſe = Nikolaus). Die Geſchenke werden nicht aufgebaut, ſondern in Pakete verpackt, mit luſtigen Aufſchriften und Verschen verſehen, in Rörben hereingebracht. Oder wie in Norddeutſchland, wenigſtens in meiner Kinderzeit noch häufig in Mecklenburg, als Zulklappen zur Tür hereingeworfen.

Am zweiten Feiertag erſchienen und erſcheinen noch in gewiſſen Landesteilen die Sternen oder Steffenſänger. Weißgekleidet, mit roten Schärpen und ſpitzen Papiermüͤtzen. Der Anführer trägt eine Laterne in Sternenform, die drehbar iſt. Ihnen zur Seite geht ein in dunklen Pelz gebilltes, ſchwarzhaariges Männchen, das in einem Beutel Gaben ſammelt und Judas genannt wird. Es find dieſelben Sänger, die in den deutſchen Alpenländern unter dem Namen Stern finger“ auftreten. Sie fingen, außer Weihnachtsliedern, die Weiſe von dem Stalltnecht Steffen,

Auf Mleganders Spuren in Fndien 203

der feine fünf Fohlen tränkte. Urfprünglich kamen fie zu Pferde. Steffen, der Schimmelreiter, ift wobl eigentlich eine alte germaniſche Gottheit, der Herrſcher über Leben und Tod, ober deſſen Herold. Am beiligen Dreikönigstag pflegten die Sternenſänger noch einmal zu kommen. Wer jetzt an einem ſchönen Sonntagnachmittag zwiſchen Weihn acht und Neujahr nach Skanſen binauffpaziert, kann fie dort ganz nach alter Weiſe von Haus zu Haus ziehen ſehen und fingen hören. Draußen ſinkt die frühe Dämmerung herab. Die niedrige Stube mit den kleinen Fenſtern iſt nur durch den Schein des Raminfeuers erhellt. In dieſer Hellduntel-Julftimmung beim Ge- fang ber friſchen ungeſchulten Rnabenſtimmen könnte man ſich um viele Jahre zurückverſetzt glauben. Für manche Stockholmer und auch für mich gehort das Sternſingen auf Skanſen mit zur Wei hn achtsfeier. Sophie Charlotte von Sell

Auf Alexanders Spuren in Indien

Vorbemerkung. Die im Sommer d. 3. beenbete Forſchungs⸗ telfe bes engliſchen Gelehrten Sir Aurel Stein gibt bem Verfaſſer der an der Univerfität zu Bangkok (Siam) lange Jahre gewirkt

bat Anlaß zu den folgenden Betrachtungen. O. T. Me den Beziehungen des griechiſchen zum altindiſchen Kulturkreis ſowie dem Einfluß | Griehenlands auf Zentral- und Sidafien bis hinüber nach China und Zapan hat fid die Wiſſenſchaft in den letzten Jahrzehnten lebhafter als je zuvor beſchäftigt. Ganz beſonders zu nennen find in dieſer Beziehung die Namen des deutſchen Profeſſors Albert Grünwedel durch feine indiſchen Forſchungen und durch die bedeutenden Ergebniſſe feiner zufammen mit de Coq ausgeführten Turfan-Expedition, des franzöſiſchen Profeſſors Foucher, der uns in ſeinem hervorragenden Wert „L’Art graeco bouddhique“ einen Einblick in bie unter griechiſch⸗ ſeleuzidiſchem Einfluß ſeit den Tagen des ganz Indien beherrſchenden Königs Aſoka (3. vor- chriſtliches Jahrhundert) entſtandene budd hiſtiſche Gandharakunſt tun läßt und beſonders treffend darlegt, wie die erften Buddhaftatuen unter dem Einfluß griechiſcher Rüͤnſtler entſtanden, einem Einfluß, der fic fpäter bis in die heutige Zeit erhalten hat. Profeſſor Wilhelm vom China- Inſtitut in Frankfurt a. Main und andere namhafte Gelehrte haben gezeigt, daß tatſächlich bedeutende Ein fluͤſſe jener griechiſchen Gandharakunſt ſich ſpäter auch in der Runftentwidlung Chinas und Zapans geltend machten. Diefe Einwirkungen laſſen ſich auch in Hinterindien bei der von Angkov ausgehenden Khmer -Runſt, bei dem von vorderindiſchen Einwanderern er- tichteten Tempel von Borobudur auf Java ſowie in der fiamefifchen, annamitiſchen und bir-

maniſchen Runft Hinterindiens nachweiſen.

Die Rückwirkung des helleniſchen Kulturkreiſes auf die Kulturen des alten Aſien begann beſonders feit der Eroberung des alten Perſerreiches und des daraus ſich ergebenden ind iſchen Feldzuges (327 bis 325 v. Chr.) Alexanders des Großen. Oieſer Vorſtoß nach einem fo weit entlegenen und nur unter Überwindung größter Wegeshinderniffe und hartnäckig kämpfender Gegner zu erreichenden Lande muß, ganz beſonders im Hinblick auf die damaligen, geringen Hilfsmittel, ſicherlich als die mutigſte und größte Kriegsleiſtung Alexanders bezeichnet werden.

Der durch feine zentralaſiatiſchen Forſchungsreiſen bekannte engliſche Gelehrte Sir Aurel Stein hat kürzlich eine Expedition im nordweſtlichen Grenzgebiet Indiens und beſonders auch im Bereich des früher von Europäern faft nie betretenen Zributftaates Swat, weſtlich vom Indus bis zum Panjkora-Fluß abgeſchloſſen, die wertvolle Refultate mit Bezug auf die Feſt⸗ ſtellung mehrerer von den Geſchichtsſchreibern Alexanders genannten Ortlichteiten zeitigte und darüber hinaus wichtige Aufſchlüſſe über die in jenen Gegenden zur Zeit Rönig Aſo kas und der Seleuziden im dritten vorchriſtlichen Jahrhundert unter griechiſchem Einfluß zu hoher Blüte gelangte buddhiſtiſche Gand harakunſt gibt.

204 Auf Alexanders Spuren in Fabia

In dieſer Beziehung find auch die Ergebniſſe der 1919 durch den franzöfifchen Gelehrten Per- feſſor Foucher in Belutſchiſtan, d. h. im füdlihen Teile des bald nach Alexander entſtandenen, von den Seleuziden unabhängigen, griechiſch-baktriſchen Rönigreiches von großer Gedeuting. Sie brachten an der Hand arditettonifder und anderer Funde den klaren Nachweis, daß neben Seleuzia auch ganz beſonders dieſes früher an den Grenzen Indiens gelegene griechijd-battriide Reich damals von weſentlichſtem Einfluß auf die Entwicklung der indiſch-budd hiftiſchen Kulm und Kunſt geweſen fein muß.

Bei ſeiner jetzigen Forſchungsreiſe war Sir Aurel Stein auch ganz beſonders daran gelegen, die Ortlidteit der von Alexander unter größten Schwierigkeiten eroberten Bergfeſte Acme zu finden. Die Geſchichtsſchreiber Alexanders des Großen, und zwar vor allem Megaſthene, ſowie Curtius Rufus in feinem Werke „De rebus gestis Alexandri magni“ geben eine ziemlid genaue Beſchreibung von Aornos. Auch wird dieſer Punkt von Arrian und Plutarch erwahnt Nach Curtius Rufus lag die Feſte auf einem hohen Felsplateau, das bis zu einer ſcharfen Biegung des Indus auf dem Veſtufer vorſtieß und fic zu fteiler Höhe aus dem Fluß erhob. Schon damak diente das Plateau im Kriegsfalle den dort lebenden Vergvdltern als ein faft uneinnehmbere Zufluchtsort, wo ſie auf fetten Alpenwieſen ihr hergetriebenes Vieh weiden ließen und ge genügend Nahrungsmittel beſaßen, um eine längere Belagerung auszuhalten. Obendrein wa der Platz noch durch geſchickt angelegte Befeſtigungen verftärtt.

Konig Alexander kam damals, nach Beendigung feines Feldzuges nördlich des heutigen Rabe fluſſes und Peſchawur, auf feinem dann öftlich zum indiſchen Punjab gerichteten Marſche, nod Aberſchreitung des Runarfluffes und des Panjtorafluffes durch die Gegend von VGajaur bisa die Gegend des heute Swat Rohiſtan genannten, weſtlich vom Indus gelegenen Landes. Fe nördlichen, von der Vergbevdlterung Torwal genannten Teile dieſes Gebietes fteigen die er bedeckten Berge des Himalaja bis zu Höhen von ſechstauſend Metern empor. Prächtige Bode erfüllen die Täler. Es iſt ein wildes und dabei in vielen Teilen feiner Niederungen doch ſchone und fruchtbares Land. Die älteften Bewohner haben ſich hier noch in Art, Sprache und Citta erhalten, denn die Einwanderung ber afghaniſchen, von Weiten kommenden Pathan Stamme gelangte nicht bis in dieſe wilden Berge. Die Urbevölkerung des Torwal ſpricht Oardiſch, eint Sprache, die von der Steinſchen Expedition ſtudiert werden konnte und zweifellos für die mr gleichende Sprachforſchung Indiens und feiner Grenzländer großes Intereſſe beſitzt.

Etwa ſiebzig Kilometer nordweſtlich der öſtlich vom Indus gelegenen Stadt Abbottabad geh pon dem fteilen Hauptgebirge, das die Waſſerſcheide zwiſchen dem Indus und dem Scat · Fal bildet, ein Bergrücken, begrenzt durch die Täler von Ghorband und Chatefar, nach Oſten. Side Bergzug endet auf dem Weftufer des Indus in einem ſteilauſſchießenden Fels plateau, das eine Biegung des Fluffes überblidt. Mehr als fünfhundert Meter ragen hier die ſteilen Felswände über den Wafferfpiegel empor. Oben auf dem Plateau aber befinden fic vorzügliche Weir plaͤtze für das Vieh, die auch noch heute benutzt werden. Überrefte der von Alexanders 6. ſchichtsſchreibern erwähnten Befeſtigungen find auch noch vorhanden. Es beftebt tein Zweiſel daß Sir Aurel Stein hier die Bergfeſte Aornos tatſächlich gefunden hat. Die Beſtürmung dide Matzes war wohl einer der ſchwerſten Kampfe für Alexanders Truppen. Curtius Rufus erzähl davon, daß Alexander eine Menge großer Bäume niederhauen und in den Schluchten der Felle" aufhäufen ließ, um fo nach oben zu gelangen. Dabei legte er ſelbſt mit Hand an. Der Stum aber wurde zurüdgefchlagen, und erft am dritten Tage, nachdem das verteidigende Sergeoll doch ſchließlich abgezogen war, konnte der Rönig bie Bergfeſte einnehmen.

Das Land Swat war damals, und beſonders fpäter unter budd hiſtiſcher Herrſchaft wahren des erſten Jahrhunderts nach Chrifto, ein außerordentlich fruchtbares Gebiet. Seit jenen Loge" wird das Land auch „Ubyana“, das heißt der Garten genannt. Oer chineſiſche Pilger Fore befuchte um 400 n. Chr. dieſe Gegend. Neben einer Schilderung der den Budd hiſten heilige Bauten und Stätten gibt Fabien auch eine Beſchreibung der Naturſchoͤnheiten des Landen

Der Seit über ber Natur 205

Sir Aurel Stein fand viele Stupa (Grabdenkmäler zu Ehren des Buddha) ſowie Refte einft berrlider Budd hatempel. Die von Fabien erwähnte, im Felfen ausgehauene Fußſpur des Buddha Gantama fowie den Felfen, wo angeblich der Buddha fein Gewand zum Trocknen aufhängte, wurden von Sir Aurel Stein wieder aufgefunden. An dem Fußſpurfelſen fand er eine Inſchrift in Rarofpti.

Mit Spannung erwartet man die Veröffen tlichungen des britiſchen Gelehrten über die Ergeb- niſſe feiner intereſſanten Forſchungsreiſe, die ſicherlich weitere, ſehr wertvolle Aufklärung über die Einwirkung Altgriechenlands auf die Kultur und Runft des alten Indien bringen wird.

Paul Freye

Der Geiſt über der Natur

Diefes iſt ohne jede Polemik, dle des Verfaſſers Natur nicht entſpricht Francés Antwort auf Meffers Bedenten

(ogl. Tarmer, September 1927, G. 512). O. C. ie neuere Naturforſchung hat ſich unter dem Einfluß des Mechanismus und Materialismus, wie er von darwiniſtiſcher Seite neu aufgewärmt wurde, daran gewöhnt, das Wort zu wiederholen, das Laplace gebraucht haben ſoll, als er ſeine bekannte Weltentſtehungslehre Napoleon vortrug und ihn dieſer fragte: Wo bleibt Gott in ihrer Weltſchöpfung? „Sire, ich habe dieſe Hypotheje nicht nötig.“ Ich habe mehr als dreißig Jahre Naturforſchung damit abgeychloffen, daß ich glaube, die Naturforſchung tue unrecht daran und habe es ſehr wohl nötig, Gott in ihr

Weltbild einzuſetzen. Ich habe das bereits in meinem Hauptwerke: „Bios. Die Geſetze der Welt“ ausgeführt und möchte hier zu dem Gegenſtand noch folgendes jagen:

Die Tatſache einer wunderbaren Entwicklung des Lebens aus einfachen Keimen bis zu den erſtaunlichſten aller Geſchoͤpfe, nämlich uns ſelbſt, iſt ſichergeſtellt. Das wird ſich nie mehr um; werfen laſſen. Gang unerklärlich geblieben aber iſt ſowohl die Herkunft des Lebens wie die des Nenſchengeiſtes, des Gꝛiſtes in der Natur überhaupt. Wir ſehen nur bei genauer Betrachtung der

Natur, daß alles lebendige Sein in einem Stufenbau geordnet iſt, über dem als hödhfte Stufe eben dieſer menſchliche Geiſt ſteht.

Die Heinen Bauſteine der Materie find beherrſcht von phyſikaliſchen Geſetzen, die fie in eine beſtimmte Ordnung zwingen. Die Atome und Moleküle, welche die Materie zuſammenſetzen, find wieder einem Geſetz höherer Ordnung untertan, welches dem Stoff Form, Beſtand, Eigen- ſchaften verleiht und fie regelt. Stoffe ſetzen den Lebensſtoff zuſammen unter dem Einfluß der Lebensgeſetzlichkeit, die ihnen übergeordnet ift, fie verwendet und für ihre Zwecke benützt. Die Lebensgeſetzlichkeit iſt es, in deren Rahmen die Hꝛrausentwicklung des Lebens fällt, innerhalb ihres Kreiſes entſtand das Gziftige, das im Menſchengeiſt gipfelt und ihn mit den Dingen der Welt nach feiner Freiheit, aber nicht ohne die Gefe ke des Ganzen ſchalten läßt. Der Menſch ift mit der Natur zuſammengeſchloſſen in der Welt, aber mit feinen geiſtigen Leiſtungen in ein noch Höheres, nämlich in feine Vorſtellungswelt (fie iſt es, die ich mit dem Namen Bios in meinem Hauptwerke bezeichnete). Nichts deutet darauf, daß die Stufenfolge Atom, Materie, Organismen, Belt Bios damit ihre Grenze erreicht habe, ſondern alles auf das Gegenteil. Zn der Richtung dieſer Gedanken liegt es, ſich zu fagen, fo wie unſer Intellekt regelnd und gebunden an die Ge- ſetze des Seins in die Materie bis hinab zu den kleinſten Teilchen eingreift, fo kann auch mit uns eine übergeordnete, nächſthoͤhere Stufe verfahren, ohne daß es uns anders bewußt und kenntlich wird und ohne daß es auch tatfächlich etwas anderes iſt als ein Walten der Weltgeſetze.

Freillch ift in dieſer Vorſtellung eines Adergeordneten Willkür ſogar dieſem Göttlichen verſagt. Unfer Sottesbegriff ijt im Bann der Weltgeſetzmaͤßigkeit, er ift das oberfte und uns Übergeordnete Deltgeſetz ſelbſt. Wir beugen uns vor ihm mit dem Gefühl: Er, zu dem wir uns erheben können,

wenn wir die Weltgeſetzlichkeit der Harmonie erfüllen und in fie N iſt der Inbegriff unferer eigenen Geſetzlichkeit.

206 Seſchlechtonot und ihre Betamytm

Wir haben dieſe „Jppotheſe“, um mit Laplace zu reden, nötig, da uns ſonſt die ganze Gefes- mäßigkeit von Natur und Menſchengeiſt völlig unverſtändlich ware. Wir können ihre Urſache nur in etwas uns Übergeordnetem ſuchen, das auch höher ſteht als der geſamte Kosmos und Bios (das iſt das geiſtige Sein). Dicfe Höhe einer in ſich ruhenden „Unverſtändlichkeit“, welche aus ſich die Geſe tze hervorbringt, hat man aber von je mit keinem anderen Namen als mit dem det! Sdttlichkeit bezeichnet. Und ſo verehren auch wir ſie, indem wir ſie anerkennen. a

Vorſtellbar iſt fie uns nur als ein Kreis, aus dem das Allgeſche hen hervorging und zu dem es wieder zuruͤckte hrt. Gott ſteht für uns daher ſowohl am Anfang wie auch am Ende des Wel geſche hens. Und unfer beſtes und hoͤchſtes Streben muß fein, die Weltgeſetze, in denen er fid offenbart, möglichft zu erfüllen.

Eine derartige Naturauffaſſung hat allerdings mit dem ſeelenloſen Mechanismus der Oarwiniſten gebrochen und ſteht im ſchärfſten Gegenſatz zu dem Materialismus, der wie eine unheilvolle aus dem 19. Jahrhundert ererbte „Büchfe der Pandora“ die Menſchheit von einem Abel in das andere riß. Sie erkennt bereitwillig die Macht des Ide alis mus und der Geiftig- keit an. Sie ſucht im Geiftigen auch den Urgrund des Lebens. Sie weiß ſich darin ver wandt all den großen Philoſophien, welche die Ideale der Menſchheit geſchaffen haben, und dem Chriſtentum. Dieſes, als die europdiſche Form der ſelben Denkweiſe, die in Indien als Brahmanismus und Buddhismus, in Oftafien als Konfutſianismus die Weltgehetzlichkeit auf den Thron ſetzte und den Menſchen einordnet in einen Organismus ſittlicher Gebundenheiten. So iſt uns eine Verſöhnung von Naturalismus und Religion möglich.

Nur eine ſolche Naturauffaſſung iſt befähigt, zu einem harmoniſchen Kulturfaktor zu werden, der fic) einordnet in die Ganzheit des Voll me nſchent ums. Raoul H. France

Geſchlechtsnot und ihre Bekämpfung

Mir entnehmen dle nachſtehenden Aus führungen ber „Sexualethir, dem Organ des deutſchen Arzte- und Volksbundes für Gerualethil. Sanitätsrat Dr. Bonne verfteht es, in energiſcher und doch liebevoller Weiſe biefe Nöte mit ihren tieferen Urſachen zu erfaffen unb pode darzuftel len. Der Auffag iſt wert, auch von den Türmerleſern ur gugeweife geleſen zu werden.

ie ſexuellen Nöte ſind ſo alt wie das Menſchengeſchlecht und liegen begründet in dem [hier übermächtigen Urtrieb, auf dem die Erhaltung des Menſchengeſchlechts beruht. Aber wohl kaum je in der geſamten Menſchheitsgeſchichte find dieſe ſexuellen Nöte fo verheerend, in fo abſchreckender und für das geſamte Volksleben, die geſamte Rafje fo verhängnis voller Form aufgetreten wie in unferer Zeit. Daß dieſer Mi nßſtand ſolche Ausd ehnung annehmen konnte, if nur ein Beweis mehr dafür, mit welch unſagbar geringem Maß ſozialökonomiſcher Weisheit unſer Volk ſeit langem geführt worden iſt und bis auf den heutigen Tag geführt wird. Und da die Verhältniſſe bei den meiſten Völkern ähnlich liegen, gilt das gleiche auch für dieſe. Oak es ſo weit mit der Entartung unſeres Sexualtriebes, der ſo viel Liebe und Veisheit der Schöpfung

in ſich birgt, kommen konnte, hat eine Reihe ſchwerwiegender Gründe.

.. Geſetzt den Fall, wir würden durch eine beffere Charakter er ziehung, als fie uns Alteren zuteil geworden ijt und bis heute noch Lem allergrößten Teil unferer Jugend zuteil wird, ed lere Grundfäße in dieſe Zugend hinein pflanzen, was wird der beſte Unterricht in der Eittenlehre, der Charakterbildung nutzen, wenn unfere Jugend von uns Alteren in die Trink: und Raud- fitten oder, beſſer geſagt, Unſitten felbft eingeführt wird, die notoriſch den Geſchlechtstrieb an- ſtacheln? Jedem Arzt iſt es bekannt, daß die meiſten Falle von Geſchlechte kran heiten, an denen zur Zeit bei weitem die Mehrzahl unſerer Männer kranken, nicht fo ſehr in betrun kenem, fondern

Seſchlechtonot und ihre Selämpfung 207

im „animierten Zuſtande“ erworben werden, d. h. nach dem Genuß berauſchender Getränke, wie unfere „geſellſchaftlichen Trinkſitten“ ihn mit ſich bringen, ja geradezu erfordern nach der Konfirmation, nach dem Abiturienten examen, bei jeder Geſellſchaft, nach Kongreſſen und nach Geburtstagen. Hier ſehen wir ſchon, daß die Erziehung allein nichts nüßt, ſondern daß auch die Fern haltung von Schaͤd lichkeiten, die den Geſchlechtstrieb künſtlich anſtacheln, erforderlich ift, um die ſexuellen Nöte unferer Zeit zu bekämpfen. Sh habe ſchon in Verbindung mit dem Alkohol den Tabak genannt. Oer letztere hat mit dem Alkohol die Eigenſchaft gemein, daß er in Heinen Doſen den Geſchlechtstrieb anſtachelt, in großen ihn aber ebenfalls lähmt bis zur völligen Zmpotenz und Verödung der Hoden und der Eierſtöcke. | Dazu kommt aber, daß beide Gifte, während fie durch ihren chemiſchen Reiz die Gefdhledts- drüfen vorübergehend zu erhöhter Tätigkeit „animieren“, gleichzeitig unfere „Hemmungen“, dieſe feinften Seelenorgane, die wir „Gewiſſen“, „Anſtandsgefühl“, „Reinlichteitsempfinden“ uſw. nennen, lähmen und damit ihre Opfer reif für die Proftitution machen. Da nun die Gefahren der Verführung uns überall umlauern, auf der Straße, im Geſchäft, auf der Bahn, im Haufe uſw., hat man geſagt, „ſchön, dann ſtärken wir einfach der Jugend ihre Hemmungen, indem wir fie mit Angſt und Schrecken vor den Folgen eines unſittlichen Lebens! wandels erfüllen durch „Aufklärung“. Anſtatt daß aber dieſe „Aufklärung“ ihren gewiß wohl- gemeinten Zweck erfüllt, treibt fie oft genug den Teufel mit Beelzebub aus, indem fie nur zu oft mn reine Rinderfeelen geiſtigen Schmutz hineinträgt, der wie ſchlimmſter Bazillen träger wirkt, weil er dem jugendlichen Faſſungsvermoͤgen meiſt an ſich noch gänzlich fern liegt, und oft genug

in dieſem Aufklärungsunterricht von Leuten vorgebracht wird, die für denſelben gar nicht ge- nügend pädagogifch vorbereitet find. So iſt es noch kurzlich vorgekommen, daß die für Er- wachſene höͤchft lehrreiche Ausſtellung „Mutter und Kind“ die Unterlage für Aufklärungsunter⸗ richt durch einen jüngeren Arzt und eine jüngere Arztin abgab, die aber beide verlangten und durchſetzten, daß von den Lehrern und Lehrerinnen der Kinder niemand dieſem „Aufklärungs- unterricht“ beiwohnen dürfe, Ich ſelbſt wurde vor langen Jahren von einer Dame, die, was ich nur auf das höchſte billigen kann, mit an der Spitze im Kampf gegen die Proſtitution ſteht, gebeten, in einem Lehrlingsheim der Vorſtadt St. Pauli in Hamburg ſolchen „Aufklärungs- vortrag“ zu halten, insbeſondere die Jugend durch recht draſtiſche Schilderung der Geſchlechts⸗ trantheiten vor dieſen gruſeln zu machen“. Ich nohm den Vortrag nach einigen Bedenken an, aus Sorge, die Dame möchte vielleicht jemanden finden, der auf ihre Wünſche wirklich einging.

Jch dielt den Zungens, denen das Thema bekannt geworden war, einen einſtündigen Vortrag.

Einleitend ſagte ich nur kurz, ich wolle ihnen zeigen, wie man allem ſolchen Schmutz aus dem

Vege gehen könnte. Dann zog ich meinen Rod aus, ftreifte meine Hembarmel auf, turnte ihnen

wahrend meines Vortrages über die Starke und Tapferkeit der alten Germanen Zreiübungen bor und zeigte ihnen fo, wie fie tüchtige, ſtarke Männer werden könnten. Raum je nach einem

meiner vielen Vorträge habe ich einen fo begeiſterten Beifall geerntet. Raum war derſelbe ver- kungen, zog die ganze Geſellſchaft, rund 300 Jungens, wie auf Kommando ihre Jaden aus, und ein luftiges Wetturnen begann, daß es eine Freude war. Am anderen Tage bekam ich einen tadelnden Beſuch jener Dame, die mich um den Vortrag gebeten hatte: „Sie jei gleich bei meinen erſten Worten aus dem Saale gegangen, weil fie ſich geniert hätte, den Vortrag mit anzuhören, aber fie hätte zu ihrem Bedauern gehört, daß ich ihr eigentliches Thema gar nicht berührt hätte,“ Alſo was für ibre keuſchen Ohren zu unrein war, das ſollte ich in dieſe halb kindlichen Zungen hineintragen !

Aber faſt noch größer als die ſexuelle Not unſerer Jugendlichen, die ſich durch richtige Er- nahrung, Abhärtung, Sport, Wandern, Turnen und kaltes Baden, durch ein gelegentliches, vaterlich warnendes Wort, durch Anleitung zu ernſter Pflichterfüllung in körperlicher und

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geiftiger Arbeit ſehr wohl die Schärfe nehmen läßt, ſteht Die ſexuelle Not der Exwachſenen, der un verheirateten wie der verheirateten.

Unfere jungen Männer können zum Teil wegen ungenügenden Gehaltes, beſonders in den freien Berufen, zum Teil wegen fehlender Wohnungen ſehr oft nur ſpät heiraten. Die Zuſtaͤnde haben ſich dahin zugeſpitzt, daß Brautpaare, oft genug gegen ihre fonftigen foliden Anſchauungen, bereits vor der Ehe ein Rind zeugen, weil fie als Brautpaar mit einem Rind eher Ausſicht haben, eine Wohnung zu bekommen als Ehepaar ohne Rind. Zu fold jammervollen, geradezu verrückten Zuſtäͤnden find wir durch unſere ſozial-ökonomiſche Mißwirtſchaft und Unbildung gekommen!

Das Aller verrückteſte aber liegt wohl in der Befürwortung der Aufhebung der Beſtrafung der Fruchtabtreibung, wie fie von den verſchiedenſten Seiten betrieben wird. Alle diefe Befür⸗ worter ſtellen hierdurch ſelbſt ihren eigenen fogial-dtonomifden Renntniffen und Fähigkeiten das aller ärmlichſte Zeugnis aus.

Die ſämtlichen Reden, die bei den Verhandlungen im Reichstage über die §§ 218 und 219 (Abtreibung) am 25. April 1925 gehalten wurden, ſelbſt die erſchütternde, den Berhdltniffer | am ehrlichſten Rechnung tragende Rede von Frau Dr. Stegmann, führen unſere Frauen, unfere |

Mütter nicht um einen Schritt aus ihrer heutigen entſetzlichen Not heraus. Es macht ja geradezu |

einen erbärmlichen Eindruck, wenn ſich die Scharen von Männern im Reichstag über die Frage herumſtreiten, ob die Frauen ſich aus dringender Not ihre Leibesfrucht abtreiben laſſen dürfen

oder nicht, und kein einziger Reichstagsabgeordneter den einzig wirklich praktiſchen menschen |"

wirtſchaftlichen Weg zeigt, um den Frauen wieder wie in alter Zeit das Her vorbringen geſunder Kinder zur größten und reinſten Lebensfreude zu geſtalten. Bei ſolchen unfruchtbaren Neden ° werden wir freilich immer wieder das menſchenwirtſchaftlich ungeheuerlichſte Verbrechen er 7: leben: daß eine ſolche unglückliche Mutter gegen Natur und Gewiſſen ihr Heiligſtes, ibe Feinstes und Beſtes, ihre Leibesfrucht opfert, um der grauſigſten Not zu entrinnen. Wir rechnen, daß x heutzutage alljährlich mindeſtens eine halbe Million Geburten auf dleſe verbrecheriſche Weike |: verhindert werden. Welch eine ſozial-ökonomiſche Ungeheuerlichkeit! Zn den meiſten dieſer Falle

iſt aber nicht die unſelige Mutter ſchuld an dem Verbrechen, fondern diejenigen find es, die dieſe

entſetzlichen Zuſtände durch ihren bodenloſen Mangel an menſchenwirtſchaftlichem | Gewiffen, an menſchenwirtſchaftlicher Einſicht, an menſchenwirtſchaftlichen Renntniffen haben d entiteben laſſen oder bis auf den heutigen Tag nicht verſtanden haben, ihnen abzuhelfen, obwohl! ihnen die Verpflichtung dazu oblag. f Sch zeige abſichtlich hier noch einmal kurz den Weg! Zwei Millionen Wohnungen fehle uns, und zwar Heimſtätten mit Stall und Garten von 500 qm, damit der Arbeiter feine Abfall- ſtoffe mit Hilfe feiner freien Zeit in feinem Garten verwerten und ſich und feine Familie af 7°: dieſe Weife zu einem Teil vom Lebensmittelmarkte unabhängig machen kann, gleichzeitig fo viel auf dieſe Weiſe an Ausgaben für feine Ernährung erſparend, wie die Miete beträgt, damit unſet entwurzeltes Volk wieder lernt, im vaterländiſchen Boden zu wurzeln. Eine ſolche Bor nung, beſtehend aus Wohn küche, Wohnſtube, zwei geräumigen Kammern, großem Boden, Keller und Stallung für Ziegen, Schweine und Hühner, läßt ſich felbft heute noch überall für 400 bis 6000 RM. nebſt Brunnen und Grundſtüs ſchaffen. Das Geld zu dieſem großzügigen Sanie rungswerk für zwei Millionen Familien, die iegt zum Teil in ihrem Wohnungselend fied werden und entarten, zum Teil zu Verbrechen aller Art gelangen zwei Millionen Wohnungen zu 6000 RW. —, alfo 12 Milliarden RM., bringen wir mit Leichtigkeit auf, wenn wir unſert ſchädlichen und daher törichten, menſchenwirtſchaftlich geradezu vorſintflutlichen Trink- und Rauchſitten abſchaffen, die uns zuſammen jährlich mindeſtens 3 Milliarden für Altohol, 1 Milliarde für Cabal und 2 Milliarden für die Kran ken haͤuſer, Gefaͤngniſſe, Idioten anſtalten uſw. zut Unterbringung aller der Teint- unt Tabaksopſer toften 6 (feds) Milliarden im gaht! Wir würden alfo mit dieſer einen Summe in zwei Zahren nicht nur das ganze heutige ent

Gefhledtenct und tore Betampfung 209-

ſetzliche Wohnungselend unferes unglücklichen proletarifierten Volkes aus der Welt ſchaffen und dem jährlich neu hinzuwachſenden Wohnungsbedürfnis Rechnung tragen können, fondern auch gleichzeitig allen dieſen aus dem heutigen Vohnungselend und gleichzeitig aus unſeren verrückten und ganzlich veralteten und unzeitgemäßen Trink: und Raudunfitten entſtehenden Verbrechen vorbeugen. Außerdem würden wir die Hunderttauſende von unglüdlichen Arbeitern, Arbeiterinnen und Angeſtellten aus dieſen fluchbeladenen Induſtrien, in denen ſie zur Zeit die ſchlechteſte Kranken-, Unfall- und Sterbeſtatiſtik aufweiſen, freimachen für die Arbeiten in dem ſoviel gefünderen Baugewerbe, in welchem wir ſodann dringend alle dieſe Arbeitskräfte ge- brauchen würden! Das hieße wirklich brauchbare und „praktiſche Menſchenwirtſchaft“ treiben

Was ich hier theoretiſch ausgeführt habe, habe ich feit über 25 Jahren in den 138 Arbeiter- Heinfiedelungen in der reichſten Villengegend von Hamburg-Altona, ſowie in der Lüneburger Heide, durch die Tat, wie ein Experiment im großen, praktiſch als ausführbar nachgewieſen, insbeſondere mit dem Erfolg, auf den es im vorliegenden Falle beſonders ankommt, nicht nur in bezug auf die Aufzucht zahlreicher, geſunder Kinder, ſondern auch in bezug anf die Verhuͤtung von Verbrechen, vor allem gegen § 218. Noch zur Zeit dieſer Niederſchrift, Zuli 1925, ſchaffe ich in der Nachbarſchaft von Lüneburg wiederum neue Heimftätten zu den oben angeführten Preiſen. Man fiebt alſo, es geht, wenn man nur will

Lernen wir endlich den fo viel Verderben über unſer unglückliches Volk ergießenden, rieſen · großen Rapitalftrom der Alkoholinduſtrie mit ſtarker Hand bewußt umleiten in das fegen- ſpendende Strombett des Baugewerbes! Das wäre eine Tat für unſere Reichstags abgeord⸗ neten von weltgeſchichtlicher Bedeutung. Solange dieſe Herren aber im Reichstag nur Reden halten und ihren Reden keine Taten folgen laſſen, folange fie ſelbſt von „ihrem Bier“, „ihrem Glas Wein“ und von „ihrer Havanna“ oder „ihrer Zigarette“ nicht laſſen können, fo lange wird alles, was gegen den $ 218 geplant wird, ein völliger Schlag ins Vaſſer fein.

Eine weitere Quelle der heutigen ſexuellen Nöte liegt in der Eheſch eu fo vieler heiratsfähiger Männer, Diefe iſt wiederum einmal begründet in der ſchlechten Beſoldung fo vieler Arbeitnehmer und Angeſtellter, andererfeits aber auch in den Luxusanſprüͤchen fo vieler unferer jungen Männer, beſonders durch ihre Ausgaben für Alkohol und Tabak. Zum dritten entſteht dieſe Eheſcheu viel- fach durch die Sorge, die heutzutage leider nicht ganz unberechtigt iſt, einen Fehlgriff zu tun und ſtatt einer tüchtigen Hausfrau und Mutter feiner Rinder, ein modernes Dänchen zu er- wiſchen, die von Riche und Haushalt nichts verſteht, dafür aber Romane lieſt, Tango tanzt, Likör trinkt und Zigaretten raucht. Hler muß gefordert werden: gründlicher obligatoriſcher Unterricht für baus frauliche Ausbildung auf allen Mädchenſchulen, in der Volksschule wie im Lyzeum

Zur Zeit aber muß den ſogenannten gebildeten und führenden Ständen und Schichten das Gewiffen geſchärft werden, indem man den Mädchen und Frauen immer wieder vorhält, daß es für deutſche Mädchen und Frauen beſonders in dieſer ſchweren Notzeit unſeres Vaterlandes unwürdig iſt, dieſe Sitten, die von Indianern, Negern und Dirnen übernommen find, nachzu- affen. Gleichzeitig aber müffen wir endlich eine nach dem Einkommen geftaffelte Zunggeſellen - ſteuer bekommen, deren Ertrag am beiten in eine ſtaatliche Bau kaſſe fließt, aus der junge Ehepaare Baugelder zur Schaffung eines eigenen Heims gegen mäßigen Zins erhalten tonnen

Ein weiterer Weg aus unſeren ſexuellen Nöten beſteht darin, daß die Arbeitgeber durch Reichsgeſetz gezwungen werden, falls fie überhaupt weibliche Arbeiter befhäftigen, dieſe fo zu bezahlen, daß fie davon leben können und nicht gezwungen find, fid mit Hilfe eines Verhältniſſes oder dirett durch Proſti tution die Mittel zum Leben hinzu zu verdienen. In gleicher Weiſe follten

unſere weiblichen Theaterangeſtellten, Schauſpielerinnen, Sängerinnen, Choriſtinnen, Tanze tinnen uſw. vor den ſchamloſen Zumutungen vieler Theateragenten und Direktoren durch Der Türmer XXX, 3 14

Zn RK u ae um

210 Seſchlechtonot und ihre Setämpfung

exemplariſche Beſtrafung folder Burſchen mit langjähriger Zwangsarbeit und Konzeffions- entziehung geſchuͤtzt werden.

In bezug auf die Ernährung unferes Volkes will ich nur kurz bemerken, daß ein gewohn⸗ heitsmäßiger zu reichlicher Genuß von Fleiſch, Eiern und ſtarken Gewürzen ſicher viel dazu beiträgt, die ſexuellen Begierden zu ſteigern. Die Menſchen beiderlei Geſchlechts miiffen auch hierüber in geeigneter Weife unterrichtet werden. Es geht daher abgeſehen von allem anderen ſchon allein aus dieſem Grunde nicht an, daß Phyſiologen auf Grund von Laboratorium experimenten und Kalorien berechnungen, nur weil fie ſelbſt gern Fleiſch eſſen oder vielleicht Verwandte haben, bie am Gefrierfleiſchimport beteiligt find, in Tageszeitungen für größeren Fleiſchgenuß Propaganda machen. Solchem unwiſſenſchaftlichen und un verantwortlichen Treiben muß von ärztlicher Seite auf das ſchärfſte widerſprochen werden

Aber daß außer allen dieſen Maßnahmen wirklich etwas Großes, Eingreifendes ge- ſchehen muß, um bie feruellen Nöte unſeres Volkes zu bannen, das liegt doch wahrlich auf der Hand, wenn unjer Volk, unſere Raffe am Leben bleiben ſoll! Welch eine erſchuͤtternde Tat⸗ ſache: ein Zehn tel aller Rinder, die geboren werden, ſind unehelich, trotzdem wir wiſſen, daß von diefen ein erſchütternder Prozentſatz ſchon im erſten Lebensjahre infolge von ungenuͤgender Pflege wieder zugrunde geht, von den zablreichen Rindsmorden ganz zu ſchweigen, trotzdem wir wiſſen, daß ein weiterer erſchuͤtternder Prozentſatz dieſer unglücklichen unehelichen Rinder infolge mangelnder elterlicher Erziehung zu Verbrechern entartet! Welch ein weiteres grauenhaftes Menetekel: über zehn Prozent aller Rinder ſpphilitiſch, eine der furchtbarſten Folgen unſerer feruellen Nöte! Über 70 Prozent aller Blinden blind durch die Tripperkrankheit des Erzeugers! Sollte uns dies alles nicht ein Anſporn ſein, alles zu tun, was nur irgend moglich, um dieſem Elend zu ſteuern? .

Sanitätsrat Dr. Bonne

OF Jene Halle

Ole hier veröffentlichten, dem freien Meinungs austauſch bienenden Einfendungen find unabhängig vom Standpunkt des Herausgebers

Der Chriſt in Mietzſche

Sehr geehrte Schriftleitung! it lebhafter Anteilnahme las ich im Septemberheft des Tüͤrmers die Ausführungen Dr. Helmut Burgerts über den „Chriſt in Nietzſche“. Und ich wünſche ſehr, daß dieſer geiſtige Morgenruf des Türmers weithin ins Land hinaus hallen und die noch träumenden und verſchlafenen Geifter wecken möge und hellhörig machen. Handelt es ſich doch hierbei nicht nur um geiſtige Pionierarbeit im Dienſte Miekfches und feiner Weltanſchauung, als vielmehr um den Wartburggeift des Luthertums in unſerm Kampfe um die deutſche Seele und die Weltſendung ihres Heliandgeiſtes im Chaos unſerer Zeit. Und in dieſem Kampfe können wir den Sarathuftra-Geift Nietzſches als Nothelfer nicht entbehren. Eine Tatſache, die in ihrer Notwendigkeit von unſern nationalen und chriſtlichen, inſonderheit prote- ſtantiſch- evangellſchen Rreifen noch allzu wenig erkannt und gewertet wird. Fd begrüße es deshalb als eine moraliſche und tapfere Tat des Türmers, die chriſtlichen Kreiſe durch den gornſtoß des Artikels: „Der Chriſt in Nietzſche“ aufgerüttelt zu haben, als eine Tat, die um fo höher zu würdigen iſt, wenn man den Berg von Vorurteilen, geiftiger Unfreiheit und ge- ſellſchaftlicher Zaghaftigkeit kennt, hinter dem fic die parteipolltiſche Tages und Zeitſchriften ; peeſſe dieſer Kreiſe in einer fo weſentlichen Rulturfrage des deutſchen Volkes zumeiſt verftedt.

Wenn Dr. Helmut Burgert dann aber in ſeinen ſonſt vortrefflichen Ausführungen eingangs behauptet, daß noch kein „Apologet“ und „gligernder Schöngeift ſich das eſſayiſtiſche Vergnügen gemacht hätte, ausgerechnet den Antichriſten von Sils-Maria als homo christianus des „Vor- bimmels‘ würdig zu proklamieren“ —, fo möchte ich mir erlauben, dazu ein paar ergänzende Anmerkungen zu machen.

Sh bin freilich kein „Apologet“ und kein, glitzernder Schöngeiſt“ und nur ein deutſcher Oichter und Oen ker —; aber als ſolcher habe ich ſeit mehr als zehn Zahren in meinen Büchern und in einer großen Anzahl von Artikeln in Zeitungen und Zeitſchriften (auch im Laermer, Zuni- heft 1922: „Nietzſches Lehre vom Mitleid“ immer wieder die chriſtliche Seele als den ſchöpfe⸗ riſchen Muttergrund Nietzſcheſchen Geiſtes bloßgelegt und dargeſtellt.

So habe ich bereits in meinem „Neuland der Runft und Kultur“ (1916 Leipzig, Erich Matthes Verlag) in dem Kapitel: „Das Weltethos in der Gegenwartsdichtung“ den Nachweis zu führen geſucht, „daß zwiſchen dem intelligiblen Charakter des Chriſten tums und der Lehre Zarathuftras kein un verein barer Gegenſatz obwaltet und wie tief und feſt Nietzſche mit feinem „Zarathuſtra“ im chriſtlichen Seelengrunde unferer deutſchen Myſtiker (Meiſter Eckehart, Zakob Böhme und Angelus Sileſius) wurzelt. Woͤrtlich ſchrieb ich damals bereits:

„Wahrlich, der da ſagte: „Ich liebe die, welche nicht zu leben wiſſen, es fei denn als Unter; gehende, denn es find die Hin übergehenden. Zch liebe den, welcher nicht einen Tropfen Gelft für ſich zuruck behält, ſondern ganz der Geiſt feiner Tugend fein will: fo ſchreitet er als Geift über die Brücke der das gefagt, iſt weder der Antichriſt noch der Immoraliſt im Sinne einer kirchlichen Orthodoxie, fobalb wir ihn recht verſtehen und ganz von innen er- faſſen. Und wenn irgendwo für das deutſche Geiſtesleben als einer eigenen ethiſch · reli gidfen Weltanſchauung die Morgenröte den Horizont vor unſern Augen lichtet und uns mit neuen Hoffnungen auf den kommenden Tag erfüllen kann, fo ift es der Zarathuſtra⸗Geiſt Megiches, der dem ideellen Urkern des Chriſten tums, dem göttlichen Licht, das aus der ſchoͤpfe

212 Oer Cheiſt in MWiehide

riſchen Menſchennatur des Nazareners brach, als Sonnenſubſtanz der Innenwelt ungleich näher ſteht, als es bie Prieſter der Rirden ahnen und als es ſich unſre Schulweisheit träumen laßt.“

Burgerts Frage aber, „ob nicht eben die echte anima christians im dionpſiſchen Philoſophen ſelber noch ftedt, ob nicht ihr beſtverſchriener Haſſer und Verächter in der Tat und Wahrheit ihr Anwalt geweſen ift“, habe ich ebenfalls ſchon mit einem runden Ja beantwortet in meinem 1923 erſchienenen Buche: „Ibſens Kaiſer und Galiläer als Zeitſinnbild“ (Rudolſtabt, Greifen · verlag). Das ganze Kapitel: „Zarathuſtra der myſtiſche Zweiſeitige“ kreiſt gleichſam um dieſe Frage, und meine Gedanken gipfeln in der Beweisführung, daß der „Zarathuſtra“ für Nietzſches Geiſt und Selbſt das Ehrift-Myfterium feiner Seele war. Nur ein paar Saͤze daraus feien als Glodentine der Tiefe in die lauſchenden Ohren der Aufmerkenden geworfen. So heißt es dort am Ausgange des Kapitels:

» Wie der Schöpfer des „Zarathuſtra“ den Chriſt wieder und wieder mit einem Gruß de Liebe ehrte, fo bekundet das ganze fpdtere Senken und Dichten Nietzſches, daß es immer [pür famer aus dem myſtiſchen Gefühl einer tranſzendenten Weſenseinheit und Schickſalsgemein · ſchaft geſpeiſt wird. Scharf ausgeprägt zeigt ſich das z. B. in dem Wort und Bilde von dem ‚römifchen Caͤſar mit der Seele des Ehrift‘ in dem ‚Willen zur Macht“. Es ging Nietzſche wie Raifer Zulian, der vergebens ein Leben lang in ſich und mit ſich rang, um von dem Geoffen · barten, dem Chriſt, freizukommen. Wie ſehr er auch als ‚freier Geift‘ feine Judas -GSegnerſchaft hervor kehrte, fo iſt ſelbſt für den Caͤſar in ihm, für den Verfaſſer des ‚Willens zur Macht“: Chriſtus am Kreuze das erhabenſte Symbol immer noch“ —, und in jedem Worte des Anticheiſt leben Liebeshaß und Liebesbitte,

Erinnern wir uns dazu noch der Tatſache, daß das Problem: ‚Dionyfos gegen den Ge kreuzigten ! ſchlechthin das Lebensproblem des Oenkers als Weltweiſen war und daß es die Fragen nach dem feindbrüuͤderlichen Verhältnis des Chriſt und des Dionyſos waren, womit Nietzſche in die Nacht feines Geiſtes hinabſtieg, daß von feinen letzten Vahnbriefen einige mit ‚Dionyfos‘, andere mit ,der Gekreuzigte“ unterzeichnet waren, fo drängt ſich uns von innen het die erſchuͤtternde Gewißbeit auf, daß Nietzſche am Ausgang feiner Tage in daͤmoniſcher Gelbfl- ſchau auch noch die letzte Gewißheit wurde über des Nyſtikers abgründige Frage: „Veißt du denn, Zulian, ob Du nicht etwa warſt in ihm, den Du jetzt verfolgſt?“

„Nicht der Zweifel, die Gewißheit iſt das, was wahnſinnig macht . ., bekennt Nietzſche im ‚Eooe homo‘, Und die Gewißheit von der Zdentität feines ſeeliſchen Splegelbildes des Dic nyſos und des Gekreuzigten, die Gewißheit, daß ſich in feinem Zarathuſtra nur die lichte All · feele des Chriſt im Geiftleibe des Dionyſos neu offenbart hat: dieſe Gewißheit als letztes furch bares Geſicht ließ ihn für immer verſtummen und zwang den Seher ⸗Dichter, fein Antlitz zu verhüllen und als ein ‚Hottgefchlagener‘ in die Nacht hinabzuſteigen.“——

Dod das nur zur erſten Andeutung und zum Hinweis für bie Suchenden. Denn dieſe Se danken wollen im Zuſammenhange mit dem Ganzen geleſen fein und find nicht für jeden und alle.

Aber auch für mich als Schaffenden bedeuteten und bezweckten diefe „effayiftiichen“ Gedanten nichts weiter als eine letzte geiſtige Orientierung für den Flug der dichteriſchen Phantalie, die ſich aus den mütterlichen Gründen ſchoͤpferiſcher Intuition erhob und im damoniſchen Wollen und Müffen mich zu meiner „Weltenſchau“ trug. Die Oichtung eint in ſich die eddiſche Natur mit chriſtlicher Seele und zarathuſtriſchem Geifte zu einem neuen ſchöͤpferiſchen Weltgefübl des deutſchen Menſchen. Und der Held der drei Romane: Hochwildfeuer Wetter ſteinmächte Volkberts Tat ift der Zarathuftra-Menſch mit der Seele des Eprift und feinem großen Schickſale, feinem Unterliegen und Siegen in diefer deutſchen Weltwendeselt.

Doch darüber weiter zu reden, widerſtrebt mir; auch mochte ich der ſpuͤrſamen Kritik um hohen Literarhiſtorik nicht vorgreifen die mit fo feinen Ohren nach den Winden von den Bergen der Zukunft her aushorchen. j

Su dem offenen Brief an Gertrud Baumer ä 213

Rur das möchte ich im Anſchluß an die Gedanken des Herrn Dr. Helmut Burgert noch be- tionen, daß ich ſchon in meinem „Mittagsgeſicht“ (2. Kap. im Hochwildfeuer, München 1919) Zarathuſtra dichteriſch ſchaute als „Wanderer zwiſchen den Welten“, der aus feiner Seele heraus dem Chriſt entgegen kommt, ſich brüderlich mit ihm eint und mit ihm durch den Himmel weiter wandert in dem heiligen Willen zum Endziel der Welt“. Paul Schulze - Berghof

Zu dem offenen Briefe an Gertrud Bäumer

Wir hatten im Oktoberheft gleichfalls mit einigen Worten zu blefer Sache Stellung genommen. O. T. ie mir, iſt es vielen rechtsſtehenden Frauen gegangen: wir laſen in den Zeitungen der Rechten von dem empörenden Artikel Gertrud Baͤumers im Zuniheft der Frau und von der gebührenden Abfuhr, die ihr durch Frau Hindenberg-Oelbrück (nicht burg!) zuteil ge- worden war, und wir ſagten: wie ſchade! Wie ſchade nämlich, daß Gertrud Baͤumer, die wir als die glänzendfte Führerin der Frauenbewegung neben Helene Lange bewundern, in ihrer vaterländifchen politiſchen Einftellung fo weit vom Wege gewichen fein ſollte, daß fie zum empörten Widerſpruch herausfordert, und daß man gerade hier auf gar lein gegenſeitiges Ver⸗ ftändnis rechnen kann. Und dann laſen wir den Artikel Hind en berg Delbrück und den von Gertrud Bäumer felbft und ſtanden plötzlich vor einer völlig anderen Sachlage. Wenn man den Phrafen- ſchwall des Hinden berg⸗Oelbruͤck- Artikels über ſich hatte ergehen laſſen und dann die kriftall- Haren Satze Gertrud Bäumers in ihrer objektiven, den Tatſachen das Wort gebenden Ruhe las, fo kam man zunädft zu dem Schluß, dem auch inzwiſchen der Allgemeine Oeutſche Frauen verein Ausdruck gegeben hat, daß nämlich „Frauenwürde eine folde Rampfesweife verbieten ſollte“, um fo mehr als fie ſich in ihrer Entgleifung „gegen eine Perſönlichkeit richtet, der die Frauenwelt ten tiefften Oank ſchuldet für ihr lebenslanges Wirken im Dienſte der Frauen“. Der zwei te Eindruck war der, daß Frau Hindenberg (und andere, die den gleichen Ton in fpäteren Beitungsnummern anſchlagen) Gertrud Bäumer überhaupt nicht verſtanden haben. Es wäre ſonſt nicht möglich, daß fie alle Gedanken Gertrud Baͤumers fo aus dem Zuſammenhang heraus- teißt, den tiefen, erſchütternden Ernſt, der aus ihren Worten ſpricht, verkennt, daß fie an die Stelle ihrer objektiven, die Tatſachen in ihrer Wucht, ihrem ſchreienden Gegenſatz zu dem Ex- ſtrebten wägenden Betrachtungsweiſe eine gefühlsmäßige, unklare, ungerechte, herabwuͤrdigende ſetzt. Wenn fie glaubt, Gertrud Bäumer belehren zu müfjen (3. B. über den Sinn des Helden todes), wenn fie vor dem Ausſpruch von dem Zwange und dem „Recht des Lebens“ (Schiller, An die Freunde) verfagt, wenn fie den Gegenſatz zwiſchen erſtrebten oder erträumten Zdealen und Zielen und der harten, nackten Wirklichkeit mit ihren Abgruͤnden nicht ſieht, fo kehren wir von ihr zu Gertrud Bäumer zurück mit der Gewißheit, daß die eigentliche Tiefe des Empfindens, das eigentliche tiefe Verſtehen des erſchůtternden Geſchehens bei ihr viel mehr zu finden iſt als bei der vor Eifer blinden, vor Entſtellungen aller Art nicht zurüdfchredenden Gegenſeite. Wenn, um nur ein Beifpiel zu nennen, Frau Hinden berg über das Wort Es lohnt nicht“ in Empörung gerät ja, muß man denn nicht angeſichts der Zuſtaͤnde in unſerem Vaterlande mit Gertrud Bäumer fprechen „Es lohnt nicht!“? Mußten Millionen unferer beften Männer und Jünglinge, deren Geiftes- und Seelen kräfte ſtark, friſch und un verbraucht zum Oienſt für alle bereit waren, in den Tod gehen, damit andere Millionen, die aus dem Kriege zuruͤcktehrten, in den grauen daften Wohnungsverhältniffen der Großftädte mit ihren Rindern an Leib und Seele zugrunde gehen, wahrend ein paar tauſend Schieber und Spekulanten ſich auf Koſten der Glieder eines sequälten Voltes bereichern? Mußten Millionen ſterben, damit wir alles einbüßten, was wir an Stöße, an Weltgeltung beſaßen, damit wir als Sklaven volk unter der Knute der Feinde, ausgeſogen durch grauſame Verträge für unabſehbare Zeiten leben, immer noch mit dem

214 Ronnersreuth Zonnp fpleit auf

Makel der Kriegsſchuld behaftet, immer noch von feindlichen Heeren und Machthabern ge- meiſtert, waffenlos inmitten waffenſtarrender Doͤlker, unſerer Grenzländer beraubt, ohnmächtig zuſehend, wie deutſche Volksgenoſſen jenſeits der Grenzen getreten, gepeinigt, en trechtet, in ihrer Hilfloſigkeit verhöhnt werden? Und dabei iſt dies alles noch nicht der tiefſte Grund für Gertrud Bäumers „Es lohnt nicht“. „Sit dieſes ungeheure Übermaß (an menſchlicher Kraft, die aufgeboten iſt) fruchtbar? So fruchtbar wie ſchaffendes Leben? Überſetzt die Maſſe der Nach⸗ lebenden das erhabene Beiſpiel ihres Opfertodes in Ernſt, Größe und Liebe ihres Alltags? (S. Bäumer.) Ja, kann denn Frau Hindenberg darauf mit ja antworten? Muß nicht ein glattes Nein die Antwort fein angeſichts der ſittlichen Haltung des gierigen Hafdens nach Genuß des Augenblicks, all der jedermann bekannten Zuſtände in weiten Kreiſen unſeres Volkes, auf die der Arzt der Seele wie der des Leibes mit dem gleichen Ernſt und der gleichen Sorge hinſchaut? Zug um Zug könnte man die von Frau Hindenberg aus Gertrud Bäumers Schilderung herausgeriſſenen Gage und die dagegen erhobenen Anklagen gegen üͤberſtellen. Es würde immer wieder zu dem gleichen Ergebnis führen: Gertrud Sdumers Ausführungen find in dem offenen Briefe in das gerade Gegenteil verkehrt worden. Der offene Brief hat etwas ſeltſam Ungellärtes, Unbefreites, Ungereiftes gegenüber dem unbeſtochenen, klaren, freien Blick Gertrud Bäumers. Und obwohl Frau Hindenberg für ſich alles vaterlaͤndiſche Empfinden, alle Ehrfurcht vor dem Opfertode unferer Helden, alles Verſtändnis für die heiligen Zuſammenhänge zwiſchen Leben und Tod in Anſpruch nimmt, iſt die wirkliche Ehrfurcht vor dieſem Opfertod, feine höhere Wer- tung, das tiefere Miterleben und Verſtehen der graufigen Gewalt des Krieges auf Gertrud Bäumers Seite, und daher trägt alles, was fie ſagt auch weiter in Verteidigung ihrer Sache fagt den Stempel unbedingter Wahrheit, ſchmucklos, furchtlos und mitreißend trotz der als „kalter Mut“ geſtempelten klaren Ruhe. M. Schroder

Konnersreuth Jonny fpielt auf

Zwei Symbole

as Werk Kreneks „Jonny ſpielt auf“ wird an 60 deutſchen Bühnen geſpielt werden. Ged-

zig deutſche Theater werden viele Abende lang volle Häufer haben; denn das deutſche Publikum ftrsmt in Maffen hinein, wenn „Jonny“ gegeben wird. Was iſt dieſes Werk? Was hat es zu bedeuten? Eine Miſchung von ſchlechter Oper, ſchlechter Operette, ſchlechter Revue, kommt es ganz und gar den Inſtinkten der heutigen Welt entgegen. Iſt ſchon die Exiſtenz eines ſolchen Elaborates ein trauriges Zeichen für das Niveau der modernen „Kunſt“, fo iſt die Tat- ſache, daß die Menſchen dieſem Erzeugnis zujubeln, noch viel tragiſcher. Wer ſich einen noch einigermaßen wachen Geiſt erhalten hat, muß ſich doch an den Kopf greifen und ſagen: Wie weit mußte es mit uns bergab gehen, bis der Oeutſche ſich in einem ſolchen Spiegel wieder finden konnte!

Schon lange mußte es den wachen geiſtigen Menſchen mit Sorge erfüllen, wenn er ſah, wie heute auch der letzte objektive Maßſtab verſchwunden iſt. Es gab immerhin eine Zeit (es iſt noch nicht viele Jahre her), wo man an die großen genialen Erſcheinungen mit Ehrfurcht herantrat. Michelangelo war noch eine geiſtige Größe, die nicht vom zerſetzenden Intellekt in feine Maulwurfsgänge gezerrt wurde. Beethoven war ein Geiftesfymbol mit ewigen Werten, an denen nicht zu rütteln war. Irgendwo gab es noch eine objektive Wahrheit, die in Geiſteshelden ihre Verkörperung fand. Heute iſt das anders. Und wenn e twas darauf hindeutet, daß wir an einem Punkte des geiſtigen Zerfalles angelangt ſind, von dem aus es kein Zurück mehr gibt, dann ift es dieſe Tatſache. Von dem Augenblick an, wo es keine unverrüdbaren geiſtigen Werte mehr gibt, die ihre geheime Wirkung ausüben, denen die Menſchen, ob fie es wiſſen oder

Ronnersreuth Jonny fpielt auf 215

nicht, in irgendeiner Form Achtung entgegenbringen, von dieſem Augenblick an treiben wir mit Notwendigkeit einer Kataſtrophe entgegen, ſchlimmer als die des Weltkrieges.

Neben dieſer Erſcheinung geſchieht in demſelben Lande ein Wunder, das in feiner Größe kaum zu faſſen iſt. In Konnersreuth liegt ein einfaches Bauernmädchen mit den Wunden Chriſti dar- nieder. Jeden Donnerstag fangen dieſe Wunden aufs neue an zu bluten. Und bis Freitag erlebt dieſer arme und doch begnadete Menſch das ungeheure Leidenslos des Erlöſers. Auch nach Konnersreuth pilgern Tauſende von Menſchen. Die Mehrzahl aus Neugierde, mehr oder weniger geiſtig gerichtet. Einige aber mit der Ahnung im Herzen, daß hier etwas ganz Großes und Er- fhütterndes vor ſich geht, das feinen tiefen Sinn hat. .

Und was ift dieſer Sinn? Wo liegt er? Soll dieſes Leiden eines armen Menſchen der zweifelnden und eines metaphyſiſchen Strebens baren Wiſſenſchaft dienen? Was kann fie mit dieſem „Fall“ anfangen? Hat fie Erklärungen dafür? Ja, fie hat ſchon welche, aber die find derart, daß nur ein Tor ſich damit zufriedengeben kann.

Oder iſt dies Wunder geſchehen, damit die verſchiedenen Konfeſſionen und ihre Vertreter fim desſelben bemächtigen und für ihre Anſchauungen ausnutzen können? Oder die unzähligen Sekten, die wir in Oeutſchland haben?

Nur wer vom Reinmenſchlichen aus an dieſes Wunder mit größter Ehrfurcht herantritt, wird ſeinen tiefen Sinn verſtehen. Die Begriffe chriſtlich und kirchlich decken ſich heute ja nicht mehr. Unter den Tauſenden, die nach Konnersreuth pilgern, ſind ſolche, die mit Inbrunſt nach dem Glauben ſuchen, nach dem lebendigen Glauben, der nicht in Büchern zu finden ift, ſondern ur- plötzlich im Herzen aufbricht wie ein ſtarker Quell, der den Menſchen wandelt und unverſieglich feömt und ihn labt. Und die, die bereit find und inbrünſtig die Erldfung ſuchen, die Einfachen, oder die, die zuruck zur Einfachheit wollen, weil fie die Wahrheit lieben: dieſe werden durch den Anblick dieſes leidenden Mädchens fo erſchüttert, daß vor dem ſichtbaren Wunder das größere unſichtbare Wunder geſchieht: daß fie Gott finden und die innere Taufe und Wiedergeburt er- leben, die nur dem Chriſten gegeben wird.

Die Stigmatiſierte ſelber empfindet ſich nur als Werkzeug im Dienſte Gottes und fie iſt es auch. Freilich, wie begnadet ift ein folder Menſch! Gehen wir aber dem Sinn dieſer Er- ſcheinung noch tiefer nach!

In den nddften Jahrzehnten werden die beiden Ur-Pole, Thrift und Anti-Eprift, immer deut- lider in Erſcheinung treten. Der Kampf zwiſchen den deiden Mächten ſpitzt ſich zuſehends und mit unglaublicher Schnelligkeit zu. Immer ſchärfer wird die Kluft, die die Menſchen trennt, welche zu dieſer oder jener halten. Immer einſamer wird der geiftige Menſch werden. Aber auch immer entſchiedener wird die kleine Schar derer, die ſich zu Chriſtus bekennt, während die Maſſe immer mächtiger anſchwillt, die dem Anti-Ehrift dient.

Die unſichtbare Welt greift immer deutlicher, immer ſpuͤrbarer in die ſichtbare Welt ein, ſowohl im negativen als auch im pofitiven Sinne. Hinter all den ungeiſtigen und verwirrenden Zeug; niffen einer fic ſelbſt entfremdeten Kunſt, hinter all den dekadenten Erſcheinungen unferes dffent- lichen Lebens ſtehen Mächte, reale Mächte, die in den Kampf um Sein oder Nichtſein ein- greifen! Aber auch die goͤttliche Macht wird ſich offenbaren, wie fie es in dieſem Falle tut. So wãchſt die Spannung zwiſchen beiden Polen mit rafender Kraft, bis und dies wird in nicht allzuferner Zeit geſchehen der Funke von Pol zu Pol überfliegt, der alles verſengt, was nicht vom Geifte iſt.

Kein Menſch hat heute mehr die Kraft, „das rollende Rad zu hemmen“. Ohne göttliches Ein- greifen iſt der geiſtige Menſch heute verloren. Aber die innere Sehnſucht, der gewaltige glühende

Glaube an die Hilfe des Geiſtes der Wahrheit, wird zu einem Ruf, der gehört werden muß. Robert Boßhart

Literatur, Bildende Nunft, Musik

Coſima Wagner

m 25. Dezember d. J. wird fie 90 Jahre alt! Über ihrem ganzen Leben waltete eine höhere

Schickſalsfüͤgung. Im 16. Lebensjahr lernte fie Wagner, der mit ihrem Vater nach Paris gekommen war, kennen. Die Vorleſung von „Siegfrieds Tod“ hinterließ tiefiten Eindruck: der 10. Oktober 1853 haftete unauslöſchlich in ihrer Erinnerung. Längſt war fie vom Vater zur Verehrung des Meiſters erzogen worden: nun trat er mit ſeiner gewaltigſten dichteriſchen Schöpfung vor ihr Auge. Im nddften Jahr fiedelte fie nach Berlin über. Nach einem Rongert, in dem Hans von Bülow vor einer gehäſſigen und verſtändnisloſen Zuhöͤrerſchaft die „Sarın- bdufer“-Ouvertiire aufführte, ward fie feine Braut. Das neuvermählte Paar reiſte im Sommer nach Zurich, wo Frau von Bülow in die Muſik von „Rheingold“ und „Walküre“, in die Dichtung von „Zriften und gſolde“ eingeweiht wurde. Der nächſte Beſuch folgte im Auguſt 1858, kurz bevor Wagner das Aſyl auf dem grünen Hügel verlaſſen mußte. Frau von Bülow mochte tiefen Ein blick in die Lebensndte des Meiſters tun und ſchon damals erahnen, wie ihm allein zu helfen fei. 3m Juli 1862 kamen Bülows nach Biebrich, wo Wagner die „Meiſterſinger“ vertonte und mit Schnorr von Carolsfeld den „Triſtan“ einübte. Nun folgte die Münchner Zeit vom Fuh 1864 bis Dezember 1865, die Uraufführung der „Meiſterſinger“ und des, Triſtan“. Damals wurde ſich Cofima über die große Aufgabe ihres Daſeins klar: dem Meifter, den fie in der wachſenden Vereinſamung feines von den merkwürdigſten Wechſelfällen betroffenen Lebens gefeben, mit ihrer angeborenen Fahigkeit zur Beherrſchung der ſchwierigſten Derhältniffe eine hilf- reiche Freundin zu werden. Über die Löſung der Ehe mit Hans von Bülow geben die 1927 von du Moulin Eckart herausgegebenen Bülow -Briefe ergreifendes Zeugnis. Dem Scheidungs- brief vom 17. Zuni 1869 ift nichts hinzuzufügen: „Es war ein unerhörtes ſchickſalvolles Muß, das hier gebot und gegen das es keine Einwendung gab. Denn jede Einwendung hätte zum Unheil führen müffen, und das große Werk Wagners wäre un vollendet geblieben.“ Einmal hatte Wagner an Liſzt geſchrieben: „Gib mir ein Herz, einen Geiſt, ein weibliches Gemüt, in das ich ganz untertauchen könnte, das mich ganz faßte wie wenig würde ich dann nötig haben von dieſer Welt“; und fpäter durfte er hinzufügen: „Du warſt der erſte, der durch feine Liebe mich adelte; zu einem zweiten, höheren Leben bin ich ihr nun vermählt, und vermag, was ich nie allein vermocht hätte.“ Die große Frau trat dem Meiſter in wahlverwandter Geiſtes hohe zur Seite und beugte ſich doch ehrerbietig vor ihm. So ward fie feine ebenbürtige Mitwiſſerin, Vertraute und Helferin. Ihr nächſtes Amt war, dem Rubebedirftigen in Tribſchen die „Inſel der Seligen“ zu bereiten und ihn endlich dorthin zu geleiten, wo ſein Wähnen Frieden finden follte, Als der Feſtſpielgedanke der Verwirklichung entgegenreifte, lag oft die letzte und wichtigſte Entſcheidung bei ihr. Wo Wagner an der Welt verzweifelte, da wußte die Tochter des welt · erfahrenen und weltgewandten Liſzt Rat und Tat zur Beſeitigung ſcheinbar unberwindlicher Hemmniſſe. Es darf getroſt geſagt werden, daß ohne ſie Bayreuth nur an Dich ter traum, eine wundervolle Zdee geblieben wäre.

Am 29. September 1882 ſchrieb Wagner an Neumann: „Mit dem Perſiſal⸗ ſteht und fallt meine Bayreuther Schöpfung. Allerdings wird dieſe mit meinem Tode vergehen; denn wer in meinem Sinn fie fortführen ſollte, iſt und bleibt mir unbekannt und unkenntlich.“

Den Tod im Herzen fuhr Coſima Wagner im Februar 1883 aus Venedig nach Bayreuth. Hans von Bülow fandte ihr die Mahnung: , Soeur, il faut vivre“. Am 20. Februar meldete

Paul Eteinmüller 217

doulowsty an Liſzt: „Zch glaube, daß fie ſich darein gefügt hat zu leben.“ Und dieſer Entſchluß war die Erfüllung des Zeftfpielgedantens in feinem ganzen Umfang. Wie eine mut- und führer- loſe Ritterſchar traten die Rünftler 1883/84 zum „Parfifal“ gufammen, der eine Getächtnisfeier fein ſollte. Eines Tages raffte fih Frau Wagner auf, das Feſtſpielhaus zu betreten und den Parſi fal“ zu hören. Sie erjchrat über den Verfall des heiligen Bermächtniſſes. Aber fie richtete ſich in ihrer vollen Größe auf zum Lebenswillen, zur Schaffens kraft. Mit dem Jahr 1886 be- gann die Verwirklichung des von Wagner entworfenen Planes, nach und nach alle Werke vom Hollander“ ab nach Bayreuth zu übernehmen. „Triſtan“, der ihr von der Münchner Aufführung (1865) her am innigften vertraut war, eröffnete den Reigen. Über dem Jahr 1886 lag ein dunkles

Verhängnis: König Lubwig, der mächtigſte, Liſzt der welterfahrenſte Freund Wagners ſchieden

aus dem Leben, Jest ſtand die große Frau ganz allein, aber ungebeugt, im Gefühl dieſer Ver- antwortung neu geſtählt. Sie ſprach das Wort: „Wir müffen fortſchreiten“; und nach der erſten Tannhäuſer“ - Aufführung: „Das war ich dem, Tannhäuſer“ ſchuldig.“ Und das traf auf alle übri- gen Werke, insbeſondere den Ring von 1896 zu. Sofern nicht unmittelbare Weiſungen des Meiſters

vorlagen, mußte alles neu geſtaltet werden. Frau Wagner beſaß das Oaͤmoniſche der Bühne

und war wie niemand ſonſt imſtande, die Forderungen des muſikaliſchen Oramas, die Zeichen : des Tonbuches in Ausdruck und Gebärde umzuſetzen und die ganze Handlung im ſtilvollen Bilde zu geftalten. Zm „Parſifal“ war nach Wagners eignen Worten der im Ring noch geſuchte

Stil gefunden worden. Dazu kamen die Münchner Erfahrungen von „FTtiſtan“ und „Meifter-

ſingern“, die Wiener für Tann häuſer“ und „Lohengrin“. Auf dieſer Grundlage durfte fortgearbei-

tet werden, bis alle im Cheaterbetrieb verwahrloſten Werke in ungeahnter und reiner Schoͤnheit

im Feſtſpiel auflebten. Sie bedachte aber auch die Zukunft, indem fie nicht bloß Sanger, ſondern auch kundige Lehrer und Leiter heranzubilden ſuchte. Ihre wichtigſte Aufgabe erblickte fie darin,

: ihren Sohn zu feinem hohen Amte zu erziehen. Vom muſikaliſchen und ſzeniſchen Gehilfen

erwuchs Siegfried Wagner zum Orcheſter - und ſchließlich Feſtſpielleiter. Als fie 1908 von der perfönlichen Oberlel tung zurücktrat, konnte fie beruhigt die Spiele in die Hut des Sohnes legen, von dem einſt der Vater geſchrieben: „Er wird meine Werke der Welt erhalten.“ Das alles hat id dis 19 14 zur ſtolzen, auch vom Ausland bewunderten Ehre deutſcher Runft bewährt. In det Zeit des Krieges und der Umwälzung lag das Feſtſpielhaus ſchweigend. Allen Zweifeln zum Trotz wurden die Spiele 1924 wieder aufgenommen, ein ſtrahlender deutſcher Fefttag in der Witrnis unſerer Zeit. Wie Titurels Geift über der Gralsfeier ſchwebt, fo waltet das Bewußt; ſein des Daſeins der Meifterin über den Bayreuther Aufführungen, die fie nur 1924 für einen Aufzug beſuchte, aber mit reger Teilnahme von Wahnfried aus noch immer verfolgt.

Frau Wagnet iſt eine bezwingende Perſönlichkeit, vor der ſich jeder in Ehrfurcht neigte, don unendlicher Güte, von verbindlichſten Formen bei unbeugſamem Willen und ftrengfter Forderung. Zn Wahnfried wurde die edelfte geſellſchoftliche Kultur gepflegt. Wo Frau Wagner weilte und den Ton angab, war ein Rönigreich des Geiſtes. Fhe Leben und Wirken iſt das voll- tommenfte Beiſpiel rüdhaltslofer, treuefter Hingabe an das erkannte Hochziel, tatträftigfter Liebe und ftärkiter Willens kraft. Sie erhielt den Meiſter dem Leben, daß er feine Hauptwerke vollendete, und der Nachwelt Bayteuth! Wolfgang Golther

Paul Steinmüller

J. den novemberftürmenben Zeiten wird es offen bat: ein mlldes, weiſes, verſtehend es Wort : wirkt reineren Segen als noch fo abgewogene, reichhaltige Runft, welche Not und Gefahr Ur durch bewegte Oarſtellung gegenwärtig ſchaffen möchte. Wenige Sätze, die in Liebe lerd- ms überhellen auch die dunkelſten Pfade mit einem langen, begluͤckenden Gonnenfriet en. Tief

ganz den Bingen hingegeben fein es ift der Erweis des Erkenntnis vollen, in fic Erfüllten.

218 Paul Gteinmülle

„Alltägliches Licht“ zu ſehen und zu künden ift Begnadung, die nur, ach, fo wenigen Stillen, Lauſchenden beſchieden iſt. und wenn gerade die kleinen, leiſen Betrachtungen, wie fie Paul Steinmüller in feinen verſchiedenen Büchlein („Die Rhapſodien der Freude“, „Die Nhapſodien des Lebens“, „Die Rhapſodien vom verlorenen Königreich“, „Troſteinſamkeit“) geſammelt hat, fo weit hinaus geklungen find in das deutſche Volk, beſonders auch in die Zugend, fo mag man

ſich nicht in eitler Hoffart darüber entrüften, weil unfre dũſter bewegte Gegenwart lediglich

laute und wellenſchlagende Tone brauche, ſondern lieber in dankbarem Sinnen des Widerhall achthaben, der mit zuverſichtlicher Herzlichkeit dem Dichter Antwort gibt. Nicht der Sturm vermos den Brand zu dämmen, ſondern die mitleidige Stille ...

Gerade daran leidet dieſe Gegenwart, daß fie am Naͤchſten ungerührt vorüberbaftet. Und darum will der Dichter wieder die Nachbarſchaft zu den Dingen wecken, weil fie noch Gotte voll und dem Ewigen ergeben ſind. Er trachtet nicht nach Belehrung oder Predigt; in ſchlichtet Treue deutet er auf das Vergeſſene, weil er ſich deſſen bewußt ift, daß im Einfachen ſich des Unendliche am unverſtellteſten und reinften offenbart. „Nur der iſt reich, der einen Schein des Ewigen in ſich hütet. Nur dem iſt das Leben heilig, der dankbar iſt.“ Suchen wir nicht alle nach: dem verlorenen Königreiche in Heimweh und ſchmerzlichem Verlangen ? Steinmüller fühlt, P. daß nur dort Raft und Geneſung ift, wo die Güte ſich bewährt; wo ein Spiegel iſt, der bereit und klar das Licht der Höhen widerſtrahlt. Was iſt unſer armer Trotz, unſer keckes Aufbegehren! 1 „Wir werden erkennen, daß unſer Schickſal nicht in den Hemmungen unfres Glücks beſteht, und daß es nur ein es gibt, was den Namen Schickſal verdient: das langſame Verſinken in jenc Dunkel, das uns von Gott für immer trennt.“

Aber all das, was Stein müller zu bekennen hat, iſt und dies eben gilt es zu beachten! der Ausdruck eines edlen, hochgewillten Rünftlertums. Und darum empfindet man immer von neuem ein Wachstum aus innerſter Fülle. Man lauſcht, wie man in der Dämmerſtunde den Märchen der Mutter aufgetan war: mit gläubiger Erwartung und Stille. Um fo mehr, ak man deſſen gewiß ſein darf, daß ſich der Dichter ſein Wiſſen aus den Quellen unmittelbarer Frömmigkeit geſchöpft hat. Denn in den Rhapſodien „Oer Heiland“ und „Gottes Nähe“ bekennt er ſich ausdrücklich zum Chriſtentum, nicht irgendwie dogmatiſch-konfeſſionell, ſondern einfach aus dem erlebten Bewußtſein, hier den erſehnten Troſt und Halt im Wanken der Zeit gefunden zu haben. In dieſer Geſinnung ſchrieb er auch das Buch „Jeſus und fein Evangelium“, ohne zu Hügeln oder gar Kritik zu verſuchen, vielmehr aus Überzeugung und Willen zur Hilfe. Und dennoch: wieviel Eigenes, Neues iſt hier geſpendet, weil einer redet, der in ſich ſelbſt erfahren, nicht aus Büchern genommen hat! Solange ſolche Propheten ſprechen, follte man nicht völlis verzweifeln am Volke; denn es bedeutet immer ein Opfer und eine mutvolle Preisgabe, im Geſchrei der Glaubensloſen, Unerfahrenen ſich und die Erkenntnis zu beſtätigen und darzu- bringen. Ver müde und überdrüffig iſt aller gelehrten, ſektiereriſchen Theologie, der wird um ſo freudiger an dieſem lauteren, willig ſpendenden Brunnen ſich erquiden. |

Aus fold hilfreicher Gefinnung gab Steinmiiller aud fein Buch von der Ehe „Oer goldene Ring“, wo mit ehrfuͤrchtiger Scheu an die Ratfel und Wunder der Gemeinſamkeit gerührt iſt, welche heute als ungültig, überholt und töricht verworfen und verſpottet wird. Wie fein und edel iſt auch hier um die ernſten Fragen gerungen, die uns nottun, um das Innerfte und Wejent- liche! Ein Bauſtein für die Zukunft, die auf dem ſicheren Grunde des Gewordenen ruht. Und auch der „Kran kentroſt“, das Bekenntnis des felber hart Leidenden, iſt von jenem Siege erfüllt, der nur dort moglich ward, wo die Seele ganz im Ewigen ſtill und hoffend geworden; ein zarte Nachſpuͤren der letzten Gründe, und in der Erkenntnis zugleich die Uberwindung.

Und fo verſuchte Steinmüller auch feine Not, feine Beſorgnis um vaterländifche Irrwege zu enthüllen, zornig, werbend, hallend, flehentlich. Er ſchickte die „Sendſchreiben an das deutſche Volk“ hinaus und die „Feuerrufe in Oeutidlands Nacht“. Dies gilt es zu verkuͤnden: nicht die Verſchuldung draußen zu ſuchen, leichtfertig von ſich abzutun ! Was will die kriegeriſche Meder

Faul Steinmilter 219

lage gegen den ethiſchen Zuſammenbruch? Der morſche Baum wird leicht vom Sturme ge- btochen, weil fein Mark verdorrt iſt. Es iſt ja alles fo einfach, fo durchſichtig, wenn man es nur “nicht mit den Dämpfen menſchlicher Eitelkeit und trotziger Scham umnebelt! Prieſter und Helfer zu fein, dieſen höchiten Beruf des Dichters hat Paul Steinmüller zutiefſt begriffen und erfullt. Aober nicht nur aus der Kraft der Zyeen, auch aus der Tröſtung der Natur weiß er fic lin- dernde Gewißheit zu ſchöpfen. „In Allmutters Garten“ wandelt er zu jeder Tages- und Jahres- Leit, immer ergriffen von neuen Offenbarungen, die ſich dem bereiten Sinn darbieten. Des- gleichen die zwei Gedichtbände „Von Zeit und Ewigkeit“ (ein Tagebuch aus dem Weltkriege) und „Die Lieder des Kommenden“ fingen wider von jenen untruͤglichen Beſtaͤtigungen, die in der Gottheit und der Natur erſchloſſen find. Auch hier ſoll man niemals überfehen: es iſt un- + seht, lediglich nach dem künſtleriſch Erreichten zu fragen; wichtiger ift, die ſeeliſchen Belennt- + niſſe zu werten, die menſchlichen Bekundungen zu verſtehen. Deutlich erinnert ſich Steinmüller - des vergißmeinnichtblauen deutſchen Volksliedes (hat er doch zu den „Spielmanns-Liedern“ . ſogar die Singweiſen gefunden); aber er hat auch die ſchwebenden Melodien unendlicher Sehn -_, fudt, göttlicher Inbrunſt, frommer Liebeswonne. Dies erfährt man fo beglüdend: er über- - i fleigert ſich nicht gewaltſam, er verleugnet aud hier niemals feine als einzig gemäß erkannte Auf- a be Und fo hat dieſer Dichter wohl ein ſchönes Recht, die Verſe auf fic ſelbſt zu beziehen:

4 Mich fragt der Tag: was wird von dir einft bleiben,

wenn Herbjtesnddte deinen Baum entblättern?

Dein Sein bleibt ungedeutet gleich den Lettern, die Rafer in vermorſchte Stämme reiben

a Ich fag’ dem Tag: Ein Rofenftod wird treiben

= aus meiner Bruſt und aus des Sarges Brettern, a durch Erdenlaſten froh zum Lichte klettern

je und purpurrot einft mein Vermächtnis ſchreiben:

Wer Rofen ſucht, ſich ſelber zu bedenken, der hat nach langem, muͤhſalreichem Warten ſein Beſtes um geringen Lohn verwirkt.

Wer Roſen ſucht, um andere zu beſchen ken, der weiß der höchſten Liebe Wundergarten, der das Geheimnis alles Reichtums birgt.

| Abgeſehen von dem wohl allzu bedddhtig entwickelten Drama „Das Zehn-Zungfrauen-Spiel“, das ſich in Stralſund zur Zeit des dreißigjährigen Krieges vollzieht, hat ſich Steinmüller rein dichteriſch nur noch auf dem Gebiete der Erzählung bewährt. „Die ſieben Legenden von der Einkehr“ berichten von dem, was der Titel verkündet: nur dort, wo man ſich entſchloſſen nach innen wendet, wo man den mannigfachen Lockungen der Welt widerſteht, wird man Frieden und Meeresſtille der Seele finden. Ob der Tod vom Mahle des Lebens ruft, ob einzig das Seſtandnis der Schuld zu entfühnen vermag (ein Thema, das in Steinmüllers erſtem Roman ausführlich entwickelt wird), ob die Vergeltung allein durch Liebe wirkſam iſt oder die Erlöfungs- tat nur den unbefleckten Händen bleibt immer iſt es doch dies eine, was entſcheidet: die Stimme der Innerlichkeit. Auch das ſchmale Büchlein „Als Leid ging und Freude kam“ preiſt den Segen der Gelbftdberwindung und unbeugſamen Selbſterkenntnis. Etwas abfeits bleibt die an Theodor Storms Chroniknovellen gemahnende, fauber ausgeführte Erzählung „Un- trüben“; aus der Handſchrift eines Geiſtlichen der Reformationszeit erfährt man die Begeben heit, welche einer Quelle im Harz den Namen der Untreue eingebracht hat. Behagliche, zum

220 Paul Steinmüllet

Teil humoriſtiſche Plaudereien, wie fie in den „Erzählungen des Barons Kahlebutz“ (Reden, Leipzig. Alle übrigen Bücher find bei Greiner & Pfeiffer, Stuttgart, erſchienen) gegeben find, follte man nicht unterſchaͤtzen; ein Stück wie „Hundeſeele“ gehört zu Steinmilllers beſten Gaben. „Oer Novellen kranz einer Liebe“, in ſich beſchloſſen, umkreiſt die ſchwierige Frage, wann eine Liebe wahrhaft geläutert und bewährt iſt. Zwei junge Menſchen finden fi, müffen aber von einander laffen, da die letzte Reife ihnen nod verſagt iſt; und während Willmud, der Rünftier, an mancher Mãdchengeſtalt vorüberwandelt, ohne jedoch ihren Reizen zu erliegen, trifft a fpat, im Kriege, im Zuſammenbruch, die unvergeſſene Eliſabeth, welche ihm Weg und Aufgabe zeigt und nun, ſelbſt eine Pilgerin zum Ziele, mit dem immer noch Geliebten vereint das Leben durchwandern darf. Steinmüller berichtet mit ſanfter Gelaſſen heit, reinlich und teilnehmend. Beſonders der Novellenring „Selige Sehnſucht“ beweiſt eine redliche Meiſterſchaft. Durch fini zuſammen hängende Erzählungen erfährt man von der entſagenden Liebe, die ſich nur durch Goethes ernſte Mahnung „Stirb und werde!“ erhält und bezeigt und erſt im Tode ihre Auf- erſtehung und zugleich ihr Abendrot erfährt. Reine Gefuͤhlsſeligkeit, keine moraliſchen Erlaͤute rungen; ſehr ſchlicht, behutſam find die Geſchehniſſe ausgebreitet, wenn auch bei dem Dichter mitunter ein wenig Konſtruktion, namentlich in ethiſcher Hinſicht, nicht zu leugnen iſt.

Ziemlich [pdt hat ſich Steinmuͤller auch dem Roman zugewandt. „Oer Richter der letztn Kammer“, ein ſchwermuͤtiges, herbſtſchattiges Buch, überraſcht zunächſt durch die zuſammen⸗ gefaßte, beſtimmt entwickelte Handlung, durch deutliche Geſtalten (un vergeßlich vor allem die Domina) und eine tiefe, wuchtige Problematik. Das grauſame Verhängnis, das Aber Melifje von Manskirch und dem Hauslehrer Nornegaſt dunkelt, das immer wieder zu Trug und Rat- lofigteit verführt, empfindet auch der aufmerkende Lefer mit laſtender Sorge. Schuld, die imme wieder durch Verſchweigen nicht niedergerungen, ſondern aufgeſtört wird und nur der Richte der letzten Rammer: die Stimme des wankelloſen Gewiſſens vermag die erſehnte, löfende Be freiung zu gewähren. Ein Zeitroman, ein Blick in die Wirrungen unferer Tage; aber darüber hinaus doch ein, wenn vielleicht auch nicht gleichmäßig geglüdtes, fo doch un verächtliches Rımfl- werk, ein Scheinwerfer in die Herbſtdämmerung der Gegenwart, in der es rauſcht von darren Blattern und ſplitternd en Aſten.

Umfaſſender, ſicherer noch „Oer Weg nach Heiliſoe“. Hier bezieht ſich der Dichter in det Schilderung der Familie Tres unmittelbar auf die härtefte Not auf die ſchmachvollſte Rnedt- ſchaft der Gegenwart: die Übermacht des Geldes. Nur das Geſchwiſterpaar Zorn und Gülden- fey weiß einen andern Weg, als den über den harten Glanz des Soldes; fie ſuchen die heilige Inſel der Erfüllung, abſeits, wogengetrennt vom Gieren der Städte: Kunſt und Liebe in hilfreichem Verein. Man kann getroft eingeftehen, daß manchmal die Abſicht nicht völlig in g Geſtaltung aufgelöft wurde; dennoch wird gerade dieſes vielſeitige, durchleuchtete Buch mit dem zielvollen Bekenntnis: „Oer Veg nach Heiliſoe beginnt nicht da, wo der Menſch nach Geld oder Ehre oder Herrſchaft ſtrebt, ſondern dort, wo tief im Menſchen der erſte Laut der Sehn; ſucht nach dem Ewigen anklingt“ bei allen jenen Dank und Zuſtimmung finden, die an der Zeit und ihrem Zrrſal leiden und ſich der Hoffnung allgemach begeben haben. Und in der Tat: man ſoll die Zuverſicht keineswegs gering achten, die es wagt, heute noch den Glauben an Geſundung zu hegen! Dieſer Roman es fei zugegeben durchſchuͤttert uns nicht mit der Gewalt des Sturmes; er naht ſich wie ein Seewind, wenn der Tag beruhigt und heiter ift: mit der Bot- ſchaft von fernen Geſtaden, mit ruͤſtiger Entſchloſſen heit und der Verheißung eines erhellten

Morgens. Ernſt Ludwig Schellenberg

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Neue Wege der ethiſchen Forſchung

Zu Nicolai Hartmanns, Ethik

on den heute in Deutſchland lebenden Philoſophen iſt außer dem ewig ſchillernden und | ſich wandelnden Scheler der feit kurzem ebenfalls in Roͤln wirkende Nicolai Hartmann zweifellos eine der intereſſanteſten, beachtenswerteſten und tiefgründigiten Geſtalten. Vor einigen Zahren bat fein erſtes ſelbſtändiges Werk, die „Grundzüge einer Metaphyfit der Er- kenntnis“ (1921), die philoſophiſchen Fachkreiſe in berechtigtes Erſtaunen verſetzt. Diefes galt nicht nur der bedeutenden philoſophiſchen Leiſtung, ſondern vor allem der CTatſache, daß der aus dem fireng kritiziſtiſch-logiſtiſchen Seiſte der Marburger Schule des Neukantianismus hervor- gegangene Denker plötzlich den neukantiſchen Boden verließ und eine Schwenkung zur Onto- logie mit ſtarker Hinneigung zur Phaͤnomenologie machte. Mit der ſcharfen Abſage, die hier aller idealiſtiſ chen Exkenntniskritik zuteil wurde, verband ſich eine ontologiſch-realiſtiſch fundierte RMetaphyſik der Erkenntnis. An Stelle des den Gegenſtand der Erkenntnis erzeugenden Denkens, der Auflöſung aller denkfremden Beſtandteile in die Logik der reinen Erkenntnis, der Reinigung der kantiſchen Lehre von den realiſtiſchen Schlacken der tranſzendentalen Aſthetik und der Ding- an · ſich Lehre tritt hier bereits im erſten Satz die Erſchütterung und Abwendung von den Grund- pfeilern kantiſchen und neukantiſchen Philoſophierens zutage, indem es heißt: „Erkenntnis iſt nicht ein Erſchaffen, Erzeugen oder Hervorbringen des Gegenſtandes, wie der Idealismus alten und neuen Fahrwaſſers uns belehren will, ſondern ein Erfaſſen von etwas, das auch vor aller Erkenntnis und unabhängig von ihr vorhanden iſt.“ Angeſichts des großen wiſſenſchaftlichen Ernstes, mit dem die neue Theſe verfochten wurde, angeſichts des tiefbohrenden und der Er- kenntnis neue Gebiete erſchließenden oder verſchüttete alte wieder aufdeckenden Forſchergeiſtes, war es nicht angängig, über den Apoſtata einfach den Stab zu brechen und dem Scheiterhaufen zu überantworten, auf dem Rant ein- für allemal die dogmatiſch ontologiſche Metaphyſik ver- brannt hatte; man mußte die Leiſtung anerkennen, fid mit dem unbequemen Überläufer aus- einanderſetzen, und ſich ſchließlich damit begnügen, prinzipielle Bedenken zu äußern. Dem Neu- umtianismus wurde durch dieſen Übertritt eine ſchwere Wunde geſchlagen, während gleich- zeitig die Phalanx der Phaͤnomenologen weſentliche Stärkung erfuhr. Nach der Eckenntnistheorie hat Hartmann nunmehr eine umfaſſende Ethik geſchaffen („Ethik von Nicolai Hartmann, Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin und Leipzig 1926, 746 S.), die volltommen auf der Höhe des erſten Werkes ſteht, dieſes vielmehr noch überragt in der ſicheren Handhabung des methodiſchen Werkzeugs und in der breiten Aufgeſchloſſenheit und großartigen Fülle, in der das weite Gebiet der Ethik durchackert wird. Hartmann baut feine ethiſchen Unterſuchungen unmittelbar an die erkenntnistheoretiſchen an und zieht des öfteren Parallelen zwiſchen den beiden Gebieten. Zwei gemeinſame Geſichtspunkte find hierbei charakte; tiſtiſch. Einmal die Hinwendung des philoſophiſchen Denkens zum Objekt, die Schwerpunkts verlegung desfelben von der Erkenntnis des Gegenſtandes zum Gegenſtand der Erkenntnis, wobei jedoch unter „Gegenſtand“ nicht ein irgendwie festgelegtes, in irgendeiner Korrelation zum Gubjett oder zum erkennenden Bewußtſein ſtehendes Gebilde zu verſtehen iſt, ſondern die Phänomene ſelbſt in ihrer unmittelbaren Gegebenheit. Hartmanns verhaltenes, aber überall deutlich durchfühlbares Pathos iſt nichts anderes als jene Ehrfurcht vor den ſich rein und ſchlicht darbietenden Phänomenen und Problemen, und demgemäß find weite Teile feiner Dar- bietungen Problem- und Phdnomenanalyfen. Daraus ergibt ſich feine Arbeitsweiſe, die der- jenigen der Phänomenologie nahe verwandt iſt, aber trotz dieſer Nähe doch eine eigene Note beſitzt. Der zweite, mit dem erſten in innerem Zuſammenhang ſtehende Geſichtspunkt iſt das, was man die Standpunktsfreiheit des hier gewählten „Standpunkts“ nennen könnte. Das ſchlichte Erfaſſen des Phaͤnomenbefundes, das Hinhören auf das in den Problemen felbft liegende und aus ihnen herausdrängende Leben, duldet keine vorherige ſtandpunktliche Feſtlegung, keine

222 Neue Wege der ethiſchen Forkdany

der Unterſuchung vorausliegende Theorie, keine von ſyſtematiſchen Gefichtspuntten bereits ver · geformte Einftellung, ſondern fteht recht eigentlich diesſeits von Idealismus und Realismus, von Subjektivismus und Objettivismus, diesſeits eben von allen möglichen zuſammenſtellbaren „Ismen“. Darin prägt ſich einmal der Verzicht auf ein wohlabgerundetes ſpekulati ves Sytem, auf vorſchnell gewonnene, irgendwelche Bedürfniffe der ſpekulativen Vernunft erfüllende Ren · ſtruktionen aus, und tut ſich andererſeits der ſchlichte und ehrliche Sinn des das Phanomen gebiet nach allen Richtungen durchpflügenden Forſchers kund, der die Phänomene da faßt, we er fie zu erfaſſen bekommt. Man ſieht: phänomenologiſche Arbeitsweiſe und Stand punktelofſig · keit bzw. freiheit find nur zwei Seiten einer einzigen philoſophiſchen Grundhaltung.

Menden wir uns jetzt der „Ethik“ zu, fo verſtehen wir ſchon beſſer, wenn Hartmann im Wer- wort von dem ſich in unſeren Tagen emporarbeitenden Bewußtſein einer neuen Problemlage dieſer philoſophiſchen Diſziplin ſpricht, „in der es ſich endlich wieder um den Inhalt, um da Subftantielle ethiſchen Seins und Nichtſeins handelt“. Eine inhaltliche Analyfe der ſittliche Werte fteht demgemäß im Zentrum der Unterſuchung. Der vorwiegend formal und fubjetir gerichteten Rantiſchen Ethik tritt hier die materiale Wertethik in dem Sinne, wie fre Schele gefordert hat, gegenüber. Damit kehrt auch die Ethik zum ſittlichen Objekt, zum Phänomen zuruck und knũpft unter Verwertung der von Rants tiefem Forſcher blick aufgegrabenen ethiſchen Srundeinſichten an die bereits von den Alten hochentwickelte materiale Wertethik an, wie fie {id vor allem in der Nikomachiſchen Ethik des Ariſtoteles und in der ſtoiſchen Güter · und Tugend lehre findet.

Der Gegenftand der Sittenlehre find die ſittlichen Werte, und die Sittlichkeit einer Handlung beſteht darin, daß fie zu einem ethiſchen Wert Stellung nimmt oder, wie man ſagt, ihn durd die ſittliche Tat realifiert. Zn welcher Weife find uns aber die Verte gegeben, wie konnen wit fie erfaffen und ihrer teilhaft werden? Zit das Wertreich ein in gleicher Weiſe wie das Seins reich der Objekte feſt in ſich gegründetes, von objettivem und ſicherem Beſtand, oder ruht e lediglich in der Subjektivität des ſittlichen Bewußtſeins, im ſittlichen Akt? Die Dinge der uns umgebenden Welt ſind uns objektiv gegeben, ſie ſtehen dem wahrnehmenden, vorſtellenden, erkennenden Bewußtſein als ein feſt in ſich gegründetes Reich objektiver Tatſaͤchlichkeit gegen fibers der naive Menſch hat einen feſten Glauben an fie und läßt ſich darin durch keine philr ſophiſche Theorie beirren. Sie find mit den Händen greifbar, mit den Augen ſehbar, mit den Ohren hörbar. Vo aber iſt das Vertreich zu faſſen, wenn nicht im wertenden, ſtellungnehmenden ſittlichen Bewußtſein? Tragen wir nicht ſelbſt Werte und Wertungen an die Dinge heran, beurteilen nicht wir eine Handlung als ſittlich wertvoll oder wertlos, verleihen nicht wit ik dieſes oder jenes Wertprädilat? Liegen die Verte nicht in uns und find damit für immer det Subjektivität verhaftet, von wechſelnden und ſchwankenden Stimmungen und Launen, ven anerzogenen und ſelbſterworbenen Vorurteilen, von zeitlichen und räumlichen, von biologiſchen und kosmiſchen Faktoren beſtimmt und geleitet? Denn nur fo erklärt ſich doch die Vielheit und Mannigfaltigkeit der im Ablauf der Geſchichte hervorgetretenen Sitten und Moralen.

Und doch kann der in die Tiefe des Wertreichs gerichtete Blick nicht umhin, inmitten de Mannigfaltigkeit der in der Geſchichte hervorgetretenen Moralen die Einheit der einen abſoluten Ethie zu ſuchen. Wie das Reich der ſeienden Dinge, fo hat auch das Reich der ſittlichen Verte und aller Werte überhaupt einen objektiven, von aller Verwirklichung durch ein Subjekt une hängigen Beſtand; wie die Sterne am Firmament, fo thronen die Werte in ihrem abſoluten Anſichſein über allem real Seienden, fo bilden fie ein Reich idealer Wefenheiten mit eigene Struktur und Geſetzlichkeit. Alle menſchliche Wertung und Wertverwirklichung hat nur dam einen Sinn, wenn fie bezogen iſt auf, und teilhat an jenem abſoluten idealen Wertreid, wen jene Werte die Richtpunkte und Leitſterne find, die unfer ſittliches Handeln und Urteilen be ſtimmen und es aus der Relativität des bloß ſubjektiven und zufälligen Meinens erlöſen. © ſteht die Lehre von den Werten, fpeziell von den ſittlichen Werten, die nur einen Teil des gt

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Neue Wege der ethiſchen Forſchung 223

ſamten Wertreichs ausmachen, im Mittelpunkt der Hartmannſchen Ethik. Es ergibt ſich, daß das Dertreih noch viel reicher gegliedert iſt als das Seinsreich, von mehrdimenſionaler, außer ordentlich vielgeſtaltiger aprioriſcher Struktur. Daraus ergibt ſich eine reiche und fruchtbare Problematik: die Frage nach der Rangordnung der Werte, die ebenſo wie fie ſelbſt objettiv-in ihnen gegründet und menſchlichen Mapftäben nicht unterworfen iſt, die Erforſchung der Gefeg- maͤzigkei ten, Zuſammen hänge der Wertgruppen und ihrer Strukturgeſetze, die Werthdhe und Vertſtärke, die negativen oder Unwerte, die Leiftungs- und Güterwerte, die vielverſchlungene Antinomik, in die die Werte untereinander und mit den Güter- und negativen Werten geraten, und vieles andere mehr. Es zeigt ſich, daß hier ein unermeßliches, zum Teil noch wenig durch forſchtes, aber der ethiſchen Forſchung prinzipiell zugängliches Gebiet ſich eröffnet, mit deſſen Erſchließung der heutige Stand der Ethik noch in den Anfängen ſtebt. Hartmann ſelbſt hat hier nicht nur wie Scheler den neuen Weg gewieſen, ſondern bereits ein tüchtiges Stück poſiti ver Forſcherarbeit geleiſtet. Hierin liegt die Bedeutung dieſer Ethik über die mannigfachen frucht; baren Reime hin aus, die Scheler ausgeſtreut hat.

Mun muß das Wertreich in irgendeiner Weife der erkennenden Betrachtung zugänglich fein, ſonſt hätte es keinen Sinn, von einer Wiſſenſchaft der Ethik zu reden. Es handelt ſich alfo jetzt um den fubjettiven Vorgang bei der Erkenntnis des ethiſchen Gegenſtandes, um das Inftru- ment, das uns die Tore öffnet zu jenem idealen, an ſich beſtehenden, keiner Subjektivität unter worfenen Wertreih. Wie erfaſſen wir die Werte, ihre Geſetze, ihre Beziehungen, ihre Anti- nomien ? Etwa auf dieſelbe Weiſe, wie wir der gegenſtändlichen realen Welt der Objekte habhaft werden, wie ſich der Prozeß der auf die Seinswelt gerichteten Erkenntnis vollzieht? Hier nun ſchließt ſich Hartmann der in unſeren Tagen ſo überaus fruchtbar gewordenen Methode der Phanomenologi e an, die er mit all ihren Vorzügen und Gefahren übernimmt, Wir werden des Vertreichs teilhaftig, nicht durch theoretiſches, disturfives oder reflexives Exkennen, ſondern auf viel unmittelbarere Weiſe, nämlich durch gefühlsmäßig; emotionales Innewerden des materialen Strukturgehaltes der Werte. Ihre Erkenntnis iſt intuitiv, iſt ein lebendiges Schauen und den Blick · gerichtet: halten auf fie. Hartmann ſpricht vom lebendigen Wertbewußtſein und Wertgefühl, von einem ſpezi fiſchen, auf die Wertfülle des ethiſchen Lebens gerichteten Organ; dieſer „ethiſche Bid“ des Wertbewußtſeins iſt entſprechend der Vielgegliedertheit des ethiſchen Wertreichs mannigfach abgeſtuft, viele Stufen von faſt völliger Wertblindheit und ftumpfheit, vom dunkeln Vertinſtinkt zum reicher entfalteten Wertgefühl und zum hoch- und höchftentwidelten Wert- bewußtſein durchlaufend. Die Aufgabe der Ethik beſteht demnach weſentlich in der Schärfung und Ausbildung des ſittlichen Organs, in der Verfeinerung des Vertblicks fuͤr die reiche Fülle der ethiſchen Wirklichkeit. Die Werte als Weſenheiten find alfo direkt erfaßbar durch innere Wert- ſchau, während fie dem diskurſiven Denken unzugänglich find. Beſonderen Wert nun legt der Verfaſſer darauf, daß dieſes Erſchauen ein aprioriſches von ſtrenger Gültigkeit ijt, in nichts zurüͤckſtehend hinter der aprioriſchen Erkenntnis mathematiſcher Satze. Er ſcheut ſich nicht, von einem emotionalen Apriori des Gefühls zu reden, d. h. von einem intuitiv-apriorifdhen Wiſſen um die Werte und ihren materialen Gehalt. Am deutlichſten wird dies einſichtig am Phaͤnomen des Gewiſſens, das Hartmann primäres, aprioriſches Wertbewußtſein nennt. Es bedarf einer keineswegs zwangloſen Umprägung längft feſtgelegten Begriffsgehalts, wenn auch der Emotio- nalität die Apriorität zugeſprochen werden ſoll, und es fragt ſich, ob es zwedmäßig war, einen ſo feſtumriſſenen Begriffsinhalt in ſolcher Veiſe zu verſchieben, wie dies vor Hartmann auch ſchon Scheler getan hat. Es will uns durchaus nicht einleuchten, daß gefühlsmäßiges Erfaſſen von derſelben objektiven und abſoluten Geltung fein foll wie die rationale Geltung der Wiffen- (Daft Liegt nicht das Gefühl an der Außerjten Grenze der Subjektivität, iſt nicht alle Intuition individuell bedingt durch das intuierende Subjekt? Erheben ſich nicht die ſchon oft erhobenen Einwände, nicht gegen die Intuition als ſolche, ſondern gegen die Intuition als wiſſenſchaftliche Forſchungsmethodeꝰ Selbſt das immer wieder in Anſpruch genommene Wahrheitstriterium für

224 Neue Wege ber ethifchen Reeg

intuitive Schau, die zwingende Evidenz des als einfichtig Geſchauten, vermag die Objeltivitä

folder Erkenntnis nicht zu begründen. Immer werden die Forſcher über die Tiefe und Wahcheit

ihrer Vertſchau im Streite liegen, und welche Inſtanz hat dann zu entſcheiden, wer die Wahchen wirklich geſehen hat. Selbſt wenn die vergleichsweiſe Betrachtung verſchiedener ſo gewonnene

Einſichten eine ſichere Evidenz für die eine als die höͤchſte ergäbe, jo bliebe auch dieſes Embdeny gefühl ſubjektiv. Wie wir uns auch drehen und wenden, wir bleiben dem Subjektivismus wm Pſychologismus für immer verhaftet. Unſer Forſcher aber ſetzt ſich über dieſe Bedenten hinweg und beruft ſich immer von neuem auf jenes fo ſicher arbeitende Werkzeug der Wertichau, Am muß den nötigen Wertblick haben; je ſtärker er ausgebildet iſt, um fo beſſer wird er ſehen“, k dekretiert er kategoriſch. „Nicht jeder ijt folder Einſicht fähig; nicht jeder hat den Blick, die ethische Reife, das geiſtige Niveau, den Sachverhalt zu ſehen wie er ift... Die Allgemeinheit des Ben · urteils bedeutet nicht, daß ein jeder der fraglichen Verteinſicht fähig fei. Sie bedeutet nur, bah, wer ihrer fähig iſt, notwendig jo und nicht anders empfinden und moraliſch urteilen muß... Das Wertgefüpt iſt nicht weniger objektiv als die mathematiſche Einſicht.“

Wie wollen aber nicht darüber ftreiten, ob die koſtbaren Schätze ethiſchen Gutes, die der Ber- faſſer ans Tageslicht gefördert hat, dieſen ſoeben vorgebrachten Bedenken unterworfen ſind odet nicht. Wo der praktiſche ethiſche Blick fic fo reich entfaltet und jo tief geſchaut hat, da wäre es len. lich und unbillig, wenn wir die Theorie gegen die Praxis ausſpielen wollten. Sicherlich ift jene ſchlechter als dieſe; was liegt daran? Die poſitive Leiſtung, die hier vorliegt, wird dadurch nich

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berührt, und wir erkennen fie rüdhaltlos an. Was über das Weſen der ſittlichen Perſon, Ike |

Verflochtenheit in das komplexe Gefüge kauſaler und finaler Reihen, über die Teleologie de Werte, über Wertgegenſätze, was dann wieder an metaphyſiſchen Ausblicken ſich ergibt, re allem die großartige, den dritten Teil füllende Entwicklung des Freiheitsproblems u. a. m., d dies ſcheint mir die ethiſche Forſchung in der Tat ein tüchtiges Stück Weges weitergeführt und in manchen Punkten ſogar denjenigen Grad der Endgültigkeit und letztlich gültigen Formulieruz

erlangt zu haben, der menſchlichem Erkennen überhaupt erreichbar iſt. Und doch tritt nirgens

jene Überfteigerung und Hybris des Dentens zutage, die in ungeſtümem Orang die letzten Raid des Seins zu ergründen ſich vermißt und nicht ſchnell genug zum abſchließenden Syſtem komma tann, ſondern jene Ehrfurcht vor den Phänomenen und den aus ihnen herausdrdngenden per blemen, die vor aller konſtruktiven Vergewaltigung zurüdicheut, jene Selbſtbeſcheidung m) ſcheue Furcht vor letzten Feſtlegungen, all dies berührt um fo ſympathiſcher und wohltuende, als man den Eindruck hat, daß hier ein ganz bedeutender und begnadeter Forſcher am Werle if. In diefem Sinne wirkt auch Hartmanns oft bekundeter Agnoſtizismus, der an vielen Stele ein Ignoramus oder Ignorabimus ftatuiert, nicht als läffiges Sichgehenlaſſen und vorzeitige Rapitulieren vor der andrängenden Wucht der Probleme, ſondern als ein durchaus pofitioe, heuriſtiſches Forſchungsprinzip, das ſich nicht vermißt, ſelbſt mit allen Problemen auf einm fertig zu werden, ſondern künftiger Forſchung die Bahn offen läßt. In der Tat hat man fied den Eindruck, daß hier gediegene, gewiſſenhafte Einzelforſchung getrieben wird, die auch in de Philoſophie, fo oft dies auch ſchon verkannt worden iſt, durchaus nicht überflüffig iſt, ſondern de philoſophiſchen Forſchung ebenſo eigen iſt wie den empiriſchen Wiſſenſchaften.

Wir wollen dieſe Betrachtung jedoch nicht abſchließen, ohne den Lefer auf die eigentüche „Subſtanz“ des Buches noch ganz beſonders aufmerkſam zu machen, von der wir bisher noch nicht ſprechen konnten. Sie iſt im zweiten Teil enthalten, der eine ſehr eingehende inhaltliche Analyſe einzelner Werte und Güter entwickelt, alſo die eigentliche materiale Wertethit enthält. Sd glaube, es ift nicht zuviel gefagt, wenn wir behaupten, daß die geſamte neuzeitliche Eth! dieſem großartigen Verſuch (der im erſten Anlauf natürlich Fragment bleiben mußte), wirlich einmal den materialen Gehalt einzelner Werte und Wertgruppen unter philoſophiſchen Geſicht punkten zu entwickeln, nichts Ahnliches oder auch nur einigermaßen Gleichwertiges gue Geil zu ftellen hat. Die Philoſophen des Altertums, namentlich Ariftoteles, ſtehen auf dieſem Felde

Triumph der Religion in den Künsten

Fr. Overbeck

Magazinitis 225

auch heute noch unübertroffen da. Hier kommt nun das, was Hartmann den ethiſchen Blick oder das ethiſche Auge nennt, zu ſchönſter Entfaltung. Gleichgültig, ob es fo etwas gibt oder nicht, wir können nicht umhin, zuzugeben, daß hier tiefe Einfichten in die inhaltlich erfüllte Breite und Mannigfaltigkeit des Wertreichs gewonnen find, die den Verfaſſer in der Tat in die Reihe der großen Deuter und Ründer ethiſchen Seins und ſittlichen Tuns ſtellen. Vielleicht läßt ſich von den Neueren noch Nietzſche in dieſe Reihe ſtellen und in größerem Abſtand auch Scheler. Davon einen Begriff zu geben, vermag ein fold kurzes Referat ſchlechterdings nicht, und wir können den Leſer nur auffordern, fi in dieſen Teil des Wertes, der eine wahre Fundgrube tiefer Lebens; weisheit iſt und auch nicht philoſophiſch Vorgebildeten außerordentlich viel zu ſagen hat, zu ver- tiefen und nachzuleſen, was da in fchöner, von keinen Schulausdrüden beſchwerter Sprache über das Gute, das Edle, die Fülle, die Reinbeit, die Nächiten- und Fernſtenliebe, die ſchenkende Tugend, die Perſönlichkeit, die perſönliche Liebe und eine Reihe anderer ethiſcher Werte geſagt wird. Prof. Dr. Rudolf Metz

Magazinitis

as alte Europa amerikaniſiert ſich unaufhaltſam und wirft leichtſinnig und gedankenlos

feine eigene um fo viel ältere, edlere und ſolidere Kultur als läftigen Ballaſt Aber Bord, um mit den ameri kaniſchen „Errungenſchaften“ Staat zu machen; die Deutſchen dabei natürlich allzeit voran“! Der echte, rechte Oeutſche von heute iſt offenbar hochbeglückt, wenn man ihn für einen Jankee halt, und das deutſche Mädchen kennt kein höheres Ziel, als ein ſmartes Girl zu fein. Und man wird nicht ruhen, bis Berlin Europas Neuyort geworden, wozu es auf dem beiten Weg iſt. Die nationale Entindividualiſierung der Deutſchen ſchreitet mit Giebenmeilen- ſtiefeln vorwärts. Auch die Filmſeuche hilft dabei mit, denn fie trägt den amerikaniſchen Stempel. Sie erniedrigt die darſtellende Kunſt unter Ausſchaltung jeglicher Wahrheit und Pſychologie auf das Ni veau von Rauber - und Indianergeſchichten. Der Film ift, ſoweit er ſich literariſch gibt, nichts anderes als der bildgewordene Rolportageroman, und die Verfilmung Uterarifd wert- voller Romane bedeutet deren kuͤnſtleriſche Raftrierung.

Wie tief die Amerikaniſierung ſchon in das deutſche Geiſtesleben gedrungen ift, wird aber durch nichts fo veranſchaulicht wie durch die ungeheure Wandlung, die Ausſehen und Inhalt der deutſchen Zeitſchriften erfahren haben. Sie find faſt ausnahmslos von der Maga- zinitis befallen worden, dieſer aus dem Dollarlande eingeſchleppten Epidemie, die ſich ſchon binnen kurzem in Deutſchland haͤuslich niedergelaſſen hat. Die angeſehenſten, vornehmſten und älteften Zeitſchriften des literariſchen Deutſchland find dieſer Seuche zum Opfer gefallen. „Oeutſche Rundſchau“, „Oeutſche Revue“, „Oſterreichiſche Rundſchau“, „Nord und Süd“, „Gtenzboten“, „Vom Fels zum Meer“, „Über Land und Meer“: fie find entweder ganz ver- ſchwunden, oder friſten nur mehr ein verborgenes Daſein. Die noch beſtehenden Zeitſchriften aber bemühen ſich meiſt, ſich vor dem amerikaniſchen Magazin zu verbeugen, ihre frühere Indi; vidualität abzuſtreifen und Magazin ⸗-Allüren anzunehmen, um nur ja nicht für „rückſtändig“ und ,unmodern” zu gelten. (Wir beſtreiten das für unfren Tuͤrmer. O. T.) So iſt es gekommen, daß man, was immer für eine Zeitſchrift man auch zur Hand nehmen mag, immer wieder auf die Symptome dieſer Seuche ftößt, in Form und Inhalt, Ein willkuͤrlich durch Anzeigen zer⸗ tiffener Satzſpiegel, fratzenhafte Bilder, ein wüſtes Durcheinander von Karikaturen, Reklame bildern, Maſſen aufnahmen, nackten Weibern in den unglaublichſten Poſen, ſpeerſchwingenden, fiber Hürden hopſenden, durch hohle Fäſſer kriechenden Frauenzimmern und ein en tſprechender Text, d. h. Geſchichten „short stories“! im Film- und Grotest-Stil. Natürlich ſoll auch der Roman, wenn ein folder gebracht wird, dieſem Stil angepaßt fein, alſo möglichft abenteuer

lich, erotifch, „modern“ fein und in China, Japan, Wildweſt, Agypten oder e nee: Der Tümer xxx, 3

226 Magayinitis

Derzeit, im Zeichen Lindberghs und Chamberlains, würde natürlich von den Verlegern nichts ſehnlicher erwuͤnſcht und nichts glänzender honoriert werden als ein Roman, der ſich bei einem Ozeanfluge, hoch in den Lüften, abſpielte. Nur aktuell, um Sotteswillen nicht rückſtändig! Se toller, deſto beſſer! Literariſche Zazzbandmuſik, belletriſtiſcher Foxtrott. So will es der moderne Verleger und Redakteur. Wenn ihm jetzt ein Autor, der ein zweiter Theodor Storm, Wilhelm Zenſen, Gottfried Keller wäre, eine Novelle oder einen Roman anböte, würde er nur Hohngeläͤchter ernten. Poeſie, Lebenswahrheit, Beſchaulichkeit, Innigkeit, Pſychologie altes Eiſen, fort damit!

Es mag ja ſein, daß es hier und da noch einen Verleger und ein paar Redakteure gibt, die dieſe Seuche ſelber beklagen und heute lieber zu früherem Literaturbrauche zurückkehren möchten als morgen. Aber fie wagen es nicht und würden, nach dem Grunde ihrer Paffivität befragt, achſelzuckend ſagen, daß man ſich eben ins Unabͤnderliche fügen und mit den Wölfen heulen mũſſe. Iſt der betreffende Redakteur aber ein Oſterreicher, fo wird er die Antwort geben, die den Oſterreichern in ſolchen Fallen ſtets auf den Lippen ſchwebt: „Ja da kann ma' halt nis machen.“ Dieſe ſonſt typiſch öſterreichiſche Reſignation iſt in dieſem Fall aber zum Gemeingut faſt aller deutſchen Redakteure und Zeitſchriften- Herausgeber geworden. Die Redakteure werden ſich dabei auf die Verleger, diefe aber auf das Publikum ausreden, das ja nur nach folder Kot verlange, und daß ein Verleger, zumal in einer wirtſchaftlich ſo ſchweren Zeit, es nicht wagen dürfe, gegen den Strom ſchwimmen zu wollen; wer da nicht mittue, gerate ins Hintertreffen und ſei verloren.

Diefe Begründung mag ja auf den erſten Augenblick beſtechend ausſehen; zu überzeugen aber vermag ſie niemand, der ſich die Mühe nimmt, der Sache auf den Grund zu gehen. Und wenn die Verleger nicht alle fo gründlich von dem Gedanken an die „Aktualität“ hypnotiſiert wären und ſich noch ein Fünkchen Pſychologie und Logik bewahrt hätten, fo würden, fo müßten ſie erkennen, daß ihr Argument auf tönernen Füßen ſteht und daß ſie ganz und gar nicht zu⸗ grunde gehen würden, wenn fie es wagten, nicht mitzutun, ſondern ihren eigenen Weg zu gehen.

Eben dadurch, daß alle Zeitſchriften von der Magazinitis ergriffen worden ſind, zeigen ſie alle die Symptome dieſer Seuche, ſind alſo alle einander ſo ähnlich wie ein Ei dem andern. Alle zeigen das amerikaniſch ausſtaffierte Roſtüm, alle dasſelbe clownhaft geſchminkte Geſicht. Keine zeigt mehr eine perfinlide Phyſiognomie, keine hebt ſich aus der Legion der vielzuvielen ab; keine wird daher mehr um ihrer ſelbſt willen verlangt. Ob es nun „Der Arra“ heißt, oder „Das Weltmagazin“: es iſt ganz gleich; der Inhalt iſt ja im Grunde doch immer derſelbe.

Was aber iſt die ſelbſtverſtändliche Folge dieſer Uniformität? Oak ſich keines dieſer Magazine einen großen, ſichern Leſerkreis zu erobern vermag, daß ſie alle miteinander einen wilden Konkurrenzkampf führen, der immer ſchͤrfer und gefährlicher wird, weil die Zahl der Ronkur- renten ſtetig zunimmt. Senn im kraſſeſten Widerſpruche zu dem ſtehenden Gejammer ber Verleger ob des ſchlechten Geſchäftsganges, treten immer wieder neue Zeitſchriften in die Arena. Der Reihe nach haben die Verleger der größten Tageszeitungen Oeutſchlands illuſtrierte Blätter ins Leben gerufen, die den eigentlichen illuſtrierten Zeitſchriften zwar ſchwere Non; kurrenz machen, aber dabei ſelber gewaltige Herſtellungskoſten verurſachen und das Verlags; budget fraglos mehr belaſten als bereichern. Daß der eine oder andere Verleger dabei ein gutes Geſchãft gemacht hat, mag ja fein; die Mehrzahl gewiß nicht, denn eine derartige Aberproduktion auf demſelben Gebiete, kann auf den Betrieb nicht günftig wirken, und der Verlag, der nicht über ſehr namhafte Mittel verfügt, muß dabei früher oder fpäter zu Schaden kommen oder ganz zugrunde gehen. Der Verleger dagegen, der den Mut fände, ſich dem ſchabloniſierenden Ein fluſſe der literariſchen Mode zu widerſetzen, würde eben dadurch, daß ſeine Zeitſchrift and ers ausfähe als die andern, auffallen und die Aufmerkſamkeit auf fie lenken. Und alle Leſer und ihre Zahl ift fraglos größer als man glaubt denen die Magazine widerwärtig, ja ein Greuel

Bacher zur religidfen Frage 227

find, würden fid um diefen weißen Raben ſcharen; er aber würde eben dadurch, daß er feinen eigenen Weg ginge, ein viel befferes Geſchäft machen als feine Kollegen, die einander in heißem Bemühen zu überameritanifieren ſuchen und, juft deshalb, immer dasfelbe bringen. Denn gerade darin, daß fie alle wie toll hinter „hochaktuellen“ Stoffen her find, vermag keiner etwas Originelles mehr zu bieten.

Das Publikum will es nun aber einmal fo! Das iſt der Schild, den die Herren einem ab- wehrend vorhalten; aber dieſer Schild iſt nicht von Erz, ſondern von Pappe.

Erſtens gibt es noch genug Leute, die von folder geiſtigen Roft nichts wiſſen wollen; zweitens ſtrafen die Verleger ihre groftdnenden Phraſen von der Erziehung des Publikums z und der- gleichen damit felber aufs kräftigſte Lügen ; denn wenn es ihnen wirklich um die Erziehung des Publikums und nicht um den eigenen Säckel zu tun wäre, fo würden fie doch alles aufbieten muͤſſen, der Magazinſeuche zu begegnen; aber juſt das kraſſe Gegenteil iſt der, Fall, und wenn das deutſche Publikum an ſolcher geiſtiger Nahrung Geſchmack gefunden hat, ſo trifft die Schuld daran kein es wegs das Publikum allein, ja nur in der Hauptſache, ſondern vielmehr die Verleger, die mit der Verderbnis des li terariſchen Geſchmacks ihren Säckel zu füllen hoffen, und die Redakteure, die „auf der Höhe der Zeit“ zu ſtehen glauben, wenn ſie die von ihnen geleiteten Zeitſchriften yanteefieren und zu literariſchen Zazzband und Foxtrott ⸗Stätten degradieren, in denen ſchriftſtellernde Clowns ihre Fratzen ſchneiden und ihre Glieder ver- renten. Caſſander

Bücher zur religiöſen Frage

eutlicher als jemals tritt die religidfe Frage in den Mittelpunkt unferer ratloſen, enterbten

Zeit. Man ſucht nach bleibenden Werten im Zuſammenbruch, nach Zdeen, nach Auf- blick. Aber es iſt zugleich ein Zeichen der irrenden Gegenwart, daß man ſchon genug getan zu haben vermeint, wenn man Probleme aufweiſt, ſie mehr oder minder geiſtreich erörtert und dann zufrieden feines Weges weiterzieht. Was wir aber mehr denn früher brauchen, iſt Gewiß- heit, Znnentum, Überzeugung. Da könnte nun das ausgezeichnete Buch von Dr. H. Schwarz, „Her Gottesgedanke in der Geſchichte der Philoſophie“ (Karl Winter, Heidelberg) ein günſtiger Führer fein. Leider liegt bis; heute lediglich der erſte Teil vor, der bis zu Jakob Böhme führt. Das Werk beginnt bei den Griechen (warum wohl die Inder und Chineſen, die Perſer und Araber beftändig überfehen werden 7), und leitet zum Gipfel bei Plato und Plotin. Am reinſten und erquickendſten find aber diejenigen Teile, die den beiden deutſchen Myfti kern Eckehart und Böhme gewidmet find; hier erblühen überall Anregungen und neue Auffchläffe. Vie denn der Verfaſſer mit ſichtbarer Teilnahme und Wärme geſchaffen hat und ſeine ſichere Kenntnis feines Stoffes verrät. Wir wünſchen dem Werte bald die ebenſo lichtvolle Fortſetzung. Minder einwandfrei iſt die Sammlung „Das Göttlihe“ von P. Th. Hoffmann (Georg Callwey, München); ftatt allzu bekannter Seſangbuchlieder hatte minder Verbreitetes gewählt werden ſollen; daß von Modernen ausgerechnet nur Werfel und Däubler fo reichlich bedacht find, verftimmt einigermaßen; von den Chineſen ift leider Oſchaung-Oſi vergeſſen; die indiſchen Upanishad en fehlen; Oſchelaleddin Rumi findet ſich nur mit vier kargen Zeilen. Daß aber das im übrigen vorzüglich ausgeftattete Buch auch ſehr Wertvolles und Reifes birgt, ſoll ausdrücklich mertannt werden.

Der Often ift durch eine Reihe ſehr wichtiger Veröffentlichungen über Indien vertreten. Auf knappem Rahmen bietet Otto Strauß einen Abriß der „Indiſchen Philoſophie“ (Ent Reinhardt, München); der Reichtum der hohen Theoſophie diefes inbrünſtigen Gott- judertums ift trotz des beſchränkten Raumes fo Har und überſichtlich dargeſtellt, daß man immer wieder Gewinn und Freude auffteigen fühlt. Das gleiche gilt von dem ſtreng wiſſenſchaftlichen

228 Bücher zur celigidjen Frage

und doch verhältnismäßig leicht lesbaren Buche „Die Lehre der Upanishaden und die Anfänge des Buddhismus“ von Hermann Oldenberg (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen); es bleibt immer beglüdend, zu gewahren, wie der gelehrte Verfaſſer mit freien Blicken die Grundbegriffe indiſcher Religiofität unterſucht, ihr Werden und Umgeſtalten durch prüft, niemals einfeitig begeiſtert und doch voll herzhafter Teilnahme. Gewiß hat man in Oeutſch⸗ land heute viel zu aufdringliche Bevorzugung fremder Formen entwickelt, zumeiſt höͤchſt krititlos; hier aber findet man feſten Grund und redliche Gewähr, Dieſes ernſte Buch verdient den Ehren · namen: klaſſiſch. Karl Ernft Neumann, der unermüdliche, ſtrenge Uberſetzer des bubdhi ſtiſchen Kanons hat heute endlich Beachtung und verdientes Lob gefunden; zwei feiner Bücher find ſoeben wieder neu aufgelegt worden. Das iſt zunächſt die berühmte Spruchſammlung „Der Weisheitspfad“ (Piper & Co., München, der alle Werke Neumanns jetzt in ſchönen Bänden vereinigt hat), jene unter dem urfprüngliden Namen „Ohammapada“ weit verbreitete Schrift tief weisheits voller Lehren. Ein Frühwerk des Überſetzers; hier und da noch allzu hart im Sprachlichen, weil die Bemühung, fid dem Original möglichft getreulich anzuſchließen, nod nicht vollkommen mit der Biegſamkeit der deutſchen Sprache vereinigt war. Dagegen iſt die „Sammlung der Bruchſtücke aus den Reden Buddhas“ (derſelbe Verlag) eine koſtbare und ſegens volle Gabe. Freilich: wer fremd in dieſe ſeltſame Gipfellandſchaft der Seele hinein tritt, ohne Kenntnis der eigentlichen Predigten, wird mitunter ratlos ſtehen; aber ſachkundige Anmerkungen erleichtern das Verſtändnis ſehr weſentlich. Hier iſt auch die Versform trefflich geglückt, klar und gewandt. „Ad an a“, das Buch der feierlichen Worte des Erhabenen, über⸗ ſetzt von Karl Seidenſtücker (Oskar Schloß, München- Neubiberg) enthält allerlei kurze G- zahlungen oder Situationen, welchen ſich ein Veisheitswort Buddhas anſchließt. Es bedeutet neben den Predigten des Erleuchteten nicht eben viel, iſt aber für einen jeden, der ſich nicht nur äußerlich mit dem Buddhismus auseinanderfegen will und das ift gerade heute unaur weichliche Pflicht —, unentbehrlich und ergänzend. Die Übertragung iſt fleißig und lieſt fic ohne Störung. Die Broſchüre „Chriftentum und Buddhismus“ von Willy Lüttge (Vanden hoeck & Ruprecht, Göttingen) vermag minder zu befriedigen; fie vermittelt zwar allerlei Nütz liches, hat aber doch die letzte Tiefe der Probleme nicht völlig erſchöpft. Eine beſonders dan; tenswerte Aufgabe löſte Schü ej Ohaſama, als er ausgewählte Stücke des Zen- Textes, des lebendigen Buddhismus in Japan, überſetzte und erläuterte (Leopold Klotz, Gotha). Das Buch iſt nicht nur religionsgeſchichtlich bedeutſam, es birgt auch noch tragende Gegenwarts- werte und vermag durch ſeine gründlichen Erläuterungen uns beſonders nahe zu rüden. Daß außer dem Verfaſſer ſowohl der Herausgeber Auguſt Fauſt, wie auch Rudolf Otto noch be ſondere Vorreden gaben, erſcheint etwas reichlich. Zm übrigen gehort das Buch zu den ent- ſcheidenden Veröffentlichungen der letzten Jahre. Hier möge auch der heute vielgenannte Sad hu Sundar Singh erwähnt fein, der ein Büchlein „Das Suchen nach Gott' ver öffentlicht hat (Ernſt Reinhardt, München); doch kann ich dem redlichen Überſetzer Friedrich Heiler n feiner Begeiſterung nicht beipflichten; der dogmatiſche Standpunkt erſcheint mir ſchon unliebſam deutlich, abgeſehen von allerlei böſen Mi ßverſtändniſſen, beſonders in der Beurteilung des Buddhismus. Denjenigen, die ſich in die zweifellos hohe ariſche Religion des Aveſta ver tiefen möchten, bietet ſich jetzt durch K. F. Geldners aufſchlußreiche Schrift „Die Zoro- aſtriſche Religion“ (3. C. B. Mohr, Tübingen) erwünſchte und empfehlenswerte Gelegen; beit. Angeſchloſſen fei hier gleich noch „Die Philoſophie des Fflams* von Max Horten (Ernft Reinhardt, München), ein Buch, dem zweifellos das ſchönſte Verdienſt gehört, den bisher nur bruchftüdweife behandelten Stoff moͤglichſt überſichtlich und vollſtändig zu formen. Man braucht nur Namen wie Averroes oder Avicenna zu nennen, um ſogleich wenigſtens einen lockenden Vorgeſchmack zu empfinden; in der Tat befriedigt das Buch aufs beſte und füllt eine Lücke dankenswert aus. „Perſiſch-türkiſche Myfti hat Max Meyerhof in einem kleinen Hefte geſammelt und geſchickt übertragen (Orientbuchhandlung Heinz Lafaire, Han-

Sacher zur religiöfen Froge 229

nover), und Georg Jacob hafiſiſche Lieder unter dem Titel „Unio mystica“ (ebendort). Beide kurzen Sammlungen ſind auch erläutert und bergen ein zwar nur knappes, aber leſenswertes apitel orien taliſcher Religioſität, die noch viel zu wenig bekannt ift, da es leider an guten Nach; dichtungen keinen Überfluß gibt. Eine Auswahl aus den Oichtungen Saadis beſchert Friedrich Rofen (Georg Stilke, Berlin) unter dem Titel „Der Ratgeber für den Um- gang mit Menſchen“; ſehr feine Sprüche voll Erlebnis, ſchlicht in der Form und dennoch dauernd, weil eben hier Allgemeines, Überperfönliches ausgeſprochen iſt. Im allgemeinen kann man ſich mit der Überſetzung einverſtanden erklären; fie birgt wenigſtens noch einen Hauch von dem ſchweren Noſendufte des Originals und vermittelt eine Schönheit, die auch heute un verblaßt und lockend iſt.

Nun zu deutſcher und chriſtlicher Frömmigkeit. Da iſt zunächſt die wundervolle Sammlung „Mpftiſche Dichtung aus ſieben Jahrhunderten“ von Friedrich Schulze-Maizier (Inſel⸗Verlag, Leipzig), die bis hinauf zu Novalis führt und eine koſtbare Fille edelſter Blüten erſchliezt. Neben unbekannteren Dichtern findet man Namen wie Mechthild von Magdeburg, Seuſe, Heinrich von Laufen berg, Friedrich Spee, Angelus Sileſius, Gottfried Arnold, Quirinius Kuhlmann, Terſtegen, Zinzendorf, Herder, Baader u. a. Der Herausgeber hat eifrig geſammelt und treulich gewählt, auch dankenswerte Anmerkungen und Erläuterungen beigeſteuert. Ein pradtiges Buch! Zn gefälliger, beſonderer Ausſtattung iſt die kleine „Legende vom awdlf- jährigen Mönchlein“ erſchienen, ein beſinnliches Heftchen (Greifen Verlag, Rudolſtadt in Thür.). Obgleich nur ſchmaͤchtig, iſt doch die Broſchüre „Meiſter Eckehart im Quellpunkt, fein er Lehre“ von Ferdinand Wein handl (Kurt Stenger, Erfurt) überaus beachtenswert, da fie den größten deutſchen Myſtiker in feiner ſteilen Lehre „s under warumbe“ klar und glüd- lich aufleuchten läßt. Das Ergebnis fleißigen Forſchens und Abwägens iſt das febr ſchoͤn aus; geſta ttete Buch über „Meiſter Eckehart“ von Otto Karrer (Zofeph Müller, München 23). Oer Herausgeber verſucht es erfolgreich, ein „Syſtem der religidfen Lehre und Lebensweisheit“ des größten deutſchen Myſtikers zu bieten, indem er vor allem auch bisher unbeachtete Hand- ſchriften aus Erfurt, Cues und Trier zu Rate zieht und in ſorgfältiger Zuſammenſtellung be- ſond ers aufſchlußreiche Sprüche nebeneinanderreiht. Das Buch iſt getragen von katholiſchem Geiſte, aber zugleich von dem ehrlichen Bemühen um Redlichkeit und geſchichtliche Treue, und fo darf man dieſe treffliche Veröffentlichung, trotz mancher Ausſtellung, die etwa die angehängten Aufſätze Rarrers hervorloden, als eine gute und würdige Tat empfangen. Sobald man Eckeharts Eigenart von feinen ſcholaſtiſchen Überlieferungen zu trennen verſteht, wird man erft die hohe, einſame Bedeutung dieſes Predigers zu ſchätzen wiſſen. Daß aber der Ver⸗ ſuch, ihn einzufügen in feine hiſtoriſche Umgebung, gerade heute, wo von nicht immer fad- tundiger Seite ein peinlicher, weil unverftändiger Kultus mit Eckehart getrieben wird, zu be- grüßen iſt, vermag uns dieſes Buch zu lehren, wenn auch der Parallelen mitunter allzu viele und nebenfddlide zuſammengeleſen find. Derſelbe Herausgeber hat übrigens einige Texte unter dem Titel „Meiſter Eckehart ſpricht“ gut übertragen und in einem hübſchen kleinen Bändchen veröffentlicht (derſelbe Verlag). Ein Roman „Meiſter Eckehart“ von Paul Surk (Friedr. Lintz, Trier) bleibt etwas zu redſelig in den Selbſtgeſprächen, faßt den hohen Stoff auch nicht vollkommen, iſt jedoch von ſo erfreulichem Ernſt durchglänzt, daß man dieſe Leiſtung gern entgegennimmt als ein zugleich ernſtes und rein gewilltes Buch. „Luther“ als den deutſchen Helden feiert Gerhard Ritter in einem begeiſterten Buche (F. Bruckmann, Minden), das aus mancherlei Gründen und Beziehungen wichtig zu leſen iſt. Bunddft erfreut man ſich an der Helle der Darſtellung, dem Fehlen alles unnötigen „gelehrten“ Beiwerkes, an der Herausarbeitung der hauptſächlichſten, auch heute noch fortdauernden Ziele und Tatfachen der Reformation. Oer Streiter, der unerſchrockene Gottesmann, tritt in überaus lebendige Beleuchtung. Und dies ſcheint mir der beſte Erfolg der Monographie zu fein. Daß die Myſtik bedauerlich mißverſtanden iſt, ſei nur nebenbei ausgeſprochen. Die tiefe Tragik der Reformation

230 Sucher zur teligidfen Frege

und des eigentlichen Luthertums, die nicht hinweggeleugnet werden kann, zumal wenn man

etwa Lagardes Einwände in Rechnung zieht, hätte freilich eine ſtärkere Betonung vertragen;

gerade heute follte man fie zu Nutz und Frommen der Gegenwart und einer ratloſen Kirche

ſehr klar umzeichnen. Daß der junge Luther in feinen Erfurter Rämpfen um die Gnade des

tächenden, zürnenden Gottes eigentlich den Jahwe, nicht aber den liebenden Vater Fefu meinte, gehört zu den ſchmerzlichſten Irrungen, welche durch die unſelige Verflechtung neuteſtamenta riſcher Verkündigung mit jüdifhem Fremdgute befördert und die gerade hier nicht vollkommen erläutert wurden; wie denn Luther bis zu ſelner Kampfſchrift „Wider die Züden und ibee Zügen“ fi gerade mit juͤdiſcher Dogmatik viel zu einfeitig herumgeſtritten hat. Jedenfalls bedeutet Ritters Buch eine erfreuliche und leſenswürdige Gabe, zumal in einer Zeit fehlende Helden und Fuhrer, wie der unferen. „Die Lehre Zakob Böhmes“ ſtellt Lothar Schreyet dar (Hanſeatiſche Verlagsanſtalt, Hamburg), volkstümlich und mit einer Menge wertvolle Zitate, wenn auch keineswegs erſchöpfend. Noch heute vermag uns Herders in manchen Teilen unverwelkte Abhandlung „Vom Erlöſer der Menſchen“ einige nachhallende Stunden zu ſchaffen, weshalb die Neuausgabe, die mit ergänzenden Anmerkungen von Th. Schneider beſorgt wurde, hier eine beſondere Erwähnung verdient (Herm. Hilger, Berlin). In die bunte, tingende Zeit der Romantik führt uns die lehrreiche Studie über „Die Pſychologie von Carl Guſtav Carus“ (Eugen Diederichs, Jena). Dieſer Arzt, Maler, Schriftſteller, religiöfe Oenker gehört unter die ſchmachvoll Vergeſſenen, und Chriſtoph Bernoulli darf für ſich das Recht beanſpruchen, als erſter wieder naddridlid auf wenigſtens eine bedeutſame Seite dieſez umfaſſenden Mannes verwiefen zu haben. Wir freuen uns der Ankündigung, daß noch weitere Werte von Carus in Vorbereitung find. Schleier machers Hauptwerk „Oer chriſtliche Glaube“, das Bekenntnis des im beften Sinne liberalen Proteſtantismus, ift in einem be grüßenswerten, leider die ſtörende alte Rechtſchreibung wahrenden, billigen Neudrucke ver öffentlicht (Herm. Hilger, Berlin), der namentlich den ſtudierenden Theologen willkommen fein dürfte und darum auch empfohlen fei. Ebenda iſt auch eine ſchaͤtzenswerte Auswahl aus Schleiermachers Briefen „Über Freundſchaft, Liebe und Ehe“ erſchienen, welche den edlen, frommen und hochgemuten Geiſt diefes berühmten Gottesmannes hervorleuchten läßt. Ver ernſtes Nachdenken nicht ſcheut, der greife zu dem Bande „Franz Baader und ſein Kreis“, ein Briefwechſel (Wolkenwanderer-Verlag, Leipzig). Baader, der emſige Nachfolger gakob Böhmes, gehört auch zu denen, die heute erneute Bewunderung ernten, denn er war ein überaus ehrlich ringender, vielfeitiger Philoſoph und Gottſucher zugleich. Die hier gebotene Auswahl vermag recht wohl in das Denken und Wollen Baaders einzuführen ; immerhin wären ſachkundige Erklärungen erwüͤnſcht, wenn das an ſich treffliche Buch weitere Rreife ziehen foll Dak ein Verleger heute dergleichen gewagt hat, ift beſonders lebhaft zu begrüßen. Dann iſt Rarl Zuſtus Obenauer mit ſeinen Betrachtungen über Hölderlin und Novalis (Diederichs, Sena). Er unterſucht aufmerkſam das religidfe Verhalten der beiden großen Romantiker; was er über die Tragik in Hölderlins Pantheismus fagt, wirkt überzeugend, ebenſo wertvoll ift die Deutung des Märchens aus dem „Heinrich von Ofterdingen“. Gerade unſerer Gegenwart können dieſe beiden innigen Didter neue Ausblicke ſchenken; das hat Obenauer erkannt und mit warmer Überredung dargetan. Man kann auch den wackeren, aufrechten Ernſt Moritz Arndt unter die Gottſucher zählen, denn immerdar hat er auf die höheren, ewigen Mächte verwieſen, um Deutſchland zu ſtärken und innerlich aufzubauen. Es iſt noch heute lebendig und nahe; das empfindet man beſonders, wenn man die ſorgſame Auswahl feiner Schriften be- trachtet, die Dr. Heinr. Gerſtenberg als köſtliches Vermächtnis zuſammengeſtellt hat (Ganfee- tiſche Verlagsanſtalt, Hamburg). Der mit Bildern und Fakſimiles gezierte, ſtattliche Band ge- hort in jedes deutſche Haus, heute beſonders, und in Schulen nicht minder. Wir danken dem Verlag und Herausgeber für dieſe kernhafte, ſommerlich reife Gabe. „Die Wiedergeburt aus Lagarde", die Mario Krammer verkündet (Leopold Kotz, Gotha), ift naturlich er

Bucher zur religiöfen Frage 21

wüͤnſcht und dringend nötig. Aber man tut immer gut, die „Oeutſchen Schriften“ vollſtändig zu leſen, um ein umfaſſendes Bild dieſes trotzigen und glutvollen Den kers zu gewinnen. Die hier gebotene Auswahl, für die Gegenwart zugeſchnitten, fowie auch die Einleitung iſt aner; tennenswert; aber über die Judenfrage bietet fie ein Mißverſtaͤndnis: Lagarde fragt weniger nach den allgemeinen Eigenſchaften oder Werten des Judentums; er betont vielmehr, daß ſemitiſcher Einfluß auf unſer Volkstum immer ſchädlich und abzuwehren fei; er betrachtet eben vom im höchſten Sinne völkiſchen Standpunkte. Das bewährte Kalendarium „Das Sottesjahr“ (Greifenverlag, Rudolſtadt), herausgegeben von Stählin, ijt wiederum er- ſchienen; durch die beſchränkte Zahl der Mitarbeiter nicht allzu abwechſlungsreich, aber warm · herzig; recht ein ſtilles, nachdenkliches Hausbüchlein. Weniger mitreißend als ehrlich im Vortrage gibt ſich das „Neue Lob der Torheit“ von F. M. Hübner (derſelbe Verlag), ein Proteſt gegen Berechnung und Kaltſinnigkeit, der wohl gehört und befolgt zu werden verdient. Das Büchlein iſt übrigens entzüdend ausgeſtattet.

In den „Herrlichkeiten der Seele“ hat Dr. Alfons Heilmann Proben aus der chriſt⸗ lichen Myſtik des Auslandes geſammelt (Herder & Co., Freiburg im Br.); man begegnet Namen wie Angela von Foligno, Katharina von Siena, die heilige Thereſia, Jan van Ruyobroeck, Sohannes vom Kreuz u. a. Manches Ewigkeitswort hallt werbend herüber und darf auch heute noch auf Gehör und willige Aufnahme hoffen; denn alles Wahre und Große iſt ja über Zeit und Enge erhaben und beharrend. Indem noch das anregende, nützliche Buͤchlein „Oft- kirche und Myf{ti von N. von Arſeniew (Ernſt Reinhardt, München) erwähnt fei, das dem Weiten manche gute Aufklärung ſchenken kann, mögen ſchließlich noch diejenigen Bücher ange zeigt fein, die allgemeine Fragen behandeln. „Al tramon tan es Schuld buch“ heißt eine Schrift von Alfred Miller (Paul Steinke, Breslau 1), welche an ſehr ſorgſam gewählten und zahlreicher Beiſpielen dartut, wie verhängnisvoll die Verquickung von Religion und Politik ſich auswirken muß; man ſchaudert vor den Irrgaͤngen, die hier durchleuchtet werden, und er- tennt eine ſchwere, nachhaltige Gefahr für das deutſche Vaterland und den Proteftantismus, det man mutig und abwehrend ins Auge blicken muß. Das Heft „Kirche und Schule“ von Erich Fd efter (Leopold Nog, Gotha) unterſucht auf Grund der ſogenannten Weimarer Ver⸗ faſſung die Fragen der religiöfen Pädagogik mit deutlichem Geſchick. Nachdrücklich aber fei auf die Broſchüre mit den drei Vorträgen „Marx, Kant, Kirche“ verwieſen (derſelbe Verlag), und zwar wegen der Ausführungen „Die Kriſe im volkstümlichen Marxismus. Und die chriſtliche Aufgabe?“ von Heinz Marr (die anderen Vorträge find minder wichtig und er- ſchöͤpfend). Das hier Geſagte gehört zum Beſten und Erfreulichſten, was das viel, allzu viel erörterte Thema hervorgebracht hat. Marr zeichnet mit erfriſchender Unbeirrtheit den Weg, den die Kirche zu beſchreiten hat. Von köſtlicher Offenheit find beſonders die Schlußworte gegen die Lauheit und Feigheit des ſogenannten Liberalismus, der ſich in Zugeſtändniſſen und vor- ſichtigen Umſchreibungen zu gefallen liebt. Die Endbetrachtungen mahnen mit den ſehr be- herzigenswerten Satzen: „Alle dieſe Menſchen rufen in ihrer Seele nach der Rirdhe! Aber nicht nach der Paſtorenkirche mit liberalen und orthodoxen, immer jedenfalls privaten Gottesinter- peetationen, ebenſo wenig nach den „Volkskirchen“, in denen die Majoritäten des fouverdnen Chriſten volks nach dem geiſtreichen Syſtem der Abſtimmung ermitteln, was Gott ift und will; ſondern fie wollen wirklich eine ‚heilige Kirche“!“ Wahrhaft einſichtige Worte, die hoffentlich nicht ſchon zu fpät aufgeklungen find! „Das Veſen des evangeliſchen Chriſtentums“ hat Karl Heim darzulegen unternommen, und dem Büchlein (Quelle & Meyer, Leipzig) läßt ſich rühmend nachſagen, daß es ohne tonfeffionelle Gehäffigkeit fein Thema ausbreitet. Die Problemſtellung ift richtig gefaßt und führt auch zu den Gründen; freilich: am Schluſſe weiß auch

Heim nicht zu ſagen, wie denn der nicht zu leugnende kirchliche Verfall aufzuhalten ſei; hier geht es eben nicht um dogmatiſche Fragen allein, ſondern um lebendige Geſtaltung, um ſeeliſche Wärme, um die tiefen Schauer der Andacht. „Kultus und Runft“, Beiträge zur Märung

252 Bacher zur tellgisten Frege

des evangeliſchen Rultusproblems, hat Pfarrer Curt Horn zufammengeftellt (Furche- Verlag, Berlin). Alle Ausführungen gipfeln in der Erkenntnis, daß hier ein Problem vorliege. Man unternimmt Vorſchläge, gibt mannigfache Richtlinien; alles recht brav und eifrig; indeſſen: der Worte find genug gewechſelt, laßt uns nun endlich, endlich, endlich Taten ſehen! Sonſt be- Hält Lagarde recht mit feiner ſchon vor fünfzig Jahren erhoben en Prophezeiung, daß der Prote- ſtantismus am Ende fei. Vielleicht könnte hier das Heft „Auf Wegen der Myſtik“ von dem ſchon genannten Hermann Schwarz rechtzeitige Hilfe ſpenden (Kurt Stenger, Erfurt). Der Verfaſſer knüpft bewußt wieder an Eckehart und Böhme an, er ſucht unmittelbares Gottes bewußtſein, ihm iſt es wirklich ernſt um feine Verkündigung. So gering im Umfange, fo weit und hell iſt das Büchlein im geiſtigen Ausblicke. Hier iſt die Lichtung, die aus dem Geftrüpp der Oogmen und Vorträge in hohe, freie Gottesluft zu leiten vermag. Mehr auf das Hiſtoriſche gerichtet, hat Rudolf Otto ſich über „Weſt-öſtliche Mypftik“ verbreitet (Leopold Kotz, Gotha). In ſauberer Paragraphierung und etwas trockenem Stile begibt er ſich an die überaus ſchwierige Arbeit, vornehmlich eine Parallele zwiſchen Meiſter Edebart und Samkara, dem großen Inder, zu ziehen, wobei manche überraſchende Lichter aufblitzen, mancher tiefe zu den Gründen geleitet. Der Verfaſſer hat die Weſenseigen heiten der beiden großen Myſtiler ſicher durchſchaut, und wenn ihm ſelber auch die letzte religidfe Hingenommenheit zu fehlen ſcheint, fo beweiſt er doch für die myſtiſchen Tatſachen eine erfreuliche Zuſtimmung und Anerkennung. So iſt denn ein Werk erſtanden, das auf dieſem Gebiete wohl führend zu wirken imſtande ik, und durch die zahlreichen Zitate beſonders lebendig wurde. Am Schluſſe ſind auch zu Fichte und Schleiermacher helle Faden hinubergeſponnen. Einige Ausſetzungen können den Wert de gründlichen, fleißigen Arbeit nicht verdüftern. So iſt es einfach falſch, daß der Buddhismus „Gott leugne“; Buddha vermeidet es nur, in folgerichtiger Ehrfurcht, das Unendliche bei Namen zu nennen, betont aber immer wieder, daß es ein Ungewordenes, Unendliches geben müſſe, das man jedoch durch menſchliche Rede nicht entweihen dürfe. Auch hätte man ſehr gern zu den chineſiſchen Weiſen Laotſe und Oſchuang-Oſi einige ausführlichere Beziehungen gewünſcht. Zweifellos bedeutet dieſes ſtattliche Buch eine wiſſenſchaftliche Leiſtung hohen Grades, die man freudig willkommen heißen darf.

Und nun noch zum Abſchluſſe die Bemühung der Oeutſchkirche. Sie will ein Chriſten tum auf germaniſcher Grundlage, ohne verderblichen ſemitiſchen Einſchlag. So hat es der rührige Dr. Kurt Niedlich in einer Reihe emſig werbender Bücher dargeſtellt (alle im Verlag Dürr, Leipzig), befonders in „Jahwe oder Zeſus?“, wo der Abſtand zwiſchen jüdifcher und wahr haft chriſtlicher Lehre an überzeugenden Beifpielen erläutert wird. Wer mochte es verkennen, daß hier eine Aufgabe wartet, die dringend der reinlichen Löfung bedarf; daß endlich eingewur- zelte Vorurteile befeitigt werden müffen? „Oeutſche Religion als Vorausſetzung deut- ſcher Wiedergeburt“, eine andere Broſchüre, zeigt in Form eines Vortrages die nötigen Richtlinien auf. Und dann liegen verſchiedene Teile des Werkes „Wegweiſer zum deutſchen Religionsunterricht“ vor, die alle dasſelbe Ziel verfolgen. Niedlich bietet da den Lehrſtoff zum „Oeutſchen Religionsunterricht“ in drei Heften, die namentlich unſeren Lehrern warm ans Herz gelegt fein mögen zu Belebtheit, Gegenwartsfreude, Innerlichkeit, die heute fo dringlich erſehnt werden und mit Recht. „Die Erzväterſagen“, „Die Zugendgeſchichten vom Heiland“, „Luther“ geben wertvolle Ergänzungen und beweiſen, daß man auch den KHeinften fhon ein Ahnen von dem erwecken kann, was ſich ſpäterhin als lebendige Religion auslöfen ſoll. Dieſen erquickend ehrlichen Schriften iſt weiteſte Verbreitung zu wünſchen; hier öffnet ſich wirklich Neuland, das ja die Pädagogen heute fo eifrig ſuchen, freilich mebr durch Reden als durch Taten. Auch „Jas Mythen buch“ gehört hierher; eine prächtige Unterſuchung über die Edda, zugleich über den Glauben unſerer Urväter; Niedlich deutet und dichtet fo rein, fo et griffen, daß man unwillkürlich gepackt und mitgeriſſen wird. Wann endlich wird man nicht nur Odyſſeus und Troja, Apollo und Hermes, ſondern auch Odin und Tor, Loki und Balder

Friedrich Overded 235

in unferen Schulen mit ehrfuͤrchtiger Scheu behandeln und den gewaltigen Mythos der Götter- Dämmerung auswerten? Ein Ziel, aufs innigſte zu wünfhen! Wie Marden wieder zum reg- ſamen Erleben werden können, zeigt Medlich noch in dem Büchlein „Sterntaler, Rottapp- chen, Dornröschen“, und auch hier wiederum ohne Moralrederei oder lehrhafte Enge. Möge dieſe Anregung auf günftigen Boden fallen und Früchte tragen!

Ernſt Ludwig Schellenberg

Friedrich Overbeck

Nie das Werk des Künſtlers allein iſt es, durch das er fortlebt. Wir haben ſein Werk nie verſtanden, wenn wir nicht ſein Leben kennenlernten, die Freuden, die ihm beſchieden waren und die er ſich ſelbſt zu bereiten verſtand, ſein Leiden, wie er es litt, und Kampf und Not des Schaffens.

Wir wiffen um viele der Großen und Größten, und durch unſer Wiſſen um fie find fie unfere Brüder geworden. Wir leben durch ſie und mit ihnen, und auf geheimnisvolle und wunderbare Weiſe ftärten uns ihre Worte und Taten. Indem wir fie lieben und verſtehen lernten, haben wir Welt und Menſchen tiefer erfaßt und viel gelitten und viel verziehen und find viel getröftet worden in unſerem eigenen kleinen Leben.

Das Werk des Künſtlers mag verblaſſen wir ſtehen vor mancher Schöpfung mit Fremd- heit, die zu ihrer Zeit große Bewegung hervorrief. Wenn wir aber über das Werk hinaus zu ſeinem Schöpfer zu gelangen ſuchen, wenn wir nicht mũde werden zu fragen: wer warſt du und was wollteſt bu? fo werden wir bald die Antwort hören, die er ſelbſt uns gibt. Vergangene Seiten werden in uns lebendig und wir werden ſpuͤren, wie ſehr wir ſelbſt ein Teil dieſer Der- gangenheit find, und wie nötig wir es haben, fie zu verſte hen.

Von einem Menſchen foll hier erzählt werden, der, obwohl in feinen Werken fortlebend für alle Zeiten, doch uns ferne gerückt iſt. Der Geiſt tiefer Frömmigkeit, der die Werke Friedrich Overbecks deſeelt, findet keinen Widerhall mehr. Die Mängel feiner Farbengebung, feine An; lehnung an die Zeit vor Raffael und an Raffael ſelbſt, die er niemals erreicht hat. laſſen uns heute an ihm vorübergehen. 2

Aber das hat er nicht verdient! Denn er war einer, auf den bie deutſche Kunſt allezeit ſtolz fein kann. Er war der Fuhrer all derer, die ſich um die Wende des vorigen Jahrhunderts von dem trockenen akademiſchen Manierismus befreiten, denen die Kunſt Herzensſache war, der fie ſich hingeben wollten, in innigſtem Zuſammenhange mit der Religion,

Sie lebten in Einſamkeit und Abgeſchie denheit von der Welt miteinander in Rom, fern der Heimat. Sie verbanden ſich in einem ununterbrochenen Herzensgebet um reinen und unfirdf- lichen Lebenswandel, um Ruhe des Geiſtes und Gemütes, die ihnen unumgänglich nötig ſchien, um wahrhaft reine Werke hervorzubringen. Und Overbeck iſt derjenige unter ihnen, der durch die Milde feiner Seele und durch die Kraft eines edlen Geiftes die anderen alle um ſich ver- ſammelt und für alles Herrliche entflammt hat. Pforr, der früh Vollendete, Cornelius, der zu hohen Ehren aufſtieg, Philipp Veit, der in Frankfurt, Schadow, der in Oüſſeldorf, Schnorr von Carolsfeld, der in Dresden gewirkt hat, Führich, Vogel und viele andere waren die Glieder der „Lukasbruderſchaft“, die in dem Kloſter San JZfidoro in Rom ihr ſtilles Leben führten.

Oer Geiſt der Abgeſchloſſenheit und Aſzeſe trug den Kloſterbrüdern manchen Spott und Un- glimpf ein. So entſtand aus Neid und Eiferſucht der Spottname „Nazarener“. Man tadelte fie wegen Einſeitigkeit, man verdachte es ihnen, daß fie an den fröhlichen Gelagen der römiſchen Kimſtlerwelt nicht teilnahmen, ſondern ſich ruhig in ihren Kloſterzellen hielten. Aber allmählich brachte der Einfluß der Lukasbruderſchaft eine große Wendung in Roms Künftlerleben, die bald weit über die Grenze Roms hinauswuchs und jich in Oeutſchland ausbreitete. An den Urteilen

234 Friedrig Overbes

eines Goethe, Paſſavant, Schlegel, Brentano, an den Berufungen der Brüder zu großen Auf- gaben im Reich, und an der Nachfolge, bie fie fanden, läßt ſich ermeſſen, wie unumftößlid der Einfluß dieſer Menſchen geweſen iſt.

Mit ihnen erlebte die Freskomalerei eine Neugeburt. Durch die Ausmalung der Casa Bartholdy mit Fresken aus dem Leben Joſephs, eine Arbeit, in die ſich die Brüder teilten, hatte die Qutas- bruderſchaft aufgehört, eine Genoſſenſchaft überſpannter und mißachteter Künftler zu fein. Zumal Overbeck ſtand wegen ber in jungen Jahren ſchon gewonnenen Klarheit und Sicherheit unwillkürlich wie ein Markſtein der Bewegung da. Ec hatte eine reife Selbſtkritik, und die &- kenntnis, daß feinem Können gewiſſe Grenzen gezogen ſeien, hat ihn nie verlaſſen. Auch fpäter, als ſein Ruhm weit verbreitet war, hat er ſich offen darüber ausgeſprochen, daß an ſeiner und der Brüder Maltechnik mancherlei „Mangelndes und Verſäumtes ſei“. Er rechtfertigte es aber damit, daß keine brauchbare Schule dageweſen war, bie fie hätte beſſer fördern und belehren können. „Laß uns die göttliche Güte preiſen,“ fo ſchreibt er an einen der Brüder,, die ſich unfer hat bedienen wollen, um die Kunſt geiſtig neu zu beleben. Es liegt ja in der Natur der Sache, daß alles, was auf Erden wird, nicht auf einmal vollendet daſteht, ſondern ſich nach und nach entwickelt.“

Wenn nun Overbeck auch nie ein Meiſter des ſatten, leuchtenden Kolorits geworden iſt und niemals auf maleriſchen Effekt bedacht war, fo war er doch ein vollendeter Zeichner mit unver gleichlich ſicherem Formenſinn. Er beſaß ein glidlides Auge und eine wunderbare Leichtigkeit, mit wenigen Strichen feine Ideen zu geſtalten. Schadow ſpricht noch in fpdten Tagen von der „Schönheit ‚Overbedicher Zeichnungen“ und von der „Innigkeit und Feinheit“, womit er die Natur aufzufaſſen vermochte.

So wird ihm das Lob unzähliger Zeitgenoſſen und die neidloſe, grenzenloſe Verehrung feiner Freunde und Brüder zuteil. Er ſchuf große monumentale Werke. Außer den Sieben mageren Jahren und dem Verkauf Joſephs in der Casa Bartholdy, dem Taſſo-Zimmer in der Ville Maſſimo, ſchmüͤckte er die Kapelle degli Angioli in Aſſiſi mit einem wunderbar geglückten, wohl ſeinem beſten Freskobilde, dem Roſenwunder des Heiligen Franz. Von großen Gemälden beſitzt feine Vaterſtadt Lubeck den Einzug in Jeruſalem und die Pietä, das Staͤdelſche Kunſtinſtitut in Frankfurt den Triumph der Religion in den Künſten, Chriſtus am Olberg erwarb das Städtische Krankenhaus in Hamburg und der Kaiſer Maximilian in Mexiko eine Krönung Marias. Eine Folge feiner beſten Arbeiten, die Vierzig Evangeliſchen Oarftellungen aus dem Neuen Teſta⸗ ment, find bei einem Brande des Schloſſes Holtzendorf bei Münden völlig vernichtet worden. Be kannt und beliebt ift fein Familienbild; er porträtierte ſich mit feiner Frau und feinem Sohn chen, das vor ſeinen Eltern auf einem Tiſche ſitzt, mit einem kleinen Waldhorn in der Hand.

Außer dieſem kleinen Olbild wählte er feine Stoffe faſt ausſchlie zlich aus religidfem Gebiete, und ſo nannte man ihn überall und kannte ihn weit über die Grenzen ſeines Vaterlandes hinaus, beſonders in Frankreich und England, als den „größten chriſtlichen Maler“. Sein Atelier war be · ſucht von allen denen, die der Kunſt ihrer Zeit nahe ſtanden, und aus ihren Schilderungen iſt uns ein klares Bild feiner Perſönlichkeit überliefert worden (Margaret Howitt: Friedrich O verbech.

Er war eine große hagere Geſtalt, mit glattem, in der Mitte geſcheiteltem Haar, das ein Samt käppchen zur Hälfte bedeckte. Die ruhige, nachdenkliche Stirn, die großen, leuchtenden Augen, die regelmäßigen wohlgebildeten Züge, das blaſſe Geſicht mit feinem nach innen gekehrten Aus druck, ergriffen die meiſten ſeiner Beſucher. Sie gingen von ihm erhoben hinweg und nahmen einen Hauch des Friedens mit aus jener Glaubensatmofphäre, in der er atmete und ſchuf. Wet mit ihm in Berührung kam, gewann die Überzeugung, daß alles Niedrige und Unedle ſeinem Weſen nicht nahen, es nicht trüben konnte. Liebenswürdig im Umgang, voll geiſtreicher Tiefe und jener Überlegenheit, die ein vollkommen in ſich abgeſchloſſener Charakter immer gibt, machte er den ſtärkſten Eindruck auf jeden, dem er begegnete. So heißt es in einem Briefe an ihn: . denn Ou biſt ein tröſtender Engel, hingetreten zwiſchen mich und meine Leidenſchaft, in

Suline Stedhaufen 235

Deiner Nähe bin ich ruhig und beſſer geworden, und ſolange ich bei Dir war, hat die Gemein- heit, die uns alle bändigt, keine Gewalt über mich gehabt.“

Eine wunderbare Fügung iſt es, daß der Boden, auf dem Overbeck aufgewachſen war, eine gute Vorbereitung für fein Leben geweſen iſt. In feinem Vaterhauſe atmete er ſchon den Geift, mit dem er fpdter feine Werke beſeelte. Er wurde zwar Anhänger der katholiſchen Kirche, doch iſt es ſein proteſtantiſcher Vater geweſen, der die hohen Ziele in ſein Herz gelegt hat, nach denen er ſtrebte. Chriſtian Adolf Overbeck, Bürgermeifter von Lubeck und der Dichter jener feinen und zarten Kinderlieder, „Fritzchens Liederbuch“ genannt, die außer einigen Liedern wie „Komm, lieber Mai und mache“, „Das waren mir felige Tage“ und „Blühe, liebes Veilchen“, heut ver- geſſen find, war ein echt deutſcher Mann, der in Zeiten von Oeutſchlands tiefſter Erniedrigung feinen Zeitgenoſſen ein Beiſpiel feſten Gottvertrauens gab. Als fein Sohn Fritz Künſtler werden wollte, gab er ſchwer feine Einwilligung. Er verlangte von ihm dauerndes Studium, unermüd- liches Arbeiten an fi und Vertiefen feines Weſens. „Den Homer in der rechten Hand und die Bibel in der linken, fo dünkt mich, kann kein Kuͤnſtler verderben“, ruft er ihm zu. Und er warnt ihn vor „flacher Mittelmäßigkeit, des Künſtlers Todſünde“. So ſchreibt auch Friedrich Overbeck in Erinnerung an fein Elternhaus: „Unter Schirm und Schatten der elterlichen Fürſorge wuchs ich ſorglos und von allen begünftigt auf. Du gabſt, o Herr, daß ich Dein Gebot lieben lernte und Dich fürchten für die hidfte Weisheit und für das höchfte Gut erkannte.“

Diefes Leben iſt wohl ein begnadetes und ſeltenes zu nennen. In feiner großen Demut und Sottſeligteit kommt es den Lehren der alten Myſtiker nahe. Was immer die Beſchäftigung dieſes ANenſchen fein mochte, fein Blick war nach oben gerichtet. Auch als das Sdhidjal ihn heimſuchte und ihm zuerſt ſeine drei Kinder und dann ſeine geliebte Frau raubte, konnte er nicht hadern. Als einziger unter feinen Brüdern entfagte er allen äußeren Warden, lehnte alle Berufungen ab und lebte bis zu feinem Tode der Abgeſchiedenheit feiner Kunſt. Das Ziel feines Schaffens und feines Lebens iſt über fein Können hinaus lebendig und wirkt fort in feinen Worten für alle, die ihn hören wollen:

„Nur was aus einer entflammten Seele hervorgegangen, wird auch andere zu heiliger Liebe entflammen und die Herzen himmelwärts führen. Das ift der Zweck der chriſtlichen Kunſt.“

Luiſe Kepich- Overbeck

Julius Stockhauſen

(Der deutſche Meiſterſänger und Sängermeiſter)

„Der Menſch macht den Stand, nicht der Stand den Menfchen.“ u den Erwedern und Bewahrern unvergänglicher Werte unſerer Muſikkultur zählt un; beftritten Julius Stockhauſen. In ihm hat ſich vor allem die rätfelhafte urdeutſche Eigenſchaft bekundet, alles Auf- und Angenommene eindeutſchen und daraus etwas Neues ſchaffen zu können. Als Diener und Verkünder unferer größten Komponiſten hat ſich Stodhaufen ftets ge- fühlt. Gerade dadurch erwarb er ſich das Recht, in die Schar unvergeſſener, auf ihre Weiſe auch ſchöͤpferiſcher Menfchheitsbeglüder eingereiht zu werden. Mag eine Stimme verhallen; Weſen, das in ihr klang, wirkt nach. Dies unferer ſchnellebigen, oft erſchreckend traditionsloſen jüngeren Generation begreiflich zu machen, ift das kürzlich erſchienene Buch: Julius Stodhaufen, ber Sänger des deutſchen Liedes nach Dokumenten feiner Zeit, dargeſtellt von Zulia Wirth in der Sammlung „Frankfurter Lebensbilder“ (herausgegeben von der Hiſtoriſchen Kommiſſion der Stadt Frankfurt a. M., Verlag Englert & Schloſſer) vorzüglich geeignet. Allen, die fi Stock baufens noch verehrend erinnern, oder die ihn nur vom Hörenfagen kennen, wird es willkommenen Aufſchluß über ſein Werden und Wirken geben.

