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Presented to the LIBRARY of the UNIVERSITY OF TORONTO

by

Peter Kaye

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er Sprung über den Schatte

Im gleichen Verlag erſchien:

Das Buch der 1000 Wunder von A. Fürſt und A. Moszkowski

Zwanzigſte Auflage

Der Sprung über den Schatten

Betrachtungen auf Grenzgebieten von

Alexander Moszkowski

Albert Langen, München

LIBRARY

Copyright 1917 by Albert Langen, Munich

Druck von Heſſe & Becker in Leipzig Einbände von E. A. Enders, Leipzig

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Inhalt

Zum Geleit

Die ewige Wiederkunft. 8 Das Geheimnis der großen Zahl Das Laboratorium des Lukrez Die entlarvte Natur .

Das Glück in mathematiſcher Beleuchtung

Der Projektilzug i Zwiſchen Bergſon und dias Zufunftsfing . \ Klavier und Maſchine

Ein verlorenes Paradies

Wo ſitzt die Kultur

Wie groß iſt die Welt?

Die Annäherung

Der Alpdruck

Die Hemmung und die Förderung 8

Gedanke, Blitz und Chronometer Der unſterbliche Cajus.

Das Relativitätsproblem

Die Heimat der Größen

Vom hohen Berge

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Zum Geleit

„Wenn Gott in feiner Rechten alle Wahrheit, und in ſei⸗ ner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obſchon mit dem Zuſatze, ſich immer und ewig zu irren, verſchloſſen hielte, und ſpräche zu mir: Wähle! ich fiele ihm mit Demut in ſeine Linke und ſagte: Vater, gib! Die reine Wahrheit iſt ja doch nur für dich allein!“

In dieſem Wort unſeres Leſſing liegt der Vorſpruch für jedes Beginnen des Verſtandes, der nach fernen, fliegen— den Zielen hinſtrebt; den die Unendlichkeit eines Weges nicht davon abſchreckt, ihn zu beſchreiten. Seine Lockungen ſind das nie zu erreichende, nie zu vollendende, das Jenſeitige, das von keinem Diesſeitigen an magnetiſcher Kraft über— troffen wird.

Für dieſes Streben beſitzen wir ein einfaches, ſeit Urzeit bekanntes Symbol: Den Sprung über den eigenen Schatten.

Ob der Denker des Altertums am fliegenden Pfeil hin- ter das Geheimnis der Bewegung zu kommen ſucht, ob er das All in das Nichts der Atome auflöſt, ob ein Gali⸗ lei das Buch der Natur in Kreiſen und Dreiecken entſiegeln will, ja wo immer in der Erſcheinungen Flucht ruhende Pole geſucht werden, die Gedankenbewegung iſt und

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bleibt der Schattenſprung; ausſichtslos, wenn man auf ein in feſter Lehre vortragbares Endergebnis rechnet, notwendig und verheißungsvoll im Sinne der Anſtrengung des Gedankens, der es immer wieder mit Luſt unternimmt, über die Unmöglichkeit hinwegzugelangen.

Man könnte auch andere Bilder und Gleichniſſe heran— ziehen: Das Emporziehenwollen der Leiter, auf deren Sproſſe man ſteht, das Verlangen des Gehirnes, ſich ſelbſt unter die Lupe zu nehmen. Tröſtliche Unmöglichkeiten; tröſt⸗ lich, weil auch aus ihnen ferne blitzende Lichter entgegen— ſchimmern: hat es doch in unſeren Tagen ein Forſcher, Carl Ludwig Schleich, ausgeſprochen, daß eine Hälfte des Ge⸗ hirns die andere in jedem Moment zu beobachten imſtande ſei! Bisweilen will es wirklich ſcheinen, als ob in derartigen Verſuchen, das Unvollendbare zu vollenden, Anſätze einer Möglichkeit liegen könnten.

Tatſächlich werden durch ſie Dinge erſchloſſen, die zum Rauſch hoher Entdeckerfreude berechtigen. Bis wir wahr⸗ nehmen, daß auch hier nur Endlichkeiten gegen Unermeß— liches ins Treffen geführt werden. Nichts anderes hat ſich eingeſtellt, als ein neues fliegendes Ziel. Auch die beob— achtende Gehirnhälfte macht den Sprung über den Schat— ten, wie ſonſt das Gehirnganze. Es bleibt beim „Als Ob“, bei Dingen, die auf ewig zur Fiktion, zur Hypotheſe, zur gedanklichen Unmöglichkeit verurteilt ſind, und die den— noch zu Herrlichkeiten geführt haben, die den Stolz der Wiſſenſchaften ausmachen; dafür zeugen, um aus entlegenen Gebieten nur einige wenige zu nennen: die neueſte Atom— lehre, die Infiniteſimalrechnung, die Relativitätstheorie.

Das „Ignorabimus“, das einſt Dubois-Reymond in die Welt hinausſchrie, bleibt der verhaltene Unterton in den

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Bekenntniſſen aller Forſcher und Denker, die da wiſſen, daß ſie vorwärtskommen, ohne ſich dem großen Unbekannten zu nähern. In einer ungeheuren Springprozeſſion bewegen ſie ſich, die von Beobachtung zu Beobachtung, von Denk— akt zu Denkakt den Sprung über den Schatten wiederholt, über den Schatten, der Wiſſen von Nichtwiſſen trennt, über den eigenen Schatten, der dazwiſchen liegt. Letzten Endes ſteckt alles in der Zwangsläufigkeit, deren lückenloſe Macht uns anhält, den Schatten trotz alledem mit liſtigem Anſatz für überſpringbar zu halten, das Als Ob für Augenblicke gleichzuſetzen dem: So iſt es! Zwar, über den Schatten kommen wir dabei nicht hinweg und dem Horizont nicht näher; aber wir gewahren dabei eine Vielfältigkeit der Ho— rizonte, die ſich demjenigen verſchließt, der gar nicht ſprin— gen will.

Wir gelangen aus Ausſichtsſtellen, an beſtimmte Punkte des Denkweges, die uns ungeachtet der fatalen Schatten— gefolgſchaft als bemerkenswert erſcheinen. Wir fangen an, abzumeſſen und entdecken uns auf ſeltſamen Gebieten. Und auf dieſen Gebieten ſtarren uns, immer im gleichen Hori— zontabſtand, Probleme entgegen.

Wiederum ſetzt eine Zwangsläufigkeit ein, die uns ver— bietet, dieſe Probleme einfach mit müdem Verzicht anzu— blicken, vielmehr uns zwingt, vorübergehend einen Zuſtand zwiſchen lösbar und unlösbar anzunehmen. Wir geraten in eine Hochſtimmung des Denkens, die vom Reiz der Be— wegung ausgeht und in dem Gefühl mündet: Hier iſt es anders! Der mit Problemen umſtellte Umkreis ſieht an— ders aus; ja vielleicht ſpielt hier ſogar der leidige Selbſt— ſchatten eine andere Rolle.

Wir befinden uns auf Grenzgebieten von ſchwer be—

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ſtimmbarem Charakter; auf Hochebenen, die das Verdun- ſten auch des Unkörperlichen begünſtigen. Im Hirn und in den Nerven entwickeln ſich Zuſtände, die ins Erahnen hinüberſpielen. Selbſt aus der Logik mit ihrem geſchloſſenen Aufbau von Folgerungen und Schlüſſen ſcheinen Reſte der Erdenſchwere zu verſinken. Das innere Auge gewinnt blitz— artige Zuckungen, als könnte es röntgenſtrahlig in das Außen dringen. Jener Kreis erſcheint uns wie eine Phantaſiefigur, die ſich in rieſigem Bogen um das Alltägliche ſchwingt, zwi⸗ ſchen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten hindurch.

Neue Schattenbilder zeichnen ſich ab: Die Schatten der Probleme, die dem ahnenden Auge erkennbar werden, wie ſie ſich über die Flächen der Grenzgebiete hinwerfen. Und die Luſt überfällt uns, an den Grenzlinien dieſer Schatten hinzuſchreiten. Ohne bildhaften Ausdruck: Wir ſchlagen The⸗ men an, die ſich einer ſyſtematiſchen Behandlung ſonſt ent⸗ ziehen, aber doch zugänglich werden, wenn wir uns nur entſchließen können, auf meſſerſcharfe Definitionen und Be⸗ weiſe zu verzichten. Nicht wie die in der Höhle eingeſpon— nenen Menſchen bei Plato wollen wir Schatten betrachten: auf freier Höhe, in offenen Grenzländern mit verfließenden Umriſſen ſchauen wir ſie an; aus ihren Linien wollen wir etwas von der Wahrheitsſonne erahnen, die ihren Eigen— glanz verbirgt, aber doch durch Schatten verrät.

Wunderbares begibt ſich. Aus Wirbeln widerſtreitender Denkſtrebungen wagen ſich Einſichten empor, die, obſchon mit allen Zweifeln durchtränkt, uns mit Seligkeiten be— ſtürmen; Bergpredigten des Denkens, in denen noch andere Beweiſe gelten, als die in den Lehrbüchern erhärteten und erftarrten. Und mit Wonne pflücken wir an den Schatten— linien gewiſſe Blüten abenteuerlicher Formung, wenn auch

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der Botaniker mit dem Schulatlas in der Hand daneben

ſteht und uns erklären will: ſolche Blüten gibt's ja gar nicht!

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Wäre ich imſtande, das Weſen dieſer Grenzgebiete klar aufzuzeigen und exakt zu beſchreiben, ſo hielte ich wohl die Schlüſſel zu einigen letzten Fragen in Händen. Wie die Dinge liegen, will ich ſchon zufrieden fein, wenn es mir ge— lingt, meinen Leſern eine Ahnung von der Exiſtenz ſolcher Gebiete zu vermitteln; eine Ahnung von der Möglichkeit gewiſſer Denkfelder, die gleichzeitig vielen Diſziplinen an- gehören und keiner, wo Leben und Kunſt mit Phyſik und Metaphyſik, mit Mathematiſchem und Erkenntnistheoreti— ſchem in einem Nebel zuſammenfließen und die Nadel jedes Kompaſſes, dem du dich anvertrauen möchteſt, wirbelnd im Kreiſe herumſchwingt.

Aber nicht auf die beſtimmbare Richtung, ſondern auf die Freiheit der Bewegung kommt es an, und dieſe bleibt gewährleiſtet: denn dieſes herrenloſe Grenzgebiet iſt größer als alle Gelände, die von der angebbaren Wiſſenſchaft und Kunſt feſt beſiedelt ſind. Und es lohnt ſich ſchon, einmal darauf zu ſpazieren, ſchon um der Geräumigkeit willen, die es uns eröffnet. Es iſt ein Gebiet für die Intuition, deren

Reize und Macht, lange verkannt, heute mehr und mehr

zur Geltung gelangen.

Freilich fehlt es da auch nicht an Gegenſtimmen, und unter ihnen gibt es mißtönende. Kritik wird geübt an For⸗ ſchungswegen, die von den Sohlen fremdländiſcher Denker berührt wurden. Und dabei werden Bereiche in die Be— trachtung gezogen, die von den Dingen, wie ſie uns hier

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vorſchweben, weltenweit entfernt liegen. Es erfcheint ges boten, die Grundverſchiedenheit dieſer Bereiche beſonders zu betonen, da die vorliegende Schrift uns auch mit ſolchen Fremdbürtigen in Beziehung ſetzen wird:

Ich betrat die „Grenzgebiete“ zu allererſt in einer Zeit, die zu innerer Sammlung Muße gewährte, als noch keine Glocke Schickſalsſtunde läutete, noch keine Fanfare dem Weltkrieg voraustönte. Wir alle haben ſeitdem ſehr viel um— gelernt, neue Werte gepflanzt, alte entwurzelt, und ſo mußte ich auch gewiſſe Anſchauungen nachprüfen, die hier als Lehr— meinungen vorgetragen und beurteilt werden. Dieſe Anſchau— ungen ſetzen voraus: den ewigen Kampf der Geiſter, nicht minder aber auch den von äußeren Fehden unberührten Burg— frieden innerhalb der Wiſſenſchaft und Kunſt. Ich bekenne alſo, daß für mein tiefſtes Bewußtſein das alte Ideal des unverbrüchlichen Zuſammenhanges aller Denkforſchung und Kunſtgeſtaltung noch fortlebt; ragt hier irgendwo ein poli— tiſcher Schatten hinein, ſo muß dieſer zu allererſt überſprun— gen werden. Wer könnte ſein Vaterland lieben, ohne ihm alle kosmiſchen Fernblicke zu wünſchen? wer wollte ſich von dem Grundbekenntnis trennen, daß nichts ſo ſicher die Ge— walt vaterländiſchen Geiſteslebens verbürgt, wie die Weite ſeiner Horizonte, daß jedes Übergreifen der Verbitterung auf das Neutralgebiet der Einſicht und der muſiſchen Formung dieſe Horizonte verengen müßte?

Wenn ich aber außerſtande bin, eine völkiſch abgeteilte Wiſſenſchaft unter die ſinnvollen Möglichkeiten zu rechnen, mir eine auf Landesfarben abgetönte Phyſik, Aſtronomie, Algebra vorzuſtellen, ſo darf ich mich auch nicht dazu ver— ſtehen, rein kritiſche Erörterungen über fremde Forſcher nach neugewonnenen politiſchen Erfahrungen nachträglich umzu—

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färben. Dies gilt beiſpielsweiſe in Anſehung einer Perſön— lichkeit, von deren Leiſtungen auf dieſen Blättern die Rede iſt, in der Abhandlung „Zwiſchen Bergſon und Laplace“. Im Verlauf des Krieges hat es Bergſon über ſich gewonnen, aus den Hochebenen der Erkenntnis herabzuſteigen in die Niederungen, wo die Sphärenharmonie verſtummt und der Lärm regiert. Begäbe ſich mein Buch auf ähnliche Gebiete, ſo würde ich ihm die zweckdienliche Antwort nicht ſchuldig bleiben. Aber in dieſer Schrift bin ich lediglich Erkenntnis—

theoretiker und darf mein Urteil über Ergebniſſe der Berg—

ſonſchen Lehre ebenſowenig abändern, wie meine Anſicht von der Darwinſchen Theorie, den Geſetzen Newtons oder der Geometrie des Descartes. Möge er ſelbſt ſeine Schwenkung vor ſeinem Gewiſſen verantworten, er, der doch auch deut— ſchem Denken ſo viel verdankt, er, der vordem ſelbſt ſo eifrig am weltbürgerlichen Garn geſponnen hat und beiläufig bemerkt in einem an mich gerichteten Briefe auch meine eigenen Studien als für ihn wertvolle und neue Blicke ver— heißend in Ausſicht nahm. Gehört die Verleugnung fortan etwa zum Weſen des Bergſonismus, ſo bleibe ſie auf ihren Herd beſchränkt. Ihr Übergreifen auf andere wäre eine Ge— fahr, ihre Rückwirkung auf früher gewonnene Ergebniſſe ein philoſophiſcher Widerſinn. Ich habe daher der erwähnten Abhandlung das Fortbeſtehen auf Grenzgebieten geſtattet, ohne dem Groll die Befugnis eines Zenſors einzuräumen.

Ich will aber auch mit dem Bekenntnis nicht zurückhalten, daß dieſes Buch von dem, was mir auf der Feder ſaß und ſitzt, nur Stichproben gibt; nämlich genau ſoviel, als ſich mir bis heute einer allgemein volksverſtändlichen Einkleidung fügen wollte. Das Maß dafür konnte mir nicht verloren gehen. Ein Teil der Aufſätze erſchien zuerſt vor einem Teil—

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nehmerkreis, der mir aus der Entfernung in den Arm ge: fallen wäre, wenn ich mich in meinen Betrachtungen allzu⸗ ſehr ins Schwierige verloren hätte. So iſt das Ganze, wie ſchon angedeutet, kein Syſtem geworden, ſondern eine loſe Folge von Anſagen auf Feldern mit wogenden Schatten und huſchenden Lichtern.

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Die ewige Wiederkunft Wirbeltanz der Atome

Vor einem Menſchenalter war es, in Sils-Maria. Zwi⸗ ſchen Weinen und Jauchzen fühlte ſich Friedrich Nietzſche von einer neuen Offenbarung entbunden, der bedeutſamſten ſei— nes Denkerlebens: „Wenn dieſer augenblickliche Zuſtand da war, dann auch der, der ihn gebar, und deſſen Vorzuſtand und ſo weiter zurück; daraus ergibt ſich, daß er auch ein zweites, drittes Mal ſchon da war, ebenſo, daß er ein zwei— tes, drittes Mal da ſein wird, unzählige Male vorwärts und rückwärts. Das heißt: es bewegt ſich alles Werden in der Wiederholung einer beſtimmten Zahl vollkommen glei— cher Zuſtände.“ Das Unendliche hatte ſich vor ihm auf— getan. Ewiges und Erfülltes floß für ihn zuſammen. Ge— löſt lag das Problem vor dem Weitblick des Jauchzenden. Dasſelbe Problem ſoll hier von einem anderen Standpunkt aus geſehen und erörtert werden. Wir werden dabei ſchnell genug in Verflechtungen geraten, die dem einſam Wandern— den in Graubünden ferner lagen als jede Rückkehr des Gleichen.

Denn ſchon im erſten Anlauf ſtoßen wir hier an einen der Grenzfälle, wo der berüchtigte „Satz vom Widerſpruch“ (eine der ſchlimmſten Geißeln in der Folterkammer der Logik) ſich mit ſich ſelbſt in Widerſpruch ſtellt. An einen

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 2

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der Punkte, wo das einſetzt, was man das „polare Den— ken“ nennen darf: nämlich die Spaltung des Denkens in zwei einander ſchnurſtracks entgegenlaufende Vorſtellungen; ſo daß wir jede dieſer beiden Vorſtellungen gegenwärtig ha— ben, mit dem Bewußtſein ihres unüberbrückbaren Abſtandes; daß wir von beiden beſeſſen ſind, hilflos von der einen in die andere taumeln und ſozuſagen beide zugleich für die allein richtigen und für die allein falſchen halten. Ein ſchau— riger Prozeß, der, wie ich ſchon hier ſagen möchte, ſich über— all ohne Ausnahme einſtellt, wo wir den Verſuch machen, über die platte Alltäglichkeit hinaus irgend etwas zu Ende zu denken, wo wir alſo philoſophieren.

Wir können uns eine Endlichkeit des Raumes ebenſo— wenig vorſtellen wie eine Unendlichkeit. Stellſt du dir den Raum als endlich vor, ſo ſpürſt du ſofort, daß du damit eine unſinnige Grenze ſetzeſt, von der die Vorſtellung nichts wiſſen will, die unbedingt durchbrochen werden muß. Ver— ſuchſt du, dir die Unendlichkeit vorzuſtellen, ſo merkſt du augenblicklich, daß du dabei nur mit einem Allgemeinbe- griff, mit einem Widerſpruch, mit einem unbegreiflichen Wort ſpielſt, daß die Vorſtellung als ſolche dich im Stich läßt; daß ſie nicht weiter reicht als bis ins Ungeheure. Die Anſtrengung iſt darauf gerichtet (und kann auf nichts an— deres gerichtet ſein), dieſes Ungeheure zu multiplizieren; mit Tauſend, mit Million, mit Trillion. In uns entſteht ein rechneriſcher Vorgang, der ſehr viel Anſtrengung, ſehr viel Willen, aber gar kein Begreifen einſchließt. Es iſt nur noch der Widerſpruch gegen die erſte Denkform, die uns zwingt, aber nichts, was in den Intellekt eingeht. Wir verſchieben die Grenze mit den endlichen Betätigungen unſeres Verſtan— des, ſie wird für uns fließend, hinausrückend, vor uns flie—

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hend, ſie verliert ſich irgendwo in einen Nebel, der außer— halb der Denkmöglichkeit liegt. Am Ende ſtellen wir uns auch in der Verzweiflung, der Unendlichkeit beizukommen, einen endlichen Raum vor. Es iſt die Denkpolarität in rein— ſter Geſtalt. Man kann aus beiden Anſchauungsformen nicht hinaus, in beide nicht hinein und ſitzt zwiſchen ihnen wie in der Zwangslage des Prokruſtesbettes. Noch grauſamer wird dieſe Qual, wenn wir vom unerfüllten zum erfüllten Raum übergehen, wenn wir etwa verſuchen, uns die Anzahl der Weltkörper, der Körper überhaupt, vorzuſtellen. Hier hat die Verzweiflung der Denklage einen unſerer ſchärfſten Den— ker, Eugen Dühring, direkt zu einer Gewaltmaßregel gegen den eigenen Intellekt getrieben. Er fordert „das Geſetz der beſtimmten Anzahl“, was im letzten Grunde nichts anderes bedeuten kann als die Endlichkeit der Subſtanz. Das iſt ein Ukas wie etwa der folgende: Es iſt verboten, über eine Trillion hinauszuzählen. Ein Ukas, der das Denken wie mit dem Fallbeil abſchneidet und vielleicht ein dogmatiſches oder pädagogiſches Geſetz gibt, aber keinen erkenntnistheoretiſchen Wert. Wir anderen wollen an die Trillion immer noch und immer wieder eine Null hängen und kommen von der Vor— ſtellung nicht los (die keine Vorſtellung iſt, ſondern nur ein Denkzwang), daß der unendliche Raum von einer unend— lichen Körperzahl erfüllt iſt. Wiederum nur aus dem Zwang des Widerſpruchs: weil jede noch ſo große Körperzahl uns als eine Null erſcheint gegenüber der Möglichkeit, weil wir den Gedanken nicht zu faſſen vermögen, daß die körperliche Natur irgendwo begrenzt ſei, und weil uns, ſobald wir un— ſere Vorſtellung körperlich betonen, die Annahme der un— endlichen Stoffmenge immer noch erträglicher ſcheint als das unendliche Vakuum. 2 *

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Im Banne dieſes Denkzwanges operieren wir alſo im dreidimenſionalen Raum mit der unvorſtellbaren Menge der Körperunendlichkeit, die einfach unendlich wäre, wenn ſie uns in einer Linie angeordnet erſchiene, zweifach, wenn wir fie in einer Ebene annehmen würden, und dreifach unend— lich in der gegenwärtigen Wirklichkeit unſeres Denkens, in die uns wiederum die Unvorſtellbarkeit eines begrenzten Rau— mes hinausjagt.

Der polar entgegengeſetzte Denkzwang nötigt uns, jeden einzelnen Körper unaufhörlich zu zerkleinern, zu zerſchnei— den, in der Hoffnung, irgendwo eine begriffliche oder ſach— liche Grenze zu erreichen. Will der Verſtand beim erſten Ver— fahren unaufhaltſam über ſich hinaus, ſo kriecht er jetzt ebenſo hartnäckig in ſich hinein: und alsbald zeigt ſich eine weitere Polarität, da uns bei dieſer Zerkleinerungarbeit die blanke Null ſo unannehmbar erſcheint wie jede noch ſo kleine Größe, die noch nicht Null iſt. Beſitzt das von der Gedan— kenſchneide abgeſplitterte Teilchen noch irgendwelche Aus— dehnung, ſo liegt kein Grund vor, das Schneiden aufzu— geben. Man kann weiter zweiteilen, dritteln, ohne je auf— zuhören. Haben wir es aber tatſächlich bis auf Null her— untergebracht, ſo prallen wir vor einem Fehler zurück, der uns am Schluß der Verrichtung angrinſt: denn wir begreifen nicht, können niemals begreifen, daß ſich aus lauter Nul- len, ſei es auch aus unendlich vielen Nullen, etwas Greif— bares aufbauen ſoll.

Die theoretiſche Phyſik hat ſich, um dieſer unheilvollen Polarität zu entfliehen, zur Annahme einer Vermittlung ent— ſchloſſen, die in den Grundſätzen der Molekulartheorie und der Atomlehre feſtgelegt iſt. Der reine Verſtand will auch das „Atom“, das nach der Wortdefinition „atomos“, Un⸗

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teilbare, weiterzerſchneiden; der phyſikaliſche Verſtand be—

ruhigt ſich beim ſehr Kleinen, ſobald die Hypotheſe, die dieſes Winzige umſchließt, ausreicht, um phyſikaliſch und chemiſch brauchbare Reſultate zu liefern. Die Natur, ſo wird angenommen, ſetzt dieſem Verfahren irgendwo einen unbeſieglichen Widerſtand entgegen; in Stoffpunkten, die zwar keine mathematiſchen Punkte ſind, aber ſich, vermöge ihrer vollkommenen Gleichartigkeit und abſoluten Härte, allen weiteren Angriffen entziehen. Wir behalten alſo im Atom eine Rechnungsgröße übrig, die ſich mit Zahlen aufs Papier bringen läßt, eine Gegenſtändlichkeit, die zwar une terhalb aller Vorſtellung liegt, aber doch vor dem Ver— ſchwinden geſchützt iſt. Wir haben nur nötig, einen Bruch aufzuſchreiben, in deſſen Zähler ſich ein Milligramm befin— det und deſſen Nenner aus zweiundzwanzig Ziffern beſteht, ſo gelangen wir an ein Gewichtchen, das dem Atom des Waſſerſtoffgaſes entſpricht. Vor der anſchaulichen Vorſtel— lung verkriecht ſich ſolches Atom bis zur Unauffindbarkeit; es mag ſich der Größe nach zu einem Tropfen verhalten wie ein Apfel zum Erdplaneten; immerhin bleibt es eine endliche Größe, die im Zug ſolcher Betrachtung einen un— leugbaren Vorteil gewährt. Denn wenn wir nun ſagen: „Die unendliche Welt der Körper beſteht aus Atomen,“ ſo er—

halten wir zwar eine neue ungeheure Multiplikation, aber

nicht eine neue Unendlichkeit zu den bereits erkannten; es bleibt vielmehr bei der dreifachen Unendlichkeit, in die ſich die Wirklichkeit der Atome einzuordnen hat.

Die Atomlehre bietet uns die weitere Erleichterung, daß ſie uns aus der anſchaulichen Erfahrung nicht ganz ſo un— erbittlich herausreißt wie die Zwangsvorſtellung des unend— lichen Raumes ſamt den ſie erfüllenden Körpern. Wenn

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wir einen Tropfen Säure in taufend Waſſertropfen ver: dünnen, einen Tropfen des verdünnten Stoffes wiederum in tauſend Waſſertropfen löſen, ſo gelangen wir ſchon bei der ſiebenten oder achten Operation an die Grenze, die durch jene Hypotheſe feſtgehalten wird. Und wenn wir uns auch das erzielte Ergebnis, das mit dem Bruchteil eines tril— lionſtel Milligrammes rechnet, nicht vorzuſtellen vermögen, ſo bleiben wir doch im Rahmen einer gewiſſen Begreiflich— keit, wir brauchen unſerem Zählſinn nicht ſo Gewalt anzu— tun wie bei der völlig jenſeitigen und doch völlig unver— meidlichen Anſchauung des Unendlich-Großen.

Die augenblickliche Lagerung der an Zahl dreifach unend— lichen Atome bedingt den Zuſtand der Dinge, die gegen— wärtige Weltlage in allen Einzelheiten. Sie bedingt ihn, aber ſie erſchöpft ihn noch nicht. Denn die Atome ſind in Bewegung; und erſt die Summe aller dieſer Bewegungen, dynamiſch ergriffen in dieſem einen unteilbaren Moment, ergibt die tatſächliche Weltbedeutung dieſes Augenblickes mit allen ſeinen mechaniſchen und ſeeliſchen Notwendigkeiten. Kein Gott rettet uns hier vor der Schwierigkeit, zwei neue Unendlichkeiten hinzuzudenken; die eine umſchließt die Be— wegungsrichtung jedes Atoms, die andere die Geſchwindig— keit oder das Maß der Beſchleunigung für jeden einzelnen Maſſenpunkt. Wir gelangen alſo zu fünf Unendlichkeiten, die wir „in Rechnung“ ſtellen müſſen, wenn wir den Zu— ſtand der Dinge feſthalten und aus ihm einen zukünftigen erahnen wollen. Das hat ſich nun allerdings Nietzſche mit ſeiner Träumerei von der ewigen Wiederkehr beträchtlich er— leichtert; richtiger: ihm iſt gar nicht eingefallen, ſolche Viel— fältigkeit zur Grundlage der Betrachtung zu machen. Auf ſeinen Spaziergängen bei Sils-Maria erſchien ihm einfach

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das Weltgebäude als ein Wirbeltanz von Partikelchen, und er ſchloß mit der ſchönen Zuverſicht des prophetiſchen Dich— ters, daß die Anfangsfigur dieſes Tanzes wohl irgendeinmal wieder auftauchen müſſe. Nicht mit einer Silbe geht er auf die Grundfrage ein: ob die Möglichkeiten der Zeit, ſelbſt einer unendlichen Zeit, ausreichen, um die gehäuften Un— endlichkeiten der Atombewegungen reſtlos abzuwickeln. Eine Promenade im Oberengadin mag angenehmer und ſtimmungsvoller ſein als ein Quergang durch arithmetiſche Schwierigkeiten. Um Nietzſches Problem von der Wieder— kunft des Gleichen wenigſtens als Aufgabe zu erfaſſen, muß man ſich ſchon entſchließen, die ganze Angelegenheit in das Licht der Permutationsrechnung zu ſtellen. Es handelt ſich um ein Rechenexempel von univerſaler Ausdehnung: eine fünffach unendliche Anordnung von beweglichen Atompunk— ten und Kräften iſt in Variation begriffen; iſt es denkbar, möglich oder wahrſcheinlich, daß die Anordnung von heute in irgendeiner noch ſo fernen Zeit wiederkehrt? Populär ausgedrückt: Iſt die Zeit mächtig genug, um die Permuta— tionen zu bezwingen, oder wächſt die Menge der Permutatio— nen der Zeit über den Kopf? Verſuchen wir, uns die Sache dadurch klarer zu machen, daß wir von ganz einfachen Bei— ſpielen zu verwickelteren aufſteigen. Statt der Atome wäh— len wir handliche Körper, und aus den ungezählten Myriaden greifen wir eine beſcheidene Anzahl heraus: die drei Elfen— beinkugeln auf der engbegrenzten Billardfläche. Mitten im Spiel fragen wir, ob dieſe beſtimmte Stellung der drei Ku— geln ein beiſpielloſer Einzelfall ſei oder wiederkehren könne. Hier brauchen wir uns in keine Unendlichkeit zu verirren, denn das Handlungsgelände iſt begrenzt, die Kugeln berühren die Unterlage nicht in einem Punkt, ſondern in einem klei⸗

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nen Kreis, jede Beziehung ift in endlichem Sinn erfaß— bar; und ſo gelangen wir (einſtweilen noch ohne Rechnung) zu dem Ergebnis: Ja, dieſe Stellung kann wiederkommen, wenn der Zufall gut mitſpielt, noch in derſelben Partie, ſonſt vielleicht erſt nach Wochen und Monaten; wir werden aber auch den Gedanken nicht abweiſen, daß trotz der Enge des Problems die beiden Spieler die Wiederkehr dieſer einen beſtimmten Stellung vielleicht niemals mehr erleben wer— den.

Dieſes Billard ſoll ſich zu einer Welt auswachſen. An der Kugelgröße ändern wir nichts; aber wir verbreitern die grüne Fläche ins Unabſehbare und verlegen die Banden be— liebig über die Siriusfernen hinaus. Und nun legen wir den zwei Dämonen, die dieſem intereſſanten Spiel auf geräumi- ger Unterlage obliegen, wiederum mitten in der Partie die Frage vor: Kann dieſe Stellung wiederkehren?

Ich erwarte von den Nietzſche-Anhängern ein herzhaftes Ja. Denn noch ſind wir nicht über das Drei-Körper— Problem hinaus, noch haften wir an den zwei Ausmaßen der Ebene; wir erſchöpfen noch nicht einen Tropfen der Mög— lichkeiten, von denen die „Ewige Wiederkunft“ einen Ozean darſtellt. Aber ich glaube annehmen zu müſſen, daß dieſes erwartete „Ja“ ſchon etwas ſchüchterner klingen wird. Denn hier könnte ſich zum Beiſpiel die Erwägung einſchleichen, daß das Dreieck der Ausgangsſtellung, das wir mit kurzen Seiten in Erdnähe annehmen wollen, ſich im Fortgang des Spiels beſtändig erweitert, ſo daß der Größe der Zeit gar keine andere Aufgabe zufiele, als die Abſtände der Kugeln in ihrer Ruhelage beſtändig zu vergrößern. Wir hätten dann in der Unendlichkeit der Zeit nicht, wie Nietzſche hoffte, das ſichere Mittel zu einer Herbeiführung der Wiederkehr, ſon—

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dern im Gegenteil die zuverläffige Bürgſchaft, daß die drei

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Kugeln niemals wieder in die urſprüngliche Lagerung zu— rückkehren werden. Gerade die Zeit iſt es, die fie daran ver— hindert, und zwar um ſo ſicherer, als die drei Abmeſſungen, Länge, Breite, Zeit, in denen ſich die Mechanik des Spiels abrollt, nicht das geringſte Intereſſe haben, irgendwann und

irgendwo auf ihre Unendlichkeit zu verzichten. Nietzſches Lö—

ſung verſagt alſo ſchon bei drei Körpern in der Ebene.

Aber einen Einwand könnte der Nietzſche-Bekenner noch machen: er könnte behaupten, daß neben den ſelbſtverſtänd— lich auseinandertreibenden Wirkungen jenes Spieles noch zentripetale Kräfte tätig ſeien; denen müſſe man nur Zeit genug laſſen, dann würden ſie ſchon einmal die bis in alle Fernen auseinandergeſprengten Körperchen wieder hübſch in die erſte Ordnung zuſammenbringen. In dieſem Einwand lauert die Allerwelthypotheſe der Attraktion. Sie iſt im Zuge dieſer mechaniſchen Betrachtung ſinnlos, da wir über die Beziehung der Kräfte von Atom zu Atom nur das Eine mit Sicherheit wiſſen: daß die Geſetze der Attraktion im Lehrgebäude der Atomiſtik ihre Gültigkeit verlieren. Trotz dem wollen wir den Einwand gelten laſſen und uns mit dieſem Zugeſtändnis rein auf die permutatoriſche Aufgabe zurückziehen. Sie lautet nun: Iſt es möglich, zwiſchen den in der Weltmechanik denkbaren Permutationen und der zu ihrer Erfüllung notwendigen Zeit einen Vergleichsmaßſtab zu finden?

Die fünffache Unendlichkeit Hier ſoll nun endlich einmal die wachſende Zahl ihre

Rechte üben. Abermals wählen wir unſere Atome aus der

anſchaulichen Welt: zehn Perſonen eines Stammtiſches, die

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ſich vorgenommen haben, jeden nächſten Abend in verän— derter Reihenfolge zu ſitzen. Wann erleben ſie die Wieder— kunft des Gleichen? Der alten Tafelordnung? Das kann ja wohl nicht ſo lange dauern; bei Zehnen iſt die Reihe doch ſchnell herum. Dennoch: ſie werden ſich gedulden müſſen. Das Experiment erfordert rund 9900 Jahre. Wenn ſie im Schwarzen Walfiſch zu Askalon ihre erſte Wirtshausrech— nung mit Keilſchrift auf Ziegelſtein beglichen hätten, blieben immer noch ein paar Jahrtauſende übrig; und wenn ſie heute ihre Permutation beginnen, ſo dämmert eine neue Eis— zeit über die Erde herauf, bevor ſie die Wiederkunft des Gleichen erleben. Da haben wir in ganz ſchwachem, ganz elementarem Anfang die Beziehung zwiſchen Vertauſchung weniger Elemente und der Zeit. Wir merken ſchon hier, daß die Elle erheblich länger wird als der Kram; will ſagen: die Zeit ſtreckt ſich ins Ungeheuerliche, während die Elemente noch in Verhältniſſen ſtecken, die man an den Fingern ab— zählt.

Steigern wir ein wenig: bis zu den 32 Schachfiguren, bis zu den 52 Kartenblättern. Hier geraten wir hart an die Grenze, wo uns die Arithmetik im Stich läßt. Die Frage nach den verſchiedenen Stellungen auf dem engen Schachbrett wäre wohl rechneriſch noch zu beantworten. Fra— gen wir aber, wie viele verſchiedene Spiele denkbar ſeien (was, dem Sinne nach, unſerer Atomfrage genauer ent— ſprechen würde), ſo erhebt ſich bereits das Geſpenſt des „Ignorabimus“. Vielleicht gibt es Schachſpieler, die da allenfalls noch eine Endlichkeit vorausſehen; die von mir Befragten ſind aber der Meinung, daß keine Zeit ausreichen würde, alle Möglichkeiten des Spiels zu erſchöpfen. Was ich als die vierte und fünfte Unendlichkeit bezeichnete, wird

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hier durch einen neuen Faktor erſetzt, durch die aus dem Spielgeſetz abgeleitete Sinnbeziehung der Figuren, die eine neue Klaſſe von Möglichkeiten außerhalb der Arithmetik ſchafft. Eine Wiederkunft des Gleichen iſt alſo bei 32 be— wegten Atomen in ebener Anordnung auf Feldern kaum noch zu erwarten.

Die Anzahl der möglichen Kartenverteilungen unter vier Whiſtſpieler iſt ungefähr 50000 Quadrillionen. Größten Spielfleiß vorausgeſetzt, würden hierzu 30000 Billionen Jahrtauſende erforderlich ſein. Und dieſe Jahrtauſende ſchrumpfen zu Minuten zuſammen, wenn man die Aufgabe erweitert, wenn man den ausdauernden Herren zumutet, ſich nicht mit den Mannigfaltigkeiten der erſten Verteilung zu begnügen, ſondern wirklich alle möglichen Whiſtſpiele zu erledigen. Abermals wächſt die Zeit ins Jenſeitige; und die 32 Atome liefern nie wieder das gleiche Erlebnis.

Eine der beliebteſten Querfragen altgriechiſcher Philoſophie hing eng mit unſerem Problem der Permutation zuſammen. Um die Exiſtenz einer planmäßig ſchaffenden Göttlichkeit zu beweiſen, ſtellte man die Frage: Iſt es denkbar, daß ein Gedicht wie die Ilias aus dem Zufall einer Buchſtaben— begegnung hervorgegangen ſein könnte? Die Lächerlichkeit der Annahme lag auf der Hand. Und doch ſteckt in dieſer erſichtlichen Abſurdität noch der Schimmer einer arithmeti— ſchen Möglichkeit. Ja, wenn Nietzſche als Mathematiker ſo gewaltig geweſen wäre wie als Phantaſt, ſo hätte er den Anſatz zu dieſer Berechnung aufſchreiben können. Denn die Ilias iſt im letzten Grunde wirklich nur das Beiſpiel einer Permutation, und aus allen möglichen Buchſtabengruppen muß ſich auch der in Verſe gegliederte Zorn des Achilleus mit allen hexametriſchen Fortſetzungen als ein Sonderfall her—

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ausrechnen laſſen. Wann diefer Sonderfall eintreten könnte, wenn die Buchſtaben den Wirbeltanz der Atome mitmach⸗ ten? Nun, die Anfänge ſolcher Geduldſpiele haben die Arith⸗ metiker bereits beſchäftigt. Um von der Buchſtabenfolge „Revolution Francaise“ auf das Anagramm „Un Corse la finira“ zu ſtoßen, muß man nur die genügende Zahl von Variationen zur fünfzehnten Klaſſe bilden; der ſchöne Hexameter „tot tibi sunt dotes, virgo, quod sidera coelo“ hat ſogar die Gefälligkeit, in feinen maſſenhaften Wortpermutationen 3312 Verſetzungen zu geſtatten, die wies derum einen Hexameter liefern. Und die gar nicht ſeltenen Wortrhythmen, die, vorwärts und rückwärts geleſen, iden- tiſch klingen (Beiſpiel: Signa te, signa, temere me tangis et angis), führen wirklich im Bann unüberſehbarer Per⸗ mutationen zu einer Wiederkunft des Gleichen. So geſehen, erſcheint alſo die Ilias tatſächlich als ein Anagramm aus einem Buchſtabenchaos. Wenn man aber dieſes Anagramm auf die Zeit projiziert, muß man ſich mit Ewigkeitsgeduld waffnen; jedenfalls hat ſich der Philoſoph von Sils-Maria die von ihm erträumte Wiederkunft als in raſcherem Tempo möglich vorgeſtellt.

Aber die Zufalls-Ilias iſt ein Kinderſpiel auch nur gegen einen Zufallstropfen im Weltmeer. Und hundert Ozeane er— reichen noch nicht eine der Unendlichkeiten, deren Permutation in Frage kommt, wenn an die wirkliche Wiederkunft des Gleichen, im Sinn des Weltgeſchehens, gedacht werden ſoll. Wir haben uns vergegenwärtigt, daß ſchon aus Winzigkeiten an Ziffern, ſobald ſie in den Wirbel der Permutation geraten, Ungeheuer entſtehen, die mit keiner ausdenkbaren Zeit zu bewältigen ſind. Und nun wollen wir uns der Tatſache er— innern, daß wir es hier ſchon in der Grundlage der Berech-

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A

nung, ehe noch die erſte Veränderung vorgenommen wird,

mit einer fünffachen Unendlichkeit an Atomen, Richtungen

und Beſchleunigungen zu tun haben.

Immerhin droht mir noch der Einwand der „ewigen Zeit“. Damit glaubt der Wiederkünftler einen unbeſiegbaren Trumpf in der Hand zu haben. Die Zeit, denkt er, iſt ſchließlich fo lang, daß fie mit allen Unendlichkeiten fertig werden muß. Das iſt aber genau ſo, als ob ſich die punk— tierte Unendlichkeit der Linie mit der punktierten Unendlich— keit des Raumes meſſen wollte. Innerhalb der Unendlich— keiten herrſcht eine Rangordnung, die ſie noch viel unerbitt— licher ſcheidet als irgendwelche Vorſchrift für das Große und Kleine in begrenztem Bereich. So gewiß ſchon die Ebene an Einheiten unendlichfach mächtiger iſt als die Linie, ſo ge— wiß erdrücken die fünffachen Unendlichkeiten, die hier erſt die Grundlage der Operation bilden, jede Zeit, jede Ewigkeit, die doch nur eine eindimenſionale Unendlichkeit darſtellt. Die Parallele vom Fußgänger und Siebenmeilenſtiefler bietet uns nur ein ganz unzulängliches Bild des Unterſchiedes im Zeit— maß; denn eher vermöchte eine Schnecke den Lichtſtrahl zu überholen, als der Zeitlauf die Permutation. Stellen wir uns die Zeit als mit einem Willen begabt vor, ſo will ſie mit dem Danaidenſieb die bewegte Flüſſigkeit des Univerſums ausſchöpfen; mit ihrer armſeligen, einfach und geradlinig ge— ſtreckten Ewigkeit bleibt ſie um Welten hinter ihrer Aufgabe zurück, und je weiter ſie vorſchreitet, um ſo hoffnungsloſer entfernt fie ſich von der Löſung des Problems: einen früheren Zuſtand des Weltbildes herbeizuführen. Wie dieſes Weltbild

ſich darſtellt, heute, jetzt, iſt es ein Einziges, ohne Vor—

läufer, ohne Nachfolger. Nie zuvor war die Konſtellation der gegenwärtigen gleich oder auch nur ähnlich, in keiner

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Zukunft kann fie ſich wiederholen, und wenn eine Unſterb— lichkeitlehre ſich auf die „Wiederkunft“ ſtützen will, ſo wirft ſie ihren Anker ins Bodenloſe ).

Die Idee einer Weltformel, die den Augenblickszuſtand alles Geſchehens als eine Lagerung bewegter Teilchen auf— faßt und in einem Syſtem von Differentialgleichungen er⸗ faſſen möchte, iſt von Laplace. Die differentialen Verſchie— bungen in der Zeit entſprechen unſeren Permutationen. Wäre es möglich, dieſe nur in mathematiſcher Phantaſie beſtehen— den Gleichungen zu integrieren, ſo würde ſie auch im Inte— gralergebnis die Nicht-Wiederkunft als eine beweisbare Si⸗ cherheit ergeben. Und das iſt ein Glück für den Kosmos, für die Menſchheit. Denn Nietzſches Traum, der ihm ſelbſt als der Höhepunkt ſeines Denkens, als ein Troſt, eine Hoff— nung, ein ſublimer Rauſch erſchien, wäre in ſeiner Ver— wirklichung der Gipfel aller Schrecken, aller Troſtloſigkeit.

Nehmen wir ihn einmal für erfüllbar. Stellen wir uns blind gegen die Tatſachen, taub gegen den Verſtand, reißen wir uns mit einem Ruck von unſeren atomiſtiſchen Betrach— tungen los, treten wir mit Nietzſche auf die Plattform der Wiederkunft. Was glauben wir dann? Um jede Verſchleie⸗ rung auszuſchließen, gelte uns ſein eigenes Orakel: „Hüten wir uns, zu glauben, daß das All eine Tendenz habe, gewiſſe Formen zu erreichen, daß es ſchöner, vollkommener, kom— plizierter werden ſollte! Das iſt alles Vermenſchung! Anar—

*) Wer in ſolchen Problemen über die Denkſchablone hinaus will, wird ſich früher oder ſpäter auf Wegen entdecken, die unſer Fritz Mauthner geöffnet oder gezeigt hat. Für einen Teil dieſer Sätze fühle ich mich einem Abſchnitt in Mauthners gewaltigem Wörterbuch der Philoſophie verpflichtet. Beim Artikel „Apokata- stasis“ fand ich Richtlinien, denen ich anzuſpüren hatte, um zu den hier vorliegenden Tempovergleichungen zu gelangen.

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p N NP re 8 8

Br.

chie, häßlich, Form find ungehörige Begriffe. Für die Me— chanik gibt es nichts Unvollkommenes. Alles iſt wiederge— kommen: der Sirius und die Spinne und deine Gedanken in dieſer Stunde und dieſer dein Gedanke, daß alles wieder— kommt.“ Alſo das Leben eine Repetieruhr, die Weltſeele ein Wiederkäuer, das Univerſum ein Kinotheater, das ſeine Vorſtellung abſchnurrt und, wenn es die letzte Nummer ab— gerufen hat, wieder den erſten Film auf die Walze ſteckt. Ich bekenne mich zu der Überzeugung, das Weltbild müſſe, infolge der Raumüberwindung, einer fortſchreitenden Ver— langweiligung anheimfallen. Wenn Nietzſche recht behielte, müßte ich hinzufügen: Für ſo langweilig hätte ich es doch nicht gehalten! Im Rauſch feiner Eingebung ſtellt er ſich vor: dieſe Promenade mit ihren theoretiſchen Wonnen werde ſich erneuen, ſeine Erfinderfreude, ſein Entdeckerruhm, die gehobene Stimmung dieſes Tages inmitten einer gewaltigen Natur, die ihm zuruft: Du biſt ewig! Nur dieſe Stimmung und dieſe Freude? Nein: auch alles Mißbehagen, alle Gleichgültigkeit, aller Kummer der abgelaufenen Bahn; jeder Arger der Profeſſur, jede Verſtimmung durch den Verleger, jeder läſtige Brief, jeder Fehler im Korrekturbogen, jedes Leibſchneiden und Zahnweh, jeder Flohſtich im Nachtlager und jedes Hühnerauge. Und ſo im Kleinſten wie im Größ— ten: unzählige Renaiſſancen und Rückfälle in die Barbarei, unzählige Reformationen und Dreißigjährige Kriege, alle Not der Maſſen und alles Elend des Einzelnen in unaufhör— licher Abhaſpelung.

Mit ungeheuren Räumen dazwiſchen, in denen das Une bekannte vorgeht, verſteht ſich, in denen ſich alles das er— eignet, zu dem uns die ſpärlichen Taten der bekannten Welt⸗ geſchichte keinen Vergleich bieten. Denn bevor eine beſtimmte

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er 3 . * * * er. * ae

Atomgruppierung wieder eintritt, müſſen erſt alle möglichen vorher durchprobiert ſein. Was ſtellen die möglichen vor? Nichts anderes als ſämtliche Geſchehniſſe, von denen wir nichts wiſſen, die aber einer möglichen und alſo im Kreis dieſer Betrachtung unvermeidlichen Anordnung der kleinſten Teilchen entſprechen; zum Beiſpiel: die Perſer ſiegreich bei Marathon und Varus im Teutoburger Walde, Cäſar als Er— oberer von Japan, die Entdeckung des Südpols durch Ko= lumbus, Pilatus als Papſt in Avignon, Kröſus in Monte Carlo ſein Geld verſpielend, Semiramis als Suffragette in London, Lucullus in der Berliner Volksküche, alles Uner— meßliche, nie Geweſene und Widerſinnige, alles Denkbare und Undenkbare, über jede Phantaſiegrenze Hinausſchwei⸗ fende, was trotzdem im Wirbeltanz der Atome einmal Wirk⸗ lichkeit werden müßte, bevor Das wirklich werden könnte, was dieſer Tanz uns als das Bekannte vorgeſtellt hat. Und er ſelbſt, der große Hellſeher vom Engadin, würde ſich für dieſe Möglichkeiten der Kombination bedankt haben, die in ſeinem Gedankengange irgendwann zur Form der Wirklich— keit gedeihen müſſen: Nietzſche im Duell mit Zarathuſtra, Nietzſche als Kopiſt beim Heiligen Auguſtinus, am Galgen, Nietzſche zwölfmal verheiratet. Man müßte einen Streifen von der Länge der Milchſtraße zur Verfügung haben, um auch nur in Stichworten einen Teil der blöden Abenteuer zu notieren, die ſich erfüllen müßten, ehe eine genau logiſche Wiederkehr zuſtande käme. Unter dieſen Abenteuern würde ich mich ſelbſt finden, wie ich auf ſeinem Lieblingsſtern, dem Sirius, ſitze und mir den Kopf zerbreche, um für das Nietzſche-Archiv einen Beitrag zu ſtiften. Denn die Atome ſind ſehr ungefällig und laſſen ſich viel eher dazu bewegen, aus Buchſtabenverſetzung eine identiſche Ilias zu bilden, als

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dazu, einen identischen Menſchenkörper aufzubauen, der ge nau ſo lebt und dichtet wie einer, der vor Aonen auf der Erde wandelte.

Die Dogmatik unterſcheidet zwiſchen Wundern contra naturam und extra naturam. Die ſoeben leiſe angedeu— teten find contra. Aber auch die extra naturam ſtehen⸗ den find nur beſtimmte Gruppierungen auf irgendeiner Halte— ſtelle der Anordnung. Jede Ausgeburt des hellen Wahnſinns und des verwegenſten Aberglaubens, Fegefeuer, Hölle und Teufelsſpuk ſind mögliche Kombinationen und als Phäno— mene in Atombegegnungen denkbar; denn es ſind anſchauliche Vorſtellungen, der Beſchreibung und Malerei zugänglich wie jede andere Unwahrſcheinlichkeit, alſo nichts als zwar nie er— lebtes, aber beſtimmt zu erwartendes Stelldichein der klein— ſten Teilchen; beſtimmt zu erwarten, weil in dieſem heilloſen Wirbel erſt jede andere Figur durchgetobt werden muß, ehe der status quo ante eintreten kann. Wahrhaftig: wenn ich der Berechnung Nietzſches alles zugeben wollte, was ich ihr verweigern muß, zu dieſer Lehre möchte ich mich nicht be— kennen; der Preis der Wiederkunft wäre mit ſolchen unge— mütlichen Zwiſchenſtadien doch zu teuer erkauft.

Sie würde uns auch zu lange dauern, ſelbſt dann, wenn ich durch einen radikalen Denkakt die ganze Unendlichkeit ab— ſchaffte und ſie einfach durch eine unermeßliche Endlichkeit er— ſetzte. Beide ſind nämlich nur ſchlimme Auswüchſe und Not— behelfe des Denkens, aus polarem Denkzwang geboren, und ich ſcheue vor der waghalſigen Annahme nicht zurück, daß beide Vorſtellungen im Grunde zuſammenfallen, als zahlen ſpieleriſche Umſchreibungen des ſehr Großen. Das Unendliche beginnt nämlich erkenntnistheoretiſch gar nicht im Jenſeits, ſondern diesſeits, an der Grenze der nicht mehr ausſprech—

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 3

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baren Zahl, mag dieſe Zahl auch noch in mathematiſchen Zeichen, etwa in hohen Potenzausdrücken, einer Niederſchrift fähig ſein. Das aber ſteht auf einem anderen Blatt und führt zu einer anderen Lehre, an deren Ende man die zwar ſchreck— lichen, aber gut begründeten Sätze finden wird: Das Ziel aller Erkenntnis, die Wahrheit, iſt eine anthropomorphe Vor— ſtellung; es iſt nur halbrichtig ausgedrückt, wenn man den Intellekt als unzureichendes Werkzeug erklärt; denn die Wahrheit ſelbſt exiſtiert nur im beſchränkten Gebiete der ma— thematiſchen Identitäten, und jede andere Frage nach der Wahrheit iſt in ſich ſelbſt ſinnlos.

Zu dieſer erſt in der Andeutung vorhandenen Betrachtung „Denkzwang und Denkfehler“ möge dieſe Studie über die Wiederkunft das Präludium bilden. Sie zeigt auf halbwegs anſchaulicher Grundlage das Walten des polaren Denkens, alſo zweier Denkvorgänge, die aus gemeinſamer Wurzel ent⸗ quellen, aber mit zwei einander ſchnurſtracks entgegengeſetzten Unmöglichkeiten aufeinanderprallen. Deshalb ergibt ſich auch das Reſultat zwieſpältig: als ein negatives, denn die Ewige Wiederkunft iſt eine Angelegenheit der Unendlichkeit und des— halb nicht bis zu Ende zu denken; und als ein poſitives, denn auch in der Form eines Dichtertraumes enthält ſie nicht eine Hoffnung, ſondern eine Verzweiflung, dieſe Lehre von der ewigen Wiederkunft, an der nur das Eine etwas taugt,

nämlich: daß ſie falſch iſt.

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9 A S r t er.

Das Geheimnis der großen Zahl

Vor meinem Fenſter dehnt ſich eine dreißig Meter breite Straße in der Oſt-Weſt⸗Richtung. Und gerade gegenüber iſt in der Häuſerreihe eine Lücke, die den Blick nach Norden frei— gibt. Überſchreite ich die Straße, ſo bewege ich mich auf dem Berliner Meridian und unternehme den Beginn einer Nord— polarreiſe: auf dem jenſeitigen Fußſteg bin ich dem Nordpol der Erde näher, als zuvor auf dem diesſeitigen.

Man wird dieſe Annäherung als verſchwindend klein be— zeichnen; und im Verhältnis zu irdiſchen Reiſemaßen bleibt ſie wirklich unter der Schwelle der Merkbarkeit. Sie wächſt aber in einer anderen Betrachtung. Denn mit demſelben Wege habe ich mich auch dem Polarſtern genähert; und es unterliegt keinem Zweifel, daß der Grad der erſten An— näherung, der an den Nordpol, um viele, viele millionen— mal ſtärker ausfällt als der zweite. Faſſe ich alſo bei mei— nem kurzen Marſch quer über die Straße dieſes Verhältnis ins Auge, bin ich mir der Relativität dieſer Unterſchiede be— wußt, ſo kann ich ſagen: Nach der Überwindung der Stra— ßenbreite bin ich dem Nordpol beträchtlich nähergerückt. Und mit einiger Phantaſie dürfte ich im nämlichen Gedanken— zug hinzufügen: Wenn jetzt zufällig ein Nordlicht erſtrahlt, ſo kann ich es beſſer drüben als hüben beobachten. Ich bin dem Licht weſentlich nähergekommen. Ahnlich ſind die Wege überhaupt, die wir mit dem Fernblick auf ein Licht

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oder eine Erkenntnis beſchreiten. Wer unausgeſetzt die Kürze des Schrittes mit der Weite des Zieles in Vergleich ſtellt, muß dem Verzicht anheimfallen. Den aber, der dieſe Rela— tivität zeitweilig im Bewußtſein ſpürt, mag die Eigenbe— wegung ſelbſt mit Zuverſicht ſtärken; ſogar mit der großen Ladung von Zuverſicht, die man zu einem Flug ins Ganz- Große, Unmeßbare, Unendliche nötig hat. Und zu einem ſolchen Weitflug wollen wir uns nun rüſten. Sie ſoll uns auf gewiſſen Umwegen einem Rätſel näherführen, das wir zwar nicht ergründen und löſen werden, das uns aber wenigſtens in ſeiner Frageſtellung etwas verſöhnlicher an— blicken ſoll als das Grundproblem in ſeiner grauſamen Ur— geſtalt. *

Was immer menſchlichen Geiſt bewegt hat und aus ihm entſproß, findet ſeinen tatſächlichen Ausdruck in Büchern. Und ſo gelte uns das Buch als die Darſtellung alles Den— kens, Empfindens, Könnens und Wiſſens. Setzen wir die Zahl ſeiner typographiſchen Stellen, hoch gegriffen, mit einer Million feſt, ſo ergeben alle erdenklichen Permutationen und Variationen innerhalb dieſer typographiſchen Anordnung ſämtliche Bücher, die jemals geſchrieben und gedruckt wur— den, und dazu noch ſämtliche, die in aller Zukunft gedruckt werden können. Vorausſetzung bleibt nur, daß keine Um— ſetzung übergangen werde und daß ſich keine wiederhole. Denken wir uns dieſes in Wirklichkeit unmögliche, in Ge— danken aber leicht faßbare Verfahren reſtlos durchgeführt, ſo erhalten wir lauter Bücher, die ſich irgendworin unter— ſcheiden, und wäre es auch nur in einem Buchſtaben, einer Interpunktion, einem Spatium. Zugleich aber erkennen wir, daß die ſo gewonnene Bücherei abſolut lückenlos ſein muß,

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daß kein Buch, einerlei welches Inhalts, in ihr fehlen kann. Denn die Summe ſämtlicher Unterſcheidungen in der Viel— fältigkeit aller druckmöglichen Anordnungen ergibt eben den Inbegriff aller jemals möglichen Bücher.

Man könnte alſo auf mechaniſchem Weg, ohne auf eine Überlieferung oder Vorahnung angewieſen zu ſein, die ge— ſamte vorhandene und zukünftige Literatur herſtellen. Der Druckauftrag freilich würde zu erheblichen Umſtänden füh— ren. Aber ſein Umfang läßt ſich ganz genau berechnen: er beläuft ſich, wenn wir mit hundert verſchiedenen Drucktypen rechnen, auf eine Sammlung von Büchern, deren Anzahl Zehn zur zweimillionſten Potenz beträgt. Iſt innerhalb die— ſer Reihe nur das eine garantiert, daß jedes Buch einer beſtimmten, nie mehrfach auftretenden Ausfüllung der Mög— lichkeiten entſpricht, ſo hat die übernehmende Firma das Problem gelöſt. Die fertige Lieferung enthält das „Uni— verſalbuch“, wie es Kurd Laßwitz genannt hat, das Buch der Bücher, den Inbegriff und die Summe alles Druckbaren. Dieſes Univerſalbuch entſpricht, mathematiſch geſehen, kei— ner Unendlichkeit, ſondern ſtellt zunächſt eine ſcharf umſchrie— bene Endlichkeit vor. Ordnet man die Exemplare nebenein— ander, ſo erſtrecken ſich die Bücherrücken nicht bis in in— kinitum, ſondern irgendwo in weiter Ferne iſt Schluß. Wie lange würde man wohl wandern müſſen, um die Reihe ab— zuſchreiten? Ein Fußgänger würde es nicht erleben; ebenſo ausſichtslos wäre der Plan, die Strecke im Schnellzug zu bewältigen. Auch das Zeitmaß einer Kanonenkugel erweiſt ſich der Aufgabe gegenüber als ganz unzulänglich; bleibt alſo nur der Lichtſtrahl, der in ſeiner Leiſtung von dreihun— derttauſend Kilometern in der Sekunde mit der Fahrt längs jener Bücherrücken in irgendwelcher Zeit fertig werden könnte.

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Aber auch die Lichtſekunde, die Lichtminute und die Lichte ſtunde erſcheinen hier noch als völlig unbrauchbare Rech— nungsgrößen. Und ſelbſt wenn wir das Lichtjahr als Ein⸗ heit wählen, ſo erhalten wir immer noch eine völlig un— ausſprechbare, lediglich als Potenzausdruck angebbare Zahl, die zu üblicher Niederſchrift ein Notizblatt von ungefähr zehn Kilometern Länge beanſprucht.

Wird dieſes Buch der Bücher nicht als Reihe aufgeſtellt, ſondern geſchichtet und verpackt, ſo würde ein Hohlraum vom Durchmeſſer der geſamten ſichtbaren Fixſternwelt nicht ausreichen, um auch nur einen nennenswerten Bruchteil un⸗ ſeres Bücherſchatzes aufzunehmen. Wie wir es auch an⸗ ſtellen: wir gelangen ſofort an das Unvorſtellbare, Unaus- ſprechbare, während der Rechner darauf beharrt, die Zahl der Bücher ganz präzis als 102000000 anzugeben, nicht auf eins mehr oder weniger; eine begrenzte Zahl, die ſeiner An— ſicht nach mit dem Unendlichkeitswert nichts zu ſchaffen hat.

An dieſem Punkt meldet ſich unſer Widerſpruch. Denn der begriffliche Inhalt dieſes nach Zahl und Maß noch end— lichen Univerſalwerkes iſt für menſchliches Denken nicht mehr nur unermeßlich, ſondern ſchlechtweg unendlich.

Daß es alle vorhandene Literatur einſchließt, von den ba—

byloniſchen Urſchriften bis zum letzterſchienenen Volkskalen-

der, daß es die Ilias, alle Dramen und Logarithmentafeln, alle exiſtierenden Romane und Kochbücher, alles bereits für Schrift und Druck Gedachte als Einzelfälle irgendwo dar— bietet, würde für dieſe Anſchauung noch nicht genügen. All das bedeutet nur einen Tropfen im Ozean unſeres vorge— ſtellten Druckwerkes. Denn dieſes erſchöpft zugleich Sinn und Inhalt aller überhaupt möglichen Schriften, bis in die unendliche Zukunft gerechnet, ſämtliche Sinnigkeiten und Un⸗

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ſinnigkeiten, die überhaupt in Druckſchrift ergreifbar find, und keines Menſchen Gehirn wird auch nur einen Augen— blick zögern, dieſer Summe den Wert des Unendlichen zu— zuerkennen. Anders ausgedrückt: an den Verſtand tritt hier die Forderung, über ſich hinauszudenken, in unvereinbarem Zwieſpalt zu der mathematiſchen Anſchauungsweiſe, die ihm dergleichen durchaus nicht zumutet, ſondern ihm mit dem genauen Potenzausdruck 102000000 eine klar umſchriebene End- lichkeit vorſpiegelt.

Sollte aber noch der geringſte Zweifel darüber e daß hier ein grober logiſcher Fehler wirtſchaftet, ſo wird die nachfolgende Überlegung ihn in aller Schärfe bloßſtellen. Nicht nur alles begrifflich Ausdenkbare iſt der Niederſchrift in gewöhnlichen Drucktypen fähig, ſondern auch alles Fünft- leriſch Empfundene. Für die muſikaliſche Kompoſition zum Beiſpiel bedeutet die Note nur ein ſehr bequemes, aber nicht das ausſchließliche Vermittlungsſymbol. Die Note läßt ſich vielmehr in ihrer Höhe, Dauer, Anordnung und Beziehung mit Worten beſchreiben, höchſt umſtändlich allerdings, aber doch eindeutig. Und da unſer Buch der Bücher ſämtliche Wortformungen erſchöpft, ſo wird ſich in irgendeinem Bande eine Anordnung vorfinden, die irgendeiner beſtimmten Kom— poſition entſpricht. Das heißt alſo: in allen Bänden müſſen alle Tonſtücke vorkommen, die bereits komponiert ſind, und ſämtliche in aller Zukunft möglichen; das vollſtändige, reſtlos aufgearbeitete Integral der Muſik; in Bänden, getrennt durch Siriusweiten von anderen, welche die Weltgeſchichte für alle Lebeweſen beſchreiben, den geſamten Zeitungsinhalt bis zum Welterlöſchen umfaſſen, von jedem Ameiſenkrieg ſtrategiſch genaue Kunde geben und jede fernſte, feinſte Verfaſerung al- ler überhaupt jemals möglichen Wiſſenſchaft, Technik, jeder

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Wirklichkeit, jeder traumhaften Unmöglichkeit, jeder Mitteil⸗ barkeit auf Blättern verewigen; auf endlichen Blättern, ma— thematifch genommen, auf unendlichen, in reiner Anſchauung betrachtet, die mit aller Macht die Vorſtellung einer begrenz— ten Kunſt, Wiſſenſchaft, Geſchichte abwehrt und ſich mit letz— ter Anſtrengung aus der Umklammerung einer beſtimmten Grenze losreißen muß.

Wer hat nun recht? Der Rechner mit ſeinem genauen Potenzausdruck oder die Anſchauung, die im Zug der ſchwei— fenden Phantaſie keine Grenze anerkennt? Dieſe Frage findet keine Antwort, da ſie in eine tranſzendente Unterſuchung mit einem untranſzendenten, diesſeitigen Begriff dreinfährt. Wir müſſen von dem treuherzigen Glauben loskommen, in jenem Grenzgebiet des Denkens etwas wie ein Recht oder Unrecht zu etablieren. Es handelt ſich auch nicht darum, dieſe Schei— delinie zu ziehen, ſondern vielmehr um einen gangbaren Aus— weg aus der philoſophiſchen Angſt, in die uns jener offen— kundige Zwieſpalt hineingehetzt hat. Und ſo flüchten wir denn aus dem Zwang zweier unmöglichen Komponenten in die Reſultante, die zwar vorerſt auch nicht tröſtlicher und einleuchtender erſcheint, aber doch einen vorläufigen Ruhe— punkt bietet; wir wollen nämlich ſagen: für menſchliche Denk— art greift der hochgegriffene mathematiſche Potenzausdruck über die Endlichkeit hinaus. Zehn zur zweimillionſten Po— tenz iſt nicht nur ſehr groß, ſondern ohne weiteres unend— lich. Und wiederum kann der Begriff Unendlich fehlerlos durch die ſehr große Zahl nicht nur charakteriſiert, ſondern erſetzt werden. Vertauſchen wir beide Begriffe nach Will— kür, ſo begehen wir keine Ungenauigkeit, ſondern wir be— ſeitigen im Gegenteil einen Denkfehler, der uns zu einem den Intellekt vergewaltigenden Sprung zwingen will.

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Dieſe Lehre iſt waghalſig und gleicht dem draufgängeri— ſchen Hieb, mit dem der gordiſche Knoten nicht gelöſt, ſondern zerſpalten wurde. Aber auf dieſem Grenzgebiet findet die Feinmechanik des langſamen Aufdröſelns keine Arbeitsſtätte. Wo zwei Unmöglichkeiten aufeinanderſtoßen, bleibt nichts übrig als ein grundſtürzender Akt, der, ſo unverantwortlich er auch auf den erſten Anhieb erſcheinen mag, doch in ſeinen Denkfolgen ſich als der wahre Samariter für das gequälte Gehirn erweiſen wird.

