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DER UNTERGANG DER DONAU = MONARCHIE

DONAU-MONARCHIE

DIPLOMATISCHE ERINNERUNGEN

VON

BARON J.voNSZILASSy

EHEMALIGEM ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN GESANDTEN IN GRIECHENLAND LIND EHEMALIGEM GESANDTEN DER UNGARISCHEN REPUBLIK IN BERN

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Alle Redite, insbesondere die der Übersetzung, vorbehalten

Copyright 1921 by Verlag Neues Vaterland, E, Berger Co.

Berlin W62, Kurfürstenstraße 125

DfCclncn beiden Sd^toeftern.

und der

Trau Conteffa d Smeccäla

^CLüidmet

Amicus Plato sed magis Amica Veritas !

Vorwort.

Nach Abschluß des Weltdramas schreibt heute jeder, der darin eine Rolle gespielt hat, seine Memoiren. Dies gilt namentlich für die besiegte Seite, wo der all- gemeine Umsturz diplomatische und dynastische Rück- sichten völlig beiseite geschoben hat.

Insofern diese \'eröfifentlichungen, deren Verfasser natürlich ihre eigene Politik oder zumindest diejenige ihres Landes zu verteidigen bestrebt sind, zur Fest- stellung der geschichtlichen Wahrheit beitragen können, sind sie nur zu begrüßen. Erst v^enn man ein Übel gründlich kennt, kann man dasselbe zu beseitigen hoffen, und nichts wird die Abschaffung künftiger Kriege so sehr erleichtern als die genaue Kenntnis all jener höchst komplizierten ^Momente. Nvelche den katastrophalen Weltkrieg zur Folge hatten.

Dies sei meine Entschuldigung, wenn ich mit diesem Buche in die Reihe der Kriegsmenioirenschreiber trete. Meine Lage ist aber eine ganz besondre. Ich habe nichts zu verteidigen, denn ich füllte keine verant- wortliche Stelle aus. Leider sind für meine Heimat fast alle meine \'oraussagungen eingetroffen. Im alten diplo- matischen Dienste der österreichisch-ungarischen Mon- archie tätig, dessen Vertretern im Auslande nach der übhchen Tradition blois ausführende Befugnisse zu- standen, habe ich seit jeher den politischen Kurs meiner Heimat mißbilligt, der mit an der Katastrophe schuldig

wurde. Ich habe es nie versäumt wenn ich dies auch meinen Untergebenen und der Öft'entUchkeit gegenüber aus begreifhchen Gründen nicht tun konnte, was ebenso unschickhch wie zwecklos gewesen wäre , meine Vor- gesetzten, und namentlich die Herrscher und Minister des Äußeren, auf die vielen Bedenken, die mir die Kriegspolitik einflöiste, aufmerksam zu machen. Meine eigenen Aufgaben lagen abseits. Meine Macht reichte nicht weiter und es ist nicht mein Fehler, wenn „meine Stimme in der Wüste schrie". Ich glaube aber, daß gerade die erwähnten Umstände mir eine gewisse Ob- jektivität des Urteils sichern. Ich kannte die in Öster- reich-Ungarn herrschenden Ideen, ich kannte auch jene der Ententeländer. Ich bin in der französischen Schweiz und in England erzogen worden und habe meine ganze Laufbahn im Dienste der Donaumonarchie verbracht. Hatte ich den dort herrschenden Kurs schon seit langen Jahren für falsch erkannt, so war ich doch nie für die enormen Schwierigkeiten und die Lebens- erfordernisse meiner Heimat blind; ich wollte diese Probleme nur in anderer Art lösen. Dies alles erlaubt mir. ohne jede Leidenschaftlichkeit zu schreiben.

Ich hoffe daher, daß diese Erinnerungen, die in An- betracht der mir zugefallenen sehr bescheidenen Rolle sich nur auf einige Seiten der Welttragödie beziehen, doch ein gewisses, wenn auch beschränktes Interesse haben werden. Ich werde meine Aufgabe für erfüllt halten, v.enn in der noch allgemein herrschenden Dunkelheit diese Nebenlichter, wenn auch sehr schwach, so doch als Lichter und nicht als. Irrlichter dienen können.

Bei der Schilderung der kleinen Rolle, welche das Schicksal mir vor und während der Weltkatastrophe zu spielen beschied, werde ich notgedrungen gezwungen

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sein, auch des sträflichen Leichtsinnes jener zu geden- ken, die mit dem Feuer so lange spielten, bis es nicht -mehr zu löschen war. Bei gewissen., Enthüllungen" werde ich aber mein möglichstes tun, um keine Namen, be- sonders nicht solche maßgebender Personen zu nennen. Die Welt braucht Ruhe und Nachsicht, und es wäre unverantwortlich, aus Sensationslust weitere Gehässig- keit zu säen. Dies gilt im hohen Grade für das arme Ungarn, dessen Sohn zu sein ich nicht vergessen kann, woran zuweilen zu erinnern der Leser mir gestatten möge.

Schließlich muß noch bemerkt werden, daß das vor- liegende Buch zuerst nur die Erinnerungen enthielt, die sich auf den Weltkrieg bezogen. Manches wurde nachträglich, auch zuweilen weit zurückgreifend, hinzu- gefügt, um die Mentalität der gegnerischen Völker und Völkerschichten besser zu illustrieren. Hierdurch ist ein gewisses Decousu entstanden, welches der Form gewiß nicht förderlich ist. Es wird andererseits aber dem Leser und namentlich dem Politiker, denen diese Allgemeinheiten bekannt sind, erlauben, sich auf die Lektüre jener Kapitel zu beschränken, welche sich auf den Untergang der Donau-Monarchie beziehen und diplomatische pazifistische Tätigkeit trocken be- schreiben.

B e X , Mai 1920.

Kapitel I. Die Ironie der Weltgeschichte.

Vanitas Vanitatum, Oinnia Vanitas.

Der Weltkrieg war nicht bloß ein großangelegter Feldzug, der größte aller Feldzüge, sondern vor allem die Verdammung eines ganzen S3'stems eine große Demonstration ad absurdum.

Dies zu beweisen ist wohl in jeder Hinsicht über- flüssig. Leiden doch an seinen Folgen nicht nur Nationen, sondern Individuen nicht bloß in den be- siegten, sondern sogar in den siegreichen und neutralen Ländern. Mag auch der Wunsch, die menschliche Kultur zu verteidigen, mancherseits aufrichtig gewesen sein, das erste -Resultat des Krieges wird der Ent- wicklung der Zivilisation nirgends förderlich werden.

Man muß daher aus rein menschlichen Gründen hoffen, daß die Welt die Lehre beherzigen und daß das System seinem Ende entgegengehen werde.

Kann man es hoffen?

Um die Frage zu beantworten, müßte man die Xatur der internationalen Gegensätze und Mißverständ- nisse sowie die Mentalität der Völker kennen.

Eine andere Frage allgemeiner Art ist aber, ob die Menschheit überhaupt in ihrer Entwicklung aus ihrer Geschichte irgend etwas gelernt habe, ob die Evolution der Völker auf logischer Basis erfolgt sei?

Die Geschichte beweist, daß dies nur in einem sehr beschränkten Maße der Fall war. und daß im Gegen-

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teil noch mehr als bei den Individuen in der Evolution der Nationen unberechenbare Momente die Hauptrolle spielten.

Prüft man in sachverständiger Weise die phy- sischen und moralischen Eigenschaften eines gegebenen Kindes, so wird man doch eine Prognose für seine Ent- wicklung feststellen können, die in vielen Fällen, trotz der Verschiedenheit der ]\Iilieus, zutreffen wird. Hätte ein Philosoph des Altertums dies für im Werden be- griffene Nationen und Religionen getan, so hätte er sich wohl immer gründlich geirrt. Welcher römische Schriftsteller oder Staatsmann hat die Bedeutung der in der Provinz Palästina entstehenden neuen Sekte er- kannt? Welcher Historiker des Mittelalters hat voraus- sehen können, da£ der von den Normannen besiegte anglo-sächsische Zweig der germanischen Rasse sich auf den ganzen Erdball ausbreiten würde, während eine Verschmelzung eines anderen Stammes derselben Rasse mit slawischem Blut Deutschland schaFfen würde; und daJS schließlich diere zwei Stammes verwandten Elemente im Jahrhundert der Nationalitäten als Todfeinde im Ringen um die Weltherrschaft sich gegenüber stehen würden?

Es kann ohne Übertreibung behauptet werden, daß, wenn auch manche Staatengebilde wegen absoluter Lebensunfähigkeit und hier spielt ein entkräftendes Klima eine Hauptrolle schon von vornherein dem Verderben geweiht sind, der Lauf, welchen die Lebens- fähigen nehmen werden, von keinem bei ihrer Ent- stehung vorhandenen Bedingmigen abhängt, sondern allein von Momenten, welche später meist in völlig un- erwarteter Weise eintreten.

Es ist vielmehr, als ob ein Zug der Ironie die ganze Weltgeschichte wie ein Faden, fast der einzige sicht-

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bare, durchziehe. Illustrationen zu dieser ..Ironie der Geschichte" vielleicht zur höheren Unterhaltung eines Zuschauerraumes von Halbgöttern und Göttern dienend werden folgende Rückblicke liefern.

Wie paradox und wenig orthodox meine An- sichten auch sein mögen, sie ergeben doch ein wahres Resultat, wenn auch rein negativer Xatur; und dies ist jedenfalls von mehr Wert, als die so häutigen Wahr- sagimgen, die nie wahr werden. Es dürfte auch nicht ohne Interesse sein, bevor man die Gegensätze der Völker betrachtet, zu beobachten, in wie chaotischer und unberechenbarer Atmosphäre sich die heutigen großen Nationen entwickelt haben !

Es gebühre der Ehrenplatz in unsern Betrach- tungen dem alten Hellas, denn weiter zurückzugehen. würde in Gebiete führen, welche der heutigen Psyche fremd geworden sind.

In Griechenland befand sich zwischen grauen Ge- birgen und dem blauen südlichen Meere eine kleine Ebene. Attika, die der ^Menschheit das höchste an Schönheit geschenkt hat. ^'on den wenig tausend ^lenschen. die diese Ebene bewohnten, waren die m.eisten Alltagsmenschen wie überall und immer. Es hatte sich aber eine ganz kleine Elite wer könnte sagen, durch welche Selektion gebildet, und die^e hat einige Jahrhundert hindurch in politischer, litera- rischer und künstlerischer Hinsicht eine beispiellose Tätigkeit entwickelt. Auch in anderen Teilen des Landes sind her\-orragende Kulturzentren entstanden !

Ist es die Wirkung einer bewußten günstigen Rassenchemie gewesen? Nichts läßt dies vermuten! War es die südliche Sonne, die auf das menschliche Gehirn erleuchtend wirkte?

^leistens wirkte aber dieselbe südliche Sonne gerade erschlaffend.

Das alte Griechenland, berühmt unter allen Län- dern durch seine Freiheitsliebe, seinen heldenhaften Patriotismus, wehrte überzählige Angriffe der Feinde, ab, ging aber infolge innerer Zwistigkeiten zugrunde. Allein das Schöne, was Hellas geschaft'en, ist nicht nur geblieben, sondern trotz zweitausendjähriger weiterer menschlicher Entwicklung unübertroffen, ja vielfach unerreicht geblieben I

Und Rom ! Auch da hat eine vereinzelte Stadt die \\'elt erobert : es geschah dies in der Tat und nicht nur dem Sinn nach wie Athen! Die Freiheitsliebe hatte die Anfänge beider beseelt wie anders sind aber Ent- wicklung und Ende gewesen ! Rom ging nicht politisch durch innere Zwistigkeiten zugrunde, machte im Gegen- teil in einigen Jahrhunderten den ganzen Weg von Stadtverwaltung zum Weltimperium. Durch rücksichts- lose WillensäuJBerung verstand es dieses Volk, dessen moralische Tugenden sprichwörtlich geworden sind, hart für sich und noch härter für andere, zuerst die Nachbarstädte, dann die ganze Halbinsel und schließlich die ganze bekannte Welt seinem Joche zu unterwerfen.

Wenn Athen der Welt ein Licht gab, das noch heute leuchtet, und eine Kunst schuf, die die Moderne nicht zu erreichen vermag, so bedeutete die Fax Ro- niana eine Weltordnung unter einem einzigen Macht- faktor, welche bisher nie wieder erreicht wurde. Das Römische Reich gab aber der Menschheit des Alter- tums nicht nur Frieden und Sicherheit, es gab ihr ein in jeder Hinsicht entwickeltes zivilisatorisches Leben, denn der starke Römer hatte es nicht gescheut, die höherstehende Kultur der Griechen sich anzueignen. Victa Graecia victorcm Romam vicit ! und die alten

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römischen Tugenden ließen sich mit feineren Sitten vereinbaren eine Zeit lang ! I

Denn g-erade diese stoischen Tugenden sollten zum Verderben des Staates werden. Durch sie wurde die Weltmacht erreicht, die einen bisher unbekannten Zu- stand des Wohlstands und sodann des Luxus schuf. Feinere und raffiniertere asiatische Kulturen wirkten auch ansteckend, und schlieJälich verweichlichte die ganze Rasse. Korruption herrschte überall.

Und dann kam die volle Dekadenz. Die Völker- wanderung tat es allein nicht. Völker waren immer gewandert; in früheren Zeiten war ihnen die Lust, ins Innere des Reiches Raubzüge zu unternehmen, aber grausam benommen worden. Jetzt konnte das alte Rom, dessen militärische Tugenden im Luxus verloren ge- gangen waren, nicht einmal die zu seiner Verteidigimg nötigen Truppen aufbringen. Die Stadt, die die Welt erobert hatte, konnte sich selbst nicht schützen; sie mußte diesen Schutz wilden Stämmen anvertrauen, den einen Barbaren gegen den anderen ausspielen.

Das Schicksal des Reiches war besiegelt; daran konnte auch das verzAveifelte Experiment nichts mehr ändern, das seine stolzen Kaiser unternahmen, indem sie es durch Einimpfung eines Proletarierdogmas, das sich in den unteren Klassen bereits verbreitet hatte, zu retten trachteten.

Das Christentum indessen konnte Rom nicht retten und hat sich selbst durch diesen Kontakt verfälscht. Aber man bedenke, Rom, auf aristokratischem Stolze gebaut, ruft in der Todesstunde die Lehre der Demut und der Liebe zu Hilfe! Wer hätte so etwas jemals voraussetzen können? Ist dies nicht eine eklatante Illustrierung der die Weltgeschichte durchziehenden Ironie ?

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Die Juden waren die ersten, der Welt einen geistigen Glauben zu geben. Früher waren die Götter menschliche Inkarnationen; die Religion war anderswo lebensfroher; aber Israel war das erste Volk, das seine Blicke nach oben richtete. Es gab der Welt eigentlich drei Glauben, der heutigen Welt ihre Religion.

Das eminent begabte hebräische Volk hätte seine Ideen und seinen Einfluß weit in der Welt verbreiten können, es hätte sie erobern können. Es tat es nur teilweise und geistig, und verlor dabei gerade seine eigene Unabhängigkeit. Auch waren es meist die Re- voltierten, Propheten und Christen, welche die Ideen weitertrugen.

Nach diesen Ideen, nach seinen Schriften zu ur- teilen, müßte man diesem Volke die höchsten Eigen- schaften des Altruismus und des Idealismus zuerkennen. Dies war aber nicht immer der Fall. Die spezifischen Fehler, welche gewöhnlich der späteren Unterdrückung zugeschrieben wurden, finden ihren Keim schon in sehr alten Zeiten. Wie handelte doch Abraham mit Gott, um Sodom und Gomorrha zu retten ! „Wenn nur so und so viele Gerechte darin sind, wirst du sie doch nicht zerstören."

Jahve, der erste geistige Gott, war ehrgeizig, eifer- süchtig, rachsüchtig und grausam, und die Religion, die die erste war, Moral in den Glauben einzuführen und die Alleinherrschaft der Gerechtigkeit zu verkünden, scheute sich nicht, die Hölle anzuerkennen und die Kinder bis in die vierte Generation hinein für dfe Sünden der Eltern zu verdammen.

Die geniale Rasse, die Moses und Jesus der Welt geschenkt, hat ihr auch Shylock gegeben, Jahve war ein nationaler Gott und die Juden haben heute keine Heimat,

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Die Entwicklung des Christentums bedeutet zwar etwas ganz Neues in der Weltgeschichte. Die Ironie betätigt sich aber nicht weniger auf diesem Gebiete.

Die. Männer, die bisher politisch in den Annalen der Geschichte GroiJes geleistet hatten, waren fast immer stark, selten schwach, öfters schlecht.

Jesus war der erste absolut Gute. Seine Lehre war keine aristokratische Religion wie die bisherigen. Er lehrte als erster, daß Liebe, Barmherzigkeit und Demut mehr gelten als Macht und Stolz, und daß in der Re- ligion der Geist nicht nur maßgebend ist, wie die Juden es gelehrt, sondern, daß Geist und Liebe jede Form überwiegen. War bisher Gott gerecht, so machte Christus ihn erst zum Guten. Die Juden hatten Jahve gefürchtet, Jesus wollte, daß man ihn liebe, denn sein Gott liebte die Menschheit. Darum erschienen diese Grundsätze den Jüngern Christi so überirdisch. Sein Lebenswandel war in solchem Grade jeder mensch- lichen Schwäche frei, daß sie in ihm einen Gott sehen konnten. Gott war endlich gut! Seit Anfang der Welt war es das erstemal, daß Voltaires berühmte Boutade nicht zutraf: „Dieu a fait l'homme ä son Image, mais l'homme le lui ä bien rendu !"

Zeit seines Lebens wurde die Tätigkeit des Hei- landes von der großen Außenwelt wenig beachtet. Sie wird in der lateinischen philosophischen Literatur nur ganz vorübergehend und geringschätzend erwähnt und der kaiserliche Prokonsul, welcher ihn seinen Henkern überließ, wird wohl keine langen Berichte über die neue Sekte nach Rom gesandt haben.

Aber es dauerte nicht lange und der Proselytismus der Apostel verzeichnete große Erfolge. Es war die Religion der Demut, welche den Enterbten dieser Erde, der enormen Sklavenklasse der alten Welt hauptsächlich

2 V. Szilassy, Der Uiitersang der Donau-Monarchie. ry

zusagte. Christus hatte als erstes Gebot befohlen, Gott, und als zweites, seinen ^Mitmenschen wie sich selbst zu lieben. Das zweite war eigentHch der Ausfluß des ersten. Denn wenn Gott die Menschen liebt, so muii jnan, um ihm richtig zu dienen, es auch tun. Folglich sind die Menschen alle durch die Liebe Gottes verbrüdert.

Derlei Klänge hatte aber die alte Welt, für die ,, vornehm sein" als Höchstes galt, noch nie gehört ; namentlich war es für die Sklavenscharen noch ganz neu ! Es gab also auch für sie eine Holifnung, sie waren also gleich wie die anderen : Menschen und Söhne desselben Vaters!

Das wankende Kaisertum sah die Stärke der neuen Lehren und trachtete, wie geschehen, durch Aneignung derselben sich zu retten.

Aber es wurde ganz anders. Die ideale sozialistische Lehre auf den verrotteten römischen Körper geimpft, vermochte es nicht zu retten. Doch die Verschmel- zung dieser völlig fremden Elemente ergab einen neuen Organismus, der von Rom den Rahmen und von Christo ursprünglich den Inhalt übernahm. Es entstcuid die Kirche.

Die sublimen Ideen des Heilandes konnten nicht lange einen solchen Rahmen ausfüllen. Die Kirche wählte aus dem Leben Christi, was ihr pajßte, und inter- pretierte es, wie es ihr paßte. „Tu es, Petrus . . ." be- deutete, daß Christus selbst das Papsttum geschaffen habe. Die Lehre, daß Geist im Glauben allein gelte, erlaubte dem Klerus, eine förmliche Herrschaft über die Seelen auszuüben. Für jeden Bedarf dieser Institution, der ein eminent poHtischer Charakter nicht abge- sprochen werden kann, wurde ein Text des Evan- geliiuTis entsprechend adaptiert und interpretiert. Haben nicht sogar die russischen Skoptsi unter Berufung eines

Textes behauptet, daß Christus ihnen die Entmannung vorgeschrieben habe?

Im Osten hatte unter dem Einfluß der Kirche die so lebensfrohe griechische Kultur dem starrsten Forma-' lismus Platz gemacht.

Und doch war die Lehre des Heilandes stark genug, um diesen vielhundertjährigen Obskurantismus zu über- leben; ja sie lebte rein und wohltuend in vielen ein- fachen Herzen weiter, und nichts vermochte die erste Religion jder Liebe vollständig zu verdunkeln.

Auch waren die kirchlichen Staatsmänner klug genug, um stets hervorzukehren, daß ihre Macht, wie diejenige Christi, auf Liebe und Demut beruhe! War es innere Überzeugung, war es tiefe Ironie, welche den bekannten anonymen V^ers inspirierte :

Roma, tibi quondam servi domini dominorum Servorum servi nunc tibi sunt domini

Die Päpste hatten nämlich unter anderen Titeln denjenigen eines „Dieners der Diener Gottes".

Ich möchte übrigens auf diesem Gebiete selbst nicht ironisch erscheinen. Gewiß waren Tausende von aufrichtigen Pfarrern und Kirchenfürsten, die die Höhe der christHchen Lehre vollauf empfanden. Gewiß waren Päpste und Kaiser, die, als sie den Armen die Füße wuschen, von innerer Rührung erfüllt. Aber diese Lehre war zu überirdisch, um nicht durch die schwachen Menschen in den meisten Fällen zu Machtmitteln ausgenutzt zu werden.

Die Reformation wollte zum Geiste und zu den einfachen Lehren des Anfanges zurückkehren und schuf eine Religion, die der steckengebliebenen Welt das weitere Fortschreiten ermöglichte. Die Fortschritte des modernen Lebens danken dem Protestantismus

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sicherlich vieles, vielleicht aber sind die Abscheulich- keiten desselben ihm auch nicht ganz fremd.

Mit zu viel Geist tötet man leicht das Herz.

Überdies wollte es das Geschick, daJ3 die nordlän- dischen Völker, Deutsche und Engländer namentlich, die diese geistige Lehre annahmen, darin einen mäch- tigen Impuls zu ihrem politischen und wirtschaftlichen. Tatendrange fanden. Der Protestantismus wurde zur Religion des „struggle for life", der Doktrin des „sur- vival of the fittest" die eine merkwürdige Illustrie- rung in d^r Weltkatastrophe finden sollte.

Die katholische Kirche hatte ihrerseits infolge der Reformation andere Wege eingeschlagen. Nach der Übergangszeit, wo beide christlichen Sekten sich im Namen des Heilandes gegenseitig totzuschlagen pfleg- ten, kam die Reaktion. Viele MiJsbräuche wurden wegen Einflusses der Reformation beseitigt, die Kirche sam- melte sich. Das römische Gebiet ist dem Papsttum verloren gegangen; es hat aber an idealer Kraft ge- wonnen.

Neben dem Protestantismus, der zu oft dem kalten Geist allein huldigte und die kirchlichen Lehren mit der Vernunft zu vereinbaren strebte, ist der Katholizismus, heute vielfach das ruhige und beruhigende Element ge- blieben; er vertritt die unwandelbare Tradition. Er ist par excellence die Rehgion der Liebe.

Dies alles genügt wohl, zu beweisen, da£, was immer die christliche Religion heute darstellt, sie sich weit von ihrem Ursprünge und den erhabenen Absichten ihres erlauchten Gründers entfernt hat. Und wie viele heutige Freigeister gibt es nicht, welche sehr erstaunt wären zu hören, daü ihre ganze Mentalität und Moral blo£ Ausfluß eines tausendjährigen Christentums sind. Sie würden diese Behauptung mit Hohn zurück-

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weisen, wenn sie auch sonst überzeugte Anhäng;er der Theorie des Atavismus sind.

Die mohammedanische Religion und das türkische Volk liefern ebenfalls einen prägnanten Beweis der merkwürdigen Spiele, die sich die Ironie des Schick- sals mit den Menschen erlaubt. Der Islam, mit seiner erhabenen Resignation und der durchdringenden Über- zeugung, daJS die Menschen an den Ereignissen nichts ändern können und dieselben als Willen Gottes ruhig hinnehmen sollen, ist wohl nicht nur eine der schönsten Religionen, sondern auch eine, die den armen Sterb- lichen den größten Trost in der Not zu bieten im- stande ist.

Aber für Völker wird Fatalismus zu leicht zur In- differenz und wirkt auf den Fortschritt lähmend.

Die Frage aufzuwerfen, ob Seelenruhe der Mensch- heit nicht mehr Glück bringt als Fortschritt, ist zweck- los, denn die Mohammedaner leben nicht auf einer ein- samen Insel, sondern von ihren christlichen Mitmen- schen umringt. Das positivste Resultat ihrer philo- sophischen Weltanschauung bestand daher darin, daß die islamitischen Staaten fast durchweg in die Abhän- gigkeit dieser imperialistischen, christlichen Nachbarn gerieten, die bei ihnen ..historische Missionen" der Reihe nach entdeckten.

Die Türken sind eine der stärksten, schönsten, mutigsten, ehrlichsten, arbeitsamsten und genüg- samsten Rassen der Erde. Nachdem sie ihren Höhe- punkt erreichten, fing ihr Niedergang mit unaufhalt- samen Schritten an. Freilich haben sie das Erobern besser als die Künste verstanden. Dies erschöpft aber nicht die Frage, denn andere große Rassen haben auch nicht anders gehandelt. Sie verschmähten es aber, sich

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mit den unterworfenen Völkern zu verschmelzen und ließen dieselben gegen sie aufkommen.

Die Resignation des Islams wirkte in zweifacher Weise schädlich. IMan wehrte sich nicht gegen die Fremden und die Rajas, und der ehrliche türkische Bauer ertrug mit Gleichmut die korrupte Pascha- wirtschaft.

Und doch wäre der Islam eines besseren Loses würdig, denn als historisches Kuriosum unterzugehen, und vieles Aktuelle könnten namentlich heute die herr- schenden christlichen Rassen von dieser Weltanschau- ung, die einer allgemeinen mohammedanischen Ver- brüderung stets das Wort geredet hat, lernen. Ist sie doch so weit entwickelt, daß die Mohammedaner sich alle, trotz der Rassenunterschiede, als Mitglieder einer großen Familie betrachten. so daß man von einem eigentlichen ,, mohammedanischen Patriotismus" sprechen könnte. Dies konnte nicht einmal die schlechte türkische Herrschaft in den arabischen Län- dern ganz ändern.

Nicht besser ergeht es der so hochstehenden buddhistischen Kultur der Indier und Chinesen. Sie haben keine WafTen, und Japan, groß durch seine ata- vistischen Eigenschaften, bedurfte der europäischen Kanonen, um dieselben intakt zu halten. Übrigens ist Ironie zur Genüge in der Tatsache zu erblicken, daß dieses zweifellos heldenhafteste moderne Volk in seiner Denkungsart zu oft dem krassesten Materialismus hul- digt. Ist für den Russen der Mensch „das Wesen, das die Steine hochträgt", so ist der Mann für den Japaner , »derjenige, der im Reisfelde arbeitet".

China und dessen uralte Kultur und tiefe Philo- sophie vermochte, obwohl es an Einwohnern reicher war als irgendein anderes Staatengebilde und alle

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Reichtüirer der Erde besaß, im Laufe seiner mehr- tausendjährigen Geschichte niemals die erste Rolle in der Welt zu spielen. Eine Stadt eroberte die Welt, das Reich der Mitte konnte sich selbst kaum schützen. Die Chinesen hatten eben den Fehler, Philosophie höher als militärfsche Tugenden zu schätzen.

Die Russen waren ursprünglich eine der demo- kratischsten Rassen. Merkwürdige auswärtige Ein- flüsse, die griechische Kirche, die mongolische Herr- schaft und der preußische Militärbureaukratismus zwangen das Russentum in eine seinem Wesen völlig fremde Laufbahn. Hierin entwickelte auch dieses demokratische Bauernvolk einen asiatischen Imperia- lismus — bis schließlich alles zusammenbrach und es dann, fast ohne Übergang, in den Bolschewismus ver- fiel. Nirgends waren die Juden noch vor einigen Jahren so schlecht behandelt wie in Rußland. Nun sind sie fast dessen Herren !

Polens Geschicke sind auch nicht ohne die größte Ironie.

Mögen die Staatsmänner der drei ehemaligen Kaisermächte beim Ausbruch des Weltkrieges auch noch so (mehr oder weniger) aufrichtige Wünsche ge- habt haben, mögen die zwischen ihnen bestehenden Gegensätze anscheinend unüberbrückbar gewesen sein, in einem Punkte waren sie einig, ihren Territorial- bestand zu erhalten. An die Wiederherstellung Polens dachte niemand.

Ungarn war achthundert Jahre lang ein historischer Staat. Es wollte ein Nationalstaat sein. Das Band, das die verschiedenen Nationalitäten achthundert Jahre lang miteinander verbunden hatte, die offizielle latei- nische Sprache, wird gewaltsam zerrissen und die Macht, die die so prekäre magf}'arische Hegemonie am besten

schützte, die gemeinsame österreichisch-ungarische Armee, wurde Gegenstand der heftigsten Angriffe.

SchHeßlich führte diese Pohtik Neu-Ungarn zum Ruin. Es verHert Ungeheures. Die Grenze des neuen Rumäniens, die quer über die Teißebene führt, ist viel- fach dieselbe wie die des damaligen Großfürstentums Siebenbürgen mit dem ..Partibus Hungarioe'* wie der offizielle Name lautete. Dieses Gebiet hatte sich nach der Türkeneroberung losgetrennt. Hundertund- fünfzig Jahre lang hatte dort ungarisches Wesen weiter- gelebt und sich erhalten. Siebenbürgen war es zu ver- danken, daß Ungarn nicht zugrunde ging und sich später wieder zusammenfinden konnte. Heute soll dieses Gebiet auf ethnographischer Grundlage Rumänien gehören!

Weine, armes Ungarn. Opfer lächelnder Ironie !

Den Schweizern ist es mit heldenhafter Auf- opferung gelungen, ihre Freiheit zu behaupten, ihr schönes Land vor auswärtigen Gelüsten zu schützen. Sie sind ausgezeichnete Soldaten und voll von Taten- drang! Für eine imperialistische Ausbreitung ist aber kein Platz. Sie verkaufen also ihre Dienste tmd schweizerische Mercenärs kämpfen im Mittelalter in allen Kriegen Europas mit.

Spanien hat das Geschick ein großes Kolonial- reich geschenkt. Es verliert es, und diese Einbuße an Reichtum bedeutet eine empfindliche Schwäche. Die übliche Erklärung für diesen Niedergang lautet : Un- fähigkeit zur Kolonisierung. Aber man denkt nicht daran, daß Spanien, wenn es sich auch nicht durch gute Behandlung der Einheimischen auszeichnete welche Macht hat das übrigens wirklich getan? seine Kolonien noch heute besitzen würde, hätte das Schick-

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sal nicht gewollt, dnü es andere Marinen gab, welche die seinige auf hoher See zu schlagen vermochten.

Der Weltkrieg ist ein für die Betätigung der Göttin ,, Ironie'^ reiches Feld gewesen.

Die allgemeine Wehrpflicht, die zum Schutze der heimatlichen Scholle bestimmt ist und jeden ohne Standesunterschied hierzu verpflichtet, hat etwas Er- habenes in sich. Sie ist noch heute die Stärke der Schweiz. Doch hat sie, indem sie Volksheere schuf, den Krieg populär gemacht, und ist, wenn auch nur mit- telbar, so doch eine Primordialursache der Welt- katastrophe gewesen.

Seit es Herrscher auf Erden gibt, hat keiner so viele seiner Untertanen dem Kriegsmoloche geopfert, als Kaiser Nikolaus II. Und dieser gutmütige und schwache Mann war der Initiator der Friedenskonferenzen ge- wesen !

Patriotismus ist etwas gewiß Erhabenes, doch- im Grunde Egoistisches. Es bedeutet in den meisten Fällen Liebe zu jenem Lande, wo allein auf Erden man sich behaglich fühlt. Auch ist dies ein sehr vager Begrift'. Die Heimat kann ein Land, ein Bezirk, eine Stadt sein! Überdies erinnert man sich nicht immer bei patriotischen Gedenkfeiern an den historischen Tatbestand. Wie viele waadtländische Kinder feiern heute Murten als National- sieg, und ihre Ahnen haben in den Reihen Karls des Kühnen gekämpft.

Mitteleuropa, Professoren und Schriftstellern wie Naumann so teuer, hat eigentlich nur in ihrem Gehirne und auf den Aufschriften des ,,BSlkanzuges" existiert. Eingeweihte wissen, dajß die Gegensätze, und nament- lich die wirtschaftlichen Gegensätze zwischen den Gliedern des Vierbundes, aus „Mitropa" ein tot- geborenes Kind machen mußten. Doch fand man es

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pikant, mit diesem wirtscliaftlichen Block zu drohen. Das Resultat war, die großen wirtschaftlichen Gegner fester denn je zusammen zu schmieden.

Deutschland spielt in der Welt eine ganz beson- dere Rolle. Keine Nation hat so vieles auf so ver- schiedenartigen Gebieten der Zivilisation geleistet. Von Poesie zur Strategie, von Musik zur Chemie, von Philosophie zu Volkswirtschaft und Handel, überall hat der deutsche Genius und die deutsche Arbeit Hervor- ragendes geleistet.

Doch es hat im Laufe des Weltkrieges noch Er- staunlicheres vollbracht. Es ist. allerdings nicht der deutschen Nation, sondern verblendeten Elementen derselben gelungen, das um die \\'eltzivnIisation in so hohem MaJSe verdiente Deutschland zum Barbarenlande brandmarken zu lassen.

Der englische Gentleman ist einer der wenigen Typen, auf die die Menschheit mit Recht stolz ist. Vor- nehm, ruhig, würdig, stark, großherzig und in hohem Grade zuverlässig, hat er die Sympathien der ganzen Welt erobert. Dieselbe Welt hat sich aber der Eng- länder nicht durch diese Eigenschaften, sondern indem er die anderen Völker in Diplomatie und marine- militärischer Kunst übertraf, zu eigen gemacht, indem er das Prinzip ,.right or wrong my country" zum äußersten trieb. Und der ehrliche Alltagsengländer glaubt alles, was eine vorsichtige Regierung ihm aus patriotischen Rücksichten einzugeben für nötig hält. Er glaubt es aufrichtig.

Disziplin, wie in Deutschland ! t'berhaupt ist die Ähnlichkeit zwischen den beiden rivalen Rassen auf- fallend. Beide sind nicht so brillant wie Franzosen und Italiener, besitzen aber eine dies aufwiegende ungeheure Arbeitskraft, Gründlichkeit bis in die langAvierigstcn

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Details hinein ; unbeugsame Ausdauer und Willen zeichnen beide aus. Namentlich der Engländer und der ihm verhaßte Norddeutsche weisen oft auffallende phy- sische und moralische Ähnlichkeiten auf. was leicht in Rasse, Sprache. Religion und Klima zu begründen ist. Beide sind kalt, stark bis zur Härte, haben eminenten moralischen Sinn und kaufmännische Ehrlichkeit. Beide Rassen lieben vor allem die Ordnung, verabscheuen jedes Bohemetum und suchen ihr Ideal in einer ge- ordneten Organisation zu verwirklichen. .Beide sind bereit, persönliche Freiheit und Bequemlichkeit diesem Ideale unterzuordnen.

Während der Deutsche sich dem Staate fügt, heiiit die höhere Gewalt jenseits des Kanals ..public opinion". Das Korrektiv ist in England oft ,,cant", in Deutsch- land im letzten Vierteljahrhundert der preußische Unteroffizier gewesen !

Ich verkenne freilich nicht die Vorteile, die Eng- land seine freie Institution, und die Nachteile, welche Deutschland der neo-preußische Militarismus gebracht haben, aber im Grunde ist die Ähnlichkeit trotz der verschiedenartigen Entn-icklung eine sehr große ge- blieben.

Der Forscher der historischen Philosophie, welcher den Lauf der ganzen Geschichte durch festgesetzte Ge- setze und Grundsätze erläutert, wird obige Aus- führungen als Ausflüsse eines sarkastischen Dilettanten betrachten. Es ist aber meist nicht sehr schwer, die Geschehnisse der Menschheit nachträglich zu erklären, und dann will ich es nicht leugnen, meine Theorie weist auch Ausnahmen auf. Die anglo-sächsische Rasse war durch ihre vorzüglichen männlichen, angeborenen Eigenschaften und die durch eine freie politische Evolution angeeigneten Eigenschaften zu Großem und

durcli ihre Inscllage zur Seemacht prädestiniert. Zu- weilen tragen auch im Leben der Menschheit edle An- schauung und Gerechtigkeit über List und Macht den Sieg davon. Die Invasion Belgiens ist gesühnt, mehr als gesühnt ist die Teilung Polens.

Standen aber z. B. die Chancen des Königreichs L^ngarn vor 800 Jahren schlechter als diejenigen Frank- reichs? Wer hätte die Türkenherrschaft und die Ger- manisierungsversuche damals voraussehen können?

Im Leben der Völker noch viel mehr als bei den Individuen kommt eben ..alles ganz anders", als es zu erwarten wäre, und Theorien wie jene, ,,daß die Ge- schichte sich stets erneut", sind nur eitel Trug.

Wie soll sich dann der moderne Staatsmann zu dieser hoffnungslosen Beobachtung stellen? Soll man sich dem starren Fatalismus ergeben? Beileibe nicht.

Wenn Wille im Volksleben noch weniger als im menschlichen Leben bedeutet, so bedeutet er doch etwa s, und mit diesem ,. Etwas" müssen sich die Staatslenker begnügen.

^^'enn auch die 'Nationen bisher leider viel zu wenig Lehren aus der Geschichte gezogen haben, so müßte doch die Erkenntnis ihrer so geringen IMacht über sich selbst ihre Leiter zu doppelter Einsicht und Überlegung anspornen.

Aus obigem ziehe ich daher keinesfalls den Schluß. daß, da „alles meist ganz anders kommt", es nicht der Mühe wert ist, die bisherige Entwicklung zu studieren, sondern, daß, da die Nationen alle mehr oder minder in der heutigen Form und Größe Produkte des Zufalls sind, sie sich gegenseitig mehr Nachsicht und Ver- ständnis entgegen bringen sollten, und vornehmlich daß, wenn die Welt und deren Führer wirklich eine Wiederholung der Katastrophe vermeiden will, es

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hierzu nicht genügen wird, einige blendende moderne Institutionen zu errichten, sondern daß diese Aufgabe einer langen, fortwährend wachsamen Arbeit bedürfen wird.

Während des ganzen ig. Jahrhunderts, ja was Frankreich anbelangt, seit fast eintausend Jahren, konnten RuJSland und Frankreich als Hauptgegner Englands gelten. Ihre gegenseitigen Interessen schienen sich überall auf der Erde zu durchkreuzen. Mit Frankreich, aber namentlich mit Rußland schien für England noch an der Wende des Jahrhunderts ein Kon- flikt unausbleiblich zu sein.

Und doch geschah alles ganz anders !

Deutschland wurde zum großen Rivalen Groß- britanniens. Mit ihm wurde das Duell um die Welt- herrschaft gefochten. Den vermeintlichen Rivalen stand Albion zur Seite !

W^ie geschah das nur? Wie konnte sich eine solche Wendung in einigen Jahren vollziehen?

Die dogmatische Erklärung, daß Deutschland zur Hauptmacht am Kontinent wurde, und daß Groß- britannien sich stets gegen die stärkste kontinentale Macht gewendet hat, erklärt nicht viel.

Die wirtschaftliche und maritime Rivalität ist zweifelsohne eine bessere Erklärung.

Für die Völker handelt es sich aber, ausgenommen die Zivil- und namentlich die militärischen Abenteurer, in allen solchen Fällen um Mißverständnisse.

Der Durchschnittsdeutsche glaubte mit derselben i.'berzeugung, daß England seine Heimat einkreisen und ersticken wollte, wie der Durchschnittsengländer, daß Deutschland ihn von den Meeren verdrängen wollte.

Während es indes einer klugen Diplomatie gelang, die ähnlichen Mißverständnisse mit Rußland und Frank-

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reich einige Jahre nach Faschoda zu beseitigen und sogar durch Ententen zu ersetzen, war dies mit Deutsch- land nicht der Fall.

Ähnlich lagen die Dinge im Osten zwischen Öster- reich-Ungarn und Rußland.

Der Weltkrieg war ein riesiger Rahmen, innerhalb dessen die verschiedensten Gegensätze oft in merk- würdiger Weise eine Austragung fanden.

Aber zwei große Gegensätze bzw. Mißverständnisse spielten dabei d'e Hauptrolle. Es waren dies das Miß- verständnis zwischen Deutschland und England und jenes zwischen Österreich-Ungarn und Rußland-

Zur Austragung kam noch die alte Revancheidee, welche Frankreich, wenn auch schwächer, gegen Deutschland beseelte, der italienische und der rumä- nische Irredentismus, die Rivalität zwischen Rußland und Deutschland, zwischen letzter Macht und den Ver- einigten Staaten, der serbisch-bulgarische, der rumä- nisch-bulgarische, der türkisch-griechische, der grie- chisch-bulgarische, der türkisch-russische Antagonismus usw. usw. Aber diese Volksregungen hätten weder einzeln noch zusammen den Weltbrand nicht zu ent- fesseln vermocht. Auch der austro-russische Gegensatz allein hätte es schwerlich und jedenfalls nicht im selben Maße tun können. Das Duell konnte ohne die Haupt- kontrahenten Deutschland und Großbritannien kaum stattfinden. England ist wegen der Verletzung der belgischen Neutralität eingeschritten. Aber der Sturm war, einmal entfesselt, so stark, daß er alles mit sich riß, ja ohne Rücksicht nicht nur auf ehemalige, sondern auch auf aktuelle Gegensätze. Nicht nur fochten Ruß- land und Frankreich auf Englands Seite, es schlugen sich sogar die Amerikaner im selben Lager wie Japan.

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Die Lehre ist leicht zu ziehen : Wäre das Miß- verständnis zwischen Deutschland und Großbritannien im Jahre 1914 gelöst worden, so wäre kein Weltkrieg entstanden. Die Staatsmänner der beiden ]\Iächte würden, wenn sie ihre sämtliche Energie auf diese Aus- söhnung gerichtet hätten, der Welt das größte Unglück wahrscheinlich erspart haben.

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Kapitel II. Der Weg zur Verderbnis.

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Quem Deus perdeie vult piius demeutat.

Unsere traditionelle Erziehung' und ihre langen Listen von gewonnenen Schlachten und ruhmgekrönten Heerführern hat uns die Tatsache ganz verdunkelt, daß die Existenzberechtigung von Staaten in der Schlechtig- keit der Menschheit fußt. Wären die Menschen gut, so würde keine Staatsgewalt notwendig sein, um sie nach innen und nach außen zu schützen, und kulturelle Ver- richtungen könnten sich im Rahmen freier Gesell- schaften vollziehen.

Zwar haben die Menschen seit Urzeiten eingesehen, daß sie auf gewisse schlechte Triebe verzichten müssen, um hierfür als Entgelt den staatlichen Schutz zu ge- nießen — gewöhnlich geschah dieser Prozeß in un- bewußter, brutaler Weise durch Knechtung seitens eines Tyrannen , auf dem zwischenstaatlichen Gebiete blüht aber die ursprüngliche Bösartigkeit in üppiger Weise weiter.

Was für den Privatmann in zivilisierten Ländern als unstatthaft galt, vornehmlich das Sichaneignen fremder Güter zum eigenen Vorteile, galt auf dem internationalen Gebiete als patriotische Tat.

Dies ist mit seltenen Ausnahmen, z. B. die Schweiz, das Weltgesetz geblieben, auch wenn man es mit noch so schönen Namen, z. B. „historische Mission, Koloni- sierung, ökonomische Expansion, Interessensphären.

Imperialismus" usw. bekleidet. Bei dieser Auffassung sind natürlich Kriege unvermeidlich gewesen. Militä- rischer Erfolg mußte als höchster Ruhm gelten. Auch in den meisten Ländern hören wir von Kriegsministerien reden und nicht von „Verteidigungsministerien". Die Philologie war aufrichtiger als die Menschen. Hoffent- lich schafft hierin endlich der Völkerbund Wandel.

Um Kriege zu führen, braucht man Armeen, und so entstanden die stehenden Heere. Nun wirkten aber diese Institutionen noch intensiver auf die Kriegslust der Nationen. Denn die militärische Laufbahn unter- schied sich .von allen andern dadurch, daß sie nicht ständig ausgeübt wurde. Zwar nannte man den Krieg ,, Preußens Nationalindustrie", aber selbst in den früheren Jahrhunderten konnten Kriege, aus ver- schiedentlichen Gründen, nicht ohne Unterbrechung geführt werden. Andererseits, was war natürlicher, als daß die an diesem Beruf Beteiligten denselben auch ausüben wollten? Was natürlicher für einen Schuster, als daß er viele Schuhe machen will? Die Soldateska der verschiedenen Länder drängte daher nach gewissen Pausen stets immer wieder zum Kriege und be- ruhigte sich erst dann, wenn ihre eigenen Ambitionen befriedigt und das Volk kriegsmüde wurde.

Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht hätte hierzu eine Wandlung zum Bessern schaffen können. Es geschah aber das Gegenteil.

Die „Völker in Waffen", w^elche, wie gesehen, zur Verteidigung der Scholle bestimmt waren, wurden bald das Spielzeug der ungeheuren Schar von Berufs- offizieren und Unteroffizieren, die ihre militärischen Am- bitionen — in Ermangelung aller anderen Interessen befriedigen wollten. Nur wo das Milizsystem herrschte und die Anzahl der Berufsoffiziere und Unteroffiziere

V. Szilassy, Der Uuteigang der Donau-Monarchie.

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eine beschränkte blieb, war dies nicht der Fall. Und diese „Militärparteien", wie man sie so euphemistisch nannte, drängten überall zum Kriege.

Es traten aber in den letzten Dezennien den kriegerischen Strömungen manch andere entgegen.

Man sah ein, daß der Weltkrieg, sowohl wegen der enormen Truppenbestände wie wegen der vervollstän- digten Mordmittel, eine Katastrophe ohnegleichen sein würde; man wußte, daß er solche menschlichen und finanziellen Opfer verursachen würde, daß selbst der Sieger nur zu verlieren hätte. Die Allianzen, welche das IMilitär zu ihren eigenen Zwecken auszunützen ge- sonnen waren, wurden meist von der Zivilgewalt gerade zur Verteidigung und zur Verhinderung der Kriege ge- schlossen. Durch diese mußte ein Krieg zwischen den Großmächten eo ipso zum Weltkriege führen, und es herrschte fast die Überzeugung, daß der Weltkrieg, von welchem jeder sprach, so ungeheuerlich s-ein würde, daß die Vernunft oder vielleicht die Vorsehung die Mensch- heit hiervor bewahren würde. Das somit durch die Bündnisse hergestellte Gleichgewicht schien ein mäch- tiges Präventivmittel; durch sie und die sich übertrei- benden Rüstungen hofifte man unbewußt die Kriegs- these ad absurdum zu führen. In der Tat findet man in der Geschichte des letzten halben Jahrhunderts kaum einen einzigen Feldzug, der zwischen gleich starken Staaten geführt wurde. In jedem dieser Fälle war der angreifende Teil von seiner großen Überlegenheit und dem sicheren Erfolg überzeugt, allerdings hat er sich zuweilen geirrt, wie Rußland im Kriege mit Japan, aber dies ändert an der moralischen Seite der Sache wenig.

Seit dem letzten deutsch-französischen Feldzuge hat man zum erstenmal wieder beim Ausbruch des Welt-

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krieges Gegner im Kampfe gesehen, welche sich für ebenbürtig hielten.

In diesem Belange wird sich die Psychologie der- einst auch sogar fragen, ob Deutschland sich so leicht in den Weltkrieg gestürzt hätte, wenn England von Anfang an ein großes Heer besessen hätte?

Zu alledem kam noch die sich langsam bahn- brechende Überzeugung, dai?, Kriege wenigstens große nicht mehr der heutigen Kultur entsprechen.

Leider wurde aber gar nichts gemacht, um diesen friedlichen Strömungen zum Siege zu verhelfen, Im- perialismus und Militarismus blühten mehr denn je. In sträflicher Weise wurde mit dem Feuer gespielt, und die Geschicke der Menschen wurden durch Staats- männer eines veralteten und so schlechten Systems ge- führt; keine moderne Industrie oder Bankunternehmung hätte diese Leute als Direktoren und Agenten ver- wenden können.

Der Schuster war aber ungeduldiger denn je. Fast ein halbes Jahrhundert hatte er keine Schuhe gemacht. Er war es längst überdrüssig, immer nur zum Scheine Schuhe aus Pappdeckel zu machen.

Es war daher ps5'chologisch schon vorausbestimmt, daß, sobald die Zivilmachthaber sich von den Militärs überrumpeln lassen würden, die \\''eltkatastrophe aus- brechen müßte.

Im Sommer 1914 waren die Zivilmachthaber der in erster Linie interessierten IMächte meist s.chwache Männer. Die iMillionen von armen Menschen, welche zum Kanonenfutter bestimmt waren, waren daher schon dem Tode geweiht.

Der Anlaß ergab sich im Rahmen der serbischen Frage, im Rahmen des Verhältnisses zwischen den vor-

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maligen drei Kaisermächten. Er hätte sich gerade so gut irgendwo anders ergeben können.

Denn die Weltatmosphäre war bekanntlich überall mit einem Hasse saturiert, welcher, aus imperialistischen Bestrebungen und rücksichtsloser wirtschaftlicher Kon- kurrenz entsprungen, durch den herrschenden Milita- rismus mächtig genährt wurde.

Namentlich hatte sich diese Atmosphäre seit An- fang des Jahrhunderts noch mehr vergiftet. Nachdem die Revancheidee in Frankreich sich zeitweise abgekühlt hatte allerdings, um dann später anläßlich Marokkos wieder hervorzutreten , sehen wir die Rivalität zwischen England und Deutschland zunächst auf kom- merziellem Gebiete entstehen und durch die fortwähren- den Marinerüstungen immer stärker werden, während- dessen dauerte der latente Antagonismus zwischen Österreich-Ungarn und Rußland ob ihrer Balkanpolitik fort.

Neben den erwähnten Interessengegensätzen kamen noch der italienische und serbische Irredentis- mus, der amerikanisch-japanische Antagonismus und verschiedene andere Momente in Betracht.

Europa war daher bei der Haager Friedens- konferenz von 1907 im virtuellen Kriegszustande. Diese Jahreszahl wird wohl eine der ironischsten in der Welt- geschichte bleiben.

Es wurde in dieser kriegerischen Atmosphäre von Frieden gesprochen, aber die bereits zu Kriegszwecken in Gruppen verteilten Mächte taten nicht das geringste, um diesen Frieden zu sichern.

Doch muß daran erinnert werden, daß England, Amerika und Frankreich hierin eine rühmliche Aus- nahme bildeten und die obligatorische Schiedsgerichts- barkeit zur Geltung bringen wollten. Daß dies im

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Interesse dieser zwei kolonialgesättigten Mächte lag, ändert ebensowenig an der moralischen Tatsache, wie daß später im großen Weltduell nicht England, sondern Deutschland der Angreifende war.

Deutschland, weil es eine Ausdehnung anstrebte, die seiner theoretischen Ansicht nach die Waffen zu geben berufen sein könnte, wir, weil wir per fas et nefas an es gebunden waren und Rußland aus äußerlichen Ambitionen, die ihm schon zur Niederhaltung der libe- ralen Elemente notwendig erschienen, bekämpften mit Eifer jedes ernste Projekt, das für die Zukunft Kriege unmöglich gemacht hätte. Die österreichisch-un- garische Monarchie, deren Existenz durch eine solche Eventualität hätte gesichert werden können, fand es für angezeigt, dasselbe imperialistische Spiel zu spielen. Deutschlands Haltung war nicht logisch.. Hatte es sich doch bis vor einigen Jahren, trotz allen Säbelrasselns, eminent friedlich erwiesen. Es konnte ja im Buren- kriege und sodann im russisch-japanischen Kriege, im ersteren Falle sogar an der Seite Frankreichs und Ruß- lands, intervenieren. Es hat es nicht getan. Überhaupt herrschte in Deutschland seit dem Abgange Bismarcks kein klarer Kurs.

So konnte man bei der Konferenz neben der be- kannten internationalen Gruppienmg oft noch eine an- dere, psychologisch interessante zwischen ^lilitaristen und Pazifisten sehen. Deutschland, Rußland (manch- mal auch Italien) und w-ir gehörten zur ersten. Wir ver- trugen uns sehr gut, obzwar das uns vereinigende mili- tärische Prinzip gerade einen Krieg zwischen uns be- zw'eckte.

Ein Jahr war seit der Konferenz verstrichen, als die österreichisch-ungarische Regierung in ganz über-

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flüssiger Weise die ganze Welt in Aufregung versetzte. Die Annexion Bosniens war nahe daran, den Weltbrand zu entfesseln. Da die Entente aber nicht genügend vor- bereitet war und wohl auch zögerte, diese Kalamität heraufzubeschwören, endete die Sache allerdings als „diplomatischer Sieg" der IMittelmächte. Jeder bei uns lobte damals die Energie des Grafen Ährenthal, den man sogar in England den ,, österreichischen Bismarck" genannt hatte. Endlich hatte einer die k. und k. Diplo- matie aus ihrer Schlaflheit herausgerissen. Man be- merkte aber damals nicht, daß diese erste leichtsinnige Geste, mit der allgemeinen Nervosität zu spielen, in ihren weiteren Konsequenzen den Frieden der Welt zer- stören würde. Dies war aber absolut nicht die Absicht Ahrenthals gewesen.

Zuerst stammte die Idee, ich glaube, vom Grafen Burian, damals bosnischer ^Minister, oder seinem Freunde, dem Grafen Tisza. Sie wurde ihnen von der Furcht vor den südslawischen Aspirationen sowie den eventuellen jungtürkischen Ansprüchen auf Bosnien inspiriert.

Die Annexion erwies sich in jeder Hinsicht als ein großer politischer Fehler. Die südslawische Propa- ganda wurde in ihrer Verbitterung nur noch intensiver Die Zession des Sandschaks, welche die Türkei nicht beruhigte, wie erwartet war, brachte uns in eine unheil- volle strategische Lage, deren Nachteile der spätere Balkankrieg klar vor Augen führen sollte. Die Zer- reißung eines internationalen Vertrages im zwanzigsten Jahrhundert machte überall einen erbärmlichen Ein- druck, und dies war namentlich in England der Fall, dessen Mentalität was wir nie begreifen wollten ..fairplay" noch höher als Utilitarismus schätzt. Dieser erste ..zerrissene Papierfetzen" hat nicht wenig dazu

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beigetragen, England der französisch-russischen Allianz näherzubringen.

Überdies war die Annexion vollständig überflüssig, da das Land uns faktisch seit dreißig Jahren gehörte.

Ährenthal war gewiß ein bedeutender Mann, aber Fehler sind gewöhnlich noch verhängnisvoller, wenn sie von solchen INIenschen begangen werden. Übrigens war er gescheit genug (allerdings zu spät, wie er mir selbst zugab), einzusehen, daß er sich in dieser Frage gründ- lich geirrt hatte.

Das Eis war nun gebrochen. Wir hatten bewiesen, daß es gar nicht unmöglich ist, ungestrafterweise mit dem so oft gepriesenen Weltfrieden zu spielen; Italien beeilte sich drei Jahre darauf, diesem Beispiele zu folgen und entfesselte wegen Tripolis den Krieg mit der Türkei. Dieser brachte ihm wenigstens einen tatsäch- iichen Nutzen.

Warum sollten die christlichen Balkanstaaten zu- rückbleiben? Seit Jahren wurde ihnen seitens der Groß- mächte das religiöse Dogma der Unantastbarkeit des ottomanischen Reiches zwecks Erhaltung des Welt- friedens gepredigt, und nun mußten sie wahrnehmen, daß zwei der meist interessierten Großmächte dieses Dogma selbst nicht michr einhielten.

So entstanden dann die beiden Balkankriege der Jahre 1912 und 1913.

Es ist bekannt, und ich werde bei der Schilderung meiner diesbezüglichen Erinnerungen zeigen, wieso diese Kriege einen Zustand auf dem Balkan schufen, mit welchem weder wir noch Rußland uns zufrieden gaben, und welcher somit bei der allgemein herrschen- den Nervosität, wenn keine Remedur in Bälde erfolgte es war nur eine Frage der Zeit , den Krieg zwischen diesen iSlächten entfesseln mußte.

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Prüft man nun die oben kurz geschilderten histo- risch-psychologischen Momente vom rein ungarischen Standpunkte, so wird man zum Schluß gelangen, daß es für Ungarn gar nicht notwendig war, sich in den Weltkrieg verw'ickeln zu lassen, und daß nur eine falsche fünfzigjährige Politik es dahin trieb.

Ungarns Verderben wurde an dem Tage besiegelt, an dem der Dualismus, diese viel überschätzte Institu- tion, eingeführt wurde. Denn der Dualismus bedeutete eine Anomalie : Beherrschung verschiedener Rassen durch zwei Rassen, ein Zustand, den die heutige Zivili- sation nicht lange dulden konnte. (Die Gestalt der Monarchie ließ eine Föderation mit einer einzigen ge- meinsamen Sprache als Bindeglied zu, nicht aber mit zweien.) Nur dem Umstände, daß Österreich dies bald anerkannte und bei sich ein gewisses föderatives System einführte, sowie hauptsächlich der Tatsache, daß die Monarchie seit 1867 keinen großen Krieg zu führen hatte, ist es zu verdanken, daß der Dualismus ein Alter von fünfzig Jahren erreichen konnte.

Unter einem Schutze, namentlich unter dem Schutze der so oft verpönten gemeinsamen Armee, unternahm nun Ungarn, oder die vielmehr in Ungarn herrschende Adelsklasse, leider das Experiment der „Magyarisation", Was in der ganzen Welt unmöglich gewesen, erschien den Budapester Machthabern mög- lich. Statt zu trachten, die fremden Nationalitäten zu gewinnen, statt, wie ich es bereits im Jahre 1895 ""^ einem Bericht aus Bukarest vorschlug, die ,, Herzen zu magyarisieren", behandelten sie unsere fremdsprachigen Mitbürger als politisch nicht ebenbürtig oder versuchten sie mit Gewalt zu Magyaren zu machen.

Zwar war Ungarn gewiß immer ein organisches Ganze und hatte als Bindeglied aller seiner verschieden-

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artigen Rassen die von dem aus ihrer aller Mitte ent- sprungenen Adel gesprochene offizielle lateinisclie Sprache ; aber die Zeiten hatten sich geändert, Kossuth und Deak sahen die Gefahr ein und hatten vor einer Niederhaltung der Xationalitäten gewarnt, aber der Kurs des Koloman Tisza siegte.

Nun, es war klar, daß diese Politik Ungarn not- gedrungen einmal zu einem Konflikte mit Rußland, dem großen Beschützer aller Slawen und Orthodoxen, führen sollte. Daher mußte es sich an jene IMacht an- lehnen, dessen Interessen denjenigen Rußlands wegen seiner Beziehungen zu Frankreich zuwiderliefen, näm- lich an Deutschland.

Es wird behauptet, daß auch die Großmachtstellung der Donau-Monarchie diesen Kurs zu befolgen gebot ; mit diesem Einwände, welcher von ungarischer oppo- sitioneller Seite oft erhoben wurde, ist die Sache aber nicht abgetan. Denn abgesetien davon, daß besonders in den letzten Dezennien das jMachtverhältnis zwischen Wien und Budapest die zweite Hauptstadt stark be- günstigte und Ungarn diese Politik trotz aller Rekri- mination gegen angeblich österreichische Tyrannei nicht mitgemacht hätte, wenn es nicht gewollt hätte, darf nicht vergessen werden, daß, wenn statt des Dua- lismus eine große Donauföderation existiert hätte, manche nationale Irredenta sich im Rahmen derselben hätte beruhigen können. Ich denke nur an die Jugo- slawen. Manche ihrer bedeutenden Staatsmänner haben diese Lösung präkonisiert.

Eine wohlgeordnete Föderation hätte Ruhe ge- schaffen, wie die Geschichte an verschiedenen Beispielen lehrt. Diese Donauföderation oder ungarische Föde- ration hätte sich dem nichtgesättigten Deutschen Reiche nicht anschließen müssen. Es hätte vielmehr

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sein Heil in einem engen Anschluß an die Westmächte gesucht, für welche die Sicherung ihres Besitzstandes der Hauptzweck war. Der Westen hätte alles Interesse gehabt, diese liberale Föderation gegen eventuelle Ge- lüste Rußlands oder Deutschlands zu verteidigen.

Freilich können derlei retrospektive Betrachtungen nichts Positives beweisen, aber jeder Wahrscheinlich- keit nach hätten sich die Sachen so entwickelt, inid jedenfalls mußte die megalomane Politik, die Ungarn im Innern und außen einschlug, zum Verderben führen. Dies konnte die Geschichtskenntnis einmal ausnahms- weise mathematisch genau vorausbestimmen.

Die Weltgeschichte hätte somit leicht einen an- deren Verlauf genommen. Aber bis zum Debakel gal- ten föderative Ideen dem die Geschicke des Landes be- stimmenden ungarischen Adel mit einigen Ausnahmen als reinster Hochverrat.

Nun will ich aber den Faden meiner Erinnerungen aufnehmen, und zwar werde ich zuerst der Zeit vor Ausbruch des Weltkrieges gedenken und namentlich der zwecks Erhaltung des Friedens entwickelten Tätig- keit. Der zweite Teil wird die Rolle beschreiben, welche mir während des Weltkrieges und vor dem Zu- sammenbruch der Monarchie beschieden war. Der erste ist meist aus dem Gedächtnis geschrieben worden. Zwar hatte ich Tag für Tag, namentlich am Ballhaus- platz, genaue Aufzeichnungen gemacht. Als ich aber in Athen zu einer Zeit noch weilte, wo die Stadt schon von feindlichen Truppen besetzt war und Unruhen mög- lich waren, erschien es mir mit meinem patriotischen Gewissen nicht vereinbar, dieselben länger zu behalten. Sie hätten ja das schönste Gelb- oder Blaubuch abge- geben. So aber wanderten mehrere Tausendc von mir geschriebene Zeilen ins Feuer.

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Kapitel III. Die Mentalität der Gegner. - Die Anglo-Sachsen.

Tu modo regere imperio populos, Romane, memcnto.

England ist die Mutter, und hauptsächlich die geistige Mutter der Vereinigten Staaten. Es soll daher an erster Stelle erwähnt werden. Ich fange aber chro- nologisch mit einigen Betrachtungen über Amerika an, da mein Aufenthalt dort meiner Londoner Tätigkeit voranging.

Ich wurde im Frühjahr 1898 der österreichisch-un- garischen Botschaft oder der damaligen Gesandtschaft als Sekretär zugeteilt. Meine Eindrücke bei der An- kunft in New York waren, wohl wie für jeden Europäer, der das erstemal die Hauptstadt der Neuen Welt be- sucht, überwältigend. Sie blieben es auch später wäh- rend des für diplomatische Beobachtungen günstigsten ersten Halbjahres meines Aufenthaltes, Anfangs ur- teilt man voreingenommen ; später fängt man an, sich mit dem neuen Milieu zu sehr zu identifizieren, um noch immer scharf zu sehen. Manches mag dem Europäer dort nicht behagen. Das Leben ist zu rasch. Alles ist derart geordnet, daJ3 das Künstlerische darunter leidet. Aber vor den großen amerikanischen Institutionen des öffentlichen und sozialen Lebens kann man nur von Achtung und Bewunderung erfüllt sein.

Es ist aber hier nicht die Stelle, all dieser inter- essanten Gegenstände zu gedenken. Berufenere Federn

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haben es schon getan; außerdem habe ich, vor vielen Jahren bereits, dasselbe verbrochen, indem ich midO wie viele andere, verleiten ließ, ein Buch über Amerika zu schreiben*.

Ich möchte vorübergehend bemerken, daß Urteile, die das öffentliche Leben Amerikas ohne weiteres als niedrig stehend brandmarken, weil dort tatsächlich viele Bestechungen vorkommen, keine tiefe Be- obachtung beweisen. Schon die elementarste Logik muß einem sagen, daß das öffentliche Leben eines Landes, welches an der Spitze der Zivilisation steht, un- möglich durchweg korrupt sein kann.

Die Erklärung ist natürlich einfach die, daß die großen Geschäftsleute, welche faktisch das Land be- herrschen, meist für dessen Verwaltung keine Zeit übrig haben. Diese wird daher als weniger gutes Ge- schäft ihren Strohmännern überlassen und dement- sprechend gehandhabt. Die Nation ist nicht abgeneigt, für die Ordnung einen gewissen Preis zu bezahlen. Sie ist aber durchweg aufgeklärt, die Ordnung muß vor- züglich und das Geschäft nicht maßlos werden ; sonst wandern die Politiker sehr bald ins Gefängnis ! Dieser Zustand hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit Pascha- wirtschaft unter den Ignoranten türkischen und russi- schen Massen.

Vielleicht über kein Land hat man so vieles ge- schrieben wie über Amerika. Die Engländer beobachten natürlich am besten. Der ausländische Beobachter muß eigentlich, um Amerika zu studieren, England schon kennen ; sonst vermischt er zu leicht typisch Amerikanisches mit allgemein Anglosächsischem.

L'Empire du travail La vie anx Etats Unis-von .,Anadoli" Plön. 1905.

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Das Jahr 1898 war für die Vereinigten Staaten bedeutend. Das Land war aus seiner traditionellen Reserve herausgetreten, es hatte Spanien zum Kriege herausgefordert und dessen hölzerne Schiffe in Santiago versenkt. Die Gesandtschaften in Washington wurden als Belohnung zu Botschaften erhoben. Diese für die menschliche Mentalität typische diplomatische Avan- cierung wiederholte sich später in Tokio nach den japa- nischen Siegen. Die Menschen sind eben darin unver- besserlich.

Am meisten ehren sie denjenigen, der viele von ihnen totschlägt.

Das Jahr 1898 brachte aber Amerika noch einen viel wichtigeren Sieg, als die leichten Lorbeeren von Kuba und Manila. Es wurde nicht viel davon geredet, nicht ohne Grund; denn in diesem Jahre schlug Amerikas Export das erstemal die Ausfuhr Englands, dessen Landwirtschaft es vor Jahren ruiniert hatte. Dies bedeutete aber, daß die Vereinigten Staaten die erste Stelle als Exportmacht in der ganzen Welt ein- nahmen. Sie haben sie natürlich behauptet und sind daher die erste Industriemacht geworden!

Es war überhaupt ein Wendepunkt in der Ge- schichte Amerikas. Die Annexion der Philippinen war der erste Riß in der Monroedoktrin. Es hatten sich daher um diese Frage große Polemiken entwickelt, denn viele sahen in der Erlangung einer Kolonie eine l>edenkliche Abweichung von den altrepublikanischen Prinzipien, welche jeder Art Imperialismus abhold waren.

Im großen ganzen war aber der spanische Krieg sehr populär, und die Erfolge ließen die altmodischen Stimmen verstummen. Man würde Amerika unrecht tun, wenn man glauben würde, daß die Leichtigkeit des

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Erfolges für die Popularität des Krieges maßgebend war. Wie bei der amerikanischen Intervention in dem Weltkrieg, so spielten auch hier verschiedene Momente eine Rolle. Die Idee, Völker und noch dazu amerika- nische Völker vom fremden Joche zu befreien, sagte ohne Zweifel dem ritterlichen Gefühle zu. Die Spren- gung der , .Maine", welche noch heute in Mysterie ver- hüllt ist, appellierte an den Edelmut vieler Geister, welche in ihrem Entschlüsse noch schwankten. Sodann lieferte der Krieg dem Tatendrange und der Abenteuer- lust einen reichen Raum last but not least war es für viele ein gutes ,, Business".

Die Grundlage des amerikanischen Charakters bil- den zwei Eigenschaften, die die ersten englischen Kolo- nisten mitbrachten: der große Individualismus und die puritanische Religiosität. Der erste, echt englische Zug mußte naturgemäß mit der unabhängigen Lebens- weise, die die Umstände erheischten, an Intensität ge- winnen.

Die puritanische Mentalität der Kolonisten Neu- Englands veranlaßten dieselben, anfänglich wahrliaft iheokratische Staatsgebilde zu gründen, innerhalb deren sie dem Sektenglauben, für den sie im Mutterland ver- folgt worden waren, nach Herzenslust leben konnten. Diese Grundsätze waren strengster Natur; Moral und Religion waren ursprünglich vermischt, und das Leben in Xeu-England war nichts weniger als bequem. Der Einfluß auf die Rasse konnte aber nur ein günstiger sein. Die strenge Zucht, welche viele Emigranten ab- schreckte, war eine männliche Schule für die jüngeren Generationen. Im Laufe seiner Entwicklung ist der amerikanische Charakter sodann durch physische Um- stände, namentlich durch das Klima, durch die meist aus Frankreich herrührenden demokratischen Ideen

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lind schließlich durch das in Amerika alles dominierende Arbeitsprinzip beeinflußt worden.

Das Klima hat dem Amerikaner im ganzen, na- mentlich aber dem „Soutberner", eine Lebhaftigkeit gegeben, die der Engländer nicht kennt. Da es aber meistens mäßig ist, so hat es auf die weiße Rasse nicht nachteilig gewirkt. Frankreich hat eine große Bedeu- tung für Amerika gehabt. Dies rührt nicht nur von der Hilfe, die dieses Land den revoltierenden Kolonien leistete, sondern hauptsächlich von der französischen Revolution her, deren Prinzipien jenseits des Ozeans auf dankbarsten Boden fielen. Namentlich hat die neu verkündete Gleichheit aller Menschen tiefen Eindruck gemacht, und dieser Grundsatz ist in einem Grade in Amerika zur Wirklichkeit geworden, wie ihn die eng- lische L^rheimat niemals gekannt hat. Trotz der großen Vermögen und trotz der durch einen harmlosen Snobismus errichteten Gesellschaftsunterschiede ist die Gleichheit der Menschen und Chancen in den Ver- einigten Staaten kein eitles Wort geblieben. Auch sind dort die Grenzen zwischen den verschiedenen Volksschichten tatsächlich viel weniger prononciert als anderswo. Eine große vermögende Klasse dominiert. Während man noch heute den Engländer nach seiner Aussprache sofort in eine bestimmte Klasse reihen kann, wäre dies in Amerika undenkbar.

Die Arbeitsgewohnheiten haben schließlich in hohem Grade gewirkt. Die Heimat wurde viel mehr durch Arbeit als durch Wafifen erobert. Arbeit ist auch der Lebensnerv Amerikas geblieben. Alles arbeitet dort, denn wer es nicht tut, geht ^zugrunde. Arbeit Ist in Amerika das Lebensziel, nicht ein Mittel zum Erfolg w^ie anderswo. Der reichgewordene Industrielle und Handelsherr arbeitet weiter, denn er verliert sonst den

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Kontakt mit seinen Freunden. Er ist der erste im Lande, wo es keine Aristokratien gibt, in welche er, wie anderswo, als Lohn gelungener Arbeit aufgenommen zu werden versuchen könnte. Freilich kommt die Be- deutung des Arbeitsprinzips heute vornehmlich in der Plutokratie zur Geltung, die in den Vereinigten Staaten eine so große und nicht gesunde Rolle spielt. Aber wenn man bedenkt, daJs der größte Teil der bedeutenden \^ermögen durch harte Arbeit entstanden ist, so wird man nicht nur die ökonomisch ungünstige Seite der Frage vor Augen halten. Auch wird die Gesetzgebung dieses Problem wohl regeln müssen.

Ich habe obige Momente des Nationalcharakters absichtlich hier erwähnt, weil man aus demselben auch auf die Gründe schließen kann, die die Vereinigten Staaten veranlagten, in den Weltkrieg einzutreten. =

Gewiß spielten dabei, wie sechzehn Jahre früher in Kuba, edle Motive, der amerikanische Tatendrang und der Geschäftssinn ihre Rolle. Die Versenkung der ,,Lusitania*' und der uneingeschränkte L^-Boot-Krieg machten die Kriegsbegeisterung so groß, daß man die allgemeine Wehrpflicht einführen konnte; aber der Wunsch, das viele den Alliierten geliehene Gold nicht zu verlieren, wirkte auch! Hierzu kam dann noch die sehr aufrichtige traditionelle Liebe für Frankreich und die Anhänglichkeit an England, die eine kluge beider- seitige Politik im letzten Vierteljahrhundert trotz aller wirtschaftlichen Differenzen entwickelt hatte.

Deutschlands Methoden waren übrigens auch, als ich in Washington weilte, nicht geeignet, um es in Amerika beliebt zu machen. Die Amerikaner, die in ihm den industriellen Rivalen sahen und diese Rivalität bereits witterten, als sie die erste Industriemacht wur- den, sprachen schon damals, wenn auch nicht mit tiefer

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Überzeugung, von der Eventualität eines Krieges zwischen beiden Ländern.

Für den Angehörigen eines vielsprachigen Landes, wie mich, muite es von großem Interesse sein, zu be- obachten, wie die Vereinigten Staaten die Nationa- litätenfrage lösten.

In dieser Hinsicht ist ein großer Unterschied zwischen den Farben 'zu machen. Weiße, die nicht Angelsachsen waren und eine beliebige Sprache hatten, und Rote haben sich amerikanisiert während die Schwarzen, denen das Englische längst schon als ein- ziges Idiom diente, noch eigentlich ein Fremdkörper geblieben sind.

Auffallend ist die Amerikanisierung in jenen west- lichen und südwestlichen Teilen der Union, welche trüher Mexiko gehörten, und wo noch vor fünfzig Jahren die spanische Sprache herrschte.

Hiervon ist heutzutage kaum eine Spur vorhanden. Nur die Ortsnamen sind in Kahfornien noch spanisch geblieben, wie San Francisco, Sacramento, San Jose, Los Angeles usw.

In den Ortschaften findet man aber kaum jemand mehr, der der spanischen Sprache mächtig ist. Man denkt unwillkürlich an das Gegenstück in manchem Lande Osteuropas, wie es vor kurzem noch bestand. Stationen, wo alles russisch, magyarisch oder türkisch war, und Ortschaften, wo niemand diese Sprachen kannte. Nun wird sich dasselbe in manchem Orte Tschechoslowakiens wiederholen !

Diese Amerikanisierung hat aber völlig freiwillig stattgefunden. Koerzitivmaßreglungen standen ihr nie zur Seite. Jeder konnte nach Belieben spanisch reden, jede Gemeinde konnte diese Sprache gebrauchen. Aber sie ist einfach in den Hintergrund getreten, weil

V. S z i 1 a s s y , D*r Uiitcrgang der Doiiau-Monacchie.

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Englisch die Sprache der Union ist, die einzige, die der Geschäftsmann brauchte, um seine Geschäfte machen zu können, also die Sprache, welche er hierzu unbedingt brauchte. So fand die Amerikani- sierung eigentlich fast unbewußt statt. Alle mensch- lichen Interessen präkonisierten sie, edle, wie egoisti- sche; Dankbarkeit gegen die neue Heimat, Geschäfts- interessen, vielleicht manchmal der Wunsch, zwischen der dunklen Vergangenheit und der Gegenwart eine un- übersehbare Mauer zu bauen !

Und dies ist um so beachtenswerter, als es sich bei den Spaniern wie bei den Deutschen und Fran- zosen um hohe Kulturvölker handelt. Franzosen sind übrigens ihrer Sprache treuer geblieben, während die Amerikanisierung der deutschen Elemente gewöhnlich schon in der zweiten Generation stattfand, .

Dies alles war nicht ohne Einfluß auf die aus- wärtige Politik der Union.

Allerdings, was Spanien anbelangt, so erscheint es auch aus anderen Gründen begreiflich, daü die An- hänglichkeit zu dieser Sprache keine besonders große war. Hatten doch die ehemaligen spanischen Kolonien infolge der Unterdrückung seitens des Mutterlandes alles getan, um das Band mit ihr zu lösen. Den Haupt- platz der Stadt Mexiko ziert keine Statue eines Kon- quistadors, sondern diejenige des letzten Indierkaisers. ,,A Ouantemoc y a los Guererios qui combaterion heroicamente por su patria 1521," Am Tage, an dem die spanische Fahne auf der Zitadelle Havannas durch das Sternenbanner ersetzt wurde, pries ein spanisches Organ dieser Stadt in hochtrabenden Worten das Ende der T3Tannei, die ein Genovcser Abenteurer vor fünf- hundert Jahren in der Neuen Welt inauguriert hatte! Und diese Länder sind christlich und ihre Kultur durch-

weg spanisch I Übrigens auch eine ganz sonderbare Ironie der Geschicke !

Wegen der Schwarzen wurde bekannthch der Se- zessionskrieg, einer der blutigsten aller Zeiten, geführt. Der Sieg des Nordens gab den ehemaligen Sklaven ihre volle Freiheit, und im Jahre 1867 bestimmt ein Nach- trag zur Verfassung, daß ,,das Wahlrecht der Bürger wegen Farbe oder ehemaliger Sklaverei nicht verloren oder beschränkt werden könne".

Und doch hat die politische Gleichheit das Los der Schwarzen nicht völlig gebessert! Auf sozialem Gebiet ist oft das Gegenteil erfolgt. Früher wurden sie von den Südländern, unter denen sie lebten, neben aller Un- gleichheit oft in patriarchalischer Weise behandelt. Die Niederlage aber, die den Süden zwang, den Negern das politische Leben zu eröffnen, veranlagte sie, ihnen das Herz zu verschließen. Wütend wegen des Zwanges, der ihnen gegenüber einer Rasse auferlegt war, die nach ihrer Ansicht minderwertig war, haben die Südländer sich seit der Zeit bemüht, den Negern überall im sozialen Leben auf Schritt und Tritt zu beweisen, daß sie sie tatsächlich als eine minderwertige Rasse be- trachten. Zu vielen Hotels und Restaurants in der ganzen L'^nion, zu den meisten Theatern im Süden ist ihnen der Zutritt versagt. Im Süden dürfen sie auch nicht in demselben Eisenbahnwagen wie die Weißen reisen. Einem Präsidenten der Republik nahm es die öffentliche Meinung sehr übel, daß er einen eminenten Philantropen schwarzer Farbe bei sich zu Tische ge- sehen hatte. Ehen zwischen Weißen und Schwarzen sind natürlich überall verpönt, und außergesetzliche Verbindungen nicht minder.

Dies alles könnte als eine wahre moralische Unter- drückung einer fremden Rasse erscheinen, die gerade

seitens eines so liberalen Volkes, wie die Amerikaner es sind, als recht merkAvürdig betrachtet werden müßte. Es ist aber nicht zu verkennen, daß, im Gegensatz zur gelben Rasse zum Beispiel, die schwarze wirklich als eine kulturell tiefer stehende erscheint. Die Neger der Union sind trotz des Milieus halbe Kinder, halbe Wilde geblieben. Ihre Begriffe von Religion sind primitiv, ihre Mentalität ist sehr schwach, ihre Kriminalität viel höher als beim Weißen. Attentate gegen weiße Frauen sind sehr häufig. Nichts beweist besser ihre Rasseninferiorität, als folgende Tatsache : trotzdem dieses Volk sich nun seit einem halben Jahrhundert politisch und kulturell vollständig frei entwickeln konnte, hat es, mit ganz ge- ringen Ausnahmen, auf keinem geistigen, politischen oder sogar wirtschaftlichen Gebiete Hervorragendes geleistet ! Wie anders ist dies bei anderen ehemals unter- drückten Rasseln in Europa. Und nun bewohnt dieses Volk, welches nahe an looooooo zählt und sich rasch vermehrt, kompakt oft weite Regionen des Südens, wo das Klima für den Weißen nicht gerade gesund ist. Kein Wunder also, daß diese Frage die amerikanischen Politiker lebhaft präokkupiert, und daß man sogar den etwas phantastischen Vorschlag gemacht hat, die Neger sämtlich wieder nach ihrer afrikanischen Urheimat über- zusiedeln. Sie wollen natürlich hiervon nichts hören ; sind sie doch amerikanische Bürger, die mit ihren Stammesgenossen nichts mehr gemeinsam haben. Nichts allerdings, als eben die Rasseninferiorität !

Die Gelben bilden auch ein wichtiges Problem des amerikanischen Lebens, namentlich im Westen. Es handelt sich aber hier eher um eine ökonomische als um eine Rassenfrage, denn Japaner und Chinesen kehren meist, nachdem sie ein Vermögen erworben, in ihre asiatische Heimat zurück, um dort das Ende ihrer Tage

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zu erwarten. Das Problem ist aber in Anbetracht der geringen Löhne, mit welchen sich diese Angehörigen Asiens begnügen, sehr schwer zu lösen und hat nicht selten die politischen Beziehungen mit Japan getrübt. Die Frage wird dadurch erschwert, daß die einzelnen Staatenregierungen diese Angelegenheit als intern be- trachten und von einer Einmischung der Bundes- regierung in dieselbe nichts hören wollen.

Das Land Amerikas aber, wo die Nationalitäten- ppobleme am allerbesten gelöst wurden, ist zweifellos Kanada. Hier hatte Großbritannien, wie ursprünglich ziemlich überall, eine unvernünftige KolonialpoHtik geführt und die Franzosen, die ^/a der Bevölkerung bilden, sehr unzufrieden gemacht. England aber ver- brannte seine Abgötter und führte mit dem „British North American Act" in Kanada im Jahre 1867 ein neues Regime ein.

Die liberale englische Regierung, deren damaliger Liberalismus so weit ging, mit der eventuellen voll- ständigen Unabhängigkeit aller Kolonien und ihrer Los- trennung vom Inselreich sich abzufinden, schuf Ironie des Schicksals , indem sie zum Übergang volle Frei-' heit gab, gerade dadurch Bänder, die die Kolonien fester denn je an die alte Heimat ketten sollten.

Die neue Verfassung bezweckte im Wesen zweierlei: Kanada Autonomie und dessen beiden Nationen volle Gleichheit zu geben. Die von den Franzosen bewohnten Provinzen Quebec und Outario, die man früher mit dem Ganzen zu verschmelzen getrachtet hatte, wurden wieder getrennt und erhielten französische Administration. Übrigens im ganzen „Dominion", wie das Land nun offiziell hieß, herrschte von nun an volle Parität der Sprachen und Rassen. Die französische Sprache war gerade so offiziell wie die englische ; jeder Staatskörper.

bis zur Gemeinde herunter, konnte sie allein oder mit der englischen zusammen gebrauchen. Die Franzosen hatten ihren Code Napoleon, ihre Coutume de Paris. '

Franzosen und Engländer leben seit dieser Zeit im besten Einvernehmen und beide haben hervorragende Staatsmänner, wie z. B. Sir Wilfried Laurier, ihrer Heimat geschenkt. Ihr Arbeitsfeld durchkreuzte sich übrigens selten. Die Engländer sind meist Handels- leute, die Franzosen befassen sich mit Landwirtschaft.

Die kanadischen Franzosen sind ein interessantes Element. Sie sind ganz Ancien regime geblieben in Sitte, Religion und Sprache. Man könnte meinen, daß die große französische Revolution sie nie beeinflußt habe.

Desto merkwürdiger ist nun die Rolle, die sie heute in der Außenpolitik Kanadas spielen. Sie sichern das Land förmlich England, also jener Macht, die es von ihren Vorfahren genommen.

Denn es mußten in Anbetracht des Fehlens jeder gegenseitigen Grenze, bald sowohl in Kanada wie in den Vereinigten Staaten Stimmen laut werden, welche eine Vereinigung beider Länder präkonisierten. Per- sönliche, politische und namentlich wirtschaftliche Rücksichten mußten vielen diese Lösung wünschenswert erscheinen lassen. In Kanada bestand sogar eine annexionistische Partei. Nur die Franzosen Kanadas, die dort eine große Rolle spielen, sind sich darüber im klaren, daß sie in der großen amerikanischen L^nion ver- loren gehen würden. So sind sie die mächtigsten Pfeiler der britischen Herrschaft in Nordamerika ge- worden !

Hätten wir nur einen Teil einer solchen Staats- weisheit der böhmischen Frage gewidmet, so würde

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vielleicht heute die Karte Österreich-Ungarns an<lers aussehen !

Nach England kam ich sieben Jahre später, an- fangs 1906. Auch dieses Land befand sich zu jener Zeit an einem interessanten Entwicklungspunkte. Auch Großbritannien war aus seiner langjährigen Zurück- gezogenheit herausgetreten.

Vieles hatte sich dort geändert, seit ich die Schule Harrow im Jahre 1887 verlassen hatte.

Die neue Lebensauffassung äußerte sich politisch und menschlich.

Das klassische, vornehme, zurückgezogene Leben des Engländers war nun eine seltene Erscheinung. Früher wollte in London jeder, der es konnte, sein eigenes Haus besitzen, und wenn es auch nur aus drei Zimmern übereinander bestand, wobei jedes für sich eine Etage bildete. Aber ,,my house is my Castle" darin war der Engländer unbedingt Herr. Nun hatten sich überall die großen Mietskasernen mit ihren vielen Wohnungen eingebürgert. In seinem bescheidenen oder großartigen Heime hatte der Londoner Bürger seine Freunde ehedem zu Gaste gesehen. Nun gra- vitierte das soziale Leben vielfach um die früher kaum bekannten großen Hotels und Restaurants. Große Lords fanden es leichter und amüsanter, ihre Feste bei Ritz oder Claridges, als in ihren prächtigen Palästen zu veranstalten.

Der alte englische Begriff von ,,Home*' war eigent- lich nur noch im allerdings so gemütlich eingerichteten Landleben zu merken. Jener von ,,Privacy" war nicht mehr derselbe. Dies konnte man bis in die kleinsten Details merken. Früher rasierte sich jeder Engländer, welcher sich für einen Gentleman hielt, selbst. Sein Gesicht dem Barbier nicht zu überlassen, sfehörte zu

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dem elementarsten guten Tone. Nun aber war dies auch ganz anders. Der alte, eiskalte, oft belächelte, aber im. hohen Grade äußerhch und innerlich vornehme Typus des englischen Grandseigneurs war kaum noch zu treffen, was natürlich nicht bedeuten soll, daß die eng- lische Denkungsart nicht vornehm geblieben war.

Diese Änderungen waren aus Amerika gekommen. Zwanzig Jahre früher war das Londoner Leben typisch britisch gewesen; jetzt war es vielfach amerikanisiert und internationalisiert worden. Was Wunder? Amerika lieferte England sein Getreide, seine Industrieartikel und vor allem seine Frauen. In Amerika aber war man unter dem Einflüsse eines günstigen Klimas von jeher gewohnt, mehr nach außen als nach innen zu leben.

Aber auch in anderer, weniger harmloser Weise hatte Amerika gewirkt. Dort liebte man Sensation, hatte mitten im Getöse der Arbeit für Diskretion nicht allzuviel Sinn. Geistige Produkte muisten. um genossen zu werden, vor allem ,,exciting" sein. Dies galt nament- lich für die Presse. Jene Zeitungen wurden am meisten gelesen, die die meisten und auffallendsten Über- schriften brachten. Auf Inhalt, auf Stil kam es weniger an. All dies war früher in England verpönt und Gegen- stand des Spottes gewesen. Nun hatte sich auch hierin vieles geändert.

Politisch war die Entwicklung nicht weniger auf- fällig. Wir, Harrow Boys, standen damals unter dem Zeichen der , »splendid Isolation". England, das frei- händlerische, begünstigte alle Nationen wirtschaftlich, hatfe aber im Grunde keine Sympathien für irgendeine europäische Macht. Alle waren ,,foreigners", tief unter England stehend. Eine Ausnahme war höchstens darin zugunsten Deutschlands zu bemerken. Der Einfluß der

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Königin Viktoria mag dazu beigetragen haben; haupt- sächlich war es aber die Bewunderung für Deutsch- lands Stärke, für alles, was es seit 1870 geschaffen. Man fürchtete es indessen nicht. -Es waren auch keine Gegen- sätze vorhanden. Rußland galt als stärkste Kon- tinentalmacht, es bedrohte Indien, von ihm sagten die Zeitungen unaufhörlich, daß ein Krieg mit ihm unaus- bleiblich sei. Frankreich war auch Rivale, wenn auch weniger gefürchtet. Beliebt war es keinesfalls. Der viele hundert Jahre lange Antagonismus bestand noch in den enghschen Herzen; auch waren die Franzosen schlechte Menschen, sie hielten nicht den Sonntag, sie nannten die Prostitution bei ihrem Namen.

Die Wende des Jahrhunderts brachte große Wand- lung. Stolze Isolierung war vornehm, wie die hohe Dame, die sich vor der Welt abschloß. Es konnte aber gefährlich werden, wenn man keine Freunde besaß. Andere hielten zusammen, Faschoda war eine uner- wartete Frechheit. Der Burenkrieg hätte Gegner gegen England vereinigt, wenn der deutsche Kaiser, statt für seine Großmutter strategische Pläne auszuarbeiten, die- selben gegen sie hätte ausführen wollen. All dies war im hohen Grade bedenklich. Dies sah die Regierung, dies sah auch der neue Herrscher ein.

In einigen kurzen Jahren wurde diplomatisch tüchtig gearbeitet. Das Programm hieß, zuerst Frank- reich gewinnen und Rußland schwächen. Das erste wurde durch die Entente gemacht, das zweite, indem man Japan auf das Zarenreich, das allerdings Japan in seiner Blindheit reizte, losließ. Beides gelang vor- trefflich, so vortrefflich, daß zwei Jahre nach den mandschurischen Niederlagen und ein Jahr nach der Revolution man bereits daran denken konnte, auch mit Rußland eine Entente einzugehen.

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Als ich anfangs 1906 in London eintraf, war dem- entsprechend die internationale Situation Englands die folgende: Es hatte zwei offizielle Alliierte. Japan und Portugal. Es hatte zwei ungeschriebene Alliancen mit den Vereinigten Staaten und Frankreich. Es war im Zuge, ein neues ungeschriebenes Bündnis mit Rußland vorzubereiten.

Die ungeschriebenen Bündnisse waren viel wich- tiger als das offizielle. Portugals Vertrag war Kapi- tulation, und Japan hatte ja seine Pflicht getan ; das Interesse für das ferne Land war sehr gesunken ; wirt- schaftlich zwar sorgte es dafür, daß es nicht an der Themse in Vergessenheit gerate, aber politisch er- innerte man sich daran eigentlich erst wieder im Jahre 1914.

Mit den Vereinigten Staaten wollte England um jeden Preis gut stehen selbst um den Preis der ärgsten Schäden , die seiner Landwirtschaft und seiner Industrie zugefügt wurden. England konnte ja nicht in Europa eine zweite Rolle spielen, nachdem es die erste auf den Weltmeeren und in der Welt innehatte. Aus der Isolierung heraustretend, konnte es nur das ,,arbitrium Europae" anstreben. Hierzu war aber ein ge^en jede Stürme festes Verhältnis mit Amerika nötig. Dies begriffen die britischen Staatsmänner, und dies begriff die englische öffentliche Meinung. Sagte zu- weilen Amerika, aus überlieferter Ranküne, dem ehe- maligen Mutterlande etwas Unangenehmes, so wurde es in der so disziplinierten englischen Presse einfach tot- geschwiegen. Dasselbe war später bezüglich Frank- reichs und namentlich Rußlands der Fall. Die Theorie des „blood thicker than water" wurde Leben. Dafür sorgten die zahlreichen, an hohe englische Würden- träger und Staatsmänner verheirateten amerikanischen

Erbinnen; einer der wenigen Fälle, wo Frauen in der britischen auswärtigen Politik eine Rolle gespielt haben.

Mit Frankreich lagen die Sachen schwieriger. Reibungen waren an der Tagesordnung überall, nament- lich aber in Afrika. Ein Konflikt schien unvermeidlich.

Die beiderseitigen Staatsmänner beschlossen, daß dies nicht sein sollte, Sie wollten sich im Gegenteil über alles verständigen: ..s'entendre". Das Beispiel einer ,, Entente" war ja schon da, obzwar 7a\ dieser Zeit die austro-russische Entente, die das Beispiel geliefert hatte, schon recht kraftlos dastand. Früher war es nämlich ein politisches Dogma gewesen, daß Staaten, um befreundet zu sein, möglichst wenig divergierende oder sogar ge- meinsame Interessen haben sollten. In Mazedonien wurde die These aufgestellt, daß im Gegenteil man zuerst Dififerenzen schlichten und dann auf dieser Grund- lage eine Entente aufbauen könne; daß also die Diffe- renzen eigentlich der Vereinbarung einen Inhalt geben.

Die Herren Delcasse, Clemenceau und Marquis Landsdowne wendeten die Theorie hauptsächlich in Afrika an. Die Formel war sehr einfach, England sollte in Ägypten, Frankreich dafür in Marokko freie Hand haben. Man begnügte sich nicht, auf dem poli- tischen Terrain zu bleiben. Eine gro-ß angelegte Propa- ganda wurde in London und Paris getrieben, um die papierene Entente zu einer .,cordialen" zu machen, um dem internationalen Vertrage nationales Leben zu geben. Guter Wille und Aufrichtigkeit herrschten auf beiden Seiten, und die Sache wurde durch die vielen gemeinsamen geistigen Interessen der zwei an der Spitze der Zivilisation stehenden Westmächte erleich- tert. Schule, Universität, Wissenschaft, Presse, Handel, munizipale Behörden, alles wurde herangezogen. Es entstand eine ganze Reihe von Besuchen und Gegen-

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besuchen zwischen Seine und Themse. In kurzer Zeit wurde das Erstaunliche vollbracht. Die beiden Völker, die sich jahrhundertelang gehaßt hatten, hatten sich lieb gewonnen. Die Charaktere konnte man nicht aus- merzen, denn diese waren grundverschieden. Daher lachte der Engländer in seinem Innersten über den Impuls des Franzosen und der Franzose über die Sport- moden des Engländers weiter; der Franzose fand den Engländer zu kalt und berechnend, und der Engländer den . F'Tanzosen zu warm und aufbrausend wie früher, und eine gewisse beiderseitige, aber namentlich eng- lischerseits zutage tretende Geringschätzung bestand immer noch ; aber von nun an herrschte vor allem eine gutmütige Nachsicht, denn man hatte sich lieb ge- wonnen ! ]\Ian hatte sich gerne ! Kein Mensch in Frank- reich und England dachte mehr an einen Krieg zwischen beiden Ländern!