2% guſtus Ctodpata

Ein Beiſpiel unbeugbaren, verzicht- wie tatfähigen, warmherzigen Edelmenfchentums ift der einft vielbewunderte, jetzt manchem kaum nod dem Namen nach be kannte Julius Stodhaufen. Wie dieſer durch Vererbung, Begabung, Erziehung, Ausbildung, menſchliche Beziehungen un höhere Füͤgungen zum Muſikerberuf vom Schickſal geradezu Begünftigte dennoch keine Mühe, Selbſtzucht und Belehrung ſcheut, um als Künftler „zu lernen bis ans Ende feiner Tage“, wie et den dornenvollen Weg des fahrenden Sängers geht, ſpaͤter bis ins hohe Alter als an Ort und gen gebundener Rongertleiter und Pädagoge gewiſſenhaft aus harrt, zeigt uns, daß ſelbſt bei größtem Talent und Heimiſchſein in der Muſikwelt Hddftes nicht erreicht würde ohne Charakterſtärk und Verantwortungsge fühl. „Das liebe Oeutſchland hängt mir ſehr am Herzen, und ich will für mein eigentliches Vaterland fpäter etwas tun“ ſchreibt der damals Dreißigjährige 1856 an feinen Vater Franz Adam Stockhauſen. Dieſer aus Koln a. Rh. ſtammende Parifer Harfe niſt, der den größten Teil ſeines Lebens in Frankreich, dem Elſaß und der Schweiz verbrachte, pflegte ſich um die Jahrhundertwende unter begeiſterungsfähigen Berufs- und Gefinnungs- genoffen, Bruder in Beethoven“ zu nennen. Die Strahlen des Schöpfers einer neuen Geilt- Sprache drangen alſo ſchon ins Daſein jenes ſich für Beethoven-Muſik im Pariſer Konzertleben unerſchrocken einſetzenden zugewanderten ODeutſchen. Es mutet vielfagenb an, daß ein Btief wechſel zwiſchen dem ſchlichten Orcheſtermitglled Stockhauſen und dem fernen „Dien de h

Musique en Allemagne“ (Gott der Mufit in Oeutſchland, wie er im „Journal des Débata* 182

betitelt wird) die Erden pilgerſchaft des 1826 in Paris geborenen Zuli us gewiffermaßen einleitet. „Ich empfehle mich beſtens ihrer Sängerin der Adelaide“, ſchließt Beethoven einen Brief vom 12. Dezember 1823. Auch er hatte offenbar von der engelgleich ſingenden jungen Mutter

Margarete Stodhaufen vernommen, die elſäſſiſch-ſchweizeriſcher Herkunft in England neben .

italleniſchen Primadonnen den Ruhm erntete, „ebenfo begehrt wie die Paſta, ja noch begehrter als die berühmte Sontag“ zu fein. Sie war es, die früh des Knaben Zullus aufnahmefähig Ohr, ſeine Stimme heranbilbete für den künftigen Beruf. .

„Wer von der Mutter den ſchönen Ton gelernt hat, der vergißt ihn nie! Wir teilen beide dieſes ° Los“, ſchrieb der greife Stodhaufen einer Schülerin als Widmung unter fein Bild. Und für jene „vergeffene Perle des Elſaß“ legt er im Vorwort feiner 1884 erſchienenen Geſangsmethode als dankbarer Sohn beredtes Zeugnis ab. Dieſe „alte neue Widmung“ leitet das zum Gedächtnis an Stockhauſens 100. Geburtstag jetzt erſchienene Buch ſtimmungsvoll ein. Wer es gründlichen Leſens würdigt, wird ſtaunend inne, daß es geradezu eine Art Kulturgeſchichte des 19. Jahr dunderts bringt. Weit über die Gebiete muſikaliſchen Treibens hinaus reichen die Erfahrungen, Leiſtungen, Reifen und Bekanntſchaften dieſes außergewöhnlichen Mannes. Man fpürt, hier geht es um mehr als bloße „Laufbahn“ und private Oaſeinsangelegenheiten. Es iſt ein all gemein- deutſches Schickſal, das dieſe Blätter enthüllen, das in feinen Kriſen, Wende punkten und Ergebniſſen der beziehungsreichen Symbolik nicht entbehrt. Oer urſprünglich beabſichtigte Untertitel: Ein deutſcher Sänger im 19. Jahrhundert hätte das ſicher deutlicher umſchrieben. Denn wenn Stockhauſen auch als der unvergleichliche typiſche Vertreter deutſchen Liederſanges in den Herzen zahlloſer Hörer und den Annalen der Konzertgeſchichte fortlebt, nicht minder be · deutungsvoll war fein Wirken im Oratorium. Kannte man ihn doch, Jahrzehnte hindurch u. a. Schumanns Soethe-Fauſt, Bachs Chriſtus im tiefſten Sinn des Wortes verkörpernd, auf Podien und Kirchenemporen aller Länder. Der bezwingenden Macht feiner durch Lebenskaͤmpfe geläuterten Perſönlichkeit muß in ſolchen Augenblicken ſich keiner ungerührten Herzens zu ent- zie hen vermocht haben. So lauten einſtimmig die Urteile glaubwürdiger Ohrenzeugen jener Zeiten.

Die Hüterin der Tagebuch und Brieffchäße, des Meiſters jüngſte Tochter, hat es verſtanden, aus der Überfülle wertvollen Materials Weſentlichſtes he rauszugreifen, mit Gefchid und Tall aneinanderzufügen und vornehmlich die Hauptperſonen zu uns ſprechen zu laſſen. Außer dem Elternpaar: Franz und Margarete Stockhauſen, des Sohnes Freunde oder Berufsgenoſſen

Zulius Stodhaufen 251

(Btahms, Klara Schumann, Jof. und Amalie Joachim, Fenny Lind, Richard und Coſima Wag- ner, P. Heyſe, Th. Fontane, Klaus Groth u. a. m.), meiſt aber ihn ſelbſt und feine fpätere Lebens gefährtin Klara geb. Toberentz. In dieſer lernen wir eine aufopfernde Gattin und Mutter von echt deutſchem Weſen kennen; wie fie daheim pflichtgetreu waltend ausharrt und doch in ver- ſtaͤndnisvoll großherziger Kameradſchaft ihren geliebten, unftet die Welt durchziehenden „Bar- den“ geiſtig begleitet, das ſpiegelt ſich überzeugend in den ausgewählten Briefen wider. Dem Werk eignet eine wohltuende Sachlichkeit inſofern, als es nicht eine Verherrlichung und Anpreiſung des einſt Vielgerühmten, gelegentlich auch Angefeindeten oder Mißverſtandenen fein will, ſondern dank wortgetreuer Wiedergabe des Tatſache n- Materials dem Lefer Kritik und Nachdenken über dieſen vielfeitigen Menſchen und „Schule machenden Meiſter“ überläßt. Angeſichts des prächtigen Orucks und der durch reichen Bilderſchmuck, Regifter, Anmerkungen und Repertoireverzeichnis vervollſtändigten äußerſt gediegenen Ausftattung des über 500 Seiten = bietenden Bandes, iſt der Preis von 14 Mark (ſchöͤn gebunden) ein wohlfeller zu nennen. Die Aberſetzung vieler franzöſiſchen Briefe ins Oeutſche fei als ſprachliche Eigenleiſtung der ; beauftragten Herausgeberin gebührend hervorgehoben. Den Seelenton und die geiſtige Struktur eines jeden dieſer, oft heikelſte Themen behandelnden Ookumente in eine andere Sprache zu i übertragen, ohne den Gehalt feiner Urſprünglichkeit zu derauben, iſt ihr, gewiß jeden Kenner überzeugend, geglidt. Auch die in einſichtsvoller Selbſtbeſchränkung knapp gehaltenen ein- und “T überleitenden Textſtellen, welche Gulia Wirth beiſteuerte, halten ſich auf der Höhe der verarbei- teten Brief- und Tagebuch Bruchſtücke. Sie bieten bald aufhellende, bald vertiefende Betrach- * tungen und Ergänzungen zu den geſchichtlichen Ereigniſſen, kulturellen und ſozialen Problemen, die Stodhaufens Leben und Oenken bewegten und erregten.

Das wäre da nicht alles, wenigſtens andeutend, zu nennen: Berufswahl! Religionstonflitte er war als ftrenggldubiger Katholik erzogen und rang ſich nach bittern Seelenkämpfen zu weit- gehendſter gottesfürchtiger Freiheit und Toleranz hindurch). Revolution in Paris 1848 (Stod- . paufen als franzöſiſcher Nationalgardiſt). Kirchenſtreit in London 1850. Erſte Einführung zu- * ſammenhängender Liederzpfien in Konzertprogramme (Schuberts Müllerlleber, Beethovens = Liederkreis, fpdter Schumann und Brahms). Veranſtaltung erfter Volkskonzerte zu billigen "| Deeifen. Mufitpflege im Elſaß (e rſte Kammermuſiken daſelbſt, Chor- und Orchefterbegründung Af in Gebweiler). Bekenntnis zu Heutſchland 1870. (Rompofition der Hacenſchmidt-Verſe „Mein Elſaß deutſch“; offener Schmaͤhbrief feiner einſtigen Lehrer und Freunde im „Figaro“ 1872, Stodhaufens Antwortſchreiben). Direktionstätigkeit in Hamburg, Berlin, Frankfurt, wo durch Stockhauſen die populären Sonntags -Muſe ums-Konzerte begründet wurden. Ver⸗ öffentlichungen feiner Theorien und Lehrſätze! Reifen in alle Zentren europäiſchen Konzert- <b lebens. Unterrichtstatigteit. Freundſchaftsverkehr und Familienglück. * Berührt es nicht wie ein Grüßen von Gipfel zu Gipfel, wenn wir die Stimmen einiger feiner + ebdendürtigen Zeitgenoſſen vernehmen, die noch heute Gültiges ausſagen, was Lob und Um- ſchreibung von Stockhauſens zauberhaftem Singen und ernſtem Arbeiten als Lehrer anbelangt! den, König der Bäffe“ nannte ihn einſt Nie yf he, nachdem er Stockhauſen in einer Aufführung von Händels „Iſrael in Agppten“ gehört. Wagner, bemüht, Stockhauſen an feine in München "| geplante Ausbildungsftätte für Bühnentünftler zu berufen, ſchreibt ihm September 1864 u. a.: „ch betrachte die Möglichkeit, gerade Sie hierfür zu gewinnen, als die Grundlage für alles, was ich je zu hoffen wage und zu verwirklichen beabſichtige.“ Und zu des Meiſters Gattin äußerte I Mörike einmal: durch Stodhaufen habe er zum erſtenmal ſingen gehört! Man kann fich denken, was der feinnervige Dichter damit gemeint und zu welcher Offenbarung ihm Stodhaufens Ge- ſangston geworden fein muß, jener geifterfüllte Kang, von dem ſchon in jungen Jahren der Sanger felbft glaubt, „er entſpinne ſich unmittelbar dem Herzen“. Ihn zu fördern und zu lehren *mward er bis zum Tod nicht müde, und er wäre undenkbar ohne die große Ehrfurcht und Sorgfalt, * mit der Stodhaufen die de utſche Sprache behandelte. Zum Schönften und Erſchöͤpfendſten

238 A

aber, was über Stodhaufen geſagt werden konnte, zählen feines Dichterfreundes Klaus Groth Worte.

(Brief an Frau Klara.) „Die Verehrung, welche Ihr Mann von allen Beſten genießt, it ohnegleichen, ift etwas ganz anderes als Beifall, Bewunderung und all dergleichen. Ihn um ſchwebt etwas von einem Heiligenſchein, er ift der Hohe prieſter der wunderbaren Kunſt des Geſanges und anerkannt als der Meiſter von allen, die ſingen oder hören gelernt, haben. Det deutſche Seſang iſt durch ihn, durch ihn allein begründet. Wenn etwas vom Höchften den Sängern gelingt, fo mißt jeder von uns feine Höhe daran, wie weit er dem Meifter nahe ge kommen.“

Intuitiv den Weſenskern ſchöpferiſchen Künſtlertums erfaſſend, wie Stockhauſen es ver trat, ſandte Groth ihm zum 25 jährigen Sängerjubiläum folgende Verſe:

„Mo einmal fang die Nachtigall, War ſo denn ſonſt der Finkenſchlag,

Da merkt die Oroſſel ſich den Schlag, Der Lerchenton, der Amſelſchall? N Da horcht die Lerche auf den Schall Wird's [hin und {diner allgemach? : And alle Vögel fingen’s nach. O Welt! das macht die Nachtigall! = Und wenn der Frühling wieder blüht, Und ob fie nie dir wieder fang ur Und Herz bewegt den Vogelſang, Und dir nicht kehrt in Wald und Feld: 25 So horcht die Welt dem neuen Lied: Ihr Ton iſt all der Liederklang, . Wie klingt der Wald von neuem Klang? Ihr He rz ergoß ſich in die Welt.“ Y

Luiſe Lobſtein Wirz

Turm

gebuch

Der heimliche Kaifer - Unfere Glaͤubiger und der Dawes⸗Plan Nationale Würde, die nicht da ift - Das Reichsſchulgeſetz - Das heiße Eiſen des Einheitsſtaates Hii und Hott - Lagarde

ir find eine Republik, aber einen Souverän haben wir dennoch. Dieſer heimliche Kaiſer heißt Parker Gilbert und regiert nach einer beſonderen Magna Charta, dem Dawes-Plan.

Vor vierthalb Jahren beſtieg er ſeinen auf Geldkiſten erbauten, mit Schecks und Devifen ausgeſchlagenen Herrſcherthron. Für die erſte Zeit war uns allerdings noch eine Schonfriſt vergönnt. Aber von Jahr zu Jahr wird feine Hand ſchwerer. Vom nächſten Sedantage ab iſt uns eine Belaſtung von jährlich 2,5 Milliarden aufgelegt. Höher geht es dann freilich nicht, aber es iſt doch auch gerade ſchon hoch genug. Was den Franzoſen 1871 als ein und alles zugemutet wurde, das ſollen wir fortan alle zwei Jahre auf unbeſtimmte, das heißt endloſe Zeit hinaus zahlen. Es macht elf Pfennige täglich auf jeden Deutſchen, und wenn es nach der guten Abſicht unſrer Feinde verläuft, dann wird der Säugling von heute dieſer Kopfſteuer als hundertjähriger Jubelgreis immer noch frönig ſein.

Geht denn dies überhaupt an? Alle Fachleute beſtreiten die Möglichkeit. Nicht nur Deutſche, ſondern auch der Schwede Caſſel, der Engländer Keyne und der Amerikaner Irwin Buſh. Parker Gilbert ſagt es nicht, aber er denkt offenbar auch nicht anders. Daher baut er jetzt ſchon vor, damit er, wenn wir einmal erklären: „Vir können nicht mehr“, antworten kann: „Nein, ihr wollt bloß nicht.“ Demgemäß ſeine Mahnung: „Seht euch vor, ihr ſeid verſchwenderiſch. Was braucht ihr denn die Beamten aufzubeſſern? Was braucht ihr teuere Schulreformen? Sparen müßt ihr; Kapital bilden, Kapital, das für uns Gläubiger ſofort greifbar iſt.“ Als Tribut, fo hatte man früher geſagt; da dies jedoch ein kulturloſes Wort iſt, nennt man’s jetzt Transfer. a

Gilbert hatte feine Bedenken nur mündlich geäußert. Allein der Reidsfinang- minifter Köhler wollte eine Unterlage, Aide-mémoire, fagt die Diplomatenwelt. Statt ſich ſelber Notizen zu machen, bat der Treuherzige den Reparationsagenten um eine Denkſchrift. Das hat Bismarck auch einmal getan, als ihm nämlich Bene- detti Vorſchläge wegen Belgien machte. Aber damals geſchah's, um den Verſucher hereinzulegen. Diesmal jedoch legte man uns herein. Wir haben ja ſo gute Freunde in der Welt, daß man Gilberts Moralpredigt ſofort in der „Neuyork Times“ las. Das Aide-mémoire wurde damit zu einem Verweis vor verſammeltem Kriegsvolk.

Börſenſturz bei uns. Wallſtreet ſchlägt erregt fein Scheckbuch zu. Die franzöſiſche Preſſe bläſt Alarm. Oeutſchland zeige die alte Bösartigkeit. Es verſchleudere feine Gelder, um dann vor feinen Gläubigern achſelzuckend die leeren Taſchen um- teempeln zu können. Alſo Daumen aufs Auge! Kein Rheinland geräumt, nun erſt recht nicht; hingegen erneuter Einmarſch in die erſte Zone!

240 Gürmere Tageug

John Bull Schreibt weniger giftig, allein um kein Haar beſſer geſinnt. Don den 40 Mark, die der Oeutſche jährlich an Reparationen zu zahlen hat, kommt ja eine halbe als Steuernachlaß auf jeden Engländer. Überdies find Kohlenbarone, Stahr bittenleute und Großchemiker der einhelligen Anſicht, daß fie nur dann den deutſchen Wettkampf aushalten könnten, wenn unſere Induſtrie noch viel ſchärfer befteuert würde. Es wird darauf aufmerkſam gemacht, daß Artikel 248 des Diktates ein Dor recht auf ſämtliches Eigentum des Reiches zugeſtehe. Shylock rechnet alſo bereit: mit Pfändungsklage und Zwangsvollſtreckung.

Finanzminiſter Köhler hat ſeinen Patzer durch eine kluge Antwort zu begradigen geſucht. Er wies nach, daß der Fortbeſtand des Dawes-Plans nicht abhänge von ein paar abgeknapſten Millionen, ſondern von dem guten Willen der Siegerländer zur Aufnahme deutſcher Ausfuhr. Wenn einer, deſſen Kunde ich bin, mein Schuldner it, ſo komme ich vielleicht zu meinem Gelde, wenn ich ihm meine Kundſchaft erhalte und andere dazu verſchaffe, nie aber, indem ich fie kündige. Gerade dies tun jedoch jene durch ihre Sperrzölle.

In welcher Knechtſchaft doch unſer Volk lebt! Wie die Peitſche des Fronvogtz über feinen Rüden klatſcht! Sollte man nicht meinen, daß bei ſolchen Vorfällen dem Deutſchen das Blut ſiedeheiß zu Kopfe ſtiege?

Nationale Würde! Vollmündig wurde fie von der Linken beim Flaggenſttei gefordert! Hier, wo fie einmal von ihr zu tätigen wäre, wird fie ſelber gott: erbärmlich der gerügten Sünde bloß. Es iſt ja ein Rechtskabinett, wogegen de Reparationsagent angeht; daher reibt man ſich die Hände vor Schadenfreude. Eine Linksregierung hätte er nie einen ſolchen Mahnbrief geſchrieben, behauptet frifdhwes der „Vorwärts“. „Die Welt am Montag“ ift von Parker Gilbert entzückt. Ja der, das wäre der rechte Finanzminiſter für uns! „Sabotage des Dawes-Planes“, „Ver geudete Gelder“ lieſt man in den Kopfzeilen, durch die heutzutage die Parteiſucht iht Gelbtreuggas verbläſt. Leon Daudets Voulevardblatter könnten nicht aufdting licher hetzen gegen die Männer an der Spitze des Deutſchen Reiches. Bis zu ot leumderiſchem Klatſch verſteigt man ſich. Das Kabinett Marx hat ein ſchönes Altioum bei den Beamten, da es die Beſoldungsreform einbrachte. Nun wird ihm als erſtet Wahlſchwindel fürs nächſte Jahr nachgeſagt, es ſei ihm Angſt geworden vor den eignen Vorſchlag, daher habe es ſich hinter Parker Gilbert geſteckt, und deſſen Ein ſprüche ſeien beſtellte Arbeit. Dieſe Leute von der doppelten Moral ſuchen den Gegner allemal in dem von ihnen ſelber fo gern benutzten Schlupfwinkel. Als es um Hindenburg ging, wie haben ſie ſich da auf das Ausland berufen, das auf mucken würde gegen dieſe „imperialiſtiſche Wahl“! Aus der Wilhelmſtraße heraus erfolgt aber die richtige Antwort: Nun erſt recht die Zulagen, und zwar vor Weil nachten noch.

Gefährdeter ift das Reichsſchulgeſetz. Und abermals dürfte der Hinweis des Repo rationsagenten angeregt fein durch das von unſren Linksparteien erhobene Ge⸗ ſchrei.

Selten zeigt ſich ſo greifbar, wie blindwütig der Fraktiönligeiſt jeder Sachlichkeit den Kragen umdreht. Alles Urteil iſt parteipolitiſch mechaniſiert. Weil es der Ent wurf eines deutſchnationalen Miniſters iſt, darum taugt er nichts. Er zerſchlaht

Tirmers Tagebuch 241

die Einheit der deutſchen Volksſchule, fo heißt es. Aber man leſe bloß einmal die

Artikel 146 und 149 der Reichsverfaſſung nach, die doch jedem Schwarz- rot-goldnen

als Staatsbibel, als Palladium deutſcher Freiheit gilt. Sie iſt es ja, die unſerem elementaren Unterrichtsweſen Teilung in Gemeinſchafts Bekenntnis und welt- liche Schule vorſchreibt. Einfach deshalb, weil ſie der Tatſache Rechnung trägt, daß unſer Volk keine kulturelle Einheit mehr iſt. Sie will daher Gelegenheit ſchaffen, daß jeder nach ſeiner Faſſon ſelig werden kann. Der deutſchnationale Miniſter macht lediglich Vorſchläge, wie dieſer Mehrheitswille des ſouveränen Volkes in die Tat überſetzt werden könne; die Demokratie hingegen kämpft wieder einmal mit Jorn und Tatze wie fo oft gegen einen ihrer eignen Grundſätze, bloß weil ar vom Gegner übernommen ift.

Ein früherer Entwurf, vom Sozialdemokraten Schulz ausgearbeitet, hatte ge-

ſagt: „Alle Schulen werden Gemeinſchaftsſchulen, ſofern die Eltern nicht Be- tenntnisfhulen verlangen.“ Keudell hält es nun umgekehrt: „Regel bleibt die bis- herige Bekenntnisſchule, es fei denn, daß die Gemeinſchaftsſchule gefordert wird.“ In bezug auf Gewiſſensfreiheit kommt es aufs gleiche heraus; im Koſtenpunkt hingegen bedeutet es eine Erſparnis. Denn mit Sicherheit iſt anzunehmen, daß von hundert Eltern gut fünfundſiebzig den jetzigen Stand beizubehalten wünfchen und

es kommt doch teurer, für drei Viertel der Kinder Bekenntnisſchulen einzurichten |

als Gemeinſchaftsſchulen für ein einziges Viertel.

Eine wilde Hetze hat dieſe Rechenſtifts- Wahrheit jedoch ins Gegenteil verdreht. Fünfhundert Millionen werde der Keudellſche Vorſchlag koſten, fo hieß es. Und dies Geſchrei war es, was Parker Gilbert ſtutzig machte, der ein eignes Urteil über derartige Fragen ſchwerlich haben kann.

„Fünfhundert Millionen! Ein bißchen viel für die Erwerbung himmliſcher Güter“,

höhnte ein ſozialdemokratiſches Blatt. Es verriet damit, was der Lärm will. Auf

die Befeitigung der chriſtlichen Schule ſoll's hinaus. Denn die Gemeinſchaftsſchule

bat man ſchon eine weltliche, bloß mit angehängtem Religionsunterricht, genannt.

Das nutzt dieſer, wenn in den anderen Fächern ſogenannte Freidenker das zer⸗ ſtören, was in ihm aufgebaut wird? Am Ende iſt er von einer zielbewußten Links- tegierung auch ebenſo raſch beſeitigt, wie das Tiſchgebet im Neuköllner Kranken- haus. Soll's ein Ende haben mit der chriſtlichen Schule im chriſtlichen deutſchen Volk?

Und noch eine dritte innere Frage hat unſer heimlicher Kaiſer angeſchnitten. die vom Einheitsſtaat. Mit dem leider richtigen Hinweis, daß infolge des behaglichen, bundesſtaatlichen Betriebes die Regierungskoſten bei uns weit höher find als anderswo. Verbrauchen doch Sachſen 56, Thüringen 46, Heſſen 45 vom Hundert ihrer geſamten Staatseinnahmen für Ämter und Beamte, während ſonſt in der Welt der Durchſchnittsſatz 15 felten überſteigt. Preußen gilt unter den deutſchen Ländern als eins der billigftverwalteten. Gleichwohl ift es das einzige auf dem erdenrund, das einen fünfgliedrigen Inſtanzenzug hat; vom Gemeindevorſteher

über den Landrat zum Regierungspräfidenten, von da über den sd ir

zum Minifter. Den anderen genügen drei. Dazu noch obendrein die Reichsbehörden und die Neigung unſrer Länder, wenn

etwas Reichsſache wird, die eignen Fachämter weiter beſtehen zu laſſen. a jagt, der Tarmer XXX, 3

= ————

* —— la

242 Zürmers Tagebuch ein Drittel der Arbeit unfres Beamtenheeres beftehe darin, anderen Amtern Waden und Klötze in den Weg zu ſchieben. Warum denn einfach, wenn's auch umſtändlich geht? |

In einer norddeutſchen Großſtadt wiinfden die Anwohner einer Straße deren Umbenamfung. Der Magiſtrat lehnte ab. Das mache zu viel Umftände. Es müßte darüber mit 25 Behörden verhandelt werden. Freilich ging's auch bloß um eine Wilhelm Raabe Straße, und der Stadtrat ijt bürgerlih. Roten Gemeinweſen hingegen iſt für einen Bebelplatz oder eine Liebknechtallee alle Mühe und Arbeit gering.

Unfere Zuſtände ſchreien politiſch wie wirtſchaftlich nach Verkoppelung und Ein- fachheit. Man muß ihnen Rechnung tragen; genau fo weit, wie die Not es fordert.

Es geht unſrer ganzen Geſchichte nach, daß Deutſchland nicht gleichzeitig mit Frankreich, England und Spanien unter ein einziges Szepter kam. Karl V. hat uns dies angetan, der die mächtigen Antriebe Sickingens und der Bauernſchaft nicht zu nutzen verſtand.

Nach drei Jahrhunderten auflöfender Neigung begann mit dem Reidsdeputations- hauptſchluß wieder der vereinheitlichende Gegendruck. Von mehr als dreihundert Reichsſtänden erlag ihm nahezu die Hälfte. Die napoleoniſche Zeit ſetzte den Kehraus fort. Nur 38 Staaten kamen in den deutſchen Bund; nicht mehr als 27 im Jahre 1871 ins neue Reich. Jetzt gar zählt dies bloß noch 15, von denen in Kürze oben- drein Waldeck verſchwindet. So geht es mit der Vielſtaaterei unverkennbar abwärts und auf dem Wege natürlicher Ballung größtmöglicher Einheit zu.

Der geſunde deutſche Föderalismus kommt darüber keineswegs zu kurz. Er ist ein fchönes Ideal; mit feinem weitherzigen Selbftverwalten und Kulturfördern der Stämme nach ihrer Eigenart bei ſtraffer Geſchloſſenheit nach draußen.

Wer möchte es drangeben zugunſten eines Zentralismus, wie ihn die große Revolution den Franzoſen beſcherte und unſre weſtlich verbohrte Demokratie auch uns beſcheren möchte?

Aber find denn unſre Reichsländer wirklich Stammesſtaaten? Die meiſten von ihnen wurden ohne jede KRückſicht auf völkiſche Belange dynaſtiſch zuſammenge⸗ heiratet, zuſammenerobert oder von Napoleon zuſammengeſchenkt. Ihre Gou- veränität zumal iſt gar nichts anderes geweſen als ein höchft fragwürdiger Gnaden brocken des Rheinbundprotektors.

Nichts ungeſunder als dieſer Zuſtand. Beſſer und gut kann es nur werden auf dem Wege einer allmählichen Bereinigung der deutſchen Flur. Darin haben Landbund, Hanfabund und die anderen großen Bünde vollkommen recht.

Aber Eile mit behutſamer Weile! Man muß nicht machen wollen, ſondern werden laſſen. Ungeftüm und Schlagwörtelei können nur verderben, was durch Zeit und Notwendigkeit ſtill heranreift. |

Gefühlsmomente find zu überwinden. Dazu ijt Geſchick nötig und politiſcher Takt. Hier erhebt ſich wieder ſo ein Fall, an dem die demokratiſche Allheilarznei den Schaden nur ſteigern könnte. Mit Mehrheitsbeſchlüſſen iſt da gar nichts ge ſchafft. Sie würden nur ins Gegenteil führen; zum völligen Zerfall ſtatt zur völligen Einheit.

Turmers Tagebuch 245

Man ſieht, wie dc Süden ſich noch gegen den Gedanken ſträubt. Der Mürttem- berger Bazille und der Bayer Schmelzle haben Blitzlichter aufflammen laſſen. Man kann ſicher ſein, daß überall dort, wo deutſche Zwiſte zu glimmen anfangen, der Franzoſe hinterrüds den Olkrug herbeiſchleppt. Es iſt nicht müßiges Spiel, daß er ſofort nach der Revolution eine eigne Geſandtſchaft in München errichtete. Sein Streben iſt die Mainlinie und ein ſüddeutſches Gegenreich. Wollen wir ihm in die Hand arbeiten?

Der kluge Staatsmann fragt ſich ſtets: „Wie hätte Bismarck gehandelt?“

Wir wiſſen, daß er in dem Bundesſtaat keineswegs fein höchſtes Ziel, ſondern nur eine Raft erblickte. Aber wir wiſſen auch, daß er ein Meiſter der Kur ft des Mög- lichen war. Daber fein Verhalten in Verſailles beim Abſchluß der Verträge mit den Süddeutſchen. | Es war am 23. November 1870. Soeben hatten die Bayern unterzeichnet. Da ſagte der Kanzler zu den Leuten feiner Tafelrunde:

„Wer einmal in der gewöhnlichen Art Geſchichte ſchreibt, kann unſer Abkommen tadeln. Er kann ſagen, der dumme Kerl hätte mehr fordern ſollen; er hätte es erlangt, ſie hätten gemußt, und er kann recht haben mit dem Müffen, Mir aber lag daran, daß die Leute mit der Sache innerlich zufrieden waren was ſind Verträge, wenn man muß! und ich weiß, daß ſie vergnügt fortgegangen ſind. Ich wollte ſie nicht preſſen, die Situation nicht ausnutzen. Der Vertrag hat ſeine Mängel, aber er iſt ſo feſter. Was fehlt, mag die Zukunft beſchaffen.“

Wir wollen’s uns geſagt fein laſſen, dieſes Bismarckſche Wort. Licht man nicht jetzt wieder von kataloniſchen Putſchen mit dem Ziel der Selbſtändigkeit? Mehr als 450 Sabre iſt's ber, feit die Heirat Ferdinands von Aragonien mit Ffabella von Raftilien die iberiſchen Staaten zuſammenfaßte. Und trotzdem noch Trennungs- gelüfte !

Keine Einheit hat Beſtand, die nicht von allen gewollt wird. Und deshalb darf ſie nur erſtrebt werden unter dem kirchlichen Friedensſpruch: „In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas.“

Wir haben wahrlich Hader genug. Wo ſchon Partei gegen Partei ſteht und Weltanſchauung gegen Weltanſchauung, ſoll da auch noch Miß vernehmen werden wiſchen Landſchaft und Landſchaft?

Gibt es denn überhaupt noch etwas, worüber es nicht zu Zwiſt und Zank kommt?

Man feierte den hundertfünfzigſten Geburtstag Kleiſts und flugs war ein närriſcher Wortwechſel da, ob der Dichter der Hermannsſchlacht jetztzeitlich ge- ſprochen ein Stahlhelmer geweſen oder Reichsbannermann. Es gab Feſtredner und -[chreiber, die in ihm mit einem Male unverkennbare Züge eines Couden- hoveſchen Paneuropäͤers entdeckten. Aus dieſer Sicht heraus empörten fie ſich über den Kranz des Kleiſt-Geſchlechtes mit der Aufſchrift: „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs.“ Beim Frankfurter Feſtmahl flogen ſpitze Anzuͤglichkeiten über den Tiſch. „Statt des Schleis und der Oamwildkeule hätte man ſich am liebſten gegenſeitig aufgegeſſen. Es ging bi und hott; zwei Welten ſtießen dauernd auf- einander.“

gu und Hott; geht es nicht alle Tage fo? Verſtehen wir uns denn überhaupt noch im lieben Deutichland?

244 Züirmers Tagebuch

Wer begreift, daß die Herren Haas, Heile und Erkelenz, zur interparlamentariſchen Union nach Paris gereiſt, es für nötig hielten, einem Poincaré aufzuwarten und dem Mann des Ruhrverbrechens huldigend zu erklären, ſie hielten ihn für einen treuen Förderer der Locarno-Politik? Natürlich nickte er eifrig, allein ich glaube nicht, daß er ſchmeichelhafte Begriffe gewonnen hat von dem Tießfblick deutſcher Volksvertreter und daher von der Güte deutſchen Wahlrechts.

Und wer begreift, daß in Deutſchland die Friedensgeſellſchaft Mitglieder werben darf, wobei der Neuling einen Schein unterzeichnet, durch den er ſich verpflichtet, im Kriegsfall jeden Hzeresdienft zu weigern; ſelbſt den zur bloßen Abwehr des Feindes. Es ſind Führer des Reichsbanners, die dieſe Sache betreiben; jenes Reichsbanners, das eigens zum Schutze der Republik gegründet iſt. Demgemäß ſtellt ſich die Logik alſo: Blank die Waffen im Innern zum Bürgerkrieg, allein nieder mit ihnen an der Grenze, wenn es die Verteidigung der Heimaterde gilt. Was ſo ein richtiger Reichsbannermann ſein will, für den iſt offenbar neben Windjacke und Sportsmütze ein Gewiſſen mit doppeltem Boden der wichtigſte Aus- ruͤſtungsgegenſtand.

Wo ſoll es eigentlich noch hinaus mit uns? Wann wird der Retter kommen, wo ſich das geſunde Empfinden immer noch mehr verwirrt?

Am Allerſeelentag haben wir das Jahrhundertgedenken Lagardes gefeiert. Der Beſinnliche hat dann wohl auch für ein ſtilles Stündchen zu deſſen „Oeutſchen Schriften“ gegriffen und manch tiefes Wort ſich wieder lebendig gemacht.

Der Söttinger Denker wußte es und ſprach es aus, daß Freiheit und Demokratie zu einander paſſen, wie Feuer und Waſſer. In der ganzen Weltgeſchichte iſt's er- probt. Gerade weil der Germane die Freiheit liebt, gerade darum iſt er Ariſtokrat im beſten Ethos dieſes Wortes.

Den Parteigebundenen trennt vom anderen eine unüberſteigbare Schranke. Wer mit Lagardes Augen ſchaut, der ſieht indes, wie gleitend für den Unbefangenen dieſe Grenzen find. Wer iſt konſervativ? Der ſeinem Volke lebendige Kräfte er halten will. Und liberal? Wer da forgt, daß neue Kräfte frei ſich auswirken konnen. Bewähren fie ſich, dann wird ihr Bahnbrecher ganz von ſelber zum Echalter, der Liberale alſo zum Konſervativen. Ein echter Staatsmann iſt daher nie eins von beiden, ſondern immer beides. Unſre Größten waren jo: Stein, der Reichsfreihert, und Bismarck, der Reichsgründer. Anders wird auch er nicht fein; der dritte, den wir hoffen: unſer Reichserneurer. Dr. Fritz Hartmann, Hannover

(Abgeſchloſſen am 18. November)

Muſſolini

er Faſchismus hat ein Jubildum ge-

feiert: die fünfte Wiederkehr des Tages, an dem er auf Rom marſchierte. Da er nach Zuftren rechnet wie die Altvordern im Imperium und fo gerne ſich ſelber beweih- rdudett, ward es ein geraͤuſchvolles Felt. Die ganze Hauptſtadt war am Lage beflaggt, am Abend glühbirnenüberfät; man hat näm-

lich jetzt die Hauswirte ſtramm an der Strippe.

Don der Pincio-Terraſſe flammte ein 25 Meter hohes Faſchiſtenbeil hernieder; ein Zubel den Legionären, den Widerſachern ein Hüte Did. Dies Wahrzeichen ſoll jetzt ſogar in die Landesflagge kommen. Vorläufig neben das Kreuz von Savoyen; allein der König ift darauf gefaßt, daß es paſſenden Tages an deſſen Stelle tritt. |

Was ift der Faſchismus und was wird er fein? Bernard Shaw ſchrieb einige Feft- artikel; des Preiſes voll von Muſſolini und feinem Werk. Empört antwortete ihm Fried- tid Adler, das fei die Weisheit eines ins Leere ſtarrenden Budd has. Adler felber ließ keinen guten Faden an dem Schwarzhemde des Mannes, der da zum Überläufer und Totengräber des Marxismus geworden. Den Matteotti⸗Mord, von dem der Ouce ſchwerlich wußte, wenn ihn auch ſeine Leute verübten, kann er ihm nie verzeihen; er, der ſich ſelber den Mord an Stiirgth jo leicht verzieh!

Wer den Faſchismus verſtehen will, der braucht gerechtere Wäger. Am beſten greift er zu 3. B. Mann hard ts gedanten- und auf- ſchlußreichem Buche, das bei Beck in München etſchien. (411 Seiten, geheftet 11 &, in Bugramleinen 15 K.) Da ſteckt Forſchung

darin, weiter Blick und Unbefangenheit. Diefe |

in einem Grade, daß wir Leute heißeren Blutes des öfteren rufen möchten: „Sei nicht allzu gerecht!“

Eind wir nicht Heutſche? Wir wiſſen, daß

an dem Treubruch Italiens Muffolini weit mehr Schuld trägt als der Rönig, als Salandra sder Sonnino. Wir fühlen mit den Brüdern

in Südtirol, denen man jetzt die deutſche Sprache ſogar auf Kaffeetaſſen, Stamm- ſeideln und Grabkreuzen verbietet! Wir lachen zornig der dreiſten Geſchichtslüge, als ob es ſich nur um eine Suriidverwelfdung gewaltſam Eingedeutſchter handle. Wir ver- bitten uns den Hohn Muſſolinis über die deutſchen Nichtstuer, die in der Loden joppe mit dem Baͤdeker in der Hand das heilige Italien unſicher machten. Und wir nennen es ſchlan kweg Räuberei, wenn die Villa Henry Thodes in Gardone, ſtatt dem rechtmäßigen Beſitzer zurückgegeben zu werden, dem wider; lichen Schaumſchlaͤger d' Annunzio ols Natio- nalgeſchenk überlaſſen wurde. Wir verſtehen, daß unſre Reichsregierung alledem gegenüber in ihren bedrängten Umſtänden ein diplo- matiſches Geſicht zu wahren hat. Aber der Duce ſoll doch nicht glauben, daß Rechtsgefühl ein Südtirol iſt, dem man mit Gummi- knuͤppeln, und Rizinusöl Stillſchweigen auf- zwingen kann.

Das alles freilich hindert nicht das Zuge ſtändnis, daß Muffolini der Napoleon, der politiſche Großgeiſt unſrer Tage iſt.

In den fünf Jahren feiner Diktatur hat er Erſtaunliches vollbracht. Er fand ein vom Sozialismus unterwühltes, vom welſchen Liberalismus verſchlammtes Land. Er hat gemacht, daß fortan Volk und Staat ſich decken. Dadurch, daß er die Maſſen gewann und ſich durch fie zum Staatslenker auf- ſchwang. Er hat ihnen kein irdiſches Paradies verſprochen, wie der Sozialismus tut. Im Gegenteil: „Lavoro e disciplina“ war ſeine Zofung: Arbeit und Manneszucht. Durch fie hat er den Lazzaroni von den Straßen gefegt und die Fradiavolos aus den Abruzzen. Durch ſie hat er Ordnung und Sauberkeit geſchafft und hält beides aufrecht durch ein ſtrenges

Regiment.

Wie bewirkte er dieſen Umfhwung? Indem er feine Leute für die Stalianità, für Volks- tum und Volksgröße begeiſterte. das Wohl des Ganzen, eine herrliche Zukunft, ſind ſie nicht des Schweißes der Edlen wert? Rein

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ſozialiſtiſcher, kein liberaler, kein flerifaler, wohl aber ein völkiſcher Staat! Die Welt wird euch gehorchen, wofern ihr mir gehorcht! So ſetzt der Faſchismus ſeinen Stolz in einen Aſſaſſinengehorſam. Cromwells Puritanergeiſt ſteckt darin, und die Schwarzhemden ſind Muſſolinis Eiſenſeiten.

Allein zwei Gefahren drohen dem fo be- gründeten Staat. Die erſte, daß er ſich nach außen übernimmt. Er ſucht allerorten Fuß zu faſſen; auf dem Balkan, in der Türkei, in Abeffinien und neuerdings in Marokko. Rein Staat hat jetzt fo viele Reibungsflächen wie Italien, und der Gedanke, daß alles italieniſch werden miiffe, was einſt röͤmiſch war, führt zu Aberſpanntheiten, die zum Zuſammenbruch verurteilt ſind.

Zweitens ſteht der Staat auf Muſſolinis beiden Augen. Wenn ſie ſich ſchließen, oder durch ein Attentat geſchloſſen werden, was dann? Oer Duce ſelber leidet unter dieſer quälenden Ungewißheit.

Seine Ann aͤherungs verſuche an den Vatikan fallen auf. Sie entſpringen keineswegs der nüchternen Rechnung, daß der Feind feines Feindes, des entgotteten Sozialismus und Liberalismus alſo, ſein Freund iſt. Er geht vielmehr damit um, die Kirche zu feinem Nachfolger zu machen. Und dies iſt ein genialer Gedanke. Vorläufig ſtockt die Eini- gung noch daran, daß ſie weltliche Herrſchaft verlangt, der Buce aber keinen Geviertſchuh hergeben will. Ob der ſonſt ſo weitblickende Vati kan ſich nicht befinnt? Es iſt feine Schick ſalsſtunde. Wenn er auf Rom verzichtet, kann er Stalien gewinnen. Freilich das iſt die weitere Frage ob er dann nicht die Welt verliert? F. O.

Die deutſche Jugendbewegung in engliſcher Betrachtung nter dem Titel: „Patriotismus ohne Angriffsluſt“ gibt der „Manchester Guardian“ folgenden Kommentar zu der Aus- ſtellung: Die deutſche Jugend die in den ſchönen Räumen des alten Berliner

Schloſſes Belle vue zu ſehen iſt, in der 96

Verbände der Jugendorganiſationen aller

Auf der Werte

politiſchen Richtungen ſich zuſammengetan haben (ift das nicht an und für ſich eine un- erhörte Sache im deutſchen Vaterland), um Rechenſchaft zu geben von ihren Zielen und ihrem Wirken:

. . . Dies iſt nicht, wie der Name etwa an- deutet, eine Ausſtellung von Muftern deut- ſcher Jugend, ſondern eine ſolche von Büchern, Bildern, Eczeugniſſen, Diagrammen, Bau- modellen und einer Menge anderen Materials, das Licht werfen ſoll auf das Leben und die Ideale der heranwachſenden Generation. Vielleicht in keinem anderen Land Europas, ſelbſt nicht in Italien, iſt foviel nationale Hoff nung auf die heranwachſende Jugend konzen- triert, wie heute in Deutſchland. Und auf dieſer Ausſtellung lernen wir die deutſche Jugend durch deutſche Augen betrachten: eine äußerft wertvolle Lektion für den Europäer unferer Zeit.

Das erfte, was dem Engländer auffällt, iſt der ungeheure Ernſt, der die Ausſtellung aus zeichnet. Sie ähnelt in nichts einer engliſchen Pfadfinderſchau oder einer italieniſchen Ba- lilla-Ausſtellung. Bei jedem Schritt fühlen wir das angeſtrengte, bewußte Streben nach einem ͤſthetiſchen und philoſophlſchen Ide al, das fo charakteriſtiſch iſt für den Heut ſchen. Eine engliſche Ausſtellung würde aller lei luſtiges, eine italieniſche allerlei reizvolles Ourcheinander aufweiſen; die deutſche iſt weder luſtig noch reizvoll fie iſt idee liſtiſch. Man betrachte dieſe Jünglinge und Mädchen in den Fresken (einige davon von hohem küͤnſtleriſchen Wert) wie fie Berge er klettern, am Lagerfeuer fingen, nützliche Handgriffe erlernen und Künſte, um den Geiſt zu ſchmuͤcken.

Wie intenſiv iſt der Ausdruck ihrer Willens kraft! Seinem Temperament gemäß iſt man beluſtigt, verſtimmt oder beeindruckt dutch dieſe Seite der Schau.

Der Wandſchmuck iſt in einem heftig; m⸗ dernen Stil gehalten. Riefige geometriſche Nacktheit ſpringt oder rollt roſenfarbig über weite Strecken blaßblauer und gelber Tandy. Das Starre, Eckige, Verzerrte iſt in großer Gunſt. Aber bei einigen der kleineren Band malereien hat man ein fehr hohes Niveau

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Auf ber Warte

erreicht; in dieſen ſieht man Gruppen idealer Jünglinge und Mädchen, die durch körper liche Bewegung in Tanz, Sport und Kunſt⸗ übung den Geiſt verwirklichen. Das Ideal ift eine rauhſchalige, ſonn verbrannte, hagere, kräftige junge Brut, einfach und wenn ſchon, dann knapp bekleidet. Die katholiſche Jugend; bewegung neigt ſehr zur Linken, verurſacht ihren konſervativen Hirten und Lehrern einige Unruhe und verfolgt das gleiche Ideal. Das Körperliche ſtrebt nach Glorifizierung ſelbſt im Schatten des Kreuzes; ein rieſiges Gemälde zeigt den Paradieſesberg, an deſſen Hängen die Jugend beider Geſchlechter tanzt, ſchwimmt und ſingt. Man kann nicht umhin, zu fühlen, daß die ganze deutſche Jugend- bewegung im Grunde von einem einzigen und hochgemuten Zdeal getragen wird nicht nur einen gefunden Seiſt im ge- ſunden Korper zu pflegen, ſondern den ſchoͤnen Geiſt im ſchönen Körper, als Pflicht der Heranwachſenden. Und aufrichtige Kameradſchaft zwiſchen den Geſchlechtern von früheſter Jugend an verſteht ſich von ſelbſt.

Wer dem Glauben lebt, daß die Mehrzahl der deutſchen Jugend auf den großen Tag der Vergeltung für vergangene Niederlage er- zogen wird, dürfte es ſchwer finden, ſeine Theſe aus dieſer Ausſtellung heraus zu be- kräftigen. Die ganze Schau iſt ein Denkmal bewußter, geſunder Vaterlandsliebe. Aber ſie zeigt feine Spur von Angriffsluſt oder Frem- denhaß. Im Gegenteil eine große Wand zeigt al fresoo die harmoniſch verſchlungenen Flaggen aller Nationen, darunter beſonders die britiſche, franzöͤſiſche, belgiſche.

Ein Engländer würde finden, daß die Aus- ſtellung ohne jeden Humor iſt. (Ob unſer ge- ſchatzter Sinn für Humor nicht zuweilen eine Schwache, eine Entſchuldigung für fdwdd- liche Ideale darſtellt? Die Frage hat William Eliffold beſchäftigt.) Es zeigt ſich jedoch auch ein wenig Humor in einem kleinen Zimmer im erſten Stock. Hier ſind einige wildwütende Zeichnungen deutſcher Jugend, Erzeugniſſe des „Wandervogels“ und verwandter Be⸗ wegungen, von einem von ihnen. Sonnen- gedoͤrrte Haut, anmutloſe Formen und unan- taftbare Selbſtgerechtigkeit zeichnen dieſe, hier

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an den Pranger geftellten Exemplare aus. Es iſt gut, daß aud die lächerlichen Aus- wüchſe der Jugendbewegung hier vermerkt ſind. Aber Überſchwang iſt ein Fehler zu großer Lebenskraft, und die deutſche Jugend bewegung, wie ſie hier beſchrieben wird, ſcheint Millionen von Knaben und Madchen zu lehren, was es heißt zu leben, und in Fülle zu leben. Übertragen von L. M. Schultheis

Burſchenſchaftsfeſt

as war an einem [hönen Oktober Sonn-

tag dieſes Jahres, der ſich blau und fon- nig aus dem Nebelduft emporhob: ein wun- dervolles Wart burgfeſt. Die Deutſche Bur; ſchenſchaft feierte den 110. Gedenktag jenes Feſtes von 1817, als die Urburſchen die von Frauen geſtiftete Fahne von Jena zum erſten Male auf die Wartburg trugen und dort kernige beutfchreligiöfe Weihereden hielten, die fo friſch und leuchtend anmuten, als wären fie geſtern erſt gehalten worden. Der Wart- burghof war überfüllt von Farben und Fahnen, als die Burſchen, die Landſtraße herauf, mit Mufit eingezogen waren, begrüßt von Bläfern auf dem Turm.

Was uns am meiſten entzückt hat: der Geiſt dieſes Feſtes hatte einen religiöſen Unter- ton, wie man ihn etwa auch von Lagardes Oeutſchtum kennt. Die Feſtrede, die ein Som- prediger in der Sankt Georgen ⸗-Kirche hielt (wir hörten nur dieſe), war geradezu glänzend. Wenn ſolcher Geift wieder in der deutſchen Studentenſchaft (etwa auch im Wingolf, in der Turnerſchaft uſw.) lebendig wird, dann iſt uns um die Zukunft Deutidlands nicht bange.

Sewiß war damals (1817) die „Romantik“ der beherrſchende Seitgeift. Aber Romantik im edelften Sinne iſt immer die beſte Grund- ſtimmung des deutſchen Studenten. Möge das heutige Burſchentum daran feſthalten! Romantiſche Kräfte find ſchöpferiſch auf- bauende Kräfte. Hier find die Quellen vaterländiſcher Erneuerung. Das Mang fdon damals durch die Reden: es galt eine neue Le bensgemeinſchaft zu gründen, die aus

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Brüderlichkeit emporwuchs. Man vergeffe

nie, daß die meiſten Burſchen damals unter dem Einfluß großzügiger Reden das heilige Abendmahl gemeinſam genommen haben, um ihren durchaus ernſten Willen zur Erneue- rung und Heiligung zu bekunden.

Auf Einzelheiten ſoll hier nicht eingegangen werden. Möchte ſolch vaterlandifd-fromm- frohes Wollen überall in der deutſchen Stu- dentenſchaft wieder lebendig werden!

Wie ſie Kleiſt ehrten!

o erfriſchend die Tatſache wirken könnte, daß ſich die Parteien um den National- dichter ſtreiten, ſo berührt die Art und Weiſe, wie man des Oichters Wefensart zum Pa- zifismus (!) abzubiegen ſucht, recht pein-

lich. Der Dichter des Preußentums, der in }-

ſeinem „Prinzen von Homburg“ das ſtraffe

ſoldatiſche und monarchiſche Pflichtge fühl verherrlicht, dem die Befreiungskriege das größte Erlebnis wurden, wird von der „Roten

Fahne“ zum geſinnungsverwandten „An- archiſten“ geſtempelt! Doch nimmt das ja bei der ſtets „bewährten“ Methode dieſer Leute, Geſchichte nach eigener „Faſſon“ aus- zulegen, weiter nicht wunder. Bedenklicher erſcheint uns, daß Wilhelm von Scholz, der Präſident der Sektion für Dichtkunſt der Preußiſchen Akademie der Künſte, bei der Meift-Feier in Frankfurt a. O. ausführte, daß es großen Volksſchichten ſchwierig ſein würde, gerade heute noch den Dichter zu lie- ben, weil er (leider ) fo ſtark preußiſch und monarchiſtiſch gefühlt habe! Doch ftünde heute, in einer Zeit, in der Oeutſchland ſich anſchickte, in dem großen internationalen Staatenbunde aufzugehen, Kleiſt (der Oichter der „Hermannsſchlacht“!) dem Pazifismus innerlich nahe! Wahrlich, eine gewagte Behauptung! Und ein gewagter Verſuch, den Dichter der deutſchen Volksſeele nahe zu bringen. Doch in zwei Punkten, den Kern- punkten, irrt Herr von Scholz: einmal in der Wertung von Kleiſts Perſönlichkeit, der wahr- lich nicht zu Kompromiſſen neigte, zum ande ren in der Erfaſſung der deutſchen Volksſeele, die immer noch geſund genug iſt, einen ſolch

Auf der Warte

verwaſchenen „Nationaldichter“ abzulehnen, wie ihn Scholz ſchildert.

Der wahre Kleiſt war ein anderer: ex fick in Napoleon den Bedrüder des Vaterlandes, „den verabſcheuungswürdigen Menſchen“,

„den Anfang alles Böſen und das Ende alles

Guten“. Er ſchuf im „Prinzen von Homburg ein Werk leidenſchaftlicher Vaterlandeliebe und reifen Bekenntniſſes zu ftaatsbürgerlichen Pflichten. Freilich iſt es heute leichter und dankbarer, von Rechten als von Pflichten m reden. Es iſt aber ein Unfug, wenn man ger ſchichtliche Tatſachen umbiegt... Nein, dit Vorſtellung mutet faſt ſchon lächerlich an: Heinrich von Kleiſt Arm in Arm mit Herrn von Scholz, Fritz von Unruh und Thome Mann als Verfechter des europäifchen Voller tonglomerats! Dr. Gerhard Schmidt

~

Verniggerung der Kultur

it dem üblichen „fenfationellen Erfolge‘

nad fabelhafter Reklame wird jetzt ein Oper „Jonny ſpielt auf“ von dem Wj rigen Ernſt Krenek auf über ſechzig nen gefpielt! Im Grunde eine aus 12 Bilder gufammengeflidte Re vue. Kino! Die Hand lung? Man kann ſie nur vorſichtig andeuten; aber ſchon das Wenige wird genügen. Aus dem tollen Wirrwarr, den der „Komponiſt“ fid ſelbſt „gebichtet“ hat, nur dieſes: Jazzband geiger Jonny, ein wüfter Negerbod, ſucht die Sängerin Anita im Hotel zu vergewaltigen; der ſchoͤne Violinvirtuos Daniello verhindert noch das Außerſte und drüdt dem waden Schwarzen eine Tauſend-Dollar-Note in die Hand! Er kauft die Frau alſo für ſich, beftürmt fie nunmehr mit feiner eigenen Brunſt (Se iſt ſehr ſpirituell“, ſingt er im Anblick ber neuen Geliebten höoͤchſt poetiſch); Anita ihrerſeits verſichert verſchledentlich: „Wieder das Blut! Ich kann nicht, ich darf nicht wider ſtehn !“ und die beiden verſchwinden im Neben; gemach, aus welchem man ein aus Halbtönen hinſeufzendes „Ah...“ vernimmt. —Gnbeffen: beſagte Anita hat früher angeſichts eines Gletſchers den Komponiſten Max gefunden und fi ſchleunigſt auch ihm ergeben und lehrt aus Baniellos Armen mit dem milden Troſt

Auf der Warte

wort: „Man muß den Augenblick nehmen, als tam’ tein andrer“ zu dem erſten Liebhaber zuruck. Der wũſte Jonny wie derum ſtie hlt dem verzweifelten Daniello (offenbar aus Dank barkeit) ſeine koſtbare Amati-Geige und lenkt, als er ſich verfolgt weiß, den Verdacht auf den unſchuldigen Max. Um kurz zu fein: Daniello wird vom D- Zuge zermalmt (ein völlig einzig- artiges Bühnenbild), Max aber ſpringt aus dem Automobil der Poliziſten (das Publikum ſoll dabei durch Scheinwerfer geblendet wer- den!) und erreicht gerade noch die nach Amerika abdampfende Anita, die mit ihrem jüdiſchen Agenten auf Gaſtſpielreiſen geht...

Genügen dieſe Angaben? Aber da iſt noch die Kammerzofe Yvonne, die dem Neger völlig erge bene, die ſich fo vorſtellt: „Jonny bin ich losge worden, und den andern bab’ ich nicht ge habt. Schade um die Nacht!“ Vefon- ders aufſchlußreich iſt auch der Jubel des Ne- gers über die geſtohlene Violine: „Jetzt iſt die Geige mein, und ich will drauf ſpielen, wie Old David einft die Harfe ſchlug, und preiſen Sehova, der die Menſchen ſchwarz erſchuf!“

Merkt man, woher der morgenländiſche Wind

weht?! Fremdwörter wie perhorreſzieren, ramar kabel, horribel, direkt aus Paris impor- tiert”, franzoͤſiſches und engliſches Geſtammel müffen jeder deutſchen Bühne zur Zierde ge- reichen! Naturlich Hirt man die lockenden Weiſen des Tango und Shimmy oder ein „Neger Spiritual“; auch ein Grammophon tritt in Tätigkeit, als beſonders wirkſamer Segenſatz zu dem ſingenden Gletſcher, bei welchem der halbverruͤckte Max fein Ende ſuchen will, aber leider noch nicht findet. Ein Bahnhof wird aufgebaut, Automobile ſauſen es iſt keineswegs geſpart mit Requifiten, und das Publikum fist herzklopfend, ſchwer⸗ atmend, heiß durchichauert, . .

Am Schluß läßt ein Chorus mysticus die Tendenz dieſer „einzigartigen“ Revue folgen; dermaßen ertönen: „Die Stunde ſchlägt der alten Zeit, die neue Zeit bricht an. Verſäumt den Anſchluß nicht! ... Es kommt die neue Welt übers Meer gefahren mit Glanz und erbt das alte Europa durch den Tanz.“ Bravo! So muß bie neue Zeit“ erſcheinen: mit Not; zucht, Diebſtahl, Tango, Brunſt und Detet-

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tiven. Endlich iſt das Zeichen der Zukunft ein- deutig fefigelegt; nun braucht man um die Entwicklung Oeutſchlands nicht mehr zu bangen! Wozu noch ſeeliſche Regungen, War- nungsrufe und ethiſche Werte? Die Loͤſung der Welträtfel iſt gefunden. .

Und wenn ein Teil der ſich eifrig windenden Kritik verſichert, daß ſchon nach einem Jahre dieſer „Schmarren“ verſunken fein würde, warum dann die Mühe der Einſtudierung und der ungemäße Roftenaufwand für eine fo verblüffende Ausftattung, während bie reine, edle Runft eines Gluck völlig beifeitegefchoben wird oder hoͤchſtens als Kurioſum gilt? Es gibt heute eine Art von Zeitgenoſſen, die überemfig „Nieder mit dem Kriege!“ rufen; aber fo lange derartig böswillige Aufführungen moglich find, wird der wahre Friede niemals gefunden werden! Freilich: was gilt dem Materialiſten der ſeeliſche Tod gegen das koͤrperliche Ende?

Deutſchland, das Volk der Dichter und Den- ker, die Heimat eines Bach und Oürer, eines Beethoven und Gruͤnewald, eines Goethe und Kant, eines Ecke hart und Luther und nun einer Zauche grube gleich! Jawohl, wir wol- lens gradaus nennen: es iſt Unrat; ſchmalzige Weiſen im Gemiſch mit Frechheit. Die Bühnen predigen den Untergang, und das Publikum erquidt ſich gruſelnd am Bilde der eigenen Inſtinktverwirrung. Das iſt die „neue Zeit“, und der Neger Jonny iſt ihr Prophet!

Ernſt Ludwig ig

Sieht 8 etwa in Frankreich Sfr aus?

arüber erfahren wir allerlei in ben „Süddeutſchen Monatsheften“ (Heft 12).

Da fchreibt z. B. Hubert Graf zu Stolberg: Einer Heinen Schar von Praſſern und Gelb- ausge bern ſte he die große Maſſe der Franzoſen faſt völlig verarmt gegenüber. Nach der amt; lichen Statiſtik des Finanzminiſte riums gab es vor dem Kriege 44000 Milliondre, welchen 82 Milliarden, alſo mehr als ein Drittel des auf 225 Milliarden bezifferten Nationalver- mögens, gebdrten, während 7% Millionen Franzoſen überhaupt nichts beſaßen. Fie die

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Nachkriegszeit nimmt der Oeputierte Charles Baron das Nationalvermögen nach dem gegenwärtigen Stande des Franes berechnet mit 800 Milliarden an, und von dieſen be- finden ſich ungefähr drei Viertel im Beſitze von einer halben Million Perſonen. Mit an- deren Worten: einem Achtel der 40 Millionen Bewohner Frankreichs gehört der größte Teil des franzöfifhen Kapitals. Die Zahl der Mil- liondre ift von 44000 auf ungefähr 100000 ge- ſtiegen, hat ſich alſo weit mehr als verdoppelt.

Dem aufreizenden Luxus einer kleinen parafitären Oberſchicht ſtehen grenzenloſe Not und Verelendung gegenüber. In der Lichtſtadt Paris beſtehen mehr als 315000 Wohnungen aus einem einzigen Raum. Von dieſen zählen 80000 zwei Bewohner, 30000 drei, mehr als 10000 vier, mehr als 3000 fünf, mehr als 10000 ſechs Bewohner, in den übri- gen haufen bis zu zehn oder noch mehr Men- ſchen in einem einzigen Gelaſſe.

Die Folgen für Volksgeſundheit und Sitt- lichkeit liegen auf der Hand. Man hat aus- gerechnet, daß alle 6 Minuten ein Franzoſe an der Tuberkuloſe ſtirbt. Gegenwärtig find in Frankreich eine Million Perſonen, alſo jeder 40. Einwohner, von ihr befallen. 150000 Perſonen ſterben jährlich an Syphilis; man findet kaum mehr eine Familie, in der dieſe nicht Fuß gefaßt hat. Die Proſtitution hat ſich unheimlich verbreitet. Nicht ohne Mitſchuld der Regierung, die aus den Freudenhäuſern hohe Steuern bezieht und ſich während des Krieges die Errichtung öffentlicher Häuſer für die Truppen hat angelegen ſein laſſen. So richtete Clemenceau einen Zirkularerlaß an alle kommandierenden Generale, in welchem er ihnen auftrug, ſich nach paſſenden Lofali- täten für Bordelle umzuſehen und die Per- ſonen namhaft zu machen, die mit ihrer Lei- tung betraut werden können. Die Bordell wirtſchaft in den beſetzten deutſchen Gebieten ift zu berüchtigt, als daß noch ein Wort über fie zu ſagen wäre.

Nach dem Kriege hat die überhandneh- mende Vergnuͤgungsſucht der Anſittlichkeit weſentlichen Vorſchub geleiſtet. Die Tanzwut hat alle Kreiſe ergriffen. Die „Dancings“ ſchie ßen wie Pilze aus dem Boden. Man t inzt

Auf der Werte

im „Grand Hötel“ zugunſten ber Errichtung eines Denkmals für die Kriegsgefallenen, ja man tanzt fogar auf dem Hartmannsweiler- kopf, wo mehr als 2000 Franzoſen und 3000 Oeutſche begraben liegen, ſo daß ſich der Platzkommandant von Mühlhauſen, Generel Tabouis, genötigt ſieht, in der Preſſe flammen den Proteſt gegen dieſen Unfug zu erheben.

Auf den Tanzdielen gedeiht das Laſter üp- pig. Die Homoſe xualitãt nimmt überhand, und zwar innerhalb beider Geſchlechter. Man ver anſtaltet öffentliche Päderaftenbälle in Me gie City und in der Großen Oper, und Herren und Damen der ſogenannten beſten Gefell- Schaft bilden die amuͤſierte Galerie. Die Fran zoſen haben kein Recht, vom „vioe allemand zu ſprechen, und Georges-Anquetil muß mit Betrübnis feſtſtellen, daß, was bisher ein Schmach für Berlin war, nunmehr ein Schande für Paris geworden ſei. Aber nicht nur für Paris. Denn auch die Fremdenlegion und die franzöfifchen Strafkolonien find Beur ſtätten der widernatürlichen Unzucht, fo de} der Deputierte Morinaud auf der Kammer

tribũne ausrufen konnte: „In dieſen Ganges

ſind die Sitten abſcheulich, und ohne mich daruber deutlicher erklären zu wollen, ſtelle ich einfach feſt, daß ſich unter 1000 Veri teilten 300 bis 400, Pärchen“ befinden 1” Üiber die ſadiſtiſchen Greuel, welche ſich das Auf ſichtsperſonal in den algeriſchen Strafkolonien zuſchulden kommen läßt, hat der Präſident der Mietervereinigung, Georges Cochon, in der Zeitung „Le Raffat* im November und Dezember 1920 auf Grund protokollariſcher Ausfagen von Sträflingen haarſträubende Einzelheiten veröffentlicht.

Ahnlich iſt das Sittengemälde, das bet Verfaſſer von den Theatern und von der %- teratur entwirft. Schon die Titel der Theater ftüde, die er anführt, find eine Revue von Schweinereien.

Maximilian Harden

aximilian Harden iſt geſtorben. Die

Zeitung vermeldete es. Allein von zehn Leſern haben doch ſicher neun gefragt: „Wie, lebte denn der noch?“

Auf der Warte

Das Erſtaunen hatte fein Recht. Denn der Mann, der da am Sonntag vor Allerſeelen einſam dahin ging, war politifch fdon lange mauſetot.

Ihm felber hätte man freilich dieſe Wirk- lichkeit ſchwerlich beigebracht. Er wog ſogar den Gedanken, von Neujahr ab feine „Zu- kunft“ wieder aufleben zu laſſen. Die Pargen- ſchere hat nun auch den Lebensfaden dieſes Planes zerſchnitten. Das iſt gut ſo, für den Serausgeber ſowohl wie für das deutſche Volk. Denn die „Zukunft“ hätte ſich als un-

wiederbringliche Vergangenheit erwiefen, und

meld ein Schmerz wäre dies geworden für Den Mann, der ſich fo ſelbſtgefällig über- ſchaͤtzte! Sie hätte aber auch neuen Haß, Zank und Stank geftiftet, wie alles, was dieſer Zerſetzer tat. Und heutzutage können wir dergleichen noch viel weniger verdauen als vor zwanzig Jahren.

Denn Maximilian Harden von Haufe Wittkowſti geheißen war äußer- wie innerlich der echte Typ jener Askenaſi⸗Raſſe, die unſer politiſches und geiſtiges Leben auf dem Wege feuilletoniſtiſchen Wurmſtiches mit fo viel Undeutſchheit durchtränkt.

Zur Stammesanlage kam die beſondere. Harden war urſpruͤnglich Schauſpieler, und das KNomsdiantiſche wurzelte tief in feiner Art. Er ſaß gleichſam immer am Schminktiſch und probierte vor dem Spiegel Masken aus für das nächſte Auftreten.

Sein Schreibſtil ſchlug die prunkenden Pfauenräder der Unnatur. Er war zuletzt fo geckiſch vertünftelt, daß man keinen feiner Zeitauffäge bis zum Schluß aushielt. Herbei- gezerrte Vergleiche ſollten weltumfaſſendes Wiſſen vortäuſchen, verrieten jedoch den Settelkaſten. Es lief auch unter, daß ſinnreiche Ausſprũche berühmter Leute über Vorfälle zitiert wurden, die leider erſt nach deren Tode ſich ereignet hatten.

Noch draſtiſcher trat der Schauſpieler zu Tage, wenn er als Schauredner durch die Gaue zog. Sein Frack war ein Kunſtwerk, und nie fehlte die große Orchidee im Rnopf- loch. Während der erſten Hälfte des Vortrags zupfte er ſeine ebenſo tadelloſen weißen Glacés aus, um fie in der zweiten ebenfo

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forgjam wieder anzuſtrupfen. Dabei zer- gliederte er mit beißender Schärfe die Fehl- griffe der deutſchen Staatsmänner und ver- ſtrömte feinen Kummer über das mißregierte Vaterland. Höhepunkt war dann allemal, wenn ſein heißer Seelenſchmerz in Traͤnen ausbrach. In jeder Stadt bei demſelben Satze und mit derſelben Inbrunſt.

Man mußte ihn reizen, feine Eitelkeit an- taſten, wenn man den echten Mann erkennen wollte. Denn erſt dann ſchrieb der geſchraubte Stiliſt plotzlich die Mutterſprache feines Empfindens, ein ſprudelndes, gaumiſches giftiges Ghettodeutſch.

Wie werde ich berühmt? Hardens ganzes Wirken baute ſich auf dieſe Umfrage. Er be- gann mit wilden Angriffen auf Paul Lindau als Mundwalt einer von dieſem verfolgten Schauſpielerin. Darauf nahm die „Frankf. Ztg.“ feine Apoſtata-Aufſätze; wohl das Beſte, was er ſchrieb. Es war ja noch, bevor er ſich ſelber kopierte.

Bismarck ging ab und befehdete den neuen Kurs. Nur wenige ſcharten ſich um das Banner des geſtürzten Kanzlers. Harden aber witterte Möglichkeiten und wurde daher ein leiden ſchaftlicher Parteigänger von Friedrichsruh. Er erzählte, Bismarck habe mit ihm jene Flaſche Steinberger Kabinett ausgetrunten, die ihm der Raifer als Verſöhnungsgabe ge- ſchickt. Andre beſtreiten's. Aber geſetzt, es ſtimmt, dann hat ſich der gute Haſſer den Partner weniger gewählt, um ihn zu ehren, als um zu zeigen, wie wertlos ihm die Gabe fel. Nicht lange darauf verſchloß er Harden ſein Haus.

Es hänge vom Rhythmus des Satzes ab, ob ler die Monarchie für die beſte Staatsform erkläre oder die Republik. Was Börne von Heine ſchrieb, auch von Harden gilt's. Seine Stellungnahmen, ſo leidenſchaftlich ſie immer waren, beruhten meiſt auf Hintergedanken, die von Geſinnung nicht allzu beeinflußt waren. Seine Politik richtete ſich daher nach dem Soll und Haben ſeiner Eitelkeit und ſchielte ſtets nach dem Publi kum.

Nur in feinen Angriffen auf den Raifer blieb er unwandelbar. Warum hatte auch dieſer einmal geſagt: „Harden? Zukunft?

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Kenne ich nicht.“ Das war das Schlimmſte, was man dem Überempfindlichen antun konnte. Wo man ihm jedoch ſchmeichelte, da war ihm jeder Frontwechſel leicht. Wie hatte er den Herrn v. Holſtein angegriffen! Allein ſobald dieſer ſich ihm näherte, wurde er ein glühender Lobredner der verhängnisvollen grauen Eminenz.

Oieſe iſt es auch, die ihn in den Eulenburg Skandal hineintrieb. Der widerliche Streit wurde mit ungeheurem Aufgebot moraliſcher

Brufttöne geführt. Und doch hatte die „Zu-

kunft“ bisher immer zu denen gehört, die den Gleichgeſchlechtlichen das Recht freien Auslebens erſtreiten wollten!

Dieſe Spekulation wurde zum Volltreffer. Sie paßte in die Zeitſtimmung hinein wie keine andere. Mit dem Pathos des vater- ländiſchen: „Hier ſtebe ich, ich kann nicht anders“, wurde auch hier gegen den Kaiſer angegangen, gleichzeitig jedoch prickelnder; weiſe in gewiſſe Widernatirlidfeiten hinein- geleuchtet, die den allermeiſten von den Zeitungsleſern bisher gottlob völlig fremd geweſen waren. Harden ſtand auf der Höhe ſeines Ruhms; ſeine „Zukunft“ hatte die größte Auflage von allen Wochenſchriften. Aber dem deutſchen Volke wurde ſeeliſch wie polltiſch der ſurchtbarſte Schaden angetan.

Sm Weltkrieg war Harden anfangs all- deutſch fo gut wie Claß oder Reventlow. Kein Rriegsziel war weit genug für feine Er- oberungsluſt. Wenigſtens, ſolange im deutſchen Volke die Auguſtſtimmung anhielt. In den ſchwuͤlen Oktobertagen kam ihm ſogar die große Geſte des Retters. Er bat beim Kaiſer um Empfang. Gewiſſenspflicht erzwinge die Bitte. Er mache den Hofbeamten, der ſie totſchweige, verantwortlich. Jede Stunde fei

Schickſal. Kühl abgelehnt, ſchmiß den verun- - glüdten Poſa die Wut nach feiner Art fofort

auf die Gegenſeite. Er wurde Republikaner und Demokrat; ja ein Pazifiſt, der mit Förſter wetteiferte, wer das deutſche Volk am [hmäh- lichſten beſchimpfen und das Verſailler Diktat am feurigſten verteidigen könne.

Bald erlebte die Welt einen neuen Streich ſeiner Schminktopfpolitik. Er gab feine Rriegsauffdge in zwei Bänden geſammelt her-

Auf der Werte

aus. Erftaunt gewahr te man da, mit welchen fabelhaften Scharfblick der Verfaſſer ven erſten Tage an das Verhängnis hatte temna ſehen, wie er Kaſſandrarufe ausgeſtoßen, fit als der getreue Eckart betätigt hatte. ud e erhielt den Strindberg - Preis.

Später ward manchen fo, als ob man d. Tiſche anders geleſen habe. Oer kritisch Hiſtoriker Friedrich Thimme verglich die * form der Artikel mit der Buchfaſſung uw: ſtellte feſt, daß der erſte Wortlaut das ſchroff Gegenteil geſagt hatte.

Seit damals iſt er tot. Seine „Zuhrit ging ein und feine Hoffnung, von der Kr lution als geſchätzter Überläufer mit eine ragenden Pöftchen belohnt zu werden, e füllte ſich auch nicht. Damals ſickerte die Ri durch die Preſſe, er fei zum deutſchen & fandten in Waſhington auserſehen. Aber jet fie war vergebens ausgeſchickt wie die as Noahtaube, die nirgends Fuß faſſen kam und müde in die Arche guriidtebrte. Die ner Männer trauten ihm ebenſowenig wie N alten über den Weg. „Wer ift“, fo (gat damals die Frankf. Ztg., „jo vermeſſen, behaupten, dies oder das oder irgendeine fei an Harden echt? Vielleicht weiß er fer nicht, wieviel Theater an ihm, dem einflize kleinen Ecaufpieler, zurückgeblieben if‘,

Dies neue Abblitzen trieb ihn natirlid z neuem ,Rebrt ſchwenkt marſch!“ Mun X ſpritzte er die Schwarz- rot-goldnen, die if fo bitter enttäufcht, mit dem ätzenden Schelte waſſer feiner Kritik und ftand fortan in ene nichts weniger als glänzenden völligen de einſamung. In den letzten feds Jahten ht die deutſche Preſſe feinen Namen kaum ned genannt.

Rechtsradi kale hieben ibm’ roh einen Lr ſchläger über den Kopf. Da er zum Sit zeugen ſich nicht geſchaffen wußte, schütten er eilig den deutſchen Staub von ſeinen Pantoffeln und ging in das ungefährücher Holland. Er ſchrieb für die gutzahlende amen kaniſche Preſſe; daher das, was man bribe gerne las. Seine Artikel wurden bei ale Diehards ſehr geſchaͤtzt als angebliche & geſtändniſſe unſerer Schuld. Die Petit amerikaner jedoch nahmen fie krumm an

Auf der Warte

ſchickten, als eine einträgliche Redereiſe durch

Dollarien geplant war, höͤchſt ungaſtliche Briefe. Sogar von Teeren und Federn war darin die Rede, wie auch von ſonſtigen unbe- grenzten Möglichkeiten im Falle einer Be- gegnung. Harden ſagte ſofort ab.

Nun iſt alſo auch er dahin. Soll man daher auf einmal Gutes von ihm reden, wie das Sprichwort will? Das wäre ein gar lenden ahmer Idealismus. Der triebkräftige hin- jegen nimmt Anlaß, zu betonen, daß jede Fiber ſeines deutſchen Fühlens ſich aufbäumt jegen Leute dieſes Schlages; daß er nur Rampf gegen fie kennt, den ſcharfen geiftigen Rampf zum Beſten des Vaterlandes. Denn eider gibt es auch nach dem Tode dieſes inen der Harden allzu viele im Bereiche wutfher Zunge und deutſcher Herzen. Und olange dieſe wuchern, bleibt die Reichsjeele led, F. H.

Die großdeutſche Theatergemein⸗ ſchaft

s iſt ein betrübendes Zeichen, daß es eine ſachliche Kritik eines Kunſtwerkes in unfe- tet geit der Parteien und Gruppenbildungen kaum mehr gibt. Nicht der künſtleriſche Maß⸗ ſtab wird an das Kunſtwerk gelegt, ja nicht einmal der weltanſchauliche großen Stils, ſondern der kle ine, enge, vom Parteidogma diktierte. Was Wunder alſo, daß die groß- deutſche The atergemeinſchaft in Berlin mit ihrer Exſtaufführung auf Dumpfheit und Widerftand traf! Moſſe und Allſtein wittern deutſche Morgenluft, die fie ja nicht recht ver fragen können; der „Vorwärts“ ſieht im Jungdo“ und im „Wehrverein“ die geiſtigen Urheber der Theatergemeinſchaft. Daß man ernften Sinnes ſich endlich einmal losmachen will vom Seſchäftstheater, um wirklich de utſche Theaterkunſt zu ſchaffen, dafür hat man auf dieſer Seite kein Verſtändnis. Die Kritik, die man dort an dem Hofer - Drama Franz Kranewitters übt, gilt ja nicht dieſem Drama, fondern vielmehr der ganzen „Rich- tung“, die einem nicht paßt. Berlin ijt partei- volitiſch vergiftet. Weil die großdeutſche Theatergemeinde mit

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ihren guten, klaren Zielen eine Zeit ſchweren Ringens vor ſich hat, bedarf fie der wohlmei- nenden Freunde, die ihr mit Offenheit die Meinung ſagen. So ſchreibt die „Oeutſche Allgemeine Zeitung“: „Ein deutſches Theater hat nur dann Daſeinsberechtigung, wenn der Begriff deutſch bei ihm zu überſetzen iſt mit anſpruchsvoll und hart in den Forderungen an ſich ſelbſt.“ Und die „Deutſche Tageszei- tung“: „Man darf der ‚Sroßdeutſchen“ nur raten, nach dieſem problematiſchen Auftakt viel ſtraffer und unerbittlich ſelbſtkritiſch zu arbeiten, dann wird ſie ihrem Ziel, deutſche Dichter in guten Aufführungen herauszu- bringen, ſchon näherkommen.“

Das Hofer -Drama Kranewitters ijt nicht frei von Konvention. Andreas Hofer iſt hier nicht der heldiſche Befreier ſeines Vaterlandes, ſondern ein problematiſcher Grübler. zn einer Zeit, in der wahrhaft Heldiſches im deutſchen Menſchen nur wenig gepflegt wird, ſollte die großdeutſche Theatergemeinſchaft ſich aus dem Problem zur Tat emporringen. Jene Worte, die Wilhelm Raabe den deutſchen Oichtern zuruft, follten mit großen Lettern auch über der großdeutſchen Bühne ſtehen: „Sagt nichts, euer Volk zu entmutigen Scheltet, ſpottet, geißelt, aber hütet euch, jene ſchwächliche Reſignation, von welcher der nächſte Schritt zur Gleichguͤltigkeit führt, zu befördern oder gar ſie hervorrufen zu wollen.“ |

Wir bitten unjere Berliner Freunde immer wieder, ſich dieſer Bewegung anzunehmen. Es iſt doch eigentlich eine Schande für die na- tionalen Berliner, daß ſie keine einzige Bühne zu halten vermögen!

Dr. Gerhard Schmidt

Politiſche Mordtaten

ls unlängſt zwei italieniſche Anarchiſten

in den Vereinigten Staaten hingerichtet werden follten, entfachten ihre Gefinnungs- genoſſen in der kommuniftiſchen und fozial- demokratiſchen Preſſe, mit ihr auch die ganze linksgerichtete demokratiſche Preſſe in den verſchiedenſten Ländern, eine erſtaunliche Ent- ruͤſtung und beeinflußten die öffentliche Mei;

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nung. Dagegen waren die Hinrichtungen in Rußland durch die leitenden Bolſchewiken in Moskau und ihre zahlreichen Helfershelfer von derſelben Preſſe kaum erwähnt und ohne Proteſt hingenommen worden.

Eine Gtatiftit dieſer Hinrichtungen auf Grund von Todesurteilen ijt in einer ortho- bogen Kirche Neuporks aufgeftellt worden und geht bis Auguſt 1927. Außer der kaifer- lichen Familie wurden hingerichtet 37 Bi- ſchöfe, 1500 Prieſter, 79000 Beamte, 16000 Profeſſoren und Studenten, 35000 Betriebs- leiter, 64000 adlige Grunbbeſitzer, 56000 Of- fiziere, 298000 Soldaten und Matroſen, 890000 Bauern und 196000 Arbeiter. Rechnet man dazu die Hunderttauſende, die ohne Ur- teil von den Genoſſen der Moskauer und durch die Tſcheka hingeſchlachtet wurden, ſo laſſen ſich die Opfer des Bolſchewismus auf über 2 Millionen veranſchlagen!

Darüber ift, wie geſagt, die ganze links- gerichtete Preſſe von den Kommuniſten bis zu den Demokraten in Oeutſchland mit kühler Kürze hinweggegangen und hat es nicht ge- wagt, die öffentliche Meinung gegen bieje Maſſenmörder ohnegleichen aufzu- bringen. |

Und foeben vernehmen wir aus Paris den Freiſpruch des Mörders Schwarzbard, der den

Ukrainer Petljura ermordet hat, weil er Po-

grome veranſtaltet habe. Manche behaupten, dieſer Mörder ſei Anarchiſt im Dienſte Mos- kaus, Pe tljura habe niemals Pogrome verur- ſacht, Schwarzbard aber wegen Einbruchs diebſtählen vorbeftraft fei als Zube von der „jüdiſchen Weltverſchwörung“ („Hammer“) freigeſprochen worden. Jedenfalls iſt der poli- tiſche Mord unter allen Umftänden auf das ſchärfſte zu verurteilen. O.

Walter Flex und ſeine Mutter

fir des jungen Dichters Werden charakte ;

riſtiſch war das frühe und bewußte Ringen nach Vollkommenheit und Selbſtverleugnung in tiefem ſittlichen Ernſt. Es wuchs heraus aus feiner lauteren Frömmigkeit. In ſolchem Werden liegen immer die Keime zu ſchweren inneren Kämpfen, zu mancherlei Fallen und

Auf der Barte

Wiederaufftehen, zu mannigfachem Verlieren und Vieder· von · vorn anfangen. Stunden bit- terer Herzensnot ließen den Ringer klagen:

„ch fühle tief, daß ich verſtoßen bin

aus allem, was ich war, und ich verzage !"

Aber aus dem Verzagen wurde bei ihm nie ein Verſagen; die Stunden, die ihn in Tiefen führten, die trugen ihn auch zu Höhen, und ſeine Bitte: „Lebensquell, o tu dich kund! fand Erfüllung über Erfüllung.

Daneben wurden ihm Zeiten geſchenkt, in denen er, wie alle ſchöͤpferiſchen Naturen, von heißer, inbriinftiger Freude ganz durchſchauert wurde. Gm „Klaus von Bismarck“ lodert es empor:

„Kennſt du die Luſt, in eigner Glut zu glühen? Das iſt die Stunde hochſten Menſchengluͤcks, wenn unſer ganzes Ich zur Fackel wird,

vor der die graue Alltags umwelt jah

in dunklem Feuer aufglüht und uns flutend ihr tiefſtes Leben zeigt, das tiefverborgne.

———— Wer ſich felbft I

je fo als Fackel in allmächt'ger Hand,

in unſichtbarer Götterfauft gefühlt,

durchſcheinend, brennend, aus ſich felber lodernd,

der kennt das tiefe Glück der reichen Welt!"

Das iſt eine der großen Lebens wirklich keiten; aber unloslich verbunden bleibt damit eben auch ein tiefes, tiefes Auskoſtenmuͤſſen von allem wilden Weh der Welt, und Walter Flex iſt nichts davon erſpart geblieben. Et war auch nicht der Menſch, der fic etwas er ſparen wollte!

In dieſen Jahren war die Mutter feine treuſte Freundin. Frau Margarete konnte ſchweigen und abwarten zur rechten Zeit; ſie wußte ganz genau, daß ihre Kinder ganz von ſelbſt den Weg zu ihr fanden ohne irgendein Drängen und Forſchen, und ſei es noch fo ver borgen und leiſe. Sie konnte aber auch liebe Worte finden, wenn ihr Walter zu ihr kam und wußte manches verworrene Gedanken- gewebe leicht und lind zu entwirren und zu löſen. Soviel gütiges Auflauſchen und Ver

; feine Wollen, das ſich da vor ihr auftat, oft noch verfhüttet unter Orang und Not, oft ſich felbft noch unbewußt! Tiefes Miterleben baute wieder und wieder goldene Brücken vom teichen Herzen der Mutter zu der rei ; fenden Seele des Sohnes. Einmal, nach einer ernsten Ausſprache, beugte ſich der junge Nenſch über die Hand feiner Mutter und küßte ſie in füller Ehrfurcht: „Ich danke dir, Mut- ta „O, Walter!“ ſagte Frau Margarete | tief bewegt, „wenn die Mütter den Söhnen nicht mehr vertrauten, was wäre die Welt noch ~ wert * Sie war eine Mutter voll Herzenstroſt und z tiefer Weisheit der Liebe; durch Reichtum und durch Wirrſal des Lebens verſtand ſie mannig- fache Wege zu weiſen und zu finden. „De pro- of fundis l“ fagte ihr Walter einmal verkämpft, aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir!“ Die Mutter erwiderte ernſt: „Mein Sohn, wollen wir es uns nicht auch einmal ſo überſetzen: : aus den Tiefen rufe ich, Herr, zu dir, aus den a, tiefften Tiefen meines Herzens, aus Tiefen, de wohl manchmal mir verfchüttet ſcheinen, die aber doch immer wartendes Land ſind far dich mein Gott! Aus dieſen Tiefen, die von dir geſegnet werden wollen, ſchreie ich zu dir; du kannſt alle Leere füllen und alle an ftillen. Sieh, Walter, in unſern dunklen Stunden wird das Ackerland frei- „gelegt, in dem Gottes Saat erſtarten kann. Benn Sein Pflug nicht tief greift, wächſt nimmer goldnes Korn!“ Me wird ein Menſch ganz ermeſſen können, was fie ihrem Sohne Walter geweſen iſt, und wie ſtark und entſcheidend ſie das Werden des Dichters beeinflußt hat. Nur das möchte ich anklingen laſſen, daß in ſeiner Kinderheimat, in der innigen Verbindung mit dieſer Mutter, die Brunnenſtube all ſeiner Kraft lag, der Mutterboden für alles, was er als Menſch und dichter war und wollte. Als ſeine tiefe Liebe und Verehrung in zarten Liedern ſang und klang, da dankte er Frau Margarete: „Doch braucht auch meine Seele zum Gelingen des Sonnenflugs, daß ſie auf ihren Schwingen den reinen Tau der Mutterliebe fühlt!“ Und in feiner Ranglertragddie be kennt er ihr

auf ber Borte ſehen war in ihr, auch ſoviel Glauben an das

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durch den Mund des ſterbenden Klaus von Bismarck in heiligem Ernſt:

„O, Mutter, Mutter, Mutter, ja, —— du verſtandſt mich immer 1" Bernita-Maria Moebis

Ein Feſttag des Buches

gibt einen „Weltſpartag“, einen „Müt- tertag“ und ähnliche wirtſchaftlich oder geiſtig wertvoll gewordene öffentliche Ein richtungen: warum nicht auch einen „Feſt⸗ tag des Buches“ oder „Buchfeſttag“? Wir machen durchaus nicht den Anſpruch darauf, die erſten zu ſein, die dieſen Einſall haben; denn er beſteht bereits in Spanien und wir unterbreiten ihn hiermit der deutſchen Öffent- lichkeit zur Nachfolge. Irgendwie muß der Entgeiſtigung unſeres Volkes vorgebeugt werden; will man nicht auch dieſen Verſuch in den Dienft des Geiſtes ſtellen? In der Weih- nachtszeit müßte dieſe Sache allgemein ein; gerichtet werden. Weihnachten mit ſeinem geiftigfeeliihen Hintergrunde der ſchenken⸗ den Liebe müßte ganz beſonders in den Dienft des guten Buches geftellt werden.

Oer kürzlich in ganz Spanien wieder veran- ſtaltete „Feſttag des Buches“ ergab dank der außerordentlich regen Beteiligung aller dffent- lichen und privaten Organiſationen und In- ſtitute erſtaunliche Erfolge. Die Veran- ſtaltungen in den Univerſitäten, wiffenfchaft- lichen Geſellſchaften, ſtaatlichen und kommu- nalen Köorperſchaften, wo jeweils den fpe- ziellen Intereſſen entſprechende Vorträge und Vorleſungen gehalten wurden, fanden einen ſtarken Zuſpruch. Die Propaganda, die ſich nicht etwa nur auf ſchöne Literatur, jon- dern in beſonderem Maße auch auf die in Spanien erſchienene wiſſenſchaftliche und Spe zialliteratur gerichtet hatte, konnte die doppelten bis dreifachen Erfolge gegenuber dem vorigen Jahre buchen. So will eine große (katalaniſche) Buchhandlung in Barcelona an dem „Feſttag des Buches“ 2000 kat alaniſche 800 kaſtilianiſche (ſpaniſche) und 500 ausländiſche Bücher verkauft haben.

Ermuntert das nicht dazu, auch in Oeutſch⸗ land den Verſuch zu wagen?

256.

Krach in die Welt!

nter dieſem ironiſchen Titel ſpringt die Berliner Zeitung „Oeutſcher Vorwärts“ dem „Tuͤrmer“ bei, indem fie ſchreibt:

„Der feine, nachdenkliche, innerliche, lite- rariſch hochſtehende, von Friedrich Llen hard ausgezeichnet geleitete, dabei durchaus un- politiſche (d. h. politiſch parteiloſe) Türm er bat ſich die Ungnade der, Vorwärts Rampen zugezogen. Wie das? Nun, es iſt kein Runft- ſtück: Der ‚Sürmer‘ hat die, Stillen im Lande‘ gelobt! Dod laſſen wir die Vorwärtsgaligier ſelber ſagen, wieſo und warum:

‚Die letzte Nummer (des ‚Zürmer‘, D. V.) beginnt mit einem Aufſatz ‚Die Stillen im Lande’ vom Herausgeber ſelbſt. Alſo die Stillen find eine ‚Edelraſſe großer Seelen“, wandelnden Flammen vergleichbar“, ein Sternhimmel, der durch Strahlung mitein- ander verbunden ijt’, Sie find die echten Chriften,, gute und große Herzen, die mit ihrer weniger ſichtbaren und doch fpürbaren Flamme an der Warme verbreitung auf dieſem Erd ball mitwirken! . Sie vertreten das Gottes- reich im Gegenſatz zum Reiche des Satans; deren. Mitglieder erhalten die entſcheidenden Antriebe tiermenſchlich von der Schlauheit (Eigennutz), jene dagegen geiſtmenſchlich von der liebenden Weisheit. Sie haben eine kos- miſche Aufgabe.

Haben die Leute aus Krakau und Krachau etwa nicht recht?

Wie? Stilleſein? Nachdem ſie ſich täglich bemühen, die laute Gemeinde der Rowdies zu vergrößern und zu vermehren? Nein, das Stilleſein führt zu nichts! Unſere Hoffnung iſt der ſchäumende Schwäßer, der feine Rede be- ginnt: „Verehrte Anweſenden!“, der von den „Ideen des Wörzen“ fafelt, wenn er die

Auf der Warte

„Ideen des Märzen‘ meint, der da ſpricht von den ‚Epochen unferer Zeiten“, der Grillen- berger mit Grillparzer verwechſelt und der da deklamiert: ‚Nein, eine Irenze hat Tyrannen macht wie ſchon Zöthe in den ‚Räubern‘ ſagt .. ., der feinen ergriffen lauſchenden Zu; börern erzählt, daß ein politiſcher Gegner wegen „verſchiedener Dialette’ (Delikte) vor- beſtraft fei, der verlangt, daß man ‚die En- tente die Fackel der Zwietracht zwiſchen die Beine ſaͤe und der mit Oonnerſtimme fordert, daß man in der Wahl dem Gegner ein Kanaan oder ein Kanu bereite (ſtatt eines Cannd) .

Die Stillen im Lande haben meiſt kein Mitgliedsbuch in der Taſche, hören nicht auf Rofenfeld und Levi —, Grund genug, daß kein Lied, kein Heldenbuch, ja, nicht einmal eine Zeitſchrift von ihnen reden ſoll !“ (Deut · ſcher Vorwärts, I. November 1927.)

Oer ,Oeutidhe Vorwärts“ pflegt den undeutſchen, dftlid orientierten „Vorwärts“ mutig am Kragen zu packen. Wir danken ihm für feine Hilfsbereitſchaft. Der „Vorwärts“ (Sozialiſten) und die „Note Fahne“ (Rommu- niſten) ſollen merken, daß es denn doch noch in Oeutſchland Menſchen der gefam- melten Kraft gibt, die im Oeutſchtum und im Chriſtentum wurzeln und dabei beides im weiteſten Sinne verſtehen: großdeutſch und Reich-Gottes-Gedanken. Zn dieſer gefam- melten Kraft reifen gerade die Mächte der Brüderlichkeit und der helfenden Liebe, die jene beiden Blätter und ihre Partei- gänger durch Maffenverfammlungen ſuchen und durch „Krach in die Welt“. Lien hards Sprache iſt freilich dichteriſch und ſymboliſch, nicht aus einer Volks verſammlung entnommen. Wie kommen denn jene Brüller im Lande auf dieſes gänzlich andere ſeeliſche Gebiet? O.

Herausgeber: Prof. D. Dr. Friedrich Lienhard i Schriftleiter: Dr. Gerhard Schmidt und Karl Auguſt Walther. Einſendungen find allgemein (ohne beſtimmten Namen) An die Schriftleitung des Türmerd, Weimar, Nari⸗Alegander⸗Allee 4, zu tichten. Far unverlangte 5 beſteht keine Haftpflicht. Für Rüdfendung iſt Poftgebühr beizulegen Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer in Stuttgart:

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Emil . Jahrg. | Januar 1928 Heft 4

So iſt das Ganze des deutſchen Idealismus ein koſtbarer Beſitz unſeres Volkes, ein Beſtitz frei⸗ lich, der als ein geiſtiger ſich nicht mühelos über⸗ tragen läßt, ſondern den es immer wieder neu zu erringen gilt. Aber wie er aus deutſchem Weſen geboren iſt, ſo kann deutſches Weſen

beſonders leicht den Weg zu ihm finden, ſich an ihm verjüngen und erhöhen.

Rudolf Eucken

Chriſtentum und Idealismus Von Friedrich Lienhard

Meinem Vetter und Freund Prof. Dr. Georg Wehrung in Halle. F. L.

Wi es einen umfaſſenden großdeutſchen Gedanken gibt, ſo können wir auch eine großchriſtliche Auffaſſung feſtſtellen, ſelten genug verbreitet, nicht durch konfeſſionelle Schranken beeinträchtigt, unmittelbare Jüngerſchaft Chriſt und wohnhaft in dem von dem Herrn gegründeten Reich Gottes.

Der Kampf zwiſchen Chriſtentum und Idealismus, der neuerdings akademiſche

Gemüter beunruhigt, gedeiht nicht in dieſer „Una sancta“, der ſchon die Kirchen- väter um Auguſtin großzügige Worte gewidmet haben. Una sancta bedeutet die eine heilige Gemeinſchaft der Chriſtusjünger oder Gotteskinder. Der Cindeutfdungs- kraft eines ſtarken Weltreiches entſpricht die Einchriſtungskraft eines fieghaften Gottesreiches. Denn in dieſen vom Chriſtus-Heliand ſchöpferiſch belebten Seelen iſt der erobernde gute Blick geübt, der alles, was er anſchaut, in Gold oder Licht verwandelt. Du weißt, lieber Vetter und Freund, daß ich mich als Chriſt und Deutfcher fühle aber auch als Zdealiſt, nicht als Illuſioniſt. Du weißt, daß ich auf dem Boden den Wirklichkeit ſtehe, deren Tragik ich nicht leugne, die ich vielmehr als zu meiſternd Aufgabe faſſe, nicht als fertigen behaglichen Beſitz und Genuß. Über meinem Haw und Leben funkelt das Sinnbild des Roſenkreuzes: den ernſten Stamm des Kreuzes (Religion) mit den Rofen der Heiterkeit oder der verklärenden Kraft der Kunſt verbindend.

Schon hier in Kreuz und Rofen (Karfreitag und Oſtern) iſt ein Spannungs- verhältnis ausgeprägt. Frommheit und Frohſinn, Würde und Anmut ſind als Polarität miteinander verbunden und ſchaffen durch dieſe Zweieinigkeit ein ge ſundes Ganzes. Als Spannungsverhältnis überhaupt erfaſſe ich die Leibgeiſtigkeit des Lebens. Erſt aus Gegenſatz und Ausgleich der Kräfte und Strahlungen ſetzt ſich die Lebensbewegung zuſammen und ſchafft jenen Rhythmus oder jene Schwin- gung, die der geiſtbelebt wirkende Menſch braucht. „Kampf iſt das Weltgeſen ſteht am Schluß meines Erſtlingswerkes. Und das iſt lebenslang meine Loſung geblieben. Wobei man freilich Kampf Spannungszuſtand nicht mit kleinem Zank und Hader verwechſeln darf.

Jeder ZIdealiſt ſteht in einem Spannungsverhältnis zu der mate rialiſtiſchen Um- welt. Denn es verlangt Kraftanſtrengung, ſich mit Willen und Vernunft von det Triebwelt und Alltagswelt zu löſen und ſich Ideale zu ſetzen. Durch dieſen Ent- ſchluß der Lostrennung von der Maſſe wird der Menſch überhaupt erſt Perſönlichkeit. Man kann auch ſagen: er wird Gottſucher. In den Reihen dieſer ernſten und edlen Menſchen find unſere beſten Bundesgenoſſen. Der Idealismus übt dieſe Menſchen in einer ihrer beſten Kräfte.

Denn es iſt im Menſchen eine Grundkraft: eine elaſtiſche Fähigkeit, die ver ſchiedenen Kräfte von einem geheimnisvollen Mittelpunkt aus ins Gleichgewicht zu bringen. Einer meiner liebſten Stabreime iſt: ſtill und ſtark (man kann auch

Licnhard: Chriftentum und Zdeallsmus 259

hinzufügen: ſtolz, nämlich feiner Würde bewußt). Damit ift die geſammelte Kraft gemeint. Das Gegenteil iſt Fettanſatz und Faulheit nebſt „Strohtod“: Tod folder Faulen, die ſich nicht Walhalls würdig gemacht haben. Solcher Mangel iſt das Kenn- zeichen des Spießbuͤrgers; er ift der natürliche Todfeind des Genies, das ganz Spannung iſt, weil eingeordnet in den großen Lebensrhythmus. Wie kommt man eigentlich dazu, den wertvollen Spannungszuſtand des Idealismus derart zu be- kämpfen? Ich halte dieſen Kampf vor dem gemeinſamen Feind Front des Materialismus für ein Verbrechen.

Fortwährend greifen Idealismus (als Lebenszuſtand betrachtet) und Chriſtentum ineinander über. Manche ermunternden Worte des Paulus könnten geradezu aus einem idealiſtiſchen Wörterbuch genommen fein. Unfere gemeinſame Weltanſchauung iſt dynamiſch, nicht mechaniſch. Mit der ſchönen Geſpanntheit gegenüber Leid und Widerſtänden verbindet ſich ein ruhiges Vertrauen (Glaube) auf die über uns waltende Gnade, deren geheime Führung wir tief verehren (Demut). Sie ermög- licht uns, bei aller Entfaltung unſeres Willens und der Vernunft (Idealismus), ein feines Lauſchen auf die Stimmen der Geiſter und Meiſter, auf das göttliche Wort (Chriftentum), iſt demnach ein Verbundenſein mit dem Göttlichen oder der geiſtigen Sonne. Bon hier erſt kommt die letzte Weihe: die Gnade von oben.

Aber nur die letzte, höchſte Weihe, nicht die erfte. Man muß ſich wie der Zdealiſt Wilhelm von Humboldt ſehr richtig an ſeine Freundin Charlotte Diede ſchreibt durch ernſtes Streben und Suchen erſt des himmliſchen Friedens würdig gezeigt haben, dann wird er geſchenkt. Natürlich ſind die Wege zur Stadt Gottes äußerſt mannigfaltig; Paulus iſt gleichſam „kataſtrophal“, d. h. durch plötzliche Erfchütte- rung überwältigt worden; andere Entwicklungen find langſam, gleichſam „nep- tunifch“ (mit Goethe zu reden), nicht vulkaniſch“.

* * x

Man follte erwarten, daß nad den Gewittern und Fiebern des Weltkrieges die Menſchheit nunmehr reif würde für dieſen Seelenzuſtand, der bereit iſt zur gött- lichen Gnade, zum Einzug Gottes und damit des hohen Seelenfriedens. Ohne keligiöſen Einfchlag iſt dieſer Zuſtand edler Gefaßtheit und ſchlichten Gottvertrauens nicht vorftellbar. Dieſer Seelenfriede iſt das recht eigentliche ewige Heimat- gefühl; denn wir find Kinder des göttlichen Kosmos, und uns durdftrablen die ver- ſchiedenſten Kräfteſchwingungen, die das Weltall durchziehen. Aber wir haben in unſerem eigenen Innern eine Fähigkeit, den uns nicht gemäßen Kräften zu wider- es und die uns entſprechenden Strahlen mit unferm kleinen Mikrokosmos zu ver-

inden.

In dieſem Sinne empfinden wir die Erſcheinung des Chriſtentums als eine reifere Stufe der Menſchheit. Das Chriſtentum wendet ſich an eine Ausleſe. Wohl heißt es (Matthäus 28): „Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker“ aber es ſind in Wahrheit nur einzelne gemeint, die dem edlen Rufe wahrhaft folgen. Die Schriften und Briefe des Neuen Teſtaments gelten nicht mehr einem Volke wie noch das Alte Teſtament, ſondern einer Ausleſe, die im Gegenſatz ſteht zu einer ringsum feindlichen Umwelt.

260 Sienbard: Chriſtentum und Zöeaflenen

Gerade in dieſem Spannungsgegenſatz gegen die Umwelt erblicken wir die Würde des Chriftentums. Im Unterſchied etwa von Nietzſche oder Dühring halten wir dieſe Ausleſe für überaus edelſtolz und ſtark. Es gehört Kraft dazu, wie ſchon geſagt, ſich von der Umwelt abzuſondern, um ſich jener ganz andern Stellung jo Welt und Kosmos einzureihen. Das Chriftentum des altdeutſchen ,Seliand* if auch das unſere. Aus tiefem Inſtinkt heraus hat jener Niederſachſe ganz richtig da: Heldentum und die Mannentreue der Wenigen angerufen, die ſich als eine Minder heit in einer Welt von Feinden zu behaupten ſuchen.

Ich nenne dieſe Wenigen im Unterſchiede von der Maſſe der Lauten auch her (wie ſchon in zwei früheren Aufſätzen) die Stillen im Lande, wobei ich mi bewußt bin, daß ich mit dieſem Ausdruck den bisherigen Gebrauch des Worle erweitere und verwandle. Sie find ſtill, weil fie nicht lärmend und gehetzt find; ſtill, weil fie ihre Kraft zuſammenhalten; ſtill, weil ſich erft in der Stille die weht Stärke entwickelt, wie ja auch die gleichfalls ſtill wachſende Pflanze triebträftig be Licht ſucht, um von ihm begnadet zu werden. So ſucht unſre Seele Gott.

Ich nenne demnach meinerſeits das Chriftentum eine Heldenreligion (Übrigen im Einklang mit Chamberlain), nachdem es von verſchiedenen Seiten als Religim der Schwächlinge oder Weichlinge verleumdet worden iſt. Das Chriſtentum 8 Kraft. Wir faſſen es als kosmiſchgroße Weltanſchauung, nicht winkelhaft dum oder muffig. Unſer Erlöſer (Loslöſer vom bloßen Erdenſtandpunkt mit aller u zulänglichkeit nebſt Schuld und Schickſal) iſt zugleich der Erweiterer unjem Blickes in das geiſtige Univerfum. Oer Tod iſt Sprengung der irdiſchen Enge, i Auferſte hung ins Große des Weltalls. Ohne dieſe Auferſte hung (da hat Paulus durd und durch recht) iſt kein Chriſtentum denkbar, ſondern nur erdgefangenes Heider und Judentum. Es iſt uns bis in Fleiſch und Blut hinein eine Selbſtverſtändlichlei, daß wir ewig leben, daß unſere Entwicklung durch Jahrtauſende geht. Chtiſen tum iſt keine ängſtliche Sklavenreligion, ſondern gerade umgekehrt Befreiung de allem Sklaventum der Erden Enge im vollen Sinne des Wortes alſo = Herrenreligion. Wir find in unſeres Vaters unendlichem Reich zu Haufe, nid als bezahlte Hausangeſtellte, ſondern als Kinder Gottes. Dies ift der gor chriſtliche Standpunkt.

Demnach erkenne ich auch keinen Gegenſatz zwiſchen Chriſtentum und Heide tum an, ſondern eine Erweiterung der früheren Religionen. Die Zu ahnten in ihrem Meſſiasideal eine höhere Stufe; die Heiden aber ahnten in irn Myſterien die künftige Erweiterung ins Kosmiſch-Große. Unter Kosmos verftek! wir, dem modernen Sprachgebrauch entſprechend, nicht jenes griechiſche Wort de Neuen Teſtaments (mit „Welt“ überſetzt), ſondern das geiſtige Aniverſum, de wahrhaft Ganze des Lebens, ungefähr was das Neue Teſtament das ewig Leben“ nennt, über dem der „Vater“ waltet, wie Chriſtus den Allwaltenden it genialer Schlichtheit bezeichnet hat.

Ebenſo laſſe ich wie geſagt keinen Gegenſatz zwiſchen Idealismus un Chriſtentum gelten. Ich bedaure, daß ſich in akademiſchen Kreiſen (Barth, Gogerter, Luͤtgert uſw. und ſchon Spemann in feiner kleinen Schrift) ein ſolcher Gegen{al herausgebildet hat. Die emportreibende Kraft des Idealismus wird in jedem ¢

Liendard: Ehriftentum und Zdealtemus 261

funden Wachstum, wenn das Problem zu Ende gedacht wird, aufgefangen und vollendet durch das Chriſtentum. Warum macht man ſich denn die Welt eng, indem man den Idealismus verleumdet, um ſich deſto mehr als Chriſt zu fühlen?

N * &

*

Ou weißt, lieber Vetter und Freund, den ich auch zu den Stillen im Lande techne, daß wir dort im Kiſſinger Bergſchlößchen über. die Theologen Barth und Gogarten uſw. mit ihrem Ausſpielen des Chriſtentums gegen den Idealismus uns lebhaft miteinander unterhalten haben. Den Ernſt und die Entſchiedenheit, die ſich in beiden Theologen kundgeben, wußten wir durchaus zu würdigen. Du faßteſt in deiner maßvollen Sachlichkeit das Weſentliche dieſes Kampfes zuſammen, gabſt mir auch einige Schriften. Ich hatte längſt von dieſem Feldzug vernommen und ſprach dir meine Bedenken aus. Als Oichter benutze ich Symbole, und bin kein Dogmatiter; ich fühlte mich irgendwie perſönlich verletzt durch dieſen ungerechten Anſturm gegen eine fo edle und großzügige Bewegung, wie es der Idealismus ift (den Paul Ernſt im „Zuſammenbruch des Idealismus“ unbegreiflich anklagt, ſtatt den Materialismus zur Rede zu ſtellen). Mir liegt näher die weitherzige Einfühlung in die verſchiedenen Arten, das mannigfaltige Leben zu betrachten und doch jeden in feiner Art in die Stadt Gottes einge hen zu laſſen, wohin viele Wege führen. dene Stellungnahme Chriſtentum gegen Idealismus ſchien mir gekünftelt und un; natürlich und eine rein akademiſche Angelegenheit. Es fielen dabei ablehnende Aus- drücke wie „forciert“ und „konſtruiert“. Ich kenne das Chriſtentum von Kind an, komme aus einer ſtreng evangeliſch-lutheriſchen Ecke und habe einige Jahre Theo- logie ſtudiert. Aber ich kenne auch den Idealismus gründlich und habe mich mit dem klaſſiſch-romantiſchen Zeitalter wohl tiefer und unbefangener beſchäftigt als jene Theologen.

Weißt du noch, ich wandte das Gleichnis eines ins Waſſer gefallenen Menſchen an, der ſich mit ftärkiter Willensentfaltung ans Ufer arbeitet und dort die Hand emporſtreckt: das iſt der Zdealiſt. „Wer immer ſtrebend ſich bemüht“ (Fault).

Am Ufer ſteht hilfsbereit ein Mann. Er ergreift die emporgeſtreckten Hände und

zieht den Todbedrohten ans Ufer: das iſt Chriftus. „Den können wir erlöſen“,

ſingen die Engel (Fauſt). In dieſen beiden Zeilen am Schluß des Soethiſchen

Gedichts ſteckt in wenig Worten der ganze Gegenſatz, den ich, wie geſagt, meiner-

ſeits nicht als Gegenſatz empfinde, ſondern als Ergänzung. Im Idealismus lebt

und treibt der Vollendungsdrang; im Chriſtentum herrſcht das Erlöfungs- bebürfnis. Jener preiſt als Grundkraft den ſtrebenden Willen, dieſes als feinere Macht die helfende Gnade. „Und hat an ihm die Liebe gar von oben teilgenommen“, heißt es weiter im Fauſt, „begegnet ihm die ſel'ge Schar“ (der

Erlöſten) „mit herzlichem Willkommen“. Nicht er ſelbſt erlöft fic, ſondern die Engel (hriſtus, die helfende Liebe von oben) erlöfen ihn. Denk auch an das andere kleine Goethiſche Gedicht, worin er den ſtark entfalteten Willen „allen Gc walten dum Trotz ſich erhalten“ uſw. ſo ſchwungvoll preiſt, und wo es dennoch am Schluß heißt: „Rufet die Arme der Götter herbei“. Alſo auch hier: nicht wir Irdiſchen erlöſen uns, ſondern uns helfen die Vollendeten. |

Du erinnerteſt mit Recht an meinen „Oberlin“, wie dort der rationaliſtiſche

26°) Lenhard: Cheiftentinn und Fbeotiame

Kandidat Hartmann in feiner Predigt im Steintal den Willen und die Vernunft preiſt und dann ſtecken bleibt. Da betritt Oberlin die Kanzel und preiſt ergänzend die helfende, erlöſende Gnade von oben als reiferen Standpunkt. Dieſe Gegenfäk verſöhnen ſich leicht, ſobald der lie bende Blick mächtig mitwirkt. Als Chriſtus mit feinen Jüngern an einem verweſenden Hund vorüberging, fagten dieſe: „Me häßlich iſt das Tier!“ Chriſtus warf nur einen Blick hinüber und ſagte: „Welch ſchöne Zähne hat der Hund!“ Kann man denn nicht mit ebenſo gutem Blick auf den Idealismus blicken?

Meine Worte, lieber Freund, wenden ſich alſo ebenſoſehr an die Zdealiſten wie

an die Chriſten. Um der Erlöfung würdig und teilhaftig zu werden, muß man zuvot gekämpft, gerungen, geſtrebt und gelitten haben (wie Parſifal). Dieſer Orang iftin | uns gelegt als Gottesfunte, der uns mit dem Lebenslichtmeer Gottes verbindet. We ſoll denn die Lücke zwiſchen Endlichem und Unendlichem anders ausgefüllt werden??

Eben dieſe Ausfüllung vermiſſe ich bei jenen Schriftgelehrten Barth und Gogarten. Das Söttliche muß doch wohl irgendwie im Menſchen Anknüpfung finden? Oder ſoll der vollſtändig fündige und nur ſündige Menſch wie ein naſſer Lappen aus dem P

Waſſer gezogen und als dumpfes Objekt ans Land geworfen werden? Herder hat

einmal gefagt: „Wie ſchwer iſt es, daß ein Theologe in das Reich Gottes eingehe“ Gott fei Dank, daß ich nur Dichter bin! So iſt es mir unverwehrt, in meine Formen und Symbolen (Gral, Roſenkreuz) vom Reich Gottes der Weisheit uw -

ber Liebe zu ſprechen; beſonders aber der Lie be. Denn Pascal hat recht, wens $:'

er in den „Gedanken“ ſchreibt: „Die Heilige Schrift iſt keine Wiſſenſchaft des Geiftes, F ſondern des Herzens. Sie iſt nur denen verſtändlich, welche das rechte Herz haben. Die Liebe iſt nicht nur Gegenſtand der Heiligen Schrift, ſondern auch die Pforte zu ihr.“ Ich vermiſſe in den Büchern jener Theologen den guten Blick und die große herzliche Liebe, die unbeſchadet aller Begriffsklarheit auch Idealiſten ohne Paß kontrolle durch ihre Pforte in die Stadt Gottes einläßt. Was war denn übrigens jener helfende Samariter: ein Chriſt oder ein Fdealift? Hat Chriftus jemals ſolche Maßſtäbe angelegt? N Man faſſe das Wort Idealismus ganz einfach nach ſeinem Wortbegriff: es kommt von Ideal und iſt das Gegenteil von Materialismus, darf aber andererſeits mit Illuſionismus oder Schwarmgeiſterei nicht verwechſelt werden, was ein Zerrbild des ſchönen, erdfeſten realkräftigen Wortes Idealismus ijt.

Aber eins aber wollen wir nicht im unklaren bleiben, lieber Freund, das brauch“ ich dir nicht erſt zu ſagen: das jetzt viel gebrauchte und mißbrauchte Wort „Natur“ hat mit dem gewaltigen Gebiet der Schickſale nichts zu tun. Die Energiewellen der Schickſalswelt gehören einer ganz andern Ordnung der Dinge an, wohin bein Naturalismus heranreicht; hier find Geiſt und Seele, dieſe find aus Gott; fie ſchaffen die eigentlich tragiſchen Verwicklungen des Menſchendaſeins. Daher kann uns eine naturaliſtiſche Lebensanſchauung ebenſowenig genügen wie der Pantheis- mus. Vielmehr ſteht die Schickſalswelt zur Natur in einer Art von Polarität, erhält von dort Impulſe und drückt ihrerſeits wiederum ihre Energien in die Natur

ein, ſteht alſo mit ihr in einem fruchtbaren Spannungszuſtand. In nr Wechſelwirkung ftedt das Myſterium des Menſchen.

Lienhatd: Epriftentum und Zdealismus n . 263

Dod wir wollen uns nicht verlaufen, mein Lieber, ſondern die praktiſchen Aus- wirkungen jenes Feldzugs gegen den Idealismus noch ein wenig ſtreifen. Wenn ich

eben fagte, daß es ſich nur um einen akade miſchen Feldzug handle, fo iſt das nicht ganz richtig. Vom akademiſchen Lehrſtuhl aus ſtrömten nämlich jene Gasgifte denn ſo wirken ſie im praktiſchen Gebrauch auf manche Kanzeln über; und von da in die halbgeiſtliche Laienwelt. Ich habe das am eigenen Leibe erfahren. Eine SGemeindeſchweſter äußerte zu einer unſerer Hausangeſtellten naſerümpfend:

„Ihre Herrſchaft mag idealiſtiſch und edel fein, aber dem Reich Gottes ſteht fie fern!“ Die Dame kennt uns weder perſönlich noch aus Büchern; aber fie hat etwas

davon gehört, daß Idealiſten „Kinder der Finſternis“ find. So nannte neulich ein .. weftdeutider Pfarrer auf der Kanzel auch den Zdealiſten Eucken (wobei er, da er gerade in Schwung war, auch den Relativiften Spengler, den Grafen Keyſerling, die Anthropoſophie uſw. als „Kinder der Finſternis“ gleich mit abtat). So wirkt ſich jener Bruderkrieg im praktiſchen Tagesgebrauche aus: er züchtet geiſtlichen Hochmut, ſtatt daß man mit gutem Blick die gewaltige Vorhofsarbeit des Fdealis-

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mus dankbar in den Wirkungsbereich des Chriſtentums mit einbezieht, ähnlich wie

Auguftin (., de civitate Dei“) großen Blickes geſchaut hat. Friedrich Niebergall ſpricht in ſeinem neueſten Buch („Im Kampf um den Geiſt“,

8 München, Bruckmann 1927) in ſchöner Dankbarkeit von den Mächten des Fdealis- mus. Und dann meint er, was ich voll unterſchreibe: „So iſt es zu verſtehen, wenn zwar nicht der Idealismus als die Vollendung des Chriſtentums, aber das Ehriften-

: tum als die Vollendung des Fdealismus aufgefaßt wird. Wer es mit dem Idealismus ganz ernſt nimmt, dem tut er den Oienſt, den überhaupt Geſetz und Philoſophie einem Menſchen tun können: er treibt ihn über ſich hinaus höher

ren Idealen und Werten zu. So wird der Idealismus zu einem Erzieher

auf Chriſtus hin. Immerhin, wo das nicht zur Vollendung kommt, wird man

ſich über einen jeden freuen, der aus dem Materialismus heraus zu ihm aufgeſtiegen

itt.“

Und Gerhard Fricke in ſeinem beachtungswerten Buch „Oer religiöſe Sinn der Klaſſik Schillers“ (München, Kaiſers Verlag 1927) kommt, obwohl dem Barthſchen Kreiſe naheſtehend, zu dem aufhorchenswerten Ergebnis (S. 384): „Eine evan-

geliſche Theologie, die ihr Ziel im Kampf gegen den Idealismus erblickt, verkennt

nicht nur dieſen, ſondern auch ihre Aufgabe in der Zeit. Denn der Weg kann allein durch den Idealismus hindurch, niemals mehr an ihm vorbei oder hinter ihn zuruͤckführen.“

Das Chriſtentum iſt ſo groß, daß es alle ſeit der welthiſtoriſchen Erſcheinung Chriſti aufgetauchten Richtungen des Geiſtes einchriſten, verarbeiten oder nach und nach abſtoßen kann. Denn ſie haben ſeit dem Einwirken der Chriſtusreligion in unſere Erdatmoſphäre eben durch das Chriſtentum ihr beſonderes Gepräge er- halten. Goethes Iphigenie iſt nicht mehr die Iphigenie des Euripides. Niemand kann heute mehr bewußt oder unbewußt an dem Myſterium von Golgatha vorübergehen, weder der ſogenannte Antichriſt noch der Fdealift.

254

Sina Roth Von Anna Böhm

* Peter Krafft liegt lang ausgcftredt am Rande feiner Wieſe. Er hat die Arme hinter dem Kopf verſchränkt und blinzelt in die heiße Helle des Sommer tages. Um ihn herum iſt ein unaufhörliches Summen und Brummen, Zirpen und Geigen. Das ſchwebt und ſchwirrt vor ſeinen Augen, marſchiert über ſeinen Leib und wird um ſo eifriger, je ſtiller er liegt. Jens Peter lacht vor ſich hin, ein breites, behagliches Lachen. Er betrachtet eine Biene, die an einer Kleeblũte hängt. Die rote Blume ſchwankt, das Tier ſummt voll Eifer. Tüchtige Dirn! ſagt Jens Peter anerkennend, und ſein Blick ſchweift über die Wieſe. Das Heu ließ ſich gut

an; brachte er's trocken ein, fo bedeutete das ein Stück Dich mehr im Stall. Er richtet

ſich halb auf. Auch das Korn ſtand, wie ſich's gehörte; volle Ahren, langes Stroh. Er greift nach einem Halm, zieht ihn zu ſich herüber und zerbeißt ein Korn. Wenn das Wetter hielt, konnten er und Friedebert morgen mit dem Mähen beginnen. Er nickt vor ſich hin. Ja, es ging aufwärts. Kam die Sommerung drüben ebenſo, fo konnte er feine Düngerſchulden bei der Genoſſenſchaft bezahlen. Und dann? Ein Blitzen ſchießt durch die blauen Augen. Dann, Tina Roth, will ich dich auf dieſen meinen Armen über die Schwelle des Wendlerhofes tragen. Du und ich. Tina Roth, wir wollen den Fluch brechen, der ſo lange darüber gelegen hat!

Fens Peter ſtreckt die Arme mit den geballten Fäuſten von ſich, feine breit: Bruſt hebt und dehnt ſich. „Tina Roth!“ fagt er, und noch einmal „Tina Roth! Eine ſcheue Zärtlichkeit ſchwingt in der Mannesſtimme. Jens Peter richtet ſich auf, hebt die Hand über die Augen und blickt die Straße entlang. Kam ſie noch nicht? Er ſieht nach der Sonne. Die Kirchzeit mußte ſchon vorüber ſein. Sie war immer eine der erſten, die heimkam, denn fie ſchwatzte nicht lang vor der Kirchentür. Der Hof des alten Roth lag ſeitab hinter dem Walde; fie hatte den weiteſten Weg ins Kirchdorf hinüber, darum eilte fie ſtets beim Heimwärtswandern. Aber heut will er fid ihr in den Weg ſtellen, heut will er fie fragen, ob es ihr nicht zu ſchlecht dint, Herrin im Wendlerhof zu ſein.

Jens Peter preßt die Hände ineinander, daß die Knöchel knacken. Ruhig, Peter! ſänftigt er ſich ſelbſt. Tina Roth iſt eine Feine, Klare, Hohe; nach der greift man nicht wie ein junger Bär. Die meiſten Burſchen im Dorfe haben eine Scheu vor ihr. Sie hat ſo merkwürdige Augen; es iſt, als würde man Glas vor ihnen. Jens Peter glaubt nicht, daß es irgend einen Menſchen im Oorfe gibt, der in dieſe Augen hinein lügen könnte. Aber fie finden auch heraus, wenn einen das Leid würgt und wie ein Alp auf der Bruſt liegt. Dann werden fie lauter Sonne und Güte. Jens Peters Geſicht verklärt ſich.

O, er hat es erfahren in jenen Jahren, als der Fluch auf dem Wendlerhof anhub, als die Mutter ihn forttat in die Stadtſchule, damit er nicht Zeuge wurde des häß⸗ lichen Zankens, das ſich unter dem Wendlerdach eingeniſtet; damit er nicht ſah, wie ſein Erbe vertan wurde von müßigen Händen.

Wenn er dann Sonntagabends zur Bahnſtation ſtapfte, verſtört und voller Ingrimm im Herzen, weil dieſer Ferientag ihm ſeines Hauſes Elend von neuem

Sohm: Tina Moth ö 265

gezeigt, dann gefellte fie ſich zu ihm. Sie lernte in der Stadt allerlei nützliche Weiber- hantierung und wohnte bei einer Pate. Nie ſahen ſie ſich dort. Nur hier auf dem Wege begegneten fie einander in ſchweigendem Einverftändnis.

Aber dieſer Weg, dieſe karge Stunde in Wind und Wetter, fie wurde dem Ge- marterten Erlöſung. Diefer leichte und doch feſte Schritt an feiner Seite bämmte den harſchen Zorn, der ihn vorwärtsriß. Wenn er, noch im Banne des Erlebten dahinſtapfte und ſein Elend hinausſchrie, wild, ſturzhaft, dann konnte es ſein, daß er halb unbewußt heftiger ausſchritt, gröblicher fluchte, nur um das Glück dieſer Sänftigung zu erfahren; nur um auf feinem drohend gereckten Arm den Griff ihrer Hand zu ſpüren, unter dem das Schäumen ſeines Blutes verebbte. Sie ſprach nicht viel, es war ihr nicht gegeben; es war ihre Seele, die in ihre Augen trat und zu ihm redete. Eine andere Luft wehte plötzlich um ihn; wo eben noch kleinlichſter Hader und Schmutz der Seelen fein unverdorbenes Gemüt mit Ekel und Verzweiflung

belaſtet, überglänzte ihn nun die Reinheit und Friſche eines lauteren Herzens. Es war wie ein Bad, in das er getaucht wurde; und wenn er in tiefſter Seele erfriſcht daraus emporſtieg, ſah er, daß die Schuttmaſſen, die ſein Leben bedrängten, nicht mehr unüberfteigbar waren. Es lag wieder Zukunft auf feinem Wege. Und während er in glückhaftem Staunen neben dem Mädchen herſchritt, ward jener Willens entſcheid in ihn geſenkt, der mit jeder Begegnung tiefer ſein Inneres erfüllte und Richtung und Ziel ſeiner Jünglingsjahre wurde: Du mußt den Fluch deines Hauſes lien! Ou mußt entſühnen. Das will Gott von dir.

Er wußte nicht einmal: was ihr Teil war an dieſem Wollen, wieviel davon datte in ihm ſelbſt geſchlummert. Aber ſie hatte es geweckt; in ihren Augen ſtand dieſe Forderung, die er ſich fortan ſtellte, fo ausſchlie ßlich ſtellte, daß fie ihn in den Jahren der Reife mit aller Wucht der Kaſteiung belaſtete. Wohl ſpuͤrte er, geſund und ſtark wie er war, die Stimmen und Lockungen ſeines Blutes; aber das, was leicht und ſüß ſchien, war ihm von Haus aus beſudelt. Er fühlte inſtinktmäßig: für ihn gab es kein Spiel der Liebe, kein Naſchen vom Baume der Erkenntnis; für ihn gab es nur alles oder nichts. Wer ſühnen will, muß rein ſein; und ſo widerſtand er den Lockungen ſeiner Schulgefährten, blieb kalt bei ihrem Hohn oder brachte mit ein paar harten Griffen die Hämiſchen zum Schweigen. Er war einſam unter ihnen, und es kamen Stunden, wo er darunter litt. Das Heroiſche ſeiner Forderung trennte ihn von der Maſſe, ſchmiedete ihn zum Manne, während ſie, wie Knaben, ſich in tauſend bunten Dingen verzettelten. Andererſeits aber dünkten fie ſich mit ihrem Wiſſen um alles Leben und Lebensgeheimnis, mit den kleinen Künſten der Verführung, die fie bald an dem, bald an jenem Mädchen erprobten, ihm weit überlegen. Jens Peter ſchwieg zu allen prahleriſchen Ergüſſen. Er trug gleichſam als Gipfel ſeines zu erſteigenden Weges, ein einziges Bild in ſeinem harten Schädel: Tina Roth hebt ihm aus der alten Wendlerwiege ſeinen Sohn entgegen. Jedesmal, wenn dies Bild vor ſeinem inneren Auge ſteht, fühlt er ſein Herz wild und heftig ſchlagen. Sein Wille ſpannt ſich wie ein wundervoller alter Bogen zu ungeahnter Kraft.

Niemals fällt ein Wort darüber zwiſchen ihm und dem Mädchen, niemals ſtreckt ſich ſeine Hand aus, ſie zu berühren. Sie ſitzen einander gegenüber in dem alten, kaum erleuchteten Abteil des Lokalbähnchens. Um fie herum lümmeln ein paar

266 2 BShin: Tina Noth

Viehhändler, Geſchäftsreiſende üben ihre Redekraft; die beiden ſprechen kaum, nur Alltägliches. Ihre Blicke begegnen ſich frei und offen. Was ſie einander zu ſagen haben, iſt geſagt; es bedarf keiner Worte zwiſchen ihnen. Am Ziel angekommen, reichen ſie einander die Hand, und jedes geht ſeiner Wege.

So rinnen die Jahre. Das Leben des Mädchens ſpinnt ſich wie ein lichter Faden weiter. Und feines? Jens Peter ſpringt auf und ſtößt den Atem von ſich. Wie die Wolken dort drüben, ſo ſind die Bilder der Vergangenheit an ihm vorübergeglitten, ſcharf umriſſen, ſchattend und doch ſonndurchleuchtet. Sie find tein Ungewitter mehr, das über feinem Haupte losbricht. Nein, auch das hat die Schärfe verloren, was et erlebte, als er von der landwirtſchaftlichen Schule zuruͤckkehrte. Er iſt kaum acht Tage daheim, da iſt eines Morgens der Vater verſchwunden, der Schrank, in dem die Mutter das Bargeld bewahrte, erbrochen.

Jens Peter ſchließt die Augen. Ein Grauen überkommt ihn nun doch, da die Er⸗ innerung das Geſchehen jener Tage zurüdtuft. Er hört wieder die kreiſchende Stimme ſeiner Mutter, lauſcht halb beſinnungslos dieſem Schwall böſer Worte und Beſchimpfungen, die die Enttäuſchte dem Entflohenen nachſchreit. Scham brennt ihm in den Wangen, Ekel ſträubt ihm das Haar; eine fremde Frau ſteht plötzlich vor ihm, tut Kleid um Kleid der Seele von ſich und enthüllt vor ihm, den Sohne, die ganze Verlogenheit, das ganze unwürdige Spiel einer Ehe, die nie eine Ehe war.

Etwas zerſpringt in ihm in dieſem Augenblick, etwas ſteht auf in ihm für den Entflohenen, den Dieb feinen Vater. Labyrinth des Schmerzes in feiner Bruft! Jens Peter legt die Hand über die Augen; das Sonnenlicht tut ihm weh. Er ſieht die Mutter auf ſich zukommen, die Arme um ihn legen, und er ſieht, wie er dieſe Arme von ſeinem Halſe löſt und ſchweigend hinausgeht. Was dann folgt, iſt ein ſtummes Nebeneinanderhinleben. Er arbeitet wie ein Pferd, den verſchuldeten Hof zu halten. Der kaum Zweiundzwanzigjährige hat eine Unbeugſamkeit des Willens, die Knecht und Magd in Zucht hält. Sie gehorchen, denn fie ſehen, er verſteht fein Werk, iſt früh der erſte, abends der letzte. Scheu umſchleicht ihn die werbende An- erkennung der Mutter. Er begegnet ihr mit Achtung; nie verleugnet er den Sohn; aber fein Herz iſt verſchloſſen, der Brunnen zuneigenden Verſtändniſſes verſchüttet. Ihr Sinn kennt nur Geld und Geldeswert.

Jens Peter lächelt vor ſich hin. Fort mit den Bleigewichten der Vergangenheit! Drei Jahre nach der Flucht des Vaters erlag die Mutter einem Fieber. Das ſterbende Antlitz verſchönt ſich, der verlöſchende Mund findet Worte des Dankes, der Erhoben heit, die ihm das Blut zum Herzen treiben. In feinen Armen ſchläft fie ein. Fhe Teſtament macht ihn zum Herrn des Wendlerhofes, der ihr Vatererbe geweſen. Er hat ſich dies Recht redlich erworben. Man achtet ihn im Dorf, wenn auch ein leiſes Mißtrauen nicht ſchwindet. Er iſt kein rechter Bauer wie die andern. Die Stadtbildung iſt ihnen verdächtig. Es kümmert ihn nicht. Er geht feinen Weg, dieſen Weg, der nun dem Ziele zuſtrebt.

Jens Peter wendet ſich jäh und blickt die Straße hinab. Im hellen Sonnenlicht ſchleift ſich eine Männergeſtalt den Weg heran, ein Landſtreicher oder Bettler, es kamen ihrer viele des Sonntags; aber dort, dort hinten, wo die Straße ſich

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2 * £ ref?

Böhm: Cina Noth 267

wendet, dort kam eine weibliche Geſtalt. Sie iſt es. Sein Auge erkennt fie am Rhythmus ihrer Schritte. Ein Zittern läuft über ihn hin. Sie haben kaum mitein- ander geſprochen in den letzten Jahren, aber jede Begegnung war Zwieſprache, jeder Blick ſchweigendes Einverſtändnis.

Jens Peter tritt auf die Straße hinaus. Die Sonne blendet ihm faſt den Blick, aber er muß ihr entgegengehen; es hält ihn nicht. Sein Schritt federt, ſein Herz ſingt wie ein Vogel in ſeiner Bruſt. Die Geſtalt des Bettlers ſchiebt ſich näher heran, er beachtet es nicht. Plötzlich ſtößt dicht vor ihm ein Stock hart auf den Boden, aus einem verwilderten Antlitz ſtarren ihn zwei brennende Augen an.

„Jens Peter, biſt du es, mein Sohn?“ krächzt eine heiſere Stimme in ſein Ohr.

Sens Peter ſteht wie vom Blitz getroffen. Er taumelt zwei Schritt zurück, alles

Blut weicht aus feinem Geſicht. Er ſtarrt auf die verkommene Geſtalt, und plötzlich

Du

lodert ein wilder Zorn in dem jungen Geſicht; feine Augen blitzen unter den buſchigen

Brauen hervor. Er tritt dicht an den Alten heran.

„Ihr, Vater?“ fagt er hart, „und fo? Der Blick des Alten flattert zu Boden.

„Was wollt ihr?“ herrſcht der Zunge. „Der Hof iſt mein; aus dem Schmutz geholt

mit dieſen meinen Händen.“ Zwei geballte Fäuſte ſind dicht und drohend vor des Alten Augen. Oer weicht erſchrocken zurück. Jens Peter gerät vollends außer ſich. Seine Seele ſtürzt aus ihrem Himmel ins Bodenloſe.

„Oho,“ ſchreit er, und ſeine Stimme klingt wie eine zerſprungene Glocke, „Ihr meint wohl, nun iſt es an der Zeit, nun können wieder Schränke erbrochen werden?! Aber hütet Euch, es find ſcharfe Augen im Wendlerhof, die auf ſolche Leute paſſen!“

„Schweig!“ donnert ihm plötzlich eine Stimme entgegen. Vor ihm aufgerichtet ſteht der Vater, den Stock herriſch erhoben. „Schweig, Burſche! Was weißt du von von mir und meiner Ehe!“ Jens Peter reißt die Augen auf, aber er weicht keinen Schritt weit.

„An ihren Früchten ſollt ihr ſie erkennen, das ſteht ja wohl in der Bibel,“ ſagt er ſpöttiſch, „ſo weiſt mir doch auf dem Wendlerhof die Spur von Eurem Tun!“

In dem Blick des Alten blitzt es auf; ein Zucken wie Freude läuft über fein Ge- ſicht. „Ou biſt mein Blut“, ſagt er leiſe. Der Junge fährt auf. „Euer Blut! Nie und nimmer! Ihr Dieb, Ihr!“

Wie ein Peitſchenhieb fällt das Wort auf den Alten. Oer fährt hoch; beide ſehen nicht den Schatten, der zwiſchen ſie fällt. Hinrich Krafft ſchwingt den Stock über den Sohn, aber der Schlag fällt nicht; eine Hand greift nach dem Stock und ſchiebt ihn zur Seite. Tina Roth ſteht zwiſchen Vater und Sohn.

Tina Roth! Zens Peter taumelt zwei Schritt zurück. Tinas Blick ſchweift von einem zum andern. Ein leiſes Erſchrecken ſteht in ihren Augen: wie ſeltſam verwandt die beiden Geſichter! Da ſinkt des Alten Körper in einem wilden Huftenanfall zuſammen. Was eben noch trotzig und kühn aufzuckte, in dieſem Antlitz, erſchlafft verſchattet in mutloſe Verkommenheit. Aber wie einen Brand ſpürt Tina Roth Jens Peters Augen auf ihrem Geſicht. Da lodert Wut, Qual und Trotz ihr entgegen. Ihr Herz zieht ſich ſchmerzhaft zuſammen. f

„Jens Peter,“ ſagt ſie leiſe, und ihre Hand liegt auf ſeinem Arm, „dein Vater iſt krank.“

8 Söhm: Tne Ri}

Er fieht fie an. Wieder dieſer Blick, der ihr ins Herz ſchneidet. Sie ſpannt all ihte Kraft, um Troſt in ihre Augen zu bringen. Die wilden Blicke ſagen: Ou fagft das, du! Weißt du denn, was dieſer Mann für uns bedeutet? Ein Schimmer von Lächeln fliegt um Tina Roths Mund. Ja, ich weiß es, ſagen ihre Augen; ich weiß es und dennoch —. Das Lächeln vertieft ſich und wirbt, und plotzlich ſtreckt Tina Roth dem Alten die Hand hin, der halb lüſtern, halb ſtaunend der ſtummen wie ſprache lauſcht.

„Kommt,“ ſagt Tina Roth, und ihr Arm greift ſtützend den ſeinen, „kommt, wit bringen Euch heim.“

Wunder, das ſich begibt! Gemeinſam ſchreiten die drei Menſchen ihre Straße hin. Rechts der Alte, in der Mitte das Mädchen, zur Linken Fens Peter, ftumm,

verbiffen, halb ſinnlos. Die Stimme des Mädchens ſchwingt in einem ſeltſan

hellen Tone zwiſchen ihnen hin. Es iſt, als ſpräche das warme Blut des Herzens mit hinein. Sie fragt den Alten allerlei Belangloſes, erzählt kleine Begebenheiten des Dorfes, immer mit dieſer ſeltſam ſchwingenden Stimme. Immer lauſcht ihre Seele, ob des Stapfen zu ihrer Linken ſich nicht ſänftigen will. Und ihr Mund plaudert weiter, Worte, die allerlei Kleider tragen und doch nur das eine ſagen: Sei ſtill, Jens Peter, ſei ſtill, es iſt nichts verloren!

So kommen ſie zum Wendlerhof. Tina Roth bleibt ſtehen. „Nun legt Euch nieder! ſagt ſie zu dem Alten. „Ich will einmal nach Euch ſehen.“

Der Alte gurgelt einen Pant, aber fie hört es nicht. Ihr Blick ſucht ernſt und bittend Jens Peters Augen. Die weichen aus; nur ein müdes Neigen des Kopfes antwortet ihr.

„Leb wohl, Jens Peter!“ fagt fie leiſe. „Leb wohl!“ Es klingt wie ein Schrei.

Jochen, der Pferdejunge, ſteht neugierig in der Tur.

„Schaff den Vater in die Kammer!“ herrſcht Fens Peter ihn an, und ftapft den beiden nach. Sie ſchreiten ſchwerfällig die Stiege hinauf; der Junge zieht den Alten. Zens Peter ſtiert ihnen nach, dann reißt er eine Tür zur Linken auf und läßt ſie krachend hinter ſich ins Schloß ſchnappen. Sein Körper fällt ſchwer auf die Bank nieder, und plötzlich wirft er beide Arme auf den Tiſch, fein Kopf bricht vot, und ein wildes Schluchzen jchüttelt feinen Leib.

Aber auf dem ſchmalen Wege, der vom Wendlerhof zum Haufe ihres Vater führt, ſteht regungslos Tina Roth. Ihr Blick iſt rüdwärts gewandt; fie preßt die Hände zuſammen, und ein angſtvolles Fragen iſt in ihren Augen.

Wie ein Menſch die Luft, die in einem Haufe weht, zu wandeln vermag! Wo if der Atem von Arbeitskraft und Aufſtiegsfreude geblieben, der den Wendlerhof durch zog? Schwer und ſtickig laſtet ein Druck auf allen, die unter feinem Dache wohnen. Noch hat Hinrich Krafft keinen Schritt im Hof getan. Oroben in feiner Kammel liegt er, und das Fieber zehrt an feinem ausgemergelten Körper. Mürriſch erjcheint ab und an Lena, die alte Magd, ſchiebt ihm das Kiſſen zurecht und flößt ihm einen Trank ein.

And Zens Peter? Seine Seele iſt verwandelt. Er, der mit hellem Scherz und feſtem Blick feine Leute regierte, wechſelt zwiſchen wilden Zornausbrüchen und

ae nn eine

Bohm: Tina Roth 269

ſtumpfem Gleichmut; Jochen, der Pferdejunge, verkriecht ſich, wo er kann. Die roten Flecke auf feinen Wangen, die eine harte Hand plötzlich darauf zeichnet, brennen fo unangenehm. Friedebert, der Knecht, ſchüttelt manches liebe Mal den ſtrubbeligen Kopf, aber er tut feine Arbeit wie ſonſt. Ja, oft ſchafft er an, was fein Herr ver- jaumte. Fährt dann Jens Peter hitzig auf ihn los, fo gucken ihn die grauen Augen ſeines Knechtes fo feft und ruhig an, daß er ſich mürriſch davon macht. Friede berts Augen aber folgen dem Verwandelten mit mitleidiger Achtung, und ſeine Fauſt reckt ſich zum Fenſter des alten Krafft. Liegt der Junge heulend im Stall und will aufbegehren, legt ſich ihm die große, ſchwielige Hand Friedeberts ſchwer vor den Mund

„Schweig ftill, Flauſenmacher!“ jagt er, „haft deine guten Tage gehabt und viel zu gute. Steck die böſen in den Sack und warte ab!“ Abends, wenn Friedebert neben der alten Lena auf der Hausbank ſitzt und feine Pfeife raucht, ſtarrt er oft ſchwer⸗ mutig vor ſich hin.

„Man muß ihm Zeit laſſen,“ murmelt er zwiſchen den Zähnen, „es iſt eine harte Nuß, die ihm der Alte zu knacken gibt.“ Und die alte Lena nickt, und die Nadeln, die den derben Strumpf ſtricken, klappern vernehmlich durch die Maſchen.

Jens Peter weiß von dieſen Geſprächen nichts. Er will nicht fühlen, wieviel gute alte Mannentreue da den Schild vor ihn hält. Er vergräbt ſich immer mehr in ſeine finſtern Gedanken. Mit keinem Schritt hat er die Kammer des Vaters betreten. Rubelos läuft er vom Haus ins Feld, vom Feld ins Haus. Nachts wälzt er ſich ſchlaflos auf der harten Bettſtatt. Geſpannt liegt er da und ſtöhnt unter der Wucht eines unſichtbaren Kampfes. Ihm iſt es, als kämen aus allen Ecken und Enden ſeines gauſes die Geiſter der Vergangenheit, und er muß mit ihnen ringen und weiß, daß alles Ringen umſonſt iſt. Alles umſonſt, was er in mühevollen Fahren geſchaffen. Trug das Bild heller Zukunft in ſeiner Seele! Der alte Fluch ſteht auf, die Kette klirrt an feinem Fuße, es gibt kein Entrinnen.

Mitten in der Nacht ſpringt er auf, wirft haſtig die Kleider über und ftürmt hinaus, pfadlos, ziellos. Aber immer findet er ſich zuletzt, wie er mit heißen Augen von einem Hügel hinunter auf den Rothof ftarrt. Dann kommt es vor, daß er fic ins Gras wirft und feine Hände ganze Büſchel der unſchuldigen Pflanzen aus dem Boden reißen. Im Oorf läßt er ſich nicht ſehen. Muß er hinunter, fo ijt fein Geſicht finſter und verſchloſſen. Niemand wagt ſich an ihn. Jens Peter fühlt die fragenden Blicke, hört gleichſam, was hinter ſeinem Rücken gemutmaßt wird. Es macht ihn trotzig und wild. Immer glaubt er eine hämiſche Freude in den Augen der andern zu ſehen. Dann geht er in den Krug. Geſchäftig füllt ihm der Wirt immer wieder das Glas, bis er ſchließlich mit ſchweren Gliedern ins Freie taumelt. Eine wilde Luſt, ſich zu zerſtören, iſt in ihm.

Und heut macht er ſich ſchon am Vormittag auf den Weg. Friedebert kann die Arbeit tun, und wenn ſie nicht getan wurde, auch gut. Es ging ja doch bergab. Er ſteht in der Stube und ſchiebt nachläſſig einen Zwanzigmarkſchein in feine Börfe; von oben dringt das heiſere Huſten des Vaters. Jens Peter lacht grimmig vor ſich din. Wie er die Tür öffnen will, prallt er zurück, alle Farbe weicht aus ſeinem

Geſicht. Vor ihm in der Tür ſteht Tina Roth!

2710 Bozen: Tine Red

„Guten Tag, Jens Peter“, fagt fie und zieht die Tür hinter ſich zu. Fens Peter ſchweigt und ſtarrt ſie an wie einen Spuk. Ihr ſteigt es heiß in die Augen, wie ſie ſein abgemagertes Geſicht ſieht. Aber er hat ſich gefaßt.

„Was willſt du?“ herrſcht er fie an, „eine wie du gehört nicht in ein Räuberneſt.“ „gens Peter!“ ruft fie erſchrocken.

Der Ton ihrer Stimme greift an fein Herz. Er wendet ſich ab.

| „Geh ſagt er dumpf, „ich bitte dich, geh!“

Sie tritt ganz dicht zu ihm heran und legt die Hand auf feinen Arm. „Die alte Lene erzählt, daß es ſchlimm mit deinem Vater ſteht. Du mußt den Ookor holen laſſen, Jens Peter.“ Er zuckt nur mit der Schulter. Sie ſpricht weiter: „Ich will hinaufgehen und nach ihm ſehen. Du weißt, ich verſtehe mich darauf!“

Mit zwei Schritten iſt er an ihr vorbei und verſperrt ihr die Tür. |

„Du ſollſt nicht zu ihm gehen! Ou nicht!“ ſchreit er. Sie ſieht ihn an, fragend, erbarmend. Da weicht er zur Seite und ſinkt auf die Bank.

„Geh!“ ſtöhnt er und verbirgt das Geſicht in den Händen.

Aber ſie geht noch nicht. Tränen laufen ihr übers Geſicht. Einen Augenblick kämpft ſie mit ſich; aber dann geht ſie zu ihm.

„Jens Peter,“ fagt fie ein wenig mühſam, „du handelſt ſchlecht an mir. Ich habe immer gedacht, du würdeſt kommen und mich fragen, ob ich deine Frau werden wollte, und ich habe gewartet viele Tage lang, aber du kommſt nicht.“

Er fährt auf und ſtarrt fie an. Jab ſteigt ihr das Blut bis unter die braunen Haare. Sie muß ſich auf den Stuhl ſetzen, der am Tiſche ftebt.

Jens Peter ſpringt auf und pflanzt ſich vor fie hin. Der ganze Menſch zittert.

„Soll ich zum Schuft werden an dir?“ ſchreit er. Die Stimme ſchwankt. „Weißt du, was du für mich geweſen biſt, Tina, all die Jahre? Wofür hab' ich denn ge arbeitet! Mein ganzes Leben lang hab' ich davon geträumt, daß du da ſitzeſt am Tiſch als Herrin vom Wendlerhof.“ Ein Zucken läuft über fein Geſicht.

„Und wenn ich mich nicht fürchte, Jens Peter! Wenn ich dir nun helfen will? Was kann uns denn geſchehen?“ „Es geht ja nicht“, ſtöhnt er.

„So,“ ſagt fie, „da willſt du alfo, daß ich im Rothof ſitze, bis ich alt bin und Runzeln bekomme und meines Bruders Magd bin mein Leben lang. Da werden ſie in der Kirche mit Fingern auf mich zeigen und ſagen: Ja, Tina Roth, ſo geht's einer, die denkt, der beſte wäre gerade gut genug für ſie. Den Jens Peter hat ſie heiraten wollen, aber er hat ſie ſitzen laſſen; Gott weiß, warum!“

„Tina!“ ſchreit Jens Peter, und plötzlich liegt fein Kopf in ihrem Schoß, ein Schluchzen ſchüttelt ihn. Leiſe fährt ihre Hand über ſein Haar. Aber ſchon ſpringt er empor, reißt die Tür auf und feine Stimme ſchmettert wie eine Fanfare über den Hof: „Jochen, ſpann den Fuchs ein, ich fahre zum Doktor!“

Als er ſich umwendet, ift Tina Roth aufgeſtanden. Sekundenlang treffen ſich ihre Blicke wie zwei helle Blitze. Ein fragendes Lächeln fliegt um Tinas Mund. Da ſtüͤrzt Jens Peter vor, packt ſie mit beiden Armen und ſchwingt ſie hoch in die Luft. Sie lacht über das ganze Geſicht und fährt ihm mit beiden Händen in das blonde Haat, bis Mund an Mund fic findet und in heißem Kuſſe den Bund befiegelt.

(Schluß folgt)

271 Unveröffentlichte Briefe Ernſt Moritz Arndts Herausgegeben von Prof. Dr. E. E. Becker

Wir haben ſchon im Oktober 1926 aus bemſelben Beſitz Briefe des Freiherrn vom Stein veröffentlicht. D. T.

is Graf Chriſtian Friedrich von Solms-Laubach zu Frankfurt unter Steins Leitung in der Verwaltung der befreiten deutſchen Gebiete arbeitete, lernte er auch Steins Begleiter, Ernſt Moritz Arndt, kennen. Diefer arbeitete damals „in feiner Weiſe mit der Feder und durch eine freiefte Preſſe“. In ſeinen „Wanderungen und Wandelungen mit dem Freiherrn vom Stein“ ſpricht er von dem „edlen, vortrefflichen Grafen Solms-Laubach“, mit dem er viel zu verkehren hatte. Er kam auch in das Haus des Grafen und trat deſſen Gemahlin und den Kindern nahe. Als dann der Graf zur Leitung der Rheinprovinz berufen wurde, traf er wieder auf Arndt, der vom Frühjahr 1815 an ein Zahr in Köln feinen Wohnſitz genommen hatte. Der Ton, in dem Arndt an den Grafen ſchrieb, unterſcheidet ſich zwar von der vertrauten Art, in

der Stein mit dieſem zu verkehren pflegte; doch ſchreibt er voll Vertrauen, zugleich aber auch mit Würde und Selbſtachtung.

A. Die gefundene gandſchrift

1. Die erften Briefe, die Arndt an den Grafen ſchrieb, handeln vor allem von einer Hand- ſchrift, die Profeſſor Dumbeck gefunden hatte und der deutſchen Wiſſenſchaft ſichern wollte. Durch die Aufhebung der Mlöfter waren die zahlreichen wertvollen Handſchriften der Kloſter⸗ büchereien aus deren ſicherer Hut gekommen. Es war ein glidlider Zufall, wenn fie einem kundigen Sammler in die Hände fielen. Oft kamen fie aber an Beſitzer, die entweder ihren Wert nicht zu ſchätzen wußten, oder die nur möglichſt hohen Gewinn daraus ziehen wollten und die toſtbaren Stucke ins zahlungskräftige Ausland verſchacherten.

Profeſſor Dumbeck hatte bei einem Domänenpächter eine Handſchrift des „Wigalois“ des Wirnt von Gravenberd gefunden. Es iſt die heute als „Kölner Handſchrift“ bekannte und von der germaniſtiſchen Wiſſenſchaft hochgeſchätzte Handſchrift. Dumbeck erkannte die Bedeutung des Fundes er überfchäßte fie ſogar anfangs und ſuchte ihn zu ſichern. Aber er fand bei dem Domänenpächter wenig Gegenliebe. Er weihte Arndt in feine Sorgen ein, und dieſer erkannte als den beſten Weg zu dem erſtrebten Ziel, den Oberpräfidenten anzugehen und deſſen Ne und perfönliches Anſehen für die Sache einzuſetzen.

Hochgebohrner Herr Graf, Gnädiger Herr.

Ich wende mich wegen eines ſehr wichtigen litterariſchen Fundes ohne weitere lange Einleitung an Euer Excellenz, überzeugt, daß Sie eine Sache, die unſre Sprache und Oichtkunſt ſo hoch intereſſiert, befördern werden. Es kommt auf nichts weniger an, als auf den König Artus, eines der berühmteſten altteutſchen Helden gedichte, welches ganz verſchollen war. Profeſſor Dumbeck allhier, ein in der alten Litteratur ſehr wackerer Mann, hat es aufgefunden und wünſcht es abzuſchreiben und herauszugeben, was ganz Teutſchland erfreuen würde. Er kann aber dazu nicht kommen, weil der Beſitzer, Domäneneinnehmer Lieblein in Bergheim, auf das Manufteipt ſehr eiferfüchtig iſt. Wir wenden uns alſo wegen einer fo wichtigen Sache an Euer Excellenz. Wenn Sie dem Manne nur ein Wort ſchreiben laſſen in Ihrem Namen, ſo wird er es Ihnen gewiß nicht weigern, und ſo könnte dieſer verſchollene Schatz durch den Oruck der ganzen teutſchen Nation zu Ehren publici Juris gemacht

272 | Unveröffentlichte Briefe Ernſt Moris Mavs

werden, und das Manuſkript gegen eine gebührliche Vergütung, die man dem Manne bewilligte, einer öffentlichen Bibliothek einverleibt werden. Die Speciem facti lege ich bei, fo wie die Abſchrift eines Briefes, wie Dumbeck meint, daß er nach Liebleins Karakter an ihn geſchrieben werden müßte. Ich weiß, daß dieſe langen Worte Euer Excellenz nicht ermüden, da ich ja auch weiß, wie hoch Sie unfere Kunſt und Geſchichte ehren. Sollten Euer Excellenz auf dieſem Wege in den Beſitz der Handſchrift kommen, fo würden Sie dieſelbe wohl einige Wochen dem Profeffor Dumbeck mittheilen, damit er daraus für den Druck feine Abſchrift nehmen könnte.

Noch nehme ich mir die Erlaubnis, Euer Excellenz vor einem ſehr bößen Menſchen zu warnen, über welchen ich höre, daß er hierlandes wieder Anſtellung ſucht. Dies ift der ehemalige Buchhändler und General-Prokurator Keil, der 1813 mit den Fran- zoſen gegangen und ſeitdem in Paris geweſen iſt, ein energiſch bößer Menſch, Haupt der geheimen Polizei und Freund Foudés, ein Schrecken aller Guten. Solche Nat - tern müßten billig jetzt ihre Köpfe nicht wieder emporheben dürfen.

Ihrer Gemalin und Kindern bitte ich mich unterthänigſt zu empfehlen und bin mit tiefſter Verehrung | | Euer Excellenz Köln, den An. Okt. 1815. unterthäniger E M Arndt.

2. Die folgenden beiden Brieflein zeigen Arndt als den zerſtreuten Profeſſor, wenn er aut die Schuld an dem Verſehen auf feinen Diener ablädt. Der Graf iſt auf die Anregung wegs der Handſchrift eingegangen und erkundigt ſich nach der Summe, die wohl zu ihrer Erwerbum aufgebracht werden müßte, Zugleich zeigt ſich eine gewiſſe Vertraulichkeit zwiſchen den beides Männern, indem Arndt dem Grafen zur Erlangung von Karten, die er zu feiner dienſtlichen Tätigkeit brauchte, behilflich war.

Erlauchter Herr Graf. ö

Hiebei kommt ein Päckel, worin 6 Karten vom Mofel- in Damen von jeglichem drei. Das Wälderdepartement ijt nicht aufzutreiben. Wahrſcheinlich werden Sie in der Zägerſchen Karten-Handlung in Frankfurt oder in der Brönnerſchen dafür Aushülfe finden. Das Stüd habe ich mit 4 Francs bezahlt und ich werde mir nach Ihrer Anweiſung die 24 Francs von Herrn Carows auszahlen laſſen.

Das Manuſkript läßt ſich ſchwer ſchätzen. Der Mann kann aber, meine ich, pr frieden ſeyn, wenn er 100 Louis d' or erhält; er hätte es wohl für weniger verkauft.

Ich empfehle mich Euer Erlaucht nn und bin mit tiefer Verehrung

Ihr Köln, den 21. Nov. 15. | gehorſamſter EM Arndt.

Erlauchter Herr Graf. Wahrſcheinlich haben Sie ſchon einen Brief erhalten ohne das dabei gehörige Pädel, welches die Dummheit meines Bedienten verkehrt auf die Poſt gegeben hat. Hiebei folgen Ihrem Befehl gemäß vom Saar- und Mofeldepartement Karten, von jedem 3; vom Wälderdepartement habe ich keine auftreiben können. Ich hoffe, in der Jägerſchen oder Brönnerſchen Kartenhandlung in Frankfurt werden Sie dafür Hülfe finden.

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Unveröffentlichte Briefe Ernſt Moritz Arndte 23

Sch denke, 100 Louis d'or iſt eine angemeſſene Entſchädigung für das Manufkript, da der Beſitzer es ſonſt wohl etwas wohlfeiler gegeben hätte. Es würde allerdings eine öffentliche Bibliothek zieren.

Sh empfehle mich Euer Erlaucht wohlwollender ee und bin mit tiefer

Verehrung Ihr Köln, den 21. Nov. 15. 9 gehorſamſter E M Arndt.

3. Die Handſchrift iſt gerettet, zwar, wie aus dem weiteren Briefwechſel hervorgeht, noch nicht erworben. Aber der Oberpräfident hat fie immerhin in Händen. Die Wiſſenſchaft kann fie nutzen.

Zwei andere Fragen befhäftigen außerdem den großen Oeutſchen: wo ſoll die Hauptſtadt der neuen Provinz fein, wohin kommt die neue Univerfität? Die Gebiete, die heute die Rhein; proving bilden, wurden zu Anfang zu zwei Provinzen ausgeſtaltet. Die ſüdliche Provinz, an deren Spitze der Graf ſtand, follte als Hauptſtadt Röln oder Coblenz erhalten. Gerade damals ſcheint eine Entſcheidung für Coblenz gefallen zu fein. Arndt fühlt ſich gedrungen, ernſtlich davon abzuraten und für Köln einzutreten, was denn auch ſchließlich gewählt wurde.

Dagegen iſt er ein entſchiedener Gegner der Univerſität Köln; die Gründe, die er in dem Briefe an den Grafen anführt, find ihm fonft nicht die eigentlich entſcheidenden. Zn einer von Sybel veröffentlichten Oenkſchrift macht er vor allem die Gefahr der Klerikaliſierung der neuen gochſchule geltend, was den Grafen Solms, der aus äußeren Gründen für Köln ſtimmte, zu der witzigen Bemerkung veranlaßte, „der Umitand, daß ein Ort ſich dunkel zeige, könne doch leinen Grund geben, dort ein Licht nicht anzuzünden !“

Erlauchter Herr Graf!

Hiebei mit dem gehorſamſten Danke das Manuſkript zurück. Profeſſor Dumbeck hiefelbft, der es eigentlich entdeckt hat, wird zu feiner Zeit etwas über den König Artus ſchreiben.

Man ift hier untröſtlich, und, ich muß es geſtehen, auch ich bin es, daß Köln nicht Hauptſitz der Regierung wird, und daß Sie, Herr Graf, nicht hieher kommen. Wie wohlthätig hätte ſich von hier aus wirken laſſen! Es iſt ein Misgriff der Regierung, dieſe Veränderung, und Sie, Herr Graf, würden ſich um das ganze Land verdient machen, wenn Sie es wieder zurecht ſetzen könnten.

Dak aber nach Köln die Univerſität gelegt wird, dafür kann ich nach meinem Ge⸗ fühl und meiner Anſicht des teutſchen akademiſchen Lebens nicht ſtimmen. Gelebr- ſamkeit kann hier wohl gedeihen, Freude und Freiheit für die Jugend, worauf das meiſte ankömmt, ſchwerlich. Köln iſt zu theuer, iſt eine Feſtung, wird immer viele reiche Leute und viele Officiere haben; die Natur iſt nicht ſchön, auf 3 Stunden Weite kaum ein Baum da wird die fröhliche Jugend nicht aufkommen können, ſie wird unterdrückt werden; und daß die Geiſter hier gelüftet werden, thut vor allen Noth. Von der nächſten Generation muß aber die Verjüngung ausgehen. Sonſt ift Köln eine der bravften und treueſten teutſchen Städte am Rhein.

Gott erhalte Sie, Herr Graf, und lenke alles beſſer, als die Menſchen, . es auch das Wichtigſte mit unbegreiflichem Leichtſinn verwalten.

. Mit tiefer Verehrung | | Ihr | Köln, den 25. Nov. 1815. | gehorſamſter EM Arndt. 18

Der Laermer XXX, 4

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Unveröffentlichte Belefe Ernſt Moris Arndts : 273

$c denke, 100 Louis d'or ift eine angemeſſene Entſchädigung für das Manuftript, da der Beſitzer es ſonſt wohl etwas wohlfeiler gegeben hatte. Es würde allerdings eine öffentliche Bibliothek zieren.

Sh empfehle mich Euer Erlaucht wohlwollender ee und bin mit tiefer Verehrung

Ihr Köln, den 21. Nov. 15. | gehorſamſter EM Arndt.

& Die Handſchrift ift gerettet, zwar, wie aus dem weiteren Briefwechſel hervorgeht, noch nicht etworben. Aber der Oberpräfident hat fie immerhin in Händen. Die Wiſſenſchaft kann ſie nutzen. Z3oei andere Fragen beſchäftigen außerdem den großen Oeutſchen: wo ſoll die Hauptſtadt der neuen Provinz fein, wohin kommt die neue Univerſität? Die Gebiete, die heute die Rhein-

proving bilden, wurden zu Anfang zu zwei Provinzen ausgeſtaltet. Die ſuͤdliche Provinz, an deren Spitze der Graf ſtand, follte als Hauptſtadt Röln oder Coblenz erhalten. Gerade damals ſcheint eine Entſcheidung für Coblenz gefallen zu fein. Arndt fühlt ſich gedrungen, ernſtlich davon abzuraten und für Koln einzutreten, was denn auch ſchließlich gewählt wurde. | "Dagegen iſt er ein entſchiedener Gegner der Univerſität Köln; die Gründe, die er in dem Briefe an den Grafen anführt, ſind ihm ſonſt nicht die eigentlich entſcheidenden. In einer von Sybel veröffentlichten Dentfchrift macht er vor allem die Gefahr der Rlerikalifierung der neuen Hodfdule geltend, was den Grafen Solms, der aus äußeren Gründen für Röln ſtimmte, zu der witzigen Bemerkung veranlaßte, „der Umſtand, daß ein Ort ſich dunkel zeige, könne doch keinen Grund geben, dort ein Licht nicht anzuzünden!“

Erlauchter Herr Graf!

hiebei mit dem gehorſamſten Danke das Manufkript zurück. Profeſſor Dumbeck dieſelbſt, der es eigentlich entdeckt hat, wird zu feiner Zeit etwas über den König Attus ſchreiben.