Solche Quälerei kann ſchon da auftreten, wo wir einen einfachen Satz der Schullogik bis in ſeine Wurzeln ver— folgen. Alle Menſchen ſind ſterblich; Cajus iſt ein Menſch: alſo muß Cajus ſterben. Es iſt nicht eine Vermutung, ſon— dern eine Gewißheit, die den Cajus als einen unter allen zum Tode verurteilt, und die Wahrſcheinlichkeit hierfür wird nicht durch die große Zahl, ſondern durch das Unendlich aus— gedrückt; wenn wir dem Oberſatz die axiomatiſche Wahrheit zuerkennen. Tatſächlich gibt aber der Oberſatz nicht eine Vé— rite éternelle im Sinn Leibnizens, ſondern höchſtens eine Veérité de fait; das Ergebnis einer langen Erfahrung, die bisher durch keinen Gegenbeweis geſtört wurde. In zwei— hundert Generationen und bei einer Menſchenzahl, die in die Milliarden anſchwoll, aber noch unter der Billion zurück— blieb, iſt ein Gegenfall nicht bekannt geworden. Wir be— geben uns alſo in einen Wahrſcheinlichkeitsbeweis, wenn wir aus dieſer zwar großen, aber begrenzten Anzahl den Schluß auf einen noch nicht bis zu Ende beobachteten Lebenden ge— ſtalten. Die biologiſche Notwendigkeit des Sterbens hat mit dieſem Syllogismus nichts zu tun, denn ſie iſt ja erſt aus der langen Erfahrungsreihe entfloſſen, alſo ſelbſt ein von einer gewiſſen Wahrſcheinlichkeit abhängiger Schluß des ſta—

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tiftifchen Oberſatzes. Mathematiſch korrekt müßte demnach das Schulbeiſpiel lauten: Alle bisher ermittelten Menſchen— ſchickſale haben mit dem Tod geendet; Cajus iſt ein Menſch, folglich beſteht eine große, in Milliarden ausdrückbare Wahr: ſcheinlichkeit für feine Sterbenotwendigkeit“). Wenn wir dieſe klarere und wahrere Faſſung zugunſten der reſtloſen Gewißheit ablehnen, daß Cajus ſterben muß, ſo verraten wir hierdurch, daß über die ſcheinbar unüberbrückbare Kluft in unſerer Erkenntnis zwiſchen dem als endlich Feſtſtehen— den und dem als unendlich Geforderten doch ein geheimer Meg eriftiert; ein Schleichweg, der ſich der mathematiſchen Kontrolle und Beſtätigung entzieht. Durch welche Windun⸗ gen dieſer Weg führt, wiſſen wir nicht. Aber was der In⸗ tellekt will, wenn er ſich des Weges bedient, das ſteht nun feſt. Er will hinüber, hinüber um jeden Preis, ſelbſt um den der mathematiſchen Richtigkeit. Und ſo urteilt er für den Spezialfall der Menſchenſterblichkeit: ich erreiche den wirklichen Unendlichkeitswert mit einer begrenzten Zahl, die unter der Billion liegt. Es gibt hier keinen in Ziffern zu beglaubigenden Reſt. Nicht nur die in den Erfahrungsbereich eingeſchloſſenen Menſchen müſſen ſterben, ſondern alle. Und der einzig nachweisbare Fehler liegt lediglich bei dem, der ſich auf einen Unterſchied zwiſchen einer ſolchen Verite de fait und einer Vérité éternelle verſteift. Mit der großen Zahl erreiche ich eine ewige Wahrheit.

Wir können ſogar in die Lage geraten, das Vertauſchungs⸗ recht und die Vertauſchungsgrenze in Regionen anzunehmen, die wir in der Praxis des Lebens gar nicht als unermeßlich anzuſehen geneigt ſind. Wer hunderttauſend Mark im Be—

*) Der mathematiſche Ausdruck würde lauten: . die Anzahl aller bisher geſtorbenen Menſchen bedeutet.

worin n

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ſitz hat, wird ſich mit feinen zehn Millionen Pfennigen ganz gewiß noch nicht zu den ungeheuer Reichen zählen. Wer ſich aber auf eine zehnmillionenfache Erfahrung beruft, lebt im Unendlichen und wird die daraus gezogene Wahr— ſcheinlichkeit ſo ſicher als die abſolute Gewißheit anſprechen, daß er den Zweifel daran als hellen Wahnſinn erklärt. Die von Helmholtz erwähnte Erwartung, daß es in den nächſten vierundzwanzig Stunden in Berlin einmal Nacht und ein— mal Tag werden wird, ſtützt ſich auf ein viel engeres Gebiet von Beobachtungen, als es die allgemeinen Prinzipien der Mechanik tun. Und doch konnten dieſe allgemeinen Prin— zipien der Mechanik (durch das Relativitätsprinzip) er⸗ ſchüttert werden, während ſich an die Erwartung des Tag— und Nachtwechſels ein Bedenken niemals heranwagen darf. Hier liegt die Beobachtungsreihe ſehr tief, kaum bei der dritten Million; wir müſſen ſchon weit über Adams Zeit zurückgehen, um ſelbſt bei dieſer geringen Zahl zu landen. Aber wenn wir auch nur über die Erfahrung von dreißig Menſchenaltern verfügten, die den Tag- und Nachtwechſel höchſtens vierhunderttauſendmal lückenlos beglaubigten, ſo hätten wir ſchon längſt den Evidenzpunkt gewonnen, unab⸗ hängig von aller aſtrophyſikaliſchen Theorie, die ja in dieſer Schlußkette nicht als Grund, ſondern als Folge auftritt. Während wir alſo in der Betrachtung des Univerſalbuches zu unausſprechlichen Ziffern, beim ſterblichen Cajus immer noch hoch in die Milliarden hinaufklettern mußten, erhal— ten wir hier die Vertauſchungsgrenze ſchon in einer ſehr be— ſcheidenen, um die Million herumpendelnden Zone; eine tril—⸗ lionenfache, eine unendliche Erfahrung würde unſere Erwar— tung gar nicht mehr ſteigern. Mit der Gewißheit, daß es in den nächſten vierundzwanzig Stunden Tag und Nacht

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werden muß, erhebt der Verſtand für diefen beſonderen Fall eine Zahl von höchſtens ſieben Ziffern zu einem Unend— lichkeitswert.

Die Kluft zwiſchen den beiden polaren Vorſtellungen End— lich und Unendlich, von denen die eine niemals genügt, die andere niemals durchzudenken iſt, zeigt ihre Schrecken viel— leicht nur in der Tiefe, nicht in der Breite. Wenn ſich der Verſtand zum Wageſprung entſchließt (und das tut er immer, ſobald er nur einen Augenblick von der ſtreng ma— thematiſchen Anſchauung loskommt), was geht ihn da die Tiefe an? Wie könnte es die Sicherheit ſeines Sprunges beeinträchtigen, daß ganz unten in unerkennbarer Verſen— kung ein Monſtrum hauſt, das die ſcholaſtiſche Rechnung mit eins dividiert durch Null bezeichnet? Nur die Breite ermißt er; und mit untrüglicher Gewißheit traut er ſich zu, das andere Ufer zu erſpringen. Dieſe Gewißheit, unzählige Male gewonnen und zu einer neuen Erkenntnis organiſiert, wird nichts anderes bedeuten als: der Begriff des Unendlichen iſt eine täuſchende Zwangsvorſtellung; nie lebt im Wirklich— keitsdenken etwas Höheres, Tranſzendenteres als die große Zahl. Und dieſe große Zahl, abgeſtuft nach den Bedürf— niſſen des Falles, tritt mit ſämtlichen Wirkungen des Unend— lichkeitswertes auf, iſt das ſouveräne Unendlich für den ge—

gebenen Denkakt. *

Ich glaube nicht, daß die zugrunde liegende Antinomie je— mals zu überwinden ſein wird. Aber ihre Schroffheit kann gemildert werden, wenn man ſich gewöhnt, ein Neutralgebiet anzuerkennen, worin das Unermeßliche, Unbegrenzte und Un— endliche einander durchdringen; mit dem Vorbehalt, daß das

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Unermeßliche arithmetiſch begrenzt fein kann. Hier kommt es nicht darauf an, daß man zählt, ſondern wie man zählt. Der arithmetiſche Ausdruck für eine hohe Potenzgröße, für eine Reihe, ergibt zunächſt noch keinen klaren Begriff, ſtellt vielmehr nur die in Ziffern niedergelegte Abkürzung für ein Poſtulat vor. Es wird gefordert, eine Rechnung auszufüh— ren, die im grauen Nebel des ungeheuer Großen, vielleicht Unendlichen, jedenfalls nicht mehr Vorſtellbaren, ausläuft. Aber das Vorſtellbare wechſelt nach der Natur des Falles; und hier kann es ſich ereignen, daß die arithmetiſche Diktatur als eine unerträgliche Tyrannei empfunden wird.

Betrachten wir einmal die unendliche Reihe / 1/5 + 1/, 175 die, wie man ſich wohl ausdrücken darf, ſchwach divergent ſein muß. Sie erreicht als Summe den Unend— lichkeitswert, wenn auch in einem ſehr langſamen Tempo. Denn wenn wir ſie in Gruppen von 2, 4, 8, 16 uſw. Glie— dern abteilen, ſo erkennen wir leicht, daß jede einzelne Gruppe, angefangen von ( +1/,) größer ausfällt als /½; und da kein Grund vorliegt, mit dieſer Einteilung jemals aufzuhö— ren, ſo bleibt allerdings nichts übrig, als das Ergebnis dieſer Reihe für unendlich groß auszugeben.

Dieſer Zweifelloſigkeit gegenüber regt ſich aber im Unter— grund unſeres Bewußtſeins ein Widerſtand, wenn wir uns vorſtellen, welche Operation auszuführen wäre, um auch nur eine ſehr kleine Zahl von poſitivem Wert zu erreichen. Geſetzt, ich hätte mir vorgenommen, dieſe Reihe bis zu dem ganz beſcheidenen Summenergebnis von 64 hinzuſchreiben, ſo geriete ich damit ſchon ins Unbegrenzte, jenſeits von jeder Möglichkeit und Vorſtellbarkeit. Die Reihe würde nämlich, eng geſchrieben, einen Papierſtreifen von 100 Billionen Ki—

lometern erfordern, einen Streifen, mit dem man das ganze

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r. e

Sonnenſyſtem bis zur Neptunsferne etwa ſiebentauſendmal einwickeln könnte.

Wir erleben alſo eine Spaltung des Denkens. Der arith⸗ metiſch gehorchende Teil wird vom Divergenzbegriff hypno— tiſiert, der praktiſch erkennende erklärt jene Reihe für minder: wertig und in ſehr engen Grenzen eingeſpannt. Ihrer Ten⸗ denz, ſich auch nur über ein höchſt dürftiges Mittelmaß aus⸗ zuwachſen, ſteht eine unbeſiegliche Trägheit entgegen. Statt irgendwie erkennbar zur Höhe aufzuklimmen, ſchleicht ſie in einer bis zum Erwürgen gepreßten Spirale um den Berg; und ihr Verſprechen, die Unendlichkeitsſpitze zu gewinnen, erſcheint, bürgerlich geſprochen, als eine Flunkerei. Wenn ein Gelähmter uns anſagen wollte, er werde von der Erde zum Mond ſpringen, ſo wäre die Wahrſcheinlichkeit der Er— füllung noch größer als die Ausſicht dieſer Reihe auf wirk— liche Divergenz.

Derſelbe Rechner, der die Reihe fo hoch einſchätzt, behaup- tet daneben, daß der einfache Ausdruck 99, in Worten neun hoch: (neun zur neunten Potenz), nur eine ſehr große Zahl, aber beileibe keine Unendlichkeit darſtellt. Und hier klafft der Widerſpruch ſperrangelweit. Denn dieſer Ausdruck ſchnellt ſofort ſteil an und verliert ſich in einer fabelhaften Be— ſchleunigung, mit einer wahren Zahlenorgie ins Unfaßbare. Allerdings kennt der mit Logarithmentafeln arbeitende Ma— thematiker das Ergebnis. In dekadiſchem Maß aufſchreiben kann er es nicht, und jedes Sprachmittel verſagt, wenn er es nennen will. Aber er weiß, daß es aus 369 Millionen und 690000 Ziffern beſteht und daß die hingeſchriebene Zahl ungefähr von Berlin bis zum Nordkap reichen würde. Und dieſe Zahlengröße nimmt er für eine Endlichkeit, weil ſeine Unendlichkeit anders definiert iſt. Ihn darf es nicht an—

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fechten, daß die Anzahl der Waſſerſtoffatome im Atlantiſchen Ozean eine Null iſt gegen den Wert dieſer Potenzgröße, eben⸗ ſowenig wie es ihn berührt, daß jene zuvor genannte Bruch— reihe, millionenfach über die Siriusweite verlängert, noch keine dreiſtellige Zahl, noch nicht den einzigen Wert der er- ſten Hundert erreicht. Er vergleicht nicht das Phlegma der Reihe mit dem exploſivem Temperament der Potenz, er zieht ſich auf die Definition zurück und beharrt dabei, den Reihen— wert als unendlich, den Potenzwert als endlich auszurufen; in völligem Widerſpruch mit allem, was wir aus der Er— fahrung, aus der Zählübung, aus natürlicher Größenvor— ſtellung in uns aufbieten können und aufbieten müſſen, wenn wir das ſehr Große nicht bloß formelhaft umſchreiben, ſon— dern in irgendwelcher Anſchaulichkeit erfaſſen wollen. Und dieſer Widerſpruch läßt ſich nicht einfach mit den Verdikten Wahr und Falſch aus der Welt ſchaffen. Auf dem Grund dieſer Definition lauert vielmehr eine arithmetiſche Schul— fuchſerei; ein zugleich Okkultes und Pedantiſches. Wie der Anſpruch auf kirchliche Unfehlbarkeit nicht mit dogmatiſchen Mitteln bekämpft werden kann, ſo der auf mathematiſche Unfehlbarkeit nicht mit rechneriſchen. Hier ſcheiden ſich uns erbittlich zwei Logiken, wie ſie ſich im Traumland, im Wun⸗ der⸗ und Märchengebiet trennen. Der Hindu-Fabuliſt erzählt ganz gelaſſen von einer Schlacht, in der 10000 Sertillionen Affen gekämpft haben, und hält einen auf der Erde exiſtie— renden Wald als Schauplatz für ausreichend; in der Hindu— logik etabliert ſich da nur ein Abenteuer, aber kein Widerſinn; zwei Endlichkeiten, die ſich vertragen müſſen. Und ſo um⸗ ſpannt auch der Rechenmeiſter die fabelhafte 99% mit einer endlichen Umhüllung, gegen die feine Speziallogik nichts ein⸗ zuwenden hat. Demgegenüber ſtellt er der Reihe, deren

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Schneckengang, anfchaulich gemeſſen, fo gut wie nichts be⸗ wältigt, das Zeugnis der Unendlichkeit aus; in einem Do— kument, das ungefähr ſoviel Wert hat wie der Wechſel auf Sicht, der einem toten Gläubiger zur Begleichung einer Schuld in den Sarg gelegt wird. Auch dieſe Reihe muß ſterben, bevor ſie die mitgegebene Verſchreibung in bare Un— endlichkeit umſetzt. Wann und wo das geſchieht, entzieht ſich unſerer Betrachtung. Es genüge, mit einem Beiſpiel ſchärfſten Kontraſtes auf ein Grenzgebiet gewieſen zu ha— ben, auf dem ſich die Erkenntnistheorie der Zukunft noch ſehr kräftig zu tummeln haben wird.

Auf die konkrete Körperwelt übertragen, kann ſich die hier angedeutete Lehre vielleicht mit einem anderen Prinzip, dem „Geſetz der beſtimmten Anzahl“, kreuzen oder tan— gential berühren. Ihrer inneren Frageſtellung nach ſind ſie jedenfalls miteinander verwandt. Sollte dieſes Geſetz dereinſt zu der ausdrucksvollen Geſte, mit der Eugen Dühring es vortrug, die eindrucksvolle Begründung erfahren, ſo wird es abermals zu einem Begriffszerfall führen. Denn es wird ſich dann nicht mehr um ein Geſetz handeln, ſondern um eine wechſelnde Denkform, nicht um eine beſtimmte Anzahl, ſondern um eine unbeſtimmte, die ins Unermeßliche hin— aufſteigt, ohne darum unendlich zu werden; oder am Ende nur um einen begrenzten, diesſeitigen Quotienten aus zwei Jenſeitigkeiten, von denen die eine im Raum, die andere in uns liegt. Und fo könnte ſchließlich auf ein Diviſionsexem— pel mit einem numerus clausus hinauslaufen, was Schil— ler als tranſzendente Anſchauung verkündet:

Fürchte nicht, ſagte der Meiſter, des Himmels Bogen,

ich ſtelle

Dich unendlich, wie ihn, in die Unendlichkeit hin!

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Das Laboratorium des Lukrez Eine ultramikroſkopiſche Phantaſie

Durch eine Landſchaft von ſchwer beſtimmbarem Charak— ter ſchritt der Wanderer. Daß ſie nicht zu dieſer Wirklich— keitswelt gehörte, war erſichtlich, denn obſchon mehrere Son— nen am Himmel ſtanden, lag ſie in geiſterhaftem Dämmer. Aber in dieſem verſchwimmenden Licht blieben die Bäume und Felſen als ſcharfumriſſene Körper erkennbar, und der Wanderer ſelbſt machte nicht den Eindruck eines dahinſeuf— zenden Schattens, ſondern eines rüſtig ausſchreitenden Men— ſchen. Er trug die Züge des Eleaten Zenon und hätte mit ſeinem Denkerkopf ſehr gut in Raffaels Schule von Athen hineingepaßt. Allein weit entfernt, irgendwelchem klaſſiſchen Säulenbau zuzuſtreben, machte er vielmehr an einem ſchlich— ten Landhaus halt und klingelte. Jawohl: klingelte. Und auf dieſes Zeichen erſchien an der Schwelle der Beſitzer des Landhauſes, der Römer Lucretius, und lud den Wanderer zum Nähertreten ein:

„Ich bin zwar augenblicklich beim Experimentieren, allein nichtsdeſtoweniger deine Störung, preiswerter Zenon, iſt mir lieber als die Arbeit. Du triffſt zudem gute Bekannte aus klaſſiſchen Jahrhunderten: Leucipp, Demokrit und Epikur ſind auch drin.“

Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 4

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„Da ſeid ihr alten Atomiſtiker ja glücklich alle beieinan⸗ der,“ ſagte Zenon, indem er dem Wirt folgte. Prüfend überflog ſein Blick den Raum. Da ſtanden Mikroſkope, Retorten, Reagenzgläſer, guter Hausrat eines neuzeitlichen Gelehrten. Der Eintretende ergänzte: „Zu meiner Zeit ſah es anders aus bei einem Philoſophen.“ Lukrez fing das Wort auf: „Zu meiner Zeit auch noch; aber es hilft nichts, man muß ſich moderniſieren. All das gehört ſozuſagen zu den Materialiſationsphänomenen, in denen uns die Leben⸗ den mit praktiſchem Beiſpiel vorangehen. Die Menſchen be— ſchwören Geiſter, wir laſſen die Werkzeuge der Menſchen zu uns kommen. Ich ſehe bereits die Zeit, da wir als Aus⸗ tauſchprofeſſoren in Berlin dozieren werden. Vorläufig bin ich ganz zufrieden, daß ich mir mit Inſtrumenten aus dem zwanzigſten Jahrhundert dies Laboratorium einrichten konnte. Sieh mal dort, Zenon, das blanke Geſtell, woran eben unſer Epikur hantiert: das neueſte Inſtrument von fabelhafter Vergrößerungskraft; ein Ultramikroſkop von Zeiß in Jena!“

„Laß mich mal hindurchſchauen, lieber Lukrez!“

„Vorläufig nicht. Wir brauchen es gerade zur Kontrolle darüber, ob es mit der Größe und Maſſe der Atome ſeine Richtigkeit hat.“

Epikur drehte den Kopf am Apparat ein wenig zur Seite und ſagte kurz und ſachlich: „Es ſtimmt!“

Demokrit und Leucipp, mit Rechnungen beſchäftigt, füg— ten hinzu: „Wie vorauszuſehen war, es muß ſtimmen!“

Lukrez ſtrahlte: „Ich hatte ja von Anfang an nicht den geringſten Zweifel; denn im Grunde haben ſich eben nur die Methoden geändert, nicht die Anſchauungen. Aber es macht uns doch ſtolz, daß die Prinzipien, für die wir ſchon vor Jahrtauſenden kämpften, heute jo glänzend ſiegen. Un:

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fer ganzer Atomismus, den wir aus innerer Intuition ſchöpf⸗

ten, iſt nunmehr klar erweisbar, durch Experiment und Ma⸗ thematik bis zur Evidenz erhoben. Mit einem Wort: Wir ſtehen vor dem größten Triumph der Wiſſenſchaft, und die⸗ ſer Triumph gehört uns!“

Aber der Wanderer Zenon ſah nicht im geringſten über- zeugt aus: „A priori möchte ich bemerken, daß ihr etwas als erwieſen anſprecht, was nicht nur unbeweisbar, ſondern ſogar unmöglich iſt. Meine Vernunft iſt mein Ultramikro⸗ ſkop, und durch dieſes ſehe ich das genaue Gegenteil der von euch behaupteten Dinge.“

„Weil du das Material nicht kennſt. Zenon, Vernunft⸗ menſch, ſei vernünftig und informiere dich ſyſtematiſch. Setze dich in die Ecke da drüben und ſtudiere vor allem erſt die Schriften, die du dort auf dem Bücherbrett findeſt. Was weißt du von Dalton, von Avogadro, von Boltzmann?“

„Nichts. Brauche ich auch nicht zu wiſſen.“

„Es iſt aber zur Verſtändigung unbedingt erforderlich. Alſo lies, Zenon. Du haft doch Zeit, nicht wahr? Als ge⸗ borener Eleat hältſt du es wohl bequem vier Wochen auf einem Studierſitz aus.“

„Wenn es allein darauf ankäme, vier Monate meinet⸗ wegen.“

„um ſo beſſer. Und wenn du dort fertig biſt, wollen wir dir die Experimente vorführen. Da ſollſt du dein Wunder und modern geſagt deinen Tag von Damaskus er⸗ leben!“

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Nach geraumer Zeit erhob ſich Zenon, mit einer gelinden Verſteifung in den Gliedern, die erſt wich, als er die Länge des Raumes hundertmal nachdenklich durchmeſſen hatte.

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Dann blieb er vor dem Ultramikroſkop ſtehen und blickte hindurch.

„Das find die ſogenannten Browuſchen Bewegungen in einer milchigen Flüſſigkeit; kannſt du die verfolgen, Zenon?“ fragte Epikur.

„Ich ſehe allerdings ein Chaos wirbelnder Körperchen. Sie ſchlängeln ſich zu Tauſenden, zucken blitzartig hin und her, verändern regellos die Richtung wie die Stäubchen im Sonnenſtrahle. Es find offenbar ſehr kleine Teile der Sub— ſtanz in geſtörtem Gleichgewicht. Und nun wollt ihr be— haupten, daß dies die Atome ſeien, die unteilbaren letzten Dinge der Wirklichkeit?“

Lukrez erläuterte: „Nicht eigentlich die Atome, ſondern die Moleküle, deren jedes eine endliche Gruppe von Atomen darſtellt. Die Hauptſache iſt, daß dieſe Moleküle nunmehr aus der Welt des unendlich Kleinen emportauchen in die augenfällige Sichtbarkeit. Unſere Ahnung wird hier ſinn— lich bewahrheitet. Der Schleier, den die Natur ſelbſt vor den Menſchenblick ſpannte, verbrennt im Strahle des Mikro— ſkops, und der Urgrund wird offenbar, genau wie wir alten Atomiſten ihn vorausgeſagt hatten.“

Zenon: „Du verſtehſt dich bereits zu einer Einſchränkung: das Atom entgeht euch noch, allein das Molekül habt ihr be= reits leibhaftig erfaßt und könnt es aus der Flüſſigkeit her— ausfiſchen.“

Lukrez: „Der Ausdruck trifft die Sache. Wir fiſchen heraus, wenn auch nicht mit der Angel, ſo doch mit dem Auge. Tatſächlich beſitzen dieſe Dingerchen Haken und Oſen, als klammernde Organe, die ineinander eingreifen, wie ich ſelbſt, weit vorausſchauend, im zweiten Buch meines be— rühmten Werkes de natura rerum verkündete:

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„Leicht erkennt man daraus, was lieblich die Sinne be— rühret, f

Müßt' aus glatten beſtehn und rundlichen Körpern des Urſtoffs,

Während hingegen was bitter und ſtreng den Sinnen zu—

wider,

Mehr ſich verbindet in ſich durch hakenförmige Kör—

per.“

Zenon: „Sage, Lukrez, du willſt alſo wirklich durch dein Mikroſkop in dieſem Gewimmel Haken und Oſen erkennen?“

Lukrez: „Das war doch nur bildlich geſprochen. Und ebenſo bildlich war es gemeint, wenn ich behauptete, daß wir die Moleküle wirklich ſähen. Eigentlich ſind es nicht ſo— wohl die Moleküle, als vielmehr gewiſſe äußerſt winzige harzige Teilchen, Emulſionskügelchen, deren Exiſtenz uns das Vergrößerungsglas verrät. Sie ſind groß genug, um durch die Stöße der Moleküle in lebhafte Bewegung zu ge— raten. Das Weitere iſt dann Sache einer äußerſt verwickel— ten, aber doch treffſicheren Berechnung.“

Zenon: „Mit anderen Worten: das thema probandum wird ſchon wieder preisgegeben, kaum daß es aufgeſtellt war. Ihr habt nur eine neue Schwierigkeit konſtruiert und unterſchiebt ihr eine andere Schwierigkeit in der Hoffnung, daß aus dem Zuſammenprall beider Schwierigkeiten das große X, euer fabelhaftes Atom, herausſpringen werde. Ihr könnt weder das Atom noch das Molekül nachweiſen, ſon— dern ihr ſchließt aus einem rätſelhaften Kugeltanz auf ein primum, auf ein primissimum agens nach der Denkſcha— blone: klein, kleiner, am kleinſten. Als ob das Allerkleinſte, das ihr erreichen könnt, nicht immer noch ein Fragezeichen hinter ſich hätte ſo groß wie das ganze Univerſum!“

or [0%]

Demokrit: „Und doch gibt es keine andere Methode, um der Wahrheit näher zu kommen; deinem rieſigen Frage— zeichen droht eine Antwort von gleicher kosmiſcher Größe. Die Methode beſteht darin, die Wahrheit zu überliſten, wenn wir ſie nicht auf geradem Wege überwältigen können. Laß dir das erklären, Zenon: Dieſe Kügelchen, die wir in den Bannkreis des Lichtes zwingen, ſind tatſächlich die Verräter der Urſubſtanzen geworden, die wir ſuchten; ſo wie ein ſchau— kelndes Schiff am Horizont die Meereswellen verrät, die wir aus jo weiter Entfernung nicht mehr wahrnehmen kön⸗ nen. Oder noch beſſer ſo zu verſtehen: wir zeigen dir durch das Fernglas den Tanz der Monde um einen Planeten; da haſt du zunächſt den Eindruck einer grobſinnlichen Erſchei— nung. Aber hinter ihr verſteckt ſich das Walten des feinſten Fluidums. Durch eine Kette ſcharfſinnigſter Überlegungen beweiſen wir dir, daß hier der Tanz das Außerliche iſt, das Innerliche indes die kleine Lichtſchwingung, von der Millionen auf den Meter und Billionen auf die Sekunde entfallen. Solche Ziffern geben das Maß für den Fortſchritt der Er— kenntnis. Hier nun ſtehen die Lichtſchwingungen in lehr—⸗ hafter Parallele mit den Molekülen. Mit der Zange zu grei- fen ſind weder die einen noch die anderen. Aber zu errechnen, graphiſch abzubilden ſind ſie genau. Und wir haben ſie er— rechnet. Wenn ich „wir“ ſage, fo meine ich damit die Ato⸗ miſten überhaupt. Wir fühlen uns weſenseins mit denen, die nach uns kamen, mit den Genies: Gaſſendi, Avogadro, Fechner, Mendjelejew, Becquerel, Curie, Vant' Hoff, Planck, Perrin, Einſtein, Langevin, deren Forſchungen wir überprüft haben.“

Epikur: „Mit dem Ergebnis, wie geſagt: es ſtimmt!“

Zenon: „Die Freude ſteht dir gut zu Geſicht, Epikur;

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du haft offenbar von der Tafel der Erkenntniſſe ein befon-

ders ſaftiges Schlemmerſtück genoſſen.“

Epikur: „Ein pythagoreiſches Stück: Das Weſen der Dinge iſt die Zahl, das Weſen der Urdinge die gewaltige Po- tenzenzahl. Exakt geſprochen: Die Zahl der Moleküle in einem einzigen Liter Gas beträgt dreimal zehn zur zwei undzwanzigſten Potenz; eine mit dreiundzwanzig arabiſchen Ziffern zu ſchreibende Zahl, die ſich hoch in die Trilliarden erſtreckt..“ |

Zenon: „. . . Und von der ihr euch ebenſowenig irgend— ein Bild machen könnt wie ich. Eure Phantaſie entzündet ſich an der Billion, an der Trillion, an der Trilliarde; ſie wird getäuſcht, indem fie an einer vorgeblichen Exaktheit empor⸗ klettert, die in Wirklichkeit nichts anderes iſt als ein Sprache ungeheuer. Dem Papier, das die Notiz trägt, bedeutet die klar ausgeſchriebene Potenz einen Triumph, eurem Blick eine Augenweide, dem Verſtand iſt die raſſelnde Zahl lediglich eine Beſchämung, beſtenfalls eine Umſchreibung für ſehr viel, unvorſtellbar viel, alſo eine Tautologie dafür, daß wir nach der Zahl nicht um ein Haar klüger ſind als vor ihr.“

Lukrez: „Ich finde, du tuſt der Zahl unrecht. Zum min⸗ deſten hat ſie etwas Berauſchendes, ſie öffnet Weiten und Horizonte, in die man vorher noch nicht geblickt hat. In ihrer Unvorſtellbarkeit ruht ihr geheimer Reiz, und wie wir zuerſt die Natur überliſteten, ſo beſchleichen wir nunmehr die Zahl, um ihren Reiz ſinnlich zu erfaſſen; wie ein Verlieb— ter das Haupthaar ſeines Mädchens durch die Finger lau— fen läßt als eine Vielheit, deren numeriſcher Zauber ſich

ihm in einer Entzückung offenbart. Wir ſtellen uns zum

Beiſpiel vor, jener Liter ſei leer, ein vollkommenes Vaku⸗ um. Durch eine feine Stichöffnung in der Wand laſſen wir

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die Luft in das Innere ftreichen mit dem Auftrag, pro Se: kunde zehn Millionen Moleküle in das Innere zu befördern. Wie lange meinſt du wohl, Zenon, brauchte die Luft, um den Liter wiederum bis zum urſprünglichen Gasdruck zu fül— len?“

Zenon: „Ich bin überzeugt davon, das wird ſehr lange währen. Wenn ich dir einen beſonderen Gefallen damit er— weiſe, ſage ich: ein Menſchenalter.“

Lukrez: „Weit gefehlt! Hundert Millionen Jahre würde das dauern, nicht einen Tag weniger! Auch das iſt unvorſtellbar, aber es liefert doch eine anſchauliche Ahnung.“

Zenon: „Mein Experiment wäre einfacher. Ich erteile der Luft den Auftrag, etliche Trillionen Moleküle pro Se— kunde durch die Stichöffnung zu ſchaufeln, und ſiehe da, ſie leiſtet das Kunſtſtück in wenigen Minuten. So oder ſo: Die Trillionen wirſt du nicht los, willſt ſie ja auch gar nicht loswerden. Im Gegenteil, ſie machen dich glücklich. Und noch glücklicher wärſt du, wenn du noch etliche Nullen an— heften und dich bis in die Quadrillionen verſteigen könnteſt.“

Lukrez: „Du haſt es getroffen, Zenon, und ich kann dir die erfreuliche Mitteilung machen, daß es des Wunſches nicht mehr bedarf, da bereits die Erfüllung vorliegt. Wenn wir nämlich vom Urgrund zum Ururgrund vorſchreiten, alſo vom Molekül zum Atom, ſo ermitteln wir die Maſſe des Waſſer— ſtoffatoms als eine Größe, die ungefähr dem quadrillionſten Teil eines Grammes entſpricht.“

Zenon: „Nimm meine herzlichſte Gratulation entgegen! Warum ſollte ich dir deine Zahlenorgien mißgönnen? Du betreibſt ſie in deiner Weiſe ſo aufrichtig wie jene Romanen, die ihre berittenen Truppen vervielfältigen, indem ſie nicht

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die Reiter, ſondern die Gliedmaßen zählen und einen Kriegs: haufen nicht auf hundert Mann, ſondern auf ſechshundert Beine beziffern, Soldatene und Pferdebeine impoſant zu⸗ ſammengezählt. Freilich ſind dieſe Romanen Stümper gegen dich, und ihre Einheiten, methodologiſch genommen, Kinder— ſpielereien gegen deine. Ich gebe ohne weiteres zu, daß eure Diviſoren und Multiplikatoren erſchütternd auf mich wir— ken.“

Lukrez: „Ironie, Heftigkeit und Irrtum ſind uns eine gewohnte Trias. In Wahrheit überrumpelt die Größe un— ſerer Zahlen nicht ſowohl die Vorſtellungskraft, als viel— mehr einen alten Denkfehler, nämlich den, daß von der Quan⸗ tität keine Denkbrücke zur Qualität führe. Was ſich äußer- lich als eine Zahlenſchwelgerei darſtellt, umſchließt im Kern eine höchſtbezifferte Wahrſcheinlichkeit, und in dieſer hohen Wahrſcheinlichkeit erkennen wir das arithmetiſche Geſicht der Wahrheit. Wir ſchließen tatſächlich von der Maſſe auf die Eigenſchaft, und mit der wachſenden Zahl verengert ſich die Fehlergrenze auch für das qualitative Erfaſſen.“

Zenon: „Vermöge eines Prinzipes, das euch immer wie— der verlockt, einen Denkfehler zu eliminieren, indem ihr einen zweiten, noch unerkannten, rechnungsmäßig einſchmuggelt, und ſo fort, ohne aufzuhören.“

Lukrez: „Es hört auf. Die Fehler tilgen ſich gegenſeitig, und aus dem regressus wird ein progressus in inf initum. Wir ziehen die Maſchen eng und enger, bis aller Zweifel ge— fangen iſt und die abſolute Sicherheit hindurchfiltriert. Und ſelbſt wo wir hypothetiſche Gerüſte errichten, entwickeln ſich hinter ihnen die herrlichſten der Ewigkeit trotzenden Faſſaden. Nimm das Atom für eine Hypotheſe, das Atomgewicht, das Verhältnis der Moleküle wiederum als Hypotheſen, jo bre—

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chen wir fie als Hilfskonſtruktionen eines Tages ab und zeigen dir den Wunderbau des periodiſchen Syſtems der Ele— mente, der allen Erfahrungen ſtandhält. Mehr als das: Von der Zinne dieſes Syſtems, wie es Mendjelejew entwickelt hat, beherrſchen wir die Zukunft der Wiſſenſchaft. Die Atome können wir nicht ſehen, aber ihre Eigenſchaften vorausſagen in Elementen, die noch kein Forſcher dargeſtellt hat, das können wir! Die ſpätere Erfahrung muß genau das liefern, was die frühere Induktion als zwingend und notwendig vor= gebaut hatte. Und ſie liefert es wirklich. Es iſt ſo, als ob die Wirklichkeit auf den Befehl des Atompropheten wartete. Der Stein der Weiſen iſt längſt überholt. Er hätte beſten⸗ falls etwas dargeſtellt, was man ſchon kannte, das Gold. Wir beſchließen theoretiſch Metalle, wie das Thallium, Skan⸗ dium, Germanium, wir verkünden vor der Exiſtenz irgend⸗ einer Probe alle Qualitäten, und ſpäter kommt die Wirk⸗ lichkeit nachgehinkt und bringt die vorausbeſchloſſenen Ele— mente Thallium, Skandium, Germanium. Wo in aller Me⸗ taphyſik haſt du ähnliches erlebt? Wo haſt du erlebt, daß der Theoretiker erfand, was der Praktiker nachher entdeckte? Aus einer ſcheinbaren Unmöglichkeit heraus, aus dem Atom, erwachſen hier kriſtalliſch alle Unerſchütterlichkeiten der Fol- gezeiten. Vor unſeren Atomrechnungen kapituliert die Na— tur ſelbſt.“

Zenon: „Wenn dir an meinem Staunen gelegen iſt habeas! Du entwickelſt mir Phaethonflüge, denen gegenüber ich bekennen muß: ihr fliegt oben, ich ſtehe unten. Ich müßte nicht aus Elea, ſondern aus Böotien ſein, wenn ich leugnen wollte, daß aller Glanz der Erſcheinung ſich an eure Be— wegung heftet, während tiefer Schatten meinen Standpunkt bedeckt. Nur daß ich ſicherer unten ſtehe, als ihr oben fliegt;

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und daß eine einzige große Erfahrung euch wie der Blitz— ſchlag des Zeus aus allen Himmeln ſchleudern kann. Einſt⸗ weilen fahrt ihr ja noch am Himmelsbogen, verblüfft über euer eigenes Gelingen, und ihr glaubt den Weg zu meiſtern, weil eure Sonnenroſſe noch galoppieren. Aber das unheil— volle Geſpenſt, das euch bereits die Zügel aus der Hand gewunden hat, das ſeht und ahnt ihr nicht. Es iſt das Ge— ſpenſt des Widerſpruchs. In allen euren Verkündigungen ſteckt die Theſe und die Antitheſe, das Ding an ſich und deſſen Gegenteil: nämlich das Atom, atomos, das unteilbare Letzte, daß ihr trotzdem wieder teilen müßt, um zu ſeinen Eigenſchaften vorzudringen. Ein Punkt hat keine Eigenſchaf— ten. In dem Moment, da ihr von Qualitäten, von dinglichen Beziehungen, von Wirkungen redet, zerſpaltet ihr den Punkt im Körper, während die ganze Beweisführung darauf ange— legt war, den Körper in Punkte zu zerlegen; zwei Opera— tionen, von denen jede für ſich nur mit Spitzfindigkeit durch— zudenken, die aber in ihrer Vereinigung eine blanke Sinn— loſigkeit ergeben. Und der Logos wird ſich rächen an denen, welche die Logik vergewaltigen.“

Demokrit: „Dazu hätte er ſchon reichlich Zeit gehabt von meiner erſten Anſage bis zu Gaſſendi, von Gaſſendi bis zu Fechner, von Fechner bis zu Ramſay. Aber was hat er getan? Er hat immer nur beſtätigt, der ſcheinbaren Antino— mie immer neue Stützen geliefert. Auf wieviel verſchiedenen Wegen ſind wir dem Atom zu Leibe gegangen, um jedes— mal auf dieſelbe Größenordnung zu ſtoßen! Gänzlich un— abhängig, durchaus getrennt in Raum, Zeit und Motivation, kamen die Zeugniſſe von den Bromnfchen Bewegungen, von der Spektralanalyſe, von der Opaleſzenz, von der Elektrizi⸗ tät, vom Radium und Helium, von der Energieſtrahlung,

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und alle Zeugniffe trafen in ein und derſelben Trilliardenhöhe zuſammen.“

Leucipp: „Dreizehn verſchiedene Methoden wurden be— ſchritten, und dreizehnmal mit derſelben Evidenz ſprang die— ſelbe überwältigende Zahl heraus: die Avogadro-Konſtante, die über Größe und Gewicht der Moleküle Aufſchluß gibt“). So ward die Wahrſcheinlichkeit zur Gewißheit erhöht. Die logiſche Prognoſe, daß Cajus ſterben muß, weil alle Men— ſchen vor ihm ſtarben, iſt eine lockere Konjektur gegen die Sicherheit dieſer Avogadrozahl.“

Lukrez: „Und in ihrer unfaßbaren Größe ruht zugleich ihre Majeſtät. Was dem von brüllenden Ziffern erſchreckten Gemüte als Phantasma erſcheint, iſt nur der Ausdruck ihrer ſouveränen Macht und Geltung. Die Zahl in ihrer wuchtigen Größe entſpricht der Weite der Schatzkammer, die das Ge— heimnis der Subſtanz umſchließt; das Molekül auf der Grenze zwiſchen Körper und Nichts gibt den Maßſtab für die Feinheit unſerer Konſtruktionen. Ihre Verſchmelzung legt uns zur Eröffnung jener Schatzkammer den Schlüſſel in die Hand. Wir berechnen die innere Struktur der Sub—

*) Zum Vergleich ſeien empfohlen: Jean Perrin: „Die Atome“ (deutſche Ausgabe von Lottermoſer im Verlage von Steinkopf, Dresden und Leipzig). A. von Antropoff: „Die chemiſchen Elemente und Atome im Lichte alter und neuer Forſchung“ (Vor⸗ träge aus der Baltiſchen Literariſchen Geſellſchaft, Riga). Ferner: Van't Hoff: „Die Lagerung der Atome im Raume“ (Verlag Vieweg, Braunſchweig). K. Laßwitz: „Atomiſtik und Kritizismus“ (ebenda). Fritz Mauthner: „Artikel Atom im Wörterbuch der Philoſophie“ (Georg Müller). H. Vaihinger: „Die Atomiſtik als Fiktion“, in dem Werk „Die Philoſophie des Als Ob“. Fechner: „Atomenlehre.“ Emanuel Lasker: „Atomſtudien“ in „Das Be— greifen der Welt.“

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ſtanzen weit über jede Leiſtungsfähigkeit des Mikroſkopes hinweg; wir zerfällen die Elemente und laſſen eines aus dem anderen hervorgehen; wir ermitteln ſubſtantielle, atomiſti— ſche Kernpunkte in den Energien; wir zerſtören die alte Me— chanik und bauen eine neue Kauſalerkenntnis über dem Re— lativitätsprinzip; wir zwingen die Zeit in die Dimenſionen des Raumes; grundſtürzend und grundlegend gehen wir vor, wir Atomiſten.“

Zenon: „Und merkwürdig genug, trotz aller dieſer An— ſtrengungen ſpart ihr dabei noch Energie. Die ſchichtet ihr empor zu ungeheuren Stapeln, die faßt ihr in Sammelbecken, aus denen ihr die Welt ſpeiſt. Nur daß die Rechnung nicht ſtimmt. Denn das letzte Ziel bleibt unweigerlich ein tech— niſches Werk mit der letzten Ausſicht auf einen neuen Ge— ſchwindigkeitsrekord, den ihr für einen Glücksrekord nehmt. Indem ihr Subſtanz und Kraft in Elektronen zerrechnet, mit der Abſicht, die Natur zu überliſten, werdet ihr nicht gewahr, daß dabei eo ipso die gegenteilige Wirkung ein— tritt: die Natur überliſtet euch! Sie ſchiebt euch Trillionen von Rechenpfennigen zu, und ihr bucht ſie als bare Münze. Immer wieder reitet ihr euer Paradepferd, die Konſtanz der Energie, und überſeht dabei, daß auch Menſchheitsglück eine Energie iſt, die nicht gleichzeitig erhöht, verbreitert und ver— tieft werden kann.“

Epikur: „Ein Sophisma, Zeno! In dieſem Zuſammen— hange dürfteſt du nicht von Glück, ſondern müßteſt von Kultur ſprechen.“

Zenon: „Und wenn ich nach eurem Rezept die Kultur analyſiere und nicht auf Glücksmoleküle ſtoße, wozu dann die ganze Arbeit? Aber halten wir uns für den Augenblick nicht an Werte, ſondern an Worte, reden wir von der Kultur:

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Iſt der Lebende, weil er drahtlos telegraphiert, kultivierter, als es mein Lehrer Parmenides war? kultivierter als Pla⸗ to? kultivierter als du ſelbſt, Epikur, der du in deinem Gar⸗ ten zu Athen ſoviel Strahlen der Einſicht und Luſt in einem Brennpunkt zu fangen wußteſt?“

Epikur: „Heut weiß ich dennoch, was mir damals im epikureiſchen Garten fehlte: die Kunſt, Erkenntniſſe in Schöpfungen zu verwandeln. Das war der Neuzeit vorbe— halten; indem ſie erkennt, bewältigt ſie, ſchafft ſie. Ich ahnte im Atomismus nur die fernen Linien der Forſchung, nicht deren Werke, die den Menſchen zum Herrn der Energien macht.“

Zenon: „Und wiederum ſage ich dir: Es ſtimmt nicht! In unzähligen Fällen ging das Werk vorauf, die Theorie folgte: Heron von Alexandrien konſtruierte die erſte Dampf— maſchine, ohne von dem Bombardement der Gasmoleküle gegen die umſchließenden Wände eine Ahnung zu haben. Der Kompaß, die Elektriſiermaſchine wurden erfunden, als der Begriff des magnetiſchen Feldes, der Kraftlinie, des elektri— ſchen Potentials noch nicht exiſtierten. Die ſelbſttätige Dampfſteuerung war das Werk eines britiſchen Kindes, das ſich mit dieſer Erfindung nur die Langeweile vom Halſe ſchaffen, aber nicht den Weg von der Erkenntnis zur Energie— bewältigung finden wollte. Der Erbauer des erſten Fern— rohrs wußte nichts von Billionenſchwingungen des Licht— äthers, die galvaniſchen Werke erwuchſen nicht als Blüte aus erkannten Geſetzen, ſondern aus einem doppelten Zufall un— ter Aſſiſtenz toter Fröſche. Im Grunde kommt es aber auch nicht darauf an, in welche Praxis die Erkenntniſſe münden, ſondern ob ſie uns dem Weltgeiſt näherbringen. Das eben leugne ich gegenüber der atomiſtiſchen Kleinarbeit, die im

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Exakten nur wiederholt, was uns im Groben die Danaiden

ſchon vorgemacht haben. Als ich vorhin in deinen Büchern blätterte, Lukrez, ſtieß ich auf den Atomiſten Thompſon und auf fein Wort: Die Annahme der Atome kann keine Eigen⸗ ſchaft der Körper erklären, die man nicht vorher den Ato— men ſelbſt beigelegt hat. Eure Feinmechanik durchläuft alſo einen circulus vitiosus. Jedes Atom repetiert die Uns erklärlichkeit der ganzen Welt, jede hohe Zahl potenziert deren Rätſel, jede Helligkeit interferiert mit anderer Helligkeit und erzeugt eine Finſternis. Zugegeben, daß ihr die Oberfläche des poſitiven Wiſſens vergrößert, ſo wächſt damit nur die Oberfläche des Unbekannten, denn beide berühren ſich und ſind identiſch. Wie ich ſchon in Elea verkündete und Pascal nach mir ſehr treffend weiterſagte.“

Damit verließ Zenon das Laboratorium und wanderte hin⸗ aus in die asphodeliſche Wieſe, wo zahlloſe Taumoleküle in den Gräſern iriſierten. Und er empfand ſie deutlich als zahllos, hielt es aber für unerheblich feſtzuſtellen, ob es ſich um Tauſende oder um Trillionen handelte.

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Die entlarvte Natur

Ein Forſcher bereitet zu beſonderem Zweck einen Aufguß über gewiſſen Pflanzenfaſern. Nach etlichen Tagen entwickelt ſich in der Flüſſigkeit ein munter bewegtes, nur in ſtarker Vergrößerung erkennbares Völkchen von Infuſorien. Sie ſcheinen im allgemeinen mit ihrem Daſein zufrieden, nur ein beſonders geſcheites Wimpertierchen nimmt ſich eine Kritik heraus und teilt ſie ſeinen Artgenoſſen mit: in dem Tropfen ſei es zu eng, die Nahrungsverhältniſſe ließen zu wünſchen übrig, ja ihr eigener Bau mit Häutchen, Wimpern und Gei— ßeln ſei eigentlich als verfehlt zu betrachten. Und rückſchlie— ßend auf die Entſtehungsurſache kommt der winzige Kritiker zu der Folgerung: da ſeien gewiß grobe Fehler vorgefallen; und er ſelbſt, der zwerghafte Wimperträger, hätte das alles viel beſſer gemacht.

Der Vorgang iſt unmöglich. Auch das klügſte Infuſions— tierchen findet keinen Gedankenweg von ſich zu dem Forſcher, der den Aufguß bereitete, zu den Abſichten, die ihn leiteten, zu den Entwicklungstatſachen, mit denen er rechnete. Das denkende und kritiſierende Infuſorium iſt ein Unding. Oder doch nicht?? wäre es vielleicht nur ein verkleinertes Ab— bild des Forſchers ſelbſt, der jene Phantaſie belächelt und nachher in ſeiner Vorleſung genau die nämlichen Denkwege einſchlägt?

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| Ja, dieſer Forſcher begibt ſich in den Hörſaal und erörtert

dab

dort die Abſichten der Natur. Er vergleicht ſie mit ſeinen eigenen und entdeckt Fehler in dem Schöpfungsplan, beſon⸗ ders im Aufbau der Organismen. Er weiſt nach, wo ſie fehlgegriffen und wie man das und jenes hätte beſſer, folge richtiger, zweckentſprechender machen können. Das von ihm gern gebrauchte Wort „Allmeiſterin“ erhält einen ironiſchen Nebenton. Denn dieſe Allmeiſterin hat Vorſchriften des Ge— ſchehens aufgeſtellt, Naturgeſetze, die unter der Sonde des Menſchenverſtandes ſozuſagen ſittliche Schwächen verraten.

Der Dozent geht noch weiter: er ſpricht geradezu von Uns

tugenden der Natur und weiſt deren Vorhandenſein mit er— ſtaunlichem Scharfſinn nach.

Er kann ſich dabei auf berühmte Vorgänger berufen, wenn man nämlich den Wortlaut der Großen gelten läßt, die mit der Natur nicht einverſtanden waren und ſich mit ihr ſcharf auseinanderſetzten. An ihrer Spitze ſteht der Gewaltigſten einer, vielleicht der größte in der Zuſammenfaſſung natur— wiſſenſchaftlicher und philoſophiſcher Erkenntnis: Hermann Helmholtz. Ob er es genau ſo anthropomorphiſch, ver— menſchlichend, meinte, wie er es ſagte, bleibe einſtweilen au= ßer Betracht. Aber geſagt hat er es, und ſein Wort bean— ſprucht den Wert eines geſchichtlichen Urteilsſpruchs.

Er erging gegen die Natur als Verfertigerin des menſch— lichen Auges. Helmholtz leugnete nicht gewiſſe bewunde— rungswürdige Eigenſchaften dieſes Organs, aber heftig be— mängelte er den Umſtand, daß bezüglich der Hornhaut und Kriſtallinſe keine richtige Zentrierung ſtattfindet. Und er er⸗ klärte: brächte mir ein Mechaniker ein Inſtrument ſo vol— ler Fehler und unnötiger Erſchwerungen, ſo würde ich ihm die Tür weiſen! Alſo ein Rüffel in ſtärkſter Form.

Moszkowski, Der Sprung Über den Schatten 5

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Hiernach hat alſo die Natur entweder nicht genügend Optik ſtudiert, oder ſie hat das Studierte nicht recht begriffen, oder ſie verfuhr mit unzureichender Geſchicklichkeit; falls nicht noch ärgere Sünden im Spiele ſind. Denn ſchließlich hat doch die Mechanikerin Natur als Vorausſetzung ihrer Arbeit die ganze Weltmechanik geſchaffen, und dieſe ſtützt ſich auf einen Satz, den Galilei 1638 entdeckt hat: auf das „Träg— heitsgeſetz“. Wie ſchlau! Sie verordnet als durchgrei— fendes Leitmotiv eine Untugend und nimmt ſie für ihre ei— genen Geſtaltungen in Anſpruch. Jenes Geſetz, auch das iſt geſagt worden, bedeutet nichts anderes als den Deck— mantel für jede flüchtige Arbeit in der Weltwerkſtatt: Die Natur iſt träge, ſie ſcheut die Arbeit, ſie gibt ſich nicht genug Mühe bei ihren Herſtellungen.

Das angeblich verſtümperte Auge ſoll nur einen beſonders ſinnfälligen Beweis darbieten. Aber auch andere Organe lie— fern den Anlaß zu trübſeligen Wahrnehmungen. Vor al— lem: die Natur überprüft nicht, was ſie einmal gemacht hat, ſie erneuert nicht das Erneuerungsbedürftige, verbeſſert keine Schäden. Wegen dieſes Verhaltens hat ihr Metſchnikow vom Pafteur-Inftitut, Mitſchöpfer der organifchen Immuni— tätslehre, tüchtig die Leviten geleſen:

Wenn man alten Hausrat übernimmt, ſo findet man unter noch brauchbaren auch unnütze und ſogar gefährliche Stücke; z. B. wir benützen elektriſches Licht und erben eine Lichtputz— ſchere. Der Menſch hat Organe geerbt, die ſolchen Möbeln gleichen. „Der Blinddarm iſt die Lichtputzſchere.“ Die Natur will nicht einſehen, daß ſie uns damit nur eine böſe Laſt aufpackt. Sie erſchafft immer wieder, aus bloßer über— lebter Routine, das völlig zweckloſe und ſtörende Organ, das wir, wenn es nur irgend geht, herausſchneiden und fort—

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werfen ſollten. Ebenſo liegt es beim Dickdarm. Da dieſer nicht nur zu nichts dient, ſondern täglich ungefähr 120 Bil- lionen Bakterien ernährt, wird er als Mikrobenſchützer zum Herd vieler ernſter Krankheiten.

Sogar den Magen hielt Metſchnikow für das Ergebnis einer Pfuſcherarbeit, wenigſtens inſofern, als auch in ihm die Trägheit und abgeſtandene Routine fortwirke. „Die Na— tur will nicht einſehen ...“ ſagte der Gelehrte und überließ es ſeinen Hörern, die Folgerung auf Unklugheit oder böſen Willen zu ziehen; vielleicht auf beides. Der Profeſſor als Staatsanwalt betont die Tatſchuld und läßt die Ausrede auf das Trägheitsgeſetz höchſtens als mildernden Umſtand gel— ten. Die Natur hätte eben einſehen müſſen, was ihm, dem hellſichtigen Metſchnikow, ſo klar vor Augen lag.

Zweifellos hatte die Natur im Anbeginn die Wahl zwiſchen verſchiedenen Arbeitsmethoden. Deren Ergebnis, die wirk— liche Welt, iſt nach Leibniz die beſte unter allen möglichen; Schopenhauer ergänzt: aber immer noch ſchlechter als gar keine. Der uns zeitlich näherſtehende Forſcher verfährt radi— kaler. Er greift beſtimmte Organe heraus und erklärt: der wirkliche Dünn- und Dickdarm iſt ſogar ſchon der ſchlechteſte unter allen möglichen Därmen.

Und da öffnet ſich obendrein noch eine höchſt bedenkliche Gegenrechnung. Sie entſpringt dem Bewußtſein von den fehlenden Organen. Wie? die Natur hat uns hinausge— ſtellt in ihr Erſchaffenes, um deſſen Botſchaften zu verneh— men, und ſie verſagte uns hierfür die notwendigſten Mit— tel und Organe? In unendlichen Schwingungen umgibt uns dieſe elektro⸗magnetiſche Welt, und wir können fie nur auf mühevollſten Umwegen errechnen, erahnen, in unkenntlichen Verkleidungen den mangelhaften Sinnen zuführen, aber nie=

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mals in ihrer Urform ſpüren! Unſer auf Optik eingeftelltes Auge iſt ein blindes Werkzeug im Verhältnis zu dem elek⸗ triſchen Auge, das uns die Natur verweigerte, unſer Ohr iſt taub, unſer Taſtſinn ſtumpf in dieſer elektriſchen Unend— lichkeit; in ihr ſollen wir uns zurechtfinden wie ein in den Himalaja verſchlagener Wanderer, der als Wegweiſer ein Handbuch vom Thüringer Gebirge mitbekommen hat. Welche unzweckmäßige Knauſerei! Niederen Tieren, wie dem Zit⸗ terrochen, dem Nilwels, ja ſogar dem lebloſen Magneteiſen ward dieſer Sinn zur Orientierung verliehen; und der Menſch braucht den ungeheuren Weg von den altägyptiſchen Weiſen bis zu Guericke und Volta, um ſich nur einen kümmerlichen Stecken zur tölpelnden Vorwärtstaſtung zurechtzuſchnitzen!

Alſo käme auch der Geiz auf die Liſte der Naturſünden, und dicht darunter die ſinnloſe Verſchwendung, in Keimen, in Räumen, in ungenützten Kräften. Beide zuſammen er⸗ geben eine bis zur Spitze getriebene, in allen logiſchen Zick— zackſprüngen taumelnde Inkonſequenz der Natur, die man ja auch ſchon aus ihrem ureigenen Geſetze ableiten kann. Sie erfand die kürzeſte Linie, angeblich als Regel für die Voll- ziehung größter Aufgaben mit dem kleinſten Kraftaufwand und wurde dafür von Fermat, Maupertuis, Euler irrtüm⸗ licherweiſe belobt; und daneben erfand ſie die längſte Linie, das Prinzip des größten Umweges, in der Züchtung aller Organismen. Denn wenn nach der Selektionslehre immer nur das paſſendſte Weſen übrig bleibt, und wenn dabei keine einzige Entwicklung ihren Abſchluß fand, ſo beweiſt das doch nur, daß bisher noch kein einziges Exemplar richtig in die Welt gepaßt hat, daß der Natur bisher alles ohne Aus- nahme mißglückt iſt. Ob Art, ob Einzelweſen, ob Organ, gleichviel; die Natur hantiert an ihnen mit Geiz, Verſchwen⸗

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T

5 dung, Grauſamkeit, Trägheit und Überſtürzung, zeigt immer

an einem Prinzip, daß das andere nicht ſtandhält. Millionen

von Jahren hat ſie verbraucht, um aus einem Pigmentfleck

ihr Paradeſtück, das Auge, zu entwickeln; ein Fehlerwerk, das Helmholtz' Mechaniker in ernſte Unannehmlichkeiten mit ſeinem Auftraggeber verwickelt hätte.

Das Regiſter mit ſeinen Bekräftigungen könnte über hun— dert Seiten weit fortgeführt werden. Aber wer ein Buch daraus machen will, vergeſſe nicht, das letzte Kapitel an den Eingang anzuknüpfen: an das Aufgußtierchen, das ſich über

den Aufguß beklagt. Denn über den Zirkelſchluß gelangen wir

nicht hinaus. Sind die Werke verfehlt, ſo iſt es auch der Ver⸗ nunftmaßſtab, den wir in uns vorfinden, und jene erſcheinen ſo, weil wir ſie mit einem irreführenden Werkzeug meſſen. Es bleibt der Sprung über den eigenen Schatten, wenn der Forſcher im Unbegreiflichen Vollkommenheiten oder Mängel ſucht; nichts anderes iſt da zu erſpringen, als die Unvoll— kommenheit des Forſchenden. Keiner zuvor und Keiner nach her hat das ſo kurz und ſchlagend ausgeſprochen wie Goethe mit ſeinem weltumſpannenden Satze: „Der Menſch begreift niemals, wie anthropomorphiſch er iſt!“

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Das Glück in mathematiſcher Beleuchtung

„Lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück iſt im⸗ mer da!“ Bei aller Wertſchätzung Goetheſcher Lebens— weisheit kam mir dieſer Befehl in jener Stunde ziemlich läp⸗ piſch vor. Denn ich hatte ſoeben wieder einmal gründlich am Glück vorbeioperiert, wie das ſo in Monte Carlo ehedem zu meinen Lebensgewohnheiten gehörte. Das Glück iſt immer da zweifellos! Es liegt immer auf einer Farbe und auf einer Nummer, und es läßt ſich auch ergreifen, wenn man gerade richtig herauskommt. Aber gelernt kann das nicht werden, nicht mit Ausdauer, Talent und Fleiß, von keinem Manne wenigſtens, denn dieſes Gelernthaben bleibt das vor— behaltene Recht einer Frau, der Madame la Banque, in deren Aktivpoſten ſich meine Einſätze mit ſchöner Regelmäßigkeit in Dividenden verwandelten.

Vor dem Cafe de Paris ſaß ich einſt in der warmen Winter: ſonne und dachte der letzten Serien, die für mich ſo ſeriös verlaufen ſollten. Es ſitzen dort wenige, die nicht an Glück und Unglück denken. „Höchſtes Glück der Erdenkinder iſt nur die Perſönlichkeit!“ Wieder ſo eine liebe Goetheſentenz, mit der in Monte Carlo nicht das leiſeſte anzufangen iſt. Alſo an meiner Perſönlichkeit ſoll ich mich in dieſer Stunde

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der Zerſchmetterung erfreuen, an meiner pechbehafteten, im⸗ mer daneben ratenden, total ausgebeutelten Perſönlichkeit. Und gleich im Superlativ als am „höchſten“ Glück! Wäh⸗ rend dieſes ſich doch ganz klar auf der verdammten Nummer 32 etabliert hatte, die im Laufe einer Stunde achtmal heraus— gekommen war. Hätte da nur meine Perſönlichkeit drauf— geſeſſen! Nein, definitiv, davon hat Goethe nichts verſtan— den, eher ſchon der Schubertſche Wandersmann: „Da wo du nicht bift, auf dem numéro en plein, wo du nicht ſetzt, da iſt das Glück!

Am nämlichen Tiſch nahm ein älterer Herr Platz, der mit ſeiner gänzlich unmodiſchen Kleidung nicht recht in dieſen Lebenskreis zu paſſen ſchien. Mein Name iſt Bernoulli, ſagte er, und da Sie mich als gebildeter Menſch vermutlich ſo— gleich fragen werden, ob ich mit der berühmten Gelehrten— familie gleichen Namens zuſammenhänge, ſo ergänze ich: Daniel Bernoulli, geboren 1700, der glänzendſte Vertreter der Bernoulliſchen Dynaſtie, ſozuſagen der gefeiertſte Mathe— matiker meiner Zeit, zehnmal mit dem Preis der Pariſer Akademie gekrönt.

Ich hätte nun eigentlich über dieſen Anachronismus ſtau— nen müſſen. Allein man wundert ſich nicht an der Riviera. Das Abenteuerliche iſt ja hier die Regel. Eine lückenloſe Folge von zweiundzwanzig Rouges erſcheint im erſten Anblick un— wahrſcheinlicher als das Auftauchen eines Menſchen aus dem achtzehnten Jahrhundert. Wer, wie ich, eine ſolche unmög— liche Serie leibhaftig erlebt hat, der behält keinen Sinn für andere Überraſchungen übrig. Ich wunderte mich alſo nicht im geringſten, ſondern fragte einfach: Spielen Sie?

Gewiß ſpiele ich, antwortete Bernoulli. Ich ſpiele mit dem Einſatz mathematiſcher Methoden und gewinne dabei

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Überzeugungen, die ſich von denen der Mitwelt ſehr erheblich unterſcheiden. Ich berechne das menſchliche Glück und füge hinzu, daß alle Glückswertungen außer der meinigen falſch ſind und an einem bösartigen Denkfehler leiden.

Ach, Herr Bernoulli, entgegnete ich, ich weiß, worauf Sie hinaus wollen und möchte Sie bitten, ſich nicht zu be— mühen. Alle dieſe Wahrſcheinlichkeitsrechnungen ſind für mich olle Kamellen. Sie werden mir beweiſen wollen, daß kein Syſtem ſtandhält, daß die Bank durch das Zero der Roulette und durch das Refait des Prente et Quarante ein Übergewicht beſitzt, das ſich mit dem Zwang der großen Zahl unter allen Umſtänden durchſetzt. Das ſind papierene Weisheiten, die theoretiſch feſtſtehen mögen, aber vor der Praxis ihren Sinn verlieren. Ich zum Beiſpiel kann jeder Wahrſcheinlichkeit zuwider überhaupt niemals irgend etwas gewinnen. Und durch keinen Beweis können Sie die Mög- lichkeit aus der Welt ſchaffen, daß ein Glückspilz mit einer Patrone von fünf Franes die vierzig Millionen der Bank in die Luft ſprengt. Er braucht nur ſoviel Glück zu entwickeln wie ich Pech, dann ſtößt er ſich auch nicht mehr an der Grenze des Maximums; denn Zufall iſt alles.

Bernoulli: Wir reden aneinander vorbei. Sie berühren da Dinge, die in das Gebiet der unwahrſcheinlichen Wahr— ſcheinlichkeiten fallen, während meine Theorie prinzipiell ganz anders gerichtet iſt und das Glück an der Wurzel erfaßt. Stellen Sie ſich einmal vor, das Zero wäre gar nicht vor= handen; dann würden Sie und die Bank nach Allerwelts— meinung unter gleichen Chancen ſpielen. Sie ſind ferner da— von überzeugt, daß Sie und jeder Mitſpieler im Anfangs— punkt, ehe noch eine Entſcheidung gefallen iſt, von den Wech— ſelfällen am grünen Tiſch in gleicher Weiſe begnadet oder

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Sal Pe ae

verurteilt werden können. Da eben liegt der Kardinalfehler, den ich ſchon vor 180 Jahren beſeitigt habe und der doch noch immer in allen Köpfen ſpukt. Nach meiner Theorie ſtellt der Vermögenszuwachs, obſchon er für den Einzelfall berechenbar iſt, niemals etwas Abſolutes vor. Er muß viel⸗ mehr jedesmal als ein Abhängigkeitswert des bereits vor⸗ handenen Stammvermögens betrachtet werden; und zwar als eine abnehmende Funktion, umgekehrt proportional dem vorher vorhandenen Vermögen. Was Sie und mit Ihnen alle aufgeklärten Haſardmenſchen herausrechnen, iſt nichts anderes als die „mathematiſche Hoffnung“, der ich einen anderen, weit fruchtbareren Begriff entgegenſtelle: „die moraliſche Hoffnung“.

Ich: Endlich einmal etwas Moraliſches in Monte Carlo!

Bernoulli: Über die Güte des Ausdrucks läßt ſich ſtrei⸗ ten. Aber er iſt ſo in die ſtrenge Literatur übergegangen, und deshalb wollen wir ihn beibehalten. Die moraliſche Hoff: nung alſo umſpannt nicht den ziffernmäßigen Ausdruck des möglichen Glücksfalls, ſondern den wirklichen Glückswert, den er juſt in dieſem Augenblick und juſt für dieſen Spieler dar⸗ ſtellt. Sie faßt einzig und allein den wirklichen Vorteil ins Auge. Was heißt das: 12000 Franes Gewinn? Ein Vermögen für Sie, eine ſehr fühlbare Gefühlsſteigerung, wenn Ihre Kaſſe vorher nur 100 Franes wert war; eine Gleichgültigkeit für Herrn Vanderbilt, der neben Ihnen ſteht und genau ſo pointiert wie Sie. Und nun kommt das Er⸗ ſtaunliche: dieſe umgekehrte Proportionalität, auf der die moraliſche Hoffnung ruht, iſt ebenſo der rechneriſchen Be— handlung zugänglich wie die niedrige mathematiſche Hoff— nung, von der die pöbelhaft elementare Wahrſcheinlichkeit einzig Notiz nimmt. Nur daß wir dabei, wie Sie ſchon ahnen

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mögen, zu ganz anderen und ſehr überrafchenden Ergebniſſen gelangen werden.

Ich: Einen Einwand, Herr Bernoulli! Ich kann mir Fälle denken, in denen der Vorteil, das Vergnügen am Zu: wachs, kurz das, was Sie das Moraliſche im Spielzufall nennen, von ganz anderen Faktoren abhängt als vom Grund⸗ vermögen. Erſtlich iſt das Stammkapital eines Spielers nur ſchwer zu definieren. Wenn ich mit 100 Franes im Porte⸗ monnaie den Spielſaal betrete und habe dabei 50 000 Franes als Guthaben im Kredit Lyonnais mit welchem Kapital ſpiele ich da eigentlich? Auf welche Summe bin ich als Ge— fühlsmenſch abgeſtimmt? Oder zerfalle ich da in zwei Per— ſönlichkeiten, die eine umgekehrte Proportionalität an ſich ſelber erleben werden? Und ferner: könnte ich nicht, ſelbſt wenn ich die 100 Franes reſtlos verliere, aus der bloßen Senſation des Spiels mehr Glücksempfindung, alſo Vor⸗ teil ziehen als wenn ich zu Hauſe in Berlin ein Verleger— honorar empfange, das ich mir ohne Riſiko, aber vielleicht auch ohne prickelnde Aufregung erſchrieben habe?