Unter den Schöpfern dieses diplomatischen Kunst- stückes gehört gewiß der Ehrenplatz dem König Eduard. Zwar hatte er nicht, wie allgemein behauptet, die Einkreisungspolitik gegen Deutschland erfunden, hatte auch wahrscheinlich nicht die Initiative zur Her- stellung der Entente cordiale ergriffen, aber der König besaß im hohen Grade zwei Eigenschaften, welche ihn auch ohne Krone zum vorzüglichen Staatsmann ge- stempelt hätten. Er fühlte den Puls seiner Zeit und verstand mit großem Takt und Geschick eine Sache, zu fördern. Man kann ihn daher einen Meister der Diplo- matie nennen. Eduard war überhaupt eine sehr inter- essante Figur, Mittelgroß und stark, hatte er eigent- lich wenig Königliches an sich. Aber die Gesten er- setzten vieles andere, der Blick zeugte von hoher In- telligenz, und die ganze Gestalt atmete Eleganz. Er war ein typischer vornehmer Engländer, dieser Fürst

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von deutschem Blute auf beiden Seiten, der bisweilen einen leisen deutschen Akzent im Englischen nicht ver- bergen konnte. Er war überdies der seiner Zeit an- gepaßte Herrscher. Königin Viktoria, eine typische englische IMatrone, hatte seit dem Tode ihres Gatten in vornehmer Zurückgezogenheit gelebt. Dies paßte zur splendid isolation. König Eduard war Weltmann und sogar Lebemann gewesen. Er war der „arbiter elegan- tiarum", der prädestinierte Herrscher für ein Land, welches das „arbitrium mundi" anstrebte.

Überhaupt in England hatte es (und hat es noch) mit dem Königtum seine eigene Bewandtnis. Eine Nation, die verschiedene Herrscher abgesetzt und den einen sogar geköpft hat, kann nicht recht an die Prin- zipien der Legitimität und des Gottesgnadentums glauben. Das Königtum ist daher in London nicht in Mysterie gehüllt, wie dies in den Monarchien Zentral - und Osteuropas der Fall war. Es ruht auf politischem Opportunismus und Snobbismus. Man empfindet es als Notwendigkeit, daß das Oberhaupt des größten Welt- reiches von einer Atmosphäre umgeben sei, die es von kleinem menschlichen Egoismus und Rücksichten be- freit. Der weitverbreitete Snobbismus verlangt un- bedingt eine Spitze der gesellschaftlichen Pyramide, und dies kann nur der König sein. Nebenbei spielen natür- lich persönliche Eigenschaften eine große Rolle. Dies war namentlich bei Eduard VH. der Fall. Ja, es hörten zu seiner Zeit die in einer gewissen Presse üblichen Angrifife sie ist in dieser Hinsicht völlig frei gegen das Herrscherhaus spontan auf.

König Eduard war als Träger des Zeitgedankens eminent populär. Er lebte wie der vornehme englische Gentleman und nahm am sozialen Lebe;i regen Anteil. Er wurde zu ,,Weeks ends" auf Schlössern eingeladen

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und liatte auch stets Gäste bei sicli in W'indsor. Er war ein ausgezeichneter Schütze. Wer als sein Freund galt und als solcher in den Blättern erwähnt wurde, hatte den Gipfel der 'sozialen Ambitionen erreicht.

Zweifelsohne war es für England ein gütiges Ge- schick, welches Eduard VII. auf den Thron in einen» Augenblick setzte, wo die internationale Politik des Landes eine hochbedeutende Umänderung durchmachte. Seine Fähigkeiten und sein Takt erlaubten ihm dem- entsprechend eine Rolle zu spielen, welche die gewöhn- lichen Befugnisse des traditionellen, verfassungsmäßigen britischen Herrschers weit überschritt. Seine Stelle glich vielmehr derjenigen eines emeritierten zurück- gezogenen parlamentarischen Führers, dessen Meinung wegen seiner erprobten Kompetenz, eminenten Pre- stiges und anerkannten Unparteilichkeit in allen großen Fragen allerseits eingeholt und meistens befolgt wird.

Mit seinem Sohn, dem jetzigen Könige, kehrte alles wieder ins normale Gleis zurück. Die neue politische Orientierung war ja bei seinem. Regierungsantritte schon vollzogen, und selbst den großen Entschluß über Eintritt in den Weltkrieg hatte nicht der König zu fällen.

König Georg, ein liebenswürdiger, mit tiefem Sinn für seine Pflichten begabter Herrscher, Sportsmann und Weltmann wie sein Vater, und vielleicht noch mehr als er, typischer englischer Gentleman, ist das Muster eines konstitutionellen Königs, wie die englische Verfassung ihn liebt. Seine Ähnlichkeit mit seinem Vetter, dem unglücklichen Zaren Nikolaus, ist überraschend.

Die Königin stammt bekanntlich von einem würt- tembergischen Prinzen ab, welcher eine ungarische Gräfin zur Frau hatte. Sie pflegte diese morganatische Abstammung keineswegs zu verachten und hielt sogar den Verkehr mit manchen Ungarn aufrecht. Sie ist

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eine interessante schöne Erscheinung und zeichnet sich durch große Energie und Verständnis in der Erfüllung ihrer königlichen Pflichten aus. Auch die Brüder der Königin erwiesen uns Ungarn immer Sympathien.

Die Entente cordiale ist, wie gesagt, formell das Werk Herrn Clemenceaus, Herrn Delcasses und- des Marquis von Landsdowne. Die beiden letzten Minister des Äußeren waren äußerst geschickt und ver- standen sich in jeder Weise. Herr Delcasse war in hohem Grade begabt. Sein Tatendrang und seine Ambitionen setzten ihm als Ziel die Kräftigung der internationalen Stellung Frankreichs. Er besaß die großzügige Auffassung, die nötig war, um sich über die Kleinlichkeit der Rivalität mit England hinweg- zusetzen. Lord Landsdowne wieder, von eminenter Be- gabung und mit großem, diplomatischem Takt, war überdies durch seine französische Verwandtschaft in der Lage, dieses Land besser als die meisten seiner Mit- bürger zu kennen. Diese zwei Herren kleiner Statur haben zusammen mit Herrn Balfour. dessen poH- tische und weltliche Tendenzen die Annäherung prä- konisierten, Großes geleistet. Bei der Ausführung der Detailfragen leistete der Unterstaatssekretär Sir Elgin Gorst gute Dienste. Er war früher Berater Lord Cro- mers in Ägypten gewesen, den er übrigens später dort ersetzte, und wurde von dort zu den Verhandlungen nach Paris berufen. Ich war mit diesem brillant begabten Staatsmann sehr befreundet und bedauere seinen frühen Tod sehr. Schließlich wäre in diesem Zusammenhang des höchst geschickten langjährigen französischen Bot- schafters in London, Herrn Cambon, zu gedenken, der von jeher auf diese Annäherung hingearbeitet hatte. Seine diplomatischen Eigenschaften und die Popularität, deren er sich in London erfreute, halfen ihm sehr dabei.

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Im Jahre 1906 feierte die Entente cordiale noch immer ihre langen FHttervvochen, und man konnte schon, wie gesagt, das Terrain für das Heranziehen Rußlands vorbereiten.

Merkwürdigerweise fiel diese Aufgabe den Libe- ralen zu, welche die konservative Regierung eben ab- gelöst hatte. Letztere hatte zwar schöne Erfolge in der Welt zu verzeichnen, sie war aber zu lange am Ruder, auch regten sich verschiedentlich Strömungen gegen sie, die liberale Reformen in inneren Fragen wünschten. Hieß es schon bei der Annäherung an Frankreich, L^nangenehmes in der Presse totzu- schweigen, so galt dies noch immer in höherem Grade für Rußland. Dieses Land war zaristisch, und man mußte es so nehmen, obzwar vieles daran den englischen Liberalen nicht gefiel. Allerdings hatte die französische Republik eine Allianz mit Rußland geschlossen, und diese war in Paris populär; auch wünschte Frankreich begreiflicherweise die Intimität zwischen seinen beiden Freunden. Der Geist des Engländers und der Geist des Zarentums waren und blieben aber verschieden, und die englische Regierung konnte nicht vergessen, daß, wenn auch nur die Annäherung mit dem offiziellen Rußland von effektivem Nutzen sein würde, sie wahre Sympathien hauptsächlich in den liberalen Kreisen Rußlands be- sitze. Es ergaben sich daher schwierige Lagen. Nach der Auflösung der zweiten Duma hatte der neue Premier Campbell Bannermann, ein ehrlicher Politiker, dem diplomatische Finessen fern lagen, dem von einem Kon- greß in London scheidenden russischen Delegierten zu- gerufen: ,,La Douma est morte, vive la Douma." An der Newa machte dies keine große Freude, aber zwei Jahre nachher kam doch Reval.

Der neue englische Minister des Äußern war Sir

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Edward Grey, und dieser, der Tradition treu, die es seit einiger Zeit will, daß die Kontinuität in der briti- schen auswärtigen Politik durch die Regierungswechsel nicht gestört werden darf, schickte sich fleißig an, die Freundschaft mit Frankreich zu pflegen und jene mit Rußland als Corollaire anzubahnen.

Früher hatten die Neuwahlen in England oft be- dauerliche Störungen in der auswärtigen Politik hervor- gerufen. Die Konservativen waren zum Beispiel tur- cophil, die Liberalen das Gegenteil. Wenn also Mr. Gladstone Lord Beaconsfield oder Lord SaHsbury ab- löste, so bedeutete dies ein momentan chaotischer Zu- stand, welcher mit der Würde des Weltreiches schwer vereinbar war. Lord Roseberry erkannte dies und stellte als Prinzip fest, daß der auswärtige Kurs mit Heran- ziehung aller Parteien festgesetzt werden muß, daß aber dann ein Regierungswechsel die auswärtige Politik des Landes nicht tangieren dürfe. Seit dieser Zeit hat es sich auch tatsächlich in solchen Fällen nur um Unter- schiede in den Nuancen gehandelt.

Grey war gewiß einer der interessantesten Staats- männer Albions. Er war hochgewachsen, vornehm, glattrasiert. Sein unbewegliches Gesicht verlieh ihm den Ausdruck der in früheren Jahrzehnten auf dem Kontinente so bekannten „Mylords", den eiskalte Vor- nehmheit, Sport und Ruhe auszeichnete. Eine Ruhe, welche sich durch keine physischen und moralischen Stürme stören läßt. Grey war ein Vollblutengländer vom alten Schlage, obzwar er an Jahren gar nicht alt war. Er vertrat einen Typus, dem man heute kaum noch begegnet. Er sprach keine andere Sprache als EngHsch, und die Fama wollte wissen, daß er niemals das Inselreich verlassen hatte. Er erfreute sich großen Prestig:es in der liberalen Partei und war so zur Macht

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V. Szilassy, Der Utittrgang der Donau-Monarchie. (5^

gelangt. Nichts schien ihn aber besonders für das Portefeuille des Auswärtigen zu prädestinieren. Aller- dings, einmal dort angelangt, gab er sich redlich und erfolgreich IMühe, die schwierigen Fragen seines Res- sorts zu bewältigen. Aber für das fieberhafte Treiben der modernen Diplomatie konnte dieser englische Gentleman alten Schlages nie einen Geschmack ge- winnen. Tobte auch, wie zum Beispiel zur Zeit der Botschafterkonferenz während des Balkankrieges, die diplomatische Schlacht in London noch so heftig, Sir Edward ging doch am Wochenende stets auf sein Land- gut, um seiner Lieblingsleidenschaft, der Fischerei, zu huldigen.

Im Aufbau der Entente mit Rußland fand Grey einen tüchtigen Mitarbeiter in der Person des Bot- schafters des Zaren in London, Grafen Benckendorff. Dieser, welcher viele Jahre an der Themse gewirkt hatte, war in den Londoner Straßen und im Hydepark, wo er seinen Morgenritt gern machte, eine volkstümliche Figur geworden. Elegant, vornehm, besaß er alle Allüren eines Diplomaten und Grandseigneurs alten Stils. Ganz anders, aber nicht weniger verdient um die Sache war sein erster Mitarbeiter, der Gesandte Po- klewski, der durch seinen Reichtum und Geschicklich- keit sich eine besondere Stellung in der Londoner Ge- sellschaft zu schaffen wußte ; namentlich genoß er die Gunst König Eduards, der bei ihm gern verkehrte und dort seine Freunde traf.

Als Basis für die Entente mit Rußland wählte man Persien. Mazedonien war zu kompliziert, übrigens hatte Österreich-Ungarn dort angeblich noch seine Entente mit dem Zarenreich, und Deutschland hatte dort ein Wort mitzureden. Dies störte das gewünschte Tete- a-tete. Das mazedonische Haus war übrigens schon sehr

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im Wanken. Man war an die Ausführung der Justiz- reform gelangt, die alte Entente mit uns wirkte schwach; auch die Finanzreform versursachte Unstimmigkeiten. Im persischen Hause war man besser untergebracht, man machte drei Zonen, eine enghsche, eine russische und eine neutrale. Der Rahmen war fertig, und man brauchte ihm nur Inhalt zu geben.

Dafür sorgte, wie bei der Entente cordiale, eine groß angelegte politische und wirtschaftliche Pro- paganda.

Dafür sorgte auch leider, wie bei der Entente cor- diale, Deutschland.

Die Geschichte der deutsch-englischen Beziehungen in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts ist nicht nur die Geschichte jener schwachen und mißlungenen Versuche, eine Annäherung zwischen beiden Ländern zustande zu bringen, sondern auch die Geschichte der Entente cordiale. Beide lassen sich nicht trennen, denn jede neue Mißstimmung gegen Deutschland bewirkte automatisch einen neuen Schritt in der Evolution in diesem Sinne und später einen neuen Schritt zur Be- festigung der Entente. Die deutsch-englischen Be- ziehungen waren eigentlich ein Aspekt der Entente cordiale.

Zwischen England und Deutschland bestanden keine territorialen Gegensätze, deren Regelung die Grundlage einer Entente hätten bilden können und manche haben hierin ein Hindernis zu einer Annäherung sogar erblicken wollen! Trotz aller ihrer Beschränkt- heit, denn so beschränkt ist die Menschheit nicht, hätte im Gegenteil dieser Umstand sehr gute Früchte tragen können.

Die Gegensätze lagen tiefer, aber zugleich waren sie irrealer, und vielleicht nicht so tief, als man es

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meinte. England hatte zur See genug gerüstet, Deutsch- land setzte seine Marinerüstungen fort. England wollte Verhandlungen über Abrüstung oder Beschränkung der Rüstungen eingehen, Deutschland lehnte ab oder zeigte meistens wenig Entgegenkommen. Eng- land wollte die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit, Deutschland lehnte ab. Wollte Deutschland wirklich mit einer starken Marine sich der englischen Kolonien bemächtigen? Gewiß nicht. Wollte England wirklich die 'deutsche Flotte vernichten, bevor Deutschland es überall im Welthandel zurückgedrängt hatte? Gewiß auch nicht!

Auch war die Welt groß genug für beide, und eine Einigung hätte dieser reichen Nation noch viel mehr Reichtum gebracht. Auch war guter Wille auf beiden Seiten zuweilen vorhanden; aber es war wenig Ge- schicklichkeit, namentlich auf deutscher Seite.

. England meinte, da seiner Ansicht nach Deutsch- lands Rüstungen gegen es gerichtet waren, ein Recht für seine Forderung zu haben, und betrachtete seine These der „Two Power Standard" als sein Recht. Deutsch- land vertrat mit gewiß nicht weniger Berechtigung den Standpunkt, daß Rüstungen die eigensten Angelegen- heiten jeder Nation seien. Es hatte gewiß recht, aber das militärische Deutschland rasselte dabei mit dem Säbel. Es nützte seine Vorzugslage nicht aus, es zeigte kein Verständnis für die englische Psychologie.

Jedesmal, wenn über diese Gegenstände verhandelt ward, hatte der Engländer die Empfindung, aus den Verhandlungen brutalisiert herauszukommen. Cham- berlain hatte mit Fürst Bülow gesprochen und bemerkte nachher, er würde niemals wieder mit Deutschland in , »doppeltem Gespann" fahren. Auch der sehr kulante

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und begabte Herr Haidane kam von Berlin enttäuscht zurück. Die Liberalen befür\vorteten diese Annähe- rung, die ja ihnen im Innern viel mehr als die russische Kombination zusagte, noch mehr als die Konservativen. Sie erreichtet! aber nichts und erklärten schließlich Deutschland den Krieg.

Die Beziehungen zwischen den so nahe verwandten Höfen hätten ja den einfachsten Anlaß zu einer An- näherung liefern können. Es war aber ganz anders. Der NefFe war stolz und redete viel, die Engländer nahmen es sehr übel. Der Onkel hatte immer das Gefühl, ge- kränkt worden zu sein.

Was aber gewiß noch mehr als all dies die Atmo- sphäre zwischen den zwei großen verwandten Nationen zu verpesten beitrug, war die Lage Frankreichs. Eng- land hatte das Gefühl, daß Deutschland es mißhandeln wolle, und dies wollte Großbritannien auf keinen Fall zulassen. Es war nicht nur edle Sympathie für den schwächeren Freund, den es zu schützen galt. Es han- delte sich um Englands Unterschrift ! Die Entente cordiale basierte auf dem ägyptisch-marokkanischen Tauschgeschäft. In Ägypten waren nur englische und französische Interessen prononciert ; daher war die Sache erledigt. Man hatte dasselbe für Marokko ange- nommen, aber da kam plötzlich Agadir ! England konnte nun unmöglich zugeben, daß es etwas gegeben, was nicht der Fall war, und daß sein Partner folglich einen marche de dupe gemacht habe. Dies zu tun, verbot der einfachste politische Sinn, denn die Entente cordiale war dann weniger als wertlos, und man konnte nach Faschoda zurückkehren. Dies aber verbot vor allem Englands kaufmännischer Kredit, denn seine Unter- schrift war dann wertlos. Diesem Umstand kommt, glaube ich, eine ganz ungeheure Bedeutung zu. Das

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Wort Agadir kann mit Blut in den Annalen der Welt- geschichte geschrieben werden. Viel mehr als alle direkten Hiebe trafen England Deutschlands Aspira- tionen in Marokko. Mit dem allmählichen Verlust von Handelsplätzen hätte Großbritannien sich abgefunden; es hatte dies zu dulden von Amerika gelernt, auch be- drohte die wirtschaftliche Expansion Deutschlands die englischen Interessen bereits seit einem Jahrzehnt. Aber durch seine Politik Frankreich gegenüber schien Deutschland England nicht nur zum schwachen, son- dern auch zum „unfairen" Handelsmann zu stempeln. England beschloß daher, daß diese Politik nur über seinen eigenen Leichnam zum Ziele führen dürfe, und daß es Frankreich bis zum äußersten beistehen würde. Es lehnte daher auch jede Neutralitätserklärung Deutschland gegenüber ab.

Was immer die Rechte Deutschlands waren, so war es jedenfalls sehr schlecht inspiriert, für diese englische Psychologie so wenig Verständnis zu zeigen und Eng- land an dessen empfindlichster Stelle zu reizen. Selbst wenn es wahr wäre, daß manch ein englischer Staats- mann mit Freuden die Marokkoangelegenheit ergriff, um eine Entente zwischen Frankreich und Deutschland zu verhindern. Desto mehr ! Man sollte meinen, daß im Gegenteil die deutsche Diplomatie diese psycho- logische Situation hätte sehr gut ausnützen können. Sah man in Berlin die schwierige Lage Englands ein, so hätte man sie nicht noch schwieriger machen sollen, hätte im Gegenteil anderswo wertvolle Kompensationen anstreben sollen, Kompensationen, die im Verhältnis zur Wichtigkeit der Sache groß gewesen wären.

Das militarisierte Deutschland zeichnete sich aber nie durch feine diplomatische Gefühle aus, und die herrschende Clique hatte, was Psychologie anlangte.

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längst vergessen, daß Deutschland der Welt die be- rühmtesten Philosophen gegeben hatte.

Die in England so überaus mächtige öffentliche Meinung nahm dies alles sehr übel ; die Atmosphäre wurde vergiftet, es begann in den großen Cityblättern eine förmliche Hetze gegen Deutschland. Von einer Entente war keine Rede mehr, obwohl Deutschland später in der Rüstungsfrage zuweilen konzilianter war. Trotz eines gewissen guten Willens auf beiden Seiten, trotzdem zwischen beiden Rivalen eigentlich keine an- deren Gegensätze bestanden als zwischen den jeweilig zwei stärksten Buben einer jeden Schule, war die Friedenssache bereits besiegelt und man ließ sich dann nur noch treiben. Das Terrain für 191 4 war schon vorbereitet.

Zweifelsohne hat dies auch alles bei der Bereit- willigkeit, mit welcher die liberale englische Regierung ihren Skrupeln zum Trotz die Entente mit Rußland später einging, eine Rolle gespielt, sowie bei der Aus- dehnung des britischen Einflusses auf die anderen latei- nischen Länder Italien und Spanien, mit denen herz- lichste Beziehungen erreicht wurden. Was letzteres Land anbelangt, so sorgte auch hierfür die auf dem Madrider Thron sitzende englische Prinzessin.

Es kann nicht gesagt werden, daß Deutschland in dieser kritischen Zeit in London nicht gut vertreten war. Als ich dort ankam, war der Botschafter de.s Reiches Graf Metternich, ein eleganter, philosophisch veranlagter, vornehmer Herr, der vom Militär absolut nichts hatte. Er war begabt und konziliant, und gewiß der letzte, um mit dem Säbel zu rasseln. Nach ihm kam ^Marschall, der kaum der richtige Mann gewesen sein mag, aber bald starb. Über Fürst Lichnowsk}' sind die

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Meinungen g^eteilt ; niemand wird ihm aber Anglophobie vorwerfen können.

Last not least möchte ich hier noch einige Worte über meinen damahgen Chef, den österreichisch-unga- rischen Botschafter Graf Mensdorfif, sagen. Mit der könighchen FamiHe verwandt und mehr Weltmann als Gelehrter, ist dieser ausg-ezeichnete Diplomat, dessen eminentes Taktgefühl übrigens niemals in Abrede ge- stellt, zu oft als Dilettant dargestellt worden, der seinen Erfolg lediglich seiner Verwandtschaft und ge- sellschaftlichen Stellung verdankt hätte. Keine Meinung ist irriger. Graf Mensdorfif war ein brillant begabter, ausgezeichneter Psychologe und Beobachter, und sah schon in jenen Tag-en, in welche Katastrophe unsere und Deutschlands blinde Politik uns führen würde. Er war unermüdlich in seinen Bestrebungen, zwischen den großen Rivalen im Sinne einer friedlichen Auseinander- setzung zu vermitteln, und er setzte das ganze Gewicht seiner wirklich außerordentlich persönlichen Stellung in den Dienst der Sache ein. Dieser elegante Weltmann leistete gewii?, bessere Dienste als mancher posierende Bureaukrat, welcher für alles Theorien hatte, die dann aber alle falsch sind. Sein Fehler Avar es nicht, wenn die Katastrophe doch kam. Ich persönlich lernte Mens- dorfif, dessen erster Sekretär ich lange Monate hindurch war, nicht nur wegen der genannten Eigenschaften hoch schätzen und lieben, sondern auch, weil er bis in die kleinsten Fragen des Alltags durch und durch ein Gentleman war. Als Beispiel führe ich folgende Episode an. Ich hatte auf seinen Wunsch einen zusammen- stellenden Bericht über die englische auswärtige Politik verfaßt. Als nun der Botschafter im Herbst 1906 seinen Antrittsbesuch beim neuernannten Minister des Äußern, Graf Ährenthal, machte, bemerkte ihm gegenüber der

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letztere, daß dieser Bericht ihm besonders gefallen habe. Mensdorff zögerte nicht einen Augenblick, die Autor- schaft richtig zu stellen. Zwar brauchte er gewiß die fremden Federn am allerwenigsten, viele aber an seiner Stelle hätten anders gehandelt.

Der Regimewechsel von Goluchowski zu Ähren- thal war übrigens für die Beziehungen des Dreibundes zu den Westmächten, die der neue Minister (über welchen später des längeren die Rede sein wird) gar nicht kannte, wenig günstig, Graf Goluchowski war im Gegenteil ein halber Pariser gev/esen. Seine politische Tätigkeit ist vielfach als schwach und farblos kritisiert worden. Wenn er nichts schuf, so erhielt er doch wenig- stens, was sein begabter Nachfolger nicht immer zu tun vermochte, die Ruhe Europas.

Den Krieg entschieden hat Deutschlands Ver- kennung der anglosächsischen Psyche und des anglo- sächsischen Charakters. Über Frankreich hat man sich an der Spree auch geirrt; man hat dort vom französi- schen ^^olke die heldenhafte Kraftentfaltung, welche es zeigte, nicht erwartet. Aber Frankreich allein, un- genügend vorbereitet, wäre bei langer Kriegsdauer ver- blutet. Die Anglosachsen haben entschieden. Durch ihre Zahlen? Gewiß nicht! England konnte im ersten kritischen Momente nur einige Divisionen beisteuern, und xA^merika hatte nur verhältnismäßig wenig Truppen am Kontinente, als die Katastrophe eintrat. Durch ihre materiellen Aushilfen? Dies zu behaupten wäre auch gewagt; teilweise ist es wohl der Fall ge- wesen, dies war aber eben ein Beweis ihrer Kraft- anstrengung.

Deutschland hat an Englands Intervention nicht geglaubt, dann aber die englische und später die ame-

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rikanische Kooporation* unterschätzt ; es hat dabei in der Behandknig dieser Nationen Kriegsmethoden ange- wendet, die sie zu äußerster Kraftanstrengung reizten und die somit eine völHge Verkennung ihres nationalen Charakters bewiesen.

Wie ist dies nun erklärhch? Um diese Frage zu beantworten, muß man kurz dieses Nationalcharakters gedenken.

Vieles ist über die Überlegenheit der Anglosachsen geschrieben worden. Sind sie den anderen Völkern überlegen? Ich weiß es nicht, sie sind jedenfalls anders. Ich glaube auch nicht an SchlagAvorte, wenn es sich darum handelt, Völker zu charakterisieren. Sie sind doch keine chemischen Mischungen.

Daher werden wir den anglosächsischen Charakter nicht durch Aufstellung eines Schlagwortes, sondern durch einige kurze Betrachtungen zu verstehen ver- suchen. Ist doch eine Volkspsyche etwas ungeheuer Kompliziertes, was sich durch ein Schlagwort nicht de- finieren läßt.

Die Anglosachsen haben als Lebensregel das mora- lische Gesetz des Alten Testamentes, ein Überbleibsel aus den puritanischen Zeiten. Dieser „moral Standard" vertritt bei ihnen die Stelle der auf dem Kontinent herrschenden „Ehre''. Das moralische Gesetz ist viel Strenger als die Ehre, ist aber in seiner Anwendung recht elastisch geworden. Nicht so die biblische Lebens- regel, welche keine Abweichungen duldet. Die Folge ist eine unerwartete. Der Kontinentale kann sich vieles erlauben und noch ein Ehrenmann bleiben. Um Religion braucht er sich nicht zu kümmern, eine Kugel oder ein

* Ich schreibe dies nach Lektüre des ausgezeichneten Buches des Grafen Bernstorff, die deutsche Regierung hat im Jahre 1916 die Friedens- aussichten, welche ihnen Wilson anbot, für das U-Boot-Märchen geopfert.

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Säbelhieb kann vieles reinwaschen. Nicht so der Anglo- sachse. Wenn letzterer daher in seiner menschlichen Schwäche das „moral Standard" nicht mehr völlig ein- halten kann, so ist er geneigt, dies nicht einzugestehen und so zu machen, als ob er es täte. Destomehr, als es für ihn wirklich das Ideal bleibt, dessen Einhaltung er von anderen verlangt. Dies erklärt den Vorwurf der Heuchelei, welcher allgemein gegen die Engländer er- hoben wird. Man sollte dabei aber La Rochefoucoulds berühmtes Wort nicht vergessen: ,,L'hypcrisie est un hommage que le vice rend ä la vertu". Die Anzahl der- jenigen Engländer, die dem „moral Standard" genau huldigen, kann nicht sehr groß sein. Diejenigen, welche soweit sind, daß jedes Streben, es einzuhalten, bei ihnen vergeblich ist, und sie es daher einfach über Bord wer- fen, wird auch nicht sehr groß sein. Jene aber, die ihr ganzes Leben lang bestrebt sind, dem Ideal der Nation nachzukommen, sind ungeheuer häufig'. Diese eigen- artige Mentalität rundweg als Heuchelei zu stempeln, führt aber leicht zu falschen Schlüssen und, vom Feinde angewendet, zu argen Enttäuschungen. England und Amerika gingen mit Enthusiasmus in den Krieg, nicht wie man in Deutschland wähnte, nur um materiellen Vorteilen nachzujagen.

Vor allem war es der Begriff von „fairness", der sie hierzu trieb. Wegen Belgien, wegen Kriegsmethoden usw. ? Neutralitäten hatte man ja in allen Zeiten schon verletzt. Aber man merkte in Deutschland nicht, daß in England der Zeitgeist die Invasion Belgiens, dessen Neutralität von Preußen und Großbritannien vertraglich verbürgt war, nicht mehr dulden würde.

Die englische Sprache kennt ein Wort, das in kein anderes übersetzt werden kann: ,,doggedness". Dieses Wort war ein Menetekel. Es bedeutet etwa : verbissenes,

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kräftiges Durchhalten, wie eine Dogge, die fähig ist, etwas zwischen ihren Zähnen bis zum äußersten zu hal- ten. Keine Prügel werden sie zum Nachgeben be- stimmen, im Gegenteil, sie wird sich in ihre Beute noch mehr verbeißen.. Die ganze lange englische Geschichte ist die Geschichte dieses Charakterzuges. Wann immer die Nation in Bedrängnis geriet, entwickelte sie die größten Energien, bis sie aus der Not herauskam, und dies gelang ihr immer. Sie kannte nicht den Begriff, das Herz sinken lassen. Im Gegenteil, jeder Schlag, jede Demütigimg gab ihr neuen Mut. Sie war zuweilen römisch und lobte die geschlagenen Feldherren, weil sie an der Republik nicht verzweifelten. Und am Ende siegte sie.

Methoden, die daher bei anderen gelangen, mußten bei den Anglosachsen das Gegenteil erreichen. Die Eng- länder schätzten vor allem die Freiheit, nicht nur der Nationen, sondern auch des Individuums. Die allge- meine Wehrpflicht erschien eine unerträgliche Ein- schränkung dieser Freiheit. Deutschland meinte, der englische Kaufmann eine fatale W'endungsart würde sie niemals einführen. Er ging ans Werk, durch Luftschifif- und U-Boot-Angrifif das Inselreich einzu- schüchtern. Dies gelang zwar nicht, aber Deutschland führte auf diese Weise selbst die allgemeine Wehrpflicht in Großbritannien ein.

Dies ist meiner Ansicht nach eine der interessan- testen Erscheinungen des Krieges, diese Umänderung der ganzen nationalen Psyche unter dem Einfluß aus- wärtiger Bedrohung. Dies allein wäirde die Anglo- sachsen zu einer großen Rasse stempeln. Dogmatische Erörterungen lagen dem Engländer fern. Es war ihm gleichgültig, ob London eine Festung sei oder nicht. Die These, daß Deutschland dasselbe Recht habe, sie aus-

zuhungern, wie sie Deutschland gegenüber hatten, Heß sie kalt, so wie die Behauptung, daß die „Lusitania" Kriegsmaterial mitführte. Engländer und Amerikaner sahen nur die Ausführungen. Sie sahen die vielen Frauen und Kinderleichen und führten die allgemeine Wehrpflicht ein.

Die Anglosachsen sind im hohen Grade praktisch. Die Arbeitseinteilung ist ihre Regel. Auch huldigen sie derselben Tageseinteilung. Alles hat seine Stunde, Arbeit und Unterhaltung. Kein anderer lebt so regel- mäßig, tut zu jeder Tagesstunde dasselbe, wie der Eng- länder, und dies trotz des verschiedenartigen Klimas. Kein anderer läßt sich so wenig durch persönliche Rück- sichten berühren. Sie mögen ihren Egoismus haben, sie sind aber nicht ,,self conscious". Diese Nation, die die Kultur des Individualismus höher als irgendeine an- dere gestellt hat und deren Sprache das Wort ,,Ich" mit einem einzigen und großen Buchstaben schreibt, denkt weniger an das eigene „Ich", hält es weniger für das wichtigste auf Erden, als die anderen Völker, jedenfalls Europas. Daher kennt der Engländer das in Mittel- europa so viel verbreitete Übelnehmen von Kleinig- keiten, das „Apprehendieren" wegen eines nicht zurück- gestatteten Besuches zum Beispiel gar nicht. Dies würde seinem stolzen Selbstbewußtsein als trauriges Armutszeugnis, seinem praktischen Sinn als ungeheures Zeitvergeuden dünken.

In all dem sind gewisse Gegensätze vorhanden, die den nationalen Charakter ausmachen. Wo haben starke Charaktere sie nicht? Man sah aber nur, was man sehen wollte, eine Nation von Kaufleuten, die die mate- riellen Güter am höchsten priesen, eine Nation von In- dividualisten, die ihre individuelle Freiheit nicht preis- geben würden, einen alleinherrschenden praktischen

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Sinn, der keine internationale Verbitterungen haben wollte.

Der Engländer war aber vor allem ein Anhänger der ,,fairness". Und dann überzeugte er sich sehr bald, daß individuelle Freiheit und materielle Güter nur in einer freien Heimat erhalten werden konnten, und daü es galt, momentan auch auf diese zu verzichten, um die Freiheit der Heimat zu erhalten. Dies merkte man in Deutschland nicht.

Ich habe vor Jahren mehrere Sommer in Kairo ver- bracht. Abends, als die Hitze gegen 5 Uhr nachließ, strömte alles auf die schöne Nilinsel Ghesireh hinaus. Bei der Brücke konnte man jeden Tag Equipage auf Equipage beobachten. Es war ein wahrer Exhodus, aber nicht alle gingen denselben Weg. Am Ende der Brücke angelangt, fuhren Ägypter, Levantiner, alle Kontinentalen Europas nach links zur eleganten Pro- menade am Nilstrand. Dort fand der Korso statt. Es wurde geklatscht, über die Hitze geklagt, geflirtet. Aber die Engländer bogen rechts ab, sie fuhren zum Sporting Club, um sich trotz der starken Hitze dem beliebten Sporte, Reiten, Tennis, Golf usw., zu widmen.

Dieses Scheiden der Wege war ein Sinnbild für die Psyche der Rassen. Mehr als Bücher erklärte es mir vieles. Die Grundideen waren verschieden. Der Anglo- sachse, dem ,,mens sana in corpore sano" als Lebens- prinzip gilt, ging herkulesähnHch nach rechts. Er pflanzte seine Sitten, dem Klima trotzend, überall auf Erden ein. Seine Energie und sein praktischer Sinn haben äußerlich wenigstens assimilierend gewirkt. Alles hatte für ihn eine Zeit, der Nachmittag war für körper- liche Stärkung da und nicht um Abenteuern nachzu- jagen. Tat er letzteres auch, so wollte er hierfür keines- falls seinen Sport opfern ; es mußte anders geschehen.

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Im obigen habe ich einige Seiten des britischen Charakters zu beleuchten versucht, jenes Charakters, der den Anglosachsen unter den Menschen eine be- sondere Stellung einräumt. Für manche Züge, auf die der Engländer besonders hält uwd die er der Isoliertheit seiner Insel zuschreibt, hat er ein besonderes Wort „in- sularity". Die meisten dieser Charaktereigenschaften sind auch anderen Völkern eigen, nur ihre Intensität und Zusammenstellung ist beim Anglosachsen eigenartig.

Wollte man dennoch Schlagworte gebrauchen, so könnte man sagen, daß der anglosächsische Charakter auf Willen und Ordnungsliebe beruht. Außer der anglo- sächsischen Rasse besitzt aber keine Nation der Erde diese Eigenschaften in so hohem Grade, wie die Deutschen.

Es ist daher um so erstaunlicher, daß sie die anglo- sächsische Mentalität derart verkannten, um so erstaun- licher, als diese Verkennung katastrophal sein sollte.

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Kapitel IV. Die Mentalität der Gegner. Die zweite Friedenskonferenz.

Die zweite Haager Friedenskonferenz vom Jahre 1907 ist allseits Gegenstand des Spottes geworden. Man sagte, daß sie, sich statt mit dem Frieden vornehmlich mit der Organisierung des Krieges beschäftigte. Wegen der unzähligen Delegationsdiners, die die Konferenz be- zeichneten, nannten sie die Holländer, die nicht die letzten unter den Spöttern waren, die ,,Vretesconfe- rentie", die ,, Fresserkonferenz" (statt ,,Fredens- conferentie").

Für die Menschheit waren ihre langen Arbeiten gleich null.

Die Konferenz lieferte aber eine ausgezeichnete Illustration für die Mentalität der Gegner und der Welt überhaupt.

Wie das Bankett Sardanapals vor der Katastrophe kommt mir die Zeit jet«t vor. Das Bankett war pompös, es w^ar der Katastrophe würdig. Niemals hatte man noch ein solches Weltbankett es Welt-Areopag zu nennen, klingt doch zu ironisch versammelt gesehen !

Die Delegierten und Sekretäre bezifferten sich in die Hunderte. Sechsundvierzig Mächte man durfte „Staaten" nicht sagen, um Ungarns Empfindlichkeiten zu schonen, oder man mußte dann siebenundvierzig sagen , die ganze Erde hatte sich vertreten lassen. ,,Nous sommes les depositaires de l'avenir" sagten die

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südamerikanischen Delegierten, und Herr Stead nannte es das „Parlament der Menschheit". Alles war ver- treten, außer dem Papste. Ihn hatte man nicht einge- laden — wegen Italien. Bei der ersten Konferenz war dasselbe wegen England dem noch unabhängigen Transvaal und Orangefreistaat passiert. Japan verlangte die Anwendung dieses Prinzips Koreas gegenüber. Der erste koreanische Gesandte verübte Selbstmord. Die Sache war mit orientaler Eleganz erledigt.

Diese Ausnahmen waren aber für den Friedens- willen der Welt symptomatisch namentlich war es symptomatisch, daß man die Friedensarbeit so leicht fand, daiä sie der Hilfe des Hauptes der katholischen Kirche entbehren konnte.

Doch es handelte sich eben nicht nur um Friedens- arbeiten. Es handelte sich auch für die Regierungen, um manche Friedensströmung, die in den \^ölkern lebte, in geschickter Weise aus der Welt zu schaffen. Hierin hatten die Regierungen alle schuld, aber nicht im selben Grade.

Das Ganze war ein großes Duell zwischen Deutsch- land und England, Es war das Rednerduell, vor dem blutigen alles andere war Nebensache,

Nachträglich staunte man, daß sich beiderseits nicht einige starke IMänner fanden, die durch Gewalt- maßnahmen, durch beiderseitiges Nachgeben, den Frie- den gesichert hatten. Es waren keine da. \\'enn es solche auch gegeben hätte, wären sie beiderseits, vor- nehmlich aber deutscherseits, zu Hause desavouiert worden.

Hierin liegt Deutschlands Schuld. Seine Re- gierung wollte nicht den Krieg abschaffen. In Eng- land wollten es viele nicht, auch in Foreign OfYice nicht.

V) V. S 7 i t a ■! s y , Der Unltrgaiig d. r Donaii-Monarchie. gj

Englands Premier aber, Sir Campbell Bannermann, wollte es ehrlich und hätte den Preis hierfür bezahlt.

Bald sah die eaglische Regierung ein längst be- vor sie aufs Tapet kam, es lag in der Atmosphäre , daß in dieser Sache nichts zu machen sei. Darum dachte sie auch in erster Linie an ihre eigenen Interessen. Alle anderen taten dasselbe. Zwischen den anderen Mächten waren ja auch solche psychologische Momente aufge- taucht, aber Deutschland und England allein waren maiägebend. Alles andere war Nebensache, und alles folgte dem Beispiele dieser zwei Mächtigen.

Es galt für alle sechsundvierzig die Regel, daß man in erster Linie die eigenen Macht- A- o r t e i 1 e wahren mußte, und dem Frie- densgedanken nur dasjenige geben sollte, was eben den eigenen Macht- mitteln keine Einbuße machte.

So konnte man den Frieden nicht sichern. Nicht mehr, als wenn die Menschen im „Contrat Social" auf das Recht zu Morden und Rauben nicht verzichten wollten.

Den Frieden konnte man nur dann sichern, wenn jeder etwas von seiner eigenen Militärmacht der Sache opfern wollte, wie die Menschen ihre eigene wilde Freiheit.

Deutschland lehnte starr ab. Es tat dies zuerst nicht in ^^'orten, aber jeder merkte es. Die anderen folgten. Es blieb nur die zweite Richtschnur. Die Konferenz war zur Komödie, der Weltfriede zum Ster- ben verurteilt.

So entstand die doppelseitige Fassade der großen Beratung.

Für die Völker hieß es, für den Frieden zu arbeiten. Man ließ ihnen diese Seite möglichst allein sehen.

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Für die Regierungen selbst hieJS es vor allem, die eigenen Vorteile wahren, aber man maskierte allseits diese Tätigkeit so viel wie möglich durch humanitäre Rücksichten. Auch zeigte man sich gern humanitär, wo nicht die eigene Macht, sondern die anderen hierfür die Kosten zahlten. ]\Ian ist in der Regel Miütarist, wo man stark ist, und Pazifist, wo man eine Schwäche empfindet. '

Allerdings kam hier und da, sehr selten, eine un- erwartete, menschlich erfreuliche Erscheinung vor. Einige, sehr wenige Delegierte leider allerdings fast alle im Entente- oder neutralen Lager , welche sich einer hervorragenden starken Stellung zu Hause er- freuten, ließen zuweilen die offiziellen Instruktionen beiseite und sprachen im rein menschlichen Sinne für den Frieden. Ihnen galt Ideal mehr als nationale Macht.

Obiges, glaube ich, resümiert den Geist der Kon- ferenz, Es war nötig, diese Betrachtungen zu machen, um die Psyche des ganzen ^lilieus kennen zu lernen.

Die Verhandlungen genau zu besprechen, entzieht sich meiner Aufgabe. Darüber sind wertvolle Bücher veröft'entlicht worden. Ich werde mich daher darauf beschränken, die Fakten hervorzuheben, die diesen Geist illustrieren und einiger Personen gedenken, denen auf der Konferenz wichtige Rollen zukamen.

Meine eigene Berufung nach dem Haag fand auf folgende, eher zufällige Weise statt. Ich wirkte im Früh- jahr 1907 schon mehr als sechs Monate hindurch in London als Botschaftsrat, da der Titulär dieses Postens anderswo zurückgehalten wurde. Nun wollte er endlich ankommen, und ich empfand diese „Degradierung", welche ihren Grund nur in meiner Jugend hatte, recht unangenehm. Mein Chef verstand dies vollständig und hatte dagegen nichts einzuwenden, daß ich mich für den

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Botschaftsratsposten bei der in Tokio zu errichtenden Botschaft bewarb; ich kannte nämlich meine Landsleuic und Kollegen und ihre Unternehmungslust. Ich wußte, daß für diesen entlegenen Posten ich als erster Sekretär Chancen hatte, da wirkliche Botschaftsräte als Rivalen nicht zu befürchten waren. Ich aber wollte den fernen Osten sehen. So wurde auch festgesetzt, daß ich nach Ankunft meines Nachfolgers nach Tokio gehen sollte. Inzwischen erhielt ich plötzlich die Weisung, für die Dauer der Friedenskonferenz als Sekretär der k. u. k. Delegation nach dem Haag zu gehen. Erst nachher sollte die Reise nach dem Osten angetreten werden. Dies paßte mir zwar nicht in jeder Weise, es war aber eine interessante Aussicht. Als ich nun in der Zwischen- zeit eine kurze Reise nach Deutschland machte, las ich eines Tages in der „Kölnischen Zeitung" meinen Namen, allerdings kaum erkennbar durch die Verstüm- melung, in der Liste der österreichisch-ungarischen De- legierten. Dies war natürlich frohe Nachricht, denn die Sache versprach sehr interessant zu werden, und ich war einer der allerjüngsten Delegierten der Konferenz. Der Chef unserer Delegation, Botschafter von Merey, der mir immer zugetan gewesen, hatte es durch- gesetzt. Er brauchte noch einen ungarischen Delegier- ten, wie es sich herausstellte, und zwar .einen solchen, der sein Ungartum bewahrt und nicht, wie zu oft der Fall, seinen Stolz darin setzte, als Österreicher zu gelten. (Welche Ironie übrigens, wie viele ungarischen Edel- leute haben noch vor kurzer Zeit diese Ambition gehabt, und sie waren dabei fanatische ,,l\fag^'arisatoren", so- bald es sich um „Nationalitäten" handelte. Wien war aber schicker!) Außerdem war es auch aus technischen Gründen besser, daß ich Delegierter und niclit Se- kretär sei.

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Herr von Merey war eine der interessantesten Er- scheinungen, die Ich in meiner Laufbahn getroffen habe. Er war klein, und äußerHch fielen mir die durchgeistigten Augen auf. Er war von Goluchowski protegiert und hatte rasche Karriere gemacht. Mit etwa vierzig Jahren war er bereits der erste Beamte des Ministeriums und erhielt nachher den Botschaftertitel. Er verdiente aber dieses Avancement durchaus, trotzdem diejenigen, die ihn nicht kannten, dies bestritten hätten. Er war ja so unendlich bescheiden, und es fehlte ihm an jeder Pose. Aber eine seltene Intelligenz, ein seltener Kopf und enorme Arbeitskraft ! Im Haag trat er zuerst sehr TJe- scheiden auf; dies war ja auch dans la note! Die ^Monarchie hatte sich ja durch die Annexion Bosniens unbeliebt gemacht. Und nur langsam, sehr langsam erreichte er, und durch ihn unsere ganze Delegation, vermöge seiner persönlichen Fähigkeiten ein besseres und später ganz gewichtiges Ansehen. Er wurde in eine Art Oberrat der Sieben gewählt, und die Zeitungen nannten ihn als einen der sieben Weisen der Konferenz. Dabei vielseitig, wie er war, gab er auch ohne jede Frauenhilfe die besten Diners.

Unser zweiter Bevollmächtigter war der Gesandte in Athen, Baron Macchio, ein scharmanter, kluger Herr, der indessen wegen der brillanten Fähigkeiten und der großen Arbeitslust ]\Iereys wenig zur Geltung kam.

Vertreter der Armee war General Baron Giesl, der spätere Gesandte in Belgrad; Vertreter der Marine Ad- miral Haus, der später unsere Flotte befehligte.

Mein eigentlicher Kollege war Hofministerialrat von Weil vom Auswärtigen Amte, ein ausgezeichneter Jurist, mit dem ich seit Jahren befreundet war.

Merey in seiner methodischen Art kombinierte uns zwei Zivilisten und zwei Militärs in folgender Weise.

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Giesl und ich wurden in die Kommission für den Land- krieg, Haus und Weil in jene für den Seekrieg entsendet. Weil hatte sich noch mit allgemeinen Gegenständen zu befassen.

Eine eigenartige Stellung zwischen den zwei Bevoll- mächtigten und uns vier Sachdelegierten nahm der be- rühmte Professor und spätere Ministerpräsident Lam- masch ein. Er war im Innern überzeugter Pazifist und hätte diese Überzeugung gern zum Ausdruck gebracht. Merey vertrat natürlich die offizielle Ansicht per fas et nefas mit Deutschland zu gehen und Lammasch konnte daher nicht viel machen. Man sah es ihm aber wenigstens an, daß in großen Momenten, wie beim Ab- schlachten der Arbitrage, sein Herz eine andere Sprache redete !

Die technische Arbeit der Konferenz, die, wenn ihre Beschlüsse eingehalten worden wären, von Nutzen sehi konnte, bestand bekanntlich in der Linderung der Kriegsführung. Diese sollte möglichst human sein und möglichst wenige Neutrale treffen. Nichtkombattanten. Neutrale und neutrale Staaten sollten möglichst ge- schont werden. In dieser Plinsicht war unsere heute recht ironisch klingende Tätigkeit nichts anderes als eine Erweiterung der bei der ersten Konferenz im Jahre 1899 aufgestellten Grundsätze, teilweise ihre Ausdeh- nung und Anwendung auf den Seekrieg.

Giesl, ein ausgezeichneter Mann, den ich seit langer Zeit kannte und hochschätzte und von dem noch viel die Rede sein wird, und ich machten sehr gute Menage. Man verlangte von uns Berichte über jede Kommission oder Subkommission. Wir machten sie abwechselnd. Weil tat dasselbe mit Admiral Haus. Als aber der er- stere nach Wien zurückbeordert wurde, mußte ich ihn

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auch in der Seekriegkomnilssion vertreten, und zwar allein die Berichte machen, denn Haus war ein Zyniker als Delegierter, obzwar man ihn als Marineoffizier be- sonders hoch schätzte. Er sagte einmal lächelnd seinen italienischen Kollegen, daß, wenn wir jemals einen See- krieg führen würden, es doch nur zwischen den zwei Bundesgenossen der Fall sein könnte ! Dies alles gab mir viel Arbeit ; etwa 600 Seiten habe ich während der Konferenz an Berichten geschrieben.

Natürlich konnte ich in einer kriegstechnischen Kommission neben dem fachmännischen Giesl sachlich nicht viel hervortreten. Doch glaube ich, einige Male mildernd auf sein soldatisches Temperament gewirkt zu haben.

Gleich in den ersten Tagen meines Haager Auf- enthaltes bot sich hierzu eine Gelegenheit, Es stand die bisher offene Frage der obligatorischen Kriegs- erklärung auf dem Tapet. Man wollte eine solche Er- klärung nicht nur bindend machen, sie sollte auch d.er Eröffnung der Feindseligkeiten eine gewisse Zeit vor- angehen.

Unser Generalstab hatte nun den Entschluß göfaüt, gegen beides zu opponieren, und unsere Instruktionen lauteten in diesem Sinne. Ich konnte unmöglich zu- lassen, daß die österreichisch-ungarische Monarchie bereits in den ersten Tagen den Eindruck hervorrufe, ihre Nachbarn überfallen zu wollen. Hatten wir doch andere Sorgen ! Graf Ährenthal setzte denn auch seinen Einfluß ein, und die Sache wurde fallen gelassen. Die Konferenz nahm das Prinzip der „unbefristeten Kriegs- erklärung" an. „Un avertissement prealable" wurde stipuliert. Dieses konnte auch von einem Luftschiffe CKler einer Vorpatrouille geworfen werden.

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Das Merkwürdige war, dais, wie es sich heraus- stellte, bloß die hamidische Türkei und China, vielleicht weil der Kriegsgedanke möglichst lächerlich gemacht werden sollte, gegen diese Lösung stimmten. Deutsch- land trat nicht einmal für den militaristischen Stand- punkt ein. Wir aber wollten auf der Konferenz ihm blinde Dienste leisten, statt an eine Annäherung der gegnerischen Standpunkte zu arbeiten. Wir waren also katholischer als der Papst!

Die Kommissionen für das Kriegsrecht und den Kriegsgebrauch zu Lande und zur See lieferten genug komödienhafte Inzidenzen. Altmodische diplomatische Finessen hatten ein weites Feld der Betätigung in ihrem Rahmen.

Amerika schlug die Abschaffung des Seebeute- rechtes vor. Die anderen Seemächte opponierten heftig. Die amerikanische Kriegsflotte war ja den anderen nicht gewachsen.

England verlangte die Abschaffung des Begriffes der Konterbande als solche, weil es eine Blockade befürchtete ; durch technische Vorkehrungen sollte dann aber dafür Sorge getroffen werden, daß gewisse Handelsschift'e festgenommen werden können. Man wollte nichts davon hören.

Trotzdem England die eigentliche Trägerin des pazifistischen Gedankens ist, ist der Marinevertreter, Admiral Ottley, stets allein auf die Seeherrschaft be- dacht. Manchmal in rücksichtsloser Art, auch bezüglich der wichtigen Frage der Minen. Lst doch Groß- britannien auf den Wässern Alleinherrscherin, die in ihrer Offenheit eine gewisse Größe nicht entbehrt. Es ist aber natürlich ; jeder ist, wie gesagt, Militarist, wo er stark ist, Pazifist dagegen, wenn er Schwäcflcn spürt. Ottley will für die Neutralen wenig tun. Er

beanstandet die Laternen, die die Hospitalschifife unter- scheiden sollen ; sie könnten den Kurs verraten !

Bezüglich des Landkrieges will Deutschland nicht präzisieren, was für Dienstleistungen von Einwohnern eines besetzten Gebietes nicht verlangt werden können, denn verbietet man einige, so würde sich die inhumane Folgerung ergeben, daJS alles andere zu verlangen ge- stattet sei!

Deutschland und Italien setzten sich für die gute Behandlung der neutralen Untertanen ein; Frankreich ist weniger enthusiastisch. Es reisen doch viele Deutsche und Italiener ins Ausland ; Franzosen bleiben lieber zu Hause oder fahren in ihre Kolonien.

Deutschland und wir waren dafür, daß fremde Bürger niemals zum Heeresdienst herangezogen werden sollten. England und Frankreich aber stellten da^ Prinzip wenigstens für die Kolonien auf, daß, wer den Schutz eines Staatswesens in Friedenszeiten genieJßt, auch die Pflicht habe, es im Kriege mit der Wafife zu verteidigen. Auch das so eminent pazi- fistische Holland erinnerte sich hier an seine Kolonien und stimmte mit den anderen Kolonialmächten.

Hier stellte es sich heraus, daß man nicht einmal über den Sinn eines „Neutralen" einig war. Es wurde natürlich aus der Sache nichts.

Der Hauptprotektor der Neutralen war ja Deutsch- land. Sind Deutsche doch überall in der Fremde ver- breitet, und die kaiserliche Delegation hatte ein langes Verzeichnis der Rechte der Neutralen vorgelegt. End- lich blieb nach den vielen Abstimmungen und Streichungen nur ein Paragraph davon bestehen, der einem neutralen Staate erlaubte, sich, wenn möglich, für die seitens eines Kriegführenden requirierten Eisen- bahnwagen bis zur gleichen Höhe durch andere Wagen

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desselben Staates schadlos zu halten. Der luxem- burgische Vertreter hatte mit Händeringen diese Barm- herzigkeit von der Konferenz erbeten. Er erinnerte daran, daß PreuX^en im Jahre 1870 alle luxemburgischen Wagen beschlagnahmt hatte.

So gestalteten sich die Dinge in Sachen des Land- und des Seekriegsrechts.

Bezüglich des Luftkrieges war es wieder ganz anders.

Die erste Konferenz hatte eine Erklärung an- genommen, welche das Werfen von Geschossen aus Luftschiffen verbot. Im Jahre 1899 war dies weniger gefährlich.

Es handelte sich nun um die Erneuerung dieser so humanitären Deklaration. Darüber war man ja eigent- lich einig. Nur Frankreich wollte nicht, es erklärte, ..den Fortschritten der Wissenschaften auf diese Weise nicht hemmend in den Weg treten zu können". Frankreich hatte das erste lenkbare Luftschiff, die ,,Patrie"! Ich hatte unseren menschlichen Standpunkt zu vertreten. ,.Xous avons navigue dans le meme ballon", sagte mir Lord Rea}^ der englischerseits dasselbe getan hatte. Da Einstimmigkeit wie immer erforderlich war, wurde die Deklaration verworfen.

Doch genug von der Organisierung des Krieges. Kehren wir auf die utopistische eigentliche Friedens- arbeit sowohl positiver als negativer Art zurück, an die zwei Hauptfragen der obligatorischen Schiedsgerichts- barkeit und der Einschränkungen der Rüstungen. Doch bevor wir dies tun, wollen wir mit einigen Worten der Delegierten und Protagonisten gedenken,

Honorarpräsident der Konferenz w'ar Herr Tets van Goudrian, der holländische Minister des Äußern, der uns die Gastfreundschaft in scharmantester Weise

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erwies. Überhaupt waren die Holländer uns gegenüber sehr liebenswürdig. Die anmutige Königin gab einige Soireen und ein Diner und stiftete für die Delegierten eine besonders kunstvolle silberne Medaille, die auf einer Seite das Bild des Riddersaals, der Stätte unserer Ver- einigung, und auf der anderen, eine Aufmerksamkeit, die in netter Art von der Tradition abwich, den vollen Namen des Beliehenen in lateinischer Sprache trug.

Die niederländischen Delegierten waren Herr von Beaufort, Dr. Asser und General van der Beer Poortugal, alles emeritierte Personen, welche an den Verhandlungen regen Anteil, und zwar im pazifistischen Sinne, nahmen.

Gleichfalls in diesem Sinne trachtete der belgische Bevollmächtigte, Herr Beernaert, zu wirken ; er kam sogar deshalb über die Schiedsgerichtsbarkeit mit seiner Regierung in Konflikt.

Effektiver Präsident der Konferenz war der alte Herr Nelidov, russischer Botschafter in Paris. Es ent- sprang diese Wahl der Tradition und Courtoisie, da die Initiative zur Konferenz vom Zaren ausgeg"angen war. NeUdov, der Doyen aller Botschafter der Welt, war eine interessante Figur und ein Diplomat bis in die Finger- spitzen. Es gehört auch keine geringe diplomatische Kunst dazu, sich in dieser Lage zurechtzufinden. Nikolaus H. hatte aufrichtig die Abschaffung von Kriegen gewünscht. Nelidov war der offizielle Vertreter dieses Gedankens; überdies war er der Agent des Herrn Iswolsky, der bereits stark im enghschen F'ahrwasser segelte. Er war aber auch und vor allem Vertreter des militaristischen und imperiaHstischen Ruiälands, das nicht daran dachte, durch die Einführung eines ewigen Friedens seinen x\mbitionen einen Riegel vorzuschieben. Unter solchen Umständen hieß die Parole ., lavieren",

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und die russische Delegation tat es mit nicht wenig Geschick.

Der bekannte Professor von Martens ließ es sich indessen nicht nehmen, für seine eigensten Arbitrage- ideen persönlich einzutreten, was Herrn von Nelidov nicht immer recht gewesen sein mag. Andererseits hatte man hier wie auch zuweilen bei den anderen Dele- gationen — - den Eindruck, daß die Rollen geschickt verteilt wurden. Der eine machte positiv, der andere negativ Arbeit. Der eine einen pazifistischen Vor- schlag, der andere zeigte sich wieder in anderer Hinsicht starr, und da Einstimmigkeit, wie gesagt, er- forderlich w^ar, konnte man meist den gewünschten toten Punkt herbeihelfen. Übrigens dominierte bei den Russen das Militärische, das Imperialistische. Hierfür sorgten schon der Gesandte Tscharykov, ein echter Staatsmann des alten Zarenreiches, und General Yermolov. Dadurch wurden wir auch gute Freunde !

Das englisch-deutsche Duell wurde durch Baron Marschall, eigentlich allein auf der einen Seite gegen die verschiedenen Größen der unpersönlicheren eng- lischen Delegation ausgefochten.

Marschall war ein Koloß ä la Bismarck mit Stentor- stimme, sprach französisch korrekt, wenn auch mit starkem Akzent. Er hatte parlamentarische Übung, war ein angesehener Jurist und zeigte sich als guter Diplo- mat, was für seine wenig dankbare friedenstötendc Tätigkeit nicht wenig nötig war. Ein Badenser, hatte er nicht das steife Auftreten, welches den Norddeut- schen oft nachgesagt wird. Man hatte aber doch immer den Eindruck des Hervorkehrens der Macht. Sein juristischer Beirat war Herr Kriege, welcher nur deutsch sprach, und der andere deutsche Delegierte war der bekannte Professor Zorn.

Die Namen „Marschall, Kriege und Zorn" augu- rierten schlecht für den Frieden. Aber Zorn war im Gegenteil überzeugter Pazifist, nur kam er selten zur Geltung.

Großbritanniens erster Bevollmächtigter war S\y Edward Fry, ein Greis von 80 Jahren, bekannter Jurist, sehr liberal gesinnt. Er vertrat Campbell Bannermann und die pazifistische Gesinnung. Die offizielle englische Politik wurde durch die Gesandten Sir Esme Howard, Sir Ernest Satow und Lord Reay vertreten. Die eigent- liche Arbeit machte ein mit mir befreundeter Beamter des Foreign Office Eyre Crowe. Auf die jugendlichen Schultern dieses äußerst begabten Herrn fiel die Haupt- last, die man den älteren Kollegen nicht aufbürden wollte.

England mußte, wie die Sachen lagen, mit den Wölfen mitheulen und seine eigenen Interessen höher als die Friedensideale stellen ; dies entsprang auch viel der konservativen Gesinnung des Foreign Office. Eyre Crowe aber, dessen Mutter deutsch war, zeigte große Konzilianz und erreichte auch manches. Sein Verdienst ist es nicht zumindest, daß man sich über die Errichtung eines Prisengerichtes einigen konnte. Allerdings blieb es ein Gericht ohne Gesetzbuch, da die Kodifizierung des Seerechts auf unüberwindliche Schwierigkeiten stieß.

Gleichfalls hatte man auch übrigens einen inter- nationalen Gerichtshof bestimmt. Er war aber ein Gericht ohne Richter, da man über die \^erteilung der letzteren zu keinem Entschlüsse gelangen konnte.

Chef der französischen Delegation war Herr Bour- geois, der bekannte französische Politiker, eine der allermarkantesten Figuren. Der beste Typus eine.s republikanischen Staatsmannes ; aus seinen kleinen

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Augen funkelte förmlich das Licht der menschlichen Intelligenz heraus. Seinen Reden zuzuhören, war ein besonderes Vergnügen. Er war in der Behandlung der Menschen ein Meister und wußte nicht nur Gegensätze zu schlichten, sondern auch dort den Eindruck einer Einigkeit zu geben, wo eine solche eigentlich nicht bestand.

Weniger Staatsmann, aber begeisterter Pazifist war der bekannte Baron d'Estournelles de Constant. Offi- zielle Rücksichten ließ er in der Verfechtung seiner Sache auch nicht gelten.

Die Herren Fromageot und Renault, beide be- kannte Autoritäten des Völkerrechts, unterstützten die Bevollmächtigten.

Die Amerikaner waren mit großem Apparate auf-« getreten. Ihnen lag der \\''eltfriede besonders am Herzen, auch ambitionierten sie, eine gro-ße, wenn nicht die erste Rolle in der Sache zu spielen. Die Union ent- sandte daher das Beste, was sie an Diplomaten und Staatsmännern hatte. Der erste Delegierte war der Londoner Botschafter, Herr Choate, der zweite der Pariser, General Porter, beide energische und begabte Herren. Auch fehlte es unter den andern Mitgliedern nicht an erstklassigen Kapazitäten.

Amerika sah aber auch nicht ein, warum die Ini- tiative zu den Konferenzen stets bei Rußland bleiben sollte. Dieselbe würde doch viel eher einem demo- kratischen Lande passen. Es tauchte die Idee auf, die nächste Konferenz in \\'ashington einzuberufen. Dies paßte den Pazifisten, den Militaristen aber nicht. Merey ergriff die Gelegenheit der Dankesrede eines Balkan- diplomaten an den Zaren, um vorzuschlagen, daß man die Initiative des russischen Kaisers für die Zukunft als ,,definiti\ement acquij^e" betrachtete. Frankreich und

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England, der verbündete und der neue Freund, muJJten natürlich sofort zustimmen. Die innere Begeisterung mag geringer gewesen sein, der Antrag wurde ein- stimmig angenommen.

Übrigens gelang es auch den Deutschen und uns, die Feststellung des nächsten Termins zu verhindern. Er sollte 1914 sein!

Eines der hervorragendsten ^Mitglieder der Kon- ferenz war auch der erste italienische Delegierte Graf Tornielli, Botschafter in Paris. Dieser sehr alte Diplo- mat zeigte eine unermüdliche Arbeitskraft und ruhte nicht, bis er in allen möglichen Fachproblemen au fait war. Er zeichnete sich durch viel Objektivität aus. Seine begabten Mitarbeiter, die Herren Pompili und Fusinato. waren aber durch solche Eigenschaften etwas in den Schatten gestellt.

Der erste Vertreter Japans war Herr Tsudzuki, ein eminenter Staatsmann, mit welchem ich sehr be- freundet war. Eine Arbeitskraft, wie sie nur bei seinen Landsleuten zu finden ist. Trotz schlechter Gesundheit und trotzdem er die fünfzig Jahre überschritten hatte, fand er Zeit neben der vielen Arbeit, die französische Sprache zu erlernen. Am Anfange hatte er nur englisch gesprochen, sah aber die Nachteile ein, und gegen Ende der vier Monate währenden Konferenz sprach er bereits flott französisch.

In den beiden ottomanischen Delegierten, Turkhan Pascha und Rechid Bey, begrüßte ich gleichfalls alte Freunde. Beide sind Typen der orientalischen Grand- seigneurs.

Als Grandseigneur muß man auch noch des in der Londoner Gesellschaft so bekannten Marquis de Soveral gedenken, welcher für die Dauer der Konferenz ad hoc zum Botschafter Portugals ernannt wurde.

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Die Schweiz war durch Herrn Gesandten CarHn und Oberst Borel diplomatisch und fachmännisch aus- gezeichnet vertreten, Südamerika durch viele, und unter ihnen die Herren Drago, Ruy, Barbosa und Lametta.

Von den Balkandiplomaten sind u. a. zu nennen die Herren Sava Gruitsch, der rumänische Gesandte Beldi- mann und die griechischen Vertreter Cleon Rizo Ran- gabe und Professor Streit, ein begabter Kollege, mit welchem ich mich sehr befreundete und welcher später in seiner Heimat eine große Rolle spielte.

Man hat bereits aus obigem ersehen, daß die Tätig- keit der Konferenz eine ungeheuer komplizierte war, die sich keineswegs immer im Rahmen der bestehenden Allianzen bewegte, wenigstens was die anderen Mächte betraf, denn wir waren ja die ,,äme damnee" Deutsch- lands.

Diese Macht hielt es aber oft mit Frankreich zu- sammen — ihre Vertreter Marschall und Bourgeois waren auch befreundet.

Rußlands doppelte Haltung war so merkwürdig, daß man oft meinen mußte, es bestehe ein Dreikaiser- bündnis zum Schutze monarchischer Institutionen (eigentlich war es nur zum Schutze des Krieges !), und ein Unbeteiligter hätte kaum Merkmale für eine russisch-französische Allianz gefunden.

PVankreich verhielt sich, insofern Luftschiffe nicht in Frage kamen, rein defensiv.

Auch zwischen England und den Vereinigten Staaten war Rivalität zu merken wegen des Seerechts und wegen der ersten Rolle, welche beide spielen wollten.

Mit England hielt es noch am häufigsten Japan, Italien und Spanien, während die südamerikanischen Länder einen rein pazifistischen Block für sich bildeten.

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Die Balkanstaaten schließlich wanderten von einer Großmacht und einer Gruppe zur anderen, da sie nicht immer wußten a quel saint se vouer. Diese Wande- rungen und Gruppierungen fanden übrigens oft tat- sächlich statt. Im Anfange hatte man sich nach alpWa- betischer Reihenfolge gesetzt. Es entstand aber bald in den Kommissionen und Subkommissionen die Sitte, daß man sich, wie in den Parlamenten, zu seinen Freunden setzte.

So entstanden psychologisch interessante Sitz- ordnungen, und man sieht, daß die zwei großen Duellanten über Sekundanten keineswegs blindlings ver- fügten.

Was nun endlich, last but not least das Duell selb:it anbelangt, so drehte es sich um die zwei Fragen der „Einschränkung der Rüstungen" und der Einführung der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit unter allen Nationen.

Die Vereinigten Staaten hatten bald nach Er- öffnung der Konferenz einen Entwurf bezüglich letzten Gegenstandes vorgelegt. Dieser wurde auf Grundlage -eines früheren Entwurfes des Herrn von Martens aus- gearbeitet und wurde von England unterstützt.

Es dauerte nicht lange, und Baron Marschall er- klärte sich auch im Prinzip für die Sache, es bestanden aber Differenzen bezüglich der Gegenstände der Schieds- gerichtsbarkeit, sowie darüber, ob eine allgemeine Kon- vention zwischen allen Staaten oder eine einzelne Konvention zwischen zwei Parteien abgeschlossen werden konnte.

Wir hatten nach unserer Instruktion das Prinzip anzunehmen, sollten aber, wie Deutschland, nur einer sehr beschränkten Liste der Gegenstände der obligato- rischen Arbitrage zustimmen. Es stellte sich übrigens

7 V. Siilassy, Der Untergang der Donau -Monarchie. q7

bald heraus was der deutschen Aktion jeden Wert nahm , daß wir nicht nur nach der alten Formel, alle Angelegenheiten, die ,,die Ehre, die vitalen Interessen und die Unabhängigkeit" betrafen, von der Schieds- gerichtsbarkeit ausnahmen, sondern daß selbst gewich- tige kommerzielle Interessen ihr nicht unterliegen sollteh. Die deutsche Liste führte als Gegenstände der Arbitrage nur solche an, wie z. B. Interpretation von Post- und Telegraphenverträgen, welche, seit die Welt besteht, niemals einen Krieg entfesselt haben!

Soveral machte dann einen mißglückten Versuch mit einer neuen Liste, und Merey schlug am 12. Ok- tober vor, dieselbe vorbehaltlich der Genehmigung durch später zu ernennende Sachverständige anzu- nehmen. Amerika, Frankreich imd England lehnten ab und wollten sofort etwas schaffen, eventuell in einem Sonderabkommen.

L^m dies nun zu verhindern, griff Tornielli ein und ließ durch die Konferenz eine platonische Deklaration machen, die die obligatorische Arbitrage im Prinzip o welcher Nutzen! annimmt, und konstatiert, daß es Angelegenheiten gibt o welche Ent- deckung! — , die durch dieselben geregelt werden können, und schließlich o wie wunderbar! fest- stellt, daß die Staaten der Erde sich mit dieser Frage vier Monate lang beschäftigt hatten und ihre Vertreter im besten Einvernehmen voneinander schieden !

Die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit war be- graben. Deutschland hatte es gewollt und getan. Ein ungarischer Botschafter hatte auf ihr Grab den letzten Haufen Erde geworfen ! Über Preßburg und Klausen- burg würden zwölf Jahre später Gewalt und nicht Ge- rechtigkeit entscheiden.

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Die Frage der Einschränkungen der Rüstungen, welche gegenseitig und proportionell geschehen sollte, war für die Erhaltung des Friedens nicht minder wichtig. Die erste Konferenz hatte sich mit derselben platonisch befaßt. Die Militaristen erreichten es aber, daJS sie im offiziellen Programm der zweiten nicht einmal auf- genommen wurde. Doch bildete sie den Gegenstand vertraulicher Besprechungen zwischen der englischen, französischen und amerikanischen Delegation. Man beschloß doch irgendeine Kundgebung, denn die liberale öffentliche Meinung der drei Länder hätte eine volle Ignoranz nicht geduldet. Man beschloß, daß der be- zügliche Wunsch „Voeu", wie der Terminus tech- nicus lautete von Sir Edward Ery gebracht werden sollte. Nachdem man uns versichert hatte, daß daran sich o welche Gefahr für den Frieden ! keine Diskussion knüpfen würde, erhielten wir, Deutsche, Russen und Österreich-Ungarn die Erlaubnis, der Sitzung beizuwohnen.

Dieselbe fand am 17. August statt, und der edle GreiS; der die enghsche Erklärung abgab, sorgte durch seine Würde und seine Worte dafür, daß sie trotz der höhnischen Stimmung, die die Vertreter mancher mäch- tigen Macht beseelte wo sind diese mächtigen Mächte heute? einen tiefen Eindruck auf alle machte. Das Gute drängt ja seit der Zeit Christi trotz des Spottes durch!

Sir Edward Fry führte sachlich aus, daß seit der ersten Konferenz die Großmächte eine Mehrausgabe an Rüstungen von 1% Milliarden Franken verausgabt hatten, w^as anderswo wohl eine bessere Verwendung gefunden hätte. Dies sei der christliche Friede im 20. Jahrhundert. Er gab im Namen seiner Regierung die Erklärung ab, daß England sich bewußt sei, daß eine

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proportionelle Abrüstung, wozu es die Mächte einlud, nur durch das freie Handeln jeder einzehien Macht ge- lingen könnte, daß es bereit sei, hierüber mit jedem Staate Verhandlungen einzugehen und speziell jedem, der es wünscht, einen jährlichen Ausweis der neu zu bauenden Schiffe zwecks Besprechung zu liefern. Er schloß mit dem Wunsche, daß die Regierungen den „Voeu" von 1899 bestätigten und eingeladen werden, der Frage der Einschränkungen der Rüstungen ihre stete Aufmerksamkeit auch weiterhin zu schenken.

Diese letzte Re-solution wurde von Amerika unter- stützt und auf den Antrag des Herrn Nelidov ein- stimmig angenommen.

Ich werde diese Szene niemals vergessen. Eine dunkle Vorahnung prägte sie mir tief ins Gedächtnis ein. Der Tag war düster und das Licht drang kaum durch die schmalen, hohen Fenster in den dunklen Riddersaal. Der hochgewachsene Greis, welcher an der Tribüne mit schwacher Stimme diese Enunziation vor- las, erinnerte, durchgeistigt wie er war, an einen Kirchenfürsten. Er sehnte die goldene Zeit herbei, von welcher schon Virgil geträumt hatte, er zitierte seinen bekannten Vers:

Ultima cumei venit jam carmirüs aetas Magnus ab integro seculorum nascitus ordo Jam venit et virgo, veniunt Saturnia Regna !

Es war eine Leichenfeier. Es fehlten nur die Glocken. Die wollten nicht der erbärmlichen Mensch- heit zum Spott dienen! Veniunt Saturnia Regna! Statt dessen kam 1914.

Das Rednerduell wurde zwischen den Gegnern und ihren bunten Acolytenscharen mit vornehmer Cour- toisie ausgefochteo. Man beglückwünschte sich geg"en-

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seitig vor dem Auseinandergehen zu dem hohen Niveau der Diskussion und meinte, daß nur Weltmänner diese Resultate erreichen konnten, daJs Lehrer des Völkerrechts es niemals vermocht hätten. Heute wird man anderer Meinung sein. Professoren hätten sich grobe Wahrheiten gesagt, vielleicht aber den Frieden erhalten; vielleicht auch nicht. Die eleganten Gegner bekämpften sich vornehm und mit exquisiter Courtoisie, bis sie wie die Wildesten der Wilden sieben Jahre später übereinander herfielen.

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Kapitel V. Die Mentalität der Gegner. Die lateinischen Nationen.

Das Studium der Mentalität Frankreichs würde Bände verdienen, hatte es doch die Grundlage der ge- samten europäischen Kultur geliefert. Die Anglo- sachsen und Russen, die sich im eigenen Rahmen ent- wickelten, sind von französischer Kultur beeinflußt worden. Die Deutschen, die auch, namentlich in letzter Zeit, ihre eigenen Wege gingen, verdanken ihr auch vieles. Zwar hat sich der altgermanische Geist zuerst durch griechisch-römische Wirkungen des Mittelalters beeinflussen lassen, der verfeinernde französische Ein- fluß der letzten Jahrhunderte hat aber auch auf dem- selben Spuren hmterlassen. In dieser Hinsicht wird es vielleicht nicht zu viel sein, wenn ich mich eingehend mit der französischen Mentalität befasse.* Ist sie doch eigentlich Ausgangspunkt unserer aller ^lentalität in vieler Hinsicht geworden. Hat doch die französische Kultur ganz Europa durchweht, das Sprichwort des „Coq gaulois qui crie le premier" blieb stets wahr.

Im Grunde kann daher die französische iNIentalität keinem europäischen Lande ganz fremd sein, da sie bis zu einem gewissen Grade das Eigene darstellt.

Und doch hat man namentlich in den letzten Jahren die Psyche Frankreichs tief verkannt. c Jeder anerkennt die prachtvolle Klarheit und Logik, den außergewöhnlichen Glanz des französischen Genius.

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Auch wird die Geschichte des Landes bis zur großen Revokition allgemein als eine glorreiche und zugleich natürliche Entwicklung einer hochbegabten Rasse be- trachtet. Von diesem Datum an aber wechseln die Meinungen über die Weiterentwicklung der Nation im wesentlichen. Für die wenigsten gilt das Frankreich des 19. Jahrhunderts als vorbildliches Staatswesen. Meistens war man der Ansicht, daß die Nation durch ihre eigen- artige Impulsivität aus ihrer Vergangenheit heraus- gerissen, jede Stabilität verloren und sich je nach den Launen der Menge und einiger Diktatoren von einer extremen Richtung in die andere werfe, wodurch sie nicht wenig ihres alten Ansehens einbüße. Die Nieder- lagen von 1870 und 71 taten das ihrige, um die Theorie der Dekadenz Frankreichs zu verbreiten, wie dies nach jedem militärischen Unterliegen der Fall gewesen ist (zum Beispiel bei den Russen nach dem japanischen Feldzug). Von nun an verbrannten selbst die meisten Verehrer der „großen Nation" ihre Abgötter. Der Rückgang in den Geburten kam nocli hinzu; die rück- sichtslosen Kritiken und Anklagen, welche Franzosen gegen Franzosen erhoben, bestätigten dieses abfällige Urteil. Paris Var ja nur eine Stadt der Unterhaltung, und die Franzosen blieben zwar begabte und schar- mante Menschen, Menschen aber, welche eine zügellose Dogmatik, innere Zwistigkeiten, namentlich auf dem konfessionellen Gebiete, und pazifistische Ideen ret- tungslos dem Ruin geweiht hatten!

Hierbei wurde einiges Wichtige vollständig ver- kannt.

Gewiß hat die erste Revolution diesem so impul- siven Volke große Konvulsionen gebracht, und es dauerte lange, bis es sein zerstörtes Gleichgewicht wiedergewann. Es hatte es aber getan. Unter dem alten

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Regime gehörte die Macht dem Adel, der Kirche, der Armee und dem Beamtentum oder, wenn man will, dem Hof-, Land-, Kirchen-, Armee- und Beamtenadel. Der Prozeß, der diese Macht dem Bürgertum und nament- lich dem kleinen Rentner übertrug, war ein langer, oft unterbrochener; aber unter dem zweiten Kaiserreich war der Prozeß schon sehr weit vorgeschritten, und die dritte Republik vollzog ihn ganz. Sie war nicht, wie man meinte, ephemärer Natur, da sie gerade diesem ge- schichtlichen Prozesse vollständig entsprach, und trotz verschiedener Auswüchse sanktionierte sie definitiv die Herrschaft der Bourgeoisie. Nun ist dieses arbeitsame Element eines der besten der Nation. Nur kennt es der Fremde kaum, sieht es nicht bei der Arbeit. Er sieht nur die oberflächlichen Seiten der schönen Hauptstadt, Seiten, welche die Fremdenindustrie ihm zeigt. Er sieht nicht den französischen Bürger und Arbeiter an der Arbeit, in Paris und namentlich in der Provinz. Sonst hätte er nicht an den Niedergang der Rasse geglaubt und wäre ihm ihre kriegerische Energie nicht eine solche Überraschung gewesen. Er hätte gesehen, daß die militärischen Fähigkeiten der Nation intakt geblieben und daß, was das moralische Gleichgewicht anbelangt, wenn die erste Republik es genommen, die dritte es zu- rückgegeben habe.

Die Geschichte der Völker ist meistens die Ge- schichte einiger ^Menschen, die ihre Landsleute zu beein- flussen wußten, und die Geschichte dieser Beein- flussung. Nirgends trifft dies so sehr wie in Frankreich zu. Es ist kein Wunder. Hat doch diese begabte Rasse ganze Reihen von Männern und Frauen der Heimat geschenkt. Das Volk aber war impulsiv und folgte. Nun, auch in dieser Hinsicht ist die Machtstellung der Bourgeoisie begünstigt worden, denn gerade au« diesen

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Schichten sind die hervorragendsten Geister des mo- dernen Frankreich entstanden. Das alte Frankreich hatte einen RicheHeu, einen Conde, einen Bossuet. Das heutige hat seinen Bourgeois, Clemenceau, Foch, Renan.

Und doch ist es nicht zu verkennen, daß die Sicher- heit der Heimat in einem gewissen Punkt von der Macht der intellektuellen Elite bedroht wurde. Die Bourgeoisie war stets national gesinnt, und hatte Frank- reich niemals den Verlust Elsaß-Lothringens vergessen. Aber es entwickelte sich gegen die Wende des Jahr- hunderts eine große pazifistische Strömung, die gerade von den Intellektuellen ausging. Die Menschheit hatte überall mehr das Gefühl der Solidarität. Man fing an, mehr Verständnis für andere Rassen und Anschau- ungen zu empfinden ; Telegraph und Eisenbahnen ver- kürzten nicht nur die geographischen, sondern auch die moralischen Entfernungen ; man empfand vor allem, daß ein Krieg, und namentlich ein moderner großer Krieg, mit all seinen Schrecknissen, ein Verbrechen an der gesamten Menschheit sein würde. Wie es immer gewesen, war es auch diesmal der gallische Hahn, welcher zuerst krähte, und so fand der Internatio- nalismus nicht nur in sozialer, sondern auch in rein politischer Hinsicht seine ersten Anhänger in Frank- reich. Dies bedeutete nicht etwa, daß man den Patrio- tismus aufgeben, daß man auf die verlorenen Provinzen verzichtet habe. Die Generation von 1900 fühlte natür- lich den Schmerz weniger als die Leute von 1871. Aber die neue Stimmung zeigte sich hauptsächlich darin, daß man nicht mehr die Geneigtheit empfand, um der Re- vanche willen einen Krieg, einen europäischen, vielleicht den Weltkrieg zu entfesseln. Man wollte lieber die Lösung der Frage dem Geschicke überlassen.

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Dies ging zuweilen sehr weit. Wilhelm IL war so- gar eine Zeit in Paris populär. Namentlich als er sein Telegramm Jameson schickte und für die Buren Sym- pathien zeigte, was dem französischen Geiste in hohem Grade zusagte.

Zu jener Zeit waren überdies bekanntlich genug Stimmen in Frankreich, die eine Orientierung zu Deutschland als das beste Mittel, die Differenzen gegen England zu lösen, vorschlugen.

Es kam aber der Abschluß der Entente cordiale und der Streit mit Deutschland wegen Marokko, der bereits besprochen wurde.

Es hatte natürlich neben der pazifistischen Richtung in Frankreich die nationalistische auch weiter bestanden. Wie überall, wo stehende Heere waren, wollten Land- und Seeoffiziere Karriere machen. Die Kolonien boten den Franzosen weniger Gelegenheit als den Engländern. Die AfTäre Dreyfus hatte eine starke nationalistische Rückwirkung. Gegenstand der militärischen Ambitionen war natürlich der Erbfeind, Deutschland ; zuweilen kehrten sich diese Ambitionen auch gegen England. Es kam Faschoda. Dann aber kehrten sie wieder definitiv zu Deutschland zurück. Die Bewegung ge- wann im Laufe der zwei letzten Jahrzehnte unter dem Eindrucke auswärtiger Faktoren, der marokkanischen Angelegenheit, der Annexion Bosniens, Deutschlands Außenpolitik und Elsaßpolitik an Intensität.

Aber das offizielle Frankreich, die Regierungen blieben friedlich gesinnt. Zur Zeit der Dreyfus-Affäre wurde ,,Vive la Republique" als Erwiderung auf das ,,Vive l'Armee" der Nationalisten gerufen. Im Haag verhielt sich Frankreich rein defensiv. Auch bei der Annexion Bosniens zeigte es sich friedlich und trug wesentlich zur unblutigen Lösung bei. Frankreich hatte

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Rußland Milliarden geliehen und wollte sie nicht ver- lieren ; es war daher damit einverstanden, daß vieles von seinem Gelde der Kräftigung des Zarenreiches gewidmet werde. Es suchte es aber nicht zum Kampfe zu reizen ; es hatte auch der Türkei Milliarden geliehen, die sich politisch, wenn nicht kulturell, im deutschen Fahrwasser befand. Es ist bekannt, wie wenig man sich im Pariser Parlamente um die Wehrmacht scherte, und nur in den letzten Jahren vor dem Weltkriege stimmte die durch die Balkanereignisse erregte allgemeine Nervosität die französischen Staatsmänner bedenklicher. Der Kampf mit der Kirche hatte die Regierung auch eher ins pazi- fistische Lager geführt. Vertrat doch die Kirche viel- fach die alten, mit Adelsherrschaft und militärischer Reaktion verbundene Idee.

Wenn, wie gesagt, es unleugbar ist. daß in den letzten Jahrzehnten sich in Frankreich die zwei Strömungen, die militärisch-nationalistische und die pazifistische, nebeneinander entwickelten, so blieb die zweite bis zum Ende die maßgebende.

Die Republik wurde nicht wegen der natio- nalistischen Bewegung in den Krieg verwickelt, es war aber für sie günstig, als sie in den Krieg geriet, daß diese Strömung, welche dann naturgemäß die Führung übernahm, bereits vorhanden war.

Die pazifistische Weltanschauung entsprach ganz der öffentlichen Meinung, verkörpert in der sich von der Kirche trennenden Bourgeoisie.

Ein Bekannter, der kurz vor Ausbruch des Welt- krieges die deutsch-französische Grenze passierte, er- zählte mir folgende, recht charakteristische Geschichte. Auf der deutschen Seite hatte er als Antwort auf die Frage, welche er an einen Bahnbeamten bezüglich eines eventuellen Krieges richtete, die stolze lapidare Antwort

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erhalten: ,,\Vir werden unsere Pflicht zu tun wissen." Der französische Beamte, dem er dieselbe Frage gestellt, erwiderte ihm aber empört : ,,Nein, es sei doch nicht denkbar, daß man ein solches Verbrechen, wie die Ent- fesselung des Weltkrieges, begehen könne."

Keine Großmacht trägt weniger Schuld an dem Ausbruch der Katastrophe als Frankreich. Der Revanchegedanke allein hätte das Unglück nicht ver- mocht ; freilich war Deutschlands Politik nicht immer bequem, und in breite französische Schichten war der Gedanke eingedrungen, daß der Krieg einnial un- ausbleiblich sein würde ; beim tatsächlichen Ausbruch war vielleicht mancherseits eine gewisse Erleichterung zu spüren, wie wenn eine lang aufgeschobene Operation •endlich stattfindet. Wenigstens ist die Sache dann zu Ende. Aber Fankreich hat zum Ausbruche des Krieges, welchen es aus Loyalität gegen Rußland auf sich nahm, nicht beigetragen ; seine Antezedentien lassen vielmehr erkennen, daß wenigstens dem offiziellen Frank- reich, das durchwegs Meister der Lage war, der Krieg ganz abhold war*.

Und warum hätte man auch in Frankreich, aus- genommen einige Militärs und Nationalisten, den Krieg gewünscht? Manch ein englischer Handelsmann mag in seinem innersten Innern die Gelegenheit, mit Deutschland abzurechnen, begrüßt haben. Für Frank- reich, dessen ökonomische Tätigkeit ganz eigenartig eingestellt war, war der Deutsche nicht derselbe Rivale wie für den Engländer. Frankreich hatte nur den

* Man wird mir gewiß vorwerfen, Poincar^ und die französische Regierung als pazifistisch hingestellt zu haben, wo sie doch nationalistisch gesinnt waren. Freilich gehören sie nicht zur Partei Caillaux*. aber trotz allen Herrorkehrcns des Nationalistischen, hätten sie den Krieg nicht entfesselt. Dies allein ist maßgebend.

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Wiedergewinn Elsaß-Lothringens zu erhoffen, ander- seits aber Ungeheures zu riskieren.

Es löste seine internationalen Verpflichtungen ein und verweigerte Deutschland die geforderte Ver- sicherung. Es hatte ein reines Gewissen, aber seine Kriegswut war dann desto stärker, als es sich nicht nur angegriffen, sondern auch vom Feinde beschuldigt sah, ihn überfallen zu haben. Während des Krieges war dann Frankreichs Vernichtungswille so groß wie der englische.

In all dem ist Frankreich sich selbst und seinen Traditionen treu geblieben.

Politik gilt als List und Egoismus. Keine Macht der Welt hat sich indessen in ihrer Politik so oft von generösen Ideen leiten lassen wie Frankreich.

Allgemein gilt als Grundsatz, daß, um fremde Völker zu beherrschen, es nur zwei Möglichkeiten gibt : Waffen und Handel, Eisen und Gold. Frankreich hat sich durch eine langjährige, uneigennützige Kulturarbeit in der ganzen Levante eine Machtstellung geschaffen, die der deutsche Soldat in vier Kriegsjahren nicht zu er- schüttern vermochte. Das, obwohl der Konflikt mit der Kirche namhafte Kräfte Frankreichs lahmlegte. Diese Macht war stärker als eine Okkupation, weil sie eine Herrschaft über die Geister bedeutete.

Dankbarkeit ist bei Völkern nicht mehr als bei einzelnen verbreitet. Frankreich hatte auch hierin einiges erfahren. Es hat Rußland seine Milliarden ge- geben, und dieses Rußland führte mit ihm Krieg. Es hat der Türkei Sympathien erwiesen, was die offizielle Türkei nicht verhinderte, ihm mit den Waffen entgegen- zutreten. Es hatte uneigennützig im Jahre 1859 Italien unabhängig gemacht, es durch Aufopferung tausender französischer Leben geschaffen, und dieses selbe Italien

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schloi im Jahre 1882 ein Bündnis, dessen direkte Spitze sich gegen Frankreich kehrte, das in diesem Instrumente als Gegner bezeichnet ward.

Frankreich muß hoffen, da£ es mit der Neu- gestaltung der Dinge bessere Erfahrungen machen wird. Österreich-Ungarn und Rußland, welches das Gleich- gewicht im Osten Europas aufrechterhielten, liegen nun danieder, östlich der deutschen Grenze ist Japan die nächstUegende Großmacht. Aus ihren entseelten Körpern hat die Entente neue Staatcngebilde geschafifen und solche Elemente, die ihr beistanden, reichlich be- lohnt. Die Tschechoslowakei ist entstanden, Polen wiedererstanden und Rumänien verdoppelt. Werden diese Länder bis zum äußersten treu und dankbar sein? Werden sie, die nur Rivalitäten miteinander verbindet und jedes allein nur schwach, namentlich wirtschaftlich, der Versuchung widerstehen, in das Orbit des in Be- völkerung und Produktivität, trotz seiner Niederlage, so überlegenen Deutschlands zu gravitieren? Wird Polen sich immer daran erinnern, daß nicht Elsaß-Lothringen, sondern Danzig und Posen die klafifende deutsche Wunde schuf und immer demgemäß seinem franzö- sischen Beschützer bis zum äußersten auch bei materiellem Verluste beistehen?

Unsere Fehler haben Frankreich gekräftigt und ge- einigt. Eine Kirchenfrage besteht dort nicht mehr, das Land hat Prestige und Selbstbewußtsein wieder- gewonnen.

Es hätte aber nach den territorialen Eroberungen moralische Eroberungen machen können. Liegen doch im Osten verlassene kleine Staaten, wie Österreich und Ungarn, in einem Meere von Gegnern ! Warum ihnen nicht auch in traditioneller Art generös entgegen-

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kommen? Waren sie auch-Gegner. so waren sie nie mit Hai erfüllt, und jetzt sind sie so schwach! Wäre es nicht gute Politik, sich dieser armen Verlassenen des Schicksals anzunehmen und so ihre Herzen zu ge- winnen? Hierdurch könnte in einer zukünftigen großen Konföderation ein Reich französischer Kultur erstehen, von Syrien bis zur deutschen Grenze reichend. Fran- zösisch ist schon die Kultursprache der Levante; es wäre als Bindeglied der verschiedenen Elemente der Donauföderation gegeben, destomehr als in manchen dieser Länder die lateinische Muttersprache jahr- hundertelang Amtssprache Avar. Kommt eine solche Föderation aber nicht zustande, so ist es wahrscheinlich, daß diese kleinen Staaten, zu schwach, um allein zu existieren, sich der einzigen großen wirtschaftlichen Macht in jenem Teile der Welt, nämlich Deutschland, anschließen würden.

Die ganze italienische Geschichte des letzten Jahr- hunderts ist ein einziges, zielbewußtes, intensives, aber rücksichtsloses Streben nach Einigkeit des Italienertums und Wiederherstellung der alten römischen Kaiser- macht. Sie steht vollständig unter dem Zeichen des vom eigenen Volke so gut bezeichneten „sacro egoismo".

Das Jahr 1859 hatte Italien seine Unabhängigkeit gebracht, aber das ,,risorgimento" hatte lange noch nicht seine Arbeit vollendet. Auch heute arbeitet man daran in Fiume. Um die italienische Geschichte zu be- greifen, muß man sich dies stets vor Augen halten. Es war unermüdlicher aktivster Patriotismus am Werke, der keine Bedenken kannte. Jede politische Konjunktur wurde in den Dienst dieser Idee gestellt.

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Man kann drei Perioden unterscheiden. Die erste reichte bis 1882. Sie hieß lateinische Verbrüderung-. Frankreich rettete die Schwesternation. Nachdem Venetien und die Lombardei von Österreich gerissen und die verschiedenen Teile der Halbinsel geeinigt wurden, nahm man auch die Hauptstadt, das ewige Rom, vom Papste.

Dann kam eine Wendung. Die Italiener waren noch nicht alle vereinigt, aber Frankreich war nicht mehr das geeignete Mittel. Im Gegenteil, man fürchtete es in Afrika, man besorgte-, daJ& es die italienischen Pläne der Herrschaft über das Ost-Mittel- meer durchkreuzen könnte. Man befürchtete, daß es auf kolonialem Gebiete was Deutschland nur genehm sein konnte einen Entgelt für Elsaß-Lothringen suchen würde.

Man schloß sich daher den Mittelmächten an. Es entstand der Dreibund, der bis 191 5, also 33 Jahre, währte. Er brachte Italien Tripolis und die Seemacht im Osten, sowie seine Anerkennung als Balkanmacht. Überdies gediehen unter diesem Schutz Italiens Handel und Industrie wunderbar. Der Kurs seines Geldes stieg während der Zeit ungefähr auf das Doppelte.

Dabei wurde die Arbeit des ,,risorgimentos" eifrig fortgetrieben. Italien war der Verbündete Österreich- Ungarns. Das sollte nicht stören. Die italienischen Staatsmänner waren auf der Höhe, diese doppelte Politik mit meisterhafter Diplomatie zu führen. Auch konnte man, wann immer, die untergebenen Organe und die öfifentliche Meinung desavouieren. Unsere Staats- männer waren nicht immer den italienischen gewachsen.

Vor allem mußte man Tatsachen schaffen, solche, die wichtig waren und gegen welche wir keinen Einwand erheben konnten. Die österreichischen Provinzen

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italienischer Zunge hießen im V^olksmunde „ItaHa"; Triest und Istrien hießen „Venezia Giula''. Wer konnte dagegen etwas sagen ? Es war einmal so, wer ^^alßte, wie es kam? Vielleicht war .es ein Überbleibsel der Zeit, wo die Hälfte der Halbinseln den Habsburgern gehörte. Aber jedenfalls konnte man dagegen nichts machen, wenn die Verbündeten, von „Nostra Italia" redend, nicht immer vor den Reichsgrenzen im Geiste haltmachten, auch nicht immer in den Schulbüchern.

Dieser Zustand mußte aber auch legalisiert werden. Dies besorgte die „Lex Crispi", die jeden, dessen Muttersprache das Italienische war, sofort als italie- nischen Staatsbürger anerkannte. Dies galt für die ganze Erde und nicht nur für Österreich-Ungarn. Was konnte Italien dafür, daß dort mehr ,,Irredimierte" als anderswo lebten? Außerdem war dies eine rein innere Verfügung der italienischen Gesetzgebung. Wie hätte man sich darin einmischen können?

Der Verein „Dante Aleghieri" sorgte für die Auf- rechterhaltung der Kultnrbande. Italienische Minister interessierten sich mehr oder weniger offen für die Tätigkeit. Der Verband wurde auch subventioniert. Aber man sagte, daß das ganze Geld nach Amerika ge- bracht werde, um die dortige „Italienita" patriotisch zu stimmen.