Man iſt hier untröſtlich, und, ich muß es geſtehen, auch ich bin es, daß Köln nicht Hauptſitz der Regierung wird, und daß Sie, Herr Graf, nicht hieher kommen. Wie wohlthätig hätte ſich von hier aus wirken laſſen! Es iſt ein Misgriff der Regierung, dieſe Veränderung, und Sie, Herr Graf, würden ſich um das ganze Land verdient machen, wenn Sie es wieder zurecht ſetzen könnten.

Daß aber nach Köln die Univerſität gelegt wird, dafür kann ich nach meinem Ge- fühl und meiner Anſicht des teutſchen akademiſchen Lebens nicht ſtimmen. Gelebr- ſamkeit kann hier wohl gedeihen, Freude und Freiheit für die Jugend, worauf das meiſte ankömmt, ſchwerlich. Köln iſt zu theuer, iſt eine Feſtung, wird immer viele reiche Leute und viele Officiere haben; die Natur iſt nicht ſchön, auf 3 Stunden Weite kaum ein Baum da wird die fröhliche Jugend nicht aufkommen können, ſie wird unterdrückt werden; und daß die Geiſter hier gelüftet werden, thut vor allen Noth. Von der nächſten Generation muß aber die Verjüngung ausgehen. Sonſt ift Köln eine der bravften und treueſten teutſchen Städte am Rhein.

Gott erhalte Sie, Herr Graf, und lenke alles beſſer, als die Menſchen, Ben jes auch das Wichtigſte mit unbegreiflichem Leichtſinn verwalten.

Mit tiefer Verehrung

f . Ihr Köln, den 25. Nov. 1815. oz gehorſamſter EM Arndt. der Türmer XXX, 4 18

26 Anveröffentlichte Brleſe Ernſt Meeks Benda

And nun empfehle ich mich Ihnen und empfehle Sie und Ihre Arbeiten und Ihre Geliebten dem höchſten Schutze Gottes, mit tiefſter Verehrung verharrend

a Euer Exlaucht Stralſund, den 15. Dec. 1816. gehorſamſter E M Arndt.

7. Die Eröffnung der Univerſität zog ſich hinaus. Erft am 18. Oktober unterzeichnete Rönis Friedrich Wilhelm die Gründungsurkunde. Arndt war Profeſſor der neueren Geſchichte. De Graf als erſter Kurator der Univerſität hatte von Arndt die Einſendung feines Vorleſungs verzeichniſſes gewünfcht. Man könnte geneigt fein, in dieſem Wunſch bereits einen Vorboten der fpäteren Exeigniſſe zu ſehen, wenn nicht der weitere Ton des Schreibens zeigte, daß da: alte vertrauliche Verhältnis noch beſtand. Einen Mann, der als Vorgeſetzter peinliche Unter ſuchungen anſtellt, bittet man nicht um eine Stelle für einen Freund. Welchen Erfolg dies Schreiben gehabt hat, ift freilich unbekannt.

Erlauchter Herr Reichsgraf, Gnädiger Graf und Herr.

Euer Erlaucht Befehl gemäß erfolgt hiebei das Verzeichniß meiner Vorleſungen für den nächſten Winter. Da niemand beſſer als Sie im Stande iſt zu beurtheilen, ‘wie wenig die Überſchriften bedeuten und wie viel auf die Methode antömmt, fe, hoffe ich, werden Sie meiner Verſicherung glauben, daß ich meine Vorleſungen ſe einrichten werde, daß der Geiſt des Zuſammenhanges aller mit einander in jede Stunde ſichtbar fey und daß die leichte Überſicht und klare Darſtellung der met würdigſten Epochen und Karaktere immer gleichſam die großen Säulen hinfteller zwiſchen welchen der Bau der einzelnen kleineren Theile ſich einreihen läßt.

Bei dieſer Gelegenheit wird mir nicht allein das Glück, Euer Erlaucht für fo viele und wiederholte Beweiſe Ihrer Gewogenheit recht innig zu danken, ſondern Sie um ein neues Zeichen derſelben zu bitten. Dieſes Zeichen nemlich wünſche ich in Ihrer Theilnahme an dem Schickſal eines Jünglings zu ſehen, den ich Ihrer Gnade würdig achte und der, wie er mir gefagt, ſich ſchon ſelbſt an Sie gewandt hat. Es iſt dies der hieſige Turnmeiſter Baumeiſter, welcher akademiſcher Fecht-, Turn- und Schwimmmeiſter zu werden wünfcht. Ich halte ihn hinſichtlich feiner Kenntniſſe und braven Geſinnung und vorzuͤglich wegen der Freundlichkeit und Sanftmüthigkeit ſeines Karakters ganz dazu geeignet; denn bei den Gladiatoren iſt am meiſten dahin zu ſehen, daß fie nicht innerlich auch rohe und frevliſche Gladiatorengemüther fernen. Jch komme eben von unſerm würdigen Herrn und Ritter vom Stein, bei welchem ich 5 Tage in Kappenberg gelebt, und den ich ſehr friſch und unter ſeinen Bauern und Bäumen ſehr glidlid gefunden habe.

Um die Beförderung der Einlage bitte ich gehorſamſt und verharre mit tiefet Verehrung

N Euer Erlaudt

-. Bonn, den 8n. Sept. 1818. gehorſamſter E M Arndt. He C. Trübe Zeiten |

8. Im Winter 1817/18 hatte Arndt den vierten Zeil feines Werks „Geift der Zeit geſchtieben, im Herbſt 1818 tam die Schrift heraus. Sie erregte großes Aufſehen. Arndt hatte feiner tiefen

Enttäufhung über die Zuftände in Oeutſchland Ausdruck gegeben. Er ſah, wie die einzelnen „jouveränen“ Staaten über der aͤngſtlichen Wahrung ihrer Unabhaͤngigkeit vergaßen, daß es ein

Unverdffentligte Briefe Ernft Moris Arnbts:: 271

Deutſchland gab. In bitteren Worten der Empörung blickte er zuruck auf die Begeiſterung, die zur Befreiung des Vaterlands geführt hatte. Er mahnte Deutſchlands Söhne,, die unſichtbare Idee von Volk, Freiheit, Vaterland und Oeutſchland“ in ſich zu nähren und zu erhalten.

Im Herbſt 1817 verſammelte fic auf der Wartburg die ſtudentiſche Jugend zu glühendem Gelöbnis an das Oeutſche Vaterland, zu ſcharfer Abſage an alle, die Deutſchlands Einigung im Wege ſtanden. Man brachte Arndts „Geiſt der Zeit“ mit den Ereigniffen vom Wartburgfeft in Zuſammenhang. Vielleicht hat auch Graf Laubach von ſolcher Verbindung geſprochen, als er eine Unterredung mit Arndt hatte. Arndt ſchickte ihm daher fein Büchlein zu. Würde voll lehnt er in ſeinem Begleitſchreiben die Verdächtigungen ſeiner Gegner ab.

Schon klingt in ſeinem Brief ein leiſes Ahnen von dem en das ihm ſeine meer: bereiten würden. Doch er iſt ſich ſeines Weges ſtolz bewußt.

S. T.

Im Gefühl der treueften und innigſten Dankbarkeit überſende ich Euer Erlaubt hiebei das Büchlein, wovon ich ſprach. Daraus mögte vielleicht zu fühlen ſeyn, wie aus mancher meiner Schriften, welcher Freiheit und welches Gottes Gläubiger und Vertheidiger ich eigentlich bin. Doch die Höchſten leſen gewöhnlich nur, was Freunde oder Feinde ihnen mit rother Tinte unterſtrichen vorlegen. Und daß ich manche tüchtige Feinde haben muß, ift wohl das allernatürlichſte.

Wie auch mein kleines Schickſal indeſſen in der Welt ſey, ich glaube und hoffe auf Einen Allerhöchſten, der jedem endlich ſicher aus dem Gedränge hilft. Im ſchläfrigen oder auch nur im anmuthigen Frieden zu leben iſt aber in dieſem u le alter wenigen vergönnt. Ä

mit tiefer Verehrung | | Euer Erlaucht Bonn, den 2n. Nov. 1818. gehorſamſter E M Arndt.

9. Arndt hatte in feinem Schreiben nicht umſonſt düftere Ahnungen ausgesprochen. Sein Seiſt der Zeit“ war dem Könige vorgelegt worden; wie er vermutete, von böswilliger Hand,

die einzelne Stellen beſonders vermerkt hatte. So richtete der Rönig am 11. Januar 1819 eine

Kabinettsorder an den Rultusminifter von Altenſtein, in der er recht harte Worte über Arndt gebrauchte und ihn beauftragte, feine Meinung dem Gemaßregelten mitzuteilen. Wohl hat er

in Erinnerung an Arndts Verdienſte um die Volkserhebung von 1813 einige freundliche Be- merkungen für ihn übrig, aber der Ton des ganzen iſt hart und verletzend.

König Friedrich Wilhelm an Freih. von A DEIN

(Abſchrift.) E Der Profeffor Arndt ift unter die Zahl der in Bonn angeſtellten Profeſſoren ö aufgenommen worden, weil man feine Talente anerkannte und das Vertrauen zu: ihm hegte, er würde dem wichtigen Beruf eines Lehrers der Zugend ſowohl im Lehren, als in ſeinem Betragen und ſeinen Schriften genügen. Er hat dieſe, ihm von dem Staats-Kanzler ausdrücklich zu erkennen gegebene Erwartung in dem vierten Theil feines Geiſtes der Zeit nicht erfüllt. Zch will nicht glauben, daß er: tadelhafte Abſichten dabei gehabt habe; aber das Buch enthält wenigſtens ganz unſchickliche und unnütze Dinge, die befonders einem Lehrer der Jugend übel an-: ſtehen und nachtheilig auf dieſe wirken können. Ich bin nicht gemeint, eine freie Diescuſſion zu beſchränken, trage Ihnen aber auf, ihn zu warnen, künftig vorſichtiger

278 unwerd ffentlichte Briefe Ernſt Mocks Wut

zu fein, da Ich auf den Preußiſchen Univerſitäten keine Lehrer dulden kann, die dergleichen Grundſätze aufſtellen, als in ſeinem Buche enthalten ſind, und er bei det erſten ähnlichen Veranlaſſung unfehlbar von ſeiner Stelle entfernt werden würde. Uebrigens mache Ich Ihnen zur Pflicht forgfältig darüber zu wachen, daß ähnliche Aeußerungen künftig, abſeiten auf Preußiſchen Univerſitäten angeſtellter Lehrer, nicht weiter Statt finden und mir diejenigen ſogleich nahmhaft zu machen, die fid dergleichen erlauben.

Berlin, den 11ten Januar 1819.

gez.: Friedrich Wilhelm. An den Staats Miniſter Freiherrn von Altenſtein.

10. Altenſtein beeilte ſich, die königliche Willensmeinung an Arndt zu bringen. Er wählte dabei | - den Weg über den Kurator der Univerfität, den Oberpräfidenten Grafen Laubach. Zugleich! trägt er ibm auf, den anderen Profeſſoren eine ſcharfe Mahnung zu geben, damit ahnliche Vor j - kommniſſe vermieden werden.

Miniſter von Altenſtein an Graf zu Solms-Laubach: Arſchrift. Praeſ. d. 28. / 1. 19. Des Königs Majeſtät haben durch den vom Profeſſor Arndt in Bonn neulich herausgegebenen vierten Band des Geiſtes der Zeit Allerhöchſt Sich bewogen ge funden, unterm lIiten d. M. die abſchriftlich anliegende Cabincts-Ordre an mid zu erlaſſen. Ew. Hochgeboren trage ich auf, den Inhalt derſelben dem Profeſſot

Arndt vollſtändig bekannt zu machen und ihn ernſtlich zu warnen, nicht ferner!

Anlaß zu Aller höchſtem Misfallen zu geben, ſondern durch wuͤrdevolle Erfüllung feines Berufs, durch wahrhaft gelehrte und ſtreng wiſſenſchaftliche Beihäftigung | und durch ſolche, angemeſſenen mündlichen und ſchriftlichen Vortrag dem ber |. ſeiner Anſtellung in ihm geſetzten Vertrauen in jedem Betracht zu entſprechen.

Zugleich fordre ich Ew. Hochgeboren auf, allen in Bonn angeſtellten Profeſſoren zu eröffnen, daß des Königs Maje ſtät durch eine neulich erſchienene politiſche Schriſt eines öffentlichen Lehrers in Ihren Staaten Allerhöchſt bewogen worden zu ver- fügen, daß Sie nicht gemeynt ſeyn, freye Discuſſion zu beſchränken, aber keinen Lehrer auf den preußiſchen Univerſitäten dulden können, der ſolche Grundſätze auf- ſtellen und ſolche unſchickliche und unnüße Dinge vortragen würde, wie dieſe Schrift enthalte, die beſonders einem Lehrer der Jugend übel anſte hen und auf dieſe nod theilig wirken: auch daß Se. Majeſtät es mir zur Pflicht gemacht haben, forgfältig darüber zu wachen, daß ſolche Aeußerungen künftig abſeiten auf Preußiſchen Uni- verſitäten angeſtellter Lehrer nicht weiter Statt finden und Aller höchſt Ihnen die jenigen ſogleich namhaft zu machen, die ſich dergleichen erlauben.

Der Abſicht Sr. Majeftat werden die Profeſſoren, wie ihnen zu eröffnen iſt, am ſicherſten nachkommen, wenn fie die Würde ihres Berufs und des ihnen anver trauten Lehramts dadurch behaupten, daß fie den nichtigen Schriftſtellern des Tages ſich nicht gleich ſtellen, ſondern durch ſtreng gelehrte Forſchungen und wiſſenſchaft⸗ lichen mündlichen und ſchriftlichen Vortrag tie fe Einſicht und ernſte Geſinnung der thun und verbreiten, die Wiſſenſchaft wahrhaft fördern und ihre Zuhörer in grin’ liches Studium der Philoſophie, der Geſchichte, des Rechts und aller die Poilti!

Unveröffentiichte Briefe Ernft Moritz Cirndts 279

begründenden Wiſſenſchaften führen, dadurch aber durch Lehre und Beiſpiel zu Männern bilden, die, entfernt von der aus ſeichtem Wiſſen entſtehenden Anmaßung, als gereifte Rathgeber an der Verwaltung des Staats Antheil zu erlangen ver- dienen, die Entwicklungen ihrer Zeit zu erkennen und in die Leitung derſelben weiſe einzugreifen vermögen. So werden die preußiſchen Univerfitdten in der That hohe Schulen und ein Segen für das Vaterland ſeyn und fo auch ihre, nach der Willens meynung Sr. Majeſtät des Königs ihnen obliegende Beſtimmung mit Auszeichnung erfüllen. Die Perſönlichkeit der dortigen Herren Profeſſoren, ihr Werth als Gelehrte und als Lehrer der Jugend und ihre ernſt wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen, in beyder Bezie hung, verbürgen mir, daß fie dieſe Anſicht vollkommen theilen und das Aus- ſprechen des Königlichen Willens, welches ſie gegen Störung und Abwege Einzelner ſchůtzt, als einen neuen Beweis des hohen Werths betrachten werden, welcher auf die Univerfitäten im Staate geſetzt wird, und wie ſehr es Ernſt iſt, die Förderung der Wiſſenſchaft auf ſolchen in möglichſter Reinheit und Höhe zu ſichern. Berlin, den löten Januar 1819.

(gez.) Altenſtein. An des Königlichen Ober Präſidenten Miniſterium der Geiſtlichen Herrn Grafen zu Solms Laubach Unterrichts- und Medicinal Hodgeboren Angelegenheiten.

in Cölln.

11. Es war keine angenehme Aufgabe, die Graf Laubach erhalten hatte. Er war Arndt von Herzen geneigt; er kannte anderſeits deſſen empfindliche und leicht gereizte Art. Er ſandte an ihn einen Brief, den Arndt ſelbſt 1847 in ſeiner Schrift „Nothgedrungener Bericht aus ſeinem Leden“ veröffentlicht hat. Bei unſerem Briefwechſel befindet ſich der Entwurf zu dieſem Schreiben. Er zeigt, mit welchem Feingefühl der Graf die Worte abwog, um Arndt nicht zu ſehr zu verletzten, wie er ihm die „Naſe“ fo nannte Arndt feinen Freunden gegenüber die königliche Willensmeinung freundlich einzuwickeln ſuchte.

Graf Laubach ſchrieb den Brief, wie er an den Rand ſchrieb, eigenhändig ab und ließ ihn am 31. Januar abgehen. Am Tag darauf erließ er an den Rektor und Profeſſor Hullmann zu Bonn ein weiteres Schreiben, in dem er die weſentlichen Stüde der Verfügung Altenſteins dem Hoch; ſchultor per mitteilte. | Arndt war durch dle königliche Ungnade tief getroffen. Er ſchrieb einen Brief an Altenftein, der vielleicht das reizvollſte Stück der Sammlung iſt. Er vermutete wie Altenſtein ſpaͤter ſchre bt, mit Unrecht —, daß hinter feiner Maßregelung fein alter unverföhnlicher Gegner, der Polizeidirektor von Ramps, und der Demagogenriecher Profeſſor Schmalz in Berlin ftünden, Mit Kamptz hatte er ſchon 1806/07 einen heftigen Rampf geführt. Nun ſchrleb er ſich in einem Brief an den Minifter feinen Groll von der Seele.

Oer Minifter kam durch dieſen Brief in rechte Verlegenheit. Mit dem ſtarken Angriff gegen einen namentlich genannten Beamten konnte er ihn nicht wohl zu den Akten legen. Anderſeits brauchte er eine Antwort des Profeffors dafür, zumal eine ſolche, die „Ungemeſſenheiten und Unſchialichteiten in einzelnen Worten“ zugab. So erſah er wieder den Grafen als Mittelsmann und bat ihn, mit Arndt zu verhandeln, daß er ihm einen Brief ſende, den der Minifter zu den Akten legen könne. Oer Graf entledigte fic dieſes Auftrags mündlich und behielt den als un- drauchdar verworfenen Brief Arndts an den Minifter für ſich. Arndt aber ſchried den Brier von neuem und fdidte ihn durch die Vermittlung des Grafen an Altenſtein. Die gereinigte Ausgabe

280 Unveröffentlichte Briefe Ernft Meets Aren

veröffentlichte er ebenfalls in feinem „Nothgedrungenen Bericht“. Es ift anziehend, beide ja vergleichen. Übrigens ſcheint die Erinnerung daran bei Arndt verblaßt geweſen zu fein, als er dieſes Buch ſchrieb. Er wußte nichts mehr von dem zurüdgewiejenen Brief, ſondern meinte, Graf Laubach habe ihn veranlaßt, auf den an ihn geſandten Brief (Nr. 14) dieſe Antwort an den Miniſter zu verfaffen.

Arndt an Freiherrn von Altenſtein:

Hochgeneigter und Hochgebietender Herr Staatsminiſter! Hochwohlgeborner Freiherr und Herr!

Durch unſern hochverehrten Herrn Curator habe ich die mir zugedachte Weiſung, Verweiſung und Hinweiſung empfangen. Ruhig und ergeben habe ich ſie bie genommen, weil fie von dem Könige kömmt, und weil ich mir bewußt bin, daß id fie in dem Grade nicht verdient habe. Ungemeſſenheiten und Unſchicklichkeiten in einzelnen Worten und Ausdrücken will ich gern bekennen; von den Grundſätzen, die das Buch enthält, nur einen abzuleugnen, wäre der erſte ſchlechte Grundſatz, den ich bekennen würde. Dieſe Grundſätze haben mich nun fünfzehn Jahre durch ein ſehr hartes und verhängnißvolles Leben getroſt hindurch geführt und werden mich wohl aufrecht halten bis zum Übergange in ein hoffentlich weicheres Leben.

Über ſich ſelbſt ſprechen iſt ein widerliches Ding, aber die Gelegenheit preßt es mir diesmal ab. Euer Excellenz Geduld muß ich wenigſtens zumuthen ein Kurzes anzuhören, was ganz hieher gehört.

Es ſind jetzt 16 Jahre, da ſchrieb ich ein kleines Buch über die Leibeigenſchaft in Pommern, Rügen und Mecklenburg. Einige Edelleute auf Rügen verklagten mich bei dem Könige Guſtav Adolf, der eben in Stralſund war, wegen ſogenannter ungebührlicher Urtheile über verſchiedene ſchwediſche Herrſcher. Sie trugen an, mich einzukerkern; der gereizte König ſchien Ahnliches zu befehlen; aber als er das Buch ſelbſt geleſen, wandte ſich das Blatt: er wart mir hold, und die Leibeigenſchaft ward aufgehoben vermöge Nachfragen und Unterſuchungen, die das Buch veranlaßte. Seit jener Zeit nun habe ich meinen Satansengel immer richtig zur Seite gehabt, er iſt nie von mir gewichen als ein Aufwecker und Ankläger: meinen Satansengel, der mich nicht ehrlich mit Fäuſten ſchlägt, ſondern mit Luchsklauen von hinten in meinen Nacken fährt, ein Vetter jener, die mich damals um Amt und Ehre zu bringen hofften. Warum ſoll ich ihn nicht nennen? Er iſt aus dem Lande der ärgiten Knechtſchaft, aus Mecklenburg-Strelitz und heißt von Kampz. An ihm hat es nicht gelegen und liegt es nicht, daß ich nicht bloß als Schriftſteller, ſondern auch als Menſch aller Welt ſchlecht und verworfen erſcheinen ſoll. Er iſt auch jetzt der Aus leger und Ausklauber meiner Worte geweſen.

Welchen Weg mein Schickſal nehmen kann, das weiß ich nicht. Neckereien und Plackereien ermũden den Friſcheſten; wenn aber wirkliches Unglück kömmt, dann hoffe ich zu beweiſen, daß ich der Liebe und Achtung vieler wackeren und würdigen Männer nicht unwürdig war.

Mit tiefer Ehrerbietung Euer Excellenz

gehorſamſter E M Arndt. Bonn, den 5. Februar 1819, 5 (Schuß tels)

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Amerikaniſierung Europas

E. ift ein geradezu erbaͤrmliches Schauſpiel, Europa zwiſchen Bolſchewismus und Amerita- nismus taumeln zu ſehen. Wann werden wir uns ſtolz und ſelbſtbewußt auf unſere d eutſche Schoͤpferkraft beſinnen und uns dieſem drohenden Chaos bewußt entgegenſtemmen? Ein neueſter Schriftſteller, Adolf Halfeld, geht in einem bei Eugen Oiederichs, Zena, erfdienenen Suche Ameri ta und der Ameri tanismus* dieſem Blendwerk nach. Einige Auszüge daraus dürften wertvoll fein. Es mehrt ſich die Zahl der Leute bei uns, die in Preſſe, Reifebüchern und Bildzeitſchriften Amerika als das Vorbild Euro pas in allem hinzuſtellen belieben. Aber von Ameritanifierung zu ſprechen, iſt nicht jeder berufen. Man muß ameri kaniſches Leben in allen feinen Faſern wirklich lennen, muß Jabre dort verbracht haben, um zu wiſſen, was die Ameritanifierung eines Europa bedeuten würde, das bislang wenigſtens nicht feine Überlieferung zu verleugnen brauchte, um die moderne Welt erſchaffen zu können. Sollte über dem ſichtbaren Erfolge Amerikas jene größere und weniger meßbare Leiftung

Europas vergeſſen werden, welches auf der winzigen weſtlichen Landzunge des aſlaliſchen | Sontinentes zuſammengedrängt durch vier Jahrhunderte dem ganzen Erdball den Stempel

ſeines Weſens aufdrüdte und auch heute noch lange nicht feinen univerfalen geiſtigen Einfluß

verloren hat? Vieles in dem Gerede von Ameritanifierung iſt zweifellos Spiel mit Worten und Modehaſcherei. Aber wenn man ſich ſchon damit abgibt, dann verfäume man nicht, ſich dieſe | Frage vorzulegen: Git das, was heute vor fid geht, etwa Ameritanifierung der Welt? Oder drüdt ſich darin nicht vielmehr die Europälfierung derjenigen Teile aus, die bislang nur halb oder uberhaupt nicht von den europãiſchen Gedanken und Lebensformen erreicht wurden? Gerade dies iſt es, was uns die geiſtigen Rämpfe des literariſchen Zungamerika zu fagen ſcheinen.

der Weltkrieg hat uns ſeeliſch aus dem Gleichgewicht gebracht. Die pſychologiſche Einwirkung der Tatſache, daß Amerika das Zünglein an der Wage war in einem Ringen, das keines der beiden europdifden Lager als das ſtaͤrkere ſah dieſer Umſtand, der Amerikas Einfluß zeitweilig ins Ungemeſſene ſteigern mußte, ift nicht von heute zu morgen vergeſſen. Aber beſonders deshalb benötigen wir eine Reinigung unſerer phantaſtiſchen Vorſtellungen von Amerika. Wir mifjen uns klar werden, welches die geiftigen und ſeeliſchen Kräfte find, die den ſogenannten Ameri kanismus bewegen. Ein bißchen Smart- gelten- wollen, Jazzopern, Feuilletons über ameri kaniſche Rinopaldfte und Girliſierung unferes Geſchmacks fördern weder Verſtandnis zwi; {hen den beiden Landern, noch bedeuten fie mehr als Nachäffung gewiſſer Rindbeitsfünden in der Neuen Welt. Es find Märchen über Amerika im Umlauf, die jeden Amerikaner beluſtigen würden, der fie fähe. Die Erzeugniſſe Hollywoods, deren Maſſenin vaſion man hilflos zuläßt, und vor allem gewiſſe Teile unſeres Schrifttums ſelber machen für alles Ameritanifde im Riefen- ausmaße unbezahlte Neklame, die fo prächtige Pionierarbeit für Außen handel und Kultur- expanſion Amerikas leiftet, daß man zu fragen verſucht iſt, ob die in Betracht kommenden Leute ſich allen Ernſtes zum Ziele geſetzt haben, die Totengräber ihrer eigenen Welt zu fein,

Es iſt nicht ſchwierig zu erkennen, daß gewiffe Ameri kaniſierungs-Erſcheinungen, die man beute uberall beobachten kann, weder auf den großen politifchen und wirtſchaftlichen Einfluß Ameritas, noch auf einen imaginären amerikaniſchen Zeitgeiſt zurückzuführen find. Sie find in allererfter Linie eine Folge des Umftands, daß Amerika mit neunzig Prozent der Weltfilmproduktion das geſamte Filmgeſchäft und damit das gewaltigſte Propagandamittel, das die Welt geſehen bat, kontrolllert. Oer Handel folgt nicht mehr der Flagge, ſondern dem Film, fo pflegen es

Amerikas leitende Wirtſchaftsmänner auszudrücken. Und wir können hinzufügen: Nicht nur det Handel, ſondern auch die Sitten und Gewohnheiten. Die Fronie aber iſt dabei, daß die Well fir die Reklame, die der Film für Amerika macht, jährlich noch ſiebzig Millionen Dollar baren Rem gewinn aus Filmexporten in die amerikaniſche Zahlungsbilanz einſchießt.

So haben wir alle Veranlaſſung, das uns Weſensfremde an Amerika herauszuſtellen, zu vergleichen und Schlüffe für unfere eigene Zukunft zu ziehen. Und Amerika ift uns, fo parades es auch klingen mag, heute vielleicht fremder als andere Teile der Welt, weil es der wirtſchaft lichen Anlehnung fo wenig bedarf. Drei Fabre, die der Verfaſſer in dauernder beruflicher Berüh rung mit Politikern, Wirtſchaftsmännern, Literaten, Rünftlern und Journaliſten des Landes zu gebracht hat, haben ihn davon überzeugt, daß das Verſtändnis zwiſchen der ameri kaniſchen und europdiſchen Welt gerade unter den Ereigniffen der Nachkriegszeit außerordentlich gelitten hal

Wie der Ourchſchnittsfranzoſe urteilt, Amerika hätte das ſinkende Schiff verlaſſen, als de Senat der Vereinigten Staaten den Friedensvertrag ablehnte, fo wird der Durchſchnittsamer ; kaner kaum jemals müde, zu betonen, der Weltkrieg ſei eine ſolche Lehre für fein Land geweſen, daß er ſich niemals wieder in europäiſche Händel einlaſſen werde. Aber noch lebt auch Europe trotz feiner Untergangspropheten. Und keiner weiß es beſſer als der Oeutſche, der das Leben zwiſchen Atlantik und Pazifik Jahre hindurch beobachten konnte: wieviel gerade Amerika uns noch zu feinem Vorteil abſehen kann und auch abzuſehen gewillt iſt. Europäifch denken heiß auch ſtolz und gerecht denken. Das vergeſſen viele von denen, die in arger Verkennung de amerikaniſchen Pſychologie den Intereſſen ihrer Heimat zu dienen glauben, wenn fie bei den Amerikanern Mitgefühl für europäifches Mißgeſchick wecken wollen oder Bewunderung für ame rikaniſche Quantitatsretorde erheucheln. Der Amerikaner will die Wahrheit hören und ift feiner lei Gefühlen zugänglich, wenn er Geſchaft und Politik betreibt.

Sicherlich gibt es heute eine amerikaniſche Geiftestrife, fo wie es deren in früheren Zeiten gegeben hat. Sicherlich ſteht Europa inmitten des Ringens neuer Zeitgewalten, ſelbſt auf dem beiten Wege, feine Rultureinheit politiſch und wirtſchaftlich zu vertiefen, wertungs bedürftig im Zwieſpalt neu ſich erſchließender Gedankenwelten. Deshalb mag uns der Amerikaner verzeihen, wenn wir nicht ſo urteilen, als ob wir Amerikaner wären. Wir haben andere Aufg aben.

Der alles umſchließende Bau des Mittelalters brach mit ſeinen letzten Reſten zuſammen und hinterließ ein Trümmerfeld von Werten, die ihre Geltung verloren hatten. Aus ihm erwuchs jene romantiſche Geiſteshaltung in Europa, die an den eigenen Daſeinsformen zu zweifeln ge lernt hat, um fie an den als wertvoller erkannten oder verkannten Schöpfungen fremder Zeiten und Völker zu meſſen. Was man in ganz Amerika vergebens ſuchen würde ein Bewußtſein von den Grenzen aller ſozialen und politiſchen Vollkommenheit das beſitzt der ſkeptiſche Eur päer im Übermaß. Der Amerikaner wird die geſamte übrige Welt, aber niemals ſich felber der Kritik unterwerfen, und das iſt einer der Gründe, weshalb die amerikaniſche Geſchichte bis auf den heutigen Tag in ſtetig aufſteigender Linie verlaufen iſt, ohne jemals durch Revolutionen unterbrochen zu werden. Denn auch der Bürgerkrieg war lediglich eine Auseinanderſetzung im eigenen Lager, die den wirtſchaftlichen Dualismus zwiſchen Norden und Suden zugunſten det Vankees entſchied.

Der europäifche Menſch hat indeſſen niemals in dieſer Grenzenloſigkeit den Mut aufgebracht, an ſich ſelbſt und feine Welt zu glauben, mag ihm dieſe nun fein Volk oder wie in unſeren Tagen feinen Kontinent bedeuten. Hieß er Montesquieu, fo predigte er Englands demo tratiſche Staatsgrundlagen als das überlegene Endziel franzöſiſcher Entwicklung. Der Humanis- mus fand in der An ti ke fein Ideal. Die große Revolution ſuchte das alte Rom in einem geit punkt zu erneuern, wo deutſcher Sturm und Drang ſich an den Idealen der Rouffeaubewegung emporwuchs. Immer hat Europas Rulturwelt zwiſchen Sehnſucht und Revolution geſchwantt, immer hat ſie ſich im Bewußtſein eigener Fortſchrittsbedürftigkeit zu außenliegenden Vor bildern geflüchtet..

Rede und Rultus 285

Man weiß noch immer herzlich wenig von Amerika. So iſt auch Amerikanismus gunddjt nichts als eine Bezeichnung für die undeutlichen und von naiver Bewunderung zeugenden Dorftel- lungen, die der Durchſchnittseuropaͤer heute von Amerika beſitzt eine Legende, der, wie geſagt, Film und Zeitung den Weg bereiteten. Begeiſterte Nationalökonomen preiſen den Fordismus als das Zdeal aller wirtſchaftlichen Neugeſtaltung, ohne gleichzeitig hervorzuheben, daß For- dis mus auf allen Gebieten der amerikaniſchen Kultur die gefunden Inſtinkte einer jungen Raſſe zu geiſtiger Stumpfheit verurteilte und die Lebensdugerungen von Millionen und aber Mil- lionen Menſchen in eine Naſernenexiſtenz hineindrillte.

Aber mehr als alles andere faſziniert Amerikas Gold die Maſſen des Erdballs, Eine Mil- liarde Dollar wurde jährlich ſeit dem Kriege an das Ausland verlieben von derſelben Nation, die vor 1914 jährlich mehrere hundert Millionen Dollar im Zinſendienſt an Europa abführte. Die Verſchuldung der Welt an Amerika beträgt heute ſchätzungsweiſe an die zwanzig Milliarden Dollar! Darin drückt ſich die wirtſchaftliche Spannkraft der größten Gläubigernation der Geſchichte aus, die, im Innern durch eine neuartige Organiſation aller ſozialen Glieder ge- feſtigt, nunmehr mit der Energie des jungen Uſurpators an die Durchdringung der Welt geht. Ameri kaniſierung als Epiſode, als Zeiterſcheinung mag begreiflich fein in einer Kultur wie der evropäifchen, wo der Wille zur eigenen Formgeſtaltung eine wirkliche Kriſe durchmacht. Man mag fie aus dem momentanen Anpaſſungsbedürfnis eines in feinen Grundlagen erfchütterten Wirtſchaftsgebaͤudes rechtfertigen. Sie wird aber gefährlich, wenn die Erkenntnis feſtſtellen

müßte, daß ihr Aberwuchern das Wertvollſte der europäiſchen Welt zerſetzen würde.

Gerade für den, der deutſches Schickſal vom Auslande aus mit den Augen des Auslandes be- obachtet, beginnt ſich immer deutlicher die eine und wichtigſte Tatſache herauszuſchälen, daß Deutſchland als Volksgemeinſchaft reifer als jemals vorher iſt, daß der Krieg, ſoweit wir ſelber in Frage kommen, und je mehr wir uns von ihm entfernen, als eine Epiſode in die Geſchichte eingehen wird, die unfere nationale Einheit auf die Probe ſtellte. Und dieſe Probe wurde be- ſtand en. Das Reich Bismarcks steht, und innerlich gefeſtigter. Mehr als der Deutiche ſelber glaubt heute das Ausland, und allen voran Amerika, an die kulturelle und wirtſchaftliche Zukunft Oeutſchlands.. ..“

Kirche und Kultur

ine Feſtgabe für Karl Muth iſt (im Verlag Köſel & Puſtet, München) nachträglich zu ſeinem ſechzigſten Geburtstag erſchienen, worin von einer Reihe namhafter Katholiken beachtens- werte Auffäge gebracht werden. Es lohnt fic ſchon, durch die faſt vierhundert Seiten zu wandern und ſich anzuhören, was dieſe ernſten Männer zu fagen haben. Gleich in dem Vorwort wird von „geiftigen Durchbruchs kämpfen“ geſprochen, die unter Muths Führung vor fünfundzwanzig Jahren („Hochland“) ftattgefunden haben. Die Herausgeber felber (Nax Ettlinger, Friedrich Fuchs, Philipp Funk) empfinden alſo jenen Geiſteskampf um die ‚Emanzipation oder Freiwerdung der Ratholiten aus dem, geiſtigen Ghetto“ als , geiftige Ourch⸗ bruchs kämpfe“ gegenüber den früheren Zuſtänden. Dieſe Tat wird nach Gebühr beleuchtet und gefeiert. Wir haben die Anfangsjahre dieſer Ourchbruchsſchlacht tätig mit beobachtet und ſtimmen don Herzen bei. Im übrigen aber bleiben die Aufſätze nicht bei dieſem Ereignis ftehen, ſondern wenden ſich mannigfaltigſten Fragen ſachlich zu. Sunddhft find wir Karl Muth ſehr dankbar, daß er die Verbindung zwiſchen Kultur und Ricche ſo bedeutend wieder aufgenommen hat. Alle religiös eingeſtellten Menſchen werden ihm zu- Rimmen; den anderen muß es mindeſtens Achtung erzwingen.

280 Kirche wb un

Ooch vorerſt iſt dieſe Verbindung nur oder doch weſentlich der katholiſchen Kirche zugute gekommen, nicht der geſamtchriſtlichen „Una santa“: nicht dem Reich- Gottes- Gedanten ſchlecht hin. Das war vielleicht notwendig und iſt freilich auch leichter, weil feſt umriſſen. Viel ſchwerer aber ift es, dem „Reich Gottes“ über alle Trennungen und Spaltungen hinüber zur Stärkung zu verhelfen, bei Laien oder Sekten, bei Evangeliſchen und bei Katholiken. Wir denken da etw: an die Zeiten eines Diepenbrock, Sailer oder Eichendorff, eines Richter, Schwind, ſogar ned Hans Thoma. Damals hatte man, bei der geiſtigen Einwirkung dieſer Männer auf die Gefant nation, niemals die Empfindung einer abgegrenzten Ronfeffion, ſondern nur einer chriſtlichen Grundlage. Ebenſowenig ftörte es in der klaſſiſchen Zeit, daß etwa der Jeſuit Denis in den For men des evangeliſchen Mopſtock dichtete. Und von Dalberg heißt es gleich auf der erften Seit dieſes Buches: „Deutſchlands erfter Hierarch, der Primas Dalberg, hat Bürgerrecht im geiftigen Weimar.“ Ganz richtig! Diefer kurmainziſche Katholik, Fürſt⸗Primas von Dalberg, und de evangeliſche Superintendent Herder oder andererſeits der Kreis um die Fürſtin Gallige, ſelbſt noch der Abergetretene Graf Stolberg —, fie hatten gleiches Heimatrecht im Humanität zei talter. Dieſes Zuſammenarbeiten zum Segen der deutſchen Menſchheit und Chriſtenheit in fpäter durch das Bismarck⸗Windthorſtſche Zeitalter zerſtört worden. Und da ſich in denfelben fpäteren Jahrzehnten zugleich der Marxismus (Maſſen kampf) immer ſtärker herausgeſtaltete, hatte der chriſtliche Idealismus keine Einheitsfront mehr gegen die Mächte der Zer- ſetzung. :

Und dieſe große Einheitsfront hat Muth nicht wieder bergeftellt bat es auch gar nicht ge . wollt, da es nähere Aufgaben zu ldjen galt. Und da ſetzen unſere Bedenken ein. Es war in da letzten Zahrzehnten in katholiſchen Kreiſen die Redensart vom „geiftigen Ghetto“ der Ratholita aufgekommen: hat man aber dieſes geiſtige Ghetto wirklich überwunden, wenn man ſeine inte lektuelle Bedeutung hebt?

Um einen praktiſchen Fall zu nennen: man könnte es im Sinne ter Einheitsfront be grüßen, wenn Männer wie Eucken oder ſonſtwie chriſtlich geſtimmte evangeliſche Zdeoliſten in Muths Bewegung bewußt mit einbezogen worden wären, ſtatt etwa des recht unſicheren, vom Zudentum Abergetretenen Max Scheler oder des bode fraglichen Pazifiſten Zörfter, die beide im „Hochland“ zeitweilig eine Rolle ſpielten.

Muth iſt ein „inſtitutioneller Meuſch'; er verſteht beim beſten Willen zu weitherziger Ge ſinnung unter Kirche unwillkürlich die katholiſche Kirche und ihre Belange, erſt im zweiten Anlauf die „unſichtbare Kirche“. Ein zum Katholizismus übergetretener juüͤdiſcher Verſtandes menſch, ein franzöfifcher oder ſonſtwie auswärtiger Ratholit ſagt ihm unwillkuͤrlich das ift eine inſtin kthafte Reflerbewegung weit mehr als ein evangelifcher deutſcher Chriſt. Und hierin, gerade bier, feben wir die Gefahr des wahren geiſtigen Ghetto: dieſe noch nicht Aberwundene unwillkürliche Regung, die ſich nicht vom Aufleuchten unterſcheidet, das ein Partei freund emp findet, wenn er vom Begegnenden hört, er gehöre feiner Partei an. Freilich vermehrt ſolches Zu ſammenhalten die Stoßkraft; aber fo ſprengt man das Ghetto nicht.

Einer der feinſten Auffage in dieſem Buch iſt Joſeph Nadlers „Hochland kämpfe von geſtern und morgen“, worin er einen Vergleich zieht zwiſchen Muth und dem Wiener Nulturkämpfer Rralil, Es handelt ſich „bei Rralit um Rultur, bei Muth um Literatur“; bei Rralik meiſt Ruͤckſchau, bei Muth Gegenwartsſchau, eigentlich „zwei ganz getrennte Aufgaben“, ſo daß man ſagen kann: „Muths Sieg an ſich ijt noch nicht Kraliks Niederlage“. Nadler denkt immer in bedeutenden du fammenbdngen, mit großen Hintergründen; in feiner Literaturgeſchichte iſt er eine gute Fort entwicklung des Heimatgedantens oder der Dezentraliſation, die jeden Gau in feiner befonderen Weſensart und Kraftentfaltung gelten läßt.

In einem der umfangreichſten Auffäge des anregenden Buches behandelt Philipp Funk den „Gang des geiftigen Lebens im katholiſchen Oeutſchland unſerer Generation“. Ex wirft am Schlub die Frage auf: „Greifen die Räder unferer Betätigung auch wirklich in die Räder der geil?

Riche und Kultur 287

Bewegen wir etwas dem Ziele zu, oder ift es alles bloß Gefdhadftigung, die im Kreiſe geht? Brechen wir der hungrigen Gegenwart, unſerer Volksgemeinſchaft, geiſtiges Brot? Sind wir Salz für die Welt? Das find in der Tat Fragen einer ernſten Gewiſſensforſchung, die ſich der Katholizismus ſtellen muß.

Wir find der Meinung, daß die Reich- Sottes-Angelegenheit Sache des inn erſten Herzens iſt und daß fie von dort aus alldurchdringend, aber wenig in Gebärden oder Geſten ſichtbar wir · ken muß. „Das Reich Gottes iſt in euch.“ Ze mehr fie ſichtbare Kirche wird, um fo größer die Gefahr der Mißverſtändniſſe; und je verwidelter fie organifiert wird erſt recht! Das Reid Gottes oder die unſichtbare Nirche iſt ein innerſter Beſitz, der unſer ganzes Daſein von da aus heiligt und durchwärmt. An ihrem Werk und Wefen, wie es ſich im Alltag oder in erhöhten Stunden ausſtrahlt und umſetzt, erkennt man die Menſchen, in deren Herzen der Gral glüht oder das Roſen kreuz blüht oder in denen das Reich Gottes der Weisheit und der Liebe eine beſtimmende Macht iſt. Meinerſeits lege ich alle Schwerkraft auf dieſes Reich Gottes, nicht auf bie geprägten Ronfeffionen, und ich meine manchmal faſt, daß die Katholiken im Zeitalter von Auguſtins „de ci vitate dei“ weitſichtiger eingeſtellt waren als in der Gegenwart.

2 5 °?

Noch ſtehe ich, indem ich dieſe Worte ſchreibe, unter dem Eindruck des Hinſcheidens eines tatho- liſchen Stillen im Lande, den ich in Münſter kennengelernt und dem ich in meinem Roman „Meiſters Vermächtnis“ in einer epiſodiſchen Figur meine Verehrung gezollt habe. Es iſt der domi kar Dr. Rer they, dem neulich im, Trierer Volksfreund“ (30. September 1927) ein Freund des Derftorbenen eine wehmutsvoll verklärte Erinnerung gewidmet hat („Ein modernes Heiligen; leben“). Diefer ehrwürdige Gelehrte hat eine Fille von wiſſenſchaftlicher Erkenntnis (40 Sande !) niedergeſchrieben und in feiner Schublade verſchloſſen, weil er die kirchliche Oruderlaubnis nicht dekommen hat. Hler iſt das eigentliche Ghetto der katholiſchen Kirche. Beiſpiele liegen an

den Pilgerſtraßen genug von Schell bis Wittig und bis zu dieſem ſtillen, durch und durch vor- nehmen und liebevollen Manne, der vollbewußt der Kirchenzenſur gehorſam war und feine wiſſenſchaftlich brachgelegten Krafte umſtellte auf die ,religidfe Miſſion an lebendigen Seelen“ (alo Prediger und Seelſorger). So ſchafft alſo die katholiſche Kirche eben als Auffichts- behoͤrde ſelbſt ein Ghetto, zwingt dadurch die Kräfte zur Umftellung auf das Reinreligidfe und erzeugt in gewiſſem Sinne durch dieſe Steigerung allerdings „Heilige“, die ſich im kirchlichen Sehorſam bewähren. Aber iſt dies Sinn und Zweck des Gottesrelches?

0 A e

Und dann noch eins: Es iſt bemerkenswert, wie ſich der katholiſche Klerus, der jetzt in Sachen der Literaturkritik etwas in den Hintergrund gerückt iſt, zu Muth ſtellt. Oer bekannte Pater Mudermann (, Gral“) ſchreibt: Karl Muth hat einen ungeheuren Glauben an die fies hafte Kraft des Katholizismus, und er hat Tür und Tor der Feſtung weit geöffnet. Betrachtet man heute aber die Lage, fo kann man ſich oft des Eindrucks nicht erwehren, als fei am Ede mehr von einem andern Geiſt zu uns gekommen als von ungerm Ge iſt zum andern.“ Dies iſt ſehr bezeichnend. Es liegt in der Natur der Sache, daß dieſe ſeelſorgerlichen Literaturwächter ihrer feits der Muthſchen Bewegung dauernd mit Bedenken gegenüberſtehen. Wenn uns Muth nicht weit genug geht in den größeren Begriff Gottesreich, fo geht er dieſen Kreiſen zu weit. Es bedarf der Diplomatie, um zwiſchen Lints und Rechts zwiſchen Index und Klerus ſicher durchzutommen und führend zu bleiben. Und in dieſer ſtillen ſagen wir einmal: Eifersucht erblide ich eine der größten Gefahren für eine einigermaßen freie Entwicklung. 2.

Joſeph Wittig

(Sein Werk, fein Rampf und deffen Ginn)

oſeph Wittig war katholiſcher Theologieprofeſſor in Breslau. Lange davor aber war er einmal Rind und blieb Gottes Rind. Und er ſammelte aus der Rindheit und dem duferes und inneren Leben wie eine fromme Biene Gottes Honig in die Waben feiner religidfen Bücher. Er, der Schleſier, war ein frommer Weber, der in den Teppich des Lebens die Goldfäden dez „Religiöſen einſchießen ließ. Aber da kamen einige und ſagten, daß die Einſchüſſe hier und de giftiggrünen Kupfers ſeien, und daß das Gold nicht dasſelbe fei, wie es in den Rammern ber katholiſchen Kirche liege. Und es begannen Streit und Leid.

- Über den Streit wird ſoeben vorgelegt: Rofenftod und Wittig „Akten und Theologiſch⸗ Kanoniſtiſches Gutachten über das Schrifttum JFofeph Wittigs“ (Sonderausgabe, Anhangsband „Alltag“ zu „Das Alter der Kirche“. Verlag Lambert Schneider, Berlin. 273 E., im ganzen 5 Bände; Bd. 1, 2 und 5 liegen zu je Mk. 5.35 vor.)

Wittig hat ſich mit feinen „köſtlichen Elaboraten“ („Akten ...“ S. 28) in das Allgemein- bewußtſein oder wenigſtens in das Bewußtſein weiter, geiſtig regſamer Schichten hineingelebt, mit Schriften vornehmlich künſtleriſcher Artung. Dieſe Werke offenbaren fic nach den Titeln, der Ausſtattung und der weiten Verbreitung fofort als vorwiegend ſchöngeiſtige Schriften,

was in dieſem Falle nicht ausſchließt, ſondern ſogar einſchließt, daß fie Anfto fein, Wirkungen hervorbringen wollen: das Reich Gottes ſich offenbaren zu machen.

Wittig iſt ein fruchtbarer Schriftſteller und kann den, der über ihn abhandeln will, ſchon in

Atem halten. Soeben reiht er feinen „literariſch-belletriſtiſchen Meiſterleiſtungen“ („Akten

S. 37) ein neues Werk an: „Oer Ungläubige und andere Geſchichten vom Reiche Gottes und

der Welt“. Es erſchien, wie der Neudruck vom „Leben Fefu in Paläftina, Schleſien und anderswo“, im Verlage Kotz in Gotha. Dieſe kurze Anzeige mag manchem willkommen ſein. Es würde zu weit führen, die dichteriſchen Bücher im einzelnen zu würdigen, wohl möchte auch dieſer Aufſatz Schwelle zu ihnen werden, wie auch zu den „Akten ...“. Mehr als Schwelle kann ein Aufſatz nicht fein. Worauf es hier vor allem ankommt, iſt die Aufrollung „des Falles Wittig“. Nach Titel und Aufmachung kommen die „Akten ...“ gelehrtenhafter als die Bücher des „Volksſchriftſtellers“ („Akten. ..“ S. 189) daher. Und wenn diefer Wagen herangefahren kommt und einem in die geiſtige Scheune hinein will, dann möchte man im erſten Augenblick das Tor verrammeln und ſagen: „Schluß mit dem Segen, fahrt zu den Herren Fachtheologen; deren Scheune mag’s ſchlucken !“ Aber wenn man dann ſchon ein wenig abzuladen anfängt, offenbart ſich einem, daß das Buch durchaus nicht ihnen vornehmlich zukommt, und daß es ein höchst “intereffantes, menſchliches und kulturgeſchichtliches Dokument dieſer unſerer wahrhaftig mert- würdigen Zeit iſt, darin wir einen geiſtigen Kämpfer ſehen und Einblick tun in die uns allen unbekannten Intimitäten der „kirchlichen Bürokratie“ (Verlegerbrief in „Akten...“ S. 34), eine Schrift, die geiſtvoll die Lage der Kirche in dieſen Tagen beleuchtet und ihr Weben feinfühlig abtaſtet. Die menſchlichen Töne, die aufklingen, find: ſohnhafte, väterliche, beſorgte, gutherzige, ſchroffe, vorſchnelle, geſchäftsmäßige, was weiß ich! Selbſt wenn das Buch fic nicht glatt läfe, fo würde man doch ſowohl Wittig als auch der Kirche ſchuldig fein, es zu leſen; und ſich ſelbſt würde man im Falle des Nichtleſens um Einſichten, Gelegenheiten zu Meditationen bringen, die ſehr wertvoll find, Der Zweck der Veröffentlichung dieſer Akten und des Gutachtens wird verſchiebentlich dahingehend bezeichnet, daß fie zur erwünfchten, ja notwendigen Bildung eines ſelbſtändigen Urteils dienen foll, fei doch eine Verwirrung und Unfiderheit entſtanden, „die der Kirche und den Seelen am abträglichſten geworden iſt“. (Gutachten in „Akten. S. 146.) Die „Akten ...“ bieten das geordnete hiſtoriſche Material, an Hand deſſen man dies Seſchehen, das in unſerer Erinnerung lebt, durchgehen, vervollſtändigen und klären kann.

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Jofeph Wittig 289

Wittig veröffentlichte im April- (Oſtern-) Heft 1922 des „Hochland“ einen dichteriſchen Auf- ſatz (oder ſoll man ſagen: eine denkeriſche Dichtung?) mit dem Titel „Die Erlöſten“. Viele Menſchen jubelten ihm zu. Es gab auch gleich Leute, die warnten: Es iſt Gefahr, die Menſchen werden zur Laxheit erzogen, ſie legen das letzte bißchen Heroismus ab, das ihnen noch eigen iſt, und doch bedarf es in der moraliſchen Welt eines hohen Aufgebotes daran! Das waren Gutmeinende. Jeder Leſer konnte allerdings ſchwer überſehen, daß Wittig gerade an die Rate- gorie der Allzuängſtlichen gedacht hatte, und fie von Gewiſſensnot erlöfen wollte. Die Wirkung eines Schriftſtellers beruht auf der Atmoſphäre, die er ſchafft. Und hier war fie gottdurchweht, von Liebenswürdigkeit beſonnt. Dem Verfaſſer dieſer Zeilen will nach Leſung der „Akten..“ mehr noch als vorher ſcheinen, als wären die „gemütlich ſpottende Darſtellung“ (Prof. Krebs „Akten.. S. 69) die immer ſtärkere Jronifierung der heute geübten Lehrverkündigung durch die katholiſchen Theologen“, (ebenda) dasjenige geweſen, was am ſchmerzlichſten empfunden wurde und Aberhellhörigkeiten ſchuf, wo ſonſt vielleicht nicht einmal Hellhörigkeit geweſen wäre. Tatſächlich haben Wittigs zwei Aufſätze über die Kirche (zuerſt erſchienen in einem katholiſchen Sonderheft der „Tat“ 1921) „unter den Augen des Epiſkopats“ gelegen, „ohne eine mir bekannt gewordene amtliche Mißbilligung“ „Akten...“ S. 20) zu erfahren.

Um feine „Erlöſten“: um das Erlöſtſein oder Nichterlöſtſein ging es! „Die Erlöſten“ find Ausgangs- und Hauptſtreitpunkt. (Sie find als Büchlein für 1 M. im Verlag Franke, Habel- ſchwerdt, zu kaufen.) Wittig brachte die frohe Botſchaft: Ihr ſeid Erlöſte! Klammert euch daran in Gldubigteit! Der Katholizismus der Calderon-Epoche tat es überradikal. Graf Adolf Friedrich von Schack macht in der Einleitung zu Calderons ausgewählten Werken (Cotta, ohne Jahreszahl, etwa 1875) auf dieſe Tatſache aufmerkſam und verweiſt auf Tirſo de Molinas „der wegen feines Kleinmuts Verdammte“ und auf Calderons „Andacht zum Kreuz“. Das Calderonſche Stück iſt jedermann bei Reclam zugänglich und wurde in den Nachkriegsjahren mehrfach geſpielt. Man hat nichts von einer Aktion gegen Calderon gehört! Er gilt als „Oer katholiſche Dichter“. Schack bemerkt, die da vertretene Lehre fei in der Gegenwart fo zurüd- getreten, daß man keine Sorge um die Moral des Leſers bzw. Zuſchauers zu haben brauche, jene Lehre, die genau formuliert fo ausſieht: „Daß der Menſch mit vollem Bewußtſein in ungeheuern Freveln beharren und doch durch das bloße Vertrauen auf die göttlihe Gnade des endlichen Heils verſichert fein könne.“ (Bouterwek, bei Schack zitiert.) Noch ſteht bei Schack: „An der allgemeinen Verbreitung dieſes Glaubens im damaligen Spanien kann derjenige, der deſſen Literatur kennt, nicht zweifeln.“ Die Sachlage bei Calderon ift fo: Der Held, der Günſtling des Kreuzes, ſtirbt. Da geſchieht das Wunder, daß feine Seele beim Leibe bleibt, bis er beichten kann. Wittig hat er verweiſt immer wieder darauf keineswegs die Beichte ignoriert. Ich möchte noch anmerken, daß das Stück kaum um religidfer Probleme willen gefpielt worden ſein dürfte (fie verfangen in dieſer Art bei heutigen Menſchen nicht), ſondern wegen feiner kolportagehaften Handlung, die den Spielleitern und Spielern in vielen bunten, wechſelnden Bildern dankbare Aufgaben ſtellt.

Im Erlebnis der damaligen Menſchen mindeſtens aber in den, viel mehr als heute ge- pflogenen dogmatiſchen Erörterungen hatte das Erlöſungswerk Chriſti, die ftellver- tretende, üͤberreichliche Genugtuung, zentralen Platz. Wie aber iſt es beim heutigen Men- iden? gch glaube kaum, daß ein Lefer dieſer Zeilen, der ernſtlich ſondiert, mein Gefühl, meine Fingerſpitzen für irrig hält, wenn ich mich veranlaßt fühle zu ſagen, daß der Gedanke an die Erlöſungslehre zu verblaſſen droht. (Es handelt ſich um Oinge, bei denen wir auf die Fein- taſtung angewieſen find!) Ich entſinne mich noch deutlich einer gewiſſen Beſtürzung, als ich einmal etwas las, was mir eine Vermeſſenheit ſchien, eine gewaltſame Geſte gegen etwas, das mit dem Nimbus des Unantaſtbaren umkleidet war. Es hieß da: die ftellvertretende Erlöſung bat für uns keinen Sinn. Wir müſſen es ſelber tun. (Vielleicht ſo gedacht: nach dem dunklen

Drange zum Hinan, der in uns gelegt wurde, uns ſtrebend zu bemüh'n, und im „Anſchauen der Tarmer XXX. 4 19

20 Zrſeyd Wu

der moraliſchen Schönheit“ (Keiſt) Glück und Anſporn zu empfinden.) Leider weiß ich den betreffenden Verfaſſer nicht mehr. Nun könnte man jagen: es war ein einzelner! Aber Angeln Sileſius iſt auch nicht weit:

Wird Chriſtus tauſendmal in Bethlehem geboren,

Und nicht in dir; du bleibſt doch ewiglich verloren.

Und vom Kreuze Chriſti geht fein Spruch dem Sinne nach genau fo. Er ſtreicht zwar nik die ftellvertretende Genugtuung aus der Rechnung man verzeihe die profane Ausdrudy weiſe —, aber er legt doch ſehr viel Schwergewicht auf die Teilhaftigmachung an derſelbe durch den Menſchen ſelbſt, der ſich verchriſtlichen oder gar verchriſtuslichen ſoll. Die Anjictes des heutigen Menſchen oder ſagen wir beſſer: ſein gefühlhaftes Denken über Sünde, Verantwortung, Rechtfertigung, enthalten in bezug auf die Dogmatik (übrigens beider de kenntniſſe) beinahe nur Unrichtigkeiten. Aber dieſe Anſichten find durchaus gegenteilig denen, die das damalige Spanien und Luther bewegten! Ein erhabener Sturm riß jene hin. Ge gaben ſich in einem NRieſen vertrauen: was find wir, und was find unſere Handlungen vor diefem Me er der Gnade, in das wir, uns auslöſchend, uns ſtürzen? Wenn wir Heutigen dies Mee empfinden, dann nennen wir es „Gott“ und denken kaum an das Erlöſungswerk oder an einen Gnadenſchatz oder dergleichen.

Es kommt mir vor, als müßten viele Menſchen ſich erſt einmal beſinnen auch die, die keiner wegs unkirchlich find, die vielmehr durchaus den Wunſch und Willen haben, ihr Denken mit den Dogmen in Übereinſtimmung zu halten. „Ach fo: Adam und Eva fündigten. Die Menſch beit fiel in Ungnade. Als die Fille der Zeiten“ gekommen war, wurde der Mittler geboren. Er verjöhnte die Menſchheit wieder mit Gott, und nun iſt fie erlöft, im Zuſtand der Kindſchaft. So der dogmatiſche Bau mit feinem altteſtamentlichen Fundament. In weſſen religiöfem & leben ſpielen Adam und Eva eine Rolle? Der altteſtamentliche Unterbau iſt nicht ſonderlich feft im Bewußtſein gegründet. Und mit dem dogmatiſchen Oberbau iſt es vielleicht auch nicht beſonders gut beſtellt. Aber dies alles beeinträchtigt kaum die Lebenskraft einer Religion! Wenn das Dogmengebdude einer Generation wenig im Bewußtſein, im lebendigen Fühlen ſteht, fo verſchlägt es nicht viel, denn die Religionen find mehr als ihre Dogmen. Jenes profan ge ſprochen Zuriſtiſche liegt dem heutigen Menſchen nicht beſonders. Bei Wittig hat die & löſung oder beffer das Erlöſtſein zentralen Platz. Er iſt ungemein gläubig an dieſe Heilstatſache.

Das Lieblingsgebiet der theologiſchen Veranlagung Wittigs iſt, nach feinen eigenen Worten und nach Offenſichtlichkeit für den Leſer: die Vorſehung Gottes und „das Geheimnis von der unmittelbaren Mitwirkung Gottes bei allem, was geſchieht“. Was geſchieht: jetzt, heute, nachdem der Zuſtand der Verſöͤhnung mit Gott da iſt, das Reich der zweiten Perſon, des & löfers und der Erlöſten. Es find ungemein aktuelle, jede Sekunde eines jeden Menſchenleben berührende Fragen! Wenn ein Menſch, ein doch erlöſter Menſch (nach Wittig), eine Handlung tut, fo iſt fie das Werk Gottes und des Menſchen, vornehmlich aber iſt fie Gottes Werk. Wenn es aber eine ſündhafte Tat iſt? Man hat daran zu denken, daß das Sündhafte an einer Hand- lung offenbar die Geſinnung iſt. Das weiß jedes Rind! Wenn die Mutter ihren Zungen ausſchimpft: „Warum haft du das Schweſterchen vor den Ropf geſtoßen?“ dann fagt er (det Wahrheit gemäß oder auch notlügend): „Ich konnte nichts dafür.“ Er weiß, daß er dann zwar einen phyſiſchen Stoß, aber keinen ſündhaften Verſtoß begangen hat. Nun gibt es allerdings Handlungen, die uns objektiv böſe vorkommen. (Ob es objektiv böſe Handlungen gibt, weiß ich nicht.) Das liegt daran, daß alle oder wenigſtens außerordentlich viel Subjektive in dem Gefühl übereinftimmen, davon überzeugt find, daß die und die Handlungen andere ſchoͤdigen, daß ſie Verwirrungen in der Welt anrichten, daß es Mißtöne in den Harmonien ſind, die wir ahnen, und die zu realiſieren wir die Verpflichtung in unſere Bruft gelegt fühlen, Aber der Kampf des doppelten Geſetzes tobt in uns. Wir Armen find Kampfplatz und Kämpfer zu⸗ gleich. Wenn uns der Kampf gelang, find die Gefühle des Sieges in uns, Die ſtarke und den ·

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Joſeph Wittig 291

noch freundliche Sonne der Überwelt beſtrahlt unſer wie gebadetes Antlitz. Oder aber, wenn der Rampf nicht gelang, find wir bedrückt, die Welt iſt wie mit Nebeln zugezogen. Nun fagt Wittig: „Macht euch keine Sorge um eure Handlungen, ſondern denkt daran, daß ihr Erldfte und Gerechtfertigte ſeid, und daß bei euren Handlungen der einfach menſchlich gute Wille genügt. Ihr quält euch ab und glaubt, eine Verantwortung zu haben, die ihr gar nicht habt. Ihr ſeid nicht verantwortlich für das Wert, wohl aber für die Geſinnung. Ihr feid ſchwach, aber euer Wille iſt beinahe immer gut.“ Tatſächlich wollen wir ja nicht, daß das Boͤſe in der Welt zur Serrſchaft gelangt! Es gibt ein Buch eines bedeutſamen, in der ganzen Kulturwelt anerkannten Dichters, das ich aber nicht zu nennen wünfche, weil es voller Verruchtheiten und damit voller Sefahren für einen Lefer iſt. Es enthält eine Geſchichte der ſataniſtiſchen „Religion“ vom Mittel- alter bis in unſere Tage. Wir find um ein Wort verlegen: aber es iſt durchaus eine Religion, eine Gegenreligion, mit ausgebautem Rult. Ihr Inhalt iſt eine Verehrung der ſchwarzen, dämoniſchen Mächte. Je mehr ich dieſer ſchwarzen Tendierung nachſinne, deſto mehr glaube ich allerdings, daß das ſataniſche Leuchten, wenn auch faſt unbewußt, doch in den Menſchen auf- blitzen kann, z. B. in der Schadenfreude. Im allgemeinen aber find wir nur arme Gander, deren Triebrichtung der weißen Macht zugeht, die wir Gott und Chriftus nennen. „Zu dir din, o Gott, haſt du uns erſchaffen.“ Man denke auch an den Satz „der von Natur aus chriſtlichen Seele! Und der iſt gewißlich wahr! Jd glaube, es bedarf heftigen und dauernden Sichwehrens gegen das Weiße, um deutlich ſchwarz zu fein. Noch auch denke man an Paulus, der, wie wir

alle, das doppelte Geſetz in fic) ſpuͤrt. Aber das eine iſt das „Geſetz des Geiſtes“ und das andere

„Das der Glieder“. Und noch denke man an Strindberg, der meint, daß wir beſſer feien als unſere Taten, denn wir verurteilen fie ja, ſofern fie böfe find. Wohl wiſſen wir mit (dem ja noch unerlöften!) Moſes: „der Sinn und die Gedanken des Menſchen find zum Boͤſen geneigt von Jugend auf“, aber wir könnten das jündige Bewußtſein nicht in uns empfinden, wenn wir nicht die Berufung zum Guten hätten. Zedenfalls find die weißen Mächte die endgültigen und zuletzt ſiegenden. Dies unſer aller tröſtliches Bewußtſein! Wittigs Sendung ſcheint die geweſen zu ſein, es zu beleben. |

Wittig verſichert, daß es katholifch-dogmatifch richtig fei, was er vorträgt, und von den grund- legenden Autoren, z. B. Auguſtinus, ſchriftlich niedergelegt worden fei. Er habe Tröſtendes wieder herausgeſchuüͤrft. Seine Anſichten ſeien das Reſultat feiner Vaͤterſtudien. Die Lehre fei keine Geheimlehre. „Und wehe dem, der dem Volke den tiefiten Troſt des Glaubens aus pädagogifhen Rüdfichten verhehlt!“ Der Chriſt komme nicht zum Bewußtſein, daß er ein Er öfter ijt, wenn er ſich auch noch für die (um meine Worte zu gebrauchen) Handlungen und die tauſendmal tauſend ineinander greifenden Zahnraͤdchen der Folgen verantwortlich fühlt. Wenn die Geſinnung gut war, haben wir ja auch wohl ein ruhiges Gewiſſen. Übrigens will mir ſcheinen, als würde ein Menſch, der feine Geſinnung kultiviert, immer weniger Inſtrument zu böfe ſich auswirkenden Handlungen fein können.

In dieſe Spekulationen über Anteil des Menſchen und Gottes an einer Handlung ſchlagen auch ſolche über Freiheit oder Unfreiheit des Willens hinein. Wer hätte nicht ſchon über Freiheit oder Unfreiheit des Willens reflektiert oder Erörterungen gepflogen! Und wer hätte nicht ſchon feſtgeſtellt, daß das Zünglein bei ſeinem Wägen einmal mehr nach der einen oder ein andermal mehr nach der anderen Anſicht hin ausgeſchlagen hätte? Es wäre nicht das erſtemal, daß ein Menſch darauf kame, Gott auch für feine (des Menſchen) Geſinnung und alles mogliche ver- antwortlich zu machen. Nach Auguſtinus iſt es verboten, Gott für die Sünde verantwortlich zu machen. Es wäre auch nicht das erſtemal, wenn jemand zwei Prinzipien als bei der Welt- ſchöͤpfung wirkſam annähme: ein gutes und ein böſes. Das iſt eine nicht unbekannte Idee in

der Geiſtesgeſchichte.

Oer Zürftbifchof von Breslau ließ durch den Dogmatikprofeſſor Krebs in Freiburg ein Gut-

achten ausarbeiten, das unterm 3. Dezember 1924 erfolgte. Es ſtellt feſt, daß die Kirche die

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Freiheit im Vollſinne lehre; fie habe verworfen, „daß man noch von ſittlicher Freiheit reden könne, wenn alle Werke mit Notwendigkeit geſchehen. ... Dieſe verworfene Lehre iſt aber genen die Lehre, die in vielen Sätzen Wittigs ausgeſprochen wird“. („Akten ...“ S. 56.) Wittig ſagt, ein Religionslehrer, der gegen ihn polemiſieren wollte, habe feinen Schülern „einen rein nege tiven und deiſtiſchen Begriff von dem wunderbaren Geheimnis der Mitwirkung Gottes be allen geſchöͤpflichen Handlungen beizubringen“ verſucht. (Wittig an feinen Bifchof, „Alten... S. 79.) In dieſem Religionslehrer trifft er viele feiner Gegner. Die heutigen Menſchen jm großenteils gefühlsmäßige Deiſten. (Der Deismus iſt bekanntlich die Lehre, daß Gott nach de Schöpfung fein Werk ſich ſelbſt überlaſſen habe.) Wittig ſpricht vom „wunderbaren Geheimnis Das ijt es in der Tat. Denken wir uns Menſchen, die einigermaßen tief veranlagt find! Wen ihnen ein Rind geboren wird, bringen fie die Frommheit auf, zu ſpuͤren, daß fie wenig an feinem Daſein beteiligt, vielmehr fo etwas wie das Mittel geweſen find. Sie verehren ein Mirakel und ſagen: „Es wurde uns geſchenkt“ oder fo etwas. Bei großen Anläſſen jagen die Menſchen « ja auch: es hat Gott gefallen, fo und fo zu tun, oder auch im gewöhnlichen Leben fagen ein . fache, ſich getragen fühlende Leute: „So Gott will!“ Es gibt über dieſe Lehren zwei Richtungen innerhalb des Katholizismus. Wittig iſt Thomiſt. (Siehe theol. -kanoniſtiſches Gutachten S. 192). Dann findet Krebs eine Häreſie (die zweite) in der Darſtellung der Glaubensfunktion bei det FE: Rechtfertigung. Wittig lehre die Rechtfertigung durch den Glauben allein, der wahrhaft Glar F- bende könne nicht fündigen; mit der wirklichen Sünde gehe auch der Glaube verloren. (Bes „Die Erlöſten“ dazu!) Nun iſt immer (im Neuen Teſtament, bei Luther, bei Wittig und in gewöhnlichen Leben) ſchwer, herauszufinden, was mit „Glauben“ gemeint iſt. Sit es Fu- wahrhalten, iſt es vertrauendes Verbundenſein, ift es beides zugleich, könnte man es nich e manchmal beſſer die „Gläubigkeit“ nennen? Durch die Güte des Herrn Profeſſors Wittig ſelbi erhalte ich die Mitteilung: „Ich faſſe Glauben weder als bloßes Fürwahrhalten noch als ‚Gläubie keit“, ſondern als ein wirkliches neues Leben aus dem Lebensborn Gottes.“

Drittens moniert Krebs den Wittigſchen Kirchenbegriff. Nach Wittig (in E. Michels Sammel buch „Kirche und Wirklichkeit“) wurde ſie nicht gegründet nach Zuriſtenart, ſondern ſie wuchs aus den vollebendigen Seelen hervor. Entgegen dieſer Lehre einer indirekten Kirchen gründung lehre die Kirche eine direkte Gründung („Akten ...“ S. 67).

Endlich iſt Wittig vielfach vorgeworfen worden, daß er die theologiſchen Ausdrücke,, durch welche bibliſche Worte und Sätze gegenüber den Haretitern geſchützt werden“, nicht genügen? beachtet habe. (Krebs „Alten...“ S. 78.)

Das ausführliche theologiſche Gutachten (geiſtlicher, ungenannter Verfaſſer, „Alten...“ S. 143 bis 256) meint: eine mechaniſche Gegenüberſtellung von Satz und Gegenſatz fei nie ſehr geiſtvoll, und es ſei auch nicht viel damit getan. „Bei Leuten, wie Wittig aber, der eben nicht Irrlehrer, das heißt Verteidiger eigener Sätze und theoretiſcher Auffaſſungen gegenüber den Formulierungen der Kirche fein will ..., dem alle Theorien gleichgültig find, der vielmebe direkt auf das Religiöſe ſelbſt losgeht ... einem ſolchen Objekte gegenüber ift die Methode ein fach ſinnlos.“ (S. 190.) Einen kleinen Widerſpruch kann man da nicht unterdrücken: Wittige Prieſter in „Die Erlöſten“, der auf der Rangel ſteht, verkündigt doch, und manche Geſpräche find volkstümliche Einkleidungen von Lehrgeſpraͤchen. „Was er fagt, kann man katholiſch und janſeniſtiſch und moderniſtiſch und lutheriſch deuten ...“, aber man muß es eingedenk der Wittigſchen Grundrichtung katholiſch deuten. „Wir ſehen heute immer viel zu ſehr das Trennende; ſtiegen wir aber entſchloſſen auf den religidfen Untergrund der Ronfeffir nen und Richtungen, das heißt würde jeder ganz religiös auf feinem Boden, das Einende und Eine würde von ſelbſt in die Augen ſpringen.“ (S. 190/191.) Wittig aber habe feinen Gedanken gerade die Form gegeben, die den Theologen fofort jene Irrlehren ins Gedächtnis rufen. (S. 191.) „Auch hier iſt wieder zu ſagen, daß Wittig den Vorwurf geradezu provoziert hat.“ (S. 193.) Nicht zu verkennen iſt allerdings nach meiner Meinung auch das Bemüben

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Vittigs, von vornherein Spitzen abzubrechen. (Man leſe daraufhin „Die Erlöſten“ !) Man muß die einzelnen Sãtze „aus der Struktur ſeines Denkens und Wollens heraus“ verſtehen. (S. 195.) Die beiden Sutachter können pädagogiſche Bedenken, die auch mir aufftiegen, nicht unter drucken.

Wittigs Worte bedeuten nicht: lebt drauf los! Es bedeutet auch nicht: es iſt genug, wenn ihr nicht offenbar böſe ſeid. Es lag ihm keineswegs daran, das Streben zu unterbinden. Er verlangt immerhin den einfach-menſchlich-guten Willen. Nicht zuletzt will er dem Chriſten das ganz und gar verlorene Gefühl wiedergeben, in Ihm zu leben, ſich zu bewegen und zu fein. Die Menſchheit iſt, nachdem deutlich die Individualität geboren iſt, ſozuſagen außer Gott gegangen. Dann wollte er eine Entlaſtung der allzu Verantwort- lichen. Wittig ſchreibt in „Die Erlöſten“ fo: „Ach, ich möchte einmal zählen können die Sünden eines Jahres der vorchriſtlichen Welt und die Suͤnden eines Jahres der heutigen chriſtlichen Welt! Wie ein Meſſer ſchnitt mir's ins Herz, als mir wieder die Worte einkamen: „Wir beten Dich an, Herr Zeſus Chriſt, denn durch Dein heiliges Kreuz Haft Du die ganze Welt erlöft,‘“ Ein erhöhtes Sünde nbewußtſein ſcheint mir aber entwicklungsrichtig zu fein. (Es darf bloß nicht die Mücken ſeien und die Kamele freſſen.) Dieſe Bürde iſt zugleich Würde! Otto zur Lindes Satz kann man vielleicht in dieſem Zuſammenhang verſtehen: „Sünde, der Menſchheit heiligſtes Wort.“ |

Wenn ich Wittigs Worte leſe, fo wird mein Inneres überftürzt mit einer Liebe zu dieſem Manne. Er hat ein goldenes Herz. Er liebt gleich Chriſtus die Mühſeligen und Beladenen.

Nach dem „Einbruch des Argwohns“ bei dem Erſcheinen der Erlöſten begannen für Wittig die Schwierigkeiten der kirchlichen Druckerlaubniſſe. Wittig, der „Volksſchriftſteller“, hätte fie, entſprechend der heute beſtehenden Gepflogenheit, nicht nachzuſuchen brauchen, aber er wollte es durchaus. „Ich will aber kein vorwiegend ſchöngeiſtiger Schriftſteller, ſondern ein kirch⸗ licher Verkünder der Frohbotſchaft fein und brauche das kirchliche IAmprimatur und habe

auch ein Recht darauf.“ (Wittig an das Fürſtbiſchöfliche Ordinariat, S. 35.) Er focht mit Zähig- leit. Er fühlte ſich in die Miſſion hineinwachſen: die große Volkskirche gegen die enge Kleruskirche oder Verwaltungskirche zu verteidigen. Dies der tiefere Sinn des Rampfes! Und wenn man dieſen Sinn weiß, merkt man, daß Wittig keine Mühe geſcheut bat, dokumentariſch feſtzunageln! „Die Unſcheinbarkeit des Falles mag einen römiſchen Diplo- maten zum Lächeln bringen; einen Chriſten müſſen immer die leiſen, lautloſen, unſcheinbaren Vorgänge durchſchauern.“ Der entſcheidende Schritt zur „Religio Depopulata“, zur entvoltten Kirche, ſei getan. (Rofenftod, „Akten“ S. 164.)

Beim Falle Wittig lag auf beiden Seiten zwar nicht ſachnotwendige, wohl aber zeit- notwendige Zwangsläufigkeit. (Gutachten S. 143.) Dieſe Zwangsläufigkeit wird umfaſſend dargelegt. Sie beſteht darin, daß die Kirche (oder vielmehr ihr Apparat) nach dem Vatikanum, das bekanntlich die päpſtliche Unfehlbarkeit dogmatiſierte, die Richtung genommen habe, daß alle moglichen Maßnahmen wie unfehlbare genommen fein wollen. .

So verringert ſich die perſönliche Schuld an dem bitteren Unrecht gegen Wittig, wie fich auch ſeine perſönliche Schuld an dem ſchmerzlichen Bruche verringert. Der Inſtitution wird

nachgewieſen, daß fie, entgegen den ausdrüdlichen milden und vorſorglichen päpſtlichen An- ordnungen, die ſtärkſten Mittel angewandt, daß fie antik-römiſch ſtatt chriſtlich- katholiſch fei, daß fie nicht einmal die juriſtiſchen Pflichten erfüllte, wo fie mütterliche zu erfüllen hatte, daß die Denunzianten nicht die Liebesgebote Chriſti beachtet haben. Nun find die Trümmer da! Von Wittig wird geſagt, und es iſt aktenmäßig belegt, daß er an Entgegen- kommen weit über das Maß deſſen gegangen iſt, wozu er verpflichtet war. Aber es wird Wittig zum Vorwurf gemacht, daß er feine Sohnespflicht reſtlos hätte erfüllen müſſen, auch wenn die Mutter verfagt habe! Er habe ſich Chriſtus ähnlich zeigen und ſich demütigen ſollen. Da über- leben die Gutachter nach meinem Empfinden, daß er fic ja nicht als Perſon, ſondern als Fall

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fühlte, durch den der „römifche Abermut“ mitfamt dem Syſtem in Oeutſchland gebrochen werden follte. Es heißt ja bei den Gutachtern ſelbſt „der Fall Wittig intereffiere die breite Öffentligteit als ein Teilproblem der Kirche überhaupt“. (S. 146.) Die enorme Kirchentreue Wittigs iR unverkennbar: wer würde fonft ein paar Sabre lang Aufregungen auf ſich nehmen? Ein nicht · kirchlicher Menſch ließe die Herren unter ſich und ginge ſeiner Vege.

Die Stationen des Wittigſchen Weges find: Einbruch des Mißtrauens, Indizierung eines Teiles ſeiner Schriften, Exkommunikation ſeiner Perſon. Wittig und die Gutachter beſtreiten Berechtigung und Wirkung der letzteren; und das Bücher verbot ijt nach Anſicht der Gutachter fo bequem und geſcheit, wie wenn ſich einer um einer Wunde willen Arm oder Bein abfdliige und vielleicht noch den Kopf dazu. (S. 211.)

Für den Katholiken ergibt ſich, wenn er die indizierten Schriften leſen will, daß er um eine Erlaubnis einkommen muß. Ich hatte geglaubt, wenn der Autorität ſo die Reverenz erwieſen fei, tame es kaum vor, daß die Erlaubnis verweigert würde, Durch die Zeilen des Herrn Prof. Wittig erfahre ich aber, daß es oft geſchehen fei. Aber dieſe Entſcheide gehören wohl der Der⸗ gangenheit an.

Die Akten wollen ein ſozuſagen geburtshelferiſches Werk zu einer beſſeren Zukunft ſein, ahnliche Dinge verhüten, dem Volke aus feiner kirchlichen Not und der Kirche aus ihrer Ant- volkung helfen. Die beiden Gutachter, Eingeweibte, die jahrelang in einer biſchöflichen Regijtre tur gearbeitet haben, verfolgen die gleichen Ziele. Sie ſchrieben ihre Arbeit weder der Kirche noch Wittig zuliebe oder leide. Sie kennen Wittig perſönlich nicht. Wittig-Rofenftod hatten Weite genug, dieſe Gutachter zu ertragen, die nicht platt genug ſind, nach dieſer oder jener Seite die Zenſuren „recht“ oder „unrecht“ zu verteilen. Der Verfaſſer dieſer Zeilen möchte Wittig, den Mann und fein Werk (beſonders den Katholiken), wieder nahe bringen. Es grenzt an Lieb loſigkeit, ihn erſt ſenſationell emporzutragen, und ihn dann zu vergeſſen, dieſen Mann, ber feine Wurzeln bewußt im religiöfen Volkstum belaſſen hat und von da Kraft nimm und ausſtrömt.

Ich empfinde es als ſehr dankenswert, daß „Der Tuͤrmer“ in ziemlich ſchneller Folge dreimal feine Spalten zur Erörterung des Falles Wittig geöffnet hat: im Zanuar- und Zuliheft 1927 und in der vorliegenden Nummer. So bleibt dieſe Sache in Fluß, womit nach den Akten: der Kirche, Wittig und ähnlichen Männern, dem katholiſchen Volke und allen Anteilnehmenden gedient iſt.

Im Zuliheft 1927 (Nr. 10 des 29. Jahrganges) findet ſich in der „Offenen Halle“: „Katho⸗ liſches zum Fall Wittig“. Zwei Stimmen werden zu dieſer Sache laut: Fräulein Dr. Anne Sophie Herde bemüht ſich, die Stellungnahme der kirchlichen Autorität zu rechtfertigen, Hert Wilhelm Hellwig ſpricht mit Wärme für den Ausgeſtoßenen.

Bis zum Erſcheinen der „Akten“ waren wir alle auf verſtreute Veröffentlichungen angewieſen. Nun klärt ſich uns allen der Fall.

Es tritt in der erſten der beiden Zuliheft-Zuſchriften die Spaltung auf: objektiv vorhandene religiöfe Güter und fubjettive Erfaſſung. Das Objektiv-Richtige und das Subßſektiv- Richtige möchten wir gerne im Einklang haben. Wir möchten fo erfaſſen, wie es wirklich iſt. Übrigens iſt in ſittlichen Dingen, ſofern man die Motive aufdecken kann, kaum je viel Gubjeltivismis zu befürchten. Man ſoll mir überhaupt das Subjekt nicht zu ſehr ſchmähen: wir können jeden Augenblick Himmel und Hölle an uns reißen, wenn wir tauglich ſind zum einen oder zum anderen.

Frdulein Dr. Herde zieht in ihrer Außerung Franz von Aſſiſi und unſeren Zeitgenoſſen Romano Guardini heran. Alle drei: Wittig, der heilige Franz und Guardini find durchaus künſtleriſche Naturen. Ich glaube, daß fie den Religionen mindeſtens fo wichtig find, als die Oogmatiler. Und es iſt wohl keine Frage, daß der Herr ſelbſt mehr dem Typus eines Rünftlers als dem eines Dogmatikers zuzuzählen iſt.

Das Fahrhundert der Kirche 295

Pater Hugo Lang aus dem Benediktinerorden („einem künſtleriſchen und milden“ nach Huysmans „jenem alten Rulturorden“, nach Peter Hille) ſoll mit einem Zitate aus feinem Aufſatz „Zur Theologie der Erlöſten“ Anno 1925, die Schlußworte ſprechen: „Oer ſenſible, leicht paffive Sdlefier muß ſich wohler fühlen in der Welt des Org an is mus als in der Welt der Organiſation. Der heutige aktiviſtiſche“ Katholizismus, beſonders preußiſcher Prägung, kann feiner Seele nicht fo beſeligende Heimat fein, daß er das Heimweh verlieren könnte nach jener Zeit, in der die Kirche in wenigen großen Glaubensgedanken ruhte und aufnahme freudig war gegenüber allen Elementen der Weltbildung, die ihr aſſimilierbar ſchienen.“

Maximilian Maria Ströter

Das Jahrhundert der Kirche

a hat in verhältnismäßig jungen Jahren einmal einer ein hohes Kirchenamt anvertraut

erhalten. Man jpürt es am jugendlichen Schwung der Sprache und am neuzeitlichen Blick des Geiftes, mit dem der Generalfuperintendent der Rurmark, D. Otto Oibelius, fein prächtiges Buch: „Das Fahrhundert der Kirche“ geſchrieben. (Furche-Verlag, 1927. Berlin.) Rein Wunder, es wird viel geleſen und viel beſprochen. Lebendiges Leben liegt darin und viel Glaube an die Zutunft der Kirche. Man mag zur Kirche ſtehen, wie man will, heißt es da, die Tatſache, daß wir einem Jahrhundert der Kirche entgegengehen, iſt außer Zweifel.

Man darf nicht nur wiſſenſchaftlich an das Buch herangehen. Es iſt mehr ein Gedicht als eine in trockener Gelehrſamkeit abgefaßte Abhandlung. Nicht ſchwere Theologie führt die Feder, ſondern begeiſterte Liebe zur Sache. Wer mit ſolch ſeeliſcher Hingabe ſein hohes Kirchenamt durchgeiſtet, wie der Verfaſſer tut, dem mag man wohl gerne zuhören in ſeinen Ausführungen über die gegenwärtige Lage der Kirche, wie fie augenblicklich ſeit der Trennung von Nirche und Staat geſehen fein will. Gerade dieſer geſchichtliche Wendepunkt iſt dem Verfaſſer eine Art Er- lebnis geworden, aus dem er in ſchöpferiſch geſchichtlicher Schau Rüdblid und Einblick hält, wie Umblick und Ausblick in vier Büchern: Das Buch der Geſchichte, Das Buch der Betrachtung, Das Buch der Umſchau, Das Buch der Ziele.

Der Biſchofsgedanke vor allem beherrſcht das Buch. Das lebendige Wiſſen um Kirche als organiſche Einheit die aus eigener Initiative zu handeln beftimmt iſt und frei fein muß von welt; licher Obrigkeit, um ſelbſtändig in eigener kirchlicher Verantwortung zu leben innerhalb der kirchlichen Gemeinden. Vo nicht das Biſchofsamt, auch keine Kirche. Schon Luthers Kirchen bewußtſein war ohne dasſelbe nicht denkbar. Nur in Oſtpreußen iſt es aber nach feinem Wunſch gegangen. Da hat Herzog Albrecht den Ordensſtaat ſakulariſiert und die beiden Biſchöfe feines Landes find evangeliſche Biſchöfe geworden. Sonſt aber war es das Landes fuͤrſten tum, das die Kirche in feine Gewalt bekam. Nach kurſächſiſcher Kirchenordnung führte immer ein Zurift die Präfidialgefhäfte, die Kirche wurde ein Zweig der Staats verwaltung. Voller Sorgen ſchrieb Luther ſchon 1543 ahnungsvoll: Der Satan hört nicht auf, Satan zu fein. Unter dem Papſt hatte er die Kirche mit der Politik vermiſcht. In unſerer Zeit will er die Politik mit den kirchlichen dingen vermiſchen. Aber wenn Gott Gnade gibt, werden wir uns zur Wehr ſetzen und werden allen Fleiß daran ſetzen, die verſchiedenen Aufgaben von Kirche und Politik auseinander zu dalten.

de mehr im Laufe der Zeit das landesherrliche Rirchenregiment von den Geiſtesſtrömungen jeweilig ergriffen wurde, im ganzen blieb es im juriſtiſch verwaltungsmäßigen Kirchenbetrieb. Der Landesherr führte das abſolute Wort. Eine innere Begeiſterung für die Kirche konnte darum kaum aufkommen. Adolf Harnack ſtellte feſt, alles Kirchliche iſt im Leben des deutſchen Laien- Proteftantismus fo ſehr zurückgedrängt, daß man es bereits als eine Anmaßung empfindet, wenn ſich die Rirche überhaupt nur ſelbſtändig regt, und daß es wider den guten Ton verftößt,

206 Daz reiigiöfe Amccik

von ihr in der Geſellſchaft zu ſprechen. So wird die Kirche zu einem Beſtandteil der bürgerlichen Kultur. Das Gepräge der Kleinbürgerlichkeit hat fie noch heute.

Durch die Franzöͤſiſche Revolution erwachte das liberale Bürgertum, und durch den Wandel der Gedankenwelt regte ſich auch in der Kirche der Drang zur Selbſtändigkeit. 1846 erlebte des vergangene Jahrhundert die einzige Generalſynode. Wohl bildete ſich eine ſelbſtändige Kirchen verwaltung im preußiſchen Oberkirchenrat, doch erſt die Trennung von Kirche und Staat brachte Kirche mit eigener Verantwortung. Noch find nicht in allen deutſchen Landeskirchen Biſchöfe. Doch der Biſchofsgedanke lebt. Die Entwicklung zur organiſchen Spitze iſt auf dem Marſche.

So ſehr iſt D. Dibelius vom Biſchofsgedanken erfüllt, daß die organiſche Einbettung der per- ſönlichen Führung im Volksganzen bisweilen kaum deutlich wird. Und zwiſchen Volk und Kirde kommt die geheime Spannung gegeneinander und die geheime Sehnſucht zueinander nicht fo recht zum Ausdruck. Das Wort Volkskirche ijt mir im ganzen Buche kaum begegnet. Wohl wird lebendig erkannt: „Das Volk iſt die Aufgabe“, auch wird die Durchchriſtung des Volkslebens leb haft betont.

Sehr bedeutſam iſt der Begriff der Schickſalsgemeinſchaft, wie er durch das Ereignis von 1914 lebendig geworden. Kraftvoll wird dem Individualismus der Garaus gemacht. Wir ſind doch zu ſtark miteinander verkettet und verſtrickt, als daß wir auf die Dauer in Vereinzelung und Abſonderung leben könnten, auch nicht in chriſtlicher Abſonderung. Alle Mechaniſierung und Spezialiſierung mit jener grenzenloſen Entſeelung des Lebens iſt durch die Schickſalsgemeinſchaft als erlebte Volksgemeinſchaft erſchüttert. Die Kirche wird als organiſche Lebensform Heimat fiz den ganzen Menſchen und ſein geſamtes Leben. Sie hat es im Gegenſatz zur Sekte mit der Ge ſamtheit zu tun und rechnet jeden in ihr Bereich, der nicht in beſonderer Weiſe feinen Austritt erklärt.

Der umſpannende Begriff zu Volk und Kirche beißt Kultur. Nicht ift die Kirche Selbftziwed. Keineswegs ſoll kirchliches Selbſtbewußtſein erzogen werden, ſondern der Wille zum Bienft mit dem Mittel der kirchlichen Organiſation. Nicht Verkirchlichung der Kultur gilt es, ſondern Durch chriſtung.

Die große Not nur iſt der unglüdfelige konfeſſionelle Spalt im deutſchen Volkskörper. Kirche und Ruitur werden im deutſchen Volk erſt ihre letzte innere Einheit und Vertiefung im Chriſtlichen des Chriſtentums erhalten. Das Jahrhundert der Kirche groß und weit gefaßt aus der Notzeit der Tage heraus, muß ſich erſt noch als artgemäße volkbildende göttliche Aufgabe und gött- liche Kraft auswirken unter den Völkern insgefamt. Karl Partecke

Das religiöſe Amerika

E. gibt viele Amerikabücher in Deutſchland, aber die wenigſten berichten vom dortigen reli- gidfen Leben. Das iſt ein grober Mangel. Denn, fo leſen wir in dem neu erſchienenen Werl „Das religiöfe Angeſicht Amerikas“ von Herm. Werdermann (Verlag Bertelsmann, Giiters- lob): „wer Amerika beſucht hat, weiß, welche ungleich größere Rolle der Sonntag, der Gottes dienſt, das kirchliche Leben, die religiöfen Vereine drüben ſpielen.“ „Schlecht erfüllen die Buchet ihren Zweck, die das religiös- kirchliche Leben zwar ſtreifen und erwähnen, aber nur in abfälligen, taritierenden Bemerkungen über Heuchelei, über Bigotterie und allerlei lächerliche Einzelheiten. „Vielen Millionen, viel mehr Menſchen als in Oeutſchland, ift drüben Frömmigkeitsübung und kirchliche Betätigung etwas Veſentliches, ein Hauptcharakterzug ihres Lebens“ Anſer Buch verfällt aber nicht der umgekehrten Einſeitigkeit. Es löſt das religiöfe Leben Ameritas nicht vom kulturellen Hintergrund feines Landes los, fondern ſieht es in der ganzen Verflochten heit mit dem Alltagsleben.

Das teligiöfe Amerika 907

Das Buch ift die Frucht eines Dozenten- und Studienaufenthaltes an einem theologiſchen Se- minar in St. Louis. Es iſt erſtaunlich, wieviel Zeit und Kraft der Verfaſſer, ein bekannter prak⸗ tiſcher Theologe in Berlin, neben feiner achtſtündigen Vorleſungstätigkeit aufgebracht hat, um

mioͤglichſt viele Eindrücke und Betrachtungen zu ſammeln und zu verarbeiten. Die Sonntage wer- den reftlos ausgenutzt; an den verſchiedenartigſten Gottesdienſten nimmt Werdermann teil;

abends weilt er in Familien und unterhält ſich über wichtige Fragen. Er lauſcht, läßt auf ſich wirken, läßt ſich von Studenten und Pfarrern ihre Lebensgeſchichte erzählen, von Profeſſoren

".. über fremdartige Verhältniſſe aufklären. Er, der Theologe, intereffiert ſich ebenſo lebhaft für

alle ſozialen und politiſchen Angelegenheiten wie für die religidfen Zuſtände. Groß iſt die Ob- jektivität des Buches; das iſt bei einem deutſchen Gelehrten an ſich zwar normal, aber für uns

Amerika gegenüber nicht leicht. Der Wille zu verſtehen drängt überlieferte Vorurteile zurück.

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ber den Forderungen der Gegenwart.

f 1 4

Bemerkenswerte Streiflichter fallen auf Deutſchland. Wir haben gewiß die alte Kultur, aber Amerika iſt in vielem unvoreingenommener, freier, zukunftsfreudiger. Licht und Schatten werden gerecht verteilt. Man iſt dort weniger von Reflexionen bedrückt, weniger methodiſch geſchult oder wiſſenſchaftlich gebildet, aber dafür wirklichkeitsnah, voll ſtarken Berantwortungsgefühls gegen-

In zwei Hauptteile gliedert ſich das Werk. Der erſte umfaßt ein Tagebuch, das Geſehenes und

7 Gehörtes ganz unmittelbar feſthält; der zweite bringt die zuſammenfaſſende Erörterung. Wertvoll find dabei auch die gelegentlichen Urteile über andere Amerikabüͤcher, die Hinweiſe auf

* 8 er Nam ee

gute Beobachtungen, aber auch auf Enge, Einſeitigkeit, Ungerechtigkeit des Urteils oder Beichöni-

Jungen.

Vas nun Werdermann über die mannigfachen Seiten des amerikaniſchen Lebens bietet, kann natürlich nur angedeutet werden. Die verſchiedenſten Intereſſen kommen auf ihre Rechnung. Geredet wird etwa vom Zuden problem, von den Logen, von der ſozialiſtiſchen Bewegung, vom Verhältnis von Arbeiterſchaft und Kirche, die nicht durch tiefe grundſätzliche und praktiſche Gegen fake getrennt find, von Klaſſenunterſchieden (im Vergleich mit unſeren Verhältniſſen), vom Ar- beitsſyſtem in den Fordfabriken, von der Damenwelt in Neupork, von Zeitungsweſen und Buch- handel, von Schulweſen und Koedukation, vom Propagandacharakter des franzöſiſchen Unter- richts, überhaupt von der Ententepropaganda, vom Begräbniswefen. Geredet wird vom ameri- kaniſchen Volkscharakter, von Wilſon, von den Deutſchamerikanern und ihren Geſchicken, von ameritanifch-deutfchen Zeitungen, von der Stellung der amerikaniſchen Kirchen zur Kriegsſchuld⸗ luge uſw.

Natürlich erwarten wir ein Wort über die Prohibitionsfrage. Mindeſtens ein halbdutzend Mal kommt Werdermann auf fie zu ſprechen. Oder vielmehr, er läßt uns die verſchiedenſten bedeut- ſamen Stimmen darüber vernehmen; noch auf der Rückfahrt verſteht er es, wichtige Äußerungen hochſtehender Mitreiſender darüber ſich zunutze zu machen. Wie vorteilhaft ſticht dieſe vorſichtige Sachlichkeit gegenüber dem oft hämiſchen und törichten Urteil von Deutſchen ab, die über ihren eigenen Geſichts kreis nicht hinauszuſehen vermögen. Hier kommt alles zum Wort, die gegneriſchen Bedenken wie die ſehr ernſten Zuſtimmungen, auch die Hinweiſe auf die für das amerikaniſche Leben fo wertvollen Auswirkungen des Geſetzes. Beſchämend für uns, daß die Chicagoer Weft- liche Boft wegen ihrer gut deutſchen Verſtändnisloſigkeit für den Ernſt der Frage bei den ameri- kaniſchen Chriſten die Weſtliche Peſt heißt! Und was bedeutet es für den ſozialen Fortſchritt, daß als Folge dieſes Geſetzes zu verzeichnen ſind: beſſere Geſundheit der Kinder, die beſſer ernährt werden; weniger Kinderarbeit, da fie nicht fo früh gezwungen find, mitzuhelfen und mitzuver- dienen! Beſſere Bildung für die Kinder, ſtark geſteigerter Andrang zu den höheren Schulen! Verdermann führt das Urteil eines jungen deutſchamerikaniſchen Pfarrers an, der den Win ter

zuvor in Berlin geweſen war: „Er ſei auch in Amerika bedenklich geweſen, ob wohl die Prohibition das richtige ware. Aber ſeitdem er die ſchlimmen Zuſtände in Deutſchland kennengelernt habe, hade er erſt eingeſehen, welcher Segen trotz aller Unvollkommenheiten von der Trockenlegung

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ausginge, fo daß er ſich entſchieden nicht für Aufhebung, fondern für Weiterführung und beler Burdführung einfegen werde, wenn er zurückgekehrt fei.“

Von ber Fülle der Bemerkungen zum kirchlichen Leben kann erſt recht kein genaues Bild gr geben werden. Natürlich liegt hier das Schwergewicht des Buches. Wir werden ganz hiner geführt in das Leben der Gemeinden, in die Gottesdienſtformen, in die Stellung der Rafa innerhalb der Kirche (beſondere Negerkirche! 100 Negerkirchen in St. Louis ), Leben und Git lung der Pfarrer, Wert der Predigt, Art der Gemeindearbeit, Mitarbeit der Laien, Art und & halt der (oft naiv nationaliſtiſch gefärbten) Frömmigkeit, theologiſche Ausbildung, chriſtich Zugendbewegung mit ihrem Drängen auf ſtärkere kirchliche Einheit über die hemmende Fer

ſplitterung hinaus, alles wird lebendig geſchildert und grundſätzlich gewürdigt. Die katholiik U.

Kirche iſt nicht vergeſſen; auch der kleineren Gemeinſchaften, wie der Schwenkfeldianer oder be Mormonen wird gedacht, kurz, ein reiches Leben entfaltet ſich vor unſeren Augen.

Werdermann iſt ſich der ungelöften Probleme (3. B. der Landgemeinden) und Schwierigleite 5 des amerikaniſchen Kirchenweſens voll bewußt, aber er weiß auch die Friſche und optimiftiie Je Arbeitsfreudigkeit, überhaupt die wertvollen Seiten der amerikaniſchen kirchlichen Verhaͤltniſt .d.

ins Licht zu ruͤcken.

Hier noch ein paar Außerungen, die für die Aufgeſchloſſenheit des Buches ein Beleg fein möge. T.;, „Schon oft iſt mir eine große Einfachheit im Denken, Unreflektiertheit, auch Selbſtzufriedenhel s. in dieſem Lande aufgefallen .. Oft bemängeln die Amerikaner, daß in Oeutſchland die Maffer 4... unterſchiede und Rlaffengegenfäge fo ſcharf find, Und wirklich lebt man in dieſem Punkt in Ame }..,.

tita in einer andern Atmofphdre ... In fogialer Einftellung und fozialer Geſinnung gegenüba allen Mitmenſchen können wir von Amerika lernen ... Der ſtärkſte Wert und Reiz der Gemeinde

im ameritanifhen Leben ſcheint mir darin zu liegen, daß die Gemeinde als ſolche zugleich ‚Sc . | |

meinſchaft' iſt ... Es gibt kaum viel geſellſchaftliches Leben außerhalb der Kirchgemeinde. Er. trifft man ſich hier (in den Nebenräumen der Kirche) untereinander und ißt miteinander. Habs ¥ - : geht es einfach zu ... Man iſt ſtreng in der Beurteilung des Paſtors. Ein geſchiedener Paftor in

im allgemeinen unmöglich in Amerika. Er muß fein Amt niederlegen. Man erwartet von dem a

Paſtor Führerſchaft in den brennendſten Fragen, vor allem in den ſozialen Verwicklungen“ . Endlich: „Eine Auseinanderſetzung und gegenſeitige Befruchtung muß zwiſchen Oeutſchland und e, Amerika, Amerika und Oeutſchland viel ſtärker vorgenommen werden, als es bisher geſchehen iſt, bei aller Achtung vor der Eigenart jeden Landes.“

Alles in allem ein Buch für die Gebildeten, die ſich von einem guten Beobachter in dieſes erf im Werden befindliche Land einführen laſſen wollen. G. W.

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find unabhängig vom Standpunkt des Herausgebers

Das Wunder von Konnersreuth

he ich im „Zürmer“ zum „Wunder von Konnersreuth“ theoretiſch Stellung nehme, möchte ich von vornherein der Überzeugung Ausdruck geben, daß es ſich bei den außergewöhnlichen Vor-

gäͤngen in der Umwelt der Thereſe Neumann um wiſſenſchaftlich völlig außer Zweifel geſtellte

Tatſachen handelt, und nicht um einen „raffiniert erſonnenen Volksbetrug“ der katholiſchen

LKLirche. Gewiß, das „Wunder von Nonnersreuth“ mag in materialiſtiſchen Freiden kerkreiſen un " fiebfames Auffehen erregen, aber es ift eine niedrige Unterſtellung, zu behaupten, unfere tatho- füſchen Brüder, die doch auch die Wahrheit ſuchen und vom Vahrheitswillen Chriſti befeelt find,

trieben mit der Welt ein nichtswürdiges Gaukelſpiel.

Welche Erklärung man nun dieſen Tatſachen gibt, das iſt natürlich Sache des einzelnen, Sache des Geihmads und wird beſtimmt durch das Maß der Einſicht und der Erkenntnis, die der ein zelne zu dem Fall herzubringt. Wenn ich mehr geneigt bin, die pſychologiſche Deutungslinie be- züglich der Stigmata zu wählen, auf der ſich Herr v. B. in Heft 2 des Tuͤrmers bewegt, fo will ich damit keineswegs behaupten, daß der Erklärungsverſuch des Herrn Welliſch, der ſich auf geiſtig

; Geſchautes gründet, unrichtig fei. Die Fähigkeit der geiſtigen Schau beſitze ich aber nicht und laffe nich deshalb von andern Geſichtspunkten leiten wie er. Die logiſche Überlegung zwingt uns m. E.

noch nicht, die zweifellos erſtaunlichen Tatſachen in Konnersreuth als Wunder anzuſehen, oder

5 fie im Sinne der katholiſchen Kirche zu deuten. Diefe ſieht in den Stigmatifierten „Gefäße der

göttlichen Gnade“, und in den Stigmata die ſichtbaren Zeichen und äußeren Siegelabdrüͤcke dieſer Gnade. |

Dem kann nun aber der Kritiker entgegenhalten, daß auch die Kon vulſion are auf dem Grabe

des Abbs Paris die Zanſeniſten durch ſeeliſche Vertiefung in das Leiden Chriſti rote Flecken

an Händen und Füßen bekamen. Wus hindert uns, mit Tholuk und andern theologiſchen Kri-

tern anzunehmen, daß wir es hier mit Anſätzen der Stigmatifation zu tun haben? Auch die

katholiſche Kirche kennt ja nicht wenige Falle innerer Stigmatifierung. So bei Margarete Ebnerin von Nürnberg (geſt. 1551), die nur die Schmerzen der Kreuzigung fühlte, ohne daß die Male deutlich hervortraten.

Haß es in der evangeliſchen Kirche ſeit ihrem vierbundertjährigen Beſtehen keinen einzigen Fall von Stigmatiſation gegeben hat, iſt nicht weiter verwunderlich, weil eben das Glaubensleben in ihr keinerlei Vorbedingungen für das Auftreten folder anormalen Erſcheinungen bot und bietet. Es iſt in ihr auch gar kein Wille vorhanden, ſolche Vorbedingungen zu ſchaffen.

Nur da, wo es ein Noſterleben mit einem weltflidtig-mindifden Jdeal gibt, wo einmal ab- gelegte Gelübde den Menſchen lebenslänglich und unwiderruflich an ein ſtilles, betrachtſames Dafein zwanghaft binden, wo einſame Bußübungen, Geißelungen, Selbſtkaſteiungen und asketiſche Enthaltſamkeit dem religiöfen Willens - und Gefühlsleben einen beſonderen Charakter geben, iſt der Boden für Erſcheinungen bereitet, die auf der Linie der Stigmatiſation liegen. die exercitia spiritualia, die geiſtigen Übungen des Ordenslebens, ſchaffen beſtimmte, immer wiederkehrende, immer in gleicher Richtung ſich bewegende ſeeliſche Abläufe und Willensketten, die einen ſuggeſti ven Einfluß von ganz gewaltiger Kraft und Tragweite beſitzen. Es werden da- durch in der unterſchwelligen Zone des Bewußtſeins Vorſtellungen verſenkt und verlagert, die

unter gegebenen Umſtänden bildhaft-deutlich und viſionenhaft- klar aus der Verſen kung empor ſteigen, um dann im Bereich des Degetativ-Rörperlichen bild haft-plaſtiſche Wirkungen feltener

500 i Das Wunder von Rormersteun

Art und von großer Eindrucksfähigkeit hervorzurufen. Das find dann die Stigmata, ſofern eben der Wille zum Mitleiden des Leidens Chriſti als geiſtige Vorbedingung gegeben iſt.

Die im Zahre 1821 verſtorbene Auguſtinernonne Katharina Emmerich hatte, wie ihr Biograph, der Dichter Klemens Brentano, ſchreibt, ſchon in der Jugend Viſionen, in denen das Bild des Gekreuzigten eine große Rolle ſpielte. Bei einem Gottesdienſt flehte ſie, einen Teil der Schmerzen des Erlöfers fühlen zu dürfen und bat inbrünftig, „der Herr möge ihr fein Kreuz feſt in die Hau eindrücken“. Bald darauf zeigte ſich das Bild eines drei Zoll hohen Gabelkreuzes auf ihrem Bruf bein. Diefes Gabelkreuz Y ſpielt nebenbei bemerkt auch in der vifiondren Rückſchau de Thereſe Neumann eine große Rolle. Sie behauptet, Chriſtus habe an einem ſolchen Kreuz ge hangen und nicht an einem, wie wir es uns vorſtellen, und wie es die Rreugigungsbilder unfere Riinjtler zeigen. Darauf kommen wir indeſſen noch kurz zurück.

Der ſtarke, man möchte ſagen, magiſche Wunſch der Stigmatiſierten, an den Schmerzen des Exlöſers körperlichen Anteil zu haben, mit dem Ergebnis, daß ſich dann wirklich ein ſolches Mit- erleben und Mitleiden in plaſtiſcher Beglaubigung einftellt, erinnert uns an ein Wort Jakob Böhmes: „Durch meine Begierde werde ich zu dem, worauf und wonach ſich meine Begierde richtet.“ Es iſt in der Tat ein magiſches Geſetz, daß das kommt, wonach der Menſch ruft und was er in glutvollem Begehren wünſcht.

Es iſt ja auch bei den mediumiſtiſchen Erſcheinungen ſo, daß ſie auftreten, wenn ſie gewünſcht werden, daß fie aber ausbleiben, wenn ſkeptiſche Willenseinflüſſe die Wünſche der Hoffenden und Harrenden durchkreuzen. Wir ſtehen bei all dieſen Dingen alſo einem Tatſachen komplex gegenüber, der von einem einheitlichen Geſetz beberrſcht wird.

Vor einiger Zeit forderten die Freien Gewerkſchaften, man ſolle Thereſe Neumann in eine Ainik bringen und fie dort heilen, damit den , ftandaldfen Vorgängen in Ronnersreuth ein Ende gemacht werde“. Der ſchnellfertige und viel gerühmte geſunde Menſchen verſtand, der dieſe Fer derung ftellt, überſieht hier leider, daß ſich die Heilung ſolcher Kranken nicht mit Gewalt er⸗ zwingen läßt. So wenig man vor ſechzig Fahren die plaſtiſchen Malzeichen der Luiſe Lateau in Bois-d Haine (Belgien) durch Salben, Umſchläge und ondere Mittel heilen konnte, ſo wenig wird es heute gelingen, die Stigmata am Körper der Thereſe Neumann mediziniſch wegzuzauberm. Was auf pſychogenem Wege, alſo durch ſeeliſchen Einfluß, entſtanden iſt, kann auch nur durch ſeeliſche Einflüffe wieder verſchwinden. Allerdings könnte hier dem gefunden Menſchen verſtand für ſeinen Vorſchlag von einer Seite Hilfe zuteil werden, von der er ſie gar nicht erwartet. Es ware nämlich moͤglich, daß die ganz anders geartete Umwelt, die das Krankenhaus und die Klinik gegen über der jetzigen Umgebung der Neumann darſtellen, eine Umſtellung ihrer Willensdispoſition und damit eine Heilung hervorrufen konnte. Zod, Rarbol und andere Sublimate riechen bekannt lich anders als Weihwaſſer und Rauchfaßdämpfe. Mit der Umftellung des Willens, wenn fie nit gleichbedeutend wäre mit einem rohen Zerbrechen der Perfönlichteit der Stigmatiſierten, wire dann das ganze Phänomen der Stigmatiſation der Beobachtung entzogen. Im übrigen hat man den an ſich berechtigten Forderungen derer Rechnung getragen, die die Schauſtellung der Kranken in Konnersreuth verurteilen; den Neugierigen aus aller Herren Ländern, die aus Amerika, Aſien und andern Erd zonen kamen, iſt der Zutritt zu der Ekſtatiſchen nicht mehr geftattet.

Der Weg nach Konnersreuth führt indeſſen nicht nur über die pſychologiſch-religiöſe, fondem auch über die naturphiloſophiſch-biologiſche Fährte. Die Biologie iſt die Wiſſenſchaft vom Leben und feinen Werde und Wachstumsgeſetzen. Man braucht kein Fachmann und naturwiſſenſchaft⸗ licher Spezialforſcher zu ſein, um zu erkennen, daß die Wiſſenſchaft vom Leben, die Biologie, von den plaſtiſchen Malzeichen am Körper der Konnersreutherin außerordentlich viel lernen kann.

Dieſe Malzeichen machen jedenfalls die materialiſtiſche Auffaſſung jener Vertreter der Lebens lehre zuſchanden, die die Urſachen aller Lebensvorgänge in ſtofflichen Bewegungsvorgängen ſuchen. Die Stigmata zeigen uns mit zwingender Beweiskraft, wie viel weiſer die Alten waren, wenn ſie behaupteten, der Geiſt ſei das ſtoffbeberrſchende Prinzip.

Das Wunder von Ronnersreuth 30!

Diefe Stigmata zeigen uns, vom Standpunkt der Biologie geſehen, ferner, wieviel mehr Wabrheit in dem Entwicklungsgedanken des Lamarck liegt, der die Entwicklungsurſache in einem trieb- und willen haften Begehren der ſeeliſchen Kraft ſuchte, gegenüber der Darwinſchen Hypo- theſe, die dieſe Urſache in die äußere Welt, d. h. in die Dinge verlegt, mit denen ein Lebeweſen in Berührung kommt. Wir erinnern hier noch einmal an das ſoeben erwähnte Wort Böhmes. Und wenn wir es hier als Schlüffel gebrauchen, fo bedeutet es: Alle Entwicklung ſtammt aus dem Begehren, und geht von innen nach außen, nicht umgekehrt. Das iſt göttliches Geſetz, und dieſes göttliche Geſetz bewahrheitet ſich auch an den Erſcheinungen in Konnersreuth.

Die Stigmatiſation gibt dem göttlichen Plato, dem Schöpfer der Zdeenlehre, recht, der die Idee, den Willen, den Gedanken vor die Wirklichkeit, vor das Ding ftellt. „Im Anfang war d as Wort“, jagt der Seher Johannes. Das Wort war früher da als die Erſcheinung. Der gött- liche Wille und Gedanke ſteht vor dem Schoͤpfungsakt. Alles was ift, alles Räumlich-Dingliche, iſt erſt erdacht worden. Die Erſcheinung iſt nur der räumliche Ausdruck der Idee, ihr Reflex und Gleichnis. Das Sichtbar-Zeitliche ijt der dukere Stempelabdrud eines Unfichtbar-Ewigen. In- ſofern ift alles Dergängliche, wie der Dichter fagt, nur ein Gleichnis“. Auf dieſem Felde offenbart ſich der tiefe Zuſammenhang zwiſchen Biologie und Religion. Die Wurzelkräfte der Religion, Glaube und Liebe, ſtellen auch die ſtärkſten Geſtaltungspotenzen im Bereich der lebendigen Naturwelt dar. Das lernen wir von dem Mädchen in Ronnersreuth, das, wie Herr Welkiſch richtig ſagt, ein von tiefem Empfinden und inniger Frömmigkeit beſeelter Menſch iſt. Glaube und Liebe ſind die aufbauenden Mächte und lebendig machenden Kräfte des Lebens.

Aus dieſem Geſichtswinkel geſehen, bedeutet die mitleidende Betrachtung der Paſſion Chriſti bei Thereſe Neumann mit jenen merkwürdigen plaſtiſchen Stempelabdruͤcken an Händen und Füßen, mit all den übernormalen ſeeliſchen Vorgängen, die an die Stigmatifation ſich knuͤpfen, keinen Sieg der katholiſchen Kirche über ihre Schweſterkonfeſſionen. Aber einen Sieg bedeutet ſie dennoch: nämlich einen Sieg über den Materialismus, dieſen größten intellektuellen Falſchmuͤnzer aller Zeiten, der, im Gegenſatz zu Plato, den Stoff vor den Gedanken ſtellt und

die Idee hinter die Materie rüdt.

Diefer Sieg über den Irrwahn des Stoffglaubens offenbart ſich aber nicht nur in der ftoff- bezwingenden, materieüberwältigenden Kraft der Seele, die uns am Stigma mit zwingender Beweiskraft entgegentritt; er offenbart ſich in noch viel ſtärkerem Maße in der raum; und zeit- üderwindenden Kraft der Seele, die uns die ekſtatiſch-viſionären Zuſtände der geiſtigen Innen- welt zeigen. Thereſe Neumann iſt nach meiner Anſicht „zeitſichtig“. Wie es ein Vermögen zeit- licher Vorſchau gibt vergleiche meinen diesbezüglichen Aufſatz im Aprilheft des „Türmers“ (29. Jahrg.) —, fo gibt es auch ein Vermoͤgen zeitlicher Ruͤckſchau. Bei dieſer Ruͤckſchau iſt es um- gekehrt, wie bei dem zeitlichen Fernſehen: die Gegenwart verſinkt, die Vergangenheit dagegen wird mit plaſtiſcher Kraft und Deutlichkeit lebendig. Und ſo wird die Zeit vor zweitauſend Jahren, als ſich das Weltdrama auf dem Ralvarienberge abſpielte, der Thereſe Neumann zur greifbar lebendigen Gegenwart. Sie ſieht mit ihrem geiſtigen Auge den Zug nach dem Kalvarienberge und erlebt den Kreuzigungsvorgang in allen Einzelheiten noch einmal mit. Und das merk würdigite iſt, daß die Bilder, die das geiftige Auge das Auge hinter dem natürlichen Auge ſieht, den optiſchen Bildern gleichen, die das natürliche Auge in der Gegenwart ſchaut. Das- ſelbe gilt auch von dem geiſtigen Ohr der Ekſtatiſchen, das da hört, als geſchähe es mit dem natürlichen.

So ſieht die Neumann den Kreuzigungszug, als feier Gegenwartserſcheinung. Sie hört das Ge- ſchrei der tobenden Menge. Sie hört das „Geſchepper“ der Ketten, das auf dem Stein pflaſter fo furchtbar klingt. Sie hört, wie die römiſchen Legionäre auf ihren Trompeten ſo entſetzlich falſch blaſen und hält fic in der Ekſtaſe die Ohren zu. Sie jagt, das Kreuz, das Fefus getragen habe, fei, wie bereits erwähnt, nicht ein Kreuz in bisheriger Vorſtellung, ſondern ein Gabelkreuz geweſen. ger muß ich etwas einſchalten. In einem Vortrage, den ich dieſer Tage in der Lavater-Gefell-

302 Das Wunder von Ronnersas)

ſchaft zu Berlin hörte, wies der Vortragende darauf hin, daß fich in der Kirche zu Dülmen diees Gabelkreuz befinde, und er meinte, die Katharina Emmerich, die, wie ſchon geſagt, in Dülmen lebte, fei in ihren Viſionen durch diefe Kreuzform beeinflußt worden. Dieſer Einfluß fei dam wieder auf die Thereſe Neumann übergegangen, Man habe ſomit allen Grund, anzunehmen, daß der geſamte Inhalt in den Viſionen der Stigmatiſierten entweder aus eigener Erfahrung ode aus fremder Quelle, d. h. aus dem Bewußtſein anderer Menſchen ſtamme. Eine metaphyſiſch Erklärung fei zu verwerfen. Telepathie, d. h. Gedankenuͤbertragung, reiche aus zur Erflansy dieſes Problems. Zc bin jedoch der Anſicht, daß fie nicht ausreicht, um den Geſamtinhel der vifionären Offen barungen der Thereſe Neumann zu erklären. Reicht etwa Telepathie aus, um das zeitliche Fernſehen, das Vorausfühlen und Voraus ahnen zukünftiger Dinge zu erklären! Sollte überhaupt die Neumann von den V.ſionen der Emmerich etwas gewußt haben? Na muß ſich hier ferner fragen: Woher iſt die erſte Vorſtellung von dieſer Kreuzform gekommen Zch bin der Auffaſſung, daß wir ohne die Hypotheſe der zeitlichen Ruͤckſchau gegenüber dides außergewöhnlichen Erſcheinungen nicht auskommen.

Aber hören wir weiter, wie ein Augenzeuge das Erlebnis des Leidens, des fic bei der Ren · nersreutherin vollzieht, ſchildert. Dr. Rolf Reißmann, den ich auch perfönlich über feine Exlebniſſe %-- bei Thereſe Neumann gehört habe, ſchildert feine Eindruͤcke in Nr. 213 des „Tag“ folgendermaßen:. „Wie ich fie wiederſehe, am andern Morgen, iſt fie ein Bild, das niemand vergeſſen wird, der tz je geſehen hat. Da hebt ſich aus den Kiffen ein Mädchenleib, den Oberkörper ſchräg aufgerichtet, die Arme flehend ausgeſtreckt. Die Wunden auf den Händen brennen. Das Antlitz ift verzent von unendlichem Leid. Sie ringt die kleinen, blaffen Hände, als zerbräche ihr Herz. Es zerbricht in der Tat: längjt hat ihr Herzblut alle Umſchläge blutig durchtränkt.

Dieſes Mädchen weint Blut! Aus den ſchmerzvoll geſchloſſenen Augen dringt das Blut über das entſtellte Antlitz: erſt ſind es nur ein paar leiſe Tropfen, ſchließlich aber ſind es zwei breite Bache, die von beiden Augen über die ganze Breite der Wangen hinunterſtrömen. Tauſend Ein- drucke huſchen über die verzerrten Züge, entſetzliche Geſchehniſſe graben ſich in dies geſpannte, lauſchende Geſicht, ihr Korper zudt, fie erlebt die Geißelung des Herrn, und plötzlich, wie die Häͤſcher Chriſtus die Oornenkrone aufs Haupt ſtoßen ſpringen die Wunden des Kopfes auf und färben das Ropftud rot. Gepeinigt gceift fie nach dem Kopf, um ſich die Dornen heraus zuziehen, wieder und immer wieder.

Dann, nach einer Pauſe, hebt ſich der Leib von neuem aus den Kiſſen: wieder füllt ſich das blutüberſtrömte Antlitz mit dem Erleben des Leides; wieder ringt fie hilflos die Kinderhaͤnde. Dann ſieht fie Chriſtus das ſchwere Rreuz tragen; ſieht, wie der Herr fäili, ſieht, wie er abermals fällt; ihr Blick gleitet hin und her, flehend, verſtört. Iſt denn niemand da, der dem Heiland zu Hilfe kommt? Endlich (sft ſich Simon von Cyrene aus der Menge; aber er hilft nicht genug. Dann plötzlich ſucht die Kranke ihre Kiffen wegzuſchieben: ihr iſt unerträglich heiß geworden; denn nun ijt der Zug aus den Häufern der Stadt herausgetreten ins ſengende Licht des Berges Golgatha.

Endlich, endlich, gegen Mittag, ijt die Stunde der Kreuzigung gekommen. Immer wieder fu chen die Finger die Dornen aus dem Kopfe zu rupfen. Dann aber, ausgeitredt, zucken fre unter den Hammerſchlägen, die die Nägel durch die Hände treiben; und nun bleibt der Körper faſt eine Stunde lang {teil aufgerichtet, allen Geſetzen der Schwerkraft zum Hohn, als ſchwebe er, boch, aufrecht, die Arme qualvoll ausgeſtreckt: fie ſelbſt eine furchtbar Gekreuzigte. Der Mund iſt dur ſtend geöffnet; immer wieder ſucht die Zunge um die Lippen, die Lungen röcheln nach Luft, die armen, angenagelten Finger bewegen ſich in hilfloſer Qual. Dann werden die Zuckungen müder, die Bewegung des Ropfes irr, noch einmal baͤumt ſich der ganze Leib und fintt, totenfahl, wie ein Stein, zurüd in die Kiſſen. Der Heiland iſt tot.

Und in den Laken liegt ein arines Mädchen, blutAberftrdmt, geſchunden, genagelt, gemartert und ſchläft einen langen, todaͤhnlichen Schlaf.

das Wunder von Nonnersreutiz 303

Wir gehen auf Zehenfpigen aus dem Zimmer. Draußen im Pfarrgarten fingen die Vogel. Es iſt heller Mittag. Viele Hunderte von Pilgern umlagern das Haus. Vor dem Gajthof wartet der Wagen. Man fährt zucüd in eine andere Welt, die man kaum mehr begreift.“

Ein anderer Augenzeuge ſchreibt in der „Münchener Zeitung“: „Welch fürchterlich erſchüt⸗ ternder Anblick! Thereſe, die geſtern wie ein junges rekonvaleſzentes Bauernmädchen ausſah. liegt nun bier vor uns wie ein altes, ſechzgjähriges, mit dem Tode ringendes Mütterchen.“ Dann fährt dieſer Zeuge, nachdem er feine Eindrücke geſchildert hat, fort: „Ich fühlie, als hatte man meine Reble zugeſchnürt, mein Herz haͤmmerte, ein unbeſchreiblicher Schmerz erfaßte mid, fo daß ich weinen mußte. Haben meine Nerven verſagt? Ach nein, Prälaten neben mir, die gewiß ſchon manch en Sterbenden ſahen, weinten auch, denn erſchütternd war das Bild, das wir jetzt ſahen.“ N

Will man annehmen, das ſtamme alles aus dem Jd der Thereſe Neumann? Sind es Nach- wirkungen aus einem verblaßten Exinnerungsſchatz? jt es der Mederſchlag aus einem früher genoffenen Religionsunterricht und den hier empfangenen Schilderungen des Leidens Chrifti? Oder ſtammt es aus den Gedddtnisbildern derer, die ihre Uıngebung bilden? Reicht hier die Hppothefe der Gedantendbertragung aus? Zch halte es für ausgeſchloſſen.

Unfre Auff aſſung wird noch verſtärkt durch folgende Totſachen. Thereſe Neumann ſieht nicht nur Sefus in feinen Leiden vifionär-rüdfchauend, fie hat ouch noch andere Viſionen, fo z. B. die der Verklaͤrurig Chriſti auf dem Verge, die Viſion des Pfingſtwunders. In der Pfingſtviſion hört fie die Predigt des Petrus vor dem Syn edrium und wiederholt Stellen daraus in aramäifcher Sprache ! Sie hört, wie Petrus mehr einen galiläifchen Dialekt, Rai phas mehr Zudäifch ſpricht. die aramäifchen Worte kommen bei ihr fo klur heraus, daß fie der Hebraiſt und Orientaliſt Pro- feſſor Wutz-Eichſtätt ſofort Überfegen kann. Neuerdings iſt auch noch der proteſtantiſche Theologie; profeffor Kittel, ein hervorragender Orientaliſt, hin zugezogen worden.

an dem oben erwähnten Vortrage ſuchte der Redner auch das Reden in fremden Zungen tele- pathiſch zu erklären. Zch habe aber bereits in meiner Schrift: „Die okkulten Erſcheinungen und das Wunderbare um die Perſon Zeſu“ (Wollermann, Braunſchweig) darauf hingewieſen, doß der ſehr kri tiſche und zurückhaltende Gelehrte Profeſſor Ennemoſer bereits vor ſechzig Jahren ellärte, das Sprechen einer fremden Sprache fei techniſch nicht im Wege der Gedanken übertra- gung zu begreifen. Eine Sprache muͤſſe gelernt und die Sprach und Stimmwerkzeuge müßten trainiert und durch Übung zum Sprechen erzogen werden. Die Reſel Neumann, die noch nie in ihrem Leben mit einer Eiſenbahn gefahren iſt und nur eine ſchwache Oorfſchulbildung beſitzt, hat kein Aramaiſch gelernt. Warum kann fie denn aber Aramäifch ſprechen, wenn Telepathie das Rätfel nicht löſt? Nun, weil fie das, was Petrus ſpricht, mit ihrem geiſtigen Ohr gewiffermaßen phonetiſch Hört und es durch eine geſteigerte überſinnliche Gedͤchtnis kraft wiederholen kann.

Alles hierher gehörige Ritfelbafte wird am widerſpruchfreiſten gelöft durch die Annahme, doß die Thdereſe Neumann das Vermögen zeitlicher Rüdfchau hat, daß fie alſo über ein geiſtiges Schauen verfügt, deſſen Pfeile rückwärts ſchwirren in eine weit zurückliegende Vergangenheit, um ſich in ein Stück Geſchichte einzubohren, das von entſcheidender Bedeutung fuͤr das Leben und die Rulturentwidlung unferes Erdplaneten geweſen iſt. Damit wird dann auch zugleich bewieſen, daß wir es in Zefus, dem Urheber der chriſtlichen Religion, mit einer geſchichtlich en Perſon und nicht mit einer blos mythiſchen Geftalt religidfer Phantaſie zu tun huben.

Die Gelegenheitsurſache, die causa efficiens, des übernormalen Schauens bildet die Aſzeſe. Es iſt eine uralte Erfahrung, daß eine planmäßig, mit großer Strenge durchgeführte aſzetiſche Adtoͤtung des Leibes und ſeiner Forderungen eine wunderbare Helle, Lebendigkeit und Tiefe des Bewußtfeins hervorruft. Es werden dadurch Krafte des unterſchwelligen Seelenlebens frei gemacht, von deren Reichweite und Tiefe die meiſten Menſchen keine Ahnung bisher hotten. detzt, wo diefe Rrafte in das Scheinwerferlicht der Erlebniſſe in Ronnersreuth gerüdt find, dam; Mert in manchen Röpfen, die ſich viel auf ihre Aufklärung zugute taten, die Erkenntnis auf, wie

504 j Zur Werkeg emeinhatteeay

weit der Menſch des 20. Jahrhunderts noch davon entfernt ift, fic ſelbſt erkannt und entrife: zu haben.

Konnersreuth ſtellt uns vor eine Grenzfrage der menſchlichen Erkenntnis. Das kommt uns e eindringlichſten zum Bewußtſein angeſichts der Tatſache, daß Thereſe Neumann ſeit Veihnate 1926 keine feſten Speiſen mehr zu ſich nimmt. Ein Arzt, der über dieſe Frage referierte, ment im Verlaufe feiner Ausführungen, wir müßten uns auch gegenüber dieſer erſtaunlichen Tatar auf die Linie einer natürlichen Erklärung ſtellen. Kürzlich habe ein Profeſſor der medigniige Wiſſenſchaft eines Falles Erwähnung getan, bei dem feſtgeſtellt worden fei, daß ein Pati: aus der Luft Fluͤſſigkeit in ſich aufgeſogen habe. So könnte man auch annehmen, daß es Ae ſchen gäbe, die Nährſtoffe aus ihrer Umwelt in ſich hineinzuziehen vermochten. Wenn das we auch fo richtig wäre, dann endigte unſere Weisheit trotzdem in einer Gadgaffe. Nicht einmal er Naturvorgang, der ſich in der Welt Galileis und der klaſſiſchen Mechanik abfpielt, ift ef.

wenn wir feinen mathematiſch- phyſikaliſchen Ablauf darlegen. Haben wir etwa die magische, x

proteusartige Urkraft erkannt, die die zur Erhaltung des Körpers notwendigen Stoffe aus de Umgebung heranzieht, wenn wir zeigen, daß ein folder Prozeß vorliegt und wie er ſich abſpich⸗ 1 Es gibt gegenüber dieſen auf der Grenzſcheide der menſchlichen Erkenntnis liegenden dinge nur ein ahnendes Staunen, kein klares Schauen. Es handelt ſich bei alledem um ein fauftiche Ringen des Menſchen um feine Seele. Und da die Seele des Menſchen göttlichen Uefprung w göttlichen Geſchlechts iſt, fo iſt das Grenzgebiet des Erkennens, wie es hier vor uns liegt, heir Land, das uns befiehlt, die Schuhe auszuziehen und es mit Ehrfurcht zu betreten. W. Kuhaupt- Beh

Zur Werksgemeinſchaftsfrage

Zu dieſem Thema, das wir im Türmer ſchon ihe

behandelten, erhalten wir nachfolgende Zuſchtiſter

ie die Anſichten doch fo weit auseinander gehen! Da ſchreibt Profeſſor W. Nein in Ht!

des „Türmer“, daß es feiner Auffaſſung nach Aufgabe der chriſtlichen Gewerlſchafn

ſei, in Bekämpfung der Ideenwelt des Marxismus den Werksgemeinſchaftsgedanden auß

nehmen, weiterzuentwideln und praktiſch durchzuführen. Ungefähr zur gleichen Zeit ered

Dr. Rofital in der „Deutſchen Wochenſchau“ (dem Ludendorff-Blatt) einen von ftatr

Wirklichkeitsſinn erfüllten Aufſatz gegen den Werksgemeinſchaftsgedanken. Rofital flict m den Worten:

„Solange die „Unternehmer“ ausſchließlich Angeſtellte ihrer Aktionäre, nicht aber auch & Arbeiterſchaft fein wollen, werden fie ſich mit den Schutzorganiſationen der Arbeiter abfink! müſſen. Wir wünſchten, fie täten es bereitwilliger und gründlicher als bisher. Dann mürkt die Saat des Marxismus in den Gewerkſchaften nicht ſo üppig ins Kraut geſchoſſen ſein.“

Profeſſor Rein ijt alſo der Anſicht, dem Marxismus mit Hilfe der Werksgemeinſchaft Abbrut tun zu können. Rofital dagegen glaubt, daß der Marxismus durch den Kampf gegen bie Gem ſchaften gefördert werde. Nach faſt 40 jähriger Arbeit in der nationalen und 30jähriger Tätigket in der gewerkſchaftlichen Bewegung geſtehe ich, daß ich Dr. Rofitals Anſicht teile und ers Meinung nicht nur für falſch, ſondern auch für verhängnisvoll halte.

Herrn Profeſſor Rein find Marxismus und Gewerkſchaftsarbeit fo ziemlich dasselbe, Mar: mus Klaſſenkampf Gewerkſchaftsarbeit Streik ſind Dinge, die für ihn auf der gleiche Linie liegen. Und da die chriſtlichen Gewerkſchaften auch nötigenfalls ſtreiken der Kult nationale Handlungsgehilfen-Verband tut das indeſſen im Notfalle auch fo findet et kit weſentlichen Unterſchiede mehr.

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Zur Wertegemeinfcaftefrage 305

Solchen Anſichten gegenüber muß feſtgeſtellt werden, daß der Streik, alſo die organiſierte Arbeitsverweigerung, keine Erfindung des Marxismus ift. Schon unter den primitiven Ver- hältniſſen des Mittelalters, als es noch keine Großbetriebe gab, kamen Streiks vor; ſie wurden trotz des Widerſtandes der Zünfte, Gilden und Behörden energiſch und zum Teil ſiegreich durch; ge führt.

Auch der Klaſſenkampf iſt keine Errungenſchaft der Neuzeit. Waren nicht die Bauernkriege Rlaffentämpfe? Haben Marx oder die Gewerkſchaften etwa den ſchleſiſchen Weberaufſtand ver- ſchuldet? Wir würden Klaſſenkämpfe auch ohne Marx haben. Die Arbeitgeber in Thüringen Sachſen, Schleſien uſw., die ſich vor 50, 60 oder 100 Jahren ſo ungeheuerlich am deutſchen Volke verfündigten, daß fie die ganze Familie der Arbeitnehmer bis zum fünfjährigen Kinde herab in ihre Fron zwangen, haben für den Klaſſenkampf mehr getan als Karl Marx. Wir chriſtlich- nationalen Arbeitnehmer bekämpfen Marx, weil er den Klaſſenkampf will, weil feine Nachfolger ihn bewußt ſchuüͤren, um die jetzige Geſellſchaftsordnung ad absurdum zu führen und bei Gelegenheit umzuſtoßen. Wir bekämpfen den Marxismus, weil wir die jetzige Gefell- ſchaftsordnung, von deren Reformbedüͤrftigkeit wir überzeugt find, immer noch für beſſer halten als den Zukunftsſtaat der allgemeinen Sklaverei, wie ihn die Sozialdemokratie erſtrebt, den Staat, in dem der Durchſchnitts-Hammel das Normalmaß bilden würde,

Wir ſehen aber auch, daß der Klaſſenkampf da iſt und daß er nicht dadurch aus der Welt ge- ſchafft wird, daß man ſich gegen ihn erklärt. Für uns iſt er nicht nur Urſache, er iff auch Wirkung. Wir ſehen ebenfalls, daß der Klaſſenkampf nicht nur von links angeblaſen wird. Die „nationalen“ Arbeitgeber, die ſich nicht ſcheuen, ohne Not Zehntauſende von Arbeitern aufs Pflafter zu werfen, ſind genau ſolche Klaſſenkämpfer, wie auf der linken Seite etwa die kommuniſtiſchen Führer es ſind.

Die Werksgemeinſchaften laſſen wir uns nicht aufreden. Wir Arbeitnehmer ſind Manns genug, um uns unſere Organiſationen ſelber zu ſchaffen und die Organiſationsform ſelber zu beſtimmen. die Vormundſchaft aller der Doktoren, Finanzräte, ehemaliger Offiziere uſw. lehnen wir dankend ab, zumal dann, wenn ſie im Auftrage der Arbeitgeber zu uns ſprechen.

Für die Ablehnung der Werksgemeinſchaft ſind unter anderem folgende Gründe für uns maßgebend:

1, Die Gewerkſchaften können alle Arbeitnehmer umfaffen, die Werksgemeinſchaften nur einen Heinen Teil. Für größere, unperfönliche Unternehmen, Aktiengeſellſchaften uſw. eignet ſich die Werksgemeinſchaft nicht, ebenſowenig für Heine Unternehmen mit nur einigen Arbeit- nehmern. Ungeeignet find fie auch für die meiſten jüdiſchen Unternehmen und für ſolche, die mit ausländifchem Kapital arbeiten.

2. In der Werksgemeinſchaft iſt der Arbeitgeber, der ja das Haupt der „Gemeinſchaft“ ſein ſoll, ſtets der Mächtigere. Zu Zeiten wirtſchaftlicher Kriſen würde er der Diktator fein. Von einer praktiſchen Gleichberechtigung könnte nie die Rede fein.

3. Die Werksgemeinſchaft würde zu einer Atomiſierung der Arbeitnehmerbewegung führen. Zu einer ſolchen kann kein Arbeitnehmerführer die Hand bieten, ſelbſt wenn ihm die heutige Arbeitnehmerbewegung durchaus nicht gefällt.

4. Die Werksgemeinſchaft muß gerade dann verſagen, wenn der Arbeitnehmer ſie am nötigſten hat: bei Arbeitsloſigkeit. Bei Betriebseinſchränkungen oder Betriebsaufgabe kann wohl die Gewerkſchaft, nicht aber die Werksgemeinſchaft, dem Arbeitnehmer helfen.

5. Die Werksgemeinſchaft kann gegen unbillige Werksleiter nur ungenügenden Schutz bieten.

6. Die Werksgemeinſchaft iſt, ob fie will oder nicht, dem Be rufsgedanken feindlich, weil fie alle Arbeitnehmer eines Betriebes umfaßt, alſo gelernte und ungelernte Arbeiter und Ar- beiterinnen, Techniker, Werkmeiſter, Kaufleute, Schreiber, Boten uſw. Eine Hauptaufgabe der Arbeitnehmerverbände beiteht aber in der Pflege des Berufsbildungsweſens. Dieſes muß

bei feineren und mittleren Werksgemeinſchaften unbedingt verkümmern. der Tarmer XXX, 4 20

306 Zur Wertegemeinisettsiage

7. Ben Werksgemeinſchaften würde jede Wirkung nach dem Auslande hin verſagt fein, ob wohl dort Tauſende deutſcher Volksgenoſſen arbeiten. Es ijt eine wichtige Aufgabe nationale Gewerkſchaften, die Verbindung der Berufsgenoſſen im Auslande mit dem Vaterlande zu pflegen.

Bezeichnend iſt übrigens, daß wohl noch nie eine ſogenannte Werksgemeinſchaft entſtanden iſt, ohne daß Lift oder Gewalt von der Arbeitgeberſeite eine Rolle geſpielt haben. Künſtie entfachte Bewegungen können ſich niemals mit naturgewachſenen Bewegungen meſſen.

| A. Zimmermann, Schriftleiter im Deutſchnationalen Handlungsgehilfen-Verbande

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Die vorftehenden Ausführungen des Herrn Zimmermann zum Problem der Werksgenreir

ſchaftsbewegung veranlaſſen mich, meinen perſönlichen Standpunkt nochmals kurz zu um reißen. Als wiſſenſchaftlicher Pädagoge ſtehe ich völlig außerhalb der wirtſchaftlichen und auch parteipolitiſchen Kämpfe der Gegenwart. Irgend ein Intereſſe, für die Gewerkſchaften oder gegen die Gewerkſchaften einzutreten, liegt bei mir nicht vor. Don der Bildungsfrage ber mußte ich aber zeitlebens auch die für unſer Volksdaſein ſo entſcheidenden Fragen der ſozialen Spannungen und Auseinanderſetzungen beobachten und beurteilen, wobei die Ridtidme meines Denkens nie eine andere fein konnte, als das nationale Gemeinſchaftswohl zu fördern durch Mitwirkung beim fozialen Ausgleich. Daß mir unter dieſen Geſichtspunkten die Tatſachen⸗ welt des Klaſſendualismus und die damit zuſammenhängende marxiſtiſche Lehre vom Rlaffer- kampf als ein Verhängnis für ein geſundes Volksleben aufgeſtoßen find, teile ich als Stimmun und Empfindung mit allen ernſten Menſchen der Gegenwart. Die Frage war für mich die, welche Ideenkräfte und welche praktiſchen Bemühungen im Sinne der Löfung ber ſozialen Frage wertvoll und zweckmäßig erſcheine n. (Siehe den im Türmet abgedruckten Briefwechſel eines Profeſſors mit einem Arbeitnehmer und einem Arbeitgebet, Suni 1925.) Dabei ſtieß ich in der vorrevolutionären Zeit auf die „Bodenreform', in der nach revolutionären Zeit auf die Ideenwelt Dr. Stadtlers und „feine Arbeit für den Wiederaufbau Oeutſchlands“. Aus den Bemerkungen des Herrn Zimmermann geht hervor, daß er dieſe Ideen welt nicht kennt und offenbar auch von dem praktiſchen Wirken Dr. Stadtlers keine Vorſtellung bat. Seine Polemik richtet ſich nicht gegen eine konkrete Ideenwelt und gegen ein konkretes Wirken, ſondern nur gegen eine ihm vorſchwebende Werksgemeinſchaftsbewegung, als deren Sinn und Ziel er ſcheinbar nur die Zerſtörung der Gewerkſchaften und die Atomiſierung der Arbeiterſchaft kennt. Gerade dieſe Vorſtellung ift ein Beweis dafür, daß Herr Zimmermann zu- näͤchſt einmal gründlich ſich mit dem geſamten Schrifttum der Werksgemeinſchaftsbewegung aus- einanderſetzen muß. Wenn er ſich aber auf den Standpunkt ſtellt, daß er Belehrungen von ſeiten der „Ooktoren“ und „Finanzräte“ von vornherein ablehnt, dann ſchaltet er ſich damit ſelber aus der Diskuſſion aus, da er als Schriftleiter des O. H. V. doch ſicher nicht zu den, pral⸗ tiſchen“ Arbeitnehmern, ſondern zu den diskuſſionsfähigen Geiſtigen gerechnet werden will.

Aus dem Schrifttum des D.. V. geht hervor, daß der D.. V. ſelbſt durch Männer wie Broker für „Werkgemeinſchaft“ eintritt. Auch ſetzt ſich der O. 9. V. in feinen Veröffentlichungen für die berufsſtändiſche Erneuerung des Volkes und den berufsſtändiſchen Aufbau des Staates ein, Wenn darin keine Wortanleihen zu ſehen find, dann muß zwiſchen der Werksgemeinſchafts⸗ ideenwelt Dr. Stadtlers und der Werkgemeinſchaftsideenwelt, zu der ſich der D. H. B. bekennt, eine Brücke moglich fein. Herr Dr. Stadtler hat in feinen Schriften und in feiner praktiſchen Erneuerungsarbeit nach dieſer Richtung hin fo viel Brücken gewieſen, daß man ſich wundern muß, warum bei beiderſeitigem guten Willen noch keine Zuſammenarbeit zuſtande gekommen iſt. Ich denke dabei vor allem auch an einen Aufſatz Dr. Stadtlers in der wiſſenſchaftlichen Zeit⸗ ſchrift der chriſtlichen Gewerkſchaftsbewegungen „Deutfche Arbeit“ vom Mai 1921, wo er unter

gur Wertsgemeinſchaftsfrage 5 307

der Überſchrift „Was fordert die Stunde von der chriſtlichen Gewerlf[dhafts- bewegung?“ in überzeugender Weiſe den chriſtlichen Gewerkſchaften den Weg weiſt. In jenem Aufſatz hebt er hervor, daß es ſich nicht um Worte dreht, auch nicht um Vereinsmeierei, ſondern um die entſcheidende Frage, ob die chriſtliche Gewerkſchaftsbewegung aus ihrem chriftlich- nationalen und arbeitsgemeinſchaftlichen Denken heraus wirklich zu einer ſchöpferiſchen Um- geſtaltung unſeres unmöglichen geſellſchaftspolitiſchen Zuſtandes ſchreiten wird oder nicht.

Herr Zimmermann erkennt den gegenwärtigen Gemeinſchaftszuſtand an. Wenn er von der Reformbedürftigteit der Geſellſchaftsordnung ſpricht, bleibt er aber in der Kritik des Unter nehmertums ſtecken, ſtatt dieſe Kritik, wie es Dr. Stadtler und die überzeugten Vertreter der Werksgemeinſchaftsidee es tun, auf das liberaliſtiſche Syſtem der wirtſchaftlichen Führerſchicht und auf das marxiſtiſche Syſtem der proletariſchen Kampforganiſationen auszudehnen. Wenn der Marxismus nicht nur Urſache, ſondern auch Wirkung des geſellſchaftlichen Zuſtandes iſt, dann muß derjenige, welcher den Marxismus überwinden will, die Sonde an die Ideenwelt der falſchen Geſellſchaftsordnung ſelbſt anlegen. Die Schriften und auch die praktiſchen Arbeiten Dr. Stadtlers find auf das Ganze gerichtet. Die Kritik am Unternehmertum iſt mindeftens fo ſcharf, wie die Kritik an der Führerſchicht des Proletariats. Und es wird jeder zugeben, daß uns mit ſolchem Wahrheitsmut heute mehr gedient ift als mit irgendwelcher einfeitigen Ver- herrlichung einer organiſatoriſchen Teilerſcheinung der alten Geſellſchaftsordnung. In den Ausführungen des Herrn Zimmermann handelt es ſich um eine Polemik „pro domo“, nicht um grundſätzliche Auseinanderſetzungen mit einer Zeitidee, während ein Blick in die Schriften Dr. Stadtlers genügt, um zu erkennen, daß es ſich bei der Werksgemeinſchaftsidee um eine ſchöͤpferiſche Zeitidee handelt. Mit negativer Kritik gegenüber einer poſitiven Ideenwelt ift nichts zu erreichen, nur mit dem ernſthaften Wettbewerb in der Frage der Realiſierung der Idee. Wenn der O.. B. und die chriſtlichen Gewerkſchaften bei dieſem Wettbewerbskampf die Palme erringen, wenn die Idee durch ſie ihre Apoſtel und ihre praktiſchen Geſtalter findet, dann wird ſich niemand darüber mehr freuen als Dr. Stadtler und alle die, welche heute ſich für die Idee der Werksgemeinſchaft einſetzen.

die polemiſchen Spitzen könnten von beiden Seiten leicht vermieden werden. Denn beide Teile wollen die Gemeinſchaft von Unternehmertum und Arbeiterſchaft im Werk. Ob man das Vertsgemeinfchaft oder Werkgemeinſchaft nennt, ift nur ein Wortſtreit. Ein Unterſchied liegt vielleicht darin, daß Dr. Stadtler Wert darauf legt, Arbeitnehmerſchaft und Unternehmertum von der Zelle des Betriebes aus in berufsſtändiſch-heimatlich gegliederten Wirtſchaftsgruppen in einem Syſtem der Gegenfeitigteit zu gliedern, was ohne Zweifel etwas geſundes und richtiges iſt. der O. H. B. macht dagegen von der Werkgemeinſchaft gleich den Sprung in die Arbeits- gemeinſchaft zentraler Arbeitnehmerverbände mit zentralen Arbeitgeberverbänden, wobei der Nachdruck wohl auf den Machtzuwachs der zentralen Gewerkſchaftsorganiſation gelegt wird.

Es ſcheint mir, daß der O. H. B. mehr von der gelernten Profeſſion ausgeht, entſprechend ſeinem organiſatoriſchen Aufbauprinzip, und dieſen Profeſſionsbegriff über die Realitäten des Arbeitslebens hinaus idealifiert, während umgekehrt Dr. Stadtler vom Arbeitsleben ausgeht und dort die gegenſeitige Verantwortlichmachung von produzierenden Unternehmern und produzierenden „Arbeitern“ als Werksgemeinſchaft und als arbeitsgemeinſchaftlcher Berufs- and fordert. Ich möchte annehmen, daß beide Geſichtspunkte ausgeglichen werden können. In den Schriften Dr. Etadtlers ſind genug Anhaltspunkte gegeben, um den Ausgleich zwiſchen dem alten profeſſionaliſtiſchen Denten und dem modernen arbeitsgemeinſchaftlichen Senken herbeizuführen.

Am beften wäre es, wenn die Herren des O. 9. V. fic) mit Dr. Stadtler direkt auseinander; legen würden. Mit dieſem Wunſche möchte ich, nachdem meine Abſicht, die Türmergemeinde auf die Bewegung der Werksgemeinſchaft aufmertam zu machen, hinreichend erfüllt ift, meiner · ſeits die Auseinanderfegung ſchließen. W. Rein

Literatur, Bildende Nunſt, Mujik

Johanna Wolff

Zu ihrem 70. Geburtstage am 30, Januar 1928

n ihrer engeren und engſten Heimat pflegt der Weſenskern jeder charaktervollen und ir fonderbeit jeder Rünftler- und Dichterperſönlichkeit fo tief verwurzelt zu fein, daß zu ihren vollen Verſtehen die Renntnis eben ihrer Heimat gehört.

Sobanna Wolff ſtammt aus Oſtpreußen. Der Blick der Bewohner dieſes Landes, von jeher gewöhnt, mehr über weit ausgedehnte Niederungen als über Hügel zu ſchweifen, iſt ſcharf und hell. Während ihre Seele von heimatlichen Nebeln in phantaſtiſche Träume gewiegt wird, ver ſinkt ihr Geift unter häufig bewölktem Himmel leicht in ſchwerſinniges Grübeln.

Zn Johanna Wolffs Gedichten brodelt und brauſt vulkaniſch in heimlichen Untertönen eine mühfam gebändigte Feuerfeele, die bei erdentrüdter Hochſpannung ſich hinaushebt aus der Enge des Irdiſchen hinauf in „Übererdliche“ Verklärungen. Herz und Hirn wurzeln trotzdem fet im Boden der Wirklichkeit. Wie vordem an der Unterelbe in abwechſlungsreiche Heidelandſchaſt, jo [haut fie heute bei ſtillem, nur leicht bewegtem Leben in die anmutvolle, ſonnige Landſchaf am Nordende des Lago Maggiore, in eine faſt ſubtropiſche Blütenwelt auf eigenem Grund un Boden, wo ihr Sinnen inſtändig geht auf das, was hinter dem Greifbaren und Sichtbaren fer muß, was in den Bingen lebt und webt. So find ihre Dichtungen inbrünſtige Verdichtungen des Erſchauten und im Erſchauen ihr Erſchloſſenen. Im innigen Umgang mit den lautlos leben digen Schöpfungen der Natur kam ſie zu goethiſchem Glauben an die Einheit Himmels und der Erde, des Korpers und des Geiſtes, des Lebens und des Todes, von Mann und Weib, zun Glauben an das Leben, „an das große, wundervolle Regen und Bewegen in Bergesgründen und in Felſentiefen. Da iſt nicht tot, was ſtumm und ruhend iſt.“ So formte ſich die Einheit ihres Charakters, ihrer Runft- und Welt- und Gottanſchauung. Bei ihrer Ausſchau auf Gott gelangte ſie zu unbeirrbarem Menſchenglauben; er macht den Reichtum ihrer zwingenden Dichterperſönlichkeit aus. Sie iſt von Menſchenehrfurcht erfüllt. Nicht genug tun kann fie ſich bald in feierlichen, bald in glutenden Hymnen und Oithyramben auf die ſonnennahen Höhen- wohnungen der Menſchenſeele, auf die unbegrenzten Möglichkeiten der heiligen Menſchen ſchöpferkraft, auf die unerſchöpfliche, unergründliche Formenfülle des Daſeins: Leben. Es if ein purpurner Glanz in ihr, eine Zärtlichleit und eine ſchauernde Inbrunſt für alles Lebendige, ein Armebreiten und Umfangen, Allen Dingen tritt fie nahe mit großer Liebe. Wie ſieben Jaht- zehnte früher ihr Landsmann Wilhelm Jordan, fo kommt aud fie, wahrſcheinlich ohne Kenntnis der längſt verſchollenen Frühgedichte Jordans, die den Titel „Schaum“ tragen, zu der Thefe: Der Menſch ſchuf ſich ſelber höher ſchaffend: Gott.

Einen Freudeglauben möchte fie verkünden, Helle verbreiten, eine Wegbereiterin fein für reine, liebevolle, freudige, edle, ſchönheitserfüllte Menſchen. Dankbar fühlt fie fic für großen Schmerz, der ihr die Wurzel alles Seins zeigte und fie auf fic ſelbſt feft ins Leben ſtellte: in Liebe. „Auf,“ fo ruft fie, „laßt uns Götter ſchaffen, die uns gleichen! Zermürbte Heiligtümer fraßen unſere Kraft. Es harrt das jungfräuliche Leben der Befruchtung, daß, von geballten Kräften überwältigt, ein neuer Heiland ſprenge ſeinen Schoß.“

So fingt jie in ihren Gedichten „Von Menſch zu Menſch“, die vor zehn Jahren zuerſ herauskamen und nun in vierter Auflage vorliegen. Und ähnlich flammt und haͤmmert es in „Pu

Das neue Theater 309

ſchönes Leben“, Gedichten, bei denen Liliencron, nach ſeinen eigenen Worten, vor Freude erſchrak.

Im letzten, leidenreichen Jahre gelangte ſie zu jener ſtillen, ſchier jenſeitigen Heiterkeit des Herzens, zu jenem Hell- und Weitſehen, das alle bekannte und unbekannte Schöpfung zueinander bringt. Oaraus erwuchſen die ſchönen Aberjinnliden Gedichte „Wanderer wir“. Plötzlich, unvermittelt, nach Stunden grauslichen Leidens, kam dies Leuchten, dies hellſichtige Erkennen, übermädhtig, wie eine Flut, daß fie ſchrieb, ununterbrochen vierzehn Stunden lang, ohne Er- ſchöpfung und ohne Nahrung zu ſich zu nehmen. Innerlich wuchſen fie aus ihr heraus. Und fo wurden fie recht eigentlich der Inbegriff, das Endergebnis ihres Bafeins: aus dem Urumwölkten berauffteigend, das ungeteilte Gottgeheimnis erfühlend, zu dem Urumwoͤlkten wandernd; Kräfte empfindend, die Diesfeits und Zenſeits verbinden; die fortlaufend in der Bildung begriffene, doch vom Menſchen unbegriffene, ewig unfertige Schöpfung gefühlsverllärend erahnend.

Welchen wunderlich gewundenen und doch von beherzter Folgerichtigkeit gekennzeichneten Weg legte das bettelarme Waifentind „Hanneken“ zurück! Sie ſchildert ihn in der fo betitelten charaktervollen Geſchichte ihrer erlebnisſchweren, von allen üblichen Maͤdchenfreuden ausge fperrten Jugend, einem Buche, das nicht warm genug unferen heranwachſenden Töchtern und ihren Müttern und Erzieherinnen empfohlen werden kann. Es iſt von fo freier wie tiefer Re- ligioſität jenſeits aller Bekenntniſſe.

In dem gegenwärtigen Ohnmachtszuſtande des Vaterlandes ſchmettert Johanna Wolff, als unbeirrbar leidenſchafts volle und edelgeiſtige Vollnatur von zagloſer Geiſteskraft, als eine der wenigen vaterländifch innig ergriffenen Dichterinnen, wuchtige Deutſchlandlieder ins Volk. Und wie im Lied, fo verkündet fie auch in ihrem ſpringlebendigen vaterländiſchen Aufbauroman „Hans Peter Kromm der Lebendige“, einer „Geſchichte von Ufer zu Ufer“, die Unfterb- lichkeit des, allen Gewalten zum Trotz, allzeit doch immer wieder machtvoll ſich auswirkenden deutſchen Gedankens.

Auch als Novelliſtin („Schwiegermutter“) und als dramatiſche Dichterin iſt Johanna Wolff an die Offentlichkeit getreten. In den zeitloſen Legenden „Oer Liebe Gott auf Urlaub“ ſucht die Dichterin die Menſchheit hinüͤberzuretten zu ſelbſtbeherrſchter, zielgeſchärfter Willens! energie und Entſchlußkraft, zu tapferherziger Ausdauer, eiſerner Beſtändigkeit im Eingehen in die irdiſchen Aufgaben oder zu freudig beglüdten Eingehen ins Reich der Toten. Dieſer Liebe Gott, in deſſen unbeendigter Schöpfung Regellofigteit Weltregel iſt, labt und lindert, ermuntert und ermutigt, ſpendet Croft und trocknet Tränen durch ſeeliſche Befreiung vom Übel. Die ſchönſten und tiefſten dieſer Legenden, wie „Oer Muſiker“, „Die vielen Wohnungen“, „Dichter ⸗Menſch“, gleichen muſikaliſchen Fugen: eine geheimnisvolle Melodie ſteigt allmählich an zu vollem Rang, bis in Bruderſphären Wettgeſang ertönt.

Die Welt der Runft der Johanna Wolff iſt fo groß wie die Seele des Menſchentums.

Paul Wittko

Das neue Theater

Sys unſer deutſches Theater in grauenerregender Weiſe heruntergekommen und ver- umpft ift, haben ſchon manche erkannt und auch öffentlich ausgeſprochen. Sowohl der Spielplan als die Oarſtellungsart haben geſtrenge Kritiker gefunden (3. B. Papeſch, „Vom Fegefeuer des deutſchen Theaters“). Auch hat man da und dort Verſuche gemacht, der ſterbenden Bühne wieder aufzuhelfen. Freilichttheater, Lalenſpiele u. dgl. find ſolche Verſuche.

Auch die beſten darunter für nicht ausreichend erklärt Hans Brandenburg in feinem Buche: „Das neue Theater“ (H. Haeſſel, Verlag, Leipzig; Preis M. 18.—) mit dem Untertitel: „Exlebniſſe Forſchungen Forderungen“. Seine ungemein ſtrenge Kritik ift durch das

310 Dos neue Cheater

tiefe Ethos feiner Schrift bedingt und gerechtfertigt. Mag auch gunddft das neue Theater noch eine Theorie fein, fo iſt doch dieſe von Brandenburg in geiſtvoller Weiſe begründet, entwickelt und vorgetragen. Er glaubt an die Bühne, die er ſich erſehnt, für feine eigenen Dramen, die er verlangt, für das deutſche Volk. Brandenburg ift ein „Bühnenblut“, aber in einem ſehr ver- tieften Sinne. Am Eingang zu feinem neuen Theater ſtehen Hölderlin und Nietzſche und Schiller.

Aus dem Kriege, den er mitmachte, ſteht Hans Brandenburg das Erlebnis auf: ſchwanger und fruchtbar für die Zukunft. Das Erlebnis iſt ohne Sinn, wenn die deutſche Kultur nicht daraus lernt und gewinnt. So führt uns der erſte Teil in die Gedanken des Autors auf Kriegs eiſenbahnfahrten quer durch Oeutſchland oder im Schützengraben, Gedanken, die ſo hoch fliegen, daß keine feindliche Granate fie erreicht. Kritiſcher Idealismus kennzeichnet dieſe packenden Ausführungen. Kultur ſieht Brandenburg ſehr tief hauptſächlich in der Dichtung als Wortkultur, die echte Geiſteskultur ſein muß, und in der Bühnendichtung, die ihm beſonders am Herzen liegt. Kultur verſucht hier (nach ſeiner Bemühung) Kult zu werden, was ja auch von manchen anderen gefordert und verſucht worden iſt.

Wenn das deutſche Theater als ein Zukunftswert und eine kuͤnftige Wirklichkeit gefordert wird, dann ergibt ſich von ſelbſt die Notwendigkeit, das Vergangene zu prüfen. Denn erſt, wem diefes als unzulänglich erwieſen iſt, darf das kommende Beſſere vorgefchlagen werden. Go wächſt ſich der zweite Teil zu einer Monographie über das hiſtoriſche Theater aus. Da iſt nichts, was nicht kritiſch unterſucht würde. Nun hat aber Brandenburg einen Maßſtab, den der eim gerne gelten laſſen, der andere verwerfen wird: den Tanz. Natürlich nicht, was ſo gemeinhin Tanz heißt, ſondern jenen Tanz, den Nietzſche empfahl, den antiken Tanz in neuer Wendung: Bewegung des frei hingeſtellten, durch innere Stimmung geſtalteten, in großer Geſtik mek als Mimik fic ergehenden Menſchenköͤrpers in einem als Weltraum fpürbar gemachten Bühnen. raum. Niemals kann ein folder die alte Guckkaſtenbühne fein, die allzuſcharf ſcheidet zwiſchen Zuſchauerraum und Bühne. Brandenburgs Bühne iſt etwa „antiker Form ſich nähernd“.

Hieraus ergibt ſich ſchon, daß es ſich um Choreographie handelt, um einen Reigen menſchlichet befeelter Leiber, die um ein Schickſal kreiſen. Um ein Schickſal! Das entſpricht unſerer Schidjal- ſtimmung durch den Krieg. Das kann und foll aber auch vorhalten. Denn die kleinliche bürger- liche Pſychologie iſt, hoffen wir, abgetan.

Man verſteht, daß Brandenburg Schillers: „Braut von Meſſina“ außerordentlich hochſchätzt, daß er die Rütlifzene aus dem „Tell“ als einen wundervollen dreigruppigen Reigen inter pretiert, Auch verſteht man, daß „Handlung“ bei ihm nicht Mord und Tod und Revolverſchuß iſt, ſondern „heilige Handlung“. So erblickt er bei aller Kritik an Oberammergau doch im Paffions- ſpiel den letzten Reſt echter Bühne.

Es kann niemals darum gehen, einem Buche in allen Einzelheiten zuſtimmen zu müſſen. Dazu iſt das Leben zu reich. Aber der Perſönlichkeit Brandenburgs und ſeinem Zielwillen im Ganzen wird man unbedingt zuſtimmen können. Er hat im erſten Teil feinen eigenen Weg je ehrlich und eindringlich dargelegt, daß man volles Vertrauen zu ihm faßt. Die Theaterverhältniſſe, wie fie find, können einen Hund jammern. Angelegenheiten des Gefchäfts und einer fenfationen- geilen „Geſellſchaft“. Turngeruͤſte für die Geiſtreichigkeiten der Theaterberichter. Da kommt nun Brandenburg und ftellt das Gemälde einer gereinigten, geheiligten Bühne auf, daß alle ihm zujauchzen müffen, die dem Höchſten zujauchzen. Es kommt auch nicht darauf an, daß ein Ideal ſchon morgen Wirklichkeit iſt. Denn die Geifter, wenn überhaupt, können ſich nur all mäblich ſaͤubern. Es kommt darauf an, aus dieſem Buche Hoffnung und friſche Luft zu ſchöͤpfen!

Allerdings ſoll die neue Bühne auch einmal da fein. Aber flinke Hände können fie nid machen. Erſt müſſen die Vorausſetzungen forgfältig erkannt werden. Brandenburg hat den Tanz in allen Phaſen ſeines Neuwerdens miterlebt und genau ſtudiert. Er war vor dem Kriege ſchon mit R. von Laban eng verbunden. Damit ihm aber niemand fage: das iſt alles Hirn geſpinſt und luftige Phantaſie, gibt er am Schluſſe die Analyſe zweier eigenen Dramen und

Huge Wolfe „Ver Opern” 311

die Anweiſung, wie ſie in dem (von ihm beſchriebenen) Bühnenraum zur Wirkung gebracht werden müßten. Die beiden Werke heißen: „Der Sieg des Opfers“ und „Graf Gleichen“. Sie bewegen ſich in den Gefilden urtümlicher Schickſale, wie ſolche allein dem angepaßt find, was hier unter Tanz verſtanden wird. Man wünfcht, wenn man die Inhaltsangaben und Regie- weiſungen geleſen hat, unbedingt, dieſe Dichtungen auch zu ſehen.