Bernoulli: Sie verwirren die Aufgabe, und Sie brau— chen Sie nur noch etwas weiter zu verwirren, um die Un— haltbarkeit Ihres Standpunktes zu begreifen. Nehmen wir einmal einen Unterſuchungsgefangenen, der, nach der Münze meiner Zeit gerechnet, 1990 Dukaten beſitzt. Mit 2000 Du— katen könnte er einen Beamten beſtechen, der ihm die Frei— heit verſchafft, vielleicht den Galgen erſpart. An dieſem Plus von 10 Dukaten hängt alſo ſeine ganze Exiſtenz, während die nämlichen 10 Dukaten für einen weit ärmeren Zeitgenoſſen, der etwa den vierten Teil beſitzt, nur eine ſchätzbare Annehm— lichkeit darſtellen, aber durchaus nicht die letzte Rettung. Oder ein Beiſpiel, das Ihnen näher liegt. Sie ſelbſt haben einmal,

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wie ich erfuhr, ein Theaterſtück über folgendes Problem ver: faßt: Ein reicher Geizhals ſoll in den Genuß einer Millionen— erbſchaft unter der Bedingung treten, daß er vorher ſein

- eigenes Vermögen im Laufe eines Jahres vergeudet. Hier

ſind die Verhältniſſe, der Wert und damit alle Proportionali— tät geradezu auf den Kopf geſtellt; denn innerhalb des be— ſtimmten Zeitabſchnittes verwandelt ſich jeder Geldverluſt in einen Vorteil, während jeder Zuwachs eine fatale Ver— ſchlechterung der Lage bewirken müßte. Das ſind Ausnahme— fälle, die man erſinnen und konſtruieren kann, um ein an ſich klares Lebensprinzip künſtlich zu verſchleiern. Will man es wiſſenſchaftlich erfaſſen, ſo muß man es im Gegenteil von jeder willkürlichen Konſtruktionslaune reinigen, damit es in ungezwungener Natürlichkeit hervortritt. Schält man es aber ſo heraus, ſo kann kein Zweifel beſtehen, daß der wirkliche Wert eines Gewinnes, der perſönliche Vorteil, nur dann ſich erreichen läßt, wenn man deſſen ſtrenge Abhängig— keit vom Grundvermögen in Anſatz bringt. Und hier führt die Rechnung nicht auf die einfache Skala, wie man ſie vom Tableau einer Roulette ableſen kann, ſondern auf eine loga— rithmiſche Beziehung, welche die Wertverhältniſſe gründ— lich verſchiebt. Ich will Sie mit einem einfachen Reſultat bekannt machen, ohne Sie über die logarithmiſchen Unbe— quemlichkeiten zu führen, die als Barrikaden auf meinem Forſchungswege lagen. Es ſollen alſo zwei Spieler unter ganz gleichen Chancen gegeneinander operieren; denken Sie ſich einen Würfelbecher oder eine Roulette ohne Zero als Ent— ſcheidungsinſtrument. Jeder Spieler beſitzt 100 Dukaten, von denen er die Hälfte dem Glückszufall anvertraut. Dann beſteht ſein Beſitz vor der Entſcheidung aus zwei Werten: aus den ihm ſicher verbleibenden 50 Goldſtücken und aus der

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Hoffnung auf weitere 100. Dieſe „Hoffnung“ iſt aber, nach meiner etwas komplizierten und ſchwierigen Regel be— rechnet, gar nicht 100, ſondern nur 87 Dukaten wert. So daß alſo jeder der beiden Spieler von vornherein einen Verluſt von 13 Dukaten erleidet durch die bloße Tatſache, daß er den Zufall herausfordert und dabei wähnt, daß ſei⸗ nem Riſiko von 50 Dukaten das vollgültige Aquivalent ge⸗ genüber ſteht. Dieſes Aquivalent ſteht eben in moraliſcher Ab⸗ hängigkeit von der Tatſache, daß er im Verluſtfalle ſein halbes Vermögen eingebüßt haben wird. Geſetzt, jeder der beiden Spieler beſäße vor dem nämlichen Einſatz 200 Dukaten, fo erhöht ſich hier der Wert der Ge— winnhoffnung, weil ihm ein Fehlſchlag nur noch den vierten Teil ſeines Stammkapitals dahinraffen würde. Allein ein Nachteil von 6 Dukaten bliebe immer noch beſtehen, niemals würde der moraliſche Gewinnwert die ſcheinbar ſo unzwei— deutige ziffernmäßige Grenze erreichen, und hieraus ergibt ſich, daß zwei Perſonen, mögen ſie beide dürftig bemittelt oder Kröſuſſe ſein, in jedem Fall unklug handeln, wenn ſie ſich zu einem Spiel gegeneinander unter völlig gleichen Chancen verabreden. Aber die Partner haben einander nichts vorzuwerfen: Die Dummheit rechts, die Dummheit links, das Glücksſpiel in der Mitten!

Ich: Da hätten wir alſo zu Ihrer moraliſchen noch eine Klugheits- und Torheitsmathematik, ſozuſagen eine prozen— tuale Einteilung der Spielervernunft. Aber ich muß Ihnen ſagen, Herr Bernoulli, das Moraliſche, das ſich bekanntlich immer von ſelbſt verſteht, liegt weitab von Ihrem Moral— begriff; und wenn es im Hirn zwei Zentren gibt, von denen das eine den elementaren Spieltrieb, das andere Ihre loga— rithmiſch gewogene Spielklugheit beherrſcht, ſo ſehe ich da

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vorläufig keine Möglichkeit einer Verſtändigung zwiſchen dies

ſen beiden Zentren.

Bernoulli: Ich eigentlich auch nicht. Denn wenn es mir auch gelungen iſt, einen alten Denkfehler nachzuweiſen, ſo bleibt doch von der Aufzeigung bis zur Ausrottung ein weiter Weg. Im Grunde waltet hier eine pſychiſch-optiſche Täuſchung, derjenigen vergleichbar, die uns in der Jugend, bei vorwärts geſtellter Perſpektive, das Leben als ungeheuer lang, im Alter, bei rückwärts geſtellter, als ſehr kurz vor— ſpiegelt. So zeigt auch jedes perſönlich erlebte Spielereignis avant ein ganz anderes Geſicht als après. Nur wäre es ſehr unklug, das perſönliche Verhalten im Anfang nach der— jenigen Perſpektive abzumeſſen, einzurichten und zu beurtei— len, die ſich am Ende, alſo nach der Entſcheidung, darbietet. Wie auch ein Jüngling ſehr töricht handeln würde, wenn er ſeinen Exiſtenzplan auf die verkürzende Lebensoptik des Greiſes einſtellen wollte. Einem ähnlichen Fehler verfallen aber die Spieler ausnahmslos. Weil ſie ſchon ſo viele Ent— ſcheidungen erlebt, ſo oft die Perſpektive von der anderen Seite erprobt haben, trübt ſich ihnen der Blick für die Sach— lage, die noch unter dem Zeichen der Erwartung ſteht. Viel: leicht lebt im Unterbewußtſein manches Spielers eine Spur jener logarithmiſchen Einſicht, vielleicht ſtrebt gar einmal einer bis zur Erkenntnisquelle ſelbſt“). In meinem Text wird

) Specimen Theoriae novae de Mensura Sortis auctore Daniele Bernoulli, 1731; herausgegeben von der Petersburger Akademie der Wiſſenſchaften. Eine erweiterte Ausgabe erſchien 1896 bei Duncker & Humblot in Leipzig unter dem Titel „Verſuch einer neuen Theorie der Wertbeſtimmung von Glücksfällen“, aus dem Lateiniſchen überſetzt und mit Erläuterungen verſehen von Profeſſor Dr. Alfred Pringsheim; mit einer Einleitung von Dr. Ludwig Fick. Auf dieſe Abhandlung ſeien beſonders diejenigen

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er dann die logarithmiſche Kurve finden, die auf Grund der ihm vorſchwebenden Gewinne die wirklichen Vorteile in Zeich— nung ſymboliſiert. Er wird beobachten, daß dieſe Kurve auf dem Gewinnaſt nur langſam anſteigt, während ſie auf der Verluſtſeite im ſteilen Gefälle niederſtürzt, daß alſo die mo— raliſchen Vorteile weit langſamer wachſen als die baren Ge— winne, wogegen die moraliſchen Verluſte ſich weit rapider verſchärfen als die entſprechenden Vorteile. Ja, dieſe Kurve wird ihm ſogar den Begriff einer unendlichen Dummheit nahebringen, die nämlich nach dem klaren Verlauf der Linie dann eintritt, wenn jemand ſein ganzes Vermögen auf eine Karte ſetzt, mag die Gewinnhoffnung auch noch ſo groß ſein. Ganz ſinnfällig zeigt ſich hier, daß der Klugheitskalkül über die landläufige Wahrſcheinlichkeitsrechnung weit hinaus— greift, daß ſie die Daten dieſer Rechnung erſt recht eigentlich in den Bereich der Intelligenz erhebt. Die Bank von Monte Carlo überhöht ihre Gewinnausſicht nach dem Grundſatz eines vorſichtigen Kaufmanns, der gute Geſchäfte machen will. Aber ſelbſt beim Gleichgewicht aller Chancen müßte man für ſämtliche Spieler in der Vorausrechnung einen Verluſt im Sinne der moraliſchen Hoffnung heraus— rechnen, denn meine Kurve lehrt: die Klugheitsgrenze wird erſt dann erreicht, wenn der erhoffte Gewinn in barem Wert ausgedrückt größer iſt, und zwar durchſchnittlich auffal— lend größer als der Einſatz.

verwieſen, denen an einer exakten Beweisführung für die aben— teuerlich klingenden Behauptungen in der Dukatenrechnung ge— legen iſt. Durch die ebenſo tiefgründigen wie eleganten Erläu— terungen des berühmten Münchener Mathematikers Pringsheim iſt das Werk wiſſenſchaftlich noch weiter vertieft, künſtleriſch er— höht worden.

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Damit erhob ſich Bernoulli, um ſeitwärts zu wandeln und in der Richtung der bergwärts anſteigenden Palmen⸗ allee zu verdämmern.

Mir blieb aus dieſer Unterhaltung die Gewißheit, daß man die Bank von Monte Carlo, wenn auch nicht als eine moraliſche Anſtalt, ſo doch als eine eminent weiſe Anſtalt zu betrachten habe. Dann eilte ich zum Telegraphenbureau, um auf dem Wege des Funkſpruchs ein neues Betriebskapital in meine Börſe zu beſchleunigen. Denn ich verkehre ſehr gern mit klugen Leuten, ſelbſt auf die Gefahr hin, in der Loga— rithmenlinie Bernoullis eine ſchlechte Zenſur zu erhalten.

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Der Projektilzug

So weit wären wir nun. Das gelöſte Problem liegt in Form des „fliegenden Zuges“ nach dem Grundriß des In— genieurs Bachelet vor, und die Mitwelt hat mit gelindem Erſtaunen darüber quittiert; ſo wie man eben heutzutage von einem neuen Rekord anerkennend Notiz nimmt. Ein guter neuer Aktivpoſten im Konto des zwanzigſten Jahrhunderts. In der Rubrik „ſchnellſte Reiſeverbindungen von und nach Berlin“, Numero ſoundſo des Reichskursbuches in ſpäterer Friedensausgabe, wird es für eilige Gemüter etliche tröſt— liche Veränderungen geben: nach Frankfurt am Main eine Stunde, nach Paris zwei Stunden, und wenn der Keller: mannſche Tunnel erſt fertig iſt, nach New Vork vom Früh⸗ ſtück bis zum Mittagbrot. Wirklich höchſt erfreulich für heute, vorläufig. Der nächſte Erfinder wird's ſchon beſſer machen.

Woran aber nicht jedermann im erſten Anlauf denkt, iſt folgendes: es handelt ſich hier nicht mehr um eine bloß graduelle Steigerung der Reiſegeſchwindigkeit; wir nähern uns vielmehr einem kritiſchen Punkte, der eine prinzipielle Neuordnung der Dinge anzeigt. Denn mit den 550 Kilo— metern pro Stunde erreichen wir nahezu die Geſchwindigkeit der Projektile. Der fliegende Zug gewinnt ſeine Parallele nicht mehr aus dem Vergleich mit dem Federzeug der Adler,

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| 23 Rauchſchwalben und Brieftauben, ſondern er wird ein Mit⸗ bewerber der Geſchoſſe. Auf die Sekunde berechnet leiſtet

er 152 Meter, wogegen die ſchnellſten Vögel mit ihren 60 Metern geradezu als Flugſtümper erſcheinen. Auch der Kol— lege Pfeil, der ſich von der Armbruſt losringt und ehedem den Reſpekt der Dichter herausforderte, iſt längſt überholt.

Die nächſten Vordermänner des fliegenden Zuges ſind nunmehr der Schall in freier Luft mit 330 Metern und das Haubitzengeſchoß mit 220 Metern. Kein Zweifel, daß ſchon die nächſte techniſche Vervollkommnung dieſen geringen Vor: ſprung überwinden wird. Damit aber treten neue Möglich— keiten auf den Plan, eröffnen ſich neue Ausblicke, denen gegenüber der Maßſtab des Kursbuches völlig verſagt. Da dürfte eine kosmiſche Betrachtungsweiſe angebrachter er— ſcheinen.

*

Nehmen wir alſo den Begriff: Menſch Projektil als verwirklicht. Die Phantaſie braucht ſich hierzu nicht mehr anzuſtrengen, denn wir befinden uns ſchon heute hart an dieſer Weſensgleichheit, und wenn Bachelet ſenior 550 Kir lometer herausbrachte, ſo wird ein Bachelet junior den feh— lenden Reſt beſtimmt hinzuerfinden. Da ergeben ſich zu—

nächſt einige Phänomene, die aus dem Rahmen der üblichen

Reiſeerlebniſſe merklich herausfallen.

Alſo erſtens: als Fahrgäſte der Zukunft überholen wir den Ton. Stellen wir uns vor, ein kapriziöſer Fahrgaſt habe auf die Plattform des Wagens ein Klavier geſchafft und ſpielte die Reihenfolge der Töne vom Baß zum Diskant, jo würde er damit für fein eigenes Ohr eine ſtumme Mus ſik hervorbringen. Denn die Schallgeſchwindigkeit bleibt hin⸗

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 6

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ter ihm zurück, und er felbft fliegt ſeinem Konzert davon. Erſt wenn ſich das Zugtempo verlangſamt, dringen die aku— ſtiſchen Sendboten zu ihm, allein o Wunder! er hört nunmehr etwas ganz anderes; ja das genaue Gegenteil deſ— ſen, was er zu hören vermuten durfte. Denn die zuletzt ausgeſandten Schallwellen erreichen natürlich ſein Hörorgan zuerſt; die erſten, räumlich weit zurückliegenden Töne mel- den ſich als die letzten; ſtatt der aufſteigenden Tonleiter, die er wirklich geſpielt hat, hört er ſomit zu ſeiner Über— raſchung die abſteigende Skala vom Diskant zum Baß. Dieſer Schnellzug wirkt alſo wie ein Phonograph mit ver— kehrt abgedrehter Schallplatte. Und wenn er, als Luxus- zug gedacht, zur Unterhaltung der Fahrgäſte wirkliche Mu— ſik mitnimmt, ſo genießen dieſe von einem gewiſſen Zeit— punkt an die Vortragsſtücke von rückwärts, was bei man⸗ chen modernen Kompoſitionen eine weſentliche Verſchöne— rung des Klangcharakters bewirken wird.

Allein es bedarf gar keiner mitgenommenen Inſtrumente, um den Inſaſſen höchſt auffällige akuſtiſche Wirkungen zu vermitteln. Es genügt, wenn ſie an einem tönenden Bahn— hofsſignal oder an einer läutenden Turmglocke vorbeifahren. Schon unfere heutigen Erfahrungen im gewöhnlichen P-Zug ſagen uns, daß der Ton bei Annäherung höher wird, bei Entfernung ſich vertieft, je nachdem wir pro Sekunde eine vermehrte oder verminderte Schwingungszahl empfangen. Dieſer Vorgang (den wir den Doppler-Effekt, die Franzoſen auch das Fizeau-Prinzip nennen) wird für die Gäſte des Zu— kunftszuges ein vollſtändiges Überſchnappen der Töne da draußen zur Folge haben. Denn während man heute im Höchſtfalle eine plötzliche Anderung um eine Terz beobachtet, wird nunmehr über die Oktaven hinweg eine ſprunghafte

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c r Br Er 5 N 5 N *

Steigerung der Tonhöhe bis über die Grenze der Wahr— nehmbarkeit eintreten. Der Signalklang erliſcht mit Über⸗ ſchreitung der zehnten Oktave, alſo gerade dann, wenn ſeine Nähe den Höhepunkt der Tonſtärke verſpricht. Denn der gehäuften Wellenzahl gegenüber verlegt ſich das Ohr aufs Streiken.

Der Doppler⸗Effekt wird auch das vom Wagenfenſter aus betrachtete Landſchaftsbild beeinfluſſen. Denn was die Ton— höhe für den Klang bedeutet, das wird für das Geſicht durch die Farbe beſtimmt. Nach der phyſikaliſchen Schulauffaſſung werden zu ſolchen Farbveränderungen Stern-Geſchwindig⸗ keiten vorausgeſetzt. Neuere Forſchungen auf dem Gebiet der Atomiſtik machen es indes wahrſcheinlich, daß ſchon Zeit— maße, die zur Gattung des „fliegenden Zuges“ gehören, ſpektrale Verſchiebungen erzeugen können. Das gelbe Ahren— feld bleibt nicht mehr unbedingt gelb, ſondern gewinnt eine Tönung nach grün bei der Annäherung, nach Orange bei der Entfernung; der am Horizont auftauchende grüne Baum ſtrebt eine Sekunde ſpäter nach Blau. Freilich werden zur Wahrnehmung ſolchen Regenbogenſpiels in der Landſchaft höchſt empfindliche Augen vorausgeſetzt und dazu wohl auch Reiſegeſchwindigkeiten, die denn doch noch über die von Herrn Bachelet erzeugten ganz merklich hinausgehen.

Aber was heute als Wahnvorſtellung erſcheint, kann über— morgen Wirklichkeit werden, und vom 550-Kilometer-Zug bis zum Projektilzug iſt tatſächlich nur ein Schritt. Die ein— fache Verdoppelung des jetzt als zuläſſig erkannten Gang⸗ maßes führt bereits dahin, daß wir mit der Sonne, mit feſtſtehender Zeit reiſen. Nicht mehr die gehende, ſon— dern die ſtehende Taſchenuhr gibt dann dem Fahrgaſt die richtige Ortszeit an. Sofern es die Entwicklung von Land

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zu Land erlaubt, fährt man mittags um 12 Uhr von Berlin ab und kommt mittags um 12 Uhr in Paris an, nämlich zum zwölften Glockenſchlage von Notre-Dame, mit einer abſoluten Fahrzeit von einer Stunde, mit einer relativen von 0,0. Und wer ſich über geographiſche Ortszeitdifferenzen hinwegſetzt, wird dann ruhig behaupten können, daß er gleichzeitig in Berlin und in Paris geweſen ſei.

In techniſchen Dingen gerät die Prognoſe immer zu kurz. Alle utopiſchen Schriften von ehedem zeigen uns an, daß die Phantaſie ihrer Verfaſſer auf Krücken ſchlich, während die Technik ihnen auf Siebenmeilenſtiefeln davonlief. Wir verlieren uns ſomit ganz gewiß nicht ins Extravagante, wenn wir für den Blitzzug der Zukunft eine Progreſſion anſetzen, die ſich aus den bekannten Anfangsgliedern der von uns er— lebten Zeiten aufbaut.

Seit zwei Menſchenaltern hat ſich das Fahrtempo ver⸗ zehnfacht. Nehmen wir an, daß die Technik dieſes Verhält- nis nur noch wenige Jahrzehnte durchhält, ſo errechnen wir für das einundzwanzigſte Jahrhundert einen Projektilzug, der überhaupt nichts mehr braucht als ſeine eigene Geſchwin— digkeit, um ſich von allen Beſchleunigungen durch magneti- ſche, elektromotoriſche Kräfte unabhängig zu machen. Die— ſer Zug wird ein Planet; er kreiſt als Trabant um die Erde, bindet ſich an keine Stationen, kennt nur einen Fahr— plan: „Reiſe um die Welt in infinitum“ und bietet aller⸗ dings für die Teilnehmer den Übelſtand, daß ſie zeitlebens nicht ausſteigen können; ſelbſt dann nicht, wenn ein Ge— birge die Fahrtrichtung kreuzt und einen kataſtrophalen Still ſtand heraufbeſchwört.

Die ganze Rechnung ſcheint freilich ein Loch zu haben, da fie den Luftwiderſtand nicht berückſichtigte, der als geſchwo—

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ener Feind jeder rapiden Bewegung gegen ſolche planetariſche Reiſe ein entſchiedenes Veto einlegen wird. Und zwar nicht nur dadurch, daß er allmählich die Geſchwindigkeit aufzehrt, ſondern ſchon im erſten Anlauf. Da beſinnt ſich die Luft auf die Elemente der Phyſik, auf Reibung und Kalorik, ſie fährt mit ihren mechaniſchen Wärmeäquivalenten in den Zug und verwandelt ihn, ehe er noch das Höchſttempo erreichen kann, in Aſche und Dampf.

Gelänge es aber, dieſen Pl⸗Zug (Planet⸗Zug) nur für wer nige Sekunden dem Einfluß der Lufthülle zu entziehen und ihn tangential zur Erde oder vertikal zu beſchleunigen Aufgabe der Technik, mithin lösbar! —, jo würde er über⸗ haupt nicht mehr zur Erde zurückkehren, ſondern endlos in dem Weltenraum fliegen, um eventuell auf einem anderen Geſtirn zu landen. Dieſe Jules-Verne⸗Leiſtung mit der Reife nach dem Monde oder dem Mars iſt nunmehr in theore— tiſch faßbare Nähe gerückt. Der Pl-Zug, dem wir fie zu: trauen dürfen, ſteht in einem ganz beſtimmten, durchaus nicht phantaſtiſchen Verhältnis zu einer ſchon heute vorhan— denen Gegenſtändlichkeit: er verhält ſich zum Bachelet-Zug, wie dieſer zu einem Poſtwagen etwa, kann alſo der dritten Generation als eine Möglichkeit, der vierten als eine Wahr: ſcheinlichkeit verſprochen werden.

Der Ruf: „weh dir, daß du ein Enkel biſt“, verliert dann ſeine Geltung endgültig. Der Urahne dieſes Enkels wünſchte ſich einen Zaubermantel mit etwas Feuerluft darunter und mußte die Hilfe eines Teufels in Anſpruch nehmen, um dieſen Ausbund aller Fernwünſche zu befriedigen. Und was leiſtete dieſer mephiſtopheliſche Zaubermantel? Eroberte er das ungemeſſene Reich des Athers, erhob er den Mann mit ſeinem fauſtiſchen Drang in jene Zonen, in denen es kein

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Oben und kein Unten gibt? Ach nein, er beförderte ihn von Wittenberg bis Leipzig, und feine Feuerluft war eine At— trappe; zwei Gäule vor einem Landomnibus hätten das— ſelbe geleiſtet. Der Enkel iſt anſpruchsvoller. Er hat die irdiſchen Probleme gezählt und gefunden, daß ſie bis auf winzige Reſte aufgebraucht ſind. Wohl weiß er, daß alles techniſches Wirken auf Raumerfaſſung hinausläuft, aber ge— rade deswegen empfindet er es als geozentriſch und rück— ſtändig.

Ein noch ſchnelleres Schiff, ein noch wirkſamerer Luft— propeller, eine alles übertreffende Magnetbahn was ſtel— len ſie ihm anderes dar als immer wieder augenblickliche Höchſtleiſtungen im längſt vertrauten, ach ſo engen Erdkreis? Darüber will er nun endlich hinaus; ſein Zaubermantel ſoll ſich nicht mehr mit jenen Jämmerlichkeiten abgeben, gegen die unſere Luftflüge ſchon meteoriſch erſcheinen. Das Uni— verſum ſoll er feiner Körperlichkeit erſchließen! Und auf ſei— nem Papier ſteht es, daß dieſe Aufgabe mit einer Sekunden— geſchwindigkeit von 11 Kilometern zu löſen iſt, notabene nur für den einmaligen erſten Antrieb; das weitere beſorgen ihm die Weltmechanik, die Verminderung der Gravitation im Quadrat der Entfernung und die auf den Projektilzug an— wendbaren Keplerſchen Geſetze; wohl ihm, daß er ein Enkel iſt!

Der Weg geht von den Balliſten und Katapulten zu Krupp und Armſtrong, vom Teekeſſel des Knaben Watt zur Schnell— zugslokomotive, vom elektriſchen Verſuchsſpielzeug zur Sie— mens⸗Bahn. Die Anfänge garantieren für die Folgeglieder, jedes Unmöglich des Philiſters von heute wird durch das Wirklich vom Folgejahr überrumpelt. Kenntnisreiche und jeder Illuſion abgewandte Ingenieure verſichern, daß der

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„fliegende Zug“, aus dem Modell in die Praxis überſetzt, tatſächlich die angeſagten 550 Kilometer entwickeln wird. Der winzige Multiplikator 2 erhöht ihn alsdann zum erſten Projektilzug, der mit dem Schall, mit der Achſendrehung der Erde in Wettbewerb tritt und bei weiterer Steigerung in— nerhalb vorausſehbarer Grenzen der Planetenklaſſe zuſtrebt.

Gewiß werden gar bald wieder die ängſtlichen Zweifler auftreten mit der Frage, ob denn der Menſch das „aushal⸗ ten“ werde; genau wie anno olim, als die erſten Bahnen Nürnberg —Fürth und Zehlendorf Potsdam ein neues Schnelligkeitsmaß aufſtellten und allerhand ärztliche Autori— täten mit ihren Sorgenköpfen wackelten. Aber der Menſch hält in dieſem Betracht gar viel aus: er wird mit der Erde um die Sonne, mit der Sonne nach dem Sternbild des Her— kules geſchoſſen, und ſeine Nerven ſpüren es nicht. Er wird ſogar eine Eiſenbahnkataſtrophe im Projektilzug leichter über- winden als im Bummelzug; denn die letzten Molekularfor— ſchungen machen es wahrſcheinlich, daß zwei Körper bei hin— reichend großer Geſchwindigkeit einander durchdringen kön— nen, ohne ihre Struktur zu zerſtören. Freilich wird hierzu ein Preſtiſſimo vorausgeſetzt, das zunächſt noch jenſeits des Vorſtellbaren liegt.

Es kommt aber nicht darauf an, daß der Zug durch eine Mauer hindurchfährt, wie der Lichtſtrahl durch hartes Glas, ja nicht einmal darauf, daß wir ſchneller fahren als vor— dem, ſondern der Kernpunkt der Sache bleibt das veränderte Ziel. An die Stelle der Stationshäuſer treten Probleme, tranſzendente Ausblicke in eine erreichbare Welt, die den Enkel von dem peinlich zu tragenden Erdenreſt, vom Zwang der irdiſchen Schwere, befreien ſoll.

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a

Zwiſchen Bergſon und Laplace

Man iſt ſich klar darüber, daß das neunzehnte Jahrhundert in dem, was man gemeiniglich Fortſchritt nennt, mehr auf— zuweiſen hat als irgendein Jahrhundert zuvor; ja, es läßt ſich darüber reden, ob dieſes neunzehnte nicht mit einem ſtärkeren Saldo abſchneide als die geſamte Entwicklungs— zeit des Menſchen von der Steinzeit an bis etwa zu den En— zyklopädiſten. Grund genug für die Spekulation, um ſchon heute dem zwanzigſten Jahrhundert ein Aquivalenzzeugnis abzuverlangen und aus dieſen Anfangsgliedern berechnen zu wollen, ob das zuletzt eingeſchlagene Schrittmaß ſich über: haupt noch fortſetzen laſſe. Es ſcheint, daß die Prognofen- ſteller überwiegend zu einem verneinenden Ergebnis gelan— gen. Sie erblicken eine gewiſſe Enge in den noch übrig gelaſ— ſenen Problemen und Möglichkeiten und neigen der Anſicht zu, daß das zwanzigſte Jahrhundert im Grunde nur noch Reſte aufzuarbeiten haben wird, nachdem das neunzehnte ſo viele Utopien aus früheren Zeiten nahezu verwirklicht hat. Es ſoll hier nicht unterſucht werden, ob dieſes Mißtrauen im rein Techniſchen, Praktiſchen, ja, in allen Strebungen, die ſich durch Überwindung der Schwierigkeit kennzeichnen, irgendwelche Begründung findet; obſchon die Verſuchung naheliegt, hier als gute Trümpfe das Flugweſen, den Funk ſpruch, die Entdeckung der Erdpole, das Erwachen Oſtaſiens

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und ähnliche Kulturzeichen auszuſpielen, die weſentlich in das erſte Zehntel des jungen Jahrhunderts fallen und für die reſtlichen zweiundachtzig Prozent ſeiner Spanne immer⸗ hin etliches erhoffen laſſen. Hier ſei vielmehr nur auf drei Elemente verwieſen, die meines Erachtens unſerem Jahr— hundert ſchon heute zum mindeſten die Gleichwertigkeit, viel— leicht ein Übergewicht verleihen, obſchon fie ausſchließlich theo— retiſcher Natur find, ganz und gar keinen Nutzeffekt aufwei— fen und im Zuge der Dampf- und Elektrizitätskultur vorläu⸗ fig keine Bedeutung beſitzen. Dafür bezeichnen ſie neue Denk— etappen, die im Lichte der Zukunft als wirkliche große Sta— tionen der Menſchheit erſcheinen werden, nur vergleichbar den Einſichten, die wir dem Kopernikus, dem Descartes und den Klaſſikern der theoretiſchen Mechanik verdanken. Es ſind: das Relativitätsprinzip, das Quantentheorem und die Bergſonſche Philoſophie. Die nachfolgenden Erörterungen ſollen weſentlich von den neuen erkenntnistheoretiſchen Un— terſuchungen Bergſons ausgehen, weiterhin nachzuweiſen ſu— chen, daß zwiſchen jenen drei Elementen ein innerer Zu— ſammenhang beſteht, und ſchließlich hieraus einen Durch— blick gewinnen, der uns ein unabſehbar großes Neuland der Denkmöglichkeiten erſchließen wird.

Zum Studium oder gar zur Kritik der Bergſonſchen Phi— loſophie, wie ich ſie verſtehe, gibt es keine Methode, keinen ebenen Weg, auf dem Anfang, Mitte und Ende zu unter— ſcheiden wären. Und da ich von vornherein von der Aus— ſichtsloſigkeit überzeugt bin, in dieſe Unterſuchungen fo et was wie eine Architektonik hineinzubringen, ſo will ich ſo unſyſtematiſch wie nur möglich verfahren; unſyſtematiſch dem Werk gegenüber, aber mit der ganz beſtimmten Abſicht, den Leſer in eine beſtimmte Denkgeſtaltung hineinzugewöh—

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nen, ihn teilnehmen zu laſſen an den Denkerlebniſſen und ⸗zerwürfniſſen, die ich ſelbſt an Bergſon erfuhr, und fie ſchließlich auf einen Punkt zu führen, von dem ſich ein Hori— zont von ungeahnter Tiefe eröffnet; nicht auf einem „kö— niglichen Wege“, ſondern vielfach durch Geſtrüpp, durch Irrungen und Wirrungen, durch Dunkelheiten, in denen uns einzig das Prinzip des „Als ob“, das heißt die Mög⸗ lichkeit, durch Falſches ans Richtige zu gelangen, zu wei— terem Vorſchreiten ermutigen kann. Sehr bequem wird ſich alſo die Wanderung nicht geſtalten, weder für den Leſer noch für mich, da ich, weit entfernt davon, einfach „über“ Bergſon zu ſchreiben, über ihn direkt vorzutragen, vielmehr ſehr indirekt entwickeln will. Mit dem Philoſophen, der hereintritt, um zu beweiſen, es müßte ſo ſein, und wenn das Erſt' und das Zweit' nicht wär', das Dritt' und Viert' wär' nimmermehr, iſt hier nichts anzufangen; wie überhaupt nicht mit irgendwelchen nach klaſſiſchem Muſter angelegten Li— nien, die von Vorausſetzung über Behauptung hinweg einen Beweis erreichen wollen.

Schon in der Bergſonſchen Lehre an ſich liegen die Dinge ſo, daß man den Anfang nicht verſtehen kann, ohne die Mittelglieder zu kennen, und daß man dieſe nicht begreift, ohne das Ende erfaßt zu haben. Ein ſcheinbarer oder wirk— licher Circulus vitiosus, aus dem es vorerſt kein Entrinnen gibt. Hier vollends, wo mit teilweis Nichtbergſonſchen Mit— teln Bergſonſche Reſultate angeſtrebt werden und umgekehrt auf Bergſonſchen Wegen Nichtbergſonſche Ergebniſſe, ſcheint ſich die Wirrnis ins Unabſehbare zu ſteigern. Aber vielleicht liegt gerade hierin der Anſatz zu einer Vereinfachung.

Ich möchte dies an einem Gleichnis erläutern: Es gibt in unſeren Alpen Genies der Bergführung, Männer mit ein—

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geborenem Felſen⸗ und Gletſchergeiſt. Solch ein Genie in übertragenem Sinne, alſo ein Pfadfinder auf ſchwierigem Terrain, iſt Bergſon. Geſetzt nun, ich vertraue mich ſeiner Führung an zur Erforſchung eines von uns beiden noch un— betretenen Gebietes, ſo wird ſein intuitives Begreifen der Konfiguration von Schritt zu Schritt die wertvollſten Dienſte leiſten; er wird Wege ahnen, wo ich keine bemerke, und Wege vermeiden, die mir gangbar erſcheinen. Und dennoch werde ich in die Lage kommen, ihn zu korrigieren: wenn ich nämlich zufällig etwas beſitze, was jenem fehlt, nämlich eine nach trigonometriſchen Aufnahmen hergeſtellte Karte des ganzen Geländes. Und wenn wir gemeinſam einen Gipfel erklommen haben, ſo werde ich viele Details der Ausſicht genauer beurteilen als er, wenn ich ein Fernrohr benütze, während ihm der Augenſchein genügt. Womit ich von vorn— herein alles Genialiſche ihm, dem Führer, alſo dem Bergſon, zuweiſe, und mir nur einen gewiſſen inſtrumentalen Vor— teil reſerviere. Es wird zu erweiſen ſein, ob dieſe Inſtru— mente wirklich exiſtieren und ob ſie im Zuſammenhang mit der Bergſonſchen Intuition zu wirken vermögen. Einſt— weilen will ich nur die Andeutung wiederholen, daß hier vornehmlich Elemente, nicht eigentlich aus der Philoſophie, ſondern aus der neuen Mechanik einzuſetzen haben, die in Bergſons Lehre fehlen, einfach deshalb, weil dieſe Lehre für ihn ſelbſt abgeſchloſſen vorlag, ehe dieſe Elemente exiſtierten. Daß aber gerade dieſe anſcheinend ſo verſchiedenartigen Pole genähert werden müſſen, um den erkenntnistheoretiſchen Fun⸗ ken überſpringen zu laſſen, gilt mir als zweifellos. Und um es rund herauszuſagen: Es iſt eigentlich dieſe Überzeugung al- lein, die mir hier die Feder führt“). *) Man vergleiche hierzu Seite 15 des Geleitwortes.

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eee * NW .

Wollte ein Dichter die Schrecken eines philoſophiſchen In⸗ ferno entwerfen, ſo müßte er ſeine Arbeit in der Ausmalung eines Dämons gipfeln laſſen, der in allen Schlünden und Gründen dieſer Hölle heimiſch iſt. Wo ſich eine philoſophiſche Not erhöht oder vertieft, wo ſie Kunde gibt von den Ver— zweiflungen der Denker, ſtets gehorcht ſie den unheimlichen Befehlen eines Dämons, des eigentlichen Herrn aller Antino— mien, ſtets iſt es der Zeitbegriff, der die Geiſter verwirrt, ihnen den Weg zur Wahrheit verſperrt, fie mit Tantalus- und mit Siſyphusqualen heimſucht. Alle Schwierigkeiten, die ſich in den Exponenten: Bewegung, Geſchehen, Notwendig⸗ keit äußern, münden in der „Zeit“. Nie wird es gelingen, ihrer Herr zu werden, das Außerſte, wozu wir gelangen kön⸗ nen, wird ſein, die Stellung des Feindes genau zu erkunden, ſeine Befeſtigungen nicht einzunehmen, ſondern zu beſchrei— ben. Es iſt Bergſons unbeſtreitbares Verdienſt, dieſe Beſchrei— bung in einem bedeutſamen Entwurf geliefert zu haben. Und wenn wir auch, trotz Bergſon, nicht wiſſen, was ſie iſt, die Zeit, ſo erfahren wir doch durch Bergſon etwas über die Natur der Verſchanzungen, hinter denen ſie ihre Ränke gegen das Erkennen ſpinnt. Und eine neue Antinomie, univerſaler als alle bisherigen, tut ſich vor uns auf: in der Zeit, die alle Er⸗ kenntniſſe vereitelt, ſich jeder möglichen Richtung des Intel— lekts entgegenwirft, ſollen wir zugleich den Urheber jedes Denkprozeſſes, den eigentlichen Schöpfer alles organiſchen Geſchehens entdecken.

Die Zeitdauer, Ia durée, la duree interieure äußer⸗ lich identiſch mit unſerem Zeitbegriff, innerlich ſehr verſchie— den von dem, was uns als eine ſpezifiſche Wahrnehmungs— qualität des Nacheinander gilt dieſe Dauer bildet die ei— gentliche erkenntnistheoretiſche Subſtanz in allen Unterſu—

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N 1 Hy

chungen Bergſons, vornehmlich in feinen Hauptwerken „Les

données immediates de la conscience“, und „Evolution eréatrice“. Alle Strahlen feiner Betrachtung konvergieren

nach der Dauer. In dieſem Konvergenzpunkt entzündet

ſich tatſächlich eine Flamme von überraſchender Helligkeit. Man wird in ihr zwiſchen Erleuchtungsſtärke und Blen- dungseffekt zu unterſcheiden haben, aber man kann nicht an

ihr vorbeiſehen.

Was von der Lehre Bergſons in den Rahmen dieſer Un- terſuchung zu ſtellen iſt, kann naturgemäß nichts anderes ſein als ein Torſo, durch ein Verkleinerungsglas geſehen, eine äußerſt verkürzte Projektion auf die Ebene meiner Zwecke. Und es muß ſpäteren Ausführungen vorbehalten bleiben, einzelne Glieder beſonders vorzunehmen. Hier ſoll uns zunächſt an dieſem merkwürdigen Lehrkörper die Rück— gratlinie beſchäftigen und die Frage, ob ihre anatomiſche Ge— ſtaltung auf einen erhöhten Typus der ganzen Figur hin— weiſt. Denn es handelt ſich in erſter wie in letzter Inſtanz um den Menſchen als Objekt für den Menſchen als erkennen— des Subjekt; um den ſcheinbar ganz ausſichtsloſen, hier aber zum mindeſten mit ganz neuen Mitteln gewagten Ver— ſuch, die Seele unter die Lupe zu nehmen, und wiederum die— ſelbe Seele von oben her durch die nämliche Lupe blicken zu laſſen. Ein optiſcher Vergleich, der auf eine Unmöglichkeit hinauslaufen würde, wenn uns nicht die Natur ſelbſt zeigte, daß mit ſolchen Unmöglichkeiten fertig zu werden iſt.

Denn was die Seele hier leiſten ſoll, liegt im Auge bereits vorgebildet. Das Auge war in ſeiner erſten primitiven An— lage nichts als ein Pigmentfleck, hervorgerufen durch einen Lichtſtrahl, alſo ein Eindruck, eine Photographie. Im Laufe der Evolution hat ſich dieſer Eindruck nicht etwa zu einer

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größeren, zu einer beſſeren Photographie ausgeſtaltet, ſon— dern zu einem photographiſchen Apparat mit Linſe und auf— nahmefähiger Platte. Hier liegt an irgendeiner Stelle ein un— begreiflicher Sprung vor, vom Objektiven zum Subjektiven, von dem, was leidet, zu dem, was ſchafft, vom Werdenden zum Geſtaltenden. Und wenn dies in der Natur möglich war, wenn ihr das ſich ſelbſt aufnehmende Auge gelingen konnte, ſo muß auch im Pſychologiſchen die Unbegreiflichkeit des Sichſelbſterkennens erfüllbar ſein.

Sie iſt nach Bergſon nicht erfüllbar, das heißt, das Un— begreifliche bleibt für den Intellekt unlöslich, wenn wir die unzerbrechbare Notwendigkeit, die Kauſalität, die eiſerne Bin— dung von Urſache und Wirkung, kurz den Schulbegriff des Determinismus als den einzigen Ordner unſeres Denkens gelten laſſen. Hier liegt ein Denkzwang vor, den wir viel— leicht in demſelben Moment überwinden, wo wir einſehen, daß er an einem entſcheidenden Punkte zu einem offenbaren Fehlſchuß führt; wo wir erkennen, daß das Grundſtatut des Determinismus: „Gleiche Urſache gleiche Wirkung“ un⸗ ter einer beſonderen Belaſtung anfängt brüchig zu werden. Zu dieſem entſcheidenden Punkte gelangen wir, wenn wir uns entſchließen, zwiſchen Organiſchem und Anorganiſchem den Weſensunterſchied nicht nur in phyſikaliſcher, chemiſcher, ſon— dern auch in mathematiſch-mechaniſcher Hinſicht anzuerken— nen. Bergſon ſcheidet hier unerbittlich. Weit entfernt davon, ſich auf die Pſychologie ohne Seele einzulaſſen, wie fie das Weber-Fechnerſche Prinzip und die über dieſem Prinzip errich— tete pſychophyſiſche Schule fordert, trennt er alles Erſchaf— fene in zwei Welten überhaupt: in die anorganiſche, die der Mechanik zugänglich bleibt, ſich durch Koordinatenſyſteme abteilen läßt und in ihrer molekularen Struktur auf eine

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FW

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Löſung letzter Fragen durch Differentialgleichungen hinweiſt; und in die Welt der Organismen, von denen jeder einzelne ein geſchloſſenes Syſtem darſtellt und die Erſcheinungen des einzig mechaniſch geſchloſſenen Syſtems, nämlich des reſt— los als Einheit begriffenen Weltalls wiederholt. Es ergibt ſich ſomit im erſten Anlauf eine petitio prineipii: der Or⸗ ganismus könnte als ein Ablauf berechenbarer Erſcheinun— gen nur dann aufgefaßt werden, wenn zuvor die Wahrheit über den Kosmos erforſcht wäre; und dieſe Wahrheit ließe ſich nur dann erforſchen, wenn ſich zuvor alle Teilanſichten, die wir aus der Betrachtung willkürlich herausgeſchnürter Syſteme gewinnen können, zu einem kosmiſchen Geſamtbilde zuſammenſchlöſſen, was ebenſo ſinnwidrig iſt, wie zu verlan— gen, daß ſich aus einer Häufung vieler Photographien eine Körperlichkeit aufbaute. In letzter Inſtanz bleibt alſo ein une gelöſter Reſt, der genau ſo groß wie das Ganze iſt und nichts Minderes bedeutet, als die ewige Unlösbarkeit des ganzen Problems.

Bei dem Verſuch, dieſem Reſt irgendwie beizukommen, ſpringt in Deutlichkeit nur eine negative Wahrheit heraus, nämlich nicht eine ſolche, die den Schlüſſel zum Problem lie— fert, ſondern eine andere, die uns zeigt, daß alle Metaphyſik dieſen Schlüſſel bisher auf falſchem Wege geſucht hat; inſo— fern er weder dort liegen kann, wohin uns die Kauſalität, noch dort, wohin uns die Finalität, die teleologiſche Be— trachtung etwaiger Zweckurſachen, leitet. Gewiß, das Si⸗ gnalement iſt unvollſtändig, aber es iſt doch ein Signalement, und eine negative Erkenntnis bleibt wertvoller als eine poſitiv auftretende, die poſitiv falſch iſt. Wir werden nämlich von unſerem Meiſter durch eine Fülle bilderreicher Argumente dahin gedrängt, ein Prinzip anzunehmen, von dem ſich mit

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Sicherheit nur das eine ausſagen läßt, daß es ſich mit keinem anderen Prinzip berührt. Zwiſchen Kauſalität und Finali⸗ tät liegend, vielleicht außerhalb beider, entzieht es ſich der Berechnung, der Vorherſehbarkeit, ja direkt jedem an den Polen Determinismus Zweckmäßigkeit geſchulten Denken und jedem Sprachmittel, das darauf ausgeht, die Dinge ein⸗ deutig zu bezeichnen. Nur in Bildern, Symbolen, Ahnungen iſt es ergreifbar. Es ſoll zum Ausdruck gebracht werden, daß noch ein Drittes vorhanden iſt, das wirkt, im Bereich des Organiſchen das eigentliche Wirkſame darſtellt, ohne daß im unmittelbaren Vor- und Nacheinander etwas aufträte, das als Urſache angeſprochen werden könnte. Nicht die Folge des unmittelbar vorausgehenden Momentes iſt die organiſche Erz ſcheinung, in letzter Spitze eine Empfindung, ein Gedanke, ſondern hier fehlt der Worterſatz für „Folge“ ſagen wir alſo: fie iſt ein Integrationsergebnis der geſamten er— lebten Vorzeit, ein Komplex aus der ganzen Geſchichte dieſes Organismus, ein Letztes aus einer unendlichen Zeittiefe, das in die Laplaceſchen Weltformel niemals einzugehen vermag, ſelbſt wenn wir dieſe Formel für erfüllbar halten.

Der Laplaceſche Gedanke, der die Welt in bewegte Atome, die Erſcheinungen in Differentialgleichungen auflöſt, der ſtark genug iſt, den gegenwärtigen Zuſtand in aller Schärfe zu be— ſchreiben und hieraus jeden künftigen als eine Konſtellation der kleinſten Teile zu berechnen, geht nicht zurück in die Geſchichte, in die Vielfältigkeit des Erlebten. Er begnügt ſich mit dem Moment und den Zeitdifferentialen, die dieſen Mo— ment umgeben. Für ihn liegt weder das Bedürfnis noch die Möglichkeit vor, darüber rückwärts hinauszugreifen in die Vergangenheit, denn mit dem molekularen Erfaſſen des Mo— mentes erſchöpft es für den Determiniſten eine Welt, die

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ganze Welt, die Welt der Anorganismen. Allen Bewegungs: erſcheinungen der Himmelskörper genügt es reſtlos. Wir brauchen nichts von der unendlichen Vorgeſchichte des Firma— mentes zu kennen, um jede Folgeerſcheinung mit Sicherheit anſagen zu können, ſobald nur für ein einziges kleinſtes Zeit— teilchen die Bewegung in aller Schärfe der Rechnung unter— worfen wurde. Und hier tritt der ſpringende Punkt hervor. Jene Formel integriert nur die kosmiſche Differentialglei— chung, nicht die Geſchichte. Und ſie würde bei ihrem Pro— gramm verharren, wenn ſie die organiſche Zelle als Ablauf von Erſcheinungen, alſo als ein Sonnenſyſtem für ſich mit bewegten Atomplaneten, behandeln wollte. Ihr Ergebnis, ihre Voranſage müßte richtig ſein, rein für die Lagerung der Atome, für das Anorganiſche in der Zelle. Sie wird falſch, wenn aus der mathematiſch beſchriebenen Anordnung die or— ganiſche Ausdeutung herausgeleſen werden ſoll, falſch, bei jedem Verſuch einer Interpretation. Gerade das Entſcheiden— de fehlt ihr, die Integration der Ewigkeitszeit vorher, in der wir die eigentliche causa efficiens im Organiſchen, Pſy— chologiſchen erraten, eine Urſache, die in mechaniſchem Sinne gar keine Urſache iſt, da fie ſich weder dynamiſch noch zeitlich abgrenzen läßt, da zwiſchen ihr und der Wirkung keine ein— deutigen Beziehungen beſtehen, da ſie für ihre Endwirkung überhaupt gar nicht anders beglaubigt iſt als die natura naturans bei der natura naturata. Und eben für dieſes dritte Prinzip hat Bergſon feine „durée“ als ein vorläu— figes Wortzeichen eingeſetzt. Es iſt wie alle mit Begriffs— leichen umherziehenden Worte durch eine hemmende Vor— ſtellung beſchwert; denn als ein Dauerndes verneint es ge— rade die unendliche Variabilität, auf die es hier ankommt. Aber man wird es anerkennen müſſen, da es uns an den Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 7

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ſauſenden Webſtuhl der Zeit verſetzt, an den ſelbſttätig we— benden und wirkenden Apparat, deſſen Muſter ſich niemals wiederholen, ja niemals wiederholen können. Die ewige Wiederkehr, die in den großen und experimentell nachbild— baren Kreisprozeſſen des Unbelebten ihre Rolle ſpielen mag, fie findet hier keine Stätte. Denn eine organiſche Erſchei— nung, zumal eine Empfindung, iſt bei ihrer Wiederkehr ſchon darum eine andere, neue, weil ſie wiederkehrte, weil ſie durch die Erinnerung an den Vorgang eine neue Färbung und We— ſensart gewinnt. Und wie die Begriffe Nominalismus Realismus, ſubjektiv-objektiv im Lauf der Gedankenentwick⸗ lung ſich gewandelt haben, ſo wird man ſich daran gewöhnen müſſen, mit der „Dauer“ als mit einer Variabeln zu rech— nen, „an der nichts dauernd iſt als der Wechſel“. Zahlreiche und ſchwere Einwände werden ſich im erſten Anlauf geltend machen. Die rückſichtsloſe Schärfe des Schnittes, mit der jener Philoſoph die unbelebte Maſſe vom Leben abſchneidet, entſpricht einer Gedankenoperation, die auf ein Syſtem zielt, aber nicht der Wirklichkeit. Die Schei— dung der ſogenannten organiſchen und unorganiſchen Welt iſt ganz willkürlich, ſagt Du Bois-Reymond in ſeinen „Re— den“, und dieſe Meinung hat ſich ſeither ſo befeſtigt, daß das alte Dogma vom neuen Antidogma faſt überholt er— ſcheint. Soweit der Monismus reicht, wird man es leugnen, daß die Natur nur in dem Organismus „geſchloſſene Sy— ſteme“ hervorbringt. Ein Kriſtall im Kleinen, ein Sirius im Großen werden die Rechte des geſchloſſenen Syſtems in Anſpruch nehmen, nicht nur in der Struktur, ſondern darüber hinaus, bis auf die Seele. Wenn ſich Bergſon von der Fechnerſchen Allbeſeelung abkehrt, ſo oſtentativ, daß wir in dieſem Werk nicht einmal einen Hauch des Zend-Aveſta

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verſpüren, jo erkennen wir in dieſem Widerſtand nur das eine: daß der alte Dualismus ſeinen Einfluß nicht nur auf das eigentlich wiſſenſchaftliche Denken erſtreckt, ſondern auch auf die „Intuition“. Im Grunde genommen verhalten ſich Fechners und Bergſons Intuition wie Gegenſtand zum Spies

gelbild, inkongruent, gegenſätzlich, mit gegenſätzlichen Vor—

zeichen behaftet, aber doch gleich und ähnlich. Sie können nicht zur Deckung gebracht werden, aber ſie ergänzen ein— ander als zwei von entgegengeſetzten Punkten aufgenommene Spiegelbilder ein und derſelben Wahrheit. Es wäre ein Buch darüber zu ſchreiben, daß ſich Vaihingers „Als ob“ auch in dem Widerſtreit dieſer Intuitionen durchſetzt. Bergſons gewaltige Lehre konnte nur zuſtande kommen, wenn er ver— fuhr, als ob ſein gewaltiger Trennungsſchnitt der Wirk— lichkeit entſpräche. Aber am Ende ſeiner Wanderung er— kennen wir, daß die Doktrin von der ſchöpferiſchen Dauer auch aufrecht bleibt, wenn jene Scheidewand zwiſchen Orga— niſch und Anorganiſch fällt, genau ſo, als ob dieſe Wand niemals ein Daſein gehabt hätte. Denn ſie war nur metho— dologiſch unentbehrlich und kann, wenn erſt das Lehrgebäude ſteht, als überflüſſiges Gerüſt abgetragen werden.

Aber ein gefährlicherer Feind ſcheint aus einer anderen Ecke der Erkenntnistheorie heranzuſtürmen. Im Brennpunkt des materialiſtiſchen Denkens ſteht der von F. A. Lange ſo ſcharf formulierte Hauptſatz, daß das Geſetz von der Erhal— tung der Kraft im Innern des Gehirns keine Ausnahme erleiden kann, wenn es nicht total ſinnlos werden ſoll; daß damit das ganze Tun und Treiben der Menſchen, der ein— zelnen wie der Völker, durchaus ſo vor ſich gehen könnte, wie es wirklich vor ſich geht, ohne daß übrigens auch nur in einem einzigen dieſer Individuen irgend etwas wie Gedanke

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oder Empfindung vor ſich ginge. „Zwei Welten nebenein- ander ſtelle man ſich vor, beide mit Kreaturen und deren Handlungen erfüllt: mit dem gleichen Verlauf der Welt— geſchichte, mit dem gleichen Ausdruck aller Gebärden, dem gleichen Klang der Stimme, nur mit dem Unterſchiede, daß in einer der ganze Mechanismus abliefe wie die Mechanik eines Automaten, ohne daß irgend etwas dabei empfunden oder gedacht würde, während die andere „unſere Welt“ iſt; dann würde die Weltformel für die beiden Welten durch— aus dieſelbe fein. Sie wäre vom Standpunkt der exak— ten Forſchung nicht zu unterſcheiden.“

Gäbe es auch hier ein Kompromiß, eine Verſtändigung, eine Brücke, die von Langes Unumſtößlichkeit zu der intui— tiven Erfaſſung des Erſcheinungsablaufs führte? Bergſon wirft die Frage nicht auf, vielleicht weil ſie für ihn uner— heblich geworden iſt, nachdem er Kauſalismus und Laplaceſche Formel in Bauſch und Bogen abgeurteilt hat. Vielleicht aber auch, weil die Frage in ſolcher Schroffheit nur dem— jenigen erwachſen kann, der ſich an Lange durch ſo intime Fäden geknüpft fühlt wie Bergſon an Schelling. Und hier muß ich geſtehen, daß ich keine Seite im Bergſon zu leſen vermag, ohne daß zwiſchen den Zeilen der Langeſche Haupt— ſatz mir grinſend abwinkt; bis ich dann wiederum dermaßen in den Bannkreis der ſchöpferiſchen durée gerate, daß ich das Walten zweier Antinomien ſpüre, die ſich in ihrer Gegen— ſätzlichkeit aufeinander einzurichten haben wie die entgegen— geſetzten Wurzeln einer und derſelben quadratiſchen Glei— chung. Aber mit einem Gewaltſtreich ließe ſich der Zwie— ſpalt löſen. Man ſtelle ſich nicht zwei, ſondern unendlich viele Welten nebeneinander vor. Eine davon ſei die auto— matiſche, eine die unſerige, alle anderen vom Gegenwarts—

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punkt gerechnet in allen ſeeliſchen Begleiterſcheinungen un— bekannte Ausſtrahlungen mit unendlich verſchiedenen Be— ſchaffenheiten. Da das Pſychologiſche an das Mechaniſche nicht mathematiſch gefeſſelt iſt, zum mindeſten nicht durch eindeutige Beziehungen, ſo liegt in dieſer Vorſtellung bei aller

Phantaſtik nichts Widerſinniges; wie denn auch Lange ſelbſt

mit großem Bedacht geſchrieben hat: „. .. genau fo vor ſich gehen könnte“ und nicht: „... vor ſich gehen müßte“. Dies vorausgeſetzt, erſchiene jene Brücke zwiſchen den Antino— mien konſtruktiv nicht mehr unmöglich. Denn unſere Welt wäre dann virtuell befähigt, in jedem Augenblick in jede der anderen Welten überzugehen, vollkommen vom Zwange des Determinismus befreit und trotzdem, körperlich betrach— tet, der alleingültigen Laplaceſchen Formel reſtlos unterwor— fen; womit ſich am Ende die Materialiſten ſtrengſter Ob— ſervanz ebenſo befreunden könnten wie die Bergſoniſten, denen hier für die Geheimkräfte der „durée“ und des „Elan vital“ ein immerhin ganz auskömmlicher Wirkungskreis, nämlich die Unendlichkeit, zugewieſen wird.

Aber der Überwindung des Determinismus ſteht noch ein anderer Denkzwang entgegen: unſere Vorſtellung von der Stetigkeit im Ablauf der organiſchen Erſcheinungen und in allen Außerungen irgendwelcher Energie überhaupt. Wir alle denken vorläufig infiniteſimal, in jedem Denkakt wieder— holt ſich der lückenloſe Akt des freien Falles, der Planeten bewegung, der Lichtſtrahlung, die wir nicht anders zu faſ— ſen vermögen denn als einheitlichen Zuſammenhang. Die Kontinuität ſcheint hinter allen Kauſalitäten als Urkauſalität zu ſtehen, hinter allen Urſachen als Ururſache; wer es da— her wie Bergſon unternimmt, dieſe Kette zu zerreißen, Zwi— ſchenglieder hineinzuſchmieden, der wird vor allem darauf

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ſinnen müſſen, die Stetigkeit im Erſcheinungsabfluß, allem Vorſtellungszwange zum Trotz, durch die Unwiderleglichkeit beobachteter Tatſachen zu lockern. Mit zwei Hebeln greift Bergſon in die Widerſtände: mit der Mutationslehre und mit dem kinematographiſchen Charakter unſerer Erkenntnis der Dinge. Hugo de Vries hat es vertreten und experi— mentell bewieſen, daß die Veränderung der Arten nicht durch Summierung kleinſter Abänderungen, ſondern durch Mu— tation ſprungweiſe aus inneren Gründen erfolgt. Plötzlich— keit an Stelle der Stetigkeit wäre der wahre Sinn der or— ganiſchen Entwicklung, die ſich hinter der ſcheinbaren Kon— ſtanz der Arten verſchleiert. Und ebenſo liegt Plötzlichkeit an Stelle der Stetigkeit unſerer Wahrnehmung zugrunde, vor der die Natur ihre Dinge abrollt, wie der kinematographiſche Apparat ſeine Films. Nichts nehmen wir von den vorüber— gleitenden Erſcheinungen wahr als Momentbilder, als ge— trennte Atome des Wahrnehmbaren, die wir erſt ſpäter durch einen künſtlichen Prozeß zu einer wirklich abfließenden Be— wegung, zum Heraklitiſchen „Panta rhei“ vereinigen.

Prachtvolle Argumente, aber dennoch vergebliche Mühe der Hauptſache gegenüber. Denn ſtetig blieben hinter allen Erſcheinungen immer noch die wirkenden Kräfte, die phyſi— kaliſchen Geſetzmäßigkeiten, die von jenen Auflockerungsver— ſuchen nicht betroffen werden. Hier fehlt eine dritte Beſchwö— rungsformel, die nur aus der theoretiſchen Phyſik kommen kann; und aus dieſer iſt ſie gekommen, vor etwa dreizehn Jahren, alſo zu einer Zeit, da der Pariſer Denker ſeine grund— legenden und grundſtürzenden Unterſuchungen längſt abge— ſchloſſen hatte. Es iſt die Quantenhypotheſe, und ihr allein kann es vorbehalten ſein, über Bergſon hinaus die Bergſonſche Lehre zu vollenden.

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Die Quantenhypothefe*), die heute durchaus nicht mehr hypothetiſch, vielmehr in ihren Grundlagen völlig geſichert erſcheint, ſtützt ſich auf das Nernſtſche Wärmetheorem im Kontakt mit den unvergänglichen Arbeiten Boltzmanns. In letzter Inſtanz bedeutet die Quantenhypotheſe den wahren Triumph der Unſtetigkeit. In ihrem Gefolge würde nämlich der erſchütternde Leitſatz auftreten, daß die Energie der elek— tromagnetiſchen Wellenſtrahlung, oder daß wenigſtens die Schwingungsenergie der Elektronen eine atomiſtiſche Struktur beſitzt, ja, daß die Elementargeſetze ſelbſt, welche die atomiſtiſchen Kräfte beherrſchen, aufhören, der ſozuſagen logiſchen Forderung unverbrüchlicher Stetigkeit zu genügen, vielmehr einen Weſenskern von Diskontinuitäten enthüllen.

Von hier bis zu dem Radikalſchluß, daß jede Energie ato— miſtiſch konſtituiert ſei, iſt noch ein weiter Schritt. Aber vielleicht erſcheint dieſe Verallgemeinerung im Lichte aller Denkmöglichkeiten nicht waghalſiger, als der Quantenbegriff überhaupt einem Vertreter der altklaſſiſchen Dynamik er— ſchienen wäre. Es ſoll ja auch nur mit einer Möglichkeit zu— künftiger Denkformen gerechnet werden, denen die Intuition eine Zuflucht bietet. Wird ihnen dereinſt dieſes Aſyl geöff— net, dann könnte Bergſons Lehre in Wahrheit das werden, was ſie heute noch nicht iſt oder zu ſein verſchmäht, die Ver⸗ wirklichung der Anſage in Kants „Prolegomena“ als der künftigen Metaphyſik, „die als Wiſſenſchaft wird auftreten können“.

Dann wird es auch gegeben fein, in eine Reviſion der „du—

*) Hauptquelle: ein tiefgründiger Vortrag Max Plancks vom 16. Dezember 1911, abgedruckt in den Berichten der Deutſchen chemiſchen Geſellſchaft, Heft 1 von 1912.

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rée“ einzutreten. Wenn Bergſon meint, der wahre Sinn der Zeit könne ſich nicht erſchließen, wenn wir ſie zu einer vierten Dimenſion des Raumes herabwürdigen, ſo wird ſich über dieſen Verzicht ein neuer Anſpruch aufbauen: der wahre Sinn der Zeit kann erſt dann erſchloſſen werden, wenn die Zeit im Sinne der Einſtein-Minkowskiſchen Relativitätstheorie zur vierten Dimenſion des Raumes emporgehoben und die Welt des Geſchehens zu einer Geometrie von vier Dimenſio— nen geläutert wird. Schlägt unſer Naturerkennen dereinſt Wurzel im Quanten- und im Relativitätsbegriff, erwächſt hieraus als eine organiſierte Denkform die völlige Gleich— wertigkeit von Raum und Zeit, dann mag ein anderer Berg— ſon kommen, der uns den ſchöpferiſchen Raum mit Ein— ſchluß aller Zeit vordemonſtriert. Nichts Beſſeres kann ich dieſem Nachfolger wünſchen als die bewundernswerte Bered— ſamkeit ſeines Vorgängers, als deſſen intuitives Vermögen, tiefe Erkenntniſſe in Bildern und Symbolen zu geſtalten. Denn ſelbſt wenn es gelingt, in ſeiner Lehre den Dualismus zu beſeitigen, wird über das Symbol nie hinauszukommen ſein in der Darſtellung alles Erſchaffenen, alles Dauernden und alles Vergänglichen, das ein Gleichnis iſt und nur in Gleichniſſen ausgeſprochen werden kann.

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Zukunftskino

Wenn heute ein Prediger in der Wüſte aufträte, um gegen Naturkraft und Mechanik zu donnern, ſo würde man ihn für einen verſpäteten Nachzügler der Inquiſition halten. Man würde ſich der grauen Zeiten erinnern, da zu Rom das Sy— ſtem des Kopernikus und die Lehre von den Antipoden auf dem Index ſtand, gewiſſe Kometen verflucht wurden und die Idee des Flugzeugs zum Teufelswerk zählte. Wir ſind moderner geworden. Man entrüſtet ſich nicht mehr gegen die Mechanik des Himmels und der Erde, aber man hat ſich einen Rückſtand der Entrüſtung gegen die „Mechaniſierung der Welt“ aufgeſpart. Ja, es gehört ſogar zum guten Ton, gegen dieſe Mechaniſierung zu wettern, ſobald ſie Miene macht, in irgendein Kunſtgebiet überzugreifen. An dieſen Feldzügen iſt das Sanctum Offieium unſchuldig. Führer und Generalſtäbler der Kampagne ſind vielmehr die vorge— ſchrittenen Kritiker, die Hüter der Kunſttempel, und in zahl— loſen kampffrohen Feuilletons raſſeln die Federn gegen den Einbruch der Maſchine in den Kunſtbetrieb, gegen Licht— bildnerei, Grammophon, Pianola und Film.

Im Prinzip aber macht es keinen Unterſchied, ob man gegen die Mechanik anſtürmt oder gegen die Mechaniſierung. Die Donquichotterie bleibt dieſelbe. Denn es gibt nichts Sinn— loſeres als den Kampf gegen das Unvermeidliche. Von Cä—

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far bis zu Moltke hat kein Feldherr den Kampf anders be- griffen und definiert als im Hinblick auf den Zweck des Kampfes: den Sieg. Wo die Möglichkeit des Sieges fehlt, iſt der Kampf an ſich eine Abſurdität; etwa ſo, wie wenn je— mand eine Schachpartie ohne Figuren, bloß mit Bitten, Über⸗ redung oder Beſchimpfung des Gegners gewinnen wollte; oder eine Schlacht auf dem Papier, während der Feind im Gelände ſeine Maſchinengewehre ſpielen läßt. Der Satz des großen Friedrich: „Gott iſt immer mit den ſtarken Ba- taillonen“ behält ſeine Geltung auch im Kunſtweſen. Das Reſultat allein ſchafft das Recht und die Moral; ihre Gültig⸗ keit erhält die Prägung vom Erfolge. Die Anſage: „Das Kino ruiniert das Theater“ iſt im letzten Grunde gar nicht ſehr verſchieden von der Behauptung: Die Schiefe der Eklip⸗ tik verdirbt die Jahreszeit. Beides läßt ſich theoretiſch be— weiſen. Nur daß wir die Welt von neuem erſchaffen müß— ten, um ſolche Mißſtände zu korrigieren. Und nur ein ge— borener Wolkenkuckucksheimer wird ſich auf derartige Erörte— rung einlaſſen, mit rückwärts gewendeter Utopie und ſitt⸗ licher Entrüſtung gegen die Ekliptik. Wer ſich in der wirk— lichen Welt zurechtfindet, wird es vorziehen, Tadel und Lob als unzureichende Gerätſchaften einzupacken und der Mecha— nik einzig mit dem zu antworten, was auf ſie paßt: mit der Berechnung.

Von dem Augenblick an, wo das erſte Stroboſkop als ein Kinderſpielzeug das Heraufziehen einer neuen optiſchen Me— chaniſierung ankündigte, war das Kinoproblem geſtellt. Daß es ein Kunſtproblem geworden iſt, war eine harte Notwendig— keit. Seine Löſung iſt nicht von Gebeten und äſthetiſchen Be— ſchwörungen zu erwarten, ſondern einzig von der Vorausſicht. Die Anfangsglieder liegen vor, aus ihnen iſt die weitere

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Entwicklung ohne Gejammer, aber mit möglichfter Präziſion zu errechnen. N

Ich kann nicht finden, daß ſich die Prieſter der Kunſt bis—⸗ her als ſonderliche Propheten bewährt hätten. Sie verglichen faſt durchweg das vorhandene Kino mit dem vorhandenen Theater, das elende Maſchinchen mit der ruhmvollen Dich— tung von Sophokles bis Ibſen, waffneten ſich mit Ironie und Begeiſterung, griffen zu den ewigen Sternen am Theaterhimmel und verwieſen mit verachtungsvoller Gebärde die Flimmerkiſte zu den Teufelsrädern und Wackeltöppen der Rummelplätze. Wer ihnen beginnende Möglichkeiten ent— gegenhielt, flog auf die Strafbank der Böotier, Banauſen und Kunſtpiefkes. Und es galt als ausgemacht, daß kein „Diener am Wort“, insbeſondere kein Dichter ſich je ſo weit vergeſſen könnte, eine Berührung mit den zu ewiger Stummheit verurteilten ſchwarzweißen Zappelfiguren anzu— ſtreben. Inzwiſchen hat ſo mancher Talarträger ſeine Front— ſtellung geändert, und den Standhaften wird unwohl zu— mute, wenn ſie ihre Scharen muſtern. Drüben ſteht ſchon eine Legion von Überläufern. Mit den Theoretikern fing es an: Man hörte kinofreundliche Sentenzen von Björn Björn— ſon, von Hermann Bahr, Stefan Zweig, Felix Salten, Paul Goldmann; Maximilian Harden erklärte die Kinos für wich— tiger und nützlicher als zwei Drittel aller Sprechtheater. In hellen Haufen folgten die Schauſpieler, unter ihnen Be— rühmtheiten, die ſich gewiß nicht einfach auf die Galeere ver— kauften, ſondern als ehrliche Koloniſten ein Neuland der Kunſt beſiedeln wollten. Die Autorenfilms wuchſen zu un— heimlichen Meilenlängen, und wenn die Progreſſion nur noch kurze Zeit anhält, ſo werden alle Proteſte des Goethebundes endgültig verſpielt haben. Ob er überhaupt noch proteſtiert?

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Ich hege meine Zweifel, denn auf die Dauer will kein Künſt— ler bei der Fahne falſcher Propheten verharren.