Natürlich fand die ganze Bewegung bei uns den gewünschten Widerhall.

Auch in militärischer Hinsicht empfand man keine Gene. Festungen wurden gebaut. Beiderseits übrigens. Nicht wie zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien, wo man den Schein wahrte. Ganz offen wurde italienischerseits nach englischer Art die These der doppelten Marinestärke aufgestellt. Nur der „Two power Standard" war allgemein. Die italienische These

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bezog sich aber direkt auf den Verbündeten. Sie ver- langte, dai? die Marine des Königreichs was übrigens niemals der Fall war zweimal so stark als die öster- reichisch-ungarische sei.

Denn sehr bald \\ei?> sich Italien von uns als Balkan- macht anerkennen und leitete dann identische Inter- essen in Albanien ab. Dies tat die Regierung. Die öffentliche Meinung wollte mehr ; sie verlangte die ganze „altera sponda". Die Adria war ja ,,mare nostro".

Nach 33 Jahren eröffnete sich Italien die Möglich- keit, seihe Einigkeit und hiermit das Werk des „risor- gimento" zu vollziehen. Es zögerte nicht einen Augen- blick, keine Skrupeln störten es. Die ungeschickte Stilisierung des Vertrages half ihm hierin. Es erinnerte sich plötzlich seiner „Latinita" und trat der Schwester- nation nach einer langen Scheidung wieder zur Seile. Es war mit ihr vielleicht schon im geheimen verbunden.

In der Weltkatastrophe hat es nun seine Ideale ver- wirklicht.

Wird es nun in eine vierte Phase treten? Wird diese durch das alte Sprichwort gekennzeichnet werden : „L'Italia fara da se?" Wer wüßte es vorauszusagen? Die Geschichte Italiens während der letzten Jahrzehnte ist also eigentlich die Geschichte des Dreibundes. Ein Studium der verschiedenen Peripetien, die derselbe er- lebt, wird daher für das Verständnis der italienischen politischen Mentalität nicht ohne Interesse sein.

Ich habe zwar die Halbinsel in letzter Zeit nur flüchtig besucht, wurde aber anläßlich der Erneuerung des Dreibundes, Ende 1912, mit dem Studium der be- treffenden Vorakten betraut. Ich greife daher vor und möchte diesem Gegenstand einige kurze Worte widmen..

Es war im Jahre 1881, als Italien sich entschloß, den beiden Verbündeten, Österreich-Ungarn und

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Deutschland, Avancen zu machen. Baron Blanc, der itahenische Minister des Äußern, gab in Wien und Berlin offen zu, da£ die Annäherung Italiens gegen Frankreich, dessen koloniale Ausdehnung in Tunis und dessen republikanischen Geist man für das Haus Savoyen be- fürchtete, schützen sollte.

Die Mächte des Zweibundes zeigten sich reserviert. Hierauf erschien König Umberto in Wien, ein Ereignis, das uns sehr unerwartet traf, da man wußte, daß Kaiser Franz Joseph aus Rücksicht für den Papst den Besuch in Rom nicht erwidern würde.

Im Jahre 1882 machten die italienischen Botschafter in Wien und Berlin eine, seltene Demarche. Sie er- klärten, daß ihre Regierung sich der zentraleuropäischen Politik spontan anschlösse, und zwar unbeschadet da- von, ob ein Vertrag zustande käme oder nicht.

Fürst Bismarck war übrigens dafür, das Bündnis einzugehen. Er sah darin eine gewisse Gewähr, Frank- reich zu isolieren, den dynastischen Grundsatz in Italien zu stärken und Streitigkeiten zwischen Österreich- Ungarn und Italien zu beseitigen. Graf Kalnoky inter- essierte sich hauptsächlich für das letzte und fand eine Neutralitätserklärung hierfür ausreichend. Doch Deutschlands Wille siegte. Der erste Dreibundsvertrag wurde am 20. Mai in Wien unterschrieben. _

Der Vertrag und seine erneuerten Auflagen sind übrigens immer im größten Geheimnis gehalten worden. Nicht so der einige Jahre früher von Andrassy mit Deutschland geschlossene Zweibund, der nachher ver- öffentlicht wurde.

Der Artikel 2 bestimmte : „Si ITtalie sans provo- cation directe est attaquee par la France, l'Allemagne et L'Autriche-Hongrie lui preteront secours par leurs forces armees. La meme Obligation income ä l'Italie,

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si la France atlaque rAlleinagne." Und der Artikel 3: „Si une ou deux des Hautes Parties Contractants venaient ä etre attaquees par deux ou plusieurs Grandes Puissances non signataires du present traite et se trou- vaient ainsi en guerre avec elles, le casus foederis se presentera pour toutes les Hautes Parties Contractants."

Artikel 4 bestimmt die wohlwollende Neutralität für sonstige kriegerische Verwicklungen der Kontra- henten.

Vom Standpunkte Österreich-Ungarns waren diese Verpflichtungen viel zu weitgehend. Es konnte leicht in einen Krieg mit Frankreich verwickelt werden, zu dem wir gar keine Gegensätze hatten. Der Zweibund war nur gegen Rußland gerichtet. Auikrdem waren wir nicht einmal sicher, im Falle eines Krieges mit Rußland auf Italien rechnen zu können. War es doch nur dann zum Einschreiten verpflichtet, wenn wir von zwei Mächten angegriffen werden sollten, was im Jahre 1882 keinesfalls als sicher gelten konnte.

Graf Kalnoky hatte daher nicht unrecht, als er sich mit einer Neutralitätserklärung begnügen wollte. Dies alles war um so merkwürdiger, als, wie geschehen, Italien der Bittende war. Es hatte das ganze Bündnis mit Insistenz angeregt.

Aber unsere Stellung sollte sich Italien gegenüber im Verlaufe der Jahre noch wesentlich verschlechtern.

Zuerst tauchten zwei Umstände politisch-psycho- logischer Natur zu unseren Ungunsten auf. Der Kaiser wollte, wie geschehen, den Besuch des Königs in Rom nicht erwidern, er v;ollte von einer Genehmigung des Garantiegesetzes, das den Status quo in der päpstlichen Frage bestätigt hätte, nichts wissen.

Hierüber klagten die Italiener. Sie begnügten sich aber nicht, damit zu klagen. Für dieses angebliche

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Unrecht, diese angebliche Benachieiligung, verlangten sie positive Kompensationen. Dies taten sie um so mehr, als sie versichert hatten, daß der Irredentismus nicht mehr bestünde.

In den späteren Verhandlungen erwiesen sich übrigens die Italiener stets als unsere Meister in der diplomatischen Kunst. Sie klagten, schimpften und ver- langten so viel, daß, als wir dann meist auf Deutschlands Anregen etwas gaben, wir noch das Gefühl davontrugen, ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Die italienischen Wünsche waren zahllos. Ich habe etwa dreißig während der dreißigjährigen Vertragsdauer gezählt. Deutsch- land hatte wenig Wünsche, wir eigentlich keine, außer dem unmöglichen, das Abschaffen des Irredentismus.

Im Februar 1887 wurde der Vertrag erneuert. Da- bei wurden auf Wunsch Italiens zwei Separatabkommen mit uns und Deutschland geschlossen.

Das Abkommen zwischen uns und Italien ver- pflichtete die Kontrahenten, jede Änderung des Status quo im Orient, welche dem Interesse des anderen schaden könnte, zu verhindern. Wenn aber die Er- haltung des Status quo ,,dans la region des Balcans. des cötes et lies ottomanes. dans l'Adriatique et dans la Mer Egee" unmöglich werden würde, ,.soit en consequence de l'action d'une Puissance tierce soit autrement, l'Italie ou l'Autriche-Hongrie se verraient dans la necessite de le modifier par une occupation temporaire ou perma- nente, cette occupation ne pourrait avoir Heu qu'apres un accord prealable entre les deux Puissance, base sur le principe d'une compensation reciproque pour tout avantage territorial ou autre'^

Das Abkommen mit Deutschland bestimmte Ähn- liches in weniger bindender Form und sodann, daß. wenn Frankreich seine Herrschaft in Nordafrika, und

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zwar in Tripolis oder Marokko ausdehne, und Italien zum Schutze seiner dortig"en Machtstellung eine Aktion gegen Frankreich unternimmt, so trete auf Wunsch Italiens für Deutschland der casus foederis ein.

Also ward Italien als Balkan- und Afrikamacht von seinen Verbündeten anerkannt. Ohne die gering-ste Gegenleistung. Das Natürliche, ein Tausch. ..Tripolis für Albanien", hätte die Grundlage einer festen Entente abgeoen können. So aber mußte alles schief gehen.

Die Sache war noch platonisch und eher negativ formuliert ; sie sollte aber bald positiv werden.

Bei der Erneuerung des Jahres 1891 wurden die beiden Separatabkommen mit dem Hauptvertrage ver- einigt. Die Bestimmungen bezüglich des Orientes bildeten dann den berühm.ten Artikel, der Italien die Handhabe bieten sollte, sich später seines Vertragsver- hältnisses zu entledigen. Bei der Erneuerung im Jahre 1912 versprachen Deutschland und Österreich-Ungarn wieder, Italiens eventuelle Interessen auf Tripolis zu unterstützen.

Inzwischen hatte sich aber Verschiedenes ereignet.

Italiens Interesse für Albanien war plötzlich sehr groß gewor'den.

Crispis Memoiren, die bis zum Jahre 1890 reichen, enthalten in ihrem sehr ausführlichen Inhaltsverzeichnis keine Erwähnung von Albanien und Adria.

In einigen Jahren wurde darin gründlich Wandlung geschaffen. Man hatte den Wechsel auf Tripolis in der Tasche. Jetzt mußte man zum nächsten sehen. Auch Frankreich hetzte dazu, um Italien von Afrika wegzu- clrängen. Wir waren übrigens im Zuge, eine Entente mit Rußland bezüglich des Balkans zu schließen. Italien wollte nicht übergangen werden. Es fand es höchste Zeit, sich zu betätigen.

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Albanien zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Alte Beziehungen wurden aufgefrischt, obzwar diese meist eigentlich österreichische waren. Hatten wir doch in unseren dortigen katholischen Schulen zu allererst den albanischen Kindern die italienische Sprache gelehrt. War diese Sprache doch Amtssprache der Monarchie im Osten!

Wirtschaftliche Interessen wurden, wenn nicht ent- deckt, so doch intensiver gepflogen. Eine italienische Schiffahrtslinie nach Albanien wurde errichtet. Die Konsuln des Königreichs betrieben dort eine große Penetration pacifique. Alle Ambitionen blickten nach Valona, das ein italienisches Gibraltar werden sollte. Dies alles half. Italiens Interesse an Albanien wurde von uns anerkannt. Im Jahre 1897 fand bereits die erste der vielen diesbezüglichen Konversationen in Mailand und Monza statt. Graf Goluchowski traf dort seine italienischen Kollegen, den Marquis de Rudini und ^larquis Visconte Vinosta. Vereinbart wurde allerdings nur, daß der Status quo möglichst zu erhalten sei, und daß Albanien im Falle des Zusammenbruches der Türkei ein unabhängiges Fürstentum werden sollte.

Es blieb aber nicht dabei. Neben der still- schweigenden Erneuerung des Dreibundes im Jahre 1907 mehrten sich immer die zwischen den Ministern des Äußern bezüglich Albaniens und des Orients üblich ge- wordenen Besprechungen. Da die Herrscher sich nicht treffen wollten Cder Besuch des Königs Umberto wurde in Rom niemals erwidert), so mußte dieser Ausweg ge- funden werden.

Es war ein langes Verzichten auf alle unsere Inter- essen vitalster Xatur. auf die hier in Einzelheiten nicht eingegangen werden kann.

Im Jahre 1907 sagte Herr Tittoni dem Grafen

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Ährenthal in Desio : ,,Une descente de l'Itahe sur la cote albanaise equivaudrait pour rAutriche-Hongrie a la fermeture de TAdriatique. Une Situation analogne serait creer pour l'Italie si l'Autriche-Hongrie mani- festait.le desir de prolonger son territoire sur le long de la cöte albanaise."

Dieser Standpunkt wurde von unserem Minister an- genommen.

Zugleich regte Italien die Idee der Balkantrans- versalbahn an. Diese sollte vornehmlich die von uns projektierte Sandschakbahn parallelisieren. Nach der Annexion Bosniens, die übrigens nicht ohne Erregung in Italien vor sich ging, dachte es gleich daran, hiervon Nutzen zu ziehen. 1909 versprach Graf Ährenthal dem italienischen Kabinett. daJs. wenn wir den Sandsehak wieder besetzen würden, Italien hierfür eine Kompen- sation erhalten sollte. Beide Regierungen verpflichteten sich zugleich, keine Vereinbarung mit einer dritten bezüglich des Balkans zu treffen, ohne daß der andere Kontrahent hiervon in vollem Maße denselben Nutzen ziehe.

Es kam schließlich die letzte Erneuerung des Drei- bundes im Jahre 19 12, worüber später die Rede sein wird. Wir waren auf der ganzen Linie diplornatisch ge- schlagen worden.

Die natürliche Entwicklung wäre, wie gesagt, ge- wesen, daß Italien sich in Tripolis und wir uns in Albanien mit beiderseitiger Hilfe festsetzten. "*

Es kam aber ganz anders. Nicht nur gaben wir Tripolis ohne jede Gegenleistung, wir erkannten so- gar eine Identität der Interessen in Albanien an.

Es war grundfalsch. -Der Balkan war eigentlich unser eigenstes Absatzgebiet, und wir hatten dort uralte kulturelle Traditionen.

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Aber dies war wenig im V^ergleich zur Tatsache, daß wir wegen der Freiheit der Adria in Albanien vitalste Interessen hatten, wenn auch eher negativer Natur. Die gedachte These Herrn Tittonis war grund- falsch negativ aufgestellt. Wer uns Albanien wegnahm, sperrte uns wie in einen Käfig ein. War es Italien, so war die Adria wahrhaftig ein „Marc Italiano"; wir aber -hatten dann aufgehört, eine Großmacht zu sein. Ließen w'w uns anderseits in Albanien nieder, so könnte dies für das italienische Ansehen von Schaden sein. Das Meer blieb aber offen, Italien hatte ja noch andere Häfen.

Für uns war daher Albanien vitalstes Interesse, für Italien großzügige Ambition. Unsere Interessen waren nur bis zum Status quo gemeinsam. Weiter, nur wenn Italien unsere Lage anerkannte.

Ähnlich war für uns und Deutschland der Dreibund eine gewisse Gewähr des Weltfriedens. ,, Hände, die sich halten, um sich nicht zu schlagen", wie ein tür- kischer Diplomat recht pikant mir sagte. Für Italien aber war es das politische System, unter dem es seine Industrie entwickelte, seine Finanzen in Ordnung brachte, zu großer See- und Kolonialmacht wurde und auf dem Balkan festen Fuß faßte.

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Die dreißigjährige diplomatische Arbeit Zentral- europas unter sich endete daher in einer großen Dis- krepanz. Ich schilderte diese Lage in einem Berichte vom Jahre 1912 folgendermaßen: „Ententen, diese m.odernen Formen von Bündnissen, haben nur insofern einen Sinn, als die beiderseitigen Interessen berück- sichtigt werden. Dies ist zwischen Österreich-Ungarn und ItaHen nicht der Fall. Es besteht zwischen ihnen ein Bündnis, aber betrachtet man den Geist und nicht

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die Buchstaben, nicht einmal eine solche enge Entente wie zwischen England und Rußland. An eine aktive auswärtige Kooperation zwischen denselben ist nicht zu denken. Was im Jahre 1882 zwischen ihnen Differenz war, ist es geblieben. Was gemeinsames Interesse hätte werden können, ist nimmt man die Volksmeinung und nicht die Akten als Kriterium zur' neuerlichen Differenz geworden."

Die Rumänen sind von allen lateinischen Völkern am allerwenigsten rein, sowohl was Rasse wie Sprache anbelangt. Sie stammen wohl von Römern und romani- sierten Dakiern ab, es kamen aber allerlei fremde Ele- mente hinzu. Die Sprache weist hier und da zwar merk- würdige rein lateinische Ausdrücke auf, die sich in der Isoliertheit der Gebirge erhalten haben, hat aber im Laufe der Jahrhunderte unter allerlei Einfluß sich stark verändert, ist namentlich slawisiert worden. Doch statt .,ist" sollte man eigentlich ,,war" sagen, denn in den letzten Jahrhunderten sind wieder so viele lateinische Worte in die Sprache hineingezwängt worden, daß der Bauer des Gebirgslandes diese feine Sprache der Stadt nur notdürftig versteht. A'^or hundert Jahren hatte nämlich das Rumänische mehr Fremdwörter als latei- nische, und die Sprache wurde noch in zyrillischen Buch- staben geschrieben.

Ich stelle ihre ursprüngliche Latinität nicht in Zweifel, die Struktur ist ja durchweg lateinischen Ur- sprunges, aber Avie die Sache damals lag, hätte man mit nicht viel mehr Mühe aus ihr eine slawische Sprache machen können. Es gehörte dazu kein Kunststück. Die Politik wollte es anders; ein anderes Kunststück machte die Sprache wieder zu einer lateinischen.

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Die Rumänen bewohnten Gebiete, die ständige Schlachtfelder waren. Ihre Entwicklung hat darunter gelitten. Charakteristisch ist an ihnen wenig. Sie haben sich nach den Einflüssen anderer, meist der herrschen- den Rassen, entwickelt. Eine rumänische Kultur gibt es daher nicht; höchstens könnte man von zwei sprechen.

Jene Angehörigen der Rtisse, die diesseits der Kar- pathen wohnen, haben die ungarischen bzw. österreichi- schen Sitten angenommen. Sie sind mitteleuropäisch. Die Rumänen der zwei ehemaligen Fürstentümer wur- den vom Türkischen und vom Griechischen beeinflußt. Sie sind Orientalen. Später kam noch dazu, wie bei vielen Orientalen, eine französische Beeinflussung'. Nicht die besten französischen Eigenschaften wirkten, wie immer, bei solcher Assimilation.

Dies alles ergab eine hybride Mentalität. Auch heute noch sind die Rumänen Siebenbürgens und Un- garns gebildeter als ihre Donnationalen der Donau- ebene. Sie haben letzteren ihre besten Gelehrten ge- geben. Ein Beweis, nebenbei gesagt, wie grausam die ..ungarische Tyrannei" war! Eins haben alle Rumänen gemeinsam, das kann nicht bestritten werden, trotz ihrer komplizierten Zusammenstellung: eine sehr glänzende Intelligenz.

Ich habe in den neunziger Jahren eine geraume Zeit als Attache in Bukarest geweilt und interessierte mich natürlich in hohem Grade für die für uns so bren- nende ,, rumänische Frage".

Vor allem muß die Analogie mit Italien auffallen. Wir waren mit beiden Ländern nicht nur offiziell be- freundet, sondern verbündet, und in beiden kehrte sich die mächtigste Ström.ung der öffentlichen Meinung gerade gegen uns : in Italien gegen Österreich, in Ru- mänien gegen Ungarn. Diese Strömung diente stets

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zum inäcbtigsten Kampfmittel der jeweiligen parlamen- tarischen Opposition. Von beiderseitiger Herzlichkeit war kaum die Rede. Nur zwischen uns und Rumänien bestanden keine Festungen.

Zwei Umstände waren aber grundverschieden.

Zuerst die geschichtliche Entwicklung. Wir hatten geholfen, Rumänien zu schaffen, und waren gewisser- maßen seine offiziellen Beschützer. König Karol konnte in einem Toaste beim Besuch Kaiser Franz Josephs im Jahre 1896 in Bukarest sagen: .,Uni avec mon peuple. nous regardons avec confiance l'avenir. gräce ä la pro- tection que votre Majeste veut bien nous accorder."

Italien war dagegen zum großen Teil Stück für Stück aus dem Leibe Österreichs herausgeschnitten worden.

Die Beziehungen waren* oflfiziell freundlich, aber bei den Herrschern fanden diese Umstände keinen Widerhall.

König Karol war ein persönlicher Freund Kaiser Franz Josephs. Auch ohne Romfrage und monte- negrinische Königin hätte das Verhältnis zwischen den Höfen von Wien und Rom nie dieselbe Herzlichkeit auf- weisen können. Die Herrscher standen eben höher, und momentane Politik konnte sie nicht vollständig ihrer Persönlichkeit berauben.

Soll ich noch die ., moralische Seite" der Frage er- wähnen? Kann man heute noch davon sprechen, ohne für rettungslos naiv zu. gelten? Der Unterschied ist aber nicht uninteressant. Alle Traditionen Italiens ließen es die seit 1866 stockende Arbeit des Risorgimentos auf Kosten Österreichs weitertreiben. Siebenbürgen war aber niemals rumänisch gewesen. Rumänien verdankte uns bei seiner Entstehung und nachher vieles. Italien war gegen unseren Willen entstanden. Es hatte aber

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dann während der dreii3ig"jährigen Dreibundzeit, dank unserem Schutze, sich zur wirkhchen Groümacht ent- wickelt. Es hatte von diesem Schutze gelebt.

Der Text des Dreibundvertrages war geheim, aber das Wesen wurde von der Öffentlichkeit gebilligt.

Die Existenz des rumänischen Bündnisses war nui zwei Dutzend Bukarester Staatsmännern bekannt. Als Attache durfte ich im Auswärtigen Amte nur mit dem Minister davon sprechen. Es wurde vieles erzählt, aber auch dementiert. Jedenfalls konnte dieser Vertrag die rumänische Öffentlichkeit nicht in derselben Weise binden wie ein Bündnis, das von ihr akzeptiert v,-orden wäre.

Um diese Parallele zu schlie-ßen, möchte ich nur noch bemerken, daß die irredentistischen Bewegunger» der beiden Länder an Intensität verschieden waren. Sie war viel stärker in Italien als in Rumänien. Der Italiener hielt sich für den Erben Roms. Nicht ganz ohne Recht; er hatte auch das römische Temperament. Der Rumäne dachte nicht viel anders, er war aber anders. Er war, wie man zu sagen pflegt, ,, orientalisch veranlagt''. Wenn die rumänischen Teile Ungarns gewiß nicht immer gut \erwaltet waren, so war zur Zeit meines Aufenthaltes in Bukarest der rumänische Teil Rußlands, d. h. Beßarabien, überhaupt nicht ver- waltet. Er war, soweit menschenmöglich, bereits russi- fiziert. Auch war die Weise, wie sich das Zarenreich dieser Provinz bemächtigt hatte, nicht gerade ideeller Natur. Trotzdem hörte man im Bukarester Parlament gegen Rußland nie eine Stimme. Die ,,Idea nationala" war gegen Ungarn, die „Nationalliga für die Ver- einigung aller Rumänen" arbeitet nur in Ungarn. In Rußland wäre es unmöglich gewesen. Auch war Ruß- land groß, und man hielt es für mächtig. Bukarest lag

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auf der klassischen Konstantlnopeler Strafe ; das Bündnis mit uns sollte gerade diese StraJäe sperren. Es war daher größere Vorsicht als gegenüber Ungarn ge- boten.

Die italienische Seele hätte aber diesen opportu nistischen Geist nicht verstanden und die italienischen Stimmen wären deswegen nicht verstummt. Auch trotz gemeinsamer Religion und für frühere Hilfe geschul- deter Dankbarkeit : Savoyen ist keine Analogie für Beßarabien. Savoyen ist meist französisch und wurde durch Plebiszit überlassen. Beßarabien wurde aber weggerissen.

Ich kann, wenn ich an meinen Bukarester und Sinaier Aufenthalt denke, nur die angenehmsten per- sönlichen Erinnerungen wachrufen. Niemals hatte ich darunter zu leiden, daß ich der angeblich verhaßten Rasse angehörte.

Graf Ahrenthal war mein Chef. Er hatte diesen wichtigsten Posten als ersten Gesandtenposten erhalten und um mich gebeten.

Ich werde seiner später noch öfters gedenken. Er war der angenehmste Chef, den sich ein junger Attache denken konnte, hielt viel auf Arbeit, zögerte aber dann nicht mit seiner Anerkennung. Außerdem gab er sich Mühe, einen wirklich zum Diplomaten zu erziehen. Dies war schon der Arbeit wert, denn er kam direkt aus der ausgezeichneten Petersburger diplomatischen Schule, wo er seine ganze untergeordnete Karriere gemacht hatte. Wenige beherrschten diplomatische Technik und Finesse wie er. Er ist eigentlich der einzige meiner vielen Vorgesetzten, von dem ich etwas gelernt, einer der wenigen Menschen, von denen ich mich jemals be- einflussen ließ. Auf schönen Ritten und Spaziergängen in der Umgebung von Bukarest oder des romantischen

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Sinais entwickelte er mir seine Theorien. Sie waren alle konservativ, auch hätte er am liebsten den Föde- ralismus statt des Dualismus gehabt. Eine Annäherung an Rußland hielt er für eine der wichtigsten Aufgaben einer klugen österreichisch-ungarischen Politik und be- merkte sehr richtig, daß der Zarismus die Gefahr einer slawischen Irredenta bei uns wesentlich verminderte.

Er war eine sehr große Arbeitskraft und hatte gründliche Kenntnisse, worin er sich von den meisten seiner Kollegen der Karriere unterschied. Er hatte starken Willen, großen Takt und wußte beeinflussend und imponierend zu wirken. Seine Begabung war in- dessen weniger genial, als oft gedacht wird, sie war aber desto mehr durchdacht und besonnen. Es ist mir noch heute rätselhaft, wie er sich im bosnischen Rechen- exempel später so sehr irren konnte.

Körperlich w-ar er, der von einem jüdischen Groß- vater abstammte, eher von seinen aristokratischen Müttern beeinflußt, seine Allüren waren durchweg aristokratisch. Die scharfe Xase und die intelligenten Augen mit dem so ernsten Ausdrucke wiesen vielleicht auf den semitischen Gründer der Familie.

Meine Vorstellung beim rumänischen Hof war keine banale. Es war ein düsterer Novembertag, an welchem Ährenthal mit seiner ganzen Gesandtschaft zwecks Überreichung seiner Akkreditiven nach Sinaia befohlen wurde. Wir kamen mittags in dem schon verlassenen Gebirgsort an und fuhren direkt nach Schloß Peles. das mitten in romantischen ^^'äldern liegt. Ein sehr schönes, stilgerechtes, der Landschaft angepaßtes Ge- bäude. Der König empfing meinen Chef in Privat- audienz, und wir alle warteten in einem altgermanischen Billardzimmer, wo große Dunkelheit herrschte. Dann kamen der König und der Gesandte heraus. Letzterer

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stellte seine Herren vor. Als ich an die Reihe kam, machte ich einen Schritt nach rückwärts, um dem Mon- archen Platz zu machen. Hinter mir befand sich aber eine hölzerne Erhöhung, von welcher ich nichts W'ußte. Die großen Sporen meines Magnatenkostüms ver- wickelten sich, ich lag auf dem Boden, als der Minister mich vorstellte. Er sah nicht genau, was geschehen war. Es war dunkel, und er war sehr kurzsichtig. Der König begriff aber sofort die Situation, und als ich mich langsam erhob, bernerkte er, da£ Ähnliches an dieser Stelle schon geschehen sei. Überhaupt brachte mir mein Mi%lück die Sympathien der ganzen königlichen Familie. Die Königin Elisabeth und die wunderbar an- mutige jetzige Königin, damalige Kronprinzessin, er- kundigten sich lebhaft nach meinem Befinden, und die letztere bemerkte, daß ihr Onkel mich in seinen Me- moiren verewigen wolle. Diese Aussicht auf Unsterblich- keit erfreute mich natürlich nur mäßig; inzwischen dachte ich, daß ich als Diplomat bereits gestorben sei, und es gehörte alle Güte meines Chefs dazu, um mich zu beruhigen^ daß mein letzter Tag in der Karriere noch nicht gekommen sei.

König Karol war übrigens eine der interessantesten Erscheinungen, der ich jemals im Leben begegnet bin. Eleganter Wuchs, scharfgeschnittene Römernase und blitzende, soviel ich mich erinnern kann, eher kleiijt^ Augen, die sich für alles zu interessieren schienen. Oft habe ich ihn beobachtet, als er ganz allein in Sinaia spazieren ging und fortwährend stehen blieb, um einen neuen Baum oder ein neues Gebäude zu betrachten. Er w^ar der Baumeister nicht nur Sinaias, sondern seines ganzen Landes. Flüchtig war er, der wenig bekannte deutsche Prinz und Offizier, nach Bukarest ge- kommen, um dem Rufe des rumänischen Volkes zu

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folgen. Sympathie und Ambitionen hatten ihn dazu ge- trieben. Er hat Großes geleistet, hat aus zwei Fürsten- tümern, die die zahlreichen . einheimischen Thron- bewerber in steter Erregung hielten, ein starkes und blühendes Königreich geschaffen. Er hat es von der Türkei definitiv unabhängig gemacht und die königliche Würde zum höchsten Ansehen erhoben. Das war in einem Lande, wo seit Jahrhunderten die Herrscher- würde dem Schicksale, und nicht selten dem Höchst- zahlenden verfallen war, nicht wenig. Seine Autorität wurde bald von keinem Rivalen und keiner Partei be- stritten. Rumänien hatte Glück, Karol war das Vorbild eines klugen modernen Herrschers, der ebensoviel Sinn für militärische Notwendigkeit als für innerpolitische Rücksichten hatte.

In der auswärtigen Politik lehnte sich der König, ■la Rumänien eigentlich nur von Rußland bedroht er- ^chien, loyal an unsere Seite. Ein Geheimbündnis ver- band uns schon seit dem Jahre 1883. Diese Politik wurde von der jeweiligen Regierung gebilligt, obzwan <ie nicht immer vom König in die Tiefe der Allianz ein- .^eweiht wurde. Die jeweilige Oppositon machte Lärm und sprach von Bedrückung der Siebenbürger Ru- mänen, doch als sie dann selbst an die Regierung gelangte und der Wechsel geschah ziemlich oft, denn der König wußte dieses Schaukelspiel zwischen Kon- servativen und Liberalen meisterhaft zu treiben , ver- brannte sie ihre Abgötter, schwieg über L^ngarn und suchte eine innige Anlehnung an Wien. Die vormalige Regierungspartei besorgte dann wieder die antimagya- rische Hetze.

Übrigens ist das parlamentarische Leben Ru- mäniens nicht gerade erbauhch. Die zwei großen Par- teien, KonservatiAC und Liberale, unterscheiden sich

V. S z i 1 a s s y , Der Untergant der Donau-Monarchie.

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nicht durch prinzipielle Gegensätze, obzwar die meisten Bojarengeschlechter der ersten Partei angehörten. Hatte der König von der Regierung der einen Partei genug und berief er die andere ans Ruder, so war es eine „Debandade". Die berufene Partei kam aus den Neuwahlen mit phantastischen Siegen heraus. Und zwar bei . den Neuwahlen, die bald nach meiner Ankunft in Bukarest im Jahre 1895 stattfanden. Die Konservativen hatten große Mehrheit im Senat und in der Kammer gehabt. Das Land war aber ungeduldig, man beschuldigte sie mancher Mißwirtschaft. Der König berief den liberalen Führer Sturdza. Die Neu- wahlen ließen in der Kammer keines, im Senat glaube ich ein einziges konservatives Mitglied.

Eine komische Episode wird am besten diesen periodischen Umschwung in der rumänischen öffent- lichen Meinung, leider aber auch die Schlamperei der damaligen ungarischen Verwaltung illustrieren.

Wir Diplomaten aller Lander, die den Sommer in Sinaia verbrachten, fuhren oft über die nahe Grenze nach Brasso (Kronstadt). Dort konnte man, im Gegen- satz zu Rumänien, gute und billige Einkäufe machen. Als ich nun eines Tages im Jahre 1896 dort in einem Kaffeehaus saß, bat ich um die Bukarester Zeitung „Vointa Nationala" (Volkswillen). Ich erhielt zu meinem Erstaunen die Antwort, das Blatt sei in Ungarn ver- boten, ich könne aber ,, Timpul" (Zeit) oder ,,Epoca"' haben. Mein Erstaunen wurde durch diese Mitteilung nicht geringer. Hatte ich doch das erstgenannte Blatt eben deshalb verlangt, weil es ein Regierungsorgan war, das unsere Politik vertrat, und ich es deshalb finden zu können glaubte, während die anderen zwei Blätter der Opposition gehörten und von Beschimpfungen Ungarns förmlich strotzten. Aber vor einem Jahr war es natür-

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lieh das Gegenteil gewesen, denn die Liberalen hatten erst dann die Konservativen abgelöst. Der ungarische Zensor hatte eben ein Jahr verschlafen, er ließ Hetz- blätter nach Ungarn hinein und verbot die einzige Zeitung, die die Anzeigen unserer Konsularämter an- nahm.

Um nun zur königlichen Familie zurückzukehren, möchte ich nicht den falschen Eindruck erwecken, als ob sich König Karol durch seine persönlichen Symr pathien zu den Mittelmächten in seiner Politik hätte leiten lassen. Es wäre dies eine vollständig irrige Auf- fassung. Er war durchaus Rumäne geworden und konnte als solcher manches, was jenseits der Berge geschah, nicht billigen; er. ging weiter und brachte diese Vorgänge, die den rumänischen Herrscher nichts an- gingen, unserem Gesandten vertrauHch zur Sprache. Er aber sah die Hauptgefahr für sein Land in Rußland, und hielt sich daher loyal an das Bündnis. Als die rumä- nischen Staatsmänner am Anfange des Weltkrieges diesen Kurs verließen, wurde er hiervon geistig und körperlich betroffen. Der schon sehr kranke Herrscher überlebte es nicht.

Die Königin, die bekannte Dichterin Carmen Sylva, war mit ihren schneeweißen Haaren, ihrem intelli- genten und noch frischen Gesicht die Verkörperung der Güte selbst. Die Kronprinzessin war eine blendende Schönheit, die schönste von vier schönen Schwestern. Sie hatte ihre Kindheit in England verbracht und war ganz englisch erzogen. Leider habe ich sie wenig ge- kannt, da sie eine große Tänzerin war und ich trotz der österreichischen Tradition mich in dieser Kunst nicht auszeichnete. Ihr, als Engländerin von Geburt, kann man den politischen Umschwung der rumänischen Politik am allerwenigsten verübeln. Ihr Mann, der

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jetzige König, war ein eleganter, liebenswürdiger Herr, wurde aber damals von jeder politischen Betätigung ferngehalten.

Ministerpräsident war fast während meines ganzen Aufenthaltes Demeter Sturdza. Er war der Typus des besten rumänischen Staatsmannes, er hatte keine der unangenehmen Fehler, die so viele seiner Landsleute einer oberflächlich ausländischen Kultur verdanken. Er war echt durch und durch. Ein echter Rumäne, der sich nicht scheute, wie damals in der Gesellschaft üblich, seine Muttersprache zu gebrauchen, und es nicht für ein Gebot der Eleganz hielt, französisch zu sprechen. Von fürstlicher Fan)ilie abstammend, hatte er eine aus- gezeichnete Erziehung im . Auslande genossen und sprach gleich gut französisch und deutsch. Er war aber einfach und nüchterner Denkungsart geblieben und verband in nicht uninteressanter Art europäische Gründ- lichkeit mit orientalischer Schlauheit und Philosophie.

Sturdza hatte in der Opposition der Sitte gemäß die Ungarnhetze auf seinem Programm gehabt. An die Macht gelangt, verhielt er sich uns gegenüber immer sehr loyal. Seine Integrität war über jeden Zweifel erhaben, was auch zu seinem Ansehen beitrug.

Ich habe in diesem Familienkreis sehr angenehme Stunden verlebt und mich später mit dem Sohn des Staatsmannes, dem Obersten Sturdza, sehr befreundet. Dieser äußerte mir gegenüber schon einige Jahre vor dem Weltkriege, welche ungünstige Wendung unsere unkluge Rumänienpolitik herbeiführen würde.

Was diesen Gegenstand übrigens anbelangt, so muß Ährenthal das Zeugnis ausgestellt werden, der erste Österreich-ungarische Vertreter in Bukarest gewesen zu sein, der sich. ernstlich und unparteiisch dem Studium der Frage widmete. Früher, wie aus den Akten zu ent-

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nehmen war, hatten die meisten Gesandten, Öster- reicher durchweg denn einen Ungarn zu entsenden hatte man sich nicht getraut . die rumänischen Klagen einfach als bestehend betrachtet und auf dieser Grund- lage in dilettantischer Weise mit den dortigen Staats- männern Gespräche geführt und nach Hause berichtet. Solche Sätze kehrten immer in den Berichten wieder, aus welchen eine völlige Unkenntnis der anderen Seite der Frage hervorging. Ährenthal beschloß nun, diese andere Seite, nämlich die Verhältnisse in Ungarn und Siebenbürgen, auch kennen zu lernen.

Er trachtete dies durch kleine Reisen zu erreichen, und entsandte mich dann auf eine dreiwöchige Studienfahrt nach Siebenbürgen und Ungarn, Im Ver- laufe derselben kam ich mit allerlei Elementen in Be- rührung, ungarischen Adligen und Komitatsbeamten, rumänischen Intelligenzen und rumänischen Kirchen- fürsten.

Das Resultat unserer Studien war uns sehr klar. Die verschiedenen rumänischen Klagen bezüglich Wahl- rechtes, Pressegesetzes, Nichteinhaltung des Nationali- tätengesetzes vom Jahre 1868 waren in gewissen Punkten begründet. Auch wurde das ungarländische Rumänentum zu oft in unkluger Art seitens der magya- rischen Behörden brüskiert. Von einer groß an- gelegten Tyrannei, wie man davon in Bukarest erzählte, war indessen keine Rede. Was am meisten auffiel, war im Gegenteil eine groß angelegte politische und wirt- schaftliche Bewegung des dortigen Rumänentums. \hrenthal schlug die angezeigten Remeduren vor. In Budapest war man für beides, schlechte Politik und ge- fährliche Bewegung, unzugänglich. Einmal sprach ich hierüber mit Graf Szechen, Sektionschef in Wien und dann später Botschafter in Paris, welcher Rumänien gut

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kannte. Er war ganz meiner Meinung, bemerkte aber, daß es hoffnungslos sei. Reformen in dieser Hinsicht in Budapest durchzuführen. Und doch hierum drehte sich unsere ganze Politik, denn die Formel Ährenthals war richtig: ,,Wir müssen in Bukarest den Haß gegen Ungarn niemals größer als die Angst vor Rußland werden lassen."

Den Höhepunkt unserer Freundschaft mit Ru- mänien bildete der Besuch Kaiser Franz Josephs im Jahre 1896. Alles spielte sich in vornehmster Weise mit angemessenem Glanz, aber ohne überschwenglichen Prunk ab. Es war gewiß eine große Genugtuung für den rumänischen Herrscher, dieser erste Besuch eines großen Monarchen im Innern der Halbinsel. Die rumä- nische Armee machte auf unseren Kaiser einen sehr guten Eindruck.

Das Ganze war das Werk des Grafen Goluchowski, der hierdurch König Karol eine Anerkennung und unseren Beziehungen zum Donau-Königreiche eine Kräftigung bringen wollte. Ährenthal hielt nicht viel auf Fürstenbesuche und fand die Sache überflüssig. In der Tat hat der Kaiserbesuch nur einen einzigen dauer- haften Erfolg gehabt. Er veranlaßte die russische Diplomatie, sich eingehender mit Rumänien zu be- fassen, denn obzwar das Bündnis nach wie vor geheim blieb, mußte man nun doch engere Beziehungen zwischen uns annehmen. Die russischen Staatsmänner haben aber seither erfolgreich dahin gewirkt, ,,daß die russische Furcht geringer als der Magyarenhaß blieb'*.

Gelegentlich des Kaiserbesuches wurde das Bündnis mit uns, das noch nicht abgelaufen war, wieder durch ein Protokoll verlängert. Es geschah dies, glaube ich, nicht nur aus feierlichen, sondern auch aus praktischen Gründen. Man wollte die liberale Partei auch zur ak-

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tiven Mitwirkung heranziehen. Allerdings war dies nur eine Redensart, denn das Wesen des Bündnisses war, wie bekannt, nur wenigen rumänischen Staatsmännern beider Parteien bekannt, und der Text desselben noch A'iel wenigeren.

Der ursprüngliche Vertrag war im Jahre 1883, also zwei Jahre nach dem Abschluß des Dreibundes zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien, unter Mitwirkung: Deutschlands zustande gekommen. Italien trat später hinzu, schloJS aber nur ein ,, Pactum de paciscendo". Er wurde dann, mit Ausnahme eines ganz kurzen vertrags- losen Zustandes, bis 1920 parallel mit dem Dreibund- vertrage erneuert.

Der Vertrag war kurz und er enthielt nur, neben dem üblichen Versprechen der wohlwollenden Neu- tralität einen einzigen wichtigen Artikel, den zweiten. Derselbe lautete: ,,Si la Roumanie sans provocation aucune de sa part, venait* ä etre attaquee, l'Autriche- Hongrie est tenue de lui porter en temps utile secours est assistance contrc l'agresseour. Si l'Autriche-Hongrie etait attaquee dans le memes circonstances dans une partie de ces Etates limitrophes ä la Roumanie, le casus foederis se presentera aussit*6t pour cette derniere."

Diese ungewohnte StiHsierung hatte einen inter- essanten geschichtlichen Grund. Der Vertrag war gegen Rußland geschlossen, und v^ar dieses Land im ersten Entwürfe, der vom Grafen Kalnoky eigenhändig ge- schrieben wurde, direkt genannt. Auch sollte Rumänien versprechen, keinen Irredentismus zu treiben. Auf Wunsch Rumäniens wurde beides fallen gelassen, und man einigte sich auf die Bezeichnung der ,,an Rumänien angrenzenden Gebiete". Diese vage Textierung gab später zu Mißverständnissen in der Interpretierung Anlaß, und es wurde sop-ar einmal ruraänischerseits bei

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uns angefragt, ob der Vertrag nicht für den Fall einc^ bulgarischen Angriffes auf Rumänien auch gelte ! Dies ließ man in Wien natürlich nicht zu. Der Grund der rumänischen Stellungnahme lag lediglich in der großen Russenangst. König und Regierung fürchteten das Zarenreich. Die Regierung hatte sogar um die per- sönliche Sicherheit des Herrschers vVngst. Rußland durfte von diesem Bündnis nichts wissen, daher die große Geheimtuerei; wenn es aber dennoch hiervon erführe, so sollte das Ganze als eine vage und un- schuldige DefensivaUianz erscheinen.

Das Bündnis mit Rumänien hat uns im Augen- blicke der Xot nicht mehr als der Dreibund geholfen. Beide Verbündeten haben uns nicht nur nicht beige- standen, sondern sind in die Reihen unserer Gegner ge- treten. Stand Italien unter britischem Drucke, so war in Rumänien der französische Einfluß sozial und po- litisch groß. Rußland hat, als es „von Ostasien nach Europa zurückkehrte", und namentlich in den letzten Jahren vor dem Krieg nichts unterlassen, um seine frühere Stellung in Bukarest wiederzugewinnen. Es hat am Balkan die slawische oder, wo dies nicht ging, die orthodoxe Verbrüderung gepredigt. Wir machten eine bulgarophile Politik, welche den Rumänen nicht paßte. Wir trieben in Ungarn die unglückliche Nationalitäten- politik weiter. Ich muß aber bezweifeln, ob selbst, wenn unser Kurs in der auswärtigen Politik Rumänien gepaßt hätte, dies den Umschwung aufgehalten hätte.

Verträge können nationale Strömungen nicht auf- halten. Geheimgehaltene Verträge am allerwenigsten. Rumänien wäre daher wahrscheinlich auf alle Fälle gegen uns eingeschritten, aber nur wegen der Natio- nalitätenpolitik Ungarns; denn hätte dieses Land seine rumänischen Untertanen zufriedengestellt, so hätte

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Rumänien zu ihrer Befreiung, keinen größeren Anlaß gehabt, als Frankreich, zur Befreiung der französischen Kantone der Schweiz gegen Bern den Säbel zu ziehen. Wir hatten nichts gelernt, wir wollten uns mit der Tat- sache nicht abfinden, daß, wie es auch früher gewesen, ganz Ostungarn nicht nur von Rumänen bewohnt, sondern daß diese dort die INIehrzahl bildeten. Im Jahre 1864 hatte Österreich ihnen eine nationale Autonomie gegeben, Ungarn widerrief dieselbe drei Jahre später. Ein solches Zerren am Leibe eines Volkes war im 19. Jahrhundert undenkbar. Nur ein föderatives S)'Stem hätte genützt. Ungarn wollte nicht. Nun hat es nicht nur seine rumänischen Angehörigen, sondern auch Millionen von ■\Iagyaren verloren. Dies hindert indessen nicht, daß die Übernahme eines Drittels Ungarns durch Rumänen einen Rückschritt in der Kultur bedeutet. Ich bin weder leidenschaftlich, noch "A-oreingenommen. Es steht aber fest : die ungarische Kultur ist der rumä- nischen überlegen. Die Geschichte würde dies schon erklären. Ich appelliere an die Kollegen aller Herren Länder, welche damals mit mir in Sinaia weilten und einen Ausflug nach Kronstadt als eine Fahrt in ein Kulturland betrachteten.

Die Geschichte kennt aber in den seltensten Fällen Rückschritte.

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Kapitel VI. Die Mentalität der Gegner. Die Japaner.

Xil admirari nil timere.

Japan ist vielleicht der einzige Staat der Erde, der von dem Weltkriege Nutzen gezogen hat. Zwar hat die Katastrophe der Menschheit den Vereinigten Staaten finanzielle Vorteile gebracht, aber auch große Verluste an Menschenleben und gewisse wirtschaftliche Nach- teile. Japan aber hat nur unbedeutende Verluste an Menschen zu verzeichnen ; es hat wirtschaftlich un- geheuer gewonnen. Durch die Munitionslieferungen ist es von einem armen Land, das man noch vor Jahr- zehnten vielfach als dem Bankerott verfallen betrachtete, zu einem mächtigen Industriestaat geworden. Politisch sind seine Gewinne noch größer. Deutschland existiert in Ostasien nicht mehr. Rußland ist als Rivale in der Mandschurei definitiv ausgeschaltet. Das schwache China mußte mit Japan eine Vereinbarung eingehen, die es dem Inselreiche ausliefert. Die großen Konkur- renten, England und Amerika, waren ja zu sehr be- schäftigt, um dies verhindern zu können. Japan ist die Herrin Ostasiens geworden, und vor 15 Jahren zitterte es noch um seine eigene Freiheit.

Es hat mit einem Worte etwas vollbracht, was die Geschichte bisher nicht kannte. Es hat sich an einem großen Kriege beteiligt und zugleich nicht beteiligt, und es hat daher alle Gewinne des Siegers und des Neu- tralen heimbringen können. Die obige Erwägung

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würde es allein schon erheischen, daß die Japaner in Betrachtungen, die sich in letzter Linie mit dem Welt- krieg befassen, nicht übergangen werden.

Aber es kommt noch ein interessanter Umstand hinzu. Diese Vorgangsweise ist nicht dank einer machiavellistischen diplomatischen Vorbereitung er- möglicht worden. Japan hat durchwegs loyal und an- ständig gehandelt. Es hat die ihm im Allianzvertrage mit England vom September 1905 auferlegte Pflicht in weitem Sinne erfüllt. Die Einleitung dieses Instru- mentes beschreibt genau die Interessen der Kontra- henten, deren Verteidigung den Vertragszweck bilden. Es sind dies Ostasien und Indien. Der Artikel II aber, der den casus foederis bestimmt, erwähnt besonders, daß derselbe für die eine Partei eintritt, wenn die andere zum Schutz dieser asiatischen Interessen in einen Krieg mit anderen verwickelt wird.

Tatsächlich ist Japan wie es alles tut ohne Leidenschaft, mit kalter Berechnung in den Krieg ein- getreten. Da es ohne Haß gegen die Gegner kämpfte, hat es sich auch an den Buchstaben des Bündnisses gehalten.

All dies ist für die Psychologie Nippons ungeheuer interessant. Ich habe aber auch in meinen vielen Wan- derungen noch nirgends eine Rasse gesehen, deren Psychologie annähernd so interessant wäre wie die ja- panische. Allerdings ist auch keine Mentalität so schwer zu verstehen. Ich kann mich wohl als kosmopolitisch erzogener Ungar in die französische oder deutsche Mentalität hineindenken, ich kann als gewesener eng- lischer Schüler als Engländer oder Amerikaner denken, kann vielleicht den Russen, den Türken oder selbst den Chinesen verstehen, denn alle diese Mentalitäten haben etwas Menschliches. Nicht so die Japaner ; sie sind

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Sphinxe, und man kann froh sein, geHngt es einem nach langem Aufenthalte im „Lande der aufgehenden Sonne", eine Ecke des Sphinxschleiers zu lüften.

Die übliche Erklärung, daJS sie Orientalen sind, er- klärt gar nichts. Es ist ein unsinniges Schlagwort, das alle Völker südlich der Donau und östlich des Urals als Orientalen stempeln will. Als ob der Japaner, für den der Fisch das Zeichen der Buben ist, weil beide im Leben ,, gegen den Strom zu schwimmen" haben, auch nur das geringste Gemeinsame mit dem fatalistischen Araber hätte !

Nicht viel vernünftiger ist die in Tokioter Europäer- kreisen verbreitete Theorie, daß die Japaner , »verkehrt'' denkeiT, weil man dort beim Hausbau mit dem Dache anfängt, die Pferde verkehrt in die Ställe einstellt und die japanische Wortfolge eine andere als die unsrige ist. Dies alles ist eitel Dilettantismus. Im Ungarischen ist die Reihenfolge der Wörter oft eine andere als In den arischen Sprachen, und doch denken wir nicht so ganz anders. Schlagworte erklären nichts, nur Beob- achtungen können es tun.

Im Winter 1908 fuhr ich in Begleitung meiner Schwester nach Ostasien. Wir verbrachten sechs Wochen auf dem Wege in Indien, eine Zeit, die zur Be- sichtigung dieses einzig schönen Landes beileibe nicht genügt und nur genügend ist, um es mit Sehnsucht zu verlassen. Es ging aber nicht anders. Vieles interessierte mich in Indien. Vor allem natürlich die musterhafte Verwaltuhg, die imstande ist, durch einige tausend Europäer zwischen Hunderten von Millionen aller- dings entwaffneten und isolierten Einheimischen die Ordnung aufrecht zu erhalten. Freilich besteht heute politische Unzufriedenheit, da die Menschen mit väter- licher Verwaltung nicht auskommen. Der Engländer.

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als Kolonialadministrator ausgezeichnet, ist es nicht immer im selben Grade, wenn der Handelsmann in ihm erwacht und er Konkurrenz befürchtet. Aber alles in allem bildet Indien wohl eine der schönsten Bauten des britischen Weltgebäudes.

Ich konnte wahrnehmen, wie wir über indisches Wesen schlecht informiert waren. Der eine öster- reichisch-ungarische Konsul hatte für englisches Wesen keinen Sinn. Für ihn war Indien ein schwaches Karten- schlo^, das bei der ersten Krise zusammenfallen würde ; der andere war ein Anglomane, der sah nicht den ge- ringsten Fehler am indischen Gebäude. Doch genug an dem. Mich interessierte unter anderem in hohem Grade der enorme Aufschwung, den die Baukunst in Ober- indien zur Zeit der groJsmogulischen Kaiser genommen hatte. Italienische Baumeister hatten ja an ihren Höfen gearbeitet und Vorbilder geschaffen, aber solche Meisterwerke, wie das ewige ,,Taj Mahal", hatten doch ihren eigenen Charakter ganz bewahrt, und dies war Großes und Seltenes, von mongolischer Kunst voll- bracht. •

Yokohama ist vielfach eine europäisierte Stadt, ähnlich den vielen Settlementes Ostasiens. Aber Tokio i Hier war Osten und ferner Westen vereint. Ganze Viertel Basars wie in Konstantinopel oder Indien, und oben Hunderte von Telegraphen- und Telephondrähten durchzogen die Luft, wie Chicago oder Kalifornien. Man fragt sich, ist es amerikanisierter Osten oder ein orientalisches Amerika? Doch es ist keines von beiden. Es ist etwas einzig Dastehendes, wie ich es bald ein- sehen sollte. Es ist Japan!

Meine Beobachtungen wurden mir allerdings durch die üblichen Diplomatengespräche bei einer Tasse Tee nicht erleichtert. Diplomaten klagen fast immer über

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das Land, wo sie sind, und können dann Wunder von ihren früheren Posten erzählen. Ausnahmen sind höchstens in Paris und London zu finden, und auch nur seitens derjenigen, welche „in der Gesellschaft" sind. Dies ist Mode und konnte mich nicht mehr wundern. Aber eine solche Voreingenommenheit, wie sie im Tokioter diplomatischen Korps gegen alles Japanische herrschte, habe ich noch nirgends gesehen. Es wäre eine aggressive Voreingenommenheit. Alles, was Japan machte, war schlecht. Die Telegraphenstangen waren schlecht befestigt. Ein Gewitter einige weg. Ich fragte den Botschafter, der mich darauf aufmerksam machte, indem ich gleichfalls ihm eine durch das 'Ge- witter entwurzelte Eiche zeigte, ob diese auch von der Natur schlecht gepflanzt wurde?

Dies alles hatte seine Gründe. Japan war das schöne Land der Blumen und Geishas. Man strömte dorthin, namentlich Engländer und Amerikaner. Man schwärmte für mittelalterliche Ritterlichkeit, Waffen der Samurais und „Bushido", ihren Ehrenkodex. Man half diesem Lande gerne mit Geld in seinem Kampfe gegen den Moskowiter Bären; ja, man befürv/ortete diesen Kampf. War der Bär doch der Rivale. Man über- schüttete den Japaner mit Schmeicheleien.

Der Japaner tat seine Pflicht und rettete seine Frei- heit. Aber er rettete nicht nur seine Unabhängigkeit, indem er den Russen von Korea verjagte, er schlug den Weißen mit seiner eigenen Waffe. Das war für ihn die Hauptsache. Jetzt wollte er weiter mit europäischen Waffen den Kampf gegen die Eindringlinge fortführen. Diese Waffen waren Handel und Industrie. Er war stolzer auf seine Schiffe und Kanonen, auf seine In- dustrie und seinen Handel, als auf Blumen und Geishas, Dies war unerträglich. Dies war unverzeihlich.

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Iii dieser geringschätzenden Auffassung waren meist alle Europäer in Tokio einig. Doch nicht im selben Grade. Handel hatte mehr als Politik zu sagen. Die ärgsten Feinde Japans waren seine vormaligen Lehrmeister und seine Verbündeten, Amerikaner und Engländer. Dann kamen erst die weniger interessierten Deutschen und Franzosen und die geschlagenen Russen. Wir machten unsinnigerweise mit. Dabei genierte man sich wenig, vor japanischen Dienern abfällige Urteile zu fällen. Intelligent, wie sie waren, begriffen sie so- fort, und die Regierung wußte dann bald Bescheid. Auch ließ mancher Diplomat sehr unliebenswürdige Be- richte durch japanische Beamten abschreiben. Dies schuf eine Atmosphäre des Mißtrauens, wie sie in diplo- matischen Beziehungen selten zu finden ist. Der Japaner ist aber höflich : er ließ nichts merken. Er ist schweig- sam : er redete noch weniger.

Äußerlich fällt dem Fremden in Japan vielleicht vor allem der herrschende Sinn für Harmonie und Ästhetik auf. Nirgends wird das Schöne so bewundert. Für ..Schön und Rein" gibt es in der japanischen Sprache nur ein Wort.

Was die Mentalität des Volkes anbelangt, so wird man zuerst durch dessen vollständige Leidenschaftslosig- keit überrascht. Oder vielmehr, es herrscht nur eine einzige Leidenschaft, der Patriotismus. Alles andere ist Nebensache, und alle anderen Völker sind gleichgültig oder vielmehr gleich gering eingeschätzt.

Als vor einem halben Jahrhundert das mittelalter- liche Japan sich von der Gefahr bedroht sah, eine Kolonie der weißen Rasse zu werden, welche ihm ihre Einfuhr aufzwingen wollte, beschloß man, die Türen des Inselreiches Amerikanern und Engländern zwar zu öffnen, aber dieselben zuerst mit Bajonetten und

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Kanonen zu l^efestigen. Die leitenden Staatsmänner sahen die Notwendigkeit einer gewissen Modernisierung ein. Und die Notwendigkeit der Aufklärung wurde ge- setzlich festgesetzt. Kommissionen wurden in alle großen Länder entsandt, um das Notwendige, Kanonen und Wissenschaften, zu ermitteln und nach Hause zu bringen. Mit Ausnahme der religiös-philosophischen Kommission, nach deren Bericht die heimatliche Moral besser als die fremde sei, wurde reichliche Arbeit «ge- macht. Man fand bald, wo jeder einzelne Gegenstand am besten zu erlangen sei. Frankreich, und später Deutschland, gaben militärische Instruktoren. England lehrte die Kunst der Marine, Amerika verschiedene technische Künste, Österreich lieferte ^Medizin , und Japaner lernten an der Wiener Fakultät.

All dies ohne die geringste Sympathie oder Partei- lichkeit. War die Sache gelernt, so wurden die Instruk- toren gut bezahlt und heimgeschickt. Im heutigen Japan werden alle Stellen, die im öffentlichen und wirt- schaftlichen Leben etwas bedeuten, von Japanern aus- gefüllt; selbst Hoteldirektoren sind Japaner.

Zu meiner Zeit stand auch Japans auswärtige Politik unter diesem Zeichen der von reiner Vernunft diktierten vollständigen Leidenschaftslosigkeit.

Man hatte aber die Allianz mit England, die den Lehrling gewissermaßen ebenbürtig mit dem vor- maligen Lehrer machte denn England und Amerika waren, in der ]\Iodernisierung Nippons die Haupt- lehrer — , und sein Vorbild wirkte, Das westHche Insel - reich glaubte durch ein Ententensystem seine Existenz und Prestige am besten zu wahren.

Dasselbe strebte das östliche Inselreich an.

Die westliche Entente hatte aber, wenigstens defensiv, eine Spitze gegen jemand. Die östliche wollte

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eigentlich keine haben, man wollte ja Amerika und den ehemaligen Gegner Rußland, wenn möglich, in dasselbe auch hineinbeziehen, und der Hauptrivale in China \var ja der offizielle Verbündete !

In diesem Ententesysfem gebührt natürlich Groß- britannien der erste Platz.

Der Aspekt der Allianz war indessen sehr ver- schieden in Tokio und London. In London, wie ge- sehen, hatte man das Interesse verloren, man war in- different. Die Engländer Ostasiens aber dachten anders. Sie sahen klarer, denn sie waren näher. Rein politisch hatte der Inselbund eigentlich seinen aktuellen Zweck, die Besiegung Rußlands, erfüllt. Er sollte Indien schützen, ein Angriff auf Indien konnte, mit einiger Wahrscheinlichkeit, nur von Rußland aus erfolgen, und dies war nun ausgeschlossen. Die englische Herrschaft in Indien gegen innere Unruhen zu verteidigen, war Japan weder verpflichtet noch geneigt. War es doch namentlich seit den mandschurischen Siegen zur asiatischen V^ormacht geworden und konnte daher dem Prinzip „Asien den Asiaten" unmöglich zuwider- handeln, wollte es nicht sein groß gewordenes Prestige verlieren. Hunderte indischer Studenten studierten an japanischen Universitäten. Rajahs besuchten den kaiserlichen Hof. Es bestand unter dem Protektorate des eminenten Staatsmannes Graf Okuma eine ,,Indian Japanese Association", und die japanische Presse brachte indienfreundliche Artikel. Dies war nicht direkt gegen England gerichtet, erhöhte aber Englands Prestige nicht gerade. ' Anderseits war es nicht abzu- sehen, daß England Japan jemals im Falle des nächst- liegenden Konfliktes mit Amerika beistehen würde. Dies hätte alle Australier, die sich gleichfalls von der gelben Gefahr bedroht fühlten, empört. Dies hätte die

10 V. S z i ', a s s y , Der UnterganK der Donau-Monarchre. j^^

englische öffentliche Meinung in der Heimat nicht zu- gelassen. Also war mit einem Worte in beiden brennend- sten Fragen die Hautfarbe stärker als der Bund.

Es blieb die politisch-wirtschaftliche Seite : Europa ähnlich die Sicherung des Status quo in Ostasien, haupt- sächlich in China. Hier wirkte das Bündnis etwa wie dasjenige zwischen Österreich-Ungarn und Italien und sicherte einen Status quo, der sich automatisch zuun- gunsten des einen Verbündeten verschob.

Japan verstand China, es verdankte ihm seine Kultur. Es kannte seine Schrift, seine Sitten. Es war dort zu Haus. Kein Wunder also, da.ß die Japaner die gefährlichsten Konkurrenten für Engländer und Ameri- kaner dort wurden.

Vom russischen Alpdrucke befreit, hatten sie freie Hand und setzten ihre volkstümliche Penetration in China in erhöhtem Maße fort. Ja, sie schonten nicht einmal das traditionelle Feld der englischen Tätigkeit, das reiche Yangtsetal. Ein bekannter englischer Publizist, Punan Weale, konnte schreiben, daß die anglo-japanische Allianz vielleicht den Frieden, aber jedenfalls Englands Niedergang im fernen Osten sichere.

Unter diesen Eindrücken fand bald nach den japa- nischen Siegen über Rußland ein ungeheurer Um- schwung der anglosächsischen öffentlichen Meinung in Ostasien, und teilweise auch zu Hause statt. Presse und Literatur wurden in Anspruch genommen. Der japanische Kaufmann galt als unreell. Man lobte desto mehr den chinesischen. Man vergaß absichtlich, daß Japan bis vor kurzem eine Nation von dem Handel ab- holden Rittern war. In China konnte man sich viel mehr als in Japan herausnehmen. Dort herrschten noch Kapitulationen. Das war ja eigentlich der Hauptgrund,

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warum die weiJaen Handelsagenten das ,, Reich der Mitte" dem „Lande der aufgehenden Sonne" vorzogen.

Der britische Botschafter in Tokio, Oberst Sir Claude Macdonald, war eigentlich der einzige Eng- länder, den ich niemals über Japan schimpfen hörte. Sir Claude, eine interessante militärische Erscheinung, mit welchem ich sehr gut stand, gab mir selbst zu, daß die Allianz englischerseits sehr an Popularität verloren habe. Er war für ihre Erneuerung, aber nur aus höheren politischen Rücksichten. Die Zukunft sollte ihm recht geben. Er hatte es übrigens verstanden, sich in Tokio eine glänzende Stellung zu schaffen, was desto schwerer gewesen sein muß, da die Japaner, trotz des Bündnisses und trotzdem die Anglosachsen ihre ersten Lehrer dier westlichen Kultur waren, und ihre eigensten Ideen und Meinungen über sie sehr gut kannten.

Diesen englischen Strömungen gegenüber ver- hielten sich die Japaner, wenigstens äußerlich, gleich- gültig. Auch Reval schien ihnen keinen besonderen Eindruck zu machen.

Mit Amerika wurde bald nach meiner Ankunft auch eine Entente eingegangen. Noten wurden gelegent- lich eines großangelegten amerikanischen Flotten- besuches in Japan gewechselt. Sie sprachen vom Status quo in Ostasien und. im Pazifischen Ozean. Das alles bedeutete nicht viel, denn die bekannte kalifor- nische Einwanderungsfrage blieb ungelöst. Diese Entente sollte eigentlich vor allem die beiderseitigen Regierungen vor Überraschungen seitens ihrer eigenen öffentlichen Meinung schützen. In dieser Hinsicht ähnelte auch sie unserem Bunde mit Italien: „Hände, die sich halten, um sich nicht zu schlagen", wie mein türkischer Freund gesagt hatte.

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Die Beziehungen Japans zu Rußland waren durch den Portsmouther Frieden und andere poHtische und wirtschaftHche Vereinbarungen geregelt. Rußland war bekanntlich von Korea, Dalny, Port Arthur und der Südmandschurei zurückgedrängt worden. Sein ost- asiatischer Herrschaftstraum war verraucht. In Ruß- land hatte aber die Revolution eingesetzt, und niemand dachte an eine Revanche. Man wollte von ostasiatischen Abenteuern nichts mehr wissen. Das Verhältnis zwischen den Ländern war kühl, aber japanischerseits wurden schon während meines Aufenthaltes in Tokio die ersten schwachen Versuche einer Annäherung unter- nommen. Graf Komura, der Minister des Äußern, ein kluger, typisch japanischer Diplomat, dem nichts ent- ging, nannte Rußland an zweiter Stelle in seinem großen Expose. Nur ging man mit großer Vorsicht und nicht ohne Mißtrauen vor. Der Japaner vergißt nie, er hatte nie vergessen, daß es Rußland, Deutschland und Frank- reich gewesen, welche ihm den Frieden von Shimono- seki, der ihm die Früchte seines Sieges über China be- raubte, aufgedrängt hatten, und dies hat eine Rolle im Kriege gespielt. Er mutete daher gern Rußland Re- vanchegelüste zu. Aber die Entente kam schließlich doch zustande. Die Mandschurei gab einen vortrefT- lichen Gegenstand dazu ab. Ährenthal sagte mir später, ich sei der erste gewesen, diese Annäherung der beiden Reiche zu bemerken.

Graf Komura war übrigens immer für eine Verstän- digung mit Rußland, und zwar schon vor dem Kriege. Er erzählte mir einmal, er habe in dieser Hinsicht in Petersburg zu arbeiten getrachtet, bald aber bemerkt, daß es dort neben dem oflfiziellen Ministerium des Äußern noch ein zweites Auswärtiges Amt gebe, näm- lich das kaiserliche Hansministerium. So war nichts

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zu machen, denn die Hofkoterie wollte auf koreanische Konzessionen nicht verzichten. Korea aber, in Ru-ß- lands Hand, bedeutete eine ständige Lebensgefahr für das Inselreich. So war da nichts zu machen. Er ging nach London.

Von England hofifte man also die Sicherung der ostasiatischen Hegemonie. Von Amerika wähnte man sich geschützt, und mit Rußland war das Feld für den Aufbau einer Entente frei.

Japan wollte aber auch mit Frankreich und Deutschland Ententen haben. Diese sollten zur Siche- rung des Status quo sowie zur Erhöhung seines An- sehens dienen. Es hatte bereits mit Frankreich ein derartiges Abkommen geschlossen, wodurch die Re- publik immerhin eine gewisse Garantie ihrer ostasia- tischen Besitzungen erhielt. Übrigens war der Handel mit Frankreich wenig entwickelt, und wirtschaftliche Interessen spielten gar keine Rolle.

Nicht so bei Deutschland, dessen Handelsagenten ganz Asien schon überschwemmten. Kein Wunder also, w^enn die Deutschen den Japanern nicht viel größere Sympathien als die Anglosachsen widmeten. Dies w-ar auch gegenseitig. Deutschland hatte eine mächtige Rolle in Shimonoseki gespielt. Übrigens sorgten die englischen Telegraphenagenturen dafür, daß keine zu große deutsch-japanische Freundschaft ent- stehe. Namentlich w-ährend der bosnischen Annexions- krise. Deutschland war eine der wichtigsten Groß- mächte. Die Japaner kannten es gut, besuchten seine Universitäten, und es gab gewisse Ähnlichkeiten zwischen japanischer und deutscher Gründlichkeit und Wissenschaft. Außerdem war Deutschland die erste Militärmacht, und Japan war durch und durch Militär.

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Man wollte daher auch Deutschland in den Kreis der japanischen Ententen einbeziehen. Die Sache wäre leicht gegangen. Faktische Gegensätze waren nicht vorhanden, und die Entente wäre wahrscheinlich einer einfachen Neutralitätserklärung gleichgekommen. GraF Komura erwähnte in seinem Expose Deutschland in be- sonders liebenswürdiger Art; als ich ihn aber sondierte, verneinte er das Bevorstehen einer Entente. Er hatte allen Grund, es zu tun, denn in Berlin fehlte hierfür Geneigtheit und Verständnis. IMan fand die Sache gänzlich überflüssig und daher ein wenig kindisch. Es war weder ein Grund noch eine konkrete Verhand- lungsgrundlage vorhanden. Ich hatte aus Gesprächen mit dem deutschen Botschafter, Baron Mumm, einem klugen, liebenswürdigen Herrn, mit welchem ich auf bestem Fuüe stand, den. bestimmten Eindruck, daß man in Deutschland hierin nicht das geringste Entgegen- kommen zeige, daß man aber eventuell eine Entente als Bezahlung irgendeines positiven Vorteils, vielleicht einer wirtschaftlichen Konzession, eingehen würde. Fürwahr eine kurzsichtige Politik !

Unsere Beziehungen zu Japan waren schließlich vollständig anonym. Man kannte uns kaum. Nur die Annexion Bosniens machte Eindruck. Sie wurde in der japanischen Öffentlichkeit nicht als feindseliger Akt gegen den englischen Verbündeten, sondern als Vorbild, wie man eine Okkupation in eine Annexion umwandeln soll, besprochen. Ährenthal erntete Lorbeeren. Japan hatte ja sein Ägypten mit seinem Lord Cromer in der Person des Fürsten Ito, und man dachte schon damals an die definitive Besitzergreifung dieses Landes.

Wir waren in Tokio die einzige Großmacht, die eine völlig selbstlose Politik machen konnte. Dies hätten wir ausnützen können. Aber es geschah nichts.

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Unsere Landsmänner, Handelsleute und Marineoffiziere, beschimpften die Japaner gerade so wie die Engländer und Amerikaner und brachten all ihre Liebe China ent- gegen. So wurden wir natürlich in Japan gerade so unbe- liebt wie die andern. Dies war unsinnig, denn andere hatten wenigstens etwas davon, wir aber hatten im Inselreich gar keine wirtschaftlichen Interessen. Auf meine Anregung wurde allerdings später hierin ein Wandel geschafifen, und man schickte einheitliche In- struktionen bezüglich unserer politischen Haltung nach Tokio und Peking.

Ich für meine Person habe es niemals versäumt, auf eine Annäherung zwischen Japan und uns hinzu- arbeiten, und ich fand bei manchem japanischen Staats- mann Unterstützung. So beim Vicomte Aoki, und namentlich beim Vizeminister des Äußern, Grafen Isjii, einem scharmanten, sehr geschickten Herrn, mit einer äußerst liebenswürdigen Frau, mit welchen meine Schwester und ich uns bald befreundeten. Ich regt» die Errichtung eines effektiven japanischen Konsulates in Budapest an und erinnerte oft an die tatsächlich vor^ handene. wenn auch sehr entfernte Rassenverwandt- schaft. Haben doch Magj-aren ohne Zweifel mongoli- sches Blut, und die Japaner sind bekanntlich eine Mischung von Mongolen und Malayen. Ich hatte für dieses Land aufrichtige Sympathien und hatte manch- mal die Genugtuung, trotz aller japanischen Verschlos- senheit, hierfür eine Anerkennung zu erhalten. Kurz vor meinem Abgange sagte mir ein eminenter japanischer Staatsmann: ,,Wir bedauern, Sie zu verlieren, denn wir wissen, Sie sind nicht nur ein Vertreter Ihres Landes, sondern auch unserer ganzen Rasse." Und als ich das schöne Japan tatsächlich verließ, bemerkte eine Tokioter Zeitung in einer diesbezüglichen Notiz : ,,Er war ein ge-

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rechter Mann und machte keinen Unterschied in der Hautfarbe." Dies war kein geringes Kompliment, denn die Japaner sind bekanntlich nicht weniger farbenstolz als die Weiüen.

Was die Ähnlichkeit zwischen Japan und Ungarn anbelangt, liefern die beiden Sprachen übrigens heute noch einige merkwürdige Beispiele hierfür.

Den Frühling und Sommer verbrachten wir zuerst in Tokio, und machten dann Ausflüge nach dem herr- lichen Kyoto und in verschiedene Gebirgsorte. Die Ge- selligkeit in der japanischen Hauptstadt war eine sehr rege. Es war die Zeit der Kirschblüte, und die ,, Gardenparties", die sich in diesem Lande der Blumen bald einbürgerten, folgten einander der Reihe nach. Der Kreis unserer Bekannten war ziemlich eng gezogen. Es war das diplomatische Korps mit wenigen anderen Europäern und die japanische Hof- und offizielle Ge- sellschaft. Die japanischen Herren gingen immer, die Damen meistens, in europäischer Tracht. Es war schade, denn die schönen Kimonos erhöhten den Glanz und paßten zu den Blumen. Der Kaiser und die Kaiserin sprachen nur japanisch. So will es die Tradition. Nicht ohne Grund, denn ein Herrscher kann nicht genug national gesinnt sein. Aber manche Mitglieder der kaiserlichen Familie, die an den Gesellschaften regen Anteil nahmen, beherrschten eine europäische Sprache, und zwar gewöhnlich eine der drei : Deutsch, Fran- zösisch oder Englisch. Der gebildete Japaner spricht meistens eine der drei Sprachen, sehr selten mehr als eine. Unter den weiblichen Mitgliedern der kaiserlichen Familie möchte ich die Prinzessin Nashimoto erwähnen, eine scharmante Dame von großer Anmut und blen- dender Schönheit. Die Verkörperung des feinen, zier- lichen, japanischen Schönheitsideals.

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Bei den Hoffesten erhielten die Gäste wunderbare Andenken. Herzliche kleine Schachteln aus Lack, oder kleine Tassen aus Porzellan. Die Feste wurden gewöhn- lich auf europäische Art gefeiert. Nur einmal im Jahre gab der Kaiser den hohen Würdenträgern und auslän- dischen Vertretern ein Galadiner nach japanischer Art. Jeder hatte für sich ein kleines Tischchen, und der Herrscher hatte das seinige auf einem etwas erhöhten Podium in der Mitte.

Eine Grundeigenschaft des Japaners ist die Ein- fachheit. Dies konnte ich des öfteren in Gesprächen mit berühmten Männern, wie Admiral Togo und General Nogi, konstatieren. Es war fast unmöglich, sie zu irgendeiner Erzählung aus ihrer ruhmgekrönten Ver- gangenheit zu veranlassen. Dies war aber auch bei jedem jungen japanischen OfTizier der Fall. Einer meiner interessantesten japanischen Bekannten war der inzwischen verstorbene Ministerpräsident, General Marquis Katsura. Dieser hochbegabte Staatsmann war in Deutschland erzogen worden und kannte die Men- talität der europäischen Völker wie wenige. Er war ein Philosoph durch und dijrch. Über menschliche Kleinlichkeiten weit erhaben. Es waren damals die japanischen Finanzen in einem ziemlich kritischen Zu- stande. Oberflächliche Beobachter und Schwarzseher prophezeiten den Bankerott (eine hochherzige Rasse ist übrigens daran noch niemals zugrunde gegangen). Katsura sagte mir aber, da£ er die relative Armut Japans gar nicht bedaure. So würde das Volk einfacher bleiben und nicht so schnell wie andere dem Luxus ver- fallen. Der Kaiser hatte eben auf seine Anregung ein Edikt gegen den nach dem Kriege zugenommenen wie relativen! ,,Luxus'^ erlassen. Katsura erzählte mir, es sei ganz rührend, wie sehr sich das Volk diese aller-

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dings sehr seltene kaiserliche WillensäuJSerung zu Herzen genommen. Man fange an derart zu sparen, daß dies den Handel bereits bedrohe. Die Regierung habe daher erläuternd einschreiten müssen.

Ich hatte in Tokio mehrmals Gelegenheit, mili- tärischen Revuen beizuwohnen und konnte die prächtige Haltung der Truppen nicht genug bewundern. Aber auch ihre Einfachheit. Von Prinik war keine Spur, alles war in Kakhi gekleidet. Die Japaner haben alles, um eine vorzügliche Armee, namentlich für den modernen Krieg, zu bilden. Sie sind klein, wenig sichtbar und bewegen sich geschickt. Tapfer bis zum äußersten, und dabei sehr intelHgent. Sie haben wenig Bedürfnisse, essen wenig und sind ans Gehen gewohnt. Fronen doch Hunderttausende täglich der Beschäftigung, einen ,, Rickshaw", einen kleinen Wagen, das gewöhnlichste Verkehrsmittel, zu ziehen, wobei sie stundenlang laufen müssen. Kann man sich eine bessere Vorbereitung für einen Infanteristen denken? Die Ofifiziere dagegen gehen vollständig in ihrem Beruf auf, und zwar kennt dieser Beruf in Japan nur eine ernste Seite. Paradieren gibt es da nicht. Der Offizier ist ein Fachmann, ein Gelehrter, ein Lehrer. "Ich erinnere mich, einmal in Tokio als Schild auf einem Laden für militärische Gegen- stände das Bild eines Offiziers gesehen zu haben. E.s war aber kein fescher Leutnant in europäischem Sinne, sondern ein ernster, besorgter Kopf mit Brille, welcher beim Lampenschein ein Buch studierte.

Japan hat sein Leben und seine Institutionen viel- fach, wo es nützlich erschien, modernisiert. Der Geist der Nation ist aber der alte Geist der heldenhaften Samurais (Kleinadligen) geblieben.

Die Verfassung, die in rührender Art die Not- wendigkeit, „Wissenschaften von auswärts zu holen",

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bekennt denn gro£e Nationen erkennen so was ge- wöhnlich nicht an und unbedeutende haben hierfür kein Interesse , ist durchaus modern und nach den engli- schen Mustern mit Oberhaus und Haus der Abgeordne- ten versehen. Aber die kaiserliche FamiHe wird als ,,von der Sonnengöttin'* abstammend erwähnt. Der Tenno (offizieller Name für den Herrscher) hat übrigens mehr Macht als der britische Monarch. Zwar lebt er in der Zurückgezogenheit eines Halbgottes, welche der Tra- dition entspricht, und dies verhindert meist ein persön- liches Einschreiten, aber er gilt für sein Volk als die geheiligte Verkörperung von Religion und Heimat.

Neben diesem verfassungsmä-ßigen Apparate hat Japan noch eine ganz eigenartige politische Institution von großer Bedeutung. Es ist dies der Rat der „alten Staatsmänner" oder „Genros". Bei allen wichtigen Entschlüssen werden die Genros vom Kaiser zu Rate gezogen, und dieser Rat ist oft maßgebend und oft sehr nützlich gewesen. Wer Genro ist. ist meist undefinier- bar. Staatsmänner der verschiedensten Parteien, Ge- nerale, hohe Würdenträger, deren Klugheit anerkannt wird, werden von der Krone in diesen Rat berufen. Es ist aber sozusagen eine inoffizielle Sache. Manche sind anerkannte Genros, manche neue werden nach Belieben hierzu erwählt.

Die Schulen spiegeln auch diesen doppelten alt- japanischen und modernen Aspekt wider. Lehrplan und äußerliche Ordnung ist wie in jeder anderen Schule. Die Schüler sitzen nach europäischer Art vor ihren Pul- ten und nicht auf dem Boden, wie sonst überall noch landesüblich. Aber man lehrt ihnen die alte japanische Sitte, sich in allem innerlich und äußerlich stoisch zu zeigen, und das japanische Kollektivideal kommt hier

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darin zum Ausdruck, daJS meist nicht die besten Schüler, sondern die besten Klassen die Preise davontragen.

Gleiches ist in den Gefängnissen zu beobachten. Ich habe ein bekanntes Zuchthaus in Tokio besucht. Die Sträflinge waren in netten, hellen Häuschen in einem großen Park untergebracht. Alles atmete Zufrieden- heit und kindlichen Frohsinn; je nach der geleisteten Arbeit erhielten die Insassen abends dann mehr oder weniger Reis, In allem trachtet der Japaner die mensch- liche \\'ürde, welche er so hoch schätzt, zu wahren. Wird einer ins Gefängnis geführt, so werden ihm die Augen verbunden oder ein eigenartiger Hut breiten Randes aufgelegt, der die Augen versteckt, damit seine Mit- menschen die Schmach nicht sehen.

In Tokio haben die reichen Japaner meist zwei Häuser nebeneinander. Das eine japanisch, das andere europäisch eingerichtet. In dem zweiten werden die europäischen Freunde empfangen, in dem ersten wird gewohnt. Nach dem Empfange zieht man sich in das japanische Haus zurück. Kimonos werden angelegt und man setzt sich oder vielmehr hockt auf dem Boden. Japanische Unterhaltungen sind ganz eigenartig, docii kommt der Europäer selten zu solchen Einladungen. Man kniet auf dem Boden und bildet einen hufeisen- förmigen Halbkreis; der Hausherr in der Mitte, die Gäste je nach dem Rang auf beiden Seiten. Die Damen des Hauses beteiligen sich an der Bedienung und neh- men dann bescheiden an beiden Enden des Hufeisens Platz. Die Feste dauern bisweilen stundenlang, und es ist nicht immer bequem, in dieser für uns so un- natürlichen Stellung zu verharren. Man serviert allerlei japanische Speisen, Fische, Eier, Reis verschiedenster Art (Fleisch kennt die japanische Küche nicht). Dazu wird Reiswein getrunken, und Geisha- oder heroische

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Lieder werden vorgetragen. Einmal wohnte ich einer solchen Unterhaltung bei, wo der Sänger, ein alter Sumarai, ein Lied vortrug, welches die Kampfeslust der Krieger dämpfen sollte.

Daß die Frauen bei solchen japanischen Festen ..bedienen", hat wohl kaum mehr Erniedrigendes an sich, als wenn eine europäische große Dame den ,,Tee serviert". Beides sind Überbleibsel der Zeiten, wo die Frauen wirklich dienten. Die Japaner haben diese For- men entgegen unserer ritterlicheren Sitte noch vielfach behalten, und die große Dame, die europäisch gekleidet ihren Mann bei Hofe vorangehen läßt, läuft wieder nach ihm wie ein liebes, kleines Mädchen, sobald beide nach Hause zurückgekehrt die Kimonos wieder angezogen haben.

Die Japanerinnen sind meistens sehr gebildet. Das Inselreich ist voll von Mädchenschulen, und daß sie nicht, wie manche modernen Frauen, immer die erste Rolle spielen wollen, erhöht ihren Reiz und macht sie viel glücklicher. Sie erwarten nicht allzuviel vom Leben. Die Japanerinnen sind übrigens ausgezeich- nete Hausfrauen und bewahren ihren Männern eine rührende Treue. Fälle von Abenteuern seitens ver- heirateter Frauen sind fast unbekannt. Übrigens spielt bei diesem so nüchtern denkenden Volke die Liebe durchaus nicht dieselbe Rolle wie bei uns, und ein Mäd- chen wird kaum daran denken, ohne elterliche Einwilli- gung zu heiraten.

Japans Mittelalter, aus dem es erst vor fünfzig Jahren kam, war ein Rittertum ohne Frauen und ohne Pferde. Die Frauen sind nie, wie im Westen, vergöttert worden, sie haben aber auch jedenfalls nicht dieselben Ilhis^ionen wie imsere Frauen zu erdulden gehabt. So-

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viel man beobachten kann, scheinen sie mit ihrem Los durchaus zufrieden zu sein.

Die geschäftsmäßige außereheliche Liebe, „diese urälteste aller Beschäftigungen", ist seit Urzeiten in Japan geregelt worden. Neben der Frau ist es zulässig, eine Konkubine zu halten. Die Halbwelt besteht aus den Geishas, einer Art Hetären, die oft eine große Bil- dung erreichen, und dann aus der armen Klasse, die in gewissen Stadtteilen konzentriert wird. Diese „Yoshi- waras" machen aber durchweg einen anständigen Ein- druck. Nichts ist abstoßend in diesen Puppengesichtern wie in Europa. Europäische Dam.en brauchen bei einem Besuche dieser Stadtteile keine rohe Bemerkung zu befürchten. Zwischen Europa und Japan besteht in dieser Beziehung ein großer Unterschied. In Europa gilt die Prostituierte als verloren, und zwar ist sie es auch; in Japan dagegen gilt dies als eine Beschäfti- gung, wie eine andere, wenn auch keine besonders vor- nehme. Mädchen h^ben oft zeitweise das ..Yoshiwara" besucht, um Schulden ihres Vaters zu tilgen. Dies galt fast als Pflicht. Das japanische Mädchen verliert daher seine Selbstachtung nicht. Das ist natürlich die Haupt- sache und kommt im Benehmen zum Ausdruck. Die Zeichen für beide sind auch in der Schrift vollständig andere. Für die vielen im Osten befindlichen amerika- nischen Kokotten lautet das Zeichen ,, Westschaf" Schaf ist nämlich das Äquivalent für Schwein , wäh- rend die japanische Kollegin einfach als „Mitglied des Yoshiwaras" bezeichnet wird.

Eine merkwürdige Eigenschaft der Japaner ist ihr gänzlicher Mangel an Schamgefühl. Früher badeten beide Geschlechter ganz nackt miteinander. Dies ge- schieht jetzt zwar nur noch im Volk, aber diese Eigen- schaft äußert sich dennoch in vielen anderen Hinsichten,

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Der Japaner kennt trotz all seiner Zivilisation das Re- servieren besonderer Schlafwagen für Frauen nicht. Dies würde ihm als kindischer und unnatürlicher Zwang- erscheinen. Die europäischen Damen, die in Japan reisen, ziehen es aber immer vor, einen Japaner als Coupegenossen zu haben. Von ihm haben sie keine Be- lästigung zu fürchten.

Gemischte Ehen sind selten. In den höheren Klassen kommt es vor. daß ein Japaner eine Europäerin heimführt. Das Gegenteil ist nicht bekannt. Eine japa- nische Aristokratin hat noch nie ihre Hand einem Weißen geschenkt. Sie sind, wie bereits bemerkt, ebenso rassenstolz wie wir. Einer erstklassigen Geisha wird es nicht einfallen, einen Weißen mit ihren Reizen zu be- glücken. Den Negern der amerikanischen Flotte er- ging es in den Yoshiwaras schlecht, man wollte dort von diesen , .schwarzen Teufeln" nichts wissen.

Feinde der Japaner bemängeln ihr Nachahmungs- talent. Sie sehen darin nur eine Eigenschaft von AfTen. Untersucht man die Sache, so gelangt man zu einem ganz anderen Schluß. Japan hat, um seine Existenz zu retten, und nicht eine Kolonie zu werden, manches von uns angenommen. Es hat es sehr geschickt getan. Das merkwiirdige ist, daß es eben nur dasjenige angenommen hat, was ihm nutzen konnte. Alle anderen exotischen Rassen haben von den Weißen ihre Fehler übernommen, gute Eigenschaften viel seltener. Der Japaner ist darin eine einzig dastehende Ausnahme. Whisky und fran- zösische Kokotten sagen ihm nicht zu. Er hat vom Westen die Wissenschaften, vor allem die militärische, übernommen. Er ist aber bei seinem Reiswein und seinen Geishas geblieben. Eine europäisierte goldene Jugend, welche europäischen Lastern frönen würde, wie" alle exotischen Länder sie haben, kennt Japan nicht.

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Wir unternahmen im Lande einige wunderbare Ausflüge. Die Gebirge erinnern oft an die Schweiz. Doch fällt der gänzliche Mangel an Haustieren aut. Blumen sind dort selten zu finden. Die schönen Kirsch- und Pflaumenblüten wachsen ja auf Bäumen, aber diese tragen keine Früchte. Nirgends kann man so bequeme Fußtouren als im japanischen Gebirge unternehmen. Die Sicherheit ist eine vollständige, überall findet man nette, reine Teehäuser, wo man übernachten kann und immer ein warmes Bad und etwas zu essen. Man schläft auf dem Boden auf einer Art Matratze, zwischen hölzernen Mauern und hinter papiernen Türen, die man nicht verriegeln kann. Aber es passiert nie etwas. Auch sind die Leute auf dem Lande einfacher als in der Stadt und haben die alte Höflichkeit völlig bewahrt, was nicht immer in den Hafenstädten der Fall ist. Haben unsere Handelsreisenden ihnen doch oft gezeigt, daß schlechte Manieren zur Kultur gehören. Allerdings äußert sich die Wißbegierde der Einwohner manchmal in etwas lästiger Neugierde.

Im Herbst kam die Annexion Bosniens, die, wie bereits erwähnt, unter den Japanern keinen großen Ein- druck machte und gutgeheißen wurde. Aber auch in europäischen Kreisen machte die Sache nicht denselben Eindruck wie im Westen. Wir besprachen die Sache ganz ruhig mit den Ententekollegen, und manch einer wußte nichts einzuwenden. Ostasien ist ja von der Welt so entrückt, und politische Leidenschaften werden abgekühlt, bis sie den Ozean überschreiten.

Zu dieser Zeit unternahmen wir eine Reise nach Korea und von dort über die Mandschurei nach Peking. Das Herbstwetter war prächtig, und der Ausflug war in jeder Hinsicht sehr gelungen. In Seoul wurden v.ir vom koreanischen Kaiser in Anwesenheit des japa-

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nischen Residenten empfangen. Er war ein junger, liebenswürdiger Mann. Sein Vater wurde bekanntlich entthront, weil er auf Anraten des russischen Gesandten eine Delegation zur Haager Konferenz entsendet hatte. Er hoffte hierdurch seine Freiheit zu retten. Dies paßte den Japanern nicht, und die Sage will, daß, als er die Sache dem Fürsten Ito ableugnete, dieser ihm sein eigenes Telegramm mit den Worten zuwarf : ,,Sie lügen, Majestät."

Japan hatte offenbar in Korea das englische Vor- bild vor Augen. Das Palais des Kaisers war aber mit japanischen Soldaten gefüllt. Man ließ ihm nicht die Scheinherrschaft des Khediven. Es ist noch nicht ab- zusehen, ob die Japaner die Kolonialtalente der Eng- länder haben. Einen Vorteil besaßen sie. Es war eine vollständige Volkskolonisation im Zuge. Nicht eine Gentry Colonisation wie in englischen Ländern. Ein ganzes japanisches Viertel hatte sich um die rührend einfache aber an schönster Stelle befindliche japa- nische Residenz bereits gebildet. Es war amüsant zu beobachten, wie die kleinen Japanerinnen mit ihren höl- zernen Schuhen dort herumhockten, die Nase hoch tragend, wie der herrschenden Rasse gebührt.

Noch viel merkwürdiger aber mutete es uns später an, die ]Merkmale der japanischen Administration in Dalny und Port Arthur zu beobachten. Es herrschte allerdings überall eine musterhafte Ordnung, aber die japanische Herrschaft über europäische Städte machte doch einen sonderbaren Eindruck.

In Peking verbrachten wir zwei Wochen in an- regendster Weise. Der Tempel des Himmels ist wohl mit dem Taj und mancher Schönheit Naras und Kyotos das schönste, was Asien an Kunst vollbracht hat. Als Sinnbild ist es nicht weniger interessant. Denn nur

11 V. Szilassy, Der Untergang der Donau-.Vlonarchle. ißl

allein der Kaiser, der „Sohn des Himmels", darf dort für sein Volk beten und zu Gott unmittelbar in Berührung treten. Seine Untertanen haben ja ihre Kirchen und Sekten.

Auch war es mir vergönnt, von dem damals in Pe- kings Nachbarschaft weilenden Dalai-Lama, dem Ober- haupt der Buddhisten, in Audienz empfangen zu wer- den. Der lebendige Buddha saß mit gekreuzten Beinen auf einem erhöhten Stuhl, wie ein Idol. Die Konver- sation, die notgedrungen banal bleiben mußte, wurde durch eine doppelte Verdolmetschung mongolisch chinesisch englisch geführt. Der Dalai-Lama zeigte nur Interesse, gepaart allerdings mit einem gewissen Mißtrauen, als ich ihm erzählte, daß ich seine tibeta- nische Heimat von weitem gesehen hätte. Er schenkte mir übrigens ein Stück Seide als Andenken. Auffallencl Avar es, mit wie wenig Respekt der als Dolmetscher dienende moderne chinesische Beamte mir von diesem Chef seiner Kirche sprach.

In Peking konnte ich auch eine andere interessante Besichtigung auf religiösem Gebiet vornehmen. Ich wußte, daß es dort eine Moschee gab gibt es doch im Reiche der Mitte nahezu 30 Millionen Anhänger Mo- hammeds — und verlangte dieselbe zu sehen, unsere Gesandtschaft wußte davon nichts. Endlich gelang es aber doch, die Tour zu unternehmen, und wir konnten die entlegene Moschee ausfindig machen. Äußerlich hatte sie wenig an sich, um sie von chinesischen Ge- bäuden zu unterscheiden, inwendig aber war es doch eine regelrechte Moschee. Der Priester beherrschte die arabische Sprache, und ich erfuhr nicht ohne Interesse von ihm, daß einer seiner ständigsten Be- sucher der deutsche Gesandte war.

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Auf der deutschen Vertretung in Peking widerfuhr mir übrigens damals ein komisches kleines Intermezzo. Einer der Herren machte mir ob der Annexion heftige Vorwürfe und behauptete, wir seien daran schuld, daß hierdurch der deutsche Einfluß in der Türkei leide. ,Ja/' erwiderte ich, ,,aber wie unangenehm ist- es für uns, daß wnr Ihretwegen uns nicht mehr der alten Be- liebtheit in England erfreuen."

Eine Hauptfrage bildete damals in China die Re- organisation der Armee, oder besser gesagt, die „Schaffung einer Armee".

Bis vor kurzem war man dort eminent pazifistisch gesinnt, und die militärische Laufbahn ward, wie jene der Henker, verpönt. Japan hat ja bekanntlich seine Kultur von China über Korea erhalten, und dieselben Ideogramme sind geblieben. Meistens stimmen sie überein, und die drei Nationen können sich schriftlich verständigen, trotz der Verschiedenheit der Sprache. Es sind aber Ausnahmen. Das Zeichen, das in Japan einen Ritter darstellt, bezeichnet in China einen Gelehrten; ursprünglich hieß es für beide ,,gentleman". Die nationalen Ideale waren aber grundverschieden geworden.

. Nach dem Boxeraufstande beschloß nun China, mit diesem Geiste aufzuräumen. Es sah darin eine Not- wendigkeit, um seine Existenz zu retten. Dies war keine geringe Aufgabe. Es handelte sich nicht nur um die Schaftung einer Armee, sondern vor allem um die Schaffung eines militärischen Geistes. Mit staunens- werter Energie hat die chinesische Regierung diese Auf- gabe in Angriff genommen. Ich konnte sehr viel Inter- esse und guten Willen wahrnehmen. Wegen der bereits erreichten Erfolge, welche natürlich japanischen In- struktoren zu verdanken sind, war man nicht wenig

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Stolz, und man zeigte sie gerne dem Fremden. So lieii man mir, einem einfachen Botschaftsrate, einige Re- gimenter in Revue passieren. Die Mannschaften machten guten Eindruck und unternahmen zuweilen akrobatische Kunststücke, die man europäischen Re- kruten kaum zumuten könnte. Auch die Feldübungen gingen glatt vor sich. Allerdings wurden einige grobe Fehler bezüglich Aufstellung der Reserven und Über- gehens zum Angriffe gemacht. Auch später wollte mir der Vizekönig von Nanking, ein kluger Herr, dessen Gastfreundschaft ich einige Tage genoJS, seine Truppen zeigen.

Von Peking fuhren wir nach Hankau und von dort per Schiff' nach Nanking, und dann nach Japan zurück. Wir benutzten ein japanisches Schiff, trotz des Ein- spruches des europäischen Agenten, der mir sagte, er verstehe nicht, daß ich mich ,,mit japanischen Diensten begnügen könnte". Das Schiff" erwies sich aber als eines der allerbesten, das ich jemals benutzt.