Zum Schluſſe betone ich, daß Brandenburgs Buch ein Buch des Aufbaus iſt, nicht nur be- treffend das Theater, ſondern unſere ganze geiſtige Kultur. Mit jugendlichem Temperament entreißt der Verfaſſer dem Höllenfeuer des Weltkriegs das himmliſche Dennoch. Kurz: Ein gutes, Auges, liebes Buch. Rudolf Paulſen

Hugo Wolfs „Vier Opern“

Mit einem ungedruckten Briefe des Tondichters

m das Weſen eines Menſchen, beſonders aber das eines Künſtlers, ganz zu verſtehen, bedarf es mehr denn der genauen Kenntnis feiner Werke und Taten. Das volle Der- ſtändnis wird fic) nur demjenigen erſchließen, der nach dem Herkommen des Geſchilderten und nach dem Kreiſe, in dem er erwuchs, forſcht. Sichtlich von dieſer Erkenntnis durchdrungen, weiſt Hugo Wolfs Biograph Ernſt Decſey gleich im Eingang der einbändigen Neuausgabe feiner Lebensbeſchreibung („Hugo Wolf“ von Ernſt Oecſey, vierbändige illuſtrierte Auflage 1906, einbändige Auflage 1919 bei Schuſter & Loeffler, Berlin) darauf hin, daß die Unt erſteiermark, Wolfs Heimat, eine „halb barbareske deutſch-ſlawiſche Gegend, eine Gegend der Entrücktheit, der Farben und der Leidenſchaft“ iſt. Diefes Wort zieht auf einen Schlag den Schleier von einer Perfonlichteit, die zu ihren Lebzeiten oft genug mißverſtanden wurde und von vielen auch heute noch nicht in ihrer eigentümlichen Art begriffen werden kann. Nicht nur in ſuͤd⸗ lideren Zonen, ſondern auch in der Miſchkultur Wiens läuft ein ſüdlichheißes Temperament Gefahr, mißverſtanden zu werden. Denn jähe Ausbrüche animaliſchen Rraftgefühls werden leicht für Härte angeſehen und find doch oftmals nichts anderes als ein aus Schamhaftigkeit geborenes Verbergen der inneren Weichheit. So war Hugo Wolf knorrig und zart, überheblich und demütig, geiſtig überragend und kindlich naiv, verurteilend und verzeihend, Titan und Erdenwurm. Seine ſuͤdlichheiße Rünftlernatur bewegte ſich in Extremen, die freilich der bürger; lichen Ausgeglichenheit und Geruhſamkeit allzuoft unverſtändlich ſein mußten. And er war ein Rind feiner Zeit, in feinem Leben und in feinen Werken. Denn der Ausdruck des Gegenſätzlichen in Leben und Nunſt iſt das Entwicklungsmerkmal des zwanzigſten Jahr- hunderts. Von Beethoven zu Wagner und Bruckner, von Schubert zu Hugo Wolf ſehen wir dieſe Verſtärkung des Gegenſätzlichen, die ſich teils in der Erweiterung der Harmonik durch Gegenüberftellung kontraſtierender Akkorde, teils durch Erweiterung, ja Sprengung über- kommener Formen infolge Gegenüberftellung verſchiedener Tongruppen (Bruckner) zu erkennen gibt. Und ſelbſt bei formal konſervativen Meiſtern wie Brahms und Reger ſehen wir in der Spröde ihrer Harmonik das Moment der Gegenſätzlichkeit emporwachſen, fühlen es als einen Ausdruck des Zeitempfindens, ſomit als Schilderung des Lebens. Daß die Erweiterung der Ausdrudsmittel, vor allem die Vergrößerung des Orcheſterapparates, damit Hand in Hand ging, iſt nicht mehr als ſelbſtverſtändlich. *

Das Opernſchaffen auch der großen Liederkomponiſten barg von jeher eine gewiſſe Tragik. Der Orang nach der Bühne, die Sehnſucht nach einem guten Opernſtoffe verließ Schubert, Wolf und Cornelius nie, und ſchlleßlich ſchufen fie Werke von unendlicher Feinheit, die jedoch nur einem beſchränkten Rreife als Oauerwerte erſchienen. Den Bemühungen hervorragender

312 | Hugo Zotfe Det Oper”

Dirigenten iſt es gelungen, Cornelius’ „Barbier von Bagdad“ dadurch dem allgemeinen Ir ſtändnis zu erſchließen, daß fie die Oper trotz leerer Haͤuſer immer und immer wieder brochen Freilich darf nicht verkannt werden, daß ihnen hier das unterhaltende Textbuch und der ur ſtand zu Hilfe kamen, daß die Partie des Barbiers, eine ſogenannte „Bombentolle“, ber ragenden Baſſiſten Gelegenheit zu der beliebten Starauswirkung gibt. Eine Wiederbelebun von Schuͤberts Operchen iſt bis heute nicht geglückt, und Hugo Wolfs „Corregidor“ taut, ebenſo wie des Lyrikers Hermann Goetz „Widerſpenſtige“, nur ab und zu aus der Verſenkung au.

Für Hugo Wolf bedeutete das Schickſal feines „Corregidor“ fein Lebensſchickſal, wenngled ſich das trübe Geſchick dieſes Küͤnſtlers wohl auch erfüllt hätte, wenn der Orang zur Opet i. ihm nicht übermächtig geworden wäre. Aber die Aufführung des „Corregidor“ in Mannhex (7. Januar 1896) bedeutete ſicher den Höhepunkt in Hugo Wolfs Rünftlerbewußtfein, und de Ablehnung desſelben Werkes durch Guftan Mahler als Direktor der Wiener Hofoper bilde die unmittelbare Veranlaſſung zum Ausbruch der Geiſteskrankheit.

Wie leidenſchaftlich, ſelbſtbewußt und dadurch unbeherrſcht der glühende Künſtler Hugo Bei ſich gerade bei Anlaß der Uraufführung feiner Erſtlingsoper verhielt, habe ich an Hand m ungedruckten Briefen, die ich im Archiv des Mannheimer Nationaltheaters fand, vor einge Jahren eingehend geſchildert („Rheiniſche Thalia“, Mannheim, 1. Jahrgang, Nr. 17 und | vom 25. Dezember 1921 und 1. Januar 1922, ſowie „Neue Muſikzeitung“, Stuttgart, 45. Jar gang, Nr. 7 und 9 vom 5. Januar und 2. Februar 1922). Nicht als Bittender nahte er ſich der Intendanten Baſſermann, ſondern wahrte, ſtets durch Vermittlung feines Freundes, des Ant richters Oskar Grohe, feine Rechte in einer Weiſe, die Staunen erregen muß. Und am 25. Ir 1896 ſchreibt er an Grohe: „Wenn das Werk nicht ſicher am 22. Mai (dem Geburtstag fei Meifters’ Richard Wagner. D. Verf.) zur Aufführung kommt, ſondern erſt am 31., werde! zur Premiere nicht erſcheinen. Ich wünſche, bis zum 12. Mai davon verſtändigt zu werder korrigiert fi aber freilich in einem fpäteren Briefe ſelbſt und kommt zu Proben und 2 führung. Die Gunſt des Perſonals verſcherzt er ſich gründlich, nicht nur durch feine Gtren bei den Proben, ſondern auch durch Ablehnung der von ihm erbetenen Mitwirkung in emen Wohltätigkeitskonzert, das wohl für einen verarmten Künſtler, jedoch mit unkünſtleriſchen Programm (unter anderem Koſchat- Liedern neben Liedern Hugo Wolfs) ſtattfinden ſollte. Hae tam es (in dieſer Hinſicht möchte ich in der erwähnten Veröffentlichung Oecſey korrigiern) daß ſämtliche Mitwirkenden dem nach der Uraufführung des „Corregidors“ ſtattfindenden Fe bankett fernblieben.

Die Uraufführung feines Werkes aber wirkte tief beglüdend auf den Künſtler, der iht au einem beſcheidenen Platze im zweiten Rang beiwohnte. Weinend umarmte er feine Ht arbeiterin und Freundin Roſa Mayreder, und vergeſſen war aller Groll, wenngleich die ar fangs lobenden Urteile der Mannheimer und Ludwigshafener Blatter ſich unter dem Eni} gewiſſer, Wolf feindlicher Kreiſe nach der zweiten Aufführung in das Gegenteil verkehcte (wovon Hugo Wolf vielleicht auch gar keine Kenntnis erlangt hat). Mit Mannheim blich a innerlich verbunden. Hatte er doch außer Grohe dort „Freund Heckel“, feinen Verlegtt, ſowie Anna Reiß gefunden. Die kunſtverſtändige badiſche Kammerſängerin ſetzte dem Tondidte ſpäter anonym eine Rente aus, die ihm ermöglichen ſollte, in feinem neuen Wiener en fortan ſorgenlos ſeinem Schaffen zu leben.

So machte ſich Hugo Wolf, durch den Mannheimer Erfolg erfriſcht, an die Arbeit und begat. nach Schaffung der Michel Angelo-Lieder, die Vertonung feiner zweiten Oper, des „Nau Venegas“. Ernſt Oecſey erwähnt, daß Alarcaͤns Buch bereits 1882 bei Speemann 1 Titel „Das Kind mit der Himmelskugel“ (El nifio de la bola) erſchienen fei, und daß Gem und feine Tochter Wolf darauf aufmerkſam gemacht hätten. Merkwürdigerweiſe vergift ¢ aber zu erwähnen, daß ein anderer, gleich Wolf in Wien lebender Romponiſt, namlich Rider!

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Hugo Wolfe „Vier Opern“ 313

Heuberger, kurz vorher eine Oper „Manuel Venegas“ geſchrieben hatte, die 1889 in Leipzig unter Nikiſch zur Uraufführung gelangt war. Der Stoff lag alſo gleichſam in der Luft, abgeſehen davon, daß die Parallelität der Stoffwahl verſchiedener Zeitgenoſſen (z. B. R. Wagner und Schumann) ebenſo häufig zu finden iſt wie das Aufgreifen älterer Stoffe durch Romponiften jpäterer Generationen. Hugo Wolf muß alfo von dem Stoffe ſelbſt ſchon aus den Aufführungs- berichten über Heubergers Oper Kenntnis gehabt haben, zumal er ja als Muſikkritiker zugleich auch Zeitungsleſer war. Auch in dieſer Hinſicht wäre alſo Decfen zu berichtigen, dem es freilich nicht angenehm geweſen wäre, die Oper Heubergers, dem er wegen feiner abfälligen Kritiken über Wolf und Bruckner über das Grab hinaus zürnt, als Anreger zu zitieren. (Ich habe übrigens auch den Beweis in Händen, daß Heuberger Bruckners . des 150. Pſalms direkt bei dieſem angeregt hat. D. Verf.)

Nach vergeblichen Verſuchen bei Schur, Goldſchmidt und Dr. Wette, mit dem er fic diefer- halb überwarf, und einem eigenen Verſuche, den Stoff als Opernlibretto zu bearbeiten, war dieſer gleich vielfachen anderen Opernplänen vor der Schaffung des „Corregidor“ zurüd- getreten. Was Wunder, daß er nach dem Erfolge dieſes Werkes, den er für einen bleibenden hielt, ſich dem früher gewählten Opernſtoffe des gleichen Autors wieder zuwandte ! Rofa May- reder geſtaltete ihn feinſinnig, aber undramatiſch, und, durch Michael Haberlandt darüber aufgeklärt, übergab Wolf die Geſtaltung des Buches Moriz Hoernes.

Die Vollendung des Werkes aber war dem Tondichter nicht gegönnt. Die Nervenüberreizung, in der er Jahr um Jahr gelebt hatte, verdichtete ſich in Wahnſinnsanfälle (fortſchreitende Para- lyſe), fo daß er am 20. September 1897 in die Svetlinſche Heilanſtalt gebracht wurde.

Von weiterem Opernſchaffen Hugo Wolfs iſt nichts bekannt geworden.

*

Und nun liegt mir ein ungedrudter Brief des Tondichters zur Veröffentlichung vor, der alſo lautet:

Hochverehrte Frau Baronin!

Gewig werden Sie an dem Tage des Eintreffens dieſer Zeilen alles andere eher erwartet haben als einen Brief von mir, aber „Unverhofft kommt oft“. Diesmal iſt es Frau Roſa May- teder, meine liebe Freundin und Compagnonin, die mich veranlaßt, dieſe Zeilen an Sie, hoch verehrte Frau, zu richten. Ich beabſichtige nämlich, in nächſter Zeit Wien zu verlaſſen und ganz nach Wei mar überzufiedeln, und dort vor allem meine dramatiſchen Werke aufzuführen. Nun aber ſetzte mir gerade Frau M. einen Floh ins Ohr, indem ſie zweifelt, ob Intendant Vignau noch auf feinem Poſten verharrt. Sie gibt vor, unlängſt in einer Zeitung den Namen Vignau gelefen zu haben, iſt aber nicht ſicher, ob es ſich hierbei um eine Demiffion oder um eine Auszeichnung handelt.

Aus dieſem böfen Zweifel mich zu reißen, bitte ich Sie inftändigft, mich alſobald darüber aufzuklären und an mich zu ſchreiben per Adreſſe: Prof. Mayreder, Wien IV, Plöſſelgaſſe 4. 3m habe für die nächſte Zukunft Großes vor: fürs erſte möchte ich vier meiner Opern im Weimarer Hoftheater ſelber einſtudieren und dirigieren. Dann möchte ich dort zwei große Orcheſter konzerte veranſtalten, in welchen nur Compoſitionen von mir, teils rein orcheſtralen, teils rein vokalen Charakters, hinwiederum Stücke für Chor und Orcheſter zur Aufführung gelangen ſollen. Aber meine Pläne ſchweifen noch mehr in die Weite. Sie müßten die Liebens- würdigkeit haben, mir eine Audienz beim Großherzog zu erwirken. Ich hätte Seiner königl. Hoheit ein großartiges Programm zu unterbreiten. Natürlich müßte Sereniſſimus erſt durch vorhergegangene Proben meines Könnens Vertrauen zu mir gefaßt haben, ehe ich mit meinen Vorſchlägen heranträte. Mein Plan ginge dahin, mit den Weimarer Theaterkräften Welt⸗ reiſen zu unternehmen, gleich den Meiningern, die ſeinerzeit vieles und gerechtes Aufſehen gemacht haben. Das von mir projektierte Vorhaben aber dürfte eine ungleich größere An-

314 Hugo Wolfs „Vier Open"

ziehungskraft auf das Publikum ausüben, indem Werke von mir (und zwar ausſchließlich nur von mir) zur Aufführung kämen, die nie in Prud erſcheinen ſollen, mithin dem Publikum auf keine andere Weife vermittelt werden könnten, als auf die von mir inszenierte. Der Fall würde gewiß ungeheures Aufſehen machen. Selbſtverſtändlich müßten Chor und Occheſtet um ein erhebliches verſtärkt werden. Auch werde ich trachten, Frl. Sedel mayer vom Wienet Hofoperntheater für mein projektiertes Unternehmen zu gewinnen. Was ſagen Sie zu dieſet Idee? Glauben Sie, dieſelbe dürfte ſich realiſieren laſſen? Möchten Sie nicht fo unter da Hand auf den Buſch klopfen? Die Frauen vermögen ja ſo viel! Mit der wiederholten Bitte um baldigſte Beantwartung dieſer Zeilen empfiehlt ſich Ihnen aufs beſte Ihr Sie herzlichſt grüßender und alles Beſte hoffender Hugo Wolf Wien, 11. Dezember 1897.

P. S. Geben Sie dem Großherzog zu bedenken, daß ich heute der erſte und bedeutendſte Componiſt unter den Lebenden bin eine ſchwierige Sache, das felber zu ſagen und daß es für Weimar, welches Glanzperioden hinter ſich hat, wahrlich keine Schande fein würde, einem im Vaterlande Geädhteten ein beſcheidenes Aſyl zu bieten.

Sollte Herr v. Dignau doch noch feine Stellung bekleiden, bitte ich ihn ſchönſtens zu grüßen und Einſicht von dieſem Briefe nehmen zu laſſen.

*

Der Brief iſt an Baroneß von Losn in Weimar gerichtet, die Tochter des Freiherrn August (Friedrich Oger) von Loön und feiner Gattin Marie, geborenen von Salza⸗-Lichtenau. Baron Auguſt von Loön, geboren am 27. Januar 1828 in Oeſſau, war in feiner Jugend Offizier geweſen, jedoch frühzeitig infolge feiner Verwandtſchaft mit Alexander von Humboldt und der Gräfin Ahlefeldt, in deren Hauſe er Auerbach und Gutzkow kennenlernte, literariſchen Beſtrebungen geneigt. So wurde er Mitarbeiter an Gutzkows Zeitſchrift „Unterhaltungen am häuslichen Herd“ und veröffentlichte ſpäter, ungeachtet ſeiner Tätigkeit als Offizier und feiner Teilnahme an den Feldzügen nach Schleswig-Holſtein und gegen Oſterreich, ein Luſtſpiel und einen Roman. Mit 1. Oktober 1867 wurde er, der in Deſſau als Rammerjunker des Erbprinzen und fpäteren Herzogs von Anhalt-Deſſau lebte, vom Großherzog Rarl Alexander als Nachfolger Franz von Oingelſtedts zur Leitung der Weimarer Hofbühne berufen. Während Dingelftedt dem Schaffen Wagners und Liſzts abhold geweſen war, förderte Loön beide Meifter nach beſten Kräften und ſtand mit beiden in freundſchaftlichen Beziehungen. Die Briefe Coſima Wagners (vom 23. Zuni 1874) und Richard Wagners (vom 22. Oktober 1877) an Loön beweiſen die Hochſchätzung, die er in Bayreuth genoß. Tatſäͤchlich hat die Weimarer Hofbühne den, Tann; häuſer“ als erſte Bühne nach der Dresdener, „Triſtan und Zſolde“ als erſte Bühne nach der Münchener aufgeführt. Losn, der am 28. April 1887 in Jena an den Folgen einer Ohren- operation ſtarb, hatte ſich während feiner faſt zwanzigjaͤhrigen Tätigkeit in Weimar das be- ſondere Vertrauen des Großherzogs erworben. Hugo Wolf war wohl (Oecſey 1921, S. 52 im Jahre 1883 bei Liſzt in Weimar, doch iſt uns nichts daruber bekannt, daß er den Intendanten von Loön, der auch im Ruheſtand am gleichen Wohnort verblieben war, dort kennengelernt hätte.

Hippolyt von Vignau, dem Baroneß von Loen Hugo Wolfs Idee vortragen ſollte, ſtammte aus Münſter i. W. (geboren den 2. Januar 1843). Nach erfolgreicher Tätigkeit als Intendant des Großherzoglichen Hoftheaters in Deſſau wurde er am 10. Juli 1895 Intendant des Hof- theaters in Weimar und verblieb auf dieſem Poſten bis zu feiner, am 31. Dezember 1908 er- folgten Penſionierung, war ſomit zur Zeit der Abſendung des Wolf-Briefes im Amte. Vignau ſtarb am 21. Januar 1926 in Weimar.

Baroneſſe von Losn, geboren am 24. Dezember 1855, wurde im Alter von zwanzig Jahren Hofdame der Erbgroßherzogin Pauline. Durch ihren Vater hatte fie zahlreiche Kuͤnſtler dennen

Hugo Wolfe „ler Opern“ 315

gelernt, unter dieſen auch die badiſche Rammerſaͤngerin Anna Reiß. Mit ihr unternahm Baroneſſe von Loén eine Reife nach Konſtantinopel, die in Wien längere Unterbrechung erfuhr. Durch Anna Reiß lernte ſie daſelbſt Hugo Wolf kennen. I 9as Schickſal des Briefes iſt bald erzählt. Baroneffe von Losn ſtarb unvermäplt am 22. Fe- 9 bruar 1914 in Weimar und ſetzte zur Univerfalerbin ihre langjährige Hausrepräfentantin und 1 Freundin, Fräulein Emma Kohler, ein, Diefe wurde ſomit auch Eigentümerin der zahlreichen, an die Baroneſſe gerichteten Rünftlerbriefe, fo auch des Briefes von Hugo Wolf. Fräulein "= Köhler ſchenkte den Brief dem Kammermuſiker Leo Bechler in Weimar, der ihn mir behufs Veröffentlichung zur Verfügung ſtellte. Die Bewilligung nach dem Urheberrechtsgeſetz erteilte mit im Namen des Wiener Akademiſchen Wagnervereines, der Rechtsnachfolger nach Hugo »Polf iſt, der kurzlich verſtorbene Sektionschef Dr. Heinrich Werner.

So wenig über das Schickſal des Briefes zu bemerken war, foviel ift über feinen Inhalt zu ſagen. Vor allem fällt die unheimliche Miſchung von Scharfſinn, ja faſt kaufmänniſcher Be- rechnung auf, die aus dem Briefe ſpricht, in gleicher Weiſe aber das Ungewöhnliche, ja Ver- ſtiegene des von Wolf entwickelten Planes, beſonders aber die Erwähnung von „vier feiner Opern“, die er am Weimarer Hoftheater ſelbſt einſtudieren und dirigieren wolle. Wiſſen wir doch, daß Hugo Wolf bis zu feiner geiſtigen Erkrankung nur den Corregidor“ beendet und den

Manuel Venegas“ begonnen hatte.

So verweiſt ſchon dieſe Außerung ungeachtet des ſonſt in dem Briefe entwickelten Scharf- ſinns darauf, daß der Brief in beginnender geiftiger Umnachtung geſchrieben wurde. Ein Beweis hierfür liegt in feiner Datierung (21. Dezember 1897), da der Tondichter vom 20. September 1897 bis zum 24. Januar 1898 in der Svetlinſchen Heilanſtalt weilte. (An dieſem Tage wurde er als „geſund“ entlaſſen, mußte aber ein Jahr fpäter in die Niederöfter- kreichiſche Landesirrenanſtalt in Wien gebracht werden, wo er bis zu feinem Tode, 22, Februar 1903, verblieb.) Ein weiterer Beweis liegt in den größenwahnſinnigen Außerungen der Nach- ſchrift des Briefes.

Nichtsdeftoweniger iſt die Erwähnung der „vier Opern“ inſofern von muſikgeſchichtlichem Intereſſe, als dadurch erhärtet wird, daß Hugo Wolf, wie Oecſey berichtet, in der Svetlinſchen Heilanftalt ſich unausgeſetzt mit neuen Opernplänen trug. Dieſe können außer der Voll- endung des „Manuel Venegas“ nur Oramen und Tragödien von Kleiſt betroffen haben, da Decfen zu berichten weiß: „Namentlich die Dramen H. von Kleiſts waren zu Opern aus- etfeben, und er trug ſich mit dem Gedanken, mehrere Dramen, darunter den Prinzen von Hom- burg, zu komponieren, und zwar genau nach dem Urtext; auf feinem Nachtkäſtchen lag immer ein Band Keiſt, und die Stellen waren durchſtrichen, die bei der Rompofition entfallen foll- ten.“ Wahrſcheinlich wäre „Pentheſilea“ die dritte, „Jer Prinz von Homburg“ die vierte Oper geworden. „Pentheſiea“ deshalb, weil Wolf über dieſen Stoff ja (wohl ſchon 1883) eine ſinfoniſche Dichtung geſchrieben hatte (verlegt bei Bote & Bock, Berlin, Klavierauszug zu vier Händen von Max Reger), in der Svetlinſchen Heilanſtalt aber ein neues Mittelftüd zu dieſem Opus komponierte, das er freilich bei Beſſerung ſeines Befindens als ungenügend erkannte und daher verbrannte.

Durchaus nicht als krankhafte Vorſtellung künftiger Schöpfungen ijt dagegen Wolfs Plan zweier großer Orcheſterkonzerte mit eigenen Werken zu betrachten. Selbſt wenn er von der Aufführung reiner Vokalwerke (er erwähnt auch dieſe) ganz hätte abſehen wollen, wäre doch noch genug Aufführungswürdiges aus feinen früheren Werken vorhanden geweſen: neben zahlreichen inſtrumentierten Liedern die Chorlieder mit Orcheſter , Chriſtnacht“, „Elfenlied“, „Der Feuetreiter“, „Sem Vaterland“, der Frühlingschor aus „Manuel Venegas“, Bruchſtücke aus der Rufit zum „Feſt auf Solhaug“, vor allem aber die „Ztalieniſche Serenade“ und die ſinfoniſche

316 Hugo Wolfe „Vier Opern‘

Dichtung „Pentheſilea“. Dagegen ijt die Idee, feine Werke nur durch die Sonderaufführungen mit Weimarer Kräften dem Publikum darzubieten und fie nicht in Oruck legen zu laſſen, tant haft verſtiegen, vernünftig dagegen wieder die Berechnung, das Baroneſſe von Loén als Tochter des vormaligen Weimarer Intendanten und als Hofdame auf deſſen Amtsnachfolger Baron Vignau Einfluß (zumindeft geſellſchaftlichen oder durch den Hof) beſitzen würde.

Die Bemerkung, daß Frau Rofa Mayreder Wolf zu feinem Briefe angeregt habe, fcheint darauf zurückzuführen zu fein, daß Wolf bei ihrem Beſuche in der Heilanſtalt von Dr. Spetin von dem beabſichtigten Briefe ſprach, und die Freundin ihn, um ihn nicht durch Wider ſpruch zu erregen, in dem Plane beſtärkte. Stand doch Frau Mayreder mit Baroneſſe Loe in Briefwechſel, wie nachfolgendes Schreiben bezeugt, das hier gleichfalls erſtmalig veröffent- licht wird:

Wien, den 21. 12. 1897. Hochgeehrte Baronin!

Geſtatten Sie mir, daß ich Ihnen für Ihre gütigen Bemühungen um unſeren unglidliden Meiſter Wolf den herzlichſten Dank ſage. Ihr Brief an ihn war fo ausgezeichnet, daß er in der Tat die beſte Wirkung übte: den Armſten von ſeinem krankhaften Plan abzulenken, ohne ihn doch zu verſtimmen.

Sein Geſundheitszuſtand gibt gegenwärtig begründete Hoffnung, daß in ſeiner ſchweren und aller ärztlichen Vorausſicht nach vermutlich unheilbaren Erkrankung eine längere Pauſe eingetreten fei, die es ihm ermöglichen wird, eine Erholungsreiſe anzutreten und fogar auch zu arbeiten. Dieſe Pauſe kann, günftige Lebensbedingungen vorausgeſetzt, mehrere Faber dauern. Angeſichts der düſteren Prognoſe, die das Auftreten ſchwerer Anfälle noch vor weniger Wochen rechtfertigte, müſſen wir dieſe Wendung als eine große Schickſalsgunſt betrachten. Sein Beſſerung ſchreitet täglich vorwärts; er iſt nunmehr völlig klar, nur hegt er noch überjchwäng- liche Vorſtellungen. Zu dieſen gehört auch fein Plan mit Weimar; und daß er fo leicht auf Ihren freundlichen Brief hin darauf verzichtete, iſt ein Symptom mehr, daß ſein Oenken in geſunde Bahnen einlenkt. Er hegt nun die Abſicht, an die Riviera zu gehen, um ſich zu erholen. Darin findet er die Zuſtimmung der Arzte, und fo dürfen wir hoffen, daß ihm in den erſten Wochen des neuen Jahres eine frohe und genußreiche Zeit beſchieden fein wird. Möge fie recht, recht lange dauern!

Nehmen Sie von meinem Mann und mir die ergebenſten Wünſche zu den kommenden Feſt⸗ tagen freundlich entgegen und empfangen Sie die wärmſten Ausdrücke beſonderer Hochachtung

Von Ihrer ergebenen N Nofa Manreder

Auf Grund dieſes Briefes vermutete ich, daß Hugo Wolf feinen Plan, an Baroneſſe Loen zu ſchreiben, Frau Mayreder, als fie ihn in der Svetlinſchen Heilanſtalt beſuchte, mitgeteilt habe und von ihr darin beſtärkt worden ſei. Ram es doch vor allem darauf an, Hugo Wolf nicht durch Widerſpruch zu erregen. Auch glaubte ich annehmen zu ſollen, daß ſich über Hugo Wolfs Brief zwiſchen Baroneſſe Losn und Frau Mayreder ein ausgedehnterer Briefwechſel ent- ſponnen habe, erhielt aber ſeitens der letzteren auf eine direkte Anfrage die folgende Auf klärung:

Wien IV, Schönburgſtr. 15. 5. Mai 1927, Sehr geehrter Herr!

Ihre Vermutung iſt ganz richtig: ich habe ſeinerzeit Hugo Wolfs Abſicht, an Baroneſſe von Loön zu ſchreiben, unterftüßt, weil dies nach Meinung der Arzte der beſte Weg war, ihn von feinen, noch krankhaft überſchwänglichen Plänen abzubringen. Aber die Rorrefpondenz Huge Wolfs mit Baroneſſe von Loön von den beiden in Frage ſtehenden Briefen iſt mir leider nichts

Hugo Wolfe „Vier Opern“ 317

in Erinnerung geblieben. Die Dame war mir ganz unbekannt, und der Verkehr mit dem Ge- neſenden, deſſen Ideen raſch wechſelten, ſtellte große Anforderungen nach vielen Richtungen. Hochachtungs voll ergeben Ihre

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Roſa Mayreder

Dem Inhalt nach wichtiger als Frau Mayreders Brief an Baroneſſe Lon der fic heute gleichfalls im Beſitze des Herrn Kammermuſikers Bechler in Weimar befindet erfcheint aber ein in derſelben Hand ruhendes drittes Schreiben, das Dr. Oskar Grohe aus Engelsberg, Penſion Heß, am 7. Auguſt 1904, alſo nahezu ſieben Jahre nach den beiden oben wiedergegebenen Briefen, an Baroneſſe von Loön richtete. Diefes Schreiben kann ich nicht veröffentlichen, da es mir nicht gelang, die Anſchrift Dr. Helmut Grohes ausfindig zu machen, der als Sohn und Rechtsnachfolger Oskar Grohes verfiigungsberedtigt iſt. Aus dieſem dritten Briefe iſt erficht- lich, daß Grohe eine Kopie des oben erſtmalig veröffentlichten Wolf-Briefes „an den Bio- graphen“ (vermutlich alſo an Decſey, der den Brief aber nicht benutzte) geſandt und ihn um Auslaſſung der Stellen gebeten hatte, die den Intendanten von Vignau betreffen. Ein Unterton in dem Briefe ſcheint anzudeuten, daß von Vignau, der dem Tondichter zu Ehren einſt in Berlin eine Soiree gegeben hatte, fpäter gegen Wolf eingenommen ward. (Alſo 1892 oder 1894. D. Verf.) A

Das innerſte Veſen eines ſchöpferiſchen Geiſtes ift nie ganz zu ergründen. Zu ſehr wird es von Gegenſätzen beherrſcht. Gleicht doch das Schaffen einem Rauſchzuſtand, und verſetzt es doch den alſo hold Beſeſſenen in eine Sphäre, die mit irdiſchen Werten nicht meßbar erſcheint. ait der Schöpfer auf die Erde zurückgekehrt, fo äußert ſich das Menſchliche in ihm zumeiſt in Extremen, die ſeine Zeitgenoſſen oft beſtimmen, ungerecht gegen ihn zu ſein. So ſagt Hellmer in richtiger Erkenntnis des Unfaßbaren an Hugo Wolf: „Nicht das Verſagen der ſüßen Quelle bat ihn, wie er einſt befürchtet, an den Rand des Wahnſinns geführt die Überfülle hat das Gefäß geſprengt.“

Zur Erkenntnis feiner Weſensart wird auch der hier veröffentlichte Brief beitragen, der Dmoniſches und Menſchliches in ergreifender Eigenart miſcht.

Robert Hernried

Jahreswende - Der Studentenzwift - Breußenminifter und

Reichsminiſter . Der Eiſenkonflikt - Aus der Abrüſtungs⸗

konferenz - Das vielverklagte Bolen - Der litauiſche Streit Der Grundfehler aller Demokratie

eshalb freut man ſich eigentlich auf das neue Jahr? Andert ſich mit det

Ziffer auch das Schickſal? Wandelt ſich mit dem Glockenſchlag räuberiſcher Haß in die gebefrohe Liebe der Weltbrüͤderlichkeit? Fa, wenn dies wäre! Allein eine gleichmäßige Reihe von Jahren hat uns ſchon des Übleren belehrt. Somit ift’s nur Gedankenloſigkeit, die da um Mitternacht durch die Gaſſen brüllt und einander zuproſtet. Schon der nächſte Tag bringt durch Najenflüber den Beweis, daß alles beim alten bleibt auch im neuen Jahr.

Im vorigen Dezember ſprach ein Wanderaſtrolog über die Geſtirnung für 1927, Er prophezeite mit überzeugter Beſtimmtheit. Ich hob mir daher feine Vorausſage auf und verglich ſie jetzt.

Was wars doch alles? Die Parteien würden zuſammenſtoßen in blutigen Prall. Von rechts werde ein Monarch ausgerufen, aber die Himmelsbilder ſeien nicht mit ihm. Es komme zu Reichstagsauflöſung und Neuwahl. Hindenburg falle in ſchwere Krankheit, die ihm zwar nicht das Leben koſte, wohl aber das Amt. Auch Streſemann trete zurück; ebenſo Schacht. Hingegen ende die Haßpolitil Frankreichs. Bis Jahresſchluß ſeien daher die Diktate befeitigt, die Rheinlande ge räumt, die Steuern geſenkt. Eine völlige Umkehr bahne ſich an und bis 1930 hätten wir die Vereinigten Staaten von Europa.

Entweder war's alſo ein Stümper, oder die Dinge gingen wider Sternenlauf und Schickſal. Denn nichts iſt wahr geworden; weder gottlob das Schwarze, noch leider das Frohe.

Wir wollen daher diesmal unſre Geſchicke lieber von unſerm Planeten felber ab- leſen, als von ſeinen fernen Geſchwiſtern da droben.

Der Rhythmus, der die Weltgeſchichte beſtimmt, hält freilich nicht wie fie den Jahrestakt, ſondern wogt in langen Wellen. Wir find daher noch in jener drin, die vor anderthalb Jahrhunderten einſetzte; der demokratiſchen nämlich.

Als toſende Sturmflut brach fie endlich auch über Deutſchland herein. Das hat uns zwar zur Republik, ſonſt aber keineswegs glücklicher gemacht. Obgleich am Steubentage noch der Botſchafter Shurman beſcheinigte, wir ſeien demokratiſcher als feine Vereinigten Staaten. Wie wahr dies iſt, zeigte ſich gleich hinterdrein in Oklahama, wo der Gouverneur die Erwählten des ſouveränen Volkes mit Me ſchinengew ehren aus dem Kapitol trieb.

Allerdings iſt auch bei uns, wenn es zur Macht kommt, kein Oemotratlein fo Hein, es wird zum Selbſtherrſcherlein. Man behauptet dann einfach, die Würde des Staates zwinge dazu.

Zürmers Tagebuch 319

So konnte ſich ereignen, daß das Vorgehen des doch wahrlich in der Wolle farb- echten preußiſchen Staatsminiſteriums gegen die Studentenſchaft den Karlsbader Beſchluͤſſen rüͤckſchrittlichen Andenkens verglichen wurde und Kultusminiſter Becker dem Fuͤcſten Metternich.

Die Revolution hatte den Studenten die Gelbjtverwaltung beſchert. Vom demo- kratiſchen Standpunkte war's ſelbſtverſtändlich. Allein die Hoffnung, durch dies Geſchenk der akademiſchen Jugend einen Linksabmarſch abzuſchmeicheln, trog. Ihre Wahlen fielen allerwegen rechts aus.

Dak die ſtudentiſchen Ausſchuͤſſe daher keine Verſailler Zwangsgrenzen anertann- ten, ſich vielmehr mit allen deutſchen Hochſchulbrüdern draußen zuſammentaten, das war gewiß ein vaterländiſches Werk.

Allein die öſterreichiſchen Studentenſchaften ſind zielbewußt völkiſch. Da ſie Juden nicht zulaſſen, weigern ihnen auch die Sozialdemokraten den Beitritt.

Darum wurde von links verlangt, daß die deutſchen Ausſchüͤſſe das öſterreichiſche Kartell kündigten. Eine Organifation, zu der auch Juden und Demokraten bei- ſteuern müßten, dürfe keine antiſemitiſchen Freundſchaften unterhalten. Mit anderen Worten: eine demokratiſche Minderheit forderte den Bruch mit dem demokratiſchen Grundſatz, daß, was die Mehrheit beſchließt, wohlgetan iſt. Solange wenigſtens, als fie Mehrheit bleibt. Gleichwohl unterjtüßte die preußiſche Regierung den Anſpruch; auch bei ihr unterlag die demokratiſche Lehre rettungslos dem partei- demokratiſchen Willen zur Macht.

Eine akademiſche Abſtimmung entſchied überwältigend gegen den Minifter Beder. Nach demokratiſchem Parlamentarismus hätte ihn dieſes Mißtrauensvotum gezwungen, zurückzutreten. Als Parteidemokrat unterließ er's jedoch, entzog viel- mehr der Studentenſchaft das demokratiſche Geſchenk des Selbſtverwaltungsrechtes.

Die ganze Linkspreſſe klatſcht ein undemokratiſches Bravo. Es ſei ein Segen, daß es mit dieſem Spuk ein Ende habe. Der Student fei noch gar nicht zur Selbft- verwaltung reif. Das hatte dieſer nun davon, daß er die Demokratie gegen die Demokraten veteidigt. Hätte er ſich einſchüchtern laffen, dann würde ihm ein Reife- zeugnis mit Noten höchſten Lobes zuerkannt.

Miniſterpräſident Braun iſt ein Mann der ſcharfen Worte. Er hat ſich auch ſtets für den Genoſſen Hörſing eingeſetzt, den Reichsbannergeneral, deſſen Schlagzunge ſo oft vergaß, daß er im Nebenamte auch preußiſcher Oberpräfident war. Wer anderen ſo unbekümmert auf bie Hühneraugen tritt, der hat kein Recht, empfindlich zu ſein, wenn einmal das ſeinige unter einen fremden Abſatz gerät.

Gleichwohl nahm es Braun grauſam krumm, als der Reichsminifter v. Keudell einer ſtudentiſchen Proteſtverſammlung gegen Becker „in innerer Verbundenheit“ feinen Orahtgruß ſchickte. Ein gepfefferter Brief erging an den Reichskanzler, das preußiſche Kabinett verbitte ſich dies, und wenn nicht Abhilfe geſchehe, breche es den Verkehr mit Keudell ab. Daß des Kanzlers Antwort eine geſchickte Katecheſe über das Gleichnis vom Splitter im fremden und den Balken im eignen Auge war, das hat jedweden gefreut, der den Waſſerſtiefel für ein überflüffiges, den Gamt- handſchuh jedoch für ein unentbehrliches Kleidungsſtück des Staatsmannes anficht.

Ulrich von Hutten konnte ſich rühmen, ein Menſch mit feinem Widerſpruch zu

320 Zürmers Tegchusz

fein. Bei einem Minifterpräfidenten aber berührt es eigenartig, wenn er die Reiche farben gar nicht augenfällig genug herausheben kann, mit den Reichsminiſtern ſich aber gar fo gern herumhäkelt. Wenn jene von einer Linksmehrheit beſchloſſen, dieſe hingegen von einer Rechtsmehrheit berufen wurden, fo beruhen fie doch beide auf derſelben demokratiſchen Verfaſſung, haben alſo auf die Achtung eines parlamer tariſchen Miniſters ganz den gleichen Anſpruch. Die Demokratie, die man fordern, muß man auch gewähren, fonft ſinkt jie von einer Staatsform herab zum Parte werkzeug.

Ebenſo iſt's mit dem Pazifismus. Muß man nicht auch den Klaſſenhaß verwerfen, wenn man den Völkerhaß verdammt? Aber gerade die lauteſten Schreier denken am wenigſten an dieſe Folgerung. Daher haben wir wieder einmal den ſchönſten Eiſenkonflikt gehabt.

Am erſten Januar ſollte der zeitweis aufgehobene Achtſtundentag der Feuer arbeiter wieder eingeführt werden. Das macht Umſtellungen nötig und verteuett. Das heißt, es erſchwert den deutſchen Abſatz auf dem Weltmarkt. Infolge der Sozial und Steuerlaſten können wir ohnehin fo billig nicht mehr liefern wie die belgifde | und engliſche Konkurrenz. Die Reichsregierung hat daher den Beginn der dreiteiligen a, Schicht für alle Betriebe um einen Monat verſchoben, wird aber auf Antrag noch weitere Aufſchübe bis in den Sommer, wenn nötig ſogar bis nächſtes Neujaht zugeſtehen.

Sie alſo nimmt Rüdlicht. Aber die Gewerkſchaften taten's nicht. Der Augenblid, an dem ſich die Erzeugung ohnedies ſchon verteuert, ſchien ihnen juſt der rechte für eine große Lohnforderung obendrein.

Sie rechneten heraus, wie fpielend die Betriebe dies tragen könnten. Dieſe be- wieſen ihrerſeits an Beiſpielen das Gegenteil. Der Nichtfachmann ſtand ratlos vor den ziffermäßigen Wider und Für. Allein der geſunde Menſchenverſtand ſagte ihm, daß an erhöhten Löhnen die engliſche Konkurrenz erheblich größere Freude hätte als der deutſche Arbeiter. Denn wenn ſich die deutſche Ausfuhr verteuerte, dann ſchiede fie aus dem Wettbewerb des Weltmarkts aus. Die Folge daheim wär Arbeitslofigteit. Außerdem ſtiegen die Eiſenpreiſe im Inland, dadurch fo ziemlich alle Waren und wir wären wieder in den verhängnisvollen Kreislauf eingeſchaltet, der überall neue Lohnzulage nötig macht.

Der Beſchluß der Eiſenhütten, unter dieſen Umſtänden lieber gleich zu Neujahr ihre Feuer auszublaſen, hätte ſofort 300000, in der theiteren Folge zwei Millionen Arbeiter ſtillgelegt. Er war ein ſchriller Warnpfiff. „Habt Ihr Euch auch überlegt, wohin dies Alles führt?“

Nun iſt lehrreich zu beobachten, wie die Wühlerei alle Entwicklungen auf den Kopf ſtellte. Die gewerkſchaftliche Urſache des Lohnſtreites trat hinter einen Schleier, das arbeitgeberliche Sträuben gegen die Urſache wurde zu einer vom Zaun ge brochenen Herausforderung. Ich habe mir einige Kopfzeilen der ſozialdemokratiſchen Preſſe vermerkt. Sie ſtrotzten von Hetze. „Die ſchwerinduſtrielle Rebellion“, „der Griff an die Gurgel der Wirtſchaft?“, „das Diktat der größenwahnſinnigen Gnduftric kapitäne“. Als Gegenmaßregel wurde verlangt, daß alle Eiſenwerke verſtaatlicht würden.

Zürmers Cagebudh 321

Die Einigung mißlang, allein das Reich befahl. Wo zehn bis vierzehn Pfennige Stundenzulage gefordert worden waren, da hat fein beſtallter Schlichter zwei be- willigt. Das iſt etwa eine Mark auf die Woche. Um ſo bekümmerter fragt man ſich angeſichts des ganzen Rummels: Wie können wir jemals unſer Recht nach Außen behaupten, wenn im Innern der ewige Krieg der Verhetzung tobt?

Hier ging's offenbar nicht nur um Mein und Dein. Vielmehr follte bereits der Boden gepflügt und geeggt werden für die neuen Wahlen. Man trägt ſich links mit kühner Hoffnung. In Braunſchweig, Mecklenburg, Heſſen und auch Danzig wurden ſozialdemokratiſche Siege erfochten. Durch organiſiertes Wühlen, erregtes Niß vergnügen und Schlagworte, noch mehr aber, weil wegen jahrelangen Un- geſchicks auf der Rechten das Bürgertum wieder einmal mehr an Stammtiſch und »Kränzchen denkt als an Stimmzettel und Wahlurne. Man hätte gar zu gerne die Gelegenheit wahrgenommen und wie der „Vorwärts“ ſchrieb, den roten Laternen- anzuͤnder auch ins Reich geſchickt. Ein Königreich wäre feil geweſen für die übliche Weihnachtskriſe, diesmal verſchärft durch Reichstagsauflöſung und Neuwahl unter ther Loſung: „Sturz des Rechtskabinetts“. Borläufig hat man erſt auf der Linken begriffen, daß die heutigen Wahlen viel weiter ausſtrahlen als die Wahlen vor dem Kriege. Denn aus bloßen Aufpaſſern über die Regierung find ja unſre Volksvertretungen zu Regierungsmachern ge- worden. Wie der Abgeordnete in der Hand ſeiner Wähler, ſo iſt das Kabinett in der Hand der Abgeordneten. „Haben Sie Mut,“ rief Herr Adenauer der Regierung „aber es iſt freilich eine gefährliche Sache, Mut zu haben ein paar Monate vor en Neuwahlen.“ Mit fröhlichem Lachen quittierte das Haus, allein in dem Witz 0 ie ein grimmiger Ernſt. Der Parlamentarismus ijt nichts anderes als die Politik den Augenblickslaune in der Wählerſchaft, und jedes zwanzigjährige Hausmädchen it dabei ebenſo maßgebend wie der ſechzigjährige Profeſſor der Staatswiſſen- ſchaften. Jetzt erſt hat wirklich das Volk die Regierung, die es verdient. Früher konnte es nämlich auch eine beſſere haben. Das aber verbietet jetzt die Verfaſſung. Nicht nur bei uns iſt's fo, fondern fo ziemlich allerwärts, wo nicht wie in Italien, Polen und Spanien ein Diktator dreingefahren iſt. Auch die Leute, die in Genf auf den kuruliſchen Stühlen ſitzen, haben nur ge- ſtimmte Stimmen und leben in der Angſt der Neuwahl. Nächſtes Jahr iſt wieder Scherbengericht in Frankreich und England; in den Vereinigten Staaten wird ein neuer Prãſident gekürt. Nimmt es da wunder, wenn das müde „Warte nur, balde“ über den Politikern und die Vorabendlähmung über der hohen Politik liegt?

Schier mehr noch als in der inneren hört in der äußeren jede Demokratie dort auf, wo das Du oder zch einſetzt. Die Abrüſtungskonferenz brachte allerhand neue Beweisſtücke erbaulicher Art zum alten Satze.

Mit glänzendem Schmiß haben es die Franzoſen verftanden, die Völkerbunds- dummheit Wilſons, die dieſer freilich wie alle ſeine Dummheiten auf deutſche Koſten machte, zu einer franzöſiſchen Klugheit umzugeſtalten. Was gegen den Imperialismus gedacht war, iſt ſchon lange deſſen Sprungbrett geworden.

Das Kaſperlteheater der Diplomatie hat daher Bernard Shaw die Abrüftungs-

vorkonferenz genannt. Man könnte ſie auch eine Manege nennen, in der behende Der Türmer XXX, 4 21

322 Tiirmers Tescus

Zirkusreiter ihre Künſte zeigen. Feder hat zwei Pferde unter fic; bald ſteht et auf dieſem, bald auf jenem Rüden. Denn der eine Wallach heißt Abrüſtung, der andere Sicherheit! Halt man ihm das Rechtspferd am Zaume feſt, dann ſteht der Tauſendſaſa ſicher auf dem linken und jagt weiter.

Die Sicherheitsforderung iſt das Mittel, es niemals zur Abrüftung kommen gs laſſen. Man kann jederzeit einwenden, daß man fi immer noch nicht geſiche genug fühle. Und wenn wir alle franzöſiſchen Forderungen erfüllten, würde « zuguterletzt heißen: Deutſchland hat zwar keine Waffen mehr, aber eine Induſfttie, ſie zu ſchmieden. Es hat 60 Millionen Einwohner, wir nur 40; nennt man de Sicherheit? | 4

Wir haben dabei den ungünſtigſten Stand von der Welt. Die Amerikaner ließen uns ja im Stich, nachdem ſie uns die Suppe eingebrockt.

Zwar nahmen diesmal die Ruſſen teil. Sie ſtellten einen Antrag auf völlige Abrüſtung zu Land, zu Waſſer und in der Luft; auf Zerſtörung aller Waffen, 7: Kriegsflugzeug- und Stickgasfabriken unter Aufſicht der Arbeiterſchaft. |

Das war aufs Ganze gegangen. Aber wer erwartete anderes von den Leuten |:

Räterußlands? Der Antrag ijt jedenfalls von genialer Einfachheit und ſtreng folge TF: richtig im Sinne des Völkerbundsgedankens. >

Daher wurde er fofort lächerlich gemacht. Dieſe alberne Plattformpropaganda : ſo hieß es in England, wolle bloß ehrliche Regierungen in eine ſchiefe Lage bringen Pariſer Spötter behaupteten, Litwinow habe geſagt, wenn man die Polizei al ſchaffe, dann gäbe es keine Verbrecher mehr.

Wir Seutſche waren in unſerer Ehrlichkeit jo dumm, in dieſen Ton einzuſtimmen, . ſtatt eines taktiſchen Lobes voll zu fein über die ruſſiſche Tatkraft. Wir halfen ſoge . den Franzoſen gutgläubig, den Räteantrag zu vertagen, anftatt den Moskowitern $.: zum fofortigen Sprung auf die Tagesordnung. Als Gegenleiſtung war uns zugeſagt, daß die Abrüſtungskonferenz nächſtes Fahr vor der Tagung des Sicherheitskomitees

ſtattfinden ſolle. Aber Graf Vernſtorff hatte es ſich nicht ſchriftlich geben laſſen, und ſo kam es zu regelrechter Zechprellerei zugunſten Frankreichs. 5 Unſere Leute find auf ſolche Geriſſenheiten nicht geeicht. Wir ſollten künftig die :

pfiffigſten Rechtsbeiſtände nach Genf ſchicken, die es in Deutſchland gibt. Sollten. überhaupt die dortigen Verhandlungen als einen Prozeß anſehen, den wir gegen .

die Verbandsmächte führen wegen Bruchs bindender Verträge. ö

Dieſe Abrüſtungskonferenzen find ein Wettlauf der Krebſe. Mit Worten fdreiten | ſie vor, mit Taten zurück. Man ſchwingt den Palmenwedel und lädt derweil die Handgranate.

Muſſolini hat neulich erklärt, Italien müſſe 5 Millionen Soldaten haben und Flugzeuge, daß ſich die Sonne verfinſtere. In den Vereinigten Staaten hat der Weihnachtsengel die Brünne umgetan und den Stahlhelm aufgeſetzt. Statt der großen Freude des Friedens auf Erden verkündigte er das neue Flottenprogramm mit 71 weiteren Kriegsſchiffen, darunter 26 Kreuzern im Geſamtkoſtenpreis von anderthalb Milliarden Dollars.

Ein engliſcher Miniſter erklärte daraufhin, das ſei gerade ſchön ſo, denn nun könne auch England ohne Rückſicht tun, was es für richtig halte.

" &ümmers Tagebuch 323

Frankreich erhöht feine Wehrausgaben um 2 Milliarden, außerdem baut es Polen eine Reiegsflotte und erhält dazu eine Werft in Gdingen, alfo einen Flottenftüß- punkt in der Oſtſee.

Polen hat ein Drittel der deutſchen Einwohnerzahl. Allein es unterhält eine dreimal fo große Friedensarmee, iſt alſo neunmal fo ſtark gerüftet. Daneben hat es außerdem die ſogenannten Schützen, eine Organiſation, in der jeder Pole vom 18. Zahre an militäriſch eingedrillt wird. Dieſe Vorſchule fürs Heer wird immer noch weiter ausgebaut.

Sn Amerika ift man empört. Frankreich bezahlt feine Schulden nicht, gibt aber

Geld an Polen. Dieſes ſelber hat ſeine neue Anleihe nur unter der Zuſage erhalten, daß fie einzig friedlichen Zwecken dienen folle. Den braven Geldmännern aus Wall-

‘ftreet geſchieht aber recht fo. Sie ſollten längſt wiſſen, daß der polniſche Staat fein kleines Ehrenwort nur zuweilen hält, ſein großes aber grundſätzlich nie.

Daher hat er auch den Ruhm, der beim Völkerbund meiſt verklagte Staat zu ſein. Er kann ſich's leiſten. Denn der tut ihm ja nichts.

Diesmal lagen drei Beſchwerden vor: von der Stadt Danzig, von Oeutſchland

kund von Litauen.

Worauf Polen ausgeht in der erſtgenannten, von Genf völlig unfrei gehaltenen „freien“ Stadt, das ſieht jede Kindſeligkeit. Es verlangt den Hafen für feine Kriegs- . ſchiffe, verlangt die Weſterplatte als Munitionslager, legt Soldaten in das neutrale - Gebiet, ernennt fogar einen Stadtkommandanten Danzig befchwert ſich, aber

„Genf entſcheidet nicht, es vertagt bloß.

Aber die deutſchen Schulkinder in Oberſchleſien liegt zwar eine Entſcheidung zu ‚baulichen Gunſten vor. Allein Polen kehrt ſich nicht daran, und der „hohe“ Rat ſieht g jede Brutaliſierung ſeiner Urteile gemütvoll an. Man könnte ihn einen König Lear nennen, wenn ihm nicht deſſen guter Glaube fehlte. NMit Litauen war es bis zu Grenzſperre und Kriegszuſtand gekommen. Pilſudſki nannte bereits Waldemaras einen kliniſchen Fall, denn er arbeite mit Argumenten, die dem Frrenhauſe entſtammten. Wenn die Gewehre nicht gleich losgingen, ver- dankt man dies lediglich dem Kreml, der in Warſchau eine Note überreichen ließ, er werde nicht dulden, daß Litauen von Polen verſchluckt würde. Der Völkerbund aber trat in Erwägungen ein. Sie dauerten 6 Tage und ſtanden dennoch ganz wie uu Beginn, als Pilſudſki wie Waldemaras in Genf eintrafen.

Nun kam's zu einer ſtreng geheimen Nachtſitzung. Nach polniſcher Lesart wurde es ein Pilſudſkiſches: ich kam, ſah, ſiegte. Er ſoll mit der Fauſt, ja mit dem Säbel

auf den Tiſch geſchlagen haben. „Wollen Sie Krieg oder Frieden?“ habe er den Litauer angeſchnarrt. „Frieden“, fei daher die kleinlaute Antwort des Eingefhüch- terten geweſen. Er wird demgemäß in Warſchau ſehr gefeiert, obgleich Augenzeugen verſichern, daß dieſe Geſchichte ebenſo wahr iſt, wie das „finis Poloniae“ Koſziuskos oder der Bajonettſchwur des glorreichen vierten Regiments und deſſen Heldentat bei Oſtrolenka. Aber man einigte ſich auf eine Formel des Rates und ſchüttelte einander trotz des kliniſchen Falles herzhaft die Biederhand.

Was war das für eine glüdhafte Formel? Nun, eine echte von Genfer Art, die

einen Beinbruch durch Geſundbeten heilen will. Der Kriegszuſtand wird beendet,

524 Zürmers Tose us

allein alle Kriegsurſachen bleiben unberührt. Sogar die wichtigſte: der Raub Bit nas nämlich. Darüber wird natürlich binnen kurzem neuer Zwiſt ausbrechen. Dem jon behaupten die Polen, gerade dieſe Nichterwähnung bedeute den litauiſchen Verzicht und das Amen des Völkerbundes, was natürlich von Kowno aufs Hikigit beſtritten wird.

Die Herren vom Rate tun freilich ſehr groß mit dieſer Stümperei. Briand preif den Bund als Friedensretter, windet ihm alſo die Lorbeeren der Räterepublik.

Ein merkwürdiges Gleichnis machte zu feiner Umgebung Auſten Chamberlam, der ſich überhaupt der ganzen Sache gegenüber in die würdeſteife Langeweile hüllte, die ihm fo meifterhaft zu Gebote ſteht. Wenn Aare ſich ſtritten, fo ſagte er, dann könnten Spatzen ſie nicht auseinanderbringen.

Sind denn die feindlichen Brüder aus der ſarmatiſchen Tiefebene Adler, die Großmächte Sperlinge? Liegt nicht in dem ganzen Vergleich eine völlige Ger- neinung des Völkerbundes, der doch eigens geſchaffen wurde, um ſelbſt Löwen und Tiger auseinanderzubringen?

Wenn ſogar einer der Maßgebendſten derart vorbeihaut, dann iſt dies ein An zeichen mehr, daß wir auch im neuen Jahre von dem Völkerbund draußen ebenje wenig zu erwarten haben, wie von der Demokratie drinnen. Beide wollen die Wel verbeſſern, ohne zuvor ſich ſelber verbeſſert zu haben, womit doch ſchließlich alk geſunde Reform zu beginnen hat. Denn:

Die Freiheit läßt ſich nicht gewinnen,

Sie wird von außen nicht erſtrebt,

Wenn nicht zuerſt ſie ſelbſt tief innen

Im eignen Buſen dich belebt.

Willſt du den Kampf, den großen, wagen, So ſetz zuerſt dich ſelber ein;

Wer fremde Feſſeln will zerſchlagen

Darf nicht ſein eigner Sklave ſein.

Nur reinen Herzen, reinen Händen Gebührt der Dienſt im Heiligtum;

Der Freiheit Werk rein zu vollenden, Dies, deutſches Volk, dies ſei dein Ruhm. Die Lüge winkt, die Schmeichler locken, Mit ſeiner Kette ſpielt der Knecht,

Du aber wandle unerſchrocken,

Und deine Waffe ſei das Recht.

Dr. Fritz Hartmann, Hannover | ye (Abgeſchloſſen ant 21. Dezeniber 1927)

Kling Klang Gloria!

aben wir nicht den Krieg verloren, den größten der Weltgeſchichte? Wurden uns nicht Bedingungen aufgelegt, wie ſeit Rar- thago keinem Volke? Müffen wir nicht künftig dritthalb Milliarden Verdienſt aus unfrer Hände Arbeit an die Feinde abliefern? Mir war doch ſo.

Aber es ſcheint bloß ein böſer Traum ge- weſen zu ſein. Man ſchaue doch umher. Lebt denn derart, wie wir tun, ein geſchlagen, ein geknechtet, ein ausgeſogenes Volk?

Was ein richtiger Deutſcher iſt, der gehört mindeſtens einem Bäderdugend Vereinen an. Deren jeder aber veranſtaltet im Jahre minde- ſtens ein Bäckerdutzend Feſtlichkeiten. Meiſt am Sonnabend und tief in die Sonntagnacht hinein, damit der Tag des Herrn nur ja nicht bloß der chriſtlichen Feier, ſondern auch jeder geiſtigen und körperlichen Entſpannung ver- loren geht. Behaglich ſtellt der „Vorwärts“ feſt, die Ungläubigkeit ſchreite machtvoll durch die Welt, und der liebe Gott der Chriſten könne ein Lied davon fingen.

Man feiert die Feſte, wie fie fallen. Nach; gerade iſt uns jeder Tag ein Feſt. Sogar das Unglück. Den Geſchãdigten der Uberſchwem⸗ mung gab man in Dresden eine Wohltätig- keitsvorſtellung! „Das Abſteigequartier“ ein Stück, fo zotig, daß es mehrfach zu Lärm und Argernis kam! Aber der Werbezettel pries es als die Höchſtgrenze des Romifchen und lud daher ein mit dem frevligen Wort: „Lacht Tränen, um Tränen zu trocknen!“

Selbſt der Totenſonntag ſah in Berlin Ent- kleidungsrevuen, hörte aus den Nachtdielen

das Möppeln der Negertänze, für die ja jetzt das Frankfurter Ronfervatorium eine eigene Jazzklaſſe eingerichtet hat. Vorſtellig gewor- dene Kirchenamter erhielten aus dem Polizei- präfibium den Beſcheid, man nehme Rückſicht auf die Großſtadt und wende daher die Dor- ſchrift am Totenſonntag milder an!

Aing Rang Gloria allenthalben! Erzber- gers leichtherziges: „Erſt ſchaff dein Sach, dann

trink und lach“, iſt zum Wahlſpruch der neuen Zeit und des jungen Geſchlechtes geworden. Wer dagegen angeht, deſſen Mahnen verhöhnt man als Rapuzinerpredigt.

Wir haben wiſſenſchaftliche Rongreffe, Wirt- ſchafts⸗ und Parteitage. Man nenne mir aber einen, der nicht mit einem Bierabend begänne, von einem Fruͤhſchoppen unterbrochen würde und bei einem Feſteſſen endete? Man hat Bei- ſpiele, daß bei einem trockenen Gedeck, das 25 Mark koſtete, der Tiſchredner nachwies, die ganze Zunft nage am Hungertuch. Denn man hatte den Fachminiſter geladen und es wurde erwartet, daß ſeine Antwort beim Sektkelch Staatshilfe zuſichere.

Welchen Eindruck macht doch dies alles nach außen hin! |

Mit Recht beantwortet das Reichskabinett ſolche Anſinnen künftig mit einem Nein. Es will nur noch in Ausnahmen Gaſtfreundſchaften an; nehmen; nach Faſtnacht überhaupt nicht mehr.

Aber genũgt denn das? Schon daß jeder der zehn Reihsminifter jeden feiner Kollegen im Winter einlädt und gegengeladen wird, ſchon daß der diplomatiſche Körper in Zweckeſſen unerſchöpflich iſt, bedeutet einen Zeitverluſt, eine Schwächung der Arbeitskraft und ein Miß verhältnis zu unſrer Lage, macht alſo auch hierin tapfere Entſchlüſſe wünfchenswert.

Bismarck lehnte alle Einladungen ab, hatte ſich ſogar für die Hoffeſtlichkeiten ein für alle; mal den Freibrief erwirkt. Muſſolini macht's ebenſo. Muß er um einer Rede willen unum- gänglich an einem Bankett teilnehmen, dann rührt er keinen Biſſen an. Er hat noch mehr getan. Er ſchaffte nämlich den Karneval ab und ließ allen Offizieren Charleſton, Zimmp, Foxtrott und Jazz unterſagen als unvereinbar mit der militäriſchen Würde. Wer nur die Schilderung bei Goethe oder in Anderſens „Improviſator“ geleſen, der weiß, was es be- deutete, als fein Federſtrich alle Masken, Ver; kleidungen, Umzüge, Korſos wurzelweg ver- bot. Da gab es keine Rückſicht auf die befon- deren „Verhältniſſe der Großſtadt“. Aber es geht dennoch.

526

Warum bei uns nicht? Weil Muſſolini ein Mann iſt, der ſich durch den demokratiſchen Zauber zu ſtaatsmänniſchen Einſichten hin- durchgerungen hat, wie noch keiner bei uns.

Mas ſich an Nackttänzen ergößt, das wird die Fron des Dawesplanes nimmer los. Erſt dann werden wir wieder ein freies Volk, wenn wir zuvor ein ernftes geworden find. F. H.

Zwei kirchliche Tagungen

ie zwei religiöfen Tagungen, die heuer ziemlich gleichzeitig ſtattgefunden haben, ſtehen in ſcharfem Gegenſatz. Schon äußerlich: denn in Lauſanne waren alle chriſtlichen Reli; gionsgemeinſchaften vertreten, einſchließlich der griechiſch-katholiſchen und der Alttatho- liken, nur nicht die römiſch-katboliſche; in Dortmund fanden ſich wieder nur letztere ein, und zwar wieder nur die ultramontan-jefui- tiſche Richtung, die in der Kirche jetzt allein vorherrſcht und politiſch im Zentrum ver- treten iſt; daß es noch vor nicht langer Zeit einen Reformkatholizismus gegeben hat, welcher gerade die gebildeten Kreiſe im Kle- rus und Laientum umfaßte, iſt vergeſſen. Alſo dort Einheitsfront gegen das Papſttum, hier aber Ausprägung des Kurialismus mit Ausſchluß der Zntellektuellen; dort freieſte Ausſprache, Duldung jeder Ausprägung des Evangeliums, verſöhnliches Zufammenarbei- ten in chriſtlichem Liebesdienſt unter Ver- meidung übereilter Rompromiffe und For- mulierungen, hier ſtrengſter Ronfeffionalis- mus mit Unterdrückung ſogar eigener Denk- richtungen, damit nur die Einheit krampfhaft zum Ausdruck komme. Dort freie Erörterung unter Betonung der gemeinſamen Bande, hier Feſtlegung und Vorbeſtimmung der Redner und ſtramme Diſziplin; die Zubörer- ſchaft beſchränkte ſich auf Beifallklatſchen. Erſtere Konferenz trug der perſönlichen Auffaſſung volle Rechnung bis zur VBerwi- {hung des chriſtlichen Charakters nicht ein- mal das Apoſtolikum wurde als Bekenntnis gefordert —; letztere hatte den entgegen- geſetzten Fehler ftarrer Einſeitigkeit und Unter- drüdung des Individualismus. Im gahr 1900 fand in Chicago ein religiöfer

Auf det Buck

Weltkongreß ftatt, bei dem ſogar Burdpifer, Chinefen, Muhamedaner neben allen ori lichen Bekenntniſſen vertreten waren. R Katholiken ſchloſſen ſich hier nicht aus ur waren durch Kardinal Gibbons, Exzdiſch Ireland, Rektor Klein, den Franzoſen che bonnel, der eine Srofdiire darüber ſchrie achtungsvoll vertreten. Man erinnerte an ke Unionskonferenzen zwiſchen Boſſuet u! Leibniz, an die ähnlichen mit dem Orient w erkannte als Vorzug des Proteftantiem: feine Ergänzungsfähigkeit und unbejchränk Vervollkommnung, aber die Gefahr, mance feſter Autorität ſich von den Wurzeln des Cpr ſtentums zu entfernen; als Vorzug des Rather: zismus feſte Autorität, aber zu ftarre Trer tion und mangelhafte Aſſimilation. Yurd der gegenſeitige Ausſprache ward wenigſtens & Tendenz der Annäherung geweckt und zwiſche den ziviliſierten Völkern Brücken des e ſtändniſſes geſchlagen, die Keime zur Einig bargen. getzt iſt dieſe Tendenz nicht eim zwiſchen den beiden chriſtlichen Haupttore fionen mehr vorhanden. Za die luft hat ii noch verbreitert ich erinnere nur an kr Aufregung, welche die neue Miſchehengeſer gebung hervorgerufen. Wir haben nicht me zwei getrennte Lager: Stockholm -Lauſame einerſeits Dortmund andererfeits; we das allerſchlimmſte iſt: in beiden Tagunge wurde gegenfeitig gar keine Rüdjid! genommen; man ſprach in Laufanne nicht vom Katholizismus, in Dortmund nich von der Schweſterkirche; man redete ar einander vorbei, als ob die andere det liche Richtung gar nicht auf der Welt wäre Und das iſt doch geradezu entſetzlich. Es si" teine ärgere Feindſchaft als das völlige St ſchweigen. Während ſonſt Religion ſelbſt m Krieg war, iſt jetzt nicht einmal mehr Krieg in der Religion. Ein echter, redlicher Meinung

kampf wäre eine Erlöſung gegenüber dieſen Sumpf heuchleriſcher Verachtung. Wie richti fagte Hermann Schell: „Die Konfeſſionen dürfen, wo fie fic als lebendige und überzeugt

Träger der religidfen Wahrheit und Gne fühlen, auf rege Propaganda nicht verzichten.

Es wäre geradezu Verrat an der Wahrheit.

wenn fie ſich aus Toleranz und um des $6"

Auf der Warte

ftigen Friedens willen ihren gegenwärtigen Beſitzſtand ſchweigend zuſichern wollten. Der unmwürdige Kampf und Wettbewerb ijt aller- dings in religiöſen Dingen am widerwärtig- ſten; aber was lebt, muß ſich regen! Die Religionsgeſpräche miffen in großem Stil fortdauern, die Erörterungen müſſen mit vollem Ernſt und reinem Streben zwiſchen den Weltanſchauungen fortgeſetzt werden. Zede Konfeſſion muß, wenn fie ſich nicht den gei- ſtigen Totenſchein ausſtellen will, ihre Kämpfe in der Öffentlichkeit hervortreten laſſen, um durch geiſtige Wettkämpfe zu erproben, auf welcher Seite die Aufgaben des Chriften- tums am höchſten erfaßt find, auf welcher Seite das lebendige Verſtändnis für die Be- dürfniſſe der Gegenwart, den Vechſel der Zeiten, ihre Rulturbeftrebungen und Geiftes- richtungen vorhanden ſeien, ohne daß fie in dieſen Strömungen untergeht. „Streite dein Leben lang für die Wahrheit, und der Herr wird für dich ſtreiten!“ (Katholizismus und Proteſtantismus in bezug auf den religiöfen Fortſchritt im Reiche Gottes, S. 10.) Und Deutinger, auch ein Vergeſſener, ſagte noch früher: „Deutſchland ſollte nicht ſtaatlichen Größenwahn haben, Deutſchland trete an die Stelle des antiken Hellas, um Träger der hoͤchften Geiſteskultur zu fein! Nicht die politiſche Macht bezeichnet den Höhepunkt eines Volks, ſondern das geiſtige Erbe, das ein Volk feinen Nachkommen und der gan- zen Menſchheit vermacht.“ Dr. M.

Landesverrat und Volksverleumdung

uf den Pariſer Boulevards rufen die Zei-

tungsjungen allabendlich ein Skandal blättchen aus, „Comoedia“ heißt's und fpottet damit ſeiner ſelbſt. Es enthüllt Tag für Tag etwas anderes; ſeine Senſationen ſind um ſo tnalliger, als die Redaktion fie höͤchſt eigen- hirnig erfindet.

Vor ein paar Wochen brachte ſie genaue Angaben über die deutſchen Rüſtungen in der Luft, unterm Meer und für den Gaskrieg. Gegen fünfhundert geheime deutſche Flug- hafen beſtänden in Rußland, Schweden und

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der Türkei. Niemand ſonſt wußte davon; weder Ruſſen, Schweden, Türken noch ſelbſt die jpürnafige Kontrollkommiſſion; einzig die „Co- moedia“ . Manchem Pariſer Spießer überlief jedoch die zuſtändige Gänſehaut. Er dachte gar nicht daran, daß eine gewiſſe Sorte von Preſſe ihre Leſer auch im Oktober in den April ſchickt. Indem der Artikel reißend abging, hatte er feinen ſpekulativen Zweck zum gändereiben der Macher erfüllt. An politiſche Folgen dach; ten dieſe gar nicht.

Solche ſchuf erſt Herr Friedrich Wilhelm Förſter; als deutſcher Profeſſor abgeſägt, daher ſeitdem „Apoſtel der Menſchlichkeit“. Seine Alarmrufe gellten. Brutus, ſchläfſt du? Deutſche Tuͤcke bereite Schauderhaftes. Sie führe die ganze Welt an der Naſe herum. Die Locarno-Ziehharmonika ſpiele man nur, um das Hämmern und Klirren zu übertönen, das aus unſren getarnten Waffenſchmieden er- ſchalle. .

Der Franzoſe Goutenoire de Coury redet zwar nicht ſo viel von ſeinem Gewiſſen wie Förſter, aber er hat eins und ein ſehr feines ſogar. Als klarer Friedensfreund fuhr er da- her empört auf wider den verworrenen. Der Franzoſe verteidigte Deutſchland gegen die Hegereien des Deutſchen. Was tat jedoch die; fer? Der Gemeingefährliche erklärte feinen Ab- fertiger für gemeingefährlich.

Unter den deutſchen Pazifiſten gibt es leider keinen Goutenoire de Toury. Nicht allen frei- lich iſt wohl bei Förſters immer bedentenlofe- ren Machenſchaften. Die „Voſſiſche“ preiſt ihn als ethiſchen Zdealiſten, um ihn politiſch als „Narren in Chriſto“ abzulehnen. Hingegen fandten ihm alle Landesverbände der Friedens; geſellſchaft Huldigungsadreſſen, ihrem „uner- ſchrockenen Führer“ glückwünſchend zu feinen „mannhaften Auftreten“.

Die „Hilfe“, die von Naumann auf Erkelenz niederging, fügte dem Schwindel der „Co- moedia“ ſogar noch von ſich aus ein verdäch⸗ tigendes Werturteil bei: „Wir halten die Be- richte für echt, ſchon weil nach unſeren Er- fahrungen Dementis aus dem Reidswebr- miniſterium ftets die Echtheit der beſtritte- nen Behauptungen beweiſen.“

Der Oberreichsanwalt tat, was ſeines Amtes

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ift. Er verhaftete in Wiesbaden den Gefchäfts- führer der „Menſchheit“ wegen Landesverrats und leitete gegen Zörjter wie deſſen Spieß geſellen Mertens ein Verfahren ein. Dieſe beiden ſitzen nämlich, wie es „unerſchrockenen Führern“ ſowohl anſteht, in der bombenſiche⸗ ren Deckung der Schweiz.

„Lügner und Lump“, ſo hat Streſemann, der ſonſt immer beherrſchter Diplomat bleibt, in Genf gegen Förſter dreingewettert. Dieſer erklärte, er wolle ihn verklagen, unterließ es jedoch wohlweislich. Seine Anhänger freuten ſich ſogar dieſer [hmüdenden Beiworte. Sie wollen nämlich daraus ein Werkzeug feilen, das ihn rettet.

Diefelben Leute, die zuerſt erklärt, die An- ſchuldigungen Förſters ſeien echt, berufen ſich jetzt auf Streſemann, daß ſie unecht ſeien. Ihr mannhafter Führer, der Apoſtel mit dem hohen Gedankenflug der ethiſchen, chriſtlichen und hiſtoriſchen Ideale, wie ihn die „Voß“ nennt, habe alſo gelogen. Wie könne man jemanden wegen Landesverrats verfolgen, wenn gar nicht wahr ſei, was er ſagte?

Der ſozialdemokratiſche Abgeordnete Dr. Levi hat der Sache damit einen Dreh gegeben, der jeder Talmudſchule Ehre machte. Mit dieſer Silbenſtecherei bewaffnet, hält er nun große Proteſtverſammlungen gegen die „Landes ver- ratsſeuche“. Fort mit dem ganzen Paragra- phen; es gibt keine ehrlicheren Vaterlands- freunde als Landes verräter; keiner dient dem Reiche beſſer, als der es anſchwärzt.

Dieſe Schreier ſind viel zu geriſſen, als daß fie die Schwäche, ja Lächerlichkeit ihres Ein- wandes nicht erfaßten. Die Schwere des Lan- des verratsverbrechens liegt in der Ehrloſigkeit der Geſinnung und dem furchtbaren Schaden, der hier dem ganzen Staate zugefügt wird. Wird daher ſchon, wenn es ſich um erweisliche Tatſachen handelt, mit Recht auf vieljähriges Zuchthaus erkannt, um wieviel unerbittlicher muß dann noch die Sühne ſein bei haltloſer Verdächtigung!

Soll denn das deutſche Volk ſich ungeſtraft verleumden laſſen? Gerade die verlangen es, die da immer von Volksmajeſtät und Volks- ſouveränität in geſchwollenen Phraſen reden.

Auf dem Rechte beruht der Staat. Wer es

Auf der Bese

beugt, der richtet ihn zugrunde. Die zerſeit⸗

riſche Natur unſerer heutigen Staatsbeſſere

zeigt ſich darin, daß fie unabläffig zu unte- wühlen beftrebt find. Zeder Blick in die Peek verrdts. Das gleiche Recht für alle iſt ina eine Theorie, die in der Wirklichkeit erhebt eingeſchränkt wird. Ihre Themis trägt len Binde mehr vor den Augen. Sie ſchaut fe nicht den Fall an, ſondern den Mann. J. ein Parteigenoſſe, dann entdeckt man Geſetze lücken, der Parteigegner hingegen iſt {aa ſchuldig vor dem Arteilsſpruch.

Vor den Schranken deutſcher Gerichte, dus den Eid franzöſiſcher Kriminalbeamten wird feſtgeſtellt, daß Schlageter tatſächlich von ge Deutſchen verraten worden iſt. Dem deutida Herzen ſtockte das Blut vor Entſetzen bei de Nachricht. So weit alſo kam es mit uns!

Auch die Linkspreſſe gibt ihrer Entrüftr: Ausdruck. Allein abermals iſt es keineswer vaterländiſches, ſondern parteipolitiſches & fühl. Das zeigt ſich immer wieder in W hämiſchen Hinweis, daß die beiden Derrä rechtsradikale Roßbachleute geweſen find. & Blatt aber ift fo ehrlich, ſich klarzumachen, de was jene einmal an einem Oeutſchen we brachen, Förſter jabrein jahraus am gefamte deutſchen Volk verübt. Dafür jedoch wird dick von ihnen beglüdwünfcht und mit talmudiß ſcher Begriffsſpalterei herauszureden gefudl Wenn die deutſche Volksmehrheit nicht dee noch klüger wäre als Hello von Gerlach, dan wäre Förſter heute ſogar Reichspräſident!

F. 9

Deutſcher Aufſtieg

Her bekannte Gelehrte und Polititer Pe Dr. Martin Spahn legte auf dem deut nationalen Parteitage in Königsberg ein [her Bekenntnis feines deutſchen Zukunftsg lane ab. Wir bringen einen Teil feiner Ausfühung® zum Abdruck, da wie der Anſicht find, dez fe über den Rahmen eines Parteltages hinam N Beachtung ernſter Menſchen verdienen.

. . Die Bismarckſche Reichsgründung mu’ tet uns heute an wie das Seſchenk eine“ großen Mannes. So wenig geiſtigen Ante! nahm das Volk noch an den Problemen, mi denen Bismarck über der Wiederbegründun des Reiches zu ringen hatte. Der Veltlric

oo 4 5 3 Rogie? ed 7 * be te Tee z

Auf der Warte

und Umſturz aber haben unſer Volk auf feine eigene Verantwortung geſtellt. Es beginnt ſich darauf zu beſinnen. Damit aber darf ſich auch eine Hoffnung in uns wieder regen. Die Be- freiungskriege haben wie ein Pflug die Scholle gewendet. Bismarck brachte die Saat in den Acker. Die Saat geht auf.

Die Lebensgefahr, gegen die ſich unfer Volk ſeit dem achtzehnten Jahrhundert zu behaupten hat, iſt die Aufklärung. Diefe Gefahr wäre in dem Augenblick ſchon nur halb fo groß, wenn wir alle ungebrochen chriſtlich und deutſch geſinnten Volks- genoſſen zu ihrer Abwehr vereinen konnten. Fd glaube die gegenwärtige Lage nicht unrichtig zu kennzeichnen, wenn ich ſage, daß Katholiken und Proteſtanten bei uns heute tiefer noch politiſch als religiös geſpalten ſind.

.. gebt oder nie gilt es, was geiſtig zu-

ſammengehört, auch politiſch untereinander

zu verſtändigen. Es ijt ja nicht der erſte Ver-

* 1. r or + ' —.— .

2 jud der Zuſammenfaſſung. Begreiflicherweiſe kam der erfte Verſuch unmittelbar nach den

Befreiungskriegen und der zweite zu Anfang der ſechziger Jahre. Als der erſte ſchon ge- ſcheitert war, ſchrieb Joſeph Görres, die ſtärkfte geiſtige Perſönlichkeit, die ſich mit um

ihn bemüht hatte, ſeheriſche Worte über die

Notwendigkeit des Zuſammengehens. Ex beſchwor die Proteſtanten Altpreußens, zu

ſehen, wie die Franzoſen und Belgier trotz

der Beſiegung Napoleons ſchon wieder auf der Lauer laͤgen, und er wollte mit tieferem

Blicke noch in die Geheimniſſe der Zukunft

den rheiniſchen Katholiken die Augen dafür

! öffnen, daß das Slawentum zwiſchen Kor-

pathen und Oſtſee erwache und das Werk der

deutſchen Rolonifation zu zerſtören trachte.

Warum verhallte dieſe Stimme? Durch die

Zuwanderung evangeliſcher Beamter, Heeres-

angehöriger und Gewerbetreibender und durch den Gedanken an die evangeliſche Überliefe- rung des preußiſchen Staates hatte ſich in den Ryeinländern nach ihrer Angliederung an Preußen das Mißtrauen geregt, als ob es auf ihre Proteſtantiſierung abgeſehen ſei. Vie zu allen Zeiten und in jedem Lager fanden ſich Seger, die das Mißtrauen ſchürten.

329

Die franzöſiſche Propaganda warf ſich eben- falls darauf. Die preußiſche Regierung wurde ihrerſeits mißtrauiſch wegen der Staatstreue der rheiniſchen Natholiken. 1837 war der offene Kampf da. Ich ſpreche davon nicht nur als geſchichtlicher Erinnerung. Spürten wir in den letzten Jahren nicht ein ähnliches Miß trauen auf evangeliſcher Seite in den Landen öſtlich der Elbe, weil ſich inzwiſchen die Rich; tung der wirtſchaftlichen Wanderung umge- kehrt hat und vielfach von Weſt nach Oſt geht, und weil ſich durch Demokratie und Republik das Schwergewicht der politiſchen Macht in die Zentrumspartei verlegte? Wir ſind aber entſchloſſen, diesmal das Mißtrauen recht- zeitig zu überwinden, ehe es Gewalt über unſer öffentliches Leben bekommt. Die Be- ſitzſtand verſch iebungen zwiſchen den beiden großen Bekenntniſſen im Laufe der letzten Menſchenalter ſind geringfügig im Vergleich zu den Hekatomben, die dem Unglauben zum Opfer fielen. Die Erkenntnis dafür wächſt auch im deutſchen Katholizismus. Kaplan Sonnenſchein bedeutet gewiß durch ſeinen Einfluß insbeſondere auf die Katholiken in Berlin für die links gerichteten im Zentrum einen wichtigen Ruͤckhalt. Er hat kürzlich in ſeinem Sonntagsblatt mit allem Nachdruck dafür Zeugnis abgelegt, daß ſich ſeine Arbeit nicht gegen den Proteſtantismus richte. Mit immer grelleren Farben, immer aufpeitfchen- der malt er ſeinen Leſern Berlin als die Stadt des neuen Heidentums, in der die tatho- liſche Kirche in verzweifelter Anſtrengung Miſſionsarbeit zu verrichten habe. Dieſe Ab- wehr des Heidentums ſtellt Katholiken und Proteſtanten vor die gleiche Aufgabe.

.. Halb fo groß würde die Lebensgefahr, die für uns die Aufklärung bedeutet, nur noch ſein, wenn wir den politiſchen Zwieſpalt der chriſtlichen Bekenntniſſe überwinden. Bedroh⸗ lich genug würde fie auch dann noch bleiben. Den Ausſchlag gäbe erſt, wenn wir das Volk in feiner Breite auf unſer Ziel hin in Be- wegung ſetzten. Die Aufklärung dringt von oben nach unten vor. Sie ergriff zunächſt die Oberſchicht, und ſie ſickert von dort aus in das Volk. Würde ſie es durchdringen, dann verwandelte es ſich unter ihrem Einfluß aus

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Volk in Maſſen. ... Aber fo weit ijt es heute noch nicht. Wir ſind noch ein Volk. Der Sinn der ganzen deutſchen Politik ſeit hundert Jahren beſtand in dem Glauben an die Wider- ſtandsfähigkeit unſeres Volkes gegen ſeine Umformung in Maſſe. znſtinkthaft ſtieß ſie immer wieder in dieſer Richtung vor. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nach den Befreiungskriegen, der Entſchluß Bis- mards zum allgemeinen gleichen Wahlrecht,

die Ideen, die er 1879 feiner Wirtſchafts und

Sozialpolitik zugrunde legte alles das müßten wir als Frivolitdt heute werten, wenn es nicht einem tief gegründeten und ſeiner ſelbſt vollkommen ſicheren Glauben entfprun- gen wäre, daß unſer Volk von Natur kon- fervativ denkt und fühlt, Bauern, Hand- werker und Mittelſtand und auch die Arbeiter. Dieſer Glaube wird dadurch nicht widerlegt, daß die auf ihm beruhenden politiſchen Maß- nahmen teils nicht fofort ſich tonfervativ aus- wirken, teils einmal unter beſonders wider wärtigen Umſtänden verſagen, daß ſich z. B. die allgemeine Wehrpflicht am Ende des Welt- krieges ſogar gegen den Beſtand des Staates ſelber kehrte, und daß das allgemeine gleiche Wahlrecht zunächſt der Sozialdemokratie die Organiſation der Arbeiterſchaft im Zeichen

des Klaſſenhaſſes und im Dienſte der Re-

volution ermöglichte. Der Erfolg aller dieſer Maßnahmen läßt ſich nur auf lange Sicht ermeſſen. Unſere Arbeiter waren dem uns überfremden Wirtſchaftsgeiſte des Weſtens, dieſer Vorflut der Aufklärung, beſonders ſtark ausgeſetzt. Sie entwurzelte ſie. Sie riß ſie aus dem Ganzen des Volkes heraus und ließ ſie vor allem den Unterſchied ihrer Lage von der der Beſitzenden empfinden. Das Klaſſen- gefühl mußte in ihnen erwachen. Die ſoziale Fürſorge, ſo wie ſie vom Staat betrieben wurde, nachdem Bismarck das Steuer des Reichsſchiffes hatte loslaſſen müſſen, ſtellte nicht nur kein Gegenmittel dagegen dar, fon- dern förderte die Entwicklung unſerer Arbeiter- ſchaft zur Klaſſe. Sie wurde den Abſichten des großen Kanzlers ganz entgegen aus dem Zuſammenhange der Geſamt politik gelöft und für ſich weiter ausgebaut. Als wenn das ſoziale Übel ein rein örtliches Übel wäre, nicht

Auf der Verte

mit der geſundheitlichen Verfaſſung des gan- zen Volkes zuſammenhinge, wurde es gleid- ſam der Behandlung von Spezialiſten übe- lajjen, wo der Hausarzt ganz unentbeklid war. So konnte die Sozialdemokratie dm Staat den Vorſprung abgewinnen, zumal ik dem Arbeiter im marxiſtiſchen Syſtem zur keine Weltanſchauung, aber doch eine gder logie gab und ihm damit auch eine Beftie digung feines Bedürfniffes nach einem Be greifen der Welt als Ganzes vortãuſchte. Pick Täuſchung hat bis zur Revolution vorgehalten. Sie halt heute nicht mehr vor. .. Die Leben I digkeit des Volkstumsempfindens im Arbeitet läßt mich glauben, daß auch das Chriſten. tum in ihm nicht erftorben, ſondern höchſten verſchũttet ijt; denn das Volkhafte und da: Chriſtliche lebt und ſtirbt in uns miteinan J der. Gewiß haben uns die letzten Jahre En⸗ tãuſchungen gebracht, wir haben das Ziel nicht

erreicht, das wir uns als äußerftes ſetzten. Aber # \

das ift doch erreicht worden, daß der Schlamm nicht ganz über unſer Volk hinwegging un es erſtickte. Der Schlamm weicht zurück, de Volksboden wird wieder ſichtbar, neue Mos · lichkeiten für unſer Ringen öffnen ſich. Die Hoffnung darf wieder erwachen.“

Nachhall von Lauſanne

Di Weltkonferenz von Lauſanne, die jüngſt ſtattgefunden hat, läßt nachdenk⸗ ſame Chriſten aufmerken. Iſt in Glaube und Verfaſſung ein gemeinſames Denken auf der ganzen Welt unter allen Völkern und Kirchen möglich? Daß gerade das nationale Exwachen der Völker auf den Miſſions feldern hin und her die Spaltung unter den Chriſten ſo ſtark zum Bewußtſein bringt, iſt hoch beachtenswert. Sit das nicht von der Miffion her ein Rut Gottes an die Kirchen der Reformation? An alles Kirchentum, das den Anſpruch erhebt, ein chriſtliches zu fein? Die letzten und tieſſten Gründe unſeres chriſtlichen Glaubens gilt es neu ergründen und begründen und in edler Großzügigkeit und ſchlichter Einfachheit zum Ausdruck bringen, was für wahres Menſchen; tum Glauben bedeutet.

Die Nirche der Reformation zumal hat hier

Auf der Warte

ihre weltgeſchichtliche Aufgabe. Der Entidei- dungskampf zwiſchen tatbolifd und evange- liſch, d. h. das geiſtige Ringen um den neu- zeitlichen Ausdruck des chriſtlichen Gott- erlebens kann nur in Geiſt und Wahrheit aus- gefochten werden. Und die Wahrheit kann nur eine fein. Erkennen wir, daß Luther und die Reformation ein hiſtoriſcher Fortſchritt im geſamten deutſchen Geiſtesleben bedeutet, ſo iſt die Gegenreformation in der Hauptſache nur als Reaktion zu betrachten, die im Dreißig- jährigen Krieg ihren Höhepunkt erreicht. Die ganze katholiſche Kirche iſt in der geiſtigen Ausdrucksgeſtaltung der neuen Zeit nicht mit- gegangen. Sie iſt in der Hauptſache eine poli- tiſche Weltmacht und keine Kirche. Und doch iſt es außer Zweifel, daß das neue religidfe Leben der Reformation auf die katholiſche Zröm- migkeit fördernd gewirkt und dadurch die ge- ſamte deutſche Innerlichkeit durch Luther einen gewaltigen Anſtoß bekommen bat.

Um den chriſtlich-religiößſen Ausdruck unſerer Zeitenwende heute recht zu ſchauen, iſt es wertvoll, den dogmatiſchen Gehalt der Refor- mation auf einen kurzen Ausdruck zu bringen. Kann man eigentlich überhaupt von einem dogmatiſchen Gehalt der Lutherzeit ſprechen? Zunächſt ſteht es doch einmal feſt, daß Luther tein Dogmatiter und in feiner großen Gemüts- kraft umfaſſend reine Weſenskräfte entfaltet hat als ſchöpferiſch-organiſche Lebensmitte des ganzen Volkes. Um dogmatiſche Erkennt- niſſe, d. h. alſo um eine geiſtige Ordnung des großen Exeigniſſes Luther, geht es erſt feinen Epigonen in der Zeit der Orthodoxie.

Wie ein deutſches Wieſental dünkt mir die Reformation als Geiſteserſcheinung. Ein ſtrömender Quell iſt mitten inne das Luther ; herz in ſchöner reiner Menſchlichkeit. Trotzige Selbſtgewißheit des Quelles Einfaſſung. Die lebendige Kraft ſchöpferiſchen Glaubens iſt ſein ſprudelnder Gehalt. Hochragende Berge umgrenzen das Wieſental. Einmal die Berges gipfel der katholiſchen Dogmatik von den

erſten Bekenntniſſen der Chriſten her bis zur Dogmatifierung alles kirchlichen deutſchen Lebens in Thomas von Aquin. Ein trotziger Alpenblock aber hat ſich in den reformato- tiſchen Bekenntnisſchriften abgelagert, wie

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fie auch die Bräambel der neuen evangeliſchen Kirchenverfaſſung feſtgehalten. Tragen die Formationen der erſtgenannten Bergland- ſchaft ihre beſonderen Linien und Formen von der Auseinanderſetzung mit der griechiſchen und römiſchen Kulturwelt her, fo iſt der ortho- doxe Niederſchlag der evangeliſchen Bekennt- niſſe von der Konfeſſion beſtimmt: eine wohl Achtung gebietende Geiſtesarbeit, doch unſerer neuen Zeit kaum noch verſtändlich.

Mit Sehnſucht ſchweift unſer Blick über die Landſchaft des deutſchen Geiſteslebens und haftet immer wieder an dem lieblichen Quell im Wieſental. Das gewaltig Oridende der dogmatiſchen Ausdrucksgeſtaltung be- drängt unſer neues Lebensgefühl. Uns dünkt, daß deutſches Weſen gar nicht dogmatiſch iſt. Sollte in dem Ruf nach einem dogmenfreien Chriſtentum ſich nicht gerade deutſche Art ausprägen? Zum mindeſten hat die Wahr- haftigkeit, mit der wir heutzutage in feinem Gemerk an alle alten kirchlichen Ausdrucks- formen herangehen, dem deutſchen Denken ge- zeigt, daß die Ausdrucksgeſtaltung des Neuen Teſtamentes von Zuden und Griechen und Rö- mern, alſo von uns fremden nationalgeartetem Denken beſtimmt ijt. Wir glauben deshalb, daß der dogmatiſche Gehalt der Reformation erſt in unſerer Zeit feinen wahrhaft deut- ſchen Ausdruck finden kann. Die innere Größe Luthers, ſeine herrliche Innerlichkeit iſt zunächſt einmal ins Volksganze eingeftrömt und hat als lebendige Geiſteskraft den Körper des deutſchen Volkslebens, den verſchiedenſten Zeitſtrömungen entſprechend, durchblutet.

Dieſe lebendige Seinskraft der chriſtlichen Frömmigkeit in deutſcher Eigenart will heute das geſamte deutſche Geiſtesleben durch- kraften und drängt zu deutſchgeartetem Aus- druck. Um eine neue geiſtige Grundlegung über dem Bibelbuch geht es. Die religivje deutſche Innerlichkeit bleibt dieſelbe wie im Lutherherzen. Sie war ſchon in Meiſter Ekke ; hard lebendig, der als erſter deutſch dachte und deutſch ſchrieb. Der geiſtige Gehalt der Reformation wird darum im einfachen ur- chriſtlichen Bekenntnis zu Zeſus Chri—

ſtus, dem Herrn, am ſchlichteſten umſchrie⸗

ben. Karl Partecke

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Eine bedauerliche Entgleiſung

leiſtet ſich der „Eckart“. Man ſchreibt uns dazu folgendes:

„Soeben ſchickt mir mein Bruder (Paſtor in B.) voller Empörung die Novembernummer vom „Eckart“ (Berlin SW 11, Oeſſauerſtr. 37) mit dem unglaublich dreiſten Angriff eines Friſo Melzer wider den „Tür mer“, gegen Lienhards, Eberh. Königs, Steinmüllers und Brauſewetters Werte und Wirken zu. („Die Botſchaft des Türmers.“)

Hier wird der Idealismus der Veimarer Großen als den Wahrheiten der Reformation und der Bibel fremd abgetan. Seine Nach- folger (? Seine Gegenſtrömung! T.) hätten in Materialismus und Diesſeitsvergötterung ge- endet. Zwar ließen die Neuidealiſten, um den Sürmer und Lienhard geſchart, das Ehriften- tum gelten, ja nähmen es als wertvollen Be- ſtandteil in ihr weltumfaſſendes Geiſtesreich auf, aber auch ſie ſeien nicht zum Weſen der Heilandsgeſtalt vorgedrungen! „Uns hilft es nichts, wenn Chriſtus als höchſter aller Helden, als der Meiſter der Menſchbeit dargeſtellt wird. Er muß mehr ſein. Ja, er muß ganz anders fein.“ (!) ... „Wohl kennen jene etwas vom Gott des erſten Artikels. Wo aber bleibt die volle Erkenntnis, wo der zweite und dritte Artikel, um es einmal knapp zu ſagen?“ Da- neben erlaubt ſich Friſo Melzer auch literatur- geſchichtliche Urteile von größter Schärfe und Anmaßung. Von der genannten Dichter Wer- ken läßt er nur ganz weniges gelten.

Wer ift nun dieſer Friſo Melzer, den hier der „Eckart“ vorſchickt? Vor einem Sabre war der mir völlig unbekannte Züng- ling mein Gaſt auf fünf Tage; ich hatte ihm auf Bitten einiger Schüler Bleibe gewährt, da er an einer hieſigen B. -R. Tagung (Bibel- Kränzchen) teilnehmen wollte. Friſo Melzer iſt, foviel ich weiß, Leiter des B.-K. in Schle- ſien, er wird 21, höchſtens 22 Jahre alt ſein und ſtudiert Philologie, er ſtebt wohl im 4. Semeſter! Das ſagt genug, ſpricht Bände für das ſelbſtbewußte, aufgeblaſene Auftreten dieſer neudeutſchen Jugend (deren es glück- licherweiſe auch noch andere Vertreter gibt. T.). Ein fold) grüner Menſch wagt es, bochver-

Auf der Bare

diente Männer, deren große Bedeutung für

die geiſtige Entwicklung unſeres Volkes, deten

praktiſches Chriſtentum außer Frage fteht,

wie ein Ketzerrichter abzutun, erlaubt

ſich über ibre Weltanſchauung und literariſcht

Bedeutung Urteile, die an Oberflächlichten

nicht zu überbieten find. Dafür nur zwei Ber fpiele: „Es iſt bezeichnend,“ ſchreibt er ver Lienhards Stellung zu den beiden Ronfe- fionen, „daß er in feinen zahlreichen Werten nichts geſagt hat, was Luther innerlich gerecht geworden wäre!“ Eb. Königs „Thedel von Mallmoden“, der gegen frühere Werle ab fällt“ (), hat er überhaupt nicht begriffen, ſonſt könnte er nicht fo albern fragen: „Wie die Kraft zur Überwindung von unferer Angft, Furcht und Schwäche zu finden ift, wird aller dings nicht gejagt“ .. Dabei iſt der ganze „Thedel“ nichts als ein hohes Lied felſenfeſten, alles überwindenden Gottvertrauens, einet Gottverbundenheit, wie ſie der Dichter in allen ſchweren Lebenslagen ſelbſt erlebt unt bewährt hat. Dasſelbe gilt von Lienhard, der aus evangeliſch-lutheriſchen Kreiſen komm und feine ſtille und feſte (nicht „weiche“ Welt- auffaſſung im Leben kräftig bewährt bet. Die literariſchen Urteile des Herrn Melzer find kindiſch und der gegneriſchen Preſſe nach geſchwatzt.

Am bemerkenswerteſten an dem ganzen Angriff iſt etwas anderes: Daß der „Eckart“, hinter dem der Evangeliſche Preſſe- verband ſteht, es wagt, die wenigen wir lich chriſtlichen Dichter in folder Weite von einem engſtirnigen, aufgeblaſenen Züng- ling anpöbeln zu laſſen; das iſt geradezu ein öffentlicher Unfug. Daß der Evangeliſche Preſſeverband dahinterſteht, zeigt feine Selbſt anzeige des eigenen Novemberheftes, auf deſſen letzter Seite (S. 468) Herr Braun ſelber ſagt, daß jenes Zünglings Angriff „zunächſt Beſtürzung hervorrufen“ werde. Port fügt er noch ein häßliches Wort des Zefuiten- paters Muckermann über Lienhards ,Rofen- kreuzertum“ gegenüber Berlins Hinterhöfen an. (Als ob man in Berlins Hinterböfen über- haupt Literatur triebe!) Man ſieht, der Zwed heiligt auch mal beim proteſtantiſchen Blatte das Mittel: in dieſem Fall zitiert man auch

Auf der Warte

mal einen ſonſt ſo unbeliebten Jeſuiten! Aber ſo iſt's recht, meine Herren! Oas iſt das wahre Chriſtentum: man ſpricht dem Nebenmenſchen das Chriſtentum ab. Prof. D. Hinderer iſt Herausgeber des „Eckart“ und Leiter bes Evangeliſchen Preffe- verbandes und läßt Prof. Lienhard, den Vorſitzenden des Evangeliſchen Preffeverban- des in Thüringen, in fo wenig nachbarlicher Weiſe verdächtigen! Wenn man das Chriften- tum vollends herunterwirtſchaften will, braucht man allerdings nur ſolche unreifen Buͤrſchchen gegen chriſtlich geſinnte Zdealiſten vorzu- ſchicken.“

Nachwort des Türmers. Herr Pfarrer Prof. D. Hinderer iſt, wie ich ſelber, Ehren doktor der Theologie; es iſt dies immerhin eine

nicht alltägliche akademiſche Ehrung, die bei

dem Geehrten eine gewiſſe Reife der religiöfen Lebenserfahrung vorausſetzt. Was würde er

. dazu fagen, wenn ein unreifer Jüngling mit

berausgeriffenen Behauptungen ihm öffentlich

das rechte Chriſtentum abfprähe? Es gibt geiligtamer des Herzens, die mancher mit

dem Schleier dichteriſcher Symbole zu um-

phüllen pflegt. Far den Wiſſenden ift dieſe Ge- | heimſprache lesbar. Das Chriſtentum ftedt

voller Symbole. Worte wie Lamm Gottes,

Kaube des Heiligen Geiſtes (Gnade von oben),

*

Kreuz von Golgatha, Krippe von Bethlehem,

Vaſſer des Lebens, Brot des Lebens uſw.

ſind ebenſolche Sinnbilder geworden wie ſpäter die aus dem Chriſtentum hervorgegan- genen Symbole Gral und RNoſenkreuz. Letz teres iſt ſchon von Luther her („Des Chriſten Herz auf Rofen geht, wenn's mitten unterm Kreuze ſteht“) ober durch Goethe („Geheim- niſſe“) in den künftlerifchen Sprachſchatz der geiſtigen Menſchheit übergegangen. Es gibt nun Nüdhterlinge, die dieſe Sprache der Sym- bolik nicht verſtehen, ſondern ihrem Mit- menſchen, der ſolche Sprache benutzt, das Chriſtentum abſprechen. Das hat in der

Zeitſchrift „Eckart“, deren Artikel als Ganzes

wie eine Verleumdung wirkt, jener junge Menſch getan. Man ſollte ihm kurz und derb zurufen: „Hände weg vom Heiligtum deines Nächſten!“ Denn er greift mit plumper Hand in Gebilde hinein, mit denen

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man aus einer Art von ſeeliſcher Scham- haftigkeit das ZInnerſte zu umſchleiern pflegt. Es paßt dies zu der Seuche, die jetzt hurch das Chriſtentum geht: den Idealismus berun- ter zureißen zugunſten eines dogmatiſch und kirchlich geprägten Chriſtentums. Wir haben dieſen Mangel an Liebe und Weitblick an anderer Stelle dieſes Heftes als geiſtlichen Hochmut gebrandmarkt. Und wir bedauern tief, daß Herr Prof. D. Hinderer, als Heraus- geber des „Eckart“, und beſonders Herr Dr. Harald Braun, als verantwortlicher Schriftleiter, ihre Namen und ihr Blatt zu ſolcher Verunglimpfung hergeben, ſtatt im Hinblick auf die gemeinſame Front gegen den Materialismus gute Nachbarſchaft zu halten. Prof. D. Dr. Lienhard

Studentiſche Schulungswoche

ie Weimarer ſtaatspolitiſche Schulungs-

tagung der deutſchen Studentenſchaft legte ein wunderbares Zeugnis ab von dem friſchen und gefunden Geiſt, der unſere gegen- wärtige Studentenſchaft durchweht. Die er- ſchütternden Erlebniſſe des Krieges und der Revolution hatte die ftubentifche Jugend, die in den Semeſtern nach 1918 an den Univerfi- täten weilte, unverhältnismäßig gereift und zu abgeſchloſſenen Menſchen gemacht, deren Arbeit der ſchnellen Vorbereitung für das praktiſche Leben galt. Diefe Kriegsteilnehmer, die aus dem Schützengraben unmittelbar in die Studierſtube zurückkehrten, haben den kommenden Studentengenerationen ein koſt- bares Erbe hinterlaſſen durch die Schaffung der „Deutſchen Studentenſchaft“, die voll- endete Selbſtverwaltungsorganiſation der ftu- dierenden Jugend, die durch das Vorgehen des preußiſchen Kultus miniſters Becker jüngſt zer; ſchlagen wurde. Wenn die ſtudentiſchen Ta- gungen in den letzten Jahren durch ernſte Sachlichkeit und nüchterne Erkenntnis unſeres politiſchen Niedergangs gekennzeichnet waren, ſo verzeichnen wir jetzt die bemerkenswerte Tatſache, daß unſere akademiſche Zugend einen dicken Strich unter die Schatten der Der- gangenheit geſetzt bat und ſich mit dem Vor- recht des jugendlichen Optimismus und mit

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dem vollen Überfchwang ihrer Begeifterungs-

fähigkeit dem großen Aufbauwerke zuwendet.

Dabei klingt jener Wunſch aller echten Ju- gend klar und vernehmlich an unſer Ohr: „Gebt uns Zdeale!“

3m Mittelpunkt der Weimarer Oftober- tagung ſtand das Geſamtthema „Der Staat“. Reichsminiſter Dr. von Reudell und Staats- miniſter Dr. h. e. Leutheußer hielten die Eröffnungsanſprachen. Es folgten dann Vor- träge von den Profeſſoren Eduard Spran- ger, Martin Spahn, Paul Althaus, Zofepb Löhr und Max Wundt. Hans Heeſch, der Vorſitzende der Studentenſchaft, leitete mit großem Geſchick dieſe erhebende Tagung, die im Bekenntnis zum großdeutſchen Gedanken, zu vaterländiſcher Geſinnung und chriſtlicher Welt- und Lebensanſchauung gipfelte.

Karl Auguft Walther

Richard Wagner, Bayreuth und die Politik

obert Boßhart handelt in einem tief-

ſchürfenden Aufſatz, der in den „Bay- reuther Blättern“ erſchienen iſt und den er „Bayreuth ein Ausblick“ nennt, auch von der Verbindung Bayreuths mit der Politik. „Und mag für den Augenblick eine beſtimmte politiſche Richtung Bayreuth eine Stütze bieten, die Stunde kommt, wo alle politiſchen Richtungen ſich ſelbſt aufgeben und damit auch Bayreuth fahren laſſen.“ Wenn wir auch, vielleicht im Gegenſatz zu dem Verfaſſer des Bayreuth-Aufſatzes, politiſches Leben und Wirken im Rahmen des Staates und der Na- tion für unbedingt notwendig erachten, ſo ſtimmen wir mit ihm doch darin überein, daß es im deutſchen Leben Sammelpunkte geben muß, wo die Tagespolitik mit den an ihr haftenden Irrtümern ſchweigt. Das ſind Mittelpunkte des Geiſtes und der fee- liſchen Vertiefung. Ein ſolcher Gipfelpunkt muß für die Deutſchen im Sinne des Meiſters und Schöpfers Richard Wagner Bayreuth ſein und bleiben. Wenn man aber von der Varte einer Partei aus der im übrigen nationale Geſinnung nicht abgeſprochen wer- den ſoll deutſche Kulturwerte pflegen und

Auf det Barts

fördern zu können glaubt, fo beweilt tds leider, daß man eben doch nur einen Tal, und zwar den an der Oberfläche liegenden Tel deutſchen Wefens zu durchdringen imſtade iſt. Richard Wagner faßte deutſches Wea ungleich tiefer. Sein Deutſchtum wurzeln tief im Chriſtentum, erhielt durch diese Weihe und Zuſammenhang mit dem Get: lichen. And dieſe höhere Sphäre iſt, wir müſſe es unumwunden eingeſtehen und Bopha beipflichten, in höchſter Gefahr: „Entwele wird Bayreuth vom Geiſt aus gehalten: dann ſteht es feſt mit allen, die im Glauben an den Geiſt ausharren; oder es pattiert mit einer Zeitſtrömung, dann wird es mi dieſer vom Geiſte aufgegeben.“ Zuſammenſchluß aller der Kreiſe alſo, N. Richard Wagners Geiſt, fein hohes Wola in ganzer Tiefe verſtanden haben, iſt bite not. Wir zweifeln nicht daran, daß es we viele deutſche Menſchen gibt, die in der Pf dieſes vertieften Deutſchtums ihre eigentit Lebensaufgabe ſehen. Auf ihnen und in ihm liegt auch die Verantwortung für die Bubst Bayreuths. Dr. G. &

Schillerpreis

ieſe parteipolitiſch vergiftete geit it

nicht mehr fähig, ſachlich einen Preis y erteilen. So wenig wie fie eine Akademie ned großgeiſtigen Geſichtspunkten gründen lau Man ſollte ſich achſelzuckend von dieſen Kr dereien abwenden.

Es find drei Schriftſteller der Gegenwart mit dem Schillerpreis ſoll man fagen: 9 ziert oder beleidigt worden? Nämlich: $e mann Burte, Fritz von Unruh und Fran Werfel. Dazu ſchreibt der lintsftehende— „Berliner Börſenkourier“:

„Solange Alfred Döblin, Elfe Las ler- Shir ler, Oscar Maria Graf und Leonard Frat! noch nicht den Schillerpreis erhalten haben, bleibt die Wahl: Burte, Unruh, Werfel, di immer anfechtbar iſt, undiskutabel. Nn komme nicht mit der Phraſe: „es gibt nie manden“. Es gibt Preiswüuͤrdige. Aber was ® nicht geben darf, iſt: dieſes Preisgericht. Heinrich Lilienfein, ein reaktionärer Pr

Auf der Warte

matiker, Julius Peterſen, ein Erich- Schmidt-Epigone, Ludwig Fulda, ein lebendes Sinngedicht, Walter von Molo, ein gutmeinender Poet, Wilhelm von Scholz, Präſident der Oichterakademie, Friedrich Kayßler, als Vertreter des „geiſtigen“ Thea- ters. Wie ſoll aus dieſem Kollegium Verſtänd⸗ nis für Gegenwart und Dichtung kommen? Gewiß, Gerhart Hauptmann gehört mit zu den Preisrichtern aber man weiß, wie das zuftande kommt. Ein berühmter Name muß die Weihe geben. An der Entſcheidung wirkt er kaum mit.“

Das iſt alſo nun das Neueſte: man macht die Preisrichter ſchlecht! Herr Landau iſt unferes Wiſſens Chefredakteur des „Börfen- couriers“ (Landau iſt nicht mehr Chefredat- teur. D. T.); er iſt außerdem im Verwaltungs- tat der deutſchen Schillerſtiftung; als ſolcher ſollte er den Generalſekretär Dr. Lilienfein perſönlich kennen und genau wiſſen, wie ob- jektiv und ſachlich Heinrich Lilienfein auch im Verteilen feiner Spenden und der damit ver- bundenen literariſchen Meinungen zu urteilen pflegt. Wir bedauern daher die unfreundliche Wendung „ein reattiondrer Dramatiker“. So it es auch mit den übrigen Gehäſſigkeiten. Gerhart Hauptmann wird gleichfalls beleidigt. Oder iſt es keine Beleidigung, wenn man von ihm ſagt, er ſitze nur als eine Art Trottel dabei ?!

Wenn die „Voſſ. Ztg.“ meint, daß man tinf- tig die Oichterakademie mit der Preis ver- teilung beauftragen folle, fo wird dieſe In- zucht, die nur Geſinnungsgenoſſen krönen wird, nichts beſſern. Oder hält irgendein Un- befangener in Oeutſchland dieſen Beckerſchen Club für wirklich überparteiifch?

Genug damit! Oeutſchland iſt auf geiſtigem und künſtleriſchem Gebiet genau ſo zerriſſen wie in der Politik.

Unterm Sonnenſtrahl der Kultur

UM Linkſer eifern gegen die Todesſtrafe; ein lärmvoll Fechten hat angehoben in Wort und Bild. Sie möchten fie aus dem neuen Strafgeſetzbuch ganz und gar hinaus- timmen, Bisher ohne Erfolg. Aber man gibt

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die letzte Hoffnung noch nicht auf. Der Ab- geordnete Rofenfeld behauptete, man kämpfte dabei „unterm Sonnenſtrahl der Kultur“.

Die Pariſer Geſchworenen haben den Scho- lem Schwarzbart freigeſprochen, den Moͤrder Petljuras, des verwichenen Diktators der Ukraine. Denn er berief ſich darauf, er habe ſich nur rächen wollen für die Zudenpogrome, die der General angezettelt. Er konnte jedoch keineswegs beweiſen, daß Petljura damit über- haupt in Verbindung ſtand. Vielmehr erhob ſich ein ſchwerer Verdacht, daß Schwarzbart gar nicht als Bluträcher, ſondern als bolſche; wiſtiſcher Mordſendling gehandelt.

Wie kommt auch der arme Uhrmacher zu dem teuerſten Verteidiger von Paris? Diefer hat überdies weder Koſten noch Mühe ge- ſcheut und mit echt franzöfifcher Advokaten mache den Freiſpruch herausgeholt. Er ſprach auf die Geſchworenen ein, daß dieſe erſchuͤttert daſaßen und der Zuſchauerraum in Tränen ſchwamm. Dieſen geſchickten Mann wird ſich Paul Boncour nicht entgehen laſſen, wenn es in Genf gilt, das friedfertige Frankreich zu verteidigen gegen das Anſinnen der Abrüftung.

Tatſache bleibt, daß Schwarzbart auf ſchwa⸗ chen Anhalt hin privatim ein Todesurteil ge- fällt und privatim vollſtreckt bat. Der Sonnen- ſtrahl der Kultur liegt alſo nicht auf ihm.

Gleichwohl überſchleimt unſre Linkspreſſe ihn und feine Tat mit jener weichen Empfind- ſamkeit, die fie für Leute ihrer Blutgruppe ſtets auf Lager hat. Der ſeeliſche Hintergrund wird breit aufgemacht. Rieſengroß hinter der Schuld des Mörders ſtehe, ſo leſen wir, die Schuld des Zeitalters. Bei den Fehmepro- zeſſen hat dieſe Erkenntnis leider gefehlt. Das waren eben Leute von der jenſeitigen Blut- gruppe.

Der Mörder verſchwand gleich nach ſeinem Freiſpruch. Er ſoll gefürchtet haben, daß die Verwandten Petljuras das Recht, das ihnen das franzöſiſche Gericht verſagte, ſich felber holten. Da haben wir's alſo! Wenn die gehörige Sühne ausbleibt, dann kommt die Blutrache wieder auf. Alles unter dem wärmenden Son- nenftrabl demokratiſcher Kultur.

Die Roſenfeld, Levi und Genoſſen mögen das Feurigſte ſagen zur Abſchaffung der Todes-

S

ſtrafe, fie kommen nie über das ſchlagfertige Wort jenes Franzoſen hinaus: „Sagt doch den Herren Mördern, ſie möchten den Anfang machen.“ F. H.

Grabſteine in Tirol

Uns dieſer Überfchrift ſchreibt die füh- rende liberale Zeitung Englands („Man- ohos tor Guardian“):

„In Südtirol haben die italieniſchen Be⸗ börden nach einem Bericht aus Innsbruck entſchieden, daß die Grabſteine dort nicht mit Inſchriften in deutſcher Sprache verſehen werden dürfen. Diefe ſeltſame Beſtimmung ſoll, wie man hört, der neueſte Schritt in der ‚Stalianifation‘ Tirols fein, obgleich es hier- nach fait erſcheint, als ſolle der Verſuch ge- macht werten, auch den Himmel als italie- niſches Protektorat anzuſehen. Es iſt ein bartes Geſetz, das verbieten will, daß die Erinnerung an eines Menſchen Oaſein in der Sprache abgefaßt wird, die er Zeit ſeines Lebens ſprach; es iſt eine Form von per- verſem Patriotismus, welcher ſeine Opfer bis ans Grab und über das Grab hinaus ver- folgt und womöglid noch die Sprache be- ſtimmt, die in den Elyſäiſchen Feldern ge- ſprochen werden ſoll. Vielleicht iſt es gar nicht wahr (die Meldung ift inzwiſchen beftätigt worden), aber in dieſem Fall haben ſich die extremen Faſchiſten nur ſelbſt zu danken für eine Geſchichte, die ein wenig ehrenvolles Licht auf ihre bekannten Ideale und Methoden wirft. Sie haben ihre ‚Bragonaden‘ fo oft und ſtreng ausgeführt, daß man es nicht für ausgeſchloſſen hält, wenn fie vor dem Friedhof nicht haltmachen. Ausgeſchloſſen iſt es nicht, aber unziemlich und lächerlich. So un-

Auf der Darte

ziemlich und lächerlich iſt es, daß die Lage falls ſie den Tatſachen entſpricht ſich auf die Dauer nicht halten läßt. Ein Angriff auf Grabſteine ſtellt eine Extravaganz dat, welche ſelbſt die Faſchiſten angeſichts det öffentlichen Meinung nicht anerkennen tonr- ten,“ L. M. S.

„Wer hat dich zu der Tat verleitet?

rei junge Rommuniften haben ſich nach

der Revolutionsfeier am 9. November erſchoſſen. Aber das „Warum“ zerbricht man ſich in kommuniſtiſchen Kreiſen nicht den Kopf. Muͤßige Frage: jenen Selbſtmördern ging eben der Fortſchritt der Weltrevolution nicht ſchnell genug! Die Antwort iſt bezeichnend und beweift die unendliche Diirre und Hobl- heit, ja den völligen Bankerott kommuniſtiſchen Denkens. Die drei unglücküchen jungen Men- ſchen, die, innerlicher und tiefer als alle

Schreier und Führer der Partei, im Rommu-

nismus eine Welt; und Lebensanſchauung ſuchten, einen inneren Halt, auf den fie ſich ſtützen konnten, find ein tragiſches Opfer jener hohlen Schwätzer, jener törihten Partei- fanatiker geworden, denen allerdings in ihrer menſchlichen Dirftigteit Kommunismus und Weltrevolution als Ausdruck innerer Gefin- nung genügen. Jener Aufſchrei der unglüd- lichen Mutter am offenen Grabe des einen der jugendlichen Selbſtmörder: „Wer hat dich zu der Tat verleitet?“ iſt eine furchtbare An; klage gegen alle Mitſchuldigen an der Schrek⸗ kenstat. Am Kommunismus und Materialis- mus find jene Unglüuͤcklichen zugrunde ge- gangen. Die eiſige Rälte und Abſtraktheit einer Parteidoktrin, die über Leichen geht, ift kein Lebenselement der Jugend.

Herausgeber: Prof. D. Dr. Friedrich Lienhard Verantwortliche Schriftleiter: Dr. Gerhard Schmidt und Karl Augu Walther. Cinfendungen find allgemein (ohne beſtimmten Namen An die Schriftleitung des Türmers, Weimar, RariMlezander-Cllee 4, zu Für unverlaugte Einſendungen beſteht keine Haftpflicht. Für Nückſendung iſt Roftgebühr beizulegen. Druck und Verlag: Greiner & Pfciffer in Stuttgart

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Die Zukunft aber kommt durch uns kommt ſie, aus uns kommt ſie, und ſie tut dies, weil ſie in dem Weltenplan Gottes vorgeſehen iſt. Unſer Genie iſt die Geduld und die Kraft zu leben.

Paul de Lagarde

_ Februar 1928 2. .

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Der Zukunftsdeutſche

Von Curt Hotzel

n der Generation der Deutſchen, die als junge Männer den Krieg mit Bewußt

fein erlebt haben, wächſt heute ein Geſchlecht zur Mannesreife heran, das bewußt an der Herausgeſtaltung eines Zukunftsdeutſchen arbeitet. Dieſer Deutfche führt über die Romantik einerſeits und den Materialismus andererſeits hinaus und hinauf. Die Romantik der Wandervogel- und Jugendbewegung war wohl notwendig als Vorausſetzung, ebenſo wie das Erlebnis des kraſſen ſchauerlichen Erwerbskampfes der Inflationsjahre. Ernſt Bacmeiſter ſpricht einmal von dem „erprobten Mer- ſchen“ der Großſtadt hier handelt es ſich um eine Exprobtheit in noch weiterem Sinne. Sie geht einerſeits zurück auf die „Erbmaſſe“, die Schickſal iſt. Aber es kommt jene Erprobtheit des Geiſtes und des Herzens hinzu, die bei ſchärfſter Kritik ſich in einer Schule der Verantwortung erzogen hat.

Dieſer klaſſiſche deutſche Menſch, der Typus der höchſten Verheißung, lebt unter uns, er wächſt, er wirkt; und vor feiner Wirkung gibt es kein Ausweichen. Freilich iſt das Leben der modernen Völker noch geteilt unter eine dumpfe und inſtinktloſe Maſſe und Heine gewiſſenloſe Wirtſchaftsgruppen, die dieſe Maſſe ausbeuten. Aber Paul Ernſt fagt in einem Aufſatz: „Proletariſierung“ zu Recht, daß dies ein unhalt⸗ barer Zuſtand ſei. Es müſſe ein Neues kommen, um die abendländiſche Menſchheit wieder zu rechtfertigen. Er ſagte: Proletariat iſt Geſinnung es gilt alſo dieſe Geſinnung zu überwinden in einem neuen Typus Menſch.

Das Bild, das wir von dem klaſſiſchen männlichen, zur Herrſchaft berufenen Menn ſchen, dem Typus der höchſten Verheißung, dem kommenden deutſchen Menſchen! geben wollen, ſoll gleichſam ein Moſaikwerk fein; und all die Steine, die ſich in ihm zur ſchimmernden Geſtalt fügen, find aus vielen Landſchaften des Geiſtes hergerollt: der Fluß der Zeiten ſchwemmte fie uns zu. Aus mancherlei Erde iſt der neue Menſch . gebildet, aus vielerlei Säften zuſammengefloſſen, und fein Geiſt iſt der reiche Erde J. und der fortzeugende Ahne zugleich.

Der Ton, der vorherrſcht unter der bunten Farbigkeit, iſt zwiefach ſchimmernd: dunkel ſcheint er, blauſchwarz, trotzig, wie Stahl, vielfach in der Flamme gehärtet. Doch bei längerem Zuſehen gewahrt das Auge einen milden, warmen Glanz dar- unter, wie ein gütiger Goldſchimmer, wie jenes Goldleuchten im tiefen, ernſten Blau nordiſcher Augen.

Feſt ſteht er auf der Erde, der Menſch der höchſten Verheißung, ein freier Sohn der Mutter der Götter und Menſchen, die er liebt, die ihn heiligt und die er in allen ſeinen Regungen wieder heiligt; der er den Samen ſeiner erhabenen Schöpfung verdankt und die er mit der Zierde ſeiner geiſtgewaltigen Gebilde beſchenkt.

Er verachtet weder den Reichtum dieſer Welt, noch genießt er ihn müde und ver antwortungsſcheu. Er hält es mit den älteften Indern, bei denen nur der Kraftvolle, Mächtige und auf der Höhe des Glücks Stehende ſich in anſpruchsvollen Formen dem Ewigen nähern durfte, und nur der beſtand vor dem Angeſichte der Götter, der diefet äußeren Fülle eine innere entgegenſetzen konnte: „Ein jeder ſoll nur feiner Art ent

Hobel: Der Zutunftedeutfche 339

ſprechend Opfer tun.“ Er blickt nicht von der Fülle der Erde weg, nur in fein Inneres verſenkt: Er lebt mit ſeiner Urmutter Erde, gewiegt von ihrem ruhigen Atem. Uralt-ariſche Weisheit aber redet ihm vom Rhythmus des Tuns und Laſſens alſo: „Wer in der Tätigkeit die Ruhe ſieht Und in der Ruhe ſieht die Tätigkeit, Der ijt der Weiſe.“ Die Zucht der Einſamkeit ſchätzt unſer klaſſiſcher Menſch nicht gering ein; hierin iſt Montaigne ſein Lehrer: „Solange ihr euch nicht ſelbſt dahin gebracht habt, daß ihr es nicht mehr wagt, ohne Zeugen zu ſtraucheln, und bis ihr Ehrfurcht und Scheu ~ por euch ſelbſt habt, ſolange könnt ihr fo gut in der Einſamkeit unnütze Dinge tun wie in voller Geſellſchaft ...“ Er ift eingedenk, daß es kein Erwerben gibt in den letzten und höchſten Dingen, die bis in die nächſten und geringſten im Menſchenleben ausſtrahlen. Er ſpüͤrt, daß Deſen alles ijt, Wiſſen ohne Weſen aber wenig oder nichts, daß man etwas fein muß, um etwas zu wollen, und daß der Wille der Unberufenen und Unbegnadeten Lärm macht, aber kein Werk ſchafft. Er lebt in der Keuſchheit der Seele ſie macht für ihn das Weſen des Sittlichen 8 der Menſch erfüllt es, wie Marc Aurel ſagt „dem Weinſtock gleich, der ſeine Trauben trägt und nichts weiter will“. Die dem reifen Menſchen aber unumgängliche Bewußtheit feiner natürlichen Sittlichkeit verführt ihn nicht zur Fälſchung und Verdünnung der Gefühle, wie den Schwächling, der den Selbſtanblick nicht ertragen kann, ſondern fie macht ihn hart und klingend wie Stahl: er kehrt nach jeder Wallung in feine ſchlanke fühle Grad- geit zurück. Das heißt nicht, daß er den Orang eines höheren Wollens und dem Sturm iner ſchöpferiſchen Stunde, unfähig ſich ſelbſt zu wandeln, in ſtarrem Eigenſinn fein znnerſtes verſchlöſſe. Nein, nur warnt ihn ein feiner Schauder, bei allzu häufiger Vallung die Keuſchheit ſeiner Seele zu verletzen. Ehrlich werden! Das iſt ihm nicht mehr eine Marterſchraube, der Seele auf- geſetzt, um ihr irgendein Nein abzupreſſen. Ihm genügt, was Nietzſche der Ehr- lchſten einer einmal in einer feiner glücklichſten Stunden ſich genügen ließ: ein Goetheſcher Blick voll Liebe und gutem Willen als Reſultat“. Aus der erſchuͤtternden Stellung des Einſamen von Sils-Maria, des wankenden : Romantilers zwiſchen Niedergang und Aufſtieg, um den Abendröte und leuchtende Frühe zugleich war —, hat er ſich ganz dem Aufgang zugewendet: nicht aus Ent- ſchluß, Wille oder Erkenntnis, ſondern in der natürlichen, kindlich vertrauenden Lebe zum Leben. Kurz, er wurde deutſch wie die echten Helden und Weiſen von ehedem; doch ſein Deutſchtum iſt weniger ererbt als erworben, heiß und blutig erkämpft auf den Schlachtfeldern des Geiſtes und der ringenden Seele. Er fand ſich wieder in der Welt der Saga, in dem herben Weſen germaniſcher - Bauern, die fo ganz ohne Geſte, ohne das Getön und Gedröhn der Ideale ihr ſtarkes Leben lebten, ſchlicht und echt, groß und herrenhaft ſtolz. Bei ihnen gab es keinen Rangftreit zwiſchen Berufenen und Unberufenen, keine ſozialen Probleme, weil alles organiſch gewachſen war. Es gab auch keine moraliſchen Verdienſte, fon-

340 Colsmann: Der Setigechut

dern nur natürliche Sitten und große Beſtändigkeit, dazu eine frohe und über- mutige Kraft. Dickköpfigkeit und Treue finden ſich hier als nahe Verwandte. Herb, hart, ſpröde, ſpottluſtig, mißtrauiſch nicht nach innen, ſondern nach außen gegen die anderen —, klarſichtig, ganz und gar nicht vertrauensſelig iſt der Sagamenſch. Die Blicke find ſcharf und lang in Freundſchaft und Feindſchaft, die Worte tay und trocken, aber verdichtend und vielſagend; der Wille iſt zäh und das Herz idly tief in der Bruſt, wo fo leicht kein anderer hingelangt. Aus einer Saga ſtamm das bezeichnende Sprichwort: „Am beiten kommt man über Kummer darüber hir weg, daß man auf den nächſten wartet.“ Fromm-heiterer Trotz! Hie und da leudta heimlich eine große Güte auf. Reichtum iſt niemals Zweck, ſondern ſtets Witte, 1. und der Mann iſt das Maß der Dinge. Das Leben hat einen ruhigen, langſamen J. Gang, aber es tritt feſt auf und weicht nicht zurück.

* * 2

So ſtünde denn der neue klaſſiſche Menſch vor uns: heimgekehrt aus der

Modernität zu den früheſten Vorbildern feiner Art, gehärtet und verfeinert in .

Geifte, ein Führer, wie ihn das verrottete Volk heute braucht: aus dem Geik

geboren, einer, der befehlen kann von Bluts wegen, der aber auch Glauben finde von Geiſtes wegen. Einer, der die Kraft der Heroen der früheren Jahrhundert :

in feiner Natur erneuert und läutert im Geifte des neuen Jahrhunderts: de Zukunftsdeutſche, erzeugt über die heute lebenden und ringenden Geſchlechn g:-

hinaus, hinauf: .... Ein Heimkehrer, Einkehrer und Umkehrer, der frei un“

bewußt das edelſte Erbe auf ſich nimmt; der den nebelnden, alles Harte, Umriſſen feige meidenden Geiſt dieſer Zeit zuſammenballt zur Form, zum Wort und zu Geſtalt ſeines mächtigen Selbſt. 8

Auf ihn wollen wir harren und hoffen.

Der Gottgeeinte

Von Walter Colsmann

Du beugſt das Haupt in ſtummer Dantgebarde Und ſchreiteſt deinen Weg in ftiller Güte; Du atmeſt jet wie demutzarte Blüte Und fühleſt dich als Gaft nur auf der Erde;

On lächelſt aller hemmenden Beſchwerde,

Und ob das Leben laftend dich zermühte,

Ob ſchneidend dich der bittre Schmerz durchglühte Du lageft ſchweigend auf dem Opferherde . .

Doch tief in dir wogt wunderzartes Glimmen, Da lodert Liebesglut und hohes Ahnen, Da locken, ruf en, flüstern ſüße Stimmen;

Denn Gott wohnt ja in deines Herzens Gründen, va nr felig feines Lichtes Bahnen trãumſt ein Kind hoch über Nacht und Sünden.

541

Zina Roth

Von Anna Böhm Schlutz ein Menſch hätte gedacht, daß der Wendlerhof ein ſo baufälliges Geweſe ſei. | Es hebt ein Putzen, Scheuern und Malen darin an, als wäre feit Jahrzehnten keine ordnende Hand über die Wände gefahren. Aber niemand murrt darüber. Es ift, als habe ſich das ganze Haus nach der Sonnenſeite gekehrt und lächle mit all feinen Bewohnern ſo recht in die Helle hinein. Es iſt kein altes Haus. Kriegsfackel und Brand haben das Gemäuer ſchon vor Jahrhunderten zerſtört. Aber das Gerät iſt zum Teil noch alt; ſchwer, feſt und treu, wie die Hände, die es einſt fügten. Und gens Peter liebt die alten Laden mit dem ſchweren Schnitzwerk; kein ſtädtiſch Zeug ſoll ihm ſein Haus verunzieren. Während er und Friedebert die Wände weißen und mit uralten Schablonen kunſtvolle Muſter an den Deckenrand malen, hat Jens Peter das Gefühl, als fei mi all dem Staub und Plunder, der von den Wänden gefallen, “| auch der alte Fluch herausgeriſſen und auf ewig gebannt. Unverſehens fpürt er den Segen, den die harte Jugend ihm nun ſpenden will. Wie vieles hat fie ihn gelehrt, drauf er bei geordnetem Gange nie ein Auge gehabt. Nun greift er mühelos in : ten Schatz verborgener Erfahrung, und das bitter Erworbene trägt ibm ſüße Frucht. Jeden Tag einmal kommt Tina Roth, und Jens Peter zeigt ihr voll Stolz, wieviel ö fie der Wendlerhof indeffen verſchönt, ihr zu Ehren. Und fie läuft in die Ställe und in die Stuben, bis Jens Peter ſich plötzlich breit vor fie hinpflanzt und Einhalt ge- Bietet. Nein, weiter dürfe fie noch nicht, das käme morgen. Und fie lacht und be- wundert alles und ſagt, ſo etwas Schönes habe ſie ſich nicht denken önnen. Und ſie dankt der alten Lena und Jochen, dem Pferdejungen, deſſen Hoſen ganz voll weißer finde find. And alle ſtrahlen, ſehen ſich ihr Werk noch einmal wohlgefällig an und den ſich königlich belohnt.

Und dann ſteigen Jens Peter und Tina die Stiege hinauf in die Kammer, wo Hinrich Krafft nun ſeiner Geneſung entgegenſieht. Er hört ſie kommen und richtet ſich auf aus ſeinen Kiſſen, und ein ſeltſames Blitzen iſt in ſeinen Augen. Aber es derſchwindet, ſobald ſich die Tür öffnet und die beiden an die Bettſtatt treten. Jens Peter müht ſich ehrlich, mit dem Mißtrauen fertig zu werden, das noch im Winkel feines Herzens lauert. Ach, er kann über vieles hinwegſpringen, wenn Tina Roth zan feiner Seite ft. ht. Der Alte fühlt wohl, wie dünn trotz allem noch die Fäden find, die Tina Roth zwiſchen Vater und Sohn gefponnen, und hütet fid, den Zungen zu keizen. Gencſungsmüdigkeit ijt in ihm, und das Heimatgefühl umfpinnt ihn mit Wohligkeit; Tina Roth rückt ihm die Kiſſen zurecht, gibt ihm die Medizin und erzählt von all den Wundertaten, die Jens Peter geſchaffen. Jens Peter lacht über das ganze Geſicht und legt den Arm um Tinas Nacken. Die Lider ſenken ſich über des Alten Augen, und Tina und Jens Peter gehen hinaus; aber als Tina ſich in der Tür umwendet, fährt ſie zuſammen, der Alte hat die Augen offen und ſieht ſie an

ſieht ſie an. Ein Schrecken zuckt in ihrem Innern auf. „Vas haft du?“ fragt Jens Peter. „Nichts!“ fagt fie und lacht und ſpringt mit ihm die Stiege hinab, aber in ihrem Innern dunkelt eine Frage: hat ſie zu viel gewagt? .

342 Böhm: Tine Noth

Zu Oſtern ijt die Hochzeit. Niemand iſt im Dorfe, der den beiden das Einander gehören neidet. Tina iſt kein armes Mädchen, aber die Burſche haben eine Scheu vor ihr, und die Mädchen, die Jens Peter wohl mit blanken Augen nachſahen, ſchreckt die Heimkehr des Alten. Ihm gilt das Gemunkel, das im Dorfe herumläuſt; und was an Klatſchbaſen und Altweibermühlen da ift, weisſagt aus Kaffeegrund und Karten haarſträubende Dinge.

Die Beteiligten wiſſen davon nichts. Sie gehen wie in einem Mantel von Hellic- keit und Wärme durch dieſe Stunden. Sie ſind kraftvoll und ſchön, wie ſie vor den Altar der alten Dorfkirche knien. Die Innigkeit ihrer Neigung webt einen Hauch von Verklärung um ihre Geſichter. Unwilltirlid findet der alte Paſtor feinere und tiefere Worte, da er die Hände der beiden ineinander legt.

Jens Peter ſteht geneigten Hauptes vor feinem Herrgott, und in das Dankgefühl ſeines Herzens miſcht ſich auftrumpfend die Manneskraft. Es iſt, als greife er die dargebotene Hand feines Schöpfers, ſchüttle fie warm und ſpräche: Du und ich, wir! zwei, wir wollen die Zukunft ſpinnen. Feiner und zarter findet Tinas Seele den Aufklang. Während fie in ſchwerem, altem Bauernſchmuck vor dem Altare ſteht,, ſteigt aus ihrem Herzen ein inniges Gebet um Kraft. Um Kraft? Wofür? Fit nicht Erfüllung auf ihrem Pfad? Fürchtet fie zu ſtraucheln, oder ſpürt fie mit feinften Sinnen, daß alle Reinheit in den Staub hinunter muß, ſich zu bewähren?

Ach, die Schatten müͤſſen weichen, die in den Herzen dunkeln; die Welt iſt na I~

geworden.

Sefus Chriſtus, unfer Heiland, Der den Tod überwand, Iſt auferſtanden! Die Sünd’ hat er gefangen. Kyrie eleison!

Hell, wie Fanfaren klingt das alte Luther-Lied aus den Frauenkehlen, und der a dumpfe Baß der Männer ift wie der Schrei der armen gebundenen Erde, die ihr | Befreiung noch nicht gewiß werden kann. An der uralten Kaſtanie, die ihre Afte in das Kirchenfenſter reckt, ſpringen die Knoſpen faſt hörbar auf! Veilchenduft liegt über den Gräbern. Vom hochgewölbten Blau des Himmels ſtrahlt die Sonne in |" junger Kraft, als Jens Peter und Tina aus der Kirchtür ſchreiten. Wie eine Kerze fo gerade ſitzt Friedebert auf dem Wagen. Fit er nicht eine Kerze, brennend in treu lichſter Hingabe für ſeinen Herrn? Sein ganzes Geſicht leuchtet. Das blaue Band! am Peitſchenſchaft flattert luſtig auf, als die Braunen anziehen und die Neuber mählten nach dem Rothhof fahren. |

Die alte Lena aber ſtiehlt ſich aus der Schar der Kirchgänger zum Grab ihrer Herrin. Da ſteht fie in der hellen Frühlingsluft, eine harte verwitterte Geftalt, und ihr: Lippen murmeln uralte Reime. Freilich, der Pfarrer hat es verboten; Aberglauben nennt er die alten Zauberſprüche. Aber Lena weiß es beſſer. Man kann nicht alles dem Herrgott allein überlaſſen; man muß ſelbſt das Seinige dazu tun. Unb fie ſtebt und murmelt und legt ihre ganze Seele in die ſeltſamen alten Worte. Als fie fertis ist, fieht fie triumphierend auf. Nun müſſen die böſen Geiſter, die da Mißwuchs un' Unfriede ſäen am Wendlerhof, vorüberſchreiten. Befriedigt ſtapft fie auf ihren alten

Böhm: Tina Notz 345

Beinen zum Rothhof. Denn ſchon find, bändergefhmüdt und tannenumkränzt, die Leiterwagen mit den Gäſten davongefahren.

Der ſtille Rothhof dröhnt von dem breiten Lachen der Männer, dem Klappern der Teller und Krüge. Der Geruch der Speiſen lagert wie eine Wolke in der niederen Stube. Lärmender wird das Spiel der Rede.

Jens Peter und Tina ſitzen wie auf einer Inſel zwiſchen den andern. Was wiſſen die beiden von dem Lachen und Schwatzen, Trinken und Schmauſen um ſie herum? Sie nehmen teil und erwidern Zutrunk und Zuſpruch, aber die Tiefe ihrer Neigung, die fie früh vom Alltag gelöſt, löſt fie vom behaglichen Plätſcherfall des Lebens.

Hinrich Krafft ſitzt an Tinas Seite. Die gute Pflege hat einen andern Menſchen aus ihm gemacht. Man ſieht jetzt, wie ſtark und ſchön er einmal geweſen ſein muß. Verſchuldung drüdt ihn nicht; es iſt, als habe er mit der Geneſung eine neue Haut übergeftreift. Er ſcheint die Zurückhaltung nicht zu gewahren, die man ihm entgegen- bringt. Seine Sicherheit verblüfft die andern; Scham, die ihm mangelt, läuft zu ihnen und macht fie ſchwerfällig. Hinrich Krafft blingelt durch halbgeſchloſſene Lider; wie ein Taſchenſpieler fängt er die Gutwilligen langſam ein mit ſeinen Künſten. Das Wort läuft ihm behend vom Munde. Er erzählt von Amerika. Nie vorher hat er davon geſprochen, daß er dort geweſen iſt. Aber jetzt, im Spiel der Rede, wandelt er Qual in Erlebnis, Elend in Abenteuer. Wie ein Märchen aus Tauſendundeiner Nacht rollen Jahre der Erniedrigung, Jahre verzweifelten Kampfes und Nieder- ſtiegs in jene Gründe, wo Gut und Böſe untergehen und nur der Hunger noch Im- puls bleibt, vor den erſtaunt Lauſchenden dahin. Sie haben ein dunkles Gefühl, daß da Wahrheit und Fabel ſich miſchen, aber noch ein andres macht ſie ſtaunen. Da iſt einer von ihrem ſchweren Blute, einer, der ſeine Art abgetan hat und in eine neue hineingefahren, wie man den Rod wechſelt. Du biſt nicht mehr unſrer Art, jagen ihre Blicke; aber was biſt du dann? Abart? Entartung?

Hinrich Krafft bleibt unbeirrt. Nun ja, gehörte er überhaupt je ganz zu ihnen? Die Mutter, das war ihr Blut; hochgewachſen, blond und blauäugig, wie Hinrich Krafft und Jens Peter es ſind. Was erzählen doch die alten Leute von Wiebke Krafft? Machte fie ſich nicht eines Tages davon, in die Stadt, weil ihr die gute Land- luft nicht mehr behagen wollte? Und als fie zurückkam, da war das Bündel ſchwerer geworden, das ſie in abgezehrten Händen hielt, aber es war kein Geld und Gut darin geborgen. Eine junge Menſchenſtimme ſchrie daraus hervor; es war Hinrich Krafft, der ſo ſeinen Einzug in das Dorf hielt. Kurze Zeit darauf wurde er Koſtkind der Gemeinde. Nie aber hat ein Menſch erfahren, wer der Vater des Kindes war. Wiebke Krafft verſchwieg es bis in ihre Todesſtunde hinein, und auch ein wohl- meinendes Schreiben des Pfarrers an die Behörden, in deren Bezirk der Junge in die Welt getreten, brachte kein näheres Zeugnis ans Tageslicht.

An dieſe alten Geſchichten denken die Bauern, während ſie den bunten Reden Hinrichs lauſchen. unwillkürlich ſehen fie hinter ihm den Schatten des unbekannten Vaters und ſchieben ihm die Fremdheit zu, die fie beſtaunen. Nur einer läßt ab und an ſeine Augen prüfend über das Geſicht des Wendlerbauern fahren, das iſt der alte Roth. Sein Blick hat etwas ſeltſam nach innen Gerichtetes, aus der Tiefe Kommendes. Auch er iſt im. Grunde ein Fremder in der Gemeinde. Er iſt kleiner

344 Böhm: Tina Rot

von Geſtalt, Haar und Haut ſind dunkler. Er entſtammt einer alten, verarmten Sektiererfamilie Schleſiens. Im Begriff auszuwandern, hat er in Hamburg, wo fie bei ihrer Patin zu Beſuch war, feine Frau kennengelernt. Das Mädchen, ſeltſam ergriffen von dem Ernſt und der gefeſteten Stille des jungen Menſchen, faßte eine fo leidenſchaftliche Neigung zu ihm, daß fie als einzige Tochter ihren Vater ver- mochte, den jungen Menſchen als ſeinen Eidam anzuerkennen. Seither wuchs auf dem Rothhof dies ſeltſame Geſchlecht heran, in dem fic zweierlei Art miſchte, Sinnigkeit mit Kraft, Herbheit mit Güte. Tinas Vater nahm eine Sonderſtellung im Oorfe ein. Niemand hatte ihn je aufbrauſend, roh oder gewalttätig geſchen. Immer fand er bei den Gemeindeberatungen das vermittelnde Wort. So kam es faſt von ſelbſt, daß man ihn zum Schulzen wählte, obwohl er weder der reichſte war, noch als eingeſeſſen gelten konnte.

Tina glich ihrem Vater; es war ein geheimes Band zwiſchen ihnen, tiefſte Ver⸗ bundenheit, über das Blut hinaus Verwandtſchaft der Seelen. Während des Schmauſens iſt ſein Blick oft wie in ſtillem Einverſtändnis Tinas Augen begegnet. Von allen an der Tafel war er vielleicht der einzige, der empfinden konnte, was dieſet Bund zweier Menſchen bedeutete. Darum vielleicht lag ſein Auge immer wieder fragend und ſtaunend auf Hinrich Krafft. Und plötzlich, gegen Ende des Mahles, erhebt er ſich, ruhig, ohne irgendeine Haft; aber wenige Augenblicke fpäter liegt ſeine Hand ſchwer auf Hinrich Kraffts Schulter. „Ihr ſollt euch noch ſchoncn“, ſagt er halblaut, während aus der Tiefe ſeiner Augen der Blick in Hinrichs Augen forſcht.

Der Wendlerbauer zuckt gujammen; fein Auge irrt ab, ſchießt unter halb geöffneten Lidern Flämmlein des Bornes. Der alte Roth ſcheint es nicht zu merken. „ch wollt euch den neuen Bullen zeigen,“ ſagt er, „Simmentaler Kreuzung, der erſte ſeiner Art bei uns.“ Hinrich Krafft ſteht wortlos auf; Stühle werden gerückt, wie im Traum ſieht Tina mitten unter den vielen Geſichtern die Augen ihres Vaters. Eine ſchützende Zärtlichkeit ſteht darin. Sie lächelt und greift nach Jens Peters Hand. Der Segen ihres Vaters begleitet ſie.

Im Wendlerhof nimmt das Leben ſeinen Gang. Der Alltag verlangt ſein Recht; aber niemand iſt da, der ihm widerſtrebt, denn niemand in ſeinen Mauern ſcheut die Arbeit; ſie iſt ihnen notwendig, wie das tägliche Brot. Eins ſchafft für das andere.

Hinrich Krafft legt nun mit Hand an, wo feine Hilfe vonnöten iſt. Seine Arbeits kraft ſcheint zu wachſen. Jens Peter kann den zweiten Knecht ſparen, den er ein- ſtellen wollte. Sein ehrliches Herz beginnt ſich dem Vater zuzuwenden. Die harten Worte reuen ihn. Er begegnet ihm mit Achtung und wachſendem Zutrauen. „Das iſt dein Werk, Tina“, jagt er glücklich. „Du haft uns alle beide zu Menſchen gemacht.“

Tina wehrt ab, und Jens Peter ſieht nicht den Schatten in ihren Augen. Sie geht in die Kammer und kramt in der großen Schublade nach Flicken für Zochens wieder einmal zerfetzten Hoſenboden. Aber ihre Gedanken ſind nicht bei der Sache.

Bin ich denn fo mißtrauiſch, fo zugeſchloſſen in meinem Herzen, daß ich Häßliches ſehe, wo die andern ſich freuen, denkt fie. Sie ſchüttelt ſich ein wenig. Ich bin töricht, ſagt ſie leiſe und verſucht zu lächeln. Und doch fühlt ſie das Ungreifbate, das ſie umſchleicht, ſeit ſie im Wendlerhof als Bäuerin waltet.

Bom: Tina Moth 345

Wer könnte fagen, wie es begann? Sie Steht im Grasgarten und hängt Wäſche auf. Plötzlich Fühlt fie einen Schauer im Rüden; ihr ift, als griffe einer mit ſchmutzigen Händen nach ihr und zerre ihr die Kleider vom Leibe. Sie läßt erſchrocken das Leinentuch fahren und wendet fid um. Da ſteht Hinrich Krafft neben ihr und reicht ihr lachend das Linnen. „Was haſt du, Tochter,“ fragt er unbefangen. Sie wird rot. Sekundenlang forſchen ihre Augen in ſeinem Geſicht. Kein Muskel darin zuckt, und ſie ſchilt ſich eine Törin.

Sie ſteigt auf den Speicher, das Korn einzumeſſen, das Jochen zur Mühle fahren ſoll. Sie iſt eilig, denn die Suppe ſteht auf dem Herde. Plötzlich entſinkt ihrer Hand die Schaufel. Aus dem Halbdunkel des Raumes leuchten ein Paar begehrliche Augen, die Geftalt Hinrich Kraffts taucht auf. Er ſetzt das Sieb hin, in dem er den Lupinen- ſamen gereinigt und hält ihr den Sack. „Komm,“ ſagt er, „iſt's eilig? Ich helfe dir.“ Sie arbeitet ſtumm weiter; ſein Atem ſtreift ſie wie etwas Körperhaftes. Jens Peters heller Ruf erlöſt ſie aus dem Bann.

Sie liegt nachts auf ihrem Lager; fie hat alle Gedanken verſcheucht, die fie be- drängen wollen. Neben ihr ſchläft Jens Peter ſeinen tiefen, glücklichen Schlaf. Sie ſieht in das geliebte Geſicht; und ſchilt ſich eine Närrin und ein zimperliches Frauenzimmer. Plötzlich fährt ſie zuſammen. Eine Stiege knarrt, ein ſchleifender Schritt taſtet vor der Tür. Sie richtet ſich jah auf; das Herz klopft ihr zum Zer- ſpringen. Ein Schrei erſtirbt ihr in der Kehle. So ſitzt ſie minutenlang regungslos, die Hände über der Bruſt gefaltet. Ihre Sinne ſchärfen ſich fieberhaft. Jens Peter

wendet ſich im Schlaf. Die Bettſtatt knarrt, draußen ſchleift ein Schritt vorſichtig

über den Boden. Wie gern griffe ſie nach Jens Peters Hand. Fühlt er nichts? Sieht er nichts? Ach, nein! Ein ſchmerzlich mütterlicher Blick ſtreift den Schlafenden.

Wie ſollte er! Und wie gut iſt es, daß er ahnungslos iſt!

Tina richtet ſich wieder auf, und ihre Augen umfaſſen ſtrahlend den Schlafenden. Nein, er fühlte nicht, was ſie umſchlich, konnte es nicht fühlen, weil kein Gedanke in ihm hinabtauchte in den Schlamm, aus dem dies aufſtieg. Eine Welle von Glüd ſtrömt über ihr Herz. Nein, ſie wird allein damit fertig werden. Ganz allein! Gang allein? Ihr Konfirmationsſpruch fällt ihr ein. „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht Chriſtus.“ O, ſie hat ſo lange nicht daran gedacht. Sie errötet in der dunklen Kammer. Sie fühlt wieder die Hände ihres Vaters auf ihrer Schulter, fühlt ſeine Augen wie zwei helle Kerzen in ihre dringen, und ſie hört wieder ſeine eindringliche Stimme: Vergiß es nie, Tina! Sie faltet die Hände; ihre Lippen bewegen ſich nicht, aber ihr Herz ſchwingt ſich wie ein Vogel empor.

Von dem Tage an iſt Ruhe über ſie gekommen. Sie errötet nicht mehr und ſchrickt nicht mehr zuſammen; aber oft, wenn ſie Blicke, gleich einem Brande auf ſich fühlt, wendet ſie ſich jäh um, und ihr Auge umfaßt groß und rein Hinrich Krafft. Da ſchrickt er zuſammen, und ſie fühlt, wie ein Staunen in ihm iſt und ihn verwirrt. Da atmet fie auf. Ihr Schritt wird leichter, ihr Wandel forglofer. Sie wird über- winden.

Und nun kommt ein Neues in ihr Leben, das ihr Herz bis an den Rand mit Glück und Zuverſicht füllt. Es ift kein Platz mehr darin für Argwohn und trübe Gedanken. Sie fühlt ſich Mutter!

346 Böhm: Tine Roth

Rie, nie in ihrem Leben wird fie die Stunde vergeſſen, in der fie Jens Peter ihre Hoffnung offenbarte. Rann man einen Menſchen fo glücklich machen? Pie ganze Geſtalt bebt; er lacht und weint in einem Atem. Er packt fie wie ein Kind, um fie plötzlich, als wäre ſie etwas Zerbrechliches, auf ſeinen Schoß zu betten. Seine Hände umfaſſen ihr glühendes Geſicht, fein Mund ſucht den ihren mit ebrfirdtiga Inbrunſt. „Mutter,“ ſtammelt er, „Mutter Tina!“ Tränen ſtehen in ſeinen Augen. Nein, nie wird Tina dieſe Stunde vergeſſen! Sie leuchtet in ihrem Herzen wie die Kerze auf dem Altar der Kirche.

Zens Peter iſt wie im Rauſch. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß er auf den Voda ſteigt und mit eignen Händen die alte Wendlerwiege herunterholt. Er prüft fic in allen ihren Fugen. Sie muß in der Schlafkammer ſtehen am Fußende ſeines Bettes, und Tina erwiſcht ihn einmal, wie er ſie mit ſeinem Fuße in Schwingung ſetzt und glückſelig in das leere Bettlein ftarrt. Hat er im Hofe zu tun, fo kann fic ſicher ſein, daß ſein blonder Kopf am Küchenfenſter auftaucht, oder ſein Arm ſie plötzlich von hinten her umſchlingt. „Na, Mutting, wie geht's?“ ſagt er dann und iſt ſchon wieder draußen, ehe ſie Antwort ſagen kann. Sie hört nur ſein helles Pfeifen über den Hof klingen.

Ein neues Gefühl bindet ihn an den Vater. Das Werdende deutet ihm zurüd auf den Gewordenen. Er fühlt ſich als Glied der Kette, hineingeſtellt zwiſchen Vergangenheit und Zukunft. Ehrfürchtig wird ihm der Vater als Glied in der &- ſchlechterfolge. Nun kann er ihm geben, um was er ſich einft das Herz zerrieben die naturliche Achtung.

Er merkt nicht, daß er hinzutut, was mangelt, merkt nicht, daß nicht einmal willig genommen wird, was er herzlich bietet. Hinrich Krafft hat keinen Sinn dafür, wenn Jens Peter ſagt: „Nun müſſen wir erſt noch eure Meinung hören, Großvater.“ Oder, wenn ſie müde zum Eſſen hereinſtapfen, Jens Peter den Jochen anſtößt und ruft: „Rück dem Großvater den Stuhl, Zunge!“ Nur Tina fiebt das Zucken, das um den Mund des Alten läuft. Er tut ſich nicht mehr hervor mit ſeiner Arbeitskraft; oft kommt er ſpäter oder wirft eine Arbeit plötzlich hin und erklärt, er habe Seitenſtechen. Jens Peter will den Doktor holen laſſen, aber ber Alte wehrt ihm. „Laß mir die Quackſalber vom Leibe“, ſchreit er. Auch Tina forst ſich. Ihr Herz, das ganz von Mütterlichkeit erfüllt iſt, hat allen Argwohn vergeſſen. Und einmal, als ſie den Alten allein findet, wie er vor ſich hinſtarrt, tritt ſie zu ihm und legt ihm die Hände auf die Schultern.

„Großvater, was iſt's denn mit euch?“ ſagt ſie warm. Da ſtößt er ſie von fic, und fie ſieht erſchrocken in fein verzerrtes Geſicht. „Laßt mich mit dem Großvater gerede in Ruh, ihr Grasaffen! Wartet doch erſt mal ab, ob er lebig iſt, der Wurm!

Da weicht ſie entſetzt zurück, und die Angſt wacht wieder auf in ihrem Herzen.

Aber das Leben ſchreitet fort. Die Halme rauſchen unter dem Schnitt der Genfen, golden ſtehen die Mandeln auf den nackten Stoppeln, und ſtolz fahren Jens Peter und Friedebert die geſegnete Laſt in die Scheune. Rüben und Kartoffeln folgen, und im Schein der Herbſtſonne zerſchneidet der Pflug die verarmte Erde. Schwet ſinken die Schollen, und fleißige Hände ſtreuen Dünger, eggen und brillen. Und

Böhm: Tina Roth | 347

wie die junge Saat emporkeimt, ſchweift Jens Peters Blick darüber hin. Wenn das Grün da in die Halme ſchoß, würden die Augen ſchon offen fein, die jetzt noch im Schoß der Mutter ſchlummerten. Unwillkürlich ſpaͤnnen ſich die Muskeln feines Armes; er reckt die Fauſt über das Feld. Schaffen will ich, denkt er, ſchaffen mit dieſer meiner Hand, daß ſeine Jugend in der Helle ſtehe. Und ſinnend geht er heim.

Der Winter ſetzt früh ein in dieſem Fahre. Sturm und Regen verheeren das Land. Es iſt gut ſein jetzt hinter dem warmen Ofen, in dem die Scheite praſſeln. Jens Peter ſteht im warmen Rock und hohen Stiefeln zum Ausgang bereit. Er muß in die Kreisſtadt zur Sitzung. Er iſt Taxator bei der Hagelverſicherung und muß an der jährlichen Generalverſammlung teilnehmen. Er kann erſt in der Nacht zurück- kommen. Es iſt ihm nicht lieb, daß er fort muß. Gerade heut hat der Braune ein Eiſen verloren, und Friedebert muß mit ihm ins Dorf zur Schmiede. Jochen ift für acht Tage in ſein Heimatdorf marſchiert, weil den Bruder die Kuh geſtoßen hat.

„Wo iſt der Vater?“ fragt Jens Peter. Tina weiß es nicht. Aber Lena, die den Tiſch abräumt, ſagt, fie habe ihn ins Dorf gehen ſehen. „Seltſam! Er wird bald wieder da ſein“, ſagt Jens Peter und umfaßt Tinas Hand.

„Halt dich gut, Tina, und hüt' unſer Chriſtkind!“ Sie lacht in Mutterfreude: „Ei freilich, Jens Peter!“ Minutenlang zögert er; dann ſtapft er hinaus. Tina lauſcht eine Weile den verklingenden Schritten. Dann nimmt ſie das Nähzeug wieder auf, ein Kinderhemdchen. Während ſie den Faden unermüdlich durch den weißen Stoff zie ht, ſpricht ſie leiſe vor ſich hin mit dem jungen Leben, das ſich unter ihrem Herzen regt. „Kleiner Fens Peter,“ ſagt fie, „wie wirft du ſtaunen in der großen Menſchenwelt. Warte nur, bis das Chriſtkind kommt und dir ſein Tannenzweiglein in die Wiege legt. Groß mußt du werden und ſtark und gut, wie dein Vater es iſt, Heiner Fens Peter.“

So hingegeben iſt ſie, daß ihr erſt die Dunkelheit die Nadel aus den Händen nimmt. Sie ſteht auf und macht Licht und fühlt jetzt erſt die Stille im Hauſe. Auch aus der Küche dringt kein Laut. Die alte Lena iſt in den Stall gegangen, die Kühe zu melken.

Plötzlich ſchlurft ein Schritt über den Hausgang. Tina ſchrickt zuſammen: der Vater! Eine Hand taſtet am Griff, die Tür fliegt zurück, Hinrich Krafft ſteht im Zimmer. Und im Augenblick weiß Tina: jetzt iſt die Stunde gekommen, die ſie ſo lange gefürchtet hat. Sie fühlt ihr Herz ſchlagen, und doch kommt eine ſeltſame Ruhe über ſie.

Hinrich Krafft wirft den naſſen Mantel ab und hängt ihn am Ofen auf. „Biſt allein?“ fragt er über die Schulter.

Sie nickt. Ein böſes Blitzen iſt in ſeinen Augen.

„So werd' ich dir Geſellſchaft leiſten. He, was ſagſt du zu der Vertretung?“ Er hat ſich zu ihr geſetzt und legt den Arm um ihre Schulter. Sie entwindet ſich ohne Haft und ſieht ihn an. Sein Geſicht iſt blaurot, fein Atem trägt ihr einen widerlichen Geruch von Schnaps und Tabak entgegen. Er lacht, und ſein Auge flackert.

„Zier dich nicht, Tochter“, ſagt er breit, und ſein Arm zerrt an ihrer Schulter. Sie wendet ſich jäh, und das Blut ſteigt ihr zu Kopfe.

„Ihr habt ja getrunken, Vater“, ſagt ſie hart.

348 Behm: Tina Moth

„Hab ich? und was ſchiert 's dich? Ich hab's fatt, dies Leben da! Was nent ihr überhaupt Leben, he?“ Seine Fauſt fällt auf den Tiſch. „Schuften von früh bis in die Nacht. Und heute wird gedroſchen und morgen wird Holz gefahren und übermorgen gemiſtet. Jeder Tag kommt und hängt dir fein Joch über den Rüden. Und Sonntags in die Kirche laufen und zuhören, was ſo einer ſagt, dem ſein Lebtag das Waſſer nie bis an den Hals geſtanden. Ich fag dir, das war anders in San Fran- zisko drüben. Da haſt du nicht gewußt, ſtößt dir heut einer das Meſſer in die Seite oder du ihm, wenn ſo ein ſchwarzes Weiberaug dir ſein Feuer ins Blut geworfen. Schön können ſie ſein da drüben und willig auch, zu willig, ſag ich dir.“ Hinrich Krafft lacht lüſtern vor ſich hin. Tina ſtreicht mechaniſch über die Stelle, wo fein Arm fie berührt.

„Und die Wendlerin?“ ſtößt ſie hervor.

Hinrich Krafft ſchlägt mit der Fauſt auf den Tiſch: „Der zaundürre Geizkragen! Schweig mir von ihr! Meinſt, es wär' ein Spaß geweſen, fo einer der Ehemann ſein?“

„Aber warum habt Ihr fie gefreit, wenn Ihr ihr nicht zugetan wart von Herzen?

„Warum? Warum? ſieh einer die Heilige! Weißt du, wie's einem zu Mute iſt, der jahraus jahrein feine Füße unter fremden Tiſch ſtecken muß? Weißt du, wie's einem brennt inwendig, und der Neid in einem frißt? So einen Hof haben, ein eigen Dach überm Kopf und nicht immer den andern ihr Schindluder ſein!“

„Lieber arm und einander gut ſein“, ſagt ſie leiſe. „Das Arbeiten erträgt ſich ſchon.“

„Halt es probiert?“ Sie ſieht ihn voll an. „Ja, du! Ou wärſt's imſtande! Das iſt es ja gerade, daß ich ihm dich nicht gönne, deinem Jens Peter. Warum hab' ich ſo eine nicht gefunden, wie du biſt, he?“ Er packt ihre Handgelenke. Sie ſucht ſich vergeblich dem Griff zu entwinden.

„Vielleicht habt Ihr euch nicht recht umgeſchaut!“

„Ach ja, Schuld muß auf alle Fälle bei dem Alten fein. Hab' mich nicht umge ſchaut, hab' nicht zugepackt! Und wenn du wärſt lebig geweſen, damals, hätteſt du mich genommen?“ Sie ſchweigt.

„So ſchrei doch dein Nein, Katze! Zeig doch die Krallen. Wirſt ſie ja doch haben in den ſanften Pfötchen da.“ Sie ſchweigt noch immer. Sein Geſicht iſt dicht an dem ihren.

„Aber hör du,“ ziſcht er, „du ſollſt es auch nicht haben, dein Glück, fo blank wie einen Spiegel, und der Lümmel nicht, der hochmütige, der feinen Vater einen Dieb ſchilt. Glaubſt du, ich hätt's vergeſſen? Was ſtarrſt mich an? Weil's wahr iſt? Ihr Luder, Ihr mit eurer Tugend! War ich denn nicht der Herr im Hof? Sollt' ich wie ein Knecht um jeden Pfennig zu Kreuze kriechen? Wer hat denn ein gutes Wort mit mir geredet mein Leben lang? Und hernach, da im Hof, du haſt gemeint, du biſt der Herr und immer, wenn du was haſt anſchaffen wollen, iſt dir das Weibſtück über den Mund gefahren. Da bricht man eben aus und ſchaut, daß man davon kommt.“

Vor Tinas Augen erſteht ſchreckhaft dies Leben in feiner liebloſen Ode. Erbarmen überwindet das Grauen.

_ 1 vee ro. 2—

Bohm: Tina Roth 349

„Aber jetzt, Vater,“ ſagt fie warm, „iſt's euch denn jetzt nicht wohl daheim? Wenn euch die Arbeit nicht mehr freut, fo wollen wir einen Knecht einſtellen. Und wenn das Kind da iſt, ſo ein junges Leben aus eurem Blute, wird's euch nicht warm machen?“

„Geh' mir mit den Altvaterfreuden, du! Wenn's dein's wär und mein's, da wüßt ich, wie mir das Blut zum Herzen ſpränge. Was weiß der Junge, der Jens Peter von dir! So einer, der wie ein Mönch durch die Welt gelaufen iſt. Wenn wir zwei da mit einander hauſten, wir zwei ganz allein, das wär ein Leben, du!“ Er packt Tina von hinten her und reißt ſie an ſich. Sein Mund iſt über dem ihren. Mit aller Kraft entwendet ſie ſich ihm.

„Laßt das, Vater!“ ſchreit fie und taumelt gegen den Tiſch.

„Und wenn ich's nicht laſſe!“ Wieder packt er nach ihr. Aber ſie kommt ihm zuvor. Halb beſinnungslos reißt fie vom Bord die ſchwere zinnerne Kanne und ſchwingt fie in den erhobenen Händen.

„Kührt mich nicht an!“ ſchreit fie. Ein fo tiefer Abſcheu, eine fo wilde Entichloffen- heit ftebt in ihrem Geſicht, daß Hinrich Krafft zwei Schritte zurüdtaumelt.

„So eine biſt du!“ ziſcht er, „fo eine ! Den Vater willft du aus dem Wege ſchaffen!“ Sie rührt ſich nicht, nur ihr Auge flammt in ihn hinein.

„Nun,“ ſagt er, „das werd' ich dir billiger machen. Nur vergiß nicht dem Wurm zu ſagen, wer ihm den Großvater gemordet hat, he! Den Strick find' ich ſchon und den Baum auch. Sollſt deine Freude haben, du!“

Sein Auge flackert über fie hin, dann ftürzt er zur Tür.

Da ſinken Tinas Arme herab. Die ſchwere Kanne poltert über den Boden. Ein Zittern läuft durch den geſpannten Körper. Sie bricht in die Knie, ſchwer ſinkt die Stirn auf den eichenen Tiſch. Die Sinne drohen ihr zu ſchwinden, aber jäh richtet ſie ſich plötzlich empor. „Er war ja betrunken“, murmelt ſie und ſtreicht mit der Hand über die Stirn. Ihre Gedanken jagen, folgen Hinrich Krafft, ſuchen Hilfe bei Jens Peter, und plötzlich ſtrafft Entſchloſſenheit ihre Züge. Sie greift nach dem ſchwarzen Wolltuch und hüllt ſich hinein. Einen Augenblick ſteht ſie mitten in der Stube, die Augen geſchloſſen, die Hände an die Bruſt gepreßt. Dann ſchreitet ſie zur Tür.