Heute iſt man wenigſtens ſo weit, anzuerkennen, daß man mit dem bloßen Händeringen gegen den poſitiven Erfolg nichts ausrichtet. Hinter dem Geſetz der großen Zahl ſteckt allemal ein organiſcher Grund, eine Lebensoffenbarung. Und die große Zahl hat ſich in unſerem Falle ſchon bis ins Über— dimenſionale gereckt. Die Statiſtik hat ausgerechnet, daß allein in Großbritannien wöchentlich acht Millionen Men—⸗ ſchen die Kinotheater beſuchen. In der ganzen Welt beſtehen zurzeit 60000 Flimmertempel, darunter unzählige in kul— turfremden Ortſchaften, in Einöden, die von der Darſtellung eines Vorgangs vordem nichts wußten, denen das bewegliche Allerlei auf weißer Fläche mit Eindrücken und Erregungen zum erſtenmal die ferne Ahnung eines Kunſtgefühls auf— dämmern läßt. Aus vielen Städten Deutſchlands liegen Ta— bellen vor, die uns beweiſen, daß der Film bei einer Drang— ſalierung durch Zenſur, Steuer und Feuilletonfluch weitaus mehr metalliſche Nahrung aus den Beuteln der Bewohner zieht als die Sprechbühnen.

Der Standhafte aber will die große Zahl nicht aus einem inneren Geſetz heraus beurteilen. Ihm iſt ſie die leidige Mehrheit der Schädlinge, der Bazillen, der Spaltpilze: „eine Kinoſeuche!“ ruft er reſigniert, falls er ſich nicht dazu er— mannt, die Klinke der Geſetzgebung in die Hand zu nehmen. Ich kann ihm wenig Hoffnung machen, weder auf ein Er— löſchen der Seuche im natürlichen Ablauf, noch auf hy— gieniſch durchgreifende Paragraphen. Aber ich möchte ihm andere Hoffnungen erwecken, freilich nicht von heut auf morgen, vielmehr auf lange Sicht, mit einem Proſpekt ohne Aſta Nielſen, ohne ihre berühmten Kollegen vom Filmmarkt.

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Die Annalen des Kinos ſind kurz, und die Zeit iſt lang, hundert Jahre ſpielen da keine Rolle. Und in hundert Jah— ren ohne mich auf den Kalender feſtzulegen —, wird ſich der Kunſtſchreiber darüber wundern, daß es zu unſerer

Zeit ſoviel tüchtige, geſcheite Kollegen gegeben hat, die eine geſunde Evolution nicht von einer Peſt zu unterſcheiden wuß— ten.

Wir denken in Reihen, verſuchen dies mindeſtens, ſobald uns daran liegt, die Denktätigkeit auf Sicherheit einzuſtel—⸗ len. Jede künſtleriſche und jede techniſche Linie ſtellt eine Reihe vor, deren Entwicklung und Ende vorläufig nicht ab— zuſehen iſt; aus dem Vergleich beider ergibt ſich eine Diffe— renzenreihe. Die erſten Glieder dieſer Differenzenreihe, für Kino und Kunſt ermittelt, liegen vor, und kein ſinniger Menſch wird beſtreiten, daß ſie bei aller Mächtigkeit eine ab— nehmende Tendenz verraten. Ob dieſe Reihe als Ganzes konvergiert oder divergiert, kommt hier nicht in Betracht; es handelt ſich nur darum, zu ermitteln, ob die Reihen— elemente ſich in endlicher Zeit ſoweit verkleinern, daß die Reſtglieder jedes für ſich vernachläſſigt werden dürfen. Tritt dieſer Fall ein, ſo würde ſich auf jenem fernen Proſpekt eine kinematographiſche Zukunft als durchaus künſtleriſches Er— lebnis abbilden. Mangels eines exakten Beweiſes müſſen wir uns der Wahrſcheinlichkeit in die Hand geben, und dieſe Wahrſcheinlichkeit ſagt uns, daß überall, wo Techniſches über: haupt mitſpielt, die Differenzglieder allmählich verſchwin— den müſſen. Nie und nirgends war etwas anderes zu beob— achten als das Prinzip der Annäherung an ein vorſtell— bares Ideal. Ein vereinzeltes Beiſpiel möge das verdeut— lichen. Bei der Entwicklung elektriſcher Telegraphie formen ſich die Reihenglieder aus der Differenz einer elektriſchen

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Leiſtung und dem vorgeftellten Ideal einer Nachrichtgebung über weite Strecken. Als Gauß und Weber ihre erſten glück— lichen Verſuche anſtellten, war das vor aller Welt liegende Reſultat außerordentlich klein, die Verbindung überſpannte eine Wegſtrecke von genau einer Viertelſtunde Fußgänger— maß, ſo weit wie vom phyſikaliſchen Kabinett bis zur Stern⸗ warte in Göttingen. Ein Zweifler hätte ſagen können: Das iſt gar keine Erfindung; ein Sprachrohr, eine Sirene reicht weiter! Und doch lagen in jenem knappen Wegemaß von wenig mehr als einem Kilometer die Strecken der ganzen Welt beſchloſſen, denn es hatte ſich eine Verkleinerung in— nerhalb der Differenzenreihe ergeben, von Unendlichgroß bis auf Endlich. Man konnte vordem überhaupt nicht elek— triſch telegraphieren, mit Gauß und Weber konnte man es. Und während der Engſichtige eine klägliche Rechnung begann über die Möglichkeit, vielleicht dereinſt zehn Kilometer oder gar hundert Kilometer weit Wort und Gedanken verſchicken zu können, mußte eine beſſere Vorausſicht ahnen, ja wiſſen, daß jede Entfernung verſchwunden war, in demſelben Mo— ment, als der Göttinger Draht irgendeine Entfernung ver— nichtete. Genau ſo wie ſich der Menſchentraum des Fliegens verwirklichte, als Otto Lilienthal zum erſtenmal gegen den Wind flog. Ein Verſuch mit untauglichen Mitteln, eine Kataſtrophe, und doch die Eröffnung einer weltumfaſſenden Möglichkeit, die Peinlichkeit der Erdenſchwere zu überwinden.

Ich höre den Einwand, daß dieſe Erinnerungen ſich nur auf rein Techniſches beziehen, während im Vergleiche Kino Kunſt eigentlich von einer Differenz gar nicht geſprochen werden könne, da die Kunſt eben abſolut untechniſch ſei. Das ließe ſich hören, wenn der Begleitſatz ebenſo richtig wäre, wie er falſch iſt. Denn der Sinn der ganzen Erörterung

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zielt im letzten Grunde nicht auf das Abſtraktum Kunſt, ſondern auf die Mittel, die Kunſt dem Menſchen wahrnehm— bar zu machen, und auf die Fähigkeiten, die uns zu Gebote ſtehen, um überhaupt die Kunſt mit den Sinnen zu erfaſſen.

Und hier ſetzt die Neuheit einer Erkenntnis ein, die von manchem Vorläufer dunkel ertaſtet, von Henri Bergſon bis zur völligen Evidenz herausgearbeitet worden iſt: Der Mechanismus unſeres geſamten Denkens iſt kine— matographiſchen Weſens! Ihr Prinzip iſt die Unſtetig— keit, gleichgültig, ob wir die Wahrnehmung, die geiſtige Auf— faſſung oder die Sprache als das Entſcheidende betrachten. „Der Kunſtgriff des Kinematographen iſt auch der Kunſt— griff unſeres Erkennens. Statt uns dem inneren Weſen der Dinge hinzugeben, ſtellen wir uns außerhalb ihrer, um dies Werden künſtlich zu rekonſtruieren. Von der vorübergleiten— den Wirklichkeit nehmen wir ſozuſagen Momentbilder auf, und weil dieſe die Realität charakteriſtiſch zum Ausdruck bringen, ſo genügt es uns, ſie längs eines abſtrakten, gleich— förmigen, unſichtbaren, auf dem Grunde des Erkenntnis— apparates liegenden Werdens aufzureihen, um nachzubilden, was das Charakteriſtiſche dieſes Werdens ſelbſt iſt.“ Wer ſich die Mühe nimmt, dies durchzudenken, wird erkennen, daß von des Eleaten Zenon fliegendem Pfeil bis zu Berg— ſons Lehre eine lückenloſe Gedankenkette geht, zweitens aber und vornehmlich, daß dieſe Kette nur noch wenig verlängert zu werden braucht, um über das reine Erkennen hinaus bis zur Kunſterfaſſung zu reichen. Auch für dieſe ſind wir durch unſeren Organismus mechaniſch, unſtetig, vorgebildet; un— ſere geſamte Fähigkeit, ein Kunſtgebilde zu berühren, zu ers fühlen, ja ſogar zu ſchaffen, iſt eine kinematographiſche. Wir ſind ſonach berechtigt, unſeren mechaniſchen Anſatz nach dem

III

Prinzip der Differenzenreihe aufzuftellen und aus der offen— kundigen Verminderung der Unterſchiede auf eine dereinſtige Verſchmelzung beider Elemente zu ſchließen. Ich ſelbſt halte dieſes Dereinſt für ziemlich naheliegend und den Schritt dahin nicht für größer als vom erſten Göttinger Draht zum Nervenſyſtem der Weltdrähte, das heut die Menſchheit durch— ſpinnt. Soll das Hindernis etwa in der Sprache liegen, in der Stummheit der Kinofiguren, im Schnarren des mit dem Film gekoppelten Phonographen? Das wäre wieder ſo eine „Unmöglichkeit“ nach dem Muſter der Akademiker, die anno olim mit der Geſte der Unfehlbarkeit die Unmög— lichkeit der Spektralanalyſe, der Telephonie, des unterſee— iſchen Kabels und der Flugtechnik bewieſen haben. Das Schnarren wird dem ſchönſten Bühnentonfall weichen, der Gleichlauf zwiſchen Klang und Gebärde wird in Wahrheit den lebenden Menſchen widerſpiegeln und die Illuſion auf weißer Fläche vollenden.

Auf weißer Fläche? Sind damit ſchon wieder die techni— ſchen Möglichkeiten erſchöpft? Nichts zwingt uns, die An— ordnung im Zweidimenſionalen als das einzige Grundgeſetz der Projektion anzuerkennen. Heut noch beruhigt ſich das Illuſionsbedürfnis bei der ſcheinbaren Perſpektive auf der Fläche. Es wird anſpruchsvoller werden, das Problem der Körperlichkeit ſtellen; es wird die Entwicklung der kinemato— graphiſchen Tiefbühne fordern. Und da dies eine Aufgabe der Mechanik iſt, ſo muß ſie irgendwie gelöſt werden aus optiſchen Quellen, ſtereoſkopiſch und ſtereometriſch mit Hilfs— mitteln einer ſchnellen und billigen Übertragung eines wirk— lichen Bühnenvorgangs auf eine nicht abtaſtbare, ſonſt aber der Wirklichkeit völlig gleichwertige Szenerie.

Der Gleichlauf zwiſchen Ton und Bewegung leiſtet ſchon

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jetzt Erſtaunliches. Eine ſchöne Kunſt hat er freilich noch nicht vermittelt, aber das erſte Puppenſpiel von Dr. Johan⸗ nes Fauſt war auch noch nicht Goethiſch oder Reinhardtſch. Das junge Kinetophon ſpielt alberne Szenen mit den An— ſätzen einer Sprechmechanik. Das gereifte wird den Hamlet mit ſprachlichem Ausdruck vortragen. Es gibt da nur nach Graden abgeſtufte Unterſchiede, wiederum jene Differenzen, die keinen Beſtand beanſpruchen können, weil zwei über— mächtige Regenten ihren Untergang beſchloſſen haben: die Zeit und die Technik.

Aber wir wollen uns auf kürzere Sicht einſtellen und vorerſt nur die muſikaliſche Pantomime und das klaſſiſche Ballett, die doch auch zur Kunſt gehören, durchs Kino ver— vielfältigt denken. Aufgaben, zu deren Bewältigung die be— reitſtehenden Mittel beinahe ausreichend erſcheinen. Damit wären die Vorſtufen zur kinetophoniſchen Oper gewonnen, die ſicherlich unbeholfen genug einſetzen, aber ebenſo gewiß um Jahrzehnte früher ihren Frieden mit der Mechanik machen wird, als das Sprechdrama.

Auf dem Wege dahin liegt eine Abſpaltung, die niemals fehlt, wo immer ſich breite Haufen aus gemeinſamen Inter— eſſen verſammeln. Es bildet ſich eine vulgäre Unterſchicht und eine ariſtokratiſche Oberſchicht. Einmal ſchon haben wir dieſe Spaltung im Kinobetrieb erlebt, der nach ganz prole— tariſchem Beginn ſchnell genug luxuriöſe Zweige anſetzte. Das Theater ſollte durch die äußere Aufmachung eingeholt wer— den, durch Paläſte, elegante Logen, impoſante Saaldiener, ſymphoniſche Orcheſter und hohe Entrees. Volksküchen mit Sevre⸗Porzellan, geſchliffenen Kelchen, friſchen Hummern und Pommery. Die zweite Spaltung wird die Volksküche zu Recht beſtehen laſſen und ihre Scheidung nach 58 Kunſt⸗

Moszkowski, Der Sprung über den Schatten

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wert des Dargeftellten bewirken. Dann gleitet die Wildweſt— dramatik und der ſentimentale Kitſch mit ihren Pampas⸗ ritten, geraubten Bräuten und langweiligen Heroismen in die Unterſchicht, und die Ariſtokratie beginnt dort, wo aus der erſten mechaniſchen Paarung von Ton und Bewegung das erſte glaubhafte Buffoduett vor uns entſtehen wird. Wer heute ein Knabe iſt, kann es erleben, ehe ihm die Haare bleichen; und wenn er zufällig Kunſtſchriftſteller werden ſollte, ſo wird er alle erdenklichen Fragen erörtern, bloß nicht die, ob ſolche Eindrücke zu den ſchönen Künſten zäh— len oder nicht; er wird ſie vielmehr als ein ſelbſtverſtänd— liches Kompromiß auf maſchinenhafter Grundlage anſehen, das, weit entfernt davon, die Kunſt umzubringen, ſie ins Ungemeſſene verbreitert und volkstümlich macht.

Als gemeinſame Formel aller Zukunftsbetrachtungen er— gibt ſich: Das Kino mit all ſeinen fernen Möglichkeiten, mit Synchronismus des Tones, erhöhtem Relief der Dar— bietung und optiſcher Tiefbühne verhält ſich zum gegenwärti— gen Theater wie der Buchdruck zur Literatur. Was wir heute im Theater als Volkskunſt ausrufen, iſt doch nur ein Reſervat örtlich und wirtſchaftlich Begünſtigter; zur wirk— lichen Volkskunſt kann es erſt durch den ungeheuren Multi plikator der Maſchine werden. Die Elektra, die Phädra und der Wilhelm Tell haben nicht dadurch gelitten, daß ſie in Millionen von Exemplaren durch die Maſchine verbreitet wur— den und daß ſie für zwei Nickel aus dem Automaten ge— zogen werden können.

Und ſo wird ein Caruſo der Zukunft gleichzeitig an hun— dert verſchiedenen Bühnen zwiſchen Kanada und Neuſeeland in hundert wirklichen Vorſtellungen auftreten, eine Indis— poſition kann niemals vorkommen, und die Eintrittskarte mit

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und Toren, welche nicht wüßten, daß, wenn die Lichtſpielerei ſich - 8*

beſter Ausficht auf die ganze Aida wird fünfzig Pfennig

koſten, falls nicht inzwiſchen durch die Luſtbarkeitsſteuer der projizierte Tenor genau ſo unerſchwinglich geworden iſt wie der lebendige.

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Die vorſtehende Zukunftsanſage hat mancherlei Erörte— rung in der Preſſe hervorgerufen. Als gewichtigſter Gegner trat mein verehrter Kollege, der bedeutende Kritiker des Ber— liner Tageblatts, Fritz Engel auf den Plan, indem er in ſeinem Organ folgende Abwehr veröffentlichte:

Zukunfts⸗Flimmer Ein Brief an Alexander Moszkowski

Verehrter Herr und Freund! Sie haben an dieſer Stelle einen Aufſatz über das Zukunftskino veröffentlicht und einen weiten Blick in allerlei Entwicklungsmöglichkeiten vorausgetan. Ihre Phantaſie arbeitet noch lebhafter als der beſte Kurbelapparat, der ſich ja immer noch an Gegenſtändliches halten muß, und zaubert Bildungen herbei, die vorerſt nur Einbildungen ſind, die aber, rein äußerlich geſprochen, durchaus Wirklichkeit werden können. Wir wiſſen ja alle, daß ſelbſt parodiſtiſch gemeinte Utopien im Lauf der Jahre ernſte, techniſche Wahrheit geworden ſind. Beim Gott der Technik iſt eben kein Ding unmöglich.

Aber ich muß widerſprechen, wenn Sie mit möglichen techniſchen Vollendungen den Ruf aller derjenigen erſticken wollen, welche in der Inſtitution des Kino, des gegenwärtigen und des zukünfti— gen, eine Bereicherung der Kunſtſphäre nicht erblicken können. Sie haben da, verehrter Freund, ſo ein gewiſſes Lächeln, das uns zu verſtehen gibt, wir ſeien zwar brave Leute, aber ernſt zu nehmen ſeien wir nicht. Nun ja, man brauche uns nicht gerade totzu⸗ ſchlagen, aber es wäre doch hohe Zeit, uns zu ducken. Wir ſeien die Don Quixotes, die gegen etwas „Unvermeidliches“ anrennen,

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quantitativ ſo gewaltig entwickelt habe, darin eine „Lebensoffen- barung“ ſich zeige, gegen die nichts mehr auszurichten iſt.

Da bitte ich nun ſehr um die Erlaubnis, ein Tor bleiben zu dürfen. Töricht, wie ich mich fühle, bin ich nicht einmal klug ge⸗ nug, Ihnen im einzelnen zu beweiſen, wie falſch dieſer Gedanke von der „Lebensoffenbarung“ iſt, die man als eine gottgewollte Sache in Demut hinnehmen müſſe. Sie verlangen damit, daß wir auch den peinlichſten Erſcheinungen des menſchlichen Daſeins, wenn ſie nur kompakt genug auftreten, mit der Gleichgültigkeit eines Wüſtenphiloſophen zuſchauen ſollen. Sie machen den Kampf gegen alle Epidemien überflüſſig, und ich ſehe wirklich nicht ein, warum wir noch etwas gegen die Tuberkuloſe tun ſollen, die ja leider nach dem „Geſetz der großen Zahl“ unzweifelhaft eine ſolche „Lebensoffenbarung“ iſt.

Aber Sie ſchränken ſich ja ſelbſt ein, indem Sie einen Kampf immerhin dann für erlaubt halten, wenn er Ausſicht auf den end» lichen Sieg hat. Und nun hören Sie, was einer von den Toren ſpricht, die Sie, immer mit jenem Lächeln, verſpotten, indem Sie ihnen den Titel „Prieſter der Kunſt“ verleihen. Wir glauben an dieſen Sieg. Wir glauben, daß die Technik, die die Kultur und alle Bequemlichkeiten des Lebens beherrſcht, der Kunſt nur immer reſpektvoll dienen, ſie aber nie tyranniſieren darf. Wir glauben, daß je eher Ihre Phantaſie zur Wirklichkeit wird, daß Technik und Kunſt um ſo ſchneller ſich wiederum ſcheiden werden. Wir glauben, daß all die techniſchen Kniffe, die heutigen und die ſpäteren, er— kannt werden als Surrogatmittel, die fie find; daß man fie emp⸗ finden wird als Notbehelfe für Farmer an der Grenze des Ur— waldes, die den Kultur- und Kunſtzentren fernbleiben müſſen; daß ſie ſchließlich die Sehnſucht erwecken, ſie aber nie befriedigen werden, nach dem Original: nach der menſchlichen Stimme, die noch nicht auf die Schallplatte eingefangen iſt, und nach der von lebendigen Menſchen erfüllten dramatiſchen Kunſt, die ewig das zarteſte und ſtärkſte Inſtrument ſeeliſcher Wirkung bleiben wird. „Wilhelm Tell iſt in Millionen Exemplaren maſchinell verbreitet worden“ ſo heißt es in Ihrem Aufſatz. Und der Effekt? Die Erkenntnis, daß das gedruckte Drama ein matter Abglanz iſt. Weiterer Effekt: der heiße Wunſch, es dort kennen zu lernen, wos

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hin die von hundertfältigen Konkretheiten erfüllte, nach plaſtiſcher Lebensgeſtaltung drängende Kunſt des Dichters es geſtellt hat: auf die paar Bretter, die man dramatiſche Bühne nennt.

Und dieſen Organismus wollen Sie nun, ſchwärmeriſch und doch ſchon erfolgſicher, den Fortſchritten der Technik reſtlos anver— trauen. Sie nehmen es als ſelbſtverſtändlich an, daß die Licht— bühne ſogar auf dem Gebiete des ernſten Dramas noch eine weſentliche Zukunft habe. Da Sie die Entwicklung mit ſolcher Aufmerkſamkeit verfolgen, nimmt es mich ein wenig wunder, daß es Ihnen entgangen iſt, wie ſkeptiſch man bereits in den nächſten Intereſſentenkreiſen darüber denkt. Zumal mit jenen „Autoren- films“, von denen ſo viel und ſo hoffnungsvoll die Rede war, iſt es nicht gut geworden. „Prieſter der Kunſt“ hatten töricht und weltfremd, wie fie find ſofort darauf hingewieſen, daß die Ge- ſetze des dramatiſchen Schaffens, wenn man es nur im geringſten im höheren Sinne begreift, niemals in das Prokuſtesbett des Films zu ſpannen ſind. Einige unſerer Poeten haben das mit— empfunden, andere nicht, und fie haben wirklich geglaubt, die Lein wand „veredeln“ zu können. Von dieſen ſind nun die meiſten ſchon mit langen Geſichtern umgekehrt. Wenn ſie noch für den Film arbeiten, ſo tun ſie es annonym. Die Epoche, da ihre „Namen“ hoch bezahlt wurden und da ſie ihr künſtleriſches Gewiſſen mit dem großgedruckten Ruhm der Litfaßſäule einſchläferten, iſt ihrem Ende nahe. Und wenn ſie ſelbſt auch noch wollten die Filmdirektoren wollen nicht mehr. Es war ein ſchlechtes Geſchäft, denn der dicke Suppenkaſpar Publikum hat die veredelte Bouillon nicht eſſen wollen. Und das Lichtſpiel ift und bleibt nun einmal ein fauf- männiſches Unternehmen. Techniſchen Urſprungs, hat es von Hauſe aus wie alle Technik Geld machen wollen, und ſeine Schöpfer haben den Teufel an Kunſt gedacht. Auch unſer heutiges Theater möchte gern reich werden; das iſt gewiß. Aber der Urquell aller Kunſtgebärdung, außer eben der Kino-„Kunſt“, ſtrömt doch noch immer aus idealen Bedürfniſſen. Es iſt die Pflicht jener weltfremden Prieſter, die Herrſchaften vom Theater von Zeit zu Zeit daran zu erinnern.

Und nun erwartet Alexander Moszkowski das Heil der drama— tiſchen Filmkunſt vom Glück der Technik. Man werde aus der

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Flächenprojektion zur dreidimenſionalen gelangen und die Stim- men der Schauſpieler mit abſoluter Treue auf die Walze bringen, und man werde ſchließlich plaſtiſches Bild und Reproduktion der Stimme zu ſo geſchloſſener und einheitlicher Wirkung führen, daß die volle Illuſion der heutigen Bühne erzeugt wird. Ich traue der Technik alles zu und will das einmal glauben. Ich will glau- ben, daß die Sache durchaus klappt; daß die Schauſpieler, die die Walze beſprochen haben, die aber nachher noch beſonders kinematographiſch aufgenommen werden, den Mund genau ſo be— wegen, wie die Sprechmaſchine hinter den Kuliſſen es verlangt; daß die Akuſtik, die in jedem Saale ihre eigenen Bedingungen hat, von Fall zu Fall mechaniſch geregelt werden kann.

Dann wird alſo, ſprechfilmenderweiſe, Hamlet gegeben. Sie, Freund und Gegner, träumen ohne Umſchweife davon. Heute abend: „Hamlet“ von William Shakeſpeare. Ich fühl', wie ich ſchaudere, und mir geht's wie Horatio, da er den Geiſt erblickt: „Es macht mich ſtarr vor Furcht und Staunen.“ Den eiſigen Tod ſehe ich dort, wo ich Leben zu ſehen gewohnt war Ich ſehe ſtarre Puppen, die mir voll Beweglichkeit vorlügen, daß ſie nicht ſtarr ſind, und ich ſehe ſie da, wo ich Menſchen ſich hatte bewegen ſehen. Gott, wie unmodern, daß ich ſolche Unterſchiede mache. Wie töricht, daß ich mich erinnere und vergleiche. Wie berührte mich einſt die Stimme des Prinzen im Innerſten, weil er ſie eben in dieſem Augenblick ſelbſt aus ſeinen Tiefen herausholte! Wie fühlte ich ſeine Wärme und neidete ihm den guten Platz, wenn er ſich an Opheliens ſüßen Leib anſchmiegte! Wie tat mir ſelbſt der alte Polonius leid, da er gleich einer Ratte abgeſtochen wurde; ich hatte ihn ja eben noch als einen Atmenden geſehen. Welch eine Albernheit, daß ich mich daran erinnere, wie reizvoll und wahrhaft künſtleriſch es ehedem war, daß jede Theaterauf— führung, auch die ſorgfältigſt vobereitete, ſtets etwas Improvi⸗ ſiertes hatte, abhängig vom Raume, vom jeweiligen Publikum und von dem immer neuen Streben der Schauſpieler. Wie ſchoͤn und ſpannend, weil ein Bild des Lebens ſelbſt, waren dieſe Irri— tationen des Augenblicks!

Jetzt aber, o Zeitgenoſſe, o Zukunftsgenoſſe, jetzt geht alles am Schnürchen. Du bewunderſt vielleicht nicht mehr Hamlet, aber

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du bewunderſt die Mafchinerie, die ihn hervorbringt. Du haft

aus der Sprechkiſte Hamlets Monolog gehört und ſagſt: „Nein, dieſe Technik!“ Und Apollo ſelbſt, der nur ein Olympier war und noch kein Dr.⸗Ing., geht hin und vertauſcht ſeine alte Leier gegen ein noch gut erhaltenes Grammophon.

Dies und Ähnliches fiel mir aufs Herz, als ich Ihren Aufſatz las.

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Adhue sub judice lis est. Und bis zur wirklichen Ent— ſcheidung in langer Zeit wird es von der Stimmung des ein— zelnen abhängen, ob er ſich von der momentanen Körper— lichkeit des Schauſpielers mehr für die Kunſt verſpricht oder von dem Kunſtgebilde an ſich, ob er die Einmaligkeit, das Improviſierte höher wertet als die von Ort und Zeit unabhängige Wirkung, die das Impromptu opfert, um ſich der Dauer zu verſichern.

Im Grunde dreht ſich der Streit um die Aufrechterhaltung von Vorbehalten und Privilegien, die ja für den Genießer ihre hohe Bedeutung haben, aber gegen das Optimum der Maſſe zurücktreten müſſen, im Sozialen wie im Künſtle⸗ riſchen. Der vornehme Römer, der die Schwere des Alltags auf feine Sklaven abwälzte, tauchte tiefer in die Lebens— eſſenz als der Bürger von heute, der ſich mit der Geſinde— ordnung umherſchlägt, Marken klebt und das Herrenbewußt—

fein nicht mehr kennen lernt. Trotzdem empfinden wir dieſen

Abſtieg vom Lebensgipfel als einen Aufſtieg von einer nie- deren Lebensordnung zu einer höheren. Ja, wir können uns nirgends mehr einen Kulturfortſchritt vorſtellen ohne Be— ſeitigung ſolcher Gipfel und ohne Nivellierung, die durch ſich ſelbſt zu einer Erhöhung der geſamten Lebensfläche führt.

Im Kunſtleben wiederholt ſich dieſe Erſcheinung ganz ge⸗

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nau. Der Genießer als ſolcher will keine abgeguckten Kunft- werke, will nicht die Maſſe, die an der Darbietung teil— nimmt, beanſprucht die Stegreifblüte als etwas für ihn als lein Gehöriges. Er befiehlt Separatvorſtellungen und er— reicht damit gewiß eine Kunſtſchwelgerei, die der ſpäter nach— ſtrömenden Menge verſagt bleibt. In dieſer Behauptung des Herrenſtandpunkts offenbarte ſich das Kunſtbekenntnis des Königs Ludwig II. von Bayern. Darin liegt Größe, Schön— heit, adlige Eigenart, aber ein Übelſtand iſt dabei: es läßt ſich der Kunſtwirklichkeit gegenüber nur als eine Fürſten— laune von kurzer Dauer durchführen.

Der Schwelger von heute ſchielt immer noch begehrlich nach dem König-Ludwig-Reſervat. Seine Kommandogewalt iſt freilich verkürzt, und er muß es dulden, daß die Kunſt— ſtrahlen nicht nur ſeine Loge, ſondern ein ganzes Parkett voller Menſchen, viele Parketts und viele volle Häuſer er— reichen. Damit hat er ſich abgefunden. Denn noch hat er das Improviſierte und die unmittelbar wirkende Körper— lichkeit für ſich gerettet.

Bloß für ſich gerettet? ach nein! er hat ſie Millionen vorenthalten und dieſen nicht nur die letzte und höchſte Schwelgerei, ſondern das Kunſtwerk ſelbſt. Soll es über die Tauſende hinweg die Millionen erreichen und dieſe For— derung iſt unabweisbar ſo muß es eben den Weg der mechaniſchen Vervielfältigung einſchlagen. Den Wenigen wird dabei nicht einmal ein Opfer an Genuß zugemutet, fon- dern nur der Verzicht auf Ausſchließlichkeit. Denn die We— nigen werden nach wie vor Erſtaufführungen beſuchen, und jedes Stegreif in Bewegung, Mimik und Ton bleibt ihnen ungeſchmälert. Sie werden ſich nur damit abzufinden ha— ben, daß der Reflex der Darſtellung aus unzähligen Glanz—

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flächen in alle Welt geht, daß die Tafel für Unzählige gedeckt wird, die heute noch hungern.

Fritz Engels poetiſche Anſprüche bleiben alſo in aller Zu— kunft gewahrt, und feine Befürchtungen finden im Techni— ſchen keine Stütze. Wer ſelber im guten Sprechtheater einen guten Platz inne hat, wird auch weiterhin dem Dänenprinzen den guten Platz an Opheliens ſüßem Leib neiden dürfen. Aber während er ſich dieſen Entzückungen hingibt, mag ihm die Erkenntnis zuflüſtern: dieſer ſüße Leib Opheliens iſt für dich eine optiſche Tatſache, in deiner eigenen Körperlichkeit be— gründet und hervorgerufen durch ein winziges Bildchen auf deiner Retina. Du ſelbſt kinematographierſt mit Auge, Hirn und Nerven, wenn du den Leib betrachteſt und aus vielen Ver—⸗ ſchiebungen jenes Bildchens ſeine Süßigkeit abziehſt. Siehſt du ihn durch ein Opernglas, fo hängt der Mädchenleib ver- kehrt und verkleinert in der Luft und wird erſt durch einen höchſt umſtändlichen Prozeß im Okular deiner Wahrneh— mung zugeführt. Setze dich ſchräg gegen die Bühne und ſchalte einen Planſpiegel ins Geſichtfeld ein, ſo wird ſich der Eindruck immer noch nicht ändern, und du wirſt dich im äſthetiſchen Genuß der warmen Körperlichkeit fühlen. Sie ſelbſt, die Ophelia, korreſpondiert mit dir immer nur op— tiſch, durch einen verwickelten Mechanismus, der letzten Endes nichts anderes bewirkt als gewiſſe molekulare Anord— nungen in deinem eigenen Empfangsapparat. Gelingt es der Technik, dieſe Anordnungen auf noch größeren Umwegen und Entfernungen zu bewirken, ſo bleibt dieſe Körperlichkeit beſtehen, ſelbſt wenn die reale Ophelia in Berlin geſpielt hat und dir ihre Erſcheinung zehn Jahre ſpäter nach einem Alpendorf zuſendet. Illuſion iſt alles in der Kunſt, fie ſpie— gelt dir in Nähe und Ferne eine Körperlichkeit vor, die du

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ſelbſt durch die Technik der Organe in dir konſtruierſt. Als das Kino feine Laufbahn begann, wurde ihm jede Kunſt— möglichkeit abgeſtritten. Heute ſieht es auf dem Kampf⸗ felde ſchon anders aus, und in die Fanfaren der Gegner mi— ſchen ſich die Töne der Verzichtleiſtung. In dem Feldgeſchrei „der Autorenfilm verſagt“ liegt bereits das Zugeſtändnis, daß man die modernen Filmautoren gar nicht brauchen wird, ſondern nur noch Autoren. Ganz einverſtanden. Wenn durch vorgeſchrittene Technik und neuangepaßte Illuſion erſt aus den „ſtarren Puppen“ lebendige redende Menſchen geworden ſind, dann wird es ſich zeigen, daß die Bühnenautoren ſeit Sophokles Zeiten ſchon immer für den Film geſchrieben ha— ben. Und wenn dann irgendein Filmdrama nichts taugt, ſo wird es am Drama liegen, nicht am Film. Nehmen wir aber als Vorausſetzung die vollendete Mechanik, den wirk— lichen Dichter und den trefflichen Darſteller, dann ver- ſchwindet der Filmbegriff überhaupt, und an ſeine Stelle tritt das weithin ſtrahl-tönende Kunſtwerk in einer Nach⸗ welt, die dem Mimen Kränze flicht.

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277 8 1 n : Sata .

Klavier und Maſchine

In meiner Studie über „die Kunſt in tauſend Jahren“ habe ich die Frage nach der zeitlichen Begrenzung der Künſte aufgeworfen und mit den mir verfügbaren Mitteln zu beant— worten verſucht. In der Löſung des Problems gelangte ich zu dem Ergebnis, daß die Kunſt im Daſein der Menſchheit von Anfang an nur zu endlichen Funktionen berufen ſei. Seitdem ſind Aufforderungen an mich ergangen, die Wahr— ſcheinlichkeitsſfkala für das Erlöſchen der Künſte genauer zu beſtimmen.

Daß die tauſend Jahre der Überſchrift nur eine bequeme Sprachformel darſtellen, iſt ohne weiteres einleuchtend. Tauſend Jahre ſind eine Ewigkeit im Verhältnis zum ein— zelnen Menſchenleben und eine Minute in der kosmiſchen Ent— wicklung. Zweifellos werden Dichtkunſt, Bildhauerei und muſikaliſche Kompoſition zu höherem Alter gelangen. Aber ich bin der Meinung, daß einzelne Beſonderheiten der Kunſt auch dieſe tauſend Jahre nicht überleben werden. Und ich will hier mit der neuen Ketzerei hervortreten, daß wir den Mund gar nicht mit Jahrtauſenden vollzunehmen brauchen, um das Ausſterben einer beſtimmten Kunſtklaſſe, nämlich des Pianismus, vorauszuſagen. Hier wird es ſich höchſtens nur noch um Jahrhunderte handeln.

Ich möchte mich hierüber weder mit den Pianiſten von

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Fach noch mit den Konzertagenten oder Konſervatoriums— leitern unterhalten. Dieſe werden geneigt ſein, von Arion ab über den erſten Spinettpinker hinweg bis zu den Klavier— matadoren unſerer Tage eine aufſteigende Kurve zu erblik— ken, die notwendigerweiſe ad astra führen muß. Sie wer⸗ den die Statiſtik der Klavierkonzerte aufmarſchieren laſſen, deren Zahlenwucht die Bedenken eines einzelnen Zweiflers einfach niederreitet. Und vermutlich werden ſie wenig Luſt bezeigen, mir eine Vorausſetzung zuzugeben, auf die ich vor— nehmlich meine verwegene Anſicht aufbaue, nämlich die: daß der Pianiſt von Anbeginn in der Entwicklung der tonkünſtle— riſchen Gedanken einen Fremdkörper bedeutet.

Nehmen wir einmal vorläufig die Kompoſition, ſo wie ſie ſich in der Klaviermuſik darſtellt, als einen ewigen Wert an. Ihr gegenüber ſteht der Empfangende, der Hörer, der dieſen Wert in ſich aufnehmen, ſeinen Reiz genießen ſoll. Das ideale Verhältnis wäre der unmittelbare Kontakt, das Überfließen des Reizes in den empfangenden Organismus, ſo wie der Wanderer den Wald und die Sonne, der Jüngling die Geliebte genießt, ohne Zwiſchenhändler und Dolmet— ſcher. Auf der einen Seite ſteht der Weltgeiſt in einer ſinn— lichen Offenbarung, auf der anderen ein Menſch, deſſen Ner— venbahnen ſich dieſer Verkündung öffnen. Und theoretiſch, wenn auch in Form eines Wunders, ließe ſich auch für die Muſik eine ſolche Unmittelbarkeit ausdenken: eine Beetho— venſche Sonate, ein Chopinſches Nocturne müßten dem leib— lichen Ohre erklingen, wie ſie urſprünglich dem inneren Gehör der Erzeuger entquollen. Das wäre die Vollendung.

Aber zwiſchen dem Beethoven oder Chopin und dem Hörer ſteht nun in jedem Falle ein Agent, der die beiden Pole an— einanderbringt. Ohne dieſen Menſchen und ſeine umſtänd—

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liche, mühevolle, im Grunde ſehr peinliche Gymnaſtik wür⸗ den ſich die beiden Pole, die einander ſuchen, nicht vereini— gen, der Funke würde zwiſchen ihnen nicht überſpringen kön— nen. Einem Organ, das die Natur zum Greifen beſtimmte, hat er das Klavierſpielen abgetrotzt, eine Technik eingepflanzt, die in jedem, auch im beſten Falle als das Prinzip der über— wundenen Schwierigkeiten eine mechaniſche Geltung bean— ſprucht. Dieſer Menſch vermittelt alſo, das heißt, er erregt die Täuſchung, daß jener Beethoven oder Chopin zunächſt gar nicht die Objektivation einer künſtleriſchen Idee gefun— den und dargeſtellt, ſondern vor allem den Vorwand erſonnen hat, ihn mit feinen äquilibriſtiſchen und wagehalſigen Lei— ſtungen auf das Podium zu befördern.

Aus allen Poren ſchwitzt ihm die mechaniſche Arbeitsver— gangenheit. Wir mögen von der pianiſtiſchen Darbietung entzückt und überwältigt ſein, wir mögen ihm zujubeln, ihn herausrufen und zu Wiederholungen nötigen, je beifalls— freudiger wir uns gebärden, deſto deutlicher beſtätigen wir die Tatſache, daß er jene Idealfühlung nicht fördert, ſondern ſtört; daß er eine ſelbſtherrliche Inſtanz darſtellt, von der die Kompoſition als ſolche nichts weiß; daß ſich auf dieſer mit klammernden Organen ein Paraſit feſtgewurzelt hat, der die Kräfte und Säfte des Werkes für eigene Zwecke in An— ſpruch nimmt und aufſaugt.

Aber der kompoſitoriſche Geiſt hat von Natur aus einen anderen Willen, und früher oder ſpäter wird er ihn durch— ſetzen. Ihm iſt es nicht darum zu tun, die techniſche Her— vorbringung zu betonen, ſondern ſie verſchwinden zu laſſen. Er will das unmittelbare Überfließen in das Empfangsorgan, und wenn er dies bis zur Stunde noch nicht ermöglichte, ſo deutet er doch den Weg an, auf dem er es dereinſt ermöglichen

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wird. Schon find am Reformtempel der Kunſt die neuen Theſen angeſchlagen, und deren oberſte Sätze lauten: Der pianiſtiſche Menſch muß und wird ausgeſchaltet werden; an die Stelle des akrobatiſchen Vermittlers ſoll die Maſchine treten, die eben, weil ſie ſeelenlos iſt, ſich zur allergehor— ſamſten Vollſtreckerin des kompoſitoriſchen Willens eignet.

Wie dieſe Maſchine der Zukunft heißen wird, das wiſſen wir nicht, braucht uns auch nicht zu kümmern. Auf gegen— wärtiger Stufe der Möglichkeit heißt fie: das Pianola “).

Ich ſehe das Entſetzen in den Mienen vieler Leſer. Da tritt einer auf, der vollkommen das Göttliche in der Men— ſchendarſtellung überſieht und der allen Ernſtes behauptet, dieſes Göttliche könnte durch eine maſchinenhafte Anlage überwunden werden. Das iſt in der Tat viel Ketzerei in einem Satze. Aber wir werden uns zu erinnern haben, daß noch niemals eine kunſtphiloſophiſche Erkenntnis, noch niemals ein Reformationsgedanke aufgetaucht iſt, die nicht im erſten Anlauf einen ketzerhaften Anſtrich gezeigt hätten.

Exempla docent. Wir wollen uns zunächſt einmal in benachbarten Gebieten umſehen, um zu prüfen, welche Rolle dem Mechaniſch-Seelenloſen im Bereich des Künſtleriſchen und Reingeiſtigen zufällt.

*) Die Betrachtungen dieſes Artikels gelten bis zu einem ge— wiſſen Grade auch für die anderen Konftruftionen, die das Prinzip des Pianolas, alſo die Unterdrückung der techniſchen Schwierig— keit, verfolgen. An dem Zuge meiner Ausführungen, die nur dieſes Prinzip als Zukunftswerk behandeln, wird nichts geändert, wenn ſtatt des Wortes Pianola eine andere Artbezeichnung einge— ſetzt wird. Der von mir aufgeſtellte Generalnenner iſt aber, am Gange der Entwicklung gemeſſen, der einzig mögliche, da das Pianola als Verwirklichung eines techniſchen Gedankens vor— bildlich aufgetreten iſt.

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Du trittſt vor ein Gemälde, das als Kunſtgebilde zum Be⸗

ſchauer dieſelbe Beziehung hat wie die muſikaliſche Kompo⸗ ſition zum Hörer. Genau genommen müßte ſich alſo auch hier ein Vermittler dazwiſchen ſtellen, ein Menſch, der dir das Bild ſozuſagen „vorſpielt“. Hiervon weiß aber dieſe Kunſt nichts. Sie läßt die Schwingung das Subſtrat aller Kunſt direkt in dich, auf deine Retina überſtrömen. Als Vermittler dienen lediglich der im Licht ſchwingende ſee— lenloſe Ather der Luft und die ſeelenloſe Linſe deines Auges, welche in ihrer Vereinigung als das Pianola der Malkunſt angeſprochen werden können. Du ſelbſt, als der Schauende, haſt dieſes von der Natur vorgeſehene Pianola zu regiſtrie— ren, und du kannſt den Gedanken gar nicht zu Ende denken,

daß hier als Vermittler noch irgendein ſeelenvolles Drittes

ſich zwiſchen dich und das Kunſtwerk drängen könnte.

Ja, im Felde der Muſik ſelbſt finden wir Anſätze dieſer Erkenntnis. Als Richard Wagner mit der Forderung des verdeckten Orcheſters hervortrat, führte er faſt dieſelben Mo— tive ins Treffen, die uns als Beweisſtützen dienen ſollen. Er verlangte wörtlich „die Beſeitigung der ſtets ſich auf— drängenden Sichtbarkeit des techniſchen Apparates der Ton— hervorbringung“. Die Häufung geigender und blaſender Mittelsperſonen, vor allem aber den eigentlichen Interpreten, den Kapellmeiſter in feinen gymnaſtiſchen Übungen, emp⸗ fand er als Fremdkörper. Und läge es im Bereich der Möge lichkeit, die Kapelle durch ein ideales Orcheſtrion zu erſetzen, jo hätte Richard Wagner keinen Augenblick gezögert, den gan⸗ zen ſeelenvollen Komplex muſizierender Zwiſchenglieder ſamt ihren Dirigenten von Bülow bis Mottl radikal abzuſchaffen und durch die Maſchine zu erſetzen. Er hat ſich damit be— gnügt, die Störung zu verdecken. Auf unſeren Fall über⸗

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tragen, würde dies der Mitwirkung eines „verdeckten Kla— vierſpielers“ gleichkommen. Wir gehen noch einen Schritt weiter und greifen in die Zukunft, indem wir den Pianiſten nicht nur verdecken, ſondern in der Verſenkung verſchwinden laſſen.

Denn immer bliebe noch zwiſchen der Schöpfung und dem Hörer das Klavier ſelbſt, ein Inſtrument, das mit ſeinen Hebeln, befilzten Hämmern, metallenen Fäden und ſeinem rieſigen Reſonanzkaſten zunächſt nichts anderes darſtellt als einen ſeelenloſen, nach arithmetiſcher Ordnung aufgeftellten Katalog der Töne. An und für ſich erſcheint uns das Piano— forte wie ein Bergwerk, angefüllt mit Erde, Schlacke und ein— geſprengten Silberadern, die erſt losgelöſt, geſchmolzen und zur Kunſtgeſtalt geformt werden müſſen; oder wie ein Mar— morbruch, der in ſeinem toten, unterſchiedsloſen Geſtein all die bildlichen Herrlichkeiten trägt, die erſt hier wie dort wörtlich genommen herausgehauen werden ſollen. Wäre es möglich, das Klavier mit der Urſchöpfung ſo in direkte Be— rührung zu bringen, daß der Urheber ſich ſelbſt zum Er— klingen brächte, ſo wäre das Vortragsproblem gelöſt. Zu dieſem Ziel findet ſich leider in der natürlichen und künſtle— riſchen Schöpfungsgeſchichte kein Weg vorgezeichnet. Es iſt beſtimmt in Apollos Rat, daß hier ſtets noch ein Tertius oder Tertium mit unerbetener, aber notwendiger Dienſt— leiſtung auftritt, ein Pianiſt oder ein Pianola, ein Menſch oder eine Maſchine, bei denen ſich trotz aller Grundverſchie— denheit ihres Weſens ſchon heute ein Konkurrenzkampf an— kündigt.

Und da ſchwinge ich mich ſofort zu der anſcheinend barbari— ſchen Anſage auf, daß die Zukunft dieſe Konkurrenz zugun— ſten des Pianolas entſcheiden wird; hierbei ſtelle ich das

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Horoſkop gar nicht auf eine Unabſehbarkeit ein, ſondern, wie ſchon angedeutet, auf eine nahe, nach wenigen Generationen beſtimmbare Folgezeit.

Ja, ich gehe noch weiter: Nach der Summe ſeiner Lei— ſtungen gemeſſen ſtelle ich das Pianola ſchon heute über ir— gendeinen Pianiſten.

In dieſer Summe ſind inbegriffen: die abſolute techniſche Vollendung, die Launenloſigkeit des Inſtruments, ſeine ſtete Spielbereitſchaft, ſein unendliches Gedächtnis und ſein un— erſchöpflicher, die geſamte Literatur umſpannender Spiel— ſchatz.

Dieſe Eigenſchaften werden wohl kaum beſtritten, ſie ſind ſo leicht erweislich, daß ein Widerſpruch ſich nicht hervor— wagt. Und da frage ich vor allen Dingen: Iſt es denn wirk⸗ lich durchaus erforderlich, eine Maſchine als etwas Totes dem lebendigen Darſteller gegenüberzuſetzen? Sollen wir uns nicht vielmehr endlich von der Legende losreißen, die das Leben nur dem als lebendig Klaſſifizierten zuſchreibt?

Wer ſich erſt zu der Einſicht durchgerungen hat, daß ein Uhrwerk, eine Magnetnadel nicht toter ſind als eine organiſche Zelle, der wird auch unſchwer an die Stelle der durch Jahr— tauſende geübten Denknotwendigkeit vom grundfäßlichen Le— bensunterſchied eine neue ſetzen: und am Ende ſeines Denk— weges wird er die Wahrheit finden: eine Maſchine, die über: haupt ein Tonwerk reproduziert, iſt ein Lebendiges.

Wer das Gegenteil annimmt, verläuft ſich unrettbar in die Sackgaſſe der Widerſinnigkeiten. Das werde ich ihm be— weiſen. In meiner Arbeitsſtube wird ein Pianola in Tätig— keit geſetzt, das den erſten Satz der Neunten Symphonie aus— führt. Mein Flurnachbar, der von dem mechaniſchen Zu— ſammenhang der Dinge keine Ahnung hat, der nur der akuſti—

Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 9

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ſchen Wirkung gehorcht, ſtürzt ganz aufgeregt zu mir ins Zimmer, in der Erwartung, bei mir einen berühmten Piani— ſten vorzufinden, und iſt im höchſten Grade betroffen, als ich ihm als den Urheber der phänomenalen Leiſtung einen ſchwarzpolierten Kaſten vorſtelle. Bald darauf rücke ich das Pianola ab, ſetze mich ſelbſt an die Taſten und verſuche die erſten Takte der Neunten Symphonie. Mein Nachbar er— kennt mich ſofort als das, was ich wirklich bin, nämlich als einen Klavierſtümper von Gottes Ungnaden, und bittet mich, ſchleunigſt innezuhalten. Wenn aber die angeblich unbeſeelte Maſchine künſtleriſch fraglos Beſſeres leiſtet als ich, der le— bendige und beſeelte Stümper, ſo iſt damit die ſtarre Denk— notwendigkeit bereits unheilbar durchbrochen. Wir haben es dann nur mit gradmäßigen Unterſchieden zu tun, und es könnte ſich allenfalls fragen, in welche Stufe der Künſtler— ſchaft das Pianola einzuſchätzen wäre. Es bliebe die Mög— lichkeit offen, daß ein Roſenthal, d' Albert, Buſoni, ein Zus kunfts⸗Liſzt jene Transſkription noch vollendeter zur Er— ſcheinung zu bringen vermöchten. Das bloße Auftauchen die— ſer unvermeidlichen Frage genügt, um dem Pianola ſeinen Rang unter den Künſtlern anzuweiſen.

Die Virtuoſität an ſich würde ſchon hinreichen, um ihm dieſen Rang zu gewährleiſten. Beim Menſchen beruht die techniſche Höhe auf einer beſonders geſteigerten Anlage des Koordinationszentrums im Gehirn, der eine entſprechende Anlage im Gliederbau gewöhnlich parallel geht. Nun gibt es freilich Dilettanten der Phyſiologie, die da meinen, es hänge vom Zufall ab, ob unter ſolcher Vorausſetzung der Menſch ein vorzüglicher Aquilibriſt, Trapezturner, Jongleur, Radfahrer, Volteſchläger oder ein glänzender Klavierſpieler würde; und die nämlichen Dilettanten ſind dann geneigt, alle

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r A ir > Tau 9 8 n 3

dieſe Qualitäten auf ein und dieſelbe Stufe zu ſtellen, alſo die Klaviervirtuoſität als eine rein und ausſchließlich mechaniſche Fertigkeit zu begreifen. Das iſt natürlich für jeden, der die Zuſammenhänge und Entwicklungsmöglichkeiten tiefer er— faßt, der blanke Unſinn. Das höchſtbeanlagte Koordinations— zentrum wäre auf der Taſtatur ratlos verloren, wenn es ſich nicht auf ein ſpezifiſch muſikaliſches Talent zu ſtützen ver— möchte, beſonders auf das muſikaliſche Gedächtnis, das als ſolches von einer allgemeinen tonkünſtleriſchen Beanlagung ganz untrennbar erſcheint. Ich würde daher nicht einen Au— genblick ſchwanken, irgendeine Perſon, von der mir nichts anderes bekannt wäre als ihre Klavierbravour, unter die Muſiktalente zu rechnen.

Nun haben wir aber im Pianola einen Organismus, deſ— ſen Virtuoſität ohne weiteres als grenzenlos bezeichnet wer— den muß. Sein Koordinationszentrum umfaßt alle Mög— lichkeiten zugleich. Jeder korreſpondierende Hammer iſt ſein eigener Finger, und jeder dieſer Finger funktioniert in jedem kleinſten Zeitteilchen mit nie verſagender Treffſicherheit. Das ergibt insgeſamt eine Virtuoſität, mit der ſich keines leben— digen Spielers Technik zu meſſen vermag und die ja auch ſelbſt bei blaſierten Klavierhörern jedesmal aufs neue die Empfindung des Staunens auslöſt.

Und dieſe grenzenloſe Technik tritt trotzdem beim Pianola ſo ſelbſtverſtändlich auf, daß ſie durchaus als ein Element der Schönheit erſcheint, ohne jenen fatalen Beigeſchmack der menſchlichen Bravour, die ſich ſtets als etwas Unnatürliches verrät, als etwas Ertrotztes, im vieljährigen Kampf gegen die Widerſpenſtigkeit der Hand Erzwungenes. Was der Kom— poniſt im Einzelfalle beabſichtigt hat, die beſtimmte Idee im Tonreich, die ſich in dieſem Werke objektiviert, wird um ſo

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reiner in die Erſcheinung treten, je mehr die techniſche Arbeit verſchwindet, die es zu ſeiner Darſtellung aufbietet. Ich fol— gere: das Pianola iſt nicht nur ein Künſtler, ſondern es über— ragt ſchon in feinem heutigen Können alle lebenden Klavier: menſchen dadurch, daß es ein Maximum der Technik mit einem Minimum der Ablenkung von der muſikaliſchen Haupt— ſache verbindet.

Alle die Notbehelfe, die der wirkliche Pianiſt, auch der vortrefflichſte, einſchmuggeln muß, die durch das Pedal ver— deckten Undeutlichkeiten und Unzulänglichkeiten, das nie zu vermeidende Durcheinanderſchütteln der Töne im komplizier— ten Figurenwerk, die verwiſchten Grenzlinien im Doppelgriff— ſpiel, kurz alle techniſchen Mängel, die wir gefliſ— ſentlich oder gewohnheitsmäßig überhören, weil ſie unlöslich der menſchlichen Darbietung anhaften ſie exiſtieren nicht für das Pianola. Es iſt der einzige abſolut ehrliche Künſt— ler, der einzige, der ſeine Arbeit mit vollkommen reinem Ge— wiſſen erledigt. Das Pianola unterſchlägt nicht, beſchönigt nicht und hilft ſich niemals mit einer athletiſchen Geſte über eine techniſche Lücke hinweg. Sein vollgriffiges Spiel, ſeine Oktaven, Terzenläufe und Akkordfolgen ſind die einzigen, die volles Gewicht zeigen und jede Goldprobe aushalten. Ach, wieviel Elemente gibt es im Menſchenſpiel, die uns nur dar— um individuell gefärbt erſcheinen, weil jeder Spieler ſich auf ſeine perſönliche Weiſe mit der Unzulänglichkeit auseinan— derſetzt! Weil jeder ſein Spezifikum beſitzt, mit dem er ſich und die Hörer über den im letzten Grunde unbeſieglichen Widerſtand der Materie hinwegtäuſcht! Gewohnheit und muſikaliſche Anpaſſung an das Gegebene haben uns dahin geführt, in dieſen perſönlichen Färbungen Tugenden zu er— blicken. Und ebenſo wird uns die Anpaſſung an das Pianola

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dahin führen, ſolche Tugenden bis auf ihren Fehlergrund . zu durchſchauen, alſo auch auf gewiſſe Abtönungen zu ver— zichten, ſobald wir ſie als Begleiterſcheinungen menſchlicher Schwäche oder als Falſchſpielertricks erkannt haben.

Und nun wird es an der Zeit ſein, ſich deſſen zu erinnern, daß ja ſchließlich auch zum Pianola ein Menſch gehört, der die Bälge tritt, der das Pedalwerk regelt und die Modu— lationshebel nach ſeinem eigenen Willen lenkt. Außerlich betrachtet, könnte er für den Pianiſten dieſes Inſtrumentes gelten. Tatſächlich verhält er ſich zum eigentlichen Klavier— ſpieler wie der große Hexenmeiſter zum kleinen Zauberlehr— ling.

Seine Arbeit beſteht darin, die ungeheuren muſikaliſchen Kräfte austönen zu laſſen, die in der Kombination Klavier plus Pianola fertig vor ihm liegen; im Klavier als Chaos, beim Durchgang durch das Pianola diſzipliniert, fertig ver— arbeitet, nur noch des letzten Impulſes gewärtig. Keine techniſche Sorge tritt ihm nahe; alle dieſe Sorgen ſind von den Bändern des Pianolas abgefangen worden, deren Sieb nichts durchläßt als ſchlackenfreie techniſche Vollkommenheit. So kann ſich denn der Pianolameiſter einzig und allein dem Vortrag des Stückes widmen.

Vortrag? Meiſter? ja, ganz gewiß. Schon heute kön— nen Spiel und Spieler dieſe Titel verdienen. In der Hand— habung des Metroſtylhebels, in der Regiſtrierung, vor allem aber in der Kunſt der Pedalgebung, in der Okonomiſierung des Luftſtromes öffnet ſich die ganze Stufenleiter von der Unbeholfenheit des Anfängers bis zur Meiſterſchaft; und demzufolge eine entſprechende Skala von der trockenen Wie— dergabe der Noten bis zum hochmuſikaliſchen Vortrag. Nur mit dem Unterſchied vom Urklavier, daß der Fingerpianiſt

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fein halbes Leben der Erlangung der Technik opfern muß, während der Pianolaſpieler, entbunden von dieſer Fron, als der Spieler höherer Ordnung ſich ſofort am Reingeiſtigen, am Vortrag, emporbildet.

Wir haben es im Grunde mit dem einfachen Anſatz zu tun: Der Klavierſpieler verhält ſich zum Klavier wie der Pianola— ſpieler zum Pianola. Auch das Klavier iſt eine mechaniſche Anlage, da es die fertigen Töne auf Vorrat bereitet. Erſt der unter der Wucht der Schwierigkeit ſtöhnende Künſtler ver— wandelt die Sauberkeit dieſer Anordnung in eine Unreinheit, von der er ſich vergebens durch Maſſendiſziplin der Finger zu befreien ſtrebt. Unzähligemal im Laufe ſeiner Studien wird es ihm inſtinktiv bewußt, daß dieſe Maſſendiſziplin in den letzten Dingen des Klavierismus das entſcheidende Wort zu ſprechen hat; daß eine Zeit kommen muß, die mit der Forderung der Klarheit und Wahrheit in der Wiedergabe die Romantik der Fehler überwindet; daß das Ohr der Zukunft jeden Manſch und Planſch als frevelhafte Fälſchung wahr— nehmen wird. Der Pianoliſt kann da anfangen, wo der ver— zweifelte Pianiſt aufhört. Er ſteht vor der Mechanik über: legener Klaſſe, vor der zwiefach rektifizierten Reinheit. Die Sklaverei der Erdenſchwere weicht dem Höhenrauſch, die Pro— peller arbeiten für ihn, und losgelöſt von der Miſere des Muskeldienſtes werden ſeine Finger einzig und allein künſt— leriſchen Impulſen zu gehorchen haben.

Gewiß, ich ſpreche hier im Futur, vom Pianola der Zu— kunft und von deſſen Meiſter.

Ohne weiteres ſei zugegeben, daß hier zwiſchen dem Er— reichten und dem Wünſchenswerten noch eine weite Lücke klafft. Die Abſchattierung der Tonſtärke iſt im heutigen Pianola an gewiſſe Grenzen gebunden, und in der Phraſie—

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rung einer legato zu gebenden Melodie behauptet der Fin⸗ gerſpieler noch den Vorrang. Aber es wäre Gouvernanten— äſthetik, zu erklären, daß die Großwelt des Klaviers ſein ganzes Heil von der poetiſchen Wiedergabe einer im Ather ſchwebenden Geſangslinie zu erwarten habe. Was dem Kla— vier ſeine überragende Stellung anweiſt, was es neben dem Orcheſter und ſelbſt mit Ausſchluß der Orgel zum eigent— lichen Kultur⸗ und Literaturträger beſtimmt, iſt die mehr: dimenſionale Unendlichkeit feiner Tonkombinationen, inner: halb deren die einzelne getragene Kantilene verſchwindet wie ein anmutiges Wellengekräuſel am Ufer gegen die Majeſtät des Ozeans. Und dieſer Ozean ſteht dem Pianolaſpieler ſchon heute offen. Es wird durchaus eine Frage des konſtruktiven Fortſchritts bilden, auch jene Reſtaufgaben zu bewältigen, und wer ſich den Weg vergegenwärtigt, den die Lebendigkeit des Vortrages ſeit dem vorſintflutlichen Drehklavier bis zum modernen Pianola durchmeſſen hat, der kann über die der— einſtige Löſung dieſer Aufgaben nicht im Zweifel fein.

Die Seele des Pianola iſt die Notenrolle; denn dieſe enthält den erſchöpfenden Ausdruck der Kompoſition, und ſo iſt hier das Kunſtwerk ſelbſt zu einem Beſtandteil des Inſtrumentes geworden. Die Tonſchöpfung tritt nicht von außen heran, ſondern lebt mit dem darſtellenden Mechanis— mus ein und dasſelbe Leben. Es erſcheint mir nicht neben ſächlich, daß die Noten, wie ſie ſich hier abrollen und durch den Atem der Bälge in das Inſtrument ergießen, ſchon in ihrer Erſcheinung ein weit zutreffenderes Bild des kompo— ſitoriſchen Gedankens geben als die Drucknoten. Die Zwei— teilung nach rechter und linker Hand, die doch nur ein Zu⸗ geſtändnis an die menſchliche Anatomie darſtellt, iſt der Ein— heitlichkeit gewichen. Die Dauer jeder Note, ihr Einſchlag

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in das Tongewebe, kündigt ſich finnfällig an, dem Kunſt⸗ verſtand unmittelbar erkennbar, nicht durch eine typographi⸗ ſche Chiffre. Geometriſch-analytiſch betrachtet iſt die gedruckte Notenſeite ein Gebilde, worin zu einer horizontalen Abſziſſe der Zeit die Tonhöhen als ſenkrechte Ordinaten eingetragen werden. Dem entſpricht die Anordnung auf dem Klavier aber keineswegs, denn auf der Taſtatur verlaufen gerade umgekehrt die Tonhöhen in der Horizontalen. Zwiſchen der gedruckten und der geſpielten Kompoſition klafft alſo ein innerer mathematiſcher Widerſpruch, der in ganzer Stärke wahrnehmbar wird, ſobald man das Abrollen des Noten— bandes im Pianola verfolgt. Hier verlaufen die Tonhöhen genau ſo, wie wir ſie inſtrumental empfinden, in der Wage⸗ rechten, während ſich die Zeit ſinngemäß in der Linie des fort— ſchreitenden Spiels, alſo ſenkrecht, einordnet. Auch in dieſem Punkte offenbart ſich eine Rückkehr zur wirklichen Muſik— natur, ein innigerer Anſchluß an die Kompoſition. Und ich gehe wohl in der Annahme nicht fehl, daß nach all dieſen Beweisgründen meine Anſage von der Überwindung des Pia— nismus durch das Pianola der Zukunft nicht mehr ganz ſo barbariſch klingen wird wie auf den erſten Anhieb.

Als ich von der Querſumme der Leiſtungen ſprach, nannte ich die Größe der Literatur. Sie allein wäre zureichend, um das Pianola allen Inſtrumenten und allen Spielern überzuordnen, denn ſie umfaßt tatſächlich die muſikaliſche Welt. Mit einem einzigen Pianola und einem auf ſeinen Mechanismus eingeübten Spieler iſt die geſamte Botſchaft des muſikaliſchen Parnaſſes zu verkünden. Klein und ärm— lich erſcheint der Spezialbetrieb jedes Fingerpianiſten gegen die Univerſalität eines Pianola, das, ſowie es das Atelier ſeines Erzeugers verläßt, bereits die ganze auf Taſten dar—

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ſtellbare Weltliteratur eingeübt hat. Klein und ärmlich er ſcheint auch ſo geſehen das Heer ſonſtiger Spielapparate, der Mignonklaviere, der Grammophone, kurz aller Kon- ſtruktionen, die nur das automatiſch wiederzugeben vermö— gen, was ihnen ein Künſtler vorgeſpielt oder vorgeſungen hat“). Sie haften ſklaviſch an der Endlichkeit menſchlicher Darbietungen, während das Pianola ſeinen Reichtum ohne Mittelsperſon aus der Unendlichkeit der Schöpfung herleitet. Während Mignon und Grammophon ſich unweigerlich auf den beſtimmten Stil ihres Vortragsmuſters feſtlegen, bleibt das Pianola nur dem Komponiſten ſelbſt verpflichtet, völlig frei indes in Tempowandel und Stärkegraden; alſo mit den Kennzeichen der Perſönlichkeit begabt gegenüber den Repro— duktionsmaſchinen, die keine Originalklangbilder, ſondern nur deren Echo zu geben vermögen.

*) Ich bin mir deſſen bewußt, daß ich hier aus dem Felde der kunſtphiloſophiſchen Zukunft in das der gerichtsnotoriſchen Gegen— wart geleite. Eine Reichsgerichtsentſcheidung vom 5. Mai 1909 enthält folgende Sätze: „In der Reichsgerichtskommiſſion wurde ein Pianola vorgeführt, und man überzeugte ſich, daß der Bor; trag der Kompoſition mit Hilfe des Pianolas von dem Vortrage durch einen in der Technik hervorragend geſchulten Spieler nicht oder doch nur von den Kennern der größten Feinheiten unter- ſchieden werden kann.“ „. .. Dies gerade iſt auch beim Pianola das Charakteriſtiſche. Der Vortragende iſt hier in der Lage, die Wiedergabe des Muſikwerkes nach ſeiner perſönlichen Auffaſſung in den vom Geſetz hervorgehobenen Richtungen zu beſtimmen. Hierdurch wird die Wiedergabe in gewiſſem Maße ſelbſt eine perſönliche, eine individuelle. Sie wirkt nach Art eines perſön— lichen Vortrages. Beim Grammophon und beim Phonographen iſt das unmöglich. Alles Perſönliche iſt bei der Vorführung des Phonographen ausgeſchaltet; nur das Mechaniſche iſt in Wirk— ſamkeit.“

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Das Pianola iſt ein Lebendiges trotz feiner im Grunde maſchinenhaften Anlage, wie ein modernes Feldheer lebendig iſt, obſchon es ſich nicht auf die Individualitäten vorzeitlicher Ritter beruft. Es iſt ein übergeordnet Lebendiges im Sinne Fechnerſcher Philoſophie, denn es denkt mit der Summe der Kompoſitionen, aus denen ſich ſeine Leiſtung aufbaut. Wir⸗ kungslos werden die Kaſſandrarufe der frommen Schwär⸗ mer verhallen, die ſich die Mechaniſierung der Tonkunſt nur als eine Entgötterung der Kunſtwelt vorzuſtellen vormö— gen. Auch die Sternenwelt iſt nicht entgöttert worden da— durch, daß Kopernikus, Kepler und Newton das Firmament unter die Geſetze der Mechanik zwangen. Man muß nur ler⸗ nen, das Grundweſen der Mechanik, die nach Geſetzen wal⸗ tende Kraft, in ihrem Zuſammenhang mit dem Schönen in Natur und Kunſt zu erfaſſen und als etwas Göttliches wahr⸗ zunehmen!

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EIER

Ein verlorenes Paradies

Richard Wagner ſagt: „Ich kann den Geiſt der Muſik nicht anders faſſen als in der Liebe“ ein Gefühlsſpruch, der in feiner Einfachheit und Eindringlichkeit nach Erwei— terung ruft, dergeſtalt, daß man das Weſen der geſamten Kunſt in der Liebe begreifen möchte. In der Tat kann kein Vergleich einleuchtender, in ſich gewiſſer ſein als der einer Kunſtbefruchtung mit der Liebesempfängnis. Und es be— durfte nur noch des weiteren Anſchluſſes an neuzeitliche ex— perimentelle Wiſſenſchaftlichkeit, um auch auf künſtleriſchem Felde die Befruchtung nach den Methoden der letzten Phy— ſiologie zu vollziehen; das heißt, die Liebesumarmung in einen Laboratoriumsakt zu verwandeln und den künſtleriſch in Brunſt erzeugten Organismus durch einen in der Retorte dargeſtellten Homunkulus zu erſetzen. Das tertium com- parationis, die Erzeugung der Frucht, bleibt ja auch dann noch beſtehen, und zugleich wird das wichtige ökonomiſche Geſetz Oſtwalds: „Spare Energie“, in höchſt erfreulicher Weiſe gewahrt. Das ſo gewonnene Weſen atmet, lebt, be— wegt ſich, verrichtet organiſche Funktionen, und nur eines iſt bis jetzt noch nicht erwieſen, erſcheint mir auch in hohem Grade zweifelhaft: ob es ſelbſt ſpäterhin zeugungsfähig ſein wird. Denn die Natur läßt ihrer nicht ſpotten, und wenn ſie ſich hintergangen, durch einen Mechanismus über—

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rumpelt ſieht, ſo kann es nicht fehlen, daß fie ſich rächen wird; nämlich dadurch, daß ſie die Fälſchung ihres Willens irgendwie durch eine Falſchheit im Reſultat zum Ausdruck bringt. Das ohne Brunſt und Kuß empfangene Kunſtwerk, die nach Döderleins Rezept hergeſtellte Symphonie und Poeſie, wird körperliche Attribute haben, aber keine klam— mernden Organe, eine Vernunft, aber keine Seele, wird ſelbſt des Kuſſes unfähig fein und die an ihm geſparte Ener— gie durch eigene Energieloſigkeit verraten; und ohne Liebe geboren, wird es unfähig ſein, Liebe zu wecken. Während aber in bürgerlichen Bezirken der Homunkulus noch als größte Seltenheit auftritt und der bürgerliche Standesbeamte in Verlegenheit gerät, weil er nicht weiß, wie er die Kurioſi— tät eintragen ſoll, ift der kritiſche Standesbeamte ohne wei— teres bereit, dem Kunſthomunkel jedes gewünſchte Doku— ment auszuſchreiben. Ihm genügt ſeine Exiſtenz in Noten und Worten, das Vorſtadium der Liebe oder Nichtliebe küm— mert ihn nicht weiter; ebenſowenig ſeine deutlich erkennbare Herkunft aus Atelier, Injektion, Flaſche und Spritzmecha— nismus. Es tönt, alſo iſt es eine Symphonie. Es hat ir— gendwelche rhythmiſche Glieder, alſo iſt es ein Gedicht. Es wird ſtandesamtlich eingetragen, kritiſch beglaubigt und be— kommt gewöhnlich auch eine Empfehlung mit auf den Weg. Fragt ſich bloß, wie die nächſte Generation ausſehen wird.