Zu meiner Zeit hörte man vielfach in Tiskio und Peking über den ,, allgemeinen Haß Chinas gegen Japan" sprechen. Ich war skeptisch und wurde es noch viel mehr, als ich erfuhr, daß Hunderte von chinesischen Studenten auf japanischen Universitäten studierten. Die Sache ist, glaube ich, komplizierter. Die Chinesen hegen für Japan sehr gemischte Gefühle. Die pazi- fistischen chinesischen Gelehrten verachten zwar inner- lich den Japaner dessen Kultur eine Abbildung der ihrigen ist, welche aber weniger Originelles zu schaffen wußte , namentlich \\e\\ sie ihn für einen Haudegen betrachteten, und Haudegen ihnen odios sind. Anderer- seits aber bewundern die Chinesen „die Inselzwerge", weil sie ihnen gezeigt, wie man sich vor der „weißen Gefahr" ?chüt2en muß. Der Japaner ist das \''orbild.

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der Fechtmeister, den der greise Gelehrte, vor einem tödHchen Duell gestellt, zu Hilfe ruft. Er mag grob sein, er ist aber der Fechtmeister.

Was hingegen die Gefühle des kalt denkenden Japaners für China anbelangt, so sind sie höchst ein- facher Natur. Nicht die Spur von Sentimentalität für diese Mutter seiner Kultur ist zu beobachten. China ist macht- und hilflos. Japan verachtet es, hat dabei aber auch die feste Absicht, das Reich der Mitte unter seinem Einfluß zu halten. Will er die Unordnung in einem europäischen Lande charakterisieren, so nennt er es ..europäisches China". Hiermit ist für ihn alles gesagt.

Von unserem Ausfluge nach Tokio zurückgekehrt, erhielt ich die Nachricht meiner Versetzung nach Ruß- land. Ich hatte sie bereits befürchtet und drängte daher auf die Chinareise. Meine Gefühle waren richtig. Ich hatte allerdings, wie ich es tief bedauerte, das prächtige Nippon viel zu früh zu verlassen, hatte aber, was Karriere anbelangt, allen Grund, mich zu freuen, denn Petersburg hatte für uns eine andere Wichtigkeit als Tokio. Auch hatten noch zwei andere Botschafter um mich als ersten Mitarbeiter gebeten. Unter an- derem mein früherer Londoner Chef, Graf Mensdorflf. Ährenthal entschied aber für Rußland.

Allerdings wurde es mir noch gegönnt, da ein Bot- schafterwechsel eben stattgefunden hatte, den Winter in Tokio zu verbringen. Meine Schwester und ich ge- nossen es reichlich. Unsere japanischen Freunde über- schütteten uns mit Liebenswürdigkeiten.

SchHeßlich kam aber doch Ende März 1909 leider die Abschiedsstunde, und wir unternahmen mit einem scharmanten Kollegenpaare die lange Reise über Si- birien. Am Bahnhof wimmelte es von Menschen. Nie- mals habe ich einen solchen Abschied gehabt. Aber

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auch selten habe ich ein so angenehmes Jahr verbracht wie das zu kurze Jahr in Tokio.

Vor meiner Abreise konnte ich noch unsere Diplo- matie vor einer schweren Demütigung retten. Wir waren in der bosnischen Krise noch lange nicht über die Klippe hinweg und mußten noch immer mit der Möglichkeit eines Krieges mit Rußland rechnen. Für diesen Fall wollte Ährenthal nun Japan eine Art Bündnis antragen und es durch die Nordmandschurei und Ostsibirien, locken. Der neue Botschafter hatte diesbezüglich genaue geheime Instruktionen mit- gebracht und sollte die Demarche unverzüglich unter- nehmen. Es war mir allerdings ein leichtes, ihn, der die Verhältnisse in Ostasien nicht kannte, und nicht kennen konnte, hiervon abzubringen. Ein solcher Schritt wäre ja ein Schlag ins Wasser gewesen und möglicherweise sofort Rußland mitgeteilt worden, das daraus für unsere Stärke unliebsame Schlüsse hätte herleiten können. In der Tat dachte man damals in Tokio viel eher an eine en'ge Entente als eineiv Krieg mit Rußland.

Ich möchte doch noch einige Worte über den japanischen Charakter sagen. Viele haben hierüber geschrieben. Kleist sehr oberflächlich. Eine Ameri- kanerin beschrieb ihre Reise im Inselreich und nennt ihren einheimischen Diener ..Watakushi", ohne zu merken, daß dieses Wort im Japanischen einfach „ich* bedeutet. Niemand hat noch das Rätsel der japanischen Sphinx gelöst. Ich war viel zu kurze Zeit in Japan, um dies ambitionieren zu können, und werde mich daher auf einige kurze Bemerkungen beschränken.

Die Aufgabe, das Rätsel zu lösen, machen einen die Japaner selbst nicht leicht. Psychologie interessiert sie nicht, weder die ihrige noch die unsrige. Hinter

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ihrem chinesischen Zeichen alle Versuche, die latei- nischen Buchstaben einzuführen, scheiterten bisher verschanzen sie sich nicht ungern in ihrer ostasiatischen Burg. Auch in Gesprächen ist bei Japanern von Psycho- logie nie etwas zu hören, noch eher dann von den Sprossen gemischter Ehen. Und dennoch kann ich der Versuchung nicht widerstehen, diesem Gegenstande noch einige Worte zu widmen.

Der Japaner ist vor allem ein Naturmensch, hart und primitiv. Trotz des südlichen Klimas hat er nichts Weichliches an sich. Das stärkste Element kam gerade von den südlichst gelegenen Inseln; er vereinigt die guten Eigenschaften des Gebirgsbewohners und des Seemanns. Sein Land ist relativ arm, dies zwingt ihn zur Arbeit. Seine Kost ist äußerst einfach.

So war eine ausgezeichnete Grundlage gegeben. Die Kultur erfolgte durch drei Religionen, das ur- japanische Shinto und die von China gebrachten Lehren des Gaudamas und Konfuzius.

Das Shinto war die Religion des Stolzes und ist es geblieben. ,,Kami no misi" ist sein offizieller Name, ,,Der Weg der Götter". Dies ist das .Grundprinzip der japanischen Moral heute noch. Der Spiegel ist ihr Symbol.

Der viel abstraktere Buddhismus und der hoch- philosophische Konfuzionismus haben in Japan viele ihrer Eigenheiten verloren. Sie sind japanisiert worden. Man behielt von ihnen, was dem nationalen Geiste paßte.

Das Christentum hatte auch im Mittelalter durch seine Missionäre einen Versuch unternommen, in Japan festen Fuß zu fassen. Es mißlang. Die Mönche wurden von den japanischen Gelehrten angehört, aber die Lehre der Hölle paßte ihnen nicht. ..Entweder ist Ihr Gott sehr

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schwacli," sagte man ihnen, „wenn er die Hölle nicht abschaffen kann, oder sehr schlecht, wenn er es nicht tun will."

Shinto, Buddhismus und Konfuzionismus blieben. Sie waren meist Riten und Formen. Die wirkliche Re- ligion der Nation, die sie seit Urzeiten beseelte und heute noch in dem neubelebten Shintoismus zutage tritt, ist die Verehrung der Ahnen, ihre Vergötterung wie im alten Rom. „Nichts tun, was den noch um uns befind- lichen Ahnen eine Schmach bringen würde", ist der leitende Grundsatz : endemischer Ahnen- und Adels- stolz.

Die Ostasiaten, und namentlich die Japaner, haben in der Tat von dem Tode eine ganz andere Vorstellung als wir. Die Toten leben noch weiter geistig in ihrer Mitte. Daher ist der Tod nicht schrecklich. In Japan spricht man nicht von Toten, sondern von „toten Menschen",

- Ich hatte einmal einen merkwürdigen Einblick in diese Weltanschauung. Gelegentlich des kaiserlichen Regierungsjubiläums wurden mir Medaillen für die Mit- glieder der Botschaft zugeschickt. Die eine galt einem eben verstorbenen japanischen Sekretär. Da den Sta- tuten gemäß diese Auszeichnung nach dem Tode bei den Erben verbleiben konnte, beschloß ich nun, die in Rede stehende ^Medaille dem Sohn des Beliehenen als Andenken an die Tätigkeit seines Vaters zu senden. Ich ließ eine entsprechende japanische Zuschrift durch meinen Interpreten verfassen. Als er sie mir zur Unter- schrift vorlegte, bat ich um wortgetreue Übersetzung. Das Schriftstück war vollständig offiziell gehalten. Ich staunte aber nicht wenig über den Schloßpassus, der um „^litteilung des Inhaltes an den verstorbenen Vater

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ersuchte". Der Dolmetscher versicherte mir, daß dies japanische Sitte sei, und ich konnte nur unterschreiben. Trotz dieser Auffassung hat man merkwürdiger- weise in Japan für Abstammung nicht allzuviel Sinn. Adoption gilt dort, wie übrigens auch im alten Rom, ebensoviel.

Diese Weltanschauung hat nun meiner Ansicht nach ein positives Prinzip, die Todes- oder vielmehr Lebensverachtung in einem anderswo unbekannten Grade, und zwei Negative, die der Vergänglichkeit und der Unpersönlichkeit, geschaffen.

Für Menschen, die immer unter „lebenden Toten'' sind, ist es natürlich, daß die Vergänglichkeit alles Irdischen in besonderem Grade stets vor Augen steht. Die so traurige buddhistische Lehre hat hierzu auch das ihrige beigetragen. Diese Lehre ist von einem englischen Dichter durch folgende Verse richtig charakterisiert worden :

Love and enjoyment disappear.

What in the world endured here?

E en should this day in oblivion be rolled

'Twas only a vision that leaves nie cold. Alles in Japan deutet auf dieses Bewußtsein der Vergänglichkeit hin. Man lebt in kleinen hölzernen Häusern, welche jeden Augenblick niederbrennen können. Man macht sich aus irdischen Gütern viel weniger als anderswo. Sie aufzugeben fällt nicht schwer. Als am Beginn der neuen Ära eine große Zentralisierung der Macht stattfand, verzichteten die früheren Standesherren ohne die geringsten Klagen auf ihre Rechte und Güter. Selbst das Rauchen einer klei- nen Pfeife dauert bei dem Japaner nur einige Minuten. Ein Europäer nähme sich gar nicht die Mühe, sie an- zuzünden.

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Die ünpersönlichkeit ist vielleicht noch auffallender. Wo alles Leben und Tote ein Ganzes ist, das in der Heimat, im Kaiser, seine Verwirklichung findet, ist das Individuum nichts. Die Nation ist alles. Die Familie etwas.

Die japanische Rasse ist die am allerwenigsten egoistische der Wth. Um den „Menschen'* in der chinesischen Schrift zu bezeichnen, braucht man zwt'i Striche. Zehn bis zwölf sind nötig für das Wort „ich". Dasselbe ist lang und wird nicht viel gebraucht. Die Begriffe „ich", „Egoismus" werden durch ein Ideo- gramm versinnbildlicht, das eine alleinstehende Seiden- pflanze darstellt. Vom Privatleben der groJaen Männer in Japan weiJs man eigentHch nichts. Das interessiert niemand.

Wenn der Japaner trauert, so legt er Weiß und nicht Schwarz an. Der Tod hat für ihn, wie bereits er- wähnt, keinen Schrecken, und das Exerzierreglement bestimmt bezüglich der Panik, daB dieser Moment bei einer japanischen Truppe immer später als beim Gegner einzutreten hat. Es erwähnt dies als positiven Vorteil

Aus dem Ahnenkultus entwickelte sich dann das Gefühl der Loyalität, welche die Ritter ehedem ihren Lehnsherren schuldeten und welche nun dem kaiser- lichen Hause übertragen wurde. Heute kann man mit Recht sagen, daß die ganze Nation ein Volk von Samurais geworden ist. Kein Wunder, daß mit dieser stoischen Lebensauffassung die größte Bedeutung der Beherrschung des eigenen „Ichs" zukommt. „Seine Gefühle durch den Gesichtsausdruck zeigen" gilt als Schwäche. Sich durch einen Anfall der Wut hinreißeil zu lassen, als Schmach. Dies wird in den Schulen systematisch gelehrt. Kleine Kinder besitzen .diese Maske nicht. Menschen, die unter dem Eindrucke einer

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Leidenschaft stehen Spiel oder Trunk zum Beispiel - , lassen sie fallen. Der Japaner dürfte indessen viel weniger als wir nervös veranlagt sein, was wohl die Er- langung dieser Impassibilität erleichtert. Man mute nur dem tapfersten europäischen Feldherrn zu, seinen Bauch langsam eigenhändig aufzuschlitzen Harakiri soll beweisen, wie rein das Innere ist! , wie General Xogi und seine Frau es vor kurzem noch getan! Ein Euro- päer würde ja längst vor Ende der Operation ohn- mächtig werden. Der Japaner ist gewiß heldenhaft ver- anlagt, er ist es aber meist unbewußt.

,,Alte Tugenden" beseelen ihn wie den Römer. Letzterer war auch unbewußt. Erst dann fing man an darüber zu schreiben, erst dann ward Regulus be- sungen, als die Tugenden faktisch alt, also nicht mehr bestehend waren. Dies erklärt wohl auch am besten den Mangel jeder eigentlichen japanischen Psychologie. Die Tugenden sind eben bei ihm noch lange nicht alt. Wo die Pflicht so einfach und so gebieterisch ist, wo der Mensch so wenig gilt, da wundert sich auch niemand über eine heldenhafte Erfüllung derselben.

Daher ist der Heroismus in Japan gewissermaßen materialisiert worden. Das Volk, das zu so großen Opfern fähig ist, hat nur ein Wort für „Seele, Geist, Herz und Vernunft", Es kennt keine großen Emotionen und haßt abstrakte Begriffe. „Leidenschaft" und „Ver- suchung" auszudrücken, ist für den Japaner, dessen ganze Lebensauffassung auf Stolz beruht, und der, wie selten der Fall, sein tägliches Leben seinem Glauben anpaßt, nur durch Umschreibung möglich. Aber diese Schwierigkeit besteht für die Begriffe der „Pflicht" und des „Patriotismus" nicht, weil diese Begriffe für ihn längst keine abstrakten mehr sind.

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Kapitel VII. Die Mentalität der Gegner. Die Russen.

Homo sum, nihil humanuni a me alienum puto.

Die Reise über Sibirien bot wenig Interessantes, denn das Land war noch völlig mit Schnee und Eis bedeckt. Auch bleibt der Zug leider nirgends lange genug, um auch nur einen flüchtigen Besuch der Ort- schaften zu gestatten. . Wir sahen Irkutsk nur von weitem. Es war eine zu dieser Zeit unendlich traurige Landschaft, besonders nach dem bereits im Frühling blühenden Nippon. Es waren Anzeichen der westlichen Kultur, aber durchweg nur traurige und wenig schöne. Der russische Zug, den wir benutzten, war noch das beste an der ganzen Reise. Trotz vielfachen Abratens hatte ich ihn dem Zuge der Internationalen Schlaf- wagengesellschaft vorgezogen. Ich hatte nicht unrecht. Wir hatten geräumige Coupes, in denen sogar regel- rechte Koffer Platz hatten, und wir aßen statt der ba- nalen Speisewagenkost ausgezeichnete russische Spei- sen. Ein angenehmeres Reisen war überhaupt nicht zu denken, sogar ein Badezimmer gab es. Die zehn Tage nach jMoskau vergingen mit Lektüre und Plaudereien sehr gut.

In der Mitte der Karwoche in Moskau angelangt, erbat ich die Erlaubnis der Botschaft, erst nach Ostern in Petersburg einrücken zu dürfen. Die kirchlichen Feiern im ,,moskowitischfen Rom" waren ergreifend.

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Ist doch Ostern das russische Fest par excellence. Ich erbaute mich an prächtiger Musik und Gesang in der Kathedrale des Heilandes. Schließlich nahm auch diese kleine Ruhepause ihr Ende, und ich fuhr nach St. Petersburg weiter. Ich hatte nämlich den Befehl er- halten, mich direkt dorthin zu begeben. Rußland kannte ich schon von früher her. Jetzt sollte ich dort fast vier Jahre verbringen. Es fehlte mir daher nicht an Ge- legenheit, Land und Leute kennen zu lernen.

Das erste, was einem dort auffällt, ist die Groß- zügigkeit sowohl im physischen wie im moralischen Sinne. Das Reich war enorm, die Entfernungen sehr weit, und alles groß angelegt. Kein Wunder also, wenn in einem solchen natürlichen Raum auch der Mensch großzügig denkt. Die Russen haben ihre Fehler, aber niemand ist weniger kleinlich veranlagt als sie. Das Wort „Schirokaja natura" (breite Natur) ist kein leeres Wort. Nichts wird vom Russen mehr ver- pönt, als für „melotschnji" (kleinlich) zu gelten. Dies merkt man sowohl im sozialen wie im politischen Leben. Man ist den ^Mitmenschen gegenüber nicht streng, sie mögen ihr Wohl finden, wie sie es wollen. Man ist eigentlich, wenn auch nationalistisch, selbst manchmal im schlechten Sinne, nie chauvinistisch gewesen. Man hatte nie ein lästiges Hervorkehren des Russen- tums zu fühlen, wie es anderswo der Fall war. Rußland war ja so groß und so mächtig, daß es gar nicht der Mühe wert erschien, dies immer vor Augen zu führen. Ja, es war ein Weltteil für sich. Man sprach von ..Rossija'' im Gegensatz zu ..Ewropa", damit war der Gegenstand erledigt.

Die Kehrseite ist freilich, daß der Russe nicht nur für Ordnung und ^Methode wenig Sinn hat, sondern diese Eigenschaften als kleinlich direkt haßt. Nirgends

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hat der Sparsinn weniger Verehrer als im ehemaHgen Zarenreich.

Eine andere russische Eigenschaft ist die gai\/ eigenartige Gutmütigkeit. Ich nenne sie eigenartig, mangels eines besseren Ausdrucks, denn nur der Kenner Rußlands wird diese Eigenart zu verstehen vermögen. Er wird meine Beobachtung richtig finden, wenn sie auch besonders schwer zu erklären ist. Es gibt im russischen Volk eine Art fast endemischer Gutmütig- keit, sie ist der natürliche Zustand, nicht eine Ausnahme, wie oft anderswo. Dasselbe W'ort gilt für ,,gut" und „schön*'! In Japan war es für „schön" und ,,rein" der Fall. In Amerika ist „a good man" ein guter Ge- schäftsmann. Die russische Gutmütigkeit hat etwas unendlich Christliches, Mitleidvolles* an sich. Sie ver- zeiht fremde Vergehen, nicht nur, wenn dies bequem ist, aus eigenen Gründen, aber im allgemeinen, weil Ver- zeihen ihr näher liegt, als strenge Moral und strenger Ehrenkodex. Menschliches, Allzumenschliches! Es dürfte auch orientalischer Fatalismus in dieser Seelen- gesinnung, welche Tolstoi so meisterhaft beschrieben hat, zu finden sein. Alle Mißbräuche werden diese Gut- mütigkeit nicht ausrotten.

Obiges gilt natürlich hauptsächlich für die Bauern, die zahlreichste Schicht der russischen Nation. Dieses Element ist das beste, hat auch die besten Eigenschaften, und auf ihm dürfte das neue Rußland schließlich ein lebensfähiges Staatsgebäude aufbauen. Der Bauer ist stark und klug, dabei sehr primitiv, sogar kindlich ver- anlagt. Dies allein hat natürlich schon beigetragen, den

* Der Grieche sagte, um sich zu verabschieden: „Sei froh!", der Römer: „Sei stark 1" Der Russe benutzt dasselbe Zeitwort, welches auch „verzeihen" bedeutet.

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urrussischen gutmütigen Charakter bei ihm zu ent- wickehi.

Nirgends gibt es zwischen den vielen Volks- schichten so viel Unterschiede in sozialer und poli- tischer Hinsicht wie in Rußland.

Man konnte, vom österreichischen Bauer an- fangend, die ganze soziale Leiter hinaufkletternd, in ihm, im Kleinbürger, im Adeligen, im großen Magnaten und sodann selbst im Kaiser eine gewisse Ähnlichkeit des Charakters beobachten. Es bestand eine Art psycho- logischer Kontinuität. Napoleon III. war gleichfalls ein Franzose, der die Eigenschaften seiner Landsleute ver- körperte. Aber welche Ähnlichkeit war zwischen einem einfachen Muschik und dem Zaren aller Reußen zu be- obachten ? Nicht die geringste I

Ein scharfer x\briß trennte im alten Rußland den Hof und dessen Anhängsel: Kirche, Adel, Armee unil Bureaukratie von den liberalen Kreisen der Intelligenz ; ein neuerlicher scharfer Riß trennte dieselben vom Bauer. Wie das Reich nicht durch eine Konsolidierung, sondern durch fortwährende Eroberungen an der Pe- ripherie zusammengestellt war, so war auch die russische Gesellschaft ohne Zusammenhang gebildet. Es waren zwei Mauern, mit losen Steinen aufeinander- ■g^elegt, welche kein Zement befestigte.

Dies hatte natürlich die Geschichte bewirkt. Das urslawische Fundament war ein demokratisches. Auf dasselbe wurde die orthodoxe Lehre gepflanzt. Hierzu kam dann mongolischer Despotismus, den die Mosko- witer Großfürsten sich aneigneten, was die Heimat rettete, und schließlich der von den Kaisern über- nommene preußische Militärbureaukratismus mit leisem französischen Anstrich.

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Das Resultat konnte groß sein ; es mußte ein hybrider Körper bleiben.

Bis zum Weltkriege war das dominierende Element, trotz der ersten Revolution, unzweifelhaft der Zarismus. Stolypin hatte ihn nach blutigem Kampfe wieder- hergestellt. Die Duma mußte gehorchen. Die Parole Nikolaus I. galt immer noch: ,,ein Kaiser, ein Reich, eine Kirche", und der Russe konnte noch immer mit Recht behaupten, daß er, entgegen den anderen Men- schen, aus drei Elementen bestehe : „einem Körper, einer Seele und einem Paß". Man stand unter dem Zeichen der Autokratie. Alles Widerstrebende wurde vernichtet. ]Mitglieder des Reichsrates, welche nicht im Sinne der Regierung stimmten (und Stolypin übte eigentlich die Selbstherrschaft aus), wurden auf ein Jahr ins Ausland geschickt! Ich habe selbst gesehen, wie ein Polizeiagent einen armen Teufel von dem ele- ganten Nevakai in eine Nebengasse vertrieb. Er hatte nichts verschuldet, aber der Kai war für die Hof- gesellschaft da. Seine Lumpen hätten das ästhetische Bild gestört und hätten vielleicht auf Großfürstinnen einen unangenehmen Eindruck gemacht.

An dieser Sache änderte auch der bekannte familiäre Zug nichts, der oft im Verkehr zwischen den verschiedenen Klassen in Rußland zu finden ist und der von dem ursprünglich demokratischen Sinne und der allgemeinen Gutmütigkeit herrührt.

Den scharf abgetrennten Schichten der russischen Bevölkerung entsprechen auch natürlicherweise ver- schiedene Strömungen. Jede Schicht hat ihr Ideal. So waren bis vor dem Weltkriege Anhänger des zaristischen Prinzips zu finden, die die Autokratie über alles andere stellten. Sie lehnten sich an die Kirche, und im Aus- lande an Deutschland und uns an. Dagegen suchten die

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Liberalen verschiedenster, bis zum äußersten gehender Schattierungen in den Westmächten ihr Heil. Zwischen ihnen stand die mächtige Gruppe der Nationalisten, die Nachkömmlinge der Slawophilen. Die äußerste Rechte, die hohe Aristokratie, lieferte die Elemente zur ersten Strömung, die ,,Intelligenza" zur dritten, und die Natio- nalisten rekrutierten sich aus verschiedenen Schichten. Aber die Grenzen waren hier nicht immer genau ge-

zoofen.

Die „Intelligenza" ist bekanntlich der russische Ausdruck für die liberal gesinnten Teile der Gesellschaft. Meist Anhänger der liberalen Berufe, doch auch Adel, Militär, Beamten. Sie neigte nicht selten zum Sozialis- mus, sogar zum Kommunismus. Sie erkannte an, daß der Mujik die Stärke des Landes sein werde und stellte dessen Studium als patriotische Pflicht dar. „Zum Volke gehen" ward ein philosophisches Axiom.

Nicht ohne Recht ! Vieles hätten diese intelligenten Klassen, die ganze Hofgesellschaft einbegriffen, vom Volke lernen können. Unwissend waren alle in ihrer Art, sogar bis zu einem verblüffenden Grade, aber der Mujik war die Verkörperung der praktischen Vernunft. Die Intelligenza war wißbegierig, fand jede Volks- regung „interessant", war gescheit, aber impulsiv, auf- regbar, fiel leicht von einem Extrem in das andere in ihrer Liebe für dogmatische Ideen. In der Gesellschaft herrschten Unruhe und Unstetigkeit. Alan gebrauchte ein Wort, um zu bedeuten, daß man nervös sei „nervnitschatj". Erregt sein „wie die Wellen", „volno- vatsa", war ein natürlicher Zustand geworden. Von diesen Kreisen konnte man m.it Recht behaupten, daß sie , .Frauenseelen in männlichen Körpern" waren.

Dem Bauer war all dies fremd. Die Lehre, die er

12 V. S z i i a s s y . Der Untergang der Donau-.Mona.rchie. j -^

aber nach oben zu geben berufen war, ist indessen bis- her nicht weit gedrungen!

Der Russe ist meist NihiHst oder abergläubisch; beides sind passive Zustände. Man läßt sich in fata- listischer Art von fremden Ideen beeinflussen, da man selbst nichts zu organisieren, zu schaffen vermag. Eine große Negation durchzieht das ganze Leben. Man ist ,, nicht g"ut'' oder „nicht schlecht", der Ausdruck für die reinste Verneinung, „nitschevo^', verneint oft gar nichts, bedeutet oft Gleichgültigkeit, sogar, „daß die Sache nicht zu schlecht ist". Zu dieser Lebensauffassung mag auch das plötzlich v^-echselnde Klima und die lang an- dauernde Kälte beigetragen haben. Jeder ist dann in seinem Pelz verhüllt eine Welt für sich. Die Dunkelheit der Hauptstadt schafft ein Nachtleben, wie es anderswo nicht bekannt. Der Vormittag existiert, in Petrograd wie es nun heißt im Winter eigentlich nicht mehr, oder vielmehr man redet in der Gesellschaft von den Nachmittagsstunden als von ,,der Frühe". Die Begriffe gehen verloren. Eine Fürstin ließ mich um. 3 Uhr in „der Frühe" wegen eines laissez passer stören. Sie war gerade mit dem Souper fertig und dachte eben daran, daß sie dieses Dokument in einigen Tagen brauchen würde.

Mit dieser Leichtlebigkeit und Nachlässigkeit ging natürlich ein schreckliches Elend Hand in Hand. Nirgends habe ich einen solchen Unterschied zwischen Reichtum und Armut bemerkt ; Petrograd hatte viel- leicht dreißig Geschäfte, die als einzige Beschäftigung Blumen aus Nizza lieferten. Auf den Bällen der Aristo- kratie wurden Tausende und Zehntausende von Rubeln für dieselben ausgegeben, und ging man dann nach Hause, so konnte man oft eine Schar Heimatloser be- obachten, die in der bitteren Kälte ihre schlecht ge-

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kleideten Glieder bei einem Straßenfeuer zu erwärmen versuchten.

Der Russe hat aber les qualites de ses defauts. Er ist meist rührend aufrichtig und gesteht seine Fehler mit Naivität, fast mit Genugtuung ein. Nichts ist irriger, als den Russen zum falschen Menschen stempeln zu wollen. Dies kann eher vielleicht für andere Elemente des vormaligen Reichs gelten. Für den wirklichen Russen keinesfalls. Es gehört vielmehr Aufrichtigkeit zur ganzen russischen Lebensauffassung. Dem Russen sind Zwang und falsche Lagen unerträglich. In der Petrograder Gesellschaft endeten vielfach die dort wie anderswo üblichen Liebesverhältnisse in zweite Ehen, meist glücklicher als die ersten. Das Joch des geheimen Verhältnisses wurde lieber abgeschüttelt!

Die ganze Lebensweise, Leichtlebigkeit und Leicht- sinn erinnerte oft an Österreich-Ungarn, Dies galt auch für das Landleben. Es waren viele ähnliche Züge, imd wir wären dazu bestimmt gewesen, uns zu verstehen. Hingegen trennt das russische Wesen ein Abgrund von norddeutscher Zucht und Ordnung. j\Iit dem Deut- schen hatte der Russe meist nur die so überall ver- breitete L'niform gemeinsam. Was darunter steckte, war schon wesentlich anders.

Noch weiter steht natürlich der Abgrund zwischen der russischen Seele und der amerikanischen Vernunft, Ich hatte einmal eine recht bezeichnende Illustration davon. Ein hochbegabter amerikanischer Freund studierte die russische Literatur. Aber trotzdem er diese Studien durchweg auf Übersetzungen be- schränkte, kam er nicht vom Fleck, Die zuweilen mystische, zuweilen nihilistische ^Mentalität der rus- sischen Schriftsteller blieb ihm ein versiegeltes Buch. Er bat mich um Aufklärung. Ich riet ihm, das bekannte

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Werk V'ogues über den russischen Roman zu lesen. Er gab mir nachher zu, daß diese Lektüre ihm faktisch sehr gehoh'en habe.

Doch genug an dieser so interessanten wie koni- pHzierten russischen Psychologie, die den Gegenstand vieler geistreicher Werke gebildet hat. Ich wollte ihn nur streifen, um das Milieu, in welchem wir uns nun befinden, vom philosophischen Standpunkte aus etwas zu beleuchten.

Vom politischen Standpunkte betrachtet, waren wir, als ich in Petrograd ankam, unter dem Zeichen der er- loschenen österreichisch-ungarischen und der angehen- den englischen Entente. Immer ein böser Moment für den verlassenen Freund.

Unsere Entente mit Rußland währte ungefähr zehn Jahre, von 1897 ^^^^ 1908, und hatte ihren Höhe- punkt in Mürzsteg erreicht. Zur Zeit des russisch- japanischen Krieges wurde sogar, anknüpfend an ein Gespräch, in dem der damalige k. und k. Militärattache Kaiser Nikolaus versichert hatte, daß Rußland seine Front gegen uns nicht zu schützen brauche, eine förm- liche geheime Neutralitätserklärung zwischen beiden Ländern geschlossen. Diese, der deutschen Regierung mitgeteilte Vereinbarung verpflichtete jeden Kontra- henten zur Neutralität im Falle des Überfalls des andern seitens eines Dritten. Wir dachten dabei an Italien, von dem angenommen wurde, daß es im Falle eines Kon- fliktes mit der Monarchie die Kooperation des Zaren- reiches anrufen könnte. Die Annexion Bosniens fegte dies alles weg und machte unserer Entente ein Ende. Das geflügelte Wort übersiedelte ins andere Lager, und die Tripelentente gab uns dann schließlich den Todes- stoß.

Mit unserer Entente mit Rußland war es übrigens,

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seit Iswolsky und Ährenthal regierten, schlecht bestellt. Der erstere kokettierte bereits seit geraumer Zeit mit England. Dies kam nicht nur in der mazedonischen Frage, sondern in 'der allgemeinen Politik zur Geltung. Ein solches Verhalten aber machte unsere Entente, welche uns von Deutschland unabhängig halten sollte, infolge der deutsch-englischen Beziehungen ganz illu- sorisch. Dies verbitterte Ährenthal nicht wenig.

Indessen gab er sein Vorhaben nicht auf. der Monarchie überall und vornehmlich am Balkan Geltung zu verschaffen. So verkündete er im Frühjahr 1908 die Absicht ein uns vertraglich längst zugestandenes Recht , die Sandschakbahn auszubauen, um uns aus unserer wirtschaftlichen Isoliertheit herauszuführen. Dies erregte die Geister in Serbien und somit auch in Rußland. Iswolsky bezeichnete den Augenblick als sehr schlecht gewählt. Dann kam im Herbst die Annexion Bosniens und der Herzegowina.

Was diese übrigens anbelangt, so war sie allerdings prinzipiell Rußland gegenüber wenigstens begründet. Rußland hatte bereits in den Jahren 1877 und 1878 im Berliner Protokoll und in der Budapester Konvention hierzu seine Einwilligung gegeben. Es war aber nur eine prinzipielle. Praktisch wurde die Angelegenheit erst einige Wochen vor der Annexion selbst in Buchlau geregelt.

Diese Entrevue war ein unheimlicher Zwischenfall in den beiderseitigen Beziehungen. Beide Teile beriefen sich später auf dieselbe, um ihr Verhalten zu recht- fertigen, und jede behauptete, dafs die Version der an- deren über das dort Vorgefallene eitel Lug und Trug sei. Nur die beiden Minister des Äußern nahmen an der- selben teil. Schriftliche Aufzeichnungen wurden nicht gemacht. Das Geschäft war klar: Bosnien für die Dar-

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dancllen! Dies wurde auch von keiner Seite geleugnet, aber während Ährenthal behauptete, daß sein Kollege die Annexion Bosniens rückhaltlos zugegeben habe, stellte dies Iswolsk}- völlig in Abrede.' Er meinte immer, daß er hierin nur vorbehaltlich der Genehmigung aller Großmächte eingewilligt habe, auch habe er die Aus- führung nicht für dringend bevorstehend gehalten und hätte Zeit zur Vorbereitung der öffentlichen Meinung gewünscht. Das war um so bitterer, nachdem der russische Staatsmann um die bekannte Gegenleistung, die Eröfl'nung der Dardanellen, in London und Paris vergebens nachsuchte.

Was übrigens die Koinzidenz zwischen der Annexion Bosniens und derjenigen Ostrumeliens anbe- langt, so erwähne ich vorübergehend, daß Graf Ähren- thal am Vorabend seines Unternehmens dem damaligen Fürsten von Bulgarien dasselbe als mögliche Even- tualität in Budapest mitteilte, beifügend, daß er „es natürlich finden würde, wenn auch der Fürst dasselbe bezüglich seiner südlichen Provinz tun würde". Hierbei wollte er offenbar Bulgarien für uns in einer eventuellen Verwicklung auf dem Balkan gewinnen.

Von meinem langen Petrograder Aufenthalt habe ich einen beträchtlichen Teil als Geschäftsträger zuge- bracht. Gleich nach meiner Ankunft ging der damalige Botschafter Graf Berchthold auf Urlaub. Über diesen Staatsmann, dem die Vorsehung eine so traurige Rolle in der Weltgeschichte beschieden hat. wird am ge- bührenden Platz näher die Rede sein. Hier will ich nur bemerken, daß Graf Ährenthal ihn wohl „pour dorer la pilule" nach Rußland entsendet hatte. Die Annexion Bosniens sollte durchgeführt werden, und der schlaue Minister des Äußern suchte sich zum Übermittler der diesbezüglichen üblen Messagen einen Grandseigneur

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aus, dessen ScTiarme alles fesselte und dessen Feste der russischen Aristokratie die politische Rolle des Wiener Auswärtigen Amtes vergessen machen sollte. Ahren- thal dachte vielleicht auch, daß dieser -Mann, dessen ganz naives, fast kindliches Auftreten einen im hohen Grade unschuldigen Eindruck hervorrief, den russischen Staatsmännern viel weniger ein Dorn im Auge sein würde, als wenn man einen echten Beamten mit der Durchführung dieser „schmutzigen" Arbeit betrauen würde. Hierin hatte der Minister nicht ganz unrecht, denn in der Tat erfreute sich Berchthold in Petrograd einer großen persönlichen Popularität. Selbst dann noch, als die Monarchie geradezu verpönt war und wir an der Newa als die verkörperte Falschheit und Hinter- list galten.

Ich konnte mich bald überzeugen, daß die Annexion ohne praktischen Nutzen war, daß sie die Türkei momentan und die Serben dauernd gereizt hatte, und daß sie in Petrograd eine wahre Verbitterung hervor- rief. Denn einerseits schädigte die erhttene diplo- matische Niederlage die Autorität der Regierung der Duma und der Öffentlichkeit gegenüber, und zweitens, da man in maßgebenden Kreisen die Notwendigkeit und viel weniger die Dringlichkeit dieser IMaßnahme nicht einsehen konnte, so wurde allgemein angenommen, daß es sich um den ersten Schritt einer aggressiven öster- reichisch-ungarischen Balkanpolitik handele. Dies konnte der russischen Diplomatie, die sich eben von Ost- asien „zur Rückkehr nach Europa" anschickte, am aller- wenigsten passen. Von jenem Momente an verlor man in Petrograd jedes Vertrauen zu uns und namentlich zu unserer Aufrichtigkeit.

Während meines ganzen Aufenthaltes in Rußland dauerte dieses Mißtrauen an, allerdings mit verschiede-

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neu Graden der Intensität. Es war gerade so wie in Wien, wie ich mich später überzeugen konnte. Ich machte es natürlich zu meiner Aufgabe, dieses Mii^- trauen zu zerstreuen oder wenigstens zu vermindern eine Aufgabe, die angesichts der Schwankungen unserer PoHtik und der Gefühle, die man in Österreich-Ungarn heg-te, keine leichte war. Und da war es natürlich von allererster Wichtigkeit, die beiderseitigen Mii3verständ- nisse zu beseitigen, bevor sie gefährliche Folgen hatten.

Ich glaube persönlich wenigstens das Vertrauen der russischen Machthaber gewonnen zu haben, wobei die russische Großzügigkeit mir gewiß zugute kam.

Trotz der fast durchweg krisenhaften Atmosphäre hatte ich mit den russischen Staatsmännern, mit dem ermordeten Stolypin sowie mit dem Grafen Kokovzow und namentlich dem Herrn Sazonow die allerangenehm- sten Beziehungen. Alle diese Herren merkten wohl bald, daß ich für Rußland Sympathien hegte und in einer Vereinbarung mit Rußland die beste Sicherung für den Weltfrieden erblickte und dann, daß ich ihnen gegen- über mich immer vollständig loyal verhielt. Sie schenk- ten mir daher ihr Vertrauen in einem !\Iaße, das ange- sichts der diplomatischen Lage nicht zu erwarten war.

Ich kann mir an dieser Stelle das A^ergnügen nicht versagen, eines rührenden Beweises des Vertrauens zu gedenken, den mir Herr Sazonow einmal gab , obzwar diese Episode in einen späteren Zeitraum fällt, wo er bereits Minister war. Wir hatten beide mit unglaub- lichen Bemühungen unsere politischen Beziehungen etwas gebessert, was unseren beiderseitigenVerbündeten nicht immer gefiel. Ein bekannter Diplomat der Tripel- entente verwickelte mich nun diesbezüglich in ein Ge- spräch. Natürlich war die Sache sehr heikel, und ich hatte allen Grund (da ich den betreffenden Herrn gut

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kannte), zu befürchten, daß er meine Worte falsch wiedergeben würde, um gegen die Annäherung zu intri- gieren. Ich ging daher zu Sazonow, und ohne den Be- treffenden zu nennen, erzählte ich ihm die Konver- sation. Ich hatte die Genugtuung, vom Minister, trotz der politischen Situation, die Antwort zu erhalten: ,,Eh bien, dans tous les cas, je vous croirai, Vous, et pas ce, Monsieur!"

Ein andermal, gleich nachdem Sazonow (kurz nach meiner Ankunft in Petrograd) zum Adjoint ernannt wurde, beklagte er sich mir gegenüber, daß er keine zuverlässigen Nachrichten über Japan erhalte und fragte mich, da ich von dort kam, ob ich denn an die angeb- lich aggressiven Absichten desselben gegen Rußland glaube. Diese Offenheit stieß bei mir jedes diplo- matische Bedenken beiseite, und ich verneinte energisch solche Absichten, wie es meine Überzeugung war. Einige Tage darauf erhielt ich aus Wien den Auftrag, die in der Presse zirkulierenden Nachrichten über den Abschluß eines geheimen Vertrages zwischen der Monarchie und Japan n i c h t zu dementieren. Ich hätte also, wie es sich herausstellte, auch ,, diplomatisch" nicht besser sprechen können.

Ich war übrigens in meiner langen Praxis des öfte- ren absichtlich nicht Diplomat. Einmal erfuhr ich von einem bevorstehenden geschichtlichen Ereignis. Ich war überzeugt, daß eine, wenn auch vertrauliche Divul- gation desselben, meine Quelle, eine Dame, kompro- mittieren würde. Ich schwieg zwei Jahre lang, und als ich es dann wegen der veränderten Verhältnisse mit näheren Details melden konnte, machte die Sache auch einen ganz anderen Eindruck. Denn das bewußte Er- eignis erfolgte einige Wochen darauf!

Als Graf Berchthold, den ich als angenehmsten

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Chef kennengelernt hatte, und in dessen Famihenkreis ich die allerliebenswürdigste Aufnahme fand, auf Urlaub ging, war Herr Iswolsky gleichfalls abwesend. Er wurde durch Tscharykow vertreten, den ich von frühei* her gut kannte und als einen sehr klugen, ambitionierten, aller- dings sehr slawophilen ]\lann kennengelernt hatte. Die politischen Beziehungen waren eiskalt. Iswolsky hatte es so gewollt, und wegen einer von uns angeblich be- gangenen Indiskretion den Verkehr auf den rein offi- ziellen reduziert. Man schrieb sich in der dritten Per- son, vertrauliche Gespräche und Mitteilungen wurden abgeschafft. Dies blieb, aber es blieb noch glücklicher- weise der rein private Verkehr, und dieser war mit Herrn Tscharykow sehr angenehm und schloß sogar Einladung'en nicht aus.

Die Annexion war allerdings vollzogen, es blieben aber noch einige Formalitäten zu erledigen. Nament- lich hatte ich meine Unterschrift auf das Schriftstück zu setzen, das Montenegro von seinen bekannten lästigen Einschränkungen endlich befreite.

Ich ging fieiisig in die Welt, und sogar in den hoch- vornehmen Jachtklub, obzwar ich niemals ein Klub- mensch gewesen bin. Der Wert dieses Klubbesuches war übrigens vom politischen Standpunkte sehr relativ. Es verkehrten dort wenig Staatsmänner, sondern haupt- sächlich einige Großfürsten, Hochwürdenträger und Generale. Die Großfürsten spielten zu dieser Zeit keine politische Rolle mehr. Sie hatten nach dem japanischen Feldzuge meist ausgespielt. Es war aber immerhin interessant, sie kennen zu lernen, und sie be- handelten einen durchweg mit der größten Liebens- würdigkeit, manche, wie Nikolaus Michailowitsch, legten sogar sehr ungezwungene Allüren an den Tag. Dieser sehr demokratisch gesinnte Großfürst, ein eminenter

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Historiker und Kunstliebliaber, halte seine Gesinnung schon während der ersten Revolution kundgegeben. Man nannte ihn PhiHppe Egahte. Ein anderer Groß- fürst, den ich oft traf, war Sergei, der Großmeister der Artillerie. Auch freute ich mich, dort meinen alten Freund, Prinzen Arsen Karageorgewitsch, den Bruder des Serbenkönigs, wieder zu treffen. Ich hatte diesen von Energie strotzenden Mann das letztemal schwer- krank gesehen ; nun war er wieder ganz hergestellt. Er war Oberst im russischen Dienste und hatte am japani- schen Feldzug mit Auszeichnung teilgenommen.

Wie merkwürdig es auch erscheinen mag, die Pe- trograder Salons boten mehr politisches Interesse als der Klub, blanche russische Dame übte einen nicht zu leugnenden Einfluß auf den Lauf der Ereignisse aus. Der britische Botschafter Sir Arthur Nicholson, mit dem ich übrigens immer die besten persönlichen Be- ziehungen unterhielt, wußte dies genau. Dieser schlaue Diplomat vernachlässigte die Salons nicht, und es gelang ihm, sich in mancher russischen ..Grande Dame" eine wertvolle Mitarbeiterin für seine Ententepropaganda zu sichern. Tatsächlich spielten die Salons eine poli- tische Rolle, wie es anderswo im zwanzigsten Jahrhun- dert nicht m.ehr der Fall war.

Unter diesen Damen wäre an erster Stelle die Gräfin Kleinmichael zu nennen, die allwöchentlich in ihrem großen Palais Empfänge hielt, wo sich das „Tout Petersbourg'' einzufinden pflegte. Das diplomatische Korps war für immer eingeladen, und die Dame wurde „die Mutter der Diplomaten" genannt. Sie äußerte selten prononcierte Ansichten, war aber jedenfalls keine Freundin der Entente. Ihre Traditionen ließen sie eher zur extremen Rechten hinneigen.

Die Fürstinnen Orlow. Bieloselsky und Schahowskoi

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waren indessen prononciert cntenteophil. Die Fürstin Bieloselsky war eine Amerikanerin. Nicht die einzige übrigens in der hohen Petrograder Welt, und diese emp- fanden alle englisch. Die Fürstin Schahowskoi war außerdem eine ganz besonders kluge Frau, und ich habe die allerangenehmsten Erinnerungen von den in ihrem Heim verbrachten anregenden Stunden.

In der Welt konnte ich überall eine große Er- bitterung gegen Ährenthal konstatieren. Er hatte be- kanntlich fast seine ganze Karriere in Rußland gemacht und dort sogar zarte Bande angeknüpft. Man war ge- wohnt, ihn als „un des leurs" zu betrachten. Die Ent- täuschung war nun groß. Man sagte mir, „wir sind viel zu gut mit dem Fremden", oder ,, Ährenthal wurde zu gut behandelt ; und so hat er uns zu gut erkannt"'. Und sogar ein Staatsminister sagte mir einmal von ihm, „ja, er ist ein Feind, aber ein Feind, den ich schätzen muß". Dies war nun eine grundfalsche Auf- fassung, denn Ährenthal hegte für Rußland immer warme Sympathien. Er war allerdings nicht der Mann, sich durch persönliche Sympathien in seiner Tätigkeit beeinflussen zu lassen.

Die Russen sind aber naiv-sentimental. Sie hatten das Gefühl, daß Ährenthal ihnen geschadet hatte, und das genügte. Es war nicht das Auflehnen des Eng- länders gegen einen Vertragsbruch, es Avar viel ein- facher: man hatte ihnen weh getan. Dies erklärt auch, warum die Verbitterung bis in weite Schichten des russischen Volkes drang, die sich sonst für europäische Politik nicht im geringsten interessierten.

Zu dieser Zeit machte ich auch die Bekanntschaft des Ministerpräsidenten Herrn Stolypin, und ich muß gestehen, daß ich selten eine interessantere, männ- lichere Figur gesehen habe. Die noch junge Gestalt

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atmete Stärke, die Züge waren von einer bei Slawen seltenen Energie, die Augen blickten klug, aber weh- mütig in die Welt hinein. Attentate auf Attentate wur- den gegen ihn von der schlummernden Revolution ge- plant, und es war kein Leichtes, durch die verschiedenen Polizeikordons zu ihm zu gelangen. Er war eigentlich der Herrscher Rußlands. Er hatte die Revolution nie- dergerungen und den Thron gerettet. Er übte viel- fach an Stelle des Zaren die herrschende Gewalt aus. Er hatte viel Wasser in seinen liberalen Wein getan und ließ sich ganz gern nach rechts treiben. Oberflächliche Diplomaten sprachen dann von einem Konflikt zwischen ihm und der Krone und von seiner Niederlage. Es war für Rußland ein Unglück, daß er nach Niederrin- gung der Revolution sich der Reaktion hingab, statt die liberale Evolution zu leiten. Es war die einzige Ge- legenheit, das Zarenreich ohne Konvulsionen ins moderne liberale Geleis zu bringen, und nur er hatte die Kraft dazu. Bombenattentate, wobei eine liebe Tochter schweren Schaden davontrug, verstimmten ihn natürlicherweise ganz gewaltig. Eine bedeutende historische Figur, dabei von rührender Einfachheit. Er war die Liebenswürdigkeit selbst und konnte einen Bot- schaftsrat anhören, als ob es sich um einen Großfürsten handelte. Seine Frau und die Frau Sazonow, zwei Schwestern, erwiesen mir immer, wie bewölkt auch der politische Horizont war, die freundlichste Aufnahme.

Im Sommer nahm ich einen langen Urlaub und konnte meine Verwandten nach anderthalbjähriger Ab- wesenheit wiedersehen.

Ich kehrte zur Kaiserfeier am 18. August zurück, denn an diesem Tage wurde immer bei Hofe ein großes Diner uns zu Ehren gegeben. Es war dies eine alte Tradition zwischen den Höfen von \\'ien, Berlin und Pe-

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trograd, und die politische Mißstimmung änderte daran nichts. Der Zar trank wie alljährlich auf das Wohl Kaiser Franz Josephs. Das Fest wurde mit großem Prunk im schönen Schloß zu Peterhof abgehalten, das nach Versaillcr Muster erbaut war. Der Kaiser, dem ich bei dieser Gelegenheit vorgestellt wurde, machte mir vor allem einen besonders gütigen Eindruck. Er war kleinen Wuchses, aber lebhaft und unterhielt sich mit mir m anregendster Weise. Die Kaiserin sprach ich damals zum ersten und letzten Male. Eine wunder- schöne, große Erscheinung, wie eine germanische Göttin, aber mit einem unsäglich traurigen, fast tragischen r>lick in ihren schönen Augen. Allerdings zitterte die hohe Dame für die Sicherheit ihrer Kinder. Der Flof in Zarskoje Selo war von der Welt durch Militärkordons abgesondert. Niemals fuhr die kaiser- liche Familie (mit Ausnahme einiger geheimen Ausflüge des Zaren) in die Stadt. Man lebte wie in der Ver- bannung.

Die Feier verlief sehr würdevoll, und weder das Herrscherpaar noch dessen Umgebung verrieten mit einer Silbe, daß die Beziehungen zwischen den Ländern nicht mehr so waren wie ehedem.

Gleich darauf ging Graf Berchthold wieder auf Urlaub, und ich hatte die Botschaft bis Ende des Jahres zu leiten.

Der Herbst ist in Petrograd eine besonders trübe Jahreszeit, und alles flüchtet, wer kann. Ich hatte aber wahrlich keine ,,saison morte", wenigstens politisch nicht, zu beklagen.

Es hatte zunächst die sensationelle Zusammenkunft zwischen dem Finanzminister Graf Kokovzow und dem Fürsten Ito in Harbin stattgefunden, wobei letzterer ermordet wurde. Graf Kokovzow war einer der

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ersten Finanzköpfe und einer der begabtesten russischen Staatsmänner. Er kannte keinen Chauvinismus, und man konnte sich mit ihm in anregendster Weise unter- haken. Er neigte, ich glaube inncrhch, sehr den kon- servativen Prinzipien zu.

Er erzähhe mir nun seine Version der Angelegen- heit, und ich bin überzeugt, daß dieselbe der Wahrheit entsprach. Er weilte in Ostsibirien, um eine Inspektion seines Ressorts vorzunehmen, als er vom japanischen Residenten in Seoul, dem bekannten Fürsten Ito, eine Einladung zu einer Entrevue in Harbin erhielt. Da die Petrograder Regierung die Sache genehmigte, reiste er dorthin und hatte mit dem japanischen Staatsmann eine nur eine \'iertelstunde währende Unterredung, aus der er den Wunsch nach einer Annäherung herauszu- hören glaubte. Der Dolch eines koreanischen ^lörders machte der Entrevue ein Ende.

Die Nachricht der Entrevue machte in den Petro- grader Kreisen, wo man immer japanische Aggressionen witterte ja, ich mußte den deutschen Botschafter stets hierüber beruhigen , großen Eindruck. Ich war aber nicht erstaunt. ]\Iir war es klar, daß Japan die Entente mit Rußland ä tout prix wollte und sogar das „Nachlaufen'" zu diesem Zwecke nicht scheute. Als ich einige Tage vor der Zusammenkunft den japanischen Botschafter hierüber interpellierte, erhielt ich die Ant- wort: ,,Ja, Fürst Ito will eine kleine Erholungsreise vornehmen." ..Ah," erwiderte ich, „es freut mich, dies zu hören, denn ich kenne diese schreckliche Gegend, und wenn der Fürst dort hinreisen kann, so muß sein Zu- stand sich schon gebessert haben."

An Stelle Herrn Tscharykows fand ich bei meiner Rückkehr als Adjoint des Ministers des Äußern Herrn Sazonow, den Schwager Stolypins. früheren Gesandten

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in Rom, vor, mit dem ich, wie gesagt, immer die besten Beziehungen unterhielt. Ja, ich kann sie freundschaft- Hch nennen. Darin machte die PoHtik keine Änderung, wir begegneten uns immer mit Vertrauen und Sym- pathie. Er war ein sehr gescheiter, interessanter Mann, mit klarem Kopfe. Ein überzeugter Orthodoxe, jedoch mit liberalen Ansichten. Er war fest entschlossen, eine rein russische Politik zu treiben, ohne Rücksicht auf Sympathien und Antipathien. Leider ließ er sich oft durch die öffentliche Meinung beeinflussen und verstand es nicht genug, gefährlichen Strömungen entgegenzu- treten. Nicht besser als in Wien, Da ich später das Russische erlernte, las er mir oft Originaldokumente vor, was von großem Interesse war. Er war eine hagere, magere Gestalt, doch eine ungeheure Arbeits- kraft.

Ich habe im Verlaufe der vielen Jahre mit Sazonow die interessantesten Gespräche gehabt. Er blieb immer die Diskretion selbst. Überhaupt habe ich vieles von meinem diplomatischen Verkehr mit russischen Staats- männern des Kalibers Stolypin, Sazonow oder Kokov- zow gelernt. Es war eine glänzende diplomatische Schule, und sobald das Terrain als „vertraulich" abge- steckt war, konnte man seinen Ideen ohne jede Gefahr freien Lauf lassen. Wir haben ja mit Sazonow „aka- demisch" die Balkanhalbinsel geteilt und alle Welt- fragen besprochen.

Ganz anders war sein Chef, der bekannte Herr Iswolsky, den ich erst zu dieser Zeit kennenlernte.

Seine Erscheinung war selbstbewuist, doch weder imponierend noch wirklich vornehm. Er mußte mit dem arrogant fixierten Monokel nur Schwächlichen impo- nieren. Er war begabt, aber phantastisch ver- anlagt, machte rasch Karriere und hatte keinen

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esprit de suite in seinen Gedanken. War Herr Sazonow durch politische Ambitionen bester Art geleitet, so spielte bei Iswolsky krankhafte Eitelkeit die Hauptrolle. Er war au-ßerdem der Hofhuld nicht abhold, und Eng- land hatte ihn zu gewinnen verstanden. Sein Groll gegen Ährenthal, der, wie er behauptete, ihn betrogen habe, war für ihn politisches Leitmotiv.

Er reiste im Sommer nach Deutschland, und war naiv genug zu hoffen, daß die Berliner Regierung ihm zuliebe sich von uns abwenden würde. Er inspirierte dann die Zusammen kiuift des Zaren mit dem König von Italien in Racconigi, wo jedenfalls kaum austro- phile Worte fielen, und führte seinen kaiserlichen Herrn von der Krim, wo er sich befand, nach Kiew, War- schau, Frankfurt a. M., Paris, M. Cenis, um den für ihn „verpesteten Boden der Monarchie" und angebliche anarchistische Gefahren in der Schweiz zu vermeiden. Diese Rundreise um Österreich-Ungarn hatte wenig Sinn, nachdem der Zar den i8. August feierlich began- gen hatte. Sie sollte in Wien Ärgernis erregen, was leider auch gelang. Man hätte nur darüber lächeln sollen.

Bald nach seiner Rückkehr nach Petrograd ließ mich Herr Iswolsky, den ich kaum kannte, kommen. Mit einer stolzen Geste wies er mir einen Platz an und be- merkte als Einleitung: „Je vous ai fait venir, Mr. le Charge d'AfTaires, pour vous causer de nos deplorable relations", und nun fing eine lange Tirade gegen Ährenthal an. Da ich genug wußte, daß es den Re- gierungen immer bequem ist, die beiderseitige Schuld auf einen „imbecile de charge d'affairs" zu wälzen, schwieg ich und ließ meinen Mitredner fortfahren. Er glaubte genügend Eindruck gemacht zu haben, ja, mich sogar vielleicht eingeschüchtert zu haben, denn er ver- stieg sich zu immer gröberen Invektiven gegen meinen

13 V. S 2 i 1 a 8 s y , Der Untergane der Donau-Monarchie. I^ß

Chef, und schrie endHch vor Wut : „non, le Baron d'Äh- renthal n'est pas un gentilhomme". Dies war für den dummen Geschäftsträger gerade genug, um den mächti- gen russischen Minister des Äußern zu packen. Ich stand auf und sagte mit harter Stimme: „Je dois vous prier d'employer des termes plus parlementaires." Wie vom Bhtz getroffen, sank der stolze Mann in seinen Fauteuil zurück, und als ich mich empfahl, konnte er nur vor- wurfsvoll fragen: „pourquoi je ne voulais pas causer avec lui". Ich entgegnete trocken, ich wundere mich, daß er mich holen ließ, um ein Gespräch zu führen, das ich nicht anhören konnte.

Meine Sekretäre waren entsetzt und wollten sofort telegraphieren. Ich widersetzte mich und ging trotz ihrer Bitten am nächsten Tage zu Sazonow, Ich kannte die Menschen und wußte, daß er ein Gentleman sei. Er mißbilligte vollständig das Verhalten seines Chefs und sagte mir: ,,Vous avez tres bien fait de ne pas prendre au serieux ce que vous ä dit Mr. Iswolsky." Dann telegraphierte ich erst nach Wien.

Die Angelegenheit, die diesen Wutausbruch Is- wolskys (mit welchem ich von nun an übrigens ganz gut auskam) provoziert hatte, war einer jener banalen unsinnigen Inzidenzfälle, welche für die altmodische Diplomatie, die wegen persönlicher Eitelkeit und Prestigefragen Länder in Kriege zu stürzen sich nicht scheute, typisch waren. Sie hatte lange, langwierige und fast kritische Folgen; doch will ich derselben, ihrem inneren Werte entsprechend, bloß ganz kurz hier gedenken.

Als Nachklang zur Annexion wütete damals zwischen Österreich-Ungarn und Rußland eine wüste Pressekampagne, der die Regierungen leider nicht immer fernstanden.

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Iswolsky hatte einen englischen Revueartikel in- spiriert, der Ährenthal wegen seiner in Buchlau an- geblich begangenen Perfidie heftig angriff. Die Antwort blieb nicht aus. Unser Minister ließ vom Journalisten Dillon eine ,, Altera pars" betitelte Entgegnung in der Fortnightly Review erscheinen. Die Buchlauer Entrc- vue wurde darin besprochen und nebenbei eine an- geblich russische Note des Sommers 1908 erwähnt, in der Herr Iswolsky uns Bosnien förmlich angetragen hätte (dies war ganz falsch, denn es hatte nur eine ver- trauliche Korrespondenz ganz allgemeiner Natur statt- gefunden).

Nun hatte Ährenthal dem Dillon, der sich nach Buchlau zum Besuche des Schauplatzes begeben sollte, gesagt, er solle den Hausherrn, den Grafen Berchthold, um das Datum des betreffenden Dokumentes ersuchen. Berchthold aber, in Verlegenheit geraten, nannte, ohne die Tragweite dieser diplomatischen Taquinerie zu er- wägen, seinem Mitredner das Datum irgendeiner diesen Gegenstand betreffenden Note, welche aber natürlich Bosnien nicht antrug.

Man denke sich die Wut des empfindlichen Mi- nisters sowohl gegen seinen Wiener Kollegen als gegen den auf Urlaub weilenden Botschafter. Ich mußte das Wiener Kabinett hierauf aufmerksam machen, und es entwickelte sich dann eine merkwürdige Korrespondenz über die Opportunität der Wiederkehr des Grafen Berchthold. Diese Briefe abzuschreiben, wollte ich meinem Kollegen nicht anvertrauen. Dies besorgte die diskrete Feder meiner Schwester.

Doch brachte auch ein Briefwechsel zwischen Is- wolsky und Berchthold keine zufriedenstellende Lö- sung. Der Minister war der Meinung, daß der Bot- schafter sich in einer Weise vergangen, welche mit

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seiner Stellung unvereinbar war. Er verlangte eine Erklärung, daß der englische Journalist die Gastfreunti- schaft des Grafen mißbraucht habe. Dies konnte man nicht erklären, und Berchthold begnügte sich, seine persönliche Loyalität zu bestätigen.

Ende des Jahres kehrte der Botschafter nach Petrograd zurück, und von da ab macht« sich eine auf- fallende Kälte in den Beziehungen bemerkbar. Die Lage war ganz unhaltbar, obzwar Iswolsky, in der Erkenntnis, daß es sich seitens Berchtholds nur um eine leichtsinnige Äußerung handeln konnte, bald auf jede persönliche Erklärung verzichtete. So weit hatte ihn Sazonow, mit dem ich stundenlang konferierte, gebracht. Er wollte dann wenigstens ein sachliches Dementi, ,,daß Rußland uns Bosnien nie an- getragen habe". Schließlich nahm er auch davon Ab- stand, da Ährenthal auch hierzu nicht zu bewegen war.

Ich vereinbarte nun mit Sazonow die erste Unter- redung zwischen dem Minister und dem Botschafter seit vielen Wochen. Sie sollte, um zu vermeiden, daß sie in eine Beschimpfung des bis zur Schüchternheit milden Berchthold durch den heftigen Iswolsky aus- arte, nur aus dem Austausche allgemeiner Liebens- würdigkeiten bestehen. Iswolsky ließ es sich zwar nicht, nehmen, einige Worte „über dieses leichtsinnige Ver- halten eines Botschafters" zu sagen, erklärte aber dann dem Grafen, daß kleine persönliche Eitelkeiten ihm fernlägen und er wolle einen Stein auf die Vergangen- heit werfen und lieber die Erneuerung der alten Entente anregen.

Die Sache schien anfangs hoffnungsvoll, doch die Punkte, über die Wien und Petrograd einig waren, wurden immer weniger und beschränkten sich schließ- lich auf die Erhaltung des Status quo am Balkan. Dann

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wollte Iswolsky immer alles den Mächten mitteilen, und Ährenthal empfand dies, als ob man ihn vor ein euro- päisches Gericht zitieren würde, eine Sache, von der er bereits zur Zeit der Annexion nichts hören wollte.

Es traten Stockungen in den Verhandlungen ein, und endlich publizierte eines Tages das Wiener Ka- binett eine einseitige Erklärung des Inhaltes, daß die normalen Beziehungen zum Zarenreich wieder her- gestellt seien, und daß man bezüglich der Erhaltung des Status quo völlig einig sei. Hierauf veröffentlichte Iswolsky die ganze, mit seinem Wiener Geschäftsträger geführte Korrespondenz. Das eine Stück war eine De- pesche, die die erste Entrevue mit Berchthold beschrieb. Sie erwähnte, daß der Botschafter eine Berichtigung an- getragen, welche aber er, der Minister, in großmütiger Art abgelehnt habe, um die Erneuerung der Entente anzuregen. Der Botschafter „avait paru vivement im- pressionne par mes paroles".

Diese Depesche hatte Iswolsky merkwürdiger- weise Berchthold vorgelesen, der sich jeder Äußerung enthielt.

So hatte auch der russische Minister seinen Prestigeerfolg. Solche Intermezzi wenn auch nur durch diese die normalen Beziehungen faktisch her- gestellt wurden konnten natürlich zur Herzlichkeit und zum Vertrauen nicht beitragen. Noch weniger war dies später der Fall, anläßlich der xA.f faire, die den beider- seitigen Militärattaches in Wien und Petrograd zustieß und welche in der Abberufung beider endete. Allerdings war da ein großer Unterschied. Unser Militärattache hatte nichts anderes verbrochen, als sich frühzeitig einen gedruckten parlamentarischen Bericht zu verschaffen, während sein WHener Kollege regel-

rechte Bestechungen im hohen Stile betrieben hatte.

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Die Differenz mit Iswolsky war für Berchthold natürlich sehr peinlich. Er nahm sie sich sehr zu Herzen, vermochte aber nicht einen Entschluß zu fassen. Stundenlang, ja tagelang konferierten wir zu dritt mit dem uns befreundeten deutschen Botschafter Grafen Pourtales, einem klugen alten Herrn mit großer Welt- bildung und Weltkenntnis, in dessen Haus ich viel ver- kehrte und die angenehmste Gastfreundschaft genoß. Aber es kam dabei nie etwas heraus. Berchthold war, wie Ährenthal mir selbst später sagte, ,,mit den Nerven ganz fertig''. Diese Äußerung war seitens des Ministers um so auffallender, da er ursprünglich viel von Bercht- hold hielt und ihn mir gegenüber einmal als einen Mann bezeichnet hatte, „von welchem selbst ich noch etwas lernen könnte". Sie war aber ganz gerechtfertigt, und ich konnte manche Episode erwähnen, die an Tragi- komik nichts zu wünschen übrig ließ und sich aus dieser Nervosität und Unentschlossenheit des Bot- schafters ergab. Doch wäre dies für die psychologische Beurteilung Berchtholds belanglos.

Diese Angelegenheit war eigentlich die Haupt- sensation des Winters. Sie hinderte uns aber nicht, an den vielen Festen der russischen Gesellschaft teil- zunehmen. Berchthold war in den vornehmsten Häu- sern sehr beliebt und alles strömte, selbst während der Verkehr mit der Sängerbrücke wochenlang stockte, zu seinen prächtigen Diners und Bällen.

Wie erwähnt, fing Rußland an, erneuertes Inter- esse für den Balkan zu betätigen, oder, wie das Schlag- wort lautete, ,,von Ostasien nach Europa zurück- zukehren". Der König von Bulgarien machte in Petro- grad einen Besuch, der nach Ansicht des deutschen Botschafters zu lange dauerte und zu vielseitig war. Er machte hierüber Herrn Iswolsky Vorstellungen. „Was

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wollen Sie," antwortete ihm letzterer, ,,ich kann doch nicht einen König wie einen Hund in Ketten halten."

Dabei war das Interesse für Ostasien noch lange nicht erloschen, und Deutschland und wir konnten dieses natürlich nur gutheißen. Eine amerikanische Demarche sollte es plötzlich erhöhen. Von der Erwägung aus- gehend, daß die Mandschurei einen Zankapfel zwischen "dem Zarenreich und Japan bilde, schlugen die Ver- einigten Staaten als Heilmittel die InternationaUsierung dieses Gebietes vor. Dies war eine des amerikanischen Geschäftssinnes unwürdige Naivität. Ich bemerkte nachher dem neu angekommenen amerikanischen Bot- schafter, daß seine Demarche gewiß das Resultat haben würde, eine Annäherung zwischen Rußland und Japan herbeizuführen. „Das ist gerade, was wir verhindern wollen", war die Antwort des Herrn Rockhill. Ich hatte natürlich recht.

Ich war übrigens mit diesem scharmanten Diplo- maten, der eine ausgedehnte Weltbildung mit einer ganz besonderen Kenntnis Ostasiens, das er in jeder Rich- tung bereist hatte, vereinigte, sehr befreundet. Er war eben ein zu großer Gelehrter, um einen guten Diplo- maten abgeben zu können.

Ein anderer Botschafter, mit dem mich die ange- nehmsten Erinnerungen verknüpfen, war der franzö- sische Vertreter, Herr Louis, den ich von früher kannte. Er war ein bescheidener Herr, und dies schadete ihm in den Augen der Hofgesellschaft. Aber nur wenige kannten Rußland so genau wie er. Ich hatte mit ihm clie anregendsten Gespräche über innere und äußere Politik. Seine Sekretäre liebten seinen ausschließlich schriftlichen Verkehr nicht. Wieviel Zeit und Mißver- ständnisse werden aber durch klare lakonische schrift-

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liehe Aufträge und Mitteilungen erspart. Ich habe oft diesen Vorgang in meiner Karriere beobachtet.

Auch möchte ich hier noch des schwedischen Ge- sandten, General Brandströms, gedenken, der ebenfalls ein ausgezeichneter Kenner Rußlands war. Meine Schwester und ich haben in dieser Familie reizende Stunden verlebt. Natürlich interessierte er sich be- sonders für Finnland, und der finnländische Minister im russischen Kabinett stand mit ihm in regem, sehr vertraulichem Verkehr. Die Zeiten waren für das Groß- fürstentum schlecht. Es wütete ein nationalistischer Wind, wie man es nannte, ein ,, zoologischer Natio- nalismus", weil er alles auffraß. Stolypin begünstigte diese Strömung auch entgegen der inneren Überzeu- gung seines kaiserlichen Herrn, und die stärkste Duma- partei, die Nationalisten, unterstützten die planmäßigen Russifizierungsversuche. Solche waren früher ja oft unternommen worden. Sie rührten aber immer von der autokratischen Regierung her, es gab dann noch einen Appell an die russische Intelligenza. Diesmal aber war es die Duma selbst, die die Russifizierung befürwortete. Hierin lag keine geringe Gefahr.

In dieser Zeit machten wir auch die Bekanntschaft der Großfürstin Marie Pawlowna, der Witwe des Groß- fürsten Wladimir. Dieses Haus hatte früher eine große politische Rolle gespielt. Dies war nun nicht mehr im selben Grade der Fall, aber dem Salon der Großfürstin kam doch noch eine gewisse Bedeutung zu. Sie war eine sehr liebenswürdige Hausfrau und wußte große Vor- nehmheit mit Einfachheit zu verbinden. Es wehte dort nicht die so steife Hofluft einer kleindeutschen Residenz, obzwar die Großfürstin von Geburt eine mecklenbur- gische Prinzessin war. Sie war aber vollständig russische Großfürstin geworden. Auch lernten wir dort ihre so

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anmutige wie schöne Tochter, die Prinzessin Helene von Griechenland, kennen.

Als ich im Herbst 1902 meine übliche lange Gerenz antrat, wurde Herr Iswolsky, dem der Zar schon lange nicht mehr geneigt war, durch Herrn Sazonow ersetzt.

Als ich den neuen Minister besuchte, sprach er sofort mir gegenüber aus, daß unsere Beziehungen sich nun bessern würden.

Er war, wie gesagt, gesonnen, rein russische Politik zu treiben,' und da der Zufall es wollte, daß seine Er- nennung zum Minister zu einer Zeit erfolgte, als der Zar in Deutschland weilte und ihn dorthin berief, zögerte er nicht einen Augenblick, der internationalen Courtoisie entsprechend, dem deutschen Kaiser einen Besuch mit seinem kaiserlichen Herrn noch vor seiner Amtsübernahme zu machen. Es fand die bekannte Pots- damer Entrevue statt.

Dies wurde Sazonow von der Entente anfänglich übelgenommen. Dies war aber völlig grundlos, denn was dort vereinbart wurde, konnte nur zur Erhaltung des Friedens beitragen und somit auch den Intentionen der Entente entsprechen.

Es wurde in Potsdam der Tradition der ,, turm- hohen Freundschaft*' zwischen Petrograd und Berlin in der Weise Rechnung getragen, daß die beiden Mon- archen die mündliche Verpflichtung übernahmen, „an keinen politischen Kombinationen, die gegen die eine Partei gerichtet war, teilzunehmen".

Außerdem wurden die ökonomischen Interessen Deutschlands in Persien geregelt und geschützt.

Die obige Formel bedeutete eine gewisse Rück- versicherung Deutschlands gegen das eventuell agres- sive Unterstützen französischer Interessen in Marokko seitens Rußlands; sie bedeutete aber auch gewiß, daß

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Deutschland uns In einem eventuellen Kriege wegen Serbien nicht unbedingt und auf alle Fälle helfen würde. Man hatte ja damals in Berlin vor unserer serbischen Politik noch Angst. Dies merkte der Graf Ährenthal sehr wohl und war über die ganze Entrevue, von der ich nebenbei gesagt erst von Sazonow und nicht von meinem deutschen Kollegen erfuhr, sehr wenig erbaut.

In der Delegation hierüber interpelliert, gab der Minister die merkwürdige Antwort, daß der Dreibund uns die Annexion Bosniens ermöglicht habe und daß er sich freue, daß nun auch Deutschland einen positiven Vorteil von diesem Bündnis ziehen kömie.

Der Rolle Deutschlands zwischen Österreich- Ungarn und Rußland werde ich an gebührender Stelle ausführlich gedenken. Hier will ich nur bemerken, daß die deutsche Regierung allzusehr in Wien wissen ließ, daß Rußland gegen uns mißtrauisch sei und daß sie stets beruhigend wirke ! Dies mußte naturgemäß un- angenehm wirken.

Im Sommer fand auf dem Petrograder Posten ein Wechsel statt. Graf Berchthold, der schon Demissions- gedanken hatte ja, er wollte schon als Botschaftsrat demissionieren und sich auf seine Güter zurückziehen , konnte endlich gehen.

Sein Nachfolger war Graf Douglas Thurn, ein guter Freund und ehemaliger Kollege in Bukarest, der zuletzt Gesandter in Sofia war. Er war ein ganz anderer Typus als sein Vorgänger. Elegante, große Erscheinungen waren beide, aber an Thurn war nichts von Weichheit zu merken. Er war im Gegenteil fast brüsk, dieWelt liebte er gar nicht, die Karriere inter- essierte ihn zwar, aber ich glaube, sein Hauptinteresse war das Familienleben. Auch war er ein großer

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Sportsmann. Er hatte aber eine Eigenschaft, die an- scheinend bei unseren Diplomaten selten war, obzwar fast jeder Bauer sie besitzt. Er besaß in hohem Grade „common sense", was natürHch seine an und für sicii gute Urteilsfähigkeit und Talente noch erhöhte. So hat er von Anfang an eingesehen, daJß die schwache Politik, die wir Rußland und Serbien gegenüber befolgten, zur Katastrophe führen mußte. Wenige unserer Diplo- maten können sich dessen rühmen; man kann sie an den Fingerspitzen einer Hand abzählen.

Thurn wurde in Rußland mit großer Freundlichkeit aufgenommen. Kaiser Nikolaus rühmte bei der An- trittsaudienz unseren nunmehr in Balkanfragen her- gestellten Kontakt und bemerkte dem Botschafter gegenüber, ,,daß er nun ein weißes Blatt vorfinde".

Auch auf der englischen Botschaft fand zu dieser Zeit ein Wechs'el statt. Nicholson wurde als erster Unterstaatssekretär ins Foreign Office berufen und durch Sir George Buchanan ersetzt, einen liebens- würdigea, mir seit langer Zeit bekannten Diplomaten. Er und seine Frau, Lady Georgina, führten ein gast- freundliches Haus, in dem ich viel verkehrte. Die Tochter, Miß Muriel, schrieb sehr hübsche Novellen.

Nach meinem Sommerurlaub wurde ich zum Grafen Ahrenthal nach Südtirol geladen. Der Arme war schon an dem tödlichen Übel erkrankt, das ihn dahin- raffen sollte. Nur vollständige Ruhe hätte ihn retten können. Kaiser Franz Joseph aber war nicht zu bewe- gen, ihn zu entlassen, und Ahrenthal war zu loyal und ar- beitsam, um darauf zu drängen.

Ährenthal sprach mir in den liebenswürdigsten Worten von Rußland und Sazonow, glaubte an die Macht Stolypins und äußerte sich dahin, er hoffe doch, daß es wieder mit Rußland zur Entente kommen

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würde. Auf Deutschland war er gerade nicht gut zu sprechen. Er fand die MarokkopoHtik sehr ungeschickt, zweifelte aber daran nicht, daß Rußland sich in die marokkanischen Angelegenheiten nicht einmengen würde. Da er an die Kraft der russischen Regierung übermäßigen Glauben an den Tag zu legen schien, mußte ich ihn daran erinnern, daß nach meinen ge- heimen Informationen die Revolution doch nur schlummere, sich dabei aber für die Zukunft organisiere.

Ährenthal hatte kurz vorher einen Hintermann von mir als Gesandten nach Belgrad geschickt, und ich wußte, daß dies auf höhere Einwirkung erfolgt war. Daher fiel es mir nicht ein, mir die Sache zu Herzen zu nehmen. Er brachte aber selbst das Gespräch auf diesen Gegenstand und sagte mir in väterlicher Weise : „Ich wollte Ihnen nicht einen Posten geben, an dem man sich den Hals bricht. Seien Sie aber unbesorgt, ich selbst werde für Ihre Karriere sorgen."

Ich verbrachte einen sehr angenehmen, unvergeß- lichen Tag in diesem so harmonischen Familieijkreis im schönen Tirolerland. Die Gräfin war eine anmutige ge- scheite Frau und die hingebungsvollste Gattin und Mutter. Zwei reizende begabte Buben trugen Leben und Freude in die sorgenvolle Atmosphäre hinein. Ich ahnte nicht, als ich Ährenthal damals verließ, daß ich diese lieben guten Züge meines besten Gönners niemals wiedersehen würde.

In Wien besuchte ich noch meinen guten Freund Graf Paul Esterhazy, der der Hauptratgeber Ähren- thals im Ministerium war. Er verkörperte alles Beste, was die alte Diplomatie zu geben vermochte. Eine elegante, liochvornehme männliche Erscheinung, große Begabung, alleranständigste Gesinnungen und hohes Taktgefühl. Ein wahrer Grandseigneur vom Scheitel

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bis zur Sohle und noch dazu in der Seele. Hätten wir viele solcher Diplomaten gehabt, so wären wir nicht ins Unglück gestürzt worden.

Bald nach meiner Rückkehr nach Rußland fand die Ermordung Stolypins durch einen Kiewer Advokaten statt. Der Kaiser ernannte Kokovzow zu seinem Nach- folger, und eine bessere Wahl hätte er nicht treffen können.

Wir hatten nun einige Wochen der Ruhe, gestört höchstens durch die albanischen Wirren, als eines schönen Tages der Krieg zwischen Italien und der Türkei ausbrach. Eine große Aufregung bemächtigte sich der russischen Welt.

Herr Sazonow war krank. Eines Tages ließ mich nun der Ministerpräsident, Graf Kokovzow, zu sich bescheiden und fragte mich gleich, ob ich ihm ver- sichern könnte, daß Österreich-Ungarn sich keinesfalls an dem Kriege beteiligen würde. Meine unzweideutige Antwort lautete „ja". ,, Selbst dann," entgegnete der Minister, „wenn der Kriegsschauplatz sich auf den Balkan ausdehnen sollte?'' .Ja", sagte ich mit eben- solcher Sicherheit als das erstemal und fügte hinzu, „und nun, Herr Ministerpräsident, möchte ich Sie fragen, ob Sie mir dieselbe Versicherung für Rußland geben können?" „Ich nehme es auf mich, Sie dessen bündig zu versichern," erwiderte Kokovzow, „obzwar ich den Kaiser hierüber noch nicht gefragt habe."

Meine Kollegen waren äußerst erregt, als sie das bezügliche Telegramm nach Wien chiffrierten, und wur- den es noch mehr, als sie die Antwort entzifferten. Ich wußte eben genau, was ich tat, als ich die Verantwortung auf mich nahm, ohne jede Instruktion, die k. und k. Diplomatie in dieser Weise zu binden. Ich wußte, daß aggressive Absichten dem Grafen Ährenthal fernlagen.

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daß aber in Anbetracht der allgemeinen Nervosität und des immer noch währenden Mißtrauens, mit dem man unsere Politik in Petrograd betrachtete, das geringste Zögern meinerseits üble Konsequenzen haben konnte.

Ährenthal billigte auch vollständig meine Sprache, und aus dieser zwischen einem Ministerpräsidenten und einem Botschaftsrate geführten Unterredung entstand dann ein telegraphischer Gedankenaustausch zwischen den zwei Herrschern, der solche Vorkommnisse können ja vereinzelt, nicht lange fortwirken wieder eine momentane Detente im Verhältnis der ^'lonarchie und Rußland bewirkte.

Kokovzow hatte mir gegenüber den italienischen Vorgang als ,,acte de brigandage" bezeichnet. Aber die Sympathien Rußlands und auch des nicht immer disziplinierten Auswärtigen Amtes waren wohl auf Seiten Italiens, was den traditionellen antitürkischen Gefühlen der orthodoxen Vormacht entsprach. Trotz- dem konnten heikle Verhandlungen in dieser Frage ohne jede Bitternis zwischen uns geführt werden. Das Mißtrauen war momentan sehr gesunken, die un- sinnige Angst beiderseits, den berühmten, .ersten Schritt** zu machen, war ja auch geschwächt, und wir konnten konstatieren, daß die Beziehungen sich erheblich ge- bessert hatten. So konnte man trotz der krisenhaften Atmosphäre ruhig und ganz gemütlich weiterarbeiten. Was übrigens die Annexion Tripolis' anbelangt, so hatte Italien, wie es erklärte, diese Absicht seinen Ver- bündeten früher nicht mitgeteilt, „um sie nicht in eine unangenehme Lage zu versetzen."

Die Krankheit des armen Herrn Sazonow, welche er mit heldenhafter Geduld ertrug, erwies sich als eine recht böse, dauerte monatelang und hätte beinah ein schlechtes Ende genommen. Er verbrachte lange Zeit

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in Davos und wurde während seiner Abwesenheit von Herrn Neratoc vertreten, einem ehrwürdigen Beamten alten Stils, mit dem es sich sehr gut auskommen ließ.

Eine andere Sensation des Herbstes war die Auf- rollung der Meerengenfrage. Der Botschafter in Kon- stantinopel, Tscharykow, der hierbei die Hauptrolle spielte, wurde später von der Sängerbrücke im Stich gelassen. Ich glaube aber, daß dies nur geschah, weil die Sache wegen der Entente auf Schwierigkeiten stieß, daß aber die Initiative wohl aus Petrograd stammte. Es wäre ja doch undenkbar, daß ein Botschafter aus eige- nem Antrieb eine solche geschichtliche Frage auffrischt. Die Sache war freilich delikater Xatur. Der Anlaß war wohl die Sperrung der Meerengen durch die Türkei, welche den südrussischen Getreidehandel in Mitleiden- schaft zog. Aber wir hatten Bosnien annektiert, Italien Tripolis, und Italien schickte sich an, sogar die Darda- nellen zu bezwingen. Der Status quo war nicht mehr da. Warum sollte sich da Rußland ein Gene auferlegen?

Wir ließen übrigens damals wissen, daß wir prinzi- piell gegen die Eröffnung der Meerengen nichts einzu- wenden hätten, wir müßten aber vorher dafür Garan- tien haben, daß die russische Flotte als Freund und nicht als Feind im Mittelmecr erscheine. Die Sache verlief, wie gesagt, im Sand.

Zu dieser Zeit starb auf einsamer Todesfahrt Tol- stoi, Er war bekanntlich von der Kirche exkommuni- ziert worden und man wollte ihm ursprünglich kein kirchliches Begräbnis geben. Später wurde ein Kom- promiß geschlossen, aber die großen Straßenkund- gebungen, welche bei diesem Anlasse in Petrograd statt- fanden, hätten denen die Augen öffnen können, die die Revolution als definitiv erledigt belracluetcn. Der Zar

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schrieb als Randbemerkung auf den bezüglichen Bericht, ,,daß ihm vieles vergeben sein würde".

Im Frühjahr 1912 starb Graf Ährenthal, und Graf Berchthold nahm seine Stelle ein. Ährenthal hatte ihn noch als Alternative, allerdings an zweiter Stelle, mit Burian dem Kaiser vorgeschlagen und ich habe nie verstanden, wie er es tun konnte, denn Graf Burian er- freute sich nicht der Gnade des schon sehr mächtigen Erzherzog-Thronfolgers, und so war jede Aussicht vor- handen, da£ die Nachfolge Berchthold zufallen würde, Ährenthal aber, der seine Schwankungen und Nervosi- tät aus der Zeit der Annexion kannte, mußte wissen, daß Graf Berchthold nicht der ?^Iann war, diesen sorgen- vollen Posten ohne Gefahr ausfüllen zu können. Ich meinerseits und meine Freunde, der deutsche Botschaf- ter Graf Pourtales und seine Frau, gedachten immer der in der Presse auftauchenden Kandidatur des Grafen Berchthold als eines Dingjes der Unmöglichkeit, wenn nicht eines schlechten Witzes. Ich habe, ich glaube in Aufzeichnungen die Bemerkung niedergeschrieben, daß, wenn, wie man davon spricht, Berchthold jemals Mi- nister des Äußern sein würde, dies den Weltkrieg zur Folge haben könnte.

Diese Aufzeichnung ist mit vielen anderen Papieren in Athen verbrannt worden. Hingegen finde ich noch eine anläßlich einer der zahlreichen in Petrograd durch- lebten Krisen von mir geschriebene Notiz. Sie lautet: ,;Comme il est incapable de subir un moment de crise, il faudra tout de meme qu'on le sache. J'en parleraix donc ä Vienne (was ich zu tun nicht verfehlte) je le dois a mon pays car de graves malheurs pourraient surgir de son caractere indecis."

Ährenthal starb einen wahren Heldentod. Bis zum letzten Momente bei vollem Selbstbewußtsein, traf er in

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aller Ruhe die nötigen Verfügungen. Einige Stunden vor seinem Tod gab er den stoischen Befehl: „Schicken Sie mir den Grafen X. um zwei Uhr, wenn ich noch lebe." Dieser, sein Sekretär, mußte dann die amtlichen von den privaten Papieren trennen. Er hatte ein Be- gräbnis wie ein regierender Fürst.

Als Graf Berchthold am Abende seiner Ernen- nung, da ich zufällig in Wien weilte, mich zu sich beschied und fragte, was ich über die Sache denke, hatte ich auf den Lippen, ihn zu bitten, diesen Posten nicht anzunehmen. Er wollte mich aber zugleich, wie er sagte. ,,wie in Petersburg'', zum Haupt- ratgeber haben und so hoffte ich, daß, wie tatsächlich früher, meine Ratschläge ihm. über die zu erwartenden Klippen hinweghelfen würden. Ich bin daran nicht schuld, daß, da er aus Rücksichten für andere sich nicht entschließen konnte, mir neben sich eine entscheidende Stellung zu geben, ich vermöge des Dienstganges nicht genügend in die Lage kam, .solche Ratschläge zu er- teilen.

Bei dieser Gelegenheit entwickelte mir Berchthold sein Programm. Neben den bestehenden Allianzen wollte er eine Entente mit Rußland. Diese sollte zuerst aus einer einfachen Neutralitätsdeklaration bestehen. Dabei dachte er, daß Rußland unsere wirtschaftlichen Interessen am Westbalkan garantieren könnte. iHier- für hätten wir dann gegen die Eröffnung der Meerengen nichts einzuwenden. Nebenbei dachte er an eine Ver- einbarung mit Großbritannien, durch welche die gegen- seitigen Interessen gesichert werden sollten. Diese An- näherung zwischen einer starken Militärmacht und der Herrin der Meere könnte für beide Teile nur nützlich sein, ohne jemand zu bedrohen, und entsprach ganz der Tradition.

14 V. S z i 1 a s 8 y , D»r Untertans d«r D»nau-M»narchie.

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Wie man sieht, die reinste \^ernunft. Aber die Aus- führung ist ganz anders ausgefallen.

Berchthold entsandte mich nun bald wieder nach Petrograd, obzwar er mir zu gleicher Zeit eine Stelle in Wien gab mit dem Auftrage, zu trachten, die alte En- tente zwischen uns wieder zu errichten. Ich mußte mich aber bald durch Sondierungen bei gemeinsamen Be- kannten davon überzeugen, daß es trotz der gebesserten Beziehungen noch zu früh war. einen solchen Schritt im russischen Auswärtigen Amte zu unternehmen. Auch hätte man sich bei Hofe nicht getraut, dies zu tun, aus Rücksicht für die liberalen Klassen, deren Sympathien England und Frankreich gehörten.

Zudem waren noch zwei Umstände vorhanden, die einer intimeren Annäherung zwischen der Monarchie und Rußland hemmend in den Weg traten. Zuerst, wenn wir uns auch mit gutem Willen über die Inter- essensphären am Balkan hätten einigen können, so. blieB noch immer die ruthenische Frage zwischen uns un- gelöst. Bei uns lösten einander zwei Strömungen, jene, die die Polen, und jene, die die Ruthenen begünstigte, ab. In Rußland aber waren die Ruthenen politisch nicht als Nation anerkannt, und so wurde auch dort von un- seren Ruthenen behauptet, daß sie einfache Russen wä- ren, eine Auffassung, der ein kleiner Teil unserer Ru- thenen selbst zustimmte. Dies gab dann den Anlaß zu Beschwerden, daß die Polen Galiziens die Ruthenen oder, wie man sie in Petrograd nannte, ,,die Rotrussen", unterdrückten. Tatsächlich aber stammte der Mißmut des Petrograder Kabinetts ebensosehr aus der Angst, unsere als Nation anerkannten Ruthenen könnten eine gefährliche Anziehungskraft auf ihre Konnationalen in Rußland ausüben. ,

Der zweite Umstand lag in der bereits erwähnten

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merkwürdigen Zusammenstellung- der Parteien der Du- ma. Früher konnten Deutschland und wir meist aus dynastischen Gründen auf die Unterstützung weiterer Kreise der durch ihre Stellung immerhin sehr einfluß- reichen rechten Parteien rechnen, weil diese in einem Anschluß an die Kaisermächte eine Stärkung des Zaris- mus erhofften. Nun aber hatte sich in den letzten Jahren hierin vieles geändert. Stolypin hatte sehr geschickt jene Energien, die sich zur Zeit der Revolution dem li- beralen Kurs gewidmet hatten, möglichst in ein nationa- listisches Fahrwasser kanalisiert. So war der Nationalis- mus stärker denn je geworden. Die Annexion Bosniens war nun Wasser auf einer solchen Mühle, und zwar, wahrscheinlich mehr, als der sehr konservative Staats- mann es wünschen konnte. Aber in der rechten Partei war die Grenze zwischen extremen Rechten und Nationa- listen, diesen Parteien, welche den Thron und die Groß- macht Rußlands auf ihre Banner schrieben^ nicht genau festgestellt. So ergab sich dann, daß wir durch den Kraftzuwachs der Nationalisten und zugleich durch die Verschlechterung unserer Beziehungen nicht unbedeu- tende Elemente gegen uns hatten, auf die wir sonst als Freunde hätte rechnen können, die aber von den Na- tionalisten gewonnen wurden.

Den Sommer jenes Jahres verbrachte ich, wie be- reits erwähnt, im Wiener Ministerium mit dem Studium der den Dreibund betreffenden Akten. Dieser sollte nämlich am Ende des Jahres erneuert werden, und Graf Berchthold wünschte meine Meinung über diese An- gelegenheit zu wissen. Ich legte sie ihm nach mehr- monatiger Arbeit in einer langen Denkschrift dar. Ich mußte, wie gesehen, lebhaft raten, daß, bevor wir uns wieder binden, Italien veranlaßt werde, unsere Sonder- interessen anzuerkennen. Desto mehr, als wir nicht die

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geringste Gewähr dafür hatten, daß TtaHen sich im Not- falle treu erweisen würde.

Meine ganze Argumentation wurde zwar in Wien gebilligt, wie immer aber wurde der Vertrag ohne Be- merkung verlängert.

Inzwischen ging der türkisch-italienische Krieg, wenigstens formell, weiter und nahm erst dann sein Ende, als das ottomanische Reich in den Balkankrieg verwickelW wurde.

Das Wiener Kabinett hatte nun die Gelegenheit er- griffen, Italien im Sinne des siebenten Artikels des Dreibundes, der eine Störung des Status quo im Orient verbat, Vorstellungen zu machen, namentlich bezüglich der Besetzung der Inseln des Archipels. Rom antwor- tete, daß diese rein provisorisch sei. Dieser Artikel sollte gefährlicher für uns als für Italien sein. Er lie- ferte, wie gesehen, Italien den Vorwand, in die Reihe unserer Gegner zu treten.

Im Herbst ging ich dann wieder nach Petrograd zu- rück und dort erreichte mich der Ausbruch des Balkan- krieges. Derselbe war allerseits erwartet worden. Zu- erst hatten wir und dann in elfter Stunde Rußland die Initiative zur Einführung wirklicher Reformen in Maze- donien ergriffen.

Wie man England die planmäßige Einkreisung Deutschlands vorgeworfen, so warf man auch Rußland vor, den Balkankrieg planmäßig vorbereitet zu haben. Beides ist in dieser Form falsch.

Der mitteleuropäische Bund sowie Rußland hatten die Rüstungen bis auf das Höchste getrieben und sich zugleich im Haag gegen die obligatorische Schieds- gerichtbarkeit erklärt. Die Westmächte schlössen dar- aus auf aggressive Absichten. Jeder bereitete sich so-

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wohl militärisch wie diplomatisch vor. Angesichts der ganzen Lage und der politischen Tendenzen ergab sich die Einkreisung von selbst, besonders nach der An- nexion Bosniens.

Gleichfalls ist es ganz natürlich, daß das russische Kabinett das Zustandekommen eines christlichen Bal- "kanbundes, der gegebenenfalls auch uns -die Stirne bieten könnte, nur begrüßte. Wahrscheinlich haben russische Agenten dabei geholfen. Daß das offizielle Rußland in jenem Momente aber den Krieg zwischen dem Balkan- bunde und der Türkei wünschte, das kann ich selbst nach Veröffenthchung der russischen Dokumente durch die Bolschewiki nicht glauben.

All dies war nur natürlich und ganz im Geiste der alten Diplomatie ausgedacht.

Was aber unverzeihlich war, war die Leichtigkeit, mit der die leitenden Staatsmänner der drei Kaiser- mächte mit diesem gefährlichen Zündstoff umgingen und nicht merkten, daß sie langsam zu Werkzeugen derjenigen wurden, die den Krieg aus xAmbition oder egoistischen abenteuerlichen Motiven wollten.

Daß in Rußland diese beiden letzten Kategorien, wie andersw^o, zahlreich vertreten waren (in erster Linie sind hier der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch und der General Suchomlinow^ zu nennen), dafür hatte ich ge- nügend Beweise. Aber nicht mehr als andere wollten die russischen Staatsm.änner wirklich den Welt- krieg oder dachten sie, daß die verschiedenen ergriffe- nen diplomatischen Maßnahmen schließlich zu ihm füh- ren würden.

Ein Monat vor Ausbruch des Balkankrieges ließ mich der Ministerpräsident Graf Kokovzow wieder zu sich kommen un-d erzählte mir von den Gefahren, die der

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Balkankrieg für die ganze Menschheit mit sich bringen würde, und die MaJsregehi, durch die die Weltkatn- strophe verhindert werden könnte. Er war In die Pläne der Balkanstaaten eingeweiht und sagte mir genau den Tag voraus, an dem sie die Feindseligkeiten gegen die Türkei eröffnen wollten. Auf meine Frage, wer an- fangen würde, antwortete mir Kokovzow : ,,Man sagt, Montenegro, aber es kommt darauf nicht an, denn alle sind verpflichtet, mit zu machen."

Er war der Meinung, daß die Türkei zuerst ver- möge ihrer deutschen militärischen Ausbildung gewisse Erfolge haben würde und daß dann aber mit der Zeit die Balkanstaaten wie er hoffte sich erholen und schließlich die Osmanen besiegen würden.

Auch Sazonow sprach mir vom bevorstehenden Bal- kankriege, der unvermeidlich sei. Ich habe schon ge- sagt, daß er selbst gewiß keine kriegerischen Intentionen hegte, er war aber entschlossen, schon wegen der öffent- lichen Meinung eine neuerliche Demütigung, wie jene, welche die Annexion Bosniens verursachte, nicht hin- zunehmen, und überdies war er uns gegenüber aller- dings, wie er einem Gew^ährsmann sagte, mit Ausnahme Berchtholds und meiner Wenigkeit mit Mißtrauen erfüllt.