Draußen packt ſie der Wind, und der Regen ſchlägt ihr ins Geſicht. Sie zieht das Tuch fefter über dem Kopf zuſammen und ſpäht in die Dunkelheit. „Ins Dorf hin- unter wird er nicht ſein“, murmelt ſie und wendet ſich zur andern Seite der Straße. Dort zweigt ein Landweg ab in ein kleines Holz. Sie biegt in den Weg ein; der Sturm will ihr das Tuch vom Kopfe reißen, ihre Füße haften im Schlamm. Mühſam haſtet fie weiter. Der Atem geht ihr ſchwer; fie fpürt, wie das Kind unter ihrem Herzen ſich regt. Minutenlang bleibt ſie ſtehen. „Du mußt nicht böſe ſein, kleiner Jens Peter,“ ſtammelt ſie, „es muß ja ſein, auch um deinetwillen“, und weiter haftet ſie wie unter einem Bann.

Und Hinrich Krafft? Wie ein Sinnloſer iſt er hinausgeſtürzt, geſchuͤttelt von feiner trunkenen Leidenſchaft und dem Aufbegehren ſeines wilden Blutes. „Mach' ein Ende!“ zuckt es ihm durchs Hirn, „mach' ein Ende mit dem verfluchten Leben! Mag’s ihnen doch auf der Seele brennen, den beiden Tugendſamen. Mögen fie tragen daran ihr Leben lang, fie, die ſich einbilden glüdlicher fein zu dürfen als

350 Bohm: Tina Rett andere Menſchen. Das wird ein Geſchrei geben im Dorf, wenn man ihn da oben findet!“ Befriedigt lacht er auf. Gleich darauf fährt er zuſammen, ein Stechen fähn ihm durch die Bruſt, er fröſtelt. Kam das wieder? Um ſo beſſer! So war auch dem ein Riegel vorgeſchoben. Sein Schritt verlangſamt ſich; die naſſe Kälte dringt in alle Poren. Der ſcharfe Wind ernüchtert ihn. Ein heftiges Verlangen nach Wärme packt ſeinen Körper. Vor feinem inneren Auge ſteht das Bild der warmen Stube. Der breite Ofen, in dem die Scheite praſſeln. Er ſieht Jens Peter vor ſich, der ihm den Stuhl rückt, und Tina, die ihm ſorglich die Suppe in den Teller ſchöpft. & bleibt mitten auf der Straße ſtehen und ſtiert in die breiten, ſchmutzigen Lachen. Ein jähes Begreifen zuckt durch fein Hirn und läßt ihn taumeln. Das war dahin für immer. Das kam nie wieder! Es blieb nur noch der Weg da durch Schlamm und Schmutz ins Elend. Anders, als er ſie auf der Hochzeit geſchildert, ſtehen nun die wilden Wanderjahre vor ihm auf. Nicht geſchmüͤckt und aufgeſchminkt mit lügneriſchen Farben. Die nackte Wirklichkeit ſtarrt ihn an. Nein, nie mehr dahinein in dieſe Hölle! Aber dann? ja, dann war nur der andere Weg da, der, von dem es kein Um- kehren gab.

Wieder bleibt er ſtehen und [haut verwirrt um ſich. Er hat gar nicht gemerkt, daß er ſchon mitten im Holz iſt. Bon den ſchwarzen Bäumen tropft das Waffer, die Aſte knarren im Sturm; nun heult es über die Felder. Hinrich Krafft ſtolpert weiter. Wohin? Jeder Aſt ſcheint ſich ihm höhniſch entgegenzuſtrecken. Nein nein! Er will nicht, er will leben! Nicht hinein in das Schwarze Furdt- bare! Er gleitet aus, fällt in die Knie. Wie er ſich aufrichtet, fährt wieder das Stechen durch ſeine Bruſt. Ein Jammer um ſich ſelbſt packt ihn. Verzweifelt ſinkt er auf einen geſtürzten Stamm, zerrt den Rock über der Bruſt zuſammen und ver⸗ gräbt das Geſicht in den Händen. Verſpielt jede Karte verſpielt ſein Leben lang!

Wieviel Zeit verſtreicht, er weiß es nicht. Plötzlich zuckt er zuſammen und hebt das Geſicht aus den Händen. Ihm iſt, er habe einen Schritt gehört. Er ſtarrt in das Dunkel. Da löſt ſich eine ſchwarze Geſtalt aus den Stämmen. Unwillkürlich ſteht er auf. Die vermummte Geſtalt tritt auf ihn zu.

„Vater,“ ſagt eine ſeltſame rauhe Stimme, „Vater, kommt heim!“

„Tina!“ ſchreit Hinrich Krafft, „Tina, du? Du kommſt da herauf?“

Sie tritt einen Schritt zurück. „Ihr werdet euch erkälten. Vater, geht heim!“ Sie zieht das Tuch feſter um den Körper. „Was geweſen iſt,“ fagt fie leiſe, „das if wie ein böſer Traum. Wir wollen es vergeſſen.“ zi Sie ſieht, wie er ſchwankt und nach dem nächſten Baum greift. Ein Schluchzen ſchůttelt ihn. Ihm ift, er müßte auf den Knien zu ihr, den Saum ihres Kleides mit ſeinen Tränen zu netzen. Aber nein die da war heilig, ſeine Hand war zu ſchmutzig für fie. Er richtet ſich auf, und ein großer Ernſt iſt in feiner Stimme. „Hab Dank, Tina und vergib!“

„Laßt's gut ſein, Vater, und kommt!“ Sie wendet ſich zum Gehen. Er bleibt an ihrer Seite, aber ängſtlich ſucht er Raum zwiſchen ihnen zu wahren. Ach, ſie ſoll an ihn glauben lernen, ſie, die ihn jetzt da hinunterführt, hinaus aus dem Grauen, on der Angſt ins Leben, ins Leben! Tränen laufen ihm übers Geſicht. Ja, et

Bom: Sina Noth | 351

liebt fie, er liebt fie; aber es iſt kein Begehren mehr in feiner Liebe. Das Stüd Leben, das fie ihm geſchenkt hat, er foll es leben dürfen neben ihr, aber er wird verſuchen, ſich auszulöſchen, ihr zu dienen, ihr und Jens Peter. Ja, auch Jens Peter, ſeinem Jungen. O, wie dieſe Liebe ihm das Herz warm macht! Warum hat er ſie nicht früher fühlen können? Ach, warum nicht? Aber er wird gut machen. Er merkt gar nicht, wie ſeine Gedanken ſeine Schritte vorwärts treiben.

Plötzlich zuckt er zuſammen. Tina iſt ſtehen geblieben. Die zuſammengepreßten Lippen können den Schmerzensruf nicht ganz zurückhalten.

„Tina,“ ſchreit Hinrich Krafft, „was iſt dir?“ Sie verſucht zu lächeln. „Das Kind!“ ſtammelt ſie.

„Um Gottes willen. Tina! Was ſoll ich tun? Was kann ich tun? Soll ich den Wagen holen?“ Ratlos ſtürzen ihm die Worte von den Lippen.

„Laßt nur, Vater, es geht ſchon“, ſagt Tina und rafft ſich zuſammen. O, er wagt es nicht, fie zu ſtützen. Sie geht ein Stück weiter. Da taumelt fie von neuem. Er- ſchrocken ſpringt er zu. Er fühlt, wie ein Schauder durch ihren Leib läuft, als ſein Arm ſie berührt, und die Tränen ſtürzen ihm aus den Augen. „Tina, Tina, laß es zu! Den! an das Kind, denk an Jens Peter!“ Sie fühlt die heißen Tropfen auf ihrer Hand und ftüßt ſich auf feinen Arm. Der Wind ſchüttelt fie, wie fie auf die Straße kommen. Hinrich Krafft redet halb ſinnlos; in ſeiner Bruſt hebt das Stechen wieder an; der Atem will ihm verſagen.

„Vergib mir, Tina, ich bin ein Schuft, Tina“, ſtammelt er. „Halte aus, armes Kind, nun haben wir's bald. Noch ein Stück. Siehſt du, da iſt er ſchon, der Wendlershof.“ Der Körper der ſchwankenden Frau laſtet ſchwer auf ihm.

Was dann kommt, kaum nehmen es ſeine Sinne wahr. Friedeberts und der alten Lena erſchreckte Geſichter gleiten an ihm vorüber. Er ſieht Tina in ihrem Schutz. Aber ſchon ſteht er im Stall; ſeine zitternden Hände ſtreifen den Gäulen die Halfter über, wenige Minuten ſpäter poltert der Wagen zum Tor hinaus. Sauſend fährt die Peitſche über die blanken Pferderücken. Sie bäumen ſich jäh unter dem ungewohnten Schmerz. Der Wagen ſchwankt; mit eiſerner Hand packt Hinrich Krafft die Zügel. Das Licht der Laterne geiſtert über den Weg; geſpenſtiſch tauchen Bäume aus dem Schatten, gleiten vorüber. Von hinten her heult der Sturm, lang gezogen, grell, wie wild gewordene Meute. Aſte ſchlagen Hinrich Krafft ins Geſicht, einer packt ſeinen Hut und ſchleudert ihn ins Dunkel. Grauen in ihm, Grauen um ihn. Das Stechen in der Bruſt lähmt ihm faſt den Arm. Er ſitzt wie zu Stein erſtarrt, nur ſeine Augen glühen ins Dunkel. Weiter, nur weiter! Über die Schulter meint er ein Kichern zu hören. Zu fpät! ruft eine Stimme in feinem Herzen. Nein! Er richtet ſich auf. Stehend läßt er die Peitſche durch die Nacht ſauſen. Funken ſprühen vor feinen Augen. Ein Stoß wirft ihn in den Sitz zurück. Weiter!

Da endlich Lichter im Ounkel! Über das Pflaſter der kleinen Stadt rattert der Wagen. Geſichter tauchen auf, Pferde ſchnauben, Menſchenworte hallen in ſeinen Ohren. Wie etwas Fremdes hört er die eigene Stimme.

Und dann zuruck! Wieder jagt der Tod hinter ihm her, wieder gilt es in raſender Fahrt ihm ſeine Beute zu entreißen. Gelächter um ihn, Kreiſchen über ihm, nur halb gefühlt die warme Nähe eines Menſchen an ſeiner Seite. Sturm läuft ihm

352 Glerte: Ahesser entgegen, ſetzt fid ihm auf die Bruft, fein Atem keucht. Aushalten nach vorn ſehen den Wendlerhof herausgraben aus dem Dunkel!

Jetzt jetzt endlich! Wie von Geifterhand gezogen öffnet ſich das Lor. Ein Schatten neben ihm entgleitet dem Wagen, ſpringt ins Haus. Wie im Traum ſiebt Hinrich Krafft, wie Pferd und Wagen im Stall verſchwinden. Keuchend lehnt er in der offenen Tür; feine Glieder verſagen den Dienſt. Von oben gellt ein Stimme: Tina! Tina! Hinrich Kraffts Augen erweitern ſich, er klammert ſich mit beiden Händen an die Pfoſten der Tür. Dieſe Stimme richtet ihn. Nein, es tft kein Platz für ihn unter Jens Peters Dach. Mühſam ſchleift er ſich die Stiege hinauf. Halb ſinnlos packen die Hände ein paar Kleider zuſammen.

Da was iſt das? Ein Schrei hallt durch das Haus, ſtark und wild. Hinrich Krafft bricht in die Knie, ſein Kopf fällt hart auf den Rand der Bettſtatt nieder. Wie lange er ſo liegt, er weiß es nicht. Jäh fliegt plötzlich die Tür auf, zwei Arme umſchlingen ihn, reißen ihn hoch, er fühlt einen warmen, pochenden Herzſchlag an ſeiner Bruſt, und zwiſchen Lachen und Weinen ſtammelt Jens Peters Stimme an fein Ohr: „Großvater, er ift da! Er ift da, der kleine Jens Peter!“ Einen Augen- blick lang dreht ſich die Stube vor ſeinen Blicken. Dann kommt es herauf aus der Tiefe ſeines Herzens ein Gefühl des Glückes, wie er es nie geahnt, nie gekannt. Es überſtrömt ihn, hüllt ihn in fein Licht. Alles Schwere wird leicht, alle Schuld; ſchwindet, er ſchließt die Augen er ſchwebt ſchwebt. Scheu taſten feine Hände N nad dem Antlitz des Sohnes, ein Lächeln entſpannt den Krampf des Mundes, dann ſinkt er zufammen. ——

Aber aus der alten Wendlerwiege tut eine Kinderſtimme ihren erften Schrei ins Leben hinein.

4

| Ahasver

Von W. E. Gierke

Er trat ins Schiff. Er ſtieß es ab vom Strande. Dumpf ſchrie die See. Ein Grollen kam vom Lande.

In trüber Nachtgedanken Schwermutfluge Stand er gebeugt an ſeines Schiffes Buge.

Die dunkle Fauſt, die wild die Wogen kümmte, Wuttrotzig ſich auf feinen Nacken ſtemmte

Am Maſt gelehnt und todbleich im Entſetzen Stand keuchend Ahasver, fein Kleid in Fetzen.

Und ſchrie hinein ins raſende Verderben: „Barmherzigkeit, Jehova, laß mich ſterben!

Sertriimmre mid! Zerſchlag mein Leidgewebe!“ Doch aus den Tiefen Hang es furchtbar: „Lebe!“

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4

355

Dawes, Gilbert und Poincaré

riege werden geführt um eines Zieles willen, wobei das öffentlich ausgefpro-

chene ſich nicht mit dem wirklichen zu decken braucht. Der Sieger ſetzt ſeinen Willen durch. Trotzdem läßt jeder Friedensſchluß alte Fragen ungelöſt und wirft neue zur Löſung auf. So iſt auch die Reparationsfrage im neunten Sabre „un- gelöſt“. Es wurde und es wird darüber viel Tinte vergoſſen, faſt ausſchließlich, als ob es nur eine wirtſchaftliche Angelegenheit wäre. Dabei iſt ihre politiſche Seite viel wichtiger. Nicht um der „Wirtſchaft“, mit und ohne Gänſefüßchen, willen ſind hüben und drüben Millionen Streiter gefallen; wie ſinnlos wäre ſonſt, angeſichts des „Wiederaufbaus“ überall, das damals in Strömen vergoſſene Blut! Sondern um die politiſche Vernichtung abzuwenden, hat ſich das deutſche Volk 51 Monate lang gewehrt, mochte auch bei den Gegnern ſeine wirtſchaftliche Vernichtung teils das Mittel zum Zweck, teils ein Nebenziel, teils auch der Hauptzweck fein. Die po- litiſche Vernichtung iſt gelungen, die wirtſchaftliche vorderhand nicht, ſo gründlich der Verſuch dazu unternommen wurde.

Seit November 1918 leben wir in einer friedfertigen Zeit. Mars iſt geächtet, ſolang e er es ſich gefallen läßt. Er ſpielt die Rolle des Gulliver, von den Liliputanern gefeſſelt. Inzwiſchen wird den Beſiegten der Tribut als „wirtſchaftliche Laſt“ ſchmack⸗ haft gemacht, da ja auch die Sieger ſolche Laſten trügen; es fei eine Unannehm- lichkeit, keine entehrende Schande. Dazu paßt nur die wirtſchaftliche Betrachtungs- weiſe. Aber kein Deutſcher, der ſich auf dieſe wirtſchaftlichen Gedankengänge ein- läßt, darf den Vorbehalt vergeſſen, daß jenes andre uns als Volk unendlich tiefer ins Leben ſchneidet.

Die „Reparationen“ ſind nur ein Teil von dem vielen, was 1919 in Verſailles durch Clemenceau und Lloyd George unter Dabeiſitzen von Orlando und Wilſon beſchloſſen wurde, um Oeutſchland zu vernichten, d. h. es auf ewig wehrlos und arm zu machen; und andrerſeits ſpricht aus ihnen der Vernichtungswille in mehrfacher Form. Er beſchritt hauptſächlich zwei Wege: den Raub deutſchen Be- ſitzes ſtaatlicher und privater Art, der Grenzlande, der Kolonien, der Flotte, der Auslandsguthaben und des Eigentums der Auslanddeutſchen; und die dauernde Abzapfung des Ertrages deutſcher Arbeit. Dieſen letzteren Sinn haben die Repa- rationen. Beide Verfahren wechſelten miteinander ab. Als die Reparationen wirk- lich oder vorgeblich nicht reichlich genug floſſen, griff Poincaré nach „Pfändern“, von neuem nach deutſchem Beſitz. In Beſitz, in ſofort verkäufliche Werte, auch den Ertrag kommender Jahre umzuwandeln, iſt wiederum vom erſten Tage an das heiße Beſtreben der nunmehrigen wirtſchaftlich ausgedrückt „Gläubiger“ Deutſchlands geweſen. Es mag unentſchieden bleiben, ob es vorwiegend Bernid- tungswille war oder aber Wahnwitz wirtſchaftlicher Art, der in Verſailles die Um- riſſe der deutſchen Tributleiſtungen feſtſetzte, ſich zeitweiſe in Schätzungen bis zu 420 Milliarden Goldmark bewegte, und ſich im Londoner Ultimatum vom 5. Mai 1921 mit 152 Milliarden Goldmark „begnügte“, einer Summe, die, wie Poincaré Ende 1927 der Form, dem „Recht“ und den „Verträgen“ nach zutreffend bemerkte, auch heute noch, mangels jeder ausdrücklichen Abänderung ſeitdem, die deutſche Schuldverpflichtung, die „Endſumme“ darſtellt.

Der Türmer XXX, 5 25

354 | Dawes, Gilbert und Poincar

Den Gläubigern ift aber dieſe „aſtronomiſche“ Zahl nicht die Hauptſache gewefen. Sie ſuchten vor allem nach Mitteln und Wegen, das, was ſich eben aus Deutſchland herauspreſſen ließ, zu „mobiliſieren“, daraus börſenfähige, an den Kapitalmärtten der Welt verkäufliche Papiere zu erzeugen. Deshalb verpflichtete ſchon der Verfailler Vertrag Deutſchland, „Schuldverſchreibungen“ auszuſtellen, nicht nur übe die 20 Milliarden Goldmark, die man bis zum 1. Mai 1921 von ihm zu erwarten vorgab, ſondern außerdem über noch 40, und abermals 40; zuſammen alſo über 100 Milliarden; alles nur „vorläufig“! Das Londoner Ultimatum vom 5. Mai 1921 wiederholte das Spiel: Oeutſchland ſtellte drei „Serien“ A, Bund C von Schuldver⸗ ſchreibungen aus, über 12, 38 und 82, zuſammen alſo über die „endgültigen“ 152 Mit liarden Goldmark. Der Dawes-Plan beſchränkte ſich in dieſer Hinſicht auf 11 Milliarden Goldmark Schuldverſchreibungen der Reichsbahn und 5 Milliarden Goldmark Schuld- verſchreibungen der deutſchen Induſtrie. Aber auch dieſe Papiere find bisher unver- käuflich geblieben, trotz der Beſtrebungen, die ſich an das Wort Thoiry knüpfen.

Mährend alle Verſuche, gleich die ganze deutſche Schuldverpflichtung zu „dir kontieren“, fie mit entſprechendem Abſchlag zahlbar zu machen, bisher völlig ge ſcheitert find, ift der Erfolg bei den bisherigen Jahreszahlungen etwas anders geweſen. Im Dawes-Plan iſt ganz richtig ein Unterſchied gemacht worden zwiſchen der Aufbringung des Tributs im Inlande in deutſcher Währung einerſeits und der endgültigen Abtretung in Sachgütern, in Waren oder auch in fremder Wal rung, alſo in dem Vorgang andererſeits, den man als „Transfer“ bezeichnet. Ein Jahrestribut von 1, von 114, von 1½, von und ſelbſt von Milliarden Gold- mark läßt ſich anſcheinend vom deutſchen Volk immerhin jährlich und dauernd aufbringen. Das „Volkseinkommen“, d. h. die Summe aller einzelnen Einkommen, wird für 1927 mit 60 Milliarden vielleicht noch zu gering geſchätzt. Davon ſcheinen 2,5 Milliarden kein fo gewaltiger Bruchteil gu fein. Das Bild ändert fich aber er heblich, wenn man feſtſtellt, daß die Laſt nicht gleichmäßig über das ganze Voll verteilt iſt. Wohl nimmt jeder irgendwie an der Laſt teil, indem er z. B. höhere Preiſe zahlt und auf der Eiſenbahn teurer fährt, als es ſonſt nötig wäre. Aber den größten Teil trägt doch in Geſtalt von Steuern verſchiedenſter Art der Teil det „Wirtſchaft“, der das Unternehmertum umfaßt. Ihm hauptſächlich werden die Mil- liarden entzogen, die alſo ihm im Betriebe fehlen und durch Verſchuldung erſetzt werden. Die neueſte Berechnung der deutſchen Verſchuldung an das Aus land durch das Statiſtiſche Reichsamt zeigt folgendes Ergebnis der Jahre 1924 bis 1927 in Millionen Reichsmark, außer der Dawes-Anleihe im Nennwert von 960 Millionen RM., die 800 RM. erbrachte:

Deutſche Deutſche

Kreditform Forderungen Schulden

Langfriſtige Anleihen 4085

Kurzfriſtige 120 Langfriſtige 80 Sonſtige Kredite

Insgeſamt rund

_ Pawen, Gilbert und Polncare | 355

Gleichzeitig find in / Dawes-Jahren rund 4300 Millionen Mark die Gold- mark ift bei feſter Währung bis auf geringe Kursunterſchiede gleich der Reichs- mark aufgebracht und transferiert worden; ohne ſie hätte die Verſchuldung an das Ausland nur 1,3 bis 2,3 Milliarden RM. betragen, wovon noch ein großer Teil neben der Dawes-Anleihe auf die Anſammlung des Gold- und Oeviſenbeſtandes der Reichsbank anzurechnen iſt.

Den gleichen Zweifel an der Erträglichkeit des Aufbringens „in Reichsmark“ empfindet man, wenn man ſich das „Sozialprodukt“ anſieht, als welches man ‘ther nicht bloß die Menge der ſichtbaren und greifbaren Waren auffaſſen ſoll, ondern jede Leiſtung, die mit der Bildung des Volkseinkommens Hand in Hand geht. Jede Arbeit ift ihres Lohnes und der Achtung, auch der volkswirtſchaftlichen, bert, und es iſt ein ſeltſamer Hochmut, der als „Sozialprodukt“ nur den für einen bebrauchszweck, womöglich die Ausfuhr, umgeformten Stoff anerkennen will. Aber & „Reparationszwecke“ iſt allerdings nur dieſer brauchbar, ſoweit nicht der aus- Indiihe Rei ſende etwa auch in Deutfchland geiſtige Geniiffe „verkonſumiert“. fon den ſtofflichen Erzeugniſſen deutſcher Wirtſchaft verſchlingt deshalb die Reparation“ weit mehr als die wenigen Hundertteile, die der Tribut vom Volks- kommen ausmacht; und mit körperlicher Arbeit fronen wir!

Das „Aufbringen in Reichsmark ift aus dieſen Gründen nur ſolange möglich, ie der damit verbundene Kapitalverluſt in Geld und in Ware durch Anleihen des uslandes ausgeglichen wird. Die andre Seite der Zahlung iſt die „Umwandlung

fremde Währung“. Ob ſich durch Ausfuhr gegen Bezahlung eine „Oeviſe“ ‚gibt und dann als „Reparation“ abgetreten wird, ob in England 26 v. H. der atfhen Ausfuhr gleich in Deviſen einbehalten oder die entſprechenden Deviſen, je es jetzt geſchieht, erſt nachher wieder abgegeben werden, ob „Sachlieferungen“ mionft geleiſtet werden, fo daß die Deviſe gar nicht erſt entſteht, ob endlich deutſche usfuhr vom ausländiſchen Käufer mit deutſchen Wechſeln und Guthaben be- lichen wird, die durch deutſche Einfuhr in ausländiſche Hand gelangt ſind, das iſt k die Reparationsfrage gleichgültig. Die Zahlung in Reichsmark mündet ſchließ⸗ ch in die gleiche Zahlung in fremder Währung oder in die gleiche Einbuße an eutſchen Forderungen an das Ausland aus. Wenigſtens iſt dem Reparations- genten dieſe „Umwandlung“ bisher ohne Mühe geglückt.

Es iſt dabei die Frage ſtark umſtritten worden, ob der „Transfer“ immer gelingen tüjfe, und von ſehr ſachverſtändiger Seite ijt die Anſicht vertreten worden, das fei ets der Fall, ſolange Deutſchland eine einwandfreie Goldwährung habe. Sei die zumme noch ſo groß, wenn man ſie nur in Reichsmark aufbringen könne 208, wie dargelegt, eine Frage für ſich ift dann laſſe fie ſich auch „transferieren“. % tann hier nicht unterſucht werden, ob für dieſe an ſich richtige Meinung lle Vorausſetzungen vorhanden ſind, ob ſie für ſo große, ſich ſo ſchnell und d oft wiederholende Zahlungen zutrifft, fowie ob eine Goldwährung ohne Münzen; imlauf und ohne Goldeinlöſung der Banknoten dafür ausreicht. Aber es ſteht feſt, daß 1921 / 1922 der Verſuch, eine Milliarde Goldmark aus einer allerdings verant- portungslos gehandhabten deutſchen Währung zu transferieren, den Zuſammen- ruh dieſer Währung herbeigeführt hat; und daß unter dem Dawes-Plan die be-

356 Dawes, Gilbert un Pine

hauptete „Selbſttätigkeit“ der deutſchen Währung noch keine Gelegenheit gat hat, erprobt zu werden.

So find Lage, Ausſichten und Möglichkeiten im vierten Sdawes- Jahr. Etwas ande hatten ſich die Verfaſſer des Planes die Entwicklung gedacht. Sie hatten geglar zunehmende deutſche Ausfuhr werde die Deviſen liefern; die erfte, die „dane Anleihe“, ſollte den erfreulichen Vorgang nur „ankurbeln“. Daß bisher das Auel ſelbſt den Tribut vorſchießt, iſt ihnen allmählich aufgegangen; beſonders der „Se: ralagent für die Reparationen“, Parker Gilbert, hat es gemerkt. Er hat ſich zul Erkenntnis durchgerungen, daß überhaupt der ganze Plan geändert werden mir Daß Anleihen erft nach Deutſchland gegeben werden, worauf ihr Betrag ak Gläubiger weiterwandert, erſcheint ihm umſtändlich, nicht ganz mit Unrecht; wer die Anleihen nicht gleich an die richtige Stelle geben, natürlich unter Bela: Deutſchlands! Das wäre ja endlich die oft vergeblich geſuchte „Mobiliſierung“ fare Schulden! Zu ihrer Verzinſung und Tilgung ohne Anleihen! würde be die Transfermöglichkeit brennend wichtig; damit möchte der Agent dann aber nt: mehr zu tun haben; Deutſchland müßte den Transfer ſelber übernehmen, ohr einen Schutz für feine Währung. Als Gegenleiftung aber würde ihm nunmeht e neue „End ſumme“ mitgeteilt werden, und damit ein Zeitpunkt, zu dem es & mal ein Ende ſeiner Tributleiſtungen abſehen könnte.

Ganz fo einfach wird die Erledigung nun wohl nicht fein. So ſchwer bishe Oeutſchland die Ungewißheit über das Ende der wirtſchaftlichen Bebrüd empfunden worden iſt, fo bänglich muß man der neuen „Gewißheit“ entgen ſehen. Der Dawes-Plan bot ſchon die Möglichkeit, ſich eine Art von Schlußſum auszurechnen. Im Normaljahr ſollte die Jahresleiſtung von 2%, Milliarden Gr mark in zwei gleiche Hälften zerfallen:

1. Zinſen und Tilgung der Schuld verſchreibungen der

Reichsbaunnkk 660 Millionen Induſtrie a 222333 300 en Be förderungsſteuer 290 1250 Millionen 8 2. Beitrag aus dem Reichs haushalt. 1250 Millionen. .

Da der Nennwert der in rund 32 Jahren zu tilgenden beiden Arten von Su |" verſchreibungen 11 und 5, zuſammen 16 Milliarden Goldmark beträgt, läßt ſich . ebenfalls 5 v. H. Zinſen und 1 v. H. Tilgung der Kapitalwert der Beforderunn | ſteuer auf 4,855 Milliarden annehmen, und alſo der Wert des Reichshaus halt . beitrags, angenommen er wäre befriftet, auf 20,833 Milliarden; der Gejamtgeg |! wartswert der Oawes- Verpflichtung ſomit auf rund 41,67 Milliarden Goldmatl. & im Januar 1928 in der amerikaniſchen Preſſe mitgeteilter, allerdings ſofort no“ drücklich beſtrittener „Plan“ bekundete angeblich die Abſicht, eine neue Regen fo vorzunehmen, daß die vorhandenen Schuldverſchreibungen beſtehen bleiben w noch um einige Milliarden neuer, vielleicht vom Reiche unmittelbar auszuſtellen vermehrt werden ſollten, wogegen dann der Beitrag aus dem Reichshaushalt w fallen würde. Man wäre dann glücklich wieder bei dem Zuſtand von 1919 und 12 angelangt, mit Schuldverſchreibungen allein, nur zu einem niedrigeren Ne als damals.

Dawes, Gilbert und Poincaré - 357

Für Deutſchland kommt offenbar gegenüber dieſen noch ganz unverbürgten Plänen nur in Betracht, abzuwarten, was ihm amtlich angeboten wird. Lang und viel wird gezahlt werden miiffen. Eine ganz erhebliche Verringerung der Jahres! zahlungen iſt wichtiger als eine Begrenzung, die erſt in vielen Jahren wirkſam wird.

Für die Gläubiger Deutſchlands aber ſpricht die Angelegenheit der Kriegs- ſchulden untereinander ſehr weſentlich mit. Die Vereinigten Staaten und Groß- britannien haben den anderen gewaltige Beträge geliehen, über deren Rückzahlung viel verhandelt worden iſt. Man hat ſich in der Hauptſache auf eine Tilgung in 62 Jahren von 1926 an geeinigt, und auf ermäßigte Gegenwartswerte gender Geſtalt, umgerechnet in Milliarden Goldmark:

Schuldner en Saldo

Ver. Staaten | Großbritannien Sroßbritanniieeen nns 19,32 8, 16 Frankreich.. eee 16,9 13 29,9 gtalle nn 8,6 12 20,6 Mens ee neh xe 1,8 2,48 4,28

Vom Kriege her ſchuldet ſomit Europa abgeſehen von den übrigen Bundes- jenoffen und auch von Teilzahlungen feither, die nur bei England mit 33 Millionen Pfund jährlich ins Gewicht fallen an die Vereinigten Staaten 46,62 Milliar- en Goldmark. Da England ſelbſt von den drei anderen 27,48 Milliarden zu for- etn hat, fo iſt es im ganzen noch für 8,16 Milliarden Goldmark Gläubiger, während frankreich, Italien und Belgien zuſammen für 54,78 Milliarden Goldmark Kriegs- chulden haben. Dieſer Betrag iſt höher als der vermutete Gegenwartswert der dawes-Leiſtungen, während diefe die auf 62 Jahre berechneten zukünftigen Jahres- ahlungen der Verbündeten an die Vereinigten Staaten und England weit über- reffen.

Der Gedanke der Aufrechnung der Kriegsſchulden gegen den deutſchen Tribut iegt für die Verbündeten nahe, als Reft des einſtigen: „le Boche payera tout!“ Nit der Möglichkeit, gleichzeitig etwas von der Reparation nachzulaſſen, hat man ich vielleicht in England abgefunden, wo man ſchließlich auf die 8,16 Milliarden doldmark und auch auf deutſche Zahlungen verzichten möchte, wenn man damit wut die Kriegsſchulden überhaupt los wird; denn England zahlt an Amerika wirklich, iber was die anderen an England zahlen werden, iſt ungewiß, ein „wind fall“, wie et frühere Schatzkanzler Sir Robert Horne einmal gefagt. Immerhin hat fid er frühere Botſchafter in Berlin, Lord d'Abernon, heftig gegen eine Anderung es Dawes - Plans ſchon jetzt ausgeſprochen. In Frankreich möchte man zwar auch lidts zurückzahlen, aber außerdem noch von Oeutſchland die angeblichen Koſten es Wiederaufbaus „der zerſtörten Gebiete“ erhalten. Die Vereinigten Staaten eindlich find wohl mit dem Plan des Generals Dawes und dem Rat des Agenten Silbert freigebig geweſen; aber die Großmut, die europäiſchen Kriegsſchulden von

358 Dawes, Subert und Pores 46,62 Milliarden Goldmark weſentlich herabzuſetzen, damit auch Oeutſchu weniger zu zahlen habe, iſt lediglich eine europäifhe Erwartung, der noch kein mur gebender Amerikaner Worte verliehen hat. Auch Gilbert empfiehlt in ſeinem nee ſten Bericht nur die endgültige Feſtſetzung der Reparationsſchuld, damit Heut land vor die endgültige Aufgabe geſtellt werde, unter eigener Verantwortung, d.) ohne ausländiſche Aufſicht und ohne Transferſchutz, zu handeln“. Bon „Ermäßiger ſagt er gar nichts.

Es wird nun wohl hie und da empfohlen, Oeutſchland ſelbſt ſolle eine alte Politik treiben, um die „Revifion“ des Dawes-Planes zu betreiben und ſich dar auf feine vertraglichen und ſittlichen Anſprüͤche ſtüͤtzen; als ob politiſche Euch dungen durch Überredung zu erreichen und nicht von den Machtverhältniſſen + hängig wären! Der zu Überredende wäre in dieſem Falle Poincaré, dem fide lich die Reparationsfrage nicht in erſter Linie eine wirtſchaftliche, ſondern en politiſche iſt, als eines der Mittel, um fo lange wie möglich am deutſchen Rhein n bleiben. Wenn der Dawes-Plan eine gute Seite hat, fo iſt es die, daß er den fir zoſen die Vorwände dafür zu finden erſchwert. Zum mindeſten ift es bedenklich s feiner Stelle eine Regelung zu wagen, mit „eigener Verantwortung“, wie Gilben jagt, folange noch nicht einmal die zweite Zone geräumt iſt. Was uns k anderen anbieten wollen, mag geprüft werden, ob es nicht ſchlimmer als der Dare Plan iſt, wirtſchaftlich und politiſch! —S-

Reife Von Wilhelm Luetjens

Wie wir mählich miteinander reifen, gon du es, mein Weib?

ie wir jedes Geftern von uns fireifen, Täglich tiefer ineinander greifen —: Sind wir ſo nicht ſelig, du mein Weib?

Dieſe Erde will uns Heimat geben, Hier find wir zu Hanf’.

Wie wir, tiefer wurzelnd, uns erheben, Miteinander nach Erlöſung ſtreben, Wipfeln wir zur Ewigkeit hinaus.

Du Geliebte, reich mir deine Hände, Meine ganze Welt!

Einmal geht der Erdentag zu Ende: O daß jeder Stundenſchlag uns fände So wie heute: ſtark und treu gefellt!

359

Unveröffentlichte Briefe Ernſt Moritz Arndts

Herausgegeben von Prof. Dr. E. E. Becker

(Schluß

uch den folgenden Brief hat Arndt in ſeinem „Nothgedrungenen Bericht“ veröffentlicht,

allerdings ohne Datum Meisner und Geerds geben ihm in ihrem Lebensbild in Briefen das Datum 31. Januar. Oer Abdruck iſt nur an einer Stelle geglättet: Zm zweiten Satze beißt es nun richtiger: Wenn auch einzelnen Worten in dem Buche uſw. Zu dem Satze von den Kampzianern und Schmalzianern macht er die Anmerkung: Ich durfte dem wadern Grafen, mit welchem ich ſeit 1814 in freundſchaftlicher Vertraulichkeit ſtand, über meine Dinge immer unumwunden ſchreiben.

Arndt an Graf Solms-Laubach: | Praeſ. d. 10./2. 19. Hochgeborner Herr Reichsgraf! Gnädiger Graf und Herr.

Die Sendung, deren Ankunft Euer Erlaucht mir mit Ihrer gewohnten Milde und Freundlichkeit in Köln verkündigt hatten, habe ich ruhigen Muthes empfangen. Wenn auch einzelnen Worten eine Heftigkeit und ein Fliegendes in dem Buche anhangt, das Misdeutungen unterliegen kann, ſo habe ich mich meiner Grundſätze, wie ich fühle, wenn auch Kaiſer und Könige anders meinen ſollten, vor dem höchſten Raifer droben nicht zu ſchämen noch der Gefühle, welche das Buch zur Welt ge- bracht haben. Das murus aheneus des Horatz hält in dem ſchmutzigen Strom der Hetzerei und Klatſcherei als tüchtige Wehr des Lebens gottlob noch vor, und ich bin wieder heiter; denn was mich nur von außen trifft, das ſoll drinnen als Blitz nicht einſchlagen. Ich will nun ruhig abwarten, wohin ſich dies weiter wenden will, oder wohin die Kampzianer und Schmalzianer mein Schickſal vielleicht zu zerren verſuchen mögen.

Wie aber auch dies Schickſal gerathe, ſeyen Euer Erlaucht immer meiner treueſten Dankbarkeit und meines redlichſten Strebens verſichert, und daß ich hoffentlich in Feigheit oder Jämmerlichkeit nie fo tief ſinken werde, daß die Tapfern und Redlichen im Volke an meiner Ehre verzweifeln.

; Mit tiefer Berehrung Euer Erlaucht Bonn, den 8. Februar 1819. gehorſamſter E M Arndt.

13. Oer folgende Brief des Miniſters zeigt ihn in einem freundlichern Lichte, als ihn Arndt zu ſehen pflegte. Er atmet aufrichtiges, um den hodgefddgten Mann beſorgtes Wohlwollen gegen Arndt.

Miniſter von Altenſtein an Graf Solms-Laubach:

Praeſ. d. 23.5. 19.

Der Profeſſor Arndt hat mir, nachdem er durch Ew. Hochgeboren den Aller- höchſt befohlenen Verweis erhalten, den anliegenden Brief geſchrieben. Ich würde

360 Unverdffentlidte Briefe Ernſt Moriz Amd

mir den Inhalt desſelben in jo weit, als er das Geſtändniß von Ungemeſſenheiten und Unſchicklichkeiten in Worten und Ausdrücken und die Verſicherung lautrer Ab ſichten ausdrückt, gern gefallen laſſen und ihn zu den Acten nehmen. Der fernere Inhalt aber geſtattet mir dieſes nicht. Die namentliche Angabe eines vermeynten Widerſachers iſt an ſich ſehr mißlich und im Zuſammenhange mit den Vorfällen, wovon hier die Rede iſt, völlig unangemeſſen, da die Allerhöchſt eigene Bewegung und das ohne fremde Einwirkung entſtandene Allerhöchſte Misfallen nicht zweifel haft ſeyn kann. Ich beſorge, wenn ich den Profeſſor Arndt hierüber ſchriftlich bedeute, leicht misverſtanden zu werden und den Zweck, ihn zu einer angemeſſenen ſchriftlichen Erklärung, die zu den Acten kommen und nöthigenfalls ohne den, der ſie gegeben, und den, der fie angenommen hat, gerechtem Tadel auszuſetzen, vorge- legt werden kann, zu bewegen, nicht ganz auf gewünſchte und erforderliche Weiſe zu erreichen. Ew. Hochgeboren wird dieſes mündlich leichter gelingen, und Sie werden Sich dadurch um den Mann, dem wir beyde wohlwollen und gern vor Über- eilungen bewahren, ein wirkliches Verdienſt erwerben und auch mich zu aufrichtige Dank verbinden.

Berlin, den 16ten März 1819. Altenſtein.

An des Königlichen Ober Präſidenten Herrn Grafen zu Solms Laubach Hochgeboren in Cöln.

14. Der nächfte Brief ſchließt dieſen Briefwechſel und auch die Reihe der Briefe Arndts an den Grafen. Dieſer hatte Arndt muͤndlich gebeten, nach dem Wunſche des Minifters feine Ant- wort umzuſchreiben. Der Brief zeigt eine gewiſſe Rühle. In der Tat ſchlug Arndts Stimmung gegenũber dem Grafen in der nächſten Zeit um. Er meinte wohl zu ſehen, daß der Graf ihm in ſeinen Nöten nicht entſchieden genug beiſtehe. So kam er in einem Brief vom 6. Mai 1821 an ſeinen Schwager Schleiermacher dazu, von dem „ſchwachen Solms“ zu ſchreiben, „der ganz öſterreichiſch wũthen und nichts als Hängen und Köpfen ausſprudeln ſoll“.

Arndt an Graf Solms-Laubach:

Erlauchter Herr Reichsgraf, Gnädiger Herr.

Hiebei lege ich Euer Erlaudt das Befohlene, umgeſchrieben, wie Sie es geſtern andeuteten, und bitte Sie es an des Herrn Miniſters von Altenſtein Excellenz ge- langen zu laſſen.

Mit tiefer Verehrung Euer Erlaucht Bonn, den 8n April 1819. gehorſamſter E M Arndt.

D. Späte Erinnerung.

15. Lange war Graf Friedrich Chriſtian Ludwig geſtorben. Lange war Arndt nach mehr als zwanzigjähriger Verbannung von Lehrſtuhl in fein Amt wieder eingeſetzt worden, da fchrieb

Ungeröffentlihte Briefe Ernft Moritz Arndts 361 er noch einmal einen Brief an einen Grafen zu Solms-Laubach, an Graf Otto (1799— 1875), den Sohn des verewigten Sönners. Die Verbitterung gegen den früheren Freund iſt gewichen, ja fie hat einer eigenartigen Verklärung Platz gemacht.

Vas die unmittelbare Veranlaſſung des Briefs war, iſt nicht auszumachen. Unter den Werken Arndts aus jener Zeit findet ſich nichts, worauf die Andeutungen des Briefes paſſen könnten. Es müßte denn fein, daß der „Nothgedrungene Bericht“ ſchon 1846 erſchienen und nur mit 1847 bordatiert fei; wie es die Verleger auch heute noch oft genug tun. Aber das Datum „den 12. Mara“ macht auch dies wenig wahrſcheinlich. Genug, daß dieſer letzte Brief Arndts an einen Grafen Laubach die herzliche Erinnerung an einen Mann zeigt, der ihm in großen und in kleinen Zeiten als treuer Mitarbeiter und Geſinnungsgenoſſe zur Seite ſtand.

Hodgeborener Herr Graf, Gnädigſter Herr.

Euer Erlaucht gewogentliches Schreiben vom 15t. v. M. hat mich freudig über; taſcht und gewährt mir eine Anknüpfung an Erinnerungen, die ich unzerſtört Zeit Lebens in meinem Herzen tragen werde. Die Periode, worin ich das Glüd hatte, laglich Ihren verewigten Herrn Vater in ſeinem biedern, hingebenden Geiſt wirken

u ſehen, war die ſchönſte meines Lebens, und, wenn ich in ſpätern Tagen ein patriotiſches Schaffen als mein höchſtes Glück betrachtet habe, ſo kann ich nicht leugnen, daß ich dem edeln Manne dieſe Richtung vorzüglich zu verdanken habe. Darum war die kleine Sühne, die ich feinem Namen gebracht, eine Herzens-Auf- gabe für mich, und ich danke Euer Erlaucht innigſt für die gütige Anerkennung des Wenigen, was ich darin geleiſtet habe.

Euer Erlaudt bald meine innigſte Verehrung perſönlich bezeugen zu können, würde mich ſehr beglücken, und mit der Bitte, die Frau Gräfin Mutter und Frau Fürſtin Schwefter meines tiefſten Reſpects zu verſichern, verharre ich mit unver- anderter Ehrerbietung

Euer Exlaucht ganz gehorſamſter Diener Arndt.

Düſſeldorf, am 12t. März 1846. Anhang. Zwei Briefe Neithardts von Gneiſenau.

Wohl durch den gemeinſamen Freund, Freiherrn von Stein, war der Graf auch in Bezie- bungen zu dem großen Feldherrn der Befreiungskriege getreten. Gneifenau hatte nach dem Ftiedensſchluß zu Paris das Generalkommando am Rhein bekommen. So ergaben ſich, durch die gemeinſame Freundſchaft mit Stein vermittelt, ſelbſtverſtändlich bald freundſchaftliche Beziehungen zu dem Oberpräſidenten. Der Ton der Briefe zeigt, wie herzlich dieſe Beziehungen ſchnell wurden. Er iſt für jene Zeit erſtaunlich freimütig und vertraulich.

Gneifenau wußte ſich mit dem Grafen auf demſelben Boden, in einem Gegenſatz zu der Ridwartferei jener dunklen Jahre, die fo raſch auf die ſtrahlende Zeit der Erhebung des deutſchen Tolles gefolgt war.

Roch waren die neuen Provinzen nur äußerlich dem preußiſchen Staate angefügt. Es war eine Arbeit, des Schweißes der Edlen wert, ſie auch innerlich mit ihm zu verbinden. Aber den Mann, der dieſer Aufgabe am beſten gewachſen war, den Freiherrn von Stein, berief man nicht dazu. Ex galt in den engen Kreiſen der Berliner und noch mehr der Wiener Regierungen

nicht als zuverlaſſig genug.

362 Unveröffentlichte Briefe Ernſt Morty Artem

Wahrend des Krieges hatten die Verbündeten Johann Auguſt Sack (1764 1881) zum Gene ralgouverneur der herrenlos gewordenen Gebiete am Niederrhein mit dem Amtsſitz zu Aachen ernannt. Der Konig berief ihn ſodann zum Oberpräfidenten des Großherzogtums Niederrbein. Allein er war den Ridwartfern in Berlin mißliebig. So zwang man ihn zum großen Schmerz Gneiſenaus, das Oberprdfidium in Neupommern zu übernehmen,

An feine Stelle wurde Graf Ingersleben (1755 1831) berufen, der dies Oberpräfibium bisher innegehabt hatte. Gneiſenau hatte ihm nicht vergeſſen, daß er es geweſen war, der an 29. Oktober 1806 den Gouverneur von Stettin, Generalleutnant von Romberg, veranlaßt hatte, die wohl armierte Feſtung mit 6 Generalen, 120 Offizieren, 5000 Mann Beſatzung und 270 Ge ſchützen an 800 Huſaren des franzöſiſchen Generals Lafalle zu übergeben. Bitter meinte er, er müffe nun feine Feſtungskommandanten warnen, vor den Überredungstünften des Ober präfidenten auf der Hut zu fein.

Praeſ. d. 23. Jan. 1816.

Ew. Hodgeboren wollen wohlwollend meinen gehorſamſten Dank für die Mät- theilung der gegen das Hergogthum Weſtphalen führenden Chauſſeen emp fangen. Mit Freuden ſehe ich daraus, daß wir nur das fortzuſetzen haben, was andere angefangen.

R Aus einer Erklärung des Fürſten Staatskanzlers geht hervor, daß die Organi- fation der hieſigen Provinz in 14 Tagen eingetreten ſeyn ſoll. Wie dies zu be werkſtelligen ſei, iſt mir nicht ganz deutlich.

„Aber es ſollen uns noch andere Veränderungen bevorſtehen. Die Feinde de Oberpräfidenten Sack haben über ihn geſiegt. Wahrſcheinlich wird er nach den ehemaligen Schwediſch Pommern verſetzt werden. An feine Stelle ſoll der Miniſtet

von Ingersleben, Bruder der Oberhofmeiſterin, kommen; derſelbe der im

Jahr 1806 durch fein Zureden bei dem Gouverneur v. Romberg die Übergabe von Stettin bewirkte und wegen ſeiner Eidesleiſtung für Bonaparte nach dem Tilſiter Frieden gleich den andern Miniſtern ſeiner Stelle entſetzt ward. Es wird faſt nöthig ſeyn, die unter mir ſtehenden Feſtungskommandanten zu warnen, gegen feine Überredungstünfte auf feiner Hut zu fenn.

Wollte man etwas Entſcheidendes für die hieſige Provinz thun, ſo ſollte man Herrn von Stein an ihre Spitze und zwar mit ſehr ausgedehnter Vollmacht ſetzen. Nur hieraus könnte Heil für die Provinz ſowohl als für den Staat entftehen; ohne dieſe Maasregel werden Nichts als Mißgriffe, Schlechtigkeiten und Albern- heiten entſtehen. Herrn von Steins anerkannte Rechtſchaffenheit würde die ſchon leider ſcheu gemachten Gemiither beruhigen. Aber wo wäre bei dem jetzigen Zu- ftand der Angelegenheiten in Berlin die Hoffnung zu einem ſolchen Beſchluß? y Sie wollen, verehrter Herr Graf, die Verſicherung meiner feftbegründeten Hoch- achtung annehmen und meiner mit Wohlwollen eingedenk ſeyn.

Gr. N. v. Gneifenau. Coblenz, 16. Jan. 1816.

Das Verſtändnis des anderen Briefs öffnet uns ein Schreiben, das Gneiſenau am 5. Februar an den Staatskanzler Grafen Hardenberg richtete. Dieſer hatte Gneifenau in Paris beauftragt, mit den Brüdern Boiſers zu verhandeln, ob fie ihre Gemäldeſammlung an den preußiſchen

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Unveröffentlihte Briefe Eenft Moritz Arndte 363

Staat verkaufen wollten. Bekanntlich find die Brüder Boiferd, Sulpiz (1783— 1854) und Melchior (1786— 1851), die Wiederentdecker der gotiſchen Runft. Durch jahrelange Bemühungen hatten fie eine Sammlung zuſtande gebracht, die ſelbſt dem einſeitig auf die griechiſche Runft einge- ſchworenen Goethe den Ausruf entlockte: „Auch dies ift Runſt!“ Die Sammlung befand fich damals in Heidelberg. Canova, der fie dort ſah, erklärte, daß Ztalien nichts Ähnliches aufzu- weiſen habe. Gneiſenau hatte den mit den Brüdern bekannten Rammergerichtsrat Eichhorn be- auftragt, bei dieſen anzuklopfen. Auch andere Regierungen bemühten ſich darum. Nun hörte Gneiſenau, daß Graf Solms mit einem der Brüder in Briefwechſel ſtand. So ſchrieb er dem Staatskanzler, er nehme an, daß der Graf in deſſen Auftrag handele, und empfahl dringend den Ankauf, wie er es auch in unſerm Schreiben tut.

Oie Verhandlungen zerſchlugen ſich. Ob der König in ſeiner Sparſamkeit ſich nicht zu dem wenn auch kleinen Opfer entſchließen konnte? Ob feine wie Goethe im Aaſſizismus be- fangenen Runftberater ihm abrieten? Die Sammlung kam dann nach Stuttgart. Als auch dort Verhandlungen mit dem württembergifchen Staat nicht zum Ziele führten, kaufte endlich König Ludwig von Bayern die Runftwerte für 120000 Taler. Der größte Teil von ihnen ziert heute die Pinakothek in München.

Auch dieſer Brief zeigt ein rüdhaltlofes Vertrauen Gneiſenaus zu dem Grafen, mit dem er ſich geſinnungs verwandt fühlte. Die Veränderung, die er andeutet, ließ nicht lange auf ſich warten: nach wenigen Monaten verließ er den Dienſt und ging auf ſein Gut in Schleſien. Ex konnte ſich in der Luft des damaligen preußiſchen Staats nicht mehr wohlfühlen.

Ihrem Verlangen, mein verehrter Herr Graf, zufolge habe ich die Ehre, Ihnen den Brief des Herrn Boiſeré wieder zuſenden. Ich habe geſtern in dieſer Ange- legenheit wieder an den Fürſten Staatskanzler geſchrieben und ihn auf die Gefahr aufmerkſam gemacht, daß uns dieſe vortreffliche Sammlung entgehen könnte.

Das Gefdhdft mit Herrn Boiſers macht ſich, zum Glück für unſere (unnöthige) Finanznoth, ſo ſehr leicht, daß in jedem Augenblick abgeſchloſſen werden kann. Eine Leibrente, ein Gehalt, eine literariſche Wirkſamkeit und anſtändiger Rang iſt Alles, was die beiden Brüder verlangen, und das iſt wahrlich ſehr wenig für eine ſolche Erwerbung. Am zwedmäßigften, nach meinem Erachten, würde man verfahren, wenn man die beiden Brüder an die Spitze eines Vereins ſtellte, der den Auftrag hätte, Alles was von altdeutſchen Monumenten noch vorhanden, ſammeln oder zeichnen zu laſſen, damit auch wir unſern Montfaucon hätten.

Hier iſt eine allgemeine Klage, daß Sie nach Cölln verſetzt ſind; auch ich würde mich über den Tauſch mit Herrn von Ingersleben ſehr ärgern, wenn ich nicht im Vertrauen geſagt einen andern Lebensplan auszuführen im Begriff wäre, und ich erwägte, daß Sie in Cölln nützlicher und angenehmer angeſtellt find.

Laſſen Sie mich, verehrter Herr Graf, Ihrem Wohlwollen empfohlen ſeyn, und genehmigen Sie die Verſicherung meiner unverbriidliden, hochachtungsvollen Ergebenheit.

Gr. N. v. Gneiſenau.

Coblentz, d. 6t. Februar 1816.

364

Die Wohnmaſchine Von Ernſt Finkbeiner

es Teufels Großmutter nähte eben ein Loch in ihrer Nachtjacke mit Schwefel

faden zu, als ihr Enkel eintrat und ſich mürriſch und verlegen zu ihren Füßen niederkauerte. „Ich weiß, warum du kommſt,“ ſagte die Alte, die vortrefflich Ge- danken leſen konnte, „du möchteſt die deutſche Seele töten, denn ſie iſt dir beſonders verhaßt. Du haſt alles verſucht, aber es iſt immer noch Leben in ihr. Nun ſoll ich wieder einmal Rat ſchaffen. O, du dummer Teufel! Kann denn die deutſche Seele ſterben, ſolange ihr eine Hauptwurzel noch Nahrung zuführt: das deutſche Heim?

„Wenn das deine ganze Weisheit iſt,“ knurrte der Teufel, „ſo kann ich gleich wieder gehen. Habe ich nicht, als Deutſchland zum dichtbevölkerten Induſtrieſtaat wurde, die häßliche, ungeſunde, unbehagliche und undeutſche Mietskaſerne ge ſchaffen? Ich hoffte ſchon, gewonnenes Spiel zu haben. Aber da ſtanden in Deutſch⸗ land zahlreiche Architekten auf, in denen ich die deutſche Seele nicht zu erſticken ver mochte. Schändlich! Dieſe Halunken erkannten vollkommen richtig, daß das deutſche Volk in ſeiner Formkultur zu ſich ſelbſt kommen müſſe, vor allem auch in der Geſtalt des deutſchen Wohnhauſes, und daß die formalen Grundzellen für dasſelbe nur die Typen des deutſchen Bauernhauſes ſein können. O, wie wurmte es mich, als man in Oeutſchland deutſch zu bauen begann, als die deutſchen Architekten mit er- ſtaunlichem Geſchmack und Feingefühl die Typen des deutſchen Bauernhauſes weiterentwidelten und den Sonderbedürfniſſen anpaßten, als ſich herausſtellte, daß man äußerft billig, praktiſch und hygieniſch und doch zugleich auch deutſch bauen könne, als ſie die neuen, hochwertigen Baumaterialien verwendeten, ohne die deutſche Form zu verraten. Ich wurde aber buchſtäblich krank vor Ärger, als es den deutſchen Architekten ſchließlich verblüffend gut gelang, ſogar dem mehr- ſtöckigen Mietshauſe deutſchen Charakter aufzuprägen. Der deutſche Wohnhausbau iſt leider in vollkommen richtigen Bahnen. Ich halte es für unmöglich, ihn je wieder daraus zu verdrängen.“

„O, du feiger Teufel!“ krächzte die Alte, „findet ſich Geſchmackloſigkeit, Ober- flächlichkeit, Charakterloſigkeit und Neuerungsſucht nicht auch reichlich im deutſchen Volke? Und da willft du das Spiel verloren geben? Und eben jetzt, wo in Oeutſch⸗ land wieder eine lebhafte Bautätigkeit einſetzt? Wo du der deutſchen Seele einen furchtbaren Schlag verſetzen kannſt, wenn du es dahin bringſt, daß der Rieſenbedarf an neuen Wohnhäuſern undeutſch befriedigt wird. Jetzt gilt’s! Und das erſte Gebot für dich iſt: Teufel, ſei frech! Wage es, und leugne rundweg das Beſtehen einer deutſchen Seele!“

„Damit werde ich bei den Deutſchen kein Glück haben,“ knirſchte der Teufel, „denn dafür haben ſie viel zu viel Bildung. Denke nur daran, daß die Oeutſchen eifrig fremde Sprachen lernen. Gerade ſie wiſſen daher am beſten, daß jede hiſtoriſch entwickelte Sprache eine Seele hat, in der die ſeeliſche Grundartung des betreffenden Volkes mit größter Treue zum Ausdruck gelangt. Sie wiſſen, daß der beſte Weg zur Seele eines Volkes die Erlernung feiner Sprache iſt. Die Deutſchen leſen viel aus

+ u om

Finkbeiner: Die Wohnmaſchine 365

ländiſche Schriftſteller im Original. Sie wiſſen alſo, daß es in der Dichtkunſt jedes Volkes eine Menge Eigengut gibt, das in andere Sprachen überhaupt nicht über- tragen werden kann. Auch die beſte Überſetzung gibt hier keinen Begriff vom Reize des Originals. Denke an die Muſik! Der Oeutſche liebt ſie leidenſchaftlich. Wie ſollte er verkennen, daß fie deutlich das Gepräge der Volksſeele trägt, daß viele mufi- kaliſche Schöpfungen unverkennbar italieniſches, franzöſiſches, deutſches oder anderes nationales Kolorit aufweiſen. Das gilt aber für die ganze Formkultur der Menſchheit. Kurzum: keinem gebildeten Deutſchen wird es einfallen, das Beſtehen einer deutſchen Seele zu leugnen.“

„Und wenn ſchon,“ ziſchte die Alte, „dann gilt es eben, die deutſche Seele dem Haß und der Verachtung preiszugeben. Gerade beim deutſchen Volke ſelbſt iſt das ſicherlich am leichteſten zu machen. Rede doch einfach von Menſchheitsverbrüderung, von verderblichen nationalen Vorurteilen, von der Notwendigkeit internationalen Zuſammenſchluſſes, von Überbrückung aller nationalen Gegenfäße .. .“

Der Teufel ſchüttelte den Kopf. „Das iſt ausſichtslos,“ unterbrach er feine Groß- mutter kalt und mürriſch, „du haſt vergeſſen, daß wir es mit einem geiſtig gereiften Kulturvolke zu tun haben. Die deutſche Seele drängt nach einem gefunden Inter- nationalismus, und das gerade macht ſie mir beſonders verhaßt. Sie fühlt, daß auf politiſchem, wirtſchaftlichem und techniſchem Gebiete und nicht zuletzt auch zur Förderung der Wiſſenſchaft ein weitgehendes internationales Zuſammengehen und Zuſammenarbeiten notwendig und daß das deutſche Volk berufen iſt, bei der Er- reichung dieſes ungeheuer wichtigen Zieles entſcheidend mitzuwirken. Aber der Oeutſche iſt leider ſcharfſichtig und geſchmackvoll genug, um ben ebenſo plumpen wie verhängnisvollen Fehler zu vermeiden, den Internationalismus auf die Form- kultur auszudehnen. Er weiß, daß formaler Internationalismus Verflachung des Formenlebens bedeutet. Der Fortſchritt der Formkultur beſteht in der zunehmenden ſchönen Vielgeſtaltigkeit. Jedes Volk hat die Aufgabe, feine eigene Form zu ent- wickeln. Gerade die formalen Gegenſätze der Völker wirken anziehend und darum international. Für die Formkultur gilt: Je nationaler, deſto internationaler. Einem Kulturvolke wie dem deutſchen wird dieſe Erkenntnis leider nicht verſchloſſen bleiben.“

„Kulturvolk?“ lachte die Alte, „ſieh doch an, wie unglaublich der gute Geſchmack in Oeutſchland entartet, wie die deutſche Kunſt großenteils mit krankhafter Luft im Häßlichen wühlt. Glaubft du, die deutſche Baukunſt werde von dieſer Seuche dauernd verſchont bleiben? Erſinne das Häßlichſte, Abſtoßendſte, Lächerlichſte, was ſich an Bauformen denken läßt, und du wirſt ſtaunen, welche Bewunderung, ja Begeiſterung ſie bei den Deutſchen auslöſen. Die Deutſchen vertauſchen ſoeben das Kulturideal mit dem Zweckmäßigkeitsideal. Sie amerikaniſieren ſich Und da ſollte der Kampf gegen die deutſche Seele ausſichtslos ſein? O, du dummer Teufel! Blaſe den Oeutſchen ein, das Wohnhaus ſei lediglich ein Zweckgebilde, eine Maſchine zum Kochen, Spülen, Waſchen, Schlafen, zum Schutz gegen Kälte, Näſſe und Krankheit, zur Arbe itserſparnie für die Hausfrau. Was die Form betrifft, fo flüſtere ihnen ein, die zweckmäßige Form fei immer auch eine ſchöne Form; Bepagen und Gemütlichkeit brauche Wohnhaus und Wohnraum nicht mehr zu atmen, denn für

366 Fintbeiner: Die Wohnmaſchme

dieſe Seelenwerte habe die neue Zeit keinen Platz übrig; überhaupt verlangen die neuen Baumaterialien gebieteriſch einen radikalen Umfturz aller Bauformen, und es fei lächerlich, ſich dieſer unaufhaltſamen Entwicklung entgegenzuſtemmen. Ich wette tauſend gegen eins: die Deutiden werden gründlich auf dieſen Schwindel hereinfallen. Und dann ſind der Verunſtaltung und Entſeelung des deutſchen Heims keine Schranken mehr geſetzt.“ „Sie werden nicht darauf hereinfallen“, entgegnete der Teufel düſter. „Kein denkender Deutſcher wird Schönheit und Zweckmäßigkeit durcheinander mengen. Er weiß, daß beide an ſich völlig getrennte Welten ſind. Wie ſollte er blind ſein für die zahlloſen Beiſpiele von zweckloſer Schönheit und unſchöner Zweckmäßigkeit? Wohl aber weiß er, daß Schönheit und Zweckmäßigkeit eine ſehr glückliche Ehe mit- einander eingehen können und daß jedes wahre Kulturvolk alles Zwed- mäßige nach Kräften mit dem Schönen zu vermählen ſucht. Wie bei jeder harmoniſchen Ehe, ſo geht es auch bei dieſer nicht ohne ein gelegentliches kleines Opfer ab, das aber durchaus nicht in Unterdrückung eines der beiden Teile auszu- arten braucht. Das deutſche Volk als Kulturvolk will im deutſchen Wohn- hauſe die glückliche Ehe von Zweckmäßigkeit und deutſcher Schönheit. Billig, praktiſch, geſund, arbeitſparend ſoll das deutſche Heim ſein, aber in all ſeinen Formen voll behaglichen Reizes, voll gemütswarmer deutſcher Seele. Gerade in der Gegenwart ſoll die Beſeelung des Heimes ein Gegen— gewicht gegen die Entſeelung der Arbeit ſein. So will es leider, leider die deutſche Seele. Moderne Baumaterialien? Vergiß nicht, daß fortwährend neue brauchbare Baumaterialien erfunden werden und daß hier keine Grenze geſetzt iſt. Wenn lediglich das Baumaterial die Form des Wohnhauſes beſtimmen ſoll, ſo verlangt jedes einzelne Baumaterial infolge ſeiner beſonderen Struktur ſeinen beſonderen Bauſtil, der zugleich beliebig häßlich ſein kann. So gelangen wir zu Hunderten, zu Tauſenden von Materialſtilen, einem unerträglichen internationalen ſtiliſtiſchen Chaos. Gerade der zunehmende Reichtum an Baumaterialien macht das einigende Band der national beſeelten Bauform hundertfach notwendig. Die Deutihen würden ſich gewiß zuerſt hierüber klar werden. Bei ihnen würden die neuen Baumaterialien nur neue, reizvolle Spielarten unter den unendlich vielen möglichen des deutſch beſeelten Wohnhauſes ſchaffen ... Doch warum lange hin- und herreden? Ich liefere dir ſogleich den Beweis, daß ich recht habe..“ | |

Da blies der Teufel den Gedanken der Bohnmaf dine in die Köpfe der deutſchen Architekten. Er tat es lediglich, um feine Großmutter zu beſchämen. Allein, wer be- ſchreibt feine Verblüffung, als der ausgeſtreute Giftſame überall ſchnell und üppig aufging. Der deutſche Boden bedeckte ſich mit Wohnmaſchinen, durch welche das deutſche Formgefühl aufs ſchwerſte verletzt wurde. Überall war bei ihnen das durch und durch undeutſche, und dazu nicht einmal praktiſche Flachdach verwendet. Dieſe kiſtenartigen Gebilde überboten ſich an Seelenloſigkeit, frierender Nüchternheit und beleidigender Geſchmackloſigkeit, ohne dadurch dem Zweckmäßigen nennenswerte Dienſte zu leiſten. Es war ein Triumphzug des Häßlichen. Die deutſche Formkultur erlebte eine grenzenloſe Entwertung.

RR un be ha u Pariſer Eindrücke

urch die Oeutſche Chriſtliche Vereinigung ſtudierender Frauen, deren Mitglied ich als Studentin war, hatte ich zahlreiche Adreſſen von franzöſiſchen Paftoren- und anderen proteſtantiſchen Familien bekommen, zu einem Studienaufenthalt in Frankreich. Ich entſchied mich für Madame F. im Quartier Latin, Es war eine hochgebildete Dame, Witwe eines Rechts- anwaltes, mit drei Töchtern, berufstätigen jungen Mädchen.

In der Familie F. habe ich mich von Anfang an wohlgefühlt. Ich hatte keine beſondere Freund lichkeit erwartet und war überrafcht, wie liebenswürdig man mir entgegenkam. Ich gehörte ganz zur Familie, alle Räume und vor allem der ſehr gut ausgeſtattete Bücherſchrank und die Zeitſchriften und Zeitungen ſtanden mir zur Verfugung; Madame begleitete mich bei ſchwierigen Beſorgungen, und die Töchter waren auch immer freundlich und hilfsbereit. Niemand in der Familie konnte deutſch, ſie wußten auch kaum etwas von Oeutſchland, von deutſcher Geſchichte

oder Kultur. Nur deutſche Muſik liebten ſie, und von Bach bis zu Brahms waren unſere großen Rufiter vertreten, wie in jedem muſikaliſch gebildeten deutſchen Haufe, Einen unſchätzbaren Vorzug hatte ich dadurch, daß Madame ſich nach dem Mittageffen und dem Abendbrot ftets ihren drei Penſionärinnen zur Verfügung ſtellte. Die andern machten ſelten Gebrauch davon, und fo waren Madame und ich meiſt allein im Salon und plauderten viel über Literatur und Geſchichte. Ich erzählte aus den Vorleſungen und von meinen Wanderungen durch Paris; ſehr bald kamen auch religiöſe und politiſche Themen auf. Madame war pazifiſtiſch eingeſtellt und gehörte zur radikal-ſozialen Partei; wir laſen regelmäßig den Quotidien und den Progrés Civique. Die Töchter waren durch die Schulerziehung eher nationaliſtiſch. Allerdings, ſobald man auf Tieferes im Geſpräch kam, zeigte es ſich deutlich, daß weder der Pazifismus noch der Sozialismus als Weltanſchauung begründet war. Alles war Gefühl, vieles nicht einmal echt.

Über den Krieg zu reden, war faſt unmöglich. So ſehr fie Poincarés Politik verurteilte, fo glaubte fie doch an alle franzöſiſchen Kriegslügen. Jd war tief erſchüttert, als fie mir eines Tages vorwurfs voll und leidenſchaftlich erzählte, fie habe ſelbſt 1917 eine Frau aus dem zerſtörten Gebiet im Gemüſeladen beim Einkaufen getroffen; die habe ihr weinend erzählt, wie grauenhaft ihren beiden Knaben die rechte Hand abgehauen worden ſei von Oeutſchen, die drei Monate bei ihr in Quartier geweſen waren und immer mit den Kindern geſpielt hatten!

Es ſei allgemeiner deutſcher Heeresbefehl geweſen, das zu tun! Und die deutſchen Soldaten, die ſich geweigert hätten, ſeien ſchwer beſtraft worden. Alles an der Erzählung klang echt aber die Kinder ſelbſt hatte Madame nicht geſehen! Doch beteuerte fie, das fei ſicher wahr, denn auch auf franzöſiſcher Seite ſeien Greuel geſchehen, allerdings nur von Schwarzen. Sie ſelbſt habe in St. Malo mit Schwarzen geſprochen, die mit Stolz ihre Sammlung von Ohren zeigten, die fie den deutſchen Gefangenen abgeſchnitten hätten. Ich hatte die Legende von den abge- hatten Händen niemals in folder überzeugenden Form gehört. Natürlich gab ich mir die größte Mühe, Madame eines Beſſeren zu belehren; ich weiß nicht, ob es gelungen iſt. Die Agentinnen demenceaus haben ihre Rolle ſehr gut geſpielt. Später habe ich jeden Franzoſen, dem ich inner- lich etwas näher kam, nach dieſer Legende gefragt. Bis auf zwei haben ſie alle daran geglaubt, obwohl natürlich niemand ein verſtümmeltes Kind geſehen hatte.

Als ich dieſen Winter das verdienſtvolle Buch: Oeutſchland im Lichte ausländiſcher Schul- bücher, das der Verlag Oeutſcher Geſchichtslehrer herausgegeben hat, in die Hand bekam, da mußte ich doch lachen: Das war ja gerade das, was ich in Frankreich fo gern herausgekriegt

hätte und nicht herausgekriegt habe! Meine ſehr freundliche Wirtin hatte immer den Schlüſſel

368 Parifer Eindrög

verlegt oder notwendig etwas anderes zu tun, wenn ich fie bat, mir doch die Schulbücher, be ſonders die Geſchichtsbücher ihrer drei Töchter zu zeigen. Das iſt mir jetzt ſehr begreiflich; als Sozialiſtin und Pazifiſtin hielt Madame es für ganz unnötig, meine ſchwachen Sympathien für ihre Weltanſchauung lieblos zu vernichten. Auch Madame Fiſchbacher, die Schweſter des te- kannten Pariſer Verlagsbuchhändlers, konnte mir nicht zu Geſchichtsbüchern verhelfen. Man ſchämte ſich ein wenig, ſie mir zu zeigen; kaufen mochte ich ſie nicht.

Aber den Geiſt, in dem ihre Verfaſſer erzogen und in dem ſie verfaßt werden, lernte ich an de Quelle, in der Sorbonne, ganz genau kennen. Von April bis zum Semeſterſchluß Ende Zuni 1926 hörte ich dort geſchichtliche Vorleſungen. Ich war in dieſen Kollegs die einzige Oeutſche. Faſt alle andern Deutſchen, die ich traf, hatten wohl einmal bei Seignobos, bei Bourgeois oder Pages zugehört. Sie fagten mir aber alle: „Einmal und nicht wieder!“ Dieſe beſtändigen An-

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griffe auf alles Deutide könnten fie nicht ertragen. Ich hielt trotzdem aus. Zch wollte wiſſen,

was da geboten wurde, in welchem Geiſte Frankreichs Geſchichtslehrer gebildet würden. Und id weiß es nun.

Sh hörte Vorleſungen über den franzöfifhen Staat im 18. Jahrhundert von Bloch; über die franzoͤſiſche Revolution von Sagnac. Bloch war ſehr nüchtern und ſachlich, er trug im weient- lichen Rechtsgeſchichte vor; ich hörte den Teil über das Verhältnis von Staat und Kirche, die Stellung ber einzelnen geiſtlichen Zürften, ihre Rechte, Einkünfte, Ausgaben uſw. Sagnac war bei weitem intereſſanter, er regte auch zum Leſen und Arbeiten an. Er wies nach, wie das heutige Frankreich in der großen Revolution wurzelt und ſtellte die leitenden Ideen heraus. Der groß artige Schwung der Revolution, die Anfänge einer neuen Kultur, der wundervolle Aufbau te Erziehungsweſens all das fei von Napoleon verpfuſcht, abgeſchnitten oder zum mindeſten aufgehalten worden. Gelegentlich erlaubte er ſich, eine Abſchweifung auf die heutige Politil. 3. B. nachdem er bedauert hatte, daß Napoleon I. durch feine Gewaltpolitik die ſchon gan revolutionär und franzöfifch geſinnten Rheinländer zu deutſchen Patrioten gemacht habe, fühl: er aus, daß feine Politik dann von Napoleon III. aufgenommen worden fei und zu 1870 m ſchließlich zu 1914 geführt habe. Und er ſchloß: Das Vorgehen der franzöſiſchen Offiziere in Rheinland nach dem Weltkrieg hat uns alle Sympathien dort verſcherzt, vielleicht für immer. Hier ſchimmerte ſtark der Wunſch nach einer Annexion der Rheinlande durch, der Ärger, daß mar ſich ſelbſt den Erfolg verdorben hatte. Aber Sagnac blieb immer maßvoll und vornehm, in erſte Linie ſachlich, was man von Profeſſor Bourgeois nicht behaupten konnte.

Dieſer ließ keine Gelegenheit vorüber gehen, um die Deutſchen lächerlich zu machen, unfe: wiſſenſchaftlichen Methoden, unſere Probleme, unſere Politik zu verhöhnen. Die Vorgeſchichte des Weltkrieges wurde in Referaten einzelner Studenten behandelt, an die er ſelbſt längere Au führungen, oft bis zu einer Stunde, knüpfte, um die richtigen Lichter aufzuſetzen und die man mal recht dürftige Skizze zu einem eindrucksvollen Gemälde umzugeſtalten. Schon in der erste Vorleſung, die ich hörte, führte er aus, es fei ganz lächerlich, wenn die Deutſchen von Ginkreijurs ſpräachen und ihre Lage 1914 mit der Friedrichs des Großen 1756 verglichen. Rein Menſch habe 1915 / 14 daran gedacht, Deutfchland einzukreiſen, zu bedrohen. Im Gegenteil, Frankreich un Rußland hätten ſeit Zabrzehnten nur für den Frieden gewirkt und ſich nur verbündet, we: dieſer Friede von Deutſchland bedroht wurde. Abfällige und ſpöttiſche Außerungen über Ti helm II. waren natürlich an der Tagesordnung.

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Eine Studentin berichtete einmal ganz trocken und fadlid über Bülows Buch von der Polit.

Überlegen höhnte Bourgeois in der Kritik: Ja, et ſagt zwar, er habe ſich um den Frieden ge müht, in Wirklichkeit tat er aber etwas ganz anderes. Die Deutſchen hätten ſich ja immer un Dinge gekümmert, die fie nichts angingen. Sicher war ich im franzöͤſiſchen Hörſaal als einsis Deutſche empfindlicher gegen manche Äußerung, die ich in Oeutſchland vielleicht kaum beachte. hätte, aber daß auch andere Ausländer an einzelnen Ausführungen Anſtoß nahmen, mertte it bei der Behandlung der Mobilmachung 1914. Die Oeutſchen haben mit der Mobilmachung ange

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ole Schmach ber Fremdenleg lon 369

fangen, niemand habe an Krieg gedacht als Oeutſchland und Oſterreich. Da faßte am Schluß ein ruſſiſcher Student Mut, trat vor und machte einige Einwendungen. Sie wurden mit über- legenem Lächeln abgetan: „Nein, Rußland und England haben nicht vorher mobil gemacht. Ich habe das ganze Gelbbud durchgeleſen, es fteht nichts davon darin.“ Das war fein einziges Quellenzitat, trotz Suchomlinow und aller anderen ruſſiſchen Memoiren! Ein älterer ameri- kaniſcher Rollege ſagte ganz bekümmert zu mir: „Oer Profeſſor hat das alles doch ſeit Zahr- zehnten ftudiert, er muß es beſſer wiſſen.“

Dieſe künftigen Geſchichtslehrer kargten denn auch nicht mit ihrem Beifall. Bourgeois hatte die meiſten Hörer, feine Gedanken teilen die meiſten Franzoſen, jedenfalls, wie mir ſchien, alle Studenten der Geſchichte. In der Vorleſung über die Zeit von 1815 1870 benutzte er auch jede Gelegenheit, ſich über deutſche Dinge und Perſonen luſtig zu machen. Fuͤr die Wer Jahre war Heinrich Heine fein Gewährsmann, der natürlich mit Behagen zitiert wurde! Im übrigen ver- zichtet er auf Quellenangaben.

Durch einen glidliden Zufall konnte id eine ganze Stunde mit Profeſſor Seignobos ver- plaudern, Er hielt damals keine Vorleſungen, ſondern nur Sprechſtunden für feine Doktoranden, mit denen er einzeln arbeitet, da, wie er ſagte, die Franzoſen ſo individualiſtiſch ſeien, daß ein wirklich wiſſenſchoftliches gemeinſames Arbeiten, wie bei uns in den Seminaren, nicht moglich ſei. Ex gab mir auch zu, daß in den Vorleſungen im allgemeinen nicht Wiſſenſchaft geboten werde. & fragte mich nach Erich Marcks und anderen deutſchen Hiftoritern und erkundigte ſich nach dem wiſſenſchaftlichen Nachwuchs bei uns. Wir ſprachen dann von der Pflege der Sprache, von der Feinheit der franzöfifchen Proſa, den Schwierigkeiten der deutſchen. Dann fragte ich ihn nach ſeiner Anſicht über die Negerfrage; denn der Negervater, der mit ſeiner weißen Frau und ſeinem Mulattenkind Sonntag nachmittags ſpazieren geht, war mir doch öfters beunruhigend aufgefallen, ganz abgeſehen von den eleganten Negerinnen auf den Boulevards und den vielen ſchwarzen Soldaten. „Fürchten Sie nichts für Ihre Bevölkerung?“ Er lächelte überlegen: „Ach die Deutſchen mit ihrer Raffeforfhung! Nein, wir aſſimilieren fie, wie wir alle anderen auch aſſimilieren.“ Ich fühlte, daß er an die Elſaſſer dachte und ſagte etwas darüber. Er aber: „Es ift doch Unſinn zu fagen, weil einer deutſch ſpricht, fei er Deutfcher. Wenn er Franzoſe fein will, iſt er eben Franzoſe, und das wollen die gebildeten Elſaß Lothringer bleiben. Die Bauern zählen dabei nicht.“ Ich ſagte raſch: „Das werden wir nie zugeben, wir haben eine ganz andere Auf- faſſung.“ Er nickte, und ich brach das Geſpräch ab. Studienrätin Dr. M. Brandt

Die Schmach der Fremdenlegion

ie franzoͤſiſche Fremdenlegion iſt durch die gegenwärtige weltpolitiſche Stellung Deutichr lands zu einer ſehr ernſten Angelegenheit für das deutſche Volk geworden, der alle Rreiſe der Nation die größte Aufmerkſamkeit entgegenbringen müffen.

Was bedeutet die Fremdenlegion für Frankreich?

Die franzöſiſche Fremdenlegion iſt die franzöſiſche Rolonialtruppe, die den Franzoſen den größten Teil ihrer Kolonien erobert, ihr Blut in dieſen furchtbaren Kolonlalkämpfen verſpritzt hat, die eroberten frangdfifden Kolonien durch den aufreibenden Arbeitsdienſt der Rultur zu erſchließen hilft und heute noch in demſelben Maße, wie immer die ſtets unruhige und auf- ſaͤſſige farbige Einwohnerbevdlterung im Baume hält, aber auch damit den Franzoſen die Durd- führung der moͤglichſt reſtloſen Aushebung feiner „farbigen Armee“ ermoglicht und das ent- waffnete deutſche Volk ſtändig bedroht.

Zeder Oeutſche, der in der franzöͤſiſchen Fremdenlegion Oienſte nimmt, kaͤmpft für die Fran · zoſen gegen Oeutſchland.

Der Türmer XXX, 3 2

370 Die Schmach der Frembeniegion

Drei verbürgte Worte, von führenden Franzoſen offen ausgeſprochen, zeigen uns, wie es um die Fragen „Rheinbefegung“ und „Oeutſche als franzöſiſche Rolonialeroberer“ ſteht.

Auf Anordnung der franzdfifhen Regierung wird in den franzöſiſchen Schulen aufgegeben zu lehren: „Man kann der franzöſiſchen Schuljugend nicht oft genug wiederholen, daß ſich die Land karte von Frankreich geändert hat. Sie erſtreckt ſich vom Rhein bis zur Sahara mit einem großen See in der Mitte, Mittelmeer genannt.“

Elömenceau fagte in einer Kabinettſitzung zu dem damaligen Präfidenten Poincaré, um ihn wegen der Rheinfrage zu beruhigen: „Herr Präfident! Sie find viel jünger als ich. In fünfzehn Jahren werde ich nicht mehr am Leben fein; nach fünfzehn Jahren werden die Deut- ſchen noch nicht alle Vertragsbedingungen erfüllt haben. Wenn Sie mir nach fünfzehn Jahren die Ehre erweiſen wollen, mich an meinem Grabe zu beſuchen, dann werden Sie nach meinet feften Aberzeugung fagen: Wir ſtehen am Rhein und wir bleiben am Rhein.“

Die Beſtätigung der Latfache, daß es Oeutſche find und waren, die in erfter Linie den Fran- zoſen die für die Durchfuhrung ihrer farbigen Militärpolitit notwendige Eroberung von Marolto durchführen ſollten, bieten die nachfolgenden Außerungen des von 1920 bis 1925 in Wiesbaden geweſenen kommandierenden Generals Mord ac q, der zu Anfang feines Buches „Fünf Jah Kommando am Rhein“ ſchrieb: „Als Rabinettchef im Jahre 1919 hatte ich die Grundlagen für die Neuorganiſation der Armee feſtzulegen. Mein Gedanke wurde angenommen, die Exoberung Marokkos mit Deutfchen zu beenden, den Schutz am Rhein aber den Marokkanern anzuvertrauen. Mit anderen Worten: Es follte eine Divifion der Fremdenlegion aus Oeutiden gebildet und über ganz Marokko verteilt werden.“

Diefe Abſicht iſt reſtlos durchgeführt worden, denn heute ſtehen von den acht Fremdenregimer tern fünf in Marokko und ſichern den Franzoſen die bereits eroberten weiten Strecken dieſe Landes; fie werden auch diejenigen fein, die bei dem Viederbeginn der franzöͤſiſchen Offenſiden, die im Frühjahre 1928 zu erwarten find, neben den Senegalſchützen ihr Blut zu verſptitzen haben werden. Da nun aber 80 vom Hundert der Legionäre Oeutſche find, fo iſt es dringende vaterländiſche Pflicht ODeutſchlands, feine Landsleute vor dem Eintritt in die franzsſiſche Fremdenlegion zu bewahren, der infolge der herrſchenden Arbeitsnot meiſt freiwillig erfolgt.

Fragt man ſich nun, woher das kommt, fo müffen wir zu unſerer Beſchaͤmung feſtſtellen, daß den meiften dieſer Deutſchen das Gefühl des nationalen Stolzes faſt gänzlih abgeht und daß gewiſſe Lehren, die beſagen, daß der Menſch kein Vaterland mehr brauche, Fruͤchte getragen haben. Unter dem Orud des furchtbaren „Verſailler Oiktates“ wurden die alten Beſtimmungen von 1871 aufgehoben, wonach das Anwerben Oeutſcher für die franzöfiiche Fremdenlegion verboten war. Dem Reiche fehlen im übrigen die nötigen Machtmittel, fo energiſch im Kampf gegen die Werber vorzugehen, wie es die Sache erheiſcht. Seit 1919 find etwa 50000 Oeutſche in die Fremdenlegion eingetreten, von denen etwa 30—35000 gefallen oder an Krankheiten und erduldeten Strapazen geſtorben find. Genaue Zahlen laſſen ſich nie über die Legion am geben, weil die Franzoſen keine Staͤrkenachweiſe oder gar Verluſtliſten über die Legion heraus geben. Natuͤrlich hat ſich im „Völkerbund“ noch keine Stimme erhoben, die einmal auf dieſen Kulturſchandfleck ſchlimmſter Art hingewieſen und von Frankreich Rechenſchaft über die Gn- richtung der Legion und den Verbleib der in der Legion untergetauchten Menſchen verlangt hatte! Daß Frankreich das größte Intereſſe an der Verheimlichung der Zuftände in der Legion hat, ift ſelbſtverſtändlich, und es wird ſich hüten, dieſe Einrichtung aufzugeben, die ihm wenig oder gar nichts koſtet, dafür aber die beiten, noch vorhandenen Kolonialländer einträgt.

Frankreich hat ſich aber auch durch internationale Verträge inſofern geſichert, als es mit fa allen Rulturftaaten im Jahre 1831 einen ein hundertjährigen Vertrag abgeſchloſſen hat, wonach es das Recht hat, Rekruten für ſeine Fremdenlegion in ihnen zu werben. Dieſe Vertraͤge haben aber England und die Vereinigten Staaten nicht abgeſchloſſen, ſo daß dieſe beiden Staaten von einer Abwehr abſehen können, ſoweit fie nicht vom Standpunkte der Menſchlichkeit ſich ver

Die Schmach der Fremdentegion 371

pflichtet fühlen, die Legion zu bekämpfen. Jene Verträge werden bald abgelaufen fein, und an eine Erneuerung iſt nicht zu denken. So verſchwinden die anderen Ausländer und es bleiben dann auf Grund des Artikels 179 des Friedensdiktates nur noch die Oeutſchen übrig! Ende 1926 Anfang 1927 war das Werbegefhäft in Oeutſchland erheblich zurückgegangen und daraufhin hatte das franzöſiſche Heeresgeſetz von 1927 in det Etatiſierung der Fremden; legion Rüdfiht genommen. In der Zeit dienten etwa nur 19000 Oeutſche in der Legion und fo wurde der Etat von vorher 50000 Mann Fremdenlegionäre auf 19000 heruntergeſetzt. Bereits im Sommer und Herbſt dieſes Jahres aber iſt das deutſche Angebot wieder fo ge- ſtiegen, daß die Legion zurzeit etwa 27000 Mann ſtark iſt, von denen leider wiederum etwa 22000 Mann Deutſche find!

Die Franzoſen brauchen gar nicht mehr in dem Umfange zu werben, wie etwa vor drei bis ſieben Jahren, denn der Zulauf von deutſchen Freiwilligen iſt fo ungeheuer groß, daß die

Ftanzoſen im beſetzten Gebiet vollſtändige „Aus muſterungen“ vornehmen, bei denen nur

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die Beſten der Beſten genommen werden!

Die deutſchen Behörden ſtehen dieſem Treiben faſt machtlos gegenüber, ja

wenn Polizeibeamte einſchreiten wollten, find fie von den Franzoſen einfach eingeſperrt wor- den! Wahrung von deutſchen Hoheitsrechten gibt es in dieſer Beziehung im beſetzten Gebiet nicht.

Dielfach herrſcht bei einem Teile des deutſchen Zungvolkes die Anſicht, daß Abenteuerluſtige

auf ihre Rechnung kommen. Das trifft nicht zu. Der Eintritt in die Legion aber iſt Landes- verrat!

Zunge Leute der Legion wieder zu entreißen, iſt nur dann moglich, wenn fie bei Eintritt

in die Legion das zwanzigſte Lebens jabr noch nicht vollendet hatten, und auch dann find die zu

überwindenden Schwierigkeiten fo groß und von fo langer Dauer, daß die meiſten dieſer

teklamierten jungen Leute inzwiſchen bereits nach franzöſiſchem Geſetz volljährig find. Dann dober werden fie nicht mehr herausgegeben oder wenn ihre Freigabe erfolgen foll, fo müſſen ſie das zuvor erhaltene Hand geld erſt wieder erſtattet haben.

Die fünf Fremdenregimenter find in etwa 300 Einzelabteilungen von verſchiedener Starke

- Über ganz Marokko verteilt. Fe ein kriegsſtarkes Fremden- Infanterie Regiment ſteht in Tong;

king und in Syrien an der jeweiligen Kampffront, und das erſte Fremdenregiment in Sidi

bel Ab bes iſt das Regiment, durch das alle Rekruten und auch diejenigen Mannſchaften gehen, die es noch erleben, Afrika und der Legion den Rüden kehren zu können.

Den Franzoſen liegt naturgemäß ungemein viel daran, diejenigen Legionäre für weitere

fünf Jahre zu halten, die die erſten fünf Jahre Aberftanden und durchgehalten haben. Dieſe

Leute find naturgemäß unbezahlbar, da fie nicht nur den Dienft und die Strapazen kennen,

ſondern fic) auch fo an das Rima gewöhnt haben, daß fie zu allen Dienftobliegenheiten heran · gezogen werden konnen.

Sh habe ſchon darauf hingewieſen, unter welchen Bedingungen ein Menſch aus der Legion

8 reklamiert werden kann. Die Legion iſt keine Einrichtung, in die man einfach einmal „probe- . weife* hineingehen kann und ihr wieder den Rüden kehrt, wenn es einem nicht mebr paßt. Die

Legion iſt keine Gewerkſchaft, wo man Forderungen ſtellen kann, ſondern ſie iſt eine Truppe, die nach dem Grundſatze zuſammengehalten wird: Zeder Legionär ift ein Lump, der nur mit den Mitteln der allerſchärfſten Difziplin und dem gleichen Strafſypſtem bei der Truppe feſtgehalten werden kann! Deshalb find die Strafen auch heute noch genau fo grauſam wie im finſterſten Mittelalter und an ihnen gehen Tauſende von Legionären elend zugrunde. Nicht anders ſteht es mit den Enttäufchungen, die die Legionäre in bezug auf die Verpflegung erleben. Mitteilungen von Fremdenlegionären befagen, daß 90 Prozent aller Oeſertions- verſuche auf Hunger zurüdzuführen find, den die Legionäre zu leiden haben. Denn durch das

Selbſtverpflegungsſyſtem der einzelnen Rompagnien ijt den Stehlereien diebiſcher Vorgeſetzter

Tor und Tur geöffnet.

372 Die Sqmach ber renden

Es verlohnte ſich ſchon der Mühe, auch dieſ es Kapitel einmal mit vollen Namennenaw gen der „Veltöffentlichkeit“ zu übergeben, ähnlich wie es der franzöſiſche Jou A. Londres über den Strafvollzug in der Legion und den Strafbataillonen, den fogenanzin „Bats. d Af“ getan hat.

Wie aber können wir Oeutſche dieſem Problem der franzöſiſchen Fremdenlegion begegne Es mũſſen Mittel und Wege geſucht und gefunden werden, wie ſich Heutſchland trotz des Artie 179 gegen die Übergriffe der Franzoſen zu wehren hat! Ich gehe da von zwei Gefichtspuntie aus: dem politiſchen und dem moraliſchen.

Das politiſche Moment iſt für Oeutſchland durch die Mitgliedſchaft im Völker bunde gegeben Die Frage „Fremdenlegion“ ift international; denn fie iſt durch internationale Abmachungen zwiſchen Frankreich und den verſchiedenen Staaten in völterrechtli gültigen Verträgen k handelt.

Das deutſche Reich muß im Völkerbund endlich einmal energiſch vorftellig werden und e langen, daß es als „Verbandsgenoſſe“ etwas anderes find wir doch nicht behandelt werk. und es wäre politiſch und diplomatisch ein großer Gewinn, wenn die deutſche Reichstegiern ihrem Vertreter, der zu der nächſten Völkerbundtagung nach Senf geht, in dieſer Fez beſtimmte Aufträge gibt.

Nun die moraliſche Seite des Vorgehens.

Ich wies ſchon darauf hin, wie beſchämend es iſt und weld’ niedrige nationale Gefinm es verrät, daß fo ungeheuer viele Oeutſche ſich freiwillig zum Eintritt in die Frembeniege melden. Meiner Anſicht nach iſt für uns die Frage des Rampfes gegen die Fremdenlegion e. rein deutſche, eine ganz allgemeine Vol ks frage und fie follte von allen Parteien gleidms im Sinne eines gemeinſamen, großen Abwehrkampfes behandelt werden. Da csk gilt, deutſches Blut zu ſchützen, hat jeder Parteizank aufzuhören!

Deshalb müffen alle jungen Oeutſchen in der Schule lernen, daß der Oienſt in der Fremde legion Landes verrat iſt.

Aus dieſem Grunde aber muß den Lehrern und Zugenderziehern einwandfreies, rein (of bearbeitetes Material zur Verfügung geſtellt werden. Die Zuſtände in der Legion find fo fut bar, daß fie, ſachlich geſchildert, (don an ſich ungemein abſchreckend wirken. Wird dann aut dem noch die moraliſche Seite behandelt, dann dürfte es nicht ſchwer halten, junge Der teuerer ſehr ſchnell davon zu überzeugen, daß in der Legion in Afrika nichts anderes zu beit: iſt, als der „Heldentod“, der da, wie mir einmal ein Legionär ſchrieb, billig iſt wie Brombeere Notwendig iſt, daß eine Einheitsſtelle geſchaffen wird, die dieſen ganzen Abwehr kampf zu organifieren und auch von einheitlichen Geſichtspunkten aus zu leite hat!

Erfreulicherweiſe haben wir wenigſtens noch eine Handhabe, wenigſtens den Werbern a Grund des Reichsſtrafgeſetzbuches zu Leibe gehen zu können. Der Paragraph 141, der das Ir werben unter Strafe ſtellt, wird in dem Entwurf zu dem neuen Reichsſtrafgeſetzbuch ech lich verſchärft, denn die „paar Monate Gefängnis“, die das Anwerben eintragen konnte, wer rein gar nichts gegen den an ſich hohen Verdienſt, den der Werber für jedes gelieferte Opfe einſtrich. Vielleicht wirkt auf manches junge Gemüt auch dieſer Hinweis ſchon abſchreckend, Mi bier ein Menſch als „Jandelsobjekt“ behandelt wird. Reimzellen, in denen viel getan wird, r Legionäre zur Reife ins beſetzte Gebiet zu veranlaffen, um ſich dann dort anwerben zu laſſe find die „Nach taſ ple“ und die „Arbeits nachweiſe“, wo nicht ſelten den Leuten fälſchlihe weiſe gejagt wird, daß Hilf- und Arbeitsloſe die Legion als letzten Rettungsanter anje“ können. Von da aus find ganze Kolonnen in das beſetzte Gebiet gegangen, um ſich in den de ſelbſt befindlichen öffentlichen Werbeſtellen“ zu melden. Zum Glück wurden die meifte! als „untauglich“ abgelehnt. Aufklärend wirken können außerdem die „Landes arbeitsämter und die „Preſſe“, die es in dankenswerter Weiſe vielfach auch ſchon getan hat.

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Rondgloffe zur Frembenlegion 373

Es gibt noch eine Reihe von kleinen, geheimen Mitteln, mit denen man arbeiten und viele deutſche vor dem Schaden bewahren kann, in der Fremdenlegion für immer zu verſchwinden, die aber aus Sicherheitsgründen nicht in der Öffentlichkeit erörtert werden. Sollten aber alle dieſe Mittel nicht helfen, dann iſt ein „Sperrgeſetz“ zu ſchaffen, das es der Regierung ermög- licht, Deutide zwangsweiſe von der Legion fernzuhalten.

Gehen alle Deutfchen unter Führung der Reichsregierung aber erſt ernftli daran, das Pro- blem Fremdenlegion löfen zu wollen, dann werden wir es aud löfen und damit dem deutſchen Volke und auch der Welt auf dem Wege friedlicher Entwicklung helfen, voranzukommen; denn dann wird es den Franzoſen ſchwer werden, ihre farbigen Soldaten in den Maſſen aus- zuheben, wie ſie es wünſchen, um mit deren Hilfe Deutſchland niederzuhalten.

gch will nur andeuten, daß für alle Lander mit Rolonialbefig die marſchierende farbige

i Frage, wie ſie von Frankreich zur Zeit betrieben wird, eines Tages zur Rataſtrophe führen muß und auch unter dieſem Geſichtswinkel muß daher die damit auf das engſte verbundene

Frage der „franzöſiſchen Fremdenlegion“ vom „Völkerbunde“ behandelt werden. Rittmeiſter a. D. Wilhelm v. Trotha

Randgloſſe zur Fremdenlegion

a weht mir ein ,, Temps“ auf den Schreibtiſch und ſchon lieft man das Lob der Legion! Der Ruffe Pechkow hat es angeſtimmt, und der „Temps“ beeilt ſich, ausführliche Proben

„daraus zu bringen. Es ijt beſtellte Arbeit, man merkt es vom erſten Satz an; geſchrieben, um

der „Voreingenommenheit“ der Kulturwelt und der deutſchen Aufklärungsarbeit entgegen-

zuwirken, die „naturlich“ an dieſer unfreundlichen Einſtellung der nichtfranzöſiſchen Völker

milſchuldig iſt.

85 .

Da ſtehen bittere Sätze: „Faſt fünfzig Prozent der Legionäre find Oeutſche.“ Ach, ich weiß es, und jener unermüdliche Vor kampfer gegen deutſche Gleichgültigkeit, Ahnungs- _. lofigteit, Abenteurerluft und Verzweiflung raſchentſchloſſener oder gewiſſensgeplagter deutſcher

‚. gugend ſteht greifbar vor mir: Rittmeifter v. Trotha, mit dem ich in Halenſee oft über dieſe ſteſſende Schande ſprach, der beizukommen die deutſche Regierung amtlich keine Möglichkeit

hat, da einer der „unabänderlichen“ Verſailler Sklaven-Paragrapben die Auslieferung deutſchen Fleiſches ohne Widerſpruch des Reiches verbrieft und beſiegelt hat. |

Und id finne betrübt den unfeligen Burſchen nad, die mehrfach bei mir um Arbeit vor- ſprachen: Reichsdeutſche, die mit ihren jungen Zahren halb Europa durchtrottet und faſt immer

ſchon mit der Fremdenlegion Bekanntſchaft gemacht haben.

Da war ein Dortmunder Uhrmachergeſell, ein weicher, auch körperlich widerſtandsloſer gerl. der er zählte mir: „Zu zweihundert kamen wir in Metz zuſammen. Lauter junge Oeutſche, ein Sammeltransport, der in den Kaſernen erſt mal fertiggemacht wurde.“ Jd fragte: „Und die meiſten unfreiwillig dazu gekommen?“ „Nein,“ ſagte er ehrlich, „faſt alle freiwillig. Sie hatten ja nichts zu verlieren, nichts zu beißen und zu brechen, hatten das Betteln und Landftraßen- Abklappern ſo bis oben heran. Und alle ſagten: Es wird ſo ſchlimm nicht werden. Die im Reiche

f machen nur ſo einen Popanz daraus, aber helfen tun ſie einem über die wohlfeilen Denen

und Ratfchläge hinaus doch nicht.“

„Wie kamen Sie denn frei? Geflüchtet?“ „Ach nein, ich wär’ ganz gern geblieben, aber ich war zu ſchwach, wurde zurückgewieſen. Das war doch ganz anſtändig gehandelt, was? Jd bleibe dabei: ſo ſchlimm ſind ſie gar nicht, wie man's in Oeutſchland hinſtellt.“

3 wende ein: „Ihr Korper, Ihre Leiſtung lohnte den Aufwand an e, Verpflegung Transport nicht“ aber er lächelt nur; unbelehrbar.

374 Sollen wir Napallo verlengnen!

Schließlich erzählte er, daß die Abgewieſenen noch drei Wochen hätten „abverdienen“ mie mit Wegebau, Latrinenreinigen, Rorridorfäubern in der Raferne, und dann hätte man fie Zar des verwieſen; an die Luft geſetzt. Da wär’ ein Legionsleutnant geweſen, der hätte manchmal auf Oeutſch geflucht echt Berlinſch, hätte ein Kamerad feftgeftellt. Das fei ein ganzer Teufel geweſen und immer gleich mit der Reitpeitſche kreuzweiſe durchs Geſicht. Er hätte auch fo einen „Zug“ abbekommen, und das wäre doch gemein ein Oeutſcher den Oeutſchen fo kujonieten

Der Bericht iſt bedeutſam. Er zeigt die Gründe auf, die aller Aufklärung zum Trotze ax freien Stücken deutſche Jugend dem Moloch Fremdenlegion in die Arme treiben und die Fra zoſen unbeſorgt um alle Gegenarbeit bleiben laſſen.

Die halbe feit dem Kriege weſentlich erhöhte Fremdenlegion deutſch! Und nicht laute minderwertige Burſchen. Viel tut die Arbeitsloſigkeit, das zerrüttete Elternheim oder ga kein Zuhauſe, das Fehlen unſeres Volksheeres und die verteufelte deutſche Abenteureriut,

der Orang in die Weite, in den verſchloſſenen Weltraum. Die vielen Bücher, die gegen die

Fremdenlegion geſchrieben find, wirken nicht abſchreckend auf ſolche Vaganten- Gemüter, fon dern eher anziehend.

Und der deutſche Stolz fehlt. Würde ein junger Franzoſe in eine deutſche Rolonialtrupm von dieſer Brutalität eintreten? Es müßte ſchon ein ganz abgebruͤhter Kerl fein!

Sollen wir Rapallo verleugnen?

mmer wieder ertönen von jenſeits des Kanals her lockende Stimmen, die das Reich zu Anſchluß an die Antifowjet-Liga beftimmen möchten und zum Verzicht auf die Votter die uns der Rapallo-Vertrag als wichtiger Poſten unſrer aktiven Außenpolitik gewährt. He Neueſte iſt ein Fühler, in dem die einſtige deutſche Kolonie Kamerun als Gegengabe für dx

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Teilhaberſchaft verheißen wird die alte Politik Albions, feinen Gefolgsleuten Beſitztümer an- zubieten, die ihm gar nicht geboren. Angeſichts ſolcher Angebote, neben denen vielleicht ned

andere auf die Locarno - Politik bezuͤgliche im geheimen einhergehen, drängt ſich immer wiede

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die Frage auf: wo find die Gründe diefer ſcharfen Stellungnahme von Downing Street gegen

die militäriſch und wirtſchaftlich ihm weit weniger als z. B. die nordamerikaniſche Union ge

faͤhrlichen Sowjetſtaaten zu ſuchen? Und immer wieder bekommt man dieſelbe Antwort w . hören: innenpolitifch iſt es die Wühlarbeit der bolſchewiſtiſchen Agenten unter der Arbeiterſcheft

im Mutterlande und in den niederen Rlaffen der aſiatiſchen Kolonialländer Englands, was den

britiſchen Löwen zur Wut reizt, und außenpolitiſch die militäriſche Bedrohung der engliſchen

Machtſtellung auch auf wirtſchaftlichem Gebiete in Aſien und an der Oſtſee, beziehungsweiſe in

den neu geſchaffenen Randftaaten des nahen Oſtens. Fur eine oberflächliche Betrachtung

allerdings Gründe, die zwingend genug ſcheinen, um ein ſolches gewalttätiges Vorgehen u

rechtfertigen.

Der näheren Prüfung hält jedoch dieſe Auffaſſung nicht ſtand. So hoch können wit die Se- fahren nicht einfchäßen, die von dem aus tauſend Wunden blutenden einſtmaligen gefüͤrchtetſten Gegenſpieler Englands in der Weltpolitik drohen, daß fie die ſonſt alle offenen Feindſeligkeiten möglichft vermeidenden Staatsmänner an der Themſe veranlaſſen könnten, dermaßen ins des zu gehen und ihre Außenpolitik, der es doch wahrlich an Reibungsflächen nicht fehlt, einer folder neuen ſchweren Belaſtung auszuſetzen.

Nein, mag man auch dieſe ſtaatspolitiſchen Motive gebührend einſchaͤtzen, hier find andere Ge walten am Wert, deren Bedeutung man bei uns vielfach nicht genügend zu würdigen geneigt ik Wir meinen die Intereffen des britiſchen Wirtſchaftsimperialismus, die ſchon zu den Zeiten det Zarenherrſchaft vor dem Weltkriege, vornehmlich aber während desſelben, zu einer wei

Sollen wie Rapallo verletignen? 375

ſchwereren hypothekariſchen Belaſtung des europäifchen und aſiatiſchen Rußland geführt haben, als man für gewöhnlich annehmen möchte, Gehört doch, wenn die von den „Marimaliften“ am 1. Dezember 1917 für ungültig erklärten Abmachungen wieder rechts kraͤftig wurden, ein großer und vielfach der wertvollſte Teil feines Grunds und Bodens und deſſen, was er birgt, nicht mehr ihm, ſondern iſt fremden Gläubigern verpfändet. Hören wir daruber das Urteil eines neutralen Blattes, des Stockholmer „Aftonbladet“ vom 10. Zuni 1917, das Profeſſor Lujo Brentano in feinem, im Oktober besfelben Jahres in der „Frankf. Zeitung“ erſchienenen Aufſatz „Rußland, der kranke Mann“ anführt. Demnach hatte Rußland, ein kapitalarmes Land, den Krieg bis dahin faft ausſchlie lich mit fremden Mitteln geführt, was ſich England zunutze machte, indem es die Hand auf die reichen Bodenſchätze des Landes legte und ſich auch in induſtriellen Anlagen und Transportmitteln wertvolle Fauſtpfänder ſicherte. „Die Eiſen-, Kupfer- und Gold bergwerke, heißt es weiterhin, find großenteils in die Hände des engliſchen Großkapitals übergegangen. Anſehnliche Teile der mineralreichen Altaiberge gehören gleichfalls den für Recht und Freiheit tampfenden Engländern. Diefelben uneigennuͤtzigen Freunde Rußlands haben einen großen Teil der Eifen- und Kohlenlager im Donezgebiet, weite Waldſtrecken in Nordrußland und ge- waltige Wald bezirke am Schwarzen Meer an ſich gebracht. Ebenſo haben die ſuͤdruſſiſchen Schiffs- werften ihre ruſſiſchen Eigentümer gegen engliſche und franzöfifche Beſitzer, die Firmen Vickers, Armſtrong und Schneider, eingetauſcht. Sogar die kernruſſiſche Webſtoffinduſtrie in den Ge- bieten von Moskau, Sjaja und Zwanowo-Wosneſſensk ſteht gegenwärtig unter engliſcher Auf⸗ ſicht. Bis nach den Kohlengruben Sibiriens hat England feine Fangarme ausgeftredt. Man berechnet fein Nationalguthaben in Rußland auf 10 Milliarden Rubel. Hiemit ſteigt die Ge- ſamtſumme der ruſſiſchen Paſſiva auf 65% Milliarden Rubel, die Hälfte des geſamten ruſſiſchen Nationalvermògens.“

Dabei wurden nach demſelben Brentano ſchon früher 50 v. H. des Kupfers und 30 v. H. des Goldes in Rußland durch engliſch- ruſſiſche Geſellſchaften erzeugt. Auch amerikaniſche Ge; ſellſchaften hätten Gold- und Platingruben erworben, die ganze Flußgebiete im Ural von einigen tauſend Oeßjätinen umfaſſen. Der geſamte Komplex des Landes, das ſich die auslän- diſchen Syndikate allein jenſeits des Uralgebiets zu ſichern wußten, erreiche wahrſcheinlich etwa die Größe des europäiſchen Rußland eine Angabe freilich, die fo ungeheuerlich klingt, daß man ein Fragezeichen dabinter ſetzen mochte. Dabei find die zahlreichen engliſchen Bankinſtitute nicht zu vergeſſen, die ſämtlich im Oienſte der engliſchen Handels- und Induftrie-Unternep- mungen in Rußland ſtanden und wohl da und dort noch ſtehen und vor allem auch an Stelle des deutſch· ruſſiſchen den engliſch· ruſſiſchen Handel ſetzen follten,

Wenn man ſich derartige Tatſachen vor Augen halt, möchte man das Gewicht der wirtichafts- imperialiſtiſchen Forderungen britiſcher Großfirmen in ihrer Einwirkung auf die Sowfethetze weſentlich höher einſchatzen als die Beweggründe fogial- und ſtaatspolitiſcher Art. Und daß bei einem endlich gluͤclich durch vereinte Bemühungen erreichten Zuſammenbruch des heutigen politiſchen Syſtems in Rußland auch die frangdfifden privaten Intereſſen neben den ftaat- lichen, die ſich hauptſächlich um Bezahlung der Kriegsſchulden drehen, nicht zurüdzuftehen brauchen, dafür wird Schneider -Creuſot und fein Anhang ſchon ſorgen. Es lebe die franto- dbiitiſche Allianz zur Errettung der Ziviliſation vor der teutoniſchen Barbarei! Nur noch das eine fehlt, daß man, wenn es nicht anders geht, auch deutſche Finanzkapitäne, die am ruſſiſchen Ge- ſchäft intereffiert find, mit in das Konſortium hereinnimmt und das deutſche Reich fein Erſt⸗ 55 im Oſten für ein Linſengericht abtritt, das außerdem nur feinen Geldleuten zugute mmt.

Vergeſſen wir vor allem nicht, daß wir Menſch en politik treiben müffen, d. h. den Deutſchen im Auslande als eine der wichtigſten Figuren in unferer neuen, von Verſallles, allerdings nicht durch die Sieger, diktierten Politik auf dem weltpolitiſchen Schachbrett ausſpielen und für ihn gegebenenfalls auch Opfer bringen müſſen. Laffen wir daher nicht außer acht, daß kein anderes

376 Des Ralfere W

großes Wirts volk der Erde den zugezogenen Deutſchen das Entgegenkommen zeigt, wie be heutige Rußland, infolge feiner ganzen Stellungnahme zum Minderheitenproblem überheup, unfern zu der Wolga Sowjetrepublik vereinigten Volksgenoſſen. Solange allerdings nur, als de Wolgadeutſchen fi den Geſetzen des Geſamtſtaates fügen. Aber wo gälte dieſe Forderung nik auch ſonſt gegenüber den Auslanddeutſchen? So erklärte denn auch unlängft einer der bea Kenner der ruſſiſchen Landwirtſchaft, Profeſſor Otto Auhagen von der landwirtſchaftliche Hochſchule Berlin, daß bei der Minderheiten-Politit des Rätebundes trotz ber allgemeinen Rt lage die Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen fei, daß ſich die Wolgakolonien auf Grund ihrer nate nalen Beſonderheiten zu entwickeln vermögen. 8 oſe ph Ponten äußert ſich in ähnlichem Gm. Wenn ſodann vor kurzem die Nachricht durch die Preſſe ging, die Firma Krupp habe nit de Sowjetregierung den Vertrag betreffs Verkaufs eines 36000 ha umfaſſenden Landgebietz a Südrugland zwecks Anlage einer Muſterfarm endgültig abgeſchloſſen, fo wird man doch « nehmen dürfen, daß die Firma wußte, was fie in dieſem Falle riskieren durfte.

Behalten wir alfo kaltes Blut gegenüber allen Lockrufen der franto-britifchen Bolſchewiſter freffer, mit von der Partie zu fein. In dieſem Falle muß eben die deutſche Zukunft, die ute dem Zeichen des Helferdienfts bei anderen weniger entwickelten Völkern im ſchroffen Gegere zu den Gewaltmethoden der imperialiſtiſchen Mächte, ſteht, mehr gelten als die Gegenwert beſchwerden durch bolſchewiſtiſche Minierarbeit innerhalb unſerer Landesgrenzen, unfer Bt leid mit den Opfern des roten Terrors und unſere Mißbilligung des heillofen Spionageweſer und ähnlicher Auswuͤchſe dieſes Syſtems. Stellen wir uns vielmehr den Fall vor, die heutige? Rußland am Ruder befindliche Partei mache ihren Frieden mit den Weſtmächten auf Sur der Anerkennung aller der in der Rriegsnot erteilten Konzeſſionen und verſprochenen Gebe abtretungen wo bleiben da die Hoffnungen auf ein künftiges, durch zielbewußte ehrliche Ark mit Hilfe wohlmeinender, über die Hilfsmittel der modernen Ziviliſation verfügender Nachbe allmahlich zu wirtſchaftlicher Blüte gelangendes Rußland ? Nein, laffen wir die Herrſchaften, ihr Geld in das ruſſiſche Kriegsgeſchäft geſteckt haben, ruhig ſelbſt zuſehen, wie fie auf ihre Ar nung kommen werden. Durch die bitteren Erfahrungen der letzten Jahrzehnte follten wit dee fo weit gewitzigt fein, daß wir nur mehr unſere eigene Politit machen, zu deren vollem de ſtändnis es allerdings einer neuen Einſtellung bedarf gegenüber dem, was man in der Vorkiew zeit unter Außenpolitik verſtand. Prof. Dr. E. Kapff

Des Kaiſers Abdankung

s herrſchen über die Geſchehniſſe im Hauptquartier im November 1918 noch immet der

worrene Vorſtellungen, die ſich gewöhnlich in das Wort „Flucht nach Holland“ verdichten Jetzt hat der bekannte Oberſtleutnant a. O. Alfred Niemann unter dem Titel „Nevolutit von oben Umſturz von unten“ (Verlag für Kulturpolitik, Berlin 1927), eine zufamme: hängende Oarſtellung jener Ereigniffe mit äußerſt wichtigen Dokumenten herausgegeben. dam dürften wir über den Schluß der Kaiſertragödie endgültig aufgeklärt fein. Wir veröffentliche die entſcheidenden Stellen (S. 217):

. . . „Seine Majeftät richtete an General Gröner die Frage, wie er zu biefer Auffaſſung de Stimmung im Heere komme und ob er die Oberbefehlshaber und kommandierenden Gene gefragt habe. Graf Schulenburg melde das Gegenteil von der von ihm vertretenen Anſich Groner erwiderte: „Ich habe andere Nachrichten.“ Seine Majeſtät ſagte darauf febr {der

„Ich verlange dieſe Meldung, daß das Heer nicht mehr zu mir fteht, vom Feldmatſchel

und Jhnen ſchwarz auf weiß, aber erft, wenn alle meine Befehlshaber befragt find.“ Seine Majeität betonte darauf ausdrücklich, daß er den allgemeinen Bürgerkrieg nicht woll

11

Des Ralfers Mbbantung 377

diefe Zumutung würde er an das Heer nicht ſtellen. Aber er hätte noch den Wunſch, fein Heer in geſchloſſener Ordnung nach dem Waffenſtillſtand in die Heimat zurückzuführen. Gröner erwiderte wörtlich: „Das Heer wird unter feinen Führern und kommandierenden Generalen geſchloſſen und in Ordnung in die Heimat guridmarfdieren, aber nicht unter dem Befehl Eurer Majeftat, denn es ſteht nicht mehr binter Eurer Maſeſtät.“

Graf Schulenburg widerſprach erneut dieſer Auffaſſung und ſagte, daß er des Einverftänd- niſſes aller Oberbefehlshaber und kommandierenden Generale der ganzen Weſtfront ſicher wäre, daß das Heer für die Aufgabe, von feinem Raifer in die Heimat zurückgeführt zu werden, ſicher hinter ihm ſtehen würde, und das Offizierkorps und Heer die Schmach und Schande nicht auf ſich nehmen wollten und würden, ihren Raifer vor dem Feinde und im Felde im Stich gelaſſen zu haben.

Feldmarſchall v. Hindenburg nahm darauf das Wort und erklärte, daß ja eigentlich jeder preußiſche Offizier die vom Grafen Schulenburg geäußerte Auffaſſung haben müffe, daß aber alle Nachrichten, die die Oberſte Heeresleitung aus der Heimat und vom Heere hätte, es als aus · geſchloſſen erſcheinen ließe, mit Erfolg den Kampf gegen die Revolution aufnehmen zu können. Er ſowohl wie Groner könnten die Verantwortung für die Zuverläͤſſigkeit des Heeres nicht mehr übernehmen. Seine Majeftdt ſchloß die Diskuſſion hierüber mit den Worten: „Sie ſollen alle meine Oberbefehlshaber über die Stimmung im Heere befragen. Wenn dieſe mir melden, daß das Heer nicht mehr zu mir ftebt, bin ich bereit zu gehen, nicht eher.“.

Soweit Niemanns Buch.

Inzwiſchen hat Generalfeldmarſchall v. Hindenburg dieſen Sachverhalt in einem Brief an den Raifer beftdtigt (28. Juli 1922). Es heißt darin:

„Für den von Eurer Majeſtät am unſeligen 9. November auf Grund des einſtimmigen Vorſchlages ſämtlicher befugter Berater gefaßten Entſchluß, ins Ausland zu gehen, trage ich die Mitverantwortung. Wie ich bereits früher näher begründet habe, drohte ernſtlich die Gefahr, daß Eure Majeftät über kurz oder lang von Meuterern aufgehoben und dem inneren und äußeren Feinde ausgeliefert würden. Solche Schmach und Schande mußte dem Vaterlande unter allen Umftänden erſpart werden! Aus dieſem Grunde habe ich im Vortrag am 9. No- vember nachmittags in unſer aller Namen den Übertritt nach Holland, den ich damals nur für einen vorübergehenden hielt, als aͤußerſten Ausweg empfohlen. Noch heute bin ich der Anſicht, daß dieſer Vorſchlag der richtige war. Daß ich am 9. November abends zur ſofortigen Abreiſe gedrängt hätte, iſt ein Irrtum, der kürzlich gegen meinen Willen öffentlich erwähnt worden iſt. Für mich beſteht kein Zweifel darüber, daß Eure Majeſtät nicht abgereiſt wären, wenn Allerhöchft dieſelben nicht geglaubt hätten, daß ich in meiner Stellung als Chef des Gene- ralſtabes N Schritt für den im Intereſſe Eurer Majeſtät und des Vaterlandes n anſehe .“

Ses Raifers Antwort an Hindenburg lautete (Haus Qoorn, 21. September 1922):

„Mein lieber Feldmarſchall! Ich möchte nicht verfehlen, Ihnen meine Befriedigung darüber auszuſprechen, daß durch Ihre Erklärung vom 28. Juli d. 3. die Motive meiner Abreiſe nach Holland am 10. November 1918 nunmehr endlich jeder Mißdeutung entzogen ſind. Eine ſolche Mißdeutung konnte nur entſtehen, weil es bei den ſich überftürzenden Ereigniſſen des 9. November nicht möglich geweſen war, den Inhalt aller Meldungen und Beratungen ſofort ſchriftlich feſtzulegen. Die Zuſtände, die dem Umſturz folgten, mögen Ihnen Anlaß geweſen ſein, eine einwandfreie Erklärung hinauszuſchieben. Wie ich unter dieſer Mißdeutung gelitten habe, brauche ich Ihnen nicht zu ſagen. Ich habe die Flut der Beſchimpfungen ſchweigend ertragen in der Hoffnung, die Stunde ſei nicht fern, wo die beteiligten Perſönlichkeiten ſich aus eigener Entſchließung bewogen fühlen würden, vor aller Welt zu bekunden, daß der Entſchluß zur Abreiſe mir gegen meine innere Überzeugung von meinen verantwortlichen militäriſchen und politiſchen Ratgebern aufgendtigt worden iſt.

378 Oeutſcher Radiat

3H weiß Ibnen Oank, daß diefer für die Hochhaltung einwandfreier geſchichtlicher Wahrheit, für das Anſehen meines Hauſes und meine perfdnlide Ehre notwendige Schritt jest endiid erfolgt iſt. In der Anficht, in Zhrem Sinne gehandelt zu haben, bin ich zu dem Entſchluß ge kommen, den weſentlichen Inhalt Ihres Schreibens als unanfechtbore Geſchichts quelle det Offentlichkeit zu unterbreiten. Die Akten über die Vorgänge des 9. November können damit geſchloſſen werden. 8

Ihre unſterblichen Verdienſte um das deutſche Vaterland und mein Haus können durch Shee Handlungsweife am 9, November nicht verdunkelt werden. Sie haben in treuer, ſchwerer Pflicht; erfüllung Ihrem Raifer und König den Rat gegeben, den Sie nach Ihrer Auffaffung der Loge geben zu müſſen glaubten. Ob dieſe Auffaſſung die richtige war, darüber kann erſt geurteilt werden, wenn die Tatſachen der Unglüdstage geklärt find,

Seien Sie verſichert, daß ich Ihrer ſtets in Dankbarkeit gedenke und mit dem deutſchen Volle hoffe, daß Sie uns noch recht lange in körperlicher und geiſtiger Friſche erhalten bleiben mögen.”

Dem Raifer gerecht zu werden, ijt nicht Sache irgendwelcher Parteipolitik, von der wir uns im „Zürmer“ frei wiſſen, ſondern die ganz einfache Pflicht reiner Menſchlichkeit.

Deutſcher Rundfunk

Der beutſche Rundfunk hat in den wenigen Zahren feines Beſtehens einen ungeahnten AMuffigouy genommen. Wenn an biefer Stelle einmal früher Bedenken geäußert wurden, fo galten fie nich blefer genlalen Erfindung bes 20. Jahrhunderte, fondern den damit verbundenen Gefahren. Nach dem nun die erſte Entwidlungspertode des Rundfunks, nämlich des Hör- Rundfunks, abgefhlofie binter uns liegt und bie zweite des Bild funks ihren Anfang nimmt, ift es an ber Zeit, fic die großartigen Dorzüge und den hohen Rulturwert zu vergegenwärtigen, in deren Genuß uns be Rumd funk gebracht hat. ©. T.

ie Gegner des Rundfunks wählten vielleicht mit Abſicht das Wort „Radio“, um hierdurch

die neue Technik als fremde, hereingeſchleppte Mode zu kennzeichnen. Zum aufrichtigen Bedauern jedes bewußt deutſch empfindenden Ingenieurs wird hierdurch der überwiegende Anteil deutſcher Forſchung an der Entwickelung des neuen Ziviliſations-Faktors geleugnet. gm Stolz auf deutſche Arbeit wurde das Wort „Rundfunk geprägt. Zch wende das Wort „Siviliſations-Faktor“ in der Hoffnung an, daß gerade die beſten deutſchen Kreiſe ſich zu einer Mitarbeit finden werden, dem Deutſchen Rundfunk überall die Anerkennung als Kultur -Faktor zu ſichern, die er verdient.

Mehr vielleicht als der Laie hatte der Techniker Urſache, bei den erſten Erſcheinungsformen des Rundfunks den Mut zu verlieren, wenn er ſehen mußte, wie die dienſtbefliſſenen Verſorger des einſtigen deutſchen Heeres mit Stiefeln und Ruckſäcken ſich plotzlich auf den neuen Bedarf umſtellten und nun in „Ratcho“ „machten“. Was war damals aus unferer lieben alten Funkerei geworden, die als junge Technik dem Vaterlande im groß en Ringen diente!

3m denke an die Zeiten zuruck, wo in einſamer Nacht im fernen Rleinafien die Stimme Deutſchlands zu uns ſprach. Im klaren Trompetenton reihten ſich die Morſezeichen von Nauen aneinander. Auch ein Rundfunk war es, der uns da von der Heimat herüberſchallte, uns oft fröhlich aufſpringen und oft den Bleiſtift beſorgt aus der Hand legen ließ. Manche Nachtſtunde hat er uns gekoſtet.

Einſam ſaß der Funker auf nächtlicher Wache. Nur ab und zu ein kurzes Signal der engliſchen Wachtſchiffe vor den Dardanellen ! Da plötzlich das Notzeichen: „CD“! Einige Antworten! Immer mehr Stimmen fallen ein. Hell wird das anſchwellende Gewirr von der Trompeten ſtimme des engliſchen Admiralſchiffes übertönt. Stundenlang dauert der Aufruhr. Der Alarm;

Deutfcher Rımdfunt 379

rundfun? konnte den „Tiger“ nicht mehr aus ben Wellen herausheben, in die ihn unfere U-Boot- Kameraden hinabgeſchickt hatten, Zch gedenke des flotten Rundfunks, den ich im Kranz der Peilſtationen mit dem Schüͤtte-Lanz-Luftſchiff in Famboli erleben konnte; wie das Luftſchiff im Rundanruf angepeilt und funkentelegraphiſch über die wolkenbedeckte Erde zum Ziele hin- geleitet wurde, wie es dann auf einer großen Fahrt zum letzten Mal wie im Notſchrei laut gehört wurde, um darauf für immer verſchollen zu bleiben. Dann die Gebirgs-Funkerei an der mazedoniſchen Front, das Funkeinſchießen mit den Fliegern hoch über uns und ſchließlich der traurigſte aller Rundfunks, den ich in Belgrad auf dem Ruͤckmarſch als Befehl der Oberſten Heeresleitung entziffern mußte: „Die Offiziere hoben den Funkempfang feſt in ihre Hand zu nehmen und zu verhindern, daß Nachrichten von der Marine in Kiel aufgenommen werden.“

Meine erften Verſuche im Funkempfang für Sprache und Muſit in Verbindung mit den tech- niſchen Nachrichten aus Nordamerika ließen mich in keinem Zweifel darüber, daß wir vor einem Wendepunkt ftanden, der in feiner Bedeutung der Einführung des Buchdruckes minde- ſtens ſehr nahe kommt. Ich weiß noch, wie wenig Vertrauen ich fand, als ich zu Leipzig in einem kleinen Kreiſe im Deutſchempfinden Gleichgeſinnter davon ſprach, daß die Runft des Sewanb hauſes nun bald an einem Abend ganz Sachſen erfreuen könne und daß unſer aller Sorge fein müßte, die elektriſchen Wellen zum Träger der beſten Runft und nicht des Ritfches werden zu laſſen.

gm Dienfte der Induſtrie konnte ich dann den Einzug des Rundfunks mit bereiten helfen. Schlichte Solo-Muſikſtuͤcke, bei denen Cello, Geige oder Marinette vorherrſchten, waren es, die ich mit den Geräten meines Werkes bei der feierlichen Eröffnung des Deutſchen Rundfunks als erſtes Fernkonzert von Koͤnigswuſterhauſen einer erlauchten Verſammlung im Verkehrs- miniſterium zu Münden vorführen durfte. Die Anfangserfolge konnten ſchon den Techniker erfreuen; daß er aber die Forderungen des Künſtlers nicht mit einem überheblichen „Gut genug“ zuruͤckwies, beweiſt die überaus rege Entwickelung, die die Rundfunk -Technik ſeitdem, in den vier Zabren, durchgemacht hat.

Meine weitere Tätigkeit führte mich in das Auslanb, zuerſt nach Belgrad. Hier lernte ich erſtmalig eine Auswirkung des Deutiden Rundfunks kennen, die allein für mich genügen würde, fein Beſtehen zu rechtfertigen, ſelbſt wenn er in den Anfängen feiner Entwickelung fteden ge- blieben wäre: Inmitten all des Fremden ein in der Heimat augenblicklich in der Mutterſprache geſprochenes Wort zu hören, iſt eine Empfindung, die die fremde Umgebung oft lange ganz ver- geſſen läßt. Was mag es erſt den vielen deutſchen Brüdern im Banat, in Siebenbürgen, in Polen und Böhmen fein? Weiß der tonempfindliche Aſthet, daß er denen dort draußen, die da in den unwegſamen Gegenden der ungariſchen Tiefebene oder Polens in die Winternacht hinaus- lauſchen, mit ſeinem ſchnellen Urteil vielleicht die einzige Gelegenheit abſchneidet, nur einen Begriff von den herrlichen Ordefter-Rlängen unſeres großen Richard Wagner zu bekommen, nur einmal Zaungäſte einer deutſchen Runftgemeinde zu fein, der anzugehören ihnen das Leben ſonſt verſagt? Sind fie oft nicht würdiger als manches Glied der Gemeinde und nun ruft ihr, denen die verſprengten Brüder ſicher an das Herz gewachſen find, nach höheren Zäunen?

Als ich durch die eintönigen Gegenden Kroatiens nach Belgrad hin fuhr, klang mir in der Erinnerung noch die Melodie des öfterreihifhen Trauermarſches, den wir bei dem Rückzug aus Mazedonien in Belgrad faſt täglich hören mußten, wenn die Opfer der unerbittlichen Grippe an unferer Station vorüber zu Grabe gefahren wurden. Dann die Ehrenſalve und die Weiſe: „Gott erhalte ..“ Oeutſchen Rundfunk führte ich nun als Ingenieur in Belgrad vor. Exſtaunt flogen die Köpfe ſerbiſcher Offiziere mit einem „Gott erhalte“ auf den Lippen herum, wenn bei dieſen Rundfunkvorführungen am Schluß der Konzerte in Rönigswufter-

baufen das Oeutſchlandlied geſungen wurde. Mancher von ihnen war als treuer Rroat Waffenbruder geweſen und dachte nun bei den AMängen der jetzt in den Gebieten ſtreng verbotenen Weiſe an die ſchönen Tage feiner fröhlichen Leutnantszeit in Wien. Sollen wir

380 Oeutſcher dun hun

nicht denen deutſche Kultur mit allen Mitteln zugänglich machen, die dort unter ihren Rafe- genoſſen ſtolz find auf den kulturellen Vorſprung, den fie früher unter der geiſtigen gerrſchaft eines deutſchen Wien erringen konnten? Wie ſo mancher auch in den feindlichen Nationen, der ſich in der Hetze gegen das Deutſchtum nicht erſchöpfen kann, ſitzt unbeobachtet in ftille Abendſtunde auf der Welle Deutſcher Rundfunkſender!

Welchen Vorſprung haben unſere deutſchen Landsleute im Ausland in allen Berufen durch die unvergleichliche deutſche Fachliteratur, die ihnen durch ihre Sprache zugänglich ift! Em Nachteil kann für fie nur dadurch entſteben, daß fie von wichtigen Neuerſcheinungen zu {pat erfahren. Hier kann wieder der Deutſche Rundfunk eine Lücke ausfüllen. Mancher, der vielleicht eine übertriebene Entwickelung der Volkshochſchul Beſtrebungen verwirft, wird ſich ſicher mit den Beſtrebungen der Hans Bredow Schule im Rundfunk ausſöhnen, wenn er auch hier an die Oeutſchen im Ausland denkt. Die wiſſenſchoftlichen Vorträge dieſer Schule im Rundfunk können ihnen das beſte Bild vom Stand der neueſten Entwickelungen jeden Zweiges der Wiſſenſchaft und der Berufe geben und werden fie noch feſter an die deutſche Kultur ketten. Fh weiſe auf den neu eröffneten pädagogiſchen Rundfunk hin. Welche Freude bereitete es mir, als ich in Warſchau auf der Welle des Leipziger Senders gerade einen der Herren des erwähnten Leipziger Kreiſes im Vortrag reden hörte! Sollten ſich da die Beſten unſeres Volkes nicht drängen, deutſche Kultur weit über die Grenzen hinaus zu tragen?

Schrieb ich bisher von den Oeutſchen im Ausland, die durch räumliche Schwierig keiten von den Werken deutſcher Kultur ferngehalten werden, ſo denke ich weiter an die vielen, braven Volksgenoſſen unter uns, denen auch nur der Rundfunk den Weg zur Anteilnahme erſchließen konnte. Dank der Bemühungen der Funkvereinigungen und der deutſchen Reichs poſt hat jetz faft jeder Rriegsblinde feinen Rundfunkempfänger. Durch die Krankenhäuſer und Kliniker ſpinnt ſich das Netz der Nundfunt-WMithsr-Cinridtungen, .

Als ich in Leipzig von der Entwickelung des Rundfunks ſprach, hatte ich als feinen Wirtungs- kreis die kleinen Dörfer und die abgelegenen Siedlungen des Altenburger Landes und des Vogtlandes im Sinne, deren Bewohner in Regenzeiten nicht viel Luft verfpüren, die Schwelle des Hauſes zu überſchreiten. Die Wohnungsnot zwang mich bei dem Eintritt in die Induſtrit im Berliner Norden zu wohnen. Hier, wo in trauriger Enge die Menſchen beieinander ſitzen, getrennt durch dünne Wände; wo die allgemeine Einführung noch fo äſthetiſcher Hausmuſik ein Jahrmarkts-Rummel-Tongemiſch entſtehen laſſen würde, wo in den meiſten Fällen das nötige Kleingeld zum Beſuch guter Konzerte fehlte, war auch die Teilnahme an edlen Kultur werken verſagt. Erfreulicherweiſe hat hier der Rundfunk feine bedeutendſte Ausbreitung ge funden. Der Arbeiter, der ſonſt ſchwer an Straßenecken-Schankſtätten vorüber kam, eilt jetzt nad Haufe, um bald im Reife feiner Familie am Tiſch zu ſitzen, wo alle mit dem Hörer an den Ohren, abgeſchnitten von den Hausgerdufden in die Atherwelt hinauslauſchen. Schon in den Fabriken, Büros und Läden hört man die Frage: „Was gibt es heute im Rundfunk?“ und mancher lauſcht bei Themen und ſelbſt religiöfen Morgenfeiern mit, von denen ihn fonft „Anſchauungsſtolz“ fern hielt. Gewiß mag eine übertriebene Neigung zum Rundfunk manche nützliche gemeinſame Veranſtaltung ſchädigen, aber manche Arbeiterfrau iſt froh, durch den Rundfunk ihren Mann der Familie wiedergewonnen zu haben.

Sd bin nun bei der Erwähnung der Arbeiterſchaft und der Ausbreitung zu der in den Rreijen mancher Aſtheten wenig beliebten Wirkung auf die Maſſen gekommen. Es gehört hier nicht zum Stoff, mich im deutſchen Empfinden mit dieſer Abneigung ſelbſt auseinanderzuſetzen; es iſt aber der Vermutung entgegenzutreten, daß die Maſſen als Hörer einen fo unheilvollen Ein- fluß auf die Vortragsfolgen des Deutſchen Rundfunks ausüben, daß er als Kulturfaktor ausſcheide.

Nicht genug ift es zu würdigen, daß die Reichspoſtverwaltung dem Oeutſchen Rundfunk von vornherein eine Bodenſtändigkeit gab, indem fie jeder Gegend ihren eigenen Sender errichtete und fo die Pflege ihrer Stammeseigentümlichkeit ermöglichte. So kann man beim Wellen-

Peutfher Rundfunt 381

wechſel im Empfang oft vom gemütlichen Sächſiſch zum Plattdeutſch des Hamburgers, zum ſchwaͤbelnden Stuttgarter, von der Eigenart des Müncheners zu der des Breslauers, Frankfurters, Königsbergers und Weſtfalen übergehen. Wer hat nicht die Bemühungen, beſonders der Ham- burger Senderleitung, im Anfang verfolgt, gerade das Bodenſtändige in ſeiner Mundart zu fördern, Heimatdichter zu Worte kommen zu laſſen?

Meine Auslandsreiſen führten mich auch nach Belgien. Ich war erſtaunt, in dem „Sieger ſtaat“ eine fo ſchwache Entwickelung des Rundfunks zu finden. Mit Stolz erfüllte es mich als Oeutſchen, als ein bekannter Wallone ehrlich das Verſtändnis unferes Volkes für dieſe Ent- wickelungen anerkannte und auf die noch viel größere Ruͤckſtändigkeit jenſeits der blauweißroten Grenzpfähle im Weſten hinwies.

Der Deutſche Rundfunk, der die Yomgloden-Rlänge und den Jubel der Befreiungsfeier aus dem alten Köln über die deutſchen Lande hintrug, bedarf des Vertrauens aller Berufenen, um ihn zu einem rechten deutſchen Kulturwerk weiter ausgeſtalten zu können.

Karl Hoffmann Tempelhof

Nachwort. Die Frage, ob der Rundfunk unſere Kultur fördere oder verflache, iſt nur ein Teil des Geſamtproblems: Übt die fortſchreitende Technik günftige oder ungünftige Wirkungen auf Rultur und Leben aus? Mit dem wachſenden Tempo des Lebens vermindert ſich die Fabig- keit zu innerer Sammlung. Das aber bedeutet eine Gefährdung unferer Kultur. Mit der Er- findung einer Waffe wird ſtets die Erſinnung eines Abwehrmittels Hand in Hand gehen. So werden ſich den zerſetzenden Elementen der Gegenwart ſtarke Kräfte, die von den „Stillen im Lande“ ausgehen, entgegenſtellen. Der Rundfunk wird keine andere Bedeutung gewinnen, als die eines Rulturmittlers, wie es das Buch z. B. feit Zahrtaufenden iſt. Die Buchdruckerkunſt verhilft dem Buch zu ungeheurer Verbreitung. So wird der Rundfunk die vorhandenen Kultur- gũter einer noch weiteren Verbreitung zuführen. Es kommt olſo darauf an, wie dieſe Schätze beſchaffen ſind, ob ſie aufbauende oder zerſtörende Wirkungen in ſich tragen. Der Rundfunk kann wie Nino und Film, wie Buch und Bild zur Verflachung führen, kann aber, wenn er in den Händen verantwortungsbewußter Menſchen liegt, durchaus zur Vertiefung und Beſeelung unſerer Kultur beitragen,

Das Entſcheidende find immer die Perſönlich keiten, die dahinter ſtehen. Wenn dazu die ge- eigneten Männer berufen werden, die nach ihrer geiſtigen Beschaffenheit die Gewähr bieten, aufbauend zum Wohle des ganzen deutſchen Volkes zu wirken, ſo wird der Rundfunk nicht nur ein Belehrungs- oder Dergnügungsmittel, ſondern ein hervorragender Faktor im Oienſte des Volks erziehungsgedankens fein, R. A. W.

Oy F7ene Halle

Die dier vezöffentiichten, dem freien Nelnungs austauſch dienenden Einfendungen find unabhängig vom Standpunkt des Herausgebers

Die Vorherrſchaft der Technik

die Technik unſer äußeres Leben von Grund aus umgewandelt hat, bedarf keine Erörterung. Es fragt ſich aber, ob und wie weit das Innenleben, alfo die eigentlich ſeeliſchen Bezirke vom Einfluß des Techniſchen erfaßt find, oder mit andern Worten, eb man berechtigt iſt, von dem techniſchen Menſchen als einem heute herrſchenden Typus zu ſprechen. Technik im weiteſten Sinne des Wortes ift Beherrſchung der Mittel, die zur Erreichung eines beſtimmten Zweckes, fei er materiell oder geiſtig, dienen. Je vollendeter die Technit i, deſto weniger braucht der Schaffende an das Ziel, den Zweck und Sinn ſeiner Arbeit zu denken. Man ſtellt ſehr richtig den echten Rünftler dem Techniker gegenüber. Jener ſchafft im Hinbiié auf hobe Ideale; dieſer kennt die Einzelheiten des Verfahrens; ja er kennt fie oft beſſer als der geniale Künſtler, der nach dem Höchſten, dem Unerreichbaren ſtrebt. Der bloße Techniker if daher zielblind. Für die Maſchinentechnik iſt dies ganz klar, da der einzelne Arbeiter infolge der Arbeitsteilung gar nicht zu wiſſen braucht, was er als Endergebnis herſtellt. Gleiches gilt abe auch für die geiftige Arbeit. So kann etwa ein Lehrer die Technik des Unterrichts vollkommen beherrſchen, ohne ſich Aber den Sinn und die letzten Ziele feiner Tätigkeit Sedanken zu machen, während umgekehrt ein Peſtalozzi in allem Techniſchen ein Stümper war, um fo klarer abe Zdeal und Ziel der Erziehung erkannte. zn entſprechender Weiſe läßt ſich nun eine techniſche Einſtellung zur Geſamtheit des Leben einſchlleßlich feiner ſeeliſchen Gebiete denken. Danach wäre das Leben ein weſentlich mechaniſche⸗ Gefüge, das man durch kluge Berechnung der Mittel zu beherrſchen hat, ohne daß die höheren geiſtigen und ethiſchen Ziele einen beſtimmenden Einfluß auf die Lebenshaltung ausüben, Eine ſolche Techniſierung des Menſchen läßt ſich nun tatfächlich feſtſtellen. Sie hat ſich auf zweifachem Vege vollzogen. Einmal durch die Einwirkung der im engeren Sinne techniſchen Einrichtungen und Apparate auf das Tun und Verhalten des Menſchen. Dieſe Apparate, Maſchinen uſw. hat der Menſch erfunden, daß fie ihm dienen; aber umgekehrt muß er nun wieder die Maſchine „bedienen“, wird alſo aus dem Herrn doch wieder zum Diener und Sklaven feiner eigenen &- findung. Zweitens läßt ſich noch von einer Techniſierung des Lebens in dem Sinne ſprechen, daß der Geiſt der Technik ſich wie ein alles durchdringendes Fluidum in alle Gebiete des Lebens, bis in die geiftig-ethifchen, einmiſcht und die ſeeliſche Struktur des Menſchen verdndert. Eine ſcharfe Trennung zwiſchen beiden Wegen der Techniſierung iſt natürlich nicht durchzuführen. Die Einwirkung des techniſchen Apparates auf das Seelenleben kann man ſich am beſten an Einrichtungen, wie Fernſprecher und Maſchinenſchrift, verdeutlichen. Die Maſchine drängt fid hier zwiſchen Menſch und Menſch und geſtaltet den Verkehr unperſönlich. Beim Nabgefprad perſönliche Gegenwart, Mitwirkung der Miene, der Geſte, Beziehung der Seelen zueinander. Beim Ferngeſpraͤch räumlicher Abſtand, damit auch ſeeliſche Ferne, Objektivität, kühle Sach lichkeit und Knappheit der Sprache. Herzlichteit erſcheint dabei faſt unnatürlich. Edenſo wirkt die Handbſchrift als ganz perſönlicher Ausdruck des Schreibenden, die Maſchinenſchrift unperfön- lich, ſchematiſch. Bezeichnend iſt es, daß Glidwiinfde und Beileidsbezeugungen in Maſchinen · ſchrift wenigſtens heute noch peinlich berühren. 3m Grammophon und Phonographen wird der ſingende, ſprechende oder muſizierende Menſch durch die Maſchine erſetzt, desgleichen beim Radio. Auch zwiſchen Natur und Menſch drängt fid der Apparat. Fühlt ſich der Fußgänger der Natur nahe und verwandt, weil er in körperlicher Berührung mit ihr bleibt, fo ſteht Ihe det Radler und Autofahrer viel ferner. Er hat zwar das Bewußtſein, den Raum in ganz anderem

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die Votherrſchaft der Technik 383

Maße zu beherrſchen und zu überwinden als der langfame Wanderer. Aber dieſes abſtrakte, ſozuſagen techniſche Bewußtſein der Naturbeherrſchung hat zur Kehrſeite den Verluſt des tieferen, unmittelbaren Naturgefühls. Das ſtolze Bewußtſein techniſcher Uberlegenheit läßt uns nur allzu leicht vergeſſen, daß wir innerlich der Natur entfremdet find. Ahnlich wirkt auch der photo- graphiſche Apparat. Wenn der frühere Menſch die Eindrüde einer Reife rein ſeeliſch in ſich auf- nahm oder im Tagebuch feſtzuhalten ſuchte, fo hat der heutige Reiſende überall die Ramera zur Hand und ift auf der Suche nach dem günftigen Bild. Man hat an vielbeſuchten Ausfidts- punkten oft genug den Eindruck, ſich ausſchließlich in Geſellſchaft von Photographen zu befinden. Die Natur iſt zu einem Mittel techniſcher Betätigung geworden. Wie ſtark endlich das techniſche Intereſſe durch die Probleme und Leiſtungen der Luftſchiffahrt in Spannung gehalten wird, braucht kaum erwähnt zu werden.

Durch alle derartigen äußeren Einwirkungen entſteht in den breiten Schichten des Volkes eine Art Glauben an das Techniſche als eine Lebensmacht, deren Wert jedem Zweifel enthoben ſcheint, damit zugleich ein techniſches Lebensgefühl, deſſen höchſte Norm die mechaniſche Genauig- keit der Maſchine iſt. Daß wir aber ganz allgemein von dem techniſchen Geiſte unſerer Zeit ſprechen dürfen, ergibt mit voller Beweiskroft bie Tatſache, daß das geſamte Geiſtesleben der Gegenwart mehr oder weniger die Spuren der Techniſierung aufweiſt. Wir verſuchen das zu- naͤchſt an der Runft nachzuweiſen.

Wohl am auffallendſten zeigt ſich der techniſche Einfluß beim Theater. Denn die heute herr⸗ ſchende Form des Theaters iſt das Kino, das ſeinem Urſprung nach Erzeugnis der Technik war und mit irgendwelchem künſtleriſchen Wollen nichts zu tun hatte. Verglichen mit dem Wort- theater find die Geftalten des Kinos keine Menſchen, ſondern bloße Bilder, denen man die mechaniſche Herſtellung anſieht. Da das beſeelende, vertiefende Wort fehlt, iſt im ſtilgerechten Filmdrama das Seeliſche möglichft ausgeſchaltet. Der Zuſchauer wird zum Augentier. Die Voll- kommenheit des Films iſt weſentlich maſchinelle Vollkommenheit, während das Theater ſchopfe· riſche Menfchendarftellung aus ſeeliſchem Erleben bietet.

Das alte Theater ſelbſt aber machte auch ſeinerſeits die Umſtellung ins Techniſche mit. Die ganze fog. expreſſloniſtiſche Bühnenbewegung war, wenn man vom Einbruch des Ekſtatiſchen abſieht, vorwiegend techniſcher Art oder wurde ins Techniſche abgedrängt. Denn es handelte ſich Hauptfählich um die äußere Bühneneinrichtung, das Bühnenbild, die Beleuchtung, und bei der Oarſtellung durch den Schaufpieler um eine neue Oypnamik, um ſtarke rhythmiſche Be⸗ wegungen, die oft den Charakter des Automatiſchen und Maſchinenhaften annahmen. Um wirk- lichen Ausdruck des dichteriſchen Gehaltes handelte es ſich am allerwenigſten ein kraſſes Bei- {piel dafür, wie ein richtiges küͤnſtleriſches Wollen durch die Übermacht des techniſchen Geiſtes vergewaltigt werden kann. Wir haben heute ſtatt des Didtertheaters das techniſch eingeſtellte Regiſſeurtheater.

Bei den bildenden Rünften läßt ſich Ahnliches beobachten. Das künſtleriſche Formproblem hat ſich zu einem techniſchen Problem verengt, das in den ſchnell ſich oblöfenden Stilen des Im- preſſionismus, Expreſſionismus, Rubismus uſw. durchaus im Vordergrund ſtand. Der Rubis- mus verrät ben Technizismus am unbefangenſten, indem er einen geradezu maſchinenmäßigen Aufbau der Formen an die Stelle der durchſeelten Kompoſition ſetzte. Ebenſo find alle fortſchritt ; lichen Verſuche in der Muſik rein techniſche Angelegenheiten, mögen fie nun dem atonalen Syſtem oder der Viertelton-Muſik gelten. Man bat nicht mit Unrecht von einer Maſchinen⸗ freudigkeit in der Runft unferer Zeit geſprochen. Das Haus, von dem die heutigen Architekten träumen, ift die „Wohnmaſchine“, in der nur der praktiſche Zweck maßgebend iſt. Solche Häuſer wären in ihrer nüchternen, ſachlichen Geſtaltung in der Tat der Triumph des rein Techniſchen über das Küuͤnſtleriſche. Und die allgemeine Typiſierung, die ja auch für das Runftgewerbe ge- fordert wird, würde eine völlige Entperſönlichung des Kunſtſchaffens bedeuten, den Rünftler zum bloßen Techniker herabwürdigen.

584 Dice Vorherrſchaft der eden

Nur ganz nebenbei fei darauf hingewiſen, daß ſich der Zug zum Techniſchen ſogar in det Wiſſenſchaft, ja in der abſtrakteſten, der Philofophie, gezeigt hat. Sie, die doch auf das Gang des Seins und die letzten Ziele des Lebens gerichtet fein ſollte, hat ſich neuerdings vielfach der- auf beſchränkt, nur die Mittel und Werkzeuge des Erkennens kritiſch zu unterſuchen, ftatt & kenntnis des Seins und der Wirklichkeit zu erſtreben. Hat es doch Denker gegeben, die Phile- ſophie nur noch als wiſſenſchaftliche Methodenlehre gelten laſſen wollten; und was iſt Methode ſchließlich anders als Technik der Wiſſenſchaft?

Alle im vorhergehenden genannten Erſcheinungen beftätigen die Annahme, daß dem heutige Menſchen ein gegen früher verändertes Lebensgefühl, eine neue ſeeliſche Einitellung, eignet. Eine techniſche Atmoſphäre umgibt uns. Der oft ausgeſprochene Satz, daß der Mense im Zeitalter der Maſchine ſelbſt zu einer Maſchine werde, gilt nicht nur vom Maſchinenardeiter. Daß allgemein im Seelenleben eine Art von Maſchineninſtinkten aufkommt, läßt ſich nicht be zweifeln. Es wäre falſch, dem techniſchen Menſchen die Phantaſie abzuſprechen; aber er beiikt weſentlich nur Werkphantaſie, nicht Gedanken- und Bildphantajie. Dem Gefühl wird nur wen; Wert zugeſtanden; es iſt nur folgerichtig, wenn es als „unpraktiſch“ gilt. Oraſtiſch hat die Tec nifierung des Lebens Frank Thieß („Das Geſicht des Jahrhunderts“ ausgedrückt: „Der Mensch muß fterben, die Maſchine ſiegt.“ Und Graf Renferling („Die neuentſtehende Welt“ 1926) be zeichnet als Typus des heutigen Menſchen, inſofern er auf die Maſſen wirken will und kam, ſchlechthin den Chauffeur. Der Chauffeur iſt „der beſtimmende Typus dieſes Mafjenzi- alters nicht minder wie es der Prieſter, der Ritter, der Ravalier in anderen Zeitaltern war". Be heute als Führer Einfluß haben will, muß nach Keyſerling dem Chauffeur Typus angehörte: er muß „fuprem intelligent, ſchnell, intuitiv, pſychologiſch fein, d. h. dem primitivierten Charatic der Maſſe Rechnung tragen“. Gefordert wird alſo mechaniſch exakte Intelligenz, nicht veitieft Geiſtigkeit, die heute niedrig im Kurs ſteht. Wir haben uns, nach einem Worte Schelers, in ein „Roemos der Mittel“ verſtrickt; nach den Zielen des Lebens fragt man nicht; nur nah den Mitteln, es zu bewältigen,

Die allgemeinen geiſtigen Auswirkungen der Techniſierung des Lebens liegen auf der Hau. Der bloße Techniker iſt geiftig unſchöpferiſch. In ethiſcher Hinſicht aber ijt der techniſche Mensch, dem das Bewußtſein höherer tranſzendenter Ziele, dem der Ausblick zum Zdeal fehlt, der ehr furchtsloſe Menſch; er iſt in letzter Ronſequenz der Gegenſatz des religidfen Menſchen.

Wenn fo der Sieg der Technik über Leben, Kunſt, Wiſſenſchaft, Seele alſo über den Menſchen und das Menſchliche für den Augenblick entſchieden iſt, bleibt er unabanderliches Sdidfal’

Nun, Technik iſt ihrem letzten Sinne nach Herrſchaft über die Naturtrafte zum Zwecke det Befreiung des Menſchen von der Materie. Zwar hat uns die Technik zunächſt noch tiefer in die Banden des Materiellen verſtrickt. Aber das Techniſche, das heute als Wunder angeftaut wird, das den naiven Geiſt geradezu hypnotiſiert, wird aller Vorausſicht nach vermöge de Gewöhnung allmählich zu etwas Selbſtverſtändlichem werden (wie es uns heute Eier bahn und Oampfſchiff find). Damit aber wird der Weg der Seele wieder geöffnet fem Wenn der echte Rünftler zugleich auch ein guter Techniker fein kann, fo iſt auch ein Menſchen⸗ typus möglich, der bei voller Beherrſchung des Techniſchen zugleich eine Kultur der Seele kennt. Za man könnte der techniſchen Einſtellung zum Leben dann ſogar noch eine weitere Aus dehnung wünſchen. Denn fo hoch die materielle Techni? bei uns entwickelt ift, der Begriff einer ſeeliſchen Technik fehlt uns faſt ganz. Die vereinzelten Anſätze zu einer Technik des Seelen lebens im Abendlande (etwa die geiſtlichen Exerzitien des Ignatius von Loyola, neuerdin die Verſuche in Graf Keyſerlings Schule der Weisheit in Darmſtadt) haben keine allgemeine Bedeutung erlangt, Der Orient dagegen hat von jeher eine Seelentechnik gekannt. Und des böchſte Ziel einer wahrhaften Rultur wäre wohl die Syntheſe techniſch- mechaniſcher Natur beherrſchung mit einer techniſch-ethiſchen Lebensgeſtaltung und die Unterordnung beide unter höchſte geiſtige Normen. Prof. Paul Sickel

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Stimmen für und wider die Technik

ie bekannte Zeitſchrift „Technik Voran!“ veranſtaltete jüngſt eine höchſt anregende

Auseinanderſetzung über das Problem „Technik und Veltanſchauung“. Die gegen- ſätzlichen Auffaſſungen kamen dort ſehr klar zur Geltung, ſo daß wir einige weſentliche Stellen (Nr. 14, Jg. 8) hier anfügen.

Ernſt Rabe nalt ſchreibt: „Technik ift zwar noch keine Weltanſchauung, fie muß aber in die Weltanſchauung der Zukunft eingehen. Sollte wirklich ein Ereignis von fo ungeheurer Be- deutung, wie der Aufſtieg der Technik im vorigen Fahrhundert, der das Leben der Rulturmenfch- beit und unſer ganzes Weltbild ſo völlig verändert hat, auf unſere „Weltanſchauung“ ganz ohne Wirkung bleiben? Das erſcheint mir undenkbar. Und wenn bisher die Wirkung fo außerordentlich wenig zu fpüren war, fo beruht das einmal auf dem Widerſtand der alten Mächte, die von ihren bisberigen Denkgewohnheiten und Vorurteilen nicht laffen wollen, und ſodann auf der Plötzlich; keit, mit der dieſes größte Ereignis des vorigen Jahrhunderts in die Erſcheinung getreten iſt, fo daß die erſtaunten Zeitgenoſſen ihm mehr oder weniger faſſungslos gegenüber ſtehen, bis ſie ſich ſchließlich daran gewöhnen und dann ſelbſt die größten Erfindungen als ſelbſtverſtändlich hin- nehmen, ohne ſich die geringſte Mühe zu geben, ſie auch geiſtig zu erfaſſen. Es fehlt uns zweifellos die Einheitlichkeit zwiſchen unſerer heutigen Bildung und dem tatſächlichen Geſchehen der Gegenwart als Vorausſetzung für eine einheitliche Kultur. Eine Überbrüdung des z. Zt. noch offen daliegenden Gegenſatzes kann und muß geſchehen das iſt die Aufgabe, vor die wir ge- ſtellt ſind durch Auseinanderfegung mit dem Problem Technik fo lange, bis wir es geiſtig durchdrungen und weltanſchaulich verarbeitet haben, bis wir feiner Herr geworden find und es in unſer Weltbild eingegangen iſt“, das Weltbild einer neuen Zeit.“

Er vertritt die Anſicht, „daß die Technik durchaus nicht nur Mittel und Kraft iſt, daß fie durch aus bloß dazu da iſt, als dienende Magd die Maſſe zu organiſieren, und Kraft zu gewinnen und fie dann dem Menſchengeiſt für feine größeren geiſtigen, geſellſchaftlichen und politiſchen Zwecke zur Verfugung zu ſtellen“; ſondern, daß fie ſelbſt, Geiſt“ im höchſten Sinne iſt, daß fie ſich ſelbſt Richtung und Ziel ſetzen muß, um zur höchſten Entfaltung zu kommen, daß fie ſelbſt als, Steuer; mann die Leitung“ haben muß, um die hidfte Wirkung zu erreichen. Erſt wenn ſolchergeſtalt techniſches Denken und techniſcher Geiſt die öffentliche Meinung durchdringt und in das Welt- bild aufgenommen ift, erſt dann kann die Technik ihre wahre und höchfte Aufgabe erfüllen, unbe- ſchwert von wirtſchaftlichen, geſellſchaftlichen und politiſchen Hemmungen und das iſt der Dienſt am Volk, der Dienſt an der Menſchheit im Sinne einer Befreiung der Menſchheit. So ſehe ich eine Verbindung von Technik und Weltanſchauung.“

Auf die unſelige Zwieſpältigkeit unſerer gegenwärtigen Kultur, das Ringen zwiſchen Technik und Weltanſchauung weiſt Prof. Dr. Hell pach hin, indem er ſagt: „Wenn ein neuer Staat auf den Trümmern eines alten erſteht, dann bedarf es immer einer Erziehungsarbeit. Daß die Gründung eines neuen Staates eine Erziehungsaufgabe ſtellt, hat niemand beſſer erkannt und klargelegt als Freiherr vom Stein. Heute geht ein klaffender Riß durch unſere ganze Pädagogik, ja durch unſere ganze abendländiſche Kultur. Es ſtehen ſich auf unſerem Boden in Oeutſchland gegenüber der Amerikanismus und der Europäismus. Der Amerikanismus mit dem Lebensinhalt: Erwerb, Technik und Sport. Wit ihm ringen die lebenbeſtimmenden Mächte innerer Lebensftilifierung des Europäismus: Chriſtentum, Humanität, Volkstum. Alſo ein Kampf zwiſchen Lebensſpiel und Lebensziel. Dieſer Kampf iſt im kulturellen Sinne die eigentliche Tragödie unſeres Volkes und der Europäer. Der weltanſchauliche Separatis- mus iſt die größte Gefahr in unſerem Volke.“

Hierzu bemerkt K. Buſſe, der in Nr. 7, 3g. 8, der „Technik Voran“ einen grundlegenden

Aufſatz über „Technik und Weltanſchauung“ veröffentlicht bat: „Die Technik iſt ein auf Grund der Türmer XXX, 5 25

386 Stimmen für und wider bie Tec

wiſſenſchaftlicher Erfahrung aufgebautes Rönnen, das zu den verſchiedenſten Zwecken genitt

werden kann und tatſächlich genützt wird, zu guten und böfen. Technik und Wiſſenſchaft un,

um ein drittes noch zu nennen, Politik als Runſt der Menſchenbehandlung find ſoviel wert, wie

der Wille wert iſt, der fie nutzt. Die Ziele, die der Menſch ſich ſetzt, erwachſen aus den Mogli

keiten feines Wiſſens und Könnens, geſetzt aber werden fie vom Sein aus, von dem geiftig{it-

lichen Zentrum des Menſchen her, das jenfeits der Sphäre von Wifſenſchaft, Politik, Techn liegt, und deſſen unmittelbarer Ausdruck Weltanſchauung und Religion find, Was hier für de

Technik abgelehnt wird als Überfchreitung ihrer Grenzen, wird dadurch eine um fo dringliche Forderung an den Techniker. Der Techniker als Herr der Naturkräfte muß, um feine Fapigteia im großen Sinn nutzbar zu machen, ſowohl nach der Seite der Wiſſenſchaft (der Naturertenninis: wie nach der Seite der Politi? (der Runft der Menſchenbehandlung) Fühlung halten und mij darüber hinaus ftreben, fein Tun und Weſen den großen geiſtigen, geſellſchaftlichen, politiſchen, wirtſchaftlichen Zielſetzungen der Menſchheit einzuordnen. Diefe Zielſetzungen kommen von den großen geiſtigen und religiöſen Führern der VMenſchheit, kommen nicht aus ih organifierten Leiſtungen. Solch Führer kann und wird in Zukunft vielleicht ein großer Ingenieur fein, ſicher wird fein Ziel von der Technik ſtark mitbeſtimmt fein, aber ſolch Führer iſt nie un nimmer die Technik.“

Es wird ſodann in der angeführten Zeitſchrift die völlig ablehnende Stellungnahme de „Zeitwende“ wiedergegeben, die in den Worten gipfelt: „Die Technik blüht auf der Stufe eine abſteigenden Menſchheit. Ze mehr Technik, deſto weniger Kultur. Nicht als ob erft die Techn die Menſchen beraubte, ſondern fie erwddft ſelbſt aus dem dürren Boden einer ſeeliſchen Ve armung. Die verkümmernde Menſchheit, die ſich in der Technik die Welt, die Natur zu eroben glaubt, unterwirft ſich in Wahrheit mehr und mehr den Geſetzen der Materie.“

gm Gegenſatz dazu ſchreibt uns ein Lefer des „Türmers“, Dipl.-Zng. W. Zſchaage, folgene über die Beſeelung der Technik:

„Im letzten Juniheft des Türmers“ erſchien ein Aufſatz von Prof. Rein über Dr. Stadtler m feine Arbeit. Was mich als Techniker und Wirtſchaftler daran am meiſten feſſelte, war der Berk über die Werksgemeinſchaften in der pommerſchen Landwirtſchaft und in der Lauſitzer Indufne Sie beſtaͤtigen mir wieder meine Auffaſſung, daß die Krafte, welche wieder eine gemeinſchaft liche und auf gegenſeitiger Achtung gegründete Zuſammenarbeit in der Wirtſchaft erſtreben, doc lebendiger ſind und ſtärker wirken, als es im allgemeinen bekannt iſt und zumal von den

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Gegnern unferer heutigen Lebensgeſtaltung, d. h. im Grunde der Technik zugegeben wird. Oaß wir hier auf dem beſten Wege find, wahre ſeeliſche Kultur zu ſchaffen, ohne des mindefte von unſeren techniſchen Errungenſchaften aufzugeben, ſcheint mir offer . ſichtlich und in jeder Hinſicht begrüßenswert. Außerdem freue ich mich beſonders über dide

Aufſatz im ‚Türmer‘, weil er auf der Grundlage des Gegebenen wirklich weiter · und nicht durd unſinnige Verneinung der Technik unſerer Tage wieder zurückführt. Es erfüllt mich ſtets mi Bedauern, ja mit Trauer, wenn immer nur der Ungeift in der Technik und der heutiger Wirtſchaftsform betont wird. Denn erſtens ſehe ich gerade hier allerorts und in recht verſchie dener Weiſe geiſtige Strömungen am Werke, die zur Beſeelung und Veredlung unſerer Arbeit führen der Ungeiſt war einmal ; zweitens hilft man denen, die um den neuen Geift in der Technik kämpfen, nicht, indem man die Technik als ſolche ſchlechtmacht. Wir ſollten vielmehr nich: müde werden, immer wieder und immer wieder zu zeigen, daß und wie in der Technikgeifſtig. Kräfte am Werke ſind.

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Auf eine von dieſen Bewegungen möchte ich aufmerkſam machen. Ich meine das, Oeutſche

Inftitut für techniſche Arbeitsſchulung“ in Oüſſeldorf. Dieſes Inſtitut bildet geeignet Ingenieure aus, die dann in die Lehrwerkſtätten unſerer Induſtrie hinausgehen und dort nicht nur tüchtige Arbeiter, ſondern vor allem tüchtige, feſte Menſchen und Charaktere erziehen. de Erzieheriſche überwiegt unbedingt. Das ganze Inftitut ift erſtaunlich. Nicht nur in feinen Ziele

Stimmen für und wiber bie Tednit 387

und den Wegen, die es verfolgt, ſondern mehr noch dadurch, daß es befteht, und daß es fogar recht rüftig vorwärts kommt. Die ſeeliſchen Werte kommen hier voll zu ihrem Recht. Und das Semeinſchaftsgefuͤhl wird in der gluͤcklichſten und mächtigften Weiſe gepflegt. Es beglüdt mich immer wieder von neuem, zu denten, daß Ziele wie dort in dem Inſtitut mit ſtarker Unterſtuͤtzung

von ſeiten der Induſtrie verfolgt werden können. So ungeiſtig und ſeelenlos find unſere Wirt-

ſchaftsfuͤhrer eben doch nicht mehr. Abgeſehen davon, daß es unter ihnen ftets und heute nicht weniger als früher ſolche gegeben hat, die wahr haft edle Menſchen waren. Leiter des Inſtitutes iſt der Oberingenieur Carl Arnhold. Er iſt eine ſtarke, tiefinnerliche und

witklichkeitsfreudige Perſönlichkeit, einer von den Stillen im Lande, die mit ihren Pfunden

wuchern und mit aller Kraft da einſetzen, wo heute der Rampf um Kultur und um die neue

Nenſchheit gekämpft wird, nämlich in der Technik, der heute ein überwiegend großer und noch

weiter wachſender Teil der Geſamtheit angehört. An verſchiedenen Stellen wird am Aufbau eines neuen, auf dem Boden der Gemeinſchaft

gegründeten Lebens gearbeitet. Aber es wird viel zu wenig darauf hingewieſen, welche ſitt ;

lichen, den Einzel menſchen geiſtig fördernde Kräfte in der recht getanen techniſchen Arbeit

die in jeder rechten Leiſtung ruhen. Man kann ſehr wohl in der Wirtſchaft auch Gott

dienen, ſich ſelbſt und feiner Mitwelt zum geile. Ich glaube gewiß, daß dieſe Erkenntnis

nanchen heute noch innerlich zerriſſenen Menſchen wieder zur Freude an feiner Arbeit ingen würde.“ ö

gn dieſem Jahre veranftaltet die Dresdener Jahresſchau eine Ausſtellung „Die Tech-

niſche Stadt“, die wiederum die Frage aufwirft, welche Beziehungen zwiſchen Technik und

Kultur beſtehen.