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Inzwiſchen wollen wir uns mit der gegenwärtigen be— ſchäftigen. Da haben es denn verſchiedene Exemplare tat— ſächlich bis zu recht anſehnlichen Diplomen gebracht, ja ſo— gar bis zur Heiligſprechung. Gnaden und Wunder floſſen von ihnen auf die Gemeinde, und wer ſich in Proben und

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reer 1 1 £ 1 Be) 5 4 2

* r > WEL ZEN

Konzerten fleißig umtat, der konnte, wenn er es gut traf, in zwei Tagen dreimal erlöſt werden. Dieſe Kraft entſtrömt weſentlich den Endſätzen, deren offenes oder geheimes Pro— gramm in der Regel mit dem Erlöſungsgedanken ſpielt. Dar— unter tut es ein Neutöner der jüngſten Ara nicht mehr. Er identifiziert ſich eo ipso mit der Menſchheit, und nachdem er deren titaniſches Ringen in den Vorderſätzen abgehaſpelt hat, ſetzt er ſich im letzten breit hin und erlöſt ſie insgeſamt durch hohe Triller, Flageoletts und Harfenarpeggien. Das einzig Störende an dieſem Spaß iſt nur, daß dieſe letzte him— melſtürmende Seligkeit im Prinzip von Beethoven, in der Inſtrumentation von Liſzt und Berlioz ſchon wiederholt vor— weggenommen wurde. Tut nichts, man macht es immer noch einmal, denn Beethoven iſt bloß bis zur Neunten ge— kommen, dieſe Herren aber haben Zeit, und da ſie alleſamt da anfangen, wo Beethoven aufhörte, ſo kommen ſie natür— lich mit ihren erfreulichen Sphärenklängen erheblich weiter und können bedeutend gründlicher erlöſen als Beethoven. Auch das fauſtiſche Drängen der verzweifelten Heldenſeele in den Eingangsſätzen liegt ihnen beſſer als dem großen Ludwig, wie ſchon daraus hervorgeht, daß dieſer ſich mit einem Orcheſter von fünfzig Perſonen begnügte, was eigent— lich höchſt ſpießbürgerlich und gar nicht titaniſch iſt, während der neue Symphoniker tauſend Aufführende vorſchreibt, was doch der weiten Menſchheitsidee ſchon viel näher kommt. Aber der Kernpunkt liegt offenbar darin, daß ſo ein Alt— klaſſiker mit greifbaren, plaſtiſchen Themen arbeitet, die ihm ungerufen zuſtrömen und ſich unter ſeinen Händen zu klin— genden Gebilden aufbauen; faſt ohne ſein Dazutun, wie an— gehaucht von einer komponierenden Naturmacht, die ſich zur Verwirklichung ihrer platoniſchen Ideen eines beglückten In—

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terpreten bedient. Wo ſoll da eigentlich die rechte Verzmweif- lung der Heldenſeele herkommen? woher die prometheiſche Qual in der Fülle der Luſtempfindungen, die ſolche nie aus⸗ ſetzende Inſpiration gewährt? In dieſer Hinſicht treten die Tauſendkünſtler von heute mit ganz anderen Beglaubigungen auf. Ihnen frißt wirklich etwas am Herzen, nämlich der Komponierdrang um jeden Preis, der unbefriedigte Trieb, das heiße Sehnen nach der ſoufflierenden Stimme, die ver— gebliche Anrufung des Heiligen Geiſtes. Dumpf unter der Schwelle ihres Bewußtſeins wühlt ihnen das Leiden eines Widerſtreites, das ſie für fauſtiſch nehmen, das aber in Wahrheit der Schmerz des Eunuchen iſt; die Troſtloſigkeit des Nichtvollbringenkönnens mit begehrenden Nerven und unzulänglichen Organen. Die Schärfe dieſes Peinzuſtandes würde ausreichen, um eine Welt mit Weherufen zu erfüllen, ſie befähigt nur leider für ſich allein gar nicht für eine Symphonie; am allerwenigſten für Beethovens Zehnte, und wenn auch auf dem Gerüſt zwanzigtauſend Künſtler ſich an⸗ ſtrengten, die Qual des Komponiſten in Schallwellen um: zuſetzen. Denn nicht darin liegt das Weſen dieſes Kontraſtes, daß der Tondichter einem hochgeſteckten Ziel zufliegt, daß er dieſes Ziel ſelbſt mit den mächtigſten Flügelſchlägen nie zu erreichen vermag, ſondern darin, daß er kriecht und hinkt, während Flügel notwendig wären, um überhaupt die Richt— linie ahnen zu laſſen. Mit der Größe des Wollens kontraſtiert nicht die Kleinheit der Menſchennatur, ſondern die Kleinheit dieſes Gehirns, dem nicht genug einfällt, um ein Lied oder eine Etüde zu beſtreiten, und das ſich an die ſymphoniſchen Möglichkeiten heranwagt mit der poſitiven Unmöglichkeit, ein ausgiebiges Motiv zu erfinden.

Dieſes Mißverhältnis iſt traurig, aber nicht tragiſch. Und

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die ſymphoniſchen Dramen, die fich hieraus entwickeln, ges nügen nur einſeitig der Ariſtoteliſchen Regel der Furcht und des Mitleids, nämlich ſo, wie es jener geiſtreiche Spötter verſtanden hat, daß ſie Mitleid erregen mit dem, was der Autor bereits geſchrieben hat, und Furcht vor dem, was er noch ſchreiben wird; wobei allerdings ein Empfänger voraus⸗ geſetzt wird, der die Dinge rein muſikaliſch auf ſich wirken läßt und entſchloſſen iſt, die Bedürfniſſe des Ohres gegen jeden Anſturm des Verworrenen und Langweiligen zu ver— teidigen.

Es ſoll nicht geleugnet werden, daß ſich in dieſem An— ſtürmen ein hohes Maß ſtrategiſcher und taktiſcher Fähigkeit kundgibt. Wer ſich mit ſeinen kalophonen Mitteln im Rück⸗ ſtand ſieht, wird bald genug entdecken, daß ſich die kako— phonen Feldtruppen weit raſcher und ausgiebiger mobiliſie— ren laſſen und daß der übelklingende Kontrapunkt ein uns gleich weiteres Feld beherrſcht als der gutklingende. Hierin liegt geradezu das Kennzeichen dieſer Tonſetzerei: man kann alles machen, alles komponieren, die ganze Unendlichkeit der Tonfolge und Tongruppierung durchmeſſen und braucht ſich nicht mehr auf das Mindeſtmaß der Ausleſe zu verpflich— ten, das ſich der Kontrolle des Schönheitsſinnes unterwirft. Iſt dieſe Kunſt erſt einige Jahrzehnte geübt worden, ſo wun— dert ſich das Ohr über nichts mehr. Es erfährt eine organiſche Umbildung durch Anpaſſung an die Klangwelt. Die Ver— teidigungsorgane, die aus feinen Membranen beſtehend ehe— dem das Eindringen des Störenden verhindert haben, ver— kümmern und werden ſchließlich abgeworfen, da ſie ſich den unaufhörlichen Angriffen gegenüber als unwirkſam erwieſen haben. Das Ohr wird Schalltrichter, verzichtet aufs Dif— ferenzieren, verlernt die Unterſcheidung von Gut und Böſe,

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erreicht einen Höhegrad an kakophoner Empfänglichkeit und fühlt fich am Ende ſogar freier als vordem, inſofern es feine Verbindung mit dem Geſchmack, einem unbequemen und pe= dantiſchen Aufpaſſer, gelöſt hat.

Freilich müſſen hier, wie bei allen Vorgängen der Um— bildung, die ataviſtiſchen Rückfälle in Rechnung geſtellt wer— den. Dieſe Rückſchläge unterliegen einfachen biologiſchen Ge— ſetzen, die einen gewiſſen Periodenumlauf bedingen. Mit an— deren Worten: in gemeſſenen Zwiſchenräumen, je nach der Länge des Kunſtwerkes, nach heutigem Durchſchnitt etwa alle zwanzig Minuten, beſinnt ſich das Ohr auf ſeine ur⸗ ſprüngliche Veranlagung und verlangt urväterlich nach Wohl- klang. Ein Tonſetzer, der dieſe Sachlage verkennt, würde üble Erfahrungen machen und auf die Dauer über das Fias- co d’estime nicht hinauskommen. Zur Ehre unſerer Zunft ſei es geſagt, daß die allermeiſten dieſen Umſtand wohl be= rückſichtigen und ſich ſonach ernſtlich bemühen, durchſchnitt— lich alle zwanzig Minuten etwas zu erfinden.

Es iſt ein Akt der Okonomie, der ſich jedesmal auf der Stelle belohnt. Im Grunde beruht er auf dem Geſetz des Widerſpruchs, das ſchon die Klaſſiker kannten, nur daß hier das Wirkungsproblem von der anderen Seite angefaßt und gelöſt wird. Ich erinnere an den Cumulus in Beethovens Eroika mit ſeiner tremolierenden Sekunde b as, die als vereinzelte Diſſonanz die Kunſtwelt ſo lange in Aufregung gehalten hat. Hier ſtand der ſchroffe Übelklang vereinſamt und trotzig in einer Welt des Wohlklanges. Heute macht man das umgekehrt; man baut eine Welt des Mißklangs und verblüfft dann durch eine blitzartig dazwiſchenfahrende Kon—

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ſonanz. Man ſtiftet Dafen in der Wüfte, Und wenn man die Mitwanderer genügend verdurftet glaubt, reicht man ihnen ſogar den Labetrunk in Form einiger Walzertakte. Das wirkt erfriſchend und wird zudem als ein Beweis beſonderer Güte und Herablaſſung begrüßt. Der Walzer braucht nicht gut zu ſein, auch nicht neu; ein verwäſſertes Wiener Motiv von Lanner genügt. In der Operette würde er lediglich eine Banalität mehr bedeuten, eine jener Trivialſtellen, wie ſie im Sommer zu Dutzenden aus den Schädeln betriebſamer Oſterreicher auskriechen, um für den Winter die leeren Stel— len zwiſchen den eigentlichen Schlagern auszupolſtern. Aber in der kakophonen Symphonie wirkt ſo ein Walzerbrocken Wunder. Die Motivierung macht übrigens niemals beſon— dere Umſtände; denn da dieſe Symphonien durchgängig von Kampf und Erlöſung handeln, ſo wird der ringende Heros ab und zu der lockenden Weltfreude genähert. Zur Bio— graphie des Fauſt gehört eben das Singen, Fiedeln, Kegel— ſchieben, die geputzte Magd und der beizende Tabak einer un— fauſtiſchen Umwelt. Dieſer hundertmal komponierte Fauſt würde direkt ſeinen Beruf verfehlen, wenn er auf dem weiten Wege von den Kontrabäſſen der inneren Zerriſſenheit durch die Fagotte der Hexenküche zu den Harfen der himmliſchen Freuden nicht einmal bei einer böhmiſchen Kirmeß Station machte, wo der Komponiſt ſeinen längſt fälligen Ländler los— werden kann. Daß ſie ſämtlich auf die nämliche hübſche Idee geraten, kann nur denjenigen verſtimmen, der entweder alle derartigen Programme verwirft oder, wenn er ſie zu— läßt, von ihnen eine neue Wendung, einen neuen Geſichts— punkt erwartet. Zum Glück iſt die Nörgelſucht bei den mei— ſten Chorführern der öffentlichen Meinung nicht hervor— ſtechend. Es ſtört ſie nicht im geringſten, wenn derſelbe Held Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 10 145

immer wieder über denfelben programmatiſchen Leiſten ge— ſchlagen, immer wieder auf dieſelbe Kirchweih ins Vergnügen geſchickt wird. Die Sache gilt ihnen unentwegt als „ſehr geiſtreich“, der Ländler mag ausſehen, wie er will, er wird überall, wo er im geſtaltloſen Nichts als rhythmiſches Etwas auftaucht, als höchſt originell gefeiert, und noch viele Auf— führungen ſind ihm todſicher.

*

Vor vierzig bis fünfzig Jahren hat nämlich unſere geſamte Kunſtkritik einen Unglücksfall erlebt, von dem ſie ſich ſo recht bis heute nicht erholen konnte. Es mag ja ſein, daß ein Erdbeben, ein Zyklon größere Verwüſtungen angerichtet hat, nachhaltiger aber iſt noch keine Kataſtrophe geweſen als dieſe, die ihre Folgen an einem ganzen Berufsſtande noch nach einem halben Jahrhundert aufzeigt. Alſo man hatte eine der größten Erſcheinungen der Weltgeſchichte, nämlich das Richard Wagnerſche Kunſtwerk, mißverſtanden, den Um— ſchlag der Entwickelung verfehlt, im Bunde mit führenden Komponiſten und hervorragenden Aſthetikern, die für ſich imſtande geweſen wären, die öffentliche Meinung zu beherr— ſchen. Aber dieſes Mißverſtändnis war vom Volk nicht ge— nehmigt worden: Geh du rechtswärts, laß mich linkswärts gehn, hatte der Volksgeiſt entſchieden, gegen alle Autoritä— ten der komponierenden und rezenſierenden Feder mit ſolcher Nachdrücklichkeit entſchieden, daß ſein Wille das neue Kunſt— geſetz wurde und daß die Gefiederten umlernen mußten. Als Rückſtand dieſes weltgeſchichtlichen Vorganges iſt der Kritik ein Leitſatz lebendig geblieben: eine ſolche Blamage darf ſich in aller Welt niemals wiederholen! Längſt ſind ſie dahin, die jene Blamage anrichteten und ihr zum Opfer fielen. Aber

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die Kritik als ſolche, vertreten in den Söhnen und Nachfol— gern der Firma, ſpürt heute noch den Schrecken in Form des kategoriſchen Imperativs: Nie wieder! Über allen direk— ten Tonempfindungen, Reizungen, akuſtiſchen Widerſprüchen und äſthetiſchen Zweifeln hat ſich ein oberſtes Denkgeſetz auf— gebaut: Immer mitgehen, bis an die Grenzlinie des Schaf— fens mitgehen, in jedem Stürmer das Genie wittern, es könnte ein Großer ſein!

Die Methode iſt unfehlbar: Wenn ich immer gut Wetter prophezeie, wird mich kein Sonnenſtrahl widerlegen, und wenn ich mit allen Verwegenen gemeinſame Sache mache, kann mich kein Übermächtiger zu Boden ſtrecken. Und nun hat ſich in ſelbſtverſtändlicher Wechſelwirkung folgender Tat— beſtand herausgebildet: die Natur, die ehedem in der Erſchaf—

fung der Genies äußerſt ſparſam vorging, entfaltet nach

Gutachten der Kritik ſeit etwa zwei Jahrzehnten eine unge— heure Gebelaune; die wie Pilze nach dem Regen aufſprie— ßenden Genies orientieren ſich mit Leichtigkeit nach der Wind— richtung, ſie überbieten einander in Extravaganzen, da dem Extravaganteſten alle Vorteile der Meiſtbegünſtigung zufal— len. Das Publikum aber wird vor eine unermeßliche Laſt— arbeit geſetzt; es wird dermaßen in Anſpruch genommen, die unüberſehbare Fülle der Neugenialen zu begreifen, daß ihm kaum noch die Möglichkeit bleibt, ſich der alten Werte zu er— innern. Jedes Jahr überſpült eine Welt von Schönheit und Reiz mit den überall gleichen Fluten geſtaltlos wogender Muſikmaterie. Nur noch wenige Hochbauten, wie etwa der Beethovenſche Leuchtturm, halten der Überſchwemmung ftand. Aber alle Plantagen ihnen zu Füßen, die Wundergär⸗ ten, deren höchſter Zauber vielleicht in ihrer Vergänglich— keit ruhte, die beglückenden Gewächſe, die nicht den Wuchs

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der Zeder, nur den Duft der Roſe, die ſtille Herrlichkeit des Veilchens beſaßen, liegen unter der Fläche, erſoffen und verſchlammt. Es muß einmal geſagt werden: nicht Neu— land wurde gewonnen und urbar gemacht, ſondern Altland wurde fortgeriſſen. Und wenn Xenophons Zehntauſend ju— beln durften, als ſie dem Meere nahekamen, ſo haben die Hunderttauſend von heute Grund zu wehklagen: Thalatta, Thalattal, wenn ſie von der monotonen Salzflut eingeholt werden. *

Ein Entrinnen gibt es nicht bei dieſem Andrang, dem auf kritiſchem Gelände keine Deiche gegenüberſtehen. Dem nächſten Geſchlechte wird Mozart, Weber, Schubert eine Le— gende ſein, wie der gegenwärtig aufſtrebenden Meyerbeer, Mendelsſohn, Rubinſtein und die Meiſter des bel canto be= reits ins Legendäre tauchen.

Aber, ſo höre ich den Einwand, dieſe Schätze mußten und müſſen vergehen, um neuen Errungenſchaften Raum zu ge— ben; nur auf den Trümmern alter Kunſt kann das Ver— ſtändnis und das Entzücken für eine neue gedeihen. Ver— ſtändnis? Zugeſtanden, inſofern es als der Trieb aufgefaßt wird, ſich in einer uferloſen, chaotiſchen, von kosmiſchem Dröhnen erfüllten Muſik zurechtzufinden. Entzücken? Ehr⸗ lich geſagt, davon merke ich nicht viel. In dem futuriſtiſchen Glaubensbekenntnis hat die Freude ausgeſpielt. Ich ſehe eine Überfülle von Konzerten und Opern, mit unzähligen tauſenden höchſt aufmerkſamer, bis zur Selbſtqual geduldi— ger, lernbegieriger und intereſſierter Hörer; nur daß ſich ihr Intereſſe ganz einſeitig nach der Richtung des Begreifens verdichtet, nicht nach der des Genießens. Selbſt wenn ich richtige Erfolge von einſt und jetzt zugrunde lege ich bin

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leider alt genug, um vergleichen zu können —, ſo komme ich in keiner Sekunde davon los: es iſt ein Unterſchied zwi— ſchen dem Fluidum, das durch eine entzückte Hörerſchaft von ehedem wogte, und der Welle des gemeinſamen Ein— verſtändniſſes von heute. In den Beifall iſt Automatismus hineingekommen, und auf den Geſichtern lagert des Ge— dankens Bläſſe. Ich ſehe mir ſo einen Beifallsſpender an und diagnoſtiziere: Die Sache hat ihm nicht viel gebracht, aber er erklärt ein hohes Einkommen an Genuß, um den Kredit nicht zu verlieren. Er markiert Vorgeſchrittenheit, letzte Kultur, ſtrammes Mitgehen bis ins Extrem, aber es iſt nicht eigentlich die Bürde der Begeiſterung, deren er ſich entläd, ſondern die Bürde des vier- oder fünfſätzigen ſym— phoniſchen Ungeheuers, und wenn ich ganz ſcharf aufpaſſe, ſo entdecke ich im Applausgeräuſch gewöhnlich ein Unter— motiv, welches beſagt: Gott ſei Dank, daß der Bandwurm zu Ende iſt! Im Grunde genommen iſt er ein Eingeſchüch— terter, der es ſich als ein moderner Menſch um keinen Preis anſehen laſſen darf, wie ſchwer die Suggeſtion der Umwelt auf ihm laſtet; infolgedeſſen benutzt er den einzig möglichen Ausweg, indem er die Haltung des Beherzten annimmt und ſich mit feinem Evoe in die vorderſte Reihe der Bacchanten ſchiebt. Die Probe aufs Exempel erhalte ich regelmäßig, wenn ich mir ſo einen Begeiſterten privatim vornehme und ihn nach ſeinem poſitiven Gewinn befrage. Bitte, ſchlagen Sie mir auf dem Klavier eine Stelle an, die Ihnen be— ſonders gefiel, ein Thema, eine Modulation, ein Irgendet— was, das Sie gefangen nahm und Sie beſchäftigt; Sie kön— nen nicht ſpielen? Gut, dann ſingen, ſummen, pfeifen Sie es, nur zum Zeichen, daß ein Niederſchlag in Ihnen haften blieb. Faſt regelmäßig ſtoße ich auf ein Vakuum. Der Mann

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erklärt eidesſtattlich feine Begeiſterung, aber er hat nichts gegenwärtig, das Werk hat ſeinem Gedächtnis nichts ge— ſagt. Und da im Denken wie im Fühlen das Gedächtnis den letzten Schluß und die eigentliche Kontrolle bildet, ſo er— leben wir hier faſt durchgängig jenes unheimliche Rätſel einer Folge ohne Grund, einer Wirkung ohne Urſache. Aber die nämliche Perſon ertappt ſich unzähligemal auf Remini⸗ ſzenzen aus Klaſſikern und Romantikern von Bach bis zu Schumann und herab bis zu Offenbach, ja ſein ganzes mu— ſikaliſches Bewußtſein, ſoweit es in ihm lebendig iſt und nicht unter einer nebelhaften Doktrin begraben liegt, ſetzt ſich aus ſolchen Reminiſzenzen zuſammen; wie ganz na= türlich, da das Bewußtſein überhaupt mit der Erinnerung, der organiſchen Mneme, eine reſtloſe Einheit darſtellt. Dem— gegenüber flüchtet nun die Ausrede aller Befragten zu einer höchſt verſchmitzten Formel. Sie erklärt nämlich: In dieſer Kunſt verliert die Einzelheit ihren Sinn gegenüber dem Gan— zen; was man vordem Melodie nannte oder Thema oder Motiv, kurz, alles feſt Umriſſene, gleichſam Gegen— ſtändliche, das ſind olle Kamellen, die man in die Kinder— ſtube verwieſen hat. Wir haben es nur noch mit Geſamt— gebilden zu tun, mit Gehörerlebniſſen, die ſymboliſtiſch, impreſſioniſtiſch wirken ſollen und in denen ſich die Einzelheit naturgemäß verliert. Wir wollen nur noch Farben, aber keine Konturen. Wirklich, wollt ihr? Da ſeid ihr ja recht be— ſcheiden geworden! Ihr ſchraubt euch auf den Urzuſtand zu— rück, da die Kunſt noch keine bildſame Kraft beſaß und erſt anfing zu kriſtalliſieren. Habt ihr je eine ſteinalte Meſſe gehört, ein Stück aus der vorſintflutlichen Musica sacra oder eine Kompoſition der Chineſen, Aſchantis, Bantuneger? Da habt ihr das Zerfließende, Ungeſtützte, Gallertartige in

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den ſchönſten Typen; das Ideal der Nichtabgrenzung, das Verſchwimmen der Tonalität, kurzum das reine akuſtiſche Erlebnis, das durch keine innere Formbeſtimmtheit geſtört wird. Glaubt mir nur, meine Freunde, Impreſſionismus kommt her von Imprimieren, das heißt fo wie canis a non canendo, nämlich: was ſich auf keine Weiſe dem Ge— dächtnis imprimiert, das iſt eine Impreſſion. Daher mag es ja auch kommen, daß die richtigen Jakobiner unter den Künſtlern immer entſchiedener den Anſchluß an eine ent— legene Vorzeit fordern. Ihr Ziel liegt nicht in der Zukunft, ſondern in der Diluvialzeit. Was ſie in mehr oder minder deutlicher Lehre verkünden: Aufhebung der Tonart, Drit— teltöne, Vierteltöne bis herab zu Infiniteſimaltönen, das ſind Anſchlüſſe an eine Molluskenzeit der Kunſt, der alle Kennzeichen entwickelter Kultur, nämlich die Selbſttätigkeit getrennter Organe, die Differenzierung, fehlen.

Freilich, wer ſich heute mit Entſchiedenheit dieſem Auf— löſungsprozeß entgegenwirft, der kann darauf rechnen, in den üblen Ruf eines Reaktionärs zu geraten. Nur daß im Gange der Geſchichte die Richtungen ihren Sinn ge— ändert, ja geradezu vertauſcht haben; die Hervorbringung im Bündnis mit der Tageskritik ſtrebt nach rückwärts, wäh— rend der vereinzelte Antikritiker dieſe Entwicklung zu den Segnungen von Anno Tobak nicht mitmachen will. Tat— ſächlich liegen die Dinge heute ſo, daß die Strukturauflöſer und Formtöter eine Rückwärtſerei im ſchlimmſten Sinne betreiben und daß der Fortſchritt nur noch bei den ſehr weni— gen liegt, die ſich dieſer revisio in pejus widerſetzen; bei den verſchwindenden Melodikern und Kalophonikern und bei den ganz vereinzelten Aſthetikern, die die neueſte Schaffens⸗ art bis auf den Grund durchſchauen; wo ſie dann zwei Haupt⸗

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elemente zu ſehen bekommen: das Unvermögen zur Geſtal⸗ tung und den Bluff. Beide ſtehen in engſter Fühlung, denn wer wirken will, ohne die urſächlichen Vorbedingungen im Kopf und in der Hand zu haben, der muß eben bluffen. Frei⸗ lich hat jede Verblüffung einmal ein Ende, allein ich fürchte, daß die empfangende Kunſtwelt an dieſem Ende erſt an— langen wird, wenn es zu ſpät iſt, das heißt, wenn keine Bau— meiſter mehr vorhanden ſind, kräftig genug, um das wieder— aufzurichten, was die tondichtenden Übermenſchen eingeriſſen haben. *

Zweifellos gab es an der Wegſcheide Entwickelungsmög— lichkeiten genug. Da war die Bayreuther Linie, offen für einen Meiſter, der ſich zu Richard Wagner verhalten hätte wie Wagner zu Gluck. Er iſt nicht erſchienen. An ſeiner Stelle tummelten ſich auf ſeiner Weide diejenigen, denen die Natur ein ausgiebiges Talent zum Wiederkäuen verlieh und überdies eine Ausdauer im Beruf bis zum Kahlfraß.

Dann gab es die Linie Beethoven-Brahms, ausſichtsrei— cher als jene, weil weiter von der Peripherie zweckdienlicher Möglichkeiten entfernt. Sie konnte begangen werden von einem Meiſter, der an Begabung dem Johannes gar nicht überlegen zu ſein brauchte. Nur anders hätte er ſein müſſen; wie ja auch der Johannes dem Ludwig nicht überlegen war, ſondern nur die Richtung ſeiner Spuren kongenial verſtand. Auch dieſer Meiſter iſt nicht gekommen, und wenn er noch erſcheinen wollte, ſo müßte er ſich beeilen, ehe der Flugſand die Orientierungszeichen völlig überweht hat.

Außerordentlich verheißungsvoll ſah die Linie Verdis aus, wie er ſie als Achtzigjähriger im „Falſtaff“ vorzeichnete. Der Greis mit dem Flug des Euphorion bot ein ganz einziges

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Schauſpiel, begeiſternd durch die ihm perſönlich gehörende Leiſtung und dabei aufs höchſte verlockend für die Jungen, denen er ganz neue, in ihrem Verfolg unabſehbare Ausnüt- zung vorhandener Kräfte wies. Hatte er im „Falſtaff“ die

Ergebnislinie aus Tonenergien gefunden, die eigentlich in „Figaros Hochzeit“ und „Meiſterſingern“ beheimatet ſind, ſo war am Wendepunkt der neuen Entwickelung alles zu er— hoffen. Allein der „Falſtaff“ blieb ein Beiſpielloſes, die Jünger hielten nichts von einer Methode, die ein fabelhaftes kontrapunktiſches Wiſſen und Können vorausſetzte, ſie flüch— teten humorlos in die Niederungen des Lebens, die der Nie— derung ihrer Talente entſprach, und erzielten hier durch die erweislich wahre Übereinſtimmung beider Flachheiten einen hohen Grad von Verismo.

Und welche Wege ſonſt noch zum Fortſchritt geführt hät— ten, zum organiſchen Aufbau, ohne reſtloſe Zertrümmerung des Beſtehenden, wie fie der Futurismus fordert? Ignora- mus. Das wäre auf die ſpezifiſche Eigenart der großen Män— ner angekommen, von denen wir keine Kunde haben, weil ſie nicht aufgetreten ſind. Möglich auch, daß ſie vorhanden waren, als Schatten über die Szene gehuſcht ſind, mit Kund— gebungen, die zu fein waren, um im Sauſen der Modernität bemerkt zu werden. Daß ſich unter den Urhebern dieſes Sau— ſens ganz hervorragende Könner befinden, verkenne ich durchaus nicht; Köpfe von eminentem Orcheſtraldenken, de— ren Technik, auf einen anderen Strang geſetzt, zu ſublimen Offenbarungen geführt hätte. Ich bin bereit, ihnen meine Huldigung zu erweiſen, mit dem Hut in der Hand, aber mit dem Vorbehalt: Ihr habt am Ruin der Kunſt mitgearbeitet, ihr zumeiſt. Und wenn eine eingeborene Notwendigkeit dazu führt, deren Tempel zu veröden, den Genuß aus ihnen hin—

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auszujagen, den volltönenden Chorgeſang in eine plärrende Litanei zu verwandeln, ſo ſeid ihr die gottgewollten Voll— ſtrecker dieſer Notwendigkeit geweſen.

Den Poſitiviſten, die durchweg und überall an einen Fort— ſchritt glauben und alſo auch in der Kunſt mit ihm als mit einem Selbſtverſtändlichen rechnen, möchte ich zweierlei ent— gegenhalten. Erſtlich die allgemeine Mechaniſierung, die jeden menſchlichen Betrieb meiſtert und ja auf dem beſten Wege iſt, die Welt zu einer großen Maſchinenhalle zu vervollkommnen. Es wäre widerſinnig, anzunehmen, daß die Kunſt allein im— ftande fein ſollte, ſich dieſer Mechaniſierung zu widerſetzen; dem aufmerkſamen Betrachter zeigt fie vielmehr die ganz aus⸗ geſprochene Strebung, ſich ihr in raſendem Tempo anzu— paſſen. Die ausübende und ſchaffende Virtuofität, die Verall- gemeinerung der Technik, das Pianola, der konzertante Maſ— ſenbetrieb und die Genies in Maſſe, die Tauſend-Mann-Or⸗ cheſter, die jedem muſikaliſchen Ohr erkennbare Gleichflüſſig— keit der Muſikmaterie ſind die äußeren und inneren Merkzei— chen dieſes Vorgangs. In dieſer Mechaniſierung ſteckt, wo fie auch auftritt, ein gleichmacheriſcher Faktor, der die Unter— ſchiede verwiſcht, die hervorragenden Sonderungen unterdrückt und die Einzelheiten des Prozeſſes verähnlicht. Im bürger— lichen Leben bedeutet dies: Erſparnis an mechaniſcher Men— ſchenarbeit, Zeitgewinn, Erhöhung der Daſeinsebene für die Unteren, Vertiefung für die Oberen, geſteigerte Bequemlich— keit, Schutz vor Überraſchungen. In den lyriſchen Künſten: Abplattung der hervorſtechenden Erfindungsmerkmale, Til- gung der Zäſuren, Vereinheitlichung der Wellenlängen in allen klingenden Gebilden. Und wer, von dem vorgefaßten Begriff hypnotiſiert, auch da von Fortſchritt reden will, der ſoll auf keinen Widerſpruch ſtoßen: die fortſchreitende Mono—

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et zu

* =

tonie und Verlangweiligung des Betriebes ſeien ihm gern zu—

gegeben.

Zweitens aber möchte ich auf die innige Beziehung von Kunſt und Philoſophie hinweiſen und auf den beſonderen Umſtand, daß faſt jede Phaſe der einen in der anderen ein erläuterndes Abbild findet, ſo daß man aus der Geſchichte des Denkens für die Geſchichte des freien Schaffens mancherlei lernen kann. Wer nun da begriffen hat, daß die Lehre Kants durch die klaſſiſche Dichtung, zumal durch Schiller, illumi— niert wird, wer aus der fünften Symphonie den kategoriſchen Imperativ, aus der neunten die tongewordene intellegible Welt heraushört, den möchte ich einladen, einen Schritt weis ter zu wagen und die nachkantiſche Epoche mit den tranſzen— denten Tonübungen der Heiligen vom letzten Tage zu ver— gleichen. Er wird dann bemerken, daß die Erkenntnisgeſpen— ſter der Fichte-Schelling-Hegel⸗Periode, zumal die Phäno— menologie mit ihren ſich im Nebel bewegenden zerfließenden Begriffen, mit ihren Identitäten der Nichtidentitäten, Ab— ſolutheiten und Anundfürſichkeiten ein ganz getreues Paar: ſtück in den allermodernſten Klanggebilden finden. Entſchließt man ſich zu dieſer Parallele, ſo kann man den Fortſchritt hü— ben und drüben leicht unter einem gemeinſamen Geſichts— punkt bringen. Dem Schritt „über Kant hinaus“, den jene Vergaſung aller vormals gefeſtigten Denkſubſtanz bedeutet, entſpräche der Fortſchritt über Beethoven hinaus. Wer aber mit Schopenhauer der Meinung iſt, daß nichts ſo ſehr zum Mißruf der Philoſophie beigetragen hat als jene Auflöſung der Begriffe und Denkmöglichkeiten, wer im ſpäteren Ver— lauf zur Einſicht gekommen iſt, daß die Philoſophie noch heute an den Folgen der Hegelmethode wie an einer chroni— ſchen Vergiftung zu tragen hat, der wird auch im klanglichen

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Gegenſtück ein Elinifches Bild vor Augen haben. Hier wie dort Rückfälle in die Scholaſtik, in die Myſtik, in eine okkulte Ausdrucksweiſe, hier wie dort ein mechaniſches Gemenge von Kitſch und Perverſität, in jener gefährlichen Miſchung, in der ſich Traumviſion von ausgeſprochenem Wahnſinn, Hell— ſeherei von Augurentrug kaum noch unterſcheiden läßt. Und ſchließlich hier wie dort ein ſnobiſtiſch aufgedonnerter Appa— rat, der alle möglichen Ingredienzien zermalmt, verkocht und im Auspuff von ſich gibt, bloß die eine nicht, die köſt— lichſte und ſeltenſte von allen, die kein ſnobiſtiſches Etikett trägt, ſondern ſich ſchlicht und recht „Erfindung“ nennt. Das Wort Erfindung iſt in den vorliegenden Ausführun— gen oft wiederholt worden und eigentlich viel zu ſelten. Denn es umſchließt alle Geheimniſſe aller Probleme, die ſich hier darbieten. Es gibt uns den Doppelſchlüſſel ſowohl zum wah— ren Paradies der Kunſt wie zur Folterkammer, in der die Muſe gequält wird. Soll das Paradies kein auf immer ver— lorenes ſein, ſo kann die Wiedereroberung nur auf eine Weiſe ſtattfinden: durch die feierliche Inthroniſation eben der Er— findung. Die Kunſt ſelbſt kennt keinen anderen Wert, und ihre Bouſſole weiſt unveränderlich nur auf ſie. Alle anders— genannten Mittel, die das Werk zum Kunſtwerk machen, der motiviſche Ausbau, die Stimmführung, die ſchöne Cha— rakteriſtik, die Inſtrumentation, die große Linie des Ganzen, ſind ſelbſt Erfindungsmomente und, wo ſie ohne die grund— legende Erfindung auftreten, Gegenwart markieren, nichts als Täuſchung. Wenn ich da leſe und wie oft muß ich es leſen —, dieſes oder jenes Vertonte mache einen ausgezeich— neten Eindruck, zeuge von dem eminenten Wollen ſeines Schöpfers, verdiene die Palme kraft dieſer oder jener hohen Tugenden, und wenn es dann ganz leiſe nachklappert, ver-

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klauſuliert und umſchrieben, daß eigentlich mit der Erfindung nicht ſo recht was los ſei, dann weiß ich: hier wird wieder Hokuspokus vorgemacht, wieder einmal verſucht, eine Miß— geburt zum Adonis umzulügen. Es gibt kein wahres Kunſt— werk ohne den göttlichen Funken, das heißt ohne Themen— inſpiration, ohne die prima facie einleuchtende überwälti— gende Erfindung. Ob dieſe ſich auf höherer oder niederer Plattform offenbart, das mag ſpäter die Rangordnung an— gehen, da der Menſch ohne Kategorien nicht auskommt und auch hier nach oben und unten einteilt. Das Entſcheidende bleibt, daß das unterſte Kunſtwerk mit Erfindung immer noch höher ſteht als das Kunſtwerk der höchſten Kategorie ohne Erfindung. Anders und ſchöner hätte ſich die Klang— welt entwickelt, wenn dieſer Grundſatz allenthalben Bekenner fände, wenn wir uns nicht genierten, das frohe Gelächter einer Offenbachiade über ein ſymphoniſches Gewinſel, ein genial hingeworfenes Tanzſtück über eine nach der Spielregel erklügelte ſtelzbeinige Fuge, ja ſelbſt einen packenden Gaſſen— hauer über ein von guter Geſinnung triefendes Oratorium zu ſtellen. Die Tiefenwerte gehören überhaupt zu den größten Seltenheiten, und die angeblichen Tiefen, die wir ſo oft mit dem Senkblei erforſchen, führen nicht in erzhaltige Schächte, ſondern in taubes Geſtein. Ja wir ſtoßen hier oft genug auf die fatale Tatſache, daß die Tiefe die einzige Dimenſion iſt, über die ſich das Werk auszuweiſen vermag, daß ihm ſomit die Körperlichkeit fehlt. Nicht geheimnisvolle Abgründe ſtel— len dieſe Tiefen dar, ſondern nur ungemein lange Röhren, aus deren unterem Ende der Autor genau ſo reſultatlos her— auskriecht, wie er oben erfindungslos hineingekrochen iſt. Um dieſe ausſichtsloſe Turnerei aus der Welt zu ſchaffen, gibt es nur das eine: wir müſſen wenigſtens ein paar Jahrzehnte

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lang uns auf die arg vernachläffigte und mißachtete Ober: fläche zurückbeſinnen, allwo die Schönheit ſich zu allererſt zu entfalten hat, in der Melodie, in dem an ſich wertvollen Motiv, in Eleganz und Grazie, im Einfall; an der Oberfläche und im Vordergrund die Wegzeichen errichten, die Preiſe ver— teilen und die Sinne vorerſt für die Genialität ſchärfen, die im hellen Tageslicht zu wirken vermag. Unſer Retrorſum ſei ein anderes als das der letzten Geſtaltvernichter, die mit präraffaelitiſchem Getue in ihre trübe Zukunft einen Schim— mer antiker Helligkeit lenken möchten; alſo nicht zurück zu Rameau, nicht zurück zu Paleſtrina, ſondern zurück zur Er— findung! Keine gültigere Definition iſt je aufgeſtellt wor— den als die des erſten Johann Strauß: „Genie iſt, wann einem was einfällt!“ Ergänzen wir ſie nicht doktrinär durch die Forderung: Dann muß es ſich aber ſofort als Tiefbohrer betätigen. Nein, laſſen wir ihm die Kultur der Oberfläche und hängen wir ihm keine Minderwertigkeit an, denn es iſt krönungswert, weil es Genie iſt. Und wenn durch Jahrzehnte die Künſtler, denen etwas einfällt, die Melodiker und Har— moniker, die nicht betäuben, ſondern entzücken, wieder das Übergewicht in der Wertſchätzung errungen haben, dann mag endlich einer kommen, der Säkularmenſch, der, mit dreidi— menſionaler Erfindung ausgerüſtet, Höhen und Tiefen durch— mißt, der uns die neuen Ewigkeitswerte gibt, der die Freuden und Leiden des zwanzigſten Jahrhunderts kompoſitoriſch aus— zuſprechen vermag, ohne zu grinſen und ohne zu ſtöhnen. Iſt euch ein Großer auf ſo lange Zeit zu wenig, da ihr ge— wohnt ſeid, ſie aus den Feſtberichten kohortenweis kennen zu lernen? Ach, ich fürchte, mit der Hoffnung auf den einen ſind wir ſchon zu ſpät gekommen oder, günſtigſtenfalls, ein Jahrhundert zu früh!

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Wo ſitzt die Kultur“)? Ein Geſpräch

A.: „Und wiſſen Sie, was mir neulich paſſiert iſt? Ich fahre in einem durchgehenden Abteil zweiter Klaſſe nach Frankreich. An der Grenze erſcheint ein franzöſiſcher Beam— ter, kontrolliert die Fahrkarten und erklärt: ich müſſe da raus oder Supplement nachzahlen. Blödſinn! ſage ich; ich habe Fahrtausweis zweiter, und das iſt zweite! er ſolle ſich gefälligſt anſchauen, was am Wagen angeſchrieben ſtehe; das ſei eine II wir kommen ins Streiten, und ſchließlich ſehe ich ſelbſt nach. Was ſoll ich Ihnen ſagen? Die II war plöß- lich mittels eines Klappmatismus in eine I verwandelt. Die Leute hatten einfach unſere brave zweite Wagenklaſſe zur erſten ernannt. Profitgier natürlich, aber doch zugleich ein

) Dieſer Aufſatz entſtand, wie man ſchon aus den erſten Zeilen erkennt, zur Zeit tiefſten Friedens, als noch kein Wetterleuchten das Herannahen des Weltgewitters ankündigte. Die hier ent⸗ wickelten Betrachtungen ſetzen alſo einen freundlichen Hintergrund voraus und ſtellen dadurch an den hiſtoriſchen Sinn des Leſers gewiſſe Anſprüche. Sie bedingen ein abſichtsvolles Zurücktauchen in Lebensformen und Anſchauungen, die ſeitdem gewaltſame Er— ſchütterungen durchgemacht haben. Der Aufſatz iſt mithin, etwa nach dem Maßſtabe eines Leitartikels oder Feuilletons gewertet, ſozuſagen „unaktuell“ geworden. Aber das war er ja ſchon, als ich ihn ſchrieb, als ich aufzeigen wollte, daß der Begriff „Kultur“ anders begrenzt werden darf, als der landläufige Gegenwartwert

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ſchreckliches Armutszeugnis; die Anerkennung deſſen, daß in Frankreich der oberſte Komfort gerade ſo weit reicht, wie bei uns der mittlere.“

B.: „Sie haben natürlich die Ergänzung zur erſten nach— gezahlt.“

A.: „Gar nicht daran zu denken. Schon aus Trotz nicht. Ich wanderte vielmehr in eine franzöſiſche zweite, in eine furchtbare Engnis von zehn Perſonen, in eine Pferchanſtalt von Menſchen, die zu eingepökelten Sardellen degradiert wa— ren. Und jetzt begannen die unabſehbaren, fahrplanmäßigen Zugverſpätungen! Laßt die Hoffnung draußen, die ihr ein— tretet! Was erzählt man uns da von den Greueln der ſibiri— ſchen Gefängniſſe? In den Eiſenbahnwagen romaniſcher Län⸗ der da wohnen die Greuel! Himmelherrgott! und da treten immer noch Kulturhiſtoriker, Leitartikler und Feuille— toniſten auf, die uns von der Überlegenheit der weſtlichen Kultur vorfaſeln!“

B.: „Ich würde Ihnen empfehlen, ſich im Wiederholungs— falle nicht auf den Moment der Gegenwart einzuſtellen, ſon— dern auf die geſchichtliche Vergangenheit. Kultur iſt ein gei— gleichen Namens, daß er jenſeits der Anſchauungen liegt, die aus den Erlebniſſen der Einzelnen hervorwachſen. Nicht um den Gegenſatz von Kultur und Barbarei handelt es ſich hier, ſondern um den Zuſammenprall zweier auf Grenzgebieten liegenden Werte, die bei oberflächlicher Betrachtung freundnachbarlich verſchwiſtert erſcheinen, bei tieferer Prüfung ſchroffe Gegenſätze offenbaren. Nur auf dieſe Antitheſe kam es an, während alles, was an Lob und Tadel anklingt, höchſtens die Bedeutung einer Hilfskonſtruk— tion zum Beweiſe jener Gegenſätzlichkeit beſitzt. Daß hierzu weſent— lich Bauſtoffe aus dem 17. und 18. Jahrhundert verwendet wurden, zeigt deutlich genug das Ziel der ganzen Erörterung,

die aus entlegener Vergangenheit zu ferner Zukunft eine Brücke ſchlagen möchte.

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ſtiges Fluidum, das uns allerdings anweht, ſobald wir die weſtliche Grenze überſchreiten. Wenigſtens mir geht es ſo: Die Wagenwände, die mich umſchließen, verflüchtigen ſich und geben den Horizont frei; den Tiefblick auf zwei große Jahrhunderte, in denen Frankreich Geiſtesarbeit für ganz Europa geleiſtet hat. Ja, das ſpüre ich mit allen Schauern der Ehrfurcht. Ich reiſe nicht von Pagny nach Epernay, nicht von Pontarlier nach Dijon, ſondern ich reiſe in das Land vom Port Royal, in das Reich der Enzyklopädiſten, in das Land der Pascal, Viéta, Fermat, Descartes, Diderot, d'Alembert, Laplace, Lagrange. Das muß man hindurchfühlen durch die Kleinlichkeiten der körperlichen Gegenwart. Ich kaufe mir auch nicht an der Grenze die neueſte Nummer des Matin oder des Figaro, ſondern ich ziehe einen franzöſiſchen Klaſ— ſiker aus meinem Handkoffer ...“

A.: „Der Ihnen kurz zuvor aus dem viel zu engen Gepäck—

netz auf den Kopf gefallen iſt.“

B.: „Und dann beginne ich zu leſen, und eine Welt von Akkorden baut ſich über dem Orgelpunkt der Empfindung: hier fließen die Grundquellen der menſchlichen Geiſteskultur. Weder die Alexandriniſche Großzeit noch die italieniſche Re— naiſſance, noch der deutſche Humanismus reicht da hinan. Ich tauche in die Zeiten zurück und atme die Luft, die Des— cartes geatmet hat...“

A.: „Sie atmen ein Gemiſch von Schweiß, Kohlenſtaub, Knoblauch und Kaporalzigaretten.“

B.: „. .. Denn ſchließlich gründet ſich alles, was an Er— kenntnis, an Kauſalphiloſophie in uns lebt, auf Descartes. Aber es iſt natürlich nicht nebenſächlich, wo man lieſt. Der örtliche Kontakt entſcheidet. Auf der Strecke Weimar —Jena, wo ſogar der Banauſe ſeinen Goethe und Schiller herausholt,

Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 11

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wirkt er zweifellos nicht ſo überwältigend, als auf einer der Zufahrſtraßen, die nach Paris führen. Sie haben es wahr— ſcheinlich noch nie probiert, und deshalb rate ich Ihnen: Leſen Sie auf ſolcher Eiſenbahnfahrt die ‚Prinzipien‘ des Carteſius.“

A.: „Ich werde es nicht tun! Ich werde die Prinzipien des Carteſius nicht leſen, und zwar aus Prinzip. Zum Leſen gehört Licht, und zum Licht gehört ein anderes Eiſenbahn— kupee, als ein franzöſiſches. Am Tage ſind die Fenſter ver— ſchmiert, wenn die Lampen angeſteckt werden, brennt eine Funſel, die im beſten Fall ſoviel leuchtet wie ein ſchwelender Kienſpan. Das dritte Wort der franzöſiſchen Intelligenz iſt immer „la lumiere!‘ Aber was wird aus der lumiere, wenn man fie am nötigſten braucht? ein künſtliches Glüh— würmchen. Der ſtrahlende Leuchtturm verwandelt ſich in ein Dreier-Nachtlicht. Und da reden Sie mir von Kauſali— täten und verweiſen mich auf das berühmte ‚ergo‘ des Des— cartes. Wie liegen die kauſalen Zuſammenhänge aber in Wirklichkeit? Es iſt finſter, ergo kann ich nicht leſen!“

B.: „Wenn man bei Tage reiſt und ſeinen Eckplatz hat, ſo geht es ſchon.“

A.: „Ich reiſe niemals bei Tage und erwiſche nie einen Eckplatz. Ich leugne überhaupt die Eckplätze auf franzöſiſchen Bahnen. Man ſitzt immer auf einem Mittelſitz im Mittel arreſt. Und ich brauche wohl nicht erſt zu beweiſen, daß man in ſolcher Lage überhaupt gar nichts anderes anfangen kann, als ſich ärgern.“ 5

B.: „Die Franzoſen haben das Gegenteil bewieſen. Neh— men wir zum Beiſpiel Poncelet. ..“

A.: „Wer iſt das?“

B.: „Sie belieben Scherzfragen einzuwerfen. Wer all—

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TEE TEN.

gemeine Kulturdinge erörtert, dem möchte ich doch zunächſt die Bekanntſchaft mit Poncelet zutrauen.“

A.: „Ich bedaure unendlich, der Herr iſt mir nicht vor— geſtellt. Nach Ihren Andeutungen möchte ich indes ſchlie— ßen, daß es ein Mann war, der zahlreiche Geduldsproben abgelegt hat.“

B.: „Stimmt ungefähr. Er verbrachte zwei Jahre ſeines Lebens in echtruſſiſcher Gefangenfchaft zu Saratow an der Wolga und hatte es dabei weſentlich unbequemer als Sie in einem franzöſiſchen Waggon. Von der Außenwelt abgeſchnit— ten, ohne Bücher und irgendwelches Anregungsmaterial, im Dunkel der Kaſematte entwickelte er aus ſtiller Intuition heraus die neue epochale Wiſſenſchaft der projektiviſchen Geo— metrie, die ihn unſterblich machen ſollte. Er ärgerte ſich nicht, ſondern er forſchte. So benimmt ſich ein Franzoſe in beengter Lage.“

A.: „Ein glänzendes Rezept! Wenn man ſich ohne Schlaf— möglichkeit die Nacht um die Ohren ſchlägt, erfindet man eine neue Wiſſenſchaft. Ich ſchwöre Ihnen, daß ich das nie— mals tun werde. Am allerwenigſten, wenn ich reiſe und da— bei aus einer Peinlichkeit in die andere gerüttelt werde. Dann ziehe ich mich wie ein Häufchen Unglück auf das Minimum meiner Körperlichkeit zuſammen und ſtöhne. Ein Kultur: menſch ſtöhnt eben, wenn es ihm ſchlecht geht.“

B.: „Pascal ſtöhnte nicht. In jener hiſtoriſchen Nacht, da ſeine Zahnſchmerzen ihren Höhepunkt erreichten, rettete er ſich aus aller Qual, indem er die analytiſchen Schwierig— keiten der Zykloide beſiegte und die mathematiſchen Geheim— niſſe dieſer wichtigen Kurve aufdeckte. Solche Einzelzüge gehören zum Weſen der franzöſiſchen Kultur. An ſie ſoll man denken, und nicht an das perſönliche Mißbehagen des Augen-

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blicks, wenn man franzöſiſche Erde befährt. An Varignon ſoll man denken!“

A.: „Wer iſt denn das ſchon wieder?“

B.: „Ich ſtelle feſt, daß es in Ihrer Geiſtigkeit an jeder höheren Orientierung fehlt. Sie überantworten ſich einer Maſchine, die Sie mit achtzig Kilometer pro Stunde be— fördert, und Sie ahnen nicht einmal die einfachſten Geſetze irgendeiner Maſchine; was iſt ſie, wem gehorcht ſie?“

A.: „Es iſt eine Lokomotive, und ſie gehorcht dem Dampf.“

B.: „So dürfte ein Bauer reden. Die Kultur ſpricht anders; ſie definiert die Maſchine als eine Konſtruktion, die das Parallelogramm der Kräfte aus einem Prinzip zur Wir— kung ſteigert. Da haben Sie die Lehre des großen Varig— non, der das Pech hat, Ihnen unbekannt zu ſein. Ziehen Sie die Fäden von Varignon zu d'Alembert, zu Lagrange, zu

Poinſot, zu Carnot und hierzu eignet ſich nichts dermaßen,

wie eine Bahnfahrt in deren franzöſiſcher Heimat —, ſo wird in Ihnen die ganze Mechanik lebendig, als ein Bez greifen aller Weltvorgänge aus der Bewegung der Atome. Und wenn Sie ſich hierzu aufraffen, dann werden Sie nicht mehr ſtöhnen, ſondern jubeln, bei jeder Beſchleunigung durch Frankreich, dem Urſprungsland der höheren Mechanik.“ A.: „Großartig! Und jetzt werde ich Ihnen einmal die franzöſiſche Mechanik auseinanderſetzen. Sie beſteht darin, daß man in jedem Abteil überall, wo man einen Haken ver— mutet, an den man ſeinen Mantel hängen könnte, durch einen unnützen Metallknubbel enttäuſcht wird; ſie beſteht darin, daß in den Toiletten die Hydraulik entweder gänz— lich fehlt oder nicht funktioniert, ſo daß Sie ſelbſt mit einem Moſesſtab kein Waſſer hervorzaubern können; ſie beſteht

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darin, daß die Heizvorrichtung nach mechaniſchen Grund— ſätzen gebaut iſt, die ſchon zur Zeit des Khalifen Omar in Alexandrien überwunden waren; ſie beſteht darin, daß keine Schiebetüren vorhanden ſind, ſondern Angeltüren, von denen eine einzige genügt, um den ganzen Korridor zu verſperren. So, und jetzt ſtelle ich Ihnen anheim, in Ihrem Kolleg über Mechanik fortzufahren.“

B.: „Ich ſprach vom Begreifen der Weltvorgänge.“

A.: „Und ich ſpreche vom Begreifen der Eiſenbahnvor— gänge, das iſt der Unterſchied. Setzen Sie den ganzen Wa— gen voller Varignons und Pascals, dieſe Vorgänge wür— den ihnen ewig unbegreiflich bleiben. Und aus Ihren Atom— bewegungen mache ich mir gar nichts. Ein Atom Seife ſoll ſich bewegen, wenn ich im Kabinett am Apparat kurble! Und ferner werde ich Ihnen einmal wiſſenſchaftlich kom— men: ‚Die Seife iſt der Maßſtab für die Kultur der Staa— ten‘ wiſſen Sie, von wem dieſer Ausſpruch herrührt? Von einem der größten Gelehrten aller Zeiten, von Juſtus von Liebig.“

B.: „Juſtus von Liebig hat noch mehr Zitate geliefert, die darauf ſchließen laſſen, daß er in Frankreich und beſonders in den Laboratorien bei Gay-Luſſac, Dulong und Thénard noch ganz andere Dinge geſucht und gefunden hat als Seife. Keiner hat den Poſitivismus und die Exaktheit der fran— zöſiſchen Wiſſenſchaft ſo laut gerühmt wie er. Aber Sie kommen von der Kleinlichkeit nicht los, Sie projizieren alles aufs Innere des Wagens und meſſen die Kultur am Waſchraum! Ihre Debattierkniffe kenne ich nachgerade. Wenn ich Ihnen jetzt auseinanderſetze, daß die geſamte orga— niſche Chemie, die Lehre von den Kohlenſtoffverbindungen, ihre mächtigſten Anſtöße von Frankreich empfangen hat, ſo

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werden Sie mir ſofort mit einem Bonmot über franzöſiſche Eiſenbahnkohle antworten.“

A.: „Sehr richtig. Sie brauchen bloß in Belfort am Zuge einen Metallgriff anzufaſſen, dann haben Sie die Koh: lenſtoffverbindung an den Fingern und werden fie bis Lyon nicht mehr los.“

B.: „Und wenn ich dann etwa auf die Großtaten der franzöſiſchen Aſtronomen überleitete, ſagen wir auf das Wunder des Leverrier, der aus einer Planetenſtörung heraus den Neptun entdeckte, jo würden Sie das Wort ‚Störung‘ aufgabeln und für Ihre einſeitigen Zwecke verwerten.“

A.: „Sie liefern mir wirklich die Stichworte. Der ganze Betrieb, von dem ich rede, ſetzt ſich aus Störungen zu— ſammen. Jeder Fahrplan iſt eine organisation desorgani- see. Den letzten Zug haben Sie verpaßt, aber der vor— letzte hat zwei Stunden Verſpätung, und den können Sie erreichen. An keinem Wagen hängt eine Richtungstafel, und wenn eine dranhängt, iſt ſie falſch. Und erſt die Störungen an einer franzöſiſchen Zollſtation! Sie kennen doch Venti— miglia? Da vergehen einem die Planetenentdeckungen; in dieſen Störungen hat noch niemand etwas anderes entdeckt als ein zweites Inferno von Dante. Sie freilich, mit Ihrer kosmiſchen Überlegenheit und mit Ihrer tranſzendenten Ge— duld, Sie wären imſtande, mir ſelbſt in den Verzweiflungs— ſtunden von Ventimiglia eine Vorleſung über den Kultur: wert der franzöſiſchen Revolution und über die Eroberung der Menſchenrechte zu halten. Wo ſind dieſe Menſchenrechte, und vor allem, wo ſind die Franzoſen, die ſich aufbäumen und in der Bahn ihre Menſchenrechte verlangen? Sind das wirk— lich die Abkömmlinge der Girondiſten, Ihre Nachbarn im Wagen, die alles wie ein Fatum ruhig hinnehmen, was das

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ancien régime einer Bahnverwaltung über fie verhängt? Unſereiner flucht doch wenigſtens. Und wenn er endlich zu— rückkommt, dann jubelt er an der Grenze: Deutſchland! deutſche Wagen mit deutſchen deutlichen Aufſchriften! deutſche Bequemlichkeit, Sauberkeit, Geräumigkeit, Pünktlichkeit! Fließendes Waſſer, reine Wiſchtücher, blanke Fenſter, geputzte Klinken, ſtrahlende Lampen, hilfreiche Beamte, Menſchen— rechte! Ja, mein Freund, man muß von Welſchland nach Germanien fahren, um ſich ganz mit dem Gefühl zu ſättigen: hier bei uns ſitzt die Kultur!“

B.: „Wir ſprechen von verſchiedenen Dingen und reden an— einander vorbei. Ich verſuche das Problem in der Tiefe zu er— faſſen, Sie haften an der Oberfläche. Die Geiſtesentwicklung eines Volkes vollzieht ſich dramatiſch, aber während ich mich bemühe, das dramatiſche Gewebe zu erkennen, ſtarren Sie auf die Inſzenierung, und zwar ausſchließlich auf die In— ſzenierung des letzten Aktes. Sie verwechſeln die Aufma— chung, die Dekoration und die Güte Ihres Parkettplatzes mit dem, was eigentlich geſpielt wird, was ſeit Jahrhunder— ten geſpielt wurde. Im letzten Grunde gilt Ihnen die Welt als ein Panorama, das Sie, möglichſt bequem hingeſtreckt, genießen wollen. Aber die Welt als Kulturerſcheinung iſt nicht nach Bequemlichkeit orientiert. Alle wirklichen Kultur— einſchnitte waren Unbequemlichkeiten, gewaltſame Brüche, rauhe Eingriffe in die liebgewordene Gewohnheit. Die Offen— barungen der franzöſiſchen Großmeiſter haben das Behagen weder der Mitlebenden noch der Nachwelt geſteigert; ja, im großen und ganzen darf man annehmen, daß es ſich im Kreiſe der Kirchenväter und Scholaſtiker angenehmer denken und leben ließ als im Kreiſe der Enzyklopädiſten und der Exakt⸗ forſcher überhaupt. Nichtsdeſtoweniger ſehnen wir uns nicht

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in jene Atmoſphäre zurück. Wir ſtoßen uns wund an den Eck— pfeilern der Kultur, die nicht für das Glück der Perſon gebaut ſind, ſondern als Stütze für die Kuppel der Geiſtigkeit.“

A.: „Und daran ſoll ich denken, wenn ich Eiſenbahn fahre? Nein, lieber Herr, als moderner Menſch bin ich natürlich Rei— ſender, und als ſolcher verlange ich, daß mir die Kultur eines Landes an der Grenze entgegenſpringt, in den Zug hinein, auf den Polſterſitz. Aus all den unentbehrlichen Nichtigkeiten ſoll ſie mich anwehen, nicht um mein Inneres zu vertiefen, ſon— dern um mein Außenleben zu erhöhen; ihre Arme ſoll ſie mir entgegenſtrecken, nicht um mir Bücher um die Ohren zu ſchla— gen, ſondern um mich zu liebkoſen. Wenn ich in die Pro— vence, an die Riviera, nach Paris oder in die Bretagne reiſe, will ich nicht erſt ein Fegefeuer abſolvieren, bevor ich ins Paradies gelange. Es ſoll ſchon im Vorhof paradieſiſch aus— ſehen, ganz einfach ausgedrückt, es ſoll moderner Komfort vorhanden ſein, und Sie werden mir zugeben, daß auch dieſe Kulturforderung ihre Berechtigung hat.“

B.: „Ich merke, daß Sie auf die Brücke einer Verſtändi— gung treten wollen, und ich ſelbſt wäre unkultiviert, wenn ich Ihnen dahin nicht folgte. Suchen wir alſo im Parallelo— gramm unſerer auseinanderſtrebenden Anſichten die Diago— nale und einigen wir uns auf folgende Formel: Kultur und Komfort ſind zweierlei, und gerade in Frankreich wird man gut tun, beide Begriffe auseinanderzuhalten; dort nahm die Kultur ehedem einen ſo breiten Raum ein, daß für den Kom— fort nicht viel übrig geblieben iſt.“

A.: „Einverſtanden; ich möchte den Satz nur ein bißchen anders redigieren: Komfort iſt eine Angelegenheit, für die Frankreich das ſchöne Wort und Deutſchland die gute Sache beſitzt!“

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Wie groß ift die Welt?

Man hat da die ſchönſte Auswahl zwiſchen allen Formaten und kann bezüglich der Ausmaße nicht in Verlegenheit kom— men. Philoſophie und Sternkunde bieten ein Warenlager, in dem alle Größenlagen vertreten ſind. Von der kleinſten an— gefangen, die ſo klein iſt, daß man ſie bequem in die Weſten— taſche ſtecken kann.

Eigentlich iſt das eine Null-Welt ohne jede Dimenſion. Alles, was ſich uns ſonſt als Sonnenweiten, Siriusfernen, Rieſenhaftigkeit der Geſtirnwelt vorſtellt, verſchwindet. Nichts bleibt übrig als das Bildchen von alledem, wie es ſich auf der Netzhaut unſeres Auges abmalt. Dieſe Lehre räumt radikal auf mit dem Univerſum: Der geſehene Raum, von unſerem ſichtbaren Leibe angefangen bis hinauf zum Sternenhimmel, ſamt allem, was darin ruht und ſich be— wegt, iſt gar nichts wirklich Gegenſtändliches außerhalb un ſerer Sinne, ſondern nur ein Phänomen innerhalb unſeres ſinnlichen Bewußtſeins. So hat es Ueberweg gedacht, ſo hat der bedeutende Denker Otto Liebmann den Satz ge— formt und auf Betrachtungen gegründet, die aſtronomiſch auf Kepler, phyſiologiſch auf Johannes Müller, Nagel und Hering zurückgehen. Herbart und Lotze werden an— gerufen, um der Großwelt den Garaus zu machen, und dieſem Vernichtungswillen gegenüber hält kein Fernrohr, kein

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Spektralwerkzeug ftand. Denn auch diefe Apparate find nur Täuſchungen, Phantome, von unſerem Augenbildchen hin— ausgezaubert in ein Unbekanntes, das uns von einer Zwangs vorſtellung als Außenraum vorgeredet wird.

Auf anderen Wegen wird ein ähnlich hiſtoriſches Ergebnis erzielt. Es gibt eine Philoſophie der Schrumpfung, die zunächſt der Welt nichts zuleide tut und ſie ſo groß beſtehen läßt, als man nur irgend will. Dann aber fährt ſie mit der Frage fort: Was geſchähe, wenn die Welt mit allem Inhalt plötzlich auf die Hälfte ihrer früheren Dimenſionen ein— ſchrumpfte? Beſäßen wir Menſchen ein Beobachtungsmittel, um dieſen Vorgang feſtzuſtellen? Keineswegs! Denn da alle unſere Organe, einſchließlich unſerer Maßſtäbe und Meß⸗ werkzeuge, dieſe Verjüngung auf ein Halb mitmachen, ſo ändert ſich für uns nicht das allermindeſte; das heißt ein ſolcher Vorgang könnte ſtattfinden, ohne uns irgendwie zu berühren, wir würden nichts merken. Der Mond wäre nach wie vor 50000 Meilen von uns entfernt, aber „Halbmeilen“, die für uns ganz dieſelbe Bedeutung hätten, wie vordem die Ganzmeilen. Spüren wir aber nicht eine Verkürzung auf ein Halb, ſo ſpüren wir ſie auch nicht auf ein Zehntel, auf ein Tauſendſtel, überhaupt nicht, das Univerſum könnte plötzlich oder allmählich auf die Größe eines Stecknadel—⸗ kopfes, eines Atomes zuſammenſchrumpfen, ohne daß ſich für uns, für unſer Leben und unſere Auffaſſung das Ge— ringſte ändern würde. Wir führen fort, nach parallaktiſchen Beſtimmungen die ungeheuerlichſten Sternentfernungen her— auszurechnen, in voller Unkenntnis der Tatſache, daß ſich in Wirklichkeit eine beobachtende Null mit einer Welt-Null meſſend beſchäftigt. Das iſt aber eine Möglichkeit, über deren Weſen wir nur das eine auszuſagen vermögen: ſie iſt viel

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wahrſcheinlicher als die ererbte Gewißheit, die uns mit feſten Strecken und rieſigen Räumen operieren läßt.

Nun zu den Welten mittleren Formates, für die ich hier aus dem reichlich verſorgten Warenlager eine Probe vor— legen möchte. Vergleichen wir ſie mit dem ſoeben ange— deuteten Zuſtand des abſoluten Schwundes, ſo werden wir ſie außerordentlich geräumig finden, wenngleich immer noch etwas eng im Verhältnis zu den üblichen Univerſalbegriffen. Der geradlinige Durchmeſſer des geſamten Weltraumes be— trägt nach dieſer Auffaſſung 40000 Kilometer, alſo genau ſoviel wie die Länge unſeres Äquators; die Erde verzichtet auf ihre Kugelgeſtalt, wird zur vollendeten Scheibe, zur „Totalebene“, kein Himmelskörper, ſondern eine Scheide— wand, ein Zwerchfell im endlichen Raum, zugleich deſſen untere Hälfte, während ſich alle Geſtirne, der ganze „Him— mel“ in der oberen befinden.

Wir beſchwören hier keinen urzeitlichen oder mittelalter— lichen Spuk, verſenken uns nicht in die Grübelei eines Scho—

laſtikers, ſondern folgen den Spuren eines ſehr gelehrten

Modernen, des Dr. Ernſt Barthel, der ſeine Weltanſicht in einer großen Abhandlung feſtgelegt hat. Der Ort der Veröffentlichung, L. Steins Archiv für ſyſtematiſche Phi— loſophie (Heft 1 von 1916) erzwingt Beachtung, und der Vortrag des Mannes, der uns eine neue Weltorientierung geben will, iſt zweifellos auf Scharfſinn geſtimmt. Inner— halb des hier aufgeſtellten Rahmens iſt natürlich weder eine Angabe noch eine Erörterung ſeiner Beweiſe möglich; um ſo weniger, als dieſe mit einer der ſchwierigſten Vorſtellun— gen der Ultra-Geometrie, mit dem „gekrümmten Raum“ ar⸗ beiten, die ſich einer allgemein verſtändlichen Darſtellung nahezu entzieht. Für unſeren Zweck genügt die Feſtſtellung

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des Formates ſelbſt. Wir erfahren, daß heute Strebungen im Gange ſind, die der Welt gewiſſe auskömmliche, endliche, nicht eben weitgeſpannte Maße zuweiſen. Man kann in 40000 Kilometern exiſtieren, ohne ſich an ihnen zu berau— ſchen, wie man ſich auch an den Sonnenwirkungen erfreuen kann, wenn man mit dem denkeriſchen Wagemut des Dr. Barthel alle Geſtirne unendlich viel kleiner als die Erdmaſſe anſetzt. Im Ernſt geſprochen: Zu Zeiten Galileis wäre jene kurioſe Schrift nicht auf den Index gekommen, während ſie heute allerdings wie eine Ketzerei gegen die Allmacht der Aſtronomie auftritt.