Man kann nicht genug die psychologische Bedeu- tung dieses Mißtrauens hervorheben, das wieder seine schönsten Blüten trieb.

War man in Wien und Budapest von Rußlands aggressiven Plänen überzeugt, so war dies nicht minder an der Newa bezüglich der k. und k. Diplomatie der Fall.

Ich konnte aus zahlreichen mehr oder weniger ofifen gemachten Äußerungen entnehmen, daß das russische

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Publikum davon überzeugt war, daJs ^\^r aggressive Pläne gegen Serbien verfolgten und daß daher alle unsere gegen dieses Land vorgebrachten Klagen lauter Vor- wände seien. Man argumentierte, wie bereits angedeu- tet, daß es ausgeschlossen sei. daß eine große militä- rische Macht, wie die Monarchie, tatsächlich Serbien fürchte und daß daher alle gegen dasselbe ergriffenen Maßnahmen nur nach Saloniki gravitierende imperia- listische Maßnahmen seien. Von dieser Auffassung lieli sich das russische Publikum selbst durch die Preisgabe des Sandschaks nicht abbringen.

Ich glaube, man kann der russischen öffentlichen Meinung diese ihre Auffassung nicht verübeln, denn sie kannte die methodische Arbeit nicht, die Serbien seit Jahren, aber jetzt intensiver denn je. gegen die Mon- archie zwecks ihrer Zerstücklung unternahm. Diejenigen aber, die die Sachlage kannten, hätten sie der Öffentlich- keit bekanntgeben und diese hierdurch beruhigen sollen. Es scheint wohl klar, daß Rußland ohne Prestigeverlust seinen serbischen Klienten nicht preisgeben konnte, es konnte aber Serbien daran hindern, diese Wühlarbeit fortzusetzen. Das offizielle Rußland zog es leider vor, dieses gefährliche Spielen mit dem Feuer weiter zn dulden und Serbien an unseren Grenzen weiter nagen zu lassen und doch hätte es gewiß eine solche Prozedur an seinen persischen oder chinesischen Grenzen nicht zugelassen ! Es war halt eine wahnsinnig gefährliche diplomatische Führung. Um Serbien zu halten, ließ man es gewähren und dadurch wurde unser Ressentiment ge- gen Rußland nur noch stärker. Ein verhängnisvoller „cir- culus vitiosus'*', dem aber eine offene Aussprache zwischen Männern, die ihre Verantwortung vollauf ge- fühlt hätten, ein Ende hätte machen können.

Das Verhältnis zwischen Berchthold und Sazonow

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war aber nicht melir das alte. Beide hatten nicht immer den richtigen Ton getroffen. Ich bin weit davon ent- fernt, hierfür die ganze Schuld auf unsere Seite zu legen.

Folgende Episode, welche sich, glaube ich, früher zugetragen hatte, beweist das Gegenteil,

Es hatten, wie allzuoft, in Lemberg politische De- monstrationen stattgefunden. Das russische Konsulat wurde von den erregten Polen beschädigt. Die Sache wirkte in Petrograd sehr aufregend und man verlangte Satisfaktion. Berchthold tat alles, was er konnte, doch die Sache ging langsam. Nun berief mich eines Tages Sazonow und erbat meine Ermächtigung, seine mit der Wiener russischen Botschaft diesbezüglich geführte te- legraphische Korrespondenz zu veröffentlichen. Die Telegramme Herrn von Giers' enthielten aber Äußerun- gen Berchtholds, die für die Öffentlichkeit nicht be- stimmt waren. Ich konnte daher nur sagen, daß ich die Befehle des Ministers einholen würde. Dies fand Herr Sazonow zu lange, er brauche die Veröfifentlichung so- fort, um die Duma zu beruhigen. Schließlich setzte er hinzu, er würde sie eigenmächtig vornehmen. Ich konnte nur Einspruch erheben. Es nützte aber nichts. Die Akten erschienen am nächsten Tag in den Blättern. Dies machte natürlich keinen guten Eindruck in Wien.

Beim Ausbruch des Balkankrieges hatten wir eigentlich nur vage Ideale vor uns. Sazonow sprach mir eines Tages über die Lage, als Albanien von den Serben noch nicht besetzt war. Er sagte mir, daß, um jeden Konflikt zwischen uns und somit den Weltkrieg zu ver- hindern, es von großer Wichtigkeit sei, daß wir uns über die zukünftige Gestalt des Balkans im voraus, auf Grund unserer Interessen, einigen, \\^ir hatten dann eine sehr lange akademische Unterredung, in deren Verlauf er

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einige Punkte vorschlug, die uns durchweg akzeptabel hätten sein können. Namentlich wollte er unbedingt, da£ Konstantinopel türkisch bleibe. Bezüglich Alba- niens sagte er mir: „Quant ä L'Albanie vous en ferez ce quevous voulez, aucum peuple de la terre ne m'in- teresse moins.''

Ich meldete dies alles nach Wien und schlug vor, da£ wir unser Programm aufstellen, was in Anbetracht der italienischen Rivalität nötig, angesichts der militä- rischen Lage noch leichter gewesen wäre. Leider wußte man damals in Wien selbst nicht, was man wollte, und während dieser ersten Zeit erhielt ich überhaupt keine Weisung über die einzunehmende Haltung.

Man wartete in Wien, bis fast ganz Albanien in ser- bische Hände gefallen war, um die Errichtung des Für- stentums zu verlangen. Dies traf nun die Serben dop- pelt hart, denn der Balkanbundesvertrag hatte ihnen ge- rade dieses Gebiet zugesprochen.

Trotzdem gaben sie nach und nun wurde ihrerseits das Postulat des bekannten Korridors über Albanien mit Handelshafen an der Adria formuliert.

Diese Mindestforderung mußte Rußland natürhch notgedrungen unterstützen. Wir aber lehnten uns da- gegen auf.

Ich persönlich war für diese Lösung eingenommen und konnte nicht einsehen, wie ein eventuell zwischen österreichisch-ungarischen Bajonetten führender Korri- dor unseren Interessen schaden konnte, und Serbien mit Gewalt vom Meere abzuhalten, wie man damals wollte, erschien mir ein künstliches Experiment, das sich rächen würde.

Diesbezüglich schrieb ich am 20. November die folgende Denkschrift, die ich nach Wien übermittelte:

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X o t i z. St. Petersburg, am 20.//. November 19 12. Warum es politisch gewesen wäre, Serbien den g e \a- ü n s c li t e n Handelshafen an d e r a 1 b a n e s i s c h e n Küste zu geben.

a) Der Schade n, sowohl politisch als han- delspolitisch, dürfte ganz problematisch sein, besonders, wenn der Sandschak Serbien und Montenegro gegeben wird.

Unter Umständen ist es gar nicht undenkbar, daß ein verstärktes Serbien, von russischem Einfluß befreit, mit der Monarchie sehr gut auskommen würde. (Vide Bulgarien nach 1879.)

b) Gleichfalls ist die Gefahr einer Verstärkung des S 1 a w i s m u s und R u 1 a n d s mit Spitze gegen Monarchie ganz problematisch.

Wird diese Verstärkung auf die Slawen Österreich- Ungarns anziehend wirken oder nicht? und wie? Das ist eine Frage der Zukunft. Jedenfalls dürfte sie mehr von guten Beziehungen zu Serbien abhängen als vom , .Handelshafen".

Wenn Rußland an der Adria auftreten wollte, könnte es sich leichter und jederzeit eines montenegrini- schen Hafens bedienen.

c) Bei Zugeben des serbischen Postulats hätte die k. u. k. Politik sich die Dankbarkeit des B a 1 k a n b u n - des erworben.

Sehr wichtig in diesem ^Momente : Je besser die neue Föderation mit uns steht, je mehr wird sie ortho- dox-orienfalisch sein; je schlechter, desto slawischer. Der Antagonismus gegen die ^Monarchie könnte es (wie Deutschland gegen Frankreich 1870) fester zusammen- schmieden als alles andere.

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d) Die öffentliche Meinung Öster- reich-Ungarns (zu einem beträchtlichen Teile) würde eine zu aktive Politik gegen Serbien nicht billi- gen. Alle Slawen wären dagegen, auch viele andere.

e) Es muß ein Axiom sein. da£ selbst ein glück- licher Krieg mit Rußland für die Monarchie eni großes Unglück sein wird. (Vide meine Denkschrift.) Folglich fragt es sich, ob das gegenwärtige Interesse so groß ist, daß dieses Bedenken entfällt. Hierzu kommt, daß in diesem Momente ein solcher Krieg in der Monarchie gar nicht populär wäre.

f) Ein Kondominium mit Italien bezüglich Alba- niens einzugehen, erscheint höchst bedenklich. (Vide meine Denkschrift hierüber.) cf. Stipulationen des Drei- bund-Vertrages. Außerdem lehrt die Geschichte, daß solche Kondominia immer mit dem Ausschlüsse des einen enden. Italien ausschließen, können wir aber in Zukunft nur mit Neutralität Rußlands erhoffen. Diese wäre auf alle Fälle verscherzt.

g) Ein neuer Appell an Deutschland würde nur be- weisen, daß Österreich-Ungarn in Belgrad ohne Berlin nichts erreichen kann, höchst bedenklich aus allen Ge- sichtspunkten! !

Der inzwischen worüber jeder in Petrograd staunte mit Unterbrechung seines Urlaubs zurückbe- rufene Botschafter Graf Thurn teilte vollständig meinen Standpunkt. Aber unsere Instruktionen waren formell.

Diese Stellungnahme berührte die russischen Kreise sehr unangenehm. Kaiser Nikolaus ließ den Botschafter lange auf eine Audienz warten und der Ministerpräsi- dent und der Minister des Äußern legten in ihren Be- ziehungen zu ihm eine gewisse Kälte an den Tag.

Ich sollte nun Petrograd definitiv verlassen. Herr

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Sazonow äußerte sich bei meinem Abschiedsbesuch übei* die Lage sehr besorgt.

Kaiser Nikolaus empting mich mit großer Liebens- würdigkeit in Zarskoje Selo in Abschiedsaudienz, Er beauftragte mich, dem Grafen Berchthold zu sagen, „daß er, im Namen Rußlands sprechend, nicht begreife, warum wir die Serben an der adriatischen Küste nicht dulden wollten, nachdem wir doch die Türken Jahrhun- derte hindurch geduldet hatten,'' Ich entgegnete als persönliche Meinung, daß gerade, wenn die Türken nicht mehr da seien, es logisch wäre, daß die Ureinwohner, die Albaner, das Land wieder erhielten. Der Kaiser ließ sich davon gar nicht überzeugen und ersuchte mich aufs neue, die Botschaft zu übermitteln. Sie wurde übri- gens vom Grafen Berchthold im selben Sinne beant- wortet.

In dieser ganzen Frage war natürlich für uns die Hauptsache, eine serbische Niederlassung an der Adria zu verhindern. Da wir aber unsere diesbezügliche Be- fürchtung nicht zugeben wollten, so war unsere These der Schutz des albanischen Volkes, woran wir allerdings auch aus anderen Gründen interessiert waren.

Dies fühlten aber die Russen sehr gut und so wurde noch das uns gegenüber an den Tag gelegte Mißtrauen verstärkt.

Ich persönlich war, wie gesagt, mit dieser ganzen Politik nicht einverstanden. Ich hielt es namentlich für ebenso ungerecht wie ungeschickt und gefährlich, daß wir, als zur Hälfte slawische Macht, innerhalb deren die Slawen sogar die verhältnismäßige Mehrheit besaßen, offen als Spielverderber gegen die Balkanslawen auf- traten und sie der Früchte ihrer Siege beraubten.

Auch, ich gebe es zu, fühlte ich innerlich ein ge- wisses Mitleid mit dem armen serbischen Volke, das die

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Freiheit und das Leben so heiJs liebte. Die Liebe zur Freiheit hatte ich doch, als Sohn einer Schweizerin, so- zusagen mit der Muttermilch eingesogen, ich war in französischen und englischen Ländern erzogen worden, und ich konnte nicht einsehen, warum alle die Bestre- bungen, die ich von jeher bezüglich Ungarns zu preisen gelernt hatte, nun auf einmal schlecht seien, weil sie ein halbes Jahrhundert später von Serbien kultiviert waren. Ich fand dies um so richtiger, als meiner An- sicht nach die berechtigten vitalen Interessen Ser- biens ganz gut ohne Gefahr für L'ngarn gewahrt werden konnten. (Dies sieht heute zu spät wohl jeder Ungar ein.) Denn selbst ein starkes, zufriedenes Jugoslawien im Rahmen der Monarchie hätte die Kraft derselben nur erhöht und es genügte für uns, den Weg zum Meere zu sichern. Da aber Kroatien unser Getreide brauchte, war die Basis einer eventuellen Vereinbarung gegeben. Nur hierzu hätte man Serbien nicht Jahrzehnte hindurch wirtschaftlich und politisch mißhandeln und verbittern sollen. Ich erinnere mich noch ganz gut an die Zeit, da der serbische Irredentismus in Ungarn schwindend und unbedeutend war, und jedenfalls kann man im 20. Jahrhundert weniger denn je staatliche Gebäude mit Gewalt errichten. Sie fallen dann mit der Zeit wie Kartenschlösser zusammen.

Man wird es vielleicht vermissen, daß ich im obigen des berüchtigten Rasputin gar nicht gedacht habe. Er hatte aber seine Umtriebe am Zarenhofe erst dann an- gefangen, als ich Rußland verließ. Diese sind bekannt, auch ist sicherlich nicht eine einzige Dame der Hof- gesellschaft sein Opfer geworden. Die arme Kaiserin aber in irgendein» andere als die unschuldigsten Bezie- hungen zu diesem Abenteurer zu bringen, wie des öfte- ren geschieht, ist reinste Verleumdung.

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Kapitel VIII. Der Balkankrieg.

La saetta gira gira

Tomä adosso a cbi la tira.

In den letzten Novembertag-en erlaubte mir endlich mein Botschafter, Petrograd zu verlassen. Ich traf am I. Dezember in Wien ein, wo ich mich sofort im Ministerium des Äußern meldete.

Meine Stellung war in Anbetracht dessen, daß ich nicht, wie ursprünglich geplant, Sektionschef wurde, eine ganz besondere. Der Minister verfügte, daß ich ihm allein unterstehe, auch hatte er mich im Laufe des Sommers zum Gesandten ernennen lassen.

Meine Arbeit war daher keine genau umschriebene, und wenn er mir keinen besonderen Auftrag, Verträge und andere geheime Angelegenheiten betrefifend, g"ab, so beschäftigte ich mich meist mit der laufenden Politik, da mir in allen Akten Einsicht gewährt wurde. Natürlich hätte diese Stellung einem Intriganten die Möglichkeit gegeben, sich in alles einzumischen. Dies lag aber meiner Natur fern, und ich beteiligte mich an der Regelung politischer Angelegenheiten nur dann, wenn mein Gewissen es mir dringend gebot. Graf Berchthold zog mich aber öfter, namentlich in russi- schen Sachen, zu den einschlägigen Beratungen hinzu.

Ich hatte zahlreiche ]Ministerialkollegen, die diese Tätigkeit mit scheelen Augen ansahen, und so ereignete es sich, daß ich nicht einmal eine Weisung zur Rück-

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kehr nach Wien erhielt, obzwar ich nur als Geschäfts- träger nach Petrograd entsendet ^Yorden und Graf Thurn schon längst zurückgekehrt war. Doch als ich mich beim Minister meldete, fragte er mich, warum ich so spät komme. (Eine Diskrepanz, die Kenner jeder Bureaukratie verstehen werden !)

Die Bureaukratie erfand sogar, um die Sache for- mell zu regeln, den Ausweg, als ich bereits im ^Ministerium amtierte, den Grafen Thurn zu beauftragen, mich, meiner Petrograder Tätigkeit enthebend, nach Wien zu entsenden. So erhielt ich den bezüglichen schriftlichen Befehl via Petrograd, obzwar der hohe Funktionär, der ihn unterschrieb, etwa fünfzig Schritte von mir entfernt amtierte. Quod non est in actis, non est in mundo !

In Wien mußte ich bald zu meinem Entsetzen wahr- nehmen, daß eine große Partei den Krieg mit Serbien und wenn es sein mußte. sogar mit Rußland wünschte. Einige Elemente dieser Partei waren auf- richtig und erklärten, unser Heil liege allein in einer Xiederschmetterung oder Annexion Serbiens. Aller- dings konnte ich mich durch die zahlreichen Provin- zialberichte von den argen Wühlereien überzeugen, die serbischerseits in den südslawischen Teilen der Monarchie unternommen wurden. Die Situation war schon sehr vergiftet. Es wurde aber auch gar nichts unternommen, um sie zu bessern, denn ein großer Teil der Zivil- und fast alle ?^Iilitärmachthaber wünschten geradezu den Krieg.

Diese Elemente fühlten wohl, daß ihnen niemals eine bessere Gelegenheit gegeben werden würde, ihre dunklen Pläne zu realisieren, als unter dem Regime Berchthold. Dieses Staatsmannes muß ich wieder ge- denken. Er war, wie g-esag-t. ein Mann mit eroßem, fast

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magnetisch wirkendem persönlichen Charme, eine auf- fallend schöne und elegante Erscheinung, von Natur aus gut kultiviert und sogar begabt; er hatte ein aus- gezeichnetes Taktgefühl und ermangelte auch gewiß nicht diplomatischer Talente; er führte eine ausgezeich- nete Feder. Er hatte den Vorteil, sowohl die öster- reichische wie die ungarische Staatsbürgerschaft zu be- sitzen. Er war rührend bescheiden und einfach. Seine Denkungsart und Gesinnung war so fein wie anständig. Die Schattenseite war eine mit Timidität gepaarte ganz eigenartige Charakter- oder eher Willensschwäche, ganz eigenartig deshalb, weil sie eigentlich nicht irgendeinem moralischen Mangel entsprang, sondern in seiner voll- ständig kindlichen Mentalität ihren Grund hatte. Graf Berchthold ist psychologisch ein^ ganz ungewöhnliche Erscheinung, die mit den Fähigkeiten und gewissen Talenten eines Mannes die Auffassung und hauptsäch- lich den Mangel an Bewußtsein und Urteil eines Kindes vereinigt. Seine Bescheidenheit wirkte nur störend. Er wollte gewiß immer das Beste und hatte nicht im ge- ringsten das Gefühl, daß seine Unentschlossenheit dazu beitragen würde, die Menschheit in die ungeheuerste aller Katastrophen hinein zu stürzen. Er ist ein ,.In- conscient".

Ich glaube daher, daß das Gericht der Geschichte ihn nur in sehr geringem Grade für den Ausbruch des Weltkrieges wird verantwortlich machen können. Nie- mals hätte er den Posten eines Ministers annehmen sollen, doch auch, um dies zu erkennen, fehlte ihm die reife Mentalität. Mildernde Umstände werden ihm da- her wohl in hohem Grade zuerkannt werden müssen, desto mehr, als er eines eisernen männlichen Charakters bedurft hätte, um namentlich nach dem Serajewoer Attentat der Kriegspartei die Stirn zu bieten.

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Dasselbe kann von den vielen Mitarbeitern und Untergebenen des österreichisch-ungarischen Ministers des Äußern nicht gesagt werden. Denn sie haben seine Schwäche zu ihren eigenen Zwecken auszunützen versucht.

Speziell im ^linisterium des Äu-ßern herrschte das schrecklichste Chaos. Jeder mischte sich in die Politik ein, und gab dem Minister Ratschläge. Auch im Dienst- gange war weder Einheitlichkeit noch System zu er- blicken, und es konnte geschehen, daß der ^Minister, der sich leider von jedem beeinflussen ließ, einem Beamten die Erlaubnis gab, in irgendeiner Sache nach dem Aus- lande eine Verfügung zu treffen, die mit den früheren in Widerspruch stand. ]\lan konnte manchmal gar nicht mehr ermitteln, woher irgendeine konkrete Entschei- dung stammte, so dunkel war ihr Ursprung. Später sagte mir ein bekannter Botschafter über den Krieg: „X. oder N. (Namen von Ministerialbeamten nennend) hat ihn gemacht, oder auch vielleicht der Portier!"

Vermöge meiner speziellen Stellung wurde ich nicht immer den offiziellen Beratungen mit den höheren Be- amten zugezogen, ohne die der Minister sich zu nichts entschließen konnte. Mein Wirkungskreis war meist verschleiert; aber ich konnte auch manchmal direkt auf ihn wirken.

Meine ersten Eindrücke in Wien waren deplorabler Natur. Die meisten Beamten wußten kaum, was sie wollten, waren aber aggressiv gesinnt und spielten mit dem Feuer. Der Minister variierte zwischen vernünf- tigen und kriegerischen Anwandlungen.

Meine Ankunft änderte art- dieser Sachlage zwar wenig, doch bildeten sich dann in großen Umrissen zwei Parteien. ]\Ieine Freunde und ich wünschten eine Entente mit Rußland, nicht nur aus humanitären, son-

1,5 V. S z i 1 .1 s s y . Der Untcrcang der Donau-Monarchie. 22 ^

dern auch aus politischen Gründen, und Voraussetzung hierfür war, sich mit Serbien zu verständigen. Die an- dere Partei hielt eine solche Verständigung für ausge- schlossen und wollte daher möglichst rasch eine mili- tärische Abrechnung mit unserm Balkannachbar. Wenn Rußland sich einmischte, konnte man es nicht hindern ; die Militärs waren sogar mit letzterer Eventualität sehr einverstanden. Allerdings bestand ein Hauptunter- schied zwischen beiden ..Parteien" darin, ^aß während meine Freunde und ich, des Ernstes der Lage wohl be- wußt, auf unserm friedlichen Programm fest und kon- sequent verharrten (worin die russische Regienmg uns auch manchmal durch ihre Konzilianz half, dies von den andern nicht immer gesagt werden konnte. Sie änder- ten vielmehr oft ihre Ansichten und erschraken nicht selten im letzten Moment vor den Folgen ihrer eigenen Handlungen.

Eine Hauptstütze fand ich in meinen friedhchen Tendenzen in meinem alten Freund Baron ]Musulin, der später der letzte Österreichisch-ungarische Gesandte in der Schweiz wurde. Auch die Gesandten Pogatscher und Graf Nemes sowie der Sektionschef Baron Schlochta waren friedlich gesinnt. Die Häupter und Mitglieder der andern Partei will ich hier nicht nennen ; ihre Namen sind derart bekannt, daß sie selbst von der russischen Presse erwähnt \\airden.

Es war übrigens bei der Offenheit, mit der Diplo- matie damals bei uns von Berufenen und Unberufenen zugleich getrieben wurde, kein Wunder, daß manches über innere Zwistigkeiten durchsickerte, was vor dem Regime Berchthold im ehrwürdigen Ballhausplatzpalais rein unmöglich gewesen wäre.

So schrieb z. B. das russische Blatt ,, Rußkoje Slovo" (Nr. V. 17./30. März 191 3) unter dem Titel „Die

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Unbestimmtheit des österreichischen Kurses. Die Mit- arbeiter des Grafen Berchtholds" folgendes :

„Wien, 16./29. März. Ihr Korrespondent erhielt einige Informationen, die einigermaßen beleuchte«, warum in letzter Zeit die Handlungen der österreichi- schen Diplomatie oft so unplanmäßig und widerspruchs- voll waren.

Im Personale des dortigen Ministeriums des Äußern sind zwei scharf getrennte, einflußreiche Grup- pen zu unterscheiden : an der Spitze der einen steht der Sektionschef Szilassy ein Mann, der Berchthold nahe steht. Szilassy, der Rußland kennt und für dasselbe Sympathien hegt, ist Anhänger eines mit Rußland ein- heitlichen Vorgehens am Balkan und ein Feind der aggressiven Tendenzen.

Die Führer der andern Gruppe sind (es folgen die Namen). Alle diese sind Anhänger der traditionellen österreichischen Politik, interessieren sich für die Prestigefragen und wollen die russischen Bestrebungen nicht berücksichtigen.

Graf Berchthold selbst laviert und kann bis jetzt keine Wahl zwischen diesen Strömungen treffen.

Bei der Entscheidung aller laufenden Angelegen- heiten siegt einmal die eine, das andere Mal die andere Gruppe. Daher auch die Unentschiedenheit der öster- reichischen Politik und auch die volle Unmöglichkeit, ihre zukünftigen Schritte voraus zu sagen."

Bevor ich die Frage der Verantwortung der Unter- gebenen des Ministers abtue, will ich noch im allge- meinen zu ihrer Rechtfertigung bemerken, daß sie wohl meist, in ihren kriegerischen Momenten, davon über- zeugt waren, daß das Heil der Monarchie nur in einem Wafifengange mit Serbien zu finden sein würde. Das Unglück wollte es aber eben, daß Berchthold aus Pietät

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und Bequemlichkeit und auch aus Hilflosigkeit das Per- sonal seines \''orgängers fast ohne jede Veränderung übernommen hatte. Der energische, und wenn er sich auch zuweilen irrte, willenskräftige Graf Ährenthal be- durfte aber ganz anderer Mitarbeiter als sein Nach- folger. Und gerade das Verhängnis wollte es, daß die Hauptratgeber des ^Ministers stürmische jüngere Be- amte waren, die meist die große Politik und Rußland überhaupt nicht kannten; und die besonnenen älteren Elemente trauten sich selten, gegen die damals in ge- wissen feudalen Kreisen populär werdende Kriegspolitik energisch aufzutreten. Unter Ährenthal, der Rußland kannte und trotz seiner Fehler eminent friedlich ge- sinnt und seiner \'erantwortung bewußt war, hätten diese Herren keinen Schaden anrichten können.

Außerhalb des Ministeriums wurde der Kriegs- gedanke vornehmlich vom Chef des Generalstabs Grafen Conrad unterstützt. Außerdem huldigten viele höhere Offiziere denselben Tendenzen, und diese waren meist warme Anhänger des Erzherzogs Franz Ferdinand. Letzterer aber war damals, was immer seine frühere Gesinnung gewesen sein mag, geradeso wie sein kaiser- licher Onkel ein überzeugter Anhänger des Friedens.

Zu jener Zeit waren außer den genannten Personen viele Offiziere, chauvinistische Elemente des magya- rischen Adels und der Wiener christlichsozialen Par- teien kriegerisch gesinnt.

Als ich in Wien ankam, hatten die Russen eine „Probemobilisierung", wie sie es nannten, vorge- nommen. Ein leichtsinniges Spielen mit dem Feuer, das niemand täuschte und jedenfalls Rußland das Odium der ersten tatsächlich unfreundlichen Hand- lung zuschob. Unsere Beziehungen zu Serbien waren wegen des Korridors und des Adrialiafens sehr schlecht.

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Nun brachte man eines Tages dem Grafen Berchthold die Nachricht, daß es dem General Conrad gelungen war, Kaiser Franz Joseph den Befehl zur Mobilisierung mehrerer Korps an der serbischen Grenze abzuringen. Dies alles wurde hinter dem Rücken des Ministers des Äußern gemacht, was selbst die kriegslustigsten seiner Mitarbeiter ärgerte. Ich gab ihm den Rat, dem Kaiser zu sagen, daß, wenn der Befehl nicht rückgängig ge- macht würde, er seine Demission geben müsse.

Hierzu konnte sich der Minister aber nicht ent- schließen, *

Es vergingen einige Tage, und dann erschien der russische Botschafter, Herr von Giers, am Ballhausplatz mit dem Auftrage des Herrn Sazonow, diese ganze An- gelegenheit zu besprechen.

Die Heißsporne des Ministeriums wollten aber den Grafen Berchthold daran hindern. Für sie war die russische Demarche eine impertinente Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten, die sich die k. u. k. Regierung nicht gefallen lassen konnte. Ich machte geltend, daß der versöhnliche Zweck der Sache sowie die alten freundschaftlichen, persönlichen Beziehungen zwischen Berchthold und Sazonow auch in Betracht ge- zogen werden müßten, und schließlich gelang es mir auch, die Geister etwas zu beruhigen. Nun wurde aber unserer- und russischerseits mobilisiert. Dies alles machte die Atmosphäre nicht gemütlicher.

Kurz darauf kam es zur berühmten „Affäre Prohaska".

Prohaska war ein österreichisch-ungarischer Vize- konsul in einer albanischen oder altserbischen Stadt, die von den Serben genommen wurde. Eine Zeitlang blieb man ohne Nachricht von ihm, und die öffentliche Meinung erregte sich über sein Los durch lächerliche

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Märchen. Man ging soweit, zu erzählen, daß er von den Serben bis zum Verluste seiner Männlichkeit miß- handelt worden war. Die Wiener Zeitungen und na- mentlich die christlich-soziale „Reichspost", die dem Ministerium nahestand, waren von der Sache voll. Die Militärs und das Pressedepartement des Ministeriums des Äußern begünstigten diese Kampagne, die nach ihrer Meinung die öffentliche Meinung kriegsbereit machen sollte. Nach mancher Ansicht sollte die Affäre überhaupt den eleganten Anlaß zum Kriege bilden!

War diese Stellungnahme unverantwortlich, solange wir über Prohaska nichts wußten, so ward sie ver- brecherisch, als wir die offizielle Nachricht erhalten hatten, daß er sich in Sicherheit befand, und daß außer einigen kleinen Unannehmlichkeiten ihm gar nichts zu- gestoßen war. i\Ian verheimlichte aber diese Nachricht, ließ die Preßkampagne noch einige Tage währen, wobei das Schweigen der Regienmg Raum zu den schwär- zesten Legenden ließ und die Luft noch mehr vergiftete. Ich hatte diesbezüglich eine ernste Unterredung mit dem Chef des Pressedepartements, w^elcher immer noch kein Communique ausgeben und mir einreden wollte, daß das ganze Land den Krieg wünschte. Ich stellte dies in Abrede und erwiderte, daß nur die Christlich- sozialen und der Generalstab kriegerisch gesinnt seien.

Endlich gelang es mir nicht ohne Mühe, Berchthold davon zu überzeugen, daß es eine Sünde wäre, nicht sofort den Tatbestand über Prohaska zwecks Beruhi- gung der öffentlichen Meinung zu publizieren was dann, auch gegen den Willen des Pressedepartements, geschah.

Es war meist derselbe circulus vitiosus. Der Minister war von Natur aus konziliant, doch gelang es den kriegerischen Elementen, ihn zu verhetzen, und

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dann redete er nur Feuer und Flamme. Sodann mußte ich ihm die schreckliche Verantwortung darlegen, die er durch Entfesselung der Katastrophe auf sich laden würde. Manchmal waren es gerade diejenigen, die ihn verhetzten, die nachher aus Angst mich ersuchten, ihn wieder zu beruhigen. Ich erinnere mich nicht mehr an den Anlais, aber ich weiß sehr gut, daß spät an einem Abende, als Graf Berchthold von zwei dieser Herren gründlich verhetzt worden war, sie mich dann zu ihm zu gehen baten. ,,Du allein kannst noch die Sache retten" war ihr Vade mecum. Einer dieser Herren hat sich seither über meine Wiener Tätigkeit als eine , »Si- nekure" geäußert. Er wird vielleicht jetzt seine Mei- nung darüber geändert haben!

Die geringsten Inzidenzfälle konnten eine tragische Wendung nehmen, denn für die Militärs waren alle Vor- wände gut und sie wurden dem Minister oft zu leicht aufgetischt. So war Graf Berchthold. unter ihrem Ein- fluß, eines Tages nahe daran, es als eine unerträgliche Demütigung zu empfinden, daß Rußland und England und nicht wir auf der Londoner Konferenz die Schaf- fung des' selbständigen Albaniens vorschlugen statt sich dessen als eines bedeutenden diplomatischen Er- folges zu erfreuen.

Auch äußerte Herr Pasitsch den Wunsch, nach Wien zu kommen, um die Lage zu besprechen, erhielt aber nie hierzu eine Zustimmung seitens des Ministers des Äußern.

In den Konferenzen kam immer wieder die Frage aufs Tapet, ob im Falle eines Krieges zwischen uns und Serbien Rußland sich daran beteiligen würde oder nicht. Ein Hauptratgeber des Ministers vertrat energisch die Ansicht, daß dies nicht der Fall sein würde und daß alle russischen Vorbereitunegn eitler Bluff seien.

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Berchthold, der Rußland kennen mußte, war eigentlich vom Gegenteil fest überzeugt, und es genügte meist einer kleinen Stütze meinerseits, um diese Überzeugung vollständig zu kräftigen.

Eines Tages, als ich die Meinung vertrat, daß die russische öffentliche Meinung die Preisgabe Serbiens niemals dulden würde, antwortete mir dieser Herr dem vielleicht die seither gründlich geänderte Situation zur Zeit der Annexion Bosniens, die er schon im Mini- sterium mitgemacht hatte, vorschwebte „daß es in Rußland keine öffentliche Meinung gäbe". Ich ent- gegnete, daß im Gegenteil die nationalistische Partei in Petrograd so stark sei, daß sie selbst den Thron weg- fegen würde, wollte man Serbien noch einmal preis- geben. Bei einer anderen Angele'genheit, als er Ruß- land mit stärksten Worten angriff, fand er es auch nötig, seine Verwunderung darüber auszusprechen, daß ich diese Gefühle nicht teilte. Es bedeutete, meinen Patrio- tismus direkt in Frage stellen. Ich antwortete aber nur auf seinen Vorschlag, eine besonders starke Note nach Petrograd zu schicken : „Dann schließen wir lieber das Ministerium des Äußern, denn was diese Arbeit anbe- langt, so wird das Kriegsministerium dieselbe ohne Zweifel viel besser verrichten.'' Und dies alles geschah vor den Augen des Ministers, der sphinxartig dasaß und sich jeder Äußerung enthielt.

Da ein großer Teil der Armee mobilisiert war, boten die Militärs alles auf, um den Krieg herbeizufüh- ren, und zwar nicht nur aus politischen, sondern gewiß auch aus selbstsüchtigen Karriere- und Übermutsgrün- den. Wie viele es aufrichtig mit ihrer Theorie, daß der Krieg die Rasse stärke der moderne Krieg, der alles Gesunde hinwegrafift oder zum Krüppel schlägt! und verjünge, gemeint haben, bleibe dahingestellt. Jeden-

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falls wuchs der Kriegswahn mit zunehmender Nervosi- tät in der Armee erheblich, und alle höheren Offiziere, die ich damals in Wien traf, hatten den einen Wunsch, möglichst schnell die Operationen zu beginnen. Der Marinekommandant, Admiral Haus, fragte mich einmal im Vorzimmer des Grafen Berchthold und ohne jeden guten Grund: ., Können Sie uns den Krieg nicht arran- gieren?" Hoffentlich war seine Kenntnis der Marine seiner Menschenkenntnis überlegen.

Aber die Seele der Kriegspartei und der Kriegsagi- tation war, wie gesagt, der General Conrad. Um ihn wurde nicht nur in höheren Offizierskreisen, sondern auch in gewissen gesellschaftlichen, meist aristokrati- schen Koterien ein wahrer Kultus getrieben. Einmal befand ich mich als Nachbar einer Dame, die mit Con- rad befreundet war, bei einem Frühstückstisch. Sie leitete unsere Konversation mit den Worten ein: .,rch wollte lange Ihre Bekanntschaft machen, da ich Ihre pazifistischen Ideen kenne; aber es gibt Fälle, wo man selbst über einen Haufen von Leichen zum Ziele gelan- gen soll. Ich bin eine Frau, und dennoch sage ich dies."

Conrad war gewiß eine interessante Gestalt, und seine eminenten Fähigkeiten machen ihn für seine Hand- lungen voll verantwortlich. Er selbst ist wohl der letzte, der in irgendeinem geistigen Mangel eine Zu- flucht vor der A^erantwortung suchen würde. Er war überzeugt, daß, so wie die Welt heute ist, der Krieg mit Serbien, Rußland und wahrscheinlich auch Italien unvermeidlich war, und hielt es für wünschenswert, daß der Krieg in einem Moment erfolge, da unsere Partei den Gegnern überlegen war und nicht gegen drei Fron- ten auf einmal geführt werde. Psychologisch aber war er ein typisches Produkt des Militarismus, denn nicht nur hat er zur Verhütung des Krieges nichts versucht,

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er tat im Gegenteil sein möglichstes, um ihn herbeizu- führen.

In das Innere der Menschen vermag man nicht hin- einzusehen, und ich weiß nicht, ob ein hoher k. u. k. Minister recht hatte, der mir gegenüber Conrad stets als ,, blutdurstiges Wesen" bezeichnete. Vielleicht war die Bemerkung, die Kaiser Franz Joseph mir gegenüber machte: , .Conrad sei gescheit, aber nicht klug", zu- treffender, '

Wie dem auch sei, der Generalstabschef spürte, als die Londoner Konferenz große Konzilianz an den Tag legte und ihr \'erlauf ein friedliches Resultat erhoffen ließ, daß der Moment der Demobilisierung bald kommen und daß ihm der Krieg entgehen würde. Daher über- schüttete er den armen Grafen Berchthold mit geheimen Memoiren, in denen er durch ein Argument an einem Tage und durch ein anderes am nächsten zu beweisen suchte, daß ein Krieg mit Serbien für unsere Sicherheit nötig sei. und daß. wenn Rußland sich einmischen wollte, man wenigstens die Möglichkeit hätte, die mit diesem Lande bestehenden, stets wachsenden Differen- zen zu beseitigen. Der Minister beauftragte mich dann, in Briefen und Gedenkschriften diese Argumente zu entkräften.

Meine Argumentation war sehr einfach und resü- mierte sich dahin : Als halbslawische Macht müßten wir mit den Balkanslawen und somit mit den Serben uns verständigen, was, wie bereits dargelegt, mir möglich erschien. Einen Krieg mit Rußland aber, der die un- bedingte Folge des Krieges mit Serbien sein würde und wiederum seinerseits den Weltkrieg heraufbeschwören müßte, könnten wir auf keinen Fall führen. 'Denn wenn unsere Niederlage das Ende der Monarchie sein würde, so würde unser Sieg auch kaum etwas Besseres

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bedeuten, denn derselbe würde in Rußland die Revo- lution auslösen, und hierdurch würden unsere Slawen auch mitgerissen werden. Außerdem hielt ich den mo- dernen Krieg für das größte Unglück, das die Mensch- heit befallen könnte.

In einem gewissen Momente wurde diese Pression Conrads auf Berchthold so unerträglich stark, daß der letztere sich entschloß, eine Entrevue zwischen dem Ge- neral und mir zu arrangieren, bei der mir die Aufgabe zufallen sollte, ihn von seiner Kriegspolitik abzu- bringen.

Unser Rededuell fand dann an einem Sonntag nach dem Familienfrühstück beim Grafen Berchthold statt, dem außer der Gräfin und meiner Schwester nur noch ein kriegerisch gesinnter Adjutant beiwohnte.

Wir stritten fast zwei Stunden in sehr courtoiser Form, aber ohne zu irgendeiner positiven Konklusion zu gelangen. Allerdings waren wir darin einig, daß man auf Italien sehr aufpassen müsse und dessen weitgehende Wünsche nicht erfüllen könne. Auch kamen wir darin überein, daß ein Feldzug mit Serbien notgedrungen den Krieg mit Rußland zur Folge haben würde. Unsere Ansichten aber gingen ganz auseinander erstens in der Einschätzung der uns seitens Serbiens drohenden •Gefahr, die der General überschätzte, zweitens .bezüglich des Ausgangs und den Kensequenzen eines Krieges mit Rußland und schließlich betreffs des Krieges überhaupt, den er für die Monarchie für nützlich hielt.

Der Kaiser interessierte sich lebhaft für diese En- trevue und fragte den Minister bei nächster Gelegen- heit : „Wie war es, hat er ihn überredet ?", worauf Graf Berchthold, soviel ich mich erinnere, antwortete, er könne dies nicht versichern, aber glaube, meine inter- essanten Darstellungen hätten doch Eindruck gemacht.

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All dies geschah am Anfang des Jahres 191 3; doch führten diese Machenschaften zu keinem Resultate. Iin Gegenteil, man gelangte bald sowohl in Wien wie in Petrograd zum weisen Schluß, daß es gefährlich, ruinös und lächerlich sei, die Mobilisierung weiter auf- rechtzuerhalten. Prinz Gottfried Hohenlohe, der spä- tere Botschafter in Berlin, der als früherer Militär- attache in Rußland der besonderen Gunst des dortigen Hofes sich erfreute, wurde in besonderer Mission nach Petrograd entsendet. Er trug einen Brief Kaiser Franz Josephs an Kaiser Nikolaus, in dem unsere schwierige Lage Serbien gegenüber und unsere aufrichtigen Frie- denswünsche dargelegt waren. Diese Mission ging hi- folge des beiderseitigen Mißtrauens nicht ganz glatt von- statten. Es fanden erregte Wortwechsel zwischen Hohenlohe und Sazonow statt, und während seiner Audienz beim Kaiser sagte ihm dieser: ,.Eh bien! si vous voulez la guerre, vous l'aurez, mais alors votre Empe- reur et moi nous nous bousculerons sur nos trones !" Doch endete alles gut und es trat eine Detente ein, da man sich wenigstens bezüglich der Demobilisierung einigte. Die amtlichen Blätter führten nun eine versöhn- liche Sprache.

Schließlich wurde die Demobilisierung an der russi- schen Grenze auch beiderseits durchgeführt. Das !Merk- würdige war aber, daß man in dem betreffenden Noten- wechsel sich keinerseits genierte, die Gefahren und den unfreundlichen Charakter dieser Maßnahme hervorzu- heben. Und doch hatten wir damals, als die Mobilisie- rung durchgeführt wurde, in einem Telegramme von historischer Länge Rußland klarmachen wollen, daß dieselbe auf keinen Fall gegen es gerichtet war.

Gelegentlich der Verhandlungen über die Demobili- sierung hatte mein Freund Thurn, unser Botschafter

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in Petrograd, einen unangenehmen Zwischenfall. Wir waren, wie gesagt, damit einverstanden, im Norden zu demobilisieren, glaubten es aber nicht im Süden auch tun zu können. Rußland wünschte daher wenigstens von uns die Erklärung, daß wir durch die Demobilisie- rung keine feindlichen Absichten gegen Serbien hegten. Wien und Petrograd waren über den Text eines am gleichen Tage bezüglich der österreichisch-russischen Demobilmachung zu erscheinenden Communiques einig, aber man empfand bei uns den russischen Wunsch, daö wir überdies eine im obengenannten Sinne gehaltene Erklärung abgeben sollten, als eine Demütigung und wir willigten daher in den betreffenden Zusatz nicht ein. So einigte man sich schließlich, die betreffenden Com- muniques an einem bestimmten Tage ohne Zusatz er- scheinen zu lassen.

Nun, an einem schönen Tage lasen wir das russische Communique. Nur hatte man nach demselben, aller- dings ganz abgesondert aber es machte den Em- druck eines einheitlichen Ganzen , die Erklärung pu- bliziert, „daß die russische Regierung sich während der Verhandlungen davon hätte überzeugen können, daß Österreich-Ungarn gegen Serbien gar keine feindselige

Absicht hegte".

Dies wirkte am Ballhausplatz wie ein Blitz. Der Minister war abwesend, und an seiner Statt präsidierte ein Sektionschef der Konferenz, welche, wie ich sicher war, sich mit dieser Angelegenheit befaßte. Man hatte mich zu derselben zwar nicht eingeladen, aber ich trat unberufen ein. Der Präsident apostrophierte mich nun mit den Worten : „Siehst du nun also, was für ein Mann dein Freund Sazonow ist?" Man zeigte mir den Entwurf eines für die russische Regierung sehr harten Gegeii- communiques, welches dieselbe des Mangels an Loyali-

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tat beschuldigte. Mit großer Mühe gelang es mir, in- dem ich die ganze Verantwortung auf mich nahm, d .3 Communique wesentlich milder stimmen zu lassen. Trotzdem ich gebeten hatte, den Bericht des Grafen Thurn abzuwarten, um zu sehen, ob er nicht selbst viel- leicht die Sache verschuldet hätte, war es mir nicht mög- lich, mehr zu erreichen.

Glücklicherweise hatte man meinen Rat wenigstens teilweise befolgt, denn unserer sofort erschienenen Er- klärung folgte wieder sofort eine offizielle Deklaration der russischen Regierung, welche besagte, daß sie un- sere Einwände nicht verstehe, da das Communique und der Zusatz mit voller Einwilligung des k. u. k. Botschaf- ters erschienen war.

Darüber interpelHert, berichtete schließlich auch Graf Thurn, daß dies in der Tat der Fall gewesen, und motivierte seine Haltung damit, daß Herr Sazonow dar- auf bestanden und sich davon überzeugt hätte, daß, wenn wir nicht nachgegeben hätten, Rußland nie zur Demobilisierung geschritten wäre, was im letzten Ende den Weltkrieg zur Folge gehabt hätte.

Thurn wurde die Sache übelgenommen, und da er aus Gesundheitsrücksichten zurücktreten wollte, ent- schloß sich Berchthold, seine Demission nun anzu- nehmen.

Er wollte überhaupt keinen Botschafter momentan nach Rußland schicken, sondern schlug dem Kaiser vor, mich als bevollmächtigten Geschäftsträger nach Petrograd zu entsenden.

„Gerade wollte ich es Ihnen meinerseits vorschla- gen", war die Antwort des alten Herrschers. Doch aus der Sache wurde nichts und Thurn blieb noch eine Weile auf seinem Posten. '

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Die Stellung Thurns war unter solchen Umständen natürlich keine leichte. Er hatte zu oft das Gefühl, zur Erhaltung des Friedens mitgewirkt zu haben, aber zu- gleich den Eindruck, daß dies bei uns gar nicht er- wünscht sei. Er schrieb mir schon im Dezember 1912: ..Ich kenne mich wieder einmal in der allgemeinen Si- tuation gar nicht aus. Nach allem, was ich hier sehe uiid höre, müßte ich glauben, daß wir auf dem besten Wege zu einer friedlichen Lösung aller Streitfragen im besten Einvernehmen mit Rußland sind. Alle Nach- richten, welche mir aber aus den verschiedensten Quellen aus der Monarchie zukommen, lassen darauf schließen, daß man dort mit dem Kriege als mit einer schon kaum mehr abzuwendenden Eventualität recli- iiet." Und weiter: „Wie ist nun angesichts all dieser günstigen Symptome die Kriegsstimmung bei uns zu erklären? Will man denn jetzt bei uns den Krieg? Ich kann mir doch nicht vorstellen, daß in Wien ein solcher bodenloser Leichtsinn die Oberhand gewonnen hätte ! Ich sollte meinen, daß es jetzt bei einigem guten Willen, und wenn man die Sache/ mit Serbien nicht ge- radezu mutwillig durch Voranstellen neuer Forderungen auf die Spitze treiben will, ganz leicht möglich sein müßte, eine Lösung zu finden, bei der wir auf fried- liche Weise verhältnismäßig ganz gut herauskommen würden. Den Vorteil, den man, wie ich glaube, aus der Situation hätte ziehen können, wenn man von Anfang an eine ganz andere Politik gemacht hätte, wie sie uns damals vorschwebte, haben wir allerdings aus der Hand gegeben. Aber das ist jetzt nicht mehr zu ändern und würde auch durch einen Krieg nicht wieder gut- zumachen sein.

Da aus den Weisungen, die ich bekomme, auf obige Fragen keine plausible Erklärung gefunden

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werden kann, wäre ich Dir ganz hervorragend dankbar, wenn Du mir mit der nächsten sicheren Gelegenheit recht ausführlich schreiben wolltest."

Zu dieser Zeit erhielt ich eines Tages das vom Kaiser Nikolaus verliehene Großkreuz des Ordens von St. Stanislaus, „in Erinnerung an meinen Aufenthalt in Rußland", wie das ofTizielle Schreiben lautete. Die De- koration entsprach meinem Range und hatte nichts Außergewöhnliches an sich, aber die sie begleitende, so seltene und inofifiziell gehaltene Phrase erfüllte mich doch mit großer Genugtuung.

Die Mobilisierung und Demobilisierungskrise waren nun glücklich überwunden, nicht aber die Kriegs- gefahr, denn die Kriegspartei hörte nicht mit ihren Ver- hetzungen auf. Als Vorwand sollte ihr nun die Frage der Abgrenzung zwischen Serbien und Albanien dienen, welche damals eine der brennendsten Fragen der Lon- doner Konferenz bildete.

Rußland wollte ein so starkes Serbien wie möglich, und wir gaben in manchen Punkten nach. Doch war es notwendig, daß Albanien auch lebensfähig sei, und daher konnte man ihm unmöglich alle an seiner Ostgrenze gelegenen Städte, welche bedeutende Märkte für die Gebirgsbevölkerung darstellten, wegnehmen. Doch war es gelungen, diesen Streit auf die Zugehörigkeit der vier Städte Ipek, Prisren, Dibra und Djakova zu be- schränken. Im geheimen dachte Graf Berchthold, daß, um den aufs neue mit Rußland drohenden Streit zu verhindern, wir auf die zwei ersten Städte verzichten könnten, wenn Albanien dafür die zwei letzten erhalten sollte. Diese unsere letzte Konzession wurde man vermutete, durch das italienische Kabinett, dem es mit- geteilt wurde der russischen Regierung verraten. Dieses verlangte nun vollen Verzicht auf alle \ icr

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Städte und gab uns zu wissen, daü es diesbezüglich in kein Kompromiß einwilligen würde. Unsere Infor- mationen ließen darüber keinen Zweifel zu, daß dies Ernst sei und daß die russische Regierung, nachdem sie in der albanischen Frage und bezüglich des Korridors nachgegeben hatte, nicht gesonnen war, uns irgend- welche weitere Detailzugeständnisse zu machen.

Der Krieg war in der Luft, und ich konnte gefähr- liche Schwankungen und kriegerische Velleitäten beim ]^.Iinister beobachten. Da entschloß ich mich, da wir doch im wesentlichen alle unsere Desiderata er- reicht hatten und es nun schier unmöglich erschien, wegen zweier albanischer Städte die Menschheit mit dem Weltkriege zu beglücken, die heftigste Opposition zu machen. Ich überreichte dem ^Minister ein Memoire, welches die Preisgabe der vier Städte forderte. Einen ganzen Tag wurden Verhandlungen geführt. Der Mi- nister empfing nacheinander Besuche und ging dann mehrmals zum Kaiser und König, welcher den Krieg nicht wollte. Aber die Atmosphäre war gespannt und die Erregung hatte ihren Höhepunkt erreicht. Viel- leicht deshalb, weil es billig gewesen wäre, Dibra und Djakova aus ethnographischen und namentlich ökono- mischen Gründen bei Albanien zu belassen ; sicherlich aber hauptsächlich deshalb, weil die systematische Ver- hetzung der Kriegspartei nicht ohne .^Virkung geblieben war und die zwei genannten Städte der Tropfen .,qv.i fait deborder la coupe" zu werden drohten I

Eine Wendung zum Besseren trat rein zufällig ein. Unser Gesandter in Cettinje, General Baron Giesl, war gerade in Wien angekommen und suchte mich in , meinem Amte auf. Als ich mit Entsetzen die Situation schilderte, da fuhr er ganz betroffen auf: „Aber ihr werdet doch wegen dieser zwei albanesischen Räuber-

16 V. S z i 1 a s s y , Der Uiitcrgane der Donau-Monarchie.

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nester den Weltkrieg nicht machen?*' Er kannte diese Gegend ausgezeichnet und galt für nicht weniger als für einen unbedingten Pazifisten. Seine Erscheinung auf der Bildfläche war daher für die Friedenssache un- schätzbar. Ich entgegnete ihm daher : „Jetzt gehst du sofort hinauf zum Minister und erzählst ihm dies alles." Inzwischen war aber der Graf Berchthold weggegangen, und als er zurückkehrte, w^ar General Giesl wieder nicht da. Als ich dem Minister über meine Unterredung mit Giesl berichtete, machte dies auf ihn sichtbaren Ein- druck, und es wurde überall in der Stadt herum- geschickt, um Giesl zu finden. Endlich erschien er wieder, und es gelang dann uns beiden, bei der be- treffenden Beratung den friedlichen Standpunkt durch- zusetzen. Man machte mich für die Folgen verant- wortHch, was ich gerne annahm. Schließlich bestimmte am späten Abend der Kaiser, daß man nachgeben würde, und zwar trotz der enormen Pression, welche die Militärs auf ihn auszuüben trachteten.

Sei es bei dieser Gelegenheit oder bei einer andern, ich weijß es nicht mehr, aber einmal fand mich der ]\Iinister übertrieben pazifistisch und ging fast unge- duldig weg, um die Befehle des Herrschers einzuholen. Bei seiner Rückkehr lieis er mich holen und sagte mir, daß der Kaiser ihm dasselbe gesagt habe wie ich. „Dann",, antwortete ich, ,,bin ich beruhigt, denn ich befinde mich also in guter Gesellschaft."

Wir waren wieder über die Klippe, aber die Schwankungen des Ministers und seine zunehmende Nervosität und Schwäche flößten mir die größten Be- denken für die Zukunft ein. Ich fragte daher eines Tages den alten General Baron Fejerväry, mit welchem ich verschwägert und welcher bei Hof persona gra- tissima war, ob er nicht den Kaiser auf die Gefahren

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aufmerksam machen könnte, die ein weiteres Verbleiben des Grafen Berchthold im Amte mit sich bringen würde. Fejervary, welcher trotz seiner rühmlichen militärischen Laufbahn davon durchdrungen war, daß die Entfesse- lung des \\'eltkrieges ein Verbrechen wäre, welches auf jeden Preis vermieden werden sollte, war durch meine Worte impressioniert, bemerkte aber, daß der Kaiser niemals zugeben würde, daß jemand ihm außerhalb seiner eigenen Kompetenzsphäre Ratschläge erteile und daß ihn die auswärtige Politik nichts angehe. Er war in der Tat damals im Ruhestande und Kommandant einer Leibgarde. Er fügte aber hinzu, daß ich keine Angst zu haben brauche, denn der Kaiser würde den Krieg doph nie zugeben. Wäre der arme Kaiser zwei Jahre später noch geistig völlig normal gewesen, so hätte sich diese Prophezeiung sicherlich bewährt.

Es ist bezeichnend für die Leidenschaft, welche die politische Atmosphäre damals sowohl bei uns wie in Rußland beherrschte, daß in beiden Ländern behauptet wurde, daß die eigene Regierung von der anderen eine diplomatische Niederlage erlitten habe. Aus dem könnte geschlossen werden, daß keines der beiden Wesent- liches verscherzt habe. Rußland hatte zwar seinen ser- bischen Klienten großgezogen und ihm den Handels- hafen gesichert; wir hatten aber dafür Albanien er- richtet und außerdem den, meiner Ansicht nach, aller- dings sehr problematischen Erfolg errungen, Serbien politisch und territorial von der Adria ferngehalten zu haben.

Es war nur natürlich, daß meine friedlichen Be- strebungen die \\'ut der kriegerischen Kreise auf meine arme Person zogen. In gewissen Salons wurde erzählt, daß ich von Rußland bestochen war, und die „Reichs- post" beehrte mich im Leitartikel ihrer Osternummer

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mit einem verschleierten Angriff. Der Artikel war in der Form eines „Briefes an einen österreichischen Staats- mann" (offenbar Berchthold) gehalten. Es wurde de,s früheren Ministers des Äußern, Grafen Mensdorft*, ge- dacht, welcher gute Ideen gehabt hatte, aber derart unter dem verderblichen Einflüsse eines Ratgebers, des Grafen Moritz Esterhazy, gestanden hat, daß es diesem gelang, alle seine energischen Pläne zu vereiteln. Der Artikel bemerkte dann: ,,Und so begab er sich gegen- über dem unseligen Ratgeber in eine Abhängigkeit, welche gegen seine eigene bessere Erkenntnis die Katastrophe heraufbeschwor. Sie werden, Exzellenz, in Personalien besser bewandert sein als ich, aber viel- leicht stimmen Sie mir bei, daß das Schicksal des ^be- dauernswerten Grafen Mensdorff für unsere Zeit nicht abschreckend genug gewirkt hat. Es ist seltsam, wie die sonst so erfinderische Geschichte sich selbst mitunter zu wiederholen scheint. Ich hoffe, es geschieht nicht zu demselben Ende."

Ich las diesen Artikel am Ostermorgen im Eisen- bahnzuge auf dem Wege zur Rax und fragte mich, wer wohl gemeint sein könnte,, da ich zu bescheiden war, mir selbst diese beehrende Erwähnung zuzuschreiben. Später aber mußte ich doch daran glauben, denn das Pressedepartement konnte dies ohne Zweifel feststellen. Man habe sogar, wie ich erfuhr, zuerst meinen Namen nennen und mich persönlich angreifen wollen, habe dann aber, vielleicht weil dies lächerlich gewesen wäre, davon Abstand genommen.

In diese Zeit fällt auch eine Audienz, welche mir der Kaiser und König gewährte. Er geruhte, meine Tätigkeit zu loben, sprach lange mit mir über unsere Beziehungen zu Rußland und bemerkte nament- lich, daß alles aufgeboten werden müsse, um dieselben

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im Interesse des Friedens freundlicher zu gestalten. Er erging sich in Details, befragte mich sogar über die Parteien der Duma, welche uns freundlicher gesinnt Avären.

Das Frühjahr brachte noch große Aufregungen wegen Skutari, welches die Montenegriner, trotzdem die Londoner Konferenz diese Stadt Albanien zu- gesprochen hatte, sich zu räumen weigerten. Nun, die Konferenz hatte diesen Beschluß wohl platonisch, gegen ihre Überzeugung, aus Konzilianz gefaßt ; sie dachte abei* nicht daran, denselben mit den Wafifen durch- zuführen.

Es hatte übrigens schwieriger Verhandlungen be- durft, bis das russische Kabinett bestimmt werden konnte, diese wichtige Stadt, welche es für seinen monte- negrinischen Klienten sichern wollte, Albanien zu über- lassen.

Und doch gab Rußland schließlich, wenigstens prinzipiell, nach. Wir waren aber noch lange nicht über den Berg, denn der König von Montenegro, die dunkle diplomatische Situation richtig einschätzend, ließ sich noch bitten, bevor er seineft Truppen den Befehl zum Rückzuge gab, und weder Rußland noch Italien wollten von einer einseitigen österreichisch-ungarischen militä- rischen Aktion hören.

Die zu dulden, wäre auch für Rußland ganz un- möglich gewesen, wollte es nicht sein Prestige am Balkan für immer verscherzen. Die Idee aber einer Kooperation mit Italien, unter einem europäischen Mandat, welche momentan auftauchte, wäre für uns Italien wollte es übrigens nicht, soviel ich mich er- innern kann keine günstige Lösung gewesen.

Berchthold entschloß sich nun, an Montenegro ein Ultimatum zu richten. Ich schätzte sehr wohl die

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\\'irkung dieser ^Maßnahme auf unsere Beziehungen zu Rußland ein. In Anbetracht der fieberhaften Atmo- sphäre konnte ich dies aber nicht verhindern, wollte ich nicht direkt als Verräter gelten und somit jeden Einfluß verlieren.

Ich rechnete darauf, daß entweder Montenegro nachgeben würde oder daß im entgegengesetzten Falle es bei den Schwankungen unserer Machthaber immer noch, trotz des Ultimatums, möglich sein werde, die faktischen kriegerischen Operationen zu verhindern.

Das russische Kabinett wurde aber ob dieses Ulti- matums sehr erbost, und es fehlte nicht viel daran, daß es wieder mobilisieren ließ. Selbst Herr Sazonow, der meine konziliante Haltung durchaus kannte, nahm die Sache so zu Herzen, daß er mir sagen ließ, er begreife nicht, daß es mir, welcher die russische Mentalität kenne, nicht gelungen sei, die Stellung des Ultimatums hintanzuhalten.

Diesbezüglich schrieb mir Graf Thurn am lo. März aus Petrograd :

,,Es ist ganz natürlich, daß wir von Montenegro für die gegen die .Skodra' gerichteten Übergriffe Ge- nugtuung verlangen und die Redressierung der gewalt- samen Konversionen und Bestrafung der Mörder des R Kalic verlangen. Diese Forderung wurde auch von Sazonow ohne weiteres als berechtigt anerkannt und von ihm in Cettinje unterstützt.

Warum wir aber in der Frage der Beschießung von Skutari uns gerade jetzt von den übrigen I\Iächten trennen und die Entrüstung ganz Europas auf uns laden müßten, demgegenüber wir wieder in der Eigen- schaft des Friedensstörers erscheinen, will mir nicht ein- leuchten. Mit etwas Geduld und Ruhe wäre alles im Guten zu ordnen gewesen. Sazonow war ja bereit, urbi

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et orbi zu erklären, daß. was immer geschehe, Skutari zu Albanien kommen müsse, und hieran im Verein mit den übrigen Mächten die ernsten Ratschläge zu knüpfen, von dem ganz überflüssigen weiteren Blutvergießen abzusehen. Wahrscheinlich wäre auch auf diesem Wege die weitere Beschießung der Stadt verhindert worden. Aber auch im schlimmsten Falle, wenn Montenegro auf diese Ratschläge nicht gehört hätte, frage ich mich, ob man bedacht hat, daß für jeden Albanesen, dessen Leben man vielleicht hätte retten können, viele Tau- sende von Österreichern und Ungarn auf dem Schlacht- felde verbluten müssen, wenn es wegen dieses Mangels an Geduld zu einem europäischen Kriege kommt. Die öffentliche Meinung hier ist noch in einen so hohen Grad der Nervosität und Animosität gegen uns verhetzt worden, von der selbst Du, der Du die Verhältnisse kennst, Dir schwer einen Begriff machen kannst. Es erscheint mir als ganz und gar ausgeschlossen, daß sich Sazonow gegenüber der allgemeinen Stimmung halten könnte, wenn wir uns zu einem selbständigen bewaff- neten Einschreiten gegen Montenegro hinreißen lassen. Daß uns dies auch mit Serbien in Konflikt bringt, ist bei dem Bundesverhältnis zwischen Montenegro und Serbien kaum zu bezweifeln. Sind wir aber erst auch mit Serbien in bewaffnetem Konflikt, da möchte ich dafür gutstehen, daß keine i\Iacht der Erde die Russen mehr zurückhalten wird, mit ihnen cause commune zu machen.

Es ist wirklich zu traurig, jetzt, wo wir sozusagen schon fast im Hafen angelangt zu sein schienen, alles wieder in Frage gestellt zu sehen, und die Aussichten sind schwärzer als je.

Wie gut wäre es gewesen, wenn damals zur Ro- manowfeier. v\-enn auch vielleicht in einer anderen

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Form, als ich es vorgeschlagen hatte, der \>rzicht auf Djakova ausgesprochen worden wäre, statt damit so- lange zu warten, bis die andern Ereignisse uns debor- dierten."

Der Botschafter schrieb mir dann wieder unter dem 28. März bezüglich dieser Episode :

..Ich sehe mit einem Schlage alle Arbeit, welche wir (Du und ich) seit zwei Jahren aufgewendet haben, um allmählich eine Besserung der Beziehungen herbei- zuführen, zerstört. Der ausgezeichnete Eindruck, den der Brief unseres allergnädigsten Herrn auf Kaiser Nikolaus gemacht hatte, ist verwischt, und allen In- trigen und IMachinationen von gewisser, Dir wohl- bekannter Seite sind Tür und Tor geöffnet.

Aus meinem einschlägigen Telegramm und meinem heutigen Bericht wirst Du sehen, daß ich die Überzeu- gung habe, da£ unser Verhältnis zu Rußland eine neue Belastungsprobe in der Art der letzten nicht mehr aus- halten wird."

Schließlich gab bekanntlich König Nikita es ist noch recht dunkel geblieben, warum nach. Skutari wurde geräumt und der Weltfrieden gerettet.

Diese Episode hatte aber das Thermometer der österreichisch-ungarisch-russischen Beziehungen auf den Gefrierpunkt fallen lassen oder vielmehr auf den Siedepunkt gebracht. War die Erregung, welche die Sache in Petrograd auslöste, groß, so war dies. wer wußte darum, da wir als Sieger aus dem Notenstreite herausgekommen? bei uns nicht minder der Fall. Als Montenegro schließlich nachgegeben, wurde der Krieg von unsern Hetzern wegen einer reinen Form- sache beinahe doch noch entfesselt. Der König der Schwarzen Berge hatte nämlich die Frist dieses Ulti- matums nicht genau eingehalten, und dies erschien

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unscni Matadoren als Casus belli genügend. Kaiser Franz Joseph machte aber glücklicherweise diesen Machenschaften ein Ende, indem er dem Minister er- klärte, nichts A'on der Sache hören zu wollen, da, wie er hinzufügte, „es nicht ritteriich wäre".

Nach der endgültigen Erledigung dieser An- gelegenheit trat da die wichtigsten Fragen in London bereits prinzipiell geregelt waren eine Accalmie in unseren Beziehungen zu Rußland ein.

Ich benutzte diese Gelegenheit, um den Minister um Gewährung eines längeren Urlaubes zu bitten, welclien ich Ende Mai antrat. Meine Stellung war wirklich nicht beneidensAvert, und da ich keinen be- stimmten Wirkungskreis hatte, trat ich in letzter Zeit nur dann hervor, wenn ich wollte, oder vielmehr, wenn es mein Gewissen mir gebot. Für die meisten meiner Kollegen war ich eigentlich der ärgste ..Spielverderber", denn sie sahen mich eigentlich nur in den Momenten, wenn ich als Vertreter der friedlichen Lösungen auf- trat. Sonst konnte ich ganz unbemej-kt in mein Amt hineinschlüpfen und von dort wieder herausgehen und die Zeit dort mit der Lektüre aller politischen Einlaufe verbringen. Ich hatte ja nur einen Chef, und er berief mich selbst selten und immer seltener zu sich. Ich machte meinem Bruder gegenüber den schlechten Witz, daß die Tür meines Amtes sich ebensogut auf der Stra- ßenseite wie auf dem Korridor hätte befinden können.

Trotzdem diese Lage wenig erquicklich war, hätte ich noch ausgeharrt, wenn ich das Gefühl gehabt hätte, Einfluß zu besitzen oder daß neue Krisen bevorständen. Indes war beides nicht mehr der Fall.

Wie mein Freund Thurn'meinen.Abgang beurteilte, geht aus folgenden Zeilen hervor, welche er mir am 23. April aus Petrograd schrieb :

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„Dein letzter Brief hat mich recht betrübt, da ich daraus ersehe, daß im Ministerium jene Strömungen definitiv die Oberhand behalten haben, die mit einer Politik, wie Du und ich sie vor Augen hatten, und die auf die Anbahnung eines vernünftigen Verhältnisses zu Rußland abzielen, im schroffen Widerspruche stehen. Wäre dies nicht der Fall, so würde der Minister Dich nicht von sich fernhalten und Dich auch nicht in dem jetzigen Zeitpunkte lange auf Urlaub schicken."

Es war in der Tat so, nur fehlte es momentan an Zündstoff in unseren Beziehungen zum Zarenreiche. Außerdem war man beiderseits zwar mehr verbittert denn je, aber kampfmüde geworden. Nach den jetzigen diplomatischen Schlachten war eine eisige Kälte ein- getreten.

Ich aber fuhr leichten Herzens in die schöne Schweiz mit dem Bewußtsein, meine bescheidene Rolle doch richtig gespielt zu haben.

Im Sommer brach noch der zweite Balkankrieg aus ; aber glücklicherweise konnten -wir diesen ohne größere Krisen überleben.

Hier angelangt, muß ich, der Gerechtigkeit halber, der Rolle mit einigen Worten gedenken, welche Deutschland in unseren Beziehungen zu Rußland ge- spielt hat. Man kann dieselben, von der Annexion Bosniens bis zum Ende des Balkankrieges, nicht anders als versöhnlich nennen.

Zwar hetzten uns einige unberufene deutsche Or- gane auf, das Schwert zu ergreifen, und ich erinnere mich namentlich eines angeblich deutschen Agenten, welcher mich in Wien aufsuchte und mich für eine Kriegspolitik gewinnen wollte. Er wurde aber nachher von der deutschen Regierung desavouiert.

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Die deutsche Politik als solche verfolgte aber ganz andere Zwecke, und dies war, die traditionelle ,, turm- hohe russische Freundschaft" zu pflegen und aus- zugestalten. Dadurch sollte zuerst das dynastisch-mili- tärische Prinzip gestärkt, und dann das wichtige russische Absatzgebiet fast wie eine Kolonie für Deutschland erhalten werden. Deutschland hatte noch nicht dauernd das Wort ich glaube Bismarcks ver- gessen: „Rußland ist eine Frau, sie braucht den deut- schen Mann!"

Die deutsche Regierung hätte wohl am liebsten das Dreikaiser-Bündnis wieder aufleben lassen, mußte in- dessen einsehen, daß dies wegen der russischen öfifent- lichen Meinung, der Abhängigkeit des Landes von Frankreich und wegen, unserer Beziehungen zu Ruß- land nicht möglich war.

Deutschland verfolgte daher ein doppeltes Ziel : wir sollten mit Rußland auf friedlichem Fuße bleiben, aber wir sollten nicht zu freundlich miteinander werden. Da.-i Bindeglied zwischen Wien und Petrograd sollte BerHn sein. ,

Wenn auch aVe Annexion Bosniens Deutschland wegen seiner Beziehungen zur Türkei und wegen der allgemeinen Kriegsgefahr nicht besonders erwünscht sein konnte, so hatte sie für Deutschland wenigstens den Vorteil, unserer engeren Entente mit Rußland ein Ende zu machen.

Daher war Deutschlands Rolle zur Zeit der Annexionskrise durchweg versöhnlich und keineswegs komminatorisch, wie die Weltpresse dies tendenziös hinstellte. Die berühmte Audienz, in welcher der deutsche Botschafter, Graf Pourtales, Kaiser Nikolaus in brutaler Weise zum Nachgeben gezwungen haben soll, mit der Bemerkung: „Dieser Rat sei der letzte

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Dienst Deutschlands an Rußland", spielte sich tat- sächlich ganz anders ab.

Vor allem war dies keine deutsche Drohung, denn die Initiative kam vom Kaiser Nikolaus selbst, welcher in seiner schwierigen Lage sich an seinen Freund Kaiser Wilhelm um Rat wandte. Dieser beauftragte mm seinen Botschafter, dem Zaren den Rat zum Nach- geben zu erteilen. Dies geschah dann in der betreffen- den Audienz in ernster, aber durchaus freundlicher Weise. '

Seit dieser Zeit ist sogar m. der deutschen Politik die Besorgnis überall zu bemerken, daß das eigene Land wegen eines austro-russischen Konfliktes, sei es wegen Serbien oder, wie es eine Zeit auch nicht unmöglich erschien, wegen der ruthenischen Frage, in einen Krieg mit Rußland verwickelt werde. Stimmen, wie jene des Fürsten Lichnowsky. wurden schon damals vernehmbar, dahin lautend, daß Deutschland sich wegen unserer leichtfertigen Politik in keinen Krieg «• mit Rußland hineinziehen lassen könne.

-Dies spielte, wie erwähnt, eine Hauptrolle bei der ersten großen Amtshandlung des Ministers Sazonow, nämlich der Potsdamer Entrevue.

Graf Ährenthal fand aber bald ein Gegenstück uiuJ sagte mir, daß, wenn es zu einem Feldzuge zwischen Deutschland und Frankreich wegen Marokko kommen sollte, es ihm nicht einfallen würde zu intervenieren. Er Vürde Deutschland dann wissen lassen, daß uns der Dreibundvertrag hierzu nicht verpflichte und daß die Monarchie als neutrale Macht Deutschland viel bessere Dienste leisten könne, denn als Verbündeter. Überdies würde unsere Teilnahme den AA'eltkrieg entfesseln.

Als schließlich unsere Beziehungen zu Rußland sich besserten, konnte ich beim deutschen Botschafter ein

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ganz besonderes Interesse für die Einzelheiten dieses Gegenstandes bemerken.

Der Balkankrieg machte dann natürhch Deutsch- land einen großen Strich durch die Rechnung. Es mußte aus politischen und namentlich wirtschaftlichen Gründen den Sieg der Türkei wünschen: dabei wollte es auch nicht mit Rußland verderben.

Diese Politik wurde ziemlich konsequent in Petro- grad und Wien, aber namentlich in London durch- geführt.

Das deutsche Kabinett unterstützte zwar unsere Wünsche, aber nicht unsere Kriegsbestrebungen. Im Verlaufe des Winters sandte Graf Berchthold einen hohen Beamten in geheimer Mission nach Berlin, um diesbezüglich auf alle Eventualitäten zu sondieren. Die Antwort war alles andere als ermunternd.

Schließlich gelang es Deutschland, diese Doppel- politik ganz gut durchzuführen, und es konnte sogar Cavalla für Griechenland trotzdem wir Bulgarien unterstützten sichern.

Nach dreimonatiger Abwesenheit mußte ich plötz- lich meinen Urlaub unterbrechen und nach W'ien zu- rückeilen, wohin der Minister mich berufen hatte, um eine streng geheime Angelegenheit zu übernehmen.

Ich traf in Wien am i. September ein und bemerkte sofort, daß ohne triftigen objektiven Grund die kriege- rische Stimmung wieder stark wütete. Hetzereien und Popularitätshaschereien wirken ja oft auf die öffentliche Meinung wie Lawinen.

Allerdings waren persönliche Änderungen und Momente vorhanden, welche eine „aktivere" PoHtik begünstigten.

Schwache Männer \yerden jederzeit ausgenutzt. Beim Grafen Berchthold war dies zunächst seitens seiner

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Untergebenen der Fall ; bald aber bemerkte der begabte, aber intolerante und chauvinistische Graf Tisza die Politik beider, des Vaters und des Sohnes, sind Ungarns Tragik gewesen , daß die Schwäche Berchtholds zur Stärke der ungarischen Regierung werden konnte. Der erste Schritt war die Ernennung des Grafen Burian zum ungarischen Minister in Wien gewesen, welche schon früher erfolgte; denn es wurden zugleich diesem, mit Tisza privat und politisch eng befreundeten Staats- mann, eine bisher nie bekannte Ingerenz auf die Amts- handlungen des Ballhausplatzes eingeräumt. Dies war zwar konstitutionell begründet, und jeder Ungar hätte sich darüber nur gefreut, daß sein Land direkten Ein- fluß hatte, aber dienstlich wäre eine solche Ingerenz schon aus technischen Gründen bei einem normalen Minister undurchführbar gewesen.

Die zweite Neuerung war, die im Sommer erfolgte Ernennung eines anderen Intimus des Tisza, des Grafen Forgäch zum zweiten Sektionschef an Stelle des nach Petrograd entsandten Grafen Szapäry. Die Verhältnisse wollten es, daß ihm bei weitem der größte Einfluß im Ministerium zukam, und dieser Einfluß nützte gewiß der Sache des Friedens nicht, denn dieser zwar begabte, aber die Weltpolitik nur einseitig kennende Staats- mann befand sich nicht nur völlig im Banne Tiszas, er hat noch von seinem Belgrader Posten das politische Axiom mitgebracht, das „delenda est Serbia". Dies hätte er, wie er mir gesagt hatte, gern in jedem Amts- zimmer am Ballhausplatze als Aufschrift gesehen, denn er hielt die Vernichtung Serbiens für die Grund- bedingung des Fortbestehens der Monarchie. Stärke konnte man ihm nicht absprechen. Wenn er auch gar keinen persönlichen Grund hatte, die Serben zu lieben, so zweifle ich nicht an seiner politischen Aufrichtigkeit.

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Graf Berchthold aber, welcher Forgäch am An- fange wenig zugetan war und dem diese Kontrolle ur- sprünglich doch nicht genehm sein konnte, begab sich langsam, aber vollständig unter seinen Einfluß.

Die Angelegenheit, derentwegen ich zurückbe- rufen wurde, war die von Adalia.

Adalia ist bekanntlich eine südliche Provinz von Kleinasien.

Ich weiß nicht, von wem der Gedanke stammt, jedenfalls machte sich ihn Berchthold zu eigen, daß, da alle Mächte in der Türkei Einflußsphären hatten, wir uns auch eine nehmen sollten. iVdalia war reich und nur von Türken bewohnt ; dies schien zu dieser Wahl zu raten.

Es war aber nur das große Bedenken vorhanden, daß, wie wir erfuhren, Italien sich bereits lebhaft für dasselbe Gebiet interessierte.

Als ich bei meiner Rückkehr den betreffenden Aktenfaszikel, welcher höchst geheim gehalten wurde, studierte, sah ich, daß wollte man etwas erreichen es höchste Zeit war, dem modernen Usus entsprechend, die Pforte um eine ,, Konzession" zu ersuchen.

Die erste Schwierigkeit war aber, daß im Gegen- satz zu anderen Ländern wir eine förmliche Jagd auf Konzessionäre oder vielmehr Konzessionskandidaten machen mußten. Endlich fanden wir doch einige Ban- ken, welche sich bereit erklärten, sich als Konzessionäre anmelden zu lassen, und der Konstantinopeler Bot- schafter Markgraf Pallavicmi wurde dann entsprechend instruiert.

Bei ihm stieß die Sache jedoch auf Widerstand. Er reiste nach Wien und drückte sich dahin aus, daß die ganze Angelegenheit nicht ernst sei und bloß unsere Beziehungen zur Türkei trüben würde. Er sagte mir.

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da£ dies nur eine Spielerei sei, und daß Berchthold ein Spielzeug a tout prix haben wollte. Er fügte hinzu, daß, wenn ich auch Referent in der Sache sei, ich im Grunde sicherlich nicht viel von derselben halte ! ! So- dann fingen auch die Italiener an zu opponieren.

Berchthold beschloß nun, mich in geheimer Mission nach Berlin zu entsendeji. um die Hilfe Deutschlands anzurufen.

Da ich eigentlich keine positiven Instruktionen hatte, machte ich sie mir selbst im Eisenbahncoupe. Ich beschloß daher zu sagen, daß, da Italien jeinen Einfluß im Ostmittelmeer ausdehne, wir unbedingt eine Kompensation haben müßten.

Als ich in Berlin auf unserer Botschaft vorsprach, konnte ich konstatieren, daß Graf Szögyenyi für meine Zusammenkunft mit (Herrn Zimmermann noch keine Vorbereitungen getroffen hatte, obwohl der Minister ihn darum ersucht hatte. Meine Entsendung bereitete ihm überhaupt keine Freude. ..Das ist die dritte ge- heime Mission in einem Jahre," sagte mir der Bot- schaftsrat Baron Flotow, „und die Deutschen werden bald glauben, daß wir die reinsten Trottel sind."

Ich legte nun Zimmermann die Angelegenheit dar und drohte sogar durch die Blume mit einer eventuellen Kündigung des Vertrages mit Italien. Wir hatten zwei Entrevuen. Als Ergebnis derselben kam ich zurück mit „Alaya", eine Stadt in der Provinz Adalia, welche der deutschen Einflußsphäre gehörte, und welche die Deutsche Bank uns großzügig zedierte. Außerdem w^ard eine Verbindung mit der Bagdadbahn in Aussicht gestellt, wodurch das durch diese neue Bahn durchfah- rene Gebiet uns noch zufallen würde. ,,Alaya" war zwar ein Fels, welcher keinen großen Wert hatte, aber wollte man wirklich etwas machen, so war der erste Schritt

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getan. Berchtliold vrar sehr zufrieden und nannte mich ., Herzog von Alaya", und einer seiner Sekretäre sagte mir, daß ich der erste sei, die Kolonialpolitik zu inaugu- rieren. Forgäch \var sehr skeptisch und bemerkte nur. ..Alaya" wäre besser.

Im Prinzip hätte eine Kolonie, woran alle Völker Österreich-Ungarns interessiert worden wären, gewiß zu deren Zusammenhalten beitragen können. Im Moment aber war diese Sorge gewiß nicht die drin- gendste. Außerdem gehörte das in Rede stehende Ge- biet der Türkei. Daß eine Großmacht fünf Jahre vor ihrem Zusammenbruch Kolonialpolitik anfängt, dürfte jedenfalls nichts Alltägliches sein.

Italien war übrigens, wie wir geheim erfuhren, dar- über gar nicht erfreut, uns auch in Asien als Xachbarn zu haben. Darob machte man Zimmermann heftige \'orwürfe. Er erwiderte, ..daß ein Wiener Gesandter ihn aufgesucht und derart insistiert habe, daß es ihm unmöglich gewesen, ihn mit leeren Händen abfahren zu lassen."

Etwa sechs VS'ochen nach meiner Rückkehr, glaube ich, brach dann die letzte Krise während meines Wiener Aufenthalts aus. Es war aber allerdings eine der aller- ärgsten.

Trotz aller Friedensschlüsse und Londoner Akten zögerte Serbien noch immer, die Albanien zugesproche- nen Gebiete zu räumen. Kein Wunder, daß man end- lich bei uns die Geduld verlor. Es wurde ein Ultimatum nach Belgrad geschickt, und schließlich gaben die Ser- ben, auf Anraten Rußlands, nach.

Ich hatte hierbei wenig oder gar nichts zu tun und mischte mich in die Sache nicht einmal indirekt ehi. Denn einerseits sah ich meinen Einfluß schwinden, und dann diesiv.ai : ,,La cause etait vraiment trop mauvaisc."

17 v. S 7. i 1 a s s y , Der Untergang der Donau-.Monarchic.

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Die Serben waren diesmal wirklich in vollem Un- recht, denn es war kein erdenklicher Grund vorhanden, warum sie die Londoner Beschlüsse, welche ihnen so- wieso teilweise albanische Gebiete zusprachen, nicht einhalten und das rein albanische, dem Fürstentum zu- gesprochene Gebiet nicht räumen sollten. Diese Vor- gangsweise" der Monarchie gegenüber war außerdem noch eine Provokation, die keine Großmacht sich gefallen lassen konnte. Aber vor einem Jahre, als sie ein Debouche an der Adria forderten, hatten sie das natürliche Recht und die Logik für sich, und diese w^aren gegen uns. Durch Schläge verderben aber die Charaktere von Staaten wie von jMenschen. Die Schuld war moralisch also nicht nur auf der Seite Serbiens.

Diese Renitenz des Landes, welches die heftigste Preßkam.pagne gegen die Monarchie weiterführte eine der serbischen Hauptzeitungen hieß ,,Piemont" , trug natürlich nicht dazu bei, die Beziehungen zu bes- sern. Bei uns fingen sogar schon bisher ganz nüchterne Elemente an, eine Austragung mit Serbien herbeizu- vr ansehen.

Lizwischen hatte der ^^dinister auch eingesehen, daß ich anderswo bessere Dienste leisten könnte als üi Wien, und trug mir den Athener Posten an, welchen ich mit Freude annahm.

Bevor ich meine Reise dorthin anfangs Dezember antrat, empfing mich der Kaiser und König in einer langen Audienz. Er war damals noch im. vollen Besitze seiner geistigen Kräfte, welche dann eine spätere schwere Krankheit sehr veränderte. Er ''zeigte volle Kenntnis aller laufenden politischen Agenden und be- sprach sie alle eingehendst mit mir. Er war über die bekannten kriegerischen Treibereien vollständig infor- miert, nahm dieselben aber nicht allzu ernst. Ich werde

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diese letzte Entrevue mit ilim nie vergessen und die ritterliche Denkungsart, welche er die verkörperte Vornehmheit mir offenbarte. Dabei strahlte aus der schon gebückten Greisengestalt eine derartige Autorität aus, daJß man das Gefühl haben mußte, daß, da er keinen Krieg wolle, der Weltfrieden bei ihm gut auf- gehoben sei, denn er würde jeder Zoll ein Herrscher im nötigen Momente diesem Spiel böser Kinder ein jähes Ende machen. Doch schätzte er die Lage richtig ein und machte sich darüber keinen Zweifel, daß im Falle eines Krieges mit Serbien Rußland intervenieren würde. Er hatte den Eindruck, daß am Balkan noch große Umwälzungen stattfinden würden, er wollte aber jedenfalls im Einverständnis mit Rußland vorgehen. Vv'as mich aber bei dieser Audienz am meisten wunderte, war die falsche Meinung, welche der Kaiser über die Fähigkeit des Ministers des iVußern hatte ; und doch war seine Force gewöhnlich Menschenkenntnis ge- wesen. Tragik !

Einige Tage später verabschiedete ich mich von Tisza. Dieser meinte, daß ein Krieg mit Serbien un- vermeidlich sei, daß aber Rußland aus inneren Gründen keinesfalls intervenieren würde oder könnte, was ich natürlich bestritt.

Zwei Tage vor meiner Abreise lud mich der Thron- folger Erzherzog Franz Ferdinand zu sich ein und be- sprach mit mir die ganze internationale Lage. Er zeigte sich geradeso pazifistisch wie sein kaiserlicher Oheim und wünschte eine Entente mit Rußland. Er betrachtete die Realisierung der südslawischen Wünsche im Rahmen der Monarchie durchaus für später möglich und kriti- sierte in heftigen Worten die Politik Tiszas, welche bessere Beziehungen zu Serbien und Rumänien unmög- lich niachte.

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Nach meinen persönlichen Erfahrungen haben die Habsburger stets klarer gesehen als ihre verblendeten \"ölker, oder besser gesagt, die offiziellen, verantwort- lichen Leiter und tatsächlichen \''erblender derselben.

Notiz.

Nach Fertigstellung dieses Buches fällt mir das \\'erk des Grafen Czernin in die Hand (Czernin, .,Im Weltkriege"). Ich finde in demselben auf Seite 117 einen prägnanten Beweis des zwischen der Wiener und der Petersburger Regierung bestehenden Mißtrauens. Der Verfasser erzählt, daß, als König Karol von Ru- mänien Herrn Sazonow in Constanza fragte, ob er den Weltfrieden für gesichert halte, der russische Minister des Äußern zur Antwort gab: .,Oui, pourvu que l'Autriche ne touche pas ä la Serbie."

Dies war im Sommer 191 4, einige Wochen vor dem Serajewoer Attentat, und Graf Czernin fragt sich nun, ob Herr Sazonow nicht schon in dasselbe eingeweiht war, und ob sich seine Worte nicht etwa auf diese Eventualität bezogen? Dieselbe Phrase hat aber Sa- zonow früher mehrmals dem Grafen Pourtales gegen- über angewandt, wie letzterer mir des öfteren er- zählte.

Kapitel IX. Der Weltkrieg.

Righl or wrong My country !

In Athen hatte ich natürlich sehr wenig Möglich- keit, auf unsere kriegerische Stimmung beruhigend zu wirken. Doch was ich tun konnte, habe ich getan. Bald nach meiner Ankunft, im Anfang des Jahres 191 4, habe ich im Anschluß an eine Relation über unsere Beziehun- gen zu Griechenland in einer ausführlichen Berichts- serie den ganzen Kurs unserer auswärtigen Politik, wie ich dieselbe befürv.ortete, programmatisch dargelegt. Der Kern meiner Ausführungen war, daß wir neben den bestehenden Allianzen, welche man nicht natürlich so ohne weiteres ändern konnte, das Hauptgewicht auf eine vollständige Aussöhnung mit Rußland und ein ein- heitliches Vorgehen mit dieser Macht legen sollten. Dies stellte ich als nächsten Zweck unserer Politik' dar und bemühte m.ich zu studieren, wie derselbe am besten erreicht werden konnte.

Venu auch der Stoff dieser Berichte meine Kom- petenz Aveit überschritt, so machten sie doch in ^^'ien einen gewissen Eindruck, wovon ich mich später über- zeugen konnte.

Der ganze Frühling verging dann im Zeichen der austro-italienischen albanischen Aktion, welche dahin zielte, Griechenland den Nordepirus zu nehmen. Es war eine höchst unerquickliche und für uns sogar schäd-

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liehe diplomatische Tätigkeit, denn wir v.urden dabei von Italien rouliert und erweckten nun den Groll Griechenlands, mit welchem Lande die Monarchie jeden Grund hatte, auf gutem Fuße zu stehen. Ich tat mein möglichstes, um in Wien zu beweisen, daß die von uns gewünschte Wacht an der Adria geradeso gut. ja viel besser, von Griechenland als von Albanien ausgeübt werden konnte. Ich hatte endlich einigen Erfolg, und schließlich gaben wir in vielem nach.

Doch die Ereignisse sollten sich überstürzen, und man fühlte instinktiv, wie die internationale A.tmosphäre immer nervöser wurde, und daß solche Fragen, wie die der Südgrenze Albaniens, bald in den Schatten treten würden.

Ich hatte noch einiges zu besorgen und wollte dann anfangs Juli auf Urlaub fahren. Auf einem Spaziergang in der lierrlichen Umgebung von Athen, auf welchem ich die laufenden Agenden mit meinem ausgezeichneten Mitarbeiter und Freunde Grafen Bukuwky. der mich vertreten sollte, besprach, äußerte ich ihm gegenüber die Besorgnis, ob angesichts der die Welt erstickenden politischen Nervosität ich überhaupt v/erde meinen Ur- laub m.achen können.

Xun kam die ^^lordtat von Serajev.-o und der schreckliche Monat Juli unseligen \\''artens. Ich fand vorläufig keinen Grund, meinen Urlaub aufzuschieben, und war eben beim König Konstantin, um mich zu ver- abschieden, als. nach Hause gekehrt, ich die Weisung erhielt, in Athen zu bleiben.

Ich sollte dies damit begründen, daß ich noch ge- wisse Verhandlungen im Anschluß an einen sehr kom- plizierten Handelsvertrag, den wir eben abgeschlossen hatten, zu Ende führen wollte. Nun wußten die Griechen sehr wohl, daß, da die Hauptsachen alle fertig

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wp.rer., ich wegen Detailfragen, welche meiiiem Ver- treter schon übergeben wurden, meinen x-Yuf enthalt nicht verlängern würde. Ich telegraphierte dies nach Wien und machte einen anderen Vorschlag, welcher akzeptiert wurde. Zugleich wurde mir geheim mitge- teilt, daß der Grund meines Bleibens eben „in dem Ver- hältnisse lag, in welchem die Monarchie sich infolge des Serajewoer Attentats gegenüber Serbien befand."

Dies verhieß nichts Gutes, noch weniger die kriege- rische Stimmung, welche zu Hause wütete, und welche ein Echo in allen diplomatischen Berichten, sogar fast eines jeden Konsuls am Balkan fand. Es w^ar ja eine leichte Art für klug zu gelten. Auch erschien mir die Lektüre der gegen uns gerichteten schmählichsten ser- bischen Zeitungsartikel recht symptomatisch. Früher würden diese einfach nicht in die Monarchie hineinge- lassen worden sein, jetzt aber paßten sie zu unserm Spiel, sie hielten die Öffentlichkeit in fieberhafter Er- regung.

Ich neigte immer noch zu der Annahme, daß trotz alledem die Katastrophe noch zu bannen sei. Ich kannte ja den Friedenswillen und die Autorität Kaiser Franz Josephs, und ich dachte, daß es ihm gelingen würde, vc'iq so oft früher, wieder einmal den Ausbruch des Pvrieges zu verhindern. Ich wußte nicht, daß im Verfolge seiner letzten Krankheit der vierundachtzigjährige Greis nicht mehr seine frühere Energie besaß.

Trotzdem ich wenig Hoffnung daran knüpfte, wollte ich doch auf einige Tage nach Wien f.:ihren, um die Situation zu studieren und noch zur Vernunft zu mahnen. Es war dies keine angenehme Aussicht, denn die Reise, hätte sie stattgefunden, konnte mich leicht zum ,, Hochverräter"' stempeln. Ich konnte übrigens na- türlich den Zweck meiner Reise nicht angeben, denn

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dann hätte ich die Bewilligung" nie erhalten. Ich er- fand daher den Vorwand, ich müsse unbedingt über das Verhältnis Griechenlands zu Serbien und Montenegro mündlich Bericht erstatten und versicherte, daß ich mit dem nächsten Dampfer zurückkehren würde.

Die Reise wurde aber niclit genehmigt, und da ich mir sowieso von meiner Intervention nicht viel ver- sprach, blieb ich ruhig in Athen.

Ich proponierte nun eines Tages nach Wien, daß wir an Serbien die Forderung stellen, ein Arrangement mit der ]Monarchie einzugehen, wonach jede Partei sich verpflichten würde, keine politische Propaganda auf dem Gebiete der anderen zu treiben oder zu unter- stützen. Dies hätte unseren Zwecken vollständig ent- sprochen, da es uns nicht einfiel, in Serbien Irreden- tismus zu treiben. Auiserdem hätte Serbien sich kaum weigern können, einem in dieser Form gestellten An- suchen nachzukommen. Seine großen politischen Freunde, und vor allem Rußland, hätten es unmöglich gegen die Erfüllung eines so billigen Ansuchens unter- stützen können. Die Sache hatte aber zwei Haken. Zu- erst Vväre es für die ^Monarchie als Großmacht eine ,. Derogierung an Prestige'' gewesen, sich Serbien gegenüber „formell" zu binden, obzwar das Arrange- ment ihr keine eigentlichen Obligationen auferlegt hätte. Aber es galt, w'e ich sehr wohl wußte, das ■Prinzip der Unebenbürtigkeit der Kabinette unterein- ander. (Als ob es sich nicht überall um Menschen und menschliche Leben handelte.) Und dann die von ihren Dirigenten aufgepeitschte und verblendete deutsch-österreichische und ungarische öffentliche Mei- nung wollte bereits den Krieg !

Ich war daher gar nicht erstaunt, daß diese Idee eines unberufenen und, wie man sicherlich in Wien

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wäliiile, wenig palriutisch i^esinntcii Dipluniateu, der seiner Regierung eine solche unglaubliche Zumutung stellen konnte, überhaupt nie berücksichtigt wurde; wahrscheinlich hielt man es für sehr gnädig, meinen Antrag einfach zu ignorieren.

Und nun kam die Reihenfolge der Kriegs- erklärungen !

Über den Kriegsausljruch und die ihm direkt voran- gehenden Begebenheiten erwarte man von mir keine sensationellen Enthüllungen. Hierüber ist das meiste ja schon bekannt; und wenn ich über dasselbe hinaus noch erzählen wollte, müßte ich mich meist auf Trat- schereien beschränken. Denn sowohl damals als auch Ende 1916, als ich erst nach Wien zurückkehrte, spürte ich bei den meisten meiner Kollegen ein grenzenloses Mißtrauen. Wußten sie doch sehr wohl daß nicht nur politische Ansichten, sondern auch Weltanschauungen uns trennten.

Ich weiß nur ganz bestimmt, daß es den IMilitärs vollständig gelang, das Heft in die Hände zu be- kommen, und sie sich nun ihren Krieg nicht entgehen lassen wollten. Berchthold war für die scharfe Fassung des Ultimatums an Serbien gewonnen worden. Hohe Ministerialbeamte, selbst solche, welche früher anders gedacht hatten, erklärten überall, daß Rußland wegen des dynastischen Prinzips sich nicht rühren würde. Ob der Minister dies wirklich glaubte, bleibe dahingestellt; nach Ausbruch des Krieges sagte er einem Bekannten von mir, daß angesichts der trostlosen Lage der :\Ionarchie der Krieg wohl noch die beste Lösung sei! Das Ministerium des Äußern selbst war nun Feuer und Flamme für den Krieg, und man besorgte nur, daß Serbien dennoch das Ultimatum rückhaltlos annehmen

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könnte. Als aber dieses ..Unglück" nicht eintrat, son- dern als der österreichisch-ungarische Gesandte in Bel- grad, Baron Giesl, abreiste und in Wien ankam, wurde er mit Jubel im IMinisterium des Äußern empfangen und dort sowohl wie auch vom General Conrad beglück- wünscht. Ein hoher Ministerialbeamter erklärte ihm : ..Dies hätte einer von uns nie vollbracht, dies konnte nur ein Soldat tun."