Dazu ſchreibt man uns: „Die Bevölkerungszunahme in allen Ländern und die Menfchenzu-

femmenballungen in den Großftädten zwingen zu immer beſſerer und rationellerer Ausnutzung

aler techniſchen Möglichkeiten, wenn die Menſchheit vor Schaden bewahrt werden ſoll. Die Lechnik iſt imſtande, nachteilige Begleit · und Folgeerſcheinungen der Bevdlkerungsbewegung zu - mindern oder ganz aufzuheben, denn fie folgt, wie Zſchimmer in feiner ‚Philofophie der Tech ni zutreffend hervorhebt, dem Prinzip der Ökonomie, dem Prinzip des Heinften Kraftmaßes,

les kuͤrzeſten Weges, der geringſten Zeit es gilt der ‚energetifche Imperativ“: Vergeude keine Energie, verwerte fie. Es gibt, wie auch Guſtav Schmoller ſehr fein und richtig

- fogt, kein höheres geiſtiges Leben ohne techniſche Entwicklung, aber auch keine höhere Technik

ohne geiſtige und moraliſche Fortſchritte. Technik und Kultur ſind heute aufs engſte miteinander vechnüpft.“

Stimmen für und wider die Technik haben zu allen Zeiten die Menſchheit befchäftigt. Das erſte Steinwerkzeug des Menſchen gehört in das Bereich der Technik. Im Fortſchritt techniſcher entwicklung liegen zugleich ihre Gefahren und ihr Nutzen begründet. So iſt es verſtaͤndlich, daß es immer Parteien gibt, die in allem Neuen Teufelsſpuk wittern.

Emanuel Geibel hat immer noch recht, wenn er fagt:

„Am guten Alten in Treuen halten, Am kraft gen Neuen ſich ſtärken und freuen Wird niemand gereuen!“ K. A. W.

Literatur, Bildende Runst, Muſit

Eine deutſche Fürſtentochter als Dichterin

in freundliches Geſchick legte mir die Dichtungen der Prinzeſſin Feodora zu Schlesur

Holſtein in die Hände. Sie war mir bis dahin unbekannt geblieben und hat wohl überbaur. im deutſchen Vaterlande viel weniger Beachtung gefunden als fie es verdient. Wagte man e nicht, die Fürſtentochter anzuerkennen? Oder hat der Weltkrieg fie ſtarb vor Ausbruch de⸗ ſelben auch hier ſeine Hemmungen geltend gemacht?

Unter den näheren Daten und Umſtänden ihres Lebensganges fei nur das Folgende herret gehoben: Sie wurde als jüngſte Schweſter unſerer verſtorbenen Kaiſerin im Jahre 1874 gr boren und verlebte ihre Kinderjahre auf Schloß Primkenau in Schleſien. Die zarte Kleine mi dem ſuͤdlichen Teint und den großen, wundervoll tiefdunklen Augen, in denen lebenslang eine nie geſtillte, große Sehnſucht lag, war der beſondere Liebling des Vaters. Nach deſſen Tode weilte ſie mit der Mutter jährlich wieder auf Schloß Gravenſtein in Schleswig, ihrer eigentlichen Heimat, auch zu wiſſenſchaftlicher und künſtleriſcher Fortbildung in Dresden, in Italien wer Schottland, um nachdem fie gänzlich verwaiſte dauernden Wohnſitz zu nehmen in ¢ ſchwiſterlicher Nähe auf Krongut Bornſtedt bei Potsdam. Ihre dann durch ſchwere Kranhe erſchütterte Geſundheit hoffte fie vergebens in der Sonne des Südens zu feſtigen und muß erſt 36 Jahre alt vom Leben ſcheiden, von dieſer Erde, die ſie ſo ſehr geliebt hatte.

Künſtleriſch vielſeitig begabt und intereſſiert fie ſtand in regen Beziehungen zum Hax Wahnfried wie auch zu der Worpsweder Malerkolonie betätigte fie fid in den letzten Zahe ihres Lebens ausſchließlich als Schriftſtellerin, unter dem Namen F. Hugin (nach einem tz Raben Odins), und hat unfere Literatur neben Erzählungen und zwei Heimatromanen vet allem durch Lyrik und Ballade bereichert. (Verlag Grote, Berlin.)

Aberzeugend und onziehend wirkt ſogleich die unbedingte Echtheit ihrer dichteriſchen Emy findung: alles quillt aus ſeeliſchem Gefühlsreichtum, ganz unbedingt ſteht hier der Menſch für ſein Wort.

Die ſtärkſten Antriebe erhält ſie aus der inneren Verbundenheit mit der Natur; in dieſer findet all ihr Erleben beglückenden Widerhall, oder umgekehrt, jede Stimmung des All rührt an eine Saite ihrer Empfindungswelt. Das Lied der Oroſſel am Frühlingsabend, des die Luft durchzittert wie Urgedanken, die lebenglitzernde Luft der Quelle, der Sonnwendnacht laſtende Schwere, wie ein Weltmeer von endloſem Leid, das herbſtliche Alpenſterben ohne Sans und ohne Klage, die Berges höhe, wo fie, eins mit der Erde und eins mit dem Himmel, in ſel gem Geniigen ruht, des Meeres urewiger Freiheitsſang alles läßt die Akkorde ihrer Seele voller tönen und gibt ihr wiederum ein Ahnen von der „tief verborgenen Weltenweiſe“. Auch Jod- landzauber und Welſchlandglocken klangen in ihr wieder. Doch deutſches Heimatglid läßt 1 ſie die Worte ſprechen:

Ich möchte die Erde faſſen,

Den kernigen Urmuttergrund,

Und nimmer und nimmer laſſen,

Bis mein innerſtes Weſen geſund. Und wild wie der Schrei der Möwe, Und frei wie der jauchzende Wind, Und groß wie die Salzflut und einſam, So, Vaterland, bilde dein Kind!

{!

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Eine deutſche Fürſtentochter als Oichterin 389

In diefe Liebe zur heimatlichen Umwelt ift der Menſch, der ihr entſtammt, mit einbegriffen, und ber Fiſcher am Norbmeer und der Bauer auf ſchleſiſcher Scholle, deren Tagesarbeit, Lebens; kreis und Schickſal ſie aus eigener Anſchauung und Anteilnahme kannte, ſind dem Gewebe ihrer Schöpfungen eingefügt. Denn über die engeren Grenzen ihrer eigenen Sphäre hinaus ſucht fie überall das echte Leben, das wahrhaft Menſchliche. Und wie fie allem Ronventionellen ab- hold iſt, fo auch allem Philiſterhaften, das den Kopf ſchuͤttelt voller Graus, ſobald es ſich einmal verirrt hat auf die „Wunderſtraße“ des Lebens, und das die taſtende Sehnſucht nicht kennt nach den Sclüffeln der heiligen Raͤtſel. Jenes „weltenweite Sehnen“, unfer allerbeſtes Teil, blieb

: ihrer eigenen hochfliegenden Seele, ihrer echten Rünftlernatur immer treu und iſt fo wunder- bar beſchloſſen in den Worten des „Oroſſelliedes“.

„O Sehnſucht, Sehnſucht, wo denn ruht des Drängens Heimat, Wo fo gut all Träumen wohnt?“ Und ob auch alles Küͤnſtlerleben ift „Ein endlos Streiten ein Fligelbreiten, Auf Wolkenbahnen ein ewiges Ahnen,“ dennoch will ſie nicht gekettet ſein ans Einerlei, ſondern dem Falken, dem Buſſard gleich ſchweben frei jauchzend frei! Darum ſehnt ſich ihr leidenſchaftliches Menſchentum nach Stürmen,

heilig heißen Stürmen nur keinen Winterabendfrieden Leben!

Aber Sitte und Herkommen legen ihr Feſſeln an, und ſo hat ſie die reichen Gaben ihres Geiſtes

und Gemütes wohl niemals zu lebenfüllender, wahrhaft beglüdender Anwendung bringen durfen, obſchon ihre warmherzige Frauennatur ſich jedem mitteilte, der in Schmerz und Sorge ihr nahte. Nur gar zu oft, ſo geſteht ſie ſelbſt, geht ihre arme Seele mit ſchleppendem Fuß, und viel verborgenes Leid, „tief wie Wellenklagen“, klingt durch ibre Lieder:

„3% fab das Glüd von weitem flirren, Hört’ feiner Glöcklein buntes Klirren Mir 30g’s vorbei.“

Sem Mitleid der Menſchen aber wehrt ihr Stolz, und wie der Hirſch in die Waldnacht und der Schwan ins Schilf, ſo trägt ſie ihre Wunden in die Einſamkeit.

Wenn die weißen Schwäne Schmerzen tragen, Mögen fie es nicht der Sonne fagen,

Tief die Wunde trägt das Tier ins Schilf.

Und zum allertiefſten Waldesſchatten

Zieht der Hirſch und flieht die lichten Matten, Leiden ſoll ihn nicht das Rudel ſehn.

Muß der Menſch das Mitleid denn ertragen? Rann er nicht entfliehn vor ihrem Klagen? Gibt's kein Waldesdunkel mehr für ihn? Doch, der Freude Mantel kann ihn decken, Und ſein Lachen ſoll ihr Klagen ſchrecken, Wie in Wald nacht trägt er ſo allein.

Dort aber, in der Einſamkeit ihres Herzens, findet fie das letzte Geheimnis ihrer Kraft: gläu- biges Vertrauen auf die höheren Mächte, die unſer Dafein beſtimmen. Denn „umſonſt war das nicht, nein, alles, alles nicht. Gewiß nicht.“

Wie der Inhalt ihrer Gedichte, fo iſt auch der Ausdruck, der Stil von durchaus eigener Prä- gung. Bei aller Mannigfaltigkeit klingt wie ein leiſes Motiv ein Rhythmus hindurch, der aus der Perfönlichkeit ſtammt. Dabei ift fie überraſchend vielſeitig und treffſicher im Ausdruck. Wenn

390 Der neut Coarse

fie die feinen Knoſpen lachen ſieht am Raftanienbaum wie junge Geſichter, den Sturmmie wühlen mit ftarten Händen in den ſchwarzen Tannenwipfeln, wenn ihr das Odrfden am dune Abend fo heimatwarm erſcheint und die großen Wolkenbilder fo ruhevoll gelaffen fiber de Unraſt ber Menſchen dann hat fie uns den poetiſchen Stimmungsgehalt mit einem einzige Worte greifbar erſchloſſen.

Sn den beiden ſchon erwähnten Heimatromanen aus den letzteren Zeiten ihres Schaffer Löft ſich die Dichterin vom eigenen Jd und greift hinein in das Leben der anderen. Sie, det for Sphären und Kreiſe ſich öffneten, daß ihr manchmal ſchwindelt vor all den Anſichten, die ma vor iht ausſchuͤttet“, war wohl vorbereitet, Menſchenſchickſale dichteriſch zu formen., Hahr⸗ Bertha“ iſt dem ſchleſiſchen Waldarbeiterleben entnommen. „Ourch den Nebel“ ſchibe einen jungen Schleswig- Fiſcher, deſſen grübleriſche Verträumtheit die Harmonie, die „Ordnung der Welt lange vergeblich ſucht, bis er endlich doch noch heimfindet durch den Nebel. Der & zählungsſtil mag etwas an Frenſſen erinnern, Motiv und Menſchen find durchaus eigene & ſtaltung. Die Idee des Ganzen liegt wohl in den Sätzen auf Seite 279: „So ſtill war es in ihn geworden. Immer fo gerade vor ſich hin ging Lars Asmuſſen. Nicht, daß er ein helles Biel fat, auf das er zuſchritt, aber weil er ſich ſelbſt getreu geblieben war und auf feinem eigene Wege ging, darum war er fo ruhig geworden. Zn den harten Jahren des Mühens und mi ſeligen Grübelns war ihm endlich eine Antwort gekommen aus der großen Ordnung heran Die trug er tief hineinverſenkt in feiner ſchweigenden Seele.“ Dieſer Gedanke, ſich jet getreu“, war der helle Leitſtern auch ihres eigenen Lebens geweſen, der in der unergriindliga Nacht dieſes Erdendaſeins ihr den nie verſagenden Mut zum Leben gab. Und gefaßt und nubs wie Lars Asmuſſen, fab auch fie dem Ende entgegen, iſt fie dahingegangen zur GSommerfonne wende unter den rauſchenden Wipfeln des Schwarzwaldes.

„s iſt Sonnenwende, ’s iſt Sonnentod,“

fo klingt es wie vorahnend durch eines ihrer ſchönſten Lieder. M L.

Der neue Soergel

ie 19. Auflage von Albert Soergels Standwerk „Dichtung und Dichter der Zeit, eine

Schilderung der deutſchen Literatur der letzten Jahrzehnte“ (Leipzig, Voigtländer), ver dient es {don als achtunggebietendes Zeugnis deutſchen Fleißes und deutſcher Gewiſſen }- haftigtelt ausführlicher gewürdigt zu werden. Von einer Literaturgeſchichte der Gegenwart und jüngſten Vergangenheit, einem koſtſpieligen Werke von über tauſend Seiten, das bereits F in etlichen 60000 Exemplaren in der deutſchen Leſerwelt verbreitet iſt, wird man wohl aen⸗⸗ nehmen dürfen, daß es ſich nicht nur für die Gegenwart als das zuperläffigfte Literaturwert durchgeſetzt habe, ſondern dieſen Rang auch noch eine Weile bewahren werde. Man darf Soerges Werk nicht vergleichen mit den am Ende des vorigen Jahrhunderts als Geſchenk für die reifere Jugend und für ſinnige Damen fo beliebten illuſtrierten Literaturgeſchichten, wie z. B. der von Otto v. Leixner. Das waren Bücher zum Naſchen, zum müßigen Umblättern, zum Zeitvertreib im Wartezimmer. Soergel kann ſchon verlangen, mit Kurz verglichen zu werden, der in det Mitte des vorigen Jabrhunderts mit ſeiner vierbändigen deutſchen Literaturgeſchichte ſeinen Platz in allen beſſeren Privatbüchereien fand. Auch Kurz gab wie Soergel zuſammenfaſſende Aberblicke Aber die einzelnen Perioden, den Lebenslauf und die Würdigung der Dichter um ſehr reichliche Proben aus ihren Werken, von den meiſten auch Bildniſſe in Holzſchnitt. Beim Vergleich der beiden Werke fällt uns zunächſt die Bereicherung in der äußeren Aufmachung auf. Papier und Oruck, beſonders aber die Anordnung des Satzes und die Technik der Viedergabt der 377 Zeichnungen, Photographien, Handſchriften und ſonſtigen Bilderbeigaben in alle

t Ser neue Soergel 391

erdenklichen Techniken, kennzeichnen ben außerordentlichen Fortſchritt, den wir nicht nur in der maſchinellen Technik des Buchgewerbes, ſondern vornehmlich im kuͤnſtleriſchen Geſchmack gemacht haben. Wenn ſomit dem Verlage R. Voigtländer (Leipzig) ein großes Verdienſt um die Verbreitung biefes Werkes zukommt, fo darf daruber doch nicht das größere Verdienſt des Verfaſſers überſehen werden, welches darin beſteyt, daß er nicht etwa nur einen netten Text zu einem bübfchen Bilderbuch geſchrieben, ſondern feinen Stoff in einer im beiten Sinne volks- tümlichen Weiſe, und zwar fo dargeſtellt hat, daß jeder Renner und Liebhaber deutſchen Schrift; tums ſich gerne und mit Nutzen in dieſe Darſtellung vertieft, fel er nur naiver Genießer oder ktitiſcher Betrachter. Es iſt ſchon eine achtunggebietende Leiſtung, dieſe unzähligen, mehr oder minder eingehend beſprochenen Werke alle geleſen zu haben, wie Soergel dies anſcheinend getan hat. Er hat ſogar den ganzen Spitteler und faſt den ganzen Johannes Schlaf hinunter - gewürgt und verdaut! Eine Leiſtung, die ich z. B. um kein Schloß und kein Roß vollbringen könnte! Wenn man ſich vorſtellt, welche Geduld, welch klarer Kopf und zugleich unbeirrbar warme Teilnahme für den Gegenſtand dazu gehört, um Jahrzehnte hindurch das Schaffen der . Didter feines Volkes zu verfolgen, nicht den einen über dem andern zu vergeſſen, den einft verehrten alten zugunſten des überrumpelnden neuen zu mißachten, jo muß man anerkennen, daß Soergel nicht nur alle Forderungen erfüllt, die man an die Gewiſſenhaftigkeit eines wiffen- chaftlichen Forſchers zu ftellen gewohnt iſt, ſondern Darüber hinaus eine Charakterleiſtung bietet, die feinen menſchlichen Wert in fhöner Beleuchtung zeigt. Mag man an der Bewertung der Be einzelnen Dichterperſönlichkeiten noch fo ſehr von feiner Meinung abweichen, mag man an feiner Enteilung in Gruppen, an feinen Maßſtäben noch fo viel ausſetzen es wird ſich kein Lefer dem Zauber feiner inneren Wärme, ſeines Wohlwollens, ſeines ernſten Strebens nach Geredtig- j "kit entziehen können. In dieſem Lobe kann mich auch der ſchmerzliche Umftand nicht unfider machen, daß ich ſelber bei Soergel ſehr übel weggekommen bin. Er ſcheint nämlich wenig Sinn für Humor zu haben. Und außerdem hat er durch einen unglücklichen Zufall meine ausfdlag- gebenden Werke gar nicht zu Geſicht bekommen. Die Zuſammenfaſſung der Humoriſten zu einer Gruppe vermiſſe ich. Soergel vergißt zwar nicht, gelegentlich den humoriſtiſchen Einſchlag dei feinen Charakteriſtiken lobend zu erwähnen, aber im allgemeinen ſcheint er doch ein Mann ber Feierlichkeit zu fein. Die Träumer, die Grübler, die Schwerarbeiter im Literaturbetriebe ſcheinen ſeinem Herzen weit näher zu ſtehen als die unbekümmerten land fahrenden Spielleute, die zünftigen Schelme, die Drauf und Ourchgänger. Er würdigt faſt ausſchließlich nach äfthe- fiiſchen Maßſtäben, obwohl er das Feldgeſchrei „art pour l’art“ grundſätzlich ablehnt. Höhe- punkte der Darftellung erklimmt er in den Kapiteln über Nietzſche, über Dehmel, über Hof- mannsthal. In einer neuen Folge, die nicht viel weniger umfangreich werden dürfte, follen die Expreſſioniſten ſowie deren Ausläufer und Ablöſer bis auf unſere Tage verfolgt werden.

Wenn man ſich nun aber angeſichts dieſes ehrfurchtgebietenden Werkes fragt: wie viele find unter dieſen Hunderten von liebevoll behandelten Dichtern im Bewußtſein ihres Volkes noch lebendig? Wie viele haben noch ein Recht, in einer Gefhidte der deutſchen Literatur als über- ragende oder gar richtungweiſende Charattertdpfe angeſprochen zu werden? War es wirklich nötig, alle dieſe über die Pubertätsweben nicht hinausgekommenen Schmutz; und Sdhmier- finken der naturaliſtiſchen Flegeljahre, die blaſſen Monde der großen Sonnen, die gar tein Eigenliht ausſtrahlten, auch mit unter den ſchützenden Glasdeckel des Muſeums zu retten? Wer, wie ich, die allermeiſten dieſer Sterne erſter bis ſiebenter Größe perſönlich gekannt, ihren bürgerlichen Alltag miterlebt hat, der weiß am beſten, was ſie wert waren. Es iſt gut, daß dem Verke Soergels ſo zahlreiche Bildniſſe und auch Karikaturen von zum Teil witzigen Künſtlern beigegeben wurden, denn in der Tat ſieht der Mann oft genug feinem Werke wenig ähnlich. Und in ſolchen Fallen iſt immer der Zweifel berechtigt, ob das Werk auch echt ſei. Ein begabter Worttünftler, ein Spiegelfechter des Geiſtes, kann uns leicht etwas vormachen, und keine Runft verführt fo zur Hochſtapelei wie die Wortkunſt. Es kommt ſogar nicht ſelten vor, daß der Dichter

392 Der neue Geetzel

fic) ſelber beſchwindelt. So ſagt z. B. Thomas Mann: „Das Gefühl, das warme herzliche Ge⸗

fühl iſt immer banal und unbrauchbar, künſtleriſch find bloß die Gereiztheiten und kalten Elſtaſen

unſeres artiſtiſchen Nervenſyſtems ... die Begabung für Stil, Form und Ausdruck fest bereits

eine gewiſſe menſchliche Verarmung und Verödung voraus . .. es iſt aus mit dem Küͤnſtler, fo- bald er Menſch wird und zu empfinden beginnt.“ Soergel fällt auf dieſe Behauptung hinein. Aber der ganze Zauber der „Buddenbrooks“ ruht doch einzig darauf, daß Thomas Mann dieſez warme und herzliche Gefühl für die Menſchen, die er darſtellt, und außerdem den großen Lieden- den Humor beſitzt! Es iſt die wichtigſte Frage aller Literaturgeſchichtsſchreibung: ſoll man es mit Oskar Wilde halten, der da fagt, es fei für die Vertſchätzung eines Kunſtwerkes völlis gleichgültig, ob fein Schöpfer Wechſel gefälſcht oder einen Luſtmord begangen habe oder fell man als bedeutend nur diejenigen Kunſtwerke gelten laſſen, hinter denen eine reine Geſinnung, ein heißes Herz, ein vornehmer Charakter ſtehen? Bekennen wir uns zu dieſer letzteren An- ſchauung, fo gelangen wir dazu, alle Kunſt abzulehnen, die nicht in der völkiſch- raſſiſchen Weien- heit, im ſittlichen Bewußtſein feſt verankert und die aus dieſem Grunde allein eine erhebende, läuternde, hochreißende, durch Erſchütterung oder Lachen befreiende Wirkung auf die Volts genoffen hervorzubringen imftande ijt. Welch eine Brunnenvergiftung, bewußt und unbewußt, auch mit rein aͤſthetiſch hochwertiger Literatur getrieben werden kann, wie ein ſtarkes gefundes Volk durch eine artfremde Schwindelkunſt verſeucht, entmannt, entgottet werden kann, das hat das Geſchlecht von Leſern, das in dieſer Gegenwart urteilsreif geworden iſt, ſchaudernd erleben müſſen. Es iſt ja richtig, daß eine ſolche ethiſche Wertung leicht zu Einſeitigkeit, zu Ungerechtig · keit, zu Geſinnungsſchnüffelei, zu ſchulmeiſterlicher Aberhebung verführt; aber die Erfahrungs lehrt uns doch, daß zum mindeſten die Maſſe des Volkes ohne Warnungstafeln nicht auskommt nicht einmal das amerikaniſche Volk, das deren am wenigſten aufzuweiſen hat und dennoch in de Kultur nicht beſonders hochſteht! Hie Bartels hie Soergel! Die Entſcheidung iſt nicht einfach. Wo iſt denn die Wirkung jener wenigen ſelbſtherrlichen und tatſächlich großen Künſtler, die den Teufel nach ihrem Publikum fragen und nur ſchaffen, was ihnen Spaß macht? Arno Holz mit feinem Phataſus mit feiner Blechſchmiede, mit feinen Sechs- bis Zehn Stunden-Dramen? Spitteler mit ſeinen unendlichen klaſſiſchen Maskenzügen? Stephan George mit ſeinen kühlen Marmortempeln, die im deutſchen Nebel ſich ebenſo fremdartig ausnehmen wie weiland König Ludwigs Reichsbüſtenhalter, die Walhalla bei Regensburg? Ohne Zweifel ſind die Genannten bedeutende Dichterperſönlichkeiten. Aber was geben fie ihrem Volke? Kunſt für Auchkünſtler, Renner und Feinſchmecker! Ich meine, daß auch für den Dichter der Dienft am Volke wichtiger fei als der Dienſt an der Kunſt. Rein artiſtiſch gewertet kann es unfere Dichtung mit der jedes anderen Volkes aufnehmen, in der Lyrik überragen wir ſie ſogar alle; aber wir leiden an einer Ülberfülle von „Könnern“. Unfere Überproduktion iſt ungeſund. Allein ſchon die den guten Durchſchnitt überragenden Werke, die alljährlich erſcheinen, wurden das Bedürfnis der geiſtig hochſtehenden Leſerſchaft nach Neuem reichlich befriedigen. Daher kommt es, daß fo vieles Tüchtige Makulatur bleibt und daß die Wertung des wirklich Aberragenden, die Scheidung zwiſchen Vergänglichem und Bleibendem immer ſchwieriger wird. Man müßte ab- blafen auf der ganzen Linie und nicht wohlwollend der Eitelkeit ſchmeicheln. Die künftigen Literaturgeſchichtsſchreiber werden mit unſerm Jahrhundert ſchwere Arbeit zu liefern haben!

Eine ſchwerere noch als die Soergel und Bartels. Und wenn ſie ihr Sieb noch ſo groblöcherig

wählen was wird darin zurückbleiben? Was wird Ewigkeitswert, was wird Welt- geltung behalten? Jeder Renner und Liebhaber der Dichtung glaubt es zu wiſſen. Und doch iſt

dieſe Frage für jede Gegenwart unlösbar. Und doch würden bei einer Umfrage mehr Namen

herauskommen als eine Leſergeneration gleichzeitig nebeneinander behalten kann. Oer befte

Rat, den man den Schaffenden von heute geben kann, iſt der, lieber weniger Kindlein in die

Welt zu ſetzen, dieſen aber die allerſorgfältigſte Erziebung zu weſenhafter Deutſchheit an-

gedeihen zu laſſen. Ernſt v. Wolzogen

„„ der

Perſonliche Erinnerung an M. G. Conrad 393

Nachwort des „Türmers“. Wir ſtehen Wolzogens Grundanſchauung durchaus nahe; Fleiß und Sorgſamkeit Soergels find an ſich der Bewunderung wert. Der Literarhiſtoriker von heute hat einen beſonders ſchweren Stand. Er darf zwar des Dichters Stammes- Zugehörigkeit nennen (Schwabe, Tiroler ufw.), darf aber ja nicht ſagen, daß er Zude iſt, während man unbefangen den Katholiken als ſolchen bezeichnen darf. Das hat in die Literaturforſchung ein ganz fatales Ver- ftedfpiel gebracht. Dieſem Zuſtand hat der Dithmarſcher Adolf Bartels ein Ende zu machen geſucht, indem er als einziger und erſter bewußt zwiſchen jüdiſcher und deutſcher Dichtung unterſchied, wenn er auch innerhalb des reindeutſchen Dichtens von Zu- und Abneigung nicht frei iſt. Soergel folgt ihm auf dieſem Wege nicht. Er nimmt überhaupt auf die geiftig-menfd- lichen Grundlagen, die der äſthetiſchen Geſtaltung zugrunde liegen, unſeres Erachtens zu wenig Rückſicht. Wohl ſpricht er vom Naturalismus, deutet auch deſſen Grenzen an: aber der Gegen- richtung aus religiöfen und nationalen Tiefen wird er nicht ganz gerecht. Was er z. B. über Lienhard ſagt, der uns am nächſten ſteht, beweiſt trotz Bemühung um Sachlichkeit keinen über; ſchauenden Blickpunkt, wo er Künſtlertum und Menſchentum als Einheit erkennen könnte. Nun, in zwanzig Jahren wird manches anders geprägt fein. D. T.

Perſönliche Erinnerung an M. G. Conrad

er fein Korreſpondenzarchiv im hohen Alter öffnet, wandelt in einer Totenallee. Von

allen Bekannten meiner literariſchen Jugend find nur noch Lienhard, Bahr, Wolzogen am Leben Holz, Schlaf, G. Hauptmann kann ich kaum dazu rechnen —, nun ging auch M. G. Conrad dahin. Da unſere Namen einſtmals untrennbar ſchienen, möchte ich der Mythen bildung vorbeugen und vorauffdiden, daß von feinen zahlloſen intimen Schriftftüden, die ich aus irgendwelchem Grunde aufbewahrte, nur ein paar unerquickliche aus fpäterer Zeit vor- liegen, unſere eigentliche Verbindung ſeit 1884 ſchon 1888 mit ſchwerem perſönlichen Bruch endete, deſſen Urſache ich aus Ridfidt auf Conrad verſchweigen will. 1892 ſchrieb er mir einen großartigen Abbittebrief, und ich verzieh gern Unverzeihliches. Leider erkannte ich als erfahrener Skeptiker, daß hier nicht das Gemüt, ſondern die Berechnung ſprach, weil mein Verhältnis zu Poſſart und mein baldiges Erſcheinen in München zur Aufführung meines „Napoleon“ ſonſt vielleicht für Conrads Intereſſen unbequem werden konnte. Die perſönliche Ausſöhnung ver- lief kühl, mein unvergeßlicher Freund H. v. Reder (der als General geſtorbene bedeutende Lyriker) gab die beſte Charakteriſtik: „Conrad hat keine Wärme“, während er doch vor der Welt den freimütig Warmherzigen ſpielte.

Wir ſahen uns feither nie wieder, nur feines Geiſtes habe id) manchen Hauch verſpürt. Zu- nächft erfand er in einem Büchlein „Lebenserinnerungen“ das Märchen, ich hätte den Abdruck von Hauptmanns „Sonnenaufgang“ in der „Geſellſchaft“ bintertrieben (der Verleger wollte natürlich nicht ein ganzes Drama drucken), was fein angeblicher Gewährsmann Merian in vor- liegendem Brief als eine der ſchöpferiſchen Phantaſien des blonden Germanenrecken ironiſiert. (Es genügt feſtzuſtellen, daß Harden im Vortrag, Wolzogen in langem Aufſatz mich als den erften wahren Entdecker Hauptmanns und meine Beſprechung feines Erſtlings als das Gered)- teſte bezeichnete. Letztere war übrigens der indirekte Grund der Aufführung.) Nach dieſem erſten Streich, obſchon Conrads hochherziger Verſuch der Anbiederung an die Berliner Fubäer völlig mißlang, weil dieſe mit ihm nichts anfangen konnten zu ſeiner Ehre ſei's geſagt —, folgte der zweite ſogleich: eine vorſichtshalber „X. B. Z.“ gezeichnete unglaubliche Anpöbelung meiner Broſchuͤre „Die Verrohung der Literatur“ in den „Münchener N. N.“. Auf meine vernichtende Erwiderung ebendort erhielt ich eine Poſtkarte: „Das hilft Dir nichts, alter Ramerad“ uſw. „Dein alter M. G. Conrad.“ Bei Feſtnagelung in den Wiener „Neuen Bahnen“, wo man ſich

394 Perſonliche Erinnerung an M. G. Cowra

beſonders über fo mutloſe Pfeudonymitdt empörte, erklärte ich aber ausdruͤcllich, daß meine einftige Freude an Conrads Erſcheinung als ,ritterlider Hutten“ nicht erloſch, ſondern ich ihm alles zubillige, was ihm zukommt, ohne feine Eitelkeit zu befriedigen. Denn freilich, wenn der ſpaͤtere Renegat E. Steiger im „Kampf um die Neuere Dichtung“ predigte: „Das Genie, wie Bleibtreu und Conrad, hat feine eigenen Geſetze“, fo möchte ich, von der Übertreibung ab- geſehen, eine ſolche Zuſammenſtellung ablehnen. Ein eigentlich produktiv Schaffender war et nie, ſondern ein literariſcher Condottierehäuptling, Publizift und Propagandiſt. Markiger Stil, frühes mutvolles Eintreten für R. Wagner, Zola, Nietzſche, fpdter für ſogenannten Realismus, kräftige Freimaurerei in ſozialen und politiſchen Dingen, ſaftiger Vortrag in einigen Romanen, nicht ohne dichteriſche Aufwallung: damit ift eine Perſönlichkeit erſchöͤpft, auf deren Werte ez weniger ankam als auf die tüchtige Reckengebärde, die oft arg taͤuſchte und für Wiſſende zu verräterifcher Falſchheit entarten konnte.

Dennoch wird er von erboſten Gegnern mißverſtanden, das Allzumenſchliche zeigt fo oft ein Doppel-Sh. Ich begreife charalterologiſch, daß er zwiſchendurch mal für feinen „alten Rame- raden“ die Plempe zog und einer albernen Profeſſorenanpöbelung zu Gemüte führte: „An univerfalem Wiſſen iſt er ihnen allen überlegen, an Geiſt hundertfach“ und einem mir befreun- deten Maler noch lange nach unſerem dauernden Bruch vorſchwarmte und in Erinnerungen ſchwelgte. Jawohl, aus der Zeit, wo er mir nach Tirol ſchrieb: „Ou lieber genialer Menſch, ich zahle die Tage“ uſw. Wenn wir im „Grünen Baum“ mit Martin Greif zuſammenſaßen und „an der Sfar grünem Brauſen“ Zukunftsmuſik machten, meinte er es gut und ehrlich.

Unfer früherer Freund Kirchbach, mit dem ich erſt fpdter mich wieder zuſammenfand, malte ihn in einem Roman geradezu abſcheulich, internſte ſchmutzige Wäfche ausbreitend, wobei er u. a. einen jungen Ideologen vorführt, deſſen tragiſches Ende man auf Hermann Conradi deuten könnte, der aber deutlich genug auf mich felber anſpielt. (Conradi ſtand nie mit Conrad in perfön- lichem Verkehr; aus beſtimmten Gründen einer romantiſch erfundenen Exotik, wobei Kirchbach Eingriffe in Conrads damaliges Familienleben nicht ſcheute, ift die wahre Zdentitätsabſicht klar.) Dieſe ſcheinheilige Bloßſtellung Conradſcher Unſittlichkeit und ihres vergiftenden Ein- fluſſes auf den edeln Jüngling (ich, der allzu weltkundige Berliner und Londoner, lachte mich krank über dieſe rührende Anklage gegen den angeblichen Mephiſto), fußt auf völliger Ver kennung ſeines Weſens. Obwohl noch in reifem Alter ins Sexuale verſtrickt, hat Conrad es nie als Erotomane erfaßt, ſondern als zerſtörendes Naturelement.

Ze älter er wurde, deſto mehr kam bei ihm eine hohe reine Weltanfchauung zum Ourchbruch, fein metaphyſiſches Bedürfnis wuchs ergreifend, fo daß das „moderne“ Geſindel, das ſich an feine (und meine) Ferſen heftete, ſpöttiſch grinfte: „Der Alte wird fromm.“ Und fo begreift man, wie zwei äußerlich fo grund verſchiedene Naturen fein Blondkopf verriet vorherrſchend Sinnlichkeit, feine ſpitze ſteile Handſchrift ausgeprägte Selbſtſucht trotzdem innerlich zufam- menhingen. Darf ich jagen, daß wir beiden das Echtgermaniſche in uns trugen, daher in tieſſtem Gegenfaß zur Zudäoberliniſchen Literaturverſeuchung ſtanden, wie fie heut auch in Münden klaſſiſche Vertreter hat? So wenig wie ich hat er ſich ſolche „Revolution der Literatur“ geträumt, die in den Händen geſchmeidiger Diobſkuren zu bloßer Formtechnik entartete. Wer aus dem geiſtreichen Nachſchlagebuch für heutigen Literaturgeſchmack von Soergel die ganze Verdrehtheit der Maßſtäbe kennt, wobei Bedeutendes und Unbedeutendes gleichmäßig wie Kraut und Rüben im Kochtopf einer lebensloſen Aſthetik ſchmoren, verſteht gut, warum knorrige Ungewdhniidfeit wie die Conrads von Aeingeiſtern und Nur-Literaten als Charlatanerie empfunden wird. In einem Neujahrsartikel über Locarno hieß es, daß ich, „der ewig Junge, geiſtig wie ein Rede der Vorzeit anmute“; ich aber denke wehmütig der Jugend, wo Recke Conrad neben mir ſchritt, Vertreter eines Geſchlechts, das gewiſſermaßen mit Bismarck zu Grabe ſtieg wie mit Richard Wagner, Dahin für immer

Nachwort. De mortuis nil nisi bene iſt ein verlogenes Philiſterwort, das nie für Männet

Albin Egger-Lieng 395

der Öffentlichleit paßt. Indeſſen hütete ich mich, den erheiternden Nachrufen auf Liliencron, über deſſen Empfang in Munchen durch Conrad mir Reder ſehr für beide Bezeichnendes er- zahlte, auch nur eine Silbe hinzuzufügen. Und doch ſchuldet man hervorragenden Toten nur eines: Wahrhaftigkeit des Urteils nach allen Seiten. Literaturgeſchichten der Gegenwart werden von Leuten gefchrieben, die nie entfernteſte Berührung mit Menſchen und Bingen batten, über die fie urteilen. So zitiert Soergel in feinem koſtbaren Bleibtreu-Kapitel, wo er ſich unbewußt zwiſchen zwei Stühle fest, denn auch meine erfolgreichen Totſager find wenig davon erbaut, noch in ſoeben erſchienener Neuauflage einen Schmähvers Hartlebens. Konnte er ahnen, daß dieſer praktiſche Humoriſt, als er mir in Züri „gehorfamft“ nachlief, vor Zeugen feierlich ſchwor, er habe fein albernes Geſchreibſel ausgemerzt? Als Leo Berg den Drudfab brauchte: „feiner bewies ihm Pant, keiner hielt ihm Treue, ſchon das verſöhnt feine einſtigen Freunde“, urteilte er wenigſtens aus genaueſter Kenntnis der Verhältniſſe. Schriebe ich über Conrad ohne das angedeutete Perfdnlide, fo müßte ich lügen und fälfchen, Deshalb iſt aber auch mein Zeugnis im guten die Wahrheit. Karl Bleibtreu

t D tan!

Albin Egger⸗Lienz

Zum ſechzigſten Geburtstag des verſtorbenen Meiſters am 29. Januar 1928

bin Eggers oſttiroliſche Heimat Lienz, deren Name ſeinem Maleradel dient, hat in einem ndervollen Dreiklang feine Runftform vorgezeichnet: denn drei weſensverſchiedene Landſchaften reichen ſich im Städtchen Lienz, am Zuſammenfluß der Zjel und der Drau, die Hand, um ſich zu einem großartigen Bild zu vereinen: die Lieblichkeit der grünen, freundlichen Kärntner Bergwelt ſieht ſchüchtern, ja faſt erſchreckt dem drohendgewaltigen Vall der Hohen Tauern in das bergfurchige Antlitz, während in der ſchon ſüdlichen Sonne die Dolomiten ihre felfigen Formen funkeln laſſen. Um ſich in Eggers Kunſt vollkommen einfühlen zu können, ift es faſt unerläßlich, in Lienz dieſem hehren, dreifachen Bergklang gelauſcht zu hoben; man muß vom nahen kleinen Doͤrfchen Nußdorf, das ſtets der Lieblingsaufenthalt Eggers geweſen, im Abenddämmer den Wänden des Hochſtadl, der Laſerzwand und des Spitzkofel in ihr roſiges Verglühen ſchauen, oder man muß zum Triſtacher See emporgeftiegen fein, um durch die Baumkronen hindurch auf das von den Mäandern der Drau durchzogene Talbecken und darüber auf die ſchneeigen Ferner zu ſehen; vielleicht gar zum kleinen See, an deſſen Ufern einſt der kleine Albin ſtundenlang dem Zug der Wolken und dem Kreiſen der Geier zuſah. Man muß den Berghang emporklimmen, der einen Blick in das ſonnenbeglänzte Rarntnerland ge- ſtattet; da erſt tritt die Geſtalt des großen Malers in ihrer künſtleriſchen Größe vor das geiſtige Auge.

Ein Lienzer, der ausgezeichnete Landſchafter und fpätere Flluftrator Ganghofers, Hugo Engl, ein Schuler Defreggers, beredete den Vater Georg Egger, der ſelbſt ein Rünftler von nicht alltäglicher Art war, den Sohn feiner Malerneigung folgen zu laſſen, und fo kam er fieb- zehnjährig auf die Akademie in München und lernte bei Hackel und Lindenſchmit zeichnen; ungemein raſch iſt feine Auffaſſung, und Piloty verleiht ihm die erſte Medaille. Er beſucht Defregger in feinem Atelier und ſteht ſchüchtern vor dem großen Heimatgenoſſen. Er kopiert alte Meiſter und erhält von Kaulbach, der inzwiſchen Piloty als Akademiedirektor gefolgt war, zahlreiche Aufträge, die ihm früh fein Brot verdienen helfen. Egger vergißt über ernſtem Stu- dium und Aneignen der Technik nicht den Grundſatz, den ihm ſein über alles geliebter Vater ſchon früh ans Herz gelegt hat: daß die Natur ſtets ſeine Führerin bleiben ſolle, daß nur die ftete, unmittelbare Anlehnung an fie ein Abirren vom Wege der Runft unmöglich mache. So

396 Albin Egger Beg

oft es die Zeit erlaubte, zogen Vater und Sohn in die Berge; ſtundenlang fiſchte der Vater an der „Laue“, die, wie ein kriſtallener Faden die zu Füßen des Hochgebirges gelegenen, ſaftgrünen Wieſen durchſchlängelt; und Egger erzählte oft, daß er ſich damals gar nicht fatt feben komm an dem geheimnisvollen Dunkel, das die tiefgebeugten Weidenſträucher über dem klaren, leisen WVaſſer bilden. So beſtimmt die Naturanſchauung die Jugend Eggers und durchdringt die Seel des Mannes. Er hat die Akademie verlaſſen, bleibt in München und bezieht fein eigenes Atelier. Er verkauft feine erſten Bilder und hört die Stimmen der Kritik, der auch nur im entfernteſten entgegenzukommen ihm in feiner felſenfeſten Treue zu ſich ſelbſt niemals gegeben war. Im Künſtlerhauſe in Wien, der Stätte feines erſten und letzten großen Erfolges, hing 1895 fein „Karfreitag“: eine zu Füßen des Betſtuhles ſitzende alte Frau, zwei danebenſtehende Kinder find in Andacht vor dem heiligen Grab verſunken. Wer je auf einſamer Gebirgsftraße dabin- ziehend eine ſchlichte Frau fab, wie fie mit gläubig geſenktem Köpfchen vor dem Gekreuzigten ſtand ein Sinnbild menſchlicher Demut wird dieſes Bild nur mit tiefer Rührung be trachten können.

Die tiroliſche Hiſtorie ließ Egger damals feine naͤchſten Werke ſchaffen, die beſtimmend find für die erſte Epoche feiner künſtleriſchen Entwicklung und zugleich den Abſchluß einer Schaffens zeit darſtellen, zu der der Künſtler nie mehr zurüdgegriffen hat. Das bedeutendſte Bild dice Zeit iſt der „Speckbacher“, der tiroliſche Achill mit glühender Kampfesgier, mit unerbittliche: Entſchloſſenheit und mit unauslöſchlichem Haß.

Er geht von München nach Wien; nicht leichten Herzens, die Runftftadt an der Zar wa ihm in ihrer glüdliden Vereinigung von geſunder Geiſtigkeit und naher Hochalpennatur ars Herz gewachſen. Aber in Wien hoffte er die Einſamkeit der Großſtadt zu finden, ohne jene geiſtige Anregung entbehren zu müffen, deren er als junger Rünftler noch nicht entraten konnte. In Wien ſchuf er feine großen Werke, die feinen Namen in alle Welt trugen und in ihrer ſchlich⸗ ten Sprache auch die Herzen jener eroberten, die bis dahin ſeiner Darſtellungsweiſe fremd gegenüberftanden. Egger hat die Welt des Hochgebirges in ihren Schrecken und Tüden kennen- gelernt, und auch er flüchtete gleich den Brüdern und Schweſtern feiner Heimat zu Gott; er war jedoch ſtets zu ſtark, zu kraftvoll, um im Kultiſchen einer Religion ſtecken zu bleiben. Weitab vom Ronfeffionellen liegt die ſittliche Größe feiner Kunſt, und nur fo find die „Wallfahrer“ aufzufaſſen, ebenſo feine „Maria mit dem Kinde“ und feine „Chriſtnacht“.

In Längenfeld im Ogtal weilte er viele Sommer; in feinem dortigen hochalpinen Atelier reifte immer mehr fein Drang zur monumentalen Form: das Gemälde „Vorfrühling in Tirol“, das zum fpdteren Gemälde „Das Leben“ führte, läßt dieſe ihm eigenſte Kunſtrichtung ſchon deutlich erkennen. Er malte daſelbſt feine „Hirten“, das einzige Werk mit einem leifen An- flug feinſinnigſten Humors: müdegearbeitete Alpler ftellt es dar, die gottergeben und blinzelnd mit einer köſtlichen Geruhſamkeit daſitzen. Sein Werk „Mittageſſen“ entſtand dort, das von der italieniſchen Staatsgalerie in Rom angekauft wird, der „Bergraum“, ein Bild von erfdiittern- der Einfachheit: ein trotziges, maſſiges und breites Hochgebirgstal, eine mächtige Faltung des Bodens, eine Kerbe, die wie eine Wunde tief in den Bergkörper einſchneidet; die Größe, die Erhabenheit der Schöpfung hat Egger in dieſem Werk meiſterhaft feſtgehalten.

Im Schatten einer Kirche in Längenfeld entſteht ſein „Totentanz“, jenes Bild, das ihm zu dem verholfen, was er ein wenig ſpöttiſch lächelnd Berühmtheit nannte. Man ſchrieb das Jahr 1909, die Furie des Krieges pochte an die Tore des Landes.

Deutſchland war auf Egger aufmerkſam geworden; der Direktor der Akademie in Weimar, Fritz Mackenſen, berief ihn als Profeſſor dorthin. Egger ſtand auf der Höhe ſeines Schaffens. Nichts ſchien den Himmel? zu trüben. Und doch fehlte ihm etwas: feine Berge, die Größe des Hochgebirges, auf die ſeine Seele abgeſtimmt war, der urgewaltige Eindruck von außen als Antrieb ſeines Schaffens. „Mir war Weimar viel zu niedlich“, ſagte er mir einmal lachend. Mit ehrlicher Trauer ließ man ihn ziehen, und wie ſehr er als Lehrer geſchätzt war, erhellt wohl

Zur Reform der evangeliſchen Rirchenmuſit 397

am beiten aus der Tatſache, daß ihm Deutſchlands Jugend bis nach Tirol folgte, um in einer d uüͤrftigen Dorfſchule unter ihm weiterzuarbeiten.

Egger hatte in dieſer Zeit den „Teufel und Säemann“ gemalt, das Gleichnis der Bibel ver- wendend, aus der er als Kind täglich der Mutter vorlas; ferner feinen „Veihwaſſernehmenden Bauer“, ein Wert, das zu den Lieblingswerken des Rünftlers zählt. Er iſt inmitten feines Schaf- fens (ein großes Werk, das eigentlich bis heute unvollendet blieb, harrt der reifen Faſſung); hatte er ſich doch ſeine Arbeit nie leicht gemacht und ſtets in Dutzenden von Skizzen vorgearbeitet, „wie eine Geburt iſt mir die geiſtige Konzeption, ein ruheloſes, verzweifeltes Kreiſen“.

Wie ein vernichtender Schickſalsſchlag trifft der Ausbruch des Voͤlkerringens das Gemüt des Meiſters; die erſten heimkehrenden Soldaten erzählen von den Schreckniſſen des Krieges, und der Künſtler formt die ihm aus den Erzählungen gewordenen Eindrüde zu feinem Wert „Die Namenloſen“, Er ſchafft damit das Kriegsbild, dem die Kritik einmütig Ewig keitswert bei- meſſen muß.

Der Künſtler eilt als Standſchütze in den Schützengraben, um ſein Heimatland Tirol zu ver⸗ teidigen; er malt zahlreiche Kriegsbilder, deren oft beträchtliche Raufſumme der Kriegsfuͤrſorge erhalten bleibt.

Die reifſten Schöpfungen des Meiſters entſtehen nach dem Kriege. Das Leid der „Kriegs- frauen“ verkörpert er in einer tief zu Herzen gehenden Darſtellung; in dem Gemälde „Die Mütter“ nimmt er die Heiligkeit der Mutterſchaft zum gedanklichen Inhalt, um wieder in dem Bilde „Familie“ dem ſchlichten reinen Sinn, der für ihn ſtets in dieſem Begriffe lag, warmen Ausdruck zu geben. An Stelle der wirklichen Bewegung tritt die Gebärde; Andeutung und AUmriß löſen das Zeichneriſche ab; große Formen und Flächen nehmen mit ungemein Starter Eindringlichkeit den Blick des Beſchauers gefangen und führen ihn in den Inhalt des Gemäldes, in feinen ſymboliſchen Gedanken.

Im Sommer 1925 faßt ſeine Heimat Lienz den Plan, den im Weltkrieg gefallenen Helden der oſttiroliſchen Gemeinden ein würdiges Denkmal zu ſetzen. Selbſtlos eilt Egger nach Lienz und ſchafft an den Wänden der Kriegergedächtnis kapelle feine Freskogemälde „Die Namen- loſen“, den ſo viel umſtrittenen „Chriſtus“ und ſchließlich ſein erſchütterndſtes Werk: den im offenen Sarge in unheimlicher Starre und majeſtätiſcher Todesruhe liegenden Soldaten; die Werke blieben unverſtanden und ſetzten ihn heftigen Angriffen aus.

Hatte ihn ſeine Heimat Lienz ſchon vor vielen Jahren dadurch zu ehren gewußt, daß ſie eine Straße Albin Egger Straße taufte und ihm nunmehr auch das Ehrenbürgerrecht zuerkannte, fo wollte nun auch die Alma mater der tiroliſchen Hauptſtadt nicht zurückſtehen und verlieh ihm die feltene Auszeichnung des Ehrendoktorats der Univerfität Innsbruck.

Egger zieht wieder nach Bozen zurück, um feine Kraft einem neuen Werk zu widmen, dem „Proteſt der Toten“; er will arbeiten, ſchaffen, hat noch fo viel der Welt zu ſagen da nimmt ihm der Tod den Pinſel aus der Hand... Joſef Soyka

Zur Reform der evangeliſchen Kirchenmuſik

ſind ſich heute wohl alle unvoreingenommenen Freunde der evangeliſchen Sache darin einig, daß eine der ſtärkſten Werbemächte für Luthers Kirche in der Gegenwart die fünft- leriſch hochſtehende Musica sacra fein kann und fein darf, und daß hier wiederum für den Erfolg die Frage entſcheidend fein wird, wieweit es gelingen mag, das Kirchenchorweſen neu aufzu- forſten. Denn ſo wichtig und echt proteſtantiſch zweifellos der Gemeindegeſang iſt, bleibt er doch immer auch im Fall günſtigſter Entwicklung der allgemeinen muſikaliſchen Volksbil⸗ dung an die Tatſache unlöslich gebunden, daß er (künſtleriſch genommen) Laienwerk dar-

398 gur Reform ber evang eliſchen Richt

ſtellt. So gewiß über Laienfrömmigkeit und private Andachtsgefühle des Kirchengängers hines

der theologiſch gebildete Prediger das eigentliche, entſcheidende Wort ſprechen darf, iſt auch ita

den Singtrieb der gläubigen Menge hinaus ein fachmänniſch geleitetes, kunſthaftes Mufitween dem Gottesdienſt unentbehrlich, das durch den harmonieſtüͤtzenden, weſentlich nur dem Kirchen lied dienſtbaren Organiſten nicht allein verkörpert werden ſollte. Niemand hat herzliche, dringender, ſtürmiſcher auf die Bedeutung des liturgiſchen Chorgeſangs hingewieſen, als be Reformator felbft man denke nur an fein zorniges Wort wider die „Schnarrhanſen“ die as falſcher Sparſamkeit dem Kurfürſten geraten hatten, die Torgauer Schloßkantorei eingehen u laſſen. Wie in heutiger Zeit die ſich gegen Neugründungen freiwilliger Kirchenchöre aufticmer den Schwierigkeiten zu beſeitigen oder wenigſtens zu mindern find, habe ich letzthin verſchiedem · lich in Fachblättern (Monatsſchrift für Gottesdienft und kirchliche Kunſt, Correſpondenzblatt des evangeliſchen Kirchengeſangvereins für Oeutſchland) vorſchlagsweiſe erörtert; neben den Fragen der Mitgliederwerbung, Dirigentenauswahl, Noten finanzierung uſw. ſpielt da eine Hauptrolk die Beſchaffung wertvoller, echt kirchlich würdiger und doch volkstümlicher Literatur, die leich ausführbar und beſchaffbar ift, die aber vor allem befähigt fein muß, die Hörerfchaft in die Aberzeitlichkeit zu erheben.

Oer ſchwierigſten und wichtigſten dieſer Forderungen, der ſtiliſtiſch-kompoſitoriſchen, zu ger nügen, iſt ein eigen Ding. Wohl werden auch heute noch von gar manchem Kirchenmuſikdirettn mit Eifer und Können Motetten und Chorlieder für den Gottesdienſt erſonnen aber wie ſelten find da doch die Treffer! Der Fehler iſt meiſt, daß in den Liedertafelftil der Geſanz vereine mit ihrer weichlichen Sentimentalität verfallen oder im Gegenteil eine blaſſe, far Korrektheit ohne Saft und Kraft erreicht wird, im beiten Fall aber eine Perſönlichkeitsver bundenheit, die im Zeitalter des Individualismus eine wirkliche Gemeindewirkung, jenen vie beſungenen, zuſammenzwingenden „Geiſt der erſten Zeugen“ kaum zuſtandekommen laßt Immerhin, hoffnungslos brauchen wir nicht zu werden, denn was Brahms, Herzogenberg, Reger geſchaffen haben, darf auch noch den Ausgang des 19. Jahrhunderts mit hohen Chee ſchmüͤcken, und daß heute ein Meifter von der Bedeutung Arnold Mendelsſohns unter uns lett, daß Kaminſkis Magnifitat, Curt Thomas' Markus paſſion in den letzten Jahren entſtehen kom ten, gibt freudiger Zukunftshoffnung Raum. Dazu die ganze Herrlichkeit der Altmeiſter, die in vielen guten Sammlungen neu erweckt worden iſt.

Aber der Gottesdienſt ſoll ja nicht durch Nonzerteinſchübe und ſeien fie noch fo kirchen. würdig erweitert werden, ſondern ſoll recht aus ſich ſelbſt und der liturgiſchen Handlung heraus durch den Chor verſchönt und belebt werden. Dabei erwächſt ihm insbeſondere die Auf- gabe, das „de tempore“ auszuprägen, d. h. den in den Perikopen von Evangelium und Epiſtel feſtgelegten Sondercharakter und Einzelſinn der Feſte und Feiertage im Ablauf des Kirchen jahre zu betonen, zu vertiefen, zu feſtigen. Dazu hatte Luther aus der alten Zeit die Introlten, Antiphonen, Refponforien, Altarſprüche übernommen, deren manche heut noch in den Sonn. tagsnamen („Cantate“, „Oouli“, „Misericordias Domini“) nachklingen, und das 16.— 17. Jahr hundert hatte ein Lied De tempore hinzugefügt, das auch die fog. feſtloſe Hälfte des Kirchen jahres mit Sinn, Spannung, Anteilnahme der Gemeinde zu erfüllen beitrug. Bachs Zeitalter hat ſchließlich noch die in den Peritopen verankerte Kantate als künſtleriſche Hochblüte bei- geſteuert.

Die muſikaliſche Aufgabe muß heut vor allem darin geſehen werden, das de tempore in a- capella - Sãtzen des Kirchenchors auszuprägen, und ein Meiſter der hiſtoriſchen wie ptaltiſch tbeologiſchen Forſchung, der mit über neunzig Jahren verſtorbene Schleswiger Ehrenadt D. Rochus v. Liliencron, hat in feiner „Chorordnung“ (Bertelsmann in Gütersloh) die en ſprechenden Singtexte muftergültig zuſammengeſtellt, auch hochwertvolle leider heut ver griffene „Erläuterungen“ hineingefügt. Das wäre aber bloßes Schema geblieben ohne den rechten muſikaliſchen Helfer. Da hat Lilieneron der erfahrene Organifator der Allg. deutſchen

gur Reform ber evangeliſchen Ricchenmufit 399

Biographie mit ſicherem Griff den beſten Mann herausgegriffen, der ſich finden ließ, Herzogen bergs Schüler Heinrich van Eyken, einen Tonſetzer, der in vier ſtattlichen Partiturbänden (Verlag Oreililien, Berlin) das geſamte Kirchenjahr mit Ehorfägen teils alter Meiſter, teils eigner Herkunft, vorſchlagsweiſe, unvorgreiflich, verſuchsweiſe verſah. Wenigſtens wollte der beſcheidene Meiſter dieſerhalb keinen monopolhaften Zwang ausgeübt wiſſen. Sieht man aber feine Tonſätze durch, die feine bekannten Lieder m. E. weit an Können und Haltung über- ragen, fo treffen wir auf geradezu ideale Loͤſungen des ſchwierigen Problems; in glüdlichfter Weiſe ift Würde, Leichtigkeit, Uberzeitlichkeit des Satzes mit leis moderner, perfönlicher Geftal- tungsweiſe gepaart, die Auswahl alter Gage verrät einen mit allen Jahrhunderten evangeliſcher Kirchenmuſik vertrauten Renner, und jeder Bruch zwiſchen Altem und Neuem iſt dadurch fein; ſinnig vermieden, daß van Eykens eigene Sätze meiſt auf jenen gregorianiſchen Melodien auf- gebaut find, die den betreffenden Texten ſchon ein Zahrtauſend hindurch zugeordnet geweſen find. Das bedeutet gewiß keine Gefahr des Ratholifierens der proteſtantiſchen Muſik, ſondern ift ein Wiederbeſinnen auf den herrlichen Allgemeinbeſitz chriſtlicher Kunſt vor der Kirchenſpaltung, der uns heute ja auch wieder Auguſtin, Franz von Aſſiſi, Meiſter Eckart nicht als katholiſch, ſondern als unſere geſamtchriſtliche Ahnenſchaft, neu lieben und verehren läßt.

Heinrich van Enten, aus holländiſchem Stamm, Sohn eines Elberfelder Organiſten aus Schumanns Freundeskreis, am Leipziger Konſervatorium unter den „Sieben Raben“ der Frau von Holftein aufgewachſen, dann Rompofitionslebrer an der Berliner ſtaatlichen Mufithodfdule und von Hermann Kretzſchmar an die ſtaatliche Akademie für Kirchen- und Schulmuſik berufen, ift leider {con mit 47 Zahren verftorben, ſonſt wäre noch weiter Großes, zumal auf dem Gebiet der Motette, von ihm zu erwarten geweſen. Aber wir haben ja dies fein Hauptwerk, die Chor; ordnung. Nur faßt man ſich an den Kopf, wenn man hört, daß die herrliche Arbeit ſeit Jahren im Verlagsmagazin ſchlummert, ohne daß auch nur hie und da ein Exemplar verkauft wird. Da halten die Kirchenmuſikbefliſſenen Sitzungen, Konferenzen, Kongreſſe ab, philoſophieren was geſchehen könnte, müßte, follte und was fie ſuchen, iſt in denkbar vorbildlicher Geſtal ; tung vorhanden, ohne daß man es nutzt. Hier kann man nur werbend rufen und ſingen „Videte et gustate“ „Sehet und ſchmecket!“

Man hat mir von praktiſcher Seite jenes bisherige Brachliegen damit erklärt, das alleinige Vorhandenſein der Bände und Einzelausgaben nur in Partitur fet für die Kirchenchöre un; handlich und umſtändlich. Mag fein; und ich weiß zufällig, daß da es ſich um eine Art Gelbjt- verlagsverfahren handelt, kaum private Mittel da fein werden, um heute eine Stimmenaus- gabe herſtellen zu laſſen. So kann nur der herzliche Wunſch ausgeſprochen werden, es moch; ten das Rirdenregiment und der Staat gemeinſam die entſprechenden Beträge flüffig machen, um dieſes herrliche Vermaͤchtnis ſich auswirken zu laſſen. Als nach vieljähriger Arbeit van Eyken das Werk mit einer prachtvollen Hallelujafuge zum Michaelstag beſchloß, ſchrieb ihm Lilien- cron: „Ihre Zeit wird noch einmal kommen.“ Möge dies Vort der Zuverſicht nicht zuſchanden werden an kleinlichem Zögern und ſchwachherzigen Bedenklichkeiten man packe zu und nutze den köſtlichen Schatz! Prof. Dr. Hans Joachim Moſer,

Direktor der ſtaatl. Akademie für Kirchen- und Schulmuſik in Berlin

Die Papiermühle - Sreundfchaftsverträge mit Hintergedanken

Die lateiniſchen Schweſtern - Der kluge Briand und der Plügere

Kellogg Die Philoſophie der Kloſterküche - Der Völkerbund

gegen den Völkerbund Das Wohlwollen der Schöntuer Gezinkte Karten

ls wir noch Deutſchoſtafrika beſaßen, waltete dort für eine Weile ein Gouver A neur, der ein erpichter Aktenmenſch war. Die Schwarzen mit ihrem ſcharfen Blick für menſchliche Schwäche nannten daher das Regierungshaus die Papier- mühle; ihn ſelber aber den großen Herrn des Papiers.

Zur Zeit iſt unſer erworbener Beſitz ein Kolonialmandat der Engländer, allein ſie tun, als ob ſie dort zu Hauſe wären. Die Papiermühle aber hat man offenbar nach Genf verlegt. Der neue Völkerbundspalaſt, den ein Franzoſe und ein Welſchſchweizer unter Beihilfe von drei Italienern und einem Ungarn, aber keiner der beiden preis gekrönten Deutſchen, bauen ſollen, wird beſonders umfängliche Archivräume haben müffen. Denn die Staatsmänner find heute große Herren des Papiers. Zum Unter ſchied von Wallenſtein, der doch auch ein namhafter Politiker war, aber gerade darun nichts Schriftliches von ſich gab. Zum Unterſchied ferner von unſrem inzwiſchen ſelig entſchlafenen Aktengouverneur in Daresſalam. Denn bei ihm war's über gewiſſenhafte Umſtandskrämerei, ihnen aber iſt's Mittel, nationale Eigenſucht hinter internationaler Biederherzigkeit zu verkappen.

Wie viele Freundſchaftsverträge werden jetzt zwiſchen den Staaten geſchloſſen! Es iſt zum guten Ton geworden, fie einander anzubieten, wie Studenten zu vo: gerüdter Kommersſtunde das Schmollis. Sie werden auf buͤttengeſchöpftes Papier geſchrieben und eine Abſchrift im Archiv des Völkerbundes hinterlegt. Was dort jetzt ſchon aufgeſtapelt iſt, hält den Vergleich aus mit den ſiebzig Haupt- und tauſend Nebenbänden des Barmat-Prozeſſes. Aber alle dieſe Pakte ähneln einander an gab- nender Inhaltsloſigkeit. Denn die wirklichen, die wichtigen, zukunftsſchweren, die werden dem Völkerbund gar nicht erſt eingereicht. „Das Vefte, was du wiſſen kannſt, darfſt du den Buben doch nicht ſagen“, predigt Mephiſto feinem Fauft. Sein Ge dankenſplitter erweckt den Verdacht, auch er müſſe einmol Außenminiſter geweſen ſein. .

Selbft Muffolini ift einer von denen, die gern von Staat zu Staat Brüderſchaft trinken. So ungeſellig er ſonſt iſt. Natürlich verfolgt er ſeinen weitſichtigen Zweck damit.

Im Innern hat er gewiß Schätzbares geleiſtet. Zwar ſagt Nitti, das fei alles nut Bluff. Die Induſtrie verelende, die Landwirtſchaft ſtürze aus Kriſe in Kriſe, der Geburtenüberſchuß gehe beklemmend zurück. Einzig faſchiſtiſche Gewalttätigkeit unterdrücke dieſe Wetterzeichen und betrüge ſomit die Welt. Allein es iſt ein mif

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handelter Haſſer, der ſo ſpricht. Auch er könnte nicht beſtreiten, daß im heutigen Italien nie dageweſene Ordnung und Sicherheit herrſcht, daß der ſoziale Hader zwiſchen Fabrikherr und Arbeiter, der grimmiger tobte als bei uns, völlig erloſchen it. Und wenn auch die Stabilificrung des Faſchismus gleich einem rocher de bronce vornehmſtes Ziel bleibt, ſo iſt doch nicht minder die Stabiliſierung der Lira auf der Golbparitat von 19 für den Dollar eine Lat, die in Frankreich nie gelingen würde. Sie brachte der Finanzwelt eine Weihnachts freude und zugleich dem Staate ein gutes Geſchäft.

Auslandslorbeeren hingegen, friſche muntere Auslandslorbeeren hat Muſſolini bis jetzt noch nicht gepflückt. Und gerade hinter denen iſt er am emſigſten her.

Diefe Mißerfolge haben ihn in eine merkwürdige Zickzackpolitik hineingeriſſen. Er klopft hier und klopft dort an, geöffnet aber wird nirgends. Das hat er davon, daß er in ſeinen erſten Machtjahren an alle Nachbarn Fußtritte austeilte.

Um wenigſtens einen Bundesfreund gegen Fugoflawien zu haben, ſchlängelte er ſich kürzlich an Hellas heran. Aber da ſtand die rohe Bedruckung der Griechen auf den zwölf Inſeln, da ſtand fein Gelüft auf Kleinaſien und das öſtliche Mittelmeer wider ihn auf. Es wird kaum etwas werden.

Das ganze vorige Jahr über hatte der Faſchismus nach Frankreich hin mit den Fäuſten gedroht, in den Grenzorten ſogar des öfteren dieſe Fäuſte herzhaft ge- braucht.

Da bereitete der Duce wieder einmal eine feiner blitzartigen Uberraſchungen. Im Miniſterrat verkündete er, ein herzliches und dauerhaftes Einvernehmen mit Frank- reich ſei nicht nur möglich, ſondern geradehin nötig. Die vorhandenen Gegenſätze zu begleichen, ſei die nächſte Aufgabe. Er halte dies für leicht.

Seine Preſſe zeigte, wie trefflich ſie aufgezogen iſt. Haſt du nicht geſehen, gab ſie der transalpiniſchen Schweſter zärtliche Koſeworte und ſchwärmte für den latei- niſchen Block. Ein bißchen ſchlechte Regie war nur, daß ſie auch zugleich die Rechnung darbot. Die italieniſche Liebe ſtehe und falle mit zehn Forderungen; gerabe, weil ſie ſo heiß ſei, könne ſie's nicht billiger tun. Neben allerlei Zugeſtändniſſen in Tunis und Tanger ſollte die Adria als italieniſcher Binnenteich anerkannt werden. Italien müͤſſe geſicherten Anſpruch erlangen auf Kolonialmandate des Völkerbundes. Das Mittelmeer ſei aufzuteilen zwiſchen einer franzöſiſchen Vorherrſchaft im weſtlichen, einer italieniſchen im öſtlichen Teil.

Dies alles für Schweſterliebe? ſpottete man in Paris. Da ließ Muſſolini aus- einanderfegen, was für Tragweiten darin lägen. Der europäifchen Kultur ſci cin lateiniſcher Block „gegen die Barbaren“ ſo nötig wie das liebe Brot. Frankreich möge doch gefälligſt bis zum Jahre 1935 vorausdenken. Da muͤſſe das Rheinland geräumt fein. Was werde dann aus feiner Sicherheit? Zwar habe es ja das Papier von Locarno. „Allein unter uns geſagt, obwohl wir es ſelber unterzeichnet haben es iſt völlig wertlos. Sobald ſich Deutſchland erholt hat, wird es unaus- bleiblich ausbrechen aus dem Kerker von Verſailles. Wie gut, wenn dann Frankreich die Schweſter zur Seite hat, die politiſche, moraliſche und militäriſche Verbunden heit mit 42 Millionen Italienern.“ ö

Das griff wohlbedacht an der Franzoſen empfindlichſten Nerv. In Paris über-

Der Türme XXX, 6 26

402 Turniers Tagebuch

ſchlug man jedoch: Deutſchland iſt völlig entwaffnet. Man hat es außerdem ringsum luftdicht abgeriegelt durch Militärverträge mit Belgien, Polen, Tſchechoſlowakei, Rumänien und den Südflawen; lauter vollwichtigen Abkommen, die man eben deſſentwegen dei Nichtigkeitenbewahrſtelle beim Völkerbund ſatzungswidrig vorent- hielt. Was brauchte man da und für eine unſinnige Gegenleiſtung dazu noch den einſtigen Dreibündler, von dem Oeutſchland jo ſchmählich betrogen wurde? „Nein, ſo teuer erkaufen wir unſere Reue nicht.“

Das hat nun Italien von feinem Treubruch. Es ſteht auf der ſchwarzen Lifte derer, die mit Vorſicht zu genießen ſind. Selbſt bei denen, die es dazu verlockten und ihrer⸗ ſeits während des Krieges Schindluder fpiclten mit Vertragstreue und Völkerrecht.

Freilich iſt gerade Muſſolini der hitzigſte Hetzer zum Abfall vom Dreibund geweſen. Man weiß aud, daß er aller lateiniſchen Schweſterliebe bar, ſeitdem ſchon mehr; mals insgeheim ein deutſch-italieniſches Bündnis gegen Frankreich angeregt und ſich noch obendrein gewundert hat, daß dieſe holde Einfalt im nachtrogenden Berlin auf harte Schultern ſtie ß. Das Schönſte aber iſt, daß auch jetzt der „Lavoro“ ſchon wieder andeutet, wenn Frankreich nicht wolle, dann fei ja ſchließlich immer noch Deutſchland da.

Verhandelt wird zwiſchen Paris und Rom gleichwohl. Es ift ja fo Diplomaten art, leeres Stroh in die Dreſchmaſchine zu ſchütten, damit die harmloſe Welt ſich an dem herbſtlichen, fruchtverheißenden Surren ein bißchen erbaut. Es heißt auch, England bemühe ſich als redlicher Makler um den Ausgleich. Man ſieht nicht Nar warum. Beſtenfalls bringen jedoch die großen Herren des Papiers wieder einen Der- trag zuſtande, der reinlich und zweifelsohne beim Völkerbund hinterlegt werden kann. Alſo einen, der auch keine Lücke ließe, wenn er gar nicht geſchloſſen würbe.

Trotzdem haben alle italieniſchen Neujahrsartikel roſenrot gemalt. Muſſolini ſelber ſagte, er fühle tief und ahnungsvoll, daß das Jahr 1928 alle die Staatstrãume ver- wirklichen werde, die er ſein Leben lang geträumt. Sein „Messaggero“ aber bringt es gar fertig, von der Grablinigkeit der italieniſchen Staatskunſt zu ſchwefeln; der einzigen, die grundſätzlich gebrochen habe mit der verderblichen Geheimpolitik.

Wie kommt er zu dieſer verblüffend kühnen Behauptung? Vielleicht hat er nur an den Völkerbund gedacht. Da muß freilich anerkannt werden, daß in dieſem Punkte Muſſolini niemals geſchwankt und niemals geheuchelt hat. Des öfteren ſchon hat er die Genfer Diplomaten unverblümt eingeladen, ihm im Mondſchein zu be- gegnen.

Wer traut ſolche erfriſchende Offenherzigkeit einem Briand zu? Graf Coudenhove hielt jüngft in Berlin einen Propagandavortrag über fein Paneuropa. Dabei ſprach er von falſchen Parteigängern, die fic dafür einſetzten, weil fie nicht daran glaubten. Ich vermute, er hat dabei an das Vorſtandsmitglied Ariſtide Briand in Paris ge- dacht.

Auch dieſer iſt ein großer Herr des Papiers und daher ein Förderer der über- fluͤſſigen Verträge auf gegenſeitigen Edelſinn. Er bot den Vereinigten Staaten „zur Beſiegelung der zwiſchen beiden Republiken beſtehenden Freundſchaft“ einen Pakt ewigen Friedens unter Achtung jedes Krieges an. „Solange wir uns kennen, woll'n wir uns Brüder nennen, ein Hundsfott, wer es anders meint“, ſingt unſer deutſcher

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immerse Tagebuch 403

Burſch beim Landesvater, und jo ähnlich keineswegs drüber hinaus war auch der Vertrag gedacht.

Was ſtak dahinter? Frankreich iſt Amerikas Schuldner, und es hat noch nie ge- ſchadet, wenn man fid dem Gläubiger möͤglichſt anfreundelte. Außerdem ſieht Paris mit ſcheelem Auge das offenſichtliche Wiederannähern der Union an Deutſchland. Hat Frankreich nicht dem amerikaniſchen Helfer ein Denkmal errichtet? Iſt es da billig und recht, daß es auch noch achtzehn Milliarden Schulden obendrein bezahlen ſoll, derweil Botſchafter Schurman drüben feinen Hut herum reicht und 400000 Dol- lars ſammelt zum Neubau der Heidelberger Univerſität? Wer weiß, was alles noch werden mag! Als die amerikaniſche Beſatzung, aus Frankreich kommend, ſich in Koblenz eingelebt hatte, da äußerten des öfteren Soldaten zu ihren deutſchen Quar- tiergebern: „Wir haben diesmal auf der falſchen Seite geſtanden. Aber wartet nur, wenn's wieder ift —“ Es wai allerdings bloß der gemeine Mann, der fo ſprach, und der hat natuͤrlich auch in der Republik nur den befchräntten Untertanenverſtand. Aber der umſichtige Macher von Locarno und Thoiry baute doch lieber vor; er wollte die Union binden für den Fall eines deutſch⸗franzöſiſchen Zuſammenſtoßes.

Das war ſchlau. Waſhington indes zeigte ſich als noch ſchlauer. Es fand den Vor⸗ ſchlag fo ſchön, daß er noch unbedingt ausgebaut werden müffe. Das dürfe kein Bund zwiſchen zweien bleiben; die ganze Welt ſoll unter der Loſung „Nieder mit dem Krieg“ zum Beitritt aufgefordert werden.

Nach der anderen Seite bedürfe es freilich einiger bloß ganz nebenſächlicher Vor; behalte. Von dem ewigen Frieden, alſo dem grundſätzlichen Haager Schiedsgericht, ſollten ausgeſchloſſen ſein alle inneren Fragen, alle Belange einer dritten Macht und endlich alles, was der Monroe-Lchre widerſpricht; dem Grundſatz alſo, daß in Dinge, die auf dem amerikaniſchen Erdteil fpielen, kein europäifcher Staat dreingu- reden hat. Auch im übrigen behält der Senat ſich vor, ob er Haager Schiedsſpruͤche annehmen will oder nicht.

Das heißt im klaren Deutſch: Ich bin für den ewigen Frieden; je ewiger deſto beſſer. Ich hoſſe den Krieg und belege ihn, wenn er von anderen geführt wird, mit meiner moraliſchen Acht und Aberacht. Nur in meine eigene Betriebſamkeit laſſe ich mir nicht hineinſchiedsrichtern. Wenn ich in Nikaragua 25000 Mann lande, um in dieſem Gliederſtaate des Völkerbundes, „vom Geiſte der Freundſchaft geleitet“, Unruhen zu dämpfen, die ich ſelber anzettelte, wenn ich die zweihundert Generäle und dreihundert Soldaten dieſes Ländchens mit Bomben belege und ihnen ſo prahlte die gelbe Preſſe Neuyorks „die größte Schlacht der Union nach dem Weltkriege“ liefere, dann iſt nicht dies gegen den Pakt, vielmehr jeder Einſpruch von dritter Seite wäre es. Ganz ebenſo behalte ich mir vor, mein Flottenprogramm durchzuführen, das ſich auf zwanzig Jahre erſtreckt und im ganzen vier Milliarden Dollars koſten foll.

Erinnert dies nicht alles an die Philoſophie der mittelalterlichen Kloſterkuüͤche? Faſten iſt ſtrenges Gebot; wer es bricht, tut ſchwere Sünde. Aber Fiſch iſt kein Fleiſch; der Genuß alfo zuläffig. Und der Biber, lebt der nicht von Fiſchen? So iſt aud fein Fleiſch gar kein Fleiſch und Biberbraten daher kein Faſtenbruch.

In Frankreich wurde man ärgerlich. Dieſe Yankees hatten die Sache gerade fo ge-

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dreht, wie fie nicht werden ſollte. Die Preſſe warf ihnen ihre Vorbehalte vor. Of fie denn gar nicht daran dächten, daß man auch in Europa fein Nikaragua und feiac Monroe - Doktrin habe. Das erſte geht natürlich mit verräterifcher Klarheit auf uns. Was aber das zweite anlangt, ſo iſt dies doch ein merkwürdiges Wort im Munde derer, die 1917 aufjubelten, als die Amerikaner mit Mann und Nok und Wagen übers Meer gefahren kamen, um auf der europäiſchen Monroe-Doktrin herumzutrampeln.

Weltfriedensapoſtel Briand wäre nun in Verlegenheit geweſen, wenn es über-

haupt möglich wäre, dieſen in ſieben Waſſern gewaſchenen Mann in Verlegenheit zu bringen. Aber flugs hatte er ſich umgeſtellt. Als er den Pakt in Waſhington anbot, hatte ihm jeder Gedanke an den Völkerbund meilenfern gelegen. Jetzt wurde er plötzlich ein nibelungentreuer Eidgenoß. Die Satzung geſtatte nicht nur, ſie befehle fogar in gewiſſen Fällen den Mitgliedern den Krieg. Nämlich den gegen Friedens- ſtörer. Wenn man ſich nun nach Vorſchlag Kelloggs an alle Staaten, die dem Bunde beiträten, die Zuſicherung Davids an Saul: „Meine Hand ſoll nicht über dir ſein“ mache, ſo gerate man in unausgleichbare Gewiſſenswiderſtreite. Wer ſage denn gut dafür, daß einer von dieſen Brüdern nicht doch einmal einen Angriffskrieg vom Zaum breche? Somit widerſpreche ein ewiger Friedensvertrag dem ewigen Völker- bund, und Frankreichs peinliches Rechtsgefühl laſſe ſich daher um keinen Preis darauf ein. Om! Hatte aber nicht Briand ſelber dieſen ſelben ewigen Friedensvertrag an- geboten? Ganz ohne ſeine jetzige Einſchränkung, daß er unter dem Krieg, der da geächtet werden folle, nur den Angriffskrieg verſtehe? Wußte er denn, daß Amerika niemals Friedensſtörer fein und mit dem Völkerbund zuſammenprallen werde? Wir ſtehen alfo hier vor dem reizenden Zirkelſchluß, daß der Völkerbund, der ſatzungs⸗ mäßig den ewigen Frieden will, einen ewigen Friedenspakt ſatzungsmäß g un- möglich macht.

Überhaupt dieſes Genfer Statut! Mit ein bißchen Silbenſtecherei läßt ſich daraus ſogar beweiſen, daß es keinen anderen Lebenszweck hat, als ſich ſelber ums Leben zu bringen. Baldwin, der Hochtory, der Englands Geſchicke leitet, ſteht an Spitzfindig⸗ keit hinter dem franzöſiſchen Sozialiſten Paul- Boncour nicht im mindeſten zurück.

Sein Klügeln nämlich hat hinwieder entdeckt, daß den zum Zwecke der Welt- abrüftung gegründeten Völkerbund nichts mehr gefährde als jede Abrüftung. Artikel 16 und die Locarno-Verträge ſeien von der Gewißheit abhängig, daß im Falle eines nicht herausgeforderten Angriffs die Machtmittel Großbritanniens gegen den Angreifer in die Wagſchale geworfen würden. „Der Völkerbund kann nicht ge- ſtärkt werden durch Schwächung des britiſchen Reiches.“ Es muß dann freilich die Frage erlaubt fein, weshalb England fo eifrig an der Abruͤſtungskonferenz teilnimmt. Wohl, um dafür zu ſorgen, daß die andern abrüſten?

I Das macht verſtändlich, weshalb England in der Frage des Friedenspaktes auf Briands Seite trat. Man vertröſtete auf den Entwurf eines allgemeinen Vefrie- dungspaktes, den England dem Sicherheitsausſchuß des Völkerbundes zu unter- breiten ſich angeboten hatte. Er ſollte von außerordentlicher politiſcher Bedeutung ſein. Nun iſt er heraus; allein eine Offenbarung wurde auch er nicht. Er ſieht in Locarno „den Idealtyp eines Sicherheitsvertrages“. Auch in Zukunft wird man

Cirmers Tagebuch 405 Acht und Bann, hier zeitlich und dort ewiglich, auf den Angriffskrieg häufen, in dem ſelbſtſicheren Gefühl, daß man in der Kunſt, den Überfallenen zum Angreifer zu ſtempeln, erprobte Fertigkeit beſitzt.

Aus dieſem Geſichtswinkel heraus erblickt London in dem amerikaniſchen Vor- ſchlag einen unlauteren Wettbewerb. „Tretet doch in den Völkerbund ein, wenn Ihr fo friedfertig ſeid“, brummt es den jenfeitigen Vettern entgegen. „Ihr ächtet gar nicht den Krieg an ſich; nur den Krieg der andern. Und zwar bloß deshalb, weil dann eure Wirtſchaftsmacht unwiderſtehlich die ganze Welt beherrſcht!“ Keiner kennt die Schlupfwinkel hinter dem Ofen beſſer, als wer ſich ſelber gern dort verſteckt. |

Auch Muſſolinis „Tribuna“ kommt uns moraliſch. Sie hat herbe Worte über all dies diplomatiſche Heuchelweſen; dieſen Chloroformſchwamm, der wieder einmal der Welt vor die Naſe gehalten würde. Man könnte dem Duce beiſtimmen, wofern die faſchiſtiſche Gradlinigkeit nicht auch hier wieder auf halbem Wege ſtehen bliebe. Wenn er die Abrüſtungskonferenz für Mache hält, weshalb beteiligt er ſich? Wenn er das Heimlichtun verabſcheut, weshalb ſchickt er feinen ungariſchen Freun- den unter der Deckabreſſe Warſchau und falſcher Zollangabe fünf Wagen mit ſchweren Maſchinengewehren?

Tut doch mal nicht ſo! Euren ſchwarzen Punkt habt ihr doch alle. Iſt es nicht eigenartig, daß Briand trotz ſeiner ſo oft betonten Freundwilligkeit weder Mittel noch Wege fand, das freche Hindenburg-Plakat zu beſeitigen, das an allen Straßen- ecken von Paris hetzt? Man hat in Berlin ſein Bedauern ausgeſprochen, aber du lieber Gott ſo ein Wort der Entſchuldigung koſtet nichts als eine glatte Zunge. Gibt es überdies der Pöbelei das Recht auf Permanenz? Es fehle die geſetzliche gandhabe zum Verbot, fo heißt es. Als man im Elſaß die Autonomiſtenbewegung unterdrücken wollte, fehlte fie auch. Allein da griff man auf eine verſtaubte Verord- nung aus den Tagen des dritten Napoleon zurüd und verhaftete ſchonungslos. Man durchblättere nur einmal die Preßordonnanzen des bonapartiſchen Miniſters Perſigny, und man findet gewiß. Wo ein Wille, da iſt auch ſtets ein Weg geweſen.

Fragt nur Paul-Boncour. Der beweiſt euch alles. Jetzt hat er ſogar heraus, wie

| man den Fehler von Verſailles gutmachen und Deutfchland eine ewige Heeres

kontrolle aufzwingen könnte. „Alle Abrüſtungsverträge fordern eine Aufſicht. Auch Frankreich wird ſich ihr unterziehen müſſen, wenn es einmal abgerüjtet fein wird. Oeutſchland iſt jetzt ſchon abgerüſtet, muß fic alſo jetzt ſchon kontrollieren laſſen.“ Ein Meiſter dieſer Mann. Fordert ein geſchlachtet Maſthuhn und verſpricht dafür die Lerche, die da droben im Atherblau ſo ſchön trillert.

Auch der polniſche Außenminiſter Salefti hat in einer großen Rede dargelegt, was für Leute guten Willens die Polen find. Seine ausgeſtreckte Friedens hand wurde von dem deutſchen Geſandten Rauſcher feurig ergriffen und gedruckt. Dem- gemäß hält es auch unſere Linkspreſſe für taktlos, warnend darauf hinzuweiſen, daß in den Tagen des Wiederbeginnes der fo oft unterbrochenen deutſch-polniſchen gandelsvertragsverhandlungen ein Warſchauer Diplomat immerhin leicht auf den Gedanken kommen könnte, durch ein bißchen billige Schönwörtelei eine gute Atmo-

ſphaͤre zu ſchaffen.

406 Zürmers Tagebuch

Sit es auch tattlos, an das Weihnachtsſpiel zu erinnern, das im Stadttheater von Graudenz aufgeführt wurde? „Das polniſche Bethlehem“. In ihm befiehlt als moderner Herodes der deutſche Kaiſer den deutſchen Lehrern, die polniſchen Kinder recht grauſam zu quälen. Ein kleines Mädchen legt denn auch an der Heilandskrippe ſeinen Katech smus nieder, befleckt von dem Blute roheſter Züchtigung.

Darf man auch nicht auf Brzezie hinweiſen? Dort wollte die M.nderheitenſchule eine deutſche Weihnachtsfeier halten. Der Polizeitommandant ſchalt aber den Gaſt⸗ wirt aus, weil er feinen Saal hergab. Er teilte mit, daß die Feier von Polen g tort, von der Polizei jedoch nicht geſchützt werden würde. Zwei Stunden vor Beginn iſt fie dann wegen Gefahr von Ruheſtörungen ganz verboten worden. Die Sache liegt derart, daß der Präfident der völkerbündleriſchen Minderheitskommiſſion, der Schweizer Calonder, empört über dieſe ſchreiende Verletzung der Genfer Kon- vention, die ſofortige Abſetzung des ſchuldigen Poligeikommandanten fordert.

Ein deutſcher Profeſſor jedoch brachte gleichwohl fertig allerdings nur in Förſters „Menſchheit“ —, zu behaupten, die Behandlung polniſcher Minderheiten in Oeutſchland laſſe zu wüͤnſchen übrig und ſtehe hinter den Freiheiten der Oeutſchen in Polen zurück!

Auch denen hat Zaleſki gut zugeredet. Sie möchten doch durch Wohlverhalten gegen bie Obrigkeit, die Gewalt über fie hat, eine Politik deutſch-polniſcher Freund- ſchaft unterſtützen. An ſeine lieben Landsleute ſarmatiſchen Geblütes, wo es doch, wie die Beiſpiele zeigen, jo nötig wäre, hat er dieſelbe Bitte nicht gerichtet.

Ich beneide unſre Linksleutchen um die Unverwüſtlichkeit ihres Fefaia-Hoffens, daß die Zeit ſchon graue, da mit den Schafen friedlich die Wölfe graſen und die Löwen Stroh freſſen. Daran werden ſie ſo wenig irre, wie die Gläubigen des Tauſendjährigen Reiches, wenn ihr Prophet ihnen wieder einmal ongekündigt hat, übermorgen breche der Faingfte Tag herein. Ihrem fröhlichen Leichtſinn iſt daher unſer zugelaſſenes Flottchen immer noch unnötig groß. Sie ſtrichen demgemäß den neuen Panzerkreuzer, und der „Vorwärts“ meinte harmlos: „Wozu Werftarbeiter? Schickt ſie doch lieber zum Wohnungsbau.“ In Warſchau erklärte man dies für einen ſehr weiſen Vorſchlag. Aber ſelber bauen fie in Gdingen eine große Kriegs werft. .

Unfere Regierung iſt natürlich nicht fo vertrauensſelig. Sie kennt ihre Leute beſſer. Gleichwohl handelt fie ehrlich, wenn fie all die unehrlichen Vorſchläge freudig be grüßt. Da wir keinen Keieg mehr führen, kaum noch unſrer Haut uns wehren können, fo fordert unſer nüchternſter Vorteil, daß er außerhalb jeden Rechtes ge- ſtellt wird.

Wir täuſchen damit weder uns noch die Welt. Allein wir verkennen keinen Augen blick, daß jene Papiermühlen nur auf große Welttäuſchungen hinarbeiten. Wir wiſſen, daß wir in Genf mit Leuten zuſammenſitzen, die gezinkte Karten miſchen. Das Spiel, das ſie treiben, iſt umſchichtig politiſches Kümmelblättchen, Luſtige Sieben oder Gottes Segen bei Cohn. Dr. Fritz Hartmann, Hannover

(Abg eſchloſſen am 20. Januar 1928)

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Deutſche gegen Deutfche

ie exinnerlich, wurde im Weltkriege die

Bevolkerung der Vereinigten Staaten durch eine beiſpielloſe Verhetzung in eine Art von Kriegstaumel und zuletzt in den Krieg gegen Oeutſchland ſelbſt geſtuͤrzt. England hatte dieſe Verhetzung entfacht und bei den amerikaniſchen Metallinduſtriellen wie bei der Neuporker Hochfinanz eifrigſte Unterftügung gefunden. Nach ihren Maſſenlieferungen von Rriegsbedarf an England und Frankreich be- fuͤrchteten die amerikaniſchen Intereſſenten im Falle einer Niederlage dieſer Mächte eine Ge- fährdung ihrer großen Forderungen. Millionen koſteten die Verhetzungen, wurden aber von den Intereſſenten unter Beihilfe der Wilfon- Regierung aufgebracht. Die Verhetzung war gegen das Deutſche Reich gerichtet, traf aber unmittelbar die Deutſchamerikaner, die darunter bitterlich zu leiden hatten.

Der übelfte Auswuchs des Oeutſchenhaſſes war die unzweifelhafte Tatſache, daß bei der Aufitellung der amerikaniſchen Heere gerade die Deutidameritaner ausgeſucht und verhalt; nismäßig zahlreicher als die engliſchen und iriſchen Amerikaner den Truppen eingereiht wurden, die nach den Schlachtfeldern in Frank- reich vorangeſchickt wurden zum Kampfe gegen Oeutſchland. Deutſche gegen Deutfde!

Nach den Berichten der amerikaniſchen Preſſe über die Steuben-Feier in Neupork glaubte der amerikaniſche Kriegsminiſter Davis einen ſehr wunden Punkt, die Deutid- amerikaner im Weltkriege, berühren zu dürfen. In feiner Feſtrede ſprach er von den Dienſten der Oeutſchamerikaner im Weltkriege und er- zahlte: „Eine amerikaniſche Brigade erhielt, nachdem fie ſchon tagelang getampft hatte, bei ſtrömendem Regen den Befehl zum Nacht- angriff gegen die deutſche Linie, um ſie zu durchbrechen. Die deutſchſprechenden Freiwil- ligen (7) wurden zu der erſten Sturm- tolonne formiert. Dierhundert Mann aus allen Teilen der Vereinigten Staaten traten vor und bewieſen damit, daß der Geiſt Steubens

A 8 te.

noch im amerikaniſchen Heer lebte. Nach An- gabe des Rriegsminifters follen in dieſem Nachtgefecht die Deutſchamerikaner über die Oeutſchen geſiegt haben!

Diefe Auslaſſungen des amerikaniſchen Kriegsminiſters über die armen, für den Kriegsdienſt gepreßten Deutſchamerikaner zum Kampf gegen ihre eigenen Volksgenoſſen kennzeichnet einen Militarismus, wie er ehe; dem in den Zeiten der Göldnertruppen herrſchte, als für den nationalen Gedanken nod kein Verſtändnis vorhanden war. Von einem fo militariſtiſchen Rriegsminifter wie dem amerikaniſchen, war tein Verftändnis zu erwarten für den tiefen Schmerz, der jedes deutſchamerikaniſche Herz aufſchauern ließ durch die Vorſtellung, daß Deutide gegen Deutſche zu kämpfen gezwungen wurden. Leider verſagte ſelbſt der deutſche Vertreter, Legationsrat Riep von der deutſchen Bot- ſchaft in Waſhington, der nach dem Kriegs- minifter ſprach. Als Demokrat und Weltfrie- densmann mehr international gerichtet, jam; merte er über vergangene und künftige Kriege und hatte den Mut, die bedauerlide, ja be- denkliche Anerkennung des amerikaniſchen Kriegsminiſters für die Raͤmpfe der amerika; niſchen Oeutſchen gegen ihre eigenen Volks- genoſſen ausdrüdlich zu bekräftigen! Nach den vorliegenden Berichten ſagte er: „Es ſei ihm vergönnt, die Leute (die Deutſchamerikaner), die tapfer ihre Pflicht für eine Sache taten, für die ſie bereit waren, zu ſterben, feiern zu konnen (nicht zu feiern, zu beklagen waren fie). Ich bin überzeugt, daß es keinen beſſeren Weg zur Wiederherſtellung des Friedens gibt, als denen (den Deutſchamerikanern), die auf der anderen Seite (alfo gegen Oeutſchland) ihre Pflicht getan haben, dieſelben Ehren zu erweiſen wie den eigenen Landsleuten. In dieſem Sinne ſollte Steuben geehrt werden und in dieſem Sinne ſoll ſich auch das deutſche Volk der Ehrung des großen amerikaniſchen (deutſchamerikaniſchen !) Helden anſchließen, ebenfo der Ehrung feiner Nachfolger, die für dieſelbe Sache kämpften wie Steuben.“

8

Hat etwa der deutſche Botſchaftsrat ſagen wollen, daß die Nachfolger des großen deutſch⸗ amerikłaniſchen Helden Steuben für dieſel be Sache tanpften wie einſt Steuben? Liegt hier Unverftändnis oder Mißverſtändnis vor? Steuben kämpfte freiwillig für die Unab- hängigkeit der nordamerikaniſchen Staaten gegen England, die Deutſchamerikaner da- gegen unfreiwillig, gezwungen, nicht für eine Staatsnotwendigkeit, nicht für ein natio- nales Ziel, ſondern für die Zntereſſenten mãchtiger Kreiſe, für England und gegen Deutſchland ! Wer geſchichtlichen Sinn und nationales Gefühl hat, wird den gewaltigen Unterſchied erkennen zwiſchen dem rühmlichen Rampfen Steubens und feiner Deutſchameri⸗ kaner und den niederdrüdenden Gefechten deutſchamerikaniſcher Soldaten im Velttriege gegen ihre eigenen Volksgenoſſen, ge- gen ihr von übermächtigen Feinden bedräng- tes Mutterland

Man fragt vielleicht, was hätten denn die Amerikaner tun follen, um eine fo empfind- liche Verletzung des deutſchen Nationalgefühls zu vermeiden? Antwort: Von vornherein hätte man bei der Einziehung der Deutſchen zu den Kriegs heeren ſchonend und nicht etwa bösartig und gebdffig vorgehen müffen, In Frankreich ſelbſt hätte man, ſoweit irgend tunlich, die Deutſchen in der Etappe zurüdhalten und keinesfalls bei Anſtürmen auf deutſche Stel- lungen vorſchicken dürfen. Das Voranſchicken der Deutſchamerikaner zum Kampf gegen die Deutſchen war eine Rüdfichtslofigkeit, eine Vergewaltigung guter treuer amerikaniſcher Bürger und wird im Buch der Geſchichte als eine grobe Verſündigung an dem gerade von den Amerikanern hochgehaltenen nationalen Gedanken gekennzeichnet werden.

Paul Dehn

Michael Georg Conrad

iſt 82 jährig in München geſtorben. Mit dem Tode dieſes alten Recken aus Frankenland iſt ein Altmeiſter der einſtigen Literatur- Revolu- tion dahingegangen. Er leitete jabrelang die Zeitſchrift „Die Geſellſchaft“, anfangs zu- ſammen mit Rurl Bleibtreu, und beide Stür- mer haben in der Tat neuen Lufthauch in die

der D

Epigonen- Literatur gebracht. Aber man der nicht vergefjen, daß dieſe erite Schicht der Re polutionäre, obenan Bleibtreu, immerhin noc auf den großen Menjden, auf das ge toiſche, geſtimmt war. Grit nach ibnen lan

der eigentliche „tonfequente Naturalismus‘, |: vertreten durch Holz Schlaf und Haupt- mann. Es berührt uns heute geradezu tragiſo B: daß ſich Bleibtreus heroiſche Lebens anſchauu Wi.

nicht durchgeſetzt hat.

Conrad hat ſich zwar in zahlreichen R- manen („Was die Zjar erzählt“, _ Cutetic Töchter“ uſw.) und Gedichten („Salve Be gina“) kräftig betätigt, aber feine Beranlagm: war doch wohl mehr publiziſtiſcher Art. A:

ſolcher nahm er durch feine ganze Perſönlich- .

keit innerhalb jener Jahrzehnte eine An Führerſtellung ein.

Die Wirkung der von ihm gegründeten (18 „Geſellſchaft“ verblaßte nach und nach, ak Brahm mit der „Neuen deutſchen Rundicar im S. Fiſcherſchen Verlag Hauptmann Ibſens Naturalismus förderte, fo daß ma ſagen kann: der Geiſt des Händlertums ver drängte den letzten Anſatz des Heldentum, dem übrigens Conrads ziemlich gemifdt Männlichkeit nicht ganz eindeutig zuneigte. Er heiratete 1887 die gofſchauſpielerin Marie Ramlo und iſt nun in der fränkiſchen Heimat ſtadt Gnodftedt begraben, die ihn zum Eyren⸗ bürger ernannt und ihm auch ein Ehrengrab geſchenkt hat.

Der neue Eulenſpiegel

E. iſt um Gerhart Hauptmann immer de. alte Schaufpiel: die Berliner Linkspreſſt hat ihn von allem Anfang an durch Reklame hochgebracht; und auch jetzt, wo er in den mei- ſten Fällen verſagt, hält ſie durch dick und dünn an ihm feſt. Über das Verhältnis Haupt manns zur Preſſe wäre eine Ooktor-Diſſer tation zu verfaſſen .

Nun hatte Hauptmann in ſeinem neueſten Epos „Till Eulenſpiegel“ die Abſicht, die Seele des Nachkriegsdeutſchen zu geftalten. Wie aus manchen ſeiner früheren Werke und aus feinen gelegentlichen Rundgebungen be kannt, ſteht Hauptmann politiſch lints nif

tat der Barte

e cogzügig Über den Bingen und hat auch ke: nem neuen Epos dieſen politiſchen Cageblatt⸗ == “Hempel aufgeprägt. Infolgedeſſen wurde fein *g ques Werk vonder Berliner Linkspreſſe wieder “t= her alle Maken gelobt, ein „zweiter Fauſt“, 2 ne, neue göttliche Komödie“, ein „Pandämo- aum genannt und von der „Literariſchen zelt“ den Dichtungen Goethes an die Seite A iſtellt. Durch den letzten Vergleich wird Ger- kt Hauptmann beſonders beglüdt geweſen n, da fein Außeres wie die Lintspreffe “=<! ont Goethes Geſtalt, Würde und Veſen xr Amer ähnlicher wird. Nimmt noch jemand in zzscahfthaften Rreifen dieſe Kritik ernſt? Karl & Arecker, ſonſt tein Hauptmann-Gegner, und ger zulge andere kluge Berliner Kritiker (3. B. = saul Fechter) haben ganz anders geurteilt. Von den Hexametern Hauptmanns iſt die tert Kagdeburgiſche Zeitung“ hingeriſſen und hat som Eindruck großer elementarer und er- d dener Poeſie“. Einige der Hauptmannſchen fr rameter waren zur Probe in der „Röl- 1 f chen Zeitung“ zu leſen: En + die Mehrzahl ihn gleich nicht verſtand. Karl, wie kommſt du auf ſo was? Leiter gärte die Stadt. Speiſehäuſer, Cafés ar und, wo ſonſt fid

. Jet" 151 2

ze allmächtige Nullität, einer Null gleich, ce erhebt ſich.

die blutgierige Null, oder die Blut nicht ſehn kann, wie Nero

Dünnfte Luft. Weltraumäther nur noch? * Plötzlich rutſchen wir abwärts. „% a Ng eo ee a ee eg oe ee Run erft recht nicht: bevor du geblecht haft, 5 Menſch, wirft du nicht abziehn.

Wir können die Versart ſchon aus dem „ländlichen Liebesgedicht „Anna“ und können dieſen naturaliſtiſch-ſaloppen ungriechiſchen Hexametern keinen Geſchmack abgewinnen. Als ein „Gedicht für die Ewigkeit“ preiſt ein Berliner Abendblatt das Epos an (was man halt fo im abendlichen Berlin unter „Ewig- keit“ verſteht h), und das „Berliner Tageblatt“ nennt das Werk „das Geſchenk eines Unver-

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gänglichen an die Zukunft“. In der „Röl- niſchen Zeitung“ bedauert D. H. Sarnetzki mit Recht, daß die Berliner Preſſe dieſe „Fehlgeburt in Geiſt und Form“ als „gigan- tiſche Schöpfung“, als „geiſtigen Kosmos“ verherrlicht und die höchſten Superlative für ein kleinformatiges Erzeugnis verſchwendet.

Die beſte Prägung für fein ablehnendes Urteil ſcheint uns der genannte Paul Fechter gefunden zu haben (, Politiſche Wochenſchrift“) Er ſchreibt: „Das Ganze iſt ein fpdtes Echo der geiſtigen Makartzeit; man erlebt um Till und feine Abenteuer eine Welt von innerer Un- ordnung, fehlender Haltung, und Er- ſatz des Geiſtigen durch Gerede. Man ſagt einem Alternden nicht gern Worte, wie man ſie vor dieſem Werke brauchen muß. Man muß es aber tun, will man ſich nicht mitſchuldig daran machen, daß die Anſpruchsloſigkeit in geiſtigen Bingen, unter der die Nation jahrzehntelang und immer noch leidet, weiter und weiter verewigt wird.“ Das klug geleitete „Gewiſſen“ meint freilich: „Der größte Teil der nationalen Preſſe ſcheine ſeine nationale Aufgabe in der Verewigung dieſes Zuſtandes zu erblicken.“ Leider! Weil ſie die ungeheure Wichtigkeit gerade der Kulturarbeit noch gar nicht begriffen hat.

Nachſtehend eine Probe aus dem politifie- renden Teil des Epos:

„Die Gewalt dem Exwählten des Volkes, dem Sattler, zu rauben

hatten Menſchen verſucht, einen Mann, na- mens Rapp, an der Spitze.

Dieſe hatten die Fabne entrollt des geflüch⸗ teten Herrſchers,

der im ſelber gewählten Exil, auf dem Boden von Holland,

tuhmlos ſaß, das Verdikt feiner harten Be- ſieger erwartend:

Angeklagter der Welt! Doch der Retter des Reiches, der Sattler,

der die Zügel ergriffen, nach Gottes () Be- ſchluß, die der Flüchtling hatte von ſich geworfen .“

Wir brechen ab mit dieſer Tageblatt ⸗-Weis⸗ heit. Möge ſich die deutſche Welt nicht blenden laſſen von dieſer Art oder Unart von Dichtung und der dazugehörigen Lobtritik! D- n.

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Nachleſe

er „Sozialiſtiſche Freidenter hat feine Lefer belehrt, wie man ftimmungsvolle marxiſtiſche Weihnachten feiert. Der Vater

geht zunächſt durch die Räume und reinigt fie .

von allen etwaigen Bibelſpruͤchen, Ronfir- mationsſcheinen oder Bildern aus der Militär- zeit. Als Exſatz für den Tannenbaum kommt ein Transparent in die Stubenecke. Er zeigt eine Hand mit Fackel. Es wird nachdrücklich gewarnt, in die Kinderhirne den Unfinn von dem Knäblein in der Krippe hineinzuſingen. Dafür wird das Lied empfohlen: „Uns rettet kein höheres Weſen“.

Trefflich paßt in dieſen Rahmen, wenn die ſozialiſtiſchen Lehrer Hamburgs alle dem deut; ſchen Gemüt ſo lieben Weihnachtsgeſänge als „zerſungen und abgeleiert“ aus ihrem Lieder buch geſtrichen haben. Nicht minder aber, wenn Herr Schmincke, der kommuniſtiſche Groß

gebietiger über die Krankenhäuſer von Neu⸗

koͤlln, derſelbe, der den Schweſtern das Tiſch⸗ gebet unterſagte, bes weiteren ein Gebot aus- gehen ließ, daß die Weihnachtsfeiern in dieſen Anſtalten keinen religiöfen Charakter tragen dürften. Was er ſich unter einer Weihnachts- feier ohne religiöfen Charakter eigentlich vor; ſtellt, das wurde leider beizufügen vergeſſen. Die Kranken baben daher auf dieſen Genuß verzichtet, ſich jedoch durch einmütigen Be⸗ ſchluß die Geiftliden auf ihre Stationen ge- beten und dort nach chriſtlichem Brauche ge- feiert.

Sie werden ihren Segen davon gehabt haben. Allerdings dürfte es dabei kaum fo witzig zugegangen fein wie bei dem Weih- nachtserſatz der Hamburger Ortsgruppe des Moniſtendundes, dem Feſte der Winterfonnen- wende. Sie wollte offenbar zeigen, wie würdig fie der Gerechtſame einer Körperſchaft des öffentlichen Rechtes iſt, die ihr kürzlich ver⸗ liehen wurde. Daher lud ſie dazu ein mit einer gtogitfen Schaltheit, wie fie gerade Moniften, die doch ſo gern den Philoſophenmantel um die Schulter hängen, fo geſchmackvoll anſteht:

„Wmmt alle, Ihr leckeren Teufelsbraten, Ihr ſchmucken Satanshäppchen, Ihr ſüßen Höllenbiffen und feurigen Herchen. Kommt,

Auf der Barte

Ihr geſamte fündig geſprochene Schwefel bande. Auf zum ſinfoniſchen Heulen und Bahnetlappern mit Zazzbegleitung im wohl- temperierten Flammenſaale. Bei uns braucht ſich niemand auf naßkalten Himmelswieſen beim Hallelujahen den Schnupfen zu holen. ... Höllenhunde find an der Leine zu führen. Gewiffenswürmer haben nur mit Maulkorb Zutritt. Anzug dem Nima angepaßt: Lenden tuch mit Schärpe, Gasmaske mit Orden; für Damen noch weniger als im Vorjahr. In der Bar, da gibt es Lethe, Styx und anderes hoͤlliſches Gemix. Die Teufels küche führt als Spezialität: Miffionare am Spieß und Pfäff- chen im Met. ... Wir erwarten Euch Gander, alle zuſammen ! Kommt alle mit Euren Freun den und Flammen! Auf Wiederſehen denn in Satansnamen.“

Da hätte eigentlich Balesta Gert nicht fehlen dürfen, die jüngft in Berlin tanzte, wobei ein verzüdter Verehrer ihr nachrühmte, fie gieße Lafter und Unzucht in Tänze konzentrierteſtet Faffung um, forme „Typen der Verkommen⸗ beit, in denen Verbrechen, Wolluſt, Tragil, bis zur Groteske verdichtet, ganze Romane aufblättern“.

Da ift es nicht weiter zu verwundern, wenn Monſieur George Blun, der Berliner Ver- treter des Pariſer „Journal“, merkwürdige Begriffe von der deutſchen Bevölkerung ge- winnt. Er ſammelte derartige Zeitungsaus- ſchnitte und braute daraus unter dem Hod- druck einer ſchmutzigen Phantaſie ein pikantes Stimmungsbild von der Berliner Gilvefter- feier, das auch feinerfeits ganze Romane auf- blättert. Dabei feien fünfzehn Millionen Wein- flaſchen geleert, drei Millionen Geflügel, zwei Millionen Pfund Rarpfen und neun Millionen Pfannkuchen verzehrt worden. Bereits abends um acht Uhr ſeien die Hauptſtraßen in der Stadt ſchworz geweſen von einer angetrun- kenen Menge. Die Frauen trotz der Kälte leicht gekleidet, hätten Zoten gegrölt und den Männern die freimütigften Angebote ge macht.

Das war natürlich frech gelogen und eine unverfhämte Beſchimpfung der Berlinerin obendrein. Wenn die preußiſche Regierung gegen Monſieur George Blun ſoviel Tat;

Auf der Warte

kraft beſäße wie gegen den Reichsminiſter von Keudell, dann hätte fie ihn genötigt, dieſes Spree Sodom binnen 24 Stunden mit ſeinem Seine Babel zu vertauſchen. Zwar hat er ſich entſchuldigt, aber es bleibt immer etwas hängen und vergrößert ſich im weiteren Umlauf. Schon bringen ſpaniſche Blätter das Blunſche Märchen mit dem Zuſatz, daß die Berliner Polizei am Neujahrsmorgen bis ge- gen Mittag beſchäftigt geweſen, die in den Straßen herumliegenden Betrunkenen auf- zuleſen. Was uns da eingebrodt worden, fei es aus Lũgenbeutelei oder bewußter politiſcher Abſicht, das wird ſich auswirken bei der Re- viſion des Dawes- Plans.

Aber dergleichen kommt heraus, wenn man ſich von Valeska Gert Laſter und Unzucht in konzentrierter Faſſung vortanzen läßt und am heiligen Abend: „Uns rettet kein höheres Veſen“ ſingt. Wollen wir nicht doch lieber ftatt Sodoms Ende entgegenzutreiben, bei dem fröhlichen ſeligen Chriſtfeſt verharren und dem „ausgeleierten“ Lied von der ſtillen, der heiligen Nacht? F. H.

Jahrbuch der Goethe⸗Geſellſchaft

um dreizehnten Male ging das Jahrbuch

der Goethe-Geſellſchaft hinaus, von Max Heckers fürforglicher Hand feinſinnig betreut. Gedenkworte Viktor Michels für den ver- ſtorbenen Präfidenten Guſtav RNoethe leiten den Band ein (der Thüringer Landtag hat bekanntlich an Michels ſtramm nationalen Aus- führungen Anſtoß genommen). Der Band räumt Arbeiten zur naturwiſſenſchaftlichen Taͤtigkeit Goethes diesmal ein weites Feld ein. Zn dieſen goethiſchen Beſtrebungen ſucht man den tiefften Zugang zum Weſen des Dichters, der, wiſſenſchaftlich forſchend, in Entdeckungen, Erkenntniſſen und Beobach- tungen den Gehalt feines Charakters ver- feftigte.

Hans Wohlbolds Leitauffag: „Die Natur- erkenntnis im Weltbild Goethes“ ſtellt ver- dienſtlich in geſchloſſener Darbietung die tiefmenſchlich-ſeeliſche Wichtigkeit der natur- wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen des Genies dar, worin leider unſichere und unbewieſe ne

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Behauptungen erſcheinen. Karl Lohmeyer behandelt das Meer und die Wolken in den beiden letzten Akten des „Fauſt“. Die metereo- logiſchen Unterſuchungen bieten zugleich ein Bild von Goethes Beziehungen zum deut- ſchen Meere. Die Sturmflut 1825 und die Berichte Eckermanns uͤber die Wirkungen von feiner Hamburger Reife 1826 können auf die Lokaliſierung der beiden letzten Fauſtakte ein; gewirkt haben. Bedeutung voll die Erwäh- nung einer örtlichen Fauſtſage von Rigebüttel an der Niederelbe! „Hat Goethe die Eiszeit entdeckt?“ nennt Robert Philippſon feine Darſtellung von Goetbes Anſchauungen über die vorweltlichen Granitfindlinge der Schweiz und die Gneis ſowie Granitblide in der nord- deutſchen Tiefebene. Maria Dahl behandelt Goethes mikroſkopiſche Studien an niederen Tieren und Pflanzen im Hinblick auf ſeine Morphologie. Eine Krönung dieſer Unter- ſuchungen bietet Karl Hae-Berlin mit fei- nem Beitrag: „Oer Arzt Karl Guſtav Carus und Goethe.“ Der Naturforſcher und Philo- ſoph Carus bewährte in ſeinen Unterſuchungen Goethes Annahmen und verbreitete ſie durch ſeine bis in die fünfziger Jahre geleſenen Schriften. Seine Seelentiefenforſchungen Pſyche“, entſcheidend von Goethes Anregun- gen befruchtet, mußten, nach Verſchuͤttung in der maſſiven Zeit des Naturalismus, von den pſychoanalytiſchen (welch ungenügende Bezeichnung!) Schulen neu entdeckt und weitergetrieben werden. Gehalt und Geſtalt dieſes Auſſatzes entſprechen ſich in Fülle und Aarheit.

Die Veröffentlichungen leitet Jul. Wahle mit „Zwei neuen Goethe- Briefen“ an den Zenger Botaniker Batſch und an Fr. Zuftin Bertuch ein. Max Hecker folgt mit einem „Brief Ottiliens an Goethe“, der zu desſelben Herausgebers großer und prächtiger Arbeit weiſt: „Ferdinand Heinke in Weimar“, worin Hecker zart den Schleier vom Herzensroman Ottiliens und Adele Schopenhauers lüftet. Bernhard Seuffert ergänzt durch neue Briefe aus dem Goethe Schiller Archiv den Briefwechſel Wielands mit Goethe. Nachklin- gend der Ausdruck zum Zahreswechſel 1800 auf 1801: „Lebe wohl und erhalte mir im

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bevorſtehenden 19. Jahrhundert (an welches ich ſonſt wenig Anfprud zu machen habe) Deine Freundſchaft, die im letzten Viertel des achtzehnten mein Stolz und ein weſentlicher Teil meines Glückes war. Wieland.“ Herm. Freiherr von Egloffſtein veröffentlicht aus dem Nachlaß der Julie v. E. ein Doppelblatt: Blick auf Jena von der „Tanne“ aus und ihr Selbſtbildnis, die ſamt den Bildniſſen der Bettina v. Arnim und Grillparzers, von Julie, den Schmuck des Bandes bilden. Wenige literarhiſtoriſche Unterſuchungen fügen ſich ein. Johanna Jarislowſky ent- wickelt einen konſtruierten Aufbau der „Dene- tianiſchen Epigramme“, deſſen ſelbſt nur formaltheoretiſche Bedeutung geringfügig und beſtreitbar iſt. Karl Fr. Schreiber entwickelt in „Nochmals ‚Die drei Nymphen“ eine dritte Anſicht (1. Scheidemantel, 2, Cooper) zur Feft- ſtellung der letzten von Goethe eingefügten bindenden Szenen des „Taſſo“. Eine Mifzelle zur Kenntnis des Malers und Radierers Lud- wig Sebbers ſteuerte Otto Pniower bei: „Als ich ein junger Geſelle war.“ Dieſes Ge- dicht Förſters hielten Eckermann und Riemer für goethiſch und nahmen es in ihre Ausgabe auf. Wilh. Frels äußerſt verdienſtvolle Arbeit: „Goethe Schrifttum“ läßt erkennen, zu wel- chen Dingen Goethe ſeinen Namen leihen muß. Ex wird mißbraucht bei Werbung für einen Sportplatzbau; ja als Rrongeuge an- geführt gegen die Fürſtenenteignung! Den reichen Band beſchließt Max Wundts Feſtvortrag: „Goethes Geſtalt im Wandel deutſcher Weltanſchauung.“ Dr. Vs.

„Politik“ und „Feuilleton“ in den nationalen Zeitungen

as „Gewiſſen“ berührte kürzlich einen

wunden Punkt der deutſchen nationalen und rechtsſtehenden Preſſe. Man läßt es hier vielfach ganz bedenklich an Einheitlichkeit und Geſchloſſenheit fehlen. Es kommt oft vor, daß man den Geiſt, den man im politiſchen Teil der Zeitung pflegt, „unter dem Strich“ bekämpft. Man iſt ſich nicht genügend bewußt, daß die Einſtellung zu Kunſt und Literatur deute eine Weltanſchauungsfrage iſt in

Auf der Warte

mindeftens dem gleichen Maße wie die Ein- ſtellung zu den Fragen der Nation, Man ver- zichtet mit der Außerachtlaſſung dieſer Tat- ſache auf die große Linienführung. Die nationale Zeitung unſerer Zeit bekäme einen ausgeprägteren Charakter, wenn fie ſich aus der Enge des Parteiblattes zum Organ einer großen Richtung, einer Weltanſchauung erhöbe. Das iſt aber nur dann möglich, wenn ſtrenge Einheitlichkeit in den grundlegenden Dingen herrſcht, wenn politiſche Redaktion und Feuilletonredaktion in einheitlichem Geiſte arbeiten. Das „Gewiſſen“ erinnert an den Faſchismus in Stalien, der als geiſtige und künſtleriſche Bewegung begann und ſich zu einer lebendigen, das ganze Volkstum be⸗ herrſchenden Macht auswuchs, und fährt dann fort: „Es follte beifpielsweife doch eine Un- möglichteit ſein, daß in einem Blatt wie dem „Tag“ eine äußerft wohlwollende, nur mit einigen ſchüchternen Vorbehalten ausgeſtattete Kritik des neueſten Werkes von Gerhart Hauptmann, des „Epos“ Till Eulenſpiegel, er- ſcheint, eines formalſprachlich qualvollen und völlig unguldngliden, inhaltlich dummen und haltungsloſen Werkes, das eine Art „demo- kratiſcher Zlias‘ von 1918 bis 1927 iſt und eine innere Poſition hält ſoweit man diefem Gerede überhaupt eine Poſition unterſtellen kann —, die genau das Gegenteil der Ein- ſtellung iſt, um die fi der, Tag“ als Voraus- ſetzung feiner politiſchen Linie bemühen müßte. Ja fpüren denn die verantwortlichen Herren nicht die groteske Lächerlichkeit, daß man auf der erſten Seite den M Stahlhelm preiſt und auf der nächſten nicht in aller Ent- ſchiedenheit ein Buch ablehnt, ſondern an- erkennend würdigt, daß u. a. den Tod des

- Rapitänleutnants Paaſche zum Anlaß eines

pazifiſtiſch antikriegeriſchen Rapitels nimmt? Glaubt man, „Politik“ und ‚Geift‘ im ſelben Zeitungsblatt in zwei entgegengeſetzten Welt- anſchauungslagern pflegen zu können?“

Der Kampf ums Gebetbuch ar manches iſt dem engliſchen Parla-

mentarismus in den anderen Ländern abgegudt worden. Gutes und Fragwürdiges.

Auf der Warte

Gleichwohl bleibt vieles, was ihm keiner nach; macht. Auch außer der wallenden Allonge- perrüde des Speakers und deſſen herkömm- lichem Sitz auf dem Wollſack.

Wo anders kommt es vor, daß die gefeß- gebenden Korper über ein Gebetbuch ver- handeln und abſtimmen, alſo die Befugniſſe eines Rirchentages wahrnehmen? Woraus ſich die Merkwürdigkeit ergibt, daß Katholiken, Juden, Freidenker und Freikirchler mitzuent- ſcheiden haben, ob die engliſche gochkirche ein abgeändertes, mit unbegrenzten Entwicklungs; moͤglichke : ten gefättigtes Common prayerboot erhalten ſoll. Aber da dieſes einen Beſtandteil der Staats kirche, die Staatskirche jedoch einen Beſtandteil der Verfaſſung bildet, wird auch der Altardienſt zu etwas, worüber das Parla- ment zu befinden hat.

- Mer englijede Abfall von Rom war bekannt- noh keine Loslöſung von der Lehre, ſondern nur vom Papft. Wohl hat man ihn [pater teformatoriſch auszubauen geſucht. Das neue Bekenntnis wurde damals in 42 Artikeln niedergelegt, die unter der Königin Eliſabeth auf 39 gemindert wurden. Noch heute ſind

die Geiſtlichen darauf vereidigt.

Immerhin blieb nod fo viel Papismus übrig, daß ein ſtarkes Diſſentertum entſtand, . viele Freikirchen und Sekten ſich auftaten, zu denen der angelſächſiſche Geiſt beſonders hin- neigt. Die Puritaner waren Kalviniſten berb- ſter Prägung. Unter Cromwell erlangten ſie die unbedingte Staatsmacht. Aber auch ſpaͤter blieb ihr Einfluß jahrhundertelang ſelbſt auf die Hochkirche gewichtig, ſo daß ſie unter der Loſung „no popery“ den katholiſierenden Ja- kob II. verjagten und über die Köpfe von einigen ſiebzig näheren Anwärtern katholiſchen Bekenntniſſes dem proteſtantiſchen Haufe Han- nover den Thron zuſchanzten.

Vor drei Menſchenaltern ſetzte jedoch die Orforder Bewegung ein. Mit Hilfe des Ritus ſuchte dieſe ſich der römiſchen Kirche wieder anzunähern. Ohne Ermächtigung von oben reformierten ihre Anhänger auf eigene Fauſt zurück. Aber NRreuzſchlagen, Weihrauch und Weibmaffer ging man zur Elevation der Hoftie mit Meßglöcklein und Kniebeuge über. Es folgten Prozeſſionen, letzte Olung und

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Seelenmeſſen, Fafttage, Fronleichnamsfeiern, Klöſter, Marien und Heiligentultus. Es blieb kaum ein Unterſchied von Rom mit Ausnahme der Verwerfung des Zölibats und der päpft- lichen Unfehlbarkeit.

Diefe Ritualiften nennen ſich daher Anglo Katholiken und ſtreiten der Hochkirche den evangeliſchen Grundzug hartnäckig ab. Einer ihrer Anreger, der vielſeitig begabte John Henry Newmann, trat offen zum römifchen Katholizismus über und erhielt den Kardinals hut. Sein Freund Puſey vermied zwar dieſe letzte Tragweite, ſchuf ſich aber gerade dadurch in der engliſchen Geiſtlichkeit eine große Ge- folgſchaft von ſolchen, die ihrem Amte das Gepräge eines heraushebenden Prieſtertums nach römifcher Art geben wollten. Heute ſteht es fo, daß von den 38 anglikaniſchen Biſchöfen nur vier nicht ritualiſtiſch geſinnt ſind.

Allerdings haben ſich infolge dieſes Druckes die feſt im proteſtantiſchen Bekenntnis ver- harrenden Teile der Hochkirche ſeit lange feſter zuſammengeſchloſſen. Eine „evangelical alliance“ entſtand; deren fchärfite Verfechter waren die Königin Viktoria und Gladſtone. Allein der Streit ſchwächt die Kirche ſehr; fie iſt keineswegs mehr ſo „established“, wie ſie ſich zu nennen beliebt, ſondern ein innerer Wirrwarr; etwa dem vergleichbar in den deut- ſchen Stiftern und Bistümern in Luthers Reformationstagen.

Um die eingeriffene Willkür zu bannen, wurde ſeit zwanzig Jahren an der zeitgemäßen Durchſicht des Commonprayerbooks gearbei- tet, Dieſes Vademekum jedes Anglikaners iſt zugleich Bekenntnisſchrift, für den Geiſtlichen Agende, den Laien Gefang- und Gebetbuch. Im Fabre 1549 eingeführt, wird es immer noch in einer Faſſung aus dem Jahre 1662 gebraucht. Als jetzt die neue Form, vom Erz- biſchof von Canterbury geprägt, fertig war, nahmen die kirchlichen Behörden und das Oberhaus ſie obne weiteres an. Das Unter haus jedoch lehnte in der Adventszeit mit 247 gegen 255 Stimmen ab.

Das war ein großer Tag und es kam hart auf hart. Man hielt im Parlamente Reden über Dogmatik, Liturgik und Ritualismus wie auf einer Synode. Mancher ſprach fo rührſam,

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daß die Damen auf der Galerie in Tränen zerfloſſen. Als die Entſcheidung gefallen war, verließ der achtzigjährige Erzbiſchof von Ean- terbury, vom Erzbiſchof von Vork geführt, weinend das Haus. Die Mehrheitler jedoch ſprangen auf, ſchwenkten ihre Schriftſtuͤcke gleich Fahnen und riefen jubelnd: „Der Prote- ſtantismus ift gerettet.“

In der Tat ſpitzt ſich der Sinn des Vorfalls darauf zu. Der Entwurf unterlag, weil er der katholiſchen Richtung viel zu weit entgegen- kam. Mag der Klerus ritualiſtiſch geſinnt ſein; die Laien gehen nicht mit. Die ganze Streit- frage hat deren evangeliſches Bewußtſein mächtig aufgerüttelt. Die Abgeordneten ent- ſchieden mit der bewußten Abſicht, darzutun, „was für überzeugte Proteſtanten die Eng- länder ſind“.

Minifterpräfident Baldwin und Außen- miniſter Sir Auſten Chamberlain ſtimmten für den Entwurf. Aber einige ihrer eigenen Kollegen „meuterten“ gegen den Rabinetts- chef. So der Innenminiſter William Johnſon Hicks und der Zuſtizminiſter Sir Douglas Hogy. Außerdem der Generalſtaatsanwalt; ſelbſtverſtändlich erſt recht die, denen der Par- lamentorismus die Pflicht des Meuterns zu- weiſt: die Oppofitionsführer Lloyd George und Macdonald.

Aufgeſchoben iſt die Sache alſo. Wahrfchein- lich aber überhaupt aufgehoben. Denn wenn jogar dieſes Unterhaus, das konſervatlivpſte ſeit hundert Jahren, ſich verſagte, dann iſt bei deſſen Nachfolger, von dem ein ſtarker Links- rutſch zu erwarten ſteht, ſchon gar keine Hoff- nung mehr.

Da die Anglokatholiken jedoch zäh und ent- ſchloſſen ſind, kann es darüber zur Trennung zwiſchen Staatskirche und Staat kommen.

Ob das ein Vorteil für fie wäre? Wohl iſt ſie dann frei, und den Ausfall der Staatsmittel koͤnnten vermehrte Zuſchüuͤſſe des in kirchlichen Dingen ollzeit opferwilligen engliſchen Adels und ſonſtigen Reichtums decken.

Allein ſicher würde dann auch ein großer Abfluß des Bürgertums zu den Freikirchen einjeßen, in denen der evangeliſche Gedanke von jedem krypto-katholiſchen Gegengewicht entlaſtet, puritaniſch ſtreng ſich ausprägt. Die

Auf det Barte

gochkirche umfaßt ja auch jetzt ſchon nur die knappe Hälfte aller chriſtlichen Engländer, Sie würde dann bloß noch ein vornehmer Rlüngel ſein.

Vas aber dann? Völliger Anſchluß an Rom? Der wäre nur moglich durch Preisgabe auch der letzten Unterſcheidungs merkmale. Znsbe- fondere durch Anerkennung des päpftlichen Primats. Hierin liegt aber etwas derart Un- engliſches, daß unfehlbar ein Abfall ſogar der Hochtories folgen würde.

Daher ſpricht mehr dafür, daß das neue common prayerbook der Höhepunkt der Oxforder Bewegung war und deſſen Ableh- nung vielmehr der Anſatz zu ihrem Nieder gang. F. 9.

Die Mühle als Reklamevermieterin

s ift wohl auch eine Erfindung dieſer ſeelenloſen Zeit, daß ſich die alte, ehr- bare Windmühle als ReLlamevermieterin ber- gibt. Jene Windmühle, die wie eine mächtige, graue Uhr des Segens in der Landſchaft fteht und von der ſinkenden Sonne kupfern gefärbt wird. Jene Mühle, die rein bildlich ſchon tiefe Symbolkraft beſitzt, gibt fic als anreißeriſche Rattenfängerin für Zigaretten, Bier, Schoko; lade und Zeitungen her. Als ob fie ſeeliſch mit dieſen Dingen eine Gemeinſchaft hätte! Die alte, uralte Schauflerin und Fluͤgletin des Erdenſegens wickelt ſich in das grellbunte Kleid einer ſchrilltönigen Bänkelſängerin des Fabritplatates. Ach, das iſt wahrhaft be- weinenswert. Der Geiſt des commis voyageur iſt über die ehrbare Windmühle gekommen. Sie ſteht nun in der Landſchaft wie ein grell geſchminkter Krüppel, der den Stelzfuß hebt: Rellameflähen zu vermieten! Ach, arme Landſchaft! Der Windmüller verſchachert das Antlitz feiner Mühle an den großen Reklame topf dieſer Zeit. Der Wind müller hat eine neue Einnahmequelle entdeckt. Er lächelt und reibt ſich die Hände.

Über Troja weiden die Ziegen. Ja, das bringt die Zeit ſo mit ſich. Aber daß ſich ein Windmüller feine Mühle, jenes mächtige Segensſymbol, von Plakaten grauſam ver- ſchmieren läßt: nein, das muß man in das

Ep tee 1 4 oe ge

Auf der Warte

große Aagebuch ſchreiben, auf die Seite, die vom Abfall des Menſchen von Gott berichtet. Max Jungnickel

Hans Pfitzners Eindrücke

vom Jazz⸗Konzert er berühmte Romponift hat feine Ein- drücke, die er in einem Zazzkonzert empfing, in feinen „Geſammelten Schriften“ (Verlag Dr. Benno Filſer, Augsburg), Bd. 2, S. 115ff. niedergelegt. Die Ausführungen, die wir hier im Auszug wiedergeben, ſind das beredte Zeugnis eines wahren Muſikers über eine ernfte Niedergangserſcheinung, die mit echter, beſeelter Runſt nicht das mindeſte zu tun hat und wohl geeignet iſt, den Geſchmack unſeres Publitums aufs gruͤndlichſte zu ver- derben.

„Die Inſtrumente des Jazz- Orcheſters ich brauche feine Zuſammenſetzung nicht zu be- ſchreiben, harren auf dem Podium ihrer Bändiger und Meifter; dieſe treten nun auf und erweiſen ſich bald ich ſpreche im ernſte als Virtuoſen vom erſten Range.

Die Vorträge beginnen; von der erſten Note an wird das Orcheſter oder der Soliſt grell beleuchtet, rot, lila, grün, weiß je nach dem Stück oder der Tonart wechſelt die Farbe. Alle Darbietungen tragen dabei den Stempel der Vollkommenheit. Alles Weſentliche aus- wendig geſpielt. Es miiffen hundert Proben vorhergegangen fein. Das dreieinhalbtaufend- köpfige Publikum jubelt, gloßt, lacht laut bei beſonders grotesken Klängen, ſcheint innig vertraut mit dem Weſen und Gehaben der neuen Runft und mit dem Dirigenten, der zeitweilig in mimiſchem Kontakt mit der Maſſe, den toſenden Beifall beſchwichtigend, mit halber Wendung fein „Zugabbä?“ in den Riefenraum hineinfrägt, aus dem ihm prompt Valencia“ oder ſonſt ein Name einer bereits populären Programmnummer entgegentönte, die als ,Bugabbd’ dann auch gewährt wird, nebft vielen anderen. Mit Neidgefühlen erlebt man dieſe ausgeprobte, virtuoſe Vollendung an einer Sache, die dem küͤnſtleriſchen Gehalt nach der Sphäre des Zirkus, der Equillbriſtik, des Varie angehört. Die vollendetſte, unfebl- barſte Technik hat vielleicht der Akrobat, der

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Seiltänzer, Trapezkuͤnſtler, weil er ſeinen Mangel an Vollendung mit feinen Knochen, feinem Leben bezahlen müßte; und weil er Körper iſt ohne Seele. Die Seele, ohne die keine hohe Runft denkbar iſt, fpielt in der Technik hinein, färbt ſie, macht ſie vergeſſen, ja, ſtört ſie. Mit den gleichen Gefühlen aber wie bei den perfekten, halsbrecheriſchen, tomi- ſchen, bengaliſch beleuchteten Produktionen im Zirkus erlebt man hier den Abend, hort die grotesken, naſal-quietſchenden, raſſelnden, zum Lachen reizenden, in berechnet ſchneller Ab- wechſlung fid folgenden Rhythmen, Seräuſche und Nänge, ſtaunt fiber die verblüffende Virtuoſität des Saxophonbläſers, der, weiß beleuchtet, mit ſouveräner Sicherheit ſeine tafenden Läufe zum beiten gibt, ſieht hin, was der Poſauniſt da auf feinem Inſtrumente macht und wie er es macht, läßt drei Sanger über ſich ergehen, die, ebenfalls vom Schein werfer bedient, quäkende Töne in vollendetem Drill ineinanderziehen, um das Diertelton- ſyſtem anſcheinend zu propagieren und zu- gleich das Publikum zu amüfieren.

Das Gefühl, das ich dabei habe, iſt ſchwer zu beſchreiben etwas Heimatloſes, Un- folides, faſt Beängftigendes erfaßt mich, wie wenn ich in üble, feindliche Geſellſchoft ge- raten wäre, deren Sprache ich nicht verſtehe: Hier gehöre ich nicht hin, heraus, nach Haufe zu meinesgleichen! Andere hören es objektiv an, das Zntereſſe überwiegt, befonders die Jugend, die ſo vieles aſſimiliert, teilt wohl kaum meine Gefühle. Die Freude ſei ihr ge- goͤnnt aber ſie ſieht die Gefahr nicht der Überfhwernmung durch dieſe Welle, die bald das Feſtland unſerer hohen Kunſt in inter- nationalen Schlamm verwandelt haben wird.

Bei Gott es reizt den Oeutſchen nichts mehr, als wenn er merkt, daß jemand gegen das Ausländifche iſt. Unſere Runft in ihren edelſten und höchſten Exrſcheinungen durfte von jeher ruhig verſpottet und geſchmäht werden.“

Der beleidigte Kaftan

eopold gJeßner, der Leiter der beiden Staatstheater Berlins, iſt eingefchriebe- nes Mitglied der Sozialdemokratiſchen Partei

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und Jude obendrein. Er hat daher immer eine ausgezeichnete Linkspreſſe gehabt. Auch da- mals, als er den Hamlet im Smoking ſpielen ließ. Daß König Claudius, in moderner Gene- ralsuniform mit Haby Schnurrbart und ge- lähmtem Arm, dem Kaiſer Wilhelm angegli- chen war, wurde als eine geiſtvolle Tönung ſchmunzelnd aufgenommen und verteidigt.

Zeßner ſcheint daher geglaubt zu haben, ihm fei auch ſonſt alles erlaubt. Er putzte da- ber des alten Dänen Holberg „Ulyſſes von Ithaka“ nach Offenbachs verulkender Art als Silveſterſcherz auf. Es ſoll nicht beſonders witzig geweſen fein. Nun, das wäre ſchon ver- ziehen worden. Aber Jeßners Leichtſinn rührte frevelbaft an das Heiligſte, indem er zwei Schieber im Stück als Raftanjuden mit Ringel- löckchen ausſtaffierte. Das ſetzte einen Höllen- ffkandal. Mit einem Male iſt auch die Links- preſſe überzeugt, daß es mit Jeßner auf keinen Fall ſo weiter geht.

Das „Berliner Tageblatt“ fühlte ſich als der nddfte dazu, darzulegen, wie die Klippe regie mäßig hätte umſchifft werden müffen

„Zwei Smokings über Riejenrundbauch. Similigentlemen, vollgefreſſen und nie ge- ſättigt. Sie brauchten nicht Chriſten, nicht Zuden zu ſein: nur Charakterfiguren dieſer, unſrer eigenen Gegenwart, auf die man doch hinzielt, wenn man das Stüd mit feinem Hohn auf den miles gloriosus heraufholt.“

Nur wenige durchſchauen, welche Blöße ſich die Schreiber geben. Dieſe haben es bisher den Rechtsleuten immer als Banaufentum und Rnotigteit angekreidet, wenn fie auf dem Hausſchlüſſel pfiffen gegen Hinkemann, den Reigen oder den fröhlichen Weinberg. Nun aber haben fie ſelber einen Mordskrach ge- ſchlagen, weil auf der Bühne zwei Oſtjuden eine typiſch oſtjüdiſche Rolle ſpielten. „Das kann verhängnisvolle Folgen haben und hat auf jeden Fall den Nationaliſten einen moraliſchen Triumph geradezu in den Schoß geworfen“, ſchreibt daher bekümmert Hello von Gerlachs gewiß judenfreundliche „Welt am Montag“.

Auf der Warte

Und abermals ſpringt die Frage auf die Lippen: Wie ſteht es denn mit dem demo- kratiſchen Recht für alle? Der Majeftätsbelei- digungsparagraph ift fiir Majeftäten befeitigt. Es ſcheint aber, daß er für Raftan und Ringel- loͤckchen wieder auflebt. F. H.

Das Rudolf ⸗Eucken⸗Haus

in Jena ijt im Januar feierlich eröffnet wor- den. Eine ſolche Feier mit akademiſchem Hintergrund, in der Aula der Univerfität ab-

gehalten (wobei Euckens Witwe zwiſchen dem

Kultusminiſter und des Prorektors Goldkette gleichſam den Ehrenvorſitz führte), bat immer eine befondere Weihe und Würde. Im Mittel · grunde ſtand eine Feſtrede von Prof. Dr. Wundt über Kant im Wandel der Zeiten. An- ſprachen vom Rultusminifter Dr. Leutheußer, vom Prorektor Dr. Gerland, von Dr. Bed (Vorſtand des Eucken⸗ Bundes) und von Pro- feſſor Dr. Walter Eucken, dem Sohne des Verſtorbenen, bildeten den übrigen Inhalt, der umrahmt war von muſikaliſcher Umtlei- dung.

Wir ſtehen Rudolf Eucken beſonders nahe und verzelchnen gern dieſe weihevolle Feier, da bier eine Stätte des deutſchen Idealismus dem Dienſte des Geiſtes gewidmet iſt. Das Eucken-Haus in Zena, Botzſtr. 5, ſoll kein totes Muſeum werden, ſondern eine Stätte lebendiger Geiſtesforſchung, lebendigen Gei- ſtes-Austauſches beſonders auch mit ſolchen Ausländern, die deutſches Weſen und Geiftes- gut ernſtlich erforſchen wollen. Es muß leider geſagt werden, daß Eucken eine faſt großere Wirkung im Ausland (bis nach Zapan, Amerika uſw.) gehabt hat als in Oeutſchland ſelber. Man bemerkte auch bei der Feier in Sena, daß ſich einige Kreiſe aurüdhielten; be- ſonders die theologiſche Fakultät fehlte im Kranz der feierlich verſammelten Profeſſoren. Auch dies eine Wirkung des jetzt übelmodiſchen Kampfes zwiſchen Chriſtentum und Gdealis- mus?

Herausgeber: Prof. D. Dr. Friedrich Lienhard Verantwortliche Schriftleiter: Dr. Gerhard Schmidt und Karl Auguſt Walther. Einſendungen find allgemein (one beſtimmten Namen An die Schriftleitung des Türmers, Weimar, Kari⸗Alegander⸗Altee 4, zu richten, Für unverlangte Einſendungen beſteht keine Haftpflicht. Für RAdfendung iſt Poftgebühr deizulegen.

Druck und

Bering: Greiner & Pfeiffer in Stuttgart

8 5 = 8 <

Monatsfebrift für Gemüt und Goiſt

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Nicht human ſollen wir fein, ſondern Kinder Gottes; nicht liberal, ſondern frei; nicht konſervativo, ſondern deutſch; nicht gläubig, ſondern fromm.

Lagarde

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Ariſtokratie und Demokratie Von Prof. Dr. Robert Saitſchick

oe Art von Zuſammenleben der Menſchen hat ohne Beziehung auf Höheres als der Menſch keinen Sinn. Der Menſch kann dem Menſchen nicht genügen; auch die Menſchheit iſt nur eine Zuſammenſetzung einzelner Bruchſtüͤcke ohne tieferen inneren Zuſammenhang, ohne ſchöpferiſche Verſchmelzung. Raffen, Stämme, Familien und ſelbſt Völker ſind ohne Vollendung, ohne Abſchluß, ohne Ausblick auf das Unvergängliche doch nur Stüdwert.

Sobald die Menſchen in einer Geſellſchaftsordnung zu leben anfingen, hatten fie ſchon das Bewußtſein, daß dieſe Ordnung von höheren Mächten ihre Recht-

fertigung und Gültigkeit entlehnen müffe. Die Begründung von Städten wie auch

die von Familien galt von jeher als etwas, das einer Weihe bedurfte: es war kein natürlicher Akt, man empfand es auch nicht als etwas Natürliches. Wer in den Formen menſchlichen Zuſammenlebens Ahnlichkeit mit dem Zuſammenleben gefell- ſchaftlicher Tiere hervorheben wollte, müßte grundſätzlich ſich auf einen flachen naturaliſtiſchen Boden ſtellen; er würde dadurch zeigen, daß ſeine Urteile kaum die Oberfläche des Lebens berühren. So nieder ging es bei den Anfängen geiſtigen Lebens, bei der Begründung deſſen, was wir Kultur nennen, keineswegs zu. Es waren auch nicht die Mächtigeren, die im vollen Bewußtſein ihrer Macht Vorrechte, Gewalthaberei, Unterdrückung und Beherrſchung der Schwächeren ſich heraus- nahmen. Die rationaliſtiſche Betrachtung, die das Entſtehen geiſtiger Gebilde er- klären will, ift geneigt, auf Grund einiger Linien das Ganze zu verallgemeinern, und kann daher dem wirklichen Sachverhalte niemals gerecht werden.

Die Vorſtellung von Ariſtokratie iſt ſo alt wie die Kultur ſelbſt. Sie iſt in der Verſchiedenheit der menſchlichen Anlagen begründet und auch in dem Verlangen, aus der gewöhnlichen Natur herauszutreten und die höheren Forderungen denen der Natur anzupaſſen. Dabei mußte ſich die ganze Schwierigkeit zeigen, verſchiedene Beſtandteile, Wünfche und Intereſſen zu beherrſchen oder gar in Einklang zu bringen. Dieſe Schwierigkeit wurzelt ſo tief in unſerer ganzen individuellen Natur und auch im geſellſchaftlichen Zuſammenleben, daß alle Zeitalter ſich ihrer faſt auf die ſelbe Weiſe bewußt wurden. Welchen Namen wir dieſer Tatſache auch geben, ihr verborgener Inhalt machte den früheren Geſchlechtern viel zu ſchaffen und wird auch den fpätern nicht weniger zu ſchaffen geben.

Am ſtärkſten mußte der tiefe Gegenſatz zwiſchen den Forderungen unſerer ein fachen Triebe und den höheren Forderungen, ſie zu überwinden, und die ganze Schwierigkeit, fo Verſchiedenartiges zu vereinigen, mit dem Chriſtentum hervor- treten. Aber nicht durch Rückkehr zum vorchriſtlichen Bewußtſein, das mancher ſich in feinem verallgemeinernden Denken fo einfach vorſtellt, ténnen wir den in unſerer geheimſten Natur begründeten Gegenſatz löſen; wenn dies auch möglich wäre, fo wäre damit für uns die Wahrſcheinlichkeit, ja die Notwendigkeit verbunden, den gleichen Weg von neuem zurückzulegen. Was in den Widerfprüchen und Reibungen der ſichtbaren Natur begründet iſt, kann keine einfache, natürliche Löſung zulaſſen: erſt durch die unſichtbare Welt kann in die ſichtbare eine Ausgleichung kommen.

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| GaltfHid: Ariſtotratie und Demokratie 419

Die Ariſtokratie hat das Bewußtſein, daß durch fie hienieden eine höhere Ordnung der Dinge vertreten werde, deren Abglanz ſie ſei. Sie iſt folgerichtig darin, daß ſie den Wert der Menge nicht hoch anſchlägt und dem Leben überhaupt keinen pofitiven Wert zuſchreibt; Wert hat für fie nur das, was über die gewöhnlichen Lebens- vorgänge hinausgeht: Mut, Tapferkeit und Ehrgefühl, weshalb ſie auch den Krieg will und für ihn eintritt; meiſtens ſucht fie auch die Mittel ihrer Herrſchaft in einer Atmoſphäre, in der man geboren und aufgewachſen fein muß, um fie leicht zu er- tragen. Unwilltürlich wird hier die Auffaſſung vertreten, daß zwiſchen Menſch und Menſch ein weſentlicher Unterſchied beſtehe, und daß die einen zum Herrfchen und die andern zum Dienen beſtimmt feien. In dieſer Überzeugung liegt die un- gebrochene Kraft aller Anhänger der Ariſtokratie: ſie erheben das, was in der Natur, in der Wirklichkeit überall deutlich hervortritt und nicht in Abrede geſtellt werden kann die Ungleichheit der Charaktere und die Verſchiedenheit der Bu-

ſtände zu einer Idee, die oft Glaubenskraft und Begeiſterung wachzurufen fähig iſt.

Freilich vermag Heldentum, Edelſinn, Tapferkeit, Tüchtigkeit und ſelbſt einfache Stärke nicht ſo leicht vererbt zu werden, und das iſt es, was dem Erbadel immer vorgehalten werden kann; da aber die Menſchen einmal über die Familie, dieſe Zelle aller Kultur, nicht hinweg können, ſo wird es in irgendeiner Form immer einen Erbadel geben. Die Ariſtokratie beruft ſich auch nicht auf die Liebe zum Men- ſchen, ſondern nur auf die Naturnotwendigkeit, die ſich in den ſichtbaren Unter- ſchieden kundgibt, und ſie ſucht dieſe Notwendigkeit zu erläutern: an Stelle der Gewöhnlichkeit und der Trägheit möchte fie etwas Höheres ſetzen; fie will Werke ins Leben rufen, die in der Erinnerung der Jahrhunderte bleiben und den Verhee⸗ rungen der Zeit Widerſtand leiſten. Die Ariſtokratie fühlt in ſich die Beſtimmung, das Ungewöhnliche zu vertreten, muß aber oft notwendig zum Gewöhnlichen, Irdiſchen, Vergänglichen ihre Zuflucht nehmen. An Stelle der Liebe zum Menſchen tritt bei ihr das Selbſtvertrauen, die Selbſtherrlichkeit, die ungebrochene Kraft, wodurch große Ereigniſſe, geſchichtliche Taten entſtehen. |

Oer urfpriingliden Auffaſſung der Ariſtokratie mußten fich durch Verbreitung des Chriſtentums und durch Eindringen chriſtlicher Lebenswertung in die Gemüter neue Beſtandteile beimiſchen, vor denen die alten ariſtokratiſchen Geſetzgebungen zurüd- geſchreckt wären: war es doch auch für die Apoſtel des Chriſtentums in Japan überaus ſchwer, den japaniſchen Adel zu überzeugen, daß die höheren und die niederen Stände vom chriſtlichen Standpunkte aus nicht ſo verſchieden wären, und daß die Adeligen und die Niedergeborenen in gleicher Weiſe den Namen Menſch tragen dürften. Was die indiſche Geſetzgebung an grauſamen Erniedrigungen für die unterſten Kaſten ausgedacht hat, bleibt nicht nur dem chriſtlich, ſondern auch dem human empfin- denden Menſchen unerklärlich: wie konnten die Brahmanen, die doch keineswegs Barbaren waren, dazu gelangen, Tiere weit höher einzuſchätzen und mit unver- gleichlich größerer Schonung und Rüdficht zu behandeln als Menſchen? ! Sie be- trachteten die niedern Kaſten als eine ihnen ganz fremde, als häßlichſte und ſchäd⸗ lichſte Tierart.

& & *

420 Saitſchic: Ariſtoeratie und Demokratie

Das Chriſtentum ſteht im tiefften Widerſpruche zu jedem Kaſtengeiſte, ebenfr zu der „Ariſtokratie des Geiſtes“. Dieſe findet ihren deutlichſten Ausdruck in der Inſchrift auf den Philoſophen Herakleitos: „Was ſtört ihr mich, ihr Profanen? Nicht Menſchen wie euch, nur den Weiſen ſei meine Arbeit geweiht. Ein einziger Menſch gilt mir gleich Tauſenden in der zahlloſen Menge.“ Auch hier ſpricht fic das Bewußtſein von dem weſentlichen Unterſchiede zwiſchen Menſch und Menſch aus; wo dieſes Bewußtſein als Überzeugung aufkommt, ift keine ſchöpferiſch ausgleichende Löſung der Lebenswiderſprüche möglich; wer ſich zu dieſer Überzeugung bekennt, muß hochmuͤtig oder zum Menſchenveräͤchter werden.

In der vorchriſtlichen Zeit wurde in der Ariſtokratie durch ihre Ausſchließlichkeit notwendig auch eine Mißachtung gegen die Angehörigen der andern Stände er- zeugt. Als Herrſchaft der Stärkern und Beſſern, wofür ſie ſich von Anfang an hielt, mußte fie natürlicherweife in ihren Angehörigen Mißachtung für die Schwächeren und „Schlechteren“ großziehen. Neigt doch der Menſch überhaupt zu einer geradlinigen Einteilung der Lebensverhältniſſe. Wenn man zwiſchen den Beſſeren und Schlechte; ren eine gerade Linie ziehen könnte, ſo wäre die Mißachtung von ſeiten der Beſſeren für die Schlechten begreiflich. Aber das Leben kennt keine geraden Linien: die Ariſto⸗ kratie ſelbſt kann ſich nicht immer aus guten und edeln Charakteren zuſammen⸗ feken, ebenſowenig wie es als Gegenſatz zu den Beſſeren eine durchgängige Plebs geben kann. Gewiß wäre es geboten, daß die Beſſeren herrſchten. Wer ſind abet die Beſſeren? Da beginnt gleich Uneinigkeit in der Auffaſſung und Beurteilung: find denn die Beſſeren auch die Weiſeren, die Edelgeſinnten, die ſich ſelbſt Über- windenden? Wenn Ariſtokratie die Herrfchaft der fic ſelbſt Beherrſchenden, inner lich Geläuterten, wahrhaft Edeln wäre, fo müßte jeder, bei dem das Herz auf dem rechten Fleck iſt, nur dieſe Form der Herrſchaft, d. h. der Leitung der Menſchen, anerkennen. Das Leben läßt aber eine reine Vorſtellung von der Ariſtokratie gar nicht zu, denn die Wirklichkeit iſt nicht ſo einfach und bewegt ſich auch nicht in großen und reinen Linien. N

In der Grundlage der ariſtokratiſchen Geſellſchaftsform lag freilich Mut, Tapfer- keit, Tugend, d. h. männliche Kraft, ordnende Gewalt, Entſchiedenheit, energiſchet Kampf gegen gewiſſe niedere Mächte, aber zugleich auch Herrſchſucht, Unterdrückung, Roheit der Inſtinkte. Wenn die Beherrſchten nur aus niedriggeſinnten und ſchwachen Menſchen beſtünden, fo wäre die Ariſtokratie die einzig mögliche Geſellſchaftsform und hãtte ſich als ſolche auch aufrechterhalten. Aber da in der Menge der Beherrſchten von jeher viele waren, die ebenfalls Kraft, Mut, Tüchtigkeit und zugleich das Ge fühl für Gerechtigkeit hatten, fo mußte der Kampf der untern Stände gegen die oberen notwendig aufkommen. Dieſem Kampfe lag das Bewußtſein einer gewiſſen Gleichheit der Menſchen zugrunde, worein ſich freilich auch Gewalttätigkeit, Rad ſucht und inſtinktive Abneigung miſchten. Das wahre Bewußtſein der Gleichheit entſpringt ja nicht aus dem Boden, in dem der Trieb der Auflehnung, Empörung und Radjudt wurzelt. Solange die Auffaſſung von der überwindenden Lebens höhe die Menſchen noch nicht durchdringt, muß dem geſellſchaftlichen Zuſammmen⸗ leben Ungleichheit innewohnen, denn dieſe beruht auf dem Inſtinkte und auf dem Grundgeſetze unſerer Natur. Daher wird die Ariſtokratie in irgendeiner Form

Galifgie: Ariſtotratie und Demokratie 421

ſtets vorhanden fein und ſich immer wieder aus der Demokratie ſelbſt heraus- bilden, denn gleichwie es keine folgerichtige Ariſtokratie geben kann, gibt es auch keine folgerichtige Demokratie.

Da die Ariſtokratie in engem Zuſammenhange mit der Wirklichkeit im Guten wie im Böſen ſteht, ſo wird ſie ſich ſtets auf dieſes angeerbte Wirklichkeitsgefühl berufen, ſelbſt wenn ſie ſich entſchieden zu chriſtlichen Grundſätzen bekennt: ſie wird auf die im Leben notwendig hervortretende Trennung der zwei entgegen- geſetzten Wirklichkeiten hinweiſen. Sind denn alle Menſchen fähig, das Höchſte auch nur anzuſtreben, geſchweige denn zu verwirklichen? Da nur ein Teil der Menſchen dieſes Beſtreben hat, die meiſten aber in Eigennutz und Gewöhnlichkeit verharren, fo kann die Ariſtokratie ihre Kraft immer wieder aus der natürlichen Ungleich- heit ſchöpfen. Sie wird ſo folgern: Wo die Menſchen keine andere Höhe als ihren Lebenstrieb kennen und über ſich ſelbſt nicht hinausgehen, dort iſt meine Herrſchaft die einzige, die auf Höhe der Geſinnung und Fruchtbarkeit der Tat Anſpruch machen darf, weil ſie den Menſchen aus der Trägheit und Niedrigkeit weckt und ihn auf etwas lenkt, das über ihn hinausragt. Tritt aber der einzelne Menſch aus der ein- fachen Lebenswirklichkeit heraus und wendet ſich über die Grenze des Diesſeits der höheren Welt, dem Jenſeits, zu, fo empfinde ich für ihn Ehrfurcht wie vor jeder Lebensũberwindung.

Diefe Ehrfurcht hat die Demokratie, ſolange fie ſich in ihren gegebenen Grenzen bewegt, keineswegs, da fie das Dafein in einen engen Kreis einſchließt und den Wert des Menſchen auf dieſen Kreis beſchränkt. Die Gleichheit, auf die ſie ſich beruft, wird von ihr als eine natürliche aufgefaßt. Ohne zu merken, daß fie etwas Natur- widriges aufftellt, ſieht fie ſich doch unwillkürlich genötigt, die einfache Vorſtellung der naturlichen Gleichheit mit noch anderen Vorſtellungen zu verquiden, vornehm- lich mit der Vorſtellung der Humanität, wobei auch dieſe nur als entwickelter Trieb aufgefaßt wird, der aus einem rohen zu einem geläuterten geworden iſt.

Dieſe Auffaſſung findet ſich in den älteren Demokratien noch keineswegs: fie iſt unter den Einwirkungen der chriſtlichen Kultur entſtanden, durch die in dieſer Kultur keimende Vorſtellung der höheren Gleichheit. In der antiken Demokratie lagen die Dinge weit einfacher: die Gerechtigkeit wurde nicht als geiſtige Waffe ins Feld geführt; eine gewiſſe Vorſtellung der Gerechtigkeit lag zwar auch ihrer Gelbit- behauptung zugrunde, aber ſie drang noch nicht tief. Es war der natürliche Kampf eines Machtgebietes gegen das andere. Daß die größten Denker des Altertums Gegner der Demokratie waren, kam von der Erfahrung, wie leicht das Volk, wenn es nicht von höheren Zielen geleitet wird, der Gewalt von Demagogen, Sdmeid- lern und Verführern verfällt und kleinlich, eigennüßig und zügellos wird.

Mit der Demokratie in den antiken und mittelalterlichen Republiken war ein fortwährender Kampf der Parteien verbunden. Nicht umſonſt ſehnten ſich tiefere und nachdenkliche Menſchen aus den vernichtenden Kämpfen zwiſchen den einzelnen Parteien nach einer feſten Beſtimmtheit des einigenden Geſetzes. Die fortwährenden Umwälzungen in den italieniſchen Städten des Mittelalters brachten eine große Unſicherheit mit ſich: die eine Partei lauerte darauf, der andern die Herrſchaft zu entreißen, um fie nur für kurze Zeit in Händen zu behalten; Metzeleien, Cin-

422 Salifhid: Ariftotratie und Demokratie

ziehung der Güter der beſiegten Parteigänger, Schleifung ihrer Hdufer waren während der zahlloſen Staatsumwälzungen etwas Gewöhnliches. Deshalb bildete ſich auch bald das Verlangen nach einer Einigung der kleinen Gemeinden zu einem größeren Staatskörper. Die Monarchie galt als der ſicherſte Hafen, den man vor den Stürmen ſowohl der feudalen als auch der demokratiſchen Willkür erreichte.

Bis auf die franzöſiſche Revolution war die Demokratie eine elementare Erfchel- nung, die noch keine tiefere Grundlage in der geiſtigen Erfaſſung des Menſchen⸗ lebens hatte. Sie war nur eine ſtarke Gärung der Kräfte der Geſellſchaft, die Folge der allmählichen Ausdehnung des Kreiſes, worin das Volk bisher gelebt hatte, des Abergewichtes des Lebens in den Städten über das auf dem Lande, der größeren Beweglichkeit und Erregtheit gewiſſer Volksſchichten, beſonders im Zeitalter der Re- formation. Es war aber unvermeidlich, daß aus dem erwachten Bürgertum des Mittelalters eine neue Ariſtokratie entſtand, die auf ihre Privilegien ſpäter ſich nicht wenig zugute tat. So war es ja auch im alten Griechenland. Der Wunſch, einem an- geſehenen und mächtigen Stande anzugehören, ift in der Beſchaffenheit der menſch⸗ lichen Natur tief begründet: die Nachkommen eines Mannes, der ſich durch Ber- dienſte hervorgetan hat, wurden ſtets mit Achtung betrachtet. Sind doch auch die Enkel der Revolutionsmänner in Frankreich auf ihre Abſtammung nicht wenig ſtolz. Das Gefühl für Ariſtokratie lebt in der menſchlichen Natur und entſpringt dem für natürliche Ungleichheit. Dieſe zu überwinden, iſt keinen Theorien und Utopien gegeben, die bald nur wiederum vernichtende Leidenſchaften wachrufen. Nur religiöfe Vorſtellungen find fähig, die Demokratie zu vertiefen und ihr einen weiten Ausblick zu eröffnen. Ohne dieſen bliebe die Demokratie nur Verflachung, Unterordnung des einzelnen unter den großen Haufen.

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Weit mehr als eine beſtimmte ariſtokratiſche Geſtaltung der Geſellſchaft tft die demokratiſche im tiefiten Grunde auf eine Beziehung zu der Welt, die nicht von dieſer iſt, und auf höchſte Forderungen angewieſen; ſie ſchöpft ja nicht, gleich der ariſtokratiſchen, ihre Kräfte aus dem natürlichen Unterſchiede zwiſchen dem Stärkern und dem Schwäcdern, aus der angeerbten und dadurch rechtmäßigen Macht.

Die Stärke der demokratiſchen Anſicht im Gegenſatze zur ariſtokratiſchen beſteht darin, daß für fie der einzelne ohne Unterſchied feiner Anlagen und Fähigkeiten einen felbftandigen Wert hat; fie ſchreibt jedem unveräußerliche Rechte zu. Dadurch hebt ſie den Menſchen zu einer höheren Würde empor, nivelliert aber zugleich die menſchliche Natur, da fie im Leben keinen tiefern Sinn ſieht. Auf die Frage, wo⸗ für wir leben, hat fie, ſolange fie utilitariſch ift, keine einleuchtende Antwort, denn der Zweck des Daſeins ift für fie nur eine Vermehrung der Lebensgüter und die Mög- lichkeit, ſie gerechter zu verteilen und zum Gegenſtande der Allgemeinheit zu machen. Wichtig iſt für fie, daß der Menſch lebe, als wenn das Dafein als ſolches ſchon einen unbedingten Wert hätte, den niemand in Abrede zu ſtellen berechtigt ſei.

Was der utilitariſchen (d. h. auf Nutzen verzichtenden) Demokratie ſtets abgehen muß, ift die Ehrfurcht. Die Achtung vor dem Ungewöhnlichen kann ſich zwar auch hier einigermaßen kundgeben, aber das Ungewöhnliche ſelbſt wird verdünnt und weſentlich eingeſchränkt auf die Verwaltung, auf das materielle Wiſſen oder auf die

Salifhie: Ariſtotratle und Oemotratie 423

populäre Redefertigkeit. In einer utilitariſchen Demokratie müßte nach einer Reihe von Generationen die Opferwilligkeit, die Würdigung der feineren Charattereigen- ſchaften und die Anerkennung der Ausnahmenaturen verſchwinden. Die Kunſt müßte auf die Stufe des Mittelmaßes herabſinken und ſich über ihre Nutzanwendung aus- weiſen, denn mit der Nivellierung der inneren Gegenſätze würde dem künſtleriſchen Schaffen der eigentliche Boden genommen. Auch würde unter nivellierenden Ver- haͤltniſſen die bildende Wirkung eines großen Charakters keine freie Außerung mehr finden, da fie ja folgerichtigerweiſe für überflüffig gelten müßte. Im Mittelpunkte der Lebensintereſſen würde die enge Betätigung der menſchlichen Fähigkeiten ſtehen: die Anwendung der wiſſenſchaftlichen Ergebniſſe auf den mittlern Lebenskreis, die Ausnutzung der Naturkräfte, des Handels und der Induſtrie.

Die utilitariſche Lebensanſicht bringt auch eine mittelmäßige Vorſtellung vom Glide mit ſich: auf die Einengung der Vorſtellung vom Glück folgt unvermeidlich Selbſtzufriedenheit. Der Menſch wird dann folgerichtig dazu erzogen, ſich mit dem Mittelmaße zu begnügen und dieſe Art Selbſtgenügſamkeit an die Spitze aller menſchlichen Tugenden zu ſtellen, ja durch ſie alle andern Tugenden zu verdrängen. Das Glück iſt dann nur der Ausdruck gewöhnlicher Wünſche und mittelmäßiger Bebürfniffe, der Ausgleichung der Gegenſätze auf der Oberfläche, der Verneinung aller Tiefen und Höhen, der Vernichtung aller Selbſterkenntnis. Dem in der Gelbft- vervollkommnung fortſchreitenden Menſchen iſt jede Selbſtzufriedenheit fremd.

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Die demokratiſche Vorſtellung von Glück iſt eng verbunden mit der Vorſtellung von der Gleichheit. Die Gleichheit müßte, wenn Schlußfolgerungen in der menſch⸗ lichen Wirklichkeit möglich wären, entweder die unbedingte Ebnung der Charat- tere durchführen und ſomit alles in die Mitte oder gar Niederung verlegen, ober, um eine Rechtfertigung zu erlangen, ſich zu einer höheren Auffaſſung bekennen. Dies wäre aber nicht nur ein Aufgeben der gewöhnlichen Nützlichkeitslehre, ſondern auch ein Streben nach Überwindung der mittleren Auffaſſung. Wer ſich nicht zur höheren Welt entſchieden bekennt, der wird aus den verwickelten und erniedrigenden Wider- ſpruͤchen nie herauskommen können und bei allem Streben nach Gleichheit, die die Natur gar nicht zuläßt, mit Worten zwar Gleichheit und Gerechtigkeit verteidigen, in Wirklichkeit aber an die natürliche Ungleichheit und Unfreiheit gebunden bleiben. Nur die Liebe, die neue innere Erfahrung, iſt nicht ein Gedanke des Kopfes oder gar ein Wort auf dem Papiere, ſondern das ſtärkſte Gegengewicht im Kampf ums Oaſein.

Einer der auffälligſten Widerſprüche des demokratiſchen Rationalismus beſteht darin, daß er ſich fortwährend auf die Vernunft beruft, als wenn die Vernunft die Fahigkeit hätte, die in der Natur begründete Ungleichheit wie durch eine Zauberkraft zu vernichten. In dieſer einſeitigen Anſicht äußert ſich ein Mangel an Selbſterkenntnis.