Sie ſteht aber nicht etwa vereinzelt da. Wir ſind in neueren Jahren von ganzen Stimmchören umflutet worden, die das Hohelied der Endlichkeit ſingen; alle aſtronomiſchen Strecken find ihnen zu weit, alle Bewegungen zu flink, fie wollen letz— ten Endes darauf hinaus, irgendwie und irgendwo im angeb— lich Unendlichen Abſchlüſſe zu finden. Mißverſtandene Leh— ren von Flammarion und Henri Poincars gingen vor— auf; ihnen folgten die Mißverſteher Auguſt Strindberg, Woodhouſe, eigenſinnige Deutſche von der Gefolgſchaft des Johannes Schlaf mit ihren gellenden Schlagworten: „Sinnloſe Aſtronomie“, „Wiſſenſchaft, die heute auf den Univerſitäten verhökert wird“, „Symphonie des Unſinns“! Eine geozentriſche Anſchauung ſollte durchbrechen, noch unter Lukrez hinunter, der zwar die Sterne als Kleinweſen erach— tete, aber doch den Weltraum nicht verengen wollte. Deut— lich umſchriebene Formate gibt es nicht innerhalb dieſer Leh— ren. Man kann immer nur ſagen: Kleinwelten, Mittelwel— ten, wie ſie ſich denen darſtellen, deren Sinn von den irdi— ſchen Maſſen nicht loskommt. Anaxagoras hatte behauptet, die Sonne ſei größer als der uns heute ſo vertraute Pelo—

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ponnes. Das war in ſeinem Sinne eine Erweiterung des Größenbegriffs, in unſerem ein Feſtkleben am alten Diminu— tiv. Die Welt des Anaxagoras iſt ein maßloſes Ungeheuer, am Verſtand ſeiner Zeitgenoſſen gemeſſen, ein Mikrob für uns, die wir die Strecken nach Lichtjahren beurteilen.

Danach ergibt ſich ein Weltformat, das nur noch im Zah— lenſinne Bedeutung hat, das ſich an die Zahl heftet, um über— haupt ausſprechbar zu werden. Die Anſchauungsmöglichkeit entſchwindet. Wir lernen und glauben, daß die Firfterne erſter Größe durchſchnittlich ſiebzehn Lichtjahre von uns ab— ſtehen, die Lichtſekunde zu 300 ooo Kilometern, alſo rund 150000 Milliarden Kilometer; und daß dieſe Unfaßbarkeiten wieder verſchwinden gegen die Erſtreckung der Milchſtraße, für die wir ſiebentauſend Lichtjahre bewilligen müſſen. Und auch damit hätten wir erſt eine Inſel im Univerſum erfaßt, nicht dieſes ſelbſt.

Die Anſchauung ſucht in ihrer Bedrängnis einen Ausweg und findet ihn in der Vermutung, daß zwar der Raum un— endlich ſein müſſe, nicht aber die Menge und Maſſe der Welt— körper. Es gibt einen auf Herſchel zurückgehenden Schein— beweis, der dieſe Vermutung mit optiſchen Gründen zur Ge— wißheit erheben möchte. Er wirkt auch optiſch ganz über— zeugend, rennt aber gegen einen Grundpfeiler der in uns eingebauten Logik. Denn alle Ermeßlichkeit iſt Null gegen das Unendliche, und all die Lichtjahre bedrängen uns nicht ſo ſchmerzlich wie der Zwang, dieſe Ganzgroßwelt wiederum auf Null verkümmern zu laſſen.

Nein, wir ſuchen immer noch nach größeren Formaten für die Welt, und wer mit der eigenen Phantaſie nicht aus— kommt, der mag die des Voltaire zu Hilfe rufen.

Der Weiſe von Ferney ſchlägt in mehreren Erzählungen

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das Thema von der Weltgröße an und, wie zu erwarten, er gibt ſich dabei nicht mit Kleinigkeiten ab. Ein Engel tritt als Lehrmeiſter auf: die Welt mag noch ſo ausgedehnt ſein, mit einer einzigen iſt nicht auszukommen; ſetzen wir alſo einen hübſchen Multiplikator ein und behaupten wir: im Raum ſind hunderttauſend Millionen von Welten vorhanden, eine immer ſchöner und beſſer als die andere; oder rückwärts gerechnet: eine immer toller als die andere; die uns zunächſt liegende, die irdiſche, kommt leider dabei am ſchlechteſten weg und wird in Voltaires Betrachtung als das „Tollhaus des Univerſums“ bemakelt.

Gleichviel. Unſere vergleichende Studie ſoll ſich ja nur mit den Weltfor maten beſchäftigen, zwiſchen denen fie genü— gende Auswahl verſprach. Von einer Abſchätzung nach Vor⸗ trefflichkeit und Ungüte hat ſie ſich fernzuhalten. In ihr gilt nur das Relative, das jedes Gut und Böſe abwehrt und ſelbſt in der Abſchätzung reiner Raumgrößen der letzten Frage nach Richtig oder Falſch aus dem Wege geht.

Die Annäherung

Man könnte es wie ein Märchen anfangen, „Es war ein: mal“, und es kommt auch allerhand Fabelhaftes darin vor. Aber ſehr poetiſch wird es darin nicht zugehen. Denn die Dinge, die hier eine Annäherung ſuchen, find weder Gemein— ſchaften, die ihren Haß vergeſſen wollen, noch Menſchenkin— der, die durch eine geheime Sehnſucht zueinander getrieben werden, ſondern zwei vergeiſtigte Weſen, zwei Begriffe: die Vermutung und die Genauigkeit.

Alſo es war einmal ein großer Gelehrter, der hieß Micha— el Pſellus, der lebte im elften Jahrhundert, galt viel bei ſeinen Zeitgenoſſen und wurde von ihnen mit dem Ehren— titel „Erſter der Philoſophen“ geſchmückt. Der hatte es ſich in den Kopf geſetzt herauszubekommen, wie ſich denn eigent= lich der Umring eines Kreiſes zu ſeinem Durchmeſſer ver— hielte. Und nachdem er lange überlegt und gerechnet hatte, kam er dahinter, das müßte eine Zahl ſein zwiſchen zwei und drei, ungefähr zwei und vier Fünftel, oder noch etwas darüber. Und die gelehrten Zeitgenoſſen dieſes „Erſten der Philoſophen“ waren ſehr erfreut über dieſen Fund, ganz überzeugt davon, daß hier Vermutung und Genauigkeit einen ſchönen Akt der Annäherung vollzogen hätten.

Wenn ein halbwegs intelligenter Knabe mit einem runden Gegenſtand ſpielt, mit einem Kreiſel oder Tellerchen, und einen Faden um die Rundung legt, ſo müßte ihm der Unſinn

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des großen Pſellus klar werden. Er könnte es vom Faden ableſen, daß das Dreifache des Durchmeſſers noch nicht aus— reicht, um den Kreiſel oder das Tellerchen ganz zu um— ſpannen.

Es mag fraglich fein, ob Kinder ſolche Experimente anſtel— len. Daß die Erwachſenen es vor faſt dreitauſend Jahren getan haben, erfahren wir aus dem Erſten Buch der Könige bei Beſchreibung des herrlichen Waſchgefäßes, das unter dem Namen des ehernen Meeres eine Zierde des Salomoniſchen Tempels bildete: „Und er machte das Meer, gegoſſen, zehn Ellen von einem Rande bis zum andern, gerundet ringsum, . . . und ein Faden von dreißig Ellen umfing es ringsum.“ Hier ſprach alſo der Faden: die geſuchte Zahl iſt genau gleich drei, und die Prieſter im Tempel Salomos, denen der Be— griff der „Annäherung“ noch fremd war, mochten das wohl als eine Gewißheit hinnehmen.

Aber den ſpäteren Talmud-Gelehrten ſtiegen doch Zwei— fel auf. Sie unterſuchten wiederum verſchiedene runde Schüſ— ſeln mit dem herumgeſpannten Faden und gelangten zu dem Ergebnis: man muß, um den Umring zu erhalten, den Durchmeſſer von Rand zu Rand dreimal nehmen und ein „Audew“, was in ihrer Sprache bedeutete: und ein kleines bißchen mehr. Das war weder falſch, noch genau, ſondern eben nur annähernd richtig. Und bei den weiteren Annähe— rungen der Folgezeit ergaben ſich Wunder.

Man nennt die geſuchte Größe bekanntlich nach einem For— ſcher, der ſie einer weitgehenden Unterſuchung unterwarf, die Ludolfſche Zahl oder *. In der Schule lernt man: Eins Komma 14159, und dieſer Annäherungsgrad reicht auch für die meiſten Erforderniſſe des Lebens wie der Technik. Mit jeder weiteren feſtgeſtellten Dezimalſtelle ſchärft ſich die Ge—

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nauigkeit naturgemäß ſehr erheblich; Ludolf van Ceulen be— rechnete die Zahl bis zur 35. Dezimale, am Anfang des acht— zehnten Jahrhunderts konnte dieſes u das Jubelfeſt der hun— dertſten Stelle feiern, ſeit dem Jahre 1844 beſitzen wir es, durch den Kopfrechner Daſe, bis auf 200 Stellen genau.

Was bedeuten dieſe Annäherungen? Zunächſt das eine, daß eine abſolute Genauigkeit bei einem ſo einfachen Ge— bilde wie der Kreis niemals zu erzielen iſt; dann als zweites die Beruhigung darüber, daß wir den möglichen Fehler bis zu beliebiger Kleinheit vermindern und unter die Schwelle des Bewußtſeins hinabdrücken können.

Wir nehmen als Prüfungsmaß die winzige Dicke eines allerfeinſten Damenhaares und fragen: wie groß darf ein Kreisumfang ſein, damit die mögliche Ungenauigkeit der Be— rechnung höchſtens ſo groß ausfällt wie dieſe Haarfeinheit? Wir operieren mit einem u von nur 15 Stellen und ermit— teln: Ein Kreis von der Größe des Erdäquators verträgt dieſe Probe, multiplizieren wir deſſen Durchmeſſer mit ſol— cher Zahl, ſo wird die mögliche Ungenauigkeit noch lange nicht das zarte Quermaß eines Blondhaares erreichen.

Wirtſchaften wir aber mit der ausgewachſenen Ludolfzahl von 100 oder gar von 200 Stellen, ſo können wir ganz ins Phantaſtiſche hineinſteigen. Der Kreis kann dann ſo groß oder milliardenfach größer ſein als die Milchſtraße, als die geſamte ſichtbare Sternenwelt: ſo wird der mögliche Fehler unter die Bazillenkleinheit herabſinken und durch kein Mikro— ſkop der Welt wahrnehmbar gemacht werden können.

Aber ein Fehler bleibt trotzdem zurück, nämlich der Unter— ſchied zwiſchen dem Errechneten und dem mathematiſch als Kreis Vorgeſtellten. Dieſe Annäherung kann niemals bis zur völligen Berührung getrieben werden.

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 12

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Die Naturbetrachtung ſchlägt ähnliche Wege ein, wenn fie ſich Zielen nähert, die ſie vorläufig für erreichbar hält, um ſpäterhin inne zu werden, daß die ſogenannte Genauigkeit und Sicherheit im letzten Grunde nur eine ſehr geſteigerte An— näherung bedeutet.

Wir befinden uns am Ufer eines mäßig großen Binnen— ſees; kein Windhauch kräuſelt die Oberfläche, kein Boot durchfurcht ſie, der Vergleich mit einem Planſpiegel drängt ſich auf, und wir können von dieſer Fläche mit ruhigem Ge— wiſſen als von einer vollkommenen Ebene ſprechen. Kein Naturgeſetz wird uns Lügen ſtrafen, wenn wir an dieſer „Ebene“ feſthalten und ſie den ſonſtigen Erſcheinungen des gewöhnlichen Lebens einordnen.

Aber dieſe Ebene bietet uns nur eine Richtigkeit in erſter Annäherung. Eine geſteigerte Aufmerkſamkeit nötigt uns ſofort, den Waſſerſpiegel als Teil einer ſchwachgebogenen Kugelfläche anzuerkennen. Denn der See gehört zur irdi— ſchen Globusfigur und iſt ihrer Krümmung unterworfen. In dieſer zweiten Annäherung werden gewiſſe Beobachtungen erſt ermöglicht und verſtändlich, die auf Grundlage der erſten zu Widerſprüchen führen müßten.

Dieſe zweite Annäherung könnte ausreichen, wenn unſer Planet wirklich eine Kugel wäre. Wir wiſſen aber, daß die Erde mit ihrer polaren Abplattung von der Kugelform ab— weicht und die Geſtalt eines Rotationsellipſoides zeigt. Auch hiervon muß unſer Binnenſee Notiz nehmen, ganz unab— hängig von ſeiner Größe oder Kleinheit. Er darf im Flüſ— ſigkeitsſpiegel nur wiederholen, was die Allgemeinfigur vor— ſchreibt, und ſo ergibt ſich als dritte Annäherung: der See wölbt ſich als Teil einer ellipſoidiſchen Fläche.

Und noch immer ſind wir nicht bei der genaueſten Ge—

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nauigkeit angelangt. Denn wir müſſen weiterhin noch die atomiſtiſche Struktur des Waſſers in Betracht ziehen. Unſer geiſtiges Auge nimmt heute ſchon vorweg, was dem körper— lichen noch entgeht, nämlich eine Atomlagerung an der Ober— ſchicht, die den ſtetigen Zuſammenhang der Fläche überhaupt aufhebt. Wir wiſſen nicht, was dieſe vierte Annäherung uns bieten wird; wir können in ihr nur eine Anſchauungs— form mutmaßen, der gegenüber die vorhergehenden, Ebene, Kugel, Ellipſoid als Vorläufigkeiten zu gelten haben, als kurzgefaßte, ungenaue Bezeichnungen für höchſt verwickelte Gebilde.

Die uns bekannten Naturgeſetze verhalten ſich fortgeſetzter Prüfung gegenüber wie jener Seeſpiegel. So wie ſie ermittelt wurden und zuerſt in die Lehrbücher übergingen, beanſpruchen ſie in der Regel nur den Wert einer erſten Annäherung. Bei verſchärfter Prüfung werden weitere Annäherungen er— forderlich, das will ſagen: das Geſetz in ſeiner bekannten Form hält nicht dicht, zeigt Lücken, durch die gewiſſe Aus— nahmen ſchlüpfen können, iſt überhaupt nur Interimsgeſetz, vorbehaltlich weiterer Paragraphen, die erſt eine geſteigerte Genauigkeit ermöglichen ſollen.

Solche Geſetze ſtehen vor der verſchärften Frage wie nicht ganz taktfeſte Zeugen vor Gericht. Man kann ihnen die Eid— fähigkeit nicht abſprechen, denn ſie ſprechen die Wahrheit; nur nicht die volle Wahrheit; ſie verſchweigen Einzelheiten, nicht in der Abſicht, einen Irrtum hervorzurufen, aber ohne die innere Kraft, jeden Irrtum auszuſchließen. Als derartige bedingte Geſetze haben ſich zumal die Gasgeſetze erwieſen, wie fie von Dalton, Mariotte, Gay-Luſſac formuliert wur— den; ferner das Wärmegeſetz von Dulong und Petit, die Geſetze der Leitfähigkeiten von Wiedemann-Franz und Lo—

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renz, im weiteren überhaupt die mechaniſchen Geſetze, jo: bald raſche Bewegungen kleinſter Maſſen in Frage kommen. Es ſind, wie man wohl heute in anderem Zuſammenhange ſagt, Mantelgeſetze, mit Mänteln, die in Ewigkeiten zu halten ſchienen, deren Nähte aber doch allmählich auseinander— platzen.

Sogar Newtons Gleichungen als Ausdruck der klaſſiſchen Schwerkraftslehre haben daran glauben müſſen. Sie ſind „erſte Annäherungen“ geworden, ſeitdem der gewaltige For— ſcher Albert Einſtein mit ſeiner eigenen Gravitationstheorie eine weitere Annäherung gefunden und damit vormals un— durchdringliche Rätſel am Himmelsbogen wie durch einen Zauber entſchleiert hat.

Und über das Gebiet der Phyſik hinaus wird der große Begriff ſeine große Macht äußern, wenn er in die Gebiete des reinen Erkennens, der Ethik und Aſthetik übergreift, wenn wir in den gültigen Geſetzen des Denkens und Empfindens über das Zunächſt-Wahre vorſchreiten werden zu verborgenen Wahrheiten, nach dem Prinzip der Annäherung, welches nicht rechthaberiſch umſtößt, ſondern verfeinert, neue Mög— lichkeiten erſchließt. Ja ſelbſt das ſicherſte vom Sicheren, die Mathematik, wird ſich der Betrachtungsart der Annäherung nicht verſchließen dürfen, nicht nur in Zahlen dieſe Arbeit beſorgt ſie ja ſelbſt ſeit Urzeiten ſondern in ihren grund— legenden Lehren. Die Anfänge hierzu liegen vor, weitere Wege hat Vaihinger in ſeiner herrlichen „Philoſophie des Als Ob“ gewieſen. Dann könnte ſich der Kreis einmal völlig ſchließen, anſcheinend in einem fehlerloſen Zirkel, denn was ſollte genauer ſein als das Genaueſte? —, und doch mit einem neuen gewaltigen Ausblick auf die Relativität jeder Erkenntnis.

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Das Heraklitiſche „Alles fließt“ wäre dann zu ergänzen in einem „Alles wankt, ohne zu ſtürzen“. Auf beweglichen Unterbauten erſter und zweiter Annäherungen werden dritte und vierte errichtet, ohne Sorge um die Tragfähigkeit. Es hat ſich gezeigt, man kommt höher, wenn man aufwärts baut, als wenn man nur immer an alten Fundamenten mauert und in die Breite arbeitet. Und vielleicht läßt ſich auf dieſe Weiſe, über alle Zweifel hinweg, einmal ein feſter Punkt gewinnen, der Punkt, den der Mechaniker Archimedes er— ſehnte, um die Erde, und den die Erkenntnis erſtrebt, um den Irrtum aus den Angeln zu heben.

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Der Alpdruck

Das Wörtchen „vielleicht“ müßte am Anfang und am Ende der Betrachtung ſtehen. Iſt dies alles, was wir ſchau— dernd und bewundernd hören, ſchauen und fühlen, was uns durchbebt und erhebt, vielleicht nur ein Traum? Steckt hinter der tauſendmal gebrauchten Sprachwendung „man faßt ſich an den Kopf“ vielleicht mehr als eine ſymboliſche Bewegung? vielleicht der ernſthafte Verſuch, einen Alpdruck abzuſchütteln, der aller Wirklichkeit zum Trotz doch nur traumhaft vorhanden wäre?

Dies Wörtchen „vielleicht“ hieß urſprünglich im Mit⸗ telhochdeutſchen ſo viel wie „ſehr leicht“ und bezeichnete einen gewiſſen, nicht unbeträchtlichen Grad der Wahrſcheinlichkeit. Es verlor den Wahrſcheinlichkeitswert, um nur eine loſe Möglichkeit anzudeuten, die der ſchweifende Gedanke für die Dauer einer Sekunde berührt. Nicht auf länger. Wir glau= ben an die Wirklichkeitswelt, wir halten an der Gegenſtänd— lichkeit des wachen Zuſtandes feſt und ſind uns des ſpieleri— ſchen Gegenſatzes bewußt, wenn uns trotzdem einmal der Ge— danke durchzuckt: vielleicht iſt es doch nur ein Traum?

Bis uns dann einmal der Eigenſinn überfällt und uns nötigt, der flüchtigen Frage halt zu gebieten. Vielleicht ent— ſinnen wir uns dabei, daß heute gewiſſe Denkmöglichkeiten vorhanden ſind, die bei den Urvätern nicht einmal als hu—

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r ſchende Schatten vorhanden waren. Wir denken daran, daß | die Schwerkraft in der Natur verſchwinden, daß die Gerad— linigkeit des Lichtſtrahls aufhören könnte. Solche „vielleicht“ hat es früher nicht gegeben. Aus allen Ecken der neueſten Naturwiſſenſchaft ſtrömen uns die Unmöglichkeiten entgegen, die plötzlich das Geſicht der Möglichkeit, ja der Wahrſchein— lichkeit annehmen. Man darf das Undenkbare nicht mehr ab—⸗ lehnen. Das ſcholaſtiſche, ehedem fo widerſinnige: „Credo quia absurdum“ hat angefangen, wiſſenſchaftlichen Grad zu gewinnen.

Alſo die ſcheinbar ſo törichte und ſonſt nie ſtandhaltende Traumfrage erhält den Geſtellungsbefehl, ſoll gemuſtert und unterſucht werden. Zunächſt muß ſie ſich entkleiden, und wenn ſie die Gewandung abgeworfen hat, ſteht das nackte „Ich“ vor uns, das Bewußtſein der eigenen Perſönlichkeit. Weder Ariſtoteles, noch Kant, noch Fichte haben an ihm ge— zweifelt. Aber von neueren, ſehr bedeutenden Philoſophen iſt dem ſicher begrenzten „Ich“ ſcharf zugeſetzt worden, ſo ſcharf, ſo erfolgreich, daß man allen Ernſtes behaupten darf: in abſehbarer Zeit wird dieſes „Ich“ als wiſſenſchaftliche Beſtimmtheit ausgeſpielt haben.

Vorläufig exiſtiert es noch, erfreut ſich aller bürgerlichen Rechte, wird von ſich ſelbſt anerkannt und ſpinnt ſeine Er— innerungen in einem regelmäßigen Wechſel zwiſchen Schlaf und Wachen. Solange der Schlaf vorhält, alſo etwa in einem Drittel des Lebens fo ſagen wir im Wachen —, verſagt die Kontrolle des richtigen Denkens. Die Hauptbeſtimmungen nach Raum, Zeit und Urſächlichkeit ſind aufgehoben. Wo— her wiſſen wir das? Weil der Moment des Aufwachens ein— tritt, in dem ſich die verlorenen Denkfunktionen wieder pünft- lich zur Stelle melden.

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Aber während wir dieſen ſicheren Schluß ziehen, fchließt ein Drittel der Menſchheit anders. Die fünfhundert Mil— lionen Menſchen, die eben jetzt ſchlafen, ſind, ſofern ſie träu— men, vom Gegenteil feſt überzeugt. Jeder von ihnen hat ſein eigenes „Ich“, und dieſes träumende Ich zweifelt nicht im geringſten an ſeiner Gegenſtändlichkeit, an der Richtigkeit ſeiner Raum- und Zeitorientierung, an ſeinen Verknüpfungen von Urſache und Wirkungen, kurz an der Wahrheit und Wirk— lichkeit ſeiner Erlebniſſe.

Es iſt durchaus kein waghalſiger Gedanke, anzunehmen, daß die phyſiologiſche Natur der Menſchen ſich verändern könnte. Stellen wir uns ein ſtetig wachſendes Schlafbedürf— nis vor, ſo müſſen wir Menſchen für möglich halten, die 16, 20, 23 Stunden am Tage ſchlafen. Und bei weiterem Ver— folg bis ins Extrem landen wir, ohne in Sinnwidrigkeit zu verfallen, bei einer veränderten Welt: auf einen Menſchen, der wacht und richtig denkt, kämen zur gleichen Zeit tauſend irrende Träumer. Auf dieſem Punkte beginnt die Regel der Wahrſcheinlichkeit ein Wörtchen mitzureden: Warum ſoll die Meinung des Einen als Kontrollinſtanz ausſchlaggebend ſein gegen den Widerſpruch der tauſend? Liegt nicht allzeit das Normale, das Gültige bei der großen Anzahl? Als das Ent— ſcheidende muß doch die überwiegende Regel angeſprochen werden, nicht die vereinzelte Ausnahme.

Wie immer ſteht der Einwand bereit: auch jene Tauſend werden aufwachen und erkennen, daß ſie in Viſionen verſpon— nen waren. Erkennen das heißt eine Überzeugung gewin— nen, mit einer Deutlichkeit, die dieſer Minute angehört. Aber in der Vorminute, oder in der nächſten Stunde herrſcht eine andere Deutlichkeit, und der logiſche Zirkelſchluß iſt fertig: wir erkennen dies, weil es wahr iſt, und es iſt wahr, weil

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wir es fo erkennen. Der Rechtsſtreit ift niemals zu ſchlichten; denn erſtens iſt der Richterſtuhl unbeſetzt, und zweitens fehlt immer die eine Partei, während die andere deklamiert und ihren Standpunkt vertritt; bis ſie wiederum verſchwindet und die Gegenpartei mit genau derſelben Beredſamkeit das Gegen⸗ teil behauptet. Und um die Unmöglichkeit dieſes Prozeſſes zu vollenden: beide Parteien ſind innerlich und äußerlich iden— tiſch, aber antipodiſch entgegengeſetzt, ſie erblicken ſich nie, ſie können immer nur eines: zeugenlos, gegenſtandslos, beweis— los gegeneinander in die Luft ſchwören!

Das Traum⸗Ich iſt feiner Sache ganz ſicher. Sein Krieg zeigt dieſelbe Grauſamkeit wie der der Wachenden, ſein Frie— den übertrifft vielleicht an Holdſeligkeit jedes Idyll, das wir in glücklichen Zeiten jemals erlebten. Ich, der ich jetzt und hier ſchreibe, habe mir oft genug im Traum die Frage vorge— legt: träumſt du vielleicht? Ja, ich verfuhr noch gründlicher: alle Argumente aus Schriften und eigenem wachen Denken ſtanden mir zur Verfügung mitſamt allen Erwägungen nach Möglichkeit und Wahrſcheinlichkeit, und ſorgſam unterſuchte ich um etwa auf einen beſtimmten Traumfall zu kommen: du befindeſt dich hier vor dem Dogenpalaſt in Venedig; wäre es nicht denkbar, daß du dich in nächſter Minute in deinem Berliner Bettlager entdeckteſt? Und mit der größten Beſtimmtheit entſchied ich: Nein! ſo etwas mag im Anſchluß an einen Traum paſſieren, aber nicht hier, nicht in der Wirk— lichkeit; wie könnte ich ein geträumtes Venedig mit dieſem gegenſtändlichen verwechſeln? mit dieſem wirklichen Dogen— palaſt? Lächerlich, auch nur eine Sekunde an ſeiner Realität und an meinem Aufenthalt vor ihm zu zweifeln. Ja, in der verfloſſenen Nacht, als ich im Hotel Garibaldi lag und ſchlief, da habe ich geträumt, und in der nächſten Nacht werde ich

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wahrſcheinlich wieder träumen, irgendwelches konfuſe Zeug, das von der Klarheit dieſer Gegenwart himmelweit entfernt iſt.

Der Kellner des Café Quadri auf dem Markusplatz bringt mir eine Schale Kaffee, eine höchſt poſitive Taſſe mit gar nicht fortzuleugnendem Inhalt. Neben mir ſitzt Goethe, der mir Bruchſtücke aus ſeiner italieniſchen Reiſe erzählt.

Blitzartig durchfährt mich ein Zweifel. Lebt denn Goethe noch? Eigentlich ſollte er tot ſein. Ach ja, richtig, er iſt ja in Weimar geſtorben, und in Weimar iſt er auch tot und be— graben. Aber hier in Venedig iſt er lebendig, ſonſt würde er ja nicht neben mir ſitzen und Kaffee trinken.

Merkwürdig bleibt es trotz alledem! Wie kam ich eigent— lich mitten im Kriege ins italieniſche Feindesland? Ich finde hierfür die ganz glaubhafte Erklärung: einmal iſt ja der Krieg ſchon ſeit zehn Jahren vorbei, dann war ja auch der Krieg niemals wirklich, ſondern nur geträumt, und ſchließlich ge— hört ja Venedig auch gar nicht zu Italien. Ich weiß ja ganz genau, wie ich hierher gefahren bin: mit dem Hapagſchiff Imperator von Cuxhaven nach Luzern, und dicht daneben liegt doch Venedig am Vierwaldſtätter See. In der Traum— logik hat das alles ſeine Richtigkeit.

Es iſt auch ganz in der Ordnung, daß der Markusdom da drüben gar nicht ausſieht wie der Markusdom, ſondern wie der Bahnhof von Baſel. Das muß ſo ſein und iſt immer ſo geweſen. Baedeker macht doch ausdrücklich darauf aufmerk— ſam. Die ganze Architektur des Platzes mit den Prokuratien zur Seite erhält dadurch erſt ihren ſtilrichtigen Abſchluß. Und gleichzeitig liefert mir das Bauwerk den vollkommenen Be— weis für die Tatſache des Wachens: Auf dem Ferngleis der Markuskirche bin ich ja angekommen, ich habe ja ſogar noch

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Handgepäck drüben beim Biſchof. Das iſt alſo die volle Wirf- lichkeit ohne einen Schimmer von Traumphantaſie. Immerhin, um den Beweis ganz ſchlüſſig zu machen,

bringe ich ſelbſt das Geſpräch auf dieſe Frage: Sagen Sie,

Herr von Goethe, halten Sie in der Angelegenheit von Schla— fen und Wachen eine Täuſchung überhaupt für möglich? Hal- ten Sie es für denkbar, daß ich jetzt nur träume, während ich mit Ihnen in Venedig dieſe Frage erörtere?

Goethe zog eine Reihe beſchriebener Blätter aus der Taſche, breitete ſie aus und verwies mich auf den Inhalt. Da würde ich alles finden, was ich zu erfahren wünſchte. Ich konnte aber die Zeilen und die Worte nicht zuſammenbringen. Gleich— zeitig begann das Glockenſpiel von San Marco zu läuten und ſetzte ſich automatiſch in das Spiel meiner Weckeruhr fort. Eine Sekunde ſpäter entdeckte ich mich wirklich auf meiner Berliner Bettmatratze.

Alſo doch geträumt?! und welche Intelligenz bürgt dafür, daß nicht wenige Minuten darauf ein neues „Alſo doch“ die neue Wirklichkeit durchſchneidet?

Ich knipſte das Licht an und verſuchte mit müden Augen zu leſen. Was da gerade auf dem Nachttiſche lag: es war ein Band Calderon, und ich geriet an die Stellen: „Nichts Ewiges kann das Glück uns geben, denn flücht'ger Traum iſt Menſchenleben, und ſelbſt die Träume ſind ein Traum“, „da doch auf dieſer Welt, Clotald, nur alle träumen, die da leben!“

Calderon, Grillparzer und viele andere Dichter bis zu Strindberg, Widmann und Gerhart Hauptmann haben die— ſen Gedanken in Ernſt und Laune behandelt, mit ihm ge— ſpielt, neue intelligible Welten aus ihm gebaut. Ja, man kann wohl behaupten, daß keines Dichters Schaffen ihm

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völlig auszuweichen vermochte, denn er begreift in ſich die äußerſt letzte aller letzten Fragen. Der Metaphyſiker landet ihr gegenüber beim Verzicht. Die Lehre von einer Traum— haftigkeit der Wirklichkeitswelt iſt in keiner Weiſe logiſch zu widerlegen, ſo formt Mauthner den Verzicht unter der vollen Wucht des großen Fragezeichens. Wir ſchließen mit einer Waghalſigkeit, die in keinem andern Denkakt ihresgleichen findet, aus dem einzigen uns bekannten Falle, aus unſerer eigenen Exiſtenz, auf die ganze Welt, und werden immer wieder darauf geſtoßen, daß ſelbſt dieſes uns einzig wirklich Bekannte in zwei gegenſätzlichen Erſcheinungen auseinander— klafft. Das große „Ignorabimus“ des Du Bois-Reymond ſteht nirgends ſo drohend aufgerichtet wie in der Frage: Träumen wir, oder wachen wir?

Unſer Anfangswort „Vielleicht“ neigt ſich ihr gegenüber ſtark auf die Seite der Sinnloſigkeit, denn kein Wahrſchein— lichkeitsgrad, man ſetze ihn beliebig groß oder klein an, will auf die Frage paſſen. Ein Philoſoph des achtzehnten Jahr: hunderts hat geſagt: was nur wahrſcheinlich richtig iſt, das iſt ganz beſtimmt falſch. Wie falſch iſt dann erſt das, was ſprachlich auf ein Vielleicht hinausläuft, nämlich die Frage ſelbſt. Sie iſt falſch geſtellt, in ſich ſinnlos, ohne daß wir die geringſte Möglichkeit beſäßen, ihr aus dem Wege zu gehen oder ſie in andere Faſſung zu bringen. Nichts als den Ausdruck der Denkverlegenheit bedeutet dieſes Vielleicht. Und wenn einer von uns bisweilen in ſchreckhaftem Erſtaunen von einem Zweifel übermannt ward: vielleicht träume ich nur dieſen Krieg? ſo konnte er mit derſelben Berechtigung von der Traumüberzeugung ausgehen und fragen: Vielleicht iſt dieſer Krieg trotz alledem eine Wirklichkeit?

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Die Hemmung und die Forderung

Ein Boot fährt bei ſtarkem Strom auf dem Rhein von Bonn nach Köln. Maſchinenkräfte ſind nicht vorhanden, das Fahrzeug läßt ſich treiben. Der Bootsherr verfügt über gutes Meßwerkzeug und über ein rechtwinkliges Segel von einfachſter Spannungsform. Alleiniger Zweck der Reiſe iſt die Feſtſtellung eines Zuſammenhanges, der auf den erſten Blick gar nichts Beſonderes zu bieten ſcheint, der ſich indeſſen bei ſchärferer Beobachtung als höchſt merkwürdig, man könnte ſagen als wunderbar erweiſen wird.

Der Bootsherr macht die Reiſe dreimal, jedesmal in der nämlichen Richtung von Bonn nach Köln. Zuerſt überläßt er ſich bei Windſtille ausſchließlich der Triebkraft des Waſ— ſers. Beim zweitenmal ſetzt ein mäßiger Südwind ein, der das Segel bläht und die Fahrt beſchleunigt. Bei der dritten Fahrt legt ſich Nordwind in das Segel und wirkt der Fahrt— richtung entgegen, verzögernd.

Strom und Windſtärke find, abſolut genommen, nach Ausweis der Meſſungen dieſelben geblieben, nur daß ſich der Wind abwechſelnd in poſitivem und in negativem Sinne eingeſetzt hat. Daraus folgt, oder ſagen wir gleich: ſcheint zu folgen, daß das Boot mit dem Winde genau ſoviel Ge— ſchwindigkeit gewinnt, als es gegen den Wind verliert. Das wäre an der Dauer der einzelnen Reiſen mit Sicherheit feſt—

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zuſtellen. Die erſte Fahrt, die ſegelloſe, müßte nach Zeit gemeſſen zweifellos den Mittelwert zwiſchen den beiden ans deren ergeben.

Das iſt eigentlich ſo ſelbſtverſtändlich, daß manche gar nicht begreifen werden, weshalb es überhaupt zur Erörterung geſtellt wird. Und dieſe Manchen werden ſehr erſtaunt ſein, zu erfahren, daß es bei aller Selbſtverſtändlichkeit falſch iſt. Unſer Bootsherr ſtellt nämlich durch außerordentlich ſcharfe Zeitvergleichung feſt: Der Gegenwind wirkt ſtärker als der Förderwind; bei ſonſt ganz gleichen Kräfteverhält— niſſen überwiegt die Hemmung!

Die hierbei auftretenden Größenunterſchiede ſind freilich ſehr klein. Aber ſelbſt dort, wo ſie ſich der einfachſten Beob— achtung entziehen, ſind ſie ſicher vorhanden und der Be— rechnung zugänglich. Und ſo winzig ſie auch erſcheinen mö— gen, ſo gewaltig iſt die Rolle, die ihnen die neueſte Wiſſen— ſchaft im Getriebe des Erkennens zugewieſen hat. In dem übergewicht der Hemmung liegt zuerſt ein ſcheinbarer Wider— ſinn, der wiederum in ſeinem tiefſten Grunde den Schlüſſel zu den größten, vielleicht zu den letzten Geheimniſſen der Natur birgt. Schwere Abenteuer des Gedanken- und Sach— erperimentes liegen auf dieſem Wege, deſſen Windungen ſchließlich zur neuen Relativitätstheorie führen.

Der Verlockung, dieſen Weg zu beſchreiten, widerſtehen wir einſtweilen, um uns lediglich mit dem Prinzip der überwie— genden Hemmung zu beſchäftigen. Denn um ein Prinzip handelt es ſich hier, nicht um das zufällige Ergebnis einer Bootfahrt auf dem Rhein. Die Natur entwickelt hier keine beſonderen Launen, ſondern befolgt eine Regel, unbekümmert darum, ob dieſe Regel bei erſter Wahrnehmung einleuchte oder nicht. Der Beobachter könnte ſeinen Verſuch mehrfach

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abändern, z. B. mit Maſchinenkraft die nämliche Strecke flußabwärts und flußaufwärts fahren, dann würde die Waſ— ſerſtrömung je nach der Richtung helfend oder aufhaltend einſetzen. Und ein Kontrollverſuch könnte am Ufergelände ſtattfinden, im Auto, mit dem Winde und gegen ihn. Immer bleibt die Tatſache beſtehen, daß die Mitwirkung von der Gegenwirkung übertroffen wird, daß die Hemmung ſtärker ausfällt als die Förderung.

Dieſes ſeltſame Mißverhältnis bleibt natürlich nicht auf Schiff und Auto beſchränkt; es ſetzt ſich vielmehr überall durch, wo ein Für und Gegen, ein Hin- und Her-Effekt auf⸗ tritt, nicht nur bei Bewegungen, ſondern allgemein. Der Kern der Erſcheinung läßt ſich mit bloßer Wortbetrachtung nicht recht an die Oberfläche bringen, ſehr bequem aber mit einigen Zahlen, die ſich ganz einfach aus einem Vorgang der Alltäglichkeit ergeben. Ich entnehme fie mit einer durch die Zeit⸗ umſtände gebotenen Sachveränderung einem von Dr. Hans Witte aufgeſtellten Beiſpiel in deſſen Werk: Raum und Zeit im Lichte der neueren Phyſik.

Ein Raucher bezieht allwöchentlich 120 Zigaretten, und zwar 60 Stück vom Händler A und 60 Stück vom Händler B. Der Preis iſt bei beiden Verkäufern der nämliche, 10 Pfennig für je 5 Zigaretten. Eines Tages ſchlägt A ſeinen Preis auf und verabfolgt nur noch 4 Zigaretten für 10 Pfen— nig, während B um genau ebenſoviel billiger liefert, näm— lich 6 Zigaretten für 1o Pfennig. Für den Raucher gleicht ſich dies anſcheinend vollkommen aus, er unterliegt einer Hinz und Herwirkung von gleichen Abmeſſungen.

Aber feine Rechnung ſtimmt nicht. Er hat nach der Preis— veränderung an den Händler A für je 60 Stück 1,50 Mark zu zahlen, an B für ebenſoviel 1 Mark, zuſammen alſo

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2,50 Mark; während er feinen früheren Bedarf in der Woche mit 2,40 Mark zu decken vermochte.

Das Beiſpiel entbehrt der Feinheit, es verdeutlicht aber an einem grobkörnigen Vorgang, daß in dem Hin und Her noch etwas anderes zum Ausdruck kommt als der zu aller— erſt wahrgenommene Gradunterſchied. Setzt man ſtatt der beiden Händler den Hemmungswind und den Förderwind, ſo verfeinert und vertieft ſich die Aufgabe ſchon merklich, und die Schwierigkeit, den Zuſammenhang zu erkennen, wächſt in gleichem Verhältnis. Geht man in der Analogie noch weiter, indem man den atmoſphäriſchen Wind durch den ſtrömenden Ather, das Schiff durch einen Lichtſtrahl er— ſetzt, ſo ergeben ſich die wunderbarſten Probleme, die in letzter Ausfolgerung zu einem neuen phyſikaliſchen Weltbild führen.

Der ungleiche Widerſtreit zwiſchen Hemmung und För— derung kann aber vielleicht auch in ganz anderen Betrach— tungen Bedeutung gewinnen; nämlich außerhalb der meß— baren phyſikaliſchen Kräfte im Bereiche der Motive, die un— ſer Tun und Streben beeinfluſſen. Nur loſe Andeutungen können nach dieſer Richtung gegeben werden, denn wir nä— bern uns hier einem unerforſchten Gebiet und find, weit ent— fernt von irgendwelcher Gewißheit, auf dämmernde Ahnun⸗ gen angewieſen.

Thomas Buckle bemerkt in feinem berühmten Ziviliſations— werk, daß jede große Reform nicht darin beſtanden habe, et— was Neues zu tun, ſondern etwas Altes außer Kraft zu ſetzen; „die wertvollſten Geſetze ſind die Abſchaffungen frü— herer Geſetze geweſen, und die beſten Geſetze, die gegeben worden ſind, waren die, welche alte Geſetze aufhoben.“ Buckle bringt zum Beweiſe gewiſſe alte Religions-, Korn- und Wu⸗

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chergefeße, deren Väter mit Motiven in förderndem Sinne arbeiteten, da ja andernfalls ihr Paragraphenbau als aus genſcheinlich und unbedingt zweckwidrig gar nicht hätte zu= ſtande kommen können. Buckle ſieht die Hemmungen und erkennt ſie durchweg als überwiegend. Ja, er geht noch wei— ter: er nähert ſich bereits jener naturgeſetzlichen Wertung, daß ſchon bei anſcheinend ganz gleicher Verteilung die Hem—⸗ mung den Ausſchlag gibt. Möglich, ja wahrſcheinlich, daß er die Folgerungen übertreibt, wie faſt jeder Erkenner und Vorahner eines neuen Prinzipes. Dies zu unterſuchen, würde meine Zuſtändigkeit überſchreiten. Ich greife nur Buckles Grundmeinung als eine Tatſache heraus und als einen Beleg dafür, daß ein bedeutender Kopf geneigt war, den Gegen— gründen unter allen Umſtänden ein ſtärkeres Gewicht zuzu— ſprechen als den Gründen.

Leider kann man beide nicht auf der Präziſionswage abwä— gen, ebenſowenig wie andere Motive. Könnte man etwa Dank und Undank mit der Wage meſſen, ſo würde ſich bei Übertragbarkeit des Hemmungsgeſetzes auf ſeeliſche Vor— gänge folgendes ergeben: beim Widerſtreit der Beweggründe und bei anſcheinend gleichem Kräfteſpiel ſetzt ſich der Undank ſinnfälliger durch, dem fördernden Dank fehlt ein Kraft— moment, das dem Undank als einer Hemmung zur Verfü— gung ſteht; nicht die Verteilung der Anfangsmotive iſt das Entſcheidende, ſondern jenes tückiſche mechaniſche Geſetz, das aus dem Gleichgewicht der Urſachen noch ein Ungleichgewicht der Wirkungen herauszuholen verſteht.

Befragen wir die Lehrmeiſterin Natur, ſo gibt ſie uns eine Antwort, die zwar den Sinn des Geſetzes nicht ent— rätſelt, aber ſeine Macht mit beredten Zeichen anerkennt. In zahlloſen Mengen verſtreut ſie ihre Keime zur Förde—

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 13

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rung der Art- und Gattungserhaltung, mit einer maßloſen Freigebigkeit, die ihr oft genug von Naturforſchern den Titel einer Verſchwenderin eingetragen hat. Sie will damit aus⸗ drücken, daß die Hemmung die Gefahr im Kampf ums Daſein nur dann wettgemacht werden kann, wenn die Förderung mit einer alle Begriffe überſteigenden Wucht ein— ſetzt. Und da die Natur eine gute Rechnerin iſt, ſo verfährt ſie dabei progreſſiviſch, in einer ſprunghaft anſteigenden Reihe. Sie verleiht einem einzigen Karpfen eine ſo ungeheure Eiermitgift, daß ſchon lange vor der zehnten Geſchlechts— folge der Nachwuchs das Gewicht der Erdmaſſe übertreffen müßte, ſelbſt wenn zwiſchendurch Trillionen in Gefahren zugrunde gingen. Und mit einem Hinweis auf den tatſäch— lichen Beſtand erläutert ſie uns, daß ein einfaches, klar zu überblickendes Verhältnis zwiſchen Hemmung und Förderung nicht beſteht. Nur den Verdacht gilt es zu ſchärfen gegen jede mögliche Hemmung, und der Vorſorge jedes erdenkliche Größenmaß zu gewähren; es kann niemals hoch genug ge— griffen werden und wird erſt dann zweckentſprechend aus— fallen, wenn es in erſter Anlage ausſieht wie eine Über— treibung. Und aus dem Beiſpiele der Natur, die Hemmun— gen ſchuf, um ſie mit allem Aufgebot der Verſchwendung zu bekämpfen, läßt ſich vielleicht jene verwickelte Regel in ganz einfacher Form ableiten. Es iſt mehr als eine wortſpieleriſche Selbſtverſtändlichkeit, wenn man behauptet: Nichts iſt der Förderung ſo bedürftig, wie die Förderung.

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Gedanke, Blitz und Chronometer

Das Fünfzig⸗Jahr⸗Jubiläum, ehedem nicht üblich, ift mit geſteigerter Metronomiſierung des Lebens ein anerkanntes Recht aller Menſchen geworden, die etwas geleiſtet haben und ſich feiern laſſen wollen. Dieſes Menſchenrecht ſoll hier für eine Entdeckung in Anſpruch genommen werden, die trotz ihrer Größe und Wichtigkeit im Sturm unſerer Tage leicht überſehen werden könnte.

Vor ziemlich genau fünfzig Jahren iſt man nämlich dem Gedanken auf die Sprünge gekommen.

Er hatte ſich bis dahin, ſeit Urbeginn der Welt, mit dem Blitz meſſen dürfen, anerkanntermaßen und ſprichwörtlich. Da gab es gar nichts zu diskutieren und zu beweiſen. Es war von allem, was einleuchtet, das Selbſtverſtändlichſte. Dich- ter wie Philoſophen rühmten den Gedanken wegen ſeiner Schnelligkeit, und der geſunde Menſchenverſtand gab ſeinen Segen dazu. Der Gedanke war das ſchnellſte aller Dinge, er hielt, modern geſprochen, den Rekord. Und er muß ſehr erſtaunt geweſen ſein, als ihm vor fünfzig Jahren einige bedeutende Forſcher mit dem Chronometer in der Hand ein recht ſaumſeliges Tempo nachwieſen.

Wahrſcheinlich wird ſich auch heute noch bei der großen Mehrzahl der Leſer ein ſtarker Widerſpruch melden: Was ſoll das heißen? das Hoheitsrecht der abſoluten Geſchwindig—

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keit ſoll bei unſerem Gedanken angetaſtet werden? Aber der braucht doch überhaupt keine Zeit! eigentlich müßte ſich der Blitz noch geſchmeichelt fühlen, wenn man ihn zum Ver— gleich heranzieht. Der iſt eine elektriſche Entladung und kann auf dem durcheilten Wege gemeſſen werden. Wer aber ſollte den Gedanken meſſen?

Die Antwort lautet ſchlicht und ſachlich: das Experiment. Der Gedanke mußte ſich auf den Leidensweg begeben; er wurde, wie es in der alten Folterordnung heißt, „peinlich befragt“. Und die Männer, die dem wiſſenſchaftlichen In— quiſitionsamt vorſtanden, waren, mit Einrechnung der Vor⸗ läufer: Beſſel, Pouillet, Helmholtz, Donders, Hirſch, de Jaa⸗ ger. Noch vor achtzig Jahren hatte der hochgelobte Mei— ſter der Phyſiologie Johannes Müller die Anſicht ver— treten: Wir werden wohl niemals die Mittel gewinnen, um die Geſchwindigkeit der Nervenwirkung zu ermitteln. Ein Menſchenalter darauf war dieſes „Unmöglich“ mit ſo vielen anderen verſchwunden, die Zeit zwiſchen Nervenreiz und Signal war ermittelt, der Gedanke vom Anlaß bis zum Ausbruch nach der Uhr kontrolliert. Und es ergab ſich da— bei, daß der Gedanke vordem ganz ungeheuerlich überſchätzt worden war. Seine unendliche Raſchheit ſchrumpfte auf ein ſehr beſcheidenes Maß zuſammen: 30 bis 60 Meter in der Sekunde, das war alles!

Wie hätten jene Forſcher ihre Funde erſt ausgedeutet, wäre ihnen bekannt geweſen, was wir heute durch unſeren Carl Ludwig Schleich aus ſeinem „Schaltwerk der Gedanken“ erfahren haben: daß das Gehirn ſich ſelbſt unter die Lupe zu nehmen vermag, daß die eine Hälfte des Gehirns die an— dere in jedem Momente beobachten kann!

In einem abſchließenden Vortrage führte damals, vor

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einem halben Jahrhundert, der Phyſiologe Profeſſor von Wittich ungefähr folgendes aus: die Vorgänge im Gehirn zwiſchen Bewußtſein und Wollen unterliegen zwar erheb— lichen perſönlichen wie zeitlichen Schwankungen, fie brau— chen aber jedenfalls Zeit, und dieſe iſt meßbar. Eine Ka— nonenkugel legt in derſelben Zeit, die zwiſchen unſerer Emp— findung und der ihr folgenden Willensäußerung verfließt, etwa 300 Fuß, ein Adler 20 Fuß, das engliſche Rennpferd und die Lokomotive 14 Fuß zurück. Der Gedanke blitzt nicht mehr, denn ſelbſt im Höchſtmaß ſeiner Beſchleunigung wird er von den Schwingen des Adlers weit überholt.

Die Schlußkette iſt hier noch nicht vollſtändig; das fehlende chronometriſche Zwiſchenglied ergibt ſich aus einer Mitteilung von Donders aus derſelben Zeit: Danach iſt der Gedanke je nach den mitſpielenden Organen auf drei verſchiedene Zeit— maße angewieſen. Sie betragen für die Sinnes werkzeuge: Gefühl, Gehör und Geſicht ungefähr je ein ſiebentel, ein ſechſtel und ein fünftel Sekunde.

Übertragen wir dies auf irgendein Beiſpiel aus dem täg⸗ lichen Leben. Jemand erhält einen unvermuteten Schlag. Augenblicklich durchzuckt ihn ein Gedanke: du mußt dich wehren; oder ausbiegen; oder die Flucht ergreifen; oder wi— derſchlagen. Aber blitzartig geht dieſes Zucken nicht vor ſich; der Gedanke braucht ein ſiebentel Sekunde, um fertig zu werden, um die kleine Strecke von der Urſprungsſtelle des Reizes bis zur Auslöſung einer Bewegung zu überwinden.

Ich muß geſtehen, daß ich die Angaben von Donders und von Wittich zahlenmäßig nicht ganz in Übereinſtimmung zu bringen vermag. Rechnen wir indes dreißig Meter Nerven— leitung für die Sekunde, ſo gewinnen wir einen ziemlich ſicheren Anhalt zum Vergleich der Geſchwindigkeiten, immer

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vorausgeſetzt, daß wir das, was in den Erregungsleitungen vorgeht, ohne weiteres als das Maß für das Tempo des Ge— dankens anſetzen dürfen.

Mit dieſem nicht unerheblichen Vorbehalt würden wir leicht feſtſtellen können, wie ſich der Gedanke zur elektriſchen Welle verhält. Er müßte feine Geſchwindigkeit verzehnmillion⸗ fachen, um mit dem Blitz in Wettbewerb treten zu können. Im natürlichen Verlauf der Dinge würde der menſchliche Gedanke, wenn auch nicht vom Adler, ſo doch von der Schwalbe eingeholt und von jedem Infanteriegeſchoß weit— aus übertroffen werden; er ſtünde der Bewegung einer Gar— tenſchnecke, ja ſelbſt der Unmerklichkeit im Wachstum eines Grashalmes immer noch ſehr viel näher als dem Blitz, den er vormals zu überflügeln vermeinte.

Welch ein Abſchwung, welch jähe Entthronung des Er— habenſten im Geiſte, das zu all feinen anderen Vollkommen— heiten auch die idealen Siebenmeilenſtiefeln brauchte, und dem nun ganz gewöhnliche Fußgängerſohlen zugewieſen wer— den!

Aber iſt es denn auch wirklich der „Gedanke“, der ſich dieſe ungeheuerliche Bremſung gefallen laſſen muß? Oder treibt hier eine Vertauſchung der Begriffe ihr Unweſen, die eine Bedingung des Gedankens, einen molekularen Vorgang im Organismus, als den Gedanken ſelbſt anſpricht?

Niemals war dieſe Frage brennender als heute, wo der auf den Augenblick geſtellte Gedanke über weitgeſpannte Schickſale unterſcheidet. Wenn wir uns den Feldherrn vor— ſtellen, der nach einem empfangenen Sinneseindruck den Gedanken formt, oder den Mann am Steuer, deſſen Be— wegungsimpulſe in der Hand vom Gedanken regiert werden, ſo erſcheint es uns ebenſo kleinlich wie unmöglich, daß hier

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Maße zugrunde liegen ſollen, nach fünftel oder ſiebentel Se— kunden. Der Blitz ſoll wieder in ſeine Rechte treten!

Und das geſchieht. Was die Phyſiologie erforſchte, bleibt davon ganz unberührt. Sie maß nur das Meßbare, das Zeitintervall zwiſchen dem Reiz und der vollendeten Wahr— nehmung. Und wir brauchen nur das Experiment anders zu geſtalten, um zu völlig anderen Ergebniſſen zu gelangen.

Wir denken an zwei Verſuchsperſonen, die über hundert Meilen hinweg ein Ferngeſpräch halten. Wo iſt die Bes grenzung ihrer Nerven? an ihrer Haut, in ihren Ohren, in ihrem Hirn oder Rückenmark? ganz gewiß nicht. Solange die Verbindung beſteht, bilden ſie eine Einheit, der Tele— phondraht gehört jetzt zu ihrem Nervenſyſtem. Laſſen wir es ſelbſt gelten, daß der Hörer den Bruchteil einer Sekunde konſumiert, ſo iſt es doch der weit abgelegene Gedanke, der den ſeinen hervorruft, und wenn deſſen Echo zum Sprecher zurückſtrömt, ſo erlebt dieſer in ſich Gedankenphaſen, deren Wandel alle Adler- und Geſchoßflüge weit hinter ſich läßt. Denn der Sprecher denkt im Hörer, der Hörer im Sprecher, und in die Geſchwindigkeitsberechnung muß ein Nerv von hundert Meilen Länge eingeſetzt werden.

Wir brauchen aber gar nicht zwei Verſuchsperſonen, eine einzige genügt vollkommen. Dieſe eine ſoll ihren Gedanken in einem ganz beſtimmten Vorſtellungskreis ſchweifen laſſen.

Ich denke an einen Leuchtturm mit Drehfeuer. Der Kreis, den der Lichtbalken beſchreibt, kann ſchon mit heutigen Mit- teln bis zu 100 Kilometer Radius ausgedehnt werden. Die Technik der Zukunft wird ihn erweitern, ſagen wir bis zu 1000 Kilometer Durchmeſſer, oder über 3000 Kilometer Kreisumfang. Der Scheinwerfer werde von einer Rotier— maſchine getrieben, die 200 Umdrehungen in der Sekunde

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macht. In diefer Annahme ſteckt kein Widerſinn, nur ein techniſches Problem. Iſt es gelöſt, ſo erhalten wir ein Dreh— feuer, deſſen leuchtendes Ende mit einer Schnelligkeit von 600000 Sekunden-Kilometer über die Fläche ſauſt.

Das iſt „Über-Lichtgeſchwindigkeit“! Nun macht mein Gedanke folgenden Weg: er denkt an die Ergebniſſe der neueſten Phyſik, nach denen die Über-Lichtgeſchwindigkeit als eine Unmöglichkeit erwieſen wird; wohlverſtanden: bei be— wegten Körpern. Hier entdeckt er aber plötzlich, daß ſie ſehr wohl durch eine Maſchine zur Erſcheinung gebracht wer— den kann. Und wenn dieſer ſelbe Gedanke dem leuchtenden Strahl⸗Ende nachgeht und das iſt ihm ein leichtes —, fo er— reicht er ſelbſt das Zeitmaß des Vorgeſtellten, alſo mehr als die Lichtgeſchwindigkeit, das heißt, er überflügelt nunmehr den Blitz und überhaupt alles, was im Weltall unter den Begriff der Bewegung fällt.

Das eine iſt als Gedankenexperiment ebenſo zuläſſig, wie das andere als Verſuch in der Arbeitsſtätte des Nerven— forſchers, das eine ergibt eine philoſophiſche Richtigkeit, wie das andere die phyſiologiſche. Beide Richtigkeiten beſtehen widerſpruchslos nebeneinander, weil die Begriffsfaſſung des „Gedankens“ in beiden Fällen eine andere iſt.

Dem Phyſiologen iſt er ein Bewußtwerden nach vorauf— gegangenem Reiz, dem Philoſophen ein ſelbſtändiges Spiel innerer Kräfte, deſſen Ablauf niemals nach dem Chrono— meter beurteilt werden kann.

So hat alſo der große Johannes Müller mit ſeiner zuvor genannten Anſage falſch prophezeit; aber er hätte nur ein einziges Wort zu verändern brauchen, um in alle Ewigkeit Recht zu behalten; man ſetze in ſeinem Spruch ſtatt „Ner— venwirkung“: „Gedankenablauf“, und man erhält die un—

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meßbare, weil unermeßlich große Geſchwindigkeit, die aller Zeiten und Räume ſpottet.

Wie es übrigens ſchon ein gewiſſer Kantianer namens Schiller in beträchtlicher Wortſchönheit ausgeſprochen hat, nicht der ſchönen Worte wegen, ſondern um das Denken als eine Angelegenheit des Weltgeiſtes vom Zwange der Kons trolle zu entbinden:

„Hoch über der Zeit und dem Raume webt Lebendig der höchſte Gedanke!“

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Der unſterbliche Cajus

Der Sinn des Daſeins und der Sinn des Todes, urewige und in unſern Tagen mit beſonderem Nachdruck geübte The⸗ men, münden letzten Endes in den allbekannten Schulfall der Logik: Alle Menſchen müſſen ſterben; Cajus iſt ein Menſch; folglich muß Cajus ſterben. Nichts iſt einleuch- tender. Der unbedingt ſterbliche Cajus hat in dieſem Ge— dankenſchema ſonſt nirgends die Unſterblichkeit er⸗ rungen. Aber wie? wäre nicht doch noch ein anderer Cajus denkbar, ein wirklich unſterblicher, auf einen erhöhten Sinn des Daſeins geſtellter, der ſich jener Formel zu entziehen wüßte? Die Frage ſcheint abſurd, iſt aber dennoch einer theoretiſchen Behandlung nicht ganz unzugänglich. Und es darf uns, um einer ſehr fernen Löſung zuzuſtreben, auf einige Umwege nicht ankommen.

Zunächſt ſoll der logiſche Beſtand jenes Schulſatzes an einem klaſſiſchen Beiſpiel erſchüttert werden. Unſer Umweg führt uns nach Florenz, wo im Jahre 1639 auf dem Gar: tendache des herzoglichen Palaſtes eine Bewäſſerungsanlage hergeſtellt werden ſollte. Ein vortreffliches Saugrohr wurde angelegt, die Maſchine funktionierte nach allen Regeln der Kunſt, und man erwartete das Erfließen des Waſſers mit ſelbſtverſtändlicher Beſtimmtheit. Damals hätte ſich zwi— ſchen Galilei und feinem genialen Schüler Torricelli fol-

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gende Unterhaltung ereignen können. Denn Meiſter Galilei war tatſächlich berufen worden, um in der herzoglichen An— lage nach dem Rechten zu ſehen.

Galilei. Heute wollen wir einmal unterſuchen, inwie— weit der Denkzwang über uns Gewalt hat. Nicht wahr, lieber Evangeliſta: alle Waſſerſäulen müſſen ſteigen, wenn die Luft über ihnen hinweggepumpt wird; alle Wafferfäus len ſteigen dem Saugkolben unbedingt nach. Dieſes floren— tiner Gebilde iſt eine Waſſerſäule, folglich?

Torricelli. Folglich muß ſie ſteigen; folglich muß ſie dem Kolben unbedingt nachſteigen.

Galilei. Mit mathematiſcher Beſtimmtheit, ſollte man annehmen. Und dennoch! es gelingt nicht, dieſen Dachgar— ten zu bewäſſern. Das Waſſer weigert ſich, heraufzukom— men. Hier läßt uns alſo die Logik im Stich. Es liegt doch genau wie bei dem berühmten Cajus, der ſterben muß, weil alle Menſchen ſterben müſſen. Unſere Florentiner Waſſer— ſäule iſt der Cajus: ſie müßte! aber ſie tut es nicht.

Torricelli. Mit Verlaub, Meiſter: Wenn wir hier vor dem Unbegreiflichen ſtehen, ſo erfließt für uns zwar kein Waſſer, aber ein neuer Beweis. Nämlich der, daß der Ober— ſatz falſch war. Richtig hätte er gelautet: alle bisher beob— achteten Waſſerſäulen ſtiegen bei Luftfortnahme bis zu be— liebiger Höhe. Dieſe Florentiner Säule wird heute zum er— ſtenmal beobachtet. Sie hat alſo keine Veranlaſſung, un- ſere, wenn auch noch ſo ſichere Erwartung zu beſtätigen. Sie ſtellt den allererſten Ausnahmefall vor; inſofern ſie bei zehn Meter Höhe ſtehen bleibt. Wir erkennen hier einen Sonderfall und müſſen ſagen: der Oberſatz gilt nur bis zu einer gewiſſen Grenze.

Galilei. Aber, liebſter Torricelli, was wird denn dann

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aus unſerm Cajus? Dann könnte doch auch der einen Son— derfall darſtellen?

Torricelli. Selbſtverſtändlich. Das Sterbenmüſſen gilt wie das Steigenmüſſen des Waſſers nur bis zu einer gewiſ— ſen, endlichen Grenze. Cajus könnte ewig leben. Nehmen wir an, daß bis heute eine Billion Menſchen exiſtiert haben. Nehmen wir ferner an, daß unter ihnen ſich nicht ein ein— ziger befand, der dem Tode entging: ſo ergibt ſich für Cajus eine Todeswahrſcheinlichkeit von einer Billion dividiert durch Billion plus eins. Das iſt allerdings ein ſehr hoher Grad der Möglichkeit, aber keineswegs eine Gewißheit. Mit an⸗ deren Worten: der Oberſatz war falſch, und er war es ſchon deshalb, weil wir nach alter akademiſcher Gewohnheit von allen Menſchen ſprechen, während doch Leute wie Cajus, die doch auch Menſchen ſozuſagen ſind, noch gar nicht unterſucht werden konnten.

Dieſes Geſpräch hat nicht ſtattgefunden, wenigſtens nicht in dieſer Form. Da wir es aber einmal konſtruieren, ſo denken wir uns einen dritten Teilnehmer hinzu, einen Pro— feſſor der Phyſiologie von der Univerſität Bologna, Amts— genoſſen jener Phyſiker. Der wird etwa ergänzt haben:

Torricelli hat unrecht. Daß der einzelne Menſch, den wir nach Dozentenſitte Cajus nennen, wirklich ſterben muß, iſt nicht nur eine ſehr hohe Wahrſcheinlichkeit, ſondern direkt eine Gewißheit. Und hierfür habe ich einen unwiderleglichen Beweis. Der Menſch iſt ein Organismus von beſtimmter Lebensfähigkeit, die an einen Ablauf in der Zeit gebunden bleibt. Nun könnte man allenfalls ſagen, es wäre vielleicht möglich, dieſen organiſchen Ablauf zu unterbrechen und ſpä— ter wieder einſetzen zu laſſen; ſo wie man eine abgelaufene Uhr nach ſehr vielen Jahren wieder in Bewegung zu ſetzen

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vermag. Das wäre aber nur ein Scheineinwand. Denn wenn die organiſchen Funktionen erſt einmal reſtlos aufgehört ha— ben, ſo können ſie nie wieder in Tätigkeit geſetzt werden. Das ſagt uns nicht nur die phyſiologiſche Erfahrung, ſondern die Logik ſelbſt, die den Tod ja gar nicht anders definiert,

als durch das Erlöſchen der organiſchen Funktionen. Wenn

aber kein einziger Organismus über jene Grenze hinweg er— halten werden kann, ſo gilt dies auch vom Menſchen; was zu beweiſen war.

Dieſe Bekundung wird zu Protokoll genommen und einem ſpäteren Forſcher vorgelegt. Der könnte nun wiederum fort— fahren:

Der Beweis des alten Profeſſors erſcheint vollkommen

geſchloſſen, und dennoch hat er ein Loch; er war richtig im

n

ſiebzehnten Jahrhundert und wurde falſch im neunzehnten. Mit großem Bedacht hat der Herr von Bologna einen dro— henden Einwand vorweggenommen, um ihn ſofort zu wider— legen: nämlich den der Stillegung organiſcher Funktionen. Sie iſt für ihn ganz identiſch mit dem Tode. Wir wiſſen aber heute, was er noch nicht wiſſen konnte, daß gewiſſe organische Tätigkeiten vollkommen ſtillgelegt und für ir— gendwelche ſpätere Wiederauflebung aufgeſpart werden können; ſozuſagen in einem unbegrenzt langen Zwiſchentode. Wird dies aber auch nur für einen einzigen Organismus klar erwieſen, dann öffnet ſich in jenem Beweis eine Lücke, ein Ausnahmefall ſchiebt ſich dazwiſchen, und nichts hindert Herrn Cajus, mit dem Ausnahmefall ebenfalls durchzu— ſchlüpfen, das heißt auf eine mögliche körperliche Unſterb— lichkeit Anſpruch zu erheben.

Dieſer von uns ſo genannte „Zwiſchentod“ iſt keine Fabel, ſondern ein erlebtes Ereignis. Er kann beiſpielsweiſe, wie

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er >

aus den Berichten John Franklins, des Polforſchers, her= vorgeht, durch Unterkühlung hervorgerufen werden. Fiſche, die aus dem Waſſer an die grönländiſche Luftkälte gebracht wurden, erſtarrten zu einer ſo feſten Eismaſſe, daß man ſie mit der Art in ſplitternde Stücke zerſchlagen konnte und daß ſelbſt ihre Eingeweide bloß einen feſten gefrorenen Klum— pen darſtellten. Kein Zweifel, daß das Leben in ihnen voll- ſtändig erloſchen war, daß keine Wechſelwirkung von Zelle zu Zelle ſtattfand; denn ſolche Wirkung iſt an die Verſchieb— barkeit flüſſiger Teile gebunden. Deſſenungeachtet gelang es Franklin, einige der gefrorenen Fiſche, die er in unzerſchla— genem Zuſtande am Feuer auftaute, wieder lebendig zu machen. Ein Karpfen, der ſechsunddreißig Stunden in abſo— luter Froſtſtarre gelegen hatte als durchaus kriſtalliniſch durchſetztes Gebilde, erholte ſich ſo vollkommen in der Schmelze, daß er ſich mit großer Kraft umherwerfen konnte. Als Ellis an der Hudſonbay überwinterte, fand er einen völlig zuſammengefrorenen Klumpen ſchwarzer Stechfliegen; dem Feuer genähert, lebten ſie wieder auf. Er berichtete fer— ner, daß man dort häufig an den Seeufern Fröſche findet, die genau ſo feſt wie das Eis ſelbſt gefroren ſeien, und ſich dennoch bis zu unzweifelhafter Lebensäußerung wieder auf— tauen ließen.