Der General liatte aber nur seine technischen In- struktionen a la lettre ausgeführt. Ich habe Grund, sogar anzunehmen, daß, trotzdem er diesen Jubel über sich ergehen lassen mußte er im Innern ganz anders dachte und daß es ihn in foro interno gar nicht jubelte!

\Me Tisza sich zur Sache stellte, ist mir nicht ganz klar. ]\IoraHsch trifft ihn jedenfalls eine große Schuld; hatten doch neben den militaristischen Bestrebungen die von ihm geforderten und geleiteten politischen Ten- denzen gerade zu diesem Punkte geführt. Es scheint aber festzustehen, daß er über die Schärfe des Textes des Ultimatums zu welchem die kaiserliche Zustim- mung abgerungen werden mußte erschrak, die seiner Ansicht nach zum Kriege führen würde; ein Odium, vrelches er nicht auf sich nehmen wollte.

Ein Faktor, welcher die Situation noch hätteu-rettcn können, wäre der Kaiser, damaliger Thronfol^jarr Erz- herzog Karl gewesen, von welchem man wußtJj^.aß er dem Kriege abhold war. Man wählte den einfachen Aus- weg, ihn ganz zu ignorieren. Er wurde, wie er es mir selbst sagte, zum Kronrate, v.elcher den Krieg beschloß, gar nicht zugezogen. -Man denke nun, was dies bedeu- tet: ,,Es kann sich um den Weltkrieg handeln, der Herr- scher ist 84 Jahre alt, den Thronanwärter hört man aber nicht einmal an. Und es geschieht dies im 20. Jahr-

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hundert in einem konstitutionellen Lande und nicht bei den Kaffern oder Zulus."

Als der Thronfolger später den General Conrad darüber interpellierte, wie er für den Krieg im Kronrate stimriien konnte, erhielt er die lapidare Antwort : ..Majestät, ein General konnte doch nicht anders stimmen." Die?e Worte sagen wenig, sie sagen aber auch ungeheuer viel.

In Berlin hatte sich dasselbe ereignet. Die Militärs hatten die Gewalt aus den Händen der schwachen Staatsmänner entrissen und führten auch die Politik während des Krieges nicht so bei der Entente. Alle politischen, vernünftigen und humanitären R.ücksichten waren verschwunden. Der Wunsch, mit der Entente abzurechnen in einem wie man dachte noch gün- stigen ]\Ioniente, bei Sentimentalen auch wohl das Gefühl der ..Nibelungentreue", dominierte die Si- tuation. Vereinzelte Staatsmänner mögen ja zur Ver- nunft gemahnt haben, aber diese konnten nicht mehr aufkommen. Man vrilligte in das Ultimatum ein und damit war wohl jeder an uns zu richtenden Mahnung zur Vernunft der Weg abgesperrt.

Wie dieser Umschv.-ung in Berlin möglich war. ist mir noch rätselhaft.

Freilich wirkte wohl in Berlin v/ie in Wien in der bereits^^^nervierten internationalen Atmosphäre das odiose "^jj^tentat und noch mehr die geschickte Aus- nützung desselben auf alle, und namentlich auf dy- nastisch gesinnte Kreise, stark in dem Sinne, wie es an maßgebenden Orten gewünscht v/urde.

Nebenbei gesagt, sehe ich das Odiose dieses Atten- tats durchaus und in vollem Ma£e ein. Es handelte sich aber nicht darum, sondern, inwiefern die serbische Reoieruna' für dasselbe verantwortlich sfemacht werden

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konnte. Das war eine ganz andere Frage. Untersucht man sie von diesem Gesichtspunkte, so ist die Antwort nicht schwer. Juridisch kann ihre Verantwortung nicht als klar erwiesen gelten, moralisch ist dies wohl his zu einem gewissen Grade der Fall. Aber hier müßte das unselige Verhältnis zwischen uns und Serbien in Be- tracht gezogen werden, und an dessen unerquicklich.c Gestaltung war nicht nur Serbien, sondern auch die Monarchie moralisch schuld. Die Frage war daher \ icl mehr eine Machtfrage als eine juridische !

Es gehörte w^ahrhaftig damals viel ..moralischer Mut" dazu. um. sei es in Deutschland oder bei uns, ge- gen den allgemeinen Wahn seine Stimme zu erheben. Gleich ^vurde man der Feigheit bezichtigt, und es ging so weit, wie ich höre; daß man bei manchem Beamten, der zu wenig Begeisterung an den Tag legte, den Grund hierfür in einigen Tropfen jüdischen Blutes zu finden w^ähnte.

Sicherlich trug aber sowohl in Berlin wie in Wien zur kriegerischen Stimmung der angenehme Wahn wesentlich bei, daß es sich angeblich um einen leichten Sieg handeln sollte, w^elcher ,,bis die Bäuijie ihre Blätter verloren" eintreten sollte ! Zuerst war man davon gar nicht überzeugt, daß Rußland mitmachen würde, und was England anlangte, gingen die meisten Ansichten dahin, daß seine Teilnahme fast ausgeschlos- sen sei. Die diplomatischen Informationen waren meist sehr mangelhaft, und wenn ein Botschafter, wie der österreichisch-ungarische Vertreter in London, Graf Mensdorff, die Aussichten der Wahrheit gemäß ganz anders schilderte, so wurde er nicht gehört. Die eng- lische Armee war eine Quantite negligeable, und die Idee, daß England wirklich sich für die Respektierung

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einer Unterschrift einsetzen würde, erschien geradezu lächerHch.

Und doch hatte Graf >.(ensdorff ganz genau berich- tet, daß England zwar den Krieg nicht nur für sich nicht woile, sondern weitgehendste Vorschläge zur Ver- hinderung des Weltkrieges mache, daß es aber die Neu- tralitätsverletzung Belgiens unbedingt als Casus belli betrachten würde.

Hier kam vvieder unsere schreckliche Schwäche zum Vorschein. In den letzten Tagen des Juli scheint man doch zum Bewußtsein des bevorstehenden Ungeheuren gekommen zu sein. Es hieß aber dann, entweder so- sort Verhandlungen mit Rußland anzuknüpfen odei- aber mit der sofortigen Einnahme Belgrads und nach- träglicher Einstellung der Operationen ein fait accompli zu schaffen, worüber man dann verhandeln konnte. Dies zu tun, war die Armee wieder nicht imstande.

Was die Explosion noch erleichterte, war die deut- sche Institution des ,. Kriegsgefahrzustandes", laut welcher bekanntlich eine Mobilisation den Krieg unbe- dingt zur Folge haben mußte. Wenn auch Deutsch- lands Vorteil gegenül)er seinen Gegnern viel elier in der Raschheit, in welcher es zu mobilisieren vermochte, als in der Anzahl seiner Truppen bestand, so war dies noch lange keine moralische Rechtfertigung einer Theo- rie, die nicht anders als verbrecherisch genannt werden kann. Denn die Mobilisierung kann noch ein sehr er- sprießliches, wenn auch nicht ungefährliches Mittel sein, um den Krieg zu verhindern. Die besagte Theo- rie macht ihn aber im Gegenteil geradezu unausbleib- lich. Es ist dies eine Rechtfertigung der Überschrei- tung der Notwehr, welche keinesfalls stichhaltig ist. Es ist, wie wenn ein Mann behaupten würde, er könne nicht sein Gewehr laden, ohne zu schießen. Zieht jc-

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mand, der mir entgegenkonimt und verdächtig erscheint, seinen Revolver rais der Tasche, so gibt mir dies doch noch kein Recht, auf ihn 7A\ schießen. Auch selbst nicht, wenn es feststeht, daß sein Revolver manche Vorteile über den meinigen besitzt und daß meiner wieder den Hauptvorzug hat, schneller geladen zu werden. Dies zu bestreiten, hieße nicht nur einfach die Präventiv- kriege als moralisch anzuerkennen, sondern erlaubt eine Ingerenz in die Angelegenheiten des Nachbarstaates, welche zu den ärgsten Mißbräuchen A.nlaß geben könnte denn ,, Kriegsgefahrzustände" können ja immer sehr leicht konstruiert werden und können dann zum Vorwande jedes Kriegführens dienen. Mit diesem System hatten dann auch wir, als wir im letzten Momente uns wieder zögernd zeigten, keine an- dere Wahl als den Kriesr.

-fc)-

Das militärische Argument, daß die deutsche Mo- bilmachung tatsächlich technisch nur so durchgeführt werden konnte, ist noch weniger stichhaltig. Denn warum sollte Deutschland darin ein Monopol haben? Während des Balkankrieges standen, wie gesehen, die Österreich-ungarischen und russischen Truppen mobili- siert monatelang einander gegenüber, ohne daß der Krieg entstand.

Kein anderes Land hat jemals eine solche These auf- gestellt oder wenigstens durchgeführt, welche, wenn sie überhaupt wahr wäre, dann in hohem Grade unmora- lisch ist. Denn wenn die technischen Vorkehrungen zur deutschen Mobilmachung tatsächlich was ich in hohem Grade bezweifle solche waren, daß sie nur im Zusammenhange mit Angriffen auf die Nachbarstaaten durchgeführt werden konnten, so war es direkt ein V^er- brechen an der Menschheit, daß ein solches Ungeheuer

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von Staats wegen bestand, und es war höchste Zeit, es zu beseitigen.

Die menschliche Bestie war also losgelassen, die armen, an sich unschuldigen Völker von schwachen oder gewissenlosen Leitern g'egen einander gehetzt; mehr als jemals ehedem grassierte der Haß auf Erden.

In meiner bescheidenen Stellung konnte ich nicht vieles unternehmen. Ich trachtete aber jedenfalls, die unwürdigen, schmählichen Beschimipfungen, welche zu bald Mode wairden, meinerseits nicht nur nicht zu för- dern, sondern auch nach Möglichkeit diesem System entgegenzutreten. Manch einer offiziellen Kriegsäuise- rung unserer Regierung habe ich eine weniger brutale Fassung gegeben. Auch sah ich nicht ein, w^arum, w'eil man auf Kriegsfuß steht, jede elementare Courtoisie, namentlich Damen gegenüber, und in einem neutralen Lande, aufzuhören hat. Ich fand es leichtfertig, wenn man Brüder auf dem Schlachtfelde hat, sich mit Tinte und Nichtgrüßen zu bekriegen. Auch muß ich meinen feindlichen ,, Kollegen" das Zeugnis ausstellen, daß sie mir in jeder Hinsicht meine Courtoisie zurückgaben.

Es entwickelte sich daher zwischen uns ein anderswo unbekanntes Verhältnis. Wir grüßten uns und sandten uns, namentlich den Damen, durch Neutrale freund- liche Messagen. Um diesen würdigen Zustand herbei- zuführen, mußte man allerdings der Courtoisie der Ge- genpartei versichert sein. Bald nach dem Ausbruche des Krieges mit Serbien traf ich zufällig meinen Freund Herrn Balugdjitsch, den serbischen Gesandten, im Aus- wärtigen Amte. Ein Blick genügte mir und ich reichte ihm die Hand, welche er liebenswürdig annahm. Dies machte großen Eindruck. Bei der ersten Kirchenzere- monie nach dem Kriegsausbruch, welcher das ganze di- plomatische Korps beiwohnte, bat ich meine Sekre-

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lärc. eine Viertelstunde früher zu erscheinen. Die andern konnten dann grüIJen oder nicht, wie sie wollten. Da fand ich einen einsamen feindlichen Gesandten, welcher dieselbe Idee gehabt hatte. Ich ging auf ihn zu und grüßte ihn freundlich. Einmal am ]^Ieeresstrande traf ich meinen englischen Kollegen, welcher viel älter als ich und Doyen war. Ich wollte gerne zuerst grüßen, mußte aber des Gegengrußes sicher sein. Ich nahm also meinen Hut hundert Schritte vor unserer Begegnung in die Hand und spazierte barhaupt. Ich hatte mich in seiner Courtoisie nicht getäuscht. Auch wurden von uns und meinen russischen und italienischen ., Kollegen". Fürst Demidov und Graf Bosdari, mit welchen beiden ich gut befreundet war. einer stillen ^'ereinbarung zu- folge. Siege und Xiederlagen gegen.^eitig' nie ostentativ gefeiert.

Mancher meiner Feinde mag wohl in einem Blicke Gefühle erkannt haben, welche ich leider allzuoft im stillen zu hegen geradezu gezwungen war. Ich bin mir bewußt, mich vollständig loyal verhalten zu haben, aber Lusitania usw. . . . Xun, dies alles gehört nicht zur Sache. Übrigens bezweckte die feindliche Blockade gerade so Aushungerung wie der U-Boot-Krieg. Aber zwischen langsamem Aushungern und gewaltsamem Er- tränken ist doch wefiigstens ein ästhetischer Unter- schied ! Auch handelte es sich oft um Neutrale.

Meine Aufgabe in Athen war ebenso interessant wie angenehm, da sie darin bestand, Griechenland zu veran- lassen, an dem Krieg sich nicht zu beteiligen. Ich habe oft gedacht, daß, wäre mir das Gegenstück, der Sofioter Posten, zuteil geworden, so hätte ich meine Aufgabe entweder gar nicht oder schlecht gelöst. Denn ich ge- stehe es ohne jede Scheu, dazu beizutragen, Hundert- tausende von armen Menschen, meist ohne das gc-

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ringste wirkliche Interesse, an die Schlachtbank zu führen, das hätte mich nicht gelockt. In Griechenland waren die Meinungen bekanntlich geteilt ; mein Empfin- den als Ausländer konnte aber nur der humanitäre Standpunkt sein, glücklicherweise war er zugleich der politische.

Wir spielten dabei nicht die Hauptrolle, welche Deutschland zufiel, als es bald einsehen mußte, daß das Maximum des Erreichbaren die Neutralität Griechen- lands war. Aber ich bilde mir ein, in manchen Momen- ten, wo gewisse Brüskierungen unsere Sache zu ver- derben drohten, durch meine den Venizelisten gegen- über bekundete Konzilianz, welche sie zum weiteren Abwarten veranlagte, zur Friedenssache doch etwas bei- getragen zu haben.

Deutschland hatte der hellenischen Regierung be- stimmte Versprechungen gemacht für den Fall, daß Griechenland bis zum Kriegsende neutral bleiben würde. Unsererseits hieß es eher negative Versprechen abzugeben, um denjenigen, welche behaupteten, daß wir Saloniki für uns selbst und Nordepirus für Alba- nien wollten, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Bezüglich beider Punkte mußte ich in Wien mit Hoch- druck insistieren, sonst hätten wir in Athen sehr schlecht abgeschnitten.

Als ich zur Zeit der Dardanellenkrise eine Desinter- essemicnterklärung bezüglich Salonikis anregte, wurde ich beauftragt, zu erklären, daß „Österreich-Ungarn dort keine egoistischen Ziele verfolge". Dies war schlechter wie nichts und ich bestand darauf, daß meine Formel genehmigt werde, was schließlich auch geschah. Diese von mir dem König und der Regierung gemachte Versicherung lautete : ,.Que rAutriche-Hongrie n'a au-

18 V. S 7. i I a s s y , Der Untergang der Donaii-Mor.n.rchie.

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cune visee sur Salonique, qn'elle n'aspirc ni a occiiper, iii a posscder."

Bezüglich der griechisch-albanischen Grenze wieder- holte sich ein Jahr später dasselbe. Wir wollten die Hellenen mit einer allgemeinen ^^ersicherung abspeisen, während sie die Skumbi-Grenze verlangten. Schlieü- lich gelang es mir, die Ermächtigung zur Versicherung zu erhalten, daß alle von Hellenen und grazisierenden Albanesen bewohnten Gebiete an Griechenland fallen und daß die griechischen Interessen überall besonders berücksichtigt werden würden.

Einmal allerdings verleitete mich mein Pazifismus zu einem bedauerlichen diplomatischen Schritt. Es war nach der ersten Niederlage Serbiens, und da sich die Gelegenheit in einem Gespräche mit einem griechischen Staatsmann dazu bot, regte ich eine Vermittlung- Griechenlands als Verbündeten Serbiens an. Obzwar diese Idee eine rein persönliche war und von mir als eine solche ausdrücklich bezeichnet wurde, so wurde die Sache nachher als eine mißlungene österreichisch- ungarische Friedensotifensive hingestellt worüber ich mich eigentlich in Anbetracht der schönen Atmosphäre des Weltkrieges nicht wundern konnte ; ich muß hinzu- fügen, daß, sobald das Mißverständnis aufgeklärt wurde, Herr A'enizelos der betreffenden Preßkampagne ein plötzliches Ende setzte.

Wie ich indessen innerlich auch fühlte, ich habe e-^ für meine Pflicht gehalten, dies nur meinenVorgesetzten, dem Kaiser und dem [Minister des Äußern, zu sagen. Für die übrige Welt und namentlich für meine Untergebe- nen hieß es, wie angedeutet, sich vom Prinzip leiten zu laf^scn: „''Jb^it or wrong my country." --

Ich beschränkte meine Tätigkeit nicht auf mein eigentliches Arbeitsfeld; denn ich konnte nicht umhin,

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immer wieder darüber nachzusinnen, wie dem scheul^- lichen Bkitbade ein Ende bereitet werden könnte. Schon die wunderschönen klassischen Erinnerungen mußten einem Bewohner des schönen Griechenlands die ganze Scheußlichkeit des allergrößten Kulturverbrechens vor die Augen führen.

So empfahl ich einnial meiner Regierung, sie möchte einen fernen Tag im voraus in Vorschlag brin- gen, an welchem überall ein Waffenstillstand eintreten sollte. Eine neutrale Militärkommission sollte dann die „Kriegskarten'* studieren, und auf Grund der Gutachten ein gleichfalls neutraler Schiedsgerichtshof mit Berück- sichtigung aller wichtigen anderen ^Momente ein Urteil fällen. Die Annahme desselben müßte aber dadurch gesichert werden, daß alle Kriegführenden enorme Kautionen in Gold bei den schiedsrichtenden Staaten deponierten, welche im Falle der Fortsetzung des Feid- zuges verloren gehen sollten.

Ich verkenne nicht, daß obige Proposition etwa» phantastisch klingt. Sie ging aber von dem vielleicht nicht falschen Satze aus, daß bei Staaten wie bei Indi- viduen die physische Überlegenheit durch Fachmänner bis zu einem gewissen Grade festgesetzt werden kann wodurch ein weiterer Krieg überflüssig erschienen wäre. Wäre der gute Wille vorhanden gewesen, so hätte die Idee vielleicht fachmännisch entwickelt wer- den können.

Anfangs 191 5 fing sich Italiens Stellung zu präzisie- ren an, und dies veranlaßte Graf Berchthold, zurück- zutreten. Sein Nachfolger. Graf Burian, hatte kein an- genehmes Erbe.

Bald nachher schrieb ich letzterem einen Privatbrief. Avorin ich ausführte, ich kenne die englische Mentalität und hielte es daher direkt für ausgeschlossen, daß

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man durch ein brutales und terrorisierendes Verhaltc-n die Engländer jemals einschüchtern würde, im Ge- genteil, die ganze Geschichte dieses Volkes lehre, daß ihm das Unglück den größten Mut gebe. Ich schrieb daher, auch auf Grund direkter Informationen natür- lich, daß die Luftschiffe und U-Boot-Angriffe, welch letztere eine Aushungerung des Landes nie erzielen würden, nur das eine Resultat haben würden, in Eng- land die allgemeine Wehrpflicht einzuführen.

Mein Privatbrief wurde zwar als ,, gegenstandslos" bezeichnet; dasselbe konnte aber von der allgemeinen englischen Wehrpflicht, dieser epochalen Umwälzung in den britischen Sitten, welche einige Monate später durchgeführt wurde, mit dem besten Willen woiil nicht gesagt werden.

Ende 191 6 wurden wir gezwungen, Athen zu ver- lassen*, und da konnte ich, in Wien angelangt, meine Beobachtungen über die Kriegsstimmung machen. Diese waren wenig erfreulich. Es war mir aber eine große, wenn auch traurige Genugtuung, daß zwei der eminentesten unserer ausländischen Vertreter die pessimistischen Ansichten, welche ich bezüglich des Kriegsausganges von Anfang an hegte und welche ich in Athen außer meiner Schwester niemand jemals sagte, vollauf teilten. Der eine wird es vielleicht lieber haben, nicht genannt zu werden. Der andere war der verstorbene Baron Hengelmüller, welcher mir gleich, als er bei mir eine wohl seltene Teilnahme fand, sein

* Im obigen habe ich meines Aufenthaltes in Griechenland, der zu den schönsten Erinnerungen meines Lebens zählen wird, sowie der griechischen Frage nur ganz flüchtig gedacht. Es würde weit über den Rahmen dieses Buches hinausführen, wollte ich letzteres hier beschreiben und Land und Leute schildern. Ich behalte mir daher vor, es bei einer anderen Gejegenheit zu tun.

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Herz ausschüttete. Es mußte meine Befürchtungen im hohen Grade bestärken, daß gerade ernste und ältere Staatsmänner, welche das Ausland wirklich kannten und sich durch die Kriegspsychose nicht beeinflussen ließen, dieselben teilten.

Nun erfolgte bald unsere erste Friedensproposition, welche schon wegen ihres arroganten Tones dem Mißlingen geweiht war, und bald darauf die Ersetzung des Grafen Burians durch den Grafen Czernin.

In diese Zeit fiel auch meine erste Audienz bei Kaiser Karl, welcher den Thron eben bestiegen hatte, und ich konnte aus unserer langen Unterredung mich von der wahrhaft liberalen und pazifistischen Gesinnung Seiner Majestät überzeugen.

Der neue Minister hatte zunächst dieselben Ideen, und eine seiner ersten Taten war, das Ministerium von all jenen Elementen zu befreien, welche durch ihren Einfluß auf Berchthold trotz ihrer untergebenen Stellung an dem traurigen Gang der Ereignisse mit- schuldig waren.

Es zeigte sich aber bald, daß Czernin nicht die Stärke hatte, seine Worte in Taten umzusetzen. Obzwar er davon persönlich überzeugt war, daß die Wiederein- führung des verschärften U-Boot-Krieges die Be- teiligung Amerikas am Krieg mit sich ziehen würde, gab er dem diesbezüglichen Entschluß der deutschen Machthaber nach und wir willigten sogar in die An- wendung dieser Kriegfühnmg unsererseits ein.

Später hat mir ein wahrhaft liberaler deutscher Staatsmann, der auch den Gang der Ereignisse richtig vorausgesehen hatte, der damalige Botschafter Graf Bernstorff, vorgeworfen, daß wir aus Schwäche ohne Überzeugung in den verschärften U-Boot-Krieg einge- willigt, wogegen unsere energische Stellungnahme da-

gegen vielleicht in Berlin doch berücksichtigt worden wäre, was das Resultat des Krieges wesentlich geändert hätte.

Nachdem ich einige Monate im 3*Iinisterium gearbei- tet hatte, meldete ich mich nun, da kein Gesandten- posten frei war, für den eben vakanjten Posten eines Botschaftsrates in Konstantinopel und fuhr im Oktober dorthin.

Ich habe fast ein Jahr an dem mir so unendlich lie- ben Bosporus geweilt und dabei die angenehmsten dienstlichen Verhältnisse gefunden. Mein Chef, Mark- graf Pallavicini, würdigte in voller Weise m.eine beson- dere Lage und behandelte mich nicht wie einen ge- wöhnlichen Botschaftsrat. Ich meinerseits setzte meine Ambition eben daran, meine Arbeit als ein solcher zu verrichten. Unter solchen Umständen mußte das Ver- hältnis zwischen uns ein angenehmes sein. Dies wurde es aber noch vielmehr durch eine vollständige Über- einstimmung der Ansichten bezüglich des Weltkrieges. Da ich ihm bei der Abfassung der politischen Berichte behilflich war, und er als Doyen unserer Karriere sich nicht scheute, seine Meinung auszudrücken, so erleich- terte dieser Umstand die ganze Arbeit.

Neben den vielen humanitären und politischen Kon- sidcrationen, welche uns beiden den Krieg abhold mach- ten, muß ich auch einer sehr edlen, aber zugleich praktischen Erwägung gedenken, auf die Palla- vicini öfter zurückkam. Es war die Bemerkung, daJS die ^Monarchie sich am allerwenigsten ein Ab- weichen von dem Prinzip der Gerechtigkeit erlauben könnte. Für eine große nationale Macht sei dies schon im hohen Grade verwerflich ; die ^Monarchie aber verliere hierdurch geradezu ihre Existenzberechtigung.

Die Berichte Pallavicinis verfehlten nicht, auf d^n

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jungen, edeklenkenden Kaiser einen groüen Eindruck zu machen, und eines schönen Tages erhielt der Mark- graf die telegraphische Anfrage Seiner Majestät, ob er nicht das Portefeuille des Äußern übernehmen wolle. Er antwortete, was in seinem hohen Alter begreiflich war, er bäte um Erlaubnis, nach X'Cien kommen zu dürfen, um die Situation zuerst an Ort und Stelle zu studieren. Der Kaiser willigte z\var zuerst darin ein. ließ sich aber dann bestimmen, den Grafen Burian an Stelle Czernins zu wählen.

Wäre es bei Pallavicini geblieben, und unsere mili- tärische Lage stand damals glänzend da Rußland war gänzlich ausgeschaltet , so zögere ich nicht zu sagen, daß die Existenz der Monarchie noch hätte gerettet werden können.

Was schließlich die Umstände anbelangt, unter wel- chen die Türkei und später Bulgarien in den Krieg tra- ten, so werfen sie wenig Erfreuliches auf unsere Kriegs- moral! — Am Tage, wo es den deutschen Schiffen ,,Göben" und „Breslau*' gelang, im Bosporus zu erschei- nen, war die Kooperation der Türkei nähergerückt, denn die offene Stadt war eigentlich gegen diese Schiffe ohnmächtig. Es bestand aber auch eine große Partei mit Enver Pascha an der Spitze, welche den Krieg wollte und darin eine einzige Gelegenheit sah, den rus- sischen Erbfeind zu besiegen. Die Sache wurde bei einem Frühstück auf der deutschen Botschaft arran- giert. Die türkische Flotte ging unter deutschem Kom- mando ins Schwarze i\Ieer und kam zurück mit der Nachricht, sie sei von den Russen angefallen worden. Dies gab den Casus belli. Die Sache war unwahr, und ich glaube, daß sogar die Flotte die russischen Festun- gen angeschossen hatte. Der russische Botschafter war

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auch bereit, die Sache zu ignorieren. Es half natürhch nichts. '

Das Einspringen Bulgariens war noch odioser. Ich habe selbst das Telegramm unseres Sofioter Gesandten gesehen, in welchem er berichtete, daß Herr Radosla- wow ihm gesagt habe, der Zwischenfall an der Grenze, welcher die Schuld auf Serbien wälzen sollte, habe nun stattgefunden. Man habe einen einsamen Ort gewählt, und es sei nun möglich, zu behaupten, daß Serbien Bul- garien angegriffen habe !

Dies alles war der Nürnberger Bomben und der erdichteten französisch - belgischen Aggressivabsichten würdig !

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Kapitel X. Die erste Berufung zum Kaiser und König.

Facilis est descensus Averno . . .

Doch ich habe etwas vorgegriffen, denn der Mi- nisterwechsel fand erst im Monat April statt.

Im Herbst 1917 konnte unsere Lage dem ober- flächlichen Betrachter als recht günstig erscheinen. Amerika hatte bisher nicht vieles leisten können, die Auflösung der russischen Armee stand bevor, und Italien hatte schwere Niederlagen erlitten.

Andererseits aber fingen die ..Nationalitäten" der Monarchie, also alle Völker derselben, mit Ausnahme der zwei dominierenden, ernstlich an, sich zu rühren, diejenigen Österreichs ganz offen, diejenigen Ungarns im geheimen. Dieses erschien mir ein böses Omen, und ich, der die Anglosachsen kannte, zweifelte weniger denn je, daß der Krieg, wenn er auch lange dauern, für uns keineswegs günstig ausfallen würde, ja, daß er wahrscheinlich mit der Zerschmetterung Österreich- Ungarns enden würde.

Und doch sah ich damals in diesem militärisch noch günstigen Augenblick die Möglichkeit einer Rettung. Diese bestand nach meiner Ansicht zuerst in einem sofortigen Friedensschluß, welchen die Entente uns damals erleichtert hätte, und dann in einer Re- konstruierung der Monarchie nach den Erfordernissen der Zeit.

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Trotzdem dies alles die Agenden eines Botschafts- rates wenig anging, hielt ich es für meine Pflicht, in diesem tragischen ]\Iomente, welchen ich als die ,, letzte Stunde" betrachtete, eine Warnung ergehen zu lassen. Aber an wen, war die groiae Frage. In Österreich selbst war das föderative System schon teilweise eingeführt, es würde sich daher nur um eine Ausgestaltung han- deln. Außerdem war die österreichische öüfentliche Meinung des Krieges satt. Aber in Ungarn lagen die Sachen ganz anders. Es war dort geradezu ein Axiom der dominierenden Parteien, daß man den Nationali- täten ohne Gefahr keine Konzessionen machen könnte. Jedesmal, wo ich die Möglichkeit der ,, nationalen magyarischen Politik'', wie man sie in Budapest ver- stand, bestritten hatte, hatte man mir geantwortet, ich habe mein ganzes Leben im Auslande verbracht und ..verstehe unsere Verhältnisse nicht'". Ja, man hoffte sogar durch geschickte ,, Grenzregulierungen", welche die Fortsetzung des Krieges notwendig machten, das Gebiet Ungarns gegenüber Rumänien und Serbien zu vergrößern! Es hätte also nicht die geringste Aussicht gehabt, die ungarischen Machthaber beeinflussen zu wollen, und die ungarische parlamentarische Opposition konnte nicht efifektiv genug zu Worte kommen.

Ich entschloß mich daher, meine Bedenken an jener höchsten Stelle zum Ausdruck zu bringen, welche eine österreichische und gleichfalls eine ungarische war und im Wirrwarr der Parteien und Xationalitätenkämpfe das einzige unverändediche und dauerhafte Element der Monarchie bildete. Ich schrieb daher unter dem 9, No- vember eine Denkschrift, welche ich für den Kaiser und König bestimmte, und ließ den Minister, Grafen Czernin, durch einen Bekannten bitten, sie dem Kaiser zu unterbreiten. Diese Denkschrift ist im I. Anhange

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wiedergegeben. Sie ist betitelt: „Der zukünftige Bür- gerkrieg in Österreich-Ungarn und wie man ihn noch verhindern kann." Als Mittel hierzu nannte ich eine entsprechende auswärtige Politik und eine innere Um- gestaltung, um den Erfordernissen der Zeit zu ent- sprechen. Die auswärtige Politik sollte einen möglichst raschen Friedensschluß und einen dauernden friedlichen Zustand bewirken. Die innere Umgestaltung sollte in sozialer und nationaler Hinsicht erfolgen und hätte namentlich eine Autonomisierung der verschiedenen Nationalitäten, be^or sie sich gewaltsam von den herr- schenden Elementen losrissen, bringen sollen.

Obzwar ich, wie ja nicht anders möghch, nicht in allem richtig prophezeit habe, haben sich leider meine Voraussagen im wesentlichen nur allzusehr bewahr- heitet.

Mein Grundgedanke war, in der Behandlung des Nationalitätenproblems keine Gewalt anzuwenden. So konnten wir Ungarn im besten Falle hoffen, durch eine kluge Politik die führende Rolle zu behaupten, und im schlimmsten, wenn doch das ganze Gebäude mit ele- mentarer Macht zusammenfiel da kein Haß ob- waltete — , könnten die Deutschösterreicher und Ma- gyaren, namentlich diese letzten, da ihre Rasse anders- wo nicht vertreten war noch hofifen, gewissermaßen das Hauptzentrum nicht nur der Monarchie, sondern auch Europas zu bilden, eine Aussicht, welche sie wohl für manchen territorialen Verlust entschädigen könnte.

Diese Theorie fand ich eigentlich selbst zu opti- mistisch. Ich war daher später nicht wenig erstaunt, dieselbe in der französischen Presse vertreten zu sehen.

Anderseits wird man vielleicht staunen, daß ich in meinem Memoire nicht klipp und klar die Schaffung einer ungarischen Föderation vorschlug. Man muß sich

aber vergegenwärtigen, daß die sofortige Anwendung eines so radikalen Mittels am vollständigen Widerstand der ungarischen Machthaber gescheitert wäre. Alles, was ich proponieren konnte, war daher, sich zur Ent- wicklung in föderativer Richtung wohlwollend zu ver- halten.

Auch so wußte ich, daß meine wenig orthodoxen Ansichten, wenn sie bekannt wurden, fast als Hoch- verrat gelten würden. Ich ließ daher Seine Majestät bitten, mein ^lemoire streng vertraulich behandeln zu wollen.

Nun erhielt ich einige Wochen später den folgen- den, vom 2. Januar datierten Brief des Grafen Czernin: ..Botschafter Graf Mensdorff hat mir ein von Dir verfaßtes Memoire zur Einsicht übergeben mit dem Er- suchen, dasselbe auch Seiner k, und k. Apostolischen Majestät zu unterbreiten.

Graf Mensdorfif fügte hinzu, daß Du auf diskre- teste Behandlung dieses Schriftstückes Wert legen müßtest, v^'eil der Gedankengang desselben zum Teil bei Deinen Landsleuten Anstoß erregen könnte. Ich habe keinen Anstand genommen, das mehrgedachte Memoire Allerhöchstenorts in Vorlage zu bringen und auch, Deinem Wunsche entsprechend, auf dessen streng- vertraulichen Charakter aufmerksam gemacht. Dies- bezüglich kann ich aber nicht umhin, zu bemerken, daß meiner Ansicht nach ein Beamter die Autorschaft von Vorschlägen, welche er seinem Herrscher unterbreitet, nicht verheimlichen sollte. Will er das Licht der Öffentlichkeit meiden, weil er durch das Publikwerden mit maßgebenden Kreisen seiner Heimat in Gegensatz zu geraten fürchtet, dann schien es mir angezeigter, die Allerhöchste Stelle aus dem Spiele zu lassen, denn es ist klar, daß das Odium, welches denjenigen treffen

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kann, welcher gewisse Vorschläge formuliert hat, in weit erhöhtem Maße auf denjenigen zurückfallen mui3, welcher die Vorschläge akzeptiert und sie zur Durch- führung bringen läßt."

Ich antwortete wie folgt: „Im Besitze Deiner Zeüen vom 2. des Monats danke ich Dir vor allem er- gebenst für die Unterbreitung meines Memoires an Allerhöchster Stelle.

Was meinen Standpunkt in dieser Angelegenheil anbelangt, so erlaube ich mir, Dir folgende Stellen meines Briefes an Graf Mensdorflf vom 28. November vorigen Jahres zu zitieren : ,Ich wende mich an Sie, auch deshalb, weil ich weiß, daß meine wenig orthodoxen Ansichten namentlich in Ungarn einen Sturm der Ent- rüstung verursachen würden. Ich glaube, daß die Zeiten ernst genug sind, daß ich hierfür die nötige Verant- wortung auf mich nehme. Andererseits möchte ich mir natürlich nicht de gaite de coeur schaden. Daher würde ich wünschen, daß, außer für Seine Majestät und den Minister, die Sache geheim bleibe.'

Als Mitglied eines uradeligen und stets königs- treuen ungarischen Geschlechtes, welches die Gelegen- heit hatte, die internationalen Begebenheiten zu stu- dieren, wollte ich auf Gefahren aufmerksam machen, welche meiner Ansicht nach Ungarn bedrohen. Da es sich um die Zukunft handelt, hegte ich den Wunsch, Seiner k. und k. Apostolischen Majestät selbst meine Konsiderationen zu unterbreiten.

Ich glaubte einerseits, daß das Licht der Öffentlich- keit für die eventuelle Durchführung meines objektiven Programms nicht opportun wäre, und daß andererseits, da mein bescheidener Wirkungskreis von dieser Sache weit entrückt ist, subjektive Momente hierin keine Rolle spielten,

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Daher erlaubte ich mir, (He ganze Sache dem Grafen Mensdorff, zu dem ich das vollste Vertrauen hege, z(i unterbreiten.

Ich war aber immer bereit, die volle Verantwortung für meine Taten zu tragen, und tue dies auch jetzt gern, und zwar in dem ^Tafie. als dies von praktischem Nutzen wäre."

Der Brief des Ministers bewies mir unter anderm. daß meine Denkschrift Eindruck gemacht hatte.

Ich sollte bald einen noch eklatanteren Beweis dafür erhalten.

Am Freitag, dem t8. Januar 1918, erhielt mein Chef, ^Markgraf Pallavicini. den Auftrag, mich anzu- weisen, sofort nach Wien zu reisen und mich beim Kaiser zu melden. Ich fuhr am nächsten Tage ab und ■wurde vom Herrscher in dem einfachen, aber netten Hause, welches ihm in Baden als Hauptquartier diente, am 22. in früher Stunde empfangen.

Seine Majestät sagte mir gleich, er habe meine Denkschrift mit groiem Interesse gelesen und teile vollständig meine Ansichten. Die vollständige Durch- führung einer eventuellen Föderation sei in Österreich verhältnismäßig leicht. Er frage mich aber, wie ich mir dieselbe in Ungarn vorstelle, wo bekanntlich eine solche Reform auf große Schwierigkeiten stoßen würde. Ich antwortete, daß ich diesen Umstand vollständig würdig-e und daß man sicherlich in dieser Hinsicht nur schrittweise und mit großer Vorsicht vorwärts schreiten könne. Drei Sachen könne man indes sofort in Angriff nehmen, und diese seien: i. die Angehörigen der Natio- nalitäten im täglichen Leben besser zu behandeln ; 2. sie an das ungarische öffentliche Leben heranzuziehen, und 3. in wirtschaftlicher Hinsicht in den von ihnen bewohn- ten Gebieten zu wirken.

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Der Kaiser sagte mir. er sei entschlossen, diesen Kurs einzuschlagen, daß aber im Interesse der Sache das größte Geheimnis nötig sei. Er fügte hinzu, er fühle sich von Herzen als Ungar, vielleicht als den besten Ungar, aber daß in der Tat der magyarische Adel zum großen Teil in dieser Hinsicht verblendet sei; glück- licherweise sei dies beim tüchtigen ungarischen Volke nicht der Fall. Er führte an, daß ein ungarischer Mi- nister ihm vor kurzem gesagt habe : „Majestät, es gibt keine südslawische Frage mehr!"

Wir sprachen auch vom ungarischen Wimsche, dei vollständigen Trennung der Armee. Ich sagte, dalä nach meiner Ansicht diese Frage mit jener der Natio- nalitäten eng zusammenhänge, denn wenn letztere zu- frieden sind, so würde eine getrennte ungarische Armee unbedenklich erscheinen. Sonst aber würde die Ein- führung derselben direkt das Ende beschleunigen, denn beim Friedensschluß würden sich dann Italien, Süd- slawien, Rumänien und Böhmen gegen uns verbinden, und es würde niemand einfallen, zu unserer Rettung herbeizueilen.

Bezüglich des Krieges sprach mir der Flerrscher in sehr edlen Worten. Seine Majestät schien erschüttert durch die Weltkatastrophe und bemerkte sehr richtig, daß der stete Zuwachs unserer Feinde, wenn es sich auch um kleine Länder wie Portugal und südamerika- nische Staaten handle, doch eine große moralische Be- deutung habe. x\uch konnte er gar keine genügend starken Worte finden, um diejenigen, welche an der Fortsetzung des Krieges die Schuld tragen, zu brand- marken. Als solche nannte er in erster Linie Hinden- bürg und Ludendorff. Er bedauerte die Willens- schwäche Kaiser Wilhelms, welche ihn daran verhindert halrje, sich dieser schlechten Ratgeber zu entledigen. Er

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habe sich nicht gescheut, den General Conrad weg- zuschicken, trotz aller Popularität, die der General- stabschef genoß.

Seine Majestät sagte mir, er sei gesonnen, wieder mit einem Friedensantrage an die Entente heran- zutreten, und besprach dann die Lage in der Türkei. Er stimmte mit mir darin überein, daß es geradezu katastrophal für das ottomanische Reich gewesen sei, sich in einen Krieg zu stürzen, welcher ihnen keinen Nutzen und nur die Abhängigkeit von einer Partei bringen konnte. Er perhorreszierte die Idee, daJS wir weitere Truppen dorthin schicken, und sagte, daß, komme, was möge,' er niemals gegen Christen für die Wiedereroberung Jerusalems kämpfen würde.

Die Audienz, welche eine ganze Stunde dauerte, war nun zu Ende. Mein Haupteindruck von der- selben war, neben dem jugendlichen Reize des Monarchen, daß er, wie wenige damals, für die Situa- tion volles Verständnis hatte, daß er aber, von Sorgen, welche er sich zu Herzen nahm, geplagt und von nie- mand, der seinen moralischen Mut unterstützt hätte, umgeben, nicht die überirdische Kraft haben werde, sich aus den politischen Intrigennetzen herauszureißen und die von ihm als richtig erkannten Ideen durch- zuführen.

Ich meinerseits konnte wenig tun. Ich sah klar, wahrscheinlich, weil ich so wenig in Ungarn selbst gelebt hatte ; aber gerade deshalb fehlte mir dort nicht nur jeder Einfluß, sondern auch fast jede Beziehung. Ich war daher entschlossen, falls der Kaiser und König mich zum ungarischen Ministerpräsidenten ernennen wollte, ihn zu bitten, hiervon abzusehen und lieber einen radikalen ungarischen Politiker mit diesem Posten zu bekleiden.

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Im Wiener Auswärtigen Amte hatte aber meine Berufung Neugier und bei den wenigen Eingeweihten Mißtrauen hervorgerufen. ~Sl3.n wollte Ruhe, und jene wenige, welche schon den bösen Ausgang ahnten, wollten auch lieber Ruhe als irgendwelche Neuerungen, die diese bureaukratische Ruhe gestört hätten. Der Minister selbst empfing mich gar nicht.

Nun kehrte ich nach der schönen türkischen Haupt- stadt zurück, und ich konnte mit dem lieben IMark- grafen Pallavicini beobachten, wie die ^Monarchie syste- matisch sich zugrunde richtete.

Es war zunächst der mit unstabilen Staaten ge- schlossene Brester Gewaltfriede, und dann der Gewalt- friede von Bukarest.

Dies alles hatte für Österreich-Ungarn eine große Bedeutung, denn von nun ab gab die Entente jede Hoft- nung auf, uns zur A'ernunft zu mahnen und zu retten. Da wir es dem Anscheine nach vorgezogen, die deutsche Politik in Rußland m.itzumachen, war unser Schicksal besiegelt. Von nun an setzte die Entente alle ihre Kraft darauf ein, uns zu vernichten, da sie hierdurch am leichtesten Deutschland zu treflen hoffte.

Dies war um so tragischer, als wir eben, mehr dem Anscheine nach als tatsächlich, der deutschen PoHtik in Rußland folgten. Nach dem Zusammenbruch der russischen Arm.ee hatten wir uns zuerst passiv ver- halten und die deutschen Divisionen durch unsere Front ziehen lassen. Erst später beteiligten sich einige unserer Divisionen an dem Einmarsch in die Ukraine, doch geschah dies auf \\'unsch der Ukraine und um dort Ordnung zu schaffen. Freilich konnten wir dabei nicht umhin, das dortige Getreide für unsere hungernde Be- völkerung — übrigens nur in beschränktem Maße in Anspruch zu nehmen.

19 V. S z i 1 a s s y , Der Untergang der Donau-Monarchie. 28q

Wie Österreich-Ungarn, und namentlich dessen Herrscher, in der Tat dem russischen Abenteuer abhold waren, geht auch aus folgendem hervor. Nach dem Lucker Desastre war der Oberbefehl über die Vierbund- truppen dem deutschen Kaiser übertragen worden. Bei seinem Regierungsantritt ließ dies Kaiser Karl aber nicht gelten und erklärte, dem deutschen Herrscher, daß ein Kaiser dem anderen nicht unterstellt werden könnte. Man erfand den Ausweg, zu vereinbaren, daß, wenn die Monarchen und die Generalstäbe sich nicht einigen könnten, Kaiser Karl als der , »Jüngere'', Kaiser Wilhelm, dem ..Älteren", nachgeben würde. Ein solcher Fall ereignete sich zwar nie, doch berief sich Kaiser Wilhelm beim Einmarsch in die Ukraine auf diese Ver- einbarung in einem an den österreichisch-ungarischen Herrscher gerichteten Telegramm, offenbar um ihn zu bewegen, die russische Expedition in vollem IMaüe mit- zumachen. Kaiser Karl ließ dies indes nicht gelten und erklärte in seiner Antwortdepesche, daß der Fall nicht vorläge, da es sich um keine militärische Operation, sondern lediglich um in der Ukraine zu erfüllende Polizeidienste handle.

Dann kam die Geschichte des Briefes des Kaisers an seinen Schwager, in welchem der Monarch von seinem Minister des Äußern, der ihm so vieles zu ver- danken hatte, im Stiche gelassen wurde. Und doch war dies eine seltene Gelegenheit für einen konstitutio- nellen Minister, seinen Herrscher zu decken und sich von Deutschland, wenn es vom russischen Abenteuer nicht lassen wollte, zu trennen, wozu wir jeden Gruntl hatten, da wir nicht verpflichtet waren, diese imperia- listischen Treibereien im ehemaligen Zarenreiche mit- zumachen. Dagegen endete bekanntlich die so traurige Episode, trotz des Falles Czernin. mit einem Kanossa-

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gange des jungen Herrschers ins deutsclle Haupt- quartier und darauffolgender „Vertiefung des Bünd- nisses", welch letztere allerdings eher auf dem Papier blieb.

Aber Czernin war kein starker Mann, und seine später in einer Rede vorgebrachte Verteidigung, daß wir uns von Deutschland nicht trennen konnten, ohne von ihm selbst angegriffen zu werden, wird jeder ver- nünftige Mensch in Zweifel ziehen. Schließlich konnte Deutschland doch nicht gegen die ganze Welt kämpfen. Überdies, wenn dies die Ansicht des Ministers war, so wäre es besser gewesen, er hätte lieber seine Demission eingereicht, als eine von ihm selbst als verwerflich an- erkannte Politik weiter zu verfolgen. Mir sagte er später, daß ich mit meinem Memoire vollständig recht gehabt hätte, daß es aber damals schon zu spät war. Dies kann ich doch nicht ohne weiteres gelten lassen.

Wir eilten aber bereits dem Untergange entgegen.

Auf diesem traurigen Wege bildete noch der Besuch des Kaiserpaares in Konstantinopel im Monat Mai eine anmutige Episode, und selten ist wohl in einem offiziellen Empfange so das ganze Herz eines Volkes zum Vorschein gekommen. Was der türkisclie Hof an orientalischem Prunk besaß, alles wurde ange- wendet, um diesen, in feenhaftem Dekor stattgefun- denen Feierlichkeiten einen bleii)cnden Eindruck zu geben. Das Ganze hatte aber eine tiefe politische Be- deutung; dem jungen Kaiserpaare flogen die Herzen der vielgeplagten, verhungerten und der deutschen jMilitärherrschaft überdrüssigen türkischen Bevölkerung entgegen, weil sie in Karl den Friedensfürsten wähnte, der allein imstande war, durch einen schleunigen Friedensschluß all diesem Elend ein Ende zu machen.

19^

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Seine Majestäi der Kaiser und König- fiel überall auf, nicht nur durch seine elegante und vornehme Ge- stalt und seine zwanglose Liebenswürdigkeit, sondern auch durch das Interesse, welches er jedem Gegenstande widniete. und das praktische ^'erständnis, das er in allen Gesprächen kundgab.

Ihre ^lajestät die Kaiserin Zita eroberte alle Herzen im Fluge, und es fiel auf, daß sie viel schöner und lebendig menschlicher war. als ihre Bilder sie zeigten.

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Kapitel XI. Die zweite Berufung zum Kaiser und König.

.... sed revocare gradus!

Den ganzen Sommer hindurch mußte ich die Bot- schaft leiten, da mein Chef wegen seines kränkHcheii Zustandes einen hingen Urlaub angetreten hatte.

Ich verbrachte fast drei Monate im herrlichen Yenikeuy am Bosporus, und hatte auf einsamen Ritten Gelegenheit genug, in diesem wunderschönen Rahmen über die Zukunft nachzusinnen. Sie erschien mir schwärzer denn je. Deutschland hatte seine Maximal- kraft im Westen aufgeboten, aber der Angriff war miß- lungen. Die Marne war zum zweiten Male Deutschlanil abhold gewesen. Dabei strömten immer neue und frische amerikanische Armeen zum Kriegsschauplatz. Es mußte daher schiefgehen, die Frage war nur noch, wann.

Und doch stellten die vielen in Rußland zerstreuten deutschen und österreichisch-ungarischen Streitkräfte eine ansehnliche Macht, und Rußland selbst, in deut- schen Händen, moralisch wenigstens in gewisser Be- ziehung ein Faustpfand dar.

Aber es war nicht daran zu denken, in dieser Rich- tung noch eine Rettung in elfter Stunde zu linden. Man war im Gegenteil deutscherseits immer mehr bestrebt, sich in Rußland imperialistischen Tendenzen hinzu- geben. Wir folgten oder schienen zu folgen, was mit

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ein Grund war, warum ich den mir zugedachten Ge- sandtenposten in Moskau mit wenig Begeisterung be- grüßte — was dann schheßHch den Ballhausplatz be- stimmte, auf meine Kandidatur zu verzichten. Aber nicht nur wir, sondern sogar die Jungtürken folgten dem deutschen Beispiele und schickten sich an. einen großen Teil des Kaukasusgebietes zu erobern.

Bezüglich der deutschen Rußlandpolitik waren übrigens zwei Tendenzen zu bemerken, die eine be- sonnene, die das Berliner Auswärtige Amt vertrat, und diejenige der Obersten Heeresleitung (Ludendorlif). Leider siegte hier, wie stets, die zweite, und der General, ein Feldherr ersten Ranges, war es als Politiker nicht, Talaat Pascha sagte mir einmal, man kenne sich schon gar nicht mehr aus mit den deutschen, aus obigem Grunde sich oft widersprechenden Wünschen.

Der deutsche Botschafter, Graf Bernstorff, und ich ließen uns keinen Augenblick über den reellen W^ert dieses ganzen Abenteuers täuschen. Wir wußten sehr wohl, daß dieser Tätigkeitsdrang Mitteleuropas in hohem Grade jener abnormen und fieberhaften Vitalität gleiche, welche bei gewissen Krankheiten dem Tode vorausgeht. Ich glaube aber, daß er sich über die Pläne seiner Regierung in betreff Georgiens nicht mehr be- geisterte als ich über den Wunsch der Armenier, wie er mir von ihrer Delegation offiziell vorgetragen wurde, daß W'ir das Protektorat über sie übernehmen. Die De- fektion Bulgariens schien uns sicher, und \\ir hatten „bien d'autres chats ä fouetter".

Trotz allen angeblichen Vertrauens in unsere Sache wehte eigentlich schon eine verpestete' Luft. Unsere viel zu zahlreichen Offiziere schienen wie von einer Unterhaltungssucht ergriffen zu sein. In An- betracht des Ernstes der Zeit und des unsäglichen

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Elends der türkischen Bevölkerung erschien dieses Betragen unserem INIilitärbevollmächtigten. meinem Freunde, dem General Pomiankowski, und mir höchst unpassend, und wir verhehlten dies wenig, wodurch wir an Popularität nicht gewannen. Aber dies war wahr- scheinhch nur ein ganz instinktiver Trieb, dessen die meisten sich wohl kaum bewußt sein mochten, sich angesichts der drohenden Katastrophe, welche so viele Existenzen zugrunde richtet, noch zu betäuben.

Meine eigenen Gedanken über die Lage drängten mir den Schluß auf. daß nun der Moment eingetreten sei. uns möglichst rasch von Deutschland zu trennen und der Entente einen Sonderfriedensvorschlag zu machen. Wir hatten jede Berechtigung dazu, denn, wie bereits erwähnt, unser Bündnis war ein defensives, und man konnte uns nicht zwingen, die unberechenbare Politik, in welcher sich das militärische Deutschland Rußland gegenüber gefiel, mitzumachen, welches sogar so weit ging, daß ein uns unbekanntes deutsch- russisches Abkommen geschlossen wurde.

Ich wollte hierüber eine neuerliche Denkschritt dem Kaiser und König schicken. Aber die Sache war jetzt insofern schwerer, als Graf Burian selbst ein Ungar war und ich somit, da ich im Interesse Ungarns wirken wollte, das Memoire eigentlich durch ihn hätte unter- breiten lassen müssen. .\uch wäre seine Umgehung wegen der Familienverhältnisse, welche uns verbanden, sehr schwer gewesen. Xun aber befürchtete ich, daß der Minister meine allzu pessimistische Auffassung nicht teilen würde.

Ich entschloß mich daher, die Denkschrift zu ver- fassen und mich vorläufig abwartend zu verhalten.

Ich gebe den Text derselben im zweiten Anhange wieder, obzwar. wie ersichtlich, ich auch hier zwar im

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wesentlichen, aber nicht in allen Punkten richtig prophezeit habe.

Das ]\Iemoire betitelt sich : „Die Notwendigkeit eines sofortigen Friedens, selbst eines Separatfriedens", ist vom 13. August 1918 datiert und resümiert sich dahin: Sofortiger Friede und Autonomie der Nationali- täten.

Die Gelegenheit, die Denkschrift zu verwerten, sollte sich schon nach einigen Wochen ergeben.

Anfangs September hörte ich vom General Pomi- ankowski, daß er demnächst den Besuch des Sektions- chefs im Kriegsministerium, Generals von Dani, er\varte, welcher nach Konstantinopel kommen werde, um Ver- handlungen mit dem Chef des türkischen Generalstabes, General von Seeckt, zu pflegen. Diese Nachricht ver- ursachte mir kein besonderes Interesse, bereitete mir aber große Freude, da ich Däni aus Tokio, wo er Militärattache gewesen, gut kannte und ihn dort schätzen lernte.

Nun, am Abend des 6. September, am Freitag, spazierte ich eben mit meinem Kollegen Herrn Panfili und einigen guten Bekannten auf dem Kai von The- rapia, als ich Däni mit einem andern Offizier traf. Er kam auf mich zu und fragte mich, wann er mich sprechen könnte. Ich sagte ihm, daß wir den Rückweg nach Yenikeuy sofort zusammen machen könnten.

Sobald wir ims nun von der übrigen Gesell- schaft getrennt hatten, sagte mir der General, er sei von Kaiser Karl beauftragt worden, mir das Portefeuille des Ministeriums des Äußern anzubieten. Dies sei der vvahre Zweck seiner Reise, das übrige nur Vorwand. Die Sache müsse aber, bis sie reif sei, vollständig geheim gehalten werden, denn der Kaiser wolle die Empfindlichkeiten des Grafen Burian schonen. Ich

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entgegnete, daß, da ich die Ansichten des Kaisers und Königs kannte und wir übrigens uns im Kriege befan- den, ich nur eine Antwort für möglich hielt, und diese sei, zu ,, gehorchen". Bezüglich der Ausführung er- schiene es mir aber sehr schwer, meinen Posten, wo ich nun als Geschäftsträger den Botschafter ersetzte, unter irgendeinem Vorwande, wie dies der Kaiser wünschte, zu verlassen. Man habe mich ja als Gesandten eben dorthin geschickt, um die Vertretung zu besorgen, und es sei überhaupt gegen jede diplomatische Tradition, daß ein Geschäftsträger sich entferne und von einem an- deren abgelöst werde.

Da aber die Befehle des Kaisers kategorisch waren und ich schlieJslich ihm in erster Linie Gehorsam schuldete, so blieb nichts anderes übrig, als den am nächsten Tage abfahrenden Balkanzug zu benutzen.

Formell hoffte ich noch durch sofortige Einholung eines kurzen Urlaubs die Sache in Ordnung zu bringen. Ich sandte daher ein dringendes Telegramm, worin mein Ansuchen „durch eine plötzlich aufgetauchte, dringende und keinen Aufschub duldende hochpersönliche Ange- legenheit" begründet würde. Die zustimmrnende Ant- wort langte tatsächlich eine Stunde vor Abfahrt des Zuges noch ein. Mein Kollege Panfili, dem ich mein Telegramm übergab, schaute mich mit erstaunten Blicken an; ich begnügte mich zu bemerken. ..daß ich nicht verrückt sei".

Dani hatte mir inzwischen erzählt, da£ der Kaiser und um ihn eine kleine Hofkoterie davon durchdrungen seien, daß die ^Monarchie ihrem \'erfall entgegenlaufe. und daß nu.r ein sofortiger Friede, gepaart mit der Er- richtung eines autonomen Böhmens und eines auto- nomen Jugoslawiens, sie vielleicht noch retten könnte. Diese Politik würde aber auf ijroße Hindernisse stoßen

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und werde daher nötigenfalls durch einen mit Dik- tatorialgewalt bekleideten ^Minister des Äußern, even- tuell gegen die beiden Parlamente, durchgeführt werden müssen. Es handele sich eigentlich, meinte Dani, fast um einen Staatsstreich. Er erzählte, daß diesem kleinen Kreise außer ihm und anderen vor allem der Oberhof- meister Graf Hunyady und der ungarische Ernährungs- minister Fürst Ludwig Windischgrätz angehörten, welch letzterer sich besonders für die Sache interessiere. Als es sich darum handelte, einen Kandidaten für diesen Posten zu finden, habe jemand mich erwähnt, worauf der Kaiser, welcher meine Ansichten kannte, bemerkt habe: ,.Ja, das ist der Mann!" Um die Sache vollständig geheim zu halten, habe Dani seinen Chef, den Kriegs- minister, in die Sache nicht einweihen dürfen und habe als Offizier in Kriegszeiten den Boden der Monarchie olme regelrechte Erlaubnis verlassen müssen!

Nachdem ich nun eine Einladung abgesagt hatte, verbrachte ich noch einige angenehme Stunden in einer mir befreundeten Familie, welche natürlich die Nach- richt meiner plötzlichen Abreise, wie übrigens alle meine Bekannte, in großes Staunen versetzte. (Nach- her wurden in Konstantinopel und Wien die abenteuer- lichsten Gerüchte erfunden.) Als ich dann meine Patience, wie allabendlich legte, waren meine Gedanken sehr weit und meine Gefühle sehr geteilt, denn ich machte mir darüber keine Illusionen, daß es kern leichtes war, die Monarchie in elfter Stunde zu retten.

Der nächste Tag verging mit offiziellen und privaten Agenden, und dann verbrachte ich noch eine angenehme Stunde beim türkischen Thronfolger auf seiner schönen Sommerresidenz an der asiatischen Seite. Das war mein letzter Anblick auf den Bosporus.

Im Zuge verbrachte ich die Zeit mit der genauen

I^csl^tdhing" meines Programms. uikI so langten wir, Dani und ich. Sonntag abend in Budapest an. Dort wurde ich in liebenswürdigster Weise vom Fürsten W'indischgrätz abgeholt. \\"ir hatten dann bei ihm eine lange Konferenz, wobei er mir zwei Memoires, welche, von ihm verfaßt, den kaiserlichen Standpunkt enthielten, übergab. Ich gab ihm das meinige. und wir konnten eine merkwürdige Überein- stimmung der Ansichten konstatieren. Beide waren wir im klaren über die trostlosen Zustände, welche zur Anarchie und zum Zerfall trieben, und über die Notwen- digkeit eines sofortigen Friedensschlusses, eventuell auch ohne Deutschland, einig. Wo wir aber nicht voll- ständig übereinstimmten, das war. inwieweit die prä- konisierten inneren Reformen gehen sollten. Hier w^ar ich viel radikaler. Namentlich wollte ich. daß wir auf Kroatien vollständig verzichten und eventuell Jugo- slawien im Rahmen der Monarchie als autonomes Staatsgebilde schaffen sollten. Auch glaubte ich, daß dieses Programm nur mit der Kooperation von sozia- listischen und radikalen Regierungen in Wien und Buda- pest möglich sein würde, wogegen der Fürst die Ansicht vertrat, daß noch manches Element des Adels und des Bürgertums für unser Programm gev.-onnen werden könnte. Doch waren dies bloß Unterschiede der Grade und nicht der Prinzipien.

Es stellte sich übrigens heraus, daß nach dem aus- gearbeiteten Plane \\"indischgrätz als Sektionschef in mein Ministerium eintreten sollte. Ich konnte die Akquisition dieses intelligenten und energischen Mit- arbeiters nun desto mehr begrüßen, als er wertvolle parlamentarische \'erbindungen sowohl in Ungarn wie auch in Österreich besaß. Ich sagte ihm aber gleich, daß, wenn meine Mission gelingen sollte, ich keines-

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falls weiter nach Friedensschluß bleiben würde und mir für diesen Fall, da Markgraf Pallavicini unbedingt in den Ruhestand treten wollte, nur den Konstantinopeler Botschafterposten wünsche. Nun sind diese Träume für ewig verrauscht !

/\m .\bend lud mich Windischgrätz zum Essen im Parkklub ein, und dann fuhren wir beide nach Wien, wo w^ir am nächsten Morgen anlangten.

Windischgrätz fuhr direkt zum Kaiser und übergab ihm meine Denkschrift ; er überbrachte mir dann den Befehl, um eine Audienz unter irgendeinem Vorwande nachzusuchen. Er fügte hinzu, daß der Monarch mir gegenüber bei seinem Vorsatze bleibe, daß aber Graf Burian noch einige Tage sein Amt werde behalten müssen, da er eben die Einladung an die Entente zur Besprechung der Lage habe ergehen lassen.

Ich meldete mich im Ministerium und verlangte eine Audienz, um mich für eine Dekoration zu be- danken, zugleich stellte ich mich dem Minister zur Ver- fügung.

Mit der Audienz hatte sich aber der Herrscher ge- irrt. Er weilte eben in Reichenau und empfing wenig Leute. Nun zeigte die Kabinettskanzlei, trotzdem ich meinen Wiener Aufenthalt als sehr kurz bezeichnete, keine Eile, mich für die Audienz aufzuschreiben. Warum sollte man auch den Kaiser so bald stören, weil ein Ge- sandter sich für ein Großkreuz bedanken Avollte.

Dies versetzte mich begreiflicherweise in eine recht peinliche Situation. Als ich Burian besuchte und ihm mein Bedauern über meinen so ungewöhnlichen Vor- gang sagte, erwiderte er nur sehr liebenswürdig: ,, Eigentlich wäre es mir lieber gewesen, du wärest in Konstantinopel geblieben, aber wenn du hier bist, was kann man machen?'* Ich fraijte ihn dann, da ich nur

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einige Tage Urlaub hatte verlangen können, anstands- halber, ob ich nach Konstantinopel zurückkehren sollte. Glücklicherweise antwortete er, daß, da der ^.larkgraf bald zurückkehren würde und ich einen Urlaub sowieso wünschte, dies überflüssig sei. Was ich bei. einer an- deren Antwort getan hätte, war nicht leicht auszu- denken. Ein anderer sehr peinlicher ^loment war einige Tage darauf, als ich bei Burians frühstückte und ansehen mußte, wie die anmutige Gräfin Burian ver- schiedene Anstalten zur definitiven Übersiedlung in das Palais am Ballhausplatze traf.

In jenen Tagen mied ich übrigens fast vollständig das Ministerium. Ich war durch Windischgrätz über die Kritiken, welche der Monarch an dessen Führung übte, meist informiert, und es wäre mir illoyal er- schienen, unter solchen Umständen mit m.einen Kollegen einen regen Verkehr zu pflegen. Ich ent- schloß mich daher, dazu eine vollständig passive Rolle zu spielen. Ich wollte ja, da der Kaiser es wünschte und es nicht anders ging, der Gegenstand der gegen Burian gerichteten Fronde sein, aber nicht ein aktives Mitglied derselben.

Übrigens habe ich Grund zu glauben, daß der Minister selbst schon von der Aussichtslosigkeit der da- maligen schwachen Politik sowie der drohenden Gefahr überzeugt war. Es war ihm aber offenbar unmöglich, eine rasche und [grundsätzliche Änderung herbeizu- führen ; wahrscheinlich schon deshalb nicht, weil er per- sönlich zu sehr als Träger des Allianzgedankens mit Deutschland galt.

Diese Tage des Wartens benützte ich dazu, um mein Aktionsprogramm genau festzustellen. Ich gebe dasselbe im dritten Anhange wieder, wie ich es in lapidarem Stile in meinen Dokumenten aufgezeichnet

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finde, und gebe mich der Hoffnung hin, daß der Leser diesen mangelhaften Stil, welcher übrigens der Klar- heit und Aktualität nur zugute kommt, wegen der histo- rischen Reminiszenz verzeihen wird.

Zu diesem Programm ist wenig zu bemerken. Es spricht eigentlich für sich. Nur hervorheben möchte ich, daß wir nach demselben uns des deutschen Bünd- nisses in eleganterer Weise entledigt hätten, als der große germanophile Tisza es später in einer Rede im ungarischen Abgordnetenhause tat.

Ferner gab ich mich damals keinen Illusionen hin, daß wir mit diesem Programm noch keineswegs alle nationalen Aspirationen befriedigten; man konnte aber dadurch eine Detente erhoffen, welche dann weitere Pazifizierung der Nationalitäten im \\^ege von Verhand- lungen ermöglichen würde. Man muß ja bedenken, daß, als ich dieses Programm am 9. September dem Fürsten Windischgrätz und am 13. dem Hofmeister Grafen Hunyady entwickelte, welch beide es dem Kaiser vortrugen, unsere militärische Lage noch keine verzweifelte, und daß die Entente an eine Trennung zwischen uns und Deutschland eminent interessiert war.

Allerdings habe ich seither die Überzeugung ge- wonnen, daß es auch schon damals zu spät gewesen wäre, die Katastrophe abzuwenden. Im Moment aber fühlte ich mich noch freudigen Mutes.

Um nun zu meiner Erzählung zurückzukehren : Da die Audienz von der Kabinettskanzlei noch immer nicht anberaumt wurde und der Kaiser, um Burian nicht zu kränken, sich selbst in die Angelegenheit nicht ein- mischen wollte, berief er nun seinen auf Urlaub befind- lichen Oberhofmeister, Grafen Hunyady, telegraphisch zurück, und dieser bestimmte dann, daß ich am t8. Sep-

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teniber von Seiner Majestät in Reiclienau empfangen werden sollte.

Vorerst hatte ich dem Grafen mein ganzes Pro- gramm in einer langen Unterredung dargelegt. Das- selbe fand auch seine vollständige Zustimmung.

Schon auf der Fahrt nach der schönen Gebirgs- residenz des ^Monarchen sollte ich einen Vorgeschmack der mir harrenden Schwierigkeiten erhalten. Wegen der schon damals desolaten Reiseverhältnisse war für die zur Audienz Befohlenen ein besonderer Wagen reser- viert. In diesem saßen außer mir noch zwei ungarische Minister, und da es erst sieben Uhr früh war, entzog ich mich dem allgemeinen Gespräch, indem ich die Augen schloß. Der eine Minister erzählte nun dem anderen, daß jemand die , .unsinnige Idee" gehabt habe, Kroatien von Ungarn zu trennen und Jugoslawien im Rahmen der Monarchie zu errichten. Beide waren dar- über einer Ansicht, daß dies Hochverrat gegen Ungarn war! Dies war am i8. September 1918!!

In Reichenau wurde ich vom Hofstaat mit großer Liebenswürdigkeit empfangen, und ich glaubte bei manchem dieser, wie es sich herausstellte, öfter klüger als die Politiker denkenden älteren Herren das Gefühl zu empfinden, daß sie, in das Geheimnis eingeweiht, von meiner schwachen Person die Rettung der altehrwürdi- gen Monarchie erhofften und mich deshalb als zu sich gehörend betrachteten. Doch mag dies nur ein Ein- druck gewesen sein.

Der Kaiser und König empfing mich im Garten und behielt mich anderthalb Stunden. Es war ein feen- haftes Dekor. Ein wunderbarer Herbsttag, und vor uns stand die Rax in all ihrer Schönheit.

Als ich für die Dekoration meinen Dank aussprach, unterbrach mich der Kaiser sehr liebenswürdig und fuhr

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in medias res. Er kannte ja mein Programm, und wir waren im Prinzip über alles einig.

Was die innere Politik anlangte, galt dies unbe- dingt, namentlich Kroatien betreffend, wo Ungarn nichts mehr hoffen konnte, aber auch nichts brauchte, als die Eisenbahnen zum ]\Ieere und die Sicherung Fiumes. Ich glaube aber, der Kaiser fand, daß ich zu leicht Galizien an Polen und die Ukraine schenken wollte und namentlich, da£ ich zu wenig Gewicht auf die Erlangung der polnischen Krone legte. Desto energischer vertrat ich die Meinung, daß wir trachten sollten, uns Albanien (mit Ausnahme der griechischen Sphäre) zu sichern. Hierdurch allein konnten wir ja unsere Interessen auf der Adria wahren, und dann, mit dem Albanischen hätte die Monarchie noch ein tüch- tiges, ethnologisch alleinstehendes Element gewonnen, was zum Gleichgewicht zwischen ihren verschiedenen Völkern beigetragen hätte. Dies wäre um so wichtiger gewesen, wenn Polen sich uns anschließen sollte.

Bezüglich Deutschlands waren wir ja auch ganz einig. Leider kam da ein fatales, psychologisches ]\Io- ment dazwischen. Burian war eben daran, mit Deutsch- land zusammen wieder ein Friedensangebot an die Entente zu richten. Frühere Beispiele mußten lehren, wie dies wieder ausfallen würde. Selbst die be- scheidenste Fassung hatte wenig Aussicht das Ge- genteil war fast sicher , eine gute Aufnahme bei der gegen Deutschland so verbitterten Entente zu haben. Dies war, wie man mir nachher sagte, auch nebenbei der Grund, warum der Kaiser den Kabinettswechsel nicht sofort wünschte.

Wie dem auch sei, ich hatte mit meinem Vorschlag, sofort im Sinne meines Programms eine klare Situation in Berlin zu schaffen, kein Glück. Der Kaiser, dessen

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Güte und Liebenswürdigkeit bekannt sind, entgegnete mir immer, Deutschland sei jetzt zu besseren Gefühlen zurückgekehrt und bereit, auf alle imperialistischen Tendenzen verzichtend, dies offen zu erklären und mit uns der Entente einen sehr liberalen Friedensvorschlag* anzubieten. Er sei sicher, daß man in Berlin sogar bereit sei, Belgien und Nordfrankreich nicht nur zu räumen, sondern auch zu ihrer Wiederherstellung beizutragen. Als ich dennoch insistieren wollte, be- merkte der Kaiser, daß eine solche Demarche in Berlin, wie ich sie präkonisiere, gegenwärtig „gegen- standslos sei".

Da ich nun fühlte, „que J'y perdais mon latin" denn es war ein tragisches Geschick, daß gerade sein Anstandsgefühl sich gegen meine Idee auflehnen mußte , beschwor ich ihn, wenigstens in keine neuen leeren Friedenspropositionen einzuwilligen und mög- lichst rasch eine konkrete Deklaration an die Welt er- gehen zu lassen. Er gab mir zu, daß die eben erfolgte ,, Einladung zur Besprechung", welche unser Kabinett losgelassen hatte, und nur den Hohn der Gegner er- weckte, ein Schlag ins Wasser gewesen sei, und fragte mich, was ich ihm zu tun raten würde.

Ich antwortete, daß man sofort an die Errichtung eines unabhängigen südslawischen Staatengebildes im Rahmen der Monarchie wie im obigen Programm ausgeführt und motiviert anknüpfen sollte. Da Ruß- land uns nicht mekr schaden könne, sollte man, wie wir dies im Sinne der Prinzipien Herrn Balfours (Restitu- tion, restoration and guarantees) zu tun für unsere Pflicht als Großmacht hielten, Serbien und Montenegro ihre Existenz, und dem ersten den Zugang an die Adria als eine Hilfe zu dessen Wiederherstellung sichern.

20 V. S z i I a s s y , Der UnterzatiK der Donau-Monarchi«.

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,Ja, aber dann spannt uns Bulgarien sofort aus", et- widerte der Herrscher, worauf ich, der eben vom Balkan kam, nur entgegnen konnte : „Das tut es sowieso auf alle Fälle, Majestät." Dies schien der Kaiser auch ein- zusehen. Außerdem war er damit einverstanden, daß wir zugleich auf die bekannten strategischen Grenz- regulierungen gegenüber Rumänien verzichten.

Da eine heftige parlamentarische Opposition in Ungarn zu .befürchten war, riet ich, bezüglich der Aus- führung, eine aus radikalen und sozialistischen Elemen- ten gebildete Regierung einzusetzen, welche ohne Zweifel für diesen Plan zu gewinnen wäre.

Gegen Ende der Audienz kroch eine große Spinne über den Tisch, an welchem wir saßen. Es war über Mittag, und ich erinnerte mich des französischen Sprich- wortes.

Trotz unserer eingehenden Besprechung kam es seitens des Kaisers zu keinem konkreten Auftrage, und ich wurde entlassen mit der Ermächtigung, Wien zu verlassen.

Windischgrätz sagte ich nachher, daß ich meine Mission nun für erledigt und das Ganze, was mich an- belangt, nur für eine hochinteressante politische Episode, aber für nichts mehr halte. Der Fürst ant- wortete : „Dann befürchte ich, daß manch anderes auch nur eine Episode bleiben werde." Indes glaubte er nicht daran und sagte mir, daß der Kaiser über die Audienz sehr befriedigt sich geäußert habe und bei seinem Vorsatze, mich zu ernennen, verharre, nur müßte noch das Kabinett Burian bis zur Erledigung der neuen Friedenspropositionen im Amte verbleiben.

Ich wollte aber nicht länger in dieser, dem 306

Minister gegenüber, falschen Situation in Wien ver- bleiben. Ich fuhr daher einige Tage darauf in die Schweiz. Windischgrätz verlangte meine Adresse, und wir vereinbarten einige Schlagworte für den Fall meiner Zurückberufung, an welche er zu glauben schien, aber welche ich für höchst unwahrscheinlich hielt.

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Kapitel XII. Der Zusammenbruch.

Indivisibiliter ac^Inseparabiliter. (Wahlspruch des neuen vereinigten österreichischu.ungarischenWappens, erfunden während des Weltkrieges.)

Ich hatte recht. Der Kaiser und König als ver- fassungsmäßiger Monarch berief Ungarns bedeutendste Staatsmänner in dieser kritischen Zeit (zehn Tage nach meiner Abreise war die Südostfront durchbrochen!) zu sich. Alle, mit Tisza, Andrassy und Wekerle an der Spitze, sprachen heftig gegen die geringste territoriale Konzession. Ja manche gingen so weit, den Mor\archen daran zu erinnern, daß er bei der Krönung darauf den Eid geleistet habe, die Integrität der Länder der Stefanskrone niemals anzutasten. Namentlich war der Ministerpräsident Wekerle ein heftiger Gegner jeder Konzession, und es gelang den Bemühungen des Grafen Burian welcher, wie ich glaube, die Katastrophe ge- nau herannahen sah nicht, von ihm diesbezüglich das geringste Zugeständnis zu erreichen. Graf Tisza aber unternahm auf höheren Befehl eine Studienreise in die südslawischen Teile der Monarchie, und scheute sich nicht, die Bevölkerung Bosniens zu provozieren und die Annexion durch Ungarn anzuregen!

Das waren natürlich keine geeigneten Ratgeber, um das Programm des Kaisers (und das meinige) durchzu- führen.

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Und dabei überstürzten sich die Ereignisse. Nach dem Ausspannen Bulgariens kam der Vormarsch der Orientarmee durch Serbien und das Ansuchen der Mittelmächte um Waffenstillstand.

Ich entschloß mich, nach Hause zu fahren und zu versuchen, nach Konstantinopel zurückzukehren. In Bern traf ich gleichzeitig mit dem Grafen Andrassy ein, welchem der Kaiser den Auftrag erteilt hatte, zwecks Rettung der Monarchie Fühlung mit der Entente zu suchen. Dies gelang ihm zwar nicht, doch hatte er dort die Gelegenheit, die Weltsituation, wie sie tatsächlich war und nicht, wie sie seit 1867 von Budapest aus er- schien, endlich zu erkennen. Es kann ihm daher die An- erkennung nicht abgesprochen werden, der einzige un- garische Staatsmann der alten dominierenden Parteien gewesen zu sein die radikalen Elemente wußten dies schon lange , welcher, mit der herrschenden Politik brechend, sich in elfter Stunde bekehrte. Hätte es nur mehr solche Leute gegeben und wäre die Stunde nur noch nicht so vorgerückt gewesen !

In Bern traf mich die Nachricht der Promulgierung der Hussarekschen Staatengebilde, Deutschösterreich, Böhmen. Ukrainien und Südslawien. Letzteres, ,,0 h n e die Rechte der ungarischen Krone an- z u r ü h r e n", wie die Proklamation lautet. Es war ja der bitterste Hohn ! Dies war, wie mir jemand in der Umgebung des Kaisers später bemerkte, die reinste Karikatur der von uns befürworteten durchgreifenden Umgestaltung, und der Kaiser sagte mir selbst später, er habe nur mit innerlicher Überwindung und aus kon- stitutioneller Rücksicht die betreffenden Akten unter- schrieben, da er sich über den deplorablen Eindruck Rechenschaft gab, -welchen dieselben hervorrufen müßten.

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Diese Reform in Österreich hatte nur die Pro- klamierung der Unabhängigkeit Ungarns, offen durch die parlamentarische Opposition, verschleiert durch die Regierung, zur Folge. Bekanntlich hatten in Wien, Prag. Triest und Agram Nationalräte die Gewalt an sich gerissen.

Die Entente, und namentlich England und Frank- reich, erschraken nicht wenig über das allzu gute Ge- lingen ihrer Politik und die bevorstehende Zersetzung der Monarchie. Es wurden Versuche einer Rettung unternommen, welche zu veröffentlichen ich noch unter- lassen zu sollen glaube. Es war aber natürlich schon alles zu spät.

Als ich in ^^^ien ankam, war ich entschlossen, falls ich darum befragt werden sollte, dem Kaiser zu raten, nun keinen ^Minister des Äußern mehr zu ernennen, dessen gemeinsames Wesen die bereits in vollem zen- trifugalen Laufe befindlichen neuen Staaten der Monarchie nur reizen würde, sondern bloß einen ge- meinsamen Liquidierungskommissar. Ich hatte aber keine Gelegenheit, diese Idee anzugeben, denn Graf Andrassy wurde bekanntlich zum Minister des Äußern ernannt.

Inzwischen hatte sich die herrschende ungarische Majoritätspartei, welche, vor dem Kriege gewählt, längst nicht mehr den Volkswillen darstellte, der Oppo- sition insofern angeschlossen, als sie die Trennung von Deutschland nicht gerade in sehr eleganter Weise forderte.

Dem Grafen Andrassy blieb natürhch nichts übrig, als der Entente einen Sonderfrieden anzubieten. Es wäre aber immerhin noch möglich gewesen, wenig- stens formell dies Deutschland gegenüber wie aus meinem Memoire ersichtlich zu rechtfertigen. Es

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hätte dies zwar die Katastrophe auch nicht mehr auf- halten können, aber doch die Gefühle der deutsch-öster- reichischen Bevölkerung geschont. Das Gegenteil ge- schah, und die Wiener, mochten sie in ihrem Innern die Norddeutschen seit dem Kriege noch weniger als zuvor lieben, waren doch über den schroffen, unmotivierten Treubruch empört.

Nach einer Woche war es übrigens dem Grafen An- drassy wohl selbst klar, daß er am Ballhausplatze nichts mehr zu tun habe.

Inzwischen war in Österreich die Republik aus- gerufen worden, und nun trachteten die magyarischen Politiker, den Kaiser und König zu überzeugen, daß er sich nur noch mehr als ungarischer König fühlen und auf Österreich verzichten solle.

Wie auch diese letzte Hoffnung des Kaisers schwand, ist bekannt.

Inzwischen war das arme Ungarn, dessen Regie- rung, durch idealistische Gefühle geleitet, ihren Truppen zur Niederlegung der Waffen den Befehl erteilt hatte, von allen Seiten einer Invasion seiner Nachbarn preisgegeben worden. Die stolzesten Matadoren des alten Regimes fielen gebrochen zusammen. Es entstand die Republik!

Und diese jetzt herrschende, radikale Unabhängig- keitspartei, mit dem Grafen Kärolyi an der Spitze, hatte doch eine ansehnliche Macht dargestellt, und ihre ^lit- glieder wurden von den reinsten ungarischen Gegenden in das Parlament gesandt. Und sie war von Anfang an gegen den Krieg! Das Geschick wollte aber, daß alle ihre Mahnungen von den hochfahrenden Reden der Majorität, deren damaliger Name ,, Arbeitspartei" am heutigen Tage wie ein Hohn ausklingt, übertönt wurden.

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Dies hatte auch den Kaiser aus konstitutionehen Be- denken verhindert, eine Regierung aus dieser Partei zu bilden. Er hatte aber mit Kärolyi mehrere Besprechun- gen und mich ihm gegenüber bei solcher Ge- legenheit als Kandidaten für den Posten des Ministers des Äußern genannt.

Ich hatte leider vor dieser Zeit wenig Verbindungen mit ungarischen parlamentarischen Kreisen und auch nicht mit der damaligen Opposition. Ich habe mich im Laufe meiner sehr bewegten und beschäftigten Karriere wenig in Budapest aufgehalten; der herrschende poli- tische Geist war mir unS3^mpathisch, und schließlich war mir der Gedanke noch unsympathischer, die Gunst der inneren MachtTiaber wie viele meiner Kollegen zum Ausbau meiner eigenen Karriere anzurufen. Die Oppo- sition aber allein zu pflegen, wäre für einen Beamten unmöglich gewesen.

Ich führe dies an, weil ich bei aller Bescheidenheit glaube, daß. hätte ich zu dieser Partei Kärolyi lernte ich auch erst nach Ausrufung der Republik kennen Beziehungen gehabt und mich, wie dies der Fall gewesen wäre, von ihrer Vitalität überzeugt, so hätte sich manches anders abspielen können.

Ich zögere nicht, zu behaupten, daß die Monarchie Anfang 19 18 noch zu retten war. Unter dem Eindrucke des russischen Debakels hätte die Entente uns sehr günstige Aussichten für einen Sonderfrieden geboten. Die Monarchie mußte aber auch von ihrem Standpunkte aus zu einer Föderation umgestaltet werden. Die En- tente forderte dies nicht nur, um ihre kleinen Allheiten beruhigen zu können, sondern auch, und wohl haupt- sächlich, weil sie nur in einer Donauföderation ein zu- friedenes und starkes Element erblicken konnte, das die

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Stelle Rußlands als Gegengewicht gegen den Germanis- mus hätte einnehmen können.

Also die Interessen der Entente deckten sich damals vollständig mit unseren wahren Interessen, wie sie nach Auffassung des Kaisers, der großen Mehrheit, wenn nicht der Parlamente, so doch wohl der Einwohner der Monarchie, und einer ansehnlichen ungarischen Partei bestanden.

Die Lage war also damals noch zu retten. .

Sachlich und persönlich war die Möglichkeit da. Man brauchte nur eine föderative Umgestaltung der Monarchie vorzunehmen. Dieselbe hätte dann aus einem deutschösterreichischen, einem böhmisch-mährischen, einem ungarischen und einem südslawischen Staaten- gebilde bestanden. Triest, die Slowakei und die ungar- ländischen Rumänen und Ruthenen hätten weitgehende Autonomie erhalten bis zur definitiven Regelung dieser Fragen auch im föderativen Sinne. Hinzugekommen wären noch vielleicht zwei oder drei Staatengebilde, Polen, die Ukraine, Albanien!

Eine solche Lösung hätte zwar die vertragsmäßig gesicherten Aspirationen Italiens und Rumäniens sowie diejenigen Böhmens nicht befriedigt, wäre aber voll- ständig im Sinne der Wilsonschen Prinzipien gewesen, und ich zweifle nicht daran, daß die Entente sie daher damals, wo namentlich die Kriegslage in Italien sehr ungünstig war und Rumänien sich anschickte, den Bukarester Frieden zu schließen akzeptiert hätte. Außerdem ist nicht zu verkennen, daß eine solcht; Lösung in der Richtung der Schaffung einer ungari- schen Föderation innerhalb der Monarchie die Slowaken und Ruthenen, welche niemals mehr anstrebten, im hohen Grade befriedigt hätte; und Tschecho-Slowakien

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ohne die Slowaken zu errichten, hätten die Tschechen doch kaum für mögHch gehalten !

Freilich ist nicht zu verkennen, daß Italien in einem solchen Falle nicht ohne weiteres auf die ihm durch den Londoner Vertrag versprochenen österreichisch-ungari- schen Gebiete verzichtet hätte. Seine Verbündeten besaßen aber Mittel genug, um es zur Einsicht zu bringen. Ohne Vertragsbruch brauchte man nur ihm die direkte militärische Hilfe zu entziehen, und Amerika, welches es ernährte, war durch den Londoner Vertrag nicht gebunden ! Schließlich hätten die für Realitäten so empfindlichen italienischen Diplomaten sich mit weniger zufrieden gegeben, und Triest wäre für uns gerettet worden. Dies war natürlich für die Monarchie eine Lebensfrage. Aber ich kann nicht glauben, daß, wenn alle Großmächte der Entente den Frieden mit Öster- reich-Ungarn auf Grund dessen Erhaltung gewünscht hätten, es Italien allein gelungen wäre, dies zu vereiteln.

Dieses Programm ließ sich daher, ich wiederhole, meiner Ansicht nach noch Anfang 1918 verwirklichen. Allerdings hätte aber dann der Kaiser von streng ver- fassungsmäßigen Prinzipien der Regierung durch die parlamentarische Mehrheit abgehen und eventuell Neu- wahlen vornehmen lassen müssen.

Ich halte es aber für ebenso sicher, daß, als Seine Majestät im September daran dachte, es wirklich zu tun, es bereits zu spät war. Die Nationalitäten waren ja von unseren Gegnern den ganzen Frühling und den Sommer hindurch geradezu aufgehetzt worden und diese Arbeit hatte Frucht getragen. Außerdem war am weiten Westhorizonte unser Stern bereits im Sinken begrififen. Der Gang der Ereignisse konnte nicht mehr aufgehalten werden, und die Invasion in Ungarn durch seine Nach- barn wäre auch so geschehen. Man Avarf mir nachträg-

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lieh vor, daß ich nach der Audienz nicht in Wien ge- blieben wäre, um meinen Einfluß weiter geltend zu machen. Ich fürchtete zuerst, daß ich gegen die alten ungarischen Staatsmänner bis zum Ende nicht auf- kommen würde, und dann, wie gesagt, glaubte ich nicht, daß eine ersprießliche Arbeit noch geleistet werden konnte.

Dem Fürsten Windischgrätz, der mir dies vor kur- zem bestritt, habe ich entgegnet: ,,Nein, es wäre auch so gekommen, mit dem einzigen Unterschiede, daß du und ich längst hängen würden."

In der Tat, das alte Regime hätte gewiß behauptet, daß alles in Ungarn „pour le mieux dans le meilleur des mondes" war, und daß erst dann, als sich zwei magya- rische Hochverräter fanden, um den heiligen Boden an- zutasten, die Nationalitäten sich dasselbe erlaubt hätten.

Da aber die geschichtlichen Wahrscheinlichkeiten sich leider mathematisch nicht ausrechnen -lassen, so wäre mir die traurige Aussicht zuteil geworden, als Zer- störer meiner tausendjährigen Heimat von der Nach- welt mit Fluch erwähnt zu werden.

Dieser Gefahr bin ich nun entgangen, aber am Ende dieses Aufsatzes möchte ich doch die Frage noch auf- werfen — obzwar der Leser sie schon beantwortet haben wird , wen hierfür die Schuld trifft.

Zu oft wird nun die Schuld auf Anhänger des alten Regimes, allerdings meist auf jetzt bekehrte wer sollte es nach einem solchen Schlage nicht sein , auf den Kaiser Karl im speziellen und die ganze Dynastie im allgemeinen geworfen. Nun, diese Auffassung ent- spricht keineswegs der Gerechtigkeit, und wenn ich auch der Republik treu diente, so zögere ich nicht, dies offen zu erklären.

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Das Haus Habsburg hat gewiß -^is 1867 groüe politische Fehler begangen und zeitweise gegen seine Völker gesündigt, und manch ein Erzherzog mag während der letzten Feldzüge sich gewisser Eigen- mächtigkeiten schuldig gemacht haben ; dies ändert aber nichts an der Tatsache, daß seit dem Jahre 1867 die zwei letzten Träger der Krone musterhafte konstitutionelle Herrscher waren. Und dies ist für einen verfassungs- mäßigen Monarchen wohl das einzige anwendbare Kriterium.

Von diesem Kriterium gesehen, fallen alle üblichen Anschuldigungen speziell gegen den armen Kaiser Karl zusammen. Er brauchte, wie in manch anderem kon- stitutionellen Lande, nur verfassungsmäßig zu regieren. Er tat aber viel mehr. Von dem ^*erbrechen des Krieges überzeugt, von dem Elende seiner A'^ölker nieder- geschmettert, plagte er sich von früh bis spät, um einen V>'eg zu finden, der Katastrophe ein Ende zu be-. reiten. Er hatte nur das maßlose Unglück, schwache und manchmal zugleich blinde Ratgeber zu haben, welche zu oft nicht einmal fähig waren, die unverant- wortliche Person des Herrschers zu decken, noch viel weniger in der Lage, dem Ruin zu entgehen. Diese Rat- geber entsprangen aber nach dem verfassungsmäßigen Prinzip direkt oder indirekt den herrschenden Parteien und vertraten die Ansichten der parlamentarischen Majoritäten. Einmal erlaubte sich der Kaiser bei einer solchen Wahl eine Ausnahme zu machen und seiner inneren Eingebung zu folgen, aber da war das Resultat nicht besser!

Was konnte man auch mehr von einem so jungen Herrscher erwarten?

Die Fatalität wollte es aber, daß diese verfassungs- mäßigen Eigenschaften nichts nützten, oder vielleicht

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sogar hemmend wirkten. Man mag sich auch fragen, ob nicht ein Herrscher, der die Verfassung rück- sichtslos beiseite geschoben und seine eigenen Ideen befolgt hätte, vielleicht mehr Glück gehabt hätte. Jeden- falls wäre es für den Kaiser und König besser gewesen, hätte er die Macht einem starken Manne delegiert und sich selbst statt Sorgen und Gewissensbissen nur Unter- haltungen hingegeben !

Die Ironie des Schicksals wollte es nicht, und wie sooft in der Weltgeschichte der Fall, hat die Katastrophe in dem letzten Habsburger Herrscher einen Unschul- digen getroffen, welcher für die Fehler des Systems büßen mußte.

Nein, Schuld an dem Zusammenbruch trägt allein neben der ganzen verfehlten Politik der Monarchie der unselige, ehemalige ungarische Kurs, welcher eine zeit- gemäße innere und äußere Politik unmöglich machte; schuldig allein ist der von Ungarn erfundene Dualismus, der nicht nur die Einführung eines einzig heilbringenden und zeitgemäßen föderativen Systems in Ungarn un- möglich machte, sondern auch die vollständige Ausge- staltung eines solchen Systems in der österreichischen Reichshälfte verhinderte. Man befürchtete in Budapest jede den Tschechen in Österreich gemachte Konzession so lange, bis die Tschechen nun in Preßburg sitzen. Und es gab wirklich eine Zeit, w^o der Hauptwunsch der Tschechen war, daß der Kaiser sich in Prag zum König von Böhmen krönen lasse.

An diesem Starrsinn ist das tausendjährige König- reich Sankt Stefans, aber auch alles, was, menschlich und kulturell, den ,, österreichischen" Geist bedeutete, zugrunde gegangen.

Und wenn ein Herrscher für. die Einführung des

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Dualismus verantwortlich gemacht werden kann, so ist es nicht der Kaiser. Ich glaube aber, daß obzwar diese Frage nur noch rein historisches Interesse besitzt man auch den verstorbenen Monarchen hierfür nicht verantwortlich machen kann, denn schließlich konnte er verfassungsmäßig auch nur im Sinne der Mehrheit handeln, und 1867 waren es in der Monarchie und namentlich in Ungarn bloß Minderheiten, die gegen die Einführung des Dualismus ihre Stimme erhoben. Kaiser Franz Joseph galt übrigens seinen Zeitgenossen als Muster eines konstitutionellen Monarchen.

Sehr richtig bemerkte Kaiser Karl, als ich ihn später sah, daß eines ihm inmitten der Katastrophe, die sein Reich und sein Haus befallen, wenn auch in trauriger Weise, so doch einen gewissen Trost biete. Dies sei die Überzeugung, daß ein so konstituiertes Staatengebilde wüe die ehemalige dualistische Monarchie unmöglich lange hätte leben können. Alles, was man über die zusammenhaltende Kraft der Krone und der Dynastie sage, sei in diesen modernen Zeiten nicht richtig, denn dieses Band hätte nicht auf die Dauer ge- nügt, um das Gebäude zusammenzuhalten. So w^äre der Zusammenbruch auch ohne den Weltkrieg einge-- treten, und derselbe habe nur den unter den gegebe- nen politischen Umständen unausbleiblichen Zerfall beschleunigt.

Wir sind also das Opfer eines fünfzigjährigen falschen Kurses geworden!

Mag dies der Tragik nicht entbehren, so gibt speziell diese Konstatierung Ungarn auch einige Hoff- nung wieder. Denn die ungarische Administration war nicht besonders schlecht, diese Administration und der Kulturstand des Volkes waren in keiner Weise schlechter

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oder niedriger, als diejenige der Nachbarländer. Im Gegenteil !

Falsche Spekulationen sind aber keine tödlichen Krankheiten, und kein tausendjähriges, gesundes Volk ist noch an einem fünfzigjährigen irrigen politischen Regime gestorben.

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Kapitel XIII. Volksrepublik und Bolschewismus.

Bald nach meiner Ankunft in Wien war es mir klar, ,daß die Monarchie aller Wahrscheinlichkeit nach ihre letzten Züge atme. Nur ein Wunder konnte sie noch retten. In aller Eile wurden Veranstaltungen getroffen, um dieses Wunder noj|li herbeizuführen. Es wurden vom Grafen Andrassy Emissäre in die Schweiz geschickt, die hierzu mit der Entente in Verbindung treten soll- ten. Auch mir war eine solche Mission zugedacht.

Ich empfand inzwischen das Bedürfnis, mit dem Grafen Michael Kärolyi, dessen Ideen nun gesiegt hatten und der in diesan tragischen Wochen der ein- zige Halt Ungarns zu sein schien, in Verbindung zu treten. Ich sandte ihm daher eine Depesche, in welcher ich die Identität unserer Gesinnungen bezüglich der Kriegspolitik hervorhob.