Im Grunde iſt dieſe Anſicht nichts als ein Glaube an die von der wirklichen Natur des Menſchen abgelöſte Vernunft. Dann kann freilich die Vernunft ſelbſt nicht nur Utopien billigen, ſondern ſie auch erzeugen. Die Triebe des menſchlichen Willens bleiben aber nach wie vor in ihrem natürlichen Zuſtande, und der Kampf ums Dafein wird nur mit veränderten Mitteln weitergeführt. Mag die Vernunft uns den ſchöͤnſten Zuſtand verſprechen, worin es keinen Streit und keine Zerſtörung unter

a2a Sate: Marznacht

den Menſchen mehr geben würde, fo iſt das doch nur eine Täuſchung, nach der unſere

eigene Einſeitigkeit verlangt. Die Vernunft verſpricht dann Glück und Freiheit, ohne jedoch zu erklären, was dieſes Glück und dieſe Freiheit find; fie verſpricht die Ab- ſchaffung des vernichtenden Kampfes, ohne auch den Willen des Menſchen läutern und umgeſtalten zu können. Sie ſagt, die menſchliche Geſellſchaft werde durch die Zunahme an Wiſſen und Kenntniſſen die Einſicht erlangen, daß wir ohne vernichten den Kampf hienieden weit beſſer und zuträglicher uns einrichten könnten. Dieſes Beſſere wäre alſo das höchſte Ziel unſeres Daſeins. Im Grunde aber iſt es ein mittelmäßiges Ziel, da es ja ganz auf das Nützliche hinausläuft.

Wer die Widerſprüche der Natur durch Theorien und Utopien überwinden zu

können glaubt, ſieht nicht, daß unſer Verſtand das Erbübel nur in ein blaſſes Licht

ruckt, wodurch es eine ganz andere Geſtalt annimmt, die nichts mit der Wirklichkeit zu ſchaffen hat. Die Natur würde den Kampf immer wieder erzeugen, ſelbſt wenn ſie ihn für einen Augenblick aufgeben zu wollen ſchiene; ſelbſt die augenblickliche Unterbrechung, wenn ſie möglich wäre, würde ja den Ausgangspunkt künftiger Kampfe bilden, weil für die Natur Leben und Kampf unzertrennlich find.

Das chriſtliche Lebensgefühl ſtuͤtzt ſich dagegen auf die volle Wirklichkeit, erfaßt ſie ohne jede Scheu, will nichts darin verſchönern und durch die Vernunft ideali⸗ ſieren. Es vertritt weder das demokratiſche noch das ariſtokratiſche Prinzip, denn auch dieſes bleibt ja noch zu ſehr in den Widerſprüchen der mittleren Wirklichkeit fteden: können doch ſelbſt die, welche ſich für ſtärker, deſſer, vornehmer, vernünftiger halten, die anderen Menſchen, die ihnen ſchlechter, niederer, dümmer vorkommen, keines- wegs entbehren und muͤſſen, um ihre Zwecke zu erreichen, zu dieſen ihre Zuflucht nehmen; in einem fort werden ſie daran erinnert, daß ſie mit ihren Mitmenſchen zuſammenhängen. Sowohl die Ungleichheit, auf die ſich das ariſtokratiſche Prin zip beruft, als die Gleichheit des demokratiſchen Prinzips iſt doch nichts als eine Theorie, die ſich mit der vollen Wirklichkeit niemals deckt. Das menſchliche Leben iſt zu rätſelhaft und unergründlich, als daß es unter einfeitige Vorſtellungen gebracht werden könnte.

Die chriſtliche Lebensanſicht, die zugleich die konkreteſte iſt, weiß, daß der Inhalt des menſchlichen Daſeins mit keinen Namen und keinen Worten erſchoͤpft werden kann, denn in jedem Gedanken und in den Worten, in denen ſich die Gedanken äußern, iſt notwendig Einſchränkung, Teilung und Zerbröckelung unſeres Lebens

enthalten. Märznacht

Von Ludwig Bäte

Tief durch die Nacht der Wälder dumpfes Grollen, Die Sterne funkeln ungewiß und bang. Im Strom die letzten en rollen.

Der warme Wind harft trunknen Liebesſang Und weckt im Feld die ſüßen Lerchenlieder,

Am Hang die Veilchen und am Bach den Flieder. Und lauter ſchwillt das donnern durch die Nacht.

Das Lächeln Afiens Von L. Staél von Holftein

bfahrtbereit liegt der große Lloyddampfer „Kleiſt“ im Hafen von Yokohama,

aber noch iſt die Zugbrücke nicht aufgehoben, und rege wogt es herüber und hinüber. Ich habe an einem Tiſchchen auf Deck Platz genommen und betrachte mir das bunte Durcheinander Europas und Aliens. Mir gegenüber, gleichfalls in Anſchauen verſunken, ſitzt ein Geſchäftsmann weißer Raffe. Da tritt ein japaniſcher Händler in dunklem Kimono an uns heran, verbeugt ſich ehrerbietig, greift unter das Tuch, das feinen Korb bedeckt und legt ein ſchön gearbeitetes, ſilbernes Ziga⸗ rettenetui auf den Tiſch.

„Ich brauche das Ding nicht,“ ſagt der Herr in barſchem Ton, „meins iſt viel ſchöner beſieh es.“ Er zieht es aus der Bruſttaſche und legt es neben das andere.

Oer Japaner, der Aufforderung Folge leiſtend, ſtreckt die Hand darnach aus.

„Beſehn, hab' ich geſagt, nicht anrühren!“ fährt der Herr ihn an und gibt ihm einen derben Schlag auf die Finger.

Oer Japaner zuckt mit keiner Wimper, er lächelt. Ein Lächeln, in dem weder Hohn noch Hochmut liegt, nur der ungeheure Abſtand ſich ſpiegelt, zwiſchen dem un- erzogenen und unbeherrſchten weißen Barbaren und dem, fein vollkommenes Gleich gewicht wahrenden Sohne der aufgehenden Sonne. Dann nimmt er fein Etui, ver- neigt ſich noch tiefer als zuvor und geht, wie wenn nichts geſchehen ſei, ſein Erlebnis ſchweigend auf den Berg der Sünden und Roheiten weißer Männer im Oſten zu legen, bis auf den Tag der Rade, der feinem Sohne, wenn nicht ihm, vielleicht erſt ſeinem Enkel kommt, der Aſiate kann warten. Mir aber geht es blitzartig auf, daß er mit dieſem ſelben verbindlich eiskalten Lächeln ſeinen Beleidiger töten könnte.

Nachträglich ſchien der Vorfall dem Herrn etwas peinlich zu ſein, auch mag er meinen entrüfteten Blick aufgefangen haben, denn er ſagt ziemlich kleinlaut: „Ent- ſchuldigen Sie, gnädige Frau, Sie können doch nicht verlangen, daß ich dieſen gelben Affen als meinesgleichen behandele?“

Ich kann nur erwidern: „Für mich entſcheidet nicht die weiße oder gelbe Haut, ob meinesgleichen oder nicht, ſondern nur das Betragen.“

Wir haben auf der weiten Fahrt bis Singapore unſere Bekanntſchaft nicht erneuert.

Auf dem Vorderdeck kampiert, unter allerlei Volk, eine arme Chineſenfamilie. Auch hier Aſiens phänomenale, lächelnde Selbſtbeherrſchung: während Vater und Mutter am Boden hockend den zwiſchen die Knie geklemmten Reisnapf mit den Eßſtäbchen langſam und bedächtig leeren, ſtehen die zerlumpten Kinder herum, rũhrende kleine Bilder der Geduld, Heißhunger in den ſchiefen, ſchwarzen Augen, das verbindliche Lächeln auf den Lippen. Sie wiſſen, daß ſie auf der Welt ſind, um ihren Eltern Freude zu machen, und das können Kinder nur mit ladelndem Antlitz. Mag Hunger, Schmerz, Entſagung, mag ein noch ſo großer Jammer das Kinderherz zuſammenkrampfen, das Kind ſoll lächeln, wie ſeine Eltern und vor ihnen eine lange Reihe Ahnen lächelten, das iſt ein heiliges Gebot; du ſagſt vielleicht: „Das iſt ja Erziehung zur ausgemachteſten Heuchelei.“ Mag fein aber dennoch eine Übung in Selbſtzucht und Willensbeherrſchung ohnegleichen.

426 Bate: Vorfrühling

Spät abends legen wir in Kobe an. Die ganze Nacht hindurch werden Kupfer- barren mit Donnergepolter in den unteren Schiffsraum verſtaut. Auf einer langen Kette flacher Kähne, beim Scheine trüber Ollaternen, gehen die ſchweren Stücke von Hand zu Hand, und zwar find es Frauenhände, welche die harte Arbeit ver- richten. In ſchnellem Takt biegen und ſtrecken ſich die zierlichen kleinen Geſtalten, von denen faſt jede ein Kindchen auf dem Rüden trägt. Das kleine Geſchöpf fist feſt im Obi, der breiten Seidenſchärpe, nur das Köpfchen des winzigen Weſens mit den drei ſchwarzen Haarſchöpfen über Stirn und Ohren, nickt ſchlaftrunken hin und her.

Stundenlang an der Reling lehnend, ſchaue ich dem Ameiſenfleiß dieſer Schar kleiner, gelber Arbeitstierchen zu kein lautes, unnützes Wort, kein Kinderweinen, manchmal ein leiſes Kichern unheimlich dieſe gefchüttelten und gerüttelten um Mitternacht lächelnden Säuglinge!

Vor-Welttriegseindriide das. Seither durchwühlen ſoziale Stürme das Völkermeer Aſiens, viel Schaum, auch blutigen Schaum, an die Oberfläche wir⸗ belnd, allein der Tiefgrund, die Mentalität, der etwa ſechshundert Millionen Chinefen und Japaner, diefe uns fremde Weſenheit, wird unberührt bleiben. Und welche moraliſche Riefenftärte fie in ſich birgt, das fab noch jüngſt das Abendland mit Staunen, bei der furchtbaren Erd- und Seebeben-Kataſtrophe. Als urplötzlich blühende Landſtriche des lieblichen Inſelreiches mit fruchtbaren Ackern und Gärten, reizenden Ortſchaften, volksreichen Städten und weihevollen Tempelbauten mit- ſamt ihren herrlichen Hainen gigantiſcher Koniferen in hölliſchen Feuermaſſen und toſenden Springfluten verſchwanden oder in gähnende Abgründe hinabſtrudelten, da bewahrte das Volk eine heroiſche Haltung. Und als die tobenden Elemente in Stille verſanken, ſtand es in klagloſer Würde den ungeheuren Verluſten an Menſchenleben und Kulturwerten gegenüber, aber nicht erſtarrt in dumpfer Reſi⸗ gnation. Keinen Augenblick verlor es an lähmende Verzweiflung, fondern in be harrlichem Lebenswillen griffen Männer und Weiber, Greiſe und Kinder zu räumten die Trümmer hinweg, bauten, pflanzten, ſäten. Wer noch Obdach hatte, nahm den Obdachloſen auf, wer etwas Speiſe beſaß, teilte brüderlich, ein jeder zu jeglicher Hilfeleiſtung bereit. Der das miterlebte, ſah eine zu Taten, ja zu Groß- taten gewordene uralte Religion und Lebensridtung, ſah auch hier das Unheil und Tod überwindende, für das nervenſchwache, ſeeliſch unſtet flackernde Europa vielleicht verhängnisvolle Lächeln Aſiens.

Vorfrühling

Von Ludwig Bäte Nun ſpinnt das Dorf der ſtille Abend ein, Und immer ſchluchzt ein ſüßzer Oroſſellaut Die blauen Schatten heben ſich gemach Von eines alten Hauſes ſteilem Firſt . Und breiten ſacht das weiche Schwingenpaar O daß in feiner ſcheuen Melodie Um Eichenknorren, Feld und Bauerndach. Mein übervolles Herz nicht jäh zerbirſt!

Das Lebenswunder ringt ſich ſtark empor, Die jungen Halme träumen neues Brot. Verlöſchend fließt der ſüße Vogellaut Hinüber in gedämpftes Abendrot.

427

Die Hand des Reifenden Von Ewald Banſe

er Samum erhob ſeine veielfarbenen Pranken über der Stadt. Die Gäßchen waren voll Sandmaſſen, und oben in den Lüften heulte es wie aus der Glut eines Hochofens.

Der engliſche Generalkonſul hatte mich zum Nachmittag eingeladen. Wir plau- derten öfters über ältere Reiſende, die von hier in die Sahara aufgebrochen waren, damals als das noch etwas ganz Beſonderes bedeutete, ſo vor hundert, vor fünfzig Jahren.

Es war unerträglich heiß. In der Nähe des Konſulats angelangt, trat ich in eine Nebengaſſe und riß den Kragen herunter. Ich war nur zehn Minuten gegangen, aber er war nichts mehr als ein naſſer Lappen. Die Stärke wiſchte ich mit dem Taſchentuch vom Halſe. Dann band ich einen neuen Kragen ein freilich auch der würde, wenn ich erſt drinnen ſaß, zu Waſſer aufgelöft fein.

Ich ſchritt jetzt, erfriſcht und zuverſichtlicher, auf das Konſulat zu. Ein mächtiges Bauwerk, nein, eine Ballung von Bauten, ein Häuſerblock für ſich, faſt ein ganzer Stadtteil. Wände von zehn bis fünfzehn Meter Höhe, ungleichmäßig aneinander geſchachtelt, faſt ohne Fenſter, hier weiß, dort rot getüncht das wuchtet und ſteigt, das trotzt und droht. Aufſtand der Mohammedaner? Zerſchellt an dieſen Mauern. And ſelbſt wenn fie eindringen, fie finden ſich in dem Gewirr von Häuſern und Höfen, von Winkeln und Stiegen nicht zurecht.

Am Tor, einem ſchlichten Eingange, den nur das Löwen und Einhornſchild von den übrigen Haustüren der Stadt unterſchied, erhoben ſich die Kawaſſen, grüßten und ſtöhnten über die Hitze.

Ich ſchritt durch einen gepflaſterten völlig leeren Hof, durch ein Quergebäude, durch einen Garten, deſſen Granatapfelbdume um ein Waſſerbecken herum die Blätter hängen ließen, und trat ſchließlich, auf einen Ruf des Konſuls, in ein Pförtchen.

Sein krebsrotes Geſicht unter weißem Haar lachte mir fröhlich entgegen:

„Oachte faft, Sie würden mich heut im Stich laſſen.“

„Oho, wegen des Samums etwa? Müßte ein ſchlechter Reiſender fein.“

„Na, er hat ſchon manchen Plan umgeworfen.“

„Nun ſagen Sie bloß nod, er verſchütte die Rarawanen unter haushohen Sand- maſſen und zwinge die Männer, den Kamelen die Mägen aufzuſchneiden und deren wohlſchmeckenden Inhalt zu trinken.“

„Haha, immer german jokes. Aber laſſen Sie uns die Treppe hinaufſteigen, wenn das heut auch viel verlangt iſt. Ich werde Ihnen etwas zeigen.“

Er ſagte die letzten Worte leiſer und mit einem geheimnisvollen Unterton.

„Hier hinauf“, fuhr er fort. „Dies iſt ein Haus, das jetzt kaum noch benutzt wird. Es iſt nämlich der älteſte Teil des Konſulats, ſchon vor hundertfünfzig Jahren von uns erworben. Die anderen Gebäude, die Sie ja kennen, ſind erſt ſpäter entſtanden. Dod, wiſſen Sie, Mitte des vorigen Jahrhunderts war dies noch das Wohnha us des Generalkonſuls.“

„Und es ſteht völlig leer?“

428 Banfe: Ole Hand des Netfenden

„O, der alte Hausrat iſt noch drin. Sie werden's gleich ſehen. Indes, niemand wohnt hier mehr. Wir würden unſere Landsleute in den Räumen unterbringen, verſtehen Sie wenn einmal in der Stadt was geſchehen follte.“

„So ſo?“

„Aber laſſen Sie uns eintreten, durch dieſe Tür. Der alte Kaſten hat übrigens einen bedeutenden Vorzug vor allen anderen Häuſern ſeine dicken Wände laſſen die Hitze nicht eindringen. Deshalb verbringe ich hier manchmal den Tag freilich, freilich ich allein.“

Dann beugte er ſich herüber und flüſterte mir ins Ohr: „Sonſt wagt ſich niemand her. Sie munkeln, es ſei in dieſen Zimmern nicht geheuer.“

„Was Sie ſagen? Das iſt höchſt merkwürdig. Aber wie kommt es, daß ich noch nie davon gehört habe?“

„Es wird nicht offen davon geſprochen. Dieſes Haus iſt gewiſſermaßen nicht vor- handen. Es lebt eigentlich nur in der jährlichen Rechnungablegung des britischen Generalkonſulats, und auch für mich wird es lediglich an beſonders heißen Tagen lebendig.“

„Sehr ſeltſam“, murmelte ich. „Aber woran liegt's denn nur?“

„Sie werden es ſofort ſehen.“

Damit ſchloß er eine Tür auf. Wir betraten ein Gemach, das halbdunkel und, wir mir im erſten Augenblick ſchien, eiskalt war. Mich fröſtelte in meinem dünnen Leinenanzug. Er ſah es und beruhigte:

„Das kommt Ihnen nur im erften Augenblick fo vor. In dem Zimmer herrſcht, das ganze Jahr hindurch gleichbleibend, eine Wärme von etwa ſiebenzig Grad.“

„Siebenzig? Ach ihr Engländer mit eurem umſtändlichen Fahrenheit ſiebenzig Fahrenheit, das find doch find doch fo um zwanzig nein, das find zweiund⸗ zwanzig Celſius.“

„Mag ſein. Indes wir haben keinen Grund, uns nach den anderen zu richten.“

„Nein, den habt ihr nicht, aber ihr ſtellt euch damit immer mehr abſeits.“

Inzwiſchen hatten ſich unſere Augen an das Halbdunkel gewöhnt, und wir nahmen Platz.

Das Zimmer war ziemlich groß, die Wände ſtanden weißgetüncht und faſt ohne Bilder. An einer Seite zeichnete ſich ein marmorner Kamin ab. Die Möbel ſahen recht beſcheiden aus, Stil von achtzehnhundertdreißig etwa, als man auch in England noch weniger üppig war.

Oer Raum enthielt nichts Bemerkenswertes. Herrlich war nur die Kühle, die ſchnell in meinen Körper eindrang.

Nach einigen Augenblicken, während deren ich mich umgeguckt hatte, empfand ich etwas wie den Atem eines lebenden Weſens, eines Dritten, in dem Gemache.

Ich neigte unwillkürlich den Kopf und paßte auf.

Da war irgend etwas aber was nur?

Der Konſul blickte mich an; mir ſchien, in ſeinen Augen liege Spannung auf der Lauer.

Ganz von ferne, weit weit her begann etwas in mein Bewußtſein zu ſickern. Es klang wie wie mein Gott, wo hatte ich das ſchon gehört?

Sanſe: Ole Hand bes Nelſenden 429

Hab das war's. Nachts in der Wuͤſte. Wenn alles ſchlief. Dann fing der Sand in den Dünen an zu fingen. Ganz [fein ping ping ping ping ping ping...

Die Wiiftennadt, die große Weite und die pudernden Sternenſchwärme hod hoch darüber.

Ja, es mußte der klingende Sand ſein.

Aber ha, aber wie kam bas hierher in biefe abgeſchloſſenen Räume? :

Ich ſtand auf und blickte an den vier Ecken empor. Sollte das Sandtreiben des Samum draußen ich ſchlug mich vor die Stirn natürlich, in der Gaffe trieben ja die Sandwolken. Vermutlich war irgendwo eine Zuleitung, und man hörte es bes- halb hier drinnen.

Oer Konſul verfolgte mich mit erwartungsvollen Blicken.

Aber ich fand nichts. Jetzt bückte ich mich zu dem Kamin und lauſchte hinein.

Richtig, da war's ja, verſtärkt ping ping ping ping.

Und jetzt lachte ich laut verſtummte jedoch, da ich des Konſuls abwehrend erhobene Hand ſah und nun ja, und da ich vor dem Hall meiner eignen Stimme erſchrak.

Ich ſetzte mich wieder:

„Ou lieber Himmel, die alte Stutzuhr auf dem Kaminſims iſt's. Sie hat ein feines Stimmchen, aber ich dachte wirklich einen Augenblick, es wäre wäre —“

„Nun, was?“ lehnte der Konſul ſich vor.

„Ja, was eigentlich? Es war irgendwas mit Wüfte. Klingender Sand und fold Zeugs, wiſſen Sie.“

„So haben Sie's alſo auch gehört? Ich dachte mir wohl, daß Sie, grade Sie es hören würden. Wie manche einſame Stunde hab ich hier geſeſſen und vernahm die Stimme der Wüfte.“

Seine Worte hatten den Klang ſichtlicher Befriedigung. Aber mir paßte dieſe Seheimniskrämerei doch nicht recht, und ich fragte nachläſſig:

„Ich hoffe, daß dies nicht alles iſt, wegen deſſen Sie mich in einem ee ein ſperren?“

„Alles? O nein es iſt erſt der Anfang.“

„Ah fo dann laß ich mir's gefallen, Sir. Schießen Sie los, wenn's be- liebt.“

Er ſchlug ein Bein über die Lehne feines Seſſels, ſtarrte ein weniges vor ſich hin und begann.

* & *

„Verſetzen Sie ſich in die Zeit um achtzehnhundertfünfzig zurüd.“

„Hm, als hier in Tripolis Barth und Overweg weilten?“

„Ganz recht, aber auch Richardſon und der vor allem“, lächelte der Engländer. „Sie wiſſen, unſere Regierung dachte damals an die Erforſchung des Innern von Afrika, das noch ſo gut wie unbekannt war.“

„ga und beſonders an die n Erſchließung“, gab ich mit todernſter Miene dazu,

450 Banfe: Die Hand des Reifenden

„Was wollen Sie?“ Er legte behaglich das andere Vein auch noch auf die Lehne. „Geſchäft iſt die Seele der Welt. Ohne das ſäßen wir beide nicht hier, obwohl wir keine Kaufleute find. Beide find wir wiſſenſchaftlich eingeſtellt, aber die Früchte unſerer Arbeit erntet der Kaufmann. Wir Engländer haben dies längſt erkannt und richten uns danach. Ihr werdet es niemals begreifen.“

„Om.“

„Na, alſo weiter. Miſter Palmerſton hielt für gut, den Sudan von Norden her anzuſchneiden, und betraute James Richardſon mit der Sendung. Auf Betreiben Ihres Londoner Geſandten erlaubte er den Deutſchen Barth und Overweg, fid anzuſchließen.“

„Damit das Unternehmen doch nicht gar zu ſehr handelspolitiſch ausſehen ſollte.“

„O Richardſon war ein erfahrener und bekannter Reifender. Doch laſſen wir das. Die Reiſe ging alſo los, und nach zwei Jahren ſchon hieß es in Tripolis, die ganze Geſellſchaft ſei tot. Da tauchte der Gedanke auf, jemand ins Innere zu ſchicken, der Nachforſchungen über das Schickſal der Verſchollenen anſtellen ſollte. Die Wahl fiel auf Ihren Landsmann Eduard Vogel.“

„So —“, des Konſuls Blick ſchweifte nach dem Kaminſims hinüber, „jetzt find wir am richtigen Punkt angelangt.“

Ich ſpitzte die Ohren. Nunmehr würde ich wohl erfahren, weshalb er mich in dieſes ungemuͤtliche Zimmer geführt hatte. Einen Augenblick ſtahl ſich das Ticken der Uhr wieder in mein Bewußtſein, winzig fein und zitternd. Doch des Konſuls Stimme übertönte es ſchnell.

„Er hatte natürlich in erſter Linie mit unſerm Generalkonſulat zu tun, reiſte er doch in engliſchem Auftrage.“

„Damals verwaltete doch Major Herman das Amt?“

„Ganz recht, GS. T. Herman, ein tüchtiger Menſch und guter Kenner der afti- kaniſchen Verhältniſſe. Mehrere Monate lang iſt Vogel in dieſem Hauſe hier,“ er ſtampfte leicht mit dem Hacken auf, „aus- und eingegangen. Namentlich auch mit Mrs. Herman ſtand er ſehr gut. Sie nahm ſich ſeiner mütterlich an, denn er war ja noch ſo jung und er war, als Reiſender, rührend unbeholfen. Indes er konnte was, hatte auch gute Manieren und ſo liebten ſie ihn alle.“

Er ſchwieg. Das Zimmer umſpannte uns mit feiner kühlen Dämmerung. Draußen prizzelten die Sandkörner des Samum gegen die Hauswand. Grad als erneut das leiſe Singen der Uhr in mein Hirn kriechen wollte, erhob ſich der Konſul, ſtellte ſich breitbeinig vor mich und rief laut, erſchreckend laut für die Stille des Raumes:

„Was denken Sie, Sir, wo er immer geſeſſen hat? Hier hat er geſeſſen, in dem; ſelben Seſſel, den Sie jetzt einnehmen.“

Er ſtarrte mir in die Augen. Mir war, als erhalte der Seſſel, in den mein heißer Körper geſchmiegt war, tauſend winzige Händchen und rolle eine Gänſehaut nach der andern über mich. Dazu fing wieder das dünne Ping-ping der Kaminuhr an.

Ich konnte nicht anders ich ſprang empor. Es ſchien mir, ich fei der Umarmung eines Toten entronnen. Dann ſah ich den Seſſel an ein beſcheidener Polſterſeſſel mit verblichenem Bezug.

Wir nahmen wieder Platz ich in einem andern Seſſel.

Banſe: Ole Gand bes Reifenden A31

„Ich war damals ein kleiner Junge; mein Vater lebte als Vizekonſul hier. Aber ich habe noch die Erinnerung an einen ſehr luſtigen Onkel in ſchwarzem Schnür- rock —“

„Ach ja,“ fiel ich ein, „Vogel, der erſt kurz vorher mit der Univerſität fertig ge- worden war, trug eine Pikeſche.“

„Ganz recht Pikeſche heißt ſo'n Ding ja. Später in Heidelberg mußte ich oft an Vogel denken. Hier in Tripolis ſpielte er viel mit uns und ließ uns auf ſeinem Pferdchen reiten kurz wir Kinder hatten ihn ganz beſonders gern.

„Nun, ſeine Reiſe begann von vornherein nicht gut. Im Begriff aufzubrechen, ftürzte er mit dem Gaul und verrenkte ſich den linken Fuß. Ich weiß noch genau, wie Mrs. Herman jammerte, als er guriidtam. So mußte er, während feine Rara- wane langſam vorauszog, noch vierzehn Tage bei uns bleiben. Schließlich, am warten Sie mal ja, am achtundzwanzigſten Juli ſollte es endgültig losgehen.

„Am Abend vorher war er noch einmal bei Hermans. Wir Kinder wurden vorher zu Bett gebracht, aber [pater iſt fo oft davon geſprochen worden, daß ich jetzt immer vermeine, ich hätte alles miterlebt.“

„Ja was war's denn?“

„Sie ſaßen ziemlich gedruckt beieinander der verrenkte Fuß ſtand, wenn ich mich jo ausdrucken darf, als unheimlich Zeichen zwiſchen ihnen. Das Geſpräch kam zuletzt auf arabiſchen Aberglauben und ſolch Zeug Sie wiſſen, das iſt ein ſehr weites Feld, und Vogel, noch wenig bekannt mit den hieſigen Anſchauungen, wird große Augen gemacht haben.

„Herman erzählte unter anderm, daß die Eingeborenen als Zauber wider den böfen Blick die Hand, in Aſche getaucht, gegen die weißgetünchte Mauer zu ſchlagen pflegen, zumeiſt an der Tür. Sie kennen das ja.

„Da fiel Mrs. Herman lebhaft ein:

Neulich hörte ich von der Frau des Straußfederhändlers Nahum, daß dieſer Handabbrud nicht allein Mann und Haus beſchütze, ſondern auch dem Reifenden ſichere Heimkehr verheiße. Doktor, wie wär's, wollen Sie nicht auch Ihre Hand bei uns abdrücken? Ja, bitte, tun Sie's. Auf gute Rückkunft!“

„Vogel lachte munter auf:

„Warum nicht, Mrs. Herman? Wohin würde ich lieber heimtommen als in be Haus aber wo kriegen wir ſchnell Aſche her?“

„Die Lady erhob ſich und trat an den Kamin ſehen Sie, an dieſen Kamin da vor Ihren Augen.“ Der Konſul zeigte mit dem Finger drauf. Sein Geſicht war ernſt und ſichtlich ergriffen.

„Sie blickte hinein, gewahrte, daß noch etwas kalte Aſche darin war, und ſagte:

‚Hier, Ooktor, finden Sie grad noch fo viel Aſche, wie Sie brauchen, um ſich unferm Haufe unverlöfchlich in die Erinnerung einzugraben. Friſch los.‘

„Vogel beugte fi nieder und hob fragend die geſchwärzte Rechte:

„Wohin damit, Mrs. Herman?“

„O zuerſt über die Tür, das iſt das notwendigſte. Sie find ja groß genug um da hinauf zu langen.‘

‚And wapp ſaß Vogels Handabdruck über der Tür.“

432 Banfe: Ole Hand bes Nelſenden

Ich trat an den Eingang und blickte ſcharf hin, vermochte aber nichts zu erkennen.

„Er iſt leider verſchwunden“, bemerkte der Konſul. „Als nach drei Jahren Mrs, german das Zimmer neu weißen ließ, fiel ihr ein, daß Vogels Hände geſchont werden ſollten. Sie lief ſchnell von drüben hierher ich ſehe ſie noch, ganz gegen ihre Gewohnheit, über den Hof rennen um den Anſtreichern Weiſung zu geben. Aber die hatten ſchon angefangen, und der Abdruck über der Tir war längſt verſchwunden.“

„Ah, grade der wichtigſte“, rief ich, trat ins Zimmer zurück und blickte mich um. Jetzt erſt bemerkte ich über dem Kamin eine dunklere Stelle; vorhin hatte ich fie, in dem Halbdämmer kaum verwunderlich, für einen ſchmutzigen Fleck gehalten und nicht weiter beachtet.

Oer Konſul folgte meinem Auge:

„Ganz recht, das iſt der andere Abdruck. Den ließ Mrs. Herman ausſparen, und er wird ſeitdem ſorgſam gebiitet ja, man kann behaupten, er iſt das Schutz zeichen des Hauſes geworden.“

„Die Hand des deutſchen Reiſenden als Schutzzeichen eines britiſchen General konſulats?“ murmelte ich. „Das iſt ja ſehr ſehr ſeltſam.“

„Das iſt es,“ pflichtete der Konſul mit geſenkter Stimme bei, „das iſt es bei Gott.“

Ich ſtellte mich dicht vor das Mal. Aus dem ſchlichten Weiß der Mauer trat jezt deutlich die Hand hervor eine lange, ſchmale, etwas nervöſe Hand. Noch nicht ſehr ausgebildet, noch ohne die Spuren innerer Kämpfe, nur voll von Hoffnung und Aberſchwang. Ich blies vorſichtig darüber hin wahrhaftig, ſogar das feine Linien- gedber der Fingerkuppen war zu erkennen.

Und dieſe ſelbe Hand hatte ſich drei jawohl drei Jahre ſpäter da unten in Wadai, das Eduard Vogel als erſter Weißer betreten hatte, im Todeskampfe ver krallt an jenem furchtbaren Tage, da die Meuchelmoͤrder des Sultans ihn unr brachten.

Ich mußte gewaltſam den Atem anhalten, denn es arbeitete und zuckte gar mächtig in mir.

„3a,“ kam mir der Engländer zu Hilfe, „es iſt eine erſchütternde Angelegenheit dieſe Hand des Toten, die hier immer noch lebendig iſt.“

„Und nun ſagen Sie mir folgendes. Am 28. Juli vor dreiundfünfzig Jahren iſt Vogel von Tripolis abgereiſt. Wiſſen Sie, welchen Tag wir heute haben?“

„Heute? Warten Sie ich glaube o, wir haben den 27. Juli. Mein Sott, das iſt ja der Tag, an dem er die Hand dort abdruckte.“

„Well. Und deshalb hab ich Sie auch grade heut eingeladen“, verſetzte der Ronful mit Bedeutung.

„Wunderbar höchſt wunderbar“, weiter vermochte ich nichts zu ſtammeln.

„Ooch nun ſagen Sie mir noch, in welchem Jahre Eduard Vogel ermordet worden it?“ drängte er. |

„1856 hab, genau vor einem halben Jahrhundert. Wie feltfam ſich das trifft.“

Sd nahm wieder Platz und ſtarrte unverrüdt nach der Hand hin, die dunkel und, wie mir jetzt vorkam, mit geheimnisvollem Flimmern, in der Dämmerung

bing.

Kircheninneres Franz Huth

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Sanfe: Die Hand des Relfenden | 433

Von draußen drangen gelegentlich die Stöße des Samum herein. Hier drinnen, wo ich nichts mehr von Kälte ſpürte, hub wieder die feine Stimme der Uhr an, die ſchon Vogels Abſchiedsſtunde angezeigt hatte.

Ich ſah die grelle Wüfte und hörte das Klingen des Sandes. Verloren zwiſchen Slut und Schutt kroch die kleine Karawane dahin, voraus der Jüngling in der deutſchen Studentenjade.

Den Konſul befchäftigte ſicher ein ähnliches Bild.

Wir ſchwiegen.

Schließlich fragte ich, leiſe, ich glaube, faſt zagend:

„Geſchah noch fernerhin etwas? Ich meine, damit mit dieſer Hand?“

Nach einer Weile räufperte er ſich, feine Worte kamen heiſer heraus:

„Ja, es ereignete ſich noch was. Und das iſt vielleicht erſt das Wunderbare an der ganzen Sache. Hören Sie zu.“

* * *

Wir ſetzten uns neu zurecht. Ich blickte zu der Hand hin, deren Umriffe in dem dunkler und dunkler werdenden Gemach mit der Wand verſchwammen. Nur der Wüſtenwind rüttelte draußen in der Gaſſe, und das wunderfeine Stimmchen der Kaminuhr, das fo manches Jahr unmittelbar unter des Verſchollenen Hand ge- weint hatte, machte drinnen die Stille lebendig. Horchte man lange hin, ſo konnte man glauben, das Gewiſſen des Morgenlandes zu hören.

Auch der Konſul, dem dieſe Töne ja gleichzeitig Erinnerungen der Kinderzeit heraufbeſchworen, vermochte ſich nur ſchwer aus der traumumſponnenen Ver- ſunkenheit zu retten. Aber er war Engländer, alſo weniger belaſtet mit Gefühls duſelei als ich. Sein Wort ſchreckte mich auf:

„Ja alſo die Jahre rannen dahin. Nur ein- oder zweimal traf Nachricht von dem Reifenden aus Kuka ein kurze Briefe, voll Jubel über die Arbeit im Neu- land, voll Klagen über die Geſundheit. Man kennt das ja.

„Eines Tages kam Heinrich Barth, der fälſchlich Totgeſagte, aus dem Innern zuruck, im Spätſommer 55. Sie können ſich vorſtellen, wie Mrs. Herman ihn aus- quetſchte. Bedenken erregte Barths Anſicht, daß Vogel zwar wiſſenſchaftlich hervor- ragend fei und als Menſch der beſte, den man ſich denken könne allein, als Rei- ſender erſcheine er immer noch recht ungewandt, und er vermöge nicht im geringſten den Anſchauungen jener Länder Rechnung zu tragen. Vogel beabſichtigte am Jahresende nach Wadai zu reifen, in dieſes Land, das noch nie von einem Weißen betreten wurde und in dem ſelbſt die Leute von der Nordküſte Afrikas als Feinde und Spitzel verfolgt wurden. Er habe ihm abgeraten, aber Vogel dürfte ſich kaum davon abhalten laſſen.

„Sir, Sie können ſich denken, welche Empfindungen dieſe Worte in der Mrs, Her- man Herzen aufwühlten. Sie wanderte wochenlang in größter Unruhe umher.

„Eines Tages, es war der 8. Februar 56 wir wiſſen den Tag genau, weil Mrs. Herman dicht unter der Hand dort die Zahlen eingeritzt hat. Wenn wir nachher Licht machen, können Sie es noch leſen. An jenem Tage alſo zog ſich Mrs. Herman

in dieſes Zimmer zurück. Wenn fie das tat, fo ging alles im Haufe leiſer. Der Züme XXX, 6

434 Banfe: Ole Gand bes Nelinda

„Es war gegen Abend vielleicht eine Dämmerſtunde wie die gegenwärtige, aber wohl eher mit Regen und Seewind draußen. Die Lady ſaß in jenem Geffel, in dem Sie vorhin ſo eilfertig Platz genommen haben.

„Wir glaubten nachher immer, ſie müßte wohl eingeſchlummert geweſen ſein. Sie hat das aber ſtets heftig beſtritten. Sie fei völlig wach geweſen und bei gay klaren Sinnen. Später als ich älter wurde und mancherlei Wunderliches erlebt hatte, bin ich auch über dieſen Fall nachdenklich geworden und vermeine, die Lady hatte doch recht.

„Sie erzählte es uns mit folgenden Worten:

„Oenkt euch, ich träume fo für mich hin und verfude mir auszumalen, wo unfer Edward jetzt wohl ijt und was er grade tun wird. Dabei blicke ich zu der Hand bir über. Aber weil ich fie in den verfloſſenen zweieinhalb Fahren fo oft angegudt hatte, ſah ich ſie kaum mehr. Nicht ſeinen Handabdruck ſuchte ich ja nein, ſein Tun und Treiben wollte ich in ihr finden. Wenn man aus der Hand eines Anweſenden fein Geſchick herausleſen will warum nicht auch aus der eines Abweſenden? Seine Hand bleibt es immer.

‚And ſtellt euch vor auf einmal gewahre ich ſtatt der dunklen Handfläche hell und ſonngebadet Felsklippen und Buſchwerk aber darum herum lief doch ftets der Umriß der Hand, und es rieſelte in dieſer Umrißlinie, als fet dort Waſſer in ununterbrochener Bewegung.

„Ich ſtarrte wie gebannt in die Landſchaft hinein, die klein und dabei klar vor mit ftand, leicht zitternd und wabernd. Plötzlich kam Leben hinein. Die Zweige der Bůüſche bewegten ſich, und ein paar Männer erſchienen zwiſchen dem Geſtein. Ein zwei, drei nein, vier Stück, alle in weißer Eingeborenentracht.

„In dem, der voranging, erkannte ich aber ſehr wohl unſern Edward“ wenn Mes. Herman an dieſe Stelle kam, ſchluchzte fie jedesmal ſchaltete der Konſul ein und hinterher ſprach ſie ſehr ſtockend weiter:

‚Er blickte nach mir hin, und er ſah ſehr bleich aus, fein friſches geſundes Rot war völlig verſchwunden. Er war ſichtlich ſchlecht zuwege.“

„Und dann“ der Konſul unterbrach fie und ſich ſelber „das muß jener Auger blick geweſen ſein, in dem ſie laut aufſchrie, ſo daß das ganze Konſulat draußen vor der Tür zuſammenlief.

„Und dann‘, erzählte fie weiter, , ſchlichen die drei Kerle von hinten an ihn heran und ſchlugen mit Knütteln auf ihn ein, mit Knuͤtteln! O, ich werde fein Antlitz nie wieder los der jähe Schrecken darauf wie der Turban abrutſchte ach, und ſein ſchönes blondes Haar wurde ganz dunkel. Ich erkannte noch, daß er die Arme hob und daß er umfiel.‘

Wir ſchwiegen.

Nach einiger Zeit räufperte ich mich und ſprach vor mich hin:

„So das hat fie alfo geſehen. Hm, war fie Schottin?“

„Ja, ſie ſtammte aus einer Hochländerfamilie, und Sie wiſſen ja seoond sight.“

„Gewiß, wie bei uns in der Heide. Wann, ſagten Sie, geſchah's?“

„Am 8. Februar.“

Banfe: Die Hand bes Reifenden 435

„Soviel id weiß, kennt man den Tag feiner Ermordung nicht, nur den Mond. Februar wenn ich mich recht erinnere, dürfte der ſtimmen.“

„Er ſtimmt“, ſagte der Engländer ſehr ſicher. „Wir haben nur eine einzige Mög- lichkeit, den Mond ſowohl wie den Tag zu berechnen.

„Es hat nicht daran gefehlt, daß man Hilfsexpeditionen ausſchickte. Aber keine einzige drang durch, mehrere Reifende bezahlten den Verſuch ſogar mit ihrem Leben. Ihr Landsmann Moritz v. Beurmann fiel auf Geheiß desſelben Sultans von Wadai, aber ſchon an der Grenze ſeines Reiches.

„Wir ſchwebten hier in dauernder Ungewißheit über Vogels Schickſal. Jede Kara⸗ wane, die aus dem Sudan eintraf, wurde gründlichſt ausgefragt. Aber, Sie wiſſen ja, wie dieſe Leute find immer in Angſt, Dinge auszuplaudern, die ihnen Nach- teil bereiten könnten. Das Generalkonſulat lobte Belohnungen aus für alle, die Nachricht, gleichviel welcher Art, beibrächten. Jeder, der ſich meldete, mußte unver- züglich vor Mrs. Herman geführt werden. Sie nahm ihn regelmäßig in dieſes Zimmer und verhörte ihn ſtundenlang ſie ſprach ausgezeichnet Arabiſch und hatte Vogels wegen ſogar Hauſſa gelernt.

„Es kam nie was Rechtes heraus. Aber zu den Eingeborenen, nicht allein in der Stadt, nein im Lande, ja ſelbſt bis in den Sudan hinein, drang die Kunde von der weißen Frau und von der Hand des Reiſenden. Mancher Araber und Neger iſt im Angeſicht jener Hand da überm Kamin in Weinen ausgebrochen. Viele mögen ſich nur gemeldet haben, um die Hand einmal zu ſehen und die Botſchaft davon in ihre entlegenen Wüſten- oder Steppenſtädte zu bringen. Dieſe Hand hat ſicherlich den Mördern das Leben ſchwer gemacht, und ich glaube wohl, daß deren letzte Stunde unter dem Zeichen dieſer dräuenden Hand geſtanden hat.

„Da endlich, nach langer Zeit kam ſichere Nachricht. Im Februar 65 beachten Sie, wieder im Februar ward ein Mann hereingeführt, ſchwarzbraun, entſetzlich mager und völlig zerlumpt.

„Er brach im Hofe zuſammen, fo entkräftet war er. Mrs. Herman, ſofort herbei- gerufen, ließ ihm Kaffee und Tabak reichen. Davon bediente er ſich mit Gier. Die Lady ſtand vor ihm und muſterte ihn genau. Schließlich nahm ſie einem der Kawaſſen den Fes ab und ſtülpte ihn auf des Fremden Schädel. Sie betrachtete ihn noch einmal eingehend und ſagte zuletzt:

‚Hör mal, du da. Ich glaube faſt, du könnteſt Ali bin Slum, der Diener Abd el Wahabs ſein“ fo nannte Vogel ſich, wie Sie wiſſen.

„Bei Gott,‘ flüſterte der Kranke, ‚ich bin's. Allah hat mich errettet aus der Not. Er hat mich in meine Vaterſtadt Tripolis zurückgeführt, nachdem ich zehn Jahre fortgeweſen bin. Ihm ſei Preis und Dank. O Konſulin, laß mich nicht verhungern, ich bin fremd worden in dieſem Orte, und meine beiden Eltern find tot. Ich weiß nicht, wo ich bleiben folL‘

„Damit machte er Miene ſich auszuſtrecken und zu ſchlafen. Aber Mrs. Herman packte ihn an der Schulter, daß er aufſchrie, und rief:

„Ali was iſt's mit Edward mit Abd el Wahab? Sprich. Hab' keine Sorge um dein Leben, du ſtehſt in meinem Oienſt.“

„Der Farbige lächelte dankbar. Stockend und ſtöhnend erzählte er dann.

4356 | | Sarfe: Ole Hand des Relfenden

„Gar zu viel wußte er ja auch nicht. Er hatte das Verbrechen ſelber nicht mit ange ſehen. Sein Herr war, begleitet von einigen Leuten Akid Oſchermas, des Ver- trauten des Sultans, fortgegangen, um große Steine zu unterſuchen —“

„Die Klippen in Mrs. Hermans zweitem Geſicht“, fiel ich flüſternd ein.

„Sehr wahrſcheinlich“, nickte der Engländer. „Na, plötzlich brachen Neger in das Haus, wo die Diener mit Arbeit beſchäftigt waren, und erklärten ſie für Sklaven. Ihr Herr komme nicht wieder. Der Sultan habe ihn wegen feines gottloſen Treiben umbringen laſſſen. Ali war dann nach Vornu verkauft worden, und erſt vor einem halben Sabre war es ihm gelungen, mit einer tripoliner Karawane durch die Wüſte zu entfliehen.“

„Und Mrs. Herman?“

„Ja, über die Lady haben wir uns alle ſehr gewundert. Wir glaubten, ſie würde jeden Augenblick zuſammenbrechen. Aber bei Frauen weiß man nie, woran man iſt.“

„Ganz recht.“

Der Konſul lächelte nachſichtig:

„Sie in Ihrem reifen Alter müſſen das ja verſtehen. Mrs. Herman erklärte, es liege alfo | immer noch kein Beweis vor, daß Edward tot fei. Der Diener habe es ja nicht mit angeſehen und ſpreche nur nach Hörenſagen.

„Genug, dieſe Frau hoffte jetzt noch! Sie hat nachher den Diener wohl tauſendmal auf das genaueſte ausgefragt, hat förmliche Berichte darüber niedergeſchrieben und immer und immer wieder verglichen und berechnet. Und ſchließlich kam ſie auf den 8. Februar als den wahrſcheinlichſten Tag der Ermordung —denſelben Tag alſo, an dem ſie jenes Geſicht hatte.“

„Sehr ſehr merkwürdig.“

„Und wieder vergingen zehn, nein ſogar elf Jahre. Da kam eines Tages ein Brief an, der trug den Poſtſtempel Kairo und war von Ihrem Landsmann weiß Gott, lauter Germans Nachtigal geſchrieben. Nachtigal hatte ja feine Reife von Tripolis aus angetreten und damals Vogels Hand erblickt. In dem Briefe ſtand, daß Nachtigal in Wadai geweſen fei und die Stelle geſehen habe, an der, zwiſchen Granitklippen! im Februar 1856 Eduard Vogel auf Geheiß des Sultans ermordet worden ſei. Als Grund habe er in Erfahrung gebracht, daß Vogel bei Vornahme feiner Forſchungen keinerlei Rückſicht auf die Empfindlichkeit der glau- benswütigen Bevölkerung genommen habe.

„Mrs. Herman war inzwiſchen eine alte Dame geworden. Aber ſogar auf Nach tigals Schreiben hin wollte ſie immer noch nicht von der Hoffnung laſſen. An der einen Seite zeugten die Nachrichten und ihr Geſicht für Schwarz, an der andern ſprachen ihre Erwartung und der Glaube an die Kraft der Hand dort für Weiß.“

Nach einigem Schweigen fragte ich:

„Wie alt war ſie eigentlich, als ſie Vogel kennenlernte?“

„Wie alt? O fo um die vierzig herum.“

„Und er zählte damals vierundzwanzig hm“, ſann ich.

„Sie denken doch nicht etwa?“ Er ſah ganz erſchreckt aus. „Kein Gedanke! Sie war rein mütterliche Freundin zu ihm.“

„Wer blickt ins Herz, zumal in das Herz einer alternden Frau?“

von Stern: Dorfeüpling 437

„Nein!“ Er rief es mit entſchiedener Stimme und ſtand auf. „Das iſt Unſinn.“ „Om.“ Ich erhob mich ebenfalls. „Sie war mithin ſechzig Jahre, als Nachtigals Bellen eintrafen. Und wann iſt fie geſtorben?“

„Nicht ſehr viel ſpäter. Hier in Tripolis. Sie liegt auf dem evangeliſchen Friedhofe begraben, draußen in Schhärraſchhät, nicht weit von Ihrer Wohnung.

„Wiſſen Sie was? Zch begleite Sie nach Haufe, und wir beſuchen bei der Ge- legenheit ihr Grab.“

„Einverſtanden.“ |

Und wir ſchritten hinaus zu dem winzigen Friedhofe, auf dem zwiſchen Meer und Oaſe die paar nordiſchen Menſchen ſchlafen, welche ihr Geſchick an dieſen Strand fpiilte.

Vorfrühling Von Maurice Reinhold von Stern

Im blaſſen Grün des Winterhimmels ſchwimmt Die Silberſichel zart in kühler Ferne.

Ein mattes Licht vom Blütenkranz der Sterne Im Dämmerlicht, bald hier, bald da erglimmt. Im Rauhreif ſtehn die Wälder unbewegt,

Im Traume trinkend dieſe Himmelsmilde,

Die von des Abends goldgeſtirntem Schilde Sich ſegnend auf die weite Erde legt.

Aus tauſend Quellen quillt die Lebensflut, Die allem Sein das ew'ge Leben ſpendet.

So daß der Keim ſich ſchon zum Lichte wendet, Da ſtill er noch in Todesbanden ruht.

Die Knoſpe perlt aus welkem Laub empor, Es ſchmückt ſich je mit purpurnen Noſetten Ein dürres Neis, und an den founigen Stätten Des Waldesrandes webt ein Veilchenflor.

Im RNauhreif glitzern wohl noch Baum und Strauch, Im Winde aber wehn die leiſen Düfte

Vom Seidelbaſt, und in die reinen Lüfte

Miſcht ſich ein Ahnen wie von Veilchen hauch.

Die Silberſichel ſchwebt ſo zart und fein

Im ätherhellen, froſtigklaren Naume,

Doch aus den kühlen Sternen bricht im Traume

Ser Blätenfrühling durch die Nacht herein.

Geſpräche mit Türken

Von Hans Tröbſt

Oer Oeputierte

bwohl er Abgeordneter der „Großen Nationalverſammlung“ war, zeichneten ihn Verſtändnis für politiſche Notwendigkeiten und politiſche Tagesfragen aus.

Wir ſaßen häufig zuſammen, auf den niedrigen Hodern vor dem kleinen Kaffee haus, an der „Hölzernen Brücke“, gegenüber der „Grünen Moſchee“. Und wenn die Gaslichtlampen auf den grellen Farben der „modernen“ Wandteppiche wie Schein werfer leuchteten und ſchneidende, ſchmerzende Lichtkegel auf die ſtille Gaffe warfen, ſprachen wir von Vergangenem und Zukünftigem, von der Größe und dem Nieder- gange des fernen Vaterlandes

Der Deputierte las mir aus dem „Kara-Gös“, dem türkiſchen „Klabderadatſch“ vor. Und er zeigte mir ein Bild. Der alte Feldmarſchall im Lehnſtuhl und vor ihm: Kemmal Paſcha im Kalpak, den Säbel an der Seite. „Alter Junge!“ ſo ſtand darunter „jetzt werde ich Dir einmal erzählen, wie Du ‚es‘ machen mußt...“ Wir beide lachten.

.. . „Gewiß,“ fo ſprach mein würdiger Freund, „ihr habt gute Generale, aber ihr habt die Seſchichte nicht ſtudiert und die Politik nicht begriffen. Ihr bildet euch heute noch ein, Politik zu treiben und habt doch nichts gelernt und alles ver- geſſen. Noch heute ſucht ihr Freunde zu werben und wundert euch über die Zahl der Feinde im großen Kriege. Warum? Ihr wart wie ein nichtsnutziger Junge, der abends oder nachts an die Türen der Menſchen läuft und mit dem großen Meſſingklopfer Lärm ſchlägt. Und wenn der Hausbeſitzer erſchreckt heruntereilt findet er niemanden vor. Und er weiß nicht: War es ein Räuber oder ein trunkener Störenfried? Eure Diplomaten haben die Fenſter eingeworfen, wie die Straßen jungen und dann von weitem geſpottet. Weil der große Bruder mit dem langen Meſſer neben ihnen ſtand. Und wenn dann die Hausbeſitzer heraustraten und drohten und zankten, lieft ihr fort und verſtecktet euch und ſchautet höhnend über euren Zaun. Und ſagtet: „Wir werden es nicht wieder tun!“ Aber ihr kamet immer von neuem, zeigtet euer langes Meſſer, lärmtet an den Türen und wecktet die Schläfer oder ſtörtet ſie bei der Arbeit. Iſt es ein Wunder, wenn die Nachbarn ſich beſprachen und ſich verabredeten, den Gaſſenjungen, wenn er noch einmal kommen ſollte, zu packen und zu zuͤchtigen? Wenn fie beſchloſſen, ihm das lange Meſſer wegzunehmen, mit dem er immer zu ſtechen drohte? Wenn ihr ſchon einmal einbrechen und Apfel ſtehlen wolltet, warum nicht damals, als alles wirklich ſchlief oder die Hausbeſitzer verreiſt waren? Nach der Mandſchurei! Nach Südafrika! Nach Marokko? Politik iſt die Kunſt des unmöglichen! Wäre fie die Kunſt des Er- reichbaren, dann iſt es keine Politik mehr, ſondern ein Geſchäft. Wie die Arbeit von Ali, dem Krämer. Dort gegenüber.

And der Deputierte zeigte auf den kleinen Laden, wo zu ſpäter Stunde um fünf Piaſter Salz und Streichhölzer gehandelt wurden...

crdbſt: Seſptache mit Türken

Der abgedantte Soldat

Einft wanderte ich von Milet durch die unendliche Mäanderebene nach Norden. An einem der wenigen Rohrdächer, unter denen in großen Tonkrügen Trink waſſer für den Reiſenden von heimatlos ſtreifenden Jörüͤkken bereitgeſtellt iſt, traf ich einen abgedankten Soldaten. Er unterſchied ſich in nichts von den verwitterten, ſehnigen Geſtalten der Kameltreiber; den ſonnenverbrannten Bauern, die im Schatten bes Theaters der Stadt Milet, die der Triebſand des Mäander langſam zum Sterben gebracht, ihr trauriges, müͤhſeliges Leben dahinleben. Zur Linken dammerte die Akropolis von Priene auf jäh herabſtürzendem Felſen, rechts von der untergehenden Sonne beſtrahlt, leuchtete der Latmos. Und im Rüden die zum Berge gewordene Inſel Lade. Weidende Kamele, in den Gräſern der Meerwind und um uns die große, in Feſſeln ſchlagende Stille der Eindde

Wir tranken und wanderten zuſammen. Stunde um Stunde, von einer Waffer- ſtelle zur andern.

Vierzehn Jahre war Memed Soldat geweſen. Er hatte im Jeman gefochten, und gegen die Bulgaren bei Lüle Burgas. Vom Kaukaſus bis nach Bagdad war er mit dem Bagagewagen gezogen und an den Dardanellen Unteroffizier geworden, weil er als erſter Patrouillenführer den Abzug der Engländer gemeldet. Und er hatte in brei großen Schlachten unter Kemmal Paſcha feinen Mann geſtanden.

Aber als der Friede gekommen über Nacht, hatte man ihm ein zerknittertes Papier gegeben und ein Gnadengeſchenk, und ihn heimgeſchickt in fein zerſtörtes und ver- branntes Dorf. Faſt wie im Traum nahm er ſich dort einen kleinen Acker und baute Tabak. Ohne Liebe und ohne Luft...

. . . „Ach! Effendim! Was follen die alten Soldaten machen in der Welt!“, fo ſprach Memed zu mir, mit weitausholender Handbewegung, als wir mit unter- geſchlagenen Beinen nebeneinander auf der Erde im Schatten eines Rohrdaches ſaßen und in die weite unendliche Ebene ſtarrten. „Meine Freunde ſind dahin, und die Menſchen kennen mich nicht in meinem Dorf. Und der Krieg iſt zu Ende und in den Kaſernen die Jungen ... was wiſſen fie von der Schlacht! Sie verlachen die Alten und gehen an ihnen vorüber im Baſar, als wären es Fremde ... ach! Das Leben iſt ſchwer für die alten Soldaten ...“ Und ich nickte ſchweigend mit dem Kopf.

„Ou biſt ein Alleman? Was meinſt du? Wird noch einmal Krieg ſein? Mit den Franzuß? Den Inglis?“

„Inſchallach!“ ſage ich laut! „Möge es Gott geben!“

Und Memed ſchaut mich prüfend von der Seite an, reicht mir Tabak und rückt näher heran:

„Höre! Oer Hodja im Dorf ... dort hinten ... hat ein Buch. Bid ssene ewwel! Von vor tauſend Jahren und mehr. Und manchmal lieſt er am Abend darin. In der Kaffeeſchenke von Abdoullah. Dort ſteht geſchrieben: „Noch einmal wird ein großer Krieg fein in der Welt., Bütün miletler‘, alle Völker der Erde, alle zufammen, gegen die Ingliß, die Franzuß, die Italian, die Jonan ... Und aus Tſchin“ (China) werden die Soldaten kommen und eine große Schlacht wird noch ſein gegen das

440 Ered: Gefpedde mit Türken

ganze „Europa!“ Und dann wird der große Paſcha die Hälfte der Welt regieren und ihr, die Allaman, die andere. Dann erſt wird Friede fein! Ole! So iſt's !.

Ich blickte ſchweigend und nachdenklich in den Abend. Und dann zu Memed her über. Denn etwas Seltſames, Zwingendes liegt in feinem Blick, als er mit erhobe- nem Finger ſpricht: „Hodja dle dedi! So hat es der Hodja gefagt!.. .”

Memduha

Memduha iſt Lehrerin an der Mädchenſchule der kleinen anatoliſchen Stadt. Ich fab fie zum erſten Male am „Unabhängigkeitsfeſt“ der Republik. Im Tſchartſchaff, den Schleier zurüdgefchlagen. Als fie die Rede hielt, vor der Tribüne. Umgeben von den vielen kleinen Mädchen in den ſchwarzen Kleidern, mit den weißen cae kragen und den roten Schleifen im Haar...

Neulich ſprach Memduha mich an. Bei Ali, dem Krämer. „Ob ich ein Seutiger fet und ihr Unterricht zu geben wuͤnſche?“ Uberraſcht fagte ich zu. Denn in der ſchweigenden Stadt weiß man noch wenig von der Emanzipation der Frau. Ein Giauer, ein Andersgläubiger, im Haufe der türkiſchen Frau! ... Aber Memduha, die „Gefällige“, zerſtreute meine Bedenken. Der neue Schuldirektor aus Konſtanti⸗ nopel, jener wohlriechende, gebügelte, junge Bey, der mit feinem Elfenbeinſtock à la mode ſo vorſichtig mit abgeſpreizten Armen über das holprige ſchmutzige Pflaſter zu wandeln pflegt, Tefik- Bey, hatte Memduha erft neulich wieder den übrigen Lehrerinnen als Muſter hingeſtellt. Weil fie unverfchleiert geht und modern iſt. Und die Haare „A la gargonne“ trägt. Die ſchönen, ſchwarzen Haare, die doch eigentlich immer verſchleiert fein follen...

Und ich ging täglich zu Memduha. In den fpäten Nachmittagsſtunden, wenn das Abendrot über der ſtillen Stadt liegt und die Fenſter leuchten wie flüſſiges Gold. Und in der ſingenden, ſummenden, klaren anatoliſchen Sommerluft die unbewußte Sehnſucht ſchwingt, nach Wandern und Weite, nach Erleben und Leben...

Heute ſaßen wir uns wieder auf der kleinen Veranda gegenüber, an dem nied- rigen, eingelegten Tiſch, ſtützten die Arme auf die Eſtrade und blickten ſchweigend hinein in das weite Land. Ringsherum die große Stille. Wie am Sonntagnach⸗ mittag in den kleinen alten Städtchen am Rhein. Wenn die Menfchen hinaus- gezogen ſind vors Tor und nur dann und wann ein Wagenraſſeln, der hallende Tritt eines einſamen Spaziergängers zu hören iſt. Irgendwo läuteten melancholiſch die Glocken einer ſtaubwirbelnden, ſchwankenden Karawane. Eintönig traurig, lang- jam verhallend, verflingend...

Memduha ſah heute ſeltſam gealtert aus. Sie erwachte plößlich aus ihrem Traum:

„Was heißt in Deutjch „bedbacht“ fo fragte fie müde und unvermittelt.

„Bedbacht 22. . Unglücklich!“

Memduha ſchloß die Augen und ſtrich ſich über die Stirn. Und dann ſprach ſie langſam ſkandierend, überſetzend ins Leere hinein: „Das .. un. .. glück. . lichſte Menſch in ganze Welt iſt Leh... re... rin! Man hat viele Kinder. Man arbeitet immer für ſie. Aber keine Dank. Immer gehen ſie fort. Man gibt viele Liebe. Aber keine Dank... keine Dank. Und immer... jo! Das ganze Leben ... Ach! Das Leben ift ſerr traurig... Bedbacht .. . Unglück —lich! Ich werde nicht vergeffen...*

Sröbft: Seſptache mit Türken 441 Der Journaliſt

Abdullah Bey hat vier Jahre in Wien ſtudiert. Er iſt dreißig Jahre alt und ſpricht deutſch. Er liebt die Oſterreicher, aber haßt die Oeutſchen.

„Die Oſterreicher find ... ich weiß nicht, wie ich foll ſagen ... fie find weich. Zmmer weich. Ich liebe die Oſterreicher. Sie find ... gemütlich. Jawohl, gemüt- lich. So ſagt man in Deutfch, Aber die Deutſchen !. . . Ich liebe nicht die Deutſchen. Immer ſchreien ſie. Immer ſagen ſie: Wir haben recht! Wir wiſſen allein: Chemie und Algebra und Maſchinen und Arbeiten und Zeitungen ... Und immer ſchreiben fie Schlechtes für die Türken. Immer! Immer! Liman von Sanders. Und Major Endres. Alle Deutſchen ſchreiben ſchlechte Bücher für uns. Immer nur Lügen!“

Abdullah Bey ijt ,Gasettadschi“, Zeitungsſchreiber. Deswegen hat er keine Zeit, Bücher zu leſen. Er kennt Moltke nicht. Auch nicht Goltz. Denn Abdullah zählt zu jenen „Gebildeten“, die das „Neue Syſtem“ an die Oberfläche gefpült hat. Die alles können und alles wiſſen, außer dem einen: Nichts zu wiſſen.

Wir ſtreiten uns oft in dem kleinen Kaffeehauſe. Aber es gelingt mir nicht, ihm den Unterſchied begreiflich zu machen zwiſchen „wohlmeinender Kritik“ und „zer- ſetzender, verletzender Belehrung“. Aber doch treibe ich ihn langſam in die Enge. Er wehrt ſich mit Händen und Füßen und Argumenten. Er ſucht nach einem Keulen ſchlag, den er mir verſetzen kann.

Es iſt ihm gelungen!

Er ſpringt vom Sitz auf, triumphierend: „Haben Sie geleſen? Nein! Sie haben nicht geleſen! Tauſendundeine Nacht! Alles Lüge! Serr ſchlecht für die Türken! Wer hat geſchrieben? ich weiß nicht die Name aber ein Deutider! Ich habe geleſen in Wien!“ |

Ich ftrede die Waffen. Denn in der Türkei lieſt man franzöſiſche Romane und im nüchternen Europa die Märchen des Morgenlandes. Das iſt der Lauf der Welt. „Abdullah Bey, welches Jahr ſchreibt Ihr heute in der Türkei? Nach Eurer Rech nung?“ „13421“ „Du haft recht, mein Freund! Bis 1925 find es genau noch 585 Jahre! Verſtehſt du mich??“

Abdullah Bey verſtand mich nicht

Beitula

Beitula, das „Haus Gottes“, iſt ein Krimtatar und arbeitet als Tiſchler in einer „Fabrik“. Er beſucht mich oft in meinem Häuschen, und wir philoſophieren zuſammen über Vergangenes und Zukünftiges. Er hockt dann in feinem langen Mantel mit angezogenen Beinen auf dem Boden an der Wand, die kleine Mokkataſſe in beiden Händen meiſt ſitzen wir uns fo ſchweigend gegenüber. Dann aber holt er feine Tabaksdoſe heraus, und wir drehen uns Zigaretten. Nur ab und zu ein hingewor⸗ fenes Wort. Über die Schwere der Zeit. Und die Not. Und die Teurung in der Welt. Über die Rechtloſigkeit der Menſchen

„Back! Sieh!“ jagt Beitula und beſchäftigt ſich umſtändlich mit feiner Zigarette, ohne emporzuſehen. „Sieh! Zit das recht? 60 Jahre bin ich alt, von klein auf habe ich gearbeitet und verdiene hundert Piaſter am Tage. Ich mache „Sandalja's“,

442 Sqnad: Abend

Stühle. Schöne Stühle. Mit Armlehnen und weichen Polftern. Für bie großen Effendis. Zehn Stunden arbeite ich am Tage in der Fabrik. Für hundert Piaſter. Und zwanzig koſtet ein Brot in der Stadt. Ich bin alt. Was ſoll aus mir werden, wenn ich nicht mehr arbeiten kann?“

Wir runzeln beide die Stirn und ſchweigen. Das iſt Frage und Antwort zugleich.

„Den neuen Müdir, den ‚Pirelteur‘, Ibrahim-Bey, du kennſt ihn? Ein junge Menſch! In feinem Schreibzimmer ſteht ein Stuhl von mir. Wallach! Bei Gott! Genau fünf Stunden ſitzt Ibrahim in meinem Stuhl am Tage. Er lieſt und ſchreibt und raucht und trinkt Kaffee. Denn er iſt ein großer Effendi. Er braucht nicht zu arbeiten. Aber jeden Tag bekommt er tauſend Piaſter! Iſt das recht? Ich habe den Stuhl für hundert Piaſter gearbeitet und er ſitzt darin, für tauſend? Die Welt iſt ſchlecht! Früher... .“

Und Beitula ſtarrt durch das Fenſter ins Leere.

Ich beginne aufmerkſam zu werden. „Iki-Gösüm, mein Zweiauge, du warſt doch ſonſt immer zufrieden! Wer hat dir das geſagt?“

Beitula ſchielt argwöhniſch von unten zu mir herauf. „Ole diorlar! So fagt man!“ Und er macht Ausflüchte. Dann aber erzählt er: „Raſchid, der leſen und ſchreiben kann, der erſt kürzlich aus Konſtantinopel gekommen, hat es gefagt. Er hat aud ein gedrucktes Papier mitgebracht. Daraus hat vorgeleſen. Als ‚Peidus‘, Pauſe, war. Nur eine kleine Gaſetta“ Und Beitula zeichnet mit der Hand in die Luft ein winziges, imagindres Rechteck. „Aber der Müdir darf dieſe Gaſetta nicht fehen“, fo hat Raſchid gejagt. Und Beitula dreht ſich nachdenklich bedrückt eine neue Zigarette.

„Kenner“ der orientaliſchen Pſyche verſichern und haben es in gelehrten Büchern niedergelegt, daß der Türke gegen bolſchewiſtiſche Propaganda gefeit ſei. Weil er immer zufrieden und der Fſlam bereits „idealiſierter“ Bolſchewismus iſt. Mag fein!

Alten hat lange geſchlafen

Es wird dereinſt ein Erwachen mit Schrecken werden

Abend Von Anton Schnack

Uralte Ulmenftämme, ſchlanker Fichten Flucht, Blaudunkel ſteigen fie zum Silberabend hin,

Durch fidlider Kaſtanien edle, ernfte Zucht

Funkelt des Marmorbeckens Waſſer golden und rubin.

Im Abendfamt tief ſchläft das Schloß, umranſcht, Aus Erz getriebne Leuchter funkeln an den Toren, Der Buchs der Wege iſt geziert und gleichgeſchoren, Ein Griechengott ſteht nackt im Grün und lauſcht

Die Baume rauſchen an des Brunnens Rand

Im weichen Wind, der taſtend aus den wilden Gärten ſtreift, Ein Frauenlieb, weither und unbekannt,

Taut in die Wieſen, die mit weißem Hauch die Nacht bereift

Roſen des Saadi Aus dem Perſiſchen von Dr. Mar Funke

Hatam Taji

atam Taji beſaß ein Pferd, ſchwarz wie Ruß. Es war ſchneller als der Wiiften-

ſturm, denn es nahm es in ſeinem Lauf mit dem Blitz auf. Wenn es ſich bäumte, glaubte man auf einer vom Sturm gepeitſchten Wolke zu fein. Wie ein dahin ſchießender Waſſerſturz ſprengte es über alle Hinderniffe; und die Adler, die ibm zu folgen verſuchten, ließ es hinter ſich.

Infolgedeſſen verbreitete ſich der Ruhm des Hatém im gefamten Lande. Da ſprach eines Tages der Sultan von Rüm zu feinem Vater: „Wiſſen möchte ich, ob Hatäm feines Rufes würdig ift; fo will ich ihn erſuchen, mir fein berühmtes Pferd zu geben. Wenn er mir es gibt, dann glaube ich an ſeine Wohltätigkeit, aber wenn er mir es verweigert, dann find feine Verdienſte gerade nicht groß.“

Deshalb fandte der Sultan von Rüm einen klugen Boten mit einer Soldaten eskorte zu Hatam. Von Müdigkeit überwältigt gelangte die kleine Truppe zur Wohn- ſtätte des Hatam, der alsbald befahl, fein berühmtes Pferd zu töten, um ein Mahl zu bereiten. Während der Nacht bewirtete Hatäm feine Gäſte. Am nächſten Morgen, als der Bote den Zweck feiner Reiſe bekanntgab, biß ſich Hatäm wild in die Hände, und rief aus: „Edler und ergebener Diener, warum haft du nicht bei deiner An- kunft mir deine Miſſion offenbart? Diefes einzige Pferd habe ich zu deinen Ehren getötet ... denn Großwaſſer verhinderte mich, von der Weide Vieh zu holen, das wir ſonſt verſpeiſt hätten. Und hier hatte ich nur dies einzige Pferd... Wie kann ich meinen Gaſt Hunger leiden laffen! Wenig Urſache über den Verluſt des berühmten Pferdes, wenn nur mein Ruf keine Einbuße erleiden wird!“

Und Hatam Laji beſchenkte die ſich immer noch wundernden Boten reichlich.

* * *

Berühmt war die Mildtatigteit eines gewiſſen Herrſchers von Vemen. Seine Untertanen nannten ihn „wohltuenden Regen“. Aus feinen Händen floß ein un- erſchöpflicher Goldregen. Nur einen Fehler hatte er, nämlich, wenn er den Namen Hatam Taji hörte, wurde er recht ärgerlich, und einmal ſprach er: „Nicht länger ſoll man über dies dunkle Männlein ſprechen, das weder ein Königreich noch Reich tamer befigt!“

Eines Tages lud der König ſeine Freunde zu einem glänzenden Mahle ein, und im Verlaufe des Feſtes rief ein Gaft den Namen Hatäm Taji mit Begeiſterung aus. Darüber wurde der König wütend, und fo befahl er am anderen Tage einem feiner Offiziere, den Rivalen zu töten.

Als der Soldat in Benu Taj anlangte, bemerkte er einen vornehmen Greis in beſcheidener Haltung, der ihm fein Haus für die Nacht anbot. Am nächſten Morgen bat bieſer Greis faſt kniend den Soldaten, feinen Aufenthalt zu verlängern. Aber dieſer antwortete: „Es iſt unmöglich, me länger gu bleiben, denn ich bin mit einer wichtigen Miffion betraut!“

444 Funte: Noſen des Saabl

Da antwortete der Gaftgeber: „Ich ſtehe zu deinen Dienſten! Willſt du mir nicht deine Miſſion bekanntgeben? Vielleicht kann ich dir behilflich ſein!“

„Alſo vernimm, dod fei ſchweigſam! Ou kennſt ſicher einen gewiſſen Yatam, deffen Weisheit und Güte berühmt find... Zwar weiß ich nicht zu welchem Zweck, aber ich muß dem König von Yemen feinen Kopf überbringen. Erweiſe mir den Dienft, damit ich bald den Mann habhaft werden kann!“

Da ſprach der edle Hatém lächelnd: „Ich bin, den du ſuchſt! Zieh dein Schwert und köpfe mich, denn ich will nicht, daß dir dein Herrſcher grollt!“

Weinend warf ſich der Bote zu ſeinen Füßen, küßte die Hände und die Füße, zerbrach dann feinen Säbel und Bogen und rief aus: „Ich bin nicht fähig, dich mit der Dorne. einer Roſe zu verlegen!“ ... Noch einmal umarmte er feinen Gaſt-⸗ geber, und dann zog er gen Gemen.

Sofort verſtand der König, daß der Soldat ſeine Miſſion nicht erfüllt hatte. „Warum hängt der Kopf des Hatam nicht an deinem Sattel? Mußteſt du kämpfen? Wurdeſt du beſiegt?“

Da warf ſich der Soldat nieder und ſprach: „Gnädiger Herr! Ich habe Hatam ge ſehen und bin von ihm beſiegt worden, befiegt von feiner Güte und Ergebenbeit!“ Und ſo erzählte der Soldat die wunderſame Geſchichte, die ihr eben erfahren habt.

Begeiſtert übergab der Herrſcher feinem Geſandten eine Geldbörſe, indem er ſprach: , Hatam verdient wirklich die Lobſprüche!“

Die Ringer

Ein Athlet war ein großer Ringer geworden. Er kannte dreihundertſechzig Griffe, und jeden Tag erfand er eine neue Kampfesart. Einmal bezauberte dieſer Athlet einen ſeiner Schüler, deſſen Schönheit bemerkenswert war. Er lehrte ihm brei- hundertneunundfünfzig Griffe. Auch der junge Mann wurde ein unbeſiegbarer Ringer. Und eines Abends ſprach dieſer vor dem Sultan: „Wenn mein Lehrer unbezwingbarer iſt als ich, fo tue ich dies nur aus Rüdficht auf fein Alter, auch weil er mein Lehrer iſt. Aber an Kraft bin ich keineswegs unbedeutſamer, und meine Geſchicklichkeit gleicht der ſeinigen.“

Das mißfiel dem Sultan ſehr, und deshalb verlangte er einen Zweikampf der beiden Ringer. Man wählte einen Platz, und viele Staatsmänner und Höflinge wohnten dem Schauſpiel bei. Wie ein wuͤtender Elefant ſtürmte der junge Mann in die Arena. Er wollte hohe Berge bezwingen. Da der Lehrer ſah, daß fein Schüler ihn beſiegen wollte, griff er ihn mit dem ihm verheimlichten Griff an. Der alte Ringer hob ihn in die Höhe, warf ihn über ſeinen Kopf, und ließ ihn dann zu Boden fallen. Natürlich nahm der Beifall kein Ende.

Der Sitte gemäß überreichte der Sultan dem alten Ringer eine große Geld⸗ ſumme, indem er ſprach: „Führt mir eueren Gegner zu mir!“ Und der junge Mann erſchien. Der Herrſcher ſprach: „Du wollteſt deinen Lehrer beſiegen, doch iſt es dir nicht gelungen..

Oer junge Athlet erwiderte: „Gnädiger Herr, nicht durch ſeine Stärke hat mein Lehrer mich beſiegt, ſondern mit einem geheimen Griff, den er mir nicht zeigen wollte.“

Bethke: Vinternachklang 445

Da rief der alte Ringer aus: „Ich behielt ihn für einen ſolchen Tag vor, denn die Weiſen ſagen: Nicht alle deine Wiſſenſchaften lehre deinem Schüler, denn du weißt nicht, ob er nicht eines Tages dein Feind werden wird...“

Die Feuersbrunft

Ein ungerechter Mann kaufte armen Holzhackern ihr Holz ab. Er felbft ſtellte den Preis, der dem Wert des Holzes bei weitem nicht entſprach. Da ſprach ein Deifer zu ihm: „Biſt du eine Schlange, um die Menſchen zu ſtechen, die du ſiehſt? Biſt du eine Eule, um zu krächzen, wo du biſt? Wenn deine Gewalt dir oft glüdt, wird Gott ſie dennoch nicht gutheißen, der ja das Verborgene ſieht. Gebrauch keine Gewalt gegen deine Nächſten, damit Gott nicht immer die Schwüre hört, mit denen man dich überfchüttet.“

Doch, weil er dieſen Rat verachtete, hatte er einen großen Arger, denn eines Nachts brach in ſeiner Küche Feuer aus, und all ſein Holz ging in Flammen auf. Da ging gerade der Weiſe vorüber, der ſeine Worte vernahm: „Wie konnte nur dies Feuer entſtehen? ...“

Und der Weiſe ſprach: „Nur die Schmerzensrufe aller Armen, die du geknechtet haſt, haben dieſes Feuer erzeugt!“ |

Der Traum

Oer Sultan von Khoraſan hatte einen Traum. Er ſah den Sultan Mahmüd, den Sohn des Gebuq Teghim, deſſen Körper zu Staub verfallen war. Nur feine Augen lebten noch im Totenſchädel. Keinem Weiſen gelang es, dieſen Traum zu deuten. Da ſprach ein Derwiſch: „Der Sultan Mahmüd nimmt an, daß fein Reich einem andern gehören wird, nachdem es einem anderen gehört hatte.“

Wie viele berühmte Menſchen hat man ſchon begraben, von denen auf Erden keine Spur mehr zu ſehen iſt! Den Leichnam, den man in den Sand verſcharrt, hat der Sand zerſtört, ja ſelbſt nicht einmal die Knochen find verblieben. Der gluͤckliche Name Nutſch-Jrewän lebt nur noch dank der Wohltaten, die er vollbrachte, obgleich Nutſch-ZJrewän ſchon lange tot iſt.

O, Leſer, der du mich lieſt, vollbringe wenigſtens eine gute Tat, und pflüde maßvoll die Früchte deines Lebens, bevor die Stimme ruft: „Nun iſt es genug!“

Winternachklang Von Fr. Bethcke

Noch dehnt ſich da draußen ein Schneefeld weit, Unendlich weit im Raume.

Eine kalte, glitzernde Herrlichkeit

Mit blauem Schattenſaume.

Mitunter geht, ſeit der Abend ſank,

Aber den Schnee ein Funkeln.

Mir ift, als ob ein Ton erklang:

Da hinten ganz fern im Dunkeln

Runs eh a u

Das ruſſiſche Trauerſpiel

oll und widerſpruchsvoll wie ber Titel iſt das, was uns der ausgezeichnete Schriftſteller Rend Fiildp-Miller in feinem Buche: „Oer heilige Teufel Raſputin“ (Verlag Grethlein & Co., Leipzig) auf Grund von Akten, Dokumenten, Memoiren erzählt.

Das Werk bedeutet durch den Einblick, den wir nicht nur in das Leben des ruſſiſchen Volles in ben Jahrzehnten vom Regierungsantritt des letzten Zaren bis zu deffen Ende, ſondern auch in die Seele unferer öſtlichen Nachbarn erhalten, eine ganz hervorragende Erſcheinung. Wes der Verfaſſer uns mit unerhörter Eindringlichkeit ſchildert, lieſt ſich wie eine Tragödie und zugleich wie ein burleskes Spiel. Indeſſen iſt nun der große Vorzug dieſes Schriftſtellers, daß er ſelbſt ganz unbeteiligt bleibt und im allgemeinen nicht Partei nimmt. Das gibt feiner Dar ſtellung ihre Objektivität.

Es eröffnet ſich die Ausſicht auf die allerſchwerſte Frage: Was kann Rußland für uns ſein oder werden? Aus Züldp-Millers umfaſſendem Gemälde gewinnen wir den Eindruck, daß das ganze ungeheure ruſſiſche Reich von einem Wahnſinnsfieber, einer Kriſe des Geiſtigen geſchůttelt worden iſt und noch gefchüttelt wird, und dann wieder ſehen wir urkraftiges Leben von unten aufſteigen, eine Bauern-Bodenwüchſigkeit, die bei aller ihrer Problematik Achtung abnötigt, weil eine gewiſſe unbegriffene Größe und ein breites Volksmaſſiv bahinteriteht.

Es fei hier gleich gewarnt, Fülöp-Millers Buch allzueng als einen Rafputin-Senfations- roman aufzufaſſen. Hätte ein ſolcher geſchaffen werden ſollen, fo würde ein viel geringerer Umfang genügt haben. Fir Fülöp-Miller iſt Raſputin nicht nur der Einzelheld, ſondern auch der Typus des ruſſiſchen Muſchik, der in eine als falſch und fanatiſch zu bezeichnende Religiofität gerät. Raſputin genießt eine gemäßigte Sympathie des Verfaſſers, der allen Spuren, allen Entwicklungslinien der myſtiſchen Erweckung dieſer im zwanzigſten Jahrhundert für unmöglich gehaltenen Geſtalt nachgegangen iſt. Die Kapitel, in denen des „Predigers aus dem Kellerloch“ Kindbeits-, Mönchs- und Wanderjahre vorgeführt werden, find Beiträge zur Pſy⸗ chologie der ruſſiſchen Religion und der ruſſiſchen Seele überhaupt, wobei das Wort Seele eine höchſt eigenartige Bedeutung hat, die es etwa in Deutſchland gar nicht haben kann. Wer dieſe Abſchnitte über das Werden Raſputins nicht leſen wollte, der würde niemals Verſtändnis für deſſen ſpätere Macht und Möglichkeit gewinnen.

Seltſam, wenn wir fein Bild betrachten das Buch enthält ſämtliche jemals angefertigten Aufnahmen ſo können wir uns, nachdem dieſe Blicke ſchon ſeit über zehn Jahren erloſchen ſind, doch nicht einem tiefen Eindruck entziehen, d. h. es iſt ganz einerlei, ob wir dieſen Mann widerlich oder anziehend finden wir fühlen, daß er über unheimliche Kräfte verfügt haben muß; er hätte ja auch ſonſt niemals zum „Zaren über dem Zaren“ werden können. Fildp- Miller verſchweigt keinen von Rafputins Fehlern (feinen teilweiſe wüften Lebenswandeh, aber auch keine feiner Tüchtigkeiten. In der Tat wird es ſchwer fein, zu ſagen, ob dieſe merk würdig klaren Augen die eines Scheuſals, eines Tiers in Menſchengeſtalt, oder bie eines Pro- pheten ſind. Wenn uns weſtliche Menſchen vor dem Manne graut, ſo beurteilen wir ihn dann wieder anders und milder, ſobald wir ſeine paradoxe, für uns allerdings unannehmbare Lehre von der Sündenerlöſung durch die Sündenbegehung, die ſich in einer Art praktiſcher Piydho- analyſe auswirkt, wenigſtens pſychologiſch verſtanden haben. Und das macht uns Fülöp-Miller durch feine religionshiſtoriſchen Exkurſe möglich. Aber natürlich fügen wir als Deutſche aus unſeren eigenen Bedingtheiten hinzu: gegenüber dieſer entſetzlichen Myſtik, deren wir ſchon bei Doſtojewſki etliches zu koſten bekamen, bedürfen wir des Ausgleichs durch einen großen Poſten mitteleuropäifcher, das heißt eben deutſcher Vernunft.

Dae ruſſiſche Erauerfpiet 47

Denn die Tragödie ber Romanows iſt die Tragödie der Myſtik. Es iſt mit Fülsp- Millers Buch ob mit oder wider Willen der Nachweis geliefert, daß das Schickſal Rußlands anders hätte verlaufen können und müffen, wenn nicht zuerſt die Zarin, dann auch der Zar der Macht dieſer zweideutigen Myſtik, verkörpert in der zweideutigen Figur des heiligen Teufels Naſputin, erlegen wären. Gewiß ſcheint es nicht ausgeſchloſſen, daß dieſer imſtande geweſen wäre, den Weltkrieg zu verhüten oder aufzuſchieben er lag damals durch ein Attentat ſchwer verwundet und konnte, fern vom Zaren, nur telegraphieren, während die ſuggeſtive Macht feiner Gegen wart ausgeſchaltet war aber man zweifelt doch, ob nicht auch dann die Dinge ſchon zu weit gediehen waren, um nicht zu irgendeiner verheerenden Exploſion führen zu müffen.

Damit komme ich zu meiner einzigen Einwendung gegen dieſes treffliche Werk: Fuͤlöp- Miller ſtellt es fo dar, als habe Fuͤrſt Zuffupoff die Ermordung Rafputins im Grunde nur aus der Langeweile des Reichen heraus unternommen, allenfalls noch aus der Gekräͤnktheit des Adligen, mit dem Zarenhauſe Verſchwägerten, der neidiſch war auf die einflußreiche Stellung des ſimplen, ſchmutzigen Muſchik. Damit kommt man ſchwerlich aus. Wie die Tat begangen wor den iſt, das mag verworfen werden; daß ihre Motive unedel oder minderwertig waren, davon bin ich nicht überzeugt worden. |

Mußte nicht Fürſt Zuſſupoff, der über den Lebenswandel des Zarenguͤnſtlings genau unter richtet war, zu der Meinung kommen, daß die vörlige Abſchließung des Kaiſers von allen andern Ratgebern und die Zwiſchenträgerei und Spionage, die dadurch unvermeidlich wurde, daß bie Beſetzung der hidften Stellen durch Raſputins Machtſpruch ein Unglid für Rußland be- deute

Am wenigſten migvecitehen können wir den Einfluß, den der ſibiriſche Staretz auf die unglüd- liche Zarin hatte. Rafputins Anweſenheit wirkte auf den armen kranken Thronfolger wunder bar heilſam, und da müffen wir dem Mutterherzen alle Konſequenzen, die ſich aus der Heiligen verehrung biefem ſeltſamen Arzt gegenüber ergaben, zuguthalten. Fuͤlöp-Miller läßt übrigens das Bild des Herrſcherpaares keineswegs als das unſympathiſcher Menſchen vor uns erſtehen, zeigt uns vielmehr, wie beide ſich in ihr gluͤckliches Eheleben und in ihr Idyll von Zarskoje Selo einſpannen, die grauſamen Fragen der Welt, die ihnen geſtellt wurden, ausſperrend. Zar und Zarin ſind gewiſſermaßen immer auf der Flucht vor dem drohenden Schickſal und gehen ihm um ſo ſicherer ins Netz, weil ſie nicht die Kraft haben, ſich dagegen zu wehren und zu erheben. Es iſt erfreulich, den Ruſſenkaiſer hier einmal nicht als den Idioten auf dem Thron, fondern als einen für feine Aufgabe zu kleinen, ſonſt vernünftigen menſchlichen Menſchen zu feben, der für feinen Charakter ſchwer genug hat büßen müſſen. Ergreifend zu leſen, wie das Schiff mit der kaiſerlichen, von Kerenſki verbannten Familie auf dem Fluſſe Tura am ſibiriſchen Heimatborfe Naſputins vorüberfährt, in den Tod von der Hand der bolſchewiſtiſchen Mörder.

Alles in allem muß man nach der Lektüre geſtehen, daß kein Menſch imſtande war, das Unheil zu verhüten. Religiöfer Wahnſinn, Aberglaube, Korruption, Wolluſt, Grauſamkeit, Intrige, Beftehung, Feigheit, Unentſchloſſenheit, Laſter aller Art, kurz ein Niedergang, der einen andern als den kataſtrophalen Ausgang unmöglich ſcheinen läßt! Füldp-Miller hat alle Stucke geſammelt, die zur Aufhellung des Trauerſpiels dienen können: Archivaliſche Schriften, Chiffre korreſpondenzen der Staatsmänner, Geheimakten der Polizei, Tagebücher von Würdenträgern, Liebesbriefe, Betenntaifie hochgeitellter Damen der „beiten“ Geſellſchaft, die dem Einfluß des Heiligen, des Kranke heilenden, predigenden, den Armen ſpendenden, ſaufenden, zur Sigeunermufit tanzenden, wilde Orgien feiernden doppelgeſichtigen Raſputin erlagen, deſſen Originalaufzeichnungen von feiner Büßerfahrt nach Jeruſalem, von der Kaiſerin perſönlich nach den ſchmutzigen Zetteln des Pilgers abgeſchrieben, und noch vieles andere.

Eine wirkliche Geſtaltung liegt hier vor, ein Buch der Belehrung und der Erfchütterung! Und was wir bier lernen, das iſt im Grunde dieſee: nicht das Evangelium von der Erlöfung durch die Sünde, dieſe Irrlehre des öͤſtlichen Fanatismus der „Chleſti“, kann uns yelfen, fendern

448 Rafputin der böfe Genius bes kalferlichen Mublond

nach wie vor nur die unverfälfchte echte und urchriſtliche Heilsbotſchaft möglichfter Enthaltunz von der Sünbe. Ein Buch von eschatologiſcher Wucht, voll von Grauen, das nur in die Hände der Reifen gehört, die fähig find, aus den fuͤrchterlichen Zeichen der Zeit zu leſen und zu lernen. Rudolf Paulſen

Raſputin der böſe Genius des kaiſerlichen Rußland

Diefes Rapitel entnehmen wir bem juͤngſt bel ber Hahnſchen Buchhandlung in Hannover erſchienenen Wert des ehemaligen Generalquartlermeiſters der kaiſerlich ruſſiſchen Feldarmee 3. N. Oaniloff: „Dem Zuſammenbruch entgegen“. Der Derfaffer mißt dem „Teufel“ Naſputin wegen feines unheil vollen Ein luſſes auf Zar und Zarin und damit auf die gefamte ruſſiſche Nrlegspolitik eine Saupe ſchuld am ruſſiſchen Zuſammenbruch bei. Oanlloff fieht in dem ruſſiſchen Bauernpropheten nur den ſtrupelloſen Betrüger und moraliſchen Lumpen und ſpricht ihm kurzerhand jede ſeheriſche Begabung und myſtiſche Bedeutung ab.

Ga Rafputin! Mit welchem Haß ſpricht jeder Ruffe dieſen verhaͤngnisvollen Namen aus!

Wer war er? Woher iſt er gekommen, welcher Art war feine innere und äußere Einftellung? Und worin beruhte die Macht feines Einfluſſes .. .

Ein ſimpler Bauer aus dem Dorfe Pokrowskoje im Gouvernement Tobolsk, der erſt in einem Alter von dreißig Jahren in Petersburg ſchreiben und leſen lernte, trotz alledem aber bis an ſein Lebensende darin ein völliger Stümper blieb. Seine Zuſchriften an die Kaiſerin und die Miniſter bilden eine Schmach für die Empfänger, für alle, die fie laſen und die darin end haltenen Ratfchläge und Befehle zur Ausführung brachten. Ein in der Bibel bewanderter Betbruder, der ſchon in feinem Haufe in Sibirien irgendwelche geheimnisvollen Meſſen ab- gehalten hatte. Angeblich ein Anhänger der Sekte der „Altgläubigen“. Ein Säufer und Wol- lüftling, der feine ſcheußlichen Inſtinkte mit dem Schleier göttlicher Abkunft audedte. ..

Sein Bild zeigt ihn als hochgewachſenen, ziemlich ſchlanken, etwa vierzig bis fünfzigjährigen Mann mit dunklem Vollbart, langem, wirrem Haar und zuſammengekniffenen, unangenehm blickenden Augen, von denen man ſich moͤglichſt ſchnell abwenden möchte. Auf einer anderen Photographie iſt er mit geſenktem Kopf dargeſtellt, der den Ausdruck ſeiner Augen verbirgt, wodurch der abſtoßende Eindruck abgeſchwächt wird. Seine gewöhnliche Kleidung war die Nationaltracht des ruſſiſchen Bauern, das Hemd aber war immer aus Seide.

Grigori Raſputin oder Grigori der Neue —, wie er feine Telegramme an das Raiferpaar unterzeichnete.

Woher jener Beiname?

Es wird erzählt, daß ihn der Thronfolger Alexei Nikolajewitſch Raſputin beigelegt hätte. Gewohnt, nur dieſelben Geſichter um ſich zu ſehen, war er über das Erſcheinen eines fremden und noch dazu fremdartig gekleideten Mannes aufs äußerfte erſtaunt. „Ein Neuer, ein Neuer It gekommen!“ rief er, feinen Eltern Raſputins Eintreffen im Schloß antündenb.

Daher der Name Grigori der Neue.

Die von ihm bezauberte Kaiſerin gab ihm den ſchon ee Titel: „Unfer beſter Freund“.

Oer gewandte Bauer hatte eine große Geſchicklichkeit darin, feine Art, ſich zu geben, feiner Umgebung anzupaſſen. Im Schloß erſchien er ſtets als friedlicher Pilgersmann, als der Fürſprecher der kaiſerlichen Familie und Rußlands vor dem Thron des Allerhddjten, als ein Menſch, der die Weisheit des Volkes, feine Hoffnungen und Wünſche in ſich vereinigte. In welt-

Schloßräume Franz Huth

ee Google

Rafputin ber böfe Genius bes kalſerlichen Rußland 449

licher Umgebung aber war er, ohne jedoch das ihm ſtets anhaftende Rätfelhafte abzuſtreifen, durchaus nicht abgeneigt, ſich zu jeglicher Art ſündhaften Tuns herabzulaſſen.

Niemals aber kam es vor, daß er in dieſer Umgebung verſuchte, ſich. an charakterfeſte und unabhängige Leute heranzumachen, ihnen zu ſchmeicheln. Er wußte ſehr wohl, daß ſich feine Macht nur auf Kranke beſchränkte, auf Schwächlinge und Streber, deren es in der beſten Gefell- [daft der Hauptitabt in der Zeit vor dem Weltkriege leider mehr als genug gab.

Solche Leute wie Rafputin werden ſich ſtets einfinden, ſobald nach ihnen Nachfrage beſteht. Dagegen werden fie in geſunder Atmoſphäre ſehr bald verſchwinden. An ihre Ferſen heften ſich mit Vorliebe Abenteurer aller Art, deren einziger Zweck darin beiteht, im „Trüben zu fiſchen“. Und es muß leider geſagt werden, daß gerade vor dem Kriege in der Hauptſtadt an derlei Geſtalten kein Mangel war...

Sie haben ohne geringſten Gewiſſensſkrupel Rafputins Einfluß benutzt, um die Leute, welche fie brauchten, nach oben gelangen zu laſſen und damit die Intereſſen ihres eigenen timmer- lichen Ichs vor das Staatswohl geſtellt.

Jedoch das Furchtbarſte in dieſer Raſputinſchen Zeit war, daß durch den Einfluß jener Leute die Autorität der Zentralgewalt und bes fie krönenden Monarchen endgültig ins Wanken ge- bracht wurde.

Alle lauteren und unabhängigen Perfonen, die der Heimat uneigennützig und in Ehren ge dient hatten, erhielten den Abſchied oder gingen von felbit. An ihre Stelle traten Schmeichler und Egoiſten, die ihre eigene Karriere allem anderen voranſtellten. Um dieſes Zweckes willen taten ſie alles, was der verantwortungsloſe und ungebildete „Pilger“ und ſeine Handlanger von ihnen verlangten.

Oieſer Weg, einmal beſchritten, mußte das Reich an den Rand des Abgrundes führen. Ra- ſputin iſt niemals im Hauptquartier geweſen. In der Zeit, wo an der Spitze der Armee der Sroßfürſt Nikolai Nikolajewitſch ſtand, konnte davon natürlich auch nicht die Rede fein. Der ehemalige Hoͤchſtkommandierende war ſchon damals über die ſchädliche Tätigkeit und die lafter- haften Neigungen des „Pilgers“ ausgezeichnet unterrichtet. Jedoch nachdem der Kaiſer ſelbſt Höchſtkommandierender geworden war, konnte dieſe Angelegenheit ſehr leicht eine andere Richtung nehmen.

Wenn es auch Rafputin vorziehen mußte, feinen unverantwortlichen Einfluß nicht direkt, ſondern durch Vermittlung der expanſiven und willfähriger veranlagten Kaiſerin geltend zu machen, fo hielt letztere die perſönliche Anweſenheit des „Pilgers“ im Hauptquartier dennoch für durchaus nützlich.

Dak ihm dieſer Ort bisher verſchloſſen geweſen war, mußte Raſputin ſelbſt nicht wenig erzürnt haben; die krankhafte Vorſtellung der Kaiſerin aber, Raſputin wäre eine Quelle gött- licher Gnade und eine Bürgfchaft jeglichen Erfolgs, war durch jenes Verbot nicht im geringſten herührt worden.

Bereits unmittelbar nach feinem Eintreffen im Hauptquartier gab der Kaiſer feinem General- ſtabschef Alexejew zu verſtehen, die Kaiſerin, bei ihrem lebhaften Intereſſe für das Haupt quartier, ſähe es gerne, daß man Rafputin kommen laffe.

Es gelang, das Erſcheinen des „Pilgers“ im Hauptquartier zu verhindern; General Alexejew aber hat aus dieſem Anlaß ſehr wenig ſchmeichelhafte Bemerkungen der Kaiſerin Alexandra Feodorowna anhören miiffen.

„Sagen Sie mal,“ wandte fie fid einmal an ihn, „was haben Sie eigentlich an unſerem Freunde auszuſetzen, und weshalb widerſetzen Sie ſich feinem Herfommen? Er wäre dem Kaiſer bier eine große Stütze!“

„Majeſtät,“ entgegnete Michail Waſſiljewitſch Alexejew, „ich kenne Rafputin nicht und habe ihn niemals geſehen; man redet aber fo viel Schlechtes über ihn, daß.

„Ich weiß,“ unterbrach fie ihn traurig, „Ihr alle mögt ihn nicht. Ihr kennt aber unferen Der Türmer XXX, 6 29

450 Nafputin ber böſe Genius bes kalſerlichen upland

Freund nicht: Er ift ein lauterer und Gott wohlgefälliger Mann. Wie oft iſt er unſer Fuͤrſprecher gewefen, wenn ich an der Geneſung des Thronfolgers verzweifeln wollte! Die Gebete unſerer Hierarchen gelangen nicht bis zu Gott, weil er an ihnen kein Wohlgefallen hat; es find das Men ſchen, die allzuſehr von weltlichen Dingen beherrſcht werden. Nur die Fuͤrſprache jenes ſchlichten Mannes, auf dem der Segen des Höchſten ruht, ſchafft meinem kranken Knaben Erleichterung.“

Zm September 1914 weilt Rafputin bereits in Petersburg, und von dieſer Zeit ab wäͤchſt fein Einfluß zuſehends.

(Maniloff {Hilbert dann die Rriegsereigniffe bis zum Januar 1916. Die unerfreuliche Situation an ber Front hatte auch zu einem Sinken der Regierungsautorität im Lande geführt.)

. . . Als aber Wefen und Charakter dieſer Regierung die mehr und mehr unter den Einfluß des böjen Geiſtes des damaligen Rußland, des „Pilgers“ Rafputin, geriet fi völlig heraus kriſtalliſiert hatten und keinem mehr ein Geheimnis waren, da begann das längſt ſchon in der Bevölkerung vorhandene Gefühl der Unzufriedenheit ſich in lautem Unwillen Luft zu machen.

Die Tatſache allein, daß die Regierung vor derartigen unverantwortlichen Einflüffen tapi- tulierte, war die übelſte Seite der ruſſiſchen Selbſtherrſchaft... In der zweiten Hälfte des Januar 1916 hatte Kaiſer Nikolai endgültig beſchloſſen, ſich von J. L. Gorempkin zu trennen.

Daß der gebrechliche Miniſterpräſident Goremntin feinen Poſten verließ, konnte natürlich nur begrüßt werden, an feine Stelle aber trat das Reichsratsmitglied B. W. Stürmer der als Staatsmann noch weniger geeignet erſchien als fein Vorgänger.

.. . Wenn man nun aber dem alten Goremykin allzu große Nachgiebigkeit gegenüber der jungen Kaiſerin und ihrer Umgebung hatte vorwerfen dürfen, fo war der ebenſo alte Stürmer geradezu eine Kreatur Raſputins. Mit feiner Ernennung wurde fomit der verhängnisvolle Cin fluß des allmächtigen Mannes endgültig befeſtigt.

Es gelang Stürmer, vom Rafputinfchen Kreiſe in jeder Beziehung unterſtüͤtzt, das Vertrauen, das er beim Kaiſer und beſonders der Kaiſerin genoß, derart zu befeſtigen, daß erſterer ſich eine Weile mit der Abſicht trug, ihm in allen Fragen, die mit dem Kriege zuſammenhingen, be ſondere Rechte einzurdumen.

(Die Erbitterung der Rafputin-Gegner ſtieg immer mehr und brängte zu einer Rataſtrophe. Fm November 1916 wird Stürmer zum NRüdteltt genötigt, und am 17. Dezember trat das Ereignis ein, das die Nenner ber ruffifgen

Dollsfeele langft vorausg eſagt hatten.)

.. Viele Jahre ſchon hatten die Beſten und Edelſten des ruſſiſchen Volkes tief unter dem erniedrigenden Bewußtſein gelitten, daß die Regierungsgewalt völlig von dem zudringlichen, fatalen Grigori Raſputin in Abhängigkeit geraten war. Letzterer hatte, wie wir geſehen haben, in Gemeinſchaft mit feinen Handlungen dieſe Regierungsgewalt, indem er fie feinen perfön- lichen Intereſſen dienſtbar machte, ſyſtematiſch demoraliſiert.

Oer Kaiſer und die Kaiſerin jedoch glaubten felſenfeſt an feine Uneigennüͤtzigkeit und folgten widerſpruchslos feinen von Sachkenntnis ungetrübten Natſchlaͤgen. Weder die Bitten der Sroßfürſten noch die Warnungen der dem Kaiſerpaar naheſtehenden Perſonen, ja nicht einmal die Drohung mit dem Sturz der Dynaſtie vermochten das Kaiſerpaar zu veranlaſſen, dem zer ſetzenden Einfluß Raſputins ein Ende zu bereiten und entſchiedene Maßnahmen zu treffen, um dem Lande das Vertrauen zur Regierung wiederzugeben. Alle an den Kaiſer und ſeine Gemahlin gelangenden, von Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit getragenen Mahnungen wurden von ihnen als üble Nachreden und verleumderiſche Ausfälle gegen den „heiligen Pilger“ aufgefaßt.

Unter dieſen Umſtänden und um das Land vor noch Schlimmerem zu bewahren, mußten ſich Männer finden, die aus Liebe zur Heimat das ſchwere Kreuz auf ſich nahmen, jenes ſchaͤb⸗ liche Subjekt aus dem Leben des ruſſiſchen Volks gewaltſam zu entfernen.

Und dieſe Leute fanden fid...

Man wußte oben ſehr gut, daß das Leben Rafputins bedroht war, und hatte ihn deshalb auf höheren Befehl hin mit einem dreifachen Netz von Geheimagenten umgeben.

Solfdewismus und Antifemitismus : 451

„Das iſt von morgens bis abends und von abends bis morgens unfere einzige Beſchäftigung“, bekannte einmal ein Beamter des Innenminiſteriums, damit auf die Wachſamkeit und Pflicht; treue der erwähnten Schutzwache anſpielend.

Rafputin ſelbſt legte ſich gleichfalls völlig Rechenſchaft von der Möglichkeit eines Attentate ab. In den letzten Jahren vor feinem Tode war er außerordentlich mißtrauiſch geworden und vermied es, Leute, die er nicht perſönlich kannte, zu beſuchen. Jedoch das Fleiſch war auch hier oft ſtaͤrker als der Wille. Unter falſcher Vorſpiegelung holte der junge Fürft Zuffupoff in der Nacht zum 17. Dezember Rafputin ab und brachte ihn in fein Haus.

Er wurde in das Arbeitszimmer des Hausherrn geführt und mit Wein und vergiftetem Kuchen bewirtet. Als aber das Gift wirkungslos blieb, gab man auf Rafputin einige Revolver- [diffe ab...

Oer Leichnam Rafputins wurde nod in der ſelben Nacht in ein Eisloch eines der Peters- burger Randle geworfen.

„Ich kann und will nicht glauben, daß er tot iſt. Gott wird ſich unſer erbarmen“, ſchrieb die Kaiſerin nach der erſten Mitteilung, daß Rafputin , verſchwunden“ fei...

Der Unhold war tot, fein Blut aber vermochte Rußland vor dem unaufhaltſam herannahenden Unheil nicht mehr zu retten.

Bolſchewismus und Antiſemitismus

Die Huftdnde in der Sowjet-Nepublie find wenig bekannt. Wie geben hier einem genauen Beobachter das Wort. O. T. as die bolſchewiſtiſche Revolution von allen früheren revolutionären Bewegungen weſentlich unterſcheidet, war nicht nur das Fehlen der nationalen Idee, ſondern mehr als das: die Feindſeligkeit, mit der ſie jeden nationalen Gedanken bekämpfte.

Diefe Revolution bezweckte nicht ſowohl eine Umwälzung der ruſſiſchen Staatsordnung, als vielmehr die Erreichung eines größeren internationalen Zieles: die Zerſtörung aller Grund lagen der beſtehenden ſtaatlichen, ſozialen und moraliſchen Weltordnung.

Die Loſung des Klaſſenkampfes, um materielle Güter zu gewinnen, der Aufruf zu Raub und Gewalttat und die Verhetzung der Maſſen gegen die oberen Schichten der Bevölkerung, das alles wurde nicht mit dem utopiſtiſchen Ziele unternommen, den ruſſiſchen Staat auf der Baſis kommuniſtiſcher Prinzipien neu aufzubauen, ſondern zu dem Endzwecke, dieſen Staat als ſolchen zu vernichten. Während der neunjährigen Dauer der bolſchewiſtiſchen Fremdherrſchaft iſt in dieſer Richtung viel erreicht worden. Das ruſſiſche Volk iſt nicht mehr Herr in ſeinem Lande, und fogar der Name „Rußland“ ijt ausgetilgt. Es gibt nur noch die vereinigten ſozialiſtiſchen Raterepubliten.

Von Beginn dieſer Herrſchaft an beftand die weit überwiegende Mehrzahl der Führenden aus Perſonen nich truſſiſcher Herkunft, die ſchon infolge ihrer Raſſeneigenart dem Ruſſiſchen feindlich gegenüberftanden, und bis heute iſt dieſes Element herrſchend auf allen Gebieten des ſtaatlichen Lebens. Die wenigen bolſchewiſtiſchen Führer ruſſiſcher Nationalität ſpielen keine maßgebende Rolle. Der Staatsprdfident Kalinin, ein halbgebildeter Bauer, iſt eine Marionette. Er wurde erwählt, weil an der Spitze der Arbeiter- und Bauernrepublik ein Bauer oder Arbeiter ſtehen ſollte. Auch Rykoff iſt ſchließlich nur eine Größe zweiter Ordnung. Der verſtorbene Kraſſin hatte jüdiſches Blut, ebenſo der vielgenannte Tomski. So iſt von den bolſchewiſtiſchen Größen eigentlich nur Bucharin ein „Ruſſe“.

Das iſt kein Zufall und keine natürliche Ausleſe der Starken und Fähigſten, ſondern eine ganz logiſche Entwicklung des Planes der Vernichtung Rußlands. Das Volk iſt die Seele eines

452 Bolfhewismus und Antifemitismu

jeden Staates, feine Lebensquelle, und die Vernichtung der kulturellen Kräfte eines Volles ift der Tod des Staates. |

Zur Verwirklichung der bolſchewiſtiſchen Ziele war es alſo erforderlich, bie gefunden lebens vollen Kräfte des Volkes auszurotten, um es zu einer menſchlichen Herde machen zu können.

In dieſem neuemporgekommenen Elemente, das eine privilegierte Klaſſe bildete, ſpielte das Judentum ſowohl numeriſch als auch wegen feiner beſonderen Aktivität die größte Rolle. Das iſt eine hiſtoriſche Tatſache, die auch bis heute noch unverändert fortbeſteht. Die Juden find dominierend geblieben und neben ihnen find es andere Fremdſtämmige, wie namentlich Rar kaſier und Letten.

Dieſe Verhältniſſe haben nun eine Erſcheinung gezeitigt, die bisher von ber roten Preſſe möoͤglichſt verſchwiegen wurde, jetzt aber fo unverhüllt zutage tritt, daß fie gar nicht mehr ge leugnet werden kann und daher ganz offen zugegeben wird: nämlich den Sowjet- Anti- ſemitismus, der beftändig anwächſt und deſſen faſt alle ausländiſchen Korreſpondenten Er wdbnung tun.

Beſtätigt wird das auch durch Briefe und Mitteilungen aus Sowjetrußland, die alle darin übereinftimmen, daß die Feindſeligkeit gegen das Judentum eine ganz allgemeine Erſcheinung geworden fei und alle Schichten der Bevölkerung beherrſche. Dabei kommen ſolche Nachrichten gerade aus denjenigen Kreiſen, die früher der progrejjiv-liberalen Richtung angehörten, alle Erſcheinungen des Antiſemitismus ſtets verurteilt hatten und für volle Gleichberechtigung der Juden eingetreten waren. Hat doch ſogar ein fo unentwegter Verteidiger des Judentums wie Miljukoff in feiner in Paris erſcheinenden Zeitung das bedrohliche Anwachſen der jubenfeind- lichen Strömung zugeben müffen.

Daf ſich eine ſolche Wandlung vollziehen und daß die berechtigte Empörung über das Ver⸗ halten vieler einzelner Juden einen Raſſenhaß auslöſen konnte, beweiſt, wie das allgemeine Volksempfinden ſich in feinem Innerſten tief verletzt fühlt.

Oer bolſchewiſtiſche Führer Bucharin, Mitglied des Zentralkomitees der kommuniſtiſchen Partei, hat auf der Parteikonferenz erklärt, daß der heutige Antiſemitismus dadurch zu erklären fei, daß nach der Beſeitigung der ruſſiſchen Bourgeoifie ſich eine jüdiſche Bourgeoifie ge bildet habe. „Wenn früher der kleine Ladenbeſitzer ‚Zwanoff‘ hieß, fo fet es jetzt ein, Roſen⸗ blum“, und ebenſo ſei die jüdiſche Intelligenz an die Stelle der ruſſiſchen getreten. Nun zeterten Händler und Intelligente darüber, daß überall, Roſenblums ſitzen.“

Eine ſolche allgemeine Feindſeligkeit gegen die Juden war früher nicht vorhanden geweſen und eigentlich nur im ſogenannten „Anſiedelungsrayon“ zutage getreten, d. h. den ehemals polniſchen und litauiſchen Gebieten, in denen die Zuden von jeher in kompakten Maſſen gelebt hatten. Wohl waren fie von hier aus allmählich auch in die benachbarten Gouvernements ein gedrungen, aber die Spezialgeſetzgebung über das Wohnrecht der Juden hatte fie bald völlig auf den Anſiedlungsrayon verwieſen und das eigentliche Rußland vor einer Überflutung durch das jüdifche Element geſchützt, während der genannte Rayon ein mehr und mehr jüdiſches Ge- präge erhielt. In dieſen Gebieten iſt die Bevölkerung, namentlich die bäuerliche, von den Juden ſtark ausgebeutet worden; denn die Bauernſchaft ſtand ſowohl kulturell wie wirtſchaftlich auf einer niedrigen Stufe und hat es daher nicht vermocht, ſich gegen dieſe Ausbeutung zu wehren.

Diefe Verhältniſſe waren es, die eine ſtark judenfeindliche Stimmung entſtehen ließen. Nach der Revolution haben jedoch die Juden das Recht der Freizügigkeit erhalten, fie find überall vorgedrungen, haben ihre Geſchäftspraktiken mitgebracht, durch die fie das Volk nicht gewinnen konnten, und ſo verbreitete ſich die judenfeindliche Stimmung im ganzen Reiche.

Oas Journal der „jozialrevolutionären Partei“, der „Wille Rußlands“, brachte unlängſt eine Rorrefpondenz aus Moskau, die dieſe Frage ſehr eingehend behandelt und nach allen aus den verſchiedenſten Teilen des Reiches eingegangenen Informationen das ſtarke Anwachſen der judenfeindlichen Bewegung feſtſtellt. In der Ukraine ſei eine ſolche Strömung von alters her

Solſchewismus und Antifemitiemus 453 unter den Bauern vorhanden geweſen, jetzt aber nehme fie auch in Zentralrußland zu. Überall verfolge die Bevölkerung mit ſichtlicher Zufriedenheit alle Maßnahmen der Regierungsgewalt, die gegen das Judentum gerichtet ſind, ſo namentlich die „Reinigung“ der höheren Lehranſtalten, bie ja durchaus nicht zu dieſem Zwecke unternommen wird, der aber ſtets ein großer Prozentſatz von Zuden zum Opfer fällt. Ebenſo herrſcht große Freude über die Verdrängung der Zuden aus den Truſts und den mit dieſen in Zuſammenhang ſtehenden Inſtitutionen des Außen- handels, die bisher ganz in juͤdiſchen Händen waren.

Die Animofität gegen das Judentum mußte ſich naturgemäß noch verſchärfen, als die Somjet- gewalt damit begann, jüdifche landwirtſchaftliche Kolonien inmitten einer nationalen Bevölke- rung zu ſchaffen. Dieſe abſurde und unter den gegebenen Verhältniſſen direkt gefährliche Politik hat in der bäuerlichen Bevölkerung die größte Erregung und Erbitterung hervorgerufen. Wie ſollte der Bauer es verſtehen, daß die Gutsbeſitzer gewaltſam enteignet worden waren, angeblich um ihr Land den Bauern zu übergeben, und daß nun auf dieſem Lande ein raſſenfremdes, von ihnen verachtetes Element angeſiedelt wurde?

Bei der Auswahl ber für die jüdiſche Koloniſation zu wählenden Gebiete wurden außer der Krim in erſter Reihe diejenigen berüdfichtigt, die an benachbarte Staaten angrenzen oder doch nicht weiter als etwa 60 Kilometer von der Grenze entfernt find. Diefe Verfügung der jüdiſchen Sowjetregierung war auf den Wunſch zuruͤckzuführen, ihren Stammesgenoſſen einen gewiſſen Schutz zu gewähren für den Fall einer judenfeindlichen Volksbewegung. Die jüdiſche Bevölke- tung, die in geſchloſſenen Maſſen in der Nähe der Grenze angeſiedelt fei, follte dadurch die Möglichkeit gewinnen, ſich felbft zu verteidigen und ſich im Notfall durch eine Flucht über die Grenze in Sicherheit zu bringen.

Die Sowjets wußten jedoch, daß gerade in dieſen Gebieten die Bevölkerung beſonders juden- feindlich geſinnt ijt und gar kein Verſtändnis haben würde für eine Siedlungspolitik, die mit dem ausgeſprochenen Zwecke unternommen wird, die Juden zu ſchũtzen. Offiziell wurden daher ganz andere Gründe für dieſe Maßnahmen angeführt, nämlich der Wunſch, den ganzen Grenzſtrich mit einer zuverläffigen und dem Kommunismus ergebenen Bevölkerung zu beſiedeln, die die Sowjetgewalt wirkſam verteidigen würde. Das eigentliche Ziel war alſo: Schutz der Juden, aber bie offizielle Loſung lautete: Feſtigung und Schutz der kommuniſtiſchen Gewalt. Das

beweiſt, daß die Sowjetregierung ſelbſt mit dem Anwachſen der judenfeindlichen Stimmung im Volke rechnet und nicht ſicher iſt, ob fie die jüdiſche Bevölkerung gegen mögliche Mafjen- pogrome werde [hüten können.

Diefer ſowjetruſſiſche Antiſemitismus iſt alſo nicht auf eine „Propaganda der Gendarmerie“, auf eine kuͤnſtliche Verhetzung zuruͤckzuführen oder etwa buch Verbreitung der Legende von judiſchen Ritualmorden ufw. hervorgerufen; und daß er innerhalb einer Partei entſtehen und groß werden konnte, bie theoretiſch und praktiſch jede nationale Unduldſamkeit, inſonderheit aber den Antiſemitismus perhorreſzierte, beweiſt ſchon, daß hier andere Urſachen vorliegen müjjen.

Es iſt gar nicht zu verkennen, daß die Innenpolitik der gegenwartigen Regierung mit der früheren Bevorzugung des juͤdiſchen Elements gebrochen hat; und manches fpricht dafür, daß bie großen Differenzen, die innerhalb der leitenden Sowjetkreiſe hervorgetreten find, zum Teil wenigſtens vielleicht wirklich auf die Judenfrage zuruckzufuhren find.

Oer heutige Beherrſcher der Lage, der Kaukaſier DOſchugaſchwili⸗Stalin, war nach Lenins Tobe, außer dem Polen Oſerſchinski, der einzige Nichtjude, der es in der Sowjetunion zu einer wirklichen Machtſtellung gebracht hatte. Er ſteht nun im Kampfe mit der geſamten Oppoſition, die fic aus lauter jüdiſchen Führern zuſammenſetzt, die trotz der ſehr erheblichen Meinungs- verſchiedenheiten über die einzuhaltende Innenpolitik, ſich doch feſt zuſammengeſchloſſen haben zum Kampfe gegen Stalin. Das iſt ſehr beachtenswert und kann wohl dahin gedeutet werden, daß die große jüͤdiſche Frage, obwohl fie gar nicht aufgerollt worden fit, tatfächlih doch einen der weſentlichſten Oifferenzpunkte bildet.

454 Bolſchewismus und Antifemitiemus

Die Oppoſition das iſt das Zudentum, das alles Erdenkliche tut, um für ſich Anhänger zu werben und namentlich die Arbeiter zu gewinnen trachtet. Dieſe Auffaſſung iſt jedenfalls in weiten bürgerlichen Kreiſen Sowjetrußlands ſehr verbreitet, und es mag etwas Wahres daran fein. Damit würde nun allerdings nicht übereinſtimmen, daß Stalin den jüdiſchen Rolonifatione plänen der Sowjetregierung bisher nicht entgegengetreten iſt, obwohl gerade dieſe die größte Unzufriedenheit in der bäuerlichen Bevölkerung hervorgerufen haben, und doch Stalin ſelbſt wiederholt erklärt hat, daß alles davon abhänge, die Bauern für das kommuniſtiſche Regime zu gewinnen.

Die Koloniſationsbeſtrebungen nehmen jedenfalls ihren Fortgang, zum großen Unwillen der Bauern, die fie an vielen Orten gewaltſam zu hindern verſucht haben. So wurde im cerfoni- ſchen Gouvernement im Herbſt 1926 eine Partie von 200 jüdiſchen Koloniſten, die mit vollem Inventar an Adergerätfchaften und mit Traktoren aus Amerika anlangte, von den Bauern der umliegenden Dörfer gewaltſam vertrieben, ihre Baracken wurden niedergebrannt und des Inventar vernichtet. Ebenſo erging es einer anderen Gruppe, die ſich im Tauriſchen Gouverne- ment (Krim) niederlaſſen wollte. Auf einer in Moskau unter dem Vorſitz von Smidowitſch, des Gehilfen des Staatspräfidenten Kalinin, abgehaltenen Konferenz wurde allſeitig zugegeben, daß der Antiſemitismus in der Bevölkerung erheblich zunehme. Man müffe damit rechnen, daß dieſe Bewegung nicht nur bie alte Parole: „Haut die Juden“ ausgeben, ſondern, was weit gefährlicher fein würde, unter der Loſung: „Rettet Rußland“ zum Kampfe gegen das Guder- tum aufrufen könne.

Das iſt inzwiſchen bereits geſchehen. Vor einigen Monaten erſchien in der roten , Prawda" ein Artikel, in dem geſagt war, daß die bürgerliche Konterrevolution am Werke ſei, die Maffen durch die ausgegebene Parole des „Antiſemitismus“ zu gewinnen ſuche und alle Ruffen dazu aufrufe, ſich gegen das Zudentum zu vereinigen. Diefe Propaganda werde eifrigſt und fo erfolg reid) betrieben, daß die Bewegung bereits in den Reihen der Arbeiterſchaft Wurzel gefaßt habe. Oer Antiſemitismus, hinter dem ſich tatſächlich die Konterrevolution verberge, fei zu einer großen Gefahr geworden und es müſſe ihm ein ſchonungsloſer Krieg erklärt werden. Ein einziger Konferenzteilnehmer hatte den Mut, offen zu erklären, daß die allgemeine Gegnerſchaft gegen die Juden auf die Tatſache zurückzuführen fei, daß der jüͤdiſche Einfluß auf allen Gebieten des ſtaatlich- offentlichen Lebens ein fo gewaltiger fei, wie es der jüdiſchen Bevölkerungsziffer keiner wegs entſpräche. Dieſe Worte riefen aber in der Verſammlung einen ſolchen Unwillen hervor, daß der Redner feine Ausführungen nicht einmal beenden konnte.

Die allgemeine Stimmung iſt „zweifellos gegen die Juden“; und dieſe antifemitifge Woge hat bereits die Jugend in den mittleren Lehranſtalten erfaßt.

Aber auch in einſichtigen jüdiſchen Kreiſen wächſt die Erkenntnis dieſer Gefahr. Sie geben zu, bah zu kaiſerlicher Zeit ein ſolcher Zudenhaß nie vorhanden geweſen fel, und fagen offen: „Das alles wird uns teuer zu ſtehen kommen, und wir werden ſchwer zu büßen haben.“

Diefe Einſicht kommt jedoch reichlich fpät, und vielleicht ſogar zu fpät; denn was die Juden befürchten und was ihnen moͤglicherweiſe bevorſteht, iſt eine direkte Folge der führenden Rolle, die das Judentum in der Revolution gefpielt hat und, vor allem, feines Verhaltens zu der dem ruſſiſchen Volke verhaßten bolſchewiſtiſchen Macht.

Juden hatten die Hauptmenge der bolſchewiſtiſchen Kommiſſare und Funktionäre geftellt; fie haben die bolſchewiſtiſche Gewalt organifiert und gefeſtigt, die fic als eine Herrſchaft des jüdiſchen Elementes barftellt, und die Zuden haben dieſes Regime fortgeſetzt unterſtüͤtzt und gehalten.

So iſt ihr Schuldtonto im Laufe der Jahre derart angewachſen, daß fie es kaum noch auf friedlichem Wege werden begleichen können. Das wäre nur moglich, wenn ſich die Juden aus einem ſtaatszerſetzenden in ein ſtaatserhaltendes Element wandeln wurden. Aber ſelbſt wenn eine ſolche innere Wandlung denkbar ſein ſollte, bedürfte es eines ſehr langen Zeitraumes, um fie zu erweifen. Baron Foelckerſam

OxvyFene Halle

Die hier veröffentlichten, bem freien Meinungsaustauf bienendben Einſenbungen find unabhängig vom Standpunkt des Herausgebers

Bücher über Aſtrologie und Seelenkunde

lle Weltverbefferung von außen her bleibt Stümperei. Ein ſolcher Weltverbeſſerer gleicht

einem Mann, dem fein Spiegelbild mißfällt, und der zu deſſen Verſchönerung den Spiegel bemalt.“ „Der Revolutionär lebt ja ganz und gar vom Alten, gegen das er revolutioniert. Der wirkliche Pfadfinder läßt das Alte auf ſich beruhen und geht tatſaͤchlich weiter.“ Diefe Worte entitammen einem Büdlein von Oskar A. H. Schmitz, das als Weckruf in unſere Zeit hinein tönen mochte: „Pſychoanalyſe und Yoga“ (Otto Reichl, Darmſtadt). Es bietet weſentliche Aufſchluͤſſe über ſeeliſche Fortentwickelung und Heilung krankhafter Veranlagungen. Yoga heißt Zucht oder innere geiſtige Übung. Wer fie beſitzt, der klagt nicht mehr über Unglüd, ſondern erkennt alles Geſchehen als folgerichtige Entwickelung feiner eigenen Verfaſſung. Mit frei- mutiger Einſicht ſtellt der beleſene Verfaſſer das Verhaltnis zwiſchen dem Grafen Keyſerling und ſich ſelber dar, als Bildnis für verſchiedenartiges Wachstum nach außen oder nach innen hin (Extraverſion und Intraverſion). Hier mag auch das hübfche und leſenswerte Bändchen von Dr. P. Braun „Oie Kunſt der Selbſtheilung“ (F. E. Baumann, Bad Schmiedeberg bei Halle) Erwähnung finden; durch den verſtorbenen Cous iſt ja dieſe Methode hinreichend bekannt geworden, und fie übt ſicherlich eine ebenſo gute wie ſichere Wirkung aus voraus- geſetzt immer, daß der Kranke noch imſtande iſt, ſich ſelber beeinfluſſen zu können, und en die geiſtigen Kräfte noch zur Verfügung ſtehen.

Daß ſich in den Zügen der Handſchrift die ſeeliſche Veranlagung treulich wiederſplegelt, iſt nun allgemein erkannt worden, und dieſe Tatſache findet in Kriminalfällen, bei Faͤlſchungen auch praktiſche gerichtliche Verwendung. Kuͤrzlich verfaßte der bekannte Schriftſteller Ottomar Enking eine ausgezeichnete Betrachtung „Menſch und Schrift“ (Carl Schünemann, Bremen), in welcher namentlich modernen Schriftzügen Genüge getan und abwechſelreiches Material dargeboten iſt. Wie man es nicht anders erwarten durfte, iſt der Inhalt aͤußerſt belebt, dichteriſch geſehen und durchleuchtet von pſychologiſchem Wiſſen und mitſchwingender Schickſalserfahrung. Ein bedeutend umfangreicheres Werk ſchrieb Dr. Otto Kellner: „Vom Ausdrucke gehalt der Handſchrift“ (Alfter-Derlag, Hamburg). Alle Gattungen von Perſönlichkeiten find vertreten: Studenten, Dirnen, Verbrecher, Gelehrte, Kranke, Künitler uſw. Dieſes Buch iſt wegen der Ausführlichkeit, Bildhaftigkeit, der ſauberen Überſichtlichkeit ſowie tiefſchürfenden Ertldrungsweiſe wohl geeignet, zu belehren und zu weiſen, zumal zahlreiche Beiſpiele durch Abbildungen vertreten ſind; wem daran gelegen iſt, ſich ſelbſt und ſeine Nächſten zu erkennen, ſollte dieſe fleißige Arbeit nicht unbeachtet laſſen. Daß ſich hie und dort Abweichungen in Einzelheiten der Oeutung finden, iſt nur erklärlich; äußern doch auch die Arzte verſchiedene Meinungen über einen Krankheitsfall; ſelber ſuchen und forſchen gilt hier als erſtes Er- fordernis.

Heftiger umſtritten iſt ſeltſamerweiſe noch die Frage, ob das Liniennetz der Hände Sinn und Bedeutung berge. Nur die dem flachen Rationalismus fernen Völker beſaßen hierin Kenntniſſe, und da es Zigeuner geweſen und keine Profeſſoren, ſo war man allzu geneigt, die Tatſachen lächelnd anzuzweifeln. Und doch iſt die unkritiſche Ungläubigkeit ebenſo verwerflich wie die unkritiſche Leichtgläubigkeit. Profeſſor Kettys Werk „Oie Hand“ iſt ſehr gut von Walter Bergemann aus dem Franzoͤſiſchen übertragen und überſichtlich angeordnet (Talis Verlag in Leipzig); es enthält Einführungen und unterrichtende, beſinnliche Abhandlungen ſowie zahl-

456 Bücher Ader Aftrologie und Seelenkunbe

reiche gute Bildbeigaben. Von perſöͤnlicherer Geſtaltung iſt das Ergebnis langjähriger Er- fahrung, das der bekannte, vielſeitige Arzt Dr. Georg Lomer in dem Buche „Die Sprache der Hand“ (F. E. Baumann, Bad Schmiedeberg bei Halle a. d. S.) niedergelegt hat. Es verrät beſonders auf dem weiten Gebiete der Medizin erhebliche Erkenntniſſe, die bereits gründlich verwertet wurden. Es behandelt die Vorgeſchichte, ferner Merkmale am Händedruck und anderen rein „äußerlichen“ Zeichen und Bekundungen. Eine Vertiefung erfährt das Werk durch die Zuſammenarbeit mit aſtrologiſchen Lehren. Die beigefügten Horoftope der Leidenden ergänzen überaus geſchickt die Handprognoſe. Auch Dr. Lomer bekämpft die irrige Meinung, als wären die aſtrologiſchen Lehren hinfällig geworden mit der Galileiſchen Erkenntnis der Erddrehung um die Sonne. Natürlich bleiben die einmal gewonnenen Erfahrungen immer beſtehen, da ſie uns ja aus den Planetenftänden übertamen, welche an ſich keine Anderung genommen haben, auch nicht durch die Bekundungen des Kopernikus; hegten wir auch ehemals eine falſche Vor; ftellung, fo vermag fie an der Empirie nichts Weſentliches zu ändern.

Hiermit gelangen wir auf ein Gebiet, über das noch auffallende Unkenntnis verbreitet iſt (vgl. meinen Aufſatz „Die Frage der Sternendeutung“ im „Türmer“, November 1925). Wir erfahren doch nun durch die Funkenapparate genugſam, daß unſichtbare Atherſchwingungen, welche bisher fo hartnäckig angezweifelt wurden, wirklich beſtehen; alſo wäre es nach dieſer „wiſſenſchaftlichen“ Erkenntnis törichter als jemals, den weit ſtärkeren kosmiſchen Strömungen den beſtimmenden Einfluß auf unſer Leben abſprechen zu wollen. Es beſtehen Zweifel und Miß verſtändniſſe, ob nun jede Willensfreiheit verloren ſei und blindeſter Fatalismus herrſchen müffe. Im Grunde wiſſen wir alle, daß niemand feiner angeborenen Natur leichthin entſpringen kann; wie weit wir fie indeſſen bewältigen, unterſteht eben der uns durch Sterneneinfluß gu- geteilten Kraft. Den Widerjtänden werden wir niemals entgehen; wohl aber vermögen wir die Kämpfe auszuwerten: Reibungsfldden ſchleifen ab und veredeln! Hans Wolf gibt in ſeiner „Aſtrologiſchen Prognoſe“ (Niels Kampmann, Celle bei Hannover) gerade hierzu manche treffenden Bemerkungen. Sein Werk fett einige Kenntniſſe voraus, belehrt in ver- tiefender Form, zeigt einige neuartige Auffaſſungen und ijt ſtark auf bie indiſche Theoſophie gejtüßt, die entgegen der deutſchen wurzelſtark und unverwäſſert iſt. Ein Werk, das faſt alle ſtrebenden Aſtrologen als Sprungbrett benutzen, iſt die Aſtrologiſche Kollektion von Karl Brandler Pracht (Linſer- Verlag, Berlin- Pankow). Die fünf Bände helfen das Rechnen mit Logarithmen überftehen, ſelbſtändig das Aufſtellen von Lebensſpiegeln bewirken; fie leiten recht ſicher und hilfsbereit. Die aſtrologiſche Prognoſe erklärt erſchöpfend die Deutung der Horoskope, ſoweit es überhaupt moglich iſt bei dem Umſtande, daß jedes Horoſkop einen Spezial- fall darſtellt, was leider nur allzu häufig überfehen wird. Fragen der Erziehung, des Berufes, des gegenſeitigen Einvernehmens verſchiedener Menſchen untereinander werden ernſthafter Setrad- tung unterzogen. Oirektionen (neue Aſpektbildungen des ſtetig fortſchreitenden Stundenbildes) laffen erſehnte Blicke in die Zukunft offen, und die Stundenaſtrologie wiederum beſchäftigt fid fogar mit lebloſen Dingen wie Hauskauf, Wohnungswechſel, Eheſchluß, Diebſtahl, Erkrankung, von der Gewißheit ausgehend, daß guͤnſtige und unguͤnſtige Augenblicke uns manchen Gedanken einflößen und manche Tat bewirken, über denen dann folgenſchwer das Wirken jener Stunde ſich erfüllen wird, der wir unterſtehen. Erleichternde Tabellen und ſehr wertvolles Material berühmter Perſönlichkeiten wie Napoleon I. und III. oder Erzberger, Bebel, Eisner, Marie Antoinette uſw. ſpenden lehrreiche Ausblicke. Der Überfegung Wilhelm Wulffs verdankt die ſeit Zahrtauſenden beſtehende „Altindiſche Aſtrologie“ in Form eines wertvollen Lehrbuches ihre Erweckung (Atair-Derlag, Hamburg). Eine fremde Welt weht uns entgegen mit der Erklärung der Ge- burten von Asketen und Königen. Erfreulich bleibt die hohe Anforderung, welche der Der- faſſer Daraha Mihira an die geiſtigen Fähigkeiten wie auch an die äußere Beſchaffenheit der Aſtrologen ſtellt, denn nur ſolche können edle Vertreter dieſer Wiſſenſchaft ſein, welche ſo viele Gegner und Scharlatane aufweiſt, wie es leider in allen Wiſſenſchaften ſich zu ereignen

Bücher üb er Afteologie und Seelentunde 457

pflegt, und über welche die Meinung verbreitet iſt, es handle ſich lediglich um blinden Glauben, während alle Kenntnis vielmehr auf rein empiriſchen Geſetzen beruht. Alan Leos , Aftro- logiſche Lehrbücher“ ſind in handlicher und preiswerter Form veröffentlicht (Aſtrologiſcher Verlag W. Becker, Berlin-Steglitz); ob es ſich nun bei den Einzelbänden um die Begründung der Sternendeutung handelt oder um Erklärung und Berechnung oder um den Einfluß der Planeten in den verſchiedenen Tierkreiszeichen —: immer find die Prognoſen klar und ſicher. Verfügt man felber über die dringend nötige Intuition, fo kann man ſich auf dieſe Hinweiſe, auch ohne eigene Erfahrung, durchaus verlaſſen. In erſchöpfender Weiſe behandelt gerade Band XIX der Aſtrologiſchen Bibliothek dieſe „Symbole des Tierkreiſes“ (Theoſophiſches Verlagshaus, Leipzig). Es kann als umfangreiches Sammelwerk gerühmt werden; nur liegt in den zum Schluß angefügten ſymboliſchen Auffaſſungen immer die nahe Gefahr des blut- leeren Myſtizismus, welche die Urfache bleibt, daß kritiſch rechnende Köpfe die Wiſſenſchaft der Sternendeutung als Hirngeſpinſt abzulehnen bemüht ſind. Die „Botſchaft der Sterne“ aus den Max geindelſchen Erkenntnisbüchern des neuen Roſenkreuzerordens wurde durch Rudolf von Sebottendorf in nachſchöpfender Geſtalt frei und geläufig übertragen (Theoſophiſches Verlagshaus, Leipzig). Das Werk vermag gerade diejenigen, die nicht ſelbſt mit Phantaſie und Kombinationsgabe begnadet find, bei der Arbeit gründlich zu beeinfluſſen, und zwar in leicht; perftändlicher und dem Leben völlig angepaßter Form. Dankenswert find auch die fedsund- dreißig angefügten Ubungshoroſkope mit den Charakteriſtiken mancher vom Leid (Blindheit, Trunkſucht, Beſeſſenheit, Selbſtmordmanie uſw.) heimgeſuchten Nebenmenſchen. Eingehende Berüuͤckſichtigung erfährt erfreulicherweiſe auch die mediziniſche Aſtrologie. Ein Buch, das in der Reihe des Lehrmaterials eine außerordentliche Ergänzung bildet, ſchuf Elſe Parker in dem Werke „Aſtrologie und ihre Verwertung fürs Leben“ (P. Dz. Veen. Amersfoort, Holland), das für die Lernenden wirklich unentbehrlich iſt, wenn fie durch ſeeliſche Weiter entwicklung die Aſpekte zu löfen beſtrebt find. Das vollftdndige Fehlen eindeutig materialiſtiſcher Prognoſen ſichert der Verfaſſerin den Erfolg. Daß ſie zuweilen ſtark theoſophiſche Einſtellung verrät, dürfte nur diejenigen ſtören, die alles Okkulte durchaus abzuweiſen befliſſen find. Das knappe Büchlein „Einführung in die moderne Aſtrologie“ (derſelbe Verlag) dieſer Schriftſtellerin bietet unter den jetzt üppig ſprießenden Anweiſungen, dem Können der Der- faſſerin entſprechend, das Beſte. Dem häufig gerühmten Werk von C. Qu. Libra „Aftro- logie, ihre Technik und Ethik“, das in hervorragender Weiſe alle nur denkbaren Fragen behandelt mit Hinneigung zu Eſoterik und weiter Schau, iſt von demſelben Verfaſſer der ftatt- liche Band „Kosmos und Mikrokosmos“ gefolgt (Verlag P. Oz. Veen, Amersfoort, Hol- land), eine aſtrotheoſophiſche Betrachtung von ſolcher Tragweite und Fernſicht, daß niemand daran vorübergehen ſollte, der fein geiſtiges Auge auf das dem Alltag verſchloſſene, große kosmiſche Geſchehen hinlenken möchte, auf den erſtaunlichen Weltenrhythmus des unermeß- lichen Raumes. Freilich ſtellt das bedeutende Werk in feiner geſammelten Darlegung betradt- liche Anforderungen an den Leſer, bildet jedoch für die Fortgeſchrittenen eine Fundgrube vergeſſener Schätze und lehrreicher Hinweiſe. Da liegt noch ein Buch von Anton Seitz vor über „Okkultismus, Wiſſenſchaft und Religion“ (Verlag von Dr. Franz A. Pfeiffer, München), das auf den erſten Blick den theologiſchen Rationaliften verrät, der alles verſtandes⸗ gemäß bewieſen zu ſehen winfdt, was äußerlich unbeweisbar ijt, es fet denn aus der geheimnis; vollen Kette der Erfahrung heraus, und der darum hartnäckig zu verneinen bereit iſt. Seltſam bleibt immerhin, daß der Verfaſſer menſchliche Fernwirkung gelten läßt, obgleich nach feiner Meinung „felbit die ſtärkſte kosmiſche Beeinfluſſung des Temperaments vermittels des Ganglien foftems nie die Willensfreiheit aufzuheben vermag“, und daß er viele nach aſtrologiſchen Vorausſagungen eingetroffene Tatſachen erzählt, ohne ſich des inneren Widerſpruchs bewußt zu werden. Wenn Seitz ſchlechthin ſagt: „Die Behauptung, die Horoſkopie hätte ſich irgendwie durch Tatſachen als richtig erwiefen, ijt unwahr“, fo kann man ſich eines bedauernden Lächelns

458 Von geiftiger Not und ihrer Überwindung

über ſolche Unkenntnis und Enge nicht erwehren, zumal wenn der Verfaſſer gar ben Glauben an eine Allberbundenheit im Weltganzen anzweifelt“.

Wie das Wunder des geſtirnten Himmels immer wieder Geiſt und Phantaſie der Voller zu den ewigen Rätſeln und Geheimniſſen hinangelenkt hat, läßt ſich aus dem ſtattlichen Buche von Friedrich Normann „Mythen der Sterne“ (Leopold Klotz Verlag, Gotha) aufs deutlichſte wahrnehmen. Zahlreiche Beiſpiele aus Sage und Dichtung und Maͤrchen der ur kultivierten und ziviliſierten Völker find mit freudigem Sammeleifer aneinandergereiht; U bildungen erhöhen den Wert des ſchönen Buches erheblich, das allen Freunden auch der Aſtro⸗ logie zum Studium empfohlen werden ſoll, ebenſo wie auch der in dieſelbe Richtung führende „Sternweiſer“ von Robert Henſeling (Greifenverlag, Rudolſtadt in Thür.), der eine begrüßenswerte Erläuterung der mannigfachen Sternbilder bietet, unterſtuͤtzt durch Beiſpiele aus Gage und Geſchichte.

Den Beſchluß bilde das grundlegende Werk über „Die Aſtrologie des Johannes Kepler, in welchem Heinz Artur Strauß und Sigrid Strauß-Kloebe in anertennenswerte Weiſe eine Auswahl aus den Schriften des berühmten Aſtronomen getroffen und z. T. nen aus dem Lateiniſchen uberſetzt haben (Verlag R. Oldenbourg, München). Keplers Urwüchſig keit, Humor und tiefe Eigenart, welche den Laien immer wieder in Erſtaunen ſetzen, treten deutlich zutage, desgleichen fein hartes und ſchweres Ringen um den Alltag, den er fo häufig über dem Studium der Sternenwelt vergeſſen hat. Gerade Kepler iſt eines jener oft „mafle krierten“ Kinder neuer Geiſtesſtrömungen, und ſein Wort, daß die Aſtrologie in ihrem bisherigen Zeitgewand ein ndrrifhes und verworrenes Ding (oder auch „Töchterlein der Aſtronomie“) ſei, wird zwar gern zitiert, doch ohne den unzweideutigen Nachſatz: „aber doch zupft ſie um bei den Ohren und führet uns auf den Kreuzweg, der zur Rechten nach der Philoſophie zugehet.

Eliſabeth Schellenberg, Frankenhauſen am Ryffp.

Von geiſtiger Not und ihrer Überwindung

nſere geiftige Not iſt heute noch größer als die wirtſchaftliche“, ſchrieb mir vor einiger Heit

ein ſehr bekannter deutſcher Verleger, und dieſe traurige Feſtſtellung kehrt leider überall und in jeder Form wieder, fo daß fie nachgerade alltäglich zu werden beginnt. Trotzdem mochte ich fie doch an dieſer Stelle noch einmal wiederholen, denn man kann die abſolute Bewußt machung dieſes beklagenswerten Zuſtandes gar nicht eindringlich genug erſtreben; iſt dies doch die erſte Vorausſetzung zu jedem Verſuch einer Beſſerung. Es fei darum geftattet, zur Erhaͤrtung der Tatſachen noch eine Briefſtelle, und zwar diejenige eines verdienſtvollen Autors anzufuͤhren. Es handelt ſich da um die Frage, wie man ein neu erſchienenes Buch mit einiger Ausſicht auf Erfolg durchſetzen könne. „Man muß, um für dieſes Werk zu wirken,“ heißt es in dem Briefe, „ganz neue Wege ſuchen, denn der Weg über Zeitungen und ähnliches iſt glaube ich völlig verwirtſchaftet, nachdem die großen Blätter für geiſtige Dinge kaum mehr ein Zehnteil des Raumes frei haben, den fie für das letzte Fußballſpiel oder den letzten Box- Match bereitſtellen, und ſo glaubt man ihnen auch in dieſem Zehnteil nicht mehr.“

Fruchtloſe Reſignation darf natürlich trotz und alledem nicht Platz greifen, deshalb verlangt der Briefſchreiber weiter, daß man „die Kreiſe für beſtimmte Bücher einfach ſuchen und feſt⸗ halten“, daß man „ſich mit jedem Buch an fein Publikum wenden“ müffe; nur weiß er leider keine Wege zu dieſem Ziel zu weiſen. Er konſtatiert nur, daß ein ſolches Vorgehen, neue geiſtige Gruppierungen“ und „neue geiſtige Mittelpunkte“ bedingt, und daß es „ſchwer und ſchmerz haft“ iſt und „endloſe Geduld, immer neue Geduld“ erfordert. Lauter Negativismen alfo mit richtiger Blickrichtung allerdings.

Von der geiftigen Not und ihrer Aberwindung | 459

Bezeichnend für die Sachlage iſt auch das vor längerer Zeit erfolgte Erſcheinen einer Broſchüre „Wie gewinnen wir unſer Volk für gute Literatur“ im Verlage des Börſenvereins der deutſchen Buchhändler und der Umſtand, daß niemand ſich mit dieſer Ooktorfrage ernſthaft beſchäftigte. Sm allgemeinen find unſere Autoren nur darauf aus, fleißig Stoffe zu ſammeln und zu ver- arbeiten, unſere Verleger, erfolgreiche Buchſchreiber zu gewinnen, fie ſich gegenſeitig abzu- jagen. Dieſe Konkurrenzhatz beanſprucht einen weſentlichen Teil ihrer Zeit, ihrer Kraft und ihres Geldes. Man gibt ſich ſo wenig und ungern der Mühe hin, neue und wirkliche Talente zu entdecken; es blüht ja ringsherum foviel Neues und Intereſſantes: auf tauſend Wegen dringen Keime zum Licht. Man überläßt es anderen oder den Talenten ſelbſt, ſich durchzuringen, und ſtuͤrzt dann mit der Lockung des gewichtigen Firmennamens oder auch des relativ großen Geld- beutels auf ihr junges Können los. Selbſtverſtändlich gibt es auch hier wie überall die die Regel beſtätigenden Ausnahmen, aber das Volk iſt der leidende Teil in dieſer Betriebſamkeit. Es wird mit Ankündigungen überfchüttet, in immer phantaſtiſcheren Lobpreiſungen werden ihm die Neu- erſcheinungen des Buͤchermarktes ins dröhnende Ohr trompetet, und nun ijt es in Folgerichtig; keit dahin gekommen, daß niemand mehr glaubt, keiner mehr weiß, jeder verwirrt in einer immer höher anſteigenden Flut treibt.

Glücklich, wer eine beſtimmte Leſe, richtung“ ſich gewonnen hat, eine beſtimmte Linie verfolgt, einen Führer hat, dem er vertraut. Wie viele aber find es, die fo vollbewußt ihren Weg gehen? Von den wenigen, die überhaupt leſen, die allerwenigſten! Die anderen drohen dem Buche abtrünnig zu werden, geben ſich lieber bei einer guten Zigarre der Muße des Radios hin und befinden fic) wohl dabei. Gewiß, das find nicht die richtigen Lefer und Bücherliebhaber aus Paſſion; aber hier dreht es ſich gerade darum, eine breitere Maſſe dem Buche überhaupt zuzu- führen, das „Volk zu gewinnen“!

Der oben zitierte Buchhändlerbörſenverein hat den Gedanken gehabt, ein Preisausſchreiben zu erlaffen: „Welche 12 Bücher aus der Zeit der letzten drei Geſchlechter gehören in die Haus- bücherei jedes gebildeten Deutſchen?“ Von den 13 Preisträgern waren bezeichnenderweiſe nur drei von der „Zunft“. Ein Beweis dafür, daß die Löfung und Überwindung der geiſtigen Kriſe von dieſer Seite nicht kommen wird.

Leider reicht der hier zur Verfügung ſtehende Raum nicht aus, um praktiſche Vorſchläge zu machen. Nur eines ſei geſagt, daß jeder zweckbewußt Leſende in ſich die Berufung erkennen muß, an der Gewinnung und Wiedergewinnung weiteſter Schichten des deutſchen Volkes praktiſch mitzuarbeiten. Nicht nur die Einberufer von Kongreſſen, die über der Wichtigkeit ihrer eigenen Zurſchauſtellung den eigentlichen Zweck in den Hintergrund drängen, nicht die Pädagogen, die aus Beruf und ſeltener aus Berufung ihre Köpfe mit dem zerſchundenen Thema beſchweren, nicht die Führer aller möglichen Jugend- und anderer Gruppen, die die Vielfalt ihrer nicht genügend klar erkannten Beſtrebungen nicht zu vereinen wiſſen, können die große Aufgabe löſen, die ſie ſich in tauſend Tagungen kleineren und größeren Formats immer wieder ftellen: die ſtille tätige Kleinarbeit tauſender Menſchen in allen Gauen des deut ſchen Vaterlandes zugleich muß einſetzen, um ganz perſönlich auf alle ihnen Naheſtehenden zu wirken und Vorbild zu ſein denen, die auf der Fahrt durchs Leben ſtrandeten und fielen, die Rettung ſuchen, aber blind ins Dunkle greifen und die nicht wiſſen, wo Beginn und Ende iſt. Zu ihnen geht und ſprecht und macht es ihnen klar, daß ſie dem Allzuirdiſchen entſagen müſſen, daß Umkehr Einkehr iſt und volles Glückgewinnen, daß wahre Freiheit aus der Einſicht blüht, daß wir als Menſch verkörpert auf der Erde wandeln, um etwas Unerhörtes zu erfaſſen und irdiſch nah bie Dinge zu begreifen. „Wer fich des tiefen Lebenszwecks bewußt, kennt Arbeit, Spiel, Erholung, Fleiß und Freude. Greift zu den Lebensfdhdgen, die die Kunſt euch bietet! Lernt wieder Bücher lefen! Nehmt jeden Tag euch eine halbe Stunde und ſeht, was ihr verſteht: lernt wieder neu begreifen, dringt in die Wunderwelt des guten Buches ein!

Stellt wenige Bucher auf den Arbeitstiſch, die voller Reiz und Anſporn euch ereifern. Streicht

460 Mein Buch

euch die Stellen an, die euch gefallen und left fie wieder, left fie noch einmal und ſprecht Darüber auch mit Freunden und Bekannten! So etwa ſagt es allen, die gewonnen ſind. Leiht ihnen auch im Anfang mal ein Werk, von dem ihr glaubt, daß es dem Freunde zuſagt, zwingt ihn zuerſt mit einem leiſen Nachdruck, der Trägheit harten Widerſtand zu brechen, und immer, wenn ihr's gut und recht beginnt, wird es euch reich und wunderbar belohnen.

Paul Koppe Mein Buch

b es wohl Menſchen gibt, die ihre Bücher fo lieben wie ich? Gar viele find der Bücher

müde. Sie haben alles geleſen, was ein gebildeter Menſch kennen muß. Mit dem breiten Stoff langatmiger Romane haben ſie ſich vollgeſtopft, neuzeitliche Dichtungen wurden über flogen, Naturwiſſenſchaft, Philoſophie, alles wurde geleſen, nur noch das Neueſte kann jetzt viel leicht vorübergehend intereſſieren. Was an innerem Wert aufgenommen und verarbeitet wurde, darf man nicht fragen, erfährt man auch nicht. Mit Schlagfertigkeit wird mit einem Satz jedes Buch kritiſch bewertet. Die Hauptſache, man kennt die Titel und die Verfaſſer, ſo iſt man im Bilde und gebildet.

Andere wiederum haben angeblich keine Zeit zum Bücherlefen; und fürwahr, Romane und wiſſenſchaftliche Werke durchzugehen, iſt nicht ganz leicht in unſerer heut ſo knapp bemeſſenen Zeit.

Wieber andere ſchwören auf ein ganz beſtimmtes Buch mit ausgeſprochener Tendenz, fei es nun national, ſozial, moniſtiſch, pantheiſtiſch. Sie haben ihren Lieblingsverfaſſer, der alles das ſagt, was ihnen zuſagt.

Nun möchte ich auch einmal hier zu Worte kommen und meine Gedanken über Bücher fagen.

Ich muß gleich vorausſchicken, daß ich über jeder Partei, über jeder Richtung ſtehe und fomit überparteilich bin. Ich liebe nicht nur ein Buch noch einen Verfaſſer, fondern viele Bucher.

Wenn ich gelegentlich meine immerhin kleine, aber feine Bibliothek mit Blicken überfliege, ſo iſt ganz tief, kaum merklich, ein Aufglänzen in mir. Es iſt wie eine feine Bindung zwiſchen uns, magiſch und liebevoll.

Mit Sorgfalt wurden fie geſammelt, manchmal mühjelig erſtanden, mehrere find ein Gefdent aus lieber Freundeshand. Jedes Buch entſpricht einer Zeit meines Werdens, immer reicher wurde der Beſtand, und jetzt find fie wie ein ftändiger trauter Freundeskreis um mich verſammelt. In meiſt ſchmuckloſem Einband ſtehen fie da, ihr Gehalt macht ja den Wert. Auch iſt in einigen mancher Satz am Rand vermerkt ein Zeichen, wie ſehr ich mich darein vertiefte.

Es vergeht ſelten eine Woche, da ich nicht eines davon zur Hand nehme, darin blättere, viel leicht eine Seite leſe, um es dann mit ſtiller Genugtuung wieder wegzuſtellen. Auch meine Zeit erlaubt mir oft nicht, länger dabei zu verweilen.

Nun, wirft du mich fragen, kennſt du denn deine Bücher nicht ſchon auswendig? Ja, antworte ich dann, und doch nie genug, um mich nicht immer wieder von neuem daran zu erheben. Es iſt eine ſolche Mannigfaltigkeit an Melodie, Schönheit, Wahrheit, Sinn und Leben in ihnen, daß ich ſtets wie gebannt wieder hinhorche oder wie manchmal in müden Stunden mich ſanft hinwegtragen laſſe.

Oh, wie oft fand ich durch wenige Zeilen wieder Zuſammenhang mit Gottes Natur und ihren Wundern, der verwirrende hetzende Alltag verſank vor der Ruhe und Unendlichkeit des Odem, der uns alle in ſich ſchließt und beglüdend mir aus einem Buch entgegenwehte. Zuzeiten aber hatte ich meine Bücher ganz vergeſſen. Das war, als ich verbittert, voll obnmddtigen Zorns umherging, gegen Umſtände, Schickſal, ja, gegen mich ſelbſt und alle, die mir lieb waren, ar kämpfte. Ich wehrte mich gegen das Gute, Kluge, mochte ſomit auch meine Bader nicht ſehen.

* tr

Mein Buch 461 Ich glaubte, mein Wille fei alles, er müffe zwingen, und wildglänzenden Blicks ſah ich Welt und Menſchen an. Und da iſt es mir einmal begegnet das Wunderbare, das in einem Buche liegt.

Ich war von einem unendlich tiefen Schmerz befangen. Keinem Troſt zugänglich, ließen mich meine Lieben allein. Mechaniſch griff ich nach einem Buch, das auf dem Tiſch liegen geblieben war. Wer weiß, wer es dorthin gelegt hatte, unabſichtlich. Meine Augen gingen über die Zeilen, ohne daß ich faßte. Mir wurde nur klar, daß das gar nicht Ich war, die las, ſondern mein rein äußerer Menſch, während ich fern und losgelöjt in meinem tiefen Schmerz verkapſelt war. Durch das Fixieren des Gehirns auf die Worte des Buches wurde mir das Gefährliche und Eigne meiner Derfaffung bewußt. Ganz mechaniſch las ich da, bei einem Satz, klang es in mir wie ein Ton. Ich hielt inne, lauſchte. Eine warme Welle ſtrömte über mich hin, und ich fühlte, wie ich langſam, ganz langſam zu mir ſelbſt zurückkehrte. Ein tiefes Aufſeufzen zeugte davon, daß ſich ein verſperrtes Tor in mir aufgetan hatte. Und was war der Schlüſſel dazu geweſen, den niemand fand? Ein ſchönes Dichterwort, aus blutendem Herzen geboren. Es hatte mich wie ein Blitz berührt und einen Funken in meinem armen, verkrampften Herzen entzündet. Dankbar⸗ keit, beglüdende Dankbarkeit ſtieg in mir hoch. Jetzt las ich weiter, wie berauſcht, mit weitoffnem Herzen. Ich wollte mehr des Schönen entdecken. Gott, hier war ja auch mein Schmerz aus- geſprochen, nur anders getragen als von mir. Ich hatte mich mit allen Zeichen der Leidenſchaft in meinen Schmerz hineingewühlt, hatte aufgeſchrien hier fand ich etwas Größeres. Die er- babene Ruhe über allem Schmerz, die alle Schreie in ſich erſtickt und den erfchütternd ſchweren Weg dazu. Ein großer Menſch zeigte fein blutendes Herz, wie ich es nie wieder in Wirklichkeit bei einem Menſchen wahrnehmen konnte. Das ganze Buch war Leben, echtes ſchmerzendes gott- verflartes Leben und mir fo nahe gekommen, daß ich unmittelbar daraus ſchöpfen konnte.

Olt es nicht herrlich, daß wir uns fo nahe kommen können im Buch? Uns das Beſte fein und geben können und empfangen? Ein Buch iſt ja mehr als ein Freund, es unterliegt keinem Wandel wie das Menſchengeſchlecht mehr und iſt der Größe, ſeines Oichters entſprechend, kriſtalliſiertes Leben. Von dieſem Buch aus fand ich dann aus meinem Schmerz zur Welt zurück, durch des Dichters Seele erfaßte ich der ganzen Menſchheit Weh und ihren Zuſammenhang, unnennbare Schönheit und Croft ſtrich in rhythmiſchen Wogen Aber meinen wunden, matten Menſchen hin, daß es neu aus mir erblühte, neu an Gedanken, neu an Empfindungen und neu an Kräften.

Ach, und ich wußte nun: Ich bin nicht allein! Man kann ja fo einfam fein in feinem Schmerz, der Schwermut dunkler Vorhang läßt keinen Laut der Welt in uns widerhallen, wir fühlen nur unſer eignes Herzzucken, dieſe ſtechende Nadel, die den dunklen Vorhang feſt zufammenpält.

Echte Freunde gibt es felten. Gn einem rechten Buch haben wir einen wahren ſtillen Freund. Wir fühlen uns verſtanden, ohne daß wir ſprechen müffen, und werden gewahr: Es gibt noch Größeres als unſer Leid und unſer Schickſal. Die Tiefe und Schönheit der Wahrheit hebt uns mit mahnend liebevollen Armen über unſer Gegenwärtiges hinweg und weiſt uns immer wieder neue Wege, die zu gehen es ſich lohnt.

Was ich meinen Büchern danke, ich ſagte es mit nur zu kurzen Worten, und wünſche nur:

Möchtet auch Ihr die rechten Bücher ſuchen und auch finden! Sie ſind der Beachtung wert, biefe ſtillen Freunde der Menſchheit. Katti André

Literatur, Bildende Ruvjt, Mujik

Weſtöſtliche Romane

Anmerkungen zum Werke von Friede H. Kraze

jt es Fluch, iſt es Gnade, daß der Deutſche immer von neuem danach trachtet, in fremde

Länder zu ſchweifen, bevor er die eigenen Bezirke durchforſcht und ermeſſen hat? Fit es feine unſtillbare Sehnſucht, Aber Grenzen zu ſchreiten; daheim zu fein im Schrankenloſen? Jedenfalls wird der echte, wurzelſichere Dichter niemals ſeiner Heimat Weſen austilgen, ſeine innerſte Verpflichtung leugnen können. Und wenn Friede H. Kraze ſich dem Oſten neigt, fo iſt es nicht nur der fremde Tropfen Blutes, den fie überkommen, ſondern das Beſtreben, deutſche Art und Sitte gerade dort zu zeigen und zu preifen, wo fie beharrlich und gefährdet ins Nachbar; liche überzufluten droht. Hat ja die Dichterin ſich in mehr als einem Werke deutlich genug zum Vaterlande bekannt; hat ſich in der geſchichtlichen Erzählung „Der Kriegspfarrer“, in dem Kolonialromane „Heim Neuland“, in dem gegenwartdurchzuckten „Dom der Zeit“ der auf- bauenden Arbeit gewidmet, um gerade in brei ihrer entſcheidenden Bücher erneut den Schritt hinüber in Grenzländer zu verfuchen.

Sie ſelber rechtfertigt ſich alſo: „Daß gerade Rußland und ber ruſſiſche Menſch mir fo be- ſonders nahe und deutlich ſind, ſtammt wohl aus einem ſtarken Einſchlag ſlawiſchen Blutes in mein ausgeſprochen nordiſches, wie wir meinen, ſogar ſchwediſches. Vielleicht hat die lebhafte Blutmiſchung mich überhaupt beſonders geeignet gemacht, Grenzgebiete zu verſtehen und mich in fie einzufühlen, Grenzgebiete des Räumlichen wie des Zeitlichen. Abſterben und neue fchmerz- hafte Geburten, Dumpfheit, Erwachen, Not, Kampf, leid- und luſtvolles Werden hat mich immer ftdrfer ergriffen und gelockt als die Ruhe und Vollendung und das klaſſiſche Hoͤchſtmaß einer Einzelentwicklung oder einer Epoche.“

Sicherlich bleibt vor allem dieſes bewunderungswürdig, wie die ausgreifende Phantaſie ſich vollkommen im Unbekannten heimiſch macht, aber doch immer irgendwie den Duft der Heimat bewahrt und hinuͤberträgt. Und wenn etwa bei Ooſtojewſki die raſende Flamme, die himmel anglutende, auch mancherlei dumpfen Rauch und Qualm mit emporwirbelt, wenn die Maß- loſigkeit ſeiner Menſchen mitunter ein wenig der Hintertreppenromantik nahe rückt, ſo fühlt man bei der deutſchen Didterin ſich doch ſtändig geborgen im Bekannten, Sicheren und Se wußten.

Da iſt die Novelle „Die Birke von Dondangen“ (Verlag C. F. Amelang, Leipzig), die ratfel- volle Erzählung von der verhaltenen, verleugneten Liebe zweier ſtarker, nach innen verlohender Menſchen und von dem jähen Ausbruch der Leidenſchaft, welche dennoch fluchbelaſtet und unfruchtbar bleibt. Es iſt viel Szenerie um die Handlung gebaut; um ſo beſtimmter drängt das Ende heran und entfaltet ſich wie eine plötzliche Blüte in unverhoffter Sommerglut. Grenzland auch hier, innen und außen.

Weit und dunkel rauſchen die Wälder Kurlands auch durch den ſchmalen Roman „Jahr der Wandlung“ (Verlag Köſel & Puſtet, München), die ſchwermütigen Aufzeichnungen eines Künſt- lers, eines Plaſtikers, der droben, in der großen Einſamkeit des Wipfelwebens, fein beſtimmendes Erlebnis erlitten. Fort aus der Tragik der Ziviliſation, aus dem Wirrſal der lechzenden Städte, aus dem Irrtum des Raufches! Und die Natur, die ſich wandelnde, unerſchöpfliche, tröjtende und erregende, begleitet den Wechſel der Geſchehniſſe, urtümlicher Gnade voll. Und das menfd-

Veſtoſtliche Romane 463

liche Ereignis, das ſich da vollzieht, außer aller Gewöhnung, zeitlos und gefondert? Grenzland. Zwei Geſtalten, die ſich begegnen, um einander zu gehören, bis die karge Weile der Gemeinfam- keit gleich einem Regenbogen verleuchtet, tröſtlich und ſegnend. Man fragt nicht nach äußeren Möglichkeiten; man nimmt das Märchen der Waldwieſe wie einen Traum, der ſchwebend ins Erwachen hinüberklingt. „Ja, dieſes alte Europa war krank zum Sterben. Selbſt hier, wo es ſich mit Aſien berührte“, fo klagt es zum Beginn des Buches. „Wo war das Land der Erde, aus dem die Erldfung der Menſchen kommen könnte? Oder war es vergeblich, Schiffe der Sehn ſucht nach ihm zu entſenden? War es vielleicht ein Land der Seele, das allein in Betracht tam? Das jeder für ſich ſelber entdecken mußte?“ Das iſt es, was nottut: ein Land der Seele! Und fo finden ſich die beiden Seelen, die nach dem altgermaniſchen Mythos ſich Asq und Embla nennen, die Urweſen, die Anfänge der Natur und ihres Wachstums.

Aber nun greift die Dichterin entſchloſſen in das rege, ſtürmende Leben der Gegenwart. Ihr Baltenroman „Die von Brock (C. F. Amelang, Leipzig) kündet von deutſcher Not, vom freudigen Kampfe der Verſprengten draußen auf Vorpoſten. Welch ein ſtarkes, reiches und gutes Buch! Zwiſchen den Ufern rollt die Handlung entlang: vaterländiſch zuverſichtliche Kraft und ruſſiſche Unterfpülung. Gefahr des Abgleitens in dumpfe Umtriebe, in gefühlsflache Lockung des Fremden. Seutihes Schickſal. Die Dichterin müht ſich um redliches Verſtändnis, urteilt niemals einfeitig befangen; und dies eben ſteigert den inneren Wert des Romans um ein Beträchtliches. Denn bier gilt das Letzte und zittert in den Herzen dieſer aufrechten, beſtimmten Menſchen: „Nicht Oeutſchland als geographiſcher oder politiſcher Begriff aber das Deutſchland, das ſie alle in ih tragen in Gedanken und Seelen, in Willen und Sehnſucht, die Großen und die Kinder, be- wußt oder noch ſchlummernd dieſes Tiefſte, Eigenſte und Reinſte ihres Weſens.“ Und wie leben die Geſtalten: die Familie von Brock bis hinab zur kleinen Tanna; die Revolutionäre Oſſipoff und Gruſchewan; die benachbarten Freunde und Gegner man bleibt immer regſam und hingenommen. Und auch im Zuſammenbruch, in Leid und Entſagung leuchtet das Geſtirn überſtehender Heimattreue. In unſeren Tagen der Herbſtfröſte und Verarmung wird dieſer Roman ein leiſes Duften der Verheißung aus fernen Lenzen herüberwehen, denen unſere Hoff- nung nur allzu willig entgegentraͤumt.