Im Zuge unſerer Betrachtung kann es als nebenſächlich gelten, daß einzelne Forſcher dieſen augenfälligen Tatſachen gewiſſe Einſchränkungen entgegenſetzen. So ermittelte Hun— ter experimentell die Notwendigkeit eines beſtimmten Ge— friertempos: der Froſttod muß plötzlich einſetzen, damit ſich aus der radikalen Erſtarrung wieder Leben entwickeln könne. Es ſei deshalb unmöglich, etwa einen im Polareiſe ganz un— verdorben aufbewahrten Elefanten der Vorwelt wieder zu

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lebendigem Daſein aufzutauen. Aber ſelbſt dieſer Zweifler kann nicht umhin, den Zwiſchentod als ſolchen für erwieſen anzunehmen. Er ſelbſt erwähnt die Beobachtung an Krö—

ten, alſo an Tieren, deren natürliche Lebensdauer ſich kaum

über vierzig Jahre erſtreckt; man hat aber Kröten mitten in Felſen eingeſchloſſen gefunden, wo ſie Jahrhunderte, vielleicht Jahrtauſende eingeſchloſſen geweſen waren, und die dann doch, aus ihrem ſteinigen Kerker befreit, lebend umherhüpften.

Die Liſte könnte noch erheblich verlängert werden, wenn man die niederften Organismen in den Betrachtungskreis ein⸗ bezieht, Weſen, bei denen die abſolute Vertrocknung noch nicht den Beginn eines zweiten, dritten Lebens verſperrt. Was wir als erwieſen vor uns haben, iſt die Einſchaltung eines Zwiſchenzuſtands, der den landläufigen Begriff der Lebenseinheit aufhebt. Die Einheit des Individuums bleibt trotzdem erhalten. Hier erſchließt ſich mithin die Lücke in der gewöhnlichen Auffaſſung vom Ablauf organiſcher Erſcheinun— gen und von der ſtatiſtiſch ermittelten Lebensdauer. Iſt der Stillſtand auch nur in einem einzigen Fall zuverläſſig er— mittelt, fo wird der Schulfall erſchüttert: Alle ſteinhart ges frorenen Fiſche find tot; dieſer Karpfen iſt ein ſteinhart ge— frorener Fiſch; folglich? Die Franklinſche Tatſache ver-

bietet den Schluß. Alle Kröten müſſen vor ihrem fünfzig

ſten Jahr ſterben; dieſes im Felſen eingeſchloſſene Indi— viduum iſt eine Kröte; folglich? Wiederum fährt die ver- einzelte Beobachtung ſtörriſch zwiſchen Ober- und Unterſatz; genauer geſprochen: ſie zerſtört die Hauptanſage. Die Kröte muß gar nicht ſterben; wenn Jahrhunderte und Jahrtau— ſende des Überlebens möglich ſind, warum nicht auch Jahr— millionen? Und wenn ſich bei Kröte, Fiſch und Inſekt Aus—

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nahmen einftellen können, warum nicht auch bei Menſchen? Der ganze, nunmehr in Zweifel gerückte Vorbeweis bezog ſich ja ganz allgemein auf Organismen, nicht auf den Men⸗ ſchen als Sonderweſen, und hätte auch gar nicht anders ge⸗ führt werden können. Alle Menſchen müſſen heißt wirk⸗ lich nichts anderes als: Alle Organismen müſſen; und das ergibt nur eine vorläufige, aber nicht unbedingte Richtig⸗ keit innerhalb gewiſſer Erfahrungsgrenzen.

Cajus hat alſo Ausſichten. Nicht dadurch, daß es ge— lingen könnte, ihn mit Überlebenserfolg auf Eis zu legen, oder in einen Felſen einzuſchließen. Die Bedingungen, die erforderlich wären, um für ihn den Zwiſchentod, den Still ſtand der Lebensfunktionen zu erzwingen, und ihm ſpäter den Neubeginn des irdiſchen Lebens zu eröffnen, ſind uns unbekannt. Sie brauchen auch gar nicht zu exiſtieren. Nur der Denkzwang, der ſie für unmöglich erklärt, muß fallen. Dieſer Denkzwang iſt jener Eiſesſtarre vergleichbar. Er kann aufgetaut werden und für die Fortſetzung in einem neuen Denken die Möglichkeit bieten.

Klingt ſehr abenteuerlich, das weiß ich. Deshalb möchte ich mich doch, anſtatt mich ganz ungeſchützt jedem Angriff preiszugeben, unter den Fittich einer der größten Autoritäten flüchten. Helmholtz, der ſich mit jenem Problem nach— drücklich beſchäftigt hat, ſagt: „Ich kann Jemandem, der gegen mich behauptet, daß unter Anwendung gewiſſer Mit- tel das Leben des Menſchen unbeſtimmt lange erhalten blei- ben würde, zwar den äußerſten Grad der Ungläubigkeit ent⸗ gegenſetzen, aber keinen abſoluten Widerſpruch.“ Mit andern Worten: der unſterbliche Cajus iſt vorſtellbar, und ein logiſcher Grund gegen ſeine Erſcheinung in irgendwelcher Wirklichkeit iſt nicht vorhanden.

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Das Relativitätsproblem

Probleme ſind nicht dazu da, um gelöſt, ſondern um er— örtert zu werden. In den meiſten Fällen kann der Denkkrüp⸗ pel, genannt homo sapiens, ſchon froh ſein, wenn es ihm gelingt, das Problem halbwegs anſchaulich zu formulieren.

Gilt dies von jedem Problem höherer Ordnung, ſo beſon— ders von dem größten und ſchwierigſten, das ſich bis heute dem Intellekt entgegengeworfen hat. Seit wenigen Jahren rüttelt es an den Grundfeſten menſchlichen Denkens; keine der organiſierten, eingewurzelten Vorſtellungen hält ihm ſtand. Mit einem Gemiſch von Erſtaunen und Verzweiflung ſteht das Gehirn vor den Trümmern ſeiner älteſten, beſten Beſitztümer. Keine Gedankenrevolution früherer Zeiten, auch nicht die Tat des Kopernikus, die Elemententheorie Lavoi— ſiers, das Geſetz von der Erhaltung der Kraft, der Darwinis— mus, kann ſich ihr an grundſtürzender Gewalt vergleichen. Pulveriſiert, in Atome aufgelöſt, erſcheinen plötzlich die ſicher— ſten Pfeiler aller Selbſtverſtändlichkeiten, und aus dem ge— ſtaltloſen Chaos ſteigt eine neue Denkform empor, unfaßbar und dennoch zwingend: das Prinzip der Relativität.

Mit den alten billigen Einſichten vom „Relativen“ hat dieſes Prinzip wenig mehr gemeinſam als den Namen, wenn es ſich auch im Kern mit ihnen decken mag. Es greift ſo mächtig über ſie hinaus, daß der geläufige Relativitätsbegriff in ihm drinſteckt, wie ein einziger Protoplasmakern im wei⸗

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 14

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ten Gewebe, nur noch mikroſkopiſch erkennbar. Die alte Re— lativität genügte für philoſophiſche Feierſtunden und vertrug ſich am letzten Ende ganz leidlich mit allen phyſikaliſchen Denknotwendigkeiten, wie ſie ſich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet hatten. Denn dieſe zeigten ausnahmslos einen ſchönen Gleichlauf mit dem Intuitiven, Vorausgeahnten, waren in den Denkformen alter Wahrheitsſucher längſt vor— gebildet, bevor ſie noch phyſikaliſch bewieſen wurden. Von dieſer Verträglichkeit iſt die neue Relativität weit entfernt. Ihr Anſturm legt Breſche in das Geſetz von der Beſtändig— keit der Maſſen, von der Gleichheit des Gleichen, in die Gül- tigkeit der Newtonſchen Regeln, ſelbſt in die geometri— ſchen Grundanſchauungen. Ja noch mehr. Sie will uns zwingen, eine geradezu okkulte Vorſtellung, nämlich die Vier—⸗ dimenſionalität, in unſere Einſicht aufzunehmen. Und ſie zwingt uns hierzu mit einem Werkzeug, das ſie ſich eben erſt aus unſerem geiſtigen Beſitzſtand herausgebrochen hat, mit der mathematiſchen Diktatur. Wir ſelbſt werden relativ in dieſer Relativität. Wir fühlen uns von einem Circulus vi- tiosus umklammert und ſehen keinen Ausweg. Wider— ſpruchsvolles müſſen wir als widerſpruchslos anerkennen, klar Erwieſenes bezweifeln, wenn nicht als unmöglich ab— lehnen. Populär geſprochen: das Gehirn dreht ſich im Kreiſe, und zwei entgegengeſetzte Vorſtellungen aneinandergeſpießt wie die Figuren in Dantes Hölle, wälzen ſich im infernali— ſchen Feuer. Kein Loskommen möglich und keine Vereini— gung. Nur eine grenzenloſe Qual, eine Hoffnungsloſigkeit, die das einzig Abſolute bleibt in dieſer neuen Welt der Rela— tivitäten.

Ruf und Widerruf liegen hier eng beieinander, gepaart wie Schall und Gegenſchall, jedem Anruf antwortet ein wider—

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ſprechendes Echo. Der Weg geht über die Leichen von Begrif— fen neuen blitzenden Einſichten entgegen, die, kaum gewon— nen, ſchon wieder als Begriffsleichen zu Boden ſinken. Auch die hier vorliegenden Betrachtungen werden ſich von dieſem Fluch nicht befreien können. Sie werden tief in die Gänge einer ſezeſſioniſtiſchen Philoſophie hineinführen, in denen die Anſchaulichkeit verſagt, die Sprachmöglichkeit erlahmt. Ich kann dem Leſer, der mir folgen will, auch nicht etwa einen Ariadnefaden verſprechen, ja ich möchte mit ihm ausdrücklich verabreden, daß der Zuſpruch „Weiter!“ in keinem Punkte ein Vorwärts oder ein Rückwärts bedeutet. Denn das Laby— rinth, in das wir uns begeben, beſitzt nicht zwei Dimenſionen, wie das kretiſche, nicht drei, wie die Analyſis des Raumes, ſondern vier. Die Zeit, als Veränderliche, wird ihren An— ſpruch anmelden, in die Geometrie unſeres Weges aufgenom— men zu werden. Immerhin dürfte mein Begleiter mehrfach in eine Art von Parſifal-Stimmung geraten: „Ich ſchreite kaum, doch wähn' ich mich ſchon weit,“ und ich werde ihm mit Gurnemanz zu antworten haben: „Du ſiehſt, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit!“

*

Eine annähernd exakte Darſtellung des Relativitätsprin⸗ zips ohne mathematiſche Hochſpannung iſt zurzeit unmöglich, wird vielleicht immer unmöglich bleiben. Es wäre eine Auf— gabe, um faßliche Vergleiche heranzuziehen, wie etwa: die Weltgeſchichte auf eine bequeme Gedächtnisformel zu brin— gen, die Keplerſchen Geſetze aus dem kleinen Einmaleins zu beweiſen, den Spinoza als Pantomime aufzuführen oder die Neunte Symphonie für eine Soloflöte einzurichten. Allen— falls ließen ſich aus der ſtrengen Forſchung einige letzte Dinge

1 * ö 37H

fo herausſchälen, daß auch dem Fernerftehenden ein däm— mernder Proſpekt eröffnet wird; ein verſchwimmender Hori— zont, der ihm durch Nebelſchleier hindurch großartige Ahnun— gen erweckt. Ich will verſuchen und bin mir der Unzu— länglichkeit des Verſuches bewußt einige wenige For— ſchungslinien loſe nachzuzeichnen, einige Ergebniſſe aus den wichtigſten Dokumenten herauszuziehen. Und da der Menſch auch intellektuell genommen immer nur einen Hals zu bre— chen hat, ſo will ich auch vor der noch größeren Waghalſig— keit nicht zurückſchrecken, an dieſe Darſtellung einige erkennt— nistheoretiſche Betrachtungen zu knüpfen, für die ich die ver— antwortliche Zeichnung einſtweilen allein zu tragen habe. Sollte die Frage nach meiner Berechtigung hierfür auftau— chen, ſo bleibt mir mangels einer anderen Antwort nur die Zuflucht zu der Auskunft: dieſe Frage darf nicht geſtellt wer⸗ den. Denn, wie ſchon mehrfach geſagt wurde und noch öfter zu wiederholen ſein wird, wir gelangen hier in ein Gebiet der Relativitäten, in dem uns überhaupt alle Maßſtäbe, alſo auch der des zuſtändigen Beurteilers und berechtigten Folgerers verlaſſen müſſen. Für die Berechtigung ſpreche einſtweilen nur das eine, daß meines Wiſſens noch keiner von den Großen im Reiche der Relativität zum Volke der Nichtmathematiker herabgeſtiegen iſt, und daß es folglich eines Nichtzünftigen bedarf, um ihre Worte in die Weite zu tragen. Der Große bleibt in ſeiner unnahbaren Höhe, weil er ganz mit Recht befürchtet, ſeine Lehre könnte in ihrer Pro— jektion auf eine Popularfläche Verſchiebungen und Verkrüm—⸗ mungen erleiden. Der Nichtzünftige überwindet ſolche Be— denklichkeiten, er hofft ſogar, daß der Verluſt an Exaktheit ſich mit irgendeinem Gewinn an Einſichten ausgleichen wird. Es gibt Brücken der Erkenntnis, die unter dem ſchweren Tritt

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des ſtrengen Forſchers zuſammenbrechen müßten, während

ſie dem leichter dahinſchreitenden zum anderen Ufer verhelfen.

*

Der für die Maſſe weithin kenntliche Nimbus, den nur ein langer Zeitablauf zu weben vermag, ſtrahlt noch nicht um die Genies der neuen Geiſtesrevolutionen, um Hendrik Antoon Lorentz, Albert Einſtein, Max Planck, Hermann Minkowski. Zudem wählt die Gegenwart ihre Preſtigemenſchen lieber unter den Kampfhelden, Politikern und Künſtlern, als unter den bedeutenden Phyſikern und Mathematikern. Sollte aber dereinſt die Epoche der Aufregungen und Erſchütterungen von einem Zeitalter des reinen Intellekts abgelöſt werden, dann werden jene Namen mit der nämlichen Andacht ausgeſprochen werden, mit denen man heute in Stunden ſtiller Beſinnung einen Galilei, Descartes, Huy— ghens, Laplace, Gauß oder Helmholtz nennt. Bis zu Ein— ſtein, Lorentz und Minkowski vorzudringen iſt vorerſt noch ziemlich ſchwierig. Sie haben ihre Schriften vergittert, wie ihre Vorgänger die Akademie zu Athen, mit der Warnungs— tafel „Medeis Ageometretos eisito...: Kein Nichtmathe⸗ matiker ſoll hier hinein!“ Am humanſten, am nachgie— bigſten den Bedenken gegenüber, verfährt eigentlich noch Henri Poincaré, und unter den Büchern mit ſieben Sie— geln, die er ſonſt zu ſchreiben pflegte, iſt ſeine Schrift über „Die neue Mechanik“ noch das offenſte. Anſtatt von vorn— herein mit dem Geſchütz unheimlicher Differentialgleichun— gen vorzurücken, vermenſchlicht er die Aufgabe durch Einfüh— rung jenes Beobachters „Lumen“, der uns zuerſt von Camille Flammarion vorgeſtellt worden iſt. Mit dieſem Lumen, „wie ich ihn ſehe“, wollen wir uns zunächſt ein wenig beſchäftigen.

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Herr Lumen iſt eine ziemlich phantaſtiſche Erſcheinung: ein Reiſender, dem eine ganz abſonderliche Bewegungsgeſchwin— digkeit zur Verfügung ſteht und der folglich die Ereigniſſe an— ders ſieht, als wir an der Scholle haftenden Menſchenkinder. Sein Reiſetempo übertrifft das des Lichtſtrahles. Während das Licht, das heißt jeder optiſche Vorgang, in jeder Sekunde 300 ooo Kilometer zurücklegt, zeigt ſein Schnelligkeitsmeſ— ſer 400 ooo, er überrennt alſo im erſten Anlaufe das Licht und alle Botſchaften, die ſich vom Tatort irgendeines Ereig— niſſes in den Weltenraum fortpflanzen “).

*) Dieſer fabelhaften, aber für die Wiſſenſchaft ſo einträglichen Schnellfahrt wird auch im Archiv für ſyſtematiſche Philoſophie von 1911 und in dem „Buch der 1000 Wunder“ (Verlag von Albert Langen, München) gedacht. Sie bildet den Eingang einer Betrachtungsreihe, worin die von Einftein über die ſpezielle hinaus— gefolgerte „Allgemeine Relativitätstheorie“ ihr Banner aufgepflanzt hat. Unter ihrem Einfluß hat die für abgeſchloſſen gehaltene, klaſſiſche Gravitationslehre die ſtaunenswerteſte Erweiterung er— fahren. Ein vordem nie für lösbar gehaltenes Rätſel in der Lauf— bahn des Merkur entſchleierte ſich vor der überlegenen Betrach— tung und Berechnung der Allgemeinen Relativität. An der Welt gültigkeit dieſer Lehre iſt ſomit nicht zu zweifeln, ſo ungeheuer— liche Denkſchwierigkeiten ſie auch nach anderer Seite heraufbe, ſchwört. Wenn irgendwo, ſo wird es ſich hier in einer ferneren Zukunft zu erweiſen haben, ob der als unmöglich vorgeſtellte „Sprung über den Schatten“ trotz alledem ausführbar ſein kann. Vielleicht wird dabei mehr zu überſpringen ſein, als wir heute ahnen: Flächen, die eine vormalige Philoſophie mit Licht zu über- gießen ſchien und die ſich doch in der künftigen Betrachtung als Schattenfelder erweiſen werden! Was ſich vorläufig erſt als eine Relativität in Raum und Zeit auf ſtreng phyſikaliſcher Grundlage offenbart hat, wird dereinſt in eine Relativität aller Denkformen übergreifen und in eine gegen alle Überlieferung zu ertrotzende Metaphyſik. Erſt in dieſer kaum vorzufühlenden Lehre können

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Dieſer Ausbund an Eile nimmt feinen Ausgangspunkt auf der Erde und verläßt den Planeten am Schluß eines denk— würdigen hiſtoriſchen Ereigniſſes, ſagen wir: der Schlacht von Sedan. Er erlebt alſo noch in nächſter Nähe die Tat⸗ ſachen des 1. Septembers von 1870, er ſieht um halb ſieben nachmittags die Übergabe des napoleoniſchen Degens und überblickt ein weites, mit Toten und Verwundeten überſätes Schlachtfeld. Mit der erſten Sekunde ſeiner Schnellfahrt von der Erde hinweg in den Weltenraum hinein überholt er alle Lichtſtrahlen, die in der nämlichen Sekunde von Sedan ausgegangen ſind, und noch dazu die letzten aus der vorigen Sekunde. Nach einer Stunde beſitzt er bereits einen Vor— ſprung von 20 Minuten den blutigen Tatſachen gegenüber, und ehe der zweite Tag vergangen iſt, wird ſich dieſer Vor— ſprung ſo ſtark erweitert haben, daß er nunmehr nicht das Ende, ſondern den Anfang der Schlacht wahrnimmt vorausgeſetzt, daß die Güte ſeines Auges oder Teleſkopes für dieſe Weitſchau ausreicht, ein ganz nebenſächlicher Vor— behalt, der im Rahmen unſerer Erörterung gar keine Rolle ſpielt. Denn einem Weltenbummler, den wir mit 400000 Kilometer pro Sekunde ausſtatten, werden wir unbedenklich auch eine entſprechende Scharfſichtigkeit zubilligen. Bei ſo weitgegriffenen Prämiſſen darf es auf ein Mehr oder Weni— ger nicht ankommen.

Wir haben alſo feſtgeſtellt, daß Herr Lumen am 1. Sep⸗ tember 1870 das Ende und nach etwa zwei Tagen den An— fang der Schlacht geſehen hat. Bloß geſehen? Nein, auch erlebt. Denn an welchen anderen Daten ſollte er die Tat—

die Unſtimmigkeiten der Erkenntnis verſchwinden, wie ſchon jetzt in der von Einſtein begründeten die Unſtimmigkeit eines Planeten⸗ laufes verſchwand, um der Begreiflichkeit Platz zu machen.

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ſachen meſſen, wenn nicht am Augenſchein? Herr Lumen iſt kein Hiſtoriker. Wir haben ihn nach unſerem Willen erſchaf— fen als einen intelligenten, ſcharfſichtigen und ſchnellbewegten Homunkulus, der ſich ſein Urteil durchaus auf Grund ſeiner Erfahrungen bilden ſoll, wie wir anderen es auch tun. Und Lumens Erfahrungen ſind rein optiſche. Nicht der geringſte Zweifel kann in ihm aufſteigen, daß der Aufmarſch der Heere zur Schlacht von Sedan ſpäter erfolgt iſt als die Kapitu— lation der franzöſiſchen Armee.

Was aber hat unſer Lumen in der Zwiſchenzeit geſehen? Offenbar die Vorgänge in umgekehrter Reihenfolge, wie in einem verkehrt abgerollten Kinematographen darge— ſtellt; nur daß wir im Vitaſkop den menſchlichen Trick durch⸗ ſchauen, weil wir das „wirkliche“ Ereignis kennen, das heißt das Ergebnis, wie wir es ſonſt „geſehen“ haben; während Lumen den umgekehrten Vorgang als den einzig tatſächlichen anerkennen muß, weil er außer dem einmal Ge— ſehenen gar keinen anderen Maßſtab beſitzt, an dem er es meſſen kann. Seine eigene Bewegung und Wahrnehmung ſind ſtetige Funktionen der Zeit; ebenſo ſtetig und lückenlos iſt das, was er als Schlachtentwicklung erkennt: das Auf— ſtehen der Toten und Verwundeten, ihre Einordnung in die Regimenter und Bataillone, die vom Ziel rohreinwärts flie— genden Kanonenkugeln, die rückwärts zum Kampfbeginn marſchierenden Truppen und bei Fortſetzung ſeiner Wel— tentour der Milchſtraße entgegen: die Schlacht von Wörth vor der Kriegserklärung; die Kriegserklärung vor der Em— ſer Depeſche; Napoleon im Glanz feines Imperiums zu Pas ris lange nach dem Akt ſeiner Gefangennehmung bei Sedan.

So ſieht er die Dinge, ſo begreift er ſie. Und wenn auch ſeine Auffaſſung der geläufigen ſchnurſtracks widerſpricht,

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TER

in einem Punkte dürfte fie ihr nahekommen, nämlich in der

alten biologiſchen Verierfrage, ob das Ei früher vorhanden war oder die Henne; ſeine Verlegenheit, dieſe Frage nach dem Augenſchein zu beantworten, wird mit der unſrigen, von einer Interferenz abgeſehen, ſo ziemlich übereinſtimmen.

Unſer Lumen⸗Verſuch läßt ſich aber auch noch anders an— ordnen. Man kann ihn als ruhend vorſtellen und die Erde von ihm fortbewegt; man kann als zeitlichen Ausgangs— punkt ſtatt des Schluſſes der Schlacht deren Anfang wäh— len. Auch die Bewegung ſelbſt läßt ſich verlegen, gerad— linig oder gekrümmt, mit einem Anfangspunkt weit von uns im Weltenraume. Und ſchließlich ſei auch noch das Tempo veränderlich, über die immenſen 400000 Kilometer hinaus, und anderſeits abwärts unter die Lichtleiſtung für minder dringliche Fälle. Das ergibt eine Menge von Kom— binationen, die dem Lumen ſehr verſchiedene Weltbilder lie— fern. Eine dieſer Anordnungen würde zur Folge haben, daß er immer nur den Anfang der Schlacht erblickt, eine mili— täriſche Erſtarrung ohne tätige Auflöſung, tagelang, jahre— lang, durch beliebige Zeiten; oder auch die Völkerwanderung als eine ewige Ruhe der Völker. Orientiert ſich Lumen nach einem ſolchen Proſpekt, ſo ſteht die Zeit für ihn ſtill. Soll aber die Allerweltsuhr Sonne dem Lumen als Chronometer gelten, ſo läßt ſich auch eine Bewegung konſtruieren, die ihm die Sonne ans Firmament nagelt. Auch dieſe Orien— tierung ginge ihm alſo verloren, und Lumen könnte alt wer— den, ohne daß er mit der Denkform der Zeit, die nur am

Weiſer einer wahrgenommenen Veränderung Exiſtenz er—

ERBETEN,

hält, Bekanntſchaft gemacht hätte. Eine weitere Anordnung würde ihm die Entwicklung des Kriegsbildes bei Sedan zwar als vorhanden, aber ſehr verlangſamt zeigen; als eine

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Schlacht, die ſich, nach unſerem Zeitmaß gerechnet, über Jahrtauſende erſtreckt, worin mit Geſchoſſen geſchleudert wird, die im Schneckentempo durch die Luft gleiten und dem Krieger, nachdem ſie ihn getroffen haben, noch eine Gnadenfriſt mehrerer Stunden gewähren, bevor ſie ihn durche bohren. Kennt Lumen den „wirklichen“ Hergang, ſo wie wir ihn kennen, das heißt auf Grund unſerer Erfahrungen genau zu kennen glauben, ſo wird er den Schlüſſel zu all dieſen Abſonderlichkeiten ſeiner perſönlichen Erlebniſſe bei den Bewegungen ſuchen, denen er ſelbſt oder ein Syſtem von Maſſenpunkten ausgeſetzt iſt. Kennt er ihn nicht und dies war unſere Vorausſetzung —, ſo erhält er Anſichten, Erlebniſſe, Erfahrungen, die uns fremd ſind, vor allem eine von der unſrigen völlig verſchiedene Weltmetromiſierung, die bis zum Stillſtand der Zeit, ja, bis zur völligen Umkeh— rung der Zeit führen kann.

Er wird aber auch zu einer ganz anderen Vorſtellung von der Kauſalität gelangen, falls ihn ſein Denkapparat überhaupt zwingt, Folge mit Grund zu verknüpfen, zwiſchen den in der Zeit gelagerten Dingen nicht nur ein Vorher und Nachher, ſondern auch einen Erkenntnisgrund zu ſuchen. Wenn er erſt alle Schlachten von Sedan und Wörth bis Ma— rathon in verkehrter Anordnung erblickte, nie eine Schlacht anders ſah als in umgekehrter Reihenfolge, ſo wird ſich auch ſeine Denkform hinſichtlich der Kauſalität, relativ zur unſeren, umkehren: unſere Urſache wird ſeine Wirkung werden, unſere Folge ſein Grund. Sieg und Niederlage verwandeln ſich für ihn zur Vorbedingung des Zwiſtes; und auf Grund feiner ſtetig eingeübten Erfahrung wird er ohne das geringſte Bedenken dazu gelangen, ſein Nacheinander, ſeine beim Schwanz aufgezäumte Kauſalität für die er—

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N

ſchöpfende „Erklärung“ der Geſchehniſſe zu erachten; in ſchönſter Übereinſtimmung mit jenem Meiſter, von dem Mar⸗ tin Luther ſang: Dias iſt der beſte Meiſter Klügle, Der das Roß am Hintern zäumen kann Und rücklings reitet ſeine Bahn,

Seiner Sackpfeifen Hall Iſt der allerbeſte Schall!

Aber die Sackpfeife dieſes Lumens bläſt ja falſch! ruft der ſichere Mitbürger; das alles ſind ja optiſche Täuſchungen! Wir wiſſen ja, wie's geweſen iſt! Natürlich wird der ſichere Mitbürger recht behalten vorläufig; ſeine Weltbetrachtung bleibt unerſchüttert einſtweilen. Denn gewiß, das ſind optiſche Täuſchungen, an der Kontrolle unſerer Sinne und Werkzeuge, die bekanntlich niemals einer Täuſchung unter— liegen, höchſtens in kleinen Zufälligkeiten, aber niemals be— kanntlich im großen. Und die Wagniſſe dieſes Lumen in Anſehung der Zeit find nichts anderes als grober philoſophi— ſcher Unfug, da ſich die Zeit kraft der ihr innewohnenden fortlaufenden Tendenz bekanntlich niemals umdrehen läßt. Wie ſagte doch der herrliche Dove, der Vater der Meteoro— logie? „Wenn wir Profeſſoren unſicher ſind, eröffnen wir den Satz immer mit dem Wörtchen bekanntlich.“

*

Aber man braucht ja kein Profeſſor zu ſein, um den Her— gang eines Ereigniſſes in der Zeitfolge richtig zu beurteilen. Den Extravaganzen Lumens gegenüber lehnt ſich ſchon der geſunde Menſchenverſtand auf. Wie wollen wir überhaupt mit einem Denkakt vorwärts kommen, wie uns überhaupt irgendwelche Anſchauung bilden, wenn wir uns nicht auf das

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Bekannte ſtützen? Wir leben ja in einer Wirklichkeitswelt und beſitzen dazu eine Wirklichkeitsphiloſophie, die uns mit einem ganzen Arſenal von Beweiſen ausrüſtet. Und dieſe Beweiſe? ſie ſind auf die Selbſtverſtändlichkeiten der Logik und Mathematik gegründet, auf die Grundſätze, die in ihrer Einfachheit und Durchſichtigkeit keines Beweiſes fähig oder bedürftig ſind. Sind oder erſcheinen? Das wird wohl auf dasſelbe hinauslaufen. Einen Gott können wir nicht fragen, und wir fühlen hierzu auch gar kein Bedürfnis, wo es ſich um etwas ſo Elementares handelt wie um unſere Zeitanſchau— ung. Jener Abenteurer Lumen mußte eben ganz perverſen Bedingungen unterworfen werden, ehe er der Täuſchung an— heimfiel. Wir anderen werden niemals in ſeine Lage ge— raten; wir reiſen nicht mit dem Lichtſtrahl, nicht gegen den Lichtſtrahl, ſondern wir halten, mögen wir uns wie immer bewegen, eine ſichere Diſtanz zu den Ereigniſſen, deren Ab— lauf im Nacheinander wir als etwas Abſolutes erkennen. Nur daß hier die aſtronomiſche Wiſſenſchaft mit einer et= was unbequemen Bemerkung dazwiſchenfährt. Wir andern, wir Abſoluten, reiſen nämlich auch ganz unheimlich. Nicht abgetrennt wie jenes Experimentalweſen, ſondern als Be— ſtandteile des irdiſchen Syndikates drehen wir uns um die Erdachſe, fliegen wir mit 30 Kilometer pro Sekunde um die Sonne, machen wir ſchließlich eine Geſellſchaftsreiſe mit, die von dieſer gelenkt wird; denn die Sonne bewegt ſich mit allen ihren Trabanten in der Richtung zum Sternbild des Herkules. Dieſe Geſchwindigkeiten kommen uns nicht zum Bewußtſein, aber ſie exiſtieren. In den Relativitäten zu irdiſchen Vorgängen ſpielen ſie keine Rolle, aber in unſeren Beziehungen zu außerirdiſchen Phänomenen könnten ſie eine Wichtigkeit erlangen, auch in Anſehung der Zeitbeurteilung.

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Ob wirr vielleicht gar noch rapider ſauſen als Lumen? Das

wäre ſchon möglich; denn auch der „Herkules“ ſtellt nur ein einſtweiliges Richtungsziel der aſtronomiſchen Welt vor; er ſelbſt und die ganze Fixſterninſel, der er zugehören mag, fliegen nach unbekannten Zielen, mit ihnen nach weiteren unbekannten Punkten im Raume, mit unbekannten Geſchwin⸗ digkeiten.

Es eröffnet ſich mithin neben dem vertrauten „Bekannt⸗ lich“ ein gar nicht zu überſehendes „Unbekanntlich“, und zwiſchen beiden iſt Platz für jene neue Lehre, die ſich als das „Prinzip der Relativität“ nach und nach entſchleiern wird. Vorerſt ſind wir ihm durch unſere Betrachtungen nur inſo— weit genähert worden, als ein leiſer Zweifel an der Allgemein— gültigkeit unſeres Zeitbegriffs aufzuſteigen beginnt; eine noch unter der Schwelle lagernde Ahnung, daß der inneren Qualität der Zeit ein Abenteuer zuſtoßen könnte, wenn ein funktioneller Ausdruck der Zeit, nämlich die Geſchwin— digkeit, über alle Anſchaulichkeit hinaus ins Abenteuerliche ſich ſteigert. Daß dadurch unſere ganze alte Mechanik, un— ſer mathematiſch-phyſikaliſches Begreifen der Weltvorgänge, aus den Angeln gehoben wird, iſt freilich auf dieſem Punkte noch nicht einzuſehen.

*

Jene beſondere, nach unbekanntem Ziel gerichtete Bewe— gung ſoll im folgenden zur Unterſcheidung von den aſtrono— miſch erkennbaren Bewegungen „die Translation“ ge— nannt werden. Muß ſie denn exiſtieren? Ja, ſie muß. Wer die Translation überhaupt in Abrede ſtellen wollte, würde damit unrettbar einem Widerſinn verfallen. Denn im Ver— hältnis zu den unendlich vielen übergeordneten Bewegungen

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ift die Ruhe nur der unendlich unwahrſcheinliche, alſo un⸗ mögliche Spezialfall. So ſchließen wir in der Richtung eines Denkzwanges, aber wir können uns damit noch nicht be— ruhigen. Wir fragen vielmehr: Gibt es denn gar kein Mit⸗ tel, um dieſe unbekannte Translation praktiſch, ſinnfällig erkennbar zu machen?

Damit geraten wir an den ſpringenden Punkt: Ein fol- ches Mittel iſt wirklich vorhanden, das Experiment, das uns die Translation augenfällig zeigen müßte, kann angeſtellt werden, aber es verſagt, es liefert ein unbedingt nega— tives Ergebnis, beweiſt genau das Gegenteil deſſen, was es beweiſen ſollte. Und hier ſteigt zwiſchen dem Experiment und der Logik eine geſpenſtiſche Unſtimmigkeit empor, die uns eine Zeitlang vor die furchtbare Wahl ſtellt, entweder an unſerem Verſtande zu zweifeln oder an der Möglichkeit einer durchgreifenden Phyſik.

Jenes negativ entſcheidende Experiment gründet ſich auf folgende Überlegungen: Eine von der Sonne ausgeſandte Botſchaft braucht ungefähr acht Minuten, um die Erde zu erreichen. Findet nun eine Translation ſtatt, und iſt dieſe ſo beſchaffen, daß ſie die Richtung „Erde nach Sonne“ verfolgt, ſo fliegen wir dieſer Botſchaft entgegen, müßten ſie ſomit ſchneller erreichen als im entgegengeſetzten Fall, wenn ſich nämlich die Erde von der Sonne entfernt und dieſe ihr im gleichen Abſtande nachfolgt; denn dieſer Vorgang würde eine Verzögerung in der Empfangnahme der Bot— ſchaft bewirken. Mit anderen Worten: die optiſchen Phäno— mene, wie ſie ſich innerhalb des ruhend gedachten Sonnen— ſyſtems abſpielen, müßten geſtört werden, wenn zu den uns bekannten Bewegungen innerhalb dieſes Syſtems noch eine übergeordnete Bewegung, die Translation, hinzutritt.

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Dieſe Beſchleunigungen und Verzögerungen einer Licht— botſchaft laſſen fich auf der Erde durch Spiegelvorrichtungen nachahmen, und zwar unter Zuhilfenahme von Lichtinter— ferenzerſcheinungen mit einem ſo hohen Grade von Genauig— keit, daß jede durch die Translation verurſachte Störung ſich augenblicklich dem Auge des Forſchers verraten müßte. Ein amerikaniſcher Phyſiker, Michelſon, hat eine Verſuchs— anordnung erdacht, die jeden Fehler in der Beurteilung des Vorgangs nach menſchlichem Ermeſſen ausſchaltet. Derartige Fehler müßten bei allen erdenklichen Variationen des Michel- ſonſchen Spiegelverſuches abwechſelnd im poſitiven und im negativen Sinne auftreten und dadurch einander wechſel— ſeitig verraten. Allein nichts Derartiges wird beobachtet. Der Verſuch erſcheint in jedem Fall vollkommen geſchloſſen, in ſich ausgeglichen, fehlerfrei, und liefert mit unumſtößlicher Gewißheit das Ergebnis: Die optiſchen Phänomene bleiben ungeſtört, ein Einfluß der Translation auf dieſe Phä⸗ nomene findet nicht ſtatt.

Hieraus ergab ſich für die Forſcher die peinlichſte Zwangs— lage, und ihr Gewiſſen wurde in die denkbar grauſamſte Al— ternative eingeklemmt. Es galt die Wahl zu treffen zwi— ſchen zwei Unfaßbarkeiten: entweder gehorcht die Optik nicht den allgemeinen Geſetzen der Mechanik, oder die Translation muß allem Denkzwang zum Trotz nachträglich doch noch abgelehnt werden.

Der zweite Ausweg erſchien noch ungangbarer als der erſte. Lieber wollte man noch ein vorerſt unheilbares Zerwürfnis zwiſchen der Optik und Mechanik vermuten, als ſich der gänz⸗ lich abſurden Vorſtellung unterwerfen, ein Teil des Welt—⸗ ganzen verharre im Stillſtand.

Aber dabei konnte es doch nicht bleiben. Denn auch die

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mechanifche Denkweiſe ift ja im naturwiſſenſchaftlichen Men— ſchen eingewurzelt, und wenn dieſe ſich plötzlich mit gewiſſen optiſchen Tatſachen in unlösbaren Widerſpruch ſetzt, ſo bleibt am letzten Ende aller Enden wirklich nichts anderes übrig, als ein Geheimnis in eben dieſer mechaniſchen Denkweiſe zu ver— muten und alles daranzuſetzen, um dieſem ſchrecklichen Rät— ſel auf die Spur zu kommen.

Und hier meldete ſich als rettender Engel mit hilfreichem Drang oder als rettender Satan mit verſteckter Spekulation auf die arme Seele das „Relativitätsprinzip“. Das Prinzip, das in ſeinen Folgerungen die alte Mechanik um— wirft. Es beſagt: Die Weltgeſchehniſſe ſind nur dann zu be— greifen, wenn man ſich entſchließt, den Geſchwindigkeitsbe— griff und den Zeitbegriff radikal umzugeſtalten. Die Frage nach der „wirklichen“ Geſchwindigkeit iſt phyſikaliſch ſinn— los und ebenſo die Frage nach der „wirklichen“ Zeit, die zur Wahrnehmung einer Lichtbotſchaft erforderlich iſt; beide Fragen erwachſen erſt dann zu einer Verſtändlichkeit, wenn ſie einander durchdringen, dergeſtalt, „daß eine Zeitangabe in der Phyſik erſt dann einen beſtimmten Sinn hat, wenn ſie auf den Geſchwindigkeitszuſtand eines beſtimmten Beobach— ters bezogen wird.“

Noch ſchärfer erſcheint das Prinzip in A. Einſteins klaſ— ſiſcher Abhandlung „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“, die freilich in den Schwierigkeiten des Ausdrucks, ja, des Ge⸗ dankens gemildert, verdünnt, verzuckert werden muß, um für einen größeren Kreis als Erkenntnisquelle genießbar zu werden. Auch mit dieſem Vorbehalt kann ich beim beſten Willen dem Leſer die Kletterei über einen vereiſten Grat nicht erſparen. Möge ihn die Hoffnung auf eine Ausſicht aller— erſten Ranges mit der nötigen Tapferkeit ſtärken!

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Alſo nicht wortwörtlich nach Einftein, aber annähernd ſinn⸗ getreu nach dieſem Bahnbrecher ſei folgendes definiert:

„Die Geſetze, nach denen ſich die Zuſtände der phyſikali— ſchen Syſteme ändern, find unabhängig davon, auf wel— ches von zwei zueinander in gleichförmiger Translation be— findlichen Syſtemen dieſe Zuſtandsänderung bezogen wird.“

„Jeder Lichtſtrahl bewegt ſich im ruhenden; Syſtem mit beſtimmter gleichbleibender Geſchwindigkeit, unabhängig davon, ob dieſer Lichtſtrahl von einem ruhenden oder beweg— ten Körper entſandt wird. Die Geſchwindigkeit drückt ſich durch das Verhältnis der Zeitdauer zum Lichtweg aus“, wo⸗ bei zur Beſtimmung der Zeitdauer zwei ſynchrone, das heißt ideal gleichlaufende Uhren vorausgeſetzt werden.

In dieſen Poſtulaten, die den Einfluß der Translation ausſchalten, dafür aber die abſolute Lichtgeſchwindigkeit als ein notwendiges Merkmal jeder Erkenntnis einführen, iſt das Ergebnis des Michelſonſchen Spiegelverſuches enthalten; und da dieſes Reſultat nur in einem Zerwürfnis mit der alten Mechanik als möglich erſcheint, ſo muß dieſes Zerwürfnis in der rechneriſchen Ausfolgerung irgendwie zutage treten. Es iſt unausbleiblich, daß gewiſſe Anſchauungen, die wir als phyſikaliſche Denkform für vollkommen natürlich, ſelbſtver— ſtändlich und eigentlich der Erörterung entzogen erachten, auf den Kopf geſtellt werden, ſobald wir ſie an dem ſoeben auf— geſtellten Relativitätsprinzip meſſen. Und dieſe Wirkung ſtellt ſich denn auch beim erſten rechneriſchen Anlauf mit einer gar nicht zu überbietenden Heftigkeit ein.

Es gibt nichts Elementareres als die Streckenmeſſung. Stellen wir uns einen ſtarren, dünnen, geradlinigen Stab vor, aus unveränderlichem harten Metall, der ſich in der Richtung ſeiner eigenen Ausdehnung fortbewegt. Seine

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 15 225

Länge ſoll von zwei Beobachtern gemeſſen werden. Der eine mißt, ſelbſt in Ruhe befindlich, nach dem optiſchen Verfah— ren, während der andere die Bewegung mitmacht und die Stablänge direkt durch Anlegen eines Maßſtabes ermittelt. Beide Beobachter arbeiten nach untrüglichen Methoden, nur daß ſich bei dem einen, dem ruhenden, der Einfluß des Relativgeſetzes geltend machen muß. f

Und hier erleben wir die erſte Überraſchung: Für ein und denſelben Stab werden zwei verſchiedene Längen feſtge— ſtellt! Die Bewegung an ſich hat feine Länge verändert! Genauer ausgedrückt: Das Verhalten des ſtarren Stabes im bewegten Syſtem vom ruhenden beurteilt, zeigt eine Anomalie, die zu allererſt kaum eine andere Deutung ver— trägt als die einer geometriſchen Widerſinnigkeit.

Was geht eigentlich hier vor? iſt die Geometrie umge— fallen? ſchießt die Logik Kobolz? Iſt eine feſte Strecke nicht mehr identiſch mit ſich ſelbſt? Im erſten Moment wollen wir wohl der Bedrängnis entſchlüpfen, indem wir uns in den Ausweg einer „optiſchen Täuſchung“ zu retten verſuchen. Aber nein! hier liegt ein rein rechneriſches, mathematiſch vollkommen einwandfreies Ergebnis vor; von einer Verſchie— bung im Sinne des Falſchſehens kann gar keine Rede ſein, die Verſchiebung iſt einzig und allein auf das Konto des Relativitätsprinzipes zu ſetzen, und da wir dieſes einſtwei— len als unerſchütterlich anzunehmen haben wir müßten denn die Translation als ſolche leugnen —, ſo bleibt nur übrig, bis zum Eintritt einer weiteren Erleuchtung an einen Hexenſpuk zu glauben, der die Geometrie verwirrt.

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Die leiſe Hoffnung des Verängſtigten, es könne ſich viel— leicht nur um einen Gelegenheitsſtreik der Geometrie han— deln, ſcheitert bald an noch ſchlimmeren Offenbarungen. Die Geometrie verkündet einfach den Generalſtreik, und die ſonſt jo arbeitswillige alte Mechanik beteiligt ſich daran auf gan— zer Linie. Beide vereinigt begehen nunmehr die ſchwerſten Exzeſſe gegen die alte Ordnung der Dinge.

Denn wenn ſchon eine feſte Strecke ſich ſelbſt aufgibt, wenn ſie kürzer wird mit fortſchreitender Bewegung, ſo geht es einem feſten Körper noch grotesker: Ein ſtarrer Körper, der in ruhendem Zuſtand ausgemeſſen die Figur einer Kugel hat, gewinnt in bewegtem Zuſtand vom ruhenden Syſtem

aus betrachtet die Geſtalt eines Rotationsellipſoids, er

wird nahezu eiförmig. Bei geſteigerter Bewegung ſchrumpft ſeine Bewegungsdimenſion immer mehr zuſammen, ſobald er die Lichtgeſchwindigkeit erreicht, geht ſeine Körperhaftig—

keit vollſtändig verloren; er verwandelt ſich in ein flächen—

haftes Gebilde, in eine unendlich dünne Kreisoblate, fällt vollſtändig aus der Stereometrie heraus, wird ſozuſagen der Schatten feiner ſelbſt.

Und wenn dieſe Kugel zum Beiſpiel ein Planet iſt, deſ— ſen Translation bis zum Lichttempo anſchwillt, ſo ſauſt er fortan in aller Körperloſigkeit durch den Weltenraum als

ſchattenhafte Kreisſcheibe. Er ſelbſt kann es nicht merken,

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ebenſowenig ſeine Bewohner, die alleſamt plattgedrückt ſind, ohne ſich ihrer Plattheit bewußt zu werden. Denn ihre Beob— achtungsinſtrumente und ihre Sinneswerkzeuge haben gleich— zeitig die nämliche Entformung durchgemacht. Nichts könnte ihnen verraten, wie ſehr ſie ſich verändert haben. Ihr Leben

Hund Treiben würde in ihrer eigenen Beurteilung nicht die

geringſte Abweichung vom gewohnten Typus aufzeigen, nur 15 *

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der draußenſtehende Unparteiiſche würde erkennen, daß fie ſich ſämtlich in umgekehrte Peter Schlemihle verwandelt haben: in Schatten, die ihre Körper verloren.

Nach dem Zuge dieſer Unterſuchung wird es wohl klar ge— worden ſein, daß dieſe fabelhafte Verdünnung nicht etwa auf luftige oder ätheriſche Widerſtände zurückzuführen iſt, noch weniger auf etwaige Zentrifugalkräfte. Nein, die Be—⸗ wegung ſelbſt iſt es, die ſolches Unheil erzeugt, nichts außer ihr; die Bewegung verwüſtet die Form. Was wir bis vor kurzem unter der Figur eines Körpers verſtanden haben, wird ſinnlos vor dem Relativitätsgeſetz. Unter feiner Herr: ſchaft wird jede Figur falſch beſchrieben, wenn ſie nur in Raumdimenſionen ihren Ausdruck findet. Die Figur wird vielmehr zu einer Funktion der Geſchwindigkeit, alſo auch der Zeit.

Und die Zeit, die wir bisher nur als eine Bewußtſeins— form im Nacheinander der Ereigniſſe kannten, erhebt ſich plötzlich zu einem Machtfaktor in der beſchreibenden Geo— metrie: In den Dreibund von Länge, Breite und Höhe tritt ſie als vierte Koordinate mit allen Rechten einer formbe— ſtimmenden Dimenſion.

Längſt haben wir alle Anſchaulichkeit hinter uns werfen müſſen. In der Euklidiſchen Wiſſenſchaft bleibt ſelbſt bei den gefährlichſten Spekulationen, bei den äußerſten Schwie— rigkeiten der Flächendurchdringung, noch ein Reſt von An— ſchaulichkeit für einen, der ſich im Raum leidlich gut zu orientieren verſteht. Aber hier ſitzt plötzlich in der rechnert— ſchen Entwicklung ein Dämon in Geſtalt einer veränderlichen

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Zeitgröße, die zugleich Zeit und Raum fein foll, ein Geſpenſt, das ſich mit der Lichtkonſtanten verkuppelt, zu Null zus ſammenſchrumpft, zu Unendlich auswächſt, das rechneriſche Monſtroſitäten hervorzaubert und mit ihnen jeder anſchau— lichen Möglichkeit ins Geſicht ſchlägt.

Und der nämliche Dämon übt ſeine Gewalt, wenn wir nunmehr die Maſſe als ſolche in die Relativität einbezie— hen; wenn wir eine bewegte Kugel, einen bewegten Pla— neten, nicht nach ihrer Form, ſondern nach ihrem materiellen Inhalt befragen. Eine Maſſe wird durch die Kraft charakteri— ſiert, die erforderlich iſt, um ſie in Bewegung zu ſetzen, auf— zuhalten oder aus ihrer Bahn abzulenken. In der alten Mechanik wurde die Maſſe durch die Kraft in einfacher Pro— portionalität beſchleunigt, in der neuen Mechanik, die ſich auf das Relativitätsprinzip gründet, wird die Kraft ſelbſt vergewaltigt. Je länger ſie auf den Körper bei ſtarker Be— wegung einwirkt, deſto geringer wird ihre beſchleunigende Leiſtung. Und da die Maſſe nicht anders zu definieren iſt als durch den Widerſtand, den ſie der Kraft bietet, ſo ſpringt uns nunmehr eine weitere Unerhörtheit in unſer ſchon ge— nügend verdutztes Geſicht. Die Rechnung ergibt klipp und klar:

Die Maſſe eines Körpers wächſt mit erhöhter Geſchwin— digkeit; ſie wird unendlich groß, wenn ſie in ihrer Be— wegung die Lichtgeſchwindigkeit erreicht. Eine Flintenkugel, die dieſe Geſchwindigkeit erzielt, wird dadurch unendlich ſchwerer als alle Erden, Sonnen und Siriuſſe zuſammenge— nommen. Alle Gewalten der Welt ſind nicht mehr vermö— gend, ihr eine Beſchleunigung zu erteilen.

Wir haben ſomit unſere Vorſtellung von der Konſtanz der Materie, von der Beſtändigkeit einer Schwere, eines

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Gewichtes, einer dem Gefühl zugänglichen Körperlichkeit, mit Stumpf und Wurzel auszureißen. Wir haben uns der neuen Vorſtellung zu unterwerfen, daß eine körperliche Maſſe die Identität mit ſich ſelbſt verliert, wenn ſie zu anderen Geſchwindigkeiten übergeht.

Wir müſſen uns aber auch mit einem Widerſpruch ab— finden, der alles Vorausgegangene an Extravaganz über— bietet: Jener Werwolf der Geſchwindigkeit, der im Rela— tivitätsprinzip niſtet, ſchlägt ſeine Krallen zugleich nach der Figur und nach der Subſtanz. Mit ein und demſelben Griff verdünnt er die Form und verdickt er die Maſſe. Un: terſuchen wir die Figur einer Kugel, ſo finden wir bei im— menſer Beſchleunigung eine Kreisoblate; unterſuchen wir die Materie, ſo ergibt ſich eine über alle Begriffe geſteigerte Maſſigkeit. Die Kugel bewegt ſich, und der Verſtand ſteht ſtill. Denn was er findet, iſt der Gipfel aller Denk-Abenteuer ein jeder Kraft überlegenes Nichts, ein Schatten von uns endlicher Schwere!

Aber rechneriſch, mathematiſch— phyſikaliſch iſt alles in ſchönſter Ordnung, und du könnteſt eher mit deinen Fingern aus den Alpen das Matterhorn herausbrechen, als irgend— ein Beweisglied aus den Gleichungen, in denen ſich jene Er— ſtaunlichkeiten ausdrücken.

In dieſen Gleichungen wird das Denken zukünftiger Ge— ſchlechter die allein gültige Orientierung finden. Falls das Relativitätsprinzip lückenlos richtig iſt und in ihm allein alle Wahrheit beſchloſſen liegt.

Aber wie denn? Kann es denn noch eine richtigere Rich— tigkeit geben als die mathematiſche? Die Frageſtellung iſt bedenklich. Sie rührt an eines der tiefſten Geheimniſſe, das ſelbſt als Problem dem Worte kaum zugänglich iſt. Und

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auch dies Problem ift nicht dazu da, um gelöft, ſondern nur um höchſtens erörtert zu werden.

Alſo ich meine und ich bitte, die Ich-Form zu entſchul⸗ digen, da ich kein anderes Mittel weiß, um dieſe Meinung vorzutragen —, daß die mathematiſchen Wahrheiten nur be— dingungsweiſe die letzten Wahrheiten ſind. Man fängt an, ſich von dem Glauben loszumachen, daß die mathematiſchen Einſichten auf reinen Denkformen a priori ruhen, man läßt zu, daß ihnen vielmehr ein gewiſſer Satz von Erfah— rungen zugrunde liegt, ſelbſt den analytiſchen Urteilen von Hume und den Verites eternelles von Leibniz. Große mathematiſche Geiſter, wie Gauß, Mach, Poincaré, Helm— holtz haben dieſe Anſicht vertreten. Und da mir dies ein— leuchtet, jo meine ich: die Mathematik kann anfangen un— ſchlüſſig zu werden, wo eine Welt von Erfahrungen eine Welt von neuen Fragen aufmacht.

Aus einer erkenntnistheoretiſchen Ecke könnten Motive her— vorbrechen, die mit den mathematiſchen Motiven zuſammen in eine andere Welt hineinführen, jenſeits von Richtig und Falſch.

*

Sehen wir uns daraufhin doch einmal das neue Relativi— tätsprinzip an. In einer mathematiſch unanfechtbaren Weiſe beweiſt es uns, daß die Lichtgeſchwindigkeit die größte aller möglichen Geſchwindigkeiten im Univerſum ſein muß. Weil, wenn es eine noch größere gäbe, der mit ihr bewegte Körper eine über Unendlich geſteigerte Maſſe gewinnen, ſomit zu einer Sinnloſigkeit entarten würde.

Dieſe Sinnloſigkeit wird abgelehnt zugunſten eines Grund— geſetzes der neuen Mechanik, welches eben beſagt, daß die Lichtgeſchwindigkeit das abſolute Maximum darſtellt. Da

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meldet ſich des Zweiflers Frage: iſt denn die aus dieſem Grundgeſetz abgeleitete, mit ihr in der nämlichen Gleichung verquickte andere Unmöglichkeit vom unendlich dünnen und trotzdem unendlich ſchweren Körper nur um ein Atom be— greiflicher, annehmbarer? Und wenn ich die erſte verwer— fen ſoll, welcher Erkenntnisgrund kann mich nötigen, die zweite anzuerkennen? Und wenn ich die zweite annehme, warum nicht auch die erſte, die mich in dieſen furchtbaren Zirkulus hineingetrieben hat? Zwei Unmöglichkeiten ſtehen hier gegeneinander, und die Waffen der Mechanik verſagen gegen beide. Mitten drin ſind wir im Gebiet jenſeits von Richtung und Falſch, jeder Verſuch, ſich in ihm zu orientieren, auch mit den ſonſt untrüglichen Werkzeugen der Mathematik, iſt in dieſem Anlauf nichts als der Sprung über den eigenen Schatten, die Jagd nach dem Spiegelbilde hinter dem Spie— gel, das Emporziehen der Leiter, auf der man ſteht! Dasſelbe Spiel gewahren wir, wenn wir den Anfang der Relativitätserkenntnis mit dem Ende vergleichen. Den An— fang gewannen wir aus dem Begriff der „Translation“, die wir annehmen ſollten und mußten, weil das Gegenteil, eine partielle Ruhe im Weltganzen, unausdenkbar erſcheint. Und am Ende grinſt uns die Verkündigung an, daß jenes Geſchöpf Lumen nicht möglich iſt, daß die Lichtſchnelligkeit das Maximum aller Geſchwindigkeiten darſtellt; die ab ſo— lute Höchſtgrenze. Alſo eine ſcharfbegrenzte Konſtante als ein Abſolutes in einer gänzlich auf das Relative geſtellten Lehre, in der alles und jedes auf das Unendliche hindrängt! Im Verhältnis zu den Räumen des Weltalls iſt das Licht— tempo eine Null; und wenn kein Körper, kein Planet, keine Sonne in ihrer kosmiſchen Wanderung dies Tempo, dies relative Null, überſchreiten darf, ja dann ſäße ich ja

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wieder genau auf derſelben Unausdenkbarkeit, die eben durch die Annahme einer Translation herausgeſchafft werden ſollte! Denn ebenſogut, wie ich mich am Ende mit einem end— lichen Maximum befreunden ſoll, könnte ich mich ja im Anfang ſchon mit einem geringeren Maximum verſöhnen, und wenn ich am Schluß zur Überwindung eines Denkzwan⸗ ges getrieben werde, warum nicht ſchon im Anfang? Bes täube ich dieſen Denkzwang aber ſchon früher, ſo verwan— delt ſich die ganze Translation aus einer Notwendigkeit in eine Willkür, und jede ihrer Folgerungen iſt von vornherein mit dem Zeichen der Unzuverläſſigkeit behaftet. Alſo auch ſo geſehen erſcheint dieſe Kette angeblicher Unumſtößlich— keiten als eine mythiſche Schlange, die ſich in den Schwanz beißt und mit ihren Giftzähnen vorn ihren Giftſtachel hin— ten auffreſſen will. *

Denkzwänge vorn und hinten, doppelte Widerſprüche an allen Enden! Doppelt, weil ſie nicht nur aller Erfahrung und Anſchaulichkeit widerſprechen darüber wäre auf Mo— mente hinwegzukommen —, ſondern weil jeder zugleich ſeine Prämiſſe verhöhnt und ſeiner Folgerung ſpottet. Kann es jemals gelingen, die geheime Quelle des tiefſtliegenden Wi— derſpruchs aufzudecken? Sollte vielleicht irgendeine Welt— gleichung exiſtieren, aus der ſich herausrechnen ließe, daß nicht nur alle Beſchleunigungsmöglichkeit, ſondern auch die mathematiſche Denkweiſe an Grenzen gebunden iſt?

Man greife es an wie man wolle, überall gerät der In— tellekt an Abgründe, vor denen er zurückſchaudert. Da, wo ſich das vierdimenſionale Chaos auftut, iſt es eigentlich noch am gemütlichſten. Die Zeit als vierte Koordinate widerſpricht zwar jeder anſchaulichen Vorſtellung, läßt ſich nicht begrei—

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fen, aber doch traumhaft erahnen, wie die Unſterblichkeit, wie die Auferſtehung. Auch die alte Mechanik hat mit ihr im Sinne einer gewiſſen Vierdimenſionalität gerechnet und damit praktiſch beweisbare Ergebniſſe gewonnen. Aber ſchon dieſe alte Mechanik hat erfahren, daß das Durchhalten eines mechaniſch-mathematiſchen Prinzips bis ins Extrem nicht aus⸗ führbar iſt. So ließ ſich das Gravitationsprinzip nicht bis zur molekularen Annäherung durchfolgern, weil hier Un— endlichkeitswerte auftreten müßten, die der Denkmöglichkeit widerſtreiten. Aber die neue, die Relativitätsmechanik, die zum großen Teil außerhalb der Erfahrung arbeitet, ſchreckt vor ſolchen Unendlichkeitswerten nicht zurück, und verkündet ihre tranſzendenten Ergebniſſe mit aller Sicherheit, denn ihre Poſition iſt mathematiſch uneinnehmbar.

Vielleicht aber erkenntnistheoretiſch doch angreifbar.

Den erſten Sturm wird ſie gewiß abſchlagen. Ja, ich zweifle gar nicht daran, daß ſie ihre Stellung auf eine weite Zeitſpanne hinaus noch mehr und mehr befeſtigen wird. Denn ſie beſitzt außer ihrer mathematiſchen Feſtung noch eine Hilfstruppe im freien Felde, die ſich vorläufig mit jedem Tage vergrößert.

Dieſe Truppe, die bisher nur Siege zu verzeichnen hat, marſchiert unter der Flagge der Elektronentheorie. Ihre Führer, vor allen der Leydener Nobelpreisträger Antoon Lo— rentz, ſchworen nicht von Anbeginn zur Relativitätslehre; allein mit ihren Leiſtungen gerieten fie in den relativen Wir: bel, aus dem es kein Entrinnen gibt. Nur mit flüchtigſtem Seitenblick auf die Zuſammenhänge darf hier die Frage ge— ſtreift werden, was die beiden Diſziplinen veranlaßte, einan⸗ der zu begegnen, ja ineinander aufzugehen.

Die ſeltſamen Tänze elektriſcher, magnetiſcher Teilchen

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konnten nämlich zwar mit vollkommener Genauigkeit bes ſchrieben, allein durchaus nicht mechaniſch begriffen werden. Die Aufgabe ihrer Beſchreibung wurde durch die ſogenannten Hertz-Maxwellſchen Differentialgleichungen reſtlos gelöſt, aber eben dieſe Gleichungen leben in unverſöhnlicher Feind— ſchaft zur alten Mechanik. Will man ihnen überhaupt die Möglichkeit zur Mechanik öffnen, ſo ſieht man ſich auf den einzigen Weg angewieſen, nämlich die alte Tür zu vermau— ern und das neue Tor zur Relativität vierdimenſional auf— zuſperren. Unternimmt man dies, ſo verwandelt ſich die Feindſchaft mit einem Schlage in herzlichſte Sympathie, und die Bewegungsphänomene der Elektrizität, des Magnetis— mus, weiterhin der Optik, werden verſtändlich was man ebenſo in dieſen geheimnisvollen Gebieten „verſtändlich“ zu nennen beliebt. Mit dieſem Vermögen, in die Wirrnis der Elektronen eine mechaniſche Ordnung hineinzubringen, ſpielt das Relativi— tätsprinzip ſeinen allerſchärfſten Trumpf aus. Er erſcheint den großen Phyſikern ſo unübertrumpfbar, daß ſie es darauf— hin wagen, die ganze Naturwiſſenſchaft auf die eine Karte zu ſetzen: Da es nicht möglich iſt, die elektriſchen Phänomene altmechaniſch zu erklären, ſo wollen ſie nunmehr die mechani— ſchen elektriſch erklären, das heißt alles Weltgeſchehen in einen Wirbel von Elektronen auflöſen. Und das iſt nur mög— lich, wenn alle Vorgänge in ein reines Vakuum verlegt wer— den, wenn dem Träger aller Bewegungen, dem Ather, jede materielle Eigenſchaft abgeſprochen wird. Wiederum geraten wir hier in einen Zirkelſchluß; denn die neue Mechanik erſcheint am Anfang und am Ende der Gedan- kenreihe, ſie tritt als Frage auf, um ſich ſelbſt als Antwort zu fordern.

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Stern und Kern der eigentlich mechanifchen Naturauffaf- ſung iſt das Energieprinzip, das Geſetz von der Erhaltung der Kraft, wie es lange vorgeahnt, von Robert Mayer funda- mentiert, von Clauſius, Joule und Helmholtz nach allen Richtungen ausgebaut wurde. Und wenn die Entdeckung die⸗ ſes Prinzips aufs innigſte mit der Frage zuſammenfiel: Welche Beziehungen müſſen zwiſchen den Naturkräften be— ſtehen, wenn es unmöglich ſein ſoll, ein Perpetuum mobile zu bauen? ſo erhebt ſich nunmehr eine Frage, die Planck in die Worte faßt: Welche Beziehungen müſſen zwiſchen den Natur⸗ kräften beſtehen, wenn es unmöglich ſein ſoll, an dem Licht— äther irgendwelche ſtoffliche Eigenſchaften nachzuweiſen?

Die erſte Frage wird in weiteſtem Sinne durch die allge— mein⸗mechaniſche, die zweite durch die neumechaniſche, rela= tiviſtiſche Naturauffaſſung beantwortet. Und hierin ſcheint, an alter Schullogik gemeſſen, abermals ein höchſt gefähr— liches, mit geheimen Trugſchlüſſen hantierendes Doppelſpiel ſein Weſen zu treiben.

Denn die neue Beantwortung der zweiten Frage führt un— mittelbar zur Relativitätstheorie, zur neuen Mechanik, zur Aufhebung der Maſſenkonſtanz und damit auch zur Aufhe— bung der alten Energievorſtellung, da die Maſſe nur energe— tiſch begriffen werden kann. Iſt die neue Beantwortung der zweiten Frage richtig, ſo ſtellt alſo die frühere Beantwor— tung der erſten Frage einen Irrtum dar. Dann liegen in deren Bereich drei Möglichkeiten vor: entweder war ihre Vorausſetzung falſch, dann gäbe es ein Perpetuum mobile; oder die mathematiſch-phyſikaliſche Ausfolgerung war un— genau, oder ſchließlich: die Frageſtellung war verfehlt. Da nun aber die zweite Frage haarſcharf ſo aufgebaut iſt wie die erſte, ſo unterliegt ſie durchaus den nämlichen drei Eventuali—

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täten, von denen jede zu einer Ungenauigkeit führen kann und im Grenzfall führen muß. Unſere eigene Vorausſetzung lautete in dieſer Gedankenreihe: „Wenn die neue Beantwor⸗ tung der zweiten Frage richtig iſt“, unſer Schluß, „dann muß oder kann das Ergebnis falſch ſein.“ Der Widerſpruch kann nicht mehr übertroffen werden. Über die Schlange, die ſich in den Schwanz beißt, ſind wir hier weit hinaus: dieſe Schlange beißt ſich in ihren eigenen Kopf!

Wir müſſen alles, was an Erkenntnistheoretiſchem in uns gegenwärtig lebt, umſtülpen, neuordnen, wenn wir uns mit dem Relativitätsprinzip befreunden wollen. Bleibt es ſiegreich, ſetzt es ſich im Laufe langer Zeiten als Denkform durch, dann erſcheint die Umwandlung erkenntnistheoretiſcher Einſichten die unausbleibliche Folge.

Von dieſen Folgen laſſen ſich einige als grundſtürzend ſchon heute vorausſehen, nämlich:

Es iſt möglich, von falſchen Prämiſſen durch exakte Folge⸗ rung zu richtigen Reſultaten zu gelangen.

Es iſt ebenſo möglich, von richigten Prämiſſen durch 5 Schlüſſe bei falſchen Reſultaten zu landen.

Auf praktiſchem Gebiete ſind derartige Fälle bereits in vereinzelten Proben vorgebildet. Das Kant-Laplaceſche Welt: ſyſtem bietet hierfür ein Beiſpiel. Die Vorausſetzungen Kants ſind teilweis als unrichtig längſt erwieſen, ſeine Schlüſſe mit Einſchränkung zu verſtehen —, waren kor— rekt, ſein Ergebnis gilt nach heutiger Auffaſſung noch als gültig.

*

Wird ſich nun das neue Prinzip durchſetzen? Die genia— len Wortführer der Sache ſind deſſen in ihrer Beweis— führung ganz ſicher, es darf anderſeits nicht verſchwiegen

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werden, daß fie einige leiſe Zweifel hindurchſchimmern laſſen, ſobald ſie, was doch gar nicht zu vermeiden iſt, die Frage der Anſchaulichkeit ſtreifen. Ja, zuweilen regt ſich bei einigen im Gewiſſensgrund eine Eontraftierende Stimme, die nach Erlöfung ruft. In ihren phyſikaliſchen Schwüren ſteckt un- ter der Schwelle der Hörbarkeit die reservatio mentalis: Wir arbeiten mit einer Hypotheſe, zu der uns gewiſſe Not— wendigkeiten zwingen, weil wir keine beſſere Hypotheſe be— ſitzen.

Aber jene Schwüre treten heute dennoch mit dem An— ſpruch der Beweiskräftigkeit auf. Vor allem ſoll der Ana— logieſchluß als durchgreifend anerkannt werden: Der Menſch— heit Denken hat ſich fchon einmal vor vierhundert Jahren von der Anſchaulichkeit losgerungen, damals, als es galt, die Exiſtenz der Antipoden zu begreifen und den Erdplaneten, die uns bekannte unendliche Welt menſchlicher Ereigniſſe, als eine Winzigkeit im Weltall zu erkennen. Die Gravita— tionslehre, das kopernikaniſche Syſtem, die Keplerſchen Ge— ſetze haben die antike Anſchaulichkeit ausgerottet und das Denken zunächſt mit einer Unbegreiflichkeit überrumpelt, die ſich allmählich zu einer neuen, höheren, auf kosmiſche Orien— tierung bezogenen Anſchaulichkeit organiſierte. Auf einer er— höhten Stufe der Forſchung reicht auch dieſe zweite Anſchau— lichkeit nicht mehr aus. Und genau ſo wie vor vierhundert Jahren ein ganz neues Denken Platz greifen mußte, ſo ge— raten wir heute an die harte Notwendigkeit, uns zu einer dritten Anſchaulichkeit zu erziehen. Galileis „eppur si mu- ove!“ gewinnt eine neue Bedeutung: Was ſich bewegt und in der Bewegung verändert, iſt nicht nur die Erde, ſondern der innere Charakter der Zeit. Fürs erſte meutert die Gehirngewohnheit mit aller Hartnäckigkeit gegen die gewalt—

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ſame Zumutung. Aber dieſen Prozeß der Denkträgheit ken— nen wir ja ſchon aus der Geſchichte. Und wir wiſſen, daß ſie mit dem Siege der großen Idee über die ererbte Anſchauung enden muß. In unſerem Falle: Aus einer alten und ver— alteten Anſchaulichkeit wird eine neue hervorwachſen, die mit ihrem unvergleichlich weiter geſpannten Horizont das Prin— zip der Relativität als eine Verſtändlichkeit, vielleicht ſogar einmal als eine Selbſtverſtändlichkeit umfaſſen wird. Aber wiederum könnte der Zweifler ſagen: dieſer Analogie— ſchluß hinkt auf beiden Beinen, auf dem einen, weil das Gleichnis mit der kopernikaniſchen Lehre nicht ſtimmt, auf dem andern, weil der Horizont ſich nicht erweitert, ſondern verengt. Das Syſtem des Kopernikus war nicht nur auf Erfahrung errichtet, nicht nur vorausgeahnt, vorausgedacht von hellen Köpfen des Altertums, ſondern es brauchte nur ausgeſprochen zu werden, um ſofort den Schlüſſel zu einer Welt ſonſt unerklärlicher Erſcheinungen zu bilden. Wer ſei—

nen einzigen radikalen Denkakt erfaßt hatte, der ſpürte, daß

er damit aus einer Welt der Abſurditäten in eine Welt der Begreiflichkeiten gedieh. Tauſend Unklarheiten verſchwanden, eine kosmiſche Durchſichtigkeit tat ſich auf. Bietet ſich hier wirklich die genügende Parallele mit der neuen Lehre, an deren Anfang und Ende lauter Denkverzweiflungen ſtehen? die das Gehirn in zwei Teile zerſägt, von denen der eine mathematiſch befiehlt und der andere erkenntnistheoretiſch den Gehorſam verweigert? aus deren gärenden Schoß my— ſtiſch verlarvte Ungeheuer aufſteigen?