Trotz mehrfacher Nachfragen hörte ich dann über die mir zugedachte Mission in die Schweiz gar nichts mehr, und mußte darum desto mehr staunen, als die anderen Delegierten bereits abgereist waren. Ich er- fuhr nachträglich, daß mein Telegramm an Karolyi, das im Ministerium des Äußern zensuriert wurde, der Grund gewesen war, warum man mich keiner Mission würdigte. Dieses Telegramm hatte damals im Kreise der Ange- hörigen des alten Regimes Anstoß erregt, und doch war hierzu nicht der leiseste Grund vorhanden.

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Ich bin meinen Überzeugungen immer treu ge- blieben. Ein Diplomat des alten Dienstes hatte keine innere Politik im Auslände zu treiben. Ich konnte da- her sehr wohl meine Aufgabe in Konstantinopel un 1 Athen erfüllen, ohne daß meine Meinung über den zu Hause herrschenden Kurs überhaupt ndoh au-ßen hin zum Ausdruck kam. Meinen Souveränen und vorge- setzten Ministern des Äußern habe ich, wie bereits er- wähnt, diese immer mitgeteilt. Meine Depesche an Karolyi enthielt dasselbe Glaubensbekenntnis, aber nur in viel milderer Form, als ich es im November 19 17 also zu einer Zeit, wo es mir beträchtlich schaden konnte in meinem ersten Memoire an Kaiser Karl wiedergegeben hatte.

Daß meine damalige Entsendung in die Schweiz mißlang, bedauere ich übrigens nicht, denn die anderen Emissäre konnten natürlich nichts mehr ausrichten. Sie kamen aber in der Folge ganz ohne Verschulden in ein sehr schiefes Licht. Bald nach ihrer Abreise wurde nämlich die Republik zuerst in Wien und dann in Buda- pest ausgerufen. Ihre Tätigkeit, die die Rettung des Territorialbestandes bezweckte, rief dann den Schein konterrevolutionärer Propaganda hervor. Dabei war der Kaiser und König selbst ein überzeugter Radikaler. Dies alles war unglaublich verworren.

Am 6. November, als Seine Majestät in Österreich schon auf die Leitung der Geschäfte verzichtet hatte, empfing er mich in Audienz in Schönbrunn. Er war natürlich über den Gang der Ereignisse sehr impressio- niert, hatte aber das Gefühl, seine verfassungsmäßige Pflicht erfüllt zu haben, und nahm sein Geschick mit männlichem Mut auf. Bei dieser Gelegenheit teilte ich dem Monarchen meinen Wunsch mit, in den diploma- tischen Dienst der ungarischen Republik, deren Aus-

'1{ V. S z i 1 a s s y , Der Untergang der Doiiau-Monarchie.

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rufung jeden Augenblick zu gewärtigen war, einzu- treten. Er begriff meinen Standpunkt vollständig und erteilte seine Zustimmung.

Einige Tage später trug ich nun meine Dienste dem Grafen Kärolyi in einem Privatschreiben an. Auch hierin war ich meinen Überzeugungen vollständig treu und konsequent geblieben. ,, Aristokratische Eleganz, wenn man so wolle, in der äußeren Form, aber Radika- lismus im Wesen" schien mir von jeher dem modernen politischen Leben am besten zu entsprechen. Nament- lich war ich nach Ausbruch des Weltkrieges davon über- zeugt, daß nur ein gesunder Radikalismus als eine Art Homöopathie die Menschheit von katastrophalen Aus- schreitungen, von beiden Extremen noch retten konnte. Ich war dafür nicht blind, daß Großes und vielleicht Größtes auf dieser Erde von Eliten und Aristokratien geleistet wurde. Die Frage stellte sich mir aber ganz anders. Es stand für mich fest, daß auf der gegenwär- tigen Entwicklungsstufe die Menschheit nur in ver- nünftigen Demokratien ihr Heil finden kann, weil sie eben keine aristokratische Herrschaft mehr dulden wird.

Als das Debakel kam, v^ar dies noch klarer denn je. Menschen, von welchen eine solche Aufopferung wie der Weltkrieg verlangt wurde, Menschen, die wäh- rend desselben zu oft den Unterschied in der Behand- lung des Offiziers und des Soldaten an sich erfahren hatten, Menschen schließlich es sei offen einge- standen — , zu oft durch das fünfjährige Töten und Plündern demoralisiert, würden keine „obere" Klassen- herrschaft mehr dulden. Man müßte alles anstreben, damit im Interesse der Ordnung eine Klassenherrschaft „von unten" nicht Platz greife. Freilich war mein Ideal ein ,, radikales Regime unter einem angestammten radi-

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kalen Herrscher". So wäre für den Fortschritt gleichzeitig in Ruhe die Ausschaltung von Standes- privilegien besorgt worden, denn man kann sich sehr wohl eine Demokratie mit einem Herrscher, nicht aber mit einer privilegierten Kaste; wie sie bei uns, wenn auch nicht gesetzlich, so doch tatsächlich, bestand, den- ken. Stellt doch die Verfassung der Vereinigten Staa- ten eigentlich nichts anderes dar. Als ich aber einsehen mußte, daJS im ganzen Getümmel auch der Thron ge- fallen war, riet mir die einfachste Logik, die Verfolgung meiner Ideale dort fortzusetzen, wo hierzu die Mög- lichkeit noch bestand. Das Heil meiner Heimat erlaubte auch in diesem Momente keine SentimentaHtät. Der Monarch war konstitutionell, er hatte seine Pflicht getan, ja mehr als seine Pflicht, aber der Sturm fegte auch ihn, wenigstens momentan, w^eg. Was konnte man dagegen tun ? Das ganze System war schlecht. Die Tragik sollte einen Unschuldigen trefifen. Es war aber auch eine andere erfreulichere Seite der Sache. Die Revolution schien doch zu bedeuten, daß dem unga- rischen Volke die Augen endHch aufgegangen, und daß es nunmehr sah, zu welchem unsinnigen Spiele es miß- braucht worden war. Dies konnte eine bessere Zukunft verheißen.

Zu einer diplomatischen Verwendung kam es in- dessen noch nicht. Die republikanische Regierung hatte einige, nicht immer glücklich gewählte Emissäre ins Ausland geschickt. Den größten Fehler, den sie aber machte, war, die Frau Schwimmer als Gesandten nach Bern zu entsenden. Die Dame, eine bekannte Schrift- stellerin auf sozialem Gebiete, konnte Ungarn gewiß zu Hause wertvolle Dienste leisten, zu einem diplomati- schen Posten, besonders in so kritischer Zeit, war sie nicht geeignet. Außerdem konnte die Idee, ein

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Mitglied des schönen Geschlechts mit einer solchen Mission zu betrauen, am allerwenigsten in der konser- vativen Hauptstadt der schweizerischen Eidgenossen- schaft gefallen. Stammte sie aber von einem in so elendem Zustande befindlichen Staate wie Ungarn, so muite sie direkt lächerlich wirken. Tatsächlich hat die schweizerische Regierung die Dame nie anerkannt. Da sie aber in diplomatischer Etikette nicht bewandert war, und man sie bei ihrem Besuche im Bundespalais mit der jeder Frau gebührenden Courtoisie empfing, schien sie über diesen nicht unwichtigen Umstand im unklaren zu sein.

Endlich war aber daran nicht mehr zu zweifeln, die Schweiz wollte sie nicht. Nun baten mich meine Freunde, nach Budapest zu kommen und meine Kan- didatur für den Berner Gesandtenposten, den ersten, welchen man im Auslande schaffen wollte, aufzustellen.

Ich besuchte den Grafen Kärolyi am 17, Dezember und hatte eine lange Unterredung mit ihm. Das war das erstemal, daß ich ihn sah. Er machte mir durch sein elegantes Auftreten eine hohe, schlanke Figur und offene Sprache einen guten Eindruck. Der Ministerpräsident legte mir sein politisches Kredo dar, das darin gipfelte, daß er für Ungarn die einzige Rettung in einem mittleren Kurse zwischen dem ultra- kapitalistischen Imperialismus des Westens und dem Bolschewismus des Ostens, in einem kombinierten radi- kal bürgerlich und mäßig sozialistischen Prinzip er- blicke. Er sagte mir, er würde meine Mitarbeiterschaft begrüßen, nur müsse er wissen, wen er hierzu erköre. Er sei seiner schwierigen Lage voll bewußt und wisse, daß seine Regierung nicht eines natürlichen Todes sterben würde; es werde ihm vielleicht wie den Giron-

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disteii ergehen, desto wichtiger sei die Wahl seiner poli- tischen Freunde. Er erbat meine Ansichten hierüber.

Ich konnte ihm nur erwidern, was er vom Kaiser und König schon gehört hatte, daJS ich stets radikal und pazifistisch gesinnt war, daß ich das Heil Ungarns jetzt mehr denn je bloß von einer föderativen Umgestaltung erwarte. Ich fügte aber aufrichtig hinzu, daß ich im Innern meiner Seele Royalist sei. Er entgegnete, daß er auch nichts anderes denke, daß aber unter den herr- schenden Umständen diese Gesinnung momentan nicht zur Geltung kommen könnte. Schließlich stellte er mir die baldige Heranziehung" zu einem Staatsamt in Aussicht.

Ich besuchte nun einige Minister und glaubte ihr Vertrauen gewonnen zu haben. Natürlich hatte meine bekannte Gesinnung trotz meiner Karrierevergangen- heit — dies bewirkt. Ich gestehe, daß, wenn auch die Zeiten so traurig waren, ich in Budapest wieder auf- atmete, als ich in Regierungskreisen über das Unheil der Kriegs- und Nationalitätenpolitik sprechen hörte und offen sprechen konnte. Es war eine Erlösung nach den früheren Gesprächen mit zwar begabten, aber chauvinistischen Ministern wie Banffy oder Tisza. mit einem Minister wie Herrn Jaszi zu sprechen, der die Nationalitätenfrage von allen Seiten gründhch kannte und schon seit langer Zeit einer Autonomisierung das Wort geredet hatte. Auch fand ich die Idee, welche mancherseits angeregt wurde, daß w-ir angesichts der Katastrophe zuerst einen Wiederaufbau des ehemaligen Königreichs auf wirtschaftlicher Basis anstreben sollten, recht gut. "

Weniger imponierte mir die Haltung mancher An- hänger des alten Regimes, die, sich der Republik an- schließend, nun jede Schuld für den Krieg und unser

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Mißgeschick auf die Habsburger Lothringer wälzen wollten. Dies war nicht nur Ungerechtigkeit, sondern direkte Verfälschung der Geschichte.

Ich war mit meinem Budapester Aufenthalt und namentlich mit den vorgeschlagenen sozialen Reformen, die mir allein Ungarn von der Anarchie retten zu können schienen, sehr zufrieden. Kärolyi hat übrigens eines der tragischsten Geschicke gehabt, das man sich aus- zudenken vermag, und mit vollem Recht sagte er mir: ..daß er in der ganzen Welt der am allerwenigsten zu beneidende Minister sei". Er war stets ein überzeugter Pazifist und Anhänger der Entente gewesen, und dies zu einer Zeit, wo solche Gesinnungen ihm recht gefährlich sein konnten. Er hatte aber das Unglück, idealistisch veranlagt zu sein. Dieser Idealismus verleitete ihn, als der König ihn telephonisch von seinem Eide entbunden hatte, den ungarischen an der Front noch befindlichen Truppen den Befehl zur Niederstreckung der WafTen zu erteilen. Dies hatte verhängnisvolle Folgen. Unga- rische Mannschaften wurden massenhaft gefangen ge- nommen. Indem die ungarischen Truppen in chaotischer Weise nach Hause zurückströmten, ließen sie die Heimat ihren feindlichen Nachbarn auf allen Seiten ofifen. Die ungarische Öffentlichkeit kann daher heute noch nicht diese Verfügung Kärolyis verzeihen, denn die noch ansehnliche Truppenmenge hätte zur Ver- teidigung des Vaterlandes vielleicht genügt und unsere Stellung gegenüber der Entente gestärkt, wenn nicht gerettet. Kärolyi aber ging natürHch vom ideellen Standpunkt aus, daß er und seine Partei niemals Feinde der Entente gewesen und daß, da sie nun an die Macht gelangt, die Entente das Land nicht mehr als Feind betrachten könnte. Diese vertrauensselige Geste mußte aber bei der heutigen Mentalität der Menschen

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fehlschlagen. Wir sind nicht mehr in den Zeiten von Fontenoy !

Andererseits wollte es das Mißgeschick, daß Ka- rolyi zwar mit französischen Staatsmännern befreundet war, dajß aber diese, wie Caillaux, meist den Kreisen angehörten, von welchen die herrschende Regierung des Herrn Clemenceau nichts wissen wollte. Dies war fast ärger noch als Feindschaft, und in der Tat gelang es uns bis zum Ende nicht, jenes maßlose und absolut nicht motivierte Mißtrauen, zu zerstören, mit welchem man in Paris und durch Paris auch in London die repu- blikanische Regierung behandelte.

Übrigens sind Kärolyis Anfänge schon schlecht gewesen. Er hatte sich gleich nach Übernahme der Ge- schäfte mit einigen anderen der neuen Machthaber zu General Franchet d'Esperay nach Belgrad begeben. Sie erklärten dem französischen Feldherrn, daß Ungarn nunmehr „ein neutrales Land" sei, erhielten aber die Antwort, es sei „ein besiegtes Land". Die Absicht war gut, die Wirkung fiel miserabel aus. Die Fama will, daß die ungarischen Herren sich im gewöhnlichen Reise- kostüm zu dem französischen Eroberer begaben, wor- auf dieser, der zum Empfange Parade und Orden an- gelegt hatte, sich vor ihnen demonstrativ in einen ge- wöhnlichen Rock umkleidete. Wie dem auch sei, die Zusammenstellung der Delegation war jedenfalls eine unglückliche. Die Israeliten haben bei der Revolution eine große Rolle gespielt, und es war natürlich, daß unter den Delegierten sich auch Angehörige dieser Rasse befanden. Sie waren aber in Überzahl. Karolyi hätte nun nicht nur mit seinem Liberalismus, sondern auch mit den in Frankreich herrschenden Strömungen rechnen sollen, welche von Antisemitismus nicht frei sind. Die Stimmung war daher in jeder Hinsicht eine

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ungemütliche, und als die ungarischen Delegierten das Vorhandensein eines Soldatenrates bestätigen mußten, sagte ihnen der General : „Vous ete tombes si bas." Gro-ße Sachen haben oft kleine Ursachen, und ich zweifle nicht daran, daß der Belgrader Besuch zur Ab- neigung Frankreichs gegenüber der Regierung Kä- rolyis beigetragen hat.

In jenen der wüsten Demobilmachung folgenden Tagen war das Reisen kein Vergnügen. Selbst für einen Beamten der Republik nicht. Das einzige Privileg eines solchen bestand darin, daß, wenn er zwei Stunden vor Abfahrt des Zuges sich auf den Bahnhof begab und einen Platz belegte, er hoffen konnte, denselben zu be- halten. Dies wurde aber nicht immer gestattet, und ich entsinne mich einer Gelegenheit, wo ein Offizier einen Korporal für diese Begünstigung für mich lange zu bitten hatte, bis der Unteroffizier es endlich erlaubte. Die meisten Passagiere mußten stehen, und die Gänge waren so voll, daß man sich während der oft achtzehn Stunden dauernden Reise zwischen Wien und Budapest (in normalen Zeiten beträgt sie vier) von seinem Platz nicht rühren konnte. Die Sicherheit war dabei gleich Null. Letzterer Umstand bewog mich, die unbequeme Reise eher mehrmals zu machen ich habe sie sechs- mal gemacht , als den Verlust meines in Wien be- findlichen Gepäcks zu riskieren.

Ich reiste demnach nach \\'ien zurück. Der Zug, der um sieben Uhr früh hätte ankommen sollen, langte erst um vier Uhr nachmittags in Wien an. Als ich nun am selben Abend vom Essen in mein ausgezeich- netes gemütliches Hotel (Kaiserin Elisabeth) heim- kehrte, erhielt ich von Kärolyi den telephonischen Be- scheid, ich möge mich wieder sofort nach Budapest

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begeben. Es war JMitternacht. und so mußte ich bis zum nächsten Abend warten.

Ich kam in Budapest wieder am Tage vor Weih- nachten an. Die Regierung hatte für mich ein Hotel- zimmer requiriert, sonst wäre wegen der Wohnungsnot nicht daran zu denken gewesen, auch das bescheidenste Quartier in so kurzer Frist zu beschaffen.

Als ich den Ministerpräsidenten gleich nach meiner Ankunft besuchte, sagte er mir, er wolle mir einen Ge- sandtenposten geben; er habe die Absicht, zwei solche in Bern und im Haag zu schaffen; die Haupt>sache sei natürlich, mit der Entente Verhandlungen anzuknüpfen. ich solle denjenigen wählen, der mir von diesem Ge- sichtspunkte aus der wichtigere erschien; für den an- deren nannte er mir dann als Kandidaten einen ehe- maligen Richter, der mit mir gut befreundet war. Da Kärolyi zu gleicher Zeit mir von den Unannehmlich- keiten sprach, die die Frau Schwimmer ihm in Bern bereite, und die zu regeln wären, konnte ich ihn nur bitten, mich dorthin zu schicken. Es schien mir näm- lich, daß vom Standpunkte eventueller Verhandlungen mit der Entente kein Unterschied vorhanden sei; 3a solche Verhandlungen lediglich von ihrem guten Willen und nicht von einem bestimmten Orte abhingen, daß es mir aber, nach meiner langen Praxis, vielleicht besser gelingen würde, die Berner Unstimmigkeiten zu schlich- ten, als meinem unerfahrenen, wenn auch taktvollen Kollegen. Außerdem, wenn ich auch im Haag ange- nehme Beziehungen hatte, kannte ich mich in der Schweiz, meiner eigentlichen zweiten Heimat, doch besser aus und konnte auf weitergehende Unterstützung dort hoffen.

Ich konnte bei dieser Gelegenheit wieder ent- nehmen, daß die Frau Schwimmer der Regierung große

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Sorgen bereite. Ihr Mangel an Erfahrung hatte die schönsten Blüten getrieben. Es ergaben sich komische Episoden. Da ihr das Chiffrerecht nicht eingeräumt ward, erhielt sie ihre Telegramme durch die liqui- dierende, ehemalige k. u. k. Gesandtschaft. Nun, da sie einmal den Verdacht hegte, daß diese Behörde ein für sie bestimmtes Telegramm Karolyis ihr geändert zugeschickt habe, erfand sie folgende Kontrolle. Sie sandte dem ungarischen Ministerpräsidenten eine offene Depesche folgenden Inhalts : „Ich erhielt heute Ihr Chiffretelegramm wie folgt." Es folgte dann der Inhalt, wodurch die ganze Chiffre komprornittiert wurde. Ein anderes Mal erließ sie an alle Konsulatsbeamten un- garischer Nationalität in der Schweiz die Weisung, sie sollten sich unverzüglich bei ihr zur Eidesleistung auf die Republik melden. Es kam niemand, und sie be- trachtete alle als Konterrevolutionäre. In der Tat war es ganz anders. Der Regimewechsel hatte sich bei uns sehr gemütlich vollzogen, und Seine Majestät enthob die Beamten, die es wünschten, von ihrem Eid. Es war hierzu eine kleine Formalität nötig. Die ungarischen Konsulatsbeamten sahen aber natürlich nicht ein, warum sie wegen Unterlassung derselben zu Mein- eidigen gestempelt werden sollten. Ich hatte übrigens selbst einmal einen Beamten zu vereidigen, der in der Mitte der Zeremonie sich plötzlich daran erinnerte, daß er vom Eide noch nicht entbunden war. Sie wurde natürlich unterbrochen. Aufgeschoben ist nicht auf- gehoben !

Über mich hatte die Frau Schwimmer, als meine Berner Kandidatur bekannt wurde, berichtet, sie habe gehört, ich sei ein Konterrevolutionär. Sie gestand mir dies später in loyalster Art selbst, und erzählte mir, man habe ihr ein Schriftstück gezeigt, welches von

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meiner Hand geschrieben und von einem bekannten Konterrevolutionär stamme. Nun, das alles waren Miß- verständnisse. Der Herr war kein Konterrevolutionär, und das Dokument bezog sich auf meine damals pro- jektierte Ernennung zum Minister des Äußern. Unbe- greiflich bleibt nur, wie sie das Schriftstück zu Gesichf bekam. Ärger als diese Banalitäten waren die große Un- ordnung und Unstimmigkeit,' die unter unseren zahl- reichen Landsleuten in der Schweiz herrschte. Eine Frau konnte unmöglich zwischen diesen viel zu zahl- reichen Elementen verschiedenster Schattierung Ord- nung schaffen, und so ergaben sich Zustände, welche das ungarische Ansehen nicht erhöhten. Auch mit den ungarischen Journalisten und ihren eigenen Beamten hatte sie kein Glück. Berufsbeamte wollten unter ihrer Aufsicht nicht arbeiten, und sie mußte ihre Hilfskräfte an-derswo suchen. Sie irrte sich aber oft, traf zu schnell in rechter Frauenart Entscheidungen, die nachher nicht mehr paßten. Beamte wurden ernannt und entlassen in einer Weise, die der diplomatische Dienst sonst nicht kannte. V Es entstand ein Wirrwarr sondergleichen, und die ungarischen Zeitungen verfehlten nicht, hierüber ihrem Spott freien Lauf zu lassen.

Mir sagte man in Budapest, daß die Berner unga- rischen Zustände zu säubern mir schwerer fallen würde als die Politik. Manche prophezeiten sogar, daß dieses Intrigennest mir sofort den Hals brechen würde. Ich lächelte nur innerlich, denn ich wußte, daß es sich mit einer Frau immer auskommen lasse, und was die Männer anlangte, so hatte ich oft genug in meinem Leben Zwistigkeiten in unseren ausländischen Kolonien zu schlichten. Es kostete mich auch keine besondere Mühe, die ganze Sache in Ordnung zu bringen.

Ich persönlich nehme der Dame in keiner Weise

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Übel, daß sie über mich einem Unbekannten in obiger Weise berichtete. Ich führe dies alles nur deshalb an. um zu zeigen, daß eine Frau manche Stellen, trotz Be- gabung, nicht auszufüllen vermag. Der Idealismus Kärolyis sie war seine eigenste Wahl, welche mir selbst ein sozialistischer Minister als grundfalsch be- zeichnete — hatte wieder leider Schiffbruch erlitten. Er wollte dem schweizerischen Liberalismus durch Ent- sendung einer Frau huldigen, und. statt dessen gelang es ihm schließlich nur, zwei für unsere Sache wertvolle Monate zu verlieren und die Frau Schwimmer am Ende selbst zu betrüben. Denn, wie sie mir selbst ofTen sagte, wenn der Ministerpräsident sie nicht für fähig hielt, diesen Gesandtenposten zu erfüllen, so hätte er ihr den- selben niemals antragen sollen.

Meine Reise nach Bern wurde indessen noch ver- zögert. Ich wollte absolut nicht ohne ., Agrement" fahren. Ich hatte vorgeschlagen, da die Frau Schwimmer niemals anerkannt war, es durch die liquidierende Ge- sandtschaft einzuholen. Hierzu war man aber in Buda- pest nicht geneigt. Die ungarische Gesandtschaft in Wien wurde daher gegen jede Tradition ersucht, die dortige schweizerische Mission um Einholung des Agrements zu bitten. Es dauerte Wochen, und es kam nicht. Ich wußte schon gar nicht, was ich denken sollte, als eines schönen Tages meine Schwester gelegentlich erfuhr, daß die .schweizerische Gesandtschaft von der ganzen Sache überhaupt nichts wisse. Sie war auf der ungarischen Mission oder vielleicht, wie ich vermute, nicht ohne Absicht einer dritten Person, auf dem Wege dorthin stecken geblieben. Nun kam die Sache dann bald ins Rollen, und die schweizerische Regierung er- teilte binnen zwei Tagen das Agrement, worauf der ungarische Ministerrat mich förmlich zum Gesandten in

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Bern ernannte. Das Rätsel wurde allerdings nie gelöst, was aber von keiner Bedeutung ist.

In der Zwischenzeit hatte ich mich mehrmals nach Budapest begeben ; bald schenkte mir Karolyi sein volles Vertrauen. Wir verhandelten zu zweit mJt Missionen der Entente, und in Wien hatte ich dies auch in seinem Namen zu tun. Ein von mir meiner Schwester diktiertes Schriftstück schien in Paris Eindruck zu machen. So wenig- war bisher unsere Sache bekannt. Auch zum Kommandanten der englischen Donauschiffe in Belgrad, Admiral Trowbridge, wollte der Ministerpräsident mich entsenden, letzterer lehnte aber Verhandlungen ab. Den größten Beweis seines Vertrauens gab mir aber Karolyi, welcher selbst das ^Ministerium des Äu.ßern bisher leitete, als er mir in Aussicht stellte, diese Lei- tung mir zu übertragen. Ich dankte, sagte ihm aber, daß ich glaubte, im Auslande nützlichere Dienste leisten zu können als in der Heimat selbst, mit deren inner- politischen Verhältnissen ich doch nicht vollständig- vertraut war.

Nun reiste ich definitiv von Budapest ab und kam Ende Januar als erster Gesandter des unabhängigen Ungarns in die Schweiz.

Vorher hatte ich noch den Leiter des liquidierenden Ministeriums des Äußern, meinen alten Freund Baron Flotow', besucht, um von ihm Abschied zu nehmen und vor meiner Beeidigung meine Enthebung vom Eide vorschriftsgemäß zu erlangen. Es war dies eine reine Formsache, denn, wie bereits bemerkt, hatte der Kaiser und König mich schon längst entbunden.

Mein Diplomatenpaß trug dieser gemütlichen Art Rechnung. Da die Schweiz Ungarn nicht vor der Entente anerkennen wollte, wurde ich dort nicht als Gesandter, sondern als ..Bevollmächtigter Vertreter"

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anerkannt. Dies war natürlich lediglich eine Formsache nach außen hin. Aber infolge dieser Stellungnahme wurde mir ein Diplomatenpaß des alten Regimes aus- gestellt. Dieses Unikum in der diplomatischen Kanzlei- Hteratur empfahl aber „im Namen Seiner kaiserlichen und königlichen apostolischen Majestät den Gesandten der ungarischen VolksrepubHk" den betreffenden Be- hörden !

Eine andere Urkundengeschichte hätte unangenehm sein können. Ich hatte in Budapest ganz besonders darauf aufmerksam gemacht, daß in Anbetracht der obigen Umstände mir das Recht der Überreichung von Akkreditiven nicht zustehen würde. Ich hatte vor- geschlagen, mir höchstens einen privaten Empfehlungs- brief des Grafen Karolyi an den Bundespräsidenten Ador zu geben. Ich war daher wenig angenehm über- rascht, als ich in Wien zwei Tage vor meiner Abreise unter den mir aus Budapest zugesandten Akten ein regelrechtes Beglaubigungsschreiben fand. Man hatte es sich nicht nehmen lassen, ein solches nach einem alten französischen, ziemlich überschwenglichen Muster zu verfassen. Ich wollte aber die Reise nicht länger verzögern, sagte nichts, packte das Dokument ein und fuhr ab.

Die Reise dauerte lange, war aber sehr angenehm, da die Regierung mir einen Salonwagen zur Verfügung gestellt hatte. Es fuhren mit mir meine Schwester, meine Sekretäre und noch Mitglieder des ungarischen Roten Kreuzes. Die Reise durch das verarmte Öster- reich machte, wie immer, einen unsäglich traurigen Ein- druck, aber die Leute waren, trotz Revolution, ziemlich liebenswürdig und gemütlich wie früher geblieben. Auch in Feldkirch, obzwar mit einer Nuance. Dort er- folgt nämlich die Paßkontrolle. Ich hatte diese Station

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seit dem Kriege öfter passiert, aber das Kontrollokal niemals zu Gesicht bekommen, denn ein Offizier hatte immer alles für mich besorgt, und ich konnte bis Ab- fertigung der anderen Passagiere Spazierengehen. Nun mußte der republikanische Gesandte mit den anderen herein, wurde ,,Herr Szilassy" genannt, mußte Fragen beantworten, wurde aber sonst höflich behandelt. An der schweizerischen Station Buchs war aber alles beim alten geblieben. Der ,,Herr Gesandte" wurde wie früher behandelt. Kleine Zeichen der Zeit, welche einer psychologischen Bedeutung nicht entbehren.

Auf der letzten Strecke erteilte ich noch meiner Ge- sandtschaft allgemeine Instruktionen. Das diplomatische Leben kennend, wußte ich, wie man gern aus Äußer- lichkeiten oft Schlüsse weittragender Bedeutung zieht. Wir gingen nun nach der Schweiz mit der Hoffnung, die Gnade der Entente für ein von der mitteleuro- päischen Politik sich trennendes Ungarn zu erlangen; außerdem waren wir eine republikanische Vertretung, und es hieß das Vertrauen der Budapester Regierung gegen alle Intrigen zu erhalten. Meine Instruktionen resümierten sich daher dahin : Reserve gegenüber den ehemaHgen Verbündeten, Reserve gegenüber den mit mehr oder weniger Recht als reaktionär und konter- revolutionär geltenden ungarischen Elementen. Wir sollten uns mit einer Art chinesischer Mauer umgeben. Freilich konnte man dann mit Neutralen, namentlich Schweizern und, soweit möglich, mit Angehörigen der Entente nach Herzenslust verkehren; je mehr, desto besser.

Meine Ankunft in Bern zeigte ich in Anbetracht der herrschenden Verhältnisse nur meinem alten Freunde, dem Chef der Liquidierungsgesandtschaft, Baron de Vaux, an. Da ich ihn nur im Hotel, wo wir beide

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wohnten, sah, entstand das Märchen, ich hätte ihm niemals einen Besuch gemacht. Wir kamen nachmittags an, und ich fuhr dann sofort zum poHtischen Departe- ment, um mich dort zu melden. Der Chef der Division für auswärtige Angelegenheiten desselben, iHerr Para- vicini, den ich seit Jahren gut kannte, war aber ab- wesend. Es wurde eine Unterredung vereinbart.

Sodann begab ich mich mit meiner Schwester zur Frau Schwimmer. Mein Besuch sollte weder rein oiTi- ziell, noch rein privat sein. Die Dame empfing uns sehr liebenswürdig, und ich bemerkte nicht das leiseste Zeichen eines Unbehagens. Im Gegenteil, sie drängte auf beschleunigte Übergabe der Geschäfte. Sie beklagte sich tief über die Hetze, mit welcher man sie verfolge. Ich sah also sofort mit Vergnügen, daß es sich mit der „Frau Kollegin" bei einigem Takt und der jeder Dame gebührenden Ritterlichkeit ausgezeichnet auskommen ließe. Sie hatte natürlich Fehler begangen; wie sollte dies ohne jede diplomatische Schulung anders möglich gewesen sein, denn die Diplomatie ist doch ein Beruf wie jeder andere. Aber die vielen ungarischen Herren, die in Bern weilten und mit welchen sie in Berührung kam, behandelten sie nicht immer in ritterlicher Weise. Ich konnte jedenfalls bald in meinen Gesprächen mit den Landsleuten jeder Art Fürsten, Grafen, jüdische Jour- nalisten, Handelsleute und ehemalige Beamte usw. feststellen, daß die Frau Schwimmer bei keinem An- klang gefunden hatte. Sie konnte als Frau eben nicht die Unterstützung gewähren, die jeder vom Gesandten erwartete. Dies war, abgesehen von allen anderen Um- ständen, der Hauptfehler. Niemals habe ich, Männern gegenüber wenigstens, einen solchen Erfolg meinem Geschlechte zu verdanken gehabt. Alles atmete plötz- lich auf, als der Vertreter Ungarns endlich Hosen trug.

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Die Zeitungen hatten behauptet, daß das erste, was ich in Bern unternahm, war, das Automobil der Gesandt- schaft zu liquidieren. Nun, dies geschah gar nicht in irgendeiner demonstrativen Absicht. Die Frau Schwimmer mag sehr wohl als Dame dieses Fahrzeug gebraucht haben ; ich als }^Iann konnte es leicht ent- behren, und es schien mir nicht der Moment für Un- garns \''ertreter, „de rouler carosse". Die Frau Schwim- mer blieb übrigens noch einige Wochen in Bern, und wir hatten immer die besten Beziehungen miteinander. Ich konnte an ihr manche ausgezeichnete Eigenschaft, wa*s Wissen und Energie anbelangt, entdecken, Sie behandelte mich auch immer in kordialster W'eise, ob- zwar die Aufträge, welche mich zu ihr führten, nicht immer die angenehmsten waren. Ich habe daher trotz aller Voraussagxmgen nur die besten Erinnerungen von meinem Verkehr mit dieser begabten Dame, die ich auch als Gesandter zu beeidigen die Ehre hatte.

Bald kehrte Herr Paravicini zurück, und ich konnte in einem vertraulichen Gespräche feststellen, daß, wie ich es geahnt, von einer Übergabe des Beglaubigungs- schreibens keine Rede sein könnte. Wir lösten die Frage so, daß ich ihm einfach das betreffende Dokument „schickte". Somit war es eigentlich „übergeben" worden. Als ich dann später über meinen ersten Besuch beim Bundespräsidenten berichtete, schwieg ich die Sache mit dem Akkreditiv einfach tot.

Man mußte zuweilen als Diplomat eigenmächtig vorgehen, und dies schien mir der Situation am besten zu entsprechen, wollte ich nicht sofort mit bösem Blut und lächerlichen Allüren meinen Posten antreten. Über- haupt ließ ich mich durch keine Kleinlichkeiten stören. Ich konnte doch als bevollmächtigter Vertreter des armen kleinen Ungarns gerade so arbeiten wie als ehe-

22 V. S z i 1 a s s y , Der Untergang der Donau-Monarchi«.

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maliger k. und k. Gesandter, es kam nur auf das Auf- treten an. Allerdings mußte man dann auf jede persön- liche Eitelkeit verzichten, denn nach auJßen hin war der Vertreter Ungarns ein „sehr kleiner Gesandter", etwa wie der Minister Kubas oder Perus in früheren Zeiten, Doch was hatte dies alles in Anbetracht dieser großen Aufgabe zu sagen?

Mein politischer Verkehr in Bern war ein äußerst beschränkter. Er resümierte sich in Beziehungen zu schweizerischen Behörden und amerikanischer Gesandt Schaft. Nur letztere Ententebehörde verkehrte mit mir, bezeichnete aber diesen Verkehr als privat. Außerdem sah ich zuweilen Mitglieder der japanischen Vertretung. Die anderen Gesandtschaften erhielten die Weisung, sich fern zu halten, doch sah ich zuweilen Agenten der Entente im geheimen. Der Grund für diese Reserve war, wie ich einwandfrei feststellen konnte, daß die Ententemächte besorgten, daß die Unterlegenen die unter den Siegern bestehenden Differenzen ausnützen könnten. Sie vereinbarten daher, daß ihre Missionen im Auslande mit keiner offiziellen Person der besiegten Partei zusammenkommen sollten. Das war auch der Grund, warum niemand von unserer Gruppe nach Paris zugelassen wurde. Dem Gewährsmann, der mir dieses auseinandersetzte, konnte ich nur erwidern, daß ich die Anwendung dieses Prinzips auf Ungarn für ganz un- begreifHch hielte. Wir waren doch viel zu schwach, um ein solches Spiel überhaupt zu versuchen. Auch war es direkt gegen das Interesse der Entente, in allen diesen komplizierten Fragen nur die eine Seite zu hören. Ich schrieb auch in diesem Sinne an einen mir befreun- deten englischen Staatsmann, doch es half nichts.

Amerika machte also in dieser Hinsicht, wie in manch anderer. ..bände ä part". und ich sah ziemlich oft

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den ersten amerikanischen Sekretär, Herrn Wilson, einen angenehmen Mann mit klarem Kopf, der die ganze Gesandtschaft eigentlich leitete und mir stets viel Ent- gegenkommen erwies.

Zu den schweizerischen Behörden hatte ich immer die angenehmsten Beziehungen. Ich war gewissermaßen zu Hause. Der Chef der auswärtigen Division behan- delte mich immer als Kollegen und Freund. Auch die Bundesräte zeigten immer große Liebenswürdigkeit, namentlich habe ich von meiner Antrittsaudienz bei dem Bundespräsidenten und meinen mehrfachen Besuchen bei dem Chef des politischen Departements, Herrn Co- londer, die besten Erinnerungen. Herr Ador ist eine sehr markante, vornehme Persönlichkeit. Er hat sein ganzes Leben lang seiner Heimat gedient und ist neben- bei bekanntlich Vorstand des Internationalen Roten Kreuzes. Er galt als besonders frankophil, doch glaube ich, bei ihm Verständnis für die Sache Ungarns ge- funden zu haben. In meinen Gesprächen mit den schweizerischen Staatsmännern habe ich immer zwar die Fehler unserer bisherigen Politik anerkannt, mich dann aber auf die zahlreichen bekannten Argumente berufen und für die Integrität Ungarns als föderative Republik eingesetzt. Ich sagte immer, wir wollten bloß eine orientalische Schweiz schaffen. Dieses Argument mußte bei Schweizern, die die historische Tradition und wirt- schaftliche Interessen höher als die Rasse einschätzten, bis zu einem gewissen Grade wirken. Ich führte auch aus, wie unsinnig es wäre, wenn nach Kriegsende Genf oder Waadt sich aus lauter Ärger von Bern lostrennen und Frankreich anschließen wollte. Dies sei ungefähr die Lage bei uns. Ich versprach mir von einer derartigen Argum.entation mehr Nutzen als von einer starren Negation der Fehler des alten Regimes. Zu behaupten.

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wie manche es taten, daß ganz Ungarn gegen den Krieg gewesen sei und daß es den Nationalitäten dort besser als irgendwo anders auf Erden erging, war nicht nur widersinnig, es verstimmte die Entente und reizte un- sere Nachbarn zu neuen Kraftentfaltungen gegen uns. Viel besser erschien mir das Argument, daß in Ungarn eine beträchtliche Partei gegen den Krieg gewesen sei und daß nunmehr jeder Ungar, gehöre er auch zu den alten Parteien, vollständig bereit sei, eine Föderation an- zunehmen, in welcher jede Rasse dieselben politischen Rechte genießen würde. Dabei habe ich ängstlich ver- mieden, die geringste Verantwortung auf die Habs- burger zu werfen oder sogar das alte Regime bezüglich der Nationalitätenpolitik zu sehr anzugreifen. Ich habe immer betont, daß, wenn auch leider die Fremdvölker bei uns gewiß nicht politisch ebenbürtig gewesen, sie doch in ihrer Behandlung als Menschen keinen Grund mehr zur Klage hatten als die unter dem alten Regime nicht besser behandelte mag)-arische Bevölkerung. Dies entsprach der historischen Wahrheit und auch der poli- tischen \'ernunft. Für eine so große Unwahrheit, wie das Ableugnen jeder Schuld in dieser zweifachen Hin- sicht, war Ungarn ja viel zu klein. Außerdem lasen die Kabinette vermutlich unsere Depeschen, wie wir die ihrigen ! Dies waren ungefähr die Grundzüge, die ich auch in der mir unterstehenden, ziemlich weit aus- gedehnten Propagandatätigkeit vertreten ließ.

Unser Propagandadienst war nicht immer gut or- ganisiert, und ich hatte Mühe genug, um darin etwas System hineinzubringen, doch fand ich dabei gute Hilfe und Verständnis bei meinen vielen Mitarbeitern. Namentlich interessierte ich mich sehr für die vom Sektionsrat von Miklos ausgezeichnet geleitete Aktion zugimsten der protestantischen Kirchen von Ungarn

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-und Siebenbürgen. Auch war hierbei unser Standpunkt ein unanfechtbarer, denn es war einzig in der Welt- geschichte, daß MiUionen Anhänger zählende protestan- tische Kirchen einer griechisch-orthodoxen Herrschaft preisgegeben werden sollten.

Bezüglich der auswärtigen Politik ward es für mich ein Axiom, daß wir vor allem eine Anlehnung an Frank- reich suchen sollten. Amerika und England waren uns nicht schlecht gesinnt. Die zweite Macht war sogar für die Wiederherstellung der Donau-Monarchie in irgend- einer Form eingenommen. Nicht so Frankreich, welches vor allem seine rumänischen, tschecho-slowakischen und jugoslawischen Klienten großziehen wollte, da es m ihrer Stärke den besten Damm gegen den Germanismus zu haben wähnte. Ungarn galt übrigens als franzo- sische Einflußsphäre. Es ergab sich die logische Folge- rung, daß wir vor allem Frankreich zu gewinnen trachten sollten, dann würden die anderen Großmächte, Japan und Italien inbegrifTen. uns nichts antun. Um dies zu erreichen, brauchte man meines Erachtens nicht nur an das Herz Frankreichs zu appellieren und die vielen historischen Begebenheiten, die die zwei Länder ehedem miteinander verknüpften, anzurufen. Es waren auch sachliche Gründe da. Es hieß, wie anderswo ausgeführt, in Paris beweisen, daß ein zufriedenes Ungarn einen großen Stein der Mauer bilden würde, die im Osten einen eventuellen neuen deutschen Imperialismus und den Bolschewismus aufhalten würde. Daß aber ein un- zufriedenes Ungarn eine ewig aufflammende Stätte der Unruhe sein würde.

Andererseits aber hieß es da Länder von ihren Regierungen nicht getrennt werden können das in Pari? gegen die Regierung des Grafen Karolyi. der bald

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zum Präsidenten der ungarischen Republik erklärt wurde, gehegte Mißtrauen zu zerstreuen.

Ich habe in verschiedenen Denkschriften, welche nach Paris gingen, in diesem Sinne zu wirken getrachtet, doch verhehle ich die Ergebnislosigkeit meiner Be- mühungen keineswegs. Durch Denkschriften kann man heutzutage die allseits verhetzten Machthaber der Völker nur wenig beeinflussen. Direkte persönliche Einwirkungen wären nötig gewesen. Da wir selbst nach Paris nicht zugelassen wurden, tat ich mein möglichstes, um irgendeinen begabten Franzosen ausfindig zu machen, der aus Überzeugung sich unserer Sache an- genommen und die Staatsmänner und öffentliche Mei- nung seiner Heimat zu einer gerechten Beurteilung der Situation veranlaist hätte. Einen solchen zu finden war nicht leicht. Wir hatten alle Sympathien dort ver- scherzt, waren nicht mehr die romantische „nation chevaleresque des Hongrois", sondern ein besiegter, schwacher Feind, dem man noch Untreue vorwarf. Einen Sayous gab es nicht mehr, und leider war kein magyarophiler Loti vorhanden. (Wer mag übrigens erwägen, wieviel dieser begabte Schriftsteller zum Um- schwünge der französischen öffentlichen Meinung zu- gunsten der Türkei beitrug, was wenigstens die Haupt- stadt für sie rettete.) Wir hatten nicht das Glück, einen Loti zu haben. Außerdem drängte die Zeit, und es kam allzubald der Bolschewismus. Ich zögere aber nicht, zu sagen, daß dies fast eine Lebensfrage für die magya- rische Nation war. Aber, da unsere Stimme in Paris nicht zur Geltung kam. wurde das Feld für das Arbeiten unserer feindseligen Nachbarn offen.

Der zweite Punkt meines Programms bestand in einer Anlehnung an Jugoslawien. Es war mir von vorn-

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herein klar, daß diese ungarische Integrität nicht sofort vollauf zu retten sei. Aber Ungarn, selbst momentan amputiert, konnte noch existieren, wenn es einen Zugang zum Meere erhielt. Dies konnte uns Jugoslawien leicht gewähren; wir brauchten nur die Eisenbahn, um einen Hafen benutzen zu können. Jugoslawien ermangelte anderseits eines Hinterlandes, und wir hatten Getreide. Es ließ sich die Sache daher ganz gut machen, und zwar so, daß. wie bei jedem guten Geschäft, beide Teile einen Vorteil davontrugen. Es wurden in dieser Rich- tung auch inofifizielle Gespräche geführt ; die Frage des Banates wäre dann aufgeschoben gewesen, denn wenn Avir es preisgaben, so wäre dies gewissermaßen eine Ermutigung für Rumänen und Tschechen gewesen. Mit letzteren konnte vorläufig nichts unternommen werden, denn sie hatten die Macht und wir hatten nichts zu ver- geben. Darin mußte die Konferenz, der Völkerbund oder die Zeit. Wandel schaffen. Hingegen sah ich für eine nahe Zukunft die Möglichkeit eines Zusammen- gehens mit Österreich sowie mit den Polen oder Ukrainern, vielleicht mit allen.

Daß ich Frankreich die erste Stelle in meinem politischen Programm einräumte, lag natürlich in der Situation selbst. Ich konnte es aber nur begrüßen, wenn andere ungarische Politiker, wie zum Beispiel der in Bern weilende Graf Andrassy, vor allem Groß- britannien für unsere Sache zu gewinnen trachteten. Ich war aber davon überzeugt, daß England um unserer schönen Augen willen sich mit Frankreich nicht streiten würde. Wenn es auch in Ungarn ein Feld wirtschaft- licher Betätigung finden konnte, so hatte es derlei Felder auf der ganzen Erde genug und würde deshalb nicht das Odium auf sich nehmen, die Vertrags- verpflichtungen, die Ungarn zerstückelten, allein und

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einseitig außer Kraft zu setzen. Dies konnte die ärgste Gegnerin der „Papierfetzentheorie" unmöglich tun.

Bei meiner Ankunft in Bern hatte die Gesandtschaft nicht nur keine Beziehungen zur französischen, sie hatte nicht einmal Beziehungen zur französisch - schweize- rischen Presse. Dies war natürlich in hohem Grade er- -wünscht, denn, wie die Sachen lagen, war dies die einzige Weise, wie wir an die französische Öffentlichkeit herankommen konnten. Zeitungen wie das „Journal de Geneve" und die ,, Gazette de Lausanne" haben bekannt- lich in Ostfrankreich und Savoyen einen ausgedehnten Leserkreis. Hierin gelang es mir, eine Besserung zu er- zielen, und das erstere dieser Blätter, dessen Kompetenz in der ganzen Welt anerkannt wird, publizierte sogar von mir ein Interview, in welchem ich die neue unga- rische Politik ausführlich darlegte. Ich wollte aber noch direkter aufklärend wirken, und unternahm daher im Monat März eine kleine Reise nach Lausanne und Genf, wo ich mit maßgebenden Journalisten und anderen Per- sönlichkeiten zusammentraf. Ich fand überall ein williges Ohr, und obzwar natürlich Sympathien und Ge- sinnungen dem anderen Lager gehörten, versprach man mir, auch Aufsätze; von mir zu publizieren. Doch dazu kam es nicht. Die Herren waren meist ziemlich gut dokumentiert, doch es gab auch Ausnahmen. Ein Jour- nalist, allerdings in keiner maßgebenden Stellung, be- hauptete fest, daß Siebenbürgen Rumänien gehört habe, und daß dessen Fürsten, Bathory und Bethlen, Rumänen gewesen wären. Dagegen mißlang jeder Versuch einer Annäherung an die französische Presse.

Mein politisches Verhalten wurde durchweg von der ungarischen Regierung gebilligt. Allerdings nicht immer sofort. Plötzlich stellte man sich in Budapest, wohl unter sozialistischer Eingabe, auf den Standpunkt,

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daß wir für die Zugehörigkeit der besetzten Gebiete ein Plebiszit anrufen sollten. Dies wollte ich als letzte Karte behalten, aber nicht sofort preisgeben. Graf Kärolyi gab mir denn auch nach.

Die Beeinflussung der Entente, ihre Informierung über die tatsächlichen Verhältnisse Ungarns und dies Avar von allergrößter Wichtigkeit, denn sie war ofTen- bar von unseren Feinden vielfach falsch unterrichtet und hatte leider auf dieser Grundlage manches ver- sprochen — war natürlich meine erste und bei weitem wichtigste Aufgabe.

Anderseits konnte ich doch auch nicht vergessen, daß ich der Vertreter der ungarischen Republik war. Ich nahm meine Pflicht ernst, und wenn man, wie mir erzählt wurde, meiner Ernennung in den Budapester adligen Kasinos zugejubelt habe, so war kein Grund vorhanden, von mir, wie vielfach geschah, anzunehmen, daß ich unter dem Deckmantel eines republikanischen Diplomaten reaktionäre Politik treiben würde. Ich mußte es vielmehr als eine, wenn auch untergeordnete, Aufgabe betrachten, die allerdings meist nicht sehr- ernsten konterrevolutionären Strömungen einiger meiner Landsleute zu beobachten. Momentan war wohl die Republik die der krisenhaften Lage entsprechende Staatsform, und es war meine Pflicht, dieselbe zu schützen. Ich habe aber niemals ein Wort gegen den Kaiser und König gesagt oder geschrieben, da ich ihn für ein vollständig unschuldiges Opfer eines verfehlten Systems ansah. Ich habe sogar, soviel ich es tun konnte, offizielle Nachrichten, welche sich gegen ihn richteten, verhindert.

Aber nicht nur in dieser Hinsicht habe ich oft eigene Diplomatie getrieben. Es geschah das Merk-

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würdige, daß einige der angeblichen Konterrevolutio- näre mir befreundete Aristokraten waren. Sie be- suchten mich privatim und eröffneten mir ihr Herz, Nun, diese Vertrauensergüsse habe ich manchmal aufzuhalten getrachtet, miBbraucht habe ich sie nie. Es konnte ge- schehen, daß ich irgendeine in der Presse veröffent- lichte Erklärung eines solchen Herrn nach Budapest weitergab, dabei aber viel interessantere Worte, des- selben, die er mir am selben Tage gesagt, einfach tot- schwieg. Ich mußte mit der Impulsivität unserer Rasse rechnen, und es wäre mir „unfair*"' erschienen, Sachen, die für den Freund und nicht für den republikanischen Gesandten bestimmt waren, weiterzugeben. Einen dieser Herren habe ich sogar einmal, weil es mir mein Gewissen gebot, aus einer recht unangenehmen Lage herausgeholfen.

Übrigens k(jnnte ich, wie gesagt, konstatieren, daß die Konterrevolution nicht sehr ernst war. Viele.? wurde erfunden und erdichtet. Die schwachen Versuche, den ungarischen Thron"Tiu besetzen, wurden nicht gerade geschickt eingeleitet. So trugen zum Beispiel einige Dilettanten die Krone Sankt Stefans einem euro- päischen Prinzen an. der zufällig Admiral war. Sie er- hielten die nicht sehr ermunternde Antwort : „Was soll ich mit einem Lande anfangen, welches kein Meer hat?"'*

Es ist mir verübelt v/orden, daß ich in Bern, wie man sich ausdrückte, mehr mit Juden als mit Aristo- kraten verkehrte. Nun hatte dies einen zweifachen Grund. Die Stadt war von ungarischen Agenten und Journalisten überfüllt, die meistens in irgendeiner Ver- bindung zur Gesandtschaft standen. Diese waren meist israelitischer Rasse. Diese Situation fand ich vor und mußte mit derselben rechnen. Es empfahl sich nicht nur, diese Herren nicht zu brüskieren, sondern es liieß, diese

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Kräfte möglichst auszunützen. So ergab sich der \'er- kehr gewissermaßen von selbst.

Der andere Grund war ein rein politischer. Ich als Diplomat des alten Regimes war allen möglichen Intrigen derer ausgesetzt, die entweder meine Stelle anstrebten, oder nur überall Konterrevolution witterten. Persönlich konnte mir dies gleichgültig sein, politisch nicht, denn wollte ich Ersprießliches leisten, so mußte ich das Vertrauen meiner Regierung behalten. Fort- währende Denunziationen seitens jener ungarischen Elemente, die die Regierung unterstützten, hätten viel- leicht doch schließlich bezüglich meiner Loyalität Zweifel erweckt. Dies mußte unbedingt verhindert werden. Dabei war ich auf gutem Fuße mit den meisten ungarischen Aristokraten, nur sah ich sie weniger in der Öfifentlichkeit.

Ich muß übrigens gestehen, daß manche dieser Journalisten und Agenten mir wertvolle Dienste leiste- ten. Namentlich schrieben manche ausgezeichnet fran- zösisch und verfaßten mir mit viel Verständnis für die Entente bestimmte Denkschriften. ' Diesen Herren trachtete ich möglichst eine gewisse diplomatische Schulung beizubringen, wie es auch stets mein Be- streben war, was die Form anlangte, den Dienst nach dem Muster der alten, ausgezeichneten und erprobten k. u. k. Diplomatie einzurichten. Hierin wurde ich von meinem ersten Mitarbeiter und Freund, dem General- konsul Posfai, einem ausgezeichneten Beamten, mit dem ich in Griechenland zusammen arbeitete und den ich aus Budapest mitgebracht hatte, tatkräftigst unterstützt. Freilich ging dies alles nicht immer glatt vor sich. Die neuen Verhältnisse brachten neue Männer, neue Klas- sen und freiere Umgangsformen. Man lebte in einer Republik und wollte es zeigen. Jeder Landsmann wollte

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persönlich mit dem Gesandten sprechen, und trotzdem ich jeden Tag von neun Uhr ab empfing, vräre der Tag zu kurz gewesen, hätte mir Posfai dabei nicht geholfen. Oft ergab es sich, daß meine einzige ruhige Zeit die- jenige von sieben bis neun Uhr früh war.

Nicht selten ergaben sich Vorfälle, die einen jün- geren Diplomaten zur Verzweiflung gebracht hätten. Ein Journalist leitete einmal Besprechungen mit En- tentekreisen ruhig ein, wobei er durchblicken ließ, daß er ein Abgesandter der Gesandtschaft war. Ich kam darauf und mußte Ordnung schafifen. Ein anderer Herr suchte mich auf und diktierte mir förmlich die zu be- folgende Politik. Ein dritter meldete sich einfach zum Delegierten nach Paris.

Doch dies alles regte mich Avenig auf. Ich war von Petrograd und Athen an ganz andere Sachen ge- wöhnt. Mit der Zeit wirkte meine Ruhe, es ergab sich eine gewisse Disziplin von selbst, und das Leben unter den Landsleuten wurde ganz gemütlich.

Wie wenig gerecht mancher Vorwurf war, ergibt sich übrigens auch aus folgendem. Wie oben erwähnt, mußte mit der in Pariser nationalistischen Kreisen herrschenden, wenig judenfreundlichen Stimmung ge- rechnet werden. Ich besorgte daher, daß in Anbetracht der großen Rolle, die die Israeliten tatsächlich in der Regierung der ungarischen Republik spielten, man auf den Gedanken kommen könnte, zahlreiche Juden in unsere Delegation nach Paris zu entsenden. Da dies nicht im Interesse der Sache war, mußte ich den allzu idealistisch veranlagten Grafen Kärolyi davor warnen. Ich wählte den etwas merkwürdigen Weg, ihm eine diesbezügliche Mitteilung durch einen nach Budapest reisenden Politiker israelitischer Konfession zu- kommen zu lassen. Es spricht nicht wenig für den

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Liberalismus des betreffenden Herrn, daß er meine rein sachlichen Bedenken anerkannte und die Sache tatsäch- lich vermittelte.

Als Delegierte nach Paris wurden dann bestimmt: Graf Karolyi, der Ministerpräsident, Herr von Beren- ley, der Minister Jaszy, eine Autorität in den Rassen- fragen, der sozialistische Unterrichtsminister Kunfi, Herr von Ugron, ein bekannter Politiker siebenbürgi- sehen Ursprungs, und meine Wenigkeit. Es erfüllte mich mit nicht wenig Genugtuung, daß ich das einzige diplomatische Mitglied der Delegation sein sollte. Hierin wurde mehr meinen Bestrebungen als meinen Erfolgen Rechnung getragen. Letztere w-aren wohl unbedeutend. Ich kam aber viel zu spät und ging viel zu früh, um etwas zu erreichen.

Diese Herrlichkeit sollte bald ein trauriges Ende nehmen.

Schon lange spukte der Bolschewismus in Buda- pest. Die Stadt war mit Flüchtlingen aus den besetzten Gebieten überfüllt. Sie hatte zwei- oder dreimal so- viel Eimvohner wie in normalen Zeiten. Dabei wuchs angesichts der von den Nationalitäten errichteten Ab- sperrungslinien die Lebensmittelnot in erschreckender Weise. Karolyi und ich richteten vergebens Warnung auf Warnung an die Entente und beschworen sie, wenig- stens für die freie Durchfuhr von Lebensmitteln zu sorgen. In einer Denkschrift, die ich Anfang März der französischen Regierung schickte, und die „Notes sur le Gouvernement de la Republique Hongrois et le comte Michel Karolyi" betitelt war, ist auf Seite 5 zu lesen: „S'il n'y a pas actuellement de bolchevisme en Hongrie, la Situation poHtique et economique est teile quel constitue un danger reel, toujours present et

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lueme probable, si le gouvernement Hongrois n'est pas soutenu dans le combat qu'il mene contra lui."

Doch es half alles nichts. Die Pariser Machthaber hatten andere Sorgen. Sie hatten kein Vertrauen zur ungarischen Republik. Es kam das Unvermeidliche, Ende März brach der Bolschewismus aus.

Als dies geschah, hieß es für mich als alten Karrierediplomaten, vor allem die Nerven nicht ver- lieren. Ich konnte sofort demissionieren oder, wie mir verschiedenerseits geraten, mit Eklat mich an die Spitze einer antibolschewistischen Bewegung im Auslande stellen. Ich konnte mich vorläufig abwartend verhalten, um noch der Sache Ungarns und den vielen ungarischen Interessen im Auslande zu dienen.

Die erste Eventualität bot mir einen allzu leichten Ruhm. Mein Gewissen gebot mir, die zweite zu wählen. Es sollte aber nicht bedingungslos geschehen. Ich war entschlossen, nur als Vertreter Ungarns, als Vertreter der Volksrepublik provisorisch zu bleiben und mich von jeder revolutionären Tätigkeit fernzuhalten, ja in der Schweiz überhaupt keine zu dulden.

Dies teilte ich sofort der ungarischen Räte- regierung telegraphisch mit, die meinen Standpunkt akzeptierte und mir die bündigste Zusicherung gab, keine revolutionäre Propaganda in der Schweiz treiben zu wollen. Meinem Wunsche entsprechend, unterließ sie auch, den Regimewechsel in irgendeiner Weise der Schweiz zu notifizieren.

Unabhängig hiervon und bevor ich diese Zusiche- rung erhielt, eilte ich am ersten Tage nach der Um- wälzung ins Auswärtige Departement und versicherte dessen Leiter, daß, solange ich noch bleiben würde und er war der erste, mir vertraulich zu raten, dies vor- läufig zu tun , ich niemals eine revolutionäre Propa-

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ganda zulassen würde. Ich betonte, daß ich mich über- haupt nur als Vertreter Ungarns, nicht aber als Ver- treter der kommunistischen Regierung betrachte.

Meinen Standpunkt machte ich auch der amerika- nischen Gesandtschaft klar, beifügend, daß, da man seine Überzeugung nicht wie Handschuhe wechseln könne, ich nach wie vor in einer Verständigung mit der Entente das Heil Ungarns erhoffte. Der amerikanische Geschäftsträger billigte vollständig meinen Standpunkt und bemerkte, es wäre eine Feigheit, meinen Posten in einem solch schweren Momente zu verlassen. Er versprach mir, über das Ganze der Pariser Konferenz zu berichten.

Ich fühlte mich vor allem dadurch bewogen, diesen Standpunkt anzunehmen, weil der Bolschewismus ur- sprünglich in Ungarn einen nationalen Charakter zu haben schien und von Ausschreitungen mir authentisch nichts bekannt wurde. Jedesmal, wo ich mich über letztere bei den schweizerischen Behörden erkundigte, erhielt ich die Antwort, man wisse nichts davon. Außer- dem wurden so viele Schauernachrichten verbreitet, die sich nachher als unwahr erwiesen, daß man sein Ver- halten unmöglich nach denselben einrichten konnte.

Ich habe so die drei unangenehmsten Wochen meiner ganzen Laufbahn verbracht. Denn wenn ich mich auch bei allen kompetenten Stellen als V^ertreter Ungarns gerierte, so konnte ich doch den herrschenden Kommunismus nicht jedem Unberufenen gegenüber desavouieren. Die größte Reserve wurd« mir auferlegt, imd so reduzierte ich meinen Verkehr auf das Minimum. Abends saß ich gewöhnlich allein in der großen Hotel- halle mit meiner Schwester, allen Menschen den Rücken gedreht und machte Patiencen. V\'ar ein Gesandter der ungarischen Republik schon kein großer Herr, wie

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weniger war es noch in dieser vornehmen Hotelgesell- schaft ein „pseudokommunistischer Gesandter'' !

Intrigen wurden gegen mich von allen erdenklichen Seiten gesponnen. Die Disziplin lockerte sich in meiner nächsten Umgebung. Jeder wollte wissen, ob ich „Kommunist sei oder nicht", und dies war eben die Frage, die ich nicht beantworten wollte, denn sonst war jede weitere Arbeit unmöglich. Diese beschränkte ich natürlich auf das Mindestmaß. Ich mußte alle unsere Propagandaanstalten schließen, in der Erwägung, daß, wie sehr die Sache Ungarns derselben auch noch bedürft hätte, es nunmehr fast unmöglich gewesen wäre, die bolschewistische von der nationalen Tätigkeit zu trennen, fch persönlich glaubte indessen, es doch noch wagen zu können. Es entsprach auch eher meinen Gefühlen, in meinen Unterredungen Mitleid für Ungarn anzurufen und den Bolschewismus als die Folge unserer schlechten Behandlung hinzustellen, als wie mir zu- gemutet ward fremde Kräfte gegen meine Heimat zu hetzen. ]Meine Tätigkeit bestand daher fast ledig- lich darin, meinen Landsleuten zu helfen, den Verkehr mit der Entente aufrecht zu erhalten und bei Gelegen- heit das Interesse oder das Mitleid der Staatsmänner für Ungarn anzurufen.

Doch ich muß hier etwas zurückgreifen. Der unga- rische Bolschewismus schien sich anfänglich durch zwei Umstände von anderen ähnlichen Erscheinungen zu unterscheiden. Er gelangte ohne Blutvergießen, ohne äußerliche Gewaltanwendung zur Macht und schien, wie gesagt, einen nationalen Charakter zu besitzen. Der Hergang ist bekannt. Die Franzosen, statt uns in un- serer schweren Lage zu helfen, willigten in eine neue, enger gezogene Demarkationslinie ein. Hierdurch wurde die Lage der Regierung schwerer denn je. Denn

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gerade von Karolyi erwartete das Land, als \on einem Freunde der Entente, mehr als von einem anderen, und die Unruhe der Gemüter wuchs auf das höchste, als es sich erwies, daJS er nichts erreichen konnte. Neue Flüchtlinge strömten in die Hauptstadt. Die Not wuchs auf das höchste. Die sozialistischen Minister benützten die Gelegenheit, um sich mit den Kommunisten zu ver- binden und die Regierung als abgesetzt zu erklären.

Karolyi ließ dies in der Erwägung zu, daß er hier- durch Blutvergießen verhindere, und wohl auch, daß ein Bündnis mit Sowjetrußland, gepaart mit der An- ziehungskraft, welche ein ideeller Kommunismus bei uns auf unsere Nachbarn ausüben würde, die letzte Rettung Ungarns sei. Ob er die Macht besaß, die verhängnis- volle Evolution zu verhindern, ist eine andere Frage. Er glaubte es offenbar nicht und übergab daher einfach die Regierung den neuen Machthabern, wodurch im Ausland der Schein eines abgekarteten Spiels hervor- gerufen wurde. Meiner Ansicht nach ist dieser Schein jedoch ungerechtfertigt. Ich besitze noch heute einen, einige Tage vor Ausbruch des Kommunismus datierten langen politischen Brief des ehemaligen Präsidenten, der mir erst nachher zukam. Er handelt von allerlei aktuellen Fragen und es erscheint mir geradezu un- denkbar, daß ein Staatsoberhaupt sich die Mühe nehmen würde, solche Fragen ausführlich zu behandeln, wenn er weiß, daß, bis der Brief ankommt, dieselben gegen- standslos geworden sein werden.

Was den nationalen Charakter des ungarischen Bolschewismus anbelangt, so wurde ursprünglich die Idee vielfach verbreitet, daß darin die letzte Rettung Ungarns liege. Graf Andrassy führte dies in einem langen Interview aus, und ein nachmaliger ungarischer Minister, der damals in Bern weilte, sagte mir, er werde

23 V. S /. i ; a ^ ^ .\ . Der Liiieruaiis der Doiiau-Mi/;i:;ri;hic. IZ.''

vielleicht auch selbst in die Rote Armee eintreten. Dieser Herr, der es mir übrigens später übelnahm, „da^ ich zu lange geblieben", war einer der ersten, mich zu bitten, meinen Posten nicht zu verlassen.

In der Tat, behandelt man die Frage nicht, wie üblich, mit Leidenschaft, so war politisch eine gewisse Grundlage für eine Annäherung Ungarns an Rußland gegeben. Österreich und Ungarn waren beide allein in einer Welt von großen und kleinen Feinden ihrem Schicksal überlassen. Österreich hatte dabei eine natür- liche nationale Stütze : Deutschland. Die Idee war dann naheliegend, daß Ungarn auch seinerseits eine Stütze an Rußland suchte. Diese war dann aber eine „mora- lische", und die Bedingung war, daß Ungarn zuerst auch kommunistisch werde. Eine Ironie der Geschicke sondergleichen brachte dann diese zwei erbitterten Feinde vom Jahre 1914 zusammen! Das Ganze schlug bekanntlich fehl.

Zwar hatte ich noch immer keine authentischen Nachrichten, aber die Gerüchte über Ausschreitungen mehrten sich in unheimlicher Weise. Auch hatte die Räteregierung den nationalen Boden, auf welchem ich verharrte, aufgegeben. Ich hatte keinen Grund mehr zu bleiben. Ich beschäftigte mich daher in meiner nächsten Umgebung mit Demissionsgedanken, als der 14. April die Lösung und Erlösung automatisch brachte. Die Räteregierung hatte nochmals bündigst erklärt, keine revolutionäre Propaganda in der Schweiz treiben zu wollen (ja, sie erklärte sogar, zwischen Rußland und A\'esteuropa im Interesse des Friedens vermitteln 7.n wollen), und zugleich hatte sie bei der liquidierenden Gesandtschaft ohne mein Wissen das Ansuchen gestellt, bei der schweizerischen Regierung mich als ihren Ge- sandten anerkennen zu lassen. Zu gleicher Zeit schickte

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sie mir, wovon ich natürlich auch nicht die geringste Kenntnis hatte, einen Kurier mit Geldern und für schweizerische Kommunisten bestimmten Briefen. Der erste Antrag, den ich, als meinem Standpunkt zuwider- laufend, nicht angenommen hätte, kam nicht zur Aus- führung, denn in Anbetracht des zweiten Umstandes gab ich meine Demission. Dies tat ich aber auch in aller Ruhe und motivierte sie mit Gesundheitsrücksichten. Ich sah nämlich auch dann nicht ein, wieso ein Eklat meiner Heimat genützt hätte. Skandal fällt ja immer auf die ganze Nation zurück, und zu oft ist der Spruch wahr : „chaque pays a le gouvernement qu'il merite".

Ich zog mich in aller Ruhe zurück, nur riet ich ein- mal noch der Räteregierung an, Ungarn unter den Schutz der Vereinigten Staaten Amerikas zu stellen. Ich fügte hinzu, daJi die Vorbedingung hierfür das Auf- geben des kommunistischen Prinzips und eine gemäßigte sozialistische und radikale bürgerliche Verfassung w'äre, die am besten den Interessen des Landes entsprechen würde. Ich ging dabei von der Erwägung aus, daß es für Ungarn viel vorteilhafter wäre, wenn die Evolution aus dem unhaltbaren Kommunismus von innen kommen würde, als wenn dies unter dem Einflüsse auswärtiger Faktoren erfolgen sollte.

Der Lauf der Ereignisse hat mir recht gegeben. Der Bolschewismus brach in Ungarn infolge der rumä- nischen Invasion zusammen, aber letztere hat dem Lande mehr gekostet als die I-Jerrschaft der Räte- regierung.

Es wurden über mich die lächerlichsten }>iärchen erfunden. Ich hätte mich der Räteregierung ange- schlossen und dabei ihren Kurier von der schweize- rischen Regierung verhaften lassen. Daß ungarische Reaktionäre mein \^erhalten nicht billigten, wunderte

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mich nicht. Es fanden sich aber auch in Berner Kreisen Leute, um mich des Bolschewismus zu bezichtigen. Es wurde behauptet, die schweizerische Regierung habe meine Demission erzwungen. Dies tat weh, besonders in einem Lande, wo ich meine Kindheit verbracht und an welches mich die heiligsten Erinnerungen knüpften. Manchmal aber erhielt ich auch wohltuende Sympathie- kundgebungen. Die bekannte englische Schriftstellerin Miß Snowden sagte mir einmal, sie fände es sehr „plucky", daß ich „stick to my guns''. Die Dame ist bekanntlich eine Sozialistin, verkörpert aber derart weibliche Anmut und Sanftmut, daß mir ihre Meinung nur sehr wertvoll sein konnte.

Die Menschen können über Kommunismus nicht vernünftig und ruhig reden. Die Begriffe werden ver- wischt, Kommunismus und Gewalttätigkeit unter eine Decke gesteckt. Für den einen ist der Kommunist der Verkünder einer neuen wundersamen Lehre, der Träger einer neuen Kultur; für den anderen ist er der Anhänge» einer verpönten Kaste, ein lasterhaftes Individuum.

Die Wahrheit, eine Wahrheit ,.ä la Palisse" ist natürlich eine ganz andere.

Der Kommunismus wäre gegebenenfalls, wenn die Menschen gut und gleich wären, die idealste irdische Verfassung. Kommunistische Ideen hat unser Heiland nicht selten vertreten. Aber wie Pascal sehr richtig bemerkt : „rhomme n'est ni ange, ni bete, et qui veut faire Tange, fait la bete" (der Mensch ist weder Engel noch Tier, und wer den Engel schaffen will, macht das Tier). Diese Gefahr wird zu oft außer acht gelassen.

Der Kommunismus, ideal gedacht, wäre schon unter guten Menschen schwer auszuführen, weil die Menschen nicht gleich in Begabung, ^^'illenskraft und

Charakter sind. Er würde Konkurrenz und somit Fort- schritt in jeder Weise zerstören. Es Heße sich aber in einer ruhigen Zeit, wo die Gemüter zufrieden und die wirtschaftlichen Bedingungen günstig sind, seine Durch- führung immerhin denken. Wir sehen aber das Gegen- teil. Man führt denselben dann ein, wenn die Atmo- sphäre krisenhaft ist, die Menschen unzufrieden, die Volkswirtschaft zerstört und die Magen leer sind.

Anderseits ist es vollständig unverständlich, wie ideelle Verfechter dieser Theorie, die das Höchste des Fortschrittes darstellen soll, ihre Verwirklichung von Gewaltmaßnahmen, von der sogenannten Diktatur des Proletariates, erhoffen. Jede Diktatur schließt ja den Begriff der freien Entwicklung aus.

Ich finde in einem Aufsatz, welchen ich im Jahre 1892 als Münchener Student über „die Rechte und Pflichten des Staates" niederschrieb, folgende Be- merkung: „Glauben die europäischen Regierungen, daß das Volk immer sein Leben, seine Zeit und seine Arbeit Interessen opfern wird, welche ihm völlig fremd sind:"* Es bedarf nur einer geschickten Organisation, um die verschiedenen Bewegungen der Unzufriedenheit in ihrer vereinigten Kraft zu gebrauchen. Was wird dann geschehen, wenn der Gemeine sich gegen seinen Vor- gesetzten, gegen den die besseren Klassen vertretenden Offizier empört? Das Volk wird sich wieder der Macht bemächtigen, aber, zivilisierter und wütender als früher, wird es auch besser verstehen, seinen Willen mit Feuer und Schwert durchzusetzen. Ein sozialer Krieg vnrd die einzige Lösung sein. Ein Krieg zwischen jedem, der etwas hat, und jedem, der nichts hat. Dann werden all die heutigen Institutionen gefährdet, all die heutigen gebildeten Klassen der Gefahr ausgesetzt, ihre Existenz zu verlieren."

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Diese Zeiten sind nun eingetreten, und die miß- brauchte arme T^Ienschheit sucht in verschiedenen Ländern im Kommunismus Zuflucht. Aber man ver- gesse nie die Mahnung: ,,Wer den Engel schaffen will, macht das Tier.*'

Ideelle Kommunisten entgegnen, daß jeder Fort- schritt in der Gewalt geboren wurde, und vervveisen auf die französische Revolution. Man erinnert an die Heere der halbverhungerten und halbbekleideten Soldaten der ersten Republik, die sich dennoch in heldenhafter Weise schlugen und die Heimat von den Eindringlingen säuberten. Die ungarischen Bolschewisten sind aber jedenfalls keine Sansculotten !

Die heutigen Bolschewisten, seien sie idealistisch veranlagte Kommunisten oder Terroristen, haben die Menschheit nicht vorwärts gebracht. Ich gehe nicht so weit, wie eine ungarische Zeitung, die unlängst be- hauptete, daß der Bolschewismus für Ungarn ein größeres Unglück als die Niederlage von Mohacs ge- wesen ist, aber es sind ihre Gebrechen klar. Das größte aller Gebrechen dieses Systems indessen, wie bisher an- gewendet, ist, daß die darauf notgedrungen folgende Reaktion der Entwicklung der liberalen Ideen schadet. Auf diese Weise werden in manchem Lande die an der Weltkatastrophe wirklich Schuldigen ihrem verdienten Geschicke einfach entgehen. Dies ist aber alles kein dem Kommunismus inhärenter Fehler. Seine Aus- schreitungen sind in der menschlichen Schlechtigkeit und in den Umständen begründet. Ideell gedacht, könnte der Kommunismus eine höhere Theorie sein ; ideell ausgeführt, hätte er vielleicht L'^^ngarn retten können.

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Kapitel XIV. Der Sündenbock des Weltkrieges.

„Beata Ungheria se nou so lascia piu malmenare". Dante. II Paradiso. Canto XIX.

M^hr als irgendeine andere Macht, sogar mehr als die Türkei, ist Ungarn für die Sünde des Weltkrieges bestraft worden. Was aus diesem alten europäischen Staate geworden, übertrifft alles, was die ärgsten Pessi- misten erwarten konnten.

Die Mächtigen der Welt haben diesem Lande eine Sühne auferlegt, die in keinem Verhältnis zu seiner Sünde steht. Es soll ein großer Teil der magyarischen Rasse dem fremden Joche verfallen.

Ein solches Urteil kann nur die Quelle neuer Un- ruhen sein, denn die Magyaren .werden ihre Zerstücke- lung nicht ruhig hinnehmen. Ungarn war schon einmal zerstückelt und hat sich dennoch wiedergefunden und erholt. Und das Tragische ist, daß die einzige ver- nünftige Lösung, nämlich eine ungarische Föderation, den Interessen aller Einwohner des ehemaligen König- reichs am besten entsprochen hätte.

Es gibt neben vielen anderen Motiven, die von unseren Gegnern als Rechtfertigung der Ungarn tref- fenden Härte angeführt werden, auch eine Begründung gewissermaßen psychologischer Natur. Man behauptet, daß das gesamte ungarische Volk den Krieg gewollt, ja, dazu gehetzt habe, und daß das gesamte ungarische Volk mit der „magyarisierenden", den Krieg mitver-

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schuldenden Politik einverstanden gewesen und sich erst nach der Katastrophe den liberalen Tendenzen und der Entente zugewendet habe.

Diese Behauptung hoffe ich zwar bereits entkräftet und bewiesen zu haben, daß es ungarische Bürger, Politiker und Beamten gab, die von Anfang an einen wahren liberalen Kurs befürworteten; doch möchte ich hier noch einige Worte über die ,, Schuldfrage" sagen.

Heute wird über kein Thema so viel, als über die Frage der ,, Schuld am Kriege^' gesprochen. Erwägt man diese Frage sachlich und nicht leidenschaftlich, so muß man vor allem zum Schluß kommen, daß, da Kriege durch internationale Abkommen bisher nicht ab- geschafft wurden, von einer „internationalen juridischen Schuld" keine Rede sein kann. Andererseits aber, nach allen Äußerungen der öffentlichen Meinung der zivili- sierten Welt, nach allen friedlichen Bestrebungen der letzten Dezennien, nach den allgemein angenommenen, wenn auch platonischen Deklarationen der Haager Friedenskonferenzen, besteht wohl eine ,, moralische Schuld".

Die allgemeine Weltanschauung, die Kriege früher billigte, hat sielt geändert, und man ?icht deren Frevel jetzt ein. Es gibt nun ein , .universelles Gewissen". Dies ist eine wertvolle Errungenschaft der Kultur, deren die ganze Menschheit, Sieger und Besiegte zugleich, sich nur erfreuen kann.

Die Versailler Konferenz hat demnach in Durch- führung dieses Prinzips nicht nur die Schuld im all- gemeinen, sondern verschiedene Grade derselben fest- gestellt. Dies ist für Polen und Tschechien und bis zu einem gewissen Grade für Bulgarien berechtigt ge- wesen, da beträchtliche Elemente dieser Rassen gegen den Krieg waren.

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Aber warum sollten dem armen Ungarn denn auch nicht diese „mildernden Umstände" zuteil werden? Hat doch bei uns eine rein magyarische ansehnliche parla- mentarische Fraktion von Anfang an sich nicht nur gegen den Krieg erklärt, sondern sogar ihr möglichstes dagegen getan, und bewies nicht die Tatsache, daß die Katastrophe diese Partei gewissermaßen automatisch zur Macht brachte, den Ernst ihrer Überzeugungen?

Soviel für das Volk. Die bevorstehenden Zeilen beweisen zur Genüge die Gesinnung der zwei Herrscher, und namentlich des unglücklichen Königs Karl.

Sollte aber die Tatsache, daß ein beträchtlicher, rein magyarischer Teil des ungarischen Volkes, und daß seine Könige gegen den Krieg waren, im Areopag der Nationen für nichts gelten? Sollen wir deshalb bestraft werden, weil die Ungarn in traditioneller Treue nicht so weit wie die Tschechen und Polen gingen und keine ungarische Legion auf selten der Entente kämpfte?

Was nun die Nationalitätenfrage anbelangt, so möchte ich noch einige Betrachtungen anstellen.

Lord Cromer, dem höchste staatsmännische Be- gabung nicht abgesprochen werden kann, sagte mir ein- mal, nachdern^er Äg}'pten etwa 20 Jahre schon ver- waltet hatte und in diesem Lande die schönste Ordnung herrschte, er scheue sich immer noch, die gewiß in mancher Hinsicht wünschenswerte Abschaffung der Kapitulationen in Angriff zu nehmen, denn nichts sei wichtiger in der Entwicklung eines Landes, als daß diese langsam vor sich gehe und die Wurzeln der Vergangen- heit nie zerrissen werden. Auf dieser historischen Wahrheit beruht die ganze Größe Frankreichs, des bri- tischen Reiches und sogar der amerikanischen Union, denn, um in der Zukunft zu gedeihen, müssen die Staaten in der Vergangenheit ihre \\\irzeln haben. Es

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genügt beileibe nicht, daß sie an Konferenztischen ent- stehen !

Prüfen wir nun die Geschichte der Ungarn be- wohnenden Rassen von diesem Gesichtspunkte.

Die Mag}'aren erschienen im Donautale Ende des 9. Jahrhunderts und eroberten das Land. Sie fanden dort Deutsche, Slowaken, Nachkömmlinge der Römer, der Hunnen und der Awaren sowie, der Sage nach, Bul- garen und noch verschiedene andere Elemente. Gerade- so fanden die Normannen im Jahre 1066 in England Kelten, Angeln, Sachsen, Dänen und auch Nachkömm- linge der Römer. Beide Rassen, Normannen und Mag^-aren, w^aren den übrigen offenbar physisch über- legen; kulturell war dies bei den Magyaren gar nicht, bei den Normannen nur in gewissen Beziehungen der Fall. Daher nahmen beide Erobererrassen wie es ein bekannter Prozeß immer in solchen Fällen will eine große Anzahl von Wörtern von den unterworfenen Rassen auf, und zwar die Normannen von den Kelten, und die Anglosachsen und Magyaren von den Deutschen und Slawen. Während aber die Einwohner Englands durch Blutmischung heute nur ein ethnographisches Ganzes bilden, ist dies in Ungarn nur in gewissen Schichten geschehen. Die Völker haben ihre Eigenart bewahrt.

Nach einem Jahrhundert hatten die Magyaren im ganzen innerhalb der der heutigen Gi^enzen des eigent- lichen Ungarns, Karpathen, Drau und Donau gelegenen Gebiete einen genügend starken Staat gegründet, so daß der Papst Sylvester ihn im Jahre 1000 für würdig hielt, denselben zu einem Königreich zu erheben. Die christliche Religion und später die lateinische Sprache wurden eingeführt. So ward Ungarn gewissermaßen ein Reich lateinischer Kultur. Hundert Jahre später

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wurde das kroatische Königreich mit dem ungarischen vereinigt.

Dieses Reich blühte dann als einer der stärksten und homogensten Staaten Europas einhalbtausend Jahre lang, bis es im Jahre 1526 infolge der türkischen Übermacht in Stücke fiel. Der größte Teil wurde türkisch, ein kleiner Streifen im Norden verfiel dem Hause Österreich, und das Fürstentum Siebenbürgen lebte weiter als einziger Träger des ungarischen Ge- dankens.

Nach 150 jähriger Trennung wurden die Teile unter der Habsburger Krone wieder vereinigt, und Ungarn lebte dann, mehr oder weniger unabhängig, eigentlich als eine oder mehrere österreichische Provinzen mit Ausnahme der kurzen Unabhängigkeit von 1848 bis 1849 weiter, bis es im Jahre 1867 unter dem Dua- lismus seine alten Grenzen und im wesentlichen seine alte Freiheit wiedergewann.

In der ersten Hälfte seines tausendjährigen Daseins hat sich das Königreich um die Kirche und Zivilisation manche Verdienste erworben ; es hatte an den Kreuz- zügen regen Anteil genommen. Die Weisheit seiner Könige war bekannt; ein für diese Zeiten sehr liberaler Geist beseelte sie. Der vom Papst zum apostolischen Könige erhobene und später kanonisierte erste christ- liche Monarch, St. Stefan, hatte das Prinzip auf- gestellt: ,,Unius linguae unius que moris regnum debile et imbecille est", und im finstersten ^Mittelalter, als die Hexenprozesse überall an der Tagesordnung waren, hatte im 11. Jahrhundert ein anderer weiser Herrscher, König Koloman, befohlen: ,,De strigis vero, quae non sunt, nulla quoestio fiat." Sieben Jahre nach Unter- zeichnung der Magna Charta in England hatte Ungarn

im Jahre 1222 seine ursprüngliche Verfassung, die ..Goldene Bulle", geschaffen.

Wenn es dann in der zweiten Hälfte seiner tausend- jährigen Existenz nicht mehr mit den anderen großen Kulturländern Schritt hielt, so darf nicht vergessen werden, daß Ungarn von 1526 bis 1867 mit kurzen Unterbrechungen der Fremdherrschaft, zuerst der Osmanlis, sodann der Österreicher unterstellt war, was seine Entwicklung verhinderte.

Seit 1867 konnte es sich endlich wieder frei ent- wickeln, und wenn die anderen Mächte es natürlich längst überholt hatten, so kann trotz der fehlerhaften Nationalitätenpolitik dieser letzten 50 Jahre, welche, wie gesehen, eine falsche äußere Politik mit sich brachte von Ungarns ärgsten Feinden nicht in Ab- rede gestellt werden, daß es auf dem Wege war, sich in jeder Beziehung gedeihlich zu entwickeln, als die Katastrophe das unglückliche Land traf.

Was nun die anderen, das heutige ungarische Ge- biet bewohnenden Rassen anbelangt, so sind, wie bereits bemerkt, die Slowaken schon seit der Eroberung dort a4isässig. Sie bildeten zwar damals einen Teil eines großmährischen Reiches, waren aber niemals mit den Böhmen (Tschechen) identisch. Das Königreich Böhmen, dessen glorreiche Geschichte als selbständiger Staat bis zum Jahre 1620 reicht, wo es Österreich unter- lag, war im Laufe des Mittelalters mit dem Nachbar- königreiche Ungarn in ständigen Beziehungen. Man lebte einmal im Frieden und einmal im Kriege, zuweilen wurden die beiden Länder unter einer Krone vereinigt. Die Geschichte kennt aber keinen ein- zigen Fall, daß der h'm ische Herr- scher aus ethnologischen Gründen An- spruch auf die s I o w a k i s c h e n T e i 1 e U 11 -

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garns erhoben hätte! Übrigens führt auch der bekannte tschechische Gelehrte, Professor Miklosich, in seinem als klassisch anerkannten „Etymologischen Wörterbuch der slawischen Sprache" Slowakisch als eine besondere Sprache auf.

Was die Ruthenen anbelangt, so sind vielleicht ein- zelne Stämme derselben schon bei der Landeseroberung diesseits der Karpathen ansässig gewesen. Sie waren aber jedenfalls wenig zahlreich.

Mit den Rumänen schneiden wir nun eine sehr um- strittene Frage an. Nach der ungarischen wissenschaft- lichen Version waren zur Zeit der Ankunft der Magya- ren noch keine im Lande ; nach der rumänischen waren sie nicht nur da, sondern spielten dort als Nachkömm- linge der Römer und Dakier eine gewisse kulturelle Rolle, welcher dann die Einwanderung der barbarischen Magyaren ein Ende bereitete. Die historische Konti- nuität sei daher seit der Römerzeit bewahrt worden.

Tatsächlich waren damals jene mit anderen Elementen gemischten Nachkömmlinge der Römer, die sich „Vlachen" nannten, in diesem Teile Europas be- reits vorhanden; denn im dreizehnten Jahrhundert ent- steht nach Zerstörung des Rumänischen Reiches auf dessen Boden die Walachei aber dies ist auch das erste geschichtliche Auftreten dieser Rasse als selb- ständiges Element. Ob also zur Zeit der Ankunft der Magyaren es auch diesseits der Karpathen Vlachen gab, erscheint mir in Anbetracht der so spärlichen, unge- nauen und divergierenden geschichtlichen Quellen in keiwer Richtung erwiesen. Ich glaube aber, daß diese Frage auch nur ein rein geschichtliches Interesse haben kann. Denn, eines ist bestimmt, die magyarische Sprache hat, wie erwähnt, Hunderte von slawischen und deutschen Worten, die für das zivilisierte und seßhafte

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Leben nötig sind, aufgenommen; dagegen keinen ein-, zigen rumänischen Ausdruck (im Gegenteil, das Rumä- nische hat zahlreiche ungarische Worte übernommen). Folglich waren, als die jNIagyaren ihre Heimat er- oberten, entweder keine Vlachen (Rumänen) da, oder sie waren kulturell so unentwickelt, daß sie nicht den geringsten Einfiu-ß auf die Ungarn ausüben konnten.

Meist kannten die ungarischen Chroniker die Vlachen erst viel später. Ihre Geschichte mit Siebenbürgen zu identifizieren, ist ja einer der unglaublichsten geschicht- lichen Irrtümer. Dieses Land, das angeblich noch von Nachkömmlingen der Hunnen bewohnt war, wurde gleichzeitig mit der Eroberung ganz Ungarns von einem der magyarischen Herzöge in Besitz ge- nommen. Später erhielt es zuweilen eine besondere Verwaltung, aber immer eine ungarische.

Ein unabhängiges Fürstentum wurde es erst nach der Schlacht bei Mohacs im Jahre 1526, wo die osma- nische Herrschaft in Ungarn definitiv eingeführt wurde, und sein Entstehungsgrund war gerade, einen Teil des ehemaligen Ungarn, unabhängig vom Sultan und Kaiser, zugleich zu sichern. Die ganze Geschichte dieses Fürstentums und seiner Beziehungen zu Wien und Konstantinopel ist ja nichts anderes als ein langer Kampf, um das ungarische Wesen am Leben zu er- halten. Der Kampf währte etwa anderthalb Jahrhun- derte, und je nach der Wendung des Kriegsglücks um- faßte das Fürstentum auch angrenzende Komitate Un- garns. Es dehnte sich wie bereits erwähnt viel- fach auf das jetzt \on den Rumänen auf ethnographischer Grundlage besetzte Gebiet aus.

Hiernach wird es wohl nicht nötig sein, zu be-

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weisen, daß dieses Gebiet damals magyarisch war. Später aber wuchs auch infolge von Einwanderung die vlachische Bevölkerung dieses Teiles Ungarns ver- hältnismäisig viel mehr als die Magyaren, und so finden wir sie in gewissen Teilen bald in der Mehrzahl.

Die Serben wanderten meist in den letzten Jahr- hunderten in Südungarn ein, als dieser Teil von den Türken schon zurückerobert war, um dort vor der Herrschaft der Osinanlis eine Zuflucht zu suchen. Teil- weise wurden sie auch direkt dort als Kolonisten ver- wendet.

Was endlich die ungarländischen Deutschen anbe- langt, so waren sie teilweise zur Zeit der Ankunft der jNIagy-aren schon in Ungarn ansässig, teilweise wurden sie wie die Siebenbürger Sachsen, später als Ansiedler dorthin gerufen.

Ich weiß sehr gut, daJß die Geschichte territoriale Berechtigungen nicht verleiht, und vrenn ich obiges angeführt habe, so geschah es nicht, um zu bestreiten, daß die Zahlen haben sich vielfach im Laufe der Jahrhunderte zu unseren Ungunsten verändert heute jede Rasse prinzipiell einen Anspruch auf Gebiete er- heben kann, welche sie kompakt bewohnt.

Dies vor Augen haltend, werden wir schon jetzt das rein slawische Gebiet Kroatiens und Slawoniens ausscheiden.

Was das übrige Gebiet, das eigentliche Ungarn, anbelangt, so behaupte ich aber, daß, wenn es i n seiner jetzigen Zerstückelung bleibt, dies zum Unheil aller seiner Einwohner, IM a g y a r e n und X i c h t m a g y a r e n. z u g 1 e i c h geschehen wird.

Es wäre dies eine gekünstelte Gewalttat und über- dies in zivilisatorischer Hinsicht ein Rückschritt.

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In der Tat ist es ja nicht ein bloiser Zufall gewesen, da£ diese Rassen tausend Jahre in historischer und kul- tureller Gemeinsamkeit verbracht haben. Die Vorzüge der geographischen Grenzen zwischen den Karpathen und der Drau sind augenfällig; aber auch die innere geographische Struktur ist geradezu für ein gemein- sames Leben prädestiniert. Alle Flüsse laufen zu- sammen in der die mittlere Ebene durchwandernden Donau. Diese Ebene liefert Getreide und Vieh; zwei Gebirgsplateaus im Nordwesten und im Osten sind reich an Kohle, Eisen, Holz, Erze, Petroleum und Wasserkräften, Das Land ist also bestimmt, sich öko- nomisch zu ergänzen und zu genügen, wenn die Teile desselben zusammenhalten.

Nehmen wir nun die heutige Bevölkerung, so sehen wir, daß, mit Ausnahme der Magyaren in gewissen Tei- len der Ebene, keine einzige Rasse ein ansehnliches Territorium kompakt bewohnt. Die Verworrenheit ist im Gegenteil in dieser Hinsicht groß. Die Bevölkerung beziffert sich in großen Zügen auf etwa i8 Millionen. Hiervon sind, in runden Summen, Magyaren lo, Ru- mänen 3, Slowaken 2, Deutsche 2, Serben und Ru- thenen jetzt etwa eine halbe Milhon stark. Ich sehe davon ab, daß der Grundbesitz sich zum großen Teil in ungarischen Händen befindet. Die Magyaren bilden yy Prozent der Einwohner aller Städte, und sie und die Deutschen zusammen die Majorität derselben, selbst wenn man die in nichtmagyarischen Gegenden befind- lichen dazu rechnet. Die Städte bilden daher den Mittelpunkt der verschiedenen Rassen. Ein Drittel der Rumänen und dasselbe Verhältnis der Slowaken bilden Minoritäten. Deutsche und ungarische Sprachinseln, zuweilen sehr bedeutende, sind in Fülle vorhanden, und das kompakte Land der ungarischen Szekler (angeb-

lieh Nachkömmlinge der Hunnen) reicht bis zur Grenze des rumänischen Königreichs. Die Einteilung nach Religionen zeigt gleichfalls die größte Verworrenheit.

Unsere Besieger wollen die Frage folgendermaßen lösen : An Rumänien soll ein Gebiet fallen, welches 6 800 000 Einwohner zählt ; hiervon sind etwa 3 000 000 Rumänen und die übrigen zum größten Teil Magyaren (2 400 000) und dann Sachsen usw. Die Tschechoslowakei soll eine Bevölkerung von 3 000 000 Seelen erhalten, wovon keine 2 000 000 Slowaken sind, und die übrigen aus Magyaren, Deutschen und Ru- thenen besteht.

Weitere Zahlen anzuführen, hieße die Geduld des Lesers auf eine allzu starke Probe stellen.

Mehr als ein Drittel der magyarischen Rasse soll der Fremdherrschaft verfallen. Wird es den Nicht- magyaren aber zugute kommen?

Ein Groß-Rumänien wird ohne geschichtliche Grundlage, ohne geographische Grenzen und ohne öko- nomische Interessengemeinschaftlichkeit geschaffen werden. Wird dies den Siebenbürger Rumänen, die nun von der magyarischen Ebene abgesperrt sein wer- den, von Nutzen sein?

Noch krasser sieht es mit der Tschechoslowakei aus. Es wird auch dort ein Reich ohne historische Grundlage und geographische Grenzen konstruiert. Wirtschaftliche Interessengemeinsamkeit ist da nirgend zu finden. Aber hier kommt noch hinzu, daß die große Majorität des slowakischen Volkes, das den Tschechen geistig ganz fernsteht, nicht daran denkt, sich ,,tschechi- sieren" zu lassen. Man fragt sich daher, wie das Par- lament zu Prag, dessen deutsch-ungarische, wahrschein- lich ruthenische und vielleicht sogar slowakische Oppo- sition fast so zahlreich wie die Regierungspartei sein

24 V. S z i 1 a s s y , Der Untergang der Donau-Monarchie. "^wO

dürfte, dieses Land mit rein ungarischen und deutschen Städten, wie Preßburg und Karlsbad, verwalten wird.

Zu spät dürften die böhmischen Machthaber zur Einsicht gelangen, daß solche Annexionen heutzutage mehr Schwäche als Stärke bedeuten, und daß sie alle Nachteile des alten Ungarns, ohne dessen Traditionen und historische und geographische und wirtschaftliche Vorzüge, in ihr hybrides Staatswesen verpflanzt haben.

•Es entbehrt übrigens nicht einer gewissen Pikan- terie, wie der tschechoslowakische Staat seine An- sprüche begründet. Deutschböhmen und Deutsch- mähren soll es auf Grund des geschichtlichen, die Slowakei auf Grund des ethnographischen und die Donaugrenzen und Preßburg auf Grund des geographi- schen und ökonomischen Prinzips erhalten. Alles Prinzipien, die bei den Magyaren und Deutschöster- reichern negativ behandelt werden !

Was schließlich die Österreich zugesprochenen Westkomitate anbelangt, so bildeten sie niemals einen integrierenden Teil dieses Landes, und ihre Bevölke- rung, Deutsche und Ungarn zugleich, hält mit allen Fasern an dem ungarischen Staate fest.