Und ſchließlich weiſt der Pfad nach Rußland ſelbſt hinein, in dieſe weiten, zuſammenhangloſen, zwieſpältigen Gefilde der Barbarei und des Glaubens, des Rüditandes und der Zukunft. „Die Freiheit des Kolja Zwanow“ (Hellmuth Wollermann, Braunſchweig), noch ſicherer, gefaßter in der Entwicklung, bewegter in der Handlung, ein Roman zwiſchen Tag und Traum, zwiſchen Geftern und Heute. Es iſt nicht nur die grauſame Tatſache, daß es eine Zeit gegeben, in welcher der Menſch als Ware gewertet wurde, mochte feine ſeeliſche Entwicklung auch noch fo hoch ge- diehen ſein, ſondern vor allem die tiefe Einſicht, daß jede auch noch ſo liebenswürdige Untreue an ſich felber eine Buße und Umkehr heiſcht. Und fo iſt der Schlag, der den aus Niede- rungen angeſtiegenen, aber noch immer leibeigenen Arzt Kolja zurückſchleudert, zugleich Mahnung und Prüfung und Erkenntnis. Man empfindet in dieſem vielfältigen und gütigen Buche die tuffifhe Welt nicht fo unmittelbar wie aus den Dichtungen dieſes Landes ſelber; der Roman der deutſchen Dichterin iſt verhaltener, gefaßter, ohne Abſchweifung und ausbrechende Leiden ſchaften. Man fühlt es deutlich: hier iſt ein religiöfes Problem umkreiſt, und alle Geſtalten zielen auf die eine Löſung: Ergebung, Sühne, ſeeliſche Auferſtehung.

Und fo iſt das Werk Friede H. Krazes, rüſtig anſteigend, immer deutſch geblieben, und viel- leicht wird fie, zurückgekehrt aus den öſtlichen Abenteuern, ſich nun um fo beſtimmter und ent- ſchloſſener wieder der Heimat zuwenden, wie man nach dem Aufenthalt in fremden Zonen das Mitgeborene, Mitgewordene deſto treuer und beglückter wiedererkennt.

E. L. Schellenberg

464 Gebantenwerte aus ber Gefolgſchaſt Goethes

Wilhelm Kotzde

Zum 50. Geburtstag am 1. März

in Kämpfer um die nationale Sache wird 50 Jahre alt. Voller Glut ſteckt ihm die Seele,

und das Herz iſt voll Liebe zur Scholle, zur Heimat, zum Vaterland. Keiner weiß von den heute Lebenden das Lied von der erdduftenden Heimatflur heller und reiner zu ſingen als er, der am Erſten dieſes Monats auf fünfzig ftille Lebensjahre zurückſchaut.

Wenn ein Menſch über die Schwelle eines halben Jahrhunderts tritt, dann hört man es gerne, was er uns bisherg eweſen iſt. Der aufmerkſame „Zürmer“-Lefer iſt ſchon einmal auf Wilhelm Kotzde hingewieſen worden, damals als Profeſſor Dr. Günther Holſtein über ihn ſchrieb. Der Übergang ins zweite Lebensjahrhundert wird aber für Wilhelm Kotzde ſelbſt keine wehmütige oder überhebliche Rüdichau fein; er blickt mit feinen klaren Augen wie ein Falke und Adler hinüber zu den kommenden Jahren. Auf der Höhe feiner Kraft freut er Sid der Dienſte, die er feinem Volke leiſten konnte, und iſt babei, letzte Höhen zu erreichen.

Darum ſei in dieſen Zeilen, die den Meiſter im deutſchen Schwarzwald grüßen ſollen, nicht die Rede von ſeinen bisherigen Erfolgen, ſondern es mögen hier ein paar Feſttagsgedanken niedergefchrieben werden, was wir von ihm noch zu erwarten haben. Das iſt rechte Kotzde- Art.

Vor ſeinem ſtillen Haus im Breisgau, das die ſchweigſamen Tannen des Schwarzwaldes grüßen, ſteht in ſtolzer Kraft ein Johanniter-Mal wie ein treuer Wächter dieſer deutſchen Heim- ſtatt. Der ernſte, kühne Johanniter iſt Kotzdes Lebensſymbol. Auch er will ein mutiger Wächter des Deutſchtums fein und hat tauſenden in feiner „Burg im Often“ das Gewiſſen gefchärft und die Herzen ſtark gemacht. Er weiß gut, daß man den modernen Oeutſchen nur mit guten Vor- bildern gewinnen kann; darum graben alle ſeine Werke in Zeiten großer deutſcher Geſchichte, ſei es nun in ſeinen erſten Büchern, deren Stoffe aus der engeren maͤrkiſchen Heimat genommen ſind, oder ſeien es die ſpäteren Werke wie die „Wittenbergiſch Nachtigall“, „Wolfram“ oder „Die Pilgerin“.

Bedeutſam wird der Roman werden, der in ſeinem Jubiläumsjahr erſcheinen wird und den er erſt kürzlich abgeſchloſſen hat. Kotzde wird darin zum Erzieher des Volkes, der es mit unendlich feinen Szenen verſteht, zu der irrenden Seele des modernen Menſchen zu ſprechen. Es iſt etwas ungemein Sympathiſches, wenn Wilhelm Kotzde gleichſam als fein Jubiläumswerk einen Roman ſchreibt mit dem Titel: „Die liebe Frau von der Geduld“. Die Frau ijt oft im Leben des Künſtlers ein entſcheidendes Moment; hier macht Kotzde die liebe Frau von der Geduld zur ſchickſalhaften Pädagogin aller deutſchen Jugend. Wer mit ſolcher Liebe um die Seele feiner Mitmenſchen ringt wie Kotzde, dem find auch noch ſtarke zukünftige Fähigkeiten gegeben, durch feine Kunſt zur ganzen Nation zu ſprechen. |

Wir dürfen von ihm noch manches erwarten. Sein zukünftiges Streben wird ein großes Ziel wollen, allen Oeutſchen einzuhämmern: Deutſch das Herz, fromm die Seele, klug der Kopf! Oaß fein Ziel von ſtarkem Willen aller feiner Freunde mitgetragen werde, das zu er- reichen wüͤnſchen wir Wilhelm Kotzde zum 50. Geburtstag. Fr. Alb. Böhme

Gedankenwerke aus der Gefolgſchaft Goethes

icht kritiſieren, ſondern anzeigen möchte ich hier drei wertvolle Bücher, deren jedes in irgendeinem Sinne von Goetheſchem Philoſophengeiſt zeitgenöſſiſcher Prägung erfüllt tft.

(Wir freuen uns, feſtſtellen zu können, daß auch von anderer Seite das wertvolle Werk Gait- ſchicks immer mehr Anerkennung findet. So ſchreibt die „Schöne Literatur“ (Grolmann): „Es

A. Volz

Kindergruppe

N Google

Gedartenwerte aus ber Gefolgſchaft Goethes 465

ift dankbar zu begrüßen, daß fid bei Verlagen der Mut findet, die lange nicht nach Gebühr gewürdigten und, um es zu ſagen, die vortrefflichen Werke Saitſchicks in neuen Auflagen vorzulegen.“ O. T.)

Neulich erſchien von Robert Saitſchick (1928) die dritte Auflage feiner „Sprüche in Proſa“, unter dem alten Titel „Wirklichkeit und Vollendung, Gedanken zur Menſchenkenntnis und Lebens wahrheit“ (Darmſtadt und Leipzig, Ernſt Hofmann & Co.). Indem ich das über 500 Seiten ſtarke Buch mit der Spruchſammlung Goethes in Parallele ſetze, glaube ich ſchon auszudrücken, daß dies ein Werk ijt, das man ſich zum bleibenden Freund machen kann. Es gibt in lebens kundigen Aphorismen, von denen viele an guter Prdgung beſte Vergleiche aushalten, die Weis beitsernte eines Lebens nicht im Sinne der trivialen Angleichung an die übliche Weltanſchauung des „modernen“ Kitſches, ſondern ſelbſtändig in echter Nachfolge der großen Kulturlinie von der Renaiffance über den deutſchen Idealismus bis Wagner. „Was einer für ſich ſelbſt denkt, das denkt er auch für andere“ an dieſe Schopenhauerſche Anſicht vom Wert des Denkens und Schreibens fühlt man ſich bei der Lektüre des reichhaltigen Bandes angenehm erinnert. Ich leſe gern unentwegte Außenſeiter in Aphorismen: denn in ihnen ſteckt das eigentliche Ethos, das durch Wortverſchwendung nur verſchuͤttet wird. Saitſchicks Aphorismenſammlung iſt zudem monumental geartet und dadurch wieder ein ganzes Syſtem, ſo daß es ſich von Einfällen, die jeder einmal hat, als tüchtiges Kunſtwerk unterſcheidet.

Was der hier vorgetragenen Weisheit nach meiner Beurteilung eine gewiſſe Einſeitigkeit ver- leiht, iſt die bei den meiſten idealiſtiſch wollenden Denkrichtungen vorkommende allzu einfache Erledigung der Widerſpruchs- und Spannungsproblematik des Lebens durch reinliche Unter- ſcheidung des „Guten“, das allein richtig, und des „Schlechten“, das durchaus abweiſenswert iſt. Wie ſchön wäre die Welt, wenn Dämoniſches und Söttliches fo einfach auseinander wären, daß man bloß nach der richtigen Seite zuzugreifen brauchte, um aus der Wirklichkeit Vollendung zu geftalten! Dies ſcheint mir eine Strukturverkennung zu fein, die den meiſten Menſchen eben des! halb einleuchtet, weil fie fo einfach iſt. Daher predigen fie auch alle Kirchen und Zdealiſten. Mir ſcheint dagegen, daß das Verſchlungenſein des Dämoniſchen und des Göttlichen in der Menſch⸗ heit zu vielen Problemen Anlaß gibt, die nicht durch bloßen „Idealismus“, ſondern durch Span nungsphiloſophie realidbealiſtiſcher Art ihrer ethiſch beſtmöglichen Löſung zugeführt werden. (Vgl. hierzu mein Buch „Die Welt als Spannung und Rhythmus“ [Erkenntnistheorie, Aſthetik, Naturphiloſophie, Ethit], das ſoeben im Univerſitätsverlag von Robert Noske in Leipzig erſchien [411 Seiten].) Dies nur als Anmerkung zu dem überaus anregenden, reichhaltigen und lebensweiſen Buch eines idealiſtiſchen Meiſters.

Auguft Ludowicis „Oenkfibel“ (München, Bruckmann) teilt auf 135 Seiten eine Fülle echterworbener Einſichten und Anregungen mit, die der langen Lebenserfahrung eines unab- hängigen, wirklichkeitsweiſen Privatmannes entſtammen und von wortreicher und gedanken armer Phraſeologie, wie man fie heute fo oft gedruckt ſieht, wohltuend abſticht. In drei Ab- ſchnitten, „Oaſein“, „Oenken“, „Tun“, ſucht der Verfaſſer den großen Hauptgedanken Goethes von der Zweiheit und Ganzheit für das Verſtändnis der Welt nutzbar zu machen, und ich habe den Eindruck, daß ihm dies weitgehend gelungen iſt, wenn man auch über viele Einzelheiten der überlieferten Philoſophiegeſchichte anders mag denken können. Nicht dieſe Beziehungen zur Geſchichte, in denen beſonders Kant eine hervortretende Rolle ſpielt, ſondern die Beziehungen zur Natur und Wirklichkeit des Lebens enthalten Ludowicis ſtarke Seiten. Seine Kritik des Darwinismus iſt ſchlagend: „Damit die Ahnlichkeit für das Fiſchdaſein beſſer hervortrete, zeichnete Haeckel die Embryonen des Menſchen abſichtlich fiſchähnlich und nicht getreu nach den Vor- bildern der Natur. Das Vergleichen follte erleichtert werden, das gelang mit der Fälſchung.“ Seine methodiſche Grundeinſicht, welche die Goetheſche ijt, druckt der Verfaſſer kurz und klar fo aus: „Eine jede Lehre iſt erſt dann richtig, wenn fie ſich an die Natur anlehnt und einen Gegen fag enthält. Sie iſt geſund und lebensbeſtändig, wenn fie Ruhe und Bewegung zugleich auf-

Der Türmer XXX, 6 30

466 Däniicher Höcerſchwan und kanadiſcher Singſchwen

weiſt, ſie iſt aber faul und totgeboren, wenn ſie nur eine einzige Seite beleuchtet.“ Manches ſchöne Zitat macht die Darlegungen des erfahrenen Praktikers lebendig. Wie man auch über die Triftigteit der Einzelheiten denken mag: daß die Hauptidee des Buches nicht nur richtig, fondern für unfere Zeit beſonders wertvoll iſt, ſcheint mir unzweifelhaft.

Aus Goethes Quelle leitet ſich auch das feinſinnige kleine Buch eines offenbar noch jüngeren Verfaſſers ab: Zulius Raab, „Wiſſenſchaft, Philoſophie und Kultur“. Oieſes ſtellt ſich geſchickt in den Kreis der führenden zeitgenöſſiſchen Philoſophie, ſoweit fie frei und geiſtvoll iſt, und erfpart ſich dadurch die Einſamkeit und manchen Kampf, der ſonſt mit ſolchen Ideen reichlich verbunden wäre, bie den beſonderen Zukunftswert der Philoſophie für die Kultur mit Goethe! ſchem Mut laut verkünden. Das Weſen der heutigen Kultur liegt im „Übergewicht der Mittel über die Zwecke“. Das Buch läßt in feiner Vertretung intuitiver Erkenntnis formen die wuͤnſchens; werte Vorſicht in der Vermeidung des Phantaſtiſchen nicht vermiſſen, und fein äſthetiſcher Wert macht die Lektüre zur Freude. Das Buch erſchien in der Meyerſchen Hofbuchhandlung Oet⸗ mold 1927. Privatdozent Dr. Eft Barthel (Köln).

Däniſcher Höckerſchwan und kanadiſcher Singſchwan

Ein Vergleich der Tierdichter Spend Fleuron und Charles 6. OD. Roberts

er Verlag von Eugen Diederichs in Jena hat vor zwei Jahren in der glüdlicherweife noch Sao nicht abgefchloffenen Reihe der Lierromane Spend Fleurons „Sie Schwäne vom Wildſee“ in deutſcher Uberſetzung erſcheinen laffen. Seitdem (zweite Auflage !) griffen einige tauſend tiergeſchichtlich intereſſierte Leſer zu dieſem Buche, um beim freudigen Aufnehmen der Bilder und Range, der Geſchehniſſe und Stimmungen eines meiſterlich erfaßten und meiſterlich geſtalteten Stückes des wirklichen Lebens Kunſt und Natur in einem zu genießen.

Mancher unter dieſen Leſern erinnerte ſich vielleicht daran, daß der Höckerſchwan bei Fleuron ſchon einmal den Gegenſtand ſorgfältig eindringlicher Betrachtung bildete, ja, daß der Schwan eigentlich am Anfange der Tierdichterlaufbahn ſteht, die als die glänzendſte der Weltliteratur be- zeichnet werden darf. Denn das erſte Kapitel des erſten Tierromans, den Fleuron ſchrieb („Wie Kalb erzogen wurde“), iſt dem zum heimatlichen Hirſchpfuhl im Klampenborger Park zurüd- kehrenden Schwanenwitwer gewidmet, der in ſeiner Vereinſamung und Verbitterung geradezu als „das einzige Wilde im Wildpark“ erſcheint. Bis dann „Kalb“, der junge Hirſch, ihm mehr und mehr dieſen Rang ſtreitig macht.

Aber nur wenige Leſer werden ſich an ein anderes, gleichfalls literaturgegebenes Bild erinnert haben, das in vielen Zügen mit jenem, das Fleuron vor ihrem Blick entfaltet, übereinftimmt. Es zeigt nicht den cke rſchwan inmitten däniſcher Landſchaften, ſondern den Si ngſchwan in den fernen Gefilden Nordamerikas. Das Werk, das dieſes zweiten Bildes Farben und Linien ſchaubar macht, iſt das zweite der Tierbücher des Kanadiers Charles G. O. Roberts, das der Aniverſitasverlag in Berlin unter dem Titel „Jäger und Gejagte“ in deutſcher Überſetzung herausgab.

Selbſtverſtändlich vermag Roberts in der knappen Gedraͤngtheit feiner Skizze fie heißt „Hüter des Neſts“ und umfaßt 41 Oruckſeiten nicht genau ebenſoviel barzubieten, wie Fleuron in feinem Roman auf 162 Seiten. Fleuron ſchildert ein ganzes Lebensjahr des faſt zwei Jahr zehnte alten Schwanenpaares Troll und Lilie, und es zeigt im Wechſel und in der Fülle ſeiner Freuden und Leiden den durchaus typiſchen Verlauf. Roberts ſtellt nur den Bruchteil davon dar: den Zug der Schwäne von den palmumfäumten Lagunen Floridas zu dem unwirtlichen, mit

Dänifher Höckerſchwan und kanabifcher Sing ſchwan 467

Kleinſeen durchſetzten Ländergebiet am Nordweſtufer der Hudfonbai, das Bauen des Neſtes und das Verteidigen der Eier und fpdter der Jungen gegen feindliche Angreifer. Bei Fleuron findet ſich ſachlich das gleiche auch. Denn die Gattung der Schwäne hat in ihren beiden be- kannte ſten Arten nur geringe Unterſchiede, die ſich hauptſ ächlich auf die Haltung der Flügel und des Halſes, auf die Färbung des Schnabels und den Tonfall der Stimme erſtrecken. Der Hergang und Ausgang der Ereigniffe zeigt daher bei beiden Dichtern fo ſtarke Übereinftimmungen, daß die Nichtgleich-Artigkeit der Hauptträger der Handlung (Höderfhwan Singſchwan) kaum auffällt. Die Tierperſönlichkeiten freilich, die in den Rollen der feindlichen Partner auftreten, find hier und dort nicht dieſelben. In Dänemark nehmen Dachs und Hund die Stellen ein, die in Kanada Fiſchmarder und Luchs innehaben. Aber hier wie dort wird mit gleicher Unerbittlid- keit gekämpft, und die Schwäne tragen den vollen Sieg davon.

Es iſt außerordentlich reizvoll und zugleich aufſchlußreich, zwei kurze, inhaltlich faſt gleiche Stucke aus den Erzählungen der beiden Dichter miteinander zu vergleichen. Die überraſchende Ahnlichkeit, die fic da ſowohl bezüglich des Oargeſtellten als auch bezüglich der Darftellung ergibt, konnte leicht die Überzeugung aufkommen laſſen, daß auch zwiſchen den beiden Oichtern eine nahe, innere Verwandtſchaft beſtünde. Aber dieſe Meinung wäre falſch! Es liegt nur der eigenartige Fall vor, daß jene beiden Richtungen der Kunſtübung, die feit den Urzeiten des menſchlichen Schaffens als lebendige Gegenpole einander gegenüberfteben, ſich im Gebiet der Dichtung auf eng umgrenztem Felde begegnen. Beim gleichen Stoff vollzieht ſich das ewig neue Widerſpiel zwiſchen dinghafter und denkhafter Kunſt mit mannigfachen Stufen, Miſchungen und Zwiſchenformen.

Fleuron ſucht und hält den Naturſtoff, um ihm vom eigenen Innern her erhöhten Wert zu verleihen. Er reißt die Gelaſſenheit des Alltags in die Erhobenheit des Sondertags empor und hat dabei ein gutes Gedächtnis für eindrucksvolle Geſamt- und Dauerbilder, die er von der emp- findend ſinnlichen Anſchauung her bis in mythiſche und myſtiſche Ahnungen hinein ausweitet und überſtrahlt.

Roberts hat die erhdhende Innenwertung ſchon bereit, wenn er ſich dem Naturſtoff zuwendet. Er überwältigt den Gleichmut der Alltäglichkeit durch die Erhobenheit der Feierſtunde und hält mit dem, was er aus flüchtigen Einzelzuſtänden und vorgängen erfaßte, auch bas feſt, was die Einſicht in ihre Urſachen und Bedingungen ihm erſchloß.

Nur fo iſt es möglich, daß die Gaben beider Dichter in kaum unterſcheidbarem Maße wirklich keitgeſätti gte, lebendurchzitterte Seſtalt gewinnen und aufweifen.

In der Schilderung des Kampfes zwiſchen Höckerſchwan und Hund findet ſich bei Fleuron fol- gender Abſchnitt (Seite 55 und 56):

„Mit ausgebreiteten Schwingen drückt ſich Troll (der Schwanenvater) über die Stelle, an der der Unglüdliche (der Hund) verſchwand. Seine hinterhältigen, Heinen Kohlenaugen glühen vor Rache durſt, und der ſtarke, gezahnte Schnabel mit dem abſcheulichen Nagel reißt das Hundefell in Fetzen, ſobald er ſich oben zeigt. Ein Fauchen, als rühre es von einer Schlange her, entringt ſich der Schwanenkehle; dazwiſchen aber ſieht der Hund, wenn er den Kopf einmal über Waſſer bat, mit Dankbarkeit das Himmelsblau über ſich.

Schnaufen und Puſten nützt freilich dem Armſten nicht mehr viel. Erftidend ftrdmt das Waſſer ihm in die Schnauze und fließt in einem dicken Strahl durch den Hals in ihn hinein. All ſeine 5 iſt einer einzigen, großen Verwirrung gewichen ob dieſes plötzlichen heftigen

rfalles.

Es war ein Ereignis, wie er es nicht erwartet! Beißen mag er nun nicht mehr, nur ſolle man ihm geſtatten, kehrtzumachen und davonzutrotten.

Weiße Nebel von geſpreizten Flüͤgelflächen ſenken ſich unabläffig auf ihn herab, und ſobald er nach oben gelangt, ſetzt es Schläge ſowohl von den Flügelgelenten als auch von den Schwimm- häuten und den ſcharfen Krallen. Schließlich trampelt der Schwan auf ihm herum wie auf einer Inſel und die Infel weicht willenlos, hinab in die Tiefe.“

468 DanifHer Hoͤckerſchwan und kanadiſcher Singſchwon

Bei Roberts hat die entſprechende Stelle, die dem Kampf zwiſchen Singſchwan und Fifd- marder entnommen ift, folgenden Wortlaut (Seite 133 und 134):

„Oer, Fiſcher tauchte unter, aber in ſeiner Uberraſchung nicht ſchnell genug, einem ſchrecllichen Hieb zu entgehen, den der Vogel mit dem mächtigen Schnabel über ſein rechtes Licht führte. Für Sekunden war er auf dieſem Licht blind, aber zugleich beinahe wahnjinnig vor Wut. Daß irgendein armſeliges Ding aus Federn ihm widerſtehen könnte, war unglaublich! Sofort kam er wieder an die Oberfläche, warf ſich halben Leibes über das Waſſer und führte mit ſeinen langen, weißen Fangzähnen einen grauſamen Vorſtoß. Da aber geriet er in einen unerhörten Aufruhr von wild ſchlagenden Flügeln, ſchäumendem Waſſer, einem nie gehörten Ziſchen und ſtarken, weißen, blendenden Federn. Was er mit ſeinen tödlichen Kiefern zu erſchnappen bekam, war nichts als ein Maul voll diefer Federn. Ratlos würgend, fiel er zurück, tauchte wieder unter und trachtete, zu einem mehr verſprechenden, ſeiner Kraft beſſer angemeſſenen Angriff zum zwei⸗ ten Male zu erſcheinen. Aber da, etwa einen Fuß unter der Oberfläche, fühlte er ſein Genick von einem Paar ſtahlharter Zangen eingeklemmt. Der Schwan hatte ſeinen langen Schlangenhals ins Waſſer getaucht, als wollte er nach Wurzeln von Seelilien fiſchen. Jetzt hatte er den Feind zu packen gekriegt und ſchüttelte ihn wie ein Terrier einen alten Schuh. Sein Hals und Schnabel waren für dieſe Art Kampf wie geſchaffen, denn Seewurzeln find zähe, und fie ausgureifen, bedarf gewaltiger Kraft.“

Jeder der beiden Tierdichter geſtaltet, wie es ſeinem Weſen gemäß iſt. Fleuron ſtellt ſich in die Natur hinein und ſchreibt grundſäͤtzlich von ihr aus. Roberts ſteht der Natur gegenüber und ſchreibt vornehmlich von ſich aus. Vei Fleuron iſt die Naturhaftigkeit des eigenen Weſens das Mittel und das Maß des Erfaſſens und des Formens. Er zeigt die Tierwelt inmitten der wechſelreichen Bedingungen der Landſchaften und Jahreszeiten, und er tut das, um ihr Weſen tiefſtens offer bar werden zu laſſen. Jedes leichte Wehen und jedes ſtarke Brauſen im Walten und Wandeln der Zuſtände und Vorgänge ſind ihm Ausdruck und Beſtandteil der Natur, die ihm Herz und Sinn gefangen nehmen. Seine Freude beſteht darin, die natürlich lebendige Welt zu ſehen und zu ver ſtehen und ihr darin nahe zu fein. Bei Roberts iſt die Naturhaftigkeit des eigenen Weſens gleich falls das Maß und Mittel des Erfaſſens und des Formens. Aber er zeigt Landſchaft, Jahreszeit und Tierwelt nicht bloß um ihrer ſelbſt willen, ſondern auch um feiner ſchöͤpferiſchen Fähigkeiten und phantaſiedurchſtrömten Kenntniſſe willen, denen er damit zu denkend geſtaltender Tat die Mittel und Maße zur Verfügung ſtellt.

So ſpricht denn Fleuron die Sprache des wiedergebend Darftellenden, Roberts die des gebend Oarſtellenden. Fleurons Geſtalten find ausgewählt, behauen und eingeordnet. Bei Roberts iſt jedes Dingſtück überprüft, ausgemeißelt und eingebaut. Fleuron erzählt in voller Durchfuhrung aller bildgebenden Linien und Farben. Roberts ſchildert ſtraff und gewollt. Oer eine holt die Stimmung und ihre Vorausſetzungen aus der Natur, der andere legt ſie hinein.

Fleuron wird, weil er vom Stoff her geſtaltet, ſtets zum ſachgerechten Stiliſten. Er ſucht die ſtoffgemäße Form, weil er zuerſt den Inhalt hat. Roberts arbeitet von vornherein planvoll, weil er zuerſt das Problem hat und von der Idee her nach dem Stoffe greift. Der eine packt die Wirk lichkeit und gibt ihr Sinn und Tiefe durch die Faſſung. Der andere beſitzt von Anbeginn das zweck haft eingeſtellte Gegeneinander der Bewegung und geht dann in zuverläſſige Erinnerungen gu- rũck, ohne noch der ſichernden Aufzeichnung nach der Natur zu bedürfen. Während Fleuron ſich an die Tiere als lebendige, ſeelenbegabte Weſen hält, nimmt Roberts fie wenn auch dem Sein nach ebenſo als Träger und Maß formgewordener Kräfte, die er gegeneinander ausſpielt. Doch läßt er dann im Streite nicht die rohe Gewalt ſiegen, ſondern die durch beſondere Bebin- gungen zu geſteigerter Machtentfaltung erhobene Tierperſönlichkeit.

Fleuron iſt als Wirklichkeitsdichter Impreſſioniſt und Pſychologe, Seher und Deuter. Ihn lockt und feffelt ſtets das Ganze mehr als das Einzelne. Der ungewöhnliche Grad feiner Naturnahe verleiht ihm als Tierdichter die Rongenialität für die Stoffbemeiſterung, die in gleicher Voll

Bühnenvoltsbund und Frele Volksbühne 469

endung keiner neben ihm erreicht. Roberts ſchreibt, weil er Erinnerungen von ſinnfälliger Rar- heit und Friſche hat. Veranlaßt wird fein Schreiben durch feine Einſichten und Abſichten, be- gründet jedoch durch feine hundertfältigen Beobachtungen und feine noch zahlreicheren Über- legungen. Die frühe re äußere Schau vermittelt ihm das gegenwärtige innere Geſicht. Daneben beſitzt er eine von unmittelbarem Augenblicksahnen hergeleitete Einſchau in die Seele des be- trachteten Tieres, die bei ihm ſtets die Führung der dramatiſch bewegten Handlung entſcheidend mitbeſtimmt.

Zuſammenfaſſend darf daher geſagt werden, daß Fleuron und Roberts nicht Stufen der Tier- dichterſchaft bedeuten, ſondern Arten. Von beiden Dichtern im Zuſammenhang ſprechen, heißt alfo, ihre Verſchiedenheiten aufdecken und hervorheben. Iſt Fle uron ber naturverbundene, ſubjzektiv aufſchlie ßende Erlebnisgeſtalter, fo Roberts der naturvertraute, objektiv aufweiſende Erkenntnisgeſtalter. Trotzdem der eine die Geſamtheit des Ichs zum reſtlos hilfsbereiten Diener feiner Darftellung macht, der andere aber zum beherrſchenden Gebieter, kommt doch im fertigen Werk eine Ahnlichkeit zuſtande, die ſich nur daraus erklärt, daß die Schöpfungen beiber zwiſchen Ich und Welt einen Ausgleich bilden, der hier nicht anders zu erreichen iſt als durch die gebend nehmende Stoffgemaßheit, die beide Male den Namen trägt: Naturgerechtigkeit.

In fold unterſcheidendem Mitgehen die Fülle der Leiſtungen beider Dichter zu betrachten (von Spend Fleuron liegen bisher in deutſcher Überfegung acht Tierromane vor, von Charles S. D. Roberts vier Bände mit tiergeſchichtlichen Novellen), das bietet Reize von ſeltener Art, weil es Einblicke gewährt in die Zwiefältigkeit des Schaffens beim kuͤnſtleriſchen Menſchen über- haupt. Adolf Glupe

Bühnenvolksbund und Freie Volksbühne

iefe beiden Bünde liegen ſich oft in den Haaren, denn fie vertreten grundſätzlich zwei ver;

ſchiedene Richtungen. Die Freie Volksbühne iſt von der Berliner Demokratie und Sozial- demokratie ausgegangen und täufcht eine „Vereinigung freier, ſouveräner Runft“ vor, vertritt aber in Wahrheit alle Belange, die irgendwie links eingeſtellt find und iſt von Partcipolitit trotz aller Redensarten nicht freizuſprechen. Dagegen bildete ſich der mehr konſervatip eingeftellte Bühnen volksbund; er wünſcht die Kunſt nicht losgelöſt von den nationalen und religiöfen Be- langen, ſondern organiſch damit verbunden und gilt im ganzen als „chriſtlich und deutſch“.

Im letzten Heft des „Bühnenvolksbundes“ (Reichsblätter, 3. Jahrgang) greift nun Dr. Joſeph Nowack einen Hauptvertreter der Freien Volksbühne, Julius Bab, in ſachlicher Form grund- ſätzlich an, im Anſchluß an eine Entſchließung des Magdeburger Volksbühnentags. „Einerſeits namlich“, ſagt Nowack, „ſoll die Runft frei und fouverän fein, andererſeits aber auch menfden- bildend, was doch bereits einer Einſchränkung der Souveränität gleichkommt. Und wenn wir fragen, ob zu den verworfenen politiſchen Geſichtspunkten auch die revolutionären zählen, ob außer den konfeſſionellen beſſer gefagt chriſtlichen Geſichtspunkten etwa auch die foaiali- ſtiſchen abgelehnt werden, ſo ſind wir leider ohne Antwort geblieben. Es ſieht doch ſehr danach aus, als ob nicht die politiſchen, ſondern die nationalen, als ob nicht die konfeſſionellen, fon- dern ganz einfach die chriſtlichen Geſichtspunkte von der Freien Volksbühne verworfen würden. Und das trotz der betonten Freiheit und Souveränität“ der Runft... Vor dieſem inneren Wider- ſpruch wurde die Freie Volksbühne durch die Biologie gerettet. Und zwar ift der ſattſam be- kannte Julius Bab der Theater- oder Runftbiologe, deſſen Meinungskampf mit dem Kommuniſten Ernſt Toller uns die Magdeburger Refolution begreifen lehrt. Ein Glück, daß die abendländiſche Wiſſenſchaft bereits die Oiſziplin der Biologie beſitzt. Sie allein ermöglichte es Julius Bab, eine peinliche Zwiſchenfrage Ernſt Tollers abzutun. Toller, der Intolerante, betrachtet die Runft als

470 Bühnenvoltsbund und Freie Volksbühne

Mittel zum Klaſſenkampf, als Ausdruck des Klaſſenkampfes. Von feinem Standpunkt aus ſtellte er mit vollem Recht die Frage, ob, da man ſich zur „Souveränität der Runft“ bekannte, ob denn die Volksbühne gegebenenfalls auch bereit wäre, ein Drama von nationalem oder nationaliſtiſchem Charakter (wir dürfen gewiß hinzufügen auch von chriſtlichem Charakter) aufzuführen, wenn eben nur die künſtleriſchen Vorausſetzungen erfüllt wären.

Und gerade in dieſem entſcheidenden und höchſt intereſſanten Augenblick mußte die Magde burger Formel die Biologie in Anſpruch nehmen. Julius Bab erklärte nämlich, ſolche nationelen Kunſtwerke (und doch wohl auch chriſtliche?) ſeien wohl theoretiſch, nicht aber biologiſch moglich. (1) Bab nannte als Beifpiel etwa ein Schlageter⸗ Drama. Große KRunſtwerke könnten in dieſer Richtung gar nicht entſtehen. Es ſei darum ausgeſchloſſen, daß die Volksbühne jemals vor die Notwendigkeit der von Toller vorgeſehenen Entſcheidung geſtellt werde.“

An dieſer höchſt fragwürdigen Erklärung des „Biologen“ Bab übt Nowack mit Recht Kritik, „Nun erhebt ſich die Frage, wenn Männern wie Bab (Bab ift ebenſo wie Toller Jude. O. T.) die Erlebnisnähe zu chriſtlichen und nationalen Kunſtwerken fehlt: wer entſcheidet denn dann Darüber, welches Werk ein Runſt werk iſt und welches nicht? Auf Grund welcher Kriterien kann denn eine Dichtung als Runſtwerk bezeichnet werden? Sind dieſe Kriterien Eigentum e ner aus erleſenen Schar Berliner Kritiker?“ Nowack fügt hinzu, Herr Bab ſcheine Literaturpapſt werden gu wollen (Anlagen find dazu da. D. T.), denn eine Stellung zum nationalen Runftwert iſt ihm überflüffig, denn ſolche Werke (wie er behauptet) gibt es heute nicht und kann es nicht geben!"

Die Wahrheit ift, fo meinen wir unfererfeits, daß der Standpunkt der „freien fouverdnen Runft" völlig in der Luft ſchwebt; es ift ein literatenhafter Standpunkt; und die Antifemiten haben nicht unrecht, wenn fie dieſen Standpunkt dem Vordringen des wurzelloſen Judentums in der Literatur zuſchreiben, das weder chriſtliche noch nationale Belange zu fördern den Drang in ſich fpürt und dann einfach behauptet: es iſt kein Kunſtwerk! Oeshalb iſt es ein Unding, fagen die Antiſemiten, wenn jüdiſche Führer ein chriſtlich und nationales Volk leiten wollen; da muß dann die , fouverdne freie Runſt“ herhalten. Heuchler! Nein, das mag in einem Waren- hauſe angehen, aber nicht im Reich der deutſchen und chriſtlichen Gemuͤtskräfte. In Wahrheit find die Führer der Freien Volksbũhne nicht objektiv; ihr Parteiſtand punkt ſchillert bewußt oder unbewußt durch; während der Bühnen volksbund offen und ehrlich feine Verbundenheit mit ne- tionalen und chriſtlichen Belangen zugibt, ohne daß er deshalb in Tendenzmacherei zu geraten braucht.

Bab hat nun in der, Volksbühne“ (Zeitung für ſoziale Theaterpolitik und Runjtpflege) geant- wortet. Da leſen wir:

„In den ‚Reichsblättern‘, die der Bühnenvolksbund herausgibt, findet ſich ein Aufſatz von Dr. goſeph Nowack mit dem Titel „Julius Bab als Biologe‘...

Bei dem Vortrage in Magdeburg, in dem es meine Aufgabe war, die Grenzen zwiſchen Theater und Politir zu ziehen, entwickelte ich den Begriff der fouverdnen Kunſt. Ich fagte, daß nur die formende Kraft, mit der ein Werk zu Gefühlsmacht über die Zuhörer kommt, fuͤr uns entſcheidend fein könne, daß aber keine politiſche Gefinnung irgendeiner Art, die ſich im Robftoff des Werkes abfpielt, an und für ſich Grund fein dürfe, ein Werk anzunehmen oder abzulehnen. Zu den zahlreichen entrüfteten Einwendungen, die in der Diskuſſion Ernſt Toller gegen mich vorbrachte, gehörte auch die Frage: ob die Volksbühne denn um des Standpunkts der fouverdnen Runft willen auch ein Stück ſpielen müjfe, das in künſtleriſch bedeutender Weiſe Tendenzen im Sinne der Schlageter-Poefie oder der Fridericus -Filme zum Ausdruck bringt. Darauf antwortete ich, die Exiſtenz eines ſolchen Stückes (das bei hoher künſtleriſcher Qualität allerdings auch die Volksbühnen verpflichten würde) iſt eine rein theoretiſche, aber keine biologiſche Möglid- keit. Es iſt dieſer letzte Satz, an den fic die kritiſchen Ausführungen des Dr. Nowack heften.

Der Sinn meiner Worte iſt klar und iſt auch von Dr. Nowack ziemlich richtig verſtanden worden. Ich bin der Meinung, daß die Tatſachen uns ſtündlich beweiſen: Es gibt oberhalb aller Zeiten

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und Bedingungen eine künſtleriſche Wirkung an fid; es gibt eine Kraft, mit der große Runft überall den ihr gegebenen Stoff (und alles, was in jeder Zeit lebt, iſt für die Runft Stoff!) durch; dringt, um bleibende Erfhütterung zu wecken. Wenn trotz völligfter Verſchiedenheit jeder Lebens! bedingung eine Komödie des Ariſtophanes, ein Lied des Li-tai-pe, eine Novelle des Boccaccio heute einen franzoͤſiſchen Bürger oder einen deutſchen Arbeiter ergreifen können, fo muß es eine letzte Rraft der Runſt geben, die ſich an nichts als das Zeitloſe im Menſchen wendet. Und hierin hat der zu Unrecht viel verſpottete Begriff des „Menſchlich-Großen“, zu dem alle Kunſt ſtrebt, feine Begründung. Das war es, was ich die ‚jouneräne‘ Kunſt nannte, das iſt es, was theo- retiſch ſich zu jeder Zeit, an jedem Stoff vollziehen kann. Theoretiſch, aber nicht praktiſch! Denn was ich mit den biologiſchen Bedingungen der zeitloſen Runjt meine, iſt, daß es in jeder Epoche nur beſtimmte Intereſſenkreiſe, beſtimmte äußere und innere Stoffgebiete geben wird, bei deren Durchdringung das Wunder der großen Kunſt geſchieht, bei deren Anblick die tatfächlich vorhandenen großen Talente der Epoche zur Betätigung gereizt werden.

Über dieſe Grundanſchauungen wird Dr. Nowack vielleicht ſich mit mir noch verſtändigen tén- nen. Seine Meinung iſt nur, daß es volle Willkür iſt, zu meinen, von der nationalen Tendenz oder vom chriſtlich-konfeſſionellen (?) Standpunkt her könnten heute ſolche großen künſtleriſchen Krafte nicht mehr in Bewegung geſetzt werden. Dies ſcheint mir nun der Punkt zu fein, wo die Tatſ achen laut und deutlich gegen den Standpunkt des Bũhnenvolksbundes ſprechen.

Wir find keineswegs unempfänglich für große dramatiſche Kunſtwerke, die aus der chriſtlichen Anſchauung hervorgegangen find, als dieſe noch (7) eine wirkliche lebendige Volks kraft bedeutete. Das alte Spiel vom „Jedermann“ ergreift uns, es gibt Dramen von Calderon, die uns kaum weniger wichtig find als Werke von Sophokles oder Shakeſpeare, und keine Volksbühne wird daran denken, ſich dem Erlebnis folder Gedichte zu verſchließen. Auf dem Magdeburger Tage iſt ſchon davon die Rede geweſen, daß ein Werk wie Kleiſts , Prinz von Homburg“ aus einem natio- nalen Erlebnis in ſolche Menſchheitstiefe gewachſen iſt, daß es auch für jede Volksbühne ein un- entbehrliches Gut bedeutet. Daß wir vom Volksbühnenſtandpunkte aus alſo große NRunſtwerke ablehnen, nur weil ein chriſtliches oder nationales Erlebnis fie entzündete, iſt nicht richtig.

Eine ganz andere Frage aber ift, ob aus dieſen Bezirken heute noch () die Anregung zu einer großen dramatiſchen Dichtung zu erwarten iſt. Dieſe Frage aber wird verneint wahrhaftig nicht von unſerem privaten Wähnen, ſondern feit mehr als dreihundert Jahren durch die Ge- ſchichte des Dramas! Das neue Drama ift in dem Moment entſtanden, als die Welt der Re- naiſſance den Menſchen in ſeinem unchriſtlich irdiſchen Wert wieder entdeckt hatte und ſich im England Shakeſpeares vollendete. Seitdem hat es nur den einen chriſtlichen Reaktions verſuch in Spanien gegeben, abet eine Fülle großartiger Variationen des unchriſtlich-irdiſchen, zum Teil ſogar des betont unchriſtlichen Dramas. Es ijt (und darin beſteht ja die ewige Repertoire; not des Bühnenvolksbundes !) ohne Gewaltanwendung, ohne abſichtliches Zudruͤcken beid er Augen, völlig unmöglich, auf einer Bühne, die nicht der ſouveränen Kunſt an ſich, ſondern nur der chriſtlich grundierten Kunſt offen ſtehen will: Leſſing und Goethe, Hebbel und Anzengruber, Ibſen und Büchner, Wedekind und Beaumarchais zu ſpielen. Wenn all dieſen Dramatikern höchſt verſchiedener Art ſeit dreihundert Jahren kein einziger von annähernd gleichem Rang entgegenzuſtellen iſt, der vom chriſtlichen Weltgefühl ausgeht, fo ſieht das doch wahrhaftig nicht nach willkürlicher Meinungsäußerung einiger Volksbühnenleute, ſondern nach einem voll- kommen unmißverſtändlichen Edikt der Weltgeſchichte aus. Das find die ,biologiſchen“ Lot- ſachen, die gegen das chriſtliche Tbeater des anne ſprechen und für die freie Kunſt, die wir meinen.

Aber nicht minder deutlich äußert ſich die Geſchichte des Dramas über die ſpezifiſch nationale Kunſt. Der ſchon erwähnte ‚Prinz von Homburg’ ift, fo weit das Auge blickt, die letzte dramatiſche Dichtung großen Formats, die ihre Entſtehung einem weſentlich nationalen Feuer verdankt. Aber ſeit mehr als hundert Jahren ſehen wir die ſteigende Bedeutung, die der Stoff der ſozialen

472 Frauenbiher

Kämpfe für den dramatiſchen Dichter hat. Der Weg von Hebbel zu Ibfen und Shaw ift weit und bekannt genug. Wenn im ungefähr gleichen Zeitraum das haſtig verpuffende, ſo ſympathiſche wie unſchöpferiſche Talent eines Wildenbruch fi mit rückwärts gewendeter Begeiſterung am nationalen Thema abmüht, während Gerhart Hauptmann, das ſchöpferiſche Genie der Epeche, vom leidenſchaftlichen Anteil am ſozialen Problem vorwärtsgetrieben und in Schwung geſetzt wird, iſt das ein Zufall?“. i

Eine höchft bezeichnende Antwort! Das Chriftentum ift über die Welt gegangen, hat fic der Menſchheit ſeit Golgatha auf das allertiefſte eingeprägt, fo daß ſich kein Menſch mehr auf der ver- wandelten Welt ſeinem Einfluß entziehen kann und Herr Bab, in ſeiner altteſtamenltichen Religion ſtehengeblieben, behauptet einfach, „aus dieſen Bezirken wäre nichts mehr zu erwarten, dafür aber hätten wir eine großartige Fülle von „betont unchriſtlichen Dramen“. Nun, da müßte man ſich denn doch von ganz anderen Höhen her darüber unterhalten, was Chriſtentum mit all ſeinen Ausſtrahlungen eigentlich heißt. Wir haben in ſolchem Zuſammenhang keine Luſt dazu, begnügen uns aber mit folgenden Feſtſtellungen. Wir erkennen unſererſeits nicht nur ſchon im berühmten Antigone Wort oder in Goethes „Iphigenie“ oder in Shakeſpeares Welt- anſchauung vorchriſtliche und chriſtliche Höhepunkte, ſondern jeder geübte Blick wird den Geiſt der Weisheit und der Liebe, der durch das Chriſtentum hindurchgegangen iſt, auch in allen andern großen Rlünftlern, als den Vorkämpfern der Menſchheit, erblicken müffen, wenn er nur ein biß- chen den Blick dafür geübt hat bis herauf zu Richard Wagner und zum, Antichriſten“ Nietzſche. In dieſer verworrenen und wurzelloſen Zeit ſtehen freilich die Berneiner wie Bab und die Seinen im Vordergrunde. Wo iſt etwa Grillparzer auf dem Bühnenfpielplan geblieben? Wo Hebbel oder Otto Ludwig? Will das „Publikum“ dieſe Dichter nicht mehr oder find die jüͤdiſchen Direktoren die ablehnenden? Aus welchen Gründen lehnt es z. B. die „Freie Volks bühne“ in Weimar ab, Lienhards außerordentlich erfolgreich geſpielten „Münchhauſen“ oder „Gottfried von Straßburg“ in den Spielplan aufzunehmen? Ba müffen dann andere Ausreden herhalten. Oder wo bleibt z. B. Paul Ernſt? Wo Eberhard König etwa mit feiner edlen Dietrich Trilogie? Machen Sie uns doch kein Geſchwätz vor, meine Herren! „Die ganze Richtung paßt uns nicht“ da ſteckt das ganze Geheimnis. Und in dieſer Hinſicht wirken Sie Tag und Nacht in Kritik und Kaffeehausgeſprächen, um die öffentliche Meinung zu beeinfluſſen.

Der Buͤhnenvolksbund hat recht, dreimal recht, daß er dieſe Frage wieder einmal anſchnitt.

H. H. Frauenbücher

mmer iſt es für den Betrachtenden von Reiz, dem Werden einer Künſtlerperſönlichkeit in

ihren eigenen Aufzeichnungen, ſeien es Briefe, Tagebücher oder Erinnerungen, zu folgen. Von doppeltem Reiz iſt es bei Frauen, die dieſen Weg gegangen ſind, da die meiſten unter ihnen mit erhöhten Schwierigkeiten zu kämpfen hatten und nicht nur den äußeren Zugang zum Reich der Kunſt ſich bahnen mußten, ſondern in den meiſten Fällen erſt gewiſſermaßen von ſich ſelbſt frei werden mußten, ehe ſie der Stimme ihres Innern zu folgen wagten.

So freuen wir uns der wachſenden Zahl von Büchern, die uns Aufſchluß darüber geben, wie Frauentum und Kunſt ſich verbinden laſſen. Den Anfang bilde das Erinnerungsbuch der Baltin Monika Hunnius, die den Anhängern des Salzerſchen Verlags durch feine Schilderungen aus ihrer nordiſchen Heimat („Mein Onkel Hermann“, „Aus der Zeit der Bolſchewikenherrſchaft“ bekannt geworden iſt („Mein Weg zur Kunſt“, Salzer, Heilbronn). Wir bekommen darin einen guten Einblick in die deutſche Muſikerwelt im letzten Viertel des 19. und zu Beginn des 20. Jahr- hunderts. Ihr ſelbſt war es nicht gegeben, über die Randbezirke in die Welt der Kunſt ſelbſt zu dringen. In ihrer Natur lagen zu große Hemmungen, als daß ſie ihr Inneres im Geſang hätte ausſtrömen laſſen können. Sie kam nicht über die „livländiſche Paſtorentochter“ tn ſich

Frauenddder 473

hinaus. So wurde fie Geſanglehrerin in ihrer Heimat und erfüllte dort und in den mannig- fachen Schickſalen, die fie wiederholt mit kranken und hilfsbedürftigen Menſchen zufammen- brachten, ihr eigenſtes Schickſal: zu dienen. So iſt das Buch trotz ſeines Titels mehr eines vom Frauen- als vom Künftlertum.

Den Abſtand ermißt man erſt ganz, wenn man damit das Erinnerungsbuch an Eleonora Ouſe vergleicht, das Edouard Schneider bei Graſſet, Paris, hat erſcheinen laſſen und das überſetzt im Inſelverlag herausgekommen ijt. Hier iſt die geborene Kuͤnſtlerin, die aus Nacht und Elend ſich den Weg bahnt zur höchſten Höhe der Kunſt. Freilich zu der vergänglichſten Kunſt, die mit dem Künſtler verweht. Es liegt dadurch eine Tragik in dieſen vermittelnden Künſten ſelbſt, während fie auf der andern Seite ihren Trägern eine unmittelbare Macht über die Men ſchen geben, wie fie in dieſem Maße kein anderer Kuͤnſtler kennt. Die Tragik der Dufe liegt aber tiefer. Sie, die als Menſch einen unerhörten Reichtum der Empfindung, des Verſtändniſſes, des Miterlebens und Mitleidens in ſich trug, die von ihrer Kunſt die höchſte und idealſte Auffaſſung hatte, die in ihr wirklich ein Prieſtertum ſah fie ſuchte ihr Leben lang nach den Dichtungen, die ihrer ſuchenden Seele entgegenkamen, ſie ſuchte ihr Leben lang nach dem Theater, auf dem fie nicht nur Geld für gierige Impreſarios ſpielen, ſondern ihre Ideen wirklich werden laſſen konnte. Der erſte Schmerz lag in der Zeit und ihrer Nation beſchloſſen, der andere fällt ihrem ver jtändnislofen Volk und feinen großſprecheriſchen Führern O' Annunzio und Muſſolini mit zur Laſt.

Eleonora Dufe, die gewiſſermaßen aus dem Znſtinkt ſpielte, konnte es nur in ihrer Mutter ſprache tun, ſo gut ſie auch andere Sprachen, beſonders das Franzöſiſche, beherrſchte. Es gab aber kaum ein italieniſches Orama großen Stils, auch heute haben wir nur Anſätze. Uberſetzt war vor allem das franzöſiſche Geſellſchaftsdrama der Dumas, Augier, Labiche. Daß eine Feuer natur wie Eleonora Ouſe ſelbſt in der berühmten „Kameliendame“ nur unvollkommen geben konnte, was in ihr war, iſt jedem Kenner dieſer Dramen klar. Ein einziger hat ſie in das Bereich großer Dichtung eingeführt: Fbfen. Fn feiner „Frau am Meer“ fand fie die dichteriſche Geſtalt, die ihrem Innern am meiſten entſprach. Aber leider teilte ihr Publikum durchaus nicht dieſe Vor- liebe, ein Beweis, wie wenig es vom innerſten Weſen der Künſtlerin verſtand. Wiederholt wird ihr, beſonders ſeit ihrem zweiten Auftreten nach dem Kriege, bei ihren Kunſtreiſen von ihrem Impreſario, ihrem „Sklavenhändler“, wie fie ihn nennt, zur Bedingung gemacht, dies Werk nicht zu ſpielen. In dies Leben, voller Einſamkeit trotz aller Bewunderung und Freundesliebe, tritt der feinfühlige Franzoſe Edouard Schneider, der vielleicht der treueſte Freund ihres Lebens abends geworden ijt und ihr mit feiner jungen Frau wenigſtens zeitweilig etwas wie Seelen; heimat ſchenkte. Seine Erinnerungsblätter find voll von jener Ehrfurcht vor menſchlicher und künſtleriſcher Größe, wie fie etwa Eckermann Goethe gegenüber beſeſſen haben mag, nur daß bier noch ein unendliches Erbarmen mit der inneren und äußeren Schutzloſigkeit und Hilfloſigkeit der Frau hinzukommt. Wahrhaft erſchuͤtternd lefen ſich die Kapitel, in denen er von ihrem ver- geblichen Bemühen, in Rom ein kleines Theater zu erringen und dem ihr antwortenden Phrafen- ſchwall von D' Annunzio und Muſſolini berichtet, beſonders wenn man damit vergleicht, was Frankreich einer Künſtlerin von zu mindeſten geringerem menſchlichen Formate, der Sarah Bernhard, geboten hat. Alt und krank muß Eleonora Duſe nach Amerika gehen, um den Ber- pflichtungen gegen die von ihr abhängige Kuͤnſtlerſchar nachzukommen. Dort ſtirbt fie in einer der häßlichſten Städte der Erde, in Kälte und Winterdunkel, fie, die ihre ſonnige Heimat und das blaue Meer über alles geliebt hatte. Ihrem Leichenzug bereitet Italien den Triumph, den es der Lebenden nicht gegeben hatte.

Es iſt ein künſtleriſch geformtes, kuͤnſtleriſch geſehenes Buch. Aber fein tiefſter Wert liegt, wenigſtens für unſer deutſches Gefühl, in der menſchlichen Wärme, mit der es das Geſchick dieſer „ewigen Pilgerin“ erzählt. „Ich gehe wie eine, die ihre Straße weiß, während ich doch im Grunde meines Weſens einem inneren Rhythmus folge, der mich immer vorwärts trägt. Was werde ich am Ziele eines fo langen Laufes finden? Vielleicht . . . die geheime Süße, meinem

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Schickſal gefolgt zu haben. Vielleicht! Das iſt es, was ich hoffe, und was ich gelitten habe ich vergeſſe es.“ Das Wort iſt unter den zahlreichen, die von ihr angeführt werden (und die das Sud unmittelbar wie eine Selbſtbiographie wirken laſſen), für die geiſtige Haltung der Künſtlerin vielleicht am meiſten kennzeichnend. ö

Welch ein Abſtand von dieſer ſelbſtloſen Güte zu dem Tagebuch der George Sand, das kuͤrzlich eine Enkelin von ihr herausgegeben hat! Dieſes Buch (Journal intime, Calman Levy, Paris) iſt ein wertvolles Dokument für die Entwicklung der Frau aus einem abhängigen, nur von andern beſtimmten Weſen zu einem, das zu ſich ſelbſt erwacht iſt und ein eigenes Geſetz in ſich fpürt, dem fie gehorchen muß. Es iſt ein Kampfbuch, ohne ſich fo zu nennen. Dieſe Frau rang mit dem Leben, mit den Menſchen, beſonders den Männern, mit denen fie ihr Weg zw ſammenführte, von denen mehr als einer ihr Herz entflammte, und von denen doch keiner es halten konnte. Daraus Schmerz, Verzweiflung, Todes verlangen, beſonders nach dem Bruch mit Alfred de Muſſet, über den fo viel herumgerätſelt worden iſt, bis jetzt endlich über „die Liebenden von Venedig“ Klarheit herrſcht. Immer bleibt ſie Siegerin in ihren Kämpfen, dem auch ihr gab ja ein Gott zu ſagen, was fie litt. Aber fie bleibt nicht unverſehrt. „Härte, Fronie, Verachtung, Ungerechtigkeit in jeder Form“ ſind nach ihrem eigenen Wort die Eigenſchaften, die fie ganz gegen ihre Natur langſam in ihrer Seele wachſen ſieht. Und doch bekennt fie: Es iſt nicht der Glaube, es iſt die Liebe, die Berge verſetzt.“ Diefe Liebe bringt fie am reinften ihren Kindern entgegen. Nddft ihnen den Armen ihres Dorfes, in deren Not fie früh verſtehende Ein blicke getan. So kann fie wohl am Ende von ſich ſagen: „Ich habe alles gebüßt, alles wieder gut- gemacht, foviel an mir lag.“ Ihr Leben klingt in Frieden aus. Mehr vom Menſchen als von der Künſtlerin ſpricht fie in dieſen Aufzeichnungen. Doch erhalten wir einige wertvolle Aufſchlüuͤſſe, be ſonders über den Roman „Lelia“, den ſie nach dem Bruch mit Muſſet ſchrieb und der damals un geheuer viel Staub aufwirbelte. Sie bekennt, daß in allen feinen Perſonen ein Stück ihres Lebens ſtecke, in einem anderen Zeitpunkt und von einem anderen Geſichtspunkt geſehen. Dies menſch⸗ lich Wahre iſt es wohl auch, das auch heute noch den Werken der George Sand einen Leſerkreis verſchafft und ihren Worten über die Beziehung von Menſch und Künſtlerin in ihr Wert verleiht.

Wenn bei ihr dieſe Reflexionen nur für ſich, gleichſam unabſichtlich, gemacht find, fo haben wit in Gabriele Reuters Buch „Vom Kinde zum Menſchen“ (S. Fiſcher, Berlin) eine bewußt geformte Darlegung eines künftlerifchen Entwicklungsprozeſſes. „Die Geſchichte meiner Jugend“ hat ſie das ſchöne Buch anſpruchslos genannt. Aber es bietet viel mehr Es iſt ein Ausſchnitt aus dem Oeutſchland der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, fo wie es ſich in dem begüterten Bürgertum, das mit dem Adel ſchon in enger Fühlung war, abſpielte. Das elterliche und ver wandtſchaftliche Milieu, in dem das Kind heranwächſt, iſt typiſch für die geiſtig intereſſierte, küͤnſtleriſch veranlagte, tonfervativ gerichtete „gute Familie“ jener Jahrzehnte. Dieſe fo lebendig, wahr und doch kuͤnſtleriſch geformt vor uns geſtellte Welt wird einmal als ein nicht unwichtiges Stuck deutſcher Kulturgeſchichte gelten können. Wichtig vor allem dadurch, daß fie den Nahr boden gab, aus dem die Menſchen einer neuen Generation die Kraft ſaugten, ſich gegen dieſe Welt aufzulehnen und ihren eigenen Weg zu gehen. Selten iſt mir bei einem Erinnerungsbuch fo klar geworden wie bei dieſem, wieviel von den Vorfahren in dem Enkel lebendig weiterwirtt, auch wenn dieſer Wege einſchlägt, über die ſich beſagte Vorfahren noch im Grabe umdrehten, wie der Volksausdruck fo anſchaulich ſagt. Leider, leider läßt uns die Dichterin nur bis an die Türe mitgehen, die fie in das neue Land der Kunſt und des auf ſich geſtellten Lebens fuhrt. Wir erleben ihre teils aus Not, teils aus innerem Drang geſchriebenen erſten ſchriftſtelleriſchen Verſuche, in denen ſie noch andere nachahmt, immerfort bewußt und noch mehr unbewußt, reichſte Nahrung trinkend aus all dem Schickſal, eigenem und fremden, das ihr begegnet. Wir hören noch von dem langſamen Wachſen ihres Romans „Aus guter Familie“, den ſie ſelbſt nur zagend aus der Hand gibt und der fie mit einem Schlag in die erſten Reihen der deutſchen Oichterinnen verſetzt. Dann bricht das Buch ab, nur noch in wenigen Strichen den äußeren

sae ne

grauenbücher 475 Lebensumriß feiner Schreiberin andeutend und die innere Entwicklung, die ihre Seele genommen hat. Und da ſtellt ſich eine ſeltſame Parallele zu Eleonora Duſe heraus.

Edouard Schneider erzählt, wie dieſe Küͤnſtlerin, je mehr ihr Leben voranſchritt und feine Ratfel ſich löften, um fo mehr ihr Herz Gott neigte, dem Gott, der die Liebe iſt und fic) als folder geoffenbart hat. „Ou ſuchteſt mich nicht, du hätteſt mich denn ſchon gefunden.“ Dies Wort Pascals ſteht als Motto über einem der Schlußkapitel. Ganz ähnlich bekennt Gabriele Reuter, die ausführlich die Loslöfung ihrer Jugend von den überkommenen Formen bes Chriſtentums erzählte, wie ihr langſam „aus der entgötterten Welt“ wieder Gottes und Chriſti Antlitz empor ſteigen. „Oft iſt mir zumute, als hätte ich eben erſt angefangen, ein Chriſt zu ſein und als läge noch ein weiter Weg der Erfahrung und Entwicklung vor mir, ehe ich herangereift ſein werde zu einem Streiter für das Reich Gottes auf Erden, das Reich der Liebe.“ So reichen ſich über die Schranken der Volker hinweg gleiche Seelen die Hand.

Gabriele Reuter ſpricht im letzten Kapitel von der menſchlichen Enttäuſchung, die ihr ein tieferer Einblick in die Münchener Kuͤnſtlerkreiſe gegeben habe. Mitten hinein in fie führt uns das Tagebuch der Gräfin Franziska Reventlow, das eine ihrer Verwandten mit ihren dichteriſchen Werken und einem in unangenehmem Ton geſchriebenen Vorwort herausgibt (Münden, Langen). Franziska Reventlow iſt auch eine Tochter „aus guter Familie“, die aber, als ſie endlich die Freiheit erlangt hat, kein Geſetz und keine Grenzen mehr kennt, ſondern der Stimme ihres Blutes in jedem Augenblick folgt. Dabei liegt auf allem ihrem Tun, fo merk würdig das Wort auch klingen mag, etwas wie Unſchuld. Es iſt wirklich fo, als ob fie „jenfeits von Gut und Böſe“ ſtände, richtiger, als ob ſie den Begriff der Sünde gar nicht kennte. Ihr Tun kommt aus der Wahrhaftigkeit ihrer Natur. Nur wenn fie einmal von dieſer abweicht, hat auch fie das Gefühl begangenen Unrechts. Etwas von einer antiken Hetäre lebt in ihr, die ja auch,

wie uns das Beiſpiel der Aſpaſia zeigt, in ihrer Zeit Achtung erfahren konnten. Nur kommt bei Franziska Reventlow ein neues Moment hinzu: fie ijt mit Hingabe und Leidenſchaft Mutter, ſo ausſchließlich Mutter, daß ſie von dem Vater ihres Kindes nichts wiſſen will. Unter den größten Opfern und Entbehrungen zieht fie „Bubi“ groß, und wenn man manchmal auch ver- ſchiedener Meinung über ihre Erziehung ſein kann, unzweifelhaft tut ſie alles, ihn zu einem gütigen und graden Menſchen zu erziehen. Man kann dies Menſchenſchickſal nirgends einordnen. Es beſteht für ſich. Daß es keinerlei normativen Charakter haben kann, wird auch dem klar fein, der nicht den Maßſtab buͤrgerlicher Moral anlegen will. Die beigegebenen dichteriſchen Werke er- reichen nirgends die Lebendigkeit und den hinreißenden Schwung der Tagebuchblätter. Intereſſant ft auch hier zu verfolgen, wie fie faſt wider Willen, aus Geldnot Schriftſtellerin wird, während ihre künjtlerifche Natur immer wieder in der Malerei das Feld ihrer Betätigung zu finden glaubt.

Machen wir hier einen Seitenſprung und weifen hin auf das Jugendbuch der Helene Voigt- Diederids „Auf Marienhoff“ (Jena, Diederichs). Im Gegenſatz zu Gabriele Reuter tritt die Perſon der Erzählerin ganz zurüd. Sie könnte ebenſogut nicht mit dabei geweſen fein. Aber nein, dann wüßte ſie es uns nicht ſo behaglich zu machen auf dieſem altſchleswigſchen Hof und wüßte auch nicht mit ſolcher Liebe „von Leben und Wärme einer Mutter“ zu erzählen. Auch dies Buch iſt kulturgeſchichtlich intereſſant und zudem mit ſchöͤnen Bildern aus der alten Heimat gefhmüdt. Aber durch dieſe abſichtliche Zurückhaltung der Erzählerin bekommt es etwas Un- perfönliches, als ob jemand über die ſtarken Farben eines Bildes leiſe gewiſcht habe, damit es nicht ſo leuchte.

Mag fein, daß dieſer etwas blaſſe Eindruck wie herbſtlicher Abendhimmel bei mir mithervor- gerufen wurde durch die Nachbarſchaft eines anderen Buches, das auch aus Norddeutſchland kommt, aber mit den leuchtenden Farben von blühender Heide, glutendem Himmel und wider ſpiegelndem Waſſer in unſerer Seele haften bleibt. Es iſt der ſtattliche Band, in dem uns Briefe und Tagebuchblätter von Paula Moderſohn-Becker mit biographiſcher Verbindung und einem erläuternden Vorwort geboten werden (München, Kurt Wolff). Eigentlich iſt dieſes über!

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fliffig, wenigſtens inſoweit es die mitgeteilten Selbſtzeugniſſe erläutern will. Denn zu wem dieſe nicht ſelbſt mit unwiderſtehlicher Gewalt ſprechen, dem helfen auch die Einführungen und Erläuterungen nichts!

Welches Leben! Es will mir ſcheinen, als ob ich noch nie von einem Frauenleben gehört hätte, das dieſe unerhörte Selbſtverſtändlichkeit der inneren und äußeren Entwicklung gehabt hat. Wie ein Baum iſt fie, der aus feiner Wurzel wächlt, grade und kraftvoll, dem Sonne und Wind helfen, den die Stürme umblaſen und biegen, der aber ſeine Wurzeln nur immer tiefer ſenkt in Gründe, darein der Menſchen Blick nicht reicht, die ihn betrachten. Sie können ihn nur anſchauen und bewundern oder tadeln: er wäͤchſt weiter, wie das Geſetz des Wachſens es ihm gebietet. Was auch kommt, Gutes und Schlechtes, Glück oder Leid, Förderung oder Hemmung alles wird wachſen. Und als ſie mit 31 Jahren ſtirbt, nachdem ihr noch das lang und ſtill erſehnte Glück der Mutterſchaft zuteil geworden iſt, da iſt man ſo benommen von all dem Reichtum, der da ſo ſelbſtverſtändlich auf den weißen Blättern ausgebreitet liegt, daß man zuerſt nicht weiß, ob man das letzte Wort der jungen Toten: „Wie ſchade!“ wiederholen foll oder ob nicht der Tod hier ein in ſich ſchon gerundetes Leben abgeſchloſſen hat, dem man kaum noch etwas zuzuſetzen wünfcht. Nur ganz felten hat man bei jungen Toten im Reich der Kunſt dies Gefühl, das fie geſagt haben, was ihnen der Welt zu ſagen aufgetragen war; daß ſie darum ſo ſchnell und hoch wuchſen, daß ſie darum mit ſo eiligen Schritten der Vollkommenheit zuſchritten, weil ihnen nur kurze Zeit gegeben war.

Ganz feltfam iſt bei Paula Becker das früh ausgeſprochene Wiſſen um ihr frühes Ende. Ein Menſch mit ungewöhnlichen Anlagen, aufgewachſen in einer mit Liebe und Harmonie gefättigten Umgebung, aufs tiefite mit Eltern und Geſchwiſtern, beſonders einer Schweſter, verwachſen, ohne Herzensſtürme in eine auf Liebe und gemeinſamen Idealen aufgebaute Ehe fait unmerklich hineingeſchritten, nur einmal einen inneren Abſchied von einer Freundin, der Frau von Rainer Maria Rilke, erlebend, fo ſcheint ihr Menſchen- und Frauenleben, als fie endlich auch noch Mutter wird, glücklich wie nicht allzu oft eins. Und doch füllt ſie das alles nicht bis zum Letzten aus. Sie iſt im wahrſten Sinne eine Prieſterin der Kunſt. Immer ftärter wird die Kunſt die herrſchende Göttin. Wenn in dem ſtillen Worpswede der Quell ihres Schaffens verſiegt, ſo muß ſie fort, ſie kann ſich der gebieteriſchen Herrin nicht entziehen, ſie muß das Opfer der Trennung von ihren Liebſten bringen. Wie oft kehrt in ihren Briefen und Tagebuchblättern das Wort wieder: Die Kunſt iſt ſchwer, ſchwer! Beinahe wäre auch ihre Ehe daran zerbrochen, wenn auch nicht ihre Liebe zu ihrem „König Roter!“ Aber fie findet den Weg zu ihm zurüd und diesmal am Ende des Weges das heiß erſehnte Kind. 19 Tage fpäter ſtirbt fiel

Und jetzt, da ich ihren Weg noch einmal zurüuͤckſehe, ſteigt doch eine Frage auf: Wie wäre ihr Leben weitergegangen? Hätte das Kind fie halten können, wo der geliebte Gefährte es nicht konnte? Vielleicht iſt auch das ein Grund, warum man ihren Tod nicht in dem Sinne tragiſch empfindet wie etwa den Heinrich v. Kleiſts. Kein Sturm hat die feine, grade, ſtolze Birke zerſpellt, da ſie der Tod in ſein Land verpflanzte. An der Biegung des Weges wartete aber vielleicht ſchon der zerſpellende Sturm!

Erſt nach ihrem Tode hat die zünftige Kritik die überlegene Kunſt dieſer Frau anerkannt und in ihr eine Wegweiſerin in die Zukunft geſehen. Sie iſt es vielleicht auch noch in einem anderen Sinne, der ihr freilich noch ganz verborgen war, verborgen ſein mußte. An ihrer Entwicklung kann man zeigen, was der Sinn einer wirklichen deutſch-franzöſiſchen Zuſammenarbeit auf geiſtigem Gebiet iſt. Seit Paula zum erſtenmal als Malſchülerin in Paris war, wird in ihr faſt jedes Jahr das unabweisbare Bedürfnis wach, ein paar Monate dort zu verbringen und ſich neuen Schwung zu holen, nicht nur fuͤr ihre Kunſt, ſondern auch fuͤr ihr Leben. In einer Fülle von Beobachtungen und Bemerkungen gibt fie ihr tiefes Eindringen in franzöſiſche Art kund. Es gibt kaum ein Buch in deutſcher Sprache, das dies in gleichem Umfang, gleicher Gruͤndlichkeit und Tiefe tut. Sie ſieht genau, was die franzöſiſchen Künſtler vor ihren deutſchen Kollegen, was

FrauendAicher 477 bas Volk vor ihrem eigenen voraus hat. Aber fie ſieht grade darum auch klar, was wir vor den Franzoſen voraus haben, und ihre eigene Kunſt wird in der Berührung mit der fremden be- reichert, aber nur in ihrer eigenen Richtung vertieft. Dieſe Vereinigung von Abſtand und Nahekommen, von Aufnehmen und Sichbewahren, von liebevollſtem Verſtändnis und klarer Kritik und dabei dies immer klarere Sichbewußtwerden der eigenen Art möchte man allen wünſchen, die ſich auf irgendeinem Gebiete mit dieſem großen europälfchen Problem befaffen!

Wie ſtark die Künſtlerkraft von Paula Moderſohn Becker auch war, ihr frühes Sterben hat die Zahl der hinterlaſſenen Werke notwendig beſchränkt. Sie hat neue Wege gewieſen, die fie ſelbſt nur ein Stück gehen konnte, und wir wiſſen aus ihren Aufzeichnungen, daß ſie ſelbſt ſich bewußt war, erſt am Anfange ihrer Moglichkeiten zu ſtehen.

Einer anderen Frau iſt es vergönnt, bis auf den heutigen Tag ihr bildneriſches Schaffen fort; zuſetzen und jeder erreichten Stufe eine neue hinzuzuſetzen. Ihr Werk liegt jetzt in guten Re- produktionen vor. Ja, da es ein graphiſches iſt, nicht wie bei der andern ein maleriſches, ſo kann das Käthe-Kollwitz⸗Werk ganz andere Eindrücke vermitteln als dies bei der Malerin möglich iſt. 153 Bildtafeln in Großformat in ausgezeichneter Technik reproduziert, dazu eine Einführung und ein guter Leinenband (Dresden, Reißner). Das alles für 13 4. Man fühlt fi in die beſten Budhandlerseiten vor dem Kriege zurüdverfegt! Im Inhalt allerdings weniger. Wohl find die meiſten dieſer Bilder ſchon vor dem Kriege entſtanden. Aber unſere Augen waren noch nicht ſo geöffnet für ihre Modelle, wie ſie es heute ſind. Denn Käthe Kollwitz gibt vor allem Bilder der Armut und Not: armſelige Kinder, ausgemergelte Frauen, niedergedrüdte Männer. Daneben ein paar große Serien, deren Kraft aber auch aus der Beobachtung der Gegenwart geſchöͤpft iſt: der Bauernkrieg und der Weltkrieg. Es ſteigt ein unendlicher Jammer aus dieſen Blättern auf, ein Jammer, der um fo lauter redet, weil die Menſchen, die uns die Kuͤnſtlerin zeigt, ſelbſt ſchweigen. Sie haben nicht das Wort, um ihrer Not Ausdruck zu geben, fie haben nur die hilf- lofe, ſtumme Gebdrbe: „Kain, wo ijt dein Bruder Abel?“ Dieſe unerbittliche Frage ſchwebt über all dieſen Blättern. An uns iſt ſie gerichtet, die wir die Früchte der heutigen Geſellſchaftsordnung genießen. Eine Anklage find dieſe Bilder. Und doch find fie nicht nur das. Sie drücken nicht nur nieder, wie das die meiſten naturaliſtiſchen Dramen tun, die ihre Geſtalten aus den gleichen Kreiſen nehmen. Denn inmitten all dieſer Armſeligkeit, der körperlichen und der geiſtigen, leuchtet bald hell, bald faft verglimmend das Licht der Seele. Es liegt manchmal in dieſen häßlichen Geſichtern (in dem abſchiednehmenden Paar S. 81), in den zu ihren elenden Würmern ſich beugenden Müttern, in den an Liebknechts Leiche ſich neigenden Männern. Sie alle haben etwas von der Seele, die in altdeutſchen Bildern oder bei Rembrandt durch alle Häßlichkeit hindurchſcheint. Nimmt man dazu einige Köpfe von jungen Arbeiterfrauen, die voller Zuverſicht und ruhiger Kraft dreinſchauen, und die beiden glücklichen Mütter mit ihren lachenden Kindern (S. 108 und 109), fo könnte man den Sinn dieſer Bilder faft dahin zuſammenfaſſen: Auch im Proletarier lebt eine Seele, die nur darauf wartet, an das Licht zu kommen und ſich zu ent- falten. Wann iſt Raum genug da, daß auch ihr das moglich ift?

Künſtleriſch zeigen die Bilder eine ſtetig ſich aufwärts entwickelnde Linie, die befonders an den Selbſtbildniſſen der Künitlerin ſichtbar wird. Seit dem Kriege hat fie ſich auch des Holzſchnitts bedient, der ihrer herben Art ungemein entgegenkommt. Unvergeßlich bleibt das Bild der beiden ineinanderverſunkenen Frauen, der alten und der jungen, die wohl die Nachricht vom Tode des Sohnes und Gatten erhalten haben. Es iſt, als ob alles Frauenleid, das der Krieg gekoſtet hat, darin verſteinert ſei. Aus eigenſtem Erleben iſt grade dies Bild erwachſen, denn das Werk iſt dem bei Dixmuiden gefallenen Kriegs freiwilligen Peter Kollwitz, ihrem jüngften Sohn, gewidmet.

In dem Vorwort will Artur Bonus nachweiſen, daß Kaͤthe Kollwitz in ihrer Kunſt religiös ſei. Mir ſcheint der Nachweis nicht gelungen, weil die Deutung dieſes Wortes willkuͤrlich und ge- zwungen iſt, und weil die dunklen Worte gar nicht zu dieſer einfach großen Kunſt paſſen. Aber um einiger Briefſtellen willen von Käthe Kollwitz ſelbſt, nimmt man auch das Vorwort mit in

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den Kauf. Mir ſelbſt ſcheint dieſe Kunſt aus dem tiefſten Quell des Chriſtentums geſpeiſt: aus der Liebe zu allen Mühſeligen und Beladenen. „Mich jammert des Volkes!“ könnte man über all dieſe Bilder ſchreiben, und wie inbruͤnſtig wünſcht man, daß dieſe Not wieder einmünden möchte in das Meer der göttlichen Kraft und Güte. Und wie ſehr wünfcht man, daß diejenigen, die ſich deſſen Hüter, beſtallt oder nicht beſtallt, nennen, dieſe Bilder ſehen und an ihnen ihre Augen klar werden, wenn ſie es noch nicht ſind, für die Not rings im Lande, die ſchreit! Es ſchiene mir den tiefſten Sinn dieſer Kunſt mißverſtehen, ja fie entweihen, wer vor dieſen Bildern nur ihren äjthetifchen Wert würdigen und bewundern wollte. Aus dem Leben iſt fie geſchöpft, aus dem Erbarmen erwachſen. Dem Leben will fie dienen, indem fie das Erbarmen weckt und die Gewiſſen wachruft. Kann eine Frau ihr Frauentum ſchoͤner mit ihrer Küͤnſtlerkraft einen? Dr. Klara Marie Faßbinder

Franz Huth

n England, wo ſich alles nach einem ungeſchriebenen geſellſchaftlichen Kodex richtet, ſteht

die Aquarellmalerei in höherer Blüte als in Deutſchland, aus dem einfachen Grunde, weil eben dieſer Kodex als Schmuck des wirklich eleganten Damenzimmers nur Aquarelle geftattet. Das hat naturgemäß eine engliſche Aquarell-Kultur gezeitigt, die der deutſchen weſentlich über legen iſt; denn nicht nur Übung, auch Nachfrage zeitigt Meiſter.

Warum der Oeutſche das Olbild unter allen Umftänden vorzieht dieſes Geheimnis mögen die Leute löſen, die ſich mit Sammlerpſychologie befaffen, woferne es deren gibt. Sicherlich hat es der ausgeſprochene Aquarelliſt bei uns nicht leicht, und er muß ſchon ein großer Könner ſein, wenn er ſich durchſetzen will.

Ein ſolcher iſt Franz Huth. Er hat fein ganzes Leben mit eiſernem Fleiß und tiefem Ver ſtändnis nur der Kunſt der Waſſerfarben gewidmet und iſt damit zu vollem Erfolg und all- gemeiner Anerkennung gelangt allen Vorurteilen zum Trotz. Freilich iſt es auch etwas Be- ſonderes eines feiner fo reizvollen Blätter zu beſitzen: Techniſch vollendet, mit beſonderen fagen wir ſeeliſchen Kräften ausgeftattet, bedeutet es immer einen guten, freundlichen Haus geift, der Anmut, Eigenart, Glanz und Wohlbehagen atmet, und der immer wieder das Zauber kunſtſtück vollführt, den Beſchauer aus dem Grau des Alltages in eine beſſere Welt zu entrüden, wo es nicht Neid, nicht Mißgunſt, nicht Hohn und ſäuerliche Beſſerwiſſerei gibt, ſondern eitel Bejahung und Freude an den ſchönen Seiten des Lebens herrſcht. Das hat natürlich ſeinen guten Grund wie alles auf Erden, denn ſie ſind eben nicht mehr und nicht weniger als das Spiegelbild der Seele deſſen, der ſie ſchuf. Was aber von dieſer Seele zu halten iſt, dieſer Seele eines gottbegnadeten, klugen, heiteren, gütigen und allesverſtehenden Menſchen, das können vor allem die ſagen, denen Meiſter Huth als Menſch und Maler zum Freunde geworden iſt. Huth iſt in ſeinen Werken ſo recht eigentlich ein Erzieher zur Lebenskunſt. Ein ſtiller Erzieher zur ruͤckhaltloſen Freude an den vielen ſchönen Dingen dieſer Erde, zur Freude, die fein eigenes Leben durchtraͤnkt und die ihm Evangelium bedeutet, unerfchütterlich durch all die tauſend klei; nen Widerwartigteiten, die keinem erſpart find, der mit der Offentlichkeit in Berührung kommt.

Man kann Huths Kunſt nicht modern nennen, aber ſie iſt auch weit davon entfernt, unmodern zu ſein; es ſteckt in ihr etwas, das ſie über den Zeitgeiſt erhebt: Sie iſt allgemein menſchlich, ſie ijt Ausfluß einer Perſönlichkeit, die über den Dingen und den Zeiten ſteht und darum faft allgemeingültig wirkt; in ihr lebt ſich ein Menſch aus, der ſich ſorglos ganz fo geben kann, wie er ijt das macht fie fo erfreulich und unmittelbar liebenswiirdig.

Das Schöne iſt das Wahre + X. Das hat Lombroſo vor vielen Jahren einmal definiert und da- mit angedeutet, daß für die Beurteilung von Kunſtwerken ein unwägbarer Rüditand bleibt. Für eine frühere Periode war dieſes X das Schlagwort Perſönlichkeit, der Expreſſionismus fand es

Franz Huth 479

im Ausdruck, die jüngfte Zeit glaubt das Rätfel mit dem Worte „neue Sachlichkeit“ zu löfen, alle haben bis zu einem gewiſſen Grade recht und auch wieder unrecht. Das geheimnisvolle X enthält ſicherlich alle dieſe Fermente, aber es hat auch noch andere Beſtandteile, ich mochte ſagen magiſcher Art, die ſich vorläufig noch der Analyſe entziehen.

Franz Huths Kunſt iſt durchaus perſönlich, fie iſt durchaus ſeeliſcher Ausdruck, fie verläßt nie die Pfade klarer Sachlichkeit; und doch iſt ihr Weſen damit nicht erſchöͤpft. Ihren eigentlichen Zauber kann man mit dieſen Bezeichnungen nicht umſchreiben, es iſt ein „mehr“ an ihr! Bald möchte man dieſes „mehr“ Kunſt der Atmoſphäre nennen. Wenn man eines ſeiner Interieurs aus den Prunkräumen des Darmſtädter Schloffes längere Zeit betrachtet, dann wird das dar geſtellte Semach plötzlich lebendig. Der Geiſt uralter Kultur vermittelt ſich, Geſtalten erſcheinen, vornehme Herren und Damen in prächtigen Uniformen und Kleidern, und ehe man ſich's ver- ſieht, iſt man Zeitgenoſſe Napoleons oder der großen Landgräfin Caroline. Dann wieder mochte man es Maͤrchenkunſt heißen. Ich beſitze eine Studie von ihm: Rofa Fingerhut; Stauden am geheimnisvoll dunklen Waldesſaum! Man betrachtet es länger auf einmal iſt man mitten im Märchenzauber, man hört vereinzelten Amſelſchlag, Inſekten ſummen, kühler Baumodem ſteigt auf, und plötzlich lupft der Zwergenkönig ſchmunzelnd den Hut vor den erſtaunten Augen.

Denkt man an eines der prächtigen Kircheninterieurs, die unſer Meiſter geſchaffen hat, bei deren Anblick man Orgel und frommen Sang und getröftete ſchlichte Seelen plotzlich auf wunder bare Weiſe empfindet, dann ſchwört man, das „mehr“ bei ihm fei, am beiten „Religiofität“ zu heißen und ſo kann man beliebig fortfahren mit der Suche nach dem ganz befriedigenden Ausdruck für das geheimnisvolle „mehr“ in ſeinen Werken. Aber es wird ein endloſes Bemühen bleiben, denn bei jedem neuen Bilde drängt ſich ein neues Wort auf, das beim nddften fid wieder von einem anderen ablöfen läßt!

Huth iſt ſehr vielſeitig. Aber vielleicht beſteht gerade in dieſer Vielſeitigkeit der eigentliche Zauber feiner Kunſt; vielleicht beruht gerade auf ihr die Fülle der Ideen und Empfindungs- aſſoziationen, die feine Bilder auszulöfen vermögen.

Trotzdem iſt Franz Huths Kunſt ſtreng begrenzt. Sie hält ſtarr an ihren Ausdrucksmitteln feſt, der Waſſerfarbe und dem Zeichenſtift, ſie kennt kein Experimentieren mit ihr weſensfremden Techniken, fie bleibt ſich im Formalen immer treu, um den Inhalt immer reicher, immer liebe voller auszugeſtalten und in ſich ſteigender Schönheit zu erfaſſen. Als Aquarelliſt ſteht Huth in Oeutſchland ohne Zweifel an erſter Stelle. Seine Meiſterſchaft, gewiſſe Lieblingsthemen ſeiner pradt- und feſtliebenden Phantaſie mit immer neubelichteten Facetten ſtrahlen zu laffen, iſt erſtaunlich! Immer iſt der Ausdruck gefunden, der Material und Kuͤnſtlerhand vergeſſen macht und das Dargeſtellte als ein wirklich Seiendes auf anderer Ebene erſcheinen läßt.

Das Merkwürdigſte an Franz Huth iſt, daß er eigentlich Autodidakt iſt, was allerdings nicht fo wunderbar erſcheint, wenn man weiß, daß ſchon fein Vater ein tuͤchtiger Porzellanmaler war und daß ihm daher wenigſtens die Porzellan und Glasmalerei erſtes Spiel und erſtes Ver gnügen waren. Beſtimmend für feine Entwicklung find fie freilich nie geworden, man wolle denn fagen, daß fein ſchier unglaubliches Vermoͤgen, den Reiz alter Schaͤfer· Porzellan Gruppen auf das Papier zu bannen, unbewußt Erworbenes aus der Jugendzeit ſei. Bedeutſamer waren ſicherlich kurze Studienaufenthalte in Dresden, Berlin und München, wenigſtens was An- regungen und die kulturelle Verfeinerung ſeines Könnens betrifft; freilich irgendwie einſchneidend konnten fie nicht wirken, da Franz Huth der Kuͤnſtler ſchon vom Tage feiner Geburt an war und es bei ihm alſo nur darauf ankam, zu werden und aus ſich ſelbſt zu reifen!

Franz Huth wurde am 9. November 1876 zu Pößneck in Thüringen geboren. 50 Jahre, dar- unter ſchwere, aber auch ſchöͤne glückliche Schaffensjahre liegen hinter ihm. Möchte dieſen noch manches andere folgen und ſein ſtattliches Lebenswerk mit vielen echten „Huths“ bereichern, zur Freube aller derer, die in ihm den großen Könner ehren und den fonnigen, weiſen Menſchen lieben. Graf von Hardenberg

Turmers Tagebuch

Ein Ganzes oder dienendes Glied? Die Reichs konferenz für

Reichserneuerung Streſemann, Briand und der Rhein

Sranzöfifhe Autonomiſtenbegünſtigung im Rheinland und

Autonomiſtenverfolgung im Elſaß - Paneuropa, Panamerika und der verpfuſchte Völkerbund

mmer ſtrebe zum Ganzen“ mahnt Schiller als Pflicht für jeden. Allein er macht den Zuſatz, daß, wer ſelber kein Ganzes werden könne, ſich einem größeren Ganzen anſchließen ſolle als dienendes Glied.

Alle politiſchen Dinge von heute drehen ſich um die Lebensweisheit dieſes Diſtichons. Sie iſt fo klar und klug; woher rührt's, daß fie dennoch nicht durch- dringt? An unſerer Menſchlichkeit liegt's. Jeder Staat hält ſich ganz reinlich und zweifelsohne für ein Ganzes; verlangt daher, daß die anderen als dienende Glieder ſich ihm anſchließen. Selber eins zu fein, lehnt er hingegen voll zornmütiger Ho- heit ab.

Ein Bund zur Erneuerung des Reichs hat ſich zuſammengetan. Nach dem heiligen römiſchen deutſcher Nation und dem Bismarckſchen Ausgleich zielt er bewußt auf das „dritte Reich“: den Einheitsſtaat. Leute aller Parteien haben den Aufruf unter- zeichnet; von dem Oeutſchnationalen v. Ganl bis zu dem Sozialdemokraten Noske. Als Führer fand ſich die ernſte Perſönlichkeit des früheren Reichskanzlers Luther.

Auch das Reich ſelber ging vor. Es berief eine Konferenz der Landesregierungen. Reidsdeputation hieße fie vielleicht, wenn man an den gleichartigen Regensburger Vorgang vor fünf Vierteljahrhunderten gedacht hätte. Es trafen ſich achtzehn Miniſterpräſidenten mit je einem Innenminiſter und mehreren Beiräten; der Reichskanzler begrüßte daher die ſtattliche Schar von hundert Gutachtern in Bis- mards dentwürdigem Kongreßſaale.

Was aber ſprang dabei heraus? Der Reichsdeputationshauptſchluß von 1803 war ſicherlich ein eiſernes Wollen gegenũber der leeren Entſchließung von diesmal, der deshalb einhellig zugeſtimmt wurde, weil ſie ſorglich vermied, irgend etwas zu ſagen, was irgend wen ärgern konnte.

Hornberger Schießen! So ſtöhnen die Einheitsſtaatler; je weiter links deſto mehr. Da man nun gerade ſo klug wie zuvor iſt, war dieſe Ausſprache in der Tat ein Fehlſchlag. Sogar einer, den man vorausſehen konnte. Nicht übel meinte der Demokrat Koch- Weſer, die Landeshäupter über die Entbehrlichkeit der Einzel- ſtaaten zu befragen, das fei gerade fo, als wenn man die Schwadronchefs darüber abſtimmen laſſe, ob die Reiterei abgeſchafft werden könne.

„Nicht durch Reden und Konferenzbeſchlüſſe werden die großen Fragen der Zeit entſchieden.“ Der Wirklichkeitsblick des alten Bismarck behält doch immer wieder Recht. Sie liegen ſtets in den Händen der ungeſtümen Preſſerin Not; dieſer hart- köpfigen Mutter der Zwangsläufigkeit.

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Zürmers Tagebuch 481

Nur ein Vorteil fprang heraus. Auch der Fingerſchnelle erkannte, wie heiß das Eiſen iſt, und hütet ſich vor unbedachtem Zugriff. Die Länder pochen ſämtlich auf ihre Ganzheit; kein einziges, das ſich bereit fand zu der Rolle des dienenden Gliedes. Dies Selbftgefühl nimmt zuweilen ſpaßhafte Formen an. Braunſchweigiſche Winkel- huber befreunden ſich zwar für ein Einheitsland Niederſachſen, aber aus geſchicht lichen Gründen nur dergeſtalt, daß Hannover zu Braunſchweig geſchlagen werde, keineswegs Braunſchweig zu dem zehnmal größeren Hannover.

Dem Erneuerungsbund gegenüber hat ſich ſofort ein Trutz Uri aufgebaut. Der Reichsbund deutſcher Föderaliſten. Er ſchwört auf Konſtantin Frantz, wie jener auf den Freiherrn vom Stein, der nur ein Vaterland kannte, das Deutſchland heißt.

Auch die Reden, die im Kongreßſaale von den Miniſtern der Mittelſtaaten ge- halten wurden, ſpitzten ſich alleſamt bundesſtaatlich oder ſtaatenbündleriſch zu. Sie ſuchten den Spieß umzukehren, und während Preußen über die Weimarer Verfaſſung hinaus will, verlangten ſie dahinter zurück; ein Anſpruch, der den Geiſt der Zeit merfwürdig verkennt.

Manche Außerung glitt hart an der Grenze entlang, wo der Föderalismus auf- hört und ein Partikularismus anfängt, mit ſeparatiſtiſchen Möglichkeiten zu drohen. „Sie werden das Lachen ſchon verlernen“, rief der Bayer Leicht den Sozialdemo⸗ fraten zu, als dieſe ergötzlich fanden, was ein vaterländiſches Gemüt aufs ſchwerſte bekümmern muß.

Auch der württembergiſche Staatsminiſter Bazille hat Unerwogenes geſagt. Die Einheitsſtaatsbewegung erwecke eine Gefahr für den Fortbeſtand des Reiches. Denn die Mittelſtaaten würden ſich niemals dreinfügen, und fo fei fie ein Spiel mit dem Feuer, das den ganzen Erdteil entzünden würde.

Man ſoll niemals „niemals“ ſagen; am allerletzten aber drohen mit fremder Einmiſchung. Mir kam dabei die Erinnerung an einen ähnlichen Vorfall, der im Jahre 1860 ſpielte.

Damals war der Nationalverein, was heute der Bund für Reichserneuerung iſt. Der hannoverſche Innenminiſter v. Borries ſagte daher in der Ständekammer, deſſen Wühlen könnte die deutſchen Fürſten zu Auslandsbündniſſen zwingen und manche Mächte würden auf dieſe Weiſe ihre Hand gern in die deutſchen Dinge bekommen. Alſo dem Sinne nach wie Bazille, nur noch ſchärfer geprägt. In ganz Oeutſchland entſtand darüber leidenſchaftliche Erregung, und Börries, wenngleich von ſeinem blinden König mit dem Grafentitel beehrt, genießt bis heute darob in der Geſchichte eines üblen Rufes.

Wie mögen die Franzoſen aufgehorcht haben, als derart auf Rheinbundmöglich⸗ keiten angeſpielt wurde! Zumal von Bayern Widerhall kam. Es verriet da näm- lich die „München-Augsburger Abendzeitung“, Kronprinz Ruprecht könnte ſchon längſt König ſein, wenn er nicht in den Ruhrtagen der Parifer Lockung zum Abfall vom Reich ehrenhaft widerſtanden hätte. Weshalb ſtellt man nicht das ſchandbare Gemäãchel öffentlich bloß?

Nicht minder hat der Kölner Separatiſtenkongreß einige Scheinwerfer fpielen laſſen über die franzöſiſche Maulwurfsarbeit zum Zerfall Oeutſchlands. Zeugen beſchworen, daß das ſcheußliche Geſindel, das die Wehrmacht der n

Der Türmer XXX. 6

482 Zürmers Tagebud

bildete, von Frankreich bewaffnet und bezahlt worden ift. Man hat 800000 Franken in das Unternehmen hineingeſteckt, das unter den Knütteln der rheiniſchen Bauern ſo jammervoll zuſammenbrach.

Auch nachher hielten die Franzoſen ihre ſchützende Hand über den Verrat derer, die lieber dienendes Glied des Erbfeindes hatten ſein wollen als des Vaterlandes. Sie ſetzten im Ruhrabkommen durch, daß gegen die Separatiſten nach der Räumung deutſcherſeits nicht eingeſchritten werden dürfte.

Aber Gottes Mühlen mahlen dennoch. Die Gebrüder Limbourg hatten geglaubt, mit der Shne falle auch die Schuld. Sie klagten daher beleidigt gegen den „Kölner Stadtanzeiger“, der fie Helfershelfer Dortens genannt hatte. Jedoch ſchlug da dem herausfordernden Paare ein Wahrheitsbeweis ins Geſicht, daß ihm Hören und Sehen verging. Der eine Bruder wurde von der Zeugenbank herunter wegen Meineids verhaftet. Er wird noch lange zu löffeln haben an der ſchwarzen Suppe, die er einem anderen hatte einbrocken wollen.

Auch das mitleidigſte Herz verſtockt ſich in einem ſolchen Falle, wo der Fluch der böſen Tat fortzeugend Böſes gebiert. Nur in Paris wurde erwogen, ob man ſich nicht rettend einmiſchen folle auf Grund des Ruhrabkommens. Bei dem völligen Mangel eines rechtlichen Anhaltes beſchränkte ſich aber die Beſatzungsbehörde auf die rachſüchtige Bosheit einiger Nadelſtiche. Man verbot in Bitburg eine Pfad- findergruppe und ſtellte deren Führer vors Kriegsgericht.

Iſt es nicht dumm, auf dieſe Weiſe beinahe Woche für Woche Pfeffer in die deutſche Wunde zu reiben? Im Grunde nützt es doch nur uns, wenn durch immer neue Vorfälle die Rheinlandfrage dauernd im Munde der Welt bleibt.

Nichts natürlicher, als daß unſere Staatsmänner dies Problem nie einſchlafen laſſen. Aber ob Hindenburg, ob Marx oder Streſemann daran rührt, immer heult die Boulevard-Meute laut auf. Als letzterer die Sicherheitsangſt einem entwaff- neten Deutſchland gegenüber kurz, ſcharf und wahr eine Heuchelei nannte, da gab's geradezu einen Skandal.

Im Pariſer Senat ſetzte es einen Platzregen von Beſchimpfungen. Senator Eccard, leider ein Elſäſſer, breitete aus, was Förſter und Martens in der „Menſch⸗ heit“ „enthüllt“, was verlorene Söhne des deutſchen Volkes wie Schreck zuſammen⸗ gefälſcht, um den über ganz Deutſchland verbreiteten franzöſiſchen und polniſchen Spitzeln Verräterlöhne abzuſchwindeln. Und man klatſchte feinem Unſinn minuten langen Beifall. Briand aber, der Mann von Locarno, ſaß dabei und rührte ſich nicht.

Er ließ Eccards Hetzrede auch dann unberührt, als er einige Tage fpdter das Wort nahm. Dagegen ging er gegen Streſemann vor, der ohne geben zu wollen, nach den Olivenzweigen von Locarno greife. Das vielberufene Chamäleon iſt doch ein rechtes Pfuſchgemächte der Mutter Natur gegenüber dieſem Tauſendkünſtler. Im Herbſt erſchütterte er den ganzen Völkerbund durch ſeinen Mahnruf: „Denken Sie an die blutigen Schreckniſſe des Krieges und ſchreien Sie Frieden“, jetzt im Winter luchſt er dem militariſtiſch-chauviniſtiſchen Senat ein faſt einſtimmiges Vertrauensvotum ab.

Und wo hat er's ernſt gemeint? Ich fürchte nirgends. Dieſer Meiſter der Rede hat die Politik nie in dem Sinne Cromwells aufgefaßt, der nur mit Leuten arbeiten

Zürmers Tagebuch 483

zu können erklärte, die fid ein Gewiſſen machten aus ihrem Tun. Er ſieht fie viel- mehr als einen Prozeß an, den man gewinnen muß durch Einſeifen der Ge- ſchworenen. Dazu ſind alle Mittel recht, auch der Widerſpruch mit ſich ſelbſt. Krieg vermeiden, iſt bei der heutigen Stimmung wichtig; wichtiger, daß Frankreich Europa beherrſcht, am wichtigſten jedoch, daß Briand Miniſter bleibt.

Die franzöſiſche Rechte möchte das Rheinland überhaupt nicht mehr loslaſſen. Wenn's ginge, dann gäbe es keinen volltönenderen Verfechter dieſes Anſpruches als den unbedenklichen Ariſtide. Allein die Gelegenheit iſt verpaßt, daher geht der Anſchlag nunmehr auf ein möglichſt einträgliches Tauſchgeſchäft. „Was gebt ihr für frühere Räumung? Znternationale Kontrolle, Oſtlocarno, Verzicht auf den An- ſchluß Oſterreichs; allerlei Milliarden obendrein? Billiger tun wir's nicht.“

Seine Rede deutete an, daß das begonnene Jahr wohl Entſcheidungen bringen werde. Das heißt, daß er uns mit Vorſchlägen kommen wird. Schon deshalb, weil jeder verſtrichene Monat den Preis verringert, den er fordern kann. In ſieben Jahren wird das Pfand zerronnen ſein wie ein Schneemann, den man mit in die Stube brachte. Wir dürfen daher damit rechnen, daß die franzöſiſche Räumungs- luſt zunächſt einmal wächſt. Wir werden hinhalten, weil der Preis zu hoch iſt und die Zeit ihn drückt. Aber dann kann es kommen, daß der Wind auf's neue um- ſpringt und Vorwände herbeigeſucht werden, an den feſtgelegten Terminen nicht räumen zu müſſen. Deutſchland hat dann wieder einmal irgendeine Bedingung nicht erfüllt.

Wir ſind ja die weitherzigſten Menſchen von der Welt, ſo etwa drückte ſich Briand aus; läge es einzig an uns, dann wäre die Sache raſch bereinigt. Aber die anderen, die anderen! „Ja, allerdings; wir ſind auch da“, tönte es ſofort aus Rom. Das war die Anmeldung eines Abfindungsanſpruchs auch von dieſer Seite.

Im engliſchen Unterhaus iſt die Regierung über das Rheinland befragt worden. Sie antwortete, fie würde ſich ſehr über baldige Räumung freuen, könne aber allein nichts tun. Daß die Fortdauer der Beſetzung dem Geiſt von Locarno wider- ſpreche, das vermöge er nicht einzuſehen, fügte Chamberlain hinzu. Man ſagt ihm aber nach, er ſei ſpät von Begriff. Sie halten überhaupt nicht viel von ihm in England. Sein kaltes Starren durchs Einglas hat neulich Maedonald derartig verbittert, daß er ſich „dies höhniſche Grinſen“ mitten in der Rede temperament- voll verbat. |

Wer zweifelt daran, daß Frankreich nie etwas anderes für uns im Rüdhalt hat als gebranntes Herzeleid? Sobald wir uns ſtreiten, dann hetzt es, und wenn wir ſtraucheln, dann ſtößt es noch. Je lockerer das Reichsgefüge wird, deſto lauter kräht der galliſche Hahn ſein Siegeskikeriki. Wenn wir gar ganz auseinanderfielen in ein Nord- und ein Südreih, mit ewigem Geplänkel am Main, dann würde der STjährige Clemenceau händereibend in die Grube fahren.

Grundſätze werden nur in Genf gepredigt; in Paris hingegen arbeitet man auf Macht. Das haben ſie ſich ſeit alters ſo angewöhnt. Wie man vor dreihundert Jahren drinnen die ketzeriſchen Hugenotten verfolgte, gleichzeitig aber ſich draußen mit den ketzeriſchen Schweden verbündete, fo unterftüßt man jetzt alle Autonomie⸗ gelüfte im Rheinland, unterdrückt fie jedoch mit Feuer und Schwert im Elſaß.

484 curmers Tagebuch

Unglücklicher Volksſtamm, der nie zur Ruhe kommt! Die Maſſe ſeiner Leute wird gewahr, daß die deutſche Zeit nicht ſo ſchlecht geweſen, wie der Nörgler ſie machte, allein der Franzoſe keineswegs ſo gut, wie er ſich damals anzubiedern pflegte. Wer es mit ſeiner Heimat wohlmeint, der muß heute noch Ludwig den Vierzehnten verfluchen, deſſen Raubſucht fie in dieſe Zwitterſtellung hineinriß.

Den Französlingen aber wandelte ſich ihr Lohn raſch zur Strafe. Die „befreiten Brüder“ werden genau fo geknechtet wie die Oberſchleſier und Südtiroler. Wie dieſen, ſo will man auch ihnen ihr Deutſchtum gewaltſam abſtreifen. Das erregt heißen Haß. Der Stadtrat von Hagenau weigerte das Hiſſen der franzöſiſchen Farben und wurde abgeſetzt. Der Deputierte Broglie riß das rote Bändchen der Ehrenlegion aus dem Knopfloch. Der Abgeordnete Ricklin ließ dem Oberſtaats- anwalt ſagen, am Weihnachtsabend 1927 ſei ihm und ſeinen Landsleuten der letzte Tropfen Franzoſenliebe eingefroren in ſeinem Blute.

Dieſe Chriſtveſper ſchien nämlich der Regierung der ſinnigſte Zeitpunkt zu einem großen Schlag. Schon vorher waren Straßburger Blätter verboten worden; aus der Begründung erſah der empfindliche Elſäſſer, daß man ſeiner Mutterſprache auf feinem angeſtammten Erb und Eigen als einer Fremdſprache das Daſeinsrecht abſprach.

Nun holte die Polizei auch noch allerlei Männer des Heimatbundes unterm Tannenbaum weg ins Gefängnis. Eine Verſchwörung ſollte entdeckt fein; ein Rütli zum Abfall von Frankreich und Auftun einer Elſaß-Lothringiſchen Republik. Sie fei natürlich von deutſchem Gelde geſpeiſt, was zwar Unſinn ift, aber beſondere Wut er- regte. Und es wäre doch gar nichts anderes, als was Frankreich im Rheinland tat.

Allerlei Haarſträubendes wollte man bloßgelegt haben. Eine Miniſterliſte des geplanten Sonderſtaates, die Stammrolle des Stoßtruppes, der den franzöſiſchen Millionenheeren den Wasgau aus den Klauen zu reißen beſtimmt war. Auch ein Bäckermeiſter wurde verhaftet, der auserſehene Kommisbrotlieferant dieſer furdht- baren Armada. Nicht minder mehrere katholiſche Pfarrer, während ein evangeliſcher nach wilder Autohetze über den Rhein entkam.

Ja, im Lande des Dreyfuß- Prozeſſes weiß man, wie es gemacht wird! In parlamentariſchen Republiken werden Verſchwörungen juſt immer vor den Wahlen entdeckt. Dann ſteht die betroffene Oppoſitionspartei geſchändet und ohne Führer da. Nach der Wahl jedoch verflüchtigt ſich alles in blauen Dunſt.

Die Elſäſſer haben glücklicherweiſe einen harten Wlemannenfdddel. Sie find nicht von der Art Klaus Zorn v. Bulachs, der zuerſt alles Franzöſiſche markt- weiberiſch beſchimpfte, dann aber vor Gericht Abbitte tat, weil er von gewiſſen⸗ loſen Leuten mißbraucht worden fei, und fortan ein loyaler Franzoſe zu fein ver- ſprach. Sie werden den Kampf führen, der, wie Ricklin an ein Pariſer Blatt ſchreibt, ein Kampf auf Leben und Tod iſt um geheiligte Freiheit und Recht. Und ſiegen werden ſie auch. Denn ihr Geſchick zeigt, daß ſie in einen Zuſammenhang verſtrickt wurden, in den fie gar nicht hineinpaſſen. Überdies iſt für den Einheitsſtaat nach franzöſiſchem Schnitt, der alles in denſelben Topf rührt, die Zeit vorbei. Yen wollen auch die deutſchen Einheitsſtaatler gar nicht; die Leute vom Bund für Reichserneurung.

Zürmers Tagebuch 485

Sogar England gibt feinen Gliedftaaten auf Schritt und Tritt nach. Zum Teil ſind ſie ſchon ſelbſtändige Mitglieder des Völkerbundes, haben ihre eigenen Flaggen und Geſandtſchaften; ſchließen eigene Verträge, die oft genug dem Mutterlande böchſt unbequem find. Es bedarf nur irgendeines Genieſtreiches in London, und der Abfall der Oominions erfolgt, wie einſtmals jener der Neuenglandſtaaten. Der Traum vom Empire, den Chamberlain der Vater noch fo lebhaft träumte, zerflattert unter Chamberlain dem Sohn.

Staate ;/ und Staatenrecht ſchichten ſich allenthalben um. Veraltetes, Verkuͤnſteltes zerbricht und ſucht ſich einzuformen in die natürlichen Entwicklungsgänge unſeres vorwärtsſtrebenden Zeitalters. Selbſt, was bisher wirklich ein gefeftigtes, ſicher auf ſich ſelber ruhendes Ganzes war, verſinkt allmählich in die Rolle des dienenden Gliedes. Das ijt ja der Sinn des paneuropäiſchen Gedankens, daß er aus Fix- ſternen Planeten machen will.

Ganz ebenſo ſuchen in der neuen Welt die Vereinigten Staaten ein Panamerika herzurichten. Sie hatten ihre ſubtropiſchen Lateinbrüder nach Havana zufammen- getrommelt, wo ſich ſogar Coolidge mit einem großen Stabe einſtellte. Er hielt ihnen eine lehrreiche Rede über das Schillerſche Diſtichon; ſie reichte bis dicht an die Nutzanwendung heran. „Das Ganze, wer iſt's anders als wir, die Viertel und Achtel aber, das ſeid ihr; alſo kommt und werdet die dienenden Glieder der all- mächtigen Union.“ Dieſen Kreolen und Meſtizen fehlte jedoch das Verſtändnis; fie kamen mit allerlei Proteſten gegen nordamerikaniſche Übergriffe, und wenn die uneigenniigige Freundſchaft des Bankees betont wurde, dann höhnten fie: „Nikaragua“. So kraftlos wie die meiſten von dieſen Staaten find, für ein voll- wichtiges Ganzes hält ſich ein jeder dennoch und läßt davon nicht ab.

Zu Zuſammenſchlüſſen wird es gleichwohl kommen müſſen. Das liegt fo in der Luft. Der Geiſt des Großbetriebs hat die Welt erfaßt; eine Zeit, die ſich zwiſchen Waſhington und Berlin unterhält, als ob man in demſelben Zimmer ſäße, denkt in Erdteilen und gibt ſich mit Kleinigkeiten nicht mehr ab. Darin liegt die Bedeutung des Völkerbundsgedankens.

Warum führt aber dieſer immer noch nicht zu einer Weltföderation? Ganz ein- fach darum, weil ſich hinter ihm der eigenſüchtigſte Imperialismus verſteckt. Die Großen haben den Bund gemacht, um durch ihn die Kleinen zu beherrſchen. In Verſailles iſt er erſonnen, alſo verſeucht durch den Geiſt von Verſailles. Ein Segen für die Menſchheit aber würde er erſt, wenn er wiedergeboren würde aus dem Geiſt der zehn Gebote und der Bergpredigt. | Dr. Frig Hartmann, Hannover

(Abgeſchloſſen am 18. Februar)

Ber Warte

Überfremdung des deutſchen Schrifttums n den „Oeutſchen Monatsheften“ ſchreibt Johannes Höffner zu dieſer im „Zürmer“ bereits häufig erörterten Frage: „Wenn heute, ſagen wir zum Zweck der Sammlung für ver- diente und notleidende Geiſtesarbeiter, dem Volk eine Steuer von anderthalb Millionen auferlegt werden würde, fo würde ſicherlich unter Hinweis auf die allgemeine Lage ein heftiger Widerſpruch zu erwarten fein, An- nähernd. die gleiche Summe bringt unfer Volk in Not freiwillig für das Werk einer auslän- diſchen Schriftſtellerin auf, von dem der Ver- lag mit Genugtuung verkuͤndet, daß er bereits 140000 Bände zum Durchſchnitts preis von etwa 10 Reichsmark davon abgeſetzt habe! Sch meine das Buch: „Kriſtin Lavranstochter“ der Norwegerin Sigrid Undſet.

Daß das große Publikum, das ja gewöhnlich der allgemeinen Suggeſtion leicht unterliegt, ſich bedingungslos in dem großen Netz mit- ſchleppen läßt, kann niemand wundernehmen; aber nicht ohne Unwillen ſieht man, daß auch jene Kreiſe der deutſchen Kritik, deren felb- ſtändiges Urteil erprobt iſt, und die den Did- tern des eigenen Volks gern in übergroßer Zurückhaltung gegenüberſtehen, in dieſem Fall ſich in Ausdrücke verlieren, denen das fremde Werk wirklich nichts Entſprechendes entgegenzuſetzen hat. Vollends muß man ſich ſchämen, wenn hier und da behauptet wird, wir hätten dieſem „mächtigen Werk“ nichts an die Seite zu ftellen! Das Wichtigſte eines hiſtoriſchen Romans, wie ihn unſere Zeit ver- langen muß, die Beſeelung der Menſchen aus dem Geiſt ihrer Zeit heraus, ihre Kon- flitte, ſeeliſchen Rampfe und Laͤuterungen eben aus den Gebundenheiten ihres Jahrhunderts, iſt nicht gegeben. Das ganze Werk iſt wie ge- laden mit Sexualitat, und bie Anwendung ſelbſt unanſtändiger Ausdrucke berührt zumal aus dem Munde einer Frau höchſt peinlich.

Liegen bierbei die Motive klar am Tage, ſo darf man im Fall der Überfremdung der

Bühne wohl nur die Geldgier anklagen. Es muß auf dieſem Gebiet weit gekommen ſein, wenn ſogar ein Mann, den man gewiß nicht der Abneigung gegen das Ausland zeihen kann, der Dramatiker Ludwig Fulda, in bittere Klagen über die Zuſtände auf den deutſchen Theatern ausbricht, die er als eine Rultur- ſchande bezeichnet. Er führt als alter Theater mann aus, daß Ausländer ihn wiederholt ge- fragt haben, ob man denn in der Reichs- hauptſtadt nicht auch einmal ein deutſches Stück ſehen könne; er beweiſt an der Hand der Statiſtik, daß nur ein ganz geringer Bruchteil deutſcher Stücke Ausſicht habe, jemals aufgeführt zu werden, daß die Preſſe jedem ausländiſchen Schmarren mit unendlich viel mehr Wohlwollen begegne als den Werten der erſten deutſchen Dichter. Stehen die Theaterdirektoren hierbei auf dem ſicher nicht unangreifbaren Standpunkt, daß ſie bei der traurigen Lage der deutſchen Bühnen nur das aufführen können, was im Ausland Kaſſe ge- macht hätte, wobei fie offenbar eine völlige Blindheit gegen die ausſchlaggebenden Unter; ſchiede in Empfindung und Auffaſſung der Nationen bezeugen, ſo weiß man nicht, welche Entſchuldigung man ſuchen ſoll, wenn ein großes und gut fundiertes Unternehmen es für feine Aufgabe hält, nicht etwa das deutſche Schrifttum in ſchwerer Zeit zu unterſtüͤtzen, ſondern den wirklich glücklichen Gedanken einer billigen und vortrefflich ausgeſtatteten Bücherreihe vornehmlich in den Dienft fremder Autoren ſtellt. Es paßt zu dem Stil, daß Thomas Mann, der Sohn einer kreoliſchen Mutter, und bei jeder Gelegenheit fein Weltbürgertum laut bekennend, die Ein- leitung zu einem Unternehmen ſchreibt, das, ſtatt dem deutſchen Volk die eigenen ver- ſchütteten Lebens quellen zu eröffnen, die art; und weſensfremde Erzählungskunſt oder Nicht kunſt, zumal amerikaniſcher Herkunft, auf den Markt ſchleudert. Romane der Welt nennt ſich dieſes Unternehmen des Verlages Th. nauer Nachfl. in Berlin. In rieſigen Ankündigungen wird dem Buchhandel fein großes Geſchäft“

Auf der Warte

in Ausſicht geſtellt: „Jeden Freitag halten Sie Ihren größten Trumpf in der Hand, denn jeden Freitag erſcheint ein neuer Roman große Namen, neue Titel.

Wenn der deutſche Buchhandel ſich nicht mit voller Entſchiedenheit auf ſeine Bedeutung als Faktor des nationalen Lebens beſinnt, werden in wenigen Wochen deutſche Bücher nur noch vereinzelt verkauft werden, denn die anderthalb bis zwei Millionen Bände, die dies Unternehmen in kurzer Zeit zu einem konkurrenzloſen Preiſe auf den Markt werfen wird, werden die Kaufkraft des verarmten Landes für Literatur erſchöpfen dann konnen wir, die wir in Glauben und Hoffnung auf das Wiedererwachen deutſchen Seiſtes warten, das Haupt verhüllen.“

Es iſt Sache der Bücherfreunde, hier die Entſcheidung zu treffen und durch die Tat den Ruf zu verkünden: Kauft deutſche Sider!

Nochmals Geiſtesknechtung in Rußland De „Schutzverband deutſcher Schrift- ſteller“ veröffentlicht in feinem Organ „Oer Schriftſteller“ den Notſchrei ruſſiſcher Geiftesarbeiter im Wortlaut, den wir im Ok- toberheft des „Türmers“ auszugsweiſe be- Yarintgaben. Die unerhörte Geiſtesknechtung durch die ruſſiſchen Gewaltherrſcher iſt ein nicht wieder gut zu machendes Verbrechen und zu- gleich ein warnendes Flammenzeichen für die geſamte Menſchheit. Den Moskowitern in un- ſeren Landen und zugleich den unverbeffer- lichen Voͤlkerbundsphantaſten fei dies Stuck

neuzeitlichen Deſpotentums ein Weckruf!

„An euch, Schriftſteller der ganzen Welt, find unſere Worte gerichtet“, heißt es im Wort; laut des Aufrufes. „Wie iſt es zu erklären, daß ihr Hellſeher, die ihr die Tiefe der Seele des Menſchen, das Gemüt der Epochen und Völker ergründet an uns Ruſſen vorbeigeht, die wir an den Ketten des furchtbaren Kerkers rütteln, der dem freien Wort errichtet iſt? Ihr, die ihr an den Werken auch unſerer Großen gelernt habt weshalb ſchweigt ihr, wenn doch in unſerm großen Reich unſere große Literatur in ihren Anfängen und in ihrer

Entwicklung erwürgt werden foll?

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Wißt ihr nicht, daß unſer freies Wort in einem Kerker ſchmachtet dem Kerker der kommuniſtiſchen Zenſur des zweiten Dier- tels des 20. Jahrhunderts, der Zenſur des ſozialiſtiſchen“ Staates? Wir fürchten es ift wohl fo. Weshalb haben aber die Schrift fteller, die Rußland beſucht haben die Duhamel, die Durtenne und andere —, wes- halb haben fie nichts über dieſe Zenſur ver- lauten laffen? Hatten fie etwa kein ZIntereſſe für die Situation der Preſſe in Rußland? Oder ſchauten ſie und ſahen nichts, ſahen und begriffen nichts? Es ſchmerzt uns der Ge- danke, daß das Klingen der offiziellen Gläfer mit dem offiziellen Champagner, mit dem man in Rußland die ausländiſchen Schrift- ſteller bewirtete, das Klirren der Retten über- tönt hat, in die unſere Literatur und das ge- ſamte ruſſiſche Volk geſchlagen iſt.

Jedes für die Druckerei beſtimmte Manu- ſkript muß zunächſt in zwei Ausfertigungen der Zenſur unterbreitet werden. Nach der end- gültigen Drucklegung geht das betreffende Werk wieder zur Zenſur, um nochmals durch- geſehen und geprüft zu werden. Es ſind Fälle vorgekommen, daß einzelne Gage, ein einziges Wort, ja ein einziger Buchſtabe, die der Zen- ſurbeamte, der Verfaſſer, der Verleger oder der Norre ktor überſehen haben, bei der zweiten Ourchſicht die unbarmherzige Beſchlagnahme der geſamten Auflage des Werkes zur Folge hatten.

Ohne vorherige Genehmigung des Zenfur- beamten, ohne ein beſonderes Geſuch mit Stempelmarten, ohne langes Warten darauf, daß der mit Arbeit ftets Aberhdufte Zenſor endlich den Fetzen Papier mit Vor- und Zu- namen bemerkt, dürfen ſogar Viſitenkarten nicht gedruckt werden. Die Herren Duhamel und Ourtenne haben leicht bemerken konnen, daß ſogar die Aufſchriften in den Theatern „Rauchen verboten‘, Notausgang u. dgl. mit dem ſakramentalen Vermerk der Zenſur ver- ſehen ſind, von der die Genehmigung zum Aushängen diefer Aufſchriften abhängt, Es kommt nur das in den Oruck, was der kommu- niſtiſchen Zenſur unbedingt behagt. Es wird nur das gedruckt, was der pflichtgemäßen kommuniſtiſchen Weltanſchauung nicht wider-

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ſpricht. Alles andere, nod fo Bedeutende und Talentvolle, darf nicht nur nicht gedruckt wer- den, ſondern muß ſorgſam verſteckt werden; denn eine Entdeckung bei einer Hausſuchung kann Verhaftung, Verbannung, ſogar Hin- richtung nach ſich ziehen. Einer der beſten Staatswiſſenſchaftler Rußlands, Profeſſor La- ſarewſkij, iſt einzig und allein wegen feines Entwurfes einer ruſſiſchen Verfaſſung, der bei einer Hausſuchung in feiner Wohnung ge- funden wurde, erſchoſſen worden.

Wißt ihr das alles? Fühlt ihr das Entſetzliche der Lage, in der ſich unſere Sprache, unſer Wort, unſere Literatur befindet?

Wenn ihr es wißt, wenn ihr es fühlt warum ſchweigt ihr? Euren flammenden Pro- teſt gegen die Hinrichtung von Sacco, Dan- zetti und anderen haben wir gehört. Die Verfolgungen, die Hinrichtungen der Beſten des ruſſiſchen Volkes, die nicht einmal ihre Gedanten zu verbreiten ſuchen, da eine folche Propaganda überhaupt nicht möglich iſt gehen ſpurlos an euch vorbei, zum min- deſten haben wir in unſerer Folterkammer eure empörten Stimmen, die an das ſittliche Empfinden der Menſchheit appellieren, nicht vernommen. Weshalb?

Den Klang eurer Stimmen brauchen nicht nut wir und das ruſſiſche Reich. Denket auch an euch ſelbſt: Mit teufliſcher Tatkraft, mit aller Macht, die nur wir von hier aus beurteilen können, werden auch eure Völker auf den Weg des Schreckens und des Blutes. gedrängt, den in einer ſchickſalsſchweren Stunde vor zehn Jahren unſer Volk betreten hat, das durch den Krieg und die Politik der vorrevolutio- nären Regierungen gefhwddt geweſen war. Wir haben den Weg nach dem Golgatha der Bolter erkennen müffen wir warnen euch!

Wir ſelbſt gehen dem Verderben entgegen. Noch iſt kein Sonnenſtrahl der Freiheit zu feben, viele unter uns find nicht mehr in der Lage, den künftigen Geſchlechtern all das Ent- ſetzen des Geſchehenen zu erzählen. An euch Freien iſt es, dieſes Geſchehene zu erkennen, zu erforſchen, zu beſchreiben, damit den lebenden und den kommenden Geſchlechtern die Augen geöffnet werden. Wenn ihr das vollbringt, fo wird uns das Sterben leichter fallen.“

Auf der Warte

Karl Bleibtreu f

achdem er ſoeben noch eine perſönlich gefärbte Erinnerung an feinen einſtigen Kampfgenoſſen M. G. Conrad für den, Parmer“ geſchrieben hatte, mußte der noch nicht Siebzig- jährige ſelber die Feder aus der Hand legen. Diefes Ereignis erfüllt mich mit auferordent- lider Wehmut. Bleibtreu war keine verbind- liche oder liebenswürdige Natur, vielmehr bis zuletzt ein Kämpfer, man könnte faft fagen da er fich ſehr im Kleinkampf verbrauchte ein Raufer. Und doch, wenn man durch diefes Oornendickicht des Temperamentes hindurch drang, entdeckte man dahinter einen groß an gelegten, um nicht zu ſagen genialen Denker und Dichter. Seine tiefſte Verehrung galt dem Genie, wo er es auch antraf oder zu wittern glaubte. Das hat mich immer, trotz gelegent- licher Mißklänge, zu dieſem ungewöhnlichen Manne hingezogen. Er war wie man aus meinen „Zugendjahren“ weiß der erfte Schriftſteller, an den ich mich einſt in Berlin gewandt habe; und in den Tiefen meines Herzens habe ich ihm immer Treue gehalten. Ich erinnere mich eines perſönlichen Be⸗ ſuches bei ihm und feiner liebenswürdigen Frau in Zürich. Der Anlaß war bezeichnend genug. Er hatte in einer Literaturgeſchichte behauptet, ich hätte feine Eroika „plagiiert“, d. h. abgeſchrieben, und mein Buch „Helden“ daraus verfertigt. Auf meinen ruhigen und verwunderten Brief hin geſtand er, daß er mein Buch mit den 21 Skizzen zwar nicht ge- leſen, aber eine Überſetzung meines „Gordon“ in einem engliſchen Leſebuch entdeckt und daraus feine Schluͤſſe gezogen habe. Ich ſandte ihm darauf die „Helden“, nebſt einigen anderen Werken (die er alle nicht kannte), nannte ihm meine Quellen und meldete meinen perſönlichen Beſuch an. Ich kannte Bleibtreu genügend und nahm ihm nichts übel. Wir verplauderten einen prächtigen Tag, aßen mit feiner ſympathiſchen Gattin zu Mit- tag, und ich fand den grimmen Löwen recht mild. An der Wand feines ziemlich nüchternen Studierzimmers hingen einige Gabel (er war leidenſchaftlicher Militärſchriftſteller, war aber nie Soldat gewefen) und ein Bild der Theo- ſophin Blavatſky, die er ſehr verehrte.

Auf der Warte

Bleibtreu, der Sohn des berühmten Schlachtenmalers Georg Bleibtreu, hat ſich eigentlich weder als Dichter noch als Denker voll erfüllt. Wer ihn kennenlernen will, der leſe ſeine weitbekannten Schlachtenbilder (obenan „Dies irae“, Sedan). Seine Romane „Größenwahn“ und die Novellen „Schlechte Geſellſchaft“ uſw. find nicht recht ausgereift. Aber überall, auch in feinen bedeutend an- gelegten Dramen, findet man geniale Züge. Er war als Literarhiſtoriker nicht nur ein Verehrer des Genies (Napoleon, Byron), ſondern hatte auch ſelber in ſich einen ähnlichen Zug und paßt mit dem beiten Teil feines We- ſens gar nicht unter die Zeitgenoſſen, die er bei allem Schimpfen in den Raffeehäufern möglichft mied, fo daß er ſchließlich feine letzten Lebensjahre in Locarno verbrachte.

Bleibtreu iſt einem Herzſchlag erlegen. Der erſtaunlich fleißige und beleſene Mann hat ſich wohl überarbeitet. L.

Thomas Hardy

or kurzem iſt Thomas Hardy hoch-

betagt zur Ruhe gegangen. In Oeutſch⸗ land iſt man ſich der überragenden Stellung, die er in der engliſchen Literatur einnahm, wohl kaum bewußt geworden. Mit Meredith und Spinburne bildete er ein Oreigeſtirn, das England mit / Stolz erfüllte. Das Beſte, was er in ſeinen Romanen zu geben hatte, entſprang ſeiner innigen Verbindung mit dem Heimatboden, der Grafſchaft OQorfet, dem „Weiler“ feiner angelſächſiſchen Vorfahren. Wer ſeine Werke kennt und weiß, wie innig bieſer Dichter mit der Heimatſcholle verwachſen war, verſteht, daß ihm Belange des Blutes von tieſſter Bedeutung ſein mußten. Und ſo iſt er auch einer der wenigen jenſeits des Kanals geweſen, die ſich nicht über das Bruder⸗ mörderiſche des Großen Krieges hinwegſetzen konnten. Er empfand die grauenhafte Un- vernunft, die zwei blutsverwandte Völker zwang, ſich gegenſeitig zu zerfleiſchen. Er wandert umher „auf lehmigen Weſſexwegen“, hort „uralte Worte über das gemeinſame Erbe engliſcher und deutſcher Stämme“ und ver- flucht den, wer er auch ſei, der die Fackel warf

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„zwiſchen Blutsverwandte, die gleicher Zunge ſind.“ Von jenem inſularen Hochmut, wie er in der kritiſchen Zeit von manchem Mann klangvollen Namens krampfhaft zur Schau getragen wurde, findet man bei Hardy keine Spur. Er hatte, wie er in einem Gedicht aus dem Jahre 1913 bekennt, nie einſehen können, daß die Liebe zu ſeinem Land und die Pflicht gegen ſeine Mitmenſchen, da aufhören ſollten, wo das Meer anfängt“.

Hier follen noch, als Proben feiner Ge- ſinnung, Zeilen ſtehen, die er Deutſchland ge- widmet hat. Sie lauten in der Überſetzung:

Wir lieben wie ihr die Burg auf dem Fels und der Tanne raunendes Klagen,

Wir lieben wie ihr den deutſchen Rhein, von Reben umwoben und Sagen.

Ihr ſchafftet unſeren Kindern Brot, wie wir es den eueren gaben,

Und eurer Herzen göttlihen Schlag auch wir verfpüret haben.

L. M. Schultheis Rateruffifdes

äterußland durchlebt jetzt das biogene;

tiſche Geſetz der menſchlichen Gefell- ſchaft. Nachdem es mit der alten blutig auf- geräumt, bildet ſich eine neue. Sie tut es in halb fo viel Jahrzehnten, als die frühere Jahr; tauſende gebraucht; wird jedoch, das ſieht man jetzt ſchon, genau zu derſelben Schichtung kommen. Man hat die Natur mit der Geißel ausgetrieben, aber fie kehrt dennoch zuruck.

Das Proletariat wurde gewiſſermaßen in den Adelſtand erhoben. Es erhielt den Rang einer bevorrechteten Klaſſe; höheren Lohn, reichlichere Koſt und geräumigere Wohnung. Seinen Kindern wurden die beſten Schulen vorbehalten, um eine neue, eine proletariſche Intelligenz zu zuͤchten.

Allein man machte die Erfahrung, die ſo mancher Raffke gemacht, als er ſich vornahm, fein Junge miiffe auf den Doktor ſtudieren; er habe es ja jetzt dazu. Man konnte zwar den Arbeiterhochſchulen Hörer zuweiſen, die Pri- fungsergebniſſe jedoch und die Profefforen- gutachten zeigten, daß man auf Sand gefat.

Der Kreml ijt ſchnell fertig mit feinen Ent; ſchluͤſſen. Dann müßte eben, fo ſagte er ſich

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fofort, die Intelligenzerzeugung auf breitere Grundlagen geſtellt werden. Zunädit wurden daher alle Schriftſteller und Künſtler in den Arbeiterrang erhoben; ihren Nachwüͤchſen alſo das Studium freigegeben.

Auch auf analytiſchen Wegen ſucht man der Natur den Kniff abzulauern, wie das Genie entſteht. Ein eigenes Inſtitut iſt errichtet, das ſich an Lenins Gehirn belernen und aus der Forſchung die wiſſenſchaftlichen Folgerungen ziehen ſoll. Der koſtbare Schädelinhalt iſt zu dieſem Behufe durch 31000 Schnitte in Präparate zerteilt worden, mit denen nach jeder Richtung experimentiert wird. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn man dem Geheimnis nicht auf die Spur käme und dann ein Geſchlecht aufzöge, neben dem Ariſtoteles nur den Rang eines beſchränkten Kopfes behauptet.

Aber folange man mit den ſynthetiſchen Genies noch nicht im Gange iſt, muß man die natürlichen zu Rate halten. Was ſollte denn werden, wenn die heutigen Kremlleute ausgeſtorben find?

Man hütet demgemäß ihr koſtbares Leben wie den Augapfel der Räterepublik. Eine regelrechte Arztekommiſſion überwacht ſie und diktiert ihnen Erholungsurlaube zu. Wenn dieſe befiehlt, dann müſſen ſie ausſpannen, mögen ſie Luſt haben oder nicht. Eine eigene Klinik nimmt fie bei jeder Unpäßlichkeit auf und eine eigne Apotheke bereitet die verſchriebene Arzenei. Im Notfall werden Chirurgen aus dem Auslande herbeigedrahtet; es mag koſten was es will. Der letzte Zarewitſch, das un- gluͤckliche Bluterkind, iſt nicht ängſtlicher be- treut worden.

Rührt fie nicht, dieſe Fürſorge? Wenn fie nur nicht auch ihre Kehrſeite hätte! Die Arztekommiſſion kann auch nein ſagen. Der Selbſtmord Joffes geht darauf zurüd, daß man ſeinem Morphinismus alle ärztlichen Hilfsmittel ebenſo wie die Kur im Auslande als unnötig verweigerte. Es wird erzählt, der Kriegskommiſſar Frunſe ſei daran geſtorben, daß man ihn zwang, ein bereits verheiltes Magengeſchwür nachträglich herausſchneiden zu laſſen. Und die Stellen, wohin man Trotzki, Sinowjew, Radek und ihre Anhänger ver-

Auf der Warte

bannte, im äußerſten Sibirien bei der chine⸗ ſiſchen Grenze, wohin die Moskauer Poſt vier- zehn Tage laufen muß, find auch gerade keine klimatiſchen Luftkurorte. Aber weshalb trieben ſie Oppoſition? Auf dieſe Art von Intelligenz wird gerne verzichtet. Das Bolſchewikengenie ſoll ſtaliniſch ſein oder überhaupt nicht.

Wer jedoch hübſch nach der Pfeife tanzt, der hat's gut. Ihm geht nichts ab. Er muß ja bei der Stimmung erhalten werden, die ein Volkskommiſſar braucht. Deshalb umgibt ihn feine Zimmerflucht mit märchenhaftem Be hagen. Sein Auto hat ſchwellende Polſter und fährt geräufchlos; feine Frau wetteifert mit denen ſeiner Kollegen um die Ehre, die feſcheſte Dame der Rãterepublik zu fein. Die Staatskuriere nach Paris nehmen ihre Be ſtellungen für die erſten Modehäuſer mit. „Mein Mann,“ fo ſagte Frau Rykowa, „ift zwar ein ideeller Kommuniſt, allein er liebt nur Frauen mit ſeidenen Strümpfen, ſeidenen Höschen und ſeidenen Kombinations.“

Lehrt nicht dies alles das Aufkommen einer neuen Oberſchicht? Aus dem Volke entſtehen Führer; „Helden“, ſo nannte man ſie früher, weil damals noch die Tapferkeit mit entſcheidend war. Ihre Stellung führt zur Heldenverehrung; dieſe zum Stammbaum und der Stammbaum zur Adelskaſte. Glaubt einer, daß es in Raterugland anders läuft? Der ganze Umſturz war nichts als ein: „Macht Platz, nun komme ich ran!“ F. H.

Das deutſche Drama

as deutſche Drama“ nennt ſich ein

Werk, das der Wiener Selehrte Arnold in Verbindung mit einigen Fach gelehrten und Julius Bab herausgegeben hat. (Verlag Beck, München.) Arnold war durch fein „Modernes Drama“ als ein Ge- lehrter von gewaltigem Wiſſen und trefflicher Kritik bekannt geworden, und auch die Namen der anderen haben guten Klang. Neben ihnen ſteht Herr Julius Bab, der die Gegenwart be- arbeitete! Wer ſeine Entwicklung verfolgte und auch weiß wie er von dem trefflichen Lub- linſki ſchon vor Jahren völlig abgelehnt wurde, muß einigermaßen erſtaunt fein, daß der hoch

Auf ber Warte

gebildete Arnold für ein fo tiefgründiges Werk einen recht fleißigen Regiſtrator wählen konnte, der aber hier nur ein Rabulift iſt. Warum nahm denn Arnold nicht den jtaunens- wert gebildeten Verfaſſer des Buches „An- archie im Drama“ für ein Unternehmen, das doch umfaſſendſten Geiſt erforderte? Ich meine: Geiſt im höchſten Sinne des Wortes, nicht Schönworttun, nicht jene „Bildung“, daß man mit Hebbel ausrufen muß: „Kattun! Kattun! Und wieder Kattun. Es flimmert wohl, aber es wärmt nicht!“

Luther ſchreibt einmal: „Nun iſt es gar ein unluſtig Ding, ein Buch leſen, das keine Ord- nung hält.“ Ordnung und klare Überficht findet man zwar in den Teilen der wiffen- ſchaftlichen Mitarbeiter, die fleißig und kennt⸗ nisreich den ſchweren Stoff bewältigten. Doch Herrn Babs Kapitel über die dramatiſche Dichtung der Gegenwart fällt ungeheuer ab.

Der kluge, gelehrte und nicht nur als Angliſt bedeutende Schücking warnte einmal vor einer unwiſſenſchaftlichen Erforſchung der Gegenwart. Er hub mit Recht hervor, daß man ſich vor einer Erforſchung moderner Dichtung nicht zu ſcheuen brauche: Es komme eben auf die wiſſenſchaftliche Methode an. So erſchien z. B. während des Krieges in Greifswald eine Differtation über Lienhards und Hauptmanns „Odyſſeus“, die man nicht im Proſeminar vorlegen möchte, weil der Ver; faffer eine Parallelenjägerei anſtellte, die eine völlige Unmündigkeit im wiſſenſchaftlichen Erforſchen bekundet. Der Verfaſſer meinte, Lienhard wäre übechaupt erſt von Haupt- mann zur Behandlung des Stoffes angeregt worden; daß Lienhard aber ſchon im zweiten Bande der „Wege nach Weimar“ dem Stoff eine beſondere Skizze gewidmet hatte, war ihm unbekannt.

In dieſer Richtung liegt nun Babs großer Mangel: es fehlt ihm jede Methode. Mag er noch ſo „gelehrt“ und wortreich reden: der Wiſſenſchaftler entdeckt den Flitter ſofort. Oie ganze Anordnung iſt ſehr konfus, und man könnte mit Kleiſt ſpotten: „Rittergeſchichten, lauter Rittergeſchichten; rechts die Ritter geſchichten mit Geſpenſtern, links ohne Ge- ſpenſter: ganz nach Belieben.“ Natürlich ſteht

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ohne jede Begründung G. Hauptmann im Mittelpunkt. Warum erklart der wortreiche Herr Bab nicht kritiſch die Bedeutung dieſes oder jenes Werkes von Hauptmann? Die Darjtellung des Expreſſionismus iſt ſehr mängelreich, und Bab wird gut tun, ſich das oben erwähnte Werk „Anarchie im Drama“ (Diebold) anzueignen, als Philologe und als Geiſteswiſſenſchaftler. Die böſen Philologen, die auf theaterwiſſenſchaftlichem Gebiet fo un

geheuer große Entdeckungen gemacht haben, wie etwa Köſter oder der treffliche Edward Schröder, welcher in der großen Wiener Grill- parzer· Ausgabe fo viele Fehler nachwies, könnten Herrn Bab in vielem nicht verſtehen; denn die vorhergehenden Teile des Werkes ſind doch ſo ganz anderer Art. Wenn in dem Kapitel vor Bab erwähnt wird, daß Hebbels „Moloch“ zum erſtenmal im Harzer Berg- theater aufgeführt ſei, das doch ein ſehr kühner Verſuch Dr. Wachlers war, warum wird dieſe erſte Naturbühne bei Bab einfach totge- ſchwiegen? Warum werden Wachlers Ber- dienſte überhaupt nicht gewürdigt? Dagegen nimmt Bab Herrn Brecht vor, der doch noch ein kläglicher Stammler auf dramatiſchem Gebiet ijt. Bekannt ijt, wie dieſer „Orama⸗ tiker“ für ein „Werk“ den Franzoſen Rim- baud faſt wortlich ausplünderte. Bab hat für ſolchen literariſchen Diebſtahl ein mildes Verzeihen. (Gab ja auch Brecht damals an, daß er den Ausgeplünderten nur habe ehren wollen, eine literariſche Rinaldo-Art, für die man nod kein Verſtändnis hat.) .. Aber wenn er auf Wildenbruch kommt, der doch wirklich eine ganze Generation begeiſterte: dann wird ein heißblütiger, vaterländifcher Dichter abgetan als wüͤſteſter „Epigone“ (ein Schalmeienwort der literariſchen Dunkel- männer unſerer Zeit, hohl und nichtsſagend wie fie). In ein paar Zeilen will man Wilden bruch faſſen: Welche wiſſenſchaftliche Ehrlich keit einer „Kapazität“ auf dramatiſchem Gebiete! Natürlich iſt „Heinrich und Heinrichs Geſchlecht ein Epigonenwerk, dieſes brau- ſende deutſche Drama, das wir uns einſt als Zunge mit heißem Herzen anſahen, erſchüͤttert und durchwühlt. Man denke nur an jene Szene, wo ſich der ſterbende gebannte Heinrich

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der Vierte am Rhein einen Kelch mit heiligen deutſchen Rhein-Stromwaffer und eine Hand voll rheiniſcher Erde bringen läßt! Solche Wirkungen konnte des trefflichen Paul Ernſt „CTanoſſa“ nie bringen. Iſt überhaupt wiffen- ſchaftlich auf Wildenbruchs dramatiſche Ent; wicklung eingegangen?! „Die Tochter des Erasmus“, die doch bes großen Dilthey warme Bewunderung fand (jenes Dilthey, auf den ſich die Schule der Geiſteswiſſenſchaftler ja ftagt und alle, die fo gern von „Erlebnis und Dichtung“ ſprechen !): dieſes Werk übergeht der Berliner Geiſteswiſſenſchaftler Julius Bab völlig. Oder erwähnt er nur Wilden bruchs „Lieder des Euripides“, das doch einen anderen Dramentypus zeigt? Nun, auch das it „Methode“ (im Sinne Hamlets)!

Ein bitter ergdglides Kapitel ijt das über „Fritz“ Lienhard und die Heimatkunſt. Hier heißt es: „Niedriger hängen“ und mit Martin Luther ausrufen: „Lieber ein ſicher Gewiffen, das der Sachen gewiß iſt und nicht alſo fitzelt und fegelt.“ (Ich nehme an, daß Herrn Bab die Luther Sprache verftändlich iſt.) Was ſich Bab hier leiſtet, geht gegen jede literariſche Anſtändigkeit. Der Oramatiker Friedrich Lien- hard erſcheint in Geſellſchaft von Bartels, Sohnrey und dem Simplisiffimus-Redat- teur Thoma! Jede literariſche Erſcheinung in Ehren, doch dies iſt zu „geiſtreich“. Wahrlich, hier ſpricht „ein weiſer und gerechter Richter, ein zweiter Salomo“. Der Verfaſſer von dem Unſittenſtück „Moral“ zwei Seiten vor Lien hard: das iſt eine Leichtigkeit und Seichtigkeit der „Kritik“, die eben nur durch „Trommeln in der Nacht“ geweckt wurde.

Nur merke ſich Herr Julius Bab folgendes: Der Dramatiker Lienhard iſt nicht mit Phraſen abzutun, noch weniger mit häßlichen Reden. Lienhards „Heinrich von Ofterdingen“ wird überhaupt nicht erwähnt, wie überhaupt kein Werk Lienhards! Wie intereſſant wäre geweſen, zu unterſuchen, daß ſchon in Lien hards „Helden“ Keime von dramatiſchen Werken enthalten find! Wieviel intereſſanter wäre noch eine knappe Beſchreibung von Lienhards dramatiſcher Sonderſtellung geweſen! Alles das fehlt, und Bab, Julius Bab aus Berlin, iſt dieſer Sache nicht im

Auf ber Werte

geringſten gewachſen. Da wird der Literar- hiſtoriker Bartels in gleicher Reihe genannt. Wenn Bab wiffenfdhaftlid unterſucht hätte, würde er wiſſen, daß Lienhard, der doch eine ganz anders gerichtete dichteriſche Perfönlicdh- keit iſt als Adolf Bartels, zu deſſen 60. Ge- burtstag einen deutlichen Trennungsſtrich zwiſchen ſich und Bartels gezogen hat. Nun der liebe Sohnrey! Bei aller Verehrung für ihn: er ſtellt doch aber einen ganz anderen Dichtertypus dar und kann Lienhards Viel- ſeitigkeit gar nicht gegenbergeſtellt werden. Welch ein flandaldfes Kapitel! Da rufe ich mit dem verſtorbenen Albert Köſter aus: „Man ſtampfe dieſe Darſtellung des Verfaſſers ein, denn fie ſchändet die deutſche Literaturwiffen- ſchaft!“ (fm „Anzeiger für deutſches Alter“ tum“, von Roethe und Schröder.)

Aber eines noch! Als ich 1915 mein „Lien hard- Buch“ herausgab, wechſelte ich mit Bab einen Brief. Bab verſicherte, daß Lienhards Schriften immer einen tiefen, nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht hätten, daß er, wenn er ſich auch in einzelnen Punkten von Lienhard entfernt habe, doch immer die größte Hochachtung vor ihm und feinen Did- tungen beſäße. Ich druckte es nicht ab. Herr Julius Bab revanchiert ſich nun auf ſeine Weiſe. In dem Werke über das Drama gibt er ſeine Karte ab und zeigt in jeder Zeile, daß er für eine wiſſenſchaftliche und kritiſche Arbeit in dieſem ſonſt ſehr anziehenden Arnoldſchen Buche ſich unmoglich gemacht hat. Dr. Wilhelm Edward Sierke

Deutſche Bücher im Ausland

er Abſatz deutſcher Bücher im Ausland

iſt zurückgegangen, obwohl bie Zahl der Auslandsdeutſchen durch Losreißung deutſcher Gebiete von Preußen auf annähernd 50 Mil- lionen Kopfe ſtieg. Ich kenne eine noch über- wiegend deutſche Kleinftabt der habsbur- giſchen Monarchie, wo vor dem Kriege drei deutſche Buchhändler gediehen, wo inzwiſchen zwei ihre Geſchäfte aufgaben und der dritte ſich vielleicht auch noch zurückziehen wird. Unter dem Oruck der deutſchfeindlichen Re- gierungen in Tſchechien, Polen, Sroß Serbien,

Auf der Warte

Italien (in Südtirol), Frankreich (in Elſaß⸗ Lothringen) und auch in Rußland erfolgte ein ähnlicher Rückgang des Buchhandels und des Bücerabfaßes und wird ſich bei den deutſchen Verlegern fühlbar gemacht haben. In ganz Süboiteuropa, öͤſtlich einer Linie Danzig; Poſen Prag Bozen verſtanden und verſtehen noch heute die gebildeten Kreiſe deutſch, hatten und haben Bedarf an deutſchen Büchern, kaufen aber nur das Notwendigſte, weil es an Buchhandlungen fehlt d. i. an Gelegenheiten, neue Bücher zu ſehen und zu prüfen und be- queme Bücherangebote zu erhalten. Das gilt beſonders von Arzten, Theologen, Lehrern, Technikern uſw., von Berufen, die ohne deutſche wiſſenſchaftliche Bücher nicht aus- kommen können. In buchhaͤndleriſchen Kreiſen ſollte man erwägen, was zweckmäßig zu tun iſt, um den deutſchen Auslandsbuchhandel zu ftügen, zu beleben, neu zu begründen im Intereſſe der deutſchen Verleger, aber auch des Auslandsdeutſchtums, deſſen Zuſammenhang mit dem Mutterland gefährdet wird. Wahrend bisher von deutſcher Seite nichts geſchah, iſt man von Paris aus bemüht, frangdfifhen Büchern in Sübofteuropa Ein- gang zu verſchaffen, obwohl dort die franzö⸗ ſiſche Sprache nur in ſehr engen Kreiſen der Hauptitddte verſtanden wird. In vielen Staͤdten der Balkanhalbinſel wurden eigene franzöſiſche Buchhandlungen eingerichtet und in ihren Schaufenſtern verlocken die bekannten leichten und verhältnismäßig billigen Parifer Bücher mit pikanten Umſchlagsbildern zum Kauf. Wenn es nicht gelingt, den deutſchen Sortimentsbuchhandel in Suͤdoſteuropa zu erhalten und zu entwickeln, ſo verliert der deutſche Verlagsbuchhandel einen nicht zu unterſchätzenden Abnehmerkreis und das Aus- landsdeutſchtum eine wichtige Stütze. Allgemein betrachtet hat der ausländiiche Buchhandel in Oeutſchland eifrigere und er- folgreichere Vertreter und größeren Abſatz als der beutſche Buchhandel im Ausland. Pariſer Bücher ohne wiſſenſchaftlichen Wert werden wie Pariſer Schwanke in Maſſen nach Deutfhland eingeführt und gekauft. Die Einfuhr engliſcher Bücher nach Deutſch⸗ land war vor dem Kriege annähernd dreifach

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nach England. Was Oeutſchland an Buch-

werken ausführt, ſind in der Hauptſache ſchwere wiſſenſchaftliche Werke, unentbehrlich für die Intereſſenten im Ausland, alſo mehr Derdienft der Verfaſſer als der Verleger. Dagegen beſteht die Einfuhr fremder Bücher nach Oeutſchland überwiegend aus leichter ſogenannter [höner Literatur ohne ernfteren Wert. Deutſchlands Verlagsbuchhandel und Schriftſtellertum wie deutſche Wiſſenſchaft werden buch die ſtarke Einfuhr fremder Blücher nicht gefördert. Paul Dehn

Franz Horny ls Ergänzung zu ſeinem Buch deutſcher Romantik, das an dieſer Stelle eingehend gewürdigt wurde, bietet E. L. Schellenberg nunmehr eine Sonberarbeit, betitelt: Der Maler Franz Horny (Berlin-Lichterfelde, Bermühler). Darin gibt er ſich nicht wie dort als Führer und Dolmetſch, ſondern läßt, ab- geſehen von einer warmherzigen Einführung, in der das Einzelleben in die großen künft- leriſchen Bewegungen ſeiner Zeit eingeordnet wird, nur den jungen Künſtler ſelbſt ſich äußern: in Briefen, die zumeiſt an die Mutter in Weimar gerichtet find und bei aller forg- lofen und ungefeilten Ausdrucksweiſe die tiefite Teilnahme erwecken. Wiſſen fie doch bie ficht- baren Dinge und Geſchehniſſe fo treffficher zu umſchreiben, die eigenen ſeeliſchen Regungen und bie inneren Beziehungen der Freunde untereinander fo wiſſend und ruhig; über ſchauend zu kennzeichnen, daß man über die Reife des Jünglings immer von neuem er ſtaunt und das Wort vom Liebling der Sötter, ber frühe ſtirbt, von ferneher erklingen hört. Wenn Horny auch nach dem, was er hinter laſſen hat, nicht zu den bedeutendſten Geiſtern jener romantiſchen Kuͤnſtlergruppe in Rom zu zahlen iſt, fo erſcheint er doch in vielem uͤberragend: im unermüdlichen Ringen um den ehrlichſten und ſachlichſten Ausdruck bei aller gehobenen, phantaſievollen Darftellungs- weife, im Hochſchwung des Wollens bei be- ſcheidenſter, oft ganz vereinſamter Lebens führung, in der grundgütigen Art, in der er

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ſelbſt unendlichen Bekannten und irreleitenden Ratgebern gegenũber das rechte überlegene Gleichmaß bewahrt und verſucht, alles zum beſten zu wenden. Viele ſeiner Freunde haben ihn gezeichnet, mit allerlei Abweichungen, aber in einem uͤbereinſtimmend: im reinen, großen Auge und im gütigen, gläubigen Mund, zwei Merkmalen, die fo recht bezeichnend ſind für das freundliche, hoffnungsvolle und doch ſo früh vollendete Leben, das beim Leſen des Buches an uns vorüberzieht, wie zu einer ſchöͤnen ſtillen Künſtlernovelle zuſammen⸗ gefaßt. Wir ſehen den kaum den Knaben ſchuhen entwachſenen Jüngling, aus kopieren der Enge fehnfüchtig hinausſtrebend, über die Alpen ziehen, in Rom und beſonders Olevano von einer nicht ganz ſelbſtloſen Sönnerſchaft unterhalten und bevormundet, von nichts anderem erfüllt, als vom lichteſten Künftler- traum, durch Krankheit wiederholt entkräftet und im Fortſchritt aufgehalten, aber immer mit neuer Kraft und Glaͤubigkeit den rechten Weg ſuchend aus der Gebundenheit in wahre kuͤnſtleriſche Freiheit und zuletzt, aus all den

Hoffnungen herausgeriſſen, im Alter von

ſechsundzwanzig Jahren vom Tode gebrochen.

Doch nicht nur als Kennzeichnung einer werdenden küuͤnſtleriſchen Perjönlichkeit mit all ihren Widerſtänden, Irrtümern, Leiden und Freuden iſt das Buch von Bedeutung. Es liefert auch einen anſehnlichen Beitrag zum Leben der Deutſchrömer am Anfang des vorigen Jahrhunderts und kann in dieſer Be- ziehung als Ergaͤnzung zu den entſprechenden Kapiteln in den bekannten Lebenserinne- rungen Ludwig Richters genannt werden. Man ſieht fie vor ſich, die Koch, Fohr, Olivier, Schnorr v. Carolsfeld, tut bedeutſame Ein blicke in die Art ihrer Ausbildung und wirt- ſchaftlichen Lage, beobachtet ſie beim Schaffen in den Latiner Bergen und im römiſchen Atelier, begleitet ſie bei ihren Fahrten und Feſten und wird trotz aller Bedenken gegen ihre Anbetung artfremder Natur und Volk heit am Ende doch verföhnt, wenn man ſieht, wie heimwehkrank ſich viele von ihnen in ihrer freiwilligen Verbannung fühlen. Und damit waͤchſt das Buch aus dem Einzelſchickſal hinaus und wird zu einem Stüd Kultur- und Kunſt-

Auf der Warte

geſchichte, die im beſcheidenen Teil ein bedeut- ſames Ganzes bietet.

Auf die Ausſtattung haben Herausgeber und Verleger viel Sorgfalt verwendet. Gefhmad- voll iſt der Einband, geſchmackvoll beſonders auch die Wiedergabe der mit feinem Der ftändnis ausgewählten Zeichnungen des Künft- lers. So iſt im Einklang zwiſchen Inhalt und äußerer Gewandung ein Buch entſtanden, das man immer wieder gern zur Hand nimmt und jedem kunſtgeſchichtlich Angeregten als Feft- gabe wünfcht. " P. Q.

Kunſt im Spiegel der Wirtſchaft

unſt und Wirtſchaft ſtehen in mancherlei Beziehungen zueinander. Wirtſchaftliche Bedingtheiten fördern oder hemmen die Ent- wicklung der Kunſt. In einer gefunden Blute zeit des Handels und der Induſtrie beobachten wir häufig einen Aufſchwung der Kunſt, deſſen Urſache die Kaufkraft kunſtverſtändiger Rauf- leute und Fabrikanten iſt. In einer wirtichaft- lichen Scheinblüteperiode (3. B. Inflations- zeit), die Individuen zur Erlangung finan- zieller Machtſtellung führt, deren geiſtige Be- ſchaffenheit nicht zu einem tieferen Kunſtſinn ausreicht, werden in vorher ungeahntem Maße die Werke der Künſtler vom Markte auf- genommen, fo daß felbft das Mittelmaß die größten Triumphe feiert. In ſolchen Zeiten gewinnen ungeſunde Einfluͤſſe, die auf Er- höhung der Produktion der ſchaffenden Meiſter abzielen, leicht die Oberhand und verführen dazu, die Qualität des Schaffens zu vernad- läffigen. Eine Schar unfertiger Mitläufer wird vom kritikloſen Publikum gefeiert und geehrt. So beobachten wir, wie die Wirtſchaft einmal fördernd und einmal hemmend wirkt. Umgekehrt aber gibt es Wirkungen, die von der Kunſt zur Wirtſchaft führen, Beziehungen, die von der Kunſt ausgehend, das Wictfchafte- leben beeinfluſſen. Wenn wir daher von der Kunſt im Spiegel der Wirtſchaft ſprechen, ſo iſt es uns darum zu tun, den geheimen Faͤden nachzuſpuͤren, die von der Kunſt zur Wirtſchaft geleiten, oder das Bild zu gewinnen, welches dieſer kalte gefühlloſe Spiegel von einer empfindlichen, gefühlsbedingten Kulturerſchei⸗

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nung, wie fie die Kunſt darſtellt, reflektiert. Da ſehen wir Zahlen, pofitive und negative, attive und paffive Zahlenreihen und Bilanz- poſitionen, ſehen Werden und Vergehen von Exiſtenzen, Aufblühen und Verwelken von Brennpunkten kuͤnſtleriſchen, bürgerlichen und induſtriellen Lebens.

Die engliſche Kunſtzeitſchrift „The Studio“ veröffentlichte kürzlich ein Preisausſchreiben über „Kunſt und Handel: Wie können ihre Be- ziehungen befeſtigt werden?“ Der Zweck des Ausſchreibens war, „dem Künſtler ein Be⸗ tätigungsfeld für fein Wirken zu eröffnen, den Fabrikanten in der Überwindung der gegen- wärtigen Notlage zu unterſtüͤtzen und die Schönheit der Gegenitände des täglichen Lebens bei praktiſcher Formgebung zu für- dern“. Hier handelt es ſich um einen Verſuch, Richtlinien zu gewinnen, nach denen der Künſtler in engere Beziehungen zur Wirtſchaft gebracht werden kann. Der edle Wettſtreit in der Künſtlerſchaft ſpornt an zur Entfaltung höchiter künſtleriſcher Initiativen, weckt [höpfe- riſche Ideen und prüft die Meiſter unter- einander.

Wie der Organismus des normalen vitali- ſchen Korpers infektiöſe Stoffe durch fiebrige und eitrige Prozeſſe ausſcheidet, fo führt der geheimnisvolle Organismus wirtſchaftlicher Körper, die ſich als Völker, Staaten, Kom- munen, als große und kleine, über- und unter; geordnete, oͤffentliche und private Unter- nehmen baritellen, genau dieſelben Reini- gungsprozeſſe durch. Kriege und Revolutionen, Konkurſe und Liquidationen, Streiks und Aus- ſperrungen find dabei die äußeren Merkmale. Innere Anzeichen dieſer Vorgänge find kul- tureller Art, wir erleben fie in literariſchen, wiſſenſchaftlichen und künſtleriſchen Erfchei- nungen. Greifen wir letztere heraus und be- trachten die bildende Kunſt des letzten Jahr- zehnts in Oeutſchland, fo ſehen wir zunächſt ein allmablides und nach der Revolution unerhörtes Anſchwellen ber küͤnſtleriſchen Pro- buktion, welches getragen war von den laut in aller Welt verkündeten neuen Ideen und „Ismen“. Wahrhaft ſchöpferiſche Kräfte brach ten tatſächlich neue Werte in bie Kunſt, eine Belebung und Beſeelung von Ton und Farbe.

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Aber bie wenigen Meiſter waren umringt von Scharen Unfertiger, die durch laute Reben die Mängel ihrer Arbeiten verdeckten und be- geiſterte Mägene fanden in den durch die In; flation zu Reichtümern gelangten Kreiſen un- gebildeter Menſchen, die ſich ein frommes Mäntelchen der Kultur umhängen wollten. Die Feſtigung der Währung gebot ber Ent- wicklung raſchen Einhalt. Scheinblüten ſchwan; den dahin und kuͤnſtlich gezüchtetes Leben fant in ein frühes Grab. .

Die deutſche Künſtlerſchaft ringt gegen- wärtig in verzweifeltem Kampfe um ihre Exiſtenz, geringe Talente erliegen und kehren der Kunft den Rüden. Andere ſinnen und ſuchen den Urſachen der Kriſis nachzuſpuͤren, ſie erkennen ſie in ſich ſelbſt. Die Künſtler kehren zur Darſtellung gegenſtändlicher Dinge zuruck. In der Stille find Kräfte am Werk, die reifen und werden. Wahre Kunſt wirkt er- hebend auf Geiſt und Gemüt, fie befruchtet das Innenleben des Menſchen, geſtaltet Cha- raktere und Perfönlichkeiten. Solche Kunft wird im Wechſelſpiel der Beziehungen zwiſchen ihr und der Wirtſchaft fordernd und aufbauend wirken, fie wird Anteil haben an der Ge- ſundung der Wirtſchaft.

Karl Auguſt Walther

Seelenmord

eber deutſche Bürger iſt heute ein Vierzig; millionſtel- deutſcher-Kaiſer. Da er buch ſeinen Stimmzettel das Reich regieren hilft, müßte er eigentlich etwas von Politik ver- ſtehen. Leider iſt dies nur bei einem Bruchteil der männlichen, einem Bruchteil dieſes Bruchteils bei den weiblichen Urwählern der Fall. Das nützt der Agitator aus. Die po- litiſche Reife des Volkes ſteht im umgekehrten Verhältnis zur Menge der Volksverſamm- lungen, dem Geſchrei der Werbearbeit, der Größe der Wahlplakate. Denn dieſer ganze Be- trieb iſt ja gar nicht auf Sachkenner berechnet, ſondern auf das Treibholz, das Stimmvieh. Auch der Werber ſelber, was verſteht er von ben Problemen des Tages, über bie er ſpricht? Sein Urteil iſt mechaniſiert; auf die einfachſten Mertmaße zurückgeführt. Das Parteibuch ent; ſcheidet, nicht die Einſicht. Der Metallarbeiter

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ift rot organiſiert, alſo find feine Anſpruͤche billig; ber Bauer wählt rechts, fomit gibt’s keine Notlage ber Landwirtſchaft.

An die Stelle der Sachgruͤnde tritt die Ber- lajterung des Gegners. Weil er das Gegenteil will, deshalb iſt er ſittlich minderwertig und ein ſchamloſer Futterkrippenhengſt.

Die niedrigſte Leidenſchaft wird aufge- wühlt. Keine politiſche Zeitung heutzutage, die nicht zugleich auch politiſches Witzblatt wäre. Der Karikaturenzeichner, ber ſatiriſche Knittelverſeſchmied find einflußreichere Mit- arbeiter als der Leitartitler. Die fogialbemo- kratiſche Parteileitung unterhält für der- gleichen eine eigene Fabrik und verſorgt die ganze Provinzpreſſe mit Erzeugniſſen, deren Vater nie Apoll, ſondern Therſites iſt.

Der „Klabderadatſch“ konnte einſt dem Fürften Bismarck die Satiren, die er auf ihn gemacht, in Prachtband als Feſtgabe über- reichen und niemand ergößte ſich mehr daran als der durch bie heitere Hechel gezogene Alt; reichskanzler ſelber. Heutzutage waͤre auch dem lieben Gott nicht mehr von allen Geiſtern, die verneinen, der Schalk am wenigſten zur Laſt. Denn deſſen Witz iſt beelzebübiſch geworden; er ſchleudert Schlamm und ſpritzt dem anderen Salpeterſaͤure aufs Gewand.

Da hielt man Konnersreuth für ein aus- gezeichnetes Objekt zu einem biſſigen Aus- fall. Man brachte eine Karikatur, in der The- reſe Neumann mit blutweinenden Augen auf dem Bette ſitzt. Der Pfarrer aber ſagt zu einigen ſtaunenden Arbeitern: „Seht, ihr Leut’, ſeit zwei Jahren nimmt bie Refel kein Eſſen mehr zu ſich. Werdets auch ſo fromm, dann gewöhnt ihr euch auch das Freſſen ab und könnt's mit eurem Lohn aus- kommen.“

Der „Vorwärts“ berichtete von dem Na- tionalſozialiſtentag in Nürnberg. Natürlich be- handelte er ihn als den kindiſchen Rummel zuchtloſer Gerngroße, während jeder Reichs- banneraufmarſch ebenſo ſelbſtverſtändlich als eine herzerhebende, durch ſtraffe Mannes

Auf ber Warte

zucht wuchtige Kundgebung hingeſtellt wird. Aber darüber hinaus wurde auch noch die Gemeinheit angehängt, fibers Jahr werde die Nürnberger Statiſtik die Geburt einiger tauſend kleiner Wotane, Alariche und Hug dietriche zu vermelden haben. Das Vaterland brauche Soldaten, und Hitler ſorge dafür. Das tat derſelbe „Vorwärts“, der bald darauf ſchrieb, Sexualität fei der Kern des Jugend problems und man müffe dem Rechnung tragen ohne bigotte Anſchauungen über Geſchlechtsleben. Ja, ſo iſt's richtig! Was man den eignen Leuten großherzig freigibt, bei der Steglitzer Schülertragödie, dieſem ſchauderhaften Zeiterlebnis, mit liebevollem Verſtehen ausdeutet und entſchuldigt, das bängt man dem Gegner als Buͤberei an.

Im Januar war „Grüne Woche“ in Berlin. Das gab demſelben Blatte Anlaß, in vier Bildern ſozialdemokratiſchen Anfdhauungs- unterricht zu erteilen über die Not der Land wirtſchaft. Erſtes Bild: Zwei Landwirte erklären vor dem Steuerbeamten, daß es unmöglich ſei, Steuern zu zahlen. Zweites Bild: Beiden Landwirten wird auf dem Kurfuͤrſtendamm die ſehr dicke Brieftaſche von zwei „Damen“, mit denen fie Arm in Arm luſtwandeln, geſtohlen. Drittes Bild: Beide entdecken ihren Verluſt. Viertes Bild: Einer der beiden ſteht auf dem Podium und brüllt in die Verſammlung: „Ungeheuer ſind die Verluſte der Landwirtſchaft! Wir fordern ſtaatliche Subventionen!“

Auf dieſe Weiſe wird heute Politik gemacht. Nicht von einem Winkelblättchen, ſondern vom „Zentralorgan“ der ſozialdemokratiſchen Par- teil, alfo der größten Oeutſchlands.

Was unterſcheidet dieſe Preffe in Ton und Takt von der bolſchewiſtiſchen? So ſchrieb einſt Marat, den die Geſchichte nur mit Ekel nennt. Das iſt Notzucht an der Reichsſeele, zugleich ihre Verſeuchung bis in die letzte Fiber. Laßt dieſen Geiſt Herr werden über unſer Volk, dann ſchallt in einem Menfden- alter das mene tekel upharsin. F. H.

erausgeber: Prof. D. Dr. Friedrich Lienhard Verantwortlicher Hauptſchriftleiter: Karl Auguſt Walther. Alle Zuſendungen und Manufkriptfendungen

find nicht perfEnlid, ſondern an die Schriftleitung ded Zürmerd, Eiſenach,

Burgftr, 24. zu richten.

Für unverlangte Einſendung en beſteht keine Haftpflicht. Für Rückſendung iſt Poftgebühr beizulegen. Druck und Verlag: Greiner 5 Pfeiffer in Stuttgart

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