Nein, dieſe Parallele verſagt durchaus. Nichts im Rela— tivitätsprinzip kündigt ſich dem reinen Erlöſungsbedürfnis als befreiende Offenbarung an, als Heilsbotſchaft, alles in ihr klingt ihm nach mathematiſcher Scholaſtik. Und es wird

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den Verdacht nicht los, daß es, anſtatt unſeren Standpunkt zu erhöhen, uns eigentlich in den Anthropomorphismus zu⸗ rückwirft. Das kopernikaniſche Lehrſyſtem, welches den geo— zentriſchen Standpunkt als kleinlich erkannt und die helio⸗ zentriſche Betrachtung geöffnet hat, befriedigte eine uralte Sehnſucht nach der Unendlichkeit; war doch ſchon der erſte Sonnenanbeter der erſte Kopernikaner! Die Relativitäts— lehre mündet bei der Lichtkonſtanten, bei einer Endlichkeit, jenſeits deren die Welt mit bretternen Formeln vernagelt wird. Was find denn jene fatalen 300000 Kilometer in der Sekunde? Eine auf irdiſche Ausmaße bezogene Verhältnig- zahl! Der Erdäquator ſiebenundeinhalbmal genommen. Eine Strecke, die jeder Schiffskapitän, jeder Lokomotivführer prak⸗ tiſch erleben kann. Und die ſoll eine Begriffsgrenze dar— ſtellen, wo es ſich um die letzte Einſicht in das Weltganze handelt? Das erinnert doch wirklich an jene talmudiſche oder hindoſtaniſche Weisheit, die das Längenmaß ihres per= ſönlichen Gottes nach ſoundſo vielen Meilen bezifferte! Alles Außermenſchliche, Relative, Tranſzendente der neuen Lehre kann nicht darüber hinweghelfen, daß in ihrem Grunde ein Menſch ſitzt, ein „Beobachter“, der vom ruhenden Sy— ſtem aus das bewegte beurteilen will und ſich hierbei auf Lichtſignale, Lichtwahrnehmungen verläßt, der von der Qua— lität eines beſtimmten Empfindungsorgans, alſo von ſich ſelbſt, nicht loskommt. Aus der kopernikaniſchen Lehre kann der Menſch vollkommen herausgehoben werden, ſie bleibt trotzdem beſtehen. Das Relativitätsprinzip iſt von der be— ſtimmten Beurteilung des beſtimmten Beobachters nicht ab— zutrennen; es bleibt verbunden mit einer anthropomorphen Grundanſchauung, die das Licht vermenſchlicht; ja, vielleicht liegt das Geheimnis all der Ungeheuerlichkeiten, die wir im

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Verfolg der Relativität durchzumachen hatten, einzig in dem Lichtbegriff ſelbſt, der als das Poſtulat eines Zufallsſinnes einfach ſinnlos wird, ſobald man den organiſchen Grund die— ſes Sinnes fortdenkt.

Jenſeits von Richtig und Falſch! zu einer anderen Formel iſt nicht zu gelangen. Sie wird das letzte Wort der Ver— zweiflung bleiben überall da, wo wir das Gehirn zu Funktio— nen zwingen wollen, denen dieſer Zellenklumpen nicht ge— wachſen iſt und denen auch das Überhirn künftiger Gene— rationen nicht gewachſen ſein wird. Nicht weil es als er— ſchließendes Inſtrument nicht zureicht, ſondern weil das zu Erſchließende gar nicht exiſtiert. Der Wahrheitsſucher wird niemals ein Wahrheitsfinder werden, denn er ſucht etwas nicht Vorhandenes. Die Wahrheit, definiert als die Über— einſtimmung der Vorſtellung mit der Wirklichkeit, iſt im beſten Falle eine anthropomorphe Tautologie, da eine be— greifliche Wirklichkeit eo ipso mit der Vorſtellung kongruie— rend zuſammenfällt. Wer aber darüber hinaus fragen will, fragt ſinnlos. Und trotzdem bleibt es unbeſtreitbar, daß in der Welt der Erſcheinungen die Relativitätslehre als Er— forſchungsmittel unerhört Großartiges vollbracht hat! Wie eine Gottesgewalt kam ſie über den Denkmenſchen, erhellend und blendend, verwirrend und erleuchtend, mit Blitzſchlägen, die Pforten der Phyſik aufſprengten und Säulen der Er— kenntnistheorie an der Wurzel trafen! Vielleicht ſteht fie ſo außerhalb aller ererbten und erworbenen Denkgewohn—

heit, daß ihr gegenüber nicht einmal die Verſtandesformen des Glaubens und des Zweifels auftreten dürfen! *

Man geſtatte mir eine Lehre aufzuſtellen, die ich vorläufig nur in Form eines Gleichniſſes auszuſprechen vermag: Jede Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 16

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Wahrheitsfrage iſt ein Komplex von Konftanten und Une bekannten, die ſich in einer Gleichung zuſammenfinden. Die Konſtanten der Algebra treten hier als Begriffe und Worte auf, die Löſung der Gleichung wäre die Wahrheitsfindung.

Wird dieſes zugegeben, ſo folgt alles weitere mit unbe— dingter Sicherheit. Die Löſung ſtellt ſich dar als ein Aus— druck aus eben jenen Konſtanten, aus den Worten und Be— griffen gebildet, die in der Gleichung ſteckten; an Stelle der Unbekannten eingeſetzt, befriedigt er die Gleichung, liefert er die Wahrheitsantwort.

Nehmen wir einmal den einfachſten Fall: eine lineare Gleichung mit einer Unbekannten. Wir wiſſen, daß dieſe eine Löſung, und zwar nur eine einzige Löſung zuläßt. Hat alſo die Begriffsfrage dieſe einfache Form, ſo werden wir eine unzweideutige Wahrheit als Auflöſung herausrechnen, näm— lich eine ſolche, deren tautologiſchen Charakter wir unſchwer erkennen.

Bei Gleichungen höheren Grades hört die Eindeutigkeit auf. Eine reine quadratiſche Gleichung verträgt zwei Löſun— gen, die einander im Zahlenwert gleich, aber im Vorzeichen entgegengeſetzt ſind; die Plus-Größe und die zugeordnete Minus⸗Größe befriedigen mit derſelben Beſtimmtheit die Forderung der Gleichung. Aus dem Algebraiſchen ins Be— griffliche übertragen, bedeutet dies: Wenn wir unſerem In— tellekt eine einfache Begriffsgleichung von quadratiſcher Na— tur aufgeben, ſo erhalten wir zwei Antworten, die einander direkt widerſprechen, zwei ſchnurſtracks gegenſätzliche Löſun— gen, welche die Gleichung reſtlos befriedigen, mithin zwei Wahrheiten, die einander verneinen und nichtsdeſtoweniger volle Wahrheiten bedeuten. Und ein großes Welträtſel ent— ſchleiert ſich auf einmal vor unſeren Augen. Denn dieſe Auf—

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löſungspaare treten ja in unſerer Philoſophie tatſächlich als Antwortpaare im Sinne der Antinomien auf; fie heißen: Notwendigkeit und Zufall, freier Wille und Willensunfrei— heit, Monismus und Dualismus, Theismus und Atheismus, Schöpfung und Urzeugung, Teleologie und Zweckleugnung, Ewigkeit und Zeitgrenze, bis zu allen perſönlichen Lehrmei— nungen, die ſich kontradiktoriſch um die Begriffe Gott und Teufel gruppieren. Und wir erkennen: faſt alle landläufigen Fragen der Schulphiloſophie ſind ihrem Weſen nach qua— dratiſche Gleichungen, die gleichzeitig eine poſitive und eine negative Wurzel liefern; was die Weltweisheit ſeit alters— her als eine wahre Crux mit ſich herumgeſchleppt hat, näm— lich die Unvereinbarkeit polar entgegengeſetzter Entſcheidun— gen, fügt ſich plötzlich als ein algebraiſches Ergebnis zwanglos zuſammen; der Zufall erfüllt die Gleichung ebenſo vortreff— lich wie die Notwendigkeit, die Freiheit ebenſo reſtlos wie die Unfreiheit, jede richtige Löſung fordert ihr Spiegelbild mit entgegengeſetztem Vorzeichen als die zweite Löſung einer und derſelben fragenden Gleichung.

Aber auch hier gelangen wir nicht über die Tautologien hinaus, nur daß ſie als ſolche etwas ſchwerer zu durch— ſchauen ſind. Das Gebiet der Tautologie überhaupt verlaſ— ſen wir erſt mit denjenigen Gleichungen, die mit realen Größen nicht mehr zu bewältigen ſind und zu imaginären, komplexen Löſungen führen. Schon bei gewiſſen quadrati— ſchen Gleichungen kann dieſer Fall eintreten, bei allen reinen Gleichungen vom dritten Grade aufwärts iſt er unaus— bleiblich. Nehmen wir etwa eine Gleichung fünften Gra— des, ſo muß ſie zwar nach Cauchy, Gauß und Hermite fünf Wurzeln beſitzen, aber dieſe ſind rein algebraiſch nicht mehr darſtellbar, nur noch in elliptiſchen Tranſzendenten,

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und damit entfällt die Möglichkeit, eine derartige Gleichung ins begriffliche Gebiet hinein zu verfolgen. Selbſt wenn wir uns anſtatt an unferen eigenen Intellekt, an den Welt: geiſt als an den Beherrſcher der Laplaceſchen Weltformel wenden dürften, jo müßte er antworten: die Erkenntnisglei⸗ chung, die du mir vorlegſt, iſt fünften Grades, hat alſo keine aus Worten oder Begriffen darſtellbare Wurzel. Das, was du in dieſem Falle ſuchſt, die Wahrheit, iſt nur noch ein imaginäres Phantom; die Frage nach dieſer Wahrheit iſt in ſich ſelbſt ſinnlos.

Ich bin tief durchdrungen davon, daß jede Wahrheitsfrage höherer Ordnung, jede, die ſchon ihrer Faſſung nach die ein— fach tautologiſche Beantwortung abwehrt, im tiefſten Kern eine ſolche Begriffsgleichung einſchließt; wenn nicht gar noch die weitere Unlösbarkeit hinzutritt, daß in der Fragegleichung von Anfang an mehrere Unbekannte ſtecken. Armes Men— ſchenhirn! Du ſtellſt da eine Frage auf etwa in der Faſſung der Kantiſchen: „Wie find ſynthetiſche Urteile a priori mög— lich?“ Und darauf willſt du eine Antwort haben! Die al- gebraiſche Löſung einer Gleichung mindeſtens fünften Gra— des mit mehreren Variabeln! Appellierten wir zuvor von der Mathematik an die Erkenntnistheorie, ſo müſſen wir jetzt den Erkenntnistheoretiker an den Mathematiker verwei— ſen; der wird ihm einen Beſcheid geben, deſſen Inhalt aus der Formelſprache in klares Deutſch überſetzt lauten müßte: Das, was du für eine Frage hältſt, iſt eine grammatiſche Verkettung von Unfaßbarkeiten mit einem Fragezeichen da— hinter; erwarte keine mögliche Antwort auf ein unmögliches Etwas, das ſich für eine Frage ausgibt!“

) Ohne Algebra, rein erkenntnistheoretiſch, gelangt Fritz Mauthner in ſeiner Sprachkritik zu ähnlichen Ergebniſſen, die

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Und jo geſehen erfcheint auch die Frage, die dem Rela— tivitätsprinzip zugrunde liegt, als eine Unauflöslichkeit. Die Gleichungen, die von den großen Relativiſten im vierdimen— ſionalen Koordinatenſyſtem entwickelt werden Wunder— werke in ihrer Art —, ranken ſich doch nur an der Außen— ſeite herum. Im Kern ſteckt eine andere, viel kompliziertere Gleichung, die Antwort haben will auf die allgemeinſte Frage nach den Zuſammenhängen der Weltgeſchehniſſe. Die Wahrheit, die dieſe Frage ſucht, exiſtiert nicht, oder ſie liegt jenſeits von Richtig und Falſch, ſie kann ſich nie wahrhaft und einleuchtend aus all den Widerſprüchen herausſchälen, die wir erſchauernd durchmeſſen haben. Wenn wir ſchon im Bann des Denkzwanges die Frage aufwerfen: Was iſt Wahrheit? ſo folgen wir wenigſtens dem Beiſpiel des Pi— latus, der hinausging, ohne die Antwort abzuwarten.

„Vorausgeſetzt, daß die Wahrheit ein Weib iſt“ ſo beginnt Friedrich Nietzſche die Vorrede zu ſeinem Jenſeits, um darauf den Verdacht zu gründen, daß alle Philoſophen, ſofern ſie Dogmatiker waren, ſich ſchlecht auf Weiber ver— ſtanden. Mein Verdacht geht weiter. Ich fürchte, daß die Wahrheit weder ein Weib, noch ein Mann, noch überhaupt irgend etwas iſt außer der Wurzel einer tranſzendenten Glei— chung und daß alle Bemühungen der Philoſophen wie der Phyſiker hier nichts anderes umwarben als ein reines Va— kuum. Bis eine neue Philoſophie, von der wir heute noch nichts wiſſen, vielleicht eine Relativitätsphiloſophie, in die— ſem Vakuum die Anſätze und Keime begrifflicher Erfaß— barkeiten aufſpüren wird. Eine Preisaufgabe, die die Ur— enkel der Forſcher von heute beſchäftigen möge!

er freilich ſchöner und eindringlicher vorträgt, als ich fie darzu— ſtellen vermag.

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Die Heimat der Größen

Es iſt nicht ſo leicht, Namen zu nennen und zu treffen, wenn es darauf ankommt, in einem beliebigen Felde die Ewig— keitsgrößen zu erfaſſen. Wo die ſcharfe Berechnung fehlt, wo der Augenſchein und die Momentempfindung entſcheidet, un= terliegen wir ausnahmslos der Täuſchung, die uns eine Sonne vorſpiegelt, wo nur ein Meteor verglimmt, und die uns ein Pünktchen überſehen läßt, wo tatſächlich eine Sonne leuchtet. Oft iſt es verſucht worden, in einem beſtimmten Ge— biete die Koryphäen zu kränzen; und faſt immer haben die folgenden Jahrzehnte die getroffene Auswahl beanſtandet, verworfen, wenn nicht verhöhnt und verlacht. Vor Menſchen— altern wurde ein Dichter mit dem Vergleich gefeiert:

Traun, ein Schiller und ein Goethe, ja ein Opitz wär' von— nöten, Um den Maßſtab zu bezeichnen für die Größe des Poeten!

Und dieſen Opitzen begegnen wir durchweg, wo wir alte Wertſchätzungen aus unſerem eigenen Geſichtswinkel meſſen. Vierzehn Jahre währte der Bau der großen Pariſer Oper, und ſo lange hatten die Kommiſſionen und Fachausſchüſſe Zeit, ſich die Größen zu überlegen, die für den Prachtbau in Skulpturen verewigt werden ſollten, als Matadore der Oper

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überhaupt. Das Reſultat war: kein Weber, kein Wagner, kein Verdi; Mozart und Meyerbeer nur als Büſten, Rameau und Spontini in Koloſſalfigur, und am Eingang zu den vor— nehmſten Plätzen, beſonders auffallend: „Niedermayer“, ein Muſiker, deſſen Name längſt ausgetilgt iſt bis auf die Chroniſtenſpur, bis auf die verblaßte Erinnerung an einige ſehr unbedeutende Opern und ſehr bedeutende Operndurch— fälle.

Ahnliche Opitzereien und Niedermayereien pflegen ſich ein— zuſchleichen, wenn Volk gegen Volk in irgendeinem Betracht der Kunſt, Wiſſenſchaft und Kultur gewogen werden ſollen. Der ſichere Punkt, von dem aus die Gruppierung der Größen klar zu überblicken wäre, iſt nicht auffindbar. Aber wenn es auch im ganz großen Bereich unmöglich iſt, aus der Enge der Vorurteile herauszukommen, perſönliches und nationales Falſchſehen zu überwinden, ſo erſcheint wenigſtens für die Wiſſenſchaft der Anſatz, der taſtende Verſuch einer Me— thode gegeben; die eben als Methode vor der bloßen Meinung den Vorzug aufweiſt, das perſönliche Urteil auszuſchalten. An die Stelle egozentriſcher und heimat— lich betonter Gründe tritt eine Art von Berechnung. Dieſe von de Candolle erfundene, von dem Aſtronomen Pik— kering ausgebaute Methode fußt auf dem Grundgedanken: Es werden aus allen Nationen diejenigen Gelehrten heraus— gehoben, die von mindeſtens zwei großen auswärtigen Aka— demien als Mitglieder gewählt worden ſind. Unſer Oſtwald hat die zuletzt von Pickering gewonnenen Ergebniſſe prozen— tual auf die Bevölkerungen berechnet, ſo daß man aus ſeiner Tabelle den ſpezifiſchen Wiſſenſchaftswert der einzelnen Völker ableſen kann. Danach ergibt ſich: in wiſſenſchaftlicher

Hinſicht marſchiert heute Sachſen an der Spitze aller Län—

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der, eine ſtatiſtiſche Beſtätigung der volkstümlichen Selbſt⸗ einſchätzung „mir Sachſen ſein helle“. Ihm folgen zunächſt Norwegen und Baden, Schweden, Holland und Bayern, Preußen und England, Dänemark, Württemberg, Frank— reich, die Schweiz, Belgien, Italien, Oſterreich, Vereinigte Staaten und in weitem Abſtand davon Rußland. Das abſo— lute Übergewicht, der wiſſenſchaftliche Schwerpunkt ſozuſa⸗ gen, ruht mithin in Deutſchland.

Die Methode an ſich iſt zweifellos angreifbar, und zwar gerade in ihrem objektiven Kern. Ihre auf Diplome und Zahlen geſtützte Objektivität verleugnet jede ſubjektive Schät⸗ zung, alſo gerade das, was wir an Geiſtigkeit in uns auf⸗ bringen, wenn wir uns mit Geiſtesgrößen beſchäftigen. Selbſt wenn wir zu Unrecht annehmen wollen, daß die Diplome nur nach Verdienſt verteilt werden, daß Cliquenwirtſchaft, Begünſtigung und Verſicherung auf Gegenſeitigkeit gar keine Rolle ſpielen die Geſchichte der Akademien beweiſt das Gegenteil —, ſo bliebe immer noch die Frage offen, ob ein ganz großer Denker, Forſcher und Menſchheitsförderer nicht mit dem vielfachen Gewicht des Durchſchnittsdiplomierten anzuſetzen wäre. Demgegenüber beruft ſich die Methode auf das Geſetz der großen Zahl, auf die Wahrſcheinlichkeit der wechſelſeitigen Fehlerkorrektur, ſo daß ſchließlich doch eine gewiſſe Zuverläſſigkeit dieſer Statiſtik herauskommen müſſe. Das läßt ſich hören, ſelbſt dem Einwand gegenüber, daß in dieſer Aufmachung ein ungelöſter Reſt bleibt, ein tiefſter Kern, der ſich jeder Berechnung verſchließt; und um ſo eher läßt es ſich hören, als in der de Candolle-Pickeringſchen Regel doch ein erſter Anſatz vorliegt, der wiſſenſchaftlichen Geſamt— leiſtung mit Zahl und Maß beizukommen. Sie erfaßt nicht die Gipfel, aber die Hochebene, ſie zeigt mit annähernder

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Deutlichkeit die Durchſchnittshöhen des Gelehrtenſtandes in national geſonderten Gruppen.

Dieſer fertigen Methode ließe ſich aber vielleicht eine un— fertige zur Kontrolle gegenüberſtellen, eine andere, die nach der ſubjektiven Seite ſo weit ginge, wie jene erſte mit ihrer gleichmacheriſchen Unbeſtechlichkeit nach der objektiven. Man müßte ſich von Anfang an auf die andere Seite des Problems ſtellen, nicht von den Perſonen und Diplomen, ſondern von

den Dingen und Erſcheinungen ausgehen, um zu ermitteln,

welcher Anteil an den großen Errungenſchaften auf die Völker entfällt. Eine Aufgabe von enzyklopädiſcher Weite! Kein eins zelner könnte ſie löſen, denn jeder einzelne wäre zu klein, und noch weniger eine Akademie, denn durch Hineinziehung einer gelehrten Körperſchaft würden wir wieder auf Umwegen bei

den Diplomen landen. Wohl aber könnte der einzelne mit

dem vollen Bewußtſein der Unzulänglichkeit die Aufgabe vor— läufig angreifen und ein für ihn ſelbſt gültiges Ergebnis hineinſchreiben in der Hoffnung, daß andere das Experiment wiederholen und durch gehäuften Verſuch in Aufrechnung der perſönlichen Gleichungen die Fehler allmählich verkleinern. Eine ſtattliche Reihe von Vorbehalten wird vorauszuſchik⸗ ken ſein. Wir wollen uns verabreden, nur ſolche Errungen— ſchaften gelten zu laſſen, die entweder das Denken und Fühlen der Menſchheit nachweislich beſtimmt, gerichtet und erweitert oder im Sinne der Kultur einen allſeitig anerkannten Fort— ſchritt bewirkt haben; Kultur in modernem Sinn verſtanden, nach den Bedürfniſſen der Maſſe gewertet, ohne Rückſicht auf etwaige Kulturſchäden, die ſich dem einſam wandelnden Philoſophen unter der Decke des Fortſchritts entſchleiern. Um einigen Halt in einer Zeitbegrenzung zu finden, be ſchränken wir die Betrachtung auf die Neuzeit. Bei einem Zu—

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rückgreifen auf entlegenere Epochen würde die Aufgabe ſelbſt Verteilung nach Gegenwartsvölkern ſinnlos werden.

Wir müſſen verſuchen, unſer Auge gegen das Genie in ge— wiſſer Weiſe einſeitig abzublenden. Bei den Willensgenies, den großen Politikern, den Schlachtengewinnern, iſt die Wir— kung nicht abtrennbar von zahlloſen anderen Faktoren, die ihnen die Tat ermöglichten, von den Spannkräften, die ſie vorfanden, von den Punkten, auf die ſie das Schickſal ſtellte, vom Zufall. Der gewaltige Eroberer wäre, wie ſchon Fried— rich der Große wußte und ſagte, unter anderen Verhältniſſen ein gewaltiger Räuber geworden; der große Phyſiker, Erfin— der, Philoſoph bleibt unter allen Umſtänden er ſelbſt, ſeine Tat wurzelt in nichts anderem als in ſeinem eigenen Gehirn. Wenn wir der Schlacht von Lepanto einen entſcheidenden Ein— fluß auf die Geſtaltung Europas zuſchreiben, ſo gebührt dieſer Ruhm der Schlacht nicht dem Don Juan d' Auſtria, der ſie gewann; aber die Darwinſche Theorie gehört dem Dar— win und die analytiſche Geometrie dem Descartes. Weiter— hin wird beſondere Vorſicht den Meiſtern der Kunſt gegen— über zu wahren ſein. Die zwingende Künſtlerſchaft und die hohe Rangſtellung des Künſtlers reicht noch nicht aus, um unſere Vorausſetzung zu erfüllen. Wir werden vielmehr wenn auch nicht mit der Haftung für Wahrheit, ſo doch mit dem Vorſatz der Wahrhaftigkeit zu prüfen haben, ob der Mann in ſeiner Kunſt ein Pfadfinder und Bahnbrecher ge— weſen iſt. Die abgetrennten Werke und die Liebe, die wir ihnen entgegentragen, bieten uns hier keine Wertſicherheit; entſcheidend bleibt vielmehr, daß der Mann nicht nur am Ende, ſondern am Anfang einer Entwickelung geſtanden hat. Mit vielen herrlichen Künſtlern werden noch zahlreiche andere Perſonen von zweifelloſer Genialität aus der Bildtafel fal—

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len, denn wie gejagt, wir gehen nicht von den Namen aus, ſondern von den Dingen und Erſcheinungen; und da dieſe, dem Problem entſprechend, möglichſt weit abgeſteckt werden müſſen, ſo bleiben für die Betrachtung nur die Leuchttürme der Erkenntnis und die Eckpfeiler der Kultur beſtehen.

Mit dieſen Vorbehalten und noch manch anderer reser— vatio mentalis wollen wir nunmehr Umſchau halten.

Kein Erkenntnisgrund erreicht für die Menſchheit an Breite und Feſtigkeit ſo gewaltige Maße wie das kopernikaniſche Weltſyſtem. In ihm iſt alles Denken der Neuzeit verankert. Nicht die anatomiſche Struktur, ſondern die Befreiung aus dem Kerker der geozentriſchen Anſchauung hat dem Menſchen den aufrechten Gang gegeben, der ihm den Welthorizont er— öffnete. Betrachten wir dieſes Syſtem in ſeinen Begrün— dungen und Ausſtrahlungen, ſo erſcheint es untrennbar von der Gravitationslehre, von den Fallgeſetzen, von den Ein— ſichten in die Planetenbewegungen. Und faſſen wir zuſam— men, was ſich hier als theoria motus corporum celestium bietet, ſo haben wir an die Spitze unſerer Statiſtik vier Urhebernamen zu ſetzen: Kopernikus, Newton, Galilei, Kepler.

Ihnen zunächſt ſteht die Reihe der Forſcher, durch welche die weiteſten Probleme der Mechanik, der Körperbewegung überhaupt, beantwortet wurden. Sie ſind die Baumeiſter der Fundamente für die exakte Naturwiſſenſchaft, die Ver— wirklicher der archimedeiſchen Forderung: „Gib mir, wor— auf ich ſtehe!“ Von ihren Sätzen aus iſt die Erkenntnis— welt wirklich bewegt worden, bewegt um die feſten Punkte mechaniſcher Prinzipien, die in dem von der Erhaltung der lebendigen Kräfte gipfeln. Nennen wir die Koryphäen, wie ſie ſich unſerm Blick darbieten: Huyghens, Jakob Bernoulli,

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d' Alembert, Lagrange, Laplace, Hamilton, Carnot, Euler, Foucault, Robert Mayer, Clauſius, Joule und Helmholtz.

Gauß gehört auch in dieſe Reihe und in geringem Ab— ſtande von ihm die Praktiker der Himmelskunde: Herſchel, Caſſini, Römer, Halley, Lalande, Argelander, Beſſel, Le— verrier, Schiaparelli. Allein da in dieſer Aufmachung jede Größe nur als Einheit zählt, ſo wollen wir den Gauß lieber als princeps der Mathematiker buchen. Und um die Doppelzählung für Newton zu vermeiden, ſeien alle Ehren der Differentialrechnung auf Leibniz gehäuft, der ja auch ohnehin in dieſem Regiſter einen Platz behaupten müßte. Die analytiſche Geometrie, die Schweſter der Differential— rechnung und mit dieſer verbündet die eigentliche Großmacht und erfolgreichſte Wundertäterin im Bereiche des reinen Den— kens, findet ihren perſönlichen Exponenten in René Des— cartes. Die Nobelgarde der reinen Algebraiſten, Funktio— nentheoretiker und Zahlentheoretiker, vertreten durch Fermat, Cauchy, Hermite, Legendre, Riemann, Abel, Jacobi, Weiz erſtraß, wird in dieſem Zuſammenhange außer Berechnung bleiben müſſen, denn wir haben hier nicht das Regiſter der Weltberühmtheiten zu entwerfen, ſondern diejenigen heraus— zugreifen, deren Leiſtungen die weiteſten Wellenringe ge— zogen haben. Und an den Unterſchied zwiſchen Tiefe und Weite müſſen wir uns beſtändig erinnern, wenn unſer Pro— gramm mit der internationalen Betonung ſeinen Sinn be— halten ſoll. Erlangen die Heilswahrheiten der nicht-euklidi⸗ ſchen und der vierdimenſionalen Geometrie einmal beſtim— menden Einfluß auf das mathematiſche Denken überhaupt, dann wird der Statiſtiker der Zukunft die Riemann, Min— kowſki, Poincaré als vollwertige Einheiten nachzutragen haben.

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In den exakten Naturwiſſenſchaften gebührt der Vortritt den Männern, die als Entdecker und Geſetzesfinder die Er— fahrung der Menſchheit bereichert, den Überblick über das empiriſch Gegebene erweitert und in der Erſcheinungen Flucht die ruhenden Pole als Elemente der Erkenntnis aufgezeigt haben. Die klaſſiſchen Mechaniker hatten wir als eine we— ſentlich mathematiſch gerichtete Ordnung bereits vorwegge— nommen. Von der Plattform jener Univerſalmenſchen ge—

ſehen, könnten die bahnbrechenden Vertreter der Optik, der

Elektrizität, der kinetiſchen Gastheorie beinahe als Spezia— liſten erſcheinen. Aber in dieſer Welt iſt die Feinmechanik von der Großmechanik gar nicht zu trennen. Es iſt Geiſt vom Geiſte des Galilei, der ſie alle durchweht, gleichviel, ob wir ihnen die Gasgeſetze, die Spektralanalyſe, die Wunder der Polariſation oder die elektriſchen Kraftlinien verdanken. Jeder wird zur Sonne, wenn wir uns ihm nähern, zum Be— herrſcher eines Syſtems. Unmöglich wäre es, ſie homeriſch zu beſingen, ſchwierig genug bleibt die Anwendung des ho— meriſchen Leitmotives „Andra moi ennepe“. Odyſſeus bei Odyſſeus ſteht in dieſer Ruhmesallee der Scharfſinnigen, und die Perſpektive, die der einzelne Betrachter gewinnt, wird niemals für einen wirklichen Geſamtüberblick ausrei— chen. Wagen wir es trotzdem, ohne die Abſicht, eine Rang- ordnung einzuhalten, in der Fülle der Geſichte die leuch— tendſten zu bezeichnen:

Als Galileis Nachbar und zeitlich mit ihm verbunden, eröffne Torricelli die Reihe. Er und Otto v. Guericke haben der Menſchheit zuerſt für das Rätſel des Luftmeeres, in dem ſie lebt, den experimentellen Schlüſſel geliefert. Als die erſte Pforte erſchloſſen war, öffneten Gay Luſſac, Boyle, Mari otte, Dalton und Avogadro die Geheimfächer zur Gastheorie.

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Über die atmoſphäriſchen Engen hinaus führte die Analyſe des Lichtes in den ſublimen Forſchungen, die ſich an die Na— men Frauenhofer, Kirchhoff und Bunſen, Maxwell, Croo— kes, Boltzmann knüpfen, an Young, Fresnel, Bradley, Tyn⸗ dall, Malus (Polariſation), an Thompſon, Arago, Biot, Snellius; eine lange Liſte, die wir an dieſer Stelle, nicht durch Newton, Huyghens, Euler verlängern dürfen, da wir Doppelzählungen zu vermeiden haben.

Im elektriſch-magnetiſchen Felde ſind die Außenforts durch Volta, Oerſtedt, Gilbert, Ohm, Weber, Faraday, Ampere, Röntgen, Becquerel, Hertz, Nernſt beſetzt. Letzten Endes ſind die Fragen der Elektrizität von denen der Optik wie der neuen Mechanik überhaupt nicht mehr zu ſondern, ſie ſtrecken vielmehr ihre Antennen gemeinſam in jenes rätſelhafte Ge— biet des Relativitätsprinzips, das den allerfeinſten und ver- wegenſten Geiſtern der Gegenwart zum Tummelplatz dient. Wer dieſen im freien Ather vollzogenen Übungen jemals mit ſtockendem Atem nahegekommen iſt, der ahnt in ihnen unermeſſene Zukunftswerte. Hier, in einer vierdimenſionalen Welt, ſchufen und wirken noch heute: Lorentz, Einſtein, Planck, Wien. Auf der Verzweigung zwiſchen Phyſik, Phy— ſiologie und Erkenntniskritik erheben ſich Du Bois-Reymond, Zöllner und Ernſt Mach zu monumentaler Höhe.

Wer lediglich das Zeitmaß ins Auge faßt, mit dem die moderne Naturwiſſenſchaft zur Ausnützung der Naturkräfte geführt hat, wird auf einen Einteilungsgrund ſtoßen, der die Tat des Lavoiſier an die Wegſchneide zwiſchen Alt und Neu ſtellt. Nun läßt ſich aber die Kulturgeſchichte in kei— nem Betracht einen haarſcharfen Trennungsſtrich gefallen, und wer Lavoiſier ſagt, wird Prieſtley und Scheele dazu ſagen müſſen. Jedenfalls gewährt dieſer Einteilungsgrund

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nach chemiſchen Geſichtspunkten den Vorteil, eine Reihe der hervorragendſten Errungenſchaften als nahezu im Zeitraum eines Jahrhunderts eingeſpannt zu erblicken. In dichter Folge ſtehen hier die Großmeiſter des Faches: Davy, Berzelius, Liebig, Wöhler, Gerhardt, Ramſay, Berthelot, Moiſſan, Berthollet; weiterhin van 't Hoff, Mendelejew, v. Baeyer, Fiſcher, Frau Curie und Wilhelm Oſtwald, der ſelbſt ein Buch über große Männer geſchrieben hat und zu dieſen längſt gehörte, bevor noch der Nobelpreis ihm dieſe Rangſtellung urkundlich beſcheinigte.

Vom benachbarten Flügel unſerer Walhalla leuchtet die Figur Charles Darwins als Mittelpunkt einer Gruppe, de— ren Arbeitsgebiet die Organismen vom Protoplasma, von der Zelle, durch alle Zwiſchenſtufen der Entwickelung bis zur höchſtorganiſierten Geſtaltung umfaßt. Wehte uns aus den Werkſtätten der Phyſiker und Chemiker eine durch Maß, Zahl und mathematiſche Abſtraktion erkältete Luft entgegen, ſo gelangen wir hier an Perſönlichkeiten, die uns die Eng— berührung unſerer eigenen Körperlichkeit mit dem Weltgan— zen gelehrt haben. Mögen dieſe Biologen und Morphologen bis in die volle Anthropologie übergreifen oder die unend— lichen Wege der durch Strahlungsdruck geſchleuderten Keim— ſtäubchen verfolgen, mögen ſie im Schoß der Mutter Erde wühlen und uns die Grenzgebiete der belebten und unbeleb— ten Natur aufzeigen oder in menſchlichen Kapillargefäßen die Geſetze des Heils und Unheils erforſchen, die Schluß— formel dieſes ganzen Kongreſſes bleibt für uns: tua res agitur! So geſehen, gehören Schwann, Schleiden, Vir— chow, die Meiſter der Zellentheorie, Veſalius, Harvey, Boer— have, Leeuwenhoek, Haller, Owen, v. Bär, Claude Bernard und Johannes Müller, die Exponenten der modernen Ana—

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tomie und Phyſiologie, Lyell, Wallace, Ofen, Lamarck und Haeckel als Werkführer am Bau der Evolutionslehre, in denſelben Größenkonzern. Linné, Buffon und Cuvier dür⸗ fen hier nicht übergangen werden, wenn wir auch mit ihnen in ein gefährliches Gedränge zwiſchen Wahr und Falſch geraten; ſie gehören zum hiſtoriſchen Bilde, teilweiſe antithetiſch, aber doch unentbehrlich. Auch zwei Dichter grüßen uns aus die— fer Gemeinſchaft: Goethe, ein Vorahner Darwinſcher Ge— danken, und Chamiſſo, der Entdecker des Generationswech—⸗ ſels; ihnen zunächſt drei Geſtalten von kosmiſcher Prägung, weit auseinanderliegend und doch durch einen gewiſſen Ein— ſchlag ſchweifender Phantaſie verbunden: Fontenelle, Hum⸗ boldt, Svante Arrhenius.

Von Harvey und Boerhave aus gewinnen wir leicht den Anſchluß an die Samariter der Menſchheit, deren Stamm— baum bis auf Galenus zurückreicht, die wir aber im Nah: men dieſer Betrachtung nur bis Paracelſus zurückverfolgen dürfen. Unbekümmert um die Selektionsergebniſſe im struggle for life und ohne Rückſicht auf die Hinaufpflan⸗ zung reichen ſie uns die Hand als praktiſche Helfer im Kampf ums Daſein. Unter den Leidensverkürzern und Le— bensverlängerern behaupten in Anſehung der von ihnen ge— ſchaffenen Methode die ſichtbarſten Plätze: Jenner, Scarpa, Hufeland, Liſter, Dieffenbach, Langenbeck, Billroth, Nela— ton, Pafteur, Koch, Roux, Behring, Ehrlich. Als Meiſter der Anäſtheſierungskunſt kommen Jackſon und Simpſon in Betracht, von denen eine Abzweigung auf unſeren Schleich führt. Albrecht von Graefe, der Begründer der neuen Au— genheilkunde, bildet eine Klaſſe für ſich, vielleicht mit Don— ders einen Doppelſtern. Daß Helmholtz auch in dieſes Ge— biet hineingeleuchtet hat, ſei nur betont, um ſeine Allgegen—

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wart bei jeder Lichtoffenbarung als eine unerſchütterliche wiſ—⸗

ſenſchaftliche Konſtante feſtzuhalten. Schlage die ewigen Bü— cher auf, wo du willſt, überall findeſt du die Botſchaft, die von einem Pariſer Gelehrtenkongreß in die Welt zog: „Dieu parla, que Helmholtz naquit et la lumiere est faite“!

Mehr als eine Brücke führt vom Geſtade der Theorie zum Uferland der Praxis. Nachdem wir mit flüchtigem Fuß die Seufzerbrücke der chirurgiſchen Operationen durchmeſſen

haben, wenden wir uns zum Rialto, der uns den Markt des

Lebens öffnet. Was hier die Annalen der Errungenſchaften als Fortſchritt, als Unterjochung der Naturkräfte, als Men⸗ ſchenglück preiſen, ſtellt ſich im Prinzip als die Übermwin- dung von Raum und Zeit dar, dergeſtalt, daß der Raum verkleinert, die verfügbare Zeit verlängert und das Lebens— tempo trotzdem beſchleunigt wird; ein Widerſpruch in ſich, der auf einem univerſalen Denkfehler beruht, auf einer Ge— fühlstäuſchung, die uns andauernd ein Plus an erſparter Zeit vorſpiegelt, wo tatſächlich ein ſtetig wachſendes Defizit nach Deckung ruft. Das Zeitalter des Dampfes, der trei⸗ benden Gaſe und der elektriſch-motoriſchen Kräfte, eingeleitet durch Papin, Fulton, Watt, Mongolfier, charakteriſiert durch Stephenſon, Siemens, Daimler, Lilienthal, Maxim, Wright und Ediſon, findet ſeinen Triumph in der Zuſammenpreſſung von Räumen und Tätigkeiten auf ein Minimum, wobei dann folgerichtig ein Maximum freier Zeit herausgequetſcht wer—⸗ den müßte. Je weniger hiervon wahrzunehmen iſt, deſto trotziger beharrt der Kulturmenſch auf dem Segen der Ar— beitsmaſchinen, der Blitzzüge, der Rekorddampfer, der Flug- zeuge leichter und ſchwerer als die Luft, der Telegraphen und

Telephone mit und ohne Draht, der Automobile mit und ohne

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 17

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Zweck. Ergänzen wir alfo die Lifte durch Aufreihung der prominenteſten Erfinder: Gauß und Weber, Morſe, Hughes, Wheatſtone, Gramme, Hefner-Alteneck, Philipp Reis, Gra⸗ ham Bell, Branly, Marconi, Slaby. Durchweg Genies vom Range derer, die das Pulver erfunden haben; und ſo müßte hier auch der auftreten, der es wirklich erfand, wenn er ſich durch klare Zeugniſſe ausweiſen könnte. Da dies bekanntlich nicht der Fall iſt und die perſönlichen Urſprünge der Feuer⸗ waffen überhaupt im Nebel liegen, ſo wollen wir für die ganze Herrlichkeit der organiſierten Mordtechnik lediglich den einen in Rechnung ſtellen, deſſen Name nicht nur ein Vernichtungs-, ſondern auch ein Friedensſymbol geworden iſt: Alfred Nobel. Auf die Poſtamente ihm zur Seite mögen ſtatt unſicherer Zerſtörer ſichere Wohltäter ſteigen: Franklin, der den Blitz zähmte, Salvino d' Armato, der Erfinder der Brillen, Dollond (der Vollender des Fernrohrs), Janſſen (Mikroſkop), Drebbel und Reaumur (Thermometer), Beſ— ſemer (Stahlinduſtrie), Peter Henlein (Taſchenuhren). Scheint einer von ihnen zu klein neben den Gewaltigen des Geiſtes, deren Gehirnorganiſation wir bewundern, ſo möge uns ein Sinnwort des großen d'Alembert über die Auswahl beruhigen: „Warum ſollen wir diejenigen, welche die Spin— del, die Hemmungen, die Repetition im Getriebe der Uhr er— fanden, nicht ebenſo hoch ſchätzen wie die Männer, welche die Algebra zur Höhe entwickelten?“ ſo fragte dieſer Univerſaliſt in ſeinem grundlegenden Diskurs zur Enzyklopädie.

Aber alle dieſe Erfindungen und alle geographiſchen Entdeckungen dazu, von Kolumbus, Vasco de Gama, Tas⸗ man und Cook, bis zu Livingſtone, Stanley, Brazza, Norden— ſkjöld, Sven Hedin, werden aufgewogen durch die eine Fin— dertat des Gutenberg. Nähme man den Menſchen alle münd—

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liche Überlieferung, würfe man fie auf den Stand des frühen Mittelalters zurück und ließe ihnen nichts als den vorhane denen Buchdruck, ſo würde ſich die heutige Kulturwelt in wenigen Jahrzehnten wieder aufbauen. Der bedeutſamſte Erkenntnisweg führt nicht durchs Ohr, ſondern durchs Auge zum Verſtande, und wichtiger als die tönende Sprache bleibt die ſtumme der fünfundzwanzig Typen in ihrer eindringlichen Beredſamkeit, die auf Beharrung und milliardenfacher Häu— fung der wirkenden Elemente beruht. Laplaces Weltgleichung als Anſatz für alle Geſchehniſſe im Univerſum muß ein Phan— tom bleiben, aber für alles erworbene Wiſſen, für die Uns endlichkeit der geiſtigen Differentiale liegt das Integral fertig vor in der Summe der Bibliotheken und in der Weltpreſſe. Hier, und hier ganz allein, iſt ein Vorgang zwiſchen Men— ſchen, der an kosmiſche Ereigniſſe heranreicht: aus Atomen ſahen wir eine Welt entſtehen!

Eine Welt, deren Achſe durch die Pole des Monismus und Dualismus leitet. In unzähligen Erſcheinungen aus— einanderſtrebend, hat ſie noch ſtets die richtenden Kräfte für ihre Flugbahn aus der ſtillen Kammer gewonnen, in der ſin— nend der Weiſe den ſchaffenden Geiſt beſchleicht. Wohl hat mancher Exakte im Stolz auf blendende Handgreiflichkeiten die Metaphyſik und die Philoſophie überhaupt mißachtet; von der Brüſtung eines Luxusdampfers des Ozeans geſpot— tet, der das Schiff trägt; bis dann wieder unter den Viel— zuvielen einer der Vielzuwenigen erſcheint, der den ſtillen Wei— ſen neue Altäre baut.

Im Zuge unſerer Erörterung, die ja nur ein Verzeichnis ergeben ſoll, iſt in dieſem Pantheon zwiſchen Göttern und Gegengöttern nicht zu unterſcheiden. Materialiſten und Idea⸗ liſten, Empiriker und Tranſzendente, Syſtematiker und phi⸗

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loſophiſche Rhapſoden, ſofern ihr Denken tiefe Furchen im Geiſtesleben zog, haben unſere Tabelle zu bevölkern. Und ſo mögen ſie hier friedlich aufmarſchieren, die Vorkämpfer und Antagoniſten: Bruno, Bacon, Spinoza, Pascal, Hobbes, Locke, Hume, Berkeley, Kant, Bayle trotz Spinoza, Hegel trotz Schopenhauer, Lamettrie, Holbach und Gaſſendi trotz Leibniz und Lotze; jenſeits von Richtig und Falſch, aber dies⸗ ſeits von Flach und Profeſſoral buchen wir: Diderot, Con— dillac, Shaftesbury, Voltaire, Lange, Nietzſche, Bergſon, Fritz Mauthner, den Undiplomierten, den ich unbedenklich den Gewaltigen zuzähle, in derſelben Zuverſicht, mit der ich Her der, Herbart, Viſcher, Fechner, Wundt, Spencer, Ernſt Mach und Vaihinger auf dieſe Tafel ſchreibe. Minder ſicher wäre ich bei Auguſt Comte und James, dem Pragmatiſten. Aber einen Vielgeſchmähten möchte ich mir nicht entgehen laſſen, den großen Rüpel unter den Philoſophen, Eugen Dühring, denn mit ſeiner kritiſchen Geſchichte der Prinzipien der Mecha⸗ nik gehört er der Ewigkeit an. Noch fehlt der Mann, der die Mechanik des hiſtoriſchen Geſchehens mit gleicher Genialität zuſammengefaßt hätte. Bis er erſcheint, mögen Montes⸗ quieu, Niebuhr, „der Vater der Geſchichte“, Mommſen, Gui⸗ zot, Tocqueville, Winckelmann, Taine, Renan, Strauß und Buckle die Plätze füllen. Wenn ich ihnen noch Max Nordau angliedere, ſo geſchieht dies einfach aus dem Recht der Sub— jektivität heraus, das für mein Regiſter durchweg als uner- läßliche Vorbedingung ausgemacht war.

Was im Hochland der Philoſophie Erkenntnis, reine An— ſchauung, Ahnung, Fernſicht iſt, verdichtet ſich im Tal der Völker zum Verſprechen und zur Agitation. Hier ſtehen die Männer, welche Theſen anſchlagen, Programme verkünden, die Reformatoren, Humaniſten, Befreier, Aufklärer und die

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Apoſtel des Glücks für die größtmögliche Anzahl: Luther neben Hutten, Petrarca neben Erasmus, Rouſſeau und Mirabeau, Waſhington und Lafayette, Feuerbach, Fichte und Saint Simon als Protagoniſten einer durch Proudhon, Marx, Laſſalle und Rodbertus gekennzeichneten Szenerie. Um— wertung der Werte im Geſellſchaftsweſen, Emanzipation und Völkerfrieden ſind die Parolen, nach denen Adam Smith, Stuart Mill, Wilberforce, Frederic Paſſy die großen Egois— men neu orientieren.

Und die Künſtler? ſie, die uns über peinliche Erdenſchwere hinweg zur intelligibeln Welt heben? Nur mit Zagen gehe ich an dieſen Katalog, der mir, wie ich ihn auch entwerfe, den Vorwurf eines falſch eingeſtellten Geſichtswinkels ein— tragen muß. Gewiß nicht um derentwillen, die genannt wer— den ſollen, als wegen der Köſtlichen, die vermöge ihrer Fein- heit durch das weitmaſchige Netz dieſes Planes gleiten. Die Adler werden drin bleiben und die Nachtigallen entflattern. Wie viele ſind nicht zu internationaler Bedeutung gediehen in der internationalen Tonkunſt, die ganz auf die Neuzeit ge⸗ ſtellt, in knapper Spanne dreier Jahrhunderte an Fülle der Genies alles nachgeholt hat, was die Jahrtauſende ihr ver— ſagten! Den Parnaß kann man mit ihnen dicht beſiedeln, nicht aber dieſe unzarte Liſte, die weniger nach Entzückungen fragt als nach fortwirkender Tat, nach Einfluß auf weitere Geſtaltungen. Kein Widerſpruch kann ſich erheben, wenn Bach, Gluck, Mozart, Beethoven und Richard Wagner hier als richtende Prinzipe aufgeſtellt werden. Wohl aber könnte die Einrede gelten, wenn ich Meyerbeer und Mendelsſohn nenne, dagegen Gounod auslaſſe, wenn ich Johann Strauß und Offenbach feſthalte, dagegen Auber, Boieldieu, Lortzing übergehe. Die Einrede könnte und müßte gelten, wenn es

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ſich geradewegs um Kritik der Leiſtungen handelte. Aber hier befinden wir uns in dem beſonderen Fall, daß wir nur Muſik— materien wägen dürfen, alſo nur Empfindungen, die blei— ben, unabhängig von den klanglichen Einkleidungen, in denen fie zuerſt auftraten. Weber, Schumann, Chopin, Verdi, Roj- ſini, Liſzt, Berlioz, Brahms, R. Strauß gehören zu den Er- weiterern, zu den Befruchtern, manch einer, dem ich den gött— lichen Funken nicht beſtreiten möchte, wie Rubinſtein, Tſchai⸗ kowſky, Max Bruch, Saint-Saöns, Bizet, zu den Befruch- teten. Man ſuche nicht weiter nach klangvollen Namen. Nichts wäre mir leichter, als die ganze Ehrenlegion der be— rühmten Meiſter hier antreten zu laſſen, von Paleſtrina bis Mascagni. Aber eingekeilt zwiſchen ſubjektivem und objek— tivem Zwang, zwiſchen perſönlicher Neigung und einem vor— geſteckten Programm, kann ich über jene Minderzahl nicht hinaus.

Und in noch ärgere Bedrängnis gerate ich bei den bildenden Künſten. Hier wollen mir ſtreng genommen nur ganz wenige einleuchten, in die alle Bedingungen unſerer Statiſtik reſtlos aufgehen, von Donatello aus gerechnet: Verrocchio, Mi— chelangelo, Raffael, Lionardo, Rembrandt, Valesquez. Jeder Atlas der Kunſtgeſchichte kann mich mit den Schwergewichten von Bramante, Tizian, Rubens, Frans Hals, Holbein, Dü⸗ rer und hundert Modernen auf der Stelle erſchlagen. Ich müßte ſtillhalten, denn welcher bildende Künſtler wird es mir glauben, daß im Zuge unſerer Betrachtung das Differential, das Atom oder die Erfindung der Logarithmen durch Napier wichtiger iſt als manche Galerie und Kathedrale?

Ungleich größere Energien ſtrahlen von der ſchönen Lite— ratur aus, und wo ſie ſtrahlen, da finden fie in Millionen drucken einen Multiplikator, der ihnen eine unendliche An—

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griffsfläche jedem Bildungsbedürfnis gegenüber verfchafft. Um die Wunder der Tribuna zu genießen, muß der Kultur— genoſſe nach Florenz pilgern, aber den Fauſt und den Hamlet weiß er auswendig, und das Wort iſt ihm in jeder Sekunde gegenwärtig. Durch alle Sprachverſchiedenheiten hindurch ſchlägt hier das Weltbürgertum des Gedankens, und genau wie Kopernikus und Galilei ſind Dante, Boccaccio, Cervan— tes, Vega, Calderon, Rabelais, Shakeſpeare, Moliere, Goethe und Schiller Weltpropheten geworden; ihnen zunächſt Leſ— ſing, Wieland, Byron, Swift, Edgar Poe, Victor Hugo, E. T. A. Hoffmann, Heine, Gobineau, Tolſtoi, Ibſen, Zola, Doſtojewsky —, um nur diejenigen vom Campo Santo zu nennen, die ich ſelbſt als völlig ſichere und fernhin wirkende Originalgrößen empfinde.

Ich ſelbſt. Damit ſei am Schluß wie am Anfang betont, daß dieſes Regiſter ſehr viele Löcher hat, haben muß, aber vielleicht einige weniger als die Diplomliſte der Decandolle und Pickering. Wünſchenswert wäre es, wenn recht viel ab— weichende, mit anderen Subjektivurteilen geſättigte Liſten aufgeſtellt würden; es müßte ſich dann früher oder ſpäter eine Ausgleichsrechnung ergeben, die zwiſchen den Fehlern hindurch die Querlinie einer gewiſſen Zuverläſſigkeit erreicht.

Das Endergebnis meines Kataloges iſt ſchnell hingeſchrie— ben. Ich ermittle für Deutſchland reichlich hundert, für Frankreich und England rund je ſechzig Einheiten. In wei— tem und weiteſtem Abſtande folgen Italien, Niederlande, Skandinavien, Rußland, Vereinigte Staaten, Schweiz, Py— renäiſche Halbinſel, die zuſammen erſt ungefähr fünfzig Punkte ergeben. Die Rechnung wird vielen Nichtdeutſchen mißfallen. Aber ſie ſtimmt eigentlich nicht übel zu einigen Komplimenten, die uns die Rivalen über die Grenze geſchickt

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haben. Das Wort vom Volk der Dichter und Denker ſoll für Germanien gelten, iſt aber in England (von Bulwer) ges münzt worden. „Friedrichs Staat, der einzige Staat, der einen geiſtreichen Kopf ernſtlich beſchäftigen kann“, ſagt Mi⸗ rabeau; „Die germaniſche Raſſe, die höchſtſtehende“, ſagt Gobineau; „Die deutſche Literatur die erſte in Europa“, „Die Deutſchen, das iſt zweifellos, haben ſeit der Mitte des acht— zehnten Jahrhunderts eine größere Anzahl tiefer Denker als irgendein anderes Land, ich könnte vielleicht ſagen, als alle anderen Länder zuſammengenommen, hervorge— bracht“, ſagt Buckle, der in Angelegenheiten der „Zivili— ſation“ ziemlich gut beſchlagen war. Für die obige Bilanz iſt es jedenfalls nicht unvorteilhaft, daß die Zahl in der Mei nung, die Majorität in der Autorität und in was für einer Autorität! Schutz und Deckung findet.

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Dom hohen Berge

Zu den Dingen, die in einem Kriege und in feinen Nach— wirkungen nicht „geſtreckt“ werden, gehört das Reiſen. Berufene Federn haben erörtert, wie die Verengung des Reiſehorizontes eine Vertiefung des Reiſezweckes bewirken wird, wie wir zahlloſe Herrlichkeiten des Vaterlandes ent⸗ decken werden, die wir vordem vernachläſſigten, um den Bädekerſternen des Auslands nachzujagen.

Aber jenſeits ſolcher Betrachtungen liegt eine andere, die vom Reiſezweck auf die Reiſenotwendigkeit übergreift und über der Behaglichkeit einer Sommerfriſche, über der Se— henswürdigkeit von unterwegs ein erhöhtes Ziel wahrnimmt. Auf dem Grunde dieſer Betrachtung liegt ein Lebensproblem, das an die tiefſten Geheimniſſe der erlebenden und emp- findenden Seele rührt. Man kann ihm nur nahekommen, wenn man zwei Gedankengänge einſchlägt, deren Ergebniſſe, ſcheinbar unabhängig voneinander, dennoch aufeinander wirken, wie die Pole einer Batterie. Zwiſchen ihnen wird plötzlich mit großer Leuchtkraft ein Funke der Erkenntnis überſchlagen.

Wir ſtellen uns zuerſt eine Gebirgsreiſe vor. Ein Gefühl der Romantik klingt in uns auf. Die Höhe, als die dritte Dimenſion, tritt in unſere Erfahrung, die ſich ſonſt im

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Dunſtkreis des Alltags ausschließlich als ein Gebilde der Fläche entwickelt. Die Bergwelt bricht dieſen Bann. In⸗ dem ſie uns die dritte Dimenſion zum Einfühlen, Höhe und Tiefe zum Durchkoſten liefert, löſt ſie in uns die eigene Körperlichkeit, die danach verlangte, ſich aus planimetriſcher Gefangenſchaft zu befreien. Die Welt des Erlebens, die da unten ein Bild war, empfängt Relief, erſcheint uns plöß- lich wie ein körperhaftes Kunſtwerk, in deſſen Abmeſſun— gen wir unſere Leiblichkeit wiedererkennen. Was uns an einem großartigen Bauwerk, an einem himmelſtrebenden Dom im Innerſten ergreift, iſt, auf die Grundformel ge— bracht, die Überwindung der Schwerkraft. Wenn wir ſelbſt ſteigen, ſelbſt den Bruch mit der drückenden Verordnung der Erdenſchwere vollziehen, durchſtrahlt jene Kunſtempfin⸗ dung unſeren ganzen Organismus. Wir blicken auf den Flächenmenſchen, wie dieſer auf ſeinen eigenen Schatten. Es iſt das kosmiſche Gefühl der vollendeten Raumerfaſſung, was wir ſonſt mit dichteriſchen Umſchreibungen als Schön— heit der Gebirgswelt, als Ausſicht, Rundblick und Pano— rama preiſen.

In den zweiten Gedankengang biegen wir mit der Frage ein, ob wir denn ein Organ beſitzen, das den Raum un— mittelbar zu erfaſſen vermag. Die Antwort ſcheint ſich als ſelbſtverſtändlich zu ergeben: unſere geſamte Leiblichkeit, in— ſonderheit der Taſtſinn, und das Auge, jo meint man wohl obenhin ſtellen hierfür die geeigneten Werkzeuge. Aber das wäre ein Trugſchluß, der den Raum als ſolchen mit dem verwechſelt, was ihn erfüllt. Hier aber, wo es ſich wirklich nur um die Dimenſion handelt, verſagen jene Sinne vollſtändig, ſie beſitzen nicht die Fähigkeit, den reinen Raum wahrzunehmen, und wenn ſie dem Verſtand erzäh—

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len, was fie davon wahrgenommen haben, fo liefern fie ihm nur dürftige Überſetzungen, nicht das Original ſelbſt.

Aber ein anderes Organ das Ohr tritt mit einem neuen Anſpruch hervor. Es meldet ſich mit der ſeltſamen Behauptung, daß es imſtande ſei, den Raum ſinnlich zu er⸗ faſſen und ihn dem Menſchen originalgetreu zu übermitteln. Wenn du beim Reiſen, beim Steigen ein Luſtgefühl ver— ſpürſt, ſo redet das Ohr zur Perſönlichkeit, wenn du dich in den Raum wirfſt und zugleich den Raum als ein Durchflutendes in dich aufnimmſt, ſo liegen die Wurzeln dieſer Luſt ganz anderswo als du vermuteſt: nicht im Auge, das dir kinematographiſche Bilder abrollt, nicht in der Über— legung, die dir Kilometer vorrechnet, ſondern im Ohr, als dem einzigen Raum⸗-Organ, das dir die Natur verliehen hat.

Iſt der Raum alſo hörbar? nicht zu erſehen, dafür aber zu erhorchen? Wir werden uns wohl entſchließen müſſen, dies anzunehmen, ſeitdem einer der ſchwierigſten und ſcharfſinnig— ſten Tierverſuche das Labyrinth im Ohr als den wahren und einzigen Sitz der Raumempfindung über jeden Zwei— fel hinaus aufgezeigt hat. Kein anderes Organ vermag mit ähnlicher Leiſtung dem Ohr auf ſeiner Wanderung zu folgen. Und da das Ohr auf der Wanderung auch hört, die Welt— geräuſche in ſich aufnimmt, ſo ergänzen wir:

Das Reiſen, inſonderheit das Reiſen zur Höhe, iſt ein ſymphoniſches Erlebnis. Jenſeits der durch grobe Meß— werkzeuge erkundbaren Klänge gibt es ein kosmiſches Rau— ſchen, das ſich der Tiefe des Gehörs ankündigt und von ihm als eine Raumvorſtellung verarbeitet wird. Dem Lichte des Weltalls verwandt iſt dieſes Weltgetön eine Grundbedingung unſeres Daſeins. Und unſer Trieb, den Ort zu wechſeln, uns in die Höhe zu ſchwingen, iſt im letzten Grunde nur die

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Sehnſucht nach jenem himmliſchen Konzert, das auf den drei Dimenſionen des Raumes ſpielt.

Goethe hat das gewußt und ſein Wiſſen in Hörbildern und Sehklängen niedergelegt: „Die Sonne tönt nach alter Weiſe“ „Welch Getöſe bringt das Licht!“ Was feiner- zeit Geheimwiſſen war, könnte dereinſt Weltkunde werden: ins Hochgebirge reiſen heißt: dem tönenden Lichte zuſtreben! Unabhängig von Laune, Mode und Zerſtreuungsbedürfnis iſt es eine Lebensnotwendigkeit, die ſich auf einer gewiſſen Stufe der Organiſierung unter allen Umſtänden durchſetzt.

Sie wird aber dereinſt ihre unbeſiegliche Kraft nicht nur an Einzelweſen erproben, ſondern an Gemeinſchaften. Heut fragt der banggeſtimmte Reſt der Weltbürgerlichkeit, ob es wohl überhaupt noch möglich ſei, die zerſplitterten Scherben der Internationalität, der Weltwiſſenſchaft, der Weltkunſt wieder zur Einheit zu fügen. Der hohe Berg weiß die tröſt— liche Antwort. Nicht für heut, nicht für eine Kriegsdauer, aber für die Friedenszukunft. Die Welt, die Internationali⸗ tät und der hohe Berg können warten. Er bietet keinen allzu breiten Aufenthalt auf feiner bevorzugten Spitze, deſto ſiche— rer weiß er, daß ſich auf ihr diejenigen zuſammenfinden wer⸗ den, auf die es ankommt. Und bei ihnen wird ein moderner Zarathuſtra ſtehen, mit einer modernen Bergrede, voraus⸗ geſetzt, daß auch Philoſophen umlernen können.

Denn Nietzſches Geſandter durfte ſprechen: „Wer auf die höchſten Berge ſteigt, der lacht über alle Trauer-Spiele und Trauer⸗Ernſte.“ Der neue Zarathuſtra wird nicht lachen, noch weinen, allenfalls lächeln über die Kurzſichtigen, die ſorgenvoll meinen, ein Fluß der Entwickelung ließe ſich mit irgendeiner trennenden Schere entzweiſchneiden; jenem Wan⸗ derburſchen an Einſicht vergleichbar, der auf dem Reifträger

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Bi die Elbquelle mit der hohlen Hand aufhielt und dabei rief:

Was werden ſich die in Hamburg wundern, wenn dort die

Eibe ausbleibt!

Der neue Zarathuſtra wird ſagen: Dem Trieb nach Raum⸗ erfaſſung und der Sehnſucht nach dem Klingen des Welt— alls gehorchen ſie alle, die hier heraufkommen. Die nach alter Weiſe tönende Sonne hat ſie emporgezogen, und die Sonne iſt international.

Dieſer Franzoſe, Engländer, Ruſſe, Italiener wollte nicht mehr nach Deutſchland; ſie werden den Weg dahin wiederfin— den, nachdem ſie den Weg hier herauf gefunden haben. Eine Stimmung beherrſcht ſie hier alle. Gleichgültig iſt es, ob der Gipfel Pilatus heißt, oder Gornergrat oder ſonſtwie. We⸗ ſentlich, daß er ein Gipfel iſt, der über flächenhaftes Getriebe und flächenhaftes Denken hinausragt.

Von den Firnen und Gletſchern dort drüben löſen ſich Wildbäche, die zu Strömen werden, der großen Flut zueilen, die wiederum verdampft und dem hohen Berge ihren Wol— kengruß ſendet. Und in den ewigen Kreislauf, der keinen Anfang kennt und kein Ende, der alle Grenzen auslöſcht, fühlt ſich der Hochwanderer unmittelbar eingeſponnen.

Allem Weltgeſetzlichen fühlt er ſich näher. Er braucht nicht den Wortlaut der Keplerſchen Geſetze zu kennen, noch die Himmelsmechanik der Kopernikus, Newton, Kant, Laplace zu verſtehen; aber er ſpürt, daß ſich hier das Unbegreifliche mit dem Begriffenen vermengt; und daß Internationales am Werke ſein mußte, um das Begriffene zu ſchaffen, das ſpürt er auf dem hohen Berge, wo er dem Weltgeiſt näher iſt als in der Tiefe.

Nietzſches Zarathuſtra durfte ſagen: „Ich bin ein Wan⸗ derer und ein Bergſteiger; und was mir nun auch noch als

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Schickſal und Erlebnis komme, ein Wandern wird darin ſein und ein Bergſteigen: man erlebt endlich nur ſich ſel— r

Unſer Höhenmenſch weiß und fühlt es anders. Er ſteigt auf den hohen Berg, erſtlich um ſich ſelber, dann aber und dies wird zur Hauptſache —, um in ſich die Menſchheit zu erleben!

Artur Fürſt und Alexander Moszkowski

Das Buch der 1000 Wunder

Umſchlag⸗ und Einbandzeichnung von Lucian Bernhard 20. Auflage.

Preis geheftet 6 Mark, gebunden 8 Mark

Voſſiſche Zeitung, Berlin: Ein vielſeitiges, reichhaltiges und amüſantes und dabei ein ernſtes Buch. Die Verfaſſer treten völlig unvoreingenommen und objektiv an ihr Problem heran. . .. Sie fordern weder Glauden noch Skepſis; ſie geben keine Werturteile ab, ſondern ſtellen lediglich feſt auf Grund einwandfreier Berichte, deren Kritik ſie den Leſer überlaſſen. So kann ein jeder das Buch nach ſeiner Faſſon leſen und ein jeder kann darin die Beſtätigung ſeines Glaubens oder ſeiner Zweifel finden. Wer gern Anekdoten, amüſante und erſtaunliche Geſchichten erzählt, dem bietet ſich in dieſem Buche eine Fund⸗ grube, der gegenüber die berühmteſte Aneldotenſammlung verblaßt. Wer Ideen ſucht, der findet ſie hier dutzendweiſe. Wer ſich und andere gerne gruſeln macht, kommt ebenſo auf ſeine Rechnung wie einer, der gerne durch anſcheinende, aber unwiderlegbare Unmöglichkeiten verblüfft. Aber über dieſe leichte Unter⸗ haltungsform hinweg leitet das Buch unmerklich zu einem großen gläubigen Staunen, das in der Mücke kein geringeres Wunder ſieht als in der „Raum⸗ zeitwelt“ der Relativitätstheorie, und das unmittelbar einführt in das eine große Wunder des Lebens.

Züricher Poſt: Wer die Lektüre dieſer „tauſend Wunder“ begonnen hat, kommt nicht mehr davon los; in überaus klarer und anſchaulicher Darſtellung, doch immer auch kritiſch beleuchtet, werden uns da die Wunder des Mikrokos⸗ mus und Makrokosmus, der phyſiſchen und ſeeliſchen Kräfte vorgeführt. Das Buch iſt faſt unerſchöpflich reich an Unterhaltung und Belehrung und wird jedem, der es lieſt, ein köſtlicher Beſitz werden.

Neues Wiener Tagblatt: . . . So erſcheint uns dieſes lehrreiche und ſchöne Buch als ein Heldenepos der ganzen Menſchheit und läßt tiefe Sehnſucht in uns aufwachen nach jenen Tagen, in denen unſre Kraft und Erfindungsgabe nicht mehr auf ſinnloſe Vernichtung, ſondern auf den Ausbau des herrlichen Wiſſensbaues gerichtet iſt, der ein Tempel aller Menſchen auf dieſer Erde iſt. ... Jedenfalls iſt es ein ſehr intereſſantes Buch, das in vielen kleinen Abſchnitten, die äußerſt merkwürdige Dinge mitteilen, eigentlich das Ziel des unter andern Sprüchen vorgeſetzten Satzes Leſſings verfolgt: „Der Wunder höchſtes iſt, daß uns die wahren, echten Wunder ſo alltäglich werden können, werden ſollen.“

Verlag von Albert Langen in München

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