Ferner hatte und hier behaupte ich, daß die heutige Karte Ungarns einen zivilisatorischen Rück- schritt bedeuten würde das alte Ungarn doch trotz aller seiner politischen Fehler, außer seinen bereits ge- schilderten natürlichen und materiellen Vorzügen auch ein gemeinsames, lebendiges Band, welches das Ganze zusammenhielt. Es war dies der aus allen Nationalitäten entsprungene Adel, in dessen Schoß jeder, der sich um die Heimat auszeichnete, Platz fand. Die gemeinsame Sprache war bis vor hundert Jahren lateinisch, und werui es in 'di'e^'ef Zeft wd 'der nu'tib'n&lfe Puls tferteitB

in jedem pochte nur natürlich war, diese Sprache rfurch jene der dominierenden Rasse zu er- setzen, so war die Art, wie es geschah, sowie die ganze weitere ungarische Politik den Nationalitäten gegen- über eminent unklug. Der ganze Adel, ungeachtet semes Ursprunges, war infolgedessen, wenn ich mich so ausdrücken kann, von „lateinisch-ungarisch" „magya- risch-ungarisch" geworden.

Damals und später haben Stimmen, wie jene Kos- suths, Szechenyis und Deaks gegen den falschen Kurs gewarnt, sie wurden aber nicht gehört. Der harte Schlag hat aber jeden Magyaren ernüchtert, und jetzt ist wohl jeder bereit, mit seinem andersrassigen Mit- bürger private und politische Pflichten und Rechte in gleicher Weise zu teilen.

Die in Paris gewünschte Lösung wäre deshalb ein Rückschritt, weil sie den minder kultivierten Elemen- ten die Oberhand über die Gebildeten geben würde. Die herrschende Klasse hat, wie früher erwähnt, einen falschen Kurs eingeschlagen; sie ist aber nur der Sprache nach ungarisch, der Rasse nach eine aus allen Volkselementen zusammengewürfelte Klasse. Die Tragik Ungarns geht aber, wie bereits angedeutet, noch weiter.

Niemand wird wohl den bekannten rumänischen Geschichtsschreiber Eugen Brote einer Parteilichkeit für das magyarische Volk bezichtigen. Nun, in seinem ausgezeichneten Werke wie schade, daß wir nicht mehr solche haben! , „Die rumänische Frage in Sie- benbürgen und Ungarn" betitelt, beweist er an der Hand einer dem Buche beigelegten ethnographischen und einer Wahlkreiskarte, daß, während die rein magya- rischen Gegenden meist oppositionelle (kossuthistische) AbgeorUnet^ w^fen, die RiegierujigsiyaTt^ ^ch meist

aus den in den Nationalitätenwahlkreisen gewählten uu- garischen Abgeordneten rekrutierte. Er schreibt dann (Seite yy und 78) : „Es würde demnach, wenn das magyarische Sprachgebiet, welches die Hauptmasse der Magyaren beherbergt, die Entscheidung allein in Händen hätte, die Landesverteidigung entschieden sich kossuthistisch gestalten. Es kann daher keinem Zweifel unterliegen, daJs die Nationa- litäten Wahlkreise die Hauptstütze der ungarischen Regierung sin d."

Nun, hätte Herr Brote ohne weiteres recht, so käme man nach logischer Deduktion zu dem Schluß, daß es die Nationalitätengegenden waren, die Ungarn den magyarisierenden und militaristisch-germanophilen Kurs aufzwängten ! Um dies zu tun, mußten sie aber entweder zum Selbstmorde neigen oder in einer Weise brutalisiert und bestochen werden, die selbst das alte ungarische Wahlregime nicht kannte. Die Wahrheit ist aber einfach darin zu finden, daß die kulturell minder begabten Nationalitäten sich einfach den aus ihrer Mitte entsprungenen magyarischen oder magyarisier- t e n adligen Grundbesitzern fügten.

All dies habe ich nicht ohne decoiisu ange- führt, um den entsetzlichen Wirrwarr vor Augen zu führen, der aus einer definitiven Festlegung des heutigen traurigen Status quo entstehen würde, welcher vor allem zwei vollständig lebensunfähige Staaten, Neu- ungarn und Tschechoslowakien, schaffen würde.

Nein, das Heil liegt allein in einer ungarischen Föderation, in einer orientalischen Schweiz, worin jede Rasse gleichberechtigt, ihre Eigenart bewahren und zu- gleich politische und wirtschaftliche Lebensmöglichkeit im geschichtlichen Rahmen des Landes erhalten würde. Ein enges Band müßte die Föderation vielleicht auch

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mit anderen Ländern, jedenfalls aber mit Jugoslawien, vereinigen, wodurch der eine Teil den Zugang zum Meere und der andere die Vorteile des getreidereichen Hinterlandes erhalten würde.

Da£ manch ein nichtmagyarischer Ungar im heuti- gen Siegestaumel mit dieser Lösung nicljt einverstanden ist, beweist nur, daß die Menschen zuweilen große Kin- der sind und ein heißersehntes Geschenk nicht mehr an- nehmen wollen, weil es „zu spät'' erfolgt, ""x^

Schützt nicht eine weise Vorsehung das historische Ungarn, so werden die Magyaren selbst dafür sotgen, daß ihre Zerstückelung nicht ewig sei. Ungarn war bereits geteilt und erholte sich. Polen erlitt durch 15(5 Jahre dasselbe Schicksal, doch weder russische Über- macht, gepaart mit Rassenverwandtheit, noch preu- ßische Überlegenheit konnte seine Seele brechen. Die Tschechen und Rumänen werden es nicht besser treffen. Im Gegenteil, gerade die magyarische Infusion in das politische Leben von Prag und Bukarest wird dessen Zersetzung bewirken.

Staaten, die bestimmt sind, das menschUche Böse zu beschränken, müssen auf Vernunft und Gerechtig- keit aufgebaut werden. Es ist weder vernünftig noch gerecht. L^ngarn zum Sündenbock des Krieges zu machen und ihm ein Drittel seiner Söhne, zwei Drittel seines Landes, seine Berge und Flüsse, sein Gold und seine Kohle und die alte Krönungsstadt seiner Könige zu nehmen.

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Nachwort.

Das vorliegende Buch ist, wie am Anfang bereits bemerkt, nicht in einheithcher Weise und auf einmal entstanden. Inzwischen sind zahlreiche ,, Erinnerungen" österreichisch -ungarischer und deutscher Staatsmänner inid Feldherren erschienen. Diese habe ich in ein- gehendster Weise studiert, um Argumente für unsere Sache und Entkräftungen, meiner Anklagen zu finden. Doch vergebens !

Ich bezwecke keine Polemik und habe nur Erlebtes geschildert. Thesen habe ich nicht aufgestellt, sie er- geben sich gewissermaßen von allein aus dem Erlebten. Meine neuerlichen Lektüren vermögen aber nicht, meine Anschauungen über das Weltdrama zu ändern.

Ich mag mich wohl in Detailfragen geirrt und Vor- gänge, die sich in den letzten Monaten vor dem Krieg abspielten in einer Zeit, wo ich weit von den euro- päischen Hauptstädten weilte, nicht ausführlich genug beschrieben haben. Dies ändert an der großen Tatsache nichts. Hat Herr Sazonow wirklich im Jahre 1914 den Weltkrieg gewünscht, um sich Konstantinopels zu be- mächtigen, was wegen der Westmächte nur bei einem solchen Anlasse möglich war? Ich weiß es nicht, und wie ich ihn früher kannte, ist es mir schwer, dies von ihm anzunehmen. Aber selbst, wenn dies der Fall wäre, so würde dies nur beweisen, daß er sich zur Kriegs- politik bekehren ließ, und diese siegte jedenfalls in Ru5-

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land, wie ich stets betont habe. Hat England wirkHch in den letzten Jahren vor dem Kriege sich deutschen Annäherungsversuchen gegenüber ablehnend verhalten? Man müjßte dann staunen, daJs es bei Kriegsausbruch nur einige Divisionen in die französische Front stellen konnte. Haben Grey und seine Kollegen innerlich aus Machtrücksichten und nicht Belgiens wegen den Krieg beschlossen? Das würde nichts an der Tatsache ändern, daß der Krieg von der englischen öffentlichen Meinung nur Belgiens wegen begonnen wurde, und daß wie immer die englischen Staatsmänner im Jahre 1914 in ihrem Innern gefühlt haben mögen das Land nur für eine Verteidigung Belgiens und vielleicht im Not- falle Frankreichs zu haben war. Die offizielle deutsche Behauptung, daß man damals nahe daran war, vermöge gebesserter Beziehungen sich mit England zu verstän- digen, würde dies nur beweisen. Hat die deutsche Re- gierung^ die serbische Note für befriedigend angesehen, so wäre es ihre Pflicht gewesen, uns das Kriegsaben- teuer zu verbieten.

Was wiegen übrigens Konsiderationen dieser Art gegen die großen Tatsachen? Tatsächlich haben wir und Deutschland im Jahre 1907 die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit im Haag abgelehnt, und sieben Jahre später haben wir den Krieg an Serbien, und Deutschland laut der ,,Kriegsgefahrzustandstheorie" mit seiner eigenartigen Mobilmachung gegen Rußland den Krieg erklärt und damit den Weltbrand entfesselt. Freilich ist die Schuld der russischen Machthaber, die in Kenntnis dieser Theorie die Mobilmachung gegen den Befehl des Zaren aufrecht erhielten, kaum eine ee- ringere.

Zwischen 1907 und 19 14 ist die Weltatmosphäre schwerer und schwüler geworden, und endlich haben

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alle Großmächte die Zähne gezeigt. Deutschland hat aber zuerst gebissen. Höchstens könnte man demi alten militaristischen Deutschland den mildernden Umstand zuerkennen, daß es 40 Jahre lang, trotz der schwachen Zickzackpolitik der letzten Jahrzehnte, zur Erhaltung des Friedens wesentlich beigetragen hat.

Das vorkriegerische Europa lebte in dem Wahn der Rüstungen und der Prestigepolitik. Das System war schlecht und gefährlich. Man glaubte aber darin das beste Präventivmittel gegen den Weltkrieg zu besitzen. Hieran waren alle Großmächte platonisch schuld. Drei Mächte trieben diesen Wahn aber aufs höchste und ließen sich von ihren Militärs überrumpeln. Es waren dies die drei ehemaligen Kaisermächte. Eine Groß- macht hatte dann den Mut, aus falsch verstandener mili- tärischer Opportunität, durch den ersten Schuß „de declencher le jeu des alliances". Was nachher dazu kam, ist für die Frage der Schuld an dem Ausbruch nicht mehr van Belang.

Wer an diesen Tatsachen noch zweifelt, braucht nur der Gefühle zu gedenken, die der Kriegsausbruch in den europäischen Hauptstädten auslöste. Heller Jubel in Berlin, Wien und Petrograd (wenigstens in nationalisti- schen russischen Kreisen) ; Wut, gepaart mit sehr ge- mischten Empfindungen, in London ; Entrüstung in Paris. Dagegen nützen keine Berufungen auf den eng- lischen und französischen Imperialismus, daß diese Mächte vielleicht den Krieg entfesselt hätten. Ja viel- leicht, aber sie haben es nicht getan.

Man wird sich daher nicht wundern, wenn ich trotz aller redlichen Versuche, unparteiisch zu urteilen, das alte Regime bei uns und in Deutschland nicht gerade zart behandelt habe. Ich bitte den Leser, hieraus auf keine Antipathien zu schließen, wenn ich meine Ver-

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bitterung gegen die militaristischen Elemente Deutsch- lands und Österreich-Ungarns und die chauvinistischen Elemente Ungarns nicht immer verhehlen konnte. Ich habe zu sehr vorausgefühlt, wohin Militarismus und Chauvinismus uns treiben werden, um es nicht nachträg- lich zu fühlen. Ich verkenne weder die tüchtigen Eigen- schaften der deutschen Rasse, die sie nach wie vor zu einer großen Zukunft prädestinieren und die nicht weni- ger im Unglück als im Glück zutage kommen, noch in bescheidenerem Maße die Tüchtigkeit und staatserhal- tenden Fähigkeiten des ungarischen Volkes und des ungarischen Adels. Ist doch die ganze ruhmgekrönte magyarische Geschichte die Geschichte des letzteren.

Überhebung ist keine tödliche Krankheit, und hinter Gewaltsamkeit steckt meistens Stärke. Starke und männliche Rassen sind Deutsche und Ungarn. Be- freit von dem ihnen aufgedrückten Wahn, werden sie endlich beide die Lehren der Geschichte lernen, wie schwer auch der Preis war. Deutschland arbeitet be- reits energisch an seinem Wiederaufbau.

Für Ungarn war die Lehre noch tragischer. Es mußte ganz zusammenfallen, damit die führende Rasse die Unhaltbarkeit ihres 50 jährigen Kurses einsehe. Aber Nationen können wiedererstehen. Ungarn wird dies auch tun. Wie einer unserer größten Dichter ge- sungen :

Es lebt der Ungar noch, es steht die Ofener Burg. Es sei die Vergangenheit nunmehr nur Lehre.

Ist es zu viel, zu hoffen, daß die liberalen West- mächte uns darin helfen werden? Manches spricht schon dafür, daß sie, schlecht informiert, mit Ungarns Fein- den Vereinbarungen eingingen und dann auch ihre Unterschrift treu einlösen zu müssen glaubten daß sie

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aber nun die faktischen Verhälfnisse kennen und daß ihr Herz nicht dabei war.

Nun sind sie ihren Verpflichtungen nachgekommen. Diese sind aber nicht ewiger Natur. An uns ist es jetzt, ihnen durch unser Verhalten zu beweisen, daß der Neu- aufbau einer ungarischen Föderation ein Interesse der Zivilisation ist, sowie durch ein solches Verhalten unse- ren ehemaligen Mitbürgern zu zeigen, daß, wie das alte Sprichwort lautet :

Extra Hungariam non est vita, Aut si est, non est ita.

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1. Anhang. Das erste Memoire an den Kaiser.

Konstantinopel, 9. November 191 7.

Der zukünftige Bürgerkrieg in Öster- reich-Ungarn und wie man ihn ver- hindern kann.

Einleitung.

Ich habe im Februar-März 1909 aus Tokio gemeldet, da^ es zu einer Entente zwischen Rußland und Japan kommen würde.

Ich habe im Frühjahr 1912 in einem langen Me- moire aus Petrograd berichtet, daB wir mit Deutschland zusammen Rußland ohne Zweifel militärisch überlegen sind, daß aber, wenn wir Rußland besiegen, der Zaris- mus abgeschafft werden würde, was den Bürgerkrieg in Österreich-Ungarn zur Folge haben würde.

Ich habe im Sommer 19 12 in Wien, den Zusammen- bruch der Türkei voraussehend, in einem Memoire über den Dreibund gegen die Erneuerung desselben ohne Wahrung unserer besonderen Interessen in Albanien ge- warnt und bemerkt, daß in einem Kriegsfalle eher noch England mit Frankreich und Rußland gehen werde, als Italien mit Österreich-Ungarn.

Ich habe 1 912-13 während des Balkankrieges und nach demselben in Wien in unzähligen Memoires und Konferenzen den Standpunkt vertreten, daß, wenn wir

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Serbien angreifen. Rußland durch seine öffentliche Mei- nung gezwungen sein werde, diesem Lande mit den Waffen zu helfen.

Ich habe Anfang 19 14 aus Athen berichtet, daß, wenn der Weltkrieg gegenwärtig ausbricht, Rumänien den Ententelockungen nicht widerstehen und gegen uns sich schlagen werde.

Ich habe Anfang 191 5 in einem Privatbrief an den Grafen Burian aus Athen gemeldet, daß die deutschen scharfen Maßregeln gegen England (U-Boot-Krieg und Luftschiffangriffe) dort die Einführung der allgemeinen ^^'ehrpflicht zur Folge haben werden.

Es liegt mir fern, durch obiges meine eigenen Ver- dienste hervorheben zu wollen. Weiß ich doch, daß meine Stimme nicht von Gewicht ist.

Aber es gibt eine objektive Seite der Frage. Alle meine obigen Voraussetzungen sind mit Ausnahme einer einzigen eingetroffen betreffend den Bürgerkrieg. Es wäre zu schön, wenn ich mich eben in diesem Punkte geirrt haben sollte.

Es sind aber leider bereits Zeichen vorhanden, daß dies nicht der Fall sein wird. Ich befürchte im GegeuT teil, daß, sofern die dualistische Monarchie in Betracht kommt, ihre vollständige Zerteilung das Haupt-, wenn nicht das einzige Resultat des Weltkrieges sein könnte und ich halte es für meine Pflicht, Seine Majestät, meinen allergnädigsten angestammten Herrscher, auf die Mittel aufmerksam zu machen, welche diese Zerrüttung noch verhindern können.

Die Zustände im österreichischen Parlamente wei- sen bereits auf die Gefahr hin, und in Ungarn ist sie, wenn auch latent, nicht weniger vorhanden. Niemand mit Vernunft wird daran glauben, daß nach dieser Welt- erschütterung Majoritäten von Minoritäten lange gegen

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ihren Willen sich beherrschen lassen werden, es sei denn, daß, wie in Indien zum Beispiel, die Majoritäten absolut keine Waffen haben. Darüber ist alle Welt einig, daß die Sozialisten, durch die Demobilisierung überall ge- kräftigt, überall die Herren der Lage sein werden. Glaubt man denn, d a ß d i e n i c h t d e u t s c h e n u n d nichtmagyarischen Sozialisten sich mit allgemeinen sozialen Reformen be- gnügen und die Geltendmachung iher besonderen Rassen- und Spracheigen- Schäften \i i c h t d u r c h z w i n g en werden wollten? Dies um so mehr, als jede Gruppe der ver- schiedenen Slawen, Rumänen und Italiener, sich durch die jenseits der Grenze, lebenden unabhängigen Kon- nationalen unterstüt/it fülikn wird? Glaubt man wirk- lich, daß in Ungarn ein Parlament bestehen kann, in wel- chem — die offizielle Statistik anerkennend eigentlich nur die Hälfte der Bevölken^ng vertreten ist? So etwas könnten höchstens manche Juiigtürken glauben, welche mit ihrer Minderheit ,,turcisiereu" woH^n, oder die All- deutschen, welche noch allein in der ganzen Welt an einen niederschmetternden Sieg Deutschlands glauben. Und wenn in Ungarn eine große Partei keine Reformen geben will, weil man sie noch nicht leiderkschaftlich ver- langt; wenn in Siebenbürgen manche eine Annexion rumänischen Gebietes anstreben so kann man sich höchstens daran erinnern, daß quos Deus perdfcre vult, dementat prius.

Ungarn hat, seit es seine eigene Freiheit wieder erworben und sich anschickte, seine Fremdvölker zw magyarisieren, die Sympathien der Welt verloren. Wenn der ungarische Adel ruhig w^eiter regieren und eine Zeit- lang wenigstens magyarisieren wollte so mußte es nicht den Weltkrieg führen. ^

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Die Verhältnisse in Österreich und Ungarn sind verschieden, aber die Interessen der gegenwärtig domi- nierenden Deutschösterreicher und Magyaren inso- fern die ersten nicht nach Deutschland gravitieren sind dieselben; dieselben auch die Gefahren, welche sie seitens der anderen Rassen bedrohen und welchen sie da sie sich als kräftige Elemente fühlen nicht ohne Wehr unterliegen werden.

Wie kann der Bürgerkrieg verhindert werden?

Der drohende Bürgerkrieg kann aber noch verhin- dert werden, und zwar durch: a) eine mögh'chst rasche Beendigung des Weltkrieges, b) die Inaugurierung einer geeigneten auswärtigen Politik und c) die Adaptierung der inneren Institutionen an die Erfordernisse der Zeiten.

a) Durch eine rasche Beendigung des Weltkrieges.

Die Vorteile unserer gegenwärtigen militärischen Lage sind unbestreitbar. Da aber die Zukunft, der Reichtum an Mann und Gold für die Ententemächte spricht (und es hteße unsern Fehler mit England wieder- holen, wollte man Amerikas Energie unterschätzen), so kann man folgende Möglichkeiten für den Ausgang voraussetzen : I. geringer Sieg, II. Status quo, III. ge- ringe Niederlage und IV. vollständiges Debakel. Vom Standpunkt unserer Nationalitäten sind diese Eventuali- täten nicht von weitgehendem Unterschiede, denn die eine Eventualität, ein niederschmetternder Sieg der Mittelmächte, welcher allein die Herrschaft der Deut- schen und Magyaren auch im Innern sichern könnte, ist wohl ausgeschlossen. In allen anderen Fällen werden die Nati^D^aaüt^te^, niit n3;ehj cÄifer weni^ry ■cfd'&T iitfer-

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haupt ohne Einmischung der Entente der einzige praktische Unterschied das ihrige fordern.

Es ist nun klar, daß, je länger der Krieg dauert, desto größer die Verbitterung der eingerückten und nicht eingerückten Massen überall sein wird. Aber wäh- rend sich die Verbitterung in Deutschland (und in Bul- garien) nur im sozialistischen Sinn wird betätigen kön- nen, so wird sie bei uns (und in der Türkei) auf natio- nalem Boden auch ihre schönsten Blüten treiben. Hierin liegt zwischen den Interessen Deutschlands und Öster- reich-Ungarns im „Durchhalten" ein gewaltiger Unter- schied. Man begreift daher, daß mancher von Mensch- lichkeitsgefühlen befreite deutsche General sich im Innern denken mag, daß einerseits ein Sieg nicht aus- geschlossen, und andererseits, daß die schlimmste Niederlage zwar den Verlust Elsaß-Lothringens und die Einführung der Republik, aber immer den Gewinn ganz Deutsch-Österreichs bedeuten würde.

Wir haben also an der raschen Beendigung des Krieges ein ganz anderes Interesse als Deutschland, und sollten uns nicht scheuen, wieder an die Entente mit Friedensangeboten heranzutreten. Der gegenwärtige siegreiche Moment ist hierzu besonders geeignet. Die Worte der Milde haben seit jeher auf die Macht der Ge- walt Einfluß gehabt. Die gute Aufnahme der Budapester Rede in vielen Ententeorganen ist ein Beweis hierfür.

Freilich ist es klar, daß wir uns von Deutschland nicht ohne weiteres trennen dürfen, denn wenn unsere Gegner letzteres besiegen würden, würden sie auch uns ihren Willen diktieren. Aber andererseits kann dies nicht bedeuten, daß, weil eventuell Deutschland in seiner Verblendung seine eigene Existenz opfert, wir dasselbe tun um so mehr, als wir gesehen, «diiß tias Opfer eig'entlich gQ.nz a"uf unSfel^e'r S^ett'e wSre.

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Obiges ist eine vorläufige theoretische Bemerkung, da nicht angenommen werden kann, daß Deutschland sich weigern könnte, einen vernünftigen Verständi- gungsfrieden zu schließen. Jedenfalls müssen wir mit voller Aufrichtigkeit die Friedensabsicht kundgeben; ein Spielen mit dieser Frage aus inner- politischen Gründen und wegen einer momentan günsti- gen Kriegskarte wäre für die Monarchie, deren ganze Grundlage eine ethische ist, höchst bedenklich.

b) Durch eine entsprechende auswärtige

Politik.

Die von der Monarchie nach dem Kriege zu befol- gende auswärtige Politik wird vor allem gegen die Ge- fahr des Irredentismus gerichtet werden müssen.

Was den Norden anbelangt, so hieße es sich Illusionen hingeben, wenn man Rußland, weil es endlich seine ursprüngliche republikanische Form wieder- gefunden, als Gefahr nunmehr ausschalten wollte. Zuerst wird ein liberales Rußland, wahrscheinlich eine slawische Föderation, auf die Slawen der Monarchie eine Anziehungskraft ausüben, dessen der Zarismus un- fähig gewesen wäre. Und dann ist absolut kein Grund dafür vorhanden, daran zu zweifeln, daß Rußland ein mächtiges Staatengebilde sein werde. Schlagworte über die Staatenbildungsunfähigkeit der slawischen Rasse, die ein Auseinanderfallen des neuen Rußlands, auch weil es angeblich zu groß ist, prophezeien sind nicht ernst zu nehmen. Rußland galt der Menge vor dem Kriege mit Japan als eine Übermacht, und nachher als eine Null; jetzt vollzieht sich dasselbe Phänomen. Aber warum sollte es dauernd zusammenfallen und haupt- sächlich wohin ? Im Zeitalter des Telegraphen und der Eisenbahn ist ein Reich wie Rußland zu praktischen

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Zwecken kleiner als die Fürstentümer des Mittelalters. Lose Bande sind oft die stärksten, und wenn der chaotische Übergang vorbei sein wird, ist anzunehmen, daß sich auf russischem Gebiete eine slawische Föde- ration bilden wird mit ökonomischen Interessen, die weniger verschieden sind, als zum Beispiel diejenigen der verschiedenen Staaten der amerikanischen Union. Vielleicht tritt ein Teil aus dem Gebiete aus. dies aber wird meist nur vorübergehend sein, denn die geo- graphische Lage und der Zeitgeist sprechen für einen großen Staatenbund, und Russen, Kleinrussen und Polen, darin einzeln unabhängig, werden in diesem Zu- sammenschlüsse — wie Briten und Amerikaner die Quelle ihrer Kraft finden. Staaten gehen heute dauernd auseinander, nur wenn das sie zusammenhaltende Band verrottet ist und die auswärtigen Einflüsse es bewirken l An all dem würde der übrigens nicht wahrscheinliche Fall, daß ein Monarch an die Spitze der russischen Kon- föderation gesetzt werden sollte, nichts ändern, da er wohl nicht nur ein konstitutioneller, sondern ein reiner Schattenherrscher wäre.

Gleichfalls ist es verfehlt, damit zu rechnen, daß die neue russisch-slawische Föderation alle Expansions- bestrebungen aufgeben wird. Die Geschichte der letzten Jahre weist sehr imperialistische Demokratien auf. Man verzichtet auf Expansion bei der Gründung einer Repu- blik aus ideellen Gründen (Amerika, Frankreich), aber der harte Lebenskampf fordert bald wieder das seinige, und bis Kriege abgeschafft werden, erfolgt die Expan- sion meist in kriegerischer Weise. Daher -ist es noch durchweg unsicher, ob Rußland sich vom nahen Orient abwenden wird. Seine elementarsten Handelsinteressen werden jedenfalls eine günstige Lösung der Meerengen- fragen gebieten.

25 V. S z i 1 a s s y, Der Unlerjiuig der Donau-Momirchi«. 3^5

Mit alledem müssen wir rechnen. Letztere Frage schon beim Friedensschlüsse zu regeln, wäre daher im Interesse der allgemeinen Ruhe, und im übrigen, wenn wir bei dieser Gelegenheit Galizien und Polen abtreten und hierfür Albanien erhalten, haben wir nicht nur das Verhältnis der Slawen innerhalb der Monarchie günstig beeinflußt, sondern, was den Norden anbelangt, die Ge- fahr des Irredentismus auf die Tschechoslowakei und die wenig zahlreichen Kleinrussen beschränkt. Mehr läßt sich hier nicht erhoffen. Ganz Polen der Monarchie in Personalunion anzugliedern, würde uns immer vor zwei sichere Alternativen stellen: entweder wird der maßgebende Einfluß in der ganzen Monarchie slawisch, oder sie fällt auseinander, weil Ungarn, diesen Einfluß nicht anerkennend, die Gelegenheit zu einer Loslösung benutzen wird.

Auf dem Balkan muß unser Mot d'ordre unbedingt das Gleichgewicht sein. Die Monarchie muß unbedingt ein zu großes Bulgarien verhindern. Die vortürkische Geschichte lehrt schon, daß die großen ephemeren slawi- schen Reiche des Balkans einmal unter einem Serben-, ein andermal unter einem Bulgarenherrscher ständen. Der Krieg wird Serbien und Rumänien für längere Zeit schwächen, und ihre Ententeverbündeten werden auf diese Staaten auch wegen Rußland wenig Rücksicht nehmen, und eher Bulgarien von uns wegzulocken ver- suchen. Es wäre aber unsererseits ein wahrscheinlich nie wieder gutzumachender Fehler, wollten wir die Situation ausnützen, um Rumänien und Serbien zu demütigen und zu zerstückeln. Die Monarchie sollte im Gegenteil diesen Staaten verzeihen, ihnen wieder zu einer gewissen Macht verhelfen. Namentlich soll Ser- bien einen ersehnten Zugang zur Adria, entweder durch Montenegro oder Albanien erhalten. Es weiter vom

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Meere abzusperren, hieße eine natürliche Lösung ver- hindern, was die Quelle zukünftiger Mißstimmungen sein würde, und wenn wir in Albanien Fuß fassen, kann diese Lösung uns wohl unbedenklich sein. Zur Her- stellung des Balkangleichgewichtes werden übrigens der ' Monarchie auch die Türkei und Griechenland wertvolle Dienste leisten, die beide ein allzu großes Bulgarien nicht werden vertragen können.

Österreich-Ungarn braucht am Balkan Ruhe. Daher muß beim Friedensschluß eine Verteilung stattfinden, die nicht, wie im Jahre 19 12 und 191 3, eine Koalition gegen einen einzelnen Staat verursachte. Erhält Bul- garien ein zu großes Territorium, so dürfte es trachten, sich auch Konstantinopels zu bemächtigen. Die anderen Balkanstaaten, inklusive der Türkei, hätten dann ein klares Interesse, durch eine neuerliche Liga einen Buka- rester Frieden wieder zustande zu bringen. Bulgarien dürfte hingegen Anschluß an die Ententemächte suchen. Ein zu großes Bulgarien wäre also die Quelle endloser und nicht aufhörender kriegerischer Verwickelungen. Was Italien anbelangt, dessen irredentistische Tenden- zen bald wieder erwachen werden, so müssen wir zwar mit diesem Lande freundschaftliche nachbarliche Be- ziehungen — und ohne jeden Groll anstreben, aber immer dabei die größte Vorsicht obwalten lassen. Al- banien wird hier für uns ein wertvolles Unterpfand liefern.

Österreich-Ungarn hat aber ein ganz besonderes Interesse daran, daß zukünftige Kriege möglichst unmöglich gemacht werden. Als mit Slawen saturierte Macht kann sie eine Expansion, die ihr nur noch Slawen zuführen würde, nicht vernünftigerweise wünschen, sollen die Deutschösterreicher und Magyaren nicht voll- ständig in den Hintergrund gestellt werden. Albanien

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wäre noch die letzte nützliche .Vkquisition ; gegen Annexion von Teilen Rumäniens sprechen dieselben Be- denken wie gegen Erwerbung slawischen Gebietes.

Die Monarchie muß daher eminent einen dauernden Frieden auf Grund ihres Besitzstandes wünschen und sich in dieser Hinsicht an jene Mächte anlehnen, die m derselben Lage sind. Dies gilt vornehmlich von Groß- britannien. Hierin ist nicht wenig gesündigt worden, als Österreich-Ungarn 1907 im Haag die deutschen anti- pazifistischen Bestrebungen unterstützte. Es hätte aber eben zwischen dem expansiven Deutschland und dem pazifistischen England vermitteln sollen. Wir wollen nie aus dem Auge lassen, wir Deutschösterreicher und Ma- gyaren, die in dieser Zeit des Nationalitätenprinzips hi einem polyglotten Lande die führende Rolle beanspru- chen, daß für uns kein größeres Glück existieren könnte, als die Abschaffung zukünftiger Kriege. Die Annexion Bosniens war daher in ihren Wirkungen unsererseits ein höchst gefährliches Spiel mit dem Feuer, das nicht wenig dazu beitrug, die Atmosphäre zu schaffen, in welcher der Weltkrieg möglich war. Auch kann das dynastische Moment nicht mehr als Grund zur Anlehnung an irgend- eine bestimmte Macht angerufen werden. Nach dem Kriege wird die Welt überall demokratisch werden, und Dynastien werden sich nur durch Zuneigung oder Inter- esse der Völker halten.

Um zukünftige Kriege möglichst zu verhindern, muß man vor allem trachten, deren Grundursache abzu- schaffen. Zweifelsohne ist dies der Militarismus, das heißt die durch die Einführung der allgemeinen Wehr- pflicht in ihrer jetzigen Form verursachte Militari- sierung des Staates, und zwar nicht so sehr die Schaf- fung von, .Völkern in Waffen", sondern die mit derselben unzertrennbare Schaffung einer zahlreichen Kaste von

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Offizieren und wohl auch Unteroffizieren, deren Beruf der Krieg ist. Kein Wunder, daß dieser Organismus mit allen Mitteln danach strebt, seinen Beruf einmal aus- üben zu können. Bei den früheren ständigen Heeren handelte es sich um verhältnismäßig weniger Individuen, und die Kriegsführung war eine ganz andere. Das Heer konnte noch gelten als ein Mittel der Verteidigung, mit dem jetzigen System war es von vornherein klar, daJs, sobald die militärischen Elemente in den \- erschiede nen Staaten gegenüber den schw-ächeren Zr^ile'lementen die Oberhand gewinnen würden, sie ihr Spiel inszenieren und die ..Kanonen von selbst losgehen würden".

Diese müitärische Stimmung verschärfte sich überall in Europa seit dem Anfange des Jahrhunderts. Die meisten finanziellen Mittel der verschiedenen Länder wurden für Rüstungen verwendet. In diese Atmosphäre konnte der deutsch-englische Antagonismus prächtig gedeihen, die halbvergessene elsaß-lothringische Re- vanche wieder aufleben, die südslawische Frage und der russische Nationalismus Blüten ziehen. Die Aryiexion Bosniens und Tripolis belebte die Kriegsflamme, der Balkankrieg zeitigte überall eine Nerv'osität, die nun- mehr auf eine Gelegenheit zur Betätigung harrte. Das Serajewoer Attentat lieferte dieselbe. Niemand wird daran zw-eifeln. daß, wenn im Jahre 19 14 die Zivilmächte so stark wie die Militärs, ja überhaupt stärker gewesen wären, und sich eine Rechenschaft der Folgen gegeben hätten, sie dieses schauerliche Blutbad hätten verhin- dern können.

Eine Ersetzung der heutigen offensiven militärischen Institutionen durch defensive in der Art der schweize- rischen Miliz würde zweifelsohne diesem Militarismus,

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wenn nicht den Todesstoß geben, doch dessen Gefahr wesentlich vermindern. Die allgemeine Wehrpflicht

diesmal eine echte, nicht, wie bisher, eine allgemeine Wehrpflicht könnte im Prinzip beibehalten werden. Durch eine wesentliche Reduzierung des Ofifizierkorps

- - das ein Interesse an dem Kriege hat würden die aggressiven Gelüste von friedlichen Zivilbestrebungen in den Hintergrund gedrängt werden. Und die schweize- rische Armee gilt allgemein als eine ganz vorzügliche, und durch das .dortige Übungssystem begegnet man dort im Volke einem Interesse für militärische Sachen, das anderswo umsonst zu suchen ist.

Die nötige Ergänzung der Abschaffung des Mili- tarismus ist natürlich die Einführung der obligato- rischen Schiedsgerichtsbarkeit. Zwar wird es noch lange dauern, bis die internationale Polizei ins Leben tritt, die den Arbitrarbeschlüssen allein Geltung ver- schaffen könnte und dann hätten wir schon virtuell die goldene Zeit der Vereinigten Staaten der Welt er- reicht • , aber, wenn die Kriegsgelüste überhaupt ge- dämpft sind und gleichzeitig damit die öffentliche Mei- nung, das Gewissen der Welt erstarkt ist, so wird ein Staat aus inneren und äußeren Rücksichten es sich sehr überlegen, bevor er einen Raubzug gegen einen anderen führt.

Die Soldateska ist es aber nicht allein, die heut- zutage aus den Kriegen Nutzen zieht. Die Presse und die Finanziers verdienen vielfach ungeheure Summen aus diesen Blutbädern. Hierin sollte unbedingt ein Wandel geschaffen, die verbrecherisch - hetzerische Tätigkeit einer gewissen Presse sowie das Schachern mit dem Blute ihrer Mitmenschen den finanziellen Krei- sen unmöglich gemacht werden. In diesem Belange wäre die geheime Tätigkeit der Diplomatie auch ein-

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zuschränken. Allerdings beseitigen lieJäe sich dieselbe desto weniger, als selbst unter Menschen, wo die Ge- setzlichkeit — und nicht, wie bisher unter Nationen, der Betrug die Grundlage bildet, nur ein Naiver bei irgendeiner Verhandlung gleich mit offenen Karten spielt.

Kein Mensch, der bei Sinnen ist, glaubt heute, wo die tapfersten Elemente im Kriege zugrunde gehen und die nächste Generation von alten Männern und Krüppeln gezeugt werden wird^och an die verbreche- rische Theorie der „Verbesserung" einer Rasse durch einen ,, frischen und fröhlichen Krieg". Aber es wird auch niemand ernstlich glauben, daß die vom Kriege zu erwartenden politischen Vorteile die Nachteile, selbst für den Sieger, überwiegen. Der deutsche Kaufmann hätte mit Geduld die Welt in zehn Jahren mit fried- licher Penetration erobert, hätte er nicht in seineri anglosächsischen Kollegen den Soldaten erweckt!

Die Rüstungen ad absurdum, der Umfang, und die Technik der heutigen großen Kriege haben sie nicht nur zum Verbrechen gegen die Zivilisation, sondern auch zum empörendsten Widersinn, zur größten mensch- lichen Verrücktheit gemacht, und es ist zugleich em- pörend und widersinnig, wenn man beobachtet, daß manche kriegführenden Regierungen bezüglich der Fortsetzung der Weltschlächterei sich von rein ego- istischen inneren Motiven leiten lassen!

c) Durch die Adaptierung der inneren Institutionen an die Erfordernisse der

Zeiten.

Die innere Umwälzung, die die Zeit in Österreich- Ungarn fordert, ist eine Demokratisierung, um dem Sozialismus, und eine nationale Adaptierung, um den Ansprüchen der Fremdvölker begegnen zu können.

iQi

Was die Demokratisierung anbelangt, so vollzieht sich dieser Prozeß unaufhaltsam bereits überall.

Die Deutschösterreicher und Magyaren haben, wie gesagt, dieselben Interessen und Sorgen, sie müssen da- her unbedingt geschlossen zusammenbleiben ; nur so können sie hoffen, gegenüber den zahlreichen Fremd- völkern immer noch die führende Rolle zu spielen.

Daher müssen vor allem das historische Zugehörig- keitsgefühl, dessen Trägerin die Dynastie ist, gepflegt werden, sowie alle kulturellen und wirtschaftlichen Elemente und Interessen, die einerseits die An- gehörigen der gesamten Monarchie, und andererseits österreichische sowie ungarische Staatsangehörige unter sich verbinden.

Bei einer solchen weisen moralischen Zen- tralisation, gepaart mit der nötigen p o 1 i - t i s c h e n D e z e n t r a 1 i s a t i o n, kann die altehr- würdige i\Ionarchie immerhin erhoffen, die für sie kri- tische Periode der Herrschaft des Nationalitäten- prinzips zu überdauern, um nach einer klugen Vor- bereitung mit den neuen Energien ein Staatsleben ein- zurichten in einer Periode^ wo vielleicht wichtigere Grundlagen, wahrscheinlich ökonomischer Natur, dem Staatsleben unterstehen werden..

Obige allgemeine Betrachtungen gelten für beide Teile der Monarchie. Die innere Adaptierung, die poli- tische Dezentralisierung, wird aber in beiden eine ganz verschiedene sein.

I. In Österreich.

In Österreich liefern schon glücklicherweise die verschiedenen Kronländer meist den Rahmen zu dieser Evolution. Die Zentralregierung sollte sich darauf be- schränken, die vollständige Parität der Rassen und

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Sprachen innerhalb der Kronländer zu proklamieren und die Durchführung dieses Prinzips den Landtagen überlassen. Die Abgeordnetenkammer würde dann, wie in den Vereinigten Staaten, ein Gegengewicht zu den autonomen Organisationen bilden. Es fragt sich aber, ob nicht im Oberhause direkte Vertreter der Kronländer ihren Platz haben sollten, wie im amerika- nischen Senate.

Was die Durchführung dieser Parität anbelangt, so ist sie durchaus keine unlösbare Aufgabe. Speziell, was Böhmen anbelangt, haben wir ein ganz entsprechendes Beispiel in Kanada vor uns, wo bis 1867 immer Rei- bungen unter den 3 Millionen Engländern und 2 Millio- nen Franzosen, die gleich kultiviert, wenn auch ver- schiedentlich veranlagt, vielfach gemischt wohnend, fortwährend wegen der allzu großen Akzentuierung der englischen Herrschaft vorkamen. Die Verfassung von 1867 gab beiden Rassen die vollen gleichen Rechte, und jede Provinz, jeder Bezirk und jede Gemeinde bestimmt jetzt für sich das auf Grund der allgemeinen Parität in Anwendung zu kommende System. Seither sind in Kanada Rassenkonflikte unbekannt, und das Land ist eine der ruhigsten, blühendsten und treuesten eng- lischen Kolonien geworden.

Es ist auch nicht ersichtlich, warum nicht, wenn die verschiedenen Rassen es fordern, mit Einwilligung der Zentralregierung „Grenzberichtigungen" innerhalb Österreichs zustande kommen sollten. Wenn zum Beispiel rein deutsche Teile Böhmens sich von diesem Lande trennen und eine besondere Provinz bilden würden, wenn rein tschechische Teile Mährens sich an Böhmen anschließen, oder gar Südslawen der verschiedenen Kronländer sich zusammenschließen würden, so würde dies gewiß der allgemeinen Ruhe

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nur förderlich sein. Freilich v.ären solche Aspirationen nicht zu ermutigen, denn sie würden die Idee der Vereinigung' mit gleichrassigen ungarländischen Ge- bieten fordern was die Stellung des Ungartums schwächen würde , aber diese Aspirationen müssen in Betracht gezogen und nicht gewaltsam A^erhindert werden.

Was die italienische Bevölkerung Österreichs an- belangt, so dürfte eine wirtschaftlich intensivere Be- tätigung Triests und eine eventuelle Erhebung zur Handelshauptstadt wie Amsterdam, und New York ihr ihre \\'ichtigkeit im Zusammenhange mit der Mon- archie vor Augen führen sowie die Gemüter dauernd be- ruhigen. Die Triester müßten davon durchdrungen sein, daß ihre Stadt in der Monarchie eine allererste Rolle spielt, hingegen, daß ihr, wenn sie zu Italien kommt, eine ganz unbedeutende Rolle zukommen würde.

2. I n U n g a r n.

Ungarn hat eine besonders günstige geographische Lage, sowohl was die Landesgrenzen als die Situation des Magyarentums im Innern, als Kern des Staates, anbelangt. Freilich ist es wieder sehr ungünstig, daß dieser Kern eben nur ein Kern ist und auf allen Seiten bis an die Peripherie von Fremdvölkern umringt ist, die über die Grenze an gleichrassige Nationen an- schließen.

Mit dieser I-age ist aber zu rechnen, und seit man gewaltsam den neutralen lateinischen Boden unserer Ahnen abschaffte, müßte sich das übrigens mit den Fremdvölkern stark vermischte leitende magya- rische Element sagen, daß es nur eine Zeitfrage wäre, wenn diese Fremdvölker oder ..Nationalitäten", wie man

?>'JA

sie ohne \ielen Sinn gewöhnlich nennt, mit Hilfe ihrer Volksgenossen von auswärts die ungarische Hegemonie abschütteln werden, wenn sie es wollen. Nach der kurzen absolutistischen Periode kam eine ein halbes Jahrhundert lang währende Magyarisierung, doch heute mu-ß man gestehen, daß dieselbe vollständig fehl- geschlagen ist.

Momentan wird zwar der oberflächliche Beobachter vielleicht im Budapester Parlament ein Sinnbild für die Stärke dieser doppelgradigen Hegemonie einer Rasse, und innerhalb dieser Rasse einer Kaste, finden es ist aber ausgeschlossen, daß, wie bereits gesagt, nach dem Kriege nur die Volksklassen und nicht die Volks- rassen auch eine Autonomie fordern.

Es wird daher eine weise Politik zu erreichen trachten, daß die .. ungarländischen Fremdvölker eine Trennung nicht wollen oder möglichst spät wollen. Hierzu müssen sie sich aber bei uns wohlfühlen, und ihre Interessen müssen ihnen ein Beibehalten der Zu- gehörigkeit zum .Ungartum empfehlen.

Dieses Ziel soll man durch zweierlei Maßnahmen zu erreichen trachten, durch dilatorische und adaptive.

In die erste Kategorie fallen die schon bezüglich der Monarchie erwähnten Momente. Man muß die historische und kulturelle und namentlich die wirt- schaftliche Zugehörigkeit fördern. Die höhere Intelli- genz und die wirtschaftliche Überlegenheit der Magya- ren müssen erschöpfend ausgenützt Averden.

Der letzteren kommt eine ungeheure Bedeutung zu. Nicht durch gewaltsame Magyarisierung, sondern durch friedliche Penetration sollte das Magyarentum bei den Fremdvölkern Fuß zu fassen versuchen. Bisher geschah meist das Gegenteil, ich erinnere nur an den großen Bodenankauf durch die rumänischen Banken.

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Gleichfalls sollten die Kirchen und Schulen der Fremdvölker, diese eminenten Kulturinstitutionen, zwar vollständig frei gedeihen können, aber das Band der Zu- gehörigkeit zum Magyarentum sollte in denselben besser zur Geltung kommen.

Endlich müssen die intelligenten Fremdvölker- elemente viel mehr wie bisher zum Staatsleben heran- gezogen werden. Es war eine uralte Tradition, die- jenigen Elemente der Nationalitäten, die sich aus- zeichneten, in den ungarischen Adel aufzunehmen, und es ist sehr schade, daß hiermit gebrochen wurde; hier- durch ist dann bei den Fremdvölkern eine neue Intelli- genz entstanden, die nrangels einer anderen Betätigung sich der Agitation gegen die herrschende Rasse widmet.

Ganz besonders sollte aber jede Mißachtung der fremdartigen Rassen durch magyarische offizielle Organe nicht nur verhindert, sondern durch ansehn- liche Strafen unmöglich gemacht werden. Die so- genannten „Nationalitäten" genießen z^var bei uns eine volle Freiheit, diese wird aber meist durch allerlei Fälle von Mißachtung vollständig in den Hintergrund ge- rückt. Jeder ungarische Stuhlrichter, der einen Slo- waken oder Rumänen wegen seiner Rasse beschimpft, schadet der ungarischen Sache mehr, als die Einführung irgendeiner liberalen Reform wieder gutmachen kann.

Die adaptiven Maßnahmen werden durch den Wunsch diktiert, daß, wenn die Fremdvölker ihre spe- zielle Eigenart mehr zur Geltung bringen werden was unausbleiblich sein wird , sie nicht sofort auf eine ^starre Wand stoßen, wodurch ein Konflikt sich dann entwickelt.

Die Ausarbeitung solcher Maßnahmen sollte nur langsam, den tatsächlichen Forderungen der Fremd- völker entsprechend, aber immer so, daß wir geben

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und daß man nicht von uns nimmt, vor sich gehen. Es ist daher nicht mögHch, jetzt schon ein solches System aufzustellen, und man wird sich daher mit einigen Ideen begnügen.

In den Komitaten und Gemeindeverwaltungen sowie bei den Gerichten wird den anderen Sprachen die volle Parität wohl eingeräumt werden müssen. Es wird sich daher empfehlen, auch in Gebieten, wo die Fremd- völker die Majorität darstellen, aus ihrer Reihe hohe und niedere Funktionäre zu ernennen oder zu wählen.

Von dem allgemeinen Wahlrechte spreche ich gar nicht, da dessen Notwendigkeit doch ziemlich allgemein anerkannt wurd.

Die gegenwärtige dezentralisierte und provinziale Verwaltung könnte beibehalten werden, es fragt sicli aber nur, ob nicht größere Rahmen sowohl die magya- rischen wie die anderseitigen Interessen besser . be- rücksichtigen würden. Die faktische Einteilung des Landes in die fünf theoretisch bereits bestehenden Be- zirke — nebst Beibehaltung der Komitate ,, diesseits und jenseits der Donau, diesseits und jenseits der Tisza und Siebenbürgen" hätte manches für sich, da in jedem Bezirke das Magyarentum numerisch und kulturell stark genug vertreten ist, um die Leitung zu behalten, so daß die Komitate dann weitgehende Autonomie genießen könnten.

Was das kultivierte und kompakt lebende kroa- tische Volk anbelangt, so kann von einer Verschmelzung dieses Landes mit Ungarn keine Rede sein. Für Ungarn hat es nur die Bedeutung des Weges zum Meere. Daher sollte man diesem Lande volle Autonomie gewähren und der ungarische Staat sich nur den Besitz und Be- trieb der Eisenbahnen vorbehalten.

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Freilich sind diese Aussichten für den gegen- wärtig herrschenden ungarischen Adel nicht angenehm. Er muß aber den moralischen Mut haben, die Situation so zu sehen, wie sie ist, und wenn es dem Magyarentum auch schwer fällt, doch anerkennen, daß Ungarn nie ein nationaler Staat war und es nicht sein kann, daß aber seine viel schönere und liberalere Existenz- berechtigung auf historisch -moralischer Grundlage, auf ein Wort des Königs Mathias beruht: „Fiat Justitia aut pereat mundus." Diesem Prinzip soll das Ungartum treu bleiben. Vielleicht läßt sich dann durch eine solche kluge Politik die führende Rolle des Magyarentums noch definitiv retten.

Freilich ist es aber auch nicht ausgeschlossen, daß das Nationalitätenprinzip noch später an Intensität zu- nimmt, und dies nicht ohne Einbuße des Alagyarentums geschieht. Tritt bei einer klugen Politik eine solche Wendung ein, so wäre die Evolution wenigstens ohne Haß möglich. Wer soll sagen, ob in einem solchen Falle das geographisch so zentraleuropäisch liegende Magyarentum mit seiner prächtigen Hauptstadt nicht zum Mittelpunkt des europäischen Staatenbundes werden könnte, eine Art ,,Federal District*', dem ein neuer Glanz beschieden sein würde. Das Haus Habsburg mit seinem schweizerischen und lothrin- gischen Ursprünge ist besonders geeignet, die führende Rolle zwischen Deutschen, Slawen und Romanen zu übernehmen, wie die ungarische Nation den neutralen Boden zwischen allen großen Rassen liefern würde.

Der Begriff von Patriotismus wechselt nach den Zeiten. Im ]\Iittelalter gab es einen Weimarer Patrio- tismus gegen einen Dresdener. Schwyz, Gründerin der Schweiz, ist in diese Eidgenossenschaft aufgegangen, hat ihr aber ihren Namen gegeben. Bei Murten

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kämpften die damals der Schweiz nicht angehörigen Waadtländer im Heere der Burgunder gegen die Eid- genossen. Doch lernt heutzutage jedes Schulkind der französischen Schweiz, diesen Sieg der Föderation zu verherrlichen.

Was immer ihre Geschicke sind, die Monarchie wird nie eine militärische Expansivmacht, und Ungarn niemals ein imperialistischer Nationalstaat sein. Beide werden Gebilde mit dem föderativen Einschlag auf ökonomisch historischer, moralischer Grundlage sein, oder werden sie nicht sein.

Die Regungen der Volkspsyche im voraus zu er- kennen, ist nicht leicht. Die Führer der Menschheit müssen es aber doch rechtzeitig zu tun trachten. Für die Habsburger Dynastie hängt ungeheuer viel von der rechtzeitigen Erkenntnis dieser Evolution ab. Durch einen klugen Kurs kann das Sprichwort noch wahr werden: „Austria erit in orbe ultima."

Schlieislich ist zu bemerken, daß, wenn der gegen- wärtige Moment Wirren in Rußland und Niederlage der Italiener einerseits für einen Friedensschluß mit Inaugurierung eines entsprechenden politischen Kurses in beiden Teilen der Monarchie besonders günstig wäre, man sich deshalb doch hüten sollte, aus Übermut, und weil die Träger des Irredentismus in der Monarchie, Italien, Rußland, Serbien und Rumänien gegenwärtig daniederliegen, sie für die Zukunft als „Qtiantite negligeable" zu betrachten.

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2. Anhang. Das zweite Memoire an den Kaiser.

Yeniköj, 13. August 19 18.

Die Notwendigkeit eines sofortigen Friedens, selbst eines Separatfriedens.

a) Deutschlands \^ e r b 1 e n d u n g.

Seit ich mein letztes Memoire geschrieben, haben im Osten das Debakel Rußlands und im Westen das Fiasko Deutschlands stattgefunden.

Brest zeigte der Welt, was die Germanisation be- deutet, und daß Deutschland sie will ; die Marne, daß sie ihm aber nie gelingen werde.

Das deutsche Konzept ist die wirtschaftspolitische Knechtung möglichst zahlreicher Satelliten. Dieses System hätte auch die Monarchie für immer im deut- schen Orbit gehalten, aber nicht als Ganzes. Um Böhmen, Südslawien usw. zufrieden zu erhalten, hätte man sie zu „Kurländern" erhoben! Ungarn hätte da nicht einmal den ersten Platz. Diesen würde unbedingt Bulgarien einnehmen. Das Leben wäre vielleicht ge- regelter, schöner für uns aber nicht.

Das Auflösen der Ostfront und der hierdurch ge- wonnene Zuwachs an Streitkräften war ein Damokles- schwert für die Entente. Sie mu£te, da sie diese Kraft nicht kannte, ein Debakel von einer effektiveren ameri- kanischen Hilfe befürchten.

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Nun kennt die Entente diese deutsche Maximal- kraft.

Nur der antipathische U-Boot-Krieg könnte das Verhältnis noch verschieben. Aber alle Theorien können nur beweisen, daß diese Kriegführung den Transport verlangsamt, keine, daß sie ihn verhindert.

Es wimmelt hier übrigens von Sophismen. Man errechnet zum Beispiel die für Transport und Versor- gung eines einzelnen amerikanischen Soldaten erforder- liche Tonnage und multipliziert sie durch die Anzahl der Soldaten. Man gewinnt eine phantastische, wegen des U-Boot-Krieges nicht mögliche Summe. Dies ist aber grundfalsch, und nur die Transport- und nicht die Ver- sorgungstonnage sollte multipHziert werden. Das zweite wird dasselbe bleiben können, denn für jeden Gefallenen tritt ein neuer Soldat in die Reihe, und Ge- fallene brauchen bekanntlich weder Proviant, noch Kleider, und noch weniger Munition.

Mathematisch muß andererseits einmal der Moment eintreten, wo das deutsche Reservoir schon erschöpft, das ententistische aber immer noch gefüllt wird.

Daher ist es nur eine Zeitfrage, und die amerika- nischen Truppen haben schon das Wettrennen mit dem I'-Boot-Krieg gewonnen.

Deutschland hat tatsächlich durch die Knechtung Rußlands, wenn diese bleibt, für England, sonst aber für das Wiederaufstehen eines gegen Deutschland selbst aggressiven Rußlands gearbeitet. Die Germani- sierung Rußlands ist aber für die Entente ein Haupt- grund, den Krieg weiterzuführen; und zugleich zeigt ihr Deutschland im Westen seine Ohnmacht. Und man be- denke, daß Deutschland die Möglichkeit hatte, durch großzügige Politik den Osten für immer moralisch zu gewinnen.

26 V. S 2 i l a s s y. Der Untergaim der Donftu-Monarchle . aqi

Aber über die Verblendung der Völker zu staunen, ist zwecklos!

b) Österreich -Ungar nkannnichtmittun. Der Separatfrieden.

Unserseits aber wäre es nicht Verblendung, sondern Selbstmord, Deutschland auf diesem Wege weiter zu folgen. Jetzt ist der im früheren Memoire erwähnte Moment eingetreten.

Denn das deutsche Debakel würde, wie darin er- wähnt, ganz anders als das unsrige sein. Deutschland, geschlagen und verkleinert, würde wahrscheinlich Deutschösterreich auch in der Niederlage erhalten und könnte noch immer eine große Zukunft erhoffen. Die Monarchie hätte aber ihre Existenz verloren, und Ungarn wäre ein unbedeutender Binnen- und Puffer- staat.

Es käme aber wahrscheinlich nicht so weit, und so viel Einsicht muß dem deutschen Volke doch zu- getraut werden, daß eine durchschlagende Niederlage es ernüchtern würde. Dann wird aber Deutschland die Vorteile einer Preisgabe der Monarchie erwägen. Das Kalkül ist klar: Deutschösterreich für Elsaß-Loth- ringen. Die Entente, welche somit Italien wird zu- friedenstellen können, wird einwilligen.

Daher müssen wir diesem M o m e n t e vor- beugen und uns even*:uell von Deutschland früher trennen. Dies wird den Westmächten auch will- kommen sein, denn sie haben die Zerstückelung der Monarchie nur seit der ,, Vertiefung des Zweibundes'' wieder auf ihre Fahnen geschrieben.

Wegen Deutschlands finanzieller Hilfe und Er- nährungsfrage, vielleicht auch in militärischer Hinsicht, kann diese Trennung uns große Schwierigkeiten be-

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reiten. Sie indessen als Hindernis hinstellen, wäre wie einen Kranken in einer reichen, aber versumpften Ge- gend zu lassen. Der Tote braucht dann überhaupt keine Verpflegung.

Es ist aber noch nicht sicher, daß diese Trennung unbedingt ein Bruch wäre.

Man müßte in Berlin auf den rein defensiven Zweck des Bündnisses hinweisen sowie auf den völker- rechtlichen Grundsatz, daß nur der Zweck eines Bünd- nisses für dessen Interpretation maßgebend sei, und offen erklären, daß es der Regierung aus innerpoli- tischen und materiellen Gründen nicht möglich sei, Deutschlands expansive Bestrebungen welche im Gegenteil ein Haupthindernis für einen defensiven Friedensschluß bilden weiter mitzumachen. Deutsch- land müßte daher entweder auf seinen Imperialismus (Desinteressement in Rußland) oder auf unsere aktive Mitwirkung verzichten. Ein Einwand logischer Natur wäre nicht denkbar.

Käme dann Deutschland zur Besinnung, so muß es als zweifelhaft erscheinen, ob, wenn der Vierbund feier- lich erklärt, auf Annexionen Verziclit zu leisten, und e s auch beweist, die Regierungen der Entente noch die Macht hätten, ihre Völker weiter im Kriegsbanne zu halt-en. Wäre dies aber nicht der Fall, so wäre jeden- falls durch unser Auftreten dem wahrscheinlich sich Bulgarien und die Türkei anschließen dürften Deutschlands Friedensliebe erheblich gestärkt, was für die Zukunft nur günstig wirken würde.

Würde Deutschland hiervon nichts wissen wollen, so dürfte es sich nolens volens sagen, daß unsere (und eventuell Bulgariens und der Türkei) wohlwollende Neutralität ihm immerhin größeren Vorteil bieten würde, als besonders jetzt, wo seine Kräfte so in An-

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Spruch genommen sind gegen die Monarchie straf- weise einzuleitende militärische Oi>erationen.

Wie dem auch sei, wir würden dann der Entente feierlich unsere Bereitwilligkeit erklären, auf alle Annexionen verzichtend, Itahen, Serbien und Rumänien in integro wiederherzustellen. Wir könnten auch die Einführung des Bestimmungsrechtes im eigenen Wir- kungskreise ruhig versprechen.

Für die Entente dürfte wohl die einzige Schwierig- keit von Italien kommen. Aber die Aussicht, mit uns auch die Türkei und Bulgarien auszuschalten, würde wohl die italienischen Wünsche in den Hintergrund drängen. Übrigens im schlimmsten Falle würden wir im kriegerischen Tete-a-tete mit Italien noch eine Zeit- lang bleiben!

Man muii staunen, daß die vielen vernünftigen Staatsmänner der Monarchie, die klar sehen, daß wir den deutschen imperialistischen Kurs ohne eigenen Ruin nicht mitmachen können, zu diesem logischen Schluß des sofortigen, auch Separatfriedens, nicht gelangen. Aber die Angst, von Deutschland isoliert, der Entente preisgegeben zu werden, ist stärker als die Angst vor der Anarchie. Allein, man luuß erwägen, daß, wenn alle Welt ehrlich auf den Imperialismus verzichtet, man keine weiteren Garantien brauchen wird. Die in Brest und Bukarest erfundenen ,, strategischen Grenzen" sind maskierter Imperialismus. Hat man jemals dergleichen von den Staaten der amerikanischen Union oder den schweizerischen Kantonen gehört?*

Bisher war der Friede durch Maximalrüstungeu gesichert und d«r Weltkrieg wäre nicht ausgebrochen, wenn England, gefürchtet, und eine starke Armee gehabt hätte. In der zukünftigen Völkergesellschaft wird der Friede durch die öffentliche Meinung und den Willen der internationalen Polizei gesichert werden.

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Auch wird mancher Volkslenker bei uns, wie über- all, lieber auf eine Schicksalswendung hoffen, als einen unangenehmen und zudem noch vielfach unpopulären Entschluß fassen. Denn die deutschen uiid ungari- schen Elemente der Monarchie bauen noch vielfach die unbegründetsten Hoffnungen auf das allerdings unleug- bare militärische Genie Deutschlands.

Aber die Sache ist äußerst dringend wegen der drohenden Anarchie, und weil mit jedem Tage, wo bei uns die Unzufriedenheit und das Elend wächst, der Wert des Friedens mit Österreich-Ungarn für den Feind geringer wird. Noch dürfte vielleicht der Territorial- bestand gerettet werden, aber die \'erzögerung ward zu- erst den Italienern und sodann den Tschechen und Süd- =:lawen zugute kommen.

Es ist jammerschade, daß zu diesem Umschwung vor einigen Monaten der Moment nicht gewählt wurde, wo die Regierung und Völker Österreich-Ungarns ihrem Allerhöchsten Friedensfürsten in eklatanter Treue beigestanden hätten.

Da dieser Augenblick nicht benützt worden ist, wäre die bewußte Initialdemarche in Berlin jetzt, wo die deutschen Streitkräfte im Westen vollauf beschäf- tigt und bei uns nicht zahlreich sind, zu unternehmen.

c) A\' i e die befürwortete Politik zu machen w ä r e.

Wegen der gedachten Umstände wird es für die Krone eines harten Kampfes bedürfen, um den Wider- stand der leitenden Kreise und Elemente zu brechen. Sie wird aber die überragende Mehrzahl ihrer Unter- tanen auf ihrer Seite haben. Es wird sich daher nur um Erwägung der Mittel handeln.

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Man könnte die drei Regierungen der Monarchie mit Personen besetzen, die mit diesem Programm ein- verstanden sind, und es dann nach Vertagung der Par- lamente durchführen. Die Neuwahlen würden nach Friedensschluß stattfinden, und diese Politik mit Jubel ratifizieren.

Die andere Modalität wäre, Neuwahlen sofort vor- zunehmen. Die bekannten Bedenken hingegen sind meist ein „Oreiller de paresse". Einmal wird man den Volkswillen doch kennen lernen müssen, und der wird nach der Demobilisierung gewiß noch imperativer und vielleicht unangenehmer sein als jetzt. "

Die befürwortete Entwaffnung wird auch nur in- sofern wirken, als Truppen bereit sein werden, ihre Kameraden zu entwaffnen.

Freilich wird diese Willensäußerung nicht nur pazi- fistisch, sondern auch sozialistisch sein. Die höheren Klassen, die den Krieg als soziales Heilmittel wollten, hätten es sich besser überlegen sollen. Die Macht der gegen den Frieden arbeitenden adligen und bürger- lichen Strömungen wdrd gebrochen. Der Herrscher wird sich aber definitiv auf Seiten des Volkes gestellt haben, und der Allerhöchste Thron wird mit neuem, wenn auch modernerem Glänze umgeben werden. Hätte Nikolaus H. diese Politik befolgt, so säße er noch auf dem Throne seiner Ahnen!

Wie wenig die vor dem Kriege gewählten Legis- lativen die heutige Volkspsyche repräsentieren, zeigen die Beispiele zweier Länder, Ungarns und Preußens, in deren Parlamenten das von den Völkern gewünschte allgemeine Wahlrecht kaum einzuführen ist.

Was speziell das Magyarentum anbelangt, so wird CS nach einer momentanen Unzufriedenheit eine ange- nehme Überraschung erleben. Die Angst vor dem all-

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gemeinen Wahlrecht beweist nämlich eine merkwürdige Selbstunterschätzung der Vitalität und Kultur der Magyaren. Das Resultat wird zeigen, daß die das Zen- trum und die Städte bewohnenden, politisch, kulturell und wirtschaftlich überlegenen Magyaren auch im offe- nen Wettkampf mit den Nationalitäten die Oberhand behalten, und von Konzessionen an dieselben, gerade wegen ihrer Überlegenheit, nichts zu fürchten haben werden. Bleibt aber Ungarn auf dem gegenwärtigen starren Standpunkt stehen, so harrt seiner nach dem Kriege spätestens die tschechisch-ukrainisch-rumänisch- serbisch-italienische Koalition, ein Kampf, worin, wie immer der Krieg ausfällt, es Deutschland nicht einfallen wird, ihm zu helfen. (Im Gegenteil, je mehr Satelliten, desto besser.)

d) Schluß.

Der Weltkrieg wird voraussichtlich aus drei Perioden bestehen.

Die erste, für den Vierbund militärisch günstige, kulminierte in den Scheinerfolgen von Brest und Bu- karest und dauerte bis zum Scheitern des deutschen Durchbruchs im Westen.

Seither befinden wir uns in der zweiten, jener der Stagnation. Diese Periode wird voraussichtlich lange dauern, denn der U-Boot-Krieg wirkt doch hemmend, und die deutsche Kriegswissenschaft wird mit Hilfe der jährlich zur Schlachtbank geführten neuen Generation bis zum Ende sicherlich eine günstige Wendung herbei- zuführen trachten. Sie wird an dem Tage ihr Ende nehmen, wo das deutsche Reservoir so erschöpft ist, daß die Anglosachsen und Franzosen die Westfront heillos durchbrechen können.

Schließt Deutschland dann nicht einen schlechten Frieden, so wird die dritte Periode in kurzer Zeit zum

40;

zweiten Jena und zur Revolution führen. Nacli einem Jena kann aber einmal ein Sedan kommen, und nur nach der Vernichtung gibt es keine Auferstehung mehr.

Österreich-Ungarn steht am S^ieidewege. Es kann ein Teil eines dem Untergange geweihten und bis dann allseitig verhaßten Mitteleuropas bleiben, oder den Kern der zukünftigen europäischen Staaten- föderation, die Kriege für immerdar unmöglich machen wird, bilden.

Die Entscheidung hierüber sowie über das Schick- sal der Welt liegt in den Händen Seiner k. u. k. Aposto- lischen Majestät.

Erscheint die skizzierte Politik richtig, so müßte vor alleili keine weitgehende militärische Verbindlich- keit mit Deutschland eingegangen w^erden, wodurch wir die Möglichkeit, die Lostrennung- auszuführen, ver- lieren würden oder wenn überhaupt nicht zu spät wortbrüchig werden müßten.

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3. Anhang.

Mein politisches Programm

nurde dem Fürsten Windischgrätz am 9. September und dem Grafen Hunyady am 13. September vor- getragen.

Äußere Politik: Sofortiger, wenn nötig, Se- paratfrieden.

Innere Politik: Weitgehendste Autonomie für a) Böhmen, b) Südslawien. c) Triest, d) Verzicht (wenigstens temporär) auf Galizien.

Ausführung.

I. Äußeres.

a) Nach Übernahme der Geschäfte : Mitteilung an die Presse, daß der Kurs des Defensivbündnisses der- selbe bleibt ; Betonung, daß Seine Majestät und ich vom Anfang an für die P'riedenspolitik waren ; der Presse nahelegen, sich bezüglich der Gegner maßvoller Aus- drücke zu bedienen.

b) Telegramme nach Berlin, Sofia und Konstanti- nopel, worin die Treue zum Defensiv bündnis her- vorgehoben wird.

c) Möglichst baldiger Besuch und Demarche in Berlin.

Bei dieser Gelegenheit würden wir eine Note überreichen (damit etwas Schriftliches bleibt), worin ausgeführt wird, daß diese Allianz lediglich defensiver

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Natur wäre und einen defensiven Zweck hätte, daü wir stets treu gewesen seien, daß aber die letzten deutschen Aktionen in Rußland längst dieses Gebiet überschritten haben. Da es ein internationales Prinzip, daß bei der Interpretierung der Verträge der Zweck maßgebend sei und übrigens diese Interpretierung nur den Parteien zu- stehe, müßten wir Deutschland vor die Alternative stellen, entweder offen auf seinen Imperialismus zu ver- zichten oder uns unsere Aktionsfreiheit zurückzugeben. Ks wäre noch hinzuzufügen, wir glaubten uns bezüglich der Friedensaspirationen mit der Mehrheit des deut- schen \^olkes einig.

Zugleich wäre der deutschen Regierung m ü n d - lieh mitzuteilen, daß, abgesehen von allen anderen Gründen, zu ihrem Bedauern die Monarchie unfähig sei, den Krieg fortzusetzen. Mitgenommene Fachmänner würden ausführlich auseinandersetzen, warum a) mili- tärische, b) finanzielle, c) Volksernährungs- und na- mentlich d) innerpolitische (Nationalitäten-) Gründe die Fortsetzung unmöglich machen.

Wir müssen auf eine rascheste prinzipielle Antwort der allein maßgebenden deutschen Regierung (uns um die Heeresleitung gar nicht kümmernd) drängen und dieselbe (wenigstens prinzipiell) abwarten.

Wir müßten verlangen, entweder mit uns eine Deklaration auszugeben, wonach wir auf jede Annexion verzichten, daher in die Revision der in- zwischen geschlossenen Verträge (Brest und Bukarest) einwilligen, zur vollständigen Herstellung Belgiens, Serbiens und Montenegros uns bereit erklären und über- dies zu allgemeinen Maßregeln, Abrüstung, Völkerbund usw. bereit sind und Wunsch nach einem sofortigen Friedensschluß aussprechen.

4K

Will Deutschland (was wahrscheinlich) darauf nicht eingehen, so erhalten wir unsere Freiheit zurück, ver- sprechen^ihm aber zugleich wohlwollende Neutralität.

Willigt Deutschland ein, so sollte eine solche, näher zu formulierende Deklaration sofort abgegeben werden. Um sie möglichst konziliant zu stimmen, könn- ten wir Deutschland, wenn nötig, noch daran eririnern, daü es im Juli 1918 mit Rußland hinter unserm Rücken einen Zusatzvertrag bezüglich des Kaukasus geschlossen habe, der in der Türkei sehr übel aufgenommen wurde.

Unsere Demarche in Berlin sollte eine Stunde später in Konstantinopel und Sofia bekanntgegeben werden, und die dortigen Regierungen vertraulich auf- gefordert werden, sich unseren Bestrebungen, auf jeden Fall den Frieden zu schließen (eventuell ohne Deutsch- land), anzuschlie-ßen.

Zugleich sollte die Wiener Regierung in einer eiarenen Deklaration erklären, sie nehme die englischen Prinzipien. „Restitution, Reparation und Garantien", an, und sei gesonnen, da Serbien durch den Zerfall Rußlands für uns keine Gefahr mehr bedeute, dieselben bezüglich dieser Länder sowie Montenegros in Anwendung zu bringen, sowie in die Reintegrierung Rumäniens in dessen alte Grenzen einzuwilligen. Als nächstgelegene Großmacht werde die Monarchie Serbien bei dessen Wiederaufbau nicht nur finanziell unterstützen und ihm einen Zugang zur Adria sichern, sie übernehme sogar die Garantie für dessen Existenz. Im Falle Deutschland in unsere obige Deklaration nicht einwilligt, würden wir hier die weiteren, pben an- geführten Punkte hinzufügen.

Die Mitwirkung Bulgariens (wegen Verzichts auf Annexion) und der Türkei (wegen eventueller An- erkennung des Selbstbestimmungsrechts) kann fraglich

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erscheinen. Bei Festlegung des Textes wären aber Ver- suche zu unternehmen, diese Kooperation zu gewinnen. Der H e i 1 i g e S t u h 1 und vielleicht auch die Neutralen wären zu verständigen. Eventuell Noten an Serbien, Rumänien und Monte- negro direkt.

Durch unseren konkreten \'orschlag bezüglich Serbiens hätten wir auf die Entente jedenfalls eine große Wirkung gehabt. Ohne die ihr odiöse These unseres Verteidigungskrieges wieder aufzutischen, hätten wir in eleganter Art uns gerechtfertigt.

Sollte die Entente die Schuldfrage aufwerfen, so wäre zu antworten, es seien gewiß Schuldige, aber über- all, jede Regierung könne am besten sie zur Verant- w-ortung ziehen. Unsere Kriegslage sei gut, aber selbst, wenn sie noch besser wäre, würden Seine Majestät und ich, die seit Anbeginn Pazifisten gewiesen, was akten- mäJSig zu beweisen sei, für den sofortigen Friedens- schluß eintreten.

IL Inneres.

Sofort nach der Berliner Demarche und unter dem günstigen Eindruck des nahenden Friedens, wäre zur Durchführung der inneren Autonomie zu schreiten, und zwar:

1. Böhmen und Mähren sollen vereint ein autonomes Staatengebilde unter der Krone werden.

2. Bosnien und Herzegowina sollen mit Kroatien und Dalmatien vereinigt wer- den, wenn nötig auch mit anderen südslawischen Teilen Österreichs. Mit einem Worte, S ü d s 1 a w i e n soll im Rahmen der Monarchie (und nur, wenn m ö g 1 i c h , mit einem losen Bande an Ungarn), jedenfalls aber .ils

412

autonomes Staatengebilde unter der Dynastie ge- schaffen werden.

Es besteht dann die Hoffnung", daß Serbien sich freiwillig auch anschließt.

3. G a 1 i z i e n sollte Polen und der Ukraine zu- sammen geschenkt werden, die sich auseinanderzusetzen hätten. Vielleicht würde sich Polen uns dann an- schließen.

4. T r i e s t soll autonom sein und zur Han- delshauptstadt erhoben werden (New York und Amsterdam).

HI. B e m e r k u n g e n.

Eine Opposition der «beiden Parlamente gegen einen Sonderfrieden, und noch mehr (in Ungarn) gegen die Schaffung Südslawiens, muß befürchtet werden.

Es wäre daher zu überlegen, ob nicht diese Maß- nahmen ohne Befragen oder Einwilligung der Parla- mente diktatorisch erfolgen sollten, und inwiefern das Ministerium des Äußern mit ihnen zu verhandeln hätte. Dies wäre je nach den Umständen durch eventuelle Sondierung zu entscheiden.

Unbedingt müßten wir geben, so lange unser Geschenk einen Wert habe.

Durch diese Konzession an Böhmen und Süd- >^lawien hofft man eine solche Detente herbeizuführen, die dann die Verschiebung des rumänischen Problems erlauben würde, das übrigens bald auch durch weit- gehende Autonomie zu lösen wäre.

4^3

4. Anhang.

Diplomatie und Presse im Weltkriege.

Vieles ist über die V^erantwortlichkeit der Diplo- matie im Weltkrieg gesprochen und geschrieben wor- den, viel weniger über jene der Presse. Die zwei hän- gen eng zusammen, nicht nur, weil die Presse ein Haupt- werkzeug der modernen Diplomatie bildet, sondern auch, weil die Tätigkeit dieser beiden wichtigen Organe des heutigen öffentlichen Lebens bis zu einem gewissen Grade eine ähnliche ist. Beide ziehen Informationen über fremde Länder ein, und beide trachten in irgend- einer Richtung die öffentliche Meinung des In- und Auslandes zu beeinflussen. Diplomaten und Journa- listen könnten füglich mit einiger Berechtigung als Kollegen bezeichnet werden.

Was die informative Tätigkeit anbelangt, so ist daran nicht zu zweifeln, daß im großen ganzen die diplo- matische der journalistischen überlegen ist. Zvxar haben sich auch Diplomaten in ihren Berichten manchmal arg geirrt, aber diese Fälle sind seltener. Die Relationen der ausvk'ärtigen V^ertreter können, was Gründlichkeit und Sachkenntnis anbelangt, den Berichten der Zei- tungskorrespondenten im allgemeinen vorgezogen wer- den. Dies kann auch nicht wundernehmen, zieht man in Betracht, daß der Verfasser der einen Arbeit ein in kompetenten Kreisen ergrauter, seit seiner Jugend ge- schulter Beamter ist, während der Autor der anderen

4M

oft seinen Gegenstand nur oberflächlich kennt und oft mit den maßgebenden Kreisen keine oder sehr wenige Verbindungen hat. Ausnahmen gibt es natürhch. Manch ein Leitartikel würde dem Scharfsinn des eminentesten Botschafters Ehre machen ; man begegnet aber auch vielen, für welche ein Attache eine Nase er- halten würde. Speziell unter unseren Botschaftern, diesen höchsten Beamten des auswärtigen Dienstes, haben manche den verderblichen Ausgang des Krieges vorausgesehen, und manche haben auch den Mut gehabt, es zu sagen. Der Ballhausplatz fand aber im Jahre 1914 an kriegerischen Konsularberichten mehr Ge- fallen !

Geht man von der informativen zur kreativen, schaf- fenden Tätigkeit über, so gehen die Wege von Diplo- matie und Presse noch ein Stück weiter zusammen. Beide trachten die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Diplomatie hat aber dann noch ein ganz besonderes Arbeitsfeld, das ihre dritte und vornehmste Aufgabe abgibt, d. h. allgemeine und spezielle Vereinbarungen zu treffen, oder auch eventuell den Bruch zwischen Staaten zu bewerkstelligen.

Die zweite Tätigkeit ist eigentlich nur die Vorbe- reitung der dritten, denn die Beeinflussung des In- und Auslandes geschieht doch immer nur zu dem Zweck, Beziehungen zwischen Staaten zu pflegen oder einen Bruch vorzubereiten, eventuell diese Absicht zu maskieren.

Zur Pflege guter Beziehungen zwischen Staaten kann die Presse geradesogut wie die Diplomatie wir- ken. Sie arbeitet unter breiteren Volksschichten, wäh- rend die Diplomatie eigentlich nur die offizielle Schicht zum Arbeitsfeld hat. Die Presse hat aber hier einen großen Vorteil. Sie ist nämlich viel unabhängiger als

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die Diplomatie, bei der jedes Wort abgewogen wird, und kann daher vieles sagen und wagen, ohne daß man hieraus auf eine Schwäche des eigenen Landes schließen könnte. Namentlich ist dies in vorkriegerischen und kriegerischen Zeiten der Fall. Was der Diplomat dann sagt, mag es auch von edelsten ]Motiven eingegeben sein, wird von der gegnerischen Partei sofort als Schwäche bezeichnet und durch eine wüste Preßreklame als solche in die weite Welt hinausgeschrien. Die Presse kann aber eine würdige menschliche Stimme, selbst dem Rivalen oder sogcir dem Feinde gegenüber bewahren. Selbst im Kriege ist eine solche Stellungnahme nicht undenkbar. Ich erinnere nur an die Haltung des „Manchester Guardians" während des Weltkrieges.

Leider blieb diese Zeitung fast allein in ihrer Art. Der Weltkrieg war nicht, wie oft in früheren Zeiten, ein Duell zwischen Gentlemans, sondern eine pöbelhafte Rauferei, Man trachtete nicht nur den Gegner zu ver- nichten, sondern ihn auch in seiner Ehre mit jeder Wafte zu treffen. Es war eine bodenlose Gemeinheit. Alan freute sich jedes L'^nglücks, jedes Brandes, jeder Eisen- bahnkatastrophe. Man freute sich über jeden mora- lischen Makel, den man beim Gegner zu finden wähnte und den man sehr oft einfach erfand. Für die eine Hälfte der Menschheit galt die andere als jeder Gaunerei fähig, ja nicht einmal der Tierwelt ebenbürtig.

Nun hat die Weltpresse hierin vollständig versagt. Sie hat sich ganz einfach zur Kolporteurin jeder Schand- und Schauernachricht mißbrauchen lassen. Sie hat, finanzieller und politischer Vorteile wegen ihre Auf- gabe, eine Erzieherin der Öffentlichkeit zu sein, voll- ständig vergessen. Ich stelle es durchaus in Abrede, daß, um den patriotischen Mut zu erhalten, es einer fortgesetzten wilden, oft lügenhaften Preßkampagne be-

41t

dürft hätte. Die Wilden und die Völker des Altertums schlugen sich nicht minder tapfer, obwohl ihre Soldaten nicht jeden Morgen von Atrozitäten der Gegner zu lesen bekamen. Die römischen Legionen eroberten die Welt, ohne hierzu durch Zeitungen mit wilden und obszönen Darstellungen gehetzt zu werden. Solches mag die Wut und die Grausamkeit erhöhen, diese sind aber nicht unbedingt Bestandteile des Mutes.

Es kann daher der Weltpresse der Vorwurf nicht erspart werden, daß, hätte sie einstimmig beschwich- tigend auf die Massen gewirkt, sie wahrscheinlich den Frieden bewahrt oder später einen früheren Friedens- schluß erreicht haben würde. Vielleicht wäre die Krieg- führung, statt an Roheit zu gewinnen, mit der Zeit milder geworden. Diplomatie und Presse haben sich im großen ganzen während des Weltkrieges ebenbürtig gezeigt und den allgemein herrschenden kleinlichen Geist trefflich wiedergegeben.

Was nun die dritte und eigentlich vornehmste Tätigkeit der Diplomatie anbelangt, so trifft man noch heutzutage altmodische Gebräuche und Methoden, die nicht wenig dazu beigetragen haben, eine friedliche Lösung des Konfliktes zu verhindern. Es sind dies vor allem die Prestigefragen, jene Fragen, die mit der so- genannten ,,Politique de magnificence" im Zusammen- hang stehen. Gewiß muß ein Staatsminister oder Bot- schafter darauf bedacht sein, daß er mit der nötigen Courtoisie behandelt wird, denn seine persönliche Be- handlung impliziert auch bis zu einem gewissen Grade die Behandlung seines Landes. Dies ist aber relativ und darf jedenfalls nicht so weit gehen, daß tatsäch- liche Interessen einen Schaden erleiden. Die Angst, ..nachzulaufen", die Angst, ..für schwach zu gelten", mag während eines Krieges eine gewisse Bedeutung

27 V. Sz i 1 a s sy. Der Untereang der Donau-Monarchie.

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haben. Aber in Zeiten des normalen Verkehrs, wenn die Luft schon mit Elektrizität erfüllt ist, können solche Prestigerücksichten ungeheuren Schaden anrichten.

Graf Berchthold und Herr Sazonow waren persön- lich gut bekannt. Sie kannten die unheilvollen poli- tischen Mißverständnisse, die die Länder trennten. Per- sönliche Auseinandersetzungen zwischen ihnen hätten vieles bessern können, aber keiner traute sich, den ersten Schritt zu machen. „Erster Schritt^' wurde ja zum Schlagwort der beiden Pressen. Jeder Minister j vermeinte hierdurch seinem Lande eine Einbuße an Prestige zuzufügen. Dies war eine unglaubliche persön- liche Überhebung. Was wäre der durch einen solchen, selbst eventuell mißlungenen Annäherungsversuch ver- ursachte Österreich-Ungarn oder Rußland zugefügte moralische Schaden im Vergleich zu jenem Schaden gewesen, den die Weltkatastrophe hervorrief? Hätte man selbst am Vorabende der Katastrophe die beiden Minister in ein einsames Konklave gesperrt, und nicht eher herausgelassen, bis sie sich geeinigt hätten, so hätten sie höchstwahrscheinlich einen Ausweg gefunden. Fürwahr, wenn rivalisierende Bankdirektoren bei ihren Verhandlungen solche Methoden anwenden würden, würden sie recht bald von inren Posten entfernt werden..

Von diesem Gesichtspunkt aus mutet es als höchste Ironie an, daß die Herrscher Deutschlands, Englands und Rußlands \^ettern waren.

Ein anderer, ganz unglaublicher Mißbrauch ent- steht durch die unsinnige Einteilung der Staaten in ver- schiedene Kategorien. Die Großmacht ist die Aristo- kratin, sie allein darf Botschafter haben, denen be- sondere Rechte und Privilegien gegenüber den Abge- sandten anderer Staaten zustehen. Solange dieses Überbleibsel alter Zeiten nur ein unschuldiges Spiel auf

41S

Hofparketts bleibt, ist es kaum envähnenswert. Das Spiel greift aber leider ins praktische Leben hinein und hinüber. Die Gro-ßmacht hält sich wirklich für mehr als die kleine Nation, und konstruiert aus der Überzahl ihrer Angehörigen ein Recht, sich als der andern Nation überlegen zu betrachten. Es wird von Herablassung und Impertinenz der Souveräne gesprochen. Der Groß- macht dünkt es als Derogierung, als Unmöglichkeit, mit den Kleinen als ebenbürtigen Teil über Lebensinter- essen zu verhandeln. Wir hätten mit Serbien sehr gut ein Abkommen treffen können, welches jedem Kon- trahenten die Irredenta verbietet. Für uns wäre die Verpflichtung gleich Null gewesen. Aber mit Serbien ein solches Abkommen zu treffen, wäre für die k. u. k. Monarchie eine Schmach gewesen, beinahe so groß, ah hätte sich ein serbischer Gesandter erlaubt, auf die er- habenen Schultern des k. u. k. Ministers des Äußern zu klopfen. Denn nur österreichisch-ungarische und russische Staatsmänner durften die Schultern von Bal- kandiplomaten mit ihrem Klopfen beehren.

Aber was haben auch in weniger tragischen Fällen nicht die unsinnigen Prestigebegriffe verbrochen? Wie oft hat sich nicht ein Diplomat wegen irgendeiner Etikettefrage, eines Dinerplatzes usw. beleidigt gefühlt und sich deshalb geweigert, eine wichtige Frage mit dem Delinquenten zu besprechen oder die Frage des- halb mit Unwillen und Lässigkeit behandelt? Es ist haarsträubend und unglaublich, daß wegen solcher im Grunde doch nur persönlichen Eitelkeiten im zwanzig- sten Jahrhundert wirklich Volksinteressen leiden können.

Vieles ist in letzter Zeit über die geheime Diplo- matie und deren Unheil geschrieben worden. Darin muß man aber auch klar unterscheiden. Es mag frag-

27*

419

lieh sein, ob es opportun ist, alle Klauseln eines inter- nationalen Vertrages sofort bekanntzugeben. Aber es widerspricht jedenfalls jedem Gerechtigkeitsgefühle. daß ein Volk durch einen Vertrag gebunden sei, von dessen Vorhandensein es nicht einmal Kenntnis hat. Das Postulat aber, das die Öffentlichkeit der Vertrags- verhandlungen verlangt, ist andererseits vollständig un- natürlich. Solange es Menschen und Geschäfte zwischen Menschen gibt, wird die eine Partei selbst bei einem Kuhhandel nicht sofort ihren letzten Preis nennen. Von Regierungen zu verlangen, daß sie gleich ihre Karten aufdecken, erscheint daher nicht weniger naiv. Übrigens haben sich selbst die eifrigsten V^erfechter dieser These, zum Beispiel die russischen Kommunisten, von deren Unhaltbarkeit bereits überzeugt.

Die vorgeschlagene Abschaffung von Bündnissen als Hauptmittel, Kriege zu verhindern, erscheint mir nicht weniger naiv. Bis eine Gesellschaft der Nationen wirklich besteht, bis eine Pax Europeana oder Ameri- cana herrscht, werden sich Allianzen, auch wo sie nicht auf dem Papiere stehen, im Notfälle ergeben. Der Weltkrieg liefert hierfür zahlreiche Beispiele. Die Na- tionen werden je nach ihren Interessen für die eine oder andere Partei in den Krieg eintreten oder auch neutral bleiben. Hierzu sind keine Verträge nötig; im Gegen- teil, solche werden meist nicht eingehalten, wenn das eigene Interesse einen andern Kurs zu verlangen scheint.

Die diplomatische Laufbahn ist von jeher von einer gewissen Mystik umhüllt worden, und die meisten ken- nen ihre Wege nicht. Hierdurch sind die so zahlreichen Urteile und Vorurteile, die in der Diplomatie den Ur- grund alles Unheils ersehen und ihre Abschaffung rundweg verlangen, erklärlich. Dies würde aber nur

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einen Rückschritt der Kultur bedeuten. Das inter- nationale Leben würde einfach in die wilde Urzeit zu- rückgeworfen werden. Die Nationen bilden Einheiten für sich, und nenne man sie wie man wolle. Agenten sind nötig, um den politischen, wirtschaftlichen und geistigen Verkehr zwischen ihnen aufrecht zu erhalten. Eine all- gemeine Sozialisierung der Welt würde voraussichtlich daran wenig ändern; es würde dann eben sozialistische Staaten und sozialistische Vertreter geben. Erst wenn die Welt ein einheitliches Reich bilden würde, wie etwa das altrömische, wird die Diplomatie vielleicht über- flüssig werden. Davon sind wir indessen weit entfernt.

Andere möchten bei Abschaffung der Diplomatie nur die Konsularbeamten zur Pflege der wirtschaft- lichen Interessen belassen. Dies ist ein Spielen mit Worten. Der Gesandte oder Botschafter ist der Vor- gesetzte der Konsularbeamten, er vereint die verschie- denen Drähte, die die Konsulärbezirke mit der Heimat verbinden, in einer Hand. Die Benennung spielt dabei keine Rolle. Organisation ist aber absolut nötig. Auch vom jetzt mehr denn je wichtigen rein wirtschaftlichen Standpunkte ist dies der Fall, denn nur diese seßhaften Agenten verfügen über die nötige Ortskenntnis, und oft hat nur die Gesandtschaft die genügende Autorität, um im Interesse ihres Landes und ihrer Landsleute erfolg- reich einzuschreiten. Übrigens ist die Diplomatie ein Beruf wie ein anderer. Erfahrung und Routine spielen bei ihr eine große Rolle. Der Diplomat, der die Ver- hältnisse kennt und bereits andere Verträge abge- schlossen hat, wird einen viel günstigeren politischen oder Handelsvertrag verhandeln und erlangen können als irgendein Neuling, der mit dieser Aufgabe betraut worden wäre.

Zu glauben, daß an den Diplomaten alles falsch ist

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und auch falsch sein muJi, ist ein gixtßer Irrtum, der wahrscheinHch von einer irrtümHchen Etymologie des griechischen Wortes hergeleitet wird. Heute, im Zeit- alter der Presse, des Telegraphen und des Telephons, ist das Lügen eine allzu gefährliche Sache, man wird bald entdeckt. Außerdem vergesse man nicht, daß eine Hauptbedingung für eine ersprießliche Tätigkeit eines diplomatischen Vertreters darin besteht, daß er das Vertrauen der Regierung, bei der er akkreditiert ist, zu erlangen versteht. Dies wird ihm aber nie gelingen, wenn er sie anlügt. Es gehört eben zur diplomatischen Kunst, manches zu verschweigen, ohne zu lügen.

Die Diplomatie muß nicht abgeschafft, sondern um- geändert und reformiert werden. Bezüglich des Sach- lichen lassen sich die Folgerungen aus obigen Darstel- lungen ziehen.

Außerdem müßte die Diplomatie einer ständigen parlamentarischen Kontrolle unterstehen. Da ihre Tätigkeit naturgemäß in allen Phasen und allen Einzel- heiten unmöglich einer Körperschaft von mehreren Hunderten bekannt gegeben werden kann, so muß wie es in verschiedenen Ländern schon besteht eine aus der Mitte des Parlaments gewählte besondere Kon- trollkommission mit dieser Aufgabe betraut werden. Oft haben solche Kommissionen wertvolle Dienste geleistet. Hingegen ist es unbedingt verwerflich, wenn, wie zu oft geschehen, das Militär sich in die Diplomatie einmischt. Dies war für unsere Gruppe geradezu katastrophal.

Endlich sollte die Auswahl der Diplomaten mit mehr Sorgfalt und mehr Rücksicht auf die Erfordernisse der Zeiten erfolgen. Bei den Diplomatenprüfungen werden ganz überflüssige, weitgehende geschichtliche, und auch juridische Kenntnisse in einem Ausmaße ver- langt, welche gewöhnlich der Betreffende erst 20 Jahre

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später, als unabhängiger Chef, wird brauchen können. Eine spätere Prüfung wie beim Generalstab , etwa vor Erlangung des Botschaftsratsranges, würde nütz- liche Dienste leisten. Die erste Prüfung sollte neben juridischen und diplomatischen Gegenständen ein viel größeres Gewicht auf wirtschaftliche und kommerzielle Kenntnisse legen, worin auch eine gewisse Praxis ver- langt werden sollte. Nebenbei sollten auch so elemen- tare Erfordernisse wie Daktylographie und Steno- graphie verlangt werden.

Im obigen habe ich versucht, auf einige tatsäch- liche Mängel der heutigen Diplomatie und deren mög- liche Remedur zu verweisen. Leider kann man nicht be- haupten, daß unsere Gegner, die die Schwärze unserer Diplomatie so laut verkündeten, sich in der Praxis immer eines Besseren besonnen hätten. Die Pariser Verträge sind vollständig nach der alten diplomatischen Schule gehalten. Hofifentlich schafft darin der Völker- bund einen Wandel; der Frieden der Welt wird es drin- gend erfordern.

Druck von A. Sevdel & Cie. Q. m.b.H.. Berlin SW 61.

Inhaltsverzeichnis.

Seite

Vorwort 7

Kapitel I. Die Ironie der Weltgeschichte 11

II. Der Weg zur Verderbnis . . 32

III. Die Mentalität der Gegner. Die Anglo-Sachsen . 43 IV, Die Mentalität der Gegner. Die zweite Friedens- konferenz 80

V. Die Mentalität dei Gegner. Die lateinischen Na- tionen . . 102

VI. Die Mentaliläi der Gegner, Die Japaner . . . 133

VII Die Mentalität der Gegner. Die Russen . . . 172

, VIII. Der Balkankrieg 222

IX. Der Weltkiieg . 261

X. Die erste Berufung zum Kaiser und König . . 281

XI. Die zweite Berufung zum Kaiser und König . . 293

XII. Der Zusammenbruch 308

XIII. Volksrepublik und Bolschewismus 320

XIV. Der Sündenbock des Weltkrieges 359

Nachwort 374

Anhang. I. Das erste Memoire an den Kaiser: „Der zukünftige Bürger- krieg in Österreich-Ungarn und wie man ihn verhindern

kann" 379

II. Das zweite Memoiie an den Kaiser; „Die Notwendigkeit

eines sofortigen Friedens, selbst eines Separatfriedens" . 400

III. Mein politisches Programm 409

IV. Diplomatie und Presse im Wellkiiege 414

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13

„im Notfälle"

390

4

ist

2u las

ien sti

„könnte", „könnten"

„soll", „sollte"

„Verbitterungen", „Verwickelungen"

„mir", „nur"

.ungeliebt gemacht", „noch nicht hervor- getan"

„parallelisieren", „paralysieren"

„Punan", „Putnam"

„anonym", „anodyn"

„zwar", „dann"

„eine einzige", „bloß eine"

„Demobilisierung", „Mobilisierung"

„machen", „nehmen"

„auf Anhänger", „von Anhängern"

„auf jetzt bekehrte", „von jetzt bekehrten"

„Miß Snowden", „Mrs. Snowden"

„und die Anglosachsen und Magyaren", „und Anglosachsen und die Magyaren"

„Sprache", „Sprachen"

DB Szilassy, Gyula, baro

94-Ö Der Untergang der

S95 Doriau-Kionarchie 1. aufl.